Sie sind auf Seite 1von 1

Ein Journal für das

literarische Geschehen
Gegründet von Willy Haas, 1925

DIE WELT SAMSTAG, 20. FEBRUAR 2021 SEITE 25

Everybody’s
Darling
H
ier hätte ein Interview
stehen können, mit Jia
Tolentino, Journalistin
und Talk of the Town. So
heißt im berühmten Re-
portagen-Magazin „The
New Yorker“ eine Rubrik
über Leute, Sachen und Phänomene, von de-
nen gerade alle reden. Seit ein paar Jahren ist
Tolentino beim „New Yorker“ feste Autorin,
ein Traumjob für Journalisten, in dem man
monatelang Zeit für Recherche und Schrei-
ben eines Artikels hat. Die Anfang-Dreißige-
rin gilt als Susan Sontag für Internetgeschä-

AGATON STROM/ LAIF/ REDUX PICTURES


digte, als hellsichtige Chronistin von allem,
was auch nur den leisesten Anspruch auf Ge-
genwärtigkeit anmelden kann. Ihr Buch
„Trick Mirror“, eine Sammlung von Essays
über den Menschen im Zeitalter von Social
Media, hat sich viele Hunderttausend Mal
verkauft. Normalerweise kommen solche
Wunderkinder aus Manhattans Jeunesse
dorée oder waren zumindest auf einer Ivy-
League-Uni. Tolentino nicht. Das heißt, sie Durchschaut jeden Verblendungszusammenhang: Jia Tolentino
lässt die Gelegenheit nicht ungenutzt, darauf

Jia Tolentino gilt


hinzuweisen, dass sie in Yale angenommen

als Susan Sontag


wurde, aber ihre Eltern die irren Studienge- einer Reality-TV-Show, bei der Tolentino als auf Amazon zu verzichten, um fünfzehn Mi- könnte, dass die ganze Geschichte nämlich
bühren nicht zahlen konnten. Teenager mitspielte. Und ein andermal: nuten und fünf Dollar zu sparen.“ auf eine jüdische Emigrantin in London zu-

für Millennials –
„Twerking lernte ich mit dreizehn im Die Übersetzung holpert leider öfter – ei- rückgeht. Und wenn sie, wie in einem der
VON JAN KÜVELER Cheerleading-Camp kennen, wo wir für ma- ner Sache wird zum Beispiel nicht „Rech- besten Texte des Buchs, über die Zusammen-

zurecht? Einige
rineblaue Glockenröcke mit hohen Schlit- nung“ getragen, sondern seltsamerweise hänge von MDMA und religiöser Verzückung
Als Tochter philippinischer Einwanderer zen vermessen wurden, die kaum unsere „Rechenschaft“, die man doch eigentlich ab- in der Megakirche ihrer Jugend schreibt, sind

Überlegungen
mit Reiskocher neben der Spüle wuchs sie in Unterhosen verdeckten und die wir zu den legt; wer kann, sollte „Trick Mirror“ deshalb die antike Dichterin Sappho und christliche
Houston auf, einem post-metropolitanen Footballspielen an unserer Zucht und Ord- im schöneren Original lesen. Aber mir geht Mystikerinnen nicht weit. Ihr Stil ist dabei

zu „Trick Mirror“,
Geschwür aus gigantischen Highways, darü- nung predigenden christlichen Schule tra- es um den Inhalt. Tolentino spricht hier von sozusagen japsend enthusiastisch, als stünde
ber eine Dunstglocke aus Schwüle, Öl und gen mussten.“ kleinen Einkäufen, die sie sich von den Lie- sie selbst neben ihren Sätzen, die sich im Fit-

ihrer gehypten
Konservatismus. Ihr Lebensmittelpunkt war Tolentinos eigene Verstrickung in die Din- ferdiensten des Versandhändlers hat bringen nessstudio auspowern, und feuerte sie an:
die evangelikale Lakewood Megachurch, die, ge, die sie analysiert, ist Programm. Und so lassen, solange sie prekär bei den feministi- „Noch zwei Einschübe, drei Adjektive gehen

Essaysammlung,
wenn man sie sich im Internet anschaut, aus- passt es auch, dass, obwohl sie selbst wohl schen Online-Magazinen angestellt war und noch!“ Das Internet, bei Tolentino meist eine
sieht wie eine Kreuzung des Galaktischen kaum in solche Marketingentscheidungen für Einkäufe die Straße runter keine Zeit hat- Chiffre für die sozialen Medien, wird dann

die jetzt auf


Senats in „Star Wars“ und der Berliner Phil- involviert sein wird, ihr deutscher Verlag te. Inzwischen kann sie darauf verzichten. zur „fieberhaften, elektronischen, unerträgli-
harmonie. Einer typischen Messe wohnen entschieden hat, den Hype um das Buch zu Allerdings, das erzählt sie im Gespräch, hatte chen Hölle“. Und weiter im Stakkato: „Wie

Deutsch erscheint
52.000 Menschen bei, das Vermögen des befeuern, indem er die Ressource, die nun al- sie letztens Lust, „Sound of Metal“ zu schau- wurde das Internet so schlecht, so einengend,
„neocharismatischen“ Pfarrers Joel Osteen le interessiert, ein Gespräch mit der Autorin, en, den vielgelobten Film mit Riz Ahmed. so unentrinnbar persönlich, so bestimmend
wird auf über 40 Millionen Dollar geschätzt. künstlich verknappt. Dabei quillt das Inter- Weil der nun mal eine Produktion der Ama- für das Politische – und warum meinen all
Später studierte Tolentino an der University net nur so über vor Tolentino-Interviews, als zon Studios ist, meldete sie sich bei Amazon diese Fragen dasselbe?“
of Virginia – als Studienort nicht weiter be- Text, Video oder Podcast. Auf Englisch, Ita- Prime an, nur um direkt nach Schauen des Man könnte diese Technik als eine Art es-
merkenswert, bis auf einen gefakten Verge- ihrer vor Kurzem geborenen Tochter gern lienisch und Spanisch, wo „Trick Mirror“ Films wieder zu kündigen. Und als Amazon sayistisches Sfumato bezeichnen, ein leich-
waltigungsskandal 2014, der zur größten vorgaukeln, dass es nur fünf Berufe gäbe, da- schon im Frühjahr herausgekommen ist und, Publishing, der Verlagsarm von Jeff Bezos’ tes Verwischen der Gedanken, als hätte man
journalistischen Peinlichkeit des Jahres wur- runter Dentalhygieniker, damit sie, Mama wie Tolentino erzählt, die Promotion-Inter- Riesenunternehmen, freundlich fragte, ob einen schmeichelnden Filter darübergelegt.
de – und damit Eins-a-Essaymaterial hergibt. Tolentino, sich später, wenn die Welt und views besonders unheimlich waren – von ei- sie nicht einen Text zu einem Sammelband Das flutscht schön und steigert die Konsu-
In Charlotte, Virginia, spielte Tolentino der Kapitalismus untergegangen sind, nicht nem Epizentrum der Pandemie, New York, zum Thema Währung beisteuern wolle, sagte mierbarkeit. Wenn man böse sein wollte,
Trinkspiele in einer Studentinnenverbin- um ihre Zähne sorgen muss –, über Michel de genauer Brooklyn, wo Tolentino damals sie auch zu. könnte man „Trick Mirror“ das „Bento“ für
dung, rauchte Joints auf dem Dach, schrieb Montaigne und den Unterschied von List noch hauptsächlich wohnte, in die anderen, Nicht, dass das per se ein Problem wäre. „New Yorker“-Leser nennen, die angehips-
wie am Fließband Hausarbeiten, „hängte sich und Unehrlichkeit am Beispiel von Lana Del Mailand und Madrid. Jedenfalls gibt es nur Aber wo endet ein Bewusstsein für den mo- terte, aber doch noch klar in der guten, alten
an einen festen Freund“, wie es im dazuge- Rey. Tolentino schaute freundlich in die auf Deutsch noch keine Interviews, und ralischen Zwiespalt, in dem die Leben von Essaytradition stehende Nachhilfe für intel-
hörigen Text heißt, und sang in einer A-ca- Zoom-Kamera, in ihrem vom Buchhonorar wenn Sie eins lesen wollen, müssen Sie in sehr vielen Bewohnern der sogenannten Ers- lektuell interessierte Boomer oder frühe Mil-
pella-Band. Anschließend wurde sie Redak- gekauften Haus in Upstate New York. Ihr den „Spiegel“ gucken. ten Welt angesiedelt sind, und wo fängt die lennials ohne TikTok-Account. Aber wäre
teurin bei feministischen Blogs namens Blick war offen, ihr Haar so wie auf den vie- Ich erwähne das nicht, um den Verlag zu Heuchelei an? das eigentlich böse, oder will Tolentino nicht
„Hairpin“ und „Jezebel“, wovon man in den len fotogenen Bildern im Internet – halblang kritisieren. Man mag solche Vereinbarungen Tolentino berichtet in „Trick Mirror“ von genau das sein?
USA schon vor bald zehn Jahren offenbar und sympathisch nachlässig blondiert. fragwürdig finden, aber sie sind in der Bran- unserer digitalen Gegenwart nicht mal im Sie schreibt über ihr ausgeglichenes We-
halbwegs leben konnte, bevor sie schließlich Dass dieses Gespräch hier nun nicht steht, che bei Blockbuster-Kandidaten gang und gä- Modus einer Kriegsreporterin, sondern eher sen, ihre Angst vor Konfrontationen, ihr
im sicheren, das heißt, krankenversicherten liegt an der herrschenden medialen Auf- be. Es geht mir um ein Problem, das damit in dem einer Überlebenden: Sie verhökerte Streben, Everybody’s Darling zu sein. Das
Hafen des „New Yorker“ landete. Ein Ameri- merksamkeitsökonomie. S. Fischer, der eng zusammenhängt und das Herz des Bu- ihre eigene Persönlichkeit im Internet, kauf- hat viele Vorteile, zum Beispiel wird man da-
can Dream, wie er jetzt auch in ihrem Buche deutsche Verlag von „Trick Mirror“ (368 S., ches berührt: die eigene Komplizenschaft te bei Amazon, kiffte an der Uni und ver- mit zu vielen Hochzeiten eingeladen, wie
steht. Wobei es nicht in erster Linie um sie 22€), so heißt der Essayband auf Englisch wie mit den Dingen, die man kritisiert. suchte in perfiden und schweißtreibenden man nebenbei erfährt. Leider verleitet es To-
geht; ihr Leben ist bloß das Prisma, um auf auf Deutsch, hat dem „Spiegel“ das Recht der Im Gespräch erzählt Tolentino leichthin, Pure-Barre-Kursen, ihren Körper an die An- lentino auch dazu, sich allzu behaglich in die
allerlei Zeitgeistzeug zu schauen: Social Me- ersten Interview-Nacht zugesichert, wie aus ihr werde wohl keine Anarchokommu- forderungen perfekter Fotografierbarkeit für gängigen Vorurteile ihres Milieus (studiert,
dia, Gamergate, Women-Empowerment- William Wallace in „Braveheart“ gesagt hät- nistin mehr, weil sie in der Pandemie die die unendlichen Bilderstrecken in den sozia- linksliberal, gut verdienend) zu schmiegen.
Konferenzen, Frat Parties, Pure-Barre-Kur- te. Die Metapher klingt brutal, aber sie liegt schützende Hand eines starken Staats schät- len Medien anzupassen, damit wir es nicht tun Wenn sie sich sicher glaubt, dass ihre Peer-
se, Internet-Scamming und Ecstasy. Wenn nicht weit daneben, obwohl es in „Trick Mir- zen gelernt habe. Ähnlich kokettiert sie mit müssen. Selbst das ist ja ein Internet-Meme: group ihrer Meinung ist, forscht sie nicht tie-
Sie in dieser Aufzählung nur Bahnhof verste- ror“ um keine blutrünstigen Männer im der ersehnten Abschaffung des Kapitalismus „I fucked up so you don’t have to.“ fer. Dadurch ist Tolentino am besten im Be-
hen: Es geht genauso um Trump, den Kapita- schottischen Hochland geht. Es geht über- („schwerer vorzustellen als das Ende der Die Essays haben absolut ihre Verdienste: obachten von Details. Zu den Seiten fasern
lismus und den Sinn des Lebens – und eben haupt wenig um Männer, aber Make-up und Welt“) und der vermeintlichen Abartigkeit Sie nehmen sich Themen vor, die mit gutem ihre Analysen aus. Der ewig böse Kapitalis-
darum, warum das alles untrennbar mit den kurze Röcke passen hier wie da. von Amazon. Dazu steht in „Trick Mirror“ Recht beanspruchen können, die Trump-Jah- mus etwa bleibt ein nachlässig gebastelter
obigen, mehr oder weniger kryptischen Din- „Im Dezember 2004 packte ich eine Ta- zum Beispiel diese Passage: „Schließlich hat re zu definieren, besonders in den USA natür- Pappkamerad, so omnipräsent wie ungefähr-
gen zusammenhängt. sche mit Printshirts und taschentuchgroßen es nur etwa sieben Jahre, in denen ich meine lich. Tolentino schreibt nicht über den Pure- det. Aber auch dieser Fehler hat etwas für
Ich habe mich vor ein paar Tagen nett mit Jeansminiröcken und reiste nach Puerto Ri- eigene Persönlichkeit im Internet verhökert Barre-Craze, ohne die historische Dimension sich: als Dokument des Denkens der Millen-
ihr unterhalten, über die eventuell bevorste- co“, heißt es in „Trick Mirror“ einmal, an- habe, gedauert, an einen Punkt zu gelangen, zu vergessen, was einem in einem Fitnessstu- nials, ihrer Einsichten wie ihrer Irrtümer, hat
hende Apokalypse – sie scherzte, sie würde lässlich der bevorstehenden Aufnahmen zu an dem ich es mir problemlos leisten kann, dio in den US-Südstaaten leicht passieren „Trick Mirror“ seinen Reiz.

INHALT
Paris und Pathos: Tilman Krause liest Patrick Modiano, S. 28 Frau und Macht: Klaus Birnstiel entdeckt Sibylla Schwarz, S. 29 Woke und
wach: Boris Pofalla analysiert einen Kampfbegriff, S. 30 Geist und Geruch: Leslie Jamison hat eine Extremerfahrung, S. 32

Das könnte Ihnen auch gefallen