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Stefan Breuer

Kritische Theorie
Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen
Stefan Breuer

Kritische Theorie
Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen

Mohr Siebeck
Stefan Breuer, geboren 1948; Studium in Mainz, München und Berlin; 1976 Promotion; 1982
Habilitation; 1984–85 Professor für Politikwissenschaft im Fachbereich Rechtswissenschaf-
ten der Universität Hamburg; 1985–2005 Professor für Soziologie an der Hochschule für
Wirtschaft und Politik in Hamburg; 2005–14 Professor für Soziologie an der Universität
Hamburg; seit 2014 i. R.

e-ISBN PDF 978-3-16-154630-3


ISBN 978-3-16-154610-5
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­
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© 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de


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roverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Garamond gesetzt und auf alterungs­
beständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
John Blazek, dem Freund und Übersetzer gewidmet
Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Pachyderme im Nebel.
Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . 5

Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung.


Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Anthropologie 3.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?


Die Kritische Theorie und der Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . 157

Frankfurt contra Heidelberg I:


Die Kritische Theorie und Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Frankfurt contra Heidelberg II:


Der Streit um Sohn-Rethel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Reprise und Koda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Zur Einführung

Um die Kritische Theorie ist es heute eigentümlich bestellt. Während auf der
einen Seite die Masse der Primärtexte unaufhörlich anschwillt – zu den ersten
Gesamtausgaben Horkheimers und Adornos sowie den etwas lieblos zusam-
mengestoppelten Schriften Marcuses sind inzwischen weitere Nachlaßeditio-
nen sowie umfangreiche Korrespondenzen getreten – begegnet man ihr dort,
wo aktuell Sozialwissenschaft betrieben wird, kaum mehr. Auf der Liste der
zehn wichtigsten Werke der Soziologie, deren Lektüre unentbehrlich sei, tau-
chen Schriften von Horkheimer, Adorno oder Marcuse seit Jahren nicht mehr
auf1, und auch in den soziologischen und politikwissenschaftlichen Fachzeit-
schriften wird nur selten auf sie Bezug genommen. Soweit hier überhaupt theo-
retische Ansprüche erhoben werden, begründet man diese lieber mit den Mit-
teln Luhmanns oder Bourdieus, von Autoren also, die sich dadurch auszeich-
nen, daß sie Ordnungsangebote gemacht und Terminologien entwickelt haben,
die sich weit enger an die Problemlagen der jeweiligen Fachdisziplinen halten als
die typisch »frankfurterischen« Texte, welche diese Aufgabe nur zu oft zuguns-
ten allgemeiner sozial- und geschichtsphilosophischer Erwägungen vernachläs-
sigen. Daran haben auch die in regelmäßigen Abständen erhobenen Rufe nach
einer »Reaktualisierung der Kritischen Theorie« nicht viel geändert, erschöpfen
sie sich doch meist in einer Wiederholung dessen, was man für den normativen
Kern dieser Theorie hält. Die »Lorbeeren des bloßen Wollens« aber, hat schon
Hegel zu Recht gesagt, »sind trockene Blätter, die niemals gegrünt haben.«2
Von einem Denkgebilde, das derart von aktuellen Forschungen abgehängt ist,
wird man sagen dürfen: Es ist Geschichte. Die im vorliegenden Band angestell-
ten Untersuchungen verstehen sich daher als Beiträge zur Historisierung der
Kritischen Theorie, nicht nur, aber überwiegend zu ihrer Theorie- oder Ideen-
geschichte. Darin unterscheiden sie sich von meinem ersten Rencontre mit der
Frankfurter Schule in den 70er und 80er Jahren.3 Was ich damals betrieb, war,
um eine Unterscheidung Wolfgang Schluchters aufzugreifen, Theoriegeschichte
1  Vgl. Jürgen Gerhards: Top Ten Soziologie, in: Soziologie 43, 2014, S.  313–321. Auch eine

1997 durchgeführte Umfrage in Kanada erbrachte bereits ein ähnliches Ergebnis: vgl. ebd.,
S.  316.
2  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in ders. 1970,

Bd. 7, S.  236 (§  124).


3  Vgl. Stefan Breuer: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und

Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1977; Die Depotenzierung der
kritischen Theorie, in: Leviathan 10, 1982, S.  132–146; Horkheimer oder Adorno: Differenzen
im Paradigmakern der kritischen Theorie, in: Leviathan 13, 1985, 357–376; Adornos Anthro-
2 Zur Einführung

in systematischer Absicht. 4 Ich ging an diese Aufgabe heran mit der Einstellung
eines Gärtners, der Seitentriebe und faule Stellen wegschneidet, um das Wachs-
tum in eine bestimmte Richtung zu lenken. Als lebensfähiger Kern erschien mir
allein die negative Dialektik Adornos, als störendes Beiwerk alles, was anders-
wohin wollte, von Adornos frühem Schrifttum über große Teile des Werkes von
Horkheimer und Marcuse bis hin zu Habermas. Weniger metaphorisch ausge-
drückt ging es darum, das Forschungsprogramm eines »soziologischen Hegeli-
anismus« (Schluchter) zu akzentuieren, der seine Leitmotive aus der Linie He-
gel-Marx-Lukács bezog und in der Forderung kulminierte, die Kritische Theo-
rie wieder stärker auf die Kategorie der Totalität zu verpflichten.5
Dieses Projekt habe ich in den 90er Jahren aufgegeben. Ausschlaggebend da-
für war die Rezeption Max Webers, die zunächst historischen Interessen ent-
sprang, sich bald aber auf die Herrschafts-, Rechts- und Religionssoziologie
erweiterte und das Erschließungspotential entdeckte, das im »Kategorien-Auf-
satz« und den »Soziologischen Grundbegriffen« enthalten ist. Je mehr ich mich
in Webers Werk vertiefte, desto mehr lösten sich die dagegen gerichteten Vorbe-
halte auf, die ich aus der Kritischen Theorie übernommen hatte, wuchs im Ge-
genzug die Überzeugung, daß Weber gerade durch die scharfe Bestimmung der
Grenzen der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung der Soziologie ein präzi-
seres Instrumentarium gewonnen hat als die Kritische Theorie, der es nur
punktuell gelungen ist, die Erblasten des Deutschen Idealismus abzuschütteln.
Welche Chancen zur Selbstkorrektur die Kritische Theorie durch ihre Ge-
genstellung zu Weber vergeben hat, ist Gegenstand einer zentralen Studie dieses
Buches. Ich habe gleichwohl der Versuchung widerstanden (bzw. hoffe es zu-
mindest), nun eine Kritik des »soziologischen Hegelianismus« vom Standpunkt
einer »kantianisierenden Soziologie« zu schreiben, wie Schluchters Formeln
lauten. Dies einmal deswegen, weil mir das Denken Webers nicht in jeder Hin-
sicht überlegen erscheint6 , zum andern, weil ein solches Vorgehen zu erhebli-
chen Asymmetrien führen würde. Es trifft sicher zu, daß die großen soziologi-
schen Forschungsprogramme aus der Philosophie herausgewachsen sind und
diesen Ursprung selbst da nicht verleugnen können, wo sie sich rein negativ
dazu verhalten. Aber den Blick vor allem auf die philosophischen Grundlagen
zu richten, hieße, sich über die Zurückhaltung hinwegzusetzen, die Weber sich
auf diesem Gebiet auferlegt hat, hieße zum andern, sich zu sehr dem mächtigen
Sog anzuvertrauen, der Horkheimer, Adorno und Marcuse, allesamt professio-

pologie, in: Leviathan 12, 1984, S.  336–353; Adorno, Luhmann: Konvergenzen und Divergen-
zen von kritischer Theorie und Systemtheorie, in: Leviathan 15, 1987, S.  91–125.
4 Vgl. Wolfgang Schluchter: Grundlegungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte in

systematischer Absicht, Tübingen 2015², Einleitung.


5  Vgl. die Einleitung zu Breuer 1985, S.  7.
6  Vgl. dazu meine Überlegungen in: Karl Marx als Soziologe, in: Sociologia Internationalis

48, 2010, S.  173–199.


Zur Einführung 3

nelle Philosophen, immer wieder von der Soziologie in ihre Heimatdisziplin


gezogen hat. Da es mir in diesen Studien vor allem um die soziologische Dimen-
sion geht, habe ich der immanenten Perspektive vor der transzendenten den
Vorzug gegeben. Lediglich in den abschließenden Betrachtungen kommt die
letztere stärker zur Geltung.
Das Buch besteht aus einer Reihe von Einzelstudien, die für sich gelesen wer-
den können, jedoch aufeinander verweisen. An einigen wenigen Stellen habe
ich auf darstellende Passagen aus meinen älteren Arbeiten zurückgegriffen. Bei
der Gestaltung des wissenschaftlichen Apparats habe ich mich für eine Kom-
promißlösung entschieden, die es einerseits erlaubt, das umfängliche Klein-
schrifttum Horkheimers, Adornos und Marcuses auszuweisen, andererseits
Wiederholungen bibliographischer Angaben durch die Verwendung von Siglen
vermeidet, die sich auf die Gesamtausgaben beziehen und schnell über das Lite-
raturverzeichnis zu erschließen sind. Einzelausgaben sind jeweils an Ort und
Stelle vermerkt. Texte anderer Autoren wurden nur in Auswahl ins Literatur-
verzeichnis aufgenommen.
Pachyderme im Nebel.
Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie
»Die Verwirrung kommt nicht davon, daß die Welt unverständlich
geworden ist, sondern davon, daß die Welt einen solchen Nebel um
sich verbreitet hat. An der Oberfläche haben es die Menschen mit
den schrecklichsten Widersprüchen zu tun.«1

In den 40er Jahren, als ihr Umgangston vertrauter geworden war und sich in der
Liebe zu den Tieren eine gemeinsame affektive Basis aufgetan hatte, begannen
Horkheimer und Adorno sich in ihren Briefen als »Pachyderme«, Dickhäuter,
anzureden. Horkheimer war das »Mammuth« (sic), Adorno das Nilpferd, das
auf den Namen »Archibald« hörte, bisweilen auch das »Große Rindvieh«, abge-
kürzt »G.R.«2 Ein über die Homepage des Marcuse-Enkels zugänglicher Film
unter dem Titel »Herbert’s Hippopotamus« signalisiert, daß auch der Dritte im
Bunde sich ein Totemtier der gleichen Spezies zum Schutzgeist erwählt hatte.3
Die derart auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit beruhende Verge-
meinschaftung präsentierte sich nach außen als Vergesellschaftung, die durch
das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten, vor allem aber zu einer gemeinsamen
Theorie bestimmt war. Ihre Philosophie sei eine, hieß es 1946 in Horkheimers
Eclipse of Reason; und so sah es auch Adorno, der von der »vollkommene[n]
Einheit der theoretischen Positionen« sprach. 4 Noch die Zueignung der Minima
Moralia von 1951 qualifizierte dieses von Adorno allein verfaßte Werk als
1  Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Diskussionsprotokolle über Sprache und

Erkenntnis, Naturbeherrschung am Menschen, politische Aspekte des Marxismus (1939)], in:


HGS Bd. 12, S.  493–525, 512.
2  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer: Briefe vom 14.8.1940; 2.10.1941; 21.8.1944;

3.11.1944, in: A/H Bd. 2, S.  88, 256, 318, 344. Die Anregung wird von Adorno ausgegangen
sein, der in seinen Briefen an die Eltern diesen Kommunikationsstil ausgebildet hatte.
3  Vgl. Sound and Video Page of the Official Herbert Marcuse Website: www.marcuse.org

(Zugriff vom 16.2.2014).


4  Vgl. Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), in: HGS Bd. 6,

S.  19–186, 26; Theodor W. Adorno: Theorie der Gesellschaft. Stichworte und Entwürfe zur
Vorlesung 1949/50. Herausgegeben von Michael Schwarz, in: Frankfurter Adorno-Blätter 8,
2003, S.  111–142, 112. Vgl. dazu auch den Entwurf einer 1949 von Adorno verfaßten gemein-
samen, jedoch nicht veröffentlichten Erklärung: »Da unsere gesamte theoretische und empi-
risch-wissenschaftliche Arbeit seit Jahren derart verschmolzen ist, daß unsere Beiträge sich
nicht sondern lassen, so scheint es an der Zeit, öffentlich zu erklären: alle unsere philosophi-
schen, soziologischen und psychologischen Publikationen sind als von uns gemeinsam verfaßt
zu betrachten, und wir teilen die Verantwortung. Das gilt auch für individuell gezeichnete
Schriften.« Zit. n. dem Nachwort des Herausgebers zu HGS Bd. 5, S.  426.
6 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

»Zeugnis eines dialogue intérieur: kein Motiv findet sich darin, das nicht Hork-
heimer ebenso zugehörte wie dem, der die Zeit zur Formulierung fand.«5 Zur
Markierung dieser gemeinsamen Position diente die 1937 von Horkheimer ein-
geführte und 1968 durch die Dokumentation seiner Aufsätze aus der Zeitschrift
für Sozialforschung gewissermaßen zu kanonischer Geltung erhobene Bezeich-
nung »Kritische Theorie«, die durch die mediale Öffentlichkeit wie durch die
wissenschaftliche Forschung auf den weiteren Kreis um das Institut für Sozial-
forschung übertragen wurde. »Kritische Theorie« war seither, mit Leszek Kola-
kowski zu reden, das Markenzeichen für eine »paramarxistische Bewegung«,
die in den 20er Jahren in Deutschland einsetzte und über die Generationen hin-
weg »eine deutliche Kontinuität einer gewissen Denkweise« entfaltete.6
Ob und inwieweit diese Einschätzung zutrifft, soll im folgenden nur mit
Blick auf Horkheimer und Adorno untersucht werden. Denn so wichtig auch
der Einfluß von Autoren wie Erich Fromm, Leo Löwenthal oder Herbert Mar-
cuse war, so gewiß ist doch, daß dieser noch während des amerikanischen Exils
sein Ende fand, wohingegen Horkheimer und Adorno, seit den 20er Jahren mit-
einander bekannt, gerade in dieser Zeit ihr Arbeitsbündnis schlossen und dieses
bis zum Tod Adornos 1969 bewahrten. Wenn es die »Kontinuität einer gewissen
Denkweise«, eines »Paradigmas« gibt, das die Kritische Theorie von anderen
Denkweisen unterscheidet, muß sie sich mindestens für Horkheimer und Ador-
no nachweisen lassen. Es wird sich zeigen, daß dies nur für einen sehr begrenz-
ten Zeitraum zutrifft.

I.

Der Begriff des Paradigmas ist bekanntlich durch Thomas S. Kuhn in die Wis-
senschaftsgeschichtsschreibung eingeführt worden. Nimmt man ihn in seinem
strengen, von Kuhn freilich selbst nicht durchgehaltenen Sinne, der auf »allge-
mein anerkannte wissenschaftliche Leistungen« zielt, »die für eine gewisse Zeit
einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern«7, erscheint
er zumindest in seiner ersten Hälfte auf die Kritische Theorie unanwendbar.
Allgemein anerkannt waren deren wissenschaftliche Leistungen niemals, viel-
mehr waren diese stets Gegenstand des Streits und nicht selten auch von polemi-

5  Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951),

AGS Bd. 4, S.  17.


6  Leszek Kolakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus, 3 Bde., Neuausgabe, Mün-

chen 1989, Bd. 3, S.  373.


7 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main

1973, S.  11. Zur Spannweite dieses Begriffs vgl. Margaret Masterman, die einundzwanzig ver-
schiedene Bestimmungen bei Kuhn ausgemacht hat: Die Natur eines Paradigmas, in: Imre
Lakatos und Alan Musgrave (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, Wiesbaden 1974,
S.  59–88.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 7

schen Attacken, die ihren Wissenschaftscharakter bestritten. Um den Paradig-


mabegriff dennoch für die Kritische Theorie fruchtbar zu machen, hat ihn
Hauke Brunkhorst deshalb deutlich abgeschwächt. Danach soll ein Paradigma
an zwei Merkmalen zu erkennen sein: an der Existenz einer exemplarischen
wissenschaftlichen Leistung und an einer Zentralreferenz. Beides habe der Kri-
tischen Theorie (wie dem »westlichen Marxismus« überhaupt) in Gestalt des
wohl bedeutendsten marxistischen Werkes des 20. Jahrhunderts zur Verfügung
gestanden: der 1923 von Georg Lukács unter dem Titel Geschichte und Klassen-
bewußtsein vorgelegten Aufsatzsammlung. Dieses Werk, und darin insbeson-
dere der Aufsatz über »Die Verdinglichung und das Klassenbewußtsein des
Proletariats«, habe als Zentralreferenz die Gegenstellung des Historischen Ma-
terialismus zur bürgerlichen Wissenschaft festgelegt und zugleich die künftigen
Arbeitsfelder definiert, indem es »eine hegelmarxistische Version der Klassen-
bewußtseinstheorie […] mit einer webermarxistischen Version der Verdingli-
chungstheorie« verband.8
Als spezifisch webermarxistisch bezeichnet Brunkhorst die Verbindung, die
Lukács zwischen Marx’ Theorem der Universalisierung der Warenform und
der Annahme Max Webers herstellte, daß sich mit dem modernen Kapitalismus
das Prinzip der rationalen Kalkulation durchsetze, und dies nicht nur in der
Wirtschaft, sondern auch in der Technik, im Recht oder in der Verwaltung.9 Als
spezifisch hegelmarxistisch dagegen die Vorstellung, den universellen Verding-
lichungszusammenhang durch das Klassenbewußtsein des Proletariats aufhe-
ben zu können, welches zwar als Alltagsbewußtsein auch der Verdinglichung
unterlag, jedoch als »Selbstbewußtsein der Ware« eine »Intention auf die Tota-
lität der Gesellschaft« besitzen sollte.10 Wobei freilich hinzugefügt werden muß,
daß dieses Totalitätsbewußtsein wohl insofern hegelianisch konzipiert war, als
es »in den unabhängigen, rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten« die
»wahre Struktur der Gesellschaft« erkennen sollte11, zugleich aber weberiani-
sche Züge trug, galt es doch als ein Konstrukt, als ein von der revolutionären
Theorie entwickelter Idealtypus, der dem revolutionären Subjekt »zugerechnet«
wurde: als die Summe der »Gedanken, Empfindungen usw. […], die die Men-
schen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die
sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in bezug auf das unmittelbare
Handeln wie auf den – diesen Interessen gemäßen – Aufbau der ganzen Gesell-

8  Hauke Brunkhorst: Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der

Gesellschaft, in: Soziale Welt 3, 1983, S.  22–56, 23 (Herv. i. O. gestr.). Vgl. auch Habermas
1981, Bd. 1, S.  462, 489 ff. Zur Bedeutung der Verdinglichungsanalyse für den »westlichen
Marxismus« vgl. Honneth 2007, S.  73.
9  Vgl. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), in ders. 1968, S.  270.
10  Vgl. Brunkhorst, Paradigmakern, S.  29 unter Verweis auf Lukács, Geschichte und Klas-

senbewußtsein, S.  352, 358 (i.O. hervorgeh.).


11  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  277.
8 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

schaft vollkommen zu erfassen fähig wären; die Gedanken usw. also, die ihrer
objektiven Lage angemessen sind.«12
An diese Bestimmung des Paradigmakerns knüpfte Brunkhorst noch eine
Aussage über die »Theoriendynamik« der Kritischen Theorie. Danach seien die
30er und 40er Jahre als Vollstufe der Kritischen Theorie anzusehen, weil damals
die beiden Charakteristika des Paradigmas eine ungebrochene, die Forschung
stimulierende Einheit bildeten. Für die Zeit danach müsse dagegen von einer
Schwundstufe gesprochen werden. Wohl sei die Verdinglichungstheorie in
zahlreichen Analysen mit beachtlichem Erfolg angewendet worden, doch sei die
Klassenbewußtseinstheorie nach und nach empirisch falsifiziert worden, was
die Kritische Theorie in erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten zur »konser-
vativen Kulturkritik« gebracht habe.13 Die als Antidot aufgebotenen Surrogate
– Adornos ästhetische Theorie oder Marcuses Adaption der Freudschen Trieb-
theorie – hätten das Defizit nur notdürftig überdeckt, die Kritische Theorie
aber zugleich aus dem Kontext der Sozialwissenschaften entfernt. Dem habe
erst Habermas mit seiner »kommunikationstheoretischen Wende« der Kriti-
schen Theorie ein Ende gesetzt und eine Reorganisation des Paradigmakerns
eingeleitet.14
Die Stellung von Habermas in der Kritischen Theorie ist ein zu großes The-
ma, um es im Vorübergehen abzutun. Auch die spezifische Auslegung, die das
Verdinglichungstheorem bei Marcuse und vor allem Adorno erfahren hat, kann
an dieser Stelle noch nicht erörtert werden.15 Hier soll es zunächst nur darum
gehen, die Behauptung zu prüfen, daß die Kritische Theorie eine Einheit ist und
daß der Schlüssel dazu in Geschichte und Klassenbewußtsein liegt. Diese Be-
hauptung ist schon dann widerlegt, wenn sich zeigen läßt, daß dies auch nur in
einem einzigen Fall nicht zutrifft; und sie ist es erst recht, wenn es sich dabei um
den Spiritus rector der frühen Kritischen Theorie handelt: Max Horkheimer.
Für ihn hat die neuere Forschung nachweisen können, daß vor Beginn der Zu-
sammenarbeit mit Adorno weder das Verdinglichungs- noch das Klassenbe-
wußtseinstheorem irgendeine Verbindlichkeit beanspruchen kann.16 Selbstver-
ständlich war Lukács keine unbekannte Größe für ihn. 1923 gehörte dieser zu
den Teilnehmern der »Ersten Marxistischen Arbeitswoche« im thüringischen
Geraberg, die dem künftigen Institut für Sozialforschung Impulse vermitteln
sollte.17 Horkheimer selbst war nicht anwesend, wird aber über seine Freunde

12 Ebd., S.   223. Zum idealtypischen Charakter dieses Konstrukts vgl. Kammler 1974,
S.  129 f., 172.
13  Vgl. Brunkhorst, Paradigmakern, S.  34.
14  Ebd., S.  33 f., 46 ff.
15  Vgl. dazu in diesem Band: Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung.
16  Vgl. Olaf Asbach: Von der Erkenntniskritik zur kritischen Theorie der Gesellschaft.

Eine Untersuchung zur Vor- und Entstehungsgeschichte der kritischen Theorie Max Hork-
heimers (1920–1927), Opladen 1997, S.  225, 305; ders. 1997, S.  56 ff.; Abromeit 2011, S.  392.
17  Vgl. Michael Buckmiller: Die »Marxistische Arbeitswoche« 1923 und die Gründung des
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 9

Friedrich Pollock und Felix Weil über die Diskussionen informiert worden sein.
In der bis 1930 für das Institut für Sozialforschung repräsentativen Zeitschrift,
dem von Carl Grünberg herausgegebenen und von Pollock redaktionell mitbe-
treuten Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung
veröffentlichte Lukács zwischen 1925 und 1927 ein knappes Dutzend Rezensio-
nen sowie einen Hauptartikel.18 Geschichte und Klassenbewußtsein wurde 1925
darin ebenso ausführlich wie kritisch von Josef Révai besprochen. Im übrigen
erschien es in einem Verlag, der von Felix Weil mitfinanziert wurde.19
Daß Horkheimer es kannte, ist indes nur aus seinerzeit unveröffentlichten
Äußerungen zu entnehmen.20 In den veröffentlichten Texten der 20er und 30er
Jahre taucht der Name von Lukács nicht auf, und was den Begriff »Verdingli-
chung« angeht, so erklärte sich Horkheimer gemäß dem Protokoll einer im In-
stitut für Sozialforschung geführten Diskussion vom 17.11.1931 überhaupt ge-
gen diesen Ausdruck.21 Für die Schriften vor 1925 ist dies nicht verwunderlich,
da sie sich ganz im Rahmen der gegebenen akademischen Philosophie, genauer:
im Rahmen der von Hans Cornelius vertretenen transzendentalen Phänomeno-
logie des Bewußtseins halten.22 Die um 1925 vollzogene Wende zu einer histo-
risch-materialen Phänomenologie wie auch die spätere Wende zur Kritischen
Theorie hat daran nichts geändert. Wohl gibt es indirekte Bezugnahmen, doch
sind sie meist kritisch, war es Horkheimer doch in dieser Phase vor allem um
eine Abwehr von Absolutheitsansprüchen zu tun, wie er sie zeitgenössisch in
der Wissenssoziologie Karl Mannheims (übrigens eines Schülers von Lukács)
ausmachte und bald auch auf deren Referenztexte ausdehnte – die Geisteswis-
senschaft Diltheyscher Provenienz sowie die klassische idealistische Philoso-
phie, namentlich in ihrer Hegelschen Version.23 Mannheims totaler Ideologie-
begriff erschien ihm nicht weniger als »idealistische Überspanntheit« denn He-
gels »Subjekt-Objekt«, und wenn er es für einen Gewinn erklärte, daß seit dem
Sturz von Hegels System die Erkenntnis vom Anspruch befreit sei, »Wissen von

»Instituts für Sozialforschung«, in: Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.):
Grand Hotel Abgrund. Eine Photobiographie der Frankfurter Schule, Hamburg 1988, S.  141–
173.
18  Vgl. die Bibliographie bei Kammler 1974, S.  356 f.
19  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  24.
20  So wird etwa in einem als Fortsetzung des Aufsatzes über »Hegel und das Problem der

Metaphysik« gedachten Fragment aus der Zeit um 1930 das Unternehmen von Lukács als ein
Versuch charakterisiert, »die Hegelsche Geschichtsphilosophie wieder zeitgemäß zu ma-
chen« – was zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht als Kompliment zu verstehen ist: vgl. HGS
Bd. 11, S.  223.
21 Vgl. Theodor W. Adorno u. a.: Diskussionsprotokolle [Wissenschaft und Krise etc.

(1931/32)], in: HGS Bd. 12, S.  349–399, 368.


22  Vgl. Asbach, Von der Erkenntniskritik zur kritischen Theorie der Gesellschaft, S.  31 ff.,

133.
23  Vgl. Max Horkheimer: Ein neuer Ideologiebegriff? (1930), in: HGS Bd. 2, S.  271–294,

279.
10 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

der Totalität sein zu müssen«, dann war dies eine Einstellung, von der aus kein
Weg zu Lukács führte.24 Man muß nicht gleich von einer ›positivistischen
Denkweise‹ bei Horkheimer sprechen, wie dies Michiel Korthals getan hat.
Aber daß die für Lukács charakteristische Geschichtsmetaphysik für ihn keine
Rolle gespielt hat, ja eher zu dem Ballast gehörte, dessen es sich tunlichst zu
entledigen galt, ist schon richtig gesehen.25
In der Zeit der Zusammenarbeit mit Adorno gab Horkheimer seine Zurück-
haltung gegenüber dem Verdinglichungsbegriff auf. Ein Paradigmakern ent-
stand daraus dennoch nicht, und das gleich aus mehreren Gründen. In den ihm
individuell zurechenbaren Arbeiten nutzte er das Theorem selten und wenn,
dann in einer beiläufigen und unverbindlichen Weise.26 In den gemeinsam mit
Adorno verfaßten Arbeiten, allen voran der Dialektik der Aufklärung, unter-
schrieb er zwar die häufigen Rekurse auf Verdinglichung, doch wurde der Be-
griff dabei derart inflationiert, daß die noch bei Lukács anvisierte Verbindung
zur Warenanalyse, wenn nicht vollständig verlorenging, so doch ihre spezifi-
sche Bedeutung verlor. Von Verdinglichung war nunmehr nicht mehr bloß die
Rede im Zusammenhang von Warenwirtschaft, Gesetz und Organisation, son-
dern auch in bezug auf die von Galilei inaugurierte Mathematisierung der Na-
tur, die »Vergleichung des Verdinglichten in der wissenschaftlichen Begriffsbil-
dung«, den Zustand der Kunst unter der Kulturindustrie, den Verfall von Bil-
dung in Halbbildung, das Schicksal des Körpers, ja der ganzen Natur und nicht
zuletzt die »intimsten Reaktionen der Menschen«.27 Selbst der hier immerhin
noch erkennbare Bezug auf die Moderne verschwand schließlich zugunsten der
Auffassung, Verdinglichung sei »ein Prozeß, der bis auf die Anfänge der orga-
nisierten Gesellschaft und des Gebrauchs von Werkzeugen zurückverfolgt wer-
den kann«.28
Nicht besser steht es um die vermeintliche Nähe zur Klassenbewußtseinsthe-
orie. Ein zugerechnetes Klassenbewußtsein in dem von Lukács konzipierten
24  Ebd., S.  287; Hegel und das Problem der Metaphysik (1932), in: HGS Bd. 2, S.  295–308,

302 f.
25  Vgl. Michiel Korthals: Die kritische Gesellschaftstheorie des frühen Horkheimer. Miß-

verständnisse über das Verhältnis von Horkheimer, Lukács und dem Positivismus, in: Zeit-
schrift für Soziologie 14, 1985, S.  315–329. Es trifft deshalb die Dinge keineswegs, wenn Mar-
tin Jay Horkheimers »Retreat from Hegelian Marxism« erst auf die Zeit der engeren Zusam-
menarbeit mit Adorno datieren will: Martin Jay: Marxism and Totality. The Adventures of a
Concept from Lukács to Habermas, Berkeley und Los Angeles 1984, S.  215 ff. Gerade umge-
kehrt gilt, daß erst im Zuge dieser Zusammenarbeit Horkheimer viele Vorbehalte gegen Hegel
aufgegeben hat.
26  Vgl. etwa Max Horkheimer: Autorität und Familie (1936), in: HGS Bd. 3, S.  336–417,

372, 393; Zur Soziologie der Klassenverhältnisse (1943), in: HGS Bd. 12, S.  75–104, 88.
27  Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947), in: HGS

Bd. 5, S.  60, 47, 211, 188, 227, 266, 195.


28  Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: HGS Bd. 6, S.  59. Das gilt

auch für die an anderer Stelle gegebene Definition, Verdinglichung sei die »Hypostasierung
des Mittels«: Notizen (1953–1955), ebd., S.  229.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 11

Sinn war für Horkheimer nicht möglich, weil es auf hegelianischen Prämissen
beruhte, die nicht nur auf die »methodische Herrschaft der Totalität über die
einzelnen Momente« zielten (also: auf »das Ganze der Gesellschaft«), sondern
auf den »Gesamtprozeß der Geschichte«29 ; und die damit nicht weniger bean-
spruchten als ein »Wissen vom Absoluten« (Kondylis), vom geschichtlich sich
entfaltenden »Subjekt-Objekt« bzw. von der »Totalität als Subjekt«, das über
Hegel nicht schon deshalb hinaus war, weil es den Geist durch die »Selbstobjek-
tivierung der menschlichen Gesellschaft« ersetzte.30 Für Horkheimer waren das
Konzepte, die zur Metaphysik, nicht zur »ökonomische[n] Geschichtsauffas-
sung« gehörten, welche »die Wendung von der Metaphysik zur wissenschaftli-
chen Theorie« vollzogen habe.31 Nicht nur sei der »Anspruch auf Wissen vom
Ganzen, von der Totalität, vom Unendlichen« uneinlösbar, die »Spannung zwi-
schen Begriff und Sein« unaufhebbar.32 Vielmehr sei auch ausgeschlossen, was
dem Idealismus von Hegel bis Dilthey selbstverständlich erschien: daß den
»Kultursystemen einer Epoche« ein einheitlicher geistiger bzw. seelischer Zu-
sammenhang zugrunde liege.33 Eben dies hatte ja Lukács behauptet, wenn schon
nicht generell, so doch mit Blick auf die kapitalistische Epoche, in der »die ›Na-
turgesetze‹ der kapitalistischen Produktion sämtliche Lebensäußerungen der
Gesellschaft erfaßt haben« sollten, so daß »das Schicksal aller Glieder der Ge-
sellschaft von einheitlichen Gesetzen bewegt wird.«34 Vollends unnachvollzieh-
bar war für Horkheimer der hieran anschließende Gedankenschritt, mit dem
Lukács den Erzeuger dieser Einheit, das Proletariat, zum Subjekt-Objekt er-
klärte und dies retrospektiv zum Sinn der Weltgeschichte erhob. Was Horkhei-
mer Karl Mannheim entgegenhielt, war deshalb unzweideutig auch gegen des-
sen Lehrer gerichtet: »Alle diese Totalitäten, durch welche die große Totalität:
das Subjekt-Objekt, bestimmt ist, sind höchst sinnleere Abstraktionen und
keineswegs etwa Seelen des Wirklichen, wie Hegel geglaubt hat.«35
Ein Klassenbewußtsein als Totalitätsbewußtsein war jedoch nicht nur nicht
möglich, es war auch nicht nötig, weil revolutionäres Handeln aus anderen
Wurzeln erwuchs. Verbürgt war dies einmal durch den kategorischen Impera-
tiv, an dessen Fassung bei Kant Horkheimer nur auszusetzen hatte, daß sie an
einzelne und nicht an kollektive Subjekte adressiert war: »Damit, daß jeder nach
seinem Gewissen handelt, hört weder das Chaos noch das Elend auf, welches
daraus hervorgeht.«36 Als weiteres Movens präsentierte Horkheimer das »mo-
ralische Gefühl«. Dieses sollte sich generell als allgemeine Menschenliebe zeigen
29  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  180 f.
30  Ebd., S.  193, 301, 376, 222. Zu Hegel vgl. Kondylis 1979, S.  634.
31  Horkheimer, Geschichte und Psychologie (1932), in: HGS Bd. 3, S.  48–69, 55.
32  Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik (1933), in: HGS Bd. 3, S.  70–105, 87.
33  Horkheimer, Geschichte und Psychologie, S.  67.
34  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  266.
35  Horkheimer, Hegel und das Problem der Metaphysik, S.  302.
36  Max Horkheimer: Materialismus und Moral (1933), in: HGS Bd. 3, S.  111–149, 121.
12 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

(»der Schluß der Neunten Symphonie ist ein Ausdruck des moralischen Ge-
fühls«) und heute vor allem die Form des Mitleids mit den Benachteiligten und
Unterdrückten sowie einer Politik annehmen, die sich an den »Losungen der
Aufklärung« und dem Prinzip der Gerechtigkeit orientiere.37 Daß dies in
unschlichtbarem Gegensatz zu Kant stand, der, in dieser Hinsicht durchaus ein
Gegner der Aufklärung, auf der radikalen Trennung von Sein und Sollen be-
standen und es daher abgelehnt hatte, das moralische Gefühl als »Richtmaß
unserer sittlichen Beurteilung« auszugeben38 , störte Horkheimer ebensowenig
wie die Tatsache, daß seine Umdeutung der »Freiheit der Individuen« in die
»Aufhebung ihrer ökonomischen Selbständigkeit« weder mit Kant noch mit der
Aufklärung vereinbar war.39
Einige Etagen tiefer, in der ökonomischen und politischen Alltagswelt, stell-
ten sich die Dinge ohnehin ganz anders dar als in den luftigen Höhen der Philo-
sophie. Einer Mobilisierung im revolutionären Sinne seien durch die ökonomi-
sche Entwicklung Grenzen gesetzt, die aufgrund ihrer Tendenz zur Massenar-
beitslosigkeit das Proletariat spalte: in die Schicht der Arbeitsplatzbesitzer, die
sich in den reformistischen Parteien und Verbänden organisierte und längst
»das Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung der mensch-
lichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren« habe; und in die Grup-
pe der Erwerbslosen, die nicht mehr »die Bildungsfähigkeit und Organisierbar-
keit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit« des Proletariats der Vor-
kriegszeit besitze und deshalb haltlos zwischen kommunistischer und
nationalsozialistischer Partei fluktuiere. 40 Hinzu komme als weitere Erschwer-
nis, daß die Ausbildung eines revolutionären Bewußtseins durch tiefer liegende
Mechanismen blockiert werde, die sich nicht durch Aufklärung oder Agitprop
auflösen ließen. »Daß die Menschen ökonomische Verhältnisse, über die ihre

37 Ebd., S.  135, 137 f.


38  Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke in zwölf Bänden,
hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, Bd. 7, S.  97; Kritik der praktischen
Vernunft, ebd., S.  151 f. Philosophiegeschichtlich hat das »moralische Gefühl« seinen Ort in
der vorkantischen Aufklärung, bei Shaftesbury, Hutcheson und David Hume: vgl. R. Pohl-
mann: »Gefühl, moralisches«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joa-
chim Ritter u. a., Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp.  9 6–98 m. w. N. Später wurde es von Schopenhau-
er wieder aufgegriffen, der die »ächte Tugend« aus der »intuitiven Erkenntniß« und der Iden-
tifikation mit dem Anderen hervorgehen ließ: vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille
und Vorstellung. Erster Band, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, Bd. 2,
Leipzig 1923², S.  434 (§  66); Preisschrift über die Grundlage der Moral, ebd., Bd. 4, S.  206 ff.
(§  16). Für Kant dagegen kam eine genetische Ableitung des Sittengesetzes aus anderen Quel-
len als der Vernunft nicht in Frage, auch wenn er dem moralischen Gefühl durchaus eine
Rolle zuwies. »An dieser fundamentalen Frage zeigt sich Kant als der radikalste Gegner der
Aufklärung in der bei weitem überwiegenden Mehrzahl ihrer Manifestationen. Denn deren
Hauptanliegen bestand eben darin, Vernunft und Sinnlichkeit bzw. Sollen und Sein durch den
normativistischen Naturbegriff irgendwie zu vereinigen« (Kondylis 1986, S.  639).
39  Horkheimer, Materialismus und Moral, S.  137.
40  Max Horkheimer: Dämmerung (1934), in: HGS Bd. 2, S.  309–452, 375 f.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 13

Kräfte und Bedürfnisse hinausgewachsen sind, aufrecht erhalten, anstatt sie


durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur mög-
lich, weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch
die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewußtsein verfälschende Triebmoto-
rik bestimmt ist.«41 Mit Annahmen wie dieser legte Horkheimer die Axt an die
Wurzel nicht nur jenes ›Luxemburgismus‹, dem sich Lukács in der unmittelba-
ren Nachkriegszeit vorübergehend verschrieben hatte, sondern auch des Leni-
nismus von Geschichte und Klassenbewußtsein, der für die Kommunistische
Partei zwar »eine höhere Bewußtseinsstufe« in Anspruch nahm, dem Proletari-
at aber nicht prinzipiell die Bewußtseinsfähigkeit absprach. 42
Auf Adornos anders gelagertes Verhältnis zu Lukács wird, wie bereits be-
merkt, an anderer Stelle eingegangen. Da dort die Aufmerksamkeit ganz auf der
Verdinglichungsproblematik liegen wird, soll hier doch wenigstens soviel ge-
sagt werden, daß sich die für Adorno typische Ambivalenz auch in der Klassen-
bewußtseinsfrage zeigt. Wandte er sich mit Horkheimer gegen die »Geschichts-
metaphysik des sich autonom bewegenden Klassenkampfs«43 und gegen einen
»geschlossenen Dialektikbegriff mit dem Argument, daß er kraft der Totalitäts-
kategorie als einer bloßen Denkbestimmung idealistisch sei«44 , so legte er hin-
sichtlich der revolutionären Wirkungsmächtigkeit seiner eigenen intellektuellen
Tätigkeit im ästhetischen wie im philosophischen Feld eine Zuversicht an den
Tag, die in manchem an Lenins Avantgardekonzeption (und damit wiederum
an Lukács) erinnerte. 45 Wenngleich dabei religiöse bzw. theologische Motive
eine stärkere Rolle spielten, als es mit dieser Konzeption vereinbar war (s. u.),

41  Horkheimer, Geschichte und Psychologie, S.  59.


42 Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  505. Während der ungarischen Räte­
republik sowie unmittelbar danach stand Lukács, wie Jörg Kammler gezeigt hat, unter dem
Einfluß syndikalistischer und linkskommunistischer Ideen, die von der Überzeugung getra-
gen waren, das Proletariat könne sich mittels Massenstreiks und Arbeiterräten selbst zu seiner
revolutionären Aufgabe erziehen: vgl. Kammler 1974, S.  93 ff., 142, 169 u. ö. Lukács interpre-
tierte dies als Gewähr für seine Annahme, daß sich ganz im Sinne Hegels »der Geist aus völ-
liger Bewußtlosigkeit bis zum klaren Sich-Bewußtwerden einheitlich entfaltet« (Das Problem
geistiger Führung und die ›geistigen Arbeiter‹, in: Lukács 1968, S.  54–60, 58).
43  So Adornos Stellungnahme im Rahmen einer 1931 im Institut für Sozialforschung ge-

führten Diskussion zur Kritik immanenter Geistesgeschichte, in: HGS Bd. 12, S.  364.
44  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 26.5.1930, in: A/K, S.  218. Die

Kritik der Totalitätskategorie steht auch im Mittelpunkt von Adornos Antrittsvorlesung über
»Die Aktualität der Philosophie« (1931), in: AGS Bd. 1, S.  325–344.
45  Zu Lukács’ Leninrezeption, die durchaus kultische Züge trug, vgl. dessen Broschüre von

1924 mit dem schlichten Titel: Lenin, in: Lukács 1968, S.  519–588. Gegen Benjamins Vorge-
hen, die Technisierung und Entfremdung zu ›dialektisieren‹, ohne zugleich mit der ›Welt der
objektivierten Strukturen‹ ähnliches vorzunehmen, wendete Adorno ein, dies heiße politisch
nichts anderes, »als dem Proletariat (als dem Kinosubjekt) unvermittelt eine Leistung zutrau-
en, die es nach Lenins Satz anders gar nicht zustande bringen kann als durch die Theorie der
Intellektuellen als der dialektischen Subjekte, die der von Ihnen in die Hölle verwiesenen
Sphäre der Kunstwerke zugehören«: Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom
18.3.1936, in: A/B, S.  170.
14 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

und Adorno überdies zu allen Fragen der Organisation Abstand wahrte, so


überrascht doch, mit welcher Dringlichkeit er Fromm empfahl, Lenin zu lesen,
dessen Staat und Revolution er zu den Werken der politischen Theorie rechne-
te, die ihn am tiefsten beeindruckt hätten. 46 Auch hinsichtlich der Forderung
einer »Umsetzung der materialistischen Theorie des Klassenkampfs in die Au-
ßenpolitik« sei gerade bei Lenin viel zu holen, wenngleich dieser »mehr den
Übergang der imperialistischen Kriege in Klassenkämpfe gesehen hat, während
wir es mit dem umgekehrten Phänomen zu tun haben«. 47 Noch in einer Diskus-
sion aus dem Jahre 1956 findet sich der bemerkenswerte Passus: »Marx war zu
harmlos, er hat sich wahrscheinlich naiv vorgestellt, daß die Menschen im
Grunde wesentlich identisch sind und bleiben. […] Daß die Menschen bis ins
Innerste Produkte der Gesellschaft sind, würde er als eine Milieutheorie abge-
lehnt haben. Das hat erst Lenin zum ersten Mal ausgesprochen.«48 Die Kracauer
zugeschriebene Vermutung, Adorno sei »ein perverses mixed bred aus Lenin
und Mallarmé«, ist daher nicht völlig abwegig. 49
Äußerungen dieser Art ist jedoch nicht allzuviel Gewicht beizumessen, wenn
es um die Identifizierung des Paradigmakerns der Kritischen Theorie geht.
Auch wenn Adorno im Unterschied zu Horkheimer von Anfang an Interesse an
Lukács zeigte – so großes, daß er schon während seines Aufenthaltes in Wien
1925 alles daran setzte, Zugang zu dem als »sehr exklusiv« geltenden ungarischen
Philosophen zu erhalten, der zu dieser Zeit am gleichen Ort lebte50 –, auch wenn
er bekannte, Lukács sehr zu verehren, da dieser ihn geistig »tiefer fast als jeder
andere beeinflußt« habe51, bleibt doch zu beachten, daß sich die Verehrung zu
diesem Zeitpunkt noch primär auf die Theorie des Romans bezog, die auch bei

46 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 21.3.1936, in: A/H Bd. 1,

S.  130; Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 28.3.1936, in: A/B, S.  175. Vgl. auch
die Lenin-Anspielung in dem unveröffentlichten Artikel »Contra Paulum« von 1944, in: A/H
Bd. 2, S.  475–503, 497. Marcuse erklärte noch 1947 »die Richtigkeit der Leninschen Konzep­
tion von der avantgardistischen Partei als dem Subjekt der Revolution« für durch die Ent-
wicklung bestätigt: Herbert Marcuse: 33 Thesen, in ders.: Feindanalysen. Über die Deut-
schen, hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998, S.  129–143, 143. Weitaus kritischer hat
sich Horkheimer zu Lenin geäußert: vgl. Alfred Schmidt: Unter welchen Aspekten Horkhei-
mer Lenins Streitschrift gegen den »machistischen« Revisionismus beurteilt, in: HGS Bd. 11,
S.  418–425.
47  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 24.11.1936, in: A/H Bd. 1, S.  238.

Man beachte auch die hieran anschließende Mahnung, nichts zu publizieren, was Rußland
schaden könne. Geschrieben im Jahr des Beginns der großen Schauprozesse.
48 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Diskussion über Theorie und Praxis

(1956)], in: HGS Bd. 19, S.  32–71, 71.


49  Vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 27.5.1937, in: A/K, S.  365.
50  Vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 10.4.1925, in: A/K, S.  42. Ei-

nen guten Überblick über die Entwicklung dieser Beziehung gibt Braunstein 2011, S.  19 ff.
51  Vgl. Theodor W. Adorno an Alban Berg, Brief vom 21.6.1925, in: Theodor W. Adorno,

Alban Berg: Briefwechsel 1925–1935, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1997, S.  17 f.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 15

Kracauer, Löwenthal und Marcuse höchste Wertschätzung genoß.52 Wie Heinz


Steinert gezeigt hat, war es damals allein die musikalische Revolution, die ihn
beschäftigte, nicht die politische und gesellschaftliche, wie auch von irgendeiner
Marx-Lektüre in dieser frühen Phase noch nichts zu bemerken ist.53 Die persön-
liche Begegnung im Juni 1925 fiel denn auch sehr zu Adornos Enttäuschung aus,
weil sich Lukács nicht nur persönlich als »intangibel« erwies, sondern auch die
eigene Romantheorie als idealistisch und mythologisch desavouierte und über-
haupt die Meinung vertrat, in seinem Konflikt mit der Dritten Internationale
seien seine Gegner im Recht.54 Als Adorno sich 1930 im Zuge seiner Arbeit an
seiner zweiten Habilitationsschrift erneut in Geschichte und Klassenbewußtsein
vertiefte, bekannte er gegenüber Kracauer, das Buch habe inzwischen »erschre-
ckend Haare gelassen«.55 Erst in den Jahren des Exils begann er allmählich, sich
das analytische Potential des Verdinglichungsaufsatzes zu erschließen und auf
beiläufige Ankündigungen schließlich auch Taten folgen zu lassen, wovon erst-
mals der Essay von 1938 Ȇber den Fetischcharakter in der Musik und die Re-
gression des Hörens« in der Zeitschrift für Sozialforschung Zeugnis ablegt. Ver-
bindet man diesen Befund mit der Distanz, die Horkheimer sowohl gegenüber
dem Verdinglichungs- wie dem Klassenbewußtseinstheorem demonstriert hat,
dann wird man nicht sagen können, daß Geschichte und Klassenbewußtsein für
die Kritische Theorie eine Art Gründungsurkunde gewesen ist.

II.

Wenn die Frage nach dem Paradigmakern der Kritischen Theorie nicht unter
Bezugnahme auf einen zentralen Referenztext beantwortet werden kann, liegt
es nahe, die Denkentwicklung der maßgeblichen Autoren selbst auf mögliche
Konvergenzen hin zu untersuchen. In der einschlägigen Literatur wird dafür
häufig die Kombination von Marxismus und Psychoanalyse benannt, die dem
Kreis um Horkheimer ein spezifisches Cachet verliehen habe. Das Interesse an
einer Zusammenführung dieser beiden Denkweisen als solches ist in der Tat
evident, jedoch nicht singulär, wie ein Blick auf den in den 20er Jahren grassie-
renden »Freudo-Marxismus« zeigt, zu dessen führenden Repräsentanten Sieg-

52  Vgl. Müller-Doohm 2003, S.  59. Zu Löwenthals und Marcuses Begeisterung vgl. Lö-

wenthal 1980, S.  26; Kellner 1984, S.  381. Kracauer schrieb 1921 eine hymnische Rezension der
Theorie des Romans: vgl. Kracauer 2011, Bd. 5.1, S.  282–288. Seine Studie Soziologie als Wis-
senschaft (1922) setzt sie durchweg voraus. Über Adorno hieß es zur gleichen Zeit, er bestehe
»zum guten Teil aus Lukács und mir«: Siegfried Kracauer an Leo Löwenthal, Brief vom
4.12.1921, in: Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer: In steter Freundschaft. Briefwechsel
1921–1966, hrsg. von Peter-Erwin Jansen und Christian Schmidt, Springe 2003, S.  32.
53  Vgl. Steinert 1993, S.  179 f.
54  Vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 17.6.1925, in: A/K, S.  79 f.
55  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 12.5.1930, in: A/K, S.  208.
16 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

fried Bernfeld, Otto Fenichel und Wilhelm Reich zählten.56 In der konkreten
Durchführung sind gewiß individuelle Akzente zu erkennen, doch waren diese
wiederum so individuell, daß sie für einen Paradigmakern nicht in Anspruch
genommen werden können. Adorno stellte seine 1927 verfaßte Schrift über den
»Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre« zwar ausdrück-
lich in den Zusammenhang mit »Horkheimers Arbeiten über die Grenz- und
Vermittlungsbegriffe im Kantischen System«57, ging aber in der Assimilation
der Psychoanalyse an die Transzendentalphilosophie von Hans Cornelius so
weit, daß der zu dieser Zeit auf dem Weg zu einer historisch-materialen Phäno-
menologie befindliche Horkheimer unmöglich damit einverstanden sein konn-
te. Adorno gab wohl eine Abhängigkeit der Tatbestände des wachen Bewußt-
seinslebens von Veränderungen in der materiellen Welt zu, schloß daran aber
sogleich die durchaus rhetorische Frage an, ob die materielle Welt nicht selbst
wieder auf Grund der Gesetzmäßigkeiten unseres Bewußtseins aufgebaut sei?58
Cornelius empfand die Arbeit mit guten Gründen als seinem eigenen Denken
so nahe, daß er dem Verfasser, der sich damit zu habilitieren gedachte, empfahl,
sie zurückzuziehen.59 Sein Assistent, Max Horkheimer, verteidigte den Kandi-
daten nicht.60 Zum Thema äußerte er sich erst 1931 in seiner Antrittsrede als
Direktor des Instituts für Sozialforschung und ein Jahr später in seinem Aufsatz
über »Geschichte und Psychologie«, wobei er bezeichnenderweise die Grenze
zwischen Psychoanalyse und Psychologie flüssig hielt. Sein Interesse an diesem
Feld blieb rein metatheoretisch und konkretisierte sich nirgends zu einer mate-
rialen Theorie.61 Diese auszuarbeiten überließ er Erich Fromm, an dem wieder-
um Adorno auszusetzen hatte, daß er die Vermittlung von Gesellschaft und
Psychologie am falschen Ort suche, nämlich in der Familie anstatt »im Waren-
charakter und dem Fetisch«.62
Größere Gemeinsamkeiten lassen sich hingegen im Bekenntnis zum Marxis-
mus ausmachen, wenn man darunter nicht die Spezifikation durch Geschichte
und Klassenbewußtsein, sondern das Ensemble von Argumentationsfiguren
versteht, wie sie im sozialistischen Milieu der Zwischenkriegszeit zur intellek-
tuellen Grundausrüstung gehörten. Das Institut für Sozialforschung wurde
schließlich in der expliziten Absicht gegründet, »dem Studium und der Vertie-
fung des wissenschaftlichen Marxismus« eine institutionelle Basis zu schaffen,
wie Felix Weil dies 1929 in einem Brief an das preußische Ministerium für Wis-

56 
Vgl. nur Dahmer 1973.
57 
Theodor W. Adorno: Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre
(1927), in: AGS Bd. 1, S.  79–322, 82.
58  Ebd., S.  232.
59  Vgl. Müller-Doohm 2003, S.  156.
60  Vgl. ebd., S.  161.
61  Vgl. Bonß 1982, S.  379.
62  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 5.6.1935, in: A/B, S.  124.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 17

senschaft, Kunst und Volksbildung ausführte.63 Der erste Leiter des Instituts,
Carl Grünberg, war ein Austromarxist und bekannte sich explizit zur materia-
listischen Geschichtsauffassung.64 Seine beiden Assistenten, Friedrich Pollock
und Henryk Grossmann, teilten diese Überzeugung, desgleichen viele Mitar-
beiter, Doktoranden und Stipendiaten, von denen nicht wenige, wie z. B. Karl
August Wittfogel, der Kommunistischen Partei angehörten.65 Als Adorno im
Sommer 1924 für einige Tage nach Kronberg ging, um sich mit Hilfe von Pol-
lock und Horkheimer auf sein Rigorosum vorzubereiten, berichtete er Leo Lö-
wenthal: »Beide sind übrigens Kommunisten und wir hatten langwierige und
leidenschaftliche Gespräche über materialistische Geschichtsauffassung, in de-
nen wir uns gegenseitig viel zugestanden.«66
Was diese Geschichtsauffassung beinhaltete, war freilich leicht im Gespräch
zu erfassen und reduzierte sich im Grunde auf wenige Sätze. Die wichtigsten
davon benannte Grünberg in seiner Eröffnungsrede, wenn er als Credo formu-
lierte, daß »sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft sich als Reflexe des
Wirtschaftslebens in dessen jeweiliger Gestaltung darstellen«; daß diese Gestal-
tung gegenwärtig noch durch den Kapitalismus bestimmt sei; daß man sich aber
schon »mitten im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus« befinde, der
sich »mit wachsender Schnelligkeit« vollziehe. Als Ursache für diese Entwick-
lung gab Friedrich Pollock einige Jahre später den Wandel von der National-
zur Weltwirtschaft und vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus an.67 Auf
dieser Annahme beruhten nicht erst Horkheimers Aufsätze in der Zeitschrift
für Sozialforschung, sondern schon die frühesten musiksoziologischen Inter-
ventionen Adornos.68
63  Zit. n. Wiggershaus 1986, S.  28.
64 Vgl. Carl Grünberg: Festrede, gehalten zur Einweihung des Instituts für Sozialfor-
schung an der Universität Frankfurt am Main am 22. Juni 1924, Frankfurter Universitätsre-
den XX, Frankfurt am Main 1924, S.  3–16, 9. Zum Grünberg-Institut vgl. Ulrike Migdal: Die
Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am Main 1981.
65  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  42, 47.
66  Zit. n. ebd., S.  6 0.
67  Vgl. Friedrich Pollock: Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten ei-

ner planwirtschaftlichen Neuordnung, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1, 1932, S.  8 –27.
68  Vgl. von Horkheimer erstmals: Materialismus und Metaphysik, S.  72. Zu welch krudem

Ökonomismus Adorno damals fähig war, erhellt aus einer Passage seines Aufsatzes von 1928
über »Die stabilisierte Musik«, der damals allerdings nicht veröffentlicht wurde. Dort heißt
es: »Der Übergang von der nationalen zur Weltwirtschaft hat seine genauen Reflexe in der
Musik. Es ist dabei nicht sowohl an den musikalischen Exotismus zu denken, der dem Impres-
sionismus zuzählt und mehr ein Ferment der innermusikalischen Bewegung abgibt, als daß er
bereits Zeichen der Neuen Musik wäre. Entscheidend ist die Relativierung des tonalen Ton-
systems selbst […] Die Relativität in der Wahl der musikalischen Bezugsschemata, nicht ohne
Zusammenhang mit der Relativitätstheorie der Physik, entspricht genau der Freiheit in der
Wahl des wirtschaftlichen Standortes, die der Imperialismus für sich in Anspruch nimmt; die
neuen Tonsysteme, auch wenn es nicht etwa romantisch-exotische, sondern rational konstitu-
ierte sind, haben als Kolonialland der Tonalität weit eher zu gelten, als daß es gelungen wäre,
vom tonalen Mutterland radikal sie zu scheiden, das durchwegs als ihr bereicherter Nutznie-
18 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

Die hier nur angedeuteten Schemata, die sich bis in die erste Fassung der Di-
alektik der Aufklärung durchhalten, begründen zweifellos eine Gemeinsamkeit
von Horkheimer und Adorno. Sie stehen aber zugleich für so viele Gemeinsam-
keiten mit anderen Strömungen und Denkrichtungen, daß sie für die Abgren-
zung eines Paradigmakerns der Kritischen Theorie ungeeignet sind. In seinem
eben erwähnten Aufsatz bezieht sich Pollock zustimmend auf ähnlich gelagerte
Analysen von Adolph Löwe und Emil Lederer, also eines religiösen Sozialisten
und eines Austromarxisten.69 Der Kreis ließe sich ohne Mühe weiterziehen, so
daß sich in ihm Rudolf Hilferding und die von ihm herausgegebene Gesellschaft
befänden (in der unter anderen Herbert Marcuse publizierte), die von Johannes
R. Becher und anderen herausgegebene Linkskurve (in der Lukács und Wittfo-
gel schrieben) und sogar die Rote Fahne, die zeitweise von Julian Gumperz, ei-
nem weiteren Institutsmitglied geleitet wurde, um von den vielen anderen
Gruppen und Organen des weit gefächerten linken Milieus zu schweigen.70
Selbst im Lager der politischen Rechten fand sich die Vorstellung, man sei in die
»Epoche des Spätkapitalismus« eingetreten.71 Werner Sombart, 1926 Zielscheibe
einer Polemik von Friedrich Pollock72 , benannte dafür weitgehend dieselben
Ursachen, wie sie im Institut für Sozialforschung diskutiert wurden: »Erstens
die territoriale Verbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, zweitens
die Gestaltwandlungen im Gefüge des kapitalistischen Wirtschaftssystems
selbst, drittens die Bereichswandlungen, d. h. Wandlungen im Verhältnis des
kapitalistischen Wirtschaftssystems zu den übrigen Wirtschaftssystemen in
den altkapitalistischen Ländern.«73

ßer sie ausbeutet, auch wo den neuen Tonsystemen einige Selbstverwaltung gewährt wird;
und der Streit um die Ordnungsschemata der Neuen Musik erinnert im kleinsten an die
Kämpfe, die fortgeschrittenere und zurückgebliebenere Staaten um ihre Absatzmärkte aus-
fechten.« In: AGS Bd. 18, S.  724.
69  Vgl. Pollock, Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus, S.  14. Zu Löwe vgl. Wiggershaus

1986, S.  50; Manfred Bauschulte und Volkhard Krech: Saulus-Situationen. Zum Verhältnis
von Kritischer Theorie und Religiösem Sozialismus, in: Richard Faber und Eva-Maria Ziege
(Hrsg.): Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften vor 1945, Würzburg
2007, S.  49–62; zu Lederer die Einleitung von Peter Gostman und Alexandra Ivanova (Hrsg.):
Schriften zur Wissenschaftslehre und Kultursoziologie. Texte von Emil Lederer, Wiesbaden
2014, S.  7 –37.
70  Zu Gumperz vgl. Wiggershaus 1986, S.  43. Einen Überblick über die Szene gibt der von

Michel Grunewald und Hans Manfred Bock hrsg. Band: Das linke Intellektuellenmilieu in
Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2002, in dem allerdings
leider weder die Gesellschaft noch die Linkskurve berücksichtigt sind.
71  Werner Sombart: Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932, S.  11.
72  Vgl. Friedrich Pollock: Sombarts »Widerlegung« des Marxismus, in: Beihefte zum Ar-

chiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, hrsg. von Carl Grünberg,
H. 3, 1926.
73  Werner Sombart: Die Wandlungen des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv

28, 1928, S.  243–256, 244 f. Einem breiteren Publikum wurden diese Diagnosen durch den
Kreis um die damals sehr erfolgreiche Zeitschrift Die Tat vermittelt: vgl. etwa Ferdinand
Fried: Das Ende des Kapitalismus, Jena 1931. Zur Diskussion um die Entwicklung zu Staats-
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 19

Über diesen vagen Fundus von Gemeinsamkeiten hinaus, der zugleich eine
Kongruenz mit anderen Diskurstraditionen begründet, läßt sich wenig ausma-
chen, was vor 1938/39 für die These Martin Jays spräche, es habe »von Anfang
an eine bemerkenswerte Übereinstimmung in ihren Ansichten« bestanden.74
Denn für Adorno waren aufgrund seiner vorwiegend ästhetischen Interessen-
ausrichtung Autoren wie Kracauer und Benjamin wesentlich wichtiger als das,
was der vor 1933 noch wenig profilierte Horkheimer-Kreis zu bieten hatte. Sei-
ne Habilitationsschrift über Kierkegaard charakterisierte er selbst zutreffend
als »zwischen Benjamin und Lukács« angesiedelt75 und benannte damit gleich
zwei Gründe, die Horkheimer auf Abstand halten mußten. Dieser sperrte sich
nämlich nicht nur gegen Lukács, sondern auch gegen den »theologischen Mate-
rialismus«, den Adorno mit Benjamin teilte.76 Bei allem Respekt vor Adornos
Leistung verzichtete er in seinen »Bemerkungen in Sachen der Habilitation Dr.
Wiesengrund« denn auch nicht auf den Hinweis, daß die der Schrift eigentüm-
lichen Motive der »Hoffnung und Versöhnung« mit theologischen Grundüber-
zeugungen zusammenhingen, die seinem eigenen Denken entgegengesetzt sei-
en.77 Vollends ablehnend äußerte er sich zu Adornos Antrittsvorlesung, ging es
in dieser doch keineswegs um »das inhaltliche Was der Gesellschaftstheorie,
wie etwa die Klassenantagonismen, die substantiellen Befunde über den ökono-
misch bedingten Ausbeutungsmechanismus und die Resultate der Sozialfor-
schung«, sondern weit mehr um das Wie der reflexiven Auflösung der erstarrten
Realitätsbilder.78 Adornos Wunsch, als offizielles Mitglied in den Stab des Ins-
tituts für Sozialforschung kooptiert zu werden, wurde auch deshalb abschlägig
beschieden.79

sozialismus und Staatskapitalismus im Lager der Weimarer Rechten vgl. meine Studie: Ana-
tomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S.  59 ff.
74  Jay 1976, S.  9 0.
75  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 12.5.1930, in: A/K, S.  207 f.
76  Zu dieser Formel vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 19.5.1925,

in: A/K, S.  58. Deutlich ausgesprochen ist dieses Motiv in einem Brief an Benjamin, in dem
Adorno darauf insistiert, daß die »volle kategoriale Tiefe« nicht erreicht werden könne, wenn
die Theologie ausgespart bliebe. Der marxistischen Theorie sei nicht durch Unterordnung des
›Ästhetischen‹ unter äußerliche, soziale und politische Zusammenhänge gedient, sondern
durch Wahrung seiner Autonomie. Halte man sich daran, so könne man auf diesem Feld »un-
vergleichlich viel tiefer in die Wirklichkeit revolutionär […] eingreifen« als mit der »Klassen-
theorie als deus ex machina«: Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 6.11.1934,
in: A/B, S.  74. Zu den »theologischen Intentionen« und dem »Motiv der Rettung des Hoff-
nungslosen als Zentralmotiv all meiner Versuche« vgl. auch Theodor W. Adorno an Max
Horkheimer, Brief vom 25.2.1935, in: A/H Bd. 1, S.  51; ferner den Brief vom 25.1.1937, ebd.,
S.  280 f.
77  Vgl. Müller-Doohm 2003, S.  195.
78  Ebd., S.  210.
79  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  54. Ein weiterer Grund war, daß man gegenüber dem durch

das elterliche Vermögen gesicherten Adorno keine dauerhaften finanziellen Verpflichtungen


eingehen wollte: vgl. ebd.
20 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

Der hier aufscheinende Dissens wurde in den letzten Jahren vor der Emigra-
tion durch die beträchtlichen Gemeinsamkeiten in Schranken gehalten, die sich
aus der Lage marxistischer oder mit dem Marxismus sympathisierender Intel-
lektueller in Frankfurt sowie aus der Gegenstellung gegen die nichtmarxisti-
sche Konkurrenz an der Universität ergaben.80 1931 konnte Adorno Kracauer
sogar berichten, er arbeite mit Horkheimer an einem gemeinsamen Entwurf
zur Theo­rie der Dialektik.81 Als diese Gemeinsamkeiten jedoch 1933 wegfielen
und die Wege sich für einige Jahre trennten, öffnete sich in persönlicher wie in
sachlicher Hinsicht eine unübersehbare Kluft. Nach der Schließung des Insti-
tuts brach die Kommunikation für anderthalb Jahre ab, bis Horkheimer sie
Ende Oktober 1934 mit einem Brief wiederaufnahm, in dem er seinem gegen
Adorno »angesammelten Groll« Luft machte.82 Adorno seinerseits konterte mit
dem Vorwurf, über die Verlagerung des Instituts nicht informiert und de facto
im Stich gelassen worden zu sein. Sein besonderer Groll richtete sich dabei ge-
gen Löwenthal, den er noch unmittelbar vor dessen Abreise gesprochen hatte,
ohne von ihm Aufschluß über die tatsächlichen Pläne des Instituts erhalten zu
haben.83 Nachdem er sich durch Horkheimer davon hatte überzeugen lassen,
»daß von einer internen Geheimpolitik des Institutes mir gegenüber tatsächlich
nicht die Rede sein kann«84 , war das Einvernehmen zwar wiederhergestellt,
doch blieben unter der Oberfläche Vorbehalte, Ressentiments und Sorgen. So
verdächtigte Adorno auch weiterhin Pollock, Marcuse und Löwenthal, eine ge-
gen ihn gerichtete machtpolitische Strategie zu betreiben, die einer Zusammen-
arbeit schwere Hindernisse in den Weg legte.85 Horkheimer andererseits be-
kannte noch im August 1935 gegenüber Dritten, in großer Sorge um die Bezie-
hung zu »Teddy« zu sein, da dieser auf eine Einladung nach New York nicht
geantwortet habe.86

80  Vgl. dazu Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfur-

ter Intelligenz in den zwanziger Jahren; die Universität, das Freie Jüdische Lehrhaus, die
Frankfurter Zeitung, Radio Frankfurt, der Goethe-Preis und Sigmund Freud, das Institut für
Sozialforschung, Frankfurt am Main 1985, S.  14 ff.
81  Vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 20.5.1931, in: A/K, S.  275.
82  Vgl. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 25.10.1934, in: A/H Bd. 1,

S.  18.
83 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 2.11.1934, in: A/H Bd. 1,

S.  22 ff.
84  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 13.5.1935, in: A/H Bd. 1, S.  62 f.
85 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Briefe vom 24.11.1934, 23.3.1937 und

23.4.1937, in: A/H Bd. 1, S.  38, 325, 345 f. Dieses Ressentiment hielt an, wie an anderer Stelle
mit Blick auf Marcuse zu zeigen sein wird.
86  Vgl. Max Horkheimer an Paul und Gabrielle Oppenheim, Brief vom 27.8.1935, in: HGS

Bd. 15, S.  397. Noch vier Monate später, in einem Brief an Pollock, in dem er sein grundsätzli-
ches Interesse an einer Zusammenarbeit mit Adorno erklärte, sprach er von »einer Reihe stö-
render Momente«, die in Adornos Persönlichkeit begründet seien: Max Horkheimer an Fried-
rich Pollock, Brief vom 26.12.1935, in: A/H Bd. 1, S.  122.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 21

Für diese Sorge gab es auch eine Reihe sachlicher Gründe. Während Adorno
seine Auseinandersetzung mit Husserl in der Absicht konzipierte, »den Idealis-
mus von innen, auf Grund seiner eigenen Voraussetzung, zu sprengen«, »die
idealistische Philosophie wirklich aus ihren Angeln zu heben, immanent zur
Aufhebung zu bringen«87, wobei in dieser Aufhebung das negare überwog, war
Horkheimer weit mehr an einer Aufhebung im Sinne des elevare interessiert, an
der »Fortsetzung einer um die Werte des Bürgertums zentrierten Existenz«.88
Gewiß, es war sehr viel von Materialismus die Rede in seinen Essays der 30er
Jahre, von gesellschaftlicher Arbeit, materiellen Bedürfnissen, dem Streben
nach Lust etc., auch wurde die Natur keineswegs wie etwa bei Lukács vollstän-
dig in eine gesellschaftliche Kategorie aufgelöst, sondern als »Inbegriff der je-
weils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft es zu tun hat«,
vorgestellt.89 Was immer jedoch Horkheimer zur näheren Bestimmung dieses
Materialismus aufbot, war entweder unzureichend oder kontraproduktiv. Ers-
teres galt für die Auskunft, der Materialismus erkenne als wirklich nur das an,
was sich in sinnlicher Erfahrung ausweise90 , traf dies doch keineswegs nur auf
den Materialismus zu: die Rehabilitierung der Sinnlichkeit war vielmehr ein
Wesensmerkmal des neuzeitlichen Rationalismus, der sich damit von der Theo-
logie emanzipierte.91 Noch Hegel wußte den Standpunkt, den seine Zeit und
ihre Kultur für die Philosophie fixiert hätten, nicht anders zu charakterisieren
als »eine mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft«.92 Nicht viel weiter führte der
Hinweis auf die historische Dimensionierung dieses Materialismus, kann diese
doch »ebensogut Bestandteil einer grundsätzlich idealistischen und geistesge-
schichtlich orientierten Dialektik sein«.93
Kontraproduktiv aber war es, wenn Horkheimer sich dadurch von der Meta-
physik absetzte, daß er sich auf keine »bestimmte Auffassung von der Materie«
festlegte und deren Definition zur Gänze der »fortschreitende[n] Naturwissen-
schaft selbst« überließ.94 So hatten es zwar bereits die französischen Materialis-
ten des 18. Jahrhunderts gehalten, die sich am Naturbegriff der klassischen Me-
chanik mit ihrer strikten Unterscheidung von Masse und Energie orientierten95,

87  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.11.1936, in: A/H Bd. 1, S.  226 f.
88  Max Horkheimer: [Notizen 1935], in: HGS Bd. 12, S.  225–249, 232.
89  Vgl. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S.  88; Bemerkungen zur philosophi-

schen Anthropologie (1935), in: HGS Bd. 3, S.  249–276, 250; Traditionelle und kritische Theo­
rie (1937), in: HGS Bd. 4, S.  162–216, 184.
90  Vgl. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S.  101.
91  Vgl. Kondylis 1986, S.  42 ff.
92 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen, in ders. 1970, Bd.  2: Jenaer
Schriften 1801–1807, S.  299.
93  Kondylis 1990, S.  532.
94  Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S.  95.
95  Vgl. Günther Mensching: Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophi-

schen Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, Frankfurt am Main 1971,


S.  67 ff.; Kondylis 1986, S.  490 ff. Horkheimer berief sich zwar gern auf die französischen Ma-
22 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

doch hatte die Physik seither diese Unterscheidung weitgehend kassiert, indem
sie beide als einander äquivalent oder sogar ineinander umwandelbar deutete, so
daß Materie mehr und mehr die Funktion einer Gegenkategorie zum Idealis-
mus bzw. Spiritualismus einbüßte.96 Als eine solche hatte sie freilich schon bei
Horkheimer kaum eine Bedeutung, rekurrierte er doch »in der Beziehung des
Materials scheinbar letzter Tatsachen […] auf menschliche Produktion«, die die
Naturgrenze immer weiter hinausschob. Weitaus relevanter für die Kritische
Theorie erschienen ihm die Insistenz auf einer allgemein-menschlichen Moral
sowie nicht zuletzt der Glauben an die Vernunft, in dem eine Gemeinsamkeit
mit dem deutschen Idealismus bestehen sollte.97
Es war dieses Credo, das ihm den anfangs eher kritisch beäugten Hegel all-
mählich in einem milderen Licht erscheinen ließ: als einen Autor, der »wirkli-
cher Aufklärung trotz seiner Gegnerschaft gegen sie […] verwandter [ist] als
der Positivismus«.98 Analog zu ihm, der die Geschichte als prozessuale Selbst-
vermittlung eines Subjekts begriffen hatte, wollte nun auch Horkheimer in der
Geschichte »ein wenn auch bewußtloses und insofern uneigentliches, jedoch
tätiges Subjekt« erkennen99 , eine »allgemeine Subjektivität«, die einem be-
stimmten Ziel zustrebt: dem »vernünftige(n) Zustand«, der »Gemeinschaft
freier Menschen«.100 Diese Intention auf vernünftige Allgemeinheit sei der
menschlichen Arbeit immanent, sie verwirkliche sich im geschichtlichen Pro-
zeß, in dessen Verlauf dem Menschen immer mächtigere Hilfsmittel zuwüch-
sen, die das »Ziel einer vernünftigen Gesellschaft« als immer weniger utopisch
erscheinen ließen.101 Obwohl diesem Ziel heute noch mannigfache Hindernis-
se, vor allem in der Eigentumsverfassung, entgegenstünden, werde es doch mit
dem Fortgang der bürgerlichen Gesellschaft immer besser vorstellbar, daß die
Gesellschaft »ihre anarchische Form überwindet und sich als reales Subjekt
konstituiert, das heißt durch geschichtliche Tat.« Dann könnten die individuel-
len Zwecke mit denjenigen aller übrigen zusammen bestehen, und auch das
»moralische Gesetz fiele mit dem natürlichen Gesetz zusammen«102 ; womit
sich auch eine so einseitig die »herrschenden Mächte« begünstigende Einrich-
tung wie das positive Recht erübrigen würde.103 Indem sie eine derart »überle-

terialisten, wich aber vor den wertrelativistischen Konsequenzen zurück, die sich aus deren
Ansatz ergaben. Für ihn war, wie Kondylis an anderer Stelle gezeigt hat (1990, S.  530 ff.), der
normativistische Hauptstrom der Aufklärung stets wichtiger.
96  Über den physikalischen Begriff der Materie vgl. s.v. »Materie« die Hinweise von P.

Hucklenbroich, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, 1980, Sp.  921–924.


97  Vgl. Horkheimer, Nachtrag (1937), in: HGS Bd. 4, S.  217–225, 218.
98  Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S.  98.
99  Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S.  174.
100  Ebd., S.  177, 190, 191.
101  Horkheimer, Nachtrag, S.  224.
102  Horkheimer, Materialismus und Moral, S.  118, 124.
103  Horkheimer, Dämmerung, S.  386 f.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 23

gene, rationale Organisationsform« schüfen, könnten sich die Menschen erst-


mals mit dem Ganzen identifizieren und es als Willen und Vernunft begreifen;
»es ist ihre eigene Welt«.104
Ein derart emphatischer Humanismus, der sich auch durchaus als solcher be-
kannte105, war nun natürlich keineswegs reiner Hegelianismus, wie Horkhei-
mer selbst in seiner Kritik der HegeIschen Dialektik deutlich machte. Philoso-
phiegeschichtlich gesehen handelte es sich um eine Variante des Linkshegelia-
nismus, der mit seiner Insistenz auf der Unabgeschlossenheit der Dialektik
gleichsam einen Schritt von Hegel zurück auf Kant machte, ohne dabei freilich
Hegels Historisierung des Transzendentalsubjekts preiszugeben. Und es war
ferner ein durch Feuerbach und den jungen Marx angereicherter Linkshegelia-
nismus, der an Stelle des Weltgeistes und der List der Vernunft die geschichtli-
che Aktivität selbstbewußter menschlicher Subjekte setzte. Die materialistische
Dialektik, so betonte Horkheimer weiterhin gegen Hegel, gebe kein abgeschlos-
senes Bild der Realität, und sie verweigere sich jeder gedanklichen Verewigung
der irdischen Verhältnisse.106
Alle diese Modifikationen ändern jedoch nichts daran, daß Horkheimers
Kritische Theorie eine idealistische Theorie war, der es in erster Linie um eines
ging: um die »Ausbreitung der Vernunft«, um ihre »Anwendung auf die gesam-
ten Verhältnisse der Gesellschaft«, um die »Verwirklichung des Ideals« und die
»Vereinigung von besonderem und allgemeinem Interesse«, wie sie schon im
Contrat Social und in Hegels Idee der Sittlichkeit anvisiert ist.107 Nicht der Ide-
alismus war nach Horkheimer zu kritisieren, sondern der unvollkommene Ide-
alismus, der auf die Verwirklichung des Ideals verzichtete und sich vorzeitig mit
der empirischen (bürgerlichen) Wirklichkeit abfand. Der Idealismus stand für
Horkheimer in keiner inneren Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft, er
stand in innerer Beziehung zur ›allgemeinen Subjektivität‹, die es – gerade mit
Hilfe der ›Vernunft‹ und den von Hegel geschaffenen, sein abschließendes Sys-
tem durchbrechenden ›gedanklichen Werkzeugen‹108 – aus ihrer Bewußtlosig-
keit zu befreien galt. Horkheimer erhob deshalb das Weiterschreiten auf der
vom Idealismus vorgezeichneten Linie zur obersten Maxime der Kritischen
Theorie:
»Die idealistische Philosophie, die Metaphysik überhaupt ist nicht dadurch aus den An-
geln zu heben, daß man sie bloß theoretisch ablehnt; ihre Negation liegt auch nicht darin,

104 Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938), in: HGS Bd. 4,

S.  236–294, 260; Traditionelle und kritische Theorie, S.  181.


105  Vgl. Horkheimer, Montaigne, S.  289 f.
106  Vgl. Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie (1935), in:

HGS Bd. 3, S.  163–220, 190; Zum Problem der Wahrheit (1935), in: HGS Bd. 3, S.  277–325, 290.
107  Horkheimer, Materialismus und Moral, S.  129, 137.
108 Vgl. Horkheimer, Zum Rationalismusstreit, S.   170; Materialismus und Metaphysik,
S.  91.
24 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

daß man ›der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerli-
che und banale Phrasen über sie hermurmelt‹, sondern darin, daß man sie verwirk-
licht.«109

So zu argumentieren hieß nicht, auf jegliche Kritik am bürgerlichen Erbe und


an der Art, wie es in der Gegenwart traktiert wurde, zu verzichten. Am Huma-
nismus machte Horkheimer durchaus menschenfeindliche Aspekte aus, in der
Verfassung des bürgerlichen Typus einen »brutalen und grausamen Zug«.110An
der Wissenschaft bemängelte er die chaotische Spezialisierung der Fachdiszipli-
nen sowie eine »durch die zunehmende Verfestigung der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse bedingte[n] Verengung ihrer Rationalität.«111 Er sprach von der Fesse-
lung der Wissenschaft als Produktivkraft und kritisierte mit Nachdruck den
»falschen Idealismus […], demzufolge es genügt, das Bild der Vollkommenheit
hochzuhalten ohne Rücksicht darauf, wie sie zu erreichen ist.«112 Am Bekennt-
nis zum »wahren Idealismus« und seinem Bestreben, »die Vernunft unter Men-
schen und Nationen heimisch zu machen«113 , ändern diese Kautelen jedoch
nichts. Für Horkheimer war die bürgerliche Gesellschaft durch den Wider-
spruch zwischen allgemein-menschlichen (d. h. vernünftigen) Strukturen einer-
seits und klassenmäßig-partikularen, die Vernunft verdunkelnden und irratio-
nalen Strukturen andererseits bestimmt, und die Aufgabe der Kritischen Theo-
rie sollte es sein, diesen Widerspruch nach der ersten Seite hin aufzulösen, das
Allgemein-Menschliche aus dem bürgerlichen Rahmen zu befreien, »die vom
klassischen Idealismus verkündigten Qualitäten […] gegen seine eigenen Epigo-

109 Max Horkheimer: Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937), in: HGS Bd. 4,

S.  108–161, 153. Daß es Horkheimer um eine Realisierung des Idealismus ging und nicht um
dessen »Liquidation«, wie sich Adorno ausdrückte (Theodor W. Adorno an Max Horkhei-
mer, Brief vom 25.6.1936, in: A/H Bd. 1, S.  168), geht auch deutlich aus einem Brief hervor, den
er am 20.9.1937 an Friedrich Pollock richtete. »Die unangenehmste Entdeckung, zu welcher
der Materialismus führt, ist der Umstand, daß die Vernunft nur existiert, insofern sie ein na-
türliches Subjekt hinter sich hat […] Die Rückwirkung auf das Subjekt ist nie so stark und
nachhaltig, daß es den Charakter der Natürlichkeit verlöre. Es kommt also nie zu jener be-
rühmten Identität, von der der Idealismus lebt. Wir müssen freilich versuchen, sie soweit wie
möglich herzustellen« (in: HGS Bd. 16, S.  235, Hervorh. von mir, S.B.). Dies ist exakt jene
›Revolution der Vernunft‹, wie sie im Vormärz Bruno Bauer und anderen vorschwebte, die die
Hegelsche Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit aufbrachen und durch den ›Terroris-
mus der wahren Theorie‹ (Bauer) ersetzten. – Adorno hat in einer späteren Bemerkung über
den Linkshegelianismus den Autonomieanspruch der Theorie gegenüber der Praxis vertei-
digt, ohne damit aber die identitätsphilosophischen Intentionen zu übernehmen: vgl. Negati-
ve Dialektik (1966), AGS Bd. 6, S.  146 f.
110  Max Horkheimer: Egoismus und Freiheitsbewegung (1936), in: HGS Bd. 4, S.  9 –88, 23,

74.
111  Max Horkheimer: Bemerkungen über Wissenschaft und Krise (1932), in: HGS Bd. 3,

S.  40–47, 42.
112 Ebd., S.  
46; Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie (1940), in: HGS Bd. 4,
S.  332–351, 349.
113  Horkheimer, Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie, S.  349.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 25

nen zu zeigen und anzuwenden.«114 Nicht der von der bürgerlich-kapitalisti-


schen Gesellschaft entwickelte Rationalitätstypus stand zur Kritik, sondern
seine Beschränkung durch die bürgerlichen Institutionen. »Die Wurzel dieser
Mängel aber liegt keineswegs in der Wissenschaft selbst, sondern in den gesell-
schaftlichen Bedingungen, die ihre Entwicklung hemmen und mit den der Wis-
senschaft immanenten rationalen Elementen in Konflikt geraten sind.«115
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Kritik an der ›traditionellen Theo-
rie‹ als weitaus weniger radikal, als häufig angenommen wird. Die traditionelle
Theorie, worunter Horkheimer die modernen Naturwissenschaften und die auf
sie bezogene Wissenschaftstheorie von Descartes bis Husserl und Carnap ver-
stand, übte nach seiner Ansicht in ihrem Zuständigkeitsbereich eine »positive
gesellschaftliche Funktion« aus, die sich aus ihrer Angemessenheit an ihre Auf-
gabe – die Naturbeherrschung – ergab.116 Nicht – wie noch Lukács angenom-
men hatte – die durch den Kapitalismus universalisierte Warenstruktur, sondern
die davon unberührte direkte Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur
lag nach Horkheimer den Kategorien der traditionellen Theorie zugrunde, wel-
che deshalb genau wie die materiellen Produktionsinstrumente virtuell auch als
Elemente eines »gerechteren, differenzierteren und harmonischeren kulturellen
Ganzen« anzusehen und »so weit wie möglich zu entwickeln« seien.117
Die Kritik, die Horkheimer gleichwohl an der traditionellen Theorie übte,
bezog sich nicht auf deren logische Struktur und ihre mögliche Verklammerung
mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft. Sie bezog sich allein auf die
Verabsolutierung der traditionellen Theorie, auf deren Übergreifen auf das Feld
der regulativen, die ›vernünftige‹ Organisation der Gesamtheit betreffenden
Ideen, auf deren Deutung die Kritische Theorie das Monopol beanspruchte.
Das fetischismuskritische Argument wurde von Horkheimer erst für den Au-
genblick ins Spiel gebracht, in dem die szientifische Rationalität die ihr gezoge-
nen Grenzen überschritt und dadurch den Anspruch der Kritischen Theorie
gefährdete, die wissenschaftliche Forschung unter die transzendentale »Idee der
Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts« zu subsumieren.118 Da er je-
doch außerstande war, innerhalb der traditionellen Theorie Schranken oder
Widersprüche auszumachen, die eine erfolgreiche Verteidigung des Primats der
Kritischen Theorie in Aussicht stellten, geriet diese in eine ebenso ausweglose
Lage wie die Phänomenologie oder Existenzialontologie, die den Vorrang der
›Lebenswelt‹ oder des ›Seins‹ nur apodiktisch behaupten konnten. Der An-
spruch der Kritischen Theorie, »die wirkliche Geschichte« zu erkennen und das
»Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts« zu artikulie-

114  Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, S.  266.


115  Horkheimer, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, S.  43.
116  Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S.  179.
117  Ebd. sowie S.  190.
118  Ebd., S.  203.
26 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

ren119 , erschöpfte sich schon in den 30er Jahren in Postulaten, die der Wirklich-
keit von außen entgegengehalten wurden.

III.

Wie groß der Abstand war, der Adorno von dieser Version der Kritischen Theo-
rie trennte, läßt sich an den ätzenden Kommentaren ablesen, mit denen er von
Oxford aus die Theorieproduktion der Zeitschrift für Sozialforschung überzog.
Während er die Beiträge des institutionell übermächtigen Horkheimer ausspar-
te, konzentrierte er seine Polemik auf dessen nächste Mitarbeiter, Leo Löwen­
thal und Herbert Marcuse, die die Hauptlast der Redaktionsarbeit trugen und in
ihren Texten Horkheimers Vorgaben auf die Felder Literatur und Philosophie
übertrugen – Felder also, für die auch Adorno sich für zuständig hielt.120 Da
Marcuse in diesem Buch Gegenstand einer eigenen Abhandlung ist, kann ich
mich hier auf das Verhältnis Adornos zum Erstgenannten beschränken. Leo Lö-
wenthal, seit 1926 Stipendiat des Instituts für Sozialforschung und ab 1930 dort
festangestellt, paßte von seiner theoretischen Orientierung her sowohl in das
Grünberg- als auch in das Horkheimer-Institut: in das letztere aufgrund seiner
Prämisse, daß der größte Vorwurf, der dem bürgerlichen Idealismus zu machen
sei, in seinem Verzicht auf die Umsetzung des Ideals bestünde121 ; in das erstere
aufgrund eines Interesses an Literatur, das vor allem der Spiegelung der Klassen-
verhältnisse galt und deshalb im Realismus und Naturalismus des 19. Jahrhun-
derts das non plus ultra aller Kunst sah.122 Wie groß die Kontinuität in Löwen-
thals Arbeiten war, zeigt schon die Tatsache, daß seine beiden ersten Aufsätze in
der Zeitschrift für Sozialforschung – »Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur«
(1932) und »Conrad Ferdinand Meyers heroische Geschichtsauffassung« (1933)
119 Horkheimer, Nachtrag, S.  219; Traditionelle und kritische Theorie, S.  216.
120 Löwenthals Rolle für die Zeitschrift für Sozialforschung erörtert Gregor-Sönke Schnei-
der: Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal. Die Zeitschrift für Sozialforschung (1932–
1941/42), Frankfurt am Main 2014.
121  Leo Löwenthal: Das Individuum in der individualistischen Gesellschaft. Bemerkungen

über Ibsen, in: Zeitschrift für Sozialforschung 5, 1936, S.  321–363, 356. Eine weitere Gemein-
samkeit mag im Interesse an der französischen Aufklärung bestanden haben, das sich bei
Löwenthal in Arbeiten über Rousseau und Helvétius niederschlug und sich in der Insistenz
auf der »Harmonie von Moralität und Glück« eng mit den Präferenzen Horkheimers berühr-
te. Vgl. Leo Löwenthal: Studien zum deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in ders.: Schrif-
ten, hrsg. von Helmut Dubiel, Bd. 2: Das bürgerliche Bewußtsein in der Literatur, Frankfurt
am Main 1981, S.  301–444, 431. Die Studien über Rousseau und Helvétius wurden erst im
Rahmen der gesammelten Schriften veröffentlicht: vgl. ebd. Bd. 5: Philosophische Frühschrif-
ten, Frankfurt am Main 1987.
122  Vgl. Löwenthal, Das Individuum in der individualistischen Gesellschaft, S.   336; Die
Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, in: Zeitschrift für Sozialforschung 3,
1934, S.  343–382, 358, 363. Eine knappe Zusammenfassung von Löwenthals Beiträgen zwi-
schen 1932 und 1937 bei Jay 1976, S.  169 ff.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 27

– seinen »Studien zum deutschen Roman des 19. Jahrhunderts« entnommen wa-
ren, deren Ergebnisse Löwenthal seit 1928 im »Bund für Volksvorlesungen«, ei-
ner Einrichtung des Frankfurter sozialistischen Milieus, vorgetragen hatte.123
Ihre Inspiration bezogen diese Arbeiten von Autoren wie Franz Mehring,
Georg Brandes und Georg Lukács, wobei von letzterem nicht nur die Theorie
des Romans in Frage kam, die Löwenthal später fast auswendig gekannt zu ha-
ben behauptete124 , sondern auch Geschichte und Klassenbewußtsein und, last,
but not least, dessen Aufsätze in der Linkskurve von 1931 und 1932.125 Fragestel-
lungen und Beurteilungsmaßstäbe waren nahezu identisch. Es ging, wie bei
Lukács, um die soziale Funktion von Literatur im Klassenkampf; um die Wi-
derspiegelung dieser Funktion in bestimmten Inhalten (bei gleichzeitiger Au-
ßerachtlassung der Form); um die Sortierung dieser Inhalte gemäß dem Schema
von Fortschritt und Reaktion, von aufsteigenden und absteigenden Klassen; um
eine Deutung, die die Literatur auf die ideologischen Umschichtungen ihrer
sozialen Träger und diese wiederum auf die Veränderungen bezog, die der Ka-
pitalismus im Übergang in seine »monopolkapitalistische Phase« erlebte; end-
lich um eine Perspektive, die es erlaubte, in der »Aufspaltung und Verselbstän-
digung der Lebenssphären« einschließlich der »Differenzierung der geistigen
Gebiete« nur »vergängliche und aufzuhebende Verhältnisse« zu sehen.126
Daß Literatur eine Eigengesetzlichkeit besaß, die sich nicht zuletzt in der
Form manifestierte, war dieser Art von Literatursoziologie anathema. Ihr ging
es um geschichtliche Erklärung, und diese war im Prinzip geleistet, wenn jeder
Autor einer Klasse zugeordnet war: Conrad Ferdinand Meyer dem liberalen
Großbürgertum, Gustav Freytag dem mittleren Bürgertum, Gottfried Keller
dem resignierten Kleinbürgertum. »Jede ›Geistes‹- und ›Verstehens‹wissen-
schaft, die sich auf die Autonomie oder mindestens auf die autonome Deutbar-
keit gesellschaftlicher Überbaugebilde beruft, vergewaltigt das Wissenschafts-
gebiet der menschlichen Vergesellschaftung.«127 Später beurteilte Löwenthal
diese frühen Versuche als einen ›noch unvermittelten Marxismus‹, und das ist

123 Vgl. Leo Löwenthal: »Mitmachen wollte ich nie«. Gespräch mit Helmut Dubiel, in

ders.: Schriften, hrsg. von Helmut Dubiel. Bd. 4, Judaica, Vorträge, Briefe, Frankfurt am
Main 1984, S.  271–298, 277.
124  Vgl. Leo Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick (1981), ebd., S.  88–105, 89.
125  »Die Linkskurven-Diskussion«, heißt es 1932 in einem Brief, »ist in der Tat sehr inter-

essant, und ich hoffe, bald in einem ausführlichen Aufsatz über die bisherige Literatursozio-
logie auch meinen Senf zu dieser Sache geben zu können.« Leo Löwenthal an Siegfried Kra-
cauer, Brief vom 20.10.1932, in: Löwenthal und Kracauer, In steter Freundschaft, S.  72. Die
Linkskurve wurde 1929 als Organ des prokommunistischen Bundes proletarisch-revolutio-
närer Schriftsteller gegründet. Die Beiträge von Lukács wurden wiederabgedruckt in Georg
Lukács: Werke Bd. 4: Probleme des Realismus I, Neuwied und Berlin 1971, S.  11–80.
126  Löwenthal, Die Auffassung Dostojewskis, S.  346; Das Individuum in der individualis-

tischen Gesellschaft, S.  359


127  Leo Löwenthal: Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur, in: Zeitschrift für Sozialfor-

schung 1, 1932, S.  85–102, 93.


28 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

eine Einschätzung, der man nicht widersprechen muß.128 Seine Studie über
Conrad Ferdinand Meyer ist nur um Nuancen von dem unterschieden, was Ge-
org Lukács drei Jahre später im stalinistischen Rußland zu Papier brachte.129
Adorno nahm zu dieser Sichtweise eine durchweg polemische Haltung ein,
deren Ton durch eine bereits in Frankfurt aufbrechende und sich auch später
immer wieder geltend machende persönliche Rivalität verschärft wurde.130 In
der Korrespondenz mit Benjamin beschwor er diesen, sich in der Passagenarbeit
nicht in den von Löwenthal gezogenen »historisch-soziologische[n]« Bahnen
zu bewegen und keinesfalls auf Deutung und »die vollkommene Artikulation
im Begriff« zu verzichten.131 Die marxistische Theorie sei um so mehr zu beför-
dern, je weniger man sich ihr äußerlich unterwerfe und überall auf die Klassen-
theorie rekurriere.132 Als Benjamin diesen Anregungen nicht im gewünschten
Maße nachkam, hagelte es Vokabeln wie ›Abbild-Realismus‹, ›unmittelbarer
Materialismus‹ und ›materialistisch-historiographische Beschwörung‹.133 Daß
damit nicht nur Benjamin gemeint war, blieb keineswegs im Unklaren:
»Ihre Solidarität mit dem Institut, über die keiner froher sein kann, als ich es bin, hat Sie
dazu bewogen, dem Marxismus Tribute zu zollen, die weder diesem noch Ihnen recht
anschlagen. Dem Marxismus nicht, da die Vermittlung durch den gesellschaftlichen Ge-
samtprozeß ausfällt und der materiellen Enumeration abergläubisch fast eine Macht der
Erhellung zugeschrieben wird […]. Ihrer eigentümlichsten Substanz nicht, indem Sie
sich Ihre kühnsten und fruchtbarsten Gedanken unter einer Art Vorzensur nach mate-
rialistischen Kategorien (die keineswegs mit den marxistischen koinzidieren) verboten
haben, wäre es auch bloß in der Form jener Vertagung.«134

128 
Löwenthal, »Mitmachen wollte ich nie«, S.  277.
129 
Vgl. Georg Lukács: Der historische Roman, in ders.: Werke Bd. 6: Probleme des Realis-
mus III, Neuwied und Berlin 1965, S.  268 ff.
130  Mitte der 20er Jahre konkurrierten Adorno und Löwenthal, die sich seit 1922 kannten,

um eine mögliche Habilitation bei Cornelius (vgl. Müller-Doohm 2003, S.  148 f.), außerdem
um eine Festanstellung am Institut (vgl. Wiggershaus 1986, S.  54). Besonders erbitterte es
Adorno, daß Löwenthal die verantwortliche Schriftleitung für die Zeitschrift für Sozialfor-
schung erhielt, und dies, obwohl ihm Horkheimer noch kurz vor der Verlagerung des Instituts
ins Ausland versichert hatte, er halte im Ernstfall die Gemeinschaft mit Adorno für »dichter«
als mit Löwenthal. Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 2.11.1934, in:
A/H Bd. 1, S.  22. In den 40er Jahren verbesserte sich die Atmosphäre, doch brachen die alten
Konflikte später wieder auf. 1960 verwarf Adorno in einer Vorlesung Löwenthals ideologie-
kritische Arbeiten aus der Zeitschrift für Sozialforschung als eine Vorwegnahme des späteren
Diamat-Schematismus, in der sich bereits ganz deutlich jene »Regression des Bewußtseins«
angekündigt habe, »die dann heute so charakteristisch geworden ist« (Theodor W. Adorno:
Philosophie und Soziologie [1960], ANS Bd. IV.6, S.  257). Im Briefwechsel mit Horkheimer
war von Löwenthal dann nur noch als vom »Vorkriegsschurken« die Rede: Theodor W. Ador-
no an Max Horkheimer, Brief vom 24.1.1969, in: A/H Bd. 4, S.  838.
131  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 20.5.1935, in: A/B, S.  111.
132  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 6.11.1934, in: A/B, S.  74.
133  Vgl. Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Briefe vom 2.–4.8.1935 und 10.11.1938,

in: A/B, S.  139, 368.


134  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 10.11.1938, in: A/B, S.  369 f.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 29

Einwände dieser Art, nun unmittelbar auf Löwenthal gemünzt, mußte sich
auch Horkheimer anhören. Die erste Arbeit, die Löwenthal für die Zeitschrift
schrieb, die Studie über die Rezeption Dostojewskis in Deutschland, wurde von
Adorno zwar als vorzüglicher Griff bezeichnet, der »voll der besten Destruk­
tion« sei, doch folgte sogleich der Pferdefuß: Löwenthal messe die Wirkung nur
»in abstracto« und verzichte darauf, sie mit dem Werk selbst zu konfrontieren,
was gegenüber einer erklärtermaßen rezeptionsgeschichtlichen Studie ein un-
angebrachter Vorwurf war. Darüber hinaus mißfiel Adorno – offenbar zum
wiederholten Male – die Sprache Löwenthals, insbesondere sein vermeintlich
kritikloser Umgang mit Formeln der bürgerlichen Wissenschaft.135 Die Ibsen-
Studie wurde durchgewinkt, jedoch zugleich mit dem Caveat versehen, nur ein
»first approach« zu sein, eine Formulierung, bei der schwer ein ungesagtes »the
best is yet to come« zu überhören ist.136
Zu äußerster Schärfe aber lief Adornos Polemik gegenüber den beiden nächs-
ten Texten Löwenthals auf, einer Besprechung der Autobiographie von August
Strindbergs zweiter Frau Frida und einem Essay über Hamsun, die in dem Be-
fund kulminierten, es handele sich um Dichter des kleinbürgerlichen Ressenti-
ments, die die Desorientierung dieser Schicht im Monopolkapitalismus und
ihre Bereitschaft zur Verklärung autoritärer Strukturen spiegelten.137 An der
Besprechung monierte Adorno, sie handhabe »die übernommenen Kategorien
des dialektischen Materialismus in einer Weise, die der roten Tinte des Lehrers
nicht ganz unähnlich sieht« und veranstalte ein Gemetzel, »bei dem man das
Gefühl hat, daß die hingemachten Opfer nur allzuleicht wieder aufstehen kön-
nen.«138 Unmöglich die Art, in der über Strindbergs Sexualmoral geurteilt wer-
de, noch unmöglicher die Abqualifizierung eines Schriftstellers als eines bloßen
Reaktionärs, der in Stücken wie Gespenstersonate und Traumspiel »das gesam-
te expressionistische Drama inauguriert hat – weiß Gott eine avantgardistische
Leistung«.139 Im Hamsun-Text wiederhole sich der gleiche »Grundfehler« Lö-
wenthals, die mangelnde Beziehung zu den Gegenständen: »er wendet auf sie
fertige Kategorien an, anstatt in einen wirklichen Prozeß mit der Sache einzu-
treten.«140
Nicht mehr allein gegen Löwenthal, sondern implizit gegen das ganze New
Yorker Institut gerichtet war das ab 1936 von Adorno ins Auge gefaßte Unter-

135  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 25.2.1935, in: A/H Bd. 1, S.  53 ff.
136  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 12.10.1936, in: A/H Bd. 1, S.  187.
137  Vgl. Leo Löwenthal: [Besprechung von] Frida Strindberg: Lieb’, Leid und Zeit, in: Zeit-

schrift für Sozialforschung 6, 1937, S.  189–195; Knut Hamsun. Zur Vorgeschichte der autori-
tären Ideologie, ebd., S.  295–345.
138  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.3.1937, in: A/H Bd. 1, S.  325.
139  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.4.1937, in: A/H Bd. 1, S.  346.
140  Ebd. Ähnlich scharf urteilt Klaus von See über Löwenthals Hamsun-Studie, in ders.:

Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994,
S.  391 ff.
30 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

nehmen, »den Idealismus zu sprengen«, für das er sich nach neuen Bündnispart-
nern wie Sohn-Rethel umsah.141 Während sich der Horkheimer-Kreis darum
bemühte, den kritischen Sinn wiederzuerwecken, »der in den früheren idealis-
tischen Systemen noch weitgehend angelegt war«142 und die Kritische Theorie
auf die Aufgabe verpflichtete, die Postulate des klassischen Idealismus gegen
seine Epigonen zu kehren, plädierte Adorno für eine ganz andere Strategie.
Wenn es zutraf, daß der Idealismus, »die inhaltliche Konstruktion der Welt aus
der Idee«, immer schon falsch war, dann war es wenig erfolgversprechend, aus-
gerechnet die Vollstufe dieses Denkens gegen seine Schwundstufe auszuspielen.
Besser war es, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß »selbst der arm-
selige Positivismus, wie der verfallene Idealismus, im Sinn des dialektischen
Fortschritts selbst gegen Hegel in gewisser Weise ›recht hat‹«, und eben dieses
Recht oder vielmehr: den Realitätsgehalt dieses Denkens in einem deutenden,
nicht einfach nur aburteilenden Verfahren herauszuarbeiten.143 Anstatt von der
Entwicklung längst überholte Stilrichtungen wie Realismus und Naturalismus
normativ festzuschreiben, sei es sinnvoller, sich mit der zeitgenössischen Avant-
garde, aber auch mit Autoren wie Husserl, C. G. Jung, Klages oder Spengler
auseinanderzusetzen, die denn auch die ganzen 30er Jahre über auf Adornos
Agenda standen. Nachdem Versuche, Benjamin oder Sohn-Rethel für diese
Aufgabe zu gewinnen, gescheitert waren, machte sich Adorno selbst an diese
Aufgabe. In dem 1938 gehaltenen und drei Jahre später in den Studies in Philo-
sophy and Social Sciences veröffentlichten Vortrag über Spengler attestierte er
den Theoretikern der extremen Reaktion, ihre Kritik des Liberalismus sei der
historisch-dialektischen in vielen Stücken überlegen. Die letztere habe den Li-
beralismus und die liberale Ideologie weithin nur als falsche Versprechung kri-
tisiert, eben damit aber deren objektiven Gehalt verfehlt:
»They (the adherents of dialectical materialism, S.B.) did not challenge the ideas of hu-
manity, liberty, justice as such, but merely denied the claim of our society to represent
the realization of these ideas. Though they treated the ideologies as illusions, they still
found them illusions of truth itself. This lent a conciliatory splendor, if not to the existent
at least to its ›objective tendencies‹. Their doctrine of the increase of societal antago-
nisms, or their statements about the potential relapse into barbarism, were hardly taken
seriously. Ideologies were unmasked as apologetic concealments. Yet they were rarely
conceived as powerful instruments functioning in order to change liberal competitive
society into a system of immediate oppression. Thus the question of how the existent can
possibly be changed by those who are its very victims, psychologically mutilated by its
impact, has very rarely been put except by dialecticians of the Hegelian tradition, such as
Georg von Lukács […] Above all the leftist critics failed to notice that the ›ideas‹ them-
selves, in their abstract form, are not merely images of the truth that will later material-

141  Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 17.11.1936, in: A/SR, S.  32.
142  Löwenthal, Das Individuum in der individualistischen Gesellschaft, S.  343.
143  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.10.1937, in: A/H Bd. 1, S.  451.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 31

ize, but that they are ailing themselves, afflicted with the same injustice under which
they are conceived and bound up with the world against which they are set«.144

Horkheimer scheint die in diese Ausführungen gelegene, implizit auch gegen


ihn gerichtete Spitze überlesen zu haben. Der Text, schrieb er im Juni 1941 an
den Verfasser, sei »ein Glanzstück«.145 Daraus sollte jedoch nicht geschlossen
werden, daß ihm die erheblichen Unterschiede verborgen geblieben wären, die
zwischen der von ihm in der Zeitschrift entwickelten Kritischen Theorie und
der Denkweise Adornos bestanden. Horkheimer schätzte zweifellos den Mu-
siksoziologen und –historiker und gab ihm, wenn auch erst wieder seit dem 5.
Jahrgang, entsprechende Publikationsmöglichkeiten. Deutlich größer dagegen
war lange Zeit seine Skepsis hinsichtlich des Gesellschaftstheoretikers und Phi-
losophen Adorno. Dessen Wunsch, sich in der Zeitschrift für Sozialforschung
mit einem »prinzipiellen Aufsatz ›Zur Kritik der generalisierenden Soziologie‹
bezw. ›Zur Kritik des Soziologismus‹« zu profilieren, an dem er seit Sommer
1934 arbeitete, stieß in New York auf Zurückhaltung, weil man die vorgesehene
Form eines fortlaufenden Kommentars zu einem Vortrag Karl Mannheims für
ungeeignet und das Thema überdies nicht für dringlich hielt.146 Adorno ließ das
Projekt danach anderthalb Jahre ruhen, schlug es aber schließlich unter dem
Titel »Historischer Materialismus und generalisierende Soziologie« erneut für
eine Veröffentlichung in der Zeitschrift vor.147 Auch jetzt war die Reaktion
noch immer dilatorisch. Horkheimer begrüßte Adornos übrige Themenvor-
schläge (»Gestalt, Dekadenz, Baudelaire«), wandte aber gegen den Mann-
heim-Aufsatz ein, bei der Entwicklung der Gegenthese lasse es sich kaum ver-
meiden, »recht offenherzig und bekennermutig zu sein«. Besser erschien es
ihm, die Sache nicht in der von Adorno geplanten Weise abzuhandeln, sondern
in Form einer Kritik von Mannheims neuestem Buch, Mensch und Gesellschaft
im Zeitalter des Umbaus (Leiden 1935).148 Als Adorno sich diese Anregung zu
eigen machte und ein umfangreiches Manuskript erstellte, fand man in New
York die Argumentation zwar ausgezeichnet, dennoch den Tenor insgesamt
»zu positiv«, zu sehr von der »Atmosphäre von Oxford« geprägt, »wo verbind-
liche Anspielungen bereits die schärfste Abfertigung enthalten können«.149 Das
Manuskript ging an den Verfasser mit der Aufforderung zurück, »erstens die
Polemik schärfer zu machen, zweitens alles auszumerzen, was es M. allzu leicht
machen würde, unsere Ablehnung als ›rein dogmatisch‹ zu bezeichnen, drittens
144  Theodor W. Adorno: Spengler Today, in: Studies in Philosophy and Social Science 9,

1941, S.  305–325, 318 f.


145  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 23.6.1941, in: A/H Bd. 2, S.  156.
146  Vgl. Theodor W. Adorno an Leo Löwenthal, Karte vom 6.8.1934, zit. nach A/H Bd. 1,

S.  27; Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 24.11.1934, ebd., S.  39 f.; Max
Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 2.1.1935, ebd., S.  50.
147  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.5.1936, ebd., S.  144.
148  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 6.6.1936, ebd., S.  155.
149  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 19.2.1937, ebd., S.  289.
32 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

die Übereinstimmung mit anderen Aufsätzen des Heftes zu betonen«, womit


Horkheimer nicht zuletzt seinen eigenen gemeint haben dürfte.150 Adorno ar-
beitete den Aufsatz daraufhin noch einmal um und strich ihn auf die Hälfte
zusammen, mit dem Ergebnis, daß Horkheimer, obwohl zunächst durchaus
beeeindruckt, nun Angst vor der eigenen Courage bekam und dem bereits ge-
setzten Manuskript in letzter Minute das Imprimatur verweigerte.151 Die Grün-
de für diese Entscheidung erläuterte er in einem Brief an Adolph Lowe (!), den
Adorno per Durchschlag erhielt.152
War dies auch ein beachtlicher Affront, so berührte er Adorno doch noch in
einem eher peripheren Punkt seiner Ambitionen. Ins Zentrum dagegen traf die
Ablehnung, die seinen Bemühungen um die Kritik der Phänomenologie zuteil
wurde. Als er im Herbst 1937 in Hochstimmung über das Erreichte ein erstes
Zwischenergebnis seines Husserl-Projektes in Gestalt eines Aufsatzes bei der
Zeitschrift für Sozialforschung einreichte, erhielt er eine Abfuhr, wie sie deutli-
cher kaum hätte ausfallen können. Marcuse und Löwenthal winkten ab, der
letztere mit der Bemerkung, es sei ihm schwer faßlich, »warum Teddy gerade
hier seine größte Leistung erblickt.«153 Horkheimer erklärte sich zwar mit der
Intention des Textes solidarisch und sparte auch nicht mit Lob über die gedank-
liche Schärfe, bemängelte aber die Hermetik und den weitgehenden Verzicht auf
eine Kontextualisierung im historisch-soziologischen Sinne. Sein Hauptein-
wand richtete sich gegen Adornos Anspruch, mit seiner Kritik Husserls den
ganzen Idealismus erledigt zu haben. Husserls Phänomenologie repräsentiere
nicht den Idealismus, sondern dessen Verfallsform. Sie sei ein verkappter Positi-
vismus, ein Versuch, »dem bürgerlichen Idealismus eine Fortexistenz zu ver-
schaffen, indem er ihn vollends um jede konstruktive Gewalt, um seine ganze
utopische Funktion bringt.« Und weiter:
»Mein Einwand geht dahin, dass Sie diese grosse Frage nach der Widerlegung des Idea-
lismus mit der Husserlschen Philosophie und der Kritik an ihr zu nahe zusammenbrin-
gen. Dadurch statten Sie Husserl sowie Ihre eigenen Argumente mit Ansprüchen aus,
denen Sie nicht genügen können. Auch wenn der Nachweis, dass es für die entscheiden-
den Husserlschen Begriffe die von ihm selbst geforderte Anschauung nicht gibt, völlig
gelungen wäre, so hätten Sie damit den Idealismus noch keineswegs erledigt. Wie sehr
ich mich auch in Ihre Ausführungen vertiefe, so kann ich doch Ihren leidenschaftlichen
Glauben, dass der Angriff auf die Husserlsche Phänomenologie als auf die fortschritt-

150 
Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 22.2.1937, ebd., S.  297.
151  Vgl.
Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 1.10.1937, ebd., S.  417; Max
Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 13.10.1937, ebd., S.  430.
152  Vgl. Max Horkheimer an Adolph Lowe, Brief vom 4.1.1938, in: HGS Bd. 16, S.  356 ff.
153  Leo Löwenthal an Max Horkheimer, Brief vom 14.9.1937, in: Löwenthal, Schriften,

Bd. 4, S.  200. Im Nachsatz heißt es: »Es ist geradezu tragisch, welcher Verschleiß an innerer
und äußerer Betriebsamkeit diesen hohen Intellekt bedroht.«
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 33

lichste bürgerliche Philosophie mit der Überwindung der wichtigsten zum Idealismus
treibenden Denkmotive zusammenfalle, nicht bestätigt finden.«154

Denn, so die dahinter stehende Überzeugung, überwunden werde der Idealis-


mus nicht durch theoretische Kritik, sondern allein: durch seine Verwirkli-
chung.
In seiner Antwort auf diese Einwände gab Adorno einiges zu, was die Ver-
ständlichkeit seines Textes und die mangelnde historisch-soziologische Dimen-
sionierung betraf. An seinem zentralen Argument, daß die »Selbstzerstörung
des Idealismus« in Husserl ihre Vollendung gefunden habe, hielt er jedoch fest.
Entscheidend an diesem Vorgang sei keineswegs, wie Horkheimer annehme,
die Preisgabe des utopischen Momentes, das im klassischen Idealismus enthal-
ten gewesen sei und deshalb wieder gegen Husserl ins Spiel gebracht werden
müsse. Wofür Husserl vielmehr stehe, sei die Unwahrheit des Idealismus selbst,
die nunmehr offen zutage getreten sei. Auch wenn es zutreffe, daß Kant und
Hegel durch die Kritik an Husserl nicht erledigt seien, sei es doch falsch, die
Entwicklungslogik zu verkennen, die im Verfall des Idealismus liege. Auch in
der Ökonomie könne man schließlich gegenüber den Verflachungen der Vulgär-
ökonomie nicht einfach zur klassischen politischen Ökonomie zurückkehren.
Daß man es heute im Idealismus statt mit Hegel mit Husserl zu tun habe, »das
liegt nicht nur in der Konsequenz des Verfalls des bürgerlichen Denkens, son-
dern auch in der des Schicksals der Hegelschen Philosophie selber. So fraglos
der Vorrang Hegels über alle spätere bürgerliche Philosophie ist, so wenig kann
doch deren Kritiker auf einen rekonstruierten Hegel sich beziehen. Die Hegel-
sche Bewegung des Gedankens ist nun einmal, als philosophiehistorische
Wirklichkeit gesehen, die, welche zur phänomenologischen Katastrophe führ-
te.«155 Wie man sieht, lag damals nicht nur der Ozean zwischen Adorno und
Horkheimer.

IV.

Daß dieser Abstand wider alles Erwarten doch noch überbrückt wurde, ist zu
einem nicht geringen Maß äußeren Faktoren zuzuschreiben. Im Falle Adornos
liegen sie auf der Hand, war für ihn das Institut doch so etwas wie ein Rettungs-
schiff, das ihn gleich zweimal aus aussichtslosen Lagen befreite: aus seiner Posi-

154  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 13.10.1937, in: A/H Bd. 1, S.  428 f.

Aus dieser Passage geht deutlich hervor, daß Horkheimers Kritik sich vor allem gegen die in
Adornos Arbeit mitschwingenden geschichtsphilosophischen Ambitionen richtete und weni-
ger gegen eine vermeintliche Nähe zur sprachanalytischen Philosophie von Adornos Oxfor-
der »Supervisor«, Gilbert Ryle, wie eine informative Darstellung von Adornos Oxforder Pe-
riode vermutet: vgl. Kramer und Wilcock 1999, S.  154.
155  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.10.1937, in: A/H Bd. 1, S.  451.
34 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

tion in Oxford, die kaum Chancen für eine akademische Karriere bot; und bald
darauf aus der Knechtschaft im Princeton Radio Research Project, in dem er
seine Fähigkeiten nicht entfalten konnte. Wichtig war dabei nicht nur die finan-
zielle Sicherheit, die das Institut versprach, sondern auch die soziale und intel-
lektuelle Resonanz, die er dort fand. Nach seinem ersten Besuch in New York
im Sommer 1937 schrieb er enthusiastisch aus London:
»Kaum je und sicher nicht seit Ausbruch des Totalen bin ich so glücklich gewesen wie in
diesen Wochen. Und wenn ich nur eines noch Ihnen nennen darf, wofür ich aufs tiefste
dankbar bin, dann ist es dies: daß ein Schriftsteller meiner Art, der die tiefste Einsamkeit
und die prinzipielle Unmöglichkeit, das was er denkt und sagt, je einzufügen sich zum a
priori gemacht hat, nun plötzlich sich voll und real in eine bestehende und gute Kollek-
tivität eingefügt sieht, ohne daß er sich darum ›einfügen‹ müßte;[…] das ist eine Erfah-
rung, die ich überhaupt nicht übertreiben kann.«156

Es war diese Erfahrung, die Adorno in den folgenden Jahren dazu brachte,
möglichen Dissens in der Kommunikation mit Horkheimer nicht zu themati-
sieren und darüber hinaus bestimmte Formen des Diskurses zu übernehmen,
wie sie für dessen »Suebo-Marxismus« typisch waren.157 Zumal nach der Rück-
kehr nach Deutschland, als Adorno wiederum gegenüber Horkheimer in der
institutionell schwächeren Position war, machte er sich den linkshegelianischen
Topos von der Gesellschaft als eines tätigen, wenn auch uneigentlichen Subjekts
zu eigen und verpflichtete sich jener Kritikstrategie, die das bürgerliche Denken
mit seinem eigenen Anspruch konfrontiert.158 Entsprechend begegnet man For-
mulierungen, die die »Idee einer vollen Vernunft« ventilieren und das Postulat
verkünden, »daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vor-
wand, verwirklicht werde.«159 Die gegen den linkshegelianischen Diskurs ge-
richtete Passage im Spengler-Aufsatz wurde in der deutschen Fassung von 1955
gestrichen160 – angesichts des tiefen Unwillens gegenüber Änderungen seiner
eigenen Texte, den Adorno im Nachwort zum Kierkegaard bekundet hat, eine
aufschlußreiche Abweichung von der selbstverordneten Norm. Sie dokumen-
tiert einen Rückzug oder besser eine Frontbegradigung, die Rücknahme eines
vorgeschobenen Postens, den zu halten zu viele Kräfte verschlissen hätte. Ganz

156  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 6.7.1937, ebd., S.  374.
157  Als »suebo-marxistisch« bezeichnete Adorno Horkheimers Denken in einem Brief an
Kracauer vom 25.7.1930, in: A/K, S.  235.
158  Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziolo-

gie« (1969), in: AGS Bd. 8, S.  280–353, 317. Ferner die explizit linkshegelianische Deutung von
Hegels Sicht des Verhältnisses von Idee und Wirklichkeit in Theodor W. Adorno: Philosophi-
sche Terminologie, hrsg. von Rudolf zur Lippe, 2 Bde., Bd. 2, Frankfurt am Main 1974, S.  312.
159  Adorno, Negative Dialektik, S.  312, 150. Vgl. auch: Fortschritt (1964), in: AGS Bd. 10.2,

S.  617–638, 637; Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie (1967), in: AGS Bd. 11, S.  495–514,
508; Kriterien der neuen Musik (1957), in: AGS Bd. 16, S.  170–228, 225.
160  Vgl. Theodor W. Adorno: Spengler nach dem Untergang (1955), in: AGS Bd. 10.1, S.  47–

71.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 35

in Horkheimers Sinne war denn auch, was er dem Freund zum 70. Geburtstag
ins Stammbuch schrieb: »In einer gerechten Gesellschaft wäre der Tausch nicht
nur abgeschafft sondern auch erfüllt: jeder empfinge das Seine, das der Tausch
ihm wesentlich immer nur verspricht, um es ihm zu versagen.«161
Horkheimer wiederum hatte andere Motive, möglichen Dissens zurückzu-
stellen. Seine Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung faßte er als Vorstudien
zu einer »Logik« im dialektisch-materialistischen Sinne auf, der programmati-
sche Bedeutung für das Institut zukommen und die daher von Anfang an auch
dessen Mitarbeiter aktiv oder passiv einbeziehen sollte.162 Doch so sehr er den
zweiten Philosophen im Team, Herbert Marcuse, schätzte, so sehr war er sich
doch darüber im klaren, daß von ihm für dieses Vorhaben nur Impulse zu er-
warten waren, die er genausogut sich selbst geben konnte. Die Notwendigkeit,
für dieses Projekt einen wirklichen Partner zu finden, verstärkte sich in den
nächsten Jahren, weil Horkheimer zunehmend in administrative Aufgaben in-
volviert wurde, die mit der Redaktion der Zeitschrift und der Organisation der
Institutsarbeit zusammenhingen. Obwohl er regelmäßig Aufsätze schrieb, ver-
dichtete sich bei ihm doch das Gefühl, hinter den eigenen Ambitionen zurück-
zubleiben. Es war deshalb nicht nur eine Geste der Höflichkeit, wenn er Ador-
no im Sommer 1937 schrieb, er erhoffe sich von seinem Besuch »eine entschei-
dende Steigerung meiner eigenen Arbeitskraft«.163 Wie schlecht es um diese
stand, ließ er einige Wochen später Friedrich Pollock wissen:
»Der Apparat des Instituts hat mir bis jetzt gerade noch so viel Zeit gelassen, daß ich –
bei meiner armseligen Natur – die Aufsätze noch zuwege bringen konnte. Diese enthal-
ten unsere Ansichten – aber nur in notdürftigster Formulierung, zu abgekürzt, unge-
schliffen, mißverständlich. Es ist zu wenig Kunst dabei, ich meine die Mittel der Darstel-
lung sind quantitativ und qualitativ armselig. Deshalb kommen äußerst wichtige
inhaltliche Punkte nicht heraus.«164

In der Literatur über die Kritische Theorie wird es nur selten ausgesprochen,
aber die inzwischen veröffentlichten Korrespondenzen lassen keinen Zweifel
daran, daß Adorno für Horkheimer zum Retter in der Not wurde und rasch in
die Rolle eines »Ghostwriters« hineinwuchs. Als im Januar 1939 eine umfang-
reiche und sorgfältig durchdachte Kritik Hans Mayers an Adornos Aufsatz
»Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« in
New York eintraf, war es zwar Horkheimer und nicht Adorno, der darauf ant-
wortete, doch geschah dies auf der Basis einer längeren Antikritik, die Adorno
formuliert hatte. Mit dieser Antwort übernahm Horkheimer Positionen, die
ihm bis dahin weitgehend fremd waren, darunter die Theorie der Verdingli-
161  Theodor W. Adorno: Offener Brief an Max Horkheimer, in: AGS Bd. 20.1, S.  155–163,
163.
162  Vgl. Max Horkheimer an Erich Fromm, Brief vom 20.7.1934, in: HGS Bd. 15, S.  160.
163  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 18.7.1937, in: A/H Bd. 1, S.  380.
164  Max Horkheimer an Friedrich Pollock, Brief vom 21.8.1937, in: HGS Bd. 16, S.  219.
36 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

chung und der Substitution des Gebrauchswertes durch den Tauschwert.165 Ei-
nen bereits Ende 1938 verfaßten Aufsatz Horkheimers über »Die Juden und
Europa« modelte Adorno im Sommer 1939 kräftig um und brachte einen neuen,
schärferen Ton hinein.166 Ähnliches galt für die beiden folgenden Essays über
den autoritären Staat und »Vernunft und Selbsterhaltung«.167 An dem zuletzt
genannten Text war sein Anteil so groß, daß er unter beider Namen veröffent-
licht werden sollte, was dann doch nicht geschah.168 Bei der Dialektik der Auf-
klärung, die sich bruchlos nur in seine Denkentwicklung einfügt, nicht in die-
jenige Horkheimers169 , stand sein Name an zweiter Stelle. Bei der Eclipse of
Reason fehlte er wieder, obwohl er an diesem Text ebenfalls beteiligt war.170
Daß Adorno im Rahmen der Frankfurter Schule die Rolle eines Interpreten
und Popularisierers wahrgenommen hätte, der lediglich das Paradigma des
Schulhauptes verbreitete171, verzeichnet das Verhältnis so massiv wie es nur
eben geht.
Was in sachlicher Hinsicht zusammenführte, war vor allem ein bei beiden
sich herausbildendes Sensorium für die zunehmenden Ambivalenzen und Para-
doxien, die sich beim Weiterdenken zentraler Theoreme des Marxismus und der
Psychoanalyse ergaben, jener Gedankensysteme mithin, die bis dahin für die
Kritische Theorie erkenntnisleitend gewesen waren. Am häufigsten erörtert
und deshalb hier nur kurz anzutippen sind die Ambivalenzen in bezug auf den
Marxismus, die sich aus dem Festhalten an der von Marx entwickelten Mehr-
wert-, Klassen- und Kapitalismustheorie sowie an der von den Marxschen Epi-
gonen diagnostizierten Tendenz zum Imperialismus, Monopolkapitalismus
und Staatskapitalismus ergaben. Auch wenn es zutrifft, daß Horkheimer und
Adorno nicht einfach den Vorgaben Friedrich Pollocks folgten, die auf der An-
nahme eines nahen Endes des Privatkapitalismus und des Übergangs zu einer
neuen ›staatskapitalistischen‹ Ordnung beruhten, welche sich entweder in einer
totalitären oder in einer demokratischen Variante präsentierte172 , blieb ihre ei-
gene Auffassung doch von starken Schwankungen geprägt. Horkheimer konnte

165  Vgl. Max Horkheimer an Hans Mayer, Brief vom 23.3.1939, in: HGS Bd. 16, S.  575 ff. Zu

dieser Debatte auch: Braunstein 2011, S.  117 ff.


166  Vgl. Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern vom 8.7.1939 und 20.2.1940, in: A/E S.  17,

69.
167  Vgl. ebd., Briefe vom 24.3.1940 und 12.2.1942, S.  71, 130; Braunstein 2011, S.  145 f.
168  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  289, 334; Müller-Doohm 2003, S.  405.
169  Darauf verweist zu Recht das Nachwort des Herausgebers, Gunzelin Schmidt-Noerr,

zur Edition des Buches im Rahmen der Gesammelten Schriften Horkheimers, in: HGS Bd. 5,
S.  430; ähnlich Abromeit 2011, S.  4 .
170  Vgl. weiter unten.
171  Vgl. Ziege 2009, S.  45.
172  Vgl. Frederick Pollock: State Capitalism. Its Possibilities and Limitations, in: Studies in

Philosophy and Social Science 9, 1941, S.  200–226. Zur Kritik älterer Darstellungen vgl. As-
bach 1997, S.  228 ff. Unter den dort kritisierten Arbeiten wird zu Recht auch meine Studie
über Marcuse genannt. Ferner Braunstein 2011, S.  150 ff.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 37

von der »Überholtheit der Marktwirtschaft«, vom Übergang zu einer neuen,


politisch vermittelten Form der Ausbeutung und vom »Ende der politischen
Ökonomie« sprechen und gleichzeitig den Staatskapitalismus als eine »antago-
nistische, vergängliche Form« bezeichnen, ohne doch für letzteres noch irgend-
welche objektiven Gründe angeben zu können.173 Ob er den autoritären Staat
als ein geschlossenes System bürokratischer Herrschaft oder als »Gangsterherr-
schaft« verstand174 , bei der sich die Rackets wütende Kämpfe um die Beute lie-
ferten, blieb offen. Adorno protestierte zwar scharf gegen Pollocks undialekti-
sche Betrachtungsweise, übernahm aber die These von der »Liquidation der
Ökonomie« und die damit verbundene Behauptung, »unterm Monopol« werde
fremde Arbeit nicht mehr über den Markt angeeignet, sondern direkt.175
Für die Dialektik der Aufklärung, und zwar besonders für die 1944 erschie-
nene erste Fassung, die noch Philosophische Fragmente hieß, war es schließlich
ausgemacht, daß der freie Markt bzw. die Zirkulationssphäre in vollem Abbau
begriffen seien.176 Es seien »nicht mehr die objektiven Marktgesetze, die in den
Handlungen der Unternehmer walteten und zur Katastrophe trieben. Vielmehr
vollstreckt die bewußte Entscheidung der Generaldirektoren als Resultante, die
an Zwangsläufigkeit den blindesten Preismechanismen nichts nachgibt, das alte
Wertgesetz und damit das Schicksal des Kapitalismus.«177 Infolgedessen sei die
moderne Gesellschaft im Begriff, auf »die Stufe unmittelbarer Herrschaft« zu-
rückzufallen.178 Nur vorübergehend habe sich Herrschaft in der durch Handel
und Verkehr vermittelten bürgerlichen Form präsentiert, womit zugleich gesagt
war: davor und danach offenbar nicht. Die Gegenwart und mehr noch die Zu-
kunft sollten im Zeichen des »Schwertes« und der Sklaverei stehen, desgleichen
der gesamte vorbürgerliche Äon, von der Feudalordnung bis zurück zur Stam-
mesgesellschaft. Geschichte erschien aus dieser Perspektive nicht länger als Ge-
schichte der Klassenkämpfe, sondern als Geschichte der Herrschaft. Herrschaft
bewirkte die Spezifikation des präanimistischen »Mana« in Geister und Gott-
heiten und brachte damit die Religionsgeschichte in Gang. Sie manifestierte sich
in der Kunst im »Stil« und prägte das Recht, verpuppte sich in Wissen und Wis-
senschaft, wurde identisch mit Vernunft und verkleidete sich in endlich in Pro-
173  Max Horkheimer: Die Juden und Europa (1939), in: HGS Bd. 4, S.  308–331, 310, 316;

Autoritärer Staat (1940/1942), in: HGS Bd. 5, S.  293–319, 309.


174  Max Horkheimer: Vernunft und Selbsterhaltung (1942), in: HGS Bd. 5, S.  320–350, 332.
175  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 8.6.1941, in: A/H Bd. 2, S.  139;

Theodor W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in: AGS Bd. 8, S.  373–391, 385.
176  Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S.  190, 156.

In der Fassung von 1947 wurde diese Formulierung abgeschwächt zu: »Heute, da der freie
Markt zu Ende geht« (H.v.m., S.B.). Zu den Abweichungen der beiden Fassungen, die nur in
der Ausgabe im Rahmen der HGS nachvollziehbar sind, vgl. Willem van Reijen und Jan Bran-
sen: Das Verschwinden der Klassengeschichte in der »Dialektik der Aufklärung«, in: HGS
Bd. 5, S.  453–457.
177  Ebd., S.  61.
178  Ebd., S.  259.
38 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

duktion und Technik, womit eine weitere tragende Unterscheidung des Histo-
rischen Materialismus eingezogen wurde: die von Produktivkräften und Pro-
duktionsverhältnissen.179 Auch dieser Gedanke blieb freilich ambivalent, sollte
sich doch nach wie vor »in der Herrschaft das Moment der Rationalität als ein
von ihr auch verschiedenes« durchsetzen und es ermöglichen, daß die entfrem-
dete Ratio sich »in der Gestalt der Maschinen« auf eine Gesellschaft zubewegte,
»die das Denken in seiner Verfestigung als materielle wie intellektuelle Appara-
tur mit dem befreiten Lebendigen versöhnt und auf die Gesellschaft selbst als
sein reales Subjekt bezieht«.180
Die Assimilierung der Produktivkräfte an die Produktionsverhältnisse
schloß, wie nicht breit ausgeführt werden muß, auch die lebendige Arbeit ein.
Für Adorno war die These, daß das kapitalistische System das Proletariat pro-
duziere, in einem Maße eingelöst worden, das zu Marxens Zeit noch nicht abzu-
sehen war. »Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und der allgegen-
wärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten gewor-
den: als ihre eigene erfassende Verdinglichung, nicht als unerfaßte Roheit
vollendet unterm Monopol die Entmenschlichung sich an den Zivilisierten, ja
sie fällt mit ihrer Zivilisation zusammen. Die Totalität der Gesellschaft bewährt
sich daran, daß sie ihre Mitglieder nicht nur mit Haut und Haaren beschlag-
nahmt, sondern nach ihrem Ebenbild erschafft.«181
Für Horkheimer war der Aufstieg der Arbeiter von einer passiven zu einer
aktiven Rolle im kapitalistischen Prozeß mit ihrer »Integration in das allgemei-
ne System« erkauft.182 Seine »Geschichte der amerikanischen Arbeiterschaft«
von 1942 bestand nur noch aus drei Sätzen: »Der geschichtliche Gang des Pro-
letariats führte an einen Scheideweg: es konnte zur Klasse werden oder zum
Racket. Das Racket bedeutete Privilegien innerhalb der nationalen Grenzen, die
Klasse die Weltrevolution. Die Führer haben dem Proletariat die Entscheidung
abgenommen.«183 Gewerkschaften: das waren seitdem für Horkheimer ›Rackets
der Arbeit‹, die Arbeiterführer nur mehr eine habsüchtige Gruppe unter ande-
ren mit dem einzigen Ziel der »Ergatterung des größtmöglichen Anteils am zir-
kulierenden Mehrwert.«184 Die Dialektik der Aufklärung wiederholte und be-
kräftigte diese Gedanken, die allesamt darauf hinausliefen, mit der Idee des
Klassenkampfs auch die der Revolution zu verabschieden.

179  Ebd. S.  265, 51, 154 f., 142, 202. Vgl. auch S.  145: »Technische Rationalität heute ist die

Rationalität der Herrschaft selbst.«


180  Ebd., S.  6 0 f.
181  Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, S.  390.
182  Horkheimer, Zur Soziologie der Klassenverhältnisse, S.  87.
183 Max Horkheimer: [Aufzeichnungen und Entwürfe zur Dialektik der Aufklärung

1939–1942], in: HGS Bd. 12, S.  250–295, 260.


184  Horkheimer, Zur Soziologie der Klassenverhältnisse, S.  101, 96, 102.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 39

»Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Ge-
sellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich
das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen
Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollekti-
vität. Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im
gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im
Kollektiv. Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Kon-
formismus und nicht die bewußten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrück-
ten Menschen dumm machten und von der Wahrheit abzögen. Die Ohnmacht der Arbei-
ter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der
Industriegesellschaft, in die das antike Fatum unter der Anstrengung, ihm zu entgehen,
sich schließlich gewandelt hat.«185

Es liegt nahe, daß davon auch die Psychoanalyse nicht unberührt bleiben konn-
te, hatte man von dieser doch Anfang der 30er Jahre nicht nur Aufschluß über
die Blockaden erwartet, die das revolutionäre Subjekt von seiner Aufgabe ab-
hielten, sondern auch über Wege zur möglichen Überwindung dieser Blocka-
den. In seiner Antrittsrede hatte Horkheimer als eine der zentralen Aufgaben
des Instituts die Erforschung der Zusammenhänge benannt, die zwischen der
Rolle bestimmter gesellschaftlicher Gruppen »im Wirtschaftsprozeß, der Ver-
änderung in der psychischen Struktur ihrer einzelnen Mitglieder und den auf
sie als Gesamtheit im Ganzen der Gesellschaft wirkenden und von ihr hervor-
gebrachten Gedanken und Einrichtungen« bestünden.186 An anderer Stelle hat-
te er damit den Hinweis verbunden, Aufschlüsse in dieser Richtung seien vor
allem aus der Analyse von Einzelpersonen zu gewinnen, womit die »Begrün-
dung einer Sozialpsychologie auf psychoanalytischer Grundlage« gemeint war,
an der Erich Fromm arbeitete.187 Mit seinen Beiträgen zur Zeitschrift für Sozial-
forschung und besonders zum Gemeinschaftswerk über Autorität und Familie,
auf die an anderer Stelle einzugehen sein wird, hatte Fromm diese Erwartung
erfüllt. Auch Adorno brachte der Psychoanalyse großes Interesse entgegen, wie
seine erste, nicht eingereichte Habilitationsschrift über den »Begriff des Unbe-
wußten in der transzendentalen Seelenlehre« belegt. Jeder Blick in seine Arbei-
ten der folgenden Dekade zeigt, daß dieses Interesse anhielt und auch die Tren-

185  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  59 f. Wie sehr sich an diesem

Befund die Geister schieden, zeigen die kritischen Reaktionen von Marcuse und Kirchheimer
auf Horkheimers Entwurf »Zur Soziologie der Klassenverhältnisse«, die die These von der
Integration der Arbeiter zurückwiesen und für die Erklärung der Stagnation des revolutionä-
ren Bewußtseins das Leninsche Theorem von der Arbeiteraristokratie bemühten, das sich
eben nur auf eine Minderheit bezieht. Vgl. Herbert Marcuse an Max Horkheimer, Briefe vom
24.9. und 25.10. 1943, in: HGS Bd. 17, S.  476 f., 490 ff.; Max Horkheimer an Otto Kirchheimer,
Brief vom 5.11.1943, ebd., S.  495 f.
186  Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben ei-

nes Instituts für Sozialforschung (1931), in: HGS Bd. 3, 20–35, 33.
187  Horkheimer, Geschichte und Psychologie, S.  61.
40 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

nung von Fromm überdauerte, die schließlich nicht wegen der Psychoanalyse
erfolgte, sondern wegen Fromms mangelnder Freud-Orthodoxie.188
Psychoanalyse war auch in den 40er und 50er Jahren aus der Kritischen The-
orie nicht wegzudenken. Das zeigen die Odysseus-Passagen und die »Elemente
des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung, aber auch Adornos the-
matisch einschlägige Beiträge oder Marcuses Eros and Civilization von 1955.189
Ambivalenzen stellten sich freilich auch hier bald ein. Bereits in Egoismus und
Freiheitsbewegung formulierte Horkheimer massive Vorbehalte gegen Freuds
Spätwerk, weil in ihm das historische Moment zugunsten des rein biologischen
mehr und mehr zurücktrete, um schließlich in einer »biologistische[n] Meta-
physik« zu kulminieren.190 Weiter verschärft wurden die Bedenken in den Dis-
kussionen, die Anfang 1939 zwischen Horkheimer und Adorno im New Yor-
ker Institut für Sozialforschung geführt wurden. In den Gesammelten Schrif-
ten Horkheimers stehen die entsprechenden Protokolle unter der Überschrift
»Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer
Dialektik«, womit bereits ein zentraler Punkt benannt ist: der positivistische
Zug der Psychoanalyse, den Horkheimer und Adorno sowohl in den auf sozia-
le Anpassung zielenden Tendenzen als auch im »Rationalismus der Psychologie
des Unbewußten« ausmachten.191 Darüber hinaus kreiste das Gespräch um die
Historizität jener Instanz, an der die Psychoanalyse ihre Kategorien gewonnen
hatte: des bürgerlichen Individuums. Dessen Schicksal sah Horkheimer in Ab-
wandlung eines Hegelschen Gedankens dadurch bestimmt, daß »der Weltgeist,
der zu seiner Durchsetzung des Individuums bedurft habe, […] nun auf seinem
Weg das Individuum als leere Schale oder Hülle hinter sich zurückgelassen
[habe]«.192
Adorno ergänzte dies um den Vorschlag, den Begriff des Individuums selber
genetisch zu fassen. Dabei rekurrierte er auf einen Text, den er kurz zuvor in der
Zeitschrift für Sozialforschung besprochen hatte: Roger Caillois’ Studie über die
Gottesanbeterin, die »mante religieuse«.193 Caillois (1913–1978), den Adorno zu
den hochqualifizierten jungen Intellektuellen in Frankreich rechnete, die als

188  Vgl. dazu näher Erich Klein Landskron: Max Horkheimer und Erich Fromm, in: Kess-

ler und Funk (Hrsg.) 1992, S.  161–180.


189  Von Adorno seien hier nur erwähnt: Anti-Semitism and Fascist Propaganda (1946), in:

AGS Bd. 8, S.  397–407; Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda (1951), ebd.,
S.  408–433; Die revidierte Psychoanalyse (1952), ebd., S.  20–41; Zum Verhältnis von Soziolo-
gie und Psychologie (1955), ebd., S.  42–85. Auf die Studien zum autoritären Charakter gehe
ich an anderer Stelle ein.
190  Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, S.  81, 84.
191 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Diskussionen über die Differenz zwi-

schen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939)], in: HGS Bd. 12, S.  436–492, 443,
450.
192  Ebd., S.  457 f.
193  Vgl. Roger Caillois: La Mante religieuse. Recherche sur la nature et la signification du

mythe, Paris 1937. Eine erste, erheblich kürzere Fassung dieses Textes erschien 1934 in der
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 41

mögliche Mitarbeiter für die Zeitschrift ins Auge zu fassen seien194 , war ein
Schüler von Marcel Mauss und Georges Dumézil und Mitbegründer des kurz-
lebigen Collège de Sociologie in Paris.195 Während er die für die École durkhei-
mienne typische Sicht teilte, nach der das Individuum ein Zerfallsprodukt des
logisch wie chronologisch vorhergehenden Kollektivbewußtseins war, hielt er
jedoch für die Erklärung bestimmter Gefühlsreaktionen, wie sie etwa dem my-
thographischen Material zu entnehmen waren, weder die Soziologie noch die
Psychologie für alleinzuständig und plädierte vielmehr für die Berücksichti-
gung von »Urerfahrungen biologischer Art«196 , wie sie sich sowohl im Phäno-
men des sexuellen Kannibalismus bei den Insekten fänden, als auch in den My-
then, die die Koppelung von Sexualität und Nahrungsaufnahme unmittelbar
widerspiegelten.
An Caillois’ Erklärung bemängelte Adorno wohl den »Drang, durch Reduk-
tion auf den Mythos und die Natur alle menschlichen Versuche, dem blinden
Naturzusammenhang sich zu entwinden, als zufällig, isoliert und lebensfremd
zu kompromittieren«, wies auch den damit verbundenen Einwand gegen Freud
zurück, dieser trachte »um jeden Preis aus der individuellen Ätiologie der Fälle
zu entnehmen […], was allein aus ihrem ›dynamischen Schema‹, nämlich der
biologischen Vorgeschichte der Gattung verstanden werden könne«. Zugleich
würdigte er jedoch den »echt materialistischen Aspekt«, der in dem Versuch
liege, »psychologische Tendenzen nicht auf das Bewusstseinsleben des autono-
men Individuums, sondern auf reale somatische Tatbestände zurückzufüh-

Zeitschrift Minotaure (No. 5, S.  23–26). Eine deutsche Übersetzung der Erstfassung findet
sich in: Roger Caillois: Méduse & Cie, Berlin 2007, S.  7 –23.
194  Vgl. Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 2.7.1937, in: A/B, S.  257. Als

weiteren Kandidaten nennt Adorno dort Georges Bataille, allerdings mit einem Fragezeichen.
In einem anderen Brief (vom 2.8.1938) ist mit Bezug auf Caillois von »Anzeichen einer ganz
außerordentlichen Begabung« die Rede. »Es gibt ganz wenige Menschen, um die es so schade
ist wie um diesen« (ebd., S.  346). Noch in dem zwischen 1946 und 1947 entstandenen dritten
Teil der Minima Moralia erinnert er sich an Caillois’ Aufsatz über ›L’Aridité‹ (AGS Bd. 4,
S.  251). Die Faszination mag damit zusammenhängen, daß Caillois zu den wenigen zeitgenös-
sischen Autoren gehörte, die sich gegenüber dem Werk von Klages empfänglich zeigten: vgl.
Roger Caillois: Le Mythe et l’homme (1938), Paris 2012, S.  118 f.
195  Zu Caillois vgl. Odile Felgine: Roger Caillois. Biographie, Paris 1994. Zum Collège, das

nachmals berühmte Namen wie Georges Bataille, Pierre Klossowski, Alexandre Kojève oder
Michel Leiris versammelte, vgl. Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte
des Collège de Sociologie (1937–1939), Konstanz 2006 sowie die von Denis Hollier hrsg. Do-
kumentation: Das Collège de Sociologie 1937–1939, Berlin 2012. Die Beziehungen zur Durk-
heimschule behandelt Alexander T. Riley: »Renegade Durkheimianism« and the Transgressi-
ve Left Sacred, in: Jeffrey C. Alexander und Philip Smith (Hrsg.): The Cambridge Compani-
on to Durkheim, Cambridge etc. 2005, S.  274–300. Mit Walter Benjamin und Hans Mayer
zählte das Collège auch zwei Autoren zu seinen Gästen, die dem Institut für Sozialforschung
nahestanden.
196  Theodor W. Adorno: [Besprechung von] Roger Caillois: La Mante religieuse, in: Zeit-

schrift für Sozialforschung 7, 1938, S.  410–411, 411.


42 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

ren«.197 In der Diskussion mit Horkheimer ging er noch einen Schritt weiter
und betonte, in einem bestimmten Stadium seien die Menschen »mehr etwas
wie Bienen oder Korallen als was man heute Individuen nennt.« Adorno, heißt
es im Protokoll einer späteren, speziell Caillois gewidmeten Sitzung, »sieht
trotz aller Bedenken das Wertvolle an der Arbeit von Caillois darin, daß sie
prinzipiell solche psychologischen Erklärungen ausschließt und statt dessen die
Mythen auf reale Vorgänge reduziert.«198
Das Heft der Zeitschrift für Sozialforschung, in dem Adornos Besprechung
der Mante erschien, enthielt eine weitere Rezension zu Caillois, seinem Essay-
band Le Mythe et l’homme.199 Da in diesem Band auch der Text über die Mante
abgedruckt war, ist davon auszugehen, daß die übrigen Essays Adornos Auf-
merksamkeit nicht entgangen sind – übrigens auch nicht derjenigen Horkhei-
mers, der sich in einem Brief an Benjamin über das Collège de Sociologie infor-
miert zeigte.200 Ein zentraler Text des Bandes befaßte sich mit dem Phänomen
des mimétisme, in dem man unschwer den für die Dialektik der Aufklärung so
grundlegenden Begriff der Mimesis erkennt: jene »dem Lebendigen tief ein-
wohnende Tendenz, deren Überwindung das Kennzeichen aller Entwicklung
ist: sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sich tätig in ihr durchzusetzen,
den Hang, sich gehen zu lassen, zurückzusinken in Natur.«201 Hatte Freud sich
in Totem und Tabu im wesentlichen den psychologischen Religionstheorien an-
geschlossen, über die er nur insofern hinausging, als er eine Entsprechung zwi-
197 Ebd.
198 Horkheimer und Adorno, [Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus

und materialistischer Dialektik], S.  459. Vgl. in diesem Sinne auch Horkheimer und Adorno,
Dialektik der Aufklärung, S.  39: »Auf Naturverhältnisse lassen sich auch die Vorstellungen
der Mythen ohne Rest zurückführen.«
199 Vgl. Raymond Aron: [Besprechung von] Roger Caillois: Le Mythe et l’homme, in:

Zeitschrift für Sozialforschung 7, 1938, S.  412–418. Die Besprechung war Teil einer Sammel-
rezension (S.  414).
200 Vgl. Max Horkheimer an Walter Benjamin, Brief vom 23.2.1939, in: HGS Bd.  16,
S.  564 ff. Caillois, heißt es dort, »gehört zu jenem Typus des Schriftstellers, dessen Thesen im
Zusammenhang mit einer differenzierten Theorie sehr erleuchtend wirken können und der
unendlich viel verliert, sobald man auf ihn selbst hinsieht. Die Gedanken über ›Paris mythe
moderne‹ im letzten Buch sind durch die Problemstellung auch für uns anziehend, ebenso wie
jene Reflexionen über die Mante Religieuse. Auch die Broschüre über die Mante weist freilich
die Zeichen eines durch wissenschaftlichen Tand verdeckten Mangels an theoretischer Schu-
lung auf.« Das hinderte Horkheimer allerdings nicht, sich an zentraler Stelle seines Juliette-
Ex­kurses in der Dialektik der Aufklärung der von Caillois entwickelten »Théorie de la Fête«
zu bedienen, die in der Nouvelle Revue Française vom Januar 1940 erschienen war: vgl. Hork-
heimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  129. Einen Überblick über die ambivalen-
ten Beziehungen zwischen dem Institut für Sozialforschung und dem Collège bietet Michael
Weingrad: The College of Sociology and the Institute of Social Research, in: New German
Critique 84, 2001, S.  129–161.
201  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  258 f. Caillois postulierte neben

dem »instinct de conservation« »une sorte d’instinct d’abandon«, der das Leben zu einer ein-
geschränkten, weder über Bewußtsein noch Empfindung verfügenden Existenzweise zurück-
dränge: »l’inertie de l’élan vital«: Caillois, Le Mythe et l‹homme, S.  121.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 43

schen den »Entwicklungsstufen der menschlichen Weltanschauung« (Animis-


mus, Magie, Wissenschaft) und den »Stadien der libidinösen Entwicklung des
Einzelnen« (Narzißmus, Elternbindung, Reife) postulierte202 , so näherten sich
Horkheimer und Adorno der naturalistischen Position von Caillois (und damit
zugleich dem Spätwerk Freuds), indem sie die Mimesis als ein Naturverhältnis
deuteten, bei welchem sich bewegte, entfaltete Natur der umgebenden unbe-
wegten Natur anglich. Wie Caillois, der in der Mimesis eine Art Regression
vom Organischen ins Anorganische sah, eine »depersonnalisation par assimila-
tion à l’espace«203 , sprachen auch sie von einem Rückzug auf biologisch funda-
mentalere Reize, der sich in der Mimesis ereigne. Allerdings sahen sie darin
nicht nur ein Zurückweichen des Lebens um eine Stufe, sondern eine Entfrem-
dung des Lebens von sich selbst:
»Indem aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben bloßer Natur sich
nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie Daphne,
Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußerlichsten, der
räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute Entfremdung. Wo Menschliches
werden will wie Natur, verhärtet es sich zugleich gegen sie. Schutz als Schrecken ist eine
Form der Mimikry. Jene Erstarrungsreaktionen am Menschen sind archaische Schemata
der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch Angleichung
ans Tote.«204

Das war eine stillschweigende Korrektur der Abweisung, die Horkheimer in


Egoismus und Freiheitsbewegung Freuds Hypothese vom Todestrieb hatte zu-
teil werden lassen, wie es auch eine Relativierung von Adornos Vorbehalten
gegen Caillois’ »kryptofascistische Naturgläubigkeit« implizierte.205 Die ge-
samte Zivilisationsgeschichte erschien ihnen jetzt als ein einziger gescheiterter
Versuch, das für die mimetische Praxis charakteristische Naturverhältnis zu
überwinden. Gewiß: in der Reflexion, speziell der philosophisch angeleiteten,
sollte immer auch die Chance einer Emanzipation liegen, durch ›Eingedenken
der Natur im Subjekt‹. Aber das war eine Sache der Wenigen, zu denen sich die
Weltvernunft geflüchtet hatte, wie Horkheimer und Adorno dies für sich in
Anspruch nahmen.206 Die Vielen dagegen standen seit Überwindung der ›magi-
202  Sigmund Freud: Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wil-

den und der Neurotiker), in ders., Studienausgabe, Bd. IX, S.  287–444, 366, 378 u. ö.
203  Caillois, Le Mythe et l‹homme, S.  112. Von dieser Auffassung hat sich Caillois aller-

dings in seinem späteren Buch Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch (Frankfurt
am Main etc. 1982, frz. 1958) wieder distanziert: »Ich würde heute aus dem Mimetismus keine
Trübung der Wahrnehmung des Raumes mehr machen und keine Tendenz, ins Leblose zu-
rückzukehren, sondern […] in dieser Erscheinung bei den Insekten ein Äquivalent für die
Verwandlungsspiele des Menschen sehen« (S.  29).
204  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  210.
205 Vgl. Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, S.   83; Theodor W. Adorno an
Walter Benjamin, Brief vom 22.9.1937, in: A/B, S.  277.
206  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.11.1937, in: A/H Bd. 1,

S.  478.
44 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

schen Stufe‹ durch die ›List‹ im Banne eines fortbestehenden und durch Aufklä-
rung und Wissenschaft fortschreitend verstärkten Naturzwangs. »Die Ratio,
welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mi-
mesis: die ans Tote. Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst,
bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und als animistisch
sich selber auflöst. Nachahmung tritt in den Dienst der Herrschaft, indem noch
der Mensch vorm Menschen zum Anthropomorphismus wird.« 207
Es muß nicht sein, daß Horkheimer und Adorno erst durch Caillois auf die
Rolle der Mimesis aufmerksam wurden.208 Einige Jahre zuvor hatte bereits Ben-
jamin Notizen über das mimetische Vermögen zu Papier gebracht, von denen
Adorno auf mündlichem oder schriftlichem Wege Kenntnis erhalten haben
mag.209 Unstrittig dürfte indes sein, daß die Rezeption von Caillois wesentlich
dazu beitrug, die Ambivalenz gegenüber der Psychoanalyse wie der Psycholo-
gie im allgemeinen zu vertiefen. Es habe ihn positiv berührt, hatte Adorno
schon 1937 an Benjamin geschrieben, und zwar »positiv auch der im übrigen mit
fast Prinzhornschem Leichtsinn abgewerteten Psychoanalyse gegenüber, daß
Caillois die Mythen nicht in Bewußtseinsimmanenz auflöst, sie nicht durch
›Symbolik‹ verflacht, sondern auf ihre Wirklichkeit aus ist.« Zu beanstanden sei
nicht, daß er die historische Dynamik in die Biologie hineinziehe, sondern nur,
daß er nicht auch umgekehrt die Biologie in die historische Dynamik einbette.
»Hätte ich politisch dagegen zu polemisieren, ich würde ihm nicht, wie es ihm
so passen könnte, Naturmetaphysik vorwerfen sondern den altmodischesten
Vulgärmaterialismus, verkleidet durch Erudition.«210 Eine Naturmetaphysik,
die nicht vulgärmaterialistisch, sondern materialistisch im differenzierten, dia-
lektischen Sinne verfuhr, war für Adorno also durchaus akzeptabel, ja sie war,
wie er schon in einem frühen Vortrag angedeutet hatte, das einzig adäquate
Mittel auch für das Verständnis einer Gegenwart, die sich ihm als ›zweite Na-
tur‹ darstellte.211
Genauer ausgeführt wurde dies allerdings erst 1941 in einem Text, der sich
mit der grundsätzlichen »Unangemessenheit der Psychologie« im Hinblick auf
den »neuen unter den Bedingungen des Monopol- und Staatskapitalismus sich
bildenden Menschentypus« auseinandersetzte. Die Psychoanalyse, hieß es dort

207  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  81.


208  Das gilt auch, wie immerhin naheläge, für die Rolle des Mythos, für die sich Adorno
schon einige Jahre vor Le mythe et l’homme interessiert hat: vgl. Theodor W. Adorno: Die
Idee der Naturgeschichte (1932), in: AGS Bd. 1, S.  345–365, 365; Kierkegaard (1933), AGS
Bd. 2, S.  79 f., 156, 171. Im übrigen lokalisiert Caillois die Manifestationen des Mythos in der
Moderne nicht in der Wissenschaft, sondern in der Literatur, was dann doch in eine ganz an-
dere Richtung führt, als sie in der Dialektik der Aufklärung verfolgt wird.
209  Vgl. Walter Benjamin: Über das mimetische Vermögen (1933), in ders. 1991, Bd. II.2,

S.  210–213.
210  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 22.9.1937, in: A/B, S.  276 f.
211  Vgl. Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, S.  356.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 45

apodiktisch, sei »ganz und gar liberal und individualistisch« und verfehle damit
eine Lage, in der es eine Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft nicht
mehr gebe. Ebenso werde »die ganze Triebökonomie mitsamt dem Lustmecha-
nismus außer Kraft gesetzt«, da man es nicht mehr mit Individual-, sondern mit
Kollektivsubjekten zu tun habe. Hinfällig seien weiterhin Begriffe wie Ich, Es
und Über-Ich einschließlich der gesamten darauf basierenden sozialpsychologi-
schen Charakterologie.212 In einem weiteren Text, den Adorno zur selben Zeit
mit Horkheimer verfaßte, verglich er die Psychoanalyse mit der Eule der Miner-
va, »which took its flight when the shades of dark were already gathering over
the whole sphere of private life.«213
Die Dialektik der Aufklärung spann diesen Faden weiter, indem sie das Ab-
sterben bürgerlicher Bildung mit einem Anstieg der »Paranoia der Massen« in
Verbindung brachte, die eine ungeahnte Dimension erreicht habe.214 »Im Fort-
schritt der Industriegesellschaft«, hieß es kategorisch, »wird nun der Begriff
zuschanden, durch den das Ganze sich rechtfertigte: der Mensch als Person, als
Träger der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den
Wahnsinn um.«215 Mit dieser Denkfigur wurde zwar noch ein Sachverhalt ange-
sprochen, der auch das Interesse Freuds und seiner Mitarbeiter auf sich gezogen
hatte, doch bezog sich Horkheimer, der das entsprechende Kapitel konzipiert
hatte, weit mehr auf das Buch eines Mediziners, der sie in einem psychiatrischen
und neurologischen Sinne verstand.216 Konzentrierte er sich in seiner Bespre-
chung dieses Buches zunächst ganz auf die Frage nach den ökonomischen und
sozialen Bedingungen, die paranoide Charakterzüge in bestimmten sozialen
Gruppen zur Vorherrschaft gelangen ließen, so schlug er in der Dialektik der
Aufklärung den Bogen zum Konzept der Mimesis, indem er die Paranoia als
»falsche Projektion« vorstellte und diese wiederum als pathologischen Nieder-
schlag der verdrängten Mimesis deutete.217
Mimesis, zur Erinnerung, war ein Verhältnis zwischen belebter und unbeleb-
ter Natur, das durch eine Absenkung der psychischen Energie, eine Minimie-
rung der Differenz zwischen Organismus und Umgebung bestimmt war. Die-
ser Modus wurde Horkheimer und Adorno zufolge im Zuge des Rationalisie-
212  Theodor W. Adorno: Notizen zur neuen Anthropologie (1941), in: A/H Bd. 2, S.  453–

471, 453 f.
213 Max Horkheimer: The End of Reason, in: Zeitschrift für Sozialforschung 9, 1941,

S.  366–388, 376. In der deutschen Fassung heißt es prägnanter: »Die Tiefenpsychologie trat
ihren Flug an, als für die Zirkulationssphäre, der ihre Kategorien entstammten, schon die
Dämmerung angebrochen war« (Vernunft und Selbsterhaltung, S.  335).
214  Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  226 ff.
215  Ebd., S.  235.
216 Vgl. Max Horkheimer: Die Psychologie des Nazitums. Zu Richard M. Brickners Is

Germany Incurable (1943), in: HGS Bd. 5, S.  354–359. Zu den verschiedenen Anteilen von
Horkheimer und Adorno an der Dialektik der Aufklärung vgl. das Nachwort des Herausge-
bers in HGS Bd. 5, S.  430.
217  Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  217 ff.
46 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

rungsprozesses verdrängt, sollte aber wie alles Verdrängte doppelt wirksam


bleiben: in Gestalt einer inneren Grenze der Rationalisierung, die alle Aufklä-
rung stets wieder in Mythos umschlagen ließ; und als Zwang zur Wiederkehr
des Verdrängten, der sich periodisch als »Revolte der Natur« geltend machte.218
Das implizierte nicht weniger als den Abschied von allem prozessualen Den-
ken, die Behauptung einer »Kreisähnlichkeit der Geschichte«, in deren Verlauf
die mit der Forke vertriebene Natur am Ende zurückkehrte. »Jeder Versuch,
den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so
tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation
verlaufen.«219

V.

Was dies im einzelnen bedeutet, wird in den folgenden Untersuchungen aus


verschiedenen Blickwinkeln noch genauer beleuchtet. Für die Frage nach der
Einheit der Kritischen Theorie kann festgehalten werden, daß eine solche vor
Ende der 30er Jahre nicht bestand, jedenfalls dann nicht, wenn diese auch Ador-
no einschließen soll. Es gab zwar ein gemeinsames Bekenntnis zu marxistischen
Deutungsmustern, doch war dies zu vage, um ein spezifisches Profil zu konsti-
tuieren, das den Horkheimer-Kreis von den zahlreichen linksintellektuellen
Gruppen und Zirkeln der Zwischenkriegszeit unterschieden hätte. Die für ein
solches Profil in Anspruch genommene Referenz auf Geschichte und Klassenbe-
wußtsein hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Die Rezeption der Psychoanalyse
fiel zu uneinheitlich aus, um Gemeinsamkeit zu stiften. Erst der Zerfall zentra-
ler marxistischer und psychoanalytischer Glaubensgewißheiten Ende der 30er
Jahre löste bei Horkheimer und Adorno eine Denkbewegung aus, die zur Pro-
duktion von Texten führte, welche nicht mehr einem Autor allein zuzurechnen
waren und insofern »paradigmatisch« wirkten, als sie im Kuhnschen Sinn ›für
eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen‹
lieferten – zunächst den Gruppen, die an der Erforschung der autoritären Per-
sönlichkeit arbeiteten, später dem wachsenden Schülerkreis in Frankfurt und
weiteren Ablegern. Von Kritischer Theorie im strengen Sinn einer »historischen
Formation«220 kann deshalb nicht vor 1939 gesprochen werden, auch wenn ein-
zuräumen ist, daß die Bezeichnung als solche älter ist und einige Denkfiguren
auf beiden Seiten dieses Einschnitts anzutreffen sind.

218  Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, S.  105 ff.


219  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  35.
220  Vgl. mit abweichender Deutung: Hans-Ernst Schiller: Die kritische Theorie als histori-

sche Formation, in: Zeitschrift für kritische Theorie 18, 2012, S.  163–182.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 47

Eine historische Formation hat freilich nicht nur einen Anfang, sondern auch
ein Ende.221 Dieses zu datieren ist deutlich schwieriger, da Horkheimer und
Adorno die einmal gewonnene Einheit auch dann noch weitertradiert haben, als
sie längst eine Fiktion geworden war. Immerhin gibt es einige Indizien. Als sich
die beiden Verfasser der Dialektik der Aufklärung im Oktober 1946 zu mehre-
ren Gesprächen über eine mögliche Fortsetzung zusammenfanden, vermochten
sie sich schon nicht mehr über das Procedere zu einigen. Schlug Horkheimer
vor, sich auf eine Erörterung der gegenwärtigen Politik zu konzentrieren, um
von dort aus zu einer Kritik der politischen Ökonomie der Gegenwart und
schließlich zu den eigentlichen Fragen der Philosophie zu gelangen, so wandte
Adorno dagegen ein, man werde sich damit in bloßen Analogien verlieren oder
in eine Darlegung abstrakter Denkgesetze verstricken, die von der politischen
Realität abstrahiert seien. Besser sei es, mit einer Analyse logischer und er-
kenntnistheoretischer Kategorien einzusetzen, indem man »Kategorien wie Be-
griff, Urteil, Subjekt, Substantialität« in historischer und gesellschaftlicher Per-
spektive erörtere, was wiederum auf den Widerspruch Horkheimers stieß: »Ich
habe Angst vor so einem Unternehmen.«222
Dieser Dissens, der alsbald zu einem fortschreitenden Auseinanderdriften
der Diskurse führte, hatte sich schon seit einiger Zeit vorbereitet. Das Manu-
skript der Philosophischen Fragmente war im Juli 1944 abgeschlossen worden.
Schon im Februar und März dieses Jahres hatte Horkheimer an der New Yor-
ker Columbia Universität eine Reihe von Vorlesungen über »Society and Rea-
son« gehalten und darin eine, wie er selbst meinte, mehr oder weniger populäre
Version jener Philosophie der Aufklärung gegeben, wie er sie gerade mit Ador-
no vorbereite.223 Noch aus der vielfach überarbeiteten Buchfassung, die drei
Jahre später unter dem Titel Eclipse of Reason erschien, ist der Abstand erkenn-
bar, der ihn von dem von Adorno formulierten Ziel einer »Kritik der Vernunft«
trennte.224 Mit ihr kehrte er zu einem positiven Begriff der ›Vernunft‹ zurück,
nun allerdings zu einem solchen, der kaum noch Bezug zur Gegenwart hatte
und seine Kraft statt dessen aus der Beschwörung der religiösen und philoso-
phischen Tradition gewann. Der Begriff der objektiven Vernunft, den Horkhei-

221  Das ist klar gesehen bei Jürgen Habermas, der von der »Einzigartigkeit der Konstella-

tion zwischen November 1941 […] und Mai 1944« spricht: Bemerkungen zur Entwicklungs-
geschichte des Horkheimerschen Werkes, in: Schmidt und Altwicker 1986, S.  163–179, 169.
Mir scheint diese Konstellation allerdings bereits zwei Jahre früher gegeben zu sein und nicht
von Adornos Einschwenken auf die Linie Benjamins abzuhängen (vgl. ebd., S.  168). Eine sol-
che Annahme verkennt das Ausmaß, in dem Adorno sich in den späten 30er Jahren von Ben-
jamin entfernt hat.
222  Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Rettung der Aufklärung. Diskussionen

über eine geplante Schrift zur Dialektik] (1946), in: HGS Bd. 12, S.  592–605, 597 ff.
223 Vgl. Max Horkheimer an Friedrich Pollock, Brief vom 19.11.1943, in: HGS Bd. 17,

S.  498.
224  Horkheimer und Adorno: [Rettung der Aufklärung], S.  6 01.
48 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

mer der subjektiven, bloß instrumentellen Vernunft entgegensetzte, wurde ex-


pressis verbis auf Denktraditionen bezogen, die – wie die Systeme von Platon
und Aristoteles, die Scholastik und der deutsche Idealismus – die Vernunft
nicht nur im individuellen Bewußtsein lokalisierten, »sondern auch in der ob-
jektiven Welt – in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen so-
zialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Ma-
nifestationen«.225 Unter der Herrschaft dieses Vernunftbegriffes, den Horkhei-
mer ausdrücklich auch zu dem in Beziehung setzte, was er für Max Webers
Konzept der ›materialen‹ (substantiellen) Rationalität hielt, sei es noch möglich
gewesen, den Dingen und der Natur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und
das Dasein des Menschen auf Werte wie »Demut und brüderliche Liebe, Ge-
rechtigkeit und Humanität« zu zentrieren.226 Erst die instrumentelle Vernunft
habe mit ihrer Totalisierung der Zweckrationalität die sinnstiftende Kraft die-
ser Tradition zerstört und es bewirkt, daß die »religiösen Ideen, die allgemeinen
Ziele überhaupt, […] hinter den Erfordernissen der Kapitalverwertung zurück«
getreten seien.227
Daß hier religiöse Ideen und allgemeine Ziele überhaupt in einem Atemzuge
genannt werden, ist ein Indiz dafür, daß Horkheimer die Möglichkeit der ge-
sellschaftlichen Kritik nicht mehr an bestimmten fundamentalen Widersprü-
chen der modernen Gesellschaft festzumachen vermochte, sondern nur mehr
am Widerspruch zwischen zwei Vernunftbegriffen, von denen der eine – die
subjektive Vernunft – auf Zwecke der bloßen Selbsterhaltung beschränkt sein
sollte, wohingegen der andere – die objektive Vernunft – in metaphysisch-reli-
giösen Zusammenhängen verankert wurde, die mehr oder weniger tempi passa-
ti waren. Je radikaler die Kritik am ›geistigen Imperialismus des abstrakten
Prinzips des Selbstinteresses‹ als des Grundprinzips der modernen bürgerlichen
Zivilisation wurde, desto stärker wurde die Tendenz, Vernunft im vollen, ob-
jektiven Sinne dieser Zivilisation ganz abzusprechen und die »Trennung der
Vernunft von der Religion« zur entscheidenden Ursache für die »Krankheit der
Vernunft« in der Gegenwart zu erheben.228
Zwar bewahrte sich Horkheimer einen gewissen historischen Sinn, indem er
alle Versuche, den harmonischen Zusammenhang von Wissenschaft und Theo-
logie zu restaurieren, mit dem Hinweis ablehnte, der Übergang von der objek-
tiven zur subjektiven Vernunft sei kein Zufall gewesen und könne nicht will-
kürlich rückgängig gemacht werden: »Wenn die subjektive Vernunft in Gestalt
der Aufklärung die philosophische Basis von Glaubensüberzeugungen aufge-
löst hat, die ein wesentlicher Bestandteil der abendländischen Kultur gewesen
sind, so war sie dazu imstande, weil diese Basis sich als zu schwach erwiesen
225  Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.  28.
226  Ebd., S.  29, 53.
227  Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, S.  252.
228  Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.  36 (H.v.m., S.B.), 176.
Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie 49

hat«.229 Diese bemerkenswerte Einsicht aber blieb für das Projekt einer Kritik
der instrumentellen Vernunft folgenlos, war es doch gerade die von Horkhei-
mer selbst als überholt bezeichnete Idee der objektiven Vernunft, um die sich
seine Zivilisationskritik organisierte:
»Kants Maxime ›Der kritische Weg ist allein noch offen‹, die sich auf den Konflikt zwi-
schen der objektiven Vernunft des rationalistischen Dogmatismus und dem subjektiven
Denken des englischen Empirismus bezog, gilt treffender noch von der gegenwärtigen
Situation. Da die isolierte subjektive Vernunft in unserer Zeit überall triumphiert, mit
fatalen Ergebnissen, muß die Kritik notwendigerweise mehr mit dem Nachdruck auf der
objektiven Vernunft geführt werden als mit dem auf Überbleibseln subjektivistischer
Philosophie, deren genuine Traditionen im Licht der fortgeschrittenen Subjektivierung
jetzt selbst als objektivistisch und romantisch erscheinen.«230

Das Manuskript, das Horkheimer auf der Basis seiner Vorlesungen erstellt hat-
te, durchlief im Institut für Sozialforschung mehrere Stadien der redaktionellen
Bearbeitung, an denen zunächst Norbert Guterman, dann Leo Löwenthal und
Arkadij Gurland sowie schließlich Adorno beteiligt waren.231 Adornos Ände-
rungsvorschläge umfaßten über 80 Seiten, und dies bei einem Text, der in der
gedruckten Fassung nicht mehr als etwa 160 Seiten ausmachte.232 Was genau
davon von Horkheimer übernommen oder verworfen wurde, bedürfte einge-
hender philologischer Forschungen, die hier nicht geleistet werden können und
vielleicht auch aufgrund der Textüberlieferung gar nicht möglich sind. Welch
grundlegende Einwände gegen Aufbau und Argumentation des Werkes auf Sei-
ten Adornos bestanden, läßt sich immerhin aus einem Brief entnehmen, den er
im Juni 1945 an Leo Löwenthal schrieb. Da er den Kern des sachlichen Dissenses
umriß, der fortan zwischen ihm und Horkheimer, bei aller nach außen demons-
trierten persönlichen Loyalität bestand, sei er hier trotz seiner Länge zitiert:
»Der Text insbesondere des ersten Kapitels beschreibt den Prozeß der Formalisierung
und Instrumentalisierung der Vernunft als notwendig und unaufhaltsam in dem Sinn, in
dem Hegel in der Phänomenologie die Aufklärung behandelt hat. Dann aber ist das
Buch der Kritik eben dieser Vernunft gewidmet. Das Verhältnis des kritischen zum kri-
tisierten Standpunkt wird nicht theoretisch durchsichtig gemacht. Es scheint oft so, als
gäben wir uns gewissermaßen ›dogmatisch‹ die objektive Vernunft vor, nachdem wir
vorher die subjektive in ihrer Unausweichlichkeit bestimmt haben. In Wirklichkeit muß
zweierlei ganz klar werden: einmal, daß es eine positive ›Lösung‹ im Sinn einer der sub-
jektiven Vernunft einfach gegenübertretenden Philosophie nicht gibt, dann, daß die Kri-
tik der subjektiven Vernunft nur dialektisch möglich ist, das heißt, dadurch daß die Wi-
dersprüche ihres eigenen Entwicklungsgangs aufgezeigt werden und wir durch ihre be-

229  Ebd., S.  78.


230  Ebd., S.  175.
231  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  
384; ferner die Hinweise des Herausgebers zu dem in der
nächsten Anm. zitierten Brief Adornos an Horkheimer, S.  636.
232 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 9.5.1945, in: HGS Bd. 17,

S.  633 ff. (A/H Bd. 3, S.  102).


50 Pachyderme im Nebel. Über Einheit und Differenz der Kritischen Theorie

stimmte Negation über sie hinausgehen. Ich sage das hier in sehr allgemeinen Worten, es
muß aber eben dieser Prozeß, um mehr als ein uneingelöstes Versprechen zu sein, we-
nigstens an einem Modell konkret herausgearbeitet werden. Grob gesprochen, das letzte
Kapitel muß explizit die Fragen des ersten beantworten, und wäre es auch, indem es ihre
Unbeantwortbarkeit wirklich klar macht. Sonst stehen zwei Standpunkte der Philoso-
phie, der der unaufhaltsamen und eigenmächtigen subjektiven Vernunft und der der ihr
kontrastierten Wahrheit unvermittelt und theoretisch ganz unbefriedigend einander ge-
genüber.«233

Schon eine oberflächliche Lektüre belehrt darüber, daß Adorno sich mit diesen
Bedenken nicht durchsetzen konnte. Es dürfte deshalb auch durchaus seiner
eigenen Auffassung entsprochen haben, wenn Gretel Adorno viele Jahre später
mit Blick auf eine mögliche deutsche Übersetzung eine gründliche Überarbei-
tung dieses Buches anmahnte und zugleich mit einigem Understatement hinzu-
fügte, daß es Horkheimer nicht richtig repräsentiere.234 Mit der Kritik der in-
strumentellen Vernunft, wie der Titel der erst zwanzig Jahre später erschiene-
nen deutschen Übersetzung lautete, war die kurze Phase der Einheit der Kriti-
schen Theorie schon wieder beendet.

233  Theodor W. Adorno an Leo Löwenthal, Brief vom 3.6.1945, in: A/H Bd. 3, S.  419 f.
234  Vgl. Gretel Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 9.12.1963, in: A/H Bd. 4, S.  720.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung.
Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Im September 1941, kurz vor dem Umzug nach Los Angeles, schrieb Adorno
noch einen Brief aus New York an den bereits vorausgereisten Horkheimer, um
die Weichen für die bevorstehende Zusammenarbeit an der Dialektik der Auf-
klärung zu stellen. Anknüpfend an eine Bemerkung Horkheimers, der zum
Schönberg-Kapitel aus der Philosophie der neuen Musik gemeint hatte, er wün-
sche sich in Zukunft den Blick »von der Erkenntnis der Gesellschaft auf die
Gesellschaft selbst zu richten«1, schlug Adorno vor, die gemeinsame Arbeit
nicht, wie ursprünglich geplant, um die Kunst zu zentrieren, sondern »in Got-
tes Namen endlich von der Gesellschaft selber« zu reden. Mehr und mehr fühle
er sich gedrängt, gerade auch im Zusammenhang mit seiner aktuellen Arbeit an
einer »neuen Anthropologie«, von der Kunsttheorie für eine Zeitlang Abschied
zu nehmen und den »Schwerpunkt[s] auf die Fragen der leibhaftigen Gesell-
schaft« zu verlagern.2
Diese Äußerungen sind natürlich nicht zum Nennwert zu nehmen. Immer-
hin war Horkheimer seit über einem Jahrzehnt Direktor eines »Instituts für
Sozialforschung« und Herausgeber einer »Zeitschrift für Sozialforschung«, zu
der er selbst zahlreiche Texte beigesteuert hatte. Was die Briefe jedoch zeigen,
ist eine deutliche Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten und wohl auch
eine Erschütterung der Selbstverständlichkeit, mit der man tragende Begriffe
der Sozialforschung wie eben »Gesellschaft« bis dahin gebraucht hatte. Die
Umorientierung, die sich Anfang der 40er Jahre bei Horkheimer und Adorno
anbahnte, läßt sich am besten nachvollziehen, wenn man diesen Schlüsselbegriff
im Zusammenhang mit zwei weiteren Kategorien erörtert, die für das Verständ-
nis der Entwicklung zentral erschienen: Herrschaft und Verdinglichung.

I.

In den frühen Aufsätzen Horkheimers ist oft von »Gesellschaft« die Rede. Die
Kritische Theorie sollte sich von anderen Strömungen vermöge ihrer »theoreti-
schen Beschäftigung mit der Gesellschaft als ganzer« unterscheiden, sie sollte
das »Problem des gesellschaftlichen Gesamtprozesses« untersuchen und die

1  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 28.8.1941, in: A/H Bd. 2, S.  212.
2  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 4.9.1941, in: A/H Bd. 2, S.  221.
52 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

»Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs« ermöglichen.3 Die Sicher-


heit, mit der diese Postulate vorgetragen werden, ist überraschend, war doch
schon die bloße Möglichkeit einer solchen »Wissenschaft der Gesellschaft«
(Dilthey) in Deutschland seit Jahrzehnten Gegenstand einer anhaltenden De-
batte, in der die Skeptiker und Kritiker überwogen. Gewiß, es gab die Versuche
eines Robert von Mohl oder eines Lorenz von Stein, eine eigenständige Gesell-
schaftswissenschaft aus dem überlieferten Corpus der Staatswissenschaften he-
rauszulösen, und es gab Tönnies’ Buch über Gemeinschaft und Gesellschaft,
das in der Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs eng an die Vorgaben des von
der klassischen politischen Ökonomie bis hin zu Marx entwickelten Begriffs
der »bürgerlichen Gesellschaft« anschloß. 4 Tönnies blieb jedoch bis zur zwei-
ten Auflage seines Buches (1912) ein krasser Außenseiter, Mohls Buch war Ge-
genstand einer aggressiven Polemik von Seiten Treitschkes, und was die »Wis-
senschaft der Gesellschaft«, die »Soziologie« betraf, so sprach ihr kein Gerin-
gerer als Wilhelm Dilthey rundweg den Wissenschaftscharakter ab.5 Der von
Condorcet und Saint Simon eingeleitete und von Comte und Spencer fortge-
führte Versuch, Bewegungsgesetze der Gesellschaft aufzustellen und aus die-
sen alle Erscheinungsformen der geschichtlich-sozialen Welt abzuleiten, wurde
als Restitution der eben erst überwundenen Metaphysik abgetan und die Un-
tersuchung der Gemeinschafts- und Verbandsformen in die Staatswissenschaft
zurückverwiesen.6 Georg Simmel beurteilte dann zwar die Möglichkeit einer
isolierenden Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen den Individuen po-
sitiver (wofür er auch Diltheys Zustimmung erhielt), bestritt jedoch ebenfalls
die Annahme, Gesellschaft könne etwas anderes sein als der Name für die
Summe dieser Wechselwirkungen.7 Max Weber schließlich legte seine »Sozio-
logischen Grundbegriffe« so an, daß von ihnen »zu der Idee eines umfassenden
Ganzen des Sozialen (oder ›der Verhältnisse‹)« schlechterdings kein Weg mehr

3 Max Horkheimer: Bemerkungen über Wissenschaft und Krise (1932), in: HGS Bd. 3,

S.  40–47, 42, 36; Vorwort [zu Heft 1/2 des I. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung],
(1932), in: HGS Bd. 3, S.  36–39, 36.
4  Vgl. Klaus Lichtblau: Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffsbil-

dung, Wiesbaden 2011, S.  21 ff. Auf den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bezog sich Tön-
nies noch 1931 in seinem Artikel »Gemeinschaft und Gesellschaft« für das Handwörterbuch
der Soziologie, hrsg. von Alfred Vierkandt, hier zit. n. der gekürzten Studienausgabe, Stutt-
gart 1982, S.  27–38, 38.
5  Vgl. dazu Thomas Burger: Deutsche Geschichtstheorie und Webersche Soziologie, in:

Wagner und Zipprian 1994, S.  29–104.


6  Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Wilhelm Diltheys Ge-

sammelte Schriften, Erster Band (1883), Leipzig und Berlin 1923², S.  42 ff., 420 ff.; Lichtblau,
Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, S.  24 f.
7  Vgl. Georg Simmel: Über sociale Differenzierung (1890), in: Georg Simmel Gesamtaus-

gabe, Bd. 2, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme, Frankfurt am Main 1989, S.  109–295, 131; Klaus
Christian Köhnke: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen,
Frankfurt am Main 1996.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 53

führte, weshalb er denn auch keine Anstrengung unternahm, »Gesellschaft« in


den Rang eines wissenschaftlichen Begriffs zu erheben.8
In Frankfurt dürfte diese Problemlage nicht unbekannt geblieben sein. Zwar
war dort mit Franz Oppenheimer, der von 1919 bis 1929 den Lehrstuhl für So-
ziologie innehatte, eine Richtung vertreten, die sich eher an den älteren Gesell-
schaftslehren im Stil von Comte und Spencer orientierte, doch hatte sein Assis-
tent Gottfried von Salomon-Delatour 1916 bei Simmel in Straßburg promoviert;
in seinen Vorlesungen befaßte er sich außer mit Marx auch mit Max Weber und
Ernst Troeltsch.9 Nicht an der Universität, wohl aber in der Redaktion der ein-
flußreichen Frankfurter Zeitung wirkte ein weiterer Simmel-Schüler, Siegfried
Kracauer, der 1920 im Logos die Einleitung zu einem geplanten, aber nie ge-
schriebenen Buch über Simmel veröffentlichte und zwei Jahre später eine Un-
tersuchung über Soziologie als Wissenschaft herausbrachte, die sich explizit mit
jener Auffassung der Soziologie befaßte, wie sie »in den Schriften von Simmel,
Max Weber, Troeltsch, Robert Michels usw. mehr oder weniger deutlich zutage
tritt«.10 Das geschah nicht ohne Kritik, sah Kracauer die Genannten doch noch
zu stark in einer materialen Soziologie verhaftet, die, um überzeugend zu sein,
der Grundlegung in einer reinen, formalen Soziologie bedurfte, wie Kracauer
sie mit Hilfe der Phänomenologie ansteuerte.11 Aber es zeugte von solidem Wis-
sen und von der Bereitschaft, da weiterzumachen, wo die Gründergeneration
der Soziologie aufgehört hatte, sah er doch zu der von Simmel und Weber ins
Auge gefaßten »Soziologie ohne ›Gesellschaft‹« (Tyrell) keine Alternative, ins-
besondere nicht in der später im Kreis um Horkheimer favorisierten materialis-
tischen Geschichtsauffassung, die ihm als »ein Gemisch von Geschichte, Ge-
schichtsphilosophie und Soziologie« erschien.12
Für Horkheimer dagegen bot weder die materiale noch die formale Soziolo-
gie einen geeigneten Ausgangspunkt. Sozialforschung in seinem Sinne sollte
zwar zur Soziologie in einem Verhältnis der »Verwandtschaft« stehen, doch mit
der Soziologie als Fachwissenschaft nicht zusammenfallen, »weil sie zwar wie

8  Tyrell 1994, S.  403.


9  Vgl. Klaus Lichtblau und Patrick Taube: Franz Oppenheimer und der erste Lehrstuhl für
Soziologie an der Universität Frankfurt, in: Herrschaft und Lichtblau 2010, S.  55–70; Timo
Wagner: Gottfried Salomon-Delatour: Ein kosmopolitischer Soziologe der älteren Genera­
tion, ebd., S.  71–84, 71, 74. Zu Salomon vgl. auch Christoph Henning: ›Der übernationale
Gedanke der geistigen Einheit‹. Gottfried Salomon(-Delatour), der vergessene Soziologe der
Verständigung, in: Amalia Barboza und Christoph Henning (Hrsg.): Deutsch-jüdische Wis-
senschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft, Biele-
feld 2006, S.  48–100.
10  Kracauer 1971, S.  9 . Der Logos-Aufsatz ist wieder abgedruckt in Kracauer 2011, Bd. 5.1,

S.  129–164.
11  Vgl. Kracauer 1971, S.  78 ff. Zu Kracauers Soziologie-Studie vgl. Inka Mülder: Siegfried

Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933,
Stuttgart 1985, S.  24 ff.
12  Kracauer 1971, S.  23.
54 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

diese auf das Problem der Gesellschaft abzielt, aber ihre Forschungsgegenstän-
de auch auf nichtsoziologischen Gebieten findet.«13 Eine Klärung des »Zusam-
menhangs zwischen den einzelnen Kulturgebieten, ihrer Abhängigkeit vonein-
ander, der Gesetzmäßigkeit ihrer Veränderung« erhoffte sich Horkheimer dabei
insbesondere von Untersuchungen, die der zentralen Rolle der Ökonomie und
der Psychologie Rechnung trugen, wobei er überging, daß Max Weber genau
diese Fragestellung schon ein Vierteljahrhundert zuvor unter dem Titel »Sozial-
ökonomik« dem neu gegründeten Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli-
tik als Aufgabe zugewiesen hatte.14 Auch die von Weber vorgetragenen Einwän-
de gegen eine Überziehung ökonomischer Gesichtspunkte fanden keine Be-
rücksichtigung. Statt dessen bekannte sich Horkheimer uneingeschränkt zur
»ökonomische[n] oder materialistische[n] Geschichtsauffassung«15, zu deren
zentralen Leistungen er die Einsicht in die »undurchdringliche[n] Einheit von
Gesellschaft und Herrschaft« rechnete.16 Gesellschaft in diesem Sinne war die
»bürgerliche Gesellschaft«, die sich in der frühen Neuzeit »von den Fesseln des
Feudalsystems« befreit, mit dem Merkantilismus vom Staat abgelöst und zu ei-
ner Ordnung entwickelt habe, die »nicht einheitlich, sondern in sich gespalten«,
durch die Eigentumsverhältnisse polarisiert sei.17
Gemeint war eine Ordnung, die »in ihrer Entstehung unlösbar mit der Ent-
wicklung von Technik und Industrie verbunden«, also das Resultat des Fort-
schritts der Produktivkräfte sein sollte18 – für Horkheimer damals noch trotz
aller »weltgeschichtliche[n] Unkosten« eine schlechterdings notwendige Vor-

13  Horkheimer, Vorwort (1932), S.  37.


14  Vgl. Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er-
kenntnis (1904), in ders. 19734 , S.  146–214. Zu Webers Programm von 1904 vgl. Peter Ghosh:
Max Weber, Werner Sombart and the Archiv für Sozialwissenschaft: The Authorship of the
›Geleitwort‹ (1904), in: History of European Ideas 36, 2010, S.  71–100; zu seinem Verständnis
von Sozialökonomik vgl. Lichtblau, Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen
Begriffsbildung, S.  195 ff.; Keith Tribe: What is Social Economics? In: History of European
Ideas 40, 2014, S.  714–733.
15  Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: HGS Bd. 3, S.  48–69, 54.
16  Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947) › in: HGS

Bd. 5, S.  4 4. Diese Formulierung richtet sich explizit gegen die École durkheimienne, der ge-
genüber Horkheimer eine ähnlich überlegene Position in Anspruch nahm wie gegenüber der
deutschen Soziologie. Als Hans Mayer, der in der Genfer Zweigstelle des Instituts für Sozial-
forschung an einer Kritik des Durkheimismus arbeitete, die dann wegen der Einstellung der
Zeitschrift nicht mehr zum Druck kam, bemängelte Horkheimer nicht nur die Überspannt-
heit solcher »Konzepte wie gesellschaftlicher Zwang, Zerfall usw.«, sondern die »Idee einer
soziologischen ›Wissenschaft‹« überhaupt, in die sich dieser »Oberrabiner[s] der Soziologie«
verstiegen habe: Max Horkheimer an Hans Mayer, Brief vom 13.11.1939, in: HGS Bd. 16,
S.  664 f. Zum Verhältnis zu Durkheim vgl. auch weiter unten im Kapitel über Sohn-Rethel.
17 Max Horkheimer: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: HGS

Bd. 2, S.  179–268, 180, 219; Dämmerung. Notizen in Deutschland (1931/34), in: HGS Bd. 2,
S.  312–452, 291.
18  Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S.  183.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 55

aussetzung für die Erreichung eines höheren Gesellschaftszustands.19 Vorange-


trieben werde dieser Fortschritt durch die Gliederung der Gesellschaft in »Pro-
duktionsleitung und Arbeit, in Herrschende und Beherrschte«, »die nur einen
relativ kleinen Teil der Menschen in den vollen Genuß der jeweiligen Kultur
setzte, während die große Masse zu fortwährendem Triebverzicht gezwungen
war«20 , eben dadurch aber die Voraussetzungen für eine allmähliche Überwin-
dung der Lebensnot schuf. Der Aufstieg des Bürgertums habe zur Etablierung
eines weltweit operierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems geführt, auf
dessen Grundlage sich ein »Gesellschaftsbau« erhob, den Horkheimer mit dem
Bild eines »Wolkenkratzers« einfing:
»Obenauf die leitenden, aber sich untereinander bekämpfenden Trustmagnaten der ver-
schiedenen kapitalistischen Mächtegruppen; darunter die kleineren Magnaten, die
Großgrundherren und der ganze Stab der wichtigen Mitarbeiter; darunter – in einzelne
Schichten aufgeteilt – die Massen der freien Berufe und kleineren Angestellten, der poli-
tischen Handlanger, der Militärs und Professoren, der Ingenieure und Bürochefs bis zu
den Tippfräuleins; noch darunter die Reste der selbständigen kleinen Existenzen, die
Handwerker, Krämer und Bauern e tutti quanti, dann das Proletariat, von den höchst
bezahlten gelernten Arbeiterschichten über die ungelernten bis zu den dauernd Er-
werbslosen, Armen, Alten und Kranken. Darunter beginnt erst das eigentliche Funda-
ment des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den
hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem
furchtbaren Ausbeutungsapparat, der in den halb und ganz kolonialen Territorien, also
in dem weitaus größten Teil der Erde funktioniert.«21

Es ist ungewiß, ob Horkheimer sich zu diesem Bild von dem Sketch »Der Wol-
kenkratzer« inspirieren ließ, den Karl August Wittfogel einige Jahre zuvor im
Malik Verlag herausgebracht hatte.22 Mit Gewißheit läßt sich dagegen sagen,
daß sich sein Verständnis von bürgerlicher Gesellschaft nur um Nuancen von
dem unterschied, das Wittfogel, KPD-Mitglied seit 1920 und seit 1925 ständiger
Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung, in seinem einschlägigen Schrift-
tum ausbreitete, Schriften, die größtenteils aus der Tätigkeit des Verfassers in
der marxistischen Arbeiterbildung hervorgegangen waren.23 Mochte dem ge-
lernten Philosophen Horkheimer am orthodoxen Marxismus auch manches von
dem suspekt sein, was in sein fachliches Ressort fiel – seine Kritik an Lenins
Buch über Materialismus und Empiriokritizismus wurde bereits erwähnt –, so

19  Vgl. ebd., S.  248, 244 f.


20  Ebd., S.  201.
21  Horkheimer, Dämmerung, S.  379 f.
22  Vgl. Karl August Wittfogel: Der Wolkenkratzer. Amerikanischer Sketch, Berlin 1924.
23  Vgl. Karl August Wittfogel: Die Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Eine mar-

xistische Untersuchung, Berlin 1922; Vom Urkommunismus bis zur proletarischen Revolu­
tion. Eine Skizze der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, Berlin 1922; Geschichte
der bürgerlichen Gesellschaft. Von ihren Anfängen bis zur Schwelle der großen Revolution,
Wien 1924, Nachdruck Hannover 1977. Zu Wittfogel und seiner Rolle im IfS vgl. Wiggershaus
1986, S.  42.
56 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

ging er doch bei der Charakterisierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesell-


schaft an keiner Stelle über das ABC des Kommunismus hinaus.24 Seine Kurz-
fassungen der von Marx entwickelten Strukturformen und Bewegungsgesetze
der bürgerlichen Gesellschaft waren Rekapitulationen des Wissensstandes von
1867, wenn nicht von 1845, und rechtfertigten damit kaum die Attitüde der
Überlegenheit, die er bisweilen gegenüber Max Weber, Ernst Troeltsch oder
Werner Sombart an den Tag legte.25
Die hier zutage tretende Verengung des Blickwinkels wurde auch von Ador-
no und Marcuse nicht aufgebrochen. Adorno teilte die marxistischen Ausgangs-
punkte Horkheimers, verwandelte sie aber zunächst noch stärker als dieser in
eine Hintergrundüberzeugung, die keiner weiteren Elaboration für nötig erach-
tet wurde.26 Interdisziplinäre Forschung, mochte sie auch von Sozialphiloso-
phie angeleitet sein, hielt Adorno für zwecklos, Soziologen für ›Fassadenklette-
rer‹, die versuchten, die wertvollen Bestandteile eines von den Baumeistern der
großen Philosophie errichteten, aber wegen Baufälligkeit aufgegebenen Gebäu-
des zu retten; womit sie zwar ein gutes Werk täten, jedoch ohne recht imstande
zu sein, es zu würdigen.27 Zur Gesellschaftstheorie im strengen Sinne hat Ador-
no während der ganzen 30er Jahre einen einzigen größeren Aufsatz beigesteu-
ert, der sich jedoch so sehr darauf konzentrierte, die »neue wertfreie Soziologie«
– die Wissenssoziologie in der Version Karl Mannheims – in Grund und Boden
zu rammen, daß es zur Entwicklung eigener Konzepte gar nicht erst kam. Die
gegen Mannheim mobilisierten Alternativen – »anstelle der Erwägungen über
die Massenstruktur das Klassenverhältnis, anstatt der Lehre von den Eliten die
Einsicht in Herrschaftsrelationen, anstelle der abstrakten Kategorie der Ratio-
nalisierung die konkrete Analyse des Rationalisierungsprozesses als eines der
politischen Ökonomie [zu] setzen«28 – waren Rückverweise auf einen Marxis-
mus, dessen Tauglichkeit für die Welt der 30er Jahre erst zu erweisen gewesen
wäre. Und wenn Adorno von bürgerlicher Gesellschaft, von Klassengesellschaft
und vom Kapitalismus in seiner jüngsten monopolistischen, durch Fesselung
der Produktivkräfte gekennzeichneten Phase sprach29 , dann dokumentiert dies
nur die gleichen Selbstverständlichkeiten, von denen auch Horkheimer damals
noch zehren zu können glaubte.

24  Unter diesem Titel erschien 1921 in der Bibliothek der Kommunistischen Internationale

ein Gemeinschaftswerk von Nikolai Bucharin und E. Preobraschensky. Es begann mit einem
Kapitel über »Die kapitalistische Gesellschaftsordnung«.
25  Vgl. Max Horkheimer: Egoismus und Freiheitsbewegung (1936), in: HGS Bd. 4, S.  9 –88,

44 f.; Max Horkheimer an Henryk Grossmann, Brief vom 20.1.1943, in: HGS Bd. 17, S.  401.
26  Erst in den 50er und 60er Jahren hat sich dies geändert, wie eine neuere Untersuchung

zu Adornos Marxrezeption zeigt: vgl. Dirk Braunstein 2011.


27  Vgl. Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie (1931), in: AGS Bd. 1, S.  325–

344, 340. Vgl. Müller-Doohm 2003, S.  206 ff.


28  Theodor W. Adorno: Neue wertfreie Soziologie (1937), in: AGS Bd. 20.1, S.  13–45, 35.
29  Vgl. ebd., S.  30 f., 25.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 57

Für den frühen Marcuse waren selbst diese Residuen noch zuviel Ballast, der
daran hinderte, worauf es ihm allein ankam: die Besinnung auf die Notwendig-
keit, »durch den Sturz der faktisch bestehenden Existenz hindurchzumüssen«.30
Dazu fügte er Versatzstücke aus Husserl, Heidegger, Dilthey und Marx zu einer
Mischung zusammen, die ungeachtet ihrer permanenten Beschwörung des
Konkreten an Abstraktheit kaum zu überbieten war.31 Das galt auch für seine
Auseinandersetzung mit einem Hauptwerk der Weimarer Soziologie, Hans
Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Dessen Leistung sah er in der
Absage an die »formale Soziologie« im Stil Leopold von Wieses, Othmar Spanns
und Georg Simmels, sowie in der Entschiedenheit, mit der »der immanentrevo-
lutionäre Charakter« der geschichtlichen Wirklichkeit herausgearbeitet wer-
de32 , dessen einziges Manko dagegen in der Beschränkung auf die Perspektive
der Soziologie, aus der gerade die »Grundcharaktere der Geschichtlichkeit«
nicht angemessen gewürdigt werden könnten, lägen sie doch »(ontologisch) vor
jeder bestimmten geschichtlichen Sozialstruktur«. »Phänomene wie Herrschaft
und Knechtschaft, Bewährung und Vergegenständlichung, Arbeit und Bildung,
Selbst-transzendenz und Revolution« seien »Grundweisen des Seins«, die schon
als solche von Aristoteles und Hegel behandelt worden seien. »Sie haben ihren
Ort nicht in einem System der Soziologie, nicht in einer Geschichtsphilosophie
oder Sozialpsychologie, sondern in der philosophischen Analyse des menschli-
chen Lebens als geschichtlichen, nur hier können sie in ihrer eigentümlichen
Konkretion belassen und doch als Grundkategorien jeder möglichen Soziologie
begriffen werden.«33
Daß dies nicht das letzte Wort in Sachen Theorie der Gesellschaft blieb, ist
der verstärkten Beschäftigung mit Hegel zu verdanken, die für den engeren
Kreis des Instituts für Sozialforschung seit Ende der 30er Jahre kennzeichnend
war. Das galt für Marcuse, dessen Reason and Revolution zwar schon sein zwei-
tes Buch über Hegel war, jedoch das erste, das diesen nicht durch die Brille von
Dilthey und Heidegger zu lesen versuchte und ihn statt dessen linkshegelia-
nisch als Vorkämpfer eines »Wahrheitsabsolutismus« deutete.34 Es galt für

30  Herbert Marcuse: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus

(1928), in: HMS Bd. 1, S.  347–385, 364.


31  Vgl. Breuer 1977, S.  9 6 ff.
32  Es kann Marcuse damals kaum entgangen sein, an welche Art von Revolution Freyer

dachte. 1931, im gleichen Jahr wie Marcuses Rezension, erschien von Freyer: Die Revolution
von rechts im Eugen Diederichs Verlag. Das Buch war zwar kein Plädoyer für die NSDAP, für
deren Politik Freyer erst ab 1933 eintrat, warb jedoch für eine staatssozialistische Krisenlö-
sung im Sinne des neuen Nationalismus, vergleichbar derjenigen, wie sie auch der Tat-Kreis
vertrat. Freyers politische Orientierung war allgemein bekannt. Vgl. meinen Essay: Hans
Freyer, in: Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt, Göttingen 2013, S.  261–272.
33  Herbert Marcuse: Zur Auseinandersetzung mit Hans Freyers »Soziologie als Wirklich-

keitswissenschaft« (1931), in: HMS Bd. 1, S.  488–508, 503.


34  Vgl. Herbert Marcuse: Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory,

New York 1941; hier zit. n. der dt. Ausgabe: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entste-
58 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Adorno, für den die Idee einer Vermittlung durch den Gesamtprozeß die Aus-
einandersetzung mit Husserl, Mannheim oder Schönberg grundierte, aber auch
die Abgrenzung von Benjamin ermöglichte.35 Und es galt selbst für Horkhei-
mer, der sich von der Hegelbegeisterung seiner Mitarbeiter anstecken ließ. Hat-
te er noch 1932 das Totalitätskonzept als sinnleere Abstraktion verworfen36 , so
hielt er sechs Jahre später auf dem Historikerkongreß in Chicago einen (unver-
öffentlicht gebliebenen) Vortrag über »Hegel and the Present World-Situati-
on«.37 Wiederum zwei Jahre später maß er das Werk Wilhelm Diltheys gleich in
doppelter Hinsicht an Hegel: einmal an dessen Postulat, »daß der subjektive
Geist nur in Beziehung auf den objektiven richtig verstanden werden könne«,
sodann an der Aufgabe, auch noch den objektiven Geist von der ȟberindividu-
ellen, ›absoluten‹ Natur dieses Geistes« her zu interpretieren.38 Der erst aus dem
Nachlaß veröffentlichte Aufsatz »Zur Soziologie der Klassenverhältnisse«
machte sich gar den Begriff der Totalität zu eigen, indem er die »rein pragmati-
schen Totalitäten des Industrialismus« von »früheren Totalitäten« absetzte,
welche primär ideologisch integriert gewesen seien.39 Ähnliche Formulierungen
sind in Eclipse of Reason eingegangen. 40 In einem Brief an Leo Löwenthal be-
zeichnete er sich als ›eingefleischten Hegelianer‹. 41
Wenn das Substantiv Totalität und die von ihm abgeleiteten Adjektive wie
»total« und »totalitär« im Sprachschatz der Kritischen Theorie fortan eine zen-
trale Rolle spielten, so deshalb, weil man damit zugleich auf zwei Registern
spielen konnte. Zum einen ermöglichte es den Anschluß an den Diskurs über
»Totalitarismus«, der sich auf Herrschaftssysteme bezog und ein Assoziations-
feld besaß, das von manifesten Diktaturen bis zur »verwalteten Welt« reichte.
Davon wird im nächsten Abschnitt zu sprechen sein. Zum andern erlaubte es

hung der Gesellschaftstheorie, Neuwied und Berlin 1970³, S.  282; die Einleitung wurde
1939/40 in den Studies in Philosophy and Social Science vorab publiziert.
35  Vgl. Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 10.11.1938, in: A/B, S.  366 f.

Vgl. dazu auch ders. an Max Horkheimer, Brief vom 23.7.1938, in: A/H Bd. 2, S.  38: »Sonst lese
ich viel Hegel und bemühe mich, in das Husserlsche Dickicht Licht zu bringen durch die
Konfrontation mit jenem. Alles bürgerliche Denken nach ihm ist wirklich völlig zurückge-
gangen und hat an seinen bedeutendsten Stellen nur gerade eben die Rockschöße dessen er-
wischt, der wirklich in der bürgerlichen Welt das Absolute ist – das höchste Maß von Selbst-
bewußtsein, das diese hat erreichen können.«
36  Vgl. Max Horkheimer: Hegel und das Problem der Metaphysik (1932), in: HGS Bd. 2,

S.  295–308, 302.
37  Vgl. Max Horkheimer an Katharina von Hirsch, Brief vom 17.11.1938, in: HGS Bd. 16,

S.  507.
38  Max Horkheimer: Psychologie und Soziologie im Werk Wilhelm Diltheys (1940), in:

HGS Bd. 4, S.  352–370, 370, 362.


39  Max Horkheimer: Zur Soziologie der Klassenverhältnisse (1943), in: HGS Bd. 12, S.  75–

104, 82 f.
40  Vgl. Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), in: HGS Bd. 6,

S.  19–186, 148 ff.
41  Max Horkheimer an Leo Löwenthal, Brief vom 24.9.1946, in: HGS Bd. 17, S.  759.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 59

eine Rezeption und kritische Wendung jenes Gesichtspunktes, der nach Lukács
den Marxismus weit mehr bestimmen sollte als das ihm üblicherweise zuge-
schriebene Postulat einer Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Ge-
schichtserklärung. 42 Rezeption: denn wie Lukács gingen die kritischen Theore-
tiker davon aus, daß unter kapitalistischen Produktionsbedingungen erstmals
in der Geschichte »die ganze Gesellschaft, wenigstens der Tendenz nach, einem
einheitlichen Wirtschaftsprozesse untersteht, daß das Schicksal aller Glieder
der Gesellschaft von einheitlichen Gesetzen bewegt wird«, und dies so sehr, daß
daraus »eine – formell – einheitliche Bewußtseinsstruktur für ihre Gesamtheit
hervorgebracht [wird].«43 Dafür den Nachweis zu erbringen, bemühte sich die
Dialektik der Aufklärung gleich auf doppelte Weise: indem sie unter dem Stich-
wort Kulturindustrie die Einheit eines Systems beschrieb, in welchem es für die
Konsumenten nichts mehr zu klassifizieren gab, »was nicht selbst im Schematis-
mus der Produktion vorweggenommen wäre«, und indem sie, in dieser Hinsicht
von Lukács abweichend, im Abschnitt über »Elemente des Antisemitismus«
eine Totalisierung der Paranoia zum »gesellschaftlichen Existential« behaupte-
te, die die Gesellschaft in toto zur »antisemitischen Gesellschaft« mache. 44
Kritische Wendung: denn anders als bei Lukács erscheint der Befund, daß
sich durch den Kapitalismus die Welt »in allen ihren kategoriellen Beziehungen
als Produkt des Menschen, als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung er-
weisen läßt«, nicht länger als Garantie einer Selbsttranszendenz der bürgerli-
chen Gesellschaft, als entscheidender Schritt zur »Erweckung des begrabenen
Menschen«. 45 Während Marcuse diese Vorstellung noch lange weitertranspor-
tierte und deswegen zunächst mit Unverständnis auf die Dialektik der Aufklä-
rung reagierte, erschien deren Autoren die von Lukács aufgezeigte Perspektive
einer ›Vergesellschaftung der Gesellschaft‹ mitsamt der dafür charakteristischen
Aufhebung der Naturschranken 46 als eine zwar zutreffende Diagnose, jedoch
keineswegs als das, was sie nach Lukács sein sollte: ein »ununterbrochener
Kampf um höhere Stufen der Wahrheit«, die prozessuale Selbstentfaltung des
›Absoluten‹ im Sinne einer »(gesellschaftlichen) Selbsterkenntnis des Men-
schen«. 47 In einer Diskussion im Institut für Sozialforschung warnte Horkhei-

42  Vgl. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), in ders. 1968, S.  199: »Die Kate-

gorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das
Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer
ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat.«
43  Ebd., S.  266, 275.
44  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  149, 206 f., 237, 230.
45  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  343, 323.
46  Vgl. ebd., S.  361.
47  Ebd., S.  374 f. Wie sehr diese Auffassung durch Hegel geprägt ist, zeigt ein während der

Revolution entstandener, nicht in Geschichte und Klassenbewußtsein aufgenommener Text, in


dem Lukács die Diktatur des Proletariats als eine Übergangszeit bestimmt, in der der objek-
tive Geist des Proletariats noch allein herrscht, aber nicht mehr als Funktion der Wirtschaft,
60 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

mer im April 1939 davor, den Begriff der Gesellschaft zu hypostasieren und
schloß sich Diltheys Kritik der Soziologie an. 48 Noch schärfer formulierte er es
einige Jahre später, als er der Kritischen Theorie ins Stammbuch schrieb, »Kri-
tik der Soziologie« zu sein, welche letztere sich seit Hegel dem »totalen Gesell-
schaftsbegriff« verschrieben habe, obwohl Hegel selbst darauf nicht so festzule-
gen sei, wie Lukács dies behaupte. Überhaupt gebe es »die Gesellschaft im präg-
nanten Sinne« gar nicht mehr. »Als die Gesellschaft sich zur Wissenschaft
erhob, schwand sie dahin.«49 Adorno stimmte dem sogleich zu und rückte das
»Veralten des Begriffs Gesellschaft« in Zusammenhang mit dem »Begriff der
totalen Vergesellschaftung«, die eine »vollkommen verdinglichte Form des Zu-
sammenlebens« hervorgebracht habe, auf die das Wort »Gesellschaft« »gar
nicht mehr zutrifft.«50
Wenn diese Formulierungen nicht ohne weiteres verständlich sind, dann des-
halb, weil in ihnen zwei verschiedene Bezugspunkte zusammengezogen sind:
der Verfall der »feudal-absolutistischen ›guten Gesellschaft‹« und derjenige der
modernen bürgerlichen Gesellschaft, die im Kern eine »Tauschgesellschaft« und
eine »Klassengesellschaft« ist.51 Während der erstere meist nur beiläufig behan-
delt wird, hat Adorno dem letzteren einen großen Teil seines Spätwerks gewid-
met, nicht nur Aufsätze, die den Gesellschaftsbegriff schon im Titel tragen, son-
dern auch Lehrveranstaltungen, wie die drei großen soziologischen Vorlesun-
gen oder Seminare.52 Anders als Horkheimer, der nach seiner Rückkehr nach

»sondern des absoluten Geistes, der menschlichen Idee. Er existiert nur, damit er sich selbst
vernichte und so den Weg frei macht für den absoluten Geist.« Zit. n. Kammler 1974, S.  89.
48  Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Diskussionen über die Differenz zwi-

schen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939)], in: HGS Bd. 12, S.  436–492, 484 f.
49 Vgl. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 8.5.1949, in: A/H Bd.  3,
S.  248 f. Die Wurzel dieses ›absoluten‹ Gesellschaftsbegriffs machte Horkheimer später bei
Rousseau aus. Es sei dessen Lehre von der volonté générale, die für die französische Revoluti-
on, die nationale Mystik und den deutschen Idealismus bestimmend geworden sei: Max
Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 3.2.1957, in: A/H Bd. 4, S.  385.
50  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 19.5.1949, in: A/H Bd. 3, S.  254 f.
51  Theodor W. Adorno: Gesellschaft (1965), in: AGS Bd. 8, S.  9 –19, 9, 14 f.
52  Vgl. neben dem in der vorigen Anmerkung zitierten Aufsatz noch in AGS Bd. 8: Spätka-

pitalismus oder Industriegesellschaft? (1968); Gesellschaftstheorie und empirische Forschung


(1969); in AGS Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft (1951). Bei den Vorlesungen handelt es
sich um: Philosophie und Soziologie (1960), ANS Bd. IV.6; Philosophische Elemente einer
Theorie der Gesellschaft (1964), ANS Bd. IV.12; Einleitung in die Soziologie (1968), ANS
Bd. IV.15. Eine Liste der Seminare findet sich bei Müller-Doohm 2003, S.  944 ff. Einschlägige
Titel daraus: Max Webers wissenschaftlich-theoretische Schriften (1954); Amerikanische
Texte zur Theorie der Gesellschaft (1955/56); Wirtschaft und Gesellschaft (1957/58); Was ist
Gesellschaft (1959); Soziologische Grundbegriffe (1962/63); Max Webers Wirtschaft und Ge-
sellschaft (1963/64); Zum Begriff der Gesellschaft (1965/66). Zu Simmel hat Adorno immer-
hin schon 1940 einen Vortrag gehalten: Über das Problem der individuellen Kausalität bei
Simmel, in: Frankfurter Adorno-Blätter 8, 2003, S.  42–59.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 61

Deutschland in Sachen Soziologie die Ruder fallenließ53 , hat Adorno seine an-
fangs noch starken Vorbehalte gegenüber dem mit »Soziologismus«, »Formalis-
mus« und »Verdinglichung« assoziierten Fach bald abgeschwächt und sich dar-
um bemüht, die Kritische Theorie sowohl in der empirischen wie in der theore-
tischen Soziologie zu profilieren. Soweit der Gesellschaftsbegriff dabei zur
Debatte stand, geschah dies in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit den
Klassikern des Faches, namentlich Comte und Spencer aus der ersten, Simmel,
Durkheim und Weber aus der zweiten Generation. Wurde den beiden letzteren
immerhin zugebilligt, mit ihrem chosisme bzw. dem Verstehensbegriff jeweils
einen Aspekt der modernen Gesellschaft eingefangen zu haben, so mußten sie
sich doch zugleich den Vorwurf gefallen lassen, ihren Gesichtspunkt zu einsei-
tig zur Geltung gebracht und die Vermittlung durch »das Ganze« vernachläs-
sigt zu haben. Was dieses »Ganze« freilich war, blieb undeutlich. Entweder
wurde es in literaturwissenschaftlicher Manier durch den hermeneutischen Zir-
kel erläutert, aus dem keine Interpretation herauskomme54 , oder es wurde mit
Pauschalverweisen auf theoretische Leistungen aus dem 19. Jahrhundert wie die
Marxsche Kritik der politischen Ökonomie erläutert, von denen Adorno aber
gleichzeitig zu verstehen gab, daß die Zeit über sie hinwegzugehen im Begriff
sei.
An der zuletzt genannten Denkfigur ist immerhin abzulesen, daß Adorno mit
seiner Zustimmung zu Horkheimers oben zitiertem Diktum vom Veralten des
Begriffs Gesellschaft einen eigenen Sinn verband. Denn so sehr Adorno auf der
noch immer bestehenden Relevanz von Gesellschaft im bürgerlich-kapitalisti-
schen Sinne insistierte, so tief war er doch von der Überzeugung durchdrungen,
daß auch dieser Gesellschaftstyp mittlerweile seinen Zenit überschritten hatte.
Was mit der brieflichen Äußerung vom Mai 1949 gemeint war, entschlüsselt sich
aus den Stichworten, die von der im Wintersemester 1949/50 in Frankfurt gehal-
tenen Vorlesung überliefert sind. Adorno charakterisiert hier das Wesen der bür-
gerlichen Gesellschaft ganz im hegelmarxistischen Sinne als dynamische Entfal-
tung, als »Ausbreitung zur Totalität«, fügt aber sofort hinzu: »Aber zugleich
tendiert die Entfaltung selber zur Vernichtung. Die bürgerliche Gesellschaft ist
in diesem Sinne ›tragisch‹ und jede gesellschaftliche Betrachtung, die ihr Ver-

53  Zwar hat sich Horkheimer zu der für die Frankfurter Schule charakteristischen Verbin-

dung von Soziologie und Philosophie bekannt und sogar die Notwendigkeit empirischer For-
schung betont, darin jedoch eine Aufgabe gesehen, die vor allem der jüngeren Generation
oblag. Welche Erwartung er an sich selbst hatte, geht aus seiner im November 1951 gehaltenen
Rede zur Wiedereröffnung des Instituts für Sozialforschung hervor. Er könne nur hoffen,
heißt es dort, daß der Nachwuchs »uns Ältere recht bald hier überflüssig macht und der Phi-
losophie zurückgibt« (zit. n. Wiggershaus 1986, S.  496). Nach einer Vorlesung über »Theorie
und Kritik der Gesellschaft seit Saint-Simon« im Sommer 1950 hielt Horkheimer nur noch
philosophische Vorlesungen (vgl. ebd., S.  499 f.).
54  Vgl. etwa Theodor W. Adorno: Einführung in die Dialektik (1958), ANS Bd. IV.2, S.  141,

211 f.
62 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

stricktsein im Wesen außer Acht läßt, wird harmlos und damit unwahr.«55 Ver-
nichtung war hier zum einen ganz buchstäblich gemeint, wie spätere Hinweise
auf die Gefahr eines Nuklearkriegs belegen56 , zum andern strukturell in dem
Sinne, »daß durch die rücksichtslose Durchsetzung der bürgerlichen Gleichheit,
also des Tauschprinzips als des einzigen Maßstabs der Gesellschaft, die Gesell-
schaft entformt, entstrukturiert wird, […], und daß durch diese Entstrukturie-
rung der Gesellschaft die Gesellschaft selbst dem zu verfallen droht, was man
mit den heutigen Schlagwörtern etwa mit ›Atomisierung‹ oder mit ›Vermassung‹
bezeichnet.«57 Ging noch für Lukács die Ausbreitung des Warentauschs mit ei-
ner Ausdifferenzierung eigengesetzlicher Teilordnungen parallel, so sah Ador-
no mit dem einen auch das andere kollabieren. Vermöge ihrer eigenen Dynamik
schaltete die Tauschgesellschaft immer mehr Teilnehmer aus dem Tausch aus,
von dem es deshalb »immer weniger in der Gesellschaft« gab. Aus einem Gefüge,
das in die Sphären von Produktion, Zirkulation und Konsum gegliedert war,
wurde »ein Chaos ungelenkter, zufälliger Ideen und Kräfte, deren Blindheit das
Ganze dem Untergang zutreibt.«58 Indem die Gesellschaft nicht mehr durch ihre
Widersprüche hindurch zu einer wie immer auch prekären Einheit gelangte,
vielmehr in heterogene und inkompatible Fragmente zersplitterte, wurde auch
ihr Begriff sowie die zuständige Fachdisziplin problematisch:
»Soziologisches Denken heute kann nicht ebenso mehr an einem System der Gesell-
schaft als der zu analysierenden Ideologie sich orientieren. Das liberalistische Modell,
trotz aller apologetischen Versuche zu seiner Erneuerung, wird schwerlich mehr als ad-
äquat unterstellt. Das System, als das einer reinen Tauschgesellschaft, ist viel zu durch-
löchert, um noch ungebrochen auf jenes Modell sich bringen zu lassen. Zunehmend wird
seine Geschlossenheit und Einheit, sein Funktionieren, unmittelbar kontrolliert; zurück
tritt der Typus von Rationalität, der allein den Vergleich mit einer rationalen Theorie
legitimiert. Die Konzentrationstendenz, die den Marktmechanismus von Angebot und
Nachfrage zum Schein herabgesetzt hat; die imperialistische Expansion, die das Leben
der Marktökonomie dadurch prolongierte, daß sie sie über ihren eigenen Geltungsbe-
reich hinaustrieb, der Interventionismus und die planwirtschaftlichen Sektoren, die den
Geltungsbereich der Marktgesetze durchwuchsen – all das hat, trotz der totalen Verge-
sellschaftung der Gesellschaft, den Versuch, sie als einstimmiges System zu konstruie-
ren, überaus fragwürdig gemacht. Die anwachsende Irrationalität der Gesellschaft
selbst, wie sie in den Katastrophendrohungen heute, dem offenbaren Potential der
Selbstausrottung der Gesellschaft, sich manifestiert, wird unvereinbar mit rationaler
Theorie. Diese kann kaum länger mehr die Gesellschaft bei einem Wort nehmen, das sie
selber nicht mehr spricht.«59
55  Theodor W. Adorno: Theorie der Gesellschaft. Stichworte und Entwürfe zur Vorlesung

1949/50, hrsg. von Michael Schwarz, in: Frankfurter Adorno-Blätter 8, 2003, S.  111–142, 117.
56  Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, S.  366.
57  Adorno, Philosophie und Soziologie, S.  31.
58  Ebd., S.  198; Theodor W. Adorno: Meinung Wahn Gesellschaft (1961), in: AGS Bd. 10.2,

S.  573–594, 585.
59 Theodor W. Adorno: Max Horkheimer. Eine unterdrückte Vorrede (1962), in: AGS

Bd. 20.1, S.  165–168, 166 f.


Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 63

Als Adorno einige Jahre später den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für So-
ziologie abgab, wurde daraus ein unausgesprochener Abschied von diesem
Fach. Auch wenn sein Vortrag zum 16. Deutschen Soziologentag auf den ersten
Blick noch einmal marxistische Perspektiven stark machen zu wollen schien,
indem er den Anhängern des Begriffs der Industriegesellschaft den Formbegriff
des Spätkapitalismus entgegenhielt, zeigten doch die näheren Ausführungen,
daß dieser sich in Adornos Augen soziologischer wie ökonomischer Bestim-
mung zu entwinden tendierte. Das Modell der bürgerlichen Gesellschaft sei
»zerbröckelt«, Systemfremdes zum »Konstituens des Systems« geworden; »der
Übergang zu Herrschaft unabhängig vom Marktmechanismus ist sein Telos.«60
Die »immanente sozial-ökonomische Bewegung« sei dabei, Formen hervorzu-
bringen, die »ihrerseits aus dem Determinationszusammenhang der reinen
Ökonomie und der reinen immanenten gesellschaftlichen Dialektik heraustre-
ten und bis zu einem gewissen Grad sich verselbständigen, und keineswegs zum
Guten.« Damit aber gewinne tatsächlich der Begriff der Herrschaft »erneut eine
gewisse Präponderanz gegenüber den rein ökonomischen«, und, wie man hin-
zufügen muß: gesellschaftlichen Prozessen.61 Es waren Einsichten wie diese, die
es Adorno in den Vorlesungen der 60er Jahre ermöglichten, in Max Webers Ver-
weigerung gegenüber dem Gesellschaftsbegriff nicht mehr nur ein der nomina-
listischen Grundposition geschuldetes Versagen zu sehen, sondern eine Einstel-
lung, in der sich »der Zerfall unserer Gesellschaft selber« spiegelt.62

II.

Adorno ließ nicht im Zweifel, was die Umstellung der Kritischen Theorie von
»Gesellschaft« auf »Herrschaft« bedeutete: den Abschied von jener Version der
materialistischen Geschichtsauffassung, die die letztere der ersteren subordi-
niert hatte.63 Hatte Marx immerhin noch zwischen unmittelbaren und mittel-
baren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen unterschieden und damit
die Möglichkeit einer begrifflichen Differenzierung zwischen Herrschaft,
Macht und Gewalt eröffnet64 , in der näheren Ausführung freilich meist darauf
beharrt, »daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu be-
greifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschli-
chen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wur-
60  Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? S.  368.
61 Theodor W. Adorno: Diskussionsbeitrag zu «Spätkapitalismus oder Industriegesell-
schaft?« In: AGS Bd. 8, S.  578–587, 583 f.
62 Theodor W. Adorno, Philosophie und Soziologie, S.   193 ff., 199; Philosophische Ele-
mente einer Theorie der Gesellschaft, S.  14 ff., 48 ff.
63 Vgl. Adorno, Diskussionsbeitrag zu «Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«,

S.  583.
64  Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, S.  798 f.
64 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

zeln«65, so erschien bei Engels Herrschaft als reines Gewaltverhältnis und dieses
wiederum als das »Werkzeug […], womit sich die gesellschaftliche Bewegung
durchsetzt und erstarrte, abgestorbne politische Formen zerbricht«.66 Mit einer
an die Metaphorik der Historischen Rechtsschule erinnernden Wendung cha-
rakterisierte Engels diese Bewegung als eine sich »still vollziehende und wirk-
lich vorantreibende Entwicklung der Völker«, die im Hintergrund dieser lär-
menden Auftritte« stattfinde.67 Es sei deshalb klar,
»welche Rolle die Gewalt in der Geschichte gegenüber der ökonomischen Entwicklung
spielt. Erstens beruht alle politische Gewalt ursprünglich auf einer ökonomischen, ge-
sellschaftlichen Funktion und steigert sich in dem Maß, wie durch Auflösung der ur-
sprünglichen Gemeinwesen die Gesellschaftsglieder in Privatproduzenten verwandelt,
also den Verwaltern der gemeinsam-gesellschaftlichen Funktionen noch mehr entfrem-
det werden. Zweitens, nachdem sich die politische Gewalt gegenüber der Gesellschaft
verselbständigt, aus der Dienerin in die Herrin verwandelt hat, kann sie in zweierlei
Richtung wirken. Entweder wirkt sie im Sinn und in der Richtung der gesetzmäßigen
ökonomischen Entwicklung. In diesem Fall besteht kein Streit zwischen beiden, die öko-
nomische Entwicklung wird beschleunigt. Oder aber sie wirkt ihr entgegen, und dann
erliegt sie, mit wenigen Ausnahmen, der ökonomischen Entwicklung regelmäßig.«68

Adornos nicht ohne Pathos vorgetragene Ankündigung, er wolle sich »in


schroffem Gegensatz zu dem Anti-Dühring von Engels« für eine »Wiederauf-
nahme der Kategorie der Herrschaft« stark machen und damit die Soziologie
auf das Programm verpflichten, das bereits in der Dialektik der Aufklärung
umrissen sei69 , überging allerdings zweierlei: zum einen die Tatsache, daß die
Umstellung von »Gesellschaft« auf »Herrschaft« selbst schon einer Entwick-
lungstendenz innerhalb des Marxismus entsprach; und zum andern, daß er
selbst unabhängig hiervon und lange vor der engeren Zusammenarbeit mit
Horkheimer, Gedanken formuliert hatte, die dieser Umstellung entgegenka-
men, übrigens nicht zuletzt in der allfälligen Neigung, Herrschaft, Macht und
Gewalt in eins zu setzen. Was zunächst den Marxismus betrifft, so hatte schon
Engels eine Entwicklung ins Auge gefaßt, wonach man nicht weit von einem
Zustand entfernt sei, in dem die Produktionsweise gegen die Austauschweise
rebellieren und »der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft,
der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen« werde, womit eine Über-
windung »der in der Produktion herrschenden Anarchie« möglich sei.70 An die-

65  Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW Bd. 13, S.  8.
66 Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), in:
MEW Bd. 20, S.  171. Daß auch Marx diese Identifizierung von Herrschaft und Gewalt nicht
gänzlich fremd war, zeigt Panajotis Kondylis: Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – En-
gels – Lenin, Stuttgart 1988, S.  174.
67  Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S.  148.
68  Ebd., S.  169 f.
69  Adorno, Diskussionsbeitrag zu «Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, S.  583.
70  Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 65

se Überlegungen anknüpfend, sah bald darauf der Theoretiker des Finanzkapi-


tals, Rudolf Hilferding, die freie Konkurrenz bereits weitgehend ausgeschaltet:
das Kapital habe sich organisiert und durch seine Organisation in den Stand
gesetzt, »sich der staatlichen Macht zu bemächtigen, um diese nunmehr unmit-
telbar und direkt in den Dienst seines Ausbeutungsinteresses zu stellen.«71 Sei-
ne Vision eines zukünftigen »Generalkartells« wurde von keinem geringeren
als Lenin aufgegriffen, für den es keinem Zweifel unterlag, »daß die Entwick-
lung in der Richtung auf einen einzigen, alle Unternehmungen und alle Staaten
ausnahmslos umfassenden Welt-Trust verläuft.«72
Vorerst freilich sollte die Abschaffung der Konkurrenz nach Ansicht der so-
zialistischen und kommunistischen Imperialismustheoretiker vor allem binnen-
wirtschaftlicher Natur sein und zur Bildung nationaler Trusts führen, die auf
dem Weltmarkt um Monopol- und Extraprofite konkurrierten. Mit dem Über-
gang zum »Staatskapitalismus« werde die Konkurrenz »fast ausschließlich zur
auswärtigen Konkurrenz«73 , so daß Ökonomie und Politik nicht mehr vonein-
ander zu trennen seien. Die Notwendigkeit, sich in der auswärtigen Konkurrenz
mit allen, auch und gerade militärischen Mitteln zu behaupten, bewirke eine
Hypertrophie des staatlich-militärischen Apparats und eine Ausrichtung der
Nationalgesellschaften auf den Krieg, damit aber auf Gewalt, Raub und Plün-
derung, mit einem Wort: auf die Gewinnung von Herrschaft. Denn dies war der
Imperialismus: Herrschaft schlechthin. »Das Herrschaftsverhältnis und die da-
mit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ›jüngste Entwicklung des
Kapitalismus‹, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Mo-
nopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist.«74
Exakt zum gleichen Ergebnis gelangte im Laufe der 30er Jahre auch Horkhei-
mer, teils aufgrund der Diskussionen, die er mit seinem engsten Vertrauten
Friedrich Pollock, einem Ökonomen, führte, teils aufgrund seiner an anderer
Stelle erwähnten Überlegungen, die ihn veranlaßten, den Monopolbegriff durch
die Rackettheorie zu erweitern.75 Bei Adorno waren dagegen von Anfang an
noch andere Stichwortgeber für den mit »Herrschaft« umschriebenen Problem-
kreis maßgeblich: neben Benjamin und Freud auch Spengler sowie, wenn auch

(frz. 1880, dt. 1882), in: MEW Bd. 19, S.  219, 221, 189. Auf diese Perspektive nehmen denn auch
nicht zufällig die Eingangspassagen von Horkheimers »Autoritärem Staat« Bezug.
71  Hilferding 1973, S.  505.
72  W. I. Lenin: Vorwort zu Nikolai Bucharin: Imperialismus und Weltwirtschaft, Frank-

furt am Main 1969, S.  11.


73  Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, S.  138.
74  W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in ders.: Werke,

Bd. 22, Berlin 1960, S.  211. Lesenswert dazu noch immer Christel Neusüss: Imperialismus
und Weltmarktbewegung des Kapitals. Kritik der Leninschen Imperialismustheorie und
Grundzüge einer Theorie des Verhältnisses zwischen den kapitalistischen Metropolen, Erlan-
gen 1972, S.  27 ff.
75  Vgl. oben, S. 37 f. sowie weiter unten, S. 139 f.
66 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

vorerst eher als Hintergrundstrahlung: Nietzsche. Aus der frühen Beschäfti-


gung mit Freud mag Adorno die Überzeugung behalten haben, daß die Ziel-
hemmung des Destruktionstriebes und seine Umlenkung »auf die Objekte […]
dem Ich die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse und die Herrschaft über die
Natur« verschafft habe76 ; von Benjamin dagegen stammte die dem Kierke-
gaard-Buch zugrundeliegende Idee, die Geschichte des Idealismus als »histori-
sches Trauerspiel mythischen Denkens« zu konstruieren, als den gescheiterten
Versuch des Geistes, sich durch Opfer und Entsagung dem Naturzusammen-
hang zu entreißen. Die »Selbstherrlichkeit des Geistes«, der sich als Schöpfer
inthronisiere und zum Absoluten erhebe, sei ein bloßer Schein, da er »in Natur
um so tiefer einstürzt, je höher er ihr zu entragen vermeint«.77 Dieselbe Denk­
figur kehrte in den Fragmenten über Wagner wieder, die die ›Einheit von Na-
turbeherrschung und Naturverfallenheit‹ als Grundidee des Rings des Nibelun-
gen herausstellten78 , und wurde erneut aufgegriffen im Schönberg-Essay von
1940/41, der später in die Philosophie der neuen Musik aufgenommen wurde.
Zusätzlich zu ihrer sozialen, politischen und geschichtlichen Dimension erhielt
Herrschaft dort einen naturalistischen Akzent. »Was da ist, ist stärker. Daran
haben die Menschen gelernt, selber stärker zu sein und Natur zu beherrschen,
und in solchem Prozeß hat das Schicksal sich reproduziert. Es entfaltet sich
zwangsläufig Zug um Zug; zwangsläufig, weil ihm jeder Schritt von der alten
Übermacht der Natur vorgeschrieben wird.«79
Wieviel diese Denkfigur Nietzsche verdankt, dessen Philosophie Adorno
sich nach anfänglicher Ablehnung in den späten 30er Jahren zu erschließen be-
gann, ist in der Literatur zu Recht vermerkt worden und muß deshalb hier nicht
wiederholt werden.80 Weniger Aufmerksamkeit hat der Einfluß Spenglers ge-
funden, an dessen Geschichtsphilosophie Adorno die dem Gegenstand wahl-
verwandte Intuition würdigte, mit der sie »am Ende der bürgerlichen Epoche
das Prinzip der nackten Herrschaft« durchbrechen lasse, »das sie inaugurier-
te.«81 Auch wenn Adorno sich in vielem von Spengler distanzierte82 , war seine

76  Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in ders., Studienausgabe Bd. IX,

S.  191–270, 249.
77  Theodor W. Adorno: Kierkegaard (1933), in: AGS Bd. 2, S.  153, 83 f.
78  Vgl. Theodor W. Adorno: Fragmente über Wagner, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8,

1939, S.  1–49, 33.


79  Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik (1949), in: AGS Bd. 12, S.  68.
80  Zu den Übereinstimmungen mit Nietzsche vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische

Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, S.  146 ff.; die dort ausgeblendeten erheblichen
Unterschiede, die zwischen Horkheimer und Adorno in der Nietzsche-Rezeption bestanden,
werden gut beleuchtet von Norbert Rath: Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Ador-
nos, in: Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost:
›Dialektik der Aufklärung‹ 1947 bis 1987, Frankfurt am Main 1987, S.  73–110.
81  Adorno, Philosophie der neuen Musik, S.  66.
82  »In der nachgeborenen Philosophie Spenglers«, heißt es bereits in der zurückgezogenen

Habilitationsschrift, »kommt der Zusammenhang zwischen der Metaphysik des Unbewuß-


Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 67

Annahme, die vom Menschen geübte Naturbeherrschung sei ein Reflex der
»Übermacht der Natur über den Menschen«, von diesem weniger weit entfernt,
als es den Anschein hatte.83 Für Spengler war zwar die Menschentechnik die
einzige Technik, die sich aus dem Rahmen der »Gattungstechnik« gelöst und
damit eine Wendung gegen die Natur genommen hatte, doch folgte sie dabei nur
Vorgaben, die aus der Qualität des Lebens als einer Emanation des Willens zur
Macht entsprangen.84 Und diese Qualität sollte es zugleich sein, die der Ge-
schichte dieser Gattung, die ansonsten in heterogene und disparate Kulturen
zerfiel, Einheit und Kohärenz verlieh. Es führe, so Spenglers von Nietzsche ent-
lehntes Credo, »ein Weg vom Urkrieg früher Tiere zu den Verfahren der moder-
nen Erfinder und Ingenieure, und ebenso von der Urwaffe, der List, zur Kon­
struktion der Maschine, mit welcher der heutige Krieg gegen die Natur durch-
geführt, die Natur überlistet wird«.85 Adorno stellte zwar die Unabänderlichkeit
dieser Vorgaben in Frage, nicht jedoch die Validität einer Sichtweise, die ihm als
»Entwurf einer anthropologischen Naturdialektik« imponierte, »wie sie seit der
Aufklärung bis zu Engels stets wieder in Angriff genommen ward.«86
Horkheimer hielt in den 30er Jahren ganz andere Aufgaben für vordringlich.
Als er jedoch endlich in Los Angeles den von ihm lange ersehnten Abstand vom
Wissenschaftsbetrieb gewonnen hatte, nahm er Adornos Anregungen auf. »Die
Dialektik der Naturbeherrschung zu geben«, schrieb er im April 1941 an Pol-
lock, »wird eine der Hauptaufgaben sein und wir werden uns hüten, dabei in
Schelersche Bahnen zu geraten.«87 Auf das einige Wochen später bei ihm ein-
treffende Schönberg-Kapitel der späteren Philosophie der neuen Musik reagierte
er deshalb mit ungewöhnlichem Enthusiasmus. Obwohl er von der Sache ei-
gentlich nichts verstehe, teilte er dem Verfasser mit, erscheine ihm jede Zeile so
vertraut, daß er schon nach der ersten Lektüre ganze Stellen auswendig zitieren
könne.88 Zwar fand er die These, »daß die Herrschaft über die Natur gleichzei-
tig die Unterordnung unter sie bedeutet«, so abstrakt formuliert, daß sie nur
schwer von den Lehren des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden sei89 , doch war

ten, der Macht- und Schicksalsphilosophie, der kritischen Situation der Gesellschaft und der
politischen Aktualität exemplarisch zum Ausdruck.« (Der Begriff des Unbewußten in der
transzendentalen Seelenlehre [1927], in: AGS Bd. 1, S.  79–322, 320).
83  Adorno, Philosophie der neuen Musik, S.  68.
84  Vgl. Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik, München 1931, S.  24 f., 13.
85  Ebd., S.  9 . Zum Nietzsche-Bezug vgl. ebd., S.  14. Ausführlicher dazu: Massimo Ferrari

Zumbini: Spengler und Nietzsche: Rezeption und Kritik, in ders.: Untergänge und Morgen-
röten. Nietzsche – Spengler – Antisemitismus, Würzburg 1999, S.  25–86.
86  Theodor W. Adorno [Besprechung von]: Oswald Spengler, Der Mensch und die Tech-

nik, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1, 1932, S.  149–151, 150 (auch in: AGS Bd. 20.1, S.  197–
200).
87  Max Horkheimer an Friedrich Pollock: Brief vom 27.4.1941, in: HGS Bd. 17, S.  25.
88 Vgl. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 28.8.1941, in: A/H Bd. 2,

S.  212.
89  Ebd., S.  216.
68 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

eben damit die Richtung bezeichnet, in der sich auch sein eigenes Denken in-
zwischen bewegte. Nur wenige Wochen zuvor hatte er in einem Brief an Paul
und Hannah Tillich über die Lektüre diverser Bücher berichtet, die sich mit
»Animal Psychology, Animal Aggregations und ähnliche[n] Gegenstände[n]«
befaßten.90 Aus seinen Studien ging bis Ende 1941 ein erster Entwurf des Essays
»Vernunft und Selbsterhaltung« hervor, der die geschichtliche Entfaltung der
Vernunft durch den abendländischen Rationalismus und die Aufklärung als ei-
nen Schrumpfungsprozeß deutete, in dessen Verlauf die durch den Rationalis-
mus hervorgebrachten metaphysischen Begriffe kassiert würden, so daß Ver-
nunft sich mehr und mehr als »mit Selbsterhaltung und schließlich mit Herr-
schaft identisch« erwies.91 Erst in einem weiteren intensiven Arbeitsgang, bei
dem ihn Adorno unterstützte, gelang es Horkheimer allerdings, diesen Text so
zu verdichten, daß er ihn nicht länger als Abschluß seiner Arbeiten der 30er
Jahre empfand, sondern als Neubeginn.92
Im Juni 1942 begannen Horkheimer und Adorno mit der Dialektik der Auf-
klärung, die explizit zeigen sollte, »wie die Unterwerfung alles Natürlichen un-
ter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objek-
tiven, Natürlichen gipfelt.«93 Das selbstherrliche Subjekt: das war die menschli-
che Gesellschaft als ein »Massenracket in der Natur«.94 Angesprochen war
damit zunächst die »Gewalt«, die diese Gesellschaft als kollektives Subjekt auf
die Natur ausübte, indem sie sie zum Objekt degradierte, zum bloßen Stoff ent-
qualifizierte, was sich zumal in der »Versklavung der Kreatur«, der »lückenlo-
sen Ausbeutung der Tierwelt« manifestierte.95 Zugleich wird betont, daß dieses
Gewaltverhältnis auf die Gesellschaft zurückschlage und auf Seiten des Sub-
jekts eine unaufhaltsame Regression auslöse, und dies keineswegs erst unter den
Bedingungen des Hochkapitalismus, sondern schon in den frühesten Stadien
der Menschheitsgeschichte, wie die Interpretation der Odyssee im Kapitel über
den Begriff der Aufklärung und im ersten Exkurs demonstrieren soll.96 Selbst-
zerstörung und Umweltzerstörung, so die Botschaft, potenzierten sich derart,
daß fraglich sei, »ob eine echte naturgeschichtlich nächsthöhere Gattung nach
dem Menschen überhaupt entstehen kann. Denn soviel ist in der Tat am Anth-
ropomorphismus richtig, daß die Naturgeschichte gleichsam mit dem glückli-
chen Wurf, der ihr im Menschen gelungen ist, nicht gerechnet hat. Seine Ver-

90  Max Horkheimer an Paul und Hannah Tillich, Brief vom 19.7.1941, in: HGS Bd. 17,

S.  99.
91  Vgl. Max Horkheimer an Adolph Lowe, Brief vom 1.12.1941, in: HGS Bd. 17, S.  231.
92  Vgl. ebd.; ferner Max Horkheimer an Herbert Marcuse, Brief vom 6.12.1941, in: HGS

Bd. 17, S.  234; Max Horkheimer an Leo Löwenthal, Brief vom 11.2.1941, in: HGS Bd. 17,
S.  266 ff.
93  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  22.
94  Ebd., S.  286.
95  Ebd., S.  20, 32, 26, 278.
96  Vgl. ebd., S.  63, 59.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 69

nichtungsfähigkeit verspricht so groß zu werden, daß – wenn diese Art sich


einmal erschöpft hat – tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich
selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab, und wenn
die Erde dann noch jung genug ist, muß – um ein berühmtes Wort zu variieren
– auf einer viel tieferen Stufe die ganze chose noch einmal anfangen.«97
In den Jahrzehnten, die seit dieser Prognose ins Land gegangen sind, haben
sich keine Fakten ergeben, die daran zweifeln lassen. Bezweifeln kann man aber,
ob der von Horkheimer und Adorno bereitgestellte kategoriale Apparat, insbe-
sondere das Verständnis von »Herrschaft« (bzw. »Macht«), zur Erklärung taugt.
Zwar finden sich auch in der Dialektik der Aufklärung immer wieder Formulie-
rungen, die Herrschaft als ein soziales Phänomen deuten, doch wird dieser Ge-
danke ebenso oft von dem Bestreben durchkreuzt, darin eine bloße Fortsetzung
von Naturverhältnissen zu sehen. Dazu gehört der Rekurs auf »Augenblicke der
biologischen Urgeschichte« und auf »archaische Schemata der Selbsterhal-
tung«98 , gehört die – auf den ersten Blick psychologische, auf den zweiten aber
ebenfalls naturalistische Herleitung des Mythos aus der Angstbewältigung, die
auf eine lange Tradition von Vico über Hume bis zu Herder zurückblicken
kann99 , gehört ferner ein Verständnis, dem noch die mathematische Formel als
»sublimierteste Betätigung von Mimikry« gilt und das »System der Dinge […],
von dem die Wissenschaft bloß den abstrakten Ausdruck bildet,« als »das be-
wußtlos zustandekommende Erzeugnis des tierischen Werkzeugs im Lebens-
kampf«; gehört endlich auch die Behauptung, in der »pathischen Projektion« als
dem für moderne Gesellschaften durchgängig typischen »Erkenntnis«modus
wirke »der geschärfte intellektuelle Apparat des Menschen gegen Menschen
wieder als das blinde Feindwerkzeug der tierischen Vorzeit, als das bei der Gat-
tung er gegen die ganze übrige Natur zu funktionieren nie aufgehört hat«.100
Noch einmal zugespitzt hat Adorno diesen Gedanken 1966 in der Negativen
Dialektik, wo es heißt, die bürgerliche Gesellschaft sei die Potenzierung eines
ursprünglichen Herrschaftsverhältnisses, dessen Entwicklung in gerader Linie
»von der Steinschleuder zur Megabombe« geführt haben soll. Im Widerspruch
zu sonst geäußerten Ansichten wurde das idealistische Denken auf ein ›anthro-
pologisches Schema‹ zurückgeführt und der Erkenntnistheorie attestiert, sie
habe ihre »Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gat-
tung«; die Rationalität der identifizierenden Vernunft, heißt es weiter unten, sei
»geschichtlich diktiert vom Bedrohlichen der Natur«. »Menschliche Geschich-
te, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur,

97  Ebd., S.  254 f.


98  Ebd., S.  210.
99  Vgl. ebd., S.  37. Vgl. Christoph Jamme: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Per­

spektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt am Main 1991, S.  88 ff.


100  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  210 f., 218, 220.
70 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Fressen und Gefressenwerden, fort«.101 In der Einleitung zum »Positivismus­


streit« findet sich der Satz, daß zugunsten der ›sakrosankten Theorie‹ keines-
wegs die Möglichkeit zu exorzieren sei, »daß der soziale Zwang tierisch-biolo-
gisches Erbe sei; der ausweglose Bann der Tierwelt reproduziert sich in der
brutalen Herrschaft stets noch naturgeschichtlicher Gesellschaft«.102
Mit der ›sakrosankten Theorie‹ dürfte der historische Materialismus gemeint
sein. In dessen stärkster Fassung wird das Verhältnis Mensch-Natur durch den
Arbeitsprozeß bestimmt, dessen Momente »die zweckmäßige Tätigkeit oder die
Arbeit selbst, ihr[en] Gegenstand und ihr Mittel« sind.103 Nur für den Kapita-
lismus gilt, daß die Produktionsverhältnisse, und dazu gehört insbesondere die
Herrschaftsorganisation, auf den Arbeitsprozeß selbst übergreifen und ihn
nach den Regeln der Kapitalverwertung strukturieren. In allen vorkapitalisti-
schen Ordnungen dagegen fallen Arbeit und Herrschaft strukturell auseinan-
der und müssen entsprechend ihren jeweiligen Eigengesetzlichkeiten behandelt
werden.104 Das Kapitel über »Formen, die der kapitalistischen Produktion vor-
hergehn« in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie machte dazu
einige Angebote, auch wenn diese aus heutiger Sicht historisch antiquiert
sind.105 An der grundsätzlichen Trennung ändert auch die Tatsache nichts, daß
Marx selbst immer wieder dazu tendierte, sie zurückzunehmen, nicht nur, aber
besonders drastisch in jenen Passagen seiner Proudhon-Kritik, in denen es
heißt: »Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampf-
mühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten«.106
Die Kritische Theorie ist der umgekehrten Versuchung erlegen, schluckt
doch bei ihr der Herrschaftsbegriff den Arbeitsbegriff. Arbeit, heißt es poin-
tiert in Adornos Drei Studien zu Hegel, sei als geistige wie körperliche »das
verselbständigte und freilich dann seinem Wissen von sich selbst entfremdete
Prinzip der Naturbeherrschung«.107 Da Naturbeherrschung aber nach den Prä-
missen der Dialektik der Aufklärung gleichbedeutend ist mit Naturverfallen-
heit, wäre die eigentlich hierfür zuständige Disziplin nicht die Soziologie, son-
dern die Biologie. Das ist schon früh von Kritikern wie Michael Theunissen
moniert worden, die der Kritischen Theorie einen Rückfall auf eben die Stufe
vorhalten, »die zu überschreiten sie sich vorgenommen hat: auf die Ebene einer
nun unzweifelhaft objektivistischen Naturontologie oder doch zumindest eines

101 
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), in: AGS Bd. 6, S.  314, 33, 174, 348.
102 
Theodor W. Adorno: Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«
(1969), in: AGS Bd. 8, S.  280–353, 349.
103  Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S.  193.
104  Vgl. Oetzel 1978, S.  168 sowie meine Studie: Karl Marx als Soziologe, in: Sociologia

Internationalis 48, 2010, S.  173–199.


105  Vgl. Marx 1974, S.  375 ff.
106  Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW Bd. 4, S.  130.
107  Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel (1963), in: AGS Bd. 5, S.  247–381, 269.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 71

Denkens, das der Natur den Vorrang vor der Geschichte einräumt und sie in
den Rang des absoluten Ursprungs erhebt«.108
Im Lichte dieser Kritik ist es zu kurz gegriffen, wenn man der Kritischen
Theorie nur vorhält, sie habe versucht, »den Begriff der sozialen Herrschaft in
Entsprechung zum Begriff der Naturbeherrschung zu bilden«.109 Schon der
Schritt, das Verhältnis Mensch-Natur als ein solches der »Herrschaft« zu den-
ken und dieses zugleich mit »Macht« und »Gewalt« zu identifizieren, überzeugt
nicht, weil damit die Differenzierungsgewinne ignoriert werden, die die frühe
deutsche Soziologie erarbeitet hatte. Es genügt, auf Georg Simmel zu verwei-
sen, der Herrschaft als Über- und Unterordnung verstanden und diese zur »ge-
sellschaftlichen Form« erklärt hatte110 ; oder auf Max Weber, der Herrschaft wie
Macht zu den »Strukturformen des Gemeinschaftshandelns« gerechnet hatte,
die für Formen der Willensdurchsetzung innerhalb einer sozialen Beziehung
stehen.111 Soziale Beziehung: das meint bei Weber »ein seinem Sinngehalt nach
aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten
mehrerer«.112 Macht kann sich dagegen aus allen möglichen Qualitäten der Be-
teiligten ergeben, z. B. aus physischer Überlegenheit, erotischer Attraktivität
oder ungleicher Besitzverteilung.113 Herrschaft setzt auf Seiten der Herrschen-
den einen explizit bekundeten Willen voraus, dem auf Seiten der Beherrschten
die Bereitschaft zum Gehorsam entspricht; wobei Gehorsam wiederum bedeu-
tet: »daß das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er
den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens
gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhältnisses hal-
ber, ohne Rücksicht auf die eigene Ansicht über den Wert oder Unwert des Be-
fehls als solchen.«114 Manifestieren kann sich Herrschaft in einer schwächeren
und eo ipso kurzlebigeren Form, wenn sich der Gehorsam lediglich auf materi-
elle Motive oder eingelebte Gewohnheiten stützt; oder in einer stärkeren Form,
wenn der Gehorsam aus dem Glauben an die Legitimität der Herrschaft folgt.115
Beziehungen zwischen einem Subjekt und einem Objekt, das per definitionem
nicht über die Fähigkeit verfügt, nach Maximen zu handeln, sind danach keine

108  Michael Theunissen: Gesellschaft und Geschichte. Zur Kritik der kritischen Theorie,

Berlin 1969, S.  13. Ähnlich Habermas 1981, Bd. 1, S.  491, 506 f.


109  Honneth 1985, S.  64.
110  Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung,

Berlin 19685, S.  102.


111 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften. MWG Bd. I/22-1, S.   81;
Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, MWG Bd. I/23, S.  210 f.
112  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  177.
113  Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, MWG Bd. I/22-4, S.  126 ff. Näher

dazu Hubert Treiber: Macht – ein soziologischer Grundbegriff, in: Peter Gostmann und Pe-
ter-Ulrich Merz-Benz (Hrsg.): Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer
Grundbegriffe, Wiesbaden 2007, S.  49–62.
114  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  4 49, 452.
115  Vgl. ebd., S, 449 f.
72 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Herrschaftsbeziehungen, Begriffe wie »Naturbeherrschung« ein Widerspruch


in sich, auch wenn es sich um das Verhältnis zur inneren Natur, eines ›Ichs‹ zu
seinen Trieben, Wünschen, Bedürfnissen handelt.
Die in der Dialektik der Aufklärung unternommenen Versuche, sich darüber
hinwegzusetzen und schon für die »Urgeschichte der Subjektivität«116 einen
Primat der aller Vergesellschaftung vorausgehenden Selbsterhaltung auszuma-
chen, halten denn auch einer genaueren Betrachtung nicht stand. So hat Heinz
Steinert in einer klugen Analyse gezeigt, wie wenig es in der als Referenztext
herangezogenen Odyssee um die Konstitution eines isolierten Individuums
durch Askese, List und Selbstdisziplin geht, wie sehr die Erfolge des Odysseus
sich Ratschlägen, Warnungen und Hilfestellungen zahlreicher göttlicher, halb-
göttlicher und menschlicher Akteure in seinem Umfeld verdankten, wieviel der
Held von der Zuarbeit seiner Gefährten, der Voraussicht überlegener Frauen
wie Kirke profitierte; und nicht zuletzt auch: wie wenig er auf seinen Irrfahrten
lernte, wie sehr er am Ende der Geschichte der gleiche war wie zu ihrem Be-
ginn.117 Wenn Steinert freilich dennoch daran festhalten zu können glaubt, in
der Odyssee habe »die Urgeschichte des bürgerlichen Individuums als Betrug«
ihren Niederschlag gefunden118 , dann sitzt auch er noch einer modernisierenden
Lektüre auf, der schon Gadamer zu Recht einen »Mangel an historischer Refle-
xion, wenn nicht gar eine Verwechslung Homers mit Johann Heinrich Voß«
entgegengehalten hat.119 Adorno dürfte hier dem Einfluß Rudolf Borchardts
erlegen sein, dessen Deutung er bei mancher Kritik doch das Verdienst beschei-
nigte, den Bürger dort noch aufgespürt zu haben, »wo der ältere bürgerliche
Humanismus heilige Frühe wähnt, die ihn selber legitimieren soll«.120 Die in der

116 
Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  78.
117  Vgl.
Heinz Steinert: Das Verhängnis der Gesellschaft und das Glück der Erkenntnis.
Dialektik der Aufklärung als Forschungsprogramm, Münster 2007, S.  64 ff.
118  Ebd., S.  97 (H.v.m., S.B.).
119  Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 19754 , S.  258.
120 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.   68 f. Für Borchardt war das
homerische Epos »eine Schöpfung der helleno-asiatischen Auswanderung, entstanden in den
rasch emporgeschossenen und auf jungen Reichtum gelagerten Kauf- und Schifferstädten der
Küste Kleinasiens«, daher »im Ursinne überhaupt nicht mehr Mythus«, sondern Vehikel der
»furchtbaren und schleierlosen Nüchternheit der neuen ionischen Aufklärung«, deren negati-
ve Folgen erst durch die »pindarische Restauration« ausgeglichen worden seien. Ilias und
Odyssee erscheinen aus dieser Perspektive als Dokumente einer Überfremdung, die »Home-
risierung« Griechenlands als dessen »Orientalisierung«: vgl. Rudolf Borchardt: Einleitung in
das Verständnis der Pindarischen Poesie (zuerst 1929/30), hier zit. n. Prosa Bd. II, hrsg. von
Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn, Stuttgart 1959, S.  131–234, 161, 174,
217, 201. Wie die frühe Fassung des Odysseus-Exkurses deutlicher als die Buchversion zeigt,
hat Adorno an dieser Deutung nicht nur die Ineinssetzung von Weltgeschichte und Aufklä-
rung geschätzt, sondern auch die Sprengung der traditionellen Gleichsetzung von Epos und
Mythus, »wie sie noch der Theorie des Romans von Lukács zugrundeliegt«: vgl. Theodor W.
Adorno: Geschichtsphilosophischer Exkurs zur Odyssee, in: Frankfurter Adorno-Blätter 5,
1998, S.  37–88, 40, 42.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 73

Odyssee behandelte Urgeschichte ist nicht die eines »inselgriechischen Robin-


son« oder des »homo oeconomicus«121, sondern die des ganz andersgearteten,
adligen Individuums, das in seiner Affektstruktur weit mehr den von Norbert
Elias beschriebenen Grundherren des europäischen Mittelalters gleicht und in
seinem Streben nach Ruhm und Anerkennung, nach Wiederherstellung seiner
gekränkten Ehre, ohne jedes Maß ist. Als Odysseus nach seiner Heimkehr sein
Haus von einem guten Hundert Freier besetzt findet, die es sich auf seine Kos-
ten wohlergehen lassen, versichert er sich kurz des Beistands seiner Göttin und
richtet anschließend ein Massaker an, das geeignet gewesen wäre, die Insel Itha-
ka über Jahrhunderte zum Schauplatz von Fehde und Blutrache zu machen.122
Von »Vernunft, Liberalität, Bürgerlichkeit samt all ihrer Schuld«123 , wie Adorno
sie im Gefolge von Borchardt in der Odyssee ausgemacht haben will, ist man
hier denkbar weit entfernt.
So wenig wie für die Urgeschichte bürgerlicher Subjektivität taugt die natu-
ralistische Deutung von Herrschaft für die Analyse nachbürgerlicher Ordnun-
gen. Zwar ist es ein Verdienst der Kritischen Theorie, auf der fortdauernden
Präsenz von Herrschaft beharrt zu haben, gab es doch in der bundesdeutschen
Soziologie der Nachkriegszeit eine starke Tendenz, eben dies zu bestreiten. Ar-
nold Gehlen konstatierte 1956 eine »zunehmende Unangemessenheit des Be-
griffes ›Herrschaft‹«, der doch immer »irgendwie eine existentielle Inpflicht-
nahme des Menschen« impliziere, welche heute, im Zeitalter des »einsichtigen
Sachzwang[s]«, nicht mehr gegeben sei.124 Helmut Schelsky assistierte ihm fünf
Jahre später mit der Behauptung, im industriellen Großbetrieb (wie auch, muta-
tis mutandis, im »technischen Staat«) trete Herrschaft »in Form der Kontrolle,
des Befehls, der persönlichen Entscheidung […] gegenüber der Tatsache zurück,
daß die Ratio der Apparate und Maschinen dem Arbeiter immer einsehbarer
wird und als technischer Leistungsanspruch unmittelbar sozial von ihm gedeu-
tet werden kann. Herrschaftsdisziplin wird zur Sachdisziplin umgeformt.«125
121  Adorno, Geschichtsphilosophischer Exkurs zur Odyssee, S.  42.
122  Vgl. Egon Flaig: Ehre gegen Gerechtigkeit. Adelsethos und Gemeinschaftsdenken in
Hellas, in: Jan Assmann u. a. (Hrsg.): Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländi-
schen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, S.  97–140.
123  Adorno, Geschichtsphilosophischer Exkurs zur Odyssee, S.  40.
124  Arnold Gehlen: Industrielle Gesellschaft und Staat (1956), in ders.: Einblicke. Arnold

Gehlen Gesamtausgabe, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Bd. 7, Frankfurt am Main 1978,
S.  110–124, 118.
125  Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in ders.:

Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf und Köln 1965, S.  439–
480, 457. Ein Echo dieser Vorstellung findet sich in der Ansicht eines seinerzeit von Schelsky
geförderten Autors, Herrschaft sei ein ›agrargeschichtlicher Begriff‹, der mit dem einer Leis-
tungsgesellschaft nicht zusammenzubringen sei: vgl. Niklas Luhmann: Systemtheoretische
Argumentationen, in: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder
Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt am Main 1971, 291–404, 400 f.
Tatsächlich verdankte Luhmann der Philosophischen Anthropologie mehr als nur die äußere
Förderung seiner Karriere, wie Joachim Fischer zeigt: vgl. Fischer 2009, S.  430 ff.
74 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Es ist jedoch eines, gegenüber solchen neo-saint-simonistischen Diagnosen


darauf zu insistieren, daß »Herrschaft, Versagung, Verzicht […] in der Gesell-
schaft bis heute invariant walte[te]n«126 , ein ganz anderes, ein angemessenes
begriffliches Konzept zu entwickeln, das der Eigenart und den historischen
Wandlungen von Herrschaft Rechnung trägt. Ansätze dazu hätte die Kritische
Theorie mühelos in der von ihr weitgehend ignorierten deutschen Soziologie
der Gründergeneration finden können, etwa bei Georg Simmel, der den »Über-
gang vom Subjektivismus der Herrschaftsverhältnisse zu einer objektiven For-
mation und Fixierung« thematisierte127, oder bei Max Weber, der diesen Vor-
gang als Rationalisierung deutete, als Durchsetzung und Installierung einer
asymmetrischen soziale Beziehung, bei der nicht einer Person gehorcht wird,
sondern einer gesatzten Regel, und bei der auch der Befehlende selbst einer Re-
gel gehorcht: »dem ›Gesetz‹ oder ›Reglement‹, einer formal abstrakten Norm«128
– der Typus der »legalen Herrschaft«, der in staatlichen Apparaten ebenso anzu-
treffen ist wie in privaten Unternehmungen und durch den Übergang zu flache-
ren Hierarchien nicht außer Kraft gesetzt wird.
Dem Werk Webers hätte sie überdies eine Reihe weiterer Anregungen ent-
nehmen können, die sie vor der aus dem Marxismus der 20er und 30er Jahre
übernommenen Neigung zur Überschätzung der herrschaftlichen Durchdrin-
gung der Ökonomie bewahrt hätten. Nicht daß sich nicht auch dort problema-
tische Generalisierungen fänden, wie etwa die Prognose vom »Gehäuse der Hö-
rigkeit«, dem der Kapitalismus bei einer Verlangsamung im Tempo des tech-
nisch-ökonomischen Fortschritts zusteuere.129 Doch relativieren sich solche
Einschätzungen, sobald man sich auf die gesamte Breite des in Wirtschaft und
Gesellschaft entwickelten Begriffsnetzes einläßt. Von erheblichem Gewicht ist
hier etwa der freilich nur in den älteren Manuskripten ventilierte Gedanke, ne-
ben der »Herrschaft kraft Autorität« noch einen weiteren Begriff von Herr-
schaft einzuführen: die »Herrschaft kraft Interessenkonstellation«, die sich »im
reinen Typus lediglich auf die kraft irgendwie gesicherten Besitzes (oder auch
marktgängiger Fertigkeit) geltend zu machenden Einflüsse auf das lediglich
dem eigenen Interesse folgende formal ›freie‹ Handeln der Beherrschten« grün-
det.130 Daß dieser Herrschafts- oder besser Machttypus sich insbesondere bei
»monopolistischer Lage« einstellt131, ist dabei nicht als Brückenschlag zur The-
orie des staatsmonopolistischen Kapitalismus zu verstehen. Weber unterschei-

126  Theodor W. Adorno: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien (1961), in:

AGS Bd. 8, S.  216–237, S.  229. Die Bezeichnung »neo-saint-simonistisch« nach Schluchter


1972, S.  193 ff.
127  Simmel, Soziologie, S.  177.
128 Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: MWG Bd. I/22-4,

S.  726–742, 726.
129  Vgl. Max Weber: Zur Russischen Revolution von 1905, MWG I/10, S.  269.
130  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, S.  129.
131  Ebd., S.  130.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 75

det scharf zwischen ständischen Monopolen, die den Marktmechanismus aus-


schließen und kapitalistischen Monopolen, die ihn voraussetzen; und er betont,
daß man es auch in kapitalistischen Marktwirtschaften mit dem für zahlreiche
Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen typischen Wechsel zwischen
Öffnung und Schließung zu tun hat. »Verbreiterung des Marktes im Interesse
vermehrten Umsatzes und monopolistische Begrenzung des Marktes« stehen
hier eng nebeneinander.132 An seinen Hinweis, Herrschaft kraft Interessenkon-
stellation lasse sich besonders gut am Verhalten der Zentral- und großen Kredit-
banken studieren, die über Konditionen der Kreditgewährung das ökonomi-
sche Gebaren der Kreditsuchenden beeinflussen können, ließen sich weitrei-
chende Überlegungen zum aktuellen Finanzmarktkapitalismus anschließen133 ,
doch genügt für den beschränkten Zweck dieses Abschnitts die Feststellung,
daß in der Soziologie Webers sowohl mit der Legitimitätstypologie als auch mit
dem Konzept der Herrschaft kraft Interessenkonstellation ein ausbaufähiges
kategoriales Angebot vorliegt, das die Kritische Theorie zu ihrem Schaden ver-
nachlässigt hat.
Es war wohl ihre von Gewalterlebnissen bestimmte Generationserfahrung,
die die kritischen Theoretiker dazu geführt hat, Herrschaft primär im Lichte
dieser Erfahrung zu deuten. Das ist verständlich, jedoch kein Grund, darauf zu
beharren. So wichtig Herrschaft nach wie vor in allen sozialen Bereichen ist: die
Theorie auf sie in der reduktionistischen Fassung zu zentrieren, in der sie sich in
der Dialektik der Aufklärung und in der Negativen Dialektik präsentiert, för-
dert die Sache nicht. Auf dieser Basis ist weder das Verhältnis zur Natur zu er-
fassen noch das komplizierte Gefüge der gesellschaftlichen Ordnungen und
Mächte, das ebenso durch funktionale Ergänzung wie durch Spannungen und
»spill-over-Effekte« gekennzeichnet ist. Allzu schnell, so erscheint es im Rück-
blick, hat die Kritische Theorie die Kapitalismusanalyse, ob im Sinne von Marx
oder von Weber, aufgegeben, allzu umstandslos sich mit der Behauptung einer
»Liquidation der Ökonomie« beschieden und damit auf eine analytische Durch-
dringung jener Sphäre verzichtet, von deren Eigengesetzlichkeiten mehr denn je
prägende Wirkungen auf alle anderen Ordnungen ausgehen, vom Ökonomisie-

132  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  200. Marx hat das nicht viel anders

gesehen, betont doch auch er, daß man »in der Praxis des Lebens […] nicht nur Konkurrenz,
Monopol und ihren Widerstreit [findet], sondern auch ihre Synthese, die nicht eine Formel,
sondern eine Bewegung ist. […] Die Synthese ist derart beschaffen, daß das Monopol sich nur
dadurch aufrecht erhalten kann, daß es beständig in den Konkurrenzkampf eintritt«: Karl
Marx: Das Elend der Philosophie, in: MEW Bd. 4, S.  163 f.
133  Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  129 f. Viel Informatives dazu

bieten die Beiträge in Paul Windolf (Hrsg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wan-
del von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005. Ferner Axel T. Paul: Collateral damage. Über
das Alte im Neuen des Finanzmarktkapitalismus, in ders.: Die Gesellschaft des Geldes. Ent-
wurf einer monetären Theorie der Moderne, 2. erw. Auflage, Wiesbaden 2012, S.  9 –44; Joseph
Vogl: Der Souveränitätseffekt, Zürich und Berlin 2015.
76 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

rungs- und Kommodifizierungsdruck über den Zwang zur permanenten Inno-


vation bis zur Steigerung der formalen Rationalität, die stets zugleich Steige-
rung der Risiken und der Volatilität bedeutet und insgesamt eine »ökonomische
Kultur der Zufälligkeit« (Neckel) begründet hat, die mit dem Leistungsbegriff
ein zentrales Legitimationsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft dementiert.134
Solchen Zusammenhängen nachzugehen, muß keineswegs in den Ökonomis-
mus führen, da immer auch und mehr denn je mit Wechselwirkungen und In-
terferenzen zu rechnen ist. Es könnte aber ein Weg sein, auf dem sich einholen
ließe, was die Kritische Theorie trotz falscher Voraussetzungen ins Bewußtsein
gehoben hat: die Erkenntnis, daß der Kapitalismus im Zuge seiner vollen Ent-
faltung den institutionellen Rahmen, den er vorgefunden hat, seinen Erforder-
nissen gemäß umgestaltet. Mit ihrer Idee einer »falschen Aufhebung« der bür-
gerlichen Gesellschaft ist die Kritische Theorie diesem Sachverhalt immerhin
nahegekommen.135

III.

Der These, die Kritische Theorie habe sich allzu schnell auf eine im naturalisti-
schen Sinne fehlgedeutete Herrschaftstheorie oder -lehre zurückgezogen, steht
nun freilich die herausragende Bedeutung entgegen, die sie dem Begriff der Ver-
dinglichung eingeräumt hat, einem Konzept, das nicht zu Unrecht zu den
»wichtigsten Begriffen in der Sozialtheorie des westlichen Marxismus« gerech-
net wird.136 Schon Marx hatte der Tatsache großes Gewicht eingeräumt, daß
134  Sighart Neckel: »Refeudalisierung« – Systematik und Aktualität eines Begriffs der Ha-

bermas’schen Gesellschaftsanalyse, in: Leviathan 41, 2013, S.  39–56, 52. Mit der Wiederauf-
nahme des Refeudalisierungstheorems geht dieser lesenswerte Text freilich genau in die Rich-
tung, die hier vermieden werden soll. Das Theorem ist übrigens wesentlich älteren Datums als
der Strukturwandel der Öffentlichkeit. Es findet sich nicht nur in den marxistischen Imperi-
alismustheorien, sondern auch bei Carl Brinkmann: Die Umformung der kapitalistischen
Gesellschaft, in: Grundriß der Sozialökonomik, IX. Abt., I. Teil, Tübingen 1926, S.  1–21,
17 ff.; Die Aristokratie im kapitalistischen Zeitalter, ebd., S.  22–34, 34; bei Werner Sombart:
Die Wandlungen des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 28, 1928, S.  243–256, 248
oder bei Moritz J. Bonn: Kapitalismus oder Feudalismus? Berlin 1932. Selbst Gehlen hat ihm,
im Widerspruch zu seinem sonstigen Neo-Saint-Simonismus, mitunter Tribut gezollt. In ei-
nem 1953 geschriebenen, aber erst 1961 veröffentlichten Beitrag heißt es: »Daß Herrschaft
(einschließlich ihres Korrelates Disziplin) auch in Industriebetrieben und über solche ausge-
übt wird, kann nicht zweifelhaft sein. Theodore Ruyssen spricht in diesem Sinne analog von
einer ›féodalité économique‹. Die Kontrolle großer Industrie- und Kapitalaggregate bedeutet
im echten Sinne Herrschaft, die Herrschaftsverhältnisse in Betrieben sind zum Teil straffer
profiliert als im staatlichen Bereich« (Arnold Gehlen: Soziologie der Macht, in ders., Einbli-
cke, S.  91–99, 91 f.).
135  Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S.  262.
136  Christoph Henning: Verdinglichung als Schlüsselbegriff Kritischer Theorie. Zur An-

tikritik an Axel Honneths Rekonstruktion, in: Berliner Debatte Initial 18, 2007, S.  98–114, 98
(H.v.m., S.B.).
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 77

unter kapitalistischen Produktionsbedingungen das »bestimmte gesellschaftli-


che Verhältnis der Menschen selbst […] für sie die phantasmagorische Form ei-
nes Verhältnisses von Dingen annimmt«, und er hatte dies nicht nur im vielzi-
tierten Abschnitt über den »Fetischcharakter der Ware und ihr Geheimnis« im
ersten Band des Kapitals ausgeführt, sondern auch im dritten Band im Ab-
schnitt über die »trinitarische Formel« wieder aufgegriffen, in dem explizit von
einer »Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse« die Rede
ist, vermöge deren die »stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschicht-
lich-sozialen Bestimmtheit« zusammenwüchsen.137 Die Tragweite dieser Über-
legungen war dann zwar im Marxismus der Zweiten Internationale in Verges-
senheit geraten, doch hatte Lukács ihnen 1923 zu neuer Prominenz verholfen.
Der zentrale Text von Geschichte und Klassenbewußtsein trägt die Überschrift:
»Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats«.
1923 war jedoch nicht mehr 1867. In den Jahren vor und nach dem Ersten
Weltkrieg hatte sich der Begriff der Verdinglichung aus seinem ursprünglichen
Kontext gelöst und war zum Gemeinbesitz neuer philosophischer Strömungen
wie der Lebensphilosophie, der Phänomenologie und der Existentialontologie
avanciert, von denen zumal die erstere ihren Eindruck auf Lukács nicht verfehl-
te. Georg Simmel, der den Begriff noch eher selten verwendete138 , sah es als
»Tragödie der Kultur« an, daß die vom schöpferischen Geist hervorgebrachten
Produkte die »Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Exis-
tenz« annahmen und sich damit »der strömenden Lebendigkeit, der inneren
Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele« ent-
gegenstellten. Der »Fetischcharakter«, den Marx den wirtschaftlichen Objekten
in der Epoche der Warenproduktion zugesprochen habe, sei deshalb »nur ein
besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturin-
halte.«139 Für Ludwig Klages war der zeitgleich von Max Weber beschriebene
Prozeß der Rationalisierung ein solcher der »Entzauberung«. »Statt ›entzau-
bern‹ können wir auch positiv sagen ›verdinglichen‹. Was aber verdinglicht ist,
das läßt sich in die Nähe deutlichster Sehweite bringen, das kann betastet, um-
faßt, ergriffen werden«. Mit der Verneinung der Ferne »tötet der Besitztrieb den
Eros, mit ihm den Nimbus der Welt, mit ihm die Wirklichkeit selbst.«140 Es ist
bekannt, welchen Einfluß diese Sichtweise auf Walter Benjamins Konzept der
»Aura« und ihrer Zertrümmerung und damit indirekt auf Adorno hatte.141

137  Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S.  86; Bd. 3, MEW Bd. 25, S.  838.
138  Vgl. etwa Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), hrsg. von David P. Frisby und
Klaus Chr. Köhnke, Georg-Simmel-Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt am Main 1989, S.  652.
139 Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911/12), in: Georg Sim-

mel-Gesamtausgabe Bd. 12, hrsg. von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt
am Main 2001, S.  194–223, 194, 217.
140  Klages 19889 , S.  202.
141  Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-

keit, in ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppen-
78 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Auch der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, sah sich einer
steigenden »Flutwelle des Positivismus« gegenüber, die ihren Niederschlag vor
allem im Siegeszug der modernen Naturwissenschaften fand. Dem naturwis-
senschaftlichen Vorbild zu folgen, besage aber fast unvermeidlich: das Bewußt-
sein zu verdinglichen.142 Dem entsprach die für das Alltagsbewußtsein charak-
teristische naturalistische bzw. sensualistische Einstellung, in der Husserl eben-
falls eine »Verdinglichung der intentionalen Erlebnisse« ausmachte.143 Sein
Schüler Heidegger erklärte in Sein und Zeit gleich das gesamte seit der Antike
dominierende Bewußtsein zu einem ›verdinglichten‹, weil es das Sein aus dem
Vorhandenen begreife. Dem setzte er das Programm einer Reflexion über die
ontologische Herkunft von Dinglichkeit entgegen, um klarzustellen, »was posi-
tiv denn nun unter dem nichtverdinglichten Sein des Subjekts, der Seele, des
Bewußtseins, des Geistes, der Person zu verstehen sei«.144
Der Ausweitung des Konzepts hat sich auch Lukács nicht zu entziehen ver-
mocht. Während Marx sich mit Extrapolationen seiner Fetischismusanalyse
über den engeren Bereich der Ökonomie hinaus zurückgehalten hatte, postu-
lierte Lukács eine »Ablösung der Phänomene der Verdinglichung vom ökono-
mischen Grund ihrer Existenz« und behauptete, »daß dieser Umwandlungs-
prozeß sämtliche Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens erfassen
muß, wenn die Voraussetzungen für das reale Sichauswirken der kapitalisti-
schen Produktion erfüllt werden sollen.«145 Bewirkte die Expansion der Waren-
struktur im Feld der Ökonomie ein Zerreißen des Objekts wie des Subjekts der
Produktion und deren Vermittlung durch das »Prinzip der rationellen Mecha-
nisierung und Kalkulierbarkeit« auf der Basis einer »strenge[n] Gesetzlichkeit
alles Geschehens«, so sollte dem im Recht, im Staat und in der Verwaltungsor-
ganisation die »rationelle Systematisation aller rechtlichen Regulierungen des
Lebens« entsprechen.146 Zugleich sollte es sich jedoch bei dieser Ausweitung der
Warenform zum »Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen ent-
häuser, 7 Bde., Frankfurt am Main 1991, Bd. I.2, S.  431–469. Zum Einfluß von Klages auf Ben-
jamin und die Kritische Theorie vgl. Michael Großheim: »Die namenlose Dummheit, die das
Resultat des Fortschritts ist« – Lebensphilosophie und dialektische Kritik der Moderne, in:
Logos N.F. 3, 1996, S.  97–133; Pauen 1999, S.  31 ff. Ein später Nachklang dieses Topos findet
sich in der Deutung der Globalisierung als »ferne-vernichtende[r] ›Revolution‹« bei Peter Slo-
terdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005, S.  219, 159.
142  Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/1911). Hier zit. nach der

von Wilhelm Szilasi hrsg. Buchausgabe, Frankfurt am Main 1971², S.  15, 33.
143  Edmund Husserl: Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23, hrsg. von Berndt

Goossens, Dordrecht 2002, S.  86.


144  Heidegger 1977, S.  576, S.  62. Gegenüber der verschiedentlich geäußerten Vermutung,

dieses Konzept nehme Bezug auf Lukács, ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß dafür
sehr viel eher Husserl als Stichwortgeber in Frage kommt: vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des
Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976,
Frankfurt am Main 1990, S.  334 f.
145  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  270.
146  Ebd., S.  263, 266, 271.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 79

sprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft« um ein


»ideologische[s] Phänomen« handeln, um einen bloßen »Schein«, der sich wie
eine »Hülle« über »das wahre Wesen der Objekte verbreitet« und ihren »unmit-
telbaren Dingcharakter [verdeckt]«.147 Von einem bestimmten Standpunkt aus
(wie bekannt: dem Standpunkt des Proletariats) bestand jederzeit »die Perspek-
tive auf das vollkommene Durchschauen der Verdinglichungsformen«, war es
möglich, die »verwirrenden Reflexionsbestimmungen« zu zerreißen, »die die
echte Gegenständlichkeit auf der Stufe eines bloß unmittelbaren, unbeteiligten,
kontemplativen Verhaltens entstellt haben.«148 Das aber sollte zugleich die
»Wiederherstellung der Einheit des Subjekts, die gedankliche Rettung des Men-
schen« sein, wie es mit weniger marxistischem als lebensphilosophischem Pa-
thos hieß.149 Bei aller Reserve gegenüber dem herkömmlichen anthropologi-
schen Verständnis zögerte Lukács mit Blick auf diese Konstellation nicht, von
»Humanismus« zu sprechen, werde doch im Zerfall der Warenstruktur deut-
lich, »daß sie unter dinglicher Hülle eine Beziehung zwischen Menschen, unter
der quantifizierenden Kruste ein qualitativer, lebendiger Kern ist«.150 Womit
sich zu Simmel und Marx auch noch Feuerbach gesellte, der sich auf den Nach-
weis kapriziert hatte, daß sich in der Religion »die ausschließliche Selbstbe-
jahung des menschlichen und zwar subjektiv menschlichen Wesens« verbarg.151
Die hier nur knapp zusammengefaßten und insbesondere um die revolutions-
theoretischen Ideen über das Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte ver-
kürzten Gedankengänge, haben, wie weiter oben bereits bemerkt, auch auf die
Kritische Theorie gewirkt, allerdings vor allem auf Marcuse und Adorno.152
Erste Referenzen finden sich bei Marcuse in den Texten seiner Freiburger, noch
ganz unter dem Einfluß Heideggers stehenden Zeit, die dem Vorhaben ver-
pflichtet waren, das existierende Dasein aus seiner »Verfallenheit«, seiner Un-
terwerfung unter heteronome, verdinglichte Strukturen zu befreien und »aus
der uneigentlichen in die eigentliche Existenz« durchzudringen153 , woraus spä-
ter, nach der Umstellung auf linkshegelianische Sprachregelungen, das Pro-
gramm wurde, die gegebenen Strukturen und Institutionen als erstarrte und

147  Ebd., S.  257, 266, 350, 267.


148  Ebd., S.  371, 350.
149  Ebd., S.  323, 322.
150  Ebd., S.  377, 353.
151  Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, hrsg. von Werner Schuffenhauer, 2

Bde., Berlin 1956, Bd. 1, S.  99.


152  Vgl. oben, S. 56 f. Wie sehr diese revolutionstheoretischen Ideen auf einem »verkappten

Fichteanismus« beruhten, zeigen die Ausführungen von Alfred Schmidt in Furio Cerutti
u. a.: Geschichte und Klassenbewußtsein heute. Diskussion und Dokumentation, Amsterdam
1971, S.  8 f.
153 Marcuse, Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, S.   360.
Direkte Lukács-Bezüge enthalten vor allem die Aufsätze: Über konkrete Philosophie (1929),
in: HMS Bd. 1, S.  385–406, 391, 394; Zum Problem der Dialektik II (1931), in: HMS Bd. 1,
S.   423–444, 442.
80 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

entfremdete, »verdinglichte« Objektivationen eines gesellschaftlichen Subjekts


zu dechiffrieren, welche es zugunsten einer »qualitativ neuen Geschichte« zu
»vernichten« gelte, »auf daß die wirkliche Bestimmung des Menschen erfüllt
werde«.154 Adorno deutete in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard in
direktem Anschluß an Lukács »die Not des beginnenden hochkapitalistischen
Zustands« als Folge »der Verdinglichung des gesellschaftlichen Lebens, der
Entfremdung des Menschen von einer Wirklichkeit, die bloß noch als Ware an
ihn herangebracht wird.«155 In seinem Vortrag über »Die Idee der Naturge-
schichte«, den er im Juli 1932 vor der Frankfurter Ortsgruppe der Kant-Gesell-
schaft hielt, warf er die Frage auf, wie es möglich sei, »diese entfremdete, ding-
hafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten«, ja mehr noch: sie ›wiederzuer-
wecken‹, »aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe« zu holen – ein
unmöglicher Versuch, es sowohl Lukács als auch Benjamin recht zu machen.156
Wie diese Passagen erkennen lassen, folgten Marcuse und Adorno nicht nur
dem genealogischen Argument, das die Verdinglichung auf die Warenform zu-
rückführte, sondern auch der Deutung, es handele sich um eine »Als-ob«-Figur,
wie sie Hans Vaihinger in einem Buch dieses Titels entwickelt und übrigens auch
anhand der klassischen Nationalökonomie exemplifiziert hatte.157 Die Verding-
lichung, meinte Marcuse, stelle die tatsächlichen gesellschaftlichen Beziehungen
unter den Menschen dar, als wären sie »eine Totalität gegenständlicher Bezie-
hungen […], wodurch sie ihren Ursprung, die Mechanismen ihres Fortbeste-
hens und die Möglichkeit ihrer Umgestaltung verbirgt«, vor allem aber »ihren
menschlichen Kern und Inhalt«.158 Ganz ähnlich sprach Adorno »von den ding-
haften Gebilden, zu denen die zwischenmenschlichen Beziehungen geronnen
sind« und pointierte die Leistung der Fetischismusanalyse dahingehend, daß sie
»den Wertbegriff dechiffrierte als Zurückspiegelung eines Verhältnisses zwi-
schen Menschen, wie wenn es eine Eigenschaft von Sachen wäre.«159
Aufgegriffen und weiterverfolgt wurde auch die These eines Übergreifens der
Verdinglichung von der ökonomischen Sphäre auf andere Bereiche. Während
Marcuse entsprechende Gedanken erst mit erheblicher Verspätung und meist
auch nur beiläufig entwickelte, gewann sie in den Arbeiten Adornos bereits ab
Mitte der 30er Jahre an Profil. Belege dafür sind die beiden großen musiksozio-
logischen Aufsätze von 1936 und 1938, in denen Adorno die Archaik des Jazz als
eine durch die Warenstruktur vermittelte ›zweite Natur‹ deutete und den »Be-
griff des musikalischen Fetischismus« einführte, der sich nicht so sehr an der
154  Vgl. Herbert Marcuse: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied

und Berlin 1969², S.  189.


155  Adorno, Kierkegaard, S.  59.
156  Theodor W. Adorno: Die Idee der Naturgeschichte, in: AGS Bd. 1, S.  345–365, 356 f.
157  Vgl. Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als-ob (1911), Leipzig 1918³, S.  341 ff.
158  Marcuse, Vernunft und Revolution, S.  247 f.
159  Adorno, Minima Moralia, S.  287; Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen

Soziologie«, S.  347. Vgl. Philosophie und Soziologie, S.  146, 267 f.


Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 81

Fetischisierung der berühmten Werke oder dem bloßen Breittreten von Einfäl-
len festmachen lasse als vielmehr am gesamten Musikbetrieb, am »lückenlos
funktionierende[n], metallglänzenden Apparat als solche[n], in dem alle Räd-
chen so exakt ineinanderpassen, daß für den Sinn des Ganzen nicht die kleinste
Lücke mehr offenbleibt.«160 Andere Bereiche, in denen er Lukács’ Idee einer
»Potenzierung der Verdinglichung« bestätigt fand161, waren die »Fetischisie-
rung der Sexualität«, insbesondere der weiblichen, der nachzugehen er etwa zur
selben Zeit Fromm empfahl162 , oder die »Verdinglichung der Logik«, die er bei
Husserl ausmachte und die ihm, weit davon entfernt, nur das Problem einer
entlegenen Philosophie zu sein, als Antizipation jenes Fetischismus erschien,
»der sechzig Jahre später in der Faszination durch die abenteuerlich verbesser-
ten Rechenmaschinen und die damit befaßte kybernetische Wissenschaft seinen
wahnhaften Aspekt hervorkehrte.«163 In der Auseinandersetzung mit Benjamin
spielte der an diesen adressierte Vorwurf, dem Fetischcharakter der Ware nicht
genügend Rechnung zu tragen, eine zentrale Rolle164 , während umgekehrt der
Ansatz Sohn-Rethels genau deshalb für Adorno interessant war, weil er für eine
Grundlegung materialistischer Erkenntniskritik zu taugen schien; darauf wird
noch zurückzukommen sein. Wie früh Adorno bereit war, das Fetischismus-
konzept zum Dreh- und Angelpunkt der Kritischen Theorie zu machen und es,
noch über Lukács hinausgehend, in den Rang einer geschichtsphilosophischen
Kategorie zu erheben, erhellt aus dem bereits angeführten Brief an Fromm von
1937. Der Kitt, der die Menschen zusammenhalte, und zwar sowohl in ihrem
Bewußtsein als auch in ihrem Unbewußten, sei in nichts anderem zu sehen als
dem ökonomischen Prinzip,
»dessen Entfaltung das Bewegungsgesetz der Gesellschaft vorschreibt und sie der Kata-
strophe entgegentreibt, nämlich der Warenform. Ich bin mehr und mehr der Überzeu-
gung, daß die eigentliche Koinzidenz der marxistischen Theorie und der Psychoanalyse
nicht in Analogien wie denen von Überbau und Unterbau mit Ich und Es u.s.w. liegt,
sondern im Fetischcharakter der Waren und im fetischistischen Charakter der Menschen.
Ich glaube, daß auch der methodische Gegensatz von Marxismus und Psychoanalyse
dialektisch manövrierfähig wird erst in dem Augenblick, in dem es gelingt, den ökono-

160  Theodor W. Adorno: Über Jazz (1936) in: AGS Bd. 17, S.  74–100; Über den Fetischcha-

rakter in der Musik und die Regression des Hörens (1938), in: AGS Bd. 14, S.  14–50, 24, 31.
161  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  268.
162  Theodor W. Adorno an Erich Fromm, Brief vom 16.11.1937, in: A/H Bd. 1, S.  544.
163 Vgl. Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (1956), AGS Bd. 5,

S.  65, 67, 72. Die spätere Kritik am verselbständigten Methodenbewußtsein der empirischen
Sozialforschung und darüber hinaus des Positivismus hat hier ihre Wurzel. Vgl. etwa Theodor
W. Adorno: Soziologie und empirische Forschung, in: AGS Bd. 8, S.  196–216, 200 f.: »Die
Dinghaftigkeit der Methode, ihr eingeborenes Bestreben, Tatbestände festzunageln, wird auf
ihre Gegenstände, eben die ermittelten subjektiven Tatbestände, übertragen, so als ob dies
Dinge an sich wären und nicht vielmehr verdinglicht. Die Methode droht sowohl ihre Sache
zu fetischisieren wie selbst zum Fetisch zu entarten.«
164  Vgl. den Brief an Benjamin vom 2.–4.8.1935, in: A/B, S.  138 ff.
82 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

mischen Fetischcharakter als das Gesetz der psychischen Fetischisierungen konkret zu


erweisen; was, nebenbei gesagt, auch impliziert, den ökonomischen Fetischcharakter
hinter die kapitalistische Gesellschaft zurückzuverfolgen und möglicher Weise bis in die
Vorgeschichte, in der die Urtatsachen der ökonomischen Fetischisierung ihre ersten in-
nermenschlichen Deposita gefunden haben.«165

Hier hat man das Programm der Dialektik der Aufklärung in nuce.
Im Lichte dieser Ausführungen kann man Habermas nicht folgen, wenn er
Horkheimer und Adorno vorwirft, sich von Lukács entfernt und den Begriff
der Verdinglichung von der »Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen«
abgelöst zu haben.166 Es ist richtig: schon in der Dialektik der Aufklärung und
vollends dann in der Negativen Dialektik finden sich Formulierungen, die die
Verdinglichung mitsamt ihren Manifestationen in entsprechenden Denkformen
nicht auf die Warenform zurückführen, sondern auf den »Zwangscharakter der
Selbsterhaltung«, der in anthropologischen Bestimmungen der Gattungsge-
schichte verankert sei.167 Der Vorwurf kann jedoch nicht lauten, daß damit die
von Lukács skizzierte gesellschaftstheoretische Perspektive zugunsten einer
»idealistischen Rückübersetzung des Verdinglichungsbegriffs in den Kontext
der Bewußtseinsphilosophie« aufgegeben werde168 , sondern allenfalls, daß der
Widerspruch zwischen beiden Sichtweisen nicht ausgetragen wurde. In der Di-
alektik der Aufklärung etwa stehen Aussagen, die die Verdinglichung und das
verdinglichende Denken als einen Effekt von »Herrschaft« (im reduktionisti-
schen Sinne einer bloßen Subjekt-Objekt-Beziehung) präsentieren, unmittelbar
neben solchen, die die »Einheit von Kollektivität und Herrschaft« betonen und
den Prozeß der Rationalisierung ganz im Sinne von Lukács an die »Ausbreitung
der bürgerlichen Warenwirtschaft« koppeln.169
Vor allem aber übergeht die Kritik das Unbehagen und die Zweifel, die Ador-
no im Laufe der Zeit gegenüber dem geläufigen Verständnis von Verdinglichung
entwickelt hat. Zwar würdigte er noch 1963/64 in einer Vorlesung über Fragen
der Dialektik Geschichte und Klassenbewußtsein als den Versuch »einer bis zum
äußersten getriebenen Hegelianisierung der Marxischen Dialektik« und attes-
tierte der Ȇbertragung der Problematik des Verdinglichungs- und Entfrem-
dungsbegriffs auf die gesamte Erkenntnistheorie etwas eminent Fruchtba-
res«.170 Die Empörung, die Lukács’ spätere Schriften wie Die Zerstörung der
Vernunft oder das Realismusbuch von 1958 in Frankfurt auslösten171, führte

165  Theodor W. Adorno an Erich Fromm, Brief vom 16.11.1937, in: A/H Bd. 1, S.  544.
166  Habermas 1981, Bd. 1, S.  508.
167  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  53.
168  Habermas 1981, Bd. 1, S.  507.
169  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  6 0, 44 f., 55.
170  Zit. n. der Anmerkung des Herausgebers Dirk Braunstein in: Theodor W. Adorno:

Philosophie und Soziologie, S.  390.


171  Vgl. Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung (1958), in: AGS Bd. 11, S.  251–280.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 83

indes dazu, auch das Frühwerk in neuem Licht zu sehen.172 Nach einigen ver-
streuten kritischen und distanzierenden Hinweisen173 holte Adorno in der Ne-
gativen Dialektik zu einer grundlegenden Absage aus. Der Glaube, in der »Auf-
lösung der Verdinglichung, des Warencharakters, den Stein der Weisen zu besit-
zen«, sei ein Trugschluß. Verdinglichung sei »die Reflexionsform der falschen
Objektivität; die Theorie um sie, eine Gestalt des Bewußtseins, zu zentrieren,
macht dem herrschenden Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten die
kritische Theorie idealistisch akzeptabel.«174
Was unter »falscher Objektivität« zu verstehen sei, wird an dieser Stelle nicht
erläutert, läßt sich aber entschlüsseln, wenn man frühere Äußerungen hinzu-
zieht. In der gegen Paul Tillich gerichteten Diatribe »Contra Paulum« vom Fe-
bruar 1944 wendet sich Adorno gegen jeden Versuch, »in den versteinerten Ver-
hältnissen die Stimme des Menschen unmittelbar zu vernehmen«, weil in der
kapitalistischen Gesellschaft »Menschen nur abstrakt, als Warenproduzenten
oder Waren, als ›Negativität‹ vorkommen.« »Mit anderen Worten, Geschichte
besteht darin, daß das Leben des Menschen nicht rein ›dessen‹ Leben ist, son-
dern durch Außermenschliches und Entfremdetes sich konstituiert.«175 Schon
Hegel, heißt es an anderer Stelle, habe erkannt, daß das Prinzip, das die bürger-
liche Gesellschaft beherrscht, »in sich selber objektiv, durch ein Begriffliches
bestimmt [ist], nämlich durch jene Abstraktheit innerhalb der Beziehungen
zwischen Menschen, die sowohl den Anteil wie die Bedürfnisse der Menschen
an den Gütern gewissermaßen wegläßt und zwischen den Gütern nur noch ein
Gemeinsames gewissermaßen übrigläßt, unter dem sie subsumiert, durch das
sie kommensurabel, durch das sie überhaupt tauschbar werden, und das ist eben
das Moment der abstrakten Zeit«.176 Kategorien wie Ware und Tausch stünden
demnach nicht einfach für Beziehungen zwischen Menschen, sondern für die
»wahre Einheit«, die sich durch diese Beziehungen, aber hinter dem Rücken der
172  »Was ich über die späten Dinge denke«, heißt es wenig später in einem Brief an Scholem,

»findet sich in jenem Essay; aber wie es die Regel zu sein scheint, werden von den späteren
Dingen auch die frühen affiziert und schlecht. Selbst ein Buch wie die ›Theorie des Romans‹,
das uns alle einmal sehr impressioniert hat, zeigt heute ein reaktionäres Potential, das erst
unter den Segnungen des Ostblocks sich ganz entfaltet hat. ›Die Seele und die Form‹ finde
auch ich unerträglich. Das Beste ist wohl nach wie vor die Arbeit über Verdinglichung aus
›Geschichte und Klassenbewußtsein‹«: Theodor W. Adorno an Gershom Scholem, Brief vom
2.12.1960, in: A/S, S.  231.
173  Einiges dazu bei Timothy Hall: Verdinglichung, Materialismus und Praxis, in: Lukács

u. a. 2012, S.  303–320.


174  Adorno, Negative Dialektik, S.  191.
175  Theodor W. Adorno: Contra Paulum (1944), in: A/H Bd. 2, S.  475–501, 485, 487.
176  Adorno, Einführung in die Dialektik, S.  113. Vgl. in diesem Sinn aber auch bereits das

früh gegenüber Krenek geäußerte Plädoyer, unter Kapitalismus mehr zu verstehen »als das
bloße ›für Geld‹, nämlich die Totalität eines durch die abstrakte Arbeitszeit als Tauscheinheit
definierten gesellschaftlichen Prozesses«: Theodor W. Adorno an Ernst Krenek, Brief vom
30.9.1932, in: Theodor W. Adorno und Ernst Krenek: Briefwechsel, hrsg. von Wolfgang Rog-
ge, Frankfurt am Main 1974, S.  36 f.
84 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Akteure herausbildet: »die durchschnittlich aufzuwendende gesellschaftliche


Arbeitszeit«.177 Die geläufige Kritik an der Verdinglichung verfehle diesen
Sachverhalt, mehr noch, sie orientiere sich an einem »Wunschbild ungebroche-
ner subjektiver Unmittelbarkeit«, welches das Pendant zum Fetischismus sei.178
Der von Seiten der marxistischen Orthodoxie gegen Geschichte und Klassenbe-
wußtsein erhobene Vorwurf des Idealismus sei deshalb nicht falsch, auch wenn
er von einem Standpunkt aus formuliert werde, der seinerseits von verdinglich-
tem Bewußtsein zeuge.
»Dialektik ist so wenig auf Verdinglichung zu bringen wie auf irgendeine andere isolier-
te Kategorie, wäre sie noch so polemisch. Worunter die Menschen leiden, darüber gleitet
mittlerweile das Lamento über Verdinglichung eher hinweg, als es zu denunzieren. Das
Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie ver-
dammen und doch von ihnen zu ändern wären; nicht primär in den Menschen und der
Weise, wie die Verhältnisse ihnen erscheinen. Gegenüber der Möglichkeit der totalen
Katastrophe ist Verdinglichung ein Epiphänomen; vollends die mit ihr verkoppelte Ent-
fremdung, der subjektive Bewußtseinsstand, der ihr entspricht. Sie wird von Angst re-
produziert; Bewußtsein, verdinglicht in der bereits konstituierten Gesellschaft, ist nicht
deren Konstituens. Wem das Dinghafte als radikal Böses gilt; wer alles, was ist, zur rei-
nen Aktualität dynamisieren möchte, tendiert zur Feindschaft gegen das Andere, Frem-
de, dessen Name nicht umsonst in Entfremdung anklingt; jener Nichtidentität, zu der
nicht allein das Bewußtsein sondern eine versöhnte Menschheit zu befreien wäre. Abso-
lute Dynamik aber wäre jene absolute Tathandlung, die gewalttätig sich in sich befriedigt
und das Nichtidentische als ihre bloße Veranlassung mißbraucht. Ungebrochen all-
menschliche Parolen taugen dazu, erneut dem Subjekt gleichzumachen, was nicht seines-
gleichen ist.«179

Adornos Kritik an dem, was man die humanistische Auflösung der Verdingli-
chung nennen könnte, muß nicht nur als Selbstkritik und als Kritik an Lukács
oder Marcuse gelesen werden. Sie trifft nicht weniger auf Marx zu, genauer: auf
den ›exoterischen‹ Marx, der auch als Kritiker der politischen Ökonomie nicht
von seinem Jugendglauben an die Vollendung des Humanismus durch den
Kommunismus lassen wollte.180 Die früh gefaßte Überzeugung, in der Produk-
tion das »werktätige Gattungsleben« des Menschen, die »Vergegenständlichung
des Gattungslebens des Menschen« vor sich zu haben181, verführte Marx immer
wieder, den Unterschied zwischen Vergegenständlichung und Verdinglichung
zu verschleifen und die letztere auf eine bloße Reflexionsform zu reduzieren.
Noch in der letzten Fassung der Warenanalyse finden sich Formulierungen, die

177  Adorno, Einleitung in die Soziologie, S.  58.


178  Adorno, Negative Dialektik, S.  367.
179  Ebd., S.  191.
180 Vgl. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in:

MEW Ergänzungsband. Erster Teil, S.  536. Zur Anwendung der im linkshegelianischen Mili-
eu der 1830er Jahre entstandenen Unterscheidung zwischen »exoterischen« und »esoteri-
schen« Positionen auf Marx vgl. Breuer 1977, S.  45 f.
181  Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S.  517.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 85

ganz in dieser Richtung liegen, etwa wenn das Geheimnisvolle der Warenform
durch den aufklärerisch klingenden Hinweis gelüftet wird, »daß sie den Men-
schen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche
Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaf-
ten dieser Dinge zurückspiegelt«, oder wenn in Analogie zur Religionskritik
eine Verselbständigung von Erscheinungen behauptet wird, die sich bei näherer
Betrachtung als menschliche Hervorbringungen erwiesen, in diesem Fall: als
»Produkte der menschlichen Hand«. Es sei, so die Suggestion, erst der Aus-
tauschprozeß, der diese Produkte nicht als das erscheinen lasse, was sie in Wirk-
lichkeit seien, »d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Per-
sonen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der
Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.«182
Besonders die zuletzt zitierte, dem Streben nach möglichst großer Allge-
meinverständlichkeit geschuldete Formulierung hat viel Unheil angerichtet,
täuscht sie doch darüber hinweg, daß die Arbeit unter kapitalistischen Produk-
tionsbedingungen gerade nicht unmittelbar gesellschaftlich ist. Der wahre
Sachverhalt wird im selben Abschnitt immerhin zweimal angedeutet, wenn
Marx von dem »eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche
Waren produziert« spricht, oder von dem »bestimmte[n] gesellschaftliche[n]
Verhältnis«, welches hier »die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von
Dingen annimmt.«183 Dessen Eigenart besteht nämlich gerade darin, daß es, um
gesellschaftlich zu sein, einer »vermittelnde[n] Bewegung« bedarf, durch die die
Arbeitsprodukte allererst zeigen können, was an Gesellschaftlichkeit in ihnen
steckt.184 In einer früheren Fassung der Warenanalyse, in der Marx seine Me-
thode noch nicht so stark »versteckt« hat wie in den späteren Versionen185, heißt
es unmißverständlich:
»Die Bedingungen der Tauschwert setzenden Arbeit, wie sie sich aus der Analyse des
Tauschwerts ergeben, sind gesellschaftliche Bestimmungen der Arbeit oder Bestimmun-
gen gesellschaftlicher Arbeit, aber gesellschaftlich nicht schlechthin, sondern in beson-
derer Weise. Es ist eine spezifische Art der Gesellschaftlichkeit. Zunächst ist die unter-
schiedslose Einfachheit der Arbeit Gleichheit der Arbeiten verschiedener Individuen,
wechselseitiges Beziehen ihrer Arbeiten aufeinander als gleicher, und zwar durch tat-
sächliche Reduktion aller Arbeiten auf gleichartige Arbeit. Die Arbeit jedes Individu-
ums, soweit sie sich in Tauschwerten darstellt, besitzt diesen gesellschaftlichen Charak-
182  Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.  87.
183  Ebd. (H.v.m., S.B.).
184  Ebd., S.  107.
185  Vgl. dazu Karl Marx an Friedrich Engels, Brief vom 9.12.1861: »Meine Schrift geht vor-

an, aber langsam. Es war in der Tat nicht möglich, solche theoretischen Sachen unter diesen
Zuständen rasch abzufertigen. Es wird indes viel populärer und die Methode viel mehr ver-
steckt als in Teil I« (MEW Bd. 30, S.  207). Zum Preis dieser Popularisierung vgl. Hans-Georg
Backhaus und Helmut Reichelt: Wie ist der Wertbegriff in der Ökonomie zu konzipieren? Zu
Michael Heinrich: »Die Wissenschaft vom Wert«, in: Carl-Erich Vollgraf u. a. (Hrsg.): Beiträ-
ge zur Marx-Engels-Forschung N.F. 1995, S.  60–94.
86 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

ter der Gleichheit, und sie stellt sich nur im Tauschwert dar, soweit sie auf die Arbeit aller
andern Individuen als gleiche bezogen ist.«186

Näher bestimmt wird diese »spezifische Art der Gesellschaftlichkeit« als eine
höchst reduzierte Gesellschaftlichkeit, in der von allem abgesehen ist, was die
konkrete Qualität der Produzenten wie ihrer Produkte ausmacht. Die Arbeit,
die die Substanz der Werte bildet, »ist gleiche menschliche Arbeit, Verausga-
bung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Ge-
sellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und
dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Ar-
beitskräften besteht. Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe mensch-
liche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftli-
chen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durch-
schnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im
Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitskraft
braucht.«187 Gemessen wird diese Durchschnittsgröße in Zeiteinheiten, mittels
einer sich hinter dem Rücken der Produzenten, wenn auch durch ihre Handlun-
gen hindurch sich vollziehenden Reduktion ihrer Produkte auf die gesellschaft-
lich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit.
»Als Werte sind die Waren Ausdrücke derselben Einheit, der abstrakten menschlichen
Arbeitszeit. In der Form des Tauschwerts erscheinen sie einander als Werte und beziehen
sich auf einander als Werte. Sie beziehen sich damit zugleich auf die abstrakte menschli-
che Arbeitszeit als ihre gemeinsame gesellschaftliche Substanz. Ihr gesellschaftliches
Verhältnis besteht ausschließlich darin einander als nur quantitativ verschiedene, aber
qualitativ gleiche und daher durch einander ersetzbare und mit einander vertauschbare
Ausdrücke dieser ihrer gesellschaftlichen Substanz zu gelten.«188

Wie die Analyse der Wertform zeigt, ist es diese »spezifische Art der Gesell-
schaftlichkeit« › die sich »verdinglicht«: zunächst in der allgemeinen relativen
Wertform, die der von ihr ausgeschlossenen Äquivalentware den Charakter des
allgemeinen Äquivalents aufdrückt, wodurch eine spezifische Naturalform
zum Gegenteil ihrer selbst wird: zur »sichtbare[n] Inkarnation«, zur »allgemei-
ne[n] gesellschaftliche[n] Verpuppung aller menschlichen Arbeit«189 ; sodann in
der Geldform, in der die Äquivalentform mit einer spezifischen Warenart »ge-
sellschaftlich verwächst«, welche auf diese Weise neben ihrem substantiellen
einen »formalen Gebrauchswert« erhält190 ; endlich in der Kapitalform, die nicht
mehr bloß dinglicher Ausdruck unterschiedsloser menschlicher Arbeit ist, son-

186  Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S.  19 (Herv. geändert, S.B.).
187  Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.  53.
188  Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1.  Aufl. 1867. Hier zit. n. dem Abdruck des 1. Kapitels in:

Marx-Engels Studienausgabe Bd. 2: Politische Ökonomie, hrsg. von Iring Fetscher, Frankfurt
am Main 1975, S.  216–246, 235 (ohne Herv. i.O.).
189  Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.  81.
190  Ebd., S.  83, 104.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 87

dern mehrwertschaffender Arbeit, was die Bandbreite der Verdinglichung noch


einmal erweitert. Im Produktionsprozeß des Kapitals manifestiert sie sich so-
wohl im konstanten Kapital, insbesondere in der Maschinerie, die nicht einfach
vergegenständlichte Arbeit verkörpert, sondern »vergegenständlichte unmittel-
bare Arbeitszeit«191, als auch im variablen Kapital, dessen Träger ihres Arbeits-
verstandes weitgehend beraubt und in »bloße Maschinen zur Fabrikation von
Mehrwert« verwandelt werden.192 Auf der Oberfläche des Gesamtprozesses
präsentiert sie sich als »Entfremdung und Verknöcherung der verschiednen Tei-
le des Mehrwerts gegeneinander« in Gestalt der sogenannten trinitarischen
Formel (»Kapital-Zins, Boden-Grundrente, Arbeit-Arbeitslohn«).193
Daß Gedankengänge dieser Art den humanistischen Diskurs sprengen, dar-
über hat Marx sich nie hinreichend Rechenschaft abgelegt und wohl auch nicht
ablegen können, weil ihm die theoretische Arbeit stets als sein Beitrag zur eben-
so notwendigen wie unvermeidlichen Revolution erschien, zur »Rückkehr des
Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d. h. gesell-
schaftliches Dasein.«194 Der Kritischen Theorie ist diese Perspektive zwar ent-
schwunden, doch hat auch sie von der Vorstellung nicht lassen wollen, daß »in
Wahrheit eben dieser dinghafte Wert, der den Gegenständen selbst zugeschrie-
ben wird, nichts anderes als ein menschliches Produkt, nämlich geronnene Ar-
beit ist.«195 Nur in seltenen Momenten hat Adorno diese Schranke durchbro-
chen und sich und seinen Zuhörern klar gemacht, daß »der zur Totalität entfal-
tete Warencharakter von Arbeitskraft« in seinem Kern »Entmenschlichung«
ist196 , die Reduktion menschlicher Arbeit auf abstrakte Arbeit, auf die durch-
schnittlich aufzuwendende gesellschaftliche Arbeitszeit. Und er hat hinzuge-
fügt: »Die Abstraktion liegt also hier nicht in dem abstrahierenden Denken des

191  Marx 1974, S.  662. An anderer Stelle deutet Marx die Maschinerie nachgerade hegelia-

nisch: »Der gesellschaftliche Geist der Arbeit erhält eine objektive Existenz außer den einzel-
nen Arbeitern« (ebd., S.  428). Wie Klaus-Dieter Oetzel (1978, S.  190 f.) gezeigt hat, muß auch
in diesem Fall die spezifische Art der Gesellschaftlichkeit berücksichtigt werden, die diesen
Geist prägt und ihn zur Wertform in Beziehung setzt: in diesem Fall zur »technischen Wert-
form«, vermöge deren »der Wert seiner Funktion als Einheit und Subjekt des Produktions-
prozesses in Gestalt der Maschine auch dingliche Realität verleiht.«
192  Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.  422. Was die Arbeiter zu leisten haben, ist, regelmäßig wie

ein Maschinenteil zu wirken, sich als Teil und Wächter der Maschine zu verhalten, die in
keiner Beziehung mehr als Arbeitsmittel des einzelnen Arbeiters erscheint. »Ihre differentia
specifica ist keineswegs, wie beim Arbeitsmittel, die Tätigkeit des Arbeiters auf das Objekt zu
vermitteln; sondern diese Tätigkeit ist vielmehr so gesetzt, daß sie nur noch die Arbeit der
Maschine, ihre Aktion auf das Rohmaterial vermittelt – überwacht und sie vor Störungen
bewahrt. […] Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Tätigkeit be-
schränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschine-
rie, nicht umgekehrt« (Marx 1974, S.  584 f.).
193  Marx, Das Kapital, Bd. 3, S.  838.
194  Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S.  537.
195  Adorno, Philosophie und Soziologie, S.  267 f.
196  Adorno, Negative Dialektik, S.  261.
88 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Soziologen, sondern in der Gesellschaft selbst steckt eine solche Abstraktion«,


deren Entfaltung, wie die Kritik der politischen Ökonomie gezeigt hat, »in ihrer
Konsequenz auf die Zerstörung der Gesellschaft hinausläuft«.197 In solchen
Passagen, die sich freilich allein bei Adorno finden, hat die Kritische Theorie ein
Problembewußtsein erreicht, wie es in den 60er Jahren nur in Frankreich ausge-
bildet war: in den Arbeiten der Althusser-Schule, die den Standpunkt vertrat,
daß das Kapitalverhältnis erfolgreich nur vom Standpunkt eines »theoretischen
Anti-Humanismus« analysiert werden kann198 ; oder bei Michel Foucault, der
seine Leser daran erinnerte, »daß wir auf dem Rücken eines Tigers sitzen« und
all denen, »die noch vom Menschen, von seiner Herkunft oder von seiner Be-
freiung sprechen wollen, […] allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu an-
thropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren,
die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der
denkt«, ein »philosophisches Lachen« entgegensetzte »- das heißt: ein zum Teil
schweigendes Lachen.«199

IV.

Der mit dem Begriff der Verdinglichung eröffnete Problemkreis wäre freilich
unzureichend behandelt, ginge man nicht noch einer weiteren Hypothek aus
Geschichte und Klassenbewußtsein nach: einem Gedanken, der dort freilich nur
angedeutet, aber nicht weiter ausgebaut wurde, weil das Interesse primär der
»verdinglichten Bewußtseinsstruktur« galt, also einem »ideologische[n] Phäno-
men«.200 Seine teils von Simmel und Weber, teils von Hegel übernommenen Vo-
raussetzungen erlaubten Lukács zwar, Institutionen wie Recht und Verwaltung
als ›geronnenen Geist‹ (Max Weber) zu konzipieren, waren aber zugleich mit
einer Sichtweise verbunden, die die »notwendige Korrelation von Rationalität
und Irrationalität« postulierte, »die unbedingte Notwendigkeit, daß ein jedes
rationelle Formsystem an eine Grenze oder Schranke der Irrationalität stoße«,
was in diesem Fall hieß: auf die »Undurchdringbarkeit jeder Gegebenheit durch
Verstandesbegriffe«.201 Diese vom Heidelberger Neukantianismus, insbesonde-
re vom »kritischen Antirationalismus« Emil Lasks übernommene Sichtweise
schien Lukács auch für das System der politischen Ökonomie zu gelten, das
»weder sein eigenes materielles Substrat zu durchdringen, noch von ihm aus den
Weg zur Erkenntnis der Totalität der Gesellschaft zu finden fähig ist«.202 Bei

197  Adorno, Einleitung in die Soziologie, S.  58 f., 60.


198  Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt am Main 1968, S.  179.
199  Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971, S.  389.
200  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  275, 269.
201  Ebd., S.  290 f., 293.
202  Ebd., S.  280. Wie György Markus in seiner Rekonstruktion der philosophischen Ent-
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 89

diesem materiellen Substrat sollte es sich um den Gebrauchswert handeln, der


unter den Bedingungen der Warenproduktion »als unbegriffenes und ausge-
schaltetes Ding an sich […] sein außerökonomisches Leben führt, das man wäh-
rend des normalen Funktionierens der ökonomischen Gesetze ruhig vernach-
lässigen zu können meint«, das jedoch in Krisenzeiten plötzlich hervortrete und
diese Gesetze außer Kraft setze.203 Es war diese »Unerfaßbarkeit des Ge-
brauchswertes«204 , die nach Lukács für den bloß formellen, lediglich die Ober-
fläche der Dinge berührenden Charakter der kapitalistischen Verdinglichung
stand und damit deren bloß transitorische Qualität begründete.
Von den südwestdeutschen Philosophemen, die dieses Konzept trugen, woll-
ten die kritischen Theoretiker nichts wissen. Die Marx-Deutung aber übernah-
men sie. So hob Marcuse als eigentliche Leistung der Marxschen Analyse die
»Einführung des Gebrauchswerts« hervor, den die klassische politische Öko-
nomie in ihrer Fixierung auf den Tauschwert »vergessen« habe: »In der Marx-
schen Theorie wird dieser Faktor zu einem Instrument, das die mystifizierende
Verdinglichung der Warenwelt durchschneidet. Indem die Kategorie des Ge-
brauchswerts wieder ins Zentrum der ökonomischen Analyse gerückt wird,
bedeutet dies eine scharfe Befragung des ökonomischen Prozesses daraufhin,
ob und wie er die wirklichen Bedürfnisse der Individuen befriedigt. Hinter den
Tauschbeziehungen des Kapitalismus zeigt sie die wirklichen menschlichen Be-
ziehungen, gekettet an eine ›negative Totalität‹ und von unkontrollierten öko-
nomischen Gesetzen gegängelt.«205
Auch für Adorno stand der Gebrauchswert für eine Größe außerhalb der
ökonomischen Formbestimmungen. Repräsentierte der Tauschwert den »sys-
tem-immanenten Wertbegriff«, so der Gebrauchswert den »system-transzen-
denten Wertbegriff«, die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß »Leben über-
haupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere«.206
Ihm gegenüber sollte der Tauschwert »ein bloß Gedachtes« sein, das »über das
wicklung von Lukács bis 1918 gezeigt hat, führte diese von einer »Synthese von Lebensphilo-
sophie und Kantianismus« zu einem extrem dualistisch interpretierten Kantianismus, der
seine entscheidende Inspiration von Lasks Zweiweltentheorie bezog, dem »Urverhältnis«
zwischen dem »vorformalen Gelten« einerseits und dem irrational gegebenen »Nur-Material«
andererseits: vgl. György Markus: Lukács‹ ›erste‹ Ästhetik: Zur Entwicklungsgeschichte der
Philosophie des jungen Lukács, in Agnes Heller u. a.: Die Seele und das Leben. Studien zum
frühen Lukács, Frankfurt am Main 1977, S.  192–241, 216 f. Zu diesem Aspekt vgl. auch Hart-
mut Rosshoff: Emil Lask als Lehrer von Georg Lukács. Zur Form ihres Gegenstandsbegriffs,
Bonn 1975; Frederick Beiser: Emil Lask and Kantianism, in: The Philosophical Forum 39,
2008, S.  283–296.- Das Wort vom »kritischen Antirationalismus« findet sich in Lasks Disser-
tation über »Fichtes Idealismus und die Geschichte«, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von
Eugen Herrigel, 3 Bde., Tübingen 1923, Bd. 1, S.  1–274, 43, 103.
203  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  281.
204  Ebd., S.  282.
205  Marcuse, Vernunft und Revolution, S.  267.
206  Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, hrsg. von Rudolf zur Lippe, 2 Bde.,

Bd. 2, Frankfurt am Main 1974, S.  269; Negative Dialektik, S.  22.


90 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

menschliche Bedürfnis und an seiner Stelle [herrscht]; der Schein über die Wirk-
lichkeit.«207 Und insofern das Tauschprinzip »urverwandt mit dem Identifika­
tionsprinzip« war208 , verkörperte der Gebrauchswert nachgerade das »nicht
unter die Identität zu Subsumierende[n]« und damit zugleich »das Ineffabile der
Utopie«.209 Auf ihn als fundamentum inconcussum kritischer Theorie glaubte
Adorno auch unter hochkapitalistischen Bedingungen nicht verzichten zu dür-
fen. Erkenntnis, so schien es ihm, »müßte geleitet werden von dem, was vom
Tausch nicht verstümmelt ist, oder – denn es gibt nichts Unverstümmeltes mehr
– von dem, was unter den Tauschvorgängen sich verbirgt.«210 Und sie konnte
auch in diesem Sinne noch geleitet werden, denn: »Sogar im falschen Bedürfnis
der Lebendigen regt sich etwas von Freiheit; das, was die ökonomische Theorie
einmal Gebrauchswert gegenüber dem abstrakten Tauschwert nannte.«211
In unvermitteltem Gegensatz zu diesen Bekundungen steht nun freilich ein
Argumentationsstrang, der das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert
in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Im Briefwechsel mit Benjamin
formulierte Adorno schon früh Vorbehalte gegen die Brecht zugeschriebene
und auch bei Benjamin registrierte Tendenz, dem Gebrauchswert eine zentrale
Stellung zuzuweisen.212 Dieser sei jedoch für eine Kritik des Warencharakters
nicht zureichend, weil er für sich genommen nur aufs »vorarbeitsteilige Stadi-
um« zurücklenke, im übrigen mit allen Problemen eines undialektischen, ›anth-
ropologischen Materialismus‹ geschlagen sei.213 »In dieser Art des unmittelba-
ren, fast möchte ich wiederum sagen, des anthropologischen Materialismus
steckt ein tief romantisches Element«, insofern »die Vermittlung durch den ge-
sellschaftlichen Gesamtprozeß ausfällt«.214 Anstatt die Verdinglichung pauschal
im Namen des Gebrauchswertes zurückzuweisen, sei es angemessener, sich auf
sie einzulassen und sie über sich selbst hinauszutreiben, indem man die in ihr
gelegenen Widersprüche entfalte.215 So sei etwa die Verdinglichung des Kinos
oder des großen Kunstwerkes, wie es etwas kryptisch hieß, nicht »ganz verlo-
ren«; an der Grenze des Anarchismus aber sei es, diese im Namen ›unmittelba-
rer Gebrauchswertigkeit‹ zu widerrufen:

207  Adorno, Soziologie und empirische Forschung, S.  209.


208  Adorno, Negative Dialektik, S.  149.
209  Ebd., S.  22.
210 Theodor W. Adorno: Dialektische Epilegomena. Zu Subjekt und Objekt, in: AGS

Bd. 10.2, S.  741–758, 751.


211  Theodor W. Adorno: Funktionalismus heute (1966), in: AGS Bd. 10.1, S.  375–395, 390.
212  Vgl. Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 6.11.1934, in: A/B, S.  73.
213  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Briefe vom 2.–4.8.1935 und 6.9.1936, in: A/B,

S.  143, 193.
214  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 10.11.1938, in: A/B, S.  368 f.
215  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 29.4.1940, in: A/B, S.  418. Hier

auch die – von Adorno später nicht wiederholte – »Unterscheidung von guter und schlechter
Verdinglichung«.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 91

»Les extrèmes me touchent, so gut wie Sie: aber nur wenn der Dialektik des Untersten
die des Obersten äquivalent ist, nicht dieses einfach verfällt. Beide tragen die Wundmale
des Kapitalismus, beide enthalten Elemente der Veränderung […]; beide sind die ausein-
andergerissenen Hälften der ganzen Freiheit, die doch aus ihnen nicht sich zusammen-
addieren läßt: eine der anderen zu opfern, wäre romantisch, entweder als bürgerliche
Romantik der Konservierung von Persönlichkeit und all dem Zauber, oder als anarchis-
tische im blinden Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proletariats im geschichtlichen
Vorgang – des Proletariats, das doch selber bürgerlich produziert ist.«216

Adorno wäre nicht der Linkshegelianer gewesen, als der er sich gern präsentier-
te, wenn nicht auch er mit dem Gedanken gespielt hätte, daß sich die hier ge-
schilderte Diremtion nur überwinden ließ, wenn man sie bis zu ihrer äußersten
Spitze triebe, an der sie in ihr Gegenteil umschlagen würde.217 Sein eigentliches
Interesse galt aber letztlich weniger dieser Möglichkeit als vielmehr den im Ka-
pitalismus angelegten Tendenzen, die zur Aufhebung dieser Diremtion dräng-
ten. Diese Frage stand im Mittelpunkt seiner Auslegung der Fetischismuspro-
blematik am Beispiel der Musik. Hatte Lukács noch die Ansicht vertreten, in
der bürgerlichen Gesellschaft stellten die einzelnen Handlungssphären wie
Ökonomie, Recht, Staat oder die Kunst »in sich geschlossene Systeme« dar, de-
ren Selbständigkeit, wenn auch »Schein«, so doch kein bloßer Irrtum sei218 , so
hielt Adorno diese Voraussetzung nunmehr für hinfällig. »Die Kategorien der
autonom intendierten Kunst sind für die gegenwärtige Rezeption von Musik
außer Geltung.«219 Musik, die einmal von der Macht des Tausches ausgenom-
men schien, sei jetzt in das System der Warenproduktion integriert, und zwar so
vollständig, daß sie ihres Gebrauchswerts (nämlich bei den Konsumenten Ge-
fallen zu finden, Lustempfindungen hervorzurufen) verlustig ginge.
»Der Schein von Unmittelbarkeit bemächtigt sich des Vermittelten, des Tauschwerts sel-
ber. Setzt die Ware allemal sich aus Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, so wird
der reine Gebrauchswert, dessen Illusion in der durchkapitalisierten Gesellschaft die
Kulturgüter bewahren müssen, durch den reinen Tauschwert ersetzt, der gerade als
Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt. In diesem quid pro
quo konstituiert sich der spezifische Fetischcharakter der Musik: die Affekte, die auf den
Tauschwert gehen, stiften den Schein des Unmittelbaren, und die Beziehungslosigkeit
zum Objekt dementiert ihn zugleich. Sie gründet in der Abstraktheit des Tauschwerts.

216  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 18.3.1936, in: A/B, S.  171.
217  So heißt es einmal im Briefwechsel mit Fromm, es sei mit Blick auf die Tatsache, daß
auch in der Sexualität der Gebrauchswert im Tauschwert untergegangen sei, eine schöne »di-
alektische Spitze, wenn man zeigen könnte, daß er nur durch die vollständige Durchsetzung
des Tauschwertes wieder herzustellen ist; anders ausgedrückt, daß das einzige Heilmittel ge-
gen die Fetischisierung der Sexualität der sexuelle Fetischismus ist«: Theodor W. Adorno an
Erich Fromm, Brief vom 16.11.1937, in: A/H Bd. 1, S.  544. Was das genau meinte, wurde nicht
näher ausgeführt, entsprang wohl auch eher der Lust an der Formulierung als einer wirkli-
chen theoretischen oder praktischen Perspektive.
218  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  405.
219  Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, S.  15.
92 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

Von solcher gesellschaftlichen Substitution hängt alle spätere ›psychologische‹, alle Er-
satzbefriedigung ab.«220

Mit dieser Argumentation stellte Adorno nicht nur das Differenzierungspara-


digma in Frage, an dem Lukács, allem Historischen Materialismus zum Trotz,
noch festhielt.221 Er kassierte vielmehr auch gleich eine weitere Voraussetzung,
die bei Lukács teils lebensphilosophisch, teils neukantianisch begründet war,
jedoch auch an Marx’ Ausführungen über die Arbeit als ewiger Naturbedin-
gung des menschlichen Lebens genügend Anhalt fand222 : die Idee einer
»Transzendenz des materiellen Substrats«.223 Denn darauf lief Adornos Gedan-
kenführung hinaus: daß der kapitalistische Rationalisierungsprozeß nicht nur
die »Gegenständlichkeitsform« (Lukács) der Dinge betraf, sondern auch ihren
Inhalt; daß er ein »Substitutionsprozeß« war224 , der mit dem Resultat der Ar-
beit, dem Gebrauchswert, auch den Arbeitsprozeß selbst erfaßte, und mit ihm:
den Produzenten. Was 1938 nur erst für den Musikbetrieb reklamiert und sechs
Jahre später auf die Kulturindustrie erweitert wurde225, geriet in Adornos letz-
ter großer Intervention in Sachen Gesellschaftstheorie auf dem Frankfurter So-
ziologentag von 1968 zur Generalaussage über die ›voll vergesellschaftete Ge-
sellschaft‹:
»Über alles zur Zeit von Marx Absehbare hinaus sind die Bedürfnisse, die es potentiell
längst waren, vollends zu Funktionen des Produktionsapparates geworden, nicht umge-
kehrt. Sie werden total gesteuert. Zwar werden in dieser Verwandlung, fixiert und dem
Interesse des Apparats angepaßt, die Bedürfnisse der Menschen mitgeschleppt, auf wel-
che dann jeweils der Apparat mit Effekt sich berufen kann. Aber die Gebrauchswertsei-
te der Waren hat unterdessen ihre letzte ›naturwüchsige‹ Selbstverständlichkeit einge-
büßt. Nicht nur werden die Bedürfnisse bloß indirekt, über den Tauschwert, befriedigt,
sondern in wirtschaftlich relevanten Sektoren vom Profitinteresse selber erst hervorge-
bracht, und zwar auf Kosten objektiver Bedürfnisse der Konsumenten, wie denen nach

220  Ebd., S.  25. Die Passage weist gegenüber der Originalfassung in der Zeitschrift für Sozi-

alforschung einige stilistische Änderungen auf.


221  Auch Adornos Kritiker Hans Mayer glaubte es noch verteidigen zu müssen: vgl. seine

bei der Zeitschrift für Sozialforschung eingereichte und von Horkheimer unterdrückte Zu-
schrift, die erst 60 Jahre später veröffentlicht wurde: Hans Mayer: Bemerkungen zu einer
kritischen Musiktheorie, in: Klein und Mahnkopf (Hrsg.) 1998, S.  369–399, 406–414. Die lan-
ge Entgegnung, die sich Horkheimer von Adorno verfassen ließ, gehört, auch wegen ihres
hochfahrenden Tons, nicht zu dessen besten Texten: vgl. Max Horkheimer an Hans Mayer,
Brief vom 23.3.1939, ebd., S.  400–405 (auch in HGS Bd. 16, S.  575 ff.).
222  Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.  198: »Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn in seinen einfa-

chen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung
von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine
Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des
menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen
seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.«
223  Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  285.
224  Max Horkheimer an Hans Mayer, Brief vom 23.3.1939, S.  402.
225  Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  184 ff.
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 93

zureichenden Wohnungen, vollends nach Bildung und Information über die wichtigsten
sie betreffenden Vorgänge.«226

Genauer ausgeführt hat Adorno diesen Gedankengang, der in Richtung einer


»negativen Ontologie der antagonistisch fortschreitenden Gesellschaft« ver-
weist227, lediglich mit Blick auf die psychologisch-anthropologischen Aspekte,
auf die an anderer Stelle einzugehen ist. Die Idee, daß auch die Produktivkräfte
einschließlich der Produktionsmittel durch die Produktionsverhältnisse ver-
mittelt, mithin Teil der Verdinglichung seien, kam ihm zwar228 , doch bog er sie
regelmäßig wieder ab, entweder in Richtung herrschaftstheoretischer Erwä-
gungen oder im durchaus orthodoxen Sinn einer Neutralität der Technik gegen-
über der gesellschaftlichen Formbestimmung.229 Erst Marcuse lenkte in seinem
Spätwerk die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt und erörterte die Möglichkeit
einer »Verlagerung im Ort der Mystifikation«, in deren Gefolge die »Ideologie
sich nunmehr im Produktionsprozeß selbst verkörpert«.230 Das zielte speziell
auf die wissenschaftsbasierte Technik, die als ein »geschichtlich-gesellschaftli-
ches Projekt« zu verstehen sei, in dem projektiert sei, »was eine Gesellschaft und
die sie beherrschenden Interessen mit dem Menschen und mit den Dingen zu
machen gedenken.«231 Auch Marcuse kam indes viel zu schnell auf Herrschaft
zu sprechen und reduzierte damit auf ein Subjekt-Objekt-Verhältnis oder auf
zwischenmenschliche Beziehungen ohne weitere Bestimmung, was doch auf
eine spezifische Erscheinungsform der gesellschaftlichen Arbeit verwies. Im-
merhin paßte seine Formulierung, daß die Technik »zum großen Vehikel der
Verdinglichung geworden [ist] – der Verdinglichung in ihrer ausgebildetsten
und wirksamsten Form«232 – auch zu der von Adorno anvisierten negativen On-
tologie, ja sie machte deutlich, daß mit der zunehmenden Automation ein wei-
terer Schub im Substitutionsprozeß verbunden war.
Mißt man die beiden hier nur sehr grob skizzierten Argumentationsweisen
an ihren eigenen Maßstäben – in diesem Fall: der Marxschen Theorie – dann

226 Theodor W. Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? S.   361 f. Ähnlich


verallgemeinernd auch: Ästhetische Theorie, AGS Bd. 7, S.  39.
227  Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, S.  233.
228  Vgl. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? S.  365. Vgl. auch die Bemer-

kung, »daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen
auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben«: Minima Moralia,
S.  179.
229  Beispiele für beides finden sich schon in der Dialektik der Aufklärung, aber auch noch

in Adornos Vortrag auf dem Frankfurter Soziologentag, der das im Titel angekündigte Ent-
weder-Oder zugunsten eines Sowohl-Als auch relativiert, um dann auf das Herrschaftstheo-
rem zu rekurrieren: vgl. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? S.  361, 368.
230 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortge-

schrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1968³, S.  203.


231  Herbert Marcuse: Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers (1964),

in: HMS Bd. 8, S.  79–99, 97.


232  Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S.  183.
94 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

kann die erste sogleich als auf einem Mißverständnis beruhend beiseite gescho-
ben werden.233 Marx hat wohl den Gebrauchswert, insofern er die natürliche
Besonderheit der Ware und das besondre natürliche Bedürfnis der Austau-
schenden bezeichnet, als einen »Inhalt« qualifiziert, der »eigentlich noch ganz
außerhalb der Ökonomie« liegt. Doch gilt dies für die Sphäre der einfachen
Warenzirkulation, in der »alle immanenten Gegensätze der bürgerlichen Ge-
sellschaft ausgelöscht erscheinen«.234 Auch auf dieser Ebene ist der Gebrauchs-
wert freilich nicht mit dem »Nichtidentischen« zu verwechseln, jedenfalls nicht
in der Art, wie Adorno dieses verstand: als Nichtbegriffliches, Unerkanntes, die
Perspektive auf Versöhnung Verbürgendes, bisweilen sogar: als das Absolute.235
Vielmehr gilt genau umgekehrt: »Erst als Erkannter erschließt er sich dem Ge-
brauch.«236 Im weiteren Gang der Entwicklung des Kapitalbegriffs wird dann
die eingangs gemachte Voraussetzung wieder relativiert und der Gebrauchswert
auch als »ökonomische Kategorie« thematisiert, insonderheit als »Gebrauchs-
wert des Kapitals«.237 Als solchen bestimmt Marx neben der Lohnarbeit, die
hier als Gebrauchswert Quelle von Wert ist, auch das capital fixe, in dem sich die
»Identifikation des Kapitals mit einem bestimmten Gebrauchswert« vollzieht.238
Die zweite Argumentationslinie bewegt sich im Prinzip auf der Höhe dieser
Einsicht. Sie greift jedoch in einer Hinsicht zu weit, in einer anderen zu kurz.
Zu weit geht die später auch von der Schülergeneration übernommene und radi-
kalisierte Behauptung, der Gebrauchswert werde durch den Tauschwert substi-
tuiert239 , da auch und gerade unter kapitalistischen Bedingungen der Tausch von
Geld gegen Ware nur dann funktioniert, wenn sich die Käufer davon einen be-
stimmten Nutzen versprechen.240 Zu kurz ist es dagegen gegriffen, wenn die
233 Kritische Überlegungen dazu bei Kornelia Hafner: Gebrauchswertfetischismus, in:

Diethard Behrens (Hrsg.): Gesellschaft und Erkenntnis. Zur materialistischen Erkenntnis-


und Ökonomiekritik, Freiburg i. Br. 1993, S.  59–87; Braunstein 2011, S.  61, 116, 214, 309 f.
234  Marx 1974, S.  153, 152.
235  Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S.  18, 398.
236  Hafner, Gebrauchswertfetischismus, S.  69.
237  Marx 1974, S.  540, 583. Näher dazu Kolja Lindner: Rien ne va plus – Wolfgang Pohrts

Theorie des Gebrauchswerts, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2007,
S.  212–246, 226 ff.
238  Marx 1974, S.  535.
239 Vgl. aus der Schülergeneration Hans-Jürgen Krahl: Zu Herbert Marcuse, in: Krahl

1971, S.  122–135, 126 f.; Wolfgang Pohrt: Theorie des Gebrauchswerts, Frankfurt am Main
1976, S.  12 ff. Kritisch dazu Hafner, Gebrauchswertfetischismus; Lindner, Rien ne va plus. In
meinen Bemerkungen »Zur Theorie des Gebrauchswerts« habe ich zwar die von Krahl und
Pohrt vorgeschlagene Begründung kritisiert, soweit sie sich in den Bahnen der marxistischen
Imperialismustheorie bewegt, den Befund als solchen jedoch mit der Formulierung übernom-
men, der Wert sei nicht mehr nur Geld, sondern tendenziell die Gesamtheit des Seienden, in:
Leviathan 5, 1977, S.  123–132, 130. Diesen Satz sähe ich heute lieber ungeschrieben.
240  Der Preis, sagt Marx (1974, S.  178 f.), erscheint als bloß formelle Bestimmung an der

Ware. »Es widerspricht dem gar nicht, daß der Tauschwert die überwiegende Bestimmung ist.
Aber der Gebrauch hört natürlich dadurch nicht auf, daß er nur durch den Tausch bestimmt
ist; obgleich er natürlich seine Richtung selbst dadurch erhält.«
Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie 95

kapitalistische Formbestimmtheit des Gebrauchswerts rein psychologisch, auf


»Prestigegewinn« und darauf basierende Statuserhöhung konzipiert wird.241 Es
ist keine Änderung des Gebrauchswerts, wenn die ihm geltende »affektive Be-
setzung« auf den Tauschwert übertragen wird.242 Wohl aber liegt eine solche
vor, wenn die Nützlichkeit des Produkts im Herstellungsprozeß durch Verwen-
dung billiger, aber schädlicher Stoffe konterkariert wird, wie dies im hohen
Maße der Fall ist, seit in der Zweiten technologischen Revolution die Führung
von der Technologie der Maschine auf diejenige der Chemie übergegangen ist –
eine Technologie zur »Herstellung neuer Stoffe durch systematische Stoffum-
wandlung«, die »eine zweite, neu zusammengesetzte, eine synthetische Natur«
hervorgebracht hat, welche sich nur schlecht mit der ersten verträgt.243 Was im-
mer diese Technologie auch Nützliches erzeugt, es ist oft massiv kontaminiert,
wie die täglichen Skandalmeldungen belegen, vom toxischen Kinderspielzeug
über pestizidverseuchte Cerealien, dioxinhaltige Futtermittel für Nutztiere,
Textilien, die aus Sondermüll bestehen, schadstoffabsondernde Farben, Lacke
und Hölzer bis hin zu den überzuckerten Süßwaren, die ganze Bevölkerungs-
gruppen in die Adipositas treiben. Und selbst wo der einzelne kritische Ver-
braucher es versteht, solche Produkte zu meiden, sieht er sich doch allenthalben
den Nebenfolgen dieser synthetischen Natur ausgesetzt, die Verwüstungen ver-
heerenden Ausmaßes auslösen: in der Atmosphäre, deren Fortbestand durch
den CO2-Ausstoß gefährdet ist, in den von Mikroplastik durchsetzten und zu-
gemüllten Ozeanen, in den von den Einleitungen der Großchemie und der Ag-
roindustrie verunreinigten Flüssen, im Grundwasser, das durch Chlorkohlen-
wasserstoffe oder Rückstände von Pharmazeutika belastet ist. Fügt man den
sinkenden Nutzen hinzu, den bestimmte Produkte gerade durch ihre massen-
hafte Verbreitung haben (wie z. B. das Auto in den vom Verkehrsinfarkt be-
drohten Städten), die schleichende Enteignung durch Produkte mit eingebau-
tem Zeitlimit (wie die Betriebssysteme mikroelektronischer Geräte), endlich
die »Möglichkeit von Katastrophen unerhörter Reichweite und unerhörter
Langfristigkeit«, die unablösbar mit den beiden »Kerntechnologien« – der
Technologie des Atomkerns und der Technologie des Zellkerns – verbunden
ist244 , dann ist klar: der Gebrauchswert ist zu einer ambivalenten Größe gewor-
den, deren Nutzen individuell wie gesellschaftlich von immer höheren Kosten
aufgezehrt wird. Diese Kosten mögen sich meist nur zeitversetzt zeigen und im
Einzelfall nur schwer kausal nachzuweisen sein. Der statistische Zusammen-
hang aber ist evident, wie das exponentielle Wachstum der Allergien, der Krebs-
und Atemwegserkrankungen, der psychophysischen Schädigungen durch Elek-
trosmog und Lärmbelastungen belegt. Die Kritische Theorie war noch zu sehr
241  So aber Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  186.
242  Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, S.  26.
243  Heinrich Popitz: Epochen der Technikgeschichte, Tübingen 1989, S.  28 f.
244  Ebd., S.  12 f.
96 Gesellschaft Herrschaft Verdinglichung. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie

auf die Folgen fixiert, die die Überflußgesellschaft für die Kultur hatte, als daß
sie diese Beeinträchtigung des Gebrauchswerts hätte wahrnehmen können. Die
Dynamik als solche aber hat sie intuitiv erfaßt: »nämlich die Tendenz dieser
Gesellschaft, in der wir leben, auf ihre eigene Selbstvernichtung hinzuarbei-
ten.«245

245  Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. 2, S.  36.


Anthropologie 3.0

Zu den Aussagekomplexen, die bis heute Irritationen hervorrufen, gehören die


widersprüchlichen Auskünfte, die die Kritische Theorie über ihr Verhältnis zur
Anthropologie gegeben hat. Während sie auf der einen Seite, und das bis zu-
letzt, das Marxsche Verdikt gegen eine von Geschichte und Gesellschaft abse-
hende »naturalistische Anthropologie« wiederholte1, spielte sie doch von An-
fang an mit dem Gedanken, »Anthropologie in eine dialektische Theorie der
Gesellschaft einzubeziehen«.2 Der mit »Aufzeichnungen und Entwürfe« über-
schriebene Teil der Dialektik der Aufklärung war explizit als Beitrag zu einer
»dialektische[n] Anthropologie« ausgewiesen, die zur traditionellen Anthropo-
logie, wie es später hieß, in einem keineswegs nur disjunktiven Verhältnis ste-
hen sollte.3 Noch kurz vor seinem Tod begrüßte Adorno ausdrücklich Ulrich
Sonnemanns Entwurf einer »negativen Anthropologie« und bekannte sich zu
einer »kritische[n] Anthropologie«. 4
Die Kritik hat darin eine Wende zu einem zunächst latenten, später, bei Mar-
cuse und Schülern wie Alfred Schmidt, manifesten Naturalismus gesehen.5 Na-
turalistische Tendenzen lassen sich in der Dialektik der Aufklärung und in der
Negativen Dialektik gewiß unschwer ausmachen, wie bereits festgestellt wur-
de. Das Projekt einer dialektischen Anthropologie zielte jedoch im Kern in eine
andere Richtung: auf jene Sphäre, die bei Hegel »zweite Natur« hieß. Diese
wurde freilich nicht länger mit dem Rechtssystem identifiziert und im Sinne

1  Vgl. nur Max Horkheimer: Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in:

HGS Bd. 3, S.  249–276, 257; Der Mensch in der Wandlung seit der Jahrhundertwende (1960),
in: HGS Bd. 8, S.  131–142, 141. Noch im Streitgespräch mit Arnold Gehlen aus dem Jahr 1965
verneinte Adorno die in der Überschrift gestellte Frage (»Ist die Soziologie eine Wissenschaft
vom Menschen?«) und betonte, »daß es Soziologie als eine reine Anthropologie, also als eine
Wissenschaft vom Menschen und nicht ebenso auch als eine Wissenschaft von Verhältnissen,
die den Menschen gegenüber sich verselbständigt haben, nicht geben kann«, in: Friedemann
Grenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt am Main 1974, S.  225–251, 226.
Vgl. auch das »Veto« gegen jegliche Anthropologie, in: Negative Dialektik (1966), AGS Bd. 6,
S.  131; Jargon der Eigentlichkeit (1967), ebd., S.  454 f.
2  Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, S.  258.
3  Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, in: HGS Bd. 5,

S.  23. Vgl. Max Horkheimer: Zum Begriff des Menschen (1957), in: HGS Bd. 7, S.  55–80, 64 f.:
»Der alte Satz, der Mensch sei animal rationale, ›compositum ex anima et corpore‹, und die
ganze traditionelle Anthropologie haben ihre Gültigkeit nicht eingebüßt.«
4 Theodor W. Adorno: Zu Ulrich Sonnemanns »Negativer Anthropologie« (1969), in:

AGS Bd. 20.1, S.  262–263.


5 Vgl. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am

Main 1973, S.  140 f.


98 Anthropologie 3.0

des Idealismus als »Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht« gedeutet.6
Vielmehr erschien sie als Ergebnis des von Marx in den terms der Wesenslogik
dargestellten »Rückgangs in den Grund«, der sich mit dem Übergang vom Geld
zum Kapital vollzog, jener »großen Transformation« (Karl Polanyi), in deren
Verlauf ein geschichtlich-gesellschaftlich entstandenes Verhältnis (»die Zirku-
lation«) sich verselbständigte und seine ursprünglichen Voraussetzungen (die
»produzierende Tätigkeit«) im Hegelschen Sinne des Wortes aufhob.7 Dialekti-
sche Anthropologie bezog sich auf das Resultat dieser Aufhebung, auf das Auf-
kommen einer neuen »‹anthropologischen‹ Spezies«, die Horkheimer noch
vorsichtig in Anführungszeichen setzte8 , Adorno dagegen entschieden als Ge-
genstand einer »neue[n] Anthropologie« deklarierte: der »negative[n] Anthro-
pologie der Massengesellschaft«.9 Soziologie, bis dahin nicht selten als Teildis-
ziplin der Anthropologie verstanden10 , avancierte auf diese Weise zum Oberbe-
griff: »Der Abgrenzung der Soziologie von der Anthropologie durch den
emphatischen Begriff der Gesellschaft ist hinzuzufügen, daß der Gegenstand
der Anthropologie selbst weithin von der Vergesellschaftung abhängt; mit an-
deren Worten: daß das, was die traditionelle Philosophie als das Wesen der
Menschen dachte, durch und durch bestimmt wird vom Wesen der Gesellschaft
und ihrer Dynamik.«11 Um diese Achsendrehung, wie Simmel sie nennen wür-
de, genauer nachzuvollziehen, ist etwas weiter auszuholen.

I.

Die Kritische Theorie formierte sich in einer Zeit, die zumindest in Deutsch-
land im Zeichen einer »anthropologischen Wende in der Philosophie« stand.12
Streng genommen war es die zweite Wende, hatte doch schon das 16. und 17.
6  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in ders. 1970,

Bd. 7, S.  46 (§  4).


7  Vgl. Marx 1974, S.  166.
8  Max Horkheimer: Vorwort [zu: The Authoritarian Personality] (1950), in: HGS Bd. 5,

S.  415–420, 415.
9  Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, AGS

Bd. 4, S.  150, 190.


10  Vgl. nur Marcel Mauss: Ort der Soziologie in der Anthropologie, in ders.: Soziologie

und Anthropologie, Bd. 2, München und Wien 1975, S.  149–154.


11  Theodor W. Adorno: Gesellschaft (II), in: Frankfurter Adorno-Blätter 8, 2003, S.  143–

150, 149.
12  Vgl. Friedrich Seifert: Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der Philoso-

phie, in: Blätter für Deutsche Philosophie 8, 1935, S.  393–411; Ralph P. Fischer: Um Leib und
Leben. Die anthropologische Wende in der deutschen Philosophie der Zwischenkriegszeit
(1920–1940), Diss. München 1982. Daß diese Wende, initiiert durch Scheler und Plessner, die
konkurrierenden lebensphilosophischen, phänomenologischen und existenzphilosophischen
Paradigmen allerdings nicht verdrängte und nach ihrem Start zunächst ein bis 1934 währen-
des »Interregnum« durchlief, zeigt der informative Überblick von Fischer 2009, S.  94 ff.
Anthropologie 3.0 99

Jahrhundert die Entstehung einer »neuen Anthropologie« erlebt, die sich durch
eine Rehabilitierung der Sinnlichkeit und durch das Bestreben auszeichnete,
das Denken über den Menschen und seine Institutionen von der herkömmli-
chen theologischen Metaphysik abzulösen.13 Dagegen erfolgte die zweite Wen-
de, die ab 1923 durch die Arbeiten Max Schelers ausgelöst wurde14 , von vornhe-
rein mit der Zielsetzung einer Erneuerung der Metaphysik auf einer Grundlage,
die sowohl durch die Biowissenschaften als auch durch die Geisteswissenschaf-
ten bestimmt war.15 So sehr sich Scheler von der theistischen Voraussetzung ei-
nes »geistigen, in seiner Geistigkeit allmächtigen persönlichen Gott[es]« ab-
setzte und sich vornahm, »aus der Grundstruktur des Menschseins […] alle
spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen« zu
lassen – »Sprache, Gewissen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht,
Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion,
Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit«16 – so gewiß war ihm
doch, daß genau diese Grundstruktur Teil eines »transzendenten Prozesses«
war, »der einzige Ort der Gottwerdung, der uns zugänglich ist«.17 Philosophi-
sche Anthropologie war damit konzipiert als Theopoiesis, als Kernstück einer
»moderne[n] Metaphysik«, die den Anspruch erhob, das metaphysisch transzen-
dente Göttliche durch den Menschen zu erschaffen.18
1928 wurde Scheler als Nachfolger von Hans Cornelius, des gemeinsamen
Lehrers von Horkheimer und Adorno, auf den philosophischen Lehrstuhl in
Frankfurt berufen, zur Enttäuschung des Emeritus, der gerne Horkheimer auf
dieser Stelle gesehen hätte.19 Wenn Horkheimer, wie man annehmen darf, diese

13  Vgl. die klassische Studie von Wilhelm Dilthey: Die Funktion der Anthropologie in der

Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leipzig und Berlin
1929³, S.  416–492. Ferner Kondylis 1986, S.  119 ff.
14  Darüber sowie über die vorangegangene Entwicklung Schelers gibt Auskunft: Wolfhart

Henckmann: Über die Entwicklung von Schelers philosophischen Anschauungen, in: Ralf
Becker u. a. (Hrsg.): Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth
Plessner im Vergleich. Intern. Jahrbuch für Philosophische Anthropologie Bd. 2, 2009/2010,
S.  19–49. Zentrale Aspekte seines Werkes werden diskutiert in Gérard Raulet (Hrsg.): Max
Scheler. L’anthropologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres, Paris 2002.
15  Vgl. Kondylis 1990, S.  382 ff. Mit Joachim Fischer kann man die an Scheler anschließen-

den Autoren – im wesentlichen: Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Erich Rothacker – zu ei-
nem eigenen Denkansatz zusammenfassen und diesen als »Philosophische Anthropologie«
im Unterschied zur »philosophischen Anthropologie« als einer Disziplin der Philosophie
bezeichnen: vgl. Fischer 2009, S.  9 , 479 ff.
16  Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, in ders. 1976, S.  7 –71, 70, 67.
17  Ebd., S.  70.
18  Von ›moderner Metaphysik‹ ist explizit die Rede in Max Scheler: Philosophische Welt-

anschauung«, in ders. 1976, S.  75–84, 83. Vgl. dazu auch Otto Pöggeler: Scheler und die heuti-
gen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik, in: Heidelberger Jahrbücher 33, 1989, S.  175–
192. Zum Konzept der Theopoiesis vgl. die erhellenden Ausführungen von Linus Hauser:
Kritik der neomythischen Vernunft. Bd. 1: Menschen als Götter der Erde, 1800–1945, Pader-
born etc. 2004, S.  143 ff.
19  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  61.
100 Anthropologie 3.0

Empfindung teilte, so gab er dies doch nicht preis. Immerhin erschien Scheler
unter allen möglichen Konkurrenten als eine akzeptable Lösung, nicht nur auf-
grund seiner beachtlichen Wandlungsfähigkeit und unkonventionellen Lebens-
führung, sondern auch wegen seines aus Vorträgen bekannten Eintretens für
einen »christlichen Sozialismus und Antikapitalismus«, der den antikapitalisti-
schen Einstellungen des Horkheimer-Kreises wenigstens ein Stück weit entge-
genkam.20 In seiner Vorlesung »Einführung in die Philosophie der Gegenwart«
(Sommersemester 1926) würdigte Horkheimer Scheler als »Persönlichkeit von
größtem Format« und als denjenigen unter den Repräsentanten der phänomeno-
logischen Schule, »dessen Anregung am mächtigsten gewirkt und die weitesten
Kreise gezogen hat.«21 Als Scheler nur wenige Wochen nach seinem Dienstan-
tritt in Frankfurt am 19. Mai 1928 überraschend starb, unterbrach Horkheimer
seine Vorlesung für einen ausführlichen Nachruf, in dem er dem Kollegen »psy-
chologische Einsichten von wirklicher Tiefe« und seinen Analysen »einen emi-
nent anregenden und befruchtenden Wert« bescheinigte.22 Noch sieben Jahre
später, in einem Essay, der sich kritisch mit der Philosophischen Anthropologie
auseinandersetzte, wollte er in Schelers Leugnung des theistischen Gottesbe-
griffs einen Schritt sehen, der ihn in die Richtung einer materialistischen Theo-
rie hätte führen können.23 Wiederum einige Jahre darauf ließ er den in Berkeley
lehrenden Erziehungswissenschaftler Frederic Lilge wissen, er, Horkheimer,
habe damals Scheler »persönlich ziemlich nahe« gestanden und gehofft, seine
Berufung nach Frankfurt werde »eine neue Ära an dieser Universität einleiten.
Wie Sie wissen, wurden diese Hoffnungen durch den plötzlichen Tod Max Sche-
lers wenige Wochen nach seiner Antrittsvorlesung zunichte gemacht.«24
In dieser Erinnerung sind allerdings die erheblichen Ambivalenzen geglättet,
mit denen man seinerzeit in Frankfurt Scheler entgegengesehen hatte. Aus dem
weiteren Kreis um das Institut hatte Siegfried Kracauer, der anfangs ungewöhn-
lich warme Worte für Schelers Kriegspublizistik gefunden hatte25, schon 1921
erhebliche Vorbehalte gegen den »irrlichternden, schon rein im Stile übrigens
sich ausprägenden Zickzackkurs des kritischen Geistes« artikuliert, der sich je
nach Lage mal als Relativist, mal als Katholik präsentiere.26 Horkheimer wie-
20  Vgl. das aus Vorträgen hervorgegangene Nachlaßmanuskript »Christlicher Sozialismus

und Antikapitalismus«, in Max Scheler: Gesammelte Werke Bd. 4, hrsg. von Manfred S.
Frings, Bern und München 1982, S.  615–675.
21  Max Horkheimer: Einführung in die Philosophie der Gegenwart (1926), in: HGS Bd. 10,

S.  167–333, 330.
22  Max Horkheimer: Max Scheler (1874–1928), in: HGS Bd. 11, S.  145–157, 152 f.
23  Vgl. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, S.  256.
24  Max Horkheimer an Frederic Lilge, Brief vom 9.3.1948, in: HGS Bd. 17, S.  937.
25  Vgl. seine Rezension zu Schelers Schrift Krieg und Aufbau (1917), in: Kracauer 2011,

Bd. 5.1, S.  24–29.
26  Siegfried Kracauer: Katholizismus und Relativismus. Zu Max Schelers Werk »Vom Ewi-

gen im Menschen«, in: Kracauer 2011, Bd. 5.1, S.  309–317, 313. Vgl. auch Kracauers Berichte
über den deutschen Soziologentag von 1924, ebd., Bd. 5.2, S.  133–141, 135 ff. sowie über die
Anthropologie 3.0 101

derholte diese Vorbehalte 1926 in seiner Vorlesung, schränkte sie aber durch den
Hinweis ein, »daß diese Unrast immer noch einen größeren Geist verrät als jene
naive Befriedigung einiger anderer Philosophen, die bei ihrem System oder bei
ihren Schauungen von ehedem sich ein für allemal beruhigen.«27 Etwas substan-
tieller wurde er erst in seinem Nachruf, in dem er sich von Schelers Überzeu-
gung distanzierte, »daß der Mensch selbst im Lauf der Geschichte sich nicht
verwandle« und man »heute ein endgültiges und absolut sicheres Wissen von
ihm haben« könne. »Beides, die subjektive und die objektive Unwandelbarkeit,
ist nach unserer Überzeugung unmöglich. Die Befriedigung des endgültigen,
abschließenden Wissensbesitzes, eine Metaphysik in der Art, wie sie Scheler
sich gedacht hat, ist nach unserer Überzeugung nicht zu verwirklichen, wenn
sie auch nach dem Kantischen Worte ›immer in der Welt gewesen‹ ist und ›auch
wohl ferner … darin anzutreffen sein wird‹.« Horkheimer kündigte an, in der
nächsten Stunde zu zeigen, »inwiefern wir eine solche sich gleichbleibende Leh-
re vom ewigen Wesen des Menschen, wie sie implizit auch den Schriften Mach-
iavellis zu Grunde liegt, für unrichtig halten.«28 Die Vorlesung selbst ist nicht
erhalten, doch dürfte sie Eingang in Horkheimers zwei Jahre später veröffent-
lichte Studie über die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie gefun-
den haben. Sie enthält ein Kapitel über Machiavelli, das dessen Behauptung von
Gleichförmigkeiten im Charakter der geschichtlich aufgetretenen Menschen
unter Bezugnahme auf die moderne Tiefenpsychologie widerspricht, die das in-
dividuelle seelische Leben in einem fortwährenden, vor allem durch die Ände-
rung der Familienformen bedingten Wandel begriffen sehe. Daraus leitete
Horkheimer ab: »Eine philosophische Anthropologie, d. h. eine Lehre von der
besonderen menschlichen Wesensart im Sinne endgültiger Aussagen über die
unveränderliche, von der Geschichte nicht betroffene Idee des Menschen ist da-
her unmöglich.«29
In den bereits erwähnten »Bemerkungen zur philosophischen Anthropolo-
gie«, die zu weiten Teilen als eine Auseinandersetzung mit Scheler gelesen wer-
den können, legte Horkheimer nach. Wohl ließen sich bei den Individuen eines
bestimmten Zeitalters gewisse Ähnlichkeiten in der seelischen Verfassung
nachweisen, die einer typologischen Betrachtungsweise entgegenkämen, doch
gelte dies immer nur für einzelne Gruppen bzw. Klassen. Eine einheitliche
menschliche Verfassung als Grundlage einer Epoche könne dagegen nicht ange-
nommen werden, zumal mit dem zu rechnen sei, was Ernst Bloch etwa zur

Keyserling-Tagung von 1927, auf der Scheler die Grundlinien seiner Anthropologie vorstellte:
Die Schule der Weisheit: Frühlingstagung, ebd., S.  592–598, 593 f. Wie sehr Scheler Kracauer
beschäftigt hat, zeigt noch der Nachruf, den er in der Frankfurter Zeitung vom 22.5.1928 ver-
öffentlicht hat: jetzt in Kracauer 2011, Bd. 5.3, S.  23–28.
27  Horkheimer, Einführung in die Philosophie der Gegenwart, S.  330.
28  Horkheimer, Max Scheler, S.  157.
29 Max Horkheimer: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: HGS

Bd. 2, S.  177–268, 202.


102 Anthropologie 3.0

gleichen Zeit mit dem Begriff der Ungleichzeitigkeit zu fassen versuchte.30 Die
Aufgabe, die Scheler der Anthropologie gestellt habe – aus einer einzigen
Grundstruktur sämtliche gesellschaftlichen Institutionen und kulturellen Leis-
tungen abzuleiten – sei unmöglich zu erfüllen:
»Wie sehr auch Werden und Veränderung in die Idee des Menschen aufgenommen wer-
den mag, diese Problemstellung setzt eine feste begriffliche Hierarchie voraus; sie wider-
spricht dem dialektischen Charakter des Geschehens, in das die Grundstruktur des
Seins von Gruppen und Individuen jederzeit verflochten ist, und kann im besten Fall
zum Entwurf von Modellen im Sinn naturwissenschaftlicher Systeme führen.«31

Während Horkheimer bei aller Kritik bemüht war, eine Verbindung zur Philo-
sophischen Anthropologie aufrechtzuerhalten, indem er für Besprechungen
sorgte und Autoren des Scheler-Kreises wie Paul Ludwig Landsberg und Paul
Honigsheim oder den Dilthey-Schüler Bernhard Groethuysen in der Zeitschrift
für Sozialforschung selbst zu Wort kommen ließ32 , zeigte sich Adorno, wie so
oft, konzessionsloser, was in diesem Fall allerdings auch mit seiner größeren
Kompetenz in Sachen Phänomenologie zu tun haben mag, der Mutterdisziplin,
aus der die Philosophische Anthropologie hervorgegangen war. Habe schon
Husserl vergeblich versucht, den Idealismus zu sprengen, so lösten sich bei
Scheler die ewigen Grundwahrheiten in jähem Wechsel ab, »um schließlich in
die Ohnmacht ihrer Transzendenz verbannt zu werden«. Darin könne man
wohl, wie es in Anspielung auf Kracauer und Horkheimer hieß, »den unermüd-
lich fragenden Drang eines Denkens erblicken, das einzig in der Bewegung von
Irrtum zu Irrtum der Wahrheit teilhaftig wird«, doch greife eine solche ledig-
lich auf das individuelle geistige Schicksal bezogene Betrachtungsweise nicht
tief genug. Schelers Entwicklung zeige vielmehr an,
»daß der Übergang der Phänomenologie aus der formal-idealistischen in die materiale
und objektive Region nicht sprunglos und zweifelsfrei gelingen konnte, sondern daß die
Bilder übergeschichtlicher Wahrheit, die einmal jene Philosophie auf dem Hintergrund
der geschlossenen katholischen Lehre so verführerisch entwarf, sich verwirrten und zer-
setzten, sobald sie einmal in eben jener Wirklichkeit aufgesucht wurden, deren Erfas-
sung ja gerade das Programm der ›materialen Phänomenologie‹ ausmacht. Die letzte
Wendung Schelers scheint mir ihr eigentliches exemplarisches Recht daher zu besitzen,
daß er den Sprung zwischen den ewigen Ideen und der Wirklichkeit, den zu überwinden

30  Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935), Frankfurt am Main 1973, S.  104 ff. Hork-

heimer erwähnt dieses Buch allerdings nicht und ließ es auch nicht besprechen.
31  Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, S.  251.
32  Vgl. Paul Ludwig Landsberg: Rassenideologie und Rassenwissenschaft, in: Zeitschrift

für Sozialforschung 2, 1933, S.  388–406; Paul Honigsheim: Taine, Bergson et Nietzsche dans
la nouvelle littérature française, ebd., 3, 1934, S.  409–415; Bernard Groethuysen: Les origines
sociales de l’incrédulité bourgeoise en France, ebd., 8, 1939/40, S.  362–393. Landsberg hatte
1934 eine Einführung in die philosophische Anthropologie veröffentlicht, auf die Horkheimer
sogleich aufmerksam machte (in: Bemerkungen, S.  255), Groethuysen 1928 den Teilband über
Philosophische Anthropologie im Rahmen des Handbuchs der Philosophie.
Anthropologie 3.0 103

die Phänomenologie sich in die materiale Sphäre hineinbegab, nun selber material-meta-
physisch anerkannte und die Wirklichkeit einem blinden ›Drang‹ überließ, dessen Bezie-
hung zum Ideenhimmel dunkel und problematisch ist und nur gerade der schwächsten
Spur von Hoffnung noch Raum läßt. In Scheler hat die materiale Phänomenologie sich
selber dialektisch zurückgenommen: von ihrem ontologischen Entwurf ist ihr bloß die
Metaphysik des Dranges übrig; die letzte Ewigkeit, über die seine Philosophie verfügt,
ist die der grenzenlosen und unbeherrschten Dynamik.«33

Adornos Fazit, daß mit dieser »Lehre vom Drang« die Phänomenologie bei
eben jenem Vitalismus ende, dem sie ursprünglich den Kampf angesagt habe34 ,
kam etwas unvermittelt, da es über die explizite Abgrenzung hinwegging, die
Scheler gegenüber dem Vitalismus in seinen diversen lebensphilosophischen Be-
gründungen vorgenommen hatte.35 Es erklärt jedoch, warum er sich genötigt
sah, die Trennungslinie zur Philosophischen Anthropologie ungleich schärfer
zu ziehen als Horkheimer, galt ihm doch der Vitalismus als die letzte Stufe in
jenem Verfallsprozeß, den die »Metaphysik des Unbewußten« in der Entwick-
lung von Nietzsche zu Spengler durchlaufen hatte und gegen die er in seiner
zurückgezogenen Habilitationsschrift die Psychoanalyse aufgeboten hatte: als
»scharfe Waffe […] gegen jegliche Triebmetaphysik und Vergottung bloß dump-
fen, organischen Lebens.«36
Stand die Psychoanalyse in diesem Szenario für eine Einstellung, die »den
Primat der Erkenntnis über das Unbewußte durchzusetzen fähig und willens
ist« und damit zumindest potentiell als Bündnispartner umfassender, auch ge-
sellschaftlicher Veränderung in Frage kam, hatte der Vitalismus dort seinen
Ort, »wo die Macht der unbewußten Zusammenhänge und mehr noch der Inte-
ressen, die sich unter dem ideologischen Mantel der Unbewußtheit verstecken,
stärker sind als ihre Erkenntnis.«37 Die Glorifizierung der vitalen, der Reflexion
33  Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie (1931), in: AGS Bd. 1, S.  325–344,

328 f. Fortgeführt und vertieft hat Adorno seine Scheler-Kritik in zwei weiteren Vorträgen
aus den frühen dreißiger Jahren: Die Idee der Naturgeschichte (1932), in: AGS Bd. 1, S.  345–
365, 346 f.; Thesen über die Sprache des Philosophen (Anfang 30er Jahre), in: AGS Bd. 1,
S.  366–377, 370 f.
34  Adorno, Die Aktualität der Philosophie, S.  330.
35  Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S.  63 f. Daß Adornos Darstellung

nicht nur die Grenzen der Philosophischen Anthropologie zu Vitalismus und Lebensphiloso-
phie, sondern auch zur Phänomenologie verwischt, kann hier nicht weiter verfolgt werden.
Vgl. dazu Fischer 2009, S.  582 ff.
36  Theodor W. Adorno: Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre

(1927), in: AGS Bd. 1, S.  79–322, 320.


37  Ebd., S.  321. Zu seinem in dieser Schrift unternommenen Versuch, »das Unbewußte als

eine Form der Begriffsbildung [zu] verstehen, die in Bewußtem stets und ausschließlich ihren
Grund hat und in Bewußtem sich muß ausweisen lassen« (ebd., S.  320), ist Adorno später auf
Distanz gegangen. Der posthumen Veröffentlichung des Manuskripts hat er zwar zuge-
stimmt, jedoch zugleich brieflich als Hauptfehler herausgestellt, »daß es Freud einseitig auf
die Erkenntnistheorie etwa der Schule von Mach und Avenarius bezieht und das von Anbe-
ginn in Freud vorhandene materialistische Moment, das bei ihm durch den fundamentalen
Begriff der Organlust bezeichnet wird, vernachlässigt« (Editorische Nachbemerkung, AGS
104 Anthropologie 3.0

vorgelagerten und unzugänglichen Mächte sei nicht nur auf Ablenkung von der
gesellschaftlichen Realität angelegt, sondern habe die Aufgabe, namentlich das
in der Wirtschaft angelegte Machtstreben zu rechtfertigen. »Darin eben soll
dann die Kraft des Unbewußten zum Vorschein kommen, und nicht allein die
schrankenlose egoistische Ausbeutung, sondern auch die verderblichsten Pläne
des Imperialismus finden als naturgewollte Ausbrüche der unbewußten vitalen
Seelenmächte ihren ideologischen Schutz.« Fluchtpunkt dieser Tendenzen war
natürlich der »Fascismus«38 , woraus sich die Invektiven Adornos gegen den
Scheler-Schüler Landsberg und sein Drängen erklären, ihn und Honigsheim
aus der Zeitschrift für Sozialforschung zu verbannen.39
Daß Adornos Urteil so schroff ausfiel, mag mit seinem Bestreben zusammen-
hängen, seine durchaus unsichere Position im Horkheimer-Kreis durch beson-
dere Radikalität zu stabilisieren. Es war aber auch durch seine stärkere Impräg-
nierung mit hegelmarxistischen Überzeugungen bedingt, die sich deutlich von
Horkheimers Unwillen unterschied, sich in dieser Hinsicht allzusehr festzule-
gen. Hegel hatte der Anthropologie zwar einen Platz in seiner Geschichtsphilo-
sophie eingeräumt, jedoch nur in der Gestalt der »Seele« oder des »Naturgeis-
tes« als einer »noch unvermittelte[n], noch nicht gesetzte[n]« Realität, in der
der Geist noch ganz in seiner Leiblichkeit befangen, noch nicht bei sich selbst
und eo ipso unfrei sei, woraus ihn nur sein Gang durch die Geschichte befreien
könne. 40 Diese »Degradierung der Anthropologie« (Marquard) hatte sich fort-
gesetzt bei Marx, der Feuerbachs Versuch einer Aufwertung der Anthropologie
entgegengehalten hatte, vom geschichtlichen Verlauf und der gesellschaftlichen
Bestimmtheit des menschlichen Wesens zu abstrahieren 41, und sie wurde
schließlich von Lukács bekräftigt, der die »große Gefahr eines jeden ›Humanis-
mus‹ oder anthropologischen Standpunktes« in der Isolierung und Verabsolu-
tierung des Menschen sah:

Bd. 1, S.  381 f.). Man mag hierin auch eines der Motive sehen, die Adorno zu einer Revision
seiner Stellung zur Anthropologie veranlaßt haben.
38  Ebd., S.  319.
39  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Briefe vom 24.11.1934 und 15.12.1936, in:

A/H Bd. 1, S.  41, 262. Im ersten Brief bezeichnete Adorno Landsberg als einen »notdürftig
verhinderte[n] Gleichgeschaltete[n]«. Gewiß läßt sich gegen dessen Versuch, zwischen Ras-
senlehre als purer Ideologie und Rassenlehre als Naturwissenschaft einen Hiatus zu konstru-
ieren, manches einwenden, aber darauf geht Adornos rein politische Argumentation nicht ein.
Wie wenig diese zutraf, hat Landsberg durch sein Engagement gegen den NS vor und nach
1933 bewiesen, das ihm die Verhaftung und Deportation ins KZ Sachsenhausen einbrachte,
wo er 1944 an Entkräftung und Krankheit verstarb. Näher dazu Stephan Moebius: Paul Lud-
wig Landsberg – ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wissens- und Kultursoziologie
Paul Ludwig Landsbergs, in: Sociologia Internationalis. Internationale Zeitschrift für Sozio-
logie, Kommunikations- und Kulturforschung 41, 2003, S.  77–112.
40 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften

III, in ders. 1970, Bd. 10, S.  38, 40.


41  Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S.  6.
Anthropologie 3.0 105

»Denn wenn der Mensch als Maß aller Dinge gefaßt wird, wenn mit Hilfe dieses Aus-
gangspunkts jede Transzendenz aufgehoben werden soll, ohne daß gleichzeitig der
Mensch selbst an diesem Standpunkt gemessen, der ›Maßstab‹ auf sich selbst angewendet
oder – genauer gesagt – der Mensch ebenfalls dialektisch gemacht worden wäre, so tritt
der so verabsolutierte Mensch einfach an die Stelle jener transzendenten Mächte, die er
zu erklären, aufzulösen und methodisch zu ersetzen berufen wäre.«42

Wie sehr sich auch Adorno dieser Argumentationsweise verpflichtet wußte,


zeigt der Briefwechsel, den er mit Benjamin in den Jahren des Exils pflegte. 43
Als er im Sommer 1935 ein erstes Exposé aus dem Passagenwerk erhielt44 , be-
mängelte er nicht nur die fehlende Reflexion auf den Fetischcharakter der Ware,
sondern auch einen Gebrauch der Kategorie des Organischen, der auf eine sta-
tische Anthropologie weise. 45 Ein Jahr später, anläßlich von Benjamins Essay
über den Erzähler, erklärte er sich zwar mit der geschichtsphilosophischen In-
tention, »daß Erzählen nicht mehr möglich sei«, grundsätzlich einverstanden,
äußerte aber Unbehagen hinsichtlich des Gebrauchs von »Geste« in diesem
Text: diese werde nämlich nicht im Hegelschen, geschichtsphilosophischen Sin-
ne der »Unmittelbarkeit« verstanden, sondern in einem nachgerade somatischen
Sinne. »Es ist, als sei für Sie das Maß der Konkretion der Leib des Menschen.«
Indem Benjamin einer »undialektischen Ontologie des Leibes« das Wort rede,
verschreibe er sich zugleich einem »anthropologischen Materialismus«, dem er,
Adorno, nicht folgen könne. 46
Den gleichen Vorwurf formulierte er noch einmal zwei Jahre später in einem
Kommentar zu Benjamins Baudelaire-Arbeit. 47 Auch hier vermißte Adorno
eine hinreichende theoretische »Vermittlung durch den gesellschaftlichen Ge-
samtprozeß«, die durch eine positivistische »Vermauerung hinter undurch-
dringlichen Stoffschichten« und eine ökonomistische Verwendung sozialge-
schichtlicher Informationen ersetzt werde. Der unmittelbare Rückschluß von
der Weinsteuer auf seelisch-geistige Verhältnisse schiebe den Phänomenen eben
jene Art von Spontaneität zu, die sie im Kapitalismus längst eingebüßt hätten.
»In dieser Art des unmittelbaren, fast möchte ich wiederum sagen, des anthro-
pologischen Materialismus steckt ein tief romantisches Element, und ich spüre

42  Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), in ders. 1968, S.  373.
43  Vgl. den Überblick bei Johannes Kreuzer: Das Gespräch mit Benjamin, in: Klein u. a.
2011, S.  373–389. Ausführlicher dazu Richard Klein: Noch einmal: Bewusstmachende oder
rettende Kritik. Eine musikphilosophische Re-Lektüre des Disputs zwischen Benjamin und
Adorno, in: Musik & Ästhetik 15, 2011, S.  5–32.
44  Es handelt sich um Auszüge aus »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, wieder-

abgedruckt in Benjamin 1991, Bd. V.2, S.  1237–1249.


45  Vgl. Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 2.–4.8.1935, in: A/B, S.  147.
46  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 6.9.1936, in: A/B, S.  193. Referenz-

text ist der 1936 in der Zeitschrift Orient und Okzident veröffentlichte Essay »Der Erzähler«,
wiederabgedruckt in Benjamin 1991, Bd. II.3, S.  438–465.
47  Vgl. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalis-

mus, in: Benjamin 1991, Bd. I.2, S.  509–690.


106 Anthropologie 3.0

es um so deutlicher, je krasser und rauher die Baudelairesche Formwelt mit der


Notdurft des Lebens von Ihnen konfrontiert wird.«48
Ob diese Einwände Benjamin gerecht werden, muß uns hier nicht beschäfti-
gen. Wichtig sind sie als Dokument für die Ablehnung, die Adorno jeder auf
Faktoren der »ersten« Natur rekurrierenden Anthropologie entgegengebracht
hat, ganz gleich, ob diese, wie im Fall der ersten anthropologischen Wende in
der neuzeitlichen Philosophie, der Kritik der theologischen Metaphysik, oder,
wie im Fall der zweiten anthropologischen Wende, der Grundlegung einer
Neometaphysik, einer »Metanthropologie« diente. 49 Diese Ablehnung blieb
eine Konstante, auch nachdem Adorno, wie gleich zu zeigen sein wird, seine
eigene, wenn man so will: dritte anthropologische Wende vollzogen hatte. Als
Erich Rothacker 1948 eine Neuauflage seiner in der NS-Zeit erschienenen Kul-
turanthropologie vorlegte und sich bald darauf im Rundfunk dafür stark mach-
te, sie als eigene Disziplin an den Universitäten zu etablieren50 , reagierte Ador-
no ungewöhnlich scharf. Die Konzeption einer vergleichenden Menschenwis-
senschaft erschien ihm wenig verlockend, teils wegen der Banalitäten, auf die sie
hinauslaufe, teils wegen ihrer Tendenz zur »Umfälschung der Wirklichkeit«. Im
Unterschied zur amerikanischen cultural anthropology liege hier der Versuch
vor, »die Kultur aus dem Wesen des Menschen herauszuspinnen«, was im Er-
gebnis nur auf den Verzicht hinauslaufe, »sie aus dem für die Menschen Wesent-
lichen zu begreifen, nämlich in ihrem Verhältnis zu der Geschichte der Mensch-
heit, ihren Kämpfen und Leiden und der Funktion, die zum Guten und Schlech-
ten Kultur im Leben der Menschheit erfüllt.« Die – für sich genommen triviale
– Behauptung, der Mensch sei die Substanz des Kulturgeschehens, verdecke die
weitaus wichtigere Tatsache, daß von den Gebilden oder ›Werken‹, welche die
Kultur ausmachten, »ja keineswegs alles oder auch nur das Entscheidende
gleichsam frei im Menschenwesen entsprungen [ist], sondern das meiste unter
dem Zwang von Verhältnissen, die zwar menschlich sind, aber den Menschen
gegenüber sich verselbständigt haben und einen unmenschlichen, zwangshaften
Aspekt annehmen.« Indem sie Phänomene wie Entfremdung und Verdingli-
chung ausklammere, setze sich die von Rothacker propagierte Anthropologie
dem »Verdacht des Konformismus« aus.51 Auch Horkheimer, der vom Rund-
funk zu einem Korreferat zu Rothackers Thesen aufgefordert worden war,

48  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 10.11.1938, in: A/B, S.  365 ff.
49  Vgl. Scheler, Philosophische Weltanschauung, S.  83: »So ist moderne Metaphysik nicht
mehr Kosmologie und Gegenstandsmetaphysik, sondern Metanthropologie und Aktmeta-
physik.«
50  Vgl. Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948. Erstmals in: Sys-

tematische Philosophie, hrsg. von Nicolai Hartmann, Stuttgart 1942.


51 Theodor W. Adorno: »Kulturanthropologie« (ca. 1951), in: AGS Bd. 20.1, S.   135–139,
136 f. Daß dies angesichts der realen Zeitbezüge Rothackers noch eine sehr zurückhaltende
Formulierung ist, zeigen Volker Böhnigk: Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalso-
zialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg
Anthropologie 3.0 107

machte sich diese Einwände zu eigen, in Formulierungen, die oft wörtlich mit
denjenigen Adornos übereinstimmten.52
Bekräftigt wurde diese Frontstellung gegenüber einem weiteren, wie Rot­
hacker durch die NS-Zeit belasteten Vertreter der Philosophischen Anthropo-
logie, Arnold Gehlen, als dieser sich Ende der 50er Jahre um die Rückkehr an
die Universität bemühte. Nachdem Adorno schon im Februar 1957 auf einer
Tagung Gehlens Ausführungen Stellen aus den Ökonomisch-Philosophischen
Manuskripten und der Deutschen Ideologie entgegengehalten hatte, um zu de-
monstrieren, »wie sehr der Begriff des Menschen nur gesellschaftlich vermittelt
ist«53 , verfaßte er 1958 für Horkheimer den Entwurf eines Gutachtens über
Gehlen, das Argumente gegen dessen Berufung an die Universität Heidelberg
versammelte. Auch hier entzündete sich die Kritik vor allem an der »naturalis-
tisch-positivistischen Denkweise«, die zu einer Abwertung von Reflexion und
Vernunft und einer Immunisierung der Institutionen gegenüber Kritik führe,
womit sie »der Bewahrung und Entfaltung humanistischen und humanen Geis-
tes, an der uns in der Gegenwart mehr als je gelegen ist, entschieden entgegen-
stünde.« Überdies sei die in Anspruch genommene empirische Tragfähigkeit
fraglich. »Vielmehr besteht die Gefahr, daß unvermerkt die wirklichen oder
vermeintlichen Tatsachen, die von den naturalistischen Anthropologien be-
zeichnet werden, den Charakter von Normen annehmen und sich anstelle eines
vernünftigen Sinnes setzen.«54
Über diesem scharfen und, wie man hinzufügen muß, polemisch überzeich-
neten »Gegensatz zwischen anthropologischer Philosophie und Materialis-
mus«55 darf nun jedoch nicht übersehen werden, daß es bei Horkheimer und

2002 sowie differenzierter Ralph Stöwer: Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissen-
schaft vom Menschen, Göttingen 2012.
52 Vgl. Max Horkheimer: Korreferat zu Rothackers Probleme und Methoden der Kul-

turanthropologie (1950), in: HGS Bd. 13, S.  13–18.


53  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 14.2.1957. Ich verdanke den Hin-

weis auf diese und die folgende Passage dem Buch von Joachim Fischer (2009), S.  312 f.
54  Max Horkheimer an Wilhelm Kromphardt, Brief vom 29.4.1958, in: HGS Bd. 18, S.  420.

Immerhin war die Lagermentalität in der frühen Bundesrepublik noch nicht so ausgeprägt,
daß sie eine Kommunikation ausgeschlossen hätte. Horkheimers Kritik an der Philosophi-
schen Anthropologie, die er seit 1956 in Vorträgen darlegte, wurde ein Jahr später in die Fest-
schrift für Plessner aufgenommen, und Adorno begann, ungeachtet seiner sachlichen Vorbe-
halte, eine rege Korrespondenz mit Gehlen, die 1965 zu einem vielbeachteten Streitgespräch
führte: vgl. Max Horkheimer: Zum Begriff des Menschen heute, in: Klaus Ziegler (Hrsg.):
Wesen und Wirklichkeit des Menschen, Göttingen 1957, S.  261–280. Wiederabgedruckt in:
HGS Bd. 7, S.  55–80; Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen: Ist die Soziologie eine Wissen-
schaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegrif-
fen, S.  225 ff. Zum Verhältnis Adorno-Gehlen vgl. Christian Thies: Die Krise des Individu-
ums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997, S.  45 ff.; Müller-Dohm
2003, S.  572 ff., 591 ff.; Fischer 2009, S.  340 ff.
55  Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, S.  257. Die polemische

Überzeichnung liegt in dem Akzent, der auf die vermeintlich naturalistische Kategorienbil-
dung gelegt wird. Es trifft wohl zu, daß sich die Philosophische Anthropologie durch eine
108 Anthropologie 3.0

Adorno von Anfang an Ansätze gab, die in die Richtung einer eigenen, »dialek-
tischen« Anthropologie wiesen. Schon in seinen »Bemerkungen zur philoso-
phischen Anthropologie« hob Horkheimer zwei Gemeinsamkeiten hervor, die
ihm geeignet erschienen, den Gegensatz zu überbrücken: die »Ablehnung einer
vermeintlichen Wertfreiheit«, die sich in Schelers Lehre zeige, »daß die Er-
kenntnis moralische Voraussetzungen hat«; und das Bewußtsein der eigenen
Geschichtlichkeit, wie es in Landsbergs Einführung in die philosophische An­
thro­pologie zum Ausdruck komme.56 Aus diesen Prämissen, so Horkheimer,
ergäbe sich eigentlich die Folgerung, »Anthropologie in eine dialektische Theo-
rie der Geschichte einzubeziehen«, doch werde dieser Schluß nur von der Kriti-
schen Theorie, nicht von der Philosophischen Anthropologie gezogen. Der
Verzicht auf die Annahme eines gleichbleibenden und einheitlichen menschli-
chen Wesens und die daraus abgeleiteten Sinngebungen sei deshalb nicht mit
einer generellen Absage an anthropologische Studien identisch. Diese könnten
»die Erkenntnis der geschichtlichen Tendenzen weiterführen und verfeinern«,
freilich nur, wenn sie sich »anstatt auf den Menschen überhaupt auf bestimmte
Menschen und Menschengruppen« bezögen und »ihr Sein und Werden nicht
isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem Leben der Gesellschaft zu begrei-
fen« suchten.57
Von hier aus gesehen war es nur konsequent, wenn Horkheimer seinen gro-
ßen Essay von 1936 über »Egoismus und Freiheitsbewegung« mit dem Unterti-
tel versah: »Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters«.58 Seine einige Jahre
später verfaßten Studien zum Begriff der Vernunft erschienen ihm nun als
»Schritt zur Selbstaufhellung der anthropologischen Forschung«59 und die An-
thropologie überhaupt als eine für seine Zwecke weitaus geeignetere Disziplin
als etwa die Psychologie. Mit Blick auf die letztere schrieb er an Marcuse: »An
meiner Skepsis gegenüber dieser Disziplin hat sich nichts geändert. Wie ich den
Begriff Psychologie in dem Projekt verwende, steht er für Anthropologie, und

»Wende zur Natur« auszeichnet (Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie,


S.  138). Damit ist jedoch gerade nicht, wie oft unterstellt, die Natur im Sinne (neo-)darwinis-
tischer bzw. evolutionsbiologischer Auffassungen gemeint, zu denen sie aufgrund ihrer Beto-
nung der Diskontinuität des Lebendigen im Tier/Mensch-Vergleich geradezu in Konkurrenz
steht. Die für den Menschen als das ›nicht festgestellte Tier‹ (Nietzsche) eigentümliche Para-
doxie hat Joachim Fischer (2009, S.  582) gut auf eine Formel gebracht: »Der Mensch ist für die
Philosophischen Anthropologen das natürliche Phänomen einer Durchbrechung der natürli-
chen Anpassung, nur vom Prinzip der ›Körperausschaltung‹ in der Natur im Unterschied zur
tierischen ›Körperanpassung‹ zu begreifen.« Besonders bei Plessner finden sich dazu viele
anregende Gedanken, auf die sich freilich Adorno, bei aller kollegialen Verbundenheit, nicht
einlassen wollte: vgl. Negative Dialektik, S.  130.
56  Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, S.  257 f.
57  Ebd., S.  260.
58  In: HGS Bd. 4, S.9–88, 9.
59  Max Horkheimer an Kurt und Eva Goldstein, Brief vom 26.11.1941, in: HGS Bd. 17,

S.  219.
Anthropologie 3.0 109

Anthropologie steht für die Theorie des Menschen, wie dieser sich unter den
Bedingungen einer Klassengesellschaft entwickelt hat.«60
Überlegungen dieser Art gehörten zu den Bedingungen, die die Zusammen-
arbeit mit Adorno erheblich erleichterten, wenn nicht überhaupt ermöglichten.
Denn schon 1932 hatte sich dieser in einem Vortrag vor der Frankfurter Orts-
gruppe der Kant-Gesellschaft der Aufgabe verschrieben, »die übliche Antithe-
sis von Natur und Geschichte aufzuheben«.61 Darin setzte er sich einerseits von
der konventionellen Anthropologie und Ontologie ab, indem er davon Abstand
nahm, »ein dem geschichtlichen Sein unterliegendes oder ein in ihm liegendes
reines Sein aufzusuchen«, schlug aber andererseits vor, »das geschichtliche Sein
selber […] als ontologisches, d. h. als Natur-Sein« zu verstehen. Für diese »on-
tologische[n] Umorientierung der Geschichtsphilosophie«, die zugleich eine
anthropologische Umorientierung war, berief sich Adorno auf Lukács, der in
der Theorie des Romans auf Hegels Begriff der »zweiten Natur« zurückgegrif-
fen hatte.62 Da Adorno sich in dieser Phase jedoch noch im Kielwasser von Ben-
jamin mehr für die Bedingungen der Möglichkeit einer »Wiedererweckung der
zweiten Natur«63 als für deren Erforschung interessierte, blieb es bei diesem
Ansatz, bis er genügend Distanz zu Benjamin gewonnen hatte.
Aus den oben zitierten Briefen geht hervor, daß sich dieser Ablösungsprozeß
zwischen 1935 und 1938 vollzog und von einer vertieften Rezeption von Hegel
und Marx sowie einer intensiven Durchleuchtung des modernen Musikbetriebs
unter psychoanalytischen und soziologischen Gesichtspunkten begleitet wur-
de.64 Es bedurfte indes erst der schockhaften Erfahrungen, die die Übersiede-
lung nach New York im Februar 1938 und mehr noch die anschließende Arbeit
im Princeton Radio Research Project mit sich brachten65, um Adorno zu veran-
lassen, seine Ideen von 1932 wieder aufzugreifen und ihnen einen Akzent zu
verleihen, der Benjamin angesichts der vorangegangenen Polemik gegen den
anthropologischen Materialismus nicht wenig irritiert haben muß. »Ich kann
wohl sagen«, hieß es in einem von Adornos letzten Briefen an den in Frankreich
verbliebenen Freund, »daß alle meine Erwägungen zur materialistischen Anth-
ropologie, seit ich in Amerika bin, um den Begriff des ›reflektorischen Charak-
ters‹ zentriert sind, und unsere Intentionen berühren sich hier wiederum aufs
innigste: man könnte Ihren Baudelaire wohl als die Urgeschichte des reflektori-

60  Max Horkheimer an Herbert Marcuse, Brief vom 17.7.1943, in: HGS Bd. 17, S.  465.
61  Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, S.  345.
62  Vgl. ebd., S.  355 ff.; Lukács 1971, S.  53 f.
63  Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, S.  357.
64  Schlüsseldokumente dieser Arbeit sind die beiden Essays »Über Jazz« (in: AGS Bd. 17,

S.  74–100) und »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (in:
AGS Bd. 14, S.  14–50), die 1936 und 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen.
65 Vgl. Theodor W. Adorno: Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika (1968/69), in:

AGS Bd. 10.2, S.  702–740.


110 Anthropologie 3.0

schen Charakters bezeichnen.«66 Ein Jahr später ist in einem Brief an Horkhei-
mer von »Ideen zur politischen Anthropologie« die Rede, deren Entwurf er
demnächst fertigstellen wolle, »als aide-mémoire für uns, und um mich von ei-
nigen persistierenden Gedanken zu befreien«.67 Im Nachlaß hat sich ein ent-
sprechendes Manuskript unter dem Titel »Notizen zur neuen Anthropologie«
gefunden, das in einer bemerkenswerten zeitlichen Koinzidenz mit den Diskus-
sionen im nationalsozialistischen Deutschland über die so gänzlich andersgear-
tete »Neue Anthropologie« Arnold Gehlens stand.68 Vor dem Hintergrund
dieser Notizen ist der Hinweis in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung zu
sehen, die »Aufzeichnungen und Entwürfe« seien als Beiträge zu einer »dialek-
tische[n] Anthropologie« zu verstehen.69 Da sich Adorno auf diesem Feld un-
gleich stärker engagiert hat als Horkheimer, werde ich mich im folgenden auf
ihn konzentrieren.

II.

Das, was man Adornos Anthropologie nennen kann, erschließt sich am besten
anhand seiner Aussagen zur Dialektik des Individuums. Diese finden sich be-
sonders pointiert im Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, doch
wirft dieser Text so viele historische und philologische Fragen auf, daß man
darüber leicht vom Wesentlichen abkommt. Adorno selbst hat es deshalb später
vorgezogen, sich an die herkömmliche Sichtweise zu halten, die das moderne
Individuum mit Renaissance und Reformation beginnen läßt, als das doppelte
Produkt von marktwirtschaftlicher und machtpolitischer Konkurrenz. Das un-
ter diesen Bedingungen entstandene Individuum zeichnete sich für ihn durch
einen Doppelcharakter aus. Auf der einen Seite beruhte Individualität auf Af-
fektkontrolle und Triebunterdrückung, auf Verleugnung und Verdrängung des
Naturzusammenhangs im Menschen zum Zwecke der Selbsterhaltung: Intro-
version des Opfers. Auf der anderen Seite aber wurde eben dadurch ›Zivilisati-
on‹ als freies Zusammenspiel der Subjekte überhaupt erst möglich. Das Indivi-
duum entwickelte anthropologische Qualitäten wie Langsicht und Selbstver-
antwortung, Autonomie und Spontaneität. Es gewann eine gewisse Kontinuität
des Bewußtseins, das sich auf der Basis konkret-qualitativen Zeitgefühls und
seiner Manifestationen: subjektiver Erinnerung, Erfahrung und Gedächtnis or-
ganisierte. Und es erreichte einen wie immer auch gefährdeten Ausgleich zwi-

66  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 29.2.1940, in: A/B, S.  416.
67  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 10.8.1941, in: A/H Bd. 2, S.  183.
68  Vgl. Theodor W. Adorno: Notizen zur neuen Anthropologie, in: A/H Bd. 2, S.  453–468.

Zur Diskussion in Deutschland vgl. Fischer 2009, S.  180.


69  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  23.
Anthropologie 3.0 111

schen den Anforderungen der individuellen Triebökonomie und den Notwen-


digkeiten der Realität.70
Die gleiche Struktur allerdings, die das bürgerliche Individuum hervorbrach-
te, bewirkte nach Adorno auch dessen Aufhebung. Als erste spürten dies die
Arbeiter, die unter den Bedingungen der Lohnarbeit nur geringe Chancen zur
Ausbildung einer differenzierten Individualität erhielten. Nicht nur verweiger-
te ihnen die »Entmenschlichung durch den kapitalistischen Produktionspro-
zeß«71 alle Voraussetzungen zur (bürgerlichen) Bildung, sie zerstörte zugleich
die im traditionellen Produktionsprozeß in wie immer auch rudimentärer Weise
gegebenen Möglichkeiten der Individuierung, indem sie die produktive Erfah-
rung entwertete und überflüssig machte. Die »Quantifizierung der technischen
Prozesse«, ihre »Zerlegung in kleinste, von Bildung und Erfahrung weitgehend
unabhängige Operationen«, ließ den Arbeiter dem Endprodukt immer ferner
rücken; außerdem würden »die einzelnen Arbeitsvorgänge in ihrer Disqualifi-
kation einander immer mehr angenähert«72 , so daß die Einzelnen sich als aus-
tauschbar, als entqualifizierte und virtuell überflüssige Partikel empfänden.
Nimmt man hinzu, daß mit fortschreitender Verwissenschaftlichung und Tech-
nisierung der Anteil der lebendigen Arbeit an der Produktion »tendenziell bis
zu einem Grenzwert« sank73 , so wird klar, weshalb die Kritische Theorie die
politische Ökonomie nur mehr als traurige Wissenschaft betrachten konnte.
Unter den destruktiven Auswirkungen der kapitalistischen Vergesellschaf-
tung litten jedoch nicht nur die Arbeiter. Die »universale Reduktion aller spezi-
fischen Energie auf die eine, gleiche, abstrakte Arbeitsform« reichte »vom
Schlachtfeld bis zum Studio« und traf die Subjekte der Produktion ebenso wie
die der Zirkulation oder der Konsumtion.74 Überall sahen sich die Individuen
»dem Verlauf der abstrakten, physikalischen Zeit ausgeliefert«, während ihre je
besondere Lebenszeit in »diskontinuierliche, dem Schock sich anähnelnde Mo-
mente« zerfiel und sie dem Augenblick, der je faktischen Situation auslieferte.75
Anstelle des kontinuierlichen, planvollen Handelns trat allenthalben die ›wider-
standslose und emsige Anpassung‹, anstelle des einheitlichen und festgefügten
Ichs die psychische Diskontinuität und Inkohärenz.76 Die subjektiv je unter-
70  Vgl. Theodor W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955), in:

AGS Bd. 8, S.  42–85, 70 f.; Kultur und Verwaltung (1960), ebd., S.  122–146; Individuum und
Organisation (1953), ebd., S.  4 40–456, 450.
71  Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung (1959), in: AGS Bd. 8, S.  93–121, 99.
72  Adorno, Minima Moralia, S.  220; Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in: AGS Bd. 8,

S.  373–391, 389.
73 Theodor W. Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1968), in: AGS

Bd. 8, S.  354–370, 359.


74  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  238.
75  Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie (1968), in: AGS Bd. 14, S.  169–

447, 228.
76  Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  234; Theodor W. Adorno:

Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute (1968), in: AGS Bd. 8, S.  177–195, 189.
112 Anthropologie 3.0

schiedlichen Erfahrungsweisen wurden nivelliert und neutralisiert, indem dem


Subjekt die Aufgabe der Synthesis, die Vermittlung zwischen sinnlicher Man-
nigfaltigkeit und verstandesmäßiger Kategorialität von Industrie und »Massen-
kultur« abgenommen wurde.77 Das Ende des principium individuationis, die
»Abschaffung des Individuums«, war der Preis, der für die »individualistische
Form der Vergesellschaftung« zu zahlen war.78
Die psychodynamischen Aspekte dieser Entwicklung erfaßte Adorno mit
dem Theorem von der anwachsenden organischen Zusammensetzung des Men-
schen. Dieses Theorem spielt auf das Marxsche Gesetz vom tendenziellen Fall
der Profitrate an, demzufolge die kapitalistische Konkurrenz zu einer ständigen
Revolutionierung der Produktionstechniken und zur Erhöhung des konstanten
Kapitals führt, während im Verhältnis dazu der Teil des Kapitals, der sich gegen
lebendige Arbeit austauscht, abnimmt. Obwohl Adorno der mit diesem Gesetz
verbundenen Zusammenbruchstheorie eher skeptisch gegenüberstand79 , über-
trug er den Grundgedanken in die Anthropologie: die Veränderung in der tech-
nischen Zusammensetzung des Kapitals, heißt es in den Minima Moralia, setze
sich in den durch die technologische Struktur des Produktionsprozesses Erfaß-
ten und eigentlich überhaupt erst Konstituierten fort und verändere auch hier
das Verhältnis von lebendigen und toten Anteilen zugunsten der letzteren. Hat-
te noch Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein in Anlehnung an Simmels
These vom »nicht zu verdinglichenden Rest« behauptet, der Verdinglichungs-
prozeß verwandele gerade das menschlich-seelische Wesen des Arbeiters nicht
zur Ware80 , so setzte Adorno dem entgegen, daß es sich in der fortgeschrittenen
kapitalistischen Industriegesellschaft längst nicht mehr um den bloßen Verkauf
des Lebendigen handelte:
»Nur indem der Prozeß, der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die
Menschen samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des
Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht,
wird es möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich
reproduziert. Seine Durchorganisation verlangt den Zusammenschluß von Toten.«81

77  Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  149, 234; Adorno, Kultur

und Verwaltung, S.  138. Vom Begriff der Massenkultur hat Adorno später Abstand genom-
men, »um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist:
daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die
gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. Von einer solchen unterscheidet Kulturindustrie sich
aufs äußerste« (Resumé über Kulturindustrie [1963], in: AGS Bd. 10.1, S.  337–345, 337).
78  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  181; Adorno, Zum Verhältnis

von Soziologie und Psychologie, S.  56.


79  Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziolo-

gie« (1969), in: AGS Bd. 8, S.  280–353, 320; Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?
S.  355.
80  Vgl. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  356.
81  Adorno, Minima Moralia, S.  262.
Anthropologie 3.0 113

Die wachsende organische Zusammensetzung des Menschen traf vor allem die
Instanz, die in der frühbürgerlichen Gesellschaft den Ausgleich zwischen den
Anforderungen der individuellen Triebökonomie und den Zwängen der realen
Selbsterhaltung zu vermitteln hatte: das Ich. Dessen Stellung wurde prekär. Auf
der einen Seite verlangte die hochkapitalistische Gesellschaft vom Individuum
eine Fülle von Anpassungs- und Balanceleistungen, die das gesellschaftliche
Überleben des Einzelnen ermöglichen sollten. Auf der anderen Seite aber mach-
te dieselbe Ordnung diese Ichleistungen tendenziell überflüssig: in der Welt der
Maschinen und Großorganisationen bedurfte es weder der moralischen Ent-
scheidung noch der Reflexion, weder der Verinnerlichung der gesellschaftlichen
Normen noch der Austragung der eigenen Triebkonflikte. Statt dessen war die
»prompte, unmittelbare Identifikation mit den stereotypen Wertskalen« gefor-
dert und das quicke, gleichsam reflexhafte Reagieren.82 Der vorherrschende So-
zialcharakter war deshalb ein ›subjektloses Subjekt‹, das ›Selbsterhaltung ohne
Selbst‹ betrieb: die »punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere
Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick
durch andere Informationen weggewischt wird«.83 Mit Blick auf die inzwischen
grassierende digitale Demenz wird man dieser Diagnose eine prophetische
Qualität nicht absprechen können.
Die Expansion des Abstrakten, der ›Systemrationalität‹, war trotz allem nicht
schrankenlos. Der Einwand, Adorno habe nicht klar genug zwischen der Sys-
temrationalisierung und deren Institutionalisierung in der ›Lebenswelt‹ unter-
schieden und dadurch die innere Widersprüchlichkeit dieses Prozesses unter-
schätzt84 , übersieht, daß er solche Grenzen und Widersprüche sehr wohl gese-
hen hat: etwa in den somatischen und leibhaften Momenten, die sich im Leiden
an Abstraktion und Verdinglichung äußern85 ; im Stofflichen, Nichtintentiona-
len und Nichtkognitiven, das mit der physischen Existenz des Menschen un-
trennbar verbunden ist86 ; in der Notwendigkeit familialer Sozialisation, die im-
mer auch die Möglichkeit der Entstehung abweichender, nicht vollständig von
der sozialen Kontrolle erfaßter Individualität impliziert; und im Bedürfnis nach
Glück, Unmittelbarkeit, Liebe, nach nichtrepressiven sozialen Beziehungen,
Freiheit von Angst und Schmerzen, nach Versöhnung mit der Natur.87 Wenn-

82  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  229; Adorno, Minima Moralia,

S.  262.
83  Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.  68; Theorie der Halbbil-

dung, S.  115.
84  Vgl. Christoph Deutschmann: Naturbeherrschung und Arbeitsgesellschaft, in: Friede-

burg und Habermas 1983, S.  327–337, 335.


85  Adorno, Negative Dialektik, S.  203.
86  Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, hrsg. von Rudolf zur Lippe, 2

Bde., Frankfurt am Main 1974, Bd. 2, S.  177.


87  Adorno, Negative Dialektik, S.  261, 281, 371; Erziehung nach Auschwitz (1966), in: AGS

Bd. 10.2, S.  674–690, 686 ff.


114 Anthropologie 3.0

gleich das Lebendige unter dem Zwang des Tauschprinzips sich selbst zum Ding
machen müsse, geschehe dies, solange das System auf lebendige Produzenten
und Konsumenten angewiesen sei, doch niemals ohne Rest. Es bleibe eine »In-
kompatibilität zwischen dem System und den Menschen, aus denen es besteht«,
ein unauflöslicher Widerspruch zwischen den Einzelnen und dem Allgemeinen,
der aus der Tatsache resultiere, »daß noch die übermächtigen sozialen Prozesse
und Institutionen in menschlichen entsprangen«, und daß die Gesellschaft
»noch in ihrer fragwürdigen Gestalt der Inbegriff des sich produzierenden und
reproduzierenden Lebens der Menschen« bleibt.88
An diese Denkfigur pflegen Deutungen anzuknüpfen, die gegen den System-
theoretiker Adorno den Utopiker und Moralphilosophen stark machen. Über-
gangen wird dann freilich zumeist, daß Adorno es bei solchen Statements nicht
beließ, vielmehr auch die Systemfunktionalität der scheinbar nicht zum System
gehörenden Momente thematisierte. Im Unterschied etwa zu Bloch, der die un-
gleichzeitigen, archaisch-mythischen Momente für progressive und utopische
Zwecke mobilisieren zu können glaubte89 , verstand Adorno das Ungleichzeitige
als Schein, als Effekt der Rationalisierung. Für ihn erschöpfte sich der Verge-
sellschaftungsprozeß nicht im Vorrang der Tauschabstraktion über die Produk-
tion, der sich als Ausdehnung der lebenden und toten Maschinerie einerseits, als
Verdrängung und Marginalisierung der nicht verwertbaren Momente anderer-
seits vollzog. Das Verdrängte und Marginalisierte blieb nicht außerhalb der ge-
sellschaftlichen Vermittlung, es trat vielmehr seinerseits in einen Zyklus ein, in
dessen Verlauf die »Sisyphusarbeit der individuellen Triebökonomie […] ›sozi-
alisiert‹, von den Institutionen der Kulturindustrie in eigene Regie genommen«
wird.90 Die wachsende organische Zusammensetzung des Menschen beinhalte-
te daher nicht nur eine Ausdehnung der spezialisierten technischen Fähigkei-
ten, sondern umgriff auch deren Gegensatz, »die Momente des Naturhaften, die
freilich ihrerseits schon in gesellschaftlicher Dialektik entsprangen und ihr nun
verfallen.«91 Gerade das Ungeformte an den Individuen, so Adornos These,
müsse als »Produkt der gesellschaftlichen Form« angesehen werden, als ›Replik
auf die hochindustrielle Mechanisierung‹92 , und nicht, wie es die zeitgenössi-
schen Ideologien der Unmittelbarkeit wollten, als Wiederkehr der verdrängten
Spontaneität. »Was enthusiastisch verstockte Unschuld als Urwald ansieht, ist
durch und durch Fabrikware, selbst dort noch, wo in Sonderveranstaltungen
Spontaneität als Sparte des Geschäfts ausgestellt wird«.93
88  Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.  49; Gesellschaft (1965), in:

AGS Bd. 8, S.  9 –19, 17; Ästhetische Theorie, AGS Bd. 7, S.  335; vgl. auch Fortschritt (1962), in:
AGS Bd.10.2, S.  617–638, 632.
89  Vgl. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S.  61 ff.
90  Theodor W. Adorno: Prolog zum Fernsehen (1953), in: AGS Bd. 10.2, S.  507–517, 508.
91  Adorno, Minima Moralia, S.  262.
92  Ebd., S.  207; Veblens Angriff auf die Kultur (1953), in: AGS Bd. 10.1, S.  72–96, 85.
93  Theodor W. Adorno: Zeitlose Mode. Zum Jazz (1953), in: AGS Bd. 10.1, S.  123–137, 126.
Anthropologie 3.0 115

Ermöglicht wurde diese Vermittlung, die sich zugleich als solche verhüllt,
durch einen Vorgang, den Adorno als ›Substitution‹ bezeichnete.94 Damit war
zunächst die weiter oben bereits erwähnte Verlagerung der Affekte und Wün-
sche vom Gebrauchswert auf den Tausch- bzw. Prestigewert gemeint, von dem
Adorno annahm, er übernehme auf trügende Weise die Funktion des Ge-
brauchswertes.95 Wichtiger als diese (wie gezeigt: überaus problematische) An-
nahme waren jedoch die Aussagen, die sich auf die Affektstruktur als solche
bezogen. »Die Substitute erfüllen darum so gut ihren Zweck, weil das Verlan-
gen, dem sie sich anmessen, selber bereits substituiert ist«.96 Das Verlangen sei
nicht mehr Verlangen nach einem Objekt bzw., wie es in der Psychoanalyse
heißt: Objekt-Libido. Es sei Verlangen ausschließlich und allein nach Bestäti-
gung und Behauptung des gefährdeten Selbst, das in der Realität keine Ansatz-
punkte zur Verwirklichung mehr finde und daher beständig auf sich selbst zu-
rückgeworfen werde »Die affektive Besetzung des Tauschwerts ist keine mysti-
sche Transsubstantiation. Sie entspricht der Verhaltensweise des Gefangenen,
der seine Zelle liebt, weil nichts anderes zu lieben ihm gelassen wird«.97
Den freudianischen Prämissen gemäß, denen Adorno hier folgte, drückte sich
diese Substitution in der psychischen Organisation des Individuums als Erset-
zung der Objekt-Libido durch Ich-Libido aus, als Regression auf den primären
Narzißmus. Das Ich, das den Ausgleich zwischen den libidinösen Bedürfnissen
und den Anforderungen der Selbsterhaltung nicht mehr zu leisten vermochte,
regredierte unter dem Druck der Außenwelt auf die Ich-Libido oder verschmolz
seine bewußten Funktionen mit unbewußten. Durch diese »Transposition des
Ichs ins Unbewußte« veränderte sich das Ich, das sich gerade durch seine be-
wußten Leistungen, durch Hebung und Umwandlung der seelischen Prozesse
von dem mittels Verdichtung und Verschiebung operierenden Primärvorgang
auf die Ebene des durch Denken und Urteilen bestimmten Sekundärvorgangs
ausgezeichnet hatte. Es veränderte sich aber auch das Es, das die klassische Psy-
choanalyse als eine Art ›exterritoriale‹ Instanz dargestellt hatte. Die differen-
zierten Formen der Objekt-Libido wurden verdrängt durch die archaischeren
narzißtischen Energien »einer gleichsam verunreinigten, aufs Ich gerichteten
und dabei unsublimierten und undifferenzierten Libido«, in der »die selbster-
haltende Funktion des Ichs, zumindest dem Schein nach, bewahrt, aber von der
des Bewußtseins zugleich abgespalten und der Irrationalität überantwortet
ist«.98 Psychoanalytisch gesehen handele es sich um eine Regression, aber um

94  Vgl. Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens,

S.  25.
95  Vgl. ebd.; Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S.  189 ff.; Adorno, Äs-

thetische Theorie, S.  32 f.


96  Adorno, Über den Fetischcharakter in der Musik › S.  39.
97  Ebd., S.  26.
98  Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.  73, 72.
116 Anthropologie 3.0

eine solche, die nicht einfach dem Individuum anzulasten sei, sondern gesell-
schaftliche Wurzeln habe: eine »künstliche Regression«, eine Wiedererzeugung
des Archaischen »in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst«.99
Eine Folge dieser gesellschaftlich induzierten Regression auf die Ich-Libido
war ein Anstieg der Allmachts- und Größenansprüche, die sich im Unbewuß-
ten aus den archaischen Mutterrepräsentanzen bildeten, damit aber auch der
potentiellen narzißtischen Kränkungen, zu deren Verarbeitung das geschwäch-
te Ich nicht imstande war. Um die bedrohliche Kluft zwischen dem diffus ins
Kosmische erweiterten, auf Omnipotenz zielenden archaischen Ich-Ideal und
der Trost- und Ausweglosigkeit des Real-Ichs zu überwinden, flüchtete das In-
dividuum zu Ersatzbildungen, die die reale Ohnmacht kompensieren, indem
sie, »real oder bloß in der Imagination, sich zu Gliedern eines Höheren, Umfas-
senden machen, dem sie die Attribute alles dessen zusprechen, was ihnen selbst
fehlt, und von dem sie stellvertretend etwas wie Teilhabe an jenen Qualitäten
zurückempfangen« – die Wurzel des kollektiven Narzißmus.100
Dessen auffälligste Manifestationen machte Adorno in den großen politi-
schen Massenbewegungen aus, die auf dem Mechanismus der Identifizierung
und der Ersetzung des individuellen Narzißmus durch Führerimagines beruh-
ten: dem Nationalismus und seinem Derivat, dem Faschismus.101 Indem die In-
dividuen das Kollektivsubjekt der Nation oder den Führer zu ihrem Ideal
machten und mit phantastischen Eigenschaften ausstatteten, verwirklichten sie
ein Stück jener archaischen Größenphantasien, deren Realisierung in der Exis-
tenz des je Einzelnen ihnen versagt war.102 Zugleich befreiten sie sich durch Pro-
jektion von ihren eigenen, im Ich-Ideal gebundenen Aggressionen, mit der un-
vermeidlichen Folge, daß sich die Welt mit gefährlichen, vergeltungssüchtigen
Objekten bevölkerte, gegen die sich das Subjekt wiederum zur Wehr setzen
mußte: die Kehrseite der Gratifikationen, die der ›sozialisierte Narzißmus‹ ver-
schaffte, war der Verfolgungswahn.103
Adorno warnte allerdings davor, das Phänomen des kollektiven Narzißmus
nur in den politischen Massenbewegungen auszumachen und womöglich mit
den Inhalten zu koppeln, die von ihnen vertreten wurden. Kollektiver Narziß-
99  Theodor W. Adorno: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propa-

ganda (1951), in ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971,
S.  34–66, 63, 42.
100  Adorno, Theorie der Halbbildung, S.  114; Vgl. ders.: Was bedeutet: Aufarbeitung der

Vergangenheit (1959), in: AGS Bd. 10.2, S.  555–572, 563; Meinung Wahn Gesellschaft (1960),
S.  573–594, 580, 589.
101  Vgl. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, S.  563 ff.; Meinung Wahn

Gesellschaft, S.  588; Erziehung nach Auschwitz, S.  675; Auf die Frage: Was ist deutsch (1965),
S.  691–701, 691 ff.; Einleitung in die Musiksoziologie, S.  359 ff.
102  Vgl. Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda,

S.  48.
103  Vgl. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, S.  566; Meinung Wahn

Gesellschaft, S.  590; vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  219 ff.
Anthropologie 3.0 117

mus lag bereits der Neigung der Individuen zu Bewußtseinsformen zugrunde,


die zugleich subjektiv und allgemein waren: Meinung, Halbbildung, Wahn,
Mythos. Schon die schlichte Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsge-
halt beschränkten Bewußtseins als gültig sollte auf Narzißmus beruhen, »also
darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfä-
higkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine
verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben«.104 Mochte
diese Setzung als einzelne auch harmlos bleiben, so führten von ihr doch glei-
tende Übergänge zu den Formen der ›pathischen Meinung‹, in denen das Band
zwischen dem Subjekt und seinem Korrektiv: der Beziehung des Gedankens zu
seinem Gegenstand, durchschnitten war.105 Anstelle von Erfahrung und Refle-
xion trat in der pathischen Meinung deren Ersatz: das Denken in Klischees und
Stereotypen, in Vorurteilen und blinden Ressentiments. In den unzähligen Ge-
stalten des Vorurteils und des Aberglaubens, des Gerüchts und der kollektiven
Wahnsysteme, die das Alltagsleben in der hochkapitalistischen Gesellschaft be-
herrschen, feierte der kollektive Narzißmus seine Triumphe. Er wucherte im
Okkultismus ebenso wie in den Sektenbewegungen, im Starkult ebenso wie in
jener Attitüde des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, die zu
den zeitgenössischen Formen der Halbbildung gehörte.106 Adorno ging sogar so
weit, ihn auch in den reflektierten Formen der Erkenntnis aufzuspüren, die, wie
die Transzendentalphilosophie mit ihrer Hypostasierung der schöpferischen
Subjektivität, nur »die sich selbst verborgene Gefangenschaft des Subjekts in
sich« spiegelten.107
Nirgends indes erschien Adorno das Zusammenspiel der Mechanismen von
Abstraktion und Substitution so evident wie im Phänomen der Kulturindustrie.
Diese war für ihn das typische Produkt einer Produktionsweise, die den größ-
ten Teil der Produzenten zu abstumpfenden und gleichförmig-repetitiven Tä-
tigkeiten zwang und zahlreiche Eigenschaften als nichtverwertbar ausschied:
Phantasien und Affekte, Triebbedürfnisse und Träume, Wünsche nach nicht-
reglementierter Kommunikation und Körperbetätigung. Alle diese ausgegrenz-
ten Regungen äußerten sich als Massenbedürfnisse, als kollektive Nachfrage,
die vom Kapitalismus aufgegriffen und mit einem spezifischen Angebot beant-
wortet wurde: der Herstellung von Kultur-Waren, die neben der Produktion

104  Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft, S.  576.


105  Vgl. ebd., S.  574 ff.
106 Zum Okkultismus vgl. Adorno, Minima Moralia, S.   271 ff.; Aberglaube aus zweiter
Hand (1962), in: AGS Bd. 8, S.  147–176; The Stars Down to Earth (1957), in: AGS Bd. 9.2,
S.  7 –120, 7 ff.; zur Mentalität der Sekten: The Psychological Technique of Martin Luther Tho-
mas’ Radio Adresses (1943), in: AGS Bd. 9.1, S.  7 –141; zum Starkult Horkheimer und Adorno,
Dialektik der Aufklärung, S.  167 ff.; Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S.  292 ff.; zur
Halbbildung: Theorie der Halbbildung, S.  93 ff.
107 Theodor W. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis (1969), in: AGS Bd. 10.2,

S.  759–782, 749.
118 Anthropologie 3.0

von Produktions-, Verkehrs- und Vernichtungsmitteln zu einer der wichtigsten


Branchen des Industriekapitalismus wurde. Das gesellschaftlich entstandene
Reich der Notwendigkeit produzierte auf diese Weise seine Ergänzung, das
Reich der Freizeit, in dem das durch die hochgradig rationalisierte und diszipli-
nierte Produktionsweise erzeugte Bedürfnis nach Zerstreuung und Entlastung
seine Befriedigung fand.
Die Kulturindustrie war nach Adorno jedoch nicht nur ein Effekt der abs-
trakten Vergesellschaftung. Einmal entstanden, fungierte sie als Teil derselben
und potenzierte den Abstraktionsmechanismus. Als Industrie vermochte sie
das Massenbedürfnis nach sinnvoller Tätigkeit, Spontaneität und Unmittelbar-
keit nur mit industriellen Mitteln zu erfüllen, d. h. mit Waren, deren Herstel-
lung und Distribution selbst rationalisiert und standardisiert war, auch wenn,
wie z. B. in der Musik, noch Reste einer hand- bzw. kopfwerklichen Produkti-
onsweise erhalten blieben. Das gesamte Angebot der Kulturindustrie, von den
illustrierten Zeitschriften und comic strips über Rundfunk, Fernsehen und
Film bis hin zu Oper und Theater108 , bestand in Stereotypen, die auf Durch-
schnittsleser, Durchschnittshörer oder Durchschnittsseher berechnet und so
angelegt waren, daß sie weitgestreute Regungen zu absorbieren oder zu fingie-
ren vermochten. Sie zielten auf standardisierte Rezeption, bei der der Rezipient
nicht mehr als jeweils besonderer die Vermittlung zwischen Detail und Ge-
samtzusammenhang leistete, sondern diese als industriell vorgefertigte schema-
tisch nachvollzog.109 Die Abstraktion der Arbeit, die im verwissenschaftlichten
Produktionsprozeß zur Auflösung der Beziehung zwischen Produzent und
Produkt führte, wiederholte sich in der Konsumsphäre, indem sich auch hier
zwischen Subjekt und Objekt der verselbständigte Apparat schob. In der Schla-
germusik beispielsweise hörte die Komposition gleichsam für den Hörer, indem
sie dessen Reaktionsweisen schon im vorhinein einplante, während sich im Film
die ›gesellschaftliche Agentur des Kamera-Auges‹ zwischen das Produkt und
den Kinobesucher einschaltete und antizipierte, mit welchen Empfindungen er
sehen sollte. 110 Auch das Fernsehen forcierte diese Rückbildung des Bewußt-
seins, indem es durch seine bloße Form, vor allen Inhalten, die Menschen der
Sprache entwöhnte. Durch die Fixierung auf eine Bildersprache, bei der die Bil-
der schon ihrer rasanten Aufeinanderfolge halber nicht mehr betrachtet, son-
dern nur noch passiv registriert werden konnten, wurden die Konsumenten auf
archaische Weisen der Rezeption und Kommunikation zurückgezwungen, die
Differenzierung und begriffliche Verarbeitung nicht erlaubten. Außerdem wur-
de das familiäre Binnenklima zerstört und die Rolle der Eltern als Sozialisati-
onsagentur weiter untergraben, so daß bei Kindern der Reifungsprozeß er-
108 Vgl. Adorno, Prolog zum Fernsehen, S.  508.
109 Vgl. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S.  205 ff.
110  Vgl. ebd., S.  208; Theodor W. Adorno with the assistance of G. Simpson: On Popular

Music, in: Zeitschrift für Sozialforschung 9, 1941, S.  17–48, 22.


Anthropologie 3.0 119

schwert und bei den Erwachsenen der grassierende Infantilismus zementiert


wurde. Das Ergebnis dieser Entwicklung war ein allgemeiner Verlust an Refle-
xionsfähigkeit und Sensibilität, die Regression auf einen kollektiven Analpha-
betismus, »dem als einem erworbenen, zweiten, der objektive Geist der Epoche
insgesamt zustrebt«.111
Stereotypierung, Nivellierung, Reduktion und Verdrängung: all diese Er-
scheinungsformen legen es nahe, den für die Wirkungsweise der Kulturindust-
rie charakteristischen Abstraktionsmechanismus in Analogie zur Funktion des
Geldes zu denken, das als transzendentaler Horizont der Warenwelt die Aus-
tauschbarkeit der konkret-mannigfaltigen Produkte durch Reduktion auf ihren
immanenten Maßstab (den Wert) ermöglicht. Die Massenmedien, hat unter Be-
zugnahme auf Adorno Dieter Prokop argumentiert, nehmen von der Vielfalt
der Bedürfnisse nur diejenigen auf, die sich dem formal-organisatorischen Maß-
stab der ›Unterhaltung‹ unterwerfen lassen, wohingegen sie alle abweichenden,
systemsprengenden Bedürfnisse – insbesondere dasjenige nach produktiver
Spontaneität – auslassen oder zwanghaft zurückstauen.112 Nach Adorno ist mit
dieser Analogie die tatsächliche Wirkungsweise der Kulturindustrie jedoch nur
unvollständig getroffen. Die Kulturindustrie funktioniert nach seiner Ansicht
nicht nur deshalb so gut, weil sie die Bedürfnisse standardisiert und formali-
siert, sondern weil sie jede Abstraktion zugleich mit einer Substitution koppelt
und auf diese Weise die Abnehmer ihrer Produkte zunehmend selbst erzeugt.
Der Standpunkt, auf dem sie steht, ist nicht derjenige des Geldes, das die Pro-
dukte immer nur nachträglich, nach Abschluß des Produktionsvorgangs, in der
Zirkulation vergesellschaftet und ihnen damit letztlich äußerlich bleibt. Es ist
vielmehr derjenige des Kapitals, das die ihm vorausgesetzten Formen der Pro-
duktion und Konsumtion ergreift und seinen Bedürfnissen gemäß gestaltet.
Der Fetischcharakter, so formuliert Adorno dieses Theorem an einer Stelle, »ist
geschichtlich zum Prius dessen geworden, wovon er seinem Begriff nach das
Posterius wäre«.113
Die für die Kulturindustrie typischen Substitutionen bezeichnete Adorno
mit der griechischen Vorsilbe ›pseudo‹, d. h. falsch, unecht: Pseudo-Individuali-
tät, Pseudo-Aktivität, Pseudo-Rationalität. Den Grund für ihre massenhafte
Verbreitung sah er darin, daß die Kulturindustrie, um ihre Produkte unters
Volk zu bringen, diese nicht in ihrer Schablonenhaftigkeit präsentieren kann, da
sich das Bedürfnis, auf das sie sich bezieht, gerade durch seinen Gegensatz zu

111  Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S.  326; zur leichten Musik vgl. ebd., S.  34 ff.,

208 ff., zum Fernsehen: Prolog zum Fernsehen, S.  510 ff. Eine analoge Argumentation hat bei-
nahe zur gleichen Zeit G. Anders entwickelt: vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des
Menschen, München 1956, S.  97 ff.
112  Vgl. Dieter Prokop: Massenkultur und Spontaneität. Zur veränderten Warenform der

Massenkommunikation im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1974, S.  7 ff., 70 ff.


113  Theodor W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt (1969), in: AGS Bd. 10.2, S.  741–758, 745.
120 Anthropologie 3.0

der für die Produktionssphäre charakteristischen Schablonenhaftigkeit und


Abstraktheit auszeichnet. Die Kulturindustrie ziehe sich aus diesem Dilemma,
indem sie das Abweichende, Besondere, Individuelle nicht einfach unterdrücke,
sondern in ihre Planungen einbeziehe: im Jazz etwa, indem sie der individuellen
Spontaneität Raum zur Improvisation gebe, diese aber gleichzeitig an den
Grundrhythmus binde und dadurch den musikalischen Konformismus stabili-
siere; im Film durch den Starkult, der die starre Rollenverteilung und den Sche-
matismus der Serienproduktionen durch vorgeblich originelle Persönlichkeiten
verdecke; in der ›do it yourself‹-Industrie › indem sie die ›Abenteurer der Pseu-
doaktivität‹ zu Entdeckern eben der industriellen Erzeugnisse mache, die daran
interessiert seien, von ihnen entdeckt zu werden. Es seien diese Pseudo-Formen
oder, wie Baudrillard sie später genannt hat: Simulakren, auf die sich die Be-
dürfnisse zunehmend richteten und dadurch jenen »Zirkel von Manipulation
und rückwirkendem Bedürfnis« erzeugten, »in dem die Einheit des Systems
immer deutlicher zusammenschießt«.114
Diese Einheit des Systems war indes nicht monolithisch zu denken. Die Kul-
turindustrie führte zwar zu einer vollständigen Umwälzung der Bedürfnis-
struktur, so daß sich zwischen ›wahren‹ und ›falschen‹ Bedürfnissen nicht mehr
unterscheiden ließ. Die Befriedigung, die sie diesen Bedürfnissen gewährte, war
jedoch aus naheliegenden Gründen nur temporär und oberflächlich: die nächste
Folge der Serie, die nächste Generation von Produkten stand immer schon ab-
rufbereit und wartete auf ihre Käufer. Daraus resultierte Ambivalenz auf seiten
der letzteren, die jeden Augenblick in Wut und Destruktionslust umzuschlagen
bereit war. Da diese indes durch kein rationales Ich mehr gefiltert und gelenkt
wurde, blieb sie blind und ohnmächtig gegenüber den Angeboten der Kulturin-
dustrie, die schon wieder mit neuen Produkten lockte. Wann immer sich die
Individuen aus ihrer Passivität lösten und gegen die unablässige Manipulation
rebellierten, verfielen sie einer besonders vertrackten Form der Manipulation:
derjenigen, die ihre Revolte bereits einkalkuliert hatte und aus ihr die Kraft für
eine neue, erweiterte Reproduktion zog. Wie in der HegeIschen Wesenslogik
der ›Gegenstoß‹ des Unmittelbaren nur die reale Vermittlung des Wesens mit
sich selbst vorantreibt, so forciert bei Adorno das Individuum mit seinem Be-
dürfnis nach Unmittelbarkeit und Spontaneität nur die Dialektik von Abstrak-
tion und Substitution, auf der die hochkapitalistische Gesellschaft beruht. »Das
Chaos«, heißt es in der Philosophie der neuen Musik, »ist die Funktion des Kos-

114  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  145; zu den Pseudo-Formen

vgl. ebd., S.  177; Adorno, On Popular Music, S.  24 ff.; Minima Moralia, S.  156; Negative Dia-
lektik, S.  341; Aberglaube aus zweiter Hand, S.  148; Veblens Angriff auf die Kultur, S.  79;
Zeitlose Mode, S.  129; Freizeit (1969), in: AGS Bd. 10.2, S.  645–655, 652; Marginalien zu The-
orie und Praxis, S.  760, 771 ff.; Resignation (1969), in: AGS Bd. 10.2, S.  794–799, 796 ff.; Ein-
leitung in die Musiksoziologie, S.  30, 41.
Anthropologie 3.0 121

mos, le desordre avant l’ordre. Chaos und System gehören zusammen, in der
Gesellschaft wie in der Philosophie«.115
Nichts illusorischer daher als die diversen, einander in stetigen Wellen ablö-
senden Strategien der Kulturrevolution, die die Kulturindustrie im Namen die-
ses oder jenes verdrängten Momentes kritisieren und sich von dessen Freiset-
zung die ›Emanzipation‹, den ›Fortschritt‹ oder dergleichen versprechen. Schon
die Befreiung des Körpers, der Sinnlichkeit, der Motorik, die sich die Jazz-En-
thusiasten der dreißiger Jahre zugutehielten, war kein Ausbruch aus der Wa-
renstruktur, sondern nur deren Wiederholung. Gerade die archaischen Züge
am Jazz, so notierte Adorno unter Pseudonym bereits 1936, sind die warenhaf-
ten, »die starre, gleichsam zeitlose Unbewegtheit in der Bewegung, die mas-
kenhafte Stereotypie, das Ineins von wilder Erregtheit als dem Schein des Dy-
namischen und Unerbittlichkeit der Instanz, die über solche Erregtheit
herrscht«.116 Und nicht anders erging es allen übrigen Befreiungsbewegungen,
die seitdem folgten. Die Befreiung der Genitalität bewirkte nicht die Befreiung
des Sexus, sondern dessen Desexualisierung und Neutralisierung, die Erset-
zung der Lust durch Vor- und Ersatzlust.117 Die Befreiung von der Familie
zerstörte nicht nur die wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern zugleich
eine Bedingung von Individualität und damit von Widerstand.118 Die Abkehr
von der bürgerlichen Konvention beseitigte nicht nur die Hemmungen und
Verdrängungen, die mit dieser verbunden waren, sondern zugleich die Hem-
mung der Hemmungslosigkeit, wie sich dies im alltäglichen Umgangston oder
im Straßenverkehr zeigt.119 Noch die von den Jugendbewegungen der zwanzi-
ger und sechziger Jahre inszenierten Scheinrevolutionen mündeten in eine
Pseudo-Aktivität, die bisweilen wahnhafte Züge trug und schließlich in Sub-
kulturen endete, die auf ihre Weise nicht weniger konformistisch waren als der
Konformismus der Massenkultur. »Unterm Bann verwandelt sich noch, was
anders ist und wovon freilich die kleinste Beimischung unvereinbar wäre mit
jenem, in Giftstoff«.120 Das eigentliche Elend der kapitalistischen Gesellschaft,
ließen sich Adornos Überlegungen resümieren, besteht nicht so sehr darin, daß
es zu wenig Widerstand gibt, als vielmehr darin, daß dieser die Form der Pseu-
doaktivität annimmt und dadurch den Verblendungszusammenhang nur noch
dichter macht. Das stimmt zumindest in dieser Hinsicht mit den seit einiger
Zeit zirkulierenden Thesen zum »neuen Geist des Kapitalismus« zusammen,
die der »Künstlerkritik« der klassischen Avantgarden bescheinigen, die Ten-
115  Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, in: AGS Bd. 12, S.  50.
116  Hektor Rottweiler: Über Jazz, in: Zeitschrift für Sozialforschung 5, 1936, S.  235–259,
243. Leicht modifiziert in: AGS Bd. 17, S.  74–108.
117  Vgl. Theodor W. Adorno: Sexualtabus und Recht heute (1963), in: AGS Bd. 10.2, S.  533–

554, 535.
118  Vgl. Adorno, Minima Moralia, S.  23.
119  Vgl. ebd., S.  68.
120  Adorno, Negative Dialektik, S.  340.
122 Anthropologie 3.0

denzen zur Flexibilisierung, zum Abbau starrer Hierarchien und zur Aufwer-
tung von Kreativität und Eigensinn als zentralen Produktivitätsfaktoren be-
stärkt zu haben, aus denen der rundumerneuerte »Netzwerkkapitalismus« der
Gegenwart hervorgegangen ist.121

III.

Der vorstehende Abschnitt resümiert die zentralen Passagen einer Abhandlung


über Adornos Anthropologie, die ich vor gut dreißig Jahren vorgelegt habe.122
Zur Kritik hatte ich damals nicht viel mehr vorzubringen als einen Satz im An-
schluß an das Zitat auf S.  41: »Wenn es einen Einwand gegen die negative Dia-
lektik gibt, dann den, daß sie bisweilen nicht negativ genug ist.« Diesen Satz
habe ich nicht übernommen, weil er sich in einer Geste der Überbietung er-
schöpft, ohne auf das, was überboten wird, näher einzugehen. Angesichts der
Vielzahl der Themen, die Adorno angeschlagen hat, wäre es ein vornherein zum
Scheitern verurteiltes Unternehmen, die kritische Auseinandersetzung im Rah-
men eines Aufsatzes nachreichen zu wollen, bedürfte es dazu doch eines Buches
(und womöglich nicht nur eines einzigen). Ich beschränke mich deshalb auf ei-
nige Bemerkungen zu den psychologischen Argumenten, auf die Adorno, der
demonstrativen Absage an alle Psychologie zum Trotz, seine »neue Anthropo-
logie« gestützt hat.123
Adornos Verhältnis zur Psychologie, die ihm weitgehend mit Psychoanalyse
zusammenfiel, läßt sich grob in drei Phasen einteilen. Die als Habilitationsleis-
tung geplante Untersuchung über den »Begriff des Unbewußten in der transzen-
dentalen Seelenlehre« stand ganz im Zeichen einer hyperrationalistischen Deu-
tung, die die Psychoanalyse als eine »Entzauberung des Unbewußten« verstand,
als eine Form der Begriffsbildung, welche »in Bewußtem stets und ausschließ-
lich ihren Grund hat und in Bewußtem sich muß ausweisen lassen«.124 Auf sie
folgte ab Mitte der 30er Jahre eine historische Relativierung der psychoanalyti-
schen Kategorien, die diese als liberal und individualistisch dechiffrierte, auf
den ökonomischen Kleinbetrieb und die Sphäre der Zirkulation bezog und mit

121 Vgl. Luc Boltanski und Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

2003, aber auch die kritische Diskussion ihrer These bei Gabriele Wagner und Philipp Hessin-
ger (Hrsg.): Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netz-
werkökonomie, Wiesbaden 2008.
122  Vgl. Adornos Anthropologie, in: Leviathan 12, 1984, S.  336–352; wiederabgedruckt in

Breuer 1985, S.  34–51, hier: S.  38 ff.


123  »Die neue Anthropologie, d. h. die Theorie des neuen unter den Bedingungen des Mo-

nopol- und Staatskapitalismus sich bildenden Menschentypus steht in ausdrücklichem Ge-


gensatz zur Psychologie« (Adorno, Notizen zur neuen Anthropologie, S.  453).
124  Adorno, Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre, S.  320.
Anthropologie 3.0 123

deren Niedergang für überholt erklärte.125 Doch schon bei der Abfassung der
Dialektik der Aufklärung mußte Adorno (wie auch Horkheimer) erkennen, daß
das Erklärungspotential der Psychoanalyse mit dieser Historisierung nicht aus-
geschöpft war. Zumal der sechste und der siebente Abschnitt der »Elemente des
Antisemitismus« machten in erheblichem Umfang Gebrauch von psychoanaly-
tischen Deutungen des Verfolgungswahns, auch wenn die Theorie der falschen
Projektion einen durchaus eigenständigen Beitrag hinzufügte. Ab 1944 trugen
dann die Zusammenarbeit mit der Public Opinion Study Group in Berkeley
und der freundschaftliche Kontakt mit Freudianern wie Ernst Simmel und
Otto Fenichel dazu bei, Adorno zu einer neuerlichen und gründlicheren Be-
schäftigung mit Psychoanalyse zu veranlassen, was auch durch die Hoffnung
verstärkt worden sein mag, auf diesem Weg endlich einen Zugang zur amerika-
nischen scientific community zu gewinnen, die sich in den 40er Jahren in er-
staunlichem Umfang der Psychoanalyse geöffnet hatte.126 Während der Arbeit
an der Authoritarian Personality, die ihn bis 1950 in Anspruch nahm, hielt
Adorno seinen Vortrag über »Die revidierte Psychoanalyse«, der gegen Horney
und Fromm auf dem »Kern der psychoanalytischen Lehre, der Libidotheorie«
insistierte und auf die Rolle des Narzißmus in der modernen Gesellschaft ver-
wies.127 1948 folgten Vorlesungen am Psychoanalytischen Institut von Los An-
geles und 1952/53 die Tätigkeit als Research Director der Hacker Foundation.128
Die neuerliche Rezeption der Psychoanalyse vollzog sich in einem eigentüm-
lichen Spannungsfeld. Nach der einen Seite hielt Adorno an der historischen
Relativierung fest, wenn er betonte: »Die vorbürgerliche Welt kennt Psycholo-
gie noch nicht, die total vergesellschaftete nicht mehr.«129 Nach der anderen Sei-
te sah er darin jedoch keinen Hinderungsgrund, für die Sozialpsychologie der
nachbürgerlichen Welt auf eben jenen kategorialen Apparat zurückzugreifen,
der an der bürgerlichen Welt gebildet worden war. Mochte Freuds Forschungs-
objekt, die Konversionshysterie, auch im Rückgang begriffen sein, so schien
doch die Libidotheorie auch für jene »Konflikte in der Kernzone des Narziß-
mus« noch zuständig zu sein, die die aktuelle Szenerie beherrschten.130 Die Di-
alektik der Aufklärung identifizierte diese Konflikte als Paranoia, die mit Freud
auf eine Abwehr der Homosexualität zurückgeführt wurde.131 In den etwa zeit-

125  Vgl. Adorno, Notizen zur neuen Anthropologie, S.  453; Horkheimer und Adorno, Di-

alektik der Aufklärung, S.  233 f.


126  Vgl. Müller-Doohm 2003, S.  4 45 ff.; Wheatland 2009, S.  238, 245.
127  Vgl. Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse (1952), in: AGS Bd. 8, S.  20–41,

39, 33. Der Vortrag wurde 1946 gehalten: vgl. die Editorische Nachbemerkung in AGS Bd. 9.2,
S.  405. Auf die Rolle des Narzißmus macht ebenfalls, wenn auch nur en passant, die Dialektik
der Aufklärung aufmerksam: vgl. S.  264.
128  Vgl. Müller-Doohm 2003, S.933 f.
129  Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.  83.
130  Ebd., S.  74.
131  Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  222.
124 Anthropologie 3.0

gleich entstandenen Minima Moralia und dem Strawinsky-Abschnitt der Philo-


sophie der neuen Musik rückte dagegen die Schizophrenie ins Zentrum, die mit
Otto Fenichel als Abwehrregung gegen den übermächtigen Narzißmus gedeu-
tet und mit dem oben dargestellten Theorem der wachsenden organischen Zu-
sammensetzung des Menschen kombiniert wurde.132
Das verdichtete sich zu Diagnosen, die weitaus düsterer als die Studie über
die Autoritäre Persönlichkeit ausfielen, deren Gegenstand noch eher dem Be-
reich milderer, die Realitätsprüfung nicht gänzlich ausschließender Störungen
zuzurechnen war. Als vorherrschend erschien aus dieser Perspektive die tiefste
Form der Regression, der »‹psychotische Charakter‹, die anthropologische Vo-
raussetzung aller totalitären Massenbewegungen«, unter deren Herrschaft die
Gesellschaft von Desintegration, Wahnsinn und kollektiver Pathologie erfaßt
wurde.133 »Die Paranoia verfolgt ihr Ziel nicht mehr auf Grund der individuel-
len Krankengeschichte des Verfolgers; zum gesellschaftlichen Existential ge-
worden, muß sie es vielmehr im Verblendungszusammenhang der Kriege und
Konjunkturen selbst setzen, ehe die psychologisch prädisponierten Volksge-
nossen als Patienten sich innerlich und äußerlich darauf stürzen können.«134
Aussagen wie diese sind keineswegs nur der exzeptionellen, durch Exil, Krieg
und Holocaust geprägten Zeitlage geschuldet. Sie drücken vielmehr eine Über-
zeugung aus, von der Adorno auch zehn Jahre nach Kriegsende nichts abzulas-
sen gewillt war. In seinem Beitrag zur Horkheimer-Festschrift von 1955 hieß es:
»Man kann wohl bestimmte Typen geistiger Erkrankung selber nach dem Mo-
dell einer erkrankten Gesellschaft konstruieren. Schon vor dreißig Jahren hat
Lukács die Schizophrenie als äußerste Konsequenz der gesellschaftlichen Ent-
fremdung des Subjekts von der Objektivität aufgefaßt.«135 Kein Zweifel, daß
dies a fortiori auch für die »technologisch erzogenen Massen« des fortgeschrit-
tenen Kapitalismus galt.136
Hochrechnungen dieser Art zeugen nicht gerade von einem ausgeprägten
Problembewußtsein hinsichtlich der Übertragbarkeit individualpsychologi-
scher Kategorien auf soziale Zusammenhänge, auch wenn Adorno selbst sich in
diesem Punkt bisweilen ins Wort gefallen ist.137 Sie lassen auch nicht erkennen,

132  Vgl. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S.  161.


133  Adorno, Minima Moralia, S.  263; Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung,
S.  235 ff.
134  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  237.
135  Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.  53.
136  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  19.
137  Vgl. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.  68: »Die Desiderate

der seelischen Ökonomie und die des Lebensprozesses der Gesellschaft sind schlechterdings
auf keine gemeinsame Formel zu bringen. Was die Gesellschaft, um sich am Leben zu erhal-
ten, von jedem Individuum mit Recht erheischt, ist für jedes Individuum immer zugleich auch
unrecht und schließlich selbst für die Gesellschaft; was der Psychologie bloße Rationalisie-
rung dünkt, ist vielfach gesellschaftlich notwendig. In der antagonistischen Gesellschaft sind
Anthropologie 3.0 125

daß Adorno mit dem Fortgang der psychoanalytischen Theoriebildung Schritt


gehalten hätte, verlagerte diese doch in der Nachkriegszeit ihren Schwerpunkt
von den neurotischen und psychotischen Phänomenen auf die narzißtischen
Persönlichkeitsstörungen und setzte zugleich gegenüber Freud neue Akzente.
Hatte dieser in seiner zweiten Narzißmustheorie den »sekundären Narzißmus«
als eine den Objekten entzogene und auf das Ich gewendete Libido konzipiert
und damit das Stichwort für Adorno gegeben, der die »soziologische Wurzel
des Narzißmus« darin sah, »daß das Individuum durch die fast unüberwindli-
chen Schwierigkeiten, die sich jeglicher spontanen und direkten Beziehung zwi-
schen Menschen heute in den Weg legen, dazu gezwungen wird, seine unge-
nutzten Triebenergien auf sich selbst zu lenken«138 , so wurde diese Vorausset-
zung mit der Wendung der Psychoanalyse zur Selbstpsychologie aufgehoben.
Otto F. Kernberg etwa definierte den Narzißmus zwar noch als libidinöse Be-
setzung des Selbst, fügte aber sogleich hinzu, daß eine solche Besetzung »nicht
allein der Triebquelle libidinöser Energie, sondern auch den vielfältigen Bezie-
hungen zwischen dem Selbst und anderen intrapsychischen Strukturen ent-
springt«, womit neben Strukturen innerhalb des Ichs auch Strukturen anderer
psychischer Instanzen, d. h. des Über-Ichs und des Es gemeint waren.139 Einen
Schritt weiter ging Heinz Kohut, der eine Differenzierung im Begriff der Libi-
do vornahm: in eine Libido, die sich den Objekten zuwendet (Objektliebe), und
eine Libido, die sich auf Selbst-Objekte bezieht (narzißtische Libido). Beide
Formen, so betonte er, entwickelten sich unabhängig voneinander, gleichzeitig,
und verfügten über ihre eigene Ökonomie, womit der klassischen Ableitung des
(sekundären) Narzißmus aus der Objektlibido der Boden entzogen war.140
Kohut klammerte in seinen Untersuchungen die Schicksale der Objektliebe
weitgehend aus und konzentrierte sich auf die Entwicklung des Narzißmus, die
ihm im günstigsten Fall durch eine Zähmung, Neutralisierung und Transfor-
mation seiner archaischen Erscheinungsformen geprägt zu sein schien. Dazu
komme es, wenn das Kind durch dosierte Frustrationen eine schrittweise Ent-
täuschung hinsichtlich des idealisierten Objekts erfahre und dieses zunehmend

die Menschen, jeder einzelne, unidentisch mit sich, Sozialcharakter und psychologischer in
einem, und kraft solcher Spaltung a priori beschädigt.«
138  Vgl. Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914), in ders., Studienausgabe,

Bd. III, S.  37–68, 42 f.; vgl. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, S.  33.


139 Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus (1975),

Frankfurt am Main 1983, S.  360.


140  Vgl. Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung nar-

zißtischer Persönlichkeitsstörungen (1971), Frankfurt am Main 1973, S.  250; Formen und


Umformungen des Narzißmus (1966), in ders.: Die Zukunft der Psychoanalyse, Frankfurt
am Main 1975, S.  140–172, 142. Für eine knappe Zusammenfassung von Kohuts Beitrag und
der an ihn anschließenden Autoren vgl. Hans-Peter Hartmann: Das Unbewusste in der
Selbstpsychologie Heinz Kohuts und seiner Nachfolger, in: Michael B. Buchholz und Günter
Gödde (Hrsg.): Macht und Dynamik des Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philoso-
phie, Medizin und Psychoanalyse, Bd. I, Gießen 2005, S.  528–551.
126 Anthropologie 3.0

realistischer sehe. Dadurch werde es in die Lage versetzt, seine narzißtischen


Besetzungen von den unbewußten Konfigurationen abzuziehen, mit denen es
zunächst auf den Abbau des primärnarzißtischen Zustands reagiert: der ideali-
sierten Elternimago und des Größen-Selbst. Gelinge dies, könne es die freige-
wordenen Energien zum Aufbau triebbeherrschender Strukturen verwenden,
seine Größenphantasien und den Exhibitionismus aufgeben und »durch
ich-syntone Ziele, durch Funktionslust bei seinen Tätigkeiten und durch realis-
tisches Selbstwertgefühl« ersetzen.141 Der Narzißmus, so Kohuts Botschaft,
könne nach all dem nicht einfach als die primitivere und gleichsam per se schon
pathologische Erscheinungsform der Libido angesehen werden. Er sei vielmehr
in seiner transformierten Gestalt eine Grundbedingung nicht nur von Individu-
ierung schlechthin, sondern auch die Wurzel wichtiger soziokultureller Fähig-
keiten wie Ich-Stärke, Integration von Werten oder Empathie – Fähigkeiten,
deren Ausbildung die Selbstpsychologie im Gegensatz zur Kritischen Theorie
auch in einer Gesellschaft der abhängig Beschäftigten und bestenfalls Halbge-
bildeten nicht grundsätzlich für unerreichbar hält.
Die Selbstpsychologie hat indes nicht nur diese positive Seite des Narzißmus
neu erschlossen. Sie hat zugleich die psychoanalytische Differentialdiagnostik
um ein breites Spektrum narzißtischer Persönlichkeitsstörungen bereichert, die
sich auch in den sozialen Beziehungen geltend machen.142 Frühe Fixierungen
auf der Linie der Idealisierung können sich in einer allgemeinen Strukturschwä-
che ausdrücken, die sich im starken Bedürfnis nach der Verschmelzung mit ei-
nem idealisierten Objekt manifestiert, was sowohl zu Drogensucht prädispo-
nieren kann als auch zu einer süchtigen Abhängigkeit von realen oder fiktiven
Personen143 – eine Nachfrage, die heute unter anderem von den weltweit operie-
renden Drogenkartellen mit einem Umsatz von geschätzten 300 Milliarden $ 144
sowie einer Flut kulturindustrieller Identifikationsangebote befriedigt wird,
von den Superhelden der Comics über den Film bis zu den Computerspielen.145
Spätere Fixierungen (in der ödipalen Phase) können es bewirken, daß die nar-
zißtische Besetzung nicht schrittweise vom ödipalen Objekt abgezogen und
verinnerlicht wird, sondern bestehenbleibt; woraus einerseits eine mangelnde
141  Kohut, Narzißmus, S.  131.
142  Vgl. dazu ausführlicher meine Studie: Sozialpsychologische Implikationen der Narziß-
mustheorie, in: Psyche 46, 1992, S.  1–31.
143  Vgl. Kohut, Narzißmus, S.  66, 130; ders.: Vorwort zu J. vom Scheidt: Der falsche Weg

zum Selbst, München 1976, S.  9 –14.


144  Vgl. Spiegel Online Wirtschaft vom 13.12.2009 (Uno-Vorwürfe: Drogengelder sollen

Krisenbanken gerettet haben).


145  Im Drogen- und Suchtbericht 2013 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung wer-

den 1,6–8,2% der Internet-Nutzer als »abhängig« eingestuft, unter den 14–16jährigen etwa
100.000 (S.  46). Zur narzißtischen Dimension vgl. Alexander Krafft und Günther Ortmann
(Hrsg.): Computer und Psyche. Angstlust am Computer, Frankfurt am Main 1988; Stefan
Düßler: Computer-Spiel und Narzißmus – pädagogische Probleme eines neuen Mediums,
Eschborn bei Frankfurt am Main 1989.
Anthropologie 3.0 127

Idealisierung des Über-Ichs resultiert, andererseits eine permanente Suche nach


äußeren Idealfiguren, »von denen man die Zuwendung und Führung bekom-
men möchte, die das ungenügend idealisierte Über-Ich nicht geben kann«146 –
Kohuts Beitrag zur Pathogenese des autoritären Charakters, der nach Fromm,
Adorno und anderen durch ein externalisiertes Über-Ich, Ich-Schwäche und
bedingungslose Anpassungsbereitschaft gekennzeichnet ist.147 Störungen auf
der Linie des Größen-Selbst zeigen ebenfalls eine breite Symptomatik, die die
sexuelle oder berufliche Überaktivität (Donjuanismus, workaholics) ebenso
einschließt wie das messianische Führertum oder die epidemische Ausbreitung
des Glücksspiels.148 Auch der von Christian Thies in Abgrenzung vom kollek-
tiven Narzißmus vorgeschlagene Typus des egozentrischen Narzißmus, der sich
unter anderem im Sport oder im Schönheitskult manifestiert, wäre hier zu ver-
orten.149 Die Kosten zeigen sich in der schon von Durkheim herausgearbeiteten,
seither nur vorübergehend durch Kriege und Krisen unterbrochenen säkularen
Steigerung der Suizidrate in hochindustrialisierten Gesellschaften, auch wenn
die Narzißmusproblematik hier nur ein Faktor neben anderen sein dürfte.150
Manche Erscheinungen, wie etwa die neuerdings grassierenden Casting-Shows
bedienen beides: die Suche nach Ebenbildern des Größen-Selbst und den
Wunsch nach einem archaischen Selbstobjekt.151
Es ist nicht allein die Vielfalt der hier nur knapp angetippten Erscheinungs-
formen des pathologischen Narzißmus, durch die sich eine an der Selbstpsycho-
logie orientierte Sichtweise von derjenigen der Kritischen Theorie unterschei-
det. Wichtiger ist, daß das Deutungsangebot in einer Reihe von Idealtypen be-
steht, die auf empirische Zurechnung, nicht auf Totalisierung angelegt sind.
Auch wenn dies von den verschiedenen Popularisierungen nicht beachtet wur-
de, die schnell mit Pauschaldiagnosen eines »neuen Sozialisationstypus«, einer
»culture of narcissism« oder einer »narzißtischen Gesellschaft« bei der Hand
waren152 , ändert dies doch nichts an dem Abstand, der die in Bezug auf sozial-
146  Kohut, Narzißmus, S.  69.
147  Vgl. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, S.  52 f.
148  Vgl. Kohut, Narzißmus, S.  144. In Deutschland hat das pathologischen Glückspiel etwa

1% der Bevölkerung erfaßt sowie weitere 1,4%, deren Spielverhalten als problematisch einge-
stuft wird: vgl. Gerhard Meyer und Meinolf Bachmann: Spielsucht: Ursachen, Therapie und
Prävention von glücksspielbezogenem Suchtverhalten, 3., vollständig überarbeitete und er-
weiterte Auflage, Berlin und Heidelberg 2012, S.  62. In absoluten Zahlen sind das 531.000 bzw.
776.000 Personen. Zur narzißtischen Dimension vgl. Franz Schütte: Glücksspiel und Narziß-
mus. Der pathologische Spieler aus soziologischer und tiefenpsychologischer Sicht, Bochum
1985.
149  Vgl. Thies, Die Krise des Individuums, S.  108.
150 Vgl. Franz Stimmer: Narzißmus. Zur Psychogenese und Soziogenese narzißtischen

Verhaltens, Berlin 1987, S.  45 ff.; Christa Lindner-Braun: Soziologie des Selbstmords, Opla-
den 1990.
151  Vgl. Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die

Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien, Köln 2010.
152 Vgl. Thomas Ziehe: Pubertät und Narzißmus, Frankfurt am Main und Köln 1975;
128 Anthropologie 3.0

psychologische Generalisierungen ihrer Befunde eher zurückhaltende Selbst-


psychologie von Adorno trennt, der wider seine bessere Einsicht in die nicht
willkürlich aufzuhebende »Trennung von Psychologie und Soziologie«153 der
Versuchung zum Kurzschluß von Sozialstruktur auf die Psyche und von dort
gleich auch noch auf die Anthropologie zu wenig widerstanden hat, wie er auch
immer wieder der Gefahr erlegen ist, Begriffe und empirische Realitäten in eins
zu schieben. Die Aufmerksamkeit auf die »Erbschaft des Narzißmus« zu len-
ken, war schon eine richtige Intuition.154 Ihre Umsetzung in Forschung bedarf
jedoch differenzierterer Instrumente, als sie bei Adorno zu finden sind, von
anderen Vertretern der Kritischen Theorie zu schweigen.

Christopher Lasch: The Culture of Narcissism, New York 1979; Hans-Joachim Maaz: Die
narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, München 20134.
153  Theodor W. Adorno: Postscriptum, in: AGS Bd. 8, S.  86–92, 87.
154  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 1.1.1945, in: A/H Bd. 2, S.  420.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?
Die Kritische Theorie und der Faschismus

Die Frage, was Kritische Theorie genau sei, hat ihre genuinen Vertreter nicht
selten in Verlegenheit gebracht. Immer wenn sie ihm gestellt werde, scherzte
Leo Löwenthal einmal im Gespräch, rufe er seinen Freund Martin Jay an, den
Verfasser der ersten Institutsgeschichte, »und frage ihn, was denn so die Haupt-
charakteristika der sogenannten kritischen Theorie seien.«1 Angehörige der
Schülergeneration waren da weniger zögerlich. Kritische Theorie, lautete ein
Diktum Oskar Negts, sei »die Form der marxistischen Theorie, die den Fa-
schismus, den hochzivilisierten Rückfall in die Barbarei, zu ihrem bestimmen-
den Erfahrungsgehalt hat.« Ähnlich, nur knapper, hieß es bei Alfred Schmidt,
Kritische Theorie sei die »Form des Marxismus angesichts des Faschismus«.2
Martin Jay bescheinigte dem Institut für Sozialforschung, es habe sich »in den
dreißiger Jahren vornehmlich mit der Aufdeckung, Analyse und Bekämpfung
der faschistischen Gefahr« beschäftigt.3
Dieses Urteil hat sich in der Folgezeit nicht bestätigt. Schon Helmut Dubiel
mußte einräumen, daß der »nationalsozialistische Faschismus« vom Institut
erst seit Beginn der 40er Jahre systematisch erforscht wurde, also gut ein Jahr-
zehnt seit dem ersten großen Wahlerfolg der NSDAP und zwei Jahrzehnte seit
dem Aufstieg des italienischen Faschismus. 4 Eine Bilanz dieser Forschungen
kam bald darauf zu dem Ergebnis, daß sie keineswegs »plan- und projektmäßig«
(Dubiel) durchgeführt wurden, sondern durchaus unkoordiniert und unsyste-
matisch. Eine sozialwissenschaftliche Erforschung in empirischer Einstellung
sei vor allem von eher randständigen Mitgliedern des Instituts betrieben wor-
den, deren Resultate von der Kerngruppe nicht aufgenommen wurden. Eine
kritische »Theorie des Nationalsozialismus und Faschismus, die einer ernsthaf-
ten Prüfung standhalten könnte«, gebe es nicht.5 Der Rezensent dieser Bilanz,
der damalige Direktor des Instituts für Sozialforschung Gerhard Brandt, sah
nichts, was diesem Befund entgegenstand und sprach sogar von einem Versagen
der Kritischen Theorie.6 Elf Jahre später wiederholte Michael Schäfer diese Kri-

1  Löwenthal 1980, S.  77.


2  Zit. n. Wilson 1982, S.  9.
3  Jay 1976, S.  174.
4  Vgl. Dubiel 1978, S.  34.
5  Wilson 1982, S.  174.
6 Vgl. Gerhard Brandt: Warum versagte die Kritische Theorie? In: Leviathan 11, 1983,

S.  151–156.
130 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

tik.7 Und das ist, um es vorwegzunehmen, auch das Ergebnis der folgenden
Untersuchungen.

I.

Wenn es einen Terminus a quo für die Schulebildung in Frankfurt gibt, so dürf-
te es am ehesten der Oktober 1930 sein, als Max Horkheimer den Vertrag unter-
zeichnete, der ihn zum Direktor des 1923 gegründeten Instituts für Sozialfor-
schung machte. Zu diesem Zeitpunkt stand Deutschland unter dem Schock der
Reichstagswahlen vom September, die den Nationalsozialisten einen Stimmen-
zuwachs von 2,6% auf 18,3% gebracht und ihnen 107 Mandate beschert hatten,
womit sie zur zweitstärksten Partei geworden waren. Hatte zuvor schon der
italienische Faschismus in Deutschland eine Aufmerksamkeit gefunden wie in
keinem anderen Land8 , so rückte nunmehr auch sein deutsches Pendant in den
Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In der mehr oder weniger unabhängi-
gen Tagespresse, in den Zeitschriften der großen Parteien und Verbände, aber
auch in den Universitäten setzte eine intensive Diskussion über den politischen
Newcomer ein, die durch die folgenden Wahlsiege der NSDAP noch befeuert
wurde.
Im Oktoberheft der »Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschafts-
kunde«, die unter dem Obertitel Die Arbeit erschien, analysierte der Braun-
schweiger Soziologe Theodor Geiger die Beziehungen zwischen Nationalsozia-
lismus und Altem und Neuem Mittelstand.9 Seine Befunde wurden bald darauf
im selben Organ durch den Kieler Soziologen Svend Riemer vertieft.10 In der
sozialistischen Zeitschrift Die Gesellschaft, in der Herbert Marcuse zahlreiche
Artikel veröffentlichte, beleuchtete Carlo Mierendorff »Gesicht und Charakter
der nationalsozialistischen Bewegung« und Georg Decker »Das unbekannte
Volk«.11 Weitere einschlägige Aufsätze fanden sich in den Neuen Blättern für
den Sozialismus, zu deren Herausgeberkreis Paul Tillich gehörte, bei dem sich
Adorno 1931 habilitierte.12 1931 und 1932 brachte die Zeitschrift für Politik zwei
7  Vgl. Michael Schäfer: Die »Rationalität« des Nationalsozialismus. Zur Kritik philosophi-

scher Faschismustheorien am Beispiel der kritischen Theorie, Weinheim 1994.


8  Vgl. Jens Petersen: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik, in:

Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55/56, 1976, S.  315–
360; Matthias Damm: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik,
Baden-Baden 2013.
9  Vgl. Theodor Geiger: Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit 7, 1930, S.  637–654.
10 Vgl. Svend Riemer: Zur Soziologie des Nationalsozialismus, in: Die Arbeit 9, 1932,

S.  101–118.
11  In: Die Gesellschaft 7, 1930, S.  489–504, 298–303.
12  Vgl. anstelle von Einzelnachweisen Martin Martiny: Die Entstehung und politische Be-

deutung der »Neuen Blätter für den Sozialismus« und ihres Freundeskreises, in: Vierteljah-
reshefte für Zeitgeschichte 25, 1977, S.  373–411; Axel Schildt: National gestimmt, jugendbe-
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 131

wahlsoziologische Studien zur NSDAP und eine Abhandlung über »Faschis-


mus als europäisches Problem«.13 Ebenfalls noch 1932 erschien Sigmund Neu-
manns Buch über die Parteien der Weimarer Republik mit einem eigenen Kapi-
tel über die NSDAP, während Rudolf Heberle in Schleswig-Holstein mit den
Recherchen für sein bahnbrechendes Werk über Landbevölkerung und Natio-
nalsozialismus begann, das freilich erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffent-
licht werden konnte.14 In unmittelbarer Nachbarschaft des Instituts für Sozial-
forschung arbeiteten Hendrik de Man und Heinz Marr an einer soziologischen
Durchdringung des Faschismus.15 Sogar der von Horkheimer und Marcuse
wegen seiner »spiritualistischen Grundeinstellung« attackierte Karl Mannheim
war Realist genug, um in sein Panorama der zeitgenössischen politischen Strö-
mungen auch den »Fascismus« aufzunehmen.16 Von irgendeiner »Weltferne« der
deutschen Sozialwissenschaften kann nach alledem nicht die Rede sein.17
Eher schon trifft diese Vokabel auf das Institut für Sozialforschung zu. Zwar
nicht in politischer Hinsicht. Karl August Wittfogel, KPD-Mitglied seit 1921
und ständiger Mitarbeiter des Instituts seit 1925, engagierte sich im Rahmen
seiner politischen Aktivitäten für den Kampf gegen den Faschismus, desglei-

wegt und antifaschistisch – die Neuen Blätter für den Sozialismus, in: Michel Grunewald
i.Z.m. Hans Manfred Bock (Hrsg.): Le milieu intellectuel de gauche en Allemagne, sa presse
et ses réseaux (1890–1960), Bern etc. 2002, S.  363–390, 378 ff.
13  Vgl. Werner Stephan: Zur Soziologie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-

partei, in: Zeitschrift für Politik 20, 1931, S.  793–800; Grenzen des nationalsozialistischen
Vormarsches. Eine Analyse der Wahlziffern seit der Reichstagswahl 1930, ebd. 21, 1932,
S.  570–579; Walter Hagemann: Faschismus als europäisches Problem, ebd. 21, 1932, S.  306–
319.
14 Vgl. Sigmund Neumann: Die Parteien der Weimarer Republik (1932), Stuttgart etc.

19774 , S.  73 ff.; Rudolf Heberle: Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologi-


sche Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918 bis 1932,
Stuttgart 1963.
15  Vgl. Hendrik de Man: Sozialismus und Nationalfascismus, Potsdam 1931. De Man un-

terrichtete von 1922 bis 1926 an der Frankfurter Akademie der Arbeit und lehrte von 1929 bis
1933 Sozialpsychologie und Sozialpädagogik an der dortigen Universität: vgl. Kersten Osch-
mann: Über Hendrik de Man. Marxismus, Plansozialismus und Kollaboration. Ein Grenz-
gänger in der Zwischenkriegszeit, Diss. Freiburg (Breisgau) 1987. Der aus dem Kreis um das
rechtsnationalistische Deutsche Volkstum stammende Heinz Marr, seit 1916 Leiter des Sozia-
len Museums in Frankfurt, legte seinen z. T. an Max Weber orientierten Vergleich von Fa-
schismus und Nationalsozialismus erst 1934 in seinem Buch Die Massenwelt im Kampf um
ihre Form vor (Hamburg 1934, S.  4 47–576), das sogleich verboten wurde. Näher zu Marr:
Carsten Klingemann: Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996, S.  105 ff.
16  Vgl. Mannheim (1929), 19695, S.  116 ff. Zum Spiritualismusvorwurf vgl. Max Horkhei-

mer: Ein neuer Ideologiebegriff? (1930), in: HGS Bd. 2, S.  271–294, 292.
17  Sven Papcke: Weltferne Wissenschaft. Die deutsche Soziologie der Zwischenkriegszeit

vor dem Problem des Faschismus/Nationalsozialismus, in ders. (Hrsg.): Ordnung und Theo-
rie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986, S.  168–222; Dirk
Käsler und Thomas Steiner: Academic Discussion or Political Guidance? Social-Scientific
Analyses of Fascism and National Socialism in Germany before 1933, in: Stephen P. Turner
und Dirk Käsler (Hrsg.): Sociology Responds to Fascism, 1992, S.  88–126.
132 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

chen der 1926 aus der KPD exmittierte und dem Institut locker verbundene Karl
Korsch.18 Horkheimer seinerseits erkannte sehr schnell die Zeichen der Zeit
und stellte noch Ende 1930 die Weichen für eine Verlagerung des Instituts samt
seinem Stiftungsvermögen ins Ausland. Zu den Forschungsprioritäten gehörten
Faschismus und Nationalsozialismus jedoch auch unter seiner Leitung zu-
nächst nicht. Die noch 1929 von Erich Fromm und Hilde Weiß in Angriff ge-
nommene Untersuchung über Arbeiter und Angestellte hatte gewiß auch den
Nationalsozialismus im Blick, als sie die Frage aufwarf, »in welchem Ausmaß
die jeweiligen politischen Meinungen mit der Gesamtpersönlichkeit überein-
stimmen«. Doch war sie vom Umfang her breiter angelegt und zielte auf die
»Erhebung von Daten über Meinungen, Lebensformen und Einstellungen von
Arbeitern und Angestellten« schlechthin.19 Der erste Jahrgang der Zeitschrift
für Sozialforschung handelte von der Soziologie des mechanistischen Weltbildes
(Franz Borkenau), den Methoden und Aufgaben einer analytischen Sozialpsy-
chologie (Erich Fromm), dem amerikanischen Parteiensystem (Julian Gum-
perz) oder der gesellschaftlichen Lage der Literatur und der Musik (Leo Lö-
wenthal, Theodor Wiesengrund-Adorno), enthielt jedoch keinen einzigen Bei-
trag zur NSDAP oder zu anderen faschistischen Parteien. Auch die beiden
ersten Hefte des Jahrgangs 1933 erwecken nicht den Eindruck, als habe man
deren Erforschung als besonders dringlich betrachtet. Das Vorwort Horkhei-
mers zum zweiten Heft, das bereits in Paris erschien, ging mit keinem Wort auf
die Machtübergabe in Deutschland an die Nationalsozialisten ein. Erst das drit-
te Heft brachte einen Aufsatz über »Rassenideologie und Rassenwissenschaft«,
den aber bezeichnenderweise kein Institutsmitglied, sondern der im vorigen
Kapitel erwähnte Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg verfaßt hatte. Dieser
wollte seine Berichte gern fortsetzen, stieß damit aber in der Redaktion auf Wi-
derstand, nicht nur, weil er in seinen Wertungen zu zurückhaltend sei, sondern
auch, weil der Gegenstand als pseudowissenschaftlich und damit der Behand-
lung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift unwürdig erschien.20
Darin spiegelten sich nicht zuletzt die thematischen Präferenzen des Heraus-
gebers. In seinen zwischen 1926 und 1931 verfaßten Notizen, die 1934 unter
Pseudonym in einem Schweizer Verlag erschienen, kamen die Bewegungen der
radikalen Rechten nur beiläufig vor, und überdies in einem Ton, der signalisier-

18  Vgl. Karl August Wittfogel: Die Demagogie der Frühprogramme des Faschismus, in:

Der rote Aufbau 5, 1932, S.  730–741; Der Mystizismus des Faschismus, ebd., S.  977–985; Karl
Korsch: Thesen zur Kritik des faschistischen Staatsbegriffs, in: Der Gegner 6, 1932, Nr.  4 /5,
S.  20 f.
19  Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozial-

psychologische Untersuchung, bearb. und hrsg. von Wolfgang Bonß, München 1983, S.  53, 52.
20  Vgl. Paul Ludwig Landsberg: Rassenideologie und Rassenwissenschaft, in: Zeitschrift

für Sozialforschung 2, 1933, S.  388–406. Zum Dissens über die weitere Publikation vgl. Max
Horkheimer an Paul Ludwig Landsberg, Briefe vom 22.11.1934 und 28.1. 1935, in: HGS Bd. 15,
S.  268 f., 305 f.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 133

te, daß dafür der politische Alltagsverstand vollkommen hinreichend sei. Von
jungen Kleinbürgern ist da die Rede, die sich von der von den Herrschenden
manipulativ eingesetzten »heroischen Weltanschauung« benebeln ließen, vom
ideologischen Charakter der in den völkischen Gruppen gepflegten Antibürger-
lichkeit, die doch das große Kapital aus der Diskussion lasse, vom pedantischen
Spießbürgertum der Kleinbürger und Bauern, die »im Dienste der Bourgeoisie«
revoltierten.21 Der Begriff »Faschismus« fällt hier nicht, und er fällt auch nicht
in den Briefen dieser Jahre und der drei folgenden, die hin und wieder auf die
Lage in Deutschland Bezug nehmen.22 In Horkheimers Beiträgen zur Zeit-
schrift für Sozialforschung muß man bis 1934 warten, bis er – in einer Abhand-
lung über Bergsons Metaphysik der Zeit versteckt – kurz auftaucht, um gleich
wieder zu verschwinden23 , offenbar aus Sorge, sich durch die Verwendung die-
ses Begriffes als Parteigänger der Kommunisten zu outen.24
Erst als seit Ende der 30er Jahre Autoren des akademischen Establishments in
den USA den Faschismusbegriff aufnahmen25, setzte auch Horkheimer ihn häu-
figer ein, um jene neue »autoritäre Ordnung« zu charakterisieren, die »das Ka-
pital in seiner gegenwärtigen Phase einigen Ländern aufgezwungen hat.«26 In
dem Entwurf für eine Selbstdarstellung des Instituts von 1938 wurde unter den
geplanten Büchern eine »Theorie des Faschismus« aufgelistet, die mit einer
Analyse derjenigen Phase der bürgerlichen Gesellschaft beginnen sollte, »in der
die Tendenzen zum Umschlag vom Liberalismus in den Faschismus auftreten.«
Solche Tendenzen seien überall dort wahrscheinlich, wo sich unter den Bedin-

21  Vgl. Max Horkheimer: Dämmerung. Notizen in Deutschland, in: HGS Bd. 2, S.  312–

452, 344, 382, 441.


22  Vgl. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 30.6.1932; an Erich Fromm,

Briefe vom 7.7. und 24.7.1934, in: HGS Bd. 15, S.  97, 151, 165 f.
23  Vgl. Max Horkheimer: Zu Bergsons Metaphysik der Zeit (1934), in: HGS Bd. 3, S.  225–

248, 227.
24  Daß solche Überlegungen zumindest in der Anfangszeit des amerikanischen Exils mit-

schwangen, zeigt ein Vergleich zwischen der veröffentlichten Fassung der »Bemerkungen zur
philosophischen Anthropologie« mit einem Vorentwurf, der sich im Nachlaß gefunden hat.
Die ursprüngliche Fassung lautet: »Es ist eine der wichtigsten Aufgaben des Faschismus, der
die Völker im Dienste der nationalen Machtgruppen zu einheitlicher Schlagkraft gegeneinan-
der zu bringen sucht, die auf Grund der Not entstehende übergroße Aggression entweder als
Opferbereitschaft gegen die eigene Person jedes einzelnen oder als Kampfgeist gegen vorgeb-
liche nationale Feinde zu lenken« (Max Horkheimer: [Notizen 1935], in: HGS Bd. 12, S.  248).
In der Endfassung ist Faschismus durch die »neue Weltanschauung« ersetzt: vgl. Max Hork-
heimer: Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: HGS Bd. 3, S.  249–276,
274. Auch sonst kommt in den unveröffentlichten Texten dieser Zeit der Faschismus häufiger
vor als in den veröffentlichten.
25  Vgl. etwa Robert A. Brady: The Spirit and Structure of German Fascism, New York und

London 1937; Talcott Parsons: Some Sociological Aspects of the Fascist Movements, in: Soci-
al Forces 21, 1942, S.  138–147.
26 Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938), in: HGS Bd. 4,

S.  236–294, 271; vgl. ebd., 252, 278, 286; Die Philosophie der absoluten Konzentration (1938),
in: HGS Bd. 4, S.  295–307, 303.
134 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

gungen verschärfter Weltmarktgegensätze die Arbeiterbewegung trotz ihrer


starken Organisation als unfähig erwiesen habe, »die Macht zu übernehmen
und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten«. In diesen Ländern – genannt
wurden Deutschland und Italien – hätten die Unternehmer faschistische, gegen
die Arbeiterparteien gerichtete Verbände unterhalten, die »unter Tolerierung
oder mit der Hilfe des Staates die Herrschaft übernommen« hätten. Das Buch
sollte die Gründe untersuchen, warum sich insbesondere die deutsche Arbeiter-
schaft im entscheidenden Augenblick als kampfunfähig erwiesen habe. Darüber
hinaus sollte es in vergleichender Perspektive »den Abweichungen der deut-
schen und der italienischen Ideologien und Institutionen« nachgehen und nach-
weisen, »daß diese Differenzen nicht zum Wesen, sondern zur Oberfläche ge-
hören«, anders gesagt: das Wesen des Faschismus nicht berühren.27 In dem Es-
say »Die Juden und Europa« fallen dann die zu Tode zitierten Sentenzen:
»Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.
[…] Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie
von Anbeginn an getroffen war. Er fixiert die extremen Unterschiede, die das Wertgesetz
am Ende produzierte. […] Für den Faschismus als Weltsystem wäre ökonomisch kein
Ende abzusehen.«28

Ihre sachliche Begründung hatte diese Sichtweise in der Zeitschrift für Sozial-
forschung bereits mit Marcuses Aufsatz über den »Kampf gegen den Liberalis-
mus in der totalitären Staatsauffassung« gefunden, der im Sinne der Weltan-
schauungslehre Diltheys zwischen liberaler und »heroischer« Weltanschauung
unterschieden und dies mit dem marxistischen Gemeinplatz eines Wandels vom
Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus verbunden hatte.29 Während Marcuse
jedoch noch, vermutlich der Sprachregelung Horkheimers folgend, von »Fa-
schismus« nur in Form von Zitaten sprach und Bezeichnungen wie »totalitär«
oder »total-autoritär« vorzog30 , erlegte sich Adorno von Anfang an keine derar-
tigen Beschränkungen auf. In seinem ersten Beitrag zur Zeitschrift für Sozial-
forschung kam der Begriff gleich mehrmals vor, der Aufsatz »Über Jazz« ver-
wendete ihn, desgleichen die Mannheim-Kritik.31 In der Korrespondenz mit
27  Max Horkheimer: [Idee, Aktivität und Programm des Instituts für Sozialforschung]

(1938), in: HGS Bd. 12, S.  131–164, 162.


28  Max Horkheimer: Die Juden und Europa (1939), in: HGS Bd. 4, S.  308–331, 308 f., 316.
29  Vgl. Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauf-

fassung (1934), in: HMS Bd. 3, S.  7 –44, 12, 18 ff.


30  Das gilt auch noch für Marcuses zweites Hegelbuch, das ebenfalls überwiegend vom

autoritären oder totalitären Staat spricht, den »die liberalistische Gesellschaft mit Notwen-
digkeit […] hervorbringt«: Vernunft und Revolution (1941), Neuwied und Berlin 1970³, S.  62;
vgl. ebd., S.  158, 181, 360. Hier kommt Marcuse allerdings auch verschiedentlich auf den Fa-
schismus zu sprechen: als eine politische Form, bei der die bürgerliche Gesellschaft den Staat
beherrscht (vgl. ebd., S.  193, 361).
31  Vgl. Theodor W. Adorno: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (1932), in: AGS Bd. 18,

S.  729–777, 743 f.; Über Jazz (1936) in: AGS Bd. 17, S.  74–100, 99; Neue wertfreie Soziologie
(1937), in: AGS Bd. 20.1, S.  13–45, 25 f., 40.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 135

Horkheimer schlug er vor, den Beziehungen zwischen Faschismus und Jugend-


bewegung einen Artikel zu widmen und regte eine Untersuchung über die Phi-
losophie des Nationalsozialismus an.32 In einem weiteren Brief hieß es:
»Man wird ja endlich doch das Fascismusproblem in Angriff nehmen müssen und dabei
stellt sich sogleich das Problem der sozialpsychologischen ›Vermittlung‹. Die läßt sich
aber an einem scheinbar ›harmlosen‹ Modell studieren, nämlich der Reklame. Man kann
wahrscheinlich zu den tiefsten Einsichten in die Struktur des Faszismus gelangen durchs
Studium der Reklame, die in ihm erstmals ins politische Zentrum – oder besser in den
politischen Vordergrund – tritt und deren ökonomische Voraussetzungen wahrschein-
lich wieder mit denen des Faszismus korrespondieren […]. Diese Idee hat noch den Vor-
teil, daß man sie für Amerika als ›Sozialpsychologie‹ oder etwas derartiges tarnen kann.
Ich dächte an eine Kollektivuntersuchung in größerem Rahmen«.33

Der unter seiner maßgeblichen Beteiligung zustande gekommene Essay Hork-


heimers über »Die Juden und Europa« sollte, wie Adorno Benjamin berichtete,
»den ersten Umriß einer Theorie des Faschismus« geben.34 Das ist ein großes
Wort für einen kleinen Text, der in Wahrheit nicht viel mehr war als ein Florile-
gium aus Versatzstücken jener Pauschaldiagnosen, in denen sich der marxisti-
sche Diskurs über den Faschismus damals erschöpfte, und zwar in seinen or-
thodoxen Varianten nicht weniger als seinen heterodoxen. Wenn Horkheimer
und Adorno den Faschismus im Moment des »kapitalistischen Zusammen-
bruchs« auftauchen sahen, der sich aus der mangelnden, durch die sinkende
Profitrate verursachten Investitionsbereitschaft ergab und dadurch die Massen-
arbeitslosigkeit herbeiführte35, dann befanden sie sich in vollständiger Überein-
stimmung mit dem orthodoxen Theorem von der allgemeinen Krise des Kapita-
lismus im Zeitalter des Imperialismus. Und wenn sie davon sprachen, daß in
dieser Krise die stärksten kapitalistischen Gruppen sich zusammenschlossen,
ein Bündnis mit den faschistischen Organisationen eingingen und mit Hilfe des
politischen Terrors die Staatsmacht ihren Zwecken unterwarfen, dann deckte
sich auch dies mit der Formel des VII. Weltkongresses der Kommunistischen
Internationale (1935), der Faschismus sei »die offene terroristische Diktatur der
reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Fi-
nanzkapitals«36 .
Ähnliches gilt für die Einstufung des Faschismus als Gegenrevolution, in der
sich die kommunistische Orthodoxie mit flexibleren Geistern wie Otto Bauer

32  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Briefe vom 31.1.1936 und 26.5.1936, in: A/H

Bd. 1, S.  116, 149.


33  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 25.6.1936, in: A/H Bd. 1, S.  165 f.
34 Theodor W. und Gretel Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 15.7.1939, in: A/B,

S.  408.
35  Vgl. Horkheimer, Die Juden und Europa, S.  330, 315, 309 f.
36  Vgl. ebd., S.  311, 317; Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, S.  270, 267;

Georgi Dimitrow: Bericht auf dem VII. Weltkongress der Komintern, 2. August 1935, in:
Georgi Dimitrow: Ausgewählte Werke, Sofia 1960, S.  94 ff.
136 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

oder Karl Korsch einig wußte.37 Identifizierte man mit der Orthodoxie den au-
toritären Staat als »Apparat der koalierten Führer«, so verschloß man sich ande-
rerseits nicht dem heterodoxen Argument, das unter Rückgriff auf die Marx-
sche Bonapartismustheorie eine zunehmende Verselbständigung dieses Appa-
rats behauptete.38 Auch die Vorhersage, innerhalb der totalitären Staaten sei die
Spannung so groß, daß die faschistischen Regime »über Nacht in ein Chaos von
Gangsterkämpfen sich auflösen könnte[n]«, war alles andere als ein neuer Ge-
danke, beschrieb doch schon Dimitrow das nationalsozialistische System als
»ein Regierungssystem des politischen Banditentums«.39 Geradewegs der Ide-
enwelt des dialektischen Schematismus entsprungen sind schließlich die Aus-
führungen über die vermeintlich »positiven« Aspekte, durch die der Faschismus
über die Zustände vor seinem Machtantritt hinausgehe: die Demolierung der
ohnehin obsolet gewordenen idealistischen Kultur, die Beseitigung des schwer-
fälligen Parlamentarismus, die Zentralisierung der Verwaltung und die formelle
Abschaffung der Stände. 40
Wie stark die Abhängigkeit vom ›traditionellen Marxismus‹ (Postone) war
und welche Restriktionen sich daraus für ein genaueres Verständnis des Fa-
schismus ergaben, zeigte sich besonders deutlich in den Diskussionen, die 1940
im Zusammenhang mit den beiden letzten, dem Ȇbergang vom Liberalismus
zum Autoritarismus in Kontinentaleuropa« gewidmeten Ausgaben der Zeit-
schrift für Sozialforschung geführt wurden. 41 Eine Schlüsselrolle kam dabei
zwei Leitaufsätzen von Friedrich Pollock zu, des engsten Vertrauten von Hork-
heimer. 42 Dieser hatte sich 1929 ausführlich mit den planwirtschaftlichen Versu-

37  Vgl. Max Horkheimer: Egoismus und Freiheitsbewegung (1936), in: HGS Bd. 4, S.  9 –88,

71. Vgl. Dimitrow, Bericht: »Der deutsche Faschismus spielt die Rolle des Stoßtrupps der in-
ternationalen Konterrevolution«; Otto Bauer: Der Faschismus (1936), in: Wolfgang Abend­
roth (Hrsg.): Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die
Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1967, S.  143–168, 143; Karl Korsch an Paul
Mattick: Brief vom 30.9.1940, in: Briefe 1940–1958. Karl Korsch Gesamtausgabe Bd. 9.2, hrsg.
von Michael Buckmiller und Michel Prat, Amsterdam 2001, S.  892.
38  Horkheimer, Die Juden und Europa, S.  319. August Thalheimer: Über den Faschismus

(1930), in: Abendroth, Faschismus und Kapitalismus, S.  19–37, 28; Bauer, Der Faschismus,
S.  153, 156; Leo Trotzki: Der einzige Weg, Berlin 1932. Auf der Bonapartismusthese basiert
noch die Deutung des NS-Regimes als Doppelstaat, die Ernst Fraenkel zu dieser Zeit entwarf:
vgl. meine Studie: Ernst Fraenkel und die Struktur faschistischer Herrschaft. Zur Kritik der
Doppelstaats-These, in: Hartmut Aden (Hrsg.): Herrschaftstheorien und Herrschaftsphäno-
mene, Wiesbaden 2004, S.  39–53.
39  Horkheimer, Die Juden und Europa, S.  319; Dimitrow, Bericht.
40  Vgl. Horkheimer, Die Juden und Europa, S.  321 f.
41  Studies in Philosophy and Social Science 9, 1941, No. 2, S.  195 (Preface).
42  Näher zum folgenden: Wilson 1982, S.  112 ff.; Helmut Dubiel und Alfons Söllner: Die

Nationalsozialismusforschung des Instituts für Sozialforschung – ihre wissenschaftliche Stel-


lung und ihre gegenwärtige Bedeutung, in dies. (Hrsg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Na­
tio­nalsozialismus: Analysen des Instituts für Sozialforschung, 1939–1942, Frankfurt am
Main 1982, S.  7 –31; Manfred Gangl: Politische Ökonomie und kritische Theorie: Ein Beitrag
zur theoretischen Entwicklung der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main etc. 1987; »Staats-
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 137

chen in der Sowjetunion befaßt und war dabei auf das Konzept des »Staatskapi-
talismus« gestoßen, von dem sich die Propagandisten der Neuen Ökonomischen
Politik in Rußland, Lenin und Bucharin, eine Überwindung der durch den
Kriegskommunismus verursachten Schwierigkeiten erhofft hatten. 43 Mit Blick
auf die aktuelle Lage in der Sowjetunion, die durch Stalins Fünfjahrespläne, die
Kollektivierung der Landwirtschaft und die vollständige Liquidierung der ›al-
ten Kapitalisten‹ gekennzeichnet war, zweifelte Pollock zwar, ob sein Modell
des Staatskapitalismus für diesen Fall noch angemessen sei 44 , doch erschien es
ihm um so geeigneter, um den seit Ende des Ersten Weltkriegs »in Europa und
in gewissem Umfang sogar in Amerika« zu beobachtenden »Übergangsprozeß«
zu erfassen, der zu einer fortschreitenden Abkehr von der Marktwirtschaft und
zu einem System direkter politischer Kontrollen über die Wirtschafts- und So-
zialordnung führe. 45 In seinem geschichtlichen Umschlagspunkt könne es dem
Kapitalismus gelingen, zwar nicht seine antagonistische Struktur, wohl aber die
daraus erwachsenden Disproportionalitäten und Störungen des Konjunktur-
verlaufs zu beherrschen und die Gesellschaft, deren Zusammenhang sich unter
dem Marktsystem immer nur naturwüchsig und unter Friktionen hergestellt
hatte, zur »integrated unit« zusammenzuschweißen, »comparable to one of the
modern giants in steel, chemical or motor-car production«. 46 Wie in der von
Hilferding beschriebenen Endphase des Kapitalismus der besondere Charakter
des Kapitals erloschen und dieses zur ›einheitlichen Macht‹ geworden sei, die
den Lebensprozeß der Gesellschaft souverän beherrsche47, so würde der Staats-
kapitalismus alle tradierten vermittelnden Instanzen eliminieren und an die
Stelle einer auf Tausch und Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaft eine
»command economy« setzen, die nicht mehr dem Primat der Ökonomie, son-
dern demjenigen der Politik unterstünde. 48 Am weitesten fortgeschritten in die-
ser Richtung war nach Pollock die »totalitäre Form des Staatskapitalismus«, für
die das nationalsozialistische Deutschland stand. Unverkennbare Tendenzen,

kapitalismus« und Dialektik der Aufklärung, in ders. und Gérard Raulet (Hrsg.): Jenseits
instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am
Main etc. 1998, S.  158–186; Moishe Postone und Barbara Brick: Critical Theory and Political
Economy, in: Seyla Benhabib, Wolfgang Bonß und John McCole (Hrsg.): On Max Horkhei-
mer. New Perspectives, Cambridge, Mass. etc. 1993, S.  215–256; Moishe Postone: Critique,
State, and Economy, in: Fred Rush (Hrsg.): The Cambridge Companion to Critical Theory,
Cambridge etc. 2005, S.  165–193.
43 Vgl. Friedrich Pollock: Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917–

1927, Leipzig 1929, S.  119 f.


44  Vgl. Frederick Pollock: State Capitalism. Its Possibilities and Limitations, in: Studies in

Philosophy and Social Science 9, 1941, S.  200–226, 221.


45  Vgl. ebd., S.  200 f.
46  Ebd., S.  206.
47  Vgl. Hilferding 1973, S.  323.
48  Frederick Pollock: Is National Socialism a New Order? In: Studies in Philosophy and

Social Science 9, 1941, S.  4 40–455, 453.


138 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

die dorthin wiesen, machte er jedoch auch in der »demokratischen Form des
Staatskapitalismus« aus, wie sie etwa in Großbritannien und den USA beheima-
tet sei. 49
Während Horkheimer trotz mancher Vorbehalte bereit war, sich diese Typo-
logie zu eigen zu machen und dies auch gegenüber Kritikern wie Franz Neu-
mann verteidigte50 , meldete Adorno Bedenken gegen die undialektische An-
nahme an, »daß in einer antagonistischen Gesellschaft eine nicht antagonisti-
sche Ökonomie möglich sei.«51 Hatte er sich schon zuvor, unabhängig von
Pollocks Texten, gegen eine Übernahme des von Hilferding ventilierten Be-
griffs des »Generalkartells« ausgesprochen und dem die Behauptung entgegen-
gehalten, der Fortbestand der Monopole sei an den Fortbestand ihres Kampfes
gebunden, würde doch in dem Augenblick, in dem die Konkurrenz gänzlich
verschwände, »der Vorwand für die Ausbeutung und die Herrschaft verschwin-
den«52 , so befürchtete er für das Staatskapitalismus-Heft irreparablen Schaden,
weil Pollock Horkheimers Motive in einer Weise simplifiziere und entdialekti-
siere, die sie in ihr Gegenteil verkehre.53 Gleichwohl mußte auch Adorno beken-
nen, zu einer Lösung des von Pollock aufgeworfenen Problems außerstande zu
sein – der »Frage, ob die herausgearbeitete Tendenz einer krisenlos von oben
gelenkten Ökonomie wirklich die objektive Tendenz der Realität ausdrückt
oder ob die ideale Reinheit dieser Konstruktion durch den antagonistischen Zu-
stand der Gegenwart auch für die Zukunft im Prinzip ausgeschlossen ist.« Ins-
tinktiv, also nicht auf der Basis einer theoriegeleiteten Analyse, neige er zu fol-
gender Sicht:
»richtig ist an der Konzeption ihr Pessimismus, d. h. die Auffassung, daß die Chancen
der Perpetuierung der Herrschaft in ihrer unmittelbaren politischen Form größer sind
als die herauszukommen. Falsch ist der Optimismus, auch der für die andern: was sich
perpetuiert, scheint mir nicht sowohl ein relativ stabiler und in gewissem Sinn sogar ra-
tionaler Zustand als eine unablässige Folge von Katastrophen, Chaos und Grauen für
eine unabsehbar lange Periode und damit doch auch wieder die Chance des Ausbruchs,
die in der ägyptischen Vision zu kurz kommt.«54

49  Vgl. Pollock, State Capitalism, S.  223 f.


50  Vgl. Franz Neumann an Max Horkheimer, Brief vom 23.7.1941, in: HGS Bd. 17, S.  103 ff.;
Max Horkheimer an Franz Neumann, Brief vom 2.8.1941, ebd., S.  115 ff.
51  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 8.6.1941, in: A/H Bd. 2, S.  139. Vgl.

auch die Äußerung Adornos in der im November 1939 im Institut für Sozialforschung ge-
führten Diskussion über das Verhältnis zum Marxismus: »Alle sagen, der Marxismus sei erle-
digt. Dem gegenüber sagen wir, nein, er ist nicht erledigt, sondern es kommt darauf an, ihm
die Treue zu halten« (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Diskussionen über Sprache
und Erkenntnis, Naturbeherrschung am Menschen, politische Aspekte des Marxismus], in:
HGS Bd. 12, S.  493–525, 524).
52  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom Frühjahr 1940, in: A/H Bd. 2,

S.  66 f.
53  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 8.6.1941, in: A/H Bd. 2, S.  140.
54  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 2.7.1941, in: A/H Bd. 2, S.  160 f.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 139

Adornos Vorschlag, Horkheimer möge Pollocks Text umschreiben, wurde von


diesem nicht befolgt. Als er kurz darauf Adorno den Entwurf für sein Vorwort
zum zweiten Heft des 9. Jahrgangs schickte, in dem Pollocks Aufsatz über den
Staatskapitalismus erschien, insistierte Adorno zwar nicht länger, kam aber
noch einmal auf seine Bedenken zurück und regte an, sich etwas genauer über
das Verhältnis von Monopolismus und Faschismus auszulassen. Die Gleichset-
zung beider, die sich auch in einem Beitrag von Kirchheimer finde, sei viel zu
grob. Besser sei es, auf Hegelsche Weise den Faschismus als den »zu sich selber
gekommenen Monopolismus« zu fassen: »Der Monopolismus schlägt in die
neue Qualität des Faschismus um durch seine Totalität. Durch die Allherrschaft
der Monopole verändert sich die Wirtschaft und die Gesellschaft, weil sie mit
der Eliminierung eben des Marktes identisch ist, den die Monopole beherr-
schen.«55 Wie sich dies mit der Erwartung vereinbaren ließ, »daß vielleicht doch
im Faschismus nicht nur die Entfremdung sondern auch ihr Gegenteil an-
wächst«56 , blieb Adornos Geheimnis, wenngleich ein solches, das er mit der
kommunistischen Orthodoxie teilte.57
Nach der Auflösung des New Yorker Diskussionszusammenhangs und mit
Beginn der kalifornischen Phase der Kritischen Theorie rückte auch Horkhei-
mer von dem ab, was Adorno, wohl in Anlehnung an einen Topos Max We-
bers, die »ägyptische Vision« nannte.58 Wie die häufige Verwendung der dem
zeitgenössischen Slang entlehnten Bezeichnung »Racket« in den diversen Ent-
würfen und Fragmenten des Jahres 1942 zeigt, sah er in dem von Pollock
postulierten »Primat der Politik« mehr und mehr nur ein Oberflächenphäno-
men, während die eigentlich wichtigen Entscheidungen aus den »Verhandlun-

55  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 18.8.1941, in: A/H Bd. 2, S.  195.
56  Ebd., S.  196.
57  Man vergleiche einmal mehr Dimitrow, Bericht: »Der Faschismus, der sich anschickte,

die Meinungsverschiedenheiten und die Gegensätze im Lager der Bourgeoisie zu überwin-


den, verschärft diese Gegensätze noch mehr. Der Faschismus versucht, sein politisches Mono-
pol zu errichten, und beseitigt gewaltsam die anderen politischen Parteien. Aber das Vorhan-
densein des kapitalistischen Systems, das Bestehen der verschiedenen Klassen und die Ver-
schärfung der Klassengegensätze führen unvermeidlich zur Erschütterung und Sprengung
des politischen Monopols des Faschismus. […] In einem faschistischen Lande kann die Partei
der Faschisten ihr Monopol nicht lange aufrechterhalten, weil sie nicht imstande ist, sich die
Aufgabe der Beseitigung der Klassen und der Klassengegensätze zu stellen. Sie hebt die legale
Existenz der bürgerlichen Parteien auf, aber eine Reihe von ihnen besteht illegal weiter. Die
Kommunistische Partei aber marschiert auch unter den illegalen Verhältnissen vorwärts,
stählt sich und leitet den Kampf des Proletariats gegen die faschistische Diktatur. Auf diese
Weise muß das politische Monopol des Faschismus unter den Schlägen der Klassengegensätze
zusammenbrechen.«
58  Vgl. Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: MWG

Bd. I/15, S.  432–596, 464. Der Topos zielt dort auf eine mögliche Ausschaltung des Privatkapi-
talismus und eine hieran anschließende Fusionierung der privaten und öffentlichen Bürokra-
tien, wie Weber sie als mögliches Resultat einer sozialistischen Revolution in Deutschland
befürchtete.
140 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

gen von Rackets« resultierten. Die Regierungen erschienen ihm als bloße
»Vollzugsapparate, die den jeweiligen Stand der Kräfte, von denen sie abhän-
gen, nicht rational durchdringen können«, die herrschende Klasse nicht als
Einheit, sondern als ein Ensemble heterogener Gruppen, zu denen er im Ge-
gensatz zu Pollock auch die Interessenverbände der Arbeiterschaft zählte.59
Auf seine Anregung hin stellte Adorno eine Liste von Racketkategorien zu-
sammen, die Horkheimer für erste Notizen zu einem geplanten Buch über die-
sen Gegenstand verwendete.60 Als Leitlinie sollte dabei die Idee dienen, »daß
die Geschichte eine Geschichte von untereinander und gegen den Rest der Ge-
sellschaft kämpfenden Rackets ist.«61
Adorno wiederum ließ sich davon zu neun Thesen über die Klassentheorie
inspirieren, die dem marxistischen Konzept sowohl Wahrheit wie Unwahrheit
bescheinigten: ersteres, weil es die Einheit der Klasse designiere, »in der sich
die Partikularität des bürgerlichen Interesses verwirklicht«; letzteres, weil die
Realität durch die »Nichteinheit der Klasse« bestimmt sei: ihre Dissoziation
unter dem Druck der Herrschaftsverhältnisse.62 Deren Entwicklung aber er-
schien Adorno zugleich als Bedingung der Möglichkeit des Übergangs zum
Faschismus: »Die jüngste Phase der Klassengesellschaft wird von den Monopo-
len beherrscht; sie drängt zum Faschismus, der ihrer würdigen Form politi-
scher Organisation.«63 Auf diese Formel verständigte er sich mit Horkheimer
in der Dialektik der Aufklärung, in der es hieß: »Das Monopol, als vollendetes
Privateigentum, vernichtet dessen Begriff. Der Faschismus läßt vom Staats-
und Gesellschaftsvertrag, den er im Verkehr der Mächte durch geheime Abma-
chungen ersetzt, im Inneren nur noch den Zwang des Allgemeinen gelten, den
seine Diener aus freien Stücken am Rest der Menschheit vollstrecken.«64
Im Lichte dieser Formel erscheint es unangemessen, Horkheimer und Ador-
no pauschal dem Pollock-Lager im Institut für Sozialforschung zuzuordnen,
das im Gegensatz etwa zu Marcuse, Neumann und Kirchheimer die Diskonti-
nuität zwischen Faschismus und hochmonopolistischem Kapitalismus betont

59  Vgl. Max Horkheimer: [Zur Ideologie der Politik heute (Fragment)] (1942?), in: HGS

Bd. 12, S.  316–318, 317; [Aufzeichnungen und Entwürfe zur Dialektik der Aufklärung 1939–
1942], ebd., S.  250–295, 260 ff.
60 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.9.1942, in: A/H Bd. 2,

S.  288 ff. Zur Racket-Theorie vgl. die Hinweise des Herausgebers in HGS Bd. 5, S.  439 ff., fer-
ner Asbach 1997, S.  246 ff.; Kai Lindemann: Der Racketbegriff als Gesellschaftskritik. Die
Grundform der Herrschaft bei Horkheimer, in: Zeitschrift für Kritische Theorie 11, 2000,
S.  63–81; Finanzkapitalismus als Beutesystem. Der Neoliberalismus und die Aktualität des
Racket-Begriffs, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2014, H. 9, S.  81–90.
61  Vgl. die Anlage zu: Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.9.1942, in:

A/H Bd. 2, S.  291.


62  Theodor W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in: AGS Bd. 8, S.  373–391,

379.
63  Ebd., S.  376.
64  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  260.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 141

habe.65 Auch wenn es unterschiedliche Akzentuierungen im Institut für Sozial-


forschung gab, halten sich diese doch im großen und ganzen in jenem Rahmen,
der durch die imperialismustheoretische (Um-)Deutung der Marxschen Theo-
rie vorgegeben war. Kapitalismus, lautete der schlichte Kern dieser Doktrin,
führt zu Monopolismus und Imperialismus, dieser wiederum zum Faschismus
als der ihm letztlich adäquaten Herrschaftsform. Diese Sichtweise ist ökono-
mistisch auch dort, wo sie, wie bei Horkheimer und Pollock, das Ende der Öko-
nomie in Aussicht stellt; und sie ist funktionalistisch auch dort, wo, wie bei
Neumann, ein Analyserahmen gewählt wird, der dem Faschismus zwar eine
gewisse Eigenständigkeit innerhalb eines polyarchischen Arrangements zuge-
steht, darin jedoch nur den Ausdruck der Tatsache zu sehen vermag, daß
Deutschland »in eine neue Periode ursprünglicher Akkumulation« einzutreten
im Begriff sei, »in der Kapital nicht durch den Produktionsprozeß, sondern al-
lein durch Gewalt und Terror, also mit politischen Mitteln akkumuliert wird.«66
Ökonomismus und Funktionalismus aber haben die Kritische Theorie davon
abgehalten, dem Faschismus als solchem die gebührende Aufmerksamkeit zu
widmen. Nach Analysen der sozialen Zusammensetzung der faschistischen Be-
wegungen und Parteien sucht man vergeblich, desgleichen nach Untersuchun-
gen der Herrschaftsstruktur sowie der den Aufstieg des Faschismus begünsti-
genden oder hemmenden Faktoren in der institutionellen Ordnung. Versuche,
sich die Ergebnisse nichtmarxistischer Forschung zunutze zu machen, wie sie
im Anschluß an Max Weber von Hans Gerth oder im Anschluß an Tönnies von
Rudolf Heberle erarbeitet wurden67, sind nirgends erkennbar, man zog es offen-
bar vor, unter sich zu bleiben. Die Rolle der Ideologie im Faschismus hielt ledig-
lich Marcuse für untersuchenswert, verfing sich aber in dem von Anbeginn ver-
fehlten Unternehmen, die unterschiedlichen Strömungen der radikalen deut-
schen Rechten zu einer »neuen politischen Weltanschauung« zu synthetisieren,
dem »heroisch-völkischen Realismus«68 – ein Vorhaben, dem die Disparatheit
der von Marcuse angeführten Komponenten nicht weniger entgegenstand als
die Tatsache, daß die meisten davon bei der NSDAP auf dezidierte Ablehnung
stießen. Horkheimer dagegen war der Meinung, die Ideologien seien sekundär,
der Faschismus könne seine Losungen fast wie seine Generale wechseln69 – was
zwar in gewissem Sinne zutrifft, andererseits aber darüber hinweggeht, daß für

65  So aber: Dubiel 1978, S.  97. Zuletzt noch Ziege 2009, S.  104 ff.
66  Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944,
Frankfurt am Main 1977, S.  544.
67  Vgl. Hans Gerth: The Nazi Party: Its Leadership and Composition, in: American Jour-

nal of Sociology 45, 1940, S.  517–541. Ein Hilfeersuchen von Gerth im Herbst 1937 wurde von
Horkheimer abschlägig beschieden: vgl. die Briefauszüge in A/H Bd. 1, S.  420 f.- Von Rudolf
Heberles Studie über die Landvolkbewegung erschien 1945 eine gekürzte englische Überset-
zung: From Democracy to Nazism, Baton Rouge 1945. Beide lebten seit 1938 in den USA.
68  Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, S.  7.
69  Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, S.  275.
142 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

Teilapparate bestimmte Ideologeme durchaus nicht beliebig waren: so etwa für


die SS der Gedankenkreis der sogenannten Nordischen Bewegung.70 Kurzum:
als Objekt der politischen Soziologie ist der Faschismus für die Kerngruppe der
Kritischen Theorie, allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz, terra incog-
nita geblieben.

II.

Das für den traditionellen Marxismus grundlegende Manko, mehr Gründe für
die Tendenz modern-kapitalistischer Gesellschaften zum Faschismus angeben
zu können als für deren Ausbleiben, hat sich auch in der Rezeption der psycho-
analytischen Sozialpsychologie durch die Kritische Theorie niedergeschlagen.
Gewiß markierte die Entscheidung zur Förderung der Sozialpsychologie, die
Horkheimer gleich im ersten Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung ver-
kündete, eine Abstandnahme vom orthodoxen Marxismus, für den Psychologie
eine bürgerliche Angelegenheit war.71 Die näheren Ausführungen über den Sta-
tus, der dieser Disziplin im Rahmen des Forschungsprogramms des Instituts
zugedacht war, zeigen indes, daß wesentliche Vorgaben der »ökonomischen Ge-
schichtsauffassung« erhalten blieben72 , so daß man allenfalls von einer hetero-
doxen Abwandlung des traditionellen Marxismus sprechen kann. Das Ökono-
mische, versicherte Horkheimer, sei »grundlegend«, »das Umfassende und Pri-
märe«, sollten sich doch aus ihm »die relativ statischen psychischen Verfassungen
der Individuen, Gruppen, Klassen, Rassen, Nationen« ergeben, welche im Be-
griff des »Charakters« zusammenzufassen seien.73 Folgerichtig kam der Psy-
chologie nur die Rolle einer »Hilfswissenschaft« zu, die überall dort zu Rate zu
ziehen war, wo menschliches Handeln sich nicht gemäß der aus dem gesell-
schaftlichen Produktionsprozeß resultierenden rationalen Interessenlage voll-
zog, »sondern durch eine das Bewußtsein verfälschende Triebmotorik be-
stimmt« wurde.74
Auch für Erich Fromm, der seit 1931 als fester Mitarbeiter im Institut für So-
zialforschung für die Ausarbeitung dieses Programms fachlich zuständig war,
fiel der Psychologie vor allem die Aufgabe einer »Ergänzung« des Historischen
Materialismus zu: die Lücke zu füllen, die Marx und Engels zwischen ›Basis‹

70 Vgl. meine Studien: Die ›Nordische Bewegung‹ in der Weimarer Republik, in: Zeit-

schrift für Geschichtswissenschaft 57, 2009, S.  485–509; Der Streit um den ›nordischen Ge-
danken‹ in der völkischen Bewegung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62,
2010, S.  1–27.
71  Vgl. Wilson 1982, S.  80 f.
72  Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: HGS Bd. 3, S.  48–69, 55.
73  Ebd., S.  57, 65.
74  Ebd., S.  57, 59.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 143

und ›Überbau‹ gelassen hätten.75 Allerdings bestimmte Fromm die ›Basis‹ deut-
lich mehr in einem naturalistischen und biologischen Sinne als Horkheimer,
identifizierte er sie doch meist mit der »Triebbasis«, die er zu den »gesellschaftli-
chen Produktivkräften« rechnete.76 Das eröffnete nach der einen Seite eine Per-
spektive, nach der die generelle Aufwärtsentwicklung dieser Produktivkräfte,
von der Fromm wie alle Marxisten überzeugt war, auch eine Reifung der Trieb-
struktur einschloß, was nach den Vorgaben von Freuds Libidotheorie vor allem
bedeutete: eine Abschwächung der prägenitalen, d. h. oralen und analen Fixie-
rungen sowie ein »Anwachsen der genitalen Charakterzüge«.77 Inwieweit dies
beim Proletariat und bei den »objektiv fortgeschrittensten Teilen der Bourgeoi-
sie« bereits der Fall sei, glaubte Fromm 1932 noch nicht entscheiden zu können,
»weil der ›genitale Charakter‹ auch personalpsychologisch-klinisch noch so we-
nig untersucht« sei.78 Nach einem Revirement der Leitunterscheidungen, das
den »genitalen Charakter« durch den »matrizentrischen Typ« ersetzte, zeigte
sich Fromm indessen zuversichtlich, daß dem »Anwachsen der Produktivkräf-
te« eine Zunahme »neuer matrizentrischer Tendenzen« entspreche, wie zu er-
warten vor allem beim Proletariat als jener Klasse, »bei der die Antriebe zu ei-
nem ganz der Arbeit gewidmeten Leben im wesentlichen von einem ökonomi-
schen und nur zum Teil von einem verinnerlichten Zwang ausgehen.«79
Nach der anderen Seite war jedoch zu berücksichtigen, daß die libidinösen
Strebungen plastisch und veränderbar waren und sich daher »weitgehend –
wenn auch in gewissen Grenzen – der gegebenen ökonomischen und sozialen
Situation« (marxistisch gesprochen: den jeweiligen Produktionsverhältnissen)
anpaßten.80 Marx mit Sombart und beide wiederum mit Freud kombinierend,
nahm Fromm für die kapitalistische Gesellschaft eine Prädominanz »analer«
bzw. »patrizentrischer« Charakterzüge an, welche sich in Sexualeinschrän-
kung, Sammel- und Sparzwängen, rigider Disziplin und Mitleidlosigkeit mani-
festierten.81 Soziale und wirtschaftliche Relevanz hätten diese Züge allerdings
nur in der Aufstiegsphase des Kapitalismus besessen. Im Hochkapitalismus da-
gegen mit seinen bürokratischen Riesenbetrieben träten sie im gleichen Maße
zurück, wie der klassische Typ des selbständigen Unternehmers, der gleichzei-

75  Vgl. Erich Fromm: Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die

Sozialpsychologie (1932), in ders. 1971², S.  41–70, 46. Den Beitrag Fromms zur Kritischen
Theorie erörtert Gunzelin Schmid Noerr: Zwischen Sozialpsychologie und Ethik – Erich
Fromm und die »Frankfurter Schule«, in: Psyche 55, 2001, S.  803–834.
76  Vgl. Erich Fromm: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934),

in ders. 1971², S.  77–114, 101 f. Zu Fromms Naturalismus vgl. Dahmer 1973, S.  337 ff.; Bonß
1982, S.  380 ff.
77  Fromm, Die psychoanalytische Charakterologie, S.  68.
78 Ebd.
79  Fromm, Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie, S.  112.
80  Ebd., S.  102.
81  Vgl. Fromm, Die psychoanalytische Charakterologie, S.  65.
144 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

tig Eigentümer und Leiter des Unternehmens sei, an Funktionen verliere.82 Nur
in einer Gesellschaftsschicht blieben sie erhalten: im Kleinbürgertum. Und dies
war denn auch die Schicht, die nach Fromm vor allen anderen als Träger des
Faschismus wie des Nationalismus in Frage kam.83
Als soziologische Verortung des Faschismus war dies nicht originell. Die Zu-
ordnung zum Kleinbürgertum findet sich schon Anfang der 20er Jahre bei ita­
lienischen Beobachtern wie Giovanni Zibordi und Luigi Salvatorelli.84 In
Deutschland wurde sie vor allem durch die obenerwähnten Analysen Theodor
Geigers oder Carlo Mierendorffs bekannt und war übrigens auch in Frankfurt
vertreten durch Hendrik de Man.85 Originell, aber über Andeutungen nicht hi-
nausgeführt, war hingegen die These einer »Verstärkung des patrizentrischen
Komplexes […] bei den im Kampf gegen den Marxismus entstandenen Bewe-
gungen«.86 War die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Aufstiegsphase durch eine
demokratische, auf Identifizierung beruhende Autoritätsstruktur gekennzeich-
net, die einer wie immer auch geringen Anzahl von Individuen das Einrücken in
Führungspositionen ermöglichte87, so entsprach dem »Monopolkapitalismus«
mit seiner weitaus schärferen sozialen Ungleichheit eine »extreme Autoritäts-
struktur«, die der Masse der Machtlosen nur mehr die Möglichkeit bot, im Wege
der »Partizipation«, »durch masochistische Hingabe an eine höhere, gewaltige
Macht« eine »narzißtische ›Ersatzbefriedigung‹« zu erlangen; wobei diese Macht
nicht nur durch einen persönlichen Herrscher, sondern auch durch Kollektive
wie Nation oder Rasse repräsentiert werden konnte.88 Im Anschluß an Karen
Horneys Bestimmung des Masochismus als einer grundlegenden seelischen
Haltung, »die vor allem durch eine Schwächung der normalen Aggressivität, der
Fähigkeit, Ansprüche aktiv und selbständig durchzusetzen« bestimmt sei89 , un-

82  Vgl. ebd., S.  67. Im Prinzip ist auch dies schon bei Sombart angedeutet: vgl. Werner Som-

bart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München


und Leipzig 1923³, S.  463.
83  Vgl. Fromm, Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie, S.  113; Die

psychoanalytische Charakterologie, S.  69; Zum Gefühl der Ohnmacht, in: Zeitschrift für So-
zialforschung 6, 1937, S.  94–118, 117. Vgl. auch Carsten Schmidt: Der autoritäre Charakter.
Erich Fromms Beitrag zu einer politischen Psychologie des Nationalsozialismus, Berlin 2009,
S.  197 ff.
84  Vgl. die Auszüge in: Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, Königstein

19795, S.  86 f., 130 ff.


85  Vgl. de Man, Sozialismus und Nationalfascismus. Aufgegriffen wurde diese Deutung

später durch Seymour Martin Lipset und zur These vom »Extremismus der Mitte« verdichtet.
Sie ist durch die empirische Wahlsoziologie stark relativiert worden: vgl. Jürgen W. Falter:
Hitlers Wähler, München 1991.
86  Fromm, Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie, S.  113 f.
87 Vgl. Erich Fromm: Sozialpsychologischer Teil, in [Max Horkheimer; Erich Fromm;

Herbert Marcuse]: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut
für Sozialforschung, Paris 1936, S.  77–135, 133 f.
88  Ebd., S.  113.
89  Ebd., S.  114 ff, 110 f.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 145

ter Berücksichtigung weiterhin der analytischen Erfahrung, »daß zu einer cha-


rakterologischen Struktur, die den Masochismus enthält, notwendigerweise
auch der Sadismus gehört«, prägte Fromm den Typus des »autoritär-masochisti-
schen« oder auch »sado-masochistischen Charakters«, worunter er nicht die se-
xuellen Perversionen gleichen Namens verstand, sondern weit mehr: eine
»Grundeinstellung«, die ihren Ausdruck in einem bestimmten Verhältnis zur
Autorität, »in einem Lebensgefühl und einer Weltanschauung« besaß.90 Man
geht nicht fehl, wenn man darin das psychoanalytische Pendant zu der von
Horkheimer, Pollock und Marcuse skizzierten Entwicklungstendenz vom
Konkurrenzkapitalismus zur kapitalistischen Planwirtschaft, von der bürgerli-
chen Gesellschaft zum autoritären Staat und vom Liberalismus zum hero-
isch-völkischen Realismus sieht.91 Das wird durch den Forschungsbericht des
Instituts für Sozialforschung von 1938 bestätigt, der unter den geplanten Buch-
projekten neben der bereits erwähnten Theorie des Faschismus auch eine psy-
chologische Studie mit dem Titel »Der Mensch im autoritären Staat« ankündig-
te. Sie sollte um die »sado-masochistische Charakterveranlagung« zentriert
sein, »die im Zusammenhang mit den Existenzbedingungen bei manchen sozia­
len Schichten zur herrschenden [Triebstruktur] geworden ist.«92
Daß dieses Vorhaben nur in sehr reduzierter Form ausgeführt wurde93 , lag
nicht primär an den persönlichen Konflikten, die um diese Zeit zwischen
Fromm und dem engeren Kreis um Horkheimer eskalierten und Ende 1939 zu
Fromms Ausscheiden aus dem Institut führten. Es lag vor allem am Zuschnitt
des Forschungsprogramms. Um die Vermutung zu erhärten, daß der sado-
maso­chistische Charakter eine »Sonderform des Analcharakters« sei, die sozial
gesehen im Kleinbürgertum ihre Basis habe94 , hätte Fromm sich nicht mit dem
pauschalen Hinweis auf ein Anwachsen der Widersprüche innerhalb der Ge-
sellschaft begnügen dürfen. Vielmehr hätte er begründen müssen, inwiefern die
Stärke, mit der sich dieser Charakter entwickle, von der Position dieser Klasse
im Sozialgefüge abhing. Statt dessen häufte er Argumente an, die ihn als ein
allgemeines Begleitphänomen hierarchisch aufgebauter, patrizentrischer Ge-
sellschaften erscheinen ließen, von den durch die Religion erzeugten Schuldge-
fühlen über die Verklärung des Schicksals bis hin zur forciert vorgetragenen
Behauptung einer Spaltung des Liebeslebens in physiologische Heterosexualität
und psychische Homosexualität.95

90  Ebd., S.  75, 72, 76, 78.


91 »Die Homogenität in der grundsätzlichen Diagnose« wird gut herausgearbeitet von
Wiggershaus 1986, S.  164.
92  Horkheimer, [Idee, Aktivität und Programm des Instituts für Sozialforschung], S.  161 f.
93  Vgl. Erich Fromm: Escape from Freedom, New York 1941. Näher zu diesem Buch: Wil-

son 1982, S.  162 ff.


94  Vgl. Bonß 1982, S.  389; Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S.  125.
95  Vgl. Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S.  130, 118 f., 125.
146 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

So wurde, was als Idealtyp zur Messung von Nähe und Abstand bestimmter
psychischer Dispositionen gemeint sein mochte, begriffsrealistisch umgedeutet
zu einem Generalschlüssel für die Gesellschaftsentwicklung während des größ-
ten Teils der bekannten Geschichte, mit Ausnahme der ›primitiven‹ und der
frühbürgerlichen Ordnungen.96 Und obschon Fromm beteuerte, daß die sa-
do-masochistische Struktur in den verschiedenen Gesellschaftsklassen unter-
schiedlich stark ausgeprägt sei, präsentierte er sie doch an anderer Stelle im Sin-
ne eines klassenübergreifenden Kollektivbegriffs: »der masochistische Charak-
ter – in jenen nicht pathologischen Erscheinungsformen – ist so weitgehend
derjenige der Mehrzahl der Menschen unserer Gesellschaft, daß er für Forscher,
die den Charakter der bürgerlichen Menschen für den ›normalen‹ und natürlich
halten, infolge der mangelnden Distanz gar nicht zum wissenschaftlichen Pro-
blem wird.«97 Wie aber sollte unter all diesen Masochisten noch zwischen Fa-
schisten und Nichtfaschisten, potentiellen und aktuellen Faschisten unterschie-
den werden? Auf diese Frage hatte Fromms Sozialpychologie, die in Wahrheit
eine Religionspsychologie (und im übrigen keine sonderlich präzise) war98 , kei-
ne Antwort.
Im Institutskreis lösten Fromms Beiträge unterschiedliche Reaktionen aus.
Breite Zustimmung fand die soziologische Verortung des Faschismus. Horkhei-
mer machte das Kleinbürgertum und den »Lumpenmob« für diese pseudorevo-
lutionäre Bewegung verantwortlich und entdeckte Vorstufen dazu schon im
Terreur der Französischen Revolution.99 Marcuse schloß sich dem im Prinzip
an und bezeichnete den Nationalsozialismus als die »erste und einzige ›Revolu-
tion der Mittelschichten‹ in Deutschland«, die eine »Wiederbelebung bestimm-
ter Formen jener terroristischen Politisierung« mit sich gebracht habe, die für

96  Ebd., S.  132.


97  Ebd., S.  113.
98  Vgl. nur die folgende Passage (ebd., S.  119): »Die Bestimmung der Religiosität als des

Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit und zwar einer nicht zu überwindenden, son-
dern zu genießenden ist die Bestimmung des masochistischen Weltgefühls überhaupt; die
Idee der Erbsünde, die alle zukünftigen Geschlechter in unabänderlicher Weise belastet, ist
für die masochistische Moral charakteristisch.« Der religionspsychologische Einschlag bei
Fromm kommt nicht von ungefähr. Seine 1922 bei Alfred Weber geschriebene Dissertation
befaßte sich mit dem Diaspora-Judentum, eine andere Arbeit mit dem Christus-Dogma. Vgl.
Erich Fromm: Das jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums, in: Schriften aus
dem Nachlaß, hrsg. von Rainer Funk › Bd. 2, Weinheim 1989; Die Entwicklung des Christus-
dogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion
(1930), in: Erich Fromm Gesamtausgabe, Bd. 6, München 1989, S.  11–81.
99  Vgl. Horkheimer, Dämmerung, S.  4 41 f.; Egoismus und Freiheitsbewegung, S.  79. Zum

Rekurs auf Fromm vgl. S.  32 f. Adorno schätzte diesen Text, den er als »Sadismusarbeit« be-
zeichnete, außerordentlich: vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom
29.6.1936, in: A/H Bd. 1, S.  174 f. Auch der von Horkheimer verfaßte De Sade-Exkurs in der
Dialektik der Aufklärung verdankt Fromms Konzept manches.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 147

die Revolutionen in Westeuropa typisch gewesen seien.100 Der Zusammenhang


mit dem sadomasochistischen Charakter schien ebenfalls einzuleuchten, doch
stieß sich Adorno an der psychoanalytischen Begründung. Durch seine frühe
Schrift über den Begriff des Unbewußten mit der Psychoanalyse vertraut, ob-
schon gegenüber deren therapeutischer Dimension auffällig abwehrend101, warf
er Fromm vor, die analytische Reduktion nicht weit genug zu treiben und es bei
Oberflächenphänomenen zu belassen. Da die von Fromm im Institut besetzte
Stelle, auf die offenbar auch Adorno ein Auge geworfen hatte102 , von größter
Wichtigkeit sei, müsse darauf geachtet werden, daß »die Beziehung von Psycho-
logie und Gesellschaft nicht aufs Adlerianische nivelliert« werde, wofür es lei-
der bei Fromm einige Anhaltspunkte gebe.103
Besonders mißfiel Adorno die »bruchlose Übertragung der individuellen
Psychologie auf die Sozialtheorie«.104 Indem er sich am Modell des Individuums
orientiere, blende Fromm die Bedeutung der Warenform aus, in der man den
eigentlichen »Kitt« der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen habe (also nicht im
»Masochismus«, wie Fromm meinte).105 Auch dürfe die Rolle der Familie bei
der Vermittlung von Autoritätsstrukturen nicht überschätzt werden, da hierfür
die »fetischisierten Kollektivverbände« inzwischen wichtiger seien.106 In einem
anderen Brief riet er Fromm, sich hinsichtlich der Autorität erst einmal bei Le-
nin zu informieren. In der Tonlage einer ZK-Diskussion über »Revisionismus«
und »Faktionsbildung« fügte er, an Horkheimer gewandt, hinzu: »Ich kann Ih-
nen nicht verschweigen, daß ich in dieser Arbeit eine wirkliche Bedrohung der
Linie der Zeitschrift sehe und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Einwände,
die ich ja nur anzutippen brauche, in einer Ihnen geeignet scheinenden Form
auch Fromm mitteilen wollten.«107 Öffentlich machte Adorno seine Bedenken
erst zehn Jahre später, in einem Vortrag in der Psychoanalytischen Gesellschaft

100  Herbert Marcuse: Die neue deutsche Mentalität (1942), in ders.: Feindanalysen. Über

die Deutschen, hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998, S.  21–72, 27, 24.
101  Vgl. Christoph Schneider: Die Wunde Freud, in: Klein u. a. 2011, S.  283–295, 285.
102  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 24.11.1934, in: A/H Bd. 1,

S.  41 f. Fromm hat später nicht zu Unrecht die Trennung vom Institut auch auf den wachsen-
den Einfluß zurückgeführt, den Adorno »from the very beginning of his appearance in New
York« auf Horkheimer ausgeübt habe: Erich Fromm an Martin Jay, Brief vom 14.5.1971, in:
Kessler und Funk 1992, S.  249–256, 254.
103  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.3.1937, in: A/H Bd. 1, S.  324 f.
104  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 24.11.1934, in: A/H Bd. 1, S.  42.
105  Theodor W. Adorno an Erich Fromm, Brief vom 16.11.1937, in: A/H Bd. 1, S.  540. Vgl.

Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S.  122.


106  Theodor W. Adorno an Erich Fromm, Brief vom 16.11.1937, in: A/H Bd. 1, S.  540.
107  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 21.3.1936, in: A/H Bd. 1, S.  130.

Gegenstand der Kritik war Erich Fromm: Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanaly-
tischen Therapie, in: Zeitschrift für Sozialforschung 4, 1935, S.  365–396. Die Stichworte »Re-
visionismus« und »Faktionsbildung« fallen in einem Brief Adornos an Benjamin vom 2.6.1937,
in: A/B, S.  259.
148 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

zu San Francisco, der 1952 in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Die revi-
dierte Psychoanalyse« erschien.108
Wie Fromms spätere Entwicklung bezeugt, waren Adornos Vorbehalte nicht
aus der Luft gegriffen. Das sollte jedoch nicht über das Ausmaß hinwegtäu-
schen, in dem auch Adorno zentralen Vorgaben Fromms verpflichtet blieb.
Schon der Text, mit dem Adorno 1936 seine für fünf Jahre unterbrochene Prä-
senz im Aufsatzteil der Zeitschrift für Sozialforschung wieder erneuerte, wies
auf die »sadistisch-masochistischen Züge des Jazz« hin und rückte diese Musik-
form, wenngleich mit Bezug auf Deutschland durchaus kontrafaktisch, in die
Nähe des Faschismus.109 Lag der Akzent hier noch mehr auf der masochisti-
schen Komponente, so erweiterte die Studie über den Fetischcharakter in der
Musik die Perspektive, indem sie in die Typologie des neuen Hörers auch die
sadistischen Züge aufnahm, die sich im »verkniffenen Hass dessen« offenbarten,
»der eigentlich das andere ahnt, aber es sich verbieten muss, um ungeschoren
leben zu können, und der darum am liebsten die mahnende Möglichkeit ausrot-
ten möchte.«110 Die »Fragmente über Wagner« präsentierten diesen als »überge-
laufenen Rebellen« und damit als Beispiel für die negative Variante des autoritä-
ren Charakters, der seine Liebe zur Autorität verdrängt.111 Sah Fromm diesen
Typus vorwiegend unter Anarchisten verbreitet, so Adorno unter den ›deut-
schen Sozialisten‹ und »deutschen Revolutionäre[n] vom Schlage des Turnvaters
Jahn und der Burschenschaften«, die für ihn mitsamt der deutschen Jugendbe-
wegung in die Vorgeschichte des Faschismus gehörten.112 Als Repräsentant die-
ser Linie galt ihm Richard Wagner »als virtueller Nazi«, und dies nicht bloß mit
seinen Spätschriften, sondern bereits mit seinen Aufsätzen der Revolutionsperi-
ode, die schon »von unbezweifelbar fascistischem Charakter« seien.113 Auch die
Musik Wagners blieb, wie später noch diejenige Strawinskys, vom Vorwurf

108  Jetzt in: AGS Bd. 8, S.  20–41.


109  Vgl. Hektor Rottweiler [Theodor W. Adorno]: Über Jazz, in: Zeitschrift für Sozialfor-
schung 5, 1936, S.  235–259, 243, 250.
110  Theodor W. Adorno: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des

Hörens, in: Zeitschrift für Sozialforschung 7, 1938, S.  321–356, 339. Vgl. auch S.  350 f.: »Das
regressive Hören ist allemal bereit, in Wut auszuarten. […] Die Mucker, die sich in pathe-
tisch-sadistischen Briefen an die Sendegesellschaften über das Verjazzen heiliger Güter bekla-
gen, und die schäumende Jugend, die an solchen Exhibitionen ihre Freude hat, sind eines
Sinnes. Es bedarf nur der geeigneten politischen Situation, um sie zur Einheitsfront zusam-
menzuschweissen: jene verüben platonische Reinigungsaktionen, diese starten ihre Volks-
und Jugendmusik. Verbrennen werden sie dasselbe.«
111  Theodor W. Adorno: Fragmente über Wagner, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8,

1939, S.  1–49, 37. Vgl. Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S.  131.


112  Adorno, Fragmente über Wagner, S.  30 f. In der Jugendbewegung sei »ein sehr entschei-

dendes Ursprungsmotiv des Faszismus« zu sehen, hieß es in einem Brief Adornos an Hork-
heimer vom 31.1.1936, in: A/H Bd. 1, S.  116.
113  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 8.6.1941, in: A/H Bd. 2, S.  141;

Brief vom 2.11.1937, in. A/H Bd. 1, S.  466.


Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 149

nicht verschont, sado-masochistische Züge zu kultivieren.114 Im Feld der Litera-


tur entdeckte Adorno ähnliches in Hofmannsthals ›blutrünstiger‹ Symboltheo-
rie, »welche die finsteren politischen Möglichkeiten der Neuromantik einbe-
greift.«115 Schließlich fand auch Fromms Behauptung eines Zusammenhangs
zwischen Faschismus und unterdrückter Homosexualität bei ihm Resonanz.116
In all diesen Fällen standen psychoanalytische Topoi freilich, wie Richard Klein
zu Recht bemerkt, »durchweg im Dienste einer Entlarvungsattitüde, die ihre
Objekte aburteilt, statt sie methodisch reflektiert zu verstehen zu suchen.«117
Anfang der 40er Jahre war Adorno vorübergehend versucht, Deutungsmuster
der hier angeführten Art zu verabschieden. Psychologie wie Psychoanalyse er-
schienen ihm als inadäquate Mittel zur Erschließung des »neuen unter den Be-
dingungen des Monopol- und Staatskapitalismus sich bildenden Menschenty-
pus«, Konzepte wie der anale oder auch der sadomasochistische Charakter als
überholt.118 Obwohl er von dieser Sichtweise nicht mehr grundsätzlich abrückte
und sich darin von Horkheimer bestärkt sah, der zur selben Zeit seine Skepsis
gegenüber der Psychologie verschärfte und, wie oben gezeigt, lieber von An­
thropologie reden wollte119 , kamen doch beide bei der Arbeit an der Dialektik

114  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 29.11. 1937, in: A/H Bd. 1,

S.  495; Philosophie der neuen Musik, in: AGS Bd. 12, S.  147.


115  Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906 (1942),

in: AGS Bd. 10.1, S.  194–237, 234. Mit dieser Einschätzung ist Adorno allerdings bei Benjamin
auf Widerstand gestoßen. In einem seiner letzten Briefe wandte dieser sich dagegen, Hof-
mannsthal zum Haupt einer Schule zu machen, in deren Zeichen die Gleichschaltung der
deutschen Schriftsteller erfolgt sei. »Hofmannsthal ist 1929 gestorben. Er hat ein non liquet in
der Strafsache, die Sie gegen ihn vertreten, wenn es ihm sonst nicht gesichert wäre, mit seinem
Tod erkauft. Ich würde meinen, Sie sollten diese Stelle nochmals überdenken; ich bin nahe
daran, Sie darum zu bitten.« Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, Brief vom 7.5.1940, in:
A/B, S.  429.
116  Vgl. das ebenso vielzitierte wie fragwürdige Diktum: »Totalität und Homosexualität

gehören zusammen«, in: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschä-
digten Leben (1951), AGS Bd. 4, S.  51. Ferner Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklä-
rung, S.  222 f. Zur Kritik dieses Gedankengangs, der Homosexualität zur pathologischen
Verfehlung einer zur Norm erhobenen heterosexuellen Sozialisation erklärt und damit zu-
gleich denunziert, vgl. Eckart Goebel: Das irre Ganze und der Glücksanspruch des Einzel-
nen. Adorno und die Psychoanalyse, in: Wolfram Ette u. a. (Hrsg.): Adorno im Widerstreit.
Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg und München 2004, S.  482–495, 487 f.
117  Richard Klein: Gemischte Gefühle. Adorno, die kritische Theorie und die psychoana-

lytische Praxis, in: Oliver Decker und Christoph Türcke (Hrsg.): Kritische Theorie – Psycho-
analytische Praxis, Gießen 2007, S.  74–102, 80.
118  Theodor W. Adorno: Notizen zur neuen Anthropologie (1941), in: A/H Bd. 2, S.  453–

471, 453, 455, 468. Noch im Dritten Teil der Minima Moralia, datiert auf 1946 und 1947, heißt
es: »Begriffe wie Sadismus und Masochismus reichen nicht mehr zu. In der Massengesell-
schaft technischer Verbreitung sind sie durch Sensation, das kometenhafte, ferngerückte, ex-
trem Neue vermittelt. Es überwältigt das Publikum, das unterm Schock sich windet und ver-
gißt, wem das Ungeheure angetan ward, einem selbst oder anderen« (S.  271).
119 Vgl. Max Horkheimer an Herbert Marcuse, Brief vom 17.7.1943, in: HGS Bd.  17,
S.  463 ff.
150 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

der Aufklärung wieder auf die Psychoanalyse zurück. Mochte auch deren Ge-
genstand, das Individuum als ›psychologischer Kleinbetrieb‹120 , in vollem Zer-
fall begriffen sein, so hatte sich an ihm doch mit der Psychoanalyse ein kategori-
aler Apparat gebildet, der Einblicke in die Ursachen dieses Zerfalls wie in die
Struktur der Zerfallsprodukte gewährte. Davon zeugen die Odysseus-Passagen,
aber auch die »Elemente des Antisemitismus«, die expressis verbis auf die psy-
choanalytische Theorie der »pathischen Projektion« Bezug nehmen.121 Außer-
dem bot sich die Psychoanalyse dank ihrer Verbreitung im akademischen Milieu
der Vereinigten Staaten als ein Idiom an, in dem sich zentrale Gedanken der
Kritischen Theorie besser vermitteln ließen als in der bis dahin bevorzugten
Sprache der alteuropäischen Dialektik. Tatsächlich ermöglichte erst die Umstel-
lung auf dieses Idiom und die gleichzeitig bekundete Bereitschaft zur Adaption
an die anglo-amerikanischen Methoden des social research ab 1943 die Zusam-
menarbeit mit etablierten Forscherteams wie der Berkeley Public Opinion Stu-
dy Group, die aus drei professionellen Psychologen (R. Nevitt Sanford, Daniel J.
Levinson, Else Frenkel-Brunswik) bestand, von denen eine – Frenkel-Brunswik
– überdies psychoanalytisch ausgebildet und stark an Fromm orientiert war.122
Ob die entscheidenden Impulse nun von Frenkel-Brunswik kamen oder von
einem Adorno, der seine Vorbehalte gegen Fromm entschlossen beiseite schob,
fest steht, daß die Studien über den autoritären Charakter und insbesondere
deren Zentralstück, die berühmte F-Skala, auf einer Operationalisierung des
1936 von Fromm entwickelten sado-masochistischen Charakters beruhten.123
Die drei Hauptvariablen, die zur Erfassung dieses Charakters dienten, zielten
auf mangelnde Wertinternalisierung und daraus resultierenden Konventionalis-
mus, auf autoritäre Aggression sowie autoritäre Unterwürfigkeit und bildeten
darin exakt die von Fromm skizzierte Struktur nach. Eine gewisse Verfeine-
rung ergab sich allenfalls aus der Überlegung, daß es sich durchweg um Symp-
tome der Ich-Schwäche handelte, die sich auch in anderen, direkteren Zügen wie
»Widerstand gegen Intrazeption, in der Disposition zu Aberglaube und Stereo-
typie oder in einer Überbetonung des Ich und seiner angeblichen Stärke« mani-
festierten.124 Auch die übrigen Variablen – Machtdenken und Robustheit, Des-
truktivität und Zynismus, Projektivität und übertriebenes Interesse am Sexuel-
len – drückten dieselbe Konstellation aus. Nicht nur auf Fromm, aber eben auch
auf ihn ging die soziologische Verortung des autoritären Charakters in dem von
Deklassierung bedrohten Mittelstand zurück.125

120  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  233.


121  Vgl. ebd., S.  222 ff.
122  Vgl. Wheatland 2009, S.  238, 245; Ziege 2009, S.  256, 232, 276.
123  Vgl. Ziege 2009, S.  145.
124  Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1973,

S.  53.
125  Vgl. ebd., S.  31, 47, 218 f.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 151

Gegenüber der bis dahin gepflegten Sichtweise, die ideologischen Aspekten


bei der Erforschung des Faschismus nur geringe Bedeutung beimaß, schienen
die Studien insofern einen Fortschritt zu markieren, als sie ausdrücklich den
Anspruch erhoben, »Einblick in die Zusammenhänge zwischen Ideologie und
psychischen Determinanten zu gewinnen«.126 Was Adorno angeht, war dies in-
des nur ein Lippenbekenntnis, war er doch überzeugt, daß die Epoche des
Staatskapitalismus keine Ideologie im eigentlichen Sinne mehr besaß.127 Das
deutsche Beispiel zeigte für ihn überdeutlich, daß die Menschen »durch eine Art
organisierten Konkurrenzmechanismus, durch das sich Drängen nach Privile-
gien und Vorteilen, durch Zugehörigkeit zum Naziapparat, und umgekehrt
durch die Angst vor dem nicht dazu Gehören und schließlich durch die mehr
oder minder vage Hoffnung auf die Änderung ihres Loses bei gelungener Ex-
pansion mitmachen, während von ›Überzeugt-Sein‹ im Sinne eines Glaubens an
die Ideologie keine Rede sein kann«.128 Dieser Überlegung trug er in seiner In-
terpretation der Fragebogenergebnisse über politische und wirtschaftliche The-
men Rechnung, indem er zwischen genuiner und Oberflächen-Ideologie unter-
schied und sich ganz auf die Untersuchung der letzteren beschränkte. Ihre Ei-
genart erschien ihm durch die Dominanz formaler Elemente wie »Unwissenheit
und Konfusion« sowie Stereotypie und Personalisierung bestimmt, die den
Begriff der Ideologie genau genommen fragwürdig machten.129 Was sich im In-
terview-Material zeigte, waren entsprechend denn auch keine Ideologien, son-
dern Simulakren: ›pseudokonservative‹, ›pseudoliberale‹ oder auch ›pseudopro-
gressive‹ Topoi, die im Prinzip austauschbar waren.130
Die Abgrenzung dieser Pseudoformen von den genuinen Formen wurde al-
lein mit psychologischen Mitteln vorgenommen. Von ›genuinen‹ Konservativen
und Liberalen sollten sich die Pseudoformen durch eine mißglückte Identifika-
tion mit autoritären Vorbildern unterscheiden, durch »die mißlungene Ausbil-
dung einer inneren Autorität, des Gewissens«, in deren Gefolge auch die genuin
konservativen oder liberalen Werte nicht hinreichend verinnerlicht würden und
ein starker Bodensatz an Ambivalenzen und destruktiven Tendenzen zurück-
bliebe.131 Pseudokonservatismus, auf den Adorno sich beschränkte, erschien
von hier aus als das politische Korrelat oder besser die politische Repräsentation

126  Vgl. ebd., S.  175.


127 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 30.7.1941, in: A/H Bd. 2,
S.  174.
128  Theodor W. Adorno an die Eltern, Brief vom 2.5.1942, in: A/E, S.  142 f. Ähnliche Ein-

schätzungen finden sich in dem oben angeführten Memorandum Herbert Marcuses über »Die
neue deutsche Mentalität«, S.  43 ff.
129 Vgl. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, S.   180 ff., 187 ff. Vgl. ebd., S.  180:
»Wenn die Menschen nicht wissen, wovon sie reden, verliert der Begriff ›Meinung‹, der
Grundlage jeder Betrachtung von Ideologien ist, an Bedeutung.«
130  Vgl. ebd., S.  215.
131  Vgl. ebd., S.  49, 216 f., 5.
152 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

einer psychischen Struktur, deren Merkmale »Konventionalität und autoritäre


Unterwürfigkeit in der bewußten Sphäre, begleitet von Gewalttätigkeit, anar-
chistischen Impulsen und chaotischer Destruktivität in der unbewußten« sei-
en.132 Da die genuinen Konservativen der Zahl nach zurückgingen, zielte diese
Beschreibung auf die Mehrheit der Bevölkerung, war »Pseudokonservatismus«
nichts anderes als eine Chiffre für deren Habitus.
Soweit es sich dabei um einen allgemeinen sozialpsychologischen Befund
handelte, stimmte dies mit einer Reihe von Diagnosen überein, wie sie auch von
anderen Autoren der modernen Gesellschaft gestellt wurden. Schon vor dem
Ersten Weltkrieg hatte Max Weber über den Typus des »Ordnungsmenschen«
geseufzt, der allenthalben von den bürokratischen Organisationen hervorge-
bracht und perpetuiert werde.133 Einige Jahre später hatte Freud in bezug auf
das Gewissen gemeint, daß »Gott hierin ungleichmäßige und nachlässige Ar-
beit geleistet« habe: »denn eine große Überzahl von Menschen hat davon nur
ein bescheidenes Maß oder kaum so viel, als noch der Rede wert ist, mitbekom-
men.«134 Im gleichen Jahr wie die Authoritarian Personality erschien schließlich
The Lonely Crowd von David Riesman, der mit der These aufwartete, im Zeit-
alter der beginnenden Bevölkerungsschrumpfung und des neuen Mittelstands
werde der ›innengeleitete‹ durch den ›außengeleiteten Menschen‹ abgelöst.135
Mochten solche Diagnosen auch allzu pauschal sein, so zeichneten sie sich
immerhin dadurch aus, daß der beschriebene Sozialcharakter politisch indiffe-
rent und gleichsam mit beliebigen Regimestrukturen kompatibel war. Die Kri-
tische Theorie dagegen eliminierte diese Indifferenz und ordnete den autoritä-
ren Charakter einseitig dem Faschismus als Fluchtpunkt zu. Da sie diesen je-
doch weitgehend undefiniert ließ, geriet nahezu alles, was nicht die hohen
Standards ›autonomen und selbständigen Denkens‹ erfüllte136 , a priori unter
Faschismusverdacht. Die Verfasser der Authoritarian Personality mochten
noch so sehr beteuern, daß die Aktualisierung des faschistischen Potentials, sei-
ne Umsetzung in Verhalten und Handeln, »weitgehend von der sozialökonomi-
schen und politischen Augenblickssituation« abhing137, es ändert nichts daran,
daß von dem gewählten Blickpunkt aus die Unterschiede zwischen potentiell
faschistisch, potentiell autoritär und potentiell antidemokratisch verschwam-
men. In der Deutung, die das Interview-Material durch Adorno erfuhr, war
bereits ein potentieller Faschist, wer gegen Gewerkschaften war, die Steuern für

132  Ebd., S.  205.


133  Vgl. Max Weber: Debattereden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien
1909 zu den Verhandlungen über »Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden« in
ders. 1988², S.  414.
134 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge

(1932/33), in ders., Studienausgabe Bd. I, S.  4 48–608, 500.


135  Vgl. David Riesman: Die einsame Masse (1950), Reinbek 1974, S.  33 ff.
136  Vgl. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, S.  286.
137  Ebd., S.  6.
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 153

zu hoch hielt, ethnische, religiöse oder nationale Vorurteile hegte, zur Religion
ein Verhältnis der Zweckmäßigkeit und der Selektivität unterhielt, nichts von
Utopien hielt, den New Deal ablehnte, Kommunisten und Nazis miteinander
identifizierte, Verschwörungstheorien anhing oder einem pragmatischen Ver-
ständnis von Politik das Wort redete, nach dem es »in der Politik keine objekti-
ve Wahrheit gibt, daß jedes Land, so wie jeder Einzelne, sich verhalten mag, wie
es ihm paßt, daß es allein auf den Erfolg ankommt.«138 Gewiß mögen solche
Merkmale unter Faschisten anzutreffen sein, aber eben nicht nur unter Faschis-
ten. Um diese von Nichtfaschisten zu unterscheiden – und das heißt: von ande-
ren Rechtsradikalen, von Linksradikalen oder selbst von Moderaten – bedarf es
einer Theorie des politischen Feldes, bedarf es vor allem einer Aufmerksamkeit
für die Eigenlogik dieses Feldes, wie sie die Kritische Theorie zu keinem Zeit-
punkt ihres Bestehens aufgebracht hat.
Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, die Psychoanalyse habe für die Kri-
tische Theorie nur als eine weitere Bestätigung des ohnehin feststehenden Ur-
teils gedient, »daß in der Tat die bürgerliche Gesellschaft an ihrem Ende, soweit
sie als bürgerliche bestehen will, tendenziell notwendig auf den Faschismus und
auf den totalitären Staat herauslaufen muß«.139 1935 sprach Adorno mit Blick auf
Deutschland vom »vollzogenen Faszismus« und drückte damit die im Institut
vorherrschende Einstellung aus, die in der Machtübergabe an die NSDAP keine
historische Zäsur zu erkennen vermochte140 – eine Sichtweise, die sich nur um
Nuancen von der Behauptung der KPD unterschied, Faschisierung müsse als
ein Prozeß verstanden werden, in dem die Präsidialregime von Brüning, Papen
und Schleicher bloße Etappen seien.141 Faschismus: das war kein beobachtbares
und begrenzbares politisches Phänomen, sondern eine »universale Tendenz«, die
sich ohne Rest ökonomisch und massenpsychologisch erklären ließ: ökono-
misch durch »das Absterben der Zirkulationssphäre, d. h. das Überflüssigwer-
den des Handels im weitesten Sinn, im monopolkapitalistischen Zeitalter«142 ;
massenpsychologisch durch die längst vor dem ›Vollzug‹ des Faschismus einge-
tretene Bildung von ›Kollektivsubjekten‹, die weder über ein Gewissen, noch
über eine Ich-Instanz mehr verfügten.143 Beide Vorgänge erschienen Adorno als

138  Ebd., S.  277. Vgl. S.  243 ff. (Gewerkschaften), S.  264 (Steuern), S.  289 (Religion), S.  232 ff.

(Utopien), S.  256 ff. (New Deal), 275 (Identifikation von Kommunismus und Faschismus),
S.  332 (Verschwörungstheorien).
139  Theodor W. Adorno: Einführung in die Dialektik (1958), ANS Bd. IV.2, S.  118.
140  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 25.2.1935, in: A/H Bd. 1, S.  57;

Dubiel 1978, S.  34.


141  Instruktiv dazu: Karl Egon Lönne: Thesen zum publizistischen Tageskampf der KPD

gegen den Faschismus: Die »Rote Fahne« – Zentralorgan der KPD«, in: Gesellschaft. Beiträge
zur Marxschen Theorie, Bd. 6, Frankfurt am Main 1976, S.  242–291, 256.
142  Theodor W. Adorno an die Eltern, Brief vom 12.2.1940, in: A/E, S.  65.
143  Adorno, Notizen zur neuen Anthropologie, S.  454.
154 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

von derart überwältigender Gewalt, daß sie früher oder später auch auf die po-
litischen Institutionen durchschlagen mußten:
»Daß der Faschismus ein Exekutor ist, zeigt sich abgesehen von den firing squads we-
sentlich darin, daß die Menschen immer schon vorher genau so sind, wie sie dann vom
Faschismus erst gemacht werden. Die entsetzliche Gewalt dessen, was heute geschieht,
hat den Grund, daß die Formen des politischen Grauens gesellschaftlich gesehen nur
eine Formalität sind, durch die das bestätigt wird, was eigentlich schon geschehen ist.«144

Was eigentlich schon geschehen ist: das hieß nichts anderes, als daß das Festhal-
ten an demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen das Festhalten an
einer Illusion war und damit strenggenommen auch reaktionär, hinderte es
doch die Entfaltung der »progressive[n] Züge«, die der Faschismus gegenüber
dem »verfaulenden Liberalismus« besitzen sollte.145 Es hieß im weiteren die Ver-
abschiedung aller Erwartungen an jene Sphäre, die im traditionellen Marxismus
als juristischer und politischer Überbau vorgestellt wurde, schien es Adorno
doch ausgemacht, »daß der alte Begriff des Überbaus im Staatskapitalismus
nicht mehr gelte«.146 Von hier aus wird Adornos langer Widerstand gegen die
Emigration verständlich, seine Überzeugung, »daß man, ganz gleichgültig wo,
hoffnungslos gefangen ist« und auf die Mörder warten muß; erklärt sich sein
gegen England gehegter Verdacht einer »geheimen Sympathie für die Barba-
ren«, einer Bereitschaft zur Unterwerfung unter »eine Art neues München, in
dem dann endlich die Engländer unter der Nazipeitsche, nach der sie lechzen,
weiterwursteln können«; werden Sätze begreiflich wie der, »daß die sogenann-
ten Demokratien im Grunde nach dem Faschismus lechzen und das Unheil
gleichsam selber herbeigezogen haben.«147 Als Jahre später das NS-Regime wi-
der Erwarten zertrümmert war, war dies kein Anlaß zur Entwarnung, bestand
doch aller Grund zu der Annahme, »daß das von den Nazis vertretene Prinzip
diese überleben wird – auf breiterer ökonomischer Basis, und darum um so
grauenhafter.«148 Anzeichen dafür sah Adorno bereits in den beiden neuen Su-
permächten: bei den Russen, die er seit längerem für zu drei Vierteln faschis-

144  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 29.7.1940, in: A/H Bd. 2, S.  77.
145  Theodor W. Adorno an die Eltern, Brief vom 8.5.1940, in: A/E, S.  77. Wenn Adorno hier
von progressiven Zügen des Faschismus spricht, so nicht im üblichen Sinne des Lobs der
Reichsautobahnen oder der Familienpolitik, sondern gemäß der von Hegel und Marx ererb-
ten dialektischen Denkfigur, wonach erst die äußerste Spitze der Entfremdung den Umschlag
bringt. Entsprechend heißt es im Anschluß an die zitierte Passage: »Offenbar muß die Welt
erst ganz und restlos durch diese Hölle hindurch, bis sie eine Chance hat, zu sich selbst zu
erwachen.« Dagegen hat Horkheimers größere Distanz gegenüber der Dialektik ihn vor sol-
chen Konstruktionen bewahrt. In dem vermutlich von ihm verfaßten Aphorismus »Für
Voltaire« heißt es: »Wenn die faschistischen Mörder schon warten, soll man das Volk nicht auf
die schwache Regierung hetzen« (Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung,
S.  249).
146  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 30.7.1941, in: A/H Bd. 2, S.  174.
147  Theodor W. Adorno an die Eltern, Briefe 8.5., 12.2. und 3.6.1940, in: A/E, S.  66, 77, 91.
148  Ebd., S.  310 (Brief vom 1.5.1945).
Die Wahrheit der modernen Gesellschaft? 155

tisch hielt149 , und bei den Amerikanern, die in ihren diversen Bekehrungs- und
Erweckungsbewegungen über ein nicht minder bedrohliches faschistisches Po-
tential zu verfügen schienen.150 Von der Lagebeurteilung, zu der sein ehemaliger
Rivale im Institut, Herbert Marcuse, damals gelangte, ist dies nicht allzu weit
entfernt.151
Eine Geschichte der Kritischen Theorie wird es bei diesen Feststellungen
nicht belassen können. Sie wird auf die erstaunliche Wendung zur politischen
Pädagogik eingehen müssen, die sich schon im amerikanischen Exil, etwa in
Horkheimers Vorwort zur Authoritarian Personality abzeichnete152 , um dann
in Deutschland zur vollen Entfaltung zu gelangen. Aber erstens ist diese Ge-

149  Vgl. ebd., S.  91 (Brief vom 3.6.1940).


150  Vgl. Theodor W. Adorno: The Psychological Technique of Martin Luther Thomas’ Ra-
dio Adresses (1943), in: AGS Bd. 9.1, S.  7 –141; dt. in ders., Studien zum autoritären Charakter,
S.  360–483. Obwohl diese Studie bemerkenswerte Einsichten in die Trickkiste eines religiösen
Demagogen offeriert, ist doch auch sie viel zu stark auf Psychologie einerseits und ein höchst
vages Verständnis von »Faschismus« andererseits zugeschnitten. Welches immer seine psy-
chologischen Wurzeln sein mögen, Faschismus ist »eine der Massenpolitik des 20. Jahrhun-
derts angemessene politische Praxis« und eo ipso im politischen Feld angesiedelt (Robert O.
Paxton: Die fünf Stadien des Faschismus, in: Mittelweg 16, 2007, S.  55–80, 59). Politische Pra-
xis aber definiert sich durch das Ziel »die Macht über den Staat« zu erobern, und durch die
Schaffung darauf ausgerichteter Organisationen, allen voran: Parteien (vgl. Pierre Bourdieu:
Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S.  51 ff.). Der protes-
tantische Fundamentalismus in den USA, für den Martin Luther Thomas steht, hat jedoch
viele Gesichter. Der Mainstream strebt zwar nach politischer Macht im Staat, tut dies aber
nicht in Form einer eigenen Partei, sondern mittels Infiltration einer bestehenden Partei, der
Republikaner, in der er sich mit anderen Interessen und Ambitionen arrangieren muß. Der
lunatic fringe hingegen, wie er sich gegenwärtig in den christlichen Milizen artikuliert, ist
antietatistisch und lokalistisch, um nicht zu sagen: antipolitisch. Vieles erinnert hier eher an
die völkischen Sekten in Deutschland, von denen Hitler bekanntlich nur mit Verachtung zu
reden pflegte. Aufschlußreiche Einblicke in diese Szene bis in die unmittelbare Gegenwart
bieten James Ridgeway: Blood in the Face. The Ku Klux Klan, Aryan Nations, Nazi Skin-
heads, and the Rise of a New White Culture, New York 1995²; David H. Bennett: The Party
of Fear. From Nativist Movements to the New Right in American History, New York 1995;
Michael Barkun: Religion and the Racist Right. The Origins of the Christian Identity Mo-
vement, Chapel Hill, NC etc. 1997²; Susan Zickmund: Religiöse Verschwörungstheorien und
die Milizen in den USA, in: Heiner Bielefeldt und Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Politisierte
Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt
am Main 1998, S.  301–319.
151  Vgl. Herbert Marcuse: 33 Thesen (1947), in ders., Feindanalysen, S.  129–143, 129: »Nach

der militärischen Niederlage des Hitler-Faschismus (der eine verfrühte und isolierte Form der
kapitalistischen Reorganisation war) teilt sich die Welt in ein neo-faschistisches und sowjeti-
sches Lager auf. Die noch existierenden Überreste demokratisch-liberaler Formen werden
zwischen den beiden Lagern zerrieben oder von ihnen absorbiert. Die Staaten, in denen die
alte herrschende Klasse den Krieg ökonomisch und politisch überlebt hat, werden in absehba-
rer Zeit faschisiert werden, die anderen in das Sowjetlager eingehen.« In einer Hitliste der
politischen Fehlprognosen dürfte diese These einen der oberen Plätze einnehmen.
152  Vgl. Max Horkheimer: Vorwort [zu The Authoritarian Personality] (1950), in: HGS

Bd. 5, S.  415–420.
156 Die Wahrheit der modernen Gesellschaft?

schichte schon geschrieben153 , und zweitens geht es hier nicht um eine Gesamt-
würdigung der Kritischen Theorie, sondern um das, was sie zur Erkenntnis des
Faschismus beizusteuern hat. Und das ist, wie deutlich geworden sein sollte,
nicht viel.

153  Vgl. Albrecht u. a. 1999.


Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Die Rede, mit der Max Horkheimer im Januar 1931 eine neue Phase in der Ge-
schichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung eröffnete, ist oft als Be-
kenntnis zur Interdisziplinarität verstanden worden, als Öffnung zu dem zu-
kunftsweisenden Vorhaben, so verschiedene Disziplinen wie Philosophie, So-
ziologie, Nationalökonomie, Psychologie und Geschichtswissenschaft zu
gemeinsamen Untersuchungen zu vereinigen. Übergangen wird dabei, daß
Horkheimer der Philosophie wohl zumutete, sich weltoffener zu zeigen, jedoch
nicht daran dachte, an ihrem Status als Königsdisziplin zu rütteln. Die von ihm
in Aussicht gestellten Untersuchungen sollten »auf Grund aktueller philosophi-
scher Fragestellungen« durchgeführt werden, geleitet von den »beseelende[n]
Impulse[n]«, welche »die Philosophie als aufs Allgemeine, ›Wesentliche‹ gerich-
tete theoretische Intention den besonderen Forschungen […] zu geben ver-
mag.«1 Kaum fehlgehen dürfte deshalb, wer die zugleich angekündigte »Dikta-
tur der planvollen Arbeit« als ein Regime, wenn nicht der Philosophen schlecht-
hin, so doch derjenigen unter ihnen deutet, die sich der Aufgabe einer
philosophisch inspirierten »Theorie der Gesamtgesellschaft« verschrieben ha-
ben.2 In diesem Sinne sah Horkheimer auch sechs Jahre später die Besonderheit
der Zeitschrift für Sozialforschung in der Entschiedenheit, mit der sich ihre Au-
toren darauf verpflichtet hatten, »eine gemeinsame philosophische Ansicht [zu]
entwickeln und zur Anwendung [zu] bringen.«3 Wie weit diese Auffassung im
Institut geteilt wurde, zeigt noch die Selbstverständlichkeit, mit der Leo Lö-
wenthal, leitender Redakteur der Zeitschrift und eher für Literatur zuständig,
in einem Interview bekannte: »Für mich ist Philosophie immer noch die Köni-
gin der Wissenschaften«. 4

1  Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines
Instituts für Sozialforschung (1931), in: HGS Bd. 3, S.  20–35, 29.
2  Ebd., S.  31; Vorwort [zu Heft 2 des II. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung], in:

HGS Bd. 3, S.  110.


3  Max Horkheimer: Vorwort zum VI. Jahrgang [der Zeitschrift für Sozialforschung], in:

HGS Bd. 3, S.  105–107, 105. Wenn Habermas darin eine »Aufhebung der Philosophie in Ge-
sellschaftstheorie« sieht und aus dem Horkheimer dieser Jahre einen »Anti-Philosoph[en]«
macht, dessen Anliegen die »sozialwissenschaftliche Transformation« der Philosophie gewe-
sen sei, wird Aufhebung zu eng im Sinne von »negare« verstanden: Jürgen Habermas: Bemer-
kungen zur Entwicklungsgeschichte des Horkheimerschen Werkes, in: Schmidt und Altwi-
cker 1986, S.  163–179, 164.
4  Löwenthal 1980, S.  163.
158 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Als Horkheimers Schüler Alfred Schmidt 1970 für den Nachdruck der Zeit-
schrift für Sozialforschung einen Überblick über ihre Geschichte und ihren Mit-
arbeiterstab zu geben hatte, hielt er exakt diese Rangfolge ein. Er stellte zu-
nächst die beiden Philosophen des Kreises vor und erörterte ausführlich deren
Position im damaligen, von Positivismus, Lebensphilosophie und Neuidealis-
mus geprägten intellektuellen Feld. Danach folgten die Fachmenschen (sit venia
verbo), allen voran Erich Fromm für die (Sozial-)Psychologie, Leo Löwenthal
und Walter Benjamin für die Literatur- sowie Theodor W. Adorno für die Mu-
siksoziologie, schließlich, nur sehr kursorisch, Karl August Wittfogel, Henryk
Grossmann, Friedrich Pollock und andere für die Nationalökonomie.5
Daß es sich bei dem einen der beiden Philosophen um Horkheimer handelte,
wird nicht überraschen. Eher schon, daß der zweite nicht Adorno hieß, sondern:
Herbert Marcuse. Über die sachlichen Gründe, die Horkheimer in den frühen
30er Jahren veranlaßten, gegenüber Adorno eine gewisse Distanz zu wahren
und ihn nur zu fachlich begrenzten Aufgaben heranzuziehen, ist an anderer
Stelle schon das Nötige gesagt worden. Hier ist zu klären, warum diese Vorbe-
halte für Marcuse zunächst nicht oder nur in geringerem Maße galten; und wie
sich dieses Verhältnis nach Horkheimers Bündnis mit Adorno gestaltete.

I.

Nimmt man die Bezeichnung »Frankfurter Schule« wörtlich, dann gehörte


Marcuse die längste Zeit nicht dazu: nicht nach dem Zweiten Weltkrieg, als er
sich entschloß, in den USA zu bleiben; aber auch nicht während der Weimarer
Republik. Geboren 1898 in Berlin, studierte er in Berlin und Freiburg, lebte
nach der Promotion 1922 sechs Jahre in Berlin, kehrte dann, nach dem Erschei-
nen von Sein und Zeit, wieder nach Freiburg zurück, wurde Assistent von Hei-
degger und stieß erst nach der Schließung des Frankfurter Instituts zu dessen
Stab, als dieser bereits nach Genf emigriert war.
Über die fast zehn Jahre zwischen der Entlassung aus dem Heeresdienst und
der Assistentenzeit weiß man erstaunlich wenig. In späteren Interviews hat
Marcuse über seine kurze Mitgliedschaft im Reinickendorfer Soldatenrat und
in der SPD berichtet, doch gibt es außer diesen Selbstauskünften keine Belege
für seinen frühen Aktivismus im linksradikalen Sinne, auch nicht für die Anga-
be, er habe bereits zu Beginn der 20er Jahre Marx studiert.6 Die 1922 eingereich-
te Doktorarbeit über den deutschen Künstlerroman macht zwar starken Ge-

5  Vgl. Alfred Schmidt: Die »Zeitschrift für Sozialforschung«. Geschichte und gegenwärti-

ge Bedeutung, in: Zeitschrift für Sozialforschung, hrsg. von Max Horkheimer, Reprint Mün-
chen 1970 und 1980, Bd. 1, S.  5*-63*, 12* ff.
6  Vgl. Jürgen Habermas u. a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1978,

S.  11 f.; Kellner 1984, S.  17.


Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 159

brauch von Lukács, aber nicht von den Texten, die dieser seit seinem Eintritt in
die Kommunistische Partei im Dezember 1918 verfaßt hat, sondern von Die
Seele und die Formen (1911) und Die Theorie des Romans (1920, entstanden
1914/15). Die Arbeit selbst war nach Umfang und Argumentationsniveau eine
bemerkenswerte Leistung, die vom hohen Standard der von Dilthey geprägten
deutschen Literaturwissenschaft zeugt, marxistische Deutungen aber, etwa in
der Manier Franz Mehrings, komplett ignorierte. Von einem ›romantischen An-
tikapitalismus‹, wie ihn Lukács später in seinen vorrevolutionären Schriften
ausmachte, war in dem Buch vollends keine Spur. Im Gegenteil: die romanti-
schen Ausprägungen des deutschen Künstlerromans schnitten aufgrund ihres
Subjektivismus, ihrer Neigung zu Zeit- oder gar Weltablehnung und ihrer Le-
bensfremdheit und –feindlichkeit denkbar schlecht ab, wohingegen Goethe,
Gottfried Keller und Thomas Mann höchstes Lob gespendet wurde.7
Man könnte nun argumentieren, eine konventionelle Doktorarbeit, wie sie ja
auch von Horkheimer und Adorno vorgelegt wurde, sage nichts über den poli-
tischen Standort oder die Weltauffassung des Autors aus. Aber Marcuse gibt in
dieser Schrift, im Unterschied zu den beiden Genannten, durchaus viel von sich
preis. Die deutsche Literaturgeschichte seit dem Sturm und Drang erschien ihm
nicht nur als Wechselspiel zwischen zwei polar entgegengesetzten Typen des
Künstlerromans, die auf dem Gegeneinander des subjektivistischen und realis-
tischen, weltflüchtigen und weltdurchdringenden Künstlertums beruhten. Sie
sollte vielmehr auch einer Steigerungslogik folgen, die »nach der letzten Gipfe-
lung romantischen Künstlertums« im Ästhetizismus des ausgehenden 19. Jahr-
hunderts im Werk Thomas Manns ihren Höhepunkt und zugleich ihr vorläufi-
ges Ende erreicht habe.8 Entscheidend dafür war die Aufhebung des Gegensat-
zes von Kunst und Leben, die sich daraus ergab, daß »die Bürgerlichkeit als eine
Lebensform des Künstlertums« aufgefaßt wurde, als »Beruf«, der vom Künstler
neben handwerklicher Meisterschaft die Übernahme der »ethischen Charakte-
ristika der bürgerlichen Lebensform: Ordnung, Folge, Ruhe, ›Fleiß‹« verlang-
te.9 Indem so »der Künstler […] in die Bürgerlichkeit zurückgeführt, dem Le-
ben aufs neue verbunden« werde, sei der alte Zwiespalt behoben, trete anstelle
des Kampfes der Künstler gegen die Bürger und der Bürger gegen die Künstler
eine »neue[n] Einordnung und Verbundenheit«, die dem Künstler das Erlebnis
einer – wie Marcuse mit Mann sagte – ›wiedergeborenen Unbefangenheit‹ be-
scherte: »ein dankbares, bewußtes Sich-Versenken in die einfachsten Erschei-

7  Vgl. Kellner 1984, S.  22 ff.


8 Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman, in: HMS Bd. 1, S.  7–344, 332 f. Die
Hauptschriften Marcuses werden in diesem Buch nach den am meisten verbreiteten Einzel-
ausgaben zitiert. Für die erst 1978 veröffentlichte Dissertation sowie die kleineren Schriften
wurde die Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag benutzt.
9  Ebd., S.  322 f. Das zuletzt angeführte Zitat übernimmt Marcuse aus Thomas Manns Be-

trachtungen eines Unpolitischen.


160 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

nungen des neugewonnenen Lebens, in das Glück und den Frieden der Gemein-
samkeit.«10 Eine Gemeinsamkeit, deren vorläufigen Höhepunkt Marcuse ausge-
rechnet in jenen Kriegsschriften sah, in denen Thomas Mann sich am
entschiedensten gegen die westliche Demokratie und den kosmopolitischen
Radikalismus und für einen »ironischen Konservativismus« ausgesprochen hat-
te.11 Auch wenn die Inanspruchnahme dieser Schriften durch die radikale Rech-
te nicht so glatt aufgeht, wie diese es gern hätte12 , muß die Wertschätzung gera-
de dieser Texte durch einen Autor, der sich selbst als seit 1918 auf der linken
Seite der Barrikade stehend verortet hat, mindestens als ungewöhnlich bezeich-
net werden.
Es ist richtig: Thomas Manns Werk steht in Marcuses Deutung für eine Über-
windung der Spannung zwischen Kunst und Leben lediglich im Medium der
Literatur, und damit noch nicht für eine »epische Lebens- und Kunstgestal-
tung«, welche »immer und überall […] das Vorhandensein organischer und sinn-
haltiger Lebensformen, einheitlich gebundener und getragener Seinswerte« zur
Voraussetzung hat – »eine ›Gemeinschaft‹ im letzten und tiefsten Sinne.«13 Aber
indem Mann die »Sonderung des Künstlers von seiner Umwelt« aufhob14 , leiste-
te er nach Marcuse von der Seite der Kunst her einen wesentlichen Beitrag zur
Überwindung jener Zerrissenheit und ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹, die
im Roman ihren Ausdruck gefunden hatte. Und indem er das dualistische Welt-
gefühl hinter sich ließ, tat er zugleich einen großen Schritt »zur erlösenden epi-
schen Weltanschauung«, zur Schaffung einer »neue[n] Gemeinschaft«, die damit
dem »deutschen Menschen« als »ein Aufgegebenes« vor Augen gestellt wurde.15
Bekundungen dieser Art und speziell die Evokation des Gemeinschaftsbe-
griffs, bisweilen sogar in seiner Ausprägung als »Volksgemeinschaft«16 , haben
manche veranlaßt, Marcuses Erstlingsschrift in die Nähe jener deutschen
Kriegsideologien zu rücken, die während des Ersten Weltkriegs die Überwin-
dung der angeblich westlichen Bourgeoisgesellschaft und die Einschmelzung
der Individuen in das nationale Kollektiv feierten.17 Parallelen anderer Art

10  Ebd., S.  329.


11 Vgl. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main 1995,
S.  109, 576.
12  Vgl. Stefan Breuer: Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen ›konservativer Re-

volution‹, ästhetischem Fundamentalismus und neuem Nationalismus, in: Politisches Den-


ken. Jahrbuch 1997, S.  119–140.
13  Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S.  330.
14  Ebd., S.  332.
15  Ebd., S.  332 f.
16  Vgl. ebd., S.  210, 216, 227 u. ö.
17  Vgl. Gérard Raulet: Die ›Gemeinschaft‹ beim jungen Marcuse, in: Manfred Gangl und

Gérard Raulet (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen


Kultur einer Gemengelage, Frankfurt am Main und New York 1994, S.  97–108. Allgemein zur
Kriegsideologie: Domenico Losurdo: Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger
und die Kriegsideologie, Stuttgart etc. 1995; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 161

scheinen zum frühen Lukács zu bestehen, der zwar zur Kriegsideologie Dis-
tanz hielt, dafür aber im Osten, in den Werken Tolstois und Dostojewskijs,
Anzeichen für das Auftauchen einer »reinen Seelenwirklichkeit« entdeckte,
»in der der Mensch als Mensch – und nicht als Gesellschaftswesen, aber auch nicht als
isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit – vorkommt, in
der, wenn sie einmal als naiv erlebte Selbstverständlichkeit, als die einzig wahre Wirk-
lichkeit da sein wird, sich eine neue und abgerundete Totalität aller in ihr möglichen
Substanzen und Beziehungen aufbauen kann, die unsere gespaltene Realität gerade so
weit hinter sich läßt und nur als Hintergrund benützt, wie unsere gesellschaftlich-›in-
nerliche‹ Dualitätswelt die Welt der Natur hinter sich gelassen hat.«18

Marcuses Darlegungen sind sicher nicht frei von Ambiguitäten. Aber es ist doch
nicht zu übersehen, daß in ihnen der für Lukács, mutatis mutandis auch für die
deutsche Kriegsideologie, typische Affekt gegen die Gegenwart als die »Epoche
der vollendeten Sündhaftigkeit« weitgehend fehlt.19 Wohl mangelt es nicht an
Äußerungen über den »Triumph des Materialismus, die Unterdrückung und
Verkleinerung der geistigen Werte durch die politische Gewalt der Reaktion
und die zunehmende Technisierung«, wohl huldigt auch Marcuse der russi-
schen Literatur wegen der in ihr vermeintlich gegebenen »Einheit der Lebens-
formen« und der »tiefe[n] Einheit von Künstler und Volk«.20 In unschlichtbarer
Spannung dazu steht jedoch die ganze Konstruktion seines Buches: die sich
durchziehende Verwerfung der romantischen Zeitflucht, die Ablehnung kollek-
tivistischer Tendenzen, wie sie sich etwa im ›Jungen Europa‹ zeigten, das hohe
Lob, das Goethes Lehrjahren, den Schriften Eichendorffs und Arnims und dem
Grünen Heinrich gezollt wird, weil dort der »praktisch-tätige Dienst an der
Gesamtheit, die wirkende Unterordnung unter ihre Gesetze, Aufgaben und
Ziele« gefeiert werde.21 Nirgends wird Gemeinschaft gegen Gesellschaft in Stel-
lung gebracht, vielmehr erscheint gerade die Gesellschaft als Stätte der Bewäh-
rung und der Erfüllung. Weit davon entfernt, einen als defizient vorgestellten
Gegenstand – die Gesellschaft als ›Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten‹

deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000; Barbara Beß-
lich: Wege in den »Kulturkrieg« : Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt
2000; Jeffrey Verhey: Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Ham-
burg 2000. Daß der Gemeinschaftsbegriff allerdings sehr Verschiedenes abdeckte, das mit
seinem Urheber, Ferdinand Tönnies, nur begrenzt vereinbar war, habe ich an anderer Stelle
gezeigt: vgl. »Gemeinschaft« in der »deutschen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 31,
2002, S.  354–372.
18  Lukács 1971, S.  136 f.
19  Ebd., S.  137. Die Bezeichnung geht zurück auf Fichtes Schrift über Die Grundzüge des

gegenwärtigen Zeitalters (1806), in: Fichtes Werke Bd. VII, hrsg. von Immanuel Hermann
Fichte, Berlin 1971, S.  18. Für die Rezeption in der Kriegsideologie exemplarisch: Ernst Berg-
mann: Fichte, der Erzieher zum Deutschtum. Eine Darstellung der Fichteschen Erziehungs-
lehre (1915), Leipzig 1928², S.  160 f.
20  Vgl. Marcuse, Der deutsche Künstlerroman, S.  200, 333.
21  Ebd., S.  217.
162 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

(Lukács) – bloß abzubilden, ohne in ihm zugleich Kräfte einer Selbstüberschrei-


tung ausmachen zu können, hat die realistische Literatur nach Marcuse das Po-
tential, die Zerrissenheit der Gegenwart, wenn nicht zu überwinden, so doch
bedeutende Vorleistungen dafür zu erbringen, und zwar gerade nicht im Wege
einer Negation der Bürgerlichkeit, sondern durch die Affirmation derselben.
Auch wenn dies so nicht ausgesprochen wird und gewissermaßen nur zwischen
den Zeilen steht, ist doch evident, daß für Marcuse nicht die Theorie des Ro­
mans mit ihrem neuplatonischen »Geschichtsbild des Sturzes aus der Gebor-
genheit in die Entfremdung und deren Wiedergewinnung« maßgeblich gewesen
ist22 , sondern weit eher das Prinzip der kontinuierlichen Höherentwicklung
durch Gegensätze, wie es Hegels Idee eines Fortschritts im Bewußtsein der
Freiheit mit dem Telos einer sittlichen Gemeinschaft zugrundeliegt. Und wenn
Lukács im Rückblick seine Schrift als »das erste deutsche Buch« bezeichnete,
»in welchem eine linke, auf radikale Revolution ausgerichtete Ethik mit einer
traditionsvollkonventionellen (sic) Wirklichkeitsauslegung gepaart erscheint«23 ,
dann wird man mit Blick auf Marcuses Doktorarbeit auch in dieser Beziehung
Fehlanzeige melden müssen, zumindest was die linke Ethik betrifft.
Sechs Jahre später, mit Marcuses zweitem Wechsel nach Freiburg, änderte
sich dies. Gleich in der ersten Schrift dieser neuen Phase stellte er als sein Anlie-
gen eine »Theorie des gesellschaftlichen Handelns« vor, wie sie im Marxismus
als der »Theorie der proletarischen Revolution« gegeben sei.24 Mit dieser Be-
stimmung nahm er eine Formulierung auf, die 1923 und 1924 von Korsch und
Lukács mit deutlicher Stoßrichtung gegen die reformorientierten Kräfte der
Arbeiterbewegung geprägt worden war.25 Zwar wollte sich Marcuse die für
Lukács zentrale Konzeption eines ›richtigen Klassenbewußtseins‹ nicht zu ei-
gen machen, weil mit ihr die Dimension der Geschichtlichkeit durchbrochen
werde26 , doch teilte er die Überzeugung, der Kapitalismus habe seine transito-
rische Funktion erfüllt, und mehr noch die Vorstellung, daß der neuen Genera-
tion die Aufgabe zufalle, »das ihr überkommene Erbe [zu] entwickeln, [zu] mo-
difizieren oder – [zu] vernichten, wenn es den ›veränderten Umständen‹ nicht
mehr entspricht«.27 Mit Korsch wiederum, der 1926 aus der Kommunistischen
22  Ernst Keller: Der junge Lukács. Antibürger und wesentliches Leben. Literatur- und

Kulturkritik 1902–1915, Frankfurt am Main 1984, S.  172.


23  Lukács 1971, S.  15.
24  Herbert Marcuse: Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus

(1928), in: HMS Bd. 1, S.  347–384, 347.


25  Korsch spricht 1923 vom Marxismus als »Theorie der sozialen Revolution«, in ders.:

Marxismus und Philosophie, hrsg. von Erich Gerlach, Frankfurt am Main und Wien 1966²,
S.  105; vgl. Georg Lukács: Lenin, in ders. 1968, S.  519–588, 522.
26  Herbert Marcuse: Zum Problem der Dialektik I (1930), in: HMS Bd. 1, S.  407–422, 421.
27 Marcuse, Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, S.   355.
Zum Vernichtungsvokabular wird man bei Lenin viele Beispiele finden. Aber auch der »west-
liche Marxismus« ließ nicht im Unklaren, wie er mit dem Bürgerkriegsgegner umzuspringen
gedachte. Vgl. nur Georg Lukács, der es für kein entscheidendes Argument gegen die Revolu-
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 163

Partei ausgeschlossen wurde, war er der Ansicht, daß diese Aufgabe keineswegs
nur im Wege der revolutionären Praxis zu erfüllen war (und schon gar nicht
unter der Leitung einer Partei).28 Vielmehr sah Marcuse eine eigenständige Rol-
le der Intellektuellen, darunter insbesondere der Philosophen, in einem parallel
zu den politischen und ökonomischen Aktionen der revolutionären Klasse lau-
fenden geistigen Kampf gegen das Bestehende, der in Form einer immanenten
Kritik geführt werden sollte: als Nachweis, daß und wie »die Philosophie selbst
von sich aus zu einer aufhebenden Verwirklichung bzw. verwirklichenden Auf-
hebung hindrängt.« 29
Bei diesem Unternehmen verstrickte sich Marcuse allerdings bald in heillose
Widersprüche. Als selbsternannter Avantgardist des geistigen Bürgerkriegs
fühlte er sich besonders zu Heidegger hingezogen, der in Sein und Zeit, aber
auch in seinen Vorlesungen einem »Jargon der Gewaltsamkeit« huldigte und die
Aufgabe der Philosophie vorzugsweise in Kategorien wie »Angriff« und
»Kampf« definierte.30 Sehr im Unterschied zu seinem Freund Maximilian Beck,
der in seinen Philosophischen Heften nicht nur mehrere Texte Marcuses veröf-
fentlichte, sondern auch eine frühe Besprechung von Sein und Zeit, in der dieser
Zug zur Gewaltsamkeit moniert wurde31, zeigte sich Marcuse besonders ange-
tan von Heideggers Versicherung, die Geschichtlichkeit als Grundbestimmtheit
des Daseins fordere »auch eine ›Destruktion‹ der bisherigen Geschichte«, eine
Rücknahme der »aufbewahrten Tatsachen und ihre[r] überlieferten Deutungen
tion hielt, daß »der Machtantritt des Bolschewismus die Vernichtung kultureller und zivilisa-
torischer Werte mit sich bringen würde«. Mit dankenswerter Offenheit räumte Lukács ein,
daß dies auch die menschlichen Träger dieser Werte betraf: »Die Schonungslosigkeit des Klas-
senkampfes wird noch gesteigert. Denn jetzt ist von dem letzten Sieg: von der Vernichtung der
Bourgeois-Klasse die Rede. Deshalb offenbart sich der nackte, erbarmungslose Klassenkampf
schärfer als zur Zeit der Unterdrückung. Damals war der Klassenkampf Selbstverteidigung
einem stärkeren Gegner gegenüber. Jetzt nimmt sie einen offensiven Charakter an, denn es
geht darum, den besiegten Gegner endgültig zu vernichten.« (Georg Lukács: Taktik und
Ethik. Politische Aufsätze I, 1918–1920, hrsg. von Jörg Kammler und Frank Benseler,
Darmstadt und Neuwied 1975, S.  27, 85).
28  Vgl. Korsch, Marxismus und Philosophie, S.  135 f.: »So wenig durch die ökonomische

Aktion der revolutionären Klasse die politische Aktion überflüssig gemacht wird, so wenig
wird auch durch die ökonomische und die politische Aktion zusammen die geistige Aktion
überflüssig gemacht: Sie muß vielmehr, als revolutionäre wissenschaftliche Kritik und agita-
torische Arbeit vor der Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, und als organisie-
rende wissenschaftliche Arbeit und ideologische Diktatur nach der Ergreifung der Staatsge-
walt, ebenfalls theoretisch und praktisch bis zu Ende durchgeführt werden.«
29  Herbert Marcuse: Das Problem der geschichtlichen Wirklichkeit (1931), in: HMS Bd. 1,

S.  469–487, 471. Die Stelle folgt auf ein Referat von Marxismus und Philosophie. Worin aller-
dings die von Marcuse behauptete Abweichung seines Vorgehens von demjenigen Korschs
bestehen soll, ist nicht ersichtlich.
30  Großheim 1994, S.  23. Vgl. nur Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik.

Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. II/29–30, Frankfurt am Main 1983, S.  31.


31  Vgl. Maximilian Beck: Referat und Kritik von Martin Heidegger: ›Sein und Zeit‹, in:

Philosophische Hefte 1, 1928/29, S.  5–44, 15, 29 f., 40. Zu Marcuses Beziehung zu Beck vgl.
Kellner 1984, S.  385, 391.
164 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

[…] in die lebendige Totalität des zu ihnen gehörenden geschichtlichen Da-


seins.«32 Heideggers Verdienst sei die Nachdrücklichkeit, mit der er darauf be-
harre, »daß die schicksalsbewußte Entschlossenheit zur eigentlichen Existenz
nur als ›Widerruf‹ des Vergangenen möglich ist, dessen Herrschaft stets als Ver-
fallenheit entgegensteht.«33 Neue geschichtliche Wirklichkeit fordere auch einen
neuen Menschen, eine neue Existenz, die nicht aus der bloßen Transformation
der gegebenen Wirklichkeit hervorgehen könne, »weil sie dann niemals über die
vorhandene Existenz hinauskommt, ja mit ihrer Hinnahme als Gegebenheit
notwendig in ihre Bedeutungswelt, ihre ›Ideologie‹ verfallen muß (jede Reform,
Revision des Bestehenden setzt die Anerkennung des Bestehenden voraus).
›Neue‹ Existenz ist nur als ›Widerruf‹ möglich.«34
Unvereinbar damit war jedoch das Faible für Dilthey, das Marcuse noch aus
der Zeit seiner Doktorarbeit bewahrte und das sich nach Abkühlung des an-
fänglichen Enthusiasmus für Heidegger bald wieder stärker bemerkbar mach-
te.35 Schon in den »Beiträgen« baute Marcuse eine Reservestellung auf, indem er
durchblicken ließ, in den Fragen der materialen Konstitution der Geschichte sei
Dilthey weiter gegangen als Heidegger, wofür zumal die Aufsätze über den
Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften stünden – eine
Sammlung von Studien, die bei ihrem Erscheinen 1927 im Kreis um Heidegger
mit erheblicher Enttäuschung aufgenommen worden war.36 Drei Jahre später
machte er sich anheischig nachzuweisen, »wie in den Forschungen Diltheys die
Philosophie aus ihr selbst heraus in eine Situation gedrängt wird, die sie bis an
die Grenze einer ›aufhebenden Verwirklichung‹ (im oben angedeuteten Sinne)
treibt«.37 Diltheys Untersuchungen schienen ihm nicht nur zu den tiefsten und
schärfsten der deutschen Geistesgeschichte zu gehören, sie seien vielmehr geeig-
net, über den Begriff des Wirkungszusammenhangs auch die geschichtlich-ge-
sellschaftliche Wirklichkeit zu erschließen und so zu einer »ungeheure[n] Kon-
kretion« zu gelangen.38 Mochte noch die Einleitung in die Geisteswissenschaften
an der Trennung zwischen einem wesentlich ungeschichtlichen »Reich des
Geistes« und einem »Reich wesentlicher Geschichtlichkeit« – dem »Reich der
Gesellschaft, der Geschichte, des seelischen Geschehens« – laborieren, so fän-
den sich doch in den späteren Arbeiten Vorstöße zu einer Überwindung dieses

32  Marcuse, Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, S.  362.


33  Ebd., S.  367.
34  Ebd., S.  383.
35  Vgl. Helmut Johach: Lebensphilosophie und Kritische Theorie. Zur Dilthey-Rezeption

der Frankfurter Schule, in: Dilthey-Jahrbuch 5, 1988, S.  200–259, 204 ff.


36  Vgl. Marcuse, Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, S.  365.

Zur Rezeption des Aufbaus im Kreis um Heidegger vgl. Michael Großheim: Geschichtlichkeit
gegen Gestalt. Ein Kapitel aus der Genese der Existenzphilosophie, in: Philosophisches Jahr-
buch 102, 1995, S.  322–339, 334.
37  Marcuse, Das Problem der geschichtlichen Wirklichkeit, S.  474.
38  Ebd., S.  479, 478.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 165

Dualismus, die von einer solchen Bedeutung seien, daß auch heute noch »jede
Grundlegung der Soziologie vor die Aufgabe einer Auseinandersetzung mit
Dilthey gestellt« sei.39 Und nicht nur die Soziologie. Auch die als Habilitations-
schrift geplante, dann aber von Heidegger nicht akzeptierte und deshalb außer-
halb des akademischen Verfahrens veröffentlichte Studie über Hegels Ontologie
und die Theorie der Geschichtlichkeit stellte sich expressis verbis auf den Boden
von Diltheys Untersuchungen und endete mit einem Dilthey-Zitat. 40 Am Ende
der Einleitung stattete Marcuse Heidegger einen kurzen Dank ab, nahm aber
dann in keiner einzigen Fußnote auf ihn Bezug.
Hegels Ontologie entstand zu einem Zeitpunkt, als über die Unvereinbarkeit
von Heideggers Fundamentalontologie mit der Lebensphilosophie kein Zweifel
mehr bestehen konnte. Zwar hatte Heidegger selbst zwischen 1919 und 1923
eine lebensphilosophische Phase durchlaufen, in der er sich für die von Dilthey
und Simmel ausgehenden Impulse höchst empfänglich gezeigt hatte, doch hatte
er sich danach, während seiner Marburger und Marcuses Berliner Zeit, unter
dem Einfluß Brentanos einer spezifisch ontologischen Denkweise zugewandt,
um sich dann in Sein und Zeit offen von der Lebensphilosophie zu distanzie-
ren. 41 Im Sommersemester 1929, das Marcuse nachweislich in Freiburg ver-
brachte42 , spitzte Heidegger diese Absage polemisch zu, indem er aller Lebens-
philosophie, und speziell derjenigen Diltheys, philosophische Unfruchtbarkeit
und Dilettantismus in der zentralen Dimension vorwarf, bleibe sie doch gänz-
lich in den Problemansatz der neuzeitlichen Metaphysik gebannt. 43 Dilthey: das
war für Heidegger fortan der Versuch zur Begründung einer philosophischen
Weltanschauung, eines ganzen Weltbildes, das sich auf »Anthropologie« stützte

39  Herbert Marcuse: Zur Auseinandersetzung mit Hans Freyers »Soziologie als Wirklich-

keitswissenschaft« (1931), in: HMS Bd. 1, S.  488–508, 501.


40  Vgl. Herbert Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frank-

furt am Main 1932, S.  1, 368. Die Vorgänge um Marcuses gescheiterte Habilitation hat Pe-
ter-Erwin Jansen rekonstruiert: vgl. Marcuses Habilitationsverfahren – eine Odyssee, in ders.
(Hrsg.): Befreiung denken – ein politischer Imperativ, Offenbach 1990², S.  141–150.
41  Vgl. Heidegger 1977, S.  525 ff. (§  77); Michael Großheim: Von Georg Simmel zu Martin

Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn 1991, S.  3 ; ders. 1995, S.  323 ff.
42  Von ihm liegt eine Nachschrift von Heideggers Vorlesung »Einführung in das akademi-

sche Studium« vor, die im Anhang des in der folgenden Anmerkung angeführten Buches ver-
öffentlicht ist (S.  347–361).
43  Vgl. Martin Heidegger: Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die phi-

losophische Problemlage der Gegenwart (1929), hrsg. von Claudius Strube. Martin Heidegger
Gesamtausgabe, Bd. II/28, Frankfurt am Main 1997, S.  108 f., 122. Anlaß für diese Polemik
war die Kritik an Sein und Zeit, die der Dilthey-Schüler Georg Misch in drei Folgen des Phi-
losophischen Anzeigers veröffentlicht hatte. Sie erschien kurz darauf auch als Buch unter dem
Titel: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen
Richtung mit Heidegger und Husserl, Bonn 1930. Heideggers Stellung zur Lebensphiloso-
phie wird mit Blick auf Dilthey erörtert von Otto Pöggeler: Heideggers Begegnung mit
Dilthey, in: Dilthey-Jahrbuch 4, 1986/87, S.  121–160; mit Blick auf Simmel von Großheim,
Von Georg Simmel zu Martin Heidegger.
166 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

und damit auf das für das neuzeitliche Denken zentrale Bestreben, »innerhalb
des Ganzen des Seienden gerade den Menschen zu einem ausgezeichneten Ge-
genstand der Erkenntnis und Aufklärung zu machen«44 , womit die eigentliche
Frage – die Seinsfrage – von vornherein falsch gestellt sei.
Umgekehrt mußte aus der Sicht Diltheys und seiner Schule Heideggers Des-
truktion der Geschichte, seine Herabsetzung der Anthropologie und seine Be-
schränkung auf reine »Selbstbekümmerung« als Neuauflage von Nietzsches
Antihistorismus erscheinen, von der sich Dilthey seinerzeit entschieden abge-
setzt hatte. 45 Sein Urteil über Nietzsche als »schreckendes Beispiel dafür […],
wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt, welcher das Wesen-
hafte in sich selbst erfassen möchte«, kann als vorweggenommene Absage an die
Existenzphilosophie gelesen werden. 46 Und auch die folgende Passage läßt er-
kennen, daß sich in der zwischen Aufklärung und Historischer Schule oszillie-
renden Lebensphilosophie Diltheyscher Prägung und dem Antihistorismus
Nietzsches und Heideggers der Geist des 19. und derjenige des 20. Jahrhunderts
begegneten: »Es ist einmal so: das heute heranwachsende Geschlecht hält sich
an das Aktuelle, gegenwärtig Wirksame. Stimmen werden laut, welche über die
schwere Last von Vergangenheit wehklagen, die wir mit uns schleppen. Es wird
befürwortet, einmal gründlich aufzuräumen mit derselben und das Gepäck zu
erleichtern, mit dem wir in das neue Jahrhundert schreiten.«47
Eine solche Gepäckerleichterung war nicht in Marcuses Sinn, auch wenn er
sich noch so sehr in radikalen Phrasen erging. Was ihn an der Existenzphiloso-
phie störte, und dies übrigens selbst in der Version von Jaspers, die er wegen
ihrer ethischen Ausrichtung positiv von Heideggers ontologischem Interesse
abhob, war gerade ihre »Ungeschichtlichkeit«, die sich hinter der Betonung der
Geschichtlichkeit verbarg, war die mangelnde Konkretion ihrer Kategorien
und die Vermeidung einer Auseinandersetzung mit der »philosophischen Ge-
schichte dieser Kategorien«. 48 Damit schien Marcuse der Weg vorprogrammiert,
der vom Ausweichen vor der Vergangenheit zur Kapitulation vor der Gegen-
wart führte, zum Umschlag in den Opportunismus. Mit Blick auf seinen eins-
tigen Lehrer Heidegger, der mit seiner Rektoratsrede vom 27.5.1933 den offenen

44  Heidegger, Der deutsche Idealismus, S.  14.


45  Vgl. dazu und zum folgenden Michael Großheim: Auf der Suche nach der volleren Rea-
lität: Wilhelm Dilthey und Ludwig Klages. Zwei Wege der Lebensphilosophie, in:
Dilthey-Jahrbuch 10, 1996, S.  161–189.
46  Wilhelm Dilthey: Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahr-

hunderts (1898), in: Gesammelte Schriften Bd. IV, Leipzig und Berlin 1925², S.  528–554, 528.
47  Ebd. Ich verdanke diese Stelle der in Anm. 45 zitierten Arbeit von Großheim, S.  162 f. Zu

weiteren Versionen des Motivs der Gepäckerleichterung vgl. auch ders.: »Die Barbaren des
zwanzigsten Jahrhunderts«. Moderne Kultur zwischen Konservierungswille und Überliefe-
rungsfeindschaft, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, H. 2, 2000, S.  221–252.
48  Vgl. H. M[arcus]e: Philosophie des Scheiterns. Karl Jaspers’ Werk, in: Vossische Zei-

tung Nr.  339, vom 14.12.1933.


Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 167

Schulterschluß mit dem NS-Regime vollzogen hatte, schrieb Marcuse in seinem


ersten größeren Text nach der Emigration:
»Der Existenzialismus, der sich einst als Erbe des deutschen Idealismus verstand, hat die
größte geistige Erbschaft der deutschen Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels
Tode, sondern jetzt erst geschieht der Titanensturz der klassischen deutschen Philoso-
phie. Damals wurden ihre entscheidenden Errungenschaften in die wissenschaftliche
Theorie der Gesellschaft, in die Kritik der politischen Ökonomie hinübergerettet. Heu-
te liegt das Schicksal der Arbeiterbewegung, bei der das Erbe dieser Philosophie aufge-
hoben war, im ungewissen.«49

Bemerkenswert an diesem Text ist jedoch, daß er sorgfältig zwischen dem phi-
losophischen und dem politischen Existenzialismus unterschied und beide in
ein durchaus kontingentes Verhältnis rückte, ja sogar von einer »anfängliche[n]
Gegensätzlichkeit« beider sprach.50 Das war insofern korrekt, als von einer not-
wendigen Beziehung zwischen dem philosophischen »Existenzialismus« und
irgendeiner politischen Stellungnahme nicht die Rede sein kann, wie den ver-
schiedenen, allzu einlinigen Kausalkonstruktionen von Bourdieu über Farías
bis zu Faye entgegenzuhalten ist.51 Weder er noch seine Freunde, wird Marcuse
später schreiben, hätten von Heideggers Beziehung zum Nazismus vor 1933 et-
was gewußt oder gemerkt52 , und tatsächlich war Heideggers Option für den NS
von seinen bis dahin vorliegenden philosophischen Arbeiten her nicht zwin-
gend (was wiederum nicht heißt, daß es nicht erhebliche Brücken, zumal im
Antisemitismus, gab).53 Auf der anderen Seite deutet jedoch Marcuses Bereit-
schaft, die Existenzphilosophie vor sich selbst in Schutz zu nehmen, auf einen
gedanklich nicht bewältigten Zusammenhang, auf eine Fixierung, die nur auf
äußere Bedingungen wartete, um sich wieder geltend zu machen. Es dauerte
freilich bis zur Begegnung mit dem Werk Sartres und mehr noch mit den Pro-
testbewegungen der 60er Jahre, bis dieser Moment eintrat.54
49  Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffas-

sung (1934), in: HMS Bd. 3, S.  7 –44, 44.


50  Ebd., 36 ff., 41.
51  Vgl. Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt am Main

1975; Victor Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1989; Em-
manuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin
2009. Wie breit das Spektrum möglicher politischer Positionen war, die aus existenzialisti-
schen Prämissen abgeleitet werden konnten, zeigt Michael Großheim: Politischer Existentia-
lismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002.
52  Herbert Marcuse: »Enttäuschung«, in: Günther Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin

Heidegger, Pfullingen 1977, S.  162.


53  Vgl. Holger Zaborowski: »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der

Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2010, S.  199. Zu Heideggers Antisemitismus, der


durch die Publikation der »Schwarzen Hefte« evident geworden ist, vgl. die Besprechung von
Reinhard Mehring in: Philosophischer Literaturanzeiger 68, 2015, S.  127–136.
54  Vgl. Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean Paul Sartres L’Être et le

Néant (1948), in: HMS Bd. 8, S.  7 –40, 40: »In der politisch gewordenen Philosophie wird die
existentialistische Grundkonzeption gerettet durch das Bewußtsein, das dieser Realität den
168 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

II.

Was es genau war, das Marcuse den Weg in das Institut für Sozialforschung
ebnete, ist nachträglich schwer zu sagen. Seine Doktorarbeit war es nicht, da die
Arbeit nur in einer einzigen Kopie in Freiburg existierte und bis zu ihrer Auf-
nahme in die gesammelten Schriften Marcuses gänzlich ungelesen blieb55, be-
dauerlicherweise, wie man sagen muß, war sie doch bei weitem der überzeu-
gendste Text, den er in der Weimarer Republik verfaßt hat. Das Faible für Hei-
degger dürfte es ebenfalls nicht gewesen sein, obwohl es ein Ski-Freund
Heideggers war, der als Kurator der Universität Frankfurt tätige Kurt Riezler,
der den Kontakt zum Institut herstellte.56 Wichtiger war im Gegenteil die Dis-
tanzierung von Heidegger, die Adorno in einer der ersten Rezensionen von He-
gels Ontologie registrierte57, war die den erforderlichen Stallgeruch vermitteln-
de Publikationstätigkeit Marcuses in der sozialistischen Gesellschaft, unter de-
nen sich eine Studie über die gerade publizierten »Pariser Manuskripte« befand,
mit der sich Marcuse als Marx-Kenner auswies; war endlich auch seine philoso-
phische und literaturwissenschaftliche Expertise, da Horkheimer zu diesem
Zeitpunkt offenbar vorerst nicht mit einer weiteren Mitarbeit Adornos an der
Zeitschrift für Sozialforschung rechnete, aber jemanden zur Betreuung des Be-
sprechungsteils für Philosophie suchte. Und schließlich bekam Horkheimer mit
Marcuse einen Mitarbeiter, der wie er selbst in der Philosophie eine »sehr reale
geschichtliche Macht« sah, die in der gegenwärtigen Lage »ihren alten Titel als
›erste Wissenschaft‹ nur dann [erfüllt], wenn sie gerade in diesem Augenblick
die Führung übernimmt.«58
Wenngleich Marcuse als Philosoph in der kleinen platonischen Kolonie, die
das Institut im Exil bildete, zu den Herrschenden gehörte, zählte er doch nur,
um einen Ausdruck Bourdieus aufzugreifen, zu den beherrschten Herrschen-
den. Als der um seine Rückkehr ans Institut kämpfende Adorno bei Pollock
anfragte, ob er nicht die Aufgaben Marcuses übernehmen könne, wurde ihm
beschieden, daß es sich dabei um eine »subalterne Assistenten- und Hilfsarbei-
terstelle« handele, die für jemanden wie Adorno nicht in Betracht käme: ihn
könne man ihn nur »inter pares akzeptieren« und ihm selber »einen Marcuse

Kampf ansagt – in dem Wissen, daß die Realität Sieger bleibt. Wie lange? Die Frage, auf die es
keine Antwort gibt, ändert nichts an der Gültigkeit der Position, die für den Denkenden heu-
te die einzig mögliche ist.«
55  Vgl. Kellner 1984, S.  381.
56  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  55. Zur Ablehnung Heideggers im Institut für Sozialforschung

vgl. das Gutachten, das Adorno 1932 zur Dissertation von Dolf Sternberger verfaßt hat [Der
verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzialontologie, Gräfenhai-
nichen 1933], in: A/H Bd. 1, S.  546–551.
57  In: Zeitschrift für Sozialforschung 1, 1932, S.  409 f.
58  Herbert Marcuse: Transzendentaler Marxismus? (1930), in: HMS Bd. 1, S.  4 45–469, 445;

Über konkrete Philosophie (1929), in: HMS Bd. 1, S.  385–406, 406.


Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 169

beigesellen«.59 Tatsächlich wurde Marcuse im ersten Jahr seiner Institutszuge-


hörigkeit nur zu Buchbesprechungen und Entwürfen für das geplante Projekt
über Autorität und Familie herangezogen60 , ohne selbst einen größeren Essay
beisteuern zu dürfen. Wie sehr er als ehemaliger Heidegger-Schüler zunächst
gewissermaßen unter Bewährungsauflage stand, zeigt eine Äußerung Horkhei-
mers, der im Sommer 1934 zu Pollock meinte, Marcuse sei im Begriff, »gut in
unsere wissenschaftliche Welt« hineinzuwachsen, so gut, daß er ihm bei dem
geplanten Buch über die »Logik« assistieren könne.61 Der wiederum bemühte
sich, den an ihn herangetragenen Erwartungen gerecht zu werden und sprach
am Ende seines ersten vollen amerikanischen Jahres davon, wie sehr er sich im
Institutskreis »in einer menschlichen und wissenschaftlichen Gemeinsamkeit
fühle.«62
Aus den bislang veröffentlichten Korrespondenzen geht hervor, daß Hork-
heimer Marcuse auf bestimmte Themen ansetzte, seine Entwürfe kommentierte
und ihn in den redaktionellen Entscheidungsprozeß über eingereichte Manu-
skripte anderer einbezog.63 Über Marcuses Aufsatz »Über den affirmativen
Charakter der Kultur« teilte er mit, er sei in den Grundzügen gemeinsam ent-
worfen64 ; ähnliches gilt für den joint effort, den beide im Nachgang zu Hork-
heimers großem Aufsatz über »Traditionelle und kritische Theorie« publizier-
ten.65 Wie weit sich Marcuse inzwischen an Horkheimers Vorgaben angenähert
hatte, dokumentiert ein Brief Karl August Wittfogels, der in Marcuses Essay
über den Wesensbegriff Horkheimers Art der Gedankenführung zu erkennen
meinte.66 Bis Ende 1941 blieb Marcuse neben Adorno als möglicher Mitarbeiter
des geplanten großen Buches im Gespräch, das zunächst unter dem Arbeitstitel
»Logik«, dann unter dem der »Dialektik« lief.67 An der hierarchischen Struktur

59  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 13.5.1935, in: A/H Bd. 1, S.  65.
60  In einem Brief Horkheimers an Löwenthal ist von ›ziemlich unbrauchbaren Entwürfen‹
die Rede, die Marcuse mitgebracht habe. Ob sich diese Formulierung auf eigene Texte Marcu-
ses bezieht oder solche von anderen, ist nicht zweifelsfrei erkennbar. Vgl. Max Horkheimer an
Leo Löwenthal, Brief vom 6.7.1934, in: HGS Bd. 15, S.  147.
61  Max Horkheimer an Friedrich Pollock, Brief vom 3.8.1934, in: HGS Bd. 15, S.  198.
62  Herbert Marcuse an Max Horkheimer, Brief vom 13.12.1935, in: HGS Bd. 15, S.  437.
63  Vgl. etwa den Kommentar zu Marcuses Aufsatz »Zum Begriff des Wesens«, in: HGS

Bd. 15, S.  4 43. Marcuse war an den negativen Entscheidungen über das Pariser Exposé von
Sohn-Rethel und Adornos Husserl-Aufsatz beteiligt: vgl. Max Horkheimer an Theodor W.
Adorno, Briefe vom 8.12.1936 und 13.10.1937, in: A/H Bd. 1, S.  248, 423 ff.
64  Max Horkheimer an Katharina von Hirsch, Brief vom 4.5.1937, in: HGS Bd. 16, S.  139.
65 Vgl. Max Horkheimer und Herbert Marcuse: Philosophie und kritische Theorie, in:

Zeitschrift für Sozialforschung 6, 1937, S.  625–647. Die Texte beider Autoren waren nament-
lich gezeichnet und wurden entsprechend später getrennt in die jeweiligen Ausgaben aufge-
nommen.
66  Vgl. Karl August Wittfogel an Max Horkheimer, Brief vom 30.7.1936, in: HGS Bd. 15,

S.  594.
67  Vgl. Max Horkheimer an Friedrich Pollock, Brief vom 13.10.1941, in: HGS Bd. 17, S.  192;

Wiggershaus 1986, S.  295.


170 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

des Verhältnisses hatte sich freilich auch im neunten Jahr ihrer Zusammenarbeit
noch nichts geändert. Hatte Horkheimer 1941 für das dritte, inzwischen in eng-
lischer Sprache erscheinenden Heft der Zeitschrift einen Schwerpunkt über den
Fortschritt geplant, wofür Marcuse einen ideengeschichtlichen Beitrag beisteu-
ern sollte, während er selbst die Technik und die experimentelle Psychologie
behandeln wollte, so warf er nach einigen Überlegungen diese Arbeitsteilung
wieder um und wies Marcuse die Bearbeitung des Technik-Themas zu.68
So sehr Marcuse freilich bemüht war, sich an die Linie Horkheimers anzu-
passen, so sehr fällt doch auf, daß er dazu tendierte, die Kritische Theorie in der
Spannung von Rationalismus und Irrationalismus eindeutiger auf der Seite des
Rationalismus zu verorten. Während Horkheimer zunächst bestrebt war, den
Materialismus in eine dritte, überlegene Position zu rücken (was ihm allerdings
in keiner seiner Arbeiten so recht glückte) 69 , blieb für Marcuse die Typik der
Diltheyschen Weltanschauungslehre verbindlich, die nur den Weg offen ließ,
sich für einen der beiden Pole zu entscheiden. Genau dies tat er, wenn er ange-
sichts der wachsenden faschistischen Barbarei und der immer bedrohlicher wer-
denden Gefahr einer Ausweitung der totalitären Ordnung die traditionelle ide-
alistische Kultur immer mehr zu einem »Reich der Wahrheit« stilisierte, »das
der Autorität der bestehenden Ordnung und der herrschenden Mächte nicht
unterworfen war«70 , und das in seiner Insistenz auf der Autonomie der Ver-
nunft mit dem gegenwärtigen System unvereinbar war, ja geradezu dessen Ge-
genbild schlechthin darstellte. Die brutale Unterdrückung des Individuums in
der totalitären Gesellschaft, die Diffamierung von Vernunft und Reflexion
durch die nationalistischen bzw. völkischen Ideologien schienen einen Rekurs
auf jene Tradition unabweisbar zu machen, in der das Bürgertum vermeintlich
über sich selbst hinausgewachsen war und Werte entwickelt hatte, die in der von
ihm selbst etablierten Ordnung nicht aufgingen – Werte überdies, deren Ver-
nachlässigung auch die oppositionellen Kräfte im Kampf gegen den Faschismus
geschwächt hatte. Sollte die gegenwärtige Barbarei überwunden werden, so lag
es an der Philosophie, das Erbe der großen Tradition zu retten und zu reaktua-
lisieren: »Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der
Vergangenheit zu tun, gerade sofern es ihr um die Zukunft geht.«71
Auf den ersten Blick scheint dieser positive Rekurs auf die bessere, ›eigentlich
bürgerliche‹ Tradition in Widerspruch zu einer anderen Argumentationslinie

68  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  332. Daraus wurden dann: Herbert Marcuse: Some Social Im-

plications of Modern Technology, in: Studies in Philosophy and Social Science 9, 1941, S.  414–
439; Max Horkheimer: The End of Reason, ebd., S.  366–388.
69 Vgl. Max Horkheimer: Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie

(1935), in: HGS Bd. 3, S.  163–220, 218 f.


70 Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesell-

schaftstheorie (1941), Neuwied und Berlin 1970³, S.  366.


71  Herbert Marcuse: Philosophie und kritische Theorie (1937), in: HMS Bd. 1, S.  227–249,

248.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 171

Marcuses (wie der Kritischen Theorie überhaupt) zu stehen, die gerade die »in-
nere Verwandtschaft zwischen der liberalistischen Gesellschaftstheorie und der
scheinbar so antiliberalen totalitären Staatstheorie« behauptete.72 Bei allen nicht
zu übersehenden Differenzen sei es doch unzulässig, beide Theorien gegenein-
ander abzuschotten: »im liberalistischen Rationalismus sind schon jene Tenden-
zen präformiert, die dann später, mit der Wendung vom industriellen zum mo-
nopolistischen Kapitalismus, irrationalistischen Charakter annehmen.«73 Schon
in den ersten Formen des bürgerlichen Denkens seien jene Elemente enthalten
gewesen, die am Ende der bürgerlichen Gesellschaft in die autoritäre Ideologie
umgeschlagen seien: die Rückinterpretation der Gesellschaft auf die Natur, die
Restriktion des Freiheitsbegriffs, die Vorbereitung autoritärer Dispositionen,
die schließlich in die blinde Unterwerfung des Individuums unter nicht länger
rational legitimierte Autoritäten mündete: »Das Schicksal der bürgerlichen Ge-
sellschaft kündet sich an in ihrer Philosophie.«74
Ausgehend von dieser Annahme konstruierte Marcuse die Entwicklung des
bürgerlichen Denkens seit Luther und Calvin als einen Prozeß fortschreitender
Formalisierung und Abstraktifizierung einstmals materialer Gehalte, in die die
Bedürfnisse und Zielsetzungen konkreter geschichtlicher Individuen eingegan-
gen seien, die dann aber, unter dem Druck von Herrschaftsinteressen, immer
mehr zu formal-abstrakten Prinzipien herabgesetzt und »abgeschwächt« wor-
den seien.75 War die ursprüngliche Grundtendenz der rationalistisch/idealisti-
schen Philosophie eine wesentlich kritische, die auch in ihrer »abgedrängten
Gestalt« noch als Ansporn zur Veränderung wirkte76 , so war es Marcuse zufol-
ge kennzeichnend für das bürgerliche Denken, daß jener kritische Impuls als-
bald »vereitelt« und von einer »versöhnlerische[n] Tendenz« überlagert wur-
de77 : jene Gruppen, die gegen die Herrschaft partikularer Interessen im Namen
übergreifender, für allgemeingültig erachteter Wahrheiten protestiert hatten,
waren nach der Eroberung der Macht nur zu bereit, ihre eigenen Prinzipien zu
relativieren, zu privatisieren und damit ihrer Sprengkraft zu berauben:
»Die aufsteigenden bürgerlichen Gruppen hatten ihre Forderung nach einer neuen ge-
sellschaftlichen Freiheit durch die allgemeine Menschenvernunft begründet. […] Aber
die Vernunft und die Freiheit reichten nicht weiter als das Interesse eben jener Gruppen,
das mehr und mehr zu dem Interesse des größten Teils der Menschen in Gegensatz trat.
[…] Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen
einen fortschrittlichen, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden
Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich stabilisierenden Herrschaft des

72  Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, S.  14.
73  Ebd., S.  17.
74  Herbert Marcuse: Zum Begriff des Wesens (1936), in: HMS Bd. 3, S.  45–84, 50.
75  Vgl. ebd., S.  77.
76  Herbert Marcuse: Studie über Autorität und Familie (1936), in: HMS Bd. 3, S.  85–186,

98.
77  Marcuse, Vernunft und Revolution, S.  25.
172 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und der bloßen
rechtfertigenden Selbsterhebung: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümme-
rung des Individuums.«78

Schon aus dieser Konstruktion wird deutlich, daß es sich bei den beiden skiz-
zierten Argumentationslinien keineswegs um einander ausschließende Positio-
nen handelt. Im Anschluß an Horkheimers ideologiekritische Analysen, die
den Zusammenhang von allgemein-menschlichen und klassenspezifischen Mo-
tiven in der bürgerlichen Philosophie untersuchten, ging nämlich auch Marcuse
von der These aus, daß der Umschlag von Rationalismus in Irrationalismus
nicht auf das rationalistische Denken als solches zurückzuführen war, sich viel-
mehr der inkonsequenten Durchführung, der Einschränkung des Rationalis-
mus durch äußerliche Motive verdankte. Die Geschichte der rationalistischen
Philosophie, so glaubte Marcuse, war die Geschichte eines Denkens, dem es
stets um die Herstellung einer wirklichen, das Besondere als Versöhntes in sich
aufnehmenden Allgemeinheit gegangen war. Die materielle Welt sollte entspre-
chend den in der Erkenntnis der Ideen – des Wahren, Schönen und Guten – ge-
wonnenen Einsichten verändert und verbessert, der Materialismus der Alltags-
welt durch den Willen zur vernünftigen Existenz sublimiert werden.79 Als eine
solche Theorie, die die schlechte Faktizität nach Maßgabe des ›Logos‹ als des
Inbegriffs der noch nicht verwirklichten Möglichkeiten des Seienden zu gestal-
ten bestrebt war, war die rationalistische bzw. idealistische Philosophie – Mar-
cuse gebraucht beide Begriffe synonym – mehr als eine bloße Ideologie, die sich
bruchlos auf die Interessen bestimmter Klassen reduzieren ließ: sie war ein
Hort, in dem jene Wahrheiten aufbewahrt waren, die in der Geschichte der
Menschheit noch nicht verwirklicht waren und gerade durch ihren Anspruch
auf Allgemeinheit über die bestehende Ordnung hinauswiesen:
»Daß der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, daß dieses Wesen Freiheit fordert, daß
Glückseligkeit sein höchstes Gut ist: all das sind Allgemeinheiten, die eben durch ihre
Allgemeinheit eine vorwärtstreibende Kraft haben. Die Allgemeinheit gibt ihnen einen
beinahe umstürzlerischen Anspruch: nicht nur dieser oder jener, sondern alle sollen ver-
nünftig, frei, glücklich sein.« »Vernunft, Geist, Moralität, Erkenntnis, Glückseligkeit
sind nicht nur Kategorien bürgerlicher Philosophie, sondern Angelegenheiten der
Menschheit. Als solche sind sie zu bewahren, ja neu zu gewinnen.«80

Obwohl Marcuse dem liberalistischen Rationalismus zugestand, er enthalte an


sich die Elemente eines wahren Rationalismus, insistierte er jedoch darauf, daß
es sich letztlich nur um einen ›halbierten Rationalismus‹ handelte, wie Haber-
mas es später formulierte. Anstatt die Wirklichkeit nach den von ihm aufgewie-
senen allgemeinen Ideen zu gestalten und der Vernunft zur Realität zu verhel-
78  Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur (1937), in: HMS Bd. 3,

S.  186–226, 195.
79  Vgl. ebd., S.  190.
80  Marcuse, Philosophie und kritische Theorie, S.  243 f., 239.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 173

fen, kapitulierte die bürgerliche Philosophie – und mit ihr das gesamte bürgerli-
che Denken – auf dem Gipfel ihrer Entfaltung und verlieh ihren eigenen
Kategorien eine ideologische Wendung. Zwar gab sie ihren zentralen Gedan-
ken: die Herstellung einer alle Individuen einigenden Allgemeinheit, einer welt-
bürgerlichen Gesellschaft, in der alle Unterdrückung beseitigt sein sollte, nicht
auf. Sie entzog sich jedoch den aus diesem Gedanken resultierenden praktischen
Konsequenzen, indem sie ihre Postulate aufs bloße Denken beschränkte und
damit vor den gegebenen Machtverhältnissen kapitulierte. Zur Sphäre des schö-
nen Scheins degradiert, diente die affirmativ gewordene Kultur dazu, die Indi-
viduen mit einer Welt auszusöhnen, die nicht die ihre war, sondern die des Ka-
pitals und deshalb um der wahren Befreiung des Menschen willen aufgehoben
werden mußte.81
Auch in diesem Fall korrigierte sich Marcuse freilich selbst. So wie er den
Rationalismus als eine Denkbewegung begriff, deren Träger die einzelnen Klas-
sen nur insoweit waren, als sie die gesamte Menschheit verkörperten, galt ihm
auch die bürgerliche Kultur als ein Produkt, in das – wenn auch in falscher Form
– die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen unmittelbar eingegangen wa-
ren, und das auf Grund dieses allgemein-menschlichen Charakters über die
bürgerliche Gesellschaft hinauswies. Wie sehr auch der bürgerliche Wille zur
Macht die an sich progressiven und rationalen Denkgebilde von Wissenschaft
und Denken überhaupt verstümmelt hatte, war doch mit der Kunst ein einziger
Bereich geblieben, in dem gleichsam eine private Durchbrechung der herrschen-
den Entfremdung möglich war: »Nur im Medium der idealen Schönheit, in der
Kunst durfte das Glück als kultureller Wert mit dem Ganzen des gesellschaftli-
chen Lebens reproduziert werden.«82 Indem sie die über die materielle Repro-
duktion des Daseins hinausgehenden Bedürfnisse der Menschen artikulierte
und ihnen damit ihr Recht gab, entlastete die Kultur zwar die gegebene Realität
von der Verantwortung um die Bestimmung des Menschen. Gleichzeitig aber,
und dies war für Marcuse entscheidend, hielt sie ihr auch das Bild einer besseren
Ordnung vor:
»Es ist ein Stück irdischer Seligkeit in den Werken der großen bürgerlichen Kunst, auch
wenn sie den Himmel malen. Das Individuum genießt die Schönheit, Güte, den Glanz
und den Frieden, die sieghafte Freude; ja, es genießt den Schmerz und das Leid, das
Grausame und das Verbrechen. Es erlebt eine Befreiung. Und es versteht und findet Ver-
ständnis, Antwort auf seine Triebe und Forderungen. Eine private Durchbrechung der
Verdinglichung findet statt. […] Die Welt erscheint wieder als das, was sie hinter der
Warenform ist: eine Landschaft ist wirklich eine Landschaft, ein Mensch wirklich ein
Mensch und ein Ding wirklich ein Ding.«83

81  Vgl. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, S.  223 ff.
82  Ebd., S.  212.
83  Ebd., S.  215 (H.v.m., S.B.).
174 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Diese Ausführungen zeigen, wie wenig es Marcuse, ungeachtet des bisweilen


kulturrevolutionären Untertons seiner Argumentation, um eine radikale Auf-
hebung der Kultur im Sinne etwa des futuristischen Manifests ging. Was aufge-
hoben werden sollte, war die affirmative Form dieser Kultur, ihre die gesell-
schaftlichen Ungerechtigkeiten kompensierende und damit Herrschaft stabili-
sierende Funktion, nicht aber ihr Inhalt. Kultur war auch und gerade als
bürgerliche ein ›Vorbote möglicher Wahrheit‹84 , und es kam darauf an, diese
Wahrheit nicht leichtfertig zu zerstören, sondern zu verwirklichen. Es galt, die
bislang auf einen kleinen Bereich beschränkten Werte von Schönheit, Wahrheit
und Gerechtigkeit zu Gestaltungsprinzipien der gesamten Gesellschaft zu erhe-
ben – nicht im Sinne jener gigantischen Volksbildungsanstalt, in die Marcuse
zufolge die sozialdemokratische Kulturpolitik die Gesellschaft zu verwandeln
bestrebt war, wohl aber im Sinne einer positiven Utopie, die die Trennung von
Kultur und Gesellschaft beseitigen würde. Die ästhetische Erziehung des Men-
schengeschlechts, die der Aktivismus von 1918 wie vor ihm bereits der Idealis-
mus um 1800 propagiert hatten, stand für Marcuse immer noch auf der Tages-
ordnung.
Das galt im Prinzip auch für Horkheimer, und so fielen dessen Kommentare
zu Marcuses Texten ungeachtet mancher anderer Akzente denn auch durchweg
zustimmend aus. Gegenüber Adorno erklärte er Marcuses Aufsatz über den
affirmativen Charakter der Kultur für sehr gelungen und stellte ihn als Ergebnis
gemeinsamer Diskussionen im Vorwort zum 6. Jahrgang der Zeitschrift für So-
zialforschung besonders heraus.85 In einem an den Präsidenten der Columbia
University gerichteten Report über die Aktivitäten des Instituts im vergange-
nen Jahr hieß es bündig, Marcuses Arbeiten »are following the same general
course as my own.«86 Viele andere Mitglieder des Instituts, aber auch Personen
des weiteren Umfeldes sahen dies ähnlich – bis auf einen, der fortwährend ät-
zende Kritik anzumelden hatte: Theodor W. Adorno.
Dafür gab es zum einen persönliche Gründe. Adorno war 1933/1934 nicht in
die Entscheidungen eingebunden worden, die zur Verlagerung des Instituts
nach Genf und New York geführt hatten, und mußte nun erleben, daß Marcuse
in eben die Rollen rückte, die er, Adorno, für sich selbst vorgesehen hatte: die
des philosophischen Hauptrezensenten der Zeitschrift für Sozialforschung und
des engsten Mitarbeiters von Horkheimer im Feld der Philosophie.87 Das Ge-
fühl, aus dem Institut ausgeschlossen zu sein und die Rivalität mit Marcuse
brachten Adorno dazu, die schwersten Geschütze aufzufahren. In einem Brief
an Horkheimer, der noch immer von den erlittenen Verletzungen zeugte, erhob

84  Ebd., S.  212.


85 Vgl. Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 22.2.1937, in: A/H Bd. 1,
S.  295; HGS Bd. 4, S.  105–107, 106.
86  Max Horkheimer an Nicholas Murray Butler, Brief vom 2.4.1938, in: HGS Bd. 16, S.  422.
87  Zu den Vorgängen vgl. Wiggershaus 1986, S.  155, 178 ff.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 175

er unverblümt die Forderung, Marcuse aus dem Institut zu werfen oder ihn
zumindest für subalterne Funktionen abzustellen. Es mache ihn traurig, daß
Horkheimer philosophisch unmittelbar mit einem Mann zusammenarbeite,
den man aufgrund seiner Beziehungen zu Heidegger und zum Verleger seines
Hegelbuches, einem Mitglied des Tat-Kreises, für »einen durch Judentum ver-
hinderten Faszisten« halten müsse.88 Nach der Versicherung Horkheimers,
welch großen Wert man auf seine Wiedereingliederung in das Institut lege, ge-
wann Adorno die Contenance wieder, geriet aber bald erneut aus dem Gleich-
gewicht, als gleich zwei seiner Arbeiten der Oxforder Jahre, auf die er besonders
stolz war, das Imprimatur verweigert wurde: eine Entscheidung, hinter der er
den Einfluß von Löwenthal und Marcuse vermutete. Gegenüber Benjamin be-
zeichnete er beide als »eine wirkliche Gefahr« und kanzelte namentlich Marcu-
ses Ausführungen über Kunst als »heilloses Zeug« ab.89
So sehr sich Adorno hier im Ton vergriff: er hatte neben den persönlichen
auch sachliche Gründe auf seiner Seite. Am Wesens-Aufsatz, an dem er zu-
nächst einiges zu loben fand, störten ihn die zu lang geratenen ideengeschichtli-
chen Passagen, für die er in anderem Zusammenhang den Umstand verantwort-
lich machte, daß Marcuse »schwerer als wir am Erbe der akademischen ›Geis-
tesgeschichte‹ zu tragen« habe.90 Auch die Ausführungen zur Phänomenologie,
immerhin Adornos Spezialgebiet, erschienen ihm als »vereinfacht und ent-dia-
lektisiert«. Es sei nicht genug, »diese und jene Strukturen an idealistischem
Denken materialistisch zu konstatieren und so die Ebene gewissermaßen einer
materialistischen Geistesgeschichte zu konstituieren«. Vielmehr sei gefordert,
»daß man in die sachliche Diskussion und immanente Auflösung der idealisti-
schen Thesen sich einläßt und die materialistische Theorie verbindlich aus der
Kritik der idealistischen Fehler, im striktesten Sinne, entwickelt.« Für diese
Aufgabe sei Marcuse »noch ein wenig zu diltheyisch befangen.«91 Was hier noch
in Form einer um Rettung bemühten Kritik vorgetragen wurde, verstärkte sich
im folgenden Jahr zu einem regelrechten Verriss, als Adorno sich nach Ableh-
nung seines Husserl-Essays noch einmal Marcuses Text vorknöpfte. Marcuses
Betrachtung bleibe prinzipiell geistesgeschichtlich und stelle nur einen äußerli-
chen Bezug auf gesellschaftliche Tendenzen her, wohingegen er, Adorno, »die
Kritik des Idealismus ernstlich in Angriff genommen habe.« An die Frontstel-
lung erinnernd, die er und Horkheimer gemeinsam gegen Mannheim und
Dilthey bezogen hätten, rückte er Marcuse vollends auf die Seite des Gegners:
»Zwischen der Marcuseschen Auffassung und der von uns bekämpften von ›Denkstilen‹,
oder einfacher gesagt zwischen Marcuse und Dilthey ergibt sich in dessen Text wirklich
kein Unterschied als der, daß das ›Leben‹, zu dem Marcuse das Denken in Relation setzt,
88  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 13.5.1935, in: A/H Bd. 1, S.  65.
89  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 25.4.1937, in: A/B, S.  236.
90  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 12.5.1937, in: A/H Bd. 1, S.  354.
91  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 26.5.1936, in: A/H Bd. 1, S.  148.
176 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

von ihm in gesellschaftlichen Begriffen und nicht als metaphysische Entität gedacht
wird; aber diese schlagen nicht in die inhaltliche Diskussion hinein, weil es zu einer
solchen, nämlich zur Wahrheitsfrage, überhaupt nicht kommt, sondern die sachliche
Wahrheitsfrage wird abgeschnitten durch den nach meiner Auffassung zu hastigen und
deus-ex-machina-haften Rückgriff auf die praktischen Nöte der Menschheit und die
Forderung, daß Philosophie diesen Nöten Rechnung zu tragen habe.« Kurzum, es sei
nicht einzusehen, warum angesichts solcher Schwächen Marcuses Aufsatz erscheinen
durfte, nicht aber derjenige Adornos, der doch einen so wesentlichen Fortschritt über
Marcuse hinaus darstelle.92

Nicht minder scharf waren die Einwände, die Adorno gegenüber dem von
Horkheimer so geschätzten Essay Marcuses »Über den affirmativen Charakter
der Kultur« formulierte. Trotz mancher Einsichten wie etwa derjenigen, »daß
Abbau und Fetischisierung der Kultur genau zusammengehören«, sei der Auf-
satz im Kern idealistisch. Er präsentiere ein Bild der Kunst, das wesentlich dem
des Weimarer Klassizismus entspreche, mogele sich an der Erörterung des mög-
lichen Erkenntnisgehalts der Kunst vorbei und setze durchweg die klassizisti-
sche Ästhetik voraus, ohne auch nur die Frage zu stellen, ob deren Umsetzung
in Literatur und Kunst dieser überhaupt angemessen sei. Denkbar sei schließ-
lich, daß gerade in der Kunst »der bürgerliche Bruch von Theorie und Praxis
von größter Bedeutung« sei, ja daß die klassizistische Ästhetik verleugne, »was
in den Wahlverwandtschaften und im zweiten Teil des Faust geschieht. Indem
Marcuse hier Identität annimmt, ist er völlig dem idealistischen Trugbild erle-
gen und hat es dann freilich leicht, es zu entzaubern.«93 Noch abfälliger hieß es
gegenüber Benjamin, der Aufsatz sei »sehr mäßig; abgeleitete, von Max über-
nommene Dinge, mit Weimarer Bildungsstoff aufgefüllt; die Arbeit eines be-
kehrten, wenn auch sehr eifrigen Oberlehrers.«94
Zieht man die Summe aus dem, was Adorno in der Phase der Zusammenar-
beit an der Zeitschrift für Sozialforschung über Marcuse zu sagen oder auch
nicht zu sagen hatte – über Marcuses zweites großes Hegelbuch auffälligerweise
nur obiter dicta – dann ist die Botschaft klar. Der Mann mochte für untergeord-
nete Tätigkeiten wie die Anfertigung von Exzerpten oder Kurzrezensionen ge-
eignet sein95, nicht hingegen für die Bewältigung der eigentlichen Aufgabe, vor
der die Kritische Theorie stand: »die Konzeption der Dialektik von der der To-
talität und des Idealismus abzulösen«96 , womit nicht weniger verlangt war als
die idealistische Philosophie mitsamt ihrer Ästhetik »wirklich aus ihren Angeln
zu heben, immanent zur Aufhebung zu bringen oder anders gewandt: Praxis
(im Sinne der Thesen gegen Feuerbach) als den Gehalt von Theorie selber qua

92  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 28.10.1937, in: A/H Bd. 1, S.  456 f.
93  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 12.5.1937, in: A/H Bd. 1, S.  354 ff.
94  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 25.4.1937, in: A/B, S.  236.
95  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Briefe vom 20.1. und 26.5.1936, in: A/H

Bd. 1, S.  104, 149.


96  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 4.9.1941, in: A/H Bd. 2, S.  223.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 177

Theorie zu erweisen.«97 Für dieses Vorhaben, für das Adorno unermüdlich in


langen Episteln an Horkheimer warb, war Unterstützung weit eher von jeman-
dem wie Sohn-Rethel zu erwarten, der in geradem Gegensatz zu Marcuse die
Allgemeinheit und den Systemcharakter des Idealismus nicht als Vorschein ei-
ner nachbürgerlichen bzw. sozialistischen Ordnung verstehe, sondern als »Aus-
druck des Schuldzusammenhangs (d. h. Ausbeutungszusammenhanges) der
bürgerlichen Gesellschaft.«98 In puncto Sohn-Rethel vermochte Adorno Hork-
heimer nicht zu überzeugen, wie an anderer Stelle gezeigt wird. In puncto Mar-
cuse aber drang er schließlich durch. Als dieser im Dezember 1942 Horkheimer
über ein an ihn ergangenes Stellenangebot des Office of War Information (OWI)
in Washington informierte und dabei deutlich seine Präferenz für eine Fortset-
zung der gemeinsamen Arbeit in Los Angeles zum Ausdruck brachte, riet ihm
Horkheimer unbedingt zu, die Position anzunehmen.99 Er hatte sich längst ent-
schieden, die »Philosophischen Fragmente«, die später den Titel Dialektik der
Aufklärung erhielten, nur mit Adorno zu schreiben.

III.

Die Zeit, die Marcuse in verschiedenen amerikanischen Behörden verbracht hat


– des OWI, anschließend des Office of Strategic Services (OSS) und später des
State Department – war mit neun Jahren etwa so lang wie die Jahre im Kreis um
Horkheimer. In dieser Zeit legte er eine Reihe von Analysen des NS-Regimes
vor, die weit näher als der in Kalifornien entstehenden Dialektik der Aufklä-
rung dem Ansatz seines Freundes Franz Neumann standen, der niemals zum
engeren Kreis des Instituts gehört hatte.100 Nach Kriegsende entwickelte er sich
zum Experten im Feld der Rußlandstudien, das der Horkheimer-Kreis, mit
Ausnahme einer frühen Arbeit von Pollock, mit Bedacht gemieden hatte, teils
97  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.11.1936, in: A/H Bd. 1, S.  226 f.
98  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 12.5.1937, in: A/H Bd. 1, S.  357.
Immerhin setzte Adorno wenigstens soviel Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit Marcuses, daß
er auch ihm wie Horkheimer und Löwenthal die Lektüre von Sohn-Rethels Pariser Exposé
ans Herz legte, sei es doch gerade für ihn besonders interessant, »weil es eigentlich die genaue
Antwort auf die zwischen uns kontroverse Frage der immanenten Aufhebung des Idealismus
zum Gegenstand hat – ebenso wie mein Buch, aber von einem ganz anderen Ausgangspunkt
aus« (Theodor W. Adorno an Leo Löwenthal, Brief vom 19.11.1936, in: A/H Bd. 1, S.  524).
99  Vgl. Herbert Marcuse an Max Horkheimer, Brief vom 2.12.1942; Max Horkheimer an

Herbert Marcuse, Brief vom 19.12.1942, in: HGS Bd. 17, S.  387 ff.; Wiggershaus 1986, S.  336 ff.
100  Vgl. Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen, hrsg. von Peter-Erwin Jan-

sen, Lüneburg 1998; Raffaele Laudani (Hrsg.): Secret Reports on Nazi Germany. The Frank-
furt School Contribution to the War Effort (Franz Neumann; Herbert Marcuse; Otto Kirch-
heimer), Princeton 2013. Zur Rolle Neumanns im Institutskreis vgl. Wiggershaus 1986,
S.  251 ff., 314 ff.; zu seiner Zusammenarbeit mit Marcuse vgl. Douglas Kellner: Marcuse in the
1940s: Some New Textual Discoveries, in: Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse,
hrsg. vom Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main 1992, S.  301–310.
178 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

weil man sich in politicis Zurückhaltung verordnet hatte, teils weil noch Reste
jener Loyalität gegenüber dem »fortgesetzten schmerzlichen Versuch« in der
Sowjetunion bestanden, die »furchtbare gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu
überwinden«, wie Horkheimer sie 1930 artikuliert und Adorno sie selbst noch
1936, nach Beginn der stalinistischen Schauprozesse, bekräftigt hatte.101 Die
unausweichliche Lockerung der Fäden, die Marcuse bis dahin mit Horkheimer
verbunden hatten, die weitere Vergrößerung des Abstands durch Marcuses
Entscheidung, nicht nach Deutschland zurückzukehren, schließlich die Integ-
ration Marcuses in das linksliberale akademische Milieu der Vereinigten Staa-
ten – dies alles scheint für die These zu sprechen, Marcuses Zugehörigkeit zur
Kritischen Theorie habe mit seinem Eintritt in die Nachrichtendienste ihr Ende
gefunden.102
So kategorisch formuliert, ist dieses Urteil nicht haltbar. Gewiß präsentiert
sich Marcuses Denken in den 50er und 60er Jahren ungleich offener gegenüber
äußeren Einflüssen als dasjenige Horkheimers und Adornos, das von der umge-
kehrten Tendenz bestimmt zu sein scheint: zunehmende Schließung gegenüber
anderen Theorien bei gleichzeitiger pädagogischer wie medialer Ausstrahlung
nach außen.103 Der Verfasser des One-dimensional Man ließ sich von Galbraith’
Konzept der affluent society ebenso beeindrucken wie von C. Wright Mills’
Befunden über den abnehmenden Anteil der Industriearbeit und die zuneh-
mende Bedeutung der Angestellten, von Vance Packards Arbeiten über Wer-
bung, Manipulation und Konsum ebenso wie von den industriesoziologischen
Arbeiten Daniel Bells oder der Hawthorne-Studie.104 Aus den Vorworten der
größeren Werke dieser Periode ist zu entnehmen, was Marcuse amerikanischen
Freunden und Gesprächspartnern wie Barrington Moore und Arno J. Mayer
verdankte, aus den Inhalten insbesondere der Texte ab 1965, wie stark seine
Ansichten von der New Left beeinflußt wurden – weit mehr übrigens als umge-
kehrt, wie zu Recht konstatiert worden ist.105
Dies alles zugestanden, bleibt doch ein beachtlicher Rest, der eine fortwir-
kende Prägung durch die Kritische Theorie erkennen läßt, und zwar sowohl
durch die Kritische Theorie der 30er Jahre als auch durch die Fortbildung, die
sie in den 40er Jahren durch die gemeinsame Arbeit von Horkheimer und Ador-

101 Max Horkheimer: Dämmerung (1934), in: HGS Bd. 2, S.   309–452, 389; Theodor W.
Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 28.11.1936, in: A/H Bd. 1, S.  238. Einen Überblick
über das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Sowjetunion bis 1945 gibt Dubiel 1978, S.  28 ff.,
57 ff., 91 ff.
102  Vgl. Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im

Kalten Krieg, Hamburg 2010, S.  648; vgl. auch S.  474, 644.


103  Vgl. Albrecht u. a. 1999.
104  Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortge-

schrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1968³, S.  104, 19, 58, 49, 127 u. ö.
105  Vgl. Wheatland 2009, S.  296 ff., 334; Kellner 1984, S.  276 ff.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 179

no erfahren hat. Zum Erbteil der frühen Kritischen Theorie kann man die fol-
genden Elemente rechnen:
– die Gegenwartsdiagnose, die die zeitgenössischen westlichen Gesellschaften
als kapitalistisch im Sinne von Marx beschreibt und ihnen darüber hinaus
eine bestimmte Dynamik zuweist, die einerseits qua Automation die materi-
ellen Bedingungen für das ›Reich der Freiheit‹ bereitstellt, andererseits aber
auch durch zunehmende bürokratische Organisation bestimmt ist (›verwalte-
te Welt‹, ›allgemeines Kartell‹) und das Potential des Faschismus enthält106 ;
– die Fortschreibung der ursprünglichen Loyalität gegenüber der Oktoberre-
volution und der durch sie geschaffenen Ordnung, die Marcuse bis in die 60er
Jahre veranlassen wird, dem Sowjetmarxismus (wie dem Marxismus über-
haupt) eine emanzipatorische Kraft und der Sowjetunion trotz starker entge-
genwirkender Tendenzen ein Potential zur Liberalisierung zu bescheinigen
(worin sich dann allerdings ein scharfer Gegensatz zu den ›Frankfurter‹
Frankfurtern auftun wird);
– die vor allem mit Horkheimer geteilte Neigung, in der Philosophie, speziell
in der Metaphysik, eine transzendierende Kraft zu rechnen, die das Bestehen-
de im Lichte des Möglichen, das Partikulare im Lichte des Allgemeinen be-
trachtet und dadurch das ›unglückliche Bewußtsein‹ dazu bringen kann, sich
selbst zu überschreiten und in der Wirklichkeit die dafür nötige Unterstüt-
zung zu finden.107
Aus dem Gedankenkreis der Dialektik der Aufklärung, den sich zu erschließen
Marcuse zunächst erhebliche Schwierigkeiten hatte, in den er sich dann aber
nach und nach hineinarbeitete108 , stammen die beiden folgenden Elemente:
– das Theorem von der Selbstaufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, demzu-
folge durch die volle Entfaltung des Kapitalismus und speziell der Kulturin-

106  Zur Rolle der Automation vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S.  45 ff., 55 f., 57;

zum »Schreckgespenst eines ›allgemeinen Kartells‹« vgl. Die Gesellschaftslehre des sowjeti-
schen Marxismus, Neuwied und Berlin 1969², S.  53; zum faschistischen Potential vgl. weiter
unten.
107  Vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S.  221. »Die Reichweite der Verifizierbar-

keit in diesem Sinne«, heißt es an anderer Stelle, »nimmt im Laufe der Geschichte zu. So erhal-
ten die Spekulationen über das Gute Leben, die Gute Gesellschaft, den Ewigen Frieden einen
stets realistischer werdenden Inhalt; aus technologischen Gründen tendiert das Metaphysi-
sche dazu, physisch zu werden« (S.  241).
108  Zwei aufschlußreiche Dokumente finden sich dazu im Briefwechsel. In seiner ersten

Reaktion auf die Fragmente mußte Marcuse bekennen, sie trotz zweimaliger Lektüre nicht
verstanden zu haben und zahlreichen Ideen in ihrer verdichteten und abgekürzten Form nicht
folgen zu können (Herbert Marcuse an Max Horkheimer, Brief vom 22.5.1945, in: HGS Bd. 17,
S.  636). 17 Jahre später, nach erneuter Lektüre, heißt es: »ein ungeheures Buch, das in den
beinahe zwanzig Jahren seit es geschrieben wurde nur noch ungeheurer geworden ist. Aber
auch nichts was inzwischen von den Herren sotzoologen pschikologen (sic) publiziert worden
ist kommt auch nur an eine Fußnote des Buches heran« (Herbert Marcuse an Max Horkhei-
mer und Theodor W. Adorno, Brief vom 31.8.1962, in: HGS Bd. 18, S.  533).
180 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

dustrie die zumindest zeitweilig für die bürgerliche Klasse charakteristische


Sphäre relativ autonomer Subjektivität kassiert und durch den direkten Zu-
griff der gesellschaftlichen Mächte auf den einzelnen ersetzt wird, wovon
nicht nur das Ich, sondern die gesamte Trieb- und Bedürfnisstruktur betrof-
fen ist.109 Damit wird zugleich die Möglichkeit für das Proletariat zerstört,
sich als das Klassensubjekt zu konstituieren, von dem die sozialistische Tra-
dition die Überwindung des Kapitalismus erwartet hatte.110 Rebellionen sind
deshalb nicht ausgeschlossen, unterliegen aber von vornherein dem, was Mar-
cuse als »psychischen Thermidor« bezeichnet: einer Selbstblockierung, »die
eine mögliche Befreiung und Befriedigung innerlich verneint und die Indivi-
duen nicht nur äußerlich sich der Verneinung beugen läßt.«111
– die Erweiterung des Verdinglichungsbegriffs auf die Technik, in der der tra-
ditionelle Marxismus ein klassenneutrales Instrument des Fortschritts gese-
hen hatte, in den Worten von Habermas: ›ein Projekt der Menschengattung
insgesamt‹.112 Es ist richtig, daß Marcuse sich in diesem Verständnis nicht
nur auf die Dialektik der Aufklärung stützte, sondern auch auf von Husserl
und Heidegger entwickelte Topoi.113 Ein prinzipieller Gegensatz etwa zu
Adorno bestand in dieser Frage jedoch nicht.114 Die Auffassung von der
Technik als dem »großen Vehikel der Verdinglichung«115 hat Marcuse mit
Adorno und Horkheimer geteilt – allerdings auch die Ambivalenz, die beide
Seiten immer wieder dazu veranlaßt hat, auf das herkömmliche marxistische
Deutungsmuster einer Disjunktion zwischen Produktivkräften und Produk-
tionsverhältnissen zu retirieren.116 Dasselbe gilt für den Versuch, die Proble-

109  Vgl. Herbert Marcuse: Das Veralten der Psychoanalyse (1963), in: HMS Bd. 8, S.  6 0–78,

63 f.; Psychoanalyse und Politik (1968), Frankfurt am Main 19725, S.  20 f. Ansätze dazu finden
sich schon in den Studien über Autorität und Familie von 1936. Voll entfaltet werden sie je-
doch erst auf der Basis des Theorems von der Liquidation der Zirkulationssphäre, das Hork-
heimer in Zusammenarbeit mit Adorno ab 1939 entwickelt hat: vgl. Max Horkheimer: Die
Juden und Europa (1939), in: HGS Bd. 4, S.  308–331, 316; Autoritärer Staat (1940/1942), in:
HGS Bd. 5, S.  293–319, 293.
110  Vgl. Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung (1969), in: HMS Bd. 8, S.  237–317,

255.
111  Marcuse, Psychoanalyse und Politik, S.  47. Zu dieser Denkfigur vgl. Jürgen Habermas:

Psychischer Thermidor und die Wiedergeburt der Rebellischen Subjektivität, in ders.: Philo-
sophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1987, S.  319–335.
112  Vgl. Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt am Main

1969², S.  57.
113  Darauf verweist zu Recht Wolfgang Kraushaar: Herbert Marcuse und das lebensweltli-

che Apriori der Revolte, in ders. (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von
der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, 3 Bde., Hamburg 1998, Bd. 3, S.  195–203.
114  Anders Müller, Krieger und Gelehrte, S.  644: »Marcuse bekannte sich in den Debatten

um die Gegenkultur vorbehaltloser zur abendländischen Rationalität als sein alter Instituts-
kollege Theodor W. Adorno in seinen Werken.«
115  Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S.  183.
116  Zur Vorstellung, »daß die Maschinerie des technologischen Universums ›als solche‹ po-

litischen Zwecken gegenüber indifferent ist«, vgl. ebd., S.  168. Ferner Herbert Marcuse: Trieb-
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 181

matik von Wissenschaft und Technik im Rahmen eines Herrschaftsparadig-


mas anzugehen.117
Während jedoch Horkheimer und Adorno schon mit der Buchausgabe der Di-
alektik der Aufklärung (1947) dazu gelangten, die noch in der ursprünglichen
Fassung von 1944 sichtbare marxistische Terminologie abzustreifen, und mit
ihr zugleich wesentliche Elemente der frühen Kritischen Theorie, galt dies für
Marcuse keineswegs. Im Februar 1947 verfaßte er für ein in Aussicht genomme-
nes Wiedererscheinen der Zeitschrift für Sozialforschung ein Thesenpapier zur
gegenwärtigen Lage, in dem er die bisherige Camouflage fallen ließ und statt
von »kritischer Theorie« offen von der »revolutionären Theorie« sprach. Deren
Aufgabe sei es, »rücksichtslos und ohne jede Maskierung (!) gegen beide Syste-
me« – das »neofaschistische« und das »sowjetische« – Stellung zu beziehen und
»die orthodox marxistische Lehre beiden gegenüber ohne Kompromiß zu ver-
treten.«118 Das schloß eine generelle Kritik der kommunistischen Parteien auch
außerhalb des Sowjetblocks ein, denen Marcuse vorwarf, gegenwärtig »nicht
revolutionswillig und insofern auch nicht revolutionsfähig« zu sein, wurde aber
zugleich dadurch relativiert, daß Marcuse sie zur einzigen antikapitalistischen
Klassenorganisation des Proletariats erklärte, die wenigstens potentiell als Trä-
ger der Revolution anzusehen sei.119 Kritik an diesen Parteien müsse sich des-
halb auf die theoretische Ebene beschränken, sei doch »die Verwirklichung der
Theorie nur durch die kommunistischen Parteien« und mithilfe der Sowjetuni-
on möglich.120 In seiner vorletzten These bekräftigte Marcuse diese Einschät-
zung noch einmal, indem er Lenins Kritik am Tradeunionism rekapitulierte
und die Unverzichtbarkeit einer politischen Avantgardepartei hervorhob:
»Die Entwicklung hat die Richtigkeit der Leninschen Konzeption von der avantgardis-
tischen Partei als dem Subjekt der Revolution bestätigt. Es ist wahr, daß die kommunis-
tischen Parteien heute nicht dieses Subjekt sind, aber es ist ebenso wahr, daß nur sie es
werden können. Nur in der Theorie der kommunistischen Parteien ist noch die Erinne-
rung an die revolutionäre Tradition lebendig, die wieder zur Erinnerung an das revolu-
tionäre Ziel werden kann; nur ihre Situation ist so sehr außerhalb der kapitalistischen
Gesellschaft, daß sie wieder zur revolutionären Situation werden kann.«121

struktur und Gesellschaft (1955), Frankfurt am Main 1967, S.  94. Das entspricht der Feststel-
lung Adornos auf dem 16. Deutschen Soziologentag, die gegenwärtige Gesellschaft sei Indus-
triegesellschaft nach dem Stand ihrer Produktivkräfte, Kapitalismus in ihren Produk-
tionsverhältnissen: vgl. Theodor W. Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?
(1968), in: AGS Bd. 8, S.  354–370, 361.
117  Vgl. ausführlicher Stefan Breuer und Helmut König: Realismus und Revolte. Zur Am-

bivalenz von Herbert Marcuses Version der kritischen Theorie, in: Text und Kritik 98, 1988,
S.  21–43, 33 f.
118  Herbert Marcuse: 33 Thesen (1947), in ders., Feindanalysen, S.  129–143, 130.
119  Vgl. ebd.
120  Ebd., S.  137.
121  Ebd., S.  143.
182 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Marcuse unterließ es nicht, die aus dieser Grundentscheidung folgenden Konse-


quenzen anzudeuten. Stand einmal die Legitimität der Oktoberrevolution
ebenso außer Frage wie der Aufbau des Sozialismus in einem Land, das über
keine der dafür erforderlichen Voraussetzungen verfügte, war damit auch das
vom orthodoxen Marxismus propagierte Zweiphasenmodell für den Übergang
zum Kommunismus gerechtfertigt, das »für die erste Phase das Fortbestehen
der Unterwerfung der Arbeit unter die Arbeitsteilung, das Fortbestehen der
Lohnarbeit und der Herrschaft des Produktionsapparates [akzeptiert].«122
Wohl gab er einige Jahre später, wieder auf der Linie Horkheimers, zu beden-
ken, keine Philosophie könne die Leiden der Millionen rechtfertigen, die auf der
Schlachtbank der Weltgeschichte geopfert würden, doch schränkte er sein Be-
dauern sogleich durch die Bemerkung ein, der Terror sei nun einmal im Aufbau
jeder Zivilisation »the godfather of progress«.123 In seinem Buch über den sow-
jetischen Marxismus wurde daraus eine Differenzierung zwischen »techni-
schem« und »politischem Terror«, wie sie jeder Stalinist hätte unterschreiben
können.124 Selbst wenn man in Rechnung stellt, wie gering in den späten 40er
Jahren und noch im folgenden Jahrzehnt die Kenntnis vom tatsächlichen Aus-
maß des bolschewistischen Exterminismus war125, hieß dies doch schon damals
die Augen vor dem verschließen, was man wissen konnte und was Horkheimer
und Adorno in aller Schärfe herausstellten. Die von Adorno verfaßte Rußland-
Er­k lärung vom November 1949 rückte die Kritische Theorie in äußersten Ge-
gensatz zu der Politik und Doktrin, für die die Sowjetunion stand:
»Wir vermögen in der Praxis der als Volksdemokratien getarnten Militärdiktaturen
nichts anderes zu sehen als eine neue Form von Repression und in dem, was man dort
positiv ›Ideologie‹ zu nennen pflegt, das gleiche, was einmal in der Tat mit dem Begriff der
Ideologie gemeint war: die Lüge, die einen unwahren gesellschaftlichen Zustand recht-
fertigt. […] Jede Interpretation unserer Arbeit im Sinne einer Apologie Rußlands lehnen
wir aufs schärfste ab und glauben, daß das Potential einer besseren Gesellschaft dort
treuer bewahrt wird, wo die bestehende analysiert werden darf, als dort, wo die Idee ei-
ner besseren Gesellschaft verderbt ward, um die schlechte bestehende zu verteidigen.«126

122  Ebd., S.  138.


123  Herbert Marcuse: Recent Literature on Communism, in: World Politics 6, 1954, S.  515–
525, 517
124  Vgl. Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S.  115.
125  Die genaue Zahl der Toten durch Revolution und Bürgerkrieg läßt sich bis heute nicht

einmal ungefähr angeben. Sie dürfte aber bedeutend höher liegen als die zwei Millionen Men-
schen, die im Ersten Weltkrieg auf russischer Seite ihr Leben ließen. Durch die große Hun-
gersnot von 1921/22, eine direkte Folge der Revolution, kamen etwa fünf Millionen um, wei-
tere sechs Millionen durch die zweite Hungersnot im Gefolge der Zwangskollektivierung der
Landwirtschaft. Im Zuge des »Großen Terrors« von 1936 bis 1938 wurden 1,3 Millionen Men-
schen verhaftet, die Hälfte davon hingerichtet. Noch 1953 zählte das Gulagsystem 2,75 Milli-
onen Häftlinge. Vgl. Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frank-
furt am Main und New York 2006, S.  28 f.; Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk, in:
Stéphane Courtois u. a.: Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S.  51–295, 213, 263.
126  Zit. n. A/H Bd. 3, S.  360.
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 183

Als Marcuse bald danach verkündete, die Sowjetunion sei in der »Entwicklung
zu einem wachsenden Wohlfahrtsstaat« begriffen und brieflich eine Äußerung
Horkheimers und Adornos gegen die »Fronvögte[n] der Ostzone« als Beitrag
zum Kalten Krieg kritisierte127, fiel die Antwort auf eine Weise aus, die an Klar-
heit nicht zu wünschen übrig ließ. Den Vorwurf, sich als Ideologen des Kalten
Krieges zu betätigen, konterten die Angegriffenen mit dem Argument, er beru-
he auf der unhaltbaren Voraussetzung, daß der ›Diamat‹ »immer noch etwas mit
unserer Philosophie zu tun« habe. Die Sowjetunion werde von einer Regierung
geführt, »die nicht bloß viele Millionen Menschen ausgerottet, sondern die the-
oretischen und praktischen Inauguratoren der russischen Revolution qualvoll
und schimpflich liquidiert hat.« Noch unhaltbarer sei das Argument, »man dür-
fe das Grauen des Ostens nur als eine Zwischenstufe auf dem rechten Weg anse-
hen […]. Genau jene Präponderanz des Zwecks über die Mittel in der Theorie
führt praktisch dazu, daß die Mittel über den Zweck triumphieren, und daß im
Namen der schließlichen Herbeiführung eines Besseren alles Schlechte hic et
nunc gerechtfertigt wird.«128
Zu diesen Dissonanzen kamen bald andere hinzu, etwa auf dem Feld der Psy-
choanalyse. Zur gleichen Zeit, als Adorno sich daran machte, das Potential der
Freudschen Narzißmustheorie für die Sozialpsychologie zu erschließen, publi-
zierte Marcuse Eros and Civilization, das mit einer Umdeutung von Freuds du-
alistischer Trieblehre in einen Monismus und einer Aufwertung des primären
Narzißmus zum Keim eines andersartigen Realitätsprinzips aufwartete – Kon-
zepte, die in diametralem Gegensatz zu Adornos Auffassungen standen.129
Nicht weniger irritierend dürfte für Adorno die Art und Weise gewesen sein, in
der Marcuse die Freud untergeschobene Metaphysik mit dem Konstrukt einer
angeblichen Hauptströmung der westlichen Philosophie zusammenbrachte,
welche neben der antagonistischen Subjekt-Objekt-Beziehung »auch das Bild
ihrer Versöhnung« enthalten sollte.130 Hegels Lehre vom absoluten Geist mu-
tierte aus diesem Blickwinkel zur Überwindung der »Logik der Herrschaft« in
einem »friedliche[n] Wiedererfassen der Vergangenheit«, Schopenhauers Ideal
des Nirwana zum »Urbild des Lustprinzips« und Nietzsches »ewige Wieder-
kehr« zur »Vision einer erotischen Einstellung zum Sein«.131 Vollends eklek-
tisch wurde es in den Passagen, in denen Marcuse dazu aufforderte, den ästhe-
tischen Staat Schillers zu verwirklichen und zwar nicht neben den Reichen der

127  Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S.  179; Max Horkheimer

und Theodor W. Adorno: Vorwort [zu Paul W. Massings Vorgeschichte des politischen Antise-
mitismus] (1959), in: HGS Bd. 8, S.  126–130, 127.
128  Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an Herbert Marcuse, Brief vom 12.2.1960,

in: HGS Bd. 18, S.  467 f.


129  Vgl. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S.  55, 110, 167 f.; Breuer und König, Re-

alismus und Revolte, S.  39 ff.


130  Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S.  112.
131  Ebd., S.  117, 119, 122.
184 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Kräfte und der Gesetze, sondern in ihnen; und in denen er als Mittel dazu »die
Idee einer erzieherischen Diktatur« im Sinne von Platon und Rousseau emp-
fahl132 – Vorstellungen, die miteinander kaum zu vereinbaren waren, wollte
doch Platon die Künstler aus seinem Staat vertreiben. Weitere Aktualisierungen
Platons wie etwa die Rehabilitierung der »wahre[n] Knabenliebe« dürften in
Frankfurt mit nicht geringerem Befremden aufgenommen worden sein.133
Eine Diskussion über Eros and Civilization, das doch nichts Geringeres prä-
tendierte als eine triebtheoretische Grundlegung der Kritischen Theorie, kam
nicht zustande. Horkheimer äußerte sich zwar wohlwollend und wollte die
deutsche Übersetzung als Institutspublikation herausbringen, doch störte
Adorno sich an einer »gewissen Direktheit und ›Unvermitteltheit‹« des Textes.
Da er überdies Anlaß hatte, sich über die Nichterwähnung seiner Kritik am
psychoanalytischen Revisionismus in einem Aufsatz Marcuses zu ärgern, be-
handelte er die Sache dilatorisch, so daß Eros and Civilization erst mit erhebli-
cher Verspätung in deutscher Übersetzung erschien – und dann auch noch in
einem anderen Verlag.134 In den folgenden Jahren nahmen die Mißverständnisse
und wechselseitigen Kränkungen derart überhand, daß es schwerfällt, in ihnen
nicht die Symptome eines tieferliegenden Konflikts zu sehen. Nachdem bereits
die Veröffentlichung einer Aufsatzsammlung von Franz Neumann in den
Frankfurter Beiträgen zur Soziologie an Streitigkeiten zwischen Adorno und
Marcuse darüber gescheitert war, wer das Vorwort schreiben sollte135, lehnte
Marcuse es ab, Adornos Metakritik zu besprechen, was von diesem als »doch
recht unfreundlich« empfunden wurde.136 Dem schlossen sich weitere Querelen
an, etwa über ein Nachwort, das Marcuse zu einer Aufsatzsammlung Benja-
mins geschrieben hatte.137 Auch wenn beide Seiten nach außen hin noch lange
ihre Gemeinsamkeit betonten138 , war doch klar, daß die Differenzen inzwi-
schen bei weitem überwogen.

132  Vgl. ebd., S.  190, 222.


133  Ebd., S.  208.
134  Vgl. Wiggershaus 1986, S.  554 f.
135  Vgl. ebd., S.  524.
136  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 7.2.1957, in: A/H Bd. 4, S.  388.
137  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 30.9.1964, in: A/H Bd. 4,

S.  731 f. Im Briefwechsel mit Scholem erklärte sich Adorno mit dessen vernichtendem Urteil
über Marcuses Nachwort einverstanden und machte dies vor allem an der gravierenden »Fehl-
interpretation des Begriffs der Dialektik im Stillstand, überhaupt der geschichtsphilosophi-
schen Thesen« fest. Immerhin galt ihm Marcuse damals noch als »alter Freund«, den er nicht
öffentlich bloßstellen wollte: Theodor W. Adorno an Gershom Scholem, Brief vom 17.3.1965,
in: A/S, S.  322.
138 Noch 1968 ließ Adorno verlauten, bei den ›angeblichen Differenzen‹ zwischen der

Frankfurter Schule und Marcuse handele es sich »eher um eine Frage divergierender Tempe-
ramente denn theoretischer Differenzen« (Theodor W. Adorno: Über Herbert Marcuse, in:
AGS Bd. 20.2, S.  768).
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 185

Entzünden sollten sie sich schließlich an der unterschiedlichen Stellungnah-


me zu den neuen politischen Bewegungen, die sich in den 60er Jahren formier-
ten. Während Horkheimer sich immer entschiedener von allem abgrenzte, was
in Richtung einer »Aufhebung der Philosophie in Revolution« wies und statt
dessen die Verteidigung des »Rest[s] der bürgerlichen Civilisation« zur ersten
Bürgerpflicht erklärte139 , machte sich Marcuse zum Anwalt einer »zweite[n]
bürgerliche[n] Revolution«140 , die sich bei näherem Zusehen freilich als das ge-
rade Gegenteil einer solchen entpuppte: nämlich nicht als Freisetzung einer neu-
en, im Schoße der alten Gesellschaft gebildeten Ordnung, sondern als etwas, das
sich in der Terminologie von Peter Sloterdijk eher als Eruption des thymós be-
schreiben läßt, als Ausbruch eines seit langem schwelenden und nun nicht länger
latent zu haltenden Zorns.141 Hatte er diesen in der Zeit der Zusammenarbeit
mit Horkheimer und den kriegführenden amerikanischen Institutionen zu un-
terdrücken vermocht, weil es noch ein größeres Übel zu bekämpfen galt, so fiel
diese Einschränkung mit dem Kriegsende fort. Schon in den 33 Thesen von 1947
offenbarte Marcuse einen so tiefen Zorn auf das Bestehende, daß er einzig in der
Entfesselung von »Anarchie und Desintegration« eine Chance sah, »das Inter-
regnum oder sogar das Vakuum zu schaffen, in dem die Veränderung der Be-
dürfnisse, die Entstehung der Freiheit sich vollziehen kann«.142 Nach fünfzehn
weiteren Jahren in den Vereinigten Staaten bekannte er sich als »Manichaeer«
und verkündete, »dass in einer schlechten Gesellschaft selbst das Gute schlecht
wird«, was keinen anderen Schluß zuließ als der totalen Negation mit einer
ebenso totalen Negation der Negation zu begegnen.143 Empört über die »Scham-
losigkeit der Überflußgesellschaft« rief er zu einer umfassenden Moralisierung
auf, die »das elementare, organische Fundament der Moral im Menschen« akti-
vieren sollte.144 Entsetzt über die vermeintlich ›protofaschistische‹ Transforma-
tion der westlichen Demokratie sprach er den »unterdrückte[n] und überwältig-
te[n] Minderheiten ein ›Naturrecht‹ auf Widerstand« zu, die Berechtigung, au-
ßergesetzliche Mittel einschließlich der physischen Gewalt anzuwenden.145 Den

139  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 27.9.1958, in: HGS Bd. 18, S.  4 44 f.
140  Habermas u. a., Gespräche mit Herbert Marcuse, S.  54. Zu Marcuses Engagement auf
Seiten der Bürgerrechts- und Studentenbewegung in den USA vgl. Müller, Krieger und Ge-
lehrte, S.  586 ff.
141  Vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am

Main 2006.
142  Marcuse, 33 Thesen, S.  140.
143  Herbert und Ingeborg Marcuse an Paul Tillich, Brief vom 28.12.1962, in: Alf Christo-

phersen und Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Streit über John F. Kennedy. Ein kurzer Brief-
wechsel zwischen Paul Tillich und Herbert Marcuse, in: Zeitschrift für Neuere Theologiege-
schichte 14, 2007, S.  312–325, 321 f.
144  Marcuse, Versuch über die Befreiung, S.  249 f.
145  Herbert Marcuse: Repressive Toleranz (1965), in: HMS Bd. 8, S.  136–166, 161. Die Vo-

kabel »protofaschistisch« verwendet Marcuse explizit mit Blick auf die 1972 wiedergewählte
Nixon-Administration in seinem Essay »Das historische Schicksal der bürgerlichen Demo-
186 Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie

Konservativen und Reaktionären wurde eine »extreme Aufhebung des Rechts


der freien Rede und freien Versammlung« angedroht, ihren Organen die »Zen-
sur, sogar Vorzensur«.146 »Politik als eigener Funktionsbereich innerhalb der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung« sollte ebenso verschwinden wie die nur
scheinbar neutralen Sphären der Wissenschaft oder der Technologie, die fortan
»in Übereinstimmung mit den ›Gesetzen der Schönheit‹« zu vervollkommnen
seien.147 Dies werde zugleich »die Aufhebung von Kunst bedeuten: das Ende der
Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen«.148 Und damit werde es möglich,
die allzu schnelle Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen-
schaft zu korrigieren und »von Marx zu Fourier überzugehen […], vom Realis-
mus zum Surrealismus«.149 In Deutschland wurde dieser Gedanke sogleich von
der Kommune I aufgenommen und von einem ihrer Wortführer zu einem Wi-
derstandsrecht zugespitzt, das bis zum Umsturz gehe.150 Und wenn kurz darauf
die Speerspitze des studentischen Protestes, der SDS, die Bedingungen für die
»Machbarkeit unserer Geschichte« gegeben sah und dazu aufforderte, der Waf-
fe der Kritik die Kritik der Waffen folgen zu lassen151, dann war dies eine Con-
clusio, die ganz auf der Linie der von Marcuse umrissenen Prämissen lag.
Sein Votum für eine radikale Entdifferenzierung hat Marcuse zumindest mit
Blick auf die Kunst einige Jahre später revidiert.152 Die Abkehr vom ästheti-
schen Fundamentalismus bedeutete jedoch keine grundsätzliche Absage an die
Positionen eines modernen Fundamentalismus, denen Marcuse sich seit den
50er Jahren immer stärker verschrieb und die er mal mehr in Richtung eines
erotischen, mal mehr in Richtung eines moralischen Fundamentalismus akzen-
tuieren konnte.153 Und sie bedeutete erst recht keine Wiederannäherung an das,

kratie« (1973/74), in: HMNS Bd. 1, S.  146–175, 162. Der Text bescheinigt dem fortgeschritte-
nen Kapitalismus der USA, »auf dem Weg in den Faschismus« zu sein (S.  156), was immerhin
ein Fortschritt gegenüber der Lagebeschreibung von 1947 ist, die schlankweg von einer »neo-
faschistische[n] Gesellschaft« sprach (s. o.). Vom Weltbild einer Ulrike Meinhof sind solche
statements nicht sehr weit entfernt.
146  Marcuse, Repressive Toleranz, S.  156 f.
147  Herbert Marcuse: Das Problem des sozialen Wandels in der technologischen Gesell-

schaft (1961), in: HMNS Bd. 1, S.  37–66, 58; Kulturrevolution (ca. 1970), ebd., S.  82–134, 103.
148  Marcuse, Versuch über die Befreiung, S.  268.
149  Ebd., S.  260.
150  Vgl. Dieter Kunzelmann: Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den

Metropolen (1966), in: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Bd. 2, S.  213–
215, 215.
151  Rudi Dutschke: Referat auf dem Kongreß »Bedingungen und Organisation des Wider-

standes« in Hannover am 9.6.1967, in: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewe-


gung, Bd. 2, S.  251–253, 251; Hans-Jürgen Krahl: Der politische Widerspruch der Kritischen
Theorie Adornos, in: Krahl 1971, S.  285–288. Der Beitrag erschien ursprünglich als Nachruf
am Tag von Adornos Beerdigung in der Frankfurter Rundschau vom 13.8.1969.
152  Vgl. Herbert Marcuse: Konterrevolution und Revolte (1972), in: HMS Bd. 9, S.  7 –128,

81 ff.
153  Vgl. dazu ausführlicher meine Studien: Ein moderner Fundamentalist? Zum 100. Ge-
Der Ort Marcuses in der Kritischen Theorie 187

was in Frankfurt unter der Ägide Adornos als Kritische Theorie betrieben wur-
de. Wenn Marcuse 1967 von der Notwendigkeit einer »neue[n] Anthropologie«
sprach154 , dann verbarg sich dahinter nichts anderes als die für die erste anthro-
pologische Wende in der frühen Neuzeit charakteristische Forderung nach ei-
ner Rehabilitierung der Sinnlichkeit und nicht das, was Horkheimer und vor
allem Adorno in der kalifornischen Emigration vor Augen stand. Von ihrem
Werk hat sich Marcuse wenige Wochen vor Adornos Tod losgesagt, als er sich
vorbehaltlos mit denen solidarisierte, die sich seit längerem einen Sport daraus
machten, seine ehemaligen Freunde zu malträtieren, denen er nunmehr aus der
Ferne vorhielt, es sei nicht mehr »unser altes Institut«, in das die Studenten ein-
gedrungen seien, vielmehr ein ganz anderes, dessen Arbeit sich nicht mehr »aus
der Entwicklung der Theorie selbst« bestimme, sondern aus externen finanziel-
len Interessen.155 Einige Tage davor hatte Adorno seinerseits Horkheimer zu
verstehen gegeben, er habe alles getan, um einen Bruch mit Marcuse zu vermei-
den, sehe nun aber nachgerade nicht mehr, wie er vermieden werden könne.156
Das hieß endlich klar auszusprechen, was schon seit langem in der Schwebe war.
Auch für Marcuse ging die Zeit der Freundlichkeiten zu Ende. Fünf Jahre später
erklärte er im Gespräch mit Phil Slater Horkheimers letzte Artikel und Inter-
views als unterhalb der Kritik und sprach von »betrayal of critical theory« und
»theoretical collapse«.157

burtstag Herbert Marcuses, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1999, S.  155–158; Moderner
Fundamentalismus, Berlin 2002, S.  165 ff.
154 Herbert Marcuse: Befreiung von der Überflußgesellschaft (1967), in: David Cooper

(Hrsg.): Dialektik der Befreiung, Reinbek 1969, S.  9 0–101, 96. An dieses Programm schloß
sich nicht zufällig der Versuch des Horkheimer-Schülers Alfred Schmidt an, Ludwig Feuer-
bach wieder zur Geltung zu bringen: vgl. Alfred Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit.
Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973, mit direkter Bezug-
nahme auf Marcuse und Bloch und deutlicher Abgrenzung von der Ȋlteren Kritischen Theo-
rie, vor allem Adornos«: S.  54 ff., 63.
155  Herbert Marcuse an Theodor W. Adorno, Brief vom 4.6.1969, in: HGS Bd. 18, S.  732.
156  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 28.5.1969, in: HGS Bd. 18, S.  728.

Die Beziehungen zu Marcuse, hatte er bereits zwei Wochen zuvor Scholem mitgeteilt, »haben
sich außerordentlich gespannt, nachdem er, entgegen seinem eigenen Wunsch, hierher ohne
öffentlichen Zirkus zu kommen, plötzlich seinen Besuch an die Bedingung knüpfte, öffent-
lich mit den Studenten zu diskutieren, was uns wiederum ein Arrangement mit dem Institut
unmöglich macht. Wenn ich recht berichtet bin, hat seine Frau ihm gedroht, wenn er sich an-
ders verhielte, öffentlich mit den Studenten gegen ihn zu demonstrieren. Seltsam sind die
Wege der Sterblichen« (Theodor W. Adorno an Gershom Scholem, Brief vom 14.5.1969, in:
A/S, S.  523).
157  Vgl. Kellner, Herbert Marcuse and the Crisis of Marxism, S.  416.
Frankfurt contra Heidelberg I:
Die Kritische Theorie und Max Weber

Was Kritische Theorie sein wollte und wo ihre Grenze lag, wurde selten so
deutlich wie auf dem 15. Deutschen Soziologentag, der im April 1964 in Heidel-
berg stattfand.1 Ort und Zeitpunkt hatten hohe symbolische Bedeutung. Hun-
dert Jahre zuvor, am 21.4.1864, war Max Weber geboren worden, der von 1896
bis 1919 in Heidelberg gelebt und hier die meisten seiner Arbeiten verfaßt hatte
– Arbeiten, die neben denjenigen von Tönnies und Simmel den Weltruf der
deutschen Soziologie begründet haben. Ein Kongreß über eine Figur dieses Ka-
libers, die obendrein durch ihre diversen Interventionen auch eminente politi-
sche Bedeutung besaß, war dazu berufen, keine bloße Gedenkfeier zu sein, son-
dern ein Anlaß zu Positionsbestimmungen grundlegender Art. Und so ver-
säumte man es denn in Frankfurt auch nicht, sich angemessen in Stellung zu
bringen und den Kampf gegen das aufzunehmen, was man schon in der Weima-
rer Republik als »Heidelberger Geist« perhorresziert hatte. Da Adorno im No-
vember 1963 zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ge-
wählt worden war, konnte er seinen Einfluß nutzen, um Marcuse eines der
Hauptreferate zuzuschanzen, obwohl dieser bis dahin nicht eben als Weberfor-
scher hervorgetreten war. Die Leitung der Plenardiskussion über den Vortrag
von Talcott Parsons erhielt Horkheimer, der die Gelegenheit wahrnahm, per-
sönliche Erinnerungen an Max Weber einzubringen, ansonsten aber »die Zeit
im großen ganzen dem Schlaf widmen konnte.«2 Mit einem Korreferat zu Mar-
cuse und Parsons war mit Habermas ein weiterer Frankfurter vertreten, der
Weber, wie zuvor schon Wolfgang J. Mommsen, in die Nachbarschaft von Carl
Schmitt rückte. Damit waren die Weichen für den Versuch gestellt, »die gesell-
schafts-, kultur- und wissenschaftskritischen Intentionen des ehemaligen
Horkheimer-Kreises in einer Fokussierung auf Weber wieder ins Bewußtsein

1  Zum Heidelberger Soziologentag vgl. Ute Gerhard: Die Rolle der Remigranten auf dem

Heidelberger Soziologentag 1964 und die Interpretation des Werkes Max Webers, in:
Claus-Dieter Krohn und Axel Schildt (Hrsg.): Zwischen den Stühlen? Remigranten und Re-
migration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002, S.  216–
243. Weiter ausholend dies.: Worlds Come Apart: Systems Theory versus Critical Theory.
Drama in the History of Sociology in the Twentieth Century, in: The American Sociologist
33, 2002, Issue 2, S.  5–39. Ferner Guenther Roth: Heidelberg und Montreal. Zur Geschichte
des Weberzentenariums 1964, in: Karl-Ludwig Ay und Knut Borchardt (Hrsg.): Das Faszino-
sum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung, Konstanz 2006, S.  377–391.
2  Max Horkheimer an Gertrud Lenzer, Brief vom 18.5.1964, in: HGS Bd. 18, S.  565.
190 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

zu rufen und so die Frankfurter Schule in der westdeutschen Soziologie zu eta-


blieren.«3

I.

Die Plenardiskussion über Parsons’ Vortrag zu »Wertfreiheit und Objektivität«


wurde von Horkheimer als dem ›wohl letzten anwesenden Studenten Webers‹
(Behrmann) mit dem Bekenntnis eröffnet, er sei mit Max Webers Lehre von der
Wertfreiheit »nie ganz ins reine gekommen«. Im Sommersemester 1919, kurz
nach dem Abitur, hatte er in München Webers Vorlesung besucht, um Auf-
schluß über die Russische Revolution zu erhalten, mit der sich Weber ja in der
Tat mehrfach beschäftigt hatte. Was ihn, Horkheimer, interessiert habe, sei die
welthistorische Bedeutung dieses Ereignisses gewesen und die Frage, wie sich
die westlichen Staaten, insbesondere Deutschland, dazu verhalten sollten. »Nun
sprach Max Weber in seiner Vorlesung über das Rätesystem. Der Hörsaal war
zum Bersten voll, und es gab eine krasse Enttäuschung. Anstatt theoretischer
Reflexion und Analyse, die nicht bloß in der Aufgabenstellung, sondern in je-
dem einzelnen Schritt vom Gedanken an eine vernünftige Gestaltung der Zu-
kunft geleitet gewesen wäre, hörten wir in zwei oder drei Stunden fein abgewo-
gene Definitionen des russischen Systems, scharfsinnig formulierte Idealtypen,
durch welche die Räteordnung möglicherweise zu bestimmen sei. So präzise
war alles, so wissenschaftlich strenge, so wertfrei, daß wir ganz traurig nach
Hause gingen.«4
Bei der Vorlesung, über die Horkheimer hier berichtete, handelte es sich um
die erste, die Max Weber in seinen drei Münchner Semestern gehalten hat. Sie
war angekündigt unter dem Titel »Die allgemeinsten Kategorien der Gesell-
schaftswissenschaft« und dürfte im wesentlichen in einer Darlegung zentraler
Begriffe aus den ersten drei Kapiteln der neuen Fassung von Wirtschaft und
Gesellschaft bestanden haben, an denen Weber zu dieser Zeit arbeitete. Ausfüh-
rungen zum Rätesystem im allgemeinen (also nicht speziell zum russischen)
finden sich dort in Kapitel III »Die Typen der Herrschaft«, §  22,5 »Repräsenta-
tion durch Interessenvertreter«, andeutungsweise auch schon in §  5 über »Die
bureaukratisch-monokratische Verwaltung«.5 Stichworte, Aufzeichnungen

3  Albrecht u. a. 1999, S.  304 (G. Behrmann). Von einem Mitautor dieses Bandes stammt ein

lesenswerter Überblick über das im folgenden verhandelte Thema: Harald Homann: Der
Schatten Max Webers. Der Prozeß der gesellschaftlichen Rationalisierung in der Deutung der
Kritischen Theorie, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1995, Opladen 1999, S.  151–174.
Weitergesponnen hat diesen Faden Johannes Weiß: Max Weber und die Kritik der Kritischen
Theorie, in: Ay und Borchardt, Das Faszinosum Max Weber, S.  301–312.
4  Max Horkheimer: [Wertfreiheit und Objektivität – Max Weber] (1964), in: HGS Bd. 8,

S.  258–261, 258 f.
5  Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, MWG Bd. I/23, S.  587, 463.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 191

oder gar Mitschriften dieser Vorlesung sind (im Unterschied zu den beiden an-
deren) nicht überliefert, doch wird der von Horkheimer übermittelte Eindruck
äußerster politischer Zurückhaltung durch andere Zeugnisse bestätigt. Weber
selbst berichtete seiner Frau von dem großen Ansturm auf sein Kolleg und füg-
te hinzu: »Viel zu viel Leute, so und so viele standen – nur diesmal aber werden
sie sich bald drücken: ich rede ganz abstrakt, rein begrifflich, absichtlich.«6 Und
von Helmuth Plessner, der wie Horkheimer die Vorlesung hörte, wissen wir,
daß sich diese Einschätzung bewahrheitete: »Der Besuch ließ auch rasch nach,
was ihm nur recht war. Darstellung lag ihm nicht, weder im Kolleg noch im
Buch. Prophetie gar auf dem Katheder haßte er. […] In dem Kategorien-Kolleg
gab er, ein wahres Bild innerweltlicher Askese, soweit ich mich erinnere, pure
Definitionen und Erläuterungen: Trockenbeerauslese, Kellerabzug.«7
Daß Horkheimer damals aus der politischen Zurückhaltung des Vortragen-
den schloß, »Max Weber sei ultrakonservativ«8 , kann der Unerfahrenheit eines
Erstsemesters und der für Studienanfänger typischen Neigung zugeschrieben
werden, sich auf die Ohren anstatt auf die Augen, sprich: eigene Lektüre, zu
verlassen. Immerhin hätte er auch vom Hörensagen her wissen können, daß die
königlich-bayerische Regierung 1917 eine Berufung Webers abgelehnt hatte,
weil dieser als zu links galt, und seine Aufnahme in die Bayerische Akademie
der Wissenschaften noch im Sommersemester 1919 wütende Proteste gegen den
›demokratischen Radaumacher‹ und ›Nährvater der Räterepublik‹ auslöste.9
Wie auch immer: das einmal verfestigte negative Urteil hielt noch den wissen-
schaftlichen Assistenten und späteren Professor Horkheimer davon ab, sich ein
genaueres Wissen über Person und Werk Max Webers zu verschaffen. Der gegen
dessen Forderung nach Wertfreiheit vorgetragene Einwand, soziologische For-
schung sei in jedem Schritt der Erkenntnis wertgebunden, übergeht die von We-
ber schon früh vorgenommene Unterscheidung zwischen unumgänglicher
Wertbeziehung und praktischen Werturteilen, zwischen der »Erkenntnis der
Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung«, die stets eine »Beziehung der Kulturer-
scheinungen auf Wertideen« impliziert, und der praktischen Bewertung »einer
durch unser Handeln beeinflußbaren Erscheinung als verwerflich oder billi-
genswert.«10 Weber insistierte auf dieser Unterscheidung nicht, weil er von

6 Max Weber an Marianne Weber, Brief vom 25.6.1919, in: Briefe 1918–1920, MWG

Bd. II/10.2, S.  663. Der späte Beginn des Sommersemesters erklärt sich aus den Unruhen im
Zusammenhang mit der Räterepublik und deren Niederschlagung.
7 Helmuth Plessner: In Heidelberg 1913, in: René König und Johannes Winckelmann

(Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis, Köln und Opladen 1985², S.  30–34, 34.
8  Horkheimer, Wertfreiheit und Objektivität, S.  260.
9  Vgl. die Einleitung der Hrsg. in MWG Bd. II/10.2, S.  15; Max Weber an Mina Tobler,

Brief vom 27.8.1919, ebd., S.  746.


10  Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkennt-

nis, in ders. 19734 , S.  146–214, 174; Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökono-
mischen Wissenschaften, ebd. S.  489–540, 489.
192 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Werten nichts hielt oder Werturteile gar der wissenschaftlichen Diskussion


überhaupt entziehen wollte – ihre Erörterung sah er vielmehr als eine der wich-
tigsten Aufgaben der »Sozialphilosophie« an11 – sondern allein deswegen, weil
für ihn die grundlegenden Werte in einem Verhältnis der »Kollision« standen,
des Antagonismus, der den einzelnen in jedem Augenblick vor die Wahl »zwi-
schen ›Gott‹ und ›Teufel‹« stellt12 ; wobei die Wissenschaft schon deshalb nicht
zur Schlichterin dieses Konflikts berufen ist, weil sie selbst einem Wert – »dem
Wert der wissenschaftlichen Wahrheit« – folgt, also Partei ist.13 Man weiß, wie
sehr der Streit um diese Position Institutionen wie den Verein für Sozialpolitik
oder die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zerrissen hat.14
In seiner Rede über die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, die er 1931
nach seiner Berufung zum Direktor des Instituts für Sozialforschung hielt, ging
Horkheimer auf die von Weber aufgeworfene Problematik ein – allerdings ohne
Weber auch nur einmal namentlich zu nennen und auf eine Weise, die sachlich
wenig überzeugend ausfiel. Zwar räumte er ein, daß die Sozialphilosophie aktu-
ell »von ihrem Gegenstand, dem Kulturleben der Menschen, bloß weltanschau-
lich, thesenhaft, bekenntnishaft zu reden« vermochte, doch schien ihm dies
nicht den Schluß zu rechtfertigen, es könne in dieser Disziplin allenfalls »letzte
Stellungnahmen« geben, »aber keine allgemeingültige, in den Gang großer und

11  Vgl. Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkennt-

nis, S.  151. Es ist deshalb unzutreffend, wenn Horkheimer unterstellt, Webers Lehre zufolge
gelte »in der idealistischen Philosophie und Wissenschaft jedes Werturteil als unerlaubt« (Ma-
terialismus und Moral [1933], in: HGS Bd. 3, S.  111–149, 147). Weber hat der Sozialphilosophie
und der Ethik keineswegs die Existenzberechtigung abgesprochen. Er hat ihr sogar ausdrück-
lich Raum in seiner Hauszeitschrift zugestanden, dem 1904 von Heinrich Braun übernomme-
nen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik – allerdings mit dem doppelten Vorbehalt,
» in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewußtsein zu bringen, welches
die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgelei-
tet wird«, und dem Verzicht darauf, derartige Stellungnahmen für »‹Wissenschaft‹ auszugeben
und […] sie damit vermischen und verwechseln zu lassen« (Weber, Die »Objektivität« sozial-
wissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S.  156 f.).
12  Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit«, S.  507. Ausführlich dazu: Hartmann Tyrell: Anta-

gonismus der Werte – ethisch, in: Hans G. Kippenberg und Martin Riesebrodt (Hrsg.): Max
Webers ‹Religionssystematik›, Tübingen 2001, S.  315–333.
13  Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen National-

ökonomie, in ders. 19734 , S.  1–145, 61. Vgl. auch: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher
und sozialpolitischer Erkenntnis, S.  147 mit der Bemerkung, daß »das Merkmal wissenschaft-
licher Erkenntnis in der ›objektiven‹ Geltung ihrer Ergebnisse als Wahrheit gefunden werden
muß«. »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wol-
len« (ebd., S.  184).
14  Vgl. Christian von Ferber Der Werturteilsstreit 1909–1959, in: Kölner Zeitschrift für

Soziologie und Sozialpsychologie 11, 1959, S.  21–37; Hans Albert (Hrsg.): Werturteilsstreit,
Darmstadt 1979; Heino Heinrich Nau: Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Wertur-
teilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (1913), Marburg 1996; Thomas
Düe: Fortschritt und Werturteilsfreiheit. Entwicklungstheorien in der historischen Natio-
nalökonomie des Kaiserreichs, Diss. Bielefeld 2001.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 193

vielfältiger Untersuchungen verflochtene Wahrheitsfindung«.15 Warum dies


nicht zutreffe, sagte Horkheimer allerdings nicht. Vielmehr schnitt er die bloße
Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Sozialphilosophie damit ab, daß diese
andernfalls zwar noch soziale Funktionen ausüben könne, wie z. B. die Verklä-
rung des Status quo, ihre intellektuelle Fruchtbarkeit aber einbüßen würde. Ge-
gen den im Anschluß hieran vorgetragenen Vorschlag, den Mangel der Sozial-
philosophie zu kompensieren, indem man sie in stärkeren Kontakt zur empiri-
schen Forschung bringe, wäre an sich nichts einzuwenden, wäre er nicht
gleichzeitig mit dem Anspruch verbunden gewesen, der eben noch als defizitär
bestimmten Sozialphilosophie die Aufgabe zuzuweisen, den »besonderen For-
schungen« essentielle Fragestellungen vorzugeben und so das »Chaos des Spe-
zialistentums« zu beenden.16 Die Vexierfrage, wie es denn möglich sei, zwei
Blinde durch ihre bloße Zusammenarbeit sehend zu machen, beantwortet sich
aus den ersten Aufsätzen Horkheimers in der Zeitschrift für Sozialforschung,
aus denen hervorgeht, daß er unter Sozialphilosophie etwas ganz anderes ver-
stand als die in der Antrittsrede erwähnten Versionen von Hermann Cohen
über Othmar Spann bis zu Max Scheler, nämlich die »ökonomische Geschichts-
auffassung« in Gestalt der »Marxschen Theorie der Gesellschaft«17, die in
Horkheimers Verständnis freilich nicht bloß analytisch, sondern stets und vor
allem auch präskriptiv gedacht war.
Mit Max Weber war das nicht zu vereinbaren, und so hatte Horkheimer denn
auch durchaus nicht unrecht, wenn er im Rückblick vor allem die Askese in
bezug auf die Theorie der »richtigen« Gesellschaft als Grund für seine Ableh-
nung Webers anführte. Gleichwohl ist damit noch nicht alles über Horkheimers
Verhältnis zu Weber gesagt. Zu ergänzen ist zunächst eine Horkheimer vermut-
lich nicht bewußt gewordene Gemeinsamkeit, die zwischen seinen frühen Tex-
ten und Webers Wissenschaftslehre bestand. Seine in anderem Zusammenhang
dargestellte Kritik am idealistischen (und von Lukács übernommenen) Begriff
der »Totalität« hatte eine genaue Entsprechung in Webers Auseinandersetzung
mit den holistischen und essentialistischen Konzepten der Historischen Schule
der Nationalökonomie. Bei allen Anregungen, die Weber von dieser letzteren,
allen voran: von Karl Knies, empfing, hat doch die Entschiedenheit, mit der er
sich von ihr abgrenzte, nichts mit »Obsession« oder gar »Vatermord« zu tun.18
In ihr drückte sich vielmehr eine methodische Neuorientierung aus, die der
Einsicht in die »prinzipielle(n) Unmöglichkeit der erschöpfenden Wiedergabe
15  Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines

Instituts für Sozialforschung (1931), in: HGS Bd. 3, 20–35, 27 f.


16  Ebd., S.  29.
17  Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: HGS Bd. 3, S.  48–69, 55; Be-

merkungen über Wissenschaft und Krise (1932), ebd., S.  40–47, 40.


18 So aber Wilhelm Hennis: Eine »Wissenschaft vom Menschen«: Max Weber und die

deutsche Nationalökonomie der Historischen Schule, in ders.: Max Webers Fragestellung,


Tübingen 1987, S.  117–166, 144, 161.
194 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

irgendeines noch so begrenzten Teils der Wirklichkeit in seiner (stets mindes-


tens intensiv) unendlichen Differenziertheit gegen alle übrigen« entsprang.19
Hatte die Historische Schule unter dem doppelten Einfluß des Hegelschen Pan-
logismus und der emanatistischen Volksgeistlehren der Romantik noch ge-
meint, den »‹hiatus irrationalis‹ zwischen Begriff und Wirklichkeit […] durch
›Allgemein‹-Begriffe [zu überwinden], welche als metaphysische Realitäten die
Einzeldinge und -Vorgänge als ihre Verwirklichungsfälle umfassen und aus sich
hervorgehen lassen«20 , so kehrte Weber zu Kants Unterscheidung zwischen Be-
griff und Anschauung zurück und verwarf alle Prätentionen auf Totalität: sei es
im konstitutiven Sinne einer vollständigen Erfassung aller Bedingungen, die
nach Kant einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntnis verwehrt war, sei es im
Sinne jener auch von der Geisteswissenschaft Diltheyscher Prägung in An-
spruch genommenen Homogenitätsfiktion, die die verschiedenen Kulturäuße-
rungen eines Volkes aus einem einheitlichen seelisch-geistigen Realgrund ema-
nieren ließ.21 Das deckte sich mit Horkheimers früher Distanzierung von Hegel
und Dilthey22 , war allerdings insofern konsequenter, als es sich auch auf den
Begriff der »Gesellschaft« erstreckte, den Horkheimer einigermaßen unbese-
hen von Marx übernahm. Nimmt man hinzu, daß Weber der »Analyse der sozi-
alen Erscheinungen und Kulturvorgänge unter dem speziellen Gesichtspunkte
ihrer ökonomischen Bedingtheit und Tragweite« bescheinigte, »ein wissen-
schaftliches Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit« zu sein, das diese Eigen-
schaft erst in dem Maße verlor, wie es zu einer Weltanschauung oder gar zum
Generalschlüssel kausaler Erklärung stilisiert wurde23 , dann wird man sagen
müssen, daß die frühe Kritische Theorie wenig enthielt, was nicht schon bei
Weber zu finden war; wohingegen das Wenige, das sie dem hinzufügte – die
moralisierende Attitüde wie den unkritischen Umgang mit dem Begriffsarsenal
des »traditionellen Marxismus« – nicht eben ein Gewinn war.24
Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden muß, ist
die scheinbare Ähnlichkeit zwischen Webers Konzept der »Entzauberung der
Welt« und dem in Eclipse of Reason geschilderten »Übergang von der objektiven
zur subjektiven Vernunft«.25 Horkheimer selbst machte auf diese Ähnlichkeit in
einer Fußnote aufmerksam, in der er seine Unterscheidung der beiden Ver-

19  Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökono-

mie, S.  5.
20  Ebd., S.  15.
21  Vgl. ebd., S.  142.
22  Vgl. nur Horkheimer, Geschichte und Psychologie, S.  58, 67.
23 Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,

S.  166.
24  Zum Begriff des »traditionellen Marxismus« vgl. Moishe Postone: Lukács und die dia-

lektische Kritik des Kapitalismus, in: Lukács u. a. 2012, S.  477–509, 482 ff.
25  Vgl. Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), in: HGS Bd. 6,

S.  78. Manche wollen sogar »Konvergenzen« erkennen: vgl. Habermas 1981, Bd. 1, S.  461.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 195

nunftbegriffe mit dem Dual von »substantieller« und »funktionaler Rationali-


tät« verglich, wie es in der »Schule von Max Weber« gebräuchlich sei, gab dann
aber zu verstehen, daß es sich lediglich um eine äußerliche Parallele handele.26
Die Weberianer, so sein Vorwurf, hätten zwar einen zureichenden Begriff der
subjektiven bzw. funktionalen Vernunft als der Fähigkeit entwickelt, »Wahr-
scheinlichkeiten zu berechnen und dadurch einem gegebenen Zweck die richti-
gen Mittel zuzuordnen«, hätten dann aber durch ihren »Pessimismus hinsicht-
lich der Möglichkeit rationaler Einsicht und rationalen Handelns« zu jener
»Neutralisierung der Vernunft« beigetragen, »die sie jeder Beziehung auf einen
objektiven Inhalt und der Kraft, diesen zu beurteilen, beraubt und sie zu einem
ausführenden Vermögen degradiert« habe.27 Außerdem hätten sie – und hier
macht sich die für den Horkheimer der kalifornischen Jahre charakteristische
Annäherung an die Linie Hegel-Marx-Lukács bemerkbar – den Zusammen-
hang ausgeblendet, der zwischen der Subjektivierung der Vernunft und der
»Verdinglichung« bestehe, sei doch die subjektive Vernunft nichts anderes als
»jene Einstellung des Bewußtseins, die sich ohne Vorbehalt der Entfremdung
von Subjekt und Objekt, dem gesellschaftlichen Prozeß der Verdinglichung an-
paßt.«28 Zwar sei Verdinglichung »ein Prozeß, der bis auf die Anfänge der orga-
nisierten Gesellschaft und des Gebrauchs von Werkzeugen zurückverfolgt wer-
den kann«, doch sei sie erst durch das Aufkommen der industriellen Gesell-
schaft und die damit verbundene »Überführung aller Produkte der menschlichen
Tätigkeit in Waren« total geworden und habe dadurch die »vollständige Trans-
formation der Welt in eine Welt [bewirkt], die mehr eine Welt von Mitteln ist als
von Zwecken«.29 Max Weber, so könnte man diesen Gedankengang zuspitzen,
habe dies alles schon richtig gesehen, sich nur über die selbstzerstörerische Dy-
namik dieses Vorgangs getäuscht, die geradewegs in den Nihilismus führe. »Die
totale Transformation wirklich jedes Seinsbereichs in ein Gebiet von Mitteln
führt zur Liquidation des Subjekts, das sich ihrer bedienen soll. Dies verleiht
der modernen Industriegesellschaft ihren nihilistischen Aspekt. Subjektivie-
rung, die das Subjekt erhöht, verurteilt es zugleich.«30
Die hier von Horkheimer angeschlagenen Motive gehören zum Gemeingut
der deutschen Soziologie in ihrer Gründerphase, wie jeder Blick in die Werke

26 Vgl. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.   29. Genau genommen
stammt dieses Dual allerdings, wie Horkheimer zu Recht anmerkt, nicht von Max Weber,
sondern von Karl Mannheim: vgl. dessen zuerst 1935 erschienenes Werk: Mensch und Gesell-
schaft im Zeitalter des Umbaus, hier zit. n. der Ausgabe Darmstadt 1958, S.  61 ff.
27  Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.  30, 72.
28  Ebd., S.  174.
29  Ebd., S.  59, 113.
30  Ebd., S.  106. Nur am Rande sei auf die Parallele verwiesen, die zwischen dieser Argu-

mentation und derjenigen von Leo Strauss besteht, dessen politische Philosophie eher zu den
von Horkheimer verworfenen zeitgenössischen Repristinationen der objektiven Vernunft ge-
hört: vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, Frankfurt am Main 1977, S.  37 ff.
196 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

von Tönnies oder Simmel zeigt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, sie auch im
Werk von Max Weber zu finden, der seine Epoche wie Simmel als eine »Zeit
ohnehin subjektivistischer Kultur« charakterisierte und sie wie Tönnies als Er-
gebnis einer geschichtlichen Entwicklung bestimmte, die geprägt sei durch
»eine immer weitergreifende zweckrationale Ordnung des Einverständnishan-
delns durch Satzung und insbesondere eine immer weitere Umwandlung von
Verbänden in zweckrational geordnete Anstalten«.31 Webers Soziologie ist aus
dieser Perspektive jedoch nur unzureichend erfaßt. Zunächst ist festzuhalten:
Weber hat keineswegs für eine »Einschränkung des Vernunftbegriffs« auf die
bloße Wahl von Mitteln unter vorgegebenen Zwecken plädiert.32 Er hat viel-
mehr in seiner Handlungstypologie ausdrücklich außer vom zweckrationalen
auch vom wertrationalen Handeln gesprochen und darunter ein »Handeln nach
›Geboten‹ oder gemäß ›Forderungen‹ [verstanden], die der Handelnde an sich
gestellt glaubt«.33 Inakzeptabel war für Weber allerdings die Prätention, in einer
Zeit »stärkerer Differenzierung der Werturteile« mit den Mitteln der Wissen-
schaft jene Hierarchie der Werte wiederherstellen zu wollen, die unter den Be-
dingungen ›objektiver‹ Kultur Verhaltenssicherheit garantiert hatte. »Wir ken-
nen keine wissenschaftlich beweisbaren Ideale.«34 Wertkonflikte, von denen es
auch in der Gegenwart eher zuviel als zuwenig gab, waren letztlich überhaupt
nicht zu lösen, sondern lediglich in eine Form zu bringen, in der sie sich bewe-
gen konnten, ohne zu eskalieren; wozu allein eine Politik geeignet war, die ne-
ben den Gesinnungen auch die Folgen ihrer Verwirklichung bedachte und inso-
fern ihrerseits einem ethischen Minimum verpflichtet war, das Weber mit dem
Begriff der Verantwortungsethik belegte.35 Erst der späte Horkheimer hat sich
den Problemen einer reinen Gesinnungsethik zumindest implizit gestellt und
sich nicht zuletzt deshalb lange einer Wiederveröffentlichung seiner frühen
Texte widersetzt.
Es ist indes nicht weniger unzureichend, wenn Horkheimer Rationalisierung
als »Subjektivierung und Formalisierung« deutet und beides wiederum mit
zweckrationalem Handeln und Verdinglichung gleichsetzt.36 Diese Deutung ist
zwar unter Freunden wie Gegnern Max Webers überaus beliebt, geht aber über
die komplizierte Architektonik hinweg, die dieser dem Handlungsraum verlie-
hen hat. Nach der subtilen Rekonstruktion desselben durch Rainer Döbert muß
hier neben der Ebene des traditionalen und affektuellen Handelns, die nur in

31  Max Weber: Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik (1905,

1907, 1909, 1911), in ders.: 1988², S.  394–430, 420 [Wien 1909]; Ueber einige Kategorien der
verstehenden Soziologie (1913), in ders. 19734 , S.  427–474, 471.
32  Max Horkheimer: Zum Begriff der Vernunft (1952), in: HGS Bd. 7, S.  22–35, 23.
33  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  176.
34  Weber, Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik, S.  420.
35 Max Weber: Politik als Beruf, in: MWG Bd.  I/17, S.  157–252, 237 ff. Vgl. Wolfgang
Schluchter: Religion und Lebensführung, 2 Bde., Frankfurt am Main 1988, Bd. 1, S.  165 ff.
36  Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S.  30.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 197

einem schwachen Sinn rationalisierungsfähig ist (nämlich insofern, als »ein Ver-
halten oder eine handlungssteuernde Orientierung überhaupt festgehalten, be-
wußt kontrolliert werden kann«), die »Ebene des begründeten Handelns« un-
terschieden werden, die zum einen das nur material rationalisierbare wertratio-
nale Handeln umfaßt, zum andern das zweckrationale Handeln, welches sowohl
material rationalisiert werden kann (im Hinblick auf die Ausrichtung der
Handlung oder des Handlungsfeldes auf Zwecke oder normative Standards) als
auch formal (im Hinblick auf eine Optimierung durch verfügbares Kausalwis-
sen). Auf einer weiteren Ebene können wert- und zweckrationales Handeln
noch einmal formal rationalisiert werden, wenn der Handelnde sein Handeln
»Meta-Gründen« unterwirft, die über den Komponenten des einfachen wert-
oder zweckrationalen Handelns liegen: »das Reich der formalen Rationalisie-
rung im starken Sinne«, die es ermöglicht, »daß sämtliche Elemente des Hand-
lungsraumes reversibel gemacht, organisiert werden.« Mit Blick auf diese Ebene
kann von ›formaler Rationalität zweiter Stufe‹ gesprochen werden.37
Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, daß der Rationalisierungsbe-
griff bei Weber nicht nur auf Handlungen, sondern auch auf Ordnungen bezo-
gen werden muß und damit durch deren Eigengesetzlichkeiten modifiziert
wird.38 So kann Weber zwar auf einer allgemeinen Ebene von der Existenz und
Durchsetzung eines »spezifisch gearteten ›Rationalismus‹ der okzidentalen
Kultur« sprechen39 , in den Spezialuntersuchungen zur Wirtschaft, zum Recht
oder zur Musik aber darauf beharren, daß die formale Rationalität (zweiter Stu-
fe) eine der jeweiligen Sinnordnung angemessene und nur a posteriori bestimm-
bare Gestalt annimmt. Der Idee, daß das Höchstmaß an formaler Rationalität
in der »Rechenhaftigkeit« liege40 , kommt naturgemäß die Wirtschaft besonders
nahe, »wo einem Bedürfnis oder einem Komplex solcher, ein, im Vergleich
dazu, nach der Schätzung des Handelnden, knapper Vorrat von Mitteln und
möglichen Handlungen zu seiner Deckung gegenübersteht und dieser Sachver-
halt Ursache eines spezifisch mit ihm rechnenden Verhaltens wird.«41 Ihren ers-
ten historischen Auftritt hatte diese »Rechenhaftigkeit«, wie Weber mit Som-
bart annahm, in der doppelten Buchführung, um sich in der Folgezeit mit dem
Aufstieg wirtschaftlicher Großorganisationen zu dem zu erweitern, was heute
treffend als »organisiertes Rechnen« bezeichnet wird und über zahlreiche Prak-
tiken wie Kostenrechnung, Controlling, Bilanzierung, Budgetierung, Evalua­

37  Rainer Döbert: Max Webers Handlungstheorie und die Ebenen des Rationalitätskom-

plexes, in: Johannes Weiß (Hrsg.): Max Weber heute, Frankfurt am Main 1989, S.  210–249,
240 ff.
38  Vgl. Thomas Schwinn: Wertsphären, Lebensordnungen und Lebensführungen, in: Aga-

the Bienfait und Gerhard Wagner (Hrsg.): Verantwortliches Handeln in gesellschaftlichen


Ordnungen, Frankfurt am Main 1998, S.  270–319.
39  Max Weber: Vorbemerkung, in ders. 19726 , S.  1–16, 11.
40  Vgl. Döbert, Max Webers Handlungstheorie, S.  241.
41  Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften, MWG Bd. I/22-1, S.  78.
198 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

tion usw. in die unterschiedlichsten Lebensbereiche penetriert, die dadurch


zum »Gegenstand von Vergleichen, Einstufungen, Bewertungen und Kategori-
sierungen« werden, und dies in Permanenz und längst auch im öffentlichen Sek-
tor in Gestalt des New Public Management. 42
Im Recht, um ein anderes Beispiel zu nehmen, bewirkt die formale Rationa-
lisierung wohl gesteigerte Berechenbarkeit, jedoch aus evidenten Gründen nicht
via Mathematisierung, sondern durch logische Generalisierung und Systemati-
sierung sowohl in prozessual-rechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hin-
sicht. 43 In der Musik schließlich kommt es im Okzident (und nur hier) zu einer
Privilegierung der harmonischen Rationalisierung, die ihren Schwerpunkt in
der zeitlichen Koordinierung bzw. Kommensuration von Tonfolgen auf der Ba-
sis der zur Konsonanz ausgewiesenen Terz hat, auf Kosten der melodischen
Rationalisierung, die mit einer gleichsam räumlichen Anordnung der Töne auf
der Folie der Quart als dem Rahmen- und Grundintervall operiert. 44 Man kann
eben »jedes dieser Gebiete unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten
und Zielrichtungen ›rationalisieren‹, und was von einem aus ›rational‹ ist, kann,
vom andern aus betrachtet, ›irrational‹ sein. Rationalisierungen hat es daher auf
den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kultur-
kreisen gegeben.«45 Das sind Zusammenhänge, die der auf Zweckrationalität
und Verdinglichung fixierten Kritik der instrumentellen Vernunft verborgen
geblieben sind.

II.

Horkheimers Einlassungen in Sachen Max Weber waren obiter dicta. Da auch


das meiste, was Adorno in dieser Beziehung zu sagen hatte, erst in den nachge-
lassenen Schriften zugänglich wurde, blieb es lange Zeit Herbert Marcuse vor-
behalten, die Frontstellung zu begründen, die die Kritische Theorie gegenüber
Weber bezog. Dabei war Marcuse für diese Aufgabe nicht eben gut gerüstet.
Seine akademische Karriere hatte er mit einer literaturwissenschaftlichen Ar-
beit begonnen und sich anschließend der Philosophie zugewandt, insbesondere

42  Hendrik Vollmer: Folgen und Funktionen organisierten Rechnens, in: Zeitschrift für

Soziologie 33, 2004, S.  450–470, 462. Vgl. auch Andrea Mennicken und Hendrik Vollmer
(Hrsg.): Zahlenwerk: Kalkulation, Organisation und Gesellschaft, Wiesbaden 2007.
43  Vgl. Bernhard K. Quensel: Logik und Methode in der ›Rechtssoziologie‹ Max Webers.

Ein Beitrag zur Klärung der grundlegenden Begriffe und Perspektiven, in: Zeitschrift für
Rechtssoziologie 18, 1997, S.  133–159, 144 ff.; ders. und Hubert Treiber: Das ›Ideal‹ konstruk-
tiver Jurisprudenz als Methode. Zur logischen Struktur von Max Webers Idealtypik, in:
Rechtstheorie 33, 2002, S.  91–124, 109 ff.
44  Vgl. Max Weber: Zur Musiksoziologie. Nachlaß 1921, MWG Bd. I/14; Christoph Braun:

Max Webers »Musiksoziologie«, Laaber 1992, S.  141 ff.


45  Weber, Vorbemerkung, S.  11 f.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 199

der Phänomenologie und Existenzialontologie, aber auch, wie gezeigt, dem


Werk Diltheys. Eine Rezeption Max Webers bot sich von hier aus gesehen nicht
unmittelbar an, zumal sich Marcuse am Konzept des Idealtypus stieß: dieser
schien ihm für historische Analysen ungeeignet, weil er nur abstrakt-allgemei-
ne Zusammenhänge erfasse, im konkreten Geschehen aber nur Abweichungen
erkennen könne. 46 Eine Zerlegung der geschichtlichen Wirklichkeit in mehr
oder minder eigengesetzliche Sphären wie sie für die Webersche Soziologie cha-
rakteristisch war, schien ihm nur dann akzeptabel zu sein, wenn sie »metho-
disch von dem Bewußtsein der unzerreißbaren Einheit der geschichtlichen
Existenz getragen« sei. 47 Der Verweis auf Lukács an dieser Stelle macht deut-
lich, daß es sich um eine Kritik nicht nur im Sinne Diltheys und Heideggers,
sondern auch im Sinne von Geschichte und Klassenbewußtsein handelte, das
explizit der Aufgabe gewidmet war, die für die Moderne charakteristischen
»scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit[en]« der
Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik oder des Rechts auf ihr »Grundwe-
sen[s]«, die »Beziehung zwischen Menschen« durchsichtig zu machen. 48
Was Marcuse sonst noch zu den Problemen und Fragestellungen der Soziolo-
gie zu sagen hatte, beschränkte sich auf Karl Mannheims Ideologie und Utopie
und eine Besprechung von Hans Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissen-
schaft, der er attestierte, »die seit Max Weber verlorene radikale Selbstbesinnung
über das Gegenstandsfeld und den Wissenschaftscharakter der Soziologie« wie-
deraufgenommen und die »erste wirkliche philosophische Grundlegung der
Soziologie« geleistet zu haben.«49 Soweit die wenig präzisen Auskünfte des Tex-
tes ein Urteil erlauben, sah Marcuse diese Grundlegung freilich mitnichten in
einer Weiterführung und Vertiefung der »Soziologischen Grundbegriffe« Max
Webers, sondern in der Wiederaufnahme des Hegelschen Begriffes der »prinzi-
piellen Totalität«50 , von der er sich nur wünschte, Freyer hätte sich dabei etwas
mehr an das Spätwerk Diltheys gehalten.51 Ebenfalls nicht zugunsten Webers
fiel eine – ausgerechnet in Webers Hauszeitschrift veröffentlichte – Studie über
die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbe-

46  Vgl. Herbert Marcuse: Über konkrete Philosophie (1929), in: HMS Bd. 1, S.  385–406,

392. Marcuse verwechselt hier offensichtlich den Idealtyp mit einem Gattungsbegriff.
47  Ebd., S.  391.
48  Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), in ders. 1968, S.  257.
49  Herbert Marcuse: Zur Auseinandersetzung mit Hans Freyers »Soziologie als Wirklich-

keitswissenschaft« (1931), in: HMS Bd. 1, S.  488–508, 508. Die Mannheim-Kritik erschien un-
ter dem Titel: Zur Wahrheitsproblematik der soziologischen Methode, in: Die Gesellschaft 2,
1929, S.  356–369. Sie fiel übrigens deutlich freundlicher aus als die Stellungnahmen von Hork-
heimer und Adorno, wohl weil Mannheims Akzent auf »Entscheidung« Marcuses damaligem
Existentialismus entgegenkam.
50  Marcuse, Zur Auseinandersetzung mit Hans Freyers »Soziologie als Wirklichkeitswis-

senschaft«, S.  507 (i.O. hervorg.).


51  Vgl. ebd., S.  501: »Heute noch ist jede Grundlegung der Soziologie vor die Aufgabe einer

Auseinandersetzung mit Dilthey gestellt.«


200 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

griffs aus, die von Weber nur zu sagen wußte, er habe der »Verengung des Ar-
beitsbegriffes« Vorschub geleistet.52
Seine Vorbehalte gegen die idealtypische Methode hinderten Marcuse freilich
nicht, sich eben dieser zu bedienen, als es um die Klärung des Verhältnisses
zwischen dem Liberalismus und der »totalitären Staatsauffassung« ging, mit
der Marcuse 1934 die Reihe seiner Beiträge zur Zeitschrift für Sozialforschung
eröffnete. Dieser Text, der für das Selbstverständnis des Horkheimer-Kreises
während des folgenden Jahrzehnts eine Schlüsselrolle spielen sollte, wartete ex-
pressis verbis mit der »‹idealtypischen‹ Konstruktion einer rationalistischen
Theorie der Gesellschaft« auf, in der auch der Liberalismus verortet wurde.53
Marcuse war allerdings der Ansicht, eine vollständige Zuordnung des Liberalis-
mus zu dieser Konstruktion sei deshalb nicht möglich, weil die universellen
Aspekte des Rationalismus, die sich vor allem im politischen Liberalismus gel-
tend machten, durch partikulare Züge durchkreuzt würden, die im ökonomi-
schen Liberalismus ihre Wurzel hätten. Die Idee der Privatautonomie, für deren
institutionelle Absicherung Marcuse sich auf Max Weber bezog, habe zu einer
»Privatisierung der Ratio« geführt, durch die »der vernunftgemäße Aufbau der
Gesellschaft um sein zielgebendes Ende gebracht« worden sei. »Struktur und
Ordnung des Ganzen« seien auf diese Weise »letztlich irrationalen Kräften«
überlassen worden.54 Daraus ergab sich in Marcuses Augen »eine fast lückenlose
Kontinuität in der Entwicklung der theoretischen Interpretation der Gesell-
schaft«: »es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich
›erzeugt‹: als seine eigene Vollendung auf einer fortgeschrittenen Stufe der Ent-
wicklung.«55
Das war, für sich genommen, eine idealtypische Entwicklungskonstruktion
und damit ein Erkenntnismittel der sozialwissenschaftlichen Analyse, dem
Max Weber ausdrücklich »erheblichen heuristischen Wert« bescheinigt hat.56
Auch die Einseitigkeit, mit der Marcuse den Liberalismus und die totalitäre
Staatsauffassung bestimmten Weltanschauungen und ökonomischen Formatio-
nen zuordnete, war durch Max Webers Verständnis von Sozialökonomie ge-
deckt, in dem das »Recht der einseitigen Analyse der Kulturwirklichkeit unter
spezifischen ›Gesichtspunkten‹« anerkannt war.57 Nicht mehr gedeckt war in-
dessen die für Marcuse charakteristische Prätention, daß auf diese Weise die

52  Vgl. Herbert Marcuse: Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissen-

schaftlichen Arbeitsbegriffs, in: HMS Bd. 1, S.  556–594, 557. Der Erstdruck erschien im Ar-
chiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 69, 1933, S.  257 ff.
53  Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffas-

sung (1934), in: HMS Bd. 3, S.  7 –44, 17.


54  Ebd., S.  20 f.
55  Ebd., S.  22.
56 Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,

S.  203.
57  Ebd., S.  170.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 201

»schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit« der Wirklichkeit erschöpfend erfaßt


war.58 Für Weber war es gewiß möglich, verschiedene historisch wirksame Ide-
en zu einer »Synthese« zusammenzufassen, einem »Begriffs- und Gedanken-
system«, das dann als Idealtypus fungierte.59 Je umfassender jedoch die Zusam-
menhänge seien, um deren Darstellung es gehe, je zahlreicher die zu behandeln-
den Aspekte, »desto weniger ist es möglich, mit einem derartigen Begriffe
auszukommen, desto natürlicher und unumgänglicher daher die immer wieder-
holten Versuche, immer neue Seiten der Bedeutsamkeit durch neue Bildung ide-
altypischer Begriffe zum Bewußtsein zu bringen.« Werde dies nicht beachtet,
ergebe sich eine
»Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, daß man glaubt, in jenen
theoretischen Begriffsbildern den ›eigentlichen‹ Gehalt, das ›Wesen‹ der geschichtlichen
Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in wel-
ches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder daß man gar die ›Ideen‹ als eine
hinter der Flucht der Erscheinungen stehende ›eigentliche‹ Wirklichkeit, als reale ›Kräf-
te‹ hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten.«60

Das letztere wird man Marcuse nicht vorwerfen können, wohl aber das erstere.
Indem er faktisch den ökonomischen Liberalismus zum Wesenskern erklärte
und den politischen Liberalismus nur als disponible Zugabe gelten lassen woll-
te, blendete er alle Facetten dieses Gedankensystems aus, die in eine andere
Richtung wiesen. So hat Panajotis Kondylis in seiner Rekonstruktion der neue-
ren Ideengeschichte gezeigt, daß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhun-
derts eine »ideologische (und oft auch politische) Verschmelzung eines Flügels
des Liberalismus mit der sozialen Demokratie« einsetzte, die sich keineswegs
als Bruch mit der liberalen Tradition vollzog, »sondern auf dem Umwege einer
Uminterpretation liberaler Grundkonzepte«, stichwortartig: mittels einer Ma-
terialisierung ursprünglich rein formell konzipierter Rechte, die in Richtung
des modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaates wies.61 Die von Marcuse gezogene
Linie bezieht sich von hier aus gesehen auf die Reaktionen, die diese Entwick-
lung bei jenen Liberalen auslöste, die sie nicht mitvollziehen wollten – die »Alt-
liberalen«, die ihrerseits dann sehr unterschiedliche Bündnisse eingehen konn-
ten: nicht nur, aber auch mit der von Marcuse ausschließlich in Betracht gezoge-
nen autoritären Rechten. Marcuse ist zuzugestehen, daß er diese eine
Möglichkeit herausgearbeitet hat. Weder ist ihm jedoch der Gedanke gekom-
men, daß es sich hierbei nur um eine Möglichkeit handelt, noch, daß es eine
bloße Möglichkeit war, ein idealtypisches Konstrukt, das nicht mit der Wirk-
lichkeit identisch ist. Welche Möglichkeit sich jeweils durchsetzt und in wel-
58  Ebd., S.  171.
59  Ebd., S.  198. Als Beispiel erwähnt Weber hier unter anderem den Liberalismus.
60  Ebd. und S.  195.
61  Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stutt-

gart 1986, S.  30.


202 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

chem Maße, ist nur empirisch-historisch zu ermitteln – eine Differenz zwi-


schen Theorie und Geschichte, für die Marcuse, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt,
gänzlich unempfänglich war.
Mit seiner Neigung, die idealtypische Methode zwar aufzunehmen, aber zu-
gleich begriffsrealistisch umzudeuten, stand Marcuse im Institut für Sozialfor-
schung nicht allein, wie hier nur im Vorübergehen bemerkt werden kann.
Schon im ersten Heft der Zeitschrift für Sozialforschung hatte Friedrich Pol-
lock, der »Chefökonom« des Hauses und zugleich Intimus von Horkheimer,
ein idealtypisches Schema für die Erfassung unterschiedlicher Formen von
Planwirtschaft präsentiert, das durch die beiden Extrempole von kapitalisti-
scher und sozialistischer Planwirtschaft bestimmt sein sollte.62 Auf Max Weber
nahmen seine Ausführungen nicht Bezug, doch trug er dies neun Jahre später
im vorletzten Heft der Zeitschrift nach.63 Kurt Mandelbaum und Gerhard
Meyer, die sich mehrfach zum Thema Planwirtschaft äußerten, beurteilten die
Möglichkeit kapitalistischer Planung zwar skeptischer, operierten aber eben-
falls mit dieser typologischen Unterscheidung.64 Ihrem Aufsatz vorgeschaltet
war eine Vorbemerkung von Horkheimer, in der dieser sich das Schema zu ei-
gen machte und ausdrücklich die Verbindung zu Marcuses Aufsatz herstellte,
indem er den Übergang der »liberalistischen Wirtschaft« in die »totalitäre
Staatsordnung« für notwendig erklärte.65 In späteren Arbeiten unterschied er
zwischen den Typen des demokratischen und totalitären bzw. autoritären
Staatskapitalismus und innerhalb des letzteren noch einmal zwischen dem
Staatssozialismus bzw. integralen Etatismus als der konsequentesten Form und
dem Faschismus als einer Mischform.66 Eine weitere Variante bot Franz Neu-
mann an, der das durch Generalität, Nicht-Rückwirkung des Gesetzes und
Unabhängigkeit der Justiz charakterisierte liberale Rechtssystem von dem
durch Maßnahmegesetze und Generalklauseln gekennzeichneten und deshalb
nur uneigentlichen »Recht« des autoritären Staates absetzte und beide Ordnun-
gen wie Marcuse mit dem Konkurrenzkapitalismus einerseits, dem Monopol-
kapitalismus andererseits korrelierte.67 Auch die psychologischen Untersu-
chungen, die in der Zeitschrift erschienen oder vom Institut angestoßen wur-
62  Vgl. Friedrich Pollock: Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten ei-

ner planwirtschaftlichen Neuordnung, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1, 1932, S.  8 –27, 18.
Vgl. Wilson 1982, S.  38 ff., 139.
63  Vgl. Frederick Pollock: State Capitalism. Its Possibilities and Limitations, in: Studies in

Philosophy and Social Science 9, 1941, S.  200–226, 200.


64  Vgl. Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer: Zur Theorie der Planwirtschaft, in: Zeit-

schrift für Sozialforschung 3, 1934, S.  230–262, 232.


65  Ebd., S.  230.
66  Vgl. Max Horkheimer: Vorwort [zu Heft 2 des IX. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozial-

forschung (1941)], in: HGS Bd. 4, S.  412–418, 417; Autoritärer Staat (1940/1942), in: HGS
Bd. 5, S.  293–319, 300 f.
67  Vgl. Franz Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen

Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6, 1937, S.  542–596. Vgl. dazu Friedhelm
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 203

den, fußten in erheblichem Maße auf Typologien, wie ein Blick in Erich
Fromms Arbeiten über den matri- und patrizentrischen Komplex oder Ador-
nos Studien zum autoritären Charakter zeigt.68
Übergeht man die nicht sonderlich tiefschürfenden Bemerkungen, die Mar-
cuse im Rahmen der Studien über Autorität und Familie zu Weber gemacht
hat69 , so ist der wichtigste einschlägige Text aus der Zeit seiner Mitarbeit an der
Zeitschrift für Sozialforschung der 1941 publizierte Essay »Some Social Implica-
tions of Modern Technology«.70 Technologische Rationalität wird dort als
Schrumpfform einer höheren Rationalität (der »individualistischen« oder auch
»kritischen Rationalität«) vorgestellt71, eine Schwundstufe, die sich weitgehend
mit dem deckt, was bei Horkheimer als instrumentelle Vernunft erscheint.
Mögliche Bezüge zu Webers Handlungstheorie werden von Marcuse allerdings
ausgeklammert. Statt dessen wird auf den Theoretiker der Bürokratie rekur-
riert, der die Institutionen und Mechanismen beschrieben habe, durch welche
die technologische Rationalität an einer vollen Entfaltung ihres Potentials ge-
hindert werde. Ganz auf der Linie des marxistischen Mythos vom Sozialismus
der Technik attestierte Marcuse der technologischen Rationalisierung, sie habe
»ein allgemeines Bezugssystem der Fachkenntnisse für die verschiedenen Beru-
fe und Beschäftigungen hervorgebracht«, das die Austauschbarkeit der Funkti-
onen erleichtere und eine autoritäre Kontrolle derselben zunehmend als fremd
und überflüssig erscheinen lasse.72 Die dadurch ermöglichte »Demokratisierung
der Funktionen« werde indes durch die »hierarchische Organisation der priva-
ten Bürokratien« konterkariert, welche eine Erstarrung der Spezialisierung,
eine »Atomisierung der Massen« und den Ausschluß der Abhängigen von den
verantwortlichen Funktionen bewirke.73 Im Ergebnis werde davon auch die
technologische Rationalität tangiert, nämlich »von einer kritischen Kategorie in
eine Kraft der Anpassung und Willfährigkeit verwandelt.«74
Als Gegenmittel empfahl Marcuse den demokratischen Ländern, die öffent-
lichen Bürokratien zu stärken, um »die Bevölkerung vor den Übergriffen der

Hase und Matthias Ruete: Dekadenz der Rechtsentwicklung? Rationalität und Allgemeinheit
des Gesetzes in der Rechtstheorie Franz Neumanns, in: Leviathan 11, 1983, S.  200–213.
68  Vgl. Erich Fromm: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934),

in ders. 1971², S.  77–114; Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter (1950),
Frankfurt am Main 1973, S.  506 f.
69  Vgl. Herbert Marcuse: Studie über Autorität und Familie (1936), in: HMS Bd. 3, S.  185–

185, 106; ausführlicher: Autorität und Familie in der deutschen Soziologie bis 1933, in: Max
Horkheimer (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, S.  737–752, 747 f.
70  Vgl. Herbert Marcuse: Some Social Implications of Modern Technology, in: Studies in

Philosophy and Social Science 9, 1941, S.  414–439. Im folgenden zit. n. der dt. Übers. in: HMS
Bd. 3, S.  286–319.
71  Vgl. ebd., S.  290, 297.
72  Ebd., S.  306 f.
73  Ebd., S.  307.
74  Ebd., S.  297.
204 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Privatinteressen auf die allgemeine Wohlfahrt« zu schützen.75 Das ist eine poli-
tische Stellungnahme, die als solche hier nicht zu kommentieren ist. Immerhin
sei angemerkt, daß Marcuse die Gefahrenlage offensichtlich genau umgekehrt
einschätzte wie der in dieser Hinsicht durchaus ›altliberale‹ Max Weber, der das
allgemeine Voranschreiten der Bürokratisierung in allen Bereichen zwar prinzi-
piell für irreversibel hielt, ein mögliches Gegengewicht jedoch eher im kapitalis-
tischen Unternehmer als der »einzige[n] wirklich gegen die Unentrinnbarkeit
der bureaukratischen rationalen Wissens-Herrschaft (mindestens: relativ) im-
mune[n] Instanz« sah.76 In den 50er Jahren hat Marcuse beide Sichtweisen, die-
jenige Webers wie auch seine eigene frühere, mit dem Hinweis auf die Tendenz
zur Fusionierung öffentlicher und privater Bürokratien relativiert und dürfte
damit der Realität am nächsten gekommen sein.77
Mit seinem eingangs erwähnten Auftritt auf dem Heidelberger Soziologentag
leistete Marcuse seinen Beitrag zu dem Zweifrontenkrieg, mit dem die Kritische
Theorie die intellektuelle Hegemonie über die Positivisten wie über die Weberi-
aner zu erringen trachtete. Von Adorno schon seit September 1963 auf Offensi-
ve eingestimmt78 , breitete Marcuse zunächst den ganzen Katalog von Anklagen
aus, die Lukács in seinem Buch Zerstörung der Vernunft gegen den Nationalis-
ten und Imperialisten Max Weber erhoben hatte und warf ihm vor, den Apolo-
geten des Kapitalismus und den Feinden des Sozialismus das Wort geredet zu
haben. Dabei machte er keinen Unterschied zwischen Webers politischen Äu-
ßerungen (mit denen er es im übrigen nicht so genau nahm79) und seinem wis-

75  Ebd., S.  309.


76  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  466.
77  Vgl. Herbert Marcuse: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (1958), Neu-

wied und Berlin 1969², S.  178.


78  Wie Stefan Müller-Doohm berichtet, machte Adorno Marcuse substantielle Vorschläge.

So riet er, auf den »Weberschen Rationalitätsbegriff einzugehen, […] zu zeigen, daß seine
Vorstellung von ratio als einer bloßen Zweck-Mittel-Relation gegenüber dem vollen Begriff
der Vernunft bereits eine solche Verkrüpplung darstellt, daß dann nicht viel herauskommt. Im
Zusammenhang damit würde ich die Kritik der Bürokratisierungsthese bringen, auf die doch
eigentlich das Buch [scil. Wirtschaft und Gesellschaft], wenn man einmal von allem Geschwätz
von Wertfreiheit absieht, hinausläuft. […] Die Person Weber ist mir genau so unsympathisch
wie Dir, aber gegen die Lazarsfelds war er immer noch das, wofür er zu Unrecht gilt« (Theo-
dor W. Adorno an Herbert Marcuse, Brief vom 24.9.1963, zit. n. Müller-Doohm 2003, S.  639).
79  Max Weber, so der Vorwurf, habe seine Arbeit mit der geschichtlichen Mission des Bür-

gertums identifiziert und im Namen dieser Mission »das Bündnis repräsentativer Schichten
des deutschen Bürgertums mit den Organisatoren der Reaktion und Repression angenom-
men«. Für die politischen Gegner auf der radikalen Linken habe er das Irrenhaus und den
Revolverschuß empfohlen (Herbert Marcuse: Industrialisierung und Kapitalismus im Werk
Max Webers [1964], in: HMS Bd. 8, S.  79–99, 85). Wenn sich dies auf Rosa Luxemburg und
Karl Liebknecht beziehen sollte, so hat es zwar mit dem Irrenhaus seine Richtigkeit, nicht aber
mit dem Revolverschuß. In seiner letzten Wahlrede für die Deutsche Demokratische Partei am
17.1.1919 in Heidelberg sagte Weber nach übereinstimmenden Zeitungsberichten: »Der Dik-
tator der Straße hat ein Ende gefunden, wie ich es ihm nicht gewünscht habe. Liebknecht, der
zweifellos ein ehrlicher Mann war, hat zum Kampf der Straße aufgerufen. Die Straße hat ihn
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 205

senschaftlichen Werk, das ihm als verkappte Politik und damit Ideologie er-
schien. Ebenso unterschlug er die Wandlungen, die Weber seit seiner Freiburger
Antrittsrede durchgemacht hatte und stellte die Behauptung auf, die für diese
Rede charakteristischen Wertungen seien auch für Webers späteres Werk cha-
rakteristisch. Die von Weber explizit benannten materialen Voraussetzungen
des modernen Kapitalismus rechnete er sich selbst als Entdeckung zu, die erst
durch seine, Marcuses, bohrende Interpretation zutage gefördert worden sei. In
ihr glaubte er den Beleg für die These zu haben, daß die formale Rationalität
tatsächlich materialer, d. h. kapitalistischer Natur sei.80 Vor allem aber unterlief
Marcuse die von Weber errichteten Schranken zwischen der Herrschafts- und
der Wirtschaftssoziologie durch die Konstruktion einer »Dialektik von Ratio-
nalität und Irrationalität«81, die den Rationalisierungsprozeß in den öffentli-
chen wie den privaten Betrieben in sein Gegenteil umschlagen lasse: in die Un-
terwerfung unter eine irrationale, zufällige Spitze.82 Aus diesem Grund hielt er
es für gerechtfertigt und geboten, einen Schritt weiter zu gehen als in seinem
letzten Aufsatz aus der Zeitschrift für Sozialforschung, und den Begriff der tech-
nologischen Vernunft selbst als Ideologie zu deuten:
»Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur
und über den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende
Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst ›nachträg-
lich‹ und von außen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des
technischen Apparats selbst ein; die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftli-
ches Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden In-
teressen mit dem Menschen und mit den Dingen zu machen gedenken. Ein solcher
›Zweck‹ der Herrschaft ist ›material‹ und gehört insoweit zur Form selbst der techni-
schen Vernunft.«83

Vorstellungen dieser Art kollidieren offenkundig mit dem Theorem von der
Unschuld der Produktivkräfte, das dem orthodoxen Marxismus so teuer ist und
auch von Marcuse keineswegs gänzlich aufgegeben wurde. Entsprechende Kri-
tik von dieser Seite ist denn auch nicht ausgeblieben. Ebenso offenkundig ist
jedoch, daß Marcuse sich nicht im gleichen Maße, in dem er sich von Marx ent-
fernte, Max Weber näherte.84 Dazu hätte er sich zuerst darüber Klarheit ver-

erschlagen. Über die schmachvolle Art des Endes von Rosa Luxemburg ist überhaupt kein
Wort zu verlieren, das muß die Ansicht jedes anständigen Menschen sein. Nur ein ordentliches
Gericht hätte über die beiden urteilen dürfen.« (Max Weber: [Der freie Volksstaat], in: Zur
Neuordnung Deutschlands,MWG Bd. I/16, S.  461; zum Irrenhaus vgl.: Deutschlands Vergan-
genheit und Zukunft, ebd., S.  4 41). Das hätte Marcuse auch schon 1964 wissen können, denn
bei Mommsen, auf dessen Buch er sich stützt, ist es korrekt dargestellt. Vgl. Wolfgang J.
Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, 1890–1920, Tübingen 1974², S.  328.
80  Vgl. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, S.  82.
81  Ebd., S.  92.
82  Ebd., S.  95.
83  Ebd., S.  97.
84  Zu dieser Deutung neigt Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S.  461. Mor-
206 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

schaffen müssen, daß Max Weber nicht Hegel war. Bei Weber geht es mitnichten
um die »Idee der Vernunft«, die sich in Gestalt der abendländischen Rationalität
»in einem System der materiellen und intellektuellen Kultur (Ökonomie, Tech-
nik, ›Lebensführung‹, Wissenschaft, Kunst)« verwirklicht.85 Es geht vielmehr
um ein Ensemble heterogener Lebensordnungen, die zunächst in ihrer Eigenge-
setzlichkeit wahrgenommen werden müssen, bevor man den zwischen ihnen
obwaltenden Beziehungen nachgeht. Die ästhetische und erotische Sphäre bei-
spielsweise werden von Weber ausdrücklich als »arationalen oder antirationalen
Charakters« gekennzeichnet und haben ergo mit irgendeiner Idee der Vernunft
gar nichts zu tun.86 In der Wirtschaftsordnung geht es um die Art der Vertei-
lung und Verwendung der ökonomischen Güter und Leistungen, die im Falle
des modernen Betriebskapitalismus erwerbswirtschaftlich organisiert und dar-
über hinaus auf die Existenz eines freien Arbeits- und Gütermarktes, die Tren-
nung von Haushalt und Betrieb, rationale Buchführung und Kapitalrechnung
verwiesen ist.87 Technik dagegen hat es mit der Bestimmung der effizientesten
Mittel ohne jede Berücksichtigung von Zwecken und Kostengesichtspunkten
zu tun und kann sich auf die unterschiedlichsten Handlungsfelder beziehen.88
Sie kann rational oder nichtrational sein. Ist sie das erstere, so freilich nicht, weil
sich in ihr eine materiale politische Rationalität oder eine bürgerlich-kapitalisti-
sche Vernunft manifestierte89 , sondern weil sie »bewußt und planvoll orientiert
ist an Erfahrungen und Nachdenken, im Höchstfall der Rationalität: an wissen-
schaftlichem Denken«, mithin an Erkenntnisweisen und Verfahren, die sich auf
mathematische Fundamentierung, rationale Beweisführung und rationales Ex-
periment stützen.90

ton Schoolman vertritt gar die Auffassung, Max Weber habe den entscheidenden Einfluß auf
Marcuse ausgeübt: vgl. The Imaginary Witness, New York 1970, S.  179 ff. Daß dem nicht so
ist, zeigt die minutiöse Kritik an Marcuse bei Schluchter 1972, S.  254 ff. Aus ihr läßt sich ent-
nehmen, daß formell-rationales Wirtschaften zwar material an Markt gebunden ist und sich
deshalb im Rahmen einer planwirtschaftlichen Organisation nur unvollständig entfalten
kann, zugleich aber mit einer derartigen »Diskrepanz von erwerbsmäßiger Güterbeschaffung
und materialer Versorgung von Menschengruppen« einhergeht, daß dadurch wiederum der
Wunsch nach planwirtschaftlicher Organisation gefördert wird. Für welches dieser beiden
Wirtschaftssysteme sich die Akteure entscheiden, ist eine politische Frage. Die Wissenschaft
kann nur die jeweiligen Vorteile und Nachteile benennen, nicht aber eine Präferenz für das
eine oder andere begründen. Das alles steht vollkommen in Einklang mit Webers Ausführun-
gen über das Verhältnis von Erfahrungswissenschaft und praktischen Urteilen, so daß Mar-
cuses Vorwurf einer versteckten Wertung ins Leere geht.
85  Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, S.  79, 81.
86  Vgl. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taois-

mus, MWG Bd. I/19, S.  499.


87  Vgl. Weber, Vorbemerkung, S.  7 f., 10.
88  Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  219 ff.
89  Vgl. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, S.  9 6 f.
90  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  219; Vorbemerkung, S.  1.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 207

Sich primär für solche Ordnungen zu interessieren, schließt keineswegs aus,


nach Interdependenzen, Formgleichheiten und Strukturanalogien zu fragen91,
wie es auch nicht ausschließt, bestimmten Institutionen wie z. B. dem Geld eine
im Verlauf des Modernisierungsprozesses sich steigernde Hypertrophie zuzu-
billigen, die zu einer umfassenden »Monetarisierung des Sozialen« (Paul)
führt.92 Ausgeschlossen ist damit jedoch, was Marcuse Weber zu Unrecht un-
terstellt: »die Gleichsetzung von technischer und bürgerlich-kapitalistischer
Vernunft«93 , die Vorstellung, es handle sich bei der Technik um mögliche Kon-
sequenzen aus dem »Entwurf«, mit dem die kapitalistische Gesellschaft die ihr
gemäße Vorstellung von der »Welt« und insbesondere von der Natur – »als blo-
ßes Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation« – festgelegt habe.94 Das ist
nicht nur ein untauglicher Versuch, die Kritische Theorie durch einen unver-
mittelten Rekurs auf Heidegger zu bereichern, von dem der Terminus des »Ent-
wurfs« entlehnt ist95, sondern zugleich ein Rückfall hinter die Einsicht Webers,
wonach die »Gesellschaft« weder als Subjekt, das irgendwelche Zwecke verfol-
gen könnte, vorzustellen ist, noch als Objekt, über das als Ganzes sich Aussagen
treffen ließen. Sie ist für die Soziologie ein unvermeidliches Wort, bezeichnet
aber eher einen Fluchtpunkt oder einen Horizont als eine darstellbare Größe,
der sich bestimmte Erscheinungen zurechnen ließen. Wenn sie bei Marcuse
oder anderen Vertretern der Kritischen Theorie als mehr erscheint, dann nur
deswegen, weil sie mit Kapitalismus im Marxschen Sinne identifiziert wird.
Mit all dem soll nicht gesagt sein, daß alles Wissenswerte über technologische
Rationalität sich schon bei Weber findet. Es gibt gute Gründe für die Annahme,
daß das von Weber präferierte instrumentelle Verständnis von Technik nur für
vor- und frühindustrielle Verhältnisse taugt und für die neueren, durch die mi-
kroelektronische Revolution induzierten Formen der Kommunikation zwi-
schen Menschen und maschinellen Systemen nicht mehr angemessen ist. Der
91  Vgl. Tyrell 1994, S.  395.
92  Daß die Geldwirtschaft »heute ein oder gar das in der ›Heterarchie‹ der Systeme führen-
de System unserer Gesellschaft ausmacht, und zwar weil sie Geld- und nicht Tauschwirt-
schaft ist«, ist der Leitgedanke einer Analyse, die ausdrücklich nicht an Marx, sondern an
Simmel und Luhmann anknüpft: Axel T. Paul: Die Gesellschaft des Geldes. Entwurf einer
monetären Theorie der Moderne, 2. erw. Auflage, Wiesbaden 2012, S.  241.
93  Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, S.  9 6.
94  Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrit-

tenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1968³, S.  168 f.


95  Marcuse zitiert nur den Aufsatz »Wozu Dichter« aus den 1950 erschienenen Holzwegen,

nicht aber den für seine Zwecke wesentlich einschlägigeren Text »Die Zeit des Weltbildes«, in
dem das Konzept des »Entwurfs« erläutert wird: vgl. Martin Heidegger: Holzwege. Martin
Heidegger Gesamtausgabe, Bd. I/5, Frankfurt am Main 1977, S.  77 ff. Eingeführt und begrün-
det hat es Heidegger schon früher, etwa in seiner Vorlesung im Wintersemester 1935/36, die
eine noch heute beeindruckende Auseinandersetzung mit dem Naturverständnis Galileis und
Newtons enthält. Vgl. Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen
Grundsätzen, hrsg. von Petra Jaeger. Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. II/41, Frankfurt
am Main 1984, S.  77 ff.
208 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Typus des zweckrationalen Handelns ist dafür ebensowenig hinreichend wie


der Marxsche Arbeitsbegriff.96 Insofern jedoch die Webersche Soziologie auch
am Paradigma der Differenzierung von Ordnungen orientiert ist, genauer: an
Differenzierung ohne ein einheitsstiftendes Prinzip: »Differenzierung ohne
Gesellschaft«97, bietet sie zumindest einen besseren Ausgangspunkt als monis-
tische Deutungen in der Art Marcuses, die den Schatten Hegels nicht abzu-
schütteln vermocht haben.

III.

Voraussetzungen für ein besseres Verständnis Max Webers hätte der junge
Adorno gehabt, besaß er doch in Siegfried Kracauer einen Mentor, der sich seit
seinem Studium bei Simmel für die sachliche und institutionelle Sicherung der
Soziologie engagierte. Zwar galt Kracauers Interesse mehr der formalen Sozio-
logie, während er den »Wahrheitswert« der materialen Soziologie – der Domäne
Max Webers – eher skeptisch beurteilte, im übrigen auch das Postulat der Wert-
urteilsfreiheit für unerfüllbar hielt.98 Seine Äußerungen zu Weber sind jedoch
durchweg respektvoll99 und weisen sachlich sogar einige Schnittmengen mit
dessen Sichtweise auf, etwa wenn Soziologie als »Wissenschaft vom intentiona-
len Sein und Geschehen« definiert wird, »die, ihrer Idee gemäß, Notwendigkeit
und Objektivität ihrer Erkenntnisse« fordere, auf die »Feststellung empirisch
wohl zu beglaubigender Regelhaftigkeiten« ausgerichtet und »bis zu einem ge-
wissen Grad zu Vorhersagen über zukünftige Gestaltungen der jeweiligen Ver-
fassung einer sozialen Mannigfaltigkeit befähigt« sein müsse.100 Kracauer sah
denn auch keinen Grund, seine Forschungsergebnisse nicht in Webers Haus-
zeitschrift zu veröffentlichen; wie er auch nicht zögerte, den Bemühungen Karl
Mannheims öffentliche Anerkennung zu zollen.101 Als Mannheim 1929 auf den
96  Gute Überlegungen dazu bei Christian Hartmann: Technische Interaktionskontexte.

Aspekte einer sozialwissenschaftlichen Theorie der Mensch-Computer-Interaktion, Wiesba-


den 1992.
97  Vgl. Thomas Schwinn: Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologi-

schen Konzepts, Weilerswist 2001.


98 Kracauer 1971, S.   101, 99. Zur Werturteilsfreiheit vgl. ders.: Die Wissenschaftskrisis
(1923), in: Kracauer 2011, Bd. 5.1, S.  590–601, 599 f.
99  Vgl. etwa das Kurzporträt in: Die Wartenden (1922), in: Kracauer 2011, Bd. 5.1, S.  383–

394, das Weber als maßgebenden Vertreter des Typus des »prinzipiellen Skeptikers« präsen-
tiert (S.  389 f.).
100  Kracauer 1971, S.  76, 101.
101  Vgl. Siegfried Kracauer: Die Gruppe als Ideenträger, in: Archiv für Sozialwissenschaft

und Sozialpolitik 49, 1922, S.  594–623. Wiederabdruck in ders. 2011, Bd. 5.1, S.  469–498. Fer-
ner seine Besprechungen zu Mannheims Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie und
Ideologie und Utopie, in: Kracauer 2011, Bd. 5.1, S.  550 f.; Bd. 5.3, S.  133–136; Victoria Wendt:
Siegfried Kracauer – Einfluß und Wirken eines vermeintlichen Außenseiters der Weimarer
Zeit, in: Herrschaft und Lichtblau 2010, S.  85–104, 99.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 209

Lehrstuhl von Franz Oppenheimer berufen wurde, würdigte er ihn als einen
der besten Vertreter der modernen Soziologie, der in der Richtung Max Webers
gearbeitet habe und mit Max Scheler verbunden gewesen sei.102
Daß Kracauers Interesse an Soziologie bei Adorno vorerst wenig Resonanz
fand, ist auf drei Faktoren zurückzuführen: auf die Priorität, die die Musik-
schriftstellerei für Adorno zu dieser Zeit hatte; auf den gegen Ende der 20er
Jahre immer stärker werdenden Einfluß Benjamins; und auf die Erfahrung des
Exils, die für Adorno zunächst mit einer Marginalisierung im Kreis um das
Institut für Sozialforschung verbunden war. Den ersten Faktor hat Heinz Stei-
nert ausführlich behandelt, so daß ihm hier nicht weiter nachgegangen werden
muß.103 Der Einfluß Benjamins zeigt sich in der Antrittsvorlesung von 1931, die
der Philosophie zwar die Aufgabe der »Deutung« zuwies und ihr als Gesprächs-
partner die Soziologie empfahl, für die Kommunikation dann freilich Bedin-
gungen aufstellte, die weder vom Standpunkt Kracauers noch von demjenigen
Webers annehmbar waren. Sache der Philosophie sei es nicht, »verborgene und
vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentions-
lose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von
Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren
prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist«.104 Gewiß hätte auch Weber
die Aussage unterschreiben können, daß die Wirklichkeit »unvollständig, wi-
derspruchsvoll und brüchig«, ja von »dämonischen Gewalten« durchherrscht
war105, war doch auch er von der »sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«
überzeugt. Ausdrücklich ausgenommen war davon indes der Bereich der Kul-
tur, der ihm als »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeu-
tung bedachter endlicher Ausschnitt« galt und prinzipiell mit den Methoden
einer verstehenden und dadurch erklärenden Soziologie dechiffrierbar er-
schien.106 Gänzlich unvereinbar mit Webers Prämissen war darüber hinaus die
von Adorno präferierte, auf Benjamin zurückgehende Methode, sich bei der
Deutung an ›geschichtlichen Bildern‹ zu orientieren und daran zugleich die Per-
spektive einer dialektischen Aufhebung zu knüpfen.107

102  Siegfried Kracauer: Dr. Karl Mannheim nach Frankfurt berufen, in: Kracauer 2011,

Bd. 5.3, S.  174–175.
103  Vgl. Steinert 1993.
104  Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie (1931), in: AGS Bd. 1, S.  325–344,

335.
105  Ebd., S.  334.
106  Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,

S.  180.
107  Vgl. Adorno, Die Aktualität der Philosophie, S.  335, 338. Damit soll nicht ausgeschlos-

sen werden, daß manche dieser ›geschichtlichen Bilder‹ sich als idealtypische Konstruktionen
im Sinne Webers lesen lassen, wie Axel Honneth in einem anregenden Aufsatz vorschlägt
(2007, S.  75 ff.). Wenn Honneth damit allerdings die Absicht verbindet, Adornos soziologi-
sche Analysen zu verabschieden, soweit sie ›explanatorisch‹ gehalten sind, dann ist dem ent-
gegenzuhalten, daß genau dies auch für Webers Idealtypen gilt. Anstatt sie auf eine ›materia-
210 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Wenn Adorno in der Antrittsvorlesung nur sehr allgemein von einem großen
Teil der Soziologen sprach, von deren Einstellung es sich abzugrenzen gelte108 ,
dann wurde dies in den Jahren des Exils anders, als er versuchte, sich durch eine
besonders radikale Zuspitzung der Institutsprogrammatik einen festen Platz im
Horkheimerkreis zu erobern. Hatte Horkheimer in der Anfangszeit des Insti-
tuts die unvermeidliche Abgrenzung gegenüber der inneruniversitären Kon-
kurrenz – dem von Karl Mannheim geleiteten Soziologischen Seminar – in einer
Weise vollzogen, die die Wissenssoziologie als einen Ausläufer der Geisteswis-
senschaften Diltheyscher Provenienz präsentierte und sie damit bestimmt, aber
höflich aus der Soziologie hinauskomplimentierte109 , so dramatisierte Adorno
den Gegensatz zum Streit zweier Richtungen der Soziologie, von denen die eine
– »die gesamte bürgerliche Gesellschaftstheorie nach Marx« – für die Vergan-
genheit und die Unwahrheit stand, die andere – die eigene, »kritische« Theorie
– für die Zukunft und die Wahrheit. Die erstere fiel dabei weitgehend mit der in
Heidelberg gepflegten Tradition zusammen, als deren »Schulhaupt« Max Weber
und als deren aktueller Repräsentant Mannheim vorgestellt wurde, neben wei-
teren Geistern wie Troeltsch, Jaspers, Alfred Weber, Lukács und Sohn-Rethel.
Auch die südwestdeutsche Variante des Neukantianismus fehlte in diesem Zu-
sammenhang nicht, wurde aber meist nur in Verbindung mit der Werturteils-
problematik erwähnt.110
Von den Emanationen dieser Schule pflegte Adorno nur mit äußerstem De-
gout zu reden. Über Sohn-Rethels erste Arbeiten hieß es schon 1926, alle Gehal-

listische Hermeneutik‹ zu beziehen, für die sie nicht gedacht sind, wären sie zu nutzen, um die
von Marx aufgestellten ›Gesetze‹, auf die sich auch Adorno bezieht, in eine wissenschaftsthe-
oretisch weniger angreifbare Form zu bringen. Für hermeneutische Intentionen ist Weber
nicht der geeignete Gewährsmann. Vgl. dazu auch weiter unten.
108  Vgl. Adorno, Die Aktualität der Philosophie, S.  341. Nur der Eingeweihte konnte wis-

sen, daß mit den Soziologen, die den Begriff der Klasse durch eine Deskription zahlloser
Gruppen ersetzten und den Begriff der Ideologie um alle Schärfe brachten, niemand anders
als Kracauer und Mannheim gemeint sein konnte.
109  Vgl. Max Horkheimer: Ein neuer Ideologiebegriff? (1930), in: HGS Bd. 2, S.  271–294,

277. Verglichen mit Adornos späteren Auslassungen muß man diesem, bei aller Kritik in rela-
tiv moderatem Ton gehaltenen Text bescheinigen, daß in ihm, ohne daß es in der Absicht des
Verfassers gelegen hätte, gerade diejenigen Züge an Mannheims Arbeiten herausgestellt wer-
den, die auch Max Weber als unannehmbar zurückgewiesen hätte. Dazu gehören insbesonde-
re das Postulat eines einheitlichen Sinnzusammenhanges und der Gedanke »eines ›Ganzen‹
des Bewußtseins«, die von Horkheimer als »idealistische Überspanntheit« zurückgewiesen
werden (ebd., S.  282, 287).
110  Theodor W. Adorno: Neue wertfreie Soziologie (1937), in: AGS Bd. 20.1, S.  13–45, 14,

44. Vgl. auch ders.: Die Aktualität der Philosophie, S.  326; Über das Problem der individuellen
Kausalität bei Simmel, in: Frankfurter Adorno-Blätter 8, 2003, S.  42–59, 43; Einleitung in die
Soziologie (1968), ANS Bd. IV.15, S.  134.- Die Zuordnung Webers zum Neukantianismus,
insbesondere in der Variante Rickerts, ist in der Weber-Forschung verbreitet, hat aber durch
Gerhard Wagner eine nachhaltige Erschütterung erfahren. Vgl. Geltung und normativer
Zwang. Eine Untersuchung zu den neukantianischen Grundlagen der Wissenschaftslehre
Max Webers, Freiburg und München 1987.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 211

te des Marxismus seien »heidelbergisch verfehlt, dilettantisch vertieft«, eine


Formulierung, die er zehn Jahre später wieder aufgriff.111 Bei der erneuten Lek-
türe von Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein machte er »ein unaussteh-
liches Heidelberger Lokalkolorit« aus, das ihm bald auch bei Mannheim übel
auffiel.112 Seinen im Oxforder Exil verfaßten Essay über »Neue wertfreie Sozio-
logie« bezeichnete er als »Vernichtung«113 , obwohl diese letztlich einem Phan-
tom galt, wollte Mannheim doch der generalisierenden Soziologie Webers nur
eine begrenzte Zuständigkeit zugestehen und plädierte etwa im Feld der Ideolo-
gieforschung dafür, den totalen allgemeinen und wertfreien Ideologiebegriff
um den »wertenden und dynamischen« Ideologiebegriff zu erweitern.114 Zu der
bemerkenswert konzilianten Reaktion des Kritisierten wußte Adorno nur zu
sagen, dieser habe sich damit aus der Affäre gezogen, »daß die Fehler, die ich
ihm vorwerfe, nicht an der Methode, sondern bloß an deren Handhabung gele-
gen wären. Als ob es darauf ankäme; als ob man überhaupt anders als Heidel-
bergisch Methode und Sache voneinander trennen könnte«.115 Konzedierte er
dabei der älteren Heidelberger Generation immerhin eine größere materiale
Fülle und theoretisch konstruktive Kraft, so erklärte er es doch zugleich für
»allzu bequem, das Absinken der wertfreien Soziologie einzig als eine Differenz von
›Niveaus‹ zu betrachten oder gar aus Zeitverhältnissen herzuleiten, die weder für emsige
Tatsachensammlung noch für erkenntniskritische Besinnung mehr die Muße lassen.
Was gegen Mannheim gesagt ist, trifft noch Max Weber, das Schulhaupt. Die von diesem
gehandhabte Methode kann den Schein einer Balance von Theorie und Faktum nur in
einer Situation durchhalten, deren Theorie mit ihren eigenen Fakten gleichen Stammes
ist: die ›Idealtypen‹ passen bloß auf eine Realität, die selber den klassifikatorischen Be-
griffen so weit noch entspricht, daß diese es bei bloßen Selbstkorrekturen belassen kön-
nen, um des Verständnisses der Gesellschaft sich versichert zu meinen. Diese Möglich-
keit, illusionär schon bei Weber, der nicht umsonst in immer erneuten logischen Ansät-
zen sie zu bestätigen suchte, ist heute im offenen Zerfall. Willkür und Abstraktheit
Mannheims folgen beide gleichermaßen aus der objektiven Situation, auf die die soziolo-
gische Methode auftrifft und die ihr hart widerspricht. Der Qualitätsverlust enthüllt die
verlorene Qualität.«116
111  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 17.9.1926, in: A/K S.  138. Vgl.

auch den Brief an Max Horkheimer vom 23.11.1936, wo es ebenfalls mit Bezug auf Sohn-Re­
thel heißt: »eine Heidelbergische oder Freiburgische ›Verflachung durch Tiefe‹ des Marxis-
mus«, in: A/H Bd. 1, S.  225 ff.
112  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 12.5.1930, in: A/K, S.  208.
113 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 28.2.1937, in: A/H Bd. 1,

S.  302.
114  Vgl. etwa Karl Mannheim: Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbar-

keit (ca. 1924/25), in ders. 1980, S.  155–322, 276; Mannheim 19695, S.  85. Adornos Kritik be-
zieht sich zwar auf Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (1935) und damit auf
eine spätere Arbeit, deren Schwächen oft zutreffend benannt werden. Daß Mannheim sich der
generalisierenden und wertfreien Soziologie zugeordnet habe, wie Adorno dort behauptet
(vgl. Neue wertfreie Soziologie, S.33), trifft aber auch auf dieses Buch nicht zu.
115  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 28.2.1937, in: A/H Bd. 1, S.  302.
116  Adorno, Neue wertfreie Soziologie, S.  4 4.
212 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Adorno konnte zu dieser Zeit nicht wissen, wie wenig seine Konstruktion einer
von Weber zu Mannheim reichenden Schultradition zutraf, wurden doch die
Texte aus den 20er Jahren, in denen Mannheim sich von der generalisierenden
Soziologie Webers distanziert, erst lange nach seinem Tod veröffentlicht.117
Aber auch um seine Kenntnis Max Webers sowie der soziologischen Tradition
schlechthin war es zu diesem Zeitpunkt nicht gut bestellt. Erst in den 50er Jah-
ren, nach seiner Ernennung zum außerplanmäßigen Professor für Philosophie
und Soziologie, begann er sich systematisch mit dem Fach zu befassen, was ne-
ben Comte, Spencer und Durkheim dann auch Max Weber einschloß. Ein erstes
Seminar über Webers Wissenschaftslehre führte er im Sommer 1954 durch; das
in seiner nachgelassenen Bibliothek erhaltene Exemplar von Wirtschaft und Ge-
sellschaft weist Lesespuren aus dieser Zeit auf.118 Die etwa zur selben Zeit im
Hessischen Rundfunk gehaltenen Vorträge, die 1956 unter dem Titel Soziologi-
sche Exkurse veröffentlicht wurden, enthalten einige einschlägige Passagen, da-
runter eine kurze Würdigung der Musiksoziologie.119 Drei Jahre später folgte
ein Hauptseminar über Wirtschaft und Gesellschaft, zu dem Adorno im Winter-
semester 1963/64 noch einmal zurückkehrte. Die beiden Seminare über »Sozio-
logische Grundbegriffe« im Sommersemester 1962 und Wintersemester 1962/63
knüpften vom Titel her an Weber an, selbst wenn es keine reinen Veranstaltun-
gen zu dessen Text gewesen sein sollten. Auch in seinen Vorlesungen nahm
Adorno nun häufig Bezug auf Weber: so in der »Einführung in die Dialektik«
vom Sommersemester 1958, in »Philosophie und Soziologie« vom Sommerse-
mester 1960, den »Philosophischen Elementen einer Theorie der Gesellschaft«
vom Sommersemester 1964 und vor allem in der »Einleitung in die Soziologie«
vom Sommersemester 1968.120 Die Seminare und Vorlesungen waren Experi-
mentierfelder, in denen Adorno Formulierungen und Strategien ausprobierte,
die dann auch in seine Veröffentlichungen Eingang fanden, in denen er zuweilen
aber auch über das hinausgetrieben wurde, was er sonst zu Papier brachte.

117 Vgl. nur Karl Mannheim: Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis [ca.

1922], in ders. 1980, S.  33–154, 125 ff.


118  Vgl. Braunstein 2011, S.  271. An diesem Seminar nahm auch Horkheimer teil und gab

den Advocatus diaboli. Während Adorno an Webers Idealtypenlehre das Willkürliche und
Zufällige hervorhob, bestritt Horkheimer dies und verteidigte die Webersche Perspektive.
Überhaupt zeigen die erhalten gebliebenen und von Alex Demirović ausgewerteten Protokol-
le, daß die Positionen dieser beiden Hauptvertreter der Kritischen Theorie in Sachen Weber
ein erhebliches Maß an ad-hoc-Variabilität aufwiesen. Vgl. Alex Demirović: Der nonkonfor-
mistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule,
Frankfurt am Main 1999, S.  4 41 ff.
119  Vgl. Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskus-

sionen, Frankfurt am Main 1956, S.  100, 107 f., 142, 170.


120  Vgl. die Liste der Vorlesungen und Seminare Adornos im Anhang zu Müller-Doohm

2003, S.  944 ff. Die im Text erwähnten Vorlesungen sind inzwischen ediert und mit Registern
versehen, über die sich die Äußerungen zu Weber leicht erschließen lassen. Auf einzelne Pas-
sagen wird später Bezug genommen.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 213

Einmal verfestigte Affekte sind schwer zu überwinden, besonders dann,


wenn sie zur Markierung von Grenzen dienen. Es überrascht deshalb nicht,
auch in der Zeit einer vertieften Beschäftigung mit Max Weber dieselben Ver-
dikte wiederzufinden, die schon für den jungen Adorno typisch waren. Das
Werk dieses immerhin »bedeutendste[n] deutsche[n] Soziologe[n] der ganzen
Zeit nach Marx«121 erscheint nach wie vor unheilbar geschlagen mit den Gebre-
chen des Positivismus, Formalismus und Nominalismus, sein Urheber als »ge-
treuer Schalltrichter seiner Klasse«, der sich in seiner Lehre von der Wertfreiheit
»unreflektiert und extrem« zum Anwalt einer Trennung von Theorie und Praxis
gemacht habe.122 Bei allem Scharfsinn habe seine Soziologie »zur Totalität nicht
mehr zugereicht«. Die »Not ihres geistigen Zustandes« habe sie mit Typologien
zu überbrücken versucht, ohne doch infolge der eigenen »zuinnerst positivisti-
schen Voraussetzungen« imstande zu sein, sich über die »blinde Tatsächlich-
keit« zu erheben.123 Wenn heute »das gesellschaftskritische Motiv der Soziologie
aus dem Betrieb der empirischen Sozialforschung verbannt« sei, stelle dies nur
»die radikale Konsequenz aus der Forderung nach ›wertfreier‹ Soziologie dar,
wie sie vor fünfzig Jahren von Max Weber und seinem Kreis erhoben wurde.«124
Etwas freundlicher gestimmt zeigte sich Adorno gegenüber der (fälschlicher-
weise so genannten) Musiksoziologie Webers, die ihn ebenso durch ihre Sach-
kenntnis beeindruckte, wie durch die gemeinsame Fronstellung gegen die »irra-
tionalistischen Auffassungen von der Musik«. Max Weber habe dargetan, »daß
alle Leistungen, durch die Musik als Ausdrucksträger, als Stimme der Inner-
lichkeit geformt wurde, selbst Vernunft voraussetzen und auf den durch die ra-
tio bestimmten Lebenszusammenhang der Menschen zurückdeuten. Gerade
heute, da vielfach versucht wird, aus der Musik eine Art Naturschutzpark in-
mitten der hochrationalisierten Gesellschaft zu machen, sind solche Ergebnisse
aktuell.«125 Wenn Adorno freilich in anderem Zusammenhang diese Würdigung
durch die Kritik einschränkte, mit dem Begriff der Rationalisierung werde nur
ein Aspekt der Entwicklung der Musik erfaßt und nicht auch der andere, nicht
minder wichtige: die Artikulation dessen, »was auf der Bahn jener Rationalität
zurückblieb oder ihr zum Opfer fiel«126 , dann dokumentierte er damit nur, wie

121  Theodor W. Adorno: Philosophie und Soziologie (1960), ANS Bd. IV.6, S.  193.
122 Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis (1969), in: AGS Bd. 10.2,
S.  759–782, 774.
123  Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse, S.  107.
124  Ebd., S.  108.
125  Ebd., S.  100. Vgl. Weber, Zur Musiksoziologie. Zu den Gründen, warum es sich eher um

eine Musikgeschichte als um eine Musiksoziologie handelt, vgl. Christoph Braun: Grenzen
der Ratio, Grenzen der Soziologie. Anmerkungen zum »Musiksoziologen« Max Weber, in:
Archiv für Musikwissenschaft 51, 1994, S.  1–25. Zur Einbettung in den zeitgenössischen Kon-
text vgl. Hubert Treiber: War mit Max Webers »Musiksoziologie« tatsächlich eine ungewöhn-
liche »Entdeckung« verbunden? In: Simmel Newsletter 8, 1998, Nr.  2, S.  144–160.
126  Theodor W. Adorno: Klangfiguren (1959), in: AGS Bd. 16, S.  7 –248, 14.
214 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

wenig genau er Weber gelesen hatte. Denn die »Zwischenbetrachtung« in den


religionssoziologischen Aufsätzen verortet die Kunst und damit auch die Musik
ausdrücklich unter »jenen innerweltlichen Mächten des Lebens, deren Wesen
von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist«.127 Speziell die
Musikstudie machte dies deutlich, indem sie die physiologische Kostenseite der
Durchsetzung des gleichschwebend temperierten Tonsystems herausarbeitete:
die abstumpfende Wirkung auf die Feinheit des Gehörs. Gerade in seiner Kri-
tik, so Christoph Braun mit Recht, zeige sich Adorno Weber verwandt: seine
Einwände gegen Weber seien »nur scheinbare; sie lesen sich vielmehr wie We-
bers eigenes ungeschriebenes Resümmee [sic] seiner fragmentarischen Mu-
siksoziologie.«128
Für diese latente Weber-Affinität lassen sich weitere Belege erbringen. Seine
Kritik am Postulat der Wertfreiheit führte Adorno nicht dazu, nun ins entge-
gengesetzte Extrem zu verfallen und das soziologische Denken »auf irgendwel-
che, von außen herangebrachte und eben dadurch bereits verdinglichte, fixe
Werte […] zu beziehen«, wie dies etwa für die Wissenssoziologie Max Schelers
oder die Philosophische Anthropologie charakteristisch sei. Die »alte starre Di-
chotomie von wertender und wertfreier Erkenntnis« sei »Ausdruck eines ver-
dinglichten Bewußtseins« und deshalb zu überwinden129 – eine versöhnlich
klingende Formel, die allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, daß
Adorno sich mit ihr zugleich aus der Affäre zog: denn welche Werte nicht »von
außen herangebracht« oder »verdinglicht« seien und eo ipso der Soziologie zur
Orientierung dienen könnten, wurde nicht gesagt.
Eine weitere Relativierung vollzog Adorno hinsichtlich des Vorwurfs des
Formalismus und Nominalismus. Ohne auf grundsätzlicher Ebene etwas von
seinen Vorbehalten gegen Typen und begriffliche Definitionen im juristischen
Stil abzulassen, räumte er doch ein, »daß man ohne ein gewisses typologisches
Denken, wenn man einen Begriff konkretisieren will, schwer auskommt, und
daß die Typen sogar im allgemeinen dem darunter Befaßten gegenüber eine ge-
wisse Selbständigkeit tatsächlich behaupten«.130 Tatsächlich bezogen die Studi-
en über den autoritären Charakter ihren Rang ja nicht zuletzt aus der wie immer
auch vordergründigen Plausibilität, mit der sie eine Reihe psychologischer Ty-
pen konstruierten und in einen testbaren Zusammenhang brachten. Um eine
Begründung war Adorno wie gewöhnlich nicht verlegen, schien ihm doch der
»Grund für die anhaltende Glaubwürdigkeit der typologischen Methode […]
ein dynamischer und sozialer« zu sein. »Weil die Welt, in der wir leben, genormt

127 Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus,

S.  499.
128  Braun, Grenzen der Ratio, S.  14.
129  Adorno, Einleitung in die Soziologie, S.  134 f.
130  Adorno, Philosophie und Soziologie, S.  261.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 215

ist und ›typisierte‹ Menschen ›produziert‹, haben wir Anlaß, nach psychologi-
schen Typen zu suchen.«131
Einsichten dieser Art trugen erheblich dazu bei, seine Kritik an Weber abzu-
mildern. Als Vorzug von dessen Soziologie gegenüber einer rein formalen in der
Weise Georg Simmels erschien ihm ihre Orientierung am historischen Material,
über das sie in einer Fülle verfügt habe, um die man sie nur beneiden könne.132
Es sei diese Kenntnis gewesen, die Weber dazu getrieben habe, »den Idealtypen
mehr Substantialität zuzusprechen, als es eigentlich zu erwarten ist.«133 Eigent-
lich, so Adornos Deutung, seien Idealtypen »bloße Instrumente […], die weder
in einer Theorie ihren Ort haben noch begrifflich irgend ein Eigengewicht ha-
ben«; sie seien »etwas völlig monadologisch und ad hoc Erfundenes […], um
gewisse Phänomene zu subsumieren«; deshalb auch ohne jede Beziehung zuei-
nander.134 In seinen materialen Arbeiten jedoch habe Weber sich »weit mehr
vom Objekt« leiten lassen, als nach seiner subjektivistischen, aus dem Neukan-
tianismus übernommenen Methodologie zu erwarten gewesen sei. In der Schrift
über die protestantische Ethik etwa habe er das herkömmliche logische Defini-
tionsverfahren nach dem Schema ›genus proximum, differentia specifica‹ aus-
drücklich abgelehnt und statt dessen verlangt, »soziologische Begriffe müßten
aus ihren ›einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Be-
standteilen allmählich komponiert werden‹«.135 Noch weiter in Richtung einer
Subjekt-Objekt-Dialektik habe er sich in der Herrschaftssoziologie bewegt, als
er dem Typus der charismatischen Herrschaft eine notwendige, immanente
Tendenz zuschrieb, in einen anderen Typus, in traditionale Herrschaft, überzu-
gehen. Damit aber sei nicht nur die Voraussetzung einer gleichsam monadologi-
schen Qualität dieser Idealtypen erschüttert. Vielmehr nähere Weber sich auf
diese Weise auch dem Begriff des gesellschaftlichen Bewegungsgesetzes und der
Annahme einer »objektive[n] Struktur der Gesellschaft selbst«, die er durch
seine Art der Erkenntnistheorie eigentlich verleugne.136
Neben dieser Lesart, die näher besehen freilich auf eine Verschiebung in
Richtung Begriffsrealismus hinauslief, hatte Adorno jedoch noch einen weite-
ren Grund, seine Gegenstellung zu Weber zu lockern, erschien ihm dieser doch
im aufkommenden Positivismusstreit als Bündnispartner, dessen Denken »ein
Drittes jenseits der Alternative von Positivismus und Idealismus« sei.137 Als

131  Adorno, Studien zum autoritären Charakter, S.  306 f. Welch erheblichen Kredit Adorno

in seiner Forschungspraxis idealtypischen Verfahren einzuräumen bereit war, zeigen auch die
von ihm entworfenen »Typen musikalischen Verhaltens« in seiner Einleitung in die Musikso-
ziologie (1962), in: AGS Bd. 14, S.  169–433, 178 ff.
132  Vgl. Adorno, Einleitung in die Soziologie, S.  114, 204.
133  Ebd., S.  204.
134  Ebd., S.  204, 207.
135  Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), in: AGS Bd. 6, S.  166 f.
136  Vgl. Adorno, Einleitung in die Soziologie, S.  207.
137  Adorno, Negative Dialektik, S.  168.
216 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Vorzug gegenüber einer nichts-als-positivistischen Soziologie wie derjenigen


Durkheims, die sich am naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal orientierte138 ,
erschien Webers Festhalten am »Verstehensideal« des deutschen Historismus,
das diesen trotz vieler Restriktionen mit der Philosophie Hegels verbunden ha-
be.139 Zwar sei dieses Ideal einseitig, weil nicht schlechterdings alles Soziale ver-
stehbar und auf verständliche Handlungen zurückführbar sei, doch liege in ihm
auch die Forderung, das Soziale nicht als bloße Natur, sondern als ›zweite Na-
tur‹ im Sinne Hegels zu denken. Webers Verstehensbegriff sei »ein antipositivis-
tischer Begriff, […] weil etwas verstehen ja bereits heißt, ein Faktum nicht als
ein solches, als ein bloßes Faktum stehenzulassen, sondern dieses Faktum, in-
dem ich es eben verstehe, nämlich einen Sinn darin bestimme, durchsichtig zu
machen auf ein anderes, auf eines, was es nicht selber ist.«140 Durch eben diesen
antipositivistischen Zug rückte die Webersche Soziologie zumindest tendenziell
an die Seite der Kritischen Theorie, enthielt sie doch etwas, was die positivisti-
sche Soziologie nicht aufwies: »die Nötigung zum Übergang zu einer dialekti-
schen Konzeption der Gesellschaft.«141 Wenn es die Aufgabe einer dialektischen
Theorie war, »eben diese beiden, doch offensichtlich einander widerstreitenden
Momente im Charakter der Gesellschaft, ihre Unverständlichkeit, ihre Opak-
heit auf der einen Seite also und auf der andern Seite ihren schließlich doch auf
Menschliches reduziblen und insofern verständlichen Charakter zusammenzu-
bringen«142 , dann konnte sie dabei enger an eine Denktradition wie die deutsche
anschließen, die Institutionen als »geronnenes Handeln« verstand.143
In seiner Annäherung an Weber ging Adorno jedoch noch einen Schritt wei-
ter. Obwohl er bis zuletzt am Vorwurf festhielt, Webers Soziologie ignoriere die
»Determination durch die Totalität« und pflege eine »sonderbare Theoriefeind-
lichkeit«, die die Soziologie ihres Zentralbegriffs: der Gesellschaft, beraube144 ,
schwächte er doch die darin mitschwingende Insinuation ab, dies sei eine Folge
von Denkschwäche oder apologetischen Absichten. Daß die Max Weber ver-
pflichtete Soziologie Gesellschaft nicht länger als ein rational strukturiertes
System denken könne, sei »nicht bloß Ausdruck eines geschwächten, eines bloß
sich anpassenden Bewußtseins« (obwohl es dies auch sein sollte), es sei vielmehr
»auch ein notwendiges Bewußtsein […] insofern, als in dem Pluralismus, dem

138  Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung zu Emile Durkheim, ›Soziologie und Philosophie‹

(1967), in: AGS Bd. 8, S.  244–279, 257.


139  Vgl. Theodor W. Adorno: Gesellschaft (1965), in: AGS Bd. 8, S.  9 –19, 12.
140  Theodor W. Adorno: Einführung in die Dialektik (1958), ANS Bd. IV.2, S.  258.
141  Adorno, Einleitung in die Soziologie, S.  142.
142 Ebd.
143  Ebd., S.  178. Es überrascht, daß Adorno an dieser Stelle nicht auf die vielzitierte Formu-

lierung Webers rekurriert, die die tote wie die lebende Maschinerie als genau dies identifiziert:
als ›geronnenen Geist‹: vgl. Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten
Deutschland, in: MWG Bd. I/15, S.  432–596, 464.
144  Adorno, Negative Dialektik, S.  166; Philosophie und Soziologie, S.  194 f.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 217

zerfallenden Nebeneinander der durch keine Einheit mehr verbundenen Ein-


zeleinsichten, sich spiegelt der Zerfall unserer Gesellschaft selber.«145 Dem liegt
die bereits in anderem Zusammenhang erörterte These zugrunde, die bürgerli-
che Gesellschaft werde durch ihre eigene Dynamik über ihre marktförmige Ge-
stalt hinausgetrieben und nehme erneut die Form einer unmittelbaren Verfü-
gung über Produktion und Konsum an, die sich über den Begriff der Herrschaft
erschließen lasse. Das sollte zwar nicht Webers Herrschaftssoziologie gegen-
über Marx ins Recht setzen, war diese doch in Adornos Augen allzusehr auf den
Begriff der Zweckrationalität zugeschnitten146 , wohl aber Webers Methodolo-
gie, insofern sie »das Ansichsein des Sinnes, Durkheims oberstes Interesse, ne-
giert und potentiell die Gesellschaft samt ihrer Ordnung als sinnlos Chaoti-
sches unterstellt.«147 Und selbst der geschmähte Idealtypus erschien aus dieser
Perspektive in milderem Licht, könne man doch Webers Wissenschaftslehre so
interpretieren, daß er wohl an der Idee einer rationalen Deutung der Gesell-
schaft festgehalten und nur darauf verzichtet habe, dieser die Gestalt eines »Sys-
tems« zu geben. Statt dessen habe er es vorgezogen, »das ganze Wesen mikrolo-
gisch an einzelnen Modellen zu demonstrieren, die er konstruiert hat. Das wäre
sozusagen eine Rettung des Begriffs des Idealtypus im Sinne dessen, was an
Erkenntnis heute möglich ist, eine Rettung freilich, von der ich mit Sicherheit
weiß, daß Max Weber, lebte er noch, mit Händen und Füßen dagegen sich sträu-
ben würde.«148
Sicherlich nicht gesträubt hätte sich gegen diese Deutung der Historiker in
Weber, der genau dies als Aufgabe der Geschichtswissenschaft (und mit ihr zu-
gleich: aller anderen empirischen, singularisierenden Disziplinen) ansah: »die
kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger, Handlungen,
Gebilde, Persönlichkeiten«.149 Gesträubt hätte sich allerdings der Soziologe da-
gegen, dem Historismus zugeschlagen zu werden, nahm doch aus seiner, in die-
ser Beziehung von Johannes von Kries beeinflußten Sicht das Kriterium der
kausalen Adäquatheit stets Bezug auf empirische Konstellationen, die mit allge-
mein erhöhter Wahrscheinlichkeit eintraten, so daß die Differenz zu naturwis-
senschaftlichen (»nomologischen«) Erklärungen mitnichten so scharf war, wie
Adorno dies unterstellt.150

145  Adorno, Philosophie und Soziologie, S.  195, 199.


146  Vgl. Theodor W. Adorno: Kultur und Verwaltung (1960), S.121–46, 124 ff.
147  Adorno, Einleitung zu Emile Durkheim, S.  257.
148  Theodor W. Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, ANS

Bd. IV.12, S.  126. Daß Weber implizit einen Modellbegriff verwendet habe, der seinem eigenen
»außerordentlich nahe kommt«, hat Adorno auch an anderen Stellen betont. Vgl. Einführung
in die Dialektik, S.  238 f.; Einleitung in die Soziologie, S.  209; Negative Dialektik, S.  166.
149  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  169.
150  Vgl. Michael Heidelberger: Erklären und Verstehen bei Max Weber, unter Rückgriff auf

Johannes von Kries, in: Uljana Feest (Hrsg.): Historical Perspectives on Erklären and Verste-
hen: An Interdisciplinary Workshop, Berlin 2007, S.  225–236; Edoardo Massimilla: Max We-
218 Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber

Erst recht gesträubt aber hätte er sich dagegen, daß der Soziologie bestritten
werden sollte, was solche Erklärungen überhaupt erst ermöglichte: die Aufstel-
lung von Typen-Begriffen und generellen Regeln des Geschehens. Webers frühe
Formulierungen seiner Wissenschaftslehre im Objektivitätsaufsatz gaben ge-
wiß einigen Anlaß zu den Einwänden, wie sie Adorno immer wieder vortrug.
Aber wenn sich dieser darauf kaprizierte, nur das Ausgedachte, Willkürliche
und Substanzlose der Idealtypen zu betonen und seinem nicht zuletzt ästhe-
tisch motivierten Widerwillen gegen juristische Definitionen freien Lauf zu las-
sen151, dann ignorierte er die Korrektive, die sich nicht bloß in Webers materia-
len Arbeiten finden, sondern auch auf kategorialer Ebene. »Die Begriffsbildung
der Soziologie« heißt es in den »Soziologischen Grundbegriffen«,
»entnimmt ihr Material, als Paradigmata, sehr wesentlich, wenn auch keineswegs aus-
schließlich, den auch unter den Gesichtspunkten der Geschichte relevanten Realitäten
des Handelns. Sie bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter
dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwich-
tigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann. Wie bei jeder generalisierenden Wissen-
schaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, daß ihre Begriffe gegenüber der kon-
kreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten
hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe.«152

Relativ inhaltsleer heißt nicht: gänzlich inhaltsleer. Die Begriffe werden auch
nicht ausgedacht, sondern »relevanten Realitäten des Handelns« entnommen.
Sie werden allerdings, und nur dies rechtfertigt die berühmte Charakterisierung
der Idealtypen als »Utopien«, zugespitzt, gedanklich ins Extrem gesteigert. Der
Preis dafür ist ihre Idealität, der Gewinn aber die Bildung von Grenzbegriffen,
die es der empirischen Forschung erlauben, »da, wo sich eine historische Er-
scheinung einem von diesen Sachverhalten in Einzelzügen oder Gesamtcharak-
ter annähert, deren – sozusagen – typologischen Ort durch Ermittlung der
Nähe oder des Abstandes vom theoretisch konstruierten Typus festzustel-

ber zwischen Heinrich Rickert und Johannes von Kries. Drei Studien, Köln 2010; Hubert
Treiber: Max Weber, Johannes von Kries and the Kinetic Theory of Gases, in: Max Weber
Studies 15.1, 2015, S.  47–68. Auch in einigen anderen neueren Arbeiten wird Webers Verhält-
nis zu den Naturwissenschaften differenzierter gesehen als zur Zeit des Positivismusstreits.
Vgl. Andrea Albrecht: Konstellationen: Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrolo-
gisch-astronomischen Konzepts bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl
Mannheim, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaf-
ten 14, 2010, S.  104–149; Gerhard Wagner und Claudius Härpfer: Max Weber und die Natur-
wissenschaften, in: Zyklos 1. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, 2015,
S.  169–194; Gerhard Wagner: Kleine Ursachen, große Wirkungen. Zum Einfluß Julius Robert
Mayers auf Max Webers neukantianische Kausalitätstheorie, in: Zyklos 2. Jahrbuch für The-
orie und Geschichte der Soziologie, 2015, S.  15–29.
151 Vgl. nur Adorno, Einführung in die Dialektik, S.   238; Philosophie und Soziologie,
S.  261; Einleitung in die Soziologie, S.  203.
152  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, S.  169 f.
Frankfurt contra Heidelberg I: Die Kritische Theorie und Max Weber 219

len.«153 Die Begriffe sind also keineswegs Schemata, die die Funktion haben,
»das Allgemeine zu bezeichnen, in das das Besondere hineinfällt«.154 Vielmehr
handelt es sich um Hilfsmittel, die beides kenntlich machen sollen: was und
wieviel an Allgemeinem im Besonderen steckt und wie singulär eine bestimmte
Erscheinung ist. Ohne zu sehen, wie nahe er damit Max Weber kam, hat Ador-
no genau dies einmal für sein eigenes Vorgehen reklamiert, wenn er das Wesen
der wissenschaftlichen Begriffsbildung dadurch bestimmte, »daß Begriffe ei-
gentlich immer nur sinnvoll von ihren Extremen her gebildet werden können
und in ihren extremen Formulierungen festzuhalten sind, daß aber in dem Au-
genblick, wo man die Begriffe so anordnet, daß sie von vornherein die soge-
nannten Übergangsphänomene einbeziehen, daß sie dann in diesem Augenblick
gar nicht zu halten sind.«155
Die Entwicklung von Adornos Verhältnis zu Weber läßt sich von hier aus
gesehen als allmähliche Relativierung einer gesinnungsmäßig begründeten Ab-
lehnung durch ein zunehmend differenzierteres Verständnis fassen, das biswei-
len sogar den Eindruck erweckt, als habe Adorno dem Werk Webers für die
zeitgenössische nachbürgerliche, nach seiner Überzeugung immer weniger vom
Tausch- bzw. Wertgesetz geprägte Gesellschaft eine größere Relevanz beige-
messen als den älteren, noch allzu eng an die klassische Gestalt der bürgerlichen
Gesellschaft gebundenen Theorien von Hegel und Marx. Sollte diese Deutung
zutreffen, wäre sie ein Beleg für die These, die Johannes Weiß vor einigen Jahren
vorgetragen hat: »Tatsächlich nämlich stellt sich die Geschichte der Kritischen
Theorie als ein unablässiger Prozess der Selbst-Kritik dar, und dabei ist der Be-
griff Selbst-Kritik im Wortsinne, also im Sinne von Selbst-Unterscheidung,
selbstbezüglicher Auseinander-Setzung und schließlicher Selbst-Zersetzung
gemeint.«156 Wobei in diesem Fall die Selbst-Zersetzung als allmähliche Auflö-
sung selbstproduzierter Nebelschwaden und zunehmend klare Sicht zu verste-
hen wäre.

153 Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus,

S.  480.
154  Adorno, Einführung in die Dialektik, S.  238.
155 Adorno, Philosophie und Soziologie, S.   263. Stichwortgeber hierfür war zweifellos
Benjamin mit seiner Formel: »Vom Extremen geht der Begriff aus«: Walter Benjamin: Der
Ursprung des deutschen Trauerspiels, in ders. 1991, Bd. I.1, S.  215.
156  Weiß, Max Weber und die Kritik der Kritischen Theorie, S.  309.
Frankfurt contra Heidelberg II:
Der Streit um Sohn-Rethel

Es gehört zu den Ironien in der Geschichte der Kritischen Theorie, daß Adorno
just zu der Zeit, in der er seine schwersten Geschütze gegen die »Heidelberger
Schule« in Stellung brachte, durch ein wie immer auch eigenwilliges Produkt
derselben »die größte geistige Erschütterung« zuteil wurde, die er seit seiner
Begegnung mit Benjamins Arbeit im Jahr 1923 erfahren zu haben meinte.1 Die-
ses außergewöhnliche Bekenntnis findet sich auf einer Karte an Alfred Sohn-
Rethel, der ihn kurz zuvor in einem längeren Brief über die wichtigsten Ergeb-
nisse seiner in Luzern verfaßten »Soziologischen Theorie der Erkenntnis« un-
terrichtet hatte. Man kannte sich schon länger. Eine erste Begegnung hatte 1925
in Positano stattgefunden, während einer Italienreise, die Adorno zusammen
mit Kracauer unternommen hatte2 , eine zweite im September 1926, als sich
Sohn-Rethel mit einem seiner vielen Exposés um ein Stipendium am Institut für
Sozialforschung bemühte. Kracauer, der von Carl Grünberg um ein Gutachten
gebeten worden war, hatte sich damals Rat bei Adorno geholt, dessen Urteil
vernichtend ausfiel. Trotz guter Detailkenntnisse seien der Rahmen wie der
Grund des Vorhabens völlig untauglich, ein vergeblicher Versuch, von einer
neukantianischen, ergo geschichtslosen und unkonkreten Voraussetzung aus
den marxistischen Geschichtsbegriff zu konstruieren. »Und welche trübe
Blochische Konfusion richtet er mit dem Begriff des Transzendentalen an! Und
wie falsch, zumindest benjaminisch, wie ungebrochen sitzt die Metaphysik auf!
Alle Gehalte des Marxismus sind heidelbergisch verfehlt, dilettantisch vertieft.«3
Diese so stark divergierenden Urteile aus dem Abstand von zehn Jahren wer-
fen verschiedene Fragen auf. Was genau war so spezifisch »heidelbergisch« an
dem, was Sohn-Rethel damals vertreten hatte? Hatte er sich um 1936 wirklich
so um Welten davon entfernt, daß ihn Adorno nunmehr als potentiellen Alliier-
ten begrüßen konnte? Und wenn dies so war: warum ist Sohn-Rethel dennoch
nur eine Randfigur der Kritischen Theorie geblieben, vor dem das »Grand Ho-
tel Abgrund« seine Türen verschloß?
1  Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Karte vom 17.11.1936, in: A/SR, S.  32.
2  Vgl. Carl Freytag: Alfred Sohn-Rethel in Italien 1924–1927, in: Alfred Sohn-Rethel: Das
Ideal des Kaputten, Bremen 1990, S.  39–49; Die Sprache der Dinge. Alfred Sohn-Rethels
›Zwischenexistenz‹ in Positano (1924–1927), in: Rudolf Heinz und Jochen Hörisch (Hrsg.):
Geld und Geltung. Zu Alfred Sohn-Rethels soziologischer Erkenntnistheorie, Würzburg
2006, S.  78–85, 79; Müller-Doohm 2003, S.  144; Martin Mittelmeier: Adorno in Neapel. Wie
sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt, München 2013.
3  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 17.9.1926, in: A/K, S.  138.
222 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

I.

Hält man sich nur an äußerliche Kriterien, so spielte Heidelberg in der Tat eine
herausragende Rolle in der intellektuellen Biographie Sohn-Rethels. Nach Sta-
tionen in Frankreich, Düsseldorf, Berlin und Lüneburg schrieb sich der 1899
geborene Sohn eines Malerpaares zum Sommersemester 1917 an der Universität
Heidelberg ein und blieb dort, allerdings unterbrochen durch längere Aufent-
halte in Italien und in der Schweiz, bis zum Frühjahr 1929 gemeldet.4 Seine Stu-
dienfächer waren Nationalökonomie und Philosophie, daneben Jura, Soziologie
und Französisch, seine wichtigsten Lehrer, soweit man bei diesem eher autodi-
daktisch veranlagten Geist davon sprechen kann, Ernst Cassirer, Emil Lederer,
Alfred Weber, Karl Mannheim und Heinrich Rickert.5 Schon auf der Schule
politisiert, warf er sich unter dem Einfluß des Austromarxisten Lederer auf ein
obsessives Studium der ökonomischen Schriften von Marx und erwarb sich da-
bei unter seinen Kommilitonen, darunter Leo Löwenthal, »die Aura eines be-
deutenden und in jedem Sinne des Worts schwer zugänglichen Denkers«.6 1922
wirkte er an der Gründung eines Sozialistischen Bundes parteiloser Studenten
mit, zu dem unter anderen Theo Haubach, Carlo Mierendorff und Carl Zuck-
mayer gehörten.7 Er nahm teil an Treffen des »Soziologen-Klubs« um Alfred
Weber, der ihm anfangs zu finanzieller Unterstützung verhalf und ihn später zu
seinem gemeinsam mit Mannheim durchgeführten Seminar über Lukács hinzu-
zog. Sein ursprüngliches Vorhaben, bei Weber über das Thema »Aus der Marx-
schen Arbeitswertlehre: Sinndeutung in der Totalität des Geschehens« zu pro-
movieren, mußte Sohn-Rethel freilich aufgeben, weil der prospektive Doktor-
vater sich an seinem »hanebüchenen Rationalismus« und mehr noch an seinem
Marxismus stieß: »Es wird einem ganz schlecht, wie dieser tote, überlebte Marx
ausgemolken wird.«8 Nach etlichen Verzögerungen promovierte er im Sommer
1928 bei Lederer summa cum laude mit einer Untersuchung zu Schumpeter.9

4  Vgl. Carl Freytag: »Kann man leben von seinem Genie?« Alfred Sohn-Rethel in Heidel-

berg, in: Reinhard Blomert (Hrsg.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften: das In­
stitut für Sozial- und Staatswissenschaften zwischen 1918 und 1958, Marburg 1997, S.  329–
347, 330.
5  Vgl. den Lebenslauf im Anhang zur Dissertation, in: Sohn-Rethel 2012, S.  144; Lebens-

lauf Alfred Sohn-Rethels, ebd., S.  191–192; Gespräch über ›die Genese der Ideen von Waren-
form und Denkform‹ (1978), ebd., S.  267–292, 270 f.
6  Freytag, »Kann man leben von seinem Genie?« S.  333.
7  Vgl. ebd., S.  331.
8  Vgl. Alfred Weber an Else Jaffé, Brief vom 13.5.1922, zit. n. Eberhard Demm: Von der

Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920–1958, Düs-
seldorf 1999, S.  98; dort auch die Protokolle des Lukács-Seminars ( S.  4 44 ff.). Ein späteres oft
kolportiertes Urteil Webers lautete schlicht: »Sohn-Rethel spinnt!« (ebd., S.  98).
9  Vgl. Freytag, »Kann man leben von seinem Genie?« S.  332 f. Die Dissertation wurde 1936

publiziert und später zweimal nachgedruckt. Vgl. zuletzt Sohn-Rethel 2012.


Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 223

Sohn-Rethel hatte also hinreichend Gelegenheit, das in sich aufzunehmen,


was von den Zeitgenossen als »Heidelberger Geist« bezeichnet wurde.10 Dieser
manifestierte sich freilich in den 20er Jahren durchaus nicht in jener Gestalt ei-
ner geschlossenen, von Max Weber gestifteten Schultradition, wie sie Adorno
unterstellte. Wohl hatte Max Weber Heidelberg mit dem Archiv für Sozialwis-
senschaften und Sozialpolitik die damals bedeutendste sozialwissenschaftliche
Zeitschrift Deutschlands hinterlassen. Gelehrt hatte er dort jedoch nur kurz,
bis 1897/98. Erst 1919 hatte er seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen, aber
nicht in Heidelberg, sondern in München, wo er bereits im folgenden Jahr ver-
starb. Für die Heidelberger Soziologie der Zwischenkriegszeit war deshalb
nicht er, sondern sein Bruder Alfred tonangebend, der sich als Kultursoziologe
verstand. In einem 1927 erschienenen, aber z.T. ältere Schriften zusammenstel-
lenden Buch grenzte er die Kultursoziologie explizit vom Werk seines Bruders
ab, das ihm zu objektivistisch, zu kantianisch, zu sehr auf Analyse und zu sehr
auf eine »individualistische«, komplexe Totalitäten dekomponierende Methode
verpflichtet zu sein schien, der er seinen eigenen, »auf das leidliche Verständnis
unauflösbarer, im Kern durchaus irrationaler historischer Kollektivitäten in ih-
rer Einheit« ausgerichteten Ansatz entgegenstellte.11 Als Medium des Zugangs
zu diesen »Kollektivitäten« galt ihm die Intuition, deren Bedeutung sich ihm
durch das Werk Henri Bergsons erschlossen hatte. Sie sollte freilich ergänzt
werden durch kausalanalytische Verfahren, da die menschliche Psyche auch »in
einem Kosmos allgemeiner sachlicher Gegebenheiten« stand, »in einer allge-
meinen und vom Intellekt geschaffenen Welt von Unentrinnbarkeiten und Not-
wendigkeiten, die über uns gesetzt ist, soweit die technisch abstrakte Form des
Denkens uns beherrscht«.12 Das ergab ein heterogenes Ensemble von Metho-
den, das von Weber als »synthetisch« angepriesen wurde, jedoch treffender als
unglückliche Ehe von Lebensphilosophie und Positivismus bezeichnet ist.13
Obwohl wesentliche Züge dieser Kultursoziologie schon vor dem Ersten
Weltkrieg feststanden, nahm sie ihre endgültige Gestalt erst in dem 1921 publi-

10 Vgl. Karl Jaspers: Heidelberger Erinnerungen, in: Heidelberger Jahrbücher 5, 1961,

S.  1–10, 4; Ludwig Curtius: Deutsche und Antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950,
S.  374.
11  Alfred Weber: Ideen zur Staats- und Kultursoziologie (1927). Hier zit. n. dem Wieder-

abdruck in: Weber 2000, S.  33–117, 52 ff., 54.


12  Ebd., S.  62 f. (Herv. i. O. gestr.). Zu Webers bereits in seiner Prager Zeit einsetzenden

Rezeption Bergsons vgl. Eberhard Demm: Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der
politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard am Rhein 1990, S.  48.
13  Zum Methodendualismus bei Alfred Weber vgl. Wolfgang Schluchter: Max Weber und

Alfred Weber. Zwei Wege von der Nationalökonomie zur Kultursoziologie, in: Hans G. Nut-
zinger (Hrsg.): Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte: Alfred Webers Ent-
wurf einer umfassenden Sozialwissenschaft in heutiger Sicht, Marburg 1995, S.  199–222,
201 f.; Max Weber, Alfred Weber und die zweifache Begründung der Kultursoziologie, in
ders.: Handlung, Ordnung und Kultur, Tübingen 2005, S.  124–136.
224 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

zierten Aufsatz »Prinzipielles zur Kultursoziologie« an.14 In ihm gliederte We-


ber das historische Geschehen in die zwei Sphären des Gesellschafts- und Zivi-
lisationsprozesses sowie einen dritten Vorgang, den er als »Kulturbewegung«
bezeichnete. Galt ihm der erstere als »die Form, in der unter bestimmten natür-
lichen (biologischen, geographischen, klimatischen und sonstigen) Bedingun-
gen die Totalität der naturalen menschlichen Trieb- und Willenskräfte […] in
irgendeine Gestalt gebracht sind«, so die letztere als eine Serie von ›Emanatio-
nen‹, ›protuberanzenartig‹ hervorbrechender seelischer Schöpfungen, die stets
den Charakter der Ausschließlichkeit und Einmaligkeit hätten.15 Zwischen die-
sen beiden Sphären sollte sich das ›Zwischenreich‹ des Zivilisationsprozesses
erstrecken, das anfangs noch durchaus naturalistisch als »bloße Fortsetzung der
biologischen Entwicklungsreihe des Menschen« verstanden wurde16 , später
mehr im positivistischen Sinne als ein »intellektueller Kosmos […], der dem Ge-
sellschaftsprozeß die technischen Mittel bietet für seine Formungen und Ge-
staltungen, wie er andererseits auch eine der Unterlagen der Kulturphänomeno-
logie zu sein scheint.«17
Bezeichnungen wie »Mittel« und »Unterlagen« indizieren, daß Weber durch-
aus ›äußere‹ Beziehungen zwischen diesen drei Sphären kannte, etwa in dem
Sinne, daß der Zivilisationsprozeß im Zusammenspiel mit dem Gesellschafts-
prozeß »Neuaggregierungen der Lebenselemente« hervorbrachte, die auch die
Kulturproduktivität stimulieren konnten.18 Die substantielle Entfaltung dieses
Gedankens blieb indes bei Weber weit zurück hinter der Betonung der ›inne-
ren‹ Eigengesetzlichkeiten dieser Sphären. So war für ihn Kultur als etwas ge-
nuin Seelisches grundlegend unterschieden von der Zivilisation, die vom Intel-
lekt dominiert wurde und sich, wenn auch nicht unbedingt linear, so doch in
einem kumulativen Sinne entfaltete, und dies auch noch in einem völlig eigenen
Modus: im stetigen Aufbau eines ›Erkenntniskosmos‹, dessen »Herausbildung
logisch gesetzmäßig weitergeht, wie der Aufbau eines Bauwerks den Gesetzen
einer inhärenten Kausalität unterliegt.« Von den Werken der Kultur meinte
Weber, sie würden ›geschaffen‹, von den Manifestationen der Zivilisation, etwa
den Gesetzen der Naturwissenschaften, sie würden ›entdeckt‹ und ›gefunden‹,

14  In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47, 1920/21, S.  1–49. Im folgenden

zit. n. dem Wiederabdruck in: Weber 2000, S.  147–186.


15  Ebd., S.  150, 167 f.
16  Alfred Weber, Ideen zur Staats- und Kultursoziologie, S.  66.
17  Alfred Weber, Prinzipielles zur Kultursoziologie, S.  153. Vgl. dazu aber auch den Ein-

wand seines Schülers Alexander von Schelting, wonach die Konkretisierungen eines be-
stimmten theoretischen oder praktischen Wissens keine Bestandteile des Zivilisationsprozes-
ses seien, »sondern Elemente stets komplizierter realer Erscheinungen, die meist oder vorwie-
gend dem Gesellschaftsprozeß angehören« (Alexander von Schelting: Zum Streit um die
Wissenssoziologie I: Die Wissenssoziologie und die kultursoziologischen Kategorien Alfred
Webers, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 62, 1929, S.  1–66, 28 f.).
18  Vgl. Alfred Weber, Prinzipielles zur Kultursoziologie, S.  171 ff.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 225

gleichsam nur aus dem Dunkeln der ›Präexistenz‹ ins Helle des Bewußtseins
gehoben:
»Die Sätze der euklidischen Geometrie sind ›vorhanden‹, ehe sie ›entdeckt‹ wurden –
sonst könnten sie ja gar nicht entdeckt werden; ebenso die der nacheuklidischen, ebenso
die Formeln der kopernikanischen Weltbewegung, ebenso die apriori Kants, sofern sie
alle ›richtig‹ entdeckt und formuliert sind. Ganz ebenso aber ist die Dampfmaschine, das
Telephon, der Telegraph, die Axt, die Schaufel, das Papiergeld, die Arbeitsteilung und
was es sonst noch an technischen Methoden und Prinzipien der Natur- und Daseinsbe-
herrschung gibt, – sind alle ›Gegenstände‹ und Mittel des praktisch-intellektuellen Kos-
mos unseres Daseins, alle die wir schon besitzen und alle die wir noch dazu gewinnen
werden, dem Wesen nach vorhanden, ›präexistent‹ […]. Der gesamte Zivilisationsprozeß
[…] tut nichts als eine schon vorhandene Welt, eine für uns als Menschen generell vor-
handene Welt, aufzudecken und sukzessive zugänglich zu machen.«19

Damit hatte Alfred Weber einen Rahmen umrissen, in dem sich auch der zweite
Star der Heidelberger Soziologie der Zwischenkriegszeit, Karl Mannheim, be-
wegte.20 Ein ehemaliger Schüler von Lukács, war dieser 1919 von Budapest zu-
nächst nach Wien geflüchtet und 1921 über einige Zwischenstationen nach Hei-
delberg gelangt, wo er sich vier Jahre später mit der Unterstützung von Alfred
Weber und Emil Lederer habilitierte.21 Zwar schien er auf den ersten Blick ein
radikaleres Programm zu verfolgen, das auf nicht weniger zielte als den Ent-
wurf einer »soziologischen Theorie des Geistes«, zentriert um die Annahme, daß
soziale Phänomene wie die Konkurrenz »konstitutiv in die Gestalt und in den
Gehalt der Kulturobjektivation und in die konkrete Form der Kulturbewe-
gung« hineinragten22 – eine Formulierung, die ihm von Seiten Webers den Vor-
wurf eintrug, eine Neuauflage der alten materialistischen Geschichtsauffassung
zu betreiben.23 Ein genauerer Blick in Mannheims Arbeiten der Heidelberger
Zeit (1921–1930) zeigt jedoch, wie unbegründet dieser Verdacht war. Denn ers-
tens verblaßte bei Mannheim, was ihm anfangs noch aus der Lektüre von Ge-
schichte und Klassenbewußtsein hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen
Klassenbildung, Verdinglichung und Denkformen gewärtig war24 , allmählich
zu vagen Hinweisen auf die soziale Differenzierung und die durch sie ausgelös-
te »Dynamik« und wurde durch den Rekurs auf ›seelische und erlebnismäßige

19  Ebd., S.  157.


20  Auf Webers Sphäreneinteilung bezieht sich Mannheim ausdrücklich in seinem Aufsatz:
Historismus (1924), in ders. 1964, S.  246–307, 282 ff.
21  Zu den diversen Stationen vgl. Thomas Jung: Die Seinsgebundenheit des Denkens. Karl

Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie, Bielefeld 2007, S.  25 ff.


22  Karl Mannheim: Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen (1928), in

ders. 1964, S.  566–613, 566 f.


23  Vgl. seinen Redebeitrag zu Mannheims Vortrag über die Konkurrenz auf dem Züricher

Soziologentag, in: Volker Meja und Nico Stehr (Hrsg.): Der Streit um die Wissenssoziologie,
2 Bde., Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, S.  371–376, 376.
24  Vgl. etwa Mannheim, Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit,

in: Mannheim 1980, S.  178 ff.


226 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

Lagen‹, ›geistig-seelische Strukturzusammenhänge‹ ersetzt, die mehr mit der


Lebensphilosophie gemeinsam hatten als mit Marx oder Max Weber.25 Und
zweitens schnitt auch er eine Verbindung zwischen Gesellschafts- und Zivilisa-
tionsprozeß ab, indem er das exakt-naturwissenschaftliche Denken aus der Zu-
ständigkeit der Wissenssoziologie entließ und den Begriff des »seinsverbunde-
nen Denkens« so auslegte, daß darunter nur das historische und politische Den-
ken sowie das Alltagsbewußtsein fielen.26 Wenngleich auch die exakten
Naturwissenschaften »soziologisch gesehen nicht freischwebend« seien, viel-
mehr als »an ein bestimmtes Stadium der sozialen Entwicklung und an be-
stimmte Grundkonstellationen gebunden« vorgestellt werden müßten, sei doch
»sicher, daß abgesehen von diesen, den Rahmen des Forschungsverlaufes be-
stimmenden Momenten das Denken weitgehend aus einer immanenten Entfal-
tung hervorgeht.«27 Von einer »Historisierung des Apriori«, wie man sie bei
Mannheim ausgemacht hat, kann deshalb keine Rede sein.28
Sohn-Rethel hat seine Beziehung zu Mannheim im Rückblick so dargestellt,
als habe er sich mit ihm permanent »auf dem Streitfuß« befunden.29 Dafür mag
es auch durchaus Gründe gegeben haben. Sohn-Rethel sympathisierte mit dem
revolutionären Marxismus, während Mannheim eher auf Reformen setzte. Au-
ßerdem hatte Sohn-Rethel aus den Vorlesungen und Colloquien Ernst Cassi-
rers, an denen er 1918/19 teilgenommen hatte, ein ausgeprägtes Faible für Kant
mitgebracht30 , das quer zu den philosophischen Neigungen Mannheims stand,
die mehr zu Lukács und zum deutschen Historismus tendierten.31 Die daraus

25  Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. von

David Kettler u. a., Frankfurt am Main 1984, S.  68, 96, 112 ff. Die Nähe zu Dilthey ist Gegen-
stand der an anderer Stelle bereits erwähnten Kritik Horkheimers, aber auch der späteren
Vertiefung dieses Arguments bei Kurt Lenk: Marx in der Wissenssoziologie, Neuwied und
Berlin 1972, S.  4 4, 53 ff.
26  Vgl. Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz, S.  569.
27  Mannheim, Konservatismus › S.  66.
28  So aber Martin Endreß: Soziologie als methodischer Relationismus. Karl Mannheims

Auseinandersetzung mit der Relativismusproblematik als Kern seiner wissenssoziologischen


Analyse der Moderne, in: Martin Endreß und Ilja Srubar (Hrsg.): Karl Mannheims Analyse
der Moderne. Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1996, S.  329–351, 343.
29  »Wir haben uns gestritten, bis wir blau im Gesicht waren. […] Für Mannheim stellte sich

die gesellschaftliche Bedingtheit des Bewußtseins, der Ideologien und Denkweisen, wissens-
soziologisch dar, also auf der historisch-empirischen Ebene. Daß die Frage auf der transzen-
dentalen Ebene zu stellen war, war ihm nicht in den Kopf zu bringen. Nur auf der transzen-
dentalen Ebene war die Frage marxistisch und als Frage des Klassenkampfes zu lösen. Aber
dagegen bockte er, da begann für ihn der Absprung in die Metaphysik« (Gespräch über ›die
Genese der Ideen von Warenform und Denkform‹, in: Sohn-Rethel 2012, S.  270).
30 Vgl. Sohn Rethel, Lebenslauf, S.   191. In einem Zusatz von 1976 hat Sohn-Rethel das
vierte Kapitel seiner Dissertation als Versuch gedeutet, »die Marxsche Theorie vom Kapital
im allgemeinen auf dem Boden der Kritik der Grenznutzenaxiomatik der Ökonomie und ei-
ner Kantschen Erkenntnistheorie aufzubauen«: Alfred Sohn-Rethel: Von der Analytik des
Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft (1928), in ders. 2012, S.  43–144, 108.
31  Zum Einfluß von Lukács auf Mannheim vgl. Reinhard Blomert: Intellektuelle im Auf-
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 227

entstehenden Meinungsverschiedenheiten sollten jedoch nicht darüber hinweg-


täuschen, daß Sohn-Rethels Schriften der Heidelberger Jahre den von Alfred
Weber und Karl Mannheim gezogenen Kreis nicht grundsätzlich sprengten,
auch wenn sie ihn teils verkleinerten, teils erweiterten. Das erstere geschah
durch eine Coupierung der lebensphilosophischen und historistischen Elemen-
te, denen Sohn-Rethel keinerlei Beachtung schenkte; das letztere durch eine
Einbeziehung marxistischer Topoi, die allerdings ihre Referenztexte nur selten
auswies. Was an Kritik gegenüber den Naturwissenschaften vorgebracht wur-
de, bezog sich nicht auf diese selbst, sondern auf ihre Übertragung in das Feld
der Ökonomie, in dem nach Sohn-Rethel ganz andere Regeln galten. Diese
wurden in der Dissertation zu einer idealtypischen Entwicklungskonstruktion
verdichtet, die vom »Wirtschaftssystem der konsumtiven Tauschabsicht« über
dasjenige der »kommerziellen Tauschabsicht« zur kapitalistischen Verkehrs-
wirtschaft führte, welche weiter in die Stufen des »Produktions-« und des »Fi-
nanzkapitalismus« untergliedert wurde.32
Auch wenn sich dieses Schema an Marxschen Vorgaben orientierte, die von
Sohn-Rethel nicht ohne Geschick in die Sprache der akademischen National-
ökonomie übersetzt wurden, war es doch nichts anderes als eine Ausfüllung
dessen, was Mannheim im Anschluß an Alfred Weber unter der ›fortschrittli-
chen Entwicklung‹ verstand, welche sich von der ›seelengebundenen‹ und der
›dialektischen Entwicklung‹ darin unterscheiden sollte, daß sich in ihr nur ein
einziges System entfaltete.33 In diesem Sinne einer auch sachlichen Abhängig-
keit ist zu verstehen, wenn Emil Lederer 1928 in seinem Gutachten zu Sohn-Ret-
hels Doktorarbeit hervorhob, es sei der pädagogischen Hilfe Mannheims zu
verdanken, daß sich der Kandidat, der sich seit 1918 in demselben Problemkreis
bewegt habe, zu dieser Wendung der Arbeit bereitfand. Damit erst sei »seine
unstreitig große und immer wieder in sich kreisende Denkkraft aus ihrem Zau-
berkreise, in welchem sie gebannt war, befreit, und dadurch fruchtbar und le-
bendig gemacht« worden.34
Nach der Dissertation dauerte es acht Jahre, bis Sohn-Rethel wieder die nöti-
ge Muße für eine größere Arbeit fand.35 Das Luzerner Exposé von 1936 knüpfte

bruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissen-
schaften der Zwischenkriegszeit, München und Wien 1999, S.  18, 28, 30. Dem Historismus,
diesem »gewaltigste[n] Erbe[n] des romantischen Bewußtseins«, bescheinigt Mannheim, er
sei »sowohl die Ursache unserer vollständigen Aufgelöstheit, unseres Relativismus, zugleich
aber das alleinige Mittel, das uns aus dieser Lage hinauszuführen imstande ist«: Mannheim,
Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit, S.  189.
32  Vgl. Sohn-Rethel, Von der Analytik des Wirtschaftens, S.  108 ff.
33  Vgl. Mannheim, Historismus, S.  286; ders.: Das Problem einer Soziologie des Wissens

(1925), in ders. 1964, S.  308–387, 354.


34  Gutachten von Emil Lederer, in: Sohn-Rethel 2012, S.  189–190, 189.
35  Die Jahre von 1929 bis 1931 verbrachte er zur Ausheilung einer Tuberkulose in Davos.

Im September 1931 wurde er wissenschaftliche Hilfskraft beim Geschäftsführer des Mittel-


europäischen Wirtschaftstages, Max Hahn, dann Sekretär beim Deutschen Orient-Verein,
228 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer »reinen«, d. h.
»funktionalen« Vergesellschaftung an Probleme an, an denen er schon in Posita-
no und Heidelberg gearbeitet hatte36 , und schlug von dort aus den Bogen zu den
Bedingungen der Möglichkeit »reiner« Erkenntnis, womit nicht weniger anvi-
siert war als das Vorhaben, Kant ›vom Kopf auf die Füße zu stellen‹. Verglichen
mit der Dissertation war die Perspektive wie auch das Vokabular deutlich weni-
ger akademisch, stellte es die Leser doch vor die Alternative: »revolutionäre
Aufhebung des Kapitalismus und Übernahme der Produktivkräfte durchs Pro-
letariat oder die Kulturvernichtung durch die kapitalistische Selbstzerstörung
mit tendenzieller Rückbildung des Ausbeutungsverhältnisses zum politischen
oder ›primären‹ Ausbeutungsverhältnis«.37 Zugleich aber mischten sich in die-
sen Diskurs Fragestellungen und Redewendungen, die eher der Denkwelt Mar-
tin Heideggers zu entstammen schienen. Da wurde die »Frage nach dem Sein«
aufgeworfen und die »Einheit des Seins alles Seienden« diskutiert38 , war von
»Daseinsidentität«, »Daseinsordnung« und »Daseinsverflechtung« die Rede39 ,
und dies in einem Ausmaß, daß sich Adorno 1931 nach einer Begegnung mit
Sohn-Rethel veranlaßt sah, von einer »Heideggerepisode« zu sprechen. 40
Dieser Eindruck bestätigt sich bei näherer Betrachtung jedoch nicht. Sein
und Zeit hatte nicht nach dem Sein schlechthin gefragt, sondern nach dem »Sinn
von Sein«41 ; und es hatte diesen, wie der Titel schon andeutet, in der Zeit gefun-
den, also in etwas Vorübergehendem, nicht Beharrendem, nicht Vorhandenem.
Insofern das Dasein ein Seiendes war, »das sich in seinem Sein verstehend zu
diesem Sein verhält«, kam ihm ebenfalls »nicht und nie die Seinsart des inner-
halb der Welt nur Vorhandenen« zu, womit nach Heidegger ein für allemal der

schließlich, ab Oktober 1934, Geschäftsführer der Ägyptischen Handelskammer in Berlin.


Zu diesen Institutionen und Sohn-Rethels Rolle darin vgl. Carl Freytag: Deutschlands Drang
nach Südosten. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der Ergänzungsraum Südosteuro-
pa 1931–1945, Göttingen 2012, S.  91 ff., 369. Eine erheblich erweiterte Ausgabe von Sohn-Re-
thels Schriften zum deutschen Faschismus ist unter dem Titel: Die deutsche Wirtschaftspolitik
im Übergang zum Nazifaschismus. Analysen 1932–1948 und ergänzende Texte erschienen
(hrsg. von Carl Freytag und Oliver Schlaudt, Freiburg 2016).
36  Bruchstücke aus dieser Arbeit finden sich jetzt in Sohn-Rethel 2012, S.  155 ff., 222 ff.
37  Alfred Sohn-Rethel: Soziologische Theorie der Erkenntnis. Mit einem Vorwort von Jo-

chen Hörisch, Frankfurt am Main 1985, S.  155 f.


38  Ebd., S.  107, 41.
39  Ebd., S.  63, 130 ff.
40  Vgl. Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 8.6.1931, in: A/K, S.   284.
Anlaß für diese Vermutung dürfte der Umstand gewesen sein, daß Sohn-Rethel im März 1929
eigens zu den Davoser Hochschultagen gefahren war, um sich die Kontroverse zwischen Cas-
sirer und Heidegger anzuhören. Vgl. Axel T. Paul: Sohn-Rethel auf dem Zauberberg. Über
phantastische Ideen, intellektuelle Isolation und den Abstieg der Philosophie zur Wissen-
schaft, in: Ulrich Bröckling, Axel T. Paul und Stefan Kaufmann (Hrsg.): Vernunft – Entwick-
lung – Leben: Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München
2004, S.  73–96.
41  Vgl. das nichtpaginierte Proömium zu Heidegger 1977.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 229

Weg verstellt war, das »Sein des Menschen […] aus den überdies erst wieder
noch zu bestimmenden Seinsarten von Leib, Seele, Geist summativ« zu errech-
nen. 42 Genau das aber war es, was Sohn-Rethel versuchte. Für ihn gab es das
Sein in der doppelten Gestalt der »Seinswirklichkeit der Produktion« und der
»Einheit des Seins« als dem »pure[n] Identitätsmodus« der Dinge, von denen
das eine so vorhanden war wie das andere. Mochte die erstere im Kapitalismus
auch nur im Modus der Abhängigkeit existieren, so übte sie doch in Gestalt des
Mehrwerts und der Krisen die »außertheoretische Kritik […] an unserer Da-
seinswelt« aus, welche letztere keinen ›ontologischen Grundcharakter‹ besaß,
sondern »im Widerspruch zur Wirklichkeit des Seins der Dinge« stand. 43 Das
wirkliche Sein war für Sohn-Rethel, in diametralem Gegensatz zu Heidegger,
das »praktische Sein«, die Praxis des Produzierens. Nicht weniger unvereinbar
mit Heidegger war die Vorstellung, das Dasein sei ein Effekt der »Beziehung, in
der durch das Ausbeutungsverhältnis der aneignende Teil seine Subsistenz auf
das praktische Sein des ausgebeuteten gründet.«44
Ein Heidegger-Marxismus, wie ihn Marcuse in den späten 20er Jahren zu
entwickeln versuchte, war dies offenkundig nicht. Aber war es denn wenigstens
Marxismus? Auch daran kann man zweifeln, jedenfalls dann, wenn man darun-
ter jene materialistische Geschichtsauffassung versteht, als deren Kern der späte
Engels die Lehre verkündet hatte, wonach »das in letzter Instanz bestimmende
Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen
Lebens« sei. 45 Das sah Sohn-Rethel durchaus nicht so. Für ihn war die Produk-
tion nur solange das bestimmende Moment, wie sie im Rahmen eines autarken
›naturwüchsigen Gemeinwesens‹ stattfand. Sobald ein solches ein anderes un-
terwarf, »um seine Existenz auf die Arbeitsüberschüsse des unterworfenen zu
gründen«, entstand das »primäre gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis«,
dem sich weitere ›naturale Ausbeutungsverhältnisse‹ anschlossen, vom altägyp-
tischen Staat über die antike griechische Polis bis zur mittelalterlichen Grund-
herrschaft. 46 Damit wurde ein von der Produktion verschiedenes, aber ebenfalls
»natürliches« Verhältnis – die Herrschaft eines Gemeinwesens über ein anderes
– zur Grundlage weiterer, wie immer auch »reflektierter« Naturverhältnisse,
gehorchte doch die »Naturalausbeutung« dem gleichen Prinzip, »nach dem
auch schon etwa der Mensch aus dem Tiere, das Tier aus der Pflanze, die orga-
nische aus der anorganischen Natur, ja die Materie selbst sich als natürliche En-
tität ergeben haben.«47 Und es wurde zugleich zur Grundlage einer Selbstüber-
schreitung der Natur, indem es den ursprünglichen Zusammenhang der Men-

42  Ebd., S.  71, 58, 65.


43  Sohn-Rethel, Soziologische Theorie der Erkenntnis, S.  109 ff.
44  Ebd., S.  121.
45  Friedrich Engels an Joseph Bloch, Brief vom 21.9.1890, in: MEW Bd. 37, S.  463.
46  Sohn-Rethel, Soziologische Theorie der Erkenntnis, S.  45, 52, 56, 71.
47  Ebd., S.  66, 48.
230 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

schen in einen »Daseinszusammenhang« verwandelte48 , der nach der


Subjektseite durch die »leibliche Geschiedenheit der natürlichen Individuen«
bestimmt war, welche sich im menschlichen Selbstbewußtsein als »ausschließli-
che Ich-Bezogenheit des Daseins« darstellte49 , nach der Objektseite als ein En-
semble von Dingen im Status »identischer Daseinseinheit«, der dem »Aneig-
nungsmodus der Dinge in der Relation der Ausbeutung« entsprach.50
Bei solchen Prämissen wäre eigentlich die Schlußfolgerung zu erwarten, die
Welt bewege sich auf einen Zustand totaler Verdinglichung zu. Sohn-Rethel
wartete indes mit einer völlig anderen Wendung auf. Obwohl auch er mitunter,
einen späteren Ausdruck Adornos vorwegnehmend, von einem »Verblendungs-
zusammenhang« sprach51, machte er in dem von ihm geschilderten Prozeß doch
eine Art List der Natur aus, vermöge deren die Produktion die Bestimmungen
der ersten Natur abstreifte, um in ein neues, höheres Naturverhältnis einzutre-
ten, das nicht mehr den Bornierungen des Anfangs unterlag. In diesem Sinne ist
es zu verstehen, wenn Sohn-Rethel den »Auflösungsprozeß der Naturwüchsig-
keit« als eine Freisetzung der Produktion aus rein magischen Zusammenhängen
feierte, wodurch erst die Natur »eine Natur für ihn als Menschen« geworden
sei52 ; ist die Auskunft zu begreifen, die mathematische Naturwissenschaft sei
»die Wiederherstellung der wirklichen Natur in der Form des konträren Gegen-
teils«, nämlich als »theoretische Wiederherstellung der Natur als ›Erscheinung‹
statt ihrer wirklichen Wiederherstellung in der Praxis«53 ; ist endlich der Satz
gemeint, der Kapitalismus bringe »mit der funktionalen Vergesellschaftung der
Menschen auch ihre rationale Erkenntnis zur vollen Entwicklung«.54 Mochte
der Mensch auch »in der Auswirkung des Ausbeutungsverhältnisses einen von
dem natürlichen Sein verschiedenen ›menschlichen‹ Wesenscharakter« anneh-
men, so war eben dies doch die Voraussetzung für eine Wiedergewinnung die-
ses natürlichen Seins auf einer höheren Stufe. Denn eines galt nach Sohn-Rethel
unbedingt: »Das wirkliche Sein der Menschen ist immer und unter allen Um-
ständen allein ihr praktisch-materielles Sein als natürlicher Wesen in der Na-
tur.«55 Ausbeutung und Aneignung bezogen sich darauf nur in der Weise der
Negation, und dies auch noch so, daß sie diese Negation im Verlauf der Ent-
wicklung selbst negierten:
»Es ist dies ganz dieselbe Dialektik, die wir im Kapitalismus angesichts der Entwicklung
der Arbeit zur abstrakt menschlichen Arbeit angetroffen haben, in der bei aller Negati-

48  Ebd., S.  117.


49  Ebd., S.  39.
50  Ebd., S.  118 f.
51  Ebd., S.  200, 253.
52  Ebd., S.  79.
53  Ebd., S.  190.
54  Ebd., S.  205.
55  Ebd., S.  130.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 231

vität des Ausbeutungsverhältnisses dennoch die Arbeit oder das wirkliche menschliche
Verhältnis zur Natur zum ersten Male zur rein menschlichen Praxis wird. Der allgemei-
ne Grund dieser Wesensentwicklung des Menschen in seiner gesellschaftlichen Daseins-
verflechtung ist, daß die Entwicklung des Ausbeutungsverhältnisses, weil sie dialektisch
ist, in jedem Schritt der Verwirklichung der Ausbeutung ein Schritt zur Verwirklichung
ihrer Aufhebung ist!«56

Das klingt nun wiederum sehr nach Marxismus. Es fügt sich aber auch, und dies
womöglich in noch stärkerem Maße, in den Rahmen der Heidelberger Ge-
schichts- und Kulturphilosophie der 20er Jahre. Sohn-Rethel vermied es zwar
sorgfältig, Alfred Weber oder Karl Mannheim zu zitieren. Doch als er im 5.
Kapitel des Luzerner Exposés den Umriß einer »Geschichtsdialektik« skizzier-
te, griff er auf Alfred Webers Konzept der »Sphären« zurück, in denen sich das
»geschichtliche Sein der Menschen« vollziehen sollte. Auch wenn die Nomen-
klatur jetzt marxistisch war, deckte sich die Zahl der Sphären und ihr Inhalt
weitgehend mit den Vorgaben Alfred Webers. Die Sphäre der »Produktionsver-
hältnisse« entsprach dem »Gesellschaftsprozeß«, die Sphäre der »Produktiv-
kräfte« dem »Zivilisationsprozeß« und der »ideologische Überbau« der »Kul-
turbewegung«. Hob Weber am Gesellschaftsprozeß vor allem die »naturalen
menschlichen Trieb- und Willenskräfte« hervor, in denen sein Schüler Alexan-
der von Schelting die soziale Objektivation von Schopenhauers »Willen zum
Leben« erkannte: »Blutsverhältnisse, Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnis-
se«57, so erschienen diese bei Sohn-Rethel etwas spezifischer, aber nicht prinzi-
piell davon unterschieden, als »Ausbeutungsverhältnisse«. Faßte Weber den
Zivilisationsprozeß als sukzessive Freilegung der wesentlichen Hilfsmittel der
Menschheit in ihrem Kampf ums Dasein, als allmähliche Entfaltung jenes gro-
ßen Reiches »des zweckmäßig und nützlich aufgehellten und zweckmäßig und
nützlich geformten Daseins«58 , so lauteten die entsprechenden Stichworte bei
Sohn-Rethel »Freilegung der Produktion«, »Funktionalisierung der Produkti-
on«, dergestalt, daß das »menschliche Subjektprinzip der Produzentenperson
[…] nun zum sachlichen Eigenprinzip der Produktion in ihrer Selbsttätigkeit als
funktionaler Prozeß« wird.59 Sieht man davon ab, daß die Herabstufung der
Kulturbewegung zum bloßen Überbau nicht mit der Zustimmung Alfred We-

56  Ebd., S.  160 f.


57  Alfred Weber, Prinzipielles zur Kultursoziologie, S.  150; Schelting, Zum Streit um die
Wissenssoziologie, S.  21 f.
58  Vgl. Alfred Weber, Prinzipielles zur Kultursoziologie, S.  169 f.
59  Sohn-Rethel, Soziologische Theorie der Erkenntnis, S.  182, 98 f. Vgl. auch ebd., S.  93:

»Was vor sich geht, ist einesteils die Auflösung der ›sachlichen Natur‹ oder der naturalen
Sachwelt, die als die ›Produktion selbst‹ durch die Auflösung der Naturwüchsigkeit freigelegt
und kraft der Aneignung durch den Produzenten entfaltet worden war, und andernteils die
Neubildung der Welt in der vollkommen veränderten Gestalt einer Welt von ›Dingen‹, näm-
lich als Resultat der Funktionalisierung der Produktion selbst und daher als funktionale
Dingwelt.«
232 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

bers rechnen konnte, so ist hinsichtlich alles übrigen die Kongruenz doch be-
merkenswert. Sohn-Rethel war also auch in Luzern noch immer in Heidelberg.

II.

Woher also dann die Begeisterung Adornos? Um diese zu verstehen, muß man
sich zunächst vor Augen halten, daß es nicht das Luzerner Exposé war, an dem
sie sich entzündete. Sohn-Rethel hatte zwar das Manuskript wie an Horkhei-
mer, Benjamin, Bloch und Lukács auch an Adorno geschickt, doch hatte dieser
es, wie alle anderen, nur flüchtig angesehen.60 In seinem Antwortschreiben sig-
nalisierte er zwar grundsätzliche Übereinstimmung im Hinblick auf die Ge-
schichtlichkeit der Warenform, das Vermittlungsproblem von Unterbau und
Überbau sowie die Überwindung der Antinomie von Genesis und Geltung,
beklagte sich aber auch über die außerordentliche Schwierigkeit des Manu-
skripts und kündigte an, daß von Horkheimer, aber auch von ihm selbst »gra-
vierende Bedenken« zu erwarten seien – Bedenken, die sich an dem Verdacht
entzündeten, hier werde die materialistische Dialektik zu einer prima philoso-
phia, womöglich einer Ontologie, gemacht. Immerhin sei er bereit, ein Gutach-
ten für das Institut für Sozialforschung anzufertigen, von dem sich Sohn-Re-
thel, dessen finanzielle Mittel erschöpft waren, Unterstützung erhoffte. Dazu
erbat er allerdings eine 10–12seitige Skizze des Gedankenganges, die ihm als
Leitfaden bei der Lektüre dienen könne.61
Sohn-Rethel kam dieser Aufforderung nach und schrieb Anfang November
den von ihm später so genannten »Nottinghamer Brief«.62 Durch Adornos
Vor-Urteile gewarnt, betonte er mehrfach, keine prima philosophia anzustre-
ben und schwächte entsprechend den Naturalismus des Luzerner Exposés ab.
Wohl hieß es auch jetzt noch, die ganze menschliche Geschichte sei »in letzter
Instanz bloße ›Natur‹«, ein »Stoffwechselprozeß, der von essentiellem prakti-
schem, materiellem Charakter« sei. Doch gelte die Aufmerksamkeit in seinem
Text vor allem jenem Abschnitt dieser Geschichte, der durch die Ausbeutung
geprägt sei, jenem Herrschaftsverhältnis, bei dem sich »das Leben der herr-
schenden Schicht auf kein eignes Verhältnis zur Natur gründet, sondern auf das
Verhältnis zu anderen Menschen und zu deren praktisch-produktivem Verhält-
nis zur Natur.« Daß auch dieses indirekte Verhältnis zur Natur aufgrund seines
gewaltförmigen Charakters noch ein Naturverhältnis sein sollte, sprach
Sohn-Rethel so nicht mehr aus und strich statt dessen die Folgen der Ausbeu-

60  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Max Horkheimer, Brief vom 14.10.1936, in: HGS Bd. 15,

S.  679 ff.
61  Vgl. Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 3.11.1936, in: A/SR, S.  9 ff.
62  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 4./12.11.1936, in: A/SR,

S.  13 ff. Alle folgenden Zitate hieraus.


Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 233

tungsrelation heraus, die in der ›Verdinglichung‹ des menschlichen Produkts


bestünden, seinem Statuswechsel in die »Ordnung des ›Daseins‹ und des Iden-
titätsmodus der Dinge«, welche fortan nur noch durch die »Warenform« mitei-
nander vermittelbar seien. Aus der daraus entstehenden »Daseinsverflechtung«
ergebe sich, wenn auch nur in einem langen geschichtlichen Prozeß, die »funk-
tionale Vergesellschaftung«, die scharf »von aller Art naturwüchsiger mensch-
licher Gemeinwesen« zu unterscheiden sei. Dieser Vergesellschaftungsmodus
sei zugleich für die Entstehung der »rationalen Erkenntnis« verantwortlich, sei
doch wahrscheinlich, daß die »Entstehung der Subjektivität […] das unabtrenn-
bare Korrelat zur Ausbildung der Geldform des Wertes« sei.
Bei Adorno fielen diese Statements auf fruchtbaren Boden. Seit seiner Über-
siedlung nach Oxford im Herbst 1934 arbeitete er an einer Kritik der Husserl-
schen Phänomenologie, die dieser gegenüber die subjektive und objektive Be-
dingtheit des Denkens geltend machte.63 Wie weit er damit zum Zeitpunkt der
neuerlichen Begegnung mit Sohn-Rethel im Oktober 1936 bereits war, läßt sich
ohne größeren philologischen Aufwand nicht beurteilen, da die 1956 veröffent-
lichte Metakritik der Erkenntnistheorie nur erheblich überarbeitete Teile der
Oxforder Rohfassung enthält und selbst das im Adorno-Archiv aufbewahrte,
440 Seiten umfassende Typoskript auch nicht mehr die Originalfassung ist, viel-
mehr von Adorno in den 50er Jahren überarbeitet wurde.64 Immerhin geht aus
den Korrespondenzen hervor, daß Adorno im Begriff stand, den bis dahin do-
minierenden Einfluß von Benjamin abzuschütteln, der systematischen gesell-
schaftstheoretischen Überlegungen gleich in doppelter Hinsicht nicht förder-
lich war: sachlich aufgrund seiner Ausrichtung auf eine negative Theologie;
methodisch durch das »Programm einer philosophischen Deutung der chiffren-
haften Dingwelt« mittels Allegorien.65 Daß dabei neben einem »neuerliche[n]
und sehr fruchtbare[n] Studium Hegels«66 wohl auch die erneute Lektüre von
Geschichte und Klassenbewußtsein eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben
dürfte, zeigt etwa der gegenüber Brecht erhobene und damit mittelbar auch an
Benjamin adressierte Vorwurf, dem Gebrauchswert eine viel zu große Bedeu-
tung zuzumessen und zu übersehen, daß der Fetischcharakter der Ware »keine
Tatsache des Bewußtseins [sei] sondern dialektisch in dem eminenten Sinne,

63  Vgl. Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (1956), in: AGS Bd. 5,

S.  78.
64  Näher dazu Kramer und Wilcock 1999, S.  145.
65  Vgl. Müller-Doohm 2003, S.  195, 221, 227; Abromeit 2011, S.  350 ff. Grundlegend zum

Einfluß Benjamins Susan Buck-Morss: The Origin of Negative Dialectics, Hassox/Sussex


1977. Speziell zu den theologischen Motiven Richard Wolin: Walter Benjamin: An Aesthetic
of Redemption, Berkeley etc. 1994, S.  37. Auch einer seiner ältesten Freunde hat Benjamin
»ein oft rätselhaftes Nebeneinander der beiden Denkarten, der metaphysisch-theologischen
und der materialistischen« bescheinigt: Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte
einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S.  156.
66  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 6.9.1936, in: A/B, S.  194.
234 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

daß er Bewußtsein produziert.«67 Gegenüber Horkheimer, der gerade dabei


war, das Gemeinschaftsprojekt des Instituts über Autorität und Familie auf den
Weg zu bringen, machte er geltend, daß die »entscheidende Vermittlungskate-
gorie zwischen Gesellschaft und Psychologie nicht die Familie« sei, sondern der
»Warencharakter«.68 Ein weiterer Brief vom Dezember 1935 schließlich nahm
vieles von dem vorweg, was Adorno knapp ein Jahr später bei Sohn-Rethel zu
finden glaubte:
»Ich bin heute überzeugt, daß prinzipiell die gesamte Position der subjektiven Imma-
nenzphilosophie in Wahrheit Ausdruck eines Eigentumsbewußtseins ist, und glaube
auch allmählich die ›Vermittlung‹ zu sehen. Sie scheint mir durch Kategorien des Rechts
gestiftet. Denn ich kann kaum mehr daran zweifeln, daß unsere gesamte Logik, auch die
sogenannte ›formale‹ (die gerade übrigens die gesamte gesellschaftliche Problematik in
sich enthält), nach dem Modell von Rechtsnormen gebildet ist, die ihrerseits wieder der
Erhaltung von bestimmten Produktionsverhältnissen gelten.«69

Von hier aus läßt sich ermessen, warum Adorno auf den Nottinghamer Brief so
enthusiasmiert reagierte. In seiner eingangs zitierten Antwort attestierte er
Sohn-Rethels Konzeption »Größe und Gewalt« und sprach von der »Tiefe einer
Übereinstimmung, die unvergleichlich viel weiter geht als Sie ahnen konnten
und auch als ich selber ahnte.« Festgemacht wurde diese Übereinstimmung am
»Begriff der falschen Synthesis«, wie auch er, Adorno, ihn in der Jazzarbeit ent-
wickelt habe; an der »kritisch-immanenten Überführung (= dialektischen Iden-
tifikation) des Idealismus in dialektischen Materialismus«; an der »Erkenntnis,
daß nicht Wahrheit in Geschichte sondern Geschichte in der Wahrheit enthalten
ist«; und am »Versuch einer Urgeschichte der Logik«. Das sei soviel, daß man
nunmehr hoffen könne, in gemeinsamer Anstrengung »den Idealismus zu
sprengen: nicht durch die ›abstrakte‹ Antithesis von Praxis (wie noch Marx)
sondern aus der eigenen Antinomik des Idealismus.«70
Als Sohn-Rethel viele Jahre später den Nachlaßverwaltern Adornos diesen
Brief zeigte, wurde ihm beschieden, er stehe »außer allem Zusammenhang mit
dem übrigen Schrifttum Adornos«.71 Diese Behauptung ist durch die Veröffent-
lichung des Briefwechsels zwischen Adorno und Horkheimer widerlegt wor-
den. Nach einem Gespräch mit Sohn-Rethel, das am 22.11.1936 in Oxford statt-
fand, zeigte sich Adorno von dessen Vorhaben »aufs stärkste beeindruckt«. Er
sei sich wohl bewußt, »daß die Art, in der das Exposé sich gibt, selbst für uns
den Zugang denkbar schwer macht und zunächst jeden Verdacht rechtfertigt, es
handle sich um eine Heidelbergische oder Freiburgische ›Verflachung durch

67  Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Briefe vom 6.11.1934 und 2.–4.8.1935, in: A/B,

S.  139; vgl. ebd., S.  73.


68  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 8.6.1935, in: A/H Bd. 1, S.  73.
69  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 6.12.1935, in: A/H Bd. 1, S.  101.
70  Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Karte vom 17.11.1936, in: A/SR, S.  32.
71  Alfred Sohn-Rethel an den Verf., Brief vom 27.10.1985 (Privatbesitz).
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 235

Tiefe‹ des Marxismus.« Dieser Eindruck trüge jedoch. Man habe es vielmehr
mit einer hochbedeutenden – »ich wage zu sagen: eine[r] genialische[n] Intenti-
on« – zu tun, die mit seinem, Adornos, eigenem Anliegen identisch sei: »den
Idealismus von innen, auf Grund seiner eigenen Voraussetzung, zu sprengen.
Die Methoden und Ausgangsbereiche sind völlig verschieden, die Resultate aber
von einer Übereinstimmung, die mich, und ich glaube auch ihn, in die äußerste
Erregung versetzt hat, in die mich heute theoretische Fragen noch versetzen
können. Seine These ist, schlicht gesagt, die: daß der ›Sinn‹ der Synthesis im
Kantischen Sinn (als des idealistischen Zentralbegriffs) selber ein gesellschaftli-
cher und auf den Tatbestand der Ausbeutung reduktibler ist […] Oder, anders
ausgedrückt: die Kantische Deduktion der Kategorien aus der Warenform und
ihrer Dialektik abzuleiten.« Um seinem Plädoyer noch größeren Nachdruck zu
verleihen, fügte Adorno hinzu, er werde im Fall einer unausweichlichen Wahl
zwischen Kracauer und Sohn-Rethel trotz seiner Freundschaft mit dem erste-
ren aus sachlichen Gründen für den letzteren optieren.72
Adornos Begeisterung, mit der er auch anderen gegenüber nicht hinter dem
Berge hielt73 , stieß bei Horkheimer auf wenig Verständnis. Er und Marcuse,
heißt es in einem langen Brief an Adorno vom 8. Dezember 1936, hätten in
Sohn-Rethels Text nichts finden können, was man nicht schon seit langem wis-
se. Sohn-Rethels Ausführungen bestünden in großsprecherischen Postulaten
und Versicherungen, vorgetragen in einer akademisch eitlen und bombastischen
Sprache. Wenngleich eine große Denkkraft nicht zu verkennen sei, stehe diese
doch zur Geschichte »nicht viel anders […] als irgendein Jaspers oder sonst ein
Professor«. Mit der Wertformdialektik stehe der Autor »auf dem Kriegsfuss«,
aus ihrem ökonomischen Gehalt würden keine Konsequenzen gezogen, und
was sich sonst noch an verquasten Formulierungen finde, sei nicht mehr als
»eine unverdaute Erinnerung an das Phänomen der Verdinglichung, die
Sohn-Rethel aus der Lektüre von Lukács geblieben ist.« »Den Begriff der Aus-
beutung alles aggressiven Inhalts völlig zu entkleiden, und zum blossen Platz-
halter für irgendeinen beliebigen anderen Beziehungsbegriff zu machen, hat
nicht einmal Mannheim fertiggebracht.« Adorno, schrieb Horkheimer ab-
schließend, möge Sohn-Rethel immerhin vorschlagen, eine kurze und klare Zu-
sammenfassung anzufertigen, die man eventuell drucken könnte – jedoch:
»wenn der Aufsatz nicht ganz andere Qualitäten zeigt als der Entwurf, werde
ich ernstlich versuchen, Sie von dem Gedanken an eine Zusammenarbeit mit
Sohn-Rethel abzubringen«.74 Als Adorno erneut die Fruchtbarkeit des Gedan-

72 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.11.1936, in: A/H Bd. 1,

S.  225 ff.
73  Vgl. Theodor W. Adorno an Leo Löwenthal, Brief vom 19.11.1936, in: A/H Bd. 1, S.  523;

Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 28.11.1936, in: A/B, S.  213.
74  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 8.12.1936, in: A/H Bd. 1, S.  248 ff.
236 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

kens hervorhob, die Logik auf die Ausbeutung zurückzuführen75, erwiderte


Horkheimer, er halte Sohn-Rethel für diese Aufgabe denkbar ungeeignet, weil
er den Begriff der Ausbeutung rein formal verwende und sein Thema in einem
»beflissen akademischen und metaphysischen Stil« angehe. Weiter hieß es:
»Nach allem, was ich bisher von ihm gelesen habe, steht dieser Sohn-Rethel ganz und gar
nicht in wirklichem Gegensatz zu dem, was wir hassen. Es scheint nur eine Spannung zu
bestehen, weil es heute bereits neurotisch geworden ist, so zu schreiben, wie ein Habili-
tant des Simmelschen Seminars, der den Meister an Radikalität des Denkens überbieten
möchte. Der Umstand, dass dies bei Sohn-Rethel zwangsmässig geworden ist, und ihn
praktisch in Schwierigkeiten bringt, hebt doch die ausschliessliche Zugehörigkeit dieses
Philosophierens zur akademischen Karriere nicht auf.«76

Da Adorno indes nicht locker ließ und den gegen Sohn-Rethel gerichteten Vor-
wurf des Karrierismus zurückwies77, erklärte sich Horkheimer zu einer einma-
ligen Beihilfe von 1000 Fr. Francs bereit, die es Sohn-Rethel ermöglichen sollte,
das Luzerner Manuskript und den Nottinghamer Brief zu einem Aufsatz von
10–12 Seiten zu verdichten. Sohn-Rethel machte sich daraufhin an die Arbeit,
geriet aber sehr rasch wieder in die Breite und vermochte deshalb das napoleo-
nische Tempo nicht zu halten, das Adorno wie von sich selbst auch von anderen
erwartete. Die Sache zog sich weiter hin, weil auf Adornos Wunsch auch Benja-
min eingeschaltet wurde, mit dem Sohn-Rethel in Paris in mehreren Gesprä-
chen die Hauptlinien seines Textes absteckte.78 Über den Fortgang der Arbeit
unterrichtete Benjamin Adorno Mitte März in einem Brief, in dem er bekannte,
nunmehr einen deutlicheren Einblick in die »besondere Tragweite« von
Sohn-Rethels Untersuchungen bekommen zu haben, der seine, Adornos, »opti-
mistische Erwartung« bestätige. Zwar könne er nicht verhehlen, daß ihm »die
theoretische Ableitung ›der‹ ratio und ›der‹ Logik« problematisch erscheine,
doch sei die zugrundeliegende Intention richtig. Zuversicht in die Aufnahme
der Arbeit hege er allerdings nur, wenn sie von »lebendiger Fürsprache« beglei-
tet werde, wobei er neben Adorno auch an sich selbst dachte.79 Um den 20. März

75 Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.12.1936, in: A/H Bd. 1,

S.  263.
76  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 11.1.1937, in: A/H Bd. 1, S.  268 f.

Mit sich selbst war Horkheimer freilich nie so streng ins Gericht gegangen. Seine eigenen
Qualifikationsarbeiten über Kants Kritik der Urteilskraft waren wesentlich akademischer als
Sohn-Rethels Exposés.
77  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 25.1.1937, in: A/H Bd. 1, S.  278.

Die Schwierigkeit sei in diesem Fall weniger eine des akademischen Konformismus als viel-
mehr eine solche psychologischer Art. »S.-R. ist ein durchaus monomanisch angelegter, sehr
isolierter Mensch. […] Es würde, so scheint mir, viel weniger darauf ankommen, ihn aus aka-
demisch-idealistischen Verstrickungen als aus dem Monologue intérieur zu befreien. Der
Spuk verschwände dann von selbst.«
78  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 24.1.1937, in: A/SR, S.  35.
79  Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, Brief vom 16.3.1937, in: A/B, S.  224 f. In einem

einige Tage später abgefaßten Brief an Horkheimer kam Benjamin dieser selbstgesetzten Auf-
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 237

kam auch Adorno nach Paris und sprach die bis dahin vorliegenden Entwürfe
mit Sohn-Rethel eingehend durch. Dieser kam seinen Vorschlägen so weitge-
hend entgegen, daß Adorno höchst angetan nach New York berichtete:
»Sohn-Rethel: er strengt sich wirklich ganz außerordentlich an, der Dinge Herr zu wer-
den, die ihm aus Ihren, Benjamins und meinen Einwänden deutlich geworden sind. Es
gibt jetzt ein neues, 50 Seiten langes Exposé, das er eben nochmals durchredigiert, das
gegenüber dem alten unleugbar einen großen Fortschritt bedeutet und nicht bloß seine
Begabung, sondern auch seine Gutwilligkeit unter Beweis stellt. Daß es immer noch
voller Schlacken und nichts weniger als ein durchsichtiger Begründungszusammenhang
ist, weiß ich nur zu genau. Ich glaube aber, daß der wirklich großartige Versuch, den
Primat des transzendentalen Idealismus zugleich zu begründen und aufzuheben, es
rechtfertigt, daß er diesem Teufel mehr als nur den kleinen Finger reicht und einen sehr
erheblichen Einsatz macht.«80

Sohn-Rethel benötigte danach allerdings noch einmal vier Wochen, bis endlich
ein vorzeigbarer Text vorlag, das sogenannte »Pariser Exposé«.81 Wie er Adorno
berichtete, hatte er den Text gegenüber dem Entwurf, den er mit ihm bespro-
chen hatte, noch einmal stark bearbeitet und insbesondere die letzten drei Ab-
schnitte geändert.82 Flankiert von einem längeren Brief, der zur Sicherheit noch
einmal die Kernthesen des Aufsatzes zusammenfaßte und speziell den »marxis-
tischen Charakter der Untersuchung« hervorhob, ging das Exposé über den At-
lantik.83 Dort trafen in den nächsten Wochen auch mehrere Briefe Adornos ein,
in denen dieser erneut die »geniale[n] Intuition« des Unternehmens betonte, das
ihn »so sympathisch« anmute.84
Vergleicht man das Pariser Exposé mit dem Luzerner, so fällt neben dem we-
sentlich geringeren Umfang vor allem die strikte Konzentration auf ein Thema
auf. Rührten die Verständnisschwierigkeiten, die das Luzerner Manuskript auf-
warf, noch zu einem erheblichen Teil daher, daß die angestrebte »Soziologische
Theorie der Erkenntnis« mit der aus dem Heidelberger Diskussionszusammen-

gabe nach. Bei allen Reserven, die er nach wie vor formulierte, gleichwohl nicht so sehr mit der
Sache als mit seiner eigenen Urteilskompetenz begründete, erklärte er das Ziel für bedeu-
tungsvoll und einer Anstrengung wert, die »vielleicht nur mit vereinten Kräften« zu bewälti-
gen sei. Und er ging noch einen Schritt weiter, indem er, wohl von Adorno über die zu erwar-
tenden Widerstände informiert, die wichtigsten Thesen des Manuskripts zusammenfaßte:
»die Ableitung des Warentauschs aus der Ausbeutung und die Ableitung des rein theoreti-
schen Denkens aus der Warenwirtschaft« bzw. aus der Geldwirtschaft: Walter Benjamin an
Max Horkheimer, Brief vom 28.3.1937, Auszug in HGS Bd. 16, S.  103 f.
80  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 23.3.1937, in: A/H Bd. 1, S.  327.
81  Das Pariser Exposé von 1937 ist erstmals 1971 unter dem Titel »Zur kritischen Liquidie-

rung des Apriorismus« erschienen, in: Sohn-Rethel: Warenform und Denkform, Frankfurt
am Main, S.  27–85. Es ist nicht zu verwechseln mit dem gleich zu erwähnenden längeren Ma-
nuskript ähnlichen Titels, dessen ersten Teil Sohn-Rethel 1938 nach New York schickte.
82  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 29.4.1937, in: A/SR, S.  47.
83 Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Max Horkheimer, Brief vom 27.4.1937, in: HGS Bd. 16,

S.  129 ff.
84  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 12.5.1937, in: A/H Bd. 1, S.  357.
238 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

hang stammenden Frage »wie überhaupt Gesellschaft möglich sei«, verquickt


war85, so steuerte der neue Text sogleich »die Aufgabe einer materialistischen
Erklärung des rationalen Denkens« an und präsentierte sie als »Gegenuntersu-
chung zum systematischen Gebäude der Transzendentalphilosophie«.86 Zwei
weitere eröffnende Bemerkungen machten klar, daß diese Untersuchung theore-
tischer und nicht empirischer Natur sein sollte (was im Luzerner Manuskript
zum Schaden der Klarheit nicht auseinandergehalten wurde), und daß beabsich-
tigt sei, sie im Wege einer »Anwendung des Marxschen Begriffs des Fetischismus
auf die Logik und Erkenntnistheorie« durchzuführen, wie dies schon Georg
Lukács vorgeschlagen habe.87 Als leitende Hypothese formulierte Sohn-Rethel,
ebenfalls ganz auf der Linie von Lukács, die Vermutung, »daß die Bewußtseins-
formen, die wir im rationalen Sinne die Formen der ›Erkenntnis‹ nennen, aus der
im Warentausch vorliegenden Verdinglichung entsprungen sind.«88
Nach dieser klaren Exposition, die deutlich die Handschrift Adornos erken-
nen ließ, büßte der Gedankengang jedoch sogleich wieder an Stringenz ein, weil
Sohn-Rethel sich mit Entschiedenheit von Lukács’ Lösung absetzte, wonach die
Verdinglichung ein »Schein« sei, der durch die Widersprüche in der gesell-
schaftlichen Produktion und Reproduktion des Lebens hervorgetrieben wer-
de.89 Für ihn stand vielmehr fest: »Die Verdinglichung« – und mit ihr all das,
was nach Alfred Weber dem Zivilisationsprozeß zuzurechnen war – »ist Aus-
fluß der Ausbeutung«.90 »Der Formalismus des idealistischen Denkens«, hieß es
in kategorischem Ton, »ist bedingt durch die Entfremdung, die die Ausbeutung
in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bewirkt. Die Verdingli-
chung ist in dem Sinn eine bloße Formbestimmtheit, als sie der Formalisierung
der Ausbeutung dient.«91 Wenn ihm später von seinen Kritikern vorgehalten
wurde, von der Zirkulation anstatt von der Produktion auszugehen, so ist dies
unzutreffend. Denn die Sphäre des Tausches und der Verdinglichung war nach
Sohn-Rethel nichts weiter als ein »Verdeckungszusammenhang«, hinter dem
sich ein durch Herrschaft bewirkter »Bruch in der Praxis« verbarg:
»Die Praxis der Aneignung in dieser Relation nun sehe ich für den wirklichen geschicht-
lichen Ursprung der Ordnung des ›Daseins‹ und des Identitätsmodus der Dinge (primär
der Aneignungsobjekte) an. Der Identitätsmodus des Daseienden, alias die ›Einheit des

85  Vgl. Alfred Sohn-Rethel: Grundlegung der theoretischen Oekonomie als strenger Wis-

senschaft durch die Beantwortung der Frage, wie überhaupt Gesellschaft möglich sei (1927),
in ders. 2012, S.  155–190.
86  Sohn-Rethel, Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus, im folgenden zitiert nach

der Neuausgabe von 1978, S.  27 f.


87  Ebd., S.  31.
88  Ebd., S.  37.
89  Ebd., S.  31. Vgl. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), in ders. 1968,

S.  267.
90  Sohn-Rethel, Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus, S.  31.
91  Ebd., S.  28.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 239

Seins‹, ist also ab origine Einheit in der Ausbeutungsrelation und für diese konstitutiv;
denn der Aneignungsakt der Ausbeutung abstrahiert das Produkt vom Produzenten,
›verdinglicht‹ das menschliche Produkt, neutralisiert es zum Ding, fixiert es als fertig
gewordenes, dem Produzenten aus der Hand genommenes Dasein«.92

Der Warentausch, so behauptete Sohn-Rethel, sei in einem entwickelten (also


nicht mehr nur primitiven) Sinne eine Folge der »Zerstörung der naturwüchsi-
gen Identität der Produzenten und Konsumenten« in den auf Verwandtschaft
beruhenden naturwüchsigen Gemeinwesen. Es sei dem Aufkommen der Klas-
senherrschaft zuzuschreiben, »daß der lebensnotwendige Zusammenhang von
Produktion und Konsumtion« zerrissen sei und deshalb auf dem Umweg über
den Warentausch hergestellt werden müsse, woraus notwendig folge, daß der
Warentausch nur »als Frucht primärer Ausbeutungsverhältnisse« zu verstehen
sei.93 Und nicht nur der Warentausch. Auch die Zwiespältigkeit der Ware als
Gebrauchswert und Wert, der Doppelcharakter der in den Waren dargestellten
Arbeit, ja das »Postulat« der Äquivalenz sollten »demgemäß ihren Ursprung in
der Ausbeutung, nicht im Tausch an und für sich« haben.94 Stand dies einmal
fest, war es nur konsequent, auch die funktionale Vergesellschaftung aus dieser
Konstellation entspringen zu lassen. Funktion sei genetisch nichts anderes als
»das Funktionieren der Ausbeutung«, die sich nur nicht als solche darstelle,
sondern »als ein Verhältnis zwischen Dingen und Dingvorgängen. Das Funkti-
onsverhältnis ist die Verdinglichungsform oder die Formalisierung des physi-
schen Zwangs, den der Ausbeuter auf den Ausgebeuteten ausübt, damit er für
ihn arbeitet.«95
Was hier von Sohn-Rethel als historisch-materialistische Erkenntniskritik
präsentiert wurde, war indes weder historisch noch materialistisch. Es war
nicht materialistisch, weil Sohn-Rethel nicht dem von Marx und Lukács gewie-
senen Weg folgte, wonach die Verdinglichung und die für sie konstitutive Wa-
renform auf jenen Zustand der gesellschaftlichen Arbeit zurückzuführen sei,
der bei Marx als »Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen« charakteri-
siert ist: als ein Zustand, in dem die Arbeit nicht mehr unmittelbar gesellschaft-
lich ist, sondern nur mehr mittelbar, auf dem Umweg über den Markt.96 Anstatt
darzulegen, wie dieser Selbstwiderspruch der Produktion ein System von Ver-
mittlungen generiert, das zumindest bis zur Geldform logisch (und z.T. auch
empirisch-historisch) nichts weiter voraussetzt als unabhängig voneinander
produzierende, nicht notwendig zueinander in Herrschaftsbeziehungen stehen-
de Warenproduzenten, hielt sich Sohn-Rethel allein an das Faktum der Ausbeu-
tung, das gewiß für die kapitalistische Ordnung zentral, selbst in ihr aber nicht

92  Alfred Sohn Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 4.11.–12.11.1936, in: A/SR, S.  18.
93  Sohn-Rethel, Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus, S.  55, 59.
94  Ebd., S.  59, 70.
95  Ebd., S.  79.
96  Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S.  6.
240 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

ausschließlich bestimmend ist, ist hier doch nicht bloß mit den Klassen der Ka-
pitalbesitzer und der Lohnarbeiter zu rechnen, sondern immer auch mit selb-
ständigen Privatproduzenten, so daß der Verdeckungszusammenhang eher auf
Prozesse der Arbeitsteilung und der sozialen Differenzierung bezogen werden
muß als auf »Ausbeutung«; wie im übrigen auch »Verdinglichung« nicht aus
einem Aneignungsakt entspringt, sondern aus der Objektivierung jenes »eigen-
tümlichen gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, welche Waren produziert«
und sich nur unter Bezugnahme auf die in ihnen enthaltene abstrakte menschli-
che Arbeitszeit austauscht.97
Nicht historisch ist Sohn-Rethels Lösung, weil sie nicht hinreichend scharf
den Hiatus herausarbeitet, der zwischen jenen Epochen besteht, in denen das
Geld den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur nur punktuell und in-
termittierend vermittelt und jenen, in denen dies umfassend und kontinuierlich
geschieht – ein Hiatus, welcher zugleich die antiken und mittelalterlichen For-
men eines erfahrungsgebundenen Wissens von solchen Wissensformationen
trennt, die im Gefolge der wissenschaftlich-technischen Revolution des 17.
Jahrhunderts Empirie nur mehr als bloße Erscheinung innerhalb eines vorgän-
gigen »mathematischen Entwurfs« (Heidegger) kennen.98 Sohn-Rethels Nei-
gung, von diesem Hiatus abzusehen und die neuzeitlich-experimentelle Wis-
senschaft bereits in der antiken Naturphilosophie entspringen zu lassen, weil
hier erstmals das Geld die gesellschaftliche Synthesis vermittelt habe, gehört
denn auch nicht zufällig zu denjenigen Aspekten seines Denkens, die den
schärfsten Widerspruch gefunden haben.99 Es mag eine müßige und angesichts
der politischen Realitäten weltfremde Gedankenspielerei sein, aber wenn
Sohn-Rethel Heidegger nicht 1929 in Davos, sondern im Wintersemester
1935/36 in Freiburg begegnet wäre, hätte ihm dies einen langen Irrweg ersparen
können, gelang Heidegger doch in seiner Vorlesung über »Grundfragen der Me-
taphysik« eine prägnante Bestimmung der Differenz zwischen dem antiken und
dem modernen Verständnis von Bewegung, deren Sachhaltigkeit auch durch die

97  Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S.  87.


98  Diese doppelte Differenz ist klar herausgearbeitet bei Oetzel 1978, S.  23 ff. Vgl. auch
Christine Woesler: Für eine be-greifende Praxis in der Natur. Geldförmige Naturerkenntnis
und kybernetische Natur. Mit einem Vorwort von Alfred Sohn-Rethel, Gießen 1978, S.  231 ff.
Zur erneuten Begründung und Vertiefung des Arguments jetzt Eske Bockelmann: Geld als
gesellschaftliche Synthesis und Denkform. Kritik und Auflösung von Sohn-Rethels Rätsel,
in: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft, 2015 bei www.kritiknetz.
de, Hrsg. Heinz Gess.
99  Vgl. Othmar Franz Fett: Der undenkbare Dritte. Vorsokratische Anfänge des euroge-

nen Naturverhältnisses, Tübingen 2000, S.  282 ff., 412 ff.; Tobias Reichardt: Recht und Ratio-
nalität im frühen Griechenland, Würzburg 2003, S.  203 ff.; Helmut Heit: Der Ursprungsmy-
thos der Vernunft. Zur Genealogie der griechischen Philosophie als Abgrenzung vom My-
thos, Hannover 2006, S.  145 ff.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 241

inzwischen zutage gekommenen antisemitischen Sekundärmotivationen seines


Denkens nicht entwertet wird.100
Angesichts dieser Schwächen ist nachvollziehbar, weshalb Horkheimer mit
Unverständnis und Ablehnung reagierte. Was ihn gegen Sohn-Rethel einneh-
me, so teilte er Adorno mit, sei die Tatsache, daß dieser »seine Thesen stets als
Problemstellungen für künftige Untersuchungen vorträgt und dadurch den An-
schein erweckt, als werde alles, was er sagt, einmal auch wissenschaftlich ge-
stützt, und es handle sich vorläufig nur um Hypothesen.« Daß Sohn-Rethel
bisher jedoch nur ein Exposé nach dem anderen vorgelegt habe, anstatt auch nur
eine dieser Hypothesen zu beweisen, spreche gegen ihn. Ihn in das Institut auf-
zunehmen, würde bedeuten, sich auf ein work in progress einzulassen, das sich
auf eine unabsehbare Reihe von Jahren ausdehnen würde. »Es scheint mir auch,
dass man diese Schwierigkeiten bei S.-R. nicht etwa einfach ausmerzen kann,
sondern dass sie aus einer tiefen inneren Unklarheit stammen, die sich auch mit
der Zeit nicht geben wird.«101 Da die Person in seinen Augen immerhin die
»grösste Achtung« verdiente, sagte Horkheimer eine finanzielle Beteiligung des
Instituts an dem Stipendium zu, um das sich Sohn-Rethel auf Anraten Adornos
beim britischen Academic Assistance Council beworben hatte.
Für Sohn-Rethel war diese Entscheidung ein Schock, hatte er doch im Ver-
trauen auf Adorno und Benjamin ganz darauf gesetzt, sich als Institutsmitarbei-
ter in spe wissenschaftlicher Arbeit widmen und davon leben zu können. Der
Schock war um so größer, als ihm die Gründe für die Ablehnung nicht greifbar
wurden, schon gar nicht die definitive Form der Entscheidung, »die diskussi-
onslose Ablehnung von jenseits des Ozeans her, wo doch über die Intention
meiner Arbeit weder zwischen Ihnen und mir noch zwischen Ihnen und Hork-
heimer leicht solche Mißverständnisse angenommen werden können, daß sich
die Ablehnung grade auf sie beziehen ließe.« 102 Daß sich die Tore dauerhaft für
ihn verschlossen hatten, wollte er deshalb nicht wahrhaben. Durch das Stipen-
dium, das ihm Anfang Juli zugesprochen wurde, für ein Jahr wenigstens not-
dürftig gesichert103 , schrieb er im Dezember 1937 einen längeren Aufsatz über
das Verhältnis von Landwirtschaft und Industrie im faschistischen Deutsch-
land, den er zunächst Adorno zeigte und auf dessen Rat hin auch an Horkhei-
mer schickte, verbunden mit der Nachfrage, worauf sich eigentlich dessen Vor-
behalte gegen das Pariser Exposé gründeten.104 Zugleich teilte er mit, an einem

100  Veröffentlicht unter dem Titel: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den

transzendentalen Grundsätzen, hrsg. von Petra Jaeger. Martin Heidegger Gesamtausgabe,


Bd. II/41, Frankfurt am Main 1984.
101  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 24.5.1937, in: A/H Bd. 1, S.  370 f.
102  Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 22.5.1937, in: A/SR, S.  61.
103  Vgl. die Hinweise des Herausgebers zu Sohn-Rethels Brief an Adorno vom 9.7.1937, in:

A/SR, S.  67 f.
104  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Max Horkheimer, Brief vom 27.2.1938, in: HGS Bd. 16,

S.  396 ff.
242 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

neuen Werk über den gleichen Gegenstand zu arbeiten, von dem er hoffe, dem-
nächst größere Teile nach New York senden zu können.105
Horkheimer antwortete diesmal persönlich und in ungewöhnlich freundli-
chem Ton, wohl weil er Adorno inzwischen dauerhaft dem Einfluß Sohn-Re-
thels entzogen wußte.106 Seine Einwände hätten sich damals auf die »mangelnde
Vermittlung zwischen den ökonomischen Lehren, wie sie im Bewußtsein der
gründlichen Kenner existieren, und Ihren philosophischen Interpretationen«
bezogen. Wenn Sohn-Rethel jetzt diese Zusammenhänge ›beweiskräftig‹ ausar-
beite, anstatt nur in Analogien, würden die meisten dieser Bedenken wohl hin-
fällig werden. Die Darlegungen zur deutschen Entwicklung hätten ihn sogar
außerordentlich interessiert und seine Zustimmung gefunden.107 Sohn-Rethel
fühlte sich davon so ermutigt, daß er im Juli 1938 die beiden ersten Kapitel sei-
nes neuen Werkes nach New York schickte.108 Diesmal erhielt er nur eine nichts-
sagende Eingangsbestätigung, und auch erst nach Monaten und nur von Ador-
no109 , der Sohn-Rethel inzwischen als hoffnungslosen Arbeitsscheuen bezeich-
nete und von ihm nur noch als »So’n-Rätsel« sprach. Immerhin muß er einen
Blick in das neue Manuskript geworfen haben, ließ er doch Benjamin wissen, er,
Adorno, sei darin als »Höllenfürst« dargestellt.110 Das gleiche Spiel wiederholte
sich zwei Jahre später, als die Zweitfassung der »Kritischen Liquidierung« über
den Atlantik ging.111 Und schließlich dasselbe noch einmal im April 1943: auch
die dritte, englische Version, die Sohn-Rethel nach seiner Entlassung aus dem
Internierungslager verfaßte, blieb ohne Echo.112 Im August 1944 schrieb
Sohn-Rethel noch einen weiteren, verzweifelten Brief, in dem er wenigstens um
einen Kommentar bat, doch verhallte diese Bitte in Kalifornien.113 Damals muß
ihm das Grand Hotel Abgrund eher wie Kafkas Schloß erschienen sein.

105  Vgl. ebd., S.  398. Es handelt sich um das unveröffentlicht gebliebene Manuskript »Kri-

tische Liquidierung des philosophischen Idealismus«.


106  Adorno war im Februar 1938 nach New York übergesiedelt: vgl. Müller-Doohm 2003,

S.  367.
107  Max Horkheimer an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 15.3.1938, in: HGS Bd. 16, S.  412.
108  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 8.7.1938, in: A/SR, S.  88.
109  Vgl. Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 1.11.1938, in: A/SR, S.  93 f.
110  Vgl. Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Briefe vom 27.11.1937, 1.2. und 10.8.1938,

in: A/B, S.  298, 307, 352.


111  Vgl. Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 17.7.1940, in: A/SR, S.  95.
112  Vgl. Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 9.5.1943, in: A/SR, S.  102;

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel, Brief vom 1.6.1943, in: A/
SR, S.  105.
113  Vgl. Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Briefe vom 20.8.1944, in: A/SR, S.  111.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 243

III.

Als ich mich vor Jahren erstmals mit der Kontroverse um Sohn-Rethel beschäf-
tigte, erschien sie mir als Bestätigung der zwischen Horkheimer und Adorno
ausgemachten Differenzen. Was Horkheimer an Sohn-Rethel wahrnahm, war
unverdauter Lukács und damit etwas, was er schon im Original nicht schätzte.
Adorno dagegen konnte sich durch Sohn-Rethel in seinen seit Mitte der 30er
Jahre einsetzenden Bemühungen bestärkt sehen, der Kritischen Theorie durch
einen Ausbau der von Lukács inaugurierten Fetischismus- und Verdingli-
chungskritik ein solideres Fundament zu verleihen.114
Auf der Basis der mittlerweile veröffentlichten Korrespondenzen stellt sich
die Sachlage heute anders dar. An Adornos Briefen fällt auf, daß er an keiner
Stelle die von Sohn-Rethel im Pariser Exposé so deutlich markierte Abwei-
chung von Lukács thematisierte: die Deduktionskette, die einen Kausalzusam-
menhang zwischen Naturwissenschaft, idealistischer Philosophie, Verdingli-
chung und Warenform postulierte und diesen wiederum aus der Ausbeutung
ableitete. Ein aufmerksamer Leser von Lukács wie von Marx hätte an diesem
Punkt sogleich einhaken und darauf hinweisen müssen, daß die Wertformana-
lyse sich nicht in dieser Weise auf Herrschaft reduzieren läßt, vielmehr der be-
griffliche Ausgangspunkt für die Analyse einer Entwicklung ist, die eine
welthistorisch neuartige Transformation eingeleitet hat: die wie immer auch
begrenzte Substitution der für die herkömmlichen »unmittelbaren Herrschafts-
und Knechtschaftsverhältnisse« typischen »außerökonomische[n], unmittelba-
re[n] Gewalt« durch den »stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnis-
se«.115 Während Horkheimer diese Schwachstelle immerhin ahnte, auch wenn
sein Vorwurf einer nur formalen Verwendung des Ausbeutungsbegriffs wohl
eher auf dessen Unterbestimmtheit in moralischer Hinsicht zielte, überging
Adorno diesen Sachverhalt, was zu der Vermutung Anlaß gibt, daß auch ihm
diese Dinge weit weniger klar waren, als er gegenüber Horkheimer und Sohn-
Rethel vorgab.
Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man seine philosophischen Arbeiten
aus diesem Zeitraum in die Betrachtung einbezieht, insbesondere die Studien zu
Husserl, die ihn seit 1934 wieder in Anspruch nahmen. Hatte er sich in der Dis-
sertation von 1923 noch überwiegend an Husserls Verständnis der Anschauung
gestoßen, gegen das er gestaltpsychologische und neukantianische Argumente
ins Feld führte, so rückten in den Oxforder Arbeiten die identitätsphilosophi-

114  Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Stefan Breuer und Bodo v. Greiff: Differenzen im Paradigma-

kern der kritischen Theorie II, in: Leviathan 14, 1986, S.  308–320, 315 ff.
115  Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.  765; Bd. 3, S.  798 ff. Die Existenz des Geldes, heißt es an

anderer Stelle, setzt »die Versachlichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs« voraus, »auf
den Tauschwert begründete – nicht auf Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis gegründete
Beziehung zwischen den Extremen«: Marx 1974, S.  78, 367.
244 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

schen Ambitionen und der logische Absolutismus der Phänomenologie in den


Mittelpunkt der Kritik.116 Entscheidende Impulse für diese Wendung bezog
Adorno dabei weder von Sohn-Rethel, mit dem zwischen 1931 und 1936 kein
Kontakt bestand, noch aus dem Oxforder Kontext, sondern aus den Einwän-
den, die von Seiten der Lebensphilosophie, insbesondere von Ludwig Klages,
gegen die »Vernunftgläubigkeit« der Phänomenologie und die von ihr wie auch
von anderen formalistischen Strömungen betriebene »Neuauflage des Platonis-
mus« vorgetragen wurden.117 Daß Klages ein Jahr vor Geschichte und Klassen-
bewußtsein, im Kosmogonischen Eros, eine eigene Kritik der Verdinglichung
entwickelt hatte, die »der Wirklichkeit stets augenblicklicher Bilder […] die
zeitlos beständige Scheinwelt verdinglichter Begriffe« unterschob118 , daß er, im
wenig später erschienenen Nietzsche-Buch, das »Identitätsprinzip« ins Visier
nahm, dem vorgehalten wurde, der Wirklichkeit die Raster eines außerraum-
zeitlichen »Geistes« überzustülpen und sie damit zu verfälschen119 , um endlich,
im Geist als Widersacher der Seele, zu einem Frontalangriff auf »die ganze
abendländische Logistik seit Platon« auszuholen, die »in Sachen Metaphysik ein
Anwendungsfall von falscher Verdinglichung« sei120 – dies alles waren Topoi, die
Adorno, wenn nicht gleich durch eigene Lektüre, so doch wenigstens durch
Benjamin nahegebracht wurden, der schon 1914 die persönliche Bekanntschaft
von Klages gesucht und zwölf Jahre später zur öffentlichen Auseinanderset-
zung mit der »ausweglosen Verwerfung des gegebenen ›technischen‹, ›mechani-
sierten‹ Weltzustandes« durch diesen »großen Philosophen und Anthropolo-
gen« aufgerufen hatte.121

116  Vgl. Theodor W. Adorno: Zur Philosophie Husserls (1937), in: AGS Bd. 20.1, S.  46–118,

112; Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  186, 58. Vgl. den Überblick bei Petra Gehring:
Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl, in: Klein u. a. 2011, S.  354–364.
117 Ludwig Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches (1926), Leipzig

1930², S.  76; Der Geist als Widersacher der Seele (3 Bde., 1929, 1932), Bonn 19816, S.  425, 1454.
Vgl. Großheim 1994, S.  143 ff. Husserl, heißt es auch bei Adorno, habe niemals mit der akade-
mischen Tradition gebrochen, selbst die von ihm eingeführte scheinbar neue Lehre vom logi-
schen Absolutismus sei nichts weiter als eine »Wiederaufnahme des althergebrachten Plato-
nismus«: Zur Philosophie Husserls, S.  47.
118  Klages 19889 , S.  180.
119  Vgl. Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, S.  162. Wie gering ge-

rade in diesem Punkt der Abstand zu Adorno ist, beleuchtet Michael Pauen: Dithyrambiker
des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994, S.  189 f.
120  Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S.  115.
121  Walter Benjamin: Rezension von Carl Albrecht Bernoulli, Johann Jacob Bachofen und

das Natursymbol, in ders. 1991, Bd. III, S.  43–45, 44. Über Benjamins Verhältnis zu Klages
informieren Wiggershaus 1986, S.  224 ff.; Marian Mičko: Walter Benjamin und Georg Simmel,
Wiesbaden 2010, S.  79 f., 94 f.; Pauen 1999, S.  34 f. Erhebliches Interesse bestand übrigens auch
in Heidelberg an Klages. Alfred Weber lud ihn ein, auf seinen Soziologischen Diskussions-
abenden über die Psychologie des Kriminellen zu referieren und wollte sich, trotz mancher
Vorbehalte, für seine Berufung nach Heidelberg einsetzen: vgl. Demm, Ein Liberaler in Kai-
serreich und Republik, S.  71.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 245

Adorno nahm diesen Ball auf. In seiner Antrittsvorlesung vom Mai 1931 pro-
filierte er die von ihm anvisierten »geschichtlichen Bilder« gegen die »archai-
schen« bzw. »mythischen Urbilder«, »wie die Psychoanalyse sie vorfindet, wie
Klages sie als Kategorien unserer Erkenntnis zu bewahren hofft«.122 Bei einer
Diskussion, die ein halbes Jahr später im Frankfurter Institutskreis geführt
wurde, plädierte er dafür, sich hinsichtlich der in der Nachkriegsmetaphysik
entwickelten Kritik an der Wissenschaft mehr an die radikalere Variante zu hal-
ten, für die Klages im Unterschied zu Hartmann oder Scheler stehe.123 1933 re-
zensierte er mit bemerkenswerter Zurückhaltung die Festschrift zu Klages’ 60.
Geburtstag und bot sich für eine Besprechung von dessen Opus magnum an,
dessen letzter Band 1932 erschien.124 Das Projekt beschäftigte ihn über mehrere
Jahre, um erst im Dezember 1936 abgebrochen zu werden.125 Horkheimer ge-
genüber stellte Adorno diesen Abbruch als rein psychologisch begründet dar126 ,
doch dürfte dies vorgeschoben sein, war er doch tief beeindruckt von der Radi-
kalität eines Denkens, das nicht zögerte, die für die Lebensphilosophie charak-
teristische Kritik am Weltverhältnis der Naturwissenschaften auf das Verhält-
nis Mensch-Natur schlechthin auszudehnen und zu einer Attacke auf das iden-
tifizierende Denken wie auch auf den Arbeitsprozeß als einer zweckmäßigen
Tätigkeit zuzuspitzen.
Postulierte Klages einen Konnex zwischen Selbstbehauptung, »Daseinswil-
len« und »Identitätsprinzip«, unter dessen Druck eine für sich genommen un-
endlich wandelbare, proteische, »dahinschmelzende« Wirklichkeit vereindeu-
tigt und verdinglicht werde127, so skandalisierte auch Adorno den »Zwang zum
Identitätsdenken« und die mit ihm einhergehenden »Veranstaltungen, das
Nichtidentische unter dem Namen des Vielen dem Subjekt kommensurabel zu
machen, dem Vorbild von Einheit«.128 Erkannte Klages im Erkenntnistrieb ei-
nen »Aneignungstrieb«, den Ausdruck eines »Bemächtigungswille[ns]«129 , so
machte Adorno darin »ein monistisches Prinzip von Welterklärung [aus], das
122  Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie (1931), in: AGS Bd. 1, S.  325–344,
341.
123 Vgl. Theodor W. Adorno u.  a.: Diskussionsprotokolle [Wissenschaft und Krise
(1931/1932)], in: HGS Bd. 12, S.  349–397, 354.
124  Vgl. Zeitschrift für Sozialforschung 2, 1933, S.  110 (auch in: AGS Bd. 20.1, S.  216–217);

Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 30.6.1932, in: A/H Bd. 1, S.  13.
125 In einem Brief an Leo Löwenthal berichtete Adorno 1934 von seiner Arbeit an der

»Klagessache«, womit die oben erwähnte Besprechung gemeint sein könnte. Drei Wochen
später mußte er allerdings bekennen, den Termin nicht einhalten zu können. Vgl. Theodor W.
Adorno an Leo Löwenthal, Briefe vom 16.5. und 6.7.1934, in: Löwenthal 1980, S.  251 und 254.
Noch im März des folgenden Jahres fragte Horkheimer: »Wie steht es mit Ihrem Klages?«
(Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 15.3.1935, in: A/H Bd. 1, S.  60).
126  Vgl. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.12.1936, in: A/H Bd. 1,

S.  263.
127  Vgl. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S.  73, 31; ders. 19889 , S.  148 ff., 172, 175.
128  Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  18.
129  Klages 19889 , S.  198; Der Geist als Widersacher der Seele, S.  617.
246 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

der bloßen Form nach den Primat des Geistes aufrichtet« und dessen Anspruch
auf »Allherrschaft« anmeldet.130 Brachte Klages das »zweckliche«, verfügende
Verhalten gegenüber der Natur, die Arbeit zum Zweck der »Daseinserhaltung«,
metaphorisch mit der Vertreibung aus dem Paradies, dem »jahwischen Fluch« in
Zusammenhang131, so empfahl Adorno im Dezember 1936 in eben jenem Brief,
in dem er das Scheitern seiner eigenen Bemühungen um eine Auseinanderset-
zung mit Klages eingestand, »Klages so zu dialektisieren, daß er nicht bloß, was
auf der Hand liegt, als der romantische Reaktionär erscheint, sondern auch als
ein radikaler Kritiker der bürgerlichen Arbeitsideologie und schließlich wenn
man will des Begriffs der Arbeit selber (sein ›Geist‹ ist ja nichts anderes als der
mythologisierte Arbeitsbegriff).«132 Als Freudleser mischte Adorno wohl psy-
choanalytische Elemente in diese Deutung, indem er Arbeit mit der Bewälti-
gung von Lebensnot und damit zusammenhängender Abkehr vom Lustprinzip
in Verbindung brachte, doch bildete die Korrelation von Selbsterhaltung, Un-
terdrückung von außer- und innermenschlicher Natur und Identitätsprinzip
fortan ein Leitmotiv, das im Spätwerk immer mächtiger anschwoll, ohne aller-
dings die von Lukács übernommenen Motive je ganz zu verdrängen.133
Weitere Spuren einer anhaltenden Faszination finden sich in der Mann-
heim-Kritik von 1937, die Klages’ Lehre von den ›Phantomen‹ positiv hervor-
hebt134 ; in dem nicht in der Zeitschrift für Sozialforschung zum Abdruck gelang-
ten Abschnitt VIII der Fragmente über Wagner135 ; in einer im New Yorker Ins-
titut geführten Diskussion mit Horkheimer über Dialektik, in der Adorno die
Absicht verkündete, die »archaischen Bilder« von Klages in »dialektische Bil-
der« zu transformieren136 ; in Adornos Beitrag zur Benjamin-Gedenkschrift so-
wie in den 1944 verfaßten Abschnitten der Minima Moralia, in denen sich ein
Exkurs über die Schwabinger Boheme vor dem Ersten Weltkrieg findet, der bei
aller Kritik am Ende in die Feststellung mündet, der dort praktizierte »Blick
aufs Entlegene, der Haß gegen Banalität, die Suche nach dem Unabgegriffenen,
vom allgemeinen Begriffsschema noch nicht Erfaßten« sei »die letzte Chance

130  Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  186, 90.


131  Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S.  617; 19889, S.  190.
132  Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, Brief vom 15.12.1936, in: A/H Bd. 1, S.  263.
133  Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, AGS Bd. 12, S.  66; Fortschritt

(1962), in: AGS Bd. 10.2, S.  617–638, 623; Marginalien zu Theorie und Praxis (1969), ebd.,
S.  758–782, 762.
134  Vgl. Theodor W. Adorno: Neue wertfreie Soziologie (1937), in: AGS Bd. 20.1, S.  13–45,

23.
135  Vgl. Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner (1952), in: AGS Bd. 13, S.  7 –148, 116.
136  Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: [Diskussion über Dialektik] (1939?),

in: HGS Bd. 12, S.  526–541, 530 f. Wie schwer Adorno freilich die Abgrenzung beider Arten
von Bildern gefallen ist, zeigt Michael Großheim: Archaisches oder dialektisches Bild? Zum
Kontext einer Debatte zwischen Adorno und Benjamin, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71, 1997, S.  494–517, S.  512.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 247

für den Gedanken«.137 Sogar in der Dialektik der Aufklärung war Klages prä-
sent: gleich mehrfach in dem von Adorno verfaßten Odysseus-Exkurs und
schließlich in den gemeinsamen ›Aufzeichnungen und Entwürfen‹, wo es ein-
mal heißt: »Nietzsche, Gauguin, George, Klages erkannten die namenlose
Dummheit, die das Resultat des Fortschritts ist.«138 Noch in der Negativen Di-
alektik klingt diese Wertschätzung in der Beschreibung des ›versöhnten Zu-
standes‹ nach, wenn es dort ganz im Sinne des Kosmogonischen Eros heißt, die-
ser »annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern
hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschie-
dene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.«139
Gewiß folgte solchen Bekundungen zumeist eine Distanzierung, für die es im
Fall von Klages ja auch gute Gründe gab, allen voran jene Lehre von der
»Selbstherrlichkeit der Bilder«, die darauf hinauslief, den gesamten Rationali-
sierungsprozeß als eine selbsttätige Transformation der Bilder zu deuten, nicht
unähnlich dem von Heidegger beschworenen »Geschick«.140 Mit Blick auf sol-
che Denkfiguren sprach Adorno mit einigem Recht von einer »Dämonologie«
und einem »agitatorische[n] Kult der Ursprungsmächte«, mit dem Klages »ver-
hängnisvolle Tendenzen des Nationalsozialismus« vorweggenommen habe.141
Adorno deshalb zu einem ›unbeirrten Gegner‹ des ›Neuchthonikers‹ zu erklä-
ren, ist indes genauso unangebracht wie der Versuch, ihn durch die Nähe zu
Klages zu diskreditieren.142 Beide Strategien gehen über das hinweg, was Ador-
no selbst als »doppelschlächtige Stellung der gesellschaftlichen Theorie zur
Kulturkritik« bezeichnet hat: eine Stellung, die wohl eine permanente Kritik
des kulturkritischen Verfahrens »in seinen allgemeinen Voraussetzungen, seiner
Immanenz in der bestehenden Gesellschaft, wie in den konkreten Urteilen, die

137  Vgl. Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891–1906

(1942/1955), in: AGS Bd. 10.1, S.  195–237, 213, 224; Minima Moralia. Reflexionen aus dem be-
schädigten Leben, AGS Bd. 4, S.  75.
138  Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947), in: HGS

Bd. 5, S.  73, 265. Weitere Bezugnahmen finden sich in den gestrichenen Passagen, die später in
den Frankfurter Adorno-Blättern (5, 1998, S.  37–88) publiziert worden sind. Daß die Affini-
tät der Dialektik der Aufklärung zu Klages bis in einzelne Formulierungen reicht, zeigt Pau-
en 1999, S.  37.
139  Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), AGS Bd. 6, S.  192. Vgl. ebd., S.  66: »Al-

lein erst äußerste Ferne wäre die Nähe; Philosophie ist das Prisma, das deren Farbe auffängt.«
140  Vgl. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, S.  1236. Zu dieser Lehre und ihren

Implikationen vgl. meine Studie: Fremderlösung und Autoerotismus: Ludwig Klages, in Ste-
fan Breuer: Moderner Fundamentalismus, Berlin und Wien 2002, S.  140–158, 153 f.
141  Der Ausdruck Dämonologie fällt in der Vorlesung über Ontologie und Dialektik, die

Adorno im Wintersemester 1960/61 gehalten hat (ANS Bd. IV.7, S. S.  313). Die beiden anderen
Zitate sind aus Adorno, George und Hofmannsthal, S.  215. Zur Vertiefung des auf den NS
bezogenen Vorwurfs vgl. Tobias Schneider: Der Philosoph Ludwig Klages und der National-
sozialismus 1933–1938, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, S.  275–294.
142  Ersteres geschieht in der Anm. des Hrsg. zu der oben zitierten Vorlesung Adornos über

Ontologie und Dialektik, S.  409, letzteres bei Honneth 1985, S.  54.


248 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

es vollzieht« impliziert, die es dabei aber nicht beläßt. Eine dialektische Theorie,
welche nicht dem Ökonomismus und einer Gesinnung verfallen wolle, »welche
glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produk-
tion«, habe »die Verpflichtung, die Kulturkritik in sich aufzunehmen, die wahr
ist, indem sie die Unwahrheit zum Bewußtsein ihrer selbst bringt.«143
Ob sich freilich gerade Sohn-Rethel für die ihm von Adorno zugedachte Auf-
gabe eignete, »Klages zu dialektisieren«, ist zweifelhaft. Dagegen sprechen vor
allem zwei Gründe, auf die Adorno bei genauerer Lektüre hätte kommen müs-
sen. Gegenüber Klages hatte die von Sohn-Rethel vorgeschlagene genetische
Erklärung des Identitätsprinzips und des logischen Schließens wohl den Vor-
zug einer höheren Plausibilität, rekurrierte sie doch nicht auf den Einbruch ei-
ner »akosmische[n] Macht in die Sphäre des Lebens«, sondern auf die Effekte
einer geschichtlich zu lokalisierenden »inter-ethnische[n] Ausbeutung in klas-
sischer Form«, auf Vorgänge mithin, die kontingent und vergänglich waren.144
Dies geschah allerdings unter Preisgabe eines um die »Produktion und Repro-
duktion des wirklichen Lebens« (Engels) zentrierten Materialismus. Denn
wenn es zutraf, daß »die Identität als Formcharakter von Dasein und Ding aus
dem Ausbeutungsverhältnis geschichtlich erst entspringt«145, dann hieß dies
nichts anderes, als dem Arbeitsprozeß seine reproduktive Qualität zu bestrei-
ten. Sammlerinnen, die nicht zwischen giftigen und ungiftigen Pilzen zu unter-
scheiden wissen, sind ebenso wenig lebensfähig wie Bauern, die anstelle von
Saatgut Kieselsteine aussäen oder Handwerker, die nach der Säge greifen, wenn
sie hämmern wollen.146 Denselben Einwand muß sich freilich auch Adorno ge-
fallen lassen, der das identifizierende Denken mal auf »Herrschaft« im Sinne
143  Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft (1951), in: AGS Bd. 10.1, S.  11–30,

22. Von der Problematik des Terminus »Kulturkritik«, der im Fall Klages besser durch »Zivi-
lisationskritik« zu ersetzen wäre, sei hier abgesehen.
144  Vgl. Sohn-Rethel, Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus, S.  42, 56; Ludwig Kla-

ges: Mensch und Erde (1913), in: Winfried Mogge und Jürgen Reulecke (Hrsg.): Hoher Meiß-
ner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln
1988, S.  171–189, 187.
145  Sohn-Rethel, Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus, S.  73.
146  Nur am Rande sei vermerkt, daß die von Piaget begründete Kognitionspsychologie im

Identitätsbewußtsein eine Universalie erkannt hat, die überall von Kindern mit dem Stadium
der konkreten Operationen erreicht wird. Auf dieser Ebene nehmen auch die Kausalitätsfor-
men, die auf der Stufe der präoperativen Intelligenz nur erst rudimentär entwickelt sind, rati-
onalere Formen an, ohne allerdings die wissenschaftliche Form zu erreichen, die erst auf der
Stufe der formalen Operationen etabliert wird: einem geschichtlich wie kulturell höchst sin-
gulären Phänomen, das an eine Vielzahl von Voraussetzungen geknüpft ist: vgl. Jean Piaget
und Bärbel Inhelder: Die Psychologie des Kindes, München 1987, S.  102, 112; Georg W. Oes-
terdiekhoff: Kulturelle Bedingungen kognitiver Entwicklung, Frankfurt am Main 1997; Zivi-
lisation und Strukturgenese. Norbert Elias und Jean Piaget im Vergleich, Frankfurt am Main
2000. Mit Blick auf diese Forschungen wird man sagen müssen, daß Sohn-Rethel wie später
die Dialektik der Aufklärung nicht so sehr die wissenschaftliche Rationalität getroffen haben
als vielmehr Alltagskompetenzen, von denen immer schon das Überleben der Gattung ab-
hing.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 249

von Aneignung, mal auf das Tauschprinzip zurückführt und damit für ver-
zichtbar erklärt.147
Nicht minder problematisch war es, wenn Sohn-Rethel zugleich versicherte,
daß die von ihm anvisierte Kritik der fetischisierten Ratio keineswegs zum
Nennwert zu nehmen war. Seine Auskunft, weder die Logik noch die Verding-
lichung würden »durch die Beseitigung der Ausbeutung, also in einer klassen-
losen Gesellschaft, verschwinden«, allenfalls in »einer von uns aus nicht vor-
wegzunehmenden Weise« modifiziert148 , indiziert, daß er im Streit zwischen
Lebensphilosophie und Positivismus auf der Seite des letzteren stand. Die un-
entwegte Anprangerung von Ausbeutung und Verdinglichung täuschte, han-
delte es sich dabei doch für Sohn-Rethel um Verhältnisse, die malgré elles ihre
eigene Aufhebung besorgen sollten, wie dies auch Marx für das Kapitalverhält-
nis behauptet hatte. Die Ausbeutung hatte danach einen geschichtlichen Sinn,
trieb sie doch voran, was Alfred Weber den Zivilisationsprozeß nannte und bei
Sohn-Rethel funktionale Vergesellschaftung hieß: einen Vorgang, der à la lon-
gue darauf hinauslaufen sollte, »daß der Mensch in der Produktion anstatt der
Rolle der Herstellung der Dinge nur noch die Funktion der Bedienung einer
Sachapparatur hat«.149 Daß dieser Funktionalismus Ausdruck einer negativen
Vergesellschaftung sein könnte, vermöge deren das Kapital seine Produktiv-
kräfte entfaltete und nicht primär die der gebrauchswertproduzierenden Ar-
beit, diese Möglichkeit wurde von Sohn-Rethel so wenig in Betracht gezogen
wie die katastrophalen ökologischen Auswirkungen dieses Vorgangs, auf die
Klages schon in seinen frühesten Schriften aufmerksam gemacht hatte. Erst die
Ende der 70er Jahre einsetzende Rezeption und kritische Diskussion seiner Ar-
beiten, die, eine weitere Ironie des Schicksals, nirgends mit größerer Intensität
betrieben wurde als im Frankfurter Institut für Sozialforschung150 , hat
Sohn-Rethel zu einer Modifikation seiner Ansichten veranlaßt, auf die hier
nicht mehr eingegangen werden kann.151
147  Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S.  149 f.
148  Ebd., S.  31.
149  Sohn-Rethel, Soziologische Theorie der Erkenntnis, S.  104.
150  Vgl. den Forschungsbericht des damaligen Direktors Gerhard Brandt: Ansichten kriti-

scher Sozialforschung 1930–1980, in ders.: Arbeit, Technik und gesellschaftliche Entwick-


lung. Transformationsprozesse des modernen Kapitalismus. Aufsätze 1971–1987, hrsg. von
Daniel Bieber und Wilhelm Schumm, Frankfurt am Main 1990, S.  112–172, 145 ff. Ferner die
Beiträge von Rudi Schmiede: Rationalisierung und reelle Subsumtion. Überlegungen zu den
Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1970 bis 1980, in: Leviathan 8, 1980,
S.  472–497; Abstrakte Arbeit und Automation. Zum Verhältnis von Industriesoziologie und
Gesellschaftstheorie, in: Leviathan 11, 1983, S.  55–78.
151  Vgl. Alfred Sohn-Rethel: Von der ›Apotheose des Taylorismus‹ zu seiner kritischen Li-

quidierung, in: Heinz D. Dombrowski u. a. (Hrsg.): Symposium Warenform, Denkform. Zur
Erkenntnistheorie Sohn-Rethels, Frankfurt am Main 1978, S.  66–70. Der Text reagiert auf die
im gleichen Band wiedergegebene Kritik von Norbert Kapferer, die im wesentlichen vom
Standpunkt des Verdinglichungsaufsatzes von Lukács geführt wird: Sohn Rethels Weg von
der Wissenschaftskritik zur Affirmation, ebd., S.  49–65. In der englischen Neuausgabe von
250 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

Man kann Adorno zugute halten, daß der positivistische bzw. saintsimonis-
tische Grundzug in Sohn-Rethels Exposés durch eine sprachliche Präsentation
verdeckt war, die andere Assoziationen evozierte. Deutlicher ins Auge sprang er
erst in späteren Texten wie dem Vortrag vor der Ostberliner Humboldt-Univer-
sität von 1961, in dem Sohn-Rethel eine Durchbrechung der Warenform durch
die Automatisierung behauptete152 , oder in seinem Buch über Geistige und kör-
perliche Arbeit, das strikt zwischen Wertform und Arbeit trennte und eine
»Vollvergesellschaftung der Arbeit« am Werk sah, die eine Aufhebung der Ar-
beitsentfremdung und der Trennung von Hand- und Kopfarbeit sowie den
Übergang in eine klassenlose Gesellschaft ermöglichen würde – und dies ausge-
rechnet mithilfe des Taylorismus.153 Vorhanden war dieser Zug freilich schon
1936, wie Horkheimer, in diesem Punkt scharfsichtiger als Adorno und viele
spätere Kritiker Sohn-Rethels, erkannt hat. So bemängelte er, nach einem wie
immer auch kursorischen Blick in das Luzerner Exposé,
»dass anstelle der Marxschen Kategorien Comtesche, sicher aber Spencersche Begriffe
stehen könnten, ohne dass irgendetwas verändert wäre. Ja, noch mehr! Anstatt ökono-
mischer Kategorien können beliebige geschichtsphilosophische, biologische oder psy-
chologische eingesetzt werden. Nirgends wird die eigentümliche Ironie der Marxschen
Kategorien wirksam, nirgends erscheint ihre kritische Funktion, ja es werden nicht ein-
mal Konsequenzen aus ihrem spezifischen ökonomischen Gehalt gezogen. Die Marx-
sche Theorie dient ihm nur dazu, seinen Zug zum ›Konkreten‹ möglichst radikal zu ex-
emplifizieren, wobei dies konkret und radikal gar nicht so sehr viel anders gemeint sein
muss als bei den gestalters (sic) oder der Phänomenologie.«154

Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Adorno sich diese Bedenken jemals zu eigen
gemacht hätte. Angesichts des Widerstands, den der übermächtige Institutsdi-
rektor in diesem Punkt an den Tag legte, entschied er sich jedoch dafür, Sohn-
Ret­hel fallen zu lassen und den von ihm angeschnittenen Problemkomplex vor-
erst nicht weiter zu thematisieren. In den Jahren zwischen 1937 und 1941 hatte
er genügend andere Dinge zu tun. Als dann jedoch bei der Arbeit an der Dialek-

Geistige und körperliche Arbeit ist diese Modifikation berücksichtigt: Intellectual and Ma-
nual Labour. A Critique of Epistemology, London und Basingstoke 1978.
152  Alfred Sohn-Rethel: Warenform und Denkform. Versuch über den gesellschaftlichen

Ursprung des ›reinen Verstandes‹, in ders. 1978, S.  103–133, 132 f.


153 Vgl. Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesell-

schaftlichen Synthesis, Frankfurt am Main 1970, S.  192, 151 ff.


154  Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 8.12.1936, in: A/H Bd. 1, S.  250 f.

Das Pathos, mit dem Sohn-Rethel sich später zum Kämpfer gegen die »Technokratie« stilisiert
hat (Geistige und körperliche Arbeit, S.  14), hat zeitweise darüber hinweggetäuscht. Der Kri-
tik ist sein Positivismus gleichwohl nicht entgangen. »Bei Sohn-Rethel würde auch bei gelun-
gener historischer Ableitung des abstrakten Denkens gar nichts für dieses Denken und für die
Wissenschaften, die es verwenden, folgen. Alles bliebe, wie gehabt« (Harald Wohlrapp: Mate-
rialistische Erkenntniskritik? – Kritik an Alfred Sohn-Rethels Ableitung des abstrakten Den-
kens und Erörterung einiger grundlegender Gesichtspunkte für eine mögliche materialisti-
sche Erkenntnistheorie, in: Jürgen Mittelstraß [Hrsg.]: Methodologische Probleme einer
normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 1975, S.  160–243, 228).
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 251

tik der Aufklärung (die ja ursprünglich als Beitrag zur dialektischen Logik ge-
dacht war), die Frage des geschichtlichen und gesellschaftlichen Gehalts der
Denkformen wieder auftauchte, verständigte er sich mit Horkheimer darauf,
dies ohne Bezugnahme auf Lukács oder Sohn-Rethel anzugehen. Bestand
Adornos Beitrag nicht zuletzt darin, auf der von der Lebensphilosophie auf die
Agenda gesetzten »Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts« zu insistie-
ren, so übernahm Horkheimer die Aufgabe, im einleitenden Abschnitt über den
Begriff der Aufklärung den »gesellschaftliche[n] Charakter der Denkformen«
aufzuhellen.155 Unterstützung für dieses Unternehmen suchte sich Horkheimer
dabei ausgerechnet bei der Soziologie Durkheims, die Adorno später mit eini-
gem Recht als Fortentwicklung des Positivismus deutete.156 Zwar beharrte
Horkheimer gegenüber Durkheim darauf, in den Denkformen nicht den »Aus-
druck gesellschaftlicher Solidarität« zu sehen, sondern das »Zeugnis der un-
durchdringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft«157, doch begnügte
er sich mit der bloßen Behauptung und verzichtete auf jegliche begriffliche Ent-
wicklung. In der Sache hatte er der von Durkheim und Mauss vertretenen The-
se, die Denkformen repräsentierten »den organisierten Stamm und seine Macht
über den Einzelnen«158 , wenig hinzuzufügen, und auch Adorno beließ es
schließlich dabei, wenn er in der überarbeiteten Fassung der Husserl-Studien
die »implizite Genesis des Logischen« auf ein »gesellschaftliches Verhalten« zu-
rückführte und meinte: »In den logischen Sätzen schlagen Durkheim zufolge
gesellschaftliche Erfahrungen wie die Ordnung von Generations- und Eigen-
tumsverhältnissen sich nieder, welche den Vorrang über Sein und Bewußtsein
des einzelnen behaupten.«159
Im Rückblick wird man sagen müssen, daß im Streit um Sohn-Rethel keiner
der Beteiligten zu einer überzeugenden Position gelangte. Sohn-Rethel nicht,
weil er mit der Trennung von Wertform und Arbeit den Materialismus zur Vor-
dertür hinauswies, um ihn sodann in seiner orthodoxesten, d. h. saintsimonisti-

155  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  19, 44.


156  Vgl. Adornos »Einleitung zu Emile Durkheim, ›Soziologie und Philosophie‹« (1967),
in: AGS Bd. 8, S.  245–279 sowie die entsprechenden Referenzen in seiner Vorlesung: Einlei-
tung in die Soziologie (1968), in: ANS Bd. IV.15.
157  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  4 4. Diese Distanzierung wirkt

allerdings recht gesucht, denn der von Durkheim und Mauss unternommene Versuch, kausa-
le Zusammenhänge zwischen der Gesellschaftsstruktur und bestimmten Denkformen aufzu-
decken, beschränkt sich ausdrücklich auf segmentäre Verbände ohne institutionalisierte
Herrschaft und schließt diese letztere für stratifizierte Ordnungen keineswegs aus: vgl. Émi-
le Durkheim und Marcel Mauss: Über einige primitive Formen von Klassikation. Ein Beitrag
zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen (1903), in: Émile Durkheim, Schriften zur
Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987, S 169–256; Marcel Mauss: Sociologie
politique. La Nation et l’internationalisme, in ders.: Œuvres, 3 Bde., hrsg. von Victor Karady,
Paris 1969, Bd. 3, S.  571–639.
158  Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S.  4 4 .
159  Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  83.
252 Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel

schen Gestalt zur Hintertür wieder hereinzulassen. Horkheimer nicht, weil


ihm die ganze Angelegenheit, wenn auch eher intuitiv, suspekt erschien. Und
Adorno nicht, weil er mit Klages auf eine Kritik des Identitätsprinzips fixiert
blieb und sich zugleich bis zuletzt nicht entscheiden konnte, ob es als die »obers-
te geistige Reflexionsform« naturbeherrschender Arbeit oder des die menschli-
che Arbeit »auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Ar-
beit« reduzierenden Tauschs anzusehen sei.160 Indem er sich frühzeitig dafür
entschied, diese Dinge im vagen zu lassen und seine analytischen Fähigkeiten
auf anderen Gebieten einzusetzen, fiel auch bei ihm auseinander, was zusam-
menzubringen die Aufgabe einer materialistischen Erkenntniskritik gewesen
wäre: die Sohn-Rethel zugeschriebene (obschon dessen Intention ins Gegenteil
verkehrende) Annahme, daß im transzendentalen Prinzip, »der allgemeinen
und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit
sich birgt«161, und der Gedanke, daß sich darin ein abstrakter Funktionszusam-
menhang zeige, der »aus den Einzelspontaneitäten und -qualitäten zusammen-
schießt, diese wiederum durchs nivellierende Tauschprinzip begrenzt und vir-
tuell, als ohnmächtig vom Ganzen abhängig, ausschaltet.«162
Eine Vermittlung beider Thesen ist Adorno nicht gelungen, wie drastisch
noch einmal seine Intervention auf dem Frankfurter Soziologentag zeigt, die
zunächst in der Manier des orthodoxen Marxismus verlangte, nicht den Pro-
duktivkräften die Schuld aufzubürden und »eine Art Maschinenstürmerei auf
erweiterter Stufenleiter« zu betreiben163 , um gleich im Anschluß daran von eben
dieser Orthodoxie abzurücken, indem er die Möglichkeit bestritt, noch länger
zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu unterscheiden:
»Allzu optimistisch war die Erwartung von Marx, geschichtlich sei ein Primat der Pro-
duktivkräfte gewiß, der notwendig die Produktionsverhältnisse sprenge. Insofern blieb
Marx, der geschworene Feind des deutschen Idealismus, dessen affirmativer Geschichts-
konstruktion treu. Vertrauen auf den Weltgeist kam der Rechtfertigung späterer Versio-
nen jener Weltordnung zugute, die der elften Feuerbachthese zufolge verändert werden
sollte. Die Produktionsverhältnisse haben um ihrer schieren Selbsterhaltung willen
durch Flickwerk und partikulare Maßnahmen die losgelassenen Produktivkräfte weiter-
hin sich unterworfen. Signatur des Zeitalters ist die Präponderanz der Produktionsver-
hältnisse über die Produktivkräfte, welche doch längst der Verhältnisse spotten.«164

160  Adorno, Fortschritt, S.  623; Negative Dialektik, S.  149.


161  Adorno, Negative Dialektik, S.  178. 1937 hatte Sohn-Rethel geschrieben: »Es ist meine
Meinung, daß die eigentümlichen Formen von Denknotwendigkeit, die in der Mathematik
und Logik den Urteilen den Charakter der Apodizität (sic) geben, genetisch nicht aus der
Erfahrung der Arbeit und des Verzehrs stammen, nicht aus dem menschlichen Verhältnis zur
Natur« (Alfred Sohn-Rethel an Theodor W. Adorno, Brief vom 29.4.1937, in: A/SR, S.  48).
162  Adorno, Negative Dialektik, S.  180.
163 Theodor W. Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1968), in: AGS

Bd. 8, S.  354–370, 362. »Nicht die Technik ist das Verhängnis, sondern ihre Verfilzung mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen, von denen sie umklammert wird.«
164  Ebd., S.  363.
Frankfurt contra Heidelberg II: Der Streit um Sohn-Rethel 253

Über diesen Widerspruch ist die Kritische Theorie nicht hinausgekommen. Der
Fairneß halber wird man indes sogleich hinzufügen müssen: auch alle anderen
nicht, die sich in je verschiedener Weise auf das Marxsche Erbe berufen, es aller-
dings zumeist vorziehen, sich jeweils auf eine Seite dieses Widerspruchs zu
schlagen. Daß Adorno ihn so schroff in den Raum gestellt hat, sollte man des-
halb nicht einer »Schwächung des theoretischen Vermögens« zur Last legen,
sondern als Ausdruck einer sachlichen Problematik deuten, die durch keine in-
tellektuelle Anstrengung aus der Welt zu schaffen ist. »Denkbar, daß die gegen-
wärtige Gesellschaft einer in sich kohärenten Theorie sich entwindet.«165

165  Ebd., S.  359.


Reprise und Koda
Die großen Worte aus den Zeiten, da
Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns.
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.
(Rilke, Requiem)

Die Kritische Theorie ist oft totgesagt worden. Soweit dies von ihren Gegnern
geschah – und deren hatte sie viele: von Schelsky und Popper über den Partei-
marxismus bis hin zu ihren eigenen entlaufenen Schülern – erfolgte dies zumeist
mit Argumenten, denen die Kritische Theorie bessere entgegenzusetzen hatte.
1986 aber erfolgte die Todeserklärung aus ihren eigenen Reihen, auf einer Ver-
anstaltung zu Ehren des 90. Geburtstages von Max Horkheimer. Kein Geringe-
rer als Gerhard Brandt, von 1972 bis 1982 Direktor des Frankfurter Instituts für
Sozialforschung und damit Nachfolger von Horkheimer und Adorno, formu-
lierte damals als ›abschließendes Urteil‹: »Das mit dem Namen Max Horkhei-
mers und dem des Instituts für Sozialforschung verbundene Projekt einer mate-
rialistischen Gesellschaftstheorie muß als gescheitert gelten.« Die Kritische
Theorie habe ihren Anspruch als Gesellschaftstheorie im Sinne einer theoreti-
schen Grundlegung sozialwissenschaftlicher Forschung nicht einzulösen ver-
mocht, weshalb es auch für diejenigen, die sich ihren Intentionen noch ver-
pflichtet fühlten, an der Zeit sei, »sich auf ein anderes Theorieprogramm, auf ein
anderes und neues Paradigma« zu besinnen.1
Wie es in diesem Rahmen nicht anders sein konnte, entpuppte sich der Tod
alsbald als Scheintod, auf den sogleich die Wiederauferstehung folgen sollte.
Gescheitert war nämlich in Brandts Augen nicht das Programm der Kritischen
Theorie, sondern nur die Durchführung, die das Projekt einer materialistischen
Gesellschaftstheorie auf ein falsches Gleis geführt habe. Mit dem Programm
war Horkheimers Antrittsrede von 1931 gemeint, in der dieser die Vertreter ver-
schiedener Disziplinen aufgerufen hatte, sich zusammenzuschließen und ge-
meinsam zu tun, »was alle echten Forscher immer getan haben: nämlich ihre
aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissen-
schaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Ge-
genstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch
das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren.«2 Das hielt Horkheimers
1 Gerhard Brandt: Max Horkheimer und das Problem einer materialistischen Gesell-

schaftstheorie, in: Schmidt und Altwicker 1986, S.  279–297, 279.


2  Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines

Instituts für Sozialforschung (1931), in: HGS Bd. 3, S. 20–35, 29 f.


256 Reprise und Koda

Nachfolger auch mehr als ein halbes Jahrhundert später noch für derart über-
zeugend, daß er es wörtlich wiederholte und mit der Erwartung verknüpfte,
nach einigen Kurskorrekturen »das mißlungene Projekt einer materialistischen
Gesellschaftstheorie mit anderen Mitteln fortzuführen und doch noch zu voll-
enden.«3 Die geforderten Korrekturen betrafen vor allem die für die spätere
Kritische Theorie charakteristische Rücknahme des Praxisbezuges, den Wider-
ruf der Hoffnungen, die anfangs auf die »Leistungen der exakter Methoden sich
bedienenden Einzelwissenschaften« gesetzt worden seien sowie die Beschrän-
kung auf eine »radikalisierte Ideologie- und Kulturkritik«, die zugleich mit ei-
ner »Verallgemeinerung der Theorie von einer Theorie historischer Gesell-
schaftsformation zu einer Theorie der Gattungsgeschichte« in Verbindung mit
einer »Universalisierung des Verdinglichungsparadigmas« einhergegangen sei. 4
Zu dem in der Schülergeneration so beliebten Vorwurf des mangelnden Pra-
xisbezuges hat Adorno alles Nötige gesagt, so daß er hier übergangen werden
kann.5 Die Kritik an der Verallgemeinerung der Theorie in Richtung Gattungs-
geschichte trifft etwas Richtiges, schüttet aber das Kind mit dem Bade aus, wenn
sie damit zugleich die Verlagerung der Kritischen Theorie auf »Ideologie- und
Kulturkritik« abfertigt. Hier schwingt nicht nur die Geringschätzung des Em-
pirikers gegenüber den sogenannten ideellen Faktoren mit, sondern auch ein
Urteil über die einzelwissenschaftlichen Leistungen der Kritischen Theorie, das
inakzeptabel ist. Horkheimers Essays aus der Zeitschrift für Sozialforschung
mögen ihre Schwächen haben, aber sie sind aus der Sozialphilosophie des 20.
Jahrhunderts nicht wegzudenken. Dasselbe gilt für Marcuses Beiträge zur He-
gelforschung oder Adornos Einlassungen zu Kant und Hegel, Husserl und Hei-
degger. Adorno hat sich darüber hinaus als Literaturwissenschaftler und Mu-
siktheoretiker in einer Weise profiliert, die ihm einen dauernden Platz in diesen
Fächern sichert.6 Die dort üblichen interpretativen Methoden sind auch seinen
soziologischen Gegenwartsdiagnosen zugute gekommen. Viele seiner Miniatu-
ren sind in ihrer Insistenz auf subjektiver Erfahrung und Deutung Musterbei-

3  Brandt, Max Horkheimer und das Problem einer materialistischen Gesellschaftstheorie,

S.  285.
4  Ebd., S.  280 f., 284.
5  Vgl. Theodor W. Adorno: Dialektische Epilegomena. Marginalien zu Theorie und Praxis

(1969), in: AGS Bd. 10.2, S.  759–782.


6  Das bezeugt der Band Adorno im Widerstreit (hrsg. von Wolfram Ette u. a., Freiburg und

München 2004) ebenso wie das Adorno-Handbuch (Richard Klein u. a. 2011). In beiden neh-
men die Abschnitte über Musik und Literatur mehr als die Hälfte bzw. als ein Drittel ein und
gehören auch sachlich zu den stärksten. Grundlegende Beiträge zur Rezeption und Fortbil-
dung der Musiksoziologie Adornos hat insbesondere Richard Klein geliefert: vgl. neben sei-
nen Beiträgen in den o.g. Werken noch: Der Kampf mit dem Höllenfürst, oder: Die vielen
Gesichter des ›Versuch über Wagner‹, in ders. und Mahnkopf (Hrsg.) 1998, S.  167–205;
Zwangsverwandtschaft. Über Nähe und Abstand Adornos zu Richard Wagner, in: Eckehard
Kiem und Ludwig Holtmeier (Hrsg.): Richard Wagner und seine Zeit, Laaber 2003, S.  183–
236.
Reprise und Koda 257

spiele qualitativer empirischer Sozialforschung, wie sie etwas später unter ande-
ren Prämissen vom Symbolischen Interaktionismus und von der Ethnometho-
dologie entwickelt wurden. Und wenn man von Harold Garfinkel gesagt hat, er
habe mit seinem Verfahren das soziologische Äquivalent zum Mikroskop erfun-
den7, so gebührt dieser Ruhm eigentlich Adorno, für den sich die »dialektische
Anschauung von der Gesellschaft« in der »Mikrologie« bewährt8 : einem Ver-
fahren der Deutung, das Adorno auf soziale Zusammenhänge nicht weniger
erfolgreich angewandt hat als auf philosophische Texte oder Kunstwerke.9
Das Beharren auf einer »dialektischen Anschauung« zeigt freilich auch, wor-
in sich die Mikrologie von der Ethnomethodologie unterscheidet, und dies
führt mittelbar zur Problematik der von Brandt so geschätzten Antrittsrede
Horkheimers zurück. Während Ethnomethodologen sich durchweg mit dem
Aufdecken von Alltagsregeln und –routinen begnügen und dabei um normative
Indifferenz bemüht sind, war der Kritischen Theorie beides zu wenig. Sie woll-
te die von ihr behandelten Phänomene nicht bloß auf irgendwelche deskriptiv
zu erfassenden Regeln beziehen, sondern vielmehr auf einen umfassenderen Zu-
sammenhang hin transparent machen, den sie in der Tradition des Hegelmar-
xismus als »Totalität« bzw. als »System« bestimmte.10 Auch wenn zumal Ador-
no dazu tendierte, sich in der paradoxen Idee Kants einzurichten, »daß die ein-
zige Form, in der das Ganze begriffen werden kann, der Ausdruck dessen ist,
daß es nicht begriffen werden kann«, hielt er doch den »Versuch, die Totalität zu
entwerfen«, für unverzichtbar.11 »Kritik«, heißt es denn auch in der Negativen
Dialektik, »liquidiert aber nicht einfach das System.«12 Sie sei vielmehr noch
immer gefordert, sich diesem Anspruch zu stellen, wozu nicht nur die Aneig-
nung der naturwissenschaftlichen Erfahrung gehöre, sondern vor allem auch
die Hineinnahme der gesellschaftlichen und politischen Realität und ihrer Dy-
namik.13 Mit der von der Kritischen Theorie anvisierten Philosophie ist deshalb
zum wenigsten die Fachwissenschaft gemeint, sondern die »Bekümmerung ums
Schicksal des Ganzen«, wie sie auch für die Soziologie charakteristisch sei, die
in vieler Hinsicht das Erbe der Philosophie zu verwalten habe, ja »in eminentem

7  Vgl. John Heritage: Garfinkel and Ethnomethodology, Cambridge etc. 1984, S.  311.
8  Theodor W. Adorno: Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«
(1969), in: AGS Bd. 8, S.  280–353, 322. Nähe und Differenz zu den interpretativen und hand-
lungstheoretischen Ansätzen in der Soziologie erörtert Hauke Brunkhorst: Mehr als eine
Flaschenpost. Kritische Theorie und Sozialwissenschaften, in: Friedeburg und Habermas
1983, S.  314–326, 318 ff.
9  Vgl. etwa Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel (1963), in: AGS Bd. 5, S.  247–381,

358; Negative Dialektik (1966), in: AGS Bd. 6, S.  39; Versuch über Wagner (1952), in: AGS
Bd. 13, S.  7 –148, 505.
10  Vgl. Theodor W. Adorno: Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, Frankfurt

am Main o. J., S.  28.


11  Theodor W. Adorno: Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1959), ANS IV.4, S.  270.
12  Adorno, Negative Dialektik, S.  35.
13  Adorno, Wozu noch Philosophie? S.  470.
258 Reprise und Koda

Sinn die philosophische Disziplin« sei, jedenfalls in der in Frankfurt vertrete-


nen Version.14
Nun ist nichts dagegen einzuwenden, daß Philosophie die Ergebnisse anderer
Wissenschaften zur Kenntnis nimmt. Das aber ist hier nicht gemeint. Es geht
nicht um Horizonterweiterung, sondern um Inkorporation, um die Einord-
nung von Wissen in ein Ganzes, das zwar als ›Unwahres‹ deklariert werden
mag, qua dieser Eigenschaft jedoch mitnichten seine systemische Qualität ein-
büßt. Darauf deutet, bei aller Kritik am absoluten Idealismus, die Hegel entge-
gengebrachte Wertschätzung, die seinem Begriff des Weltgeistes attestierte,
»das verzerrte Bewußtsein von der realen Vormacht des Ganzen« zu sein, deu-
tet die ein ums andere Mal wiederholte Anerkennung, Hegel habe »den Vorrang
des Ganzen vor seinen endlichen, unzulänglichen und in ihrer Konfrontation
mit dem Ganzen widerspruchsvollen Teilen erkannt.«15 Wohl habe die linkshe-
gelianische Kritik zu Recht geltend gemacht, Totalität sei kein »geschlichtetes
Ganzes«, vielmehr »ein Widersprüchliches«, das durch seine Antagonismen
über sich hinausgetrieben werde. Das aber ändere nichts daran, daß das Einzel-
ne stets mehr sei als es selber, nämlich vom Ganzen tangiert und nur mit Bezug
darauf zu erfassen. »Insofern das Ganze im Mikrokosmos des Einzelnen am
Werk ist, kann man mit Grund von einer Reprise Leibnizens bei Hegel reden,
wie dezidiert er im übrigen auch gegen die Abstraktheit der Monade steht.«16
Und was von Hegel, galt a fortiori von Marx. Dessen Kritik der politischen
Ökonomie bescheinigte Adorno, nicht nur das verzerrte, sondern das richtige
Bewußtsein vom »Vorrang der Totale über die Erscheinung« zu sein.17 Auch
wenn System bei Marx als negatives, als kritisches System zu verstehen sei18 , sei
es doch System, und dies nicht im schwachen Sinne des vorphilosophischen
oder alltäglichen Sprachgebrauchs, sondern im starken einer Dialektik von We-
sen und Erscheinung:
»Ein dialektischer Sinnbegriff wäre kein Korrelat des Weberschen sinnhaften Verste-
hens, sondern das die Erscheinungen prägende, in ihnen erscheinende und in ihnen sich
verbergende gesellschaftliche Wesen. Es bestimmt die Phänomene, kein Allgemeinge-
setz im üblichen szientifischen Verstande. Sein Modell wäre etwa das sei’s auch heute bis
zur Unkenntlichkeit sich versteckende Marxische Zusammenbruchsgesetz, das aus der
Tendenz der sinkenden Profitrate deduziert war.«19

Es ist diese, von Hegel und Marx trotz tausend Vorbehalten übernommene Prä-
tention aufs Ganze, die die Kritische Theorie von zeitgenössischen Wissensfor-

14  Max Horkheimer: Soziologie und Philosophie (1959), in: HGS Bd. 7, S.  108–121, 115.
15  Adorno, Drei Studien zu Hegel, S.  253.
16  Ebd., S.  317, 319.
17  Ebd., S.  298.
18  Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, hrsg. von Rudolf zur Lippe, 2 Bde.,

Frankfurt am Main 1974, Bd. 2, S.  269, 272.


19  Adorno, Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, S.  320.
Reprise und Koda 259

men unterscheidet und es zugleich erschwert, an ihr Erbe anzuknüpfen. Sie läßt
sich mit Hegel nicht mehr begründen, dessen Lehre schon bald nach seinem Tod
mit Blick auf ihr unzulängliches Verständnis der Naturwissenschaften zu Recht
Partikularität attestiert wurde, was auch Adorno eingeräumt hat.20 Sie ist aber
auch von Marx her nur noch auf eine Weise zu halten, die mit prekär und dilem-
matisch noch schonend bezeichnet ist. Die Kritik der politischen Ökonomie ist
zwar eine Konstruktion, der auch nach anderthalb Jahrhunderten aller Respekt
gebührt, doch gibt sie lediglich eine Darstellung des »Kapitals im allgemeinen«,
»die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in
ihrem idealen Durchschnitt«.21 Sie bietet damit wohl eine Analyse des ›Gesamt-
prozesses‹ der kapitalistischen Produktion (wie der Titel des dritten Bandes lau-
tet), doch ist dieser nicht gleichbedeutend mit dem »vollendeten bürgerlichen
System«.22 Für dessen Erfassung waren zahlreiche weitere Schritte ins Auge
gefaßt: im Buch über das Kapital noch die Darstellung der Bewegung der Markt-
preise, »die wirkliche Bewegung der Konkurrenz« mit ihren Preisschwankun-
gen, Lohnbewegungen, Monopolpreisen und detaillierten Bedingungen des
Profitratenausgleichs; ferner die Untersuchung des Kreditwesens und des Akti-
enkapitals. Anschließend sollten in insgesamt fünf weiteren Büchern das
Grundeigentum, die Lohnarbeit, der Staat, der internationale Handel und der
Weltmarkt untersucht werden.23 Erst mit diesem letzteren sollte erreicht sein,
was Marx als das »organische System« bezeichnete, »worin die Produktion als
Totalität gesetzt ist und ebenso jedes ihrer Momente; worin aber zugleich alle
Widersprüche zum Prozeß kommen.«24 Für alles unterhalb dieser Ebene gelten
die Vorbehalte, die Marx im dritten Band seines Werkes macht: »In solcher all-
gemeinen Untersuchung wird überhaupt immer vorausgesetzt, daß die wirkli-
chen Verhältnisse ihrem Begriff entsprechen, oder, was dasselbe, werden die
wirklichen Verhältnisse nur dargestellt, soweit sie ihren eignen allgemeinen Ty-
pus ausdrücken.«25
Ausgeführt hat Marx nur einen Bruchteil seines gewaltigen Programms: ei-
nen einzigen der geplanten vier Abschnitte des Buches vom Kapital; und auch
von diesem hat er nur den ersten Band 1867 selbst noch zum Druck gebracht
und den Rest Friedrich Engels hinterlassen, der daraus unter großen Mühen
und mit nicht unerheblichen Fehlinterpretationen 1885 und 1894 die Bände II

20  Vgl. Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, S.  41.


21  Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, S.  839.
22  Marx 1974, S.  189.
23  Näher dazu Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapital‹,

2 Bde., Frankfurt am Main und Wien 1969², Bd. 1, S.  75 ff. Zu der dort entwickelten Hypothe-
se hinsichtlich der Planänderungen kritisch: Winfried Schwarz: Das »Kapital im allgemei-
nen« und die »Konkurrenz« im ökonomischen Werk von Karl Marx, in: Gesellschaft. Beiträ-
ge zur Marxschen Theorie 1, Frankfurt am Main 1974, S.  222–247.
24  Marx 1974, S.  139; vgl. ebd., S.  175.
25  Marx, Das Kapital, Bd. 3, S.  152.
260 Reprise und Koda

und III fertiggestellt hat. Eine marxistische Theorie des ökonomischen Feldes
liegt damit allenfalls in rudimentärer Form vor. Nicht einmal mehr als Plan
dagegen taucht im Spätwerk das noch in den Pariser Manuskripten skizzierte
Vorhaben auf, außerökonomische Ordnungen wie Religion, Recht, Moral, Wis-
senschaft oder Kunst als »besondre Weisen der Produktion« darzustellen26 ,
auch wenn im Kapital immerhin die Methode angedeutet ist: nämlich nicht
»durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden«,
sondern umgekehrt »aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre
verhimmelten Formen zu entwickeln.«27 Mißt man dies an dem von Marx selbst
erhobenen Anspruch, eine »Reproduktion des Konkreten im Weg des Den-
kens« zu erreichen, dann wird man sagen müssen, daß die dialektische Theorie
selbst in ihrer stärksten Fassung weit dahinter zurückgeblieben ist.
Andererseits: was auf den ersten Blick als Scheitern erscheint, stellt sich aus
einer anderen Perspektive als Rücknahme und Selbstbeschränkung dar, als Er-
gebnis wachsender Einsicht in die zu große Nähe der ursprünglichen Ambitio-
nen zu den Systemprogrammen der idealistischen Philosophie. Die Pariser Ma-
nuskripte standen noch ganz im Zeichen einer »emphatischen Dialektik«, die
zwar durch Feuerbach vom Kopf auf die Füße gestellt worden war, gleichwohl
noch immer vom monistischen Impuls einer »Vereinigungsphilosophie« ge-
speist wurde, der auf die Verflüssigung und Rücknahme sämtlicher Erschei-
nungsformen zielte, welche die entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnisse
unter dem Kapitalismus angenommen hatten.28 Dagegen beschied sich Marx in
seinen späteren Bemühungen um eine kritische Darstellung des Systems der
bürgerlichen Ökonomie29 mit einer deutlich »reduzierten Dialektik«, die das
Skandalon der Entfremdungsphilosophie – jene »Verkehrung, wodurch das
Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht
das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt« – ex-
pressis verbis nur für das »Wertverhältnis« geltend machte.30 Auch wenn Marx
alle darüber hinausgehenden Ambitionen in Richtung einer umfassenden dia-
lektisch-materialistischen Weltanschauung nie förmlich revoziert, ja sich ver-
schiedentlich sogar zustimmend zu Engels’ Ausflügen in die Kosmogonie geäu-
26  Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW

Ergänzungsband. Erster Teil, S.  537.


27  Marx, Das Kapital, Bd. 1, S.393.
28 Zur Unterscheidung von »emphatischer« und »reduzierter Dialektik« vgl. Gerhard

Göhler: Die Reduktion der Dialektik durch Marx. Strukturveränderungen der dialektischen
Entwicklung in der Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart 1980. Der Terminus »Vereini-
gungsphilosophie« steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Kondylis 1979.
29  In einem Brief an Lassalle vom 22.2.1858 beschreibt Marx sein Projekt prägnant wie

folgt: »Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien
oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich
Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben« (MEW Bd. 29, S.  550).
30  Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der

Produktionsprozeß des Kapitals, Hamburg 1867, S.  771.


Reprise und Koda 261

ßert hat, ist doch unverkennbar, daß er sich je länger, desto mehr als Analytiker
des ökonomischen Feldes verstanden hat, für den alles übrige cura posterior
war. Selbst der Begriff der Totalität, diese Fata morgana des hegelianischen
Marxismus von Lukács bis Adorno, verwandelte sich unterderhand in ein Sy-
nonym für Kreisläufe innerhalb des ökonomischen Feldes und stand nicht mehr
für »ein Ganzes von Wissen«, in dem »jeder Teil zugleich das Ganze«, als »Be-
ziehung auf das Absolute« erscheint.31
Die Kritische Theorie hat diese faktische Selbstbeschränkung allenfalls an-
satzweise mitvollzogen. Sie hat wohl in ihrer Anfangszeit das hegelianische To-
talitätskonzept zurückgewiesen und sich dafür stark gemacht, Dialektik anstatt
in einem abgeschlossenen in einem »intermittierenden« Sinne zu verstehen, wo-
mit eine Dialektik gemeint war, »die nicht in geschlossenen Denkbestimmun-
gen abläuft, sondern unterbrochen wird von der nicht sich einfügenden Realität,
an ihr gleichsam Atem holte (Ausdruck von Kierkegaard) und jedesmal frisch
anhebt«.32 Auch später noch wirkte dieses bei Horkheimer aus dem französi-
schen Materialismus, bei Adorno von Kierkegaard entlehnte Motiv weiter und
trug ein Verständnis, wonach Dialektik »das konsequente Bewußtsein von
Nichtidentität« sein sollte, »das Bewußtsein der Scheinhaftigkeit der begriffli-
chen Totalität«.33 Mit der Verabschiedung des idealistischen Grunddogmas –
der Identität von Denken und Sein34 – wurde jedoch nicht auch die emphatische
Dialektik aufgegeben, die sich in den Hegelmarxismus hinübergerettet hatte
und für den Horkheimer-Kreis in den Jahren des Exils mehr und mehr zum
Kriterium der sozialen Schließung gegenüber aller normal science avancierte.
Was der späte Marx auf ein spezifisches ökonomisches Verhältnis beschränkt
und darüber hinaus gegenüber Hegel anders begründet hatte, indem er die Dar-
stellung von Widersprüchen möglichst logisch widerspruchsfrei hielt und auch
die Reihenfolge der Kategorien nicht mehr primär aus einer expliziten Wider-
spruchsentwicklung ableitete35, wurde in der Kritischen Theorie allzu häufig
entgrenzt und zu einer Hermeneutik ausbuchstabiert, die noch in den entle-
gensten Gebieten, etwa der Musik, »die antagonistische Gesellschaft als Gan-
ze« zur Erscheinung bringen zu können prätendierte – und das, ohne jenes
Ganze je anders als durch den Hinweis auf »Strukturgesetze« bestimmen zu

31  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems

der Philosophie, in ders.: Werke Bd. 2, S.  9 –138, 30. In den Grundrissen bezeichnet Marx die
Zirkulation als »erste Totalität unter den ökonomischen Kategorien«, um dann das »Kapital
in der Totalität seiner Beziehungen« zu untersuchen. An späterer Stelle ist von der »Gesamt-
arbeit als Totalität« die Rede: Marx 1974, S.  111, 187, 374.
32  Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, Brief vom 26.5.1930, in: A/K, S.  218. Vgl.

Max Horkheimer: Ein neuer Ideologiebegriff? (1930), in: HGS Bd. 2, S.  271–294, 271.
33  Adorno, Negative Dialektik, S.  17.
34  Vgl. Max Horkheimer: Hegel und das Problem der Metaphysik (1932), in: HGS Bd. 2,

S.  295–308, 301.
35  Vgl. Göhler, Die Reduktion der Dialektik, S.  26.
262 Reprise und Koda

können, die Marx wohl für das Kapital im allgemeinen plausibel gemacht, hin-
sichtlich ihrer umfassenderen Geltung jedoch nur behauptet hat.36 Von einer
»emanatistischen Logik«, wie Max Weber sie als Markenzeichen des Epigonen-
tums des Hegelschen Panlogismus ausgemacht hat37, mag sich die Kritische
Theorie distanziert haben.38 Aber über die Gefahr, die sich ergibt, wenn man
ein Begrifflich-Allgemeines als »Realgrund der einzelnen Kulturerscheinun-
gen« faßt39 , ist man nicht schon dadurch hinaus, daß man das Hegelsche Allge-
meine durch die »Negativität des Allgemeinen« ersetzt. 40
Gershom Scholem, eine Autorität auf dem Gebiet der jüdischen Mystik und
dem eigenen Bekunden nach alles andere als ein Atheist41, mag es als Auszeich-
nung empfunden haben, wenn er nach der Lektüre der Negativen Dialektik sein
Urteil in dem Satz zusammenfaßte, er habe »noch nie eine keuschere und in sich
verhaltenere Verteidigung der Metaphysik« gelesen. 42 Aus soziologischer Sicht
ist damit eher die Grenze der Kritischen Theorie benannt, ihre Fixierung auf
jene »letzte Frage aller Metaphysik«, die die »Priesterweisheit« der »priesterfrei-
en Philosophie« vererbt hat: »wenn die Welt als Ganzes und das Leben im be-
sonderen einen ›Sinn‹ haben soll, – welches kann er sein und wie muß die Welt
aussehen, um ihm zu entsprechen?«43 Auch wenn die Kritische Theorie diese
Frage gegenwärtig für nicht direkt beantwortbar erklärt hat, hat sie sich doch
mit Nachdruck dafür eingesetzt, sie auf der Agenda zu halten. Und damit offen-
bart, worum es ihr eigentlich geht: um »Rettung der Metaphysik«, ja um »Ret-
tung der Theologie«. 44

36  Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, in: AGS Bd. 14, S.  251; Spätka-

pitalismus oder Industriegesellschaft? (1968), in: AGS Bd. 8, S.  354–370, 356.


37  Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen National-

ökonomie, in ders. 19734 , S.  1–145, 144.


38  Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S.  18; ders.: Mahlers Aktualität (1960), in: AGS Bd. 18,

S.  241–243, 242.
39  Weber, Roscher und Knies, S.  142.
40  Adorno, Negative Dialektik, S.  57.
41  Vgl. Gershom Scholem an Theodor W. Adorno, Brief vom 8.12.1967, in: A/S, S.  4 41.
42  Gershom Scholem an Theodor W. Adorno, Brief vom 1.3.1967, in: A/S, S.  407.
43 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2,

S.  194.
44  Theodor W. Adorno an Gershom Scholem, Brief vom 14.3.1967, in: A/S, S.  413; Brief an

Gershom Scholem vom 18.12.1957, ebd., S.  169.


Literaturverzeichnis

I.  In Abkürzungen zitierte Schriften

A/B Theodor W. Adorno und Walter Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, hrsg. von
Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1994.
A/E Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern, hrsg. von Christoph Gödde und
Henri Lonitz, Frankfurt am Main 2003.
AGS Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hrsg. von
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Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, 1971.
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Bd. 11: Noten zur Literatur, 1974.
Bd. 12: Philosophie der neuen Musik, 1975.
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Bd. 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, 1973.
Bd. 16: Musikalische Schriften I–III, 1978.
Bd. 17: Musikalische Schriften IV. Moments musicaux. Impromptus, 1982.
Bd. 18: Musikalische Schriften V, 1984.
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Bd. 3: Schriften 1931–1936, 1988.
Bd. 4: Schriften 1936–1941, 1988.
Bd. 5: »Dialektik der Aufklärung« und Schriften 1940–1950, 1987.
Bd. 6: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und »Notizen 1949–1969«,
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Bd. 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, 1985.
Bd. 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, 1985.
Bd. 11: Nachgelassene Schriften 1912–1931, 1987.
Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931–1949, 1985.
Bd. 15: Briefwechsel 1913–1936, 1995.
Bd. 16: Briefwechsel 1937–1940, 1995.
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Bd. 23: Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, 1972.
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Bd. 30: Karl Marx und Friedrich Engels, Briefe 1860–1864, 1964.
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Bd. I/14: Zur Musiksoziologie. Nachlaß 1921, hrsg. von Christoph Braun
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Bd. I/15: Zur Politik im Weltkrieg, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen i.Z.m.
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Bd. I/16: Zur Neuordnung Deutschlands, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen
i.Z.m. Wolfgang Schwentker, 1988.
Bd. I/17: Wissenschaft als Beruf, in ders.: Wissenschaft als Beruf. Politik als
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Bd. I/22–1: Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften, hrsg. von Wolf-
gang J. Mommsen i.Z.m. Michael Meyer, 2001.
Bd. I/22–2: Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften, hrsg.
von Hans G. Kippenberg i.Z.m. Petra Schilm, 2001.
Bd. I/22–4: Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, hrsg. von Edith Han-
ke i.Z.m. Thomas Kroll, 2005.
Bd. I/23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, hrsg. von Knut Borchardt
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Bd. II/10: Briefe 1918–1920, hrsg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lep-
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Personenverzeichnis
(ohne Adorno, Horkheimer und Marcuse)

Adorno, Gretel  50 de Man, Hendrik  131, 144


Althusser, Louis  88 Demirović, Alex  212
Anders, Günther  119 Descartes, René  25
Aristoteles  48, 57 Dilthey, Wilhelm  9, 11, 52, 57 f., 60, 134,
Arnim, Achim von  161 159, 164-166, 170, 175, 194, 199, 210, 226
Avenarius, Richard  103 Dimitrow, Georgi  136
Döbert, Rainer  196
Bataille, Georges  41 Dostojewskij, Fjodor M. 29, 161
Baudrillard, Jean  120 Dubiel, Helmut  129
Bauer, Bruno  24 Dumézil, Georges  41
Bauer, Otto  135 Durkheim, Émile  41, 54, 61, 212, 216 f., 251
Becher, Johannes R. 18
Beck, Maximilian  163 Eichendorff, Joseph von  161
Behrmann, Günter C. 190 Elias, Norbert  73
Bell, Daniel  178 Engels, Friedrich  64, 66, 142, 228, 248,
Benjamin, Walter  13, 19, 28, 30, 41, 42, 44, 259 f.
47, 58, 65 f., 77, 78, 80 f., 90, 105 f., 109,
135, 149, 158, 175 f., 184, 209, 219, 221, Farías, Victor  166
232 f., 236 f., 244 Faye, Emmanuel  167
Bergson, Henri  223 Fenichel, Otto  16, 123 f.
Bernfeld, Siegfried  16 Feuerbach, Ludwig  23, 79, 104, 187, 259
Bloch, Ernst  101, 114, 187, 221, 232 Fichte, Johann Gottlieb  161
Borchardt, Rudolf  72 f. Foucault, Michel  88
Borkenau, Franz  132 Fourier, Charles  186
Bourdieu, Pierre  1, 167 f. Fraenkel, Ernst  136
Brandes, Georg  27 Frenkel-Brunswig, Else  150
Brandt, Gerhard  129, 255-257 Freud, Sigmund  8, 42 f., 65 f., 103, 123, 125,
Braun, Christoph  214 143, 152, 183, 246
Brecht, Bertolt  90 Freyer, Hans  57, 199
Brentano, Franz  165 Fromm, Erich  6, 16, 38-40, 81, 123, 127, 132,
Brunkhorst, Hauke  7 f., 257 142-150, 158
Bucharin, Nikolai  137
Gadamer, Hans-Georg  72
Caillois, Roger  40-44 Galbraith, John K. 178
Calvin, Johannes  171 Galilei, Galileo  10
Carnap, Rudolf  25 Garfinkel, Harold  257
Cassirer, Ernst  222, 226, 228 Gauguin, Paul  247
Cohen, Hermann  193 Geiger, Theodor  130, 144
Comte, Auguste  52 f., 61, 212, 250 Gehlen, Arnold  73, 76, 97, 99, 107, 110
Condorcet 52 George, Stefan  247
Cornelius, Hans  9, 16, 99 Gerth, Hans  141
Goethe, Johann Wolfgang  159, 161
Decker, Georg  130 Groethuysen, Bernhard  102
270 Personenverzeichnis

Großheim, Michael  246 Korthals, Michiel  10


Grossmann, Henryk  17, 158 Kracauer, Siegfried  14 f., 19 f., 53, 100, 101,
Grünberg, Carl  9, 17, 221 102, 208 f., 210, 221
Gumperz, Julian  18, 132 Krahl, Hans-Jürgen  94, 186
Gurland, Arkadij  49 Kries, Johannes von  217
Guterman, Norbert  49 Kuhn, Thomas S. 6

Habermas, Jürgen  8, 47, 82, 157, 172, Landsberg, Paul Ludwig  102, 104, 108, 132
180, 189 Lask, Emil  88, 89
Hahn, Max  227 Lederer, Emil  18, 222, 225, 227
Hamsun, Knut  29 Leibniz, Gottfried Wilhelm  258
Hartmann, Nikolai  245 Lenin, Wladimir I. 13 f., 55, 65, 137, 162, 181
Haubach, Theodor  222 Levinson, Donald J. 150
Heberle, Rudolf  131, 141 Liebknecht, Karl  204 f.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  1, 9-11, Lilge, Frederic  100
21-23, 24, 33, 34, 57 f., 59, 60, 83, 97 f., 104, Löwe, Adolph  18, 32
109, 154, 162, 183, 194 f., 206, 216, 219, Löwenthal, Leo  6, 15, 17, 19 f., 26-29, 32,
233, 256, 258 f., 261 f. 49, 58, 129, 132, 157 f., 175, 222
Heidegger, Martin  57, 78 f., 158, 163-169, Luhmann, Niklas  1, 73, 207
175, 180, 199, 207, 227 f., 240, 247, 256 Lukács, Georg  7-11, 13-15, 18 f., 21, 25, 27 f.,
Helvétius, Claude Adrien  26 58-60, 62, 77-84, 88 f., 91 f., 104, 109, 112,
Herder, Johann Gottfried  69 124, 159, 161 f., 193, 195, 199, 204, 210 f.,
Hilferding, Rudolf  18, 65, 137 f. 222, 225 f., 232, 235, 238 f., 243, 246, 251, 261
Hitler, Adolf  155 Luther, Martin  171
Hofmannsthal, Hugo v. 149 Luxemburg, Rosa  204 f.
Honigsheim, Paul  102
Honneth, Axel  209 Mach, Ernst  103
Horney, Karen  123, 144 Machiavelli, Niccolo  101
Hume, David  12, 69 Mandelbaum, Kurt  202
Husserl, Edmund  21, 25, 30, 32 f., 57 f., 78, Mann, Thomas  159 f.
81, 102, 180, 233, 243, 244, 256 Mannheim, Karl  9, 11, 31, 56, 58, 131, 175,
Hutcheson, Francis  12 195, 199, 208, 210-212, 222, 225-227, 231,
246
Ibsen, Henrik  29 Marquard, Odo  104
Marr, Heinz  131
Jaspers, Karl  166, 210 Marx, Karl  14 f., 23, 52, 56 f., 59, 61, 63, 64,
Jay, Martin  10, 19, 129 70, 75-79, 84-87, 89, 92-94, 97 f., 104, 109,
Jung, Carl Gustav  30 112, 142 f., 154, 158, 168, 186, 193-195, 210,
213, 217, 219, 222, 226, 239, 243, 249, 252,
Kant, Immanuel  11 f., 23, 194, 225, 227, 258-262
235, 256 Mauss, Marcel  41, 251
Kapferer, Norbert  249 Mayer, Arno J. 178
Keller, Gottfried  159, 161 Mayer, Hans  35, 41, 54, 92
Kernberg, Otto F. 125 Mehring, Franz  27, 159
Kierkegaard, Sören  261 Meinhof, Ulrike  186
Kirchheimer, Otto  39, 139 f. Meyer, Gerhard  202
Klages, Ludwig  30, 41, 77, 78, 244-249, 252 Michels, Robert  53
Klein, Richard  149, 256 Mierendorff, Carlo  130, 144, 222
Knies, Karl  193 Mills, C. Wright  178
Kohut, Heinz  125-127 Misch, Georg  165
Kolakowski, Leszek  6 Mohl, Robert von  52
Kondylis, Panajotis  11, 201 Mommsen, Wolfgang J. 189, 204
Korsch, Karl  132, 136, 162, 163 Moore, Barrington  178
Personenverzeichnis 271
Neckel, Sighard  76 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper  12
Negt, Oskar  129 Simmel, Ernst  123
Neumann, Franz  138, 140 f., 177, 184, 202 Simmel, Georg  52 f., 57, 60, 61, 71, 74, 77,
Neumann, Sigmund  131 79, 88, 98, 112, 165, 196, 207, 215
Nietzsche, Friedrich  66, 103, 166, 183, 247 Slater, Phil  187
Nixon, Richard  185 Sloterdijk, Peter  78, 185
Sohn-Rethel, Alfred  30, 81, 169, 177, 210,
Oppenheimer, Franz  53, 209 221-252
Sombart, Werner  18, 56, 143
Packard, Vance  178 Sonnemann, Ulrich  97
Parsons, Talcott  189 f. Spann, Othmar  57, 193
Paul, Axel T. 207 Spencer, Herbert  52 f., 61, 212, 250
Piaget, Jean  248 Spengler, Oswald  30, 65-67, 103
Platon  48, 184, 244 Stein, Lorenz von  52
Plessner, Helmuth  98 f., 107 f., 191 Steinert, Heinz  15, 72, 209
Pohrt, Wolfgang  94 Sternberger, Dolf  168
Polanyi, Karl  98 Strauss, Leo  195
Pollock, Friedrich  9, 17 f., 20, 35-37, 65, Strawinskij, Igor  148
136-141, 145, 158, 168 f., 177, 202 Strindberg, August und Frida  29
Popper, Karl  255
Postone, Moishe  136 Theunissen, Michael  70
Prokop, Dieter  119 Thies, Christian  127
Thomas, Martin Luther  155
Reich, Wilhelm  16 Tillich, Paul und Hannah  68, 83, 130
Révai, Josef  9 Tönnies, Ferdinand  52, 141, 161, 196
Rickert, Heinrich  222 Tolstoi, Leo  161
Riemer, Svend  130 Treitschke, Heinrich von  52
Riesman, David  152 Troeltsch, Ernst  53, 56, 210
Riezler, Kurt  168 Tyrell, Hartmann  53
Rothacker, Erich  99, 106
Rousseau, Jean-Jacques  26, 60, 184 Vaihinger, Hans  80
Ryle, Gilbert  33 Vico, Giambattista  69

Saint Simon, Claude Henri  52 Wagner, Gerhard  210


Salomon-Delatour, Gottfried  53 Wagner, Richard  148
Salvatorelli, Luigi  144 Weber, Alfred  146, 210, 222-227, 231,
Sanford, R. Nevitt  150 238, 244, 249
Sartre, Jean-Paul  167 Weber, Max  1 f., 7, 48, 52-54, 56, 63, 71,
Schäfer, Michael  129 74 f., 88, 131, 139, 141, 152, 189-219, 223,
Scheler, Max  66, 98, 99-103, 108, 193, 226, 262
214, 245 Weil, Felix  9, 16
Schelsky, Helmut  73, 255 Weiß, Hilde  132
Schelting, Alexander von  224 Weiß, Johannes  219
Schiller, Friedrich  183 Wiese, Leopold von  57
Schluchter, Wolfgang  1 f., 206 Wittfogel Karl August  17 f., 18, 55, 131,
Schmidt, Alfred  79, 97, 129, 158, 187 158, 169
Schmitt, Carl  189
Scholem, Gershom  184, 187, 262 Zibordi, Giovanni  144
Schopenhauer, Arthur  12, 183 Zuckmayer, Carl  222
Schumpeter, Joseph A. 222

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