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Herbert Schnädelbach: 

Rückblick auf 40 Jahre Philosophie

aus Heft 3-4/2012

In dieser Zeit hat sich die Zeitschrift Information Philosophie für alle philosophisch Interessierten
unentbehrlich gemacht; wer sie liest, darf sich zuverlässig informiert wissen, und dies in einer
konkurrenzlosen Vielfalt. Durch Texte verschiedenster Art – seien es Essays, Vorträge, Interviews,
aufgezeichnete Gespräche oder Rezensionen – erfährt man, was jeweils auf der philosophischen
Tagesordnung steht, aber man wird auch benachrichtigt, was Neuerscheinungen, Tagungstermine und
das institutionelle Personenkarussell betrifft. Dies alles bezeugt eine redaktionelle und verlagstechnische
Leistung von Peter und Claudia Moser, die von der Fachgenossenschaft immer gern in Anspruch
genommen, aber noch nie wirklich gebührend gewürdigt wurde. 

Ein solches Jubiläum ist Anlass genug für eine Rückschau auf das, was sich, seit es diese Zeitschrift gibt,
in der Philosophie getan hat. Dies führt zunächst zurück in das Jahr 1972 und auf die Frage, wie sich
damals die philosophische Szenerie dem Beobachter darstellte. An den meisten Universitäten waren die
Philosophen vomMorbus hermeneuticus befallen, also einer Krankheit, die sich in der Reduktion des
wissenschaftlichen Philosophierens auf Philosophiehistorie und Textinterpretation äußerte. Philosophie
als „Geisteswissenschaft“ – das hatte im 19. Jahrhundert einen Ausweg aus der tiefen Identitätskrise
dieses Faches eröffnet. Sie ergab sich aus der Tatsache, dass die Philosophen nach dem Ende des
Systemidealismus nicht mehr über das Definitionsmonopol verfügten, was die Wissenschaftlichkeit aller
übrigen Disziplinen betrifft, sondern nunmehr selbst unter Legitimationsdruck gerieten. Was lag da
näher, als bei den inzwischen wohletablierten Geschichts- und Textwissenschaften Zuflucht zu suchen?
Dies geschah mit bemerkenswertem Erfolg und führte dazu, dass man sich fast überall mit dicken
Monographien über einen großen oder kleineren Klassiker habilitieren konnte, vorausgesetzt, es findet
sich darin kein eigener philosophischer Gedanke, denn der konnte ja nur unwissenschaftlich sein. (Die
Beschäftigung mit Gegenwartsproblemen wurde sogar als „Aktualismus“ kritisiert.) Der fachliche
Reputationsgewinn hing damals weitgehend von der Subtilität und Raffinesse immer originellerer
Klassikerinterpretationen ab, und verstärkt wurde dies durch die verbreitete Überzeugung, das nach
Hegel „große“ Philosophie ohnehin nicht mehr möglich sei, so dass es nur noch darum gehen könne, das
klassische Erbe zu bewahren. Die Philosophen waren offenbar die Letzten, die für ihr Metier immer noch
am alten Systemideal der Wissenschaftlichkeit festhielten, während alle übrigen Fächer längst dem
modernen forschungswissenschaftlichen Paradigma folgten. Nun wollten die Philosophieprofessoren
natürlich auch forschen, um als Wissenschaftler auftreten zu können, aber der einzige Unterschied zu den
„Geisteswissenschaften“ bestand nur noch darin, dass es sich bei ihren Forschungsobjekten um Autoren
und Texte handelte, die aus welchen Gründen auch immer als „philosophisch“ galten. 

Der Morbus hermeneuticus war übrigens nicht nur eine „bürgerliche“ Krankheit; auch in der linken
Szene grassierte er. Als intensiver Beobachter der Frankfurter Vorgänge der 60er und 70er Jahre kann ich
bestätigen, dass die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und Marxianern vor allem
marxologisch ausgetragen wurden – mit einem ständigen Kampf um die richtigen
Klassikerinterpretationen, wobei die schwer zugänglichen „Grundrisse“ des Hauptwerks von Marx als
geheimnisvolle Fundgrube galten. Wie die „bürgerlichen“ waren auch diese antibürgerlichen Philosophen
davon überzeugt, dass mit Hegel die Philosophie an ihr Ende gekommen sei, aber aus anderen Gründen:
Karl Marx sollte sie in Gesellschaftstheorie übersetzt und damit vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Im
Übrigen wurde nicht mehr mit wirklichen Fortschritten in der marxistischen Theorieentwicklung
gerechnet; man stritt sich nur über die jeweilige Bedeutung der Klassiker: „Marx ohne Engels“, „Marx mit
Engels“, „Marx-Engels mit oder ohne Lenin“ etc.; Argumente wurden meist durch Zitate ersetzt. So fand
eine faire Beschäftigung mit den verschiedenen „revisionistischen“ Neuansätzen in dieser Tradition, sei es
mit den Theoretikern der II. Internationale, dem Austromarxismus oder jugoslawischen
Praxisphilosophie, nicht statt. Trotzdem entstand damals eine unübersehbare marxistische
Sekundärliteratur, die sich in Methode und Stil nur wenig von den umfangreichen Kant- oder
Hegelforschungen unterschied. 

Nach dem Ende des Systemidealismus gab es freilich auch noch originäres Philosophieren, aber es
wanderte aus den Universitäten aus. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre vor dem Ersten
Weltkrieg dominierten Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche die Szene, und beide waren keine
Universitätsphilosophen und wollten dies auch nicht sein; Schopenhauer hatte gespottet über die
„Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren“, und Nietzsche befand sich zunächst auf einem
Lehrstuhl für Klassische Philologie, um sich dann bald aus Gesundheitsgründen wie Schopenhauer in die
private Gelehrsamkeit zurückzuziehen. Die wahren Umwälzungen des traditionellen Denkens in der
jüngeren Moderne hatten sich freilich außerhalb des philosophischen Bereichs ereignet, und es genügt an
dieser Stelle, Charles Darwin, Karl Marx, Sigmund Freud, Max Weber oder Albert Einstein zu nennen.
Beamtete Philosophen waren daran nicht beteiligt gewesen, und wenn sie auf der Höhe der Zeit bleiben
wollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf diese Neuerungen irgendwie zu reagieren; meist geschah
dies mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Mitteln, während man die Popularisierung jener
Neuigkeiten anderen überließ. Auch die Rückbesinnung auf die Aufgaben eines materialen
Philosophierens seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts, wie sie vor allem mit dem
phänomenologischen Programm Edmund Husserls einsetzte, vermochte der Philosophie nicht die
kulturelle Führungsrolle zurück zu geben, die sie einmal für sich beansprucht hatte. 

Noch in den 60er Jahren war ‚Phänomenologie‘ das Zauberwort für ein Philosophieren, das sich nicht mit
historischer Philologie und auch nicht mit der bloß komplementären Begleitung der Wissenschaften im
Sinn einer Metatheorie begnügen wollte. Die Leitfigur war hier Martin Heidegger, dem eine einmalige
Selbstinszenierung als bedeutender originärer Denker gelungen war. Er hatte nicht nur seinen Lehrer
Husserl, sondern auch andere vor ihm erfolgreich zu seinen Vorläufern herabgesetzt, und dieser Anschein
wurde kräftig verstärkt durch die Gewalt seiner neuartigen Terminologie. So entstand der Eindruck, nur
Heidegger verfüge über das einzig wahre phänomenologische Programm, und Husserl sei veraltet. Das
NS-Regime, dem sich Heidegger bis 1934 verpflichtet hatte, befreite ihn zudem von den wichtigsten
Konkurrenten um das phänomenologische Erbe. Die Werke Max Schelers, der bereits 1928 verstorben
war, konnten nach 1933 in Deutschland nicht publiziert werden. Helmuth Plessner und Ernst Cassirer,
die sich ebenfalls als Phänomenologen verstanden, wurden in die Emigration getrieben. Eine Ausnahme
war Nicolai Hartmann, der bis 1945 relativ unbehelligt in Berlin lehrte und dann nach Göttingen
wechselte, wo er 1950 starb; es war ihm aber nicht gelungen, sich gegen den Einfluss Heideggers
durchzusetzen und eine breitere Wirkung er erzielen. 

Die Lage der deutschen Philosophie im Jahr 1972 war zum einen bestimmt vom Reimport der von den
Nazis vertriebenen Heidegger-Konkurrenten. Husserls Nachlass, der 1938 starb, war unter konspirativen
Umständen in die Universität Löwen gebracht worden, und man begann 1950 seine sämtlichen Werke in
der ReiheHusserliana herauszugeben. Dasselbe geschah mit den Schriften Schelers und Cassirers, was
ihnen eine erneute Wirkungsgeschichte eröffnete. Zu erwähnen ist hier auch Karl Löwith, der von 1936
bis 1941 in Sendai (Japan) und dann bis 1952 in den USA lehrte und in diesem Jahr nach Heidelberg
berufen wurde; er wurde dort zum wichtigsten Heidegger-Kritiker. Auch andere, die der NS zum
Schweigen gebracht hatte, kehrten zurück. Sofort nach 1945 meldete sich Karl Jaspers wieder zu Wort,
der seit 1937 Lehr- und Publikationsverbot erhalten hatte und 1945 mit seiner Frau nur knapp dem KZ
entkommen war. Er zog es vor, 1948 nach Basel zu wechseln, von wo aus er nicht nur philosophisch,
sondern auch politisch nachhaltig wirkte. Bereits 1951 war Max Horkheimer und kurz nach ihm auch
Theodor W. Adorno nach Frankfurt am Main heimgekehrt, wo das als marxistisch verschriene Institut für
Sozialforschung seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. Die sogenannte „Frankfurter Schule“ sollte auch
noch nach Adornos Tod im Jahr 1969 noch produktiv weiterwirken – vor allem durch Jürgen Habermas
und seinen Kreis. Viele Emigranten hatten es vorgezogen, nicht nach Deutschland zurückzukehren, z. B.
Hannah Arendt, Paul Tillich oder Herbert Marcuse, aber auch die meisten Vertreter des „Wiener Kreises“
des Logischen Empirismus (Rudolf Carnap, Carl Gustav Hempel, Herbert Feigl, Philipp Frank und
andere) verblieben in den USA, wo sie eine ganz neue, von der Idee der Philosophie als
Wissenschaftstheorie bestimmte akademische Kultur aufbauten, die lange Zeit als
der mainstream amerikanischer Philosophie galt. Karl R. Popper war 1937 nach Neuseeland emigriert
und lehrte und arbeitete bis 1994 in London. Dass sie alle der alten Heimat ferngeblieben waren,
behinderte aber nicht die Aneignung ihrer Ideen und Programme, die in den 60er Jahren einsetzte und
somit zu der Komplexität der philosophischen Landschaft beitrug, die man 1972 antreffen konnte. 

Die Zeit nach 1972 war zunächst geprägt von einem durchgreifenden Strukturwandel der Philosophie als
Universitätsfach. Soweit es sich zuvor wirklich um Philosophie und nicht bloß um
geisteswissenschaftliche Forschung gehandelt hatte, war sie weitgehend eine personengebundene
Deutungsdisziplin gewesen, verkörpert in den wenigen ordentlichen Professoren, die sich meist genötigt
sahen, selbst die ganze Philosophie zu repräsentieren und in einem eigenen System zu vertreten. Mit nur
geringer Übertreibung kann man behaupten, dass es damals in Deutschland ebenso viele Philosophien
gab wie Lehrstuhlinhaber. Kommunikation fand zwischen ihnen kaum statt, denn jeder war mit seinem
Projekt allzu beschäftigt, und es war nicht unüblich, dem Kollegen von der nächstbesten Universität das
Philosophsein rundweg abzusprechen. So kam Adorno 1962 von dem Kongress der Allgemeinen
Gesellschaft für Philosophie in Münster, zu dem man ihn als Vortragenden eingeladen hatte, ganz
verwundert zurück und meinte, es habe sich dort offenbar um eine Gewerkschaft von Einsiedlern
gehandelt. 

Die nächste Phase war bestimmt durch die Konkurrenz der „Schulen“. Die Großordinarien hatten
inzwischen jeweils einen Kreis von Schülern und Mitarbeitern um sich versammelt, die meist intellektuell
und institutionell von ihnen abhängig waren und somit eine Flut von Sekundärliteratur erzeugten, in
denen die Kontroversen zwischen den Schuloberhäuptern weiter durchgefochten wurden. Der legendäre
Positivismus-Streit zwischen Popper und Adorno, der auf einem Soziologenkongress 1961 seinen Anfang
nahm, wurde in der Folgezeit von Jürgen Habermas und Hans Albert fortgeführt, aber sie rückten beide
bald in die Rolle von Thronfolgern und Meinungsführern ihrer jeweiligen Schultradition auf – der
reformierten Kritischen Theorie und des Kritischen Rationalismus. Daneben war auch von der Erlanger
Schule die Rede, also von Paul Lorenzen und seinen Schülern, die bald auch wichtige Lehrstühle
besetzten. Die „Erlanger“ befanden sich bald in ständiger Fehde mit den „Münchnern“, d. h. mit der
sogenannten Stegmüller-Schule. Wolfgang Stegmüllers Leistung bestand neben sehr wichtigen eigenen
Arbeiten vor allem im Transfer der nordamerikanischen Wissenschaftstheo-rie in den deutschen Bereich,
und so verhalf er der Tradition des „Wiener Kreises“ zu einer Rückkehr aus der Emigration, was
hierzulande eine Hochkonjunktur der Wissenschaftstheorie auslöste; in den frühen 70er Jahren wollte
jedes philosophische Institut, das etwas auf sich hielt, einen Wissenschaftstheoretiker unter seinen
Mitarbeitern wissen. Zu erwähnen ist auch die sogenannte Ritter-Schule in Münster. Der Kreis um
Joachim Ritter, der sich um eine Neuaneignung der Hegelschen Rechtsphilosophie bemüht hatte, geriet
damals zunehmend in die Ruf, der Hort eines gegen das „linke“ Denken gerichteten Neokonservatismus
zu sein; in der Tat hatte er sich die Verteidigung der Bundesrepublik gegen alle Versuche vorgesetzt, sie
im Rückblick auf den NS oder aus marxistischer Perspektive zu delegitimieren. Der beginnende
Terrorismus von Links trug damals wesentlich auch zu einer politischen Polarisierung in der
Fachgenossenschaft bei, die so weit ging, dass neokonservative Kollegen nicht davor zurückschreckten,
die „Frankfurter“ für den linken „Marsch in die Gewalt“ für mitverantwortlich zu erklären. Unsere
Allgemeine Gesellschaft befand sich in diesen Jahren fest in der Hand der Konservativen, und erst
allmählich konnte man dann von einer Wiedervereinigung in der deutschen Philosophie sprechen mit
dem Effekt, dass wieder alle mit allen zu reden bereit waren. 
Die wichtigste Ursache für den Strukturwandel der Universitätsphilosophie aber war die Veränderung in
den institutionellen Rahmenbedingungen durch die neuen Universitätsgesetze seit 1969/70, die in den
Jahren nach 1972 wirksam wurden. Es handelte sich um das Ende der herkömmlichen
Ordinarienuniversität, und für unser Fach bedeutete dies, dass man nicht wie bisher einfach bei einem
Professor XYZ studieren konnte, sondern nurmehr an einem Seminar oder Institut mit kollegial
festgelegten und zu verantwortenden Studien- und Prüfungsordnungen. Dies alles hatte zuvor weitgehend
in der Entscheidungsgewalt des jeweiligen Ordinarius gelegen, der darüber bestimmenden konnte, was an
seinem Institut gelehrt oder nicht gelehrt wurde, und welche Prüfungsanforderungen zu gelten hatten.
Die Ablösung der Ordinarien- durch die „Gruppenuniversität“ wurde damals als „Demokratisierung“
verstanden, und es sollten alle Universitätsmitglieder an sämtlichen Entscheidungen beteiligt werden –
vor allem im Bereich der Personal- und Haushaltspolitik. Fehlentwicklungen wie die Bremer
„Drittelparität“ und andere dysfunktionale Verantwortungsstrukturen nötigten die Landesparlamente
sehr bald zu immer neuen Novellierungen ihrer Universitätsgesetze, bis sie wirklich funktionierten und
zudem als verfassungskonform gelten konnten. 

Die Nachteile dieses Strukturwandels wurden bald spürbar. Zunächst bestand der Preis für die
Gruppenuniversität in einer weitgehenden Verrechtlichung und Bürokratisierung der internen
Universitätspolitik. Zuvor konnte eine Fakultät in einer Sitzung über mögliche Kandidaten für einen zu
besetzenden Lehrstuhl diskutieren und im Fall einer einfachen Einigung eine Berufungsliste
verabschieden; nun bestand die neue Berufungsordnung mindestens aus 40 Paragraphen, gegen die zu
verstoßen das Scheitern eines ganzen Berufungsverfahren bedeuten konnte. Wichtiger aber waren die
Auswirkungen dieser Veränderungen für das Studium. Die Depersonalisierung unseres Faches und seine
Überstellung in kollegiale Verantwortung bedeutete eben auch deren Anonymisierung; wenn man sich
nicht mehr wie früher einmal einfach an einen philosophischen Lehrer anschließen und damit sein
gesamtes Studium bestreiten konnte, führte dies bei vielen Studierenden zu erheblichen
Orientierungsproblemen und zu häufigen Studienabbrüchen. 

Entscheidend für die allgemeine Befriedung der philosophischen Kommunikation war aber nicht die
Dezentrierung der herkömmlichen Ordinariate, sondern vor allem anderen die Forschungs- und
Förderungspolitik der Deutschen Forschungsgesellschaft und der großen Stiftungen. Dort hatte niemand
ein Interesse an der Finanzierung systematischer Großprojekte von berühmten Großprofessoren, sondern
man setzte nun auch in der Philosophie das durch, was in fast allen anderen Disziplinen bereits bewährte
Praxis war – die Förderung thematischer Forschungsprogramme, die nur schul- und fächerübergreifend
zu bewältigen waren. Ich habe selbst erlebt, wie ich 1969 mit Herzklopfen zu einer solchen Tagung der
Thyssen-Stiftung nach Düsseldorf, um nun mit gleichaltrigen Kollegen zusammenzutreffen, mit denen ich
als „Frankfurter“ eigentlich verfeindet hätte sein müssen; ich erfuhr, dass hier niemand die Streitereien
der Lehrergeneration fortsetzen wollte, weil es viel interessanter war, was jeder zur Sache zu sagen hatte.
Es hatte sich damals um eine von Alwin Diemer organisierte Tagungsreihe zu Fragen der
Wissenschaftstheorie gehandelt, aus der später die Zeitschrift für allgemeine
Wissenschaftstheorie hervorging. Besonders denkwürdige Beispiele für solche großen Unternehmungen,
die die alten Parteiungen aufzulösen begannen, waren das von Joachim Ritter initiierteHistorische
Wörterbuch der Philosophie (seit 1971), der Arbeitskreis Poetik und Hermeneutik (1963-1994), die
Bielefelder Tagungen zum Thema Theorie der Geschichte (1977-1990). Besonders einflussreich war das
1974 von Manfred Riedel herausgegebene zweibändige Sammelwerk Rehabilitierung der praktischen
Philosophie. Hier war es gelungen, zahlreiche Autoren verschiedenster Herkünfte für eine
Bestandsaufnahme und intensive Diskussion der Probleme nicht nur der Ethik, sondern der ganzen
Philosophie des Praktischen mit Einschluss der Handlungstheorie und Politischen Philosophie (John
Rawls) zu gewinnen, und dies mit bemerkenswertem Erfolg. Denn in den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg schien die Fachgenossenschaft, was die systematische Ethik betrifft, weitgehend resigniert zu
haben; die Klassikerinterpretation vermochte diese Lücke nicht zu schließen. Dass es heute
selbstverständlich ist, dass die Ethik in nicht nur historischen Sinn ins Curriculum gehört, und dass wir es
seit längerer Zeit geradezu mit einem Ethik-Boom zu tun haben, geht letztlich auf jenes
Rehabilitierungsprogramm zurück. 

Bereits in den späten 60er Jahren endete die durch den NS verursachte Isolierung des deutschsprachigen
philosophischen Diskurses – vor allem durch die Rezeption der bislang unbekannten angelsächsischen
Literatur. Da lernte man, wie intensiv sich vor allem britische und amerikanische Philosophen mit
ethischen und politischen Fragen befasst hatten, man wurde auf Ludwig Wittgenstein aufmerksam, als
sein Tractatus 1963 bei Suhrkamp erschien, und dann ging es darum, die englischsprachigen Debatten
und Resultate der wissenschaftstheoretischen Tradition des „Wiener Kreises“ nachzuverfolgen, die bei
uns lange Zeit als „positivistisch“ geschmäht worden waren. Sehr wichtig war in diesem Zusammenhang
die Konfrontation mit dem linguistic turn, also der Wendung zur sprachanalytischen Philosophie; die
meisten deutschen Kollegen, die ja aus der cartesianisch-kantianischen Tradition der
Bewusstseinsphilosophie herkamen, reagierten an dieser Stelle zunächst mit Abwehr. Da wurde gesagt
„Es ist doch nicht alles bloß Sprache“, als ob jemals jemand so etwas behauptet hätte, oder es wurde sogar
der Vorwurf des Behaviorismus erhoben. Denkwürdig sind an dieser Stelle Ernst
Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (1976), die bald den Rang
eines Standardlehrbuches erreichten, und dies auch wegen der eindrucksvollen Rezeptionsleistung der
neuesten Entwicklungen der Analytischen Philosophie. 

In den 80er Jahren setzte eine lebhafte Rezeption des französischen Poststrukturalismus ein, nachdem
die Schriften von Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Jacques Lacan, Gilles
Deleuze, Roland Barthes u. a. nach und nach ins Deutsche übersetzt worden waren. Die Folge war eine
sowohl von Heidegger wie von der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno inspirierte radikale
Vernunftkritik, bei der es darum ging, den abendländischen Fundamentalrationalismus als die Wurzel
aller zivilisatorischen Übel der Moderne zu identifizieren, und endlich an das „Andere der Vernunft“ zu
erinnern; dies kam vor allem bei den aufgeweckten Studierenden sehr gut an. Nach der „Wende“ in den
Jahren 1989/90 verebbte diese modische Welle, denn es war ja nach diesen Erfahrungen dem berühmten
„Mann auf der Straße“ einfach nicht zuzumuten, er solle glauben, dass ein „Zuviel“ der Vernunft den
üblichen Irrsinn verursacht habe. 

Eine Nebenwirkung all dieser Veränderungen bestand darin, dass die Erkrankungen am Morbus
hermeneuticuszurückgingen, wobei noch einmal zu betonen ist, dass die historisch-hermeneutische
Beschäftigung mit unserer philosophischen Tradition allein nicht krank macht, sondern nur dann, wenn
dies als die einzige Konzeption wissenschaftlichen Philosophierens behauptet wird. Anders als in den
meisten Wissenschaften, wo die Wissenschaftsgeschichte als ein wenig bedeutendes Komplementärfach
ein Randdasein fristet, ist aktuelles Philosophieren ohne den dialogischen Umgang mit dem schon
gedachten Denken unentbehrlich; der ist nur möglich, wenn wir unsere historischen Partner nach
Möglichkeit selbst zu Wort kommen lassen und uns nicht mit unseren jeweiligen Projektionen begnügen.
Genau dazu aber benötigen wir die fortgeschrittensten historischen und hermeneutischen Kompetenzen,
die in unseren Instituten entwickelt und gefördert werden müssen. In einer Tagung für philosophische
Doktoranden aus dem ganzen deutschen Sprachgebiet, die ich 2002 in Berlin organisierte, stellte sich
heraus, dass das Verhältnis zwischen historisch-hermeneutischen und thematischen
Dissertationsprojekten ungefähr 40 zu 60 % betrug; es ist anzunehmen, dass es sich inzwischen weiter
zugunsten des Thematischen verschoben haben dürfte. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass der Beruf des
Lehrers durch die Einführung der verschiedenen Formen des Ersatzunterrichts für das Fach Religion wie
‚Ethik‘ oder ‚Werte und Normen‘ eine der wenigen Beschäftigungschancen für unsere Absolventen
eröffnet, und hier kann man mit Klassikerinterpretationen allein nichts ausrichten; es sollen ja hier auch
keine Berufsphilosophen ausgebildet werden, sondern es geht um eine an Themen und Problemen
orientierte Kultur des gemeinsamen Nachdenkens. 

Die beiden letzten Jahrzehnte haben unserem Fach einen kräftigen Schub weiterer
Verwissenschaftlichung gebracht. Wie in fast allen anderen Disziplinen geht auch in der Philosophie der
Trend in Richtung ständig anwachsender Spezialisierung. Ein wichtiger Grund dafür ist der moderne
Mechanismus bei der Qualifikation unseres Nachwuchses; wer sich in der gewaltigen Konkurrenz um die
wenigen Stellen behaupten will, muss immer Mehr und immer Besseres über immer kleinere
Themengebiete präsentieren, und dies gilt im historisch-hermeneutischen Bereich ebenso wie in den
verschiedenen Sachgebieten. 
Die Folge ist zum einen, dass ständig neue philosophische Gesellschaften entstehen, die irgendeinen
Klassikerkandidaten in ihrem Namen führen, und dann meist auch eigene Kongresse veranstalten und
Zeitschriften herausgeben. Auf der Seite des thematischen Philosophierens entsprach dem eine
erstaunliche Vermehrung von Bindestrich-Philosophien, vor allem im Feld der angewandten Ethik. Die
Professionalisierung durch Spezialisierung ist heute selbstverständlich, mit der Folge, dass viele Kollegen
meiner Generation inzwischen gar keine Berufungschancen mehr hätten, denn vor dem Hintergrund der
jetzt geltenden Anforderungen stünden sie jetzt als Universaldilettanten da. Für den Betrieb in den
Instituten und Seminaren bedeutet dies, dass es zwischen immer kleiner gewordenen Lehr- und
Forschungsfeldern kaum noch Schnittmengen gibt, um die sich zu streiten lohnte; der neue Frieden in der
Universitätsphilosophie droht zur Friedhofsruhe zu geraten. So muss man sich nicht wundern, dass von
unserem so weit verwissenschaftlichten Fach keine umfassenden, das Ganze der Philosophie betreffenden
Entwürfe mehr zu erwarten sind. Darum ist auch nicht mehr mit großen, die Fachwelt und das Feuilleton
umtreibenden Kontroversen zu rechnen, an die sich die Älteren unter uns ein bisschen wehmütig
erinnern. (Die umfangreiche Debatte über die Willensfrei-heit war keine innerphilosophische Affäre,
sondern sie wurde uns aufgenötigt durch Neurophysiologen mit beschränkter philosophischer
Kompetenz.) So droht sich die Philosophie allein aus strukturellen Gründen wieder in den berühmten
Elfenbeinturm zurückzuziehen, in dem sie sich freilich bisher nicht wirklich befunden hatte; im alten
Europa besaß die Philosophie stets eine wichtige Stimme im gesamtkulturellen Diskurs. Die Spannung
zwischen Esoterik und Exoterik, Wissenschaft und Öffentlichkeit droht sich aufzulösen, mit der Folge,
dass beide Bereiche immer weiter auseinanderdriften. Schon heute ist absehbar, dass die vielen
philosophisch Interessierten in unserem Land immer weniger von den Fachleuten zu erwarten haben und
stattdessen von populären Bestsellerautoren bedient werden. Man kann hier auch ohne Ressentiment von
einer Amerikanisierung der europäischen Philosophie sprechen; sie ist dabei, sich zu dem Orchideenfach
zurück zu entwickeln, das sie in den USA immer gewesen war. Hinzu kommt die schwer zu
überschätzende Macht der großen angelsächsischen Wissenschaftsverlage, die immer weniger bereit sind,
Werke aus anderen Sprachgebieten zu übersetzen. So sehen sich die Jüngeren unter uns genötigt, gleich
in amerikanischem Englisch zu publizieren, um auch außerhalb wahrgenommen zu werden. Der Preis
dafür ist hoch. Nur ein native speakerwird im Stande sein, die stilistische Qualität der Texte von Quine,
Davidson, Rorty oder Taylor zu erreichen; anderen steht hier nur ein wissenschaftliches Küchen-Englisch
als neue lingua franca zur Verfügung. Wahrscheinlich ist dies einer Preise, die die wissenschaftliche
Philosophie im Zeitalter der Globalisierung für ihr Überleben zu entrichten hat. 

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