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Georg Büchner

Woyzeck
Personenprofile

Marie

Marie ist - das fällt zuerst an ihr auf - ihrer Sinnlichkeit verhaftet, sie ist - das weist
thematisch auf Strindberg, Hauptmann und Wedekind voraus - ein triebhaftes,
triebbestimmtes, ihrem Trieb unterworfenes Wesen. Marie ist gezeichnet als Mensch, den
etwas Elementares, Unkontrolliertes antreibt - etwas, dem die Bezeichnung ,Liebe‘ nicht mehr
zukommt; die Vokabel taucht im Bereich Maries bezeichnenderweise nicht auf.
Marie versucht noch, sich gegen die Triebhaftigkeit ihrer eigenen Natur zu wehren, im Kampf
mit ihrem Gewissen: jedoch die verheerenden Gewalt der Sexualität, Unkontrollierbares
bricht über sie herein: naturhafte, animalische Triebhaftigkeit. Bemerkenswert häufig
verwendet Büchner im „Woyzeck“ die Tiermetaphorik. Durch die scheinbar so rasch
hingeworfenen Szenen zieht sich wie ein roter Faden die Anspielung auf das Tierhafte im
Menschen.
Indessen ist die Übermacht des Sinnlichen nicht der einzige Gesichtspunkt, von dem aus die
Gestalt der Marie sich uns erschließt. In Büchners Entwürfen findet sich zunächst ein anderer
Name: Wie Woyzeck dort zunächst nicht Franz, sondern Louis heißt, so lesen wir auch nicht
Marie, sondern Margreth in einem Teil der Manuskripte. Büchner hat sie frei aus seiner
Erfindung gestaltet. Im gerichtsärztlichen Gutachten ist sie, worauf Karl Viëtor 1 hinweist,
sozusagen nur mit den polizeilichen Kennzeichen vorhanden; auch war eine sitten- und
gefühllose Dirne für Büchners Absichten nicht zu brauchen.
„Ein Kind des Volkes nur konnte sie sein, schlecht und gut, wie die Natur. Seit dem
,Faust‘ ist dies der erste Versuch im deutschen Drama, solch ein Naturgeschöpf zu
gestalten. Dass die Marie von Gretchens Art ist, sieht man leicht. Aber Büchner hat alle
Vergoldung verschmäht, der Zauber poetischer Verklärung fehlt diesem Bild. Aber auch
jede Spur von Sentimentalität ... Es lässt sich dartun, dass Büchner wirklich die Marie
gestaltet hat mit dem Willen, die Gestalt Gretchens an unmittelbarer Wahrheit und
Echtheit zu übertreffen. Da ist die Szene, wie die Reuige in der Bibel die Geschichte von
der Ehebrecherin liest: man mag an die Zwinger - Szene im ,Faust‘ denken. Aber es gibt
auch ein deutliches Gegenstück zu der Schmuck - Szene. Da sitzt Marie, ihr Kind auf
dem Schoß, ein Stückchen Spiegel in der Hand, beschaut die Ohrringe. die ihr der
Tambour verehrt hat, und singt dazu eines der Volkslieder, die von Verführung und
Entführung handeln. Das ist wie im „Faust“:
Wenn nur die Ohrring meine wären!
Man sieht doch gleich ganz anders drein.
Was hilft euch Schönheit. junges Blut?
Das ist wohl alles schön und gut,
Allein man lässt‘s auch alles sein:
Man loht euch halb mit Erbarmen.
Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles! Ach wir Armen!

Bei Büchner heißt das, gleichsinnig, aber einfacher, in der ursprünglichen Volksweise:
,s ist gewiss Gold! Wie wird mir‘s beim Tanz stehen ? unsereins hat nur ein
Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel. - und doch hab ich einen so
roten Mund als die Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und
ihren schönen Herrn, die ihnen die Händ küssen. ich bin nur ein arm
Weibsbihd!
Schön oder hässlich, schlimm oder gut: dieses Mädchen aus dem Volk ist wahr und echt
wie die Natur, in ihrer Verliebtheit. ihrem mutigen Trotz (,Musst sterben!‘ - ,Und wenn
auch‘), der einfachen, unsentimentalen Kraft ihres Fühlens und in der Leidenschaft ihres
Bereuens. Ein Geschöpf, das unterhalb der bürgerlichen Gesittung lebt, das auf eine
andere Weise empfindet und handelt, ohne Tugend und Empfindsamkeit , aber ganz

1
Viëtor, Karl: Woyzeck. In: Das innere Reich, 3. Jg., Heft 2, S. 182 - 205
2

Leben, erdhaftes, echtes, starkes Leben. So hat Büchner sie gesehen, so liebt er sie:
liebt das Menschliche nur in dieser Artung, liebt in ihr die Menschheit.“

Auch Maries Verhalten geht - wie das des Woyzeck - aus ihrer privaten und sozialen Lage
hervor. In ihrer Beziehung zu Woyzeck ist sie seelisch und sexuell verkümmert. Dieser hat
nur wenig Zeit für sie, da er hauptberuflich Soldat ist und zusätzlich dem Hauptmann und
dem Doktor für weitere Dienste zur Verfügung stehen muss. Ständig ist er in Hetze, äußerlich
getrieben von seinen Verpflichtungen, innerlich von seinen Stimmen und Visionen. Auch
wirtschaftlich, finanziell und sozial gibt es mit ihm keine Zukunftsperspektive für sie: Seit
etwa zwei Jahren ist sie ihm verbunden, hat ein Kind von ihm, eine Perspektive aber ist nicht
sichtbar. Anders als Woyzeck denkt sie über ihre Bedürfnisse nach und entwickelt
Sehnsüchte. Diese kann offenbar der Tambourmajor befriedigen: „Was die Steine glänze!“
Gleiches gilt von ihren sinnlich - naturhaften Bedürfnissen (s. Maries Kammer; Buden,
Lichter, Volk). Dass sie an dem unentwirrbaren Ineinander von Naturverhaftetheit, sozialem
Miss - Stand, sozialen, sexuellen und psychischen Bedürfnissen selber leidet, sich ihm hilflos
ausgeliefert und schuldig fühlt, zeigt sich in ihrem eruptiven Sprachverhalten, in ihrem
häufigen Rückgriff auf Lied- und Märchenmotive und in ihrem Rekurs auf „sündige“
Frauengestalten im Neuen Testament (Sünderin, Ehebrecherin). Ihre Einsicht in
Schuldverstrickung und Naturverhaftetheit macht sie zu einer tragischen Figur: „Ich kann
nicht!“

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