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Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 24098 Kiel

Philosophisches Seminar

Leibnizstr. 6
24118 Kiel

http://www.uni-kiel.de/PhilSeminar/pers.htm

Prof. Dr. Dirk Westerkamp

Telefon: + 49(0)431/880-2240
Telefax: + 49(0)431/880-5261
Email: westerkamp@philsem.uni-kiel.de

3. November 2020

Betr.: Seminar
Hegel: Phänomenologie des Geistes (VI. Geist) (WiSe 2020)

Handreichung zur 1. Sitzung

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,


verehrte Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer,

dieses Lektüreseminar zu Einleitung und Sechstem Kapitel der Hegelschen Phäno-


menologie des Geistes findet unter außergewöhnlichen, gewiss suboptimalen Bedin-
gungen statt. Leider wird es zunächst nicht als gewöhnliches Seminar, im wöchentli-
chen Turnus und in der gewohnten Form sorgfältiger Textlektüre mit Diskussion, statt-
finden können. Das ist für unseren Gegenstand, das ist im Falle dieses Textes beson-
ders misslich; besser gesagt: ein Ding der Unmöglichkeit.
eLearning mag für bestimmte Inhalte gut sein, der Form des Philosophierens und des
philosophische Texte Lesens ist es kaum angemessen. Hegels Phänomenologie des
Geistes gehört zu den kompliziertesten Texten der europäischen Denkgeschichte. Das
Buch zu lesen, geschweige denn zu verstehen, ist schon schwierig genug; es in einer
Art Fern- und Onlinestudium und dennoch diskursiv/interaktiv zu behandeln, ist eigent-
lich unmöglich. Diese Unmöglichkeit (wie so viele andere) nötigt uns die derzeitige Si-
tuation auf. Versuchen wir also, so gut es geht, das Unmögliche.

Lassen Sie mich Ihnen eine Reihe von Informationen und Instruktionen geben, die als
Präliminarien an den Beginn unserer ersten Sitzung gehören:

Modulzuordnungen
Dieses „Seminar“ kann – je nach den Erfordernissen Ihres Studienplans – im Rahmen
von vier Modulen besucht werden:
1
BA 2 (Geschichte der Philosophie – Zentrale Themen der Philosophie der Neu-
zeit);
mögliche Prüfungsleistung: Ergebnisprotokoll (2 Seiten, unbenotet).
BA 3 (Einführung in die Theoretische Philosophie);
mögliche Prüfungsleistung: Take-Home-Klausur (5 S., unbenotet).
BA 5 (Theoretische Philosophie II – Vertiefung);
mögliche Prüfungsleistung: Hausarbeit (10 S., benotet).
PHF-phil-WP (Philosophische Reflexion und ethische Urteilskraft);
mögliche Prüfungsleistung: Essay (6 S., benotet).

Erläuterung zu den Prüfungsleistungen:

Ergebnisprotokoll (BA 2): Erwartet wird ein zweiseitiges Papier, das den (in der von
Ihnen frei gewählten, zu protokollierenden Sitzung zugrundegelegten) Hegel-Text auf
zwei Seiten zusammenfasst und seinen Gedankengang rekonstruiert; von Ihnen selbst
ausgewählte Anregungen aus der Kommentarliteratur können, dürfen und sollen in
diese Zusammenfassung einfließen. Ein Musterprotokoll, an dem Sie sich orientieren
können, wird zur zweiten Sitzung zur Verfügung gestellt. Welche Sitzung Sie protokol-
lieren, bleibt Ihnen überlassen. Abgabedatum: 2. April 2021.
Take-Home-Klausur (BA 3): Diese Klausur bekommen Sie am Ende des Semesters
gestellt; sie ist im ersten Prüfungszeitraum zu bearbeiten (wie immer der terminiert sein
wird). Sie werden in jedem Fall aber mindestens 6 Wochen Zeit zur Bearbeitung ha-
ben. Die Klausur enthält auf einem Informationsblatt alle Formalia, die Sie benötigen,
auf einem Aufgabenblatt zwei Fragen zum Text unseres Seminars. Abgabedatum: 2.
April 2021.
Hausarbeit (BA 5): Diese Hausarbeit zu einem Thema (der Phänomenologie) Ihrer
Wahl wird in meiner Sprechstunde individuell vereinbart und besprochen. Abgabeda-
tum: 2. April 2021.
Essay (PHF-phil-WP): Der Essay behandelt eine von Ihnen selbst gestellte Frage zum
behandelten Text der Phänomenologie und beantwortet diese in etwas freierer und lo-
ckerer, eben: essayistischer Form. Abgabedatum: 2. April 2021.

Textgrundlage
Alle Seminarteilnehmerinnen und Teilnehmer haben ein Exemplar mit dem vollständi-
gen Text der Phänomenologie des Geistes (im Folgenden: PdG), etwa die Ausgaben:
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner (PhB 414); oder
die Ausgabe Frankfurt/M.: Suhrkamp (stw 603).
Empfehlen möchte ich die Ausgabe innerhalb der „Hauptwerke in sechs Bänden“,
Hamburg: Meiner 2015, dort der Bd. 2, die Sie aber nur im Gesamtbezug der 6 Bände
erwerben können (https://meiner.de/hauptwerke-14073.html). Die Hauptwerke bieten
Hegels Texte in Gestalt der maßgeblichen kritischen Ausgabe der von der Rheinisch-
Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen „Gesammelten Wer-
ke“ (Hamburg: Meiner 1968 ff.): die PdG ist dort in Bd. 9. Nach dieser Ausgabe muss in
jeder schriftlichen Prüfungsleistung zitiert werden. Wer die 78,- EUR für diese Ausgabe
investiert, kann sich spätere Zitatkonkordanzen und Gänge in die Fachbibliothek zur
Zitatumstellung bequemerweise sparen.
Hegels PdG muss wie folgt zitiert werden: GW 9 (nach Gesammelte Werke, Bd. 9),
dann die Seitenzahl, und dann – tiefergestellt – die Zeilenzahl. Beispiel: Der erste Satz
(ein echter Bandwurmsatz) der „Einleitung“: „Es ist eine natürliche Vorstellung, daß …“

2
müsste so nachgewiesen werden: GW 9, 531–10. Auf diese Weise können wir uns auch
in unserer eLearning-Korrespondenz präzise über die Textstellen verständigen.

Erkenntnisinteresse
Wir lesen einen der einflussreichsten Texte der Philosophiegeschichte der letzten 200
Jahre. Seine Wirkung reicht von Marx‘ Kapital bis hin zu Robert B. Brandoms A Spirit
of Trust (2019). Das Buch ist der „Bildungsroman“ (Brandom) eines sich vom natürli-
chen zum wissenschaftlichen Bewusstsein emporarbeitenden Geistes (der übrigens
auch unser aller Geist ist). In diesem Buch ist also auch von unser aller Bewusstsein
die Rede; zwar nicht von unserem individuellen persönlichen, wohl aber von seinen
allgemeinen Strukturen und der in ihnen abgelagerten Geschichte).
Bedeutende Argumente und Theoriebausteine der nachkantischen Philosophie werden
in dem Buch verarbeitet und fortgedacht. Es enthält eine Wahrnehmungstheorie, eine
Verstandes-, Geistes-, Gesellschafts- und Religionsphilosophie. Im Rückblick kann es
zugleich auch als eine Kulturtheorie gelesen werden. Augenmerk werden wir auf die
„dialektische“ Methode der Darstellung und auf den „objektiven Idealismus“ legen, aus
dem sich die philosophische Hintergrundstrahlung der einzelnen Kapitel ergibt.
Im Seminar wird uns mit dem VI. Kapitel „Der Geist“ insbesondere Hegels Theorie der
Sittlichkeit, der Bildung und der Aufklärung interessieren.

Methodik
Im regulären Seminar würden wir in einer Absatz-für-Absatz-Interpretation vorgehen.
Hinweise und Erläuterungen der Forschungs- und Kommentarliteratur würden in die
Rekonstruktion des Gedankengangs und seiner Argumente einfließen. Diese Literatur
würde ich Ihnen in einem Seminarapparat in der Fachbibliothek des Philosophischen
Seminars zur Einsicht zur Verfügung gestellt haben. Dies ist im Moment nur einge-
schränkt möglich, so dass ich versuchen werden, Ihnen wichtige Ergebnisse der Kom-
mentarliteratur mitzuteilen.
Hegel „baut“ in der Regel seine Gedanken- und Argumentationsbögen in präzise ge-
gliederten Reflexionsschritten auf. Diese Reflexionsschritte verdichten sich, oft ganz
schulmäßig, zu Schlüssen (also zu einer bestimmten Abfolge von Prämissen und Kon-
klusion), denen wichtige Kategorien entspringen, die Hegel im Fortgang zur weiteren
Analyse der Entwicklungsstufen des Geistes benötigt. Woche für Woche würden wir,
im Krebsgang, den Text auf diese Weise durchkämmen und versuchen, so viel Ver-
ständnis wie möglich für diese besondere Textgestalt herzustellen.
Unter eLearning-Bedingungen ist ein solches close reading, ist eine solch sorgsame
Rekonstruktionsarbeit schwer möglich. Wir müssen uns deshalb anders behelfen. Mein
Vorschlag wäre: Von Woche zu Woche werde ich Sie bitten, bestimmte Textabschnitte
in häuslicher Lektüre vorzubereiten. Dies nach folgendem Muster:
1) Nummerieren Sie die Absätze eines Kapitels durch (Hegel baut seine Gedan-
kengänge recht genau nach Absätzen).
2) Versehen Sie bei der Lektüre jeden Absatz mit einer Überschrift, die seinen In-
halt grob zusammenfasst oder die wichtigsten Begriffe des Absatzes nennt.
3) Versuchen Sie aufgrund dieser Strukturierung zunächst einen Überblick über
den Gedankengang und den Bau des Kapitels/Abschnitts im Ganzen zu gewin-
nen. Sie wissen dann zumindest grob, worauf der Abschnitt hinaus will.
4) Versuchen Sie dann, in den einzelnen Absätzen deren Argumentationsgang
etwas genauer zu ermitteln: Von welchen Voraussetzungen geht Hegel aus,
was schließt er aus ihnen? Zu welchem Resultat kommt er mit welchen (me-
thodischen) Mitteln? Welche Thesen stellt er zur Diskussion?
3
5) Markieren Sie sich Passagen und Begriffe, die Sie auch nach zwei- bis dreima-
ligem Lesen nicht verstanden haben.
6) Fragen Sie sich aber immer auch: Was habe ich denn so ungefähr verstanden?
Was Sie solcherart vorbereitet haben, können Sie dann einbringen in die Diskussion
der Fragen, die ich Woche für Woche als Leitfragen für die Lektüre der kommenden
Woche ins „Forum“ stellen werde.

Lassen Sie sich durch die Schwierigkeiten dieses uns auch von seiner Sprache her
fremden Textes nicht abschrecken. Schon Hegels Zeitgenossen sind an seinen Texten
oft verzweifelt. Goethe mochte mit Hegel reden, lesen mochte er ihn nicht. Wilhelm von
Humboldt fand Hegels Diktion „dunkel wie ein Grab“. Machen wir unsere eigenen Er-
fahrungen – vor allem auch solche des Scheiterns – an diesem Text, der, glauben Sie
es mir, auch seine taghellen Momente hat.

Programm
Es ist mir sehr wichtig, Sie erfahren zu lassen, dass Lektüreseminare keine planwirt-
schaftlichen Unternehmungen sind. Betreiben wir nicht die „Sovjetisierung der Geis-
teswissenschaften“, wie es ein Kollege einmal treffend formulierte. Es gibt keinen
„Stoff“ zu bewältigen, wir müssen kein „Pensum“ schaffen, wir können kein „Plansoll“
erfüllen. Wir wollen vielmehr hermeneutische Fähigkeiten einüben; wir wollen rekon-
struieren (also nach-denken), wie ein historischer Text gedacht, gebaut und durchar-
gumentiert ist. In einer Welt, deren Erfahrungen sich immer gleicher werden, sind Er-
fahrungen mit historischen Texten noch besondere Erlebnisse der Andersheit. Sie ge-
ben uns nicht Informationen, sondern verhelfen uns zu Erkenntnissen. Sie verschaffen
uns kein Herrschaftswissen, sondern Einsichten. In ihnen begegnen wir uns nicht im-
mer schon so, wie wir ohnehin sind.
In ihnen begegnet uns eine Andersheit, die uns vielleicht sogar ab-, zumindest zurück-
stößt. Wer sich solchen Erfahrungen nicht aussetzen will, wem das zu mühsam ist, wer
darin keinen Sinn sieht, hat die akademische und persönliche Freiheit, sich damit nicht
zu beschäftigen. Wer aber an diesem Seminar teilnehmen möchte, ist herzlich eingela-
den, sich mit mir und anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen auf dieses – darf
ich’s so kitschig sagen? – Abenteuer einzulassen.

Unser Programm sieht auf den ersten Blick seltsam aus: Wir lesen die Einleitung, ma-
chen dann aber einen Sprung zum VI. Kapitel, lassen also die Kapitel I–IV aus. Das hat
zunächst einen schlichten äußerlichen Grund: Kapitel I–IV habe ich mit Ihren Kommili-
toninnen und Kommilitonen der vergangenen Semester genauestens studiert. Ich wer-
de mich so behelfen, dass ich Ihnen – nachdem wir die Einleitung „besprochen“ haben
– für die übersprungenen Kapitel I–V Kurzzusammenfassungen anbiete, die Sie bei
Bedarf zu Hause studieren können.1

Vor dem Hintergrund der zuvor gegebenen Kautelen und Vorsichtsmaßnahmen schla-
ge ich folgendes, grobes (Maximal-)„Programm“ vor:

Einleitung: Sitzungen 2-3

1 Gestatten Sie folgende Anmerkung: Ich bitte zu bedenken, dass alle Materialien, die ich Ihnen
in diesem pseudo-eLearning-Kurs zur Verfügung stelle, nicht zur Veröffentlichung gedacht sind,
sondern einzig zu Ihrem privaten Studiengebrauch. Ich vertraue Ihnen, dass Sie nichts davon
außerhalb von OLAT oder Ihres Studierzimmers verwenden, veröffentlichen oder verteilen wer-
den. Dafür danke ich Ihnen im voraus.
4
VI. A. Sittlichkeit Sitzung 4-7
VI. B. Bildung Sitzung 8-10
VI. C. Moralität Sitzung 11-14

Gutes Gelingen in diesem Wintersemester wünscht Ihnen

D. Westerkamp

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