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Schlittenfahren
Helga M. Novak
Das Eigenheim steht in einem Garten, Der Garten ist gross. Durch den Garten fliesst
ein Bach. Im Garten stehen zwei Kinder. Das eine der Kinder kann noch nicht spre-
chen. Das andere Kind ist grésser. Sie sitzen auf einem Schlitten. Das kleinere Kind
weint. Das gréssere sagt, gib den Schlitten her. Das kleinere weint. Es schreit.
Aus dem haus tritt ein Mann. Er sagt, wer brullt, kommt rein. Er geht in das Haus zu-
rdck, Die Tar fallt hinter ihm zu.
Das Kleinere Kind schreit
Der Mann erscheint wieder in der Haustdr, Er sagt, komm rein. Na wird’s bald. Du
kommst rein. Nix. Wer bralit, kommt rein.
Komm rein.
Der Mann geht hinein. Die Tar klappt.
Das kleinere Kind halt die Schnur des Schiittens fest, Es schluchzt.
Der Mann éffnet die Haustur. Er sagt, du darfst Schlitten fahren, aber nicht brilllen.
Wer brill, Kommt rein. Ja. Ja. Jaa, Schluss jetzt.
Das grdssere Kind sagt, Andreas will immer allein fahren.
Der Mann sagt, wer brallt, kommt rein. Ob er nun Andreas heisst oder sonstwie.
Er macht die Tar zu.
Das gréssere Kind nimmt dem kleineren den Schlitten weg. Das Kleinere Kind
schluchzt, quietscht, jault, quengelt.
Der Mann tritt aus dem Haus. Das gréssere Kind gibt dem kleineren den Schiitten
zurlick. Das kleinere Kind setzt sich auf den Schlitten. Es rodelt.
Der Mann sieht in den Himmel. Der Himmel ist blau, Die Sonne ist gross und rot, Es
ist kalt,
Der Mann pfeift laut. Er geht wieder ins haus zurlick. Er macht die Tur hinter sich zu.
Das grissere Kind ruft, Vati, Vatl, Vati, Andreas gibt den Schiitten nicht mehr her.
Die Haustur geht auf. Der Mann steckt den Kopf heraus. Er sagt, wer briilt, kommt
rein. Die Tar geht zu
Das gréssere Kind ruft, Vati, Vativativati, Vaaati
len.
Die Haustir éffnet sich einen Spalt breit. Eine Mannerstimme ruft, wie oft soll ich das
noch sagen, wer briillt, kommt rein.
jetzt ist Andreas in den Bach gefal-10
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Das Brot
Wolfgang Borchert
Plotzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie Uberlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so!
In der Kiche hatte jemand gegen einen Stuhi gestossen. Sie horchte nach der Kiiche. Es
war stilt. Es war zu still und als sie mit der Hand Gber das Bett neben sich fuhr, fand sie es
leer. Das war e8, was es so besonders still gemacht halte: sein Atem fehite. Sie stand auf
und tappte durch die dunkle Wohnung zur Kdche. In der Kiche trafen sie sich. Die Uhr war
halb drel. Sie sah etwas Weisses am Kiichenschrank stehen, Sie machte Licht. Sie standen
sich im Hemd gegentiber. Nachts. Um halb drei, In der Kache.
Auf dem Kichentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitien hatte
Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrimel. Wenn sie a-
bends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun la-
gen Krumel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fuhite, wie die Kalte der Fliesen lang-
‘sam in ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg.
rich dachte, hier ware was", sagte er und sah in der Kiiche umher.
Ich habe auch was gehért’, antwortete sie und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch
schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagstber sah er manchmal jdnger
aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber
das liegt vielleicht an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt.
»Du hattest Schuhe anziehen sollen. So barfuss auf den kalten Fliesen. Du erkaltest dich
noch.
Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log, dass er log, nachdem sie
neununddreissig Jahre verheiratet waren.
sich dachte, hier waire was", sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke
in die andere, ,ich hdrte hier was. Da dachte ich, hier ware was.”
sich hab auch was gehdrt. Aber es warb wohl nichts." Sie stellte den Teller vom Tisch und
schnippte die Kromel von der Decke,
Nein, es war wohi nichts‘, echote er unsicher.
Sie kam thm zu Hilfe, ,Komm man, Das war wohl draussen. Komm man ins Bett. Du erkal-
test dich noch, Auf den kalten Fliesen.*
Er sah zum Fenster hin, Ja, das muss woh! draussen gewesen sein. ich dachte, es ware
hier."
Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich
nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. ,Komm man,
sagte sie und machte das Licht aus, .das war wohi draussen, Die Dachrinne schlagt immer
bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bel Wind klappert sie immer.”
Sie tappten sich beide aber den dunkien Korridor zum Schlafzimmer. Ihre naokten Fuse
platschten auf den Fussboden.
Wind ist ja", meinte er. ,Wind war schon die ganze Nacht.”
Als sie im Bett lagen, sagte sie: Ja, Wind war schon die ganze Nacht, Es war wohl die
Dachrinne."
sa, ich dachte, es ware in der Kiiche, Es war wohi die Dachrinne.* Er sagte das, als er
schon halb im Schlaf ware,
Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.
ns ist kalt’, sagte sie und gahnie leise, ,ich krieche unter die Decke. Gute Nacht."
»Nacht’, antwortete er noch, ,ja, kalt ist es schon ganz schén."
Dann war es stil, Nach vielen Minuten hérte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie at-
mete absichtlich tief und gleichmassig, damit er nicht merken solite, dass sie noch wach war.
‘Aber sein Kauen war so regelmassig, dass sie davon fangsam einschlief.50
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Als er am néchsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin, Sonst
hatte er immer nur drei essen kénnen.
~Du kannst ruhig vier essen’, sagte sie und ging von der Lampe weg. ,Ich kann dieses Brot
nicht so recht vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut.*
‘Sie sah, wie er sich tief Ober den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er
ibr leid.
»Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen", sagte er auf seinen Teller.
»Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man.“
Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.10
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Der Nachbar
Franz Kafka
Mein Geschaft ruht ganz auf meinen Schulte, Zwei Fraulein mit Schreibmaschinen und
Geschafisbuchern Im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch, Kasse, Beratungstisch,
Klubsessel und Telefon, das ist mein ganzer Arbeitsapparat. So einfach zu Uberblicken, so
leicht zu fhren. Ich bin ganz jung und die Geschafte rollen vor mir her. Ich klage nicht, ich
Klage nicht.
Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leer stehende Nebenwohnung, die ich unge-
schickterweise so lange zu mieten gezégert habe, frischweg gemietet. Auch ein Zimmer mit
Vorzimmer, ausserdem aber noch eine Kuche. — Zimmer und Vorzimmer hatte ich woht
brauchen kénnen — meine zwei Fraulein fihlten sich schon manchmal Oberlastet -, aber
wozu hatte mir die Kiche gedient? Dieses kleinliche Bedenken war daran schuld, dass ich
mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heisst er.
Was er dort eigentlich macht, weiss ich nicht, Auf der Tar steht: Harras, Bureau’. Ich habe
Erkundigungen eingezogen, man hat mir mitgeteilt, es sei ein Geschaft ahnlich dem meini-
gen. Vor Kreditgewahrung kénne man nicht geradezu warnen, denn es handle sich doch
um einen jungen, aufstrebenden Mann, dessen Sache vielleicht Zukunft habe, doch kénne
‘man zum Kredit nicht geradezu raten, denn gegenwartig sei allem Anschein nach kein
Vermégen vorhanden. Die Ubliche Auskunft, die man gibt, wenn man nichts weiss,
Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muss es immer ausserordentlch eilig haben,
er huscht fSrmlich an mir voruber. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht, den Bro.
Schllisse! hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augenblick hat er die Tar gedffnet. Wie
der Schwanz einer Ratte ist er hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel ‘Harras,
Bureau’, die ich schon viel 6fter gelesen habe, als sie es verdient.
Die elend diinnen Wainde, die den ehrlich tatigen Mann verraten, den Unehrlichen aber de-
cken. Mein Telefon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar
trent. Doch hebe ich das bloss als besonders ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es
an der entgegengesetzten Wand hinge, wiirde man in der Nebenwohnung alles héren. Ich
habe mir abgewohnt, den Namen der Kunden beim Telefon zu nennen, Aber es gehért na-
tirlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen
des Gesprachs die Namen zu erraten. - Manchmal umtanze ich, die Hérmuschel am Ohr,
von Unruhe gestachelt, auf den Fussspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhiiten,
dass Geheimnisse preisgegeben werden.
NatUrlich werden dadurch meine geschaftlichen Entscheidungen unsicher, meine Stimme
zittrig, Was macht Harras, wahrend ich telefoniere? Wollte ich sehr Ubertreiben — aber das
muss man oft, um sich Klarheit zu verschaffen -, so kénnte ich sagen: Harras braucht kein
Telefon, er benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gertickt und horcht, ich da-
gegen muss, wenn gelautet wird, zum Telefon laufen, die Wunsche des Kunden entgegen-
nehmen, schwerwiegende Entschliisse fassen, gross angelegte Uberredungen ausfihren —
vor allem aber wahrend des Ganzen unwillkdrlich durch die Zimmerwand Harras Bericht
erstatten.
Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gesprachs ab, sondern erhebt sich nach der
Gesprachsstelle, die ihn Gber den Fall geniigend aufgeklért hat, huscht nach seiner Ge-
wohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hérmuschel aufgehangt habe, ist er vielleicht
schon daran, mir entgegenzuarbeiten.10
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im Tunnel
Ginter Grass
Breitscheidt gegendber sass eine junge, mit sporticher Eleganz gekleidete Dame. Sie las in
einem Buch, dessen Schrift ihm verstéindlich schien. Eine Auslanderin war sie also nicht,
allenfalls eine jener gebildeten Weltreisenden, die, der deutschen Sprache machtig, seinem
Wortschwall hatte folgen kénnen, wenn er nur den Mund aufgemacht hatte.
Es ist schwer, eine Lesende anzusprechen. Der Zug durchrauschte die Schweiz. Er wand
sich durch die Schweiz. Bunt sah es draussen aus und einladend wie auf geschickten Plaka-
ten der Fremdenwerbung. Die Berge tirmten sich und schlitzten Schonwetterwolken auf, die
Taler verengten sich, Kahe und das gleichfalls gescheckte Heimweh ausgewanderter Talbe-
wohner weideten griines Gras,
Die Dame las in einem soliden Buch. Eine Danndruckausgabe, stelite Breitscheict fest,
Danndruck, Dunndruck. Das Wort sagte ihm etwas, es passte 2 der versunkenen Mitre
senden. Sie hatte eine cremefarbene durchbrochene Bluse an. Ihr Bustenhalter schien so
gearbeitet, dass er die Brustspitzen leicht betonen durfie. Der Zug stieg, man stieg,
Breitschneidt freute sich auf den Sankt Gotthard. Er wusste, dass dieses Loch in den Stiden
eine Atmosphére birgt, die die Gegenibersitzenden naher ruckt und dem Wort kleine
Sprungbrettchen bietet. In Géschenen liess er sich ein Schinkenbrot und Milchkatfee durchs
gedfinete Coupéfenster reichen. Nachher hatte er Muhe, die Scheibe wieder hochzuschie-
ben. Er musste sich die Jacke ausziehen und wieder anziehen, das war ihm peinlich, Zwel-
sprachig wurde die Abfahrt des Zuges ausgerufen. Gleich darauf schluckte der Tunnel alles,
was nach Airolo und weiter wollte. In seinen Ohren wurde es eng und grau, er lehnte sich
zurlick, und Satze, Satzgebilde, Wortkaskaden turmien sich in ihm auf, fielen wieder zu-
sammen, um neu und immer unaussprechlicher zu wuchern. Solch ein Tunnel ist lang und
einténig wie ein Sonntag. Es mochte am Berg liegen, an diesem durchlécherten Leichnam,
dass sich in Breitschneiat all diese gespitzten Schmeicheleien, ausgedachten Zartlichkeiten
und Vorschlaige, die soweit gingen, dass ein Hotel in Rimini entstand mit Zimmer zur blauen
Adria und sie, alle beide, alle beide, nachher, alle beide — als wortkarge Wut absetzten: ,Was
liest sie in dem Buch, dieser Danndruckausgabe? Hat sie keine Lust mit mir? Gefall ich ihr
nicht? Nur weil ich das Fenster schlecht zubekam? Wenn es klemmt, ist das meine Schuld?*
Die Dame gegentiber schioss ihr Buch, lenkte den Buchstabenblick zum Fenster, meinte die
Natur und sagte: ,Sind wir jetzt im Tunnel?"
Breitscheidt liess ein ,Ja" laut werden, zu laut werden. Sie, mit Ubereinandergeschlagenen
graukarierten Schenkein: ,Dauert es noch lange?"
sNicht mehr’, wusste Breitscheidt zu berichten und fagte noch hinzu: ,Dauert nicht mehr lan-
98, Frdulein.* Gieich darauf lachte er geraumig und dbermassig, dann schleppend, und
schliesslich lachte nur noch der Zug oder der Berg, oder Berg, Zug und Schiene lachten und
der Tunnel bog sich.
Nachdem nun auch Breitscheidt die Beine Gbereinandergeschlagen hatte, zuvor den Bugel-
falten Sorge tragend, blieb beiden nichts Besseres Obrig, als dieser Tunnelheiterkeit Zuhdrer
2u liefern, Nur mit Gewalt konnte sich Breitscheidt das Satzchen abkaufen: .Passen Sie auf,
Fraulein, wenn wir draussen sind, scheint die Sonne." Gleichzeitig mit dieser Prophetie beu
te er sich, die Hosenbeine voneinander reissend, bedenklich vor, um beladen mit einem ehr-
lichen Lob auf die durchbrochene Bluse, Dunndruckausgabe, Adria usw. dem letzten Tun-
nelsttick noch einen Sinn zu geben — da wurde es hell, zu hell, kein Humor mehr, nur noch
das milchige Fenster ~ und Regen.
Sehr weit sassen Breitscheidt und die sportiich Gekleldete nun auseinander. Einer Zigarette
in ihren Sekretarinnenfingern kam er zu spat. Sie gab sich selbst Feuer und schlug die
DUnndruckausgabe auf. Breitscheldt Oberlegte sich mUde, ob er ihr den Leichtmetall-
Aschenbecher aufklappen mise. Er tat es nicht. In die Jackentasche griff er, fand seine
bewahrte Blechdose, streute sich in die hohle Hand und gab dem Mund, bis ihn Traurigkeit
mit Pfefferminzgeschmack Giberkam.