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Das ethische Problem in der modernen

Philosophie

Autor(en): Michel, Leo

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Divus Thomas

Band (Jahr): 6 (1919)

PDF erstellt am: 24.01.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-762551

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Da« ethische Problem in der modernen Philosophie 241

nahe berührt. Dabei soll das Verdienst des Aristoteles, das


aktive und passive Moment in der erkennenden Seele, die
beiden Intellekte, unterschieden und schulgerecht nachgewiesen
zu haben, ungeschmälert bleiben.
Köln—Lindenthal, 28. Juni 1919.

DAS ETHISCHE PROBLEM IN DER MODERNEN


PHILOSOPHIE
Von Fr. Mag. Theol. LEOMICHEL O. P.
Die Menschen unterscheiden rein physisch-mechanische
und sittliche Handlungen; sie unterscheiden eine physische
und eine sittliche Weltordnung; sie unterscheiden sittlich
gute, erlaubte und sittlich schlechte, verbotene Handlungen.
Das ist eine Tatsache des Bewußtseins und der äußeren
Erfahrung.
Das physisch Gute und das sittlich Gute, das physisch
Schlechte und das sittlich Schlechte sind nicht identische
Begriffe. Es kann etwas physisch gut sein, weil es Lust oder
Nutzen verursacht und dennoch sittlich schlecht sein.
Im Bewußtsein des Menschen liegt der kategorische
Imperativ des Sollens: du sollst das sittlich Gute tun und
das sittlich Schlechte meiden, auch dann, wenn das sittlich
Gute Schmerz oder das sittlich Schlechte Lust verursacht.
Mit diesem kategorischen Imperativ hängen zusammen die
sittlichen Phänomene als Konsequenzen, wie die Zurechnung,
Verantwortlichkeit, das Gewissen, Lohn• und Strafe. Der
kategorische Imperativ und die sittlichen Phänomene können
nicht zurückgeführt werden auf die physischen Gesetze der
Natur, auf die physische Weltordnung; sie setzen ein
Sittengesetz, eine sittliche Weltordnung voraus. Soweit die
Handlungen der Menschen der äußeren Erfahrung unterworfen

sind, bestätigen sie diese Unterscheidung.


Der Zweck und die Aufgabe der Philosophie ist es,
die Tatsachen und Phänomene der Empirie, somit den Inhalt
des Bewußtseins und der äußeren Erfahrung zu erklären
und zu begründen. Die wissenschaftliche Forschung
beginnt damit, daß das, was bisher selbstverständlich war,
zum Problem wird. Ist nun der Unterschied zwischen der
physischen und der sittlichen Ordnung begründet? Liegt
der Grund in der Natur des Menschen oder ist er nur ein
242 Dis ethische Problem in der modernen Philosophie

Schein, eine Täuschung, in welcher die Menschen befangen


sind? Damit ist das fundamentale Problem der Ethik gestellt,
alle übrigen ethischen Probleme setzen dieses voraus und
müssen auf dieses zurückgeführt werden.
Die Philosophie als Ganzes umfaßt alle Kategorien des
Seins. Das begriffliche Sein ist Objekt der Logik, das reale
wirkliche Sein ist Objekt der Metaphysik, das sittliche
Sein, die sittlichen Handlungen das Objekt der Ethik, und
darum ist die Ethik ein Teil der Philosophie. Die
Philosophie als einheitliche geschlossene Weltanschauung kann

die sittlichen Handlungen, die sittliche Ordnung und ihre


Phänomene nicht aus ihrem Bereiche ausschließen.
Die Ethik ist eine praktische Disziplin, die praktische
Philosophie. Alle praktischen Disziplinen beruhen auf
theoretischen, sie sind nichts anderes als Anwendungen
theoretischer Erkenntnisse zur Lösung praktischer Aufgaben.
In der Wissenschaft ist die Yernunfttätigkeit, die
Erkenntnis, die Spekulation und die Theorie früher als die
Willenstätigkeit, die Praxis; darum ist die Ethik als
praktische Philosophie abhängig von der theoretischen Philosophie;

diese muß gewisse Bedingungen erfüllen, von denen


die Möglichkeit der Ethik, der sittlichen Ordnung abhängig
ist Jeder Versuch, eine Ethik konstruieren zu wollen,
unabhängig von der theoretischen Philosophie, jeder Versuch,
die Hegemonie der praktischen Vernunft, des Willens über
die spekulative Vernunft zu proklamieren, ist gescheitert
und mußte scheitern.
Insbesondere sind es zwei Kategorien von Bedingungen
und Voraussetzungen, welche die theoretische Philosophie
erfüllen muß — erkenntnistheoretische und metaphysische
— von welchen die Möglichkeit einer Ethik abhängig ist.
Kann die moderne theoretische Philosophie diese
Bedingungen erfüllen? Wir antworten mit Nein. In der
modernen Philosophie und mit den Prinzipien der modernen
Philosophie ist eine Ethik im eigentlichen Sinne, eine
sittliche Ordnung nicht möglich. Das ethische Problem kann
durch die moderne Philosophie nicht gelöst werden.
I. Die erkenntnistheoretischen Bedingungen
der Möglichkeit der Ethik
Die sittliche Handlung setzt als Substrat die reale
physische Handlung voraus, wie die vernünftige Natur des
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 245

Menschen die animalische voraussetzt. Daher ist das


Substrat der sittlichen Ordnung die reale, physische Ordnung der

Natur. Die sittliche Pflicht, das Recht meines Mitmenschen


zu achten, hat zur Voraussetzung, daß es in Wirklichkeit
von meinem subjektiven Denken unabhängige Rechtssubjekte
gibt, daß zwischen den Menschen untereinander wirkliche,
reale Beziehungen existieren, welche in der allgemeinen
physischen Natur und in der spezifischen Natur des Menschen,

unabhängig von meinem Denken begründet sind. Daher


muß die theoretische Philosophie, die Erkenntnistheorie, den
Beweis erbringen, daß unsere Erkenntnis das wirkliche Sein
der Dinge erreicht, daß unsere Erkenntnis einen objektivrealen
Wert besitzt — Die Ethik als Wissenschaft setzt
allgemeine Begriffe und allgemeine, notwendige Prinzipien
von objektiv-realem Wert voraus, ohne welche überhaupt
keine Wissenschaft möglich ist, und um so weniger eine Ethik
als praktische Wissenschaft.
Die Erkenntnistheorie der modernen Philosophie ist
nicht imstande, diese Bedingungen zu erfüllen. Die
Erkenntnistheorie in der modernen Philosophie ist entweder eine

empiristische oder eine idealistische. Alle übrigen


erkenntnistheoretischen Formen und Versuche in der modernen
Philosophie müssen auf die eine oder die andere dieser beiden
Grundformen zurückgeführt werden und beide erfüllen nicht
die Bedingungen für die Möglichkeit der Ethik.
Der Empirismus gelangt nicht zu allgemeinen Begriffen
und Prinzipien, die für die Ethik notwendig sind. Der
Empirismus kann höchstens nachweisen, wie die Menschen tatsächlich

handeln, er beschränkt sich auf das, wie es ist. Die


Ethik hat aber nicht allein zu zeigen, wie die Menschen
tatsächlich handeln, sondern auch wie sie handeln sollen,
um sittlich gut zu sein. Eine Hauptaufgabe der Ethik ist es,
den Nachweis zu erbringen, w i e es sein soll. Auf dem Boden
des Empirismus kann höchstens eine Ethographie, eine
Beschreibung der Sitten und Gewohnheiten der Menschen, oder
eineMoralstatistik gedeihen, aber keine Ethik als Wissenschaft.
Der Idealismus hat den Kontakt und die Fühlung mit
der Wirklichkeit verloren. Seine allgemeinen Begriffe und
Prinzipien haben nur einen regulativen Wert für das Denken,
aber keinen konstitutiven, objektiv-realen Wert; darum sind
sie nicht hinreichend zur Begründung der Ethik als
praktischer Wissenschaft.
244 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

Kant versuchte allerdings eine Synthese zwischen


Empirismus und Idealismus, ist aber im Grunde ein Idealist
geblieben. Der Idealismus bei Kant erscheint in der Form des
Subjektivismus, Phänomenalismus. und darum ist seine Ethik
nur eine Dialektik der sittlichen Begriffe a priori, oder eine
Phänomenologie der sittlichen Erscheinungen des denkenden
Subjektes, ohne allen praktischen Wert. Der Idealismus von
Fichte, Schölling und Hegel kommt über Kant nicht hinaus.
Indem nun Paulsen1 die Ergebnisse der Erkenntnistheorie
der modernen Philosophie auf die Ethik anwendet,
kommt er zu folgenden Ansichten: „Es kann eigentlich keine
allgemein gültige Moral in concreto geben. — Damit ist schon
gesagt, daß es auch für verschiedene Zeiten eine verschiedene
Moral gibt. — Und nun wird man noch einen Schritt weiter
gehen und sagen müssen: auch für verschiedene Gruppen
desselben Volkes, ja zuletzt für die verschiedenen Individuen
gilt eine besondere Moral. — Bestehen bleibt dabei anderseits,
daß die Regeln der Moralphilosophie auch nicht schlechthin
allgemeingültig sind."
Mit Vorliebe vergleicht Paulsen2 die Ethik mit derDiätik
und der Hygiene und sagt: „Wie für den Engländer und
Neger eine verschiedene Diätik gilt, so auch eine verschiedene
Moral. — Und so ist auch das Verhalten eines
Engländers
gegen einen Neger nicht bloß tatsächlich ein anderes,
als gegen einen Landsmann, sondern es gilt für diesen Verkehr
auch wirklich eine andere Moral. — Läßt man eine
verschiedene Moral für Engländer und Neger
zu, dann gibt es
wohl auch eine verschiedene Moral für Männer und Weiber,
für Künstler und Kaufleute, ja schließlich also eine besondere
für jeden einzelnen Menschen? In der Tat, die Folgerung
wird gelten. Aber ich sehe nicht, wie sie vermieden werden
kann." Wir geben Paulsen recht. Nach den Ergebnissen der
Erkenntnistheorie der modernen Philosophie sind seine
Folgerungen unvermeidlich. Es kann keine allgemein gültige
Moral und somit auch keine Ethik als Wissenschaft mehr
geben. Und insofern ist auch die Ansicht Paulsens' von der
Bedeutung der Ethik folgerichtig. „Der Geltungsbereich
jeder Moralphilosophie fällt hier noch immer mit dem Kulturkreis
zusammen, aus dem sie selbst hervorgeht, sie mag sich
System der Ethik, 4. Aufl., Bd. I, p. 19, 21 u. ff.
1

2
A. a. O. p. 19. » A. a. 0. p. 24.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 245

nun dieser Beschränkung bewußt sein oder nicht. Ihre


Aufgabe kann nur sein, die allgemeinen Umrisse einer
Lebensführung zu ziehen, deren Innehaltung für Genossen dieser

Kulturgemeinschaft Bedingungen gesunder, tüchtiger und


glücklicher Lebensentwicklung ist." Die Herren- und
Sklaven-Moral Nietzsches ist nur eine weitere Folgerung.
Eine andere Bestätigung der Unfähigkeit der modernen
Philosophie, auf Grundlage ihrer Erkenntnistheorie eine
Ethik zu begründen, liefert uns Paulsen durch sein Bekenntnis
der Ohnmacht der modernen Philosophie dem moralischen
Nihilismus gegenüber. Den moralischen Nihilismus schildert
Paulsen folgendermaßen1: „Er ist in konkretpersönlicher
Erscheinung charakterisiert durch die vollständige Abwesenheit
des Gewissens in jeder Gestalt, sowohl der des
Pflichtbewußtseins als der eines Lebensideals. Als Theorie oder
Räsonnement verneint er die Gültigkeit irgendwelcher Pflichtgebote
oder Sittengesetze. Er sagt : „Pflicht ist ein leerer
Name ; das Leben ist der Kampf ums Dasein, und im Kampfe
ums Dasein ist jedes Mittel recht, Mord, Lüge, Gewalttat
sind gut, vorausgesetzt daß sie erfolgreich sind sie sind ;

bloß von den Schwächeren, von den Herdentieren als schlecht


verschrien, weil sie nicht mitkönnen; oder auch: Recht
und Gesetz und Religion ist von den Gewaltherrschern
erfunden, um die Gemüter der Unterworfenen innerlich zu
knechten; der Aufgeklärte weiß, daß ihn nichts bindet." Und
ebensowenig wie es Pflichten gegen andere gibt, kann auch
von Pflichten gegen das Eigenleben die Rede sein.
Sogenannte Ideale sind Seifenblasen, an denen sich Kinder
ergötzen, oder mit denen listige Leute die Toren täuschen.
Gut ist: tun und rücksichtslos durchsetzen, worauf eben
gegenwärtig die Begierde gerichtet ist. Irgendwo war als
das Symbol eines vornehmen Russen angeführt: „Je ne crois
rien, je ne crains rien, je n'aime rien; — mich bindet nichts,
keine Sitte und keine Pflicht, keine Furcht und keine
Hoffnung, keine Liebe und kein Ideal ; das freie, souveräne
Individuum lebt im Augenblick, unbekümmert um die
Zukunft, wie um die Vergangenheit."
Nachdem Paulsen so den moralischen Nihilismus
geschildert hat, fragt er sich nun: „Ist es möglich, den Nihilismus
zu widerlegen, kann, wer so räsonniert, durch Gründe
1
A. a. 0. ,p. 344—45.
(Divus Thomas VI. Jahrbuch für Philosophie etc. XXXIII.) 17
246 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

genötigt werden, einzugestehen, daß er unrecht hat? — Ich


glaube nicht. — Logisch läßt sich dieser Standpunkt durchaus
festhalten. Man kann ihn nicht zum Eingeständnis der
Falschheit zwingen." Wenn aber die moderne theoretische
Philosophie ohnmächtig ist dem moralischen Nihilismus
gegenüber, dann kann sie um so weniger fähig sein, eine
Ordnung, eine Ethik zu begründen.
sittliche
Die Erkenntnistheorie der modernen Philosophie führt
schließlich zum Agnostizismus. Da man vielfach zur
Überzeugung kam, daß man mit der Vernunft in der modernen
Philosophie keine Ethik begründen kann, hat man den
Versuch gemacht, ohne Vernunft eine Moral zu schaffen. Die
englischen Moralphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts,
wie Jacobi und Herbart, haben den Moralsensismus oder
Moralsentimentalismus geschaffen. Nicht mit der Vernunft,
sondern mit einem moralischen Sinn und Instinkt, mit dem
Gefühl und Gemüt soll die Moral möglich gemacht werden. Der
Moralsensismus ist eine Tat der Verzweiflung, und es war
eine leichte Sache für Kant, seine Haltlosigkeit nachzuweisen.
Der Versuch, eine durch die Vernunft und theoretische
Philosophie nicht bedingte Ethik zu schaffen, wurde nicht
aufgegeben, und so hat man den Voluntarismus geschaffen.
Was die Vernunft nicht kann, soll der Wille ermöglichen.
Schopenhauer, Wundt und Paulsen sind die hervorragendsten
Vertreter des Voluntarismus.
Der Voluntarismus behauptet, daß der Wille die primäre
Seite des Seelenlebens ist. Der Primat im Menschen gehört
dem Willen und nicht der Vernunft, daher ist der Wille und
nicht die Vernunft in der Moral bestimmend und maßgebend.
So sagt Paulsen1: „Man kann sagen: Die Entscheidung über
die Natur des höchsten Gutes ist überhaupt nicht eigentlich
Sache des Verstandes, sondern des Willens Der
Verstand als solcher weiß überhaupt nichts von Werten, er

unterscheidet wahr und unwahr, aber nicht gut und schlecht."


Also der Wille und nicht die Vernunft bestimmt, was gut
oder schlecht ist. Gut ist, was ich will, schlecht, was ich
nicht will, also wird die Moral, die Ethik durch den Willen
und nicht durch die Vernunft bedingt.
Der Wille kann aber nur das Materialprinzip und nicht
das Formalprinzip der Sittlichkeit sein. Die Philosophie,

1
A. a. 0. p. 10—11.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 247

wenn sie überhaupt möglich ist, ist und bleibt eine


Vernunftwissenschaft und kann nur durch die Vernunft und nicht
durch den Willen hervorgebracht werden, und solange die
Ethik eine praktische Philosophie sein soll, kann sie nur,
wie die Philosophie überhaupt, durch die Vernunft und nicht
durch den Willen begründet werden. Nicht Wille, sondern
Vernunft, nicht Voluntarismus, sondern Intellektualismus ist
die eigentliche Vorbedingung der Möglichkeit der Ethik.
Eine andere Konsequenz des Subjektivismus und
Relativismus der Erkenntnistheorie in der modernen Philosophie
ist der Moralindividualismus und der Moralautonomismus.
Die sittlichen Prinzipien, soweit man noch solche Annimmt,
können auf die äußeren Handlungen, die Beziehungen der
Menschen untereinander überhaupt nicht angewandt werden,
sie haben nur Geltung für das handelnde Subjekt, das
Individuum, und dieses ist in der sittlichen Ordnung autonom.
Kant selbst hat diese Konsequenz aus seinem Subjektivismus
gezogen, indem er erklärt, daß die sittlichen Prinzipien,
das Sittengesetz, nur Anwendung finden können auf die
Gedanken, Gesinnungen, überhaupt auf die inneren
Handlungen, das Forum internum, und nicht auf die äußeren

Handlungen, das Eorum externum. Die äußeren Handlungen


des Menschen gehören nach Kant nicht zur sittlichen
Ordnung, sondern zur Rechtsordnung und diese hat mit der
Sittlichkeit nichts gemein. Sittlichkeit gründet sich auf
Autonomie, das Recht auf Heteronomie. Daher ist Recht
kein sittlicher Begriff, Rechtserfüllung beruht nicht auf
sittlichen Motiven, Rechtspflichten sind keine sittlichen
Pflichten, das Recht hat mit dem Gewissen nichts zu tun.
— Wenn aber die äußeren Handlungen, die Beziehungen
des Menschen zu seinen Mitmenschen, also die eigentliche
Praxis, nicht zur sittlichen Ordnung gehören, dann hat die
Ethik, die sittliche Ordnung, keinen realen, wirklichen
Wert, wenigstens nach außen, und hört somit auf, eine
praktische Philosophie zu sein.
Eine logische Folge des Moralindividualismus und
Autonomismus ist die Negation des Naturrechtes. Ein Naturrecht
wird nach solchen Voraussetzungen a priori unmöglich,
denn das Naturrecht hat die Beziehungen der Menschen
untereinander, insoweit diese durch die äußeren Handlungen
zum Ausdruck kommen, zu bestimmen und .zu regeln, nach
den allgemein gültigen Prinzipien der Sittlichkeit, welche
17*
248 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

sowohl auf das Forum internum, wie auf das Forum externum
ihre Anwendung finden müssen.
Es ist ferner eine logische Konsequenz des Moralindividualismus
und Autonomismus, daß die Jurisprudenz, Soziologie
und Nationalökonomie keine ethischen Wissenschaften
sein können. Ja selbst die Pädagogik muß logisch, soweit sie
das äußere Verhalten des Kindes in Betracht zieht, von der
Ethik losgelöst werden. Die moderne Philosophie kann
diesen Wissenschaften keine ethische Grundlage und Prinzipien
geben. Diese Konsequenzen mögen vielen als
übertrieben erscheinen, sie sind aber dennoch logisch, sie können
nicht allein berechtigterweise gezogen werden, sondern sie
sind auch tatsächlich gezogen und angewandt worden. So
kommt es, daß viele in der Jurisprudenz, Nationalökonomie,
Soziologie und Politik, ja selbst Pädagogik, Theorien und
Ansichten verteidigen, die ihnen selbst praktisch und absurd
erscheinen und mit ihrem sittlichen Bewußtsein in Widerspruch
stehen. Man kann es noch als ein Glück ansehen, daß
die Menschen oft weder in der Theorie noch in der Praxis
konsequent sind ; selbst die Philosophen, die oft in der
Praxis besser sind als ihre philosophischen Theorien. Denn,
wenn auch die gesunde, natürliche Vernunft durch Sophismen
vergewaltigt und durch eine sogenannte wissenschaftliche
Methode geknebelt wird, durchbricht sie von Zeit zu Zeit,
besonders im praktischen Leben, den unnatürlichen Zwang
und protestiert gegen ihre Vergewaltigung. Sollten aber
einmal die erkenntnistheoretischen Prinzipien der modernen
Philosophie konsequent durchgeführt werden, dann wird
man klar sehen, daß eine Ethik nicht mehr möglich ist,
eine sittliche Ordnung nicht mehr begründet werden kann.
Die Vertreter der modernen Philosophie lieben es nicht,
wenn man auf die destruktiven Tendenzen und Wirkungen
ihrer Erkenntnistheorien verweist, und man hat es Nietzsche
sehr übel genommen, daß er die Konsequenzen gezogen und
gewissen Vertretern der modernen Wissenschaft „Feigheit
vor jedem rechtschaffenen Ja und Nein — Halbheiten und
Drei-Achtelseiten" vorgeworfen hat1. Paulsen will
beschwichtigen. „Vor allem ist zu sagen Keine Theorie der
:

Erkenntnis ändert an dem Bestand und Wert unserer


Erkenntnis das mindeste. Die Wissenschaften bleiben nach

Nietzsche W. W., Bd. VIII, p. 312. Umwertung aller Werte, I.


Das ethische Problem in der modernen Philosophie 249

wie vor, was sie sind; von einer Aufhebung oder Zerstörung
des Wissens durch eine theoretische Reflexion über das
Wissen kann nicht die Rede sein. Und auch die Bedeutung
der Wissenschaften für uns bleibt dieselbe, weder ihr
praktischer noch ihr theoretischer Wert wird durch die Kritik
vermindert. Unsere Astronomie, Physik, Psychologie,
Geschichte sind uns, was sie sind, und leisten uns, was sie
leisten, ganz ohne Rücksicht auf den Ausfall einer
nachträglichen erkenntnistheoretischen Überlegung, wie sie denn
auch in der geschichtlichen Entwicklung von ihr auf keine
Weise als abhängig erscheinen1." Eine ganz seltsame
Ansicht, um sich aus der Verlegenheit zu ziehen und die
destruktiven Konsequenzen der modernen Erkenntnistheorien
zu leugnen. Man hat ja immer behauptet, daß die
Fortschritte der modernen Wissenschaft durch die moderne
Erkenntnistheorie bedingt sind, ja daß selbst der Aufschwung
der Naturwissenschaften der aphoristischen Kantschen
Erkenntnistheorie zu verdanken sei. Kant war jedenfalls einer
anderen Ansicht als Paulsen und würde sehr erstaunt sein, daß
seine erkenntnistheoretische Synthese für Bestand, Wert
und Bedeutung der Wissenschaften belanglos wäre. Es wäre
ein Testimonium paupertatis für die moderne Philosophie,
wenn ihre Erkenntnistheorie für die Wissenschaft keine
Bedeutung hätte.
Wir müssen ferner bemerken : es gibt Wissenschaften
und Wissenschaften. Was die empirisch-positiven
Wissenschaften
anbelangt, so hat der erkenntnistheoretische Standpunkt
praktisch allerdings weniger Einfluß auf Bedeutung
und Bestand dieser Wissenschaften, aus dem einfachen
Grund, v/eil die Wirklichkeit, das Gegebene stärker ist als
die subjektive Ansicht des Gelehrten. Ob ein Astronom in
der Erkenntnistheorie ein Idealist oder ein Realist ist, wird
praktisch für den Bestand und die Bedeutung der Astronomie
gleichgültig sein. Es handelt sich in diesem Falle nur um
den Standpunkt des Beobachters und nicht um die Sache
selbst. Theoretisch bleibt aber doch ein allgemein
wissenschaftlicher Unterschied bestehen. — Es gibt aber auch
Wissenschaften für deren Bestand Und Bedeutung der
erkenntnistheoretische Standpunkt geradezu wesentlich ist,

Paulsen, Einleitung in die Philosophie, II. Buch, Die


erkenntnistheoretischen Probleme, Kap. 2.
250 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

ja sogar eine Bedingung der Möglichkeit diese Wissenschaften


ist. So hat der erkenntnistheoretische Standpunkt eine
wesentliche Bedeutung für die Philosophie im allgemeinen,
insbesondere für die Metaphysik, ohne welche eine Ethik
nicht möglich ist. Mit der empiristischen und idealistischen
Erkenntnistheorie kann keine Metaphysik begründet werden,
und somit auch keine Moral und Ethik. Der verschiedene
erkenntnistheoretische Standpunkt ändert den Wert und
die Bedeutung der \ erschiedenen Wissenschaften, und wir
werden sehen, daß die Ethik Paulsens, vermöge seines
Standpunktes, wesentlich verschieden ist von der eigentlichen

Ethik; eine solche im historischen Sinne ist mit der


Erkenntnistheorie Paulsens nicht möglich. Auch die Bedeutung
der Wissenschaften für uns bleibt nicht dieselbe, je nachdem
der erkenntnistheoretische Standpunkt ein verschiedener
ist. Die Bedeutung des erkenntnistheoretischen Standpunktes
für uns ist eine geradezu wesentliche in den praktischen
Wissenschaften, also auch in der Ethik. Die praktischen
Wissenschaften leiten den Menschen zur Tätigkeit an,
bedingen und beeinflussen dieselbe, da natürlicherweise die
Tätigkeit durch die Erkenntnis, die Praxis durch die Theorie
bedingt ist. Wie die Ästhetik nicht allein eine Beschreibung
des Kunstschönen ist, sondern auch zugleich Prinzipien
und Regeln aufstellt, nach welchen das Kunstschöne
geschaffen werden soll, wie die Tätigkeit des Künstlers bedingt
und beeinflußt wird durch seinen ästhetischen Standpunkt,
so ist es auch in der Ethik.
Die Ethik ist nicht allein eine Ethographie, eine
Beschreibung der Sitten, der Moral als Praxis, sie ist auch
eine Theorie, welche Prinzipien und Regeln aufstellt, nach
welchen der Mensch handeln soll, um sein Glück und
Wohlergehen zu fördern, Bei einem normalen Menschen
wird die Ethik als Theorie seine Handlungen, seine Praxis
bestimmen und beeinflussen; aber ebenso wird auch die
Negation der Ethik als Theorie, die Behauptung, daß eine
Ethik als Theorie philosophisch nicht begründet werden
kann, eine Reaktion hervorbringen, welche bei einem
konsequent denkenden Menschen zum moralischen Nihilismus
führen wird. Wenn Gewissen und Pflicht philosophisch nicht
erklärt und begründet werden können, so wird man konsequent
zur Annahme gedrängt, daß sie nur unerklärliche und
unangenehme Begleiterscheinungen der neurologischen Pro-
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 251

zesse sind, von denen man sich nach Möglichkeit


losmachen soll.
Um den Schein zu wahren, daß der erkenntnistheoretische
Standpunkt den Wert und die Bedeutung der
Wissenschaften nicht ändere, und um den Schein zu wahren,
als ob in der modernen Philosophie eine Ethik noch möglich
wäre, nimmt man seine Zuflucht zu Kunstgriffen, die
für die Nichtkenner der Terminologie der modernen
Philosophie geradezu irreführend sind. Die moderne Philosophie

arbeitet intensiv an einer Umbildung aller Begriffe und


Umwertung aller Werte. Die herkömmliche, traditionelle,
historische Terminologie soll bleiben, aber der Sinn, die
Bedeutung der Worte soll geändert, umgedeutet werden;
neue Begriffe, neue Werte sollen ihnen unterlegt werden.
Als Beispiel kann uns Paulsen1 dienen. Nach seiner
Ansicht gibt es keine Seele als Substanz: Die Seele ist
die auf nicht weiter sagbare Weise zur Einheit
verbundene Vielheit innerer Erlebnisse: aber, sagt Paulsen:
„Natürlich werden wir nun nicht sagen : also gibt es keine
Seele, und am Sprachgebrauch werden wir gar nichts ändern,
wir werden nach wie vor von der Seele reden und von
Vorgängen, die in ihr sich zutragen, von Gedanken, die sie
hervorbringt, und von inneren Regungen, die sie hegt und
ablehnt. Wir werden uns auch nicht scheuen, das Wort Substanz
von der Seele zu brauchen, oder von ihren Zuständen und
Eigenschaften zu reden, selbst das verpönte Wort
Seelenvermögen werden wir nicht vermeiden. Es handelt sich nur
darum, ein für allemal uns deutlich zu machen, was wir
damit meinen. Und es wird sich dann herausstellen, daß
alle jene herkömmlichen Beziehungen in der Tat einen guten
Sinn haben, nur nicht diesen, den eine vom physikalischen
Atomismus mißleitete Metaphysik (Paulsen will offenbar
sagen: Die herkömmliche Metaphysik) ihnen beilegt." So
wird auch die Bezeichnung, das Wort „Ethik" beibehalten,
nur hat es nicht den Sinn und die Bedeutung, welche
gewöhnlich damit verbunden wird. Durch eine solche Praxis
soll der Schein gewahrt bleiben, als ob in der modernen
Philosophie eine Ethik noch möglich wäre.

'
Einl. in d. Phil., II. Buch, J. Kap.
252 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

II. Die metaphysischen Bedingungen der


Möglichkeit der Ethik
Aristoteles und Thomas von Aquin bezeichnen die
Metaphysik und gewisse metaphysische Bedingungen als eine
indispensable Grundlage der Ethik, denn die Ethik setzt die
reale metaphysische Ordnung der Dinge voraus und braucht
metaphysische Begriffe und Prinzipien.
Die moderne Philosophie bringt es entweder überhaupt
zu keiner Metaphysik oder sie ist so mangelhaft, daß sie
die geforderten Bedingungen nicht erfüllen kann.
Der Empirismus kommt zu keinen metaphysischen
Begriffen und Prinzipien, sondern ei bleibt in der Erfahrung
stecken. Die Metaphysik ist für den Empirismus eine terra
incognita.
Der Idealismus, Subjektivismus und Phänomenalismus
bringen es zu keiner Metaphysik, weil sie das wirkliche
Sein, die reale Ordnung nicht erreichen und über die
idealsubjektive Ordnung nicht hinauskommen.
Es gibt moderne Philosophen, die die Metaphysik als
Grundlage der Ethik anerkennen, wie Leibnitz, Wolff,
Kant, Schopenhauer und Hartmann. So sagt Kant1: „Die
Metaphysik muß vorausgehen und ohne sie kann es überall
keine Moralphilosophie geben." Aber diese Philosophen
bringen es zu keiner eigentlichen Metaphysik.
Andere Philosophen erklären a priori, daß die Ethik
nicht auf die Metaphysik gegründet werden soll. So z. B.
Wundt, dessen Ethik eine Völkerpsychologie ist, als
Konsequenz des Psychologismus, oder Paulsen, dessen Ethik
eine Diätik ist. Die Evolutionisten brauchen auch keine
Metaphysik, ihre Ethik ist nur eine Physik der Sitten.
So haben wir folgendes Resultat: Diejenigen
Philosophen, welche die Metaphysik als Grundlage der Ethik für

notwendig erachten, bringen es zu keiner Metaphysik; wieder


andere erklären die Metaphysik für unmöglich oder wenigstens
als nicht notwendig für die Ethik.
Wir sind der Meinung, daß die Metaphysik eine
indispensable Grundlage der Ethik ist und bezeichnen als Minimum
der metaphysischen Bedingungen folgende: Erstens
die Substantialität, Kontinuität und Identität des Ich als
Prinzip der sittlichen Handlungen. Zweitens die Teleologie
1
Grundlage zur Metaphysik der Sitten. Vorrede.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 258

der sittlichen Handlungen, d. h. die Zweckbeziehung der


sittlichen Handlungen unmittelbar auf das sittlich Gute und
mittelbar auf das höchste Gut, als letztes Ziel des Menschen.
Drittens die metaphysische Freiheit des Willens. Viertens
die Existenz eines persönlichen Gottes, als Prinzip und
letztes Ziel der sittlichen Ordnung.
1. Der Begriff der Substanz hat für die Metaphysik
und Ethik eine fundamentale Bedeutung. Der Monismus,
begründet durch Spinoza, beherrscht die modere Philosophie.
Der Monismus nimmt nur eine Substanz an ; die konkreten
wirklichen Einzeldinge sind nur Erscheinungen, Akzidenzien,
Modi, Bestimmungen der einen Substanz. — Mit dem
monistischen Begriff der Substanz ist aber eine Ethik
unmöglich, denn angewandt auf die Ethik kommen wir zu
folgendem Dilemma: Entweder ist das Ich die einzige
Substanz, oder es ist mein Ich keine Substanz.
Fichte behauptet, die einzige Substanz, das Ding an
sich, ist das Ich, alles übrige ist durch das Ich gesetzt und
existiert für das Ich. Dieser Solipsismus von Fichte schließt
die Möglichkeit der Ethik aus.
Spinoza und die Monisten entscheiden sich für die
zweite Alternative. Der Mensch ist keine Substanz, sondern
nur eine Vereinigung, Zusammensetzung oder ein Bündel
von zwei Gruppen von Erscheinungen, Modi, des physischen
und psychischen, der Ausdehnung und des Denkens. — Das
was wir den Körper des Menschen nennen, ist nur ein
Konglomerat von Modi der Ausdehnung; was wir Seele nennen,
ein Konglomerat von Modi des Denkens. — Im Menschen
gibt es nichts Beharrliches, er verändert sich fort und fort,
die Kontinuität und Identität des leb, der Persönlichkeit
ist nicht möglich.
Die moderne Psychologie und Psychophysik akzeptiert
die Anschauungen von Spinoza und hat auf Grund des
Monismus den Phänomenismus oder Aktualismus geschaffen.
Es gibt weder eine materielle noch eine geistige Substanz,
es gibt nur körperliche und psychische Zustände, Aktualitäten,
Erscheinungen oder Tätigkeiten.
Man meint Spinoza zu hören, wenn Taine1 sagt: La
substance spirituelle est un fantôme, créé par la conscience,
de même la substance matérielle est un fantôme créé par

1
De L'Intelligence, éd. 4. Préface, p. 8 et 45.
'254 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

les sens, — il n'y a rien de réel dans le moi, — le moi n'est


que la trame continue des événements successifs. Nach
Ribot1 ist das Ich ein: tout de coalition — ein Complexus
von Phänomenen. — Nach Comte ist das Ich: un état
fictive — eine metaphysische Fiktion. Nach Alfred Fouillée
ist das Ich die Einheit der Empfindungen und Wollungen. —
Spencer2 weiß nichts von einer geistigen Substanz, was wir
Geist nennen ist nur ein Aggregat von Empfindungen und
Gefühlen. Von der englischen Psychologie überhaupt sagt
Ribot8: sie befaßt sich nur mit Phänomenen; was Seele
oder Geist ist, weiß sie nicht.
Die deutsche Psychologie steht auf demselben Standpunkt
und hat der Metaphysik gründlich entsagt. Fechner,
Wundt und Jodl anerkennen keine Lebenskraft, kein Lebensprinzip,
keine Seelensubstanz. Paulsen* resümiert den
monistischen Aktualismus, indem er sagt: Ich bin mit Fechner
und Wundt der Überzeugung: Es gibt keine für sich seiende,
beharrliche, immaterielle Seelensubstanz. — Ein besonderes
Ding „Seele" gibt es überhaupt nicht.
Die körperlichen und die psychischen Zustände und
Erscheinungen, aus welchen der Mensch zusammengesetzt
ist, sind einerseits nur zwei Ausdrücke oder zwei Seiten
ein und desselben Dinges, der einen Substanz, anderseits
sind die psychischen Phänomene, und somit auch die Sittlichkeit,
die sittlichen Phänomene nur ein Ausdruck der körperlichen
Zustände, ein Ausdruck des Organismus. Die Folge
ist, daß die sittlichen Phänomene biologische Phänomene
sein müssen und biologisch erklärt werden müssen. Somit
hat man das ethische Problem in ein biologisches Problem
verwandelt. Der monistische Aktualismus will die Sittlichkeit,
die sittlichen Phänomene biologisch erklären. Die
sittlichen Phänomene sollen nur Begleiterscheinungen des
neurologischen Prozesses sein, oder Parallelerscheiuungen einer
bestimmten biologischen Entwicklungsstufe. — Ist der Organismus
gesund, in sich und mit der Außenwelt harmonisch
.gestimmt, dann ist auch das Ich sittlich gesund und gut;
ist dagegen der Organismus nicht gesund, nicht harmonisch
.gestimmt, dann ist auch das Ich sittlich krank, schlecht.
1
Les Maladies de la Personalité, éd. 7, Inirod. p. 2—3.
2
Prinzipien der Psychologie, Bd. I. zweiter Teil, Kap. I.
' Psych, anglaise, p. 423.
4
Einl. in die Philosophie, p. 144.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 255

Eine Folge des Versuches, die Sittlichkeit und die


sittlichen Phänomene biologisch erklären zu wollen, ist es, daß
der eigentliche Begriff der Ethik dabei zugrunde gehen muß,
daß die Ethik, die sittliche Ordnung a priori geleugnet wird
und nur die physische Ordnung übrig bleibt. Im monistischen
Aktualismus wird die individuelle Ethik zu einer
individuellen Hygiene und Diätik ;ist der biologische Prozeß
in der Ordnung, dann ist auch die Sittlichkeit in Ordnung.
Die soziale Ethik wird zu einer Diätik der Massen, zu einer
Volkshygiene. Ist der soziale Organismus gesund, dann ist
auch die Volksmoral gesund.
Auf diese Auffassung der Ethik hat Lombroso seine
Theorie der Kriminalistik gegründet. Das Verbrechen, das
Laster ist ein notwendiges Produkt, eine biologische Funktion
des krankhaften Organismus. Der hereditär belastete, hygienisch
und diätisch schlecht gepflegte Organismus bringt
notwendig die Giftblüte des Verbrechens und des Lasters
hervor. Die sozialen Verbrechen sind notwendige Produkte
des kranken sozialen Organismus. Der Verbrecher ist nur
das Organ, welches den Virus, den Giftstoff aus dem kranken
sozialen Organismus ausscheidet und auf den krankhaften
Zustand aufmerksam macht.
In der Ethik des monistischen Aktualismus sind die
Begriffe der Verantwortlichkeit und Strafe nicht möglich. —
Wenn die sittlichen Handlungen nur biologische Funktionen
und Prozesse sind, dann kann von einer Verantwortlichkeit
und Strafe keine Rede sein. Für die Beschaffenheit seines
Organismus, für die biologischen Funktionen kann niemand
verantwortlich gemacht werden. — Ist das Ich keine
Substanz, ist die Kontinuität und Identität des Ich eine Fiktion,
dann würde ein anderes Subjekt die böse Tat begehen und
ein anderes Subjekt dafür bestraft werden, was gewiß ein
TJnsinn wäre.
2.Die sittliche Ordnung, die sittlichen Handlungen
sind wesentlich teleologisch. Durch seine Handlungen erstrebt
der Mensch sein Gesamtwohlergehen, seine Glückseligkeit. —
Aber nicht alle Handlungen des Menschen erfordern sein
Wohlergehen; er muß eine Auswahl treffen, manches tun,
manches lassen. Die Handlungen, die zweckmäßig sind, fördern,
die unzweckmässig sind, hindern sein Wohlergehen. Darum
setzt die Möglichkeit der sittlichen )rdnung der Ethik
256 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

objektiv-reale Zwecke und in letzter Instanz einen letzten


Zweck des Menschen voraus.
Die moderne Philosophie leidet an Teleophobie, man will
von Zwecken nichts wissen. Spinoza1 sagt Omnes causas :

finales nihil, nisi humana esse figmenta: Zwecke sind Fiktionen,


und soweit der Einfluß des Monismus reicht, teilt man
diese Ansicht. Wenn man in der modernen Philosophie noch
von einer Teleologie spricht, so versteht man darunter nur,
eine Zweckmäßigkeit ohne Zweckidee, eine Zielstrebigkeit
ohne Ziele, eine Teleologie ohne teleothetische Vernunft oder
den inneren, notwendigen Zusammenhang der psychischethischen
Erscheinungen. Wenn nun Paulsen sagt, daß eine
solche Teleologie angenommen werden kann von den Materialisten
und nicht unvereinbar ist mit der Ansicht von Spinoza
und Schopenhauer, die alle insgesamt die Teleologie leugnen,
so geben wir dies zu, denn eine solche Teleologie ist eben die
Negation der eigentlichen Teleologie, und darum kann sie
nicht angenommen werden von jenen, die noch an einer
Teleologie festhalten.
Eine Konsequenz der Leugnung der Teleologie ist es, daß
die moderne Ethik den Begriff des „Sollens" nicht begründen
kann und leugnen muß. Gibt es keine Zwecke, kein letztes
Ziel, auf welche sich die menschlichen Handlungen beziehen,
so gibt es auch kein Sollen. Gibt es aber kein Sollen, dann
kann es auch kein Sittengesetz geben. Es fällt jeder Unterschied
zwischen dem Sittengesetz und den übrigen
Naturgesetzen. Daher sind nach der modernen Ethik die Gesetze
der Moral Naturgesetze unseres eigenen Wesens, die
sittlichen Handlungen nur automatische Reaktionen, die durch
die Umstände ausgelöst werden. Wenn also die Menschen
im allgemeinen nicht lügen, so geschieht dies nicht darum,
weil das Lügen nicht sein soll, sondern weil es nicht sein kann.
3, Was die Freiheit des Willens anbelangt, können
wir uns kurz fassen. Wer die Freiheit des Willens leugnet,
der leugnet den Unterschied von Gut und Bös, Recht und
Unrecht, die Ethik überhaupt. Der kategorische Imperativ :
Du sollst das Gute tun und das Böse meiden, setzt das
Können voraus, und dieses Können ist die Freiheit. Kurz
und gut bemerkt Thomas von Aquin2 „Respondeo dicendum,
:

Eth. P. I, prop. 36, App.


2
S. Theol. I q. 83 a. 1. c.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 257

quod homo est liberi arbitrii; alioquin frustra essent consilia,


exhortationes, praecepta, prohibitiones, praemia et poenae."
Ohue Freiheit des Willens, keine Sittlichkeit.
Spinoza leugnet rundweg die Freiheit des Willens: in
rerum natura nullum datur contingens1: Alles, auch die
menschlichen Handlungen, sind notwendige Entwicklungsmomente
des einen Seins. Diese Auffassung ist allgemein in
der modernen monistischen Philosophie. Die moderne
Philosophie kennt überhaupt nicht einen Willen im gewöhnlichen

Sinne, noch weniger eine Freiheit des Willens. Paulsen


sagt2: „Die moderne Philosophie hat das Problem (der
Willensfreiheit) freilich nicht gelöst, aber sie läßt es fallen."
Als Ersatz für die metaphysische, wahre Freiheit des
Willens hat man die sogenannte psychologische Freiheit des
Willens erfunden, über welche Paulsen3 sich folgendermaßen
äußert: „Frei wird eine Handlung genannt, sofern sie ihre
nächste Ursache in dem Willen des Handelnden hat, unfrei
dagegen, sofern sie durch äußere Gewalt bewirkt wurde, sei
es unmittelbar durch physischen Zwang, sei es mittelbar
durch Drohung, Vorspiegelung falscher Tatsachen etc." Eine
solche Willensfreiheit schließe nur den äußeren Zwang au^
aber nicht die innere Notwendigkeit und Determination.
Diese bleiben bestehen im Sinne des Monismus, weil der Wille
des Handelnden innerlich notwendig bestimmt wird. So sagt
Spinoza4 „res, quae ad aliquid operandum determinata est,
:

a Deo necessario siic fuit determinata", und darum „voluntas


non potest vocari causa libera, sed tantum necessaria."
Gemäß dieser Theorie der psychologischen Willensfreiheit
ist der Wille selbst nur ein Produkt der Umstände und
Zustände, in welchen sich der Mensch befindet. Die einzelnen
Willensakte und Handlungen des Menschen sind wie ein
Sproß am Baum. Indem Paulsen6 die Frage stellt: „Wie
kommt ein Mensch, ein menschlicher Wille in die Welt?",
antwortet er: „Wie das Tier, so wird der Mensch von Eltern
gezeugt und geboren, er gleicht ihnen nach dem Leibe und
1
Eth. f, prop. Ex necessitate divinae naturae, infinita infinitis
29,
modis sequi debeut. Etb. I, prop. 16. Und zu dieser göttlichen Natur
gehört keine Vernunft und kein Wille. Ad naturam neque intellectus
rneqiie voluntas pertinet. Eth. I, prop. 18 schob
2
Eth. I, p. 420.
3
Eth. I, p. 417—418.
4
Eth. I, prop. 26 et 82.
-
Eth. 1, p. 421.
258 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

nach der Seele; er ererbt so gut ihr Temperament, ihre


Begierden, ihre sinnlich-intellektuellen Kräfte, wie ihre körperlichen
Eigenschaften. Er empfängt den ganzen
leiblichgeistigen Habitus des Volkes, aus dem er geboren wird, als

Naturausstattung." Somit ist der Wille des Menschen die


Summe der Eigenschaften seiner Eltern und seines Volkes.
„Diese Anlage", fährt Paulsen weiter, „entwickelt sich dann
unter dem bestimmenden Einfluß der Umgebung, der Natur
und vor allem der Menschenumgebung. Das Kind wird durch
die Familie hineinerzogen in die Lebensform seines Volkes.
Es eignet sich dessen Sprache an und mit der Sprache ein
mehr oder minder vollständiges System von Begriffen und
Urteilen. Es wird hineingezogen in die Sitten und Gewohnheiten
seines Volkes, von welchen die meisten Menschen
lebenslänglich im Handeln und Urteilen bestimmt werden.
Es wird in die Schule getan und nimmt hier die allgemeine
Bildung der Zeit an, es wird in die Kirche geführt und
empfängt hier weiter Eindrücke, die, positiv oder negativ, auf
die Gestalt des inneren Menschen lebenslänglich Einfluß
üben. Es wird endlich aus dem Hause und der Schule
entTassen, aber nur um unter den Einfluß einer neuen erziehen,
den Macht zu treten, der Gesellschaft. Unablässig arbeitet
nun die Gesellschaft an ihm, sie sagt ihm mit Worten und
Taten, was recht und unrecht^ was anständig und
unanständig, was gefällig oder anstößig ist Der Zusammenhang
scheint lückenlos: Volk und Zeit, Eltern und Erzieher-
Umgebung und Gesellschaft bestimmen jedem einzelnen
Menschen Anlage und Entwicklung, Lebensstellung und
Lebensaufgabe. Er erscheint als ein Produkt der Gesamtheit,
aus der er hervorwächst : wie ein Sproß am Baum nicht
durch seinen Willen Form und Funktion hat, sondern durch
den Gesamtkörper, an dem er wächst." So ist der Wille
des Menschen das Produkt, die Zusammensetzung von
Elementen und Gestaltungen der Eltern, Familie, des Volkes,
der Erziehung, der Schule, der Religion und Gesellschaft.
Die Willensakte des Menschen, seine Handlungen sind
automatische Reaktionen dieses Produktes und dieser
Zusammensetzung, die durch die Umstände und Anlässe
werden.
ausgelöst
Es ist klar, daß nach einer solchen Ansicht vom Willen
und von der Willensfreiheit der Mensch für seine Handlungen
nicht verantwortlich gemacht werden kann, daß er nicht
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 259

strafbar ist, wenn man unter Verantwortlichkeit und Strafe


überhaupt noch sittliche Begriffe versteht. Die Strafe wird
zu einem Akt des Mißfallens oder des Widerwillens, ohne
Rücksicht auf die Schuld. Wie wir ein Tier, z. B. eine
Schlange töten, weil es Mißfallen oder Widerwillen erregt,
so töten wir auch einen Menschen.
In der Tat sagt Paulsen1 : „Wie wir einen Baum
ausschlagen, wenn er schlechte Früchte trägt, oder ein
bösartiges Tier töten, so verfahren wir auch mit den
Menschen. Wir fragen nicht darnach, ob der Verbrecher
verantwortlich oder schuldig sei, so, wie er ist, gefällt er
uns nicht, durch die Strafe drücken wir unser Mißfallen aus."
Ein solches Verfahren ginge noch an, wenn der
Verbrecher nicht mehr wäre als ein bösartiges Tier; der Mensch
bleibt aber Mensch, auch wenn er ein Verbrecher ist.
Um seine Theorie abzuschwächen, will Paulsen 2, daß
man die Verbrecher, in der Praxis, als Menschen mit moralisch
perversen Instinkten, als Kranke und Irre behandle. Das
Zuchthaus soll zum Krankenhaus gemacht werden.
Eine andere Konsequenz der Leugnung der Teleologie
und der Freiheit in der modernen Philosophie ist, daß man
die Begriffe des sittlich Guten und sittlich Schlechten nicht
mehr konstruieren und rechtfertigen kann. Die Begriffe sittlich
gut und sittlich schlecht sind wesentlich Beziehungsbegriffe,
sie drücken eine Beziehung aus auf den letzten
Zweck, auf den Willen und auf das Sollen.
Die moderne Philosophie, besonders insofern sie
monistisch ist, faßt die Begriffe von Gut und Bös als Seinsbegriffe,

nicht als Beziehungsbegriffe, und kommt somit über


die rein physische Ordnung nicht hinaus, kann keine
sittliche Ordnung konstruieren.
erklärt offen, daß die Begriffe von Gut und
Spinoza 3

Bös, Vollkommen und Unvollkommen, Täuschungen, Vor-


1
Eth. I, p. 426.
2
Eth. I, p. 429.
3
Perfectio igitur et imperfectio revera modi solummodo cogi-
tandi sunt, nempe notiones quas fingere volumus. Bonum et malum
quod attinet, nihil etiam positivum in rebus, in se scilicet conside-
ratis indicant, nec aliud sunt, praeter cogitandi modos, seu notiones."
Eth. P. IV. Praef. Daher: „In statu naturali nihil fit, quod justum
vel injustum posset dici." — „In statu naturali peccatum concipi
nequit. — Ex quibus apparet, justum et injustum, peccatum et meritum
260 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

urteile, subjektive Erfindungen und Illusionen sind. Gut


und Bös sind nicht sachlich, innerlich und wesentlich
verschiedene Begriffe. Der Unterschied ist nur ein äußerlicher,
gesellschaftlicher, konventioneller. In Wahrheit und der
Wirklichkeit gibt es nichts Gutes und Böses.
Schopenhauer1 hat Hecht, wenn er sagt: „Spinoza
versucht hie und da, den Schein zu erwecken, als ob in seinem

System die Existenz einer sittlichen Ordnung, die Begriffe


von Gut und Bös noch möglich wären, aber gemeiniglich
gibt er diesen Versuch auf und leugnet jeden Unterschied
zwischen Gut und Bös und somit auch jede Möglichkeit
einer sittlichen Ordnung."
Die Begriffe von Gut und Bös haben bei Spinoza und
im Monismus keine sittliche Bedeutung und keinen Wert.
Gut ist, nach Spinoza2, das Verharren im Sein, die Kraft,
die Macht und die Energie hiezu, gut ist das Leben, die
Lebensfreudigkeit und Lebenslust. Bös ist die Ohnmacht,
Unfähigkeit, die Impotenz, im Sein zu verharren, die
Verminderung und Beschränkung der Lebensenergie, der Lebenslust
und Lebensfreude, das größte Übel der Tod und was
zumi Tode führt : Krankheit und Schmerz. Dieser Auffassung
von Gut und Bös entsprechen bei Spinoza die Begriffe von
Tugend und Laster ; auch diese sind keine sittlichen Begriffe,
haben keine sittliche Bedeutung.
Die Tugend ist nach Spinoza3 die Macht, die Kraft
des Menschen, im Dasein zu verharren. Die Macht im Dasein
sich zu erhalten, ist die erste Tugend und das einzige Fundament
der Tugend4. Je mehr ein Mensch seinen eigenen
Nutzen, seine Erhaltung erstrebt und erreicht, um so tugendhafter
ist er5. — Das Hecht wird durch die Macht bestimmt,
und jeder kann nach dem höchsten Naturrecht tun, was er
notione£ esse extrinsecas." Eth. P. IV, p. 37. Schol. II. — „Si homines
liberi nascerentur, nulum boni vel mali formarent conceptum, quamdiu
liberi essent." Eth. P. IV, p. 68.
Opp. Bd. III. p. 677.
1

' Ct. Eth. P. III, p. 39. Schol. Eth. P. IV, p. 41 u. p. 67.


3
Eth. P. IV, Def. VIII. „Per virtutem et potentiam idem
intelligo."
Eth. P. IV. p. 22. „Nulla virtus potest prior hac (nempe
4

conatu sese conservandi) concipi. — Conatus sese conservandi primutn


et unicum virtutis est fundamentum." Coroll.
5
„Quo magis unusquisque suum utile quaerere, hoc est, suum
esse conservare conatur et potest, eo magis virtute praeditus est."
JEtb. P. IV, p. 20.
Das ethisch« Problem in der modernen Philosophie '261

für sich als nützlich erachtet h Laster ist die


— Das
Ohnmacht und die Schwäche des Menschen, im Dasein zu
verharren, seinen eigenen Nutzen zu suchen, die Lebenslust
und Lebensfreude zu genießen. Darum rechnet Spinoza die
Demut, die Reue, das Mitleid nicht zu den Tugenden, sondern
zu den Schwächen des Menschen2.
Wie Spinoza, denken Comte und Taine, Spencer und
Littré, Wundt und Jodl. Wesentlich stimmt mit Spinoza
Paulsen überein, der auf das moderne Denken einen großen
Einfluß ausgeübt hat. Paulsen ist ein monothelistischer
Monist. Das einzige wirkliche Sein ist der allgemeine, blinde
Urwille, „er bestimmt das Leben ursprünglich als blinder
Drang, ohne Vorstellung von Zielen und Mittelns". Das
Leben also ist nur die konkrete Erscheinung, eine bestimmte
Realisierung des Urwillens, der nicht nach Zwecken handelt
und nicht frei ist. Was ist nun das Gute und Böse? Paulsen
antwortet zuerst auf die Frage, was ist das höchste Gut, das
letzte Ziel, und sagt': „eine bestimmte, konkrete
Lebensbetätigung Wesens Vollendung und vollendete
Lebensbetätigung4", oder „die normale Ausübung der
Lebensfunktionen, worauf seine Natur angelegt ist6 '. Das höchste
Gut also ist wie bei Spinoza6 agere, vivere, esse, conservare.
Da aber das Leben nur in der Betätigung besteht, so ist die
Energie zum Leben das höchste Gut. Daher nennt Paulsen
seine Ansicht den „Energismus". Diese Energie zum Leben
ist wieder weiter nichts, als die Potentia, die Macht bei
Spinoza, die er die erste und einzige Tugend nennt. Das
Böse also oder das höchste Übel ist die Ohnmacht, die
Unfähigkeit der Lebensbetätigung, der normalen Ausübung
der Lebensfunktionen, die Beschränkung, Behinderung der
Wesensvollendung und der vollendeten Lebensbetätigung,
die Impotentia, wie Spinoza sagt, oder die Energielosigkeit.
'
„Absolute id unicuique summo naturae iure facere licet, quod
ad ipsius utilitateip conferre iudicat." Eth. P. IV, App. cap. "VIII.
„Uniuscuiusque ius, virtute seu potentia uniuscuiusque definitur."
Eth. IV, p. 37. Schol. I
2
Eth. P. IV, p. 53. „Humilitas virtus non est"; p. 54: „Poeni-
tentia virtus non est"; p. 50: „Commiseratio in homine, qui ex ductu
rationis vivit per se est mala et inutilis est."
3
Ethik I, p. 200.
4
A. a. O., p. 202.
5
A. a. O p. 247.
6
Eth IV, p. 24.

Divus Thomas VI. (Jahrbuch für Philosophie etc. XXXIII.) 18


262 Das ethische Problem in der modernen Philosophie

Es ist darum nur konsequent, wenn Paulsen sagt1: „Was


das sittlich Schlechte oder Böse anbelangt, so wird die Ethik
es konstruieren, wie die medizinische Diätik Störungen,
Schwächen, Mißbildungen konstruiert; wie hier diese
Vorkommnisse als Folge von äußeren Hemmnissen und Störungen
angesehen werden, die der Tendenz, der Anlage zu normaler
Entwicklung zuwider waren, so wird die Ethik das Schlechte
und Böse nicht auf den eigentlichen Willen des Wesens selbst,
sondern auf ungünstige Entwicklungsbedingungen zurückführen,
unter denen die Anlage verkümmerte und
Mißbildungen erlitt."
Konsequent und radikal hat die Resultate der modernen
Philosophie Nietzsche durchgeführt. Für den Übermenschen,
der ein Produkt der modernen Philosophie ist, sind2
„Vernunft und Tugend zum Ekel. — Er ist des Guten und Bösen
müde." — Der Übermensch ist jenseits von Gut und Bös,
diese Begriffe existieren für ihn nicht. „Jede Moral ist (nach
seiner Ansicht) im Gegensatz zum ,laisser aller' ein Stück
Tyrannei gegen die Natur, auch gegen die Vernunft3." —
„Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral4." — »Die
ganze Moral ist eine lange Fälschung6." — „Moralbegriffe
sind Selbstbetrügerei " — »Die sittliche Weltordnung ist eine
Lüge und geht selbst durch die Entwicklung der neueren
Philosophie." — »Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze
sittliche Weltordnung ist erfunden gegen die Wissenschaft —
gegen die Ablösung des Menschen vom Priester, — Ein
Priester-Attentat Ein Parasiten-Attentat Ein Vampyris-
müs bleicher, unterirdischer Blutsauger®." — Für den
Übermenschen ist der sittlich gute Mensch im hergebrachten
Sinne „ein Dekadent (Schwächling), das Herdentier; eine
Paiasitenform auf Unkosten der Wahrheit und der
Zukunft7."
Nietzsche steht allerdings nicht im besten Ansehen bei
gewissen modernen Philosophen, aber nicht etwa, weil er
Unrecht hat, sondern weil er, als ein enfant terrible, ohne
1
Einl. in die Philos., p. 435.
a
Zarathustra, Vorrede.
5
Jenseits von Gut und Böse, p. 188.
4
A. a. O. p. 202.
4
A. a. 0. p. 291.
4
Umwertung aller Werte, p 20, 26, 49.
Op. cit. Dispos, u. Entwürfe zum III. Buch,
1
1.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 263

Schonung dem großen Publikum gesagt hat, wohin die


moderne Philosophie führt und führen muß, und weil er mit
harten Worten auf die Inkonsequenz der modernen Vertreter
der Philosophie hingewiesen hat.
4. Die Existenz einer sittlichen Ordnung und der sittlichen
Phänomene setzt ein Sittengesetz voraus und dieses wieder
einen Gesetzgeber. Das Sittengesetz muß eine verbindliche
Kraft und eine Sanktion haben, die nur vom höchsten Gesetzgeber
hergeleitet werden können. Darum ist die Existenz
eines persönlichen Gottes, der Theismus, eine Bedingung der
Möglichkeit der Sittlichkeit, der Ethik. Auch Kant ist dieser
Ansicht.
Die moderne Philosophie steht nicht nur auf gespanntem
Fuß mit dem Theismus, sie rechnet im allgemeinen nicht mit
einem persönlichen Gott ; sie ist atheistisch, für sie gilt, was
.Nietzsche sagte: „Gott ist tot!"
In der Tat, entweder behauptet man, daß die Existenz
Gottes nicht bewiesen werden kann, daß wir von Gott nichts
wissen können, dann zählt Gott in der Philosophie nicht, oder
man konstruieit den monistischen Gottesbegriff. Im Monismus
ist aber Gott kein persönliches, intelligentes Wesen. Im
Monismus ist Gott alles und nichts, er ist überall und nirgendwo,
er hat keine Vernunft und keinen Willen. Denn Gott ist
das eine Sein, welches für sich, getrennt von den
Einzeldingen, keine selbständige Existenz hat, sondern vollständig

aufgeht in den Einzeldingen. Es ist klar, daß man mit dem


monistischen Gottesbegriff keine Ethik begründen kann.
Paulsen kennzeichnet die Stellung der modernen
Philosophie dem Theismus gegenüber folgendermaßen: „Besteht

man darauf, als Theismus nur eine solche Anschauung gelten


zu lassen (welche Gott als Persönlichkeit der Welt gegenüberstehend
airffaßt), dann wird es schwer sein, denen zu
widersprechen, welche behaupten, die Wissenschaft führt zum
Atheismus. Hinzuzufügen wäre dann aber: „Der Atheismus
in diesem Sinne ist offenbar nicht das Ende, sondern erst
der Anfang der Philosophie1."
Eine Philosophie aber, welche als Abschluß zur Negation
eines persönlichen Gottes führt oder mit der Negation eines
persönlichen Gottes als Bedingung der Philosophie anfängt,
kann keine Sittlichkeit, keine Ethik begründen.
1
Eth. I, p. 393.
18*
264 I*as ethische Problem in der modernen Philosophie

Jodl1 glaubt an die Möglichkeit einer monistisch-atheistischen


Ethik. Sein Gedankengang ist kurz folgender.
Der Monismus2 will eine „immanente und nicht
konsequente Ethik, eine humane, soziale Ethik und nicht eine
religiöse." Denn der Monismus „ist eine rein immanente
Weltanschauung„Der Monismus gilt — ob mit Recht
oder mit Unrecht, will ich einstweilen noch dahingestellt
sein lassen — als eine atheistische Denkweise, als ein hinter
einem philosophischen Begriff sich verbergender Atheismus4."
Daß der Monismus mit Recht als Atheismus bezeichnet
werden muß, ergibt sich aus den AVorten Jodls selbst,
indem er sagt: „AVir Monisten sind überzeugt, daß alle
Begriffe von Gott nichts anderes sind, als höchste, heiligste
Begriffe des Menschen von seinem eigenen Wesen. Daß Gott
und Mensch freilich untrennbar zusammengehören aber ;

nicht so, wie die alte Religion es gemeint hat, daß Gott
den Menschen geschaffen, sondern vielmehr so, daß der
Mensch Gott schafft, immer vollkommener, immer
vergeistigter, je mehr er selbst Geist und vollkommen wird6."
Ein Gott, der vom Menschen geschaffen wird, der im Werden
sich befindet, ist kein Gott. Der Gott Jodls ist die
selbstvergötterte Menschheit. Folgerichtig ist es, wenn Jodl ferner
betont, „daß der moderne Monismus seinem innersten Wesen
nach der Religion fern stehtc." — „Daß die Religion im
historischen Sinne als Ausblick ins Transzendente, als
Jenseitsglaube, als Verdopplung der Welt, in einem monistischen
Gedankenkreise keine Rolle mehr spielen kann, brauche
ich hier nicht zu erörtern7."
Wir bleiben dabei, daß der Monismus mit Recht als
Atheismus gilt. Nur macht sich Jodl den Einwurf: „Der
Atheismus scheint mit der Gottheit zugleich die ethische
Bedeutsamkeit des Lebens zu leugnen8." Er antwortet mit
der Behauptung, daß gerade die neueste Entwicklung der
wissenschaftlichen Ethik, wie sie sich in den letzten drei
Dezennien vollzogen hat, die völlige Klarheit und Gewißheit
erbracht hat, „daß Sittlichkeit ohne Mitwirkung
religiöser oder transzendenter Vorstellungen möglich ist Jodl

1
Der Monismus.und die Kulturprobleme der Gegenwart. 1911.
2
A. a. (>., p. 21.
3
A. a 0„ p. 23. 4 A. a. 0., p. 13. 5
A. a. 0., p. 34. * A, a. 0.,
p. 29.
7
A. a, O.. p. 28. " A. a. O., p. 13. ' A. a. 0., p. 18.
Das ethische Problem in der modernen Philosophie 265

nimmt den Wunsch für die Tat, die Hauptfrage ist, ob die
wahre Sittlichkeit und Ethik im Monismus möglich ist.
Die Ethik von Jodl ist ein evolutionistischer Sozialismus,
ein sozialer Eudämonismus, der Menschheitsdienst >. Die
Menschheit ist sich Selbstzweck. Solange die Ethik die
Wissenschaft sein will von den vernünftigfreien Handlungen
des Menschen, insofern sie mit den objektiv-transzendentalen
letzten Zweck desselben in Berührung stehen, ist eine Ethik,
eine Sittlichkeit ohne Mitwirkung religiöser und transzendenter
Vorstellungen nicht möglich.
Alf. Fouillée2 spricht von der aktuellen Krise der Ethik
und äußert sich folgendermaßen: „Tout est remis en
question." Alles steht in Frage, kein einziges Prinzip scheint
solid festgestellt zu sein. Man könnte erschütternde Seiten
darüber schreiben „comment les dogmes moraux finissent".
Um aus dieser Krise herauszukommen, müßte man, meint
Fouillée, durch den methodischen Zweifel alle bisherigen
Moralsysteme zersetzen und dann untersuchen, ob es möglich
ist. mit den Trümmern der verschiedenen Systeme eine neue
Ethik zu konstruieren. Wir glauben nicht, daß ein solcher
Versuch gelingen würde. Mit Bacon sagen wir: error est in
prima digestione : die moderne Philosophie besitzt nicht
jene Bedingungen, welche zur Konstruktion einer Ethik
notwendig sind. Folgerichtiger scheint uns Wahle zu sein®,
der rundweg erklärt, „die spekulative, theoretische Ethik ist
unbedingt bankrott geworden. In der Philosophie ist nichts
mehr zu hoffen, und die kritische Summe des Haltbaren
muß gezogen sein." Als Ergebnisse der modernen Philosophie
bezeichnet Wahle4: „Erstens: es gibt keine theoretische,
sondern nur eine praktische Ethik. — Zweitens: es gibt
gar kein ethisches Ideal, ethische Maxime oder Formel."
Und wie soll dann die praktische Moral begründet werden?
„Für diejenigen, sagt Wahle, welche glauben, daß ein höherer
Wille sich ihnen offenbart hat, gibt es nur ein Gesetz: diesen
Verkündigungen und Geboten unbedingt, ohne jede Rücksicht
nachzukommen. Für die anderen, die sich
ungebunden glauben,
gibt es in aller Ethik nur des Staates:
sic volo, sie jubeo oder vielmehr edueo : in der ethischen
1
A. a. 0., p. 27, 3G, 37.
2
Critique des Systèmes de Morale contemporaine, Préface.
' 3
Das Danze der Philosophie und ihr Ende. 2. Aufl., p. 516.
4
A. a. 0., p. 518.
266 Geschichte der fides implicita in der kath. Theologie

Not müssen sich die, die ohne Gott sind, eine Autorität
schaffen. Der Staat soll sie erziehen, gemäß des Typus eines
annähernd Glücklichen1." Somit würde die Ethik allerdings
aufgehört haben, eine philosophische Disziplin, die praktische
Philosophie zu sein ; dèr Bankrott wäre vollständig.
Nach unserer Ansicht gibt es nur eine mögliche Lösung
des ethischen Problems, diejenige, welche durch die
erkenntnistheoretischen und metaphysischen Begriffe und Prinzipien
der Philosophia perennis gegeben ist.

GESCHICHTE DER FIDES IMPLICITA IN DER


t
KATHOLISCHEN THEOLOGIE
Von P. Mag. Theol. REGINALD MARIA SCHULTES 0. P.
(Fortsetzung aus V, p 39—74, 158—181, 320—388; VI, 153—1G7)
Glaubensbegriff des hl. Thomas
Wir müssen unsere Darstellung der Lehre des Aqui-
naten mit einer kurzen Untersuchung über dessen Gläubens-
begriff abschließen, allerdings nur soweit die fides implicita
in Betracht kommt. Ritsehl (p. 14) und Hoffmann (I, I03ff.)
behaupten nämlich, daß nach Thomas der Glaube eine
Abart des Wissens sei, und zwar ein undeutliches
und unselbständiges Wissen. In dieser Behauptung
steckt der eigentliche Hauptangriff Ritschis und Hoffmanns,
daß nämlich Thomas keinen Heilsglauben, sondern nur ein
ganz unklares und nur auf die menschliche Autorität der
Kirche gestütztes Wissen um die „Glaubenslehren" kenne,
daß also der Glaube schon an sich bei Thomas fides
implicita sei. Der gleiche Vorwurf wird später in verschärftem
Maße gegen den „jesuitischen Glaubensbegriff" erhoben.
Zum Verständnis der Anklage muß daran erinnert werden,
daß nach Ritschlscher Dogmatik der Glaube nicht dem
Verstände zuzuweisen ist (Hoffmann I, 106), bzw. daß nur
„Werturteile" Gegenstand des Glaubens sein können (Ritsehl,
p. 73). Der gegenteilige Standpunkt des Aquinaten soll nun
als fides implicita gebrandmarkt werden2.

A. a. O., p. 485, 518.


1

Zum Ttiema siehe K. Ziesché, Verstand und Wille beim


a

Glaubensakt. — Ziesché behandelt hauptsächlich Bonaventura, aber

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