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STAAT UND POLITIK

Herausgegeben von Prof. Dr. Ernst Fraenkel,


Prof. Dr. Otto Heinrich von der Gablentz, Prof. Dr. Karl Dietrich Bracher

unter Mitwirkung von


Prof. Dr. Waldemar Besson, Prof. Dr. Gert von Eynern,
Prof. Dr. Ossip K. Flechtheim, Prof. Dr. Georg Kotowski,
Prof. Dr. Richard Löwenthal, Prof. Dr. Gerhard A. Ritter,
Prof. Dr. Kurt Sontheimer, Prof. Dr. Otto Stammer

Band 10
BERNARD WILLMS

Die totale Freiheit

Fichtes politische Philosophie

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH


ISBN 978-3-663-00340-3 ISBN 978-3-663-02253-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-02253-4
Verlagsnummer 053410
© 19 6 7 b y Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglicherschienenbei Westdeutscher Verlag· Köln und Opladcn 1967.
Gcsamtherstellung: Dr. Friedrich Middelhauve GmbH · Opladcn
Für Otto Coenen
VORBEMERKUNG

Die hier vorgelegte Arbeit ist im Wintersemester 1964/65 von der Philosophi-
schen Fakultät der Universität Münster unter dem Titel ,Die wahre Freiheit; Fichtes
Staatsphilosophie als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft' als Dissertation ange-
nommen worden. Sie ist im Kreise des Collegium Philosophicum in Münster ent-
standen. Das Collegium Philosophicum ist die Schöpfung von Herrn Professor Dr.
J. Ritter; ihm als akademischen Lehrer gilt der herzliche Dank des Schülers.
Für wirksame Hilfe und Förderung danke ich außerdem Herrn Professor
Dr. H. Schelsky, Herrn Professor Dr. E. W. Böckenförde, meiner Frau, Herrn
Professor Dr. 0. Marquard, der Studienstiftung des Deutschen Volkes und dem
Westdeutschen Verlag.
Münster, im Herbst 1966 Bernard Willms
INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Fichte und die Französisc:he Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15


1. a) Die »Zufälligen Gedanken« und die »Aphorismen über Religion und
Deismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
b) Die »Revolution im Kopfe«. Die »Zurückforderung der Denk-
freiheit« als revolutionäre Agitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
c) Der »Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die
Französische Revolution« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
d) Die politisc:he Konkretheit der Revolutionsschriften in der Wendung
zum konkreten Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2. Gesellschaft und Staat beim frühen Fic:hte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
a) Die autonome Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
b) Der bekämpfte wirkliche Staat und die deduzierte Vernunftstaat-
lichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3. Das Verhältnis von Freiheit und Gleic:hheit....................... 42
4. Die Utopie und ihre systematische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5. Der revolutionäre Vernunftbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
6. Von den Revolutionsschriften zum System der Freiheit; die Problematik
des revolutionären Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

II. Revolution und Wissenschaftslehre. Das System der Freiheit . . . . . . . . . . 58


1. Die Autonomie des transzendentalen Subjekts und ihre Bestimmungen 61
a) Das formale Bei-sich-selbst-Sein. Die Liquidierung des Ding an sich.
Die Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
b) Der Primat des Praktischen und der unendliche Anspruch . . . . . . . . 64
c) Freiheit und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
d) Die Apriorität der gesamten Erfahrung und die Freiheit der anderen
Iche. Der abstrakte Gesellsc:haftsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2. Die Dialektik der reinen Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
a) Die zwei Seiten der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
b) Das Problem der Vermittlung und die Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
X Inhalt

III. Die totale Gesellschaft 78


1. Moralität und Legalität ........................... ........... . 80
a) Die Trennung von Rechts- und Sittenlehre in der >>Grundlage des
Naturrechts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
b) Der hypothetische Charakter des Rechts in der Trennung von
Moralität und Legalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
c) Recht als Zwang; Moralität als Alibi des Zwangsrechts . . . . . . . . . . . 88
d) Die Unendlichkeit des Zwangsrechts; die hypothetische Notwendig-
keit des >>Gemeinwesens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
e) Die formalen Bedingungen der Vernünftigkeit des Gemeinwesens.. . 94
2. Eigentum und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
a) Fichte in der Tradition des neuzeitlichen >>Possessive Individualism«
(Hobbes, Locke, Kant) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
b) Die konstitutive Bedeutung des Eigentums fi.ir das empirische In-
dividuum ........................... ..................... 103
c) Die Deduktionen von Freiheit, Recht und Eigentum ............ 104
d) Die Deduktion des >>Handelsstaates<<, der totalen Gesellschaft ..... 105
3. Die totale Gesellschaft ........................... ............. 108
a) Kampf Aller gegen Alle bei Hobbes und Fichte ................. 108
b) Die Selbstorganisation der Gesellschaft ...................... 111
c) Die Politisierung der Gesellschaft durch die Totalgarantie des 120
Eigentums ........................... .................... 111
d) Die Rechtfertigung der totalen Gesellschaft. Statt der Vermittlung 120
die Utopie ........................... .................... 122

IV. Menschheit und Nation ........................... .............. 126


1. Die allgemeinen Probleme der politischen Theorie Fichtes nach 1800 .. 126
2. Die Organismustheorie des Staates und der Begriff der Gattung . . . . . . 128
3. Konkretisierung in der späteren politischen Theorie ................ 134
a) Die Selbstbehauptung der Staaten ........................... . 134
b) Die neue Dimension des Politischen und die Grenzen der Konkre-
tisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
c) Der Aufsatz über Machiavelli ........................... .... 142
4. Menschheit und Nation ........................... ............ 144
5. Die politische Theorie der Nationalerziehung ..................... 153
6. Religionsphilosophie und politische Theorie ....................... 160

Literaturverzeichnis 164

Personenregister 168
EINLEITUNG

Arthur Schopenhauer, Friedrich Julius Stahl und Bertrand Russell haben Ficl1tes
Philosophie als Wahnsinn bezeichnet 1, aber Friedrich Heinrich Jacobi und Forberg
verehrten in Fichte einen neuen Messias, dessen Vorläufer Kant bzw. Reinhold
gewesen sei 2 • Körner erschien Fichte als ein »philosophischer Attila<< 3, und für
Jean Paul war der Fichtianismus geradezu der »Teufel«, dessen »Großmutter« aber

1 Schopenhauer, der Fichte im Winter 1812/13 in Berlin hörte, schrieb in sein Kollegheft,
an den Rand eines ,Protokolls' der Wissenschaftslehre (für die er die Bezeichnung
Wissenschaftsleere erwog), die Worte des Polonius: »Though this be madness, yet there's
method in it.« (Mitgeteilt von Frauenstädt in seinem ,Lebensbild' in der Ausgabe von
Schopenhauers Werken, 2. Auf!. Neue Ausgabe. Leipzig 1916. Bd. I, S. 152.)
Friedrich Julius Stahl in seiner ,Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht',
Harnburg 1830, Bd. I, S. 157: »Dies zu denken ist Wahnsinn.« Bertrand Russell,
A History of Western Philosophy, New York 1945, S. 718. In der Deutschen Ausgabe:
»Fichte ... trieb den Subjektivismus in einer Art auf die Spitze, die schon an Wahn-
sinn grenzt.<< (B. Russell, Philosophie des Abendlandes, Frankfurt/M. 1950, S. 593.)
Ebenda S. 17 heißt es ebenfalls mit Bezug auf Fichte: »Das war Wahnsinn.« (Englisch:
,Insanity'). In dem populären Werk ,Wisdom of the West' ist auf Seite 246 der deut-
schen Ausgabe (Denker des Abendlandes, Stuttgart 1962) Fichtes Denken nur mehr als
»diese ziemlich phantastische Lehre« bezeichnet.
»Wie vor 1800 Jahren die Juden in Palästina den Messias, nach welchem sie so lange
sich gesehnt, bey seinem wirklichen Erscheinen verworfen, weil er nicht mit sich brachte,
woran sie ihn erkennen wollten, ... so haben auch Sie ein Stein des Anstoßes und ein
Fels des Argernisses denen werden müssen, die ich Juden der spekulativen Vernunft
heiße .... Und so fahre ich denn fort und rufe eifriger und lauter Sie zuerst unter den
Juden der spekulativen Vernunft für ihren König aus; drohe den Halsstarrigen an, Sie
dafür zu erkennen, den Königsherger Täufer aber nur als Ihren Vorläufer anzu-
nehmen.« So schrieb Jacobi an Fichte am 3. III. 1799. (Schulz, Briefw. II. Band, S. 28.)
Zwar schrieb Baggesen schon am 9. Mai 1799 an Jacobi »dies könne unmöglich was
Anderes als Ironie sein«, irrte sich aber zu diesem Zeitpunkt doch wohl damit (Fichte
in vertr. Br. S. 120). Allerdings ließ Jacobi, nicht zuletzt durch Fichte selbst veranlaßt
und durch Baggesen wie auch durch Jean Paul gedrängt, sehr bald von solcher enthu-
siastischen Anhängerschaft.
Forberg hatte schon 1795 geschrieben: >>Wenn Sie mich fragen, wie sich wohl Reinholds
Verdienste um die Philosophie zu denen, die sich Fichte erwirbt, verhalten mögen? so
weiß ic.l,. Ihnen darauf keine bessere Antwort zu geben, als die: Reinhold verhält sich
zu Fichte, wie sich Johannes zu Jesus verhielt, wie der Vorläufer zu dem, der da
kommen soll, wie der Prediger in der Wüste zu dem Lehrer ,mächtig in Taten und
Worten'« (Fichte in vertr. Br. S. 44).
3 Körner an Schiller, am 29. Dezember 1800. (Fid1te in vertr. Br. S. 168).
2 Einleitung

die kritische Philosophie 4 , jene kritische Philosophie, von der ein Enthusiast Fichte
ins Stammbuch geschrieben hatte: »Es werde Licht, sprach Gott, und es ward -
kritische Philosophie.« 5 Schließlich drückte im Jahre 1957 Reinhard Lauth die
Oberzeugung aus, daß Fichtes Philosophie allem nachfichteschen Denken metho-
disch und systematisch überlegen sei 6.
Nun sind fast alle hier mitgeteilten extremen Xußerungen primär auf den Fichte
der Wissenschaftslehre bezogen, nur jene vom ,philosophischen Attila' meinte direkt
den Verfasser des ,Geschlossenen Handelsstaates', also eines Werkes, das Fichte
selbst ein politisches, und zwar ein im engeren Sinne politisches, genannt hat. Noch
1807, beim Erscheinen von Fichtes Aufsatz über Machiavelli, schrieb Nicolovius in
einem Brief: »Könnte dieser energische Mensch ... aufhören, philosophischer
Schriftsteller zu sein, er würde in neuer Kraft, in ganz neuem Glanze auftreten und
ganz neue Ehre erlangen. Wollte er politischer Autor werden für unsere Zeit, er
würde groß sein.« 7 In Wirklichkeit bedeutete jener Aufsatz nicht einen neuen
Anfang des politischen Autors Fichte, vielmehr könnte man ihn eher als einen End-
punkt bezeichnen - 1807 konnte Fichte bereits auf ein Werk zurückblicken, das
von seinen ersten Anfängen an das eines ,politischen Autors' war, der aber gleich-
falls von Anfang an als ein philosophischer sich verstand und dessen systematische
Gewalt nicht zuläßt, jenen von diesem zu trennen. So formulierte Hans Freyer 1936

4 Jean Paul an Jacobi, am 1. Mai 1800: »Der Fichtianismus wird, glaube ich, sein han-
delndes Leben nicht hochbringen; aber was hilft der Tod des Teufels, wenn seine Groß-
mutter fortlebt, die kritische Philosophie?« (Fichte in vertr. Br. S. 143).
5 Schulz, Briefw. Bd. I, S. 316.
8 Reinhard Lauth veröffentlichte 1957 in der Zs. für Phil. Forschg. einen Berimt über
den ,Gegenwärtigen Stand der Arbeit an den Werken J. G. Fichtes'. Hier war die
wiedergegebene Ansicht zum erstenmal formuliert (vgl. a.a.O., S. 133/34). Eingehender
beschäftigt sich Lauth 1963 mit der »Bedeutung der Fichteschen Philosophie für die
Gegenwart« (Phil. Jahrb. der Görresges., Bd. 70, 1962/63, S. 252 ff.). Lauth stellt
heraus, daß »a) für die Philosophie und Wissenschaft, b) für das persönliche Leben,
c) für das gesellschaftliche Leben, d) für die Religion« Fichtes Denken allen nach-
fichteschen Ansätzen überlegen sei (vgl. a.a.O., S. 252, 258, 261, 263 u. passim). Vor
allem Hegels Denken und dessen Wirkung bis auf die Gegenwart werden hier durchaus
perhorresziert. Aus dem Kreis um Lauth geht hervor als Wichtigstes die neue Ausgabe
der Werke Fichtes, von der bereits zwei Bände vorliegen, die philologisch und editorisch
eine höchst bewundernswerte Leistung darstellen. Lauth selbst veröffentlichte im Phil.
Jahrb. der Görresges., Jg. 71/1964, Halbbd. II, einen weiteren Beitrag: »]. G. Fichtes
Gesamtidee der Philosophie«. Angesichts der dort von ihm entwickelten These, daß
der »Philosophiebegriff Fichtes« ... »nicht nur der Begriff der Wissenschaftslehre in
sich, sondern aum der Begriff der Vermittlung von Philosophie und Leben« sei, be-
hauptet Lauth einmal mehr, »daß keine andere Philosophie einen so umfassenden
Philosophiebegriff entfaltet, geschweige denn gerechtfertigt«, habe. Gerade in bezug
auf das Problem der Vermittlung ,von Philosophie und Leben' bei Fichte gelangt
unsere Arbeit zu kritischen Ergebnissen. Angesichts der deutlich werdenden Intentionen
Lauths und - soweit man bereits davon sprechen kann - seiner Smule scheint sich
hier die Gefahr einer unkritischen Fichte-Renaissance abzuzeichnen. Inwiefern man be-
rechtigt ist, hier von einer ,Gefahr' zu sprechen, versucht diese Arbeit an der politi-
schen Theorie - den systematischen Zusammenhang von Fichtes Denken, den ja auch
Lauth so stark herausstellt, vorausgesetzt- in die Diskussion zu bringen.
7 Fichte in vertr. Br. S. 224.
Einleitung 3

als Forderung an die Fichte-Forschung, »die beiden Linien seiner Produktion, Wis-
senschaftslehre und politische Publizistik, nicht bloß als zwei Parallelen zu sehen,
... sondern sie von der Mitte her zusammenzuhalten« s. Etwa in diesem Sinne
hatte auch schon Zeller 1865 die Aufgabe, ,Fichte als Politiker' abzuhandeln, auf-
gefaßt; er kennzeichnete seine Arbeit als Versuch, »Fichtes politische Philosophie
nach ihren verschiedenen Phasen in dem Zusammenhang mit dem Ganzen seiner
Philosophie übersichtlich darzustellen<< 9 • Wenn auch dieser angestrebte Zusammen-
hang mit dem Ganzen sicher dem methodischen Postulat Freyers noch nicht genügte,
beide Seiten aus ihrer ,Mitte' zu begreifen, so sah Zeller immerhin deutlich, daß
Fichtes ganze politische Theorie ebenso wie die Wissenschaftslehre die Durchführung
eines »leitenden Gedankens seines Lebens« sei, nämlich der >>Idee der sittlichen Frei-
heit« 10 • Was die politische Philosophie Fichtes als solche angeht, so konnte Zeller
schreiben: >>Auch seine politischen Theorien werden, so wie er sie aufgestellt hat,
keine Anhänger mehr zählen. Aber noch lange Jahre wird man auch da, wo man
ihm widersprechen muß, und vielleicht gerade da am meisten, von ihm lernen
können.« 11 Unmöglich konnte Zeller voraussehen, daß gerade das, was als politi-
sche >>Unmöglichkeit seiner Ergebnisse« und als das >>Despotische seiner Vor-
schläge« 12 seinen Widerspruch am meisten erregte, Fichte in späterer Zeit eine
,Anhängerschaft' in einem noch genau zu bestimmenden Sinne verschaffen würde,
deren schwerwiegende Bedeutung für die gegenwärtige politische Wirklichkeit zu-
mindest ein Ausgangspunkt für die erneuerte Beschäftigung mit Fichte sein muß.
Zeller hatte nun aber auch schon jene beiden Einzelzüge von Fichtes politischer
Theorie herausgestellt, die zunächst Aktualität gewinnen sollten, nämlich den
Fichteschen ,Sozialismus' und das, was er den ,Patriotismus' nannte. Der liberale
Zeller konnte allerdings in Fichtes ,Sozialismus' nur eine >>Staatliche Bevor-
mundung« sehen, die in »grellem Kontrast« stehe zu dem >>Maß politischer Freiheit,
das der Philosoph fordert« 13 • Aber schon Ahrens hatte 1852 Fichtes ,Staatssozialis-
mus' herausgestellt 14, und von da an hob die Forschung immer wieder diesen Punkt
als bedeutende Errungenschaft hervor. Am spektakulärsten wurde die Wirkung die-
ser Seite von Fichtes politischer Theorie in Lassalles eigentümlicher Fichte-Rezep-
tion, die ja sowohl den Sozialismus wie den Nationalismus Fichtes in Anspruch
nahm 15. Aber auch Schmoller sah in Fichtes politischer Theorie der mittleren Zeit
- in der ,Grundlage des Naturrechts' also und im ,Geschlossenen Handelsstaat' -

8 Im gleichen Sinne schrieb Ehrenberg 1923: »Es ist unleugbar ein Fehler der Interpreten,
daß sie die Wissenschaftslehre allein glauben behandeln zu können.<< (Hans Ehrenberg;
Disputation I, Fichte. München 1923, S. 58). Vgl. auch Lauths Ausführungen zum
Systemzusammenhang bei Fichte (Anm. 6).
9 Eduard Zeller; Fichte als Politiker. In: Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen

Inhalts. Leipzig 1865, S. 142.


1o Ebda. S. 142 und 144.
11 Ebda. S. 176.
12 Ebda. S. 166.
13 Ebda. S. 162.
14 H. Ahrens; Die Philosophie des Rechts und des Staates. Wien 1952, Bd. I., S. 338.
15 Vgl. die beiden berühmten Fichte-Beiträge Lassalles, jetzt in: Ges. Reden und Schriften,
Berlin 1919, Bd. 6, S. 53 und 103. Zu Lassalles Fichte-Rezeption im Ganzen vgl. Traut-
4 Einleitung

ein >>sozialistisches System<< 16 und schließlich kulminierte diese Interpretation in der


Arbeit von Marianne Weber, die 1900 erschien und die unter dem Titel >> Fichtes
Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin<< den Sozialisten Fichte
endgültig ins Bewußtsein hob 17 • Aber die Einseitigkeit dieser Behandlung Fichtes
erregte Widerspruch; das Zusammenbringen der sozialistischen und der nationa-
listischen Momente in Fichtes Denken, das Lassalle noch geleistet hatte, gelang
immer weniger, und so wird die Litera.rur über Fichtes politisches Denken bis 1914
und auch noch darüber hinaus ein Abbild der zwei großen politischen Strömungen,
des Sozialismus einerseits und des konsen·ativen Nationalismus andererseits. War
für jenen Fichte der erste deutsche Sozialist, so für diesen vor allem der Verfasser
der ,Reden an die deutsche Nation' 18 • In der politischen Situation vor und während
des ersten Weltkrieges tritt folgerichtig die nationalistische Rezeption so stark her-
vor, daß Fichte als Sozialist völlig in den Hintergrund gedrängt wird. »Das
Thema ,Fichte und wir' wird zum wichtigsten Kapitel der neuidealistischen Rezep-
tion der deutschen philosophischen Klassik nach 1900.<< 19 Und zwar wird es hier
eindeutig der nationalistische Fichte, mit dessen Hilfe in zahllosen populären Schrif-
ten das Nationalgefühl aufgetrieben wird; charakteristische Titel sind etwa: F. Jan-
son; Fichtes Reden an die Deutsche Nation, Untersuchung ihres aktuell politischen
Gehalts, Berlin 1911; oder: F. Hähne!; Auf Fichtes Bahnen, Bericht über den ersten
deutschen Vortrupp-Tag, Harnburg 1914 2o.

wein; über Ferdinand Lassalle und sein Verhältnis zur Fichteschen Sozialphilosophie,
Jena 1913.
Treitschke versucht in seinem Aufsatz: Fichte und die nationale Idee, Leipzig 1862,
Fichtes Sozialismus der ,nationalen Idee' völlig unterzuordnen. Insofern spiegelt sich
hier schon die Gegnerschaft der beiden Interpretationen, die hinfort in der Literatur stets
das eine Moment auf Kosten des anderen herausstellten.
!G Schmoller; Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften. Leipzig 1888,

S. 50. Bei Fritz Schneider; ]. G. Fichte als Sozialpolitiker, Halle 1894, lesen wir: »Sein
System ist nicht mehr eine zufällige Utopie, sondern die erste bewußte Regung des
Sozialismus.<< (S. 4) Schneider vergleicht Weitling, Marlo, Dühring und Rodbertus mit
Fichte, ohne allerdings der Frage eines etwaigen Einflusses Fichtes auf diese nachzugehen.
17 Marianne Weber; Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin. Tü-

bingen 1900. (Hier zit. nach der 2. Auf!., Tübingen 1925.) Ausführlich wird hierauf in
Kapitel III einzugehen sein. Das im gleichen Jahr erschienene Buch von Lindau; Fichte
und der neuere Sozialismus, Berlin 1900, ist in seiner unpräzisen Darstellung neben We-
ber völlig wertlos. Zu erwähnen sind noch: Max Adler; Wegweiser, Studien zur Geistes-
geschichte des Sozialismus, Leipzig 1914, S. 28 ff. und: Vorländer; Kant, Fichte, Hege!
und der Sozialismus, Berlin 1920.
18 Einen Schritt weiter gingen jene Autoren, die sich die Aufgabe stellten, den ,demokra-

tischen Gedanken' in Fichtes Werk aufzuzeigen, der schließlich beide Momente, Sozialis-
mus wie Nationalismus, begründete. Sc vor allem Leibholz; Fichte und der demokra-
tische Gedanke, Freiburg 1922, der Fichtcs demokratisches Grundprinzip in ein Verhältnis
zu Problemen der Weimarer Reichsverfassung setzt. Ahnlieh auch schon Gebhardt; Der
demokratische Gedanke, bei ]. G. Fichte. Leipzig 1920; ferner Schenkel; Individualität
und Gemeinschaft, der demokratische Gedanke bei ]. G. Fichte, Zürich, Leipzig, Stutt-
gart 1933.
19 Hermann Lübbe; Politische Philosophie in Deutschland, Basel u. Stuttgart 1963, S. 201.
20 Vgl. Lübbe, a.a.O., S. 200 ff. Weitere Tirel der populären Fichte-Erneuerung wäl-lrend

und nach dem 1. Weltkrieg:


Einleitung 5

Aber nicht nur solche Auswüchse trieb die einseitig nationalistische Fichte-Erneue-
rung, vielmehr wurde sie in zweifacher Hinsicht für die ernsthafte Forschung
bedeutsam. Erstens rückte die Gestalt Fichtes durch die Popularisierung wieder ins
allgemeine Bewußtsein und wurde so in vielen Fällen überhaupt erst der Anstoß zu
einer intensiven Beschäftigung; zweitens wurde aber gerade die einseitige Inan-
spruchnahme Fichtes, die die politischen Parteiungen betrieben - jede Partei wollte
Fichte für sich reklamieren - für die Forschung zum Anlaß, über solche einseitigen
Interpretationen hinwegzukommen. So wurden die Jahre nach dem ersten Welt-
krieg zur Blütezeit der Fichte-Forschung in Deutschland. Schon Meinecke hatte
1907 das Problem von Fichtes Nationalismus auf hoher Ebene diskutiert 2 1, 1908
hatte die sechsbändige Ausgabe von Fichtes Werken zu erscheinen begonnen, die
Medicus besorgte 22 , mit der noch heute wichtigen Einleitung, die unter dem Titel
,Fichtes Leben' auch 1913 in erster und 1922 in zweiter Auflage als selbständiges
Buch herauskam 23 • 1923 legte Hans Schulz die überaus wichtige Sammlung ,Fichte
in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen' vor, der er 1930 die zweibändige Aus-
gabe des Briefwechsels folgen ließ 24 •
Die Reihe der bedeutenden Arbeiten, die sich mit Fichtes politischer Theorie
beschäftigen, eröffnete 1916 Reinhard Strecker mit seiner Studie zu den ,Anfängen
von Fichtes Staatstheorie' 25 • Strecker hat allerdings ein noch ungebrochenes Ver-
hältnis zum nationalen Fichte, und obgleich er die Revolutionsschriften des jungen
Fichte eingehend untersucht und, was besonders verdienstvoll ist, vor allem Fichtes

H. Freytag; Fichte und seine Reden an die Deutsche Nation (Wartburg-Hefte Nr. 81),
Berlin 1913.
H. Freytag; Luther und Fichte und was sie uns über den Krieg zu sagen haben, Leipzig
1914.
P. Thönen; Fichte und die deutsche Einheitsbewegung, Leipzig 1914.
B. \Vehnert; Fichtes Reden an die Deutsche Nation auch für die Gegenwart gehalten,
Halle 1915.
F. Diehl; Deutschland als geschlossener Handelsstaat im Weltkriege, Stuttgart 1916.
W. Moog; Fichte über den Krieg, Darmstadt 1917.
Freytag, Eucken, Harpf, Schlüter; Fichte unser Führer, Harnburg 1917.
K. Weidel; Fichtes Reden an die Deutsche Nation und unsere Zeit, Magdeburg 1919.
K. Haack; Fichte und Deutschlands Wiedergeburt, Breslau 1927.
M. Grunewald; Fichtes deutscher Glaube, Berlin 1927.
Im Jahre 1916 erfolgte in Harnburg die Gründung einer ,Fichte-Gesellschaft', die die
Monatsschrift ,Deutsches Volkstum' herausgab und vor allem Bedeutendes in der Volks-
bildungsarbeit leistete.
~ 1 Friedrich Meinecke; Weltbürgertum und Nationalstaat. 1. Aufl., München u. Berlin 1907
(hier zit. nach der 7. Aufl. München und Berlin 1928).
22 Fichte, Werke. Hrsg. von Fritz Medicus, 6 Bände, Leipzig 1908-1912.
23 Fritz Medicus; Fichtes Leben. 1. Aufl. Leipzig 1913, 2. Aufl. Leipzig 1922.
24 Hans Schulz; Fichte in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Leipzig 1923.

]. G. Fichte; Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, gesammelt und herausgegeben von


Hans Schulz. 2 Bände, Leipzig 1930.
23 Reinhard Strecker; Die Anfänge von Fichtes Staatsphilosophie, Leipzig 1916. Strecker

gab dann 1919 und 1922 Fichtes Revolutionsschriften neu heraus. Wichtig wurde vor
allem seine Au~gabe der ,Politischen Fragmente' Fichtes als Band 163 f der ,Philosophi-
schen Bibi.', Leipzig 1925.
6 Einleitung

Verhältnis zu Rehberg und Schmalz thematisch macht 26 , wertet er doch letzten


Endes die Revolutionsschriften einseitig gegen die späteren des nationalen Fichte ab.
Immerhin hat er so die frühen politischen Schriften in das wissenschaftliche Be~
wußtsein gehoben, die noch Medicus in seine Ausgabe gar nicht aufgenommen hatte.
1917 veröffentlichte Ernst Bergmann 27 ein nachgelassenes Werk von Wilhelm
Metzger, ,Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus',
dessen umfangreichstes Kapitel Fichte gewidmet ist 2s. Metzger sieht Fichtes Denken
ausgespannt zwischen den beiden Polen des Rationalismus und der Romantik 29 •
Ob durch diese Einteilung von Fichtes Denken gleich manche Differenzierungen
verlorengehen, vor allem was den frühen Fichte angeht, so erörtert Metzger doch
eine Reihe wesentlicher Probleme der politischen Theorie Fichtes, so die Frage von
Moralität und Legalität ao, den Widerspruch des Rechtsbegriffs und dessen utopische
Konsequenzen 31 • Hervorzuheben ist an Metzgers Arbeit vor allem die zu diesem
Zeitpunkt gewiß erstaunlich maßvolle Stellungnahme zum Problem des Sozialis-
mus und des Nationalismus a2.
Mit der ausdrücklichen Tendenz, die beiden letzteren Fragen aus dem Streit der
Parteien herauszuheben, erschien 1926 das Buch von Nico Wallner, sowie vorher
schon die Arbeiten von Kroner, Rickert und Binder 33• Während Kroner auf der
metaphysischen Bedeutung von Fichtes Nationbegriff bestand und das wichtige
Problem von Menschheit und Nation neu formulierte, das auch schon Gegenstand

26 August Wilhelm Rehberg hatte 1792 ,Untersudmngen über die Französische Revolu-
tion' veröffentlicht. (Hannover, 2 Bände.) In den ,Beiträgen zur Berichtigung der
Urteile des Publikums über die Französische Revolution' polemisiert Fichte aufs hef-
tigste gegen Rehberg, wobei er sich häufig auf Theodor Schmalz; Reines Naturrecht,
Königsberg 1791, beruft (vgl. Strecker, Anfänge, a.a.O., S. 106, 118, 149 und passim).
27 Außer dieser Herausgebertätigkeit spielt Bergmann in der Fichte-Literatur eine unrühm-
liche Rolle. Er veröffentlichte in der Sammlung ,Der Kampf des Deutschen Geistes im
Weltkriege', Gotha 1915, einen Beitrag über ,Philosophie und Krieg' und im Jahre 1933
in Breslau eine Schrift: Fichte und der Nationalsozialismus (vgl. Anm. 37).
28 Wilhelm Metzger; Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des Deutschen Idealismus,
Heidelberg 1917. S. 111 ff.
2U Metzger, a.a.O., S. 113.

so Ebda. S. 157.
at Ebda. S. 160.
32 Ebda. S. 140 ff. bzw. S. 188 ff.
33 Nico Wallner; Fichte als politischer Denker, Halle 1926.
Richard Kroner; Der soziale und nationale Gedanke bei Fichte, Freiburg und Leipzig
1920.
Heinrich Rickert; Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus. In: Logos,
XI, 1923, S. 149 ff.
Heinrich Rickert; Die allgemeinen Grundlagen der Politik Fichtes. In: Zs. f. Deutsche
Kulturphil. Bd. 4, 1938, S. 1 ff.
Julius Binder; Fichte und die Nation, Logos X, 1922, S. 275 ff.
Dazu wären noch zu erwähnen die Arbeiten von Bruno Bauch; Fichte und unsere Zeit,
Erfurt 1920, und: Fichte und der deutsche Staatsgedanke, Langensalza 1925. Auch für
Bauch ist es wichtig, herauszustellen, daß Fichtes Sozialismus, »nicht im Parteisinne zu
fassen« ist (F. u. u. Zeit, a.a.O., S. 13). Bauch sieht auch in seiner Gegenwart ein ,Zeit-
alter der vollendeten Sündhaftigkeit' und empfiehlt eine Rückkehr zu Fichte als Heil-
mittel gegen den sittlichen Verfall (ebda. S. 15).
Einleitung 7

von Meine<kes Untersuchung gewesen war, bemühte sich Ri<kert um die Erkenntnis
der philosophischen Bedeutung von Fichtes Sozialismus; die Frucht dieser Bemühun-
gen ist zum Wichtigsten geworden, das bisher über den Zusammenhang von politi-
scher Philosophie und Wissenschaftslehre gesagt worden ist. Rickert erkennt den
transzendental-philosophischen Aspekt der Eigentumslehre und sieht Ich-Freiheit-
Recht-Eigentum in einer Weise verbunden, die die »Vereinigung von Individualis-
mus und Sozialismus« bei Fichte notwendig machte 3 4 •
Wenn nun auch in diesen und anderen wichtigen Arbeiten völlig zu Recht der
Versuch gemacht wird, Fichtes Denken aus dem Parteienstreit hinauszuheben, so
leidet doch die Darstellung - bis auf die von Ri<kert - unter den mit dieser
Intention an sie herangebrachten Kategorien. Schon das Begriffspaar Rationalis-
mus-Romantik war bei Metzger nicht ausreichend gewesen, die Wendungen Fichte-
sehen Denkens zu erfassen. In dem Bestreben nachzuweisen, daß keine einzelne
Partei - weder Sozialisten, noch Liberale, noch Deutschnationale - Fichte allein
für sich in Anspruch nehmen könne, wurden die Kategorien dieser Weltanschauungs-
parteien an ein Denken herangebracht, das dann zeigte, daß seine Subsumtion unter
eine dieser Kategorien nicht angängig war - aber auch, daß solche Kategorien über-
haupt nicht ausreichten, es zu erfassen. Denn in keinem Fall wurde dieses Denken
von ihm selbst her zur Sprache gebracht. Das gilt auch für das in vielen Einzel-
heiten so bedeutende Buch von Walz 35, das in der Anwendung seiner speziellen
,sozialmorphologischen' Kategorien auf Fichte ein Bild von dessen Entwi<klung ent-
wirft, das auf die auch von Walz als wesentlich bezeichnete Frage nach Fichtes
Verhältnis zum Staat eine irreführende Antwort gibt. Denn hierwird etwa die späte
,Staatsbejahung' Fichtes unqualifiziert als solche übernommen, unter der Voraus-
setzung eines eindeutigen Staatsbegriffs, der die Frage nicht aufkommen läßt, ob er
mit dem, was Fichte bejaht, in De<kung zu bringen ist.
Immerhin konnte bei diesem Stand der Forschung, zu der sich ja auch noch so
bedeutende Fichtebücher wie die von Heimsoeth und Max Wundt zählen lassen,
die der politischen Theorie allerdings weniger Aufmerksamkeit schenken 38, ein

34 Ri<kert; Die phil. Grundlagen, a.a.O., S. 163.


35 G. A. Walz; Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilo-
sophie Fichtes, Berlin 1928.
36 Heinz Heimsoeth; Fichte, München 1923.
Max Wundt; Fichte, Stuttgart 1927.
Max Wundt; Fichte-Forschungen, Stuttgart 1929.
Hier muß auch das bedeutende Werk der französischen Fichte-Forschung erwähnt werden,
das in Deutschland nicht immer angemessen .gewürdigt worden ist, nämlich Xavier Leon;
La philosophie de Fichte, Paris 1902, und Leon; Fichte et son temps, Paris 1914, (hier zit.
nach dem Neudru<k 1954). Vor allem das letztere ist durch die Fülle seiner Hintergrund-
Details für die Fichte-Forschung unentbehrlich. Was das spezielle Anliegen dieser Unter-
suchung angeht, so ist Leon dafür weniger ergiebig. Fichte ist für Leon ein Evangelist der
,Liberte', aber einer entpolitisierten und verinnerlichten ,Liberte'. Da Leon Fichte aber
doch als Schüler der Revolution stark herausstellt, erscheint auch diese in einem seltsam
unpolitischen Lichte. So wird Leon der Wissenschaftslehre als Freiheitslehre der Subjek-
tivität gerecht, klammert aber die politischen Probleme des Systemdenkers Fichte weit-
gehend aus. In gewissem Sinne wiederholt sich solche Interpretation in der gegenwärtigen
8 Einleitung

Kenner wie Arnold Gehlen 1935 schreiben, daß mit den Werken von Metzger,
Wallner und vor allem von Walz >>die politische, rechts- und staatstheoretische Seite
des Fichteschen Werkes ... restlos geklärt<< sei 37. Aber vor allem in Walz' großer
Arbeit war eine Seite von Fichtes politischem Denken beiläufig aufgetaucht, die,
entgegen der Ansicht von der restlosen Geklärtheit, keiner der Autoren dieser Zeit
in das Gesamtdenken hatte sinnvoll eingliedern können und die nur ein Gegen-
stand nachsichtig-kopfschüttelnder oder auch entrüsteter Bemerkungen gewesen war.

,Münchner Fichte-Schule', die außerdem Fichte an personalistisches Denken anzuschlie-


ßen versucht. (Vgl. dazu Anm. 6 und 345).
Was das Fichte-Buch von Gueroult angeht (Gueroult; L'evolution et la structure de la
Doctrine de la Science chez Fichte. Tome I, II, Paris 1930), so scheint seine Nicht-
beachtung in Deutschland eher gerechtfertigt. G. zeigt in seiner immanenten Struktur-
analyse kaum Verständnis für das, was in der Wissenschaftslehre zur Sprache kommt,
und so ist Torretti zuzustimmen, der schreibt, daß man dies Buch von Gueroult nur mit
Bedenken überhaupt in die Fichte-Literatur aufnehmen könne. (Roberto Torretti;
Der systematische Aufbau des polirischen Denkens Fichtes, Freiburg 1954, S. 8, Anm.)
Sehr bemerkenswert aber auch im Hinblick auf diese Untersuchung von Fichtes
politischem Denken - allerdings ebenfalls fast ganz unbeachtet geblieben - sind die
»Studies in the History of Political Philosophy« von Charles Edwin Vaughan (2 Bände,
1. Aufl. 1925, Neudruck New York 1960). Vaughan untersucht politische Denker des
17. und 18. Jahrhunderts und widmet Fichte ein ausführliches Kapitel (Bd. II, Ch. 3),
das vor allem für die Analyse der mittleren Phase von Fichtes politischem Denken
wertvolle Einsichten vermittelt (vgl. die entsprechenden Bemerkungen in Kapitel III
dieser Arbeit).
37 Arnold Gehlen; Deutschtum und Christentum bei Fichte, Berlin 1935, S. 78, Anm. 1.
Dieses Buch von Arnold Gehlen ist ein merkwürdiger Beitrag zum Problem ,Persecution
and the Art of Writing', das Leo Strauß zum Titel eines Buches gemacht hat (Glencoe
1952). Während Gehlen im ersten Teil Fichte in vordergründigster Weise als National-
sozialisten bezeichnet, stellt der zweite Teil eine sehr ernsthafte Untersuchung zur Reli-
gionsphilosophie vor allem des späten Fichte dar. Insofern ist dies Buch auch heute noch
(in zweifacher Hinsicht) interessant.
Ansonsten ist naturgemäß von der Fichte-Literatur zur Zeit des Nationalsozialismus
kaum ein wesentlicher Beitrag zur Fichte-Forschung zu erwarten. Faust; ]. G. Fichte,
Breslau 1938, stellt Fichte als >>Vorläufer der nationalsozialistischen Weltanschauung«
dar. Becher; Platon und Fichte, Jena 1937, stellt für Fichte eine >>im wahrsten Sinne des
Wortes nordische Seelenhaltung<< fest und eine Erziehungslehre, die >>deutscher Wesens-
art<< entspricht (S. 1). In dem schon erwähnten Buch von Ernst Bergmann; Fichte und der
Nationalsozialismus, bezeichnet Bergmann (wie Gehlen) Fichte als den ersten National-
sozialisten. Bergmanns Buch ist besonders aufschlußreich. Er hatte - ebenso wie Kroner,
Binder und Bauch - den nationalen Fichte reaktiv auf die Propagierung Fichtes als eines
Sozialisten herausgestellt. Für ihn war Fichte »der moralische überwinder des Marxis-
muS<< (a.a.O., S. 7). Selbst Bergmann kann man sinnvollerweise nicht beschuldigen, ein
Nationalsozialist im totalitären Sinne gewesen zu sein, noch weniger Kroner, Binder und
Bauch, deren Veröffentlichungen ja auch vor 1933 erfolgten. Ihre Zuwendung zum
Nationalen geschah als Antithese zum internationalen Sozialismus. Eindeutig ist die
Lage dann allerdings bei Autoren wie Becher und Faust. Immerhin erschienen während
dieser Zeit auch so beachtliche und wichtige Studien wie die Arbeit von Hans Freyer;
über Fichtes Machiavelli-Aufsatz, Leipzig 1936. Ferner: Wilhelm Weischedel; Der Auf-
bruch der Freiheit zur Gemeinschaft, Leipzig 1939, oder auch (mit größeren Einschrän-
kungen): Heinrich Oesterreich; Freiheitsidee und Rechtsbegriff in der Philosophie von
]. G. Fichte, Göttingen 1935.
Einleitung 9

Die Entdeckung des Sozialisten und des Nationalisten Fichte hatte jene Züge der
Theorie in den Hintergrund gedrängt, die Zeitgenossen genügt hatten, seine
Philosophie im ganzen aufs schärfste abzulehnen. So hatte Rehberg sofort nach
Erscheinen des ,Geschlossenen Handelsstaates' diesen als »das große Zuchthaus<<
bezeichnet 38 • Körner fand den bereits zitierten Ausspruch vom ,philosophischen
Attila', und für Hege! war gleichfalls die Gefährdung der Freiheit, in die er die
Freiheitslehre Fichtes umschlagen sah, nicht zufällig, sondern für die ganze Theorie
konstitutiv 39 •
Noch Friedrich Julius Stahl waren die Zusammenhänge durchaus gegenwärtig.
Er sah gleichfalls in dieser Theorie die Gefährdung des in der Revolution Erreichten,
und zwar eine Gefährdung, die aus dem Freiheitsansatz Fichtes selbst not-
wendig folgte 40 • Der schrankenlose Zwang, den er im Handelsstaat sah, war
auch für ihn nichts, das etwa aus Fichtes Charakter erklärt werden mußte, wie es
denn 30 Jahre später Zeller tat, sondern folgte nach seiner Interpretation aus der
schrankenlosen Freiheit, die Fichtes Ausgangspunkt sei 41 • Er sah schließlich auch
die despotische Konsequenz darin, daß >>nur für ein solches Ich, wenn es consequent
ist ... die Welt Raum<< habe 42 • Zeller aber, der vor allem für die Struktur des
staatlichen Zugriffs auf den Einzelnen bei Fichte Unübertroffenes gesagt hat,
konnte das >>Despotische seiner Vorschläge<< und die >>staatliche Bevormundung<<
nicht mehr zusammen sehen mit dem >>Maß politischer Freiheit, das der Philosoph
fordert<< 43 • Diese ,despotische' Seite erklärt er deshalb, wie schon erwähnt, mit der
>>Persönlichkeit des Philosophen<< 44 und mit der formalen Struktur seines Systems:
>>denn ein Idealismus wie der seine ist immer despotisch: die Bedingungen der Wirk-
lichkeit sind für ihn nicht vorhanden<< 4 5.
Für Kuno Fischer war dann diese Seite der Fichteschen Theorie nur mehr ein
>>illiberales Element<<, das er >>despotische Erziehungssucht<< nannte 46 •
Bei Strecker ist die Tatsache, daß er dieses Moment nicht mehr erwähnt, noch
damit zu erklären, daß er nur die frühe Staatstheorie Fichtes untersucht; Metzger
aber vernachlässigt im Grunde die Frage völlig, wenn er auch kurz auf die durch die
. Trennung von Moralität und Legalität geschaffene Zwangssphäre zu sprechen
kommt 47 • Für Rickerts wichtige Arbeit ist die Auslassung des ,despotischen' oder
,illiberalen' Elements konstitutiv, denn da er wie kein anderer die notwendige Ver-
bindung von politischer Theorie und Wissenschaftslehre aufgewiesen hat, hätte die

38 W. A. Rehberg; Sämtl. Schriften, Hannover 1829, Bd. 4, S. 311.


39 Die Behandlung der Frage von Hegels Auseinandersetzung mit Fichte würde eine eigene
Arbeit erfordern. Hier kann nur allgemein auf die entsprechenden Stellen in Hegels
Werk hingewiesen werden.
40 Stahl, a.a.O., S. 159 und 165.
41 Dem Problem dieses Umschlags genau nachzugehen versucht diese Arbeit im Kapitel III.
42 Stahl, a.a.O., S. 171.
43 Zeller, a.a.O., S. 162.
44 Ebda., S. 166.
45 Ebda.
46 Ebda., S. 131 und 133.
47 Metzger, a.a.O., S. 126.
10 Einleitung

Einsicht in die Notwendigkeit der ,despotischen' Konsequenz auch auf jene zurück-
wirken müssen 48.
Es ist erst Walz, der, wie schon angedeutet, zu den freiheitsbedrohenden Konse-
quenzen in Fichtes politischer Theorie eine Bemerkung macht, die ebenso bezeich-
nend ist für die Unfähigkeit, diese Seite zu integrieren, wie sie aufschlußreich und
bedeutsam für die gegenwärtige Beschäftigung mit Fichte sein muß.
Für Walz trifft schon im allgemeinen jene Bemerkung von Reiss, daß die deutsche
Fichte-Literatur zumeist von ,ehrfürchtigen' Vorurteilen bestimmt sei, nicht zu 49 ;
die Selbstsicherheit, mit der Walz seine ,sozialmorphologischen' Kategorien an
Fichte heranträgt, läßt ihn mehr als einmal diesem die Unvollkommenheit eines
,Noch nicht' bescheinigen. Bei der Untersuchung der Nationalerziehung bricht nun
bezeichnenderweise die Kritik folgendermaßen aus: »Man höre endlich mit dem
Lobgesang auf die Fichtesche Nationalerziehung auf. Einen größeren, groteskeren
Despotismus hat die Welt noch nicht gesehen. Man muß schon zu den Systemen des
Bolschewismus und des Faszismus gehen, um einigermaßen 1\hnliches zu erleben.<< 5o
Damit hat Walz - zwar noch in fast zufälliger Assoziation - ein P,roblem
angedeutet, das nunmehr, nach der Wirklichkeit des Totalitarismus im 20. Jahr-
hundert, nicht mehr beiseite bleiben darf. In den wenigen Arbeiten, die seit 1945 zu
Fichtes politischer Theorie veröffentlicht worden sind 51 , spielt denn auch der vom
politischen Denken, vor allem seit dem 2. Weltkrieg bereitgestellte Begriff des
Totalitären eine mehr oder weniger bedeutende Rolle 52 • So in der Arbeit von Tor-

48 Das gleiche gilt mutatis mutandis für alle Autoren, denen an der Herausstellung des
Sozialisten Fichte gelegen ist. Denn es ist Fichtes Eigentumslehre, die ihn zum Sozialisten
macht, aber eben in dieser Eigentumslehre liegt der Ansatz jenes ,despotischen' Momen-
tes.
49 Hans Reiss; Fichte als politischer Denker, in: Archiv f. Rechts- und Sozialphilos.,

XLVIII 1962, Heft 1/2, sieht die deutsche Fichte-Literatur zumeist von ,ehrfürchtigen'
Vorurteilen bestimmt (S. 163).
50 Walz, a.a.O., S. 596.
51 Mit der Reaktualisierung des Nationalen, die in der DDR zu Beginn der fünfziger Jahre
einsetzte, rückte auch dort Fichte wieder in den Vordergrund. Schon Kurt Eisner hatte
einen kommunistischen Fichte propagiert. (K. Eisner; Fichte, Berlin 1914); anknüpfend
an ihn und an die übrige sozialistische Fichte-Rezeption erschienenen Arbeiten wie die
von Helmut Mehnert; ]. G. Fichte und die Bedeutung der sozialen Frage in seinem Werk,
Diss. Dresden 1955, oder: Dieter Bergner; Neue Bemerkungen zu J. G. Fichte. Fichtes Stel-
lungnahme zur sozialen Frage, Berlin 1956. In diesen Arbeiten, wie auch in den Auf-
sätzen der Sammlung ,Wissen und Gewissen', Berlin 1962, kommen kaum Ansätze zum
Tragen, die für die Fichte-Forschung interessant werden, ausgenommen etwa die aus-
gezeichnete Studie von C. Träger; Fichte als Agitator der Revolution (Wissen und Ge-
wissen, S. 158 ff.), von der noch die Rede sein wird. Insofern ist Baumgartner zuzu-
stimmen, der im Phi!. Jahrb. der Görresges., 71. Jg. (1964), 2. Hbbd., S. 435 ff., unter
anderem über ,Wissen und Gewissen' berichtet, wenn er im Ganzen von einer ,sach-
fremden und von außen kommenden Sichtweise' spricht (a.a.O., S. 438). Allerdings
scheint Baumgartner - was seine Kußerungen über Fichtes Verhältnis zur Französi-
schen Revolution verraten - in bezug auf Fichtes Gesamtdenken zu jenen politischen
Auslassungen zu neigen, in denen die Bedenklichkeit der neuen, von München aus-
gehenden Rezeption zu sehen ist.
Einleitung 11

retti, die die politische Theorie Fichtes unter systematischem Gesichtspunkt unter-
sucht 53 • Geschärft durch die politischen Erfahrungen, kann sich das philosophische
Bewußtsein nicht mehr mit der Bagatellisierung eines ,illiberalen Elements' begnü-
gen. Torretti stellt deshalb die Frage, wieso >>diese vorbildliche Verfassung, die doch
um der Freiheit willen erdacht ist, als ein System erscheint, dessen Verwirklichung
das Aufheben der Freiheit veranlassen müßte und überhaupt alle jene Charaktere
zeigt, die für den heutigen totalen Staat kennzeichnend sind.<< 54 In manchen Einzel-
heiten der Durchführung kommt Torretti zu originellen Thesen, seine wesentlichen
Ausgangspunkte finden sich im Grunde aber schon bei Zeller und Wundt. Die totali-
tären Konsequenzen führt Torretti schließlich auf Fichtes >>Auffassung des GeisteS<<
zurück 55 , womit er im wesentlichen nicht über Zellers These hinauskommt, daß ein
Idealismus wie der Fichtes immer ,despotisch' sein müsse 56 • Das systematische Pro-
blem von Fichtes politischer Theorie formuliert Torretti folgendermaßen: >>Einer-
seits soll der Rechtszustand, d. h. der ideale, durch das Recht beherrschte Gesell-
schaftszustand beschrieben werden, andererseits soll die Art und Weise der möglichen
Verwirklichung desselben festgestellt werden.« 57 So hatte aber schon Max Wundt
1927 das >>Grundthema der politischen Spekulation Fichtes<< charakterisiert: >> ... die
reine, aus der sittlichen Idee geborene Forderung, die der Wirklichkeit fremd und
feindselig gegenübersteht und doch der dringende Wunsch, sie an die Wirklichkeit
heranzubringen und in ihr Gestalt gewinnen zu lassen.<< 58 Kommt es so bei Torretti
nicht zu einer genauen Untersuchung der politischen Seite des Totalitären, so ist
doch der Zusammenhang von entwerfender Vernunft und totalitärer Konsequenz
gesehen. Fichte bezeichnet deshalb für Torretti auch >>den Niedergang des utopischen
Denkens« 59.
Von theologischer Fragestellung her kommt Lösch in seiner kurzen Arbeit auf
den Zusammenhang von Wissenschaftslehre und totalitärer Politiktheorie 60 • Ihm
ist grundsätzlich die >>Immanentisierung des Absoluten<<, die er als den >>immer sich
gleichbleibenden Gedanken Fichtes<< bezeichnet, der Grund des Totalitarismus 61 •
>>Die Übertragung des rein immanenten Gottesbegriffs<< auf die >>Wirklichkeit des

52 Aus naheliegenden Gründen nicht in den Arbeiten, die aus der DDR stammen. Mit
der großen Arbeit von Scholz; ]. G. Fichtes ,Staatssozialismus', Diss. Köln 1955, liegt
eine Untersuchung vor, von der man sagen kann, daß sie das Problem des ,Sozialisten'
Fichte, d. h. seine ökonomischen Theorien in bezug auf seine Zeitgenossen sowie in
bezug auf den späteren Sozialismus, voll ausdiskutiert hat. Die sich so positiv auswir-
kende Beschränkung auf das ökonomische hat aber auch zur Folge, daß die politischen
Dimensionen der Eigentumslehre nicht erörtert werden.
53 Roberto Torretti; Der systematische Aufbau des politischen Denkens Fichtes, Diss. Frei-
burg 1954.
54 Torretti, a.a.O., S. 20.
55 Ebda., S. 2.
56 Zeller, a.a.O., S. 166.
57 Torretti, a.a.O., S. 20.
58 Max Wundt, Fichte, Stuttgart 1925, S. 155.
59 Torretti, a.a.O., S. 177.
60 Richard Lösch; Die Theologie der Lehre Fichtes von Staat und Nation, Michelstadt 1957.
Gt Lösch, a.a.O., S. 15.
12 Einleitung

Staates und der Nation« macht diese totalitär, da sie so zur >>Unmittelbaren Objek-
tivierung dieses Göttlichen« werden 6 2 • Ohne daß sich bei Lösch eine präzise Be-
stimmung des politischen Totalitarismus fände, ist doch seine These vom Totalitaris-
mus als Folge der ,Immanentisierung des Absoluten' höchst beachtenswert. Es ist
damit eine Seite des Problems angesprochen, die auch Schottky als wesentlich her-
ausstellt. Schottky sieht den Totalitarismus letztlich begründet in der >>Überzeu-
gung, der Inhalt aller legitimen staatlichen Anordnungen und Maßnahmen sei ein-
deutig durch nachrechenbare Deduktion aus dem abstrakten Vernunftsrechtsprinzip
zu gewinnen, alle ,richtigen' Gesetze und Verfügungen seien nur dessen subsumtive
Anwendung auf den konkreten Staat und seine Situation« 63 • Sowohl Löschs wie
auch Schottkys These treffen zusammen mit dem von Talmon gegebenen Grundsatz
des Totalitarismus 64 • Während Lösch aber eine eigene politische Argumentation
nicht thematisch macht, zeigt Schottky, sich auf eine solche einlassend, kaum Ver-
ständnis für die spezifisch politischen Bedingungen des Totalitarismus, insofern er
für Fichte die >>volle Rezeption« einer totalitären Souveränitätsidee, die von Hob-
bes über Rousseau tradiert worden sei, behauptet 65 • Mit dieser vereinfachenden
historischen Linienführung geht aber das Spezifische des politischen Totalitarismus
verloren.
Die schon erwähnten älteren Arbeiten von Leibholz und Schenkel hatten sich
bemüht, den ,demokratischen Grundgedanken' überall in Fichtes Werk aufzuzeigen.
Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, daß mit dem Aufweis des
demokratischen Grundgedankens einer Theorie noch nichts erreicht ist, vielmehr
beginnt hier erst die Frage nach der politischen Dimension solcher Theorie. Totali-
tarismus ist totalitäre Demokratie und der theoretische Ausgang von der Freiheit
garantiert noch für keine durchgeführte Theorie die Freiheitlichkeit - ebensowenig
wie die Beteuerung der Freiheitlichkeit eines bestimmten politischen Systems dies
auch als freiheitlich für die ihm real Unterworfenen erscheinen läßt. Eine neue
Studie zu Fichtes politischer Theorie muß jene Ergebnisse der älteren Interpretation
unter den Bedingungen eines neuen politischen Bewußtseins aufnehmen. Das Phäno-
men des politischen Totalitarismus als eine mögliche Konsequenz der bürgerlichen
Gesellschaft läßt jenen ,despotischen Zug' in der Theorie Fichtes und damit sein
gesamtes Denken in einem neuen Licht erscheinen. Denn ausgehend von der syste-
matischen Einheit Fichteschen Denkens muß jenes ,illiberale Element', dessen Baga-
tellisierung das politische Bewußtsein verbietet, aus dem Freiheitsansatz selbst her-
vorgehend betrachtet werden; es stellt sich also die Frage, auf welche Art ein
Denken, das als Ganzes als ein Denken der Freiheit sich bestimmt, in sich zu einer
politischen Theorie kommt, deren Konsequenz zum Totalitarismus in einem genau

82 Ebda., S. 7.
83 Richard Schottky; Untersudmngen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertrags-
theorie im 17. und 18. Jh., Diss. München 1963, S. 183.
84 J. L. Talmon; Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen 1961, S. 1/2.
85 Schottkys Verdienst um den Aufweis der totalitären Dimension der politischen Theorie
Fichtes wird beeinträchtigt durch seine unpräzisen Vorstellungen von ,totalitär'. So be-
nutzt er ,total' und ,totalitär' ungeschieden nebeneinander. Vgl. a.a.O., S. 173 ff. Zur
Differenzierung der totalitären Tradition vgl. etwa Abschnitt 111, 2d dieser Arbeit.
Einleitung 13

zu bestimmenden Sinne führt, in einem genauer zu bestimmenden Sinne jedenfalls,


als er sich in den Arbeiten von Torretti, Lösch und Schottky findet.
Indem hier versucht wird, Fichtes Denken von seinem Ansatz her als es selbst zur
Sprache zu bringen, wird es sich zeigen als eine Theorie der neuzeitlichen bürger-
lichen Gesellschaft, die in der abstrakten Bestimmung des Anfangs aus dem revolu-
tionären Ansatz eine Konsequenz deduzierte, die in der wirklichen Entfaltung der
bürgerlichen Gesellschaft in der Geschichte sich tatsächlich ereignet hat. Wenn Frei-
heit heute gegenüber dem Totalitarismus nicht nur ein ideologisches Postulat, son-
dern auch ein politisches Prinzip sein soll, so ist aufs genaueste ein Denken zu unter-
suchen, das eben dieses Prinzip der Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft, das Frei-
heitspostulat der Französischen Revolution und der Menschenrechte als solches zum
Prinzip seiner selbst auch in politischer Hinsicht gemacht hat und das ebensowenig
wie die bürgerliche Gesellschaft die Konsequenz des Totalitarismus vermieden
hat 66 •
Es wird hier also versucht werden aufzuzeigen, wieso der revolutionäre Freiheits-
ansatz jene ,Mitte' ist, von der aus Freyer die Wissenschaftslehre einerseits und die
politische Theorie Fichtes andererseits zusammengehalten wissen wollte 67. Die
Untersuchung setzt deshalb bei den Revolutionsschriften Fichtes an, weil in diesen,
bislang von der Forschung vernachlässigten Schriften, die Prinzipien aufweisbar
sind, die für alles fernere Denken Fichtes konstitutiv werden. Hier versichert sich
die radikal entfremdete Subjektivität ihrer selbst in der Entgegensetzung zu aller
Wirklichkeit und aus dieser Situation wird die Freiheit ,geboren' 68 , deren Entfal-
tung Fichtes weiteres Denken ausschließlich gewidmet sein wird. In der Verfolgung
dieses Prinzips durch das politische Denken Fichtes wird so das Interesse der Unter-
suchung nicht so sehr auf die Unterschiede der einzelnen Stadien dieses Denkens
gerichtet sein, deren Bestimmung in der bisherigen Literatur eine so große Rolle
spielte. Vielmehr ergibt sich methodisch für die vorliegende Arbeit ein größeres
Interesse an dem Verlauf des Denkweges selbst und an den Wegen, die das Denken
von einem Stadium zum anderen führen. Das so oft als in großen Widersprüchen
sich bewegend bezeichnete Denken Fichtes könnte auf diese Weise an Durchsichtig-
keit gewinnen, auf eine Weise also, die sich bemühte, in den jeweiligen Stadien die
strukturierenden Tendenzen aufzuweisen, die über das je Erreichte hinausweisen

66 Bei dieser Art der Fragestellung wird es nicht ausbleiben können, den Wert einer Fichte-
Erneuerung »für das persönliche Leben<< und für »das gesellschaftliche Leben<< doch
anders zu beurteilen als es bei Lauth geschieht. (Lauth; Die Bedeutung ... a.a.O., S. 262,
vgl. Anm. 4, S. 2.) Einer Fichte-Erneuerung, besonders wenn sie über Fichte, den Phäno-
menelogen der Subjektivität, hinaus will, kann nicht eindringlich genug die Frage nach
der politischen Dimension dieses Denkens gestellt werden.
67 Daß die Relation auf die Revolution für das Verständnis des Denkens jener Zeit notwen-

dig ist, zeigt an Hege!: Joachim Ritter; Hege! und die Französische Revolution, Köln
und Opladen 1957. Fichtes großartige und historisch maßgebende Bestimmung der ent-
fremdeten Subjektivität und ihrer Freiheit bedurfte der konkreten Vermittlung mit dem
Allgemeinen in Recht und Staat. Das ist die Aufgabe, die Fichtes Denken immer wieder
unternommen hat, ohne diese Vermittlung je zu erreichen.
68 Vgl. Arnold Gehlen; über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, Archiv für
Rechts- und Sozialphil. Bd. XI, 1952/53, S. 338 ff.
14 Einleitung

in eine Richtung, in deren Verfolgung das nächste Stadium anzutreffen dann nicht
mehr so überraschend ist. Der Unterschied, ja der ,radikale' Unterschied, etwa
zwischen den Revolutionsschriften einerseits und der ,Grundlage des Naturrechts'
andererseits 69 könnte sich so als ein dialektischer erweisen in dem genauen Sinne,
in dem die in jenen verhandelte Sache den Widerspruch, den diese darstellt, aus
sich selbst hervorgetrieben hätte. So wird aus dem ersten Ansatz Fichtes, nämlich
dem der Revolutionsschriften, schon die Aufgabe der Vermittlung der entfremdeten
Subjektivität mit dem Allgemeinen in Recht und Staat ersichtlich, deren erster Ver-
such dann eben die ,Grundlage des Naturrechts' ist und die die eigentliche Aufgabe
des politischen Denkens Fichtes bleibt. Gleichfalls aus den Revolutionsschriften er-
geben sich aber alle jene Grundsätze, die diese Vermittlung als zum Scheitern verur-
teilt erscheinen lassen, sowie auch jenes Prinzip, das in allem Denken Fichtes latent
bleibt, das Moment nämlich der utopischen Überspielung aller Widersprüche, aller
Entzweiungen, das am Schluß dieses Denkens schließlich in die Lehre vom ,Reich'
einmündet.
Da die Untersuchung je auf das spezifisch Politische in diesem Denkweg ihr
Augenmerk richtet, wird mit besonderer Aufmerksamkeit der Beziehung von Gesell-
schaft und Staat und deren Differenzierung bzw. schließlich Identifizierung nach-
zugehen sein. Der starken Entgegensetzung von Gesellschaft und Staat in den
Revolutionsschriften entspricht - gemäß der völlig veränderten Intention (nicht
des Prinzips) der späteren Werke - eine eindeutig aufweisbare Identifizierung
beider. Diese Identifizierung von Gesellschaft und Staat wurde bisher stets über-
sehen aus dem Grunde, weil Fichte in den späteren Werken fast nur noch vom
,Staat' spricht, worunter aber dann der deduzierte Vernunftstaat zu verstehen ist,
in den alle gesellschaftlichen Elemente des revolutionären Ansatzes eingegangen
sind. Insofern diese Identifizierung dann alle jene Momente mit sich führt, die die
ältere Literatur als die ,despotischen' aufzeigte und die heute als totalitär erscheinen,
kann die Hoffnung geäußert werden, daß mit dem vorliegenden Versuch, sich auf
Fichtes Denken einzulassen, gleichfalls ein Beitrag zu diesem politischen Problem
unserer Tage, eben dem des Totalitarismus, geleistet sein könnte. Wenn solche Ein-
ordnung Fichtes in eine Tradition des politischen Denkens plausibel würde, in jene
Tradition der totalitären Demokratie, deren Ursprung Talmon in seinem bedeuten-
den Werk untersucht hat, so müßte von daher die Behauptung Reiss' zurückgewie-
sen werden, nach der Fichtes politisches Denken für unsere Zeit »wenig Einschlägi-
ges« habe 7°. Vielmehr müßte man jener bereits zitierten Bemerkung Zellers in
ihrem zweiten Teil um so entschiedener zustimmen, als sich ihr erster Teil leider
nicht bewahrheitet hat, als sich vielmehr im modernen Totalitarismus in gewissem
Sinne eine neue ,Anhängerschaft' Fichtes militant formiert hat: »Auch seine politi-
schen Theorien werden, so wie er sie aufgestellt hat, keine Anhänger mehr zählen.
Aber noch lange Jahre wird man auch da, wo man ihm widersprechen muß, und
vielleicht gerade da am meisten, von ihm lernen können ... « 71
69 Noch Schottky behauptet eine solche ,radikale' Wandlung (a.a.O., S. 115), um dann ver-
geblich zu mutmaßen, was solchen radikalen Wandel verursacht haben möge (116).
10 Reiss, a.a.O., S. 178.
11 Zeller, a.a.O., S. 176.
I. FICHTE UND DIE FRANZöSISCHE REVOLUTION

1.

a) Die ,Zufälligen Gedanken' und die


,Aphorismen über Religion und Deismus'
Im Sommer 1788, während in Frankreich unter dem wachsenden Druck der auf-
rührerischen Provinzen der König sich schließlich das Versprechen der Einberufung
der Reichsstände abringen lassen mußte, fand sich der Kandidat der Theologie
Fichte in Leipzig, nachdem er seine letzte Hauslehrerstelle aufgegeben hatte, in der
äußerst bedrängten Lage eines jungen Mannes ohne Examen, ohne Geldmittel und
ohne Aussichten 72 • Durch die Vermittlung Weißes erhielt Fichte aber dann schließ-
lich eine Hauslehrerstelle in Zürich - die Zeit bis zum Antritt dieser Stelle im Sep-
tember verbrachte er im Elternhaus in Rammenau, und hier, am 24. Juli 1788, ent-
standen die frühesten Aufzeichnungen über politische und gesellschaftliche Zustände
seiner Gegenwart, die von ihm bekannt sind, die ,Zufälligen Gedanken einer schlaf-
losen Nacht' 73 • Diese Gedanken, in Stichworten notiert und inhaltlich nicht über-
aus selbständig 74 , sind doch sehr wesentlich als Dokument der noch ungerichteten,
aber schon revolutionären Unzufriedenheit mit seiner Zeit. Fichte registriert:
>>Tyrannei der höheren und Unterdrückung der niederen, besonders des land-
bauenden Standes, .. .Sultanism der Regenten, unnatürliche Laster, Entkräftung
des ganzen Geschlechts, Elend und Untergang.« 75 Ferner stellt er Verfall und Ver-
derbnis für alle Seiten des öffentlichen Lebens fest, für >>die Regierungsgrundsätze,
... den Adel, ... die Gerichtspflege, ... die Religion, ... den Zustand der Wissen-
schaft, ... der Künste, ... des Handels, . . . des Ackerbaus, für die Sitten ...
und die Erziehung« 76.
Was diese ,Zufälligen Gedanken' über den Rang des Zufälligen in Fichtes Denken
heraushebt, ist die Tatsache, daß sie die erste gedankliche Fixierung einer Überzeu-
gung darstellen, die Fichte nie mehr abgelegt hat - wenn sie auch zeitweise zurück-
trat. So wird ihm in seiner apriorischen Geschichtstheorie 1804 die eigene Gegen-

72 Vgl. Medicus; Fichtes Leben, a.a.O., S. 14 ff.


73 Jetzt abgedruckt in Band II, 1 der Fichte-Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der
Wiss., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962.
74 Die Herausgeber .des Textes (Anm. 73) verweisen auf die von Fichte genannten Bücher
von Salzmann und Sintenis und konstatieren eine starke Abhängigkeit Fichtes von
diesen.
75 A.a.O., S. 103.

1s A.a.O., S. 104/5.
16 Fichte und die Französische Revolution

wart zum ,Stand der vollendeten Sündhaftigkeit' 77, und die ,Episode über unser
Zeitalter', die aus dem Winter 1806/07 stammt, enthält- erweitert durch einige
konkret politische Gesichtspunkte - fast in allen Zügen die gleichen Anwürfe gegen
das ,Zeitalter' wie jener Entwurf der ,Zufälligen Gedanken' 78,
Der Wille, die so als allgemeinen Verfall diagnostizierten Zustände zu verändern,
äußert sich nun in den ,Zufälligen Gedanken' lediglich in dem Plan, ein Buch zu
schreiben, das in zeitgenössischem Gewande jenen Verfall schildern und ihm das
»Ideal eines weisen und glücklichen Volkes gegenüberstellen« sollte, das >>ganz das
Gegenteil von uns<< sein müßte 79,
Ohne die ,Zufälligen Gedanken' theoretisch zu überfordern, läßt sich in ihnen
doch eine Grundstruktur feststellen, die in Fichtes Denken bestimmend bleibt. Es ist
die Denkstruktur, in der einer als durchaus feindlich und korrupt erfaßten Umwelt
ein Individuum sich entgegensetzt, dessen Selbstbewußtsein sich - von zufälligen
Anstößen abgesehen- im Prozeß seines Werdens so stark im Widerstand gegen diese
Umwelt bzw. durch Überwindung ihrer Bestimmtheiten gebildet hat, daß keine
Vermittlung zwischen Individuum und Umwelt mehr gesehen ist so. Der Verände-
rungswille des Individuums, indem er sich auf die Gegenwart und ihre konkreten
Zustände richtet, kann in dieser Situation an nichts in diesen Zuständen anknüpfen,
der einzige Ort, von dem er in diesem Meer des Verfalls seinen Ausgang nehmen
kann, ist die Insel, die das Individuum selber ist. Es ist die Struktur der radikal ent-
fremdeten Subjektivität - ihr Wille, ihr Handlungswille geht auf Veränderung -
Revolution.
Fichte erkannte sehr bald, daß eine Schriftstellerei von der Art, wie er sie noch
in den ,Zufälligen Gedanken' erwogen hatte, nicht das adäquate Instrument eines
solchen auf Veränderung gerichteten Willens sein konnte 81 • Dieses Willens war er
allerdings sicher: >>Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein volles
Gefühl meiner selbst, das: außer mir zu wirken.<< 82 Für den Hauslehrer, der wegen
der Unvollständigkeit seiner Studien mit keinem öffentlichen Amt rechnen konnte,
für den relativ ungebildeten Mann aus den unteren Ständen schien aber die Mög-

77 VII, 12. Die Ausführung der These bringt die ,Zweite Vorlesung', VII, 16 ff.
78 ,Episode über unser Zeitalter, aus einem republikanischen Schriftsteller.' VII, 519 ff.
Vgl. auch den ersten Abschnitt des Fragmentes ,Die Republik der Deutschen, zu An-
fang des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts unter ihrem fünften Reichsvogt.' VII, 530/31.
79 In Pestalozzis ,Lienhard und Gertrud' sieht Fichte seine Intentionen am ehesten ver-
wirklicht, aber Pestalozzi, so schreibt er, »hätte noch weitergehen: auch die höheren
Stände ein bißchen beleuchten sollen.<<
80 Vgl. vor allem die Stellen im ,Beitrag', an denen der Anteil von Gesellschaft und Staat

an der Bildung des Individuums bestritten wird: (VII, 90, 136 ff.) Die entsprechenden
Thesen sind eine klare Verallgemeinerung der eigenen Bildungssituation Fichtes. Vgl.
Medicus; Fichtes Leben, a.a.O., S. 14 ff.
81 Im Mai 1790 hat Fichte noch einmal einen Plan zu populärer Schriftstellerei gefaßt; er

wollte eine ,Zeitschrift über Literatur und Wahl der Lektüre' vor allem für weibliche
Leser gründen (Schulz, Briefw. I, 88). Über sonstige schöngeistige Pläne vgl. ebda. S. 99.
Alle diese Pläne verfolgte Fichte mit halbem Herzen; er glaubte selbst nicht, es in
diesem Genre zu etwas bringen zu können, was die erhaltene Novelle ,Das Tal der Lie-
benden' vollauf bestätigt (Fichte-Gesamtausgabe, II, 1, 267 ff.).
s2 Schulz; Briefw. I, 62.
Die :.Zufälligen Gedanken" 17

lichkeit einer direkten Wirksamkeit durchaus gering. Immerhin knüpfte Fichte zu


dieser Zeit seine Pläne an eine wirkliche Fähigkeit an, die er und andere früh
erkannt hatten, die Fähigkeit der Rede, des öffentlichen Vortrags. Er befaßte sich
mit einem ,Plan anzustellender Redeübungen', mit dem Projekt der Gründung einer
Rednerschule in Zürich, in der er die Kunst des öffentlich-politischen Redens nach
strengen formalen und moralischen Gesetzen lehren wollte 8 3.
Die Verwirklichung aller Pläne, die Entfaltung aller Fähigkeiten, die Wirkung
aller Eigenschaften und des Willens auf Veränderung und Besserung der Welt muß-
ten aber, je stärker sie angestrebt wurden, um so aussichtsloser erscheinen, je mehr
der »furchtbare Druck« des philosophischen Determinismus Fichte bewußt wurde 84•
Selbst als er, aus Zürich nach Leipzig zurückgekehrt 85, schon mit dem Studium
Kants begonnen hatte, formulierte er noch in den ,Fragmenten über Religion und
Theismus' Grundsätze einer philosophischen ,Spekulation', die nach seiner damali-
gen Ansicht mit zwingender Notwendigkeit sich ergeben müßten, »geht man mit
seinem Nachdenken gerade vor sich hin, ohne weder rechts noch links zu sehen noch
sich zu kümmern, wo man ankommen wird« 88 • Die Grundsätze bestimmen ein
>>ewiges Wesen, dessen Existenz und dessen Art zu existieren notwendig ist« und für
»jedes denkende und empfindende Wesen« »Notwendigkeit seiner Existenz. Weder
sein Handeln noch sein Leiden kann ohne Widerspruch anders sein als es ist.« 87
Aber dann heißt es: »... es kann gewisse Augenblicke geben, wo das Herz sich an
der Spekulation rächt, wo es sich zu dem als unerbittlich anerkannten Gott mit
heißer Sehnsucht wendet, als ob er eines Individuums wegen seinen großen Plan
ändern werde ... « 88 Der Zustand dieses »mit heißer Sehnsucht« über etwas Hin-
auswollens, das der Verstand doch als unmöglich erkannt hat, wird in seiner ganzen,
Fichte niederdrückenden Schwere offenbar, wenn die oben bezeichnete Grundstruk-
tur seines Denkens erinnert wird. Fichte erkannte den Drang zum selbständig-
sinnvollen Handeln und Wirken auf eine der Verbesserung so unendlich bedürftige
Welt als »schon mit der ganzen Wendung seines Geistes verwebt« 89 ; der Hinaus-
griff über jene sicheren Sätze der Spekulation war ihm ebenso existentiell notwen-
dig wie theoretisch unmöglich.
Aus dieser Situation erlöste ihn Kant.
Mit dem Begriff der sittlichen Autonomie wurde der Wall des Determinismus
durchbrochen, wurde der Freiheit eine Gasse gebahnt, in die Fichtes revolutionärer
Handlungswille, der sich so lange gelähmt sah, mit Gewalt hineinströmte. Freiheit
wurde nunmehr so sehr zum beherrschenden Impuls Fichtes, daß er von da an mit
einer wilden Entschlossenheit ans Werk ging, nichts mehr anzuerkennen, was nicht
Autonomie, Selbstbestimmung sei und jede Heteronomie gedanklich und praktisch

63 Fichte-Gesamtausgabe, II,1, 129 ff.


~4 Medicus; Fichtes Leben, a.a.O., S. 27.
83 Vgl. ebda., S. 24 ff.
66 Fichte-Gesamtausgabe II,1, 289.
87 Ebda., S. 290.
88 Ebda
89 Ebda., S. 291.
18 Fichte und die Französische Revolution

wegzuarbeiten 90 • Mit der sittlichen Freiheit Kants war für Fichte erst eine Weit
geschaffen, in der es sinnvoll war, ,ich will' zu sagen, die Subjektivität hatte jetzt
die Möglichkeit, sich ihrer selbst zu versichern - die Entfremdung war nicht auf-
gehoben, aber das Individuum als Ausgangspunkt war gewonnen.

b) Die ,Revolution im Kopfe'. Die ,Zurückforderung der Denkfreiheit'


als revolutionäre Agitation
Entsprechend der Ungelöstheit des Determinismusproblems finden sich vor der
Beschäftigung mit Kant recht wenig direkte Xußerungen Fichtes über die Fran-
zösische Revolution. Immerhin lassen diese wenigen Xußerungen erkennen, daß
Fichte nicht nur die Ereignisse in Frankreich verfolgte, sondern auch engagiert war.
So vermerkt sein Tagebuch am 19. September 1789 ein »Scharmützel mit M. Ott«,
in dem Fichte mit starken Worten seine Verachtung für Marie Antoinette aus-
drückte 91 • In einem der Briefe aus dieser Zeit findet sich bereits der Hinweis, daß
Fichte auf Grund der Verhältnisse in Deutschland auch hier eine gewaltsame Revo-
lution für unausweichlich hält 92 • Ganz eindeutig bezieht sich Fichte auf die Fran-
zösische Revolution, wenn er von der Entdeckung Kants für sein Denken spricht.
Nach dem Bekanntwerden mit Kants Philosophie 93 finden wir immer wieder dies
Ereignis als die »Revolution im Denken« bezeichnet 94 • Aus dem mehr gefühls-
mäßigen Engagement war das Bewußtsein der Parallelität der Entwicklung gewor-
den; mit der Karrtsehen Freiheitslehre hatte Fichte - obwohl seine Beschäftigung
mit Rousseau und Montesquieu schon viel früher lag 95 - erst die Möglichkeit

90 Entsprechend der größeren Intensität seines revolutionären Impulses gelangte Fichte


sowohl in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie über Kant hinaus zum
radikaleren Transzendentalismus. Zum letzteren schreibt Strecker: »Der Begriff der sitt-
lichen Freiheit floß ihm dann aber sogleich mit dem der politischen zusammen.« (A.a.O.,
S. 33.) Zu dem Problem des Verhältnisses von Fichtes Freiheitsbegriff zur Willkür Kants
vgl. Kapitel II, 1, b.
91 Fichte-Gesamtausgabe 11,1, 221.
92 Schulz; Briefw. 1, 129.
93 Der erste Hinweis findet sich in dem Brief an v. Miltitz von Anfang August 1790,
(Schulz, I, 120 f.). Dann im Brief vom 12. August an Johanna Rahn (ebda., S. 123)
und vor allem in der bekannten Stelle des Briefes an Weißhuhn, Schulz I, 123 ff.
94 An Weißhuhn im November 1790 »Revolution in meinem Geiste« (Schulz, I, 139), an

den Bruder Gotthelf vom 5. März 1791 »eine sehr vorteilhafte Revolution in meinem
Kopfe« (Schulz, I, 165). Allgemein in der ,Zurückforderung': »Und macht derselbe
(Menschliche Geist, B. W.) ja bisweilen dunh eine Revolution in den Wissenschaften
einen gewaltsamen Fortschritt« (VI, 25; sicher auf Kant zu beziehen) und im ,Beitrag'
(VI, 41): »eine andere, ungleich wichtigere Revolution«, ebenfalls eindeutig auf Kant be-
zogen.
95 Zum Verhältnis Fichtes zu Rousseau schrieb Fester (Rousseau und die deutsche Geschichts-
philosophie, Stuttgart 1890): »Keiner hat so trotzig seine eigene Persönlichkeit zum Maß-
stab Rousseaus gemacht wie J. G. Fichte.« (A.a.O., S. 113.) Noch weiter geht Strecker, der
die Ansicht äußert, daß Fichte sich kaum »besonders gründlich mit ihnen (Rousseau und
Montesquieu, B. W.) auseinandergesetzt« habe (a.a.O., S. 31). Diese Ansicht ist von Gur-
witsch, an den sich Gelpcke; Fichte und die Gedankenwelt des Sturm und Drang, Leipzig
1928, S. 100, anschließt, bestritten (Georg Gurwitsch; Kant und Fichte als Rousseau-lnter-
preten, Kantstudien, XXVII, 1922). Gurwirsch zitiert Fichtes Äußerung: »Wir werden
Die »Zufälligen Gedanken« 19

gefunden, gemeinsame Kategorien zu erkennen; von nun an wird sein ganzes Den-
ken und Arbeiten eine Erläuterung des Textes der Freiheit und Gleichheit sein, wie
die Revolution ein »reiches Gemälde« zu eben diesem Text ist 96 • Von da an ist für
Fichtes Denken die Gemeinsamkeit mit der Revolution konstitutiv 97 • Das Denken
der Revolution wird Ausgangspunkt und Inhalt des Systems - an dessen Anfang
auch noch unmittelbar faßbar und bewußt.
Vier Jahre nach der ,Deklaration des droits de l'homme' griff Fichte - durch
Kant ,zurechtgebracht'- in die revolutionäre Auseinandersetzung seiner Zeit ein;
er veröffentlichte - anonym 98 - zunächst eine Flugschrift »Zurückforderung der
Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten. Heliopolis,
im letzten Jahre der alten Finsternis« 99 • Diese nur wenige Seiten umfassende
Schrift, die >>etwas von dem Geist hatte, in dem Schiller zwölf Jahre zuvor seine
Räuber geschrieben<< 100, ist - in Titel und Anspruch von vielen Flugschriften der

Rousseau besser verstehen als er sich selbst verstand« (VI, 337) und weist dies an Hand
der zur Zeit Fichtes noch nicht veröffentlichten ursprünglichen Redaktion des Contrat
Social nach (a.a.O., S. 158). Vaughan sah in den Revolutionsschriften eine »position
hardly to be distinguished from that of Rousseau« (a.a.O., S. 94). Dagegen vertritt nun
Schottky neuerdings die These, daß Fichtes Entwicklung »nicht etwa von Rousseau weg,
sondern erst zu Rousseau hinführte« (a.a.O., S. 115). Das würde bedeuten, daß Rous-
seaus Einfluß auf die frühen Schriften Fichtes am geringsten wäre. Schottkys interessante
These ist entwertet durch seine andere, mit dieser zusammenhängende, nach der Fichte
zwischen ,Beitrag' und ,Grundlage des N.' einen radikalen Wandel durchgemacht habe.
Dazu vgl. Einleitung und Abschnitt 111, 1 dieser Arbeit.
98 VI, 39.
97 Das Denken Kants, Fichtes und Hegels ist als ,Idealismus der Freiheit' Philosophie der

Revolution. (Für Hege! vgl. Joachim Ritter; Hege! und die Französische Revolution, Köln
und Opladen 1957.) Heinrich Heine bezeichnete Kant als den »großen Zerstörer im Reich
der Gedanken«, der »an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf«. (Ge-
schichte der Religion und Philosophie in Deutschland.) Aber Kants konkret politischer
Sinn war zu bedeutend, als daß man sich diesem Urteil anschließen könnte (das Heine
ohnehin auf eine Art der Guillotinierung Gottes durch die K. d. r. V. bezieht, kaum
aber auf Kants Pol. Theorie). Heine sprach auch wohl mögliche Weiterungen Kantschen
Denkens an, die in ihren abstrakten Konsequenzen Kant stets ferngelegen hatten; aber
Fichte war es, der die Bedingungen mitbrachte, ein System auf der Grundlage Kantschen
Denkens in einer Art von Konsequenz aufzubauen, die ihn zum eigentlichen ,philoso-
phischen Jakobiner' machte. Dazu schreibt Hermann Lübbe in seiner ,Typologie der poli-
tischen Theorien' (in: Das Problem der Ordnung, Meisenheim o. J., S. 91): »Es gehört
demgegenüber zu den denkwürdigen politischen Einsichten Hegels, daß er, Fichte als den
philosophischen Jakobiner entlarvend, das Regiment der Tugend als die Herrschaft des
Schreckens erkannte.« Erst mit Hege! erreichte die Theorie der Revolution, Kant und
Fichte dialektisch aufhebend, ihre wahre Bedeutung (vgl. Ritter, a.a.O.).
98 Darüber Fichte in einem Brief an Theodor von Schön vom 20. Sept. 1793: »Die Schriften

sind anonym. Ihre preußischen Posten sind nicht ganz sicher; ich lasse Ihnen es also über,
sie zu erraten; mich in ihnen zu erkennen. Ich werde über einen Gegenstand, der mich
mit unwiderstehlicher Stärke anzieht - über Natur- und Staatsrecht - noch manches
schreiben; ich werde solange schreiben, bis ich durch irgendeine Schrift hierüber mich so
in Respekt gesetzt habe, daß sich niemand an mich traut; dann werde ich zu allem mich
freimüthig bekennen.« Schulz, I, 300/301.
99 Fichte-Gesamtausgabe, 1,1, 165 ff.
too Zeller, a.a.O., S. 151.
20 Fichte und die Französische Revolution

Zeit kaum unterschieden - als ein echtes Stück revolutionärer Agitation anzu-
sehen 101 • Sie ist als ,Rede' konzipiert, wobei der eigentlichen Rede eine Vorrede
vorangestellt ist; in einem Brief an Stephani hat Fichte diese Rede als diejenige
seiner Schriften bezeichnet, die ihm die liebste sei 102. Hier wird - nicht ohne daß
auf das Beispiel der französischen Revolution warnend hingewiesen wird- Freiheit
für die Aufklärung gefordert, und ob im Anfang gleich gesagt ist, daß »die mehre-
sten der deutschen Fürsten sich durch guten Willen und Popularität auszuzeichnen
suchten« 103, steckt die Rede doch voll revolutionärer Dynamik. Nachdem in der
, Vorrede' in flammender Rhetorik die Denkfreiheit, »dieses vom Himmel abstam-
mende Palladium der Menschheit, dieses Unterpfand, daß ihm noch ein anderes
Loos bevorstehe als dulden, tragen und zerknirscht werden« 1 04 , als Recht gefordert
und nur noch in der »Beschützung der Rechte« 105 die Legitimitätsgrundlage der
Fürstenherrschaft anerkannt ist 106, beginnt die ,Rede' mit einer »kurzen Deduction
der Rechte, der unveräußerlichen und veräußerlichen Rechte<< 107, an deren Beginn
der wichtige Satz steht: »Der Mensch kann weder ererbt noch verkauft noch ver-
schenkt werden; er kann niemandes Eigentum sein, weil er sein eigenes Eigentum ist
und bleiben muß.« 108 Absolute Autonomie des Gewissens ist das unveräußerliche
Recht; »... nichts darf ihm gebieten als dieses Gesetz in ihm, denn es ist sein alleini-
ges Gesetz - und er widerspricht diesem Gesetze, wenn er sich ein anderes auf-
dringen läßt- die Menschheit in ihm wird vernichtet und er zur Klasse der Thiere
herabgewürdigt« 109 • Dort, wo >>das Gesetz bloß erlaubt« uo, beginnt der Bereich
der veräußerlichen Rechte; hier setzt Fichte den das aufklärerische Naturrecht
beherrschenden Gedanken des Vertrages ein: »Die bürgerliche Gesellschaft gründet
sich auf einen solchen Vertrag aller Mitglieder mit einem oder eines mit Allen und

101 Gelpcke versucht, Fichte von der Revolution zu entfernen, indem er als sein ,Wesen' den
Sturm und Drang nachzuweisen versucht, von diesem wiederum behauptend, er habe mit
der Revolution nichts zu tun (a.a.O., S. 20 und passim). Gerade die ,Zurückforderung'
sei typisch Sturm und Drang (97 /8). Damit dürfte sich seine These vom Unterschied des
Sturm und Drang zur Revolution selbst aufheben; daß ,Zurückforderung' und ,Beitrag'
nichts mit der Revolution zu tun haben sollen, ist absurd. Zu der ,Zurückforderung' als
revolutionärer Agitation vgl. vor allem Claus Träger; Fichte als Agitator der Revo-
lution, in: Wissen und Gewissen, a.a.O., S. 158 ff. Trägers Verdienst besteht vor allem
darin, eine Fülle von historischen Details zu geben, auf Grund derer die Situation, auf
die Fichtes Flugschrift traf, deutlich wird, sowie überhaupt auf die Verbindung des
frühen Fichte zur Revolution nachdrücklich hinzuweisen.
1o2 Schulz, Briefw. I, 319.
1os VI, 3.
104 VI, 7.
1os VI, 9.
108 »Nein, Fürst, Du bist nicht unser Gott. Von ihm erwarten wir Glückseligkeit; von Dir
die Beschützung unserer Rechte.« (VI, 9)
107 VI, 11. Die Bezeichnungen ,veräußerliche und unveräußerliche Rechte' gehen auf Schmalz
zurück. Vgl. Schottky, a.a.O., S. 341, Anm. 22.
1 08 VI, 11. Der Satz ist für Fichtes Denken hochbedeutsam. Die zentrale Stellung der
Eigentumslehre in Fichtes Denken wird im Kapitel 111 Gegenstand der Untersuchung
sem.
109 VI, 12.
110 Ebda.
Die »Zufälligen Gedanken« 21

kann sich auf nichts anderes gründen ... « 111 Von da aus erfolgt die völlige Unter~
ordnung des Fürsten unter die bürgerliche Gesellschaft, mit der schon an dieser Stelle
sich findenden Identifizierung des Fürsten mit dem ,Staat', dessen Unterordnung,
dessen Vergesellschaftung sich also hier bereits andeutet 112 • Eines nach dem anderen
widerlegt die ,Rede' dann die Argumente der Regierenden, die entfesselte Denkfrei-
heit bedürfe der Zensur 113, nur »Wahrheit<< dürfe verbreitet werden 11 4, >>namen-
loses Elend« würde aus der >>unbegrenzten Denkfreiheit« entstehen 115 ; sie gipfelt
in dem charakteristischen, pathetischen, durchaus abstrakten Anruf: >>Fürst, Du hast
kein Recht, unsere Denkfreiheit zu unterdrücken, und wozu Du kein Recht hast,
das mußt Du nie tun, und wenn um Dich her die Welten untergehen und Du mit
Deinem Volk unter ihren Trümmern begraben werden solltest. Für die Trümmer
der Welten, für Dich und für uns selber unter den Trümmern wird der sorgen, der
uns die Rechte gab, die Du respectirtest.« 116

c) Der ,Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums


über die Französische Revolution'
Die zweite und ungleich wichtigere der Revolutionsschriften Fichtes ist der ,Bei-
trag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution,
Erster Teil, Zur Beurteilung ihrer Rechtsmäßigkeit' 117 • Zur gleichen Zeit entstanden
wie die ,Zurückforderung', breitet der Beitrag - häufig in Auseinandersetzung mit
anderen Autoren 118 - die Argumente gründlicher aus und erweitert den rhetori-

111 VI, 13. Wallner, der die fundamentale Bedeutung des Vertrages als Kategorie der Frei-
heit nicht erkennt, schreibt zu Fichtes Vertragstheorie: >>Der Vertragsgedanke könnte
wohl nicht gründlicher zu Tode gehetzt werden als bei Fichte<< (a.a.O., S. 59). Mehr Ver-
ständnis als Wallner hatte Strecker a.a.O., S. 154 ff. gezeigt, aber ebda., S. 182 meint er,
»daß der Ausdruck ,Vertrag' in diesen philosophischen Ausführungen doch immer nur
bildlich gebraucht wird.« Die revolutionäre Bestimmung des Vertrages betont vor allem
Walz, a.a.O., S. 431. Zu Vaughans subtiler Untersuchung der Implikationen und Kon-
sequenzen der Vertragstheorie vgl. Abschnitt III, 1 b dieser Arbeit. Scholz geht ausführ-
lich auf den Vertrag ein, die Herkunft dieses Begriffs einbeziehend (a.a.O., S. 359 ff.).
Er erkennt eindeutig den Vertrag als Kategorie der Freiheit (a.a.O., S. 364). Vgl. auch
Torretti, a.a.O., S. 67 ff. Schottky, der ja die Vertragstheorien thematisch macht, dringt
wiederum nicht zu der revolutionären und freiheitlichen Bedeutung des Vertrages durch
- allerdings schenkt er auch den Frühschriften Fichtes nicht genügend Beachtung (vgl.
a.a.O., S. 3 ff., S. 39 ff., S. 191 ff.).
112 VI, 13.
113 VI, 15.
114 VI, 21.
115 VI, 26.
116 VI, 28. Vgl. S. 37/38 dieser Arbeit.
117 Fichte-Gesamtausgabe I, 1, 210 ff. Vaughan über den ,Beitrag': »They (Schelling und

Hege!) too, as legend relates, began by planting a tree of liberty in the public square - a
feat which Fichte may be said to have emulated in the ,Beiträge'.« (A.a.O., S. 95).
118 Zu Rousseau s. Anm. 95. Die Auseinandersetzung mit Rehberg, dessen ,Unter-

suchungen über die Französische Revolution', Hannover 1791, ein direkter Anlaß zu
Fichtes ,Beitrag' waren, hat vor allem Strecker untersucht. Vgl. a.a.O., S. 35 ff., 106, 118,
149. Zahlreiche Wendungen Fichtes sind nur als Polemik gegen Rehberg verständlich. Bei
Walz vgl. a.a.O., S. 386 ff. Zu Rehberg selbst vgl. K. Lessing; Rehberg und die Fran-
zösische Revolution, Freiburg 1910.
22 Fichte und die Französische Revolution

sehen Aufruf zu einer politischen Lehre. Indem ausführlich zur Revolution in


Frankreich, sie verteidigend, Stellung genommen wird, ordnet sich der ,Beitrag'
wie schon die ,Zurückforderung' dem revolutionären Impuls der Zeit ein, auch er
ist ein Stück Revolution, und indem er das ist, ist er für Fichtes philosophisches
Selbstverständnis auch der Ausgangspunkt seines systematischen Denkens. 1795
sagt Fichte: »Indem ich über diese Revolution schrieb, kamen mir gleichsam zur
Belohnung die ersten Winke und Ahndungen dieses Systems.« uo
Fichte erkennt im ,Beitrag' die allgemeine Bedeutung der Revolution in Frank-
reich: »Die französische Revolution scheint mir wichtig für die gesamte Mensch-
heit« 120 ; und: »SO scheint mir die französische Revolution ein reiches Gemälde über
den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert.<< 1 21
Für den ,Beitrag' wie schon für die ,Zurückforderung' ist nun zu.nächst wesent-
lich, daß er keine Aufforderung zur gewaltsamen revolutionären Aktion enthält.
Denn Fichte sieht in der Revolution auch ein »schreckliches Schauspiel«, von dem
die »wahre Anwendung erst gemacht werden« müsse 122 •
Mirabeau hatte 1789 geschrieben: »Aber ob Ihr (die Deutschen, B. W.) schon in
der Bildung weiter fortgeschritten seid, seid Ihr doch nicht so reif wie wir, die es
doch noch vor kurzem nicht gewesen sind; Ihr seid es nicht, sage ich, weil das, was
Euch bewegt, seine Wurzel bei Euch im Kopfe hat.« 123 Diese Bemerkung des scharf-
sinnigen Revolutionärs trifft auf niemanden besser als auf Fichte, den erst die »vor-
teilhafte Revolution in seinem Kopfe« 124, die Kant verursacht hatte, zur näheren
Auseinandersetzung mit der französischen Revolution brachte und dessen ,fort-
geschrittene Bildung' und Einsicht in die entwickelteren Verhältnisse in Deutschland
ihn die gewaltsame Revolution ablehnen und für die Revolution in den Köpfen
seine Kräfte einsetzen ließen. Damit ebenfalls ganz in Einklang mit Mirabeau, der
am 16. August 1788 geschrieben hatte: »Es hieße unser Zeitalter barbarisch zurück-
schrauben, wenn man zu gewalttätigen Revolutionen seine Zuflucht nähme; der
Unterricht genügt dank der Buchdruckerkunst, um all die Revolutionen durchzufüh-
ren, die die Menschheit sich schuldig ist; und bei diesem Verfahren allein werden die
Nationen nichts von ihren Errungenschaften verlieren.« 12 5 Ganz in diesem Sinne
schreibt Fichte im Beitrag: »Jetzt ist es Zeit, das Volk mit der Freiheit bekannt zu

119 Schulz, Briefw. I, 450. Fichte fährt in dem Brief fort, sein System sei »das erste System
der Freiheit« und deswegen »gehört es gewissermaßen schon der Nation« (der franzö-
sischen, B. W.). »Es ist in den Jahren, da sie mit äußerer Kraft die politische Freiheit
erkämpft, durch inneren Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurteilen
entstanden; nicht ohne ihr Zutun; ihr valeur war, der mich noch höher stimmte, und
jene Energie in mir entwickelte, die dazu gehörte, um dies zu fassen.« Es ist das Ver-
dienst Trägers, hierauf- auch in Verbindung mit Fichtes Plan in französische Dienste zu
treten- neuerdings nachdrücklich hingewiesen zu haben (vgl. Träger, a.a.O., S. 158 ff.).
12o Der erste Satz des ,Beitrags', VI, 39.
121 Ebda.
122 VI, 6.
123 Gustav Landauer; Die französische Revolution in Briefen, Harnburg 1961, S. 52.
124 So Fichte in einem Brief an den Bruder Gotthelf vom 5. März 1791. Schulz, Briefw. I,

s. 165.
12s Landauer, a.a.O., S. 37.
Die »Zufälligen Gedanken« 23

machen, die dasselbe finden wird, sobald es sie kennt; damit es nicht statt ihrer die
Gesetzlosigkeit ergreife, um die Hälfte seines Weges zurückkomme und uns mit
sich fortreiße.<< 126 Und weiter: >>Die französische Revolution gibt uns dazu die
Weisung und die Farben zur Erleuchtung des Gemäldes für blöde Augen; eine
andere, ungleich wichtigere, auf die ich hier nicht weiter hindeute, hat uns den Stoff
gesichert.<< 127 Diese »andere, ungleich wichtigere<< Revolution war für Fichte eben
Kants Kritische Philosophie, und hier wird die Verschiedenheit des Ansatzes Fichtes
und Mirabcaus klar. Kommentierte dieser die politischen Ereignisse seiner Zeit und
zeigte er, sie vorantreibend, die notwendigen Konsequenzen der tatsächlichen Ver-
hältnisse, so war bei jenem die Revolution eine im Kopfe - und blieb auch dort -,
wobei, diesen Unterschied festgehalten, die Konsequenzen in ihren einzelnen Phasen
die erstaunlichste Obereinstimmung mit Ereignisssen der Revolution zeigen. Wie die
französische Revolution in allen ihren Phasen von der Assemblee Nationale bis zu
Gracchus Babeuf der immer wieder versuchte Ausgleich der Prinzipien der Freiheit
und Gleichheit mit der politischen Wirklichkeit war 128 , so wird Fichtes gesamtes
Denken die Konsequenz eben dieser Prinzipien in der Theorie sein.
Die Revolution war für Fichte ein Schauspiel, aber ein Schauspiel, das dazu
dienen sollte, daß die Menschheit >>aus sich selbst entwickle, was in ihr selbst
liegt<< 129 • Das ,Aus-sich-selbst-Entwickeln' wird beim ,Selbstdenker' Fichte stets eine
große Rolle spielen, und die Revolutionsschriften sind ein allerdings recht unge-
stümer Anlauf, aus den schon früh als unhaltbar eingesehenen Verhältnissen freie
Zustände sich entwickeln zu lassen. Die Revolutionsschriften verstehen sich als Ver-
such, durch Aufklärung die gewaltsame Revolution zu vermeiden 130 •
Zu der Frage der gewaltsamen Revolution und der aufklärenden Reform hat
Lorenz von Stein Stellung genommen, indem er sich gegen das populäre Vorurteil
wandte, das, >>weil in Frankreich die Revolution ausbrach, ... dem französischen
Volk den Vorrang an Geist, Mut und Bildung unter den Völkern der neueren Zeit<<
zugesteht 13 1 • >>Aber<<, so führt er aus, >>nicht weil Volk und Staat in Frankreich
weiter, sondern weil sie nicht so weit waren, als in Deutschland, traf dort die
Revolution ein, während hier nur eine Umgestaltung stattfand.<<
Eben dies war die Oberzeugung Fichtes. Er war also nie ein Theoretiker der
Revolution in dem Sinne, daß er die gewaltsame Erhebung gefordert hätte. Der
Terror während der zweiten Phase der Revolution war auch für ihn ein >>schreck-
liches Schauspiel<<, wenn er auch den Hinweis auf diesen nicht als Argument gegen
die revolutionären Forderungen gelten lassen wollte 132 • Für die revolutionären

126 VI, 40/41.


127 VI, 41.
128 Dieser Gedanke ist ja bereits von Lorenz von Stein in seiner Darstellung der französi-

schen Revolution klar herausgearbeitet worden. Vgl. auch Anm. 244.


129 VI, 39.
130 Vgl. vor allem VI, 40 I 41.
131 Lorenz von Stein; Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, München 1921, Bd. I,

s. 165.
132 >> ••• euch nicht erinnern, daß dies nicht die Früchte der Denkfreiheit, sondern die Folgen
der vorherigen langen Geistessklaverei sind« (VI, 26). Dies Argument wird in rühren-
der Übereinstimmung wiederholt von Fichtes Gattin in einem Brief an den Vater vom
24 Fichte und die Französische Revolution

Postulate forderte er die Durchsetzung gerade mit dem Hinweis, daß nur so ein
gewaltsamer Ausbruch verhindert werden könne 133 • Keiner der theoretischen Vor-
bereiter der Revolution hatte die Gewalt direkt als Mittel empfohlen (das blieb den
Theoretikern der proletarischen Revolution vorbehalten), vielmehr gibt es im Den-
ken dieser Zeit, das als solches vernünftiges Denken war, keine Möglichkeit des
Umschiagens der Freiheitsforderung in die Forderung nach gewaltsamer Durch-
setzung. Das wird bei Fichte sehr deutlich: >>Aber dabei läßt sich gegen sie vor der
Hand nichts weiter tun, als ihnen zu schenken, was wir uns mit Gewalt nicht dürfen
nehmen lassen, und wobei sie selbst sicher nicht wissen, was sie tun; uns selbst aber
vors erste Erkenntnis und dann innige Liebe zur Gerechtigkeit zu erwerben, und
beides, so weit nur irgend unser Wirkungskreis reicht, um uns zu verbreiten. Wür-
digkeit der Freiheit muß von unten herauf kommen; die Befreiung kann ohne
Unordnung nur von oben kommen.« 134 Die etwas weiter sich findende Stelle:
>>Sagen hilft da nichts ... nur Handeln hilft<< 135 ist eine Aufforderung an die
einzelnen, sich selbst in der Gerechtigkeit handelnd zu vervollkommnen: >>und eure
Fürsten werden es nicht aushalten können, allein ungerecht zu sein« 136, nicht also
eine zur revolutionären Aktion. Bei näherer Untersuchung des Inhaltes dieser Ge-
rechtigkeit wird allerdings klarwerden, daß darin revolutionärer Sprengstoff
genug lag.
Nachdem der ,Beitrag' sich so ebenso eindeutig mit den Prinzipien der Revolution
identifizierte wie er die Gewaltsamkeit zurückwies, fragt Fichte in der Einleitung:
>>Nach welchen Gesichtspunkten werden wir nun über diese Fragen zu urteilen
haben?« 137 Hier werden sowohl alle Argumente, die ein bestimmtes Interesse nahe-
legen könnte, wie auch vor allem solche aus der Geschichte zurückgewiesen. Wallner
charakterisiert mit Recht den ,Beitrag': >>Wir befinden uns in der völlig geschichts-
losen Sphäre des reinen Rationalismus.« 138 Fichte fragt: >>Richtet unsere Wahrheit
sich nach Zeit und Umständen? ... Oder wollen wir eine solche, die für alle Zeiten
und Völker, die für alles gelte, was Mensch ist? Dann müssen wir sie auf allgemein-

26. Okt. 1793: >>aber die guten Leute vergeßen nur, was diese Menschen nach und nach
zu dieser Abscheulichkeit brachte; und daß doch ursprünglich die Großen schuld sind<<
(Schulz, I, 303).
133 "Wollen wir mit dem Bauen warten, bis der durchbrochene Strom unsere Hütten weg-

gerissen habe?<< VI, 40.


134 In dieser Ablehnung der Gewalt und der Neuordnung von »unten<< stimmt Fichte

durchaus mit Kant überein, der fast gleichzeitig - und weit heftiger - gegen jede
gewaltsame Revolution Stellung nahm; obgleich er in der Theorie des Vernunftstaates
und seiner Legitimität ebenso revolutionär war wie Fichte. Allerdings fehlt bei Kant
das utopische Moment, und obgleich er gegen Hobbes argumentierte, hatte er doch weit
mehr politisches Bewußtsein als Fichte, was sich nicht zuletzt in seinem Beharren auf
,Obrigkeit' zeigt. Vgl. etwa: ,über den Gemeinspruch .. .',Werke, 8, 289 ff.
135 VI, 45.
136 Ebda.
137 VI, 48.
138 Wallner, a.a.O., S. 67/68. Schenkel schreibt: "Wenn daher in den ,Beiträgen' Sätze er-

scheinen, die den Anschein eines empirischen politisch-demokratischen Systems erwecken,


so hat man sich zu vergegenwärtigen, daß es sich in solchen Darstellungen, die aus dem
Begriff der ,Gesellschaft' abgeleitet werden, nicht um eine empirische politische Rechts-
Die »Zufälligen Gedanken« 25

gültige Grundsätze bauen.« 139 Der >>Richterstuhl« 140, vor dem über ,diese Fragen
zu urteilen' ist, ist, wie gleichfalls in der ,Zurückforderung', die Autonomie des
Selbst, das Gewissen, das Sittengesetz 141 •
Das erste Kapitel fragt nun: »Hat überhaupt ein Volk das Recht, seine Staats-
verfassung abzuändern? 142 Entsprechend dem Ausgang von der Autonomie des sitt-
lichen Individuums kommt hier die revolutionäre Vertragstheorie zum Tragen 143 .
In polemischer Auseinandersetzung mit Rehberg 144 wird die Verbindlichkeit aller
bürgerlichen Gesetzgebung nur auf den Vertrag gegründet, womit die Frage nach
der Beremtigung der Änderung der Staatsverfassung 145 eben aus der Kündbarkeit
des Vertrages beantwortet ist 146, zumal das »Gebiet der bürgerlichen Gesetz-
gebung« 147 nur »das durch die Vernunft Freigelassene« und >>der einzig mögliche
Endzweck des Menschen«, die »Cultur zur Freiheit« 148, nicht der bürgerlichen
Gesellschaft bzw. dem Staat zu verdanken sei. Die absolute Monarchie zumal muß

gemeinschaft handelt, sondern um eine rationalistische Konstruktion, die in dem abstrak-


ten Begriff der Gesellschaft ein nur formales Dasein führt.« Haben so beide Autoren
den Aspekt der Abstraktheit herausgestellt, so dringen sie doch nicht zu der Einsicht
durch, daß, wie hier zu zeigen versucht wird, gerade die Geschichtslosigkeit die Ge-
schichtswirksamkeit war, daß Fichte mit dem so abstrakten ,Beitrag' gerade eine Reprä-
sentanz seines geschichtlichen Augenblicks erlangt hat, die er später nicht wieder erreichte.
Das liegt erstens daran, daß der Bezug Fichtes zur Revolution nur beiläufig gesehen
wird, zweitens aber, daß in beiden zitierten Arbeiten Fichtes Denken zu sehr aufl
politische Kategorien des 20. Jahrhunderts hin befragt wird (vgl. Einleitung). Wallner
kommt unserer Interpretation nahe, wenn er sagt: ,. Wenn in der extrem liberalen
Staatstheorie Fichtes ein Funken lebendiger geschichtlicher Erfahrung steckt, so in den
sozialreformerischen Gedanken, die hier erneut formuliert werden, nachdem sie, wie wir
einleitend gezeigt haben, schon einen wesentlichen Bestandteil von Fichtes erstem Welt-
anschauungsfragment ( !) gebildet hatten.« Die Darstellung der beiden Autoren leidet
ihrerseits an einer gewissen Abstraktheit, die die Dimension der historischen Verortung
von Fichtes Denken ausläßt; es ist nicht eingesehen, daß gerade in Fichtes Frühschriften
die Geschichtsnähe trotz oder gerade wegen seiner Abstraktheit dit! größte ist - folge-
richtig kommen sie auch zu einer umgekehrten Bewertung dieser frühen Schriften. Und
obwohl Wallner dieser Konkretion der abstrakten Geschichtslosigkeit Fichtes näher-
kommt, durchschaut er nicht die konstitutive Relation zur Revolution; gerade in bezug
auf Fichtes leidenschaftlichen Angriff gegen die Privilegien des Adels sagt er: »Wir
befinden uns hier in der völlig geschichtslosen Sphäre des reinen Rationalismus«, und
das obgleich er die geistige Verwandtschaft Fichtes mit Mirabeau an einer Stelle aus-
drücklich anführt.
139 VI, 35.
HO VI, 58.
141 VI, 59/60.
142 VI, 80.
143 VI, 81 ff.
144 Vgl. Anm. 118.
145 »Bürgerliche Gesellschaft« und »Staat« werden von Fichte im ,Beitrag' nebeneinander

als Bezeichnung derselben Sache gebraucht. Vgl. VI, 81 und Abschnitt I, 2 dieser Arbeit.
140 Das revolutionäre Moment in der Vertragstheorie, das nicht auf ,obligatio', sondern auf
Kündbarkeit insistiert, wird von Schottky zuwenig beachtet. Vgl. a.a.O., S. 3 ff. und
s. 39 ff.
147 VI, 83.
148 VI, 89.
26 Fichte und die Französische Revolution

geändert werden, muß verschwinden 149 , denn sie ist eine Verfassung, »die in ihrer
Zusammensetzung gegen die Natur sündigte<< 1 50.
>>Keine Staatsverfassung ist unabänderlich>> - aber wie wäre es, fragt nun Fichte,
»wenn eine Staatsverfassung gegeben würde, welche diesen Endzweck erweislich
durch die sichersten Mittel beabsichtigte, würde nicht diese schlechterdings unab-
änderlich sein?<< 151 In der Beantwortung dieser Frage zeigt sich zum erstenmal die
utopische Komponente in Fichtes revolutionärer Theorie: >>Wären wirklich taug-
liche Mittel gewählt, so würde die Menschheit sich ihrem großen Ziel allmählig
annähern; ... Könnte der Endzweck je völlig erreicht werden, so würde gar keine
Staatsverfassung mehr nötig sein; ... Das allgemein geltende Gesetz der Vernunft
würde alle zur höchsten Einmütigkeit der Gesinnung vereinigen, und kein anderes
Gesetz würde mehr über ihre Handlungen zu wachen haben. Keine Norm würde
mehr zu bestimmen haben, wieviel von seinem Rechte jeder der Gesellschaft auf-
opfern sollte, weil keiner mehr fordern würde als nötig wäre und keiner weniger
geben würde: kein Richter würde mehr ihre Streitigkeiten zu entscheiden haben,
weil sie stets einig sein würden.<< 152
Mit dem Prinzip der sittlichen Autonomie, der revolutionären Vertragstheorie, der
Zurückweisung der Ansprüche der Gesellschaft bzw. des Staates in bezug auf den
Endzweck der Menschheit und schließlich mit dem utopischen Ausblick hat das erste
Kapitel des ,Beitrags' bereits alle wesentlichen Momente der politischen Theorie
Fichtes zu dieser Zeit zur Sprache gebracht 153.

d) Die politische Konkretheit der Revolutionsschriften


in der Wendung zum konkreten Gegner
Obgleich die Abstraktheit der Argumentation Fichtes in den Revolutionsschriften
auf der Hand liegt und auch von den Autoren bisher stets herausgestellt worden
ist 154 , scheint Fichte doch hier vielleicht seine größte >>Erdennähe« erreicht zu
haben 155 • Denn das abstrakt-revolutionäre Postulat kann durchaus der Ausdruck

149 VI, 96.


150 VI, 97.
151 VI, 101.
152 VI, 102.
153 Im Kapitel II des ,Beitrags' findet sich, über die Grundsätze des ersten Kapitels hinaus,

die erste Ausprägung von Fichtes Eigentumslehre, die im Kapitel III dieser Arbeit aus-
führlich behandelt ist, auf das hier verwiesen wird. Die weiteren Kapitel des ,Beitrags'
enthalten Ausführungen der Grundsätze in der Ablehnung der Privilegien im allgemei-
nen, des Adels und der Kirche im besonderen, zum Teil auch mit konkreten Vorschlägen
zur Überführung der privilegierten Schichten in eine auf Gleichheit gegründete Gesell-
schaft, durchsetzt mit - bei Fichtes abstrakter Ablehnung der Geschichte überraschen-
den - Exkursen in die Geschichte, die aus der Rezeption Montesquieus geschöpft sind,
ohne daß starker Widerspruch gegen diesen fehlte (vgl. S. 189 ff., insbesondere S. 207).
Fichte sagt in bezugauf Montesquieu: »Ich verläugne nicht meine Verehrung gegen den
großen Mann, auf dessen Schultern ich mich stelle, wenn ich, durch ihn selbst unterstützt,
weiter zu sehen glaube, als er sah.<< (VI, 207)
154 Vgl. Anm. 138.
155 Die Wendung >>größte Erdennähe« gebraucht Meinecke a.a.O., S. 106, allerdings dort in

bezugauf den Machiavelli-Aufsatz Fichtes.


Die ,zufälligen Gedanken« 27

konkreter soziologisch-historischer Umstände sein, und unter diesen Aspekten müs-


sen Fichtes Revolutionsschriften beurteilt werden. Mit der französischen Revolu-
tion war etwas Wirklichkeit geworden, hinter das politisch nicht mehr zurück-
gegangen werden konnte 156 • So stabilisierend auch die Maßnahmen der Staaten
Europas auf die Verhältnisse gewirkt hatten, so stürmisch drängte doch das gesell-
schaftliche Bewußtsein in die vorgezeigte Richtung; der Ruf nach Freiheit und
Gleichheit, so abstrakt er war, war dennoch der Ausdruck dieses gesellschaftlichen
Bewußtseins, und in der Identität mit diesem erhalten die frühen Schriften Fichtes
ein hohes Maß gesellschaftlich-politischer Konkretheit 157.

156 Joachim Ritter sagt a.a.O., S. 22 im Zusammenhang mit der Erläuterung des Hegeischen
Begriffs der Weltgeschichte: >>Aber zunächst folgt aus der Einsicht in ihren (der Revolu-
tion, B. W.) welthistorischen Sinn, daß es politisch keine Möglichkeit mehr gibt, hinter
die Revolution und das von ihr Erreichte zurückzugehen.<< In diesem Zusammenhang des
»Weltgeschichtlichen der europäischen Geschichte«, das »die Freiheit des Menschen ist<<
(Ritter, ebda.), muß auch die Blochsehe Kategorie der ,Gleichzeitigkeit'- s. Anm. 157, -
gesehen werden.
157 Bloch schreibt in ,Erbschaft dieser Zeit', Frankfurt 1962, S. 116/17: »... das objektiv
Ungleichzeitige als Nachwirken älterer, wenn auch noch so durchkreuzter Verhältnisse
und Formen der Produktion sowie älterer überbauten.... Das objektiv Ungleichzeitige
ist das zur Gegenwart Ferne und Fremde; es umgreift also untergehende Reste wie
vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit, ... « In dieser, auf einen marxistisch ver-
stellten Hege! zurückgehenden Bestimmung fehlt - entscheidender Mangel - die welt-
historische Dimension, auf die Ritter wieder so nachdrücklich hingewiesen hat (s. Anm.
156), und deren Fehlen den ansonsten so treffenden Begriff der Ungleichzeitigkeit
ökonomisch verzerrt. Carl Schmitt machte 1926 darauf aufmerksam, daß »der wichtigste
Schritt, den das 19. Jahrhundert über den Rationalismus des 18. hinaus getan« habe, »in
diesem Gegensatz von Hege! und Fichte« läge. (Die geistesgeschichtliche Lage des heuti-
gen Parlamentarismus, Berlin 1926, S. 69.) Diesen Schritt über den Rationalismus hinaus
sieht Schmitt in der politischen Theorie vor allem darin, daß die »Absolutheit der mora-
lischen Disjunktion sich auflöst« (ebda.). Für Hegels Philosophie sagt Schmitt: >>Gut ist
für sie, was im jevreiligen Stadium des dialektischen Prozesses das Vernünftige und dan1it
das Wirkliche ist. Gut ist ... das ,Zeitgemäße' im Sinne richtiger dialektischer Erkennt-
nis und Bewußtheit.« (Vgl. dazu auch das weiter unten über die ,Moralisierung der Ver-
nunft' Gesagte.) In diesem Sinne von welthistorischer Zeit- bzw. Unzeitgemäßheit und
zusammen damit im Sinne von Entsprechung - Adäquatheit - bzw. Nichtentsprechung
der Institutionen bzw. der Postulate - der Entwicklung der gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit (Vernünftigkeit) gebrauchen wir hier die Termini konkret und abstrakt. Ab-
strakt wäre so etwa in höchstem Maße das Beharren der Altrechtler, das Hege! in der
,Ständeschrift' angreift (die eine - alte Mißverständnisse ein für allemal ausräumende
- Interpretation durch Ritter, a.a.O., S. 25 ff., gefunden hat), als auch das nur sub-
jektive politsche Wollen.
,Ungleichzeitig' im Sinne Blochs - also ,abstrakt' - wäre so die politische Wirklichkeit
der absoluten Monarchie in Europa zu einer Zeit, in der die Entwicklung der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Bewußtheit sie längst ,unhaltbar'
gemacht hatte. (Ritter a.a.O., S. 25 verwendet das Begriffspaar ,halt- bzw. unhaltbar'.)
In solchem Stadium der Entwicklung wird die absolute Monarchie zum Despotismus,
d. h. die Gewalt wird zu ihrem Prinzip, sie kann sich nur noch mit Gewalt behaupten,
sie wird eben gerade deswegen in ihrem ganzen Dasein ,unzeitgemäß', abstrakt. Dagegen
kann die nun ihrerseits zunächst abstrakte, da notwendig als subjektives Postulat vor-
gebrachte Forderung der Anpassung der institutionellen Überformung an die Entwick-
lung des gesellschaftlichen Bewußtseins in hohem Maße ,gleichzeitig' sein, d. h. eben
28 Fichte und die Französische Revolution

Wenn auch das revolutionäre Postulat eine Abstraktion war, die allerdings die
historischen Tendenzen auf ihrer Seite hatte, so erhalten die Schriften nicht zuletzt
diese Konkretheit durch die Auseinandersetzung mit dem konkreten Gegner 158•
Fichte ist gegen den Adel, die Kirche, die Fürsten, d. h. die absolute Monarchie,
gegen Juden, Militär und ständische Organisationen, gegen Höflinge und konser-
vative Schriftsteller. Hatte er, in ziemlich realistischer Einschätzung der im Ver-
gleich zum vorrevolutionären Frankreich fortgeschritteneren Verhältnisse im übrigen
Europa, die Mehrzahl der Fürsten als gutwillig angesprochen, und hatte er aus
den verschiedensten Gründen die Anwendung von Gewalt abgelehnt, so darf diese
Mäßigung nicht über die Radikalität seiner revolutionären Anklagen und Postulate
hinwegtäuschen. Was diese Radikalität angeht, so stehen die Revolutionsschriften
Fichtes etwa denen Mirabeaus durchaus nicht nach. Aber wie dieser keineswegs
Throne umstürzen wollte, so geht es auch Fichte zunächst nicht um die Abschaffung
der Monarchie. »Ihr sagt: da uneingeschränkte Monarchien sein sollen, so muß sich
das menschliche Geschlecht schon eine ungeheure Menge von Übeln gefallen lassen.
Wir antworten: Da sich das menschliche Geschlecht diese ungeheure Menge von
Übeln nicht gefallen lassen will, so sollen keine uneingeschränkten Monarchien
sein.« 159 Es geht also um die Beseitigung der absoluten Monarchie, oder, wie Fichte
häufig sagt, des Despotismus. Die politische Ordnung unter der absoluten Mon-
archie wird an einer Stelle mit einer »Maschine« verglichen, mit einem »sonder-
baren Kunstwerk« 160, das dem »denkenden Beobachter<< zwar eine >>erweckende
Gemütsergötzung« sein könne, das aber nichtsdestoweniger >>in seiner Zusammen-
setzung wider die Natur sündigt« 161 • Obgleich Fichte zu Beginn dieser Betrachtung
schreibt: »Ehre wem Ehre gebührt, Gerechtigkeit jedem!« 162 , so kommt er doch zu
keiner Anerkennung der historischen Leistung des neuzeitlichen Staates in der Form
der absoluten Monarchie, die der Forderung auf Neufundierung ihrer Grundlagen
ja keineswegs widersprechen würde. Denn von dem politischen Gefüge Europas
unter den absoluten Monarchien weiß Fichte nichts anderes zu sagen, als daß es
»die Thätigkeit des Menschengeschlechts ... immer in Atem« gehalten habe 163 •

diesen gesellschaftlichen Verhältnissen und dem gesellschaftlichen Bewußtsein entsprechen,


also konkret in diesem Sinne sein. Das ,an sich' abstrakte Postulat wird so in der Nega-
tion eines Abstrakten konkret (vgl. dazu auch Ritter a.a.O., S. 18) - die weltgeschicht-
liche Bedeutung der Revolution und so auch des Denkansatzes des frühen Fichte. Dieser
schlug aber wieder in die Abstraktheit um, indem er die relative Bedeutung des revo-
lutionären Postulats in das Grundsätzliche hob und so die Abstraktion verewigte.
158 Die Freund-Feind-Unterscheidung hat Schmitt als das Kriterium des Politischen aufge-

stellt. Die Frage nach dem konkreten Gegner ist für das Verständnis einer politischen
Schrift grundlegend und umgekehrt das Feststellen eines solchen bestimmten Gegners ein
wichtiges Argument in der Charakterisierung einer Schrift als einer politischen.
159 VI, 96.
160 Wenn Fichte die Ausdrücke ,Kunstwerk' oder ,Maschine' in bezug auf den Staat ge-
braucht, so steht dahinter keine Theorie von Wesen oder Entstehung des neuzeitlichen
Staates, wie etwa bei Hobbes, vielmehr ist das Negative in diesen Bezeichnungen nicht
zu überhören. Maschine ist bei Fichte stets abfällig gemeint, vgl. dazu die Stelle VI, 142.
181 VI, 97.
182 VI, 96.
163 Ebda.
Die »Zufälligen Gedanken« 29

Angesichts des evidenten Anachronismus des Despotismus wird nun nichts Geringe-
res behauptet, als daß er »gegen die Natur sündige«. Diesem wichtigen Punkt
gegenüber werden alle Polemiken, die Fichte in starken Ausdrücken an die Despoten
richtet, weniger interessant. Diese Polemiken, von dem Vorwurf der Verderbt-
heit der Sitten über den des privaten Machtstrebens und jeder Art der Unter-
drückung bis hin zu der Anklage, der Despotismus hindere die Menschheit an der
Verfolgung ihrer edelsten Zwecke - denen der unendlichen Selbstvervollkomm-
nung - nehmen alle Kritik der »Zufälligen Gedanken« wieder auf 164• Die Un-
rechtmäßigkeit jeder Art von Privileg außerhalb der Leistung und des Verdienstes
des einzelnen wird vor allem aufgewiesen. Dieser Aufweis, der sich noch keines-
wegs bis zu der Forderung einer Enteignung und Landverteilung vorwagt, ent-
spricht durchaus den Forderungen in Frankreich am Vorabend der Revolution, aber
auch hier muß einmal mehr festgehalten werden, daß der Grund von Fichtes Postu-
laten nicht der Hinweis auf konkrete soziale Wandlungen, also der Aufweis einer
historischen Notwendigkeit, war, sondern die Berufung auf eine übergeschichtliche
,Natur' und entsprechende ,Rechte'.
Nur indirekt deutlich, aber für die politische Theorie im Stadium dieser Entwick-
lung wichtig, wird die Gegnerschaft gegen Juden und ständische Organisationen.
Die Juden werden angegriffen als Angehörige eines »mächtigen, feindselig gesinn-
ten Staates ... der mit allen übrigen in beständigem Kriege steht« 165, und die,
»wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure eigenen Bür-
ger völlig unter die Füße treten werden« 166 • In einer Anmerkung hierzu wird
Fichtes Einstellung gegen die Juden noch deutlicher; er weist hier ausdrücklich jede
Toleranz zurück. Diese Stelle ist ein fast erschreckendes Beispiel dafür, wie schnell
der Idee der Gleichheit des Menschen als Menschen, die Grundlage aller Fichte-
sehen Argumente ist, durch irrationale Vorurteile eine Grenze gezogen sein kann.
Wenn man den Rigorismus dieser Menschengleichheit sich klarmacht, so wird die
Konsequenz, die sich aufdrängt, wenn einer Gruppe von Menschen als solchen
bestimmten Menschen - und nicht etwa einer Institution, wie etwa dem Militär 167 -
die Möglichkeit zu dieser Gleichheit als konkreter bürgerlicher Gleichheit abgespro-
chen wird, sehr deutlich. »Aber ihnen (den Juden, B. W.) Bürgerrechte zu geben,
dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe
abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei.
Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen
ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.« 168 Es soll nicht im
einzelnen untersucht werden, inwieweit hier ein in der Zeit noch häufig anzutref-
fendes christlich-kleinbürgerliches Ressentiment spricht, oder wieweit es sich um
eine wirkliche Kompromittierung der revolutionären Gleichheitsidee Fichtes han-
delt; die Bemerkungen Fichtes seien hier erwähnt und nur hinzugefügt, daß diese,

164 Vgl. S. 15 ff.


185 VI, 149.
188 VI, 150.
16 7 VI, 152.
168 VI, 153.
30 Fichte und die Französische Revolution

Fichtes sonstiger Oberzeugung ins Gesicht schlagende Tatsache einmal mehr zeigt,
wie abstrakt die Idee ist, die durch solche eingewurzelten Irrationalismen in ihr
Gegenteil verkehrt werden kann 169 • Gleiches Recht für alle heißt dann eben doch
nur: Gleiches Recht für alle Gleichen; angesichts der Leugnung der Gleichheit in
bezug auf die Juden verschlägt es wenig, wenn Fichte den Juden doch Mensch sein
läßt, Barmherzigkeit empfiehlt und Gewalt auch hier ablehnt 1693 • Mag es leicht sein,
die Bedeutungslosigkeit der antijüdischen Bemerkungen Fichtes für die Theorie im
ganzen aufzuzeigen - die meisten Autoren übergehen sie überhaupt mit Schwei-
gen 170 - , so scheint für das ganze Fundament von Fichtes revolutionärer Argu-
mentation das folgende doch von großer Bedeutung. Als »Staat im Staate« werden
auch die »Zünfte der Künstler und Handwerker« bezeichnet, die wie Juden, Kirche
und Militär »nicht nur ein abgesondertes, sondern ein allen übrigen Bürgern ent-
gegengesetzes Interesse haben« 171 • Die Abstraktheit der Bestimmung des »Bürgers«
wird hier offenbar - denn was soll sein >>Interesse« sein, wenn jedes bestimmte
Interesse als diesem allgemeinen entgegen aufgefaßt wird 172 ? Hier erscheint bereits

189 Die Durchsetzung der - nach der Erklärung der Menschenrechte konsequenten - bür-
gerlichen Gleichberechtigung der Juden in Frankreich wurde dort allerdings auch erst
nach heftiger Opposition, die die Anträge des Abbe Gregoire und des Abbe Merlot
monatelang verschleppte und bekämpfte, am 27. Sept. 1791, dann aber fast einstimmig
angenommen. Vgl. Cecil Roth; Die Geschichte der Juden, Stuttgart 1954, S. 401 ff.
Hegel schreibt in dem berühmten § 209 der Rechtsphilosophie: »Es gehört der Bildung,
dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als
allgemeine Person aufgefaßt werde, worin alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil
er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies
Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, - nur dann mangel-
haft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staat gegen-
überzustehen.«
Diese Bestimmung des Prinzips der bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen als sol-
chen zum Subjekt hat, ist natürlich auch Fichte klar - darin liegt auch seine ,unendliche
Wichtigkeit'. Aber wie ,mangelhaft' ist dieses Prinzip bewußt, wenn es um die Juden
geht. Die ,kosmopolitische Fixierung' wird bei Fichte gleichfalls noch eine große Rolle
spielen.
l&Ba Fichtes Bemerkungen sollen nicht überschätzt werden, aber dieser emotionale Einbruch in
das Gleichheitsprinzip stimmt doch bedenklich. Jedenfalls werden gewisse autoritäre
Konsequenzen hier vorbereitet.
170 So Wallner, Schenkel, Medicus, Walz, Metzger. Stre<ker erwähnt die »Kußerungen
Fichtes gegen das Judentum« zwar, sie dient ihm aber lediglich als weiterer Hinweis auf
Fichtes Geringschätzung der Sphäre des Bürgervertrags (a.a.O., S. 203).
Bruno Bauch; Fichte und der deutsche Staatsgedanke, Langensalza 1925, der in den
,Reden an die d. N.' den Höhepunkt von Fichtes politischem Denken sieht (18), in
dem »germanische Heldenethik ... auf ihren philosophischen Ausdru<k gebracht<< sei
(16), sympathisiert offensichtlich mit Fichtes Antisemitismus (vgl. 29/30). Mehnert
interpretiert diesen im Sinne eines gesunden Nationalismus, der um der nationalen In-
tegration willen »größere fremde Volkstümer« ausschließen müsse (a.a.O., S. 40/41).
171 VI, 153.
712 ,Staat im Staate' könnte bedeuten, daß die entsprechende Gruppe ein anderes ,allge-

meines Interesse' habe als alle übrigen. Aber was bedeutet dann noch ,allgemeines Inter-
esse'? Hier scheint wiederum das Interesse der Gesellschaft, die ja von bestimmten, also
auch einander entgegengesetzten Interessen lebt, als das Allgemeine (des Staates also)
Gesellschaft und Staat beim frühen Fichte 31

die Tendenz, jede Bestimmtheit der Freiheit als ihrer ursprünglichen Unendlichkeit
entgegen anzusehen, eine Tendenz, die schwerwiegende Folgen im System haben
wird. Jedenfalls ist hier in den Revolutionsschriften die Unvereinbarkeit des parti-
kularen Interesses mit dem allgemeinen behauptet. Dies entspricht aber auch wieder
den im Beginn der französischen Revolution scharf sich Geltung machenden Ten-
denzen, die alles, was sich als ständisches oder sonst organisiertes Gruppeninteresse
zwischen den einzelnen und das Allgemeine schieben wollte, aufs schärfste bekämpf-
ten 173 • Hier liegt wie bei Fichte ein doktrinäres Festhalten an dem unvermittelten
Gegenüber des Einzelnen und des Staates vor, das ja durch die gesellschaftliche Ent-
wicklung sehr schnell unmöglich gemacht wurde.
Die übersieht über die Gedanken der beiden Revolutionsschriften soll als Aus-
gangspunkt dienen, von dem nunmehr das Grundproblem dieses Ansatzes an den
zwei die Problematik beherrschenden Dualismen Staat-Gesellschaft einerseits und
Freiheit-Gleichheit andererseits genauer expliziert werden soll. Als systematischer
Ausweg aus der Ungelöstheit der mit diesen Dualismen gegebenen Probleme dieses
Denkens wird sich die Utopie erweisen. Schließlich wird in einem die Untersuchung
dieser Phase abschließenden Abschnitt der Versuch gemacht, die philosophischen
Konsequenzen des revolutionären Denkansatzes als solchen von ihm selbst her zu
entwickeln und so die Grundstruktur Fichteschen Denkens als mit diesem gegeben
aufzuzeigen.

2. Gesellschaft und Staat beim frühen Fichte

Um den politischen Gehalt der Revolutionsschriften vor allem da zu erfassen,


wo er seine Bedeutung als Grundansatz für die politische Theorie Fichtes gewinnt,
ist es notwendig, genauer, als es in der Literatur bisher geschehen ist, auf das Ver-

angesprochen zu sein. Der Mangel an Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft zwingt
zur Konstruktion eines gesellschaftlichen Interesses, das gleichzeitig das allgemeine ist -
also die Aufgabe der Differenziertheit der Gesellschaft zugunsten einer Einheitlichkeit
des moralisch-vernünftigen Interesses. Das Moralische fungiert dann als gewaltsame
Ausrichtung auf das gleiche Interesse - einmal mehr wird Fichtes Geistesverwandt-
schaft mit Robespierre klar.
173 >>Es gibt keine Korporationen mehr im Staat. Es gibt nur noch das Einzelinteresse jedes

Individuums und das Allgemeininteresse. Niemandem ist es erlaubt, den Bürgern ein
intermediäres Interesse einzuflößen und sie durch Korporationsgeist von den Angelegen-
heiten der t!ffentlichkeit zu entfernen.<< So formulierte Le Chapelier in dem nach ihm
benannten Gesetz vom 14./17. Juni 1791. (Zitiert bei Kaiser; Die Repräsentation organi-
sierter Interessen, Berlin 1956, S. 33.) Das Problem der organisierten Interessen ist eines
der fundamentalsten der heutigen politischen Theorie, der Verfassungs- und Staatsrechts-
lehre. Die Institutionalisierung dieser gesellschaftlichen Kräfte ist eine politische Gegen-
wartsaufgabe erster Ordnung - vor allem, wenn die po<entiell totalitären Kräfte im
Auge behalten werden. Dazu siehe vor allem das umfassende Werk von Kaiser sowie:
ßeuth, Stein, Wagner; Der Staat und die Verbände, Heidelberg 1957; (dort auch Biblio-
graphie) Wössner; Die ordnungspolitische Bedeutung des Verbandswesens, Tübingen 1961;
Huber, Staat und Verbände, Tübingen 19:'>8.
32 Fichte und die Französische Revolution

hältnis der grundlegenden politischen Begriffe zueinander einzugehen 174 • So bedarf


vor allem und zunächst der Dualismus Gesellschaft-Staat einer genauen Differen-
zierung.
Bei Wallner findet sich die These, daß Fichte in den Revolutionsschriften »als
Reaktion auf den zentralistischen Absolutismus ... Staat und Gesellschaft in schärf-
ster Kontrastierung« gedacht habe 175, So selbstverständlich das in einer bestimmten
Hinsicht als richtig erscheinen mag, so wichtig ist es aber auch festzuhalten, daß in
eben diesen frühen Schriften ein anderer Aspekt des Problems von Staat und Gesell-
;chaft sich findet, der eine Umfunktionalisierung des revolutionären Gegensatzes
bereits hier vorbereitet. Jene »schärfste Kontrastierung« gilt für den revolutionären
Fichte, zu dessen natürlichen Feinden eben der Staat als bestehende Obrigkeit
gehört - angeredet meist als »Fürst!« oder »Ihr Fürsten!« 178 • Gegenüber dieser
Gegnerschaft zum bestehenden Staat gewinnt aber die Differenzierung, die inner-
halb des aufgestellten Seinsollenden wiederum Staat und Gesellschaft unterscheidet,
insofern an Bedeutung, als Staat gleichlaufend mit Gesellschaft aus den gleichen
Denkgründen abgeleitet wird und schließlich als bloßes Mittel erscheint, das die
Gesellschaft anwenden kann - keineswegs muß - und das sich überflüssig macht,
sobald die gesellschaftliche Entwicklung seiner nicht mehr bedarf. Konnte der auf-
klärerisch-rationalistische Denkansatz zu einem Gesellschaftsbegriff gelangen, der,
zwar abstrakt bleibend, als Negation eines Abstrakten dennoch historisch konkret
wurde im revolutionären Ansturm auf die absolute Monarchie, an dieser kein gutes
Haar lassend, so mußte historisch-konkreter Staat sich diesem Denkansatz notwen-
dig entziehen. Die revolutionäre Gegnerschaft zum bestehenden Staat qua absoluter
Monarchie setzte sich aber folgerichtig in der Gegnerschaft zu allem Staat fort,
indem sie bei der Bestimmung des »Endzwecks der Menschheit« den Staat keine
Rolle mehr spielen läßt. Da sie Staat intermediär und vorläufig wegen bestimmter
Funktionen bestehen lassen will, ihn historisch jedoch nicht begreifen kann, so
bezieht sie ihn in das rationalistische Argument mit ein. Das bedeutet aber, daß sie
ihn, ihn gezähmt zu haben glaubend, verliert. Verlorengehen damit erstens die
Möglichkeit der historischen Konkretion der eigenen Theorie, zweitens die Bedin-
gungen und Garantien des eigenen Gesellschaftsbegriffs; die Theorie gewinnt an
Eindeutigkeit des rationalistischen Arguments, an revolutionärem Elan, an Über-
legenheit der Gesellschaft über den Staat. - Der Sieg wird sich aber als Pyrrhussieg

174 Strecker etwa konstatiert lediglich die Staatsfeindlichkeit der Revolutionsschriften, ohne
deren revolutionären Charakter zu durchschauen (vgl. etwa 72, 198/9, 219 f.). Metzger
differenziert den Gegensatz Gesellschaft-Staat nicht über eine einfache Antithese hinaus
(vgl. 135, 147 und passim), ebenfalls ohne den revolutionären Ansatz als Grund der
Staatsfeindschaft Fichtes zu sehen. Walz charakterisiert die frühen Schriften ebenso
schlechthin als die »staatsverneinende Periode« (a.a.O., S. 358). Schottky stellt im ,Bei-
trag' »extremen, bis in den Anarchismus hinein überspitzten Liberalismus« fest (a.a.O.,
S. 115), dabei entgeht die Differenzierung zwischen Staat als Gegner im revolutionären
Ansatz einerseits und Staat als vernünftiger Deduktion andererseits ebenso notwendig,
wie das Verhältnis von ,Beitrag' zur ,Grundlage d. N.' das eines radikalen Wandels wer-
den muß.
175 Wallner, a.a.O., S. 58.
178 Vor allem in der ,Zurückforderung', die ja als Rede konzipiert ist.
Gesellschaft und Staat beim frühen Fichte 33

erweisen, da sich - zumindest intermediär - der gesellschaftlich bestimmte Staat


der Notwendigkeit nicht entziehen kann, Funktionen, die der historische Staat
hatte, weiterhin auszuüben. Die Eroberung des Staates durch die Gesellschaft bedeu-
tet Identifizierung des Vernünftigen, des Moralischen und des Politischen, was sich
für die beiden ersteren tödlidl auswirken wird.

a) Die autonome Gesellschaft


Im Jahre 1794 veröffentlichte Fichte »Einige Vorlesungen über die Bestimmung
des Gelehrten«, die hier noch zu den Revolutionsschriften gezählt werden sollen 177•
Der Ausgangspunkt Fid:J.tes ist in dieser Sd:J.rift wiederum der Mensch an sich, »iso-
lirt und außer aller Verbindung, die nid:J.t in seinem Begriff notwendig enthalten
ist« 178• Ausdrücklich und eindringlid:J. mad:J.t Fichte seinen Zuhörern und Lesern
klar, daß »die ganze Philosophie, daß alles menschliche Denken und Lehren, ... daß
alles, was ich insbesondere Ihnen je werde vortragen können, auf nidlts anderes
abzwecken kann als auf die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen und ganz
besonders der letzten hödlsten: Welches ist die Bestimmung des Mensd:J.en über-
haupt und durd:J. welche Mittel kann er sie am sichersten erreichen?« 179 Diese Art
der höchsten Fragestellung, die sich auf den ,Mensd:J.en überhaupt' bezieht, d. h. auf
den Menschen, in dessen Begriff jede Art von ,Verbindung' nicht notwendig eingeht,
wie das vorige Zitat zeigt, läßt erkennen, wie alle ,Verbindung', also alle Gesell-
schaft, in diesem Denken fungieren wird -: als Mittel. Jeder näher bestimmte
Mensch, also z. B. der Gelehrte, um den es in dieser Schrift geht, ist als dieser
bestimmte allerdings nur in ,Gesellschaft' denkbar 180, »Unter der nicht etwa bloß
der Staat, sondern jede Aggregation vernünftiger Wesen verstanden wird, die im
Raume beieinander leben und dadurch in gegenseitige Beziehung versetzt wer-
den« 181 • Dieses »im Raume beieinander leben und dadurd:J. in gegenseitige Bezie-
hung versetzt werden« ist wichtiger, als es den Anschein hat. Im ,Beitrag' ist aus-
führlich davon gehandelt. Fidlte nimmt dort Stellung gegen einen Gebrauch des
Wortes ,Gesellsd:J.aft', der »Quelle des leidigsten Mißverständnisses« sei 182 • Aus-
drücklich betont er, daß unter Gesellschaft nid:J.t nur Menschen a) im Bürgervertrage
und b) in Verträgen überhaupt verstanden werden dürften. Damit »smleiche« man
sich »über die wichtige Erörterung weg«, wie es mit Menschen besmaffen sei, die

177 Ebenso bei Walz, a.a.O., S. 398.


178 VI, 293.
179 VI, 294.

t8o In der ,Bestimmung des Gelehrten' von 1794 ist allerdings von der Versdliedenheit der
Stände in der mensdtlidten Gesellsdtaft die Rede. Aber audt hier werden keine Ansätze
zur konkreten Gesellsdtaftlidtkeit des Mensdten entwilkelt; vielmehr gipfelt die Be-
tradttung in der ,Bestimmung des Gelehrten' eben nidtt als eines Standes, sondern als
des »eigentlidten hödtsten« Mensdten (vgl. VI, 327 ff.).
181 VI, 293. Walz spridtt in diesem Zusammenhang von der völligen »Privatisierung des
Redtts« im ,Beitrag' (a.a.O., S. 194). Die mangelnde Einsidtt in die Kontinuität Fidtte-
sdten Denkens läßt diesen Ansatz, der ja Vergesellsdtaftung des Staates meint, später
wieder verlorengehen.
182 VI, 129.
34 Fichte und die Französische Revolution

um-, neben-, zwischeneinander leben, ohne in irgendeinem Vertrage, geschweige


denn im Bürgervertrage, zu stehen 183, Dagegen hält Fichte fest, daß Gesellschaft
zunächst nichts anderes meinen dürfe >>als eine physische Beziehung mehrerer auf-
einander . . . welches keine andere sein kann als das Verhältnis zueinander im
Raume« 184 • Gesellschaft ist also für Fichte auch ohne Vertrag denkbar; auf ihr
besteht er ausdrücklich, indem er heftig gegen den Hobhesseherr Naturzustand pole-
misiert, den Krieg aller gegen alle. Von der »ursprünglichen Bösartigkeit« der
Menschen kann Fichte >>sich nicht überzeugen« 185 • Der Revolutionär, der im Namen
,des Menschen' gegen die bestehende Ordnung aufsteht, muß den Begriff dieses
Menschen so fassen, daß dieser ,Mensch überhaupt', vor aller Gesellschaft, vor allem
Vertrage, seiner Natur nach schon die Garantie für Frieden, Freiheit und Ordnung
ist. Diese Natur des Menschen aber ist als Freiheit bestimmt; Naturzustand bedeu-
tet: nur unter dem - nie suspendierbaren - Sittengesetz stehend 186 • Insofern dies
aber den Charakter des Sollens hat, stellt sich selbstverständlich die Frage, ob in
diesem Naturzustand das Sittengesetz ohne einen Effektivitätsfaktor, also etwa
den Staat, auch in der Wirklichkeit herrschen würde. Darauf Fichte: >>Immer nur
davon, was würde oder werde; ich rede davon was ich sollte.« 187 An anderer Stelle:
»Da wir aber jenes garnicht, sondern bloß soviel behauptet haben, es sey gegen
das Gesetz der Sittlichkeit, es solle nicht geschehen (es sey moralisch unmöglich); so
trifft uns ein Einwurf nicht, der aus einer ganz anderen Welt hergenommen ist.
Leider geschieht manches in der wirklichen Welt, was nicht geschehen sollte; aber
dadurch, daß es geschieht, wird es nicht recht.« 188 So banal der letzte Satz in seiner
Selbstverständlichkeit ist, so wichtig für Fichtes Gesellschaftstheorie ist das ganze
Argument. Die ,ganz andere Welt', aus der der Einwurf kommt, ist eben die ,wirk-
liche Welt'. Aber diese politischen Einwürfe werden von Fichte bewußt abgelehnt-
es handelt sich nicht um das Mögliche und Effektive, zu dem eben der Mensch als
,Wolf' auch gehören kann, sondern nur um das Gesollte. Fichtes Theorie ist notwen-
dig eine durchaus moralische, der von ihrem Ansatz her die Möglichkeit, eine politi-
sche zu werden, ebenso notwendig abgeht. Der Mensch, der mit sich und seiner Natur,
dem Sittengesetz, allein gelassen, dieses als verbindlich ablehnt, ist ein Tier und fällt
so ausdrücklich aus Fichtes Überlegung hinaus. Aber Politik als Theorie des Mög-
lichen - also auch des Schlimmstmöglichen -ist genötigt, den Fall, da ,Weiber zu
Hyänen werden'- mag er immerhin als Ausnahmezustand bezeichnet werden-,
in ihre Überlegungen systematisch einzubeziehen. Ein Ausgangspunkt vom Men-

183 Ebda.
184 Ebda.
185 VI, 130.
186 >>Man glaubte ehemals im Naturrechte ... auf einen ursprünglichen Naturzustand
des Menschen zurückgehen zu müssen; und neuerdings ereifert man sich über dies Ver-
fahren, und findet darin den Ursprung wer weiß welcher Ungereimtheiten. Und doch
ist dieser Weg der einzig richtige: um den Grund der Verbindlichkeit aller Verträge zu
entdecken, muß man sich den Menschen noch von keinem äußern Vertrag gebunden,
bloß unter dem Gesetz seiner Natur, d. i. unter dem Sittengesetz stehend, denken; und
das ist der Naturzustand.«
187 VI, 130.
188 VI, 107.
Gesellschaft und Staat beim frühen Fichte 35

sehen überhaupt, ein naturrechtlicher also, ist allerdings schwer geeignet zu solch
systematischer Begründung- der Mensch überhaupt als Wolf war denn auch wohl
mit Recht für Fichte der Stein des Anstoßes 189. Fichte mußte also an einem Gesell-
schaftsbegriff außerhalb des Vertrages überhaupt und vor allem außerhalb des
Staates festhalten und in diesen schon alle Möglichkeit der Entwicklung zur Voll-
kommenheit der Subjektivität hineinlegen. Gesellschaft qua Vertragsgesellschaft
oder gar qua Staat ist so weder zum Begriff des Menschen noch zu dem der Gesell-
schaft überhaupt notwendig; was vor allem den Staat in der Theorie zum bloßen
Mittel herabsetzt, nachdem ihm die politische (Ordnung stiftende und garantie-
rende) Dimension schon durch den moralischen Ansatz abgeschnitten ist. Gleichzeitig
wird die vertragslose Gesellschaft utopisiert - das letzte Umwillen aller Gesell-
schaft und aller Geschichte ist eine prästabilisierte Harmonie absolut identischer
freier Subjektivitäten. Diese Möglichkeit der Harmonie ist in jedem Menschen schon
als seine Natur verwirklicht; die >>sittliche Monade« 19 0 kann auf dem Wege zu
jener Utopie in Beziehung zu anderen gesetzt werden nur durch den freien Ver-
trag 191 • Die Möglichkeit des Vertragsbegriffes überhaupt wird in die Theorie ein-
geführt durch jene Unterscheidung zwischen unveräußerlichen und veräußerlichen
Rechten, die der des älteren Naturrechts von angeborenen und erworbenen Rechten
entspricht. Unveräußerliche Rechte können keinem Vertrag unterliegen; die Gesell-
schaft besetzt eben nur das Gebiet, das die Vernunft >>freigelassen<< hat 1 92 •

189 Immerhin ist auf der Grundlage einer hypothetischen Wolfs,natur', also einer Theorie
über das Wesen des Menschen, die das Schlimmstmögliche systematisch mit einbezieht, in
der Neuzeit eine umgreifende politische Theorie zum Tragen gekommen. »Dennoch
bleibt die merkwürdige und für viele sicher beunruhigende Feststellung, daß alle echten
politischen Theorien den Menschen als ,böse' voraussetzen, d. h. keineswegs als unpro-
blematisches, sondern als gefährliches und dynamisches Wesen betrachten.« (Schmitt; Be-
griff des Politischen.)
Daß auch zu Fichtes Zeiten und bei den Denkern, die seine unmittelbaren Lehrer waren,
sich ein Sinn für die Andersheit des Politischen erhalten konnte, 7.eigt bei Kant dessen
seltsam unintegriertes, starres Festhalten an der ,Obrigkeit', das vom systematischen
Ansatz allein nicht zu erklären ist. Und vollends bei Reinhold finden sich Sätze wie die
folgenden: »Da die Gemeinnützigkeit einer jeden, auch durch Verträge bestimmten
Staatsverfassung von unzähligen der Vernunft ganz fremden Tatsachen (!) und zufäl-
ligen Begebenheiten abhängt, so sind alle bloß politischen Prinzipien unzähligen Aus-
nahmen, Zweifeln und Veränderungen unterworfen. Daher kommt es, daß der gemeine
Menschenverstand, welcher die Gemeinnützigkeit bürgerlicher Gesetze so leicht aner-
kennt, ... die Gemeinnützigkeit und Gerechtigkeit der politischen ( !) so selten richtig zu
beurteilen vermag, und daß sich die philosophierende Vernunft bisher fast noch nie mit
Staatsverbesserungen beschäftigte, ohne entweder die Gerechtigkeit einer politischen
Einrichtung der Gemeinnützigkeit oder diese jener aufzuopfern.« (Briefe, Bd. 2, S. 163/
64.) Reinholcis Auffassung von Wissenschaftlichkeit (Deduktion aus einem Prinzip) und
sein Rationalismus, die Fichte übernahm (s. Abschnitt II), ließen ihn innerhalb seines
vernünftigen Denkens nicht zu einer politischen Theorie im engeren Sinne kommen;
immerhin behielt er so viel praktischen Sinn für das Politische, daß er sich in politicis, die
Andersheit anerkennend, weiser Zurü<Xhaltung befleißigte.
190 »Der Mensch, wie ihn Fichte hier sieht, ist seinem sittlichen Kern nach ohne Tür und

Fenster- der Leiboizischen Monade analog.« Heimsoeth, a.a.O., S. 57.


191 Vgl. das oben über das Vertragsproblem Gesagte. Ferner etwa: VI, S. 13, 81, 85, 110, 129.
192 VI. 83.
36 Fichte und die Französische Revolution

Menschen, soweit sie ihre Beziehungen zueinander irgend als Verträge gestalten,
also im Bereich der veräußerlichen Rechte, bilden Gesellschaft in jenem zweiten
Sinne eben der Vertragsgesellschaft. Solche Gesellschaft ist nur möglich unter Freien,
»ein Trupp abgesonderter Sklaven, die alle dem gleichen Herren dienen«, ist »nim-
mermehr eine Gesellschaft« 193 • >>Gesellschaft nenne ich die Beziehung vernünftiger
Wesen aufeinander.« 194 Obgleich Gesellschaftlichkeit als solche am Beginn der ,Vor-
lesungen über die Bestimmung des Gelehrten• nicht in den Begriff des Menschen ein-
bezogen ist, schreibt Fichte in der zweiten Vorlesung, hier charakteristischerweise
wieder Gesellschaft von Staat unterscheidend (das bedeutet, daß er, die Gesellschaft
zugebend, den Staat dieser nachdrücklich unterordnen will): >>Der gesellschaftliche
Trieb gehört demnach unter die Grundtriebe des Menschen. Der Mensch ist be-
stimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein
ganz vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isoliert bleibt.« 195
Dagegen: »Das Leben im Staat gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Men-
schen ... sondern es ist ein nur unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel
zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft.« 198
Vor der Untersuchung der Bedeutung von ,Staat• in den frühen Schriften soll
diese »vollkommene Gesellschaft« noch einmal betradJ.tet werden. Die Gleichheit
ist das gestaltende und gleichzeitig - als Utopie - vorantreibende Prinzip der
Gesellschaft. >>Mithin ist das letzte, höchste Ziel der Gesellschaft völlige Einmüthig-
keit und Einigkeit mit allen möglichen Gliedern derselben.<< 197 »... der letzte
Zweck aller Gesellschaft: die völlige Gleichheit aller Mitglieder.« 198 In derselben
dritten Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten steht ferner folgendes: »Sie
(die Vernunft, B. W.) wird sorgen, daß jedes Individuum mittelbar aus den Händen
der Gesellschaft die ganze vollständige Bildung erhalte, die es unmittelbar der
Natur nicht abgewinnen konnte.« 199 Diese Sätze könnten die Interpretation der
Gesellschaft als Ortes der Vermittlung zwischen der ,Natur• des Einzelnen und der
Kultur überhaupt nahelegen. Aber sie sind eingeschränkt zu verstehen. Zunächst ist
festzuhalten, daß der Kampf Vernunft gegen Natur schon im einzelnen Individuum
lokalisiert ist 200 • Dann ist es von größter Wichtigkeit, daß die Freiheit nicht zu der
Bildung oder der ,Kultur•, die die Gesellschaft vermitteln kann, dazugehört 201 •
Außerdem wird im ,Beitrag• sehr stark, gegen den gesellschaftlichen bzw. staatlichen
Anspruch, die Spontaneität des Einzelnen im Ergreifen der ,Kultur• herausgestellt:
»Die Kultur läßt sich dem Menschen nicht so aufhängen, wie ein Mantel auf die
nackten Schultern des Gelähmten. Gebrauche deine Hände, greif zu und halte

193 VI, 248.


194 VI, 302.
195 VI, 306.
196 Ebda.
197 VI, 310. Vgl. dazu Absdmitt 4 dieses Kapitels.
198 VI, 315. Vgl. dazu Anm. 244.
199 VI, 316. Vgl. dazu die Untersuchung der ,Unmittelbarkeit' bei Fichte im Kapitel II.
200 »Also, die Vernunft liegt mit der Natur in einem stets dauernden Kampfe; dieser Krieg
kann nie enden, wenn wir nicht Götter werden sollen.« VI, 316.
201 Vgl. S. 140.
Gesellschaft unä Staat beim frühen Fichte 37

fest ... Was ich bin, verdanke ich zuletzt mir selbst, wenn ich für mich etwas bin .
. . . Kultur geben kann weder die erstere (Gesellschaft, B. W.) noch der zweite
(Staat, B. W.), niemand wird kultiviert. Der Mittel zur Kultur gibt die erste un-
gleich mehrere und ungleich brauchbarere als der letztere.« 202 Könnte diese Stelle
zur Bekräftigung der bereits zitierten These Wallners von der »schärfsten Kontra-
stierung von Gesellschaft und Staat« dienen, so ist dagegen festzuhalten, daß es
hier, wie überhaupt im ,Beitrag', in erster Linie um das Geltendmachen der Rechte
der Subjektivität gegenüber dem Staat geht. So muß die Untersuchung von Fichtes
Staatsbegriff in den frühen Schriften unterscheiden zwischen den destruktiven
Argumenten im Namen des ,Menschenrechts' gegen den bestehenden Staat und dem
konstruktiven Rest von Staatlichkeit, den Fichte als mögliches Mittel gelten läßt 203 •
Das erstere ergibt sich von selbst aus dem revolutionären Ansatz, der den bestehen-
den Staat als historisch-konkrete Ordnung, also in Gestalt der absoluten Monarchie,
angreift. Es war oben schon angedeutet und soll hier weiter gezeigt werden, wie aus
diesem Ansatz in dem rationalistischen Argument notwendig die Vergesellschaftung
und Mediatisierung des Staates erfolgt, die dann zum durchgehenden Bestandteil
von Fichtes Theorie werden wird.

b) Der bekämpfte wirkliche Staat


und die deduzierte Vernun ftstaatlichkeit
Die Destruktion von Staat vollzieht sich in dem revolutionären Kampf gegen
den »Fürsten« bzw. gegen die »bisherigen Staaten« 204 • In diesen bisherigen
Staaten, bemerkt Fichte, würde auch der Historiker kaum Beispiele für die Beförde-
rung des wahren »Endzwecks« der Menschheit finden - wie er an anderer Stelle
sagt, daß der bisherige Staat als absolute Monarchie »in seiner Zusammensetzung
gegen die Natur sündigte« 205. So wird einem »Ihr Fürsten« ein »Wir« gegenüber-
gestellt 206, das den Menschen meint und seine Rechte, und der Staat wird bezeichnet
als der, der »von jeher gearbeitet hat, uns auf jede Art zu gewöhnen, Maschinen zu
sein statt selbständiger Wesen« 207 • Die stärkste Zurückweisung des bisherigen
Staates ist aber jene bereits zitierte Stelle aus der ,Zurückforderung': »Fürst, du
hast kein Recht, unsere Denkfreiheit zu unterdrücken; und wozu du kein Recht
hast, das mußt du nie tun, und wenn um dich herum die Welten untergehen, und
du mit deinem Volke unter ihren Trümmern begraben werden solltest. Für die

202 VI, 139.


203 Scholz kommt auf Grund seiner eingehenden Analyse des i:Jkonomischen bei Fichte
gleichfalls zu einer Differenzierung. Im Gegensatz zu Wallner, Metzger und Walz stellt
er sehr wohl einen konstruktiven Rest von Staatlichkeit auch im ,Beitrag' schon fest, der
vor allem im wirtschaftlichen Aufsichtsrecht besteht. (A.a.O., S. 129 ff.) Scholz erkennt
also ebenfalls, daß die ,Gesellschaft' des frühen Fichte nicht nur den ,Staat' als feind-
liches Gegenüber hatte, sondern auch schon Reste von Staat funktional sich einintegrie-
ren mußte.
204 VI, 63.
205 VI, 96. Vgl. dazu auch Schottky, a.a.O., S. 131.
208 Vgl. S. 41; im ,Beitrag'; VI, 94 ff. und 144 ff.
207 VI, 142.
38 Fichte und die Französische Revolution

Trümmer der Welten, für dich und für uns unter den Trümmern wird der sorgen,
der uns die Rechte gab, die du respectirtest.<< 2 08
Wenn auch hier der Vernunftoptimismus bedacht werden muß, der es Fichte
gestattete zu glauben, daß mit der Denkfreiheit gerade nicht die Welt in Trümmer
gehen, sondern mit unaufhaltsamer Gewalt der Vollkommenheit sich nähern
würde, so erschreckt dennoch die Anmaßung dieser Rechtsforderung. Dies Recht
meint ja nicht nur die Denkfreiheit, sondern überhaupt >>freie ungehinderte Selbst-
tätigkeit, Wirken aus eigener Kraft nach eigenen Zwecken« 209 • Die Respektierung
solcher Rechte wiegt die Zertrümmerung der Welt auf. Der Hinweis auf die Mög-
lichkeit der Zertrümmerung gerade bei der beanspruchten absoluten Freiheit wird
aber als Hinweis aus »einer anderen Welt« nicht angenommen 210 • Im Anschluß an
die zitierte Stelle findet sich noch folgender, an die Fürsten gerichteter Ausruf:
>>Ü glaubt es doch, alle die Güter, die ihr uns geben könnt, ... der Flor des Handels,
die Circulation des Geldes, der überfluß an Lebensmitteln- ihr Genuß als Genuß
ist des Schweißes der Edlen, ist eurer Sorgen, ist unseres Dankes nicht wert. Nur als
Instrumente unserer Tätigkeit, als ein näheres Ziel, nach dem wir laufen, haben sie
in den Augen der Vernünftigen einigen Wert.« 211 Diese Stelle bedarf sorgfältiger
Betrachtung. Zunächst könnte man sie wie eine idealistische Paraphrasierung eines
Satzes lesen vom Typ: Nicht vom Brot allein lebt der Mensch. Aber es interessiert
der politische Gehalt, der hier wie selten bei Fichte deutlich wird. Denn es heißt aus-
drücklich: »die Güter, die ihr uns geben könnt«, und diese Güter sind gekennzeich-
net als die der Gesellschaft als Bedürfnisgesellschaft. Der Staat wird hier also auf
das ,Geben der Güter' - was hier nur Garantie ihres Genusses heißen kann - redu-
ziert; scheinbar finden wir Fichte hier in der Tradition der modernen, von Hobbes
ausgehenden Lehre vom Politischen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir
einige Zeilen weiter lesen: Ȇber unsere Denkfreiheit habt ihr demnach gar keine
Rechte, ihr Fürsten; keine Entscheidung über das, was wahr oder falsch ist; kein
Recht, unserem Forschen seine Gegenstände zu bestimmen oder seine Grenzen zu
setzen.« 212 Hier klingt die funktionale Reduktion an, die aus der Notwendigkeit
der Überwindung des konfessionellen Bürgerkrieges die große Leistung der bürger-
lichen politischen Theorie ist. Aber in dieser Theorie hatte Hobbes die konstitutive
Bedeutung des Staates für die Gesellschaft gesehen und sie in der Reduktion auf das
Politische positiv festgehalten. Hingegen konnte der revolutionäre Ansatz Fichtes
auch dem so reduzierten Staat kein Eigendasein lassen. Die Funktion des Staates
wird hier bestimmt als Wahrung der Rechte der Gesellschaft, die diese in ihrer
>>Millionenzahl<< nicht selbst behaupten kann 213 • Nun ist aber die Frage, wie weit
der Ansatz der Theorie einer solchen funktionalen Bestimmung des Staates Raum
läßt. Gegen wen sollen die Rechte behauptet werden? Außenpolitische Gesichts-
punkte spielen hier bei Fichte noch gar keine Rolle - Kriegführung gegen Angreifer

208 VI, 28.


209 VI, 29.
210 VI, 93.
211 VI, 28/29.
212 VI, 29.
213 VI, 30.
Gesellschaft und Staat beim frühen Fichte 39

von außen - das ,ab hostibus externis defendere' 214 des Hobbes - kommt also hier
als Funktion des Staates nicht in den Blick. Die ,pax interna' wäre zusammen
mit der Garantie der irdischen Güter, die Fichte aufgezählt hatte, und die die Frucht
des inneren Friedens sind, etwa das Gebiet, auf dem der Staat seine Aufgaben finden
könnte. Aber Hobbes hatte die latente Gefährdung solchen Friedens durch die
Wolfsnatur des Menschen begründet und so den Staat als Ordnung stiftend und alle
Gesellschaft ermöglichend dieser gegenüber eingesetzt. Indem Fichte den Natur-
zustand schon unter die Herrschaft des Sittengesetzes stellt, wird der Wahrer der
Rechte zu einem Widerspruch in sich. Durch Moralisierung des Naturzustandes, die
Fichte allein interessiert, weicht er immer wieder der Frage aus, wie groß in Wirk-
lichkeit die Effektivitätschance des Sittengesetzes ist, das die Freiheit des anderen
zu respektieren gebietet. Aber er trägt der Wirklichkeit insofern Rechnung, als er
an Staat funktional festhält, obwohl dies Festhalten einen Widerspruch in seinem
moralischen System bedeutet. Diesem Widerspruch begegnet er folgerichtig damit,
daß er Staat mediatisiert, ihn zu einem Instrument der Gesellschaft macht, das dazu
bestimmt ist, in der fortschreitenden Entwicklung, die die Durchsetzung des Eigent-
lichen - also auch des Widerspruchslosen - ist, zu verschwinden. Staat wird also
in die Gesellschaft hineingezogen, ihr untergeordnet und- im systematischen Den-
ken - zum Verschwinden gebracht. Die so gewonnene Widerspruchslosigkeit und
Einheitlichkeit der Utopie wird im Abschnitt 4 dieses Kapitels noch einmal betrach-
tet. Was für Folgen die Einbeziehung des Funktional-Politischen in die Gesellschaft
auf dem Wege zum Endziel für jeden möglichen Staat in dieser Theorie haben wird,
davon wird im Kapitel III ausführlich die Rede sein. Hier bleibt noch zu fragen,
mit welchen Mitteln die Integrierung des Staates in die Gesellschaft in den frühen
Schriften möglich wird. Dazu soll kurz das Schema der Rechte und Pflichten des
Menschen vergegenwärtigt werden, das Fichte selbst in vier konzentrischen Kreisen
darstellt 215 • Der äußerste Kreis bedeutet das »Gebiet des Gewissens«, d. h. er zeigt
den Menschen im Naturzustand nur unter dem Sittengesetz stehend. Der zweite
Kreis bezeichnet das »Gebiet des Naturrechts«; hiermit ist gemeint der Mensch in
B.eziehung zu anderen, die Gesellschaft in jener ersten Bedeutung, die das »Um-,
Mit- und Nebeneinander vernünftiger Wesen im Raume« meint. Der dritte Kreis
umschreibt das »Gebiet der Verträge überhaupt« - Gesellschaft im zweiten, von
uns hier fast immer gebrauchten Sinn. Der vierte, engste Kreis umschreibt das
Gebiet eines speziellen Vertrages, des »bürgerlichen Vertrages«. Festzuhalten ist,
daß keiner der inneren Kreise in dem von ihm beanspruchten Bereich das suspen-
diert, was die jeweils größeren umschreiben. Hier interessiert jener kleinste Bereich,
der das Gebiet des »bürgerlichen Vertrags<< meint. Dieser bürgerliche Vertrag ist
Vertrag, er hat also zur Legitimationsgrundlage die der Lehre von der Freiheit ein-
zig angemessene Theorie des schlechthin freien Vertrages. Aber der bürgerliche
Vertrag ist insofern ein Sonderfall des Vertrages - nicht in seiner Entstehung,

214 Hobbes, De Cive, 13, 6: »Salus publica in quo consistat ... primum ut ab hostibus ex-
ternis defendantur, secundum ut pax interna conservetur, tertium ut quantum cum
securitate publica consistere potest, locupletentur, quartum ut libertate innoxia per-
fruantur.«
215 VI, 133.
40 Fichte und die Französische Revolution

sondern vom Effekt her -, als er sinnvoll nur ist als >>Vertrag aller Mitglieder mit
einem oder eines mit allen<< 216 • Dieser Vertrag ermächtigt die Gesellschaft, die nun-
mehr bürgerliche Gesellschaft ist, zu Sanktionen gegenüber dem Mitglied, das »Sei-
nen Vertrag nicht hält und seine veräußerten Rechte zurücknimmt<< 21 7. >>Daher ent-
steht die ausübende Gewalt ... der eine, dem sie übertragen wird, heißt Fürst.<< 21s
So die Theorie der staatlichen Souveränität, die Fichte sich noch nicht anders als in
der Person des Fürsten denken kann.
Denn dieser bürgerliche oder Bürgervertrag konstituiert - mit dem Mittel der
Übertragung der vertragsmäßigen Gewalt - den Staat. Nicht immer gebraucht
Fichte Staat und ,bürgerliche Gesellschaft' synonym, aber die Belege sind zahlreich,
aus denen seine Ansicht hervorgeht, daß der Bürgervertrag in der Gesellschaft den
Staat konstituiert. Es ist notwendig, bürgerliche Gesellschaft nicht unakzentuiert zu
verstehen, sondern immer im Blick zu halten, daß ,bürgerliche Gesellschaft' die Ge-
sellschaft meint, insofern sich ihre Mitglieder im freien Vertrag zu Bürgern gemacht
haben und so einen staatlichen Bereich schufen, der aber keineswegs als für die
Gesellschaft überhaupt konstitutiv angesehen werden darf. Er ist lediglich ein Mittel
zur besseren Wahrung der Rechte der einzelnen; auf den Widerspruch, der hierin
liegt, ist oben schon hingewiesen worden. >>Staatsverfassung<< entsteht also mit dem
»bürgerlichen Vertrag<<, der aber auch >>der gesellschaftliche Vertrag<< schlechthin
genannt wird. Der Gebrauch ist beim frühen Fichte wie gesagt nicht immer genau,
aber daß er, wenn er nicht ausdrücklich die ,bestehenden Staaten' meint, Staat und
Staatsverfassung in dem Sinne des durch den ,bürgerlichen Vertrag' konstitutierten
engsten Bereiches gesellschaftlicher Beziehungen und Verpflichtungen meint, ist ein-
deutig 219 • Aufgabe des Staates ist Gesetzgebung, wo das Sittengesetz schweigt 22o;
er schafft vor allem das, was heute >>Rechtssicherheit<< heißen würde 221 • Außerdem

216 Die Notwendigkeit, sich an diesem Punkt Gedanken über die hier einfach vorausgesetz-
ten ,Mitglieder' zu machen, geht Fichte hier noch nicht auf. Denn wer sind diese Mit-
glieder? Wie qualifiziert sich der ,Mensch' zum Mitglied? Die Fragestellung soll hier noch
nicht zu weit getrieben werden; im Teil IV werden die Bemühungen des späten Fichte um
Konkretion (Volk, Nation) ausführlich untersucht werden.
217 VI, 13.
218 Diese Tatsache veranlaßte Treitschke zu der Formulierung: >>Was Fichte suchte und zu

finden verzweifelte, was er nicht sah, vielleicht nicht sehen konnte - wir Heutigen
wissen's! Denn wir haben's! Es ist die starke Monarchie ... << (Fichtes Idee des Deutschen
Staates; Rede zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers am 27. Jan. 1890. So
zitiert bei Schenkel, a.a.O., S. 8.)
219 »Kann einer aus dem Staat treten, so können es mehrere. Diese stehen nun gegenein-

ander und gegen den Staat, den sie verließen, unter dem bloßen Naturrecht. Wollen die,
welche sich abgesondert haben, sich enger untereinander vereinigen und einen neuen
Bürgervertrag auf beliebige Bedingungen schließen, so haben sie vermöge des Natur-
rechts, in dessen Gebiet sie sich zurückgezogen haben, das vollkommene Recht. - Es ist
ein neuer Staat entstanden.<< VI, 148.
220 Vgl. etwa FichtesAusführungen über das Erbrecht, VI, 125 ff.
221 Dazu siehe vor allem Fichtes Bemerkungen im Verlauf seiner Behandlung des Problems

von Kirche und Staat, VI, 267 ff.: >> ••• er (der Staat, B. W.) gebietet über Handlungen,
die sich in der sichtbaren Welt zeigen, und seine Gesetze müssen so eingerichtet sein, daß
er auf den Gehorsam gegen dieselben sicher rechnen kann; keins muß ungestraft über-
Gesellschaft und Staat beim frühen Fichte 41

besetzt er die öffentlichen Amter - er hat also laut Vertrag alle die Funktionen,
die die Gesellschaft als der Zahl nach bestimmte im Namen der >>Summe<< aller Mit-
glieder, d. h. also als Staat für alle Mitglieder, vornimmt bzw. vornehmen läßt.
Wenn oben Fichte zitiert wurde, wie er der Gesellschaft qua ausübender Gewalt,
also qua Staat, das Recht auf Sanktionen gegenüber dem Mitglied zugesteht, das
seinerseits den Vertrag »nicht hält, und seine veräußerten Rechte zurücknimmt<<,
so könnte daraus gefolgert werden, daß nach geschlossenem Bürgervertrag nun der
Staat eine Souveränität erhalten hätte, die ihm auch tatsächlich ermöglichen würde,
diese Aufgaben durchzuführen. Aber nichts liegt dem Revolutionär Fichte dann
wieder so am Herzen wie die Unterordnung des Staates unter die Gesellschaft 222.
So heißt es in der ,Zurückforderung', daß der Fürst in seiner >>ausübenden Ge-
walt<< 223 nur >>Repräsentant<< der Gesellschaft sei, >>ohne die er gar nichts war<< 22 4 •
Im ,Beitrag' sehr deutlich: »Aber was hat hier der Staat zu tun? ... wir haben
bewiesen, daß er selbst kraft der Gesellschaft da ist.<< 225, In der ,Bestimmung des
Gelehrten': »Das Leben im Staate ist ein nur unter gewissen Bedingungen stattfin-
dendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft. Der Staat geht,
ebenso wie alle menschlichen Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigene Ver-
nichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu
machen.<< 226 >>Die Frage, welches ist der beste Endzweck der Staatsverbindung?
hängt von der Beantwortung folgender ab: Welches ist der Endzweck jedes Einzel-
nen? Die Antwort auf diese Frage ist rein moralisch.<< 22 7 Trotz mancher Ansätze
zum politischen Verständnis des neuzeitlichen Staates bleibt Fichtes Staatsauf-
fassung >>rein moralisch«. Die Vergesellschaftung des Staates ist vollkommen. Aber
diese Rationalisierung und Moralisierung des Politischen bedeutet das Abschneiden
der Herkunftswelt und die Aufgabe der historischen Grundlagen und Garantien
der Gesellschaft, die Staat- reduziert auf das Politische- geleistet hatte. Die Gesell-
schaft, so ihrer Grundlage beraubt, muß sich selbst garantieren 228 , allen Zwang in
sich einbauen und nach ihren Grundsätzen, also moralisch beurteilen. Recht und
Gesetz erscheinen somit als Zwang, und zwar in der Einbeziehung des Politischen
aus einem Gegenüber in das Strukturgesetz der Gesellschaft hinein als potenzierter

treten werden können; er muß auf den Erfolg jeder Handlung, die er geboten hat, sicher
rechnen können, wie man in einer wohlgeordneten Maschine auf das Eingreifen eines
Rades in das Andere sicher rechnen kann.<< VI, 267/8.
222 »Die Ehrenbezeugungen, die Ihr (die Fürsten, B. W.) ertheilt, ertheilt nicht Ihr, jedem

erkannte sie schon vorher seine Tugend zu, und Ihr seid nur die erhabenen Dolmetscher
derselben an die Gesellschaft. Das Geld, was Ihr austheilt, war nie Euer, es war ein an-
vertrautes Gut, das die Gesellschaft in Eure Hände niederlegte, um allen ihren Bedürf-
nissen, d. h. den Bedürfnissen eines jeden Einzelnen, dadurch abzuhelfen. Die Gesell-
schaft vertheilt es nur durch Eure Hände.<< VI, 30.
223 VI, 32.
224 Ebda.
225 VI, 144. Zu >>bewiesen<< muß festgehalten werden, daß ,Beweis' in solchem Sinne nur

Aufweis der Moralität bedeutet. Vgl. auch S. 69, Anm. 3.


22 a VI, 306.

227 VI, 62.

22s »Dieser Vertrag garantiert sich selbst.<< VI, 123.


42 Fichte und die Französische Revolution

Zwang 229 ; der moralische Grundansatz macht dann die utopische Überwindung
des Zwanges notwendig, welche Utopie für den empirischen Einzelnen aber ebenso
abstrakt ist wie die Versicherung: »Jeder hat das vollkommene Recht, aus dem
Staate zu treten, wann er wilL<< 2 30

3. Das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit

Im November 1790 hatte Fichte an Achelis geschrieben: »Ihnen besonders bin ich
das Geständnis schuldig, daß ich jetzt von ganzem Herzen an die Freiheit glaube,
und wohl einsehe, daß nur unter dieser Voraussetzung Pflicht, Tugend und über-
haupt eine Moral möglich ist.« 231 Diese Überzeugung hatte ihn in der ,Zurück-

229 Wenn Fichtes Denken von dem Postulat absoluter Freiheit zu absoluter Unfreiheit ge-
langte, und wenn diese absolute Unfreiheit in systematischem Zusammenhang steht mit
der Eliminierung des Politischen als eines eigenständigen Gegenübers, so erhält von da
aus die sich abzeichnende Entwicklung der Forderung nach Abschaffung des Politischen,
soweit es im Dualismus Staat-Gesellschaft als Herrschaftsverhältnis institutionalisiert
ist, und seiner Ersetzung durch Sachgesetzlichkeiten zumindest einen neuen Aspekt.
Wenn Sachgesetzlichkeit an die Stelle von Herrschaft tritt, so wird, jedenfalls in der
Konsequenz dieses soziologisch-technokratischen Denkens, ein Zustand eintreten, in dem
von Freiheit sinnvollerweise nicht mehr gesprochen werden kann, ebensowenig wie von
Politik in jeder irgendwie gearteten dezisionistischen Bestimmung. In Fichtes politischem
Denken bedeutet der Verlust des Politischen auch den Verlust der Freiheit, und zwar
der Freiheit nicht in einem Sinne, in dem man auf sie verzichten zu können glaubt, son-
dern der Freiheit in jedem irgendwie möglichen praktischen Sinn - abgesehen von der
totalitären Perversion dieses Begriffs.
Zum Problem der >>verwissenschaftlichen Praxis<< und der »Herrschaft« der Sachzwänge
siehe besonders H. Schelsky; Der Mensch in der technischen Zivilisation, Köln u. Opladen
1961, und H. Lübbe; Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Der Staat, Bd. 111,
1962. Schelsky betont besonders die Frage nach der Freiheit unter den Bedingungen der
>>wissenschaftlichen Zivilisation« und ihrer »Sachzwänge<<, »Offensichtlich<<, führt er aus,
»verschwindet ,Freiheit des Menschen', gemessen an alten Vorstellungen, immer mehr.<<
Schelsky hält aber daran fest, »daß es möglich und notwendig ist, auch diesen Entwick-
lungen gegenüber wieder den Punkt der Freiheit zu finden und zu begreifen.« A.a.O.,
s. 65.
Lübbe (a.a.O., S. 28): »Die Technokratie entpolitisiert den Staat, zieht ihn in die Ge-
sellschaft hinein und entliberalisiert dabei diese.<< Das Problem der Eliminierung
des Politischen als dualistischen Herrschaftsverhältnisses und der dabei aufspringen-
den Frage nach dem Verbleib von Freiheit ist offenbar eines der brennendsten der
gegenwärtigen politischen Theorie, auf dessen Hintergrund Fichtes Behandlung
des Politischen und die Konsequenzen für den Freiheitsbegriff hochaktuelle Bedeutung
erhalten.
~ 30 VI, 147. Die Freiheitlichkeit dieser Bemerkung erweist sich als nur scheinbar. Denn mit
dieser abstrakten Zusicherung, ,daß jeder gehen kann, wenn es ihm bei uns nicht paßt',
entfällt jede Auseinandersetzung mit diesen möglichen Anderen, und der Staat kann
dann ohne Rücksicht auf diese ,Ungleichen' nur für die ,Gleichen' eingerichtet werden.
Wenn die Wirklichkeit der Freiheit nur durch das Verlassen des Staatsgebietes bestätigt
werden kann, so wird der Terrorismus solch totalitären Un-Staates nur dadurch über-
troffen, daß auch dieses gewaltsam verhindert wird.
231 Schulz, I, 14 2.
Verhältnis von Freiheit und Gleichheit 43

forderung' zu Sätzen begeistert, die der reine Ausdruck der unbedenklichen revolu-
tionären Subjektivität sind: »Der Mensch ... trägt tief in der Brust einen Götter-
funken, der ihn über die Thierheit erhöht und ihn zum Mitbürger einer Welt macht,
deren erstes Mitglied Gott ist - sein Gewissen. Dieses gebietet ihm schlechthin und
unbedingt, dieses zu wollen und jenes nicht zu wollen; und dies frei und aus eigener
Bewegung ohne, allen Zwang außer ihm.« 232
In der ersten Revolutionsschrift wird die Denkfreiheit als >>unveräußerliches
Recht« zurückgefordert. »Seiner Ideenreihe eine bestimmte Richtung zu gehen, ist
Vorzug des Menschen, und je mehr einer diesen Vorzug behauptet, desto mehr ist er
ein Mensch. Das Vermögen im Menschen, durch welches er dieses Vorzugs fähig ist,
ist eben das, durch welches er frei will; die Äußerung der Freiheit im Denken ist
ebenso wie die Äußerung derselben im Wollen inniger Bestandteil seiner Persönlich-
keit, ist die notwendige Bedingung unter welcher er sagen kann: ich bin, bin selbst-
ständiges Wesen.« 233 Damit hat Fichtes Radikalität des revolutionären Engage-
ments über Kant hinaus das Problem des Transzendentalismus bestimmt. Denn diese
das Sein des Menschen als Vernunftwesen konstituierende Freiheit nennt er in seiner
Anmerkung im ,Beitrag' die transzendentale Freiheit 234 •
Das ,jetzt' in der oben zitierten Briefstelle an Achelis meint die Zeit nach der
geistigen Revolution Fichtes, nach dem Kennenlernen Kants. Diese Revolution,
deren subjektive Wirkung man sich nicht stark genug vorstellen kann 235 , veranlaßte
Fichte zu der Anrufung seines neuen Himmels: »Jesus und Luther, heilige Schutz-
geister der Freiheit, die ihr in den Tagen eurer Erniedrigung mit Riesenkraft in den
Fesseln der Menschheit herumbrachet, und sie zerknicktet, wohin ihr grifft, seht
herab aus höheren Sphären auf eure Nachkommenschaft, und freut euch der schon
aufgegangenen, der im Winde wogenden Saat: bald wird der Dritte, der euer Werk
vollendete, der die letzte, stärkste Fessel der Menschheit zerbrach, ohne daß sie,

232 VI, 11.


233 VI, 14.
234 Außerdem unterscheidet Fichte hier noch folgende Arten von Freiheit: » •.• die kos-
mologische, der Zustand, da man wirklich von nichts außer sich abhängt - kein Geist
besitzt sie als der unendliche, aber sie ist das letzte Ziel der Cultur aller endlichen Gei-
ster; die politische, das Recht kein Gesetz anzuerkennen, als welches man sich selbst gibt.
Sie soll in jedem Staate sein.« VI, 101.
235 V gl. dazu etwa den Brief vom 5. Sept. 1790 an Johanna Rahn (Schulz, I, 125 ff.):
ȟberhaupt habe ich vor meinem projectvollen Geist Ruhe gefunden, und ich danke der
Vorsehung, die mich kurz vorher, ehe ich die Vereitlung aller Hoffnungen erfahren
sollte, in eine Lage versetzte, sie ruhig und mit Freudigkeit zu ertragen. Ich hatte mich
nämlich durch eine Veranlassung, die ein bloßes Ohngefähr schien, ganz dem Studium
der Kautsehen Philosophie hingegeben; einer Philosophie, welche die Einbildungskraft,
welche bei mir immer sehr mächtig war, bezähmt, dem Verstande das Übergewicht und
dem ganzen Geiste eine unbegreifliche Erhebung über alle irdischen Dinge gibt. Ich habe
eine edlere Moral angenommen und anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen,
mich mehr mit mir selbst beschäftigt. Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich noch nie
empfunden; ich habe bei einer schwankenden äußeren Lage meine seligsten Tage ver-
bracht.« Wenn man bedenkt, daß die ,äußere Lage' Fichtes zu dieser Zeit so war, daß er
sich gezwungen sah, regelrechte Bettelbriefe an seine Bekannten zu verschicken, so ist
diese Wirkung in der Tat ungeheuer.
44 Fichte und die Französische Revolution

ohne daß vielleicht er selbst es wußte, zu euch versammelt werden.« 236 Der dritte
Schutzheilige, den sich dieser enthusiastische Jüngling neben Jesus und Luther erkor,
ist der Philosoph aus Königsberg - das Pathos dieses Enthusiasmus des jungen
Fichte kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß in dieser ekstatischen Anrufung der
Keim zu der großen Perspektive der Weltgeschichte der Freiheit liegt.
Die andere Seite des revolutionären Postulats ist aber die Gleichheit. Freiheit und
Gleichheit 237 bilden nach Gesellschaft und Staat die zweite Ausformung des grund-
sätzlichen Dualismus, dessen Vermittlung das Problem aller neuzeitlichen Gesell-
schaft und ihrer Theorie ist. Die Untersuchung wendet sich also der Frage zu, wie
Fichte in seinen Frühschriften das Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit struk-
turiert.
Wenn die Rechtmäßigkeit des Umstoßens einer bestehenden Ordnung dargetan
werden soll, so muß aufklärerisch-rationales Denken, dem ein gruppenspezifisches
Argument nicht bewußt sein darf, auf die letzte Abstraktion der Gleichheit not-
wendig hinauslaufen. Denn da es sich nicht um die Menschen als Bauern, Kaufleute,
Herrscher oder Beherrschte, sondern um den Menschen als Menschen handeln soll;
da der Richterstuhl nur die Vernunft ist, so wird der Mensch als Vernunftwesen
der Punkt, von dem aus das Argument ausgehen muß. Mit diesem Ausgang ist aber
die Gleichheitsforderung gegeben. Bei Fichte sind Impulse des echten sozialen
Mitleids am Werke, eine starke Empörung über die Unterdrückung der unteren
Bevölkerungsschichten, die einen bemerkenswerten Akzent dadurch erhält, daß be-
klagt wird, diesen Schichten sei durch ihr hartes soziales Schicksal die Möglichkeit
zur Bildung abgeschnitten. Aber diesen Impulsen, die von der sozialen Wirklichkeit
ausgehen, gestattet Fichte selbst nicht, wirksam zu werden. >>Ich wenigstens verbitte
für diese Schrift ... das Urteil jedes Empirikers. Er wäre Richter in seiner eigenen
Sache. Ein spekulativer Denker sei mein Richter oder Niemand.<< 23 8 Nicht nur nicht
in eigener Sache spricht der revolutionäre Aufklärer, sondern ausdrücklich in gar
keinem partikularen Interesse; ausschließlich in dem der Allgemeinheit, der Mensch-
heit. Dieses Absehen von allen konkreten Besonderheiten steht an der Wiege der
bürgerlichen Gesellschaft, die sich konstituiert aus Menschen als solchen. Insofern
sie sich als revolutionäre konstituiert, geht die geschichtlich-konkrete Herkunftswelt
in das Vernünftige nicht ein. Gemäß dem revolutionären Ansatz, der im Bestehen-
den nur das im Namen der Vernunft zu Bekämpfende sieht, wird das Vernünftige,
das Allgemeine, nicht als Wirklichkeit, sondern als das Seinsollende aufgefaßt. Die
ganze Struktur dieses Vernunftbegriffes hat ihre Herkunft aus dem Bewußtsein
einer aufstrebenden Gesellschaftsschicht, die um Anerkennung und den politischen
Einfluß kämpft, der ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung entspricht. So wird
die Allgemeinheit zur Abstraktheit, denn in den Begriff des Allgemeinen geht die
Gegenseite und ihre Herkunftswelt nicht ein - der Mensch muß so gefaßt wer-
den, seine Natur muß so bestimmt werden, daß die konkreten Verhältnisse damit
angegriffen werden könnnen. Wenn es darum geht, Privilegien zu beseitigen, so

236 VI, 104 ff.


237 Vgl. auch schon S.
238 VI, 55. V gl. dazu Strecker, a.a.O., S. 47 I 48.
Verhältnis von Freiheit und Gleichheit 45

muß das Argument auf Gleichheit abstellen. Das Postulat der Gleichheit ist aber nur
sinnvoll als Bezugsrahmen sozialen Handelns, es ist nicht tauglich als Prinzip einer
hic et nunc zur konkretisierenden durchgeformten politischen Struktur. Seine Kraft
erweist es als regulatives Prinzip einer politischen Wirklichkeit, und in Zeiten, da
die gesellschaftliche Wirklichkeit durch eine ,ungleichzeitige' politische Wirklichkeit
überformt ist, in seiner Aufstauung als revolutionäres Postulat. »Nämlich, wie der
ursprünglichen Vernunftform nach alle Geister, so sind gewissen anderen sinnlichen
Geistesformen nach alle Menschen sich gleich. Die Unterschiede, welche Zeitalter,
Klima, Beschäftigung in ihnen hervorbringen, sind gegen die Summe der Gleich-
heiten wirklich gering, müssen bei fortrückender Cultur unter den Händen weiser
Staatsverfassungen immer mehr wegfallen.« 239 Die Begründung, die Fichte im
Fortgang dieser Stelle nicht nur für die Gleichheit der Vernünftigen - die mit dem
Vernunftbegriff ohnehin gesetzt ist-, sondern auch für die »Gleichheit nach gewissen
anderen sinnlichen Geistesformen<< 240 anführt, sind mühevoll und unbeholfen;
gegen das Argument aus der Geschichte setzt Fichte das aus einer >>Erfahrungs-
seelenkunde«, d. h. er behauptet die Allgemeinheit der Tatsache des subjektiven
Gewissens. Nach den Regeln, nach denen der Einzelne bei Erforschung des Gewis-
sens sich bemüht >>ein besserer Mensch« zu werden 241 , nach diesen Regeln, »welche
durch fortgesetzte weise Beobachtung sich dem Range der Gesetze nähern werden«,
sind die in einer Staatsverfassung zur Erreichung ihres Endzwecks gewählten Mittel
zu prüfen. (Diese prästabilisierte Harmonie der Gewissen wird Fichte immer wieder
zur Aufgabe des Systemdenkens werden; die ,Synthesis der Geisterwelt' ist dann
die späte Fassung dieser Probleme.)
Fichtes Freiheitslehre ist das Fundament seines Systems; aber der Unbedingtheit
und Prägnanz, mit der die den Menschen als Menschen konstituierende Freiheit
deduziert ist, entspricht keine ebenso eindeutige Deduktion der Gleichheit im syste-
matischen Denken. Das Denken der Freiheit ist der eigentliche Impuls der Subjek-
tivität, die rein gedacht im Sittengesetz des ,Ich soll Ich sein' jeden Bezug auf eine
soziale Bestimmung des Ich auslassen kann. Mit ,Gleichheit' läßt sie sich aber auf
ein Gebiet ein, das ohne die soziale Dimension sinnlos wäre, und dabei zeigt sich
erstens die Schwierigkeit für das systematisch-subjektive Denken, überhaupt sich
selbst zu transzendieren. Zumindest in diesen Anfängen gelangt es nur durch Ver-
allgemeinerung der subjektiven Erfahrung zu der sozialen Kategorie, die somit not-

23 9VI, 63. Die vor allem aus dem scientistisdten Vernunftbegriff sidt ausdehnende Gleidt-
heit der Gesellsdtaften kann nidtt über die grundsätzliche Klassenstruktur innerhalb
dieser hinwegtäusdten, ebensowenig wie darüber, daß mit jener Gleichheit der Zivili-
sation politisdte Freiheit keineswegs verbunden zu sein braucht. Die starke vertikale
Mobilität in entwi<kelten Gesellsdtaften ist allerdings Positivität der Entzweiung und als
solche realiter Freiheit, aber mit Zunahme der Verwissensdtafdidtung der gesellsdtaft-
lidten Praxis wird es immer weniger sinnvoll, von letzterer zu spredten, da Wissensdtaft-
lic..~keit und Freiheit in einem komplizierten gegenseitigen Bedingungs-, aber auch u. U.
Ausschließungsverhältnis stehen. Wenn nicht Freiheit audt dem scientistisdten Denken
und det entspredtenden gesellschafdidten Praxis gegenübergestellt und politisdt geltend
gemacht wird, wird sie verschwinden.
uo VI, 63.
24t VI, 64.
46 Fichte und die hanzösische Revolution

wendig abstrakt bleibt. Zweitens zeigt sich aber das Spannungsverhältnis, in dem
Freiheit und Gleichheit zueinander stehen. Freiheit des Menschen ist in der Sub-
jektivität verortet und so negativ zur politischen Praxis, d. h. sie geht auf Aus-
dehnung des Moralischen, des Privaten, Gleichheit aber ist regulativ für die Öffent-
lichkeit, fordert Öffentlichkeit, im Recht etwa, vor dem alle gleich sein sollen 242 •
Die Frage der Gleichheit der Menschen stellte auch Aristotcles 243 , aber sie war
für ihn nicht wichtiger als die empirisch feststellbaren Ungleichheiten. Mit dem
Christentum kam der für dieses konstitutive Gedanke der Gleichheit aller Menschen
vor Gott zum Tragen - als Säkularisierung 244 dieses Gedankens wurde dem Ratio-

242 »Durch dieses ganze Kapitel herrscht die Voraussetzung, daß alle Mitglieder des Staates,
als solche, gleich seien.« VI, 109.
243 Platons rabiate Lehre von der natürlichen Ungleichheit der Menschen hat Aristoteles

immerhin so stark beeinflußt, daß er Gleichheit nur innerhalb der Polis anerkennen
konnte. Aber diese Ungleichheit ist nicht im Sinne neuzeitlich-individualistischer Natur-
rechtslehren zu verstehen, sondern als Darstellung einer konkreten Ordnung, die von
Platon allerdings systematisch verewigt worden war. Dieser Unterschied der Ansätze
der antiken Denker wird auch in der sonst ausgezeichneten Untersuchung von A. H.
Chroust; A second (and Closer) Look at Plato's Political Philosophy, in: Archiv für
Rechts- und Sozialphilosophie 1962 XL VII I 4, zu wenig beachtet.
244 Lorenz v. Stein schreibt in ,Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich' über die Be-

gründung der neuen Rechtsphilosophie nach dem Sturz der ,alten Kirche und ihres
Rechts' in der Reformation: »Das Absolute in jedem Menschen mußte notwendig das-
jenige sein, was in allen dasselbe, mithin das Gleiche war. Vor dem Begriff der Persön-
lichkeit gab es keine Ungleichheit; die Rechtsphilosophie, mochte sie sonst zu den ver-
schiedensten Resultaten kommen, konnte demnach keinen anderen Ausgangspunkt fin-
den, als den der begrifflichen Gleichheit der Menschen. Durch diesen Grundgedanken ist
die Rechtsphilosophie der neuen Welt von der der Griechen und Römer absolut ver-
schieden, aus ihm sind allerdings die mannigfachen Systeme der neuen Zeit hervorge-
gangen, aber ihr Unterschied bestand nicht in der Verschiedenheit ihrer Grundlage, er
bestand vielmehr in der Verschiedenheit der Art und Weise, wie sie aus jener abstrak-
ten Gleichheit der Menschen die wirkliche Ungleichheit und ihre rechtsphilosophische
Notwendigkeit dartaten.<< Fichte ist über die abstrakte Gleichheit nicht hinausgekommen
und wurde so zum philosophischen Jakobiner. Lorenz v. Stein hat eine Analyse des
Gleichheitsbegriffs aufgestellt (a.a.O., S. 277 ff.), in der er zur Bestimmung einer ,nega-
tiven Gleichheit' kommt, die als regulative Idee sehr wohl mit faktischer Ungleichheit
rechnen kann. Dagegen erscheint dem Begriff der ,positiven Gleichheit' die faktische
Ungleichheit als ,Unnatur'. Bei Fichte herrscht eindeutig der abstrakte Begriff der
positiven Gleichheit. Da die Individuen ihrem Begriff nach als solche gleich sind, ist
diese Gleichheit Postulat an die Wirklichkeit. Das utopische Ziel der Theorie ist deshalb
die tatsächliche unterschiedslose Identität. Allerdings rächt sich die vernachlässigte Wirk-
lichkeit insofern, als auf dem Wege zu jenem Endzustand die Freiheit völlig verloren-
geht, insofern, als die Führer dorthin - die Gelehrten - faktisch die schlimmste
Zwangsherrschaft aufrichten, um so schlimmer, je mehr sie der Theorie nach dazu be-
rechtigt sind. Zu diesem Problem schreibt Carl Schmitt: »Wollte man aber mit einer
Menschheitsdemokratie Ernst machen und wirklich jeden Menschen jedem anderen poli-
tisch gleichstellen, so wäre das eine Gleichheit, an der jeder Mensch kraft Geburt oder
Lebensalters ohne weiteres teilnähme. Dadurch hätte man die Gleichheit ihres Wertes
und ihrer Substanz beraubt, weil man ihr den spezifischen Sinn benommen hätte, den sie
als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit, usw. kurz als Gleichheit eines bestimm-
ten Gebiets hat. Jedes Gebiet hat nämlich seine spezifischen Gleichhciten und Ungleich-
heiten. So sehr es ein Unrecht wäre, die menschliche Würde jedes einzelnen Menschen zu
Verhältnis von Freiheit und Gleichheit 47

nalismus seit Hobbes und Locke 24 6 wesentliche Gleichheit des Menschen selbstver-
ständlich. Diese neuzeitliche Entwicklung des Gleichheitsgedankens trifft aber mit
seiner Entwicklung zu einem Politicum erster Ordnung zusammen. Für die begin-
nende bürgerliche Gesellschaft war Gleichheit als politisches Postulat nur dann die
stärkste Waffe in ihrem Kampf um die politische Durchsetzung, wenn sie als solche
für alle Menschen wesentlich behauptet wurde. Die tatsächlichen Ungleichheiten
konnten so angegriffen werden - Gleichheit wurde selbstverständlich als politi-
scher Begriff, d. h. als Begriff, der zu seiner Zeit genauestens die Freund-Feind-
Bestimmung enthielt 246.
In dieser politischen Tradition des Gleichheitsbegriffs steht auch Fichte; oben sind
seine Gegner, die Privilegierten, die er im Namen von Freiheit und Gleichheit
angreift, aufgezählt worden. Seine sozialreformerischen Bemühungen, sein Mitleid,
seine Anteilnahme am Los der Unterdrückten verliehen seinen Gedanken größte
Konkretheit, indem er - mit dem an sich abstrakten Begriff der Gleichheit - die
konkreten Urheber der übel angriff 247. Notwendig stehen Freiheit und Gleichheit

mißamten, so wäre es dom eine unverantwortlime, zu den smlimmsten Formlosigkeiten


und daher zu noch größerem Unremt führende Torheit, die spezifischen Besonderheiten
der versmiedeneu Gebiete ZU verkennen. Im Bereim des Politismen stehen sich die Men-
smen nicht abstrakt als Menschen, sondern als politisch interessierte und politism deter-
minierte gegenüber, als Staatsbürger, Regierende oder Regierte, politisme Verbündete
oder Gegner, also jedenfalls in politischen Kategorien. In der Sphäre des Politismen kann
man nimt vom Politischen abstrahieren und nur die allgemeine Mensmheitsgleimheit
übriglassen.« (C. Schmitt; Die geistesgesmimtlime Lage des heutigen Parlamentarismus,
Berlin 1961, 3. Auf!., S. 16 f.)
245 Bei Locke findet sich auch die Formulierung des abstrakten Gleichheitspostulats, und
zwar im Second Treatise of Government, Absmnitt 4: »... that creatures of the same
species and rank ... should (!) be also equal one among another ... «.
Auf die Obereinstimmung Fimtes mit Locke - vor allem in der Eigentumslehre -
wird nom zurülkzukommen sein.
241 Das latente Problem der in den Menschenremten mit so viel Selbstverständlimkeit an-
genommenen Gleimheit der Mensmen wird sehr gut von Hannah Arendt dargestellt
(Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955}, wenn sie etwa Burkes,
Stephens und Disradis Auffassung von den »Remten eines Engländers«, die »Besseres
beinhalten« als Mensmenremte, aufzeigt (S. 288) und dann schreibt: »Die Begeisterung
des 18. Jahrhunderts für die unendliche Verschiedenheit, in die sid!. die überall gleiche
mensmlime Natur und Vernunft kleideten, war jedenfalls nicht stark genug um die
Frage zu beantworten, ob die mristlid!.e-jüdische Annahme der Einheit und Gleid!.heit
aller Menschen ... aum dann nom Mensmen plausibel erscheinen würde, wenn sie allen
diesen Stämmen wirklim begegnen und sim mit ihnen wirklim in die eine Welt teilen
würden .... Die Bekanntsmaft mit afrikanischen Negern hatte bereits in Amerika einen
Rückfall in die Sklaverei verursad!.t, von der man mit Remt hätte annehmen können, daß
sie in dieser Form in der Neuzeit nimt mehr vorkommen würde.«
Die Anfälligkeit einer abstrakten Gleid!.heitsüberzeugung zeigt sich ja aud!. an Fichtes
Einstellung zu den Juden.
247 Konkrete Ordnung kann in der Formlosigkeit einer politischen Herrsmaft des Gleim-
heitsgedankens nur als Terror realisiert sein. In diesem Sinne führt Lorenz v. Stein den
faktischen Terror während der französismen Revolution auf die Herrsmaft des Gleich-
heitsgedankens zurück. So aum in Fimtes ,Handelsstaat', in der ,Volksgemeinsmaft' des
Faschismus und im Kommunismus in der Parteidiktatur, die auf dem Wege zur klassen-
losen Gesellsmaft gerade eine ,neue Klasse' zur Herrschaft bringt.
48 Fichte und die Französische Revolution

aber in einem Spannungsverhältnis. In der Richtung auf die Gleichheit erhielt


Fichtes revolutionäre Theorie wirkliche Konkretheit, aber im Ausgang von der Sub-
jektivität sollte Freiheit das einzige Prinzip werden. Mit dieser Spannung ist die
Aufgabe für das fernere politische Denken Fichtes angegeben. In den Revolutions-
schriften findet Fichte für das Problem Freiheit-Gleichheit wie für das Problem
Gesellschaft-Staat die Lösung der Utopie.

4. Die Utopie und ihre systematische Bedeutung

Am Ende des ersten Kapitels des ,Beitrags' findet sich jene bereits zitierte Stelle,
die die theoretische Frage aufwirft, ob das grundsätzliche Recht auf Xnderung jeder
Staatsverfassung im Sinne der zu verwirklichenden Freiheit in Selbstbestimmung
Vieler bzw. Aller suspendiert ist in einer Staatsverfassung, die »diesen Endzweck
erweislich durch die sichersten Mittel beabsichtigt« 248, Das Recht auf Xnderung der
Staatsverfassung durch die Bürger ist in einer solchen tatsächlich aufgehoben, da
sich die so bestimmte Verfassung auf Grund· ihres So-bestimmt-Seins von selber
ständig in Richtung auf den Endzweck ändert. Solche Staatsverfassung wird hier
zum ersten Male von Fichte mit einer Kerze verglichen, »die sich durch sich selbst
verzehrt, so wie ·sie leuchtet, und welche verlöschen würde, wenn der Tag an-
bräche<< 249 •
Die Xnderung, auf die die Bürger ein Recht haben, kann also nur im Hinblick
auf das Endziel des überflüssigmachens der St~atsverfassung überhaupt aufgefaßt
werden, ein Endziel, das, bzw. die Annäherung an welches von Fichte in folgender
höchst bedeutsa~er Stelle beschrieben ist: »Wären wirklich taugliche Mittel gewählt,
so würde die Menschheit sich ihrem großen Ziele allmählig annähern; jedes Mitglied
derselben würde immer freier werden, und der Gebrauch derjenigen Mittel, deren
Zwecke erreicht wären, würde wegfallen. Ein Rad nach dem anderen in der
Maschine einer solchen Staatsverfassung würde stille stehen und abgenommen wer-
den, weil dasjenige, in welches es zunächst eingreifen sollte, anfinge, sich durch seine
eigene Schwungkraft in Bewegung zu setzen. Sie würde immer einfacher werden.
Könnte der Endzweck je völlig erreicht werden, so würde gar keine Staatsverfas-
sung mehr nötig sein; die Maschine würde stille stehn, weil kein Gegendruck mehr
auf sie wirkte. Das allgemeingeltende Gesetz der Vernunft würde alle zur höchsten
Einmütigkeit der Gesinnungen vereinen, und kein anderes Gesetz würde mehr über
ihre Handlu1'gen zu wachen haben. Keine Norm würde mehr zu bestimmen haben,
wieviel von seinem Rechte jeder der Gesellschaft aufopfern sollte, weil keiner mehr
fordern würde, als nötig wäre und keiner weniger geben würde: kein Richter würde
mehr ihre Streitigkeiten zu entscheiden haben, weil sie stets einig sein würden.« 250
248 VI, 101.
249 VI, 103.
250 VI, 102. In dieser Utopie einer gesellschaftlich prästabilisierten Harmonie stimmt Fichte
völlig mit der positivistischeil Gesellschaftslehre Comtes überein. Zu dessen Auffassung
von der Überflüssigkeit des Rechts und der Richter in der Gesellschaft der Zukunft vgl.
etwa die Darstellung Comtes von Gurvitch in dessen Soziologie des Rechts, Neuwied
1960.
Utopie und systematische Bedeutung 49

Diese Stelle verdient unsere sorgfältigste Beachtung, weil in ihr ein utopisches Um-
willen des ganzen Denkens Fichtes deutlich wird, das keineswegs nur dem jungen
Fichte der Revolutionsschriften eigen ist, sondern das als solches dem System der
Freiheit auch des späten Fichte zugrunde liegen wird. Dies Umwillen, dies Ziel »ist
nicht nur ein süßer Traum, nicht bloß eine täuschende Hoffnung, der sichere Grund
beruht auf dem notwendigen Fortgang der Menschheit; sie soll, sie wird, sie muß
diesem Ziel immer näher kommen.« »Die Menschheit muß und soll und wird nur
einen Endzwe<k haben, und die verschiedenen Zwe<ke, die Verschiedene sich vor-
setzen, um ihn zu erreichen, werden sich nicht nur vertragen, sondern auch einander
gegenseitig erleichtern und unterstützen.« 251 In dieser Stelle vom utopischen Um-
willen, vom Endzwe<k des Menschen und jeder Staatsverfassung ist zunächst eine
abstrakte Geschichtstheorie in die Zukunft hinein aufgerissen, die in ihrer vernunft-
gläubigen Radikalität - »es muß und soll und wird ... sie soll, sie wird, sie
muß ... « - an die des Marxismus 252 erinnert und deren Notwendigkeit in ihrer
Bewegung auf das Ziel zu mit der Freiheit in seltsamem Widerspruch steht. Fichte
führt im Anschluß an die sich durch Ausscheidung von immer mehr Rädern verein-
fachende Staatsverfassung und die sich schließlich ergebende Identität aller Stre-
bungen der vernünftigen Wesen aus, daß »der Verehrer der Menschheit auch nicht
einen flüchtigen Bli<k hinwerfen« könne, »Ohne sein Herz von einem sanften Feuer
durchdrungen zu fühlen« 253 • In der Verbindung mit Vernünftigkeit und Freiheit
wird die in derselben Allgemeinheit aufgefaßte Gleichheit zur Nicht-Unterschieden-
heit und wird in der utopischen Bestimmung der Annäherung an den letzten Zweck
zu einer abstrakten Identität der Subjekte, die Fichte den Anbruch des Tages nennt,
die aber vielmehr jene Nacht zu sein scheint, in der alle Kühe schwarz sind 254 • Das
Unbehagen am Zukunftsbild Fichtes läßt sich vom Text her deutlich machen, wobei
gleichzeitig eine Konsequenz politischen Denkens vom Typ des Fichteschen deutlich
wird. Denn dieses Unbehagen rührt doch offenbar daher, daß in der unterschieds-
losen Identität der zu erreichenden Vernunftgesellschaft die Subjektivität, um deren
Freiheit und Selbständigkeit es ja ursprünglich geht, völlig verschwunden ist, da es
keine entgegengesetzten Strebungen, keine Widersprüche, also keine in der bestimm-
ten Entgegensetzung zu allen anderen sich konstituierende Individualität mehr gibt.

251 Wallner schreibt hierzu: »Der Rationalist Fichte hat hier noch die ungetrübte Zuversicht,
daß mit der Realisierung der Freiheit jeder Art die Vernunft in dieser Welt der Er-
scheinungen zum Durchbruch kommen werde.« (A.a.O., S. 77.) Im Anschluß daran unter-
sucht Wallner Fichtes Zusammenhang mit der liberalen Wirtschaftstheorie, indem er auf
den Einfluß der Physiokraten einerseits und der klassischen Nationalökonomie anderer-
seits hinweist. Für diese wichtigen Zusammenhänge, aus denen deutlich wird, daß Fichte
als Theoretiker der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft diese sich auch als Wirtschafts-
gesellschaft konstituieren sieht, sei hier auf Wallner, a.a.O. ff. hingewiesen, ebenso wie
auf die einschlägigen Abschnitte bei Scholz. Vgl. auch die Behandlung der Eigentums-
lehre in Kap. 111 dieser Arbeit.
252 Das eigentliche Problem ist die Identifizierung von Freiheit und Vernunft, und die sich
daraus ergebende positive Bestimmtheit der Freiheit. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit.
253 VI, 102.
254 In bezug auf die Ununterschiedenheit im Absoluten sagt Hegel, solches Absolute
würde ausgegeben »für die Nacht, in der, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz
sind.« (Vorrede zur Phänomenologie d. G.)
50 Fichte und die Französische Revolution

Von Freiheit kann also gerade dann, wenn dieses Denken sie absolut verwirklicht
sieht, in keinem möglichen Sinne mehr gesprochen werden.
Die Utopie ist in Fichtes Denken nicht accidentiell. Sie ist jener Teil des Systems,
den Fichte einsetzen muß, um die fundamentalen Entzweiungen, die er in seinem
eigenen Ansatz aufgerissen hatte und deren Vermittlung ihm nicht gelang, wenig-
stens in der Gestalt eben der Utopie wieder zur Identität zu bringen. Aber in der
bürgerlichen Gesellschaft ist das Dasein der Freiheit an jene Entzweiung gebun-
den 255 • Indem Fichte mit seinem Freiheitsansatz die Entzweiung setzt, weist er sich
so positiv als Theoretiker der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft in ihrem revo-
lutionären Aufgang aus. Indem er im Versuch der undialektischen Aufhebung die
Entzweiungen in einer Identität vereinigen will, zeigt er sich negativ als Theoreti··
ker der bürgerlichen Gesellschaft, insofern dieser Versuch, die bürgerliche Gesell-
schaft zu transzendieren, zur Utopie wird und in dieser zum Verlust jener Freiheit,
die ihr Inhalt und ihr Anspruch ist.

5. Der revolutionäre Vernunftbegriff

Entscheidung für die Philosophie bedeutet Entscheidung gegen die Gewalt. Aber
die Subjektivität, die sich zum revolutionären Handeln aufgerufen fühlt und andere
zu solchem Handeln aufrufen will, ohne daß sie in der philosophischen Entschei-
dung die ultima ratio eines gewaltsamen Aufstandes zulassen dürfte, gerät in ein
eigentümliches Dilemma 256.
Die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis einer völlig korrumpierten Gegenwart,
deren einzige Rettung die Anderung von Grund auf ist, und dem Verzicht auf tat-
sächliches Handeln hat Fichte in den verschiedenen Phasen seines Denkens in ver-
schiedenen Ansätzen zu überwinden versucht. Sein Ausgang von der Subjektivität
ließ ihn die Anderung »von Grund auf« zu einem bloß moralischen Problem
machen; in der Subjektivität als Grund von allem konnte er so auch das Feld des
Handeins sehen, von dem aus das Ganze umgeschaffen werden konnte. »Seid ge-
recht, Ihr Völker, Eure Fürsten werden es dann nicht aushalten können, allein unge-
recht zu sein.« 257 Noch ganz in diesem Vernunftoptimismus der Aufklärung be-
fangen, der nur gelegentlich Zweifel sich gestattet, die systematisch nicht zum Tra-
gen kommen 258, glaubt Fichte in den Revolutionsschriften, gerechte Zustände seien
evolutionär zu verwirklichen, wenn nur die Denkfreiheit gegeben sei, die er in
seiner Lieblingsschrift von 1793 so enthusiastisch gefordert bzw. zurückgefordert
hatte. Der von der Subjektivität ausgehende Vernunftoptimismus angesichts einer

255 Vgl. Ritter; Hegel ... a.a.O., S. 32.


258 Das Dilemma ist die Kehrseite des Dilemmas jener Theorien, die die zukünftige Herr-
lichkeit mit Notwendigkeit kommen sehen und dennoch zur revolutionären Aktion auf-
rufen. ·
257 VI, 50.
258 VI, 63 schreibt Fichte, daß selbst »Kantische Gründlichkeit« verbunden mit »sokratischer
Popularität« den Privilegierten nicht zur Einsicht in die Unrechtmäßigkeit seiner Pri-
vilegien bringen könnte.
Der revolutionäre Vernunftbegriff 51

durchaus korrumpierten Gegenwart ist nur aufrechtzuerhalten, wenn das Gegen-


über von Subjektivität und gegenwärtiger Wirklichkeit völlig abstrakt, d. h. ohne
Vermittlung aufrechterhalten wird. Für Fichte ist es deshalb überaus wichtig, dar-
auf zu bestehen, daß die Subjektivität ihre »Kultur« niemandem zu verdanken
habe 259 • Bei diesem Festhalten des abstrakten Gegenüber und gleichzeitigem Ge-
richtetsein des subjektiven Willens auf Knderung der Wirklichkeit tritt aber die
Frage der Vermittlung mit weit größerer Dringlichkeit auf, als die retrospektive
Überlegung, wem die Subjektivität ihre ,Kultur' zu verdanken habe. Da der Glaube
an das Wirkenkönnen für Fichte so wesentlich ist, ergibt sich eine Reihe von Konse-
quenzen, die in der Entwicklung seines so strukturierten Denkens auch der Reihe
nach zum Tragen kommen. Die Lösung des Problems von schlechter Wirklichkeit
und unvermittelter Subjektivität einerseits und Subjektivität und von ihr aus zu
verändernder Wirklichkeit andererseits ist die totale abstrakte Diremption von
Vergangenheit und Zukunft, das große Ausholen der Subjektivität in einem ,Jetzt
aber', der Gedanke, der sich ausdrückt in: »Heliopolis im letzten Jahre der alten
Finsternis« 28 0, welche Finsternis im Zeitpunkt des Auftretens der revolutionären
Subjektivität Fichte endgültig vergangen ist, der messianische Gedanke, der im
Selbstbewußtsein des älteren Fichte später auch tatsächlich Ausdruck finden wird 261,
das Selbstverständnis der Philosophie als Revolution, als Theorie der Revolution
also nicht als eines vernünftigen Begreifens einer Gestalt der Wirklichkeit, die sich
,fertig' gemacht hat 262 , sondern als revolutionäres Bestimmen aller zukünftigen
Wirklichkeit, Theorie nicht der Abenddämmerung, sondern der Morgenröte 263,
Aber dies Selbstverständnis des Denkens als revolutionären Postulierens bringt
Verschiebungen des Vernunftbegriffs mit sich; das Abschneiden aller Vermittlungen
zur historischen Vergangenheit, die Negation der Herkunftswelt, läßt für Vernünf-
tigkeit keinen Ort als die Subjektivität zu, zunächst sogar keinen Ort als die eigene
Subjektivität; für das Denken aus solchem Ansatz ergibt sich eine Reihe von Konse-
quenzen, die in der Folge untersucht werden sollen.
Von dem ,Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Franzö-
sische Revolution' ist nur der erste Teil erschienen, der die ,Beurteilung der Recht-
mäßigkeit' enthält. Ein zweiter Teil sollte die Beurteilung der ,Weisheit' der Revo-

259 Vgl. S. 74. Da die ,Kultur' Freiheit ist, darf sie nicht zurückführbar sein etwa auf den
Einfluß der Gesellschaft, der also unwesentlich werden muß. Das Problem des tatsäch-
lichen Einflusses löst Fichte zunächst mit dem Begriff der ,Aufforderung' (s. Kap. II
d. A.), aus dem dann schließlich seine spätere Erziehungslehre wird (Kap. IV).
26° Fiktive Ortsangabe auf dem Titelblatt der ,Zurückforderung'. Vgl. dazu die interessan-
ten Hinweise bei Träger, a.a.O., S. 182 ff.
261 Vgl. S. 160 ff.
28 2 So Hegel in der Vorrede zur Rechtsphilosophie.
263 Auch Hegel hat zeitlebens die Revolution als ,Morgenröte' angesprochen. Aber wäh-

rend er sich der konkreten Bestimmung des auf diese Morgenröte folgenden Tages in
denkender Bewältigung zuwandte, verharrte Fichte auf einer Morgenröte schlechthin
und verlegte den Anbruch des Tages in eine utopische Zukunft. Von diesem Tag erwar-
tete er sich gleichsam eine Superlativierung der Morgenröte, obwohl - um im Bild zu
bleiben - jedem Beobachter klar ist, daß auf das Drama der Morgenröte die Nüchtern-
heit des Tages folgt.
52 Fichte und die Französische Revolution

lution bringen; dieser zweite Teil ist aber nie geschrieben worden, was sicher nicht
allein durch äußere Umstände bedingt ist. Denn der Beurteilung der Frage, ob »die
zur Erreichung des beabsichtigten Zweckes angewendeten Mittel die angemessen-
sten<< seien bzw. ob »es unter den gegebenen Umständen die besten<< 264 gewesen
seien, stellte sich erstens die Unabgeschlossenheit, die Unüberschaubarkeit der Ereig-
nisse der Revolution in einer Zeit, innerhalb derer das Erscheinen des zweiten Teiles
noch sinnvoll gewesen wäre, entgegen. Zweitens wäre aber auch zur Beantwortung
der Frage eine detaillierte Kenntnis der ,gegebenen Umstände', d. h. der konkreten
historisch-gesellschaftlichen Situation erforderlich gewesen, die Fichte nicht be-
saß 265.
Die Frage nach der Rechtmäßigkeit mußte also für Fichte unbedingt die eigent-
liche Frage der Revolution werden, weil sie eine spekulative in seinem Sinne war.
>>Hat ein Volk überhaupt ein Recht, seine Staatsverfassung willkürlich abzuändern?
- oder insbesondere, hat es ein Recht, es auf eine gewisse bestimmte Art, durch
gewisse Mittel, nach gewissen Grundsätzen zu tun?<< 266
Die Frage der Rechtmäßigkeit wird im Hinblick auf ein bestimmtes historisches
Ereignis und auch im Hinblick auf bestimmte Verhältnisse und deren .Anderung
gestellt - beantwortet wird das Problem aber im Zurückgehen auf die >>ersten
Grundsätze alles Wahren<< 267 • Die Durchsetzung der Rechte der abstrakt bestimm-
ten Subjektivität, die politisch der Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft ist,
wird in der gegen das Bestehende sich richtenden Begründung dieser Gesellschaft
notwendig allgemein und abstrakt sein müssen, nämlich unabhängig von der Her-
kunftsweit des historisch-politisch Bestehenden, das ja nur als Verfall bestimmt
ist 268. Fichtes revolutionärer Ansatz läßt ihn das Bestehende angreifen. Die Berech-
tigung dieses Angriffs wird auf ewige Wahrheiten zurückgeführt, die in der Natur
des Menschen liegen 269 • Sein Naturrecht wird also ein revolutionäres bleiben müs-
sen, da eine Modifizierung der ewigen Wahrheit durch veränderte Verhältnisse
nicht möglich ist, im Gegenteil diese Wahrheit immer die Verhältnisse modifizieren
soll. Auf diese Weise wird der Rationalismus Fichte zwingen, den revolutionären
Charakter der Natur des Menschen durchgehend festzuhalten. Da dieser revolutio-
näre Ansatz dann philosophisch systematisiert wird, wird das Postulieren für die
ganze Philosophie konstitutiv werden. Die beiden Ansätze Fichtes - von der Sub-

264 VI, 48.


265 Und zwar in diesen Anfängen seines Denkens so wenig, daß man wohl kaum zuviel be-
hauptet, wenn man annimmt, daß, selbst wenn der zweite Teil erschienen wäre, er diese
notwendige historische Untersuchung nicht gebracht hätte. Vgl. auch Schottky, a.a.O.,
s. 336.
266 VI, 48.
267 VI, 50.
268 Diese Abstraktheit bleibt das Gesetz, nach dem die bürgerliche Gesellschaft angetreten.

Ihr Streben nach Konkretion wird sich polirisch auf den Kampf um den Staat richten und
die Eroberung des Staates anstreben, die Fichte bereits theoretisch durchgeführt hat. Zu
der ,Eroberung des Staates durch die Gesellschaft', deren begriffliche Bewältigung heute
das eigentliche Problem der politischen Theorie sein muß, vgl. C. Schmitt; Der Leviathan
in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Harnburg 1938, S. 99 ff.
269 Vgl. S. 49/50.
Der revolutionäre Vernunftbegriff 53

jektivität, ,dem Menschen' her, und davon ausgehend von der ,Gesellschaft' her -
werden so unter dem Aspekt des permanenten Postulats stehen. Das bedeutet für
den einzelnen die Forderung nach immer mehr Freiheit und Gleichheit, die nie an
ein Ende gelangen kann, da dieser Anspruch aus seiner ewigen Natur abgeleitet ist
und sein Aufgeben Aufgeben seiner Menschlichkeit wäre. Der Mensch qua Subjek-
tivität wird also im System nur auf dem Wege einer unendlichen Vervollkommnung
seiner Freiheit seinen Platz finden. Was nun die Gesellschaft 270 angeht, so wird für
sie ebenfalls das Postulat konstitutiv sein; ihre Bestimmung wird sie also erstens
subsidiär dem Streben der Einzelnen nach unendlicher Vervollkommnung haben,
als Gesellschaft aber wird sie zweitens konstituiert sein in der Perennierung ihres
revolutionären, antistaatlichen Charakters, d. h. durch die Forderung nach Ab-
schaffung von Staat schlechthin zugunsten von immer mehr Gleichheit. Dieser revo-
lutionär-rationalistische Ansatz gibt die Grundlinien für Fichtes ganzes Denken an
und weist ihn so als den Denker der Revolution und der bürgerlichen Gesellschaft
aus, dessen Theorien in ihrer abstrakten Geschichtslosigkeit 2 71 erst in den ganz spä-
ten Schriften - aus konkreten politischen Erfahrungen heraus - ein größerer Wirk-
lichkeitsgehalt zuwächst.
Fichtes Ausgangspunkt ist das Aufbegehren gegen bestehende Verhältnisse, also
die Identifizierung mit einem bestimmten gesellschaftlichen Interesse; hierin liegt
historische Berechtigung - dieses revolutionäre Aufbegehren Fichtes ist gerade in
der Identifizierung mit der entwickelten Gesellschaft und ihrem Bewußtsein als
konkret historisch verortet dargestellt worden. Da er die Änderung bestimmter Ver-
hältnisse anstrebt, kann er nicht von irgend positivem Recht ausgehen - er kann das
Recht der Gesellschaft vorerst nur abstrakt geltend machen. Gemäß dem aufkläre-
rischen Vernunftbegriff geschieht das Geltendmachen vor dem Richterstuhl der Ver-
nunft, die aber so konzipiert ist, daß jenes gesellschaftliche Interesse mit ihr identi-
fiziert werden kann. Hier entsteht die Gefahr der Ideologisierung des Vernunft-
begriffs, denn das Argument gegen das Bestehende ist auf diese Weise als Vernünf-
tiges verewigt. Die als Negation des Bestehenden bestimmte Vernünftigkeit diffa-
miert jede der vernünftigen, also nicht aufhebbaren Freiheitsforderung entgegen-
stehende, d. h. notwendig jede bestehende Staatsverfassung als unvernünftig. Sie
geht also auf die Abschaffung jeder solchen notwendig hin. Da ihre abstrakte For-
derung aber keine konkrete Ordnungsvorstellung sein kann, verlegt sie das Ziel in
die Unendlichkeit 272.

270 Vgl. Abschnitt 2 dieses Kapitels.


27t Vgl. 138.
272 Daß eine Reihe von Denkmotiven Fichtes später bei Marx wieder auftreten, dürfte an

mehr als einer Stelle klargeworden sein; es sei an das Absterben des Staates erinnert,
an die These von der Vereinfachung der Staatsverfassung und an die ganze utopische
Bestimmung des Systems. Marx' Verhältnis zu Fichte ist zugunsten der eindeutigen
Linie Hegel-Marx längst nicht in seiner Bedeutung entsprechendem Maße in das Be-
wußtsein gehoben. Bloch machte auf das Zwischenglied Moses Heß aufmerksam (Prin-
zip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, Bd. I, S. 700). Dem Problem hat Stuke eine Mono-
graphie gewidmet, in der er aufzeigt, inwiefern Heß, aber auch andere Linkshegelianer,
>>direkt oder indirekt an Fichte angeknüpft<< haben. (Stuke; Philosophie der Tat, Stutt·
gart 1963, S. 81/82 und passim.)
54 Fichte und die Französische Revolution

Wenn die Subjektivität vor allen gesellschaftlichen Konkretionen das Eigentliche


ist, so ergibt sich für die konkret-gesellschaftliche Wirklichkeit eine erhebliche Be-
deutungsminderung- sie ist weder der Ort der Vernunft noch der Freiheit. Dieser
revolutionäre Ansatz wird aber nun vernünftig verewigt; jede gesellschaftlich-
politische Wirklichkeit ist in ihrer Bedeutung gegenüber der Subjektivität sekundär.
Das wird klar in der Bestimmung der Gesellschaft als Mittel zur unendlichen Ver-
vollkommnung des einzelnen. Wenn so Vernunft und Freiheit aus der Wirklichkeit
entfernt sind und diese nur Mittel einer unendlichen Annäherung ist, an deren
Ende dann erst wieder Vernunft und Freiheit aufleuchten, so besteht für die poli-
tische Theorie, die hierauf aufbaut, zumindest die Gefahr, konkrete historisch-
soziale Wirklichkeit zu verunwesentlichen. Wenn Freiheit das von der Wirklichkeit
gar nicht taugierbare Eigentliche ist, so kann der Stoizismus dieses Denkens nur
überwunden werden durch gleichzeitige Utopisierung dieses Eigentlichen. So wird
das Eigentliche zum alles Wirkliche legitimierenden Postulat, d. h. alles Wirklich~
ist nur vernünftig im Hinblids. auf Tauglichkeit zum Endzweds., und Tauglichkeit
zum Endzweds. wird jede Wirklichkeit vernünftig machen - eine Konzeption, die
für das Politische gefährliche Konsequenzen haben wird.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Indem der gegebenen historisch-sozialen
Wirklichkeit das revolutionäre Postulat gegenübergestellt wird, sind folgende Kon-
sequenzen für das Denken unvermeidlich. Das Postulat entzweit die Welt in Wirk-
lichkeit einerseits und revolutionäre Subjektivität andererseits. Das revolutionäre
Subjekt steht einer zu verändernden Wirklichkeit gegenüber. Im Falle Fichtes be-
günstigten die Herkunftsverhältnisse und seine Bemühungen, diese in seiner Ent-
wids.lung zu überwinden, noch die Vernachlässigung der Herkunftswelt überhaupt
im Denken. Die Vernachlässigung der die eigene Herkunftswelt ausmachenden
Kleinstruktur und die Beziehung der Subjektivität auf abstrakte Großstrukturen
- ,Menschheit' (später ,Nation') - hat eine Intention des Denkens zur Folge, die
Bildung als Eigenentwids.lung der Subjektivität im weitesten und abstraktesten
Sinne zum Prinzip der Oberwindung des Wirklich-Gegebenen macht 273 • Die im
Lebensablauf des Subjekts Fichte sich vollziehende Oberwindung der Herkunfts-
verhältnisse wurde möglich durch den Willen zur Aus-Bildung. Und wie für die
geistige Gesamtpersönlichkeit das konstitutiv bleibt, mit dem sie sich als solche eben
konstituiert, so werden bei Fichte das subjektive Wollen als Aktionsmoment und die
Vervollkommnung der geistigen Bildung- mit dem Ziel der Selbständigkeit- die
für sein gesamtes Denken konstitutiven Elemente bleiben, und zwar beide gesehen
im Gegensatz zum Vorgefunden-Wirklichen. So wird Vernunft an Subjektivität im
Gegensatz zur Wirklichkeit gebunden gesehen. Im Laufe des Bildungsprozesses wird
die Herkunftswelt als den Intentionen hinderlich erlebt. Damit verschwindet die
Geschichte aus dem Argument;- Vernünftigkeit wird geschichtslos- abstrakt. Das
revolutionäre Argument insistiert auf Vernunft qua Subjektivität. Da beides im
Gegensatz zu der Wirklichkeit gesehen ist, muß sich diese Vernunft notwendig als
Anspruch an die Wirklichkeit, als Sollen begreifen. Und da sie konstitutiv subjektiv
ist, wird ihr höchstes Gesetz die sein sollende subjektive Vernunft sein (Ich soll Ich

m Vgl. die Bemerkung zum Bildungsproblem in Kapitel III d. A.


Der revolutionäre Vernunftbegriff 55

sein). Hier liegen die Gründe für den Primat des Praktischen und alle ähnlichen
Konsequenzen in Fichtes Denken. Der Habitus - modus constans et perpetuus -
solchen Denkens wird gekennzeichnet sein erstens durch das Postulieren und zwei-
tens durch das tiefe Mißtrauen gegen alles Vorgefunden-Wirkliche 274 • Das Sub-
jektive dieser Vernunft wird alles dem Ich unterwerfen, die Partialität dieser Ver-
nunft wird sie zur Ideologie machen, die Geschichtslosigkeit zur Utopie. Durch das
Abschneiden der historischen Dimension verliert die Theorie die Möglichkeit, der
Wirklichkeit in ihrer relativen Vernünftigkeit gerecht zu werden. Aus dem revolu-
tionären Ansatz ergibt sich, wie gezeigt, die Notwendigkeit, Kritik an der Wirklich-
keit nicht in historischer Relationalität, sondern in absoluter Entgegensetzung von
Recht und Unrecht, Gut und Böse zu üben.
Da die revolutionäre Kritik von der Subjektivität ausgeht, die, aus ihrer histo-
risch-sozialen Konkretion herausgenommen, die Wirklichkeit vom Allgemeinen, det
Vernunft her diffamiert und verändern will, so bedeutet das erstens den Anspruch,
daß das Vernünftige das Subjektive sei. Diese Diremption im revolutionären Ansatz
hat aber zweitens die Folge, daß nur das Subjektive das Vernünftige ist. Denn da
Wirklichkeit - nach Auslassen der geschichtlichen Dimension - als widernatürlich
diffamiert ist, so ist sie widervernünftig und widernatürlich schlechthin; der Gegen-
satz wird zu einem absoluten, aber subjektiven, d. h. die Heilung der Welt, die
Vervollkommnung, kommt von der Subjektivität her, die deshalb >>gut« sein muß,
wogegen die Wirklichkeit, wenn sie, was für das revolutionäre Denken konstitutiv

274 Unter diesem Aspekt verdient der berühmte ,Atheismusstreit' Fichtes Erwähnung. Alle
in dieser Angelegenheit wichtig gewordenen Schriften, Dokumente und Außerungen
sind zusammengestellt in dem Band »Die Schriften zu J. G. Fichtes Atheismusstreit«;
hrsg. Hans Lindau, München 1912. Die Crux Lindaus - wie auch anderer - sind die
Außerungen Goethes über Fichte (Lindau, a.a.O., S. 355 ff.) bzw. deren Interpretation
in dem Sinne, daß Goethe zwar mit seinen negativen Außerungen über Fichte nicht
recht behalten darf, ihm ein Unrecht aber nicht zugemutet werden kann. So Lindau:
»Schließlich ist es ja doch tief bedauerlich, daß der Liebling der Götter jenes ,Fratzen-
hafte', das wir lieber das Knabenhafte und Einfältige in Fichtes Wesen nennen möchten,
sich so stark hat verdrießen lassen.« (Lindau, a.a.O., S. 371.) Lindau bezieht sich hier
auf die Stelle aus dem Brief Goethes an Schlosser vom 30. August 1799, in dem dieser
eine zusammenfassende Beurteilung der Ereignisse und des Mannes gibt. »Was Fichte
betrifft, so tut mir's immer leid, daß wir ihn verlieren mußten, und daß seine törige
Anmaßung ihn aus einer Existenz hinauswarf, die er auf dem weiten Erdenrund, so
sonderbar auch diese Hyperbel klingen mag, nicht wieder finden mag. (Er fand sie nicht,
B. W.) ... Er ist gewiß einer der vorzüglichsten Köpfe, aber wie ich selbst fürchte, für
sich und die Welt verloren. Seine jetzige Lage muß ihm zu seinen übrigen Fratzen noch
Bitterheit hinzufügen. übrigens ist es, so klein die Sache scheint, ein Glück, daß die Höfe
in einer Angelegenheit, wo eine unverschämte Präokkupation, wie Du weißt, so weit
ging, einen Schritt tun konnten, der, wenn er von der einen Seite gebilligt, von der
anderen nicht getadelt werden kann.« (Bei Lindau, a. a. 0., S. 360/61)
Kaum kann man auch bei noch so viel Wohlwollen das ,Fratzenhafte' zum ,Knabenhaft-
Einfältigen' verharmlosen. Immerhin können bei einem Mann von fünfunddreißig Jahren
,knabenhafte' Züge weniger auf kindlich-liebenswürdige Art, als vielmehr auf ein
grundsätzlich gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit deuten. Goethe, der auch Savonarola
einmal ,fratzenhaft' nannte, stellte sicher auf jenes verstellte Wirklichkeitsverhältnis
Fichtes ab, das in seinem habituellen Postulieren und seinen unausgeglichenen Ansprü-
chen ihm (wie auch Jean Paul) unerträglich scheinen mußte.
56 Fichte und die Französische Revolution

ist, der Subjektivität entgegen ist, »böse« sein muß. Gut und Böse sind die morali-
schen Kategorien; sinnvoll als Bezugsrahmen für das Handeln der Subjektivität als
solcher. Wenn aber Vernunft an Subjektivität so gebunden ist wie bei Fichte, so
bedeutet das eine durchgehende Moralisierung des Vernünftigen. Wenn die ent-
schiedene Gegnerschaft gegen das Bestehende zum konstitutiven Denkansatz wird,
so hat das nicht nur die Subjektivierung der Vernunft zur Folge, sondern damit
auch die Verabsolutierung subjektiv-moralischer Kategorien. Das Subjektiv-Ver-
nünftige wird so auch das schlechthin Gute und Richtige 275, aber, was verhängnis-
voller ist, das Denken aus diesem absoluten Widerspruch erhält seine Impulse aus
der Gegnerschaft gegen bestehende Widersprüchlichkeit, die hinzunehmen oder zu
begreifen seinem revolutionären Ansatz nicht möglich ist. Der Widerspruch gegen
diesen Widerspruch bedeutet Negation des Widerspruchs überhaupt; in dem, was als
Sollendes im Widerspruch gegen den Widerspruch aufgerichtet wird, ist also alle
Widersprüchlichkeit aufgehoben, aber nicht dialektisch, sondern absolut, d. h. ge-
waltsam, nicht sein sollend. Vernunft, die sein soll, wird also in dem, was sie als
Sollendes aufstellt, nicht widersprüchlich sein dürfen. Vernunft bedeutet dann stän-
diges Wegarbeiten des Widerspruchs, der grundsätzlich unvernünftig und deshalb
auch unmoralisch sein wird. Aber da unmoralisch-widervernünftig auch wider-
natürlich-unmenschlich - in einem durchgeführten Vernunftsystem aus solchem An-
satz wird Widerspruch in jeder Form verschwunden sein, da Vernunft herrscht.
Diese undialektische Auffassung des Vernünftigen kann in einer sozialen Praxis
nichts anderes bedeuten als Terror.

6. Von den Revolutionsschriften zum System der Freiheit,


die Problematik des revolutionären Ansatzes

Der revolutionäre Freiheitsansatz, der in den Frühschriften Fichtes seinen pro-


grammatischen Ausdruck gefunden hatte, vereinigte sich bei ihm mit einem aus-
geprägten Systemwillen. Bei den vorläufigen und unsystematischen Bemühungen
der Revolutionsschriften konnte Fichte nicht stehenbleiben. Die Denkansätze, die
dort Gestalt angenommen hatten, mußten von der Sache her für folgende Probleme
Lösungen suchen. Zunächst mußte das Verhältnis der ihrer selbst gewiß gewordenen
Subjektivität zu der entfremdeten Wirklichkeit gedanklich geklärt werden; der
revolutionäre Ansturm auf die gesamte gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit
mußte philosophisch, d. h. unter Vermeidung der gewaltsamen Aktion oder auch
nur der Theorie einer solchen, durchgeführt werden. Der Ansatz verlangte die
Theorie der absoluten Autonomie, die die Welt in die Verfügung des Menschen als
Subjekt geben und sie so zu einer durchaus veränderbaren werden lassen konnte.
Als Lehre von der menschlichen Autonomie wird es die Transzendentalphilosophie
sein, die als Systematisierung des revolutionären Ansatzes in der ,Wissenschafts-
lehre' eben jene Veränderbarkeit der Welt zum Grundsatz machen wird. Mit dem

275 Aus dieser Struktur wird sich die eigentlich totalitäre Dimension der politischen Theorie
Fichtes ergeben. Vgl. Kapitel III und IV.
Von den Revolutionsschriften zum System der Freiheit 57

systematischen Freiheitsbegriff der Wissenschaftslehre befaßt sich das nächste Ka-


pitel.
Aber die im revolutionären Ansatz errungene und in der ,Wissenschaftslehre'
systematisierte Position der autonomen Subjektivität als solcher drängt aus sich
selbst zur Vermittlung mit dem Allgemeinen in Recht und Staat. Nach der überaus
schwierigen Frage nach der Gesellschaftlichkeit als solcher, deren schließliehe Unge-
löstheit der Preis bleibt, den die Transzendentalphilosophie für ihre große Er-
rungenschaft, die Freiheit, zu entrichten hat, ergibt sich die Notwendigkeit, allein
vom Ausgangspunkt der Autonomie des Subjekts her Gesellschaft, Staat und deren
Organisation gedanklich zu gewinnen, gleichsam »ein Kornfeld in der flachen
Hand« wachsen zu lassen. Die politischen Konsequenzen dieser Umfunktionalisie-
rung der Freiheit von einer regulativen Idee zu einem letzten Grundsatz, aus dem
alles vernünftig deduziert wird, wobei zugleich - Erbe des revolutionären Ansatzes
- die Vernünftigkeit abstrakt und subjektiv bleiben muß, untersucht Kapitel 111,
das vor allem das rechts- und politiktheoretische Hauptwerk Fichtes, die ,Grund-
lage des Naturrechts', zu analysieren versucht, dieses in dem hier angeführten Sinne
als von der Sache her geforderte und weitergetriebene Bemühung um die gedank-
liche Bewältigung des revolutionären Ansatzes behandelnd.
II. REVOLUTION UND WISSENSCHAFTSLEHRE
DAS SYSTEM DER FREIHEIT

In dem ,Versuch eines erklärenden Auszugs aus Kants Kritik der Urteilskraft'
hatte Fichte 1790 geschrieben: >>Nun giebt es zweierlei Begriffe, deren objektive
Realität wir nicht anders als durch Ansetzung verschiedener Prinzipien der Begriffe
selbst erklären können; die Naturbegriffe ... und den Freiheitsbegriff.... Der
zweite zeigt es schon durch seine Erklärung, welche in Rücksicht auf die Natur bloß
negativ ist, (denn Freiheit ist, was nicht unter Causalgesetzen der Natur steht) daß
er zu keiner theoretischen Erkenntnis derselben führen könne.« 278 Fast gleichzeitig
formulierte Fichte in einer Anmerkung zu den ,Aphorismen über Religion und
Deismus': »So ist z. B. dem scharfsinnigsten Verteidiger der Freiheit, der je war,
dem in Kants Antinomien etc. der Begriff der Freiheit überhauptirgendwoanders
her (von der Empfindung, ohne Zweifel) gegeben, und er tut in seinem Beweise
nichts als ihn rechtfertigen und erklären: da er im Gegenteil in ungestört fortlaufen-
den Schlüssen aus den ersten Grundsätzen der menschlichen Erkenntnis nie auf einen
Begriff von der Art würde gekommen sein.« 277
Daß Fichte zu diesem Zeitpunkt noch mit »ungestört fortlaufenden Schlüssen aus
den ersten Grundsätzen der menschlichen Erkenntnis« nur zum Begriff der Not-
wendigkeit kommen konnte, zu jenem philosophischen Determinismus, den er mit
»heißer Sehnsucht« zu überwinden trachtete, wurde bereits angemerkt. Nachdem
ihm mit Kants Begriff der sittlichen Autonomie dieser Determinismus für immer
überwunden war, und sein revolutionärer Handlungswille sich zunächst in den
Revolutionsschriften Bahn gebrochen hatte, mußten nun, eben auf der Denkgrund-
lage des revolutionären Ansatzes, vor allem zwei Punkte an Kants Lehre der Anlaß
werden, über diese hinaus zum Grund eines eigenen Systems zu kommen. Erstens
widerstrebte dem revolutionären Freiheitswillen Fichtes die bei Kant noch sich fin-
dende Zweiheit von transzendentalem Subjekt und Ding an sich, die Fichte als
Beeinträchtigung der Autonomie des Ich ansah, und zweitens widerstrebte ihm jene
Zweiheit der Prinzipien, die er in der Anmerkung zu den ,Aphorismen' konstatiert
hatte. Nach den beiden Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft las Fichte
- ebenso wie Reinhold - die Kritik der Urteilskraft in der Hoffnung, die Synthese
der beiden Prinzipien zu finden 278, da er ebenso wie dieser von der Notwendigkeit

ne Fichte-Gesamtausgabe, II, 1, 325.


277 Ebda. 290.
278 Vgl. Schulz, Briefw. I, 130, 304.
Für Reinhold siehe dessen ,Briefe über die Kantische Philosophie', Band I, Leipzig 1790.
Revolution und Wissenschaftslehre 59

eines einzigen ersten Prinzips als Kriterium einer wissenschaftlichen Philosophie


überzeugt war 279 • Aber die Objektivierung der Tatsache des Bewußtseins, die Rein-
holds erster Grundsatz war 280 , konnte Fichte nicht überzeugen. Die systematische
Forderung des einen Prinzips potenzierte ihm so die Radikalität des revolutionären
Freiheitsansatzes zu dem als Freiheit bestimmten Ich als Grundsatz und Ausgangs-
punkt aller Philosophie. Mit Recht sagt Ehrenberg: >>Die Philosophie Fichtes wur-
zelt in einem neuen Gewißheitsglauben, der aus praktischer Einstellung kommt und
als Glaube des freien Menschen an sich selber in der Ichbestimmung gipfelt.<< 281
Fichte .schreibt: >>Ich bin wirklich frei ist der erste Glaubensartikel, der uns den
Übergang in eine intelligible Welt bahnt, und in ihr zuerst festen Boden dar-
bietet.<< 282 Die Freiheit, die in der oben zitierten Stelle aus dem ,Versuch eines
erklärenden Auszugs' als >>objektiv realer Begriff<< neben dem Naturbegriff erschien,
wird nun, und das ist die zentrale Bestimmung des gesamten Denkens Fichtes, zum
alleinigen, also auch zum theoretischen Prinzip 2 83 • >>Die Freiheit ist unser Vehicu-
lum für die Erkenntnis der Objekte; nicht aber umgekehrt die Erkenntnis der
Objekte das Vehiculum für die Erkenntnis unserer Freiheit.<< 284 Mit der Freiheits-
lehre ist so jene ,Mitte' des Fichteschen Denkens erreicht, von der aus Freyer die
beiden Seiten dieses Denkens, Wissenschaftslehre und politische Theorie, zusammen-
gehalten wissen wollte.
Auch Zeller hatte diese Einheit des Denkens im Freiheitsbegriff bereits gesehen;
die politische Theorie Fichtes sei nichts anders, sagte er, als die Durchführung des
einen >>leitenden Gedankens seines Lebens<<, eben der >>Idee der Freiheit<< 285 • Weni-
ger deutlich spricht Metzger nur von der Freiheit als dem »metaphysischen Lieb-
lingsbegriff<< Fichtes 286. Ohne daß der Bezug zur Revolution gesehen ist, erkennt
Gelpcke: >>Aber ist sie (die Freiheit, B. W.) bei Kant selbst nur eine Entdeckung

2 79>>Da man es nun für ausgernacht annimmt, daß jede eigentliche Wissenschaft einen
ersten Grundsatz haben müsse.<< Reinhold; Versuch einer neuen Theorie des mensch-
lichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789, S. 114. >>Zur Grundlage einer Wis-
senschaft gehört als vornehmste Bedingung und wesentliches Merkmal ihres vollendeten
Fundaments die Entdeckung und Aufstellung ihres ersten Grundsatzes.« Reinhold;
über das Fundament des philosophischen Wissens, Jena 1791, S. 68.
Fichte: >>Eine Wissenschaft hat systematische Form, alle Sätze in ihr hängen in einem
einzigen Grundsatz zusammen.« I, 38.
280 Vgl. Fichtes Brief an Reinhold vorn 1. März 1794. Schulz, Briefw. I, 340.
281 Ehrenberg sieht in dieser Verwurzelung, von der Offenbarungskritik ausgehend, mehr
die theologische Komponente. Den eigentlich politisch-revolutionären Ausgangspunkt
versucht diese Untersuchung aufzuweisen.
282 IV, 54.
283 >>Das Vernunftwesen, welches nach dem vorigen Hauptstück sich selbst als absolut frei
und selbständig setzen soll, kann dies nicht ohne zugleich auch seine Welt auf eine ge-
wisse Weise theoretisch zu bestimmen. Jenes Denken seiner selbst und dieses Denken
seiner Welt geschehen durch denselben Akt, und sind absolut ein und dasselbe Denken;
beides integrierende Teile einer und ebenderselben Synthesis. - Die Freiheit ist ein
theoretisches Prinzip.« IV, 75.
284 IV, 79.
!85 Zeller, a.a.O., S. 144.
286 Metzger, a.a.O., S. 154.
60 Revolution und Wissenschaftslehre

unter vielen (?) nur ein Problem unter anderen, ... so erhebt sie Fichte über alle
Ideen, macht sie zum Zentralbegriff seines Systems, dem alles andere untergeordnet
wird.<< 287
Sehr deutlich stellt Hatzelmann Herkunft und Bedeutung des Freiheitsbegriffs
heraus, nicht ohne auch schon die problematische Dynamik anzudeuten: »Aber die
Abhängigkeit des Ich als Intelligenz soll aufgehoben werden ... << 288 Hier fehlt auch
bei Hatzelmann die Einsicht in die revolutionäre Bestimmtheit der Freiheit, die
Fichte die Abschaffung jeder Abhängigkeit des Ich fordern ließ. Sehr richtig fährt
er aber fort: »Diese von Fichte angesprochene Freiheit kann nicht anders inter-
pretiert werden, als daß sie durch die totale Angleichung des empirischen Ich an das
absolute Ich verwirklicht wird.« 289 Mit diesen zuletzt zitierten Worten hat Hatzei-
mann auch das eigentliche Problem der politischen Theorie Fichtes angesprochen.
In der ,Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre' sagt Fichte in einer Anmer-
kung: »Ich habe geäußert, daß ich mit gewissen Philosophen schlechterdings keinen
Punkt gemein habe und daß sie da, wo ich bin, nie sind, noch sein können .... Der
Dogmatismus geht von einem Sein als Absolutem aus und sein System erhebt sich
sonach nie über das Sein. Der Idealismus kennt schlechthin kein Sein als etwas für
sich Bestehendes. Mit anderen Worten: der erste geht von der Notwendigkeit aus,
der letztere von der Freiheit. Beide befinden sich daher in zwei ganz von einander
abgeschiedenen Welten.« 290
Nur wenn man sich den revolutionären Impuls in seiner ganzen praktischen
Bedeutung des Willens auf Veränderung der als unmenschlich erkannten bestehen-
den Verhältnisse und damit die weltgeschichtliche Bedeutung des Freiheitsansatzes
vergegenwärtigt, ist man in der Lage, jenen berühmten Satz zu verstehen, der eine
prägnante Formulierung dessen ist, was auch in dem zuletzt gegebenen Zitat zum
Ausdruck kommt: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für
ein Mensch man sei.« 291 Dieser Satz vertritt also in seinem Kern einen politischen
Anspruch, der sich mit dem theoretisch-systematischen sowie infolge seiner subjek-
tiven Bestimmtheit des Ausgangspunktes, also der Freiheit, allerdings auch mit dem
moralischen untrennbar verknüpft. Die Radikalität, mit der die revolutionäre
Situation empfunden und gedacht wird, läßt für Fichte nur ein Entweder-Oder zu
- ein Hinweis zur Genese des messianischen Selbstverständnisses des späten
Fichte-; entweder man entscheidet sich für die Freiheit, also auch für die Wissen-
schaftslehre, oder man hängt dem Dogmatismus an und bleibt so ein Theoretiker der

28 7Gelp<ke, a.a.O., S. 64. Ebda. S. 149: ,. Wenden wir uns nun ... dem Begriff der Freiheit
zu ... so gilt es von ihm vorerst zu bemerken, daß ... er das Zentrum der Fichteschen
Gesamtphilosophie bildet und nicht nur etwa das der praktischen.« Vgl. auch Weischedel,
a.a.O., S. 75 ff. Oestereich, a.a.O., S. 1: »Die Freiheit ist ihm metaphysische Vorausset-
zung aller Wirklichkeit.« Ebda. S. 3: »Fichte will überdies metaphysisch das ganze Da-
sein des Menschen in Freiheit auflösen.« Ebenso auch Zahn: »Der Gedanke der Freiheit,
so zeigt es sich, ist der Kerngedanke der Transzendentalphilosophie.« (M. Zahn; Ein-
leitung zu der Ausgabe des ,Systems der Sittenlehre', Hbg. 1963, S. XVI.)
288 E. Hatzelmann; Der Ansatz der Dialektik bei J. G. Fichte, Diss., München 1954, S. 62.
289 Ebda. S. 63/64. '
290 I, 510.
291 IV, 435.
Die Autonomie des transzendentalen Subjekts 61

»Despoten- und Pfaffentyrannei« 292 • Indem nunmehr versucht werden soll, die
Bestimmungen des Freiheitsprinzips und die sich aus diesem ergebenden Konse-
quenzen zu analysieren, wird sich notwendig eine gewisse Parallelität zu der Dar-
stellung der politischen Theorie in den übrigen Kapiteln ergeben. Denn wenn, nach
Zellers oben zitiertem Wort, die politische Philosophie Fichtes nichts anderes ist als
die Durchführung des Freiheitsgedankens als der leitenden Idee, so muß eine
Analyse dieser Freiheitsidee bereits alle jene Konsequenzen abstrakt sichtbar
machen können, die in der politischen Theorie zur Entfaltung kommen. Insofern
die Freiheit aber auch theoretisches Prinzip, also auch Grundprinzip der Wissen-
schaftslehre als solcher ist, wäre mit diesem Vorgehen der Untersuchung der Ver-
such gemacht, die politische Theorie Fichtes in einer seinem Systembewußtsein ad-
äquaten Weise zu behandeln; zweitens wäre aber so- nach Aufzeigen der Konse-
quenzen der politischen Theorie - auch gegenüber dem zentralen Problem der
Wissenschaftslehre sowie gegenüber den Versuchen einer Erneuerung von Fichtes
Denken zumindest ein kritischer Aspekt gewonnen.

1. Die Autonomie des transzendentalen Subjekts und ihre Bestimmungen


Im Frühjahr 1794 hatte Fichte in Zürich- im HauseLavaters- zum ersten Male
seine eigene Weiterbildung der Kantischen Lehre vorgetragen 29 3; diese Vorträge
sind eingegangen in die Schrift ,Ober den Begriff der Wissenschaftslehre oder der
sogenannten Philosophie', die Fichte als Programmschrift zu seiner Berufung nach
Jena verfaßte und die er dort vertreiben ließ, noch bevor er selbst angekommen
war 294 • Als ,Handschrift für seine Zuhörer' wurde sodann noch 1794 die erste
große Darstellung seines Systems, die ,Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre',
fortlaufend veröffentlicht 295 • 1795 folgte der ,Grundriß des Eigentümlichen der
Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen' 29 6. 1796 erschien
die ,Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre' 297 , 1797 in
Niethammers ,Philosophischem Journal' der ,Versuch einer neuen Darstellung der
Wissenschaftslehre' 298 , im seihen Jahre die ,Zweite Einleitung in die Wissenschafts-
lehre für Leser, die schon ein philosophisches System haben' 299, und gleichfalls noch
1797 der ,Versuch einerneuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Fortsetzung' 300 ;
ein Jahr später schließlich das ,System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissen-
schaftslehre' sot. An allen diesen Schriften 302 soll das ihnen zugrunde liegende Prin-

292 IV, 241.


293 Für das Biographische vgl. Medicus; Fichtes Leben, S. 60 ff.
294 I, 29 ff.
295 I, 85 ff.
296 I, 330 ff.
297 III, 1 ff.
298 Unter dem Titel ,Erste Einleitung in die W. L.' in I, 419 ff.
299 I, 453 ff.
300 I, 521 ff.
301 IV, 1 ff.
302 Die ,Grundlage des Naturrechts' als rechts- und politiktheoretisches Hauptwerk ist aus-
führlich im Kap. III behandelt.
62 Revolution und Wissenschaftslehre

zip, die Freiheit, diese >>eine ursprüngliche Tatsache des menschlichen Geistes, welche
die allgemeine Philosophie und die theoretische und praktische, ihre zwei Zweige,
begründet<< 303 , aufgewiesen und in ihren Bestimmungen zu analysieren versucht
werden. Dabei sollen im Hinblick auf die besonderen Intentionen der Untersuchung
die Frage nach der transzendentalen Deduktion der Gesellschaftlichkeit und die
Dialektik der reinen Autonomie in ihren Konsequenzen für die politische Theorie
im Mittelpunkt stehen.

a) Das formale Bei-sich-Sein. Die Liquidierung des Dinges an sich.


Die Tathandlung
Der revolutionäre Impuls, alle Fremdbestimmung theoretisch und praktisch weg-
zuarbeiten, prägt sich systematisch aus in der Verabsolutierung des transzendentalen
Subjekts. Das ,Ich denke' von Kants transzendentaler Apperzeption, das >>alle
meine Vorstellungen muß begleiten können<< 304, wird im Ansatz der Wissenschafts-
lehre zur Subjekt-Objekt-Einheit des Ich, die allen Vorstellungen begründend vor-
ausliegt. >>Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als
seiend setzt, ist das Ich als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es und so wie
es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig.
Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich.<< 305 In den ,Vorlesungen über die Bestim-
mung des Gelehrten' von 1794 hatte Fichte formuliert: >>Die vollkommene Ober-
einstimmung des Menschen mit sich selbst und - damit er mit sich selbst überein-
stimmen könne, die Obereinstimmung aller Dinge außer ihm mit seinen notwendi-
gen praktischen Begriffen von ihnen, den Begriffen, welche bestimmen, wie sie sein
sollen, ist das letzte höchste Ziel des Menschen.<< 306
Noch bevor in der Wissenschaftslehre der Begriff der Freiheit ausdrücklich auf-
taucht, bestimmt sie ihren Ausgangspunkt als Freiheit in dem reinen Formalismus
des Bei-sich-selbst-Seins, der ,Übereinstimmung mit sich selbst', des ,Ich bin Ich' 307 •
Die revolutionäre Dynamik des Ansatzes beseitigt vor allem jene Einschränkung
der Autonomie des Ich als transzendentalen Subjekts, die Karrt im Ding an sich
bestehen gelassen hatte. >>Es gibt gar keine ursprüngliche Realität und Tätigkeit
des Nicht-Ich für das Ich, als insofern das letzte leidet .... Selbst das Ding an sich
ist nur insofern, inwiefern in das Ich wenigstens die Möglichkeit eines Leidens
gesetzt ist; ein Kanon, der erst in dem praktischen Teile seine vollkommene Be-
stimmung und Anwendbarkeit erhält.<< 308 Das Problem der Aufhebung des Ding
an sich, der Auflösung des Gegensatzes von transzendentalem Subjekt-Ich und
gegenständlichem >>Naturwesen<< 309 , zwingt die Theorie auf den Weg des Prakti-
schen, der ihr mit der Annahme der Freiheit als einzigem Grund schon vorgezeichnet

so3 Schulz, Briefw. I, 304.


30 4K. d. r. V. Transc. Ded. d. rein. Verstandesbegriffe, § 16.
3os I, 97.
306 VI, 299.

307 Vgl. § 1 der ,Grundlage der ges. W. L.', I, 91 ff.


aos I, 157. Vgl. auch I, 174.
309 I, 117.
Die Autonomie des tramzendentalen Subjekts 63

war. >>Aber der Mensch, insofern das Prädikat der Freiheit von ihm gelten kann,
... hat mit den Naturwesen garnichts gemein und ist ihnen also auch nicht entgegen-
gesetzt. Dennoch sollen ... beide Begriffe vereinigt werden; sie sind aber in
gar keinem Begriffe zu vereinigen, sondern bloß in der Idee eines Ich, dessen Be-
wußtsein durch garnichts außer ihm bestimmt würde, sondern vielmehr selbst alles
außer ihm durch sein bloßes Bewußtsein bestimmte: welche Idee aber selbst nicht
denkbar ist, indem sie für uns einen Widerspruch enthält. Dennoch aber ist sie uns
zum höchsten praktischen Ziele aufgestellt.« 3 1 0 »Das Ding an sich ist etwas für das
Ich und folglich im Ich, das doch nicht im Ich sein soll: also etwas Widersprechendes,
das aber dennoch als Gegenstand einer notwendigen Idee allem unseren Philoso-
phieren zu Grunde gelegt werden muß ... << 3 11 , »... und wenn die Wissenschafts-
lehre gefragt werden sollte: wie sind denn nun die Dinge an sich beschaffen? so
könnte sie nichts anderes antworten als: so wie wir sie machen sollen.<< 312
Die Bedingung der Möglichkeit dieses Sollens ist das transzendentale Subjekt,
insofern es in seinem Grunde bereits als Handeln bestimmt 313 ist. Bereits in der
Aenesidem-Rezension hatte Fichte ausgedrückt, daß ein erster Grundsatz in der
Philosophie nicht in einer Tatsache, sondern in der Tathandlung gesucht werden
müsse 314 • In der ursprünglichen Bestimmung des Ich findet sich nun in der Wissen-
schaftslehre der Handlungsbegriff, der in Fichtes Denken notwendig als dem Ich
konvertibel angesetzt werden muß, wenn Freiheit als erster Ausgangspunkt sinnvoll
sein soll. Im Gegensatz zum »Ding an sich des Dogmatikers<< 315 kommt das »Ich an
sich<< des Idealismus >>als etwas Reales wirklich im Bewußtsein vor<< 316 und ist des-
halb jenem Yorzuziehen. Das, was allen Objekten der Erfahrung, also allem Sein
oder allen Tatsachen als Vorausliegendes angenommen werden muß, ist selbst kein
Sein, keine Tatsache. Das ungeschiedene Subjekt-Objekt, das dem Denken, in dem
es nur nach Subjekt und Objekt getrennt vorkommt, vorausgesetzt werden muß,
ist das sich setzende Ich, das als solches sich »erblickt<< und, sich erblickend, als
solches setzt 317. Gemäß seinem Charakter als letztes Prinzip 31 8 ist es als reine
unendliche Potentialität der freie Grund all seiner möglichen »Äußerungen<<, durch
die »faktisches Sein und eine Anschauung desselben entsteht<< 319 •
Äußert sich das Ich, so bedeutet dies reale Äußern das Bestimmen der unendlichen
Möglichkeit des Äußerns- so produziert die Ichheit Welt. Diese Deduktionen sind
also die Entfaltung des Satzes von der Freiheit als theoretischem Prinzip. Die Ich-

310 Ebda.
311 I, 283.
312 I, 286.
313 Mit deutlicher Wendung auch gegen Reinholds ,Tatsache des Bewußtseins'. Vgl. dessen
Buch ,über das Fundament .. .', a.a.O., S. 78 ff.
314 I, 8. Mindestens terminologisch konnte Fichte auch hier an Kant anschließen, bei dem der
Ausdruck »Handlungen des Verstandes« schon vorkommt. (K. d. r. V.; Transc. Anal. 1.
B., 1. Hptst., 1. Absch.)
31 5 I, 429.
316 Ebda.
317 N. W. II, 407.
318 Ebda.
319 N. W. II, 408.
64 Revolution und Wissenschaftslehre

heit, als aller Erfahrung vorausgehendes Subjekt-Objekt 320 , erkennt so auch die
mit dem »Gefühl der Notwendigkeit« begleiteten Vorstellungen als Produkte ihrer
Freiheit 321.
Gemäß Fichtes Wissenschaftsbegriff trifft die Untersuchung das erste Prinzip an
jener Stelle im System, die vor der Teilung in theoretische und praktische Erkennt-
nis als deren gemeinsame Grundlage vorausgesetzt ist, auf die Ichheit in ihrer
unendlichen Unbestimmtheit, auf Subjekt-Objekt vor aller Bestimmung. Diese Ich-
heit ist eben nicht, wie Reinholds Bewußtsein, letzte Tatsache, sondern Tathand-
lung, reines Handeln an sich, »freihandelnde Intelligenz« 322 •
»Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Tun und absolut nichts weiter; nicht ein-
mal ein Tätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Beste-
hendes gedeutet wird, welchem die Tätigkeit beiwohne.« 323 Das Handeln hat hier
axiomatischen Charakter. Nur negativ läßt es sich begrifflich bestimmen, als Gegen-
satz zum Sein 32 4• Die unmittelbare Anschauung, die diese ursprüngliche, das Ich
konstituierende Handlung ist, läßt in sich nur klarwerden, daß es um Tätigkeit und
Freiheit geht.
Das Denken seiner selbst, wie auch das Denken von beliebigen Objekten der
Sinnenwelt, ist, insofern es Richten des Denkens aufs Objekt ist, als eine Tätigkeit
unmittelbar bewußt; dies unmittelbare Bewußtsein der Tätigkeit ist Voraussetzung
der Wissenschaftslehre 325.

b) Der Primat des Praktischen und der unendliche Ansprud1


Die absolute Tätigkeit kann nun ihrerseits wieder nur als Freiheit definiert wer-
den: »Absolute Tätigkeit ist das eine schlechthin und unmittelbar mir zukommende
Prädikat; Kausalität durch den Begriff ist die durch die Gesetze des Bewußtseins
notwendig gemachte und einzig mögliche Darstellung desselben. In dieser letzten
Gestalt nennt man die absolute Tätigkeit auch Freiheit.« 326 Wiederum ergibt sich
aus der absoluten Tätigkeit das Sollen und so in der Freiheit die Vereinigung von
theoretischer und praktischer Vernunft: »Die Vernunft ist nicht ein Ding, das da
sei und bestehe, sondern sie ist Tun, lauteres reines Tun. Die Vernunft schaut sich
selbst an: dies kann sie und tut sie, eben weil sie Vernunft ist; aber sie kann sich
nicht anders finden als sie ist, als Tun. Nun ist sie endliche Vernunft und alles was
sie vorstellt, wird ihr, indem sie es vorstellt, endlich und bestimmt, sonach wird
auch ... ihr ihr Tun ein Bestimmtes. Aber Bestimmtheit eines reinen Tun, als
solchen, gibt kein Sein, sondern ein Sollen.« 327 Aus den Zitaten sollte deutlich wer-

320 N. W. Ir, 406.


321 Vgl. vor allem die ,Erste Einleitung', I, 423 ff.
322 I, 432.
323 I, 442.
324 I, 461.
325 Vgl. I, 523. Auch: I, 151 ff., I, 369 ff., I, 521; Tätigkeit und Realität als Wechselbegriffe:
I, 134, 138; »Ich denke ist zuvörderst ein Ausdruck der Tätigkeit.« (1, 440) Noch zum
Begriff der Tätigkeit: I, 205.
s2a IV, 9.
327 IV, 57. Vgl. auch ebda. 92/93, 137. Zur Tathandlung vgl. Gelpcke, a.a.O., S. 119 ff.
Die Autonomie des transzendentalen Subjekts 65

den, wie Freiheit, Ich, Vernunft, absolute Tätigkeit und Sollen ineinander aufheb-
bar und konvertibel aufzufassen sind.
Diese Bestimmungen der ursprünglichen Vernunft bedeuten also, daß >>das prakti-
sche Vermögen erst das theoretische möglich mache, daß die Vernunft als solche bloß
praktisch sei; und daß sie erst in der Anwendung ihrer Gesetze auf ein sie beschrän-
kendes Nicht-Ich theoretisch werde<< 328 • Der ,kopernikanischen Wendung' Kants
entspricht hier das themistokleische Unternehmen Fichtes, wie Themistokles den
Athenern den Übergang in ein ganz neues Element empfahl, so versuchte Fichte
nunmehr, das theoretische Problem nicht auf dem von Kant eingeschlagenen Wege
weiter zu verfolgen, vielmehr das Ganze auf die Unendlichkeit seines Begriffs des
Praktischen zu übertragen und von dort aus zu operieren. Walz, der diese Zusam-
menhänge äußerst klar beschrieben hat, sagt mit Recht, daß in der >>konsequenten
Voluntarisierung und Pragmatisierung<< von Fichtes Philosophie >>die radikale Wen-
dung gegenüber Kants Naturphilosophie<< läge 329. Und Ehrenberg formuiierte in
bezug auf jene Transformierung auf ein anderes Element sehr treffend die Bemer-
kung, daß bei Fichte die Rechtsphilosophie folgerichtig >>die Stelle der Naturphiloso-
phie<< einnähme 3so.
Durch die Subsumierung des Theoretischen unter das Praktische erhält das Aus-
gangsprinzip der Freiheit jene Widersprüchlichkeit von auf sich selbst handelndem
unendlichem Ich und Nicht-Ich, die Fichte nur in dem Gedanken der unendlichen
Annäherung fassen kann 331 • Hier liegt in der Wissenschaftslehre der systematische
Ort des Utopiebegriffs, der in der politischen Theorie so wesentlich sich auswirken
wird. Hier liegt auch der Grund jener Verschiebung des Fichteschen Sittengesetzes
zu Kants sittlichem Apriori, die Larenz in dem Gedanken ausdrückt, Fichtes Frei-
heit entspräche nur der Willkür Kants 332 • Die Radikalität des Ansatzes zieht das
Nicht-Ich, also das theoretische Problem der Kamsehen Naturphilosophie, in die
Autonomie des Ich hinein, die so jene Dimension des unendlichen Sollens erhält 333 ,
eben diese Radikalität eliminiert aber noch aus dem Sittengesetz den konkreten

328 I, 126. Vgl. dazu in der ,Grundlage der ges. W. L.': I, 121, 144, 156, 210/11. Im
,System der S.': IV, 53/54,92/93,165,211/12.
329 Walz, a.a.O., S. 461.
330 "· •• wenn nicht jetzt die Rechtsphilosophie käme. Fichte selber hat ihre Bedeutung für

seine Philosophie vollauf gefühlt. Sie nimmt die Stelle der Naturphilosophie ein .... In
der Tat, wäre sie nidJ.t gekommen, so hätte man dem Nicht-Ich, dem Es, der Sinnenwelt
den Vorwurf machen können, es wäre nichts als ein leerer Grenzbegriff und das Ich
stände schließlich doch ohne Welt da. Nun aber wird sie ihm in der Welt des Redtts voll
und ganz gegeben. Dahinter steht die als Natur bekannte Welt. Mit ihr besdtäftigt sich
die Empirie, nidtt die Philosophie; die Aufgabe der Philosophie ist, zu wirken, zu er-
ziehen, nidtt aber zu forsdten.« Ehrenberg, a.a.O., S. 74.
331 Vgl. sdton in der ersten ,Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten': VI, 299/300.
In der ,Grundl. d. ges. W. L.': I, 256 ff., 270 ff. Im ,System d. S.': IV, 131.
332 Handbudt der Philosophie; Mündten und Berlin 1934, Abtlg. IV, Absdtnitt D, S. 112:

>>Die in der transzendentalen enthaltene formale Freiheit Fidttes entspridtt also, wie
hieraus hervorgeht, nidtt der Freiheit, sondern der Willkür im Sinne Kants. Diese for-
male Freiheit der Willkür ist es nun, die Fidtte zur Grundlage des Redttsbegriffs und
des Staates madtt.<<
333 Vgl. I, 217/18.
66 Revolution und Wissenschaftslehre

gesellschaftlichen Bezug; der kategorische Imperativ Kants wird zum >>Begriff der
absoluten Selbstständigkeit« Fichtes 334,
Die Radikalität des abstrakt-revolutionären Freiheitsansatzes hat sich so gegen-
über aller Differenziertheit der Probleme durchgesetzt und ist zum Ausgangspunkt
der systematischen Philosophie geworden. Aber diese - gegenüber Kants Bemühen
um den Aufweis der Möglichkeit von Freiheit - radikale Inthronisierung der Frei-
heit ist, wie schon Walz sagte, »um einen teuren Preis erkauft« 335. Die Freiheit
konnte ihren absoluten Anspruch nur behaupten, indem sie eben zum absoluten An-
spruch wurde und als absoluter Anspruch sich perennierte, als subjektiver und un-
endlicher an jede Wirklichkeit zu richtender vernünftiger Anspruch. In diesem revo-
lutionären Gegenüber zur Wirklichkeit blieb der Freiheitsanspruch, ausgehend von
der formalen in sich und auf sich gehenden Tätigkeit des Ich, notwendig der aller-
abstrakteste. So wurde er klarer Ausdruck des die Herkunftswelt und ihre geschicht-
liche Wirklichkeit abschneidenden revolutionären Postulats - höchst problematisch,
sobald es um die Gestaltung von Wirklichkeit gehen sollte, sobald also das Denken
sich dem Allgemeinen in Recht und Staat zuwenden wollte.

c) Freiheit und Gesetz


Das Problem der mit dem >>Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellun-
gen« 336 hatte Fichte in die Deduktion des Satzes aufgehoben: »Das Ich setzt sich
selbst als beschränkt durch das Nicht-Ich.« 3 3 7 Damit soll auf jene Dimension des
Freiheitsproblems deutlich hingewiesen werden, nach der das Gesetz, die Beschrän-
kung, die Bestimmtheit der Freiheit, in ihr selbst angelegt ist. Denn so gewiß die
ursprüngliche Freiheit unendlich ist, so gewiß ist sie als wirkliche Freiheit bestimmt,
d. h. eingeschränkt- aber unbeschadet der Autonomie. »Das Vernunftwesen denke
sich frei in der oben bestimmten bloß formalen Bedeutung des Wortes. Aber es ist
endlich und jedes Objekt seiner Reflexion wird ihm durch die bloße Reflexion
beschränkt oder bestimmt. So wird ihm auch seine Freiheit ein Bestimmtes.« 338
»Aus der Tiefe des ganzen Systems der Transzendentalphilosophie« 339, d. h. aus
der ursprünglichen Subjekt-Objekt-Identität, die, sich der Begrifflichkeit entzie-
hend, allem Denken begründend vorausliegt, ist auch die ursprüngliche Identität
von Freiheit und Gesetz deduziert. »Ich bin Identität des Subjekts und Ob-
jekts = X. So kann ich mich nun, da ich nur Objekte zu denken vermag, und dann
ein Subjektives von ihnen absondere, nicht denken. Ich denke sonach mich als Sub-
jekt und Objekt. Beides verbinde ich dadurch, daß ich es gegenseitig durcheinander

334 IV, 58. Vgl. zum Problem vor allem auch IV, 233/34. Dazu auch die Formulierungen
aus den ,Vorlesungen über die Best. d. Gel.': VI, 228, 296, 299, in denen sowohl das
subjektive Moment wie das der unendlichen Annäherung zum Ausdruck kommt. Im
weiteren Sinne hierher gehört die Deduktion des Sollens: I, 121, 144, 176, 248 ff. und
263/64.
335 Walz, a.a.O., S. 463.
338 I, 423.
337 I, 126.
338 IV, 52.
339 Ebda.
Die Autonomie des transzendentalen Subjekts 67

bestimme (nach dem Gesetz der Kausalität). Mein Objektives durch mein Subjek-
tives bestimmt ergibt den Begriff der Freiheit, als eines Vermögens der Selbständig-
keit. Mein Subjektives durch mein Objektives bestimmt ergibt im Subjektiven den
Gedanken der Notwendigkeit, mich durch meine Freiheit nur nach dem Begriffe der
Selbständigkeit zu bestimmen ... beides soll als schlechthin eins gedacht werden.
Ich denke es als eins, indem ich ... die Freiheit denke als bestimmend das Gesetz,
das Gesetz als bestimmend die Freiheit ... Die Freiheit folgt nicht aus dem Gesetz
ebensowenig als das Gesetz aus der Freiheit folgt. Es sind nicht zwei Gedanken ...
sondern es ist ein und derselbe Gedanke ... eine vollständige Synthesis.« 340
Mit dieser Deduktion der >>Autonomie, Selbstgesetzgebung« 341 ist die ursprüng-
lich unendliche Freiheit in einer Weise bestimmt, die sie in die Nähe eines dialek-
tischen Umschlages bringt. Denn die so bestimmte Autonomie bedeutet nicht nur,
nichts anzuerkennen, was nicht Selbstgesetzgebung ist - also alles Nicht-Ich als
durch das Ich bestimmt zu setzen, sondern sie bedeutet auch Gesetz der Selbstgesetz-
gebung in bezug auf das Ich, d. h. durchgehende Bestimmtheit der Freiheit, die so
vollständig in Selbstgesetzgebung aufgehoben ist. Ist solche Selbstgesetzgebung, die
Freiheit durchgehend positiv bestimmt, als subjektive Sittlichkeit sinnvoll und prak-
tikabel, so muß sie im Übergang zum Gesellschaftlich-Politischen Konsequenzen
entfalten, die notwendig in Unfreiheit umschlagen - die Freiheitlichkeit meines Ich
kann ich als notwendige durchgehende Bestimmtheit in Selbstgesetzgebung auffas-
sen; die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft aber besteht auch und vor allem in nega-
tiv bestimmter Freiheit 342.

d) Die Apriorität der gesamten Erfahrung und die Freiheit der anderen I ehe.
Der abstrakte Gesellschaftsbegriff
Mit der »absoluten Autonomie<< 343 der als Ich und als Freiheit bestimmten Ver-
nunft, die Kants Ding an sich in die Dynamik des Sollens hineingerissen hat, ist
notwendig gesetzt die absolute Apriorität der gesamten Erfahrung. Die im und
durch das Ich festgesetzte Bestimmung seiner selbst durch das Nicht-Ich war die
Lösung, zu der Fichtes subjektiver Freiheitsansatz in theoretischer Hinsicht kommen
konnte. Auch in praktischer Hinsicht ist der subjektive Ansatz in einem Maße tra-
gend, daß zunächst nur die »sittliche Monade<< 344 deduziert wurde. Gerade d·-'rch
den primär praktischen Impuls mußte Fichte aber zu dem Problem der ded..tzier-

340 Ebda. S. 52/53.


341 IV, 56.
342 Im Ausgang von der subjektiven Freiheit (Kants Willkür) konnte diese - entspre-
chend der revolutionären Grundstruktur des Denkens - nicht in der Gesellschaft ihren
Ort haben. Die Positivität der Freiheit muß also für Fichte in ihrer subjektiven Be-
stimmtheit liegen können. Aber nur wenn die Positivität der Freiheit als gesellschaft-
lich-institutionell vermittelt gesehen ist, kann sie von der Gesellschaft her in bezug auf
die einzelnen negativ bestimmt bleiben (Grundrechte moderner Verfassungen) und so
wirklich eine freiheitliche Gesellschaft konstituieren, die mehr ist als ein abstraktes Auf-
einander-bezogen-Sein vernünftiger und freier lche.
343 IV, 59.
344 Heimsoeth; Fichte, a.a.O., S. 57.
68 Revolution und Wissenschaftslehre

ten Apriorität allen Nicht-Ichs und deren Verhältnis zu der Freiheit anderer Iche
kommen, zum Problem der Gesellschaftlichkeit überhaupt 3 45.
Bereits in den ,Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten' von 1794 hatte
Fichte das Problem formuliert: >>Die Frage ist: ob dieser Vorstellung etwas außer
derselben entspreche; ob es unabhängig von unserer Vorstellung und wenn wir es
uns auch nicht vorstellten- vernünftige Wesen außer uns gebe; und hierüber kann
die Erfahrung nichts lehren ... « 3 46 Ebenda: >>Wie kommt der Mensch dazu, ver-
nünftige Wesen seinesgleichen außer sich anzunehmen und anzuerkennen, da doch
dergleichen Wesen in seinem reinen Selbstbewußtsein unmittelbar gar nicht gegeben
sind?<< 347 Als radikaler Transzendentalphilosoph mußte Fichte auch die anderen
Iche transzendental deduzieren, ihre Möglichkeit vom ursprünglichen Ich her auf-
weisen - notwendig eine höchst problematische Konsequenz, hatte er doch selbst
gesagt, daß >>die ganze Wissenschaftslehre, als transzendentale Wissenschaft nicht
über das Ich hinausgehen könne<< 348. Metzger schreibt dazu: >>So reiht sich unter
die bizarren und doch äußerst lehrreichen Einfälle des Fichteschen Denkens auch der
-immer wieder unternommene- Versuch, das empirische Dasein des Anderen, bzw.
der Anderen, nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, d. h. aber ,für das Ich' syste-
matisch zu deduzieren.<< 349
In der ,Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre' ist allerdings das Problem,
ob es zwar in den ,Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten' formuliert ist,
noch nicht behandelt. Im ,System der Sittenlehre' heißt es jedoch: >>Es ist zu hoffen

345 Unter anderem Aspekt behandelt Lauth dieses Problem in dem wichtigen Aufsatz:
Le Probleme de l'Interpersonnalite chez J. G. Fichte (in: Archives de Philosophie, Tome
XXV, Cah. IIIIIV 1962). Lauth wendet sich gegen die schon von Baggesen erhobene
Behauptung, Fichtes Theorie sei >>philosophischer Egoismus<< (327). Indem er die späte-
ren religionsphilosophischen Versuche Fichtes, das Problem des Zusammenhangs der
freien Iche und ihres gemeinsamen Grundes in der ,Synthesis der Geisterwelt', schließ-
lich im Absoluten-Gott - aufzulösen, bereits auf die frühen Schriften überträgt, kommt
Lauth einerseits zu der Behauptung einer >>communaute morale« bereits für die ,Grund-
lage der gesamten Wissenschaftslehre' (333), andererseits, da dieser Nachweis nicht voll-
ständig gelingt, zu der Unterscheidung einer ,Grundlage der Wissenschaftslehre', die eben
nur Grundlage sei, von d~r späteren >>doctrine superieure de Ia science<< (343).
Der Fichte von Lauth imputierte Personalismus gelangt aber nicht über die Tatsache hin-
aus, daß der transzendentale Ansatz Fichtes nur zur Deduktion >>eines vernünftigen
Wesens außer mir<< (s. weiter unten) gelangt, und daß jene Interpersonalität nur aufzu-
weisen ist, indem die Errungenschaft des Transzendentalismus, die Autonomie und ihre
revolutionäre Bedeutung, religionsphilosophisch verharmlost wird, womit dann außer-
dem die Behauptung, Fichte habe die Lehre von der Interpersonalität im Gegensatz zu
Leibniz, aber auch zu Hege!, Husserl, Heidegger und Sartre als einziger wissenschaftlich-
systematisch behandelt, seltsam kontrastiert.
Der Aufweis der Interpersonalität ist aber, und das ist innerhalb dieser religionsphilo-
sophischen Überspielung der Probleme konsequent, für die politische Dimension ganz
unwesentlich; insofern letztere Konsequenz aus dem Denkansatz ist, in seiner Freiheit-
lichkeit fragwürdig.
346 VI, 303.
347 VI, 302.
348 I, 247.

3 49 Metzgcr, a.a.O., S. 119/20.


Die Autonomie des transzendentalen Subjekts 69

und zu erwarten, daß über kurz oder lang der Mensch selbst auf den höheren
Gesichtspunkt sich erheben werde, wenn er nur sich selbst überlassen bleibt.« 350 Und
weiter: >>Wir werden durch Erziehung im weitesten Sinne. d. h. durch Einwirkung
der Gesellschaft überhaupt auf uns, erst für die Möglichkeit des Gebrauchs unserer
Freiheit gebildet. Bei der Bildung nun, die wir dadurch erhalten haben, hat es sein
Bewenden, wenn wir uns nicht über sie emporheben. Wäre die Gesellschaft besser,
so wären wir es auch, jedoch ohne eigenes Verdienst. Die Möglichkeit, eigenes Ver-
dienst zu haben, wird dadurch nicht aufgehoben, es hebt nur auf einem höheren
Punkte erst an.<< 35 1
Wenn es auch hier - an einer der seltenen Stellen, an denen in der Sittenlehre
von der >>Gesellschaft<< die Rede ist - klingt, als käme dieser für die Sittlichkeit
irgendeine Bedeutung zu, so muß doch festgehalten werden, daß das keineswegs der
Fall ist. Sittlichkeit beginnt erst auf der höheren Stufe; insofern sich das Individuum
über die Gesellschaft, die es erzogen hat, erhebt, und der Ausdruck >>die Möglichkeit
des Gebrauchs unserer Freiheit<< darf keineswegs so verstanden werden, als ob hier
von Ursachen oder Bedingungen der subjektiven Freiheit die Rede sei. Auch hieraus
ergibt sich also, daß die Gesellschaft nicht der Ort von Sittlichkeit sein kann -
infolgedessen auch nicht der Ort der Freiheit - aus dem Mangel einer Konzeption
über Subjektivität und abstrakte »Gesellschaft<< hinaus ergibt sich die Gefahr, daß
jene, solange sie in dieser existiert, unfrei im realen Sinne sein wird.
Außer der zuletzt angeführten ist an einer weiteren Stelle des ,Systems der Sitten-
lehre' von Gesellschaft die Rede. Es ist dies jene Stelle im § 16, die ausführt, auf
welche Weise das Individuum zum Bewußtsein der Freiheit sich erheben könne. Auf
der Stufe des Naturtriebes handelt das Individuum »mit Freiheit zwar, ... aber
ohne Bewußtsein dieser seiner Freiheit<< 352 • Fichte fährt dann fort, daß der Mensch
»in diesem Zustande frei nur für eine Intelligenz außer ihm<<, für sich selbst aber,
»wenn er nur für sich selbst etwas sein könnte(!), auf diesem Standpunkte lediglich
Tier<< 353 sei. Daß er aber über diesen Zustand hinauskommt, sich zum Bewußtsein
der Freiheit erhebt, ist für Fichte »etwas zu Erwartendes<< 354 • Das Bewußtwerden
der Freiheit muß in Freiheit erfolgen, wenn anders die Freiheit absolut erhalten
bleiben soll. »Sie soll erfolgen ... aber sie muß nicht erfolgen.<< 355 Es ist schwer
einzusehen, wie das »blinde Ohngefähr<< 356, das als etwas ganz und gar Sinnloses
nicht angemutet werden darf, hier nicht ins Spiel kommt, sondern wie Fichte hier zu
einer berechtigten Erwartung, daß das Bewußtsein der Freiheit wirklich werde,
kommen kann. Hier wird nun die Gesellschaft, zunächst beiläufig, erwähnt. »Die
Gesellschaft, in der der Mensch lebt, kann ihm Veranlassung geben zu dieser Re-
flexion; aber sie zu verursachen, das vermag sie schlechterdings nicht.<< 357 Wenn die

350 IV, 183.


351 IV, 184.
352 IV, 178
353 Ebda.
354 IV, 178/79.
355 IV, 179.
356 Ebda.
357 Ebda.
70 Revolution und Wissenschaftslehre

Reflexion zu erwarten steht, das blinde Ohngefähr ausgeschaltet bleiben soll, das
Individuum aber für sich selbst nicht sein kann (s. o.), so muß die ,Intelligenz außer
ihm' angenommen werden, womit allerdings noch nicht Gesellschaft gesetzt ist 358•
Aus den bis hierher angezogenen Stellen wird zweierlei klar: erstens: wie nahe
Fichte, durch seine eigene Sache getrieben, dem gesellschaftlichen Charakter der
Freiheit kommen konnte, zweitens aber, wie stark das Hindernis war, das ihm
nicht erlaubte, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit irgendwie Freiheit in konkreter
Vermitteltheit zu sehen. Der Freiheitsbegriff behält seinen abstrakten Charakter
als Sache einzig und allein des der Wirklichkeit gegenüber konzipierten, absoluten
Individuums und höchstens noch einer ,Intelligenz außer ihm'.
Auf andere Weise gelangt Fichte wiederum zum gleichen Problem. Die erste Lei-
stung der freihandelnden Intelligenz ist, daß sie das Ich, das als solches das all-
gemeine vernünftige Ich ist, als empirische Individualität denkt. Das die Reflexion
anhebende, über den tierisch-unbewußten Zustand zum Bewußtsein der Freiheit
sich erhebende empirische Ich setzt damit das vernünftige, allgemeine Ich als dieses
bestimmte Ich, als Individualität 359.
>>Alles, was Objekt der Reflexion ist, Ist notwendig beschränkt und wird es schon
dadurch, daß es Objekt der Reflexion wird.« 360 Wird auf das Ich, also auf das
Setzen der Freiheit reflektiert, so wird diese Freiheit beschränkt sein. Beschränkung
als solche ist im Begriff der Freiheit mitgedacht. In den auf die zitierte Stelle folgen-
den Deduktionen, die eine zentrale Stelle der Sittenlehre ausmachen, geht es um
»nähere materiale Bestimmung« der praktischen Sittlichkeit, um ein Differenzieren
des ursprünglichen Sollens als solchen zur Moralität. Bei dieser Deduktion der tat-
sächlichen Beschränktheit der Freiheit der Individualität muß die fremde Indivi-
dualität wieder auftauchen. Da eine Beschränkung - Konkretion - der Freiheit,
d. h. der unmittelbaren Unendlichkeit, notwendig ist, aber nach dem Gesetz der
Freiheit nur in und durch Freiheit erfolgen kann, muß die praktische Beschränkung
durch eine individualisierte Freiheit außer dem Ich angenommen werden. Das die
Totalität von Welt setzende Ich kann seine Individualität nur konstituieren, wenn
es im selben Akte eine andere Individualität sich entgegen weiß, deren Wirklichkeit
eine notwendige Voraussetzung des sich als dieses wissenden Ich ist 361 • Entweder
aber ist Individualität B wirklich, dann erhebt sich die Frage, an welcher Indivi-
dualität C sie die Wirklichkeit ihrer Freiheit konstituiert hat, oder sie wird erst in
dem Akt der Konstituierung von Freiheit A wirklich, dann ist sie erst, wie alle Welt,
durch diese gesetzt. Die Apriorität der gesamten Erfahrung kollidiert notwendig
mit der Freiheit der anderen Iche. Diese Überlegung wird auch nicht entkräftet,

358 Das Bemühen um Aufweis der ,lnterpersonalität' kann hier schon ein Ergebnis sehen.
Für die Freiheitlichkeit der politischen Theorie ist solche Interpersonalität durchaus be-
deutungslos, wenn nicht sogar gefährlich.
3so Vgl. IV, 218 ff.
360 IV, 218.
381 Ebda. Die Deduktion findet sich auch bereits in der ,Grundlage d. N.' § 3, Zweiter
Lehrsatz: »Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt
sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch andern zuzuschreiben, mithin auch andere
endliche Vernunftwesen außer sich anzunehmen.« (111, 29)
Die Autonomie des transzendentalen Subjekts 71

wenn Fichte in diesem Zusammenhang einmal mehr auf die Problematik des Anlas-
ses, des Anlasses nämlich der Erhebung zum Bewußtsein der Freiheit, eingeht. Der
Anlaß muß so gefaßt sein, daß er als Anlaß taugt, aber jede ursächliche oder
sonstige Beziehung, die die Freiheit der freien Erhebung zum bestimmten Bewußt-
sein der freien Erhebung zum bestimmten Bewußtsein der Freiheit ausschließt, ver-
meidet. Von dieser Struktur ist der Begriff der Aufforderung. >>So gewiß ich diese
Aufforderung verstehe, so gewiß denke ich meine Selbstbestimmung als etwas in
dieser Aufforderung Gegebenes; und werde in dem Begriff dieser Aufforderung
mir selbst als frei gegeben.<< 362 Das X, von dem her die Aufforderung ergeht, muß
für sich selbst das Bewußtsein der Freiheit schon haben - aber für dieses Bewußt-
sein der Freiheit ergibt sich ja wiederum das gleiche Problem 363 •
Wenn im Auge behalten wird, was zu der Stelle von der Gesellschaft als möglichen
Anlaß zur Erhebung zur Reflexion gesagt ist, so läge auch hier wieder eine Lokali-
sierung des Begriffs der sittlichen Selbstbestimmung im Konkret-Gesellschaftlichen
nahe. Das wird noch deutlicher in der Betrachtung der Stelle im § 18 des ,Systems
der Sittenlehre', an der vom ,Kunstprodukt' die Rede ist. Ein Kunstprodukt ist das
Produkt eines Einwirkens auf die Natur, das seinen Begriff außer sich hat. >>Denn
der Zweck des Kunstprodukts liegt nicht, wie der des Naturprodukts in ihm selbst,
sondern außer ihm. Es ist allemal Werkzeug, Mittel zu etwas. Sein Begriff ist etwas
in der bloßen Anschauung nicht liegendes, sondern nur zu Denkendes, also ein
bloßer Begriff. Der aber, welcher das Kunstprodukt verfertigte, mußte diesen Ein-
griff, den er darstellen wollte, denken; also er hatte notwendig einen Begriff vom
Begriff. So gewiß ich etwas für ein Kunstprodukt erkenne, muß ich notwendig
ein wirklich vorhandenes, vernünftiges Wesen als den Urheber desselben setzen.<< 364
Hier leuchtet ein Anlaß zur Konkretisierung der Theorie auf. Bei Fichtes Aus-
gehen von der unbedingten Ichheit bleiben aber diese Ansätze notwendig unfrucht-
bar. Erstens ist diese Erklärung (des Kunstprodukts) nicht geleistet, um etwa gesell-
schaftliche Konkretion der Ichheit nachzuweisen. >>Auf diesem (transzendentalen
Gesichtspunkt) ist es nicht erlaubt von etwas außer uns auszugehen.<< 365 So wird
die Möglichkeit, über den Begriff des Kunstprodukts zu einer Kategorie der Ver-
mittlung von Vernunft und Freiheit zu kommen, gleich wieder zurückgenommen.
Denn auch das Kunstprodukt ist Objekt, also gesetzt durch die Selbstbestimmung,
die >>Beschränkung unseres Seins<< 366 • >>Hier aber ist nicht eine bloße Beschränkung
unseres Seins, sondern auch unseres Werdens; wir fühlen unser Handeln zurück-
gestoßen innerlich; es ist eine Beschränkung unseres Triebs nach Handeln sogar, und
daher schließen wir auf Freiheit außer uns.<< 367

362 IV, 220.


363 Das Problem war Fichte bewußt; in immer neuen Anläufen versuchte er es zu bewälti-
gen. Schließlich gelangte er folgerichtig zum ersten ,Aufforderer' bzw. zum ersten Er-
zieher, so den Ansatz religionsphilosophisch auflösend. (Vgl. dazu Lauth; Le problerne
... a.a.O.) Die Konsequenzen dieser späteren Entwicklung Fichtes für die politische
Theorie untersucht Kapitel IV dieser Arbeit.
364 IV, 224.
365 Ebda.
366 IV, 225.
367 Ebda.
72 Revolution und Wissenschaftslehre

Durch die Zurücknahme in die abstrakte Ichheit (der Plural im letzten Zitat
bedeutet ja kein Hinausgehen über sie) wird die Möglichkeit der Einsicht in die
Wirklichkeit konkreter Freiheitsverhältnisse einmal mehr abgeschnitten. Der Sinn
dieser ganzen Erklärung ist auch im Grunde nicht die Deduktion von Gesellschaft
im konkreten Sinne, sondern nur die Erklärung der Möglichkeit des individualisier-
ten Ich. Es stellt sich außerdem heraus, daß jene Deduktion von ,Freiheit (also ande-
rer Vernunftwesen, anderer Iche) außer uns' bereits ein Aufgeben reiner Philosophie
war. >>Apriori notwendig läßt sich nicht mehr deduzieren, als die Beschränktheit der
Freiheit durch ein vernünftiges und freies Wesen außer mir.« 368
Obgleich Fichte einige Seiten vorher formuliert hatte: >>Alles Bewußtsein geht
sonach aus von einem Wirklichen<< und dies als >>Hauptsatz einer reellen Philo-
sophie<< bezeichnet hatte 369 , so wird hier doch gesagt, daß es ein Verzicht auf reine
Philosophie sei, wenn sie sich erlaube, >>sich auf Tatsachen zu berufen<< 370 • Bei der
Berufung auf die Tatsache der Erfahrung des Kunstprodukts könnte wohl der Satz
aufgestellt werden: >>Ich kann und darf nicht alles sein und werden, weil einige
andere sind, die auch frei sind.<< 371 Dieser Ansatz zu einer konkreten Lehre von der
Freiheit, die in gesellschaftlicher Vermittlung wirklich ist, ist aber in ,reiner Philo-
sophie' nicht zu gewinnen - diese kommt nicht weiter als zu der Annahme eines
abstrakten Gegen-Ich zu dem ursprünglichen Ich. Die Beschränkung dieses ursprüng-
lichen Ich zur Individualität, die hier so mühevoll deduziert ist, ist also weit davon
entfernt, zu einer konkreten Freiheitslehre zu führen. Die deduzierte Konkretion
der Freiheit - Individualisierung - führt nicht zu konkreter Freiheit, sondern
eben zu dem abstrakten Gegenüber-Ich, und in der Fortführung zu einem ebenso
abstrakten Gesellschaftsbegriff. Dieser Gesellschaftsbegriff, der aus dem Ansatz
des transzendentalen Idealismus, aus dem absoluten Postulat der Freiheit der Sub-
jektivität gewonnen ist, wird, wenn wir die Ergebnisse des Bisherigen zusammen-
fassen, folgende Merkmale haben.
Gesellschaft kann hier nur aufgefaßt werden als abstraktes Aufeinanderbezogen-
sein vernünftiger Iche als solcher. Sie ist nicht einmal um der Individuen willen da,
denn das wesentliche und unmittelbare Sein dieser ist nur ihre eigene Freiheit. Ge-
sellschaft ist etwas, das bei der Deduktion des besonderen Ich als Nebenprodukt in
ihrer Möglichkeit aufspringt, ein Wesentliches kann in ihr nicht gesetzt sein. Sie ist
nicht der Ort von Sittlichkeit, also auch nicht der Ort von Freiheit, ihre Ordnung
wird deshalb bloße Legalität einer Not- und Zwangsgesellschaft sein können, der
zu entsprechen zwar das Individuum gehalten ist, in welcher es aber weder sein
Sein noch seine Bestimmung haben kann. Es wird erst Ich im Sinne seines univer-
salen Sittengesetzes, insofern es sich über die Gesellschaft erhebt. Ist so einerseits
die Gesellschaft vom Sittlichen her abgewertet, so ist sie gerade andererseits als das
Schicksal des einzelnen, der zunächst völlig von ihr bestimmt ist, angesprochen, denn
der einzelne ist zunächst nur so gut oder so schlecht wie die Gesellschaft, was, da

368 IV, 221. Diese sehr bedeutsame Stelle läßt den Aufweis der ,lnterpersonalität' doch
höchst problematisch erscheinen.
369 IV, 219.
370 IV, 225.
371 Ebda.
Die Dialektik der reinen Autonomie 73

Sittlichkeit an dem Punkte anfängt, wo die Gesellschaft in ihrer Bestimmung des


Ich aufhört, wieder jene geradezu in Abhängigkeit von dieser erscheinen läßt 372,
Der revolutionäre Ansatz als radikale Transzendentalphilosophie gelangt nicht zu
der Deduktion der Freiheitlichkeit der wirklichen Gesellschaft. Auch in bezug auf
diese konstituiert sich lediglich der unendliche Anspruch. Bestimmend bleibt der
revolutionäre Veränderungswille; Gesellschaft wird zu einem außer dem Ich befind-
lichen, das, wie alle »Dinge außer ihm«, zur »Übereinstimmung« mit dem »Men-
schen selbst«, »mit seinen notwendigen praktischen Begriffen« 373 gebracht werden
muß. Sowohl das messianische Selbstverständnis wie die spätere totale Erziehungs-
theorie sind hier angelegt.

2. Die Dialektik der reinen Autonomie

a) Die zwei Seiten der Selbstbestimmung


Die Praktikabilität des unendlichen Freiheitsbegriffs der Wissenschaftslehre
hängt ab von seiner Quantifizierbarkeit. Seine Bestimmtheit mußte in ihm selber
verankert sein, wenn anders die Forderung nach absoluter Autonomie aufrecht-
erhalten werden sollte. Selbstbestimmung mußte so der Charakter der Freiheit wer-
den, wie oben gezeigt worden ist. Es wurde dort aber auch schon angemerkt die
Gefahr einer Konsequenz in bezug auf die Gesellschaft, die jetzt näher untersucht
werden soll.
Die Forderung nach Selbstbestimmung ist subjektiv und objektiv; nicht nur soll
das Selbst bestimmen, sondern es soll vor allem sich selbst bestimmen; die Forderung
wird bedeutsam vor allem als absolute Bestimmtheit des Ich in ihm selbst 374, Als
nach innen gewandtes aszetisches Ideal des Subjekts geht diese Forderung durchaus
noch mit der Unabhängigkeit zusammen. Aber »die Selbständigkeit aller Vernunft
als solcher ist unser letztes Ziel; mithin nicht die Selbständigkeit einer Vernunft,
inwiefern sie individuelle Vernunft ist« 375, Aber: »Die Vernunft ist durchgängig
bestimmt.« 376 Jenes Prinzip der Selbstbestimmung, nach außen gewandt, also als
gesellschaftliches Prinzip betrachtet, verkehrt sich unter diesem Aspekt von einem
freiheitlichen zu dem eines vollkommenen Zwanges. Die vernünftige Verabsolutie-
rung des subjektiven Anspruchs der Selbstbestimmtheit bedeutet positive Bestimmt-
heit jeglicher Freiheit - so wird die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit
letztlich unter ein moralisches Prinzip gestellt, das keine negativ bestimmte Freiheit

372 Hier könnte man die Genese des Fichteschen Denkens, vom strengsten Determinismus
zur Theorie der Freiheit, systematisch verewigt sehen. In der politischen Theorie ent-
spricht dieser Struktur die Zweiheit von Not- und Zwangsgesellschaft einerseits und
subjektiver Moralität andererseits, die wiederum in der Utopie aufgehoben ist.
373 VI, 299.
374 V gl. I, 130.
375 IV, 231.
376 IV, 208.
74 Revolution und Wissenschaftslehre

mehr zuläßt 377• Da die Praktikabilität der Freiheit von ihrer Selbstbestimmung
abhängt, aber die Bestimmtheit jeglicher Praxis aus ihr selbst, nämlich aus Freiheit,
ihr unumgängliches Postulat ist, so darf sie keinen Bereich in der Gesamtheit des
Feldes der gesellschaftlichen Praxis unbestimmt lassen. Denn jeder nicht von ihr
bestimmte Bereich der Praxis muß als Heteronomie erscheinen, als Bedrohung der
Freiheit. Sie muß also auf durchgängiger Bestimmtheit der gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit bestehen 378 • Aber auch die so von ihr gesetzte Wirklichkeit kann nicht reine
Autonomie sein. Der Vernunftcharakter des Ich ist seine Allgemeinheit- insofern
bedeutet die ursprüngliche Identität von Freiheit und Vernunft die große Einsicht
der Allgemeinheit der Freiheit, die politisch das Postulat der französischen Revo-
lution war, in der der Mensch als Mensch, d. h. in seiner Allgemeinheit, zum Sub-
jekt von Recht und Staat werden sollte 379. Aber die als Subjektivität bestimmte
vernünftige Freiheit zerstört in ihrer Konsequenz den demokratischen Gedanken.
Denn die Erhebung zum Bewußtsein dieser Freiheit, die zwar >>ZU erwarten steht<<
(s. o.), aber nicht generell verursacht werden kann, schon gar nicht gesellschaftlich,
bringt notwendig die Praxis der Freiheit zu einer elitären Bestimmung der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit. Der, der sich aus Freiheit zur Freiheit erhoben hat, be-
stimmt dann seine Praxis, und da seine Autonomie vernünftig ist, die Praxis aller
Vernunftwesen, auch derer, die sich nicht zum Bewußtsein der Freiheit erhoben
haben. Die tatsächliche Heteronomie der Bestimmung des Freien und Vernünftigen
für diese, die praktisch zur schlimmsten Tyrannei werden muß, gemäßigt durch
Pädagogik, ist im System beiseite gebracht durch die Allgemeinheit des abstrakt
Vernünftigen 380• Dersogefaßte Freiheitsbegriff wird sich politisch selbst aufheben,
bzw. was ihn in seiner Allgemeinheit, d. h. seiner demokratischen Bedeutung auf-
hebt, zum Atavismus der Freiheit weniger, systematisch zu Ende gedacht sogar zu
der Freiheit nur eines einzigen führen 381 • Ich als Ausgangspunkt aller möglichen

377 Daß es die Identität von Freiheit und Gesetz ist, die »Fichtes wirtschaftlichen Sozialis-
mus, sobald wir an seinen Begriff des Eigentums denken, geradezu als notwendige Folge
seines ethismen Individualismus« erscheinen läßt, hat Ri<kert deutlich gesehen (Phi!.
Grundlagen, a.a.O., S. 164 und 166). Aber die Dialektik der reinen Autonomie führte
in Fimtes politismer Theorie ja noch bedeutend weiter als bis zu einem wirtsmaftlimen
Sozialismus. Die totalitäre Dimension dieser Theorie ist ebenfalls die Folge dieser
Dialektik- bei Fichte aufgehoben in die Utopie.
378 Auf die Naturtheorie übertragen bedeutet dieser Ansatz die Grundlage einer Theorie
der modernen Naturwissensmaft und Temnik und deren Bedeutung für die Freiheit.
379 Vgl. dazu vor allem J. Ritter; Hege! und die Französische Revolution, a.a.O.
380 »Da ein Handeln gar nicht möglim ist, ehe ein Staat errichtet worden, und dennoch es
schwer sein möchte, die ausdrü<klime Einwilligung aller, oder aum nur einer beträcht-
lichen Menge zu erhalten, so ist der höhere ausgebildetere Mensch durm die Not ge-
trieben, ihr Stillsmweigen zu gewissen Verfügungen, und ihre Unterwerfung unter die-
selben, für Einwilligung zu halten. Es kann auch mit der Berechnung, und Abwägung der
gegenseitigen Rechte nicht so genaugenommen werden, indem der eine sich in gar keine
Ordnung fügt, wenn er nimt beträchtliche Vorzüge erhält, ein anderer zu allem still-
smweigt. Auf diese Weise entsteht ein Notstaat; die erste Bedingung des allmählimen
Fortsmreitens zum vernunft-und rechtsgemäßen Staate.<< (IV, 238)
381 »Und nur für ein solches Ich, wenn es konsequent ist, hat die Welt Raum.« F. J. Stahl;
Die Philosophie des Rechts nach gesmimtlicher Ansicht, Harnburg 1830, I. Bd., S. 171.
Die Dialektik der reinen Autonomie 75

Erfahrung, also auch der des Gesellschaftlichen, kann die Allgemeinheit der Freiheit,
die ihre vernünftige Bestimmung ist, nicht realisieren. Die abstrakte Freiheit der
Subjektivität transzendiert diese nicht. So bleibt allerdings die Berechtigung des
Anspruchs der Sittlichkeit qua unendlicher Vervollkommnung der Subjektivität als
rein formaler Anspruch bestehen. Aber diese Erbschaft des Christentums, von Fichte
konsequent zu Ende gedacht, ist keine mögliche Grundlage eines Systems der prak-
tischen Philosophie.

b) Das Problem der Vermittlung und die Utopie


Der Ausgang von einem unmittelbar absoluten, unendlichen Freiheitsanspruch
muß das Problem seiner Vermittlung zur Endlichkeit notwendig aufnehmen. Die
Stellen im Werk Fichtes, an denen diese Notwendigkeit bewußt und ausdrüddich
auftaucht, sind spärlich. In den Tatsachen des Bewußtseins von 1810 lesen wir:
>>Naturtrieb, besondere sittliche Aufgabe, absolute Freiheit als das vermittelnde
Glied zwischen den beiden ersten, diese drei Stücke machen das Wesen des Indi-
viduums aus.« 382 Freiheit ist hier angesprochen als »vermittelndes Glied« zwischen
dem Naturtrieb des Individuums und dessen besonderer, d. h. ihm als diesem
zukommender, sittlicher Aufgabe. Zwischen dem natürlichen Sein des Individuums
und einem konkret an dieses ergehende Sollen (»besondere sittliche Aufgabe«)
müßte sich ein vermittelter Freiheitsbegriff einschieben, der pädagogisch oder juri-
stisch gefaßt - in jedem Fall aber eine gesellschaftliche Konkretion sein müßte.
In dem Zitat ist aber von der absoluten Freiheit die Rede, also von der absoluten
Unbestimmtheit der Subjektivität und dem ebenso absolut zu denkenden Gesetz
der Selbstbestimmung. In dem Text, der an das Zitat anschließt, wird klar, was es
mit dieser Vermittlung auf sich hat. »Also, durch diese Freiheit müßte das Indi-
viduum den Trieb als sein unmittelbar wirkliches Sein vernichten. Bleibt ihm ein
Sein übrig? Jawohl, seine sittliche Bestimmung und diese ist nun sein unmittelbar
wirkliches Sein.« 383 Der Ausspruch von der vermittelnden Freiheit ist hier sofort
wiederaufgehoben; die Vermittlung geschieht in Vernichtung der einen Seite, und
die andere Seite wird dann - konsequent - wieder unmittelbares Sein. Absolute
Freiheit und konkrete sittliche Aufgabe gehören auf die gleiche Seite; aber »beson-
dere sittliche Aufgabe«, wirkliches Sein der Sittlichkeit, ist immer schon Vermittlung
von absoluter Freiheit einerseits und natürlichem Sein des Individuums anderer-
seits. Tatsächlich führt Fichte im ,System der Sittlichkeit' die besonderen sittlichen
Pflichten als gegeben durch den »Stand des Individuums an. Aber diese ihm not-
wendig unterlaufende Einführung des konkret gesellschaftlichen Seins wird speku-
lativ nicht fruchtbar. Die Sittenlehre gipfelt auch da in der ,Bestimmung des Ge-
lehrten' als eines Standes der eigentlichen Verwirklichung von Vernunft und Frei-
heit. Letzten Endes wird so Vernunft wie Freiheit der übrigen Welt gegenüber-
gestellt. Es sollte hiermit erstens darauf hingewiesen werden, daß »absolute Frei-
heit« keine Kategorie der Vermittlung sein kann und zweitens, daß bei Fichte die

a82 II, 672.


383 Ebda.
76 Revolution und Wissenschaftslehre

Kategorie der Vermittlung überhaupt fehlt. Der Freiheitsbegriff bleibt abstrakt,


das sittliche Sein des Individuums wird, obwohl Ergebnis einer Vermittlung, wieder
sein unmittelbares Sein 384 • Eine Konsequenz der absoluten Freiheit, die, wie oben
zitiert, ja die Natur vernichtet, ist dann jener ethische Rigorismus, der über die
Kantsche Position hinaus bis zur Leugnung der Möglichkeit eines irrenden Ge-
wissens sich versteigt 385, wobei die wesentliche gesellschaftliche Bezogenheit eines
Begriffs wie Gewissen völlig außer acht bleibt.
Im System der Sittenlehre ist allerdings ein Versuch gemacht, absolute Freiheit
mit Natur zu vermitteln. Natur und Freiheit werden hier beide als Triebe auf-
gefaßt, Naturtrieb und reiner Trieb. Der sittliche Trieb ist dann ein »gemischter
Trieb«, der »das Materiale, auf das er geht«, vom Naturtrieb, seine »Form aber
nur vom reinen« hat. Die überaus mühevollen Ausführungen Fichtes an dieser
Stelle zeigen, daß er in dem abstrakten Freiheitsanspruch des revolutionären An-
satzes sich selbst treu bleibt; gesellschaftliche Wirklichkeit, des Rechts etwa, kann
nicht der Ort der Vermittlung sein, Freiheit bleibt als unmittelbarer Anspruch jeder
Wirklichkeit gegenüber. Der ursprünglich als unendlich bestimmten subjektiven
Freiheit wird der Bereich der Einschränkung, also der gesellschaftliche, nicht als
Vermittlung, sondern eben nur als Einschränkung bewußt bleiben. So wird Fichtes
Freiheitsbegriff als Ausgang seines ganzen Denkens notwendig zu der verhängnis-
vollen Zweiheit des Not- und Zwangsstaates einerseits 386 und der Utopie anderer-
seits kommen.
Es wird ein Gebot des Sittengesetzes sein, den Zwangsgesetzen zu gehorchen, aber
die eigentliche Aufgabe des Individuums ist es, die Gesellschaft zu transzendieren,
und zwar nicht nur im Sinne einer subjektiven Erhebung zur Sittlichkeit, sondern
auch im Sinne einer Ersetzung der Gesellschaft, eines überflüssig-Machens der Ge-
sellschaft als Not- und Zwangsstaates durch die >>einzige Familie« der Vernunft-
wesen 387. Aber auch diese utopische, diese zur Familie gewordene Gesellschaft wird
nicht der Ort von Freiheit sein können, der die Not- und Zwangsgesellschaft ja
gleichfalls nicht ist. Denn die intendierte Vernunftgesellschaft, die nach dem Vor-
bild des ,oikos' gebildete ,politeia', wird, konsequent aus den Grundlagen der Theo-
rie entwickelt, folgende Züge haben:
Die Allgemeinheit, die Vernunft und Freiheit in diesem Zustand haben werden,
machen, in der Fassung der Freiheit als Selbstbestimmung, eben diese Selbstbestim-
mung zu einem vernünftigen Allgemeinen. Die absolute Selbsttätigkeit, die in die-
sem utopischen Stadium ja erreicht ist, ist aber, allgemein verwirklicht, also in kei-
nem Widerspruch, in keiner Entgegensetzung zu dem nunmehr ja Allgemein-Ver-
nünftigen gedacht, ein sinnloser Begriff. Die unterschiedslose Allgemeinheit, in die

384 NidltS ist vielleicht so charakterisierend für Fichtes Denken wir hier das Erscheinen des
Begriffs der Vermittlung als Vernichtung der einen Seite. ,Vernichtung statt Vermitt-
lung' wäre eine prägnante Kurzformel zur Charakterisierung totalitären Denkens und
totalitärer Praxis.
ass Vgl. IV, 173 f.
388 Als Dualismus von Legalität und Moralität (der die Utopie zugeordnet bleibt) in der
politischen Theorie wirksam. (Vgl. Kapitel III.)
387 IV, 346.
Die Dialektik der reinen Autonomie 77

hier jede Selbsttätigkeit hineingerissen ist, diese undifferenzierte Menge von Indi-
viduen, die keine mehr sind, da jede Entgegensetzung fehlt, kann keinen Begriff
von Freiheit mehr verwirklichen. Sie wäre gar nicht lebensfähig (ihre Arbeits-
teiligkeit, also ihre Differenziertheit, müßte sie ohnehin von der verhaßten Zwangs-
gesellschaft übernehmen), wenn es nicht in ihr noch ein ausgezeichnetes Individuum
gäbe, das repräsentativ - die Identität dieses Repräsentanten wäre ja durch ver-
nünftige Allgemeinheit absolut - die Formulierung der Selbsttätigkeit jedes ein-
zelnen vornähme und koordinierte in Anordnungen, die jeder unmittelbar aus-
führen würde, da er ja ebenso vernünftig ist wie jener. Aber auf Grund welcher
Gegebenheit sollte sich ein so differenziertes Individuum in jener Familie freier
Selbsttätigkeit finden? In der Tat gibt es innerhalb dieser, hier konsequent bis zur
überspitzung durchgedachten »Familie« kein in dieser Hinsicht differenziertes
Individuum. Der Herrscher bzw. das regierende Subjekt in dieser Allgemeinheit
von Selbsttätigkeiten kann nur in dem ursprünglich das Ganze deduzierenden Ich
zu sehen sein.
In der erreichten absoluten Selbsttätigkeit aller kann selbst von Diktatur sinn-
vollerweise nicht mehr gesprochen werden, da nicht ein Individuum sich nicht mit
dem Allgemeinen identifiziert. Aber in jedem beliebigen Zeitpunkt der unend-
lichen Annäherung muß das System zwangsläufig totalitär in dem genauen Sinne
der geforderten totalen Identifizierung jedes einzelnen mit dem Allgemeinen sein.
Denn jedes Stadium der Annäherung wird einleuchtenderweise dadurch gekenn-
zeichnet sein, daß noch nicht alle oder sogar nur wenige zu dem Bewußtsein des
Sollens der absoluten vernünftigen Selbsttätigkeit gekommen sind. Die ,Bestim-
mung' der ,Gelehrten' als der zu dem Bewußtsein der Freiheit gelangten ist dann,
die »Aufforderung«, sich ebendahin zu erheben, beständig an alle ergehen zu lassen.
Soll aber unter den Bedingungen dieses Obergangs eine konkrete Politie aufgestellt
werden, eine lebensfähige, also differenzierte, arbeitsteilige Kulturgesellschaft, so
ist klar, daß die »Bestimmung des Gelehrten« jetzt politisch nichts anderes heißen
kann als Herrschaft derselben; dieAristokratie derGelehrten (denkökonomisch-ein
Individuum genügt ja in seiner vernünftigen Allgemeinheit) eines einzelnen
»Zwingherrn«- wird die Utopie und den Weg dahin politisch charakterisieren 388•
Bei Fichte ist es der Gelehrte, in dem Vernunft und Freiheit ihren Ort haben- die
politische Konsequenz ist die Diktatur desselben- eine Diktatur der Vernunft und
der Freiheit, die ex definitione jeden, der sich ihr entgegensetzt, nicht mehr als
Menschen ansehen kann; der Nichtintegrierte wird zum Nicht-Menschen. Der ab-
strakte Gesellschaftsbegriff, wie er von Fichte konzipiert ist und wie er in der Neu-
zeit zum Tragen gekommen ist, hat die Tendenz zum Totalitarismus gerade des-
halb in sich, weil er ausgeht von dem abstrakten Postulat der unendlichen Freiheit
des Individuums.

388 Die Gelehrten bzw. der Gelehrte funktioniert hier systematisch wie in Marx' Konzep-
tion das Proletariat. Die Forderung nach der Diktatur ist in beiden Theorien konse-
quent. (Vgl. für Fichte Kapitel IV dieser Arbeit.)
III. DIE TOTALE GESELLSCHAFT

Es war nicht nur Fichte, der zu seiner Zeit von dem >>Gegenstand« des >>Natur-
und Staatsrechts<< mit >>unwiderstehlicher Stärke<< angezogen wurde 389 • Je mehr
Kant selbst mit einer Schrift zu diesen Fragen auf sich warten ließ, desto stärker
mußte bei seinen Schülern das Bedürfnis werden, die Lücke auszufüllen. Die Fülle
der Naturrechtslehren, die, selbständig oder in Niethammers ,Philosophischem Jour-
nal' veröffentlicht 390 , in jenen Jahren erschienen, lassen sich als Arbeiten der Kaut-
Schule denn auch dahingehend zusammenfassen, daß sie fast alle, an die ,Kritik der
praktischen Vernunft' sich anschließend, die Rechtslehre aus dem Sittengesetz dedu-
zieren zu müssen glaubten. Die große Aufgabe, die ja über das Ausfüllen einer
Lücke eines Schule machenden Systems weit hinausreichte, die Aufgabe, das seiner
selbst kritisch neu bewußt gewordene Subjekt nun mit dem Allgemeinen auch in
praktischer Hinsicht, also mit Recht und Staat zu vermitteln, war schon Theodor
Schmalz 1791 in dieser zweifachen Hinsicht klargeworden 391 • Denn einerseits
erkannte er als Kantianer die Möglichkeit, >>die Grundsätze der Kamischen Philo-
sophie auf das Naturrecht<< anzuwenden, und zwar als Erster, wie er behauptet 392 ;
ferner ahnte er aber auch die über die Schule hinausgehende Bedeutung der Frage,
wenn er jenem neuen kritischen Selbstbewußtsein der Subjektivität Ausdruck gab,

38 9Schulz, I, 300.
390 Vgl. dazu neuestens Schottky, a.a.O., ,Anhang: Zur Frage vermutlicher historischer
Anregungen für Fichtes Grundlage des Naturrechts'. Vor allem: ,B. Verhältnis zu rechts-
und staatsphilosophischen Autoren aus Niethammers Philosophischem Journal'. Im
Gegensatz zu der von Schottky konstruierten problemgeschichtlichen Verbindung Hob-
bes-Fichte (s. weiter unten) ist die Untersuchung der Autoren aus dem ,Philosophi-
schen Journal', die Fichte sicher kannte, erschöpfend und einleuchtend. Immer noch
wichtig in diesem Zusammenhang ist Leon; Fichte et son temps. Bd. I, 272 ff. Metzger,
a.a.O., 148 ff. sieht vor allem in der Betonung der >>äußerlich-staatlichen Seite am Recht«,
die bei Erhard, Maimon und in Kants ,Zum ewigen Frieden' vorliege, die Anregungen
für Fichtes ,Grundlage d. N.'. Wesentlich ist hier vor allem Joh. Benj. Erhard, der schon
im Gegensatz zu den meisten Kantianern in seiner ,Apologie des Teufels' (Phi!. Journ.
I, 2, 1795) geschrieben hatte: >>Die Herleitung des Rechts geschieht daher nicht aus der
Moral, sondern aus der Möglichkeit der wechselseitigen Verträglichkeit der eigennützi-
gen Triebe beim Menschen.<< Zu Erhards Einfluß auf Fichte s. auch Walz, a.a.O., 466 ff.
und am ausführlichsten eben Schottky, a.a.O., 216 ff.
391 Theodor Schmalz; Das reine Naturrecht. 1. Auflage 1791. Hier zitiert nach der zweiten
Auflage, Königsberg 1795.
392 Schmalz, a.a.O., 12.
Die totale Gesellschaft 79

indem er in seinem ,Reinen Naturrecht' sagte, Naturrecht »kann nichts anderes


seyn, als Analyse des Begriffs: Freiheit.« 393 Schmalz hatte damit jenen Begriff an
den Anfang gestellt, dessen Erfassung und Verwirklichung die eigentliche Aufgabe
seiner Zeit war; für das politische Handeln sowohl wie für das Denken. Liest man
nun in dieser Schrift, die Fichte stark beeinflußt hat 394, in bezug auf die Freiheit
einen Satz wie den folgenden: »Mag die Möglichkeit derselben uns immer ein Rätsel
bleiben, so können wir doch den Begriff von ihr vollständig analysieren ... da
unsere praktische Vernunft sie immer postulieren muß« 395 , so wird klar, daß Fichte
als einem Transzendentalphilosophen ,dem Geiste nach', solche Begründung nicht
genügen konnte. Für die den neuen Ansatz bestimmende Deduktion des Naturrechts
nach ,Prinzipien der Wissenschaftslehre' wird nun der Unterschied zu den kantiani-
schen Naturrechtslehren seiner Zeit vor allem die scharf betonte Trennung von
Moral und Recht 396. Ordneten die Zeitgenossen durchweg die Rechtslehre dem Sit-
tengesetz unter, so wird dagegen die völlige Trennung beider zum systematischen
Punkt in dem Werk, mit dem Fichte den Versuch machte, die bisher gewonnene
Position der revolutionären Subjektivität nunmehr mit Recht und Staat zu vermit-
teln, der ,Grundlage des Naturrechts' 39"1.
über das Verhältnis des neuen Werkes zu den Revolutionsschriften Fid1tes scheint
es notwendig, vorab folgendes zu sagen. Wenn man sd10n Fichte als großen Dialek-
tiker vor Hegel anerkennt 398, so müßte dies allerdings so weit gelten, daß seine ein-
zelnen Positionen, wie sie in den großen politischen Werken sich verfestigt haben,
in einem dialektischen Verhältnis zueinander gesehen werden. So werden die Bei-
träge, wie am Schluß von Kapitel I zusammengefaßt, zu einer dialektischen Posi-
tion, die, von der Sache weitergetrieben, aus sich selbst die Gegenposition fordert.
In dem Aufnehmen dieser wird aber jene negiert nur im dialektischen Sinne, d. h.
sie geht in den Versuch der Vermittlung mit ein. So als Schritte in einem - wenn
auch unvollkommenen - dialektischen Prozeß gesehen, verliert der Streit um
,Wandlungen', ja um ,radikale Wandlungen' von Fichtes Lehren erheblich an Be-
deutung; unverständlich wird dann, wie neuestens Schottky einen solchen ,radika-
len Wandel' der politischen Theorie Fichtes zwischen den ,Beiträgen' und der
,Grundlagen d. N.' behaupten kann, wobei dann vergeblich gemutmaßt wird, was

393 Ebda. 16.


394 Zum Einfluß Schmalz' schon auf Fichtes ,Beiträge' vgl. Stretker, a.a.O., 39 ff. und
Schottky, a.a.O., 338 Anm. 9 und 341 Anm. 22.
395 Schmalz, a.a.O., 16.
398 Schmalz behauptet zwar a.a.O., 24. »eine gemeinschaftliche Wurzel für Naturrecht und
Moral«, trennte aber gleichfalls beides in der Durchführung voneinander.
397 ,Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre', Jena und Leipzig

1796.
Der zweite Teil: ,Angewandtes Naturrecht' erschien 1797. Im Weiteren zitiert als
,Grundlage d. N.'
398 Die hier angedeutete dialektische Beziehung der einzelnen Positionen Fichtes ist etwa
in der sonst sehr bemerkenswerten, schon in der Einleitung genannten Arbeit von
Hatzelmann nicht gesehen. Auch sind die Grenzen Fichtescher Dialektik, deren Enge
durch den Utopismus überspielt wird, von Hatzelmann nicht erkannt. Die besten Be-
merkungen über Fichtes Dialektik finden sich m. E. in dem Buch von Wolfgang Ritzel;
Fichtes Religionsphilosophie, Stuttgart 1956, 109 ff.
80 Die totale Gesellschaft

solchen Wandel wohl bewogen haben könne 399. Daß die Dialektik nicht das letztlich
bestimmende systematische Element im Gesamtdenken Fichtes bleibt 400 , daß er viel-
mehr statt einer beständigen Vermittlung schließlich doch zur Vernichtung der einen
Seite tendiert, deren tödliche Wirkung durch eine Utopie aufgefangen werden soll,
steht auf einem anderen Blatt und soll im Laufe dieser Arbeit aufgewiesen werden.

1. Moralität und Legalität

In der ,Gerichtlichen Verantwortung gegen die Anklage des Atheismus' weist


Fichte seine Gegner auf die ,Grundlage' als eine »reifere, durchdachtere Schrift«
hin 401 , die seine wahren politischen Grundsätze enthalte und angesichts derer die
gegen ihn erhobenen Anschuldigungen des Demokraten- und Jakobinertums in sich
zusammenfallsn müßten. Diese Anschuldigungen beriefen sich - nicht völlig zu
Unrecht - auf die politischen Frühschriften Fichtes, die im ersten Kapitel dieser
Arbeit behandelt sind. Indem Fichte nun auf sein rechtstheoretisches Hauptwerk,
eben die ,Grundlage', in diesem Zusammenhang nachdrücklich hinwies, distanzierte
er sich in gewisser Weise von seinen frühen Arbeiten. Die diesbezüglichen Bemer-
kungen Fichtes haben die Forschung häufig veranlaßt, die frühen Schriften zu ver-
nachlässigen 402, Es sei dahingestellt, inwieweit die Bagatellisierung der Revolutions-
schriften aus diesen Äußerungen Fichtes ihre Berechtigung ziehen kann 403, Im ersten
Abschnitt dieser Arbeit ist die konstitutive Bedeutung der Revolutionsschriften und
soeben ihr dialektischer Zusammenhang mit der ,Grundlage d. N.' behauptet wor-
den. Nunmehr soll die Weiterentwicklung in der ,Grundlage', dem systematischen
Hauptwerk der praktischen Philosophie Fichtes, aufgezeigt und Widersprüche sol-
len im Sinne der angeführten Dialektik erklärt werden.
Jede Interpretation der ,Grundlage', vor allem der politischen Teile, muß in die
Irre führen, wenn nicht bestimmte Umfunktionalisierungen, vor allem des Begriffs
des Staates, die in den ,Beiträgen' angelegt sind, berücksichtigt werden. Wenn Fichte
in der ,Grundlage' fast nur noch vom ,Staat' spricht - nicht aber von der Gesell-
schaft -, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier die lntegrierung
der beiden, die als Konsequenz der Revolutionsschriften bereits sich abzeichnete, im

399 Vgl. Schottky, a.a.O., 115/16.


4 00Vgl. Anm. 384. Die Schwierigkeit bildet hier vor allem die Problematik der Dialektik
als Methode, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden kann.
401 V, 288.
402 So hat Medicus die Revolutionsschriften in seine Ausgabe nicht aufgenommen, was aller-

dings auch schon von Julius Binder, Rickert und Reinhard Strecker bedauert wird. Aber
selbst letzterer wertet die ,Beiträge', obgleich er sie ausführlich behandelt, gegen die
späteren Schriften ab. In der Arbeit von Torretti schließlich, die doch einen systema-
tischen Ansatz verspricht, kommen die Revolutionsschriften nicht vor. Vgl. auch Wall-
ner, a.a.O., 84.
403 Die Bemerkungen Fichtes V, 288 über seine Revolutionsschriften im Vergleich zu der
,Grundlage' sind kompliziert formuliert; sie bestehen aus Eingeständnissen, die wieder
zurückgenommen werden, vorsichtigen Erklärungen, halben Zurücknahmen und versteck-
ten Bestätigungen.
Moralität und Legalität 81

Begriff des Staates vorgenommen ist 4 0 4 , Mit der Systematisierung des Fichteschen
Denkens, wie sie mit der Wissenschaftslehre von 1794, der ,Grundlage' von 1796/98
und der Sittenlehre von 1798 vorliegt, treten gegenüber den Revolutionsschriften
kaum Gesichtspunkte auf, die dem Kenner dieser Überraschungen bereiten könn-
ten 4os.
In den beiden ersten Kapiteln ist darauf hingewiesen worden, wie aus dem auf-
klärerisch-revolutionären Denkansatz heraus die Wendung gegen die bestehende
Wirklichkeit und ihr Ordnungsgefüge zum beherrschenden Moment der Theorie
wurde 406 • Den Widerspuch, der in der Theorie dadurch unausweichlich auftrat, daß
auf konkrete Ordnungsfunktionen nicht verzichtet werden konnte, obgleich die
Möglichkeit der Verwirklichung der wahren Ordnung des Vernunftstaates in der
autonomen Subjektivität allein verortet worden war 407 , löste Fichte durch Mediati-
sierung des Staates und jeglicher Herrschaft auf. In der gemäß den Intentionen
einer ,reellen' Philosophie 408 notwendig werdenden Zuwendung zu der Bedeutung
des ,Weges' für das ,Ziel', deren systematischen Ort die Arbeit von Torretti so stark
hervorhebt 409 , wurden jetzt die Ordnungsfunktionen einerseits stärker entwickelt,
andererseits blieben sie dem utopischen Fernziel des Reichs der aufgelösten politi-
schen Widersprüche untergeordnet. Diese Abwertung des intermediären Zustandes
im Vergleich mit dem absolut gewußten Endziel des Vernunftstaates einerseits, die
Aufwertung aber andererseits des Gesellschaftlichen und des ,Staates' als notwen-
digen und unausweichlichen Mittels zur Erreichung jenes Endzieles, hatte aber ge-
fährliche Konsequenzen für die Freiheitlichkeit der Theorie. Eine extreme Disjunk-
tion von Moralität und Legalität hatte zur Folge, daß der Bereich der Legalität,
also der der zwischenmenschlichen Wirklichkeit, soweit sie sich in äußeren Hand-
lungen realisiert, zum ,gottverlassenen' wurde 410, insofern Freiheit und Sittlichkeit

404 Wallner überträgt den neuzeitlichen Dualismus Staat-Gesellschaft unkontrolliert auf


Fichtes Denken. So kommt es bei ihm zu keiner durchgehenden Erklärung des Fichte-
sehen Freiheitsansatzes; er konstatiert lediglich ein fortschreitendes Aufgeben der ,libe-
ralen Grundposition' zugunsten eines ,sozialistisch-zentralistischen Staates'. Folgerichtig
verschiebt sich dann ,Gesellschaft' in den Bereich der Moralität {108). Das politische Pro-
blem des vergesellschafteten Staates, bzw. der verstaatlichten Gesellschaft kommt so
nicht in den Blick.
405 Mit Ausnahme allerdings der Stellen, die zu einer ,Organismustheorie' des Staates hin-
führen. Aus methodischen Gründen wird aber dies wichtige Problem hier erst im Kapi-
tel IV behandelt werden.
408 »Das aufklärerische Vergnügen, sich selbst für vernünftig und die Wirklichkeit für un•

vernünftig zu halten ... « (Jonas; Staatseingriff bei wirtschaftlichen Strukturanpassun-


gen. In: Der Staat, Bd. 2, Heft 3, S. 295).
Das ,Vergnügen' hatte allerdings seine historische Notwendigkeit in der best. revolu-
tionären Situation.
407 S. Kap. I.
408 Vgl. ,Grundlage d. N.', Einleitung.
409 Torretti, a.a.O., 20. Vgl. dazu über Torrettis Arbeit die Bemerkungen in der Einlei-

tung. - Metzger, a.a.O., 157/58 ist ein charakteristischer Beleg dafür, wie wenig die
Beziehung von Recht und Sittlichkeit im Gesamtwerk Fichtes durchschaut wurde.
410 Die Bemerkungen Hegels in der Einleitung zur Rechtsphilosophie von der '»gottverlasse-
nen«, vom »Atheismus der sittlichen Welt« als die der Staat in der Theorie einer sub-
jektivistischen Vernunft erscheine, der die »Vorstellung als ob die Freiheit des Denkens
82 Die totale Gesellschaft

hier nicht ihren Ort haben und dieser ganze Bereich jetzt dem vernünftigen Zwang
ausgeliefert werden kann. Der Rückzug der Freiheit in die bloße Subjektivität und
aus der Welt der konkreten Ordnungen ist durch die Formaldefinition des Rechts-
begriffs nur scheinbar verhindert. Diese vorausweisenden Andeutungen sollen in
der Untersuchung ausgeführt werden.

a) Die Trennung von Rechts- und Sittenlehre in der


,Grundlage des Naturrechts'
In der ersten ,Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten', die betitelt ist ,über
die Bestimmung des Menschen an sich', hatte Fichte als Voraussetzung aller anderen
Fragen und als erste und eigentlich einzige Frage der Philosophie und speziell seiner
die Frage nach der ,Bestimmung des Menschen', insofern er bloß als Mensch, bloß
nach dem Begriff des Menschen überhaupt gedacht wird, - »isoliert und außer
aller Verbindung, die nicht in seinem Begriffe notwendig enthalten ist« formu-
liert 411 • Aber bereits in der zweiten Vorlesung äußert er die - hier allerdings noch
recht unpräzise- Überzeugung, daß Gesellschaftlichkeit irgendwie zum Menschen
dazugehöre. Wenn wir lesen: »Es gehört unter die Grundtriebe des Menschen, ver-
nünftige Wesen seines Gleichen außer sich annehmen zu dürfen« 412 , so scheint dieses
»dürfen« seltsam unfestgelegt; aber einige Zeilen weiter finden wir eine Formu-
lierung, die der Interpretation wesentliche Aufschlüsse gibt. »Der Mensch ist be-
stimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein
ganzer, vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isoliert lebt.« 413
Dieser Selbstwiderspruch des isolierten Individuums soll hier außer acht gelassen
werden, wichtig und für die Entwicklung des Rechtsbegriffs wesentlich ist hier nur
die Bestimmung der Gesellschaftlichkeit als eines Sollens. Denn dies ist der Punkt
der systematischen Trennung von Moralität und Legalität. Ist Gesellschaftlichkeit
als solche als Sollen aufgefaßt, so macht ihre Behandlung ein Kapitel der Sitten-
lehre aus. Die Diskussion der Gesellschaftlichkeit wird so in die Subjektivität hinein
verlegt und hier erledigt sich die Frage der Freiheit. Mit solcher Bestimmung der
Gesellschaftlichkeit als eines Sollens, die auf diese Weise an der Freiheit formaliter
festhält, ist aber für die konkrete Gestaltung der Gesellschaft in Freiheit noch nichts
gewonnen. Es besteht hier vielmehr die Gefahr, daß, wenn Gesellschaftlichkeit in
der Bestimmung als Sollen zu einer Angelegenheit der vorgängigen, frei entschei-
denden Subjektivität wird, ihre konkrete Durchgestaltung dann nach ganz anderen
Gesichtspunkten erfolgen kann als nach freiheitlichen. Die ursprüngliche Bestim-
mung der Gesellschaftlichkeit als eines Sollens ist dann nur eine formale Absiehe-

und des Geistes überhaupt sich nur durch die Abweichung, ja Feindschaft gegen das
öffentlich Anerkannte beweise, ... « fest »eingewurzelt« sei, weisen die ,Rechtsphilo-
sophie deutlich als nachrevolutionäre Theorie aus. Hier ist versucht worden zu zeigen,
wie Fichte als der eigentliche Denker der Revolution ebenso notwendig zu seinem Ver-
nunftbegriff kam, wie Hegel die Notwendigkeit einsah, diesem herrschenden Vernunft-
begriff besonders »in Beziehung auf den Staat« entgegenzutreten.
411 VI, 293/4.
412 VI, 306.
413 Ebda.
Moralität und Legalität 83

rung des ganzen Bereichs der gestalteten Gesellschaft, innerhalb welcher Gestaltung
sich dann zweckrationale Gesichtspunkte geltend machen, die zwar als Umwillen die
Freiheit des Einzelnen und seine Vervollkommnung haben, von wirklicher Freiheit
- als Dasein, nicht als Umwillen - aber weit entfernt sein können.
Die Untersuchung der ,Grundlage' wird ergeben, daß dem in der Tat so ist.
Die Trennung von Rechts- und Sittenlehre bei Fichte ist systemimmanent denk-
notwendig. Obgleich sie sich im Problem der Gesellschaftlic:hkeit material berühren,
sind sie doch so streng geschieden, wie kategorisch und hypothetisch für einen Kant-
schüler nur getrennt sein können. Die Rechtslehre wird als eigene Wissenschaft von
der Sittenlehre abgesetzt 414 • Die Unterschiedenheit der beiden ist für Fichte aus
seiner Deduktion so evident, daß er auf eine ausführliche Widerlegung derjenigen,
»welche die Rechtslehre vom Sittengesetz abzuleiten versuchen« 415, verzichten zu
können glaubt. In der Sittenlehre ist zwar auch die Gesellschaftlichkeit als solche
legitimerweise behandelt; aber von dieser >>moralischen Verbindlichkeit« 416 des ge-
sollten Eintretens in die Gesellschaft und der damit verbundenen Einschränkung der
Freiheit »ist nun in der Rechtslehre nicht die Rede; jeder ist nur verbunden durch
den willkürlichen Entschluß, mit anderen in Gesellschaft zu leben, und wenn
jemand seine Willkür gar nicht beschränken will, so kann man ihm auf dem Gebiete
des Naturrechts gar nicht weiter entgegenstellen, als das, daß er sodann aus aller
menschlichen Gesellschaft sich entfernen müsse« 4 17.
Auch weiterhin hält Fichte mit starker Betonung an der Trennung von Rechts-
begriff und Sittengesetz fest. »Der deduzierte Begriff (Rechtsbegriff, B. W.) hat
mit dem Sittengesetz nichts zu tun, ist ohne dasselbe deduziert, und schon darin
liegt, da nicht mehr als eine Deduktion desselben Begriffs möglich ist, der faktische
Beweis, daß er nicht aus dem Sittengesetz zu deduzieren sei« 418 • Diese ,Zerreißung'
des Menschen - Anlaß der fundamentalen Kritik Hegels - wird weiter unten noch
untersucht werden 419 • Es wird sich dann zeigen, daß der subjektivistische Freiheits-
begriff in der so aufgefaßten philosophischen Rechtslehre nur durch diese scharfe
Trennung überhaupt formal gerettet werden konnte. Der Pflichtbegriff, als
wesentlicher Inhalt des Sittengesetzes, widerspricht ja sogar häufig dem Rechts-

414 111, 10.


413 Ebda.
418 111, 11.
417 Ebda.
418 111, 54.
419 In seinem Naturrechtsaufsatz von 1802/3 hat Hegel bereits den Blick auf die entschei-

dende Schwäche des Fichteschen Systems, nämlich die ,Zerreißung' in Moralität und
Legalität, gelenkt. Die Aufgabe, die dem revolutionären Denken gestellt war, die Ver-
mittlung der so machtvoll aufgetretenen Subjektivität mit dem Allgemeinen, konnte
von Fichtes Ansatz her nur unter Gewaltsamkeiten erreicht werden. (Auch in der Kritik
dieser Gewaltsamkeit hat Hegel bereits Endgültiges gesagt.) Den Ansatz aber nennt
auch Wallner mit Recht eine ,notwendige Stufe' (a.a.O., 87). Es war die Konsequenz, die
Fichte zum Handelsstaat als »einer Darstellung der vollständigen Herrschaft des Ver-
standes, und Knechtschaft des Lebendigen« (Hegel, W. I, 1, 14) trieb. Dagegen lobt
Hegel die »Inkonsequenz« als »das Vollkommenste an unvollkommenen Staaten«.
(Ebda.) Eben diese Inkonsequenz hatte Fichte in den ,Beiträgen' gelobt (VI, 66) aber
mit entgegengesetzter Intention!
84 Die totale Gesellschaft

begriff, worauf Fichte hier ausdrücklich hinwies 42 0: Andererseits ist aber an einer
Pflicht zum Recht festzuhalten - aber dieses freie Sollen ist nicht Gegenstand der
Rechtslehre. >>Das Recht muß sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen
guten Willen hätte; und darauf geht eben die Wissenschaft des Rechts aus, eine
solche Ordnung der Dinge zu entwerfen.« 421

b) Der hypothetische Charakter des Rechts


in der Trennung von Moralität und Legalität
Die Aufgabe einer philosophischen Rechts- und Staatslehre hatte Kant in der
K. d. r. V. so formuliert: »Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit
nach Gesetzen, welche machen, daß jede Freiheit mit der anderen ihrer zusammen
bestehen kann ... ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß
im ersten Entwurf einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum
Grunde legen muß.<< 422 In dem Selbstverständnis der Kant-Nachfolge leistet Fichte
genau dieses, indem er zu Beginn der Grundlage den so gefaßten Rechtsbegriff,
Kants ,notwendige Idee' deduziert. Indem diese Deduktion des Rechtsbegriffs sowie
die Entfaltung aller seiner Implikationen ,nach Principien der Wissenschaftslehre'
geschieht, die Deduktion aber vollständig gegeben wird, beginnt Fichte auch hier
in der ,Grundlage d. N.' mit dem Prinzip der Wissenschaftslehre 423 • Auf diese
Weise liegt in der ,Grundlage d. N.'- ebenso wie später im ,System der Sittenlehre'
und schließlich auch in der ,Staatslehre von 1813' eine kurze Fassung der Wissen-
schaftslehre vor, die u. E. zu den geschlossensten und glücklichsten gehört. So fin-
den wir gerade hier Sätze von überzeugender und einprägsamer Formulierung, wie
etwa den folgenden, der das Prinzip der Wissenschaftslehre, die allem Bewußtsein
vorgängige Subjekt-Objekt-Identität mit seltener Eindrücklichkeit klarmacht: >>Sich
selbst in dieser Identität des Handeins und Behandeltwerdens, nicht im Handeln,
nicht im Behandeltwerden, sondern in der Identität beider ergreifen und gleichsam
auf der Tat überraschen, heißt das reine Ich begreifen und sich des Gesichtspunktes

420 >>Ja, das Sittengesetz verbietet sehr oft die Ausübung eines Rechts, das dann doch, nach
dem Geständnis aller Welt, nicht aufhört, ein Recht zu sein.<< (III, 54)
421 III, 98. Zum Problemhistorischen vgl. Metzger, a.a.O., 36, 133 f., 150 f. Zu einem ,sozio-

logischen' Grund der Trennung von Recht und Moral vgl. Walz, a.a.O., 487 ff., den
auch Scholz noch zustimmend zitiert. (Scholz, a.a.O., 200 ff.)
422 K. d. r. V. A 316, B 373.
423 Scholz betont zwar, ebenso wie etwa Marianne Weber die Verbindung der Politischen

Theorie, bzw., der ,Ökonomik' mit Fichtes Gesamtphilosophie. Aber diese Verbindung
ist in beiden Arbeiten nicht durchgehalten, sonst könnte Scholz nicht zu dem völlig
unverständlichen Zweifel an der Relevanz von Fichtes Aussage kommen, daß die
Grundlage d. N.' nach ,Prinzipien der Wissenschaftslehre' ausgeführt sei. (Scholz, a.a.O.,
178).
Ambivalent ist folgende .i\ußerung Windelbands: >>Ja ich meine nicht nur, daß es
möglich ist, die wesentlichsten Züge der Staatstheorie Fichtes ohne Anknüpfung an
jene schwierigen Prinzipien klarzulegen, sondern ich glaube auch, daß man umgekehrt
aus dieser - ex ungue leonem - am leichtesten die ganze Philosophie des Mannes und
damit den Mann selbst verstehen lernen könne.<< (Windelband; Fichtes Idee des deut-
schen Staates, o. 0. 1890, S. 2).
Moralität und Legalität 85

aller transzendentalen Philosophie bemächtigen.« 424 In der intentionalen Spannung


auf das Recht als zwischenmenschlicher Ordnung wächst der Theorie ein Maß an
Konkretion zu, das anderswo- in der Wissenschaftslehre von 1794 schon gar nicht-
kaum erreicht ist; die Aufgabe der Deduktion des anderen Ich, die eigentliche Crux
der Wissenschaftslehre, wie wir sie oben bezeichneten, ist hier u. E. überzeugender
als später im System der Sittenlehre gelöst. Daß auch hier die Philosophie des Ich
nicht über ihren Schatten springen kann, daß die scheinbare Geschlossenheit der
Deduktion nur um den Preis einer extremen Disjunktion erreicht ist, der Disjunk-
tion von Moralität und Legalität nämlich, wird im weiteren noch deutlich werden.
Die Deduktion des Rechtsbegriffs soll nicht referiert werden. Das Wesentliche und
das Neue besteht darin, daß die für das Selbstbewußtsein des vernünftigen Ich
schon konstitutive Annahme anderer freier Iche aufgewiesen wird 42 5. Indem das

424 Smelsky hat seine erste ,Theorie der Gemeinsmaft' in Anlehnung an Fimtes ,Grund-
lage' verfaßt, weil er in dieser das Werk Fimtes sah, »das außer einem kurzen Abriß des
idealistismen Denkansatzes aum eine Theorie der Vermittlung des Einzelnen mit dem
Allgemeinen in praktisdler Hinsidlt - also eine Theorie der Gemeinsdlaft - enthält,
die hier am weitesten im idealistismenDenken vorgetrieben ist«. Was diese ,Vermittlung'
angeht, so kommt zwar diese Untersumung zu kritismen Ergebnissen, aber eine gewisse
Repräsentanz der ,Grundlage d. N.' für Fimtes Denken überhaupt ließe sim vertre-
ten.
425 Dieses Ergebnis Fichtes, in der Gegenwart als die wahre philosophische Grundlage der

,Interpersonalität' entdeckt und begrüßt, (Lauth, W. Smulz, vgl. Einleitung) ist hoch-
problematisch. Wenn Sdlottky behauptet, Fichtes ,Grundlage d. N.' sei »die krönende
Zusammenfassung« der »aufklärerismen Tradition«, (a.a.O., 208) so haben dagegen
Torretti und vor allem Vaughan sehr deutlich betont, daß der aufklärerische Indivi-
dualismus in der ,Grundlage d. N.' liquidiert sei. Torretti verwahrt Fichte geradezu vor
dem ihm zugeschriebenen Individualismus: "Welche Bedeutung kann da noch dieser
berüchtigte Terminus behalten, wenn das Individuum selbst so aufgefaßt wird, daß es
nicht das, was es je ist, sein kann ohne ein vorgängiges, im strengsten Sinne existentielles
Verhältnis zu anderen Individuen zu erhalten« (a.a.O., 80). Eingehend beschäftigt sich
Vaughan mit dieser Frage. Er entwickelt vor allem auch schon für Fichtes frühe Schriften
den beherrschenden Widerspruch zwischen der individualistischen Vertragstheorie und
»the idea of progress and that of the moral or educative, function of the state« (a.a.O.,
103). Mit der Vertragstheorie sieht er auch die Trennung von Legalität und Moralität
gegeben. » The conception of contract, as the expression of a deepseated belief in the
sovereignty of the individual, logically goes hand in hand with a sharp separation bet-
ween the spheres of politics and of morals« (104). Aber sowohl diese wie auch der Ver-
tragsgedanke, verschwindet ihm in der ,Grundlage d. N.', trotz Fichtes starker Betonung
beider, »to almost nothing« (105). Vaughan übersieht zwar, daß Moralität - wenn
auch schließlich nur als bloße Innerlichkeit, aber mit utopischer Dynamik - aus Fichtes
Denken nicht ganz verschwindet, wie auch die Bestimmung der Gesellsmaftlichkeit als
,Pflicht', aber es ist ihm völlig zuzustimmen, wenn er klar herausstellt, daß mit der
,Grundlage d. N.' - dem Geiste nach - die Tradition der Aufklärung verlassen ist.
Schottky, der Vaughan zitiert, übersieht dies völlig, ebenso wie den Widerspruch, der
zwischen der Behauptung eines radikalen Denkwandels von ,Beiträgen' zur ,Grundlage
d. N.' und dem Bestehen auf Durchhalten der aufklärerisch-individualistischen Position
zu liegen scheint.
Jene erste Leistung von Fichtes Denken, die hier als die Dimensionierung der Sub-
jektivität bezeichnet ist, ist - unter dem Einfluß des personalistischen Denkens - in
ihrer grundlegenden Bedeutung für das moderne Bewußtsein wieder entdeckt wor-
den. In dieser Wiederentdeckung wurde als wesentlichste Dimension der Fichte-
86 Die totale Gesellschaft

Ich sich als solches setzt, sind andere gegeben; Freiheit als bestimmte Freiheit dieses
Ich setzt andere Iche in bestimmter Freiheit gleichzeitig und unumgänglich. Der
,Rechtssatz' lautet demnach: »Ich muß das freie Wesen außer mir in allen Fällen
anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit
seiner Freiheit beschränken.« 42 6 So hat Fichte auf seine Weise die Aufgabe, die
Kant gestellt hatte, im Grundsätzlichen gelöst. Aber in dem aufgestellten ,Rechts-
satz' liegt eine Implikation, die von den bedeutendsten Folgen ist. Der Rechtsbegriff
nämlich >>ist der Begriff eines Verhältnisses zwischen Vernunftwesen<< 42 7. Liest man
diesen Satz mit der Betonung auf ,Vernunftwesen', so bedeutet er, was Fichte hier
auch ausdrücklich anmerkt, daß von einem Rechtsverhältnis nur zwischen Vernunft-
wesen die Rede sein kann, Recht kann Recht immer nur sein als Recht auf freie
Handlungen, niemals aber ein Recht auf eine Sache als solche. Dieser Umstand wird
in der Diskussion von Fichtes Eigentumslehre noch eine bedeutende Rolle spielen;
er wird sich als der Punkt des Umschiagens der Freiheitslehre in die Theorie der
totalen Gesellschaft erweisen. Aber jener Satz, mit der Betonung auf ,Verhältnis'
gelesen, offenbart die folgenreiche Lücke der Deduktion. Zwei Zitate sollen das
verdeutlichen. >>Es ist notwendig, daß jedes freie Wesen andere seiner Art außer
sich annehme; aber es ist nicht notwendig, daß sie alle, als freie Wesen, nebenein-
ander fortbestehen; der Gedanke einer solchen Gemeinschaft und die Realisation
derselben ist sonach etwas Willkürliches.<< 428 >>Das vernünftige Wesen ist nicht
absolut durch den Charakter der Vernünftigkeit verbunden, die Freiheit aller Ver-
nunftswesen außer ihm zu wollen; dieser Satz ist die Grenzscheidung zwischen

sehen Subjektivität eben jene ,Interpersonalität' erkannt. So schreibt Walter Schulz


in seiner Gedenkrede zum Fichte-Jahr 1962: >>Allein am anderen Ich gewinnt das Ich
Halt und Selbständigkeit.« (W. Schulz; ]. G. Fichte, Vernunft und Freiheit, Pfullingen
1962, S. 20) Und: ''· .. daß Fichte nicht nur die Ich-Du-Beziehung thematisiert hat,
sondern daß sein Ansatz der modernen Fassung dieses Problems überlegen ist<< (a.a.O.,
21). Die wichtigste Arbeit in dieser Hinsicht ist der Aufsatz von R. Lauth: Le Probleme
de L'interpersonalite chez ]. G. Fichte, in: Archives de Philosophie, Tome XXV, Cahier
III-IV, 1962. (Vgl. auch den Bericht von H. M. Baumgartner; ,Nachlese zum Fichte-
Jahr 1962' im Phi!. Jahrbuch der Görresgesellsch., Jg. 71, 2. Hbbd.) Daß die das Indi-
viduum konstituierende Setzung anderer lebe in gleicher Freiheit für das ,andere'
Problem in Fichtes Denken, nämlich das der Vermittlung der so gewonnenen Subjektivi-
tät zum Allgemeinen in Recht und Staat, also für die politische Theorie gefährliche,
letztlich die Freiheit bedrohende Konsequenzen hat, davon handelt die vorliegende
Arbeit. Der Gewinn an Konkretheit, der der Subjektivität in der sie bestimmenden Di-
mension der ,Interpersonalität' zuwuchs, setzte sich bei Fichte nicht in konkrete politische
Theorie um. Angesichts der Notwendigkeit, mit der Fichtes politische Theorie aber aus
seinem Ansatz hervorgeht, scheint die Frage unabweisbar, ob die die Subjektivität
scheinbar so ganzheitlich prägende Dimension der ,Interpersonalität',- die bestimmten
Richtungen zeitgenössischen Denkens so sehr entgegenkommt - in Wahrheit ein Ge-
winn sei, und ob nicht das Beharren auf einer Position der Entzweiung, deren eine
Seite dann die - zugegeben - abstrakte Subjektivität bleibt, und das Bemühen, solche
Entzweiung als Voraussetzung der Wirklichkeit von Freiheit, also als Errungenschaft zu
begreifen, für eine ,reelle' Philosophie fruchtbarer werden könnte.
426 III, 52.
427 III, 55.

42s III, 9.
Moralität und Legalität 87

Naturrecht und Moral.« 429 Weder ist die Notwendigkeit der konkreten Gesell-
schaftlichkeit als solcher, noch die ihrer freiheitlichen Durchgestaltung aufzuweisen.
Wir sind wieder an die Grenzen des subjektiven Freiheitsbegriffs gelangt. »Es
läßt sich gar kein absoluter Grund aufzeigen, warum jemand sich die Rechtsformel:
beschränke deine Freiheit so, daß der andere neben dir auch frei sein könne, zum
Gesetz seines Willens und seines Handeins machen sollte.« 430 Ein absoluter Grund
würde die Freiheitlichkeit aufheben; die Wirklichkeit muß so hypothetisch ge-
macht werden, um jene zu ermöglichen. Hier liegt eben der systematische Ort der
,Grenzscheidung zwischen Naturrecht und Moral', der Disjunktion von Legalität
und Moralität. Denn die Absolutheit der gegenseitigen freiheitlichen Ordnung
der Verhältnisse der Vernunftswesen kann nur dargetan werden im morali-
schen Sinne, d. h. als sittlicher Anspruch. Im Revolutionskapitel war gezeigt
worden, wie Fichte sich dort auf den ,Nachweis' der Moralität beschränkte
und Hinweise aus der Wirklichkeit mit ihren unmoralischen Möglichkeiten als
Einwürfe aus ,einer anderen Welt' nicht gelten lassen wollte. Jetzt in der
Rechtslehre wird der Bereich der konkreten Ordnungen, jene ,andere Welt',
Gegenstand der Theorie; aber er modifiziert diese nicht, vielmehr wird an der
Moralität durchaus festgehalten und ihr der Bereich der Legalität unvermittelt hin-
zugefügt. Dieses Fehlen einer wirklichen Vermittlung zwischen Moralität und
Recht 431 hat folgende Konsequenzen: Erstens, der Bereich des Rechtes, der Legali-
tät, wird zum Bereich hypothetischer Imperative. »So viel läßt sich einsehen,
... daß sonach, wer diese Gemeinschaft wolle, notwendig das Gesetz auch wollen
müsse; daß es also hypothetische Gültigkeit habe.« 432 Zweitens wird die Heraus-
nahme der Sittlichkeit, also auch der Freiheit aus dem Bereich der Legalität diesen
der bloß zweckrationalen Rechtstechnik ausliefern. Hier liegt die gleiche Struktur
vor, wie sie im Abschnitt ,Staat und Gesellschaft beim frühen Fichte' betrachtet
worden ist, wo der abstrakte Hinweis auf die Möglichkeit, das Staatsgebiet zu ver-
lassen, in seiner nur scheinbaren Freiheitlichkeit gerade eine Betonung der Tendenz
zur Aufhebung der Freiheit im konkreten Sinne war. Ebenso genügt die theoretische
Absicherung, die in der hypothetischen Fassung des Rechtssatzes liegt, nicht, die
dann deduzierte Rechtsordnung zu einer freiheitlichen zu machen. Denn der Hin-
weis, daß die Entscheidung des Vernunftwesens zur Gemeinschaft frei sei, ist in
höchstem Maße abstrakt. Freiheit bleibt dann zwar das formale Umwillen des

428 Für ein abstrakt-rationalistisches Denken besteht so immer, wenn es sich auf politische
Theorie einläßt, die Schwierigkeit der Demonstrabilität eines freiheitlichen Systems. Ein
ausgezeichneter Beleg dafür ist das große Werk von Arnold Brecht; Politische Theorie
(Tübingen 1961), das getreu alles Scheitern verzeichnet, zu dem solches Denken in der
Zuwendung zur politischen Theorie im 20. Jh. verurteilt war - ohne selber schließlich
diesem Schicksal zu entgehen.
430 III, 89.
431 In der ,Grundlage d. N.', III, Hauptstück, § 8 (III, 103) schreibt Fichte: »Das positive

Gesetz schwebt in der Mitte zwischen dem Rechtsgesetz und dem Rechtsurteile.« Könnte
hier der Schein einer ,Vermittlung' auftauchen, so ist im Auge zu behalten, daß dies
alles auf Seiten der Legalität bleibt.
432 III, 89.
88 Die totale Gesellschaft

Rechts; dieses wird aber nicht zum Dasein der Freiheit 433 • Natürlich ist im Auge
zu behalten, daß Fichte den Bereich der Moral durch den - nach seiner Theorie ja
viel engeren - Bereich des Rechts nicht völlig suspendieren will. Aber dadurch
erscheint dieser noch weiter entwertet; die Mediatisierung und Tendenz auf Ver-
schwindenmachen dieses Bereiches ist in der Theorie die notwendige Folge.

c) Recht als Zwang; Moralität als Alibi des Zwangsrechts


In dem revolutionären Grundansatz war Fichte als Ausgangspunkt seines Den-
kens der Einzelne in seiner Freiheit gegeben. Die überragende Bedeutung dieses
Denkens liegt in der Ausdimensionierung dieser ihm so zum eigentlichen Gegenstand
gewordenen Subjektivität. Diese nun mit dem Allgemeinen in Recht und Staat zu
vermitteln, mußte dem systematischen Denker Fichte zur anderen großen Aufgabe
werden 434 • Dabei treiben zwei für Fichtes Denken konstitutive Faktoren dieses,
soweit es sich mit Recht und Politik befaßt, in eine ganz bestimmte Bahn. Die bei-
den Tendenzen sind in den ersten beiden Kapiteln behandelt worden und sollen
hier noch einmal kurz in ihrer spezifischen Wirkung auf Fichtes Rechtsdenken be-
trachtet werden. Der revolutionäre Ansatz Fichtes, der ein bestimmtes Wirklich-
keitsverhältnis implizierte, ließ ihn an der bestehenden Rechtswirklichkeit seiner
Zeit nicht unter dem Aspekt des Begreifens, sondern unter dem des Veränderns
interessiert sein 435 • So ist Vernünftigkeit etwas, das die Subjektivität an die Ord-
nung heranbringt; nicht die ursprünglich noch im Begriff der Deduktion gefaßte
Anstrengung des vernünftigen Begreifens von Wirklichkeit kommt hier zum Tra-

433 Ein interessanter Beitrag zum Thema des totalitären Denkens ist die Analyse des Ge-
meinplatzes ,Wer A sagt muß auch B sagen' durch Hannah Ahrendt. (Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1956.) In gewissem Sinne ist Fichtes Theorie
der Legalität, d. h. der menschlichen Gemeinschaft im praktischen Sinne eine Anwendung
dieser Denkstruktur. Das dem Individuum (abstrakt) als freiheitliche Entscheidung zu-
gegebene A verpflichtet es in der Folge zu B, C usw. als ,vernünftiger' Konsequenz.
(Vgl. dazu wieder Hegels ,Lob der Inkonsequenz'; Anm. 3, S. 169.)
434 »Das Individuum selber, wie dessen Name bis heute gebraucht wird, reicht der spezifi-

schen Substanz kaum allzuweit hinter Montaigne oder den Hamlet, allenfalls auf die
italienische Frührenaissance zurück.« So Th. W. Adorno in: Individuum und Organi-
sation; ersch. in: Die Herausforderung, München 1963, S. 143. Die veränderte gesell-
schaftliche Wirklichkeit, die das Individuum hervorbrachte, das sich schließlich in der
Französischen Revolution spektakulär »Zum Subjekt von Recht und Staat« machte (Rit-
ter, Hege! u. d. Fr. Rev.) zwang dieses, sich nunmehr wieder mit dem als Unmittelbarkeit
verlorengegangenen Allgemeinen zu vermitteln. Erkenntnistheoretisch war dieser Ver-
such die Transzendentalphilosophie, in der praktischen Philosophie die Freiheitslehre des
Idealismus. >>Das Problem, das die Forderung politischer Freiheit durch die Revolution
aufgeworfen hatte, liegt darin, die Rechtsform der Freiheit zu finden, d. h. eine Rechts-
ordnung auszubilden, die der Freiheit des Selbstseins angemessen ist und ihr gerecht wird
und es dem Einzelnen ermöglicht, er selbst zu sein und zu seiner menschlichen Bestim-
mung zu kommen<< (Ritter, a.a.O., S. 20).
435 Torretti erkennt dies als die eigentlich systematische Komponente in Fichtes idealistischer
Konzeption (a.a.O., 20). Wie stark Fichte dann doch an das gesellschaftliche Rechts-
empfinden seiner Zeit gebunden war, zeigt sein ,Eherecht', das nichts anderes ist als eine
oberflächliche Rationalisierung schichtenspezifischer ,Selbstverständlichkeiten'.
Moralität und Legalität 89

gen, sondern die Deduktion aus einer Vernünftigkeit, die der Wirklichkeit postu-
lierend gegenübersteht 436 •
Die zweite konstitutive Komponente folgt aus der ersten; es ist die Fassung des
Freiheitsbegriffs, der oben als abstrakt-subjektivistisch bezeichnet worden war.
Dort sind für die praktische Philosophie zwei Konsequenzen herausgestellt wor-
den. Die erste folgte aus der im Wesen dieser Freiheit mitgedachten Selbsteinschrän-
kung. Wenn Freiheit als ursprünglich subjektiv-unendliche Negativität gedacht ist,
so hängt die Praktikabilität dieses Freiheitsbegriffes von seiner Einschränkung ab.
Die praktischen Notwendigkeiten des Zusammenlebens fordern Bestimmtheit der
Freiheit, setzen Individuation voraus. Recht als Begriff des Zusammenlebens freier
Individuen bedeutet also eingeschränkte Freiheit, und da die Erzwingbarkeit zur
Praktikabilität einleuchtet, bedeutet Recht Zwang. So erscheint der Zwang als ver-
nünftige Konsequenz des Freiheitsbegriffs. Dies aber hat systematisch die merk-
würdigsten Folgen. Insofern Freiheit ursprünglich als mit Vernunft identisch ge-
dacht ist, bleibt so das Recht, das aus diesem Freiheitsbegriff gefolgert ist, ver-
nünftig, solange diese Herkunft gewahrt bleibt. Diese Vernünftigkeit des Rechts
potenziert noch das Zwingende des Zwanges. Aber die Vernünftigkeit, also Frei-
heitlichkeit des Rechts reduziert sich auf die Herkunft. Der Zwang legitimiert sich
aus dem Wesen der Freiheit, insofern ihre Verwirklichung Einschränkung bedeutet.
Hier tritt in der praktischen Philosophie die Disjunktion von Moralität und Legali-
tät ein, und das Fehlen eines Begriffs der Vermittlung wird einmal mehr deutlich.
Zwang erscheint als das Prinzip der Legalität und Freiheit als das der Moralität.
Fichtes Wissenschaftsbegriff fordert aber ein Prinzip. Der Zwang, als der das Recht
erscheint, muß also in die Freiheit aufgehoben werden. Indem >>kein absoluter
Grund<< zur Legalität aufgestellt wird, ist diese Aufhebung aber nur scheinbar ge-
lungen. Das Individuum soll - kann - sich in die Legalität begeben, bzw. seine
Freiheit wahren, indem es aus ihr entweicht. Angesichts dieser Möglichkeit, die dem
Einzelnen bleibt, bedeutet Eintreten in bzw. Verharren im Bereich der Legalität
freie Entscheidung für den Zwang 437 • Diese Rechtfertigung des Zwanges als solchem
blieb aber auch für Fichte unerträglich. Er wird schließlich auf die Seite gebracht,
indem Zwangsrecht und jede Herrschaft überhaupt mediatisiert wird und im utopi-
schen Umwillen schließlich ganz verschwindet 438.

436 Vgl. Kap. 1,5 d. Arbeit.


437 Aus dieser Struktur erklärt sich Fid1tes Festhalten am Vertragsgedanken. Aber dieser
verliert völlig seine Bedeutung für die politische Theorie, wenn er nicht die Wirklichkeit
der Legalität tatsächlich mitstrukturiert, sondern, wie bei Fichte, in der Bewahrung der
bloßen moralischen Innerlichkeit sich erschöpft (vgl. Anm. 425). Gegen seine Absicht
gibt das Scholz zu, wenn er schreibt: »So gewinnt Fichte durch die scharfe Tren-
nung von Recht und Sittlichkeit die Möglichkeit, Grundsätze herauszuarbeiten, die der
äußeren (!) Seite menschlichen Zusammenlebens als Regel dienen können, ohne daß die
sittliche Freiheit des autonomen Individuums dabei bedroht erscheint« (a.a.O., 208)
vgl. auch Wallner, a.a.O., 86.
438 Fichtes ganze politische Theorie erweist sich so als eine Theorie der Revolution unter
Ablehnung der Gewaltanwendung. Von der Basis des Moralischen her - die deswegen
auch aus dem Bereich der Legalität herausgehalten wird - will sie zur Umwandlung
aller bestehenden Wirklichkeit in die Moralität hineinkommen.
90 Die totale Gesellschaft

So scheint hier die Moralität als Voraussetzung wie auch als utopisches Umwillen
gleichsam als Alibi des Zwangsrechtes zu fungieren. Der Gegenbegriff zur Freiheit
ist allerdings Zwang - politisch als Herrschaft, d. h. Fremdbestimmung. Aber
Herrschaft als das politische Phänomen konnte dem revolutionär-abstrakten Ver-
nunftbegriff nicht als rational erscheinen. Fichte bekämpfte die Fürstenherrschaft
seiner Zeit als Despotie und es gelang ihm nicht, zu der Vernunft der historischen
Phänomene vorzudringen 439 • In seiner politischen Vernunftordnung ist Zwang
- Herrschaft - weder begriffen noch beseitigt. Es zeigt sich nur, daß die scheinbare
Überwindung des Gegensatzes Freiheit- Herrschaft eine Potenzierung des Zwangs
bewirkt. Freiheit als unbedingte Autonomie und Herrschaft als Zwang sind Gegen-
begriffe und die Vermittlung der beiden ist das Recht. Im Recht ist Freiheit ver-
nünftig vermittelt, d. h. hier hat sie ihre Wirklichkeit 44 0.
In Fichtes ,Grundlage d. N.' bleibt Freiheit sozusagen vor der Tür des Zwanges
-nach Eintreten in denselben herrscht eben Zwang in reiner Zweckrationalität, auf
die sich die geforderte Vernünftigkeit reduziert. Von Moralität ist dann in der
Rechtslehre durchaus nicht mehr die Rede; wie schon oben gezeigt, ist der Bereich
der Gesellschaft als bürgerlicher Vertragsgesellschaft eben nicht mehr der Ort der
Freiheit. Freiheit und damit auch Vernunft geben so nur mehr den Rahmen ab,
innerhalb dessen sich dann bloße Technik ausbreitet, die in allen ihren Konsequen-
zen legitimiert bleibt. Im Gegensatz zu Hobbes' Theorie, die innerhalb eines starken
Rahmens unbedingter souveräner Herrschaft die Gesellschaft freisetzte (durch for-
male Garantien), endet Fichtes politische Theorie in einem Rahmen grundsätzlicher
Freiheit der Subjektivität als solcher, innerhalb dessen sich technisch-praktische
Zweckrationalität zu einer völlig entliberalisierten Wirklichkeit auswächst 441 •

439 Vgl. dazu Schottky, a. a. 0., 131.


440 So von J. Ritter in der Interpretation Hegels erarbeitet. Im Gegensatz dazu ist Fichtes
Recht - Legalität - zwar umwillen der Freiheit da, aber zum Verschwinden bestimmt,
(was Hege! merkwürdigerweise nicht sah, vgl. Hege!, Werke Bd. I, S. 110 /11) um
schließlich Platz zu machen der absoluten Freiheit. In der Theorie ergibt sich so einer-
seits die Forderung rigoroser Praxis - totale Gesellschaft - andererseits die gefähr-
liche Möglichkeit der inneren Emigration des ,Eigentlichen' der Subjektivität als solcher
in sich selbst hinein. Das letztere brachte allerdings auch die ,Gelehrtenrepublik' hervor
und ein Bildungs- und Universitätsideal, das bis heute maßgebend ist. Vgl. Anm. 563.
441 Das Verhältnis von Fichte zu Hobbes ist neuerdings - und eigentlich erstmalig - von

Schottky untersucht worden. Schottky konstatiert bei Hobbes eine »totalitäre Souveräni-
tätsidee<<, die dann zu einem >>der beiden entscheidenden Momente in Rousseaus synthe-
tischer Staatskonzeption<< wurde, und die schließlich Fichte voll rezipierte (a.a.O., 152).
Das Mißverständnis von Hobbes ist fundamental. Zwar stimmen Fichte und Hobbes an
einem Punkt - dem Kampf Aller gegen Alle und der daraus resultierenden Notwen-
digkeit von ,Staat' - überein (davon noch weiter unten), aber Schottky gibt selbst zu,
daß dies keine Übereinstimmung in >>höchsten Zwecken<< bedeute (140). Das ist aber der
springende Punkt. Wenn bei Hobbes, wie Schottky selbst sagt, »die reale Friedensord-
nung<< der höchste Zweck ist (139), so hat Fichte ja wohl deutlich genug gemacht, daß
höchster Zweck in seiner politischen Philosophie die Vervollkommnung des Menschen-
geschlechts sei und zwar, wie Schottky selbst schreibt: »Es ist nämlich die Überzeugung,
der Inhalt aller legitimen staatlichen Anordnungen und Maßnahmen sei eindeutig durch
nachrechenbare Deduktion aus dem abstrakten Vernunftsrechtsprinzip zu gewinnen, alle
,richtigen' Gesetze und Verfügungen seien nur dessen subsumtive Anwendung auf den
Moralität und Legalität 91

Solche potentiell totalitären Strukturen leuchten nach der bisherigen Darstellung


von Fichtes Lehre über Freiheit und Recht allerdings nur als mögliche Gefahr ein.
Das als Zwang aufgefaßte Recht, insofern es, nur generell freiheitlich legitimiert,
seiner eigenen Gesetzlichkeit überlassen ist, braucht nicht totalitäre Konsequenzen
zu haben, da über die Weite seines Geltungsbereiches noch nichts gesagt ist. Die
Eigengesetzlichkeit von Fichtes Rechts- und Staatslehre soll im folgenden untersucht
werden.

d) Die Unendlichkeit des Zwangsrechts; die hypothetische


Notwendigkeit des ,Gemeinwesens'
Zunächst bedarf der Begriff des Zwanges und des Rechts als Zwangsrecht noch
einer eingehenderen Analyse seiner Implikationen.
Die am meisten ins Auge springenden Inhalte der ,Grundlage d. N.', auf die sich
Fichte auch vor allem gegen die Anschuldigungen des Demokratie- und Jakobiner-
turns beruft, sind jene, die das Zwangsrecht und die Notwendigkeit fester politischer
Ordnung als vernünftig deduzieren. Kommt in den Revolutionsschriften die Geg-
nerschaft zu dem absoluten Staat als bestehender Herrschaft noch vehement zum
Ausdruck und wurde in der Identifizierung von revolutionärem und vernünftigem
Ansatz noch eine Gegnerschaft zu jeder bestehenden Herrschaftsordnung deutlich,
so zeigt sich in der ,Grundlage' nichtsdestoweniger, daß im Rahmen jenes Ansatzes
die Theorie, so wie sie sich dem Recht und dem Staat in ihrem instrumentalen
Charakter zuwandte, diesen Charakter keineswegs individualistisch-freiheitlich-an-
archisch, sondern vielmehr durchaus autoritär, ja mit totalitären Tendenzen ent-
wickelte. Mit Recht konnte deshalb Fichte sagen, daß er mit dieser in der ,Grund-
lage' entwickelten Ordnung >>jeden Politiker zufriedengestellt« habe 442 • Der Enthu-
siasmus der Freiheit der Revolutionsschriften kontrastiert scheinbar mit der
,Grundlage' in hohem Maße; dies nicht zuletzt scheint auch der Grund gewesen zu
sein, warum jener Distanzierung Fichtes von seinen früheren Werken so viel Glau-
ben geschenkt worden ist. Soll aber an der Bedeutung dieser festgehalten werden,
vor allem, um die ,Grundlage' richtig zu erfassen, so muß der Widerspruch erklärt
werden.
Die Trennung von Legalität und Moralität erlaubte es Fichte, innerhalb der
Legalität politisch-praktisch zu argumentieren, und so zunächst im rechtlich-politi-
schen Bereich auch zu politischen, ordnungstiftenden Ergebnissen zu kommen. Ein-
mal von der Notwendigkeit befreit, das Individuum als solches schon als Garantie
jeder Ordnung anzusehen, und die »natürliche Bösartigkeit des Menschen« zu be-

konkreten Staat und seine Situation. >>Solche für Fichte überaus treffende Bemerkung
trifft ja aber auf Hobbes gerade nicht zu. Solange aber der Unterschied in den ,höchsten
Zwecken' so bagatellisiert wird, wie Schottky die Unterscheidung von Gesellschaft und
Staat bei Hobbes nicht zu treffen in der Lage scheint und so notwendig total mit totalitär
verwechselt (vgl. etwa 176), solange wird die Rede vom ,totalitären' Hobbes nicht auf-
hören.
442 »Fingiert man den Versuch, ihn (Fichtes Entwurf) so wie er ist in die Praxis zu übertra-
gen, kann man sich das Ergebnis kaum anders als totalitär vorstellen.<< So auch Schottky,
a.a.O., 189/90.
92 Die totale Gesellschaft

streiten, konnte Fichte innerhalb der Legalität das Prinzip der Erzwingbarkeit
theoretisch durchführen. Unter dem Aspekt der Legalität erscheint Freiheit nun in
der Tat bloß als Willkür; es ergibt sich ein Kampf aller gegen alle, in dem kein
Grund ist, »an seine (des Anderen, B. W.) Redlichkeit zu glauben« 443 • Das Miß-
trauen ist hier die angemessene Haltung, die Individuen »können ihr ganzes Recht
und ihre zukünftige Sicherheit nicht von dem neuen Zufall abhängen lassen, daß
keiner begehre was der andere haben will, oder daß sie sich jedesmal in Güte ver-
gleichen« 444 • Aus den wenigen Zitaten ist ersichtlich, daß hier infolge der methodi-
schen Reduktion Ansätze zu einer politischen Theorie liegen, zumal die Deduktion
von ,Staat' das Ergebnis dieser ganzen Veranstaltungen ist. Aber es handelt sich
nicht um eine Reduktion, wie sie Hobbes zu seiner politischen Konzeption befähigt
hatte 445, sondern um eine unvermittelte Ausklammerung der Moralität, die Fichte
die Möglichkeit gab, überhaupt Legalität zu entwickeln. Es ist Aufgabe der Unter-
suchung, den Gründen dieser verpaßten Chance nachzugehen und darzustellen, wie
diese Legalität als Zwangssphäre erscheinen mußte, warum die Reduktion nicht
ausreichte, den Zwang zu beschränken, sondern ihn sich totalitär ausweiten ließ
und schließlich, wie der deduzierte Staat auf Grund der Deduktion und seiner
funktionalen Bestimmung nicht zum politischen Körper, sondern zur totalen Ge-
sellschaft werden mußte 446.
Das Zwangsrecht ist zunächst ein subjektives Recht und ergibt sich aus der Denk-
struktur des Rechtsbegriffes 447 • Wenn zwei Individuen in Gemeinschaft leben wol-
len - daß sie sollen, steht hier unberücksichtigt -, so hängt die Quantifizierung
der Freiheit des einen von der Anerkennung seiner Freiheit überhaupt durch den
anderen ab. »Nun aber ist der Zweck, mit einer Person in Gemeinschaft zu stehen,
nur unter der Bedingung erreichbar, daß diese Person sich selbst das Gesetz gegeben
habe, die Freiheit des Anderen oder seine Urrechte zu respektieren.« 448 Das Indi-
viduum, das für sich den Bedingungen des Zusammenleben zustimmt, ist so »im
Recht«; gegenüber dem Anderen, das seine Freiheit nicht quantifizieren will, steht
ihm ein Zwangsrecht zu, d. h. es kann gegen den unendlichen Anspruch der nicht
quantifizierten Freiheit mit Gewalt auf Quantifizierung dringen. Diese Struktur

443 III, 97.


444 III, 123. So erscheint vom Rechtsstandpunkt aus die Sphäre der Freiheit dem Zufall,
dem ,blinden Ohngefähr' verhaftet, das Fichte ansonsten als nicht ,anmutbar' ablehnt.
445 über die entscheidenden Verschiebungen der Pol. Theorie von Hobbes über Locke und

Kant zu Fichte s. w. u.
446 Es sei nochmals an die in der Einleitung zitierten Bemerkungen von Zeller, Walz, Lösch
und Torretti erinnert. Daß das Problem des Totalitarismus ein Problem des Verhältnisses
von Gesellschaft und Staat ist, wird immer noch weitgehend nicht eingesehen. Für die
Freiheitlichkeit einer Theorie sind ihre Unterscheidungen - Entzweiungen - konsti-
tutiv. Die Hineinnahme des ökonomischen - im weitesten Sinne - und schließlich des
Pädagogischen in den Staat bedeutet seine Vergesellschaftung und läßt mit dem Terro-
rismus der unfehlbaren Vernunft, die auch im Politischen detaillierte Anweisungen
postulierend festlegt, bei Fichte den Totalitarismus entstehen, der die eigentliche Perver-
tierung des Politischen ist.
447 Vgl. f. d. Folgende III, 92 ff.
us III, 94/95.
Moralität und Legalität 93

des subjektiven Zwangsrechts hat eine Konsequenz, die Fichte selbst nachdrüddich
hervorhebt und die in der Tat für seine Rechts- und Politiktheorie von der größten
Bedeutung ist. Die Bestimmtheit des Zwangsrechts hängt ab von der Unterwerfung
des Andern unter das Rechtsgesetz, d. h. von dessen Bereitwilligkeit zur Quantifi-
zierung seiner Freiheit. Nun ist Freiheit ursprünglich unendliche Möglichkeit - bei
suspendierter Moralität aber unendlidte Willkür -, auf den guten Willen des Ande-
ren kann nidtt gerechnet werden. Sollte nun wirklich in einem Falle A seine Frei-
heit besdtränkt haben, so folgt für B deshalb noch keineswegs die Anerkennung
seiner Freiheit überhaupt durch A, d. h. dessen endgültige und für alle Zeiten fest-
liegende Unterwerfung unter das Rechtsgesetz. Das subjektive Zwangsrecht ist not-
wendig ebenso unendlich wie die ursprüngliche Freiheit eines jeden. Hiermit ist ein
Zustand erreidtt, der dem Hobbesschen bellum omnium contra omnes entspricht 449 •
Und dieser Punkt der Deduktion Fidttes ist auch der systematische Ort für die
Deduktion des ,Staates' 450.
Zunächst stellt Fichte den Widersprudt, zu dem sich hier das Rechtsgesetz ent-
faltet hat, deutlich heraus. Die Quantifizierung des unendlichen Zwangsrechtes von
A gegen B hängt davon ab, ob und wieweit B bereit ist, seine Freiheit seinerseits zu
quantifizieren. Das kann aber A nicht wissen, denn wenn B in einem bestimmten
Falle nicht bereit war, zu quantifizieren, so steht doch dahin, ob er nicht in Zukunft
bereit sein will. Der Anwendung des unendlichen Zwangsrechts von seiten As gegen
B steht also ein gleichfalls unendliches Abwehrrecht Bs gegenüber. »Das über die

449 Eines der bemerkenswertesten Bücher über Hobbes und die politische Theorie seiner Zeit
ist Macpherson; The political Theory of Possessive Individualism. Oxford 1962. Schon
der Titel verrät Konzeption und Grundthese; die politische Theorie des 17. Jahrhunderts
ist Theorie der durch Eigentum konstituierten Individualität, um die schwer übersetz-
bare Formulierung sinngemäß zu verdeutschen. über Individuum und Eigentum wird
hier in einem eigenen Abschnitt gehandelt werden; wir stimmen Macpherson völlig zu
und glauben seine Charakterisierung des politischen Denkens des 17. auch auf das 18.
und 19. Jhdt. übertragen zu können. Fichte erweist sich in der Tat als ein extremer
Theoretiker des ,Possessive Individualism'. Was den ,Naturstand' bei Hobbes angeht, so ist
es eines der interessanten Ergebnisse des Buches von Macpherson, daß es im einzelnen
aufzeigt, wie es sich bei Hobbes keineswegs um eine abstrakt-hypothetische Theorie vom
Urstande ,des Menschen' handelt, sondern um eine genaue Analyse der bürgerlichen
Gesellschaft seiner Zeit, als ,market-society', in der der ,Possessive Individualism'
zwangsläufig zum Krieg Aller gegen Alle führt, wenn die politische Institution - Staat
als Garantie des Friedens und der Ordnung - suspendiert ist, was Hobbes in den
Bürgerkriegen seiner Zeit erlebt hatte. über die Konkretisierung in der zeitgenössischen
Gesellschaft nähern sich so die Ansätze Hobbes' und Fichtes wieder einander; der
Unterschied liegt in der Beantwortung der Fragen aus der gleichen, bzw. ähnlichen
Ausgangssituation.
460 Von der ,Grundlage' an spricht Fichte fast immer nur noch vom ,Staat', nicht mehr von
Gesellschaft. Das hat in der Interpretation zu Schwierigkeiten geführt. Das ,Gemeine We-
sen' oder der ,Staat' in Fichtes ausgeführter politischer Theorie ist nicht der Staat des
durch das 19. Jh. bis heute geläufigen Gegensatzes Gesellschaft- Staat. Die Dreiteilung
Subjektivität-Gesellschaft-Staat, die seit Hegel zum Begreifen jeder politischen Wirk-
lichkeit maßgebend ist, ist bei Fichte gefaßt im Dualismus - Subjektivität (Moralität)
einerseits und Gesellschaft - Staat (Legalität) andererseits. Staat ist also hier immer der
vergesellschaftete oder der ,Handelsstaat'. Wir werden von jetzt an Fichtes Ausdruck
,Gemeinwesen' benutzen oder wenigstens ,Staat' - in Anführungszeichen.
94 Die totale Gesellschaft

Grenze des Zwangsrechts Entscheidende kann demnach nicht, für den äußern Ge-
richtshof beständig gegeben werden, der Entscheidungsgrund beruht im Gewissen
eines jeden. Es ist hier ein unauflöslicher Rechtsstreit, wie es scheint. Der Entschei-
dungsgrund könnte nur durch die ganze zukünftige Erfahrung gegeben werden.« 451
Die Unauflöslichkeit des Widerspruches auf dieser Stufe ist für Fichte von größter
systematischer Bedeutung. »Es hängt davon, ob eine Ausübung des Zwangsrechts
durch den Beleidigten selbst möglich sei oder nicht, nichts Geringeres ab als die Be-
antwortung der Frage: ob ein eigentliches Naturrecht möglich sei, inwiefern dadurch
eine Wissenschaft des Rechtsverhältnisses zwischen Personen außer dem Staate und
ohne positives Gesetz bezeichnet werden soll.« 452 Diese Unauflöslichkeit der Frage
auf dieser Stufe- denn wie könnte bei vorausgesetzter unendlicher Freiheit die ge-
samte zukünftige Erfahrung vorweggenommen werden - bedeutet also die Ent-
scheidung für ,Staat• und positives Gesetz, ohne welche kein Rechtsverhältnis mög-
lich ist. Hier scheint nun wirklich eine erhebliche Korrektur der Ansichten des Fichte
der Revolutionsschriften vorzuliegen. Aber es muß die methodische Reduktion be-
achtet werden. Es ist die Frage, ob ein Rechtsverhältnis außerhalb des Staates mög-
lich ist, die Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt, die für Fichte in
den Beiträgen so wichtig war, wird dadurch keineswegs berührt. Wenn man sich
vergegenwärtigt, welche Funktion diese These von der Möglichkeit außerstaatlicher
Gesellschaft überhaupt im Denken des frühen Fichte hatte, nämlich das Geltend-
machen des utopischen Eigentlichen gegen jede Herrschafts-, also Rechtsordnung,
so wird klar, daß Fichte sich hier keineswegs ,radikal• widerspricht. Denn von die-
sem utopischen Eigentlichen war ja gesagt, daß Recht und Richter dort überflüssig
sein würden. Und es wird noch mehrfach festzustellen sein, daß Fichte den Wider-
spruch seines Rechtsbegriffs durch die im Folgenden zu analysierende Deduktion
des ,Staates• nicht lösen kann, sondern daß er ihm begegnet durch das Postulat der
Entwicklung zur »vollkommenen Gesellschaft« in der weder Staat ist, noch von
Recht oder Richtern die Rede sein kann 453.

e) Die formalen Bedingungen der Vernünftigkeit des Gemeinwesens


Die staatliche Vereinigung, die Fichte an dieser Stelle als Lösung anführt, muß
also, soll die Lösung vorläufig plausibel sein, folgende Charakteristika aufweisen,
die sich aus dem Widerspruch ergeben. Die Lösung ist nur sinnvoll und kann dem
Einzelnen nur zugemutet werden, wenn der Grund für die Unendlichkeit des
Zwangs- bzw. Widerstandsrechtes aufgelöst ist. Der Grund war aber die Unmög-
lichkeit der Vorwegnahme der gesamten zukünftigen Erfahrung der beiden freien

' 51111, 98.


' 52111, 99. Naturrecht war für den Fichte der ,Beiträge' noch gleich ,Vernunftrecht•. Konse-
quent mußte Fichte auf dem Standpunkt der ,Grundlage' die Frage nach einem »eigent-
lichen Naturrecht« verneinen. Naturrecht bedeutet für Fichte dann Vernunftrecht im
Gemeinwesen. Vgl. auch VIII, 431.
458 Der ,radikale Unterschied' zwischen ,Beiträgen' und ,Grundlage d. N.< reduziert sich,

wenn man das dialektische Verhältnis der beiden Werke zueinander berücksichtigt, dar-
auf, daß in den ,Beiträgen' der Staat als mögliches Mittel zu einer vollkommenen Ge-
sellschaft erscheint, aber in der ,Grundlage d. N.< als notwendiges.
Moralität und Legalität 95

Individuen. Staat muß also dies Unmögliche möglich machen, d. h. er muß so be-
schaffen sein, daß er die Rechtlichkeit jedes Einzelnen für alle Zukunft garantieren
kann. Das bedeutet aber nichts anderes als die völlige Aufhebung der Freiheit. Das
Gesetz des Staates 45 4 ist also Zwang schlechthin. Damit ist aber ein neuer Wider-
spruch aufgetaucht, denn der Rechtsbegriff war deduziert worden als Konsequenz
aus dem Zusammenleben freier Individuen. Die Auflösung dieses Widerspruches
unternimmt Fichte in zwei Ansätzen. Zunächst wird eine Argumentation aufgenom-
men, in der, wie oben schon gezeigt, Freiheit und freier Vertrag als Alibi de$
Zwanges erscheinen 455 • Die Unterwerfung der Individuen zum Zwecke der Garan-
tie muß, wenn diese die Vorwegnahme der gesamten künftigen Erfahrung leisten
soll, unter eine Macht erfolgen, die die negativen Einwirkungen der Freiheit bzw.
Willkür der anderen Individuen faktisch unmöglich macht - d. h. also Freiheit
innerhalb des Zusammenseins durchaus suspendiert. Diese Macht darf aber ihrerseits
wieder nicht an den Willen von Individuen gebunden sein. Da die Unterwerfung
vollständig sein muß, kann Freiheit mit ihr nur so zusammengedacht werden, daß
diese Unterwerfung als solche >>mit vollkommener Freiheit« 456 geschieht. Die
Unterwerfung kann also erstens
nur unter ein übermächtiges Gesetz erfolgen, das die Garantie für alle Zukunft
effektiv übernimmt, und sie muß
zweitens von der freien Zustimmung und Prüfung jedes Einzelnen abhängen.
Was den ersten Punkt angeht, so ist es klar, daß er Anlaß zu den größten prak-
tischen Schwierigkeiten sein wird. Zum zweiten Punkt muß die Vernünftigkeit des
Gesetzes im Auge behalten werden. Die Vernünftigkeit des Gesetzes bedingt seine
Gerechtigkeit und Unveränderlichkeit; das Vernunftwesen, das sich solchem Gesetz
unterwirft, unterwirft sich so sich selber: >>Weit entfernt demnach, durch diese
Unterwerfung meine Rechte zu verlieren, erhalte ich sie erst, indem ich durch sie

454 Daß sich im Verlauf der Entwicklung des modernen Staates ,Recht' immer mehr zum
,Gesetz' wandelt, hat Schmitt als wesentlich herausgestellt. (Staat als konkreter, an
geschichtliche Epochen gebundener Begriff. In: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin
1958) Fichte schreibt: >>Es soll sein ein Gesetz, d. h. es soll unmöglich sein, daß davon eine
Ausnahme geschehe, es soll allgemeingültig und kategorisch gebieten, nachdem es einmal
übernommen ist<< (III, 93). In diesen Gesetzesbegriff sind zwei Bestimmungen einge-
gangen. Erstens das Naturgesetz, als dessen Alternative überhaupt der Freiheitsbegriff
schon von Kant und ebenso von Fichte begriffen wurde. Außerdem der Gesetzesbegriff
des ,Sittengesetzes' mit den kategorischen Geboten. So kommt eine gewisse begriffs-
immanente Heterogenität zustande, die im Verlauf dieses Denkweges durch Disjunktion
von Moralität und Legalität beiseite gebracht wird. Die Folge für das Recht ist dann aber
das Herrschen des Gesetzesbegriffs in der ersten Bestimmung, die die Unmöglichkeit der
Ausnahme meint. Für die politische Theorie - besonders für die Theorie der Polizei -
muß das erhebliche Folgen haben. Die Nähe zum naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff
ist auch von Rickert nicht gesehen. >>Fichte hat selbstverständlich, wenn er von Menschen-
recht und Menschenwert handeln will, stets die Notwendigkeit des Sollens, nicht die des
Müssens, er hat das Gesetz als Imperativ, nicht als Naturgesetz im Auge.<< H. Rickert;
Die allgemeinen Grundlagen der Politik Fichtes, in: Zs. f. deutsche Kulturphilosophie,
Bd. 4, 1938, S. 18.
455 Das wichtigste begriffliche Allgemeingut des ,possessive Individualism' und der Auf-
klärung, die Vertragshypothese, wird von Fichte beibehalten. V gl. dazu Anm. 111.
456 III, 102.
96 Die totale Gesellschaft

äußere, daß ich die Bedingung, unter welcher allein jemand Rechte hat, erfülle.« 467
Durch die formal-abstrakte Abhängigkeit von der vernünftigen, also freien Zustim-
mung soll die ganze Organisation dieses Unterworfenseins freiheitlich legitimiert
sein. Zu dieser unvermittelten Freiheitlichkeit kommt ein weiterer Umstand hinzu.
Im Kapitel zwei ist als Folge des Fichteschen Freiheitsbegriffs die Gefahr eines
Postulats der quasi unendlichen Selbstbestimmung der Freiheit aufgezeigt worden,
die damit in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Dieser Fall tritt an dieser Stelle in
der Theorie ein. Der unendlichen Unbestimmtheit der ursprünglichen Freiheit ent-
spricht die Unendlichkeit des - zunächst subjektiven - Zwangsrechts. Die Unter-
werfung unter das Gesetz ist nur zumutbar, wenn der Freiheit, die hier als Willkür
erscheint, effektiv kein Raum gelassen ist. Die Konsequenz dieser Bedingung, unter
der die Unterwerfung allein als Garantie der Freiheit aufgefaßt werden kann, ist
dann die vollständige Bestimmtheit des Bereichs der Unterwerfung, der Legalität
in sich, eine Bestimmtheit, die gemäß der unendlichen Freiheit tendenziell ebenso
unendlich sein muß. Das bedeutet im Ergebnis die Deduktion eines totalen Gesetz-
gebungsstaates 45 8. Diese die Freiheit aufhebende Konsequenz aus dem Freiheits-
begriff wird noch verstärkt durch Fichtes Lösung eines weiteren Widerspruchs.
Nicht nur muß das Gesetz, dem das Individuum sich unterwirft, in allen möglichen
Fällen der Willkür anderer Individuen für alle Zeiten seinem Begriff nach entgegen
sein, sondern es muß auch in sich selbst die Garantie haben, daß es in der Tat, ohne
seinerseits wieder von Willkür abhängig zu sein, herrschen wird. Hier tritt beson-
ders die Fatalität des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs, der ja schon vom
ganz frühen Fichte als die Alternative zur Freiheit aufgestellt worden war, her-
vorm. »Es soll sein ein Gesetz, d. h. es soll unmöglich sein, daß davon eine Aus-
nahme geschehe.« 460 Auch in der Ausführung der Rechtslehre besteht Fichte immer
wieder auf diesem Charakter des Gesetzes. Gerade sein Freiheitsenthusiasmus treibt
ihn zu dieser Konsequenz; die Kluft zwischen Moralität und Legalität kann nur
überwunden werden, wenn die Unterwerfung dadurch akzeptabel für das freie
Individuum gemacht wird, daß die Garantie seiner Rechte tatsächlich total ist.
»Die Sicherheit beider soll nicht von einem Zufall, sondern von einer der mechani-
schen gleichenden Notwendigkeit abhängen.« 461
Die übermacht des Gesetzes über den Willen der Einzelnen folgt nur aus der Ver-
einigung des Willens Aller- damit ist für Fichte die Notwendigkeit solcher Ver-

457 III, 104.


458 Die Tendenz der Totalität der Gesetzgebung ist in der Gegenwart evident und oft be-
klagte Crux von Juristen, Parlamentariern und Staatsbürgern. Sie ergibt sich aber zwangs-
läufig nicht nur aus der zunehmenden Kompliziertheit der Lebensverhältnisse, sondern
vor allem - und dafür ist Fichtes Theorie ein überzeugender Beleg - aus der Konzep-
tion des vergesellschafteten Staates, die Fichte als Konsequenz seines Freiheitsbegriffes
entwickelt, und deren Bewältigung in der gegenwärtigen Wirklichkeit die. eigentliche
Aufgabe der Politik und Politiktheorie ist. Das für die Entwicklung von Fichtes politi-
scher Theorie so wichtige Problem der »Vorwegnahme der ges. zukünftigen Erfahrung«
wird etwa von Torretti überhaupt nicht beachtet. (Vgl. a.a.O., S. 46 ff.)
459 S. Anm. 276 und 277.
480 I li, 93.
481 III, 138.
Moralität und Legalität 97

einigung dargetan. Recht ist nur möglich in der Vereinigung der vernünftigen Indi-
viduen nach Gesetzen; diese Konsequenz Fichtes war hier schon vorweggenommen,
indem oben der ,Staat' in diesem Sinne als die Lösung des Widerspruchs des Rechts-
begriffs eingeführt worden war 462 • Insofern das Gesetz in seiner Praktikabilität an
einen freien Willen gebunden ist, der laut obiger Deduktion übermächtig sein muß,
so muß dieser seiner Struktur nach so beschaffen sein, daß er die totale Garantie
faktisch auch leisten kann. Die übermacht des Willens müßte also weiterhin so
bestimmt sein, daß er erstens etwas anderes als das Gesetz gar nicht wollen könnte
und daß er zweitens ohne Ausnahme einschreitet, wo Verletzung des Gesetzes droht.
Die erste Aufgabe löst Fichte, indem er den Willen im Sinne von Rousseaus ,volonte
generale' bestimmt 463 • Die Vereinigung der Individuen geschieht um des Rechtes
willen. »Das Einzigmögliche daher, worüber ihr Wille sich vereint, ist das Recht;
und da hier eine bestimmte Anzahl Menschen von bestimmten Neigungen, Beschäf-
tigungen usf. beieinander sind, das Recht in Anwendung auf sie, d. h. ihr positives
Gesetz. So gewiß sie alle einig sind, so gewiß wollen sie alle das Gesetz.« 4 6 4
Es soll hier nicht in die weitere Diskussion des höchst problematischen Begriffs
der ,volonte generale', wie Fichte sie hier versteht, eingetreten werden. Nur ein
Aspekt soll angemerkt werden. >>Es ist keine Frage, ob in einer solchen Verbindung
der gerechte Wille, wenn er sich in Handlung setzt, nicht stets übermächtig sein
würde, über den ungerechten Willen, da der letztere stets nur der Wille eines Ein-
zelnen, der erstere aber der Wille der Gemeine ist.<< 465 Wenn der ungerechte Wille
nur der eines Einzelnen sein kann, dann ist umgekehrt der Wille des Einzelnen als
solcher, d. h. im Gegensatz zum allgemeinen, auch notwendig ungerecht - die
Gefahr für die Freiheit dieses Einzelnen ergibt sich aus dem Bannkreis, den Freiheit
und Vernünftigkeit geschlossen haben 466 • Bei der weiteren Bestimmung des Willens
des Gesetzes, »daß dieser Wille der Gemeine stets tätig sei, und wirkte, wo er zu
wirken und einen individuellen Willen zu unterdrücken habe<< 467 , stellt Fichte noch
einmal das notwendige Strukturgesetz dieses Willens nachdrücklich heraus. Jedem
Einzelnen, >>der sich unterwirft, soll die ihn völlig überzeugende Garantie gegeben
werden, die absolute Unmöglichkeit soll ihm dargetan werden, daß in der Verbin-
dung irgendeine andere Macht gegen ihn tätig sein werde als die des Geset-
zes ... << 468. Diese Bestimmung des Willens leistet Fichte mit einem an die Struktur
des Karrtischen kategorischen Imperativs gemahnenden Gedankengang. »Wenn
alles, was in der Verbindung einmal und von einem geschehen darf, bloß dadurch,
daß es von diesem, dieses eine Mal geschieht, gesetzlich wird und von allen ge-

462 Vgl. Abschnitt III, 1, d.


463 III, 106 ff.
464 III, 107.
465 Zum Verhältnis Fichte-Rousseau vgl. außer den älteren Arbeiten von Fester, Hay-

mann, Gurwitsch jetzt vor allem Schottky, a.a.O.


466 Die Deduktion Fichtes ist hier vollkommen schlüssig, dennoch leuchtet die Gefahr für die

Freiheit des Einzelnen m. E. unmittelbar ein. Die Abstraktheit wird hier besonders deut-
lich. In solcher Deduktion ist kein Platz für (negativ bestimmte) Grundrechte, also auch
nicht für eine Differenzierung Gesellschaft-Staat.
467 III, 108.

468 Ebda.
98 Die totale Gesellschaft

schehen darf.« 469 Damit ist aber die immanente Bestimmung des Rechts potenziert;
wenn jede Handlung jedes Einzelnen als solche schon - negativ oder positiv -
Gesetzeskraft erhalten soll, so verstärkt diese Forderung die Tendenz zum totalen
Gesetzgebungsstaat ins schlechthin nicht mehr zu übertreffende. Angesichts dieser
Ergebnisse könnte sehr wohl gesagt werden, daß die Vermittlung Fichte auch hier
wieder unter den Händen zur Vernichtung der einen Seite der zu Vermittelnden,
also der Freiheit des Individuums im praktisch-empirischen Sinne geraten sei. Je
mehr der Bereich der Legalität sich in seiner Vernünftigkeit ausdehnte, um so mehr
muß Moralität reduziert werden, um so sinnloser muß das Festhalten der Vertrags-
struktur erscheinen, um so wichtiger aber auch die Utopie einer Oberwindung aller
Legalität durch den endgültigen Sieg der Moralität für das System werden. Das
moralische Utopia ermöglicht intermediären Zwang, der um so härter erscheint,
je höher das utopische Ideal, das er herbeiführen soll, angesetzt ist; die Antithesen
spielen sidt aber gegenseitig in die Höhe, denn je ausschließlicher der vernünftige
Zwang, um so notwendiger das utopische Postulat.
Die Analyse der Deduktion der hypothetisdten Notwendigkeit von ,Staat' und
seiner formalen Bestimmungen ist mit Absicht an der konzentrierten Fassung in der
Einleitung zur ,Grundlage' versucht worden. Im Weiteren gilt es nun, das Materiale
der bis dahin deduzierten Staatlichkeit als solcher in der ,Grundlage' selbst zu unter-
suchen. Die Konsequenz Fichtesdten Denkens wird uns über die Analyse des Zu-
sammenhangs von Freiheit und Eigentum zu der eigentlichen Staatslehre führen.

2. Eigentum und Freiheit

a) Fichte in der Tradition des neuzeitlichen ,Possessive Individualism'


(Hobbes, Locke, Kant)
Es war der konfessionelle Bürgerkrieg mit den blutigen, die ganze Nation
erschütternden Ereignissen von Marston Moor und Naseby, ultima ratio in der
Auseinandersetzung um die Frage des ,Allgemeinen Gebetbuchs' und des Problems
,Bischof und König' 470, die Hobbes zu einer Neubegründung der politischen Auto-
rität veranlaßt hatten. So sind bei ihm die Gedanken über die fundamentale Siehe-

469 Die Übertragung der Denkstruktur des kategorischen Imperativs auf die Legalität läßt
deutlich werden, wie Fichte dieser Bereich - vor allem seine politische Seite - im
Grunde fremd war. Er ging alle Probleme von der Moralität her an, von dem in abstrak-
ter Freiheit aufgefaßten Subjekt.
470 Bei der berühmten Disputation in Hampton Court 1604 (bei der u. a. der Beschluß zur
Neuübersetzung der Bibel gefaßt wurde - die 1611 vollendete berühmte King-James-
Edition) faßte der König wiederholt seinen Standpunkt in dem Ausspruch zusammen
»No Bishop no king«. The Oxford History of England; Bd. IX, The Early Stuarts,
1603-1660 by G. Davies, Scd. Ed. 1959, S. 70. Das ,Book of Common Prayer', das von
Elisabeth eingeführt worden war, war im 17. Jh. immer wieder der Anknüpfungspunkt
heftiger Auseinandersetzungen. Bei Marston Moor wurden die Kavaliere zum ersten
Male vernichtend von Cromwell geschlagen (2. Juni 1644) Oxf. Hist. a.a.O., S. 137.
Praktism endgültig vernichtet wurde die Armee der Royalisten am 14. Juni 45 bei
Naseby durm Cromwells Ironsides. (Ebda. S. 141)
Eigentum und Freiheit 99

rung von Leib und Leben sowie das Problem von Staat und Religion zweifellos der
wichtigste Teil der Theorie. Aber seine Lehre von der Souveränität, vom Leviathan,
steht in einem konsequenten Begründungszusammenhang, der seine Ansätze in den
Werken ,De homine' und auch schon ,De corpore' hat 471. Es ist das Verdienst Mac-
phersons, neuerdings gezeigt zu haben, wie Hobbes' Lehre vom Menschen und vom
,Naturzustand' auf den Zustand der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts
sich bezieht; eine Theorie also nicht vom Menschen schlechthin, sondern vom Men-
schen der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft 472 • Für diesen ist die eben auch
schon bei Hobbes sich findende Bestimmung wesentlich, daß er Individuum ist in
konstitutiver Relation zu Eigentum. Das Individuum ist Eigentümer seiner selbst
und seiner Kräfte - Freiheit ist die Konsequenz, insofern diese Bestimmung des
Individuums ihm ein ursprüngliches Recht geben, alle Bindungen als Verträge auf-
zufassen, in denen es selbst Subjekt ist 473 • Für die Gesellschaft bedeutet diese Theo-
rie ihre Interpretation als Vertragsgesellschaft im weitesten Sinne 474 • Der Vertrag
wird hinfort der grundlegende Begriff jeder politischen Theorie werden 475 • Auf-

471 Neuerdings hat v. Krockow Hobbes' Lehre von der ,Natur des Menschen' kurz und über-
sichtlich referiert. (V. Krodww; Soziologie des Friedens, Gütersloh 1962.) Seine Dar-
stellung, die einer gute Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse der Forschung ist,
ist allerdings durch das gleichzeitig erschienene Buch von Macpherson entwertet.
472 Macpherson, a.a.O., S. 17 ff. Mit dieser Interpretation sind Hobbes und Rousseau wieder
einander angenähert, wie auch Petscher schon ausführte, daß Rousseau und Hobbes den
Grundcharakter des zivilisierten Menschen gleich bestimmt hätten. (Fetscher; Rousseaus
politische Philosophie. Neuwied 1960, S. 31/32.
473 Der junge Fichte konnte so alle empirischen Beziehungen der Menschen nur als Verträge
auffassen- in der Vernachlässigung des historisch-sozial konkret Vermittelten mit Recht
u. a. von Wallner (a.a.O. 59/60) kritisierte, aber richtige Erkenntnis der ,Gesellschaft',
für die die abstrakte Herkunftslosigkeit kennzeichnend ist.
474 ••• »if you make individual freedom a function of possesion, you must accept the full
market society ... « (Macpherson, a.a.O., 226). Ebenso klar, aber von Macpherson nicht
gesehen, ist, daß das Subjekt der Verträge ja in dem System dieser nicht aufgeht, die
Subjektivität bleibt außerhalb des Vertragssystems.
Durch die Trennung von Moralität und Legalität gelang Fichte keine Vermittlung des
Subjekts als solchen zu einer tragfähigen politischen Theorie; es war erst Hegel, der die
Vertragssphäre als Dasein der Freiheit auch »aller substantiellen geistigen und sittlichen
Ordnungen« begreifen konnte. So J. Ritter; Person und Eigentum, in: Pädagogische
Rundschau, 15. Jg. Heft 1/2, 1962 (Festschrift für Lichtenstein). '
475 Fichtes Insistieren auf dem Vertrag als Grundlage aller emp. Beziehungen der Menschen
hatte in Kant ein unmittelbares Vorbild, bei dem die Relation von Freiheit des Indivi-
duums und Vertragseigentum zu jener bekannten Definition der Ehe als eines Vertrags
»Zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« (Werke, VI,
277). Wenn man von der unbeholfenen Einteilung absieht, die die Ehe als ,Erwerbung'
faßt und als auf ,dingliche Art persönliches Recht', - worüber Hegel so sehr empört
war-, so scheint hier doch im Grunde nur die Freiheitlichkeit auch dieses Verhältnisses
ausgedrückt sein, indem es als Vertrag aufgefaßt wird. Von Heinrich Brunner stammt die
These: »Der eigentliche Vorläufer der Soziologie aber ist die Philosophie des Naturrechts,
deren Gesellschaftstheorie als spekulative Soziologie angesehen werden muß.« (Hein-
rich Brunner; Die Wirtschaftsphilosophie Fichtes. Nürnberg 1935, S.
So gesehen wäre der Vertrag eine der wesentlichen Kategorien solcher ,spekulativen
Soziologie', und es wäre zu untersuchen, welche Bezeichnungen das gesellschaftliche
Selbstverständnis für den, für die Gesellschaft ja so konstitutiven Tatbestand in der
100 Die totale Gesellschaft

gabe jeder politischen Theorie seit Hobbes ist es, die politische Ordnung zu begrei-
fen unter den Bedingungen des ,Possessive Individualism' und der daraus folgenden
Vertragsgesellschaft. Hobbes sah in den Bürgerkriegen seiner Zeit die gefährlichen
Möglichkeiten der individualistischen Vertragsgesellschaft, die sich realisieren muß-
ten, sobald die Ordnung stiftende Macht des Königtums suspendiert war. Seine
Lösung war der Leviathan als Garantie der bürgerlichen Gesellschaft.
Mit dem erfolgreichen Funktionieren dieser ,schützenden Schicht' schwand die
Einsicht in ihre konstitutive Bedeutung, und die politische Theorie wandte sich wie-
der der Vertragsgesellschaft als solcher zu. Es war Locke, der nun die Fragen von
Individuum, Eigentum und Gesellschaft wiederaufnahm 476 • Macpherson weist
nach, daß es vor allem die Geldtheorie ist, die Lockes Denken über die bisherigen
Eigentumstheoretiker hinausführt 477 • Denn erst die durchgeführte Geldtheorie
erweitert die Eigentumslehre zu einer Theorie des Kapitals und läßt damit eine
notwendige Konsequenz der individualistischen Vertragstheorie der Gesellschaft
erstmals aufscheinen. »Wehave seen, that a possessive market-society is necessaryly
class-divided.« 478 Die Klassenstruktur, die die Gesellschaft mehr und mehr anneh-
men mußte, mußte notwendig die Freiheit des Individuums wieder gefährden.
Trotz des Letzteren stellen sich diese Konsequenzen noch für den alten Kant ganz
fraglos dar. Obgleich Eigentum ein notwendiger Vernunftbegriff ist, »etwas Äuße-
res als das Meine zu haben«, und obgleich die ursprüngliche Gemeinschaft des
Bodens und hiermit auch der Sachen auf demselben« (W. VI, S. 251) das Eigentum
als solches mit dem Individuum als solchem unaufhebbar verknüpft, ist doch Kants
politische Theorie wie selbstverständlich Klassentheorie, insofern er das Wahlrecht
an ein quantifiziertes Eigentum bindet 479 • So entspricht Kants Theorie einer bürger-
lichen Gesellschaft, wie sie sich, nach erfolgreicher vorläufiger Bekämpfung des
Gleichheitsprinzips im ökonomischen, in der Französischen Revolution zur Herr-
schaft gebracht hatte. Fichte war in seinem Denken zu radikal, als daß er bei diesem
Ergebnis einer durch Eigentum bestimmten Klassengesellschaft hätte stehenbleiben
können. Die Gefährdung der Freiheit und vor allem der Gleichheit durch Klassen-

neuen Soziologie gefunden hat. Der Gedanke kann hier nicht fortgeführt werden; mög-
licherweise könnte eine Analyse des Begriffs der ,Rolle' - wenn man deren Positivität
nicht übersieht- zu Vergleichen mit dem spekulativen Begriff des Vertrages anregen.
478 »Die Dämonen, die Hobbes erschreckten, bedrängten Locke nicht mehr. Während es Hob-

bes angesichts elementarer Gefahr auf elementare Sicherung ankommt, setzt Locke diese
im Grunde schon als selbstverständlich voraus. Hobbes erkennt: Um den Bürgerkrieg zu
bannen, muß man auf alles Moralisieren verzichten und erreichen, daß der Staat über-
haupt einmal als Ordnungsmacht funktioniert. Locke aber kann wieder ,moralisieren'
und moralisierend den bürgerlichen Bewegungsraum gegen den konsolidierten Staat aus-
weiten.« (v. Krockow, a.a.O., S. 62.)
477 Für den Fortschritt der Theorie der bürgerlichen Vertragsgesellschaft, den Lockes ,On
Property' gegenüber den Theorien der ,Levellers' darstellt, vgl. Macpherson, a.a.O.,
266 ff. Insofern der Fortschritt im Wesentlichen durch eine Erkenntnis der Klassenstruk-
tur der kommenden Gesellschaft gekennzeichnet ist, ergäbe sich die Möglichkeit eines
höchst interessanten Vergleichs der politischen Theorie Fichtes mit der der ,Levellers',
die aber hier ungenutzt bleiben muß.
478 Macpherson, a.a.O., 271.
479 Kant, Werke 6, 314.
Eigentum und Freiheit 101

herrschaft, die Marat, Robespierre und Babeuf erkannt hatten, stand auch Fichte
klar vor Augen. Seiner Theorie stellten sich bereits die Probleme, die dann in der
Geschichte in langen Kämpfen ausgetragen wurde 48 0, Teils aus sozialem Mitleid,
teils aus abstrakter Vernunftkonsequenz versuchte Fichte, individualistische Eigen-
tumstheorie mit dem Gedanken der Gleichheit aller zusammenzudenken und für
seine Vernunftgesellschaft jene Konsequenzen zu vermeiden. Dabei mußte seine spe-
zifische Fassung des Eigentumsbegriffs, der Gleichheit garantieren sollte, zu Konse-
quenzen führen, die dann die Freiheit dieser Gleichen wieder in Frage stellten.
Zudem ergab sich schließlich statt einer Klassentheorie des Eigentums für die Ver-
nunftgesellschaft eine Klassentheorie der Bildung.
Fichte hat mehrfach seine Absicht betont, in der ,Grundlage' nicht nur eine ,for-
male', sondern auch eine ,reelle' Philosophie liefern zu wollen. Das Glied in seinem
systematischen Denken, das die Stelle des Obergangs vom formalen zum reellen
Philosophieren markiert, ist seine Eigentumslehre. Insofern stellt diese das Zentrum
Fichteschen praktischen Philosophierens dar. Die Eigentumslehre weist einerseits
systematisch zurück bis in den Kernbereich der theoretischen Philosophie, des als
freie Handlung aufgefaßten Ich, andererseits hängt an ihr die spezifische Konse-
quenz der politischen Theorie Fichtes. In der Zuwendung zu dieser Eigentumslehre
als Fichtes ,ökonomischer' Theorie, in der die systematische Verweisung in die Wis-
senschaftslehre zurück außer acht gelassen ist, können auch die spezifischen Konse-
quenzen für die politische Theorie Fichtes nicht in den Blick kommen 48 1• Fichtes

' 80Daß Fichte die Gefahren, die mit der Freisetzung der gesellschaftlichen Kräfte der Gleich-
heit drohten, eben aus denkerischer Konsequenz heraus klar erkannte, darauf weist vor
allem Vaughan hin: »No one will maintain, that Fichte has not here laid his finger on
what are indeed the gravest sores of modern civilization« (a.a.O., 123). Ein Vergleich
des Handelsstaates mit der Fr. Revolution in ihrer terroristischen Phase findet sich
ebenfalls bei Vaughan. (Ebda. S. 122.)
481 Marianne Weber hat in ihrem Buch ,Fichtes Sozialismus' (Tübingen 1925) Fichte als den
,ersten deutschen Sozialisten' und den ,Handelsstaat' als die ,genaue Ausführung und
Ergänzung zum sozialistischen System' (Ergänzung der ,Grundlage') bezeichnet. So ver-
ständlich diese Bemühungen, in Fichte einen Sozialisten - vor allem einen nicht-marxi-
stischen Sozialisten zu sehen, scheinen, so sind die Ergebnisse Marianne Webers in dieser
Hinsicht doch nur um den Preis erheblicher Verkürzungen und problematischer Akzent-
verschiebungen erlangt. So finden wir bei ihr, trotz der Bemühungen, die philosophischen
Voraussetzungen zu erfassen, doch ein recht vordergründiges Verständnis der Zusammen-
hänge, das etwa der Trennung von Moralität und Legalität Erwähnung tut, deren
systematische Bedeutung aber verfehlt. In den so notwendig sich ergebenden Lücken
im Verständnis des Systems werden dann ,Inkonsequenzen' (29) und ,Widersprüche' (39)
Fichtes gesehen. Marianne Weber führt aus: »Er (Fichte, B. W.) sinkt deshalb, ohne sich
dessen bewußt zu sein, ... aus der Sphäre allgemeingültiger Gesetze in die Sphäre histo-
rischer Bedingtheit herab« (61/62). Nun muß zugegeben werden, daß Fichte sich ,in der
Sphäre allgemeiner Gesetze' glaubte, zu historischer Bedingtheit aber nicht erst herabzu-
sinken brauchte. Die ,historische Bedingtheit' seines Denkens, die doch wohl nicht so
bedauerlich ist, wie M. W. glaubte, ist hier im Revolutionskapitel versucht worden, dar-
zustellen. Das kann aber gerade nicht dazu veranlassen, dem ,Wirtschaftstheoretiker'
Fichte sich zuzuwenden, bzw. seinen speziell ,ökonomischen' Theorien als solchen erhöhte
Beachtung zu schenken. Denn dieser Blick auf die ökonomischen Theorien scheint die
eigentliche Bedeutung dessen, was in diesem Denken zur Aussage kommt, zu verstellen.
M. W. gewinnt die Möglichkeit, den ,Wirtschaftstheoretiker und ,Sozialisten' Fichte sich
102 Die totale Gesellschaft

Eigentumslehre kann nicht betrachtet werden als interessante Stellungnahme eines


auch sonst wohl verdienstvollen Denkers zu ökonomischen Problemen, sondern sie
muß begriffen werden als Konsequenz seines Grundansatzes und Mitte seiner prak-
tischen Philosophie. Mit der Eigentumslehre in dieser zentralen Bedeutung nimmt
Fichte seinen Platz in der Tradition einer politischen Philosophie ein, die, weit ent-
fernt nur ,ökonomisch' zu sein, Individuum und Eigentum in einem unaufhebbaren

,begreiflich und plastisch' zu machen (62) gerade indem sie sich vorn Philosophen, der
,sich in Zwiespalt verwickelt habe' abwendet. Dabei ist ein weiteres charakteristisches
Ergebnis der Betrachtung: »Fichte hat zufolge der Trennung von Recht und Moral und
seiner ursprünglichen Auffassung des Staates als bloßen Rechtsinstituts noch keine selb-
ständigen politischen Ideale aufgestellt« (61). Das Mißverstehen ist bezeichnend: In der
Zuwendung zum nur-ökonomischen, das durch die nichtdurchschauten Inkonsequenzen
und Widersprüche des Philosophen sich motiviert, muß auch die eigentliche Bedeu-
tung des ökonomischen durch Wegfall der philosophischen Dimension verlorengehen.
Aber nicht nur dieses verschließt sich einer solchen Betrachtung in seiner eigentlichen
Bedeutung. Viel wichtiger ist, daß aum der Blick für die durmaus bestimmte und sich
aus den philosophismen Voraussetzungen allerdings konsequent ergebende politische
Theorie Fichtes verlorengeht - eine Theorie, die vielleicht nicht als ,positives politisches
Ideal' anzusprechen ist, die aber erst auch seinen ,Sozialismus im richtigen Licht er-
scheinen lassen.
Bei Walz (a.a.O., 511 ff.) findet sich zwar eine Bestimmung des Eigenturnsbegriffs und
seiner Wirkungen auf die politisme Theorie, nicht aber eine Diskussion seines Ortes in der
Gesarntphilosophie. (Ober den von Walz an dieser Stelle gebrauchten Terminus ,Staats-
sozialismus' weiter unten.) Ausführlim behandelt auch Metzger das Problern des Eigen-
turns, a.a.O., 165 ff. Hier wird besonders der Wemsei von dem auf ,Formation' gegrün-
deten Eigenturn von 1793 zu dem ,dynarnismen' der ,Grundlage d. N.' beschrieben. Die
eigentliche Begründung des Firnteschen Eigenturnsbegriffs aus dem Kern seines philoso-
phischen Ansatzes aber leistete Rickert in dem Aufsatz: Die philosophischen Grund-
lagen von Fid!.tes Sozialismus, in: Logos, XI, 2, 149 ff. Rickert stellt eingangs die Frage:
»Besteht bei ihm (Firnte, B. W.) zwischen Wissenschaft und Politik in der Tat ein not-
wendiger Zusammenhang und wenn ja, von welcher Art ist er?« (a.a.O., 151) Rickert
erkennt, daß der transzendentalphilosophische Eigenturnsbegriff in das Zentrum von
Fichtes theoretischer Philosophie zurückweist und kommt zu dem Schluß: »... enger
können die letzten Prinzipien des philosophisd!.en Systems mit einer sozialistism ge-
richteten Politik nid!.t verbunden sein« (162). Ebda. 176/77 führt Rickert schließlich den
Nachweis, daß Firnte von seiner individualistischen Freiheitsvoraussetzung notwendig
zu seinem ,Sozialismus' kommen mußte. Rickert geht es hier offensimtlich um eine nimt-
rnarxistische Begründung des Sozialismus. Eigentlich wesentlich ist aber die Kernthese
dieses Aufsatzes, die Fimtes politische Theorie als Konsequenz aus seinem prinzipiellen
Ansatz behauptet. Ebendies tut die vorliegende Arbeit, nur werden hier die Linien
nicht nur bis zum gesellsmaftlich-ökonomismen, sondern zum eigentlich politismen
Problern weitergezogen. Denn der ,Sozialismus' führte bei Firnte weiter zur totalen Ge-
sellschaft. Wird die Verbindung dieser mit dem freiheitlimen Grundansatz plausibel -
wozu Rickerts Untersud!.ung ein wesentliches Argument ist-, so wäre damit eben dieser
Grundansatz als die Quelle dieses späteren Totalitarismus erkannt.
Auf die Gefahren des dynamischen Eigenturnsbegriffs wies auch schon Walz, a.a.O., 530
hin; in Verbindung mit der Untersuchung der Vertragsstruktur vgl. auch Schottky,
a.a.O., 168 ff.
Einige der erhellendsten Bemerkungen zu diesem Problem rnad!.te smon Eduard Zeller im
Jahre 1865. (E. Zeller: Fichte als Politiker, in: Zeller, Vorträge und Abhandlungen
geschimtlichen Inhalts, Leipzig 1865.) Zellersieht sehr richtig in der Firnteschen Fassung
des Eigenturnsbegriffs den Staat von der »negativen Tätigkeit« (Rechtssd!.utz) zu einer
Eigentum und Freiheit 103

Zusammenhang begreift und diesen Zusammenhang zur Grundlage der Theorie


der neuzeitlidten bürgerlidten Gesellsdtaft macht - die politische Theorie des ,pos-
sessive Individualism' 482.

b) Die konstitutive Bedeutung des Eigentums für das empirische Individuum


In den Beiträgen hatte Fidtte die Frage des Eigentums diskutiert, um aufzuwei-
sen, »daß nidtt der Staat, sondern die vernünftige Natur des Mensdten an sidt die
Quelle des Eigenthumsrechtes sei« 483 • Es heißt dort ferner: »Das unmittelbarste
Eigentum des Mensdten sind seine Kräfte« 484, oder weiter: »Ursprünglich sind wir
selbst unser Eigentum.« 485 Noch deutlidter an den Kern führt folgende Bemerkung:
»Um uns herum sind Dinge, die nidtt ihr eigenes Eigentum sind, denn sie sind nidtt
frei.« 486 Damit ist ein Punkt von höchster Widttigkeit in den Blick gekommen.
Ein freies Wesen zu sein, das bedeutet zunächst sich selbst zum Eigentum zu haben
-sich selbst als Subjekt von Verträgen zu wissen. Wie Freiheit ursprünglidt unend-
liche Möglichkeit der als Handeln erfaßten Subjekt-Objekt-Identität ist, so bedeutet
Eigentum nicht nur, daß dasvernünftige Wesen sich selbst zumEigenturn hat, sondern
ebenso unendliche Betätigung der Kräfte, d. h. der Handlungspotenzen, die, wie oben
zitiert, »das unmittelbarste Eigentum des Menschen« sind. Das Eigentum ist der
,reelle' Ausdruck der Freiheit und wie diese im Ich ursprünglich unendliche Möglich-
keit ist, so ist, unter dem reellen Aspekt, solche Freiheit, ebenso wie bei Locke und

positiven Austeilungsordnung werden (Sozialismus) (a.a.O., 162), erkennt allerdings


nicht, wie später Rickert, den Zusammenhang mit dem Freiheitsansatz, sondern sieht die
»staatliche Bevormundung« in »grellem Kontrast« zu dem »Maß politischer Freiheit, das
der Philosoph fordert« (162).
Kaum könnte man aber, vor allem in Hinblick auf das Verhältnis Gesellschaft und Staat
in der Fichte-Literatur eine prägnantere Bemerkung finden als folgende: »Von der Vor-
aussetzung ausgehend, daß der Staat nicht mehr sei als eine Vereinigung zum Rechts-
schutz, kommt er in der Folge zu der Überzeugung, er habe sich auch mit der Fürsorge
für die Interessen seiner Angehörigen zu befassen. Weil er sich aber doch zugleich von
jener Voraussetzung nicht loszumachen weiß, macht er nun die Interessen selbst zu Rech-
ten und verlangt von dem Staate, daß er ihre Befriedigung ebenso erzwingen, wie er die
Achtung der Rechte zu erzwingen verpflichtet und befugt ist« (166).
In den neueren Arbeiten wird der Eigentumsbegriff von Scholz gleichfalls als ,Binde-
glied' zwischen theoretischen und politischen Schriften Fichtes angesehen, vgl. Scholz,
a.a.O., 44, 318, 649, 651. Torretti geht auf den Eigentumsbegriff nur kurz referierend
ein, was im Hinblick auf die Intentionen seiner Arbeit merkwürdig anmutet. Vgl.
a.a.O., 81 ff. »Bedenkliche Ergebnisse« des Fichteschen Eigentumsbegriffs stellt auch
Schottky, a.a.O., S. 172 ff. fest.
482 ,Possessive Individualism' scheint in ähnlicher Prägnanz kaum übersetzbar?
483 VI, 125.
484 VI, 177/78.
485 VI, 117.
486 VI, 118. Daß der Grund von Fichtes Eigentumslehre bereits in den ,Beiträgen' gelegt ist,

zeigen Metzger, a.a.O., 139, Walz, a.a.O., 430 und Strecker, a.a.O., 106 und 173. Scholz
untersucht den Eigentumsbegriff des frühen Fichte gesondert im Verhältnis zu Schmalz
und Rehberg (a.a.O., 100 ff.) und macht darauf aufmerksam, daß für dieses Problem
schon die ganz frühe Schrift Fichtes, ,Über die Achtung des Staates für die Wahrheit'
hinzuziehen sei (a.a.O., 44).
104 Die totale Gesellschaft

Kant, »ursprüngliches Zueignungsrecht auf den ganzen Erdboden« 487. Ebenso wie
Freiheit das das Ich schlechthin Konstituierende ist, so ist Eigentum das die Indivi-
dualität in ihren empirischen Bezügen Konstituierende. Dabei ist die Dynamisierung
des Eigentumsbegriffs für Fichte das Wesentliche. Im ,Handelsstaat' wird Fichte
Eigentum als »ausschließendes Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit« definie-
ren 488.
Allerdings zeichnet sich schon in den ,Beiträgen' eine Gefahr ab. Wenn Eigentum
im konkreten Sinne eben die Bedeutung hat, die Freiheit für das Ich hatte, so
besteht die Gefahr, daß unter dem Eigentumsaspekt eine gewisse Totalerfassung des
empirischen Individuums möglich wird. Solcher Gefahr begegnet Fichte durch die
Trennung von Moralität und Legalität, aber es wird zu untersuchen sein, ob diese
Trennung den empirischen Einzelnen vor einem totalen Zugriff in politischer Hin-
sicht bewahrt.

c) Die Deduktionen von Freiheit, Recht und Eigentum


Im systematischen Denken Fichtes sind drei große Bahnen der Deduktion zu fas-
sen. Die erste ist die Deduktion des Ich, die Freiheitslehre, der in dieser Arbeit das
Kapitel II gewidmet ist. Kapitel I bemühte sich, die Herkunft der Freiheitslehre aus
dem revolutionären Ansatz aufzuzeigen. Schon in der zweiten dieser Deduktions-
bahnen erkennt man die Struktur der ersten wieder. Jene zweite, die Deduktion
des Rechtsbegriffs, ist eigentlich nur diese erste unter dem Aspekt ihres Ergebnisses,
des Zusammenseins freier Wesen. Wie die Deduktion der Freiheit vom absoluten
Ich zum individualisierten Ich mit dem Ergebnis des konstitutiven Setzens anderer
Iche führte, so führt die Entwiddung des Rechtsbegriffs zum Gemeinwesen als ver-
nünftigem Ergebnis. Die Konkretion des formalen Rechtsbegriffs ist das Eigentum
- Recht auf freie Handlungen- und stellt nichts anderes als den ,reellen' Begriff
der Freiheit dar. In jeder der drei Deduktionen tauchen die gleichen systematischen
Glieder auf, Selbsteinschränkung, Anerkennung usw.
Vor der genaueren Untersuchung des so bestimmten Eigentumsbegriffs in der
,Grundlage' und im ,Handelsstaat' soll die Frage von Moralität und Eigentum vor-
weg behandelt werden. Gleichzeitig dienen die Bemerkungen Fichtes über das
Eigentum im System der Sittenlehre' zur Erläuterung des Gedankens vom Eigen-
tum als dem reellen Aspekt der Freiheit.
Im ,System der S.' behandelt Fichte das Eigentum im dritten Abschnitt des dritten
Hauptstücks, ,Die eigentliche Pflichtenlehre'. Eigentum erscheint hier als notwen-
dige Bedingung der konkreten Freiheit. »Soll das vernünftige Wesen in seiner Wirk-
samkeit frei sein, d. i. soll erfolgen in der Erfahrung, was es in seinem Zweckbegriff
sich dachte<< 4BD, so muß Eigentum sein bzw. Eigentumsrecht eingeführt werden. Das
Sollen in diesem Zitat ist nicht hypothetisch, sondern kategorisch - es steht in der
Pflichtenlehre. >>Es ist sonach zuvörderst Pflicht eines jeden, der sich zur Einsicht

487 Für Fichte: W. VI, 121, Kant, vgl. Werke, 6, 251, Locke: Scd. Treat, o. Gov. Chapt.
V, Sect. 26.
488 111, 441.
489 IV, 291.
Eigentum und Freiheit 105

in die soeben aufgestellten Sätze erhoben hat, das Eigentumsrecht einzuführen.« 490
Eigentum ist so nicht etwas, das man haben kann oder auch nicht, sondern es ist für
das konkrete Dasein des Individuums absolut konstitutiv, ebenso wie Freiheit für
das Ich als solches. »Die Freiheit jedes Einzelnen ist mir absoluter, durch das Sitten-
gesetz gebotener Zweck. Diese Freiheit ist bedingt dadurch, daß es sein Eigentum
habe.<< 4 9 1 Noch deutlicher: »... der freie Gebrauch des Eigentums des Anderen,
mithin seine Freiheit überhaupt.<< 492 Die Freiheit konkretisiert sich im praktischen
Sinne zum >>freien Gebrauch des Eigentums<<.
Dazu noch ein letztes Zitat aus dem ,System der S.', das die Pflicht zum Eigentum
stark hervorhebt: >>Das Eigentum ist Objekt der Pflicht, weil es Bedingung und
Werkzeug der Freiheit ist.<< 49 3 Bedingung für die Wirksamkeit der Freiheit, Werk-
zeug der Verwirklichung der Freiheit, ja Freiheit überhaupt im konkreten Sinn ist
das Eigentum - fester konnte die Eigentumslehre nicht im System verankert sein -,
die Philosophie Fichtes erweist sich so im Ganzen als die klassische Theorie des
,Possessive Individualism'. Aus der Pflicht zum Eigentum folgt nun für Fichte -
auch das ist im ,System der S.' ausgeführt - auch die Pflicht zum ,Staate'. Diese
Folgerung soll in der jetzt folgenden Analyse der Funktion des Eigentumsbegriffs
in Rechtslehre und politischer Theorie untersucht werden. Hier ging es zunächst nur
um die Frage des Eigentums unter dem Aspekt der Moralität; die Konsequenzen in
bezug auf den ,Staat' sind im ,System der S', die gleichen wie in der ,Grundlage', die
ja auch fast gleichzeitig entstanden bzw. fertiggestellt worden ist.

d) Die Deduktion des ,Handelsstaates', der totalen Gesellschaft


In der ,Grundlage' taucht die Bestimmung des Eigentums bei der Deduktion der
,Urrechte' auf. Nach dem bisher Gesagten überrascht es nicht, den Eigentumsbegriff
an einer so grundlegenden Stelle zu finden, an einer Stelle nämlich, wo es um die
Bestimmung der Person, d. h. des Individuums als solchen 494 geht, und zwar unter
den Bedingungen des Rechtsbegriffs. Mit anderen Worten, es ist hier gefragt nach
den unverlierbaren Bestimmungen- ,unveräußerlichen Rechten', ,Urrechten' -, die
die Person in das Rechtsverhältnis einbringt. >>Der Begriff der Freiheit, ... der, wie
schon oben erinnert worden, nur formale Bedeutung hat, gibt den Begriff des
Urrechts, desjenigen Rechts, das jeder Person als einer solchen absolut zukommen
soll.<< 49 5 In der Bestimmung der Person als einer solchen liegen die Begriffe der
490 IV, 292.
491 Ebda.
492 IV, 294. Wallner behauptet, a.a.O., S. 87, daß in der Sittenlehre von 1798 »das absolute

Trennungsverhältnis von Recht und Moral nicht mehr vorhanden<< sei. In der Sittenlehre
ist von Recht und Eigentum durchaus die Rede, aber eben als Teil der Sittenlehre, also
insofern von Pflichten (kategorisch) gehandelt ist. Deshalb ist doch der Bereich der
Legalität als solcher, wie hier gezeigt wurde, durchaus davon getrennt. IV, 294 etwa
(>>Man kann die Legalität gar nicht wollen außer um der Moralität willen«) spricht
keineswegs dagegen.
493 IV, 298.

494 III, 110: >>eine Person als Person, d. h. als Individuum«.


495 III, 112/13. Fichte zeigt hier die größte Nähe zu Locke, für den das Eigentumsrecht der

Person ebenfalls etwas dem Staate Vorgängiges ist. Im Gegensatz dazu Rousseau, für
den Eigentum vor der gesellschaftlichen Organisation ,usurpation' ist.
106 Die totale Gesellschaft

Freiheit, des Rechts und schließlich des Eigentums, und zwar nicht eigentlich abge-
leitet voneinander, sondern als analoge Stellen im System, nur jeweils auf der ande-
ren Konkretionsebene. Deshalb trifft folgende Erläuterung des Begriffs des
Urrechts, die Fichte im Anschluß an die zuletzt zitierte Stelle gibt, ebenso den
Begriff der Freiheit, wie aber auch den ursprünglichen Begriff des Eigentums. »Die-
ser Begriff ist der Qualität nach ein Begriff von dem Vermögen, absolut erste
Ursache zu sein; der Quantität nach, hat das darunter Begriffene gar keine Gren-
zen, sondern ist seiner Natur nach unendlich.« 496 Freiheit, Recht und Eigentum
sind Begriffe von der gleichen systematischen Struktur. (Dazu sei noch einmal
erinnert an das oben gegebene Zitat, nach dem Freiheit »ursprüngliches Zueignungs-
recht auf den ganzen Erdboden« bedeutet.) 497
In dieser Strukturidentität der Begriffe liegt begründet, daß Eigentum bei Fichte
nicht unmittelbar ein Eigentum an Objekten sein kann. Beim Eigentum wird es sich
immer um »das Recht auf freie Tätigkeit« handeln - in dieser Bestimmung sind alle
drei Begriffe systematisch vereint 498 • Diese aus den Deduktionen der ,Grundlage'
sowie schon aus den ,Beiträgen' sich ergebende Fichtesche Auffassung des Eigentums
hat zu seiner Zeit so wenig Beachtung und Verständnis gefunden, daß Fichte sich
genötigt sah, sie im ,Geschlossenen Handelsstaat' noch einmal ausführlich darzu-
legen 499 • In dieser Darlegung, die ausdrücklich als die Begründung aller Ergebnisse
des Handelsstaates bezeichnet wird - »Alle diese Behauptungen gründen sich auf
meine Theorie des Eigentums« 50° - werden auf eindringliche Weise noch einmal
Anfang und Ende von Fichtes politischer Theorie deutlich. Anfang, insofern die
eigentliche revolutionäre Bestimmung noch einmal klar hervortritt 501 • Ende schließ-
lich insofern, als gerade in der Durchformung der Lehre aus dem revolutionären
Impuls heraus die Konsequenzen für die Theorie des Gemeinwesens deutlich wer-
den. Denn diese systematische Verbindung von Freiheit und Eigentum hat eben zur
Folge, daß im Bereich der als Zwang deduzierten Legalität eine Totalerfassung der

408 111, 113.


407 VI, 121.
408 Auch Recht war ja nicht als Recht auf Sachen, sondern stets nur als Recht auf Handlun-

gen erklärt worden. 111, 401. Schmoller hatte bereits darauf hingewiesen, daß Fichtes
Eigentumsbegriff sich dem ursprünglich ,germanischen' nähere im Gegensatz zum römisch-
rechtlichen. (Schmoller; Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften,
Leipzig 1888, S. 63). Ebenso auch Heinrich Brunner, a.a.O., 30 und Scholz, a.a.O.,
564 ff. Fichtes Verhältnis zu den Wirtschaftslehren seiner Zeit behandelt erschöpfend
Scholz, a.a.O., 371 ff.
400 »Nun ist es aber gerade die Theorie des Eigentums, über welche von der meinen höchst

abweichende Begriffe im Umlauf sind. . . Meines Erachtens ist der Grundirrthum der
entgegengesetzten Theorie über das Eigenthum ... dieser, daß man das erste ursprüng-
liche Eigenthum in den ausschließenden Besitz einer Sache setzt ... Im Gegensatze gegen
diese Theorie setzt die unsrige das erste und ursprüngliche Eigenthum, den Grund alles
anderen, in ein ausschließendes Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit.« 111 440/41.
500 111, 440.
501 »Was Wunder, daß wir bei dieser herrschenden Ansicht sogar eine Theorie erlebt haben,
nach welcher der Stand der großen Güterbesitzer oder der Adel, der einige, den Staat
bildende Bürger ist, und alle übrigen nur Beisassen ... « 111, 441. »Ein Eigenthum des
Bodens findet nach unserer Theorie gar nicht statt ... «, 111, 442.
Eigentum und Freiheit 107

empirisdten Person unter dem Eigentumsaspekt möglich und von der Theorie sogar
postuliert wird. Das »erste und ursprünglidte Eigentum«, das alles mögliche Eigen-
tum begründet, ist »ein aussdtließendes Redtt auf eine Bestimmte Tätigkeit« 5°2 •
Diese freie Tätigkeit kann bestimmt sein »durdt das Objekt, auf welches sie
geht« 5os, dann wäre sie der Grund des Besitzes an diesem Objekt. »Oder diese freie
Tätigkeit ist durdt sidt selbst, durdt ihre eigene Form bestimmt, ... ohne alle Rück-
sidtt auf das Objekt, auf weldtes sie geht:- das Redtt, aussdtließend eine gewisse
Kunst zu treiben ... und alle anderen Mensdten an der Ausübung derselben Kunst
zu verhindern.« 504 Besonders an der letzten Bestimmung werden sidt fatale Weite-
rungen in der politisdten Theorie anknüpfen. Denn Eigentum wird ebenso wie das
Recht als solches nur im Zusammenschluß ,nadt bürgerlichen Gesetzen' wirksam und
sinnvoll. Das Umwillen des Gemeinwesens ist also konkret Eigentum, und zwar in
diesem sehr weiten Sinne des letzten Zitats. Umwillen bedeutet aber Garantie,
Garantie bedeutet Eingriffs- und Aufsidttsredtt 505.
Aber über diese Konsequenzen des Eigentumsbegriffs für die eigentlidte politisdte
Theorie soll noch ausführlich gehandelt werden. Hier kam es zunädtst darauf an,
die systemimmanente Strukturidentität der Begriffe Freiheit, Redtt und Eigentum
herauszustellen. Das Gesetz der Freiheit ist ihre Selbstbestimmung; indem das abso-
lute Ich zu diesem Individuum sich bestimmte, besdtränkte es seine Freiheit und
setzte so andere Idte, d. h. die Gesellsdtaftlidtkeit als solche war damit deduziert.
Der Mensch ist »kein ganzer, vollendeter Mensdt außerhalb der Gesellsdtaft« 506•
Damit ist die Sphäre des Rechts gesetzt und es wiederholt sidt die Struktur der
Deduktion. Das Recht ist ursprünglidt ebenso nur formal und, wie wir oben sahen,
gleidt der Freiheit subjektiv unendlidt. Aber ebenso wie bei der Freiheit liegt die
Quantifizierung sdton in seinem Begriff. Ebenso ist das dritte, Eigentum, ursprüng-
lidt ebenso subjektiv unendlidt- »ursprünglidtes Zueignungsredtt auf den ganzen
Erdboden«. Aber- unter der Hypothese des Rechtssatzes- ist audt hier die Quan-
tifizierung mitgegeben. »Demnach muß zuvörderst jede Person, sobald ihr die Exi-
stenz einer Person außerhalb ihrer bekannt wird, ihren Besitz überhaupt besdträn-
ken auf ein endliches Quantum der Sinnenwelt.« 507• »Jeder ist ferner redttlidt
verbunden, sich darüber äußerlidt zu erklären; und der andere hat das Recht,
ihn zu dieser Erklärung, zur Deklaration seines Besitzes, zu zwingen, weil
ohne sie gleichfalls weder Recht nodt Sidterheit stattfindet.« 508 Und sdtließlich:
»Kein redttlidtes Verhältnis ohne Bestimmung des Eigentums im weitesten Sinne
des Wortes.« 509 Wie das subjektive Zwangsredtt und das entspredtende Wider-
standsredtt formal unendlich waren und zu einem unauflöslidten Widersprudt führ-
ten- auflösbar nur durdt Einführung des ,Staates'-, so ist auch das im Eigentum

502 I II, 441.


503 Ehda.
504 III, 441/42.
505 Vgl. dazu nochmals die in Anm. 481 mitgeteilte Bemerkung Zellers!
5os VI, 306.
507 III, 126.
508 III, 127.
509 III, 195.
108 Die totale Gesellschaft

konkretisierte Recht ,problematisch' außerhalb des ,Staates' 510 • Wie dieser in der
formalen Redltsdeduktion die Garantie der Rechte des Einzelnen mit einer ,der
mechanischen gleichenden' Ausnahmslosigkeit übernehmen mußte, so jetzt ebenfalls
ganz konkret die Garantie des »Eigentums im weitesten Sinne des Wortes«. »Es gibt
daher gar kein sicheres und zu äußerem Recht beständiges Eigentum als dasjenige,
was von dem ganzen menschlichen Geschlecht anerkannt wird.« 511 •
Die Deduktion der Freiheit führt zur Gesellschaftlichkeit als solcher, die Deduk-
tion der Freiheit im Rechtsbegriff, also der Freiheit in der gesellschaftlichen Bestim-
mung, führt zur Gesellschaft als ,Staat', die Konkretion der Freiheitsrechte 1m
Eigentum schließlich zum ,Handelsstaat' als letzter konkreter Bestimmung 512 •

3. Die totale Gesellschaft

a) Kampf Aller gegen Alle bei Hobbes und Fichte


Im Kapitel über ,Fichte und die Französische Revolution' hatte sich die Notwen-
digkeit ergeben, die These Wallners von der scharfen Kontrastierung von Gesell-
schaft und Staat in den Frühschriften Fichtes zu differenzieren. Von einer Kon-
trastierung konnte gesprochen werden, insofern Fichte den Staat qua bestehender
Fürstenherrschaft angreift, und zwar von der ,Gesellschaft' her, die als abstrakte

510 Diese Einsicht Fichtes ist der eigentliche Grund für die Aufwertung des ,Gemeinwesens'
in der ,Grundlage' gegenüber den ,Beiträgen'. Je eindeutiger für Fichte so die Notwendig-
keit des ,Gemeinwesens' - also einer verstaatlichten Gesellschaft - wurde, um so
wichtiger mußte dieses natürlich auch im Hinbli<k auf den eigentlichen Endzweck wer-
den- zunächst allerdings nur als ,Durchgang'.
511 III, 130. über die ,angrenzenden Staaten' und wieder die an diese angrenzenden erreicht
Fichte hier die Konstruktion der in seiner Theorie geforderten Garantie des Eigentums
durch ,das ganze menschliche Geschlecht'. Die großen Glieder sind hier wieder der
Einzelne und die ,Menschheit'- Staat als Konkretion eines Teiles ,Menschheit'.
512 Es war August Wilhelm Rehberg, der schon 1801 in den ,Göttinger Gelehrten Anzeigen',
Nr. 32 sagte: »in dem großen Zuchthause, welches der Verfasser ,Geschlossenen Handels-
staat' nennt« (A. W. Rehberg; Sämtl. Schriften, Hannover 1829, Bd. 4, S. 311). Allge-
mein zum ,Handelsstaat' bei Walz, a.a.O., 516/17, 527 f. und 537 f. Zur Frage des
systematischen Zusammenhangs von ,Ich' und ,Handelsstaat' vgl. Walz, 528.
Im Gegensatz zu allen anderen Autoren vertritt Heinrich Brunner die These eines'
wesentlichen Unterschiedes zwischen ,Grundlage d. N.' und ,Handelsstaat'. »Der poli-
tische Staat des ,Naturrechts' ist der spekulativ gewonnene Rechtsstaat. Das Recht aber
ist hier Menschenrecht, d. h. Weltrecht. Der politische Staat ist daher notwendigerweise
Glied der Weltgemeinschaft des Völkerbundes. In dem gleichen Naturrecht (Handels-
staat) aber entwirft Fichte ein Bild der Wirtschaft, das nun nicht mehr der Spekulation
entstammt, sondern eine Fixierung der historisch gewordenen deutschen Volkswirtschaft
darstellt.« (H. Brunner, a.a.O., 20) Brunner sieht die Bedeutung des ,Handelsstaates'
dann schließlich in der erstmaligen Darstellung der Nation »als endgültig letzte Groß-
form der Gesellschaft<<, (a.a.O., 20) er scheint aber doch die ,spekulative' Grundlage auch
des Handelsstaates zu übersehen, dem sich zwar konkrete volkswirtschaftliche Beobach-
tungen einfügen, aber doch nur soweit sie mit dem Apriori zusammenstimmen.
Zu der ,wirtschaftlichen' Seite des Handelsstaates zusammenfassend Scholz, a.a.O.,
654 ff. (Vgl. auch unten Anm. 429 über Fichtes ,Sozialismus'.)
Die totale Gesellschaft 109

Vereinigung vernünftiger Individuen gegenüber dem vorgefundenen Staat die Ver-


nünftigkeit verkörperte. Entsprechend seinen Prinzipien mußte Fichte dann aber
Gesellschaft und Staat in die gleiche Deduktionsreihe aufnehmen; der konstruktive
Rest von abstrakt-funktionaler Staatlichkeit, der so vor dem ,Richterstuhl der Ver-
nunft' - d. h. in diesem Fall der Gesellschaft - bestehenblieb, wurde folgerichtig
der Gesellschaft ein- und untergeordnet. Auf die größten Schwierigkeiten mußte
dieses Denken stoßen, wenn es in Rechts- und Staatstheorie weiter eindrang, auf
die Schwierigkeiten nämlich, die sich der Deduktion der Staatsgewalt, aus der sub-
jektiv gefaßten Freiheit eröffnen mußten. In dem Abschnitt ,Legalität und Morali-
tät' ist versucht worden zu zeigen, wie diese Freiheit überhaupt nur durch die Tren-
nung von Legalität und Moralität bewahrt bleiben konnte. Solche hypothetische
Rettung der Freiheit vermochte allerdings nicht zu verhindern, daß der Zwang, als
der das Recht aufgefaßt wurde, nur noch potenziert wurde. Die abstrakt-unend-
liche subjektive Freiheit hatte Unendlichkeit des Zwangsrechts zur Folge. Es wurde
dort - ebenso wie schon aus den Revolutionsschriften und auch in der Betrachtung
der rein abstrakten Konsequenzen des Freiheitsbegriffs - bereits gefolgert, daß
der so aus der Vernunft zu deduzierende Staat notwendig den Charakter einer
totalen Gesellschaft annehmen müsse. Mit der eigentlichen Untersuchung der
Grundbestimmungen des ,gemeinen Wesens', d. h. der nach Vernunftprinzipien
organisierten Gesellschaft, kommen wir zum Kern von Fichtes politischer Theorie.
Das in Vernunftgesetzen organisierte ,Gemeine Wesen' hat Fichte als einzigen
Ausweg zur Überwindung des Widerspruches des subjektiv-unendlichen Freiheits-
(Rechts-Eigentums-)begriffes deduziert. Diese vernünftige Demonstration der Not-
wendigkeit von ,Staat' soll zunächst noch einmal, weiter ausholend, betrachtet wer-
den.
In konsequenter Übertragung seiner Bewegungslehre auf den Menschen hatte
Hobbes eine Anthropologie entworfen 5 13, die den Menschen von ,passions' bewegt
erscheinen läßt, deren hervorstechendste das ,striving after power' ist 514 • Auf
dieser zwar hypothetischen, aber eindeutigen Grundlage 515 ergab sich ihm das be-
rühmte ,bellum omnium contra omnes', sein ,Naturzustand', und in der Ausführung
die erste Theorie der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft. Bis zu diesem Punkte
sind die Gesellschaftslehren Kants und Fichtes mit denen Hobbes' vergleichbar.
Wenn auch die Anthropologie des Hobbes- seine ,passions'-Lehre- gegenüber der
Theorie der vernünftigen freien Subjektivität sich äußerlich sehr unterschiedlich
darbietet, so handelt es sich doch in beiden Fällen um Theorie der bürgerlichen

513 Strauß führt den interessanten Nachweis, daß Hobbes seine ,passions'-Lehre bis zu fast
wörtlicher Übereinstimmung aus der Rhetorik des Aristoteles übernimmt. Leo Strauß;
The political philosophy of Hobbes; lts Basis and its genesis. 2. Aufl. Chicago, 1952.
s. 30 ff.
514 Hobbes, Leviathan, Chapter VI, Chapter XI.
5 15 Die Relationierung von Hobbes' Naturzustandslehre auf die Gesellschaft Englands im
17 Jh., die auch Strauß und Oakeshott noch nicht völlig erfaßten, und die Einordnung
Hobbes in die politische Theorie des ,possessive individualism' sollte seit Macpherson
endgültig .feststehen. über die Aktualität, die Hobbes dadurch erhält, siehe Macpher-
sons SchlußkapiteL
110 Die totale Gesellschaft

Gesellschaft - nur eben durch 150 Jahre voneinander getrennt. Als Theorie des
,Possessive Individualism' führt das Hobbessche Machtstreben des Wolfsmenschen
im ,Naturzustand' ebenso wie die aus dem Begriff der freien Subjektivität als
solcher sich ergebende These vom ,ursprünglichen Zueignungsrecht auf den ganzen
Erdboden' zu einem hypothetischen Krieg aller gegen alle 5 16. Besonders für Fichte
ist diese Konsequenz wichtig. Noch in den Beiträgen hatte er gegen die Behauptung
,der ursprünglichen Bösartigkeit des Menschen' aufs heftigste polemisiert 51 7; bei
der Behandlung dieser Stelle war klargeworden, daß das revolutionäre Argument
notwendig von einer Grundstruktur des Individuums ausgehen mußte, die schon
als solche Gewähr für Freiheit und Ordnung war. Damit mußte aber die zuneh-
mende Einsicht Fichtes vom dynamischen Charakter seines im Eigentum sich kon-
kretisierenden Individuums notwendig kollidieren. Sollte die tatsächliche Ordnung
des Gemeinwesens deduziert werden, d. h. das Gesetz, das Fichte eben wegen der
wachsenden Einsicht in die gefährliche Dynamik der Individuen und ihrer ,Privat-
zwecke' als Zwangsgesetz bestimmen mußte, so mußte die Theorie naturgemäß in
die größten Schwierigkeiten kommen. Diesen Schwierigkeiten begegnete Fichte
zunächst damit, daß er die Moralität hypothetisch suspendierte, um so die Möglich-
keit zu gewinnen, im Bereich der praktisch-politischen Ordnung den Zwang zu
rechtfertigen. Aber die Moralität, also die Freiheit des Einzelnen als solche, die er
so ständig sozusagen noch in der Hinterhand hatte, war gleichzeitig der Grund, aus
dem die Notwendigkeit des Zwanges deduziert wurde. So gelangte Fichte dazu,
diesen Zwang nicht auf die ,ursprüngliche Bosheit', aber auf die ursprüngliche Frei-
heit zurückzuführen. Auf diese Weise war die suspendierte Moralität als abstrakte
subjektiv-unendliche Freiheit wieder in die Deduktion der Legalität eingebracht,
aber nur, um sogleich um so rigoroser wieder aus dieser vertrieben zu werden.
Gerade die Unberechenbarkeit, die der Faktor der subjektiven Freiheit in das Zu-
sammenleben brachte, machte dieses zum Kampf aller gegen alle, Freiheit erscheint
dann innerhalb der um ihretwillen deduzierten Legalität als Willkür, das Miß-
trauen wurde so für die so gefaßte ,Gesellschaft' konstitutiv. Für sich- eben in dem
Ergebnis dieses Kampfes aller gegen alle betrachtet, als der die Gesellschaft als
Organisation der Privatzwecke nun erscheinen mußte, haben wir auf diesem Punkte
das gleiche Ergebnis als Ausgangspunkt der Staatskonstruktion bei Fichte wie bei
Hobbes. Aber Hobbes spürte die Bedrohung ernster. Das Chaos der konfessionellen
Bürgerkriege seiner Zeit ließ ihn dieses ,Mißtrauen' zur elementaren Furcht vor dem
gewaltsamen Tod 518 als Grunderlebnis menschlicher Existenz steigern. Aus dieser
Furcht erwächst für Hobbes die Vernunft des Leviathan, der die Furcht generell
hinwegnimmt und zur »minimum condition of any settled society<< wird (Oake-

516 Das Individuum als solches und seine Privatzwecke sind so als das Element der Gesell-
schaft erkannt und gerechtfertigt. >>Jeder ordnet den gemeinen Zweck seinem Privat-
zweck unter.<< III, 150.
517 VI, 130.
518 »Not the rational and therefore always uncertain knowledge, that death is the greatest
and supreme evil, but the fear of death, i.e. the emotional and inevitable, and therefore
necessary and certain aversion from death is the origin of law and the state.<< Strauß,
a.a.O., 17.
Die totale Gesellschaft 111

shott). Das ,minimum' in dieser ausgezeid:meten Formulierung ist von größter syste-
matischer Bedeutung. Denn es zeigt die Reduktion an, innerhalb derer hier bei Hob-
bes der Leviathan gesehen ist. Nicht als Organisation der individuellen Zwecke
erscheint hier der ,sterbliche Gott', sondern als der Garant der Entfaltung eines
,Systems der Bedürfnisse'; als ,der mit großer Macht verhinderte Bürgerkrieg', als
der Staat, dessen Aufgabe das Politische im engem Sinne ist, Friedenssetzung nach
außen und innen, als Bedingung der Entfaltung des ,salus populi' 5 19.
Nicht aber als dieses selbst 520• Der ,Leviathan' ist das klassische politische Werk
der Neuzeit, in dem die Existenzbedingung der neuzeitlichen bürgerlichen Gesell-
schaft in ihrem Bezogen- und Angewiesensein auf das politische Gegenüber - den
Staat- zum erstenmal klar hervortrat 521.
Dem politischen System des ,Possessive Individualism', d. h. der bürgerlichen
Freiheit war so die Lebensgefährlichkeit genommen. Die Frage der Religion und
des Verhältnisses des Staates zu ihr ließen dann- in der bei Hobbes schon angeleg-
ten Unterscheidung von ,Innen' und ,Außen' - die freie Individualität im Schoße
und im Schutze des Leviathan erstehen. Einhundertfünfzig Jahre später trat sie in
einer extremen Form, als Fichtesches Ich, an die Aufgabe, nun als der eigentliche
Grund alles Seins und Erkennens sich selbst mit der nun entfremdeten Gewalt des
Staates zu vermitteln. Die historische Gestalt des Staates erschien der revolutionären
Subjektivität unvernünftig und widernatürlich, der funktional aufgefaßte Rest der
Staatlichkeit- die gefährliche Dynamik der Gesellschaft blieb ja erkannt und wurde
vernünftig deduziert -, die Sicherung, wurde in die Gesellschaft selbst eingebaut.
Nunmehr war nicht mehr die bloße Ermöglichung des subjektiven Daseins im Sinne
der einfachen physischen Subsistenz die Aufgabe des ,Staates', sondern das Indi-
viduum und seine Zwecke sollten jetzt vollständig in Selbstorganisation garantiert
werden.

b) Die Selbstorganisation der Gesellschaft


Fichte begann die Aufgabe der theoretischen Selbstorganisation der Gesellschaft
- als deren Ergebnis sein ,Handelsstaat' erscheint - unter extremen Bedingungen.
Die erste der denkmäßigen Voraussetzungen, die die ,Staats'lehre Fichtes so kom-
plizieren, ist der revolutionäre Denkansatz. Im ersten Teil dieser Arbeit ist versucht

519 Vgl. bei Hobbes dazu De Cive 13,6.


520 In der ,Zurückforderung' hatte Fichte noch geschrieben: »Nein, Fürst, du bist nicht unser
Gott. Von ihm erwarten wir Glückseligkeit; von dir die Beschützung unserer Rechte.<<
Hier meinte Fichte noch tatsächlich den Staat und begriff seine reduzierte Funktion im
Gegensatz zur Gesellschaft; der Gegensatz ist aber in der ,Grundlage bereits völlig ver-
schwunden. Vgl. Anm. 441 über die letzten Zwecke Hobbes' und Fichtes.
521 V. Krockow schreibt an einer Stelle (polemisch gegen Schmitt), daß die Leistung des
Hobbes >>auf besonderen, nicht beliebig reproduzierbaren gesellschaftlichen Umständen
beruhte«. (a.a.O., 31) Historische gesellschaftliche Umstände sind nicht nur nicht beliebig,
sondern gar nicht reproduzierbar. Aber auf einer gewissen Vergleichbarkeit der Struk-
turen und der sich daraus ergebenden Problemstellungen ist ja das große Interesse an
Hobbes in der Gegenwart überhaupt zu erklären. Vgl. dazu besonders Strauß, On the
Basis of Hobbes' Political Philosophy. In: What is Political Philosophy? Glencoe, 1959,
S. 170 ff. Collingwood, The New Leviathan; Oxford 1947, Macpherson, a.a.O., 176/77.
112 Die totale Gesellschaft

worden zu zeigen, wie das revolutionäre, also gegen die bestehende historische
Herrschaft gerichtete Argument, das Merkmal der abstrakten Vernünftigkeit trug,
das auf Gleichheit bestehen mußte, wenn sich die Theorie nicht als Instrument in
einem Klassenkampf selbst verstehen sollte. Die aufklärerische Revolutionstheorie
mußte im Namen des Menschen bzw. der Menschheit bzw. der Gesellschaft argu-
mentieren. Wenn so der Mensch unabhängig von seinen sozialen und historischen
Determinanten ins Spiel gebracht wurde, das ,Innen' - die Subjektivität in dieser
abstrakten Herkunftslosigkeit, die auf diese Weise leicht als der einzige Ort der
Freiheit erscheinen konnte- gegen das ,Außen' maßgebend wurde, so mußte not-
wendig die Erkenntnis der Bedeutung des ,Oben' und ,Unten' schwinden. Die Theo-
rie mußte zur demokratischen werden m. Zu Fichtes Zeiten galt natürlicherweise
der Verdacht, Demokrat zu sein, schon als verbrecherische Kennzeichnung des Be-
treffenden 523 ; die Bezeichnung stand der des Jakobiners kaum nach. Aber nicht nur
deswegen wies Fichte den Verdacht des Demokratischen weit von sich. Ausdrücklich
lehnt er Demokratie als Staatsform ab 524 , aber er verstand darunter die unmittel-
bare Demokratie der Volksversammlung. Nichtsdestoweniger witterte die zeitge-
nössische Monarchie mit Recht Unheil, denn wenn auch Fichte in der Grundlage die
Möglichkeit der Monarchie in vernünftiger Deduktion zuläßt, so ist doch klar, daß
gerade diese keine Möglichkeit ließ, absolute Monarchie als solche anzuerkennen,
vielmehr war eben die Gleichheit aller Menschen als solcher und die Bestimmung
jedes Staates als Instrument der Gesellschaft notwendige Konsequenz des revolutio-
nären Ansatzes. So müssen wir Schenkel recht geben, wenn er den Demokraten
Fichte überall in dessen Werk nachweist 525 • Aber mit der Entwicklung der Theorie
zu einer demokratischen ist für ihre Entfaltung zu konkreten politischen Ordnungs-
bildern noch nicht viel gewonnen - seit es Theorie der Demokratie gibt, gibt es
auch totalitäre Theorie der Demokratie 526.
Wenn die Theorie, wie die Fichtes, der historisch absehbaren Bildung von Klassen
innerhalb der vernünftigen Gesellschaft dadurch steuert, daß sie die Vernünftigkeit
verstärkt, in diesem Fall also nachdrücklich auf einer abstrakten Gleichheitsforde-
rung besteht, so muß sie notwendig Schwierigkeiten haben, wenn es um das ,Oben'
und ,Unten' überhaupt geht. Das Phänomen der Herrschaft, also das Politische,

522 Macpherson bemerkt sehr scharfsinnig, daß, wenn aus der Grundannahme des ,possessive
individualism' eine »valid theory od political obligation« entwickelt werden soll, »One
must be able to postulate, that the individuals of whom the society is composed see
themselves or are capable of seeing themselves as equal in some respect more fundamen-
tal than all the respects in which they are unequal« (a.a.O., S. 272). Macpherson sieht
diese Bedingung zu Beginn der Vertragsgesellschaft im England des 17. Jh. gegeben.
Fichte mußte schon in ganz anderem Maße mit der beginnenden Tendenz auf Zerfall
der Gesellschaft in Klassen rechnen. Für seine politische Theorie fehlten ihm aber die
Kategorien, dem zu begegnen; sie wird also in dem Stemmen gegen die historische Ent-
wickJung abstrakt und gewaltsam.
523 Die Bedeutung von ,Demokratie' zur Zeit Fichtes untersucht Schenkel, a.a.O., S. 69 ff.
524 III, 14; 157.
525 ,Der demokratische Gedanke bei J. G. Fichte' ist der Untertitel des Buches von Schenkel.
526 Zur Tradition der ,totalitären Demokratie' vgl. jetzt die Untersuchung von Talmon,
Die Ursprünge der totalitären Demokratie (Köln u. Opladen, 1961).
Die totale Gesellschaft 113

wird leicht aus dem Bli<k kommen, zumal die abstrakte Vernünftigkeit zu der Ge-
schichtsbedeutsamkeit solcher Phänomene nicht vordringen kann, sie ihr also immer
,irrational' erscheinen müssen. So wird es nicht wunder nehmen, wenn Fichtes Lehre
vom gemeinen Wesen nicht als eine Theorie der Herrschaft, sondern vielmehr als
eine solche der totalen Verwaltung sich zeigt 527 Die Praktikabilität der ,Selbstver-
waltung' einer Gesellschaft, deren Strukturprinzip als so gefährlich dynamisch
erscheint, hängt aber davon ab, wieweit diese Gesellschaft von außen her politisch
garantiert ist. Selbstverwaltung ist nur in einem Rahmen sinnvoll, der seinerseits
der Verwaltung entzogen ist, insofern er die Bedingungen schafft und den Gegen-
stand der Selbstverwaltung freisetzt - eben frei, sich selbst zu verwalten. Das war
der Effekt des Leviathan. Wenn aber Verwaltung auch Regierung umfaßt, so wird
es, wenn der Dualismus gesellschaftlich-politisch abgelehnt wird - was ja wieder
eine separate Regierung bedeuten würde-, dazu kommen, daß die ganze Verwal-
tung zur Regierung wird, d. h. daß die Gesellschaft durchpolitisiert wird - die
eigentliche Gefahr für die Freiheit 528.
Aus dieser hier skizzierten Konsequenz des revolutionären Denkansatzes erhellt
die erste große Schwierigkeit für eine vernünftige Staatslehre im Sinne Fichtes.
Nun hat der revolutionäre Ansatz Fichtes aber auch eine andere, schon angedeu-
tete Konsequenz. Unabhängig von historischen Wirklichkeiten und gesellschaft-
lichen Konstellationen konnte er die Revolution in Gedanken tatsächlich viel weiter
treiben, als die Revolution in Frankreich zunächst gelangen konnte. Die scharf-
sinnigen Montagnards hatten ja sehr bald erkannt, daß Gleichheit zwar ein revo-
lutionäres Postulat in der Wendung gegen König, Adel und Klerus war, daß dies
Postulat aber die Bildung einer neuen Klassenherrschaft nicht verhindern konnte.
Die kurze Herrschaft der Montagne sowie die Pläne Babeufs waren ja nichts ande-
res als zu dieser Zeit notwendig zum Scheitern verurteilte Versuche, Gleichheit radi-
kal zum herrschenden Prinzip zu machen. Nun mußte Gleichheit als theoretisches
Postulat im revolutionären Argument Fichtes eine bedeutende Rolle spielen. So
gelangte er zu einer Reihe von Ergebnissen, die ihn zu Recht als Sozialisten erschei-
nen lassen können 529 • Seine Gleichheitsforderung führte ihn zusammen mit seiner

527 Der Freiheitszuwachs solcher politischen Theorie, die das Phänomen der Herrschaft
liquidieren will, ist immer nur scheinbar. Das zeigt kurz und überzeugend H. Lübbe;
Typologie der politischen Theorie. In: Das Problem der Ordnung, Meisenheim, 1961,
S. 91 ff. Für Fichte halten wir die Frage allerdings für differenzierter, insofern in der
,Grundlage' die Trennung von Moralität und Legalität ja noch beibehalten ist. Lübbes
Ausführungen treffen aber da für Fichte in vollem Umfang zu, wo er im utopischen
Vorgriff den Bereich der Legalität und der Herrschaft überhaupt abstoßen zu können
glaubt.
528 Vgl. Lübbe, Typologie, a.a.O., 92 f.: »Darin erweist sich die Politik der Liquidation des
Politischen durch die Politisierung der Moral und der Menschlichkeit in nur scheinbarer
Paradoxie als die am meisten politische, am meisten herrschende Politik. Das ist die
Rache des politischen Prinzips an seinen moralischen Verächtern.«
529 Schmoller hatte 1864 von Fichtes ,Sozialistischem System' gesprochen, (a.a.O., S. 50) aber
schon H. Ahrens hatte auf den Handelsstaat die Bezeichnung ,Staatssozialismus' ange-
wandt. (H. Ahrens, Die Philosophie des Rechts und des Staates, Bd. I, Wien 1852,
S. 338 ff. Bei Ahrens ist noch zu lesen, daß es gerade die Aufhebung des Unterschieds
von Gesellschaft und Staat sei, die die Freiheit bedrohe.) Für die eigenartige Fichte-
114 Die totale Gesellschaft

Freiheitslehre - konkret in der Eigentumstheorie ausgeführt, zu so modern klin-


genden Postulaten wie dem des ,Rechts auf Arbeit' und zu Sätzen wie dem folgen-
den: »Der Eigentumslose hat einen Rechtsanspruch(!) auf unser Eigentum.« 530 Nun
muß allerdings festgehalten werden, daß eine Doktrin, die so ausgeprägt ,Possessive
Individualism' ist, d. h. die so konstitutiv dem Individuum ein Privateigentum
zuordnete, immer noch näher an Mirabeau ist als an Marx 531 • Will man am Sozia-

Rezeption bei Lassalle sei auf das Buch von Trautwein verwiesen. (Carl Trautwein,
über Friedrich Lassalle und sein Verhältnis zur Fichteschen Sozialphilosophie, Jena 1913.)
1900 erschien das Buch von Marianne Weber (vgl. Anm. 481), das Fichte als
,Sozialisten' endgültig in die Diskussion brachte. Ferdinand Toennies bezeichnete dann
1926 den Handelsstaat als »das erste sozialistische System, das die deutsche Literatur
hervorgebracht«. (Toennies, Die Entwiddung der sozialen Frage bis zum Weltkrieg, Ber-
lin und Leipzig 1926) Metzger schließt sich der Sozialismus-These mit Vorbehalten an;
er besteht vor allem darauf, daß Fichte, den - wenn man so wolle - »sozialistischen
Akkord« schon 1793 »sehr vernehmlich hat erklingen lassen«. (Metzger, a.a.O. 140). Bei
Walz über den ,Staatssozialismus' Fichtes 418 ff. Bei Richard Kroner desgl. in der Rede:
Der soziale und nationale Gedanke bei Fichte. Freiburg und Leipzig 1920, S. 9/10. Kro-
ner betont zum erstenmal den Unterschied von Fichtes Sozialismus zum Parteisozialis-
mus seiner Zeit (a.a.O., 4 u. 9), was dann sehr stark ebenfalls Bruno Bauch tut, indem er
auf dem »ethischen Charakter« von Fichtes »Staatssozialismus« besteht. (B. Bauch,
Fichte und unsere Zeit, Erfurt 1920, S. 18) Bauch wendet sich gegen die »Verwirtschaft-
lichung« des ganzen menschlichen Lebens« (a.a.O., 19) und empfiehlt dagegen, auf
Fichte sich beziehend, die »Arbeit« gegen das »Sittliche Unheil« der Zeit, die ihm
ebenso wie Fichte seine Zeit ein ,Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit' ist. (18)
Bauch hat großen Anteil an den sozial-pädagogischen Tendenzen der ,Fichte-Gesell-
schaft' und erkennt aus solchen Tendenzen heraus auch Fichtes Staatserziehung noch an.
(Vgl. auch seine andere Schrift: Fichte und der deutsche Staatsgedanke, Langensalza
1925, s. 22 ff. u. 26)
Heinrich Rickert stellte dann ebenfalls den nicht-marxistischen Sozialismus Fichtes stark
heraus. Als Folge des Fidtteschen Eigentumsbegriffs ist sein Sozialismus in seinem Grund
mit dem Freiheitsansatz notwendig verbunden. »... haben wir nicht vielleicht Fichtes
wirtschaftlichen Sozialismus, sobald wir an seinen Begriff des Eigentums denken, gerade-
zu als notwendige Folge seines ethischen Individualismus zu verstehen?« (Rickert, Die
philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, Logos XI, 2, S. 164) Rickert gelang,
was bei Marianne Weber (ebenso wie später bei Scholz) bloßes Postulat blieb, nämlich
die Ableitung der politischen Theorie Fichtes aus dem Grundansatz der Wissenschaftslehre
Seine Interpretation versucht die vorliegende Arbeit allerdings dahingehend zu ergän-
zen, daß die spezifisch politische Theorie mit ihrer totalitären Tendenz über einen
Sozialismus, den Rickert noch schätzen konnte, hinaus ebenfalls aus dem Grundansatz
folgen mußte. Wichtig in diesem Zusammenhang ist folgender Widerspruch Rickert:
Einerseits sagt er, daß Fichte sich schon in den ,Beiträgen' als Sozialist zeige (157).
Andererseits legt er Wert darauf, zu betonen, daß Fichtes eigentlicher Sozialismus erst
später und zwar dann aus »rein philosophischen Prinzipien« abgeleitet sei (174). So
kam nid1t in den Blick die gemeinsame Rückbeziehung des Sozialismus einerseits und
jener »philosophischen Prinzipien«, der WL nämlich, auf den revolutionären Ansatz.
Erschöpfend diskutiert die Frage von Fichtes Sozialismus - vor allem in bezug auf
zeitgenössische Wirtschaftstheorien - die Arbeit von Scholz. Scholz sieht allerdings
nicht die totalitäre Denktradition zu Fichte; er kommt schließlich zu dem Ergebnis, daß
Fichte der letzte Merkantilist sei (654) und schließt etwa den >>Sozialismus Babeufs<< ...
»als Vorbild für Fichtes Wirtschaftsauffassung aus«. (680)
530 111, 294.
531 Zu »vormarxistischer« Sozialismus, vgl. Metzger, a.a.O., 173.
Die totale Gesellschaft 115

Iisten Fichte festhalten, so muß man Modernität allerdings auch darin bestätigt
sehen, daß Fichte über den Staatsdirigismus und den Wohlfahrtsstaat schließlich zu
einem der modernsten Phänomene, nämlicll der totalen Gesellscllaft, vorstieß.
Die Handelsgesellscllaft seiner Zeit als Entfesselung der Privatzwecke war auch
von Fichte - in für ihn zu diesem Zeitpunkt noch seltener historiscll-gesellschaft-
licher Einsicllt - als nicht ausreimend erkannt worden, Freiheit und Gleicllheit zu
verwirklichen. Im ,Handelsstaat' schreibt er: »Es entsteht ein endloser Krieg Aller
im handelnden Publicum gegen Alle, als Krieg zwiscllen Käufern und Verkäufern,
und dieser Krieg wird heftiger, ungerecllter und in seinen Folgen gefährlicller, je
mehr die Welt sicll bevölkert ... die Production und die Künste steigen und dadurch
die in Umlauf gekommene Waare an Menge und mit ihr das Bedürfnis Aller, sich
vermehrt und vermannigfaltigt ... « 53 2 Diese Diagnose der entfesselten Gesell-
scllaft, des späteren ,Systems der Bedürfnisse' Hegels, die ja auch der Ausgangs-
punkt Hobbes' gewesen ist 533, zählt sicher zu den besten politiscllen Einsichten Ficll-
tes 534 • Aber in der Entartung und vor allem der Kleinstaatlichkeit der Monarchien
seiner Zeit konnte er kein Gegengewicllt gegen die entfesselte Bedürfnisgesellschaft
sehen (im Sinne einer ,schützenden Scllicllt' wie Hobbes' Leviathan) 535 • Anderseits
verspürte er aucll nocll zu unmittelbar den antistaatlicllen Affekt des ecllten Revolu-
tionärs, der ihn hinderte, der Gesellschaft einen Staat gegenüberzustellen, wie es
später Hege! vermocllte. So hielt er es für den einzigen Ausweg, das System der
Privatzwecke vernünftig zu organisieren - im Grunde nocll der optimistiscllen
Überzeugung, daß in einem System der Privatzwecke sicll aus diesem selbst heraus
eine für alle tragbare Ordnung entwickeln lasse. Regierung und Verwaltung blie-
ben so ungetrennt 5 36 und schließlich verwischte sicll in der Theorie der Gegensatz
ökonomisch-politisch vollständig 537.
532 III, 457 I 58.
533 Vgl. Anm. 449. Auch Ric:kert schreibt, daß Fichte die »Anarchie des Wirtschafts-
lebens« erkannt habe. (Ric:kert, Die allgem. Grundlagen, a.a.O., 175.)
534 Vgl. in diesem Sinne auch III, 474, wo Fichte die unbeschränkte Handelsgesellschaft schil-
dert. Dagegen vermag er nur seinen Vernunftstaat als Heilmittel einzusetzen, und zwar
mit der extrem abstrakten ,politischen' Maßnahme der ,Schließung des Handelsstaates'.
535 Die angesprochene Entartung der kleinstaatliehen Monarchien charakterisiert Fichtes Zeit
in der Tat als eine Zeit, in der, soziologisch gesprochen, »ein allseitiges strukturelles
Wachstum zu registrieren ist«. (Tenbruc:X, Bildung, Gesellschaft, Wissenschaft, in: Wissen-
schaftliche Politik; Hrsg. von Oberndörfer, Freiburg 1961.) Für das Politische würde das
bedeuten, daß im Zuge dieses Strukturwandels, der »die gewohnten Stabilisierungen als
Beschränkungen ausweist« und »eine maximale Offenheit der Situation des Individuums«
zur Folge hat, der Staat als Kleinstaat der Zeit revolutionär angegriffen wurde, wäh-
rend gleichzeitig ein noch unbestimmtes Bewußtsein der ,Nation' sich bildet. Und zwar,
wie Tenbruc:X sehr richtig feststellt, über' die neue geistige Kommunikation der Individuen
über die alten Grenzen hinweg. So stellt sich diese Zeit, wie Tenbruck sagt und worin ihm
Schelsky nachdrücklich beipflichtet, (Einsamkeit und Freiheit, Harnburg 1963) als die
»sozialgeschichtliche Stunde dieses (nämlich des klassischen deutschen) Bildungsideals«
dar. Solche für eine Theorie der Universität günstige ,Stunde' muß allerdings für die
politische Theorie als äußerst ungünstig bezeichnet werden, wie das Beispiel Fichte zeigt.
536 Sehr nachdrücklich lehnt ja Fichte die seit Locke und Montesquieu klassische ,Gewalten-
teilung' ab. Vgl. III, 16; 160.
537 Der ,Begriff des Politischen' ist damit verloren. Vgl. Schmitt, DerB. d. P., a.a.O., S. 26 ff.
Auch Lübbe, s. Anm. 229.
116 Die totale Gesellschaft

Hierzu ist ebenfalls zu erinnern, daß Fichtes Vernunftbegriff und seine Auffas-
sung von Wissenschaftlichkeit - Deduktion aus einem Prinzip - ihm die Einsicht
in die Dualismen des Politischen erschwerte. Der Vernunftbegriff war schon oben
als ideologisierter gekennzeichnet; eben weil die Fichtesche Vernunft im Namen der
abstrakten ,Menschheit' argumentierte, wurde sie zur partikularen Gesellschafts-
vernunft, die die Herkunftsordnungen außer sich lassen mußte. Sein Prinzip der
Wissenschaft hinderte Fichte zudem nicht daran, die extreme Disjunktion von
Moralität und Legalität einzuführen, was allerdings in diesem Stadium der Ent-
wicklung seines Denkens die einzige Möglichkeit war, seine Freiheitstheorie zu einer
,vernünftigen', Frieden und Ordnung garantierenden Gesellschaftslehre zu entwik-
keln. Diese Disjunktion blieb allerdings auch der Dorn im Fleisch seiner Philosophie
und alle späteren Ansätze in Staats- und Gesellschaftsphilosophie stellen Bemühun-
gen dar, diesen Dualismus zu überwinden.
Ein Letztes sei noch erwähnt. Es war oben bereits einmal angemerkt worden, daß
Fichtes politische Theorie von ihrem extrem subjektivistischen Ansatz her sehr wohl
eine Tendenz zur Anarchie hätte zeigen können. Aber mit den extrem freiheit-
lichen Zügen vereinigte sein Wesen sicher ebenso starke autoritäre. Die Betätigung
solcher entgegengesetzter Züge trifft zusammen auf dem Feld der Pädagogik - zur
Einsicht und zur Freiheit nicht nur aufzufordern, sondern sogar zu zwingen, hielt
Fichte für seine Bestimmung; ein Blick auf die Literatur zeigt, welche Anerkennung
der Pädagoge Fichte gefunden hat 538, Der Ausbildung einer politischen Theorie der
Demokratie muß aber die pädagogische Tendenz im Wege stehen. Auch die elitären
Tendenzen, wie sie in der ,Bestimmung des Gelehrten' so nachdrücklich zu Wort
kommen, mußten die Ausbildung einer wirklich freiheitlichen Gesellschaftstheorie
notwendig erschweren.
Nach diesem Aufweis der Tendenzen im Denken Fichtes, die der Ausbildung des
subjektiven Freiheitsansatzes zu einer umfassenden Freiheitsordnung im Wege ste-
hen bzw. letztere fast unmöglich machen mußten, soll nun die unter diesen Bedin-
gungen zustande gekommene Theorie in ihren bestimmenden Grundzügen eingehen-
der untersucht werden.
Von zwei Seiten soll dabei die Aufgabe, die Fichte dem ,Gemeinen Wesen'
zudiktiert und die seine Verfassung bestimmen, betrachtet werden. Dabei ist fest-
zuhalten, daß diese Bestimmung der Verfassung in den Schriften, um die es hier
geht, also in der ,Grundlage' und im ,Handelsstaat' eine rein funktionale bleibt -
Organisation der Privatzwecke. Das Gemeinwesen geht in diesen Schriften Fichtes
noch nahezu in dieser Funktionalität auf 539 • In den Revolutionsschriften hatte
Fichte, hier noch als Anwalt der Gesellschaft, die sich dem Staat - den Fürsten -
als Gegenüber wußte, diesem allein die Aufgabe der ,Bewahrung unserer Rechte'
zugeschrieben. In gewissem Sinne könnte man dort von einer Reduktion des

538 Fichte, der sich noch in seiner Zürcher Zeit eine Stelle als Prinzenerzieher gewünscht hatte,
(s. etwa Schulz, Briefe, Bd. I, S. 61, 80) entwickelte sich schließlich - wenigstens in
seinem Selbstverständnis - zum Erzieher der Nation. Die Erneuerung seiner sozial-
pädagogischen Lehre wurde zur Aufgabe der 1914 gegründeten Fichte-Gesellschaft.
539 Mit der Durchdringung von Staat und Gesellschaft mußte die Aufwertung des ,Gemein-
wesens' Hand in Hand gehen. Vgl. Kap. IV dieser Arbeit.
Die totale Gesellschaft 117

,Staates' auf das Politische im engeren Sinne sprechen, also einer Reduktion auf
Garantie der sich ansonsten nach ihren eigenen Gesetzen frei entwickelnden Gesell-
schaft. Nun bleibt aber dies Gegenüber von Staat und Gesellschaft in der Theorie
nicht bestehen. Vielmehr wird- schon in den ,Beiträgen' eindeutig- Staat als diese
Funktion der Gesellschaft integriert. Die geschichtslose Abstraktheit des Arguments
bekam die Bedeutung der im Staat konkret sich zeigenden Herkunftswelt nicht in
den Blick; jener Rest an politischer Funktionalität konnte so, abstrakt nur als diese
aufgefaßt, der abstrakten Gesellschaft integriert werden. Auf diese Weise hat Fichte
für seine eigene Theorie in diesem Stadium den Dualismus Staat-Gesellschaft auf-
gehoben - besser: beseitigt - und seiner politischen Lehre zur Aktualität im
20. Jahrhundert verholfen. Denn dies Zusammenfallen von Gesellschaft und Staat
wurde historische Wirklichkeit in Deutschland im Jahre 1918. Eben da zeigte es sich
dann auch, daß es in der historischen Realität mindestens ebenso schwierig ist, mit
den Aufgaben, die solches Zusammenfallen stellt, fertig zu werden und die Gefahr
einer totalitären Entwicklung zu vermeiden, wie es sich in Fichtes Theorie infolge
seines subjektiv-abstrakten Freiheitsbegriffs als unmöglich herausstellte 540 •
Die Funktion, auf die das Staatliche reduziert war, nämlich die Wahrung der
Rechte des Einzelnen, blieb in der Theorie der Integration von Staat und Gesell-
schaft bestehen, ja sie wurde noch durch die besondere Bestimmung dieser Rechte bei
Fichte - Eigentumslehre - potenziert. In der abstrakten Zusammenfassung von
Gesellschaft und Staat, die Fichte das Gemeine Wesen nennt - oder auch einfach
Staat -, muß diese Wahrung der Rechte des Einzelnen zur Selbstgarantie wer-
den 541 • Da das geschichtliche Moment im revolutionär-rationalistischen Argument
keine Rolle spielen darf, muß jene Funktion ganz aus der freien Subjektivität als
solcher abgeleitet sein. Die Scheidung von Legalität und Moralität ermöglichte in
dieser Deduktion zweierlei. Erstens konnte der Bereich der Legalität als vernünfti-
ger Zwang durchorganisiert werden, und zweitens konnte seine Freiheitlichkeit
durch die Fiktion der freien Entscheidung des Individuums über das Eintreten in
das Gemeinwesen theoretisch abgesichert werden. Betont nun auch Fichte im Ver-
lauf der Entwicklung seiner Gedanken immer stärker, daß das Dasein der Freiheit
an den Durchgang durch das nach vernünftigen Gesetzen organisierte Gemeinwesen
gebunden ist, so bleibt doch innerhalb der Deduktion nur jener Schritt in das
Gemeinwesen theoretisch abgesichert. Betont nun auch Fichte im Verlauf der
Entwicklung seiner Gedanken immer stärker, daß das Dasein der Freiheit an den
Durchgang durch das nach vernünftigen Gesetzen organisierte Gemeinwesen ge-

540Eine der wesentlichsten Erkenntnisse in der neuesten Literatur um die Frage der Univer-
sität ist in dem bereits zitierten Buch von Schelsky die Feststellung: >>Wenn man heute in
vielen soziologischen und politikwissenschaftlichen Untersuchungen von der ,Vergesell-
schaftung des Staates' und der parallelen ,Verstaatlichung der Gesellschaft' spricht, so
ist strukturell damit der gleiche soziale Tatbestand gemeint, dem Humboldt und Fichte
vor der Gründung ihrer philosophischen Bildungsuniversität gegenüberstanden<< (a.a.O.,
133). Wenn Schelsky so die Aktualität des klassischen Universitätsideals aus dieser
sozialen Strukturidentität behauptet, so gilt solche Aktualität auch für die politische
Theorie. Hier stellen sich die Probleme allerdings etwas anders, sozusagen mit umge-
kehrten Vorzeichen.
m >>Dieser Vertrag garantiert sich selbst.« (III, 207).
118 Die totale Gesellschaft

bunden ist, so bleibt doch innerhalb der Deduktion nur jener Schritt in das Ge-
meinwesen die Wirklichkeit der Freiheit - das Gemeinwesen selbst und seine
rechtliche Ordnung bleibt hypothetisch m. Innerhalb dieser hypothetischen Struk-
tur ergibt sich das Gemeinwesen als notwendige Auflösung der Antinomie des
Rechtsbegriffs. Zusammengefaßt: Durch die subjektive unendliche Freiheit des
Einzelnen wurde das subjektive Zwangsrecht ebenso unendlich. Das war der
Punkt des Fichteschen Kampfes aller gegen alle. Ein Aufgeben des subjektiven
Zwangsrechtes seitens der Individuen kann diesen nur zugemutet werden, wenn
die Wahrung der Rechte von dritter Seite garantiert bleibt. Dabei muß, wenn die
Aufgabe der Rechte endgültig sein soll, die »Gesamtheit der zukünftigen Erfah-
rung« vorweggenommen werden. Das Gemeine Wesen, jener unparteiische Dritte,
muß in der Theorie diese Aufgabe übernehmen, es muß jedem Einzelnen für alle
Zeit die Wahrung seiner Rechte garantieren. Und da die Ursache des Miß-
trauens die Existenz des Einzelnen in ursprünglich unendlicher Freiheit war, so darf
die Garantie dieser Freiheit auch nicht den geringsten Raum lassen - sie muß mit
einer »der mechanischen gleichenden Notwendigkeit« funktionieren. Zu dem Postu-
lat der ,Vollständigkeit' der Gesetzgebung kommt so in der Theorie noch das der
perfekten Allgegenwart der Polizei 543.

54 !Gesellschaftliche Rechts- und Eigentumsordnung als notwendig unendlicher Zwang


einerseits und als Dasein und Wirklichkeit der Freiheit andererseits sind so die verschie-
denen Ergebnisse der politischen Theorie bei Fichte und Hege!. Diese Ergebnisse mußten
notwendig auch verschiedene Konsequenzen für die Theorie der Subjektivität als solcher
haben. Für Hege! vgl. besonders J. Ritter, Person und Eigentum, a.a.O., S. 19 u. p.
Fichte wird in seinen späten Werken den Dualismus von der Subjektivität und ihrer
Moralität her zu überwinden suchen.
543 »Daß jeder, der zu einer Vergebung gegen das Gesetz versucht ist, ganz sicher vorher-

sehe, er werde entdeckt und auf die ihm wohlbekannte Weise bestraft werden, ist die
ausschließende Bedingung der Wirksamkeit der Gesetzgebung und der ganzen Staats-
einrichtung... Die Forderung an die Dienerin der Gesetzgebung, die Polizei, daß sie
jeden Schuldigen ohne Ausnahme herbeischaffe, ist schlechthin unerläßlich« (III, 300}. Die
Konsequenz hat schon Hege! erkannt: "· .. und es gibt in diesem Ideal von Staat kein
Tun noch Regen, das nicht notwendig einem Gesetze unterworfen, unter unmittelbare
Aufsicht genommen und von der Polizei und den übrigen Regierem beachtet werden
müsse... « (Differenzschrift; Werke I, S. 112) Vgl. auch Walz, a.a.O., 516/18. Wieweit
im einzelnen diese Forderung der Perfektion der Polizei zusammen mit der Totalgaran-
tie des Eigentums geht (»im weitesten Sinne des Wortes«), dazu vgl. etwa Grundlage III,
193 ff. oder auch vor allem im zweiten Teil des ,Handelsstaates' »Was in Ansehung des
Handelsverkehrs im Vernunftstaate rechtens sey«, 399 ff. Fichte schrieb selber: »In den
gewöhnlichen Staaten wäre die Forderung, den Urheber jeder gesetzwidrigen Tat herbei-
zuschaffen, allerdings unausführbar, oder wenn sie ausgeführt werden könnte, wenn z. B.
ein bestehender Staat einige der hier angegebenen Polizeimittel sich zunutze machen
wollte, so wäre dies eine Ungerechtigkeit, die das Volk nicht lange dulden und durch die
der Staat sich nur seinen Untergang zubereiten würde.« (III, 301 f.) »Die Quelle allen
Übels in unseren Notstaaten ist einzig und allein die Unordnung ... Dagegen ist der Ver-
nunftstaat dadurch gekennzeichnet, daß es niemanden gibt, um den der Staat (Polizei) sich
nicht kümmert.« (III, 302) »In einem Staat, wo alles in Ordnung ist und alles nach der
Schnur geht, bemerkt diese ungewöhnlichen Bewegungen die Polizei, und wird sogleich
aufmerksam;« (Ebda.) »In einem Staat von der hier aufgestellten Konstitution hat jeder
seinen bestimmten Stand, die Polizei weiß so ziemlich wo jeder Bürger zu jeder Stunde
des Tages sei und was er treibe.« (Ebda.)
Die totale Gesellschaft 119

Mit dem Aufweis dieser formalen Struktur scheint uns das Wesentliche der poli-
tischen Konzeption gegriffen zu sein. Die beiden Ergebnisse der Fichteschen Deduk-
tion, Totalität der Gesetzgebung und ausnahmslos funktionierender Aufsichtsappa-
rat, sind die beiden charakteristischen formalen Bestimmungen des Fichteschen Ge-
meinwesens auf dieser Stufe der Theorie, denen gegenüber Fichtes Vorschläge zur
Gestaltung einer Verfassung, die diesen Postulaten entspricht, also allein vernünftig
ist, von geringerer Bedeutung sind. Deshalb sollen die Ablehnung der Gewalten-
teilung, die Fichte eine so eigentümlich isolierte Stellung in der Tradition der politi-
schen Theorie seit Locke und Montesquieu gibt, die aber als Konsequenz aus den
beiden Grundpostulaten ohne weiteres einleuchtet, sowie die weiteren Details von
Fichtes vernünftiger Verfassungslehre nicht weiter behandelt werden. Selbst das
,Ephorat', das Fichte als eine die eigentliche Freiheitlichkeit des Systems garantie-
rende, unbedingt notwendige Einrichtung postuliert, verliert demgegenüber an Be-
deutung, zumal Fichte sehr bald selber die Fragwürdigkeit dieser Einrichtung ein-
gesehen hat 544 •
Hingegen ist die Untersuchung der materialen Seite jener Totalgarantie der
Rechte des Individuums notwendig, um das Bild der totalen Gesellschaft vollständig

544 Zum Ephorat, das als Repräsentation des ,Volkes' zur Kontrolle der - aus Legislative
und Exekutive zusammengesetzten - Obrigkeit gedacht war (VIII, 432/33}, schreibt
Fichte im ,System der Rechtslehre' von 1812: » ... die Realisation eines Ephorates« sei
»unausführbar« •weil die Menschen im Ganzen viel zu sd1lecht sind«. (NW II, 633.)
Dort allerdings »ausführbar«, von Medicus in seiner Ausgabe berichtigt.) Trotz dieser
späteren Zurücknahme finden sich in der Literatur zahlreiche Bemühungen, diesen merk-
würdig archaischen Einfall Fichtes zu interpretieren, von denen Schenkel der Sache am
nächsten zu kommen scheint. Er schreibt, Fichte sähe im Ephorat »die oberste Instanz
für die Angelegenheiten des Staatslebens nicht im juristischen, sondern im moralischen
Begriff der Gemeinde«. (a.a.O., S. 93} »Für die moralische Beurteilung sieht er in den
Ephoren ein besonderes Organ vor« (94). Schenkel sieht richtig, daß den Ephoren »eine
erzieherische Aufgabe« obliegt, (98} und daß Fichte »gleichsam Menschen seiner eigenen
Wesensart als die für das Ephorat geeigneten Persönlichkeiten ansah«. (96) Er über-
sieht aber, wie irreal wieder dies Eindringen des Erzieherischen in das Politische ist.
Wallner sieht im Ephorat- unter Verweis auf »das antike Vorbild und auf Rousseau«
(93} eine Institution, die »als Sicherheitsventil« ... »das ausgesprochen aristokratische
Element in diesem System verkörpert.« (116) Die Sinnlosigkeit, im Ernstfall am Ephorat
eine Funktion als Sicherheitsventil zu erwarten, hat schon Hege! dargetan. Werke, I
479/80.
Schmoller bezeichnete das Ephorat als »Surrogat der Volksvertretung« (a.a.O., 49).
Zeller argumentierte gegen das Ephorat ganz im Sinne Hegels: »Ein durchaus unprak-
tischer Vorschlag ... denn entweder müßte er die Revolution permanent machen, oder
wenn es dies nicht wollte, hätte es einer kräftigen Regierung gegenüber nicht die mindeste
reale Macht in Händen.« (Zeller, a.a.O., 161) Man kann auch hier wieder Zellers Einsicht
bewundern, der die Tendenz auf permanente Revolution klar erkannt hat. Von den
neueren Arbeiten vgl. über das Ephorat (und seine Zurücknahme in der Rechtslehre von
1812} Torretti, a.a.O., 60 ff. Schottky meint (a.a.O., 176}, daß das Ephorat das Prinzip
der Gewaltenteilung »in seinem eigentlichen Sinne« sei. über die ,Gewalt' des Ephorats
vgl. die mitgeteilten Bemerkungen Hegels und Zellers. Schottky ist allerdings auch klar,
daß die Funktionabilität von Fichtes Verfassungskonstruktion von der Überzeugung der
Deduzierbarkeit der ,richtigen' Gesetzgebung und Politik abhängt. Diese als der
eigentliche Grund des auch von Schottky herausgearbeiteten Totalitarismus Fichtes ist
aber bei ihm zu wenig gesehen. (Vgl. Schottky, 180 ff.)
120 Die totale Gesellschaft

zu erhalten. Es ist Aufgabe der Darstellung, noch zu zeigen, wieweit in den empiri-
schen Bereich hinein sich die Aufsichts- und Eingriffspflicht des Gemeinwesens
erstreckt; erst dann wird der Grad der Vergesellschaftung des Staates bzw. der Poli-
tisierung der Gesellschaft klarwerden. Aus einem Zusammendenken der bisherigen
Ergebnisse wird das Bild der totalen Gesellschaft sich ergeben.

c) Die Politisierung der Gesellschaft durch die Totalgarantie des Eigentums


In der neuzeitlichen Theorie des ,Possessive Individualism' war das Eigentum als
das eigentliche Dasein der Freiheit immer stärker herausgearbeitet worden. Das
abstrakte Individuum, dem in der Wendung gegen die ,Ungleichzeitigkeit' der
Herrschaftsformen, die Bestimmungen seiner Herkunftswelt immer mehr verloren
gingen, erhielt so sein Dasein im Eigentum; Gesellschaft wurde Organisation der
Privatzwecke und im Laufe der Entwicklung der Theorien wurde Staat schließlich
zum Wahrer des Eigentumsrechtes, das die Gesellschaft - nach Entfaltung ihres
Prinzips zur umfassenden Konkurrenzgesellschaft- dem Einzelnen nicht garantie-
ren konnte 545. Einen extremen Punkt erreichte diese Entwicklung des ,Possessive
Individualism' bei Fichte.
Zunächst hinderte ihn die für seinen Denkansatz notwendige Leugnung einer
,ursprünglichen Bösartigkeit des Menschen' daran, seinen Kampf aller gegen alle zu
radikalisieren. So verschiebt sich der Akzent gegenüber Hobbes' Lehre in bedeut-
samer Weise. Nicht mehr die extreme Furcht vor dem ,plötzlichen gewaltsamen Tod'
bestimmt den Ausgangspunkt der Staatskonstruktion, vielmehr die Tatsache, daß
entsprechend der Fassung des Freiheitsbegriffs keine Sicherung des Eigentums, in
dem die Wirklichkeit der Freiheit liegt, mehr gewährleistet ist. Jedes Individuum
hat subjektiv ursprünglich ein Recht auf alles und so wird Recht ohne das Gemein-
wesen problematisch. Letzteres ist so vom Ansatz her als vernünftige Eigentums-
ordnung konzipiert - als Theorie nicht der sich bildenden, sondern der erstarkten
und revolutionären bürgerlichen Gesellschaft 546 • Das Gemeinwesen garantiert so
nicht wie bei Hobbes, das Sicher-leben-Können des Einzelnen und dessen freie Ent-
faltung - gegebenenfalls auch Bereicherung -, sondern es garantiert das Eigentum
>>im allerweitesten Sinne des Wortes<< 547 • Das Private wird so der eigentliche
Gegenstand des Offentliehen - jedenfalls in empirischer Hinsicht. Denn hier ist die
oben dargelegte Bedeutung des Eigentums bei Fichte im Auge zu behalten. Es han-
delt sich ja dabei nicht um das, was das Individuum hat, sondern um dieses selbst,
insofern es aufgefaßt als sich selbst habend. Nicht ein Recht auf Sachen war das
Eigentum, sondern ein Recht auf freie Betätigung aller Kräfte. >>Ursprünglich sind
wir selbst unser Eigentum.<< 548 • So gehörte primär die physische Subsistenz zu dem,

545 In dieser Entwicklung spannt sich der Bogen der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft
von den Anfängen bei Hobbes zu der universalen Theorie Hegels, in der das Individuum
in seiner Bedürfnisnatur in der Gesellschaft seinen Ort hat, im Staat aber die Wirklich-
keit seiner Substanzialität.
546 Hier ist Fichte wieder durchaus mit Locke zu vergleichen; vgl. die Bemerkung v. Krockow

zu dem unterschiedlichen Ansatz Hobbes' und Lockes.


547 So Fichte in der Rezension von Kants ,Zum ewigen Frieden'. VIII, 432.
548 VI, 117.
Die totale Gesellschaft 121

was das Gemeinwesen - nicht grundsätzlich, sondern fortlaufend - zu garantieren


hat 549, So kommt es zu den kühnen und für die Theorie der bürgerlichen Gesell-
schaft in der Tat revolutionären Forderungen des Rechts auf Arbeit und des Rechts
auf die Möglichkeit, von seiner Arbeit im Verhältnis zu dem Wohlstand der Ge-
samtgesellschaft zu leben 550• Freiheit, freies Handeln ist aber für Fichte das das Ich
schlechthin Konstituierende. Im empirischen Bereich konkretisiert sich Freiheit zum
Eigentum, das als bestimmte freie Tätigkeit erklärt ist. Das empirische Ich ist also
als Ganzes im Eigentum gefaßt und fällt so auch als Ganzes unter die Garantie des
Gemeinwesens. Da nun in Fichtes Theorie das Politische als Grundgarantie einer sich
weithin selbst überlassenen Eigentumsordnung etwa - und das Wirtschaftliche, eben
diese Eigentumsordnung selbst, nicht getrennt sind, so wächst sich die Garantie des
,Staates' zum allumfassenden Staatsdirigismus aus. Ohne die Unterscheidung des
Politischen vom Wirtschaftlichen bedeutet die Garantie des Gemeinwesens absolutes
Aufsichtsrecht bzw. absolute Aufsichtspflicht in allen Eigentumsfragen- d. h. über
alle Handlungen der Individuen 551, Das Dasein der Freiheit des Einzelnen, das in
der herkunftslosen ,Gesellschaft' in der Konzeption des Eigentums seine Wirklich-
keit hatte, geht so bei Fichte wieder völlig verloren 552, indem das empirische Indi-

549 Insofern geht es auch hier bei Fichte um das Leben, aber in Unterordnung unter das
Allgemeinere ,Eigentum'.
550 In den Beiträgen hatte Fichte noch ein ,Existenzminimum' gefordert. (VI, 186) Solange
dieses nicht für jeden erreicht sei, müsse der Luxus gekürzt werden. (VI, 186) Viel weiter
geht er aber im ,Handelsstaat', wo wir lesen: »Dies soll nur sein ein Wohlstand der
Nation ... er soll so ziemlich über alle im gleichen Maße sich verbreiten.« Also ein Recht
auf Lebensstandard im Verhältnis zum Sozialprodukt.
551 Wallner: ,.Die konsequente und einseitige Verfolgung dieser Linie führt Fichte zu einer
ungeheuren Erweiterung der Staatlichen Befugnisse, die sich zur Gesamtaufsicht über das
gesamte Wirtschaftsleben ausweitet und eine sozialistische Omnipotenz des durchaus
zentralistisch gewordenen Staates allerdings nur auf diesem Gebiet zur Folge hat«
(a.a.O., S. 115). Wenn man Fichtes Bestimmung des Eigentums als die empirische, reelle
Freiheit im Auge behält, so ist fraglich, was W. hier mit der Einschränkung »allerdings
nur auf diesem Gebiet« meint. Das wird klar, wenn wir seine folgende Formulierung
betrachten: » ••• rücksidttsloser Zwang des Staates in den niederen Sphären des Daseins
wie Recht und Wirtschaft (!), um die Freiheit in den oberen Sphären der Kultur zu ver-
tiefen«. Mit Recht bezeichnet W. diesen »Kernsatz« als Paradox. Fichte mußte auf
dieser Stufe in der Tat Recht und Staat als niedere Sphären ansehen, die als eine neue
Art von ,minimum condition' die Subjektivität (und durch sie die Menschheit) zum
Aufschwung in das Eigentliche befähigen sollte. Aber diese ,minimum condition' mit
ihrem ,rücksichtslosen Zwang' greift ja in den gesamten empirischen Bereich aus. So
konnte Fichte von der Subjektivität her eine Theorie der Bildung gelingen (s. Schelsky,
a.a.O.), aber aus dieser mußte auch die Gefahr entstehen, daß sich diese Bildung in ihren
Trägern aus den ,niederen Sphären' zurückzog um dann den Zwang als Ordnungs-
grundlage des ,höheren Daseins' zu akzeptieren; Gefahren, die in der Geschichte des
19. und 20 Jh. keineswegs immer vermieden worden sind und die auch bei einer
Aktualisierung des alten Universitätsideals beachtet werden müssen.
55! »Er sieht, wie häufig, so auch hier daran vorbei, daß vor lauter Bemühen, die Freiheit
durch ein menschenwürdiges, der Vergeistigung zugängliches Dasein möglich zu machen,
die ,Freiheit' zum Teufel geht, indem nur der unerträglichste wirtschaftliche Polizeistaat
. . . eine solche Aufgabe durchführen könnte.« (Gertrud Bäumer, zit. bei Wallner,
a.a.O., 127).
122 Die totale Gesellschaft

viduum über die Eigentumsgarantie dem totalen Zugriff des verwaltenden Gemein-
wesens ausgesetzt wird 553.
Der Handelsstaat ist der eigentliche Ausdruck Fichtescher ,politischer' Theorie;
der vergesellschaftete Staat, in dem mit dem eigentlichen Privateigentum auch die
Freiheit in einer materialen Eigentumsordnung positiv verwirklicht und so völlig
verschwunden ist- die totale Gesellschaft.
Wenn wir an FichtesEinsicht erinnern, daß die Gesellschaft als Entfesselung der
Privatzwecke allgemeinen Frieden und Ordnung nicht herzustellen 554 in der Lage
war, so muß dem jetzt hinzugefügt werden, daß die sich selbst garantierende, totale
Gesellschaft Fichtes zwar Gleichheit und inneren Frieden verwirklichen kann, aber
nur um den Preis der Freiheit.

d) Die Rechtfertigung der totalen Gesellschaft. Statt der Vermittlung


die Utopie
In den Revolutionsschriften Fichtes hatten wir noch eine Einschätzung des
,Staates' gefunden, die diesen als ein von der Gesellschaft einzusetzendes Mittel zur
Beförderung ihres Kulturzweckes empfahl. In der Gleichsetzung von Staat und
Gesellschaft, die, wie gezeigt wurde, in den frühen Schriften vorbereitet und in der
,Grundlage' und im ,Handelsstaat' vollendet wurde, mußte sich notwendig die Ein-
schätzung des nunmehr so bestimmten Gemeinwesens ändern. Staat erscheint jetzt
als notwendige Stufe auf dem Wege der Menschheit zur absoluten Freiheit der
Moralität 555 •
Angesichts der Bestimmung des Fichteschen Gemeinwesens als des mit totaler
Gesetzgebung und perfektem Polizeiapparat ausgestatteten Handelsstaates tritt die
·Diskrepanz zum Freiheitspathos des frühen Fichte besonders stark hervor. Die
Rechtfertigung dieses Zwangszustandes der totalen Gesellschaft, die Fichte ja nie
um ihrer selbst willen konstruiert, ist die Freiheit, um die es ursprünglich ging,
und zwar in zweifacher Hinsicht. An einer Stelle im Anfang des zweiten Teiles der
,Grundlage' sind beide Rechtfertigungsgründe in einer Formulierung zusammen-
gefaßt: »Was der Einzelne nicht zum Staatszweck beigetragen, in Absicht dessen ist
er völlig frei; ist in dieser Rücksicht nicht in das Ganze des Staatskörpers verwebt,
sondern bleibt Individuum; freie, nur von sich selbst abhängige Person, und diese
Freiheit eben ist es, die ihm durch die Staatsgewalt gesichert ist, und um derent-
willen er allein den Vertrag einging. Die Menschheit sondert sich ab vom Bürgertum
um mit absoluter Freiheit sich zur Moralität zu erheben; dies aber nur, inwiefern

553 Zu der Freiheitlidtkeit eines Staates gehört wesentlidt, daß Freiheit des einzelnen formal
und negativ bestimmt bleibt und daß diese so bestimmte Freiheit vom Staat garantiert
ist. (Grundredtte der mod. Verfassungen). Garantiert aber vor allem gegen ,petty autho-
rities' ,potestates indirectae', gegen die potentiell totalitären Kräfte der Gesellsdtaft, die
als Organisation der Interessen naturgemäß keinen Halt vor der Freiheit des einzelnen
madten. Der Kampf gegen ,potestates indirectae' ist einer der wesentlidten systematisdten
Punkte bei Hobbes.
554 VI, 181 ff.
555 IJI, 206.
Die totale Gesellschaft 123

der Mensch durch den Staat hindurchgeht.« 558 Was das ,Ganze des Staats-
körpers' angeht, so deutet es hier auf die in der ,Grundlage' bereits latente Organis-
mustheorie des Staates hin 557. Es ist klar, daß aus dem revolutionären Angriff auf
den ,Staat' von der Gesellschaft her eine Aufwertung des ,Staates' werden muß, die
direkt proportional dem Fortschreiten der Identifizierung beider ist; gleichzeitig
deutet sich in diesem Zitat das Problem ,Menschheit und Nation' bereits an.
Das Umwillen des Ganzen war und bleibt bei Fichte die Freiheit des Indi-
viduums, und Fichte sagt hier ausdrücklich: »Der Einzelne ... bleibt Individuum.«
An einer anderen Stelle: >>Aber er gibt nicht sich und was ihm gehört, ganz.« 558
In einer Anmerkung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Stelle steht,
erläutert Fichte diese Behauptung von seiner, im Gegensatz zu Rousseau bestimm-
ten Eigentumslehre her. »Nach unserer Theorie kann keiner bei einem Staatsbürger-
vertrage etwas zubringen und es geben, denn er hat nichts vor diesem Vertrage.
Die erste Bedingung, daß er gebe, ist die, daß er bekommen habe. Weit entfernt
sonach, daß dieser Vertrag sich mit Geben anfangen sollte, hebt er an vom Er-
halten.« 559
Der Verlust der Freiheit, der in der politischen Theorie des mittleren Fichte so
auffällig ist, rührte aber nicht etwa vom mangelnden Privateigentum her, sondern
von der durch die Totalgarantie bedingten Aufsichts- und Eingriffspflicht des Ge-
meinwesens, die den Begriff des Privateigentums nahezu illusorisch machte 560 • Das
Verhältnis des Gemeinwesens zum Eigentum, d. h. zur Verteilung und Verwaltung
der Güter und Kräfte, läßt in Fichtes vergesellschaftetem Staat auch das ganz sub-
jektive Eigentum, die dem Individuum eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten dem
Zugriff der Obrigkeit ausgesetzt sein, so daß die Freiheit des Einzelnen als subjek-
tiv-spontane Gestaltung seines empirischen Daseins verschwindet. Aber, und damit
gelangen wir zu dem für Fichte so wesentlichen Argument, jenes Eingriffsrecht des
Gemeinwesens bezieht sich nur auf das Eigentum, auf die Freiheit, soweit sie sich
in den Handlungen des empirischen Individuums konkretisiert 561 • Es bleibt offen-

556 Ebda.
557 Die Organismustheorie des Staates hat den Interpreten erhebliche Schwierigkeiten ge-
macht. Die Erkenntnis der Identifizierung von Gesellschaft und Staat wird auch hier
weiterführen. Vgl. Kapitel IV.
558 111, 205.
559 Ebda., Anm.
560 Insofern der einzelne Eigentum zu Geld gemacht hat, ist er allerdings Ȇber alle Auf-

sicht des Staates hinaus«. (111, 242) Geld wäre so das eigentliche Privat- oder das abso-
lute Eigentum, das auch auf das Haus ausgedehnt sein kann. (111, 241) Aber angesichts
der sonstigen Eingriffsrechte des Staates scheint dieses Privateigentum kaum sicher -
außerdem ist die Entwertung des ,Weltgeldes' die eigentliche Vernunftmaßnahme zur
Schließung des Handelsstaates.
Rickert sieht in den Bemerkungen Fichtes über das »Haus« (an dessen Stelle auch die
»Lade der Dienstmagd« treten kann), obgleich er sie »drollig« findet, noch einen genü-
genden Schutz des Individuums vor dem Zugriff der totalen Gesellschaft (Rickert,
Grundlage, a.a.O., 180).
511 »Das Ganze ist insofern Eigentümer des ganzen Besitzes und der Rechte aller einzelnen,
indem es alle Beeinträchtigungen derselben ansieht und ansehen muß als ihm selbst ge-
124 Die totale Gesellschaft

bar noch etwas übrig, und das ist in der durch Verträge konstituierten Gesellschaft
das Subjekt dieser Verträge, die Subjektivität als solche. Hier wird in der Theorie
die Trennung von Moralität und Legalität wieder wirksam. Der ganze Bereich des
Gemeinwesens mit allen Eingriffen und Zwängen ist ja ,nur' Legalität. Moralität
als solche ist das Residuum der Freiheit, soweit sie sich nicht in empirischen Hand-
lungen darstellt. Das Gemeinwesen ist nur eine notwendige Stufe für die Erhebung
der Subjektivitäten als solcher- der ,Menschheit'- zur absoluten Moralität.
Der utopische Endzustand wird durch überflüssigwerden aller Legalität charak-
terisiert sein 562 • Das sind die beiden Glieder von Fichtes politischer Theorie: Auf-
gabe der ,Politik' ist es, den empirischen Staat zum ,Geschlossenen Handelsstaat'
zu machen, d. h. ihn nach dem Bilde des Vernunftstaates umzuformen; Ziel des Ver-
nunftstaates der ,Grundlage' ist es jedoch, die Menschheit zur absoluten Freiheit
zu erheben, indem er sie als empirische Bürger versklavt 563. Das ist die eigentliche
,Opferung des Individuums auf dem Altar der Weltgeschichte'.
So konsequent Fichte die Notwendigkeit des Zwanges auch aus dem Wesen seines
Freiheitsbegriffes begründete und so nachdrücklich er auf die Zeit der absoluten
Freiheit, die eben dieser Zwang begründen sollte, hinwies 564, so erwog er doch
immerhin die Möglichkeit, >>daß irgend jemand durch die aufgestellten Begriffe sich
schrecken ließe« 5 6 5 • Die Antwort an einen solchen, bei der er sich >>beruhigen<< 566
soll, ist der völlig abstrakte Satz vom Zwang, der nicht Zwang ist, sobald es ihn

schehen.« (III, 205) Hieraus könnte ein bloßer Schutz des Ganzen für das Privateigen-
tum gefolgert werden, aber das Ganze schützt auch jedes Privateigentum vor den pri-
vaten Besitzern. Schutz bedeutet für Fichte immer auch selbstverständlich Aufsichts-
und Eingriffsrecht und -pflicht des Gemeinwesens.
562 V gl. Kapitel I dieser Arbeit.
563 Angesichts der Wirklichkeit des Notstaates wurde für Fichte immer mehr die ,Bestim-

mung des Gelehrten', d. h. die Kultivierung der Subjektivität, die in eine ,Gelehrten-
republik' ausmündete, zu einem Ventil für die unversöhnliche Konstruktion des abstrakt
freien Individuums als solchem und des Zwangsstaates. Auf diesem Boden gedieh die
Universitäts- und Bildungstheorie Fichtes, von der Schelsky sagt, daß sie >>die Universität
selbst zur Utopie erhoben<< und ihr so >>die höchste und lebendigste Bestimmung<< zuge-
wiesen habe. (Schelsky, a.a.O., 111.) Schelsky übersieht dabei keineswegs den »soziologi-
schen Dualismus<<, d. h. - die neue Klasseneinteilung der Gesellschaft - »Akademiker-
schicht<< und »Volk« (110). Nur sei eben der Führungsgedanke der Akademikerschicht
gegenüber dem ,Volk' »als eine geistige und sittliche Verpflichtung<< geboren. Zu dem
allen muß gesagt werden, daß die Entfremdung von höchst entwickelter Subjektivität
zum Not- und Zwangsstaat damit nur in der utopischen Spannung auf Aufhebung des
letzteren in die erstere beseitigt ist. Solche Theorie stellt sicher ein optimales Universitäts-
ideal in ,Einsamkeit und Freiheit' auf - hier stimmen wir mit Schelsky völlig überein.
Für die politische Theorie, die aus den gleichen Denkimpulsen kommt, ist die Gefähr-
lichkeit hier versucht worden aufzuzeigen.
564 »Überdies, wer wagt ein Verbrechen, wo er sicher weiß, daß es entdeckt und bestraft

werde. Nur ein halbes Jahrhundert so verlebt, so werden die Begriffe der Verbrechen
aus dem Bewußtsein des glücklichen Volkes, das nach solchen Gesetzen regiert ist, ver-
schwinden. (III, 186) Verschwinden wird so die Zwangswelt des Notstaates, zunächst
durch Zwang selbst, dann aber auch vor allem durch die Kultivierung der Subjektivität
Statt der Vermittlung die Utopie!
5 G5 Ill, 183.

5G6 Ebda.
Die totale Gesellschaft 125

wirklich gibt: >>Denn, alle diese Anstalten sind nicht getroffen um einzutreten, son-
dern nur um die Fälle, in denen sie eintreten müßten, unmöglich zu machen. Eben
wo sie getroffen sind, sind sie überflüssig, und nur da, wo sie nicht sind, wären sie
nötig.« 567

58 7 Die Subjektivität als solche ist so als das Umwillen der politischen Theorie übriggeblieben.
Als solche ist sie aber notwendig abstrakt. Wenn ihr empirisches Dasein nicht das Dasein
ihrer Freiheit ist, so kann der Entfremdung nur begegnet werden durch Beseitigung statt
durch Vermittlung. Die metaphysisdle Strenge des absoluten Ich der Wissenschaftslehre
hat sich in der praktischen Philosophie zur Subjektivität als solcher verflüchtigt. Insofern
ist es doch vielleicht nicht nur ein Mißverstehen der Romantiker, wenn sie sich an Fichte
anschlossen, wie Schmitt es auffaßt. (Schmitt, Politische Romantik, München und Leip-
zig 1925, S. 119/20).
IV. MENSCHHEIT UND NATION

1. Die allgemeinen Probleme der politischen Theorie Fichtes nach 1800

»In einer letzten abschließenden Etappe seiner inneren Wesensgeschichte muß das
Bewußtsein sich erheben über die bloße Einzelheit der Iche, deren jedes bisher
schlechthin allein scheint mit sich selbst, allein mit seinen Weltvorstellungen und
-strebungen, ganz wie die Leibnizsche Monade. Die bloße Anerkennung fremder
Freiheiten im Rechtsverhältnis und die Willensintention des sittlichen Bewußtseins
auf Sittlichkeit Anderer und Aller reichen in sich nicht aus, die Isoliertheit wirklich
zu überwinden: sie setzen selbst, den möglichen und wirklichen Zusammenhang der
Individuen voraus. Der sittliche Mensch bliebe mit sich allein und bloß in sich be-
schlossen wie der Erkennende mit seinen Vorstellungen- wenn nicht das religiöse
Leben in uns einen tieferen Zusammenhang uns zur Gewißheit machte und damit
unser Wissen von uns selbst als Individuen und unser Freiheitsleben trüge.<< 568
Mit diesen Worten charakterisiert Heimsoeth die »letzte abschließende Etappe«
von Fichtes Philosophie, in der Fichte die ,Synthesis der Geisterwelt' gelingt als
>>tiefere Begründung« 569 seines bisherigen Denkens. Damit kommt am Ende dieses
Denkweges nach Heimsoeths bereits früher zitierter Ansicht, das zum Ausdruck,
was schon je und je das eigentlich Tragende gewesen war und womit Fichte in um-
greifenderen Zusammenhängen gesehen ist als etwa nur der Tradition ,von Kant
her zu Hegel hin' 57o.
Die religionsphilosophische Vollendung von Fichtes Denken kann im Rahmen
dieser Arbeit nur betrachtet werden, insofern sie auch schließlich aus den Tendenzen
der politischen Theorie sich ergibt. Von dieser her gesehen ist die Religionsphiloso-
phie - vor allem in der Lehre vom ,Reich' - ein übertragen der Widersprüche in
einen Bereich widerspruchsloser Unmittelbarkeit, die durch den eigenen aufkläre-
risch-revolutionären Ansatz verlorengegangen war. Fichtes Leistung besteht ja
gerade darin, die Subjektivität als solche· im revolutionären Ansatz ins Spiel
gebracht zu haben, sie so als das eine Prinzip der modernen bürgerlichen Welt her-
ausstellend. Mit dieser modernen bürgerlichen Welt und ihrer Gesellschaft ist nun
aber die Entzweiung gesetzt und die Subjektivität erhält ihre Freiheit in der ,Posi-
tivität' dieser Entzweiung 5 71 • Angesichts der entzweiten Welt, die Konsequenz sei-

ses Heimsoeth, a.a.O., S. 178.


569 Ebda.
570 Heimsoeth, a.a.O., S. 9.
57 1 Vgl. nochmals Ritter; Hege! und die Französische Revolution. Köln u. Opladen 1957;
s. 32 u. p.
Die politische Theorie Fichtes nach 1800 127

nes eigenen Ansatz war, ging der Aufklärer Fichte hinter sich selbst zurü<k, indem
er aus der Herkunft des subjektiven Freiheitsbegriffs aus dem Christentum eine
religionsphilosophische Überhöhung entwarf, in der alle Einzelnen als solche wieder
aufgehoben und vereint sind 572.
Hier ist zu zeigen, welche Auswirkung jener Wille, über die Entzweiung hinaus-
zukommen, in der politischen Theorie hat. Die ungeschichtliche Abstraktheit des
extrem-subjektiven Freiheitsansatzes hatte sich in der Theorie Fichtes als das eine
Moment der Vernunft gegenüber der historischen Fixierung als dem anderen absolut
gesetzt - Konsequenz des revolutionären Ansatzes. Konkretion als wirkliche Ord-
nung konnte so auch nur die abstrakte Subjektivität zum Ausgang nehmen, da die
Herkunftswelt verneint war. Diese abstrakte Subjektivität kam von sich aus nur zu
einer ebenso abstrakten Gesellschaftlichkeit als dem Miteinander freier Iche 573. Es
ist gezeigt worden, wie konkrete Ordnung, aus diesem Ansatz deduziert, nicht zu
einem politisch-funktionalen Staatsbegriff-mit dem Gegenüber der Gesellschaft-
werden konnte, sondern im Hineinriß aller geschichtlich traditionalen Ordnung in die
abstrakte Gesellschaftlichkeit nur zur totalen Gesellschaft wurde. Staat und Gesell-
schaft waren durchaus vereint, aber sie waren eben dadurch zur äußersten Bedro-
hung der Freiheit der Subjektivität geworden. Soweit ist in dieser Untersuchung
bisher Fichtes Denken analysiert worden, wie es sich bis zum ,Geschlossenen Han-
delsstaat' darstellt. Von Fichtes Wissenschaftsbegriff her ergeben sich für sein weite-
res Denken über das bis dahin geführte System hinaus zwei Aufgaben. Erstens ist es
für ihn unerträglich, die Trennung von Subjektivität und vergesellschaftetem Staat
aufrechtzuerhalten und das um so mehr, je mehr Staat sich auch in seiner geschicht-
lichen Konkretheit dem Denken aufdrängte. Zweitens wird die Bedrohung der Frei-
heit durch den deduzierten Zwangscharakter des ,Staates' dem Denken die Aufgabe
stellen~ Freiheit des Einzelnen und Zwang mehr als bisher miteinander zu vereini-
gen. Diese beiden Postulate an das Denken, die sich ja in gewisser Weise wider-
..sprechen, gedanklich durchzuführen, ist der Inhalt der politischen Theorie des späten
Fichte. Die Widersprüchlichkeit der Ansätze bedingt eine gewisse Disparatheit der
Ergebnisse, deren Bild zudem noch durch das Einschießen ganz konkreter politischer

572 Schon 1863 hat Adolf Lasson die Auffassung der Wissenschaftslehre vertreten, nach der
•die Individuen als solche gar nicht zu dem Daseienden« gehören. (Adolf Lasson,
Fichte im Verhältnis zu Kirche und Staat, Berlin 1863, S. 24.) Er schreibt ferner: »Die
Trennung des einen menschlichen Lebens in eine Vielheit der Individuen ist deshalb ein
schlechthin Aufzuhebendes, und das erste Mittel dazu ist die Errichtung des Staates und
des Rechtes.« (25) Diese Schwierigkeit der Wissenschaftslehre, das konkret Individuelle
zu erfassen, ist neuerdings von Torretti als ein grundsätzliches Problem der Fichte-For-
schung stark herausgestellt worden (a.a.O., 113/14). In bezug auf die Nation als Histo-
risch-Konkretes trieb also auch diese grundsätzliche Schwierigkeit Fichte dazu, bei ihr
nicht stehenzubleiben, sondern sie mit Menschheitsansprüchen schließlich zum Reich zu
erhöhen. Dann wäre die »Humanisierung des Nationalen«, die Torretti als positiv her-
ausstellt, (a.a.O., 113) aber gerade der Ausdruck jener von ihm so betonten Schwierig-
keit.
573 Wie sehr die Entzweiung als Konstituens der modernen bürgerlichen Gesellschaft in ihrer
Freiheitlichkeit verkannt wurde, wird in keiner Bemerkung deutlicher, als in der bereits
zitierten, daß die Gesellschaft »eine große Familie« werden sollte.
128 Menschheit und Nation

Einsichten zwar einige bedeutsame farbige Züge erhält, aber an Übersichtlichkeit


nicht gewinnt. Es soll versucht werden, anhand der neu auftretenden Begriffe, wie
,Gattung', ,Volk' und vor allem ,Nation' den Denkweg zu analysieren und die
Konsequenz deutlich zu machen, mit der die politische Theorie schließlich gleichfalls
in die Religionsphilosophie einmündet, und sich damit endgültig, trotz der sich auf
diesem Wege ergebenden Möglichkeiten, von aller politischen Wirklichkeit und dem
Begreifen dieser abgewendet hat.

2. Die Organismustheorie des Staates und der Begriff der Gattung

Wie schon in der ,Grundlage d. N.' und im ,Handelsstaat' spricht Fichte in seinen
späten Schriften kaum noch je von Gesellschaft, sondern immer nur vom ,Staat'.
Dazu ist festzuhalten, daß Fichte die in der ,Grundlage d. N.' und im ,Handels-
staat' gewonnenen Bestimmungen des vernünftigen Staates, nämlich erstens seinen
Zwangscharakter und zweitens seine Vergesellschaftung nicht etwa zurücknimmt.
Unter der fortschreitenden resignierten Erkenntnis des ,Zeitalters der vollendeten
Sündhaftigkeit' wird zwar eine Institution wie das Ephorat fallengelassen 574, aber
der Zwangscharakter des Staates potenziert sich mit seiner genau zu untersuchenden
Aufwertung in der gesamten Theorie, und die Postulate des ,Handelsstaates' erhält
Fichte in vollem Umfang aufrecht. So drückt er 1806 in den ,Grundzügen des gegen-
wärtigen Zeitalters' mit starken Worten seine Oberzeugung von der Richtigkeit der
Einsichten des ,Handelsstaates' aus, allerdings mit der resignierten Bemerkung:
»Jedoch über diesen Punkt liegt auf den Augen des Zeitalters eine Decke, welche
wegzuziehen unmöglich ist.« 575 Auch in den ,Reden an die deutsche Nation' von
1808 weist Fichte nachdrücklich auf seinen »fast vor einem Jahrzehnt ergangenen«
Vorschlag hin, den Handelsstaat zu schließen, jetzt außerdem mit dem Zusatz, daß
der ,Geschlossene Handelsstaat' für die Deutschen »das Mittel ihres Heils und durch
sie des Heils von Europa« sei 576• So finden wir in den Spätschriften Fichtes keine
neue Konzeption von ,Staat', sondern eine Aufwertung des Handelsstaates genau
im Sinne der beiden oben bezeichneten Tendenzen, die sich aus seinem Denken bis
1800 notwendig ergeben mußten. Daneben läuft eine gewisse Zeitlang eine ,poli-
tische' Sicht des Staates aus zunehmender Wirklichkeitserfahrung, und da treten die
Thesen über den Vernunftstaat allerdings in bedeutsamer Weise zurück. Solche
realistischeren Äußerungen über Staat und Staaten ergeben sich einerseits aus der
Konkretion der Theorie auf die historische Staatenwelt, andererseits reaktiv auf das
geschichtliche Auftreten Napoleons.
Behält man so die Ergebnisse des ,Handelsstaates' und der ,Grundlage d. N.' im
Auge, nach denen Fichte noch in den ,Reden' die »Begriffe endlich zu berichtigen«

574 Zu der Aufhebung des Ephoratsgedanken siehe Kapitel 111, Anm. 544.
Bei Sdtenkel findet sidt die interessante These, daß für den späten Fichte das konstitu-
tionelle Ephorat in ,öffentlidte Meinung' übergehe. Vgl. Schenkel, a.a.O., 276.
57• VII, 206.
576 VII, 466.
Organismustheorie des Staates 129

fordert 577, so resultiert eine Aufwertung des ,Staates' schon aus diesen. In den
Revolutionsschriften hatte Fichte den Staat noch als ein ,Mittel' bezeichnet, dessen
sich die Gesellschaft bedienen könne, um ihre Kulturzwe<ke zu erreichen. In der
Grundlage jedoch ist die Notwendigkeit deduziert, zur Erreichung dieses Zieles
durch ein organisiertes Gemeinwesen hindurchzugehen. Dadurch, daß das ,Mittel'
,Staat' in der aufgezeigten Weise vergesellschaftet wurde, ergibt sich zunächst seine
Aufwertung zum ,Kulturstaat'. In den ,Grundzügen' finden wir diese Aufwertung
schon vollzogen. So argumentiert Fichte in der zehnten Vorlesung gegen »die unter
den deutschen Philosophen verbreitetste Ansicht vom Staate, nach der er fast nur
ein juridisches Institut seyn soll« 578, und in der elften sagt er: »... Staat, der kei-
neswegs eine ökonomische Gesellschaft ist und der einen ganz anderen Zwe<k hat als
den der bloßen physischen Erhaltung der Individuen.« 579 In diesem Zusammenhang
führt Fichte in den ,Grundzügen' den Begriff der Gattung ein, es ist aber not-
wendig, auf einen anderen Versuch der Oberwindung des Dualismus Subjektivität-
,Staat' noch einzugehen.
Dieser Dualismus ist das Ergebnis von Fichtes Bemühungen bis zum ,Handels-
staat', und, wie gesagt, ein Ergebnis, das Fichte in die Richtung seiner Oberwindung
treiben mußte. Schon in der ,Grundlage d. N.' findet sich ein theoretischer Versuch
in dieser Richtung, und dieser soll jetzt rückgreifend erörtert werden. Es handelt
sich um die sogenannte ,Organismustheorie des Staates', die im zweiten Teil der
,Grundlage d. N.', also 1798, gleich im ersten Abschnitt der Staatsrechtlehre zu
finden ist 580. Fichte bemüht sich dort, den im Schutzvertrag sich konstituierenden
Staat nicht nur als eine Summierung'",,A!J_er', sondern als »Allheit« zu begreifen 581 •
Diese ,Allheit' wird schließlich mit einem »organisi"erten- Naturprodukt« ver-
glichen 582. Die Stelle ist in der Forschung stets umstritten gewesen 583. Handelt es

577 Ebda.
578 VII, 143.
579 VII, 157.
580 VII, 157.
581 111, 202.
582 111, 203.
583 Metzger nennt den Gedanken - den er von Smelling beeinflußt sieht - einen soldien
vor allem »von historismer Wimtigkeit«, der »alsbald berufen war, sim gegen jede ,Ver-
standesansimt' zu kehren und für eine neue ,höhere' Staatsauffassung zum Smlagwort
zu werden« (a.a.O., 178). Auch Metzger ist aber der Meinung, daß dieser neue Gedanke
für Fimtes eigene Staatstheorie nom keine entsmeidende Bedeutung erlangte. Walz hin-
gegen sieht bei Fichte smon völlig die Theorie des romantismen »Einordnungsverhält-
nisses« verwirklimt (a.a.O., S. 508). Den Beginn des »Organisationsdenkens« in bezugauf
den Staat weist er smon bei Kant nam (a.a.O., 505 f). Für Walz ist die »organisme
Staatsauffassung die morphologisme Konkretion des soziologismen Einordnungsverhält-
nisses« (605). ,Organismus' wird von Walz, der sim auf Gierke beruft, in Anspruch ge-
nommen als »sublimierter, ursprünglim kategorialer Funktionsbegriff«. Daß der Ver-
gleim mit dem biologisdien Organismus durmaus - gerade unter dem Aspekt moderner
Erkenntnisse wie etwa der der Kybernetik - fruchtbar angewendet werden kann, dazu
siehe F. Jonas; Probleme des Staatseingriffs bei wirtsmaftlimen Strukturanpassungen.
In: Der Staat, Bd. II, 3, 1963, S. 294 f. Während Smolz lediglich von einer Modifizie-
rung des frühen Staatsbegriffs spricht, die er übrigens schon in der ,Bestimmung des
Gelehrten' von 1794 vorbereitet sieht (a.a.O. 251), ist Torretti der Meinung, daß es sich
130 Menschheit und Nation

sich hier um ein Abweichen vom individualistischen Grundansatz in der Richtung


der Organismustheorie Schellings und der späteren Romantiker 584 ? Dazu ist zu
sagen, daß das Auftauchen des Vergleichs mit dem ,organisierten Naturprodukt'
-,Baum'- nicht so hoch bewertet werden kann. Es ist die Zeit der beginnenden Aus-
einandersetzung mit SeheHing über die Naturphilosophie; der Begriff des Organis-
mus lag sozusagen im Denken bereit 585 , um zur Erläuterung herangezogen zu wer-
den. Daraus allein erhält die Staatsauffassung Fichtes zu dieser Zeit noch nicht den
Charakter einer ,Organismustheorie' auch dann nicht, wenn etwa später der Begriff
,organisches Ganzes' noch gelegentlich gebraucht wird 58 6. Es ist zunächst nichts
anderes gemeint als die soziale Interdependenz, deren Betonung noch kein Aufgeben
des individualistischen Ansatzes bedeutet 587 • Schottky, von dem die jüngste Be-
arbeitung dieses Problems stammt 588, ist also zuzustimmen, wenn er den meta-
phorischen Charakter des Organismusbegriffes in der ,Grundlage' aufweist 589 • Jene
Deduktion einer ,Allheit' aber, zu deren Erläuterung das ,organisierte Naturpro-
dukt' herangezogen wurde, scheint doch der näheren Betrachtung wert. Die gewun-
dene Erklärung 590 Fichtes des >>totum<< aus dem >>Schweben der Einbildungs-
kraft<< 591 , d. h. aus der reinen Möglichkeit des Betroffenseins jedes Einzelnen von
einem ungerechten Angriff, scheint noch nicht so aufschlußreich. Dann aber schließt
sich folgende Kußerung an: >>So fügt die Natur im Staate wieder zusammen, was
sie bei Hervorbringung mehrerer Individuen trennte. Die Vernunft ist eine, und
ihre Darstellung in der Sinnenwelt ist auch nur eine; die Menschheit ist ein einziges
organisiertes und organisierendes Ganzes der Vernunft. Sie wurde getrennt in meh-
rere von einander unabhängige Glieder; schon die Naturveranstaltung des Staates
hebt diese Unabhängigkeit vorläufig auf, und verschmilzt einzelne Mengen zu
einem Ganzen, bis die Sittlichkeit das ganze Geschlecht in Eins umschafft.<< 592 Hier

hier um >>eine der wichtigsten Stellen des modernen politischen Denkens<< handle.
(a.a.O., 77). Damit trifft er sich mit Vaughan, der in bezugauf den Organismusgedanken
bei Fichte gleichfalls sagt: »lt ist this, that makes the ,Grundlage' so memorable a land-
mark in the history of political thought<< (a.a.O., 118). Mit dieser Bemerkung ist der
Tatbestand richtig gesehen. Einerseits wird der Organismusgedanke in der Folgezeit seine
immense Bedeutung entfalten, andererseits kommt er bei Fichte selbst keineswegs in
einer der späteren Bedeutung vergleichbaren Weise zum Tragen, so daß für Fichte
selbst Schottky zuzustimmen ist.
584 Zu Schellings Organismustheorie und der romantischen Staatslehre vgl. Carl Schmitt;
Politische Romantik, München und Leipzig, 1925, S. 157 ff. Schmitt vernachlässigt aber
die mit der Organismuskonzeption in der ,Grundlage d. N.' zusammenhängenden Pro-
bleme, Fichte so von den Romantikern in zu großer Entfernung haltend.
585 Die beste Übersicht über die frühen Auseinandersetzungen Fichtes und Schellings noch
immer Medicus, a.a.O., S. 152 ff.
586 Vgl. etwa Vll, 157.
587 Vaughan betont vor allem die Bedeutung von Fichtes Erkenntnis solcher ,sozialer Inter-
dependenz' (a.a.O., 117/18).
588 Schottky, a.a.O., 194 ff.
589 A.a.O., 207/08.
590 Daß Fichtes Ausführungen an dieser Stelle ,sehr unbehilflich' seien, merkte schon
Metzger an (a.a.O., 179).
591 III, 203.
582 Ebda.
Organismustheorie des Staates 131

wird die Tendenz zur Überwindung des individualistischen Standpunktes klar in


einer Weise, die Fichtes ganzes Bemühen nach 1800 kennzeichnet- für das gesamte
Denken in dem eingangs dieses Kapitels gegebenen Zitat Heimsoeths ausgedrückt,
für die politische Theorie der Versuch, die Entzweiung von Subjektivität und ,Staat'
schließlich im Reichsgedanken zu überwinden. In Fichtes hier zuletzt zitierten Wor-
ten wird deutlich, in welche Richtung diese Bemühungen um Überwindung des
Dualismus gehen werden, >>die Sittlichkeit« ist es, die >>das ganze Geschlecht in Eins
umschafft<<. Von der Subjektivität her wird also letztlich die Oberwindung zu
erwarten sein, insofern hat Fichte den individualistischen Ansatz nie verlassen. Für
das intermediäre Stadium des absoluten Staates hingegen wird zunächst die ,völlige
Durchdringung des Bürgers vom Staate' thematisch, bei deren Behandlung weiter
unten aber gleichfalls sich ergibt, daß der Organismusgedanke für Fichtes eigene
Theorie eine so bedeutende Rolle nicht spielt.
Die Vergesellschaftung des Staates und die sich daraus ergebende Aufwertung des
Letzteren mußte ein weiteres Problem ergeben, insofern ,Gesellschaft' ihrer abstrak-
ten Herkunft nach stets als Menschheitsgesellschaft konzipiert ist, Staat aber nur
sinnvoll ist als Organisation einer bestimmten Gesellschaft. Auch von daher wird
Staat letztlich bei Fichte das zu überwindende bleiben, aber die zunehmende Ein-
sicht in die Unentbehrlichkeit des Staates als Mittel zu immer umfassenderen Zwek-
ken zwingt Fichte immer wieder, das Problem Staat-Menschheit neu anzugehen.
Gerade vom ,Zweck' einerseits des Einzelnen, andererseits des Staates wird in
den ,Grundzügen' der Dualismus übergriffen. Hier taucht der Begriff der ,Gattung'
auf, der sich auch schon früher findet 593, jetzt aber erst zu systematischer Bedeutung
gelangt. »Sonach besteht das vernünftige Leben darin, daß die Person in der Gat-
tung sich vergesse, ihr Leben an das Ganze setze und es ihm aufopfere.« 594 »Wer
auch nur überhaupt an sich als Person denkt und irgendein Leben und Seyn, und
irgendeinen Selbstgenuß begehrt außer in der Gattung und für die Gattung, der ist
im Grunde und Boden ... dennoch nur ein gemeiner, kleiner, schlechter und dabei
unseliger Mensch.<< 595 »... das höhere Leben. Dieses umfaßt eben die Gattung als
Gattung. Das Leben der Gattung aber ist ausgedrückt in den Ideen .... Die obige
Formel: Sein Leben an die Gattung setzen, läßt daher sich auch also ausdrücken,
sein Leben an die Ideen setzen; denn die Ideen gehen eben auf die Gattung als solche
und auf ihr Leben.<< 596
Sicher hat Schenkel recht, wenn er den Gattungsbegriff nicht »mit naturwissen-
schaftlich bedingten Ansichten im Zusammenhang« sieht 597 • Er besteht dagegen auf
der »geistig-kosmischen Seinsbedeutung dieses Begriffs<< 598 • Auch für Wallner be-

593 Im 1. Teil der ,Grundlage d. N.' findet sich der Begriff ,Gattung' in den anthropologi-
schen Corollaria zum zweiten Hauptstück (III, 80-81). Im zweiten Teil, vor allem im
,Grundriß des Familienrechts' gerät ,Gattung' aber schon in die Nähe von ,Natur-
zweck'. Vgl. III. 305 ff.
594 VII, 35.
595 Ebda.
596 VII, 37.
597 Schenkel, a.a.O., S. 214.
598 Ebda.
132 Menschheit und Nation

kommt der Begriff hier in den ,Grundzügen' >>eine noch viel tiefere, durchgeistigte,
religiöse Kraft<< 599 • Mit dem Postulat des Absehens des Einzelnen von sich wieder-
holt sich auf dieser Ebene eine Argumentation Fichtes, die polemisch gegen jene
gerichtet war, die unter dem ,Ich' Fichtes stets nur ihr eigenes empirische Ich ver-
stehen konnten. Um dieses darf es eben nicht gehen, aber auch nicht um andere
empirische Iche als solche. »Sympathie<<, »Wohlwollen<< und >>Liebe<< zu anderen
Menschen als Personen kann höchstens als >>Vorhof des höheren Lebens<< gelten 600 ,
in dem »die Entwicklung einer sich verbreitenden und umfassenden Liebe an-
fängt.<< 601
Liebe, Sympathie und Wohlwollen, die im Bereich der Subjektivität ihren Ort
haben, transzendieren diese nicht. Liebe zur Menschheit, zur Gattung als solcher ist
ein leeres Postulat 602 • Dies Postulat bedeutet eben den Versuch, in die entzweite
Welt von der Subjektivität her Einheit zu stiften, ein Versuch, der auch bei Fichte
völlig leer bleibt, mag solcher Versuch auch noch so sehr als ,Vertiefung' oder ,Über-
höhung' bezeichnet werden. Nun bleibt es aber nicht bei dem Postulat der Liebe
zur Gattung als Gattung. Ober den Begriff der Gattung werden der Einzelne und
der ,Staat' in einer neuen Weise zusammengebracht. Das Gattungsproblem liegt
also auf der Linie der Vermittlung des Einzelnen mit dem ,Staate', die oben als das
eigentliche Thema der späten Philosophie Fichtes bezeichnet ist.
Der Vernunftstaat der frühen Schriften tritt jetzt als ,absoluter Staat' in
der Theorie auf. »Der absolute Staat in seiner Form ist nach uns eine künstliche An-
stalt, alle individuellen Kräfte auf das Leben der Gattung zu richten und in demsel-
ben zu verschmelzen.<< 6 03 Als diese ,künstliche Anstalt' zeichnet sich der ,absolute
Staat' durch drei Bestimmungen aus. Erstens ist Staat die Konkretion der Gattung zu
einer bestimmten Anzahl von Gattungswesen. >>Was aber ist dem Staat die Gat-
tung? Alle seine Mitbürger, ohne Ausnahme eines Einzigen.<< 604 »So sind ... kei-
neswegs die Regierenden der Staat, sondern sie sind Mitbürger desselben ... << 605
Zweitens ist der Staat Zwangsstaat »... da vielmehr die Anstalt wirkt von außen
her auf Individuen, die gar keine Lust empfinden, ihr individuelles Leben der Gat-
tung aufzuopfern, so versteht es sich, daß diese Anstalt eine Zwangsanstalt seyn
werde.<< 606 Drittens aber: »alle ihm bekannte und zugängliche Kraft der Indi-
viduen ist dem Staate für die Beförderung seines Zweckes nöthig; denn sein Zweck
ist die Cultur<< 607, In der ,Grundlage d. N.' hatte Fichte den Zwangscharakter des
Staates noch dadurch gemildert, daß er dort, als ,ökonomisches und juridisches Insti-

599 Wallner. a.a.O., 149. Kritischer steht Metzger dem Auftauchen der » Universalistischen
Stimmung<< in den ,Grundzügen' gegenüber. (Vgl. a.a.O., 130.) Walz hingegen schließt
sich enthusiastisch der neuen »freudigsten Sraatsbejahung<< Fichtesan (a.a.O., 567).
6oo VII, 37.
601 Ebda.
602 Vgl. dazu Theodor Geiger, a.a.O., S. 48 ff., wo er die Inadeaquanz der emotionalen

Hinwendung zu >>Gruppen zweiter Ordnung« aufweist.


603 VII, 144.
604 VII, 146.
605 Ebda.
606 VII, 144.
607 VII, 147.
Organismustheorie des Staates 133

tut' den Einzelnen nicht mit allem, was er hatte, erfaßte. In der jetzigen Aufwertung
des Staates auf die Höhe der Kulturzwecke ist hingegen das Individuum mit allen
dem Staat ,zugänglichen' Kräften in dessen Zwecke eingespannt. Seine Zwecke
der Gattung unterzuordnen war noch Postulat, ein ethisches Postulat, das zwar
leer, immerhin aber formal ein Appell an die Freiheit war. Jetzt aber ist Frei-
heit in der negativen Bedeutung völlig verschwunden. Der Staat ist nicht mehr
für den Einzelnen da in dem Sinne, daß er diesem seine Freiheit garantiert, sondern
in konsequenter Folge der Eigentumslehre_, durch die der Staat auf das Individuum
in seinem Kern übergriff. ist ietzt die Bestimmung des Staates, Freiheit positiv zu
verwirklichen, d. h. in äußerstem Zwang die Einzelnen auch gegen ihren Willen
»in die Art zu schlagen« 808• Ober den Staat als Gattungszweck ist so die sittliche
Forderung an den Einzelnen, sich der Gattung aufzuopfern, zum politischen Zwang
geworden.
Ein wesentlicher Zug in dieserneuen Wendung der Theorie ist aber noch folgen-
der. Der Zweck des Staates als zusammenfallend mit dem der Gattung gedacht
ist nicht nur Bestimmung des ,absoluten Staates' in dem zukünftigen ,Zeitalter der
Vernunftwissenschaft'. In letzterem wird der Staat »diesen Zweck mit klarem Be-
wußtsein sich denken« 609, Aber auch unabhängig vom klaren Bewußtsein besteht
jeder gegenwärtige Staat »nur in der Gattung« 6 10 • Die einfache Selbsterhaltung,
um die der empirische Staat kämpft, ist deshalb auch immer schon Erhaltung der
Gattung 611 • Aber die Zwecke der empirischen, um ihrer Selbsterhaltung kämpfen-
den Staaten sind entgegengesetzt. Ihre disparaten Interessen machen es schwierig,
in der Selbstbehauptung der Staaten in ihrem Gegeneinander den Gattungszweck
sich durchsetzen zu sehen. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, ~ird Fichte folge-
richtig einen Staat als Repräsentanten des Gattungszweckes und der ,Kultur des Zeit-
alters' ansehen 612. Indem die Selbstbehauptung des empirischen Staates mit der
Durchsetzung des Gattungszweckes identifiziert wird, ergibt sich zunächst die
Rechtfertigung des Zwangscharakters des Staates auf dieser höheren Ebene in einem
Maße, daß von einer Pflicht des Einzelnen zur Unterwerfung unter diesen Staat
zu sprechen schon nicht mehr sinnvoll ist; zweitens beginnt aber hier die Theorie

808 Die umgekehrt transitive Verwendung der Redensart: ,aus der Art schlagen' stammt von
Bertolt Brecht.
. . . Da hilft kein Fluchen und Klagen
sie sind aus der Art geschlagen.
Er schlägt sie zurück in die Art.
Brecht, Furcht und Elend des 3. Reiches. 9.
eoo V, 161.
810 Ebda.
611 Der Gedanke läßt die spätere ,List der Vernunft' Hegels anklingen. Diese, von Heget-

Gegnern im Allgemeinen in ihrer systematischen Bedeutung stark überschätzte ,List


der Vernunft' ist, wie aus dem Folgenden ersichtlich, bei Fichte wegen der nationalisti-
schen Fixierung weit folgenreicher für das Denken.
612 » ••• und wir können deshalb den Staat, besonders den in jedem Zeitalter als Staat

vollkommensten, zugleich als den Sitz der höchsten Kultur des jeweiligen Zeitalters
betrachten .... der Staat befindet sich deshalb schon durch den Zweck seiner Selbst-
erhaltung in natürlichem Krieg gegen die ihn umgebende Wildheit.« VII, 162.
134 Menschheit und Nation

eines ausgezeichneten Staates sich zu bilden, eines Kulturträgers, der als solcher das
Recht und die Pflicht hat, der >>ihn umgebenden Wildheit ... soviel Abbruch zu tun,
als er immer kann<< 613.
Dem gesteigerten Zwangscharakter des absoluten Staates wird Fichte durch die
starke Herausstellung der Erziehung systematisch begegnen; die zweite hier ange-
führte Konsequenz wird sich fortsetzen in der Lehre von der Nation und schließlich
der ,Deutschheit'.

3. Konkretisierungen in der späteren politischen Theorie

a) Die Selbstbehauptung der Staaten


Mit der ,Grundlage d. N.' und dem ,Handelsstaat' hatte Fichte die Theorie des
,Staates' als solche mehr oder weniger abgeschlossen. Es ist bereits gesagt worden,
daß die wesentlichen Bestandteile dieser Theorie, Zwangscharakter und Vergesell-
schaftung des Staates, in Fichtes Denken nach 1800 bestehen bleiben. Mit dem
,Geschlossenen Handelsstaat' war der Versuch gemacht worden, die Idee des Ver-
nunftstaates an die Wirklichkeit heranzubringen bzw. diese in Richtung auf jenen
umzugestalten. Aber in bezug auf diese politischen Vorschläge Fichtes lag >>eine
Decke auf den Augen des Zeitalters<<. Das Verhältnis der Staaten zueinander, das
in der ,Schließung' des Handelsstaates systematisch ausgeklammert war, rückte so
gerade durch diese Weigerung der Wirklichkeit, >>ihre Begriffe zu berichtigen<<,
mehr in den Blick Fichtes. Durch die Konkretisierung des Denkens auf den bestimm-
ten Staat im Gedanken der Nation bekam das Verhältnis zu den anderen Nationen
größere Bedeutung.
Es wiederholt sich auf dieser Ebene der Denkvorgang, der in den ersten Abschnit-
ten der ,Grundlage' - über die Wissenschaftslehre von 1793 hinaus- mit dem indi-
vidualisierten Ich die anderen Iche gleichzeitig gesetzt sein ließ. Analog dazu sind
mit dem bestimmten Staat die anderen Staaten gesetzt - das Problem des Ver-
hältnisses dieser zueinander tritt auf 614 • Hier gelingt es der Theorie aber noch
weniger, über ihren Schatten zu springen, als in der Frage der ,Anderen Iche', inso-
fern am Ende dieser Denkbewegung die ,Deutsche Nation' als die eigentliche übrig-
bleibt, von der schließlich der Reichsgedanke ausgeht - es kommt also nicht zu
einer eigentlichen Anerkennung des historischen Pluralismus der Staatenwelt.
Aber zunächst wächst aus der Blickrichtung auf die Außenpolitik der Theorie
ein erhebliches Maß an ,Erdennähe' zu, das freilich in Ansätzen steckenbleibt und
nicht zur systematischen Bedeutung gelangt.
In der Behandlung des Begriffs der ,Gattung' und seiner Stelle im Denken Fichtes
war die Selbstbehauptung der Staaten schon erwähnt worden. Fichte konnte Ge-

613 Ebda.
614 Die Glieder dieser Analogie wären Ich-Andere Iche und Nation-Andere Nationen. Für
die Nation gilt aber, daß die eigene immer schon als die Eigentliche aufgefaßt ist; der
systematische Zusammenhang des ursprünglichen ,Ich' mit dem Zwingherrn des späten
Fichte scheint durch diese Analogie einmal mehr bestätigt zu sein.
Spätere politische Theorie 135

schichte nur in apriorischer Deduktion sich und anderen begreiflich machen 615 ;
immerhin gab das komplizierte Verhältnis von wirklicher Geschichte und Fichte-
scher apriorischer Vernunftgeschichte ihm Blicke auf gesellschaftlich-historische Tat-
bestände frei - jedenfalls soweit sie zur Erläuterung seines Fünf-Stadien-Gesetzes
dienlich sein konnten. So finden wir in der zwölften Vorlesung der ,Grundzüge'
die Theorie von der Entstehung der Staaten durch Unterwerfung 616 und eine Theo-
rie des Römischen Rechts, das als aus vielhundertjähriger Vermittlung zwischen
Oben und Unten, d. h. zwischen den Gesellschaftsklassen erklärt wird 617 • Man kann
nur bedauern, daß dieser äußerst fruchtbare Ansatz in Fichtes vernünftiger Rechts-
theorie nie zum Tragen gekommen ist. Aber Khnliches wird sich von allen Ansätzen
zu konkreter historischer Erörterung aus dieser Zeit sagen lassen.
Es war oben schon gezeigt worden, wie die Selbstbehauptung empirischer Staaten
in den Dienst der ,Natur' und ihres Gattungszweckes gestellt worden war. Von die-
ser geschichtsphilosophischen Überhöhung abgesehen, kommt Fichte hier ein wesent-
liches politisches Phänomen in den Blick, das nämlich der Behauptung einer politi-
schen Einheit nach außen und innen. In dem Fragment ,Die Republik der Deut-
schen' umschreiben die imaginären Verfassungsgeber ihre Intentionen: >> ... zuvör-
derst~ daß die Erhaltung des Staates, seiner Verfassung und seiner Selbständigkeit
vor aller fremden Gewalt und Einfluß gesichert, und über jeden Zweifel von innen
undjeden Einfall irgendeines Versuches von außen weit erhaben wäre ... << 6 18 Diese
Sätze stammen aus der Königsherger Zeit; sie setzen sich fort in Kußerungen über
die deutsche Nation, die weiter unten besprochen werden sollen. Aber schon in den
,Grundzügen', die Fichte 1804/05 vorgetragen hat, finden sich - angeregt durch
den Blick auf die Geschichte - zahlreiche Bemerkungen über dies politische Phäno-
men. In der elften Vorlesung, in der allerdings auch jene These vom Zusammenfall
des Gattungszweckes mit dem des Staates steht, lesen wir etwa: >>Der Staat befindet
sich demnach schon durch den Zweck der Selbsterhaltung im Kampf gegen die ihn

615 Mit Lasks immer wieder zitiertem Buch ,Fichtes Idealismus und die Geschichte' setzt sich
Torretti ausführlich auseinander (a.a.O., 125 ff. und 153 ff.) Entgegen Lasks These von
Fichtes konsequenter Lösung des Problems der Geschichte aus seinen eigenen Voraus-
setzungen besteht Torretti auf der Unausgetragenheit des Problems bei Fichte.
Neuerdings hat Heimsoeth Fichtes Verhältnis zur Geschichte untersucht. (H. Heimsoeth;
]. G. FichtesAufschließung der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt. In: Studie Ricerche
di Storia della Filosofia. Torina 1962) Heimsoeth schreibt: >>Aber er ist der erste und,
nach der Radikalität des metaphysischen Ansatzes, Einzige, welchem Geschichte ... ein
und alles war.<< (11) Aber es bleibt doch die Frage, ob, beim Ausgehen von dem revolu-
tionären Ansatz, Geschid1te in konkretem Verstande in den Blick kommen konnte und
in eben diesem Sinne schreibt Heimsoeth: »Das große Zeitereignis der Französismen
Revolution . . . erregte beim jungen Fichte das Verlangen, mensmlim-gesellsmaftliche
Zukunftsmöglichkeiten zu entwerfen (aufforderndes Entwerfen aus autonom gewordener
Einsicht heraus). Das war und blieb immer der eigentliche Ursprung in Fichtes Erfahren
und Begreifen der Geschichte<< (a.a.O., 12). Ausführlich zu dieser ,spekulativen' Ge-
schichtsauffassung jetzt auch: Klaus Hammacher; Comment Fidue accede al'histoire.
In: Ardlives d. Phi!., Tarne XXV, Cah. III-IV 1962, S. 388 ff.
616 VII, 174.
617 VII, 180.
618 VII, 533.
136 Menschheit und Nation

umgebende Wildheit ... « 6 19 In der vierzehnten Vorlesung äußert Fichte sich aus-
führlich über das soviel berufene Gleichgewicht der Mächte des christlichen Europa,
das er erklärt durch einen nach dem Plane der Natur sich herstellenden Ausgleich des
ständigen Vormachtstrebeng aller einzelnen . Ein sehr viel interessanteres Ergeb-
nis ist in diesem Zusammenhang die neuerliche Deduktion der Gleichheit der Staats-
bürger aus der politischen Selbstbehauptung. Die apriorische Deduktion der Gleich-
heitsforderung war für Fichte in seiner revolutionären Phase der zentrale Inhalt
seiner Theorie gewesen. Argumentierte er damals von der abstrakten Gesellschaft
her, so heißt es jetzt in bezug auf die Ungleichheit der Gesellschaftsklassen: »... es
ist ganz in der Ordnung, daß man annimmt, was unser Zeitalter uns bietet, und sich
bescheidet, es nicht länger zu begehren, wenn die Zeit es nicht weiter trägt.<< 621 Die
politische Argumentation beruft sich also nicht mehr auf ,Urrechte'; sie erklärt die
bisherige Praxis der Ungleichheit nicht mehr zur »Sünde wider die Natur<<, sondern
bezeichnet sie einfach als ,unzeitgemäß' - nirgendwo ist Fichte dem Geschichtlichen
so nahe gekommen 622.
Der neue Aspekt des Problems der Gleichheit verdient ausführliche Beachtung.
Er ist eines der Kernstücke von Fichtes später politischer Theorie, und zwar ein
Kernstück in dem Bemühen um die Oberwindung des Dualismus Individuum -
,Staat', die oben als die notwendig sich aus Fichtes bisherigem Denken ergebende
Aufgabe angeführt wurde. Die Stellung des einen Staates unter den anderen zwingt
ihn aus Gründen der politischen Selbsterhaltung »soviele Kraft seiner minder be-
günstigten Bürger aufzubieten und sich anzueignen, als dieselben nur irgend aufzu-
bringen vermögen« 623. Im Konkurrenzverhältnis der Staaten untereinander muß
die Anstrengung des einzelnen Staates stets gesteigert werden, so daß er schließlich
notwendig dazu gebracht wird, »den gesamten Oberschuß aller Kräfte seiner
Staatsbürger ohne Ausnahme für seine Zwecke zu verwenden« 624 • So werden alle
Einzelnen gleich unmittelbar zum Staat- die revolutionäre Theorie der Gleichheit
trifft sich hier mit der Theorie der demokratischen Diktatur- mit dem politischen

11o VII, 162; vgl. Anm.


12o Vgl. dazu auch Scholz, a.a.O., 137.
621 VII, 208. (Hervorgeh. von mir)
122 Leider kommt auch dieser Ansatz systematisch durchaus nicht zum Tragen.
623 VII, 208.
624 VII, 208. In bezug auf den ,Handelsstaat' hatte schon Rehberg geschrieben: »Die Ver-
vollkommnung aller Anstalten, durch welche sich die Staatsgewalt in den Besitz einer
vollständigen Direction aller Kräfte ihrer Untertanen zu setzen sucht, arbeitet nicht
allein allen vernünftigen Zwecken einer wirklich weisen Regierung entgegen, sondern
verfehlt auch gänzlich ihre eigenen Zwecke.« (Rehberg, Sämtl. Schriften, Hannover
1826, Bd. 4, S. 283.) Wagner stellt in seiner ausgezeichneten Arbeit heraus, daß Harden-
berg, von Kant und Fichte beeinflußt, diese Konsequenz des Gleichheitsgedankens betont,
insofern ihm »die Französische Revolution ... den Beweis der militärischen Überlegen-
heit Frankreichs infolge der Aufhebung der Privilegien« lieferte. (Wagner, a.a.O., 35.)
Die Konsequenz der Gleichheitsforderung für das militärische Potential stand sicher
auch bei Fichte zu dieser Zeit im Vordergrund. (vgl. weiter unten) Torretti hebt gleich-
falls diese Neubegründung der Gleichheitsforderung aus der politischen Theorie der
Selbstbehauptung als eine der außerordentlichsten Stellen in Fichtes Werk hervor
(a.a.O., 132).
Spätere politische Theorie 137

Prinzip, das schließlich Napoleon verkörperte. Mit dieser gleichen totalen Inan-
spruchnahme aller Einzelnen ist nach Fichte der ,Staat' ausdrücklich in »sein Recht
eingesetzt« 825 • Der .absolute Staat'l den Fichte in den ,Grundzügen' eingeführt hat.c
ist zur letzten Be,gründung der politischen Theorie geworden. Aber sein »Recht<<,
das Recht auf gewaltsame Herstellung der Gleichheit im Dienste der politischen
Selbstbehauptung ist in Fichtes Begründung auch nur deswegen Recht, weil es sich
mit dem Vernunftrecht der Gleichheit trifft, wovon der einzelne Staat aber nichts
zu wissen braucht. Ihm genügt der »durch die Schuld der Zeit ihm aufgedrungene
Zweck« der Selbsterhaltung 828,
So ist für Fichte die eine Seite seiner Aufgabe zunächst erfüllt: »Alles jetzt nach-
einander Angegebene, E. V. ist die innige Durchdringung des Bürgers vom
Staate« 827, was schließlich als der »politische Charakterzug unseres Zeitalters« be-
zeichnet wird 628 • Damit deduziert Fichte aus dem revolutionären Ansatz das Prin-
zip des napoleonischen Staates; in diesem Punkt erreicht also seine politische Theo-
rie höchste Konkretion. Allerdings befand sich Fichte auf der Gegenseite, die Forde-
rung der Gleichheit aus der ,Zeitgemäßheit' mußte ja für Preußen zunächst noch
Postulat bleiben, aber konkretes Postulat - der politische Selbstbehauptungswille
Preußens ließ diesem ja 1807 in der Tat nichts anderes übrig, als an das Volk zu
appellieren und alle Kräfte aller in Anspruch zu nehmen- um so bitterer, daß das
Versprechen der Gleichheit, das darin lag, später nicht eingehalten wurde, was
Fichte auch schon vorausgesehen hatte 629 • Die Konsequenzen aus dieser Konzeption
der so sich politisch wirklich begebenden »Durchdringung des Bürgers vom Staate«
sind aber trotzdem zwiespältig. Die aus der politischen Selbstbehauptung notwen-
dig sich ergebende gleiche Inanspruchnahme aller seitens des Staates verwirklicht
zwar Gleichheit, aber sie bedeutet natürlich tatsächlich das Ende jeglicher Freiheit.
Und es ist keineswegs so, als ob das Fichte entgangen wäre. Nur bringt sein wach-
sendes Nationalbewußtsein eine weitere Kompliziertheit in sein Denken. Die totale
Inanspruchnahme der Einzelnen seitens des Staates ist politisch notwendig und

825 VII, 208.


828 VII, 210.
827 Ebda. Hier wird deutlich, wie die Aufhebung der Entzweiung, die auch in seiner Theorie,
soweit sie adaequate Theorie der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft war, gesetzt
ist, das eigentliche Anliegen des späten Fichte ist. Der »innigen Durchdringung des
Bürgers vom Staate« entsprimt von der Seite der Subjektivität her die ,innige Durch-
dringung des Staates' vom Einzelnen her in der ,Liebe' zu Vaterland und Nation. Vgl.
weiter unten.
828 VII, 210.
628 IV, 414: »Wenn sim nun hinterher dom zeigte, daß es nimt Ernst gewesen wäre, wenn
nam Errettung im Kampfe die Selbständigkeit der Nation abermals dem Vortheile der
Herrsd!.ernation aufgeopfert würde, wenn sim zeigte, daß der Herrscher zwar wollte,
daß für seine Herrsmaft das edelste Blut des Volkes flösse, er dagegen für die Selb-
ständigkeit des Volkes seine Herrsmaft nid!.t wagen wolle; so könnte unter einem solchen
der Vernünftige durmaus nid!.t bleiben.«
Hier zeigt sim aum in der ,Staatslehre von 1813' wie sim der revolutionäre Impuls
Fimtes in der Tat bis zuletzt durmhält, was aufzuweisen und Fichte auf diese Weise als
den großen Denker der Revolution zu zeigen das Anliegen des Werkes von Leon ist.
138 Menschheit und Nation

Recht; die so hergestellte Gleichheit deckt sich mit der Vernunftforderung. Wäre
diese Einsicht, die ja als »politischer Grundcharakter der Zeit« aufgestellt wird,
wirklich umfassend, so müßte ihr nicht entgangen sein, daß im Staat Napoleons dies
Prinzip verwirklicht war. Aber an der Wiege dieser Einsicht steht die Selbstbehaup-
tung des ,Staates', das bedeutet für Fichte die Selbstbehauptung seiner Nation. So
wird er für diese jenes Prinzip zu aktualisieren fordern - aber die nationalisierte
Vernunft sieht im Prinzip Napoleon nur »Rachsucht und Lugsucht. Er würde eine
neue Religion stiften, wenn er keinen anderen Vorwand hätte, die Welt zu unter-
jochen« 630 • An Napoleon sieht Fichte nur die andere, freiheitsfeindliche Seite, ohne
erkennen zu wollen, daß dies auch die andere Seite seiner eigenen Theorie ist. Von
der Gleichheit unter Napoleon ist nicht die Rede, Napoleon hat dem französischen
Volk nicht die Freiheit gebracht, er hat nicht einmal den Anfang gemacht, in dem
er sich >>an die Spitze der Nationalerziehung setzte<< -der Erziehung zur Freiheit.
»Dies hätte er getan, wenn ein Fünklein echter Gesinnung in ihm gewesen wäre.
Was er dagegen getan hat, wie er listig und lauernd die Nation um ihre Freiheit
betrogen, braucht hier nicht ausgeführt zu werden.« 631
Dreierlei wird hier sichtbar. Erstens bleibt in der über die politische Selbstbehaup-
tung des Staates neu dimensionierten Gleichheitsforderung ein revolutionärer Kern
erhalten. Die Nationalisierung des Bewußtseins Fichtes, von der noch ausführlich
gesprochen werden wird, hinderte ihn zweitens daran, die positive Verwirklichu~g
der Gleichheit, wie er sie selbst aus dem politischen Extremfall der Auseinander-
setzung mit anderen Staaten geschichtlich motiviert hatte, im Falle des napoleoni-
schen Reiches anzuerkennen. Nur die negative Seite der eigenen Theorie wird auf
den nationalen Gegner projiziert 632. Drittens aber wird in dem Zitat deutlich, auf
welche Weise in Fichtes Denken jene vom Staat hergestellte Gleichheit mit der Frei-
heit vermittelt wird_: im Begriff der Erziehung.
Im Revolutionskapitel war zu zeigen versucht worden, wie Fichte jenes, seine
Zeit tatsächlich bestimmende Ereignis der Revolution im Denken umsetzte, er dachte
die Revolution. So mußte seine Argumentation notwendig abstrakt werden - sie
war gerade darin der Ausdruck dieser Revolution, mit der Fichte sich im Denken
identifizierte. Aber in das revolutionäre Argument geht die Herkunftswelt nicht
ein; in der Systematisierung des abstrakten Arguments griff aufklärerische Ver-
nunft über sich selbst hinaus und gelangte so zu den totalitären Konsequenzen der
politischen Theorie von Fichtes mittlerer Zeit. Wie Fichte aber in der ersten Phase
seines Denkens die Revolution dachte, so dachte er in der späten Phase den Be-

63° VII, 552. Wenn unten der späte Fichte als der philosophische Napoleon - analog zum
philosophischen Jakobiner - charakterisiert wird, so sei hier schon im voraus darauf
verwiesen, daß sich für Fichte selbst in dem späten Fragment das Selbstverständnis als
Stifter einer neuen Religion aufweisen läßt. Vgl. dazu vor allem das in diesem Punkt
ausgezeichnete Buch von Arnold Gehlen: Deutschtum und Christentum bei Fichte, Berlin
1935.
63t IV, 430.
632 IV, 430. Dies ist der eigentliche Punkt, an dem die Ideologisierung von Fichtes Den-
ken nach 1800 anknüpfen muß, insofern er in ein Dualisieren verfällt, das, wie jedes
ideologische Konzept, etwas vom Atavismus der alten Sündenbocktheorie hat.
Spätere politische Theorie 139

freiungskrieg gegen Napoleon- die Selbstbehauptung seiner Nation 833. Aber die
Französische Revolution ist ein weltgeschichtliches Ereignis, der Befreiungskrieg ein
nationales. In der ersten Phase war der Ansatz notwendig abstrakt, aber ,zeit-
gemäß'; nur in der Erweiterung seiner Einseitigkeit auf das Ganze wuchs sich die
Theorie zu untragbaren Konsequenzen aus. In der späteren Phase ist der Ausgangs-
punkt konkret die nationale Selbstbehauptung, aber jetzt zeigt sich der usrprüng-
liche Ansatz als fatales Erbe- nationale Selbstbehauptung wird zum Menschheits-
anspruch gesteigert. Die sich aufdrängende Wirklichkeit verhilft dem Denken nur
vorübergehend zu Konkretion und ,Erdennähe'. Doch muß eben dazu noch einiges
angemerkt werden.

b) Die neue Dimension des Politischen


und die Grenzen der Konkretisierung
Mit dem Problem der Selbstbehauptung des Staates war eigentlich ,Politisch~s'
im Denken Fichtes aufgetaucht. Entsprechend wandelt sich auch die Bedeutung der
Ausdrücke ,Politik' und ,politisch' bei Fichte. Schon in den Anfängen der ,Grund-
züge' schreibt Fichte, daß die »politische Existenz« eines Staates, d. h. seine kon-
krete Verfaßtheit weder auf »Abstraktionen« (sie) noch auf Empirie aufgebaut
sein dürfe 834 • In der zehnten Vorlesung steht ,politisch' im Sinne von »thätiges und
wirksames Staat-Machen« 635, worin die technische Bedeutung aus dem Handels-
staat- Oberführung der Wirklichkeit in den Vernunftstaat- zwar enthalten ist,
aber doch einen Klang erhält, der diese Definition des Politischen durchaus in den
Bereich des Allgemeingültigen hebt. In der zwölften Vorlesung wird vom >>politi-
schen Charakter unseres Zeitalters<< gesprochen 636 , was bedeutet: »auf welcher
Stufe seiner Ausbildung der Staat in unserem Zeitalter stehe« 637 •
Der Begriff ,politisch' erfährt also eine Konkretion auf das Staatliche hin. Daß
er diese bei Fichte vor allem erfährt unter dem Gesichtspunkt der ,Selbstbehaup-
tung', zeigt seinen Zuwachs an Substanz - eine Freund-Feind-Dimension scheint
sich anzudeuten. Mit der Konkretion der Theorie auf bestimmte Staaten und deren
Selbstbehauptung muß nun auch der Krieg in der Theorie einen anderen Platz ein-
nehmen als bisher. Im Zusammenhang solcher Erörterungen kommt es bei Fichte
interessanterweise zu Bemerkungen, die erkennen lassen, wie vom Ausnahme-

833 »Fichte philosophiert immer nur aus Gelegenheit - auf jedes Incitament; hat eine
unendlich große philosophisme Erregbarkeit.« So Friedrich Schlegel über Fimte. Schlegel,
Werke, Hrsg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1963, Bd. 18, S. 251. Wil-
helm Wundt schrieb 1890 in diesem Sinne: »Wie in der ersten Periode die Fichtesche
Lehre die Sturm- und Drang-Periode verkörpert, so die zweite den Geist der Befrei-
ungskriege.« (Wundt, über den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte.
In: Deutsche Rundschau 1890, S. 36)
834 VII, 30.
835 VII, 154.
636 VII, 171.
837 VII, 183 steht ,Politik' nom einmal in der technischen Bedeutung der früheren Verwen-
dung. ,Politisch' in der Annäherung an ,staatlich' aber dann gleichfalls VII 160, 196, 198,
200. VII, 452: ,politische Selbständigkeit' im Sinne von ,staatliches Eigenleben.'
140 Menschheit und Nation

zustand her eine Bestimmung des Staates erfolgt, in der eine funktionale Trennung
von Staat und Gesellschaft auch in dieser Theorie in den Bereich des Möglichen
rückt. Am Anfang des zweiten Gesprächs über Patriotismus resumiert der Ge-
sprächspartner B., mit dem Fichte sich identifiziert, zunächst die Pflichten des
Staatsbürgers in Friedenszeiten. >> ... für diesen Zweck kann meinem noch immer
fortdauernden Erachten nach Keiner mehr leisten, als daß er an seinem Orte seine
Schuldigkeit genau ... vollbringe. Jedes Darüberthun würde in einem wohlgeordne-
ten und nach allen seinen Theilen genau ineinandergreifenden und genau berechne-
ten Staate nur Unordnung und Störungen verursachen.<< 638 Selbst wenn man sich
aus den früheren Schriften gegenwärtig hält, was Fichte unter einem ,genau berech-
neten' Staate versteht, in dem jeder ,seinen Ort' hat, so klingt diese Stelle gegen-
über den oben wiedergegebenen Bestimmungen des ,absoluten Staates' doch ver-
gleichsweise harmlos. Hier tritt nun die Bedeutung der Argumentation über den
Krieg ein und es wird klar, wie sehr die Theorie des Staates in Fichtes späten
Schriften eine Theorie der nationalen Selbstbehauptung, des Befreiungskrieses ist.
Denn: >>Wenn durch Krieg die Fortdauer der stehenden und festen Form, innerhalb
welcher allein alle Fortentwicklung des bürgerlichen Lebens möglich ist, gefährdet
wird ... « 639, müssen Leben, Eigentum und die ,ganze Kraft' jedes Einzelnen für
die Erhaltung des Staates überhaupt eingesetzt werden. »Was etwa z. B. für eine
bessere Grundorganisation noch zu tun sein möchte, zu erörtern, ist eben nicht an
der Tagesordnung, wenn der Boden aller wirklichen oder möglichen Organisation
schwankt.« 640 Letzteres meint konkret, daß alle Forderungen revolutionärer oder
auch reformerischer Art an die ,Constitution' im Augenblick des Angriffes von
außen zurückgestellt werden müßten; es kommt hier die fundamentale Erkenntnis
vom Staat als der Grundlage - ,minimum condition' - aller wirklichen oder mög-
lichen Entfaltung »des bürgerlichen Lebens«, der bürgerlichen Gesellschaft also,
zum Ausdruck. A~er auch dieser Ansatz kommt bei Fichte nicht zum Tragen; einer
begrifflichen Trennung von Gesellschaft und Staat war in der bisherigen
Theorie zu stark entgegengearbeitet. Vor allem läßt sich feststellen, daß diese
Theorie des Ausnahmezustandes, die die Erkenntnis des Staates als ,minimum
condition' ermöglicht hätte, von Fichte sogleich wieder so ins Grundsätzliche
erhoben wird, daß sie schließlich - auf dem Wege über die Selbstbehauptung -
auch wieder zur Theorie des ,absoluten Staats' hinführt. »Krieg aber ist nicht nur
wenn Krieg geführt wird, sondern die allgemeine Unsicherheit Aller vor Allen,
und die daraus erfolgende immerwährende Bereitschaft zum Kriege ist auch Krieg
und hat für das Menschengeschlecht fast dieselben Folgen als der geführte Krieg.«6 41

638 III, 248.


639 III, 249.
640 III, 249.
64t VII, 165. In dem fragmentarischen Entwurf zu einer politischen Schrift vom Frühjahr
1813 (VII, 546 ff.) trifft Fichte die für seine späte politische Theorie wichtige Unter-
scheidung des ,wahren' Krieges, der ,Volkskrieg' sei vom ,Krieg der Landesherren'.
(VII, 551) In diesem Fragment, das unmittelbar nach dem Aufruf ,An mein Volk'
geschrieben ist, kommt der revolutionär-demokratische Ansatz Fichtes noch einmal voll
zum Tragen. Vgl. dazu aber Abschnitt III, 3, b dieser Arbeit.
Spätere politische Theorie 141

Dieser Zustand eines ,kalten' Krieges war ja aber von Fichte als der natürliche und
notwendige zwischen den europäischen Staaten angeführt worden, der überdies noch
mit dem ,Gattungszweck' übereinstimme. In zweifacher Hinsicht ist also der Ein-
zelne ,vom Staat durchdrungen'; auf der niederen Ebene der politischen Selbst-
erhaltung, insofern alle seine Kräfte in Anspruch genommen werden müssen, auf
der höheren Stufe insofern der Staat seinen aus der Fundamentalgarantie abgeleite-
ten Anspruch des Ausnahmefalls im Normalfall, im Frieden ja nicht zurücknimmt
(was eine wohlverstandene liberale politische Theorie ergeben würde), sondern da
erst recht seinen umfassenden Zwang zum »höheren, geistigen Leben« 6 42 geltend
macht, wie aus den Bestimmungen des ,absoluten Staates' klar hervorgeht.
In dem Zusammenspiel von Vernunftzwecken der Gattung und dem primär auf
Selbsterhaltung__gehenden Zwecke des Staates, welche prästabilierte Harmonie erst
den oben zitierten Satz >>denn sein (des Staates) Zweck ist die Kultur« verständlich
macht, geht aber die Subjektivität trotz aller theoretischen Bemühung~n noch nicht
auf. Der Zwangscharakter des Staates ist von Fichte zu eindeutig deduziert wor-
den, als daß die Oberwindung des Dualismus von dieser Seite der ,Durchdringung
des Einzelnen vom Staate' völlig geleistet werden könnte. In der elften Vorlesung
der ,Grundzüge' heißt es: »Die höheren Zwecke der Vernunftcultur, Religion, Wis-
senschaft, Tugend können nie Zwecke des Staates werden.« 643 Gerade in bezug
auf die Tugend ist die Weiterführung des Arguments aufschlußreich. Denn »im
vollendeten Staat findet der Tugendhafte alles auf die Gesellschaft sich Beziehende,
was er liebt und allein zu tun begehrt, auch äußerlich schon geboten« und umge-
kehrt: »in diesem Staate läßt sich über das Gebotene nie hinausgehen und es ist nie
zu ermessen, ob jemand aus Liebe des Guten, oder ob er aus Furcht der Strafe und
mit Widerwillen recht handle« 644 • Folgerichtig schließt diese Rede mit einem Hym-
nus auf diese rein innerliche Liebe, die »nur zufällig mit dem Gesetz des Staates
übereinstimmt« 645 • Diese reine Innerlichkeit der Subjektivität, die nie gesellschaftlich
relevant wird, kann also nicht unter die Zwecke des Staates fallen, wird von der
,Durchdringung des Einzelnen vom Staate' nicht erfaßt. Folgerichtig wird der letzte
Ansatz in Fichtes Denken der Versuch sein, von daher, also von dieser ,Liebe' her,
sowohl echte Intersubjektivität zu stiften als auch die so bestimmte Subjektivität
mit dem ,Staat'- über die Liebe zur Nation- endgültig im .Reich' zu verschmelzen.
042 III, 249.
843 VII, 166.
044 VII, 169.
us VII, 170. Diese ,zufällige' Koordinierung des in dieser ,Liebe' entflammten ,Gemüthes'
verlegt den Akzent der politischen Theorie doch wieder sehr stark auf dieses, vor allem,
wenn es weiter heißt: »Diese Liebe, so wie sie das einige Unvergängliche ist und die
einige Seligkeit, so ist sie auch die einige Freiheit; und nur durch sie wird man der
Fesseln des Staates, sowie aller anderen Fesseln die uns hienieden drängen und beengen,
erledigt. Wohl den Menschen, daß sie für diese Liebe nicht die nur langsam sich vorbe-
reitende Vollendung des Staates zu erwarten haben sondern in jedem Zeitalter und unter
allen Umständen jedes Individuum sich zu ihr erheben kann.« Dieser Freiheitsbegriff des
späten Fichte wurde von Oestereich als Überwindung der »artfremden liberte« gefeiert.
(Oestereich, a.a.O., 95 u. 96.) Zu dieser Umfunktionalisierung der revolutionären Begriffe
im Denken Fichtes vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, a.a.O.,
196 ff.).
142 Menschheit und Nation

c) Der Aufsatz über Machiavelli


Mit größter Deutlichkeit hat Fichte alle seiner Theorie aus der Zuwendung zur
aktuellen geschichtlichen Wirklichkeit zuwachsenden Tendenzen zusammengefaßt in
dem Aufsatz über Machiavelli aus dem Jahre 1807 646 • Nach Walz hat Hans Freyer
diese kleine ,Gelegenheitsschrift' eigentlich für die Fichte-Forschung entdeckt und
ihre Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben 6 47. Dieser Aufsatz ist in der Tat eine
der großen Leistungen deutscher politischer Publizistik. In der Direktheit des poli-
tischen Appells ist er höchstens noch mit der ganz frühen ,Zurückforderung der
Denkfreiheit' von 1793 zu vergleichen. Wohl gerade wegen der offenkundigen
direkten Bezogenheit auf politische Tagesereignisse ist dieser Aufruf an die preu-
ßische Regierung zu entschlossener nationaler Selbstbehauptung in der Tat, wie
Freyer bemerkt1 von der älteren Fichte-Forschung vernachlässigt worden 648 • Der
Charakter der unmittelbaren Zeitbezogenheit läßt allerdings auch zunächst keine
durchgeformte Weiterführung der politischen Theorie erwarten. Im Zusammenhang
mit der hier aus den ,Grundzügen' vor allem entwickelten Fichteschen Theorie der
nationalen Selbstbehauptung ergibt sich auch kaum eine Überraschung 649 • Was in
diesem Aufsatz über das Bisherige hinausgeht, ist mehr eine gewisse Oberspitzung
der Selbstbehauptungstheorie, wie es in einer auf unmittelbare politische Wirkung
berechneten Schrift auch nicht anders zu erwarten ist. Als Beispiel für diese Ober-
spitzung mag gelten, daß Fichte etwa die Unentschlossenen, ,von einer gewissen
Zeitphilosophie Angekränkelten' unter anderem beschuldigt, >>ganz besonders aber
verliebt in den ewigen Frieden<< zu sein 65°. Selbstverständlich ist dies keine grund-
sätzliche Abkehr Fichtes von dem Gedanken des >>wirklichen, d. h. ewigen Frie-
dens<< 651 • Das Beispiel soll erkennen lassen, wie weit Fichte in einer aktuellen
Kampfschrift gehen konnte, und mit welcher Vorsicht solche Kußerungen zu neh-
men sind, wenn sie sich nid1t auch aus anderen Schriften belegen lassen. In diesem
Sinne erscheint der Machiavelli-Aufsatz als eine- in ihrer Eindeutigkeit leicht irre-
führende - Zusammenfassusng der Tendenzen, die Fichtes Denken nach Abschluß
des ,Handelsstaates' eingeschlagen hatte, aber kaum als neuer Zuwachs an Theorie.
Gerade die Bemerkungen, in denen Fichte am weitesten geht, stellen nichts anderes

646 Fichtes: >>Über Machiavelli als Schriftsteller und Stellen aus seinen Schriften<< erschien
zuerst im Sommer 1807 in dem ersten Heft der von Ferdinand von Schroetter und Max
von SdJ.enkendorf herausgegebenen '' Vesta«.
647 Einen Abriß der Deutungsgeschichte dieses Aufsatzes gibt Freyer: über Fichtes Machia-

velli-Aufsatz, Leipzig 1936.


648 Freyer, a.a.O., S. 4.
649 Freyer meint a.a.O., S. 5 noch, daß die Bedeutung dieses Aufsatzes vor allem darin liege,

daß Firnte hier »Zum ersten Male den Machttrieb des Staates als natürlichen und heil-
samen Lebenstrieb anerkannt und in den Zusammenhang seiner sittlichen Weltanschau-
ung eingestellt habe. »Abgesehen von der ProblematisdJ.en Verwendung von ,Trieb' in
diesem Zusammenhang sei hier verwiesen auf die Darstellung des politischen Selbst-
behauptungsgedankens schon aus den ,Grundzügen'. Insofern ist Walz zuzustimmen,
wenn er gegen die älteren Interpretationen den engen systematischen Zusammenhang des
Machiavelli-Aufsatzes mit Fichtesanderen Werken behauptet (a.a.O., 612).
650 rri, 428.
651 VII, 165.
Spätere politische Theorie 143

dar als eine vergröberte Wiedergabe von Gedanken aus den Grundzügen 65 2 • Die
Schlußbemerkung Fichtesam Ende des ersten Teils der Machiavelli-Schrift soll unter
diesem Gesichtspunkt noch näher betrachtet werden: >>Seit der französischen Revo-
lution sind die Lehren vom Menschenrecht und von der Freiheit und ursprünglichen
Gleichheit Aller- zwar die ewigen und unerschütterlichen Grundfesten aller gesell-
schaftlichen Ordnung, gegen welche durchaus kein Staat verstoßen darf, mit deren
alleiniger Erfassung man aber einen Staat weder errichten noch verwalten kann -
auch von einigen der Unsern, in der Hitze des Streites mit einem zu großen Accente,
und als ob sie in der Staatskunst noch weiterführten als sie es wirklich tun, behan-
delt ... worden ... Nun hat man zwar nicht ermangelt, das Fehlende in mancher-
lei Form nachzuholen ... « 653
Zweifellos meint Fichte hier auch sich selbst, dreierlei geht also aus dieser Stelle
hervor: Erstens kann von keiner Zurücknahme der Inhalte, die in die Theorie aus
dem revolutionären Ansatz eingingen, die Rede sein. Nun scheint die Feststellung,
die in dieser Untersuchung getroffen ist, daß nämlich das Hinausgreifen über jene
Ansätze, »als ob sie in der Staatskunst noch weiter führten, als sie es tatsächlich
tun<<, erst Fichte zu den totalitären Konsequenzen geführt habe, hier von Fichte
selbst revidiert. Dazu muß aber zweitens im Blick gehalten werden, in welcher Form
von Fichte >>das Fehlende nachgeholt<< worden ist. Es ist hier keine Zurücknahme
des Revolutionären, sondern nur dessen Ergänzungsbedürftigkeit ausgesprochen.
Die Theorie des ,absoluten Staates', die hier dargestellt wurde, geht ja außerdem
über den ,Handelsstaat' noch hinaus. Und zwar, und das ist das Dritte, im Sinne
einer Ergänzung, was die >>Grundlage aller möglichen gesellschaftlichen Organi-
sation<< angeht im Sinne der Theorie der Selbstbehauptung der Staaten und der
Rechtfertigung dieser aus dem vernünftigen Gittungszweck, die den puren Selbst-
behauptungswillen >>über die Gebote der individuellen Moral in eine höhere sitt-
liche Ordnung hebt<< 65 4 • »Diese ernstere und kräftigere Ansicht der Regierungs-
kunst tut es nun, unseres Erachtens, Noth, bei unserem Zeitalter zu erneuern.<< 655
Diese Tendenz, das ,Zeitalter' anzusprechen, ist nun aber, wie aus der ganzen Schrift
und aus dem bisher Gesagten hervorgeht, hier keineswegs ernst zu nehmen. Der
kräftige Selbstbehauptungs- und Durchsetzungswille etwa des napoleonischen
Frankreich reicht ja nach Fichte keineswegs in eine ,höhere sittliche Ordnung' hinein.
Damit soll auf den folgenreichen Umschlag der politischen Theorie Fichtes erneut
hingewiesen werden, für den der Machiavelli-Aufsatz allerdings ein markanter
Hinweis ist. Im Revolutionskapitel war gezeigt worden, wie die scheinbare All-
gemeinheit der Position Fichtes in ihrer Abstraktheit die Theorie vereinseitigte.
Jetzt hat die allgemeine Selbstbehauptungstheorie der Staaten, so nachdrücklich auf
den einen und eigenen angewandt, zur Folge, daß diese Wendung in alles zukünf-
tige Denken Fichtes, dies bestimmend, eingeht. Einmal auf die eigene Nation fest-

652 Vgl. etwa III, 423 mit den hier aus den ,Grundzügen' dargestellten Gedanken der
nationalen Selbstbehauptung.
653 III, 428.
654 II, 427.
655 Ebda.
144 Menschheit und Nation

gelegt, kann Fichte nicht mehr dahinter zurück, die wiedereinzuholende Allgemein-
heit der Theorie gelingt dann nur, insofern das einmal in das Denken eingegangene
Partikulare zum Allgemeinen erhoben wird - Fichte wird zum Denker der Mensch-
heit in der Nation und der nationalisierten Menschheit.

4. Mensd:!heit und Nation

»Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist dieser, daß sie in demselben alle
ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.« 656
Dieser Begriff von ,Menschheit'- »diese Menschheit als Gattung genommen« 857 -
ergibt sich ohne weiteres aus Fichtes Denken bis zu diesem Zeitpunkt. Der ganze
revolutionäre Ansatz argumentierte im Namen der ,Menschheit' gegen die fixierte
Herkunftswelt. So war der Begriff der Gesellschaft in den frühen Schriften Fichtes
nichts anderes als ,Menschheit', insofern der Mensch als vergesellschafteter auftrat.
Das das Denken bestimmende Menschheitsereignis der Revolution wurde nun in
der zweiten Phase von Fichtes Denken durch das nationale Ereignis der Fremd-
herrschaft und deren Abwehr ergänzt. Die Menschheit konkretisierte sich Fichte zur
Nation. Im Fragment aus dem Jahre 1807 findet sich die Wendung: »die Mensch-
heit in der Nation« 658. Im Zuge der Aufnahme echtpolitischer Gesichtspunkte in
die Theorie - vor allem des Gedankens der Selbstbehauptung - kommt in den Blick
die konkrete historische Verfaßtheit der Menschen in verschiedenen Staaten. Mit
dem Begriff der Nation aber ist dieser pluralistische Tatbestand schon der ~ntention
nach überwunden. Denn da es sich nicht darum handelt, mit ,Nation' nur deskriptiv
- wie mit ,Staaten' - das konkrete Aufgeteiltsein der Menschheit sachlich zu be-
zeichnen, wird bei Fichte im Begriff der Nation im konkreten Teil die Aufhebung
des Geteiltseins als solchen mitgedacht; Nation ist ihm ein dynamischer Begriff,
die Einzigartigkeit ist mit angesprochen; damit ist die Tendenz des Begriffs auf
,die Nation schlechthin' gegeben. So ist ,Staat' und ,Staaten' in Fichtes späterer
Theorie konkret-deskriptiv zu verstehen; gemeint ist dann das wirkliche Mit- und
Gegeneinander wirklicher politischer Einheiten, das immerhin zu einem ,Gleich-
gewicht' führen kann; ,_Nation' aber nimmt den Menschheitsgedanken bewußt auf
und wird so abstrakt-dynamisch auf Oberwindung des Pluralismus hin gedacht; also
in hohem Maße nicht durch den Gedanken des Gleichgewichts, sondern durch den
des Übergewichts ausgezeichnet. Die beschränkte und aus möglicherweise niederen
Motiven stammende Selbstbehauptung der Staaten, die nur durch die eigentlich
wirksame Gattungsvernunft dem Zweck der Menschheit dienen konnte, wird im
Begriff der Nation mit diesem Zweck der Menschheit bewußt zusammengedacht-
Obergang von der politischen Selbstbehauptung zur ideologischen Selbstbehaup-
tung. In der Theorie, die keine begriffliche Trennung von Gesellschaft und Staat
vornimmt, muß die Tendenz der Gesellschaft auf ,Menschheitsgesellschaft' notwen-

858 VII, 7.
657 Ebda.
858 VII, 532.
Menschheit und Nation 145

dig zu einem direkten politischen Anspruch werden, auch wenn das Humanitär-
Weltbürgerliche noch so sehr betont wird. Im Begriff der ,Nation' wird also nicht
nur jene Zweiheit Gesellschaft-Staat überspielt, sie führt eben deswegen auch
dazu, im Ausgang von der Menschheit diese Menschheit politisch ,aus einem Punkte
zu kurieren'. Jn dem ersten Gespräch über Patriotismus ist die Problematik noch
folgendermaßen gefaßt: »Wo irgend der herrschende Wille ist, daß der Zweck des
Menschengeschlechtes erreicht werde, da bleibt dieser Wille nicht unthätig, sondern
er bricht aus, arbeitet und wirkt nach seiner Richtung. Er kann aber nur eingreifen
in die nächsten Umgehungen, in denen unmittelbar als lebendige Kraft er lebt und
da ist. So gewiß er nun in irgendeinem Staate lebt, so stehen diese Umgehungen
unter den Wirkungsmöglichkeiten des Staates, in dem er lebt, welcher Staat durch
seine eigene organische Einheit sich scheidet von der übrigen Welt.... Und so wird
dann jeglicher Kosmopolit, ganz notwendig, vermittelst seiner Beschränkung durch
die Nation, Patriot, und jeder, der in seiner Nation der kräftigste und regsamste
Patriot wäre, ist eben dadurch der regsamste Weltbürger, indem der letzte Zweck
aller Nationalbildung doch immer der ist, daß diese Bildung sich verbreite über das
Geschlecht.« 659
Ober die Wirklichkeit der Staaten, die, des Gattungszweckes unbewußt, sich als
solche politisch selbst behaupten - Punkt der größten Erdennähe -, konkretisiert
sich der vernünftige Wille zum Menschheitszweck in dem Wirken innerhalb dieser
Staaten. Aber der abstrakte Ansatz schlägt durch die konkrete Bestimmung durch-
der gute Patriot ist der gute Weltbürger, aber nicht einfach in dem er das erstere ist,
sondern insofern er das letztere erstrebt 660,

859 111, 229.


880 Der Hegemonieanspruch erscheint vor allem in den Ietzen Seiten des ,Entwurfs' (VII,
571 ff.) als Bildungsanspruch und Hoffnung für die Zukunft. Politism aber ergibt sim
dann doch das Postulat des ,Deutsmen Reiches'. Das Problem von Fichtes Begriff der
Nation und seiner weltbürgerlichen Dimension ist bekanntlim ausführlim von Meinecke
behandelt worden. (Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Aufl. München u. Berlin
1928, S. 93 ff.) Mit Recht weist M. auf die, aus dem revolutionären Ansatz erwamsende
weltbürgerliche ,Vernunftnation' hin. Aber obgleich er andererseits das politisch-kon-
krete Element etwa des Machiavelli-Aufsatzes stark hervorhebt, kommt es bei ihm
nicht zu einem Zusammendenken des ,gesellschaftlichen' und des ,politismen' Nation-
begriffs. Metzger, der sich an Meinecke anschließt, mömte den letzteren sogar als Fichtes
Denken völlig fremd ansehen (vgl. a.a.O., 188): er weist darauf hin, daß Fichte bereits
im ,Handelsstaat' »den ethischen Wert des nationalen Elements« betone. Daß der ,ge-
sellsmaftliche', also weltbürgerliche Charakter des Nationbegriffs erhalten bleibt, hindert
Fichte ja nicht, ihn mit dem politischen zusammenzubringen, eben weil er Gesellschaft
und Staat nicht trennte. Das hatte aber zur Folge, daß einerseits dies Weltbürgerliche zum
politischen Anspruch wurde, der andererseits als dieser auch zur Weltgeltung streben
mußte. So gehen die ganzen Ansprüme ernsthafter Autoren, Fichtes Nationalismus
politisch zu entsmärfen, und ihn zum ,ethismen' und ,Bildungs'-Nationalismus zu inter-
pretieren, an der einen Seite von Fichtes Nationbegriff vorbei, die die chauvinistisme
Inanspruchnahme Fichtes doch wohl nicht so inadaequat machte.
So schreibt Richard Kroner 1920 (Der soziale und nationale Gedanke bei Fichte, Frei-
burg und Leipzig 1920): », .• so ist er auch der Erste, der den Gedanken der Nation mit
philosophischem Inhalt erfüllte, indem er in ihm den Reichtum und die Idealität des
Menschheitsgedankens wiederfindet« (13). Ein weiteres Beispiel für die nur ,gesellschaft-
146 Menschheit und Nation

So gehen schließlich alle bisher mit dem Begriff der Menschheit verbundenen
Bestimmungen und Zwecke auf den Begriff der Nation über. Die Tendenz des
Nationbegriffs, immer schon ,meine Nation' bzw. ,unsere Nation' mit zu vergegen-
wärtigen, muß sich zusammen mit der Beladung mit Menschheitsansprüchen und
bei mangelnder Unterscheidung des Gesellschaftlichen vom Politischen notwendig
zu einer gefährlichen Dynamik auswachsen. Diese Tendenz des Begriffs der Nation
auf ,Deutsche Nation' ist aber bei Fichte so hervorstechend, daß sich Aussagen über
,Nation im allgemeinen' kaum finden. Nur etwa in folgender Stelle aus der achten
,Rede' ist in einem allgemeinen Sinne von ,Nation' die Rede. Dort ist die Liebe zur
Nation (zum Vaterland) als die Verknüpfung des Einzelnen mit der Menschheit
bezeichnet 661 • In der Liebe zum Vaterland durchdringen sich »Himmel und Erde,
Unsichtbares und Sichtbares« und »erschaffen ... so erst einen wahren und gedie-
genen Himmel« 662 • Die Überhöhung der Nation in das Ewige zeigt nirgendwo so
eindeutig ihren Stellenwert im Gesamtdenken Fichtes wie hier, denn wer um diesen
»wahren und gediegenen Himmel<< weiß, der »kämpft bis auf den letzten Bluts-
tropfen« für seine Erhaltung uua. Hier wird besonders deutlich, wie sich der Druck

liehe' Interpretation des Nationbegriffs, die ja selbst durch dessen immer auch politischen
Charakter auch bei besten Absichten doch in ein nationalistisches Licht gerät, ist Julius
Binders Aufsatz: Fichte und die Nation, Logos, X, 1922. Fichte habe Nation »als eine
unzerstörbare Wesenheit begriffen« (306) die ,Reden' sind demnach »eine Offenbarung
der ewigen Vernunft« (307), deren Zusammenhang mit der Wissenschaftslehre' Binder
ständig hervorhebt. Walz vertritt dagegen schon nationalistisch im negativen Sinne die
These, daß Fichtes Nationbegriff noch unvollkommen sei, insofern »er mit seinem
niemals abgelegten rein rationalem Begriffsapparat die letzten individualistisch-organi-
schen romantischen Erlebniswerte der Gemeinschaftsidee des Einordnungsverhältnisses
nicht völlig zu meistern imstande ist« (a.a.O., 646). Ferner: »Die letzten irrationalen
Kräfte der Rasse, der Blutsgemeinschaft zu erfassen, ist dieser Rationalist niemals im-
stande« (647). Haymann hatte 1924 das ,Nationale' als die eigentliche Leistung Fichtes
hervorgehoben. Der Kosmopolitismus des späten Fichte widerspreche nicht dem des frühen
(a.a.O., S. 91). Auch hier ist die Gefahr aus der Politisierung des späten Nationbegriffs
Fichtes nicht gesehen, der in undifferenzierter Vorwegnahme Hegels nur die eigene
Nation als ,Geschäftsträger des Weltgeistes' gelten lassen wollte.
661 Nirgendwo scheint Fichte sich von seinem Ausgangspunkt so unvermittelt weit entfernt

zu haben, wie in NW III, 426/27. Das Ausspielen von ,Nation' gegen ,Menschheit'
würde, als solches verstanden, den Machiavelli-Aufsatz Fichtes in der Tat in unglaub-
licher Weise aus Fichtes ganzem bisherigen Denken herausheben. Wäre nun dies ein
Grund, ihn entweder zu vernachlässigen oder ihm gerade die höchste Bedeutung zuzu-
messen, so zeigt eine genauere Betrachtung der Stelle, daß ,Menschheit' in dem dem Für-
sten in den Mund gelegten Argument in einer anderen Bedeutung steht als ,Menschheit'
im Sinne des Ansatzes von Fichtes Denken. Diese scheint gerade mit Nation verbunden,
jene aber wird deutlich, wenn es im Text heißt: »Ich habe an Menschheit, ich habe an
Treue und Redlichkeit geglaubt« und etwas weiter sogar: »er habe an Menschen
geglaubt«. Dagegen stehen in dem Argument auf Seiten der ,Nation' »die edelsten Be-
sitzthümer, welche die Menschheit in tausendjährigem Ringen erworben hat ... «
(NW III, 427). Dieser Sinn von ,Menschheit' auf dem hier das Gewicht liegt, fällt aus
dem bisherigen Denken Fichtes keineswegs heraus - insofern die Menschheit in der
Nation bereits vorbereitet ist, jener ist aber nur ein, auch in Fichtes Sinne, undeutlicher
Sprachgebrauch.
862 VII, 383.
863 VII, 384.
Menschheit und Nation 147

des ,Ausnahmezustandes', den die Fremdherrschaft verursachte, einerseits, und die


Intention der Überwindung des Dualismus Subjektivität-,Staat' andererseits, ver-
einigen und zu der dynamisch-nationalistischen Theorie des späten Fichte führen.
Der Staat »im gewöhnlichen Sinne des Wortes« 66 4 will gewisses Recht, innerlichen
Frieden und daß jeder durch Fleiß seinen Unterhalt und die Fristung seines sinn-
lichen Daseyns finde«. über diese Bestimmungen »liegt« Volk und Vaterland,
Nation »weit hinaus« 665. Der Begriff der Nation funktioniert im Denken Fichtes,
also ,über den Staat hinaus' als der Gegenstand der Liebe, jener Liebe, die die Ver-
schmelzung des Einzelnen mit dem Allgemeinen, und zwar von jenem her zustande
bringt. Diese Liebe bleibt aber die Kategorie einer erstrebten Unmittelbarkeit der
Subjektivität,und_ihre Übertragung auf Bereiche, die sich der Subjektivität schlecht-:
hin- nach den Voraussetzungen von Fichtes eigenem Ansatz -entziehen, wie de.r
des Staates, muß eine ideologische Entleerung des Begriffs bewirken. In dem Maße,
in dem sich das Problem der einen Nation von dem der Französischen Revolution
unterscheidet, in diesem Maße bezeichnet Fichtes Denken, insoweit es sich um
Nation sammelt, eine Abkehr von der Philosophie. Dies würde auch für Fichtes
Selbstverständnis zutreffen, deshalb ergibt sich die Konsequenz, daß das nationale
Ereignis zum weltgeschichtlichen hinaufinterpretiert werden muß.
Um zu dem Kern des Problems der Nationalisierung des Bewußtseins vorzudrin-
gen (das ja zu dieser Zeit keineswegs auf Fichte allein beschränkt war), sei noch
einmal auf die bereits zitierte Untersuchung von Tenbruck verwiesen 66 6. Fichtes
Denken fiel in die Zeit eines sich wandelnden sozialen Selbstverständnisses. Ten-
bruck hat aufgezeigt, daß die soziologischen Bedingungen des klassischen deutschen
Bildungsbegriffs in einer Umorientierung des gesellschaftlichen Bewußtseins von
bisherigen Kleinstrukturen zu umgreifenden Großstrukturen gesehen werden muß.
Vorbereitet wurde diese Umorientierung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses
aber über die die Grenzen der Kleinstaaten übergreifende Kommunikation der
damaligen Gebildeten 667 • Wie nun die klassische Bildungstheorie in diesem sozialen
Bewußtseinswandel ihren sozialen Hintergrund hat, so ist das Sichbeziehen auf die
Nation als das über den Staat Hinausgehende die unausbleibliche andere Seite.
Fichte handelt von diesem die deutschen Verhältnisse seiner Zeit charakterisierenden
Verhältnis von konkreter Staatlichkeit und Nationbegriff in der achten ,Rede'.
»Wie nur noch bei den Griechen der alten Zeit war bei ihnen (den Deutschen) der
Staat und die Nation voneinander sogar gesondert, ... der erste in den besonderen
sichtbaren Reichen und Fürstenthümern - der letzte sichtbar im Reichsverbande,
unsichtbar ... in einer Menge von Gewohnheiten und Einrichtungen. So weit die
deutsche Zunge reichte, ... konnte jeder sich doppelt betrachten als Bürger theils
seines Geburtsstaates ... theils des ganzen gemeinsamen Vaterlandes deutscher
Nation. Jedem war es verstattet, über die ganze Oberfläche dieses Vaterlandes hin

884 Ebda.
885 Ebda.
888 Vgl. oben, S. 234, A. 3. Zur Frage des Nationalismus auch bei den Zeitgenossen Fichtes

vgl. vor allem Meine<ke, a.a.O. Außerdem sehr gut Binder, a.a.O., 283 ff. und auch
Haymann, a.a.O., 89 f und 109 f.
887 Die Zusammenhänge sind von Fichte sehr genau erkannt worden. Vgl. VII, 571/72.
148 Menschheit und Nation

sich diejenige Bildung, die am meisten Verwandtschaft zu seinem Geiste hatte, oder
den demselben angemessensten Wirkungskreis aufzusuchen ... und so fand denn,
bei manchen Einseitigkeiten und Engherzigkeiten der besonderen Staaten, dennoch
in Deutschland, dieses als Ganzes genommen, die höchste Freiheit der Erforschung
und der Mittheilung statt, die jemals ein Volk besessen; und die höhere Bildung war
und blieb allenthalben der Erfolg aus der Wechselwirkung der Bürger aller deut-
scher Staaten ... « 668
Die Bildung als Vehikel des Nationalbewußtseins ist also von Fichte klar erkannt,
dies geht mit jener von da ab eine unauflösliche Verbindung ein 696 • Aus der Stelle
wird aber umgekehrt auch deutlich, daß als Grundlage der höheren Bildung die
Nation gelten muß, insofern sie die Einzelstaaten umgreift. Die historische Tatsache
der Aufteilung des deutschen Sprachgebietes in mehrere Staaten hat für Fichte die
Folgen, daß Nation ihm immer als das Größere und Höhere und Eigentlichere, dem
Staat überlegene erscheinen wird 670 • Hier liegen eine Reihe von möglichen Ansät-
zen einer politisdlen Theorie, die etwa das Heraufbilden der Staaten zu Nationen
fordert in dem Sinne der Verbreitung der höheren Bildung und die in dieser Bil-
dung mit ihrer auf Menschheit geridlteten Tendenz ein die einzelnen Staaten über-
greifendes sieht, das geeignet ist, Menschheitsverständnis und Frieden herbeizufüh-
ren.
Aber wie Fichte im ökonomisch-Gesellschaftlichen die Tendenz zur Weltbürger-
schaft durch die Borniertheit des ,Geschlossenen Handelsstaates' absdlnitt, so die
Möglichkeit einer umfassenden Welt-Bildungsbürger-Idee durdl das Zusammen-
denken von Gesellsdlaft und Staat und so von Bildung und politischem Nation-
begriff, der in der Entwicklung dieses Denkens zum eigentlidlen wird; in der Konse-
quenz wird aus der Menschheit die Deutschheit.
Bei der Erwähnung von Fichtes Bildungstheorie war mit Schelsky festgestellt
worden, daß diese Theorie der Bildung zu einer praktischen Klassentheorie führe,
da die wissenschaftlich Gebildeten vom Volk sidl absonderten. Volk als Gegenüber
entweder der Regierung oder eben der Gelehrten ist zunächst bei Fidlte durch-
gehend zu finden. 1795 schreibt er: »Die Gemeine darf das Zwangsrecht nidlt
unmittelbar durch sich selbst ausüben ... Sie muß sonach die Ausübung desselben
es sei einem Einzelnen oder einem ganzen Corps übertragen, und wird durdl diese
Absonderung erst Volk (plebs).« 671 Noch in der Machiavelli-Sdlrift von 1807 ist
an einer Stelle vom Gegensatz Fürst- Volk die Rede; Volk also in der Bedeutung
der Gesamtheit der im Staat zusammengefaßten Bürger, soweit sie nidlt Regierung
sind, ist zunächst ein sachlicher Wortgebrauch, der sich auch in diesem Sinne bei
Fichte durdlhält 672 • Problematisdler wird Fidltes Auffassung von ,Volk' schon da,
wo Volk als Klasse gegenüber den ,Gelehrten' auftritt. Aber diesen in der Theorie
notwendig sich ergebenden Unterschied istFidlte selbst ständig bemüht, auszuglei-
chen, vor allem durch den vermittelnden Stand des ,Volkslehrers' (der übrigens ver-

668 VII, 392/93.


&69 Vgl. VII, 568/71.
6 70 Vgl. auch VII, 528. Vgl. dazu auch Meinecke, a.a.O. 59 u. 130.
671 VII, 432.
m Vgl. VII, 546.
Menschheit und Nation 149

pflichtet wird, den Unterricht stets an die Bibel anzuknüpfen) 873 ; und später durch
die ins Grundsätzliche erhobene Theorie der Nationalerziehung. über diese Erzie-
hung bzw. über die Erziehbarkeit der Deutschen führt nun der Denkweg zu dem
•Volks'begriff des späten Fichte und seiner Stelle in der Theorie.
In der vierten ,Rede' ist in einer Zusammenfassung der Obergang vom sachlichen
zum ideologischen Volksbegriff deutlich ausgedrü<kt: »Beim Volke der lebendigen
Sprache greift die Geistesbildung ein ins Leben ... Aus demselben Grunde ist es
einem Volke der ersteren Art mit aller Geistesbildung rechter eigentlicher Ernst ...
Was aus allem zusammenfolgt: In einer Nation von der ersten Art ist das große
Volk bildsam, und die Bildner einer solchen erproben ihre Entde<kungen an dem
Volke und wollen auf dieses einfließen.« 674 Im letzten Satz ist von der Bildsamkeit
des ,großen Volkes' die Rede, hier in der Bedeutung wie ,der große Haufe' an einer
anderen Stelle 675 , Volk also im Gegensatz zu den Gebildeten, die gleichzeitig auch
die ~Bildner' sind. Andererseits ist aber Volk hier schon synonym mit ,Nation'
gebraucht, >>eine Nation von der erstern Art« meint das »Volk der lebendigen
Sprache« am Anfang des Zitats.
Bildsamkeit des ganzen Volkes, Ernsthaftigkeit der Geistesbildung, zu der sich
dann noch ,Gemüth' gesellt 676, charakterisieren das »Volk der lebendigen Sprache«
bzw. diese Nation. Es war oben schon die Tendenz in der Verwendung des Begriffes
Nation angedeutet, die in die Richtung der einen Nation ging. Hier wird nun
Nation mit ,Volk' synonym; erst in dieser Verknüpfung wird die Entwi<klung, die
von ,Nation' zu ,Deutsche Nation' führt und die in der Behauptung der Einzig-
artigkeit und Menschheitsbedeutung der einen Nation gipfelt, zwingend. ,Volk'
mußte also seinen Klassencharakter aufgeben und zur ,Nation' erhoben werden, was
zunächst nichts anderes ist als der demokratische Grundgedanke der Theorie 877•
Es zeigt sich aber, daß ,die Nation' erst als ,Volk der lebendigen Sprache' jene Züge
erhält, die zu den Konsequenzen des Denkens des späten Fichte führen.
Alle in dem oben gegebenen Zitat angesprochenen Vorzüge, denen ebensoviel
Nachteile bei einem Volk ,unlebendiger Sprache' entsprechen, finden sich bei den
Deutschen als dem einzigen europäischen Volk ,lebendiger Sprache'. Die Sprach-
theorie Fichtes soll und kann nicht erörtert werden 878, hier müssen seine Thesen und
vor allem die Folgerungen aus diesen genügen. Die These sei hier zitiert in der
Formulierung am Anfang der fünften ,Rede'; in dieser Formulierung kommt gleich-
zeitig das Umwillen, das Interesse, das dieser These zugrunde liegt, zum Ausdru<k.
»Zum Behuf einer Schilderung der Eigenthümlichkeit der Deutschen ist der Grund-

111 Vgl. VII, 538.


874 VII, 327.
175 VII, 80.
178 VII, 327.
177 Vgl. auch Anm. 1, S. 304.
878 Schon Zeller schrieb dazu: » ••• auf diese etwas zweifelhafte Deduktion gründet Fichte
den Anspruch, w.elch.er__ihm._in Wahrheit natürlich als patriotisches Postulat vor aller
Deduktion feststeht (a.a.O., 171). Zum Problem vgl. etwa auch Meinecke, a.a.O., 85. Eine
Kritik der abstrusen Sprachtheorie Fichtes kann seiner Einsicht in die historischen Zu-
sammenhänge von Bildung und Nation nichts an Bedeutung nehmen.
150 Menschheit und Nation

unterschied zwischen diesen und den anderen Völkern germanischer Abkunft


angegeben worden; daß die ersteren unter dem ununterbrochenen Fortfluß einer aus
wirklichem Leben sich fortentwickelnden Ursprache geblieben, die letzteren aber
eine ihnen fremde Sprache angenommen, die unter ihrem Einflusse ertödtet wor-
den.« 679 Die Eigentümlichkeit der Deutschen soll herausgestellt werden, genauer,
ihr Vorrang vor den Franzosen.
Die ,Entwicklung der Ursprache bei den Deutschen' erl~utert noch folgende
Stelle: >>So verhält es sich, sage ich, mit einer Sprache, die von dem ersten Laute an,
der in derselben ausbrach, ununterbrochen aus dem wirklichen gemeinsamen Leben
des Volkes sich entwickelt hat, und in die niemals ein Bestandtheil gekommen, der
nicht eine wirklich erlebte Anschauung, und eine mit allen übrigen Anschauungen
dieses Volkes in allseitig eingreifendem Zusammenhang stehende Anschauung aus-
drückte.« 680 Die Folgen dieser Sprachtheorie zeigen sich in der zusammenfassenden
Einsicht: »Die Verschiedenheit ... besteht darin, daß der Deutsche eine bis zu ihrem
ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen ger-
manischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber
todte Sprache. Allein in diesen Umstand, in die Lebendigkeit und den Tod, setzen
wir den Unterschied ... Zwischen Leben und Tod findet garkeine Vergleichung
statt und das erste hat vor dem letzten unendlichen Wert.« 681 So ist auf diesem
Wege die unendliche Überlegenheit der Deutschen Nation über alle anderen ,nach-
gewiesen', und es bleibt, um die Theorie der weltgeschichtlichen Aufgabe der Deut-
schen vorzubereiten, nur noch zu sagen, daß die Deutschen nicht nur das ausgezeich-
nete Volk sind, sondern daß sie allein das Recht haben, »sich das Volk schlechtweg
zu nennen, wie denn auch das Wort Deutsch in seiner eigentlichen Wortbedeutung
das soeben Gesagte bezeichnet<< 682,
An seinem Ursprung ist der Nationbegriff in der Neuzeit mit dem demokrati-
schen Gedanken verbunden 683 • ,Nation' bedeutete so den Ausdruck eines neuen
Wissens um Einheit der auf neue- demokratische- Weise im Staatsgebiet zusam-
mengefaßten Bürger. In diesem Sinne beruht ,Nation' »auf der rationalen und uni-
versalen Vorstellung von der politischen Freiheit und von den Menschenrechten und
wies in die Zukunft, nach der Gesellschaft freier Menschen<< 684 • Aber schon von sei-
nem ersten Ursprung aus Griechenland und Israel her war das nationale Denken
immer das Denken nicht einfach der nationalen Andersheit, sondern der nationalen
Besonderheit. In dieser Tradition betont der Begriff nicht nur immer die Eigen-

679 VII, 328.


680 VII, 319.
881 VII, 325.
882 VII, 359.
683 H. Kohn, Die Idee des Nationalismus, Frankfurt/M. 1962, S. 9: »Nationalismus ist
undenkbar ohne die Idee der Volkssouveränität, ohne eine grundsätzliche Überprüfung
der Stellung von Herrscher und Beherrschten, von Klassen und Kasten.« Für diese
Zusammenhänge vgl. auch Meinecke, a.a.O., 10/11, 25, 45, 69. Mehnert hebt ebenfalls
völlig zu Recht die revolutionäre Komponente im Begriff der Nation stark hervor. Er
schreibt u. a., Fichte sei der Auffassung: » .•• daß letzten Endes nur die Demokratie
den einzelnen Staatsbürger als Mitglied der Nation mündig macht« (a.a.O., 22).
684 Kohn, a.a.O., 551.
Menschheit und Nation 151

ständigkeit eines ,Wir', sondern die Ausgezeichnetheit des jeweiligen ,Wir'. Nation
ist dann keine sachlich deskriptive, sondern immer eine mit dynamischen politi-
schen Ansprüchen aufgeladene Kategorie. So kann Nationalismus ~ur Religion wer-
den, aber notwendig zur bornierten Form; der Menschheitsanspruch, der an der
Wurzel des neuzeitlichen Nationalismus stand, wandelt sich, was Kohn sehr deut-
lich an allen europäischen Nationalismen zeigt, sehr bald zu einem politischen Hege-
monieanspruch der jeweiligen Nation; der Engländer, der Franzose, der Deutsche
wird zum eigentlichen Träger der Aufgabe der Menschheit. Die Betonung des Eigen-
tümlichen wird zur Behauptung des Eigentlichen; Nation wird emotionalisiert und
erscheint schließlich als das in der Neuzeit wirksamste Prinzip, um das Bewußtsein
eines ,Wir' zu erzeugen, das vor allem notwendig war, um konkreten Herrschaft-
und Vorherrschaftsansprüchen die Durchschlagskraft zu verleihen. Unter dem Ein-
druck der Fremdherrschaft wurde so Fichtes spätes Werk ein klassisches Werk des
politischen Nationalismus. Die Probleme, die sich der revolutionären Theorie der
politischen Freiheit und Gleichheit stellen mußten, vor allem das des Verhinderns
der Entstehung von extremen Klassengegensätzen, um die sich der Fichte der mittle-
ren Periode im ,Geschlossenen Handelsstaat' ehrlich bemühte, werden jetzt, unter
dem Einfluß der Zeitereignisse, durch den Begriff der Nation überspielt. Für Fichte
verlangte die nationale Selbstbehauptung gebieterisch das Hintanstellen aller Ver-
fassungsfragen 685 • Von diesen weg befaßt sich Fichte nun nur noch mit der Nation;
er gewinnt die Einheit in der Entgegensetzung zum äußeren Feind. Das nationale
Argument, so war schon angedeutet worden, kann Durchschlagskraft und religions-
artige Weihe aber nur erlangen, wenn es über sich hinaus weist.
»Malen Sie sich also die vorausgesetzte neue Gewalt so gütig und so wohlwollend
vor ... Mag sie allen Ernstes das höchste Glück und Wohlseyn Aller wollen, wird
das höchste Wohlseyn, das sie zu fassen vermag, wohl auch deutsches Wohlseyn
seyn?« 686 Könnte dieses ,deutsche Wohlsein' hier noch aufgefaßt werden in einem
Sinne, der nichts anderes meint, als eben eine Verschiedenheit der angemessenen
Lebensweise bei verschiedenen Völkern, so zeigt sich doch sofort, daß solch gemäßig-
ter Nationalismus Fichte nicht genügt, und daß das Argument eine Konsequenz
annimmt, an deren Ende die ,Deutschheit' steht, die den Begriff der ,Menschheit'
verdrängt.
Im ersten Gespräch über Patriotismus sagt Fichte an einer Stelle sehr deutlich.,
daß die Überschreitung des Nationalismus auf die Menschheit hin unentbehrlich für
deren Fortschritt sei. Ein ,besonderer Patriotismus' könne nichts anderes anstreben,
»als daß die Theile der Monarchie zu einem Staatskörper vereinigt bleiben, in
gutem, reinem Wohlstand blühen, und den gebührenden Rang im europäischen

68.5Die Konzentration auf einen nationalen Gegner hat immer eindeutige Entlastungsfunk-
tionen; innenpolitisme Smwierigkeiten werden durm außenpolitisme Provokationen
überspielt. Die ,eindeutigen Verhältnisse', die smließlim der Krieg smafft, können der an
die Kompliziertheit zivilisatorismen Lebens nimt angepaßten Subjektivität ausgespro-
men als ,Befreiung' ersmeinen. Vgl. dazu eingehend H. Lübbe, Politisme Philosophie in
Deutsmland, Basel-Stuttgart, 1963, Vierter Teil, Diephilosophismen Ideen von 1914.
686 VII, 394.
152 Menschheit und Nation

Staatssysteme behaupten ... << 687 • Diese doch ganz ausgezeichneten Zwecke sind
aber nicht hinreichend für den wahren Patriotismus. >>Der Patriot will, daß der
Zweck des Menschengeschlechtes zuerst in der Nation erreicht werde, deren Mitglied
er selber ist.« 688 Dieser Wille ist aber sinnvoll nur beim Deutschen. >>Nur der
Deutsche kann dies wollen ... nur der Deutsche kann demnach Patriot seyn, nur er
kann im Zwecke für seine Nation, die gesamte Menschheit umfassen ... dagegen ...
jeder anderen Nation Patriotismus selbstisch, engherzig und feindselig gegen das
übrige Menschengeschlecht ausfallen muß.« 689 Nur die ,Deutschheit' 690 ist auf die
Menschheit hin geöffnet, von ihr aus also ist allein der Untergang der Menschheit
zu verhindern.
Diese Behauptung erscheint am Ende des Begründungszusammenhangs, der, wie
hier gezeigt, alle Merkmale der nationalistischen Ideologie trägt. Denn schließlich
wird auch, in ideologischer Selbsttäuschung, die eigene Philosophie von Fichte in
diesem Zusammenhang scheinbar auf-, in Wirklichkeit jedoch völlig abgewertet,
insofern auch für ihren Geltungsanspruch nicht mehr die vernünftige Menschheit
angeführt wird, sondern die Deutschheit. Es kommt zu einer Neufassung der be-
rühmten Alternative: >>Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was
für ein Mensch man sei.« >>Der eigentliche Unterscheidungsgrund liegt darin: ob
man an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an
unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unseres Geschlechts glaube,
oder ob man an alles dieses nicht glaube, ja wohl deutlich einzusehen und zu begrei-
fen meine, daß das Gegenteil von all diesem stattfinde.« 891 Bei dem ersten ist das
Leben, beim anderen der Tod, an das erstere zu glauben, ist ,deutsch', alles andere
ist ,Ausländerei' 692 • Und zum Deutschen gehört eine Philosophie, >>die mit gutem
Fuge sich die Deutsche nennt« 69 3, die sich »jeder ausländischen und todtgläubigen
Philosophie mit ernster und unerbittlicher Strenge ... entgegensetzt« - gehört die
Wissenschaftslehre. Auf ihr Erscheinen reduziert sich eigentlich die Deutschheit der
Deutschen: >>Jetzt wird endlich dieser Nation durch eine in sich selbst klargewor-
dene Philosophie der Spiegel vorgehalten, in welchem sie mit klarem Begriffe
erkenne, was sie bisher ohne deutliches Bewußtsein durch die Natur ward ... und
es wird ihr der Antrag gemacht ... sich selbst zu dem zu machen, was sie seyn soll,
den Bund zu erneuern und ihren Kreis zu schließen.« 694 In diesem durch Fichte
erschlossenen neuen Selbstbewußtsein wird sich die deutsche Nation ihrer Mensch-
heitsaufgabe erinnern und sie in Angriff nehmen. >>Ihr sehet im Geiste durch dieses
Geschlecht den deutschen Namen zum glorreichsten unter allen Völkern sich erheben,
ihr sehet diese Nation als Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt.« 695

687 II, 233.


688 Ebda.
689 III, 234; vgl. dazu auch VII, 532/33; VII, 389; VII, 373/74.

69o Vgl. VII, 266; NW II, 250.


601 VII, 374.
692 VII, 373.
693 VII, 375.
694 VII, 140. Daß ,totgläubige Philosophie' ein >>Hieb gegen SeheHing und die Naturphilo-

sophie<< sei, schrieb schon Zeller, a.a.O., S. 172.


605 VII, 486.
Politische Theorie der Nationalerziehung 153

»Wenn Ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung auf eine
einstige Wiederherstellung.« 696
Zu Beginn dieses Kapitels war die Aufgabe, die sich von der Sache her für Fichtes
politisches Denken über den ,Handelsstaat' hinaus stellen mußte, bezeichnet worden
als der Versuch, die Dualismen, die in der Entwiddung der Theorie bis dahin stehen-
geblieben waren, zu überwinden. Die Subjektivität sollte sich mit dem Staate durch-
dringen. Von dessen Seite aus löste Fichte diese Aufgabe durch seine Theorie des
,absoluten Staates', die eine völlige Durchdringung des Bürgers vom Staate forderte
auf dem Hintergrund der nationalen Selbstbehauptung. Die Verschmelzung der
beiden von der Seite der Subjektivität her konnte dann nur noch ausgehen von dem,
was der absolute Staat dieser noch gelassen hatte. Ihre gesamten gesellschaftlichen
Beziehungen und Handlungen waren schon dem Zugriff des Staates ausgeliefert.
Was blieb, war reine Innerlichkeit; über den Begriff der ,Nation' wird nun der
,Staat' in ,den Brei des Herzens' gezogen. Nicht mehr Deutsche gab es, sondern nur
noch ,wahre Deutsche'. Freiheit wurde zur ,eigentlichen Freiheit', Zusätze, die nichts
anderes bedeuten, als die Begriffe aus der Sphäre des rational Bestimmbaren in die
Sphäre des nur noch emotionalen Eigentlichen zu übertragen. Der Dualismus Sub-
jektivität-Staat soll so vom Gefühl her überwunden werden. Wird aber der Staat
als Nation einmal dem Gefühl preisgegeben, so sind alle Dämme des Rationalen
durchbrachen. Denn die Subjektivität als solche ist abstrakt-unendlich, sie findet in
sich keine Widerstände oder Hemmungen - aus dem einfachen politischen Selbst-
behauptungswillen wird das Nationalgefühl leicht zu rhetorischen Ausschweifun-
gen geführt, in denen jede Vokabel recht ist, die ihrerseits wieder Gefühlsquanti-
täten mobilisiert und so schließlich sich überschlägt. Die Einführung der ,Liebe' in
die politische Theorie ist die inadäquateste Form, der Entfremdung begegnen zu
wollen, die schließlich dazu führt, daß die Probleme überhaupt nicht mehr in den
Blick kommen.

5. Die politische Theorie der Nationalerziehung

Ein charakteristisches Zeichen für das ideologisierte Stadium eines Denkens ist es,
wenn die verwendeten Begriffe plötzlich mit Attributen wie ,wahr', ,recht' oder
,wahrhaftig' in eine Sphäre jenseits der rationalen Behandlung hineingehoben wer-
den. Dazu gehört es auch, wenn ,Deutsche Freiheit' nicht mehr im Sinne von Frei-
heit der Deutschen, sondern mit der Intention, daß es sich bei ,deutscher Freiheit'
um etwas Höheres, Besseres, ja um die eigentliche Freiheit handle. So ist bei Fichte
der ,wahrhafte Deutsche' das ,deutsche Wohlseyn' und schließlich die ,ächt
deutsche Staatskunst' anzutreffen. Letztere meinte, wie schon oben angemerkt, eine
Politik, die die Erziehung des ganzen Volkes zum integrierenden Bestandteil erhebt.
Unabhängig davon, daß diese Erziehung Nationalerziehung sein soll und daß diese
Erziehung eigentlich nur in Deutschland sinnvollerweise postuliert werden kann,

696 VII, 499. Vgl. auch NW III, 266; VII, 506.


154 Menschheit und Nation

soll dieser wichtige Teil der politischen Theorie des späten Fichte noch einmal für
sich untersucht werden. Denn unabhängig vom nationalistischen Pathos ist hier die
Überzeugung ausgesprochen, daß die Erziehung das wesentliche Element auch jedes
Regierens sei 697 •
Die ,Aufforderung' in der Erhebung zur Freiheit, so war bereits im zweiten
Kapitel gezeigt worden, spielt in Fichtes Denken eine große systematische Rolle 698 •
Je mehr Fichte im Laufe seines Denkens dazu gelangte, die Freiheitsordnung als
vom Staat positiv zu setzende Austeilungsordnung zu denken, um so problemati-
scher mußte das ursprüngliche Umwillen, die Freiheit des Individuums werden .
..Je vernünftiger der Zwang wurde und je ausgedehnter das Eingriffsrecht des
Staates, ja seine Eingriffspflicht, um so schwieriger mußte es werden, den Ort der
Freiheit des Einzelnen zu bestimmen.
Fichte begegnet dieser Aporie von zwei Seiten. Erstens erfolgt eine zunehmende
Aufwertung des Staates in der Theorie; Staat wird von einem Mittel, durch das
hindurch sich die Individuen zu einem Reiche der Freiheit erheben, schließlich zu
der Institution, die als ,absoluter Staat' dieses Reich der Freiheit weitgehend von
sich aus verwirklicht - und zwar in einer genau gewußten Sollensordnung. Da Staat
aber auch beim späten Fichte als Zwangsstaat konzipiert bleibt, so ergibt sich als
Aufgabe des Staates der Zwang zur Freiheit. Erst mit dieser Erhebung des Staates
zum Zwangssystem für Freiheit und Sittlichkeit ist die eigentlich totalitäre Dimen-
sion erreicht, totalitär auch in dem genauen Sinne, in dem, wie Talmon sagt, der
Politik eine Theorie zugrunde gelegt wird, die um die richtige Ordnung bis zum
Detail in einem Vorentwurf genau weiß und, die Wirklichkeit auf diesen hin-
zwingend, jede Freiheit unmöglich macht 699, Dabei spielt es zunächst durchaus keine
Rolle, ob das postulierte Endziel das Reich der Freiheit sein soll oder das der wah-
ren Glückseligkeit oder ein anderes.
In Fichtes Denken war aber Freiheit in ihrer subjektiven Bestimmung konstitutiv
gewesen. Zur Freiheit konnte nur der gelangen, der sich in Freiheit zu ihr erhob.
An diese Stelle setzte im ,System der Sittenlehre' die ,Aufforderung' ein, die von

897 Die entfremdete Subjektivität mußte mit ihrem - die Gewalt ablehnenden - Verände-
rungswillen beim Problem der Oberwindung der Entfremdung dunn Erziehung notwen-
dig auf ihren Vernunftstaat als den Erzieher kommen, da sie das Vertrauen in alle be-
stehenden Institutionen verloren hatte. So bestand Fichte durchaus darauf, Schüler wie
Studenten aus der bürgerlichen Erwerbswelt zu separieren. (Vgl. dazu Schelsky, Einsam-
keit ... , a.a.O., 99 ff.). Die Ungeduld des Reformators und die Zwiespältigkeit eines
,Elternrechts' in einer als ,System der Bedürfnisse' konstituierten Gesellschaft sind auch
für alle gegenwärtige Erziehungstheorie ein Dilemma.
698 Heimsoeth geht vor allem in dem bereits zitierten Aufsatz ,J. G. Fichtes Aufschließung
der gesellschaftlichen Welt' auf das Problem der ,Aufforderung' ein. Für ihn ist sie »Der
Urbezug von Ich zu Iehen, reale Wechselwirkung zwischen Freiheitswesen, zwischen den
Zentren von Spontaneität« (a.a.O., 9). In dieser Verallgemeinerung auf die gesamte
soziale Interdependenz kommt aber doch wohl die Kernbedeutung der ,Aufforderung
in der Erhebung zur Freiheit', die pädagogische, zu sehr aus dem Blick. (Vgl. dazu
auch Kap. II dieser Arbeit.)
899 Vgl. Talmon, a.a.O., S. 1/2. Hier trifft Fichte eindeutig mit der von Talmon ,Die Ur-
sprünge der totalitären Demokratie' genannten Theorie der Jakobiner und Babeufs; seine
politische Theorie fügt sich eben dieser Tradition ein.
Politische Theorie der Nationalerziehung 155

der Gesellschaft an den Einzelnen ergeht und auf Grund derer er sich zum Bewußt-
sein der Freiheit erheben konnte. Schon bei Betrachtung dieser Stelle ist auf die
Konsequenzen für die politische 1beorie hingewiesen worden. ,Aufforderung'
mußte eine um so zentralere Kategorie werden, je mehr die Gesellschaft, später der
vergesellschaftete Staat, in der Theorie mit der positiven Verwirklichung der Frei-
heit beauftragt wurde. Der Zwang zur Freiheit des ,absoluten Staates' mußte zu
völliger Aufhebung der Freiheit führen, wenn nicht ein Moment hinzugefügt
wurde, das das Zwingende des Zwanges vermittelte und so die Theorie vor sich sel-
ber rechtfertigte. >>Nur derjenige ist der wahre (rechtmäßige) Staat, der diesen
Widerspruch tatkräftig löst. Das vermittelnde Glied ist nämlich schon gefunden:
es ist die Erziehung Aller zur Einsicht vom Rechte.<< 1oo
In der zweiten und dritten ,Rede' entwirft Fichte den Plan seiner »neuen und
vorher noch nie bei irgendeiner Nation dagewesenen Nationalerziehung der Deut-
schen« 701 • Im Verlauf der Darstellung dieses Planes werden auch die letzten Reste
von Freiheitlichkeit, die Fichte doch am Beginn seines Denkens so machtvoll gefor-
dert hatte, liquidiert. Der Charakter der ,Aufforderung' als systematisches Moment
verschwindet vollständig. Die Aufforderung genügt da nicht mehr, wo das Bewußt-
sein zu der Überzeugung gelangt ist, »daß man die Freiheit nur dann verwirklichen
kann, wenn ein absolutes kollektives Ziel angestrebt und erreicht wird« 7°2 • Sobald
das anzustrebende Ziel zu »einem Modell der Gesellschaftsordnung, das alle ande-
ren Möglichkeiten verneint«, geworden ist 703 , also als absolut gewußt behauptet
wird, muß individuelle Freiheit notwendig damit unvereinbar werden 70 4 • Der frei-
heitliche Ansatz, den auch Fichte nicht aufgeben will, wird eben dann zu jener
Behauptung, das kollektive Ziel, das »das Gute schlechtweg als solches« ist 705 , sei
selbstverständlich auch die Verwirklichung der wahren Freiheit 706 • Zu dieser hin
muß nun erzogen werden. Konnte Erziehung mit dem Charakter der ,Aufforde-
rung' noch als Vermittlung von Freiheit des Einzelnen mit politischer Zwangs-
ordnung begriffen werden, so wird jetzt in den ,Reden' die Freiheit in jedem sinn-
vollen Verstande beseitigt und Erziehung wird zum terroristischen Zwangssystem.
Aufklärung wird perfekt im Sinne des eindeutig gewußten ,wozu' und liquidiert
sich so selbst. »Wie denn auch wirklich diejenigen, welche die bisherige Erziehung
leiten, fast ohne Ausnahme sagen: wie könnte man denn auch irgendeiner Erziehung

700 VII, 574.


701 VII, 280.
702 Talmon, a.a.O., S. 2.
703 Ebda.
704 »Das Paradox der totalitären Demokratie liegt in ihrer beharrlichen Behauptung, sie

seien vereinbar. Sie stellt das von ihr proklamierte Ziel niemals als eine absolute Idee
hin, die außerhalb des Menschen und apriori besteht, sondern betrachtet es als immanent
in der Vernunft und im Willen des Menschen, als die Gewähr für die vollste Erfüllung
seiner wahren Interessen, als Garantie reiner Freiheit.<< Talmon, a.a.O., S. 2.
7o5 VII, 284. Vgl. Anm. 3.
706 Talmon sieht den Unterschied der liberalen und der totalitären Demokratie wesentlich

darin, daß in der ersten Freiheit ,eher negativ' formuliert sei, in der zweiten jedoch posi-
tiv ausformuliert ist in einem >>Modell der Gesellschaftsordnung, das alle anderen Mög-
lichkeiten verneint«. Talmon, a.a.O., S. 2.
156 Menschheit und Nation

mehr anmuten, als daß sie dem Zöglinge das Rechte zeige und ihn getreulich zu
demselben anmahne; ... er habe freien Willen, den keine Erziehung ihm nehmen
könne.<< 707 >>Dagegen würde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, daß
sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernähme, die Freiheit des Willens gänz-
lich vernichtete, und dagegen strenge Nothwendigkeit der Entschließungen und die
Unmöglichkeit des Entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte.<< 70S Fichte kann
zu diesem Zeitpunkt sich nicht mehr mit der ,Aufforderung' zur Erhebung zur Frei-
heit begnügen. Die Deutschheit der Deutschen Nation, die eine von Fichte projek-
tierte Erziehung nur in der Anwendung auf die Deutschen sinnvoll macht, wird
ihrerseits wieder etwas, das durch eben diese Erziehung erst an das ,Volk schlecht-
weg' herangetragen werden soll bzw. wozu das Volk erhoben werden soll. Das
wahrhaft Deutsche an der Deutschen Nation, das als das ,Lebendige' der toten ,Aus-
länderei' entgegengestellt worden ist, ist nämlich für Fichte in dem >>gegenwärti-
gen Geschlecht<< auch der Deutschen nicht anzutreffen. Die ,Deutschheit' reduziert
sich so, ebenso wie alles andere ,Lebendige' auf die Bewußtseinsinhalte des Subjekts
Fichte, als dem Repräsentanten der >>neueren deutschen Philosophie<< 709 • Diese
konnte bisher ihre Wirksamkeit nicht entfalten, weil das ,gegenwärtige Geschlecht',
ungeachtet es auch ein deutsches ist, >>in dem wirklichen Leben der Zeit gar keine
Verwandtschaft zu dieser Philosophie hat<< 710 , die so als ein Lebendiges auf jene,

707 VII, 281.


708 Ebda. Ohne den systematischen Zusammenhang zu erkennen, sah schon Kuno Fischer in
Fichtes >>despotischer Erziehungssucht<< ein >>illiberales Element<<. (K. Fischer, Fichtes
Leben, Lehre und Werke, 3. Auf!. Harnburg 1900, S. 131 und 133) >>Die Lust zu über-
zeugen entartete in die Sucht, andere zu zwingen<<. (Ebda. 132) Daß Fichte in Einzel-
heiten seiner Erziehungstheorie durch Pestalozzi hindurch doch auf Rousseau zurückgehe
(>>spartanische Erziehung nach platonischem Muster<<) stellt Fester mit Levy-Bruhl fest:
»Fichte se reclame de Pestalozzi, mais c'est Rousseau, surtout qu'il s'inspire<< (Fester,
a.a.O., 153). Zu den Bestrebungen, aus Fichte einen >>Schulmeister<< machen zu wollen,
die vor allem in der ,Fichte-Gesellschaft' Platz fanden, vgl. schon Walz, a.a.O., 346 ff.
Wie Rousseaus und Fichtes Ideen, durch erfahrene Praktiker gemäßigt, zu einer fort-
schrittlichen staatlichen Bildungspolitik führten, zeigt das ausgezeichnete Buch von Wag-
ner: Die preußischen Reformer und die zeitgenössische Philosophie (vgl. etwa 106 ff. u.
passim). Die Wirkung, die Fichtes Persönlichkeit und Lehre auf die spätere Arbeit so her-
vorragender Männer wie etwa von Schöns hatten, ist ja überhaupt eine der schönsten
Früchte seines Lebens und seines Werkes. Für Nationalsozialisten wurde Fichtes Er-
ziehungslehre ein Ausdruck »deutscher Wesensart<<, da sie »auf rassischer Grundlage«
eine :.im wahrsten Sinne nordische Seelenhaltung« zeige. (So W. Becker, Platon und
Fichte, Jena 1937, S. 1.) Ebenfalls eindeutig positiv gewertet wird Fichtes Erziehungs-
theorie charakteristischerweise von Mehnert. Mehnert nennt Fichtes Erziehungssystem
»nationalstaatliches Jugend- und Lehrerkollektiv<< und vergleicht Fichte mit Makarenko
(a.a.O., 78).
Ohne daß der systematische Ort der Erziehung, die innerhalb von Fichtes Theorie ihren
letzten Grund hat in dem vom Ich zu ,setzenden' Nicht-Im, erkannt wäre, findet sidt
eine gute Darstellung von Fichtes Pädagogik im einzelnen neuerdings bei Torretti
a.a.O., 140 ff.).
709 VII, 309. Selbst Meinecke kommt der Gedanke, daß Fidttes >>Bild der Nation im Grunde
nidtts anderes sei, als der erweiterte Philosoph Fichte selbst<< - den er allerdings so-
gleich als »kleinlidte Interpretation« zurückweist (a.a.O., 100).
710 Ebda.
Politische Theorie der Nationalerziehung 157

als ein Totes nicht einwirken konnte. An dieser Stelle findet sich dann folgende
Selbstcharakterisierung der Fichteschen Philosophie: >> ... garnicht zuhause in die-
sem Zeitalter sondern sie ist ein Vorgriff der Zeit, und ein schon im Voraus fertiges
Lebenselement eines Geschlechtes, das in demselben erst zum Lichte erwachen
soll.« 711 Die einzige Möglichkeit für die so bestimmte Philosophie, für die das
,Leben' als gegenwärtige Wirklichkeit ein Totes ist, und für die ihr eigener syste-
matischer Entwurf das einzige Ziel ist, zu dem hin die Menschheit sich entwickeln
soll, ist die, daß sie die Wirklichkeit nach ihrem Bilde umformt. Was im Anfang
der Untersuchung als die gefährliche Konsequenz des revolutionären Denkansatzes
herausgestellt wurde, die habituelle Gegnerschaft gegen jede Wirklichkeit und die
Konstituierung der Vernünftigkeit in der Subjektivität als dem sich der Wirklich-
keit gegenüber wissenden Eigentlichen, hat sich so durch die ganze Entwicklung von
Fichtes Denken bestätigt. Fichte hatte schon immer über die Aufklärung hinaus-
gegriffen, indem er ihren Ausgangspunkt verabsolutierte. Der revolutionäre Ansatz,
zu einem System ausgebaut, das auch alle wirklichen Ordnungen umfaßte, konnte
die Herkunftswelt nicht umgreifen; Gesellschaft und alle politische und rechtliche
Ordnung wurden so zu einem abstrakt-vernünftig Machbaren, das stets im Gegen-
satz zum Vorgefunden-Wirklichen sich bewahren mußte 712 , das nur dadurch vor
anderen ausgezeichnet war, daß sich in ihm ein Funken - aus seiner Herkunft als
,Urvolk' sich bewahrt hatte, der es der lebendigen Philosophie (die sich aber auch
selbst als eben dieser Funke begriff) sinnvoll erscheinen ließ, in dieser Nation ihre
Wirksamkeit zu beginnen. Allerdings in der Erkenntnis, >>daß sie auf das gegen-
wärtige Geschlecht Verzicht tun, aber das Geschlecht, zu welchem sie gehört, ... sich
bilden<< müsse 71 3. »Erst wie dies ihr nächstes Geschäft ihr klargeworden << - d. h.
insofern sich diese Philosophie ihres Erziehungsauftrages bewußt wird, »wird sie
friedlich und freundlich zusammenleben können mit einem Geschlecht, das übrigens
ihr nicht gefällt. Die Erziehung, die wir bisher beschrieben haben, ist zugleich die
Erziehung für sie; wiederum kann in einem gewissen Sinne nur sie die Erzieherin
sein in dieser Erziehung und so mußte sie ihrer Verständlichkeit und Annehmbarkeit
vorauseilen.<< 714
Erziehung erscheint hier als das letzte Mittel, den Hiatus zwischen dem philo-
sophischen Entwurf einer wahren Gesellschaft und der Wirklichkeit der gegenwärti-
gen Gesellschaft zu überbrücken. Aber das Selbstverständnis Fichtes konnte seine
Philosophie nicht als - wenn auch noch so dringendes - Angebot stehenlassen.
Wenn sie sich schon auf Erziehung zurückzog, so mußte diese auch von einer Art
sein, daß der Erfolg nicht in Frage stehen konnte. Der freie Wille der zu Erziehen-
den, der sich immer auch noch anders würde entscheiden können, mußte >>gänzlich
vernichtet<< werden ns. In der Erziehungslehre ist Fichtes Freiheit endgültig ,total'
geworden.

711 VII, 309.


71 2Vgl. dazu die ,Episode über unser Zeitalter' VII, 519 ff.
713 VII, 309.
114 VII, 309/10.
715 VII, 281.
158 Menschheit und Nation

Zu extremen Äußerungen gelangt die Theorie der Zwangserziehung im Fragment


von 1813 716 • Hier wird zunächst an die Rechtstheorie, für die Zwang konstitutiver
Begriff ist, angeknüpft. »Der Mensch muß zur Rechtsverfassung gezwungen wer-
den.« 717 Daraus ergibt sich für Fichte, daß der »Zwingherr« schon ganz allgemein
»historisch« »Zugegeben« sei 718 • Seine »erste Pflicht« ist die >>Erziehung zur Frei-
heit«. Auch hier wird klar, wie sich in den Begriffen Nation und Volk wie auch in
der späteren ,Deutschheit• die demokratisch-revolutionäre Tendenz durchhält. Die
Erblichkeit etwa der Zwingherrschaft wird radikal abgelehnt, der Zwang recht-
fertigt sich nur durch gleichzeitig einsetzende Erziehung zur Freiheit. »Dieser Satz
ist nun wohl leicht, daß der Staat mit allen seinen Zwangsmitteln als ein Erzie-
hungsinstitut sich betrachten muß, um den Zwang entbehrlich zu machen.« 719
Indem Fichte die allgemeine Frage auf die deutschen Verhältnisse überträgt, kommt
er zu dt;r lapidaren Formulierung: »Also her mit einem Zwingherrn zur Deutsch-
heit.<< 720 Dabei muß die oben untersuchte Bedeutung von Deutschheit - Volk
schlechtweg - und der damit verbundene Menschheitsanspruch im Auge behalten
werden.
Natürlich ergibt sich auch für Fichte die Frage nach den praktischen Bedingungen
für das Auftreten des ,Zwingherrn• 721 • »Derjenige soll Zwingherr sein, der auf der
Spitze seiner Zeit und seines Volkes steht. In thesi muß es jeder zugeben, daß er,
diesem gehorchend, sich selber gehorcht. Die Frage ist nur, wie soll dieser gefunden
werden.« 722 Hier schlägt die alte, vernünftig-demokratische Forderung noch durch.
Aber: »Das Ziel dabei ist die freie Einsicht. Nun ist diese Einsicht aber bedingt
durch die, welche diese Einsicht erst hervorbringen soll, also muß zunächst man
glauben.« 723
Der Zwang rechtfertigt sich nur durch Erziehung. >>Ihr Recht auf Erziehung ist
daher ihr Urrecht.« 7 24 Erziehung muß Erziehung zur freien Einsicht sein. Dann
aber ergibt sich das Problem der möglic..lterweise von der Einsicht des Erziehers
abweichenden Einsicht des Erzogenen. Aber: >>Gegen den Verstand hat keiner äuße-
res Recht; der höchste Verstand hat darum das Recht alle zu zwingen, seiner Ein-
sicht zu folgen.« 7 26 In diesem Dilemma taucht nun die ,Wissenschaftslehre• auf.
Sie setzt die »Absolutheit des Verstandes« voraus, »man kann die Wissenschafts-
lehre ignorieren, aber wenn man sie verstanden hat, kann man sie nicht unwahr
finden.« 726 Die immanent terroristische Struktur des Fichteschen Denkens kommt

718 VII, 546 ff.


717 VII, 561.
718 VII, 563; auf der folgenden Seite heißt es: »Wieder: die Menschen müssen zum Rechte

gezwungen werden; das kann jeder tun, der es eben leistet: dieser sodann der Zwingherr
und Fürst;<<.
719 VII, 575.
720 VII, 565.
721 Im Grunde wünschte Fichte sich auch einen Napoleon, aber einen deutschen!
mvn, 576.
723 Ebda.
mvn, 581.
725 VII, 580.
728 VII. 581.
Politische Theorie der Nationalerziehung 159

hier zum Vorsd:lein. »Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was
für ein Mensd:l man sei«, hatte es beim frühen Fid:lte geheißen. Die Erziehung per-
fektioniert das System; der freie Verstand soll ,gänzlid:l vernid:ltet' werden; im
gläubigen Erziehungsprozeß erfolgt die Zwangserziehung zur Wissensd:laftslehre,
deren Verstandesklarheit, einmal so angenommen, sid:l dann niemand mehr ent-
ziehen kann. »So bin im drum wahrhaft Stifter einerneuen Zeit: der Zeit der Klar-
heit; bestimmt angebend den Zweck alles mensd:llichen Handelns, mit Klarheit
Klarheit wollend ... Erziehung zur Klarheit ist nemlid:l Erziehung zur Freiheit,
denn in der Klarheit ist Freiheit.« 727 Ist die Bezeid:lnung Fichtes als philosophi-
schen Jakobiner seit Hegel geläufig, so zeigt Fichte sich hier schließlich als der
,philosophische Napoleon', der, im Selbstverständnis gedeckt durd:l abstrakte Ver-
nünftigkeit und also auch Freiheitlid:lkeit seiner Theorie, das Volk und die Mensch-
heit zu lauter Predigern und Gläubigen der Wissenschaftslehre machen möd:lte 728.
Denn der Totalitarismus dieses Denkens erhält ja die entscheidende Dimension
durd:l die Tatsache, daß diese Theorie der Erziehung als Bestandteil der politischen
Theorie sid:l darbietet. »Der Erziehungsplan und Regierungsplan ist ganz der-
selbe.« 729 »Nur diejenige Nation, weld:le zuvörderst die Aufgabe der Erziehung
zum vollkommenen Menschen durch die wirkliche Ausübung gelöst haben wird,
wird sodann auch jene des vollkommenen Staates lösen.« 7 30 In der elften ,Rede'
wird die Frage beantwortet: »Wem die Ausführung dieses Erziehungsplanes
anheimfallen soll.« 731 Als Ausführer dieses Erziehungsplanes wird der ,Staat' ge-
nannt, vor allem deshalb, weil nur er die Allgemeinheit dieser Erziehung, die ja
Volkserziehung sein soll, verbürgen kann 732 • Bei der herausgestellten Fremdheit
der Erziehungsphilosophie in bezug auf das »gegenwärtige Geschlecht« ist aber
nicht zu erwarten, »daß die Eltern allgemein willig sein werden, sich von ihren
Kindern zu trennen, und sie dieserneuen Erziehung ... zu überlassen; sondern es
ist darauf zu rechnen, daß jeder, der noch etwa Vermögen zu haben glaubt, seine
Kinder im Hause zu nähren, gegen die öffentliche Erziehung und besonders gegen
eine so sd:larf trennende und so lange dauernde öffentlid:le Erziehung sich setzen
wird.« 788 Absonderung der Zöglinge nad:l platonisd:lem Muster war ja für die neue
Erziehung programmatisch 734. In der Argumentation zu der Beantwortung dieses
Problems findet sid:l als Charakterisierung des weisen Staatsmannes 735 schließlich

727 VII, 581.


728 Zu der These des ,philosophischen Napoleons' vgl. Walz a.a.O., 491 und 621. Walz'
richtige Sicht wird aber unerträglich durch seine enthusiastische Verehrung der ,hero-
ischen Kraft' u. A. In mehr äußerlicher Hinsicht nannte schon J. G. Rist Fichte »den
Bonaparte der Philosophie« (Vertr. Br. S. 65).
728 VII, 583.
730 VII, 354.
731 VII, 428.
732 VII, 434.
733 VII, 435.
734 Vgl. VII, 584, 587, 589.
735 In der doch als ,tot' angesprochenen gegenwärtigen Wirklichkeit reduziert sich die Mög-
lichkeit des Erscheinens des ,weisen Staatsmannes' eben auch auf das ursprünglich das
Ganze deduzierende Subjekt.
160 Menschheit und Nation

folgende Selbstdarstellung Fichtes: »Möchten sich aber Staatsmänner finden und


hierher zu Rate gezogen werden, welche vor allem durch ein tiefes und gründliches
Studium der Philosophie und der Wissenschaft überhaupt sich selbst Erziehung
gegeben haben ... die einen festen Begriff vom Menschen und seiner Bestimmung
besitzen, die da fähig sind, die Gegenwart zu verstehen und zu begreifen, was
eigentlich der Menschheit dermalen unausweichlich noth tut, ... schwebte ihnen ein
Bild vor von dem neuen Menschengeschlechte, das durch die Erziehung entstehen
würde, währen sie selbst innig überzeugt von der Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit
der vorgeschlagenen Mittel: so ließe von solchen sich auch erwarten, daß sie zugleich
begriffen, der Staat, als höchster Verweser der menschlichen Angelegenheiten ...
und als der Gott und seinem Gewissen allein verantwortliche Vormund der Unmün-
digen, habe das vollkommene Recht, die letzteren zu ihrem Heile auch zu zwin-
gen.« 736 Dieser in den klassischen Satz des Terrorismus ausmündende Passus ist des-
wegen ausführlich zitiert worden, weil er das Selbstverständnis wie die politische
Konsequenz dieses Denkens des späten Fichte ausgezeichnet zusammenfaßt. Ein
positiv voll bestimmtes Bild vom Menschen der Zukunft, gewonnen durch Philo-
sophie - also durch Wissenschaftslehre -, zwingt sozusagen dazu, die Menschheit
zu ihrem Heil zu zwingen. In der Weiterführung des Argumentes bringt Fichte das
Beispiel des Kriegsdienstes, zu dem zu wingen das Recht zu haben ja kein Staat
bezweifle 737 • Hieraus erhellt einerseits die konkrete Anrede an die Deutschen in
einer Situation, in der sie ihre nationale Selbstbehauptung nicht im Kriege, son-
dern nur noch in der Erziehung erreichen können 738 • Andererseits wird aber in der
zitierten Stelle die Überhöhung der Antwort auf eine konkrete nationale Situation
zu einer die Menschheit umspannenden Theorie deutlich, die oben bereits als das
Charakteristikum der politischen Theorie des späten Fichte dargestellt wurde. Das
letzte Ergebnis der politischen Theorie Fichtes bis zu den ,Reden' ist der Erziehungs-
staat, der seinen totalen Anspruch nicht nur nach innen, sondern auch nach außen
auf die ganze Menschheit richtet.

6. Religionsphilosophie und politische Theorie

»Wer andere zur objektiven Erkenntnis zu bringen vermag, der besitzt sie« 7 39 ;
aber die Frage ist, ob derjenige, der andere zur objektiven Erkenntnis zu zwingen
vermag, diese nur deswegen schon für sich in Anspruch nehmen kann. »Kein Zwang
außer in Verbindung mit der Erziehung zur Einsicht in das Recht«, schreibt Fichte
in der sogenannten Staatslehre von 1813 740, aber das Ausgehen von der absoluten

738 W VII, 435/36.


737 W VII, 436.
73~ Die Erziehung ist ja aber aum u. a. darauf gerimtet, den Zwang zum Kriegsdienst über-
flüssig zu mamen, und so das kriegerische Potential der Nation zu verstärken. Vgl.
VII, 436.
738 IV, 448.
740 IV, 437.
Religionsphilosophie und politische Theorie 161

Einsicht des »von Gott eingesetzten Zwingherrn« läßt die Erziehung nicht zur Ver-
mittlung werden, sondern nur zum potenzierten Zwang.
Nun ist der ,Zwingherr' oder der ,Notherrscher' nicht das letzte Wort von
Fichtes politischer Theorie. Vielmehr differenziert sich in der ,Staatslehre von 1813'
das Problem zunächst in die Frage nach dem ,Zwingherrn' und dann in die nach
dem »wahren Oberherrn« 741 • Die erstere bleibt im Rahmen der bisher untersuch-
ten Rechts- und Staatslehre, die zweite führt in das utopische Umwillen jener- in
das ,Reich'. Recht ist Zwang: »In Summa, die Menschheit als eine widerstrebende
Natur_, soll allerdings ohne ~lle Gnade und Schonung und ob sie es verstehe oder
nicht, gezwungen werden unter die Herrschaft des Rechts durch die höhere Ein-
sicht.« 742 Wer soll sie zwingen? ,.zur rechtlichen Verfassung die Menschen zu zwin-
gen, dem Rechte sie durch Gewalt zu unterjochen, hat jeder, der die Erkenntnis hat
und die Macht, nicht nur das Recht, sondern die heilige Pflicht; der Einzelne die
ganze Menschheit, wenn es sich so träfe.« 743 In den Ausführungen der Staatslehre
von 1813 werden die Aporien in Fichtes politischer Theorie so deutlich wie nirgends
sonst. Ob jemand die Macht hat, die Menschen zu wingen, kann leicht festgestellt
werden. Wie aber steht es mit der Erkenntnis der ,rechtlichen Verfassung'? Denn
allerdings ist Fichte hier wie überall weit davon entfernt, den Zwang ZU irgendeiner
Verfassung an sich gelten lassen zu wollen. Von der ,rechtlichen Verfassung' hatte
er detaillierte Vorstellungen- sie sind in der ,Grundlage d. N.' und im ,Handels-
staat' entwickelt. Das aber belastet gerade die Theorie und die an jenen Schriften
aufgezeigten Tendenzen werden nun durch den »ohne alle Gnade und Schonung«
postulierten Zwang extrem gesteigert. Nun gehört ja aber zu der ,heiligen Pflicht'
des Zwingherrn nicht der Zwang schlechthin, sondern nur, insofern er mit Erziehung
zu »seiner (des Zwingherrn) Bildung« verbunden ist 744. Derjenige, der den Zwang
auszuüben das Recht hat, muß allerdings zunächst »die Richtigkeit dieses Begriffs«,
d. h. seines Rechtsbegriffs >>auf sein eigenes Gewissen nehmen«, so würde er als »der
von Gott eingesetzte Zwingherr<< anzusehen sein 745 • Setzt er nun mit der Erziehung
ein, so zeigt sich sehr bald, ob seine Erziehung objektive Erkenntnis ist; als Krite-
rium dient der zu Beginn dieses Absatzes zitierte Satz: »Wer andere zu objektiver
Erkenntnis zu bringen vermag, der besitzt sie.« 746 Nun ist ja aber die Erziehung
Zwangserziehung zu ,seiner Bildung'; unter Zwang ist es leicht, andere zu einer
Erkenntnis zu bringen, die mit der der Zwangserzieher identisch ist, und die eben
dadurch zum Range einer ,objektiven' erhoben wird. Das System muß, um über-
haupt funktionabel zu sein, die zu Erziehenden zu der Erkenntnis des Zwingherrn
erziehen bzw. zwingen, an diesem und seinem Gewissen hängt also alles - eine
Theorie der Diktatur, die durch die Erziehungslehre erst die letzte Perfektion
erhält. Der Widerspruch, der in der Rechtfertigung auch noch des durch Erziehung
vermittelten Zwangssystems zu dem ursprünglichen Freiheitsansatz der Theorie

741 IV, 451.


741 IV, 439.
743 IV, 436.
744 IV, 436.
74 5Ebda.
74' IV, 448.
162 Menschheit und Nation

liegt, ist Fichte allerdings immer bewußt geblieben. »So heben wir an von dem
Widerspruche, der in dem Begriff der Errichtung eines Rechtszustandes nothwendig
liegt. (Diesen Widerspruch zu heben, ist Sache der Entwicklung des Menschen-
geschlechts: solange er nicht gehoben ist, herrscht das Recht nicht durchgängig, er ist
aber bis jetzt nicht gehoben.)« 747
Der Widerspruch ist der Ausdruck der Entfremdung in der der Subjektivität das
Recht - Gesetz seiner Freiheit - als Zwang entgegentritt; ein unversöhnlicher
Widerspruch, solange die rechtliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft bzw. des
Staates nicht als Dasein der Freiheit begriffen werden kann, was allein dazu führen
würde, Entzweiung in ihrer Positivität und nicht notwendig nur als Entfremdung
zu verstehen. Der revolutionäre Ansatz führte Fichte jedoch, wie mehrfach gezeigt,
im abstrakten Widerspruch gegen den Widerspruch zum Widerspruch gegen Wider-
spruch überhaupt und ad absurdum der eigenen Philosophie, denn das sich im
Widerspruch konstituierende Ich hebt sich in der Durchführung dieser Position selbst
auf - oben war schon gezeigt, wie in der Utopie auch das. Ich in die postulierte
Unmittelbarkeit zerfloß.
»Diesen Widerspruch« - d. h. alle Entfremdung - aufzuheben, ist also im Selbst-
verständnis Fichtes die vornehmste Aufgabe seines Denkens, das mit der »Sache
des Menschengeschlechtes« zu verbinden sein selbstverständlicher Anspruch bleibt.
Dieses ,Heil' der Menschheit, das als absolut gewußter Endzweck auch den ,ohne
Gnade und Schonung• ausgeübten Zwang rechtfertigt, führt nun beim späten Fichte
»ZU der Ausbildung einer konkreten Reichsidee« 748.
Diese Reichsidee Fichtes ist nur in religionsphilosophischem Zusammenhang zu
verstehen, in den das ganze Denken des späten Fichte, alles Bisherige ,überhöhend'
bzw. ,vertiefend' einmündet 749 • Der auf Aufhebung jeden Widerspruches gerichtete
Denkwille Fichtes konnte nicht eher ruhen, bis die letzte Unmittelbarkeit in allen
Bereichen seines Denkens erreicht war. So mündet die Wissenschaftslehre in die
,Synthesis der Geisterwelt', d. h. in eine Immanenz des Absoluten 750, in der als dem
,Reich der Freiheit' das johanneisch verstandene Christentum realiter zur Erfüllung

747 IV, 432.


748 Diese ,Konzeption einer deutsdt-christlichen Reichsidee• behandelt Gehlen, a.a.O., S. 44.
74 9 Zur Religionsphilosophie des späten Fidtte vgl. vor allem das ausgezeichnete Buch von

Wolfgang Ritzel. Leider kommt dort - ebenso wie schon bei Emmanuel Hirsdt - der
religionsphilosophische Charakter der Reichsidee zu wenig zur Sprache. Sdtolz bezeidtnet
diese Reichsidee als einen Rücksdtritt gegenüber den bisherigen Pol. Theorien Fidttes,
zweifellos richtig, wenn man an den Madtiavelli-Aufsatz denkt, nidtt aber überraschend,
wenn man den latent utopisdten Charakter aller politisdten Theorie Fichtes im Auge
behält. Audt noch lesenswert Adolf Lasson, Fidtte im Verhältnis zu Kirdie und Staat,
Berlin 1863.
750 Eine interessante und von bisherigen Interpretationen abweichende These ist die von
Lösdt, der in der Immanentisierung des Absoluten, die ihm »der immer sich gleich blei-
bende Gedanke<< Fichtes ist, den eigentlidten Grund des Totalitarismus sieht. (Lösdt, Die
Theologie der Lehre Fichtes von Staat und Nation. Michelstadt 1957, vgl. S. 4, 7, 12, 15.)
Die Übertragung des rein immanent bestimmten Gottesbegriffes (4) auf die »Wirklichkeit
des Staates und der Nation« madtt diese totalitär (7), weil sie so zur »unmittelbaren
Objektivierung dieses Göttlichen« würden. Zur Immanenz des Absoluten auch noch
Lasson, a.a.O., 31 ff.
Religionsphilosophie und politische Theorie 163

gebracht ist 751. So entsteht in Fichtes letzten Werken jenes prophetische Selbstver-
ständnis, das es gerechtfertigt erscheinen läßt, ihn einerseits mit den großen Häre-
tikern Montanus, Marcion, Mani in eine Reihe zu setzen und ihn andererseits unter
die Mystiker zu rechnen 752 • Unter diesem Gesichtspunkt enthält das Spätwerk Fich-
tes eine religionsphilosophische Auflösung seiner politischen Theorie, wenn auch,
bedingt durch jene Immanenz des Absoluten, das ,Reich' zwar nicht ein Reich von
dieser Welt, wohl aber ein Reich in dieser Welt ist. Ebenso wie in der Wissenschafts-
lehre die ,Synthesis der Geisterwelt' 753 , so soll der Begriff des ,Reiches' in der poli-
tischen Theorie die Überwindung des Widerspruchs des Rechtsbegriffs durch die
intermediär gewaltsam herbeigeführte Unmittelbarkeit der Freien leisten, die durch
alle jene Erscheinungen gekennzeichnet ist, die oben bereits an den utopischen Kon-
sequenzen der Revolutionsschriften aufgezeigt wurden 75 9 • Nur eines muß hierzu
noch erwähnt werden. Wenn die Bedeutung der Erziehung der Menschheit zum
,Reich' im Auge behalten wird und wenn damit das Ergebnis der ,Reden' zusam-
mengedacht wird, so ist klar, daß das ,Reich' seinen Ausgangsort haben wird in
jenem Volke, das seiner Herkunft und seiner Bestimmung nach allein für diese
Erziehung geeignet ist, und in dem ja auch die neue Botschaft des ,Reiches', die
Wissenschaftslehre, erschienen ist 755 • In dieser Wiederholung der biblischen Situation
des auserwählten Volkes und des in ihm erstandenen Messias mündet Fichtes Philo-
sophie. Das endgültige Aufgeben des Versuches der Vermittlung zugunsten der
Utopie kennzeichnet das Ende eines Denkweges, der, im Banne seines eigenen gro-
ßen Anfanges stehend, diesen in sich selbst ad absurdum führte.

751 Zum ,johanneischen Christentum' vgl. Ritzel, a.a.O., 186 ff. und 199; aber auch noch
Walz, a.a.O., 548 und 613 ff. und Gehlen, a.a.O., 54 f. und 67 ff.
752 Gehlen, aa .. O., Kapitel II und VII. Zu Fichtes Beziehung zur Mystik auch Ritzel, a.a.O.,
163 ff. Hirsch hatte dagegen bestritten, daß Fichte eine Beziehung zur Mystik nachzu-
sagen, sinnvoll sei (a.a.O., 129). Allerdings untersucht Hirsch auch die späte Lehre vom
,Reich' nicht.
753 Vgl. das Zitat aus Heimsoeth zu Beginn dieses Kapitels.
754 Eine konkrete Ausmalung dieser Utopie liegt vor in dem Abschnitt ,Religionsbekennt-

nis der Deutschen' aus dem Fragment ,Die Republik der Deutschen' ... W VII, 533 ff.
Hier gibt Fichte quasi eine Agende des neuen Gottesdienstes, die in der völlig ernst ge-
nommenen Angabe von Einzelheiten einen grotesk-komischen Eindruck macht. Deku
findet hierfür harte Worte; er schreibt: »Dafür verbindet sich aber in beschwichtigender
Weise die Brutalität des Kontrollsystems, in dem die Waffen Sakralgegenstände sind, mit
dem Kitsch der sanften Instrumentalmusik und der selbständig sich öffnenden Türen«.
(H. Deku, Rot und Braun. In: Festschrift für Ernst Voegelin, München 1962, S. 122).
755 Zum messianischen Bewußtsein des späten Fichte s. vor allem Gehlen, a.a.O., Kap. VII,
aber auch Walz, a.a.O., 360 ff. und 525/26.
LITERATUR VERZEICHNIS

Fichtes Werke werden -wenn nicht anders vermerkt -zitiert nach der von I. H. Fichte
besorgten Ausgabe, mit Band- (römisch) und Seitenzahl (arabisch). Aus den drei Bänden
der gleichfalls von I. H. Fichte herausgegebenen Nachgelassenen Werke wird ebenso zitiert
unter Voransetzung der Buchstaben NW.
Briefstellen werden zitiert nach der Ausgabe: ]. G. Fichte, Briefwechsel. Kritische
Gesamtausgabe. Gesammelt und herausgegeben von Hans Schulz, 2 Bände, Leipzig 1930.
Abgekürzt: »Schulz<<, mit Band- und Seitenzahl.
Die gleichfalls von Hans Schulz edierte Sammlung: Fichte in vertraulichen Briefen seiner
Zeitgenossen, Leipzig 1923, wird zitiert als: >>vertr. Br.«, mit Seitenzahl.

Adler, Max, Wegweiser, Studien zur Geistesgeschichte des Sozialismus, Leipzig 1914.
Ahrens, H., Die Philosophie des Rechts und des Staates, Wien 1852.
Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955.
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Baumgartner, H. M., Nachlese zum Fichte-Jahr 1962, in: Phi!. Jahrb. d. Görresges., Jg. 71,
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1 Diese wichtige Arbeit erschien nach Fertigstellung vorliegender Schrift. Zur Auseinander-
setzung mit Buhr verweise ich auf meine Einleitung in dem Band Fichte I, in der Reihe
>>Klassiker der Politik<<, Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1967.
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PERSONENREGISTER

Adtelis, Th. 42 Freyer, H. 2, 3, 8, 13, 59, 142


Adler, M. 4 Freytag, H. 5
Adorno, Th. W. 88 Gebhardt, W. 4
Ahrens, H. 3, 113 Gehlen, A. 8, 13, 138, 162 f.
Arendt, H. 47, 88 Geiger, Th. 132
Aristoteles 46 Gelpcke, F. 18, 20, 59, 60, 64
Babeuf, G. 23, 101, 113 f., 152 Gierke, 0. v. 129
Baggesen, J. I. 1 Goethe 55
Baum, B. 6, 8, 30, 114 Grunewald, M. 5
Baumgartner, H. M. 10, 86 Gueroult, F. X. 8
Bedter, E. 8, 156 Gurvitdt, G. 18, 48, 97
Behler, E. 139 Haack, K. 5
Bergmann, E. 6, 8 Hähnel, F. 4
Bergner, D. 10 Hammadter, K. 135
Binder, J. 6, 8, 80, 146 f. Hatzelmann, E. 60, 79
Blodt, E. 27, 53 Haymann, F. 97, 146, 147
Bredtt, A. 87 Hegel, G. W. F. 2, 9, 13, 19, 27, 30, 49,
Bredtt, B. 133 51, 53, 68, 79, 81 f., 83, 88, 93, 99, 118,
Brunner, H. 99, 106, 108 119, 120, 126, 133
Burke, E. 47 Heidegger, M. 68
Chroust, A. H. 46 Heimsoeth, H. 7, 35, 67, 126, 135, 154,
Collingwood, R. G. 111 163
Comte, A. 48 Heine, H. 19
Cromwell, 0. 98 Heß, M. 53
Davies, G. 98 Hirsdt, E. 162, 163
Deku, H. 163 Hobbes, Th. 24, 28, 34, 38 f., 47, 52, 78,
Diehl, F. 5 90 ff., 98 ff., 108 ff., 115, 120
Disraeli, B. 47 Huber, H. 31
Dühring, E. 4 Husserl, E. 68
Ehrenberg, H. 3, 59, 65 Jacobi, F. H. 1, 2
Eisner, K. 10 Janson, F. 4
Erhard, J. B. 78 Jean Paul 1, 2, 55
Eucken, R. Ch. 5 Jonas, F. 81, 129
Faust, J. G. 8 Kaiser, J. H. 31
Fester, R. 18, 97, 156 Kant, I. 1, 17, 19, 22, 23, 24, 35, 43, 58 f.,
Fetsdter, I. 99 62 f., 65 f., 67, 76, 78, 84, 95, 98 ff.,
Fisdter, K. 9, 156 104, 109, 120, 129
Forberg, F. 1 Körner, Th. 1, 9
Personenregister 169

Kohn, H. 150 Rehberg, A. W. 6, 9, 21, 103, 108, 136


Krockow, Ch. v. 99 f., 111 Reinhold, K. L. 1, 35, 58 f., 63 f.
Kroner, R. 6, 8, 114, 145 Reiss, H. 10, 14
Landauer, G. 22 Rickert, H. 6, 9, 74, 80, 95, 102 f., 114 f.,
Larenz, K. 65 123
Lask, E. 135 Rist, J. G. 159
Lassalle, F. 3, 4, 114 Ritter, J. 13, 19, 27 f., 50, 74, 88, 90, 99,
Lasson, A. 127, 162 118, 126
Lauth, R. 2, 13, 68, 85, 86 Ritzel, W. 79, 162 f.
Lavater, J. K. 61 Robespierre, M. 19, 31, 101
Leibholz, G. 4, 12 Rodbertus, J. K. 4
Leibniz, G. W. 68 Roth, C. 30
Leon, X. 7, 78, 137 Rousseau, J. J. 12, 18 f., 21, 90, 97, 99,
Lessing, K. 21 105, 119, 156
Lindau, H. 4, 55 Russell, B. 1
Locke, J. 47, 92, 98 ff., 103 f., 115, 119, Salzmann, Ch. G. 15
120 Sartre, J. P. 68
Lösch, R. 11 f., 92, 162 Schelling, F. W. J. 21, 129 f., 152
Lübbe, H. 4, 19, 42, 113, 115, 141, 151 Schelsky, H. 42, 85, 115, 117, 121, 124,
Luther, M. 43 148, 154
Machiavelli 2, 26, 142 ff. Schenkel, E. 4, 12, 24, 30, 40, 112, 119,
Macpherson, C. B. 93, 98 ff., 109, 112 128, 131
Maimon, M. 78 Schenkendorf, M. v. 142
Makarenko, A. S. 156 Schiller, F. 1, 19
Mani 163 Schlegel, F. 139
Marat, J. P. 101 Schmalz, Th. 6, 78 ff., 103
Mareion 163 Schmitt, C. 27, 28, 35, 46 f., 52, 95, 115,
Marie Antoinette 18 125, 130
Mar!o, K. 4 Schmoller, G. 3, 4, 106, 113, 119
Marx, K. 53, 77, 114 Schneider, F. 4
Medicus, F. 5, 15, 16, 17, 30, 61, 80, 119, Schön, Th. v. 19
130 Scholz, H. 21, 37, 49, 84, 89, 103, 106,
Mehnert, H. 10, 156 114, 129, 136
Meinecke, F. 5, 26, 145, 147, 148, 149, Schopenhauer, A. 1
156 Schottky, R. 12, 13, 14, 19, 20, 21, 25, 32,
Metzger, W. 6, 7, 8, 9, 30, 32, 37, 59, 68, 37, 52, 78 f., 80, 85, 90, 91, 102 f., 119,
84, 102 f., 114, 129 f., 145 130
Miltitz, v. 18 Schroetter, F. v. 142
Mirabeau 22 f., 28, 114 Schulz, W. 85, 86
Montanus 163 Stahl, F. J. 1, 9, 74
Montesquieu 18, 26, 115, 119 Stein, L. v. 23, 46, 47
Napoleon I. 137 ff., 158 Stephani, H. 20
Nicolovius 2 Stephen, J. F. 47
Niethammer, F. J. 78 Strauß, L. 8, 109 f., 111
Oakeshott, M. 109 f. Strecker, R. 5, 9, 18, 21, 30, 32, 44, 80,
Oberndörfer, D. 115 103
Oesterreich, H. 8, 60, 141 Stuke, N. 53
Pestalozzi, J. H. 16, 156 Talmon, J. L. 12, 14, 112, 154 f.
Platon 46 Tenbruck, F. 115, 147
Rahn,Johanna 18,43 Themistokles 65
170 Personenregister

Thönen, P. 5 142, 146, 156, 159, 163


Toennies, F. 114 Weber, Marianne 4, 84, 101, 114
Torretti, R. 8, 11, 13, 80, 81, 85, 88, 92, Wehnert, B. 5
96, 103, 119, 127, 129, 135 f., 156 Weide!, K. 5
Träger, C. 10, 20, 22, 51 Weischedel, W. 8, 60
Trautwein, C. 3, 114 Weiße, Ch. 15
Treitschke, H. v. 4, 40 Weitling, W. 4
Vaughan, Ch. E. 8, 19, 21, 85, 101, 130 Windelband, W. 84
Vorländer, K. 4 Wössner, ]. 31
Wagner, W. 136, 156 Wundt, M. 7, 11
Wallner, N. 6, 8, 21, 24, 25, 30, 32, 37, Wundt, W. 139
49, 80, 81, 83, 99, 105, 108, 121, 131 f. Zahn, M. 60
Walz, G. A. 7, 8, 10, 21, 30, 32, 33, 37, Zeller, E. 3, 9, 11, 14, 19, 59, 61, 92,
65, 66, 78, 84, 92, 102 f., 108, 129, 132, 102 f., 107, 119, 149, 152

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