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Es macht offensichtlich wenig Sinn, wenn man unter dem jüdischen Nietz-
scheanismus eine spezifisch jüdische Interpretation des Philosophen versteht,
die so mannigfaltig und verschieden ausfallen kann und ausgefallen ist, wie es
bei einem derart vielschichtigen und disparaten Werk nicht überraschen darf.
Soll dagegen mit dem Begriff eine besondere Resonanzfahigkeit des jüdischen
Geistes für Themen und Thesen Nietzsches ausgedrückt werden, dann trifft
man damit in der Tat genau den Sachverhalt, daß allerdings zunächst vorwiegend
jüdische Gelehrte von seinen Reflexionen tief genug beeindruckt waren, um ihre
bestürzende Aktualität zu erkennen und ihre Verbreitung zu fördern. In erster
Linie wäre hier natürlich an den dänischen Literaturhistoriker Georg Brandes
zu denken, der zuerst Vorlesungen über den bis dahin weitgehend unbekannten,
durchweg unverstandenen oder eilfertig abgelehnten Philosophen gehalten hat;
aber auch die ersten umfassenden Darstellungen von Nietzsches Philosophie
stammen zum großen Teil aus der Feder jüdischer Autoren wie etwa Karl Joel,
Georg Simmel und Raoul Richter, dem Enkel Meyerbeers. Dazu wären die hilf-
reichen Freunde zu erwähnen, der um Nietzsches Gesundheit besonders be-
mühte ungarische Jude Paul Lanzky, der österreichisch-jüdische Schriftsteller
Siegfried Lipiner, der schon in den siebziger Jahren eine Nietzsche-Gesellschaft
in Wien gründete, sowie die Engländerin Helen Zimmern, deren Übersetzung
der dritten „Unzeitgemässen" Nietzsche in England bekannt machte, schließlich
der Physiologe Joseph Paneth, der später Freud über den Philosophen berich-
tete.1
1 R. M. Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden, hrsg. von Heinz Robert Schlette, Bonn, 2 1985,
27, 43. — Dazu erwähnt E. Förster-Nietzsche, Der einsame Nietzsche, Leipzig 1913, 296 f., daß ihr
„Bruder Gelehrte und Schriftsteller jüdischer Abkunft als die Pioniere aller geistigen Bewegun-
gen in Europa betrachtete, die mit ihrem Scharfsinn gerade für moralistisch-religiöse Studien
ein besonders feines Verständnis besäßen".
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128 Gerd-Günthet Grau
2 C. A. Bernoulli, Fran% Overbeck und Friedrich Nietzsche, Jena, 1908, II, 392 ff. Zu den geschwärzten
Stellen s. M. Montinari, Die geschwärzten Stellen in C. A. Bernoulli: Friedrich Nietzsche und
Franz Overbeck. Eine Freundschaft, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), 300 ff.
3 Wahnsinnszettel an Overbeck, Anf. Jan. 1889, KGB III 5, 575 (= KSB 8.575). - Bernoulli,
op. cit. I, 362. Kurz zuvor äußert sich Overbeck (?) allerdings dahin, daß zu seiner Zeit „wohl
jedermann, jeder Gebildete mindestens, in gewissem Masse den Juden abgeneigt" sei, „so sehr,
dass es unter uns die Juden selbst sind".
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Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus? 129
satz, vielleicht genuin mit dem Judentum verknüpft, womöglich für es charakteri-
stisch ist. Nietzsche erwähnt dieses Moment nicht ausdrücklich, weil ihm die
Absolutsetzung von Ideen und Idealen trivial ist, doch wird damit lediglich die
Kehrseite des von ihm kreierten Begriffs der „Sklaven-Moral" hervorgehoben,
für deren Begründung er die Juden verantwortlich macht.
Die entsprechende Theorie — der Sklaven-Moral wird sogleich die „Herren-
Moral" gegenübergestellt — liegt Nietzsche offensichtlich besonders am Herzen;
zuerst in Aph. 45 von „Menschliches, Allzumenschliches" als Ergebnis der neu
entdeckten Methode eines „historischen Philosophierens" aufgestellt, wird sie
vor allem in „Jenseits" und der „Genealogie" erneut vorgetragen, schließlich im
„Epilog" zum „Fall Wagner" als „Gegensatz ,vornehme Moral' und ,christliche
Moral"' zur entscheidenden „Wendung in der Geschichte der religiösen und
moralischen Erkenntniss" erklärt. 4 Dabei soll die „historische Methode" 5 , als
geisteswissenschaftliches Pendant zu dem so erfolgreichen naturwissenschaft-
lichen Verfahren gedacht, die Stringenz der Reduktion von Ideen und Idealen
auf ihre menschlich, allzumenschliche Basis gewährleisten; man kennt diese Stra-
tegie aus der gegenwärtigen Ideologiekritik, welche sich freilich ebensowenig wie
Nietzsche um die mögliche Beweisbarkeit geschichtlicher Genesis Gedanken
macht, aber zugleich die daraus abgeleitete Geltung bzw., vor allem, Ungültigkeit
der so erschlossenen religiösen, moralischen und gesellschaftlichen Werte für
erwiesen hält. Der Philosoph trägt seine Theorie denn auch seinerseits eher
dogmatisch vor, wonach vormals die „Herren" ihre selbst gesetzten Werte und
mit ihnen sich selbst unbedenklich verwirklichten —, gegenüber den „Schwa-
chen", die, unfähig zu eigener kreativer Lebensgestaltung, das ihnen von den
„Starken" vorgegebene Gesetz zu einer höheren Sinngebung stilisieren, welche
ineins die aufgezwungene „Sklaverei" sanktionieren wie die „Herren", durch das
ihnen eingeredete „schlechte Gewissen", an der Entfaltung ihrer Macht hindern
soll. Während die „Herren" dabei den Gegensatz von „gut" und „schlecht"
proklamieren und praktizieren, der durch die eigene Moral berechtigten, aber
„vornehmen", aus eigener „Stärke" auch zu Hingabe und „Versprechen" fähigen
Egoismus bekundet, sind die „Sklaven" auf den Gegensatz von „gut" und
„böse" verwiesen, dessen stete Nötigung moralisches Verhalten erzwingen soll,
jede freie Entfaltung des einzelnen unterbinden muß. 6
Doch gerade durch die vorschnelle Soziologisierung seiner Theorie entgeht
Nietzsche der tiefere Gehalt seines Ansatzes und des in ihm erspürten Gegen-
satzes, auf den sie abzielt; derart, daß allererst der absolute Anspruch den Men-
schen zum „Sklaven" eines dann eo ipso heteronomen Gesetzes macht, während
aufzurufen; der aber vor allem auch Moral und Religion eher gefährdet als tiefer
begründet, weil seine Heteronomie unvermeidlich mit dem Prinzip von Lohn
und Strafe verbunden ist, welches jene um ihre Würde, diese um ihre befreiende
Wirkung zu bringen droht: „Ach, das ist meine Trauer: in den Grund der Dinge
hat man Lohn und Strafe hineingelogen [...] — Christenthum und Judenthum:
das Ideal außer uns gesetzt, mit höchster Macht und befehlend und belohnend
und strafend!" 9
Eine derartige Tragödie der Geburt des absoluten Anspruchs aus dem Gei-
ste des Ressentiments 10 — nicht sowohl gegenüber den eigenen Lebensbedin-
gungen als vielmehr aus Empörung über die Bedingungen und die Bedingtheit
menschlichen Lebens generell — sieht Nietzsche nun vor allem und wesentlich
bei den Juden am Werk, deren Schicksal sie ja immer wieder aus Unterdrückung
zu Erhebung geführt hat, die jeweilige Befreiung als Wegweisung des Absoluten,
neue Verfolgung als Strafe für die Mißachtung seines Gesetzes verstehen ließ,
derart, daß gerade die Koinzidenz von Abwehr und Aufstand jenen „Geist der
Rache" entzündet, mit dem sich der Geist am Leben „rächt", der Mensch sich
im Geist über das Leben erhebt. Allerdings muß er diese Erhebung über die
Sklaverei des Leibes mit dem absoluten Anspruch des Geistes bezahlen, der
jedoch wiederum in den „überhistorischen" Werken von Kunst, Wissenschaft
und Religion ebenso „schöpferisch" wird, wie er durch den „Sklaven-Aufstand
in der Moral" den historischen Menschen seinen Werten unterwirft. 11
Man muß diese Doppelfunktion des Geistes, in der Theorie und für die
Praxis, durch kulturelle Werke wie moralische Werte vor Augen haben, um
Nietzsches zwiespältige Einstellung dem Judentum gegenüber zu verstehen; tief-
ste Verachtung und höchste Bewunderung gelten jener Absolutsetzung des Gei-
stes (und durch ihn), die, zugleich das Absolute als Geist verstehend, für das
„Volk Israel" prägend und durch es historisch wirksam geworden sein mag.
Doch auch umgekehrt möchte die große Resonanz jüdischen Denkens für
Nietzsche auf dessen Erspüren dieser Zwiespältigkeit im Anspruch des Geistes
beruhen, dessen „Selbstaufhebung" er aus „intellektueller Redlichkeit" betrieb.
Wie er seine Philosophie durch das Wechselspiel von Krankheit und Genesung
so gefährdet wußte, daß er sich eine „Philosophie der Armuth und Entmuthi-
gung [...] verbot", blieb er der geistigen Bewältigung seines Leidens so tief
verbunden, daß er auf eine erneute Umwertung nicht verzichten konnte, — aber
den Ubermenschen fordern mußte, statt die Forderung so zu ermäßigen, daß
sie der menschlichen Situation gerecht wird. 12
Durch diesen Aufstand erweisen sich die Juden vollends als „jenes priesterli-
che Volk des Ressentiment par excellence", das sich zwar äußerlich „an seinen
Feinden und Uberwältigern zuletzt nur [...] durch einen Akt der geistigsten Rache
Genugtuung zu schaffen wusste", aber zugleich innerlich eine Lebensbewälti-
gung ermöglichte, derzufolge „der Mensch überhaupt ein interessantes Thier gewor-
den ist", wenn denn „erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne
Tiefe bekommen hat und böse geworden ist [...]". Damit ist also, wie bemerkt,
die auf den Gegensatz von „gut und schlecht" gegründete autonome Moral der
„Herren" durch eine „Sklaven-Moral" ersetzt, welche Handlungen nach „gut
und böse" bewertet; kann jene, zur „Vergeltung" im doppelten Sinne fähig,
schließlich sogar den anderen respektieren, „ein Thier heranzüchten, das verspre-
chen d a r f ' (aber nicht immerfort muß), so muß hier eine heteronome Forderung
ein moralisches Verhalten bestimmen, dem sich der Mensch nur unter Zwang
und aus Furcht vor — innerer oder äußerer — „Vergeltung" unterwirft.
Die Juden [...] waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence,
dem eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte
[...]
Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen" [...] gethan worden ist, ist nicht
der Rede werth im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie gethan haben:
die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Uberwälti-
gern zuletzt nur durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung zu schaffen
wusste.14
Sofern und soweit dieser religiöse Anspruch in der Moral, als moralischer
Anspruch der Religion verstanden, nun auch in den christlichen Glauben, jeden-
13 JGB 195.
14 GM I 16, 7; II 1.
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Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus? 133
Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle Men-
schengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa
gegen Rom": es gab bisher kein grösseres Ereignis als diesen Kampf, diese Frage-
stellung, diesen todfeindlichen Widerspruch [...]
Die Juden sind, ebendamit, das verhängnissvollste Volk der Weltgeschichte [...] 15
Spricht Nietzsche noch vom „jüdischen ,Alten Testament'" als dem „Buch
von der göttlichen Gerechtigkeit", in dem „es Menschen, Dinge und Reden in
einem so grossen Stile" gäbe, daß das „griechische und indische Schriftthum
ihm nichts zur Seite zu stellen hat", so verfällt er in seinem Urteil über das
Neue Testament — in dem er die jüdische Prätention der „kleinen Leute" auf
das Absolute am Werke sieht — in einen so harten, jetzt auch doppelsinnig von
„Rasse" sprechenden Ton, daß ein antisemitischer Unterton nicht zu überhören
ist.
Das war die verhängnissvollste Art Grössenwahn, die bisher auf Erden dage-
wesen ist: kleine Missgeburten von Muckern und Lügnern, [...] kleine Superla-
tiv-Juden, reif für jede Art Irrenhaus, drehten die Werthe überhaupt nach sich
um [...] Das ganze Verhängniss wurde dadurch allein ermöglicht, dass schon
eine verwandte, rassenverwandte Art von Grössenwahn in der Welt war, der
jüdische [...]
Hierzu gehört Rasse. Im Christenthum, als der Kunst, heilig zu lügen, kommt
das ganze Judenthum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vor-
übung und Technik zur letzten Meisterschaft [...]
[...] und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität, war
in der That das Christenthum darauf aus, die ganze Welt zu „verjüdeln".16
Indes, gerade hier, auf der Spitze seines Kampfes gegen eine religiös be-
dingte Sklavenmoral — an der er immer noch das „moralische Genie" bewun-
dert — wird Nietzsche der Kehrseite des absoluten Anspruchs durch und für
den Geist gewahr, aus dessen „jüdischem Hass" der Empörung gegen ein nicht
sowohl unlegitimierbares als unlimitierbares Gesetz nun sogar das Christentum,
jedenfalls in der Person seines Urhebers, als Ausdruck für „die tiefste und su-
blimste aller Arten Liebe" verstehbar wird.
Das aber ist das Ereigniss: aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des
Hasses, des jüdischen Hasses — des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale
schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, dessen Gleichen nie auf Erden
dagewesen ist — wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue Liebe,
die tiefste und sublimste aller Arten Liebe: — aus welchem anderen Stamme
hätte sie auch wachsen können?17
Nun zeigt sich aber auch, daß aus diesem intelligiblen Ressentiment im wei-
testen Sinne sogar der niedere Aufstand gegen äußere Unterworfenheit produk-
tiv werden kann; derart, daß gerade der Ausschluß von politischer Macht, öffent-
lichen Amtern und gesellschaftlicher Anerkennung die Juden zu ihren außeror-
dentlichen Leistungen und Werken in Kunst und Wissenschaft, bis hinein in die
Politik, stimuliert und befähigt habe. Nicht genug, daß sie „sich aus den Gewer-
ben, [...] die man ihnen überließ [...] ein Gefühl der Macht und der ewigen
Rache [...] zu schaffen" wußten, hat ihre „Freisinnigkeit, auch der Seele", ihre
„geistige Geschmeidigkeit und Gewitztheit" sie am Ende sogar — zumal nach
der Verschwägerung „mit dem besten Adel Europas" — eine „Vornehmheit"
erwerben lassen, die sie, durch ihren Moralismus eher beflügelt als gehemmt,
zur Herrschaft in Europa berechtigt. Wollte schon Zarathustra ursprünglich den
Willen zur Macht auf Selbstüberwindung gegründet wissen, die freilich immer
wieder in den Sog und Dienst äußerer Machtausübung und -ergreifung zu gera-
ten droht, so wird jetzt das Ressentiment verhinderter oder aufgegebener Macht
nicht nur in Werten, welche immerhin zur „europäischen Auszeichnung" des
Verhaltens „auf allen Gebieten" führen können, sondern ebenso geistig und in
geistigen Werken buchstäblich „schöpferisch", — womit die Juden zugleich ei-
nen gewichtigen Beitrag für die kulturelle Entwicklung Europas, ja der Mensch-
heit geleistet haben.
Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter grosser Eindrücke, welche
die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von
Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller
Art, - wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige
Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und gol-
dene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker
kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und
vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa's
verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein,
an dem der alte Judengott sich [...] seines auserwählten Volkes freuen darf, —
und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun! 18
1. Georg Brandes
18 Μ 205.
19 GD, Was den Deutschen abgeht 1; J G B 250 f.; ΜΑ I 475.
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136 Gerd-Günther Grau
charakteristisch ist, daß seine Vertreter nicht nur keine spezifisch jüdische Inter-
pretation vorlegen, sondern von ihrem Judentum überhaupt nicht nachhaltig
berührt erscheinen, dann ist Georg Brandes — der ursprünglich Georg Morris
Cohen hieß — gewiß eine seiner auffalligsten Gestalten. Zwar mögen auch die
anderen eingangs genannten Autoren, Freunde und Helfer — von Ree über
Richter, Joel und Paneth bis zu Freud, der von Nietzsche nichts wissen wollte,
weil er seinen Ergebnissen zu nahe stand — der Synagoge weitgehend entfrem-
det gewesen sein; Brandes jedenfalls, dessen Elternhaus schon nicht orthodox
war, hat sein Judentum offensichtlich weder rassisch noch religiös oder auch nur
geistig als besonders gravierend empfunden. In seinen zahlreichen, die gesamte
europäische Literatur umfassenden Veröffentlichungen spielt denn auch eine
damit etwa gegebene Problematik überhaupt keine Rolle; in seinem Dialog mit
Nietzsche — der sich an der Idee der autonomen Persönlichkeit entzündet —
geht er gar nicht auf dessen Auseinandersetzung mit dem „Volke Israel" ein,
deren oben wiedergegebene Texte ihm doch bekannt waren. Allerdings gerät der
Autor, der ästhetische Sensibilität und politisches Engagement in sich vereinigte,
jedoch zugleich seine links-liberalen Tendenzen mit jenem „aristokratischen Ra-
dikalismus" zu vereinen suchte, der ihn bei Nietzsche so anzog, mit der politi-
schen und geistigen Polarisierung in den neunziger Jahren zwischen alle Fronten
und wurde von selten des sich nun auch in Dänemark ausbreitenden Pangerma-
nismus als Jude gebrandmarkt, — nach dem Motto etwa: „Wir germanischen
Skandinavier auf der einen Seite, der Jude Georg Brandes auf der anderen." 20
In diesem Zusammenhang darf auch daran erinnert werden, daß Elisabeth
Förster-Nietzsche zwar die Bekanntmachung ihres „Herzens-Fritz" durch den
dänischen Weltmann begrüßte, der „einen ausgezeichneten Spürsinn für interes-
sante Erscheinungen aller Zeiten" habe und durchaus geeignet sei, den Philoso-
phen „in Mode" zu bringen; aber sie konstatiert zugleich, nach Angaben des
Bruders, „mit äusserstem Hohne, [...] was für ein Gesindel" er sich dafür „aus-
gesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Bran-
des f...]" 2 1 Auf ihn wurde, wie Janz nach Angaben der Schwester vermutet,
Nietzsche durch einen Professor aus dem „vorwiegend jüdischen Wiener Vereh-
rerkreis" aufmerksam gemacht, der im Sommer 1886 Sils besuchte, — was die
Ubersendung von „Jenseits" zur Folge hatte, die zunächst unbeantwortet blieb,
ein Jahr später aber den Briefwechsel auslöste.
Georg Brandes wurde am 4. Februar 1842 als Sohn eines jüdischen Kauf-
manns in Kopenhagen geboren, studierte Jura und Ästhetik und promovierte
1870 mit einer Dissertation über die französische Ästhetik, in welcher er, seiner
geistigen Herkunft aus der französischen Aufklärung gemäß, den Standpunkt
Hegels zugunsten der Ideen Taines aufgab. Nach Reisen in England, Frankreich
und Italien hielt er Vorlesungen an der Universität Kopenhagen über die Litera-
tur des 19. Jahrhunderts, die er in seinem wohl berühmtesten und einflußreichs-
ten Werk „Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts" ab 1871 veröf-
fentlichte; er machte sich mit dieser — im modernen Sinne ideologiekritischen
— Arbeit zum Wortführer des „modernen Durchbruchs", einer Gegenbewegung
gegen die offiziell herrschenden kulturellen, moralischen und politischen Ideen,
die dem Liberalismus zum Sieg über die tradierten Autoritätsansprüche in Staat
und Gesellschaft verhelfen sollten. Wegen seiner radikalen Anschauungen —
gegen die Kirche sowie jegliche Jenseitsgläubigkeit, gegen die Ehe in ihrer beste-
henden Form und das konservative Bürgertum — erhielt er den 1872 freigewor-
denen Lehrstuhl in Kopenhagen nicht und wurde erst 1902, nach erfolgreicher
Vorlesungstätigkeit — u. a. auch in Warschau, St. Petersburg und Moskau —,
zum ordentlichen Professor ernannt. Doch obwohl er sich vehement gegen die
Unterdrückung aller Art, literarisch gegen die vorherrschenden idealistischen
Denkweisen wandte, konnte sich der dänische Intellektuelle, stets zugleich das
Recht des Individuums auf seine Unabhängigkeit betonend, nicht für den „de-
mokratischen Radikalismus" entscheiden, den sein Landsmann, Harald Höff-
ding, Kierkegaard-Forscher wie er selbst, seinem an Nietzsche orientierten ari-
stokratischen Radikalismus entgegensetzte.
Um den Anfeindungen von allen Seiten, dem konservativen Bürgertum so-
wohl wie der demokratischen, jedenfalls auf Demokratie pochenden Linken,
aber, wie angedeutet, auch den antisemitischen Verdächtigungen zu entgehen,
wandte sich Brandes, obwohl die Deutschen eigentlich nicht besonders schät-
zend, vermehrt Deutschland zu, wo der Linkshegelianismus das Feld für die
öffentliche Diskussion bereitet hatte, die theologische Problematik den Weltan-
schauungskampf nicht mehr beherrschte, das nationale Klima noch nicht von
rassistischen Tendenzen bestimmt wurde. Von 1877 bis 1883 lebte der Kosmo-
polit in Berlin, wo er zu dem Philosophenkreis Zutritt fand, dem auch Ree —
den er stets gegen Nietzsches Attacken verteidigte — und Lou Salome — die
ihn wohl schon früh auf Nietzsche hingewiesen hat — angehörten. Er begann
seine Arbeiten auf deutsch zu publizieren und wurde Mitarbeiter der „Deut-
schen Rundschau", der national-liberalen Monatsschrift für die gelehrte Welt;
seine Monographie über den Sozialistenführer Lassalle sicherte ihm eine unab-
hängige, nach allen Seiten offene Position, konnte allerdings nicht verhindern,
daß der Schriftsteller zugleich zum „Vater der radikaler werdenden Naturalisten-
generation" wurde. In den siebziger Jahren hatten sich die auf deutsch erschiene-
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nen Bände der Literaturgeschichte und damit Perspektiven auf die Literatur
durchgesetzt, die an die Ideen der Revolution von 1848 anknüpften, mit deren
Aktualisierung Brandes sich seinerseits einer anders gearteten „nordischen Be-
wegung" anschloß und vollends zum Vermitder skandinavischen Schrifttums
wurde. Nachdem das — ebenso kritische wie respektvolle — Kierkegaard-Buch
schon 1879 auf deutsch erschienen war, folgten weitere umfangreiche Arbeiten,
u. a. über Dostojewski, Börne und Heine, Shakespeare und Ibsen; nach dem
Ende des Krieges erschienen die Monographien über Goethe, Michelangelo,
Cäsar und das Urchristentum, begleitet von Studien zur Gegenwartsliteratur des
deutschen Sprachraums, die sich mit Hauptmann, Sudermann, Wedekind,
Schnitzler und Hofmannsthal befaßten. 22
Nach einem arbeits- und inhaltsreichen, kämpferischen, aber auch erfolgrei-
chen Leben starb Georg Brandes am 19. Februar 1927 in Kopenhagen. Mögen
seine immer noch lesenswerten Beiträge zur europäischen Literaturgeschichte
und ihren Persönlichkeiten weithin vergessen sein, so bleibt sein Name wie
seine Wirkung im Zusammenhang der ersten öffentlichen Anerkennung und
Verbreitung von Nietzsches Gedanken unübersehbar. Bedenkt man des weite-
ren, daß diese, wenn schon nicht „Entdeckung", so doch gewiß Bekanntma-
chung Nietzsches durch einen dänischen Forscher geschah, der — sich gelegent-
lich als „Antichrist des Nordens" verstanden fühlend — den deutschen Denker
sogleich auf die Schriften seines Landsmanns Sören Kierkegaard, dem er ja
selbst früh eine größere Untersuchung gewidmet hat, hinwies, dann erscheint
die Thematik dieses Beitrages vollends verständlich. Dem jüdischen Nietzsche-
anismus bleibt das von Brandes anvisierte und angeregte Verhältnis des anti-
christlichen Philosophen zu dem christlichen Anti-Theologen schon dadurch
verbunden, daß es wiederum von jenem Begriff der Sklavenmoral ausgeht, deren
absoluten Anspruch Nietzsche ebenso leidenschaftlich bekämpft, wie ihn Kier-
kegaard in der säkularisierten Christenheit regenerieren will. Wobei noch ange-
merkt sei, daß auch in Kierkegaards innerchristlicher Auseinandersetzung — die
Brandes eher mit ungläubigem Staunen betrachtet — das jüdische Erbe des
Christentums kaum explizit bedacht, allenfalls der gegenwärtigen Christenheit
der Rückfall in eine als jüdisch angesehene Religiosität vorgehalten wird, die auf
Erfolg und Wohlleben in dieser Welt ausgerichtet sein soll. Die Berufung auf
die beiden großen Gestalten des Alten Testaments, Abraham und Hiob, hat
dann bei den dänischen Theologen wesentlich die als genuin christlich verstan-
dene Tendenz, den absoluten Anspruch des Glaubensgehorsams — sei es in der
Aufhebung seiner Folgen, sei es in der Einklagung des ausgebliebenen Eingriffs
— erneut herauszustellen.
22 C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, München/Wien, 1978, II 566 ff., 584 ff. - H. Brandl, I.e.
23 Georg Brandes, „Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche", in:
Deutsche Rundschau LXIII 7 (1890), 52 ff.; hier zitiert nach dem III. Abschnitt in: A. Guzzoni
(Hrsg.), 90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, Königstein/Ts., 1979, 1 ff. Bei der Kürze des
Artikels werden einzelne Zitate nicht besonders nachgewiesen. — Die zweite Abhandlung: Ge-
org Brandes, „Friedrich Nietzsche", in: Menschen und Werke, Frankfurt/M., 1894, 137 ff.
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freude der herrschenden Klasse förmlich schwelgt", dagegen für „die unter-
drückte Kaste oder Rasse" und ihre Moral nur Verachtung übrig habe.
Die Theorie der beiden Moralentwürfe mit ihrer Begründung auf das Be-
griffspaar „gut und schlecht" der zur Vergeltung Fähigen bzw. „gut und böse"
der moralisch Verurteilenden beschreibt Brandes denn auch zunächst mit
schriftstellerischer Neutralität, welche die Meinung des Verfassers nicht von der
philosophischen Behauptung trennen läßt. Dabei übernimmt er die politisch-
soziale Akzentuierung weitgehend, weist Nietzsche sogar auf die isländischen
Sagen hin, deren Helden der Sittlichkeit seiner „Herren" durchaus nahestanden,
deren moralisch „grausames" Verhalten freilich eine ganz andere Moral auf Sei-
ten der Unterdrückten zeitigen mußte. Diese Moral, in welcher auch der Philo-
soph den „langen Zwang" zur Disziplinierung anerkannte, müsse indes nicht
zwangsläufig in eine Sklavenmoral entarten, könne vielmehr am Ende sogar den
Menschen zum „Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit" führen. Auf die Heraus-
stellung des jüdischen Ursprungs der eigentlichen Sklavenmoral geht Brandes
ebensowenig ein wie auf die Nachzeichnung der positiven Entwicklungen und
Leistungen des Judentums bei Nietzsche, — den er freilich für seinen „leiden-
schaftlichen Versuch" zurechtweist, diese Moral als „reine Neidmoral" darzustel-
len, ohne selbst das vertiefte Ressentiment im überhöhten Anspruch wahrzuneh-
men. D a der Philosoph zudem „mit seinem ausschließlich psychologischen In-
teresse allen gelehrten Apparat" liegen lasse, könnten seine - mit Verlaub, auch
alle anderen derartigen historisch-psychologischen — Behauptungen ohnehin
„nicht direkt kontrolliert" werden, wozu einige „historische Data" eben nicht
ausreichten. Insgesamt habe Nietzsche gegen die herrschenden Anschauungen
„kaum ein neues, überzeugendes Argument zu Tage gefördert", sich vielmehr
durch das „Ubermaß persönlicher Leidenschaft" leiten lassen, — nicht zuletzt
deshalb, weil er „dem modernen demokratischen Gedankengange" ablehnend
gegenüberstehe. Zu diesem kann sich freilich, wie einleitend angedeutet, auch
Brandes nur halbherzig entschließen, der am Ende zwar die Sympathie der mo-
dernen Schriftsteller, seit Taines Wende, für die „Männer der großen Empö-
rung" der französischen Revolution versteht, aber ihre Abneigung gegen den
„Cäsarismus" nicht teilen kann; sie „übersehen, daß die größten Empörer nicht
die vereinten Kleinen sind, sondern die großen Gönner, die anderen Recht,
Wohlergehen und geistiges Wachstum gönnen", — „Cäsar ist der große Ty-
pus [...]"
Daß der „Wille zum Leben" bzw. der „Kampf ums Dasein" sich zum „Willen
zur Macht" entwickeln könne, sei anzuerkennen, ohne daß man deshalb jegli-
chen Humanismus leugnen müsse; daß der Fortschritt sich nach der Höhe der
Opfer bemesse, die ihm gebracht werden müßten, sei zu bestreiten, ohne daß
man darüber die Idee eines höheren Menschentums aufgeben müsse, — mit
deren Fixierung im „Übermenschen" ohnehin „bei Nietzsche der leichte Traum
sich zu einer dogmatischen Uberzeugung kristallisiert hat".
So also ist er, dieser streitbare Mystiker, Dichter und Denker, dieser Immora-
list, der nicht müde wird zu verkündigen [...] So wenig deutsch er sich auch
fühlt, setzt er doch die metaphysische und intuitive Ueberlieferung der deut-
schen Philosophie fort [...] In seiner leidenschaftlichen, aphoristischen Form
ist er unbedingt original; durch seinen Gedankeninhalt erinnert er hin und
wieder an viele Andere [...]
Lange scheint er dafür gekämpft zu haben, sich selbst zu finden und ganz er
selbst zu werden. Um sich zu finden, kroch er in seine Einsamkeit wie Zarathu-
stra in seine Höhle hinein. Als es ihm gelungen war, zu einer ganz selbständi-
gen Entwicklung zu gelangen und er den eigenthümlichen Gedankenborn reich
in seinem Innern strömen fühlte, hatte er allen äußeren Maßstab für seinen
eigenen Werth verloren; alle Brücken zur umgebenden Welt waren abgebro-
chen. Daß die äußere Anerkennung ausblieb, steigerte nur sein Selbstgefühl.
Der erste Schimmer einer Anerkennung von außen her, gab diesem Selbstge-
fühl noch einen Hochdruck. Zuletzt ist es über seinem Kopf zusammenge-
schlagen und hat für eine Zeit lang diesen so seltenen und ausgezeichneten
Geist verdunkelt. Doch wie er im Augenblick in seinem unvollendeten Lebens-
werk ausgeprägt dasteht, ist er ein Schriftsteller, der es wohl verdient, studiert
zu werden. 24
Von ähnlich distanzierender Zustimmung ist auch der Briefwechsel des Lite-
raturhistorikers mit dem Philosophen bestimmt, der seinerseits sehr bewegt auf
die seltene Anerkennung reagierte, die Vorlesungen in Kopenhagen enthusia-
stisch begrüßte und den Titel des „Aristokratischen Radikalismus" vollauf ak-
zeptierte. Auch hier zeigen die Briefe Brandes als aufgeschlossenen und enga-
gierten, aber auch eigenständigen und kritischen Geist, der gewiß kein „Nietz-
scheaner" war, aber dem deutschen Denker, von der Schärfe und Radikalität
seines Geistes beeindruckt, zum Durchbruch verhelfen wollte, ohne freilich alle
Thesen und Behauptungen unbesehen zu übernehmen.
Schon im ersten Brief, mit dem Brandes einen „ernsten Dank" für die Über-
sendung der „Genealogie" ausdrückt, nachdem er — der bereits „Menschliches,
Allzumenschliches" besitzt — auf die vor einem Jahr getätigte Zusendung von
„Jenseits" offensichtlich nicht reagiert hatte, betont der Däne, daß ihm aus
Nietzsches Schriften „ein neuer und ursprünglicher Geist [...] entgehen" wehe,
wenn er auch „noch nicht völlig" verstehe, was er gelesen habe, und nicht immer
weiß, „worauf Sie hinaus wollen". So sei ihm Nietzsches „Verachtung der Moral
des Mideids [...] noch nicht durchsichtig", wie er auch seine „Reflexionen über
die Frauen im Allgemeinen" nicht schätzt; dagegen stimmt die „Geringschät-
zung der asketischen Ideale und der tiefe Unwille gegen demokratische Mittel-
mässigkeit" völlig mit seinen „eigenen Gedanken und Sympathien" überein. Ins-
gesamt läuft das erste Urteil darauf hinaus, daß Brandes „Schwierigkeit" empfin-
det, sich „in Nietzsche hineinzufühlen", dessen „Universalismus in Ihrer Denk-
art und Schreibart sehr deutsch" sei, was im folgenden Brief dahin erläutert
wird, daß deutsche Denker „schreibend mehr an sich selbst denken, als an das
grosse Publicum", während Ausländer sich eher hinter „einer Pädagogik des
Stils" verstecken; aber er gesteht Nietzsche anerkennend zu, „dass Sie geistig so
wenig Professor sind". 25
Nietzsche — über den Hinweis auf seine deutsche Denk- und Schreibweise
nicht sehr glücklich — rühmt daraufhin sogleich „die freie und französisch-
anmuthige Art, mit der Sprache umzugehen" bei Brandes, dessen „geselligere
Art" er wohl beneidet, wo er doch, mit seinem „Misstrauen gegen Dialektik [...]
nur selten den Muth zu dem" habe, „was ich eigentlich weiss". Mit dem Aus-
druck „Aristokratischer Radikalismus" fühlt er sich, wie mehrfach bemerkt, voll-
auf verstanden und gewürdigt, auch wenn Brandes diesen Begriff wohl zugleich
deshalb gewählt hat, weil er ganz seinen eigenen politischen Uberzeugungen
entspricht; schließlich will sich der Däne gern als „grossen Europäer", nicht
aber als „Cultur-Missionär" bezeichnet wissen, weil damit eine „moralisierende"
Tendenz ausgedrückt werde, die er verabscheut. Gleichwohl „verletzt" es ihn
„ein wenig, wenn Sie in Ihren Schriften so schnell und heftig über Phänomene
wie Socialismus oder Anarchismus sprechen"; womit Nietzsches „in der Regel
so blendender Geist" gerade dort „ein wenig zu kurz kommen" könnte, „wo
die Wahrheit in der Nuance" liegt. Die Verteidigung Rees, der Brandes in Berlin
als „ein stiller, in seinem Betragen vornehmer Mensch", wenn auch „ein etwas
trockener, beschränkter K o p f begegnet war, ebenso wie die Begegnung mit Lou
Salome, deren Buch „Der Kampf um Gott" keinen Begriff von ihrer wirklichen
Begabung geben könne, wurden bereits erwähnt. Nietzsche selbst spricht später
wieder „sympathisch" von seinem früheren Anreger und „ausgezeichneten
Freunde" — in einem höchst dubiosen Lebensbericht, in dem er sich, zur Vorbe-
reitung von Brandes' Vorlesungen, als Nachfahre polnischer Edelleute bezeich-
net, seine Großmutter dem „Schiller-Goetheschen Kreise Weimars" zuordnet,
seine Krankheit jedoch ganz auf „lokale Ursachen" zurückführt und dem „Ge-
rücht" entgegentritt, „als ob ich im Irrenhause gewesen sei".
25 K G B III 6, 120 f., 129. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf die Bände III 5 und III 6 der
KGB.
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Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus? 143
Einig und ähnlich sind sich beide Briefschreiber in der Klage über ihre
Isoliertheit und die sei es mangelnde Resonanz, sei es politische Verfolgung
ihrer Bücher; das mag bei Nietzsche, der jedenfalls den „Muth" seines dänischen
Kollegen bewundert, über den „vir obscurissimus" öffentlich sprechen zu wol-
len, durchaus begreiflich sein, muß aber bei Brandes, trotz der einleitend ange-
deuteten Schwierigkeiten, doch überraschen. 26 Nicht genug, daß dieser sich,
nach Eingriffen seines deutschen Verlegers in einen übersetzten Text, von der
deutschen Literatur ganz zurückziehen will, fühlt er, der Vielschreiber, sich
„allzu unglücklich" dazu, weitere Bücher zu verfassen, will aber gleichwohl so-
gleich daran gehen, den 6. Band seiner Literaturgeschichte in Angriff zu neh-
men. Aber es bleibt eben doch ein „Kampfleben, das verzehrt", weil er — wie
Nietzsche, dem er für das Wort „Bildungsphilister" dankbar ist — „seinen Frie-
den mit der Mittelmässigkeit nie gemacht" habe, von seinen politischen und
religiösen Ansichten ganz zu schweigen; in Rußland sind denn auch nicht nur
Nietzsches Bücher verboten (!), sondern steht zu befürchten, daß eines der alten
Bücher von Brandes „als irreligiös verbrannt" werden könnte, der Autor möchte
jedenfalls verhindern, daß seine neuen Bücher über Polen und Rußland übersetzt
würden, damit er nicht dort ausgewiesen, am Reden verhindert werde. 27
Als kleine Episode in dem nun immer persönlicher werdenden Briefwechsel
sei noch vermerkt, daß Brandes den Philosophen, wohl aus Anlaß der Begeiste-
rung für Bizets „Carmen", anregen möchte, der in Paris lebenden, wieder verhei-
rateten Witwe Bizets seine Streitschrift gegen Wagner zu schicken. Weitere Ex-
emplare sollte er dann einigen russischen Adligen senden, die ihm womöglich
die musikalische Welt St. Petersburgs erschließen könnten. Auch der „tolle
Schwede", gemeint ist der zur Zeit in Kopenhagen lebende Strindberg, „liebt
Sie besonders", weil „er meint, seinen Frauenhass bei Ihnen zu finden". Sogar
Bilder werden ausgetauscht, was bei Nietzsche erst mit Hilfe der Mutter gelingt;
inzwischen hat Brandes sich auch mit den Jugendschriften befaßt — „wie Sie
jung waren und enthusiastisch, auch offen und naiv" —, bleibt aber dabei, daß
der Philosoph schon dort „ganz intime, ganz persönliche Data umzudenken
oder zu generalisieren" neigt. 28
Weitaus das bedeutsamste Ereignis in diesen Briefen ist aber natürlich das
Schreiben vom 3. April 88, mit dem Brandes — der, „fast isoliert" lebend, ei-
gentlich „ungern Briefe, [...] überhaupt, wie alle Schriftsteller, ungern" schreibt
— seinen Entschluß ankündigt, Vorlesungen über Nietzsche zu halten, um ihn
„mit einem Schlag [...] in Skandinavien bekannt zu machen", nachdem es ihn
geärgert hat, daß seine Schriften dort so gar nicht bekannt waren.
Gestern aber, wie ich Ihren Brief erhalten hatte und eins ihrer Bücher vor-
nahm, empfand ich plötzlich eine A r t Arger, dass kein Mensch hier in Skandi-
navien Sie kenne, und entschloss mich schnell, Sie mit einem Schlag bekannt
zu machen. Der kleine Zeitungsabschnitt wird Ihnen sagen, dass ich (der ich
eben eine Reihe Vorlesungen über Russland geendigt habe) neue Vorlesungen
über Ihre Schriften ankündige [...] 2 9
Jedenfalls sei der Name des Philosophen „jetzt in allen intelligenten Kreisen
Kopenhagens sehr populär und in ganz Skandinavien wenigstens überall be-
kannt"; allerdings möchte Brandes zunächst die Vorlesungen nicht drucken las-
sen, weil „ich das Philosophische nicht als mein Fach ansehe, und nicht gern
etwas drucke, was einen Gegenstand behandelt, in welchem ich mich nicht hin-
reichend competent fühle", — welche Bedenken er dann später doch zurück-
stellte.
Zwei weitere bedeutsame, im Briefwechsel kurz angesprochene Themen ver-
dienen noch besonders erwähnt zu werden; zum einen die Übereinstimmung
in der Beurteilung Dostojewskis, zum anderen der Hinweis auf Sören Kierkegaard.
Nietzsche beantwortet die Mitteilung von Brandes, er bereite französische Vorle-
sungen für Petersburg und Moskau vor, „um dort aufzuleben" — was nach den
letzten Mitteilungen doch überrascht — zustimmend, um dann die Bemerkung
bar geworden sei. Noch einmal wird Dostojewski als „das werthvollste psycholo-
gische Material, das ich kenne", gerühmt, dem der Philosoph außerordentlich
dankbar sein müsse — ebenso wie Pascal, „den ich beinahe liebe, weil er mich
unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ [...]" 3 3
Brandes — inzwischen mit Vorlesungen über Goethe in Kopenhagen erfolg-
reich — geht auf diesen Problemkreis nicht weiter ein, betont aber noch einmal,
er sei unentwegt bemüht, für Nietzsche „Propaganda" zu machen, „wo ich nur
kann". Gleichwohl befremdet ihn der immer heftiger werdende „polemische
Zug" des Freundes nun doch beträchtlich, den er allenfalls in der Jugend leiden-
schaftlich betätigt hätte, - „jetzt kann ich nur darstellen; bekämpfe nur durch
Schweigen. Das Christenthum anzugreifen läge mir so fern als gegen die Wehr-
wölfe, ich meine gegen den Glauben an Wehrwölfe, eine Broschüre zu schrei-
ben." Zustimmend äußert sich Brandes jedoch im Hinblick auf die religiösen
Gestalten, bei denen er mit Nietzsche eher die ungewollte Zerstörung als ihre
intendierte Bestätigung des Glaubens findet; betont zunächst auch seine Liebe
zu Pascal, dessen „Provinf iales" die Jesuiten, „welch Meisterstück von Frechheit
und Klugheit", selbst herausgegeben hätten, rühmt „dieselbe Collision" im Ver-
hältnis „Luther gegen den Papst" und geht dann noch einmal ausführlich auf
Dostojewski ein, dessen „russisches Bauerngesicht [...] von Qualen ohne Zahl,
von abgrundtiefer Wehmuth, von ungesunden Gefühlen, von unendlichem Mit-
leid, leidenschaftlichem Neid" spricht. 34
Nietzsches letzter Brief liegt nur mehr im Entwurf vor, ist schon ganz durch
die Erregung der Krankheit bestimmt, die jetzt ausschließlich von der Auseinan-
dersetzung mit dem christlichen Glauben getragen wird. Nun ist auch erstmalig
in dem abgebrochenen Briefwechsel von den Juden die Rede, denen Nietzsches
„Vernichtungsschlag gegen das Christenthum" doch wohl sehr willkommen sein
müßte, wenn anders sie die „einzige internationale Macht" seien, die „ein In-
stinkt-Interesse an der Vernichtung des Christenthums hat". Der Rest des Brie-
fes ergeht sich in den bekannten wüsten Beschimpfungen des Antichrist, spricht
gar von der „Art", solch „braune Idioten zu behandeln", die sich, wie schon
der Kaiser, der inneren und äußeren Zerstörung widersetzen könnten, — was
nur ein „Gesetz gegen das Christenthum" verhindern könnte: „Das Gesetz ge-
gen das Christenthum hat als Uberschrift: Todkrieg gegen das Laster: das Laster ist
das Christenthum."35
Das letzte Wort des nun vollends entrückten Philosophen wendet sich, im
Gefolge der Wahnsinns-Äußerungen, die dann Overbeck zum Eingreifen zwan-
3 5 III 5, 500 ff. An wen mag Nietzsche wohl bei den „braunen Idioten" gedacht haben?
gen, noch ein letztes Mal dem „Freunde Georg" zu, von dem er sich nach wie
vor erst eigentlich entdeckt fühlt:
Nachdem D u mich entdeckt hast, war es kein Kunststück, mich zu finden: die
Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren
Der Gekreuzigte. 36
Was nun das Verhältnis von Nietzsche zu Kierkegaard betrifft, das hier ab-
schließend kurz angesprochen werden soll, um das von Brandes vermutete In-
teresse des deutschen Philosophen an dem dänischen Theologen zu bestätigen
und religionsphilosophisch zu vertiefen, so darf man sich von der allseits beton-
ten Beschränkung auf das psychologische Moment nicht irritieren lassen. Läßt
doch schon der Hinweis auf den „einzigen logischen " Christen Pascal, dem Nietz-
sche gewiß Kierkegaard als einen ebenfalls „in der Vereinigung von Gluth, Geist
und Redlichkeit" vorbildlichen Christen zur Seite gestellt hätte, die Richtung
erkennen, in welcher der radikale, das „credo quia absurdum" mit dem „asketi-
schen Ideal" verbindende Glaube ungewollt die innere Destruktion des Glau-
bens vorbereitet. 37 Diese Tatsache hatte Brandes schon in seiner frühen Arbeit
über den Landsmann vermerkt, wo er — dem die Verzweiflung des „tollen
Menschen" gewiß fremd war — mit Staunen und Respekt die „große Bedeutung
Kierkegaards für das staatskirchliche Geistesleben Dänemarks" darin heraus-
kehrt,
daß er die Probe darauf gemacht hat.
Der bestehende Zustand war, von außenher, vom humanen Standpunkte der
Wissenschaft aus betrachtet, längst als werdos erkannt worden. Durch ihn ward
dieser Zustand von innenher, von seinem eigenen Ideal aus, angegriffen, mit
seinem eigenen Maße gemessen, und durch seinen Mund beurteilte und verur-
teilte er sich selbst.
Als Kierkegaard seine Laufbahn begann, schien er der freien Wissenschaft der
gefahrlichste aller Denker werden zu sollen. Ein Denker von diesem Range —
und zugleich ein Prediger! ein Philosoph, so groß angelegt wie keiner zuvor in
Dänemark und Bischof Mynsters demütiger Bewunderer! In ihm ward die
Probe auf das Exempel gemacht. Er endete damit, selber die A x t wider sein
Gottesbild zu erheben. Durch ihn ward das dänische Geistesleben zu jenem
äußersten Punkte hingedrängt, von wo ein Sprung geschehen muß, ein Sprung
in den schwarzen Abgrund des Katholizismus hinab, oder hinüber auf die
Landspitze, von der die Freiheit winkt. 3 8
36 III 5, 573.
37 Μ 192.
38 G. Brandes, Kierkegaard und andere skandinavische Persönlichkeiten, Dresden, 1924, 430 f. Die Ab-
handlung über Kierkegaard stammt aus dem Jahre 1877.
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148 Gerd-Günther Grau
Eben diesen Prozeß der inneren, ebenso ungewollt wie unbewußt vollzoge-
nen Zerstörung des Glaubens aus der von diesem selbst geforderten und ge-
schichtlich geförderten „intellektuellen Redlichkeit" hat Nietzsche immer wieder
eindringlich beschrieben und auf den Begriff einer „Selbstaufhebung" gebracht,
welcher das Christentum wie alle „grossen Dinge" — letztgültiger Interpretation
und „oberster Werthe" — erlegen sei und erliegen werde.
Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der
Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen
„Selbstüberwindung" im Wesen des Lebens, — immer ergeht zuletzt an den
Gesetzgeber selbst der Ruf: „patere legem, quam ipse tulisti". Dergestalt gieng
das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner eigenen Moral; dergestalt
muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu Grunde gehn, — wir
stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftig-
keit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren
stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die
Frage stellt „was bedeutet aller Wille %ur Wahrheit?" [...] An diesem Sich-bewusst-
werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an — daran ist kein Zweifel —
die Moral ψ Grunde [...]39
39 GM III 27; dazu die bekannte Definition, KGW VIII 9 [35], erster Text-Aphorismus der
Kompilation: „Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?' was bedeutet
Nihilism? — daß die obersten Werthe sich entwerthen."
4 0 GM III 27. Die Selbstaufhebung wird schon M, Vorrede 9, für die Moral festgestellt, FW 357
Mit der Andeutung einer möglichen Koinzidenz von Kierkegaard und Nietz-
sche eröffnet Brandes eine lange Reihe von Forschern, welche, wie schon der
vorn genannte dänische Zeitgenosse Harald Höffding, vor allem aber Jaspers
und Löwith, sowie andere Existentialphilosophen, dieses Thema in seiner reli-
gionsphilosophischen Bedeutung gesehen und untersucht haben; zuletzt auch
noch der hier Vortragende, der damit wenigstens einen halbjüdischen Beitrag
zum Titel dieser Tagung bieten kann. 42
Es läßt sich nämlich explizit nachweisen, daß und wie Kierkegaard die von
Nietzsche ineins historisch und „logisch" entdeckte, womöglich erfahrene
Selbstauflösung des Glaubens unvermerkt und in ihrem letzten Schritt ungewollt
vollzogen hat, — in dem zentralen Lehrstück seiner „Stadienlehre". In dieser
Nachzeichnung der „Glaubensbewegung" soll der Aufstieg aus der romanti-
schen Verzweiflung des „Ästhetikers", dessen Nihilismus Nietzsche sehr nahe
steht, in das christlich-religiöse Endstadium eines verzweifelten Glaubens hin-
aufführen. Aber der Aufstieg erweist sich als zirkuläre Destruktion, wenn man
bedenkt, daß er lediglich aus der zeitlichen Zerrissenheit des Unglaubens in die
zerrissene Zeitlichkeit eines paradox-dialektischen Glaubens führt; kann im er-
sten Stadium die leere Zeitlichkeit nur im Taumel eines momentanen Genuß-
lebens (Don Juan) bewältigt werden, so muß der Religiöse sich mit den Auf-
schwüngen im „Augenblick" geglaubter Begegnung mit dem Absoluten begnü-
gen. Dazwischengeschaltet sind zwei weitere Stadien, in denen eine Synthese
von zeitlicher und ewiger Orientierung, als Bestätigung gleichsam einer gelunge-
nen Lebensbewältigung im Glauben, angestrebt wird; zunächst in der bürgerli-
chen Christlichkeit des „Ethikers", später in der christlichen Dialektik der „Reli-
giosität A", die noch einmal den Glauben in der „Wohnstube" praktizieren soll.
Doch erliegt das ethische Stadium der inneren Destruktion seiner allzu naiv
betriebenen doppelten Wahrheit, während die dialektische Religiosität an der
Entdeckung scheitert, daß die „ewige Seligkeit" auf ein „Historisches" gegründet
werden soll, „was nur entgegen seinem Wesen historisch werden kann, also kraft
des Absurden". 43 Wenn dann schließlich dem redlichen Gläubigen gleicherma-
ßen das katholische „Kloster" wie sein lutherisches „Korrektiv" versagt ist, aber
auch weder ein kirchlicher Ablaß noch ein evangelischer „Freimut" gestattet
werden darf, dann vollzieht der radikale Glaube mit der logischen die historische
Destruktion seiner Religiosität, welche, auf das Ende der Geschichte gegründet,
entweder das geschichtliche Leben desavouieren oder ihren Anspruch ermäßi-
gen muß. 44
Nicht zufällig koinzidiert denn auch Kierkegaards Feststellung, das Christen-
tum sei in der historischen, auf die Geschichte nicht sowohl ausgerichteten als
angewiesenen Christlichkeit „gar nicht vorhanden", mit der Behauptung Nietz-
sches, wonach das historische Christentum die genuine Religiosität seines Urhe-
bers — sei es in einer säkularisierten Christlichkeit, sei es in der un-seligen
Fassung völliger Lebensverneinung — verraten habe. Und Brandes konnte mit
Recht darauf verweisen, daß man an seinem theologischen Landsmann — der
„beständig selbst zertrümmern mußte, was er mehr als irgend ein anderer be-
wundert und vergöttert hatte" — genau bestätigt finden könnte, was Nietzsche
ausdrücklich als einen Vollzug der Selbstauflösung konstatiert hat, daß nämlich
gerade „Die, welche sich gerade am meisten bemüht haben, das Christenthum
zu halten, zu erhalten [...] seine besten Zerstörer geworden" sind. 45 Eine Be-
hauptung, welche in diesem Falle nicht einmal auf die Deutschen zu beschrän-
ken, sondern dem überhöhten Anspruch zuzuschreiben wäre, dessen rational
nicht fesdegbare Forderung die Sinngebung in ihr Gegenteil verkehren würde,
die Moral zur „Sklaven-Moral" entarten ließe, — dessen Revision indes eine
skeptisch-religiöse Redlichkeit ermöglichen könnte, welche die Antwordosigkeit
aushält, aber das Fragen nicht läßt, Moralität behauptet, ohne den Menschen zu
ihrem Sklaven zu machen.
Sollte dies — zwischen Gehorsam und Auflehnung (Kierkegaard), Wahrheit
und Wahrhaftigkeit (Nietzsche), Politik und Poesie (Brandes) — heute etwa der
(halb-) jüdische Weg sein?