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Ein Journal für das

literarische Geschehen
Gegründet von Willy Haas, 1925

DIE WELT SAMSTAG, 13. FEBRUAR 2021 SEITE 25

„Woke
hat mit links
gar nichts zu tun“
Die Identitätspolitik ist eine der größten Bedrohungen für die Freiheit,

B
glaubt der Dramaturg Bernd Stegemann.
Ein Gespräch über die Rückkehr der Moral und die Retribalisierung der Gesellschaft

ernd Stegemann ist Profes- Ihr neues Buch heißt „Die Öffentlichkeit und erwünscht ist. Im Gegenteil scheint häufig wenn ihr anfangt, Gewerkschaften zu bilden, kamen: „Das gibt es alles nicht, da wird ein
sor für Theatergeschichte ihre Feinde“. Das erinnert an Habermas. Spaltung das Ziel zu sein. ist es vorbei mit lustig.“ Phantom an die Wand gemalt.“ Der Anlass
und Dramaturgie an der Natürlich, „Der Strukturwandel der Öffent- Eine Einhegungsstrategie, um sich in dem zur Beschwerde wird also arrogant geleug-
Schauspielschule Ernst lichkeit“, seine Habilitation von 1962, ist in ganzen Alarm zurechtzufinden, besteht in Das Argument der identitätspolitisch Be- net. Wenn sich eine Gruppe von Wissen-
Busch und arbeitet als Dra- der Problembeschreibung ein Meilenstein. der Bildung von Inseln der Einigkeit. Hier wegten ist fast spiegelbildlich. Auch sie schaftlern zusammenfindet, um auf der Basis
maturg am Berliner En- Habermas sagt klar, es gibt Widersprüche in kommt die Identitätspolitik ins Spiel. Durch werfen der Öffentlichkeit vor, die wahren von Alltagserfahrungen an den Universitäten
semble. Seit seinem buch- den Gesellschaften, und es gibt so etwas ihre Simulation von Übersicht vermittelt sie Beweggründe zu verschleiern: „Was ihr als von bedenklichen Tendenzen zu berichten,
langen Essay „Das Gespenst des Populis- Kompliziertes wie eine Öffentlichkeit, in der dem Einzelnen Hoffnung: „Ah, hier ist meine konsensuelle Öffentlichkeit lobt“, sagen müsste eine funktionierende, an Freiheit ori-
mus“ von 2017 ist er über Theaterkreise hi- diese Widersprüche verhandelt werden. Die Community, hier sind wir einer Meinung.“ sie, „ist in Wahrheit die Verschwörung al- entierte Öffentlichkeit doch erst einmal auf-
naus bekannt. Mit Sahra Wagenknecht ver- Art der Gespräche, die Art der Meinungsbil- Durch die Inselbildung betreibt sie aber ter weißer Männer, ihre Macht zu sichern, merksam zuhören. Stattdessen werden die
suchte er sich an der Durchsetzung einer lin- dung, die Art der Konflikte und ihrer Emo- Spaltungen. Das erinnert an archaische Ge- und zwar zuungunsten von Frauen und Berichte aus der Praxis in Bausch und Bogen
ken Sammlungsbewegung namens „Aufste- tionalität – dieser ganze Strauß von dem, was meinschaften, die sagen: „Wir sind wir, weil Migranten.“ Was entgegnen Sie? als Blödsinn abgetan. Und die Unterzeichner
hen“, der aber kein langes Leben beschieden wir mit Öffentlichkeit verbinden – ist eine wir die gleiche Religion, das gleiche Ausse- Diese Kritik vermengt zwei verschiedene werden automatisch in eine rechte, wenn
war. Sein neues Buch „Die Öffentlichkeit und große zivilisatorische Leistung der bürgerli- hen, die gleiche nationale Herkunft oder die Ebenen. Auf der einen Seite nimmt sie die nicht sogar rechtsradikale Ecke gerückt. Die
ihre Feinde“ (Klett-Cotta, 384 S., 22 €) be- chen Gesellschaft. Das unterscheidet sie von gleiche Kränkungserfahrung haben.“ Das universalistischen Rechte der Gleichheit und Reaktionen beweisen also, dass die Klagen
schäftigt sich mit der zunehmenden Zer- allen anderen Gesellschaften, die eine freie „Wir“ wird gefeiert. Und das hat zur Folge, bestreitet jetzt, weil sie in der Geschichte berechtigt sein könnten. Denn diese abwer-
splitterung unserer Gesellschaft. Per Zoom Öffentlichkeit gar nicht kennen. Habermas dass alle anderen abgestoßen und in Diffe- der letzten 250 Jahre noch nicht vollumfäng- tenden Reaktionen sind es ja gerade, die sie
treffen wir uns im digitalen Nirwana zwi- feiert den Meinungsaustausch als größtes renz gesetzt werden. Das ist ein totaler lich durchgesetzt sind, den universellen Cha- beschreiben: Wenn man einen bestimmten
schen Berlin und einem kleinen Ort in der Pfund, das diese Gesellschaften auszeichnet. Rückschritt hinter das, was die bürgerliche rakter dieser Rechte. Daraus folgert sie, sie Freiheitsbegriff vertritt, wird man dafür au-
Nähe des Stechlin, wo Stegemann den Lock- Denn nur hier können möglichst viele Fant- Öffentlichkeit mal war, wo jeder hineingehen seien offensichtlich nicht universell, sondern tomatisch diffamiert.
down verbringt. asien, Intelligenzen und Kenntnisse zusam- und sagen konnte: „Ich habe eine eigene Mei- nur Ausdruck der Partikularinteressen der
menkommen, um gemeinsam die besten Lö- nung, und ich akzeptiere, dass die anderen weißen Männer. Das ist aber ein unzulässiger Unter dem Deckmantel von Kritik erleben
VON JAN KÜVELER sungen zu erarbeiten. Das ist keine Selbst- eine andere Meinung haben, und wir einigen Schluss. Das Ideal des Universalismus zielt wir eigentlich Denunziation und damit ei-
verständlichkeit, sondern etwas extrem Sel- uns darauf, dass wir uns gegenseitig zuhö- auf die Zukunft: So sollte es sein. Dass das nen angestrebten Ausschluss aus dem Dis-
DIE LITERARISCHE WELT: Früher wurde oft tenes und Zerbrechliches. Deshalb gerät es ren.“ Die Retribalisierung durch die Identi- dann in verschiedenen historischen Epochen kurs. Die in der alten Bundesrepublik so-
ein Mangel an Public Intellectuals beklagt, in Krisen. Eine solche Krise der Öffentlich- tätspolitik führt dazu, dass die Leute sich noch nicht der Fall ist, ist kein Argument ge- zialisierte Öffentlichkeit steht dem ver-
an Gelehrten, die sich politisch einmi- keit konstatiere ich für unsere Gegenwart. nicht mehr gutwillig begegnen, sondern bös- gen die Qualität der Idee. Wenn sie diese wundert gegenüber: Jegliche Moralisie-
schen. Plötzlich gibt es sie in Hülle und Sie zeigt sich darin, dass die Krisen, die auf willig auf die anderen schauen. Sie suchen Idee aber bestreitet, sägt Identitätspolitik rung sollte doch aus den Debatten heraus-
Fülle: Andreas Reckwitz, Andreas Rödder, uns zukommen von Corona bis Klimawan- das größtmögliche Missverständnis und die am Ast, auf dem sie sitzt: Denn mit welcher gehalten werden.
Armin Nassehi und nicht zuletzt Sie del, von sozialer Spaltung und einer Un- größtmögliche Konfrontation, weil das ihren Begründung will sie ihre Interessen durch- Moral funktioniert immer dann, wenn sie
selbst. Liegt das an den vielen Krisen, de- gleichverteilung von Macht und Einfluss, bis inneren Zusammenhalt stärkt. Die eigene setzen, wenn nicht mit der Idee der univer- große Resonanzräume bekommt. Ein Aufruf
nen wir uns seit 2001 in immer schnellerer zu den Radikalisierungen von Fundamenta- Gruppe scheint wichtiger zu sein als das Ge- sellen Gleichheit? Wenn man die Unlogik der zum Ausschluss, also eine moralische Dis-
Folge ausgesetzt sehen: 9/11, zwei Finanz- listen verschiedener Richtungen nicht mehr samte der Öffentlichkeit. So zerfällt der ge- Identitätspolitik zu Ende denkt, steht anstel- kreditierung, hat nur dann Wirkung, wenn
krisen, Klima, jetzt Corona? produktiv in der Öffentlichkeit verhandelt teilte Raum immer mehr, und die Menschen le des Universalismus nur noch der Kampf eine Autorität sie sich zu eigen macht. Da
BERND STEGEMANN: Die Krisen haben ge- werden können. Im Gegenteil festigt sich zerstreiten sich. von verschiedenen Interessengruppen. wird angeprangert: „Lisa Eckhart ist eine An-
zeigt, dass es eine gefährliche Diskrepanz seit 20 Jahren der Eindruck, dass die Krisen tisemitin“ oder „Dieter Nuhr macht böse
gibt zwischen den Problemen und den Fä- durch die Art, wie sie öffentlich verhandelt Nun hat die Identitätspolitik Ihrer Ansicht Witze über Greta Thunberg“. Wenn dann die
higkeiten der Gesellschaft, diese Probleme werden, noch mal vergrößert werden. Die nach auch Verbündete. Der mächtigste: Deutsche Forschungsgemeinschaft darauf
im öffentlichen Gespräch zu verhandeln. Öffentlichkeit ist also nicht mehr Teil der der Kapitalismus. Wieso? reagiert und sagt: „Wir müssen das Nuhr-Vi-
Es gibt einen wachsenden Abstand zwi- Lösung, sondern Teil des Problems. Der Kapitalismus funktioniert, wie schon deo schnell von unserer Homepage neh-
schen dem Problemdruck und der Art, wie Brecht gesagt hat, nicht zu allen Zeiten men“, bekommt die Cancel Culture institu-
die Gesellschaft darauf reagieren kann, um Was hat der Öffentlichkeit denn so zuge- gleich. Seit Ende der Siebzigerjahre gibt es tionelle Macht. Dass man den Leuten ihre
REUTERS/AXEL SCHMIDT

nicht daran kaputtzugehen. Das Impfstoff- setzt, dass sie ihre Probleme nicht mehr die große Lockerung – der Finanz-, aber auch empörte Moral wieder ausredet, daran glau-
debakel der EU bringt es dramatisch auf lösen kann? der Arbeitsmärkte. Die Folge davon ist ein be ich nicht. Man kann nur dafür eintreten,
den Punkt. Viele hatten schon lange das Im Zentrum der Veränderung steht natürlich Abbau gewerkschaftlicher Gegenmacht, eine dass die Empörung nicht allzu viel Macht in
Gefühl, die EU sei ein behäbiger Apparat, das Internet und der Umstand, dass jeder Entsolidarisierung der Arbeitskräfte und ei- den Institutionen bekommt. Leider ist bei
der womöglich nicht ganz so schnell funk- nicht nur Empfänger, sondern auch Sender ne Individualisierung der Menschen. Das ist den woken Aktivisten das Wissen verloren
tioniert, wie die Welt Probleme erzeugt. sein kann. Früher gab es manchmal einen Le- ein strukturgleiches Problem zur Atomisie- Früh aufgestanden: Bernd Stegemann gegangen, dass Moral lange ein Mittel der
Bei der Impfstoffbeschaffung sieht man serbrief, heute erfährt jede Äußerung unmit- rung der Öffentlichkeit. Als Gegenmittel ge- Unterdrückung war, um die sogenannten
nun, dass Großbritannien, USA und Israel telbare Resonanz. Das ist ein großer Schritt gen dieses Gefühl von Vereinsamung und Diese Weltsicht befindet sich auch im Wi- Unterschichten mundtot zu machen. Ihnen
drei bis vier Monate schneller sind als die in Richtung Demokratisierung. Aber gleich- Unbehaustheit tritt nun die Identitätspolitik derspruch zur Realität. Wenn die alten wurde entgegengerufen „Seid nicht so nei-
EU. Eine funktionierende Öffentlichkeit zeitig sind weder die technischen Möglich- auf, die sagt: „Jetzt können wir uns zu eige- weißen Männer wirklich so böse und disch, so gierig, so unverschämt“, um sie
würde jetzt sehr genau darüber nachden- keiten der Plattformen noch die Psychologie nen kleinen Communitys zusammenfinden mächtig wären, gäbe es erheblich weniger vom Aufstand abzuhalten. Die Geschichte
ken, was gerade nicht mehr funktioniert. der Benutzer in der Lage, dieses Positive und damit eine Art zweite Heimat schaffen.“ Professuren, Bücher und Talkshows, die der Moral nicht zu kennen, ist ein regressi-
Darum sehe ich mich unter den genannten auch positiv zu nutzen. Das größte Problem Das Problem wird also vergleichbar zu dem die Identitätspolitik unterstützten. Die ver Zug der neuen Moralisten. Deshalb un-
Denkern Armin Nassehi am nächsten. Wie besteht in einer Zersplitterung. Kein Thema der Öffentlichkeit gelöst. Es funktioniert würden einfach unterdrückt. terscheide ich auch zwischen „woke“ und
er bin ich an der Luhmannschen System- schafft es mehr, über einen längeren Zeit- über Abgrenzung zu anderen und ständige Das „Wir zuerst“ der Identitätspolitik führt „links“: „Woke“ verfolgt eine moralistisch-
theorie geschult. So frage ich zuerst immer raum die Aufmerksamkeit so zu fokussieren, Rivalitätskämpfe – welche Community hat zu einem Weltzustand, den sich niemand regressive Politik, die mit links gar nichts zu
nach der Eigenlogik der Systeme – was wol- dass ein meinungsbildender Prozess stattfin- welche Rechte, welche muss zurückstecken? wünschen kann. tun hat. Sie hat ein reaktionäres Menschen-
len und was können die eigentlich? Das ist den könnte. Jede Aufregung wird sofort von Es gibt eine neue Dauerrivalität derjenigen, bild und betreibt eine reaktionäre Politik. Ei-
der Unterschied zu einer klassisch linken einer nächsten Aufregung überspült. Das die vom Kapital ausgebeutet werden sollen. Vor ein paar Tagen hat sich das sogenann- nes der großen Geheimnisse der gegenwärti-
Kritik, die ein Außerhalb konstruiert und führt zu einer chaotischen Unübersichtlich- Das kommt ihm natürlich zupass, und darum te Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ge- gen Öffentlichkeit ist, wie es den Moralisten
die Dinge wie von einem archimedischen keit; alles wird plötzlich gleich unwichtig, wird diese Identitätspolitik aktiv befördert. gründet, um gegen die empfundenen Zu- gelungen ist, unter den Deckmantel der Lin-
Punkt aus beurteilt. Das empfindet die Sys- weil sich alles gleich wichtig nimmt. So entsteht der progressive Neoliberalismus, mutungen aus dieser Richtung zu protes- ken zu schlüpfen – womit ein erheblicher Bo-
temtheorie als anmaßend; sie versucht dessen erfolgreiche Anwendung beispiels- tieren. Ein angemessener Schritt? nus einhergeht, weil Links im Gegensatz
stattdessen, ihren Gegenständen auf Au- Dabei kann man oft den Eindruck haben, weise Amazon ist. Dort wird gesagt: „Wir Ich finde bemerkenswert und aufschluss- zum dämonischen Rechts immer noch posi-
genhöhe zu begegnen. dass eine Konsensbildung auch gar nicht sind für Diversität und für Multikulti, aber reich, dass sofort die üblichen Reaktionen tiv besetzt ist.

INHALT
Flucht und Spiel: Norbert Gstreins neuer Roman, S. 27 Vater und Tochter: Catherine Camus im Gespräch, S. 28 Märchen und Zar:
Viktor Jerofejew berichtet aus Russland, S. 30 Oper und Literatur: Katharina Wagner erzählt ihre Biografie in Büchern, S. 32

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