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"Warum müssen die Opfer für Gerechtigkeit kämpfen?

Warum unterstützt der Staat die Täter?"


Bericht einer Reise nach Fukushima (18.- 22.3.2017)
Dr. Martin Repp (Zentrum Oekumene der EKHN & EKKW, Frankfurt)

2016 hatte das Zentrum Oekumene (ZOE) und die deutsche Sektion der International
Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) die internationale Konferenz
"Auf der Straße und vor Gericht – Recht und Religion gegen atomare Risiken" veranstaltet
und dazu u.a. folgende Vertreter der "Nariwai Klage" aus Fukushima eingeladen: Hr.
Takashi Nakajima (Leiter der Kläger), Hr. Hiroyuki Hattori (Sekretär der Gruppe) und Frau
Kazu Abe (Klägerin). Nun luden sie mich zu einer Gerichtsverhandlung gegen den Staat und
TEPCO am 21.3.2017 in Fukushima ein. Mit ca. 4.000 Klägern und mehr als 100
Rechtsanwälten ist es die größte Klage im Zusammenhang der Atomkatastrophe. Sie zielen
primär auf Wiederherstellung der vorherigen Lebens- und Arbeitswelt ab und erst sekundär
auf Kompensation für erlittenen Schaden.

Ankunft in Fukushima und Soma am 18.3.

Nach meiner Ankunft in der Stadt Fukushima holten mich Hr. Nakajima und Frau Abe am
Bahnhof ab. Wir fuhren mit dem Auto über die stark verstrahlten Abukuma-Berge Richtung
Osten zur Stadt Soma. Hier übergab ich ihnen die "Atomkraft Nein Danke!"-Fahne mit den
Botschaften "Fight for your right!" und "We shall not forget Fukushima!" sowie
Unterschriften der Gruppe "Langen gegen Atomkraft" und einiger Mitarbeiter des Zentrum
Oekumene. Am Abend trafen wir uns mit ca. zehn weiteren Klägern zum Austausch.

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Exkursion durch das verstrahlte Gebiet am 19.3.

Am nächsten Tag machte der Kläger Hr. Koichi Muramatsu eine Führung durch die Gegend
für mich und einen weiteren Kläger. Von Soma aus ging es mit seinem Auto zunächst nach
Osten Richtung Meer und dann entlang der Hama-dori Straße parallel zur Küste nach Süden
Richtung Minami-Soma und die Stadt Namie. An vielen Orten waren die schwarzen
Müllsäcke mit kontaminierter Erde usw. deponiert und mit weißen Wänden zum Sichtschutz
umgeben. Neben einer Deponie stand ein Messgerät, das 0,678 μSv/h anzeigte. Unser
Geigerzähler zeigte 0,717 μSv/h von einer höher gelegenen Stelle aus mit besserer Sicht. Die
staatlichen Messgeräte sind nach unten hin manipuliert. An einem Ort in der Nähe wurde
sandige Erde von den Bergen abgebaut, um sie auf die Reisfelder aufzutragen, von denen
zuvor die obere Erdschicht ca. 5 cm abgetragen worden war. Dies nennt man
"Dekontaminierung", auch wenn die beschädigten Reaktoren weiter das Land bestrahlen.

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Wir kamen zu einer Rinderfarm, in der viele Kühe und Schweine in den Ställen elend
verendet waren infolge der Evakuierung der Menschen. Andere Kühe draußen auf der Wiese
irrten damals in der Gegend umher. Der Besitzer, Hr. Masaki Yoshizawa, sammelte die
überlebenden Rinder wieder ein und versorgt sie, auch wenn er sie nicht mehr zum
Schlachten verkaufen kann. Pro Jahr benötigt er an die 90.000 € für Futter usw. Er wird von
Freunden finanziell unterstützt und Landwirte aus anderen Präfekturen schicken ihm Futter.
Diese Farm heisst jetzt Kibo no bokucho, "Farm der Hoffnung". Am Hofeingang war eine
Info-Hütte aufgestellt, in der Bilder der verendeten Tiere und weiteres Informationsmaterial
ausgestellt waren. Davor lagen Rinder-Schädel um einen Stein herum zum Gedächtnis für
die leidende Kreatur. In der Nähe war eine verlassene Rinderfarm, deren Gebäude der
Besitzer nicht abreißen ließ, um sie als Beweismaterial für das Gerichtsverfahren sicher zu
stellen. Das Dach der Stallanlage war eingefallen, aber die großen Räder der Ventilatoren
einst zur Kühlung für die Rinder drehten sich immer noch gespenstisch im Wind.

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Wir gelangten in ein weites Tal, von dessen Rand aus wir eine riesige Mülldeponie inmitten
der Reisfelder übersehen konnten. Hier (ca. 5-800 m entfernt) stieg der Geigerzähler schnell
auf 3,254 μSv/h an. In unsrer Nähe suchte ein Ehepaar eine planierte Stelle am Berghang auf,
wo ihr Haus zuvor gestanden hatte: welch ein schöner Ort zum Wohnen mit Aussicht auf das
Tal war dies einmal. Auch hier war die dunkle Erde der Felder mit der gelbfarbenen
Sanderde bedeckt – fertig für die Rückkehr der Evakuierten! Dann fuhren wir auf den
schmalen Wegen zwischen den langen Sichtblenden der Mülldeponien hindurch, die
gespensthaft weiß erschienen. Dann kamen wir an einem Tempel vorbei, wo Arbeiter trotz
Feiertag den Friedhof "dekontaminierten". Die Vorbereitungen für die Rückkehr der
Bewohner waren hier kräftig zugange, denn die Regierung von Shinzo Abe hatte
beschlossen, die 20 km-Evakuierungszone im April d.J. trotz hoher kontinuierlicher
Verstrahlung aufzuheben. Am Straßenrand stand ein Schild mit dem Bild einer
drei-Generationenfamilie und den Worten "Alle schaffen ein helles/freundliches Karino"
(der Ort gehört zur Stadt Namie). Bereits vor der Katastrophe hatte Tepco den Bewohnern
Fukushimas mit einem Slogan eine "helle, leuchtende Zukunft" versprochen.

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Dann kamen wir zur flachen Küstenzone, die von Tsunami und Atomkatastrophe
heimgesucht worden war. Wir gelangten zur Stadt Namie, die im 20 km Radius des AKWs
liegt, die völlig evakuiert worden war und jetzt eine Geisterstadt ist. Auch hier sollen die
Bewohner nach dem Beschluss der Regierung zurückkehren, trotz weitergehender Strahlung.
In der Stadtmitte war erst kurz vor der Katastrophe eine breite Straße angelegt worden mit

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neuen Geschäften auf beiden Seiten. Das großzügige Rathaus war kurz vor 2011 wohl mit
finanzieller Unterstützung von Tepco gebaut worden. Daneben war ein ein großes Schild
angebracht mit der Aufschrift "Willkommen zurück in der Heimat Namie!" Eine neue Karte
für touristische Ausflugsziele inclusive der traditionellen Feste war hier auch schon
aufgestellt. Ob diese Feste je wieder gefeiert werden, ist fraglich.

Als wir uns der Küste näherten, fiel ein Kohlekraftwerk in den Blick, das die Gegend jetzt
mit Strom versorgt und auch kräftig Dampf in die Atmosphäre schickt. Verstreute
Betonruinen von Häusern zeigten an, dass hier einmal ein Fischerdorf gestanden hatte. Sonst
waren nur noch die Fundamente der Häuser übrig sowie eine Halde für Metalschrott.
Ehemalige Bewohner, die mit einem Kleinbus aus der Evakuierung gekommen waren,
stellten hier Blumen für die Umgekommenen auf. Die Dammanlage am Meer hatte nicht
zum Schutz gegen den Tsunami gereicht und wird jetzt durch Betonwälle wesentlich erhöht.
Fischer hatten ihre Boote aus einem anderen Hafen erst kürzlich in den neuen Hafen
hergebracht. Demnächst sollte der Fischfang wieder probeweise aufgenommen werden.
Nahe am Meer stand die Betonruine einer ehemaligen Grundschule, in der die Lehrer nach

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der Tsunami-Warnung noch ihre Schüler in den nächsten Berg retten konnten. Am Eingang
war ein Schild erhalten, wonach der Bau der Schule von Tepco mit finanziert worden war.

Wir fuhren weiter nach Süden durch das hochverstrahlte Gebiet in nächster Nähe zum
AKW-Reaktor "Fukushima Nr. 1". Dieser Straßenabschnitt wurde erst kürzlich wieder für
den allgemeinen Verkehr geöffnet. Wegen der hohen Kontaminierung ist es verboten, hier
stehen zu bleiben oder das Fenster zu öffnen; Motorrad-Fahrer dürfen diesen Abschnitt nicht
benutzen. In den Orten waren die Eingänge zu Häusern und Höfen durch Sperren
verschlossen. Wir kamen am Reaktor in Sichtweite vorbei. Polizeiwagen fuhren Patroulie
und an den Zugängen zu Seitenstraßen standen ältere Männer in blauer Uniform und mit
weißen Mund- und Nasenmasken. Zwei Kadaver von Mardern lagen am Straßenrand, an
denen Raben herumhackten. Der Geigerzähler stieg auf 6,023 μSv/h an.

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Wir fuhren weiter vorbei an Deponien kontaminierter Erde usw. Wenn die schwarzen Säcke
undicht wurden, bedeckte man sie mit schwarzen Planen, und wenn sie Löcher bekamen, mit

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grünen Planen. Dann kamen wir zu einer riesigen Verbrennungsanlage, die das
Umweltministerium für die Verbrennung des kontaminierten Mülls kürzlich hat erbauen
lassen. Die großen Baufirmen verdienen hierbei ungeheure Summen aus Steuergeldern,
während ihre Subunternehmen nur einen kleinen Teil davon erhalten. Im nächsten Ort stand
ein großes Gebäude von Tepco leer. Daneben war der Briefkasten der Post mit blauer Plane
eingeschlagen, also außer Gebrauch.

Dann kamen wir nach Tomioka mit seiner berühmten Allee alter knorriger Kirschbäume
(Sakura dori). Im rauhen Klima haben sie sich bisher durch die Zeiten gekämpft. Etwas

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unterhalb dieser Straße verlief rechter Hand eine Bahnlinie, an deren Hängen die Bäume
wegen Kontaminierung abgehackt worden waren und die Müllsäcke dafür noch standen. Im
Frühjahr, so erklärte uns Herr Muramatsu, hatten sie tief-rote Blüten hervorgebracht. Daher
fuhr der Zug zu solchen Zeiten besonders langsam an diesen Bäumen und den
Kirschbäumen vorbei, damit die Fahrgäste die Blütenpracht genießen konnten. Er hatte hier
10 oder 20 Jahre als Schaffner gearbeitet. Jetzt macht er Führungen durch das kontaminierte
Gebiet.

Hier kehrten wir um und nahmen die Schnellstraße Richtung Norden. Im Restaurant eines
Parkplatzes aßen wir die in dieser Gegend berühmten gebratenen Nudeln, die auch wirklich
lecker waren. Während meiner Reise in Fukushima fragte ich nicht nach der
Kontaminierung durch Wasser und Nahrung. Aber an diesem Tag spürte ich einen seltsamen
Druck auf meiner Schädeldecke. Auf dem Parkplatz gibt es auch eine Ladestelle für
Elektro-Autos. Im Eingang des Restaurants sind Photos und historische Bilder der einst
berühmten Samurai-Pferderennen von Soma angebracht.

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Gespräch mit evakuierten Menschen in behelfsmäßigen Unterkünften in Soma am 19.3.

Als wir nach Soma zurückkehrten, trafen wir ca. zehn evakuierte Bewohner in einer großen
Anlage von temporären Unterkünften zum Gespräch. Sie besteht aus etlichen Reihen von
Einzimmer-Wohnungen aus Holz mit Küche und Bad. Hier gibt es drei solcher Komplexe
mit jeweils zugewiesenen Parkplätzen und einem Gemeinschaftsraum. Nach der Katastrophe
wurden ca. 130.000 Menschen aus den verstrahlten Gebieten evakuiert. Im Moment leben
noch ca. 100.000 Menschen fern von ihrem Zuhause. Unsere Gastgeber hatten Kaffee und
Kuchen besorgt. Ein älterer Herr hatte zum Empfang sogar eine deutsche Flagge gemalt und
mit Erklärung der Farben versehen. Sie berichteten, dass sie jeden Freitag an einer
Demonstration vor dem Bahnhof teilnehmen. Sie kritisierten die Behauptung der Regierung,
die Präfektur habe sich wieder erholt, was überhaupt nicht der Fall sei. Die Regierung will
die Atomkatastrophe als ungeschehen hinstellen, wurde mir öfter von den Bewohnern hier
gesagt. Einer der Teilnehmer war einen Monat nach der Evakuierung wieder nach Hause
zurückgekehrt, andernfalls hätte er seine Arbeit verloren. Er benötigte sie wegen der
Rückzahlung eines Haus-Darlehens. Aus seinen Erfahrungen heraus engagiert er sich jetzt
gegen AKWs. Eine ältere Frau erzählte, dass durch den Tsunami in ihrem Dorf nur drei
Häuser von 60 Gebäuden stehen geblieben waren. Hier wurde eine ganze Dorfgemeinschaft
vernichtet. Eine Mutter verlor im Tsunami ihre Tochter, wegen der Atomkatastrophe konnte
man nicht nach ihr suchen. Der Schwiegersohn eines Teilnehmers hatte Militär-Nachrichten
per Funk abgehört, daher seien sie früh über die Atomkatastrophe informiert gewesen und
konnten noch rechtzeitig fliehen, als die Straßen noch nicht voll waren und es noch Benzin

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gab. Was man durch die Atomkatastrophe bisher verloren hat sei ungemein schmerzlich. Der
Staat und Tepco tragen volle Verantwortung für die Katastrophe, weil Sicherheitsstandarts
missachtet worden waren; der Strom-Generator etwa war vom Meer aus nicht hoch genug
positioniert worden. Im Gespräch mit den Evakuierten wurde sehr deutlich, wie umfassend
die Dreifach-Katastrophe ihr Leben und ihre Gemeinschaften zerstört hatte und wie
beschwerlich ihr Leben jetzt in den behelfsmäßigen Unterkünften ist.

Versammlungen in der Stadt Fukushima vor der Verhandlung am 20.3.

Am Montag den 20.3. fuhren Hr. Nakajima, Frau Abe und ich über die Abukuma-Berge nach
Fukushima. Auch in diesen Bergen spürte ich wieder den Druck in meiner Schädeldecke von
der Verstrahlung wie am Tag zuvor in der 20 km-Zone. Zuerst fuhren wir zur
Bauerngenossenschaft, welche Reis, Obst, Gemüse, usw. auf Verstrahlung misst und soweit
verantwortbar verkauft. Sie besitzt diverse Geräte zum Messen der Verstrahlung; u.a. auch
eines aus der Ukraine, welches die Strahlenwerte der Erde misst. Dementsprechend erheben

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sie Statistiken und stellen auch eine Landkarte der Felder der beteiligten Bauern her. Der
Verantwortliche der Genossenschaft berichtete auch, dass einige ihrer Mitglieder wiederholt
nach Süddeutschland gereist waren, um sich über Möglichkeiten erneuerbarer Energien zu
informieren. Nach dem Mittagessen besuchten wir einen Obst-Bauern und Mitkläger
namens Abe, der die Nashi-Frucht anbaut. Bisher bezahlte der Staat bzw. Tepco die
finanziellen Ausfälle, aber dies soll demnächst eingestellt werden. Er zeigte uns seinen
Acker mit den Bäumen vor seinem Haus. Da die Wurzeln flach sind, wird keine
"Dekontaminierung" vorgenommen, sondern stattdessen wurden Sanderde und Dünger auf
dem Boden verteilt.

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Herr Nakajima erklärte mir noch den Charakter und die Geschichte der Sammelklage. Zuerst
hatte er zusammen mit ca. 40 kleinen Unternehmern versucht, in direkten Verhandlungen
mit Tepco Kompensation für erlittenen Schaden zu erhalten. Einigen von ihnen gelang es,
aber den meisten nicht. Sie versuchten es weiter, bis der Rechtsanwalt Izutaro Managi nach
Fukushima kam und seinen Dienst anbot. (Sein Vater war ein bekannter Rechtsanwalt, der
sich jahrzehntelang für die Opfer der Quecksilber-Vergiftung (Minamata-byo) in Kyushu
eingesetzt hatte.) Da die Regierung ein Gesetz zur "Kompensation" erlassen hatte, welches
die Frage der Verantwortung von Staat und Atombetreiber ausklammert, schlugen sie den
Weg der Zivil-Klage ein, um die Frage von Schuld und Verantwortung eindeutig zu klären.

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Kurz zuvor hatte ein Gericht in Gunma am 17.3. ein Urteil gefällt, wonach die Richter dem
Staat und Tepco klar die Verantwortung zuwiesen, auch wenn sie die Kompensation sehr
niedrig ansetzten. In den Gesprächen und auf den Versammlungen der Kläger wurde oft
zwischen der Frage der Verantwortung (sekinin-ron) und derjenige der Kompensation
(baisho-ron) unterschieden.

Am späten Nachmittag fand dann eine größere Veranstaltung anläßlich der


Gerichtsverhandlung am folgenden Tag statt. Viele Banner, Flaggen usw. der Klägergruppe
sowie der lokalen Untergruppen waren im Saal aufgestellt, und auch die "Atomkraft Nein
Danke"-Fahne aus Deutschland wurde an den Rednerpult gehängt. Das Motto und Ziel der
Klage ist, dass Tepco und der Staat die frühere Lebens- und Arbeitswelt wieder herstellt
(nariwai o kaese, chiiki o kaese!). Es sprachen zuerst einige Kläger anderer
Gerichtsverhandlungen. Die Vertreterin der o.gen. Verhandlung in Gumma etwa stellte fest,
dass die Anerkennung der Verantwortung von Staat und Tepco ein erster wichtiger Schritt sei,
aber auf dieser Entscheidung basierend müsse man für eine gerechte Entschädigung weiter
kämpfen.

Die Berichte machten immer wieder klar, was die Menschen alles durch die
Atomkatastrophe verloren hatten: Kultur, Gesellschaft, Nachbarschaft, Haus, Hof, Familie,
Land, Einkommen, usw. Sehr bewegend war auch der Bericht einer Kindergarten-Leiterin,
Frau Saito, die erzählte, wie die Kinder draußen nicht spielen und spazieren gehen durften.
Ich gab auch eine kurze Rede, in der ich zuerst den internationalen Charakter der

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Atomkatastrophe hervorhob: es sei nicht nur eine Angelegenheit der Präfektur oder des
Landes, sondern eine globale; die Luftkontaminierung wurde 10 Tage nach Ausbruch der
Katastrophe in Deutschland gemessen; die Kontaminierung des Ozeans gehe
ununterbrochen weiter; die deutsche Regierung habe unter dem Eindruck der Katastrophe
die "Energiewende" beschlossen. Dann wies ich auf ein Beispiel für den Kampf um
Gerechtigkeit in der Geschichte Japans hin, nämlich die Bauernaufstände, in denen die
"gerechten Führer" (oder das "gerechte Volk", gimin) gegen ihre Ausbeutung durch die
Feudalherren gekämpft hatten. Hr. Nakajima hatte mich ja wegen des internationalen
"appeals" nach Fukushima eingeladen, aber der Hinweis auf die "gerechten Führer" in der
eigenen Tradition gefiel ihm besonders gut. Dann stellte Rechtsanwalt Managi die
anwesenden Anwälte (mit ihm zusammen 15) sehr unterhaltungsmäßig vor. Abschließend
unterhielten sich alle angeregt miteinander bei Essen und Trinken.

Der Tag des Gerichtsverfahrens am 21.3.

Am Vormittag fand zuerst eine Informationsveranstaltung für die Kläger in einer großen
Halle mit über 700 Teilnehmenden statt. Mako und Ken Oshidori waren auch gekommen,
und wir saßen zusammen mit Rechtsanwälten, Hr. Nakajima, dem Regiseur Hr. Junichi
Inoue (der eine Dokumentation zum Schicksal eines Bauern aus der Region gemacht hatte)
u.a. auf dem Podium. Dann ging es zur Demonstration, leider im Regen. Die Polizei hatte
die Teilnehmenden in drei Gruppen unterteilt (angeblich aus Gründen der Verkehrsregelung).
Dieser Gruppen wurden jeweils von einem Auto mit Lautsprecher angeführt, hinter dem ein
Trommler und eine Person mit Lautsprecher liefen. Die Person im Auto führte die
Sprechchöre an, und die Person mit dem Lautsprecher zu Fuß wiederholte die Sprüche

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zusammen mit den Demonstranten. Dahinter wurde der eigentliche Demonstrationszug von
drei Personen angeführt, die einen Banner mit der Forderung nach Wiederherstellung der
Arbeits- und Lebenswelt trugen. Immer drei Personen liefen nebeneinander, die viele
Fahnen der Kläger trugen. Der Weg dauerte ca. eine Stunde, leider waren wegen des Regens
nur wenige Menschen auf der Straße. Dann bildeten die Demonstranten eine Reihe um das
Gerichtsgebäude (es reichte nicht ganz), und die Hauptkläger ließen sich mit ihrem Banner
vor dem Gebäude von der Presse photographieren. Dann wurde ein Wagen mit den Kartons
der 400.000 Unterschriften (der Unterstützung der Klage) in das Gericht gefahren.

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Hr. Nakajima hatte Platzkarten des Gerichtssaales für mich und andere organisiert, die
anderen Plätze wurden verlost. Daneben gab es noch Sitze für die Journalisten. Während die
Rechtsanwälte und Vertreter von Staat und Tepco vertieft in ihren Akten auf der rechten
Seite saßen, kommunizierten die Rechtsanwälte der Kläger auf der Gegenseite ganz
aufgelockert miteinander, bis die Richter erschienen. Als die Zeugen dann zu reden
begannen, wandelte sich die Atmosphäre im Saal sichtlich in Betroffenheit. Die Zuhörer und
auch einige Journalisten mussten mitunter zu den Taschentüchern greifen. Die erste Zeugin
berichtete, dass ihre Familie Pfirsiche angebaut hatte und den Kunden damit große Freude
bereitet habe. Nach der Katastrophe wurde ihr Vater jedoch depressiv und konnte in der
Landwirtschaft nicht mehr arbeiten. Eine düstere Atmosphäre verbreitete sich zu Hause. Sie
selbst jedoch musste sich der Enkel wegen zusammenreißen. Sie bat die Richter um ein
gerechtes Urteil.

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Die zweite Zeugin war eine Mutter, die damals gerade schwanger war und die Geburt im
Mai 2011 erwartet hatte. Sie freute sich schon sehr auf ihr Baby und die gemeinsame Zeit im
Frühling. Als die Katastrophe geschah, konnte sie sich zuerst nicht für die Evakuierung
entscheiden wegen der Trennung in der Familie, aber sie hatte natürlich Angst um die
Gesundheit ihres Kindes. Schließlich entschloss sie sich für die Evakuierung und ließ ihren
Mann zurück, der arbeiten musste. Da ihr älteres Kind es in dem Ort der Evakuierung wegen
der Trennung vom Vater nicht länger aushielt, kehrte sie mit den beiden Kindern nach 10
Monaten zurück. Noch eine weitere Zeugin trat auf.

Dann brachten die Rechtsanwälte ihre Plädoyers vor. Zuerst erklärte RA Managi die
Anklage, indem er den Staat und Tepco in die Verantwortung nahm. Die AKWs seien ein
Werk des Staates (kokusaku). Die Verstrahlung betreffe Leben, Haus, Berge, Wasser usw. im
großen Umfang und schädige mindestens 1/4 der Bevölkerung. Der Staat sage, AKWs seien
notwendig, aber sie richten großen Schaden an. Daher gehe es hier um die Frage der
gesellschaftlichen und der rechtlichen Verantwortung von Staat und Tepco. In dieser Klage
handele es sich um die größte Gruppe von Klägern, aber noch wesentlich mehr Menschen
wollen die Wiederherstellung der früheren Lebenswelt sowie eine Entschuldigung der
Verantwortlichen wie auch eine Beendigung der AKWs. Selbst wenn sie eine Kompensation
erhalten, erlangen die Opfer keine Rückkehr zum früheren Leben.

Der 2. Rechtsanwalt klagte den Wirtschaftsminister an, dass er nicht für zureichenden
Schutz gegen den Tsunami gesorgt hatte. Es war bekannt, dass der Tsunami von 1974 in
Futaba (in unmittelbarer Nähe des AKWs) 6-8 m hoch war. 1991 gab es im AKW
"Fukushima No. 1" einen Unfall; im Februar 2002 gab es ein Erdbeben und einen Tsunami;
1995 geschah das große Erdbeben in Kobe (Hanshin daishinsai) mit 200.000 Toten; die
Lektionen aus dieser Ereignissen wurden vom Staat jedoch nicht in die Praxis umgesetzt.
1999 wurde die Küste vor Tsunamis geschützt, aber dies geschah ungenügend. Aber die
Aufgabe des Staates ist es, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen.

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Der 3. Rechtsanwalt klagte Tepco wegen gravierender Konstruktionsfehler an. Die
Schutzmauern gegen Tsunamis waren nicht stark genug gebaut. 2004 ereignete sich der
Tsunami im Indischen Ozean und 2004 ein AKW-Unfall in den USA. Die
Sicherheitskommission für Atom-Reaktoren nahm diese Vorfälle jedoch nicht zur Kenntnis
mit der Begründung, für Japan seien keine entsprechenden Maßnahmen erforderlich. Die
Verfassung schreibt jedoch vor, dass die Regierung die Menschen schützen und die
Sicherheit des menschlichen Lebens gewähren muss. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse
über solche Katastrophen seien fortgeschritten, sie müssen von den Verantwortlichen jedoch
auch in die Praxis umgesetzt werden.

Eine junge Rechtsanwältin erläuterte das Schicksal von zwei Zeuginnen aus Futaba. In den
behelfsmäßigen Unterkünften ist es ungemein eng, hier gibt es überhaupt nichts (nani mo
nai desu). Eine Mutter schützt ihre Kinder. Sie muss sich entscheiden zwischen Evakuierung
oder im verstrahlten Zuhause zu wohnen. Frau K. war schwanger, als sich die Katastrophe
ereignete, dies bedeutete großen stress und beeinflusste auch die Geburt ihres Kindes. Die
gute Umwelt, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, wurde zerstört: die Kinder können
draußen nicht mehr spielen, das ist auch für die Eltern schwer. Sie müssen sich sehr
anstrengen, die Kinder vor der Verstrahlung zu schützen, damit sie sicher spielen, essen und
lernen können. Dieser stress ist täglich und kontinuierlich. Bei der Evakuierung sind sie
außerdem von der Heimat entfernt. Die Kinder wollen aber auch mit dem Vater zusammen
leben. Das Leben wurde ihnen geraubt. Das geht mitunter bis zu Scheidungen.

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Der 5. Rechtsanwalt erklärte die Situation der Väter, die wegen der Arbeit zu Hause wohnen
bleiben müssen. Sie sind einsam, verlieren an Gewicht, haben Selbstmord-Gedanken. Es
gibt keine Rückkehr mehr zur glücklichen Familie vor der Atomkatastrophe. Der Landwirt
Abe züchtete Nashi und zeigte den Mittelschülern seine Früchte, aber jetzt kann er sie nicht
mehr verkaufen. Auch Herr Nakajima aus Soma kann in seinem Supermarkt keinen Fisch
mehr "zur Freude der Kunden" verkaufen. Die Familie, das Haus, die Arbeit, die
Nachbarschaft, die Berge usw. sind alle betroffen. – Der 6. Rechtsanwalt forderte die drei
Richter auf, sich in die Rolle der Kinder, Eltern und anderen Betroffen zu versetzen und das
Risiko ihrer Gesundheit zu bedenken.

Dann trat der Zeuge Hiroyuki Hattori auf, den wir 2016 nach Deutschland zusammen mit
Frau Abe und Hr. Nakajima nach Deutschland eingeladen hatten. Seine Vorfahren waren
Fischer und sie hatten auch eine traditionelle japanische Herberge betrieben. Sein Vater hatte
dann einen Supermarkt in Soma eröffnet. Er hat zehn Angestellte und sein Geschäft ist eng
mit der Nachbarschaft verbunden. Als die Aufforderung zur Evakuierung kam, musste er
sich dafür entscheiden zu bleiben, da die Lebensmittel weiter verkauft werden mussten, denn
die Versorgung der älteren Bevölkerung hing davon ab. Bis Mitte Mai 2011 herrschte Chaos
bei der Versorgung und auch das Benzin reichte nicht aus. Als dann die Schule wieder
geöffnet wurde, diskutierten die Vertreter der Parents-Teachers-Association (PTA), ob sie für
das Essen der Schüler Reis aus der Region oder sicheren Reis kaufen sollten. Zwei von
Hattoris Kindern haben nun Symptome von Schilddrüsen-Krebs. Das ist die Verantwortung
der Eltern, die ständig in solcher Furcht leben müssen. Als Office Chief der Kläger hört er
jetzt sehr viele Geschichten der Opfer! Mit seinen Enkeln wollte er spielen, aber dieser
Traum wurde ihm jetzt geraubt. Aber er muss täglich weitermachen, denn er trägt die
Verantwortung für seine Familie. Er bittet die Richter, ein mutiges und gerechtes Urteil zu
fällen. – Klatschen der Zuhörer, der Richter: "Ihr Gefühl verstehe ich, aber halten Sie sich
bitte im Gerichtssaal damit zurück!"

Der 7. Rechtsanwalt verlas eine Passage aus einem Brief, den die Klägerin O. kurz vor
ihrem Tod verfasst hatte: Die AKWs müssen aus Japan beseitigt werden, denn sie wurden
aus Unverantwortlichkeit von Staat und Atombetreibern errichtet. Es gibt nur eine Zukunft
des Landes, wenn deren beider Verantwortung anerkannt wird. Der Rechtsanwalt äußerte die
Überzeugung, dass diese Gerichtsverhandlung historische Bedeutung habe: die

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Verantwortung ist zu klären und Gerechtigkeit muss wieder hergestellt werden. Damit
appellierte er an die Vertreter des Staates und von Tepco. – Die Verhandlung dauerte ca. 2.
Stunden. Der leitende Richter gab am Schluss bekannt, dass das Gericht am 10. Oktober um
14:00 die Entscheidung verkündigen werde.

Nach dieser Sitzung versammelten sich die Kläger wieder in der großen Halle wie am
Vormittag, damit sie alle über diese Gerichtssitzung informiert werden, denn nur ein kleiner
Teil von ihnen konnte in den Gerichtssaal gehen. Junge Rechtsanwälte verlasen die
Zeugenaussagen der drei Frauen, Hr. Hattori verlas seine eigene. Er zeigte u.a. auch ein Bild
von ihm, als er in Langen eine "Atomkraft Nein Danke"-Fahne hielt. Dann teilten die
leitenden Rechtsanwälte ihre Einschätzung der Gerichtssitzung mit: dank aller sei es "ein
großer Erfolg", auch außerhalb des Gerichtsaales! Es sei ein "Gericht von allen!" Die bis
Oktober verbleibende Zeit müsse daher gut genützt werden, etwa mit dem Sammeln von
Unterschriften. Heute habe man Listen mit etwa 400.000 Unterschriften übergeben, nun
müssen weitere gesammelt werden, damit eine Million erreicht wird und der Rest dem
Gericht im Oktober übergeben werden könne. Die Tepco-Atomkatastrophe sei die bisher
größte Katastrophe Japans. RA Managi hatte auch noch die Journalisten über Hergang und
Bedeutung der heutigen Gerichtssitzung vor dem großen Saal informiert.

Anschließend sprach ein Vertreter der Minamata-Kläger (Quecksilber Kontaminierung) in


Kumamoto (Kyushu), die 50-60 Jahre lang Gerichtsverhandlungen gegen die Firma Chisso
führen. Ihm fiel die große Ähnlichkeit zwischen beiden Fällen bzw. Gerichtsverfahren auf.

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Ministerpräsident Shinzo Abe hatte vor einiger Zeit verkündet, "Minamata sei beendet
worden!", so wie er die Atom-Katastrophe kürzlich für erledigt erklärt hatte. Auch die
Diskriminierung der Minamata-Opfer und ihre Ausgrenzung aus der Gesellschaft sei ähnlich
derjenigen der Tepco-Katastrophe. In Japan haben sich zahlreiche Industrie-Unglücke
ereignet. Gesamt-Japan sei Opfer der Industrie! Er stellte schließlich die grundsätzlich
Frage: "Warum müssen die Opfer für Gerechtigkeit kämpfen? Und warum unterstützt der
Staat die Täter?" – Hr. Nakajima fasste zusammen: sie hatten sehr gute Zeugen und die
besten Rechtsanwälte. Und die Gerichtsbeamte hätten die Gruppe der Kläger gespürt.

Am nächsten Morgen brachten mich Frau Abe und Hr. Nakajima zur Bahn. Als der Zug im
nächsten Bahnhof von Koriyama, hielt las ich das Schild "Fukushima Forschungsinstitut für
erneuerbare Energie" an einem großen Gebäude nebenan! – In den letzten zwei oder drei
Tagen hatte ich in Soma und Fukushima einen feinen stechenden Schmerz in den Augen
gespürt, begleitet von ständigen Tränen, sowie einen kleinen Schmerz im Rachen mit
Hustenreiz. Nach einigen Tagen hörten diese Beschwerden auf.

Herr Nakajima und ich hatten ausgemacht, uns um mehr Austausch zwischen Deutschland
und Japan auf konkreten Ebenen zu bemühen: etwa zwischen Anti-AKW Aktivisten,
Interessierten an erneuerbarer Energie, Bauern, Rechtsanwälten, Ärzten, usw. Auch soll die
Unterschriftenliste zur Unterstützung der Nariwai Kläger auf Deutsch übersetzt und
verbreitet werden, etwa auf der Homepage der Rechtsanwälte:
http://www.nariwaisoshou.jp/activity/entry-686.html
Die Tepco-Atomkatastrophe ist schließlich eine internationale Angelegenheit.

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(V.l.n.r.) Hr. Nakajima, Frau Abe, Hr. Hattori und Hr. Endo

Herr Muramatsu mit Geigerzähler

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