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ROPOHL, Günter. Das Misstrauen in der Technikdebatte In:: Vertrauen — zwischen sozialem Kitt und der
Senkung von Transaktionskosten [Online]. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 2010 (Erstellungsdatum:
01 mai 2019). Online verfügbar: <http://books.openedition.org/ksp/2568>. ISBN: 9782821894884.
Das Misstrauen in der Technikdebatte
Günter Ropohl
1. Einleitung
Im 20. Jahrhundert hat es, zunächst nach dem ersten und dann auch nach
dem zweiten Weltkrieg, etliche Stimmen gegeben, welche „die Technik“ in
Bausch und Bogen verurteilt haben. Meist waren das konservative Literaten,
die mit ihren Schriften erhebliche Resonanz im Bildungsbürgertum fanden.
Als Beispiele nenne ich: Günther Anders, Jacques Ellul, Friedrich Georg
Jünger, Lewis Mumford, Helmut Schelsky und Oswald Spengler. 3
Diese pauschale Technikkritik beruht auf schlichten Denkfehlern und ideo-
logischen Vorurteilen. Man behandelt „die Technik“, als ob sie eine homoge-
ne und selbstständige Wesenheit wäre, man stilisiert bestimmte Fehler ein-
zelner technischer Erscheinungen zum „Fluch der Technik“ schlechthin, und
man übersieht die selbstverständlich gewordenen Leistungen vieler techni-
4 Vgl. zu den Einzelheiten das zweite Kapitel in meinem Buch von 1985; vgl. a.
Huber 1989.
5 Vgl. Klems 1988.
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11 Endreß 2002, 68ff.; dort wird allerdings das Attribut „fungierend“ statt „habituell“
verwendet, was ich zu unspezifisch finde.
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12 Vgl. a. meinen Aufsatz von 1994 und die daran anschliessende Diskussion.
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13 Vgl. das 14. Kapitel in meinem Buch „Signaturen“ von 2009, in dem ich die hys-
terische und unbegründete Angst vor dem Tabakrauch, dem man als Nichtraucher
ungewollt („passiv“) ausgesetzt sein mag, als Ausgeburt des Sanitarismus deute.
14 So werden immer wieder einmal Spekulationen laut, gentechnisch konstruierte
Mikroorganismen wären unkontrolliert aus Laboren freigesetzt worden und hätten
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Wie die Beispiele verdeutlichen – die ich natürlich nur sehr kurz skizzieren
konnte –, spielt in der neueren Technikdebatte das Misstrauen eine bedeu-
tende Rolle. Vom Atomenergie-Beispiel abgesehen, in dem anspruchsvolles
reflexives Misstrauen erarbeitet wurde, handelt es sich großenteils um habi-
tuelles Misstrauen. Dazu zähle ich auch den Rationalisierungsversuch, hy-
pothetische Risiken zu konstruieren. 15 Dabei kennt man, weil noch nie ein
Schadensfall eingetreten ist, weder eine Eintrittswahrscheinlichkeit noch ei-
ne Schadenshöhe, sondern fingiert lediglich denkbare Schadfolgen. Es steht
dahin, ob eine solche „Heuristik der Furcht“ 16 wirklich der beste Ratgeber ist,
um die Menschen zu einem reflektierten Umgang mit der Technik zu brin-
gen.
Als Vertrauen bezeichnet man eine menschliche Einstellung, der die Ge-
wissheit eigen ist, von bestimmten anderen Personen, gesellschaftlichen
Einrichtungen oder äußeren Umständen keine unerwartete Störung oder
Gefährdung, sondern die Sicherung und Förderung der eigenen Lebenslage
zu erwarten. Dagegen heißt Misstrauen eine Einstellung, die von der Unge-
wissheit geprägt ist, ob von bestimmten anderen Personen, gesellschaftli-
chen Einrichtungen oder äußeren Umständen eine Störung oder Gefähr-
dung der eigenen Lebenslage ausgehen könnte. Diese Definitionsversuche,
die ich aus verschiedenen Texten kondensiert habe, bestätigen, dass Ver-
trauen und Misstrauen einander nicht kontradiktorisch, sondern bloß konträr
gegenüberstehen. Während die Gewissheit des Vertrauens als uneinge-
schränkt positive Erwartung erlebt wird, ist die Ungewissheit des Misstrau-
ens lediglich eine Haltung des Zweifels und der Vorsicht, die mögliche nega-
tive Erfahrungen in Rechnung stellt, aber auch nicht für unabdingbar hält.
Ferner gibt es wie gesagt zwischen Vertrauen und Misstrauen die Gleichgül-
tigkeit.
Ursprünglich betrafen Vertrauen und Misstrauen allein die zwischen-
menschlichen Beziehungen: Jemand vertraut oder misstraut einer anderen
Person, weil er sie für zuverlässig und wohlwollend hält oder aber daran
zweifelt. In individualistischer Perspektive freilich kann man den Problemen
der Technik nicht beikommen, 17 und das gilt natürlich auch für das Misstrau-
en, das man nicht nur Personen, sondern auch Institutionen oder gar den
technischen Sachen entgegenbringt. Die Objekte persönlichen Vertrauens
neue Krankheiten ausgelöst, ein Verdacht, dem von Fachleuten regelmäßig wider-
sprochen wird.
15 Vgl. Banse 1996, 135.
16 Jonas 1979, 63f.
17 Vgl. allgemein mein Buch „Technologie“ von 2009.
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18 Die sich dann später in der politischen Partei der „Grünen“ institutionalisierte.
19 Endreß 2001; dort prononcierter als in seiner systematischen Themenübersicht
von 2002.
20 Vgl. z.B. van der Loo/van Reijen 1992.
21 Vgl. mein Buch von 1998, sowie das 7. Kapitel in meinem Buch „Signaturen“
von 2009.
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ist, Misstrauen zu wecken. Auf Plattdeutsch: „Wat der Buur nit kennt, dat
freet er nit.“
Jede Innovation ist nämlich vorderhand ein Einbruch in die Lebenswelt.
Diese Lebenswelt, die den Menschen immer schon vertraut ist, soll mit der
Innovation veränderte oder gar neuartige Erlebnis- und Handlungsformen
annehmen, mit denen die Menschen sich erst vertraut machen müssen, be-
vor sie unbefangen damit umgehen können. 22 Technische Sachen und
menschliches Handeln bilden einen soziotechnischen Systemzusammen-
hang, der nur in langwierigen und manchmal mühevollen Integrationsprozes-
sen gelingen kann; 23 Soziologen sprechen hier von der „Kontextualisierung“
der Sachen. So lange die Sachen nicht in die Lebenswelt integriert sind,
bleiben sie unvertraut, und wenn das Unvertraute den Alltagsroutinen sich
aufzudrängen sucht, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Adres-
saten „fremdeln“. In den Sachen nämlich sind fremdes Wissen, Können und
Wollen inkorporiert, die sich die Technikverwender bei der Sachaneignung
gefallen lassen müssen. 24 Das ist die ganz alltägliche Entfremdung, und wer
sensibel genug ist, dieser Entfremdung gewahr zu werden, kann sich des
Misstrauens kaum erwehren. 25 Allerdings wird die Entfremdung, die prinzi-
piell in der Arbeitsteilung zwischen Technikherstellung und Technikverwen-
dung begründet ist, durch Gewöhnung meist nicht mehr bemerkt. Techni-
sche Sachen, die man geläufig und erfolgreich benutzt, werden allmählich
vertraut, auch wenn ihnen im Kern eigentlich immer etwas Fremdes anhaf-
tet, das undurchschaubar bleibt.
Die Undurchschaubarkeit belastet die Entwicklung zur Vertrautheit beson-
ders dann, wenn die Sache, wie es vor allem bei informationstechnischen
Geräten vorkommt, mit allen möglichen Zusatzfunktionen überladen ist, de-
ren Nutzung, wenn man überhaupt daran interessiert ist, anstrengendes Ler-
nen erfordert. 26 Bezeichnender Weise ist gerade bei älteren Menschen das
Misstrauen gegenüber Mobiltelefonen und elektronischen Rechnern beson-
ders groß, vor allem, wenn sie in ihrer Lebenswelt auch ohnedem gut auszu-
kommen glauben.
vationsanalyse mehr; denn es gibt ja explizit die Gründe an, die gegen eine
bestimmte Technik vorgebracht werden können: Unfall- oder Gesundheits-
gefahren, Umweltbeeinträchtigungen, Verletzung von Persönlichkeitsrechten
und dergleichen mehr. Anders als das habituelle Misstrauen, das in seiner
vagen Erlebnisqualität kaum greifbar ist, lässt sich reflexives Misstrauen im
Prinzip rational diskutieren – auch wenn dabei gelegentlich Reste des habi-
tuellen Misstrauens sozusagen „rationalisiert“, also mit vorgeschobenen
Scheinargumenten nobilitiert werden mögen.
28 Inzwischen weiß man wohl, dass diese Wendung nicht wörtlich von Lenin
stammt, aber sie hat sich verbreitet, weil sie so besonders griffig ist. Vgl. www.zeit.-
de/stimmts [Abruf 21.11.2009].
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kaum sagen, dass die Jüngeren ein ausgeprägtes Vertrauen zur Informa-
tionstechnik entwickelt hätten; vielmehr ist es eine Mischung von Nutzungs-
begeisterung, Gleichgültigkeit und Leichtsinn, die deren Verhalten prägt.
Ich will nicht bestreiten, dass ein gewisser Teil der Mitmenschen von einer
ausgeprägten Neophobie besessen ist und sich gegen jede geplante Verän-
derung ihrer Umwelt in Bürgerinitiativen und Protestaktionen vehement zur
Wehr setzt, sei es eine neue Straßen- oder Bahntrasse, sei es eine Fabrik-
ansiedlung oder sei es ein größeres Vorhaben der Ortsmodernisierung. Ge-
wiss: Manchmal können sie mit nachvollziehbaren Argumenten aufwarten,
doch gelegentlich beschleicht mich der Verdacht, es würden Stellvertreter-
kriege geführt, weil man sich überhaupt von der technisch-wirtschaftlichen
Modernisierungsgeschwindigkeit überfordert und bedroht fühlt und spektaku-
läre Projekte zu Prügelknaben macht, um dem Missbehagen über erzwun-
gene Anpassungszumutungen Luft zu verschaffen.
Es ist mithin vor allem die gewaltige Entwicklungsdynamik der Technisie-
rung, die ständig neue Unvertrautheiten und damit neue Objekte des Miss-
trauens schafft. Die Innovationsgeschwindigkeit hat längst jene Grenze
überschritten, innerhalb derer die Alltagsmenschen früher gewisse Neue-
rungserfahrungen relativ problemlos verarbeiten konnten. Die Menge und
Geschwindigkeit der Neuerungen überfordert die Innovationstoleranz der
Menschen. Aber die vernünftige Schlussfolgerung, die man zu ziehen ver-
sucht ist, nämlich die Technisierung zu verlangsamen, ist bedauerlicherwei-
se völlig unrealistisch. Technische Innovationen sind das Vehikel der Kapi-
talverwertung, und der Imperativ der Kapitalakkumulation besitzt eine Eigen-
dynamik, die von einzelnen Personen oder Organisationen in keiner Weise
gebremst werden kann. Nicht die „Eigengesetzlichkeit der Technik“, die frü-
her mit der Technokratiethese behauptet worden war, 31 sondern die Eigen-
gesetzlichkeit des Kapitals ist es, die es als aussichtslos erscheinen lässt,
den reißenden Strom der Technisierung zu bändigen und in menschenge-
rechter Weise zu kanalisieren. 32
Der Mangel an Vertrautheit hängt mit der mangelnden Integration neuer
Techniken in die alltägliche Lebenswelt zusammen. Das rührt aber nicht nur
von der begrenzten Anpassungskapazität der Menschen, sondern auch von
der Anpassungsresistenz der Innovationen, die sich der soziotechnischen
Integration entgegenstellt. Beispielsweise verlangt es die Steuerungslogik in-
formationstechnischer Geräte, vielfach verzweigte hierarchische „Bäume“
sequenziell abzuarbeiten, eine Prozedur, die den Alltagsintuitionen des
33 Diese Anregung habe ich bereits in meinem Buch von 1985, 217ff. gegeben,
aber wenig Resonanz damit gefunden.
34 Mehr dazu in meinem Buch von 2004.
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chen und Misstrauen gegen ihre Urheber stehen nicht selten in einem wech-
selseitigen Bedingungsverhältnis. Das Misstrauen gegen die Fachleute in
Wissenschaft, Technik und Industrie findet seine Nahrung natürlich in etli-
chen Innovationen, die, unbeschadet ihrer Funktionsqualität, spürbare Nach-
teile für die Umwelt- und Gesellschaftsqualität aufweisen, 35 und es artikuliert
sich in dem Vorwurf, die Wissenschaftler und Ingenieure kämen ihrer Ver-
antwortung für die menschliche Lebensqualität nicht nach.
Dieses Misstrauen hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Forderung
nach der „gesellschaftlichen Verantwortung des Ingenieurs“ niedergeschla-
gen, doch die Diskussion hat in meinen Augen ergeben, dass die Forderung
großenteils unrealistisch ist, weil sie den Ingenieuren Lasten auferlegen will,
die sie aus professionsspezifischen, sozioökonomischen und prinzipiellen
Gründen gar nicht übernehmen können. 36 Darum mag ein habituelles Miss-
trauen gegen diesen Berufsstand zwar verständlich sein, aber es ist im
Grunde unangebracht, weil diesen Menschen kaum ein persönliches Fehl-
verhalten anzulasten ist. Darum reagieren diese Personen, ebenso wie die
zuvor erwähnten Hochschullehrer, dann auch häufig mit Unmut und Verär-
gerung, weil sie sich ungerechtfertigt beschuldigt fühlen. Ebenso unange-
bracht ist selbstverständlich die oben erwähnte pauschale Forderung von
Sachsse, den Experten uneingeschränktes Vertrauen entgegenzubringen.
Vielmehr sind in dieser Sphäre Vertrauen und Misstrauen zu entpersonali-
sieren.
Ich habe das habituelle Misstrauen in den Vordergrund gerückt, weil es
das schwieriger zu fassende Phänomen darstellt. Wenn Misstrauen eine re-
flexive Form annimmt, operiert es mit Gründen, die sich überprüfen und ge-
gebenenfalls in kritischen Diskussionen und praktischen Revisionen behe-
ben lassen. Reflexives Misstrauen ist die Vorform einer diskursiven Technik-
bewertung, die dann unter Umständen akzeptablere Varianten umwelt- und
menschengerechter Technikgestaltung auf den Weg bringen kann. Das aber
bedeutet, von jenem Institutionalisierungsparadox Gebrauch zu machen,
das persönliches Vertrauen wiederherstellt, indem das Misstrauen institutio-
nalisiert wird. 37 Wenn persönliches Vertrauen, so gut es vielleicht manchmal
wäre, verloren gegangen ist oder gegenüber dem Neuen gar nicht erst auf-
kommen will, schafft man gesellschaftliche Einrichtungen der Kontrolle, die
ihrerseits nach kundiger Prüfung den Menschen sagen, welche Produkte
Vertrauen verdienen und bei welchen Innovationen ein gewisses Misstrauen
nicht von der Hand zu weisen ist. Endreß selbst nennt Institutionen wie den
Literatur