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Philosophische Untersuchungen

herausgegeben von
Günter Figal und Birgit Recki

26
Lorenz B. Puntel

Sein und Gott


Ein systematischer Ansatz
in Auseinandersetzung mit M. Heidegger,
É. Lévinas und J.-L. Marion

Mohr Siebeck
Lorenz B. Puntel, geboren 1935; Studium der Philosophie, Psychologie, Altphilologie
und kath. Theologie in München, Wien, Paris, Rom und Innsbruck; 1968 Promotion in
Philosophie; 1969 in kath. Theologie; 1972 Habilitation in Philosophie; seit 1978 Professor
für Philosophie an der Universität München; 2001 emeritiert.

e-ISBN PDF 978-3-16-151337-4


ISBN   978-3-16-150146-3
ISSN  1434-2650 (Philosophische Untersuchungen)

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­biblio­­


graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf-
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© 2010   Mohr Siebeck Tübingen.


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Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, von
Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von
der Buchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.
ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστι πάντα
Anima quodammodo omnia
Der Geist ist gewissermaßen alles
Aristoteles, De anima

L’homme passe infiniment l’homme


Der Mensch übersteigt den Menschen um ein Unendliches
Pascal, Pensées
Vorwort

Die Entstehung dieses Buches, in der Form, in der es hier erscheint, verdankt
sich dem weitgehend zeitbedingten Zusammentreffen zweier Faktoren. Zum
einen entspricht es meinem Vorhaben, die struktural-systematische Kon-
zeption von Philosophie, deren allgemeinen Theorierahmen ich in meinem
2006 erschienenen Buch Struktur und Sein. Ein Theorierahmen für eine
systematische Philosophie (Tübingen, Mohr Siebeck) herausgearbeitet habe,
zumindest hinsichtlich einiger zentraler Themen weiter auszubauen. Eines
dieser Themen ist das Thema Sein und Gott, das die Krönung jenes Teils dieser
Philosophie bildet, der im genannten Buch Gesamtsystematik genannt wird.
Zum anderen ist das Buch das Resultat meines Versuchs, einen meiner In-
tention und Überzeugung nach grundlegenden Beitrag zur Klärung der heuti-
gen Diskussionslage hinsichtlich der sogenannten Gottesfrage zu leisten. Wie
diese Frage heute gestellt, behandelt und beantwortet wird, kann einen syste-
matisch denkenden Philosophen beinahe zur schieren Verzweiflung bringen.
Die Frage »existiert Gott?« ist in jeder Hinsicht so vage, unbestimmt, miss-
verständlich und höchstens so vieldeutig, dass darauf eine klare und fundierte
Antwort in keiner Weise direkt gegeben werden kann. In vielen Vorträgen
und Diskussionen an nicht wenigen Universitäten in mehreren Ländern habe
ich in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht und die Einsicht gewonnen,
dass diese verworrene Diskussionslage zwar nicht ausschließlich, aber doch
hauptsächlich aus einem fundamentalen Mangel an Klarheit über die zur
Diskussion stehende »Sache« (wie immer man sie bezeichnen mag) und die
sich daraus ergebenden Voraussetzungen und Forderungen hinsichtlich ihrer
Artikulation erwächst.
Diese Erfahrung bzw. Einsicht hat mich dazu geführt, dieses Buch in der
vorliegenden Form zu konzipieren. Es ist von einer doppelten Einsicht bzw.
Überzeugung getragen. Erstens handelt es sich um eine in langen Jahren der
philosophischen Forschung und Reflexion gewonnene Einsicht hinsichtlich
der mit der sogenannten »Gottesfrage« angesprochenen »Sache«, und zwar
dass diese Frage nur im Rahmen einer umfassenden Konzeption über die
sogenannte Realität, philosophisch präziser: über das Sein als solches und im
Ganzen, zur Klarheit gebracht werden kann. Was damit genauer gemeint ist,
wird in der Einleitung erläutert. Zweitens ist eine Überzeugung zu nennen,
die ich aus einer eingehenden Analyse der an der heutigen Diskussion über
VIII Vorwort

die sogenannte Gottesfrage beteiligten Autoren und deren Ansätze gewonnen


habe. Demnach sind die radikalsten Gegner einer Klärung der sogenannten
Gottesfrage im Sinne meiner an erster Stelle beschriebenen Einsicht bzw.
Überzeugung nicht die traditionellen Gegner und Kritiker der sogenannten
»Metaphysik«, sondern gerade jene Autoren, die heute global der »post-
modernen« Richtung zugerechnet werden.
Präzisierend und erschwerend muss ich hinzufügen, dass unter diesen post-
modernen Autoren gerade diejenigen, die in radikaler Weise einen angeblich
jüdisch bzw. christlich verstandenen und gedeuteten Gott annehmen und ent-
schieden verteidigen, es sind, die einen Ansatz in der Gottesfrage im Rahmen
einer Konzeption des Seins in radikalster Weise ablehnen. Bekanntlich speist
sich die postmoderne Strömung aus mehreren historischen Quellen, insbeson-
dere aus Autoren wie Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein. Hinsichtlich der
Thematik dieses Buches und der in ihm vertretenen Grundthese ist zweifellos
Heidegger die wichtigste Quelle, berufen sich doch die jüdisch bzw. christlich
orientierten Autoren entscheidend auf ihn. Wie in diesem Buch ausführlich
gezeigt werden soll, geschieht dies großenteils zu Unrecht, da Heideggers
Denken von diesen Autoren entstellend interpretiert wird.
Ich habe festgestellt, dass in Diskussionen mit postmodernen Autoren,
ganz besonders im Zusammenhang mit der Thematik dieses Buches, über
allgemeine Charakterisierungen und deutlich oberflächliche Bemerkungen in
der Regel nicht hinausgegangen wird. Kaum ein Interpret und Kritiker geht
den postmodernen Positionen wirklich auf den Grund. Es ist mein Vorhaben,
anders zu verfahren. In dieser Hinsicht unternehme ich in diesem Buch einen
zweifachen Versuch: erstens möchte ich zeigen, aus welchen Anfangs‑ bzw.
Grundannahmen die in der Regel erstaunlichen Ansichten der postmodernen
Autoren erwachsen; zweitens möchte ich der Frage nachgehen, wie kohärent
solche Ansichten sind. Das Ergebnis dieses Doppelversuchs wird, wie sich
zeigen wird, Erstaunliches an den Tag bringen.
Nun ist es aber auch im Rahmen eines Buches nicht möglich, ein solches
Projekt hinsichtlich des ganzen Spektrums des postmodernen Denkens in
Angriff zu nehmen. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, zwei
der wichtigsten, genauer nach meiner Überzeugung: die zwei hinsichtlich
der Thematik dieses Buches wichtigsten Kritiker bzw. Gegner eines Ansatzes
im Sinne der in diesem Buch vertretenen Konzeption einer sehr ausführ-
lichen kritischen Analyse zu unterziehen. Es sind – wie könnte das anders
sein – zwei französische Autoren: der jüdisch orientierte Autor Émmanuel
Lévinas und der christlich orientierte Autor Jean-Luc Marion. Zum an-
gemessenen Verständnis sowohl der systematischen Konzeption als auch
der ausführlichen Kritik an den beiden genannten Autoren wird Heideggers
Denken ebenfalls in einem eigenen Kapitel sehr ausführlich interpretiert und
bewertet.
Vorwort IX

Die obigen Erläuterungen erklären den Haupttitel und den Untertitel des
vorliegenden Buches. Weitere Erläuterungen dazu werden in der Einleitung
gegeben.
In diesem Buch werde ich auf mein am Anfang dieses Vorworts erwähntes
systematisches Werk Struktur und Sein oft Bezug nehmen, und zwar so-
wohl in den interpretatorisch-kritischen Kapiteln 1, 2 und 4 als auch – und
besonders  –  im systematischen Kapitel 3. Dies bedarf nicht nur nicht der
Rechtfertigung, sondern erweist sich als zwingend, da es unmöglich ist, so-
wohl die vorgelegte systematische Konzeption als auch die in diesem Buch
präsentierte Kritik systematisch allseitig zu erläutern und zu begründen.
Es ist bekanntlich meistens kaum der Fall, dass ein Autor zur umfassenden
Begründung seiner Kritik an anderen Positionen auf eine von ihm so oder so
vorausgesetzte bzw. vorauszusetzende Gesamtposition effektiv verweisen
kann. In den allermeisten Fällen liegt nämlich eine solche Gesamtposition
gar nicht vor, zumindest nicht in dargestellter Form. Die Verweise auf mein
Buch erweisen sich demnach als ein außerordentlich positives Element so-
wohl für die Darstellung meiner eigenen systematischen Position hinsichtlich
des Themas dieses Buches als auch für meine Kritik an den Positionen der
genannten Autoren.
Bei der Entwicklung der in diesem Buch vertretenen Auffassung und bei
ihrer Darstellung wurde ich von vielen Kollegen und Freunden aus mehre-
ren Ländern unterstützt. Ihnen allen gilt mein Dank. Namentlich kann ich
an dieser Stelle nur einige wenige nennen: Christina Schneider, Karl-Heinz
Uthemann, Josef Schmidt (alle Deutschland), Philippe Capelle (Paris), Man-
fredo A. de Oliveira und Ernildo Stein (beide Brasilien). In ganz besonderer
Weise habe ich Alan White (Williams College, USA) zu danken, der mehrere
Entwürfe der einzelnen Kapitel des Buches sorgfältig gelesen und wichtige
Vorschläge sowohl zum Inhalt als auch zur sprachlichen Darstellung gemacht
hat. Gleichzeitig hat er angefangen, eine englische Version anzufertigen.
Last not least möchte ich Dr. Georg Siebeck für sein ständiges Interesse, sein
unermüdliches Engagement und seine Fairness und Großzügigkeit danken.

München/Augsburg, im Oktober 2009 Lorenz B. Puntel


Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Zur Zitationsweise und zur Gestaltung des Literaturverzeichnisses. . . . XVII

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Kapitel 1
Inadäquate Ansätze
1.1 Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.2.1 B. Pascals »Wette« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.2.2 H. Küngs Ansatz auf der Basis des »Grundvertrauens« . . . . . . . . . . . . . 13
1.2.3 A. Plantinga: direkter und unmittelbar fundierter Gottesglaube als
sensus divinitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1.3.1 Die christliche Tradition der Seinsmetaphysik: (mindestens) sechs
Bedeutungen von »Metaphysik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1.3.2 Thomas von Aquin: Unreflektiertheit, Defizienz, Komplexität und
inspirative Kraft seiner Konzeption über Sein (esse) und Gott . . . . . . . . 34
1.3.2.1 Ein oberflächlicher, peripherer und völlig inadäquater Ansatz:
die »fünf Wege« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
1.3.2.2 Sein (esse) und Gott bei Thomas von Aquin: eine bedeutende,
aber einseitige und unentfaltete Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
1.3.2.3 Thomas von Aquin: ein mittelalterlicher Denker . . . . . . . . . . . . . . . 45
1.3.3 Der »Transzendentale Thomismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
1.3.4 Andere Beispiele halbsystematischer indirekter Ansätze:
R. Spaemann, R. Swinburne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
1.4 Gänzlich antisystematischer, antitheoretischer und direkter Ansatz:
L. Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1.5 Ein charakteristisches Beispiel einer verfehlten Kritik: Th. Nagels
Einwände gegen Gott als »letzten Sinn (last point)« . . . . . . . . . . . . . . . . 58
XII Sachverzeichnis

Kapitel 2
M. Heideggers »Seinsdenken«:
die Fehlentwicklung eines bedeutenden Ansatzes
2.1 Heideggers verfehlte und entstellende Interpretation und Kritik der
christlichen Seinsmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2.2 Heideggers vier Ansätze zur »Wiederholung« der »Seinsfrage« . . . . . 80
2.3 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« I: das Sein-als-
das-Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
2.4 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« II: Sein und
Seiende(s) – Ereignis und Ereignete(s) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2.5 Die »Überwindung der Metaphysik« als »Verwindung der
Metaphysik« und das »Ende der Seinsgeschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
2.6 Der »Status« des Heideggerschen Denkens I: Denken des Seins als
»Denken im Ereignis, das Denken, das in das Ereignis einkehrt« . . . . 104
2.7 Der »Status« des Heideggerschen Denkens II: absoluter Anspruch,
Vorläufigkeit, Sprachnot, Sprache des Denkens, Endlichkeit des
Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
2.8.1 Das Verhältnis von Philosophie und (christlicher) Theologie . . . . . . . . . 113
2.8.2 Das Verhältnis von »Sein/Ereignis« und »Gott« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
2.9 »Heideggers Denken«: eine grundsätzlich defiziente und konfuse
Gestalt von »Denken« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Kapitel 3
Ansatz zu einer struktural-systematischen
Theorie über Sein und Gott
3.1 Die systematischen Grundlagen: der Theorierahmen für die
struktural-systematische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
3.1.1 Allgemeine methodologische und wissenschaftstheoretische Aspekte
des Theorierahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
3.1.2 Die strukturale Dimension als der Kern des Theorierahmens:
die drei Ebenen der fundamentalen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
3.1.3 Der vollbestimmte Status des Theorierahmens:
der semantisch-ontologische Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Sachverzeichnis XIII

3.1.3.1 »Wahr(heit)« als Prädikat und als Operator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168


3.1.3.2 Die Grundidee der Wahrheit I: semantische Dimension . . . . . . . . . . 170
3.1.3.2.1 Das sprachliche Urfaktum: Indeterminiertheit vs.
Determiniertheit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
3.1.3.2.2 Die drei Ebenen der Sprachdetermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
3.1.3.2.3 Der Zusammenhang der drei Ebenen und die Fundamentalität
der semantischen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
3.1.3.2.4 Informal-intuitive Formulierung der fundamentalen Idee der
Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
3.1.3.3 Die Grundidee der Wahrheit II: der ontologische Bezug
von ›Wahr(heit)‹ als Identität von Proposition und Tatsache
(Identitätsthese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
3.1.3.3a Exkurs 1: Skizzierung einer halbformalen Darstellung der
fundamentalen Idee der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse als die universale
Dimension des primordialen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
3.2.1 Drei Wege zur Erschließung der universalen Dimension des Seins . . . . 185
3.2.1.1 Erster Weg: die universale Dimension des Seins als das »Es« des
theoretischen Operators oder als die von jedem theoretischen Satz
vorausgesetzte und artikulierte Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
3.2.1.2 Zweiter Weg: die intentionale Koextensionalität des menschlichen
Geistes mit dem uneingeschränkten universe of discourse
(»anima quodammodo omnia«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
3.2.1.3 Dritter Weg: der Zusammenhang aller Zusammenhänge oder
der umfassendste Zusammenhang als die absolut universale
Dimension des primordialen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
3.2.2 Die umfassendste philosophische Thematik: die absolut universale
Seinsdimension als die Dimension des Seins als solchen und im
Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
3.2.2a Exkurs 2: Der nicht konklusive »ontologische Gottesbeweis« und
seine unexplizierten Voraussetzungen: ein misslungener Versuch, die
ursprüngliche universale Seinsdimension zu artikulieren . . . . . . . . . . . 206
3.2.3 Zum Begriff der »Explikation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
3.3 Explikation der Seinsdimension I: Theorie des Seins als solchen . . . . . 217
3.4 Explikation der Seinsdimension II: Theorie des Seins im Ganzen . . . . 224
3.4.1 Sein und Seiende: eine ebenso unverzichtbare wie missverstandene
und missbrauchte Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
3.4.2 Die Modalitäten als Schlüssel zur Explikation des Seins im Ganzen . . . 225
3.4.3 Die universale Seinsdimension als Seins-Zweidimensionalität:
als Dimension des absolutnotwendigen Seins und Dimension der
kontingenten Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
XIV Sachverzeichnis

3.5 Die Explikation des Verhältnisses von absolutnotwendigem Sein


und kontingenter Dimension der Seienden als Schlüssel zu
einer Konzeption über das absolutnotwendige Sein als geistiges
(personales) absolutnotwendiges Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
3.5.1 Methodologische Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
3.5.2 Die absolutnotwendige Seinsdimension als absolutnotwendiges
geistiges (personales) Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein als Schöpfer der
Welt (als Schöpferabsolutes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
3.6.1 Fehlinterpretationen des Schöpfungsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
3.6.2 Die Schöpfung als die ins-Sein-Setzung der kontingenten
Seinsdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
3.6.3 Ein Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott und die Aufgaben einer
integralen Theorie über Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
3.7.1 Das absolutnotwendige Sein als Schöpferabsolutes und damit als
»Gott« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
3.7.2 Das weite Feld der Thematik einer Theorie über Gott . . . . . . . . . . . . . . 261
3.7.3 Zur Problematik der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
3.7.3.1 Negative Theologie und Analogielehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
3.7.3.2 Ansatz zu einer struktural-systematischen Konzeption über
Gottes Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
3.7.4 Der Übergang vom Schöpferabsoluten zum »Offenbarungsgott« als
Schlussthema der Theorie des Seins als solchen und im Ganzen . . . . . . 272
3.7.4.1 Die große methodische Zäsur: der Übergang zu einer
philosophischen Theorie über die Weltgeschichte und die
Religion(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
3.7.4.2 Zur Problematik des Verhältnisses von »Philosophie« und
»Theologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
3.7.4.2.1 Klärung eines fundamentalen »christlich-theologischen«
Einwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
3.7.4.2.2 Einige zentrale Aspekte einer neuen Bestimmung des
Verhältnisses von »Philosophie« und »Theologie«: zum
»Status« des »echten« Philosophen gegenüber dem
christlichen Glauben und der christlichen Theologie . . . . . . . . . 279

Kapitel 4
Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen:
É. Lévinas und J.-L. Marion
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits
des Seins« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
4.1.1 Allgemeine Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Sachverzeichnis XV

4.1.2 Drei hochproblematische fundamentale Annahmen


in Lévinas’ Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
4.1.2.1 Die missgeleitete Konzeption von Erkenntnis und Theorie . . . . . . . 295
4.1.2.2 Die inkohärente Konzeption von »Metaphysik« . . . . . . . . . . . . . . . . 299
4.1.2.3 Die fatale Misskonzeption von »Sein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
4.1.3 Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz und von Gott
als eine spezifische Form der Philosophie der Subjektivität . . . . . . . . . . 304
4.1.3.1 Die totale Negativität: die Dimension des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . 305
4.1.3.2 Drei missdeutete positive Merkmale der Transzendenz und
von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
4.1.3.2.1 Die Idee des Anderen als des Anderen oder der Beziehung
»von Angesicht zu Angesicht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
4.1.3.2.2 Die Idee der Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
4.1.3.2.3 Die Idee der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
4.1.3.3 Lévinas’ spezifische Form der Philosophie der Subjektivität:
»extrovertierte« Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption der »radikalen und nicht-­
metaphysischen Transzendenz« und von »Gott ohne das Sein« . . . . . 313
4.2.1 Vorbemerkungen zu Marions radikaler anti-metaphysischer und
postmetaphysischer Einstellung und zu seiner Missdeutung von
Heideggers »Überwindung der Metaphysik« sowie zu seinen
retractationes in Bezug auf Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
4.2.2 Inkohärenzen, Widersprüche und Ungedachtheiten in Marions
Auffassung des Verhältnisses von Sein und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
4.2.2.1 Der Widerspruch zwischen »Gott ist, existiert« und »Gott liebt,
bevor er ist« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
4.2.2.2 Die verfehlte Konzeption des Verhältnisses von Sein und
absoluter Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
4.2.2.2a Exkurs 3: Die historische Quelle von Marions Auffassung über
absolute Freiheit: Schellings Konzeption des Verhältnisses von
Gottesfreiheit und seiner Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
4.2.2.3 Marions »Umkehrungsprinzip« und das Verhältnis zwischen
Gott und Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
4.2.2.4 Die Inkohärenz zwischen »Gott liebt, bevor er ist« und dem
»Gegeben-sein« (Gottes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
4.2.2.4a Exkurs 4: Bemerkungen zu Marions rhetorisch-polemischem
Stil bei der Behandlung der Frage des Verhältnisses von Sein und
Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
4.2.3 Der fundamentale Fehler oder das proton pseudos: Die versuchte
Transformation von Husserls phänomenologischem Ansatz durch
Umkehrung der Subjekt-Objekt-Beziehung und die Idee der reinen
Phänomenalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
4.2.3.1 Probleme des Husserlschen phänomenologischen Ansatzes und
Marions Transformations‑ und Vervollständigungsprojekt . . . . . . . 345
4.2.3.2 Der Begriff der reinen Phänomenalität und des saturierten
Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
XVI Sachverzeichnis

4.2.3.3 Umkehrung der Subjekt-Objekt-Beziehung und Radikalisierung


der Philosophie der Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
4.2.3.3a Exkurs 5: Bemerkungen zu J. Schrijvers’ Interpretation und
Kritik von Marions Umkehrung der Subjekt-Objekt-Relation
und zu seiner ambigen Behandlung der Ontotheologie . . . . . . . . . . 377
4.2.4 Der gescheiterte »Zugang zur Transzendenz [zu Gott] ohne
Bedingung und ohne Maß« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
4.2.4.1 Die auf einer Fehlinterpretation basierende grundlose radikale
Verwerfung der Metaphysik (des Seins) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
4.2.4.2 Die Arbitrarität und Ambiguität des unvermitteltem Wechsels
zum »Standpunkt Gottes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
4.2.4.3 Die Inkohärenz des phänomenologischen Gebrauchs von
negativen und positiven Begriffen in der Rede von Gott . . . . . . . . . 389
4.2.4.4 Marions verfehlte Konzeption der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
4.2.4.4.1 Die missdeutete »systematische« Einordnung des
Kausalitätsbegriffs in Bezug auf den Schöpfungsgedanken . . . . 401
4.2.4.4.2 Die totale Sinnentleerung des Schöpfungsgedankens . . . . . . . . . 408
4.2.5 Schlusswort: »Die Hauptidolatrie: die Idolatrie des Seins selbst«? . . . . 423

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Zur Zitationsweise und zur Gestaltung
des Literaturverzeichnisses

Zur Entlastung des Anmerkungsapparats und zur möglichst optimalen Les-


barkeit wird eine doppelte Zitationsweise verwendet. Selten oder nur gele-
gentlich zitierte Werke werden in Fußnoten unter Angabe des Autornamens
(abgekürzter Vorname und Nachname), des Kurztitels der zitierten Schrift,
des Erscheinungsjahres und der Seite(n) belegt. Eine Auflösung dieser abge-
kürzten Belegung erfolgt im Literaturverzeichnis. Zitate aus häufig angeführ-
ten Werken werden nicht in Fußnoten, sondern mit Hilfe von Siglen oder Ab-
kürzungen unmittelbar nach dem Zitat im Haupttext belegt. Die Erklärung
der verwendeten Siglen bzw. Abkürzungen ist dem Literaturverzeichnis bei
der Angabe der Werke des entsprechenden Verfassers zu entnehmen; dabei
werden zuerst die mit Siglen bzw. Abkürzungen gekennzeichneten Werke in
alphabetischer Reihenfolge und anschließend die anderen Werke in chrono-
logischer Anordnung angeführt.
Einleitung

Es gibt heute kaum eine Frage, die so oft gestellt, so verschieden formuliert,
so radikal missverstanden und so oft völlig inadäquat beantwortet wird wie
die sogenannte »Gottesfrage«. Das allgemeine Ziel dieses Buches besteht in
dem Versuch, diese Inadäquatheiten, Unklarheiten und Einseitigkeiten zu
überwinden, und zwar auf der philosophischen Ebene. Darum ist dieses Buch
ein philosophisches Buch im strengen, d. h. hier: theoretischen Sinn, keine wie
immer geartete Anweisung zu einem bestimmten Handeln hinsichtlich dieser
Frage. Dies zu betonen, ist nicht ohne Bedeutung; denn die Gottesfrage hat
heute die groteske Stufe erreicht, dass sogar für Gott und gegen Gott nicht
nur theoretisch-philosophisch, sondern auch in den Medien jeder Art, zuletzt
sogar in öffentlichen Verkehrsmitteln geworben wird.1
Dieser Versuch versteht sich als ein philosophisch-systematischer. Seine
wichtigste und umfassendste These lautet: Nach »Gott« fragen, die Frage
effektiv behandeln und darauf eine in jeder Hinsicht rationale Antwort geben,
ist philosophisch nur dann sinnvoll, verständlich und angemessen, wenn dies
im Rahmen einer umfassenden Konzeption über die Realität oder das Sein
als solches und im Ganzen geschieht. Darauf verweist der Titel des Buches:
Sein und Gott. Unter Absehung oder gar Negation einer explizit vorgelegten
oder implizit vorausgesetzten Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
ist eine Konzeption über »Gott« eine Konzeption über irgendein Etwas, ein
X, das irgendwie jenseits der uns bekannten Welt und von ihr getrennt an-
geblich »existiert«, das aber letztlich weder intelligibel noch sinnvoll gemacht
werden kann. In einer Terminologie mit langer Tradition ausgedrückt: ein
solcher »Gott«, ein solches Etwas, ein solches X wäre nichts anderes als ein
Götze oder Idol.
Das spezifische Ziel des vorliegenden Buches ist nicht die Entwicklung einer
einigermaßen vollständigen »Theorie über Gott (Gotteslehre)«, sondern die
Klärung des philosophischen Rahmens für eine solche Theorie. »Gott« ist ein
Ausdruck bzw. ein Begriff nicht aus dem Bereich der Philosophie, sondern
aus dem der Religion. Er hat (bzw. sollte haben bzw. behalten) einen streng
1  Vgl. z. B. die im Oktober 2008 in London gestartete Atheisten-Bus-Kampagne mit

dem Slogan »There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life.« Inzwi-
schen wurde diese Kampagne in vielen anderen Großstädten in vielen Ländern ebenfalls
gestartet.
2 Einleitung

religiösen Bezug. Daher ist M. Heideggers berühmte Frage: »Wie kommt der
Gott in die Philosophie?« (ID 52) zwar eine gut gestellte Frage, aber sie sollte
dahingehend präzisiert werden, dass man formuliert: Wann, in welcher Weise
und unter welchen Voraussetzungen wird Gott im eigentlichen Sinne (und das
ist grundsätzlich der religiöse Sinn) Thema der Philosophie? Dies geschieht
nicht erst dann, wenn in irgendeiner Weise ein »Ursprüngliches« (traditionell:
ein erstes Prinzip – unter welcher Bezeichnung auch immer: ein Erster Bewe-
ger, eine Erste Ursache, ein Erstes oder Höchstes Seiendes usw.) aufgewiesen
wird. In der in diesem Buch zu entwickelnden Konzeption wird dieses »Ur-
sprüngliche« zunächst als absolutnotwendiges Sein konzipiert. »Gott« wird
Thema erst dann, wenn ein solches  –  philosophisch gesehen  –  »Ursprüng-
liches« so weit bestimmt wird, dass es einen religiösen Bezug offenbart. Dann
kann aber dieses »Urprüngliche« nicht in traditioneller Weise als ein »Erstes«
oder »Höchstes« oder Ähnliches aufgefasst werden.
Es ist unerlässlich, die genaue Bedeutung der kurz umschriebenen spezi-
fischen Zielsetzung des Buches zu betonen, sollen die hier vorgelegten Ana-
lysen und Überlegungen nicht von Anfang an missverstanden werden. In
keiner Weise intendiert das Buch, die sogenannte »Gottesfrage« umfassend zu
behandeln. Um die sehr stark limitierte Zielsetzung zu präzisieren, sei auf die
zwei wichtigsten Charakteristika der umfassend verstandenen »Gottesfrage«
kurz hingewiesen.
Das erste Charakteristikum ist inhaltlicher Natur: Es meint alle thema-
tischen Aspekte der Gottesfrage. Diese reichen von der großen Frage, was
überhaupt unter »Gott« zu verstehen sei, ob bzw. wie sein »Sein« (oder, wie
meistens gesagt wird, seine »Existenz«) zu »beweisen« sei, bis zu ganz spezi-
fischen (und heute besonders in der analytischen Philosophie manchmal fast
ausschließlich behandelten) Fragen, wie der Frage nach der Kompatibilität
der Bejahung eines Gottes mit der unbestreitbaren Existenz des Übels in
der Welt. Diese immense und extrem vielfältige Thematik ist nicht Gegen-
stand des vorliegenden Buches. Hier geht es nur um eine Frage, die man
aus philosophischer Sicht als die absolut erste und fundamentale Frage im
außerordentlich komplexen Bereich der »Gottesfrage« ansehen muss, um
die Frage, ob und wie man in philosophischer Hinsicht zu einem »Punkt«
gelangen kann, an dem man sinnvollerweise das aus der Religionsgeschichte
stammende Wort ›Gott‹ in die philosophische Theoriebildung einbeziehen
kann.
Wie schon kurz angedeutet, gibt dieses Buch darauf eine positive Antwort,
indem es die fundamentale These aufstellt und vertritt: Der genannte »Punkt«
ist in philosophischer Hinsicht nur im Rahmen einer umfassenden Konzep-
tion der Wirklichkeit oder, in der systematischen Terminologie dieses Buches,
des Seins als solchen und im Ganzen zu erreichen. »Im Rahmen« besagt hier
keine Restriktion, keine (Vor)Bedingung und vor allem keinen wie immer
Einleitung 3

gearteten vorgegebenen Raum oder Horizont, innerhalb dessen »Gott« nichts


anderes wäre als ein »Element« unter anderen, wie postmoderne Autoren
oft und hartnäckig der »Metaphysik« unterstellen. Vielmehr wird dadurch
allererst die »Dimension« angezeigt, die, wenn voll bestimmt und voll ex-
pliziert, die Bezeichnung »Gott« verdient. »Gott« ist der »Endpunkt« der
philosophischen theory of everything, der voll entfalteten Konzeption des
Seins. Hier wird keiner oberflächlichen oder abstrakten Identifizierung von
»Sein« und »Gott« das Wort geredet, wie manche postmoderne Autoren heute
ebenfalls zu sagen pflegen. Wenn das Wort ›Identifizierung‹ überhaupt ver-
wendet werden soll, was grundsätzlich höchst problematisch ist, so wäre zu
sagen: Gott ist Sein-im-Vollsinn, Sein-in-seiner-ganzen-Fülle.
Das zweite Charakteristikum der umfassend verstandenen sogenannten
»Gottesfrage«, wie sie heute formuliert und oft behandelt wird, ist praktisch-
methodischer Natur. Damit ist folgendes gemeint: Die außerordentlich zahl-
reichen Behandlungsweisen der »Gottesfrage« orientieren sich meistens an
Gesichtspunkten, die nur in sekundärer Weise (wenn überhaupt) die eigent-
lich inhaltliche oder sachliche Seite der »Gottesfrage« betreffen; in primärer
(und sogar oft in ausschließlicher) Hinsicht lassen sie sich von Überlegungen
und Maßstäben leiten, die von bestimmten »konkreten« oder »praktischen«
Faktoren herrühren. Unter anderen gehören dazu die folgenden Faktoren:
Die apologetische Zielsetzung, also die Bemühung, Menschen zu überzeugen,
sie sollten »Gott« annehmen, anerkennen oder wie immer; ferner die Berück-
sichtigung der »konkreten Situation« der Menschen, an die die unternommene
Behandlung der »Gottesfrage« gerichtet ist; die diese Menschen interessieren-
den und »bewegenden« Fragen, deren psychologische Einstellung u. dgl.;
schließlich die aus dem Umgang mit den »konkreten Menschen« gewonnenen
rhetorisch-argumentativen Mittel, deren Anwendung Aussicht darauf bietet,
sie zu überzeugen etc.
Das vorliegende Buch sieht von allen diesen praktisch-methodischen As-
pekten vollständig ab, also vom ganzen genannten zweiten Charakteristikum
der heutigen Behandlung der Gottesfrage. Es will niemanden »überzeugen«,
niemanden dazu bewegen, einen »Gottesglauben« (oder Ähnliches) zu über-
nehmen oder zu akzeptieren. Es nimmt absolut keine Rücksicht auf irgend-
welche Faktoren, gleich welcher Art, die mit der sogenannten »konkreten«
Situation des Menschen zu tun haben. Das Buch behandelt die große Thema-
tik ausschließlich und streng auf der rein philosophisch-theoretischen Ebene.
›Philosophisch-theoretisch‹ ist aus der Sicht des Verfassers eine pleonastische
Formulierung. Darauf hinzuweisen, ist aber nicht redundant oder sinnlos,
weil nicht wenige Philosophen (und Theologen) die Philosophie (bzw. die
Theologie) nicht als ein streng theoretisches Unternehmen betrachten. Aber
auch im streng philosophisch-theoretischen Denkrahmen wird in diesem
Buch nicht das ganze, an erster Stelle genannte Charakteristikum der Gottes-
4 Einleitung

frage, nämlich das inhaltlich-thematische, angesprochen, wie oben schon


gesagt wurde.2
In diesem Zusammenhang ist eine Besonderheit dieses Buches zu erläu-
tern: seine kritische Seite. Das Buch wird (in Kapitel 3) eine systematisch-
philosophische Konzeption präsentieren, allerdings nur im Ansatz. Da aber
diese Konzeption in einem anderen Buch des Verfassers in systematischer
Ausführlichkeit zur Darstellung gebracht wurde (vgl. das Buch Struktur
und Sein (= SuS)), genügt es im vorliegenden Werk, eine angemessene Kurz-
darstellung vorzulegen. Der wichtigste Aspekt des im Buch verfolgten und
oben beschriebenen spezifischen Ziels besteht darin, die heutigen wichtigsten
Gegenpositionen zu der hier vertretenen systematischen Konzeption einer
eingehenden kritischen Analyse zu unterziehen.
Was die spezifische Thematik des Buches anbelangt, wird von der Fest-
stellung ausgegangen, dass die wichtigsten Gegenpositionen in der Gegenwart
weder aus dem Bereich der empirischen Wissenschaften noch aus der beson-
ders seit Kant bestehenden metaphysikkritischen Tradition, insonderheit des
logischen Empirismus oder Positivismus, sondern überraschenderweise von
jüdischen und christlichen Autoren stammen. Im Großen und Ganzen wer-
den diese Autoren zur postmodernen Philosophie (und Theologie) gerechnet.
Die Strömung, als ganze genommen, dürfte schwer zu charakterisieren sein,
bietet sie doch den Eindruck eines Sammelsuriums, das sich grundsätzlich
nur durch eine negative Gemeinsamkeit identifizieren lässt: eine radikale und
totale Ablehnung von »Metaphysik«. Was dabei unter »Metaphysik« ver-
standen wird, ist so oberflächlich und entstellend, dass eine diesbezügliche
Auseinandersetzung mit der ganzen Richtung kaum sinnvoll, weil kaum
möglich, erscheint.
Aus diesem Grund soll hier anders vorgegangen werden. Statt die ganze
Richtung und die vielen ihr zugerechneten Autoren global zu untersuchen,
werden nur die allerwichtigsten und einflussreichsten Opponenten der
oben kurz formulierten zentralen These des Buches ausgewählt und einer
gründlichen und ausführlichen kritischen Analyse unterzogen. Es kann nach
Meinung des Verfassers kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass die beiden
radikalsten Kritiker eines positiven Zusammenhangs zwischen einer Philoso-
phie (oder einem Denken) des Seins und einer Konzeption von Gott, kurz:
eines wie immer gearteten positiven Verhältnisses zwischen Sein und Gott, in
der jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart der französische jüdische

2  Ein Werk, das beinahe alle Aspekte der Gottesfrage und beinahe alle heute darüber

vertretenen Positionen behandelt, ist das Buch von A. Kreiner, Das wahre Antlitz Got-
tes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, 2006. Die ausführlich zitierte Literatur
ist umfassend (allein das Literaturverzeichnis umfasst 29 Seiten). Bezeichnenderweise aber
findet die Fragestellung, die für den im vorliegenden Buch verfolgten Ansatz leitend ist,
im Buch von Kreiner keine Beachtung.
Einleitung 5

Autor Émmanuel Lévinas und der französische christliche Autor Jean-Luc


Marion sind. Beide Autoren werden daher in diesem Buch in Kapitel 4 aus-
führlich dargestellt und kritisch gewürdigt.
Die Entstehung der postmodernen Strömung verdankt sich hauptsächlich
dem Einfluss einiger großer Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders
Hegel, Nietzsche, Husserl und noch einigen anderen wenig bedeutsamen
Denkern. Aber der Denker, der hinsichtlich der spezifischen Thematik des
vorliegenden Buches den bei weitem entscheidendsten Einfluss auf diese Au-
toren ausgeübt hat, ist Martin Heidegger. Die Bedeutung dieses Philosophen
reduziert sich keineswegs auf den Einfluss, den er auf die postmodernen
Autoren ausgeübt hat und weiterhin ausübt. Ihm wir das ganze Kapitel 2
gewidmet. Der Grund dafür liegt darin, dass Heidegger für die Themen-
stellung und Zielsetzung des vorliegenden Werkes eine absolut zentrale phi-
losophische Figur ist. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden.
Erstens ist Heidegger der Philosoph, der wie kaum ein anderer die Ur-
frage der Philosophie, die Seinsfrage, neu zu formulieren versucht hat. Das
war in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine absolut epochale
Leistung. Freilich hat Heidegger später Wege eingeschlagen, die nicht nur
problematisch, sondern einfach inakzeptabel sind: Seine so gut wie radikale
Ablehnung der formalen Logik und all dessen, was eine exakte Philosophie
charakterisiert, wird vom Verfasser dieses Werkes deutlich und kompro-
misslos abgelehnt. Es bleibt aber bestehen, dass aus seinem Werk über die
Seinsfrage außerordentlich wichtige Impulse ausgegangen sind und weiterhin
ausgehen. Hinzu kommt, dass erst im Rahmen der Publikation der Gesamt-
ausgabe seiner Werke einige gerade für die Thematik dieses Buches sehr
wichtige Schriften posthum veröffentlicht wurden. Gerade um Heideggers
Kritik der Metaphysik, seinen neuen Ansatz bei der »Wiederholung« (SZ § 1,
3 ff.) der Seinsfrage und sein Ringen um das Problem des Bezugs von »Sein«
und »Gott« einer detaillierten und akribischen Analyse zu unterziehen, war
es notwendig, ihm ein ganzes Kapitel zu widmen.
Zweitens ist Heidegger der Philosoph, auf den sich besonders postmoderne
Autoren für deren radikale Ablehnung von Metaphysik und jeder Konzeption
über das Ganze der Wirklichkeit, über das Sein als solches und im Ganzen,
vorwiegend berufen. Nun muss man feststellen, dass dieser Bezug auf Hei-
degger in der Regel auf außerordentlich oberflächliche Weise erfolgt. Diese
Autoren haben Heidegger keineswegs irgendwie angemessen interpretiert
und rezipiert. Es war im Gegenteil ein Heidegger sozusagen à la française,
der zur Hauptquelle des postmodernen Denkens wurde, wobei der von ihnen
interpretierte und rezipierte Heidegger dann einen beträchtlichen Einfluss auf
Autoren auch in anderen Ländern ausgeübt hat und weiterhin ausübt.
Ein solcher Heidegger ist allerdings, wie dieses Buch zeigen wird, besonders
aus zwei Gründen ein missdeuteter und naiv rezipierter Heidegger. Erstens
6 Einleitung

wird Heidegger von den hier gemeinten Autoren fast ausschließlich aus der
Perspektive einiger Aspekte seiner Missinterpretation der abendländischen
Metaphysik rezipiert, und zwar meistens beinahe nur auf der Basis einiger
Schlagworte wie besonders: abendländische Metaphysik ist Onto-theo-logie.
Eine oberflächliche Lektüre einiger Werke Heideggers gibt sicher Anlass
dazu; aber das ganze Denken Heideggers ist viel komplexer und nuancierter
als eine solche Lektüre vermuten lässt. Die postmodernen Autoren haben aber
die einseitig und entstellend übernommene Metaphysikkritik Heideggers auf
ihre eigene Weise in einer so radikalen – und man muss wohl hinzufügen: so
oberflächlichen – Weise besonders auf die ganze philosophisch-theologische
Tradition der christlichen Metaphysik ausgedehnt, dass die von ihnen auf die-
ser Basis entwickelte »Konzeption« kaum noch auf Heidegger zurückbezogen
werden kann. Zweitens muss man feststellen, dass die Heidegger-Rezeption
seitens der postmodernen Autoren auffallend naiv und unkritisch ist. Das
betrifft besonders die schon erwähnten Schlagworte, die im postmodernen
Denken zu so etwas wie einem dogma postmodernisticum antimetaphysicum
wurden. Kapitel 4 des vorliegenden Werkes enthält aufschlussreiche Beispiele
und damit Belege eines solchen naiv-unkritischen Verfahrens.
Diese Diskussions‑ und Sachlage haben den Verfasser veranlasst, der gan-
zen Problematik auf den Grund zu gehen. Das kann nur dadurch geschehen,
dass Heideggers Denken einer ausführlichen Analyse und Würdigung unter-
zogen wird. Da aber auch der systematische Ansatz des Verfassers in gewis-
ser Weise ebenfalls von Heidegger beeinflusst wurde  –  wenngleich in total
anderer Weise als im Fall der postmodernen Autoren –, war es angebracht,
die ausführliche kritische Analyse des Heideggerschen Denkens noch vor der
Darstellung der eigenen systematischen Konzeption zu bringen. Aus diesen
Überlegungen ergab sich dann von selbst die Architektonik der Hauptkapitel
des Buches, auf die im Untertitel des Werkes Bezug genommen wird. Dass die
drei dabei genannten Autoren, M. Heidegger, É. Lévinas und J.-L. Marion, in
der Architektonik des Buches an verschiedenen Stellen erscheinen, erklärt sich
aus dem jeweiligen Stellenwert, den sie hinsichtlich des im Buch behandelten
großen Themas einnehmen. Heidegger steht an erster Stelle, weil er zwar
keine ausgeführte und positive Auffassung über Gott entwickelt, wohl aber
ein »Seinsdenken« eingeleitet hat, das von fundamentaler Bedeutung für die
große Thematik des Buches ist. Der in Kapitel 3 zu skizzierende systematische
Ansatz des Verfassers verdankt dem Denken Heideggers einige grundlegende
Inspirationen; außerdem ist er besser verständlich, wenn er auf der Basis einer
schon durchgeführten Auseinandersetzung mit Heidegger zur Darstellung
gelangt. É. Lévinas und J.-L. Marion andererseits sind Autoren, die eine ganz
pointierte Konzeption über Gott vertreten, und zwar auf der Basis einer
absolut radikalen Ablehnung jeder umfassenden Seinskonzeption. Die Aus-
einandersetzung mit ihnen kann am besten nach der Auseinandersetzung mit
Einleitung 7

Heidegger und nach der Präsentation des systematischen Ansatzes in Angriff


genommen werden.
Noch ein weiterer Faktor ist in dieser Einleitung zu erwähnen und zu er-
läutern. Um die philosophische Tragweite der zentralen These des Buches ins
rechte Licht zu rücken, erscheint es dem Verfasser wichtig, sie auch vor dem
Hintergrund der Berücksichtigung und Kritik auch nicht-postmoderner Po-
sitionen zu präsentieren, zu erläutern und zu verteidigen. Aus diesem Grund
wird in Kapitel 1, das einen teilweise einleitenden Charakter hat, eine Reihe
von Beispielen inadäquater »direkter« unsystematischer, indirekter halbsyste-
matischer und auch antisystematischer Ansätze in der Gottesfrage behandelt.
Es ist aber zu betonen, dass es sich nur um einige besonders markante Beispiele
solcher Positionen handelt. Eine auch nur partielle kritische Darstellung »der
heutigen Positionen hinsichtlich der Gottesfrage« übersteigt dezidiert den
zulässigen Umfang des vorliegenden Werkes. Zu betonen ist aber, dass diese
Beispiele sich sowohl in grundsätzlicher als auch in wirkungsgeschichtlicher
Hinsicht enorm voneinander unterscheiden. Ganz besonders dem Denken des
Thomas von Aquin kommt dabei eine überragende Bedeutung zu. Dem wird
in diesem Buch nicht nur durch die ausführliche kritische Darstellung seiner
Position in Kapitel 1, sondern auch durch die durchgehende Bezugnahme auf
sein Denken in allen Kapiteln dieses Buches Rechnung getragen.
Kapitel 1

Inadäquate Ansätze

1.1 Vorklärungen

Bekanntlich wird die Gottesfrage in sehr vielen Formen aufgeworfen und be-
handelt, wobei jede dieser Formen auf einer bestimmten Diskursart basiert. In
diesem Buch wird nur auf philosophische (genauer: auf sich als philosophisch
betrachtende bzw. als solche nennende) Formen Bezug genommen. Eine
Klassifikation dieser Formen wäre im Hinblick auf die Aufgabe, Klarheit über
diesen großen Fragenformenkomplex zu schaffen, sehr erwünscht. Ist aber
eine Klassifikation überhaupt möglich? Wenn die Frage abstrakt formuliert
wird, so erscheint eine Klassifikation kaum möglich. Anders verhält es sich,
wenn bestimmte Kriterien für eine Klassifikation explizit angegeben werden.
Solche Kriterien bestimmen die Klassifikation, indem sie diese als eine unter
mehreren möglichen erscheinen lassen.
Die im folgenden zu explizierenden Kriterien ergeben sich aus der in der
Einleitung formulierten Grundeinsicht bzw. ‑these des Buches, der zufolge
nach »Gott« adäquat fragen, die Frage effektiv behandeln und darauf eine in
jeder Hinsicht rationale Antwort geben, nur dann philosophisch angemessen
ist, wenn dies im Rahmen einer umfassenden Konzeption über die Realität
oder das Sein als solches und im Ganzen geschieht. Je nachdem, wie sich
verschiedene Ansätze hinsichtlich der Gottesfrage zu dieser Grundthese
verhalten, werden sie klassifiziert. Nun sind die Weisen, in denen sich diese
Ansätze zur genannten These stellen, wieder von enormer Diversität. Daraus
ergeben sich verschiedene Arten von Ansätzen, wobei zu betonen ist, dass
eine solche Klassifikation, auch unter strenger Beachtung des genannten
Kriteriums, nur einen sehr unvollständigen Charakter hat. Mehr ist hier
nicht beabsichtigt.
Als inadäquat werden die in diesem ersten Kapitel beschriebenen und
kritisierten Ansätze in zumindest einer (bzw. in einigen Fällen in beiden) der
folgenden zwei Hinsichten charakterisiert. Die erste Hinsicht ist die totale
oder partielle Nichtklärung bzw. Nichtexplizierung des ganzen breiten Spek-
trums der Voraussetzungen, auf dem die direkte Rede über Gott basiert. Die
zweite Hinsicht ist ganz anderer, eher inhaltlicher Art. Sie besagt, dass diese
Ansätze (oder zumindest einige unter ihnen) ihren Ausgangspunkt bei einem
einzelnen isolierten Aspekt oder Phänomen »in der Welt« nehmen, wie z. B.
10 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

bei einem bestimmten Begriff, einem bestimmten Phänomen (wie Bewegung,


Kausalität usw.).
Die erste Hinsicht hat zur Konsequenz, dass der entsprechende Ansatz als
etwas Sekundäres, Ungeklärtes, Unexpliziertes erscheint, kurz als eine Kon-
zeption, deren philosophischer Status unbestimmt bleibt. Aus der zweiten
Hinsicht ergibt sich ein völlig einseitiger Gottesbegriff, ein Gottesbegriff, der
der großen Idee des Göttlichen gänzlich unangemessen ist: Gott erscheint
nämlich hier nur als eine Funktion eines einzigen Aspektes der Welt, nicht als
die Dimension, die die Welt als ganze umfasst. Ein solcher Gott kann letzten
Endes nicht legitimiert, ja nicht einmal kohärent gedacht werden.
In diesem Kapitel werden nur wenige inadäquate Ansätze behandelt; sie
sind eher als Beispiele für das zu verstehen, was in diesem Werk »inadäquater
Ansatz« genannt wird.
Zunächst sind die Ausdrücke / Begriffe »unsystematisch«, »antisystema-
tisch«, »halbsystematisch«, »direkt« und »indirekt«, die im folgenden zur
Qualifikation von Ansätzen in der Gottesfrage verwendet werden, zu er-
klären. Diese Erklärung gilt nur für den Gebrauch dieser Ausdrücke/Begriffe
im Kontext der Ausführungen in diesem Buch. »Unsystematisch« meint
die faktische Nicht-Explizitmachung der wesentlichen philosophischen Zu-
sammenhänge, in die eine Aussage, eine Theorie, ein Thema, überhaupt jedes
theoretische Element und damit auch die Rede von »Gott« involviert ist.
»Antisystematisch« ist streng von »unsystematisch« zu unterscheiden. »Anti-
systematisch« meint hier die explizite Negation sowohl der Möglichkeit
als auch der Sinnhaftigkeit und erst recht der Unverzichtbarkeit einer Ex-
plizitmachung der wesentlichen Zusammenhänge, Voraussetzungen und Im-
plikationen der philosophischen Aussagen. »Halbsystematisch« kennzeichnet
einen Diskurs, der nur teilweise und nur unzureichend die genannten Zu-
sammenhänge, Voraussetzungen und Implikationen thematisiert.
Ein direkter Ansatz bzw. Diskurs bezüglich der Gottesfrage kennt keine
»Vor‑ oder Zwischenstufen« im Hinblick darauf, wie der Ausdruck bzw.
Begriff »Gott« eingeführt wird bzw. zu verstehen ist. »Gott« wird von vorn-
herein als etwas genommen, dessen Sinn so oder so vorausgesetzt bzw. als
bekannt ausgegeben wird. Um es etwas locker auszudrücken: ein direkter
Ansatz oder Diskurs hinsichtlich Gott setzt voraus, man wisse immer schon,
wovon die Rede ist. Die Art und Weise dieser »Direktheit« der Rede über
»Gott« hat sehr verschiedene Formen. Implizit vorhanden ist dabei meistens
ein Vorverständnis des Ausdrucks / Begriffs »Gott« im Sinne des christlichen
Gottes. Insbesondere die in diesem Buch darzustellende Distinktion zwischen
der absolutnotwendigen Seinsdimension oder dem absolutnotwendigen Sein
einerseits und »Gott« andererseits wird weder gemacht noch anerkannt, zu-
mindest nicht explizit.
1.1 Vorklärungen 11

Ein indirekter Ansatz ist durch zwei Faktoren charakterisiert. Erstens wird
der Diskurs über Gott durch vorgängige theoretische Erklärungen und ar-
gumentative Schritte eingeleitet und abgesichert; zweitens wird das Ergebnis
dieser Argumentation, konkret: die Konklusion eines »Gottesbeweises«, zwar
zunächst korrekt formuliert, dann aber unvermittelt als »Gott« bezeichnet.
Beispielsweise gelangt der »erste Weg (prima via)«, also der »erste Gottes-
beweis«, des Thomas von Aquin zur Konklusion, dass es einen »Ersten Be-
weger« gibt. Dann aber wird von ihm sofort hinzugefügt: »Und das verstehen
alle als Gott.«1 Das große Beispiel dafür ist der Ansatz der großen Tradition
der christlich orientierten Metaphysik, insonderheit die sogenannten Gottes-
beweise (»Wege, viae«) bei Thomas von Aquin. Aber der Begriff »indirekt«
kann in sehr verschiedenen Formen konkretisiert werden.
Aus diesen Klärungen ergibt sich: Ein (völlig) unsystematischer Ansatz
kann nur ein direkter Ansatz sein. Sowohl ein halbsystematischer als auch ein
indirekter Ansatz können verschiedene Formen annehmen. Im allgemeinen
gilt aber, dass ein halbsystematischer Ansatz auch eine bestimmte Form eines
indirekten Ansatzes ist. In diesem Buch wird explizit und ausführlich jene
Gestalt eines halbsystematischen indirekten Ansatzes dargelegt und kom-
mentiert, die das Denken des Thomas von Aquin charakterisiert. Darauf soll
unten in Abschnitt 1.3.2 eingegangen werden.
Die in diesem Buch vertretene, in Kapitel 3 darzustellende Konzeption ist
eine im strengen Sinne rein systematische Konzeption. Sie kann mit den Be-
griffen »direkt/indirekt« nicht weiter qualifiziert werden. Der entscheidende
Punkt ist gerade die These, welche die Originalität dieser Konzeption aus-
macht. Sie sei hier kurz und vorwegnehmend negativ und positiv charakteri-
siert. Negativ gesehen hält sie Fragen wie die so oft gestellte und in verschie-
densten Formen beantwortete Frage nach der Existenz Gottes für sinnlos,
und zwar wegen der völlig ungeklärten und unannehmbaren Voraussetzungen
(und »Vorstellungen«), aus denen sie erwächst. Ferner gehen die Formen des
halbsystematischen indirekten Ansatzes von irgendeinem Phänomen oder
einem bestimmten Begriff oder einem bestimmten Sachverhalt aus, um von
daher zu Gott zu gelangen. Auch diese Vorgehensweise wird in diesem Buch
radikal abgelehnt, und zwar deshalb, weil der »Gott«, zu welchem man auf
diese Weise gelangt, ein, wie man sagen könnte, »sehr beschränkter« Gott ist,
insofern er nur von einem bestimmten Segment, nicht vom ganzen Universum
bzw. Sein als solchem und im Ganzen her »bestimmt« wird.
Positiv lässt sich die These an dieser Stelle so artikulieren: Der hier ent-
wickelte systematische Ansatz gelangt zu Gott auf dem Weg einer umfassen-
den Explikation der ursprünglichen universalen Dimension des primordialen
Seins. Freilich ist hinzuzufügen, dass diese Artikulation der positiven Seite

1 
»Et hoc omnes intelligunt Deum.« (STh I q. 2. a. 3 c.)
12 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

der These an dieser Stelle kaum verständlich sein dürfte; sie wird aber im
systematischen Kapitel 3 ausführlich dargelegt. Hier war es nur darum zu
tun, die benutzte Formulierung ›streng systematischer Ansatz‹ in etwa zu
erklären.

1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze

1.2.1 B. Pascals »Wette«


Ein charakteristisches Beispiel für einen gänzlich unsystematischen und di-
rekten Ansatz ist die sogenannte Wette Pascals. Dieses berühmte »Argument«
soll hier nicht ausführlich dargestellt und noch weniger kritisch gewürdigt
werden. Der Hinweis darauf dient nur dem Zweck zu zeigen, dass ein solcher
Ansatz in systematischer Hinsicht völlig inadäquat ist. Das bedeutet nicht,
dass es nicht Menschen geben kann oder gibt, die ein solches »Argument«
für sehr überzeugend halten. »In systematischer Hinsicht« besagt hier und
sonst in diesem Buch u. a., dass alle Kriterien und Erfordernisse einer, so weit
dies für uns Menschen erreichbar ist, möglichst vollständigen Intelligibilität
erfüllt werden.
Am besten seien die wichtigsten Formulierungen des großen Pascal wört-
lich wiedergegeben, begleitet von einigen erläuternden Bemerkungen.2
Pascal geht von der grundsätzlichen Annahme aus, »dass man sehr wohl
das Dasein eines Dinges kennen könne, ohne sein Wesen zu kennen.« Und
auf dieser Basis behauptet er gleich: »Wir kennen das Dasein des Unendlichen,
aber wir wissen nicht, was es ist. […] wir kennen weder das Dasein noch das
Wesen Gottes.«3 Und dann kommt die entscheidende Passage:
»[N]ehmen wir an: Gott ist oder er ist nicht. Wofür werden wir uns entscheiden? Die
Vernunft kann hier nichts bestimmen: ein unendliches Chaos trennt uns. Am äußersten
Rande dieser unendlichen Entfernung spielt man ein Spiel, wo Kreuz oder Schrift fallen
werden. Worauf wollen Sie setzen? Aus Gründen der Vernunft können Sie weder dies
noch jenes tun, aus Gründen der Vernunft können Sie weder dies noch jenes abtun.
[…] Ja, aber man muss auf eines setzen, darin ist man nicht frei, Sie sind mit im Boot.
Was werden wir also wählen?«4

2  Zitiert wird nach der deutschen Übersetzung der Pensées von E. Wasmuth: B.

Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), 1978. Alle
im Haupttext zitierten Passagen sind dem Fragment 233 (S. 120–126) entnommen, das
der Nummerierung der Fragmente in der französischen Ausgabe von L. Brunschvicg
entspricht. In der Ausgabe von J. Chevalier: B. Pascal, Oeuvres Complètes, 1954,
wird dieses Fragment unter der Nummer 451 (S. 1212–1216) geführt. (Übers. teilweise
modifiziert.)
3  Ebd. 121.
4  Ebd. 122–3.
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 13

»Zwei Dinge haben Sie zu verlieren: Die Wahrheit und das höchste Gut; und zwei
Dinge haben Sie einzubringen: Ihre Vernunft und Ihren Willen, Ihr Wissen und Ihre
Seligkeit, und zweierlei haben Sie von Natur zu meiden: den Irrtum und das Elend.
[…] Wägen wir Gewinn und Verlust für den Fall, dass wir auf Kreuz setzen, dass Gott
ist. Schätzen wir diese beiden Möglichkeiten ein. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie
alles, wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Setzen Sie also, ohne Zögern, darauf,
dass er ist.«5

Auf die Einzelheiten und Pascals lange Erläuterungen wird hier nicht einge-
gangen. Vielmehr ist die Frage zu stellen, wie dieser Ansatz zur Gottesfrage zu
beurteilen ist. Wie immer er aus der Perspektive der Wahrscheinlichkeits‑ und
Entscheidungstheorie zu bewerten ist, aus streng systematisch-philosophi-
scher Sicht ist er völlig inadäquat. Was heißt überhaupt »Gott« hier? Aus dem
Gesamtkontext der Schriften Pascals wird ersichtlich, dass er den christlichen
Gott meint, und dies noch in einer ganz bestimmten Hinsicht, nämlich in jener
Hinsicht, die in den Formulierungen seines berühmten Mémorial artikuliert
wird, wie weiter unten gezeigt wird.
Die eigentliche Schwäche dieses Ansatzes ist der absolute und totale Man-
gel an Intelligibilität. Der »Gott« der Wette ist sozusagen eine sonderbare
»Größe«, hinsichtlich deren der denkende Mensch eine ganze Reihe von
fundamentalen Fragen hat. Angenommen, die Wette würde im positiven
Sinne angenommen und beantwortet, wie intelligibel wäre die Annahme eines
solchen Gottes? Es wäre sozusagen eine »Größe in der Luft«. Alle Vorausset-
zungen und alle Implikationen blieben dabei völlig im Dunkeln.

1.2.2 H. Küngs Ansatz auf der Basis des »Grundvertrauens«


Der katholische Theologe und Philosoph Hans Küng hat einen eigenen An-
satz zur Gottesfrage entwickelt, der seine Orientierung und Inspiration aus
dem Bestreben gewinnt, möglichst alle Aspekte dieser Frage im menschlichen
Leben direkt und gänzlich zu berücksichtigen.6 Seine Konzeption erwächst
aus der Betrachtung der konkret existentiellen Lage der Menschen angesichts
der großen sowohl philosophischen als auch theologischen sowie auch litera-
rischen und wissenschaftlichen Geschichte der Behandlung der Gottesfrage.
Kaum ein Aspekt dieser großen Frage wird außer Acht gelassen. Als Resultat
wird eine Konzeption präsentiert, die in gewisser Hinsicht eine Ähnlichkeit
zu Pascals direktem Zugang zu Gott hat. Der entscheidende Unterschied
ist, dass Küng seine Konzeption mit einer beinahe monumentalen Gelehr-
samkeit in mehreren Bereichen, besonders hinsichtlich der Philosophie‑ und
Theologiegeschichte, umrahmt. Das Fazit aber ist äußerst einfach und dünn:

5 
Ebd. 123.
6 
H. Küng, Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, 1978.
14 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Es ist eine bestimmte Form eines direkten und völlig unsystematischen Zu-
gangs zu Gott.
Die entscheidende Frage, an der sich Küng orientiert, lautet: Was würde
sich ändern, wenn Gott existierte? (vgl. EG 618 ff.)), oder: Was wäre, wenn
Gott existierte? (vgl. EG 623 ff.). Mit großer Rhetorik antwortet Küng
darauf ausführlich, indem er Behauptungen wie die folgenden aufstellt:
»Wenn Gott existierte, dann wäre eine grundsätzliche Lösung für das Rätsel
der fraglich bleibenden Wirklichkeit angegeben: insofern dann eine grund-
sätzliche Antwort […] auf die Frage nach dem Vonwoher gefunden wäre.«
(EG 622) Ferner: »Wenn Gott existierte, dann wäre auch auf das Rätsel
meines fraglich bleibenden menschlichen Daseins zumindest grundsätzlich
eine Antwort gefunden.« (EG 623) Küngs Ziel ist es, den Bedingungssatz
»wenn Gott existierte« in den positiven Satz »Gott existiert« zu überführen.
Das versucht er zu erreichen, indem er sich bemüht, sowohl dem Phänomen
des Atheismus als auch dem ganzen biblischen Hintergrund und der ganzen
jüdisch-christlichen Denktradition, mit besonderer Akzentuierung der pro-
testantischen Theologie, Rechnung zu tragen. So behauptet er: »Ein Nein zu
Gott ist möglich. Der Atheismus lässt sich nicht rational eliminieren: Er ist
unwiderlegbar!«; aber gleichzeitig behauptet er auch: »Auch ein Ja zu Gott
ist möglich. Der Atheismus lässt sich nicht rational etablieren: Er ist unbe-
weisbar.« (EG 625)
Küngs magisches Wort hinsichtlich seines Ansatzes lautet: »Gott  –  eine
Sache des Vertrauens.« (Ebd.) Das ist ihm zufolge »der entscheidende Knoten
zur Lösung der Frage nach der Existenz Gottes«, eine Lösung, die er »in aus-
führlichen Auseinandersetzungen mit der Natürlichen Theologie des Vatika-
num I, der Dialektischen Theologie Barths und Bultmanns und der moralisch
postulierenden Theologie Immanuel Kants vorbereitet« (ebd. 626) hat. Das
alles fasst er folgendermaßen zusammen:
– »Wenn Gott ist, ist er die Antwort auf die radikale Fraglichkeit der Wirklichkeit.
– Dass Gott ist, kann angenommen werden:
nicht stringent aufgrund eines Beweises oder Aufweises der reinen Vernunft (Na-
türliche Theologie),
nicht unbedingt aufgrund eines moralischen Postulates der praktischen Vernunft
(Kant),
nicht ausschließlich aufgrund des biblischen Zeugnisses (Dialektische Theologie).
– Dass Gott ist, kann nur in einem – in der Wirklichkeit selbst begründeten – Ver-
trauen angenommen werden.« (EG 626)

Die Annahme der Existenz Gottes nennt Küng »Gottesglaube« (ebd.). Und
diesen charakterisiert er als »letztlich begründetes Grundvertrauen« (ebd.)
zur Wirklichkeit. Die nähere Explikation dieses »begründeten Grundver-
trauens« erfolgt eigentlich nur in weiteren literarisch und apologetisch
brillanten Behauptungen, insbesondere: »Das Nein zu Gott bedeutet ein
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 15

letztlich unbegründetes Grundvertrauen zur Wirklichkeit« (EG 627). Umge-


kehrt gilt nach Küng: »Wer Gott bejaht, weiß, warum er der Wirklichkeit
vertrauen kann.« (EG 628) Das Begründetsein des Gottesglaubens ist nach
Küng »keine äußere Rationalität, die eine abgesicherte Sicherheit verschaffen
könnte«; es ist »eine innere Rationalität vielmehr, die eine grundlegende
Gewissheit gewähren kann: Im Vollzug, durch die ›Praxis‹ des wagenden
Vertrauens zu Gottes Wirklichkeit, erfährt der Mensch bei aller Anfechtung
durch Zweifel die Vernünftigkeit seines Vertrauens …« (EG 630) Und Küng
fasst zusammen:
»Wie das Grundvertrauen, so ist auch der Gottesglaube
– eine Sache nicht nur der menschlichen Vernunft, sondern des ganzen konkreten
lebendigen Menschen […];
– also überrational […];
– aber nicht irrational […];
– somit eine nicht blinde und wirklichkeitsleere, sondern eine begründete, wirklich-
keitsbezogene und im konkreten Leben rational verantwortete Entscheidung […];
– im konkretem Bezug zum Mitmenschen vollzogen […];
– nicht ein für allemal gefasst, sondern stets neu zu realisieren …« (EG 631)

Wie ersichtlich, handelt es sich hier um einen typischen direkten und völlig
unsystematischen Ansatz, mit einem betont starken apologetischen und sogar
bekenntnishaften Charakter. Der Ansatz will überzeugen, daher appelliert er
an alle Faktoren, die eine Zustimmung des Adressaten herbeibringen können.
Für apologetische Zielsetzungen mag der Ansatz interessant und sogar ge-
eignet erscheinen; aber in philosophischer Hinsicht ist der Ansatz völlig
inadäquat. Das lässt sich insbesondere durch zwei kurze Hinweise erhärten.
Erstens, von »Gott« ist von Anfang an in völlig unbestimmter und undif-
ferenzierter Weise die Rede. Man muss ständig fragen: Was ist mit der Frage
»Existiert ›Gott‹?« überhaupt gemeint? Wovon ist hier die Rede? Erst nach-
dem Küng die Existenz »Gottes« in der beschriebenen Weise »begründet« hat,
geht er dazu über zu klären, was »Gott« sei. Das ist ein theoretisch unver-
ständliches und unzulässiges Verfahren. Es wird – eben später – deutlich, dass
Küng immer schon den christlichen Gott gemeint hatte. Wenn aber dem so ist,
dann müsste von Anfang an gezeigt werden, dass das, was Küng »Grundver-
trauen zur Wirklichkeit« nennt und die Basis seiner Argumentation bildet, in
dem so verstandenen Gott gründet. Aber das leistet Küng überhaupt nicht.
Die ganze »Argumentation« ähnelt eher einer Predigt.
Zweitens ist Küngs Ansatz völlig unsystematisch in dem oben erläuterten
Sinn. Das bedeutet hier im Einzelnen: Alle zentralen Begriffe, die in Küngs
Ausführungen vorkommen, werden überhaupt nicht geklärt, so besonders:
»Begründung«, »Grundvertrauen«, »Wirklichkeit« usw. »Gott« erscheint hier
als ein sonderbares X, das ausschließlich aufgrund von völlig unbestimmten
und vagen Begriffen »bestimmt« wird. Besonders hier wird deutlich, dass
16 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

ein adäquater Ansatz zur Gottesfrage nur im Rahmen einer klaren und aus-
geführten Konzeption oder Theorie des Ganzen des Seins (der Wirklichkeit)
möglich ist.

1.2.3 A. Plantinga: direkter und unmittelbar fundierter Gottesglaube


als sensus divinitatis
Ein anderes Beispiel für einen direkten und in einer bestimmten Hinsicht un-
systematischen Ansatz in der Gottesfrage ist der Ansatz von Alvin Plantinga.
Unsystematisch ist der Ansatz in ontologischer oder metaphysischer Hin-
sicht, also in der Hinsicht, die für die Zielsetzung des vorliegenden Werkes
von entscheidender Bedeutung ist. Es wird gesagt, dass der Ansatz »in einer
bestimmten Hinsicht« unsystematisch ist, weil Plantinga seinen Ansatz in
rein epistemischer Hinsicht durchaus in einem systematischen Rahmen ver-
ankert. Der besondere Charakter dieses Ansatzes ist gerade in dem Umstand
zu sehen, dass er einerseits äußerst direkt, ja einfach ist, ohne die nicht-episte-
mischen Gesichtspunkte zu thematisieren. Plantinga hat eine großangelegte
Erkenntnistheorie in zwei Bänden vorgelegt, die vermutlich als die anspruchs-
vollste und vollständigste Behandlung dieser Disziplin in der Gegenwart
gelten muss.7 Ein dritter Band mit dem Titel Warranted Christian Belief (=
WCB)8 schließt sich an das allgemeine epistemologische Werk an und be-
handelt was man eine systematische Epistemologie des christlichen Glaubens
nennen könnte.

[1] Im Gegensatz zu allen internalistischen Konzeptionen in der Erkennt-


nistheorie vertritt Plantinga eine dezidiert rein externalistische Auffassung
von Begründung. Die zentrale These des Begründungsinternalismus lautet:
Begründung ist eine Pflicht des sich rational verhaltenden Subjekts; sie besteht
darin, dass das Subjekt Gründe haben muss, um eine Aussage bzw. eine Über-
zeugung zu bejahen, wobei diese Gründe als Faktoren charakterisiert werden,
die dem Subjekt explizit zugänglich sind oder zumindest sein können. Der
Begründungsexternalismus verwirft diese so verstandene Bindung von mit
Gründen identifizierten Faktoren an die explizite Wahrnehmung durch ein
Subjekt; Begründung wird im Gegenteil rein objektiv aufgefasst, in dem Sinne,
dass eine Überzeugung, eine Aussage usw. dann als begründet anzusehen ist,
wenn objektive Faktoren vorliegen, wobei diese Objektivität auch dann be-
steht, wenn das Subjekt diese Faktoren gar nicht wahrnimmt.
Um diesen radikalen Unterschied auch terminologisch kenntlich zu machen,
verwendet Plantinga – im Gegensatz zu den anderen analytischen Erkenntnis-

7 
Warrant. The Current Debate, 1993; Warrant and Proper Function, 1993.
8 
Oxford University Press, 2000.
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 17

theoretikern – den Ausdruck ›justification (Rechtfertigung, Begründung)‹ im


rein internalistischen Sinne und führt dann den sonst sehr unüblichen Aus-
druck ›warrant‹ ein, um seine Version einer rein externalistischen Position
zu kennzeichnen. Im Deutschen gibt es keine zwei Ausdrücke, die geeignet
wären, den genannten Unterschied sprachlich angemessen zu artikulieren.
Am ehesten würde man wohl sagen, dass ›Rechtfertigung‹ oder ›Begründung‹
geeignet sind, die internalistische Sicht sprachlich zu charakterisieren; für
Plantingas ›warrant‹ könnte man ›Fundierung‹ oder ›Grundlegung‹ sagen.
Der Titel des dritten Bandes von Plantingas Trilogie wäre dann zu übersetzen
als »Fundierter (oder Grundgelegter) Christlicher Glaube«. In den folgenden
Ausführungen über Plantingas Konzeption werden die genannten Ausdrücke
im erläuterten Sinne verwendet.

[2] Plantinga entwickelt eine sehr ausführliche und sehr komplizierte Theorie
über Fundierung/ warrant. Ganz allgemein gesehen, ist Fundierung ihm zu-
folge jener Faktor, der den Unterschied zwischen bloßer wahrer Überzeugung
und Erkenntnis charakterisiert. Anders gesagt: Fundierung ist jener Faktor,
der gegeben sein muss, damit einer wahren Überzeugung der Status einer
Erkenntnis verliehen werden kann. Aber wie ist dieser Faktor zu bestimmen?
Plantinga hat eine vom heutigen mainstream in der Erkenntnistheorie stark
abweichende Konzeption entwickelt, von der er sagt, sie gehe auf Aristoteles
und Thomas v. Aquin zurück. Der zentrale Gedanke wird von ihm so be-
stimmt:
»Eine Überzeugung (belief) ist fundiert genau dann, wenn sie das Resultat von ko-
gnitiven Prozessen oder adäquat funktionierenden (properly functioning) kognitiven
Vermögen ist, und zwar in einem kognitiven Umfeld, das für diesen Vollzug kognitiver
Fähigkeiten förderlich ist, entsprechend einem Plan, der auf die erfolgreiche Hervor-
bringung von wahrem Glauben abzielt.« (WCB xi)

Der zentrale Begriff ist also »proper functioning (adäquates Funktionieren


oder adäquater Vollzug)« der kognitiven Vermögen. Das ist ein sehr tradi-
tioneller, aber auch ein schwer zu bestimmender Begriff. Plantinga hat mit
viel Scharfsinn eine immense Anstrengung unternommen, diesen Begriff in
all seinen Aspekten zu klären. Die intensive Diskussion seiner Position zeigt,
dass der Begriff mit vielen Problemen behaftet ist. Doch darauf kann hier
nicht näher eingegangen werden. Hier geht es grundsätzlich nur darum,
Plantingas Position hinsichtlich der Gottesfrage auf der Basis seiner erkennt-
nistheoretischen Voraussetzungen zu charakterisieren.

[3] Nach Plantinga kann der christliche Glaube den Anspruch erheben,
als fundiert (grundgelegt) zu gelten (in seiner Terminologie: der christliche
Glaube hat warrant), wie der Titel des umfangreichen 3. Bandes der Trilogie
formuliert: Warranted Christian Belief. Der Versuch, dies zu zeigen, kann
18 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

nach Plantinga  –  und damit charakterisiert er sein eigenes Buch  –  in zwei


ganz verschiedenen Weisen verstanden werden: Einmal ist ein solcher Ver-
such »eine Übung in Apologetik und Religionsphilosophie, ein Versuch zum
Zweck der Demonstration, dass eine große Anzahl von Einwänden gegen
den christlichen Glauben zum Scheitern verurteilt sind«; zum anderen ist der
Versuch »eine Übung in christlicher Philosophie, d. h. er ist die Bemühung,
die Art von philosophischen Fragen aus einer christlichen Perspektive zu
betrachten und zu beantworten, die Philosophen stellen und beantworten«.
(WCB xiii) Aber diese Unterscheidung ist nur auf der abstrakten Ebene eine
klare Unterscheidung. Im Falle der ersten Weise ist es im Prinzip klar, was es
heißt, »Philosophie der Religion zu betreiben«; aber die Nennung der »Phi-
losophie der Religion« in einem Zug mit »Apologetik« (sicher zu verstehen als
Apologetik des christlichen Glaubens) macht sofort klar, wie zweideutig ein
solches Unternehmen ist; ferner fragt man sich, wie (d. h. in welcher metho-
dischen Weise) diese »Übung in Apologetik und Philosophie der Religion«
vonstatten gehen soll: aus einer »christlichen Perspektive« oder aus einer etwa
neutralen (eben rein philosophischen) Perspektive?
Wie noch zu zeigen sein wird, ist Plantingas Position, ungeachtet ihrer
teilweise großartigen Einsichten und Leistungen, im Grunde nicht frei von
Ambiguität. Man wird wohl sagen müssen, dass in Plantingas Position die
beiden Perspektiven – die »externe oder neutrale« und die »christlich-imma-
nente« – gleichzeitig und nebeneinander am Werk sind. Unklar ist nur, wie
diese Gleichzeitigkeit bzw. dieses Nebeneinander verstanden und gerechtfer-
tigt wird; hier klafft eine große Lücke in Plantingas sonst bewundernswertem
Versuch.
Plantinga zufolge hat der »klassische christliche Glaube« zwei Komponen-
ten. Die erste nennt er die theistische Komponente, die er so beschreibt, wie
dies von der klassischen christlichen Metaphysik her bekannt ist. Die zweite
Komponente ist die spezifisch christliche, wie sie von der christlichen Theo-
logie dargelegt wird. Hinsichtlich des so verstandenen christlichen Glaubens
unterscheidet er zwei grundverschiedene Kategorien von Fragen: de-jure-Fra-
gen und de-facto-Fragen. De-jure-Fragen sind epistemische Fragen, Fragen
danach, ob der christliche Glaube rational, gerechtfertigt usw. ist; de-facto-
Fragen betreffen die Wahrheit des christlichen Glaubens.
Eine der zentralen Thesen des Buches lautet: Es gibt keinen sinnvollen bzw.
durchschlagenden de-jure-Einwand gegen den christlichen Glauben, der von
einem entsprechenden de-facto-Einwand unabhängig wäre:
»Der Streit darüber, ob der christliche Glaube rational (fundiert) ist, kann nicht
aufgrund (rein) epistemologischer Überlegungen geschlichtet werden; grundsätzlich
handelt es sich nicht um einen rein epistemologischen Streit, sondern vielmehr um
einen ontologischen oder theologischen Streit.« (WCB 190)
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 19

Dazu ist zunächst zu bemerken, dass es nicht klar ist, ob »oder« am Ende
des letzten Satzes im inklusiven (einschließenden) oder im exklusiven (aus-
schließenden) Sinn zu verstehen ist. Die Unklarheit rührt grundsätzlich daher,
dass Plantinga den Ausdruck ›Ontologie (ontologisch)‹ kaum verwendet und
dass bei dessen wenigen Vorkommnissen nicht klar ist, wie er ihn genau ver-
steht. Ungeachtet dieser Unklarheit berührt Plantinga in der zitierten Passage
den entscheidenden Punkt seines Ansatzes. Es wird sich zeigen, welche Kon-
sequenzen diese Position hat.

[4] Plantinga entwirft ein »Modell«, das er »das (Thomas von) Aquin-Cal-
vin‑Modell (A/C-Modell)« nennt.9 Dabei greift er auf zentrale Aussagen

9  Plantinga stützt sein »Modell« nicht so sehr auf Thomas von Aquin als vielmehr

auf Calvin; und er bemüht Thomas in weniger eindeutiger Weise. So zitiert er ins-
besondere folgenden Text aus der Summa contra Gentiles, Buch III, Kap. 38 (wobei er
auf S. 176 die Belegstelle fälschlicherweise mit Summa Theologiae I, q. 2, a. 1, ad 1 angibt):
»Es gibt eine gewisse allgemeine und undeutliche Gotteserkenntnis, die sich wohl bei
allen Menschen findet: das liegt entweder daran, dass es wie andere Beweisprinzipien an
sich bekannt ist, dass Gott existiert – so scheint es manchen […]; oder, was der Wahrheit
näherzukommen scheint, (es liegt daran,) dass der Mensch aus natürlichem Vernunft-
gebrauch sogleich zu irgendeiner Erkenntnis Gottes gelangen kann. Die Menschen sehen
nämlich, dass die natürlichen Dinge gemäß einer festen Ordnung verlaufen; da es nun
keine Ordnung ohne einen Ordner gibt, erfassen sie in der Mehrheit, dass es einen Ordner
der Dinge gibt, die wir sehen. Wer oder wie beschaffen der Ordner der Natur aber sei und
ob nur einer, erfährt man noch nicht sogleich aus dieser allgemeinen Betrachtung: wenn wir
z. B. sehen, dass ein Mensch in Bewegung ist und andere Tätigkeiten verrichtet, erfassen
wir, dass ihm eine gewisse Ursache dieser Tätigkeiten innewohnt, die andere Dinge nicht
haben, und diese Ursache nennen wir ›Seele‹: doch wir wissen (dann) noch nicht, was die
Seele sei, ob sie ein Körper sei oder wie sie die genannten Tätigkeiten bewirke.«
[»Est … quaedam communis et confusa Dei cognitio, quae quasi omnibus hominibus
adest: sive hoc sit per hoc quod Deum esse sit per se notum, sicut alia demonstrationis
principia, sicut quibusdam videtur […]; sive, quod magis verum videtur, quia naturali
ratione statim homo in aliquam Dei cognitionem pervenire potest. Videntes enim homines
res naturales secundum ordinem certum currere; cum ordinatio absque ordinatore non
sit, percipiunt, ut in pluribus, aliquem esse ordinatoren rerum quas videmus. Quis autem,
vel qualis, vel si unus tantum est ordinator naturae, nondum statim ex hac communi con-
sideratione habetur: sicut, cum videmus hominem moveri et alia opera agere, percipimus
ei inesse quandam causam harum operationum quae aliis rebus non inest, et hanc causam
animam nominamus; nondum autem scientes quid sit anima, si est corpus, vel qualiter
operationes predictas efficiat.«]
Plantingas Interpretation dieser Texte ist zwar vorsichtig, aber dennoch teilweise
nicht richtig. Vor allem aber verfehlt sie den springenden Punkt bei Thomas. Plantinga
zitiert nicht die vom Verfasser kursiv gedruckten Passagen im obigen Zitat; stattdessen
geht er gleich dazu über, die weiteren [im obigen Zitat nicht enthaltenen] Aussagen von
Thomas über Irrtümer zu kommentieren, dass beispielsweise einige glaubten, es gäbe
keinen anderen Ordner als die Himmelskörper. Und Plantinga schreibt dann:
»Vielleicht können wir Thomas von Aquin folgendermaßen interpretieren. Man
betrachte die Beschreibung es gibt einen Ordner der Dinge, die wir sehen. Diese Be-
schreibung wird effektiv auf Gott angewandt. Wer glaubt, dass sie in der Tat Anwendung
auf etwas oder anderes hat, kann daher eine de-re-Erkenntnis Gottes haben; beispielsweise
20 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Calvins zurück, insbesondere auf dessen Gedanken des sensus divinitatis,


den Plantinga so deutet: »Es gibt eine Art von Vermögen oder kognitivem
Mechanismus, […] der in einer größeren Vielfalt von Umständen in uns
Überzeugungen (beliefs) über Gott hervorbringt.« (WCB 172) Der biblische
Hintergrund für eine solche Konzeption ist bekanntlich die folgende Stelle
im Brief an die Römer des Apostels Paulus: »Der Zorn Gottes wird vom
Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit der Menschen, die die Wahr-
heit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar:
Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare
Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen,
seine ewige Macht und Gottheit.«10 Plantinga interpretiert sie ganz im Sinne
Calvins. Die in diesen Texten artikulierte »natürliche Gotteserkenntnis« ist
nach Plantinga nicht das Resultat einer Schlussfolgerung oder irgendeines Ar-

kann er glauben, dass das X, dass die Dinge ordnet, die wir sehen, die eine oder andere
Eigenschaft hat – dass es existiert, dass es mächtig ist, und dass es in der Tat das ordnet, was
wir sehen. Das würde bedeuten, dass diese Person hinsichtlich Gott de-re-glauben würde,
dass er existiert, dass er mächtig ist, und dass er in der Tat das ordnet, was wir sehen. Aber
diese Erkenntnis ›schließt nicht viele Irrtümer aus‹ [wie Thomas sagt]: so, beispielsweise,
denkt der Naturalist, dass das X, das die Dinge ordnet, die wir sehen, in Wahrheit das
Gesamt der Naturgesetze ist; der Naturalist glaubt daher de re von Gott, dass Gott das
Gesamt der Naturgesetze ist.« (WCB 177)
Plantinga begeht hier einen Fehler, wenn er (die Beschreibung): das X, das (oder: die
Instanz, welche) die Dinge, die wir sehen, ordnet, auf Gott anwendet. Wieso auf Gott?
Wieso taucht hier »Gott« auf? Welchen Sinn hat es, hier »Gott« einzuführen? Man weiß
absolut nicht, was hier »Gott« überhaupt bedeuten mag. Daher ist der Gebrauch des
Wortes »Gott« hier absolut leer, nichtssagend.
Plantingas Fehler ist problematischer als der Fehler, den man auch bei Thomas von
Aquin im Rahmen seiner berühmten »fünf Wege« feststellen kann, wenn er über die
Konklusion jeder der fünf Demonstrationen sagt: »Und das (nämlich: den Ersten Beweger,
die Erste Ursache usw.) nennen alle Gott« Das kann man einen methodologischen Fehler
nennen, wie das später noch im Einzelnen zu zeigen sein wird (vgl. dazu unten 1.3.2.1
[2]). Immerhin ist der Fehler bei Thomas nicht so groß wie bei Plantinga, und zwar
in zweifacher Hinsicht. Erstens hat Thomas nur solche »Instanzen« (die Konklusionen
der Demonstrationen) »Gott« genannt, die eher mit der (christlichen) Bedeutung von
»Gott« in Verbindung gebracht werden können, während Plantinga dies (im Sinne
eines Glaubens-de-re) auch im Falle einer »Instanz« wie das Gesamt der Naturgesetze
tut. Zweitens beachtet Plantinga nicht, dass Thomas in dem von Plantinga zitierten
Kapitel 38 des 3. Buches der Summa contra Gentiles ein deutliches Bewusstsein des soeben
angesprochenen Problems bezüglich der Einführung des Ausdrucks ›Gott‹ offenbart. Wie
schon bemerkt, ist es bezeichnend, dass Plantinga ausgerechnet diese Passage nicht zitiert.
Dort heißt es nämlich: »Wer oder wie beschaffen der Ordner der Natur aber sei und ob
er nur einer, erfährt man noch nicht sogleich aus dieser allgemeinen Betrachtung …« Das
bedeutet, dass Thomas einen solchen »Punkt (hier: den Ordner der Dinge, die wir sehen)«
als absolut offen ansieht und begreift: Auf einer höheren Ebene der Theoriebildung ist
der »Punkt« allererst ein (weiteres) Explicandum oder Determinandum. Thomas ist
an dieser Stelle sehr sorgfältig, denn er vermeidet es, den auf die beschriebene Weise
erreichten »Punkt« sogleich als »Gott« zu bezeichnen. Die systematische Klärung dieser
Zusammenhänge soll in Kapitel 3 des vorliegenden Buches unternommen werden.
10  Römer 1: 18–20 (Einheitsübersetzung, 1980).
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 21

guments, sondern ist unmittelbar. Zwar wird diese natürliche Erkenntnis etwa
durch die Betrachtung der Natur veranlasst, aber sie ist nicht die Konklusion
eines Beweises oder eines Arguments. Dieser unmittelbaren Gotteserkenntnis
schreibt Plantinga den Status einer Basiserkenntnis zu, einer Erkenntnis, die
von keiner – wie immer konzipierten – Prämisse abhängig ist.
Plantinga führt weiter aus, dass der klassische erkenntnistheoretische Fun-
damentalismus »fundamentale« oder »Basiswahrheiten« annimmt, wie die
Wahrheiten, die sich aus dem Gedächtnis, aus der Wahrnehmung, aus der Er-
fahrung usw. ergeben. Aber diese Richtung rechnet den Gottesglauben bzw.
die Gotteserkenntnis nicht dazu; vielmehr verlangt sie, dass die Behauptung
der Existenz Gottes »bewiesen« werden, d. h. den Status der Konklusion eines
strengen Argumentes haben muss. Plantinga setzt sich in schroffen Gegensatz
zu dieser letzten These des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus. Das
allgemeine Schema seiner Argumentation kann kurz so angegeben werden:
Es wäre unsinnig zu sagen, dass gewisse Wahrheiten wie diejenigen, die sich
unmittelbar aus dem Gedächtnis, aus der Wahrnehmung, aus der Erfahrung
usw. ergeben, »unbegründet / unjustified« sind, nur weil sie unmittelbar, d. h.
nicht »bewiesen« werden, nicht als Konklusion eines Argumentes erscheinen.
Genauso unsinnig ist es nach Plantinga zu behaupten, der Gottesglaube sei
unbegründet oder irrational, wenn er nicht aufgrund eines Beweises, also als
Konklusion eines Argumentes bejaht wird. Der Gottesglaube ist ja unmittel-
bar, hat also einen analogen Status wie die Wahrheiten, die aus der Wahr-
nehmung, aus der Erfahrung usw. stammen.
Plantinga geht über viele Konzeptionen entscheidend hinaus, die auch eine
unmittelbare Gotteserkenntnis bejahen, indem er ein wesentliches Element
hinzunimmt: nämlich die Fundiertheit (warrant) (objektive Begründetheit)
dieser Erkenntnis. Es heißt bei ihm:
»Der eigentliche Punkt ist nicht die Tatsache, dass der (an Gott) Glaubende sich auf
seine epistemischen Rechte berufen kann, wenn er den theistischen Glauben in der
Weise einer Basisannahme bejaht. Das ist in der Tat so; aber ein größeres Gewicht
hat der Umstand, dass dieser Glaube für die entsprechende Person als fundiert (have
warrant) gelten kann, wobei eine solche Fundierung oft für Erkenntnis ausreichend
ist. Der sensus divinitatis ist ein Vermögen (oder eine Fähigkeit oder ein Mechanismus),
das unter den adäquaten Bedingungen einen Glauben hervorbringt, der hinsichtlich
seiner inneren Evidenz nicht auf anderen Formen von Glauben basiert.« (WCB 179)

Plantinga betont, dass aus dieser Konzeption nicht folgt, der theistische
Glaube könne nicht anders begründet oder grundgelegt oder fundiert werden,
nämlich durch Beweise bzw. Argumente, die ihrerseits auf anderen Erkennt-
nissen (Prämissen) basieren. Auch folgt daraus nicht, dass die natürliche
oder philosophische Theologie und überhaupt ein argumentatives Verfahren
keinen Wert für das intellektuelle und spirituelle Leben des Glaubenden hat
(vgl. WCB 179, Fußn. 16). Aber Plantinga macht auch – aufgrund eines un-
22 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

durchsichtigen »theoretischen Sprungs«  –  eindringlich darauf aufmerksam,


dass die (Erb)Sünde den sensus divinitatis beschädigen kann und tatsächlich
beschädigt hat.

[5] Bisher wurde die erste Komponente des Glaubens an Gott, die theistische,
dargelegt. Es sei kurz noch Plantingas methodisches Verfahren hinsichtlich
der zweiten Komponente, der Komponente des christlichen Glaubens im
eigentlichen Sinn, zur Darstellung gebracht. In einer fundamentalen Hinsicht
verfährt Plantinga hier ganz im Sinne der traditionellen (sowohl katholischen
als auch protestantischen) Theologie. Seine spezifische Version dieses Verfah-
rens nennt er »das erweiterte Aquin / Calvin-Modell« (A-C-Modell). Dieses
Modell beinhaltet nichts anderes als die Wahrheiten, die in den christlichen
Kirchen als die großen Wahrheiten über den Trinitarischen Gott, Jesus Chris-
tus, die Sünde, die Erlösung usw. betrachtet werden
Man muss dazu gleich bemerken, dass Plantinga ganz grundsätzlich im
Rahmen der calvinistischen theologischen Tradition denkt, und ferner, dass
er oft und oft eine Sprache verwendet, die sich beinahe wie eine rein biblische
oder Katechismussprache anhört. Von der europäischen – vor allem deutsch-
sprachigen  –  Tradition der sowohl katholischen als auch protestantischen
Theologie her gesehen, erscheint manches sehr einfach, ja allzu einfach. Es ist
andererseits zu beachten, dass Plantingas Vorhaben ein epistemologisches (in
seinem Sinn!) ist, wobei er selbst allerdings betont, dass alle epistemologischen
Fragen in ontologischen oder theologischen Fragen grundgelegt sind.
Es ist sehr aufschlussreich zu sehen, dass Plantingas Erläuterungen gänzlich
der in der katholischen Theologie vertretenen traditionellen Konzeption ent-
sprechen, dass wir zu den geoffenbarten Wahrheiten nicht durch das natürliche
Licht der Vernunft, sondern nur durch das in der Fides gegebene übernatürliche
Licht Zugang haben. Gleichwohl liegt das Besondere in Plantingas – hier nur
kurz skizzierten – Konzeption in seiner These, dass der Glaube an Gott – und
zwar unter Einschluss der soeben dargelegten zweiten, der eigentlich christli-
chen Komponente, also damit auch unter Einschluss der Fides – als begründet/
gerechtfertigt (justified), rational und fundiert (warranted) gelten muss. Wie
das? Plantingas zentrale Behauptung ist nicht leicht nachvollziehbar. Was er
»justification« nennt, betrifft die interne Perspektive eines Subjekts, die Pflicht,
die behaupteten Aussagen bzw. die gehegten Überzeugungen zu legitimieren.
In diesem Sinne verstanden, ist es durchaus nachvollziehbar, dass der christ-
liche Glaube gerechtfertigt/begründet (justified) sein kann. Dasselbe gilt für
Rationalität im internen Sinne (also die Perspektive des Subjekts betreffend).
Wie verhält es sich aber mit der externen (objektiven) Rationalität und mit der
Fundierung (warrant, externe oder objektive Fundierung oder Grundlegung)?
Entscheidend ist hier die Fundierung, denn, falls diese besteht, ergibt sich
daraus unschwer die externe/objektive Rationalität.
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 23

Plantinga behauptet, der christliche Glaube könne auch als fundiert (war-
ranted) gelten. Wie er das versteht, erläutert er zusammenfassend in der
folgenden Passage:
»Wie kann es [das erweiterte Aquin/Calvin-Modell] ein Weg sein, der zeigt, dass der
christliche Glaube gerechtfertigt, rational, fundiert ist? Die Antwort ist äußerst ein-
fach (is simplicity itself). Dem Christen zugänglich sind diese Glaubensinhalte nicht
auf dem Weg des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, der Vernunft, des Zeugnisses,
des sensus divinitatis, oder irgendwelcher anderen kognitiven Vermögen, mit denen
wir Menschen ursprünglich erschaffen wurden; vielmehr sind sie uns zugänglich auf
dem Weg des Wirkens des Heiligen Geistes, der uns dazu führt, sie anzunehmen, und
in uns den Glauben an diese erhabenen Wahrheiten des Evangeliums bewirkt. Diese
Glaubensinhalte sind nicht zugänglich auf dem Weg des normalen Vollzugs unserer
natürlichen Vermögen; sie sind eine übernatürliche Gabe. Nichtsdestoweniger ist der
Christ, der diese Gabe des Glaubens erhalten hat, selbstverständlich gerechtfertigt
(justified) (im grundsätzlichen Sinne dieses Ausdrucks), wenn er daran glaubt. Indem
er glaubt, tut er nichts, das gegen die epistemische oder eine andersgeartete Pflicht ver-
stoßen würde.« (WCB 245–6)

Anschließend zeigt Plantinga, wie auf dieser Basis auch die interne und ex-
terne Rationalität gegeben sein kann. Und schließlich heißt es hinsichtlich der
Fundierung/Fundiertheit (warrant): »Schließlich, gemäß diesem Modell, sind
diese Glaubensinhalte für den Glaubenden auch fundiert: Sie werden in ihm
hervorgebracht von einem Prozess, der Glauben erzeugt.« Freilich handelt es
sich um einen ganz speziellen Prozess, der sich von den ganz »natürlichen«
Prozessen unterscheidet, und zwar dadurch, dass dieser Prozess »ein besonde-
res, ein übernatürliches Handeln des Heiligen Geistes involviert«, wobei aber
dies in keiner Weise bedeutet, dass die Wirkungen (deliverances) dieses gött-
lichen Handelns »des für eine echte Erkenntnis zureichenden Fundiertseins
entbehren« (WCB 246, Fußn. 10).

[6] Hier drängen sich viele kritische Fragen auf. An dieser Stelle seien nur
einige kurz formuliert und erörtert.
[i] Was kann die Annahme einer adäquaten (oder wesensmäßigen) Funk-
tionalität unserer kognitiven Vermögen überhaupt leisten? Mehrere grund-
sätzliche Probleme tauchen hier auf. Eines dieser Probleme ergibt sich daraus,
dass unsere kognitiven Vermögen faktisch auch dysfunktional operieren.
Sonst wäre es so, dass jede Suche nach Erkenntnis und damit auch Wahrheit
gelingen müsste. Dass dies nicht der Fall ist, braucht nicht eigens gezeigt zu
werden. Plantinga trägt dieser Tatsache besonders in zweifacher Weise Rech-
nung. Zum einen sagt er immer wieder, dass unsere kognitiven Vermögen
unter angemessenen Bedingungen »oft« oder »meistens« wesensmäßig funk-
tionieren. Allerdings klärt er nicht die Frage, warum dies so ist. Zum anderen
aber – und das ist seine eigentliche Behandlung dieses Problems – rekurriert er
auf die christliche Lehre von der (Erb)Sünde: Die Sünde hat in unsere kogni-
24 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

tiven Vermögen Unordnung, Dysfunktionalität, Pathologie hineingebracht.


Aber diese Lehre, auch wenn man sie grundsätzlich akzeptiert, ist hinsichtlich
des Erkenntnisproblems viel zu weit und unbestimmt, als dass sie wirklich
konkret hilfreich sein könnte. Wie kann man nämlich feststellen, dass in einem
bestimmten konkreten Fall Dysfunktionalität unserer kognitiven Vermögen
besteht? Der Hinweis darauf kann höchstens als ein ganz allgemeines, noch
weitgehend abstraktes und unbestimmtes Kriterium sowohl für Begründung
als auch für Fundierung (im erläuterten Sinne) dienen.
[ii] Die in Plantingas Trilogie vertretene Epistemologie scheint eine um-
fassende Zirkularität zu beinhalten. »Adäquate Funktion (proper function)«
wird als Fundierung (warrant) betrachtet. Nun entwickelt Plantinga eine
ganze – und zwar eine sehr anspruchsvolle – Theorie über »adäquate Funk-
tion«. Ist aber diese Theorie selbst fundiert, hat sie warrant? Im positiven Fall
wäre eine umfassende vitiöse Zirkularität gegeben. Im negativen Fall wäre die
Theorie nicht fundiert. Kann Plantinga diesem Dilemma entgehen? Eine klare
und überzeugende Antwort gibt es bei ihm nicht.
Plantinga selbst wirft die Frage der Zirkularität auf und versucht, darauf
eine Antwort zu geben (vgl. WCB 351–3):
»Ist es nicht wahr, dass mein eigener Vorschlag für mich (und für jedermann, der ihn
akzeptiert) nur unter der Voraussetzung fundiert ist, dass der theistische Glaube wirk-
lich wahr ist und auch seinerseits fundiert ist? Ich schlage das erweiterte A/C-Modell
vor, und zwar als ein Modell des Weges, wie der christliche und theistische Glaube
fundiert sein kann. Aber ist es nicht der Fall, dass mein Vorschlag nur dann fundiert ist,
wenn das Modell oder etwas Ähnliches in der Tat korrekt ist und wenn der christliche
Glaube fundiert ist?« (WCB 351)

Plantingas Antwort ist ein klares Nein. Er erläutert sie, indem er eine dreifa-
che Präzisierung seiner Position beschreibt: Er behauptet, dass das Modell (1)
möglich ist, (2) keinen Einwänden ausgesetzt ist, die nicht annehmen, dass der
christliche Glaube falsch ist, (3) der Wahrheit mindestens sehr nahe kommt
(close to the truth). Und dann behauptet er: »Aber selbstverständlich ist es
nicht der Fall, dass meine Behauptung über bzw. mein Glaube an die Wahrheit
von (1), (2), oder (3) nur dann fundiert ist, wenn das Modell wahr ist oder der
christliche Glaube fundiert ist.« (Ebd.)
Plantinga selbst merkt, dass diese Antwort bzw. Erläuterung keine voll-
ständige Klarheit schafft. Daher fährt er fort, indem er die Frage stellt: »Man
nehme nun an, dass ich das Modell als wirklich wahr (oder beinahe wahr)
im Hinblick auf die Art und Weise betrachte, wie der christliche Glaube
fundiert ist: wäre dann mein Vorschlag in der einen oder anderen Weise zir-
kulär?«(WCB 351–2) Seine Antwort lautet: »Warum sollten wir so denken?«,
und anschließend unternimmt er den Versuch, die der Frage zugrundeliegende
Idee zu explizieren und zu klären. Man muss seine genauen Formulierungen
beachten:
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 25

»Da zentrale christliche Glaubensinhalte Bestandteile oder Implikationen des Modells


sind, ist meine Annahme bzw. Bejahung der Wahrheit des Modells nur dann fundiert,
wenn meine Bejahung des christlichen Glaubens selbst fundiert ist; diese zentralen
christlichen Glaubensinhalte müssen schon – für mich – fundiert sein, wenn mein
Glaube, dass das Modell wahr ist, fundiert sein soll. Bin ich aber dann nicht in eine
bestimmte Art eines Zirkels involviert?« (WCB 352)

Plantingas Antwort ist etwas lakonisch: »Ich kann es nicht sehen (I can’t
see how).« (Ebd.) Seine Antwort ist so einfach  –  was nicht heißt, dass sie
befriedigend ist –, dass man sich fragt, ob eine sehr lange und komplizierte
Behandlung des Sachverhalts erforderlich war. Plantinga konzediert ohne
weiteres, es sei wahr, dass die Bejahung des christlichen Glaubens ein Be-
standteil des erweiterten A / C-Modells ist – mit der Konsequenz, dass die
Fundiertheit der Annahme des christlichen Glaubens Voraussetzung dafür
ist, dass die Annahme / Bejahung des erweiterten A / C-Modells (ebenfalls)
als fundiert gelten kann. Überraschenderweise verwirft er aber sofort eine
naheliegende Schlussfolgerung aus diesem Sachverhalt, indem er sagt: »Es ist
jedoch nicht der Fall, dass, wenn der christliche Glaube für mich fundiert
ist, dann auch das Modell für mich fundiert sein muss.« (Ebd.) Und er
erläutert: die (von ihm) negierte Schlussfolgerung wäre nur dann richtig bzw.
zwingend, wenn man zugunsten der Wahrheit des christlichen Glaubens in
der Weise argumentieren wollte, dass eine der Prämissen des Arguments das
als wahr angenommene erweiterte A / C-Modell wäre. In diesem Fall hätte
man es in der Tat mit einem circulus vitiosus zu tun. Er fügt erklärend hinzu,
dass die Schlußfolgerung nur dann unvermeidlich und wahr wäre, wenn das
genannte Argument die einzige Weise für mich darstellte, die Annahme des
christlichen Glaubens zu fundieren. Ihm zufolge ist das aber in keiner Weise
der Fall. Vielmehr gilt: »Die Quelle für die Fundierung des christlichen
Glaubens ist dem Modell gemäß kein Argument irgendwelcher Art; ins-
besondere entstammt dessen Fundierung nicht irgendeinem Argument, das
die Frage zum Gegenstand hätte, wie der christliche Glaube eine Fundierung
haben kann.« (Ebd.)
Es ergibt sich also, dass Plantinga eine Art immediatistischen basalen Fun-
damentalismus vertritt.

[7] Es ist deutlich, dass Plantingas eigentliches oder primäres Anliegen bzw.
Ziel das Bestreben ist zu zeigen, dass der christliche Glaube begründet/ra-
tional/fundiert ist. Das ist die Frage, die er de-jure-Frage nennt. Aber er
vertritt in diesem Zusammenhang die These: »Die de-jure-Frage ist von der
de-facto-Frage nicht unabhängig.« (WCB 190) Die de-facto-Frage ist die
Wahrheitsfrage. Wenn aber die Wahrheitsfrage mit der Fundierungsfrage
wesentlich verbunden ist, drängt sich die Frage auf: Wie stellt sich bei ihm die
Wahrheitsfrage selbst?
26 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

[i] Auf die Frage nach der Wahrheit des christlichen Glaubens bezieht sich
Plantinga durchgehend im Konditional: Wenn der christliche Glaube wahr
ist … Wie ist das zu verstehen? Dazu schreibt er:
»Was ich behaupte hinsichtlich dieses Modells [gemeint ist das erweiterte Aquin/
Calvin-Modell, L. B. P.] ist, dass es keine erfolgreichen Einwände gegen es gibt. […]
Der Punkt hier ist: wenn der christliche Glaube wahr ist, dann könnte er in der Tat
in der hier vorgeschlagenen Weise fundiert sein. […] Wenn es eine Tatsache ist (wie
ich behaupte), dass es – die Wahrheit des christlichen Glaubens vorausgesetzt – keine
guten philosophischen Einwände gegen den christlichen Glauben gibt, dann müsste
jeder erfolgreiche Einwand gegen das Modell auch ein erfolgreicher Einwand gegen die
Wahrheit des christlichen Glaubens sein.« (WCB 285, Kursiv vom Verfasser).

Und hinsichtlich des theistischen Glaubens stellt er die Frage: Ist der (theisti-
sche) Glaube, der Glaube an Gott, ein basaler und fundierter Glaube? Darauf
gibt er die doppelte lapidare Antwort: »A. Wenn falsch, wahrscheinlich nicht«
(WCB 186) und: »B. Wenn wahr, wahrscheinlich ja.« (WCB 188). Die beiden
Antworten ergeben sich aber aus abstrakten Überlegungen über das Ver-
hältnis von Wahrheit einerseits und Begründung/Rationalität/Fundierung
andererseits. Diese Antworten gelten auch für den christlichen Glauben.
Wie steht es nun mit einer expliziten, nicht-bedingten Aussage über die
Wahrheit des christlichen Glaubens? Eine große Konzeption zu entwickeln,
in der gezeigt wird, dass der christliche Glaube »wahrscheinlich« begründet/
rational/fundiert ist, wenn er wahr ist, und dabei zur Frage, ob der christliche
Glaube wirklich wahr ist, nicht direkt und in nennenswerter Weise Stellung zu
beziehen, ist nicht gerade eine echte »Übung in Apologetik …« (WCB xiii).
Gerade ein »rationaler« Mensch im einzig relevanten und interessanten Sinn
von »Rationalität« sollte – und würde auch – sagen: Das, worauf es letzten
Endes ankommt, ist die Wahrheit; wenn der Besitz der bzw. der Anspruch auf
Wahrheit Begründbarkeit und Fundierbarkeit impliziert, soll es gut sein; aber
wenn Wahrheit gegeben sein oder gehabt werden kann ohne Begründbarkeit
(Rationalität, Fundierbarkeit), oder umgekehrt, wenn Begründbarkeit (Ra-
tionalität, Fundiertheit) gegeben ist oder gegeben sein kann, ohne dass dies in
entscheidender Weise die Frage nach der Wahrheit klärt, so würde dies nur
zeigen, dass es auf so etwas wie Begründbarkeit/Rationalität/Fundierbarkeit
letzten Endes nicht ankommt.
[ii] Hinsichtlich der Wahrheitsfrage des christlichen Glaubens findet man
bei Plantinga zwei Gesichtspunkte, die noch kurz angesprochen werden
müssen. Erstens verweist er (vgl. WCB 285) darauf, dass er sich im Kapitel 10
mit einigen Einwänden gegen die Wahrheit des christlichen Glaubens befasst,
was er auch tut  –  und zwar so, dass seine Ausführungen als exzellent ein-
zuschätzen sind. Aber man versteht nicht, warum er »einige Einwände« gegen
die Wahrheit des christlichen Glaubens ausführlich erörtert und die große
Frage der Wahrheit des christlichen Glaubens nicht direkt und gründlich
1.2 Gänzlich unsystematische direkte Ansätze 27

behandelt. Zweitens gibt es einige (wenige) Passagen in Plantingas Buch, in


denen seine konditionalisierende Rede »Wenn der christliche Glaube wahr ist
… [dann ist er wahrscheinlich begründet / rational / fundiert])« etwas erläutert
und präzisiert wird. So behauptet er hinsichtlich sowohl des A/C-Modells als
auch des erweiterten A / C-Modells, erstens dass sie möglich sind, und zwei-
tens, dass es gegen sie keine zwingenden Einwände gibt. Und er nennt einen
dritten Punkt:
»Drittens glaube ich, dass die Modelle [das Aquin/Calvin-Modell und das erweiterte
Aquin/ Calvin-Modell] […] nicht nur möglich und jenseits philosophischer Infra-
gestellung sind; sie sind auch wahr, oder zumindest wahrheitsähnlich, nahe an der
Wahrheit. Nichtsdestoweniger behaupte ich nicht, dass ich zeige, sie seien in der
Tat wahr. Der Grund ist, dass das A/C-Modell die Wahrheit des Theismus und das
erweiterte A / C-Modell die Wahrheit des klassischen Christentums zur Folge haben.
Zu zeigen, dass diese Modelle wahr sind, würde daher auch bedeuten, zu zeigen, dass
der Theismus und das Christentum wahr sind. Nun weiß ich aber nicht, was man
unternehmen könnte, das adäquaterweise als ein ›Zeigen‹, dass beide wahr sind, zu
bezeichnen wäre.« (WCB 169–170; Kursiv nicht im Original)

Das sind eigenartige Aussagen. Man fragt sich, warum Plantinga ein über
500 Seiten umfassendes Buch (und viele andere Arbeiten) geschrieben hat,
um zu einem solchen Ergebnis zu gelangen: Er »glaubt« zwar, dass die von
ihm präsentierten Modelle wahr sind und, weil diese Modelle die Wahrheit
des christlichen Glaubens implizieren, »glaubt« er auch an die Wahrheit des
christlichen Glaubens, aber er weiß nicht, wie man die Wahrheit der Modelle
»(auf)zeigen« oder »demonstrieren« kann. Auch die sogenannten Gottes-
beweise, die er für »gute Argumente« (WCB 170) hält, sind ihm zufolge kein
»(Auf)Zeigen«, keine »Demonstration«.
Solch eine Position wirft viele Fragen auf, vor allem Fragen, die man adä-
quaterweise (gemäß der in diesem Buch verwendeten Terminologie) »syste-
matische Fragen« nennen kann. In diesem Zusammenhang handelt es sich
insbesondere um Fragen wie: Wie ist »Wahrheit« zu verstehen? Plantinga ver-
liert kaum ein Wort darüber. Aber damit ist nicht nur die »definitionale« Frage
gemeint; vielmehr sind damit eine ganze Reihe von grundlegenden Fragen
in mehreren Gebieten der Philosophie angesprochen.11 Ferner ist das große
Problemfeld des Verhältnisses von Erkenntnistheorie (Epistemologie), Wahr-
heitstheorie und Ontologie bzw. Metaphysik gemeint. In diesem Kontext ist
zu fragen, was für eine Konzeption von »Beweis / Demonstration/Zeigen«
Plantinga hat. Seine diesbezüglichen Behauptungen bleiben weitgehend vage
und unbestimmt.
[iii] Es gibt eine Stelle im Buch von Plantinga, die  –  zumindest indi-
rekt – über den eigentlichen Grund seiner Behauptung, dass man die Wahrheit

11 
Vgl. dazu vom Verfasser: SuS, besonders Abschnitte 2.5 und 3.3.
28 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

der Modelle – und damit des theistischen und christlichen Glaubens – nicht


»zeigen/demonstrieren« kann, Aufschluss gibt. Die Stelle sei in extenso zi-
tiert. Nachdem Plantinga ausgeführt hat, es sei relativ leicht zu zeigen, dass der
christliche Glaube begründet (justified) und intern rational sei, fährt er fort:
»Externe Rationalität und Fundiertheit sind eine schwierigere Sache. Der einzige Weg,
den ich sehe, wie man argumentieren kann, dass der christliche Glaube diese Stärken
hat, ist zu zeigen, dass der christliche Glaube in der Tat wahr ist. Ich habe nicht vor, ein
solches Argument vorzulegen. Der Grund ist, dass ich kein Argument zugunsten des
christlichen Glaubens kenne, dem die Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann,
dass es jemanden zu überzeugen in der Lage ist, der seine Konklusion nicht schon im
voraus akzeptiert hat. Das spricht jedoch nicht gegen den christlichen Glauben; in der
Tat werde ich argumentieren, dass, wenn christliche Glaubensinhalte wahr sind, dann
sind Konklusionen von Argumenten nicht der normale und am meisten zufrieden-
stellende Weg, sie zu akzeptieren und zu verteidigen.« (WCB 200–201; Kursiv nicht
im Original)

Der springende Punkt in dieser Passage betrifft den Begriff ȟberzeugen (to
convince)«. Plantinga vermengt hier verschiedene Ebenen, die unbedingt
auseinander zu halten sind: die psychologische und die streng logisch-ob-
jektive. Die eigentlich logisch-objektive Beweiskraft (Stichhaltigkeit) eines
Arguments hängt in keiner Weise davon ab, dass es auf der psychologischen
Ebene, auf der Ebene des Überzeugens bzw. Überzeugtwerdens, angenom-
men oder abgelehnt wird. Die psychologische Ebene ist kein Gradmesser für
die Beweiskraft eines Argumentes.12
Die obigen Ausführungen zeigen, dass die Hauptschwäche von Plantingas
rein epistemischem Ansatz im völlig unsystematischen Charakter seiner Be-
handlung der Gottesfrage liegt. Unanalysiert bleibt zunächst das Verhältnis
der ganzen epistemischen Dimension zur Dimension des Wahrheitsbegriffs
und der Ontologie. Ferner ist von »Gott« in einer völlig unbestimmten Weise
und sozusagen im Sinne einer splendid isolation die Rede. Es ist nicht zu
sehen, welchen Sinn ein so »vorgestellter Gott« haben könnte. Was grundsätz-
lich fehlt, ist die Entfaltung einer ontologisch-metaphysischen Konzeption
über das Ganze der Wirklichkeit, des Seins.
[iv] Interessanterweise findet man bei Plantinga einen expliziten Hinweis auf
diese Aufgabe. An der oben zitierten Stelle seines Buches, an der er behauptet,
dass die de-jure-Frage von der de-facto-Frage nicht unabhängig ist, heißt es:
»Und hier finden wir die ontologischen oder metaphysischen oder letztlich religiösen
Wurzeln der Frage nach der Rationalität oder Fundiertheit oder nach dem Mangel
beider hinsichtlich des Glaubens an Gott. Was man eigentlich als rational, zumindest
im Sinne von fundiert, betrachtet, hängt von der Art von metaphysischer und religiö-
ser Position ab, die man bezieht. Es hängt davon ab, welche Konzeption man vom
Menschen im Vergleich zu den anderen Seienden hat. […] Die eigene Auffassung über

12 
Zur Problematik der Begründung bzw. Fundierung vgl. SuS, Abschnitt 1.5 (S. 70–98).
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 29

die spezifische Art von Geschöpf, die der Mensch ist, wird unsere Sichtweise darüber
bestimmen oder zumindest beträchtlich beeinflussen, ob der theistische Glaube für
den Menschen fundiert oder nicht-fundiert, rational oder irrational ist.« (WCB 190)

Das sind bemerkenswerte Aussagen. Sie weisen auf eine große Aufgabe hin,
die Aufgabe, eine umfassende Konzeption nicht nur über den Menschen im
engeren Sinne, sondern über die Wirklichkeit oder das Sein im Ganzen zu
entwickeln. Nimmt man diese Aufgabe in Angriff, dann transformiert sich die
ganze epistemologische Fragestellung grundlegend. Wie in Kapitel 3 zu zeigen
sein wird, kann nur im Rahmen einer solchen umfassenden systematischen
Konzeption der Rede über »Gott« ein klarer und vertretbarer Sinn gegeben
werden.

1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze

Gemäß dieser Kategorie von Ansätzen in der Gottesfrage wird die Frage nach
Gott indirekt gestellt und beantwortet, nämlich auf der Basis eines bestimm-
ten Ausgangspunktes, der Teil einer philosophisch-theologischen Gesamt-
konzeption, der christlich orientierten Metaphysik ist. Der Ausgangspunkt ist
ein bestimmtes Phänomen in der Welt (wie die Bewegung, die Ursächlichkeit,
die Geordnetheit der Dinge in der Welt etc.), wobei dieser Ausgangspunkt
dann auf der Basis metaphysischer Prinzipien in dem Sinne »erklärt« wird,
dass ein »erklärendes X« als Konklusion eines »Arguments« (wofür man tra-
ditionell meistens den Ausdruck ›Beweis‹ verwendet hat und heute weiterhin
verwendet) erreicht wird. Hier geht es um indirekte Ansätze. Zwar erhält das
»erklärende X« sofort die Bezeichnung ›Gott‹, aber das, was mit diesem Wort
eigentlich gemeint und intendiert ist, wird erst im Rahmen einer weiteren
theoretischen Prozedur herausgearbeitet. Von halb-systematischen Ansätzen
ist deshalb die Rede, weil die Gesamtkonzeption, auf deren Basis sie ent-
wickelt werden, keine streng systematische Einheit aufweist; es handelt sich
um eine meistens implizite und oft nur teilweise explizite Gesamtkonzeption.
Es besteht in diesem Buch nicht die Absicht, eine auch nur einigermaßen
vollständige Darstellung dieser direkten halbsystematischen Ansätze zu brin-
gen. Es sollen nur einige markante Positionen und Richtungen präsentiert
werden, die als besonders wichtige Beispiele für diese Kategorie von Ansätzen
betrachtet werden können.

1.3.1 Die christliche Tradition der Seinsmetaphysik: (mindestens) sechs


Bedeutungen von »Metaphysik«
Die christlich orientierte Metaphysik hat eine große, lange und sehr komplexe
Tradition. Im Hinblick auf die Zielsetzung des vorliegenden Werkes wird im
30 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

folgenden nur eine ganz bestimmte Richtung innerhalb dieser Tradition Be-
achtung finden. Es ist jene Richtung, die in der einen oder anderen Weise als
gesamtphilosophische Seinskonzeption interpretierbar ist und die in ganz be-
sonderer Weise in Thomas von Aquin ihren wichtigsten Repräsentanten hat.
Wie noch zu zeigen sein wird, weist diese metaphysische Gesamtkonzeption
viele Aspekte auf, wobei der Zugang zu Gott (nur) einen Aspekt darstellt.
Aber dieser Aspekt wird dargestellt und bewertet unter Berücksichtigung
der anderen Aspekte der Theorie, vor allem derjenigen Aspekte, welche die
entweder rein implizit vorhandene oder vorausgesetzte oder zumindest par-
tiell explizierte Seinskonzeption betreffen.
Bevor diese Aufgabe in Angriff genommen wird, ist es – besonders im Hin-
blick auf die weiteren Ausführungen in diesem Buch – wichtig, einiges über
das Wort und den Begriff »Metaphysik« zu sagen.

[1] Kaum ein philosophisches Wort hat eine so chaotische Geschichte wie
das Wort ›Metaphysik‹ gehabt: Es wurde in den vielfältigsten Weisen ver-
standen und missverstanden. Im vorliegenden Buch werden viele Beispiele der
»Schicksalsgeschichte« dieses Wortes zu finden sein. Vor diesem Hintergrund
erscheint es hochproblematisch, dieses Wort heute zu verwenden, es sei denn,
man gebraucht es explizit in Bezug auf einen ganz bestimmten Autor oder
man klärt die genaue Bedeutung, die man mit dem Wort assoziieren will. Man
läuft sonst Gefahr in eine chaotische Geschichte hineingezogen zu werden.
Dennoch lässt sich das Wort nicht ganz vermeiden. Der Autor des vorliegen-
den Buches verwirft nicht grundsätzlich die Verwendung dieses Ausdrucks,
um seine eigene Position zu qualifizieren; aber er macht von ihm einen sehr
sparsamen, einen marginalen Gebrauch, und dies auf geklärter Basis.13
Als Erstes sollen nicht weniger als sechs Bedeutungen, die in der jüngsten
Vergangenheit und in der Gegenwart mit dem Wort ›Metaphysik‹ assoziiert
wurden bzw. werden, kurz beschrieben werden. Diese Bedeutungen decken
aber nicht das ganze semantische Spektrum ab, in welchem dieses Wort heute
vorkommt. Es sind aber die sechs Bedeutungen, die im Zusammenhang mit
der Thematik des vorliegenden Buches wohl als die wichtigsten anzusehen
sind. Andere Bedeutungen bzw. andere Zusammenhänge können hier nicht
berücksichtigt werden. Es wäre daher verfehlt, in den folgenden Ausführun-
gen so etwas wie eine Geschichte bzw. Darstellung aller Bedeutungen des
Wortes ›Metaphysik‹ suchen zu wollen. Die sechs Bedeutungen werden im
gegenwärtigen Kontext nicht im Einzelnen ausführlich erklärt; vielmehr soll
zunächst nur versucht werden, eine kurze Klassifikation der sechs Bedeutun-
gen anzugeben. Im Laufe der weiteren Ausführungen wird dann auf diese
Klassifikation immer wieder Bezug genommen.

13 
Vgl. dazu SuS, Kap. 5.
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 31

Zunächst sind zwei allgemeine Vorbemerkungen am Platze. Erstens: Ange-


sichts der chaotischen Geschichte des Terminus ›Metaphysik‹ ist es sehr ver-
wunderlich, um nicht zu sagen, kaum verständlich, dass dieser Terminus heute
im Bereich der analytischen Philosophie problemlos und ausgiebig verwendet
wird. Freilich muss man gleich hinzufügen, dass analytische Philosophen mit
diesem Ausdruck fast ausschließlich und das noch nur in gewisser Weise das
verbinden, was seit Christian Wolff metaphysica specialis genannt wird. Es
handelt sich um Metaphysik als eine Konzeption über bestimmte Bereiche
und Aspekte »der Welt« wie die Konstitution des Materiellen, Raum und Zeit,
die philosophy of mind usw., und über bestimmte allgemeine Themen wie das
Universalienproblem und Ähnliches.14 Außerordentlich selten  –  und dann
zunächst nur rein inchoativ – wird auch die große Thematik der metaphysica
generalis, vor allem eine allgemeine Konzeption der Grundstrukturen der
Welt bzw. der Realität bzw. des Seins anvisiert.
Zweitens: Eine andere Entwicklung ist für die Thematik dieses Buches
bedeutend wichtiger, auf die schon in der Einleitung hingewiesen wurde. Die
stärkste und radikalste Opposition gegen die Metaphysik im Zusammenhang
mit der Gottesfrage stammt heute nicht von den bekannten traditionellen
Metaphysikkritikern verschiedenster Couleur wie Kantischem Kritizismus,
Positivismus, Pragmatismus u. a., sondern von jüdischen und christlichen
Autoren, die sich entweder auf den späten Wittgenstein berufen oder sich als
»postmodern« bezeichnen oder so bezeichnet werden (wollen). Kapitel 4 des
vorliegenden Buches wird sich mit den zwei wahrscheinlich radikalsten zu
dieser Kategorie gehörenden Kritikern der Metaphysik, verstanden als Phi-
losophie des Seins, befassen, nämlich mit É. Lévinas und J.-L. Marion. Um
so wichtiger ist es, schon am Anfang Klarheit über den in den Ausführungen
dieses Buches in verschiedenen Kontexten vorkommenden Ausdruck ›Meta-
physik‹ zu schaffen.
Im Hinblick auf die Zielsetzung dieses Buches ist es angebracht, (mindes-
tens) sechs Bedeutungen oder Gestalten von Metaphysik zu unterscheiden,
wobei zu betonen ist, dass die teilweise sehr negativen Bezeichnungen
daraus zu erklären sind, dass der Autor eine ganz bestimmte, in diesem
Buch zur Darstellung zu bringende Auffassung vertritt. Diese Bedeutungen /
Gestalten nehmen Bezug auf die christliche Tradition der Metaphysik,
und zwar sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Die positiven
Bedeutungen / ­Gestalten sind diejenigen, die diese Tradition explizit bejahen

14  Man vergleiche dazu die zahlreichen Handbücher, Companions und Darstellungen

»der Metaphysik«, die in den letzten Jahren erschienen sind. Die heutigen Diskussionen
hinsichtlich des Status dessen, was gegenwärtig unter »Metaphysik« verstanden wird,
werden in einem von D. Chalmers/D. Manley/R. Wasserman herausgegebenen Band
zusammengefasst und dargestellt, der den bezeichnenden Titel: Metametaphysics. New
Essays on the Foundations of Ontology, 2009, trägt.
32 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

oder in irgendeiner Form fortführen, die negativen diejenigen, die diese


Tradition explizit – und oft radikal und vehement – ablehnen. Aus diesem
Grund wird hier die Aristotelische Metaphysik nicht eigens genannt, sondern
einfach als die Gestalt von Metaphysik vorausgesetzt, aus der die christliche
Tradition erwachsen ist.

[2] Aus historischen und wirkungsgeschichtlichen Gründen wird die erste


Bedeutung/ Gestaltung einfach mit der Konzeption von Thomas von Aquin
identifiziert und als die Thomasische Seinsmetaphysik bezeichnet. Sie soll
weiter unten (1.3.2) ausführlich dargestellt und kommentiert werden. Dabei
ist allerdings zu beachten, dass das Denken des Thomas von Aquin im Laufe
der Jahrhunderte nicht nur einer Engführung, sondern einer regelrechten Ent-
stellung unterzogen wurde.
Gemäß einer zweiten Bedeutung wird Metaphysik mit der Position iden-
tifiziert, die jahrhundertelang als scholastische Metaphysik (manchmal ein-
fach als Schulmetaphysik) bezeichnet wurde. In einer bestimmten Hinsicht
wurden diese Gestalt und dieses Verständnis von Metaphysik von Alexander
Baumgarten und Christian Wolff im großen und wirkungsgeschichtlichen
Stil dargestellt oder in gewisser Form kodifiziert. Das ist die »Metaphysik«,
die Kant gekannt und die er bei seiner allzubekannten Kritik im Visier hatte.
Die dritte Bedeutung von »Metaphysik« ist eine besonders in methodischer
Hinsicht radikal modifizierte Form der Thomasischen und der scholastischen
Metaphysik als Ergebnis der Übernahme und Anwendung der (allerdings in
signifikanter Weise uminterpretierten) Kantischen transzendentalen Methode.
Diese Gestalt von Metaphysik wird gewöhnlich »transzendentaler Thomis-
mus« genannt. Sie ist besonders deswegen wichtig, weil zum ersten Mal in
der Geschichte der Metaphysik der Subjektivität und der Anthropologie eine
zentrale Bedeutung eingeräumt wurde.
Die vierte Bedeutung oder Gestalt von Metaphysik kann – kritisch – die
stereotype Metaphysik im Sinne Heideggers genannt werden. Wie in diesem
Buch des öfteren zu zeigen sein wird, hat Heidegger die Metaphysik über-
haupt und ganz besonders die christliche Metaphysik durchgehend als Onto-
theo-logie interpretiert und verstanden. Oder zumindest wurde und wird er
meistens so interpretiert, besonders von jüdischen und christlichen Autoren.
Dass diese Interpretation einer sorgfältigen Grundkorrektur bedarf, wird in
diesem Buch noch zu zeigen sein.
Die Bezeichnungen fehlinterpretierte oder entstellte oder karikierte Meta-
physik bilden die fünfte Bedeutung oder Gestalt von Metaphysik. Diese Form
von Metaphysik resultiert aus einer sonderbaren Mischung aus den bisher
genannten vier Formen oder Gestalten von Metaphysik, wobei allerdings die
vierte Bedeutung, das Verständnis von Metaphysik als Onto-theo-logie, das
bei weitem wesentlichste Ingrediens konstituiert. Dieser Faktor, die Onto-
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 33

theo-logie, bildet das, was man das fundamentale antimetaphysische dogma


fidei postmodernisticum nennen kann. Postmodernes antimetaphysisches
Denken ist grundsätzlich Anti-Ontotheologie. In ganz besonderer Weise
wird dieses entstellende Verständnis von Metaphysik in diesem Buch einer
grundsätzlichen Kritik unterzogen, besonders in Kapitel 4.
Um die sechste Bedeutung oder Gestalt von »Metaphysik« zu charakteri-
sieren, muss – faute de mieux – eine ungewöhnliche Bezeichnung eingeführt
werden. Sie wird in Analogie zu den bekannten Bezeichnungen ›Tiefen-
struktur(en) – Oberflächenstruktur(en)‹ gebildet. So sei die Bezeichnung ›Tie-
fenmetaphysik‹ verwendet, um diese sechste Bedeutung/Gestalt zu benennen.
Man könnte auch auf die historisch bedeutsame Bezeichnung philosophia
perennis rekurrieren und, sie abwandelnd, sagen: metaphysica perennis pro-
funda. Gemeint ist jenes Denkpotenzial des Menschen, das allen Formen jener
in der Philosophiegeschichte ›Metaphysik‹ genannten philosophischen Dis-
ziplin zugrunde liegt, das aber mit keiner dieser Formen endgültig identifiziert
werden kann. Man kann dazu die sogenannten »großen Fragen oder Fra-
gestellungen«, die »großen Intuitionen«, die »großen Begriffe«, die »großen
Gestalten der Philosophie« usw. zählen. Man könnte Metaphysik in diesem
Sinne mit Kant als »Metaphysik […] als Naturanlage (metaphysica naturalis)«
nennen und sie ebenfalls mit ihm als »wirklich« (KrV B 21) betrachten,
vorausgesetzt allerdings, man macht sich die sonstigen großen und zentralen
negativ-kritischen Aussagen Kants gegen die »Metaphysik als Wissenschaft«
nicht zu eigen. Gegen Kants Kritik sprechen insbesondere zwei Gründe:
Erstens richtet sie sich gegen jene »Gestalt« von Metaphysik, die oben als die
scholastische Gestalt (zweite Bedeutung / Gestalt von »Metaphysik)« genannt
wurde; zweitens basiert Kants Kritik auf großen Annahmen, die einer einge-
henden kritischen Analyse überhaupt nicht standhalten.15
In Kants Unterscheidung zwischen »Metaphysik als Naturanlage« und
»Metaphysik als Wissenschaft« gibt es dennoch einen bestimmten Wahr-
heitskern: Auch der Verfasser dieses Buches vertritt die Auffassung, dass
keine »Gestalt« der Metaphysik – die seinige eingeschlossen – mit »der Me-
taphysik«, verstanden als »Tiefenmetaphysik«, einfach identifiziert werden
kann; aber gegen Kant ist zu sagen, dass daraus in keiner Weise folgt, dass
beispielsweise die in diesem Buch präsentierte Gestalt der Tiefenmetaphysik
keine »Wissenschaft« sei. Letzten Endes geht es dann um die Bedeutung von
»Wissenschaft«, und in dieser Hinsicht ist die heutige Problematik meilenweit
von der Kantischen Vorstellungs‑ und Problemwelt entfernt. Die hier dar-
zustellende Gestalt der Tiefenmetaphysik erhebt sehr wohl den Anspruch,
als ernstzunehmende und als wahre Theorie zu gelten. Allerdings werden alle

15  Der Verfasser hat seine Kantkritik in mehreren Schriften vorgetragen. Vgl. bes.

SuS, Kapitel 2; »Transzendentaler und absoluter Idealismus«, jetzt in: SGTh, V., 193–221.
34 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

diese Ausdrücke bzw. Begriffe wie »Theorie«, »Wahrheit« usw. völlig neu
interpretiert, wie das in diesem Buch zu zeigen sein wird und wie der Ver-
fasser dies in einem umfangreichen systematischen Buch ausführlich gezeigt
hat.16 Wenn in diesem Buch das Wort ›Metaphysik‹ für die Bezeichnung der
Konzeption des Verfassers verwendet wird, so ist es immer im Sinne (einer
Gestalt) von »Tiefenmetaphysik« zu verstehen. Der jeweilige Kontext wird
jedes Mal deutlich machen, in welcher Bedeutung das Wort zu verstehen ist.

1.3.2 Thomas von Aquin: Unreflektiertheit, Defizienz, Komplexität und


inspirative Kraft seiner Konzeption über Sein (esse) und Gott
Das Denken des großen Philosophen und Theologen Thomas von Aquin
hat in der Geschichte der Behandlung der Gottesfrage eine absolut zentrale
Bedeutung. Aber wie die lange und extrem komplexe Geschichte seiner Inter-
pretation und Rezeption zeigt, weist dieses Denken sowohl eine in bestimm-
ter Hinsicht große Einheitlichkeit und Originalität als auch eine systematische
Unreflektiertheit und sogar Inkohärenz auf. Auf die wesentlichen Punkte
hinsichtlich der Gottesfrage soll im folgenden in der hier gebotenen Kürze
eingegangen werden.

1.3.2.1 Ein oberflächlicher, peripherer und völlig inadäquater Ansatz:


die »fünf Wege«
[1] Der locus classicus dessen, was der metaphysische indirekte halbsystema-
tische Ansatz in der Gottesfrage genannt wurde, sind die berühmten fünf
Wege (quinque viae) des Thomas von Aquin.17 Sie werden hier nicht im
Einzelnen dargestellt und noch weniger auf Ihre Stichhaltigkeit hin überprüft.
Der Grund dafür ist der Umstand, dass der Autor alle diese (und ähnliche)
»Wege (bzw. Demonstrationen bzw. Beweise)«, so wie sie allgemein und
beinahe einhellig verstanden und bewertet werden, für nicht akzeptabel hält.
Die Gründe dafür decken sich in keiner Weise mit irgendwelchen unter den
sehr zahlreichen Einwänden, die gegen diese »Wege (bzw. Demonstrationen
bzw. Beweise)« seit jeher erhoben wurden und heute noch öfter und in-
tensiver erhoben werden. Die Gründe sind ganz anderer Art, von einer Art,
die die Diskussion über Gültigkeit bzw. Stichhaltigkeit dieser »Beweise« als
gegenstandslos erscheinen lässt. Die Gründe werden weiter unten dargestellt,
nachdem einige wichtige Erläuterungen interpretativer, kommentierender und
sachlicher Art vorgelegt wurden.

16 
Vgl. SuS, besonders Kap. 1 und 2.
17 
STh I q. 2 a. 3. Es sei vermerkt, dass Thomas auch an anderen Stellen seiner Werke
den einen oder anderen »Weg« behandelt.
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 35

Der erste »Weg« geht vom Phänomen der Bewegung aus und gelangt zu
einem Ersten Beweger, den Thomas den »unbewegt Bewegenden« nennt.
Dabei stützt er sich auf das Prinzip: »Alles, was bewegt wird, wird von etwas
anderem bewegt« und auf die Unmöglichkeit einer unendlichen Kette von
»bewegt Bewegenden«.  –  Der zweite »Weg«, wohl der in der Geschichte
und in der Gegenwart am meisten diskutierte, betrachtet das Phänomen der
Kausalzusammenhänge in der Welt, wie wir sie kennen; die Frage für Thomas
ist, ob diese Kausalzusammenhänge eine erste Ursache zur Voraussetzung
haben, was er aufgrund einer Annahme bejaht, die er so formuliert: Die Kette
der Wirkursachen kann nicht nach rückwärts ins Unendliche fortgesetzt
werden, da dadurch eine Erklärung der feststellbaren Kausalverhältnisse un-
möglich würde.
Der dritte Weg ist der bedeutendste, zwar nicht in der Form, in der ihn
Thomas von Aquin formuliert hat, sondern hinsichtlich einer Einsicht, die
ihm zugrunde liegt, die aber nicht adäquat zur Geltung gebracht wird. Wegen
der Bedeutung dieses »Weges / Beweises« für den systematischen Teil dieses
Buches in Kapitel 3, wird er hier etwas ausführlicher kommentiert. Es handelt
sich um den sogenannten »Beweis aus der Kontingenz«. Aus der Feststellung,
dass es Dinge gibt, welche die Möglichkeit haben zu sein und nicht zu sein,
gewinnt Thomas die These, dass »es notwendig ist, etwas anzunehmen, das
an sich [aus sich heraus] notwendig ist und die Ursache seiner Notwendigkeit
nicht von anderswoher hat, sondern das [vielmehr] Ursache der Notwendig-
keit für die anderen [Dinge] ist«. Dieser Schluss basiert auf einer großen Prä-
misse und der daraus entwickelten Argumentation:
»Es ist […] unmöglich, dass alles, was von dieser Art ist [d. h. alles, was die Möglich-
keit hat, zu sein und nicht zu sein], immer ist [andere Textvariante: … dass alles, was
ist, von dieser – der kontingenten – Art sei], weil das, was möglicherweise nicht sein
kann, auch einmal nicht ist. Wenn also alles die Möglichkeit hat nicht zu sein, dann war
hinsichtlich der Dinge auch einmal nichts. Wenn dies aber wahr ist, dann wäre auch
jetzt nichts, weil das, was nicht ist, nur durch etwas, was ist, zu sein anfängt. Wenn also
(einmal) nichts Seiendes war, dann war es auch unmöglich, dass etwas zu sein anfing,
und so wäre auch nun nichts: was offenbar falsch ist. Also ist nicht alles Seiende nur
Mögliches, sondern es muss auch etwas Notwendiges unter den Dingen geben.«18

Wie sich im systematischen Teil dieses Buches (Kapitel 3) zeigen wird, enthält
dieser »Weg/Beweis« in einer bestimmten Hinsicht eine großartige Intuition.
18  Die Gottesbeweise aus der »Summe gegen die Heiden« und der »Summe der Theo-

logie«, 1982, 55–57. Der lateinische Originaltext (»ex recensione leonina«) lautet:
»Impossibile est autem omnia quae sunt talia, semper esse [Textvariante: … omnia quae
sunt talia esse]: quia quod possibile est non esse, quandoque non est. Si igitur omnia sunt
possibilia non esse, aliquando nihil fuit in rebus. Sed si hoc est verum, etiam nunc nihil
esset: quia quod non est, non incipit esse nisi per aliquid quod est; si igitur nihil fuit ens,
impossibile fuit quod aliquid inciperet esse, et sic modo nihil esset: quod patet esse falsum.
Non ergo omnia entia sunt possibilia: sed oportet aliquid esse necessarium in rebus.«
36 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Aber sie kommt insbesondere aus drei Gründen nicht zur Geltung. Erstens
bleibt die entscheidende Prämisse, nämlich das Prinzip »Es ist unmöglich, dass
alles, was von kontingenter Art ist, immer ist«, eine große Behauptung, die
nicht näher erläutert wird; außerdem bleibt die angefügte kurze Begründung
völlig unzureichend. Anders gesagt: die dieser Prämisse zugrundeliegende
Einsicht kann nur im Rahmen einer umfassenden Konzeption über das Sein
im Ganzen erläutert und begründet werden. Genau das wird im Kapitel 3 zu
leisten sein. Zweitens scheitert der »Weg /Beweis« entscheidend daran, dass
Thomas den Faktor »Zeit (Zeitpunkt(e))« einführt (»… dann war hinsicht-
lich der Dinge auch einmal nichts; wenn dies aber wahr ist, dann wäre auch
jetzt nichts …«). Damit handelt sich Thomas eine Reihe von Schwierigkeiten
ein, die sein Argument als nicht-stichhaltig erscheinen lassen.19 Drittens geht
Thomas von einem bestimmten Phänomen in der Welt aus, nämlich der
Tatsache, dass es kontingente Dinge / Seiende gibt. Wie weiter unten aus-
führlich zu zeigen sein wird, ist ein solcher Ausgangspunkt in Bezug auf die
Gottesfrage völlig inadäquat. Ungeachtet der schon genannten Tatsache, ist
zu betonen, dass der Beweis des Thomas eine gerade in gesamtsystematischer
Hinsicht interessante und wichtige Einsicht enthält, die aber als solche nicht
zur Entfaltung gebracht wird.
Der vierte Weg / Beweis wird der »Stufenbeweis« (Beweis aus den Seins-
stufen oder Vollkommenheitsstufen) genannt. Wieder geht Thomas von einer
Feststellung aus, diesmal von der Feststellung, dass es in den Dingen hinsicht-
lich der »Vollkommenheiten« wie Sein, Wahrheit, Gutheit, Schönheit usw. ein
Mehr oder Weniger gibt. Thomas rekurriert dann auf die allgemeine Prämisse:
»Mehr und Weniger wird aber von verschiedenen [Dingen] ausgesagt, sofern
sie sich in verschiedener Weise einem [Prinzip] annähern, das am meisten (d. h.
im höchsten Grad) ist. […] Also gibt es etwas, was am Wahrsten, Besten und
Edelsten und infolgedessen am meisten seiend ist.« Dann führt er den Begriff
der Ursache ein, um auf die These zu schließen: »Also gibt es etwas, was von
allem Seienden die Ursache des Seins, der Gutheit und jeder anderen Voll-
kommenheit ist.«
Der fünfte Weg ist der sogenannte teleologische Beweis. Sowohl die unbe-
lebte wie die belebte, den Menschen umgebende Natur, als auch der Mensch
selbst weisen eine starke Geordnetheit auf. Alle einzelnen Lebewesen und
sonstigen Dinge fügen sich ideal ineinander und streben, als einzelne und
als Ganzes, ein Ziel (griechisch: telos) an, selbst wenn es nur die Art‑ oder
Selbsterhaltung wäre. Da die untergeistigen Dinge wie Steine, Pflanzen und
Tiere selbst vernunft‑ und erkenntnislos sind, können sie diese Ordnung nicht
selbst bewirken und auch nicht aus sich heraus ein Ziel anstreben. Weil es aber
auch nicht der Mensch ist, der die Weltordnung bewirkt oder gar ihr Ziel ist,

19 
Vgl. dazu die Ausführungen in SuS, Kap. 5, Abschnitt 5.3.
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 37

bleibt als Ordner und Lenker nur das übergeordnete geistige Wesen, »das alle
Gott nennen«, übrig. Der Grundgedanke dieses Weges/Beweises feiert heute
eine erstaunliche Renaissance unter der Bezeichnung »argument from design«
(oder einfach »design argument«).

[2] Wie schon vermerkt, ist es nicht die Zielsetzung dieses Buches, diese
Wege/Beweise im Einzelnen zu analysieren und auf ihre Stichhaltigkeit hin
zu überprüfen. Sie werden hier nur als berühmte (historische) Beispiele eines
bestimmten Ansatzes in der Gottesfrage angeführt, den der Verfasser für
völlig unzureichend und inadäquat hält. An dieser Stelle sind zu den kurz
skizzierten Argumenten nur zwei Bemerkungen zu machen.
Erstens erweisen sich diese Wege / Beweise als völlig unzureichend und in-
adäquat, weil sie auf einem einzelnen ganz bestimmten »Phänomen« in der
Welt basieren; sie betreffen daher nur ein Segment oder einen Teil der Welt
bzw. des Universums bzw. des Seins im Ganzen. Die Welt als ganze, das Uni-
versum, das Sein im Ganzen bleiben absolut unbeachtet, unthematisiert. Es
leuchtet daher sofort ein, dass »Instanzen« wie jene Entitäten, die als Kon-
klusionen der so verstandenen fünf Wege / Beweise erreicht werden (voraus-
gesetzt, die Argumente sind konklusiv), einfach zu »klein«, zu »inadäquat«
sind, um einem auch nur inchoativ sinnvollen Begriff von »Gott« zu ent-
sprechen. Anders gesagt, wenn »Gott« mit einem Prinzip (oder Ähnlichem)
identifiziert wird, das nicht das Universum, das Sein im Ganzen adäquat
»umfasst«, so ist nicht einzusehen, warum sich die Philosophie (und auch
die Theologie) mit einem solchen »Gott« befassen sollte. Der einzige Weg/
Beweis, der diese grundsätzliche Schwierigkeit überwinden könnte, ist, wie
schon gesagt, der dritte, der auf einer Einsicht basiert, die das Universum
selbst, das Sein im Ganzen betrifft. Allerdings kann diese Einsicht nur dann
zur Geltung gebracht werden, wenn eine ganz anders orientierte Konzeption
der ganzen Welt, des Universums, des Seins im Ganzen entwickelt oder
vorausgesetzt wird, so dass dann auch die Gestalt des Weges/Beweises völlig
anders zu konzipieren wäre. Wie das gemacht werden kann, wird im Kapitel 3
dargestellt.
Die zweite Bemerkung betrifft die Konklusion der fünf Wege/Beweise
(und ähnlicher Argumente). Strenggenommen, bestehen diese Wege/Beweise
nur darin, dass aus bestimmten »Punkten (Phänomenen)« in der Welt auf
einen »ersten oder höchsten Punkt« geschlossen wird. Aber der Text des
Thomas von Aquin enthält gleich anschließend an die Formulierung dieser
Konklusion(en) eine Art Zusatz oder Kommentar in der Form: »… und das
[nämlich den Ersten Beweger, die Erste Ursache, das Notwendige Seiende
usw.] nennen alle ›Gott‹«. Man kann diese Formulierungen den größten
methodologischen Fehler nennen, den Thomas von Aquin begangen hat, al-
lerdings mit dem zusätzlichen Hinweis, dass der Fehler als nicht so verhäng-
38 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

nisvoll anzusehen ist, wenn man das ganze Denken des Thomas betrachtet. Zu
betonen ist aber ebenfalls, dass diese Formulierungen klassisch geworden sind
und daher einen außerordentlich großen Schaden angerichtet haben. Sie waren
bzw. sind die Hauptquelle, aus welcher sich jener Vorwurf speist, der unter
Bezeichnungen wie ›der metaphysische Gott‹ oder ›der Gott der Metaphysik‹,
›der Gott der Philosophen‹ u. ä., eine so große Wirkungsgeschichte in der
abendländischen Denkgeschichte gehabt hat und immer noch hat. Es genüge
hier auf zwei diesbezügliche historische Fakten bzw. Aussagen hinzuweisen.
An erster Stelle ist die Tatsache zu erwähnen, dass die Identifizierung der
Konklusionen der fünf Wege / Beweise mit »Gott« einen der tiefsten Gegen-
sätze zwischen katholischer und protestantischer Theologie gebildet hat und
immer noch bildet, die es in der Geschichte gegeben hat und die weiterhin
bestehen. Dieser Gegensatz ist bekannt als die Frage nach der theologia
naturalis, nach der natürlichen Theologie, wobei zu bemerken ist, dass diese
Bezeichnung in der langen Geschichte der Auseinandersetzung zwischen
den beiden theologischen Richtungen selten in genau derselben Bedeutung
verstanden und verwendet wurde.20 Ein Punkt aber war immer und ist noch
heute klar: Die protestantische Theologie hat sich beinahe einhellig gegen
einen aus der Metaphysik »erschlossenen« Gott gewandt, während die katho-
lische Theologie fast einhellig einen metaphysischen Ansatz entwickelte. Wie
noch weiter unten zu zeigen sein wird, basiert die protestantische Kritik auf
einem tiefen Missverständnis; aber auch die katholische Position, wie sie sich
in der Gestalt der scholastischen Metaphysik darstellt, offenbart eine tiefe
Einseitigkeit. Unzweifelhaft ist die historische Erklärung für die Entstehung
der beiden Missverständnisse in Formulierungen wie denen des Thomas von
Aquin zu sehen.
An zweiter Stelle kann jene berühmte Passage aus Blaise Pascals Mémorial
zitiert werden, die nur zu verstehen ist, wenn die aus den Formulierungen
des Thomas hervorgehende Tradition berücksichtigt wird. Pascal beschreibt
im Mémorial eine tiefe Erfahrung, die er gemacht hat, wobei die zentrale und
vielsagende Formulierung lautet:
»Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.
Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Gott Jesu Christi.«21

Dieser berühmte Text wird oft angeführt, um einen (angeblichen) Gegen-


satz zwischen dem biblischen Gott und dem »Gott der Philosophen …« zu
dokumentieren. Es mag sein, dass eine solche Interpretation korrekt ist. Aber
eine andere kann nicht – zumindest nicht a priori – ausgeschlossen werden,

Vgl. darüber W. Pannenberg. Systematische Theologie. Band 1, 1988, bes. 2. Kapitel.


20 

B. Pascal, Oeuvres Complètes, La Pléiade, 554: »Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac,


21 

Dieu de Jacob, non des Philosophes et des savants. Certitude. Certitude. Sentiment, Joie,
Paix. Dieu de Jésus-Christ.«
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 39

der zufolge der Satz keinen Gegensatz, sondern eine Komplementarität in


folgendem Sinne artikuliert: Pascal wendet sich an Gott, nicht nur oder nicht
hauptsächlich, insofern »Gott« in der Philosophie (seiner Zeit …) artikuliert
wurde, sondern insofern zu dessen eigentlicher Bedeutung die ganze biblische
Botschaft in absolut entscheidender Weise hinzugenommen wird. Kurz: diese
zweite Interpretation würde besagen, dass »der Gott der Philosophen« nur
ganz abstrakt oder weitgehend (noch) unbestimmt ist, während der biblische
Gott sozusagen der »vollbestimmte Gott« wäre. In jedem Fall zeigt die
Passage, dass Pascal sich auf eine Tradition der Rede über Gott bezog, die in
den oben zitierten Formulierungen des Thomas von Aquin ihren klassischen
Ausdruck erhalten hat.

[3] Die Werke und die Lehren der Autoren, die die große christliche meta-
physische Tradition repräsentieren, in ganz besonderer Weise jene des Thomas
von Aquin, sind – auch dann, wenn sie etwa den Umfang einer Summa Theo-
logiae erreichen – als Einzeldarstellungen einer Gesamtkonzeption zu sehen,
die in solchen Darstellungen in keiner Weise ihre adäquate Artikulation gefun-
den haben. Solche Darstellungen werden daher nur dann richtig verstanden
und interpretiert, wenn die ihnen zugrundeliegende »Gesamtschau« immer
berücksichtigt wird. Das betrifft sowohl die Stärken als auch die Schwächen
sowohl der Einzeldarstellungen als auch der »Gesamtschau«. Ausdruck dieses
ganz speziellen Verhältnisses zwischen Einzeldarstellung(en) und »Gesamt-
schau« ist die Summa. Eine Summa ist kein System. Eine Summa ist vielmehr
ein immenses komplexes Lehrganzes, dessen Einzellehrstücke meistens nur
sehr lose miteinander zusammenhängen. Sie müssen daher immer im Lichte
der vorausgesetzten, aber als solche nie adäquat artikulierten »Gesamtschau«
nicht nur gelesen und interpretiert, sondern oft sogar korrigiert werden.
Letzteres ist gerade der Fall, wenn man die fünf Wege/Beweise des Thomas
von Aquin adäquat interpretieren will.
Man nehme beispielsweise alle Aussagen des Thomas von Aquin über
»Gott« in der Summa Theologiae, von den problematischsten im Rahmen
der fünf Wege/Beweise über den Ersten Beweger, die Erste Ursache usw.,
also über jene »Instanzen«, »die alle Gott nennen«, bis hin zu den zentralen
Aussagen über den trinitarischen Gott. Hängen alle diese Aussagen wirklich
miteinander zusammen? Und wenn ja, wie? Man kann nicht leugnen, dass
im Gesamtoeuvre des Thomas von Aquin Elemente enthalten sind, die in
der Sprache Heideggers »onto-theo-logisch« sind. Die fünf Wege/Beweise
sind ein unbestreitbares Beispiel dafür. Aber die Frage ist (wie schon oben
angedeutet): Welchen Platz oder Stellenwert haben diese Elemente im ganzen
Lehrgebäude des Thomas? Anders gefragt: Sind sie die das ganze Lehrgebäude
entscheidend bestimmenden Elemente? Im Gesamtwerk ut jacet verhält es sich
so, dass Thomas annimmt (und zu zeigen versucht), dass alle jene »höchsten
40 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Punkte«, die als Konklusionen der fünf Wege/Beweise aufgezeigt werden, in


der einen oder anderen Weise miteinander zusammenhängen. Darüber hinaus
zeigt er auch, dass alle »reinen Vollkommenheiten (perfectiones purae)« und
insbesondere esse und essentia »in Gott« (oder genauer: »als Gott«) identisch
sind. Hier zeigt sich die Schwäche dieses Denkens, weil diese »Identitätsaus-
sage« eine ziemlich problematische, beinahe gekünstelte Aussage ist. Dennoch
ist zu bestreiten, dass die im Oeuvre des Thomas faktisch vorhandenen »onto-
theo-logischen« Elemente sein Denken entscheidend bestimmen. Das soll im
folgenden gezeigt werden.

1.3.2.2 Sein (esse) und Gott bei Thomas von Aquin: eine bedeutende, aber
einseitige und unentfaltete Konzeption
[1] Der in diesem Kontext wichtigste Punkt ist die Feststellung, dass es bei
Thomas von Aquin eine Auffassung über »esse–Sein« gibt, die die bedeut-
samste Originalität seines Denkens ausmacht. Diesbezüglich muss aber so-
gleich auf zweierlei hingewiesen werden. Erstens ist zu beachten, dass die
Thomasische Auffassung über das esse, so bedeutsam sie auch ist, wie zu zei-
gen sein wird, in ihrer ganzen Tragweite und Inhaltlichkeit doch unentfaltet
blieb. Der wichtigste Grund dafür dürfte in dem Umstand zu sehen sein, dass
sie, soweit dies geschieht, im Rahmen einer metaphysischen Konzeption ar-
tikuliert wird, für welche die Aristotelische Metaphysik die zentralen Begriffe
lieferte, wie: Wesen (Essenz, essentia), Substanz–Akzidens (substantia–acci-
dens), Zugrundeliegendes / Substrat (substratum), Subjekt (subiectum), Sub-
sistenz (subsistentia), Form–Materie (forma–materia), Ursache (causa) usw.
Diese ganze kategoriale Begrifflichkeit, die Thomas übernahm, war sicherlich
derjenige Faktor, der Thomas am meisten daran hinderte, seine tiefe Intuition
hinsichtlich des esse adäquat zu entfalten.22 Darauf ist noch einzugehen.
Zweitens ist zu beachten, dass die Thomasische esse-Auffassung im Lauf
der Jahrhunderte verschiedentlich interpretiert und allmählich beinahe kaum
noch beachtet wurde. Erst Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts be-
gannen Interpreten von einer »Wiederentdeckung der Originalität« der esse-
Auffassung des Thomas von Aquin zu sprechen.23 Anschließend folgte eine
intensive Diskussion über die »richtige« Interpretation des esse bei Thomas

22  Zu diesem ganzen historisch-systematischen Problemkomplex vgl. die Studie des

Verfassers: »Das Denken des Thomas von Aquin als summarisch-unreflektiertes Seins‑
und Analogiedenken«, als Kapitel VII des Buches: Analogie und Geschichtlichkeit. Phi-
losophiegeschichtlich-kritischer Versuch über das Grundproblem der Metaphysik; wieder-
abgedruckt in: L. B. Puntel, SGTh 35–143.
23  Vgl. besonders die Arbeiten von L. B. Geiger, C. Fabro, L. de Raeymaeker, É.

Gilson, B. Welte und anderen. Zur Geschichte des Thomismus im 20. Jahrhundert vgl.
B. Mondin, La Metafisica di S. Tommaso e i suoi interpreti, 2002.
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 41

und eine Verteidigung dieser Konzeption gegen Heideggers Vorwurf, die


gesamte abendländische Metaphysik sei ein Denken auf der Basis der »Seins-
vergessenheit«. Auf diese schon lange und komplexe Diskussion kann hier
nicht näher eingegangen werden. Hier ist nur festzustellen, dass die Dis-
kussion kaum etwas wirklich Interessantes zu einem Durchdenken einer
systematischen Seinskonzeption zu Tage gefördert hat. Der heutige Bezug
auf Thomas von Aquin ist weiterhin von der Behauptung geprägt, dass er ein
typischer Vertreter einer Metaphysik des Seins im Sinne der Heideggerschen
Onto-theo-logie ist.
Der Verfasser vertritt diesbezüglich eine sehr differenzierte Auffassung,
deren zwei wichtigste Punkte die folgenden sind. Erstens: Damit Heideggers
Vorwurf der »Seinsvergessenheit« Thomas von Aquin wirklich treffen kann,
muss klar sein, was Heidegger unter »Sein« versteht. Es ist nun alles andere
als klar, was »Sein« bei Heidegger wirklich bedeutet. Zweitens: Wie mehrmals
angedeutet, kann man bei Thomas unter der Bezeichnung ›esse‹ eine sehr tiefe
und hochbedeutsame »Intuition« finden. Diese Intuition blieb allerdings bei
ihm fast gänzlich unausgeführt, und zwar mit der Konsequenz, dass Thomas
eine in wesentlichen Hinsichten nicht nur einseitige, sondern auch unreflek-
tierte und undurchdachte Konzeption formuliert hat.
Der erste Punkt soll in Kapitel 2 ausführlich behandelt werden. Im folgen-
den werden die für die Zielsetzung des vorliegenden Buches zwei wichtigsten
Aspekte des zweiten Punktes in der hier gebotenen Kürze erläutert.

[2] Die anfängliche zentrale These des Thomas von Aquin lautet: »Seiendes ist
jenes, was der Verstand zuerst als das ihm Bekannteste begreift und in das er
alles Begriffene auflöst.«24 Aber »Seiendes – ens« ist dasjenige, was esse »hat«;
es kann daher nur vom esse her als dessen Konkretisierung verstanden wer-
den. Thomas denkt diese Konkretisierung auf der Basis des dualen Schemas
»Empfangendes–Empfangenes [recipiens–receptum]«, »Subjekt (Träger, Zu-
grundeliegendes)–Form [subiectum–forma]«. Im übrigen spricht Thomas von:
ens, essentia, esse, actus essendi, perfectio essendi, virtus essendi, esse commune,
esse ipsum, esse per se subsistens, usw. Wie alle diese Ausdrücke/Begriffe zu
verstehen sind, kann hier nicht gezeigt werden.25 Hier kann es nur um die
Frage gehen, wie Thomas das esse verstanden hat und wie dieses Verständnis
zu beurteilen ist.
Die adäquate Antwort darauf kann nur auf der Basis der Unterscheidung
zwischen einerseits explizit formuliertem oder artikuliertem und andererseits
nur implizit vorhandenem oder vorausgesetztem Verständnis des esse gegeben

24  »Illud autem quod primo intellectus concipit quasi notissimum, et in quod concep-

tiones omnes resolvit, est ens.« (De ver. q. 1 a. 1)


25  Vgl. dazu die in der Fußnote 22 genannte Arbeit des Verfassers.
42 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

werden; kurz: man muss zwischen einer expliziten und einer impliziten Ant-
wort differenzieren. Die explizite Antwort ist klar: esse wird von Thomas als
actus/Akt, als actus essendi / Seinsakt, verstanden: »Das Sein … ist Akt«26,
wobei dieser Akt der allerletzte oder allertiefste Akt in der Hierarchie aller
sonstigen explizit angegebenen oder auch nur denkbaren Akte ist: »Was ich
Sein nenne, ist die Aktualität aller Akte und ist daher die Vollkommenheit
aller Vollkommenheiten.«27 In dieser Hinsicht unterscheidet sich esse von
»Entitäten« oder »ontologischen Faktoren« wie: ens, essentia, forma, sub-
iectum usw. Weil und insofern esse sich in diesem Sinne von diesen Entitäten/
Faktoren klar unterscheidet, umfasst es sie nicht; es kann daher nicht gesagt
werden, dass esse in diesem Sinne die wirklich allumfassende Dimension ist.
Der berühmte jahrhundertelange Disput über die Frage, ob die Unter-
scheidung zwischen esse und essentia eine Realdistinktion (distinctio realis)
oder eine nur begriffliche Distinktion (distinctio rationis) sei, war Ergebnis der
Nichtbeachtung sowohl der komplexen Textlage bei Thomas selbst als auch
der Sachproblematik. Behauptet man eine Realdistinktion, so entsteht die
unlösbare Frage: Wie ist die essentia zu verstehen und zu erklären? Behauptet
man hingegen, es handele sich nur um eine begriffliche Distinktion, so drängt
sich die Frage auf: Wie ist dann esse im umfassenden Sinne zu begreifen?
Dieser Disput hatte letzten Endes wenig Sinn. Beachtet man die explizite
Ebene der vorhandenen Texte des Thomas, so kann man dem esse keinen um-
fassenden Charakter zuschreiben. Damit ist es auch klar, dass man sich nicht
auf das so verstandene esse berufen kann, um zu behaupten, das Denken des
Thomas werde vom Heideggerschen Vorwurf der Seinsvergessenheit nicht
getroffen. Dies gilt, zumindest wenn man annimmt, dass Heidegger »Sein«
im absolut umfassenden Sinn meinte, womit nicht gesagt ist, dass es ihm auch
gelungen ist, »Sein im umfassenden Sinne« wirklich zu denken. Letztere Fra-
gestellung wird in Kapitel 2 zu klären sein.
Es gibt aber bei Thomas Texte, die so interpretiert werden können, dass
er unter esse mehr als nur actus essendi anvisierte; aber dieses in manchen
Passagen vorausgesetzte Verständnis blieb bei ihm völlig unartikuliert. Das
hat der Verfasser in seiner mehrmals zitierten Abhandlung über Thomas
gezeigt. Der wohl interessanteste Text, der gerade für die Thematik des vor-
liegenden Buches von großer Bedeutung ist, dürfte die folgende Passage aus
dem wunderbaren 11. Kapitel des 4. Buches der Summa contra Gentiles sein:
»In Gott ist all das, was zum Sinngehalt der Subsistenz, des Wesens oder des Seins
selbst gehört. Es kommt ihm nämlich zu, in anderem nicht zu sein, insofern er sub-

26 
»Esse autem actus est.« (ScG I 38)
»Hoc quod dico esse est actualitas omnium actuum, et propter hoc est perfectio
27 

omnium perfectionum.« (De pot. q. 7 a. 2 ad 9)


1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 43

sistiert. Es kommt ihm zu, etwas Bestimmtes zu sein, insofern er Wesenheit ist. Es
kommt ihm zu, Sein-im-Akt zu sein aufgrund des Seins selbst.«28

Dreimal, d. h. bei jedem der drei Momente ist die Rede von esse: »non esse in
aliquo – in anderem nicht sein, »esse quid – etwas Bestimmtes sein«, »esse in
actu – Sein-im-Akt (oder: im-Akt-sein)«. Als was zeigt sich hier verborge­
nerweise das esse in seinem Gesamtsinn? Es zeigt sich als eine Dreifalt. Der
Gesamtsinn als das Einheitsgeschehen der Dreifalt des Gefüges wäre das Sein
im ursprünglichen Sinn, »das erfüllte Sein [totum esse]«, von dem Thomas
gelegentlich spricht.29 Das »Sistente« ist das Worauf und Woraus, das anfäng-
liche Selbst, dessen Selbstheit sich inhaltlich durch die Momente des »esse
quid  –  etwas Bestimmtes sein« und »esse in actu  –  im-Akt-sein« entfaltet.
Dieser hier nur implizit gegebene »Gesamtsinn« von esse ist bemerkenswert.
Aber er wurde weder von Thomas noch in der ganzen Tradition der Inter-
pretation und Rezeption seines Denkens entfaltet.30

[3] Wir kommen nun hinsichtlich des Thomasischen Ansatzes zum entschei-
denden Punkt in der Gottesfrage. Es ist überall in den von Heidegger beein-
flussten philosophischen (und theologischen) Kreisen beinahe zur Mode oder
zumindest zur fraglosen Gewohnheit geworden, die Behauptung aufzustellen,
Thomas von Aquin habe eine Metaphysik im Sinne der Onto-theo-logie
entwickelt und vertreten. Er habe Gott konzipiert als das höchste (das Erste
oder das maximale) Seiende oder höchstens als das Sein-der-Seienden. Solche
undifferenziert formulierten Behauptungen sind falsch. Und es ist hochver-
wunderlich, dass sie immer noch aufgestellt werden.

28  »In Deo est quicquid pertinet ad rationem vel subsistentis, vel essentiae, vel ipsius

esse: convenit enim ei non esse in aliquo, inquantum est subsistens; esse quid, inquantum
est essentia; et esse in actu, ratione ipsius esse.« (ScG IV 11; Kursiv nicht im Original)
29  Vgl. z. B.: »Da das Sein Gottes … nicht in irgendeinem etwas empfangen werde,

sondern da es das reine Sein ist, ist es nicht eingegrenzt auf einen bestimmten Modus der
Seinsvollkommenheit; vielmehr hat es in sich die ganze Fülle des Seins. [Esse … Dei, cum
non sit in aliquo receptum, sed sit esse purum, non limitatur ad aliquem modum per-
fectionis essendi, sed totum esse in se habet.]« (De Pot q. 1 a. 2)
30  B. Montagnes ist einer der wenigen Interpreten, die – zumindest im Prinzip – eine

ähnliche Position beziehen:


»Im Grunde läuft die ganze Diskussion auf folgende Frage hinaus: Wie kann man dem
Wesen (essence) als dem Formakt einen positiven Charakter einräumen und gleichzeitig
dem in einem streng absondernden Sinn (de façon précisive) verstandenen esse die ganze
Vollkommenheit zuschreiben? Ohne Zweifel muss man anerkennen, dass die perfectio
essendi die drei Bestimmungen enthält: das Wesen (essence) als Formprinzip, das esse als
Akt und das Subjekt, das den Akt mittels der Form vollzieht, wobei sich die drei Be-
stimmungen nur in Gott als identisch erweisen.« (Besprechung des Buches »Participation
et causalité« von C. Fabro, in Bulletin Thomiste 11 (1960) 15–21; zit. St. 20–21; Hervorh.
nicht im Original)
Allerdings beachtet Montagnes nicht die ganze Tragweite der hier angesprochenen
Dreifalt.
44 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Im Gegensatz dazu muss deutlich gesagt werden, dass die eigentliche und
echte Auffassung des Thomas über Gott in der berühmten Formulierung ar-
tikuliert ist: Gott ist ipsum esse per se subsistens, das durch sich selbst subsistie-
rende Sein. Gott ist nicht ein »Seiendes« unter anderen Seienden, auch nicht in
dem Sinne, dass er das höchste, erste, maximale Seiende wäre. Diesbezüglich
muss auf ein eigenartiges interpretatives Phänomen hingewiesen werden. In
den Werken des Thomas finden sich zweifellos Formulierungen, die Gott als
»ens primum – ens supremum – maxime ens usw.« artikulieren und charakte-
risieren. Wenn man dann unter Hinweis auf solche Texte Thomas von Aquin
eine onto-theo-logische Position zuschreibt, so übersieht man zweierlei: Er-
stens finden sich in seinen Schriften ganz wenige Passagen, in denen solche For-
mulierungen vorkommen, ganz im Gegensatz zu der, wie man sagen könnte,
»Standardformulierung«: Gott ist ipsum esse per se subsistens. Zumindest sollte
man versuchen, die Frage zu klären, wie beide schon hinsichtlich der Häufig-
keit ihres Gebrauches gänzlich »ungleichen« Formulierungen zu verstehen
sind. Zweitens lässt sich in der Tat leicht zeigen, dass die Formulierung, Gott
sei »ens (primum usw.)«, aus rein sprachlich-stilistischen Gründen verwendet
wird und dementsprechend zu verstehen ist. Es genüge, auf charakteristische
Stellen bei Thomas hinzuweisen. Zwei Zitate seien angeführt:
»[Gott] ist im maximalen Sinne Seiendes, aber nicht in dem Sinne, dass er [ein] Sein
hätte, das nach Maßgabe irgendeiner Natur (Wesenheit), der es zukäme, bestimmt
wäre; vielmehr ist Gott das durch sich selbst subsistierende Sein, durch keinen Modus
bestimmt [= begrenzt]«.31
»Es ist offenbar, dass das Erste Seiende, das Gott ist, ein unendlicher Akt ist, hat es
doch in sich die ganze Fülle des Seins, die daher nicht auf irgendeine Natur der Gattung
oder der Artbestimmtheit eingeengt ist. Daraus folgt, dass sein Sein selbst nicht in
der Weise aufgefasst werden darf, dass es sozusagen irgendeiner Natur der Gattung
oder Artbestimmtheit inhäriert, die mit seinem Sein nicht identisch ist; denn auf diese
Weise wäre es auf eine solche Natur begrenzt. Daher sagen wir, dass Gott sein Esse
selbst ist.«32

Es muss freilich noch einmal hinzugefügt werden, dass dies bei Thomas nicht
weiter entfaltet wird; dennoch kann man mit vollem Recht sagen, dass seine
minimal artikulierte Konzeption eine unschätzbare Inspirationsquelle ist.33

31
  »[Deus] est … maxime ens, inquantum est non habens aliquod esse determinatum
per aliquam naturam cui adveniat, sed est ipsum esse subsistens, omnibus modis indeter-
minatum.« (S. Th. I q. 11 a. 4)
32  »Manifestum est enim quod primum ens, quod Deus est, est actus infinitus, utpote

habens in se totam essendi plenitudinem, non contractam ad aliquam naturam generis vel
speciei. Unde oportet quod ipsum esse eius non sit esse quasi inditum alicui naturae quae
non sit suum esse; quia sic finiretur ad illam naturam. Unde dicimus, quod Deus est ipsum
suum esse.« (De Pot – De spiritualibus creaturis, q. un., a. 1 c.)
33  Zu J.-L. Marions (Fehl)Interpretation des Thomas von Aquin vgl. seine dies-

bezüglichen retractationes in seinem Aufsatz »Saint Thomas d’Aquin et l’onto-théo-


1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 45

1.3.2.3 Thomas von Aquin: ein mittelalterlicher Denker


Schließlich muss daran erinnert werden, dass Thomas von Aquin ein mittel-
alterlicher Denker ist, der daher die ganze neuzeitliche und moderne Ent-
wicklung nicht kennt. So etwas wie eine wie immer verstandene und gestaltete
Repristination seines Denkens, die irgendwie an der langen Geschichte des
philosophischen Denkens seit seiner Epoche vorbeigeht, sollte nicht in Be-
tracht gezogen werden. Man kann und muss vor diesem Hintergrund aus
heutiger Sicht eine gesamtsystematische Schwäche seines Denkens feststellen.
Was bedeutet das hier? Kurz gesagt: er kennt nicht die ganze Dimension der
Subjektivität (im neuzeitlichen Sinne), der Sprache, der Theoretizität (mit
allem, was dazu gehört). Vor diesem Hintergrund wird das esse nicht an-
gemessen thematisiert: Grundsätzlich wird es als Objektpol in dem Sinne
betrachtet, dass es rein objektiv betrachtet wird, ohne effektive Einbeziehung
des Menschen, des Subjekts, der Sprache usw. in die ganze Artikulation. Dies
verleiht seinem Seinsdenken den Charakter des Äußerlichen, des irgendwie
nachträglich Zusammengesetzten; kurz: den Charakter einer mittelalterlichen
Summa.
Ungeachtet dieser sehr weitreichenden und bis zu einem gewissen Punkt
zeitbedingten Schwächen hat die große originelle »Intuition« des Thomas
von Aquin hinsichtlich des esse ein eigenartiges historisches Schicksal gehabt.
Sie wurde nicht nur nicht weiter vertieft und expliziert (und noch weniger
korrigiert), sondern grundsätzlich verkannt, mit der Konsequenz, dass das
esse, wenn überhaupt, so nur noch eine unverstandene verbale Rolle spielte.
Die Metaphysik wurde ausschließlich als die Wissenschaft vom Seienden als
Seienden (ens inquantum ens) verstanden. Die zwei Hauptrepräsentanten
dieser Scholastik waren Duns Skotus und Franz Suarez. Darüber gibt es
schon eine beinahe unüberschaubare Literatur, auf die auch nur hinzuweisen
hier nicht nur nicht möglich ist, sondern auch nicht sinnvoll wäre. Diese
Entwicklung hat dann schließlich zu jener ab Mitte des 18. Jahrhunderts
stereotyp gewordenen Auffassung von Metaphysik geführt, die Kant wie
selbstverständlich voraussetzte, als er seine angeblich vernichtende Kritik »der
Metaphysik« entwickelte. Es waren Christian Wolff († 1754) und sein Schüler
Alexander Baumgarten († 1762), die diesen seitdem allgemein vorausgesetzten
und angenommenen Begriff der Metaphysik endgültig fixierten, demzufolge
unter »Metaphysik« eine Sammlung von vier Disziplinen verstanden wird:
Ontologie, allgemeine Kosmologie, rationale Psychologie und rationale oder
natürliche Theologie. Die Ontologie bildet die allgemeine Metaphysik (me-
taphysica generalis), die drei anderen Disziplinen konstituieren die spezielle

logie«, 1995 (vgl. Fußnote 2 auf S. 33) und die ausführliche Kritik an dieser neuen
(Fehl)Interpretation in diesem Buch (Kapitel 4, 4.2.1 [2]).
46 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Metaphysik (metaphysica specialis). Die Ontologie wird als die Wissenschaft


von den allgemeinsten Prädikaten der Dinge/Seienden bestimmt.
Auf die »Neuentdeckung« und Neubewertung des Thomasischen esse
durch viele Thomasinterpreten ab den 1930er Jahren wurde schon oben (vgl.
1.3.2.2 [1]) hingewiesen; dort wurde auch erläutert, wie der Verfasser des vor-
liegenden Buches diese Bemühungen beurteilt.

1.3.3 Der »Transzendentale Thomismus«


Im Hinblick auf die Zielsetzung des vorliegenden Werkes ist es weder möglich
noch auch besonders erhellend, auf die lange Geschichte der christlichen Seins-
metaphysik seit Thomas einzugehen. Es möge genügen, jene Gestalt kurz zu
erwähnen, die aus der Begegnung mit Kant und Heidegger (und in gewisser
Hinsicht mit Hegel) entstanden ist und die unter der Bezeichnung ›trans-
zendentaler Thomismus‹ bekannt ist. Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung
sind Joseph Maréchal, Karl Rahner, Emerich Coreth, Johannes B. Lotz, Johann
B. Metz, Bernhard Lonergan. Zu bemerken ist allerdings, dass diese Autoren
nur hinsichtlich einiger zentraler Aspekte eine einheitliche Richtung bilden. Die
Gemeinsamkeit betrifft das Projekt, die alte christliche Metaphysik (besonders
des Thomas von Aquin) und Kants Transzendentalphilosophie zu verbinden.
Zentral für diese Autoren ist der Gedanke der Transzendenz, der in zwei
verschiedenen Versionen verstanden und entwickelt wird. Die erste wird
hauptsächlich von J. Maréchal, dem eigentlichen Initiator dieser Denkrich-
tung, vertreten.34 Dieser Autor versteht Transzendenz als einen dynamischen
teleologischen Prozess, der den menschlichen Geist charakterisiert und diesen
zum Kontakt mit der ganzen Dimension der Wirklichkeit führt. Noch genauer
fasst Maréchal den Dynamismus des Geistes als das Streben nach dem Ab-
soluten, das er mit Gott identifiziert. Dabei stützt er sich auf einen zentralen
Gedanken im Denken des Thomas von Aquin: auf das naturale desiderium, das
der Natur eigene Verlangen oder Streben,35 das Maréchal im Rahmen des trans-
zendentalen Denkens reinterpretiert und zur Geltung zu bringen versucht.
Die zweite Version wurde ebenfalls unter dem Einfluss von Kant ent-
wickelt, aber in diesem Fall handelte es sich um Kant, sofern er von einem
anderen Philosophen, nämlich Heidegger, (um)interpretiert wurde. Der
entscheidende Gesichtspunkt dabei war die von Heidegger reformulierte
und neudurchdachte Seinsfrage. Emerich Coreth verfasste eine komplette
transzendental reformulierte und grundgelegte Darstellung der traditionellen
christlichen Seinsmetaphysik in seinem Buch Metaphysik36. Karl Rahner ent-
34  Vgl. sein Buch Le point de départ de la métaphysique. Cahier V: Le Thomisme

devant la Philosophie critique, 1949.


35  Vgl. z. B. ScG II 55; III 48.
36  E. Coreth, Metaphysik, 1964.
1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 47

wickelte eine nicht-systematische, aber bedeutsame Theologie auf der Basis


der transzendental reinterpretierten Idee des Seins. Wegen seiner Originalität
ist nur Rahners Ansatz für die Thematik des vorliegenden Buches von näherer
Bedeutung, weswegen im folgenden nur darauf kurz eingegangen wird.
Der Begriff der Transzendenz steht im Zentrum des Rahnerschen Denkens.
Dieser Begriff wird neu durchdacht auf der Basis einer philosophischen und
theologischen Konzeption von Subjektivität, für die sein Schüler Johannes B.
Metz die Bezeichnung »Christliche Anthropozentrik«37 geprägt hat. Doch
ist diese Bezeichnung, wie gleich zu zeigen ist, missverständlich. Rahners
Konzeption hat eine dreifache Herkunft: die alte metaphysische Idee des
excessus (Übersteigen), die Kantische Idee der transzendentalen Bedingungen
der Möglichkeit der Erfahrung und Heideggers Begriff des Daseins als Trans-
zendenz. Rahners Konzeption der Transzendenz lässt sich zusammenfassen
in der These:
»Der Mensch ist das Wesen der Transzendenz, insofern alle seine Erkenntnis und seine
erkennende Tat begründet sind im Vorgriff auf das ›Sein‹ überhaupt, in einem unthe-
matischen, aber unausweichlichen Wissen um die Unendlichkeit der Wirklichkeit.«38

Man muss allerdings hinzufügen, dass Rahner in einer, zwar nicht inhaltlichen,
aber doch methodischen Hinsicht bedeutsamen Analogie zur Heideggerschen
»Kehre« einen reinen transzendental-anthropozentrischen Standpunkt über-
windet, indem er den Menschen zwar zunächst als Subjektivität und als
Dasein konzipiert, letztlich aber »als das Ereignis der freien, vergebenden
Selbstmitteilung Gottes«39 versteht. Rahner ist sich im Klaren, dass die Be-
zeichnungen ›(Vorgriff auf) das Sein (esse)‹ und ›Gott‹ ein Problem aufwerfen.
Darüber stellt er die bedeutsame Behauptung auf:
»Der Philosoph mag weiter vor allem darüber nachdenken, wie die transzendentale
Verwiesenheit auf das, was er Sein nennt, und die transzendentale Verwiesenheit auf
Gott zusammengehören und zu unterscheiden sind.«40

Rahner hat nie die Unverzichtbarkeit der Thematisierung der Seinsdimension


im Hinblick auf eine adäquate Artikulation seines großen theologischen
Gedankens der Selbstmitteilung Gottes in Frage gestellt. Allerdings hat er nie
eine systematische Behandlung der Seinsdimension in Angriff genommen.
Hans Urs von Balthasar wurde und wird von manchen christlichen Auto-
ren als radikaler Gegner der angeblich vom transzendentalen Thomismus und
besonders von Rahner vertretenen christlichen Anthropozentrik angesehen.

37  Vgl. sein Buch: Christliche Anthropozentrik. Über die Denkform des Thomas von

Aquin, 1962.
38  K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums,

1976, 44.
39  Ebd. 122.
40  Ebd. 69.
48 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Aber das ist eine völlig einseitige Sicht. Rahner hat nie einer, wie man sagen
könnte, reinen oder radikalen transzendentalen christlichen Anthropozentrik
das Wort geredet. Allerdings hat er diese Zusammenhänge in keiner Weise
ausreichend geklärt.
Von Balthasar selbst hat eine bedeutsame »Theologische Ästhetik«41 aus-
gearbeitet, dabei aber hat er nie eine theoretische oder spekulative Theologie
abgelehnt. Der dritte Band, Erster Teil, dieser Theologischen Ästhetik hat
den aufschlussreichen Titel »Im Raum der Metaphysik«. Im letzten Teil (Teil
III) dieses Bandes finden sich einige der schönsten und tiefsten Ausführungen
über das Thema »Sein und Gott«, wenn auch nicht in einer expliziten theoreti-
schen Hinsicht. Hier und in anderen Schriften legt er auch eine bemerkens-
werte Kritik der Heideggerschen Interpretation der christlichen Metaphysik
als Onto-theo-logie und deren Assimilation durch postmoderne Philosophen
und Theologen (wie J.-L. Marion) vor.42

1.3.4 Andere Beispiele halbsystematischer indirekter Ansätze: R. Spaemann,


R. Swinburne
Unter diese Rubrik kann man eine ganze Reihe von »Gottesbeweisen« sub-
sumieren, die heute diskutiert werden. Im Gegensatz zur Anwendung dieser
Rubrik auf die oben dargestellten Ansätze der klassischen metaphysischen
Tradition kann hinsichtlich der im folgenden zu kommentierenden Beispiele
nicht gesagt werden, dass sie jeden spezifischen Aspekt der Kategorie halb-
systematischer indirekter Ansätze erfüllen. Die Rubrik mag dennoch auch
hier als ein allgemeines Schema verstanden werden, das eine erste, noch abs-
trakte Klassifikation ermöglicht.
Es seien hier zwei Beispiele aus der gegenwärtigen Philosophie in mög-
lichster Kürze angeführt, ohne sie im Einzelnen zu diskutieren. Es soll damit
nur gezeigt werden, dass solche Ansätze nicht geeignet sind, zu einer phi-
losophisch tragbaren Klärung der Gottesfrage beizutragen.

[1] Das erste Beispiel ist ein »Gottesbeweis«, der unter dem ungewöhnlichen
Titel »Der letzte Gottesbeweis« präsentiert wird.43 Es bleibt unklar, ob damit
der »letztgültige, definitive« oder nur der dem Erscheinungsdatum nach
zuletzt erschienene Beweis gemeint ist. Die zweite Annahme scheint sehr
unwahrscheinlich zu sein, da sonst zumindest einige grundsätzliche Aussagen

41  H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 1965. Vgl. den

erhellenden Aufsatz von Ph. Capelle, »Hans Urs von Balthasar: Phénoménologie
et théologie«, jetzt in seinem Buch: Finitude et mystère, 2005, 209–226.
42  Vgl. unten 4.2.2.1 [3].
43  R. Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 2007. Dieser Autor selbst nennt seinen

Beweis »etwas großspurig« (ebd. 7).


1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 49

über die heutige Diskussionslage zu erwarten wären; darüber finden sich aber
im Buch überhaupt keine Angaben.
Der Beweis wird so artikuliert:
»I. Alle Tatsachenwahrheiten sind ewige Wahrheiten.
II. Jede Gegenwart ist die Vergangenheit einer künftigen Gegenwart.
III. Der ontologische Status dieser ewigen Wahrheiten besteht weder in einer Wirkung
noch im Erinnertwerden, sondern im Gewusstwerden. Es ist also einem absoluten
Bewusstsein, also Gott, gegenwärtig.«44

Einige wenige Angaben darüber, wie Spaemann diese Aussagen versteht,


mögen zur Erläuterung genügen. Zum Satz I wird nur gesagt: »[Es] scheint
[dazu] überraschend wenig zu sagen zu sein. Dass Tatsachen ewig (im Sinne
von immerwährender Geltung) sind, ist unabweisbar.«45 Zum Satz II wird
gesagt, er sei eigentlich »keine zweite Prämisse, sondern eher eine Erläuterung
des ersten Satzes« mit Hinweisen etwa darauf, dass »das Wahrsein selbst der
flüchtigsten und trivialsten Tatsachenbehauptungen […] durch nichts und
daher niemals wieder revidiert«46 wird. Anschließend wird betont, dass der
letzte Schritt (Satz III) der »am meisten diskussionswürdige«47 ist. Entschei-
dend dabei ist die Einführung des Begriffs des Bewusstseins im Zusammen-
hang mit der Wahrheit. Dazu werden einige nicht gerade klare und viel zu
knappe Aussagen gemacht. Es wird jedenfalls angenommen, dass Wahrheit
mit einer »Instanz« wesentlich zusammenhängt, die als Bewusstsein und
Wissen (und Gewusstwerden) gedeutet wird. Da schon die Tatsachenwahr-
heiten überzeitlich, ewig sind, kann Spaemann zufolge diese »Instanz«, das
Bewusstsein bzw. das Wissen (und das Gewusstwerden) nicht der Mensch
sein. Diese Instanz kann daher nur ein absolutes Bewusstsein sein, das so-
gleich mit »Gott« identifiziert wird.
Dieser »Beweis«, der aber nicht ein »Beweis im strengen Sinne«48 sein
will, setzt sich aus einer ganzen Reihe von Intuitionen und Behauptungen
zusammen, die viele schwierige und fundamentale philosophische Fragen auf-
werfen. Der »Beweis« basiert auf einem sehr bescheidenen, ja gewöhnlichen
»Verständnis« von Wahrheit, Bewusstsein, Zeit, Geltung usw. Schon von
daher könnte ein solcher Beweis in philosophischer Hinsicht nur dann über-
zeugend sein, wenn alle diese großen Fragen gründlich erörtert und geklärt
würden. Daher hat dieser »Beweis« (höchstens) einen halbsystematischen und
indirekten Status. Die systematische Klärung aller Faktoren, die im Beweis
eine maßgebliche Rolle spielen, erfordert aber eine immense Arbeit.

44  Ebd. 117.


45  Ebd. 118.
46  Ebd. 120.
47  Ebd. 122.
48  Ebd. 125.
50 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Am wichtigsten ist aber der folgende Punkt: Auch unter der Vorausset-
zung, dass die erforderliche Klärung geleistet wird, hätte man einen über-
zeugenden Beweis nur hinsichtlich der eigentlichen Konklusion des Beweises
präsentiert; das wäre die – dann argumentativ begründete – Annahme eines
absoluten Bewusstseins. Aber die weitere Annahme bzw. Behauptung, ein
solches Bewusstsein sei »Gott«, wäre durch den »Beweis« überhaupt nicht
gedeckt. Insofern reiht sich dieser »Beweis« beinahe nahtlos in die Kategorie
derjenigen »Gottesbeweise« ein, die eine von irgendeinem »Phänomen« her
(angeblich) argumentativ eruierte »Konklusion« sogleich mit der Bezeich-
nung »Gott« belegen. Wie problematisch dieses Verfahren ist, wurde in den
vorhergehenden Abschnitten dieses Kapitels zur Genüge gezeigt. Überhaupt
wird hier klar, dass es nur im Rahmen einer systematischen Konzeption über
das Sein als solches und im Ganzen möglich ist, eine allseitig intelligible und
durchdachte Konzeption über Gott zu entwickeln.

[2] Das zweite Beispiel ist die Auffassung eines Philosophen, der sich wie
kein anderer Philosoph der Gegenwart mit dem Thema »Gott« befasst hat:
Richard Swinburne. Sein umfangreiches Werk kann hier in keiner Weise auch
nur minimal gewürdigt werden. Es soll nur das Grundcharakteristikum seines
Ansatzes kurz dargestellt werden.
Auf den ersten Blick könnte man sagen, dass Swinburne zwar einen halb-
systematischen, nicht aber einen indirekten Ansatz entwickelt. In der Tat,
abweichend von den anderen Autoren, die einen klaren indirekten Ansatz
formulieren, zielt sein Beweis darauf ab, zu einer Konklusion zu gelangen, die
direkt »Gott« genannt wird. Aber das Verfahren, das er befolgt, um zu dieser
Konklusion zu gelangen, ist hochkomplex und vielstufig, so dass der Beweis
doch eine bestimmte Form eines nicht nur halbsystematischen, sondern auch
indirekten Beweises (im oben festgelegten Sinn) darstellt.
Im voraus zum Beweis präsentiert Swinburne das, was man eine Definition
des Begriffs »Gott« nennen kann, wobei diese Definition das artikuliert,
was in der Konklusion in der Form einer Behauptung erscheint. Seine »De-
finition« lautet:
»Die Aussage ›Gott existiert‹ soll hier als logisch gleichbedeutend gelten mit der
Aussage ›Es existiert eine Person, körperlos (d. h. ein Geist), ewig, vollkommen frei,
allmächtig, allwissend, vollkommen gut und Schöpfer aller Dinge‹. Ich gebrauche das
Wort ›Gott‹ als Name für die so beschriebene Person.«49

Diese »Definition« artikuliert ohne Zweifel eine weitverbreitete Vorstellung


von »Gott«, die zwar nicht spezifisch christlich genannt werden kann, die
aber mit einer christlichen Sicht, wie sie üblicherweise interpretiert wird,

49  R. Swinburne, Die Existenz Gottes, 1979/1987, 16–17.


1.3 Halbsystematische indirekte Ansätze 51

nicht inkompatibel ist. Eine solche Definition ist zwar in logisch-argumenta-


tiver Hinsicht sicher einwandfrei; ist sie aber in philosophischer inhaltlicher
Hinsicht unbedenklich? Aus der Sicht der in diesem Buch darzustellenden
Konzeption kann dies nicht gesagt werden; denn eine solche »Definition«
artikuliert einen ungeheuer komplexen und problematischen Begriffsgehalt,
der als ganzer jenes X konstituiert, dessen Existenz als die Konklusion eines
Beweises rational gesichert werden soll. Der Versuch, eine solche Aufgabe zu
bewältigen, kann nur um einen philosophisch viel zu hohen Preis unternom-
men werden: Die vielen Merkmale des in Frage stehenden X werden als völlig
ungeklärt oder als in keiner Weise ausreichend geklärt einfach hingenommen.
Diese Merkmale werden in der Definition nur aufgezählt, so dass deren Zu-
sammenhang überhaupt nicht geklärt wird. Der philosophische Versuch, eine
solche Klärung systematisch durchzuführen, würde darauf hinauslaufen, dass
eine Theorie des Ganzen der Wirklichkeit, in der Terminologie dieses Buches:
eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen, entwickelt werden müsste.
Damit aber wäre ein »Beweis« der Existenz eines solchen völlig unsystema-
tisch charakterisierten X hinfällig und sinnlos.
Es ist nun kein Zufall, dass Swinburne einen ganz bestimmten Weg be-
schreitet, um die Existenz des von ihm definierten großen X zu »beweisen«.
Das ist der Weg, den er im Titel des Schlusskapitels (Kapitel 14) seines
erwähnten Buches »das Abwägen der Wahrscheinlichkeiten« nennt und den
er knapp so beschreibt: »[V]erschiedene tatsächlich vorfindliche Phänomene
[sind] eher zu erwarten oder [sind] wahrscheinlicher […], wenn es einen Gott
gibt, als wenn es ihn nicht gibt.«50 Phänomene, die wir Swinburne zufolge
mit gutem Grund erwarten dürfen, falls es einen Gott gibt, sind Phänomene
wie die folgenden: die Existenz des Universums, seine Ordnung, die Existenz
von Tieren und Menschen, die Fähigkeiten des Menschen zur Gestaltung des
Universums, der Verlauf der Geschichte, die Tatsache religiöser Erfahrungen
u. a. Wir hätten weniger guten Grund, solche Phänomene zu erwarten, wenn
es keinen Gott gäbe.
Alle diese Phänomene bilden nach Swinburne das Beweismaterial. Sein
Bemühen gilt nun dem Versuch, die Frage zu beantworten: »Wie wahr-
scheinlich ist die theistische Hypothese auf der Basis des [dieses] gesamten
Beweismaterials?«51 Unter Rekurs auf das Bayessche Theorem versucht er
den induktiven Beweis zu führen, dass die Wahrscheinlichkeit der theis-
tischen Hypothese größer ist als die Wahrscheinlichkeit der gegenteiligen
Hypothese.
Ein solcher »Beweis« entspricht ohne Zweifel der Denkweise vieler Men-
schen, die sich von – in der Regel recht vage bleibenden – »Wahrscheinlich-

50 
Ebd, 384.
51  Ebd. 387.
52 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

keiten« leiten lassen. Aber der Wert eines solchen Beweises hängt davon ab,
was unter »Wahrscheinlichkeit« genau verstanden wird. Die diesbezügliche
philosophische Frage kann nicht unter Hinweis auf irgendwelche rein formal-
technischen Definitionen beantwortet werden. Letzten Endes kommt es auf
den Begriff der Intelligibilität der beschriebenen Phänomene an. Meistens
wird in diesem Zusammenhang eher der Begriff der (wissenschaftlichen) Er-
klärung bzw. Erklärbarkeit verwendet; aber dieser Begriff ist zu eng, was hier
nicht näher begründet und erläutert werden kann. Nun hat es sicher einen
guten Sinn, die Frage zu stellen, ob eine bestimmte Intelligibilität größer oder
kleiner ist als eine andere. Aber hinsichtlich der Gottesproblematik kommt
es nicht auf eine größere oder kleinere Intelligibilität von einzeln betrachteten
Phänomenen an, sondern auf den gesamtsystematischen Zusammenhang aller
Phänomene. Die Aufgabe wäre, diesen gesamtsystematischen Zusammenhang
zum Thema zu erheben, wobei der Gesichtspunkt bzw. der Begriff der Wahr-
scheinlichkeit hier kaum eine Relevanz hätte. Aber die Frage nach einem bzw.
dem Gesamtzusammenhang aller Phänomene ist nur dann richtig gestellt,
wenn sie als die Frage nach dem Sein als solchen und im Ganzen verstanden
und artikuliert wird. Erst im Rahmen der Beantwortung dieser Frage besteht
die Möglichkeit, die sogenannte Gottesfrage adäquat zu klären.

1.4 Gänzlich antisystematischer, antitheoretischer


und direkter Ansatz: L. Wittgenstein

[1] Dass auch Wittgenstein in diesem Kapitel eigens erwähnt wird, hat seinen
Grund nicht darin, dass er eine bedeutende Konzeption über Gott vorgelegt
hätte. Man findet zwar in seinen Schriften eine ganze Reihe von Aussagen
über Glauben und Religion und in diesem Kontext dann auch über Gott; man
wird aber kaum von einer irgendwie ausgeführten und schon gar nicht von
einer bedeutenden Konzeption über Gott sprechen können. Dass Wittgen-
stein in diesem Kapitel eigens behandelt wird, liegt vielmehr darin, dass seine
Philosophie – ganz besonders die Philosophie des »späten« oder »zweiten«
Wittgenstein – einen enormen Einfluss auf weite Teile des heutigen philoso-
phischen und theologischen Denkens ausübt, und zwar auch hinsichtlich der
Philosophie der Religion. Es geht dabei um eine völlig neue Orientierung in
diesem Bereich, die u. a. zur Konsequenz hat, dass die Gottesfrage im diame-
tralen Gegensatz zu der in diesem Buch vertretenen Konzeption angegangen
wird. Wittgensteins Position ist eine antisystematische und antitheoretische
Position, eine Form eines direkten Ansatzes, wie dieser Begriff in diesem Buch
oben erläutert wurde. Das zeigt sich besonders bei Autoren, die Wittgensteins
Einstellung zu dieser Problematik nicht nur völlig übernommen, sondern
auch zur Grundlage für ihre ganze Arbeit über diese Thematik gemacht
1.4 Gänzlich antisystematischer, antitheoretischer und direkter Ansatz 53

haben. Einer dieser Autoren wird im Anschluss an die kurze Darstellung der
Wittgensteinschen Position auch Erwähnung finden.
Wittgensteins Philosophie der Religion ist sehr umstritten, sowohl was
ihre Interpretation, als auch was ihre Bewertung angeht.52 Bekanntlich hat
der späte Wittgenstein seine besonders in seinem Frühwerk, dem Tractatus,
vertretenen Positionen revidiert. Zumindest aber, was jenen Bereich angeht,
den er in diesem Werk »das Mystische« nennt, nämlich den Bereich der Ethik,
der Ästhetik und ganz besonders der Religion, gibt es durchaus eine grund-
sätzliche Kontinuität zwischen Früh‑ und Spätwerk. Der zentrale Gedanke
im Tractatus hinsichtlich dieser Thematik ist, dass wir das Mystische nicht
»aussprechen« können, weder in Form einer Frage noch in Form einer Ant-
wort: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch
die Frage nicht aussprechen.«53 Und dann gilt nach Wittgenstein zusammen-
fassend, was er im letzten Satz des Tractatus so formuliert: »Wovon man nicht
sprechen kann, darüber muss man schweigen.«54 Der einzige Satz, der sich in
diesem Werk in relevanter Weise auf Gott bezieht, lautet: »Wie die Welt ist,
ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der
Welt.«55 Wie das zu verstehen ist, scheint Wittgenstein in einem anderen Satz
zu artikulieren, in dem er »das Mystische« ein wenig näher kennzeichnet:
»Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.«56
Ab den 1930er Jahren revidiert Wittgenstein grundlegend die wichtigs-
ten Thesen des Tractatus, indem er besonders den zentralen Gedanken des
Sprachspiels ins Spiel bringt, das nur Sinn hat, wenn man es als eine Lebens-
form konzipiert. Sprache überhaupt und jedes Element der Sprache haben
»Bedeutung« nur im Kontext eines Sprachspiels; nach der Bedeutung fragen,
heißt daher danach fragen, wie die Sprache im Ganzen sowohl als auch jeder
einzelne Ausdruck der Sprache gebraucht wird. Vor diesem Hintergrund sind
nun einige berühmte Formulierungen Wittgensteins über Religion zu verste-
hen. Religiöse Aussagen sind ihm zufolge Aussagen, die nur im Kontext einer
religiösen Lebensform und eines religiösen Sprachspiels verstehbar und inter-
pretierbar sind. Der Hauptpunkt dabei ist, dass religiöse Sätze, die religiöse
Überzeugungen ausdrücken, nicht deskriptiv sind, d. h. keine Sachverhalte
oder Tatsachen ausdrücken. Religiöse Sätze bzw. religiöse Überzeugungen
sind demnach weder wahr noch falsch, auch sind sie weder vernünftig noch
unvernünftig.

52  Die folgende Darstellung folgt im Wesentlichen der Interpretation von J. Hyman,

»Wittgensteinianism«, in: Ph. L. Quinn and Ch. Taliaferro (Eds.), A Companion to


Philosophy of Religion, 1997, 150–157.
53  L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.5.
54  Ebd. 7.
55  Ebd. 6.432.
56  Ebd. 6.44.
54 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Man kann Wittgensteins »Philosophie« der Religion, die mehr oder weniger
nur fragmentarisch in vielen meist isoliert formulierten Sätzen artikuliert
wird, mit Hyman [1998] auf zwei Punkte zurückführen. (Hyman spricht
von »zwei Lehrstücken  –  two doctrines«, aber diese Formulierung ist im
Falle Wittgensteins problematisch, da er die Auffassung vertritt, dass die
Philosophie keine »Thesen« aufstellt bzw. aufstellen sollte.) Der erste Punkt
betrifft die Semantik: Der Ausdruck religiöser Überzeugungen in Worten ist
nach Wittgenstein keine Aussage im eigentlichen Sinn (d. h. er drückt keine
Sachverhalte oder Tatsachen aus), keine Vorhersage oder Hypothese:
»Es kommt mir vor, als könne ein religiöser Glaube nur etwas wie das leidenschaftliche
Sich-entscheiden für ein Bezugssystem sein. Also obgleich es Glaube ist, doch eine Art
des Lebens, oder eine Art das Leben zu beurteilen. Ein leidenschaftliches Ergreifen
dieser Auffassung.«57

Allerdings ist Wittgensteins diesbezügliche Position nicht restlos klar. Das


zeigt sich beispielsweise an dem Text, der an diese Passage unmittelbar an-
schließt:
»Und die Instruktion in einem religiösen Glauben müsste also die Darstellung, Be-
schreibung jenes Bezugssystems sein und zugleich ein in’s-Gewissen-reden. Und diese
beiden müßten am Schluss bewirken, dass der Instruierte selber, aus eigenem, jenes Be-
zugssystem leidenschaftlich erfasst. Es wäre, als ließe mich jemand auf der einen Seite
meine hoffnungslose Lage sehen, auf der andern stellte er mir das Rettungswerkzeug
dar, bis ich, aus eigenem, oder doch jedenfalls nicht von dem Instruktor an der Hand
geführt, auf das zustürzte und es ergriffe.«

Was Wittgenstein hier »Instruktion« nennt, fasst er – zumindest teilweise – als


»die Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssystems« auf. Das scheint doch
darauf hinzuweisen, dass der Glaube auch eine deskriptive, ja, pace Wittgen-
stein, theoretische Komponente einschließt. Allerdings scheint der darzustel-
lende zweite Punkt eine solche deskriptiv-theoretische Dimension vollends
auszuschließen.
Der zweite Punkt ist erkenntnistheoretischer Natur: Religiöse Überzeu-
gungen  –  und konsequenterweise religiöse Aussagen  –  sind gegen Falsifi-
kation und Verifikation immun. Von welchem »Geist« Wittgensteins Kon-
zeption über Religion, Glauben und dgl. beseelt ist, kann man am besten den
folgenden Zitaten entnehmen:
»Das Christentum gründet sich nicht auf eine historische Wahrheit, sondern es gibt uns
eine (historische) Nachricht und sagt: jetzt glaube! Aber nicht, glaube diese Nachricht
mit dem Glauben, der zu einer geschichtlichen Nachricht gehört, – sondern: glaube,
durch dick und dünn und das kannst Du nur als Resultat eines Lebens. Hier hast Du
eine Nachricht, – verhalte Dich zu ihr nicht, wie zu einer anderen historischen Nach-

57  L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, 1984, 540–1.


1.4 Gänzlich antisystematischer, antitheoretischer und direkter Ansatz 55

richt! Laß sie eine ganz andere Stelle in Deinem Leben einnehmen. – Daran ist nichts
Paradoxes!
[…] So sonderbar es klingt: Die historischen Berichte der Evangelien könnten, im his-
torischen Sinn, erweislich falsch sein, und der Glaube verlöre doch nichts dadurch: aber
nicht, weil er sich etwa auf ›allgemeine Vernunftwahrheiten‹ bezöge!, sondern, weil der
historische Beweis (das historische Beweis-Spiel) den Glauben gar nichts angeht. Diese
Nachricht (die Evangelien) wird glaubend (d. h. liebend) vom Menschen ergriffen. Das
ist die Sicherheit dieses Für-wahr-haltens, nicht Anderes.«58

Den ersten Absatz in dieser Passage könnte man ganz traditionell verstehen:
Zum religiösen Glauben genügt nicht die Kenntnis einer historischen Wahr-
heit; diese ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung
für den Glauben. Der Glaube ist mehr als nur Feststellung und Annahme
einer historischen Wahrheit. Würde man nur den ersten Absatz zitieren, so
könnte man aus Wittgenstein beinahe einen echten traditionellen Theologen
machen. Aber die Aussagen im zweiten Absatz zerstören vollends diesen
Eindruck; denn sie artikulieren in aller Klarheit die Behauptung, dass die his-
torische Wahrheit nicht nur keine notwendige Bedingung, sondern überhaupt
keine Bedingung für den Glauben ist, und dies im denkbar stärksten Sinne:
Auch dann, wenn sie »erweislich« nicht bestünde (wenn also die historischen
Grundlagen des Christentums »erweislich« falsch wären), würde dies den
Glauben nicht tangieren. Man muss hier wohl die Frage stellen, ob Witt-
genstein sich der hinsichtlich eines sinnvollen Redens über den christlichen
Glauben als absurd zu bezeichnenden Konsequenz seiner Aussagen im Klaren
war. Das ist sehr befremdlich bei einem Philosophen, der die Klarheit in der
Philosophie so radikal eingefordert hat.59
Und schließlich das große apodiktische Verdikt: »Wenn das Christentum
die Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie darüber falsch.«60 Ferner heißt es
bei ihm: »Religiöser Glaube und Aberglaube sind ganz verschieden. Der eine
entspringt aus Furcht und ist eine Art falscher Wissenschaft. Der andre ist ein
Vertraun [sic!].«61
Man muss sich über solche Behauptungen sehr wundern. Hyman hat Witt-
gensteins Fehler und die dabei kaum unterdrückbare Verwunderung über
Wittgensteins sonderbare Aphorismen auf den Punkt gebracht:
»Da Evidenz und Argument nicht exklusive Eigenschaften der Wissenschaft sind,
kann Wittgenstein nicht im Recht sein, wenn er insistiert, dass wir uns schon in einer
Konfusion verfangen haben, wenn wir versuchen, die Aussage zu beweisen oder zu

58 
Ebd. 494–5.
59  Vgl. z. B.: »… die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber
das heißt nur, dass die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen.« (L.
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 133)
60  Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 568.
61  Ebd. 551.
56 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

stützen, dass Gott existiert, da wir Religion wie eine Wissenschaft behandeln würden.
Ich denke, es wäre töricht zu behaupten, dass Anselm [von Canterbury] und [Thomas
von] Aquin abergläubische Vorstellungen verbreitet haben oder dass Abfall [vom
christlichen Glauben] nicht auf Gründen basiert sein kann. Es ist sicher unmöglich,
die Religion gegen rationale Kritik gänzlich abzuschirmen.«62

Hymans Kritik besteht sicher zu Recht. Man muss sie aber weiter ausführen.
Man muss von der Feststellung ausgehen, dass Wittgenstein eine schlechter-
dings inakzeptable Vorstellung von Religion hat, indem er sie auf Vollzüge wie
Glaubensakt, Gebet, Liturgie u. ä. reduziert. Aber zumindest die christliche
Religion hat sich nie in dieser extrem engen Form verstanden. Christliche
Religion beinhaltete immer auch eine globale Sicht über das Ganze der Wirk-
lichkeit, eine Sicht, die sich in echt theoretischen Sätzen artikuliert. Es ist also
nicht nur so, wie Hyman ausführt, dass Religion sich gegen rationale Kritik
von außen nicht abschirmen darf. Es ist auch – und radikaler – so, dass die
christliche Religion sich nicht anders versteht und sich nicht anders verstehen
kann als so, dass sie den integralen Menschen, d. h. den Menschen hinsicht-
lich aller Bereiche und Faktoren seines Lebens, betrifft. Dazu gehört sein
Intelligibilitätspotential. Wittgensteins Auffassung des religiösen Menschen
als glaubenden Menschen ist nichts anderes als eine entstellende Karikatur des
echt gläubigen Menschen.

[2] D. Z. Phillips ist ein bekannter  –  vielleicht der bekannteste  –  Vertreter


einer von Wittgenstein inspirierten radikal nicht-kognitivistischen Philoso-
phie der Religion.63 Er radikalisiert Wittgensteins Gedanken, dass Religion,
ähnlich wie Wissenschaft und andere Formen der menschlichen Aktivität,
eine Lebensform und ein Sprachspiel ist; dies bedeutet Phillips zufolge, dass
sie ihre eigenen Kriterien für Bedeutung und Rationalität selbst etabliert,
die daher »von außen« überhaupt nicht kritisiert werden können. Phillips

62 
Hyman, a. a. O., 155.
63 
Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, festzustellen, welche Autoren zu den
radikalsten Nicht-Kognitivisten in diesem Bereich gehören. Man wird wohl mit gutem
Grund sagen können, dass manche »Philosophen« (und »Theologen«), die dieser Tendenz
folgen, bemüht sind, sich gegenseitig an Radikalität zu überbieten. Das ist beispiels-
weise der Fall mit dem Philosophen/Theologen Don Cupitt, der behauptet, dass er
eine Konzeption im Sinne »heutiger post-moderner und post-christlicher« Formen des
Verständnisses des Christentums vertritt, und der Sätze wie die folgenden schreibt: »Im
Postchristentum gibt es nicht mehr zwei Welten, sondern nur eine Welt – diese Welt, und
es gibt nicht mehr einen objektiven Gott (objective God).« (D. Cupitt, After All, 1994,
23) Eine solche völlig undifferenzierte Aussage ist typisch für diese »philosophische/theo-
logische« Literatur: Was wird unter dem Begriff »Welt« verstanden? Wie wird bestimmt,
dass »zwei Welten« voneinander unterschieden sind? Wie wird »diese Welt« definiert?
Eine solche Formulierung ist um so merkwürdiger, als derselbe Autor behauptet: »Realität
ist ein reiner Haufen (bunch) von disparaten und sich verändernden Interpretationen
geworden …« (in: J. Runzo (Ed.), Is God Real?, 1993, 46).
1.4 Gänzlich antisystematischer, antitheoretischer und direkter Ansatz 57

fordert eine totale Revision des Verhältnisses zwischen diskursiver, sowohl


philosophischer als auch wissenschaftlicher Forschung einerseits und Religion
andererseits, um dem Phänomen gerecht zu werden, dass Religion ein eigenes
Sprachspiel ist. Ein Sprachspiel kann nach Phillips nur erfasst werden, wenn
seine internen Praxisgestalten untersucht werden, und dies kann nur dadurch
gemacht werden, dass keine dem Sprachspiel externen Methoden der Be-
schreibung und der Bewertung wie Gründe, Beweise u. ä. angenommen und
angewandt werden. Da der religiöse Glaube ein eigenes, völlig selbständiges
Sprachspiel ist, braucht er keine »Beweise«.
Sobald man auf die Konsequenzen einer solchen Konzeption für den Men-
schen hinweist, entlarvt sich diese schnell als völlig unhaltbar. In der Tat, wäre
Religion eine so konzipierte Lebensform mit einem so konzipierten eigenen
Sprachspiel, so wäre der Mensch ein sonderbares Wesen: ein Wesen, bestehend
aus vielen »Lebensformen / Sprachspielen« der Art, dass jede Form bzw. jedes
Sprachspiel gegenüber den anderen Lebensformen /Sprachspielen vollkom-
men abgeschottet wäre. Man fragt sich, wie ein solches Wesen überhaupt eine
Einheit darstellen kann. Nun erfahren wir aber in jedem Augenblick unserer
Existenz, dass wir zwar ein vielfältiges Wesen sind, aber gleichzeitig, dass alle
»Seiten« oder, wenn man will, »Dimensionen« unseres Wesens immer schon
mit allen anderen absolut »kommunizieren« (es sei denn, wir alle würden
unter einer permanenten totalen Schizophrenie leiden, bei der bekanntlich der
Strukturzusammenhang der Persönlichkeit verloren geht).
Sich auf solche »Einsichten« stützend, gelangt Phillips zu großen Be-
hauptungen wie beispielsweise den folgenden: »Schon der Begriff eines Gottes
und einer jenseitigen Welt, deren Existenz sich aus der uns bekannten Welt
erschließen lassen soll, ist diskreditiert.«64 »Wer fragt, ob Gott existiere, stellt
keine theoretische Frage.«65 »›Es gibt einen Gott‹ ist, obwohl es indikativische
Rede zu sein scheint, ein Ausdrucks des Glaubens.«66 »Lob und Preis richten
sich nicht auf einen Bezugsgegenstand genannt Gott. Vielmehr ist der Aus-
druck solcher Lobpreisung das, was wir Gottes Verehrung nennen.«67
Es ist ausgerechnet ein Atheist, nämlich John L. Mackie, gewesen, der
solche »Einsichten« am treffendsten kritisiert hat. In Bezug auf das letzte Zitat
schreibt Mackie folgendes:
»Jetzt […] verstehen wir rein gar nichts mehr. Wie kann der Ausdruck von Lob und
Preis ohne Bezug auf ein wirkliches lobens‑ und preisenswertes Wesen einen Sinn
machen? Es ist richtig, Loben erfordert logisch nur die Gegebenheit eines Bewusst-
seinsgegenstands. Man kann nicht loben, ohne etwas zu loben; aber was man lobt,
könnte nur im eigenen Denken existieren. Es ist aber nicht widerspruchsfrei möglich,

64  D. Z. Phillips, God Without Explanation, 1976, 21.


65 
Ebd. 181.
66  Ebd. 180 f.
67  Ebd. 149.
58 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Lob und Preis eines Gottes zu verkünden, von dem man gleichzeitig zu wissen meint,
dass er wie die Gestalt eines Mythos oder einer Legende nur im eigenen Denken oder
in dem einer Gruppe von Menschen existiert.«68

Mackie kommentiert kritisch auch den Versuch Phillips’, sich gegen den
Vorwurf zu verteidigen, seine Ansichten seien »nur ein verschleierter Athe-
ismus«69. Dabei beruft sich Phillips auf »den begrifflichen Charakter seiner
Untersuchung«:
»Wenn es, per impossibile, einen Gegenstand gäbe, der diesen Bildern und Perspektiven
entspräche, so könnte es sich dabei doch nicht um den Gott der Religionen handeln. …
Was sich als existierend verifizieren lässt, kann niemals Gott sein.«70

Dazu Mackie:
»Hier aber liegt seiner begrifflichen Untersuchung ein irreführender Positivismus
zugrunde. Die Frage lautet nicht, ob sich Aussagen über einen Gott verifizieren
lassen oder nicht, sondern, ob sie wahr sind – einfach wahr sind, nicht ›wahr‹ in einer
besonderen Grammatik. […] Phillips hat keine guten Gründe für seine Behauptung
angeführt, dass ›der Gott der Religionen‹ kein möglicher Gegenstand von Wahrheit
und Falschheit ist. Folglich hat er auch nur entweder einen verschleierten Atheismus
oder einen unbegründeten Theismus – da er es ja ablehnt, dessen Tatsachenbehauptun-
gen rational abzusichern – oder aber ein unentschlossenes Hin‑ und Herschwanken
zwischen beiden anzubieten.«71

1.5 Ein charakteristisches Beispiel einer verfehlten Kritik:


Th. Nagels Einwände gegen Gott
als »letzten Sinn (last point)«

Es dürfte angebracht sein, in diesem Kapitel auch einen negativen philoso-


phischen Ansatz hinsichtlich der Gottesfrage kritisch zu analysieren. Im
Wesentlichen beinhaltet er einen der zentralsten Einwände gegen die An-
nahme eines Gottes, und zwar auf einfache, dafür aber außerordentlich klare
Weise formuliert. Der Ansatz bzw. Einwand kann als Ausdruck mancher
»Vorstellungen« angesehen werden, von denen sich viele Philosophen leiten
lassen, indem sie sie als stichhaltige Argumente gegen eine Bejahung Gottes
betrachten.72 Die Behandlung dieses Einwandes trägt in signifikanter Weise
zur Klärung der Thematik und der Zielsetzung des vorliegenden Buches bei.

J. L. Mackie, Das Wunder des Theismus, 1982/1985, 359.


68 
69 
Phillips, a. a. O., 149.
70  Ebd.
71  Mackie, a. a. O., 361–62.
72  Der folgende Text ist teilweise eine Zusammenfassung der Ausführungen über Th.

Nagel im Buch des Verfassers SuS, 461–468. Einige Passagen werden übernommen.
1.5 Ein charakteristisches Beispiel einer verfehlten Kritik 59

[1] Im letzten Kapitel seines Buches Was bedeutet das alles? (WBA, Kap. 10,
80–84) befasst sich Thomas Nagel mit dem Thema »Der Sinn des Lebens«.
Dabei geht er von folgender Einsicht aus:
»[Das Problem] liegt darin, dass es zwar innerhalb des Lebens Rechtfertigungen und
Erklärungen für die meisten unserer großen und kleinen Taten gibt, dass jedoch keine
dieser Erklärungen den Sinn [the point] unseres Lebens als ganzes angeben  –  des
Ganzen, von dem diese Aktivitäten, diese Erfolge und Fehlschläge, Bemühungen und
Enttäuschungen Teile sind.« (WBA 80–81)

Wenn man sich nur mit den Dingen »innerhalb des Lebens« zufrieden gibt,
lässt man jede weitergehende Frage unbeantwortet. Die wirklich große wei-
tergehende Frage ist nach Nagel die Frage: Hat das Leben, wenn man es in ein
größeres Ganzes eingebettet betrachtet, einen Sinn (a point) oder nicht? Dies-
bezüglich entwickelt Nagel eine Argumentation, mit der sich jeder Philosoph
auseinandersetzen muss, der in der einen oder anderen Weise Gott bejaht.
Nagels Ausgangspunkt ist die Aussage: »Wenn wir über die ganze Sache
nachdenken, so scheint sie überhaupt keinen Sinn zu haben.« (Ebd.) Sein
Argument für diese Vermutung ist eine Variante eines Arguments des Typs
regressus in infinitum:
»Wenn jemandes Leben als Teil von etwas Größerem einen Sinn hat, so kann man
immer wieder in Beziehung auf dieses Größere fragen, welchen Sinn es hat. Entweder
es gibt eine Antwort, die auf etwas noch Größeres verweist, oder es gibt sie nicht. Gibt
es sie, so stellt sich die Frage erneut. Gibt es sie nicht, so sind wir mit unserer Suche
nach einem Sinn am Ende und bei etwas angelangt, das keinen Sinn mehr hat. Wenn
eine solche Sinnlosigkeit [pointlessness] jedoch bei jenem Größeren akzeptiert werden
kann, von dem unser Leben einen Teil ausmacht, warum dann nicht bereits bei unserem
Leben selbst, als ein Ganzes betrachtet? Warum darf unser Leben eigentlich nicht
sinnlos [pointless] sein? Falls das hier nicht bereits akzeptiert werden kann, warum
kann es dann akzeptiert werden, wenn wir zum größeren Kontext aufsteigen? Warum
müssen wir dann nicht weiterfragen: ›Ja, und worin liegt nun der Sinn von alledem?‹,
(der Geschichte der Menschheit, der Abfolge von Generationen, oder was auch immer
es sei)?« (WBA 82).

Das Argument wird von Nagel in der Weise weiter ausgeführt, dass er es auf
den Fall der Annahme eines »letzten Sinns (last point)« ausdehnt. Aber dann
zeigt es sich nach Nagel, dass das Argument wieder eine Anwendung, eine
weitere Anwendung hat; in der Tat können wir weiter fragen: »›Und warum
das?‹ Hier soll man es mit etwas zu tun haben, dessen Sinn und Zweck in ihm
selbst liegt [something which is its own point], und das keinen Zweck außer
sich selbst haben kann. Doch aus eben diesem Grund hat es seine eigenen
Probleme.« (WBA 82–3)
Es überrascht, dass Nagel die Annahme eines letzten Sinns als eine An-
gelegenheit des »religiösen Sinn[s] des Lebens« (WBA 82) betrachtet. Das
aber muss als unzutreffend betrachtet werden, sind doch Fragestellung und
60 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Idee bezüglich eines Letzten, eines Absolutem, von den Anfängen der Phi-
losophie an immer eine zutiefst philosophische Thematik gewesen. Wie oben
(vgl. Abschnitt 1.3.2.1[2]) gezeigt wurde, stellt die vorschnelle Einführung
und Verwendung des für die Religion(en) charakteristischen Wortes ›Gott‹
in diesem Zusammenhang ein weitreichendes Missverständnis dar. Diese
Verfahrensweise ist um so bedenklicher, als sie geeignet ist, eine Reihe von
negativen psychologischen Konnotationen und Emotionen zu wecken, die in
der Regel jede rationale Diskussion behindern, ja oft unmöglich machen. Für
die nun folgende Diskussion der Position Nagels wird das Wort ›Gott‹ zwar
auch verwendet, aber nur im Anschluss an seine Formulierungen. In striktem
Gegensatz zu Nagel aber wird die Verwendung dieses Ausdrucks im Rahmen
der Diskussion über seine Position als eine rein philosophische Angelegenheit
betrachtet.
Nagel erhebt hauptsächlich zwei Einwände gegen die Annahme eines letz-
ten Sinns (den er »Gott« nennt). Der erste basiert auf der Annahme, dass die
Idee (eines) Gottes die Idee einer Entität zu sein »scheint [seems]« (WBA
83), die jedes andere Seiende erklären kann, ohne dass sie selbst durch etwas
anderes erklärt zu werden braucht. Nagel zufolge ist es kaum nachvollzieh-
bar [very hard to understand], es könne eine solche Entität geben. Dagegen
argumentiert er folgendermaßen:
»Stellen wir die Frage, ›Warum ist die Welt so beschaffen?‹, und erhalten eine religiöse
Antwort, was kann uns dann hindern, erneut zu fragen: ›Und warum ist das so?‹ Wel-
che Antwort könnte unsere Warum?-Fragen ein für alle mal zum Schweigen bringen?
Und wenn sie hier zu einem Halt kommen, warum konnten sie nicht bereits vorher
enden?« (WBA 83; modifizierte Übers.)

Der zweite Einwand nimmt Bezug auf einen Sachverhalt, von dem Nagel
meint, er werfe dasselbe Problem auf. Der Sachverhalt besteht darin, dass Gott
und seine Pläne oder Intentionen als die absolut letzte Erklärung für den Wert
und den Sinn unseres Lebens ausgegeben werden. Nagel präsentiert dagegen
folgendes Argument:
»Die Idee, dass unser Leben Gottes Plan erfüllt, soll ihm seinen Zweck geben – auf eine
Weise, die keinen weiteren Zweck mehr erfordert oder zulässt. Man soll ebensowenig
weiterfragen, ›Worin besteht der Zweck Gottes?‹, als man fragen soll, ›Worin liegt die
Erklärung Gottes?‹ […] Kann es wirklich etwas geben, das allem anderen dadurch
einen Sinn verleiht, dass es es umfasst, das aber seinerseits einen Zweck weder haben
kann noch haben muss? Etwas, dessen Zweck nicht von außen erfragt werden kann,
weil es hier kein Außen gibt?« (WBA 83)

Bevor zu Nagels Argumentation Stellung genommen wird, muss hier darauf


hingewiesen werden, dass der in diesem Buch (in Kapitel 3) entwickelte An-
satz in der Gottesfrage überhaupt nicht auf Warum?-Fragen basiert, so dass
er nicht eine Antwort auf Warum?-Fragen (welcher Art auch immer) ist. Dies
1.5 Ein charakteristisches Beispiel einer verfehlten Kritik 61

stellt aber nicht eine offene oder verkappte Schwäche des Ansatzes dar; noch
weniger bedeutet das, dass ein lästiges Problem eskamotiert wird. Ganz im
Gegenteil, der zu entwickelnde Ansatz macht deutlich, dass Warum?-Fragen,
auch – und man muss sogar sagen, gerade dann, – wenn sie sich als absolut
radikale Fragen verstehen und ausgeben, auf Voraussetzungen basieren, die
einfach ungeprüft angenommen werden. Warum?-Fragen sind überhaupt
nicht die wirklich radikalen Fragen. Die wirklich radikalen Fragen sind Fra-
gen der Intelligibilität, es sind Wie-Fragen, nicht Warum?-Fragen. Eine Wa-
rum?-Frage betrifft immer nur einen bestimmten Aspekt einer Sache (wie
immer man die Sache bezeichnen mag), nicht aber die Sache als ein Ganzes.
Diese Zusammenhänge sollen in Kapitel 3 (Abschnitt 3.3.3: Zum Begriff der
»Explikation«) dargestellt werden.

[2] Ungeachtet des Umstands, dass Nagels Argumente aus dem soeben ange-
gebenen Grund den in diesem Buch entwickelten Ansatz nicht treffen, soll
dennoch im folgenden darauf eingegangen werden. Es soll gezeigt werden,
dass Nagels Argumente, die allen seinen anderen Überlegungen zugrunde
liegen, auf Missverständnissen basieren.
[i] Das erste Argument hebt auf den Gedanken ab, dass »Warum«-Fragen
immer aufs neue und damit auch hinsichtlich jeden erreichten »Punktes« ent-
stehen, also auch hinsichtlich eines angeblich letzten Punktes, wie immer man
diesen Punkt nennen und auffassen mag; damit stelle sich der angeblich »letzte
Punkt« in Wahrheit als ein nicht-letzter Punkt heraus. Diese Argumentation,
die sehr oft vorgetragen wird, ergibt sich aus einer einfachen und sonderbaren
Verkennung und Nicht-Thematisierung der Logik, Semantik und Ontologie
der »Warum«-Fragen. Dem Argument liegt die naive Annahme zugrunde,
dass eine Warum?-Frage sozusagen im luftleeren Raum oder rein mecha-
nisch in jedem Kontext und hinsichtlich jeden Sachverhaltes aufgeworfen
bzw. wiederholt bzw. gestellt werden kann. Eine Warum?-Frage kann zwar
mechanisch überall und zu jeder Zeit gestellt oder wiederholt werden; bei
näherer Analyse aber erweist sich dieses rein mechanische Stellen von Fragen
als missbräuchlich und sinnlos, da es inkohärent ist. Es ist inkohärent, weil
es die Voraussetzungen, die die jeweilige Frage allererst möglich und sinnvoll
machen, einfach ignoriert oder überspringt. Das soll im folgenden kurz ge-
zeigt werden.
Eine Frage hat nur dann Sinn, wenn sie einen klaren Zielpunkt hat, sonst
wäre die Frage unbestimmt und daher nichtssagend. Ein solcher Zielpunkt
aber ist seinerseits nur möglich, wenn ein bestimmter Zusammenhang oder
Rahmen vorausgesetzt wird; denn die Frage hebt entscheidend und aus-
schließlich darauf ab, den Zusammenhang zwischen ihrem Zielpunkt (wie
immer man diesen nennen mag: Objekt, Sachverhalt usw.) und etwas Anderem
(als Grund) herauszufinden. Kurz: Nach etwas fragen, heißt, ein bestimmtes
62 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

Etwas zu etwas Anderem als Grund in Beziehung setzen. Eine »Frage«, die
dies nicht intendiert, wäre keine Frage, sondern ein richtungsloser, gegen-
standsloser und damit sinnloser Versuch, zu etwas völlig Unbestimmtem und
Leerem zu gelangen oder auch, in anderer Hinsicht, die Angabe eines völlig
bestimmungslosen und leeren X zu fordern. Eine echte, sinnvolle Frage nach
einem Etwas als der Versuch, einen Zusammenhang zwischen diesem Etwas
und einem anderen Etwas (als Grund) herauszufinden, setzt voraus, dass der
Fragende seine Forderung in einem Rahmen (genauer: in einem Theorie-
rahmen) erhebt, der einen solchen Zusammenhang explizit beinhaltet. Mit
anderen Worten: Die Frage basiert auf der Voraussetzung, dass ein (Theorie‑)
Rahmen, der mindestens aus einer Logik, einer Semantik und einer Ontologie
besteht, immer schon angenommen wurde.
Aus diesem fundamentalen Sachverhalt ergibt sich eine weitreichende Kon-
sequenz: Eine Warum?-Frage kann nicht beliebig fortgesetzt oder iteriert
werden, weil sie dann keinen Rahmen mehr hätte; das heißt, sie hätte keine
Richtung, also keinen Sinn. Sie wäre ein leeres Spiel mit Worten. Dieser
Fall ist ganz analog dem Fall der Suche nach einer Begründung bzw. Letzt-
begründung außerhalb oder unter Nicht-Beachtung des vorausgesetzten bzw.
vorauszusetzenden (Theorie‑)Rahmens. Wie in diesem Buch oft gezeigt wird,
setzt jeder sinnvolle Satz einen (Theorie‑)Rahmen voraus. Dazu gehören auch
Frage-Sätze.
Auf Nagels Frage: »Welche Antwort könnte unsere Warum?-Fragen ein für
alle Mal zum Schweigen bringen?« ist demnach zu antworten: Die Antwort,
die alle unseren Warum?-Fragen zu einem Endpunkt führt, ist die Antwort,
die alle Warum?-Fragen richtig versteht und als Fragen deutet, die einen Sinn
nur in einem vorausgesetzten Rahmen haben. Der Fall einer Warum?-Frage
bezüglich eines letzten Sinns (last point) ist dann so zu deuten: Wird ein X als
»letzter Sinn (point)« verstanden, so geht die Frage »Warum dieser letzte Sinn
(point)« absolut ins Leere, wenn sie als die Forderung verstanden wird, ein
weiteres Etwas als Grund anzugeben, und zwar so, dass der angeblich »letzte
Sinn (point)« einen Bezug zu jenem weiteren Etwas als Grund hätte und
damit einen Zusammenhang konstituierte. Aber dann müsste dieses »weitere
Etwas« ex hypothesi jenseits oder außerhalb des vorausgesetzten (Theorie‑)
Rahmens sein, da innerhalb des vorausgesetzten (Theorie‑)Rahmens kein
anderes oder weiteres Etwas, das als »letzter Sinn (point)« bestimmt werden
könnte, gegeben sein kann. Dies nämlich wäre ein begrifflicher und sachlicher
Widerspruch. Anders formuliert: Die Herausarbeitung eines letzten Sinns
(last point) auf der Basis eines akzeptierten (Theorie‑)Rahmens stoppt jedes
iterierende mechanische Stellen von Warum?-Fragen. Warum?-Fragen haben
nur innerhalb eines (Theorie‑)Rahmens Sinn. Werden alle Potentialitäten eines
(Theorie‑)Rahmens in Anspruch genommen, und zwar durch die Heraus-
arbeitung eines letzten Sinnes (last point), so kommt der Prozess des Stellens
1.5 Ein charakteristisches Beispiel einer verfehlten Kritik 63

von Warum?-Fragen in einer Weise zu einem Ende, dass er sich in sich selbst
zurückbiegt: Die Warum?-Frage bezüglich des letzten Sinnes erhält ihre Ant-
wort im letzten Sinn selbst. Wird die Warum?-Frage bezüglich des letzten
Sinnes (point) nicht so verstanden, so bricht sie an dieser Stelle ab, weil sie
keine Richtung mehr hat, sondern ins Leere geht.
Dieser Sachverhalt ist mit dem mathematischen Begriff eines Fixpunktes
vergleichbar, der äußerst vereinfachend so dargestellt werden kann (im Be-
reich der Ordinalzahlen): Sei F eine Operation, die Ordinalzahlen auf Or-
dinalzahlen abbildet. Fixpunkte von F sind Ordinalzahlen α mit F(α) = α. Die
Anwendung auf den hier behandelten philosophischen Fall ist jetzt klar: Der
Operation F entspreche der Begriff »Warum …?« oder »der Grund für …«;
α entspreche »der letzte Sinn (last point)«. Dann ist F(α) = α inhaltlich zu
deuten als: Der Grund von »der letzte Sinn (last point)« ist der letzte Sinn
(last point) selbst.
Es ist jedoch zu beachten, dass der »letzte Sinn (last point)« in einer
anderen Hinsicht durchaus in Frage gestellt werden kann, ja muss. Die hier
gemeinte andere Hinsicht besagt konkret, dass nicht mehr die Frage »Warum
der letzte Sinn (point)?« verstanden als »Und wo liegt der Grund für den
letzten Sinn (point) selbst?«, sondern die Frage: »Warum dieser letzte Sinn
(last point)?« zu stellen ist bzw. gestellt werden kann. Diese Frage hat dann
den Sinn: Ist der so bestimmte letzte Sinn wirklich der adäquate oder be-
stimmte letzte Sinn?
Diese Frage ist durchaus legitim, vorausgesetzt, sie wird richtig formuliert
und verstanden. Dann besagt sie genau folgendes: Sie problematisiert eine der
beiden folgenden Möglichkeiten: Entweder wird die Frage nach dem letzten
Sinn (point) innerhalb des vorausgesetzten (Theorie‑)Rahmens nicht richtig
gestellt und/oder geklärt, oder der vorausgesetzte (Theorie‑)Rahmen selbst
ist inadäquat und untauglich und muss daher durch einen anderen, einen adä-
quateren oder umfassenderen ersetzt werden. Diese zweite Möglichkeit ist
die in der Philosophie wirklich interessante; denn die entscheidenden Fragen
und die entscheidenden Divergenzen haben es in der Regel in fundamentaler
Hinsicht mit dem jeweils akzeptierten (Theorie‑)Rahmen zu tun.
Damit aber die Frage »Warum dieser letzte Sinn?« sich nicht wieder als
ein richtungsloses und damit leeres Spiel mit Worten erweist, muss in diesem
letzten Fall sichergestellt werden, dass ein solcher weiterer, umfassenderer
Theorierahmen wirklich vorausgesetzt und expliziert wird bzw. zumindest
expliziert werden kann. Aber dann wird, wie oben gezeigt, das mechanische
Weiterfragen nach einem Warum in diesem weiteren, umfassenderen Theorie-
rahmen zum Stillstand gelangen.
Wird aber dennoch auf sinnvolle Weise auch hier wieder die Frage gestellt:
»Und warum dieser (weitere) letzte Sinn (point)« (basierend auf dem weiteren
Theorierahmen), so ist diese Frage nur dann wirklich sinnvoll, wenn ein noch
64 Kapitel 1: Inadäquate Ansätze

weiterer, noch umfassenderer Theorierahmen anvisiert und vorausgesetzt wird


bzw. werden kann. Kann dieses Verfahren des Anvisierens oder Entdeckens
oder Entwerfens immer weiterer, immer umfassenderer Theorierahmen über-
haupt angehalten werden? Nur auf den ersten Blick scheint dies möglich zu
sein. In Wirklichkeit können wir Menschen nicht einfach ins Unendliche
immer weitere sinnvolle Theorierahmen »anvisieren/entdecken/entwerfen«;
dies ist einfach eine Illusion, eine »leere« Vorstellung bzw. Behauptung. Da-
gegen spricht nämlich ein einfaches Argument. Damit ein weiterer Theorie-
rahmen sinnvoll ist, muss er überhaupt in irgendeiner Weise angebbar oder
artikulierbar sein; ist diese Bedingung nicht erfüllt, so ist der Rekurs auf einen
»weiteren« Theorierahmen ein leeres Spiel mit einem Wort. Aber dann zeigt
sich sehr schnell, dass die rein mechanische Wiederholung der Warum?-Frage
bezüglich des letzten Sinns (last point) eben dies ist: ein leeres Spiel. Leere
Spiele auf der Ebene der Theorie und der Intelligibilität machen keinen Sinn.
Das alles hindert uns Menschen (Philosophen, Theoretiker) nicht daran,
offen gegenüber einem weiteren sinnvollen Theorierahmen zu sein, einen ent-
sprechenden Versuch zu unternehmen u. ä. Diese Aussage entspricht ganz und
gar den Grundthesen, die hinsichtlich des zentralen Gedankens des Theorie-
rahmens in der struktural-systematischen Philosophie vertreten werden. Hin-
zuzufügen ist, dass diese Aussage in keiner Weise einen inkonsistenten Relati-
vismus impliziert, wie das im Buch Struktur und Sein gezeigt wird.73 Auch ist
in diesem Kontext zu bedenken, dass der jeweils weitere, umfassendere Theo-
rierahmen sich als adäquater gegenüber den vorhergehenden erweisen muss.
Dabei ist der Zusammenhang der sich ablösenden Theorierahmen nicht so zu
denken, dass der jeweils neue Theorierahmen in jeder Hinsicht alles negieren
würde, was den bzw. die vorhergehenden Theorierahmen charakterisierte;
vielmehr artikuliert sich der Zusammenhang unter den Theorierahmen im Ge-
danken der jeweils größeren Adäquatheit. Diese impliziert eine durchgehende
grundsätzliche Gemeinsamkeit von zentralen Faktoren unter den Theorie-
rahmen. So sind alle »realen« und alle »möglichen« Theorierahmen durch
den großen grundsätzlichen Gedanken der Kohärenz strukturiert, wenn auch
dann unter »Kohärenz« nicht ganz genau dasselbe verstanden wird. Und dazu
gehört auch – und wesentlich – der Gesichtspunkt eines »letzten Faktors«, in
Nagels Terminologie: eines »last point«.
[ii] Auf der Basis der Ausführungen zum ersten Argument bzw. Einwand
ist das zweite von Nagel vorgetragene Argument oder der zweite Einwand
leicht zu klären bzw. zu entkräften. Der Einwand besagt, dass ein angenom-
mener letzter Sinn (point) oder Gott als angeblich letzte Erklärung für alles
und jedes selbst einer Erklärung bedarf, wodurch auf etwas anderes rekurriert
werden müsste. Die Antwort darauf liegt jetzt auf der Hand: Auch hier wird

73  Vgl. Abschnitt 3.3.4.3.


1.5 Ein charakteristisches Beispiel einer verfehlten Kritik 65

der zentrale Faktor »(Theorie‑)Rahmen« vollständig ignoriert. Der Operator


»ist eine Erklärung von …« hat methodisch genau denselben Status wie der
schon ausführlich untersuchte Operator »Warum ist …?« bzw. »der Grund
für … ist …«. Innerhalb des angenommenen bzw. vorausgesetzten Theorie-
rahmens erklärt sich der letzte Sinn (point) selbst; er ist ein, genauer: der große
systematische Fixpunkt schlechthin. Hinzuzufügen ist aber, dass der letzte
Sinn (point) sich selbst gerade dadurch erklärt, dass er alles und jedes erklärt:
Er ist die Kohärenz, die den Zusammenhang bzw. den Zusammenhalt von
allem und jedem konstituiert.
Nagels oben zitierte Formulierung: »Kann es wirklich etwas geben, das
allem anderen dadurch einen Sinn verleiht, dass es es umfasst, das aber seiner-
seits einen Zweck weder haben kann noch haben muss?« ist ambig. Wie
gezeigt wurde, ist es inkohärent zu sagen oder anzunehmen, dass der letzte
Sinn (point) in einem Theorierahmen T einer Erklärung von außerhalb des
angenommenen oder vorausgesetzten Theorierahmens T bedarf oder fähig
ist, wenn weiterhin am angenommenen oder vorausgesetzten Theorierahmen
T festgehalten wird.
Auf Nagels weitere Frage »[Kann es wirklich etwas geben,] dessen Zweck
nicht von außen erfragt werden kann, weil es hier kein Außen gibt?« lautet
jetzt die Antwort: Dies ist nicht nur möglich, sondern auch zwingend, voraus-
gesetzt, man versteht »außerhalb (outside)« in der Bedeutung: »außerhalb des
benutzten Theorierahmens«, und man deutet die Begründung »weil es hier
kein Außen gibt« so, dass sie bedeutet: »Es gibt kein Außerhalb des angenom-
menen/vorausgesetzten Theorierahmens«, solange man ausschließlich diesen
Theorierahmen akzeptiert, benutzt oder voraussetzt. Diese These wurde oben
ausführlich erläutert und begründet.
Kapitel 2

M. Heideggers »Seinsdenken«:
die Fehlentwicklung eines bedeutenden Ansatzes

Im Hinblick auf die Thematik dieses Buches und die in ihm zu vertretende
zentrale These ist das Denken M. Heideggers zweifellos von entscheidender
Bedeutung. Ein erheblicher Teil der heutigen philosophischen (und theo-
logischen) Diskussionen über Gott, insbesondere hinsichtlich des Verhält-
nisses zwischen Sein und Gott, sind in der einen oder anderen Weise von
seinem Denken beeinflusst. Schon im bisherigen Text wurde Heidegger öfter
genannt und in den weiteren Ausführungen wird er ebenfalls in der einen oder
anderen Weise immer, zumindest im Hintergrund, präsent sein. Im jetzigen
Kontext wird versucht, die entscheidenden Punkte seiner Konzeption kritisch
zu beleuchten.

2.1 Heideggers verfehlte und entstellende Interpretation


und Kritik der christlichen Seinsmetaphysik

An erster Stelle ist Heideggers mehrfach erwähnte (Fehl)Interpretation der


christlichen Metaphysik als Onto-theo-logie näher zu charakterisieren und
zu analysieren. Heidegger hat diese Interpretation auf ungewöhnlich, in
vielfacher Hinsicht einmalig stereotype und grundsätzlich repetitive Weise
ein Leben lang vorgetragen. Sie bildet für Heidegger die permanente und
bequeme Folie, auf der sein Versuch, das Sein auf radikale Weise neu zu
denken, als absolut originell und umwälzend erscheinen soll. Wie dieses Buch
erweisen wird, ist Heideggers Weg im buchstäblichen Sinne und in der von
ihm oft verwendeten Terminologie ein »Holzweg«1.
Heideggers Fehlinterpretation ist im Grunde außerordentlich einfach, ge-
nauer müsste man sagen: auf entstellende Weise simplifiziert. Im Anschluss an
seine eigenen Aussagen, insbesondere in seiner Abhandlung Die onto-theo-
logische Verfassung der Metaphysik (ID 35–75), kann man sie auf drei zentrale
Punkte reduzieren. Die beiden ersten Punkte werden von Heidegger explizit
als »Leitworte der Metaphysik« bezeichnet: die Unterscheidungen von Sein
und Seiendem und von Grund und Gegründetem (vgl. ebd. 69–70); der dritte
1  Vgl. sein Buch Holzwege, 1950.
68 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Punkt ist Heideggers pointierteste Charakterisierung des (in seinem Sinne zu


verstehenden) »metaphysischen« Gottes: Gott als Causa sui.

[1] Absolut zentral ist nach Heidegger die Unterscheidung von Sein und
Seiendem, aus der er den Vorwurf gegen die Metaphysik ableitet, sie habe das
Sein vergessen (»Seinsvergessenheit der Metaphysik«), indem sie das Sein nur
als das Sein-der-Seienden und als Seiendes, nicht aber das Sein selbst dachte.
Um die Tragweite und den genauen Sinn dieser Interpretation bzw. dieser Kri-
tik zu verstehen, muss man viele Punkte berücksichtigen, die erst im Verlauf
der kritischen Gesamtdarstellung seiner philosophischen Position expliziert
und analysiert werden können. Hier ist zunächst in einer ganz allgemeinen
Hinsicht die Unfundiertheit und Arbitrarität der Behauptungen Heideggers
über Sein und Seiendes im Zusammenhang seiner Fehlinterpretation der
Seinsmetaphysik Thomas von Aquins aufzuzeigen.
[i] Die in Abschnitt 1.3.2 unternommene Darstellung der Position des Tho-
mas von Aquin hinsichtlich der Seinsmetaphysik hat gezeigt, dass überhaupt
nicht gesagt werden kann, Thomas habe »das Sein vergessen«. Diese Pauschal-
behauptung wird den sorgfältig untersuchten Texten des Thomas in keiner
Weise gerecht. Es hat sich dort gezeigt, dass Thomas nicht nur die Unterschei-
dung zwischen esse und ens/entia kennt und artikuliert, sondern auch dass er
das esse ipsum explizit thematisiert, wenn auch hinzuzufügen ist, dass der volle
Sinn des esse (ipsum) nur als Hintergrund seines expliziten Denkens in seinen
Schriften erscheint. Ferner wurde gezeigt, dass die eigentliche Bezeichnung,
die Thomas für die »Nennung« Gottes benutzt, keineswegs »höchstes, erstes
usw. Seiendes« ist, sondern eben esse per se subsistens. Nur an relativ wenigen
Passagen seiner Werke wird Gott ens primum, supremum, maxime ens u. ä.
genannt, was aber aus eher sprachlich-stilistischen Gründen geschieht.
Man kann anhand vieler Einzelheiten deutlich zeigen, dass Thomas letzten
Endes alles andere als eine Onto-theo-logie vertreten hat. Auf eine solche
Einzelheit sei hier hingewiesen. Gewöhnlich können wir von jedem Seienden
sagen: »Seiendes X ist« (im Sinne von: existiert) oder: »Seiendes X ist dies
oder jenes …«. Können wir aber vom Sein selbst sagen, dass es »ist« (sowohl
überhaupt im Sinne von »existieren« als auch im Sinne von »… ist dies oder
jenes«)? In seiner Schrift »Zur Seinsfrage« schreibt Heidegger:
»Im Gesichtskreis des wissenschaftlichen Vorstellens, das nur das Seiende kennt, kann
sich […] dasjenige, was ganz und gar kein Seiendes ist (nämlich das Sein), nur als Nichts
darbieten. […] [W]ie steht es mit diesem ganz Anderen zu jeglichen Seienden, mit dem,
was nicht ein Seiendes ist? Dabei zeigt sich: das Dasein des Menschen ist in ›dieses‹
Nichts, in das ganz Andere zum Seienden, ›hineingehalten‹, […] Sein und Nichts gibt
es nicht nebeneinander. Eines verwendet sich für das Andere in einer Verwandtschaft,
deren Wesensfülle wir kaum noch bedacht haben. Wir bedenken sie auch nicht, solange
wir zu fragen unterlassen: […] Inwiefern gehört [… zum] ›Es gibt Sein und Nichts‹
2.1 Heideggers verfehlte Interpretation christlichen Seinsmetaphysik 69

solches, was sich dieser Gabe anheimgibt, indem es sie verwahrt? Leichthin sagen wir:
es gibt. Das Sein ›ist‹ so wenig wie das Nichts. Aber Es gibt beides.« (SeinsF 418–19;
Kursiv im vorletzten Satz nicht im Original)

Es sei hier davon abgesehen, Heideggers charakteristische rhetorische und


philosophisch schwerlich akzeptable sprachliche Wendungen ausführlich
kritisch zu analysieren. Nur auf einen Punkt sei hier hingewiesen. Seine
sprachlichen Virtuositäten bestehen hier darin, dem Leser durch eine außer-
ordentlich unpräzise und kaptiöse Weise zu suggerieren, es handele sich
um ein tiefes Problem. In Wirklichkeit stellt Heideggers Rede vom Nichts
hier (und in der Regel auch in allen anderen sehr häufigen Passagen seiner
Schriften, in denen er vom »Nichts« spricht) eine Konfusion dar: Hier ist vom
Nichts hinsichtlich des Seienden gesprochen, indem gesagt wird, das Sein sei
nicht (ein) Seiendes. Aus dieser einfachen und selbstverständlichen negativen
Aussage macht Heidegger eine große Rede über »Sein und Nichts«. Nun
kann man die Negation in der Formulierung »das Sein ist nicht (ein) Seiendes«
substantivieren, indem man aus dem »nicht« ein »Nichts« macht. Aber dann
muss als selbstverständlich gelten, dass dieses »Nichts« nicht das traditionell
sogenannte »absolute Nichts (nihilum absolutum)«, sondern das sogenannte
»relative Nichts (nihilum relativum)« meint. Das erste ist die Negation jedes
Seienden und des Seins schlechthin, wie immer man »Sein« näher verstehen
mag. Das »relative Nichts« hingegen ist die Negation eines bestimmten Seien-
den und, im Falle einer gänzlichen Generalisierung, aller Seienden; es ist aber
nicht die Negation des Seins (selbst).
Die ganze Passage wird in diesem Kontext nur im Hinblick auf das Ver-
ständnis des vorletzten Satzes angeführt. »Das Sein ›ist‹ so wenig wie das
Nichts.« Warum und wieso sagt Heidegger das? Das leuchtet hier nicht ein,
um so weniger als Heidegger bekanntlich den Ausdruck ›Nichts‹ verbalisiert,
indem er in seiner Abhandlung »Was ist Metaphysik?« (1929) erklärt: »Das
Nichts selbst nichtet«, wobei er dazu in einem Vermerk zur 5. Auflage 1949
hinzufügt: »[A]ls Nichten west, währt, gewährt das Nichts«. (WMet 114 und
Fußnote b) Warum bildet Heidegger nicht entsprechend eine verbalisierte
Form des Substantivs ›Sein‹? Aber Heidegger verwendet ein anderes Verb,
um für »Sein« das Analogon zu »Nichten« im Fall von »Nichts« zu bilden,
nämlich das Verb »wesen«. So heißt ständig bei ihm: »Das Sein west …«2 Was
besagt aber »wesen«? Offenkundig spielt Heidegger mit Worten. Weiter unten
wird die Frage untersucht, ob  –  und, wenn ja, wie  –  Heidegger hier einen
Schritt weiter gegangen ist. In jedem Fall ist es bezeichnend, dass Heidegger
sagt: »Das Sein ›ist‹ nicht so wenig wie das Nichts« (aber Heidegger sagt: »Als
Nichten west, währt, gewährt das Nichts«).

2  Vgl. z. B. Beiträge, 342: »Die Wahrheit ›ist‹ nie, sondern west. Denn sie ist Wahrheit

des Seyns, das ›nur‹ west.« Und sonst passim.


70 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Man vergleiche damit eine Passage bei Thomas von Aquin, in der es ganz
explizit heißt: »… wir können nicht sagen: ›das Sein selbst ist …‹ [… non
possumus dicere quod ipsum esse sit …]«. Aber dafür präsentiert Thomas
eine im Rahmen seiner aristotelisch orientierten ontologischen Begrifflichkeit
einleuchtenden Begründung, die andererseits zeigt, dass er die Thematik des
Seins selbst immer schon anvisiert (und eben nicht »vergessen«) hat. Zum Ver-
ständnis der Thomasischen Formulierung muss die ganze Passage angeführt
werden.
»Das Sein selbst hat nicht die Bedeutung von etwas [einem Subjekt], das ist, so wie das
Laufen nicht die Bedeutung von etwas hat, das läuft; so wie wir nicht sagen können,
dass das Laufen selbst läuft, so können wir nicht sagen, dass das Sein selbst ist. Aber
wie dasjenige, das ist, die Bedeutung von etwas hat, das das Sein trägt, so hat auch
dasjenige, das läuft, die Bedeutung von etwas, das das Laufen trägt. Folglich, so wie wir
von demjenigen, das läuft, oder vom Laufenden sagen können, dass es läuft, insofern
es das Laufen trägt [vollzieht] und am Laufen partizipiert, so können wir sagen, dass
das Seiende oder das, was ist, ist, insofern es am Seinsakt teilhat. Und das sagt Boetius:
Das Sein selbst ist noch nicht [nämlich etwas Konkretes], da es nicht sich selbst als
einem Träger das Sein zuschreibt. Aber das, was ist, indem es die Form des Seins, d. h.
den Seinsakt selbst, annimmt, ist und steht in sich, d. h. besteht in sich selbst. Seiend
im eigentlichen Sinne kommt nur der Substanz zu; nur diese besteht in sich selbst.«3

Es wird hier klar, dass die Ansätze der beiden Autoren in einer Hinsicht
gänzlich verschieden sind, insofern sie in verschiedenen »Theorierahmen«
philosophieren; in einer anderen  –  und im gegenwärtigen Kontext überaus
wichtigen – Hinsicht gleichen sie sich in bemerkenswerter Weise: Beide Auto-
ren wollen das Sein selbst – das ipsum esse denken. Dass Heidegger gegenüber
Thomas von Aquin von »Seinsvergessenheit« spricht, zeugt von Unkenntnis
des Thomasischen Denkens. Heidegger hatte offensichtlich ausschließlich die
scholastische Tradition der christlichen Metaphysik im Auge, nicht aber das
Denken des Thomas als ganzes und in seiner ganzen Tragweite.
[ii] Vollends bestätigt werden diese Interpretation und diese Beurteilung der
Behauptungen Heideggers durch die zwei größeren Texte, die er über Thomas
von Aquin verfasst hat. Im folgenden werden sie im Einzelnen analysiert,
wobei zu bemerken ist, dass sie auch schon weitgehend die Themen artikulie-
3  »Ipsum esse non significatur sicut ipsum subiectum essendi, sicut nec currere signifi-

catur sicut subiectum cursus: unde, sicut non possumus dicere quod ipsum currere currat,
ita non possumus dicere quod ipsum esse sit: sed sicut id ipsum quod est, significatur sicut
subiectum essendi, sic id quod currit significatur sicut subiectum currendi: et ideo sicut
possumus dicere de eo quod currit, sive de currente, quod currat, inquantum subiicitur
cursui et participat ipsum; ita possumus dicere quod ens, sive id quod est, sit, inquantum
participat actum essendi: et hoc est quod dicit [Boetius]: Ipsum esse nondum est, quia non
attribuitur sibi esse sicut subiecto essendi; sed id quod est, accepta forma essendi, scilicet
suscipiendo ipsum actum essendi, est, atque consistit, idest in seipso subsistit. Non enim
ens dicitur proprie et per se, nisi de substantia, cuius est subsistere.« (In librum Boetii De
Hebdomadibus expositio, lectio II, 396) (Kursiv im ersten Satz nicht im Original)
2.1 Heideggers verfehlte Interpretation christlichen Seinsmetaphysik 71

ren, die oben als zweiter und dritter Punkt der im vorliegenden Abschnitt 2.1
unternommenen Analyse von Heideggers verfehlter und entstellender Inter-
pretation und Kritik der christlichen Seinsmetaphysik angekündigt wurden.
Es empfiehlt sich aber, diese beiden Texte separat zu analysieren.
[a] Der erste Text ist ein Kapitel aus Heideggers erst 2006 posthum ver-
öffentlichter Vorlesung Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis
Kant, die er im Wintersemester 1926/27 in Marburg gehalten hat.4 Im ganzen
Text geht er kein einziges Mal auf das esse bei Thomas ein. In den spärlichen
Passagen, in denen in den Zitaten das Wort ›esse‹ vorkommt, handelt es sich
durchgehend um nicht einschlägige Textstellen. Die einzige Stelle, wo ohne
jeden Kommentar vom esse in Verbindung mit Gott die Rede ist, lautet: »Alles
aber, was das Wesen Gottes ausmacht, est suum proprium esse [sein eigenes
Sein].«5 Aber das hindert Heidegger nicht daran, apodiktische Aussagen über
»das Sein« bei Thomas von Aquin zu machen, wobei nie klar wird, ob er mit
»Sein« das »ens« oder das »esse« bei Thomas meint. In der »Zusammenfas-
sung« seiner dürftigen Darstellung der Thomasischen allgemeinen philoso-
phischen Position, insbesondere »bezüglich der Wahrheit, verum – ens«, stellt
er fest: »Die Frage nach dem Seinsbegriff ergab: Sein besagt Geschaffensein.
Sein abgelesen von der Seinsart der vorhandenen Dinge. Grundsätzlich nicht
hinausgekommen über Sein als Vorhandenheit.« Und ganz taxativ: »Das ent-
scheidende Resultat: Sein = Vorhandenheit.«6 Dieselbe Missinterpretation
findet sich auch in dem 1927 publizierten Hauptwerk Heideggers, Sein und
Zeit.7
Auf dieser Basis »(miss)interpretiert« er dann auch die große Idee der
Schöpfung, worauf im systematischen Kapitel 3 zurückzukommen sein wird
(vgl. 3.6.1 [2] [i]). Es ist hinzuzufügen, dass diese (Miss)Interpretation in der
einen oder anderen Form im ganzen Werk Heideggers zu finden ist.
Beachtet man, was in Abschnitt 1.3.2 über Thomas von Aquin und seine
esse-Konzeption (besonders in 1.3.2.2) ausgeführt wurde, so wird deutlich,
dass Heideggers Aussagen über die Thomasische Konzeption »des Seins« eine
kolossale Entstellung darstellen. Die Frage drängt sich auf, wie zu erklären ist,
dass sich ein Philosoph so weit und so radikal verirren kann.8 Dieser Frage
wird hier nicht nachgegangen.

4
  GA, Bd. 23. Der Text über Thomas von Aquin umfasst die Seiten 41–103.
5  Ebd. 87.
6  Ebd. 83–84.
7  Vgl. SZ § 6, S. 33; § 20, S. 123 ff.
8  Noch weniger nachvollziehbar ist die Tatsache, dass ein sich absolut radikal christlich

verstehender Autor wie J.-L. Marion dieser interpretatorischen Entstellung des esse und
des Gedankens der Schöpfung in der christlichen Metaphysik voll beipflichtet. Vgl. dazu
sein neuestes Buch Au lieu de soi. L’approche de Saint Augustin, 2008–09, 315 ff. Vgl. die
Kritik an Marions diesbezüglichen Aussagen unten in Kapitel 4, Abschnitte 4.2.1 [2]
und 4.2.4.4 [2].
72 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

[b] Der zweite Text umfasst die Paragraphen 12–15 der 1983 posthum ver-
öffentlichten Freiburger Vorlesung im Wintersemester 1929/30 »Die Grund-
begriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit«, wobei § 13 aus-
schließlich Thomas von Aquin gewidmet ist.9 Heidegger versucht hier, »die
inneren Unzuträglichkeiten des überlieferten Begriffs der Metaphysik« (§ 12)
aufzuzeigen, und zwar zunächst allgemein in Bezug auf die mittelalterliche
Metaphysik und dann speziell im Fall des Metaphysik-Begriffs des Thomas
von Aquin, den er als den speziellen »geschichtliche(n) Beleg für die drei
Momente [d. h. die drei Unzuträglichkeiten] des überlieferten Metaphysik-
Begriffs« (§ 13) interpretiert.
Die drei als Unzuträglichkeiten interpretierten Momente fasst er so zu-
sammen: »Wir behaupten bezüglich des überlieferten Begriffs der Metaphysik
ein dreifaches: 1. Er ist veräußerlicht; 2. Er ist in sich verworren; 3. Er ist um
das eigentliche Problem dessen, was er bezeichnen soll, unbekümmert.« (62)
Das erste Momente, die Veräußerlichung, besteht ihm zufolge darin, dass
»das Metaphysische (Gott, unsterbliche Seele) als ein vorhandenes, wenn
auch höheres Seiendes« (63) verstanden wird. Und er erläutert: »Wesentlich
ist, daß der Gegenstand der Ersten Philosophie (Metaphysik) jetzt ein be-
stimmtes, obzwar übersinnliches Seiendes ist. Bei unserer Frage nach dem
mittelalterlichen Verständnis der Metaphysik handelt es sich jetzt […] um
das Grundsätzliche, daß das Übersinnliche, Metaphysische ein Gebiet des
Seienden unter anderen ist.« (66)
Das zweite Moment, die Verworrenheit, charakterisiert Heidegger als »die
Zusammenkoppelung der beiden geschiedenen Arten des Hinausliegens
(μετά) des übersinnlichen Seienden und der unsinnlichen Seinscharaktere
des Seienden« (67). Damit bezieht sich Heidegger auf die von Aristoteles
formulierte Doppelfrage bei der Charakterisierung der πρώτη ϕιλοσοϕία: die
theologische Frage nach der Erkenntnis des Übersinnlichen und die Frage
nach dem ὂν ᾗ ὄν, nach dem Seienden als solchen. Dazu stellt er fest: »Diese
beiden grundverschiedenen Arten des Hinausliegens werden [in der mittel-
alterlichen Metaphysik] in einen Begriff zusammengefasst. Es wird gar nicht
gefragt, was hier das μετά heißt, sondern es wird unbestimmt gelassen.« (68)
Schließlich nennt er als drittes Moment »die Problemlosigkeit des überliefer-
ten Metaphysik-Begriffs« und versteht darunter den Umstand, dass angesichts
der beiden ersten Momente »es gar nicht dazu kommen [kann], daß die Meta-
physik in sich oder daß das μετά im eigentlichen Sinne zum Problem gemacht
wird« (68). Damit meint Heidegger, dass »das eigentliche Philosophieren als
das vollkommen freie Fragen des Menschen für das Mittelalter nicht möglich
ist«, weswegen »es im Grunde keine Philosophie des Mittelalters gibt« (68).

9  GA, Bd. 29/30, 2. Aufl. 1992, 61–87. Alle im Haupttext [ii] [b] dieses Buches angege-

benen Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Text Heideggers.


2.1 Heideggers verfehlte Interpretation christlichen Seinsmetaphysik 73

Die Aristotelische Metaphysik wird so gestaltet, dass eine »Dogmatik nicht


nur des Glaubens, sondern auch der Ersten Philosophie selbst entsteht« (68–
69). Dieser Charakterisierung fügt Heidegger hinzu: »Kant hat zum ersten
Mal wirklich zugegriffen und in einem Anlauf in einer bestimmten Richtung
versucht, die Metaphysik selbst zum Problem zu machen.« (69)
Thomas von Aquin wird von Heidegger als der Denker präsentiert und
interpretiert, in dem sich die drei von ihm genannten und charakterisierten
»Momente« bzw. »Unzuträglichkeiten« des traditionellen Metaphysik-Be-
griffs perfekt verwirklicht finden. Konkret geht er so vor, dass er einige Pas-
sagen aus der äußerst kurzen Einleitung (Prooemium) in den Thomasischen
Kommentar zur Aristotelischen Metaphysik kommentiert und interpretiert.10
Mit Sorgfalt fasst er die konzisen Aussagen des Thomas in diesem knappen
Text so zusammen:
»So sehen wir, wie Thomas versucht, in der einheitlichen Orientierung am Begriff
des maxime intelligibile [des zuhöchst oder maximal Intelligiblen oder Erkennbaren]
und in einer geschickten Interpretation einer dreifachen Bedeutung die überlieferten
Begriffe, die von der Metaphysik gelten, zusammenzubringen, so daß´die Erste Phi-
losophie über die ersten Ursachen (de primis causis), die Metaphysik über das Seiende
im allgemeinen (de ente) und die Theologie [die scientia divina, nicht: die scientia sacra]
über Gott (de Deo) handelt. Alles drei zusammen ist eine einheitliche Wissenschaft,
die scientia regulatrix.« (74)

Auf der Basis allein dieses Textes und seiner Interpretation behauptet Heideg-
ger anschließend zu Recht, dass
»die innere Problematik dieser scientia regulatrix in der Tat hier in keiner Weise er-
griffen oder auch nur im rohen gesehen [wird], sondern daß durch eine Systematik auf
ganz anderem Wege, wesentlich bestimmt durch den Glauben, diese drei Fragerichtun-
gen zusammengehalten werden. Anders gesprochen, der Begriff des Philosophierens
oder der Metaphysik in dieser mannigfaltigen Vieldeutigkeit ist nicht an der inneren
Problematik selbst orientiert, sondern hier sind disparate Bestimmungen des Hinüber-
gehens zusammengeschlossen.« (74)

Man wird wohl Heidegger in dieser Hinsicht beipflichten müssen. Vor allem
ist der Hinweis zutreffend, dass die Konzeption des Seienden als Seienden
(de ente ut ente), d. h. des Allgemeinsten (in einem bestimmten Sinne dieses
Wortes) und die Konzeption des obersten oder höchsten Seienden Kon-
zeptionen über »Bestimmungen [sind], die beide den Charakter des Höchsten,
Letzten haben, aber in ihrer inneren Struktur vollkommen verschieden sind,
so daß gar nicht der Versuch gemacht wird, sie in ihrer möglichen Einheit zu
begreifen« (77). Man muss hinzufügen, dass die einheitliche Wissenschaft, die
Thomas scientia regulatrix nennt,11 völlig unbestimmt bleibt.

10 
In XII Libros Metaphysicorum, Prooemium S. Thomae, 1–2.
11  Ebd. Prooemium, 1.
74 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Diese positive, zutreffende Seite der Heideggerschen Analyse und Kom-


mentierung des Thomasischen Textes hat aber eine Kehrseite  –  und die ist
das genaue Gegenteil der positiven Einschätzung: Die Kehrseite ist nämlich
die Tatsache, dass Heidegger die ganze Konzeption des Thomas mit der im
genannten Prooemium artikulierten kurzerhand und problemlos identifiziert.
Dies ist aber eine Fehlinterpretation größeren Ausmaßes. Heidegger ignoriert
vollständig den Charakter des Denkens und des Gesamtoeuvre des Thomas:
Thomas entwickelte ein »summarisches Denken«, ein Denken im Sinne einer
Summa, also eines doktrinären Ganzen, das nur sehr lose zusammengefügt ist.
In Kapitel 1 wurde dieser Charakter des Thomasischen Denkens beschrieben
und analysiert.
Hier genügt es, auf nur einen Punkt hinzuweisen. Heidegger bezieht sich
in seiner Interpretation des Prooemium kein einziges Mal auf das esse bei
Thomas. Auch in diesem Text des Thomas kommt das esse gar nicht vor. Aber
die Darstellung in Kapitel 1 hat gezeigt, dass es unmöglich ist, das Gesamt des
Thomasischen Denkens ohne eingehende Berücksichtigung seiner zentralen
Aussagen über das esse zu interpretieren. Es ist nur allzu deutlich, dass diese
zentralen Aussagen keinen Platz in jenem Rahmen haben, der im Prooemium
beschrieben und von Heidegger interpretiert wird. Aber Heidegger begeht
den schwerwiegenden Fehler, dass er das ganze Denken des Thomas aus-
schließlich auf der Basis der im Prooemium artikulierten Konzeption inter-
pretiert  –  und kritisiert. Das von ihm für seine Interpretation und Kritik
eingeführte Wort ist zum großen Slogan für das postmoderne Denken vor
allem von jüdischen und christlichen Autoren geworden: Metaphysik ist
Onto-theo-logie.

[2] Der zweite zu beachtende Gesichtspunkt bei Heideggers Fehlinterpreta-


tion der Metaphysik ist seine zentrale These:
»Die Metaphysik denkt das Sein des Seienden sowohl in der ergründenden Einheit des
Allgemeinsten, d. h. des überall Gleich-Gültigen [insofern ist sie ›Ontologik‹, LBP], als
auch in der begründenden Einheit der Allheit, d. h. des Höchsten über allem [insofern
ist sie ›Theologik‹, LBP]. So wird das Sein des Seienden als der gründende Grund
vorausgedacht. Daher ist alle Metaphysik im Grunde vom Grund aus das Gründen,
das vom Grund die Rechenschaft gibt, ihm Rede steht und ihn schließlich zur Rede
stellt.« (OThL 55)

Dies ist ein Topos, den Heidegger unzählige Male und in allen dankbaren
Varianten in seinen Schriften wiederholt. Das Denken des Grundes ist das
Wesen der Metaphysik: »… diese ist nicht nur Theo-Logik, sondern auch
Onto-Logik. Die Metaphysik ist vordem nicht nur das eine oder das andere
auch. Vielmehr ist die Metaphysik Theo-Logik, weil sie Onto-Logik ist. Sie
ist dieses, weil sie jenes ist.« (OThL 57)
Dazu sind hier zwei kritische Bemerkungen zu machen.
2.1 Heideggers verfehlte Interpretation christlichen Seinsmetaphysik 75

[i] Die erste betrifft den Umstand, dass Heidegger seine Auffassung über
die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik am klarsten und entschie-
densten in der schon zitierten Abhandlung mit demselben Titel entfaltet. In
dieser Schrift geht es um eine große Interpretation von Hegels Wissenschaft der
Logik. Das ist nicht zufällig, denn Heidegger sieht im Denken Hegels und ganz
besonders in der Hegelschen Logik den Höhepunkt und die Vollendung der
abendländischen Metaphysik: Diese ist Grund-Denken, Denken des Grundes,
wobei dieser Genitiv grundsätzlich als genitivus subiectivus zu verstehen ist,
und zwar in dem genaueren Sinne, dass es sich um ein Denken handelt, das sich
vom Gedanken oder Begriff oder Standpunkt des Grundes bestimmen lässt.
So heißt es unmissverständlich in der zitierten Abhandlung: »Wir verstehen
[…] den Namen ›Logik‹ in dem wesentlichen Sinne, der auch den von Hegel
gebrauchten Titel einschließt und ihn so erst erläutert, nämlich als den Namen
für dasjenige Denken, das überall das Seiende als solches im Ganzen vom Sein
als dem Grund (λόγος) her ergründet und begründet.« (OThL 56)
Heidegger interpretiert nun das ganze Denken Hegels, mit der Wissenschaft
der Logik als dessen Zentrum, als eine Denkform, die vom »Standpunkt des
Grundes« bestimmt ist.12
Heideggers Interpretationsfehler ist außerordentlich aufschlussreich. In
der genannten Schrift stellt er die Frage nach der »Maßgabe des Gesprächs
mit der Geschichte der Philosophie« und bemerkt: »Bei Spinoza findet Hegel
den vollendeten ›Standpunkt der Substanz‹, der jedoch nicht der höchste sein
kann, weil das Sein noch nicht ebensosehr und entschieden von Grund aus
als sich denkendes Denken gedacht ist.« (OThL 43) Heidegger zitiert hier
aus einem Passus in Hegels Wissenschaft der Logik.13 Ein Teil von Heideggers
Aussage (»Bei Spinoza findet Hegel den vollendeten ›Standpunkt der Sub-
stanz‹, der jedoch nicht der höchste sein kann«) ist grundsätzlich richtig; aber
der andere Teil (»… weil das Sein noch nicht ebensosehr und entschieden von
Grund aus als sich denkendes Denken gedacht ist«) ist gänzlich inkorrekt,
was leicht zu zeigen ist.
Auch die oberflächlichste Interpretation des großen Hegelschen Werkes
kann nicht einen dieses Werk bestimmenden zentralen Faktor übersehen,
nämlich: Der (im Sinne Hegels) logische Status einer »Denkbestimmung (oder
Kategorie)« bemisst sich nach der Stelle, die sie in der Gesamtdarstellung
(des Prozesses) des Logischen einnimmt und innehat. Je näher beim Anfang

12  Vgl. dazu u. a. das Buch: L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur. Unter-

suchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels, 1981, 109–110
(Fußn. 190) und 244–245 (Fußn. 354).
13  G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Band II, 216. Der Passus lautet: »Es ist

schon früher im zweiten Buch der objektiven Logik [in der hier zitierten Ausgabe S. 164
Anm.] erinnert worden, daß die Philosophie, welche sich auf den Standpunkt der Substanz
stellt und darauf stehen bleibt, das System des Spinoza ist.«
76 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

eine Denkbestimmung »situiert« ist, desto »ärmer« ist ihr logischer Status;
und je näher bei der absoluten Idee sie liegt, desto höher und adäquater ist
ihr logischer Status. Jede einer anderen folgende Denkbestimmung hat einen
»reicheren« logischen Status (nach Hegel: eine höhere Wahrheit) als die vor-
hergehende, aus der sie dialektisch abgeleitet wird. Nun hat die Kategorie der
Substanz ihre Stelle im zweiten Buch der Hegelschen Logik, in welchem die
Reflexionsbestimmungen dargelegt sind. Diese Denkbestimmung wird daher
von allen Denkbestimmungen »aufgehoben«, die ihr sowohl im Rahmen des
zweiten Buches als auch besonders im Rahmen des ganzen dritten Buches der
Logik nachfolgen.
Von der Denkbestimmung des Grundes gilt, dass sie sogar eine frühere
Stelle als die Denkbestimmung »Substanz« im selben Buch »belegt«. Wenn
nun Heidegger – richtig – feststellt, dass der »Standpunkt der Substanz« nicht
»der höchste« ist, so gilt das a fortiori vom »Standpunkt des Grundes«. Aber
Heidegger ignoriert diesen Punkt und damit bemerkt er den Widersinn nicht,
dem er erliegt, wenn er die ganze Wissenschaft der Logik, ja das ganze Denken
Hegels von einem (Stand)Punkt aus interpretiert, der im Werk selbst als ein
(Stand)Punkt mit »niedrigem« oder genauer: mit »mittlerem« logischem Status
dargestellt wird. Gegen diese Interpretation könnte man einwenden, dass die
Klausel »von Grund aus« im oben angeführten Zitat aus Heideggers Schrift
Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik (»… weil das Sein noch
nicht ebensosehr und entschieden von Grund aus als sich denkendes Denken
gedacht ist«) unrichtig interpretiert wurde: »Von Grund aus« bedeute doch nur
»ganz und gar, völlig neu, nicht nur teilweise u. ä.«, so dass damit ein nennens-
werter Bezug auf die logische »Denkbestimmung« »Grund« nicht gemeint
sei; außerdem sei zu beachten, dass Heidegger das »sich denkende Denken«
richtig als den höchsten Standpunkt der Hegelschen Logik bezeichne. Doch
lässt sich dieser Einwand durch drei Hinweise leicht entkräften. Erstens ist es
kaum denkbar, dass ein Philosoph wie Heidegger, der beim Gebrauch zen-
traler Ausdrücke/Begriffe der Philosophie äußerste Sorgfalt verwandte, die
Formulierung ›von Grund aus‹ im gewöhnlichen, ja banalen Sinn verstand.
Zweitens ist Heideggers explizite Erwähnung des »sich denkenden Denkens«
in diesem Kontext zwar richtig, lässt aber die Frage völlig unbeantwortet, von
woher, genauer: von welcher (logischen) »Denkbestimmung« her er das »sich
denkende Denken« interpretiert. Die Antwort darauf gibt der dritte Hin-
weis: Mehrere andere Passagen aus der zitierten Schrift sagen explizit, dass
der höchste Standpunkt, von welchem her Hegels Logik Heidegger zufolge zu
interpretieren ist, der Grund ist. Außer der schon oben zitierten Stelle, lassen
sich mehrere andere Passagen anführen. So schreibt er beispielsweise in Bezug
auf Hegels Logik: »Die Sache des Denkens ist das Seiende als solches, d.h. das
Sein. Dieses zeigt sich in der Wesensart des Grundes. Demgemäß [ist] die Sache
des Denkens […] das Sein als der Grund …« (OThL 57)
2.1 Heideggers verfehlte Interpretation christlichen Seinsmetaphysik 77

Wie wichtig dieser Punkt ist, lässt sich kurz zeigen, indem man ein Zitat
aus einer Rezension Hegels in seiner Berliner Zeit über ein Buch, das seine
Philosophie behandelte, anführt. Es heißt dort:
»Der Verf. lässt sich auf seine Weise mit dem Begriff des Substantialitätsverhältnisses
ein, wie dasselbe in der Logik, und zwar in deren zweiten Teil, dem Wesen, abge-
handelt ist; im dritten Teile der Logik, welcher von dem Begriffe und der Idee handelt,
sind wahrere Formen an die Stelle der Kategorien von Substanz, Kausalität, Wechsel-
wirkung, die daselbst kein Gelten mehr haben, getreten.«14

Für die Kategorie des Grundes, die in der Logik des Wesens dargestellt
wird, gilt es a fortiori: in der Wissenschaft der Logik sind wahrere Formen/
Kategorien an die Stelle der Kategorie des Grundes getreten, mit der Kon-
sequenz, dass die Kategorie des Grundes daselbst kein Gelten mehr hat. Noch
mehr gilt a fortiori, dass nicht ausgerechnet die ganze Logik Hegels und noch
weniger sein ganzes Denken vom »Standpunkt (der Kategorie) des Grundes«
aus verstanden und interpretiert werden kann. Aber eben dies tut Heidegger
mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit. Diese
Interpretation geht total und radikal daneben.
[ii] Die zweite kritische Bemerkung nimmt Bezug auf die Tatsache, dass
Heidegger den berühmten Satz vom Grund in einer Weise reinterpretiert,
die die Frage aufwirft, ob sie sich mit seiner Interpretation und Kritik der
Metaphysik als des Denkens-des-Grundes in Einklang bringen lässt. Am
Ende seiner langen Ausführungen in seinem Buch Der Satz vom Grund15
vollzieht Heidegger eine bemerkenswerte »Wende«. Im folgenden wird nur
auf den am Ende des Buches abgedruckten Vortrag »Der Satz vom Grund«
Bezug genommen.16 Die »allbekannte Verlautbarung« des Satzes lautet nach
Heidegger: »Nichts ist ohne Grund« (204). Dabei wird nach Heidegger nicht
auf das Wörtchen ›ist‹ geachtet. Tut man das aber, dann wird ihm zufolge klar,
dass der Grundsatz sagt: Jedes Seiende hat einen Grund. Das »ist«, erläutert
Heidegger, ist es, das »den alles stimmenden Ton angibt«.Achtet man darauf,
dann »tönt der Satz plötzlich anders. Nicht mehr: Nichts ist ohne Grund,
sondern: Nichts ist ohne Grund.« Damit sei der Bezug auf das Sein gegeben:
»Während jetzt [d. h. beim »Verstehen« des Satzes vom Grund mit der Betonung:
›Nichts ist ohne Grund‹] das ›ist‹, will sagen: ›das Sein‹, den Ton im Satz angibt, kommt
mit ihm zugleich der Grund in die Betonung: Nichts ist ohne Grund. Sein und Grund
klingen jetzt in einem Einklang. In diesem Klang erklingt, daß Sein und Grund in
Einem zusammengehören. Der nunmehr anders klingende Satz vom Grund sagt jetzt:
Zum Sein gehört der Grund.« (104)

14  G. W. F. Hegel, Berliner Schriften 1818–1831, 351 (Kursiv nicht im Original).
15 
Pfullingen: Neske, 1957.
16  Der Satz vom Grund, 1957, 189–211. Die im Haupttext [ii] angeführten Zitate mit

den beigefügten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Vortragstext.


78 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Heidegger geht noch weiter, indem er formuliert: »Der Satz vom Grund, als
Grundsatz vom zuzustellenden zureichenden Grund verstanden, ist somit
nur deshalb wahr, weil in ihm ein Wort vom Sein spricht, das sagt: Sein
und Grund: das Selbe.« (205) Es ist leicht (und weitgehend üblich), solche
Ausführungen als reine metaphorische Sprachspiele abzutun. In der Tat,
Heideggers Sprache ist nicht gerade eine Sprache, die strengen Kriterien
der Klarheit und Präzision genügt. Heidegger ist sich aber dieses Umstands
bewusst, macht aber buchstäblich aus der Not eine Tugend: Er will eine
»exakte« Sprache gar nicht sprechen, weil er sie als »der Sache des Denkens«
nicht angemessen betrachtet. So sonderbar Heideggers Ausführungen auch
sein mögen (von »Argumenten« wird man kaum sprechen können), es lässt
sich doch zeigen, dass »dahinter« eine bestimmte beachtenswerte »Intuition«
steckt. Im systematischen Kapitel 3 dieses Buches wird versucht, die Struktur
und die Implikationen des (d. h. jeden) theoretischen Satzes herauszuarbeiten.
In jenem Kontext wird es möglich (und zwingend) sein, die hier genannte
»Intuition« Heideggers in einer bestimmten Weise zu explizieren (vgl. 3.2.1.1).
Heidegger fährt fort, indem er die Fragen stellt: Was heißt Sein? Was heißt
Grund? Und fügt hinzu: »Darauf gibt es jetzt nur die folgende Antwort:
Grund heißt Sein. Sein heißt Grund – Grund heißt Sein: hier dreht sich alles
im Kreise.« (205). Den Schlüssel, um diese Antwort aufzuschließen, fehlt uns,
betont Heidegger. Im Vortrag wolle er nur eine »Vortür auf[zu]schließen«
(206). Im Anschluss an Zitate aus Schriften Goethes versucht er nun, den Sinn
von »Warum« herauszuarbeiten und kommt zum Ergebnis:
»Das Wort vom Sein als Grund sagt: Das Sein – selber der Grund – bleibt ohne Grund,
d. h. jetzt ohne Warum. Wenn wir versuchen, das Sein als Grund zu denken, dann
müssen wir den Schritt zurück machen, zurück aus der Frage: Warum? Woran sollen
wir uns aber dann noch halten?« (206)
Das ist eine unnötigerweise »dramatische« Art, einen einfachen Sachverhalt
zu artikulieren. Um welchen Sachverhalt es sich handelt, wurde schon oben
in Abschnitt 1.5 über Th. Nagel thematisiert; außerdem wird er in systemati-
scher Hinsicht in Kapitel 3 (vgl. 3.1) ausführlich zu behandeln sein.
Vom »Warum« geht nun Heidegger zum »Weil« über. »Das Weil weist in
das Wesen des Grundes. Ist jedoch das Wort vom Sein als dem Grund ein
wahres Wort, dann weist das Weil zugleich in das Wesen des Seins.« (207) Hei-
degger gibt die Bedeutung von Grund so an: »Grund ist das, worauf alles ruht,
was für alles Seiende schon als das Tragende vorliegt.« In charakteristischer
Manier greift er auf die Etymologie und die Geschichte des Wortes ›Weil‹ zu-
rück, um dessen Sinn zu eruieren: ›Weil‹ sei das verkürzte Wort für ›dieweilen‹
und dieses meine: so lange als es weilt, während ›weilen‹ bedeute: »… währen,
still bleiben, an sich und innehalten, nämlich in der Ruhe …« (207). Und
aus derselben Perspektive fügt er hinzu: »Weilen, währen, immerwähren ist
jedoch der alte Sinn des Wortes ›sein‹.« (207–08)
2.1 Heideggers verfehlte Interpretation christlichen Seinsmetaphysik 79

Diese ausführliche Darstellung der Überlegungen Heideggers über den Satz


vom Grund hatten den Zweck, seine Kritik an der Metaphysik als der Phi-
losophie, die unter der Bestimmung des Grundes denkt, zu beleuchten. Was
ergibt sich nun daraus? Wenn Heidegger Grund nicht ablehnt, sondern nur
umdeutet, kann er noch den Vorwurf, die Metaphysik sei ein Denken-des-
Grundes, aufrechterhalten? Im genannten Vortrag findet sich eine Antwort
Heideggers auf diese Frage, und zwar in einem kleinen Text, der in eckigen
Klammern abgedruckt ist, was bedeutet, dass er nicht vorgetragen wurde. Die
Antwort lautet:
»Weil […] Leibniz und alle Metaphysik beim Satz vom Grund als einem Grundsatz
über das Seiende stehenbleiben, verlangt das metaphysische Denken dem Grundsatz
gemäß einen ersten Grund für das Sein: in einem Seienden, und zwar dem Seiendsten.«
(205)
Dieses Zitat macht vollends deutlich, wie die Zusammenhänge in Heideggers
Position liegen. Der fundamentale Punkt ist die oben in der Darstellung des
Denkens des Thomas von Aquin als nicht nur unbegründet, sondern direkt
falsch kritisierte These Heideggers, »die Metaphysik« (und damit auch das
Thomasische Denken) habe »das Sein vergessen«, es habe nur die Seienden
betrachtet. Die unwiderlegbare Tatsache, dass Thomas von Aquin das ipsum
esse explizit einführt, wird von Heidegger komplett ignoriert. Hier zeigt
sich, wohin diese Ignoranz führt: in diesem Fall, zur Behauptung, dass alle
Metaphysik »beim Satz vom Grund als einem Grundsatz über das Seiende
stehenbleibt«. Diese Behauptung ist direkt falsch. Wenn Thomas zum esse
per se subsistens gelangt (vor allem im dritten Weg oder Beweis), dann zeigt
das, dass er eben nicht »beim Satz vom Grund als einem Grundsatz über das
Seiende stehenbleibt«.

[3] Der dritte Punkt ist Heideggers wichtigste und eigentliche Charakterisie-
rung des »metaphysischen« Gottes. Niemand nach Kenntnis des Autors ist in
der Fehlinterpretation der großen christlichen metaphysischen Tradition so
weit gegangen wie Heidegger. In seiner Abhandlung Die onto-theo-logische
Verfassung der Metaphysik schreibt er:
»[…] die Ursache als die Causa sui. So lautet der sachgerechte Name für den Gott in der
Philosophie. Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern.
Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor
diesem Gott musizieren und tanzen. – Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den
Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muss, dem göttlichen Gott
vielleicht näher. Dies sagt hier nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-Theo-Logik
wahrhaben möchte.« (OThL 70–71)
Zu bemerken ist zunächst, dass Heidegger »Philosophie« einfach mit »Meta-
physik« identifiziert, wie die ganze Abhandlung zeigt. Daher bedeutet »der
Gott in der Philosophie« nichts anderes als »der metaphysische Gott oder
80 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

der Gott (in) der Metaphysik«. Zu dieser Passage wäre immens viel zu sagen.
Weiter unten und in mehreren Kontexten im ganzen Buch wird immer wieder
auf Heideggers Fehlinterpretation der (christlichen) Metaphysik als Onto-
Theo-Logie und deren Wirkungsgeschichte kritisch Bezug genommen.
Hier ist dazu nur eine Bemerkung im Zusammenhang mit der Weise zu
machen, wie Thomas von Aquin die Konklusion der fünf Wege/Beweise
jeweils mit »Gott« identifiziert. Auf naive Weise unterstellt Heidegger, dass
der »Gott der Metaphysik« vor dem Hintergrund der fünf Wege/Beweise
zusammenfassend als Causa sui zu deuten ist, ohne ein Wort über die Selbst-
widersprüchlichkeit eines solchen Terminus zu verlieren. Aber er geht noch
viel weiter: Er unterstellt offensichtlich, die »Metaphysiker« seien der Auf-
fassung (oder hätten konsequenterweise der Auffassung sein müssen), dass
ein solcher »Gott« als Causa sui (d. h. also: als erster Beweger, Erste Ursache,
Notwendiges Seiendes …) eine »Instanz« sei, zu welcher der Mensch beten
und welcher er opfern kann (und soll), vor welcher er aus Scheu ins Knie fallen
und musizieren und tanzen kann (und soll) … Die Absurdität einer solchen
Auffassung ist in Wahrheit nichts anderes als ein Produkt der Heideggerschen
Fehlinterpretation. Heidegger übersieht komplett den methodischen und sys-
tematischen Stellenwert von »Argumenten« wie den fünf Wegen/Beweisen,
wie in Kapitel 1 gezeigt wurde.

2.2 Heideggers vier Ansätze zur


»Wiederholung« der »Seinsfrage«

Wie denkt nun Heidegger das Sein, dessen Thematisierung er bei der Meta-
physik zu Unrecht vermisst? Das ist die alles entscheidende Frage. Man kann
in seinem Denken nicht weniger als vier Ansätze finden, die er entwickelt, um
die große Thematik des Seins philosophisch zu behandeln. Sie werden hier
kurz charakterisiert, wobei zu bemerken ist, dass sich die Darstellung nicht
von chronologischen Gesichtspunkten leiten lässt; vielmehr orientiert sie sich
an Gesichtspunkten, die die Thematik des vorliegenden Buches direkt betref-
fen. Die zwei ersten Ansätze sind eher als philosophiehistorisch einzustufen,
während die beiden letzten einen »quasi-systematischen« Charakter haben.

[1] Der erste philosophiegeschichtlich orientierte Ansatz besteht in einer


Gesamtinterpretation der abendländischen Philosophie, die schlichtweg mit
Metaphysik identifiziert wird. Man muss hier also (wieder) an seine Fehl-
interpretation der Metaphysik als Onto-theo-logie anknüpfen. Heidegger
geht von jener Differenz aus, die zwischen Sein und Seiendem obwaltet, wenn
im Sinne der Metaphysik, wie Heidegger sie versteht, vom Sein des Seienden
oder vom Seienden des Seins die Rede ist. »Die onto-theo-logische Verfassung
2.2 Heideggers vier Ansätze zur »Wiederholung« der »Seinsfrage« 81

der Metaphysik entstammt dem Walten der Differenz, die Sein als Grund
und Seiendes als gegründet-begründendes aus‑ und auseinanderhält, welches
Aushalten der Austrag vollbringt.« (OThL 69) Sein präzisierter Einwand
lautet dann: Die Metaphysik setzt diese Differenz voraus, bedenkt sie aber
nicht. Nun versucht er, in positiver Weise, eben dies zu tun: diese Differenz
zu (be)denken, indem er eine fundamentale Feststellung trifft, die er in der
Form einer direkten Frage artikuliert: »Was haltet ihr von der Differenz, wenn
sowohl das Sein als auch das Seiende je auf ihre Weise aus der Differenz her
erscheinen?« (OThL 61) »Aus der Differenz her erscheinen«: das ist Heideg-
gers Voraussetzung und gleichzeitig der entscheidende Schritt. Damit visiert
er eine Dimension oder einen Raum an, die / der ursprünglicher ist als das Sein
und das Seiende der Metaphysik (wie er diese interpretiert), und zwar so, dass
(metaphysisches) Sein und Seiendes als die Differenten der Heideggerschen
Differenz erscheinen. Dieses »aus der Differenz [kommen]« nennt er den
Austrag beider Differenten (vgl. dazu ebd. 63, 68). Es ist diese(r) ursprüng-
liche Dimension/Raum, was Heidegger Sein (in seinem Sinne) nennt, wofür
er zeitweise die Schreibweisen »Seyn« und Sein (durchkreuzt) gebrauchte.
Wie Heidegger diese Aufgabe in Angriff nahm und zu welchen Ergebnissen
er gelangte, wird noch weiter unten ausführlich zu analysieren sein.

[2] Der zweite Ansatz ist ebenfalls philosophiegeschichtlich orientiert, hat


es aber nicht mehr mit der ganzen (Geschichte der) Metaphysik, sondern
nur mit der neuzeitlichen Philosophie direkt zu tun. (Es ist allerdings darauf
hinzuweisen, dass Heidegger die neuzeitliche Philosophie in der direkten
Kontinuität der alten Metaphysik interpretiert.) Insbesondere geht es um den
Schritt, den Heidegger über Husserl hinaus und auch sogar direkt gegen (den
späten) Husserl unternimmt. Es handelt sich um eine radikale Überwindung
des transzendentalen Denkens, der transzendentalen Philosophie der Sub-
jektivität in Richtung auf die Entwicklung einer Philosophie des Seins.
Um die Darstellung zu verkürzen, ist es ausreichend, eine bemerkenswerte
Passage aus einem Brief zu zitieren, den Heidegger nach der Publikation von
Sein und Zeit am 22. Oktober 1927 an Husserl schrieb. Der Brief ist eine Ant-
wort auf die äußerst kritischen Bemerkungen, die Husserl zu diesem Werk
gemacht hatte. Heidegger wendet sich gegen Husserls Verfahren der Epoché
und damit gegen dessen absolute Privilegierung der transzendentalen Sub-
jektivität. Die wichtigste Passage lautet:
»Übereinstimmung besteht darüber, daß das Seiende im Sinne dessen, was Sie [Husserl]
›Welt‹ nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann
durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart.
Damit ist aber nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei
überhaupt nichts Seiendes – sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die
Seinsart des Seienden, in dem sich ›Welt‹ konstituiert? Das ist das zentrale Problem
82 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

von ›Sein und Zeit‹ – d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen,
daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen
Seienden und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der trans-
zendentalen Konstitution birgt. […]
Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas und seiend – obzwar nicht im Sinne
des Positiven.
Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selbst ist nicht zu umgehen.
Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes
bezogen.«17

Hier wird »Sein« eindeutig nicht als objektiver »Gegenpol« zur Subjektivität
oder zur theoretischen Dimension u. dgl., sondern als »umfassende ursprüng-
liche Dimension« aufgefasst. »Sein« meint also jene Dimension, die sowohl
die ganze Sphäre der konstituierenden Subjektivität (bzw. der theoretischen
Dimension) als auch die Sphäre der konstituierten Welt umfasst. Das ist ein
»Gedanke«, der für Husserls transzendental orientierte Phänomenologie un-
denkbar gewesen wäre. Der Verfasser hält diesen Schritt Heideggers für eine
der bedeutendsten philosophischen Leistungen in der Philosophie des 20. Jahr-
hunderts. Sein als umfassende ursprüngliche Dimension, die nicht nur oder fast
nur (wie bei Thomas von Aquin) rein objektiv, sozusagen als der Objektpol
in der Beziehung zwischen Erkennendem und seinem »Objekt«, verstanden
wird, umfasst auch die riesige Dimension dessen, was man zusammenfassend
die Dimension der Theoretizität nennen kann: Diese ihrerseits umschließt
nicht nur die Subjektivität im traditionell-neuzeitlichen Sinne, sondern auch
alles, was zum Bereich des Theoretischen gehört. Heideggers Schritt wurde
von ihm nicht ohne weiteres in der zuletzt beschriebenen Weise verstanden;
aber er kann so »erweitert« werden, wie in Kapitel 3 zu zeigen sein wird.
Die Frage, die sich dann im Hinblick auf Heidegger allerdings stellt, lautet:
Wie hat Heidegger das »universale Problem des Seins«, wie es in seinem Brief
heißt, diese ursprüngliche umfassende Dimension thematisiert? Wie gleich
unten gezeigt wird, fällt Heideggers Antwort auf diese Frage extrem dürftig
aus.

[3] Der dritte Ansatz kann, soweit dieses Wort überhaupt auf Heidegger
angewandt werden kann, als »quasi-systematisch« qualifiziert werden. Es ist
der Ansatz, den Heidegger in seinem bedeutendsten Werk Sein und Zeit ent-
wickelt hat. Im gegenwärtigen Kontext lässt er sich so charakterisieren: Der
Ausgangspunkt ist, wie die Überschrift von § 1 lautet, der Aufweis der Not-
wendigkeit der ausdrücklichen Wiederholung der Frage nach dem Sein. Dass
es eine Seinsfrage gibt, entnimmt Heidegger einmal der Geschichte und zum
anderen sachlichen Erwägungen. Er sieht eine Doppelaufgabe in der »Aus-

17  E. Husserl: Husserliana, Gesammelte Werke. Band IX, 1962, Anlage I, 601–602

(Kursiv in den drei letzten Sätzen nicht im Original).


2.2 Heideggers vier Ansätze zur »Wiederholung« der »Seinsfrage« 83

arbeitung« dieser Frage: erstens zu zeigen, »daß es nicht nur einer Fixierung
des Seienden bedarf, das als primär Befragtes fungieren soll« (SZ § 5), zwei-
tens die rechte Zugangsart zu diesem Seienden zu finden. Das Seiende ist der
Mensch als Dasein, die Zugangsart ist die phänomenologische. Das Resultat
ist »die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der
Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein« (Über-
schrift des ersten Teils von Sein und Zeit).
Es ist klar, dass dieser Ansatz noch grundsätzlich aus der Perspektive der
transzendentalen Philosophie der Subjektivität erfolgt, auch wenn das Sub-
jekt radikal uminterpretiert wird, nämlich als Dasein. Nichts charakterisiert
besser diesen Zugang zum Sein als der Begriff der Transzendenz, der in der
Zeit vor der Publikation von Sein und Zeit, dann in diesem Werk selbst und
schließlich in der unmittelbaren Zeit nach der Publikation eine zentrale Rolle
im Denken Heideggers spielt. Das zeigt beispielsweise die folgende Passage
aus einer Vorlesung, die Heidegger 1928 hielt:
»[D]ie Transzendenz [ist] […] die ursprüngliche Verfassung der Subjektivität eines
Subjektes. Das Subjekt transzendiert qua Subjekt, es wäre nicht Subjekt, wenn es nicht
transzendierte. Subjektsein heißt Transzendieren. D. h.: das Dasein existiert nicht etwa
und vollzieht dann gelegentlich einen Überschritt, sondern Existieren besagt ursprüng-
lich Überschreiten. Das Dasein selbst ist der Überschritt. Darin liegt: die Transzendenz
ist nicht irgendein mögliches Verhalten (unter anderen möglichen Verhaltungen) des
Daseins zu anderem Seienden, sondern die Grundverfassung seines Seins, auf deren
Grunde es sich allererst zu Seiendem verhalten kann.«18

Einige Jahre später muss Heidegger eingesehen haben, dass der Ansatz zwar
nicht falsch, aber doch zu eng ist. Das führte ihn dazu, eine Kehre zu voll-
ziehen: das Sein ist nicht vom Dasein her zu artikulieren, sondern umgekehrt
kann das Dasein nur vom Sein her interpretiert werden. Das (Be)Denken des
Seins selbst, des Seins als solchen wurde dann zum zentralen, ja zum eigentli-
chen und einzigen Thema des Heideggerschen Denkens. Vorwegnehmend sei
hier gesagt, dass auch der in Kapitel 3 darzustellende struktural-systematische
Ansatz eine gewisse Analogie zum Denkweg Heideggers aufweist, allerdings
nur eben in gewisser Hinsicht.

[4] Heideggers vierter Ansatz zur Entwicklung einer Seinskonzeption wird als
Resultat jener Wende, die er ›Kehre‹ nennt, unternommen. Jetzt geht es gleich
um das Sein selbst. Heidegger datiert sogar genau das Jahr, in welchem dieser
Ansatz seinen Anfang nahm, und charakterisiert ihn sehr knapp und treffend
in einer kleinen Passage aus einer Fußnote zu seinem 1946 verfassten, zuerst
1947 veröffentlichten und erstmals als selbständige Schrift 1949 erschienenen

18  M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz,

1928–1978, GA, Bd. 26, 211.


84 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Brief über den Humanismus. Dort heißt es: »Das hier Gesagte ist nicht erst
zur Zeit der Niederschrift ausgedacht, sondern beruht auf dem Gang eines
Weges, der 1936 begonnen wurde, im ›Augenblick‹ eines Versuchs, die Wahr-
heit des Seins einfach zu sagen.« (WegM 313) Heidegger bezieht sich auf jenen
Weg, der mit der handschriftlichen Abfassung der Beiträge zur Philosophie
(Vom Ereignis) begonnen hat, einer Schrift, die erst posthum (1989), ver-
öffentlicht wurde.19 Von den Beiträgen sagt Heidegger:
»[Es] muss auch hier schon wie in einer Vorübung jenes denkerische Sagen der Philoso-
phie im anderen Anfang versucht werden. Von ihm gilt: hier wird nicht beschrieben
und nicht erklärt, nicht verkündet und nicht gelehrt; hier ist das Sagen nicht im Gegen-
über zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses selbst als die Wesung des Seyns. – Dieses
Sagen sammelt das Seyn auf einen ersten Anklang seines Wesens und erklingt doch nur
selbst aus diesem Wesen.« (Beiträge 4)

Es sei zuerst vermerkt, dass Heidegger unrichtigerweise behauptet, in den


Beiträgen werde »nicht verkündet«. Dass in dieser Schrift nicht beschrieben,
nicht erklärt und nicht gelehrt wird, dürfte wohl stimmen. Aber die Schrift ist
voll von »Verkündigungen«: Es wird kommen: ein neuer Anfang, ein neues
Denken, ein wesentliches Denken, ein Jenseits der Metaphysik … Man kann
geradezu sagen, dass der Grundton der ganzen Schrift ein prophetisch-escha-
tologischer ist. Diese Schrift dürfte als die dunkelste und auch (besonders
hinsichtlich der sprachlichen Formulierungen) eigenwilligste Schrift Heideg-
gers einzustufen sein.20
Es ist klar, dass es hier nicht möglich ist, auf das ganze Denken des reifen
und späten Heidegger einzugehen. Im folgenden werden zwei zentrale The-
men oder Gesichtspunkte behandelt, und zwar in der Absicht, zweierlei zu
beleuchten: einmal Heideggers äußerst problematische und oberflächliche
Fehlinterpretation und Kritik der Metaphysik, zum anderen die beinahe totale
sachliche Insignifikanz seiner »denkerischen« Bemühungen im Hinblick auf
die Entwicklung einer substantiellen Seinskonzeption. In dieser zweiten Hin-
sicht wird sich zeigen, dass die entscheidende Defizienz des Heideggerschen
Denkens gerade darin besteht, dass er, um es in seiner Sprache auszudrücken,
das zu-Denkende gerade nicht denkt. Das ist erstaunlich bei einem Denker,
der sich als derjenige Denker präsentiert, der sich vorgenommen hat, das in
der Geschichte der Philosophie Ungedachte zu denken, ans Licht zu bringen.
Die Beiträge wurden in den Jahren 1936–1938 verfasst.
19 
20 
Man muss allerdings den gleichen »Status« einer anderen ausführlichen (sozusagen
ebenfalls »quasi-systematischen«) Schrift zuschreiben, nämlich der 428 Seiten umfassen-
den Schrift Besinnung, die Heidegger in den Jahren 1938/39 im Anschluss an die gerade
abgeschlossenen Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) verfasst hat und die erst 1997
veröffentlicht wurde (als Band 66 der GA). Diese Bände stellen zwei der sieben großen
seins‑ und ereignisgeschichtlichen Abhandlungen dar, die laut Verlagsprospekt Heideg-
ger verfasst hat. 2009 soll ein weiterer Band (Band 71 der GA) erscheinen, der den Titel
Das Ereignis tragen wird. Vgl. dazu unten Kapitel 3, Fußnote 136.
2.3 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« I 85

Für das Folgende ist es wichtig, eine Randbemerkung Heideggers zu einer


Passage in der 4. Auflage von Der Brief über den Humanismus (1949) zu
beachten. Die Passage lautet: »[…] ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines
Denkens.«21 In der Tat ist »Ereignis« das einzig »Positive«, das Heidegger
»über« das Sein sagt, oder die einzige »Bestimmung«, die er vom Sein nennt,
wobei sich Heidegger gegen solche Formulierungen (»über«, »Bestimmung«)
durchaus wenden würde. Es wird noch zu zeigen sein, was das auf sich hat.
Darüber hinaus sei auch hier antizipierend gesagt, dass Heideggers »halb-
poetische« und »halb-prophetisch-eschatologische« Formulierungen (»hören
auf das Sein« …) durchaus gemieden werden können, ohne dass »die Sache
des Denkens« darunter weniger adäquat zur Darstellung käme; im Gegenteil,
präzisere, nicht-metaphorische, nicht-poetische Formulierungen sind gerade
der Sache des philosophischen Denkens angemessen.

2.3 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« I:


das Sein-als-das-Ereignis

Das erste Thema bzw. der erste Gesichtspunkt, das / der hier zu behandeln ist,
ist die Frage: Was sagt Heidegger schließlich »über« das Sein? Da »Ereignis«
seit 1936 sein »Leitwort« ist, ist die Frage zu präzisieren: Als was fasst er Er-
eignis auf? Heidegger betont in aller Klarheit, dass das Wort ›Ereignis‹ als Leit-
wort seines Denkens nicht mehr das meint, was man allgemein als Geschehen
(Geschehnis, sagt Heidegger), Vorkommnis und dgl. zu nennen pflegt. Er
weist daraufhin, dass dieses Wort ursprünglich bedeutet: »… er-äugen, d. h.
erblicken, im Blick zu sich rufen, an-eignen«. (ID 28–9) Aus seinen weiteren
Erklärungen geht hervor, dass er »Ereignis« nur noch vom Wort ›eigen‹ her
deutet. Ferner versteht er »Ereignis« nur als singulare tantum.

[1] In absolut charakteristischer Manier formuliert Heidegger, wenn man,


ihn referierend, so sagen darf, eine Art »poetische Definition« von Ereignis:
»Das Er-eignis ist der in sich schwingende Bereich, durch den Mensch und Sein einan-
der in ihrem Wesen erreichen, ihr Wesendes gewinnen, indem sie jene Bestimmungen
verlieren, die ihnen die Metaphysik geliehen hat.« (ID 30)

Der Hinweis auf die Metaphysik muss als eine bequeme Weise bezeichnet
werden, die eigene Konzeption als etwas angeblich absolut Neues und Ori-
ginelles erscheinen zu lassen. Wie sinnlos dieser Hinweis ist, wird sich weiter
unten zeigen.

21 
WegM 316 (mit ›a‹ markierte Fußnote). Vgl. dazu auch ID 29.
86 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

In seinem berühmten Vortrag Zeit und Sein (1962) finden sich die ver-
mutlich wichtigsten Ausführungen Heideggers über (das) Ereignis. Er kommt
zur Formulierung: »Sein als das Ereignis«, wobei er dieses »als« so deutet: Es
meint »Sein, Anwesenlassen geschickt im Ereignen, Zeit gereicht im Ereignen.
Zeit und Sein ereignet im Ereignis.« Heidegger basiert diese Deutung auf einer
Analyse von Sätzen wie »Es gibt Sein«, »Es gibt Zeit«. Er fasst das »Es« als
»etwas Ausgezeichnetes« auf, indem er sagt, dass wir das
»›Es‹ in den Blick bringen [… können] [e]infach so, daß wir das ›Es‹ aus der Art des Ge-
bens her denken, das zu ihm gehört: das Geben als Geschick, das Geben als lichtendes
Reichen. […] Im Schicken des Geschickes von Sein, im Reichen der Zeit zeigt sich ein
Zueignen, ein Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich
des Offenen in ihr Eigenes. Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d. h. in ihr Zu-
sammengehören, bestimmt, nennen wir: das Ereignis.« (ZS 19–20)

Anschließend stellt er die entscheidenden Fragen: »Und dieses selbst [das


Ereignis]? Läßt sich vom Ereignis noch mehr sagen?« Heideggers Antwort
darauf fällt außerordentlich dürftig aus. Er behauptet, dass im Laufe des
Vortrags mehr gedacht als gesagt wurde, und zwar dies, »daß zum Geben
als Schicken das Ansichhalten gehört, nämlich dieses, daß im Reichen von
Gewesen und Ankommen Verweigerung von Gegenwart und Vorenthalten
von Gegenwart spielen.« Das nennt Heidegger den »Entzug« (ZS 22–3).
Schließlich fragt Heidegger: »Was bleibt zu sagen?« und antwortet: »Nur
dies: Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe
zu das Selbe.« (ZS 24)

[2] Zu Heideggers Konzeption seien einige kritische Bemerkungen gemacht.


[i] Es dürfte schwierig sein, in solchen Formulierungen mehr als weitest-
gehend leere Aussagen zu sehen, die aus eigenwilligen Spielen mit Worten
bestehen (ereignen, an-eignen, zu-eignen, über-eignen, Enteignis …). Wenn
man aber vom normalen Sinn des Wortes ›eigen‹ ausgeht, so lässt sich in
etwa nachvollziehen, was Heidegger sagt, mit der Konsequenz, dass das, was
er sagt, im Hinblick auf eine umfassende Seinskonzeption außerordentlich
dürftig, ja beinahe banal ist, und zwar deswegen, weil es grundsätzlich dem
entspricht, was im alltäglichen Leben des Menschen geschieht oder geschehen
kann, wenn dort das Wort ›eigen‹ verwendet wird. Aber Heidegger erhebt
diese Dürftigkeit auf die Ebene tiefklingender Formulierungen. Entsprechend
dem letzten Zitat wäre dann zu sagen, dass »Er-eignis« (im Heideggerschen
Sinn) der Vorgang (= »Ereignis« im heutigen normalen Sinn) des »Gebens« als
des »Schickens und Reichens von Sein und Zeit« in das »(jeweilige?) Eigene«
ist. Und dieses »Schicken und Reichen von …« erweist sich als das einheitli-
che Geschehen »eines Zueignens, eines Übereignens« ins (jeweilige) Eigene,
wobei dann das Eigene das Zusammengehören von beiden (Sein und Zeit) ist.
Und was beide in ihr Zusammengehören »bestimmt«, ist: das Er-eignis.
2.3 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« I 87

Mit den drei Pünktchen sind im Vortrag »Zeit und Sein« Sein und Zeit
gemeint, obwohl dies ein ernsthaftes Kohärenzproblem aufwirft, wie das Pro-
tokoll zu einem Seminar über den Vortrag »Zeit und Sein« ausdrücklich fest-
stellt. (Vgl. Protok 46 ff.) Einerseits heißt es nämlich im Brief über den Huma-
nismus: »Denn das ›es‹, was hier ›gibt‹, ist das Sein selbst« (WegM 334) und im
Vortrag Zeit und Sein: »Allein die einzige Absicht dieses Vortrages geht dahin,
das Sein selbst als das Ereignis in den Blick zu bringen.« (ZS 22) Andererseits
sagt Heidegger explizit: »[I]ndem wir dem Sein selbst nachdenken und seinem
Eigenen folgen, erweist es sich als die durch das Reichen von Zeit gewährte
Gabe des Geschickes von Anwesenheit. Die Gabe von Anwesen ist Eigentum
des Ereignisses. Sein verschwindet im Ereignis.« (Ebd.) Diese zweite Aussage
scheint eine Art Dominanz des Ereignisses und eine Unterordnung des Seins
zu bedeuten.
Die im Protokoll gegebene zweite Antwort darauf lautet im Wesentlichen,
»es gehe gerade darum zu sehen, daß, indem das Sein als das Ereignis in den
Blick kommt, es als Sein verschwindet. Zwischen beiden Aussagen besteht
also kein Widerspruch.« (Protok 46) Aber diese Antwort ist ganz und gar
keine Lösung der Frage; sie ist eine leere Behauptung. Zu sagen, dass »indem
das Sein als das Ereignis in den Blick kommt, es als Sein verschwindet«, über-
sieht den fundamentalen Umstand, dass es sich gerade um das Sein handelt,
das sich als-das-Ereignis zeigt; damit »verschwindet« das Sein gerade nicht,
sondern zeigt sich als es selbst. Im ganzen Vortrag Zeit und Sein (und in
anderen Schriften Heideggers nach 1936) begegnet man immer wieder dieser
und anderen ähnlichen Inkohärenzen. Die Erklärung dürfte ganz anderswo
zu suchen sein, nämlich in der Tatsache, dass Heidegger stillschweigend die
Bedeutung von »Sein« geändert hat. Hier und in ähnlichen Passagen seiner
Spätschriften wird Sein einfach als »Anwesenheit« verstanden, also als Sein
im Sinne der ganzen Tradition der Metaphysik, was Heidegger hier einfach
unterstellt, ohne es explizit zu vermerken (»… Gabe des Geschickes von
Anwesenheit«). Diese Erklärung liegt auf der Linie der ersten im Protokoll
gegebenen Antwort auf die erhobene Schwierigkeit. Es wird dort darauf
hingewiesen, dass »der Titel ›das Sein selbst‹ an der fraglichen Stelle im Huma-
nismus-Brief und so fast durchgängig bereits das Ereignis nennt«. (Ebd.)
Aber diese Antwort verschweigt den wichtigen Sachverhalt, dass die damit
einhergehende Änderung der Bedeutung von ›Sein‹ nicht kenntlich gemacht
wird. Diese Änderung der Bedeutung ist ersichtlich beispielsweise in einer
Formulierung wie:
»Wenn das Ereignis nicht eine neue seinsgeschichtliche Prägung des Seins ist, sondern
umgekehrt das Sein in das Ereignis gehört und dahin zurückgenommen wird (auf
welche Weise auch immer), dann ist für das Denken im Ereignis, d. h. für das Denken,
das in das Ereignis einkehrt – sofern dadurch das Sein, das im Geschick beruht, nicht
mehr das eigens zu Denkende ist – die Seinsgeschichte zu Ende.« (Protok 44)
88 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Das gibt Anlass zu vielen – und nicht gerade kleinen – Missverständnissen.


Heidegger nennt »Sein« (im Sinne von: »Anwesenheit«) und »Zeit« »Sachen«.
(ZS 4, 20) Und dann schreibt er: »Was beide Sachen zueinander gehören läßt,
was beide Sachen nicht nur in ihr Eigenes bringt, sondern in ihr Zusammen-
gehören verwahrt und darin hält, der Verhalt beider Sachen, der Sach-Verhalt,
ist das Ereignis.« (ZS 20) Es dürfte sehr aufschlussreich sein, an dieser Stelle
eine Formulierung Wittgensteins aus seinen Tagebüchern anzuführen, um
Heideggers Aussagen  –  allerdings nicht in seinem Sinne, aber der »Sache«
nach – zu präzisieren. Dies geschieht auch im Hinblick auf die in Kapitel 3
darzustellende Seinskonzeption des Verfassers. Die Stelle bei Wittgenstein
lautet:
»Wie sich alles verhält, ist Gott.
Gott ist, wie sich alles verhält.«22

In seinem Buch Struktur und Sein hat der Verfasser diese Formulierungen
teilweise abgewandelt, um seine eigene Konzeption des Seins zu artikulieren:
»Wie sich alles verhält, ist Sein.
Sein ist, wie sich alles verhält.« (SuS 561)

Diese Formulierung mit »Sein« ist sozusagen die »anfängliche«, die allererste
und in diesem Sinne auch die fundamentale, nicht aber  –  hinsichtlich des
Themas »Gott«  –  die »vollbestimmte« Formulierung. Wittgensteins For-
mulierung mit »Gott« ist die »letzte«, und zwar in dem Sinne, dass sie die
Vollbestimmung dessen, was »Sein« meint, artikuliert. Wo steht Heidegger
hinsichtlich der in Frage stehenden Thematik?
Aufgrund seiner zuletzt referierten letzten Ausführungen über seine Po-
sition, in deren Mittelpunkt der Begriff des »(Sach‑)Verhalts« steht, wäre es
einleuchtend, das Wittgensteinsche Zitat im Heideggerschen Sinne folgender-
maßen abzuwandeln:
»Wie sich alles verhält, ist (Sein als) Ereignis.
(Sein als) Ereignis ist, wie sich alles verhält.«

Diese »Formel« ist noch sehr abstrakt im Sinne von: noch weitgehend unbe-
stimmt. Um einen (bedeutsamen) Schritt konkreter, d. h. inhaltlicher ist die
folgende Formulierung, die ziemlich genau den – vermutlich – intendierten
Sinn der Heideggerschen Ausführungen treffen dürfte:
»Wie alles ins Eigene kommt und/oder gebracht wird, ist (Sein als) Ereignis.
(Sein als) Ereignis ist, wie alles ins Eigene kommt und/oder gebracht wird.«

Trifft das zu, so wäre zu fragen: Was artikuliert eine solche »Formel« in inhalt-
licher Hinsicht?

22 
Tagebücher 1914–1916, in: Schriften 1, 171 (Eintragung vom 1.8.1916).
2.3 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« I 89

[ii] Diese »neue« Formel ist zwar im Prinzip nicht falsch, aber sie ist höchs-
tens eine in vielfacher Hinsicht sehr limitierte »Anfangsformel«. Alles hängt
davon ab, wie »das Eigene« verstanden und expliziert wird. Auch wenn dies
gelingen sollte, wäre sie dennoch total defizient, wie kurz zu zeigen ist.
Das Eigene in Heideggers Sinn ergibt sich aus einer seltsamen Kombination
von zwei völlig verschiedenen Bedeutungen von ›Ereignis‹ und ›eigen‹:23
Die erste ist der wichtigste Aspekt der (oben erwähnten) etymologischen
Bedeutung des Wortes ›Ereignis‹, nämlich die Bedeutung: »… er-äugen, d. h.
erblicken, im Blick zu sich rufen«; die zweite ist die heute normale Bedeutung
von »eigen«. Eine schon oben zitierte Passage aus dem Vortrag Zeit und Sein
artikuliert diese semantische »Mischung oder Kombination«: »Im Schicken
des Geschickes von Sein, im Reichen der Zeit zeigt sich ein Zueignen, ein
Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des
Offenen in ihr Eigenes.« (ZS 20)24 Das Eigene von Sein und von Zeit nennt
Heidegger explizit deren »Zusammengehören« und dies wird durch das Er-
eignis »bestimmt« (ebd.). Mit dem Hinweis auf das Eigene meint Heidegger
nicht nur das Eigene von Sein und von Zeit, sondern (auch) das Eigene eines
jeglichen Seienden, an allererster Stelle das Eigene des Da-seins. So schreibt
er: »Sofern es Sein und Zeit nur gibt im Ereignen, gehört zu diesem das
Eigentümliche, daß es den Menschen als den, der Sein vernimmt, indem er
innesteht in der eigentlichen Zeit, in sein Eigenes bringt. So geeignet gehört
der Mensch in das Ereignis.« (ZS 24)
Diese Formulierungen machen deutlich, dass die Frage ungeklärt bleibt:
Was ist eigentlich »das Eigene«? Zu sagen, dass das Eigene von Sein und von
Zeit ihr Zusammengehören ist, lässt die Frage ungeklärt, als was beide zu-
sammengehören. Und vom Eigenen des Menschen ist nur im Rahmen einer
Aussage über einen Faktor die Rede, der zum Ereignen »gehört«: Dieser Fak-
tor ist »das Eigentümliche, daß es den Menschen als den, der Sein vernimmt,
indem er innesteht in der eigentlichen Zeit, in sein Eigenes bringt«. Aber
was ist das Eigene selbst? Heideggers Denken dreht sich im Kreise und lässt
gerade das Entscheidende ungedacht. Ist nicht Heidegger der Denker, der sich
vorgenommen und überall und immer wieder verkündet hat, das Denken am
radikalsten und am kompromisslosesten zu vollziehen, indem es gerade das in
der bisherigen Geschichte des Denkens Ungedachte denken will?

23  Vgl. dazu den sehr instruktiven Artikel von Thomas Sheehan »A Paradigm Shift

in Heidegger Research«, 2001.


24  Dieser Text zeigt, dass Sheehans Behauptung (im Abstract des in der vorher-

gehenden Fußnote zitierten Aufsatzes), Heidegger verstehe (nach 1936) Ereignis »as
the opening [Öffnen, das Offene] of the Da rather than as ›appropriation [Er-eignen,
das Eigene]‹«, dem Text bzw. den Texten des späten Heidegger nicht gerecht wird. Der
»Bereich des Offenen« ist nur eines von den beiden »Momenten« des Ereignisses, nämlich
das der Zeit zugeordnete Moment.
90 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

[3] Indes betrifft die entscheidende Kritik an Heideggers »Defizienz des


Denkens« einen generelleren und zentraleren Punkt. Heidegger hat wie we-
nige Philosophen immer wieder das Verhältnis zwischen Denken und Fragen
hervorgehoben. Was für Fragen hat nun das Denken? Hier muss man genauer
fragen: Was für Fragen hat Heidegger hinsichtlich des großen Themas Sein-
als-das-Ereignis? Er hat sicher manche Fragen explizit oder implizit gestellt
und sich von ihnen leiten lassen. Hatte er aber wirklich die wichtigsten, die
unverzichtbarsten gestellt und behandelt? Das muss man klar verneinen. Das
soll hier im Hinblick auf die Modalitäten Notwendigkeit–Möglichkeit–Kon-
tingenz, die für den in Kapitel 3 zu entwickelnden systematischen Ansatz von
absolut entscheidender Bedeutung sind, kurz gezeigt werden.
Heidegger hält das Denken für etwas Großes und Überwältigendes. So
heißt es im Brief über den Humanismus:
»Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zwie-
faches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein
gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein
gehörend, auf das Sein hört.« (WegM 316)25

Es sei hier davon abgesehen, ob es Sinn macht, solche Formulierungen wie


»auf das Sein hören« u. ä. zu verwenden. Sie haben unverkennbar einen
poetischen bzw. mythologischen bzw. prophetisch-eschatologischen Bei-
geschmack, solange man nicht »Sein« so weit »bestimmt« hat, dass es Sinn
macht, vom »Hören« auf das Sein zu sprechen. Wichtig ist hier folgende
Überlegung: Das »Denken« ist nur dann wirklich »Denken des Seins« (im
Sinne des genitivus subiectivus und obiectivus), wenn es hinsichtlich des
Seins und, um eine Ausdrucksweise Heideggers zu verwenden, einen Wink
vom Sein empfangend, alle seine Intelligibilitätspotentialitäten entfaltet und
sozusagen in Anschlag bringt. Dazu gehören alle denkbaren Fragen, alle
verfügbaren »Begriffe«26, alle theoretischen Instrumentarien usw. Nur so
kann das Denken das erreichen, was es erreichen kann und sollte: maximale
Intelligibilität (in diesem Kontext: des Seins).

25  In einer in der Gesamtausgabe als Fußnote a hinzugefügten Randbemerkung Hei-

deggers zur Formulierung ›… vom Sein ereignet, …‹ heißt es: »1. Auflage 1949: Nur
ein Wink in der Sprache der Metaphysik. Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines
Denkens.«
26  Der Ausdruck ›Begriff‹ wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil Heidegger

sich dagegen wehren würde, ihn zu verwenden. Dazu muss man aber sagen, dass man in
der Philosophie ohne diesen Ausdruck praktisch kaum auskommen dürfte. Es ist aber
möglich, ihn zu verwenden, ohne irgendwelche inhaltlichen philosophischen Vorausset-
zungen oder Konnotationen zu implizieren. Der Verfasser hat in seinem Buch SuS diesen
Ausdruck uminterpretiert: Er (bzw. der mit ihm assoziierte semantische Inhalt) wird auf
»Struktur« reduziert. Dies hindert den Philosophen indes nicht, den Ausdruck zu ver-
wenden: Er wird dann verstanden und gebraucht als bequeme Abbreviation für Struktur.
Vgl. dazu SuS Abschnitt 3.1.2.1 (211 ff.).
2.4 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« II 91

Zu diesen Intelligibilitätspotentialitäten gehören an vorderster Stelle die


schon erwähnten Modalitäten: Notwendigkeit–Möglichkeit–Kontingenz.
In der Tat, wenn das Sein – und zwar das Sein als solches und das Sein im
Ganzen – das große Thema für das Denken (nach Heidegger: die »Sache des
Denkens«) darstellt, so gehört es zu den allerersten und fundamentalsten
Fragen, die vom Sein her aufzuwerfen sind, nach dem zu fragen, was man
einen Aspekt des primordialen »Status« des Seins nennen kann, nämlich zu
fragen, ob das Sein notwendig oder ob alles (d. h. das Sein selbst mit allen
Seienden) kontingent ist. Dieser Frage wird das Denken nur um den Preis
ausweichen können, dass es seine große Sache sozusagen im Zustand einer
permanenten Schwebe oder Unterentwicklung belässt. Damit wird keine
letzte Intelligibilität des Seins erlangt.
Bei Heidegger findet sich nicht eine Spur einer solchen Fragestellung. Er
würde die Frage als »metaphysische Frage« abtun.27 Damit würde er zweierlei
»demonstrieren«: dass er die große Sache des Denkens grundsätzlich ver-
fehlt und dass seine Metaphysikkritik buchstäblich gegenstandslos ist. Das
»Denken« bleibt in Heideggers Denken in einem unterentwickelten, min-
deren Zustand gefangen.

2.4 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« II:


Sein und Seiende(s) – Ereignis und Ereignete(s)

Ein zweites zentrales Thema ist die für Heidegger zentrale Frage nach der
Differenz und dem Verhältnis von Sein und Seienden, wobei jetzt »Sein«
im Sinne Heideggers schon als Sein-als-das-Ereignis zu verstehen ist. Es ist
offensichtlich, dass Heidegger diesbezüglich ein sehr gravierendes Problem
hat, für welches er keine Lösung anbietet, ein Umstand, der neben der im vor-
hergehenden Abschnitt 2.3 aufgezeigten Defizienz eine zweite, in vielfacher
Hinsicht grundsätzlichere Defizienz seines Denkens offenbart.

[1] Es ist leicht, das Problem in Heideggers Schriften ausfindig zu machen.


Auf zwei Passagen seiner Werke sei hingewiesen. Die erste findet sich im
Nachwort, das Heidegger 1943 zur 4. Auflage des Textes seiner Vorlesung
»Was ist Metaphysik?« aus dem Jahre 1929 verfasste. Hier heißt es:
»Ohne das Sein, dessen abgründiges, aber noch unentfaltetes Wesen uns das Nichts in
der wesenhaften Angst zuschickt, bliebe alles Seiende in der Seinslosigkeit. Allein, auch
diese ist als die Seinsverlassenheit wiederum nicht ein nichtiges Nichts, wenn anders

27  Auf das Thema der Modalitäten in Bezug auf das Denken Heideggers wird in den

folgenden Abschnitten in verschiedenen Zusammenhängen eingegangen, besonders in:


2.4 [2] [ii], 2.8.2 [1], 2.9 [1].
92 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

zur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein wohl west ohne das Seiende, niemals aber
das Seiende ist ohne das Sein.« (WegM 306; Kursiv nicht im Original)

In der 5. Auflage (1949) des Nachwortes korrigierte Heidegger den letzten


Satz: An Stelle von »wohl« sagte er »nie« und an Stelle von »niemals aber«
hieß es »daß niemals«. Die Passage lautet seitdem so: »… wenn anders zur
Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß
niemals das Seiende ist ohne das Sein.« Wie ist dieses außerordentlich auf-
schlussreiche Schwanken zu erklären?
Der zweite Text findet sich im Vortrag Zeit und Sein (1962), wo es heißt:
»Es gilt, einiges von dem Versuch zu sagen, der das Sein ohne Rücksicht auf eine Be-
gründung des Seins aus dem Seienden denkt. Der Versuch, Sein ohne das Seiende zu
denken, wird notwendig, weil anders sonst […] keine Möglichkeit mehr besteht, das
Sein dessen, was heute rund um den Erdball ist, eigens in den Blick zu bringen …«.
(ZS 2)

Und am Schluss des Vortrags liest man:


»Es galt, Sein im Durchblick durch die eigentliche Zeit in sein Eigenes zu denken – aus
dem Ereignis – ohne Rücksicht auf die Beziehung des Seins zum Seienden. – Sein ohne
das Seiende denken, heißt: Sein ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken.« (ZS 25)

Im Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag werden diese Formulierun-


gen noch weiter präzisiert: »›Das Sein ohne das Seiende denken‹ besagt […]
nicht, daß dem Sein der Bezug zum Seienden unwesentlich, daß von diesem
Bezug abzusehen wäre; er besagt vielmehr, das Sein nicht in der Art der
Metaphysik zu denken.« (Protok 35–6) Heidegger erläutert weiter, dass »Be-
gründung des Seins aus dem Seienden« bedeutet, das Sein onto-theo-logisch
zu denken, womit die folgenden zwei Momente gemeint sind: erstens das
theologische Moment der Metaphysik, dahingehend verstanden, dass das ens
summum als causa sui die Begründung alles Seienden als solchen leistet; zwei-
tens das metaphysische Gepräge der ontologischen Differenz, dahingehend
verstanden, dass das Sein umwillen des Seienden gedacht wird.
Es ist unverkennbar, dass Heidegger sich mit einem Grundproblem kon-
frontiert sieht. Es ist kaum verständlich, dass er erklärt, die Formulierung
»Sein ohne das Seiende denken« meine einfach, dass »Sein ohne Rücksicht
auf die Metaphysik« zu denken sei. Nimmt man die ganze Formulierung
wörtlich, so impliziert sie die positive Formulierung: »Sein mit dem Seienden
denken« meine »Sein mit Rücksicht auf die Metaphysik denken« bzw. ein-
fach: »Sein metaphysisch denken«. Da aber Heidegger nicht metaphysisch
denken will, ergäbe sich daraus, dass er das Verhältnis Sein – Seiendes nicht
denken will (bzw. kann). Aber das wäre auch Heidegger zufolge inakzeptabel.
Die Formulierung wird im Protokoll dahingehend präzisiert bzw. korrigiert,
dass sie besagt: »das Sein nicht in der Art der Metaphysik denken«. Das aber
wirft zwei weitere Probleme auf: Erstens, wie denkt Heidegger das Ver-
2.4 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« II 93

hältnis Sein – Seiendes »nicht in der Art der Metaphysik«? Zweitens, hat es


noch überhaupt einen Sinn, oder: ist es überhaupt möglich, »Sein ohne das
Seiende«, also (das) »Sein selbst, als solches« zu denken? Das zweite Problem
wird durch den Umstand extrem verschärft, dass Heidegger in einer anderen
(oben zitierten) Passage behauptet: »… zur Wahrheit des Seins gehört, daß das
Sein nie west ohne das Seiende«.
Zuerst ist seine Erklärung seines Hinweises »Sein ohne Rücksicht auf die
Metaphysik« durch die Formulierung »ohne Begründung des Seins aus dem
Seienden« genau unter die Lupe zu nehmen. Wie oben referiert, besteht die
Erklärung aus zwei »Momenten«. Das erste ist das onto-theo-logische: Be-
gründung des Seins aus dem Seienden ist gegeben, wenn das ens summum
als causa sui die Begründung alles Seienden als solchen leistet. Nun wurde
im Abschnitt über die Seinsmetaphysik des Thomas von Aquin gezeigt, dass
Thomas grundsätzlich kein ens summum als causa sui annimmt. Vielmehr
denkt Thomas das ipsum esse, das Sein selbst, als solches, und in seiner Fülle
als ipsum esse per se subsistens, und die Seienden (die alle geschaffen sind!) als
Modi/Weisen der Partizipation am esse ipsum. Für diesen großen Sachverhalt
eignet sich das von Heidegger verwendete Wort ›Begründung‹ überhaupt
nicht. Seine unaufhörlich wiederholten Behauptungen über Metaphysik als
Grund-Denken oder Denken-des-Grundes ist, wie oben ausführlich gezeigt
wurde, gegenstandslos. Heidegger ist Opfer seiner eigenen stereotyp und
sorglos wiederholten Fehlinterpretationen und Entstellungen.
Heideggers zweites Moment ist »das metaphysische Gepräge der ontologi-
schen Differenz, nach der das Sein gedacht und begriffen wird umwillen des
Seienden, so daß das Sein, unbeschadet seines Grund-seins, unter der Bot-
mäßigkeit des Seienden steht«. (Protok 36) Das ist eine überaus erstaunliche
Behauptung, die im höchsten Maße den expliziten Aussagen etwa der Seins-
metaphysik des Thomas von Aquin frontal widerspricht. Thomas denkt
das esse per se subsistens näher als absolutes freies Sein, das in voller Freiheit
Seiende erschafft. Es ist unsinnig zu behaupten, dass dadurch das Sein [also
das absolut freie esse per se subsistens] gedacht und begriffen wird »umwillen
des Seienden, so daß das Sein [also das absolut freie esse per se subsistens],
unbeschadet seines Grund-seins, unter der Botmäßigkeit des Seienden steht«.
Man muss es wiederholen: Eine solche Aussage ist eine totale Entstellung
und Verfehlung zentralster Einsichten und Thesen der christlichen Seins-
metaphysik, wie diese etwa von Thomas von Aquin vertreten wurde. Noch
radikaler widerspricht sie der in Kapitel 3 darzustellenden systematischen
Konzeption.
Dass Heidegger eine solche Behauptung aufstellt, ist um so verwunderli-
cher, als er über die Implikationen seiner großen Aussage »[…] zur Wahr-
heit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende« (WegM 306)
anscheinend nicht nachgedacht hat. Wenn nämlich »das Sein nie west ohne
94 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

das Seiende«, dann ist dadurch behauptet, dass das Sein mit Notwendigkeit
(»nie«) an das Seiende, so könnte man hier sagen, »angebunden« ist – und in
der Sprache Heideggers wäre dies so auszudrücken: Dadurch stünde »das
Sein, unbeschadet seines Ereignis-Charakters, unter der Botmäßigkeit des
Seienden«. Es ist nicht die christliche Seinsmetaphysik, es ist Heidegger, der
ein Problem mit dem »Sein … unter der Botmäßigkeit des Seienden« hat. Und
das ist ein fundamentales und weitreichendes Problem. Das soll im folgenden
ausführlich gezeigt werden.

[2] Heidegger nimmt Sein und Seiende(s) an, konsequenterweise nimmt er


auch Sein-als-Ereignis und Seiende-als-Ereignete, kurz: Ereignis und Er-
eignete(s), an. Hier drängen sich drei verschiedene Fragen auf. Die erste wird
explizit im Protokoll formuliert: »Was ereignet das Ereignis? Was ist das vom
Ereignis Ereignete?« (Protok 45) Die zweite kann so formuliert werden: Wie
deutet Heidegger den Unterschied, die Differenz zwischen Sein/Ereignis und
Seienden/Ereigneten? Wie deutet er den »Bezug« zwischen beiden? Die dritte
Frage lautet: Welche Konsequenzen hat der Umstand, dass es einen Bezug von
Sein/Ereignis und Seienden / Ereigneten gibt, für Heideggers Versuch, das
»Sein selbst (oder als solches)« zu denken?
[i] Zur ersten Frage wird im Protokoll vermerkt, dass darüber im Vortrag
Zeit und Sein nichts gesagt wird, dass aber in anderen Schriften Heideggers
»manches dazu gedacht« (Protok 45) ist. Und es wird explizit auf den Vortrag
Der Satz der Identität verwiesen und behauptet:
»[Es] wird im Identitätsvortrag […] gesagt, was das Ereignis ereignet, d. h. ins Eigene
bringt und im Ereignis behält: nämlich das Zusammengehören von Sein und Mensch.
In diesem Zusammengehören sind dann die Zusammengehörenden nicht mehr Sein
und Mensch, sondern – als Ereignete –: die Sterblichen im Geviert der Welt.« (Ebd.)

Im Vortrag Der Satz der Identität wird das Zusammengehören näher erläutert,
indem gesagt wird, das Zusammen werde aus dem Gehören bestimmt, wobei
das Gehören selbst nicht als eine Zuordnung, als eine Zusammenordnung zu
denken sei; das Zusammengehören sei vielmehr als ein Zu-einander-Gehören
zu fassen. Wie dabei der Mensch dazu zu stehen kommt, erläutert Heidegger
so:
»[…] das Auszeichnende des Menschen beruht darin, daß er als das denkende Wesen,
offen dem Sein, vor dieses gestellt ist, auf das Sein bezogen bleibt und ihm so ent-
spricht. Der Mensch ist eigentlich dieser Bezug der Entsprechung, und er ist nur dies.
›Nur‹ – dies meint keine Beschränkung, sondern ein Übermaß. Im Menschen waltet
ein Gehören zum Sein, welches Gehören auf das Sein hört, weil es diesem übereignet
ist.« (ID 22)

Wenn es dann im obigen Zitat aus dem Protokoll heißt: »[…] die Zusammen-
gehörenden [sind] nicht mehr Sein und Mensch, sondern – als Ereignete–: die
2.4 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« II 95

Sterblichen im Geviert der Welt. Vom Ereigneten, vom Geviert, sprechen in je


anderer Weise [andere Vorträge]«, so wird daraus deutlich, dass das Ereignete
das Geviert ist und dass die Menschen als Ereignete in diesem Geviert »die
Sterblichen« sind. Das Welt-Geviert bilden nach Heidegger die Sterblichen,
die Göttlichen, der Himmel und die Erde. Es ist kaum möglich, die innere
Kohärenz der teilweise oben zitierten Formulierungen Heideggers über Sein,
Ereignis, Ereignen, das Ereignete, die Ereigneten, das Zusammengehören …
einzusehen. So nennt er das Eigene von Sein und von Zeit explizit deren »Zu-
sammengehören«, und zwar so, dass dies durch das Er-eignis »bestimmt«
wird. Wie hängen damit die zuletzt zitierten Aussagen zusammen, denen
zufolge das Ereignete des Ereignisses das Zusammengehören von Sein und
Mensch ist, aber so, dass die Zusammengehörenden nicht mehr Sein und
Mensch, sondern – als Ereignete –: die Sterblichen im Geviert der Welt sind?
Das »eigentliche« Ereignete scheint das Geviert zu sein, die Einfalt der Vier
genannten »Elemente«.
Dazu muss aus philosophischer Sicht gesagt werden, dass Heidegger hier
endgültig ins Poetisch-Mythologische abzugleiten scheint. Es ist nicht zu
sehen, wie ein solcher »Diskurs« einen philosophischen Anspruch erheben
kann. Darauf näher einzugehen, ist daher gegenstandslos.
[ii] Die zweite Frage betrifft das Wie des Unterschieds, der Differenz zwi-
schen Sein/Ereignis und Seienden/Ereigneten, anders formuliert: Sie betrifft
das Wie der Deutung des »Bezugs« zwischen beiden. Klärt Heidegger diesen
Sachverhalt? Die Antwort ist klar: letztlich überhaupt nicht. Es ist zu beachten,
dass gesagt wird: letztlich überhaupt nicht. Um diese so eingeschränkte nega-
tive Antwort richtig zu verstehen, muss man sehen, dass die Frage »Wie deutet
Heidegger den Unterschied, die Differenz, den Bezug zwischen Sein/Ereignis
und Seienden/Ereigneten?« zwei verschiedene spezifischere Fragen einschließt.
Die erste Frage lautet: Welcher »Art« ist diese Differenz, dieser Bezug? Hei-
deggers Ausführungen lässt sich eine allgemeine negative-positive Antwort
darauf entnehmen: Die Differenz, der Bezug »erfolgt« nicht sozusagen von
außen, so als ob das Sein-als-Ereignis »für sich« wäre oder »weste« und die
Seienden/Ereigneten dann eine/die Beziehung zu ihm nähmen (vgl. dazu
Beitrage § 135, S. 254). Vielmehr »erfolgt« die Differenz/der Bezug im Wesen
(verbal verstanden) des Seins selbst bzw. im Ereignen des Ereignisses selbst.
Heidegger lässt also die Seienden/Ereigneten in das »Wesen (verbal gedeutet!)
des Seins« bzw. in das »Ereignen des Ereignisses« irgendwie einbezogen sein.
Das ist eine negative-positive Antwort, die im Grunde – mutatis mutan-
dis – dem entspricht, was die Seinsmetaphysik des Thomas von Aquin auch in
aller Klarheit vertritt: Die Seienden als Weisen/Modi der Partizipation am esse
ipsum (per se subsistens) haben einen Bezug zum esse ipsum (per se subsistens)
nicht irgendwie von außerhalb des esse, sondern – um Heideggers Termino-
logie zu verwenden – im »Wesen (als substantiviertes Verb verstanden)« des
96 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

esse und damit »innerhalb« des esse bzw. innerhalb der Selbstmitteilung des
esse. (»Selbstmitteilung des esse« würde – auch hier wieder: mutatis mutan-
dis  –  dem Heideggerschen »Sein-als-Ereignen« entsprechen.) Auf die erste
Frage hat also Heidegger eine partielle Antwort, eine nur negative-positive,
keine wirklich positive.
Gibt es aber bei Heidegger eine echt positive Antwort, also eine Antwort
auf die Frage: Welcher »Art« ist die »innere« Differenz, der innere Bezug von
Sein–Seiendem, Ereignis–Ereignetem? Zumindest ein Aspekt dieser Frage
kann – in der Sprache Heideggers – so formuliert werden: Wie ereignet das
Ereignis das Ereignete? Mit dieser zweiten Frage verhält es sich ganz anders
als mit der ersten, auf die Heidegger eine partielle Antwort zu geben in der
Lage ist.
Diese zweite Frage sei in einer anderen als der Heideggerschen Sprache so
formuliert: Wie ist es zu verstehen, dass aus dem »Wesen (verbal gedeutet!) des
Seins« bzw. aus dem »Ereignen des Ereignisses« überhaupt Seiende/Ereignete
»hervorgehen«? Vermutlich würde Heidegger dazu sagen, die gestellte Frage
sei eine »metaphysische« Frage – und Metaphysik habe er schließlich hinter
sich gelassen. Abgesehen davon, dass eine solche Antwort, wie oben mehr-
mals gezeigt wurde, völlig ungerechtfertigt und leer ist, kann sich Heidegger
so leicht dem Gewicht der Frage nicht entziehen. Basierend auf seiner mehr-
mals zitierten gewichtigen Aussage »[…] zur Wahrheit des Seins gehört, daß
das Sein nie west ohne das Seiende«, könnte und müsste man sagen, dass das
»Hervorgehen« der Seienden aus dem Wesen (verbal verstanden) des Seins
bzw. der Ereigneten aus dem Ereignen des Ereignisses mit Notwendigkeit
erfolgt; denn das von Heidegger behauptete »nie« (»… zur Wahrheit des Seins
gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende …«) impliziert die Modalität
der Notwendigkeit. Heideggers Antwort auf diese zweite Frage würde dann
lauten müssen: Dass das Sein nie »west« ohne Seiende bzw. dass das Ereignis
nie ereignet ohne Ereignete, besagt, dass das Sein notwendigerweise »west«
mit Seienden bzw. dass das Ereignis notwendigerweise Ereignete ereignet28;
denn Seiende / Ereignete »gehen« aus dem Sein-qua-Ereignis notwendiger-
weise »hervor«. Hier gäbe es nichts mehr zu »erklären«. So weit wäre diese
Antwort (in Rahmen seiner Annahmen) richtig, aber sie wirft ihrerseits neue,
gravierende Probleme für Heidegger auf.
In der Tat, die implizierte Modalität ist eine konditionierte, eine bedingte
Notwendigkeit, sie steht unter einer Bedingung, nämlich: Wenn es Sein(‑als-
das-Ereignis) gibt, dann »west« das Sein notwendigerweise mit Seiendem …
Wie steht es aber mit dem modalen Status des Seins selbst, des Seins-als-das-
Ereignis? Um in diesem Zusammenhang den von Heidegger mit Vorliebe

28  Es dürfte klar sein, dass Heidegger das Verb »ereignen« im transitiven Sinne ver-

steht und gebraucht.


2.4 Das Ungedachte in Heideggers »Seinsdenken« II 97

verwendeten Ausdruck »es gibt..« zu gebrauchen: Gibt es notwendigerweise


(das) Sein(als-das-Ereignis) mit dem Seienden? Anders und etwas locker
formuliert: Ist alles kontingent – alle Seienden / Ereigneten und das Sein-als-
das-Ereignis selbst – oder gibt es Notwendiges im eigentlichen Sinne, also (in
Heideggers Sprache formuliert): Sein, das »west« und (oder: so dass es) nicht
nicht-»wesen« kann?
Eine solche schlechterdings fundamentale Frage wird von Heidegger nicht
gestellt, geschweige denn behandelt. Er würde sie vermutlich als »metaphysi-
sche« Frage a limine abtun. Aber damit würde er ein Zweifaches klar offen-
baren: nicht nur, dass seine Metaphysikkritik gegenstandslos ist, sondern
vor allem, dass er nur eine willkürlich und drastisch beschnittene und einge-
schränkte Gestalt des von ihm sonst so unübertrefflich hocheingeschätzten
»Denkens« in Wahrheit akzeptiert und pflegt, gehören doch die Modalitäten
zu den höchsten Potentialitäten des nicht willkürlich beschnittenen und ein-
geschränkten Denkens. Wie anders stellt sich die Auffassung des Thomas
von Aquin dar: Indem Thomas alle Potentialitäten des Denkens nicht nur
irgendwie theoretisch anerkennt, sondern sie auch (zumindest grundsätzlich)
zur Geltung bringt, denkt er das esse per se subsistens näher und bestimmter
als absolutnotwendiges Sein (esse, nicht ens /Seiendes), das in voller Freiheit
Seiende erschafft. Damit ist eine adäquate Antwort auf die zweite Frage, die
Frage nach der »inneren« Differenz bzw. dem »innerem« Bezug von Sein und
(geschaffenem) Seiendem – und zwar »in der Sphäre des Wesens (verbal ver-
standen)« des Seins – gegeben.
[iii] Die dritte Frage betrifft die Konsequenzen des Umstands, dass es einen
Bezug von Sein und Seiendem gibt, für Heideggers Versuch, das »Sein/Ereig-
nis selbst (oder als solches)« zu denken. Das Sein im Ganzen ist als das-Sein-
in-seinem-Verhältnis-zu-den-Seienden oder das Sein-zusammen-mit-den-
Seienden oder noch expliziter: das Sein-als-der-Zusammenhang-der(oder:
unter-den)-Seienden zu verstehen. Heidegger schenkt diesem Sachverhalt
kaum explizite Beachtung; er scheint dieses Thema sogar nur mit äußerster
Widerwilligkeit anzuerkennen und anzugehen. Der Grund dürfte darin zu
sehen sein, dass er jede Rede eines Bezugs der Seienden zum Sein bzw. des
Seins zu den Seienden als »Metaphysik« in seinem pejorativen Sinne zu be-
trachten geneigt ist. Dies stellt auch seinen ganzen Ansatz zur Thematisierung
der ursprünglichen Seinsdimension in Frage. Es genügt hier, eine symptomati-
sche Passage aus seinen Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) zu zitieren:

»§ 135. Die Wesung des Seyns als Ereignis (der Bezug von Da-sein und Seyn) schließt in
sich die Er-eignung des Da-seins. Demnach ist streng genommen die Rede vom Bezug
des Da-seins zum Seyn irreführend, sofern die Meinung nahegelegt wird, als wese das
Seyn ›für sich‹ und das Da-sein nehme die Beziehung zum Seyn auf.
Der Bezug des Da-seins zum Seyn gehört in die Wesung des Seyns selbst, was auch so
gesagt werden kann: das Seyn braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung.
98 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

So befremdlich ist das Er-eignis, dass es durch den Bezug zum Anderen erst er-gänzt
zu werden scheint, wo es doch von Grund aus nicht anders west.
Die Rede vom Bezug des Da-seins zum Seyn macht das Seyn zweideutig, zum
Gegenüber, was es nicht ist, sofern es ja das, dem es als Gegenüber wesen soll, selbst
erst er-eignet. Daher ist auch dieser Bezug ganz unvergleichbar mit der Subjekt-Ob-
jekt-Beziehung …« (Beiträge 254)

Dieser Text zeigt in bezeichnender Weise, dass Heidegger für sich genau das in
Anspruch nimmt, was er der christlich orientierten Metaphysik stets verwei-
gert: die Möglichkeit, ja Unvermeidlichkeit, Formulierungen zu verwenden,
die oft ungeeignet und oft missverständlich sind. So gut wie jede »metaphy-
sische« Formulierung, in der der Ausdruck »Seiend(es)/ens« erscheint, wird
von ihm als Beleg dafür angeführt, die Metaphysik denke nur »das Seiende«,
nämlich das höchste Seiende und die endlichen Seienden. Wenn etwa Thomas
von Aquin den »Bezug« der geschaffenen Seienden zum esse per se subsistens
so versteht, dass er die Seienden als partizipierende Seinsmodi des esse per se
subsistens begreift, warum sollte es auch nicht für ihn gelten: »Die Rede vom
Bezug des Da-seins zum Seyn [bei Thomas: der Bezug der geschaffenen Sei-
enden als Seinsmodi zum esse per se subsistens] macht das Seyn [bei Thomas:
das esse per se subsistens] zweideutig, zum Gegenüber, was es nicht ist, sofern
es ja das, dem es als Gegenüber wesen soll, selbst erst er-eignet [bei Thomas:
sofern das esse per subsistens ja das, dem es als Gegenüber wesen soll, selbst
am eigenen esse per se subsissens partizipieren lässt, indem es sie als endliche
Seinsmodi erschafft]. Daher ist auch dieser Bezug ganz unvergleichbar mit der
Subjekt-Objekt-Beziehung …«?
Angesichts einer solchen Sachlage ist das, was Heidegger – und mit ihm die
Schar derer, die seine Aussagen wie Dogmen annehmen und zitieren – gegen
die christlich orientierte Metaphysik sagt (bzw. sagen), nicht nur erstaunlich,
sondern auch im höchsten Maße selbstwidersprüchlich und selbstentlarvend.

2.5 Die »Überwindung der Metaphysik« als »Verwindung


der Metaphysik« und das »Ende der Seinsgeschichte«

Nach diesen langen Ausführungen über Heideggers Seinsdenken empfiehlt es


sich, noch einmal seine so konsequenzenreiche These über die Notwendigkeit
der Überwindung der Metaphysik zu analysieren, und zwar jetzt im Zusam-
menhang mit der Heidegger zufolge daraus resultierenden These vom Ende
der Seinsgeschichte, ferner mit seiner Betonung der Endlichkeit des Denkens
und dem ihn leitenden »methodologisch-programmatischen« »Versuch, die
Wahrheit des Seins einfach zu sagen«. Es dürfte u. a. klar geworden sein, dass
Heideggers Denken nicht gerade durch durchgängige Kohärenz glänzt. Ein
Grund dafür liegt in der Tatsache, dass er eine große Entwicklung durch-
2.5 Die »Überwindung der Metaphysik« als »Verwindung der Metaphysik« 99

gemacht hat. Nichtsdestotrotz wird allgemein angenommen, dass seine These


über die Überwindung der Metaphysik einen der stabilen Faktoren in dieser
Entwicklung darstellt. Das dürfte aber nur hinsichtlich des unablässig stereo-
typ wiederholten Einwandes gegen die angebliche Seinsvergessenheit der
Metaphysik zutreffend sein. Dahinter aber verbirgt sich eine andere Realität.
Es ist daher angebracht, abschließend auf dieses Thema noch einmal zurück-
zukommen und zusätzlich einige mit ihm zusammenhängende »Thesen«
Heideggers einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

[1] Es sei eine zentrale Passage aus Heideggers Abhandlung Zur Seinsfrage
(ursprünglich 1955 unter dem Titel »Über ›Die Linie‹« erschienen) angeführt,
in der die wichtigsten – und zum Teil nicht ganz kohärent erscheinenden – As-
pekte seiner zentralen These über die (Notwendigkeit der) Überwindung der
Metaphysik formuliert werden. Die »Überwindung« wird hier von Heidegger
schon als »Verwindung« (re)interpretiert und präzisiert.
»Die Verwindung der Metaphysik ist Verwindung der Seinsvergessenheit. Die Ver-
windung wendet sich dem Wesen der Metaphysik zu. Sie umrankt es durch das, wohin
dieses Wesen selbst verlangt, insofern es nach demjenigen Bereich ruft, der es ins Freie
seiner Wahrheit hebt. Darum muss das Denken, um der Verwindung der Metaphysik
zu entsprechen, zuvor das Wesen der Metaphysik verdeutlichen. Einem solchen Ver-
such erscheint die Verwindung der Metaphysik zunächst wie eine Überwindung, die
das ausschließlich metaphysische Vorstellen nur hinter sich bringt, um das Denken ins
Freie des verwundenen Wesens der Metaphysik zu geleiten. Aber in der Verwindung
kehrt die bleibende Wahrheit der anscheinend verstoßenen Metaphysik als deren
nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück.
Hier geschieht anderes als eine bloße Restauration der Metaphysik. […] Jede Res-
tauration ist Interpretation der Metaphysik. Wer heute das metaphysische Fragen
im Ganzen seiner Art und Geschichte deutlicher zu durchschauen und zu befolgen
meint, sollte, wo er sich doch so überlegen gern in hellen Räumen bewegt, eines Tages
darüber nachdenken, woher er denn das Licht zu einem klareren Sehen genommen
hat. Das Groteske ist kaum zu überbieten, dass man meine Denkversuche als Zer-
trümmerung der Metaphysik ausruft und sich gleichzeitig mit Hilfe jener Versuche auf
Denkwegen und in Vorstellungen aufhält, die man jener angeblichen Zertrümmerung
entnommen – ich sage nicht, zu verdanken – hat. Es braucht hier keinen Dank, aber
eine Besinnung. Doch die Besinnungslosigkeit begann schon mit der oberflächlichen
Missdeutung der in ›Sein und Zeit‹ (1927) erörterten ›Destruktion‹, die kein anderes
Anliegen kennt, als im Abbau geläufig und leer gewordener Vorstellungen die ur-
sprünglichen Seinserfahrungen der Metaphysik zurückzugewinnen.« (SeinsF 416–7)29

Es ist unverkennbar, dass Heidegger in dieser Passage bemüht ist, sozusagen


das Positive der Metaphysik zu artikulieren, hervorzuheben und zu bewahren.
Dass Heidegger sogar so weit geht, von der »bleibende[n] Wahrheit der an-
scheinend verstoßenen Metaphysik« zu sprechen, ist bemerkenswert; dies um
29  Vgl. auch Heideggers Abhandlung: »Überwindung der Metaphysik«, in: Vorträge

und Aufsätze, 1954, 71–99.


100 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

so mehr, als er, wie oben gezeigt wurde, »die Metaphysik« weitgehend fehl-
interpretiert, indem er sie einfach als »Onto-theo-logie« charakterisiert und
sogar karikiert. Und trotzdem weist er hin auf die »bleibende Wahrheit der an-
scheinend verstoßenen Metaphysik«. Es muss in diesem Kontext auf das son-
derbare Phänomen hingewiesen werden, dass vor allem jüdisch und christlich
orientierte Philosophen und Theologen immer nur Heideggers kompromisslos
negative Aussagen über die Metaphysik zitieren und die anderen positiven
Aussagen vollständig außer Acht lassen.30 Die Frage ist allerdings, wie dieses
Positive aufzufassen ist. Worin besteht die bleibende Wahrheit der Metaphysik
im Sinne Heideggers? Darauf findet man bei Heidegger eine Antwort, aber
diese Antwort ist ambig und wirft neue, gravierende Kohärenzprobleme auf.
Heideggers These von der Seinsvergessenheit wurde immer als der all-
gemeine fundamentale Punkt seiner Kritik an der Metaphysik aufgefasst und
behandelt, so auch in der bisherigen kritischen Darstellung der Heidegger-
schen Konzeption in diesem Buch. Aber es findet sich bei Heidegger auch eine
andere Sicht, der große Bedeutung beizumessen ist. Im sehr aufschlussreichen
(von Heidegger überprüften und an einigen Stellen ergänzten) Protokoll zu
einem Seminar über den Vortrag »Zeit und Sein« wird ausgeführt:
»Die Seinsvergessenheit, die sich als ein Nichtdenken an die Wahrheit des Seins zeigt,
kann leicht als ein Versäumnis des bisherigen Denkens gedeutet und mißverstanden
werden, jedenfalls als etwas, dem durch die ausdrücklich übernommene und voll-
zogene Frage nach dem Sinn, d. h. nach der Wahrheit des Seins ein Ende gesetzt wird.
Heideggers Denken könnte […] als die Bereitstellung und Eröffnung des Fundaments
verstanden werden, auf dem als dem ihr unzugänglichen Grund alle Metaphysik be-
ruhte, und zwar in der Weise, daß die bisherige Seinsvergessenheit dadurch aufgehoben
und getilgt würde.« (Protok 31)

Im selben Protokoll wird diese Sicht verworfen und betont,


»daß das genannte bisherige Nichtdenken kein Versäumnis ist, sondern als Folge des
Sichverbergens des Seins zu denken ist. Die Verbergung des Seins gehört als deren Pri-
vation zur Lichtung des Seins. Die Seinsvergessenheit, die das Wesen der Metaphysik
ausmacht und die zum Anstoß für ›Sein und Zeit‹ wurde, gehört zum Wesen des Seins
selbst. Damit stellt sich für ein Denken an das Sein die Aufgabe, Sein so zu denken, daß
die Vergessenheit ihm wesentlich zugehört.« (Protok 32)

Das sind bemerkenswerte Aussagen. Ob sie auch kohärent sind, ist die große
Frage. Man kann sie näher interpretieren, indem man sie auf der Basis einer
Unterscheidung klärt, nämlich der Unterscheidung zwischen
1) Denken-des-Seins-in-seiner-Selbstvergessenheit (oder: in-seinem‑Sich-
verbergen), oder einfach: Denken-des-selbstvergessenen (oder: Denken-des-
sichverbergenden)-Seins
und

30 
Vgl. dazu unten, Kapitel 4, Abschnitt 4.2.1.
2.5 Die »Überwindung der Metaphysik« als »Verwindung der Metaphysik« 101

2) Denken-des-Seins-qua-Sein-mit-seiner-explizit-erfahrenen-Selbstver-
gessenheit (oder: ‑mit-der-ihm-wesentlich-zugehörenden-Selbstvergessen-
heit).
Heidegger zufolge ist die Metaphysik die Artikulation des Seins gemäß
1) und das von ihm intendierte »anfängliche Denken« die Artikulation des
Seins gemäß 2) zu interpretieren. Aber ist diese Unterscheidung überhaupt
sinnvoll, kann sie aufrechterhalten werden? Heidegger nimmt das an, indem
er diesbezüglich zwei Aussagen macht: »[Es] stellt sich für ein Denken an das
Sein die Aufgabe, Sein so zu denken, daß die Vergessenheit ihm wesentlich
zugehört« und: »In dem Denken an das Sein selbst, an das Ereignis, wird die
Seinsvergessenheit erst als solche erfahrbar.« (Protok 32) Aber diese Aussagen
scheinen sehr problematisch zu sein. Wenn ein Denken das Sein so denkt,
»daß die Selbstvergessenheit des Seins ihm [dem Sein] wesentlich ist«, denkt es
dann das Sein-in-seiner-Selbstvergessenheit oder denkt es das Sein-mit-seiner-
explizit-erfahrenen-Selbstvergessenheit oder denkt es das Sein‑ in-und-mit-
seiner-explizit-erfahrenen-Selbstvergessenheit? Die Selbstvergessenheit des
Seins ist doch seine Ungedachtheit. Was kann es dann heißen, dass das Denken
das Sein in-und-mit seiner Ungedachtheit denkt? Die sogenannte Ungedacht-
heit wird dann eben dabei gedacht … Analoges gilt für die Behauptung, dass
»in dem Denken an das Sein selbst, an das Ereignis, die Seinsvergessenheit erst
als solche erfahrbar wird«. Aber wenn die Seinsvergessenheit erfahren wird,
ist das Sein eben nicht mehr vergessen … Man kann nicht umhin zu sagen,
dass Heidegger mit allzu leichter Gewandtheit ein Spiel mit großen Worten
treibt.
Dass die »Denkgestalt« 1) verständlich und kohärent ist, steht außer Zwei-
fel. Aber die »Denkgestalt« 2), die Heideggersche, wirft ein großes Problem
auf, das mit Heideggers weiterer These vom Ende der Seinsgeschichte offen-
bar wird.

[2] Im Protokoll wird berichtet, dass zu dem Vortrag Zeit und Sein die Frage
nach dem »möglichen Ende der Seinsgeschichte« gestellt wurde. Dazu wird
ausgeführt:
»Wenn das Ereignis nicht eine neue seinsgeschichtliche Prägung des Seins ist, sondern
umgekehrt das Sein in das Ereignis gehört und dahin zurückgenommen wird (auf
welche Weise auch immer), dann ist für das Denken im Ereignis, d. h. für das Denken,
das in das Ereignis einkehrt – sofern dadurch das Sein, das im Geschick beruht, nicht
mehr das eigens zu Denkende ist – die Seinsgeschichte zu Ende. Das Denken steht dann
in und vor Jenem, das die verschiedenen Gestalten des epochalen Seins zugeschickt hat.
Dieses aber, das Schickende als das Ereignis, ist selbst ungeschichtlich, besser geschick-
los.« (Protok 44)

Um diese weitgehend kryptischen Aussagen zu verstehen und zu bewerten,


muss man weitere Erläuterungen beachten. Heideggers Formulierungen sind
102 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

so ungewöhnlich, dass man sie wörtlich anführen muss, um ihnen  –  wenn


überhaupt – einen Sinn abzugewinnen.
»Die Metaphysik ist Seinsvergessenheit und d. h. die Geschichte der Verbergung und
des Entzugs dessen, das Sein gibt. Die Einkehr des Denkens in das Ereignis ist somit
gleichbedeutend mit dem Ende dieser Geschichte des Entzugs. Die Seinsvergessenheit
›hebt‹ sich ›auf‹ mit dem Entwachen in das Ereignis.« (Ebd.)

Ist damit also der Entzug, die Verbergung des Seins endgültig »aufgehoben«?
Das schiene zunächst im Rahmen der bisherigen Aussagen Heideggers kon-
sequent zu sein. Aber überraschenderweise heißt es dann anschließend:
»Die Verbergung aber, die zur Metaphysik als Grenze gehört, muß dem Ereignis selbst
zueigen sein. Das besagt, dass der Entzug, der in der Gestalt der Seinsvergessenheit
die Metaphysik kennzeichnete, sich jetzt als die Dimension der Verbergung selbst
zeigt. Nur daß jetzt diese Verbergung sich nicht verbirgt, ihr gilt vielmehr mit das
Aufmerken des Denkens. – Mit der Einkehr des Denkens in das Ereignis kommt also
erst die dem Ereignis eigene Weise der Verbergung an. Das Ereignis ist in ihm selber
Enteignis […].« (Ebd.)

Das sind wieder extrem gewagte und gewaltige Aussagen. Die Seinsver-
gessenheit, die die Metaphysik charakterisiert, und die Seinsgeschichte, die
die Geschichte der Metaphysik selbst ist, werden aufgehoben. Die Seinsver-
gessenheit ist die Verbergung und der Entzug des Seins. Aber der Entzug/
die Verbergung verschwindet nicht; vielmehr zeigt sich der Entzug jetzt als
die Dimension der Verbergung, wobei diese »dem Ereignis selbst zueigen
sein [muss]«. Wie das? Warum wohl? Aber es gibt Heidegger zufolge einen
Unterschied zur Metaphysik bzw. zu der die Metaphysik kennzeichnenden
Verbergung: Die Verbergung, die dem Ereignis selbst eigen ist, verbirgt sich
nicht (mehr), sie zeigt sich als die dem Ereignis selbst eigene Weise der Ver-
bergung. »Es [das Ereignis] enteignet sich im genannten Sinne seiner selbst.
Zum Ereignis als solchem gehört die Enteignis. Durch sie gibt das Ereignis
sich nicht auf, sondern bewahrt sein Eigentum.« (ZS 23) Handelt es sich um
dieselbe »Verbergung« in beiden Fällen, in der Metaphysik und im Ereignis?
Die erste zeigt sich nicht, für die zweite gilt, »daß jetzt diese Verbergung sich
nicht verbirgt« (Protok 44). Die dem Ereignis zueigene Verbergung wird
als die Verbergung charakterisiert, der »vielmehr mit das Aufmerken des
Denkens [gilt]«. Wenn das Denken auf diese Verbergung »aufmerksam« wird,
dann zeigt sich die Verbergung eben als Verbergung. Wie das?
Heidegger scheint hier bestimmte »Begriffe« (er würde sagen: »Sachen«
oder »Phänomene«) irgendwie zu hypostasieren – und damit, um in seiner
Sprache zu sprechen, zu »vergegenständlichen«. Vermutlich verhält es sich
folgendermaßen bei Heidegger: Es kommt ihm zufolge darauf an, das Sein-
als-das-Ereignis selbst, als es selbst, zu denken, was bedeutet, dass das Denken
das Ereignis dann adäquat denkt, wenn das Ereignis sich eben als es selbst
2.5 Die »Überwindung der Metaphysik« als »Verwindung der Metaphysik« 103

zeigt. Nun scheint Heidegger zu meinen oder anzunehmen, dass dieses »Sich
als es selbst Zeigen«, eben indem es sich als es selbst zeigt, so etwas wie einen
Entzug einschließt: Es hält sozusagen sich selbst zurück, ent-zieht sich gerade
dem Denken, indem es sich als es selbst zeigt und um sich als es selbst zu zeigen.
Das scheint der Sachverhalt zu sein, der »hinter« dem Gedanken des Entzugs
bzw. der Verbergung im ganzen Denken Heideggers steckt.
Indes, diese Analyse des Sichzeigens ist verfehlt, denn (in diesem Fall:) das
Sein-als-Ereignis zeigt sich als es selbst; das Sichzeigen »betrifft« das Sein-als-
Ereignis eben als es selbst. Wo findet hier so etwas wie ein Entzug oder eine
Verbergung statt? Es kann nämlich nicht adäquaterweise gesagt werden: Das
Es selbst, von dem hier die Rede ist, kann Es selbst nur sein, indem es einen
Entzug oder eine Verbergung beinhaltet oder impliziert. Eine solche »Vor-
stellung« ist Ergebnis eines naiven (eben »gegenständlichen») Verständnisses
von Es selbst, als ob es ein Es selbst nur dann geben könnte, wenn das Es selbst
sich zwar zeigte, aber in einem damit sich (wohl dem »Zugriff« des Denkens)
entzöge.
Man muss hier feststellen: Es ist erstaunlich, dass Heidegger, der wie kaum
ein anderer Denker die Philosophie der Subjektivität kritisiert und grund-
sätzlich überwunden hat, dennoch in entscheidenden Hinsichten immer noch
im Rahmen dieser Philosophie denkt. Einen Beleg dafür bezüglich des hier
abgehandelten Punktes kann ein Hinweis auf Kant liefern.31 In seiner Argu-
mentation zugunsten der These des transzendentalen Idealismus nimmt Kant
als Prämisse den Satz an: Wenn X Erscheinung ist, dann ist X nicht (gleich-
zeitig auch) Ding an sich. Zur Begründung dieser Prämisse bzw. dieses Satzes
führt er ein Argument mit der Struktur des modus tollens ins Feld an: Wenn
X als Erscheinung gleichzeitig die Sache an sich wäre, so müssten »ihre Ei-
genschaften […] in meine Vorstellungskraft hinüber wandern können«;32 dies
ist aber unmöglich bzw. absurd, also … Hier wird klar, was »Erscheinung«
letztlich für Kant bedeutet: Erscheinung enthüllt nicht, sondern verdeckt das
Ansich; die einzige Weise, diese »Verdeckung« zu überwinden, wäre gegeben,
wenn »seine [des Dings an sich] Eigenschaften (und damit das Ding selbst) …
in meine Vorstellungskraft hinüberwandern« würde(n). Das hieße aber: Die
Verdeckung würde nur dann verschwinden, wenn »(die) Erscheinung« selbst
verschwinden würde.
In analoger Weise nimmt Heidegger an, dass das Sichzeigen als solches
(das, was in diesem Kontext Kants »Erscheinung« entspricht) das Es selbst des
Sichzeigenden (dessen, was in diesem Kontext Kants Ding an sich entspricht)
nicht bewahrt, sondern aufhebt. Statt aber wie Kant darauf zu schließen, dass

31  Zum folgenden vgl. L. B. Puntel, »Transzendentaler und absoluter Idealismus«,

jetzt in: Puntel, SGTh 193–221.


32  I. Kant, Prolegomena § 9, 282.
104 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

das Es selbst für uns unerkennbar bleibt, schließt Heidegger darauf, dass das
Sichzeigende sich doch als es selbst zeigt, aber unter der Voraussetzung, dass
es sich dem Denken nicht sozusagen »ausliefert«, was nur dadurch gewähr-
leistet ist, dass es sich entzieht oder verbirgt. Kurz: Sichzeigen von etwas
als es selbst ist nur durch das gleichzeitige Moment des Sichentziehens oder
Sichverbergens möglich bzw. gegeben. Das ist aber eine Prämisse, die für die
Philosophie der Subjektivität charakteristisch ist, wie der Hinweis auf Kant
zeigt. Aber diese Prämisse ist willkürlich: das Sichzeigen von X ist gerade das
Sichzeigen von X-es-selbst – nichts mehr und nichts weniger.

[3] Es stellt sich hier die Frage, was letztlich mit dem Ende der Seinsgeschichte
gemeint ist bzw. sein kann: Das Ende der Seinsgeschichte ist nach Heidegger
nicht das Ende des Entzugs bzw. der Verbergung schlechthin, es ist nur das
Ende jener Gestalt des Entzugs bzw. der Verbergung, der/die »in der Gestalt
der Seinsvergessenheit die Metaphysik kennzeichnete« (Protok 44). Wie ist
aber die »andere« Verbergung zu verstehen, diejenige, von der Heidegger
sagt, dass sie »sich nicht verbirgt«? Welches ist ihre »Gestalt«? Heidegger
deutet die Metaphysik als »Seinsvergessenheit und d. h. [als] die Geschichte
der Verbergung und des Entzugs dessen, das Sein gibt.« (Ebd.) Wenn aber Ver-
bergung hier als »die dem Ereignis eigene Weise der Verbergung« verstanden
wird, heißt das dann nicht, dass auch »Seinsvergessenheit« weiterhin bestehen
wird? Vielleicht eine »andere Gestalt« von Seinsvergessenheit? Vielleicht eine
»andere Gestalt von Metaphysik«? Wenn Heideggers große Worte nicht leere
Worte sind, dann muss gezeigt werden, was mit dieser »dem Ereignis eigenen
Weise der Verbergung« gemeint ist. Das ist absolut nicht klar. Im Gegenteil,
dieser Sachverhalt lässt Heideggers »Konzeption« als nicht-nachvollziehbar
erscheinen.

2.6 Der »Status« des Heideggerschen Denkens I:


Denken des Seins als »Denken im Ereignis, das
Denken, das in das Ereignis einkehrt«

Die These vom »Ende der Seinsgeschichte« wirft ein anderes, ein fundamen-
tales Problem auf: Welches ist letztlich der »Status« des von Heidegger be-
anspruchten »Denkens«?

[1] Dafür ist im gegenwärtigen Kontext folgende  –  oben teilweise schon


angeführte – Passage aus dem Protokoll aufschlussreich, ja entscheidend:
»[F]ür das Denken im Ereignis, d. h. für das Denken, das in das Ereignis einkehrt – so-
fern dadurch das Sein, das im Geschick beruht, nicht mehr das eigens zu Denkende
2.6 Der »Status« des Heideggerschen Denkens I 105

ist – [ist] die Seinsgeschichte zu Ende. Das Denken steht dann in und vor Jenem, das
die verschiedenen Gestalten des epochalen Seins zugeschickt hat. Dieses aber, das Schi-
ckende als das Ereignis, ist selbst ungeschichtlich, besser geschicklos.« (Protok 44)
Diese Passage charakterisiert sehr gut Heideggers »andere[n] Anfang des
Denkens« (Beiträge 4). Viele Fragen drängen sich hier auf.
Hier wird jene Dimension artikuliert, die Heidegger als die ursprünglichste
schlechthin betrachtet, zu der er im Vollzug dessen, was er den »Schritt zu-
rück« nennt, glaubt gelangt zu sein. Er betont, dass der von ihm vollzogene
Rückgang vom Sein-als-Anwesen zum Ereignen nicht als »die Bereitstellung
eines je ursprünglicheren Grundes mißverstanden werden darf« (Protok 49;
vgl. auch 30, 48); wohl aber muss man ihn so verstehen, dass er den Anspruch
erhebt, die ursprünglichste Dimension überhaupt des Denkens und für das
Denken erreicht zu haben. Das wirft aber Probleme auf. Wie rechtfertigt
Heidegger eine solche Behauptung? Darüber findet sich nichts bei ihm. Die
Erklärung dafür könnte darin gesehen werden, dass er phänomenologisch
denken will bzw. faktisch denkt, eine Denkform also praktiziert, in der so
etwas wie Rechtfertigungen u. dgl. keinen Platz haben, bei der es nur auf das
»Sehen« und »Zeigen« ankommt. Dies wirft wiederum ein verschärftes Pro-
blem auf: Wie versteht und situiert Heidegger sein Denken, kurz: welches
ist der Status (Heidegger würde vermutlich sagen: der »Standort«) seines
»Denkens«? Darauf wird weiter unten einzugehen sein.
Noch etwas Anderes, und zwar Hochproblematisches, kommt hier ans
Licht. Heidegger unterscheidet zwischen »Jenem, das die verschiedenen Ge-
stalten des epochalen Seins zugeschickt hat«, also dem »Schickenden«, und
den »verschiedenen Gestalten des epochalen Seins«, also den »Zugeschick-
ten«. Dieser Unterschied oder diese Differenz ist schlechterdings zentral für
sein Denken. Nun erinnert man sich daran, dass sein Haupteinwand gegen die
Seinsmetaphysik darin bestand, dass sie die Differenz zwischen Sein und Sei-
endem nicht gedacht habe. Nach Heidegger aber zeigt die Differenz zwischen
beiden eine ursprünglichere Dimension an als das (ihm zufolge metaphysisch
konzipierte) Sein und das Seiende, und zwar so, dass »sowohl das Sein als auch
das Seiende je auf ihre Weise aus der Differenz [also: aus der ursprünglichen
Dimension] her erscheinen« (OThL 61).
Hier drängt sich nun die Frage auf: Muss nicht die analoge Frage auch hin-
sichtlich der Heideggerschen Differenz zwischen dem »Schickenden« (dem
Ereignis) und den »Zugeschickten« (den Ereigneten) gestellt werden? Und da
Heidegger dazu überhaupt nichts sagt, muss man nicht auch gegen ihn den
Einwand der »Vergessenheit«, des Nicht-Denkens der zuletzt genannten Dif-
ferenz erheben? Heidegger kann darauf verweisen, dass die Ereigneten im Er-
eignis ereignet werden, die Zugeschickten im Schickenden geschickt werden.
Das ist richtig in seinem Sinne, aber, wie schon oben gezeigt wurde, hat nicht
auch die Seinsmetaphysik immer gesagt und betont, dass die Seienden als ge-
106 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

schaffene gerade als partizipierende Modi des Seins selbst ihr Partizipieren im
Sein selbst haben? Nichtsdestoweniger hat Heidegger gegen sie den Vorwurf
des Nicht-Denkens der Differenz erhoben. Wäre dieser Vorwurf berechtigt,
so wäre auch der analoge Vorwurf gegen sein eigenes Denken berechtigt.
Darüber hinaus muss gesagt werden, dass es nicht genügt, irgendwie
»phänomenologisch« die Dimension des Ereignisses als die ursprünglichste
Dimension aufzuweisen.

[2] Hier ist noch einmal die zentrale Frage zu stellen: Wie konzipiert Heideg-
ger »Jene[s], das die verschiedenen Gestalten des epochalen Seins zugeschickt
hat«, also »das Schickende als das Ereignis«? Heidegger zufolge ist dieses
»selbst ungeschichtlich, besser geschicklos«. Und Heidegger erläutert diese
Geschicklosigkeit des Ereignisses / Schickenden so, dass er die Auffassung
verwirft, ihm (dem Ereignis / Schickenden) fehle jede »Bewegtheit«. Die Ge-
schicklosigkeit besage »vielmehr, daß sich dem Denken allererst die dem
Ereignis eigenste Weise der Bewegtheit, die Zuwendung im Entzug ist, als
das zu Denkende zeigt« (Protok 44). Man staunt darüber, wie abstrakt, all-
gemein und inhaltsleer Heideggers Aussagen sind. Und wenn Ausdrücke
verwendet werden wie ›eigen‹, ›Eigentum‹, ›schicken‹ u. ä., die der natürlichen
Sprache entnommen werden und von daher einen ganz bestimmten Sinn
haben, so kann man sich nur darüber wundern, dass er sie für geeignet hält,
die ursprünglichste Dimension überhaupt zu charakterisieren bzw. näher zu
bestimmen. Es ist kaum zu sehen, wie Heidegger den Einwand entkräften
könnte, er treibe eine totale Anthropomorphisierung des Denkens bzw. der
ursprünglichen Dimension.

2.7 Der »Status« des Heideggerschen Denkens II:


absoluter Anspruch, Vorläufigkeit, Sprachnot,
Sprache des Denkens, Endlichkeit des Denkens

Die bisherigen Analysen und Überlegungen führen direkt zu einer fundamen-


talen Frage: Welches sind die Charaktere des Denkens33 im Sinne Heideggers?
Die Antwort darauf beinhaltet ein eigenartiges Paradox im Denken Heideg-
gers, bestehend hauptsächlich aus vier Faktoren.

[1] Heidegger erhebt einen extrem umfassenden, kompromisslosen, das


Ganze der Philosophie in ihrer Geschichte und in ihrer konkreten Gestalt
einfach richtenden Anspruch. Sein Denken will sich allen anderen Gestalten

33  Bei Heidegger kommt die Formulierung ›Charakter des Denkens‹ explizit vor

(vgl. Protok 32).


2.7 Der »Status« des Heideggerschen Denkens II 107

des Denkens absolut überlegen zeigen, indem es sich als ursprüngliche(re)s,


anfängliche(re)s Denken versteht und präsentiert. Vermutlich hat es bisher
keinen »Denker« (man würde gern sagen: »Philosophen«, wenn Heideggers
Einstellung gegenüber der »Philosophie« nicht so ambig wäre) gegeben, der
sich in einer so radikalen Weise gegen die ganze Tradition der Philosophie, sie
richtend, gestellt hat wie Heidegger. Diese Radikalität seines Anspruchs sollte
nicht übersehen oder minimisiert werden. Heideggers absoluter Anspruch
ist um so radikaler und effektiver, als er sich in der Regel auf der expliziten
Ebene meistens verbirgt und dem Blick des unaufmerksamen Lesers oder
Hörers leicht entschwindet. Das geschieht dadurch, dass er oft und oft nur
allzu deutliche Hinweise auf die Vorläufigkeit des Denkens, die Sprache des
Denkens, die Sprachnot oder das Versagen der Sprache und  –  generell zu-
sammenfassend – die Endlichkeit des Denkens gibt. Das ist im folgenden im
Einzelnen zu zeigen.

[2] Von Heidegger wird dauernd auf die Vorläufigkeit seiner »denkerischen«
Bemühungen hingewiesen: »Sie [die Vorläufigkeit] hat über die nächste Bedeu-
tung hinaus, daß dieses Denken stets nur vorbereitend ist, den tieferen Sinn,
daß dieses Denken jeweils – und zwar in der Weise des Schrittes zurück – vo-
rausläuft.« (Protok 38) Das ist eine absolut treffende Selbstcharakterisierung.
Damit kann Heidegger Einwände gegen die Defizienz, die Unzulänglichkeit
und die offensichtlichen Fehler und Irrtümer seines »anfänglichen« Denkens
in der Art einer Selbstimmunisierungsstrategie abwehren. Es wird noch zu
zeigen sein, welches die Kehrseite der Medaille ist.

[3] Man findet in Heideggers Schriften die ständige Klage über die Sprache.
Man kann seine häufigen diesbezüglichen Äußerungen in den Formulie-
rungen zusammenfassen: »Die Sprache versagt …« und / oder es herrscht
»Sprachnot« (im Bereich seines »anfänglichen Denkens«). Zwar findet man
den Topos auch bei anderen Philosophen, aber nicht in einem solchen Aus-
maß wie bei Heidegger. Eine charakteristische Äußerung dieser Art sind die
drei letzten Sätze des Vortrags Zeit und Sein. Der drittletzte und der vor-
letzte Satz lauten: »Es gilt unablässig, die Hindernisse zu überwinden, die
ein solches Sagen [Heidegger bezieht sich auf ›dasjenige Denken […], das
sich eigens in das Ereignis einläßt, um Es aus ihm her auf Es zu – zu sagen‹]
leicht unzureichend machen. Ein Hindernis dieser Art bleibt auch das Sagen
vom Ereignis in der Weise eines Vortrags.« (ZS 25) Man wäre geneigt, diesen
vorletzten Satz so zu verstehen: Hindernis sei die unvermeidliche Kürze
eines Vortragstextes. Aber Heidegger meint etwas völlig Anderes, was der
letzte Satz dann ausdrücklich formuliert: »Er [der Vortrag] hat nur in Aus-
sagesätzen gesprochen.« Der Satz scheint näher so zu verstehen sein: »Er
hat – leider – nur in Aussagesätzen sprechen können.«
108 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Bei Heidegger findet man aber nicht nur Klagen, sondern auch interes-
sante und aufschlussreiche Überlegungen über die Sprache. So unterscheidet
er zwischen der Sprache des Denkens und der natürlichen Sprache und macht
diesbezüglich zwei wichtige Aussagen: Erstens, dass die Sprache des Denkens
von der natürlichen Sprache ausgehen muss, und zweitens dass die natürliche
Sprache nicht einfach als »metaphysische Sprache« anzusehen ist, was er
so versteht: »Vielmehr ist unsere Interpretation der gewöhnlichen Sprache
metaphysisch, an die griechische Ontologie gebunden.« Heidegger macht
anschließend die programmatische Aussage: »Das Verhältnis des Menschen
zur Sprache könnte sich aber analog dem Wandel des Verhältnisses zum Sein
verwandeln.« (Protok 55)
Es ist bezeichnend für den Denker Heidegger, dass er sich nie der Mühe un-
terzogen hat, die Struktur(en) und die Interpretations‑ und Transformations-
möglichkeiten der natürlichen Sprache und anderer wie immer entwickelter
Sprachen zu untersuchen. Dazu fehlten ihm wohl die einfachsten nötigen
Kenntnisse im Bereich der modernen Logik, Semantik usw. Anstatt sich einer
solchen Aufgabe zu widmen, rekurrierte Heidegger auf die ursprüngliche
Etymologie und Geschichte zentraler Wörter der philosophischen Tradition,
interpretierte sie auf dieser Basis und kreierte teilweise, ebenfalls auf dieser
Basis, neue Wörter und Wort(um)bildungen, wie das Beispiel des Wortes
›Ereignis‹ zeigt. Wie anders hätte Heidegger verfahren können (und müssen),
wenn er die dazu erforderlichen Bedingungen erfüllte, soll an einem interes-
santen Punkt gezeigt werden, der ganz direkt auf zentrale Thesen des in Ka-
pitel 3 zu entwickelnden Ansatzes des Verfassers bezogen ist.
Heidegger zufolge besteht die (natürliche) Sprache aus Aussagesätzen,
aus prädikativ strukturierten Sätzen, bestehend aus Subjekt und Prädikat.
Seine in vielen Formen vorgelegte Kritik an der mit einer solchen Sprache
assoziierten Ontologie (Substanzontologie) besteht nach Auffassung des Ver-
fassers grundsätzlich zu Recht. Es wird »grundsätzlich« gesagt, weil Heideg-
gers Kritik in eine Denkrichtung eingebettet ist, die hochproblematisch ist;
dessenungeachtet kann man den Kern der Kritik anerkennen, ohne deren
Umfeld zu akzeptieren.
Es ist bezeichnend, dass Heidegger es nicht unternommen hat, zumindest
die Grundstruktur(en) einer, wie er zu sagen pflegt, Sprache des Denkens
(oder einer, wie der Verfasser es zu sagen vorzieht, philosophischen Sprache)
zu entwerfen. Es handelt sich um eine Sprache, die keineswegs mit der von
Heidegger so genannten »griechischen Ontologie« (der »Substanzontologie«)
assoziiert wird. Ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur der Sätze dieser Sprache
auf der rein syntaktischen Ebene zu beseitigen (was faktisch überhaupt nicht
möglich ist), ist es möglich, in semantischer, ontologischer und allgemein phi-
losophischer Hinsicht die Subjekt-Prädikat-Struktur vollständig zu verwerfen
und aufzugeben. Die philosophische Sprache besteht demnach ausschließlich
2.7 Der »Status« des Heideggerschen Denkens II 109

aus Sätzen ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur; es sind also Sätze wie: ›es
regnet‹, ›es grünt‹ usw. Beispiele bei Heidegger wären: ›es west‹, ›es gibt‹; er
hätte auch sagen können: anstelle von ›das Nichts nichtet‹: ›es nichtet‹; anstelle
von ›das Ereignis ereignet‹: ›es ereignet‹ usw.
Genau das ist der Weg, den der Verfasser in seiner struktural-systematischen
Philosophie einschlägt, deren Ansatz in Kapitel 3 dargestellt wird. Sätze, die
keine Subjekt-Prädikat-Struktur haben, werden dann »Primsätze«34 genannt.
Man wird problemlos weiterhin in syntaktischer Hinsicht die normalen Sub-
jekt-Prädikat-Sätze, wie sie in der natürlichen Sprache vorkommen, verwen-
den können; bloß werden sie dann in semantisch-ontologischer Hinsicht auto-
matisch uminterpretiert. Dann wird das Subjekt eines Subjekt-Prädikat-Satzes
nicht als ein Term, der auf eine »Substanz« (in der analytischen Philosophie
wird dafür in der Regel der Term ›Objekt‹ verwendet) referiert, sondern als
eine Abbreviation einer großen Anzahl von Primsätzen verstanden. So wird
der Name ›Sokrates‹ im Satz ›Sokrates ist ein Philosoph‹ uminterpretiert im
Sinne einer Menge von Primsätzen wie: ›… (es) ist Grieche‹, ›… (es) ist Lehrer
Platons‹ … usw. Für weitere Einzelheiten sei auf das Buch des Verfassers
Struktur und Sein, Kapitel 3, verwiesen.
Würde man eine solche philosophische Sprache bzw. Semantik in der Phi-
losophie konsequent zur Anwendung bringen, so würden die Schwierigkeiten
Heideggers mit »der Sprache« (d. h. ihm zufolge: mit den Sätzen der Subjekt-
Prädikat-Struktur) grundsätzlich verschwinden. Es sei angefügt, dass Heideg-
ger in einer solchen Uminterpretation der natürlichen Sprache grundsätzlich
kein Problem sehen kann, obwohl er, wie es scheint, das Gegenteil behauptet
hätte. Er fragt nämlich,
»ob es nicht eine Sprache des Denkens geben könne, die das Einfache der Sprache so
spricht, daß die Sprache des Denkens gerade die Begrenztheit der metaphysischen
Sprache sichtbar mache. Darüber aber kann man nicht reden. Es entscheidet sich daran,
ob ein solches Sagen glückt oder nicht.« (Protok 55)

Worin das Kriterium dafür zu sehen wäre, ob die Sprache des Denkens glückt
oder nicht, wird von Heidegger nicht gesagt. Aber dann fügt er hinzu: »Was
schließlich die natürliche Sprache anbelangt, so ist nicht erst sie metaphysisch.
Vielmehr ist unsere Interpretation der gewöhnlichen Sprache metaphysisch,
an die griechische Ontologie gebunden.« (Ebd.) Wenn »unsere« Interpreta-
tion der natürlichen Sprache »metaphysisch« ist, so ist nicht zu sehen, warum
wir sie nicht ändern, und das heißt: nicht anders interpretieren, können. Noch
weniger ist zu sehen, warum man darüber »nicht reden« kann. Darüber reden

34  Vgl. dazu die ausführliche Herausarbeitung einer Semantik und Ontologie auf der

Basis einer philosophischen Sprache, die Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur rigoros
ausschließt und nur »Primsätze« (Sätze ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur) anerkennt,
im Buch des Verfassers SuS (vgl. das ganze Kapitel 3).
110 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

und die Uminterpretation explizit und systematisch durchführen, das wäre die
Aufgabe. Man muss aber hinzufügen, dass die Behauptung, unsere Interpreta-
tion der natürlichen Sprache sei »metaphysisch«, einseitig und unzutreffend
ist; es ist doch wohl so, dass diese Interpretation die natürlichste, die der syn-
taktischen Struktur der natürlichen Sprache am unmittelbarsten angemessene
ist. Sie entspricht dem, was in der modernen semantischen Literatur die Stan-
dard-Interpretation der Prädikatenlogik erster Stufe genannt wird.35

[4] In Heideggers Schriften begegnet man auf Schritt und Tritt dem Hinweis
auf die Endlichkeit des Denkens. In der Weise, wie Heidegger sie versteht
und sozusagen in Szene setzt, offenbart sich die eigentliche Gestalt seines
Denkens, die man aus diesem Grund wohl eine defiziente Gestalt von
Denken nennen muss, wie gleich zu zeigen ist. Die zwei zuletzt betrachteten
»Charaktere« seines Denkens, die Vorläufigkeit und die Sprachnot bzw.
das Versagen der Sprache, sind konvergente Charaktere, insofern sie zwei
Linien vergleichbar sind, die auf einen gemeinsamen Schnittpunkt zulaufen:
die zentrale These über die Endlichkeit des (d. h., Heideggerschen) Denkens;
in anderer Hinsicht ergeben sie sich daraus. Was dann geschieht, kann man
zuerst etwas locker und vielleicht polemisch allgemein so ausdrücken: Wer
sich philosophisch in den Schmollwinkel der Endlichkeit des Denkens setzt
bzw. verzieht, wird »die Welt, die Wirklichkeit, das Sein« konsequenterweise
nur als eine beschränkte, eben am Maßstab der vom Schmollwinkel gesetzten
Schranke sehen und bestimmen können. Dies ist es, was buchstäblich bei
Heideggers Endlichkeit des Denkens geschieht. Dieser Weg begann in Sein
und Zeit, dem Werk, von dem Heidegger später sagt, es sei »der Versuch einer
Interpretation des Seins auf den transzendentalen Horizont der Zeit hin«,
um dann hinzuzufügen: »In dem Vortrag Zeit und Sein wird der bislang un-
gedachte, im Sein als Anwesen liegende Sinn von Zeit in ein ursprünglicheres
Verhältnis zurückgeborgen.« (Protok 29–30) Wie oben dargestellt wurde,
werden »Sein« und »Zeit« in das Ereignis »zurückgenommen«. Das Ergebnis
dieses Denkweges ist u. a. die These von der Endlichkeit des Denkens und
der Endlichkeit des Seins, was im vorletzten Absatz des Protokolls sehr klar
ausgesprochen wird:
»Von der Endlichkeit des Seins wurde zunächst im Kant-Buch gesprochen. Die wäh-
rend des Seminars angedeutete Endlichkeit des Ereignisses, des Seins, des Gevierts
unterscheidet sich jedoch von jener, insofern sie nicht mehr aus dem Bezug zur Un-
endlichkeit, sondern als Endlichkeit in sich selbst gedacht wird: Endlichkeit, Ende,
Grenze, das Eigene  –  ins Eigene Geborgensein. In diese Richtung  –  d. h. aus dem
Ereignis selbst, vom Begriff des Eigentums her – ist der neue Begriff der Endlichkeit
gedacht.« (Protok 58)

35 
Vgl. dazu SuS Abschnitt 3.2.2.
2.7 Der »Status« des Heideggerschen Denkens II 111

Vermutlich bezieht sich Heidegger auf folgende Passage aus dem Kant-Buch:
»Existenz ist als Seinsart in sich Endlichkeit und als diese nur möglich auf dem Grunde
des Seinsverständnisses. Dergleichen wie Sein gibt es nur und muss es geben, wo End-
lichkeit existent geworden ist. So offenbart sich das Seinsverständnis, das unerkannt in
seiner Weite, Ständigkeit, Unbestimmtheit und Fraglosigkeit die Existenz des Men-
schen durchherrscht, als der innerste Grund seiner Endlichkeit.«36

Dazu ist zunächst zu bemerken, dass der Satz »Dergleichen wie Sein gibt es
nur und muss es geben, wo Endlichkeit existent geworden ist« völlig willkür-
lich ist. Woraus ergibt sich diese Behauptung? Und wenn das Seinsverständnis
sich als »der innerste Grund seiner [des Menschen] Endlichkeit« offenbart, so
folgt daraus keineswegs, dass das Sein selbst ebenfalls endlich ist. Der oben
zitierten Passage im Protokoll ist nun zu entnehmen, dass die Endlichkeit des
Denkens und die Endlichkeit des Seins einfach korrelative Größen sind. Alle
Einwände, die gegen eine solche Behauptung erhoben werden können, ver-
sucht Heidegger dadurch zu entkräften, dass er a limine erklärt, die Endlich-
keit des Ereignisses, des Seins, des Gevierts werde bzw. solle »nicht mehr aus
dem Bezug zur Unendlichkeit, sondern als Endlichkeit in sich selbst gedacht«
werden.
Vermutlich gibt es wenige andere Formulierungen in Heideggers Schriften,
die einen so tiefgehenden Aufschluss über seine Denkform geben wie diese. So
einfach scheint es für Heidegger zu sagen (und dabei zu bleiben): die Endlich-
keit in sich selbst denken. Offenbar ohne ein Problem darin zu sehen, nimmt
Heidegger an, dass die Endlichkeit aus sich heraus als Endlichkeit in sich
selbst angemessen betrachtet und gedacht werden kann, ja sogar muss. Um
das obige Bild noch einmal zu bemühen: Es ist immer möglich, sich in einen
Schmollwinkel zu setzen; und dabei den Schmollwinkel »in sich selbst« zu
»betrachten« oder gar zu »denken«. Ist es aber möglich, den Schmollwinkel
aus dem Schmollwinkel heraus als Schmollwinkel, »als Schmollwinkel in sich
selbst« zu betrachten und zu erfassen? Heidegger übersieht den simplen Sach-
verhalt, dass mit der Partikel »als« das »Denken« eine Ab‑ oder Eingrenzung
artikuliert, indem es die Grenze von einer jenseits der Grenze liegenden »Di-
mension« aus bestimmt. Jene Grenze, die die Endlichkeit ist, »nicht mehr aus
dem Bezug« zu der jenseits dieser Grenze liegenden »Dimension« (hier: zur
Unendlichkeit), sondern »als Grenze (Endlichkeit) »in sich selbst« denken zu
wollen, ist einfach ein »denkerischer« Widersinn. Eine solche Position kann
man eine das Ganze der Philosophie zu richten beanspruchende Variante eines
reinen dogmatischen Positivismus nennen: Es wird einfach gesetzt (ponere–
positum), dass es so ist, ungeachtet aller Bedingungen, Voraussetzungen,
Implikationen usw.

36  M. Heidegger, Kant und das Grundproblem der Metaphysik, 1951–1965, 206

(Kursiv nicht im Original).


112 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Die endlosen Ausführungen des späten Heidegger (zumal in seinen zahl-


reichen posthumen Schriften), die grundsätzlich immer dasselbe wiederholen,
können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich in einer permanenten rein
endlichen Dimension sowohl des Denkens als auch des Seins bewegt, die letzt-
lich auf einer arbiträren Basis beruht.

2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott«

Die sogenannte »Gottesfrage« hat im Denken Heideggers einen bedeutenden,


aber alles andere als eindeutigen Platz. Es ist daher nicht verwunderlich, dass
gerade dieses Thema oft die besondere Aufmerksamkeit vieler (vor allem
jüdisch und christlich orientierter) Heideggerinterpreten auf sich gezogen
hat und weiterhin – und zwar verstärkt – zieht. Die Frage wird von Heideg-
ger allerdings nicht ausreichend direkt und ausführlich behandelt; vielmehr
finden sich bei ihm darüber nur zahlreiche verstreute Aussagen, die sich kaum
zu einer einheitlichen und klaren Konzeption zusammenführen lassen; sie
sind eher Ausdruck einer permanenten Spannung in seinem Denken. Auf-
schlussreich ist in dieser Hinsicht Heideggers Äußerung über die christliche
Theologie: »Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des
Denkens gelangt. Herkunft bleibt aber stets Zukunft.«37 Wohin aber der »Weg
seines Denkens« ihn geführt hat, das ist die Frage. In diesem Buch wird keine
eingehende Untersuchung dieser Frage durchgeführt. Warum dies weder
möglich noch sinnvoll ist, wird sich aus dem folgenden ergeben.38
Die im Titel des vorliegenden Abschnittes artikulierte Problematik wird
im Denken Heideggers in drei Formen thematisiert. Unabhängig von chro-
nologischen Gesichtspunkten werden sie im folgenden charakterisiert und
kritisch beleuchtet.
Die erste Form, die wohl auffallendste und wirkungsgeschichtlich einfluss-
reichste, ist Heideggers (Fehl)Interpretation und (darauf basierende) Kritik
der christlich orientierten Metaphysik als Onto-theo-logie. Die zweite Form
ist in Heideggers Aussagen über das Verhältnis der Philosophie zur biblisch
bzw. christlich orientierten Theologie thematisiert (2.8.1). Die dritte Form
ist wohl als die wichtigste anzusehen: Sie thematisiert explizit das Verhältnis
von »Sein/Ereignis« und »Gott« (2.8.2). Die erste Form, Heideggers Inter-
pretation und Kritik der Metaphysik im Hinblick auf die Theologie und die
Gottesfrage, wurde oben in Abschnitt 2.1 ausführlich behandelt, weswegen
sie im vorliegenden Abschnitt nicht näher betrachtet wird.
37 
M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 1969, 96.
38 
Eine ausführliche und einsichtsvolle Behandlung der Gesamtthematik ist im Buch
von Ph. Capelle, Philosophie et Théologie dans la Pensée de Martin Heidegger, 1998,
zu finden.
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 113

2.8.1 Das Verhältnis von Philosophie und (christlicher)Theologie


Heideggers Aussagen über das Verhältnis von Philosophie und (christlicher)
Theologie finden sich in einigen wenigen Vortragstexten und in vielen Briefen.

[1] Aus Heideggers Frühzeit ist besonders sein Vortrag Phänomenologie und
Theologie aus dem Jahre 1927 einschlägig (WegM 45–77).39 Hier erklärt er:
»Theologie ist ein begriffliches Wissen um das, was Christentum allererst
zu einem ursprünglich geschichtlichen Ereignis werden läßt, ein Wissen von
dem, was wir Christlichkeit schlechthin nennen.« (WegM 52) »Christlich-
keit« ist ihm zufolge das Positum der Theologie, was ihr ihre Positivität, ihren
Charakter als positive Wissenschaft verleiht. Unter Christlichkeit versteht
Heidegger den Glauben, den er so charakterisiert:
»[D]er Glaube ist eine Existenzweise des menschlichen Daseins, die, nach dem ei-
genen – dieser Existenzweise wesenhaft zugehörigen – Zeugnis, nicht aus dem Dasein
und nicht durch es aus freien Stücken gezeitigt wird, sondern aus dem, was in und mit
dieser Existenzweise offenbar wird, aus dem Geglaubten.« (WegM 52)

Das Geglaubte ist nach Heidegger Christus, der gekreuzigte Gott.


[i] Es ist zu beachten, dass Heidegger dadurch schon den Unterschied
zwischen Theologie und Philosophie artikuliert. Im Gegensatz zur Theo-
logie ist Philosophie demnach eine Existenzweise, die »aus dem Dasein und
durch es aus freien Stücken gezeitigt wird«. Und Heidegger geht dann so weit
zu erklären, »daß der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische
Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen und
faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt.« (WegM
66) Überraschenderweise aber hat diese Todfeindschaft nach Heidegger – zu-
mindest gemäß seinen Aussagen in dem angeführten Vortrag – nicht die Kon-
sequenz, die man erwarten könnte, nämlich gegenseitige Bekämpfung. Viel-
mehr sagt er, dass »die Philosophie gar nicht erst unternimmt, jenen Todfeind
[nämlich die Theologie] in irgendeiner Weise bekämpfen zu wollen«. Freilich
kann Heidegger damit nur seine eigene Philosophie meinen. Dann erläutert
er diesen Sachverhalt überraschenderweise folgendermaßen:
»Dieser existenzielle Gegensatz zwischen Gläubigkeit und freier Selbstübernahme des
ganzen Daseins, der schon vor der Theologie und der Philosophie liegt und nicht erst
durch diese als Wissenschaften entsteht, dieser Gegensatz muß gerade die mögliche
Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften tragen.« (WegM 66)

Heidegger redet einer totalen Trennung das Wort in dem Sinne, dass so
etwas wie eine »christliche Philosophie« ein »›hölzernes Eisen‹ schlecht-

39  Es handelt sich um eine überprüfte Fassung des zweiten Teils des Vortrags, der den

Titel hatte: »Die Positivität der Theologie und ihr Verhältnis zur Phänomenologie« (vgl.
ebd. 45).
114 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

hin« (ebd.) wäre. Wie ist dieser ganze Sachverhalt zu verstehen? Es sind zu
unterscheiden der existenzielle Gegensatz, einerseits, und das Verhältnis der
beiden Wissenschaften Philosophie und Theologie, andererseits. Heideggers
Unterscheidung ist keineswegs so klar und unproblematisch, wie sie auf den
ersten Blick erscheint. Der existenzielle Gegensatz soll »vor der Theologie
und Philosophie« gegeben sein. Aber welcher Gegensatz ist damit gemeint?
Nach Heidegger handelt es sich um den Gegensatz von »Gläubigkeit« und
»freier Selbstübernahme des ganzen Daseins«. Dass der existenzielle Status
der Gläubigkeit sich sozusagen auf »natürliche« Weise in theoretischer oder
wissenschaftlicher Hinsicht in der Gestalt der Theologie expliziert, dürfte
ohne Probleme einleuchten. Aber wie expliziert sich in dieser (theoretischen
oder wissenschaftlichen) Hinsicht der existenzielle Status der »freien Selbst-
übernahme des ganzen Daseins«?
Heideggers Antwort scheint klar zu sein: Er expliziert sich als Philosophie.
Aber diese Annahme ist einfach eine völlige Idealisierung der »freien Selbst-
übernahme des ganzen Daseins«. Ist der Mensch, der selbst frei sein ganzes
Dasein übernimmt, gleich der oder ein Philosoph? Die freie Selbstübernahme
des ganzen Daseins kann doch wohl nur eine Entscheidung über die ganze
Bestimmtheit des Daseins sein, also über alle konkreten Aspekte des Daseins.
Ist diese Bestimmtheit eine philosophische oder gar Philosophie selbst? Das
kann nicht gesagt werden, da die ganzheitliche Bestimmtheit des Daseins in
den vielfältigsten Weisen gegeben sein kann – und somit durch »Gläubigkei-
ten« aller Art (also religiöser und nicht-religiöser Art). Diese das Dasein be-
stimmenden Aspekte, die auch – und sogar meistens – »Gläubigkeiten« sind,
schließen keineswegs eine »freie Selbstübernahme des ganzen Daseins« aus.
Heidegger hat hier einen bedeutenden und konsequenzenreichen Fehler
begangen. Er macht nämlich die Annahme, dass die gläubige Existenz »nicht
aus dem Dasein und nicht durch es aus freien Stücken gezeitigt wird, sondern
aus dem, was in und mit dieser Existenzweise offenbar wird, aus dem Ge-
glaubten« (WegM 52). Damit scheint er die gläubige Existenzweise als fremd-
bestimmte, nicht aus freien Stücken bestimmte Existenzweise aufzufassen.
Möglicherweise denkt Heidegger hier an die christlich-theologische Lehre
von der Gnade, besonders in ihrer lutherischen Prägung, die die großen
Axiome sola fides und sola gratia behauptet. Aber das wäre eine Karikatur
der christlichen, auch der protestantischen Lehre. Die Gnade und der Glaube
beseitigen nicht die Akzeptation des Geschenkten und Geglaubten aus freien
Stücken; vielmehr haben Gnade und Glaube nur Sinn, wenn die freie Über-
nahme vorausgesetzt wird. Es ist erstaunlich, dass Heidegger den Unterschied
von »philosophischer« und »gläubiger« Existenzweise nicht anders zu sehen
vermag als in der beschriebenen Weise.
Noch ein anderer, viel wichtigerer Punkt erweckt Erstaunen in diesem Zu-
sammenhang. Heidegger spricht von der philosophischen und der gläubigen
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 115

Existenzweise so, dass er der ersten eine Entscheidung bzw. eine Selbstüber-
nahme zuschreibt (insofern sie »aus dem Dasein und durch es aus freien
Stücken gezeitigt wird«), während ihm zufolge die zweite Existenzweise
»aus dem, was in und mit dieser Existenzweise offenbar wird, aus dem Ge-
glaubten« »gezeitigt« wird. Dazu sind drei kritische Fragen zu stellen.
Erstens: Betrachtet man Heideggers in den vorhergehenden Abschnitten
ausführlich dargelegte und kritisch kommentierte Entwicklung, so drängt sich
die Frage auf: Was bleibt noch übrig von der philosophischen Existenzweise,
die »aus dem Dasein und durch es aus freien Stücken gezeitigt wird«, d. h. aus
der Existenzweise als »Selbstübernahme«? Im späteren Denken Heideggers
ist nur noch die Rede von dem Ereignis als dem Schickenden, so dass Sein
(und damit auch das Da-sein) und Zeit als Schickungen bzw. Zugeschickte
bzw. als Ereignete des Ereignisses verstanden werden. Die philosophische
Existenzweise versteht sich jetzt nicht mehr aus dem Dasein, sondern aus der
Schickung bzw. dem Zugeschickten bzw. dem Ereigneten des Ereignisses.
Wo ist die »Selbstübernahme«, die »aus dem Dasein und durch es aus freien
Stücken gezeitigt[e]« Existenzweise? Was bleibt also aus der im Vortrag von
1927 so betonten Differenz von philosophischer und gläubiger Existenzweise
übrig? Es ist offensichtlich, dass im späteren Denken Heideggers nicht mehr
jene Differenz aus dem Jahr 1927 vertreten bzw. betont wird (bzw. werden
kann); nichtsdestoweniger wird eine neue, eine andere Differenz bemüht, die
in den weiteren Überlegungen eine zentrale Rolle spielen wird. In diesem
Zusammenhang wird diese neue Differenz zunächst nur in einer Hinsicht
betrachtet, und zwar in der nächsten Frage.
Zweitens ist zu fragen, warum Heidegger nicht eine völlig andere, nahelie-
gende und sachgemäßere Konzeption hinsichtlich der philosophischen und
theologischen Existenzweise ins Auge gefasst hat. Dass er dies nicht getan hat,
charakterisiert in bezeichnender Weise sein ganzes Denken. Es handelt sich
um eine Differenz, die hier zunächst nur kurz artikuliert wird und die unten in
einer weiterführenden Perspektive ausführlicher behandelt werden soll (vgl.
unten 3.7.4.2.2 [3]). Geht man davon aus, dass Heideggers ganzes Bemühen,
dem Denken der »ursprünglichen Dimension« (die er später »Sein«, genauer:
»Sein-als-das-Ereignis« oder einfach »das Ereignis« nennt) gilt, fragt man sich,
ob die »philosophische Existenzweise des Daseins« und die »theologische
Existenzweise des Daseins« nicht adäquatermaßen so verstanden werden
könnten bzw. sollten: Der Philosoph (im Sinne Heideggers) »betrachtet«
die »ursprüngliche Dimension« nur sehr allgemein, noch weitgehend unbe-
stimmt, als eine Dimension, die noch der »Selbstbestimmung« und der ent-
sprechenden Artikulation harrt; im Gegensatz dazu geht der (christliche)
Theologe von vornherein von der vollentfalteten, vollbestimmten »Gestalt«
der ursprünglichen Dimension aus. Konkret gesagt: der »Heideggersche«
Philosoph spricht von der ursprünglichen Dimension nur als Sein-als-das-Er-
116 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

eignis und deutet es als das Schickende …, wie oben ausführlich dargestellt.
Hingegen artikuliert der Theologe die ursprüngliche Dimension gleich als
Gott, genauer: als den Gott, der sich selbst offenbart und mitgeteilt hat, der
eine Geschichte, eine Selbstmitteilungs‑ und Heilsgeschichte initiiert hat. Die
Differenz zwischen Philosophie (im Sinne Heideggers) und (christlicher)
Theologie wäre also die Differenz zwischen »nur allgemein, abstrakt, weit-
gehend leer artikulierter ursprünglicher Dimension« und »vollexplizierter,
volldetermininierter, vollerschlossener ursprünglicher Dimension«. Die
beiden »Disziplinen« würden sich demnach in keiner Weise ausschließen
oder gar widersprechen, sondern sich absolut ergänzen, wie: allgemein be-
stimmt  –  vollbestimmt. Dass Heidegger nicht einmal versuchsweise einen
solchen »Denkweg« ins Auge gefasst hat, dürfte als ein großes Rätsel anzuse-
hen sein. Darauf ist noch zurückzukehren, dies um so mehr, als seine weiteren
(unter Punkt [ii] unten zu kommentierenden) Aussagen über das Verhältnis
von Philosophie und Theologie eine solche Konzeption eindeutig nahelegen.
Drittens wirft der Umstand, dass Heidegger von zwei verschiedenen »Exis-
tenzweisen des Daseins« spricht und somit Philosophie und Theologie in
einer existenziellen Perspektive betrachtet, die weitere Frage auf, ob er dabei
dem spezifisch theoretischen (oder, wie er damals sagte, »wissenschaftlichen«)
Status von Philosophie und Theologie voll gerecht wird. Das ist zu verneinen.
Nicht nur Heidegger, sondern viele Philosophen und so gut wie die aller-
meisten Theologen haben durchgehend die philosophische bzw. theologische
Tätigkeit in Verbindung mit einer »grundlegenden Entscheidung« im Sinne
eines das ganze Leben total bestimmenden Faktors angesehen. Die eigentlich
»denkerische« (Heidegger verwendet kaum die Bezeichnung »theoretische«)
Tätigkeit des Philosophen wird von Heidegger mit Bezeichnungen charakte-
risiert, die eindeutig eine »praktische (im Sinne von: auf einer Entscheidung
basierende) Einstellung« anzeigen. Das belegen Heideggers unzählige Male
wiederholte Hinweise auf die Notwendigkeit des »Hörens« (auf das Sein),
auf den »Zuspruch (des Seins)«, auf seinen »Ruf« usw. Eine charakteristische
Äußerung lautet: »Das Denken, gehorsam der Stimme des Seins, sucht diesem
das Wort, aus dem die Wahrheit des Seins zur Sprache kommt.«40 Die Terme,
die Heidegger verwendet, erinnern in direkter Weise an zentrale Formulie-
rungen der biblischen Sprache. »Denken« für und nach Heidegger ist keine
rein theoretische Angelegenheit, wie der Verfasser eine solche versteht und
in Kapitel 3 darstellen wird. Und so deutet Heidegger auch die Tätigkeit des
Theologen: dieser sei der »Denker«, der dem Zuspruch des Geglaubten zu
entsprechen hat usw. Der Theologe ist nach Heidegger an allererster Stelle
ein »Gläubiger«.

40 
Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, WegM 311.
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 117

Diese Sicht ignoriert das Spezifische jener Tätigkeit, die die eigentliche
Tätigkeit des Denkens ist: die theoretische Tätigkeit. Diese ist weitestgehend
unabhängig von bestimmten »existenziellen« Einstellungen und Verhaltens-
weisen. Die einzige Entscheidung, auf der das Denken als theoretische Tätig-
keit basiert, ist die Entscheidung, eben theoretisch tätig sein zu wollen. Und
das heißt: sich so zu verhalten, dass die Tätigkeit theoretische Sätze erzeugt,
also Sätze, die die Struktur haben: »Es verhält sich so und so …« bzw. »es
verhält sich so dass (z. B. ϕ [wobei ›ϕ‹ eine Variable für einen deklarativen Satz
ist])«. Darauf wird ausführlich in Kapitel 3 einzugehen sein.
Die theoretische Tätigkeit ist eine der großen Potentialitäten des Men-
schen, eine solche, die von anderen das menschliche Leben bestimmenden
Faktoren weitestgehend unabhängig ist und sozusagen über ihnen liegt.
Die »Gläubigkeit«, die Heidegger im Falle der Theologie konstatiert, ist
viel mehr als nur eine theoretische Einstellung; sie ist eine Bejahung, eine
Akzeptation dessen, was der Theologe in seiner theoretischen Tätigkeit ar-
tikuliert. Analoges schreibt Heidegger auch dem Philosophen zu, allerdings
handelt es sich dann nicht um eine »Gläubigkeit« im theologischen Sinne,
sondern um eine andersgeartete »Gläubigkeit«, nämlich um eine Einstellung,
wie sie im vorhergehenden Absatz charakterisiert wurde (»Gläubigkeit«
als das »Hören auf den Zuspruch des Seins«, als der »Gehorsam« gegen-
über der Stimme des Seins usw.). Demgegenüber muss betont werden, dass
der Philosoph (und auch  –  mit einigen Präzisierungen, die aber hier nicht
gemacht zu werden brauchen – der Theologe) an erster Stelle und in jedem
Fall ein Theoretiker ist. Seine eigentliche theoretische Tätigkeit setzt zwar
erst auf der Basis einer getroffenen freien Entscheidung zugunsten eben des
Vollzugs einer theoretischen Tätigkeit ein; aber wenn diese Basis einmal
gegeben ist, entfaltet sich seine theoretische Tätigkeit ausschließlich gemäß
den Maßstäben des rein theoretischen Diskurses und nicht  –  in welcher
Weise auch immer – unter der Bestimmung irgendwelcher »existenziellen«
Faktoren. Der Fehler Heideggers hier – und es muss hinzugefügt werden: der
Fehler vieler Autoren, die sich Philosophen bzw. Theologen nennen – be-
steht darin, den spezifischen Charakter der theoretischen Tätigkeit nicht
streng und konsequent zu beachten.
[ii] Heidegger zufolge besteht zwischen Philosophie und Theologie nicht
nur ein totaler Gegensatz, ja eine Todfeindschaft, sondern auch »eine mögliche
Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften« (WegM
66). Man könnte diese überraschende Wende dahingehend interpretieren,
dass man sagt: Ein Gegensatz bzw. eine Todfeinschaft besteht in existenzieller
Hinsicht, also hinsichtlich der »Existenzweise des Daseins«, die eine ganz-
heitliche freie Stellungnahme seitens des Daseins einschließt; während eine
Gemeinschaft (besonderer Art) auf der wissenschaftlichen – und damit theo-
retischen – Ebene besteht. Hier zeigt sich, dass Heidegger alle diese Faktoren,
118 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

die oben herausgearbeitet wurden, nicht angemessen unterscheidet und aus-


einanderhält, so dass er dann auch nicht in der Lage ist, sie alle als Elemente
einer ganzheitlichen Konzeption zu vereinigen.
Die von Heidegger behauptete Gemeinschaft von Theologie und Phi-
losophie ist, wie angedeutet, besonderer Art. Heidegger geht davon aus, dass
die Theologie sich mit einem Seienden befasst, nämlich Gott. Nun sagt er:
»Allein jedes Seiende enthüllt sich nur auf dem Grunde eines vorgängigen, wenngleich
nicht gewußten vorbegrifflichen Verständnisses dessen, was dieses betreffende Seiende
ist. Alle ontische Auslegung bewegt sich auf einem zunächst und zumeist verborgenen
Grunde einer Ontologie.« (WegM 62)

Die Explikation von Grundbegriffen  –  und somit auch der theologischen


Grundbegriffe  –  kann nur in der Weise erfolgen, dass man »den primären
geschlossenen Seinszusammenhang, in den alle Grundbegriffe zurückweisen,
in seiner ursprünglichen Ganzheit in den Blick zu bekommen und ständig im
Blick zu behalten« (WegM 63) versucht. Heideggers Ausführungen darüber
lesen sich anfänglich beinahe wie Erläuterungen eines der grundlegendsten
Axiome der großen Tradition der christlichen Theologie, nämlich des Axioms,
dem Thomas von Aquin die prägnante und berühmte Formulierung gab:
»Gratia non tollit naturam, sed perficit – Die Gnade beseitigt die Natur nicht,
sondern vollendet sie«.41 In der Tat, Heidegger erläutert seine These so:
»[Es] liegt […] im christlichen Geschehen als Wiedergeburt, daß darin die vorgläubige,
d. i. ungläubige Existenz des Daseins aufgehoben ist. Aufgehoben heißt nicht beseitigt,
sondern in die neue Schöpfung hinaufgehoben, in ihr erhalten und verwahrt. Im Glau-
ben ist zwar existenziell-ontisch die vorchristliche Existenz überwunden. Diese zum
Glauben als Wiedergeburt gehörige existenzielle Überwindung der vorchristlichen
Existenz besagt aber gerade, daß in der gläubigen Existenz das überwundene vor-
christliche Dasein existenzial-ontologisch mitbeschlossen ist. Überwinden besagt nicht
abstoßen, sondern in neue Verfügung nehmen. Hieraus ergibt sich: alle theologischen
Grundbegriffe haben jeweils […] in sich einen zwar existenziell ohnmächtigen, d. h. on-
tisch aufgehobenen, aber gerade deshalb sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen
und daher rein rational faßbaren Gehalt. Alle theologischen Begriffe bergen notwendig
das Seinsverständnis in sich, das das menschliche Dasein als solches von sich aus hat,
sofern es überhaupt existiert.« (WegM 63)

Das sind bemerkenswerte Aussagen. Es ist aber zu beachten, dass sie 1927
geschrieben wurden. Sie enthalten eine Explosivkraft in sich, insofern sie die
Theologie als eine ontische theoretische Angelegenheit auffassen, die nach
Heideggers damaligem Verständnis der grundlegenden ontisch-ontologischen
Differenz sozusagen unter dem »ontologischen Vorbehalt« stehen. Was ge-
schieht mit der Theologie, wenn das von ihr vorausgesetzte Seinsverständnis
in einer Weise expliziert wird, welche die theologischen Aussagen radikal in

41 
S. Th. I, q.1, a.8, ad 2.
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 119

Frage stellt? Ist nicht gerade das in der weiteren Entwicklung Heideggers
geschehen?
Diese Entwicklung zeichnet sich schon im Vortrag von 1927 ab. Bei der
Formulierung der zentralen These des Vortrags verwendet Heidegger den
Ausdruck »(Philosophie als ontologisches) Korrektiv [der Theologie]«:
»Philosophie ist das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv des on-
tischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe. Phi-
losophie kann aber sein, was sie ist, ohne daß sie als dieses Korrektiv faktisch fungiert.«
(WegM 66)

Es wird noch zu zeigen sein, wie dieser Gedanke des »Korrektivs« sich in
Heideggers Entwicklung, besonders in ihrer letzten Phase, zeigt. Hier ist
noch eine Bemerkung zum letzten Satz in diesem Zitat anzufügen. Die Aus-
sage, dass die Philosophie sein kann, was sie ist, ohne dass sie als Korrektiv
der Theologie fungiert, ist nur auf den ersten Blick eine selbstverständliche
und einleuchtende Aussage; denn sie wirft eine Reihe von Problemen auf.
Zuerst: Es wird unterstellt, dass es klar ist, was »sie [die Philosophie] ist« in
jeder Hinsicht bzw. was sie tun und erreichen kann. Nun, diese Qualifikation
ist alles andere als eindeutig. Ganz besonders wichtig ist hier die Frage: Wie
weit reicht die Philosophie? Wie universal ist sie? Im vorliegenden Kontext
stellt sich die Frage: Umfasst die Philosophie auch das, was die Theologie
nach Heideggers Charakterisierung dieser Disziplin als ihr eigenes Thema be-
trachtet? In einer bestimmten Hinsicht erheben sowohl Philosophie als auch
Theologie den Anspruch auf Universalität. Wie kann das aber sein? Es wird
in Kapitel 3 zu zeigen sein, dass Philosophie, wenn sie sich wirklich als die
absolut universale Wissenschaft versteht, auch die »theologische Dimension«
umfassen muss. Wie sich im folgenden zeigen wird, schwankt Heidegger
zwischen einer Auffassung, welche die Philosophie als absolut universale
und radikale Wissenschaft konzipiert, so dass sie auch das letzte Wort über
die theologische Dimension zu sagen hätte, und einer Auffassung, welche die
Philosophie als eine Dimension versteht, die neben sich Theologie anerkennt,
ohne den Anspruch zu erheben, sie zu vereinnahmen.

[2] Die geschilderte Auffassung, der zufolge die Philosophie das »mögliche,
formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchrist-
lichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe« ist, scheint Heidegger nicht
lange vertreten zu haben. Schon zwei Jahre nach der Abfassung des Vortrags
Phänomenologie und Theologie (1927) schreibt er am 09. April 1929 in einem
Brief an den Theologen Rudolf Bultmann:
»Je öfter ich mir die Dinge überlege – und es geschieht nicht selten – will mir scheinen,
als müßte alle philosophische Diskussion in der Theologie als ausdrückliche verschwin-
den, und als müßte alle Kraft des Gedankens übergeleitet werden in die geschichtliche
120 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Auseinandersetzung mit dem NT [Neuen Testament, LBP], ›geschichtlich‹ in einem


wesentlichen Sinne genommen.«42

Die vielen Äußerungen Heideggers im Laufe der Jahre zu diesem Thema


können hier nicht im Einzelnen berücksichtigt werden. Wichtig ist allein noch
ein als Anhang zum Vortragstext in der Gesamtausgabe abgedruckter Brief
Heideggers vom 11. März 1964, den er für ein theologisches Gespräch an der
Drew-University, Madison, USA, verfasst hat. Der Titel des Briefes lautet:
»Einige Hinweise und Hauptgesichtspunkte für das theologische Gespräch
über ›Das Problem eines nicht objektivierenden Denkens und Sprechens
in der heutigen Theologie‹«. (WegM 68–77) Das zentrale Thema in diesem
Text ist die Frage, was »objektivierendes Denken« ist. Dazu sagt Heideg-
ger nichts wirklich Aufschlussreiches. Er wiederholt seine stereotype Kritik
der Metaphysik und nennt als Beispiel eines objektivierenden Denkens »das
Denken und Sprechen […] im naturwissenschaftlich-technischen Vorstellen
und Aussagen« (WegM 74). Dabei übersieht er den fundamentalen Umstand,
dass eine wissenschaftliche Theorie als solche keinen Bezug zu so etwas wie
Subjekten, Sprechern u. ä. hat. Eine wissenschaftliche Theorie besteht aus
Sätzen der Form ›Es verhält sich so dass (z. B. ϕ)‹. Für ein »Vorstellen« ist
dabei überhaupt kein Platz. Heideggers Erläuterungen zur »Objektivierung«
sind vollkommen leer. Eine seiner positiven Thesen lautet: »Es gibt […] ein
Denken und Sagen, das in keiner Weise objektiviert und vergegenständlicht.«
(WegM 73) Er basiert die These auf einer Konzeption von Sprache, der zu-
folge gilt: »Die Sprache spricht. Der Mensch spricht nur, indem er der Spra-
che entspricht.« (WegM 72) Und Heidegger erläutert diese ungewöhnlichen
Formulierungen in einer sehr interessanten Weise:
»[D]as Sagen der Sprache ist nicht notwendig ein Aussprechen von Sätzen über
Objekte. Sie ist in ihrem Eigensten ein Sagen von dem, was sich dem Menschen in
mannigfaltiger Weise offenbart und zuspricht …« [WegM 76]

Heidegger versteht das nicht in dem Sinne, in dem in Kapitel 3 gezeigt wird,
dass die Struktur der theoretischen Sätze als eine Artikulationsweise gemäß
der Formel »Es verhält sich so dass …« zu verstehen ist, die keinen Bezug zu
Subjekten und damit zu Vorstellen, Objektivieren u. dgl. hat und die nicht
»ein Aussprechen von Sätzen über Objekte« ist. »Objektivierung/Vergegen-
ständlichung« u. dgl. sind »Operationen«, die für Subjekte charakteristisch
sind; »Aussprechen von Sätzen über Objekte« setzt eine Sprache bestehend
aus Sätzen der Subjekt-Prädikat-Form voraus, so dass deren Semantik direkt
zu einer Ontologie von »Objekten« (und damit »Substanzen«) führt.

42 
R. Bultmann/M. Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, 2009, 108.
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 121

Für die im jetzigen Kontext zu behandelnde Thematik ist allein der folgende
Punkt wichtig: Heidegger kommt schließlich dazu, »die positive Aufgabe der
Theologie« zu charakterisieren. Diese Aufgabe besteht ihm zufolge darin,
»in ihrem eigenen Bereich des christlichen Glaubens aus dessen eigenem Wesen zu
erörtern, was sie zu denken und wie sie zu sprechen hat. In dieser Aufgabe ist zugleich
die Frage eingeschlossen, ob die Theologie noch eine Wissenschaft sein kann, weil sie
vermutlich überhaupt nicht eine Wissenschaft sein darf.« (WegM 77)

Heißt das, dass Heidegger dem christlichen Glauben eine totale Selbständig-
keit in dem Sinne zuerkennt, dass dessen »eigenes Wesen« nur durch das
eigene Denken und das eigene Sagen artikulierbar ist? Heißt das, dass die
Philosophie nicht mehr als »das mögliche, formal anzeigende ontologische
Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen
Grundbegriffe« fungieren kann bzw. muss? Wäre dem so, was würde diese
totale Selbstständigkeit bzw. Trennung genau bedeuten? Wäre »(der christli-
che) Gott« ein »Thema«, das der Philosophie entzogen bliebe? Die weiteren
abschließenden Ausführungen könnten möglicherweise eine Antwort auf
diese Fragen bringen.

2.8.2 Das Verhältnis von »Sein / Ereignis« und »Gott«


Die dritte Form, in der die Frage nach dem Verhältnis bzw. Nicht-Ver-
hältnis von Sein/Ereignis und Gott bei Heidegger thematisiert wird, ist die
wichtigste, insofern diese Frage als solche direkt behandelt wird. In einer völ-
lig un-Heideggerschen Terminologie würde man sagen: Sie ist die eigentliche
systematische Frage. Historisch und konkret gesehen, handelt es sich um
Heideggers Denken nach der berühmten Kehre. Heidegger kommt immer
wieder auf diese Frage zu sprechen, so dass man sogar sagen kann, dass sie die
eigentliche Mitte seines Denkens nach der Kehre bildet. Es versteht sich von
selbst, dass in diesem Buch nicht einmal die wichtigsten diesbezüglichen Äu-
ßerungen Heideggers berücksichtigt werden können. Eine tragfähige Gesamt-
darstellung wird wahrscheinlich nur dann möglich sein, wenn alle posthumen
Schriften veröffentlicht wurden. Im folgenden wird es in der hier gebotenen
Kürze um die Grundtendenz und die dabei zum Vorschein kommende Pro-
blematik seines Denkens bezüglich dieser Frage gehen.
Hinsichtlich der großen Anzahl von Äußerungen Heideggers zum großen
Thema Sein/Ereignis–Gott muss man feststellen, dass sie sich nicht auf einen
Nenner zurückführen lassen. Wie es seine Art und sein Denkstil sind, handelt
es sich um Äußerungen eines, wie er sich selbst charakterisierte, Denkers auf
dem Weg. Im folgenden wird versucht, Beispiele für solche Aussagen an-
zuführen und kritisch zu beleuchten, in der Absicht, eine Interpretation und
eine generelle Bewertung zu erreichen.
122 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

[1] Eine der Passagen, die auf den ersten Blick ein absolut enges Verhältnis
zwischen Sein und Gott artikulieren, findet sich im Brief über den Huma-
nismus. Die Konjunktion »Sein und Gott« wird hier als der Weg vom Sein zu
Gott verstanden. Heidegger erklärt dort,
»dass das Denken, das aus der Frage nach der Wahrheit des Seins denkt, anfänglicher
fragt, als die Metaphysik fragen kann. Erst aus der Wahrheit des Seins läßt sich das
Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von
Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt
werden, was das Wort ›Gott‹ nennen soll.« (WegM 351)

Sein – das Heilige – Gottheit – Gott: Dass der Weg zu Gott über das Heilige
und die Gottheit führt, ist in gewisser Weise, besonders vor dem Hintergrund
der Geschichte der Religionen, naheliegend; aber philosophisch gesehen ist
dies eher nicht ohne weiteres einsichtig. Es ist offensichtlich, dass Heidegger
um jeden Preis sozusagen einen Bogen um die Metaphysik (wie er sie deutet
und missdeutet) zu machen bemüht ist; daraus dürfte die Zwischenstufe »das
Heilige« zu erklären sein. Als Philosoph fragt man sich, ob das Denken nicht
über andere große Begriffe verfügt, die diesen Weg zu gestalten geeignet sind,
vor allem die großen Begriffe der Modalitäten: Notwendigkeit–Möglichkeit–
Kontingenz. Aber Heidegger verwirft solche Begriffe a limine als metaphysi-
sche Begriffe. Darauf wurde schon an zwei Stellen eingegangen. Auf die zuletzt
zitierte Passage haben sich mehrere Interpreten gestützt, um im Denken Hei-
deggers, wenn nicht ein explizit oder zumindest implizit theologisches Denken
zu sehen, so doch ein Denken, das sich als »Denken auf dem Weg vom Sein zu
Gott« versteht. Es wird zu zeigen sein, dass Heideggers Position alles andere
als klar ist; sie ist viel komplizierter und ambig; letzten Endes wird die Antwort
auf die damit gestellte Frage wahrscheinlich eine ganz andere sein müssen.

[2] In den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis), diesem wohl dunkelsten
und eigenwilligsten Werk Heideggers, wie oben festgestellt wurde, finden sich
Formulierungen, die in einer, wenn auch nicht in jeder Hinsicht das Gegenteil
des im letzten Zitat Gesagten artikulieren. Im letzten Teil (unter dem Titel
VIII. Das Seyn) findet man einige bezeichnende Aussagen über die Götter
und Gott. Unter »die Götter« versteht Heidegger auf äußerst eigenwillige und
missverständliche Weise folgendes: »Die Unentschiedenheit, welcher Gott
und ob ein Gott welchem Wesen des Menschen in welcher Weise noch einmal
zur äußersten Not erstehen werde, ist mit dem Namen ›die Götter‹ genannt.«
(Beiträge 457) Und dann liest man die seltsamen Formulierungen:
»Sofern im voraus ›den Göttern‹ das Seyn ab-gesagt wird in solchem Vordenken, wird
gesagt, daß alles Aussagen über ›Sein‹ und ›Wesen‹ der Götter von ihnen und d. h.
jenem Zu-Entscheidenden nicht nur nichts sagt, sondern ein Gegenständliches vor-
täuscht, an dem alles Denken zuschanden wird, weil es sogleich auf Abwege gedrängt
ist.« (Beiträge 437–8)
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 123

Heidegger stellt sich nicht die Frage, wie er selbst von »den Göttern« spricht,
was er von ihnen sagt oder wie er sich auf sie sprachlich bezieht. Stattdessen
fährt er mit erstaunlicher Selbstsicherheit fort:
»Der Abspruch des Seins an ›die Götter‹ bedeutet zunächst nur: das Sein steht nicht
›über‹ den Göttern; aber diese auch nicht ›über‹ dem Sein. Wohl aber bedürfen ›die
Götter‹ des Seyns, mit welchem Spruch das Wesen ›des‹ Seyns gedacht wird. ›Die
Götter‹ bedürfen des Seyns nicht als ihres Eigentums, darin sie selbst einen Stand
finden. ›Die Götter‹ brauchen das Seyn, um durch dieses, das ihnen nicht gehört, doch
sich selbst zu gehören. Das Seyn ist das von den Göttern Gebrauchte; es ist ihre Not,
und die Notschaft des Seyns nennt seine Wesung, das von ›den Göttern‹ Ernötigte,
aber nie Verursachbare und Bedingbare. Daß ›die Götter‹ das Seyn brauchen, rückt sie
selbst in den Abgrund (die Freiheit) und spricht die Versagung jeglichen Begründens
und Beweisens aus.« (Beiträge 438; Kursiv nicht im Original)

Es dürfte kaum möglich sein, solche Formulierungen anders denn als halb-
mythologische Sprachphantasien zu verstehen. Es ist verwunderlich, dass
Heidegger nicht einmal das Naheliegendste zu sehen vermag, nämlich die
auffallende Inkohärenz seiner Äußerungen. Im vorhergehenden Zitat hieß es,
dass die Zuschreibung von »Sein« zu »den Göttern« »ein Gegenständliches
vortäuscht, an dem alles Denken zuschanden wird, weil es sogleich auf Ab-
wege gedrängt ist«. Was ist dann aber von der Zuschreibung von Kategorien
wie »Bedürfen«, »Brauchen«, »Eigentum« u. dgl. zu »den Göttern« zu halten?
Damit wird die Dimension, die Heidegger »die Götter« nennt, auf eine
Ebene herabgesetzt, die ein geradezu vollkommenes Beispiel des »Gegen-
ständlichen« schlechthin darstellt. Wird dadurch nicht, um es mit Heideggers
eigenen Worten zu sagen, gerade sein »Denken zuschanden«, und nicht so
sehr »weil es … auf Abwege gedrängt ist«, sondern weil es sich auf totalem
Abweg befindet? Heidegger meint wohl, dass er damit »anfänglicher« denkt;
in Wirklichkeit zeigt sich hier, dass es sich um eine unglaublich naive und
primitive Sprache handelt, die unter keinen Umständen als Artikulation von
»Denken« aufgefasst werden kann. Wenn überhaupt, so könnte sie in der
poetisch-mythologischen Literatur einen Platz finden.
In jedem Fall wird hier deutlich, dass der Dimension des Göttlichen bzw.
Gottes (das) Sein von Heidegger abgesprochen wird. Spricht man nun weder
dichterisch noch mythologisch, sondern denkt ernsthaft philosophisch, so
stellt sich die Frage, welche »Stellung« schließlich (das) Sein hinsichtlich der
Dimension des Göttlichen oder Gottes im Denken Heideggers hat, nachdem
das Sein dem Göttlichen bzw. Gott abgesprochen wurde. Vor Überraschun-
gen ist man hier nicht gefeilt, wie sich bald zeigen wird.

[3] 1951 hielt Heidegger ein Seminar in Zürich. Im Protokoll finden sich einige
der radikalsten Aussagen, die einer totalen Dis-soziation der beiden großen
124 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

»Dimensionen« Sein und Gott das Wort reden  –  und gleichzeitig eine Art
Korrektur solcher Aussagen formulieren:
»Gott und Sein sind nicht identisch, und ich würde niemals versuchen, das Wesen
Gottes durch das Sein zu denken. Einige wissen vielleicht, daß ich von der Theologie
herkomme und ihr noch eine alte Liebe bewahrt habe und einiges davon verstehe.
Wenn ich noch eine Theologie schreiben würde, wozu es mich manchmal reizt, dann
dürfte in ihr das Wort ›Sein‹ nicht vorkommen. – Der Glaube hat das Denken des Seins
nicht nötig. Wenn er das braucht, ist er schon nicht mehr Glaube. Das hat Luther ver-
standen. Sogar in seiner eigenen Kirche scheint man das zu vergessen. Ich denke über
das Sein im Hinblick auf seine Eignung, das Wesen Gottes theologisch zu denken, sehr
bescheiden. Mit dem Sein ist hier nichts auszurichten.«43

Man kann sich kaum vorstellen, dass eine noch radikalere Dis-soziierung
von Sein und Gott formuliert werden könnte. Dass die Philosophie als »das
mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv […] der theologischen
Grundbegriffe« verstanden wird, wie das 1927 der Fall war, scheint jetzt eine
gänzlich aufgegebene Auffassung zu sein. Und doch muss man sich auch
diesbezüglich auf Überraschungen gefasst machen. In der Tat fährt der Text in
einer Weise fort, die man nicht anders denn als eine in wesentlichen Hinsichten
deutliche und direkte Korrektur einiger der soeben zitierten radikalen Aus-
sagen interpretieren muss. Diese Korrektur ist im folgenden Zitat durch das
Wörtchen ›gleichwohl‹ angezeigt:
»Ich glaube, daß das Sein niemals als Grund und Wesen von Gott gedacht werden
kann, daß aber gleichwohl die Erfahrung Gottes und seiner Offenbarkeit (sofern sie
dem Menschen begegnet) in der Dimension des Seins sich ereignet, was niemals besagt,
das Sein könne als mögliches Prädikat für Gott gelten. Hier braucht es ganz neue
Unterscheidungen und Abgrenzungen.«44

Zweierlei ist in dieser wichtigen Passage bemerkenswert. Erstens wird klar,


wie sich Heidegger eine »positive Verbindung« von Sein und Gott »vor-
stellt«, um sie dann abzulehnen: (das) Sein kann »niemals als Grund und
Wesen von Gott« und auch nicht als »mögliches Prädikat für Gott« gedacht
werden. Heideggers Formulierungen sind verwunderlich. In der Tat, wenn
man etwa die Aussagen des Thomas von Aquin über Gott als esse per sub-
sistens beachtet, so kann man nicht sagen, dass esse ein »Prädikat für Gott«
sei. Gott wäre in einem solchen Fall ein schon vorausgesetztes X, dem man
(noch) das Prädikat »esse« zuschreiben würde. Aber Gott wird von Thomas
als das »vollbestimmte«, das »erfüllte« ipsum esse (per se subsistens) gedacht.
Es wäre daher ein Unsinn zu sagen, esse sei ein Prädikat (oder Attribut oder
etwas Ähnliches) für Gott.

43 
Zürcher Seminar. Ausprache, 1986, 436–7.
44 
Ebd. 437 (Kursiv nicht im Original).
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 125

Die Formulierung ›(Sein gedacht) als Grund und Wesen von Gott‹ ist völ-
lig unklar: Was heißt hier »Grund«? In der Seinsmetaphysik des Thomas von
Aquin ist das esse in keinem vorstellbaren Sinne »Grund« von Gott. Und der
Ausdruck ›Wesen Gottes‹ ist ebenfalls ambig. Heidegger versteht den Aus-
druck ›Wesen‹ in der Regel verbal, als Substantivierung des Verbs ›wesen‹.
Was könnte es nun heißen, dass (das) Sein das Wesen (verbal) Gottes ist?
Weder Thomas von Aquin noch ein anderer großer Seinsmetaphysiker hat
so etwas behauptet. Wenn Thomas von Aquin sagt, dass esse und essentia (=
»Wesen«, aber nicht verbal verstanden!) in Gott dasselbe sind, so bedeutet das
nicht, dass das esse die essentia Gottes sei.
Wenn Heidegger behauptet, er habe die größten Vorbehalte gegen »seine
[des Seins] Eignung, das Wesen Gottes theologisch zu denken«, handelt es
sich um eine völlig unpräzise und ambige Behauptung. Deutet man das Sein/
esse wie soeben angedeutet, so kann nicht gesagt werden, das Sein/esse sei so
etwas wie ein Mittel, über dessen Eignung oder Nicht-Eignung, das Wesen
Gottes theologisch zu denken, man diskutieren könnte; vielmehr ist es so, dass
»Sein/esse« die Bezeichnung für jene zunächst, d. h. anfänglich (noch) nicht
näher explizierte oder bestimmte ursprüngliche Dimension ist, die, wenn
voll expliziert bzw. bestimmt, die Bezeichnung ›Gott‹ erhält. Wie man sieht,
ist Heideggers stereotype Charakterisierung des »metaphysischen Gottes«
einerseits auf mangelnde Kenntnis zurückzuführen und erzeugt andererseits
verhängnisvolle Entstellungen, Missverständnisse und damit auch falsche Fra-
gestellungen und sogar angeblich neue Denkwege.
Zweitens wird explizit anerkannt, dass der Dimension des Seins – un-
geachtet der apodiktisch behaupteten totalen Dis-soziation von Sein und
Gott – »gleichwohl« eine hinsichtlich der Dimension Gottes schlechterdings
zentrale »Rolle« zuzuweisen ist: Damit die Erfahrung Gottes und seine Of-
fenbarkeit den Menschen erreichen bzw. dem Menschen begegnen können,
müsse die Seinsdimension vorausgesetzt werden, in welcher die Erfahrung
Gottes und seiner Offenbarkeit »sich ereignet«. Das ist zweifellos eine bedeut-
same Korrektur. Es ist zu fragen, wie diese Formulierung genau zu verstehen
ist.

[4] In der oben unter [2] angeführten Passage aus den Beiträgen zu Phi-
losophie ist die Behauptung enthalten: »Wohl […] bedürfen ›die Götter‹ des
Seyns, mit welchem Spruch das Wesen ›des‹ Seyns gedacht wird«, die auch
eine Art Mittelstellung des Seins zwischen Gott (oder den Göttern) und
dem Menschen artikuliert. Um diesen Sachverhalt möglichst umfassend und
angemessen zu analysieren, sei noch eine weitere wichtige Passage aus den
Beiträgen angeführt, in der das Sein als das »Zwischen« hinsichtlich Gottes
(oder der Götter) und des Daseins charakterisiert wird.
In dem »Vorblick« betitelten Teil I der Beiträge liest man:
126 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

»Die Erweckung dieser Not [gemeint ist die Not der Seinsverlassenheit] ist die erste
Verrückung [gemeint ist die Änderung des Standortes] des Menschen in jenes Zwi-
schen, wo gleichmäßig die Wirrnis bedrängt und der Gott auf der Flucht bleibt. Dieses
›Zwischen‹ ist aber keine ›Transzendenz‹ mit Bezug auf den Menschen, sondern ist im
Gegenteil jenes Offene, dem der Mensch, als Gründer und Wahrer zugehört, indem
er als Da-sein er-eignet ist vom Seyn selbst, das als nichts anderes west denn als Ereig-
nis. – Kommt der Mensch durch diese Verrückung in das Ereignis zu stehen und bleibt
er inständlich in der Wahrheit des Seyns, dann steht er erst noch immer nur auf dem
Sprung zur entscheidenden Erfahrung, ob im Ereignis der Ausbleib oder der Anfall des
Gottes sich für ihn oder gegen ihn entscheidet. – Erst wenn wir ermessen, wie einzig
notwendig das Sein ist und wie es doch nicht als der Gott selbst west, erst wenn wir
unser Wesen gestimmt haben auf diese Abgründe zwischen dem Menschen und dem
Seyn und dem Seyn und den Göttern, erst dann beginnen wieder ›Voraussetzungen‹
für eine ›Geschichte‹ wirklich zu werden. Darum gilt denkerisch allein die Besinnung
auf das ›Ereignis‹. – Schließlich und zuerst kann das ›Ereignis‹ nur er-dacht (vor das
anfängliche Denken gezwungen) werden, wenn das Seyn selbst begriffen ist als das
›Zwischen‹ für den Vorbeigang des letzten Gottes und für das Da-sein. – Das Ereignis
übereignet den Gott an den Menschen, indem es diesen dem Gott zueignet. Diese über-
eignende Zueignung ist Ereignis, in dem die Wahrheit des Seyns als Da-sein gegründet
(der Mensch verwandelt, in die Entscheidung des Da-seins und Weg-seins gerückt)
wird und die Geschichte aus dem Seyn ihren anderen Anfang nimmt.« (Beiträge 26)

Hier scheint Heidegger seine Auffassung über Sein/Ereignis und Gott ei-
nigermaßen klar  –  freilich im Rahmen seiner Möglichkeiten und Eigenwil-
ligkeiten – artikuliert zu haben. Das Sein / Ereignis ist das große »Zwischen«,
die große Zwischendimension »zwischen« Gott und dem Dasein (und damit
wohl auch den Seienden). Unter den vielen Fragen, die sich hier aufdrängen,
sei eine speziell angesprochen: die Frage nach der Kohärenz der ganzen
Konzeption. Einerseits wird der Dimension des Göttlichen (was immer dass
sein mag: (der) Gott, die Gottheit, das Göttliche, »die Götter« …) Sein abge-
sprochen, somit eine absolut totale Trennung oder Dis-soziation der beiden
Dimensionen behauptet. Andererseits wird erklärt, die Seinsdimension sei
jenes Zwischen, dessen die Dimension des Göttlichen »bedarf« oder das sie
»braucht«, um sich offenbaren zu können.
Wie kann das sein? Einerseits wird jeder Bezug zwischen Seinsdimension
und göttlicher Dimension radikal verneint; andererseits wird ein sozusagen
»massiver« Bezug behauptet, und zwar von beiden Seiten. Wie das Zitat
aus dem Zürcher Seminar artikuliert, ist es einmal die Dimension des Gött-
lichen, von welcher der Bezug sozusagen »ausgeht«, insofern »die Erfahrung
Gottes und seiner Offenbarkeit (sofern sie dem Menschen begegnet) in der
Dimension des Seins sich ereignet«; dann aber ist es die Dimension des Seins/
Ereignisses, die sozusagen den Bezug einleitet, so dass gilt: »Das Ereignis [d. h.
das Sein jetzt gedacht als das Ereignis] übereignet den Gott an den Menschen,
indem es diesen dem Gott zueignet. Diese übereignende Zueignung ist Er-
eignis, in dem die Wahrheit des Seyns als Da-sein gegründet […] wird«. Es
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 127

sei hier von dem Umstand abgesehen, dass Heideggers Charakterisierung


der »Leistung« des Seins / Ereignisses unverständlich ist, um das Mindeste zu
sagen. In der Tat weist die Rede von »übereignen«, »zueignen«, »übereignen-
der Zueignung«, soll sie nicht einfach als sonderbares leeres Spiel mit Worten
zu verstehen sein, nicht über die Beschreibung eines banalen Tauschhandelns
zwischen zwei Seienden (zwei Menschen) hinaus. Ironischerweise wird hier
deutlich, dass Heideggers konstante Kritik der angeblich onto-theo-logischen
Verfassung der Metaphysik, also einer Denkweise, die Heidegger zufolge nur
das Verhältnis zwischen Seienden artikuliert, seine eigene Rede über Sein/
Ereignis als das Geschehen von »übereignender Zueignung« in Wahrheit bei
weitem radikaler trifft.
Wie kann dieser »beiderseitige« Bezug zwischen der Dimension des Seins
und der Dimension (des) Gottes (bzw. »der Götter« …) überhaupt behauptet
und gleichzeitig der radikalen Trennung bzw. Dis-soziation von beiden das
Wort geredet werden? Man wird nicht umhin können, aus dem Gezeigten die
Schlussfolgerung zu ziehen, dass Heideggers »Spekulationen« nicht nur einen
halbmythologischen und sogar banalen Charakter haben, sondern dass sie
jede Kohärenz vermissen lassen. In der Tat, wie immer man die Dinge drehen
mag, Heideggers Aussagen beinhalten ein Dilemma:
Entweder es wird daran festgehalten (wie im oben zitierten Brief Heideg-
gers aus dem Jahre 1964), dass der (christlichen) Theologie eine positive Auf-
gabe zuzuerkennen ist, die als die Aufgabe verstanden wird, »in ihrem eigenen
Bereich des christlichen Glaubens aus dessen eigenem Wesen zu erörtern, was
sie zu denken und wie sie zu sprechen hat« (WegM 77), was Heidegger als eine
in jeder Hinsicht totale Dis-soziierung von Sein und Gott versteht, so dass
gilt: »Das seynsgeschichtliche [sic!] Denken steht außerhalb jeder Theologie
und kennt aber auch keinen Atheismus im Sinne einer ›Weltanschauung‹ oder
einer sonstwie gearteten Lehre.« (Beiträge 439; Kursiv nicht im Original) Und
dementsprechend würde auch gelten: die Theologie steht außerhalb jeden
seynsgeschichtlichen Denkens.
Oder es wird daran festgehalten, dass die Dimension (des) Gottes (bzw.
der Gottheit, des Göttlichen, »der Götter«) »des Seyns bedarf«, »das Seyn
(ge)braucht«, so dass das Seyn »die Not« und die »Notschaft« dieser »gött-
lichen« Dimension darstellt, mit der Konsequenz: »Wenn […] das Seyn die
Notschaft des Gottes ist, das Seyn selbst aber nur im Er-denken seine Wahr-
heit findet, dieses Denken aber die Philosophie (im anderen Anfang) ist, dann
bedürfen ›die Götter‹ des seynsgeschichtlichen Denkens, d. h. der Philoso-
phie.« (Beiträge 438–9) Demnach wäre hier zu sagen: Das seynsgeschichtliche
Denken steht nicht außerhalb jeder Theologie, und: Das theologische Denken
steht nicht außerhalb des seynsgeschichtlichen Denkens.
Es scheint, dass die meisten Aussagen Heideggers über das große Thema
Sein–Gott auf den ersten Blick eher im Sinne des zweiten Horns des Dilem-
128 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

mas zu interpretieren sind. Gleichwohl – oder gerade deshalb – ist die Frage


zu stellen, ob die beiden Aussagereihen letztlich wirklich ein Dilemma für
Heidegger darstellen. Das scheint die Frage zu sein, auf die der Versuch einer
kohärenten Interpretation des Heideggerschen Denkens hinausläuft. Der Ver-
fasser vertritt die Auffassung, dass Heidegger das aufgezeigte Dilemma nicht
als echtes Dilemma gesehen hat oder sehen würde, dies aber um einen hohen
Preis: um den Preis nämlich, dass er auf einer noch fundamentaleren (oder
ursprünglicheren) Ebene des Denkens eine nicht mehr wegdisputierbare fun-
damentale Inkohärenz und einen fundamentalen Fehler begeht bzw. begehen
würde. Das sei abschließend erläutert.

[5] Heideggers letztes Wort über das von dem Bezug Sein–Gott aufgeworfene
Problem dürfte in einigen seltsamen Formulierungen zu finden sein, die in ei-
nigen Passagen besonders der Beiträge und im Band mit dem Titel Besinnung
(verfasst 1938/39, veröffentlicht 1997) vorkommen. So heißt es beispielsweise
in den Beiträgen:
»Daß ›die Götter‹ das Seyn brauchen, rückt sie selbst in den Abgrund (die Freiheit) und
spricht die Versagung jeglichen Begründens und Beweisens aus. Und so dunkel noch
die Notschaft des Seyns für das Denken bleiben muß, sie gibt noch den ersten Anhalt,
um ›die Götter‹ zu denken als Jene, die das Seyn brauchen.« (Beiträge 438)

Und etwas weiter im selben Absatz liest man:


»›Die Götter‹ bedürfen der Philosophie, nicht als ob sie selbst philosophieren müßten
um ihrer Götterung willen, sondern Philosophie muß sein, wenn ›die Götter‹ noch
einmal in die Entscheidung kommen sollen und die Geschichte ihren Wesensgrund
erlangen soll. Von den Göttern her bestimmt sich das seynsgeschichtliche Denken als
jenes Denken des Seyns, das den Abgrund der Notschaft des Seyns als Erstes begreift
und niemals im Gotthaften selbst als dem vermeintlich Seiendsten das Wesen des Seyns
sucht. Das seynsgeschichtliche Denken steht außerhalb jeder Theologie …«

Was geht hier vor? Um die folgende Interpretation und die dazu angestellten
Überlegungen richtig zu verstehen, tut man gut daran, auf eine zentrale Aus-
sage hinzuweisen, die Heidegger oft aufstellt, um sein Vorgehen bezüglich der
Metaphysik zu »erklären«. Er sagt, er stelle keine metaphysische Frage; die
Frage, die er stelle, sei »eine ganz andere Frage als die metaphysische Frage.
Das heißt: Ich frage ›Was ist die Metaphysik?‹ Ich frage nicht eine metaphysi-
sche Frage, sondern frage nach dem Wesen der Metaphysik.«45
In der zuletzt zitierten Passage aus den Beiträgen, so wäre jetzt analog dazu
zu sagen, stellt Heidegger keine Aussagen im Rahmen des Seinsdenkens, keine
»seynsgeschichtlichen« Aussagen auf, sondern stellt sich, d. h. sein Denken,
auf die Ebene des »Meta-Seinsdenkens«, auf die Ebene, auf der »meta-seyns-

45 
R. Wisser (Hrsg.), Martin Heidegger im Gespräch, 1970, 75–76.
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 129

geschichtliche« Aussagen aufgestellt werden bezüglich des »seynsgeschicht-


lichen Denkens« selbst. Es ist die Ebene oder Dimension, die sowohl die
Dimension des Seins als auch die Dimension »der Götter« oder (des) Gottes
umfasst. Heidegger tut hier nichts mehr und nichts weniger als, wie er ganz
konsequent sagt, »›die Götter‹ zu denken als Jene, die das Seyn brauchen«.
Das von ihm hier praktizierte »Meta-Seinsdenken« ist gerade das Denken, das
dann eine (schon oben zitierte) Aussage wie die folgende artikuliert, die keine
»seynsgeschichtliche«, sondern eine »meta-seynsgeschichtliche« Aussage ist:
»Von den Göttern her bestimmt sich das seynsgeschichtliche Denken als
jenes Denken des Seyns, das den Abgrund der Notschaft des Seyns als Erstes
begreift und niemals im Gotthaften selbst als dem vermeintlich Seiendsten
das Wesen des Seyns sucht. Das seynsgeschichtliche Denken steht außerhalb
jeder Theologie …« Von der Meta-Ebene des Denkens her, auf die Heidegger
sich jetzt stellt, trifft es in der Tat zu: »Das seynsgeschichtliche Denken steht
außerhalb jeder Theologie.« Steht aber auch das »meta-seynsgeschichtliche
Denken« außerhalb jeder Theologie? Das Meta-Seinsdenken ist auch ein
Meta-Theologie-Denken: Es umfasst beide Dimensionen: das Seinsdenken
und die Theologie und damit auch: das Sein und Gott. Heidegger scheint nicht
im Mindesten zu merken, was hier vor sich geht, d. h. was er denkt und vor
allem wie er denkt.
Wie ist dieses »umfassen« zu verstehen? Ausgeschlossen ist zunächst, dass
das »Umfassen« in der Art gedeutet werden könnte, in der ein Allgemein-
begriff »Instanzen« hat und sie damit »enthält« und »umgreift«. Aber wie
hat Heidegger dieses »Umfassen« verstanden? Es sei zuerst vermerkt, dass es
nicht um das Wort ›umfassen‹ geht. Vielmehr geht es um den Umstand, dass
Heidegger sowohl vom Sein als auch von (dem) Gott (den »Göttern«) spricht
und dass er meint, die »Notschaft des Seyns […][gebe] doch den ersten An-
halt, um ›die Götter‹ zu denken als Jene, die das Seyn brauchen« – und damit
beide in irgendeiner Weise sprachlich und im Denken »erfasst« und damit
beide in diesem Sinne »umfasst«, wobei zunächst offen bleibt, wie dieses
Umfassen näher zu verstehen ist. Genau darin liegt das Problem.
In jedem Fall unterscheiden sich Sein und (der) Gott; sie sind, in der
Sprache Heideggers, Differente. Man erinnert sich nun an Heideggers Kri-
tik der Metaphysik, die auf dem Begriff der Differenz (zwischen Sein und
Seienden) entscheidend basiert, woraus Heidegger den Einwand konstruiert:
Die Metaphysik denkt zwar »im Rahmen oder Bereich« dieser Differenz,
denkt aber die Differenz selbst nicht. Letztlich erweist sich diese Differenz
als die ursprüngliche Dimension, aus welcher Heidegger zufolge sowohl (das
metaphysische) Sein als auch das Seiende »ausgetragen« werden. Die »Diffe-
renz« ist selbst »der Austrag«. (OThL 63, 68) Wenn nun Heidegger jetzt Sein
und (der) Gott (»die Götter«) unterscheidet, so hat er es ebenfalls mit zwei
Differenten zu tun. Denkt er nun – wie er im Falle der Metaphysik gefordert
130 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

hat – die Differenz beider? Auf diese zentrale innere Aporie aller Denkver-
suche Heideggers wurde schon im Laufe der kritischen Auseinandersetzung
mit seinem Denken hingewiesen.

[6] Wie ist »die meta-seynsgeschichtliche Dimension« bzw. »das meta-seyns-


geschichtliche Denken« näher zu verstehen? Denkt Heidegger diese Dimen-
sion oder bleibt sie ungedacht bei ihm? Es scheint, dass man bei Heideg-
ger zwei völlig verschiedene Alternativdeutungen dieser Ebene bzw. dieses
Denkens finden kann, wobei es nach Ansicht des Verfassers kaum möglich
erscheint zu sagen, welche Deutung Heidegger wirklich vertreten oder fa-
vorisiert hat. Der Grund für diese Unklarheit dürfte darin zu sehen sein, dass
Heidegger sich selbst über den »Status« seiner Aussagen über diesen ganzen
Sachverhalt keineswegs im Klaren war. Sie werden im folgenden kurz darge-
legt ([i] und [ii]); anschließend wird auf einen bemerkenswerten gemeinsamen
Punkt bei beiden hingewiesen ([iii]).
[i] Die erste Alternativdeutung im jetzigen Kontext ergibt sich aus einigen
zentralen Aussagen Heideggers, beispielsweise aus einigen (schon oben ange-
führten) Aussagen aus den Beiträgen:
»Von den Göttern her bestimmt sich das seynsgeschichtliche Denken als jenes Denken
des Seyns, das den Abgrund der Notschaft des Seyns als Erstes begreift und niemals
im Gotthaften selbst als dem vermeintlich Seiendsten das Wesen des Seyns sucht. Das
seynsgeschichtliche Denken steht außerhalb jeder Theologie.« (Beiträge 439)46

Konfrontiert mit der von ihm selbst artikulierten Differenz von (dem) Gott
(»den Göttern«) und dem Sein, vollzieht Heidegger eine bemerkenswerte
Wende: Er stellt sich sozusagen auf den Standpunkt (des) Gottes (»der
Götter«) und denkt so sozusagen im Namen (des) Gottes oder »der Götter«
selbst, indem er jetzt das meta-seynsgeschichtliche Denken (also sein eigenes
philosophisches Denken) mit (dem) Gott bzw. »den Göttern« selbst gleich-
setzt. Und so formuliert er jetzt: »Von den Göttern her …« Von diesem gött-
lichen Standpunkt aus, auf den nun Heidegger das (d. h. sein) Denken erhebt,
macht er also zwei Aussagen. Erstens: »das seynsgeschichtliche Denken
[ist] jenes Denken des Seyns, das den Abgrund der Notschaft des Seyns als
Erstes begreift«; zweitens: das seynsgeschichtliche Denken sucht »niemals im
Gotthaften selbst als dem vermeintlich Seiendsten das Wesen des Seyns«. Die
zweite Aussage, die Aussage gegen die Metaphysik, konnte natürlich nicht
fehlen; sie ist aber hier rein negativ und dazu noch gänzlich unbegründet und
leer. Aber die erste Aussage ist bedeutsam: Das seynsgeschichtliche Denken

46  Es ist kurios, dass Heidegger hier das sonst von ihm radikal gemiedene Wort ›be-

greifen‹ verwendet. Damit wird bestätigt, was oben in der Fußnote 26 über die in der
Philosophie praktisch nicht vermeidbare Verwendung dieses Ausdrucks gesagt wurde .
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 131

»begreift den Abgrund der Notschaft des Seyns als Erstes«. Wenn das seyns-
geschichtliche Denken nicht nur das Seyn, sondern auch »die Notschaft des
Seyns« (also den Umstand, dass das Seyn die Not der Götter ist, das, dessen
die Götter bedürfen, das, was sie brauchen) begreift, so umfasst es das Seyn
und (den) Gott bzw. die Götter.
Dieses hier vollzogene Denken ist nun nicht mehr einfach ein oder das
»seynsgeschichtliche(s) Denken«; vielmehr ist es in Wahrheit ein »meta-
seynsgeschichtliches Denken«, wie oben gezeigt. Aber dieses »meta-seyns-
geschichtliche Denken« »umfasst« die beiden Differenten Sein und (den)
Gott nicht in dem Sinn, dass es über beiden situiert wäre; vielmehr – und das
ist höchst bemerkenswert – verhält es sich so, dass Heideggers Denken hier
Sein-und-Gott, die beiden Differenten und deren Differenz, von einem der
Differenten her, nämlich von Gott (oder den Göttern) her, »begreift«. Wenn es
nicht missverständlich wäre, könnte man sagen, dass sich Heidegger jetzt auf
den »theo-logischen« (»theo-« im Sinne des / der Heideggerschen »Gottes/
Götter«) Standpunkt stellt. Aber dieser »theo-logische Standpunkt« ist jetzt
nicht ein Standpunkt neben anderen, neben dem philosophischen, sofern
unter dem »philosophischen Standpunkt« das Denken-des-Seyns bzw. das
»seynsgeschichtliche« Denken verstanden wird. Vielmehr ist es der ursprüng-
lichste Standpunkt überhaupt.
Von diesem Standpunkt aus spricht nun Heidegger jene Meta-Dimension
an, die ursprünglicher als die Dimension des Seyns in seinem Sinne ist. Nennt
man diese Meta-Dimension die ursprünglichste Dimension überhaupt, so
ergibt sich: Heidegger »denkt« sie nur einigermaßen positiv dadurch, dass er
die Aussage aufstellt: »Von den Göttern her bestimmt sich das seynsgeschicht-
liche Denken als jenes Denken des Seyns, das den Abgrund der Notschaft
des Seyns als Erstes begreift«. Das ist, wie schon hervorgehoben, eine »meta-
seynsgeschichtliche« (nach der obigen Interpretation: eine »theo-logische«)
Aussage, eine Selbstartikulation der ursprünglichsten Dimension überhaupt,
aber eben vom theo-logischen Standpunkt aus. Analysiert man genau Heideg-
gers Formulierungen, so zeigt sich, dass er ungenau formuliert. Er müsste
sagen: »Von den Göttern her bestimmt sich das meta-seynsgeschichtliche
Denken als … usw.« Es ist nicht das (sozusagen) »einfache Seynsdenken«, das
»den Abgrund der Notschaft des Seyns« begreift, denn das einfache Seyns-
denken ist nicht jenes Denken, das sich »von den Göttern her bestimmt«.
Das einfache Seynsdenken im Sinne Heideggers bestimmt sich allein vom
Seyn her – und von nichts sonst. Das bedeutet nun, dass es von sich aus nicht
zu jener Dimension gelangen kann, die die Dimension (des) Gottes bzw.
»der Götter« ist. Das einfache Denken des Seins ist eben dies: Denken-des-
Seins – nichts mehr und nichts weniger. Wie kann man dann zu etwas (sagen
wir: zu einer »Dimension«) gelangen, dem (der) Sein absolut ab-gesprochen
wird, wie Heidegger explizit behauptet?
132 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Heidegger hat die berühmte Frage gestellt: »Wie kommt der Gott in die Phi-
losophie?« (OThL 52) Er hat aber nicht die Frage gestellt: »Wie kommt der
Gott in mein Seinsdenken?« Das wäre aber die wichtigste Frage überhaupt,
die er in diesem Kontext hätte stellen können und müssen, um zu erklären,
warum und in welcher Weise er sich mit der Dimension (des) Gottes (bzw. der
Gottheit, des Göttlichen, »der Götter« …) überhaupt befasst. Darauf gibt es
nur eine Antwort: Durch einen Sprung. Der Philosoph Heidegger »begegnet«
faktisch dem Phänomen der »göttlichen« Dimension – und beginnt sich damit
zu befassen. Indem er das tut, vollzieht er einen Sprung auf eine höhere oder
ursprünglichere Dimension bzw. auf den ihr entsprechenden Standpunkt. Von
dieser ursprünglicheren Dimension, d. h. von dieser »meta-seynsgeschicht-
lichen Dimension« her kann er dann sagen: »Das seynsgeschichtliche Denken
steht außerhalb jeder Theologie.« (Beiträge 439) Aber diese ursprünglichere
Dimension selbst bzw. das ihr entsprechende »meta-seynsgeschichtliche Den-
ken« selbst steht nicht einfach »außerhalb jeder Theologie«, sondern sie bzw.
es umfasst die theologische Dimension.
Jetzt wird es auch deutlich, in welchem genaueren Sinne dieses »Um-
fassen« geschieht. Indem die ursprünglichste Dimension selbst von einem
der Differenten her, nämlich von Gott, gedacht wird, ist das »Umfassen« als
ein »meta-seynsgeschichtliches als meta-theologisches Umfassen« zu deuten.
»Meta-theologisch« besagt hier, dass die beiden »Differenten«, die »Kon-
junktion« Sein–Gott, von Gott her begriffen und expliziert wird. Wie gezeigt
wurde, »denkt« Heidegger die ursprünglichste Dimension von Gott her,
indem er die Formulierungen verwendet: »Gott (bzw. ›die Götter‹) bedarf/
bedürfen des Seyns, braucht / brauchen das Seyn …«.
Die einzig wirklich wichtige Frage hier lautet: Wie denkt Heidegger diese
ursprünglichste Dimension selbst »von Gott her (oder, wie er in der zitierten
Stelle sagt, ›von den Göttern her‹)«? Darüber findet man zwar hochtönende
Äußerungen, die aber entweder mehr oder weniger banal oder leer oder we-
nigsagend sind oder vor allem einen prophetisch-eschatologischen Charakter
haben. Darauf ist noch zurückzukehren.
[ii] Die zweite Alternativdeutung ergibt sich aus Aussagen, die nicht [dem]
Gott (oder »den Göttern«) die absolute Priorität bei dem Denken der ur-
sprünglichsten Dimension zuerkennen, also die nicht »von den Göttern her«
artikuliert werden, sondern die der Dimension (des) Gottes, des Göttlichen,
der Gottheit, »der Götter« einen rein derivativen Status verleihen. Diese Deu-
tung findet sich vor allem in Textstellen aus der Abhandlung Die onto-theo-lo-
gische Verfassung der Metaphysik, wie das oben besonders in den Abschnitten
2.2 [1] und 2.4 ausführlich gezeigt wurde. Hier sei eine charakteristische Stelle
aus dem voluminösen Band Besinnung zitiert, aus der etwas deutlicher wird,
wie Heidegger diesen Sachverhalt alternativ deutet:
2.8 Heideggers Denken und das Thema »Gott« 133

»Weder erschaffen die Götter den Menschen noch erfindet der Mensch die Götter. Die
Wahrheit des Seyns entscheidet ›über‹ beide, indem es nicht über ihnen waltet, sondern
zwischen ihnen sich und damit erst sie selbst zur Ent-gegnung ereignet. […] Der Gott
ist niemals ein Seiendes, davon der Mensch bald so, bald anders Einiges weiß, dem er
sich in verschiedenen Entfernungen nähert, sondern die Götter und ihre Gottschaft
entspringen aus der Wahrheit des Seyns; d. h. jene dinghafte Vorstellung des Gottes und
das erklärende Rechnen mit ihm, z. B. als dem Schöpfer, hat ihren Grund in der Aus-
legung der Seiendheit als hergestellter und herstellbarer Anwesenheit.« (Besinn 235–6)

Diesem Text zufolge ist die ursprünglichste Dimension die Wahrheit des Seins;
diese »entscheidet« über beide »Differente«, die Götter und die Menschen
(bzw. die Seienden); demnach entspringen »die Götter« aus der Wahrheit des
Seins«, sind also Derivate. Das sind »meta-seynsgeschichtliche« Aussagen, also
Aussagen, die nicht »im Rahmen« der ursprünglichsten Dimension aufgestellt
werden, sondern die diese ursprünglichste Dimension selbst artikulieren. Hier
ist der »Standpunkt«, von welchem aus sich die ursprünglichste Dimension
artikuliert, nicht (der) Gott oder »die Götter«, sondern das Sein selbst in seiner
Wahrheit. Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass diese Deutung eher dem
eigentlichen Gesamtduktus des Heideggerschen Denkens entspricht.
[iii] Auch bezüglich dieses letztlich entscheidenden Interpretationspro-
blems muss man bei Heidegger mit unerwarteten Faktoren rechnen. So kann
man von einem »gemeinsamen Punkt« bei den beiden kurz beschriebenen
Alternativdeutungen sprechen. Ob dieser »Punkt« den Alternativcharakter
der beiden beschriebenen Positionen bzw. Interpretationen aufzuheben ver-
mag, dürfte schwer zu entscheiden sein. Von beiden Seiten, d. h. sowohl von
»den Göttern her« als auch von der Wahrheit des Seins her, gelangt Heidegger
zu einem oder dem »Punkt«, dem er die beinahe magische Bezeichnung ›Ab-
grund‹ gibt. Zwei (teilweise schon angeführte) Zitate verdeutlichen diesen
Sachverhalt:
»Von den Göttern her« wird der »Ab-grund« so erreicht bzw. artikuliert:
»Daß ›die Götter‹ das Seyn brauchen, rückt sie selbst in den Abgrund (die Freiheit).
[…] Von den Göttern her bestimmt sich das seynsgeschichtliche Denken als jenes
Denken des Seyns, das den Abgrund der Notschaft des Seyns als Erstes begreift und
niemals im Gotthaften selbst als dem vermeintlich Seiendsten das Wesen des Seyns
sucht. […] Den Abgrund der Notschaft des Seyns begreifen besagt: in die Notwendig-
keit versetzt werden, dem Seyn die Wahrheit zu gründen und den Wesensfolgen dieser
Notwendigkeit nicht widerstehen, sondern ihnen entgegen denken und somit wissen,
daß alles Denken des Seyns durch jene Notwendigkeit jeglicher bloß menschlicher
Veranstaltung entzogen wird, ohne dem Anspruch auf ›Absolutheit‹ zu verfallen.«
(Beiträge 438–9; Kursiv nicht im Original)

Von der »Wahrheit des Seyns« her wird der »Ab-grund« so charakterisiert:
»Wie […] das Seyn jeweils sich seine Wahrheit ereignet oder aber mit ihr an sich hält,
[…] vermag der Mensch weder zu lenken noch zu erzwingen, da er selbst gemäß
134 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

der ihm wesentlichen Zugehörigkeit zum Seyn ohne Ermessung und Ahnung dieser
Geschichte zur Bestimmtheit seines Wesens durch das Seyn gestimmt wird. – Wohl
aber liegt es an der Freiheit des Menschen, wie er und wieweit er jene aus dem Seyn
ihn treffende Stimmung zu seiner Bestimmung verwandelt und gründet und so jeweils
sein eigenes Wesen in eine bestimmte Gestalt prägt. Ja die Freiheit ist nichts anderes
als dieser auf das Seyn ansprechende Ab-grund, der sich zur Gründung der Wahrheit
des Seyns im Sinne der Verwahrung derselben im Seienden bestimmt.« (Besinn 236:
Kursiv nicht im Original)

Aus beiden Perspektiven gelangt Heidegger zum Ab-grund und diesen deutet
er als Freiheit. Das sind extrem dunkle, kaum nachvollziehbare Behauptun-
gen. Versucht man dennoch, ihnen einen Sinn abzugewinnen, so könnte man
sie etwa so deuten: Hinsichtlich der Perspektive oder des Standpunkts »vom
Seyn her oder von der Wahrheit des Seyns her« und hinsichtlich der Per-
spektive oder des Standpunkts »von den Göttern her oder von dem Gott her«
wird hier nichts Näheres oder Neues oder Weiterführendes gesagt. Es wird
nur eine »Ebene« angesprochen, die beide Perspektiven oder Standpunkte auf
je eigene Weise »ansprechen«, nämlich die Ebene der Freiheit des Menschen.
Das ist eine der außerordentlich seltenen Stellen, in denen Heidegger etwas
Inhaltliches oder Konkretes über ein so konkretes und vertrautes Phänomen
wie die menschliche Freiheit sagt. »[Es] liegt […] an der Freiheit des Menschen,
wie er und wieweit er jene aus dem Seyn ihn treffende Stimmung zu seiner Be-
stimmung verwandelt und gründet und so jeweils sein eigenes Wesen in eine
bestimmte Gestalt prägt.« Das Seyn determiniert nicht den Menschen. Umge-
kehrt aber betont Heidegger sozusagen die »Selbständigkeit« des Wesens (ver-
bal) des Seyns: »Wie […] das Seyn jeweils sich seine Wahrheit ereignet oder
aber mit ihr an sich hält, […] vermag der Mensch weder zu lenken noch zu
erzwingen.« (Besinn 236) Aber dann verwendet Heidegger Formulierungen,
die, philosophisch betrachtet, als leer, als nichtssagend, höchstens als poetische
Verbalismen zu bewerten sind. So sagt er, dass der Mensch durch das Seyn
»zur Bestimmtheit seines Wesens […] gestimmt« wird. Und daraus öffnet
sich für ihn der ganze Bereich der »Stimmungen« … Das Einzige, das man
Heideggers Ausführungen philosophisch entnehmen kann, ist die These,
dass das »Gestimmtsein (durch das Seyn)« kein »Determiniertsein (durch
das Seyn)« besagt. Hier gebraucht Heidegger immer wieder die Bezeichnung
»Grundlosigkeit der Wahrheit des Seyns«. Der Ausdruck ›Ab-grund‹, den er
hier zur Charakterisierung der Freiheit verwendet, scheint die »Ebene« zu
bezeichnen, in der der Mensch »gemäß der ihm wesentlichen Zugehörigkeit
zum Seyn« sich befindet, und zwar in der Situation, in der er zu entscheiden
hat, ob er »jene aus dem Seyn ihn treffende Stimmung zu seiner Bestimmung
verwandelt …«.
Kann man in etwa verstehen, was Heidegger aus der Perspektive der Wahr-
heit des Seyns anvisiert, wenn er von »Ab-grund« spricht, so lässt sich dasselbe
2.9 »Heideggers Denken« 135

von seinen Aussagen aus der Perspektive »der Götter bzw. des Gottes« kaum
sagen. Was kann wohl ein Satz wie der folgende meinen: »Daß ›die Götter‹
das Seyn brauchen, rückt sie selbst in den Abgrund (Freiheit) …« (Beiträge
438)? Ferner: »[P]hilosophie muß sein, wenn ›die Götter‹ noch einmal in die
Entscheidung kommen sollen und die Geschichte ihren Wesensgrund er-
langen soll.« Es muss wohl angenommen werden, dass mit »Abgrund« und
»Entscheidung« die menschliche Freiheit gemeint ist. Dass der Umstand, dass
»die Götter« »das Seyn brauchen oder des Seyns bedürfen«, sie in diese Sphäre
der menschlichen Freiheit »rückt«, dürfte kaum anders zu verstehen sein als
eine halb-mythologische Rede.
In jedem Fall ist der »gemeinsame Punkt«, die Rede vom »Ab-grund«, kein
Faktor, der das Verhältnis zwischen der Perspektive bzw. dem Standpunkt des
Seyns (oder der Wahrheit des Seyns) und der Perspektive bzw. dem Stand-
punkt »der Götter« in nennenswerter Weise beleuchten könnte. Man wird
zur Konklusion geführt, dass Heideggers endlose Ausführungen über Sein,
Wahrheit des Seins, »die Götter«, »den Gott« usw. sich für eine ernsthafte
philosophische Betrachtung und Auseinandersetzung nicht eignen.
Ein letzter Hinweis ist anzufügen. In vielen Passagen seiner Schriften hat
Heidegger sonderbare Aussagen über den »letzten Gott«47 und ähnliche
»Themen« gemacht. Die wohl berühmteste Aussage erschien als Titel des
Gesprächs, das Heidegger am 23. September 1966 mit dem Nachrichten-
Magazin der spiegel geführt hat und das erst am 31. Mai 1976 nach seinem
Tod veröffentlicht wurde. Die Aussage lautet: »Nur noch ein Gott kann uns
retten.« Auf diese vielen Aussagen und Ausführungen wird hier nicht mehr
eingegangen. Der Grund ist, dass sie durchgehend einen ausgesprochenen
prophetisch-eschatologischen Charakter haben. Auch hier muss man fest-
stellen: Sie eignen sich nicht für eine ernsthafte philosophische Betrachtung
und Auseinandersetzung.

2.9 »Heideggers Denken«: eine grundsätzlich


defiziente und konfuse Gestalt von »Denken«

Es ist nicht beabsichtigt, in diesem Abschnitt eine Art Gesamtfazit der langen
Ausführungen über Heideggers Denken zu ziehen. Nur ein bestimmter – al-
lerdings absolut zentraler  –  Aspekt soll kurz und zusammenfassend cha-
rakterisiert werden: der Status des Heideggerschen Denkens.
Zu den beliebtesten und am häufigsten verwendeten Ausdrücken in Hei-
deggers Schriften gehört das Wort ›Denken‹. Im Laufe seiner Entwicklung hat
Heidegger immer weniger von »Philosophie« und stattdessen immer häufiger

47 
Vgl. z. B. Beiträge, Kap. VII, 405–420.
136 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

und gegen Ende seiner Laufbahn beinahe ausschließlich von ›Denken‹ gespro-
chen. Einer seiner letzten Vorträge (1964) trägt den bezeichnenden Titel »Das
Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«.48 Dieser Abschnitt
analysiert die drei Aspekte von »Denken« bei Heidegger. Erstens: »Heideg-
gers Denken« im Sinne von: das, was Heidegger »gedacht« hat, also dasjenige,
was sonst die Konzeption Heideggers genannt wird; zweitens: »Denken bei
Heidegger« im Sinne von: wie Heidegger Denken »praktiziert« hat; drittens:
»Denken nach Heidegger« im Sinne von: wie Heidegger Denken konzipiert
hat. Die drei Aspekte werden aber nicht getrennt, sondern in einem behandelt
und dies nur sehr kurz.
Das Denken Heideggers (gemäß den drei genannten Aspekten) wird als
grundsätzlich defiziente und konfuse Gestalt von Denken charakterisiert.

[1] Die grundsätzlich defiziente Gestalt wird folgendermaßen verstanden: Es


handelt sich um eine Gestalt von Denken, die nicht alle und nicht einmal die
wichtigsten Potentialitäten des Denkens in Anspruch nimmt, realisiert oder
zur Geltung kommen lässt. Dies sei an einem Punkt belegt und illustriert, der
für die im vorliegenden Buch behandelte Thematik absolut zentral ist.
Die Eigenart des Heideggerschen Denkens in allen seinen Aspekten kommt
am deutlichsten und bezeichnendsten in seiner Interpretation und Kritik
der abendländischen Metaphysik zum Vorschein. Diese Interpretation bzw.
Kritik basiert entscheidend auf der Behauptung, die Metaphysik habe nur
die Seienden als einzelne und im Ganzen thematisiert, dabei aber das Sein
»vergessen«. Das wurde oben im Abschnitt 2.1 und auch in vielen anderen
Passagen der ganzen Behandlung seines Denkens ausführlich dargestellt und
kritisch kommentiert. Es hat sich nun gezeigt, dass Heideggers Interpretation
bzw. Kritik, grundsätzlich gesehen, verfehlt ist. Heidegger hat seine Fehl-
interpretation in der berühmten Formel »Metaphysik ist Onto-theo-logie«
artikuliert und daraus eine umfassende und bei jeder Gelegenheit auf stereo-
type Weise wiederholte »magische Formel« gemacht. Begriffe, Konzeptio-
nen, Fragestellungen, Argumente, Gesichtspunkte, Einwände usw. werden
a limine verworfen, indem sie einfach als metaphysisch bezeichnet werden.
Dabei unterstellt Heidegger entsprechend seiner »magischen Formel«, dass
diese »theoretischen Elemente« ausschließlich Elemente eines Denkens seien,
das nur die Seienden als einzelne und im Ganzen thematisiert. Der Umstand,
dass er das von der Metaphysik angeblich vergessene Sein zum großen Thema
erhoben hatte, hatte dann zur Konsequenz, dass er zentrale »theoretische Ele-
mente« der abendländischen Denkgeschichte einfachhin aus seinem Denken
ausschloss.

48  Zuerst publiziert in einer französischen Übersetzung 1966. Der deutsche Original-

text erschien im Band: SD, 1969, 61–80.


2.9 »Heideggers Denken« 137

Diese in allen wichtigen Schriften Heideggers unerbittlich verfolgte und


praktizierte Strategie hatte eine verhängnisvolle Konsequenz für seine Denk-
form: Sie führte zu einer radikalen Ignorierung und Beschneidung der, wie
man sie nennen kann, theoretischen Potentialitäten des menschlichen Den-
kens. Das Ergebnis ist das, was man am besten eine grundsätzlich defiziente,
eine mindere Gestalt des Denkens nennen kann. Dieser in der uferlosen Li-
teratur über Heidegger nie richtig und angemessen erfasste und zur Geltung
gebrachte Sachverhalt sei nun kurz näher erläutert und die damit verbundene
Behauptung begründet.
Es kann an zentralen Beispielen »theoretischer Elemente« leicht gezeigt
werden, wie Heideggers konsequenzenreiche Taktik der Zuordnung solcher
großen oft in der metaphysischen Tradition vorkommenden »theoretischen
Elemente« zu einem Denken-des-Seienden und nicht zu einem Denken-des-
Seins funktioniert. Es genügt, eine charakteristische Passage anzuführen und
im Einzelnen zu analysieren. Sie findet sich in den Beiträgen zur Philosophie:
»In der metaphysischen Betrachtung muß der Gott als der Seiendste, als erster Grund
und Ursache des Seienden, als das Un-bedingte, Un-endliche, Absolute vorgestellt
werden. Alle diese Bestimmungen entspringen nicht dem Gotthaften des Gottes,
sondern dem Wesen des Seienden als solchen, sofern dieses, als Beständig-Anwesendes,
Gegenständliches, schlechthin an sich gedacht und im vor-stellenden Erklären das
Klarste dem Gott als Gegen-stand zugesprochen wird.« (Beiträge 438)
Heidegger hätte auch – und besonders – die drei großen Modalitäten: Not-
wendigkeit – Möglichkeit – Kontingenz nennen können bzw. sollen. Seine
Behauptung, dass »alle diese Bestimmungen […] dem Wesen des Seienden
als solchen [entspringen]«, ist vollkommen willkürlich, ist durch nichts zu
belegen. Die einfachste Analyse zeigt, dass diese von Heidegger so genannten
»Bestimmungen« Potentialitäten des Denkens sind, die an erster und fun-
damentaler Stelle zum Denken des Seins und nicht oder nicht nur des/der
Seienden gehören. Um diesen Sachverhalt zu klären, genügt es, zwei Arten
von »Bestimmungen« oder Begriffen zu betrachten.
[i] »Bestimmungen« / Begriffe wie »Grund–Gegründetes«, »Ursache–Wir-
kung« u. ä. sind duale Begriffe, sie artikulieren eine Differenz jeweils zu einem
anderen »Pol«. Wie oben ausführlich dargestellt, hat Heidegger die Differenz
von Sein und Seienden, die ihm zufolge in der Metaphysik als die Differenz
von Grund und Gegründetem, Ursache und Wirkung u. ä., erscheint, zum
eigentlichen Thema seiner Kritik der Metaphysik gemacht. Seine Behauptung
war, dass die Metaphysik diese Differenz nicht thematisiert (in Heideggers
Sprache: nicht »gedacht«) hat. Dass diese Behauptung unrichtig ist, wurde in
der Darstellung des Thomasischen Denkens und in den Abschnitten 1.3.2 und
2.1 ausführlich gezeigt.
Hier muss man nun eine erstaunliche Feststellung treffen, die in einer
etwas anderen Hinsicht schon oben formuliert wurde. Wenn gegen die Seins-
138 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

metaphysik etwa eines Thomas von Aquin der Einwand bestehen sollte, sie
habe »Sein« nicht als es selbst, sondern nur im Hinblick auf die Seienden
thematisiert (und dabei das Sein als solches »vergessen«), dann wäre ein
analoger Einwand ebenfalls – und sogar a fortiori – zu Recht gegen Heidegger
zu erheben. Diese Aussage lässt sich in zweifacher Weise begründen.
Erstens: Heidegger vertritt die Auffassung, dass »das Sein nie west ohne
das Seiende« (WegM 306), woraus unmittelbar folgt, dass das Heideggersche
»Sein« als solches nicht ohne die Explizierung des Bezugs Sein–Seiendes mög-
lich ist; dies bildet einen fundamentalen Unterschied zur Seinsmetaphysik des
Thomas von Aquin, der zufolge es sehr wohl möglich ist, dass das esse per se
subsistens, d. h. das esse als solches, als es selbst, (um Heideggers Terminologie
zu verwenden) wohl »wesen« kann ohne die Seienden. Damit kann das esse
als solches – zumindest in gewisser Weise oder grundsätzlich – ursprünglicher
als das esse-im-Bezug-esse-entia(Seienden) artikuliert werden.49 Das bedeutet,
dass Heidegger seine ursprüngliche Dimension (das Sein-als-Ereignis) nicht
anders denken kann denn als mit Hilfe der angezeigten dualen Kategorien,
wie im folgenden zu zeigen ist.
Zweitens: Analysiert man Heideggers Aussagen über das Sein als solches, so
findet man zweierlei Arten von Aussagen. Einmal sind es mehr oder weniger
rein tautologische oder rein negative oder allgemein charakterisierende Aus-
sagen, wie in folgender Passage aus dem Brief über den Humanismus:
»Doch das Sein – was ist das Sein? Es ›ist‹ Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muß
das künftige Denken lernen. Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund.
Das Sein ist wesenhaft weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen
näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier, ein Kunstwerk, eine Maschine, sei es
ein Engel oder Gott. Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen
am fernsten.« (WegM 331)

Dann aber wird das Sein als Sein-als-das-Ereignis gedacht. Hier ist dann zu
fragen, wie »(das) Ereignis« verstanden wird. Wird »(das) Ereignis« als »(das)
Ereignis selbst oder als solches« – und nicht nur als Ereignis-im-Bezug: Ereig-
nis–Ereignetes(s) gedacht? Das Erstaunliche in Heideggers so selbstbewusst
metaphysikkritischen Spätschriften ist gerade der Umstand, dass er Sein-als-
Ereignis nicht anders zu denken vermag als so, dass er ausschließlich duale Be-
griffe verwendet, wie oben gezeigt wurde: Schickung–Geschicktes, Ereignis–
Ereignete(s). Dann »entdeckt« er den Satz: »Es gibt Sein« und interpretiert
»Ereignis« als dieses »Es« und »gibt« als »geben=schenken=schicken«. Somit
hat man: Es=Ereignis wird einzig als Bezug des Ereignens-Gebens-Schickens
zu den Ereigneten-Geschenkten-Geschickten aufgefasst. Es werden nicht
»Bestimmungen« wie »Grund–Gegründetes« oder »Ursache–Wirkung« ge-

49  Genau dies ist die Konzeption, die der Verfasser in seinem Buch SuS entwickelt hat

(vgl. Kap. 5, Abschnitt 5.2).


2.9 »Heideggers Denken« 139

braucht, sondern »Bestimmungen« wie »Ereignis–Ereignete(s)«, »Schicken-


des–Geschickte(s)« u. ä. Man wird nun zu der Feststellung gedrängt: Wenn
die von Heidegger metaphysisch genannten »Bestimmungen« »dem Wesen
des Seienden als solchen entspringen«, so gilt auch analog, dass »seine« »Be-
stimmungen« dem Wesen des Seienden qua Ereigneten–Geschickten ebenfalls
»entspringen«. Was ist dann der Unterschied zwischen der Metaphysik und
dem Heideggerschen »anfänglichen Denken«?
[ii] Heidegger behauptet, dass auch »Bestimmungen«/Begriffe wie »Ab-
solutes«, »Unbedingtes«, »Unendliches« (und, in anderen Passagen, die
Modalitäten »Notwendigkeit – Möglichkeit – Kontingenz«) metaphysisch
seien, da sie »dem Wesen des Seienden als solchen« entspringen. Hier ist
es besonders leicht zu zeigen, dass dies eine gänzlich falsche Behauptung
ist. Wenn das Fragen ein Wesensmerkmal des Denkens ist, wie Heidegger
annimmt, und wenn jede Frage eine bestimmte »Fragerichtung« oder einen
bestimmten »Richtungssinn« hat oder auf dem basiert, was in der normalen
philosophischen Sprache ein bestimmter »Begriff« genannt wird, dann wird
manifest, dass große Fragen hinsichtlich des Seins (und nicht nur und nicht
einmal hauptsächlich hinsichtlich des / der Seienden) aufgeworfen werden
können und müssen, die von den von Heidegger genannten »Bestimmungen«
artikuliert werden. Es sind Fragen wie: Ist das Sein selbst notwendig oder
kontingent? Ist das Sein selbst absolut, unendlich? Usw. Auch gehört es zu
den Potentialitäten des sich uneingeschränkt vollziehenden Denkens, Fragen
aufzuwerfen wie: Ist Heideggers »Ereignis« notwendig, kontingent, abso-
lut, unendlich? Die Weigerung, diese und ähnliche große Fragen zu stellen,
kommt einer verhängnisvollen Beschneidung der Potentialitäten des Denkens
gleich. Das Denken wird entscheidend vermindert, es wird degradiert auf eine
mindere Form.

[2] Die Gestalt des Denkens von, bei und nach Heidegger ist nicht nur eine
grundsätzlich defiziente, ja mindere, sie ist auch eine konfuse oder vermengte
Gestalt. Der Philosoph, der wie kein anderer das Denken ins Zentrum aller
seiner Bemühungen stellen wollte, der ständig zu sagen pflegte: »Das Bedenk-
lichste zeigt sich in unserer bedenklichen Zeit daran, daß wir noch nicht den-
ken«50, hat in Wahrheit das »Denken« auf eine mindere und konfuse Ebene
reduziert. Die literarisch-rhetorische Brillanz seiner diesbezüglichen Sprüche
verdeckt die Schwäche seines »Denkens«. Es soll in diesem letzten Abschnitt
zusammenfassend gezeigt werden, aus welchen »Komponenten« das besteht,
was Heidegger (sein) Denken nennt.
Es sind drei Hauptkomponenten, die  –  gemäß der etymologischen Ur-
bedeutung von »konfus«  –  »ineinander gegossen« werden: die theoretische

50 
M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 1954, 131.
140 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

Komponente, die poetische Komponente und die prophetisch-eschatologische


Komponente. Das sei kurz erläutert.
[i] Im allgemeinen sind die Sätze, die Heidegger in seinen Schriften formu-
liert, syntaktisch betrachtet, theoretische Sätze. Dasselbe kann nicht gesagt
werden, wenn man die Sätze semantisch analysiert. Zumindest viele der Sätze
sind eher als poetische oder prophetisch-eschatologische Sätze zu deuten. Was
nun die Qualifikation »theoretische Sätze« anbelangt, ist darauf hinzuweisen,
dass Heidegger mit Sicherheit gegen diese auf seine Schriften angewandte
Bezeichnung Einspruch erheben würde. Er würde, wie es seine Art ist, gleich
auf die Etymologie und die ursprüngliche Bedeutung des Wortes θεωρία hin-
weisen und im Anschluss daran bestimmte Betrachtungen anstellen, die kaum
etwas mit der Bedeutung zu tun haben, die man heute mit diesem Wort ver-
bindet.51
Als allgemeinste Charakterisierung eines theoretischen Satzes (und damit
auch einer Theorie als einer Menge oder eines Systems von theoretischen
Sätzen) kann kurz gesagt werden: Ein theoretischer Satz ist ein deklarativer
Satz, dessen Struktur am besten durch Explizitmachung eines Operators (des
theoretischen Operators) artikuliert wird, der entweder explizit (selten) oder
implizit (meistens) einem als deklarativ aufgefassten Satz vorangestellt wird.
Wittgenstein hat in seinem Tractatus auf genial einfache und kurze Weise die
Struktur der theoretischen Sätze so artikuliert: »Die allgemeine Form des [de-
klarativen] Satzes ist: es verhält sich so und so«52. Der Operator hat die Form:
»Es verhält sich so dass (z. B.: (der Satz) ϕ)«. Die immense Bedeutung dieses
simplen Sachverhalts wird in Kapitel 3 ausführlich zu zeigen und darzustellen
sein. Der Umstand, dass Heidegger sich um solche Fragen wie die Struktur
der von ihm als Philosoph formulierten Sätze überhaupt nicht kümmert, ist in
einer Hinsicht Grund, in anderer Hinsicht Folge der großen Konfusion, die
seine »philosophischen« Schriften durchzieht. Es sei wiederholt: Auch unter
dem soeben kurz angedeuteten Maßstab sind die meisten Sätze, die in seinen
Schriften enthalten sind, als theoretische Sätze zu betrachten.
[ii] Dass Heidegger Denken und Dichten irgendwie als untrennbar, sogar
als Einheit gesehen hat, steht außer Zweifel. Aber in welchem genauen Sinne?
Zwei Passagen zeigen deutlich, dass seine diesbezügliche Konzeption nicht
so klar ist, wie die meisten Interpreten dieses großen Themas bei Heidegger
annehmen; im übrigen muss man Heideggers faktischen Umgang mit Denken
und Dichten von seiner explizit artikulierten Konzeption unterscheiden.
Gemäß einer ersten Passage besteht zwischen Denken und Dichten eine
strenge Einheit:

51  Vgl. dazu beispielsweise seinen Aufsatz »Wissenschaft und Besinnung«, in: M.

Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 1954, 45–70: vgl. bes. 52 ff.


52  L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: L. Wittgenstein, 1969, 4.5.
2.9 »Heideggers Denken« 141

»Das Denken […] ist Dichten und zwar nicht nur eine Art der Dichtung im Sinne
der Poesie und des Gesanges. Das Denken des Seins ist die ursprüngliche Weise des
Dichtens. In ihm kommt allem zuvor erst die Sprache zur Sprache, d. h. in ihr Wesen.
Das Denken sagt das Diktat der Wahrheit des Seins. Das Denken ist das ursprüngliche
dictare. Das Denken ist die Urdichtung, die aller Poesie voraufgeht, aber auch dem
Dichterischen der Kunst, insofern diese innerhalb des Bezirkes der Sprache ins Werk
kommt. Alles Dichten in diesem weiteren und im engeren Sinne des Poetischen ist in
seinem Grunde ein Denken. Das dichtende Wesen des Denkens verwahrt das Walten
der Wahrheit des Seins.«53

Es gibt eine zweite Reihe von Aussagen Heideggers, die eine Differenzie-
rung zwischen Denken und Dichten artikulieren, beispielsweise:
»[D]as Denken wurde doch in die Nähe des Dichtens gebracht und gegen die Wissen-
schaft abgesetzt. Allein die Nähe ist etwas wesenhaft anderes als der fade Ausgleich
der Unterschiede. Die Wesensnähe zwischen Dichten und Denken schließt den Unter-
schied so wenig aus, daß sie ihn vielmehr in einer abgründigen Weise erstehen läßt.«54

Es bleibe hier dahingestellt, ob diese zwei Aussagereihen kohärenterweise


gleichzeitig vertreten werden können. Wichtiger als Heideggers explizite Cha-
rakterisierung des Verhältnisses von Dichten und Denken ist die Frage, wie
sich Dichten und Denken in seinen Schriften faktisch zueinander verhalten.
Diesbezüglich kann es keinen Zweifel geben, dass Heideggers Denken weit-
gehend dichterische Elemente beinhaltet. Seine Vorliebe für die Interpretation
von Dichtern, an allererster Stelle Hölderlin, ist nur allzu deutlich und belegt.
Die weitgehenden dichterischen Elemente in seinem Denken werfen große
Probleme auf.
Die konkreten Probleme, die hier entstehen, vor allem im Hinblick auf
die Interpretation und philosophische Einschätzung einzelner Texte, lassen
sich auf ein Grundproblem reduzieren: Bewahrt Heidegger wirklich und
konsequent den – von ihm doch anerkannten – Unterschied zwischen theo-
retischem Diskurs und dichterischer Sprache? Das wird man deutlich ver-
neinen müssen. Dann drängt sich die Frage auf, ob man Heideggers Schriften
vollständig als philosophische Schriften betrachten kann. Auch diese Frage
wird man deutlich verneinen müssen. Das macht dann eine philosophische
Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Heidegger außerordentlich
schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Zu sagen beispielsweise, dass die (phi-
losophische) Sprache »versagt«, um dann dichterische Sprachkünste in allen
Variationen zu pflegen, ist für einen Philosophen eine billige Weise, sich der
streng philosophischen Aufgabe zu entziehen. Philosophie ist ein streng theo-
retisches Unternehmen. Es ist widersinnig, etwas an ihr zu bemängeln oder
von ihr zu verlangen, was sie als eine solche Tätigkeit nicht leisten kann und

53 
M. Heidegger, Holzwege, 1950, 303.
54 
M. Heidegger, Was heißt Denken?, 1954, 154.
142 Kapitel 2: M. Heideggers »Seinsdenken«

daher auch nicht zu leisten versuchen sollte. Dieses »nicht leisten können«
ist aber keine Schwäche, sondern Ausdruck des spezifischen Charakters von
Theoretizität.
Man muss noch anfügen, dass ein erheblicher Teil des großen Erfolgs, den
Heidegger im Laufe der Jahre geerntet hat und heute weiterhin erntet, auf ein
Missverständnis und eine Konfusion zurückzuführen ist. Viele Leser seiner
Schriften haben nicht gemerkt und merken nicht, dass das, was der »Seins-
denker« (sein) »Denken« nennt, in Wahrheit das Ergebnis einer Mischung aus
echt philosophischen, dichterischen und (was noch zu zeigen ist) prophetisch-
eschatologischen Elementen ist. Ein solcher konfuser Diskurs übt auf Leser,
die nicht besonders sorgfältig und genau auf das achten, was ihnen angeboten
wird, eine seltsame Faszination aus; haben sie doch dabei den Eindruck, dass
sie es mit etwas Überwältigendem zu tun haben.
[iii] Die dritte Komponente in der konfusen Gestalt des Heideggerschen
Denkens kann man die prophetisch-eschatologische Komponente nennen.
Von der Bibel her ist es bekannt, dass »prophetisch« und »eschatologisch«
zwei Charaktere eines Diskurses sind, die in verschiedenen Formen und
Variationen zusammen auftreten. Das geschieht auch bei Heidegger, in des-
sen Schriften  –  und zwar an zentraler Stelle  –  man häufig Passagen findet,
die wie säkularisierte biblische prophetisch-eschatologische Formulierungen
klingen. »Prophetisch« soll hier nicht genau definiert, sondern nur allgemein
charakterisiert werden. Das Wort wird heute in vielen teilweise unter sich
inkohärenten Bedeutungen verwendet. Hier wird das Wort vor dem bib-
lischen Hintergrund, aber in neutraler Weise verstanden. Es meint die Einheit
von drei Faktoren: einer Verurteilung oder Kritik eines bestehenden Zu-
standes, einer vorhersagenden Ankündigung eines anderen Zustandes (eines
»Kommenden«), einer Aufforderung zur Bereitschaft, sich der Ankunft des
Neuen zu öffnen. Diese drei Faktoren werden hier nicht in deren biblischer
Konkretisierung, sondern sozusagen in neutraler Weise artikuliert. Beispiele
eines solchen Diskurses sind viele Zitate, die in der bisherigen kritischen Dar-
stellung des Heideggerschen Denkens angeführt wurden.
Was das Wort ›eschatologisch bzw. Eschatologie‹ angeht, so spricht Heideg-
ger explizit von der »Eschatologie des Seins«55. Wie er das Wort versteht, zeigt
folgende Passage aus seiner Abhandlung »Der Spruch des Anaximander«:
»Das Altertum, das den Spruch des Anaximander56 bestimmt, gehört in die Frühe
der Frühzeit des Abend-Landes. Wie aber, wenn das Frühe alles Späte, wenn gar das
Früheste das Späteste noch und am weitesten überholte? Das Einst der Frühe des

55 
M. Heidegger, Holzwege, 1950, 302.
56 
Der griechische Text des Spruchs lautet: ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι καὶ τὴν ϕϑορὰν
εἰς ταῦτα γίνεσϑαι κατὰ τὸ χρεών. διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν
τοῦ χρόνου τάξιν. (H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1903/1966, Bd. 1. 89) Hei-
deggers (recht eigenwillige) Übersetzung lautet: »Woraus aber die Dinge das Entstehen
2.9 »Heideggers Denken« 143

Geschickes käme dann als das Einst zur Letze (ἔσχατον), d. h. zum Abschied des bis-
lang verhüllten Geschickes des Seins. Das Sein des Seienden versammelt sich (λέγεσϑαι,
λόγος) in die Letze seines Geschickes. Das bisherige Wesen des Seins geht in eine noch
verhüllte Wahrheit unter. Die Geschichte des Seins versammelt sich in diesen Abschied.
Die Versammlung in diesen Abschied als die Versammlung (λόγος) des Äußersten
(ἔσχατον) seines bisherigen Wesens ist die Eschatologie des Seins. Das Sein selbst ist als
geschickliches in sich eschatologisch.«57

Diese Passage ist ein Musterbeispiel für den dichtenden Charakter des Hei-
deggerschen Denkens. Aber zumindest macht der Text deutlich, dass die
Bezeichnung ›eschatologisch‹ für die Charakterisierung seines Denkens nach
seinem eigenen Selbstverständnis zutreffend ist.

haben, dahin geht auch ihr Vergehen nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander
Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der festgesetzten Zeit.« (Vgl. Holzwege 296)
57  M. Heidegger, Holzwege, 1950, 301–2.
Kapitel 3

Ansatz zu einer struktural-systematischen


Theorie über Sein und Gott

In diesem Kapitel soll der Ansatz zu einer systematischen Konzeption über


die Thematik des Buches Sein und Gott vorgelegt werden. Es soll gezeigt
werden, dass es einzig im Rahmen einer kohärenten umfassenden Theorie
des Seins als solchen und im Ganzen möglich und sinnvoll ist, eine adäquate
Konzeption über Gott zu entwickeln. Kapitel 1 und 2 waren eine unverzicht-
bare philosophiegeschichtliche Vorbereitung auf das hier durchzuführende
Projekt, insofern sie dieses Projekt in der großen Tradition der Metaphysik
situierten und jenes Denken des 20. Jahrhunderts kritisch analysierten, das
die große Seinsfrage vor dem Hintergrund ihrer über zweitausendjährigen
Geschichte erneut und kraftvoll stellte, ohne allerdings einen sachgemäßen
Durchbruch zu erzielen: das Denken Heideggers. Damit sind die sowohl phi-
losophiegeschichtlichen als auch sachlichen Grundlagen für die Erarbeitung
einer eigenen, neuen Konzeption gelegt.
Die hier zu präsentierende Konzeption ist Teil der struktural-systema-
tischen Philosophie, die im Buch des Verfassers Struktur und Sein  –  Ein
Theorierahmen für eine systematische Philosophie (= SuS) dargestellt ist. Sie
entspricht jener Systematik, die in SuS Gesamtsystematik genannt wird. Der
an einer umfassenderen Darstellung interessierte Leser sei auf dieses Werk
verwiesen. Wenn man die in Kapitel 1 des vorliegenden Buches eingeführte
und erläuterte Terminologie verwendet, so handelt es sich im gegenwärtigen
Kapitel um die Grundzüge jener Gestalt von Metaphysik, die in jenem Ka-
pitel Tiefenmetaphysik genannt wurde. Zu bemerken ist aber, dass die hier
gemeinte Tiefenmetaphysik nicht mit jener traditionsreichen Gestalt von
Metaphysik identisch ist, die seit den Zeiten von Chr. Wolff († 1754) und
I. Kant metaphysica generalis genannt wird und als ein fester Bestandteil »der
Metaphysik« gilt. Diese metaphysica generalis wurde und wird immer noch
als die philosophische Disziplin aufgefasst, die sich mit den allgemeinsten
Prädikaten (oder Merkmalen) aller Seienden befasst. Es ist jene Metaphysik,
die Heidegger einfach mit »der Metaphysik« identifiziert und kritisiert hat,
indem er gegen sie den berühmten Vorwurf der Seinsvergessenheit erhob, wie
in Kapitel 2 ausführlich gezeigt wurde. Die Tiefenmetaphysik ist nicht eine
solche metaphysica generalis; vielmehr ist sie eine Theorie des Seins als solchen
und im Ganzen.
146 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Dieses Kapitel gliedert sich in sieben Abschnitte, die jeweils einen Schritt
in der Herausarbeitung der hier vertretenen Konzeption zur Darstellung
bringen. Zuerst sollen die systematischen Grundlagen herausgearbeitet
werden; sie lassen sich im Begriff des Theorierahmens für eine struktural-
systematische Philosophie zusammenfassen (3.1). Sodann erfolgt der ent-
scheidende eigentliche Schritt zur Thematik der Gesamtsystematik bzw.
der Tiefenmetaphysik: die Einführung des uneingeschränkten universe of
discourse als der universalen Dimension des primordialen Seins; dieser Schritt
wird von drei Faktoren her vollzogen (3.2). Sodann wird zuerst der erste Teil
einer Theorie des Seins als Explikation des Seins als solchen dargestellt (3.3).
Der nächste Abschnitt (3.4) enthält den zweiten Teil einer Theorie des Seins
als Explikation des Seins im Ganzen; hier wird ein entscheidender Beweis
durchgeführt, der zur Konklusion führt, dass die universale Seinsdimension
bestimmter als Seins-Zweidimensionalität aufzufassen ist, wobei die eine
Dimension die Dimension des absolutnotwendigen Seins und die andere
die Dimension der kontingenten Seienden ist. Abschnitt 3.5 expliziert das
Verhältnis von absolutnotwendigem Sein und kontingenter Dimension der
Seienden als Schlüssel zu einer Konzeption über das absolutnotwendige Sein
als geistiges (personales) Sein. Im letzten Abschnitt (3.7) wird gezeigt, wie
vom Schöpferabsoluten zu einer adäquaten Konzeption über »Gott« zu ge-
langen ist; anschließend werden die Aufgaben einer integralen Theorie über
Gott herausgearbeitet.1

3.1 Die systematischen Grundlagen:


der Theorierahmen für die
struktural-systematische Philosophie

Philosophie wird in diesem Buch kompromisslos und konsequent als Theorie


aufgefasst. Damit sind Konzeptionen ausgeschlossen wie: Philosophie als
Therapeutik oder Therapie, besonders als therapeutische Sprachkritik, alle
Formen von Philosophie in praktischer Absicht (Philosophie als Weisheit, als
Besinnung, als Bildungstechnik, als Lebenshaltung, als Lebensgestaltung, als
Orientierung im Leben, als Erziehung usw.), Philosophie als diagnostische
Aktivität usw. Der Klärung der Dimension der Theoretizität im allgemeinen
und des Begriffs der philosophischen Theorie im besonderen wird ein be-
trächtlicher Umfang des Buches SuS gewidmet.

1  Einige Passagen aus dem Buch Struktur und Sein werden in der Darstellung des vor-

liegenden Kapitels übernommen.


3.1 Die systematischen Grundlagen 147

3.1.1 Allgemeine methodologische und wissenschaftstheoretische Aspekte


des Theorierahmens
[1] Der Begriff des Theorierahmens, der unter Modifizierung des von R.
Carnap eingeführten Begriffs des Sprachrahmens (linguistic framework) he-
rausgearbeitet wird, ist von schlechthin zentraler Bedeutung für die ganze
Konzeption der struktural-systematischen Philosophie. Es wird von der
grundsätzlichen Einsicht ausgegangen, dass jede theoretische Fragestellung,
jede theoretische Aussage, jede Argumentation, jede Theorie usw. nur ver-
ständlich und einschätzbar ist, wenn sie als in einem Theorierahmen situiert
aufgefasst wird. Wird diese Voraussetzung nicht gemacht, so bleibt alles
unbestimmt: der Sinn einer Aussage, ihre Bewertung usw. Zu jedem Theorie-
rahmen gehören als konstitutive Momente u. a. eine Sprache (mit ihrer Syntax
und ihrer Semantik), eine Logik, eine Begrifflichkeit, mit allen Komponenten,
die einen theoretischen Apparat ausmachen. In der Nichtbeachtung und
sogar in der meistens vorherrschenden Verkennung dieses grundlegenden
Tatbestandes kann die Quelle unzähliger und verhängnisvoller Fehler gesehen
werden, die Philosophen zu allen Zeiten begangen haben.
Um nur ein Beispiel an dieser Stelle anzuführen: Die in der Neuzeit und be-
sonders in der klassischen deutschen Philosophie in den Mittelpunkt gerückte
Frage nach Begründung bzw. Selbstbegründung und auch Letztbegründung
der Philosophie war meistens eine Frage im »luftleeren«, d. h. »theorieleeren«
Raum. Ohne die Explikation einer Sprache, einer Logik, einer Begrifflich-
keit, der grundlegenden Annahmen usw. wurde, kaum war eine Aussage auf-
gestellt, gleich nach deren Begründung gefragt und eine solche verlangt. Die
Voraussetzungen für eine sinnvolle Frage nach Begründung wurden nicht im
mindesten geklärt. Im Gegensatz dazu wird in SuS eine Auffassung über phi-
losophische Begründung streng unter Beachtung der genannten Einsicht in
die zentrale Stellung des Theorierahmens entwickelt.
Es ist zu präzisieren, dass es in SuS und hier darum geht, den heute best-
möglichen Theorierahmen für eine systematische Philosophie zu erarbeiten.
Diese Grundthese, die das grundsätzliche Gerüst oder auch die grundsätzliche
Architektonik der vertretenen systematischen Philosophie bildet, wird durch
die weitere These spezifiziert, dass es eine Pluralität von Theorierahmen
geben kann und auch tatsächlich gibt. Diese zweite These wirft eine Reihe von
schwierigen Problemen auf, wie z. B.: Wie sind diese pluralen Theorierahmen
einzuschätzen? Sind wahre philosophische Aussagen nur in einem, dem (an-
geblich) »absoluten« Theorierahmen möglich? Sind theoretische Aussagen,
die nicht in diesem absoluten Theorierahmen aufgestellt werden, falsch? Gibt
es überhaupt einen solchen absoluten Theorierahmen? und, wenn ja, ist er
uns Menschen überhaupt zugänglich? Die in diesem Buch vertretene Kon-
zeption versteht sich als eine systematisch ausgewogene Konzeption: Jeder
148 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Theorierahmen ermöglicht wahre Aussagen, aber wahre Aussagen nicht auf


gleicher Ebene. Es sind Wahrheiten relativ zum jeweiligen Theorierahmen.
Diese Relativität ist eine spezifische Form eines moderaten widerspruchs-
freien Relativismus.2
Der hier anvisierte philosophische Theorierahmen ist von hoher Kom-
plexität. Als ein Ganzes genommen, besteht er aus zahlreichen partikulären
Theorierahmen, die als die Stufen des Prozesses zur Herausbildung des voll-
ständigen systematischen Theorierahmens zu verstehen sind. Am Anfang ist
der philosophische Theorierahmen in dem Sinne nur sehr global bestimmt,
dass er nur ganz allgemeine Elemente (Begriffe usw.) enthält. Im Zuge des
Prozesses der Konkretisierung und systematischen Bestimmung des Theorie-
rahmens kommen neue Elemente hinzu, so dass Schritt für Schritt jeweils wei-
tere, bestimmtere, leistungsfähigere Subtheorierahmen als konkretere Formen
des allgemeinen Theorierahmens hervortreten. Die systematische Gesamt-
darstellung ist die Nachzeichnung dieses Prozesses der Konkretisierung und
näheren Bestimmung des (allgemeinen) systematischen Theorierahmens, wie
dies in Struktur und Sein genauer und detailliert erläutert wird.
Auf der Basis des Begriffs des Theorierahmens wird Philosophie in einer
vorläufigen Definition (»Quasi-Definition«) als universale Wissenschaft ver-
standen, genauer: als Theorie der universalen Strukturen des uneingeschränk-
ten universe of discourse. Das ist eine anspruchsvolle Formulierung, die so viel
wert ist, wie es gelingt, die in ihr vorkommenden Begriffe zu erläutern und
deren Relevanz für die Philosophie zu erweisen.
Die zwei wichtigsten in der eben vorgelegten Quasi-Definition vorkom-
menden Begriffe sind: »Struktur« und »uneingeschränktes universe of dis-
course«. Der zweite Ausdruck bzw. Begriff ist methodisch gänzlich neutral,
enthält er doch keine näheren inhaltlichen Bestimmungen; er bezeichnet jene
»Dimension« (auch dieser Ausdruck ist ein mit Absicht gewählter »neutraler«
Ausdruck bzw. Begriff), welche die »Sache« der systematischen Philosophie
repräsentiert. (Man vergleiche damit Heideggers berühmten Ausdruck ›(die)
Sache des Denkens‹.) Die Dimension des universe of discourse ist das umfas-
sende Datum im Sinne von: das zu begreifende oder zu erklärende Gegebene
der Philosophie, d. h. all das, womit sich die philosophische Theorie befassen
kann und befassen muss. Insofern ist der Ausdruck ›Datum‹ hier eine Art
terminus technicus, von dem alle in der Philosophie gängigen Vorstellungen
von Daten im Sinne von sense data, dem sinnlich Gegebenen u. ä. strikt zu
unterscheiden sind. Auch das in der heutigen Philosophie unter der Bezeich-
nung ›the Myth of the Given‹3 vieldiskutierte Thema hat nur einen indirekten
Bezug auf Datum in dem hier intendierten Sinne.

2 
Vgl. dazu SuS 3.3.4.3.
3 
Der Ausdruck wurde von W. Sellars eingeführt, um einen Irrweg in der Philosophie
3.1 Die systematischen Grundlagen 149

Hier wird dieser Terminus (im Singular und Plural) als terminus technicus
im folgenden Sinne aufgefasst: »Datum« ist ein schon sprachlich artikuliertes
vorgegebenes Etwas, genauer: »Datum« ist das Expressum eines Satzes, eine
»empirische Proposition«, d. h. ein vorgegebener sprachlich artikulierter In-
formationsgehalt, konkret: eine durch einen empirischen Satz ausgedrückte
Proposition. Als solche Proposition wird »Datum« dann als »Theorie‑ oder
Wahrheitskandidat« aufgefasst. »Daten« in dem hier vorausgesetzten Sinn
sind in vielfachen Formen schon in der normalen oder natürlichen Sprache
enthalten. Es sind all die »Etwasse«, die zuerst im universe of normal dis-
course theoretisch artikuliert hervortreten, wenn darin von »den Dingen«,
von »der Welt«, von »dem Universum« usw. die Rede ist. Sie sind aber auch
auf höheren Ebenen der Theoriebildung zu finden: Es sind die (neuen oder
weiteren) Fragen, die (neuen oder weiteren) Themen, Zusammenhänge usw.
Der systematische Philosoph muss hieran anknüpfen und versuchen, alle diese
»Daten« in eine Gesamttheorie einzubringen. Dies geschieht nicht dadurch,
dass angenommen wird, solche »Daten« seien sozusagen als »fertige vorgege-
bene theoretische Größen (als ready-made)« Komponenten der Theorie; ganz
im Gegenteil, sie sind nur »Theoriekandidaten«, die allererst begriffen und er-
klärt werden müssen. Dies ist nur durch einen Prozess radikaler Korrekturen
und Transformationen zu erreichen.
Dieser Sachverhalt zeigt sich vorerst oder anfänglich am Verhältnis zwi-
schen der natürlichen Sprache und der Sprache, die man philosophische Spra-
che nennen kann, auf die noch einzugehen sein wird. Letztere knüpft zwar an
die normale Sprache an, korrigiert sie aber dann in grundsätzlicher Hinsicht,
und zwar nicht unbedingt in syntaktischer, sondern in semantischer Hinsicht.
Damit wird auf der Basis des Kriteriums der Intelligibilität eine neue Semantik
entwickelt, die als Implikation eine neue Ontologie hat. Im Verlauf dieses Pro-
zesses tauchen neue, höhere Daten auf.
Im Zuge der Darstellung wird die ›universe of discourse‹ genannte Dimen-
sion schrittweise näher bestimmt, indem neue Bezeichnungen eingeführt wer-
den: ›Welt‹, ›Universum‹, schließlich ›Sein‹ (zunächst im Sinne des »objektiven
Gegenpols« zu »Struktur«). Als der adäquateste Ausdruck bzw. Begriff für
das bestimmte uneingeschränkte universe of discourse wird der im Verlauf der
Darstellung einzuführende und zu explizierende Ausdruck ›Sein‹ gebraucht.
Der andere Hauptbegriff der Quasi-Definition ist Struktur. Dieser Be-
griff bezeichnet all das, was eine Theorie expliziert. Begreifen, Erklären u. ä.
kann man am kürzesten so charakterisieren, dass man sagt: Es werden die
Struktur(en) dessen, was begriffen, erklärt etc. wird (d. h. der Data), heraus-
gearbeitet. Obwohl der Ausdruck ›Struktur‹ zu einem modischen Ausdruck

zu bezeichnen, den er einer strengen Kritik unterzog. Vgl. seinen Aufsatz, Empiricism and
the Philosophy of Mind, 1956.
150 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

bzw. Begriff avanciert ist, wird er dennoch hier als einer der zentralen Begriffe
gebraucht. Die Rechtfertigung dazu liegt in dem Umstand, dass »Struktur«
hier sehr sorgfältig eingeführt, definiert und zur Anwendung gebracht wird.
Grundsätzlich wird die mathematische Bedeutung dieses Ausdrucks ange-
nommen bzw. vorausgesetzt, die aber dann auf echt philosophische Themen-
stellungen ausgedehnt und erweitert wird. Wegen der zentralen Stellung
dieses Begriffs wird die hier vorgelegte systematische Philosophie »struk-
tural-systematische Philosophie« genannt. Wie die Dimension der Strukturen
und die Dimension des universe of discourse bzw. des Seins zusammenhängen,
bildet das Grundthema der struktural-systematischen Philosophie. Diese ist
nämlich nichts anderes als die schrittweise entfaltete Thematisierung dieses
Zusammenhanges.

[2] Der allgemeine zentrale Gedanke der struktural-systematischen Philoso-


phie kann folgendermaßen charakterisiert werden: Die philosophische Theo-
riebildung besteht in der Herausarbeitung des Zusammenhangs zwischen der
Dimension der Daten (im erläuterten Sinne) und der Dimension der Struk-
tur(en), kurz: der strukturalen Dimension. Wie noch darzustellen sein wird,
umfasst die strukturale Dimension drei fundamentale Arten von Strukturen:
die logisch-mathematischen, die semantischen und die ontologischen. Diese
Strukturen werden in der »Anwendung« auf Daten konkretisiert mit dem
Ergebnis, dass sie dann als die Strukturen der Daten selbst erscheinen. Oder
umgekehrt: Die Daten werden in die (Dimension der) Strukturen einbezogen.
Im Zuge dieses Prozesses bleiben die Daten gerade nicht als ein für allemal
»fertige Etwasse« bestehen, sondern werden transformiert, in dem Sinne, dass
sie geklärt, zur Ebene der möglichst maximal erreichbaren Intelligibilität er-
hoben werden.
Alles, was thematisiert wird, ist anfänglich und definitionsmäßig ein Datum
(im technischen Sinne). So gibt es unendlich viele Daten, die alle Elemente
des universe of discourse sind, wobei dieses als das große Datum bezeichnet
werden kann. Das »Zusammentreffen« von Datum/Daten und Struktur(en)
ist der absolut zentrale Punkt und die große zu bewältigende Aufgabe der
struktural-systematischen Philosophie. Dabei muss beachtet werden, dass
die Unterscheidung zwischen Strukturdimension und Dimension des/der/
Datums/Daten leicht missverstanden werden kann. Sie hat kaum etwas mit
der transzendental verstandenen Unterscheidung zwischen Begriffen/Ideen
a priori und dem sinnlich vermittelten Material gemeinsam. Vielmehr sind
die Strukturen als solche, d. h. wenn sie ohne expliziten Bezug zu den Daten
herausgearbeitet werden, zu charakterisieren als noch abstrakte, d. h. hier:
noch nicht im Einzelnen spezifizierte Strukturen-der-Daten-selbst.
Es handelt sich insofern nur um die allgemeinen oder fundamentalen,
noch nicht um die »konkreten« Strukturen. Man kann daher sagen, dass die
3.1 Die systematischen Grundlagen 151

Strukturdimension, wie sie noch kurz darzustellen ist, die allgemeine oder
fundamentale Architektonik der Wirklichkeit, des Seins im Ganzen ausmacht.
Der »konkrete« Status der Einzeldinge, Einzelbereiche und aller zwischen
ihnen obwaltenden Zusammenhänge, kurz: die ganz konkrete Strukturiertheit
des universe of discourse kann nur als das Ergebnis der Explizierung des »Zu-
sammentreffens« von allgemeinen oder fundamentalen Strukturen und den
Daten im erläuterten Sinn aufgefasst werden.
Damit werden grundsätzlich alle Probleme überwunden, die traditionell
und in der Gegenwart in den Debatten über Realismus und Antirealismus,
Realismus und Idealismus u. ä. diskutiert werden. Die Entwicklung dieser
Grundthese führt zu einer überlegenen Sicht. Um sie näher zu explizieren,
müssen im folgenden einige damit wesentlich zusammenhängende Gesichts-
punkte erläutert werden. Sie können hier nur sehr summarisch dargestellt
werden; für eine ausführliche systematische Behandlung sei der Leser auf das
Buch Struktur und Sein, Kapitel 1–3, verwiesen.

[3] Der erste Gesichtspunkt ist die Thematik der Methode. In der struktural-
systematischen Philosophie wird die Methode als die Antwort auf die Frage
konzipiert: Wie erfolgt (bzw. sollte erfolgen) das »Zusammentreffen« von
Dimension der Struktur(en) und Dimension des Datums bzw. der Daten?
Diese Antwort besteht in der Ausarbeitung eines vierstufigen philosophischen
Verfahrens.
Es handelt sich also um eine vierstufige philosophische Methode. Aber
es muss gleich hinzugefügt werden, dass eine solche Methode, streng als ein
Ganzes genommen, nur die idealisierte Gestalt dessen ist, was man gewöhn-
lich eine bzw. die philosophische Methode zu nennen pflegt. Der Grund
dafür liegt darin, dass diese vierstufige Methode als solche kaum in der phi-
losophischen Praxis verwirklicht wird und, pragmatisch geschehen, kaum ver-
wirklicht werden kann. Sie hat aber eine nicht zu unterschätzende Bedeutung,
insofern sie als eine Art regulative Idee der philosophischen Theoriebildung
fungiert. Indem ein Philosoph die so verstandene Methode kennt und im
Auge behält und so ein bestimmtes Thema behandelt, wird er des fundamen-
talen Umstands bewusst, dass er nur eine in vielfacher Hinsicht sehr begrenzte
Leistung erbringt, dass also viel mehr zu tun wäre, wollte bzw. könnte er die
philosophische Aufgabe vollständig und angemessen bewältigen. M. a. W., die
philosophische Arbeit unter der regulativen Idee der vierstufigen Methode
wird richtig eingeschätzt, indem sie im weiten Feld der philosophischen
Möglichkeiten und der höchsten philosophischen Maßstäbe und Erforder-
nisse situiert wird.
Die vier Stufen der Gesamtmethode sollen nun kurz beschrieben werden.
Der Kürze halber kann man einfach von vier Methoden sprechen. Die dieser
vierstufigen Methode zugrundeliegende Idee ist einfach: Angesichts des Da-
152 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

tums bzw. der Data – sei es ein einzelnes Phänomen oder Ereignis, sei es ein
ganzer Bereich von Daten oder sogar das Gesamtdatum, d. h. das universe of
discourse – ist die theoretische Aufgabe in folgender Weise zu bewältigen: Auf
einer ersten Stufe (der Stufe der Aufbau‑ oder Inventivmethode) müssen (die)
Strukturen für das Datum (und damit die Strukturen des Datums) gesucht
werden, womit das Theoriematerial bereitgestellt und eine erste (informale)
Artikulation einer Theorie vorgelegt wird.
Sodann wird auf einer zweiten Stufe (der Stufe der theoriekonstitutiven
Methode) dieses Theoriematerial (also die eruierten Strukturen in der Form
einer informalen minimalen Theorie) gemäß der strengen Theorieform zur
Darstellung gebracht; d. h. eine Theorie im eigentlichen oder strengen Sinne
wird formuliert. In der Folge müssen auf einer dritten Stufe (der Stufe der
systemkonstitutiven Methode) die so dargestellten einzelnen Theorien in eine
systematische Form gebracht werden, was bedeutet, dass ein Theoriennetz,
also ein systematisches Ganzes, herausgebildet wird. Schließlich ist auf einer
vierten Stufe (der Stufe der wahrheits(status)prüfenden Methode oder der
Methode der Bewährung) zu untersuchen, ob die einzelnen formulierten
Theorien und das Theoriennetz, in welches sie integriert wurden, theoretisch
adäquat sind, d. h. ob die Kriterien für Theoretizität, zu denen hauptsächlich
die Wahrheit gehört, erfüllt sind.
In der philosophischen Praxis werden diese vier Schritte kaum so gesehen;
noch weniger kann gesagt werden, dass sie in dieser Reihenfolge vollzogen
werden. Die zweite und die dritte Stufe der Methode werden in den meisten
philosophischen Schriften nicht einmal in Ansätzen erreicht. Meistens besteht
der faktische Status der so genannten philosophischen Theorien in nichts
anderem als in einer irgendwie zustande gebrachten Anzahl von Aspekten der
ersten und der vierten methodischen Stufe, wobei die meisten Konzeptionen
das, was hier »Bewährung« genannt wird, als Begründung (in einem reichlich
vagen Sinne) bezeichnen und verstehen. In anspruchsvolleren philosophi-
schen Darstellungen wird nur die zweite Methodenstufe übersprungen. In
diesem Fall werden die als Resultat der Anwendung der ersten Methodenstufe
nur informal bzw. minimal formulierten Theorien direkt  –  d. h. hier unter
Umgehung der zweiten Methodenstufe – in ein (dann ebenfalls nur informal
artikuliertes) Theoriennetz einbezogen.
Was die zweite, die theoriekonstitutive Methode(nstufe) anbelangt, muss
bemerkt werden, dass die unter streng theoretischen Gesichtspunkten wohl
wichtigsten Theorieformen heute die axiomatische und die Netzwerk-Form
sind, wobei letztere als die netztstrukturale oder kohärenziale bezeichnet
werden kann. Entsprechend ist von der axiomatischen und der netztstruk-
turalen/ kohärenzialen (oder Netzwerk‑)Methode zu sprechen.
Von der axiomatischen Methode unterscheidet sich die netzstrukturale
hinsichtlich einer Reihe von Faktoren, nicht aber hinsichtlich der informellen
3.1 Die systematischen Grundlagen 153

oder formalen Gestalt der Theorie und somit nicht hinsichtlich der Einfüh-
rung bzw. Verwendung einer formalen Sprache, mit allen Konsequenzen, die
dieser Faktor hat, beispielsweise hinsichtlich des Begriffs des Modells. Der
einzige fundamentale Unterschied ist der Umstand, dass ein axiomatisches
System bzw. die axiomatische Theorieform einen exklusiv hierarchisch-li-
nearen Charakter hat, während die Theorieform im Sinne der netzstruk-
turalen Methode nicht durch einen solchen Charakter artikuliert ist. Aber
damit ist es prinzipiell nicht ausgeschlossen, dass in einer (Gesamt)Theorie
mit der Grundform des Netzwerkes einzelne (»lokale«) hierarchisch-lineare
und damit axiomatische Zusammenhänge als möglich und sogar als adäquat
angesehen werden können.
Die deduktive Struktur, welche die streng axiomatischen Theorien cha-
rakterisiert, ist in einer Hinsicht Folge, Resultat oder Ausdruck des hierar-
chisch-linearen Charakters der Theorie; in einer anderen Hinsicht ist sie der
Grund für diesen hierarchisch-linearen Charakter. Das dürfte ohne weiteres
einleuchten, da die axiomatische Methode gerade dadurch gekennzeichnet ist,
dass sie aus einer (endlichen) Reihe von basalen Thesen (eben den Axiomen)
zu jeweils weiteren Thesen (eben den Theoremen) gelangt. Die kohärenziale
oder Netzwerk-Methode basiert auf einer ganz anderen Struktur, nämlich auf
dem Gesamt inferentieller Interrelationen einer Theorie; gleichzeitig macht
diese Methode eine solche Struktur explizit.
Was ergibt sich aus dieser Problem‑ und Sachlage für die zweite Methoden-
stufe im Rahmen der struktural-systematischen Philosophie? Um darauf eine
fundierte Antwort zu geben, sind zwei Feststellungen bzw. Einsichten zu be-
achten: [i] Die axiomatische Methode ist die logisch exakteste überhaupt; sie
konstituiert daher die logisch / mathematisch anspruchsvollste Theorieform.
Die Netzwerk-Methode hat hingegen bei weitem nicht einen so eindeutigen
logisch-mathematischen Status. [ii] Es kann nicht angenommen werden, dass
die Beziehungen zwischen den »Elementen« einer Theorie qua Darstellungs-
form und zwischen den dadurch artikulierten »objektiven (ontologischen)«
Elementen immer einfach eine linear-hierarchische Struktur haben. Vielmehr
muss angenommen werden, dass es, zumindest in vielen, wenn gar nicht in
den meisten Fällen, ein Geflecht (eben ein Netzwerk) von Beziehungen gibt,
das daher nicht axiomatisch, d. h. linear-hierarchisch, erfasst und artikuliert
werden kann. Je umfassender eine Theorie ist, desto unwahrscheinlicher ist
es, dass sie gemäß der axiomatischen Theorieform artikuliert werden kann.
Um die ganze Komplexität des von einer Theorie zu thematisierenden
Geflechts von Beziehungen axiomatisch zu artikulieren, könnte man zwar
daran denken, die Zahl der Axiome zu erhöhen, im Prinzip sogar ins Unend-
liche. Aber dagegen sprechen mindestens zwei Gründe: Erstens wäre eine ins
Unendliche erhöhte Anzahl von Axiomen in theoretischer Hinsicht nicht
praktikabel. Zweitens kann auch eine beliebig große Anzahl von Axiomen
154 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

prinzipiell nicht das ganze Netzwerk von Beziehungen erfassen; denn viele
Beziehungen haben einen zyklischen Charakter, indem sie Beziehungen zwi-
schen Entitäten sind, die sich gegenseitig involvieren.
Für die hier beschriebene philosophische Methode sind aus den beiden
Punkten folgende wichtige Konsequenzen zu ziehen. In den Fällen, in denen
die durch eine Theorie zu artikulierenden Zusammenhänge eine linear-hierar-
chische Strukturiertheit aufweisen, ist die axiomatische Methode bzw. Theo-
rieform zu wählen; in allen anderen Fällen erweist sich die kohärenziale oder
Netzwerk-Methode bzw. Theorieform als die adäquate. Für die Philosophie
als ganze, d. h. als Gesamttheorie, kommt nur die kohärenziale Methode
bzw. Theorieform in Frage. Bei »lokalen« Theorien, bei denen, wie erläutert,
die axiomatische Methode bzw. Theorie möglich ist, ist in der Regel eine
informale axiomatische Theorieform völlig ausreichend.

[4] Ein schlechthin unverzichtbares Element des struktural-systematischen


Theorierahmens ist die Sprache. Sie bildet in jeder wichtigen Hinsicht das
Zentrum des Theorierahmens. Die struktural-systematische Philosophie wird
auf der Basis eines radikal interpretierten linguistic turn entwickelt. »Radikal
interpretiert« meint hier, dass die Sprache nicht in einer Art geradliniger
Kontinuität zur »klassischen« analytischen Philosophie, sondern in einer
den Begriff der Sprache grundlegend neubestimmenden Weise gesehen und
verstanden wird. Der zentrale Punkt dabei ist die Aufgabe der natürlichen
oder normalen Sprache als der die Maßstäbe für die Philosophie setzenden
Sprache. Stattdessen wird eine philosophische Sprache eingeführt, die zwar an
die natürliche / normale Sprache in gewisser Weise anknüpft, diese aber nicht
nur korrigiert, sondern in semantisch-ontologischer Hinsicht radikal trans-
formiert. Diese These wird erst allmählich in ihrer ganzen Tragweite deutlich
werden.
Im gegenwärtigen Kontext ist es zunächst wichtig, die philosophische Spra-
che in einer ganz bestimmten, und zwar fundamentalen Hinsicht einzuführen.
Wie oben gezeigt, versteht sich die struktural-systematische Philosophie im
strengsten Sinne als Theorie, wodurch eine ganze Reihe von Vorstellungen, die
im Verlauf der Philosophiegeschichte mit dem Wort ›Philosophie‹ assoziiert
wurden, ausgeschlossen werden. Was aber eine Theorie ist, stellt ein zentrales
Thema der Philosophie dar, auf welches noch einzugehen sein wird. Hier kann
man nun ein allgemeines Kriterium für Theoretizität einführen, und zwar
das sprachliche Kriterium. Eine Theorie besteht aus Sätzen bzw. setzt Sätze
voraus. Es sind theoretische Sätze. Was sind aber theoretische Sätze? Dafür
lässt sich ein sprachliches Kriterium angeben: Es sind die deklarativen oder
indikativen Sätze, die Sätze, die sich von praktischen (Sollens‑) Sätzen (»Du
sollst dies und dies tun«) und von ästhetischen Sätzen (»Wie wunderbar sind
die Alpen«) unterscheiden. Theoretische Sätze drücken aus, wie sich etwas
3.1 Die systematischen Grundlagen 155

verhält, nicht wie sich etwas verhalten sollte u. dgl.4 In seinem Tractatus hat
Wittgenstein die Struktur dieser Sätze folgendermaßen charakterisiert:
»[D]ass es eine allgemeine Satzform gibt, wird dadurch bewiesen, dass es keinen Satz
geben darf, dessen Form man nicht hätte voraussehen (d. h. konstruieren) können. Die
allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so.«5

Wittgenstein bezieht sich hier mit Sicherheit auf die deklarativen bzw. theo-
retischen Sätze. Man kann nun diese Idee dahingehend präzisieren, dass man
den Begriff des theoretischen Operators einführt: Jeder Satz, der als deklarativ
bzw. theoretisch gilt, hat folgende sprachliche Struktur: ihm ist – entweder ex-
plizit oder (meistens) nur implizit – der Operator »Es verhält sich so dass …«
vorangestellt. Man kann für den theoretischen Operator das Symbol › T ‹ ein-
führen. Versteht man den griechischen Buchstaben ›φ‹ als eine Satzkonstante
oder ‑variable, so hat der theoretische Satz die Form bzw. Struktur:  T φ. Eine
Instantiierung dieser Form / Struktur ist beispielsweise der Satz: »[Es verhält
sich so dass] die Erde sich um die Sonne dreht«.6
Die außerordentliche Tragweite des theoretischen Operators wird sich in
mehreren Etappen der weiteren Darstellung zeigen. Hier ist zuerst auf den
absoluten und radikalen Charakter der durch ihn ermöglichten Artikulation
hinzuweisen. Das bedeutet, dass in solchen so gedeuteten theoretischen Sät-
zen überhaupt kein Bezug auf Subjekte, Sprecher, Situationen, überhaupt auf
irgendwelche dem reinen Theoriestatus äußerlichen Faktoren gegeben ist. Das
macht unmissverständlich einen absoluten fundamentalen Punkt deutlich:
Eine Theorie als solche ist völlig unabhängig von den Einstellungen von Sub-
jekten ihr gegenüber. Dieser Punkt hat eine für eine angemessene Konzeption
von Philosophie kaum hoch genug zu betonende Bedeutung.

4  Wie in SuS Abschnitt 2.2.3.1 und 4.3.2.5 gezeigt wird, drückt auch ein praktischer

(deontischer) Satz etwas aus, hat also ein Expressum; aber der Modus des Ausdrückens /
Artikulierens ist ein ganz anderer als der theoretische Modus.
5  Tractatus 4.5 (Kursiv nicht im Original). Die Anführung dieser Formulierung im-

pliziert nicht, dass Wittgenstein selbst sie als Kriterium für Theoretizität gemeint hat.
Seine Absicht dürfte eine ganz andere gewesen sein. Man vergleiche auch die Bemer-
kungen, die er später, in den Philosophischen Untersuchungen, zu der zitierten Stelle des
Tractatus gemacht hat:
»Log. Phil. Abh. (4.5): ›Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und
so‹. – Das ist ein Satz von jener Art, die man sich unzählige Male wiederholt. Man glaubt,
wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die
wir sie betrachten.« (Philosophische Untersuchungen § 114)
6  Es ist zu bemerken, dass die rein syntaktisch-grammatikalische Form eines deklara-

tiven Satzes in pragmatisch-natürlichsprachlichen Kontexten nicht immer ein Kriterium


für den theoretischen Charakter des Satzes ist. Beispielsweise hat der Satz: »Ich bekomme
Äpfel« beim Einkaufen auf dem Markt zwar die syntaktisch-grammatikalische Form eines
deklarativen Satzes; aber in diesem Kontext ist der Satz nur als eine höfliche Formulierung
eines eindeutig praktischen Satzes zu verstehen: »Geben Sie mir Äpfel«.
156 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser Auffassung betrifft die ganze


epistemische Dimension. Die radikal epistemische Wende der ganzen neu-
zeitlichen Philosophie rückte das Subjekt in den Mittelpunkt des ganzen theo-
retischen Unternehmens und damit auch der Philosophie. Die struktural-sys-
tematische Philosophie vollzieht hier eine radikale Wende, insofern sie nicht
das (erkennende bzw. handelnde) Subjekt, sondern die Sprache mit allem,
was dazu gehört (Semantik, Logik usw.), als Zentrum der Theoriebildung be-
trachtet. Damit wird das Subjekt radikal depotenziert. Diese Depotenzierung
wird hinsichtlich zweier zentraler Themen der neuzeitlichen und gegen-
wärtigen Philosophie deutlich: hinsichtlich der Problematik der Begründung
und hinsichtlich der Definition und des Stellenwertes von Erkenntnis.
Hinsichtlich der Begründungsthematik ist eine grundlegende Unterschei-
dung einzuführen, nämlich die Unterscheidung zwischen Begründung im
pragmatischen Sinne (kurz: pragmatischer Begründung) und Begründung im
rein objektiven Sinne (kurz: sachlicher oder objektiver Begründung). Die erste
besteht darin, dass »Gründe« als Faktoren gesucht bzw. präsentiert werden,
die darauf abzielen, ein Subjekt dazu zu bewegen, einer Aussage bzw. Theorie
zuzustimmen (bzw. sie abzulehnen). Im Gegensatz dazu geht es bei der sachli-
chen/objektiven Begründung darum, ausschließlich sachliche/objektive Fak-
toren herauszuarbeiten, die von der Haltung eines Subjektes völlig absehen,
indem sie nur die innere Kohärenz und die Wahrheit der in Frage stehenden
Aussage bzw. Theorie artikulieren. Die Depotenzierung des Subjekts hat zur
Konsequenz, dass in letzter Analyse nur die sachliche/objektive Begründung
für eine Theorie von Relevanz ist.
Damit wird der absolut undurchsichtige und unabsehbare Bereich aller
Faktoren, die als »Beweggründe« für die Zustimmung bzw. Ablehnung sei-
tens eines Subjekts in Frage kommen können, ausgeschaltet bzw. außer acht
gelassen. Wenn man sagt, bei der pragmatischen Begründung werde nur das
rationale Verhalten eines Subjektes in Rechnung gestellt und betrachtet, so
wird das Problem nur verlagert. Was heißt dann Rationalität? Wenn dieser
schillernde Begriff rein sachlich bzw. objektiv definiert wird, indem etwa ge-
sagt wird, rational sei das Verhalten eines Menschen dann und nur dann, wenn
es sich ausschließlich in Konformität mit sachlichen/objektiven Faktoren
vollzieht, so hat man damit faktisch den ganzen Bereich der Subjektivität
ausgeschaltet; man hat damit faktisch Begründung im sachlichen/objektiven
Sinne definiert.
Aus der oben kurz beschriebenen philosophischen Methode ergibt sich,
dass die philosophische Begründung nur als sachliche/objektive Begründung
verstanden werden kann. Ferner ergibt sich daraus, dass die philosophische
Begründung nicht schon am Anfang, sondern erst am Ende der ganzen Theo-
riebildung in Angriff genommen werden kann. Die struktural-systematische
Philosophie ist radikal anti-fundamentalistisch orientiert.
3.1 Die systematischen Grundlagen 157

Der struktural-systematische Begriff der Erkenntnis bzw. des Wissens un-


terscheidet sich grundlegend von dem allgemein üblichen und akzeptierten
Begriff. Bekanntlich wurde dieser Begriff, der in der einen oder anderen Weise
in der ganzen Tradition der Philosophie vertreten wurde, von Edmund Get-
tier genau definiert: Erkenntnis / Wissen ist nach seiner klassisch gewordenen
Formulierung justified true belief, ein Glaube oder eine Überzeugung, der/
die wahr und gerechtfertigt ist. Die genaue Definition von Erkenntnis bzw.
Wissen nach Gettier (E / WG) lautet:
(E/WG) »S erkennt/ weiß, dass p genau dann, wenn:
(i) p ist wahr
(ii) S glaubt [ist überzeugt], dass p, und
(iii) der Glaube von S, dass p, ist gerechtfertigt.«7
Diese Definition gilt allgemein als die Artikulation dessen, was in der natür-
lichen Sprache und in der Philosophie als »Erkenntnis/Wissen« angesehen
wird. Dies ist eine sehr problematische Annahme. Man muss davon aus-
gehen, dass Erkenntnis / Wissen gemäß dem normalen Verständnis ein men-
taler Zustand ist: Erkenntnis / Wissen ist ein Glaube, eine Überzeugung, der/
die bestimmte Eigenschaften hat: er / sie bezieht sich auf etwas, was wahr ist
(Bedingung (i)); diese Wahrheit liegt im Skopus der Überzeugung bzw. des
Glaubens (Bedingung (ii)); diese Überzeugung bzw. dieser Glaube gilt als
gerechtfertigt (Bedingung (iii)). Gegen diese Definition wurden inzwischen
unzählige Gegenbeispiele vorgebracht, die die Konjunktion der drei Bedin-
gungen radikal in Frage stellen.
Entgegen dem heutigen philosophischen mainstream vertritt die struk-
tural-systematische Philosophie die Auffassung, dass diese Definition von
Erkenntnis/Wissen grundsätzlich fehlerhaft ist. Entgegen der Meinung der al-
lermeisten Kritiker der Definition liegt aber der Fehler nicht in der Bedingung
(iii), sondern in der Bedingung (i). Diese Bedingung ist die Behauptung, dass
das erkannte p (eine Proposition) wahr ist, und zwar simpliciter, unabhängig
von der Einstellung des erkennenden Subjektes, sozusagen im »Subjekt-
freien« Raum. Aber eine Bedingung in einer Definition muss etwas sein, das
erfüllt ist oder zumindest als erfüllbar gilt oder gelten kann. Wie kann aber die
Wahrheit von p als bestehend angenommen oder vorausgesetzt werden? Wie
immer man darauf antworten mag, in jedem Fall muss angenommen werden,
dass die Behauptung, die Wahrheit von p bestehe, impliziert, dass die Wahrheit
von p als solche schon »erfasst« und das heißt dann eben schon »erkannt« ist
bzw. wird. Aber dann setzt die Angabe dieser Bedingung schon das voraus,
wofür die Bedingung ein Teildefiniens sein müsste.

7 
E. Gettier, »Is Justified True Belief Knowledge?«, 1963, 121.
158 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Man kann den Grundfehler kurz so charakterisieren: Wenn Erkenntnis/


Wissen ein Zustand eines Subjekts ist, so bleibt die Beziehung des Subjekts zur
erkannten Sache durchgehend bestehen; die erkannte Sache kann dann nicht
von dieser Beziehung sozusagen entkoppelt werden; genauer gesprochen,
heißt das, dass die Wahrheit von p nicht aus dem Skopus des Operators »er-
kennen dass« losgelöst werden kann. Aber genau diese Loslösung wird in
Bedingung (i) behauptet. Besonders (nicht ausschließlich) aus diesem Grund
muss die Definition grundlegend geändert werden. Die modifizierte De-
finition kann dann so formuliert werden:
(E/W) S (erkennt / weiß), dass p genau dann, wenn
(i) S glaubt [ist überzeugt], dass p wahr ist;
(ii) S glaubt [ist überzeugt], dass sein Glaube, dass p wahr ist,
gerechtfertigt ist.
Diese Änderung hat immense Konsequenzen. Insofern die Haltung eines Sub-
jekts sozusagen im Spiel ist, kann man nicht so tun, als ob das nicht der Fall
wäre; d. h. man kann nicht auf etwas hinweisen, von dem man annimmt, dass
es nicht im »Radius« dieser Haltung / Einstellung bzw. dieses mentalen Zu-
standes wäre. Wie schon angedeutet wurde und noch weiter expliziert werden
wird, ist eine Theorie aber etwas vollständig »Sachliches«; nämlich etwas, was
in totaler Unabhängigkeit von der Einstellung eines Subjekts artikuliert wird.
Die adäquate Ausdrucksweise ist dann nicht: »Subjekt S erkennt dass …«,
sondern »es verhält sich so dass …«.

[5] Schließlich bleibt zu klären, was genauer unter einer philosophischen


Theorie zu verstehen ist. Man muss davon ausgehen, dass heute eine in-
tensive und weitgehend kontroverse Diskussion über das geführt wird, was
eine (wissenschaftliche) Theorie sei. Die struktural-systematische Philosophie
übernimmt keinen der heute vertretenen Theoriebegriffe als solchen, ohne
Modifikationen. Am ehesten wird der sog. strukturalistische Theoriebegriff
der von J. D. Sneed und W. Stegmüller entwickelten (Münchener) struktura-
listischen Konzeption näher in Betracht gezogen, allerdings mit wesentlichen
Korrekturen.8 Hier wird nur der struktural-systematische Theoriebegriff
ohne nähere historische und sachliche Erläuterungen und Begründungen kurz
dargestellt.
Als der zentrale Punkt des hier vertretenen strukturalen Theoriebegriffs
erweist sich der Begriff der Struktur. Obwohl diese Konzeption damit den
Einsichten folgt, die den »semantischen Ansatz« – und besonders seine struk-
turalistische Variante – leiten, unterscheidet er sich von den verschiedenen Va-
rianten dieses Ansatzes in den drei folgenden wesentlichen Gesichtspunkten:

8 
Vgl. dazu SuS, Abschnitt 2.4.
3.1 Die systematischen Grundlagen 159

Erstens wird Struktur anders aufgefasst, und zwar nicht hinsichtlich der rein
abstrakten Definition dieses Begriffs, sondern hinsichtlich des näheren Ver-
ständnisses des Definiens und der Arten von Strukturen, die für die Bestim-
mung des Theoriebegriffs wesentlich oder relevant sind. Zweitens wird das
Verhältnis von Struktur(en) und Sprache nicht nur irgendwie (marginal) an-
erkannt, sondern als wesentlich betrachtet. Drittens wird davon ausgegangen,
dass die Explikation des Bezugs der Struktur(en) zur ontologischen Ebene
(zum universe of discourse, zur Welt) unverzichtbar und schlechterdings zen-
tral ist.
Man muss von drei Basiskomponenten des elementaren philosophischen
Theoriebegriffs sprechen und ihn als ein Tripel definieren: 〈L, S, U 〉, wobei
L = Sprache, S = Struktur, U = Universe of discourse. Freilich müssen diese
drei Komponenten akkurat und detailliert bestimmt, d. h. expliziert, werden.
Man kann aber unter einer bestimmten Rücksicht die Komponenten L (Spra-
che) und S (Struktur) zusammenlegen, indem man der Einsicht Rechnung
trägt, dass die Dimension der Sprache zum Begriff der Struktur gehört, da
Struktur ohne ihren Sprachbezug nicht adäquat definiert werden kann, d. h.
man könnte dann für L (= Sprache) und S (= Struktur) nur Struktur sagen. So
hätte man einen dyadischen philosophischen Theoriebegriff, also das geord-
nete Paar: 〈S, U 〉. Damit ist der zentrale Gedanke erreicht und als elementarer
philosophischer Theoriebegriff artikuliert, welcher der ganzen systematischen
Philosophie zugrunde liegt.
Die Komponente U (Universe of discourse) repräsentiert im vorgeschlage-
nen dyadischen Theoriebegriff die ontologische Ebene. Die zentrale Aufgabe
für den hier anvisierten Theoriebegriff besteht darin, das Verhältnis zwischen
der Strukturdimension S und der Dimension U des universe of discourse (des
Seins, der Welt) genau zu bestimmen. Dies ist die Haupt‑ oder eigentliche
Aufgabe der systematischen Philosophie. Wenn nun das Verhältnis zwischen
der Strukturdimension und der Seinsdimension absolut zentral ist, wie soeben
gezeigt wurde, sollte dann nicht dieser Faktor als eine eigene (wesentliche)
Komponente des philosophischen Theoriebegriffs anerkannt und explizit
eingeführt und namhaft gemacht werden? Man hätte dann drei wesentliche
Komponenten des philosophischen Theoriebegriffs: die Strukturdimension
S, die ontologische Ebene U (das universe of discourse oder das Sein, die
Wirklichkeit), schließlich die Dimension des Verhältnisses zwischen S und U,
für welche das mathematische Symbol › ‹ eingeführt werden könnte. Eine
Theorie wäre demnach das Tripel: 〈S, , U 〉.
Wesentlich ist, dass das genannte Verhältnis – und damit die ontologische
Ebene selbst – explizit thematisiert wird. Ob nun das Verhältnis zwischen S
und U als eine eigene Komponente des Theoriebegriffs zusammen mit S und
U namhaft gemacht werden sollte, ist eine andere Frage. Sicher kann man
so verfahren, man muss es aber nicht. Gegen die Einführung einer eigenen
160 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Komponente › ‹ neben S und U kann geltend gemacht werden, dass dadurch


einem Gesichtspunkt nicht ganz gerecht wird: So wie Sprache wesentlich
zur Strukturdimension gehört, gehört das Verhältnis der Strukturdimension
zur ontologischen Dimension wesentlich zur Strukturdimension und umge-
kehrt: Das Verhältnis des universe of discourse zur Strukturdimension gehört
wesentlich zum universe of discourse.

3.1.2 Die strukturale Dimension als der Kern des Theorierahmens: die drei
Ebenen der fundamentalen Strukturen
Für den struktural-systematischen Theorierahmen ist der Begriff der Struktur
der zentrale Begriff schlechthin. Der aus der Mathematik stammende Begriff
wird in der Philosophie grundsätzlich vorausgesetzt bzw. beibehalten, al-
lerdings in seiner konkreten Anwendung erweitert und an die jeweiligen be-
handelten Themen angepasst.
Zunächst ist eine Besonderheit der struktural-systematischen Philosophie
kurz zu erwähnen. Bekanntlich gibt es in der Geschichte der Philosophie
und in der philosophischen Praxis ein ganzes Arsenal von »theoretischen
Elementen oder Faktoren«, deren genaue Bedeutung meistens kaum geklärt
ist. Dazu gehören solche Faktoren / Elemente wie: »Begriff«, »Kategorie«,
»Bedeutung«, »Sinn«, »semantischer Wert«, »Proposition«, »Gedanke«,
»Sachverhalt«, »Tatsache«, »Objekt« u. a. Alle diese theoretischen Elemente/
Faktoren werden einheitlich in der struktural-systematischen Philosophie
auf »Struktur« reduziert, d. h. als »Strukturen« (um)interpretiert. Freilich
handelt es sich dann nicht um dieselbe Art von Struktur, sondern grund-
sätzlich um eine der drei Arten von fundamentalen Strukturen bzw. eine
Spezifikation einer dieser Strukturarten. Es sind dies: die fundamentalen
formalen (logischen / mathematischen), die fundamentalen semantischen und
die fundamentalen ontologischen Strukturen. Dies wird in diesem Abschnitt
noch ausführlich darzustellen sein.
Daraus folgt nicht, dass die genannten Ausdrücke nicht weiter verwendet
werden können; dies wäre in der philosophischen Praxis kaum vorstellbar.
Beispielsweise ist der Ausdruck ›Begriff‹ so weit verbreitet, dass man ihn
sogar als in pragmatischer Hinsicht unverzichtbar bezeichnen muss. Dies
ist aber kaum ein Problem; denn es muss nur darauf geachtet werden, dass
solche Ausdrücke, wenn sie verwendet werden, sofort explizit oder implizit
(um)interpretiert werden müssen. Sie erweisen sich dann nur als bequeme
Abbreviationen von Strukturen.
Dass es drei Ebenen oder Arten von Strukturen gibt, lässt sich nicht a priori
ableiten. Vielmehr ist die These das Resultat einer Gesamtbetrachtung aller
Elemente, die in einer philosophischen Theorie in der einen oder anderen
Weise im Spiel sind. Die formalen (logischen-mathematischen) Strukturen
3.1 Die systematischen Grundlagen 161

sind dabei die allgemeinsten, die uneingeschränkt universalen Strukturen,


da sie sozusagen die innere »Textur« jeden Diskurses und damit auch jeder
ontologischen »Sache« konstituieren. Die semantischen Strukturen sind Aus-
druck und Resultat der Tatsache, dass die Sprache einfach das Artikulations-
medium schlechthin ist: ohne Sprache ist im Bereich der Theorie einfach
nichts »gegeben«, und zwar in dem Sinne, dass es kein »etwas« gäbe, das die
Theorie ausdrückt und artikuliert. Die ontologischen Strukturen schließlich
sind der Ausdruck des Endpunktes des philosophisch-theoretischen Diskur-
ses; ohne die ontologische Ebene der Struktur(en) bliebe der philosophisch-
theoretische Diskurs einfach »in der Luft schweben«.

[1] In Bezug auf die fundamentalen formalen Strukturen ist an erster Stelle
hervorzuheben, dass nicht nur die Mathematik, sondern auch die moderne
formale Logik absolut selbständige Disziplinen sind, die sich radikal von
der Philosophie unterscheiden. Wie sich Logik und Mathematik zueinander
verhalten, ob sie zwei völlig verschiedene Disziplinen sind oder ob sie grund-
sätzlich eine einzige formale Disziplin bilden, ist eine sehr kontroverse Frage,
auf die hier nicht eingegangen zu werden braucht. Faktisch werden sie hier im
Hinblick auf die Zielsetzung dieses Buches als eine große formale Dimension
genommen.9 Die Philosophie ist zwar auf Logik / Mathematik angewiesen,
hat selbst aber zur inneren Strukturiertheit dieser großen formalen Dimen-
sion(en) nichts zu sagen.
Das bedeutet aber nicht, dass die Philosophie über Logik und Mathematik
nichts zu sagen hat. Vielmehr sind Logik und Mathematik wie jede andere
Wissenschaft und jedes andere Gebiet ein Thema und ein Darstellungsinstru-
ment für die Philosophie. Hier seien in aller Kürze zwei Aufgaben genannt,
die die Philosophie in Angriff nehmen kann und soll. Die erste ist die Auf-
gabe der Interpretation oder des Begreifens der logischen/mathematischen
Dimension. Ein wesentlicher Aspekt dieser Aufgabe ist die Deutung dessen,
was logische und mathematische »Entitäten« sind. Dieser Aspekt wird in be-
sonderer Weise in der gegenwärtigen Philosophie der Mathematik behandelt.
In der struktural-systematischen Philosophie werden die logischen/mathe-
matischen Strukturen ontologisch gedeutet. Sie konstituieren die allgemeinste,
die universalste »Schicht« des universe of discourse und damit dessen, was
Welt, Realität, Sein u. ä. genannt wird bzw. werden kann. Diese »Schicht« ist
sozusagen die Dimension aller Zusammenhänge, aller Konfigurationsweisen
all dessen, was im universe of discourse vorkommt.
Die zweite Aufgabe, die eine Klärung der ersten zumindest grundsätzlich
weitgehend voraussetzt, besteht darin zu zeigen, inwieweit und in welcher
Weise die philosophische Theorie auf Logik und Mathematik angewiesen

9 
Vgl. dazu die Überlegungen in SuS, Abschnitt 3.2.1.
162 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

ist oder sich der Logik und Mathematik bedienen kann oder sogar muss. In
diesem Buch kann darauf nicht eingegangen werden.10 Nur bezüglich der
zweiten Aufgabe sei hier die allgemeine These der struktural-systematischen
Philosophie formuliert: Die logischen und mathematischen Strukturen sind
die fundamentalen formalen Strukturen, die in der systematischen Philoso-
phie eine zentrale und damit unverzichtbare Rolle spielen (müssen).

[2] Die semantischen Strukturen sind jene Strukturen, die das Verhältnis
Sprache–Welt konfigurieren. Sie sind gleichsam die Achse, um die sich in der
philosophischen Theoriebildung alles dreht. Wollte man die Ebene der seman-
tischen Strukturen ignorieren oder überspringen, so würde man entweder die/
eine »reine« (im Sinne von »nackte«) »Sache« haben, also nicht mehr das uni-
verse of discourse, sondern die / eine sich selbst ohne Vermittlung der Sprache
»manifestierende« Sache; oder man würde die/eine reine Sprache haben im
Sinne von: Sprache ohne etwas, das durch sie ausgedrückt oder artikuliert
wird. In der Geschichte der Philosophie gibt es Beispiele für beide Extrem-
positionen, allerdings nicht in perfekter Realisierung, sondern eher in einem
tendenziellen Sinne. Reine Sache ohne jede Sprache und reine Sprache ohne
Sache sind absolute Abstrakta.
[i] Die semantischen Strukturen sind die Strukturen der hier anvisierten
philosophischen Sprache, nicht einfach der normalen oder natürlichen Spra-
che. Wie schon vermerkt wurde, bedeutet das nicht, dass die syntaktische
Struktur der normalen/natürlichen Sprache aufgegeben oder radikal geändert
werden müsste; es bedeutet nur, dass syntaktische Strukturen dieser Sprache,
soweit sie beibehalten werden, radikal uminterpretiert werden müssen. Da
die philosophische Sprache eine rein theoretische Sprache ist, ist die hier in
Frage kommende Semantik eine solche, die den theoretischen Anforderungen
Genüge tut. Der erste und fundamentale Faktor in dieser Hinsicht ist die
Annahme, dass die Semantik der philosophischen Sprache nicht in irgend-
einem Sinne »pragmatisch« o. ä. orientiert sein kann, etwa im Sinne des auf
den späten Wittgenstein zurückgehenden Slogans »meaning is use«; vielmehr
muss diese Semantik eine in dem Sinne »sachorientierte« sein, dass deren
Komponenten, nämlich die theoretischen Sätze, etwas ausdrücken, wie immer
man dieses »etwas« bezeichnen mag: semantischen Inhalt, Informations-
material, Proposition. Dieses »etwas« ist einfach das, was die theoretischen
Sätze artikulieren, das, worauf sie sich beziehen, das Expressum dieser Sätze.
Die Ebene der semantischen Strukturen ist eine ganz spezielle Ebene, und
zwar in dem Sinne, dass sie in einer Hinsicht eine »vermittelnde«, in einer an-
deren Hinsicht eine näher »zu determinierende« Ebene ist. Die semantischen
Strukturen, die die semantische Ebene konstituieren, sind zwar die Expressa

10 
Vgl. dazu SuS 233 ff.
3.1 Die systematischen Grundlagen 163

der theoretischen Sätze; aber diese Charakterisierung artikuliert nur die Seite
ihrer »Herkunft«. Die semantischen Strukturen haben nämlich eine andere,
absolut wesentliche Seite: sie »vermitteln« etwas, sie weisen über sich hinaus.
Dieses etwas, dieses Hinaus ist die ontologische Ebene. Die diesbezügliche
These der struktural-systematischen Philosophie lautet: Wenn die semanti-
schen Strukturen (die Expressa der theoretischen Sätze, die Propositionen)
vollbestimmt sind, dann erweisen sie sich als identisch mit der ontologischen
Ebene. Diese zentrale These soll im folgenden näher erläutert und begründet
werden.
Ein Grundaxiom der hier verfolgten Semantik kann in einer etwas losen
Ausdrucksweise so formuliert werden: Semantik und Ontologie sind zwei
Seiten ein und derselben Sache (Medaille); anders gesagt: zwischen beiden
herrscht eine perfekte Konformität. Zur Begründung dieser sehr allgemeinen
These kann man darauf hinweisen, dass ohne eine Konformität zwischen
semantisch strukturierter Sprache und ontologischer Ebene nicht verständlich
wäre, wie Sprache überhaupt die ontologische Ebene artikulieren könnte. Die
hier gemeinte Artikulation bedeutet ja, dass die Sätze der Sprache die »Sa-
chen« wirklich und buchstäblich »treffen«, sie in einem betont realistischen
Sinne »erreichen«. Die Leugnung einer solchen These würde aus dem Bezug
der Sprache zur Wirklichkeit eine Art unintelligibles Mirakel machen.
[ii] Wie ist aber diese Konformität näher zu denken? Um darauf zu antwor-
ten, muss zunächst jene Semantik kurz beschrieben werden, die in der ganzen
Geschichte der Philosophie allbeherrschend war und heute von fast allen ana-
lytischen Philosophen vertreten wird. Sie wird »kompositionale Semantik«
genannt, die Semantik, die sich grundsätzlich aus dem Kompositionalitäts-
prinzip ergibt. Restringiert auf die Sätze, wird das Prinzip so formuliert:
(KPPS) Die Bedeutung (oder der semantische Wert) des Satzes ist eine
Funktion der Bedeutungen (oder der semantischen Werte) seiner
subsententialen Komponenten.
Wie ersichtlich, basiert dieses Prinzip auf der Annahme, dass die Sätze eine
Subjekt-Prädikat-Struktur haben. Demnach haben die beiden subsententialen
Komponenten des Satzes, das Subjekt des Satzes (der singuläre Term) und das
Prädikat, jeweils einen eigenen semantischen Wert. Aus der Komposition der
semantischen Werte dieser zwei Komponenten ergibt sich der semantische
Wert des Satzes als eines ganzen. Der semantische Wert des Subjekts bzw.
des singulären Terms wird im allgemeinen als das Denotat dieses Ausdrucks
bezeichnet und »(reales) Objekt« genannt. Hinsichtlich des semantischen
Werts des Prädikats werden zwei gegensätzliche Auffassungen vertreten: eine
rein extensionale und eine manchmal (missverständlicherweise so genannte)
»intensionale« Deutung. Gemäß der extensionalen Deutung ist der semanti-
sche Wert eines einstelligen Prädikats die Menge der Objekte, auf welche das
164 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Prädikat zutrifft (im Falle eines mehrstelligen Prädikats wird der semantische
Wert mit der Menge der Tupel von Objekten, auf die das Prädikat zutrifft,
identifiziert). Die »intensionale« Deutung identifiziert den semantischen Wert
eines Ausdrucks mit einer spezifischen Entität, der Eigenschaft (im Falle eines
einstelligen Prädikats) und der Relation (im Falle eines mehrstelligen Prädi-
kats), wobei beiden die generelle Bezeichnung »Attribut« gegeben wird. Über
die »Natur« des Attributs gehen die Meinungen weit auseinander. Darauf
sowie auf die Diskussion zwischen Extensionalisten und »Intensionalisten«
soll hier nicht näher eingegangen werden, da dies für die Zielsetzung der hier
anvisierten Konzeption nicht erforderlich ist.
Wenn Semantik und Ontologie zwei Seiten ein und derselben Medaille
bilden, so ergibt sich daraus, dass die kompositionale Semantik, die in der
Prädikatensprache bzw. ‑logik erster Stufe ihre präzise Artikulation findet,
eine Substanzontologie voraussetzt bzw. impliziert. Was – besonders in der
analytischen Philosophie – allgemein als »Objekt« bezeichnet wird, ist näm-
lich nur ein anderer Ausdruck für die uralte Kategorie der »Substanz«. Am
klarsten lässt sich die Kategorie der Substanz so charakterisieren: Sie bezeich-
net ein X, von dem Eigenschaften und Relationen ausgesagt (prädiziert) (und
über welches Sachverhalte behauptet) werden können. Wie ist aber dieses X
aufzufassen? Im folgenden soll gezeigt werden, dass dieses X eine nicht-in-
telligible Entität darstellt – und dass es daher abgelehnt werden muss.
Das Basisproblem kann als das Problem artikuliert werden, das sich durch
die Prädikation auf der Ebene der prädikatenlogischen Sprache erster Stufe
stellt. Die einfachste und fundamentalste Form der Prädikation dieser Art
ist ›Fa‹, d. h. die Zuschreibung des Prädikats »F« zur Konstante (und damit
zum Objekt) »a« (quantifiziert: (∃x)(Fx)). Eine Entität (das Subjekt oder Sub-
stratum), der »a« korrespondiert bzw. die der Wert der gebundenen Variablen
»x« ist, wird einfach und absolut vorausgesetzt. Das Problem liegt nun in
folgendem: Eine solche vorausgesetzte Entität ist nicht intelligibel; denn sie
muss ex hypothesi oder bei Voraussetzung das vorausgesetzte Etwas sein, das
die Zuschreibung oder Prädikation jeder Art von Universalien (Attributen,
d. h. Eigenschaften und / oder Relationen) allererst ermöglicht. Aber dann
drängt sich die Frage auf, was eine solche vorausgesetzte Entität überhaupt
ist. Wenn man von allen Bestimmungen, d. h. allen Attributen (Eigenschaften
und/oder Relationen), die von ihr prädiziert werden (können), und von sonst
allen Entitäten, in welche sie in welcher Weise auch immer involviert ist, ab-
sieht (und das muss man machen können, da die in Frage stehende Entität eine
eigene distinkte Entität sein muss), was bleibt noch übrig? Nichts Bestimmtes:
die Entität selbst ist überhaupt nicht bestimmt, sie ist vollkommen leer. Eine
solche Entität ist nicht intelligibel und muss daher verworfen werden
[iii] Ist eine kompositionale Semantik für wissenschaftliche/philosophische
Zwecke nicht akzeptierbar, und zwar wegen ihrer ontologischen Implika-
3.1 Die systematischen Grundlagen 165

tionen, nämlich einer Substanzontologie, so ergibt sich daraus die Aufgabe,


eine andere Semantik zu entwickeln, eine solche, die die kritisierten Aspekte
ausschließt. Die alternative Semantik muss eine solche sein, die eine Entität
wie »Substanz« weder impliziert noch voraussetzt noch anerkennt. Aber eine
solche Semantik muss sich dann von den Sätzen der Subjekt-Prädikat-Form
vollständig verabschieden, sind es doch diese Sätze, die eine Substanzontolo-
gie implizieren bzw. voraussetzen. Diese grundlegende Einsicht lässt sich in
der Weise durchführen, dass ein anderes semantisches Grundprinzip einge-
führt und streng befolgt wird. Ein solches Prinzip gibt es: es wird Kontext-
prinzip genannt.
Der Ausdruck ›Kontextprinzip‹ (im folgenden: KTP) wurde wahrschein-
lich von M. Dummett eingeführt, um ein Prinzip zu bezeichnen, das Frege in
den Grundlagen der Arithmetik so formuliert hat:
(KTPF) »Nur im Zusammenhang eines Satzes bedeuten die Wörter
etwas.«11
In der struktural-systematischen Terminologie wird das Prinzip so
formuliert:
(KTP) Nur im Zusammenhang eines Satzes haben sprachliche Ausdrücke
einen semantischen Wert.
Weder über den genauen Sinn dieses Prinzips in Freges Buch Grundlagen der
Arithmetik noch über sein Schicksal in den späteren Werken dieses Autors
besteht unter den Frege-Forschern ein Konsens. In der Gegenwart wird das
KTP  –  oft unter der Bezeichnung ›semantischer Primat des Satzes‹  –  von
Philosophen wie W. O. Quine, D. Davidson u. a. vertreten und dahingehend
näher verstanden, dass Wahrheitsfragen gegenüber Bedeutungs‑ und Re-
ferenzfragen einen semantischen Vorrang besitzen. So aufgefasst, wird das
KTP der »analytischen Konzeption der Sprache«12 entgegengesetzt, als deren
wichtigste Gestalt Tarskis Wahrheitstheorie angesehen wird.
Es gibt viele Autoren, die beide Prinzipien nicht nur für miteinander kom-
patibel halten, sondern auch die These vertreten, dass sich beide gegenseitig
ergänzen und näher explizieren. Diese Auffassung ist nur möglich, wenn man
das, was eine schwache Version des KTP genannt werden kann, annimmt. Das
aber schließt die oben als nicht vertretbar aufgezeigten substanzontologischen
Implikationen der Kombination beider Prinzipien nicht aus. Will man aber
eine Substanzontologie kohärenterweise ausschließen, so gibt es dazu einen
einzigen Weg: Man muss die fundamentale Prämisse verwerfen, aus der sich
11  G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, § 62. Im selben Buch finden sich andere

ähnliche Formulierungen (vgl. Einleitung, § 60, § 106).


12  Dieser Ausdruck wird von G. D. Romanos, Quine and Analytical Philosophy, 1983,

165, verwendet.
166 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

die substanzontologische Auffassung ergibt – und das ist die nicht in Frage


gestellte Subjekt-Prädikat-Struktur der in einer philosophischen Sprache se-
mantisch zulässigen Sätze. Man muss also in der philosophischen Sprache nur
Sätze zulassen, die ohne Subjekt und ohne Prädikat sind. Nun gibt es schon in
der natürlichen Sprache, wenn auch relativ selten, solche Sätze. Es sind Sätze
wie: »Es regnet«, »es grünt« u. ä. Diese Sätze seien Primsätze genannt.13
Gemäß einer grundlegenden Annahme der struktural-systematischen Phi-
losophie drückt jeder theoretische Satz eine Proposition aus. Primsätze drü-
cken eine spezielle Form einer Proposition aus: eine Primproposition. Diese
ist nicht, wie im Falle der kompositionalen Semantik, aus einem Objekt
und Eigenschaften / Relationen zusammengesetzt; vielmehr ist sie das reine
Expressum des Primsatzes als ganzen; konkret ist sie das Expressum des im
Primsatz vorkommenden Verbs. Nichts hindert den Philosophen als Theo-
retiker daran, weiterhin Sätze mit der syntaktischen Subjekt-Prädikat-Form
zu formulieren. Nur muss er dann diese Sätze als bequeme (und in pragma-
tischer Hinsicht kaum vermeidbare) Abbreviationen einer hohen Anzahl
von Primsätzen auffassen. Die Uminterpretation betrifft in ganz besonderer
Weise das Subjekt des Satzes (den singulären Term). Dieser wird dann als eine
(äußerst komplexe) Konfiguration von Primsätzen aufgefasst.
Das sei an einem konkreten Beispiel gezeigt, nämlich am Subjekt-Objekt-
Satz: »Sokrates ist ein Philosoph«. Man könnte hier im Anschluss an Quine
den Namen ›Sokrates‹ verbalisieren und daraus einen Primsatz bilden: »It So-
cratizes«. Der deutschen natürlichen Sprache etwas Gewalt antuend, könnte
man etwas anders formulieren, nämlich so: »Es verhält sich (wie) Sokrates«, so
wie man den normalen deutschen Satz »Es grünt« für philosophische Zwecke
auch so (um)formulieren kann: »Es verhält sich (wie) grün«. Die Primsätze,
in die der Name ›Sokrates‹ »zerlegt« wird, bzw. welche die semantische Kon-
figuration des Namens ›Sokrates‹ bilden, sind solche Sätze wie: »es verhält
sich (wie) Grieche«, »es verhält sich (wie) 469 vor Christus geboren«, »es
verhält sich (wie) Lehrer Platons« usw. Der Subjekt-Prädikat-Satz »Sokrates
ist ein Philosoph« wäre, uminterpretiert, in völlig informaler Weise so zu
formulieren: (Es gibt) eine Konfiguration Σ bestehend aus den Primsätzen …
…, so dass dazu auch der Primsatz »es verhält sich (wie) Philosoph« gehört.
Nun drückt jeder Primsatz eine Primproposition aus. Dann ist der gesamte
semantische Wert des Satzes »Sokrates ist ein Philosoph« (man kann auch
sagen: die gesamte durch den Satz »Sokrates ist ein Philosoph« ausgedrückte
Primproposition) die Konfiguration aller durch die Primsätze ausgedrückten
Primpropositionen, wobei dazu auch die durch den Primsatz »es verhält sich
(wie) Philosoph« ausgedrückte Primproposition gehört.

13 
In SuS wurden diese Sätze »Primärsätze« genannt.
3.1 Die systematischen Grundlagen 167

Die damit herausgearbeitete Semantik könnte »kontextuelle Semantik«


genannt werden, wenngleich zu sagen ist, dass die Bezeichnung ›kontextuell‹
leicht Anlass zu Missverständnissen geben kann. Hier aber nimmt dieser Aus-
druck auf das Kontextprinzip im oben erläuterten Sinn Bezug.

[3] Jetzt ist es möglich und leicht zu erklären, was unter »ontologische Struktu-
ren« zu verstehen ist. Die semantischen Strukturen sind so etwas wie »Mittel-
strukturen« zwischen der (philosophischen) Sprache und der ontologischen
Ebene. Diese »Mittelstellung« darf aber nicht missverstanden werden; wie sie
genau zu verstehen ist, wird im nächsten Abschnitt 3.1.3 zu zeigen sein, in
welchem der semantisch-ontologische Wahrheitsbegriff dargestellt wird. Hier
ist nur zu erläutern, dass die ontologischen Strukturen hinsichtlich der se-
mantischen Strukturen einfach und buchstäblich die andere Seite der Medaille
sind. Die ontologischen Strukturen sind nichts anderes als der definitive Status
der semantischen Strukturen. Daraus resultiert, dass die ontologische Struktur
die realisierte Primproposition ist. Genauer gesagt: einer semantischen Prim-
proposition, wenn sie einen definitiven Status hat (d. h., wie noch zu erklären
ist, wenn sie den Wahrheitsstatus erlangt), korrespondiert eine Primtatsache.
Primtatsachen werden als ontologische Primstrukturen aufgefasst. Nähere
Erläuterungen zu diesen doch recht komplexen Zusammenhängen können
im Rahmen dieses Buches nicht gegeben werden; der Leser sei verwiesen auf
das Buch Struktur und Sein.

3.1.3 Der vollbestimmte Status des Theorierahmens: der


semantisch-ontologische Wahrheitsbegriff
Bisher wurden die wichtigsten Aspekte und Komponenten des struktural-
systematischen Theorierahmens in äußerster Kürze dargestellt. Man kann nun
wohl sagen, dass der Theorierahmen in dieser Gestalt einen noch in gewisser
Weise unbestimmten Status hat; denn Fragen wie die folgenden drängen sich
sofort auf: Wie hängen diese Aspekte und Komponenten zusammen? Was »er-
geben« oder »leisten« sie? Fehlt nicht so etwas wie ein »Schlusspunkt« oder
eine Art Kuppeldach, das allen Elementen des Theorierahmens eine letzte
Bestimmtheit verleiht?
Die positive Antwort auf diese berechtigten Fragen und damit die letzte
Klärung des noch in gewisser Weise unbestimmten, d. h. unabgeschlossenen,
Theorierahmens ist die Erarbeitung einer dem Theorierahmen angemessenen
Wahrheitstheorie. Bekanntlich ist die Wahrheitstheorie eines der Haupt­
themen der analytischen Philosophie. Die Berücksichtigung aller extrem
stark von einander divergierenden diesbezüglichen Konzeptionen erforderte
eine buchlange Behandlung. Der Verfasser hat sich dieser äußerst komplexen
168 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Aufgabe in anderen Publikationen gewidmet.14 Hier soll eine einfache


und der Zielsetzung dieses Buches angepasste Zusammenfassung der von
ihm entwickelten semantisch-ontologischen Theorie der Wahrheit vorgelegt
werden.15

3.1.3.1 »Wahr(heit)« als Prädikat und als Operator


Zuerst ist eine wichtige Vorfrage zu klären. Sie betrifft die Art von Sprache,
für die ein bzw. der Wahrheitsbegriff zu definieren ist. Bekanntlich hat der
Logiker und Semantiker A. Tarski, der die grundlegenden Maßstäbe für eine
vertretbare Theorie der Wahrheit gesetzt hat, die Auffassung vertreten, dass
ein Wahrheitsbegriff für die natürliche, normale oder Umgangssprache nicht
definierbar ist, da diese Sprache »semantisch geschlossen« ist, was dazu führt,
dass in dieser Sprache eine (Wahrheits)Paradoxie erzeugt wird bzw. werden
kann. Seit Tarski sind sehr viele Versuche unternommen worden, mit diesem
Problem fertig zu werden. Diese Thematik wird in diesem Buch nicht be-
handelt. Hier ist vielmehr eine andere Thematik in Bezug auf die natürliche
Sprache kurz zu thematisieren. Es wird hier davon ausgegangen, dass natür-
liche Sprachen nur sehr beschränkt für theoretische Zwecke geeignet sind;
natürliche Sprachen sind im Wesentlichen Sprachen, die zur Kommunikation
in der Lebenswelt dienen und entsprechend strukturiert sind. Für theoretische
Zwecke sind sie nur minimal brauchbar.
Eine Theorie der Wahrheit für die natürliche Sprache wäre, wenn nicht
ganz unmöglich, so außerordentlich komplex und weitgehend indeterminiert,
müsste sie doch den aus allen möglichen Situationen der Lebenswelt erwach-
senden schier grenzenlosen Zufälligkeiten, ja Ausschweifungen des »natürli-
chen Sprechens« gerecht werden. Der hier intendierte Wahrheitsbegriff kann
und will nicht dieser Chaotizität der natürlichen Sprache »gerecht« werden;
er ist nur in sehr begrenztem Umfang für den Gebrauch in der natürlichen
Sprache geeignet. Intendiert ist vielmehr ein Wahrheitsbegriff für grund-
sätzlich theoretisch orientierte, also, in der traditionell deutschen Termino-
logie gesprochen, für wissenschaftliche Sprachen: für die philosophische, die
empirisch-wissenschaftliche, die formal-wissenschaftliche usw. Sprache.
Diese Perspektive impliziert u. a., dass nicht alle Wendungen der natür-
lichen Sprache, in denen ›Wahr(heit)‹ vorkommt, eine maßgebende oder
positive Berücksichtigung finden können, ferner  –  und vor allem  –  dass
Reduktionen bestimmter natürlichsprachlicher Wendungen vorgenommen
werden müssen. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, eine der für die
14  Vgl.: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, 1978/2005; Grundlagen einer

Theorie der Wahrheit, 1990; SuS, Abschnitte 2.5 und 3.3.


15  Teile dieses Abschnittes sind dem Aufsatz des Verfassers: »Der Wahrheitsbegriff.

Ansatz zu einer semantisch-ontologischen Theorie«, 2002, entnommen.


3.1 Die systematischen Grundlagen 169

weiteren Ausführungen wichtigsten »Reduktionen« kurz zu erläutern und


zu begründen. In den meisten wahrheitstheoretischen Arbeiten spricht man
durchgehend vom »Wahrheitsprädikat«. Es gibt zwei Formen des Vorkom-
mens des Wahrheitsprädikats. Gemäß der ersten ist ›Wahr(heit)‹ Prädikat
eines Satzes: »[Der Satz] ›Schnee ist weiß‹ ist wahr«, halbformalisiert (mit
»Quine-corners«): W˹p˺. Gemäß der zweiten ist ›Wahr(heit)‹ Prädikat eines
mit der Partikel ›dass‹ gebildeten Ausdrucks, genauer: eines nominalisierten
Satzes, der eine Proposition denotiert: »[Die Proposition,] dass Schnee weiß
ist, ist wahr«; halbformalisiert (nach Horwich16): 〈p〉 ist wahr (oder: W〈p〉),
wobei ›〈p〉‹ zu lesen ist als: »Dass p« oder noch expliziter als: »Die Pro-
position dass p«.
Nun gibt es eine Verwendung von ›Wahr(heit)‹, die nicht die syntaktisch-
grammatikalische Form eines Prädikats, sondern die Form eines Operators
hat: ›Es ist wahr dass Schnee weiß ist‹, wobei der Operator durch den Aus-
druck ›Es-ist-wahr-dass …‹ angezeigt ist. Der fundamentalste syntaktische
Unterschied zwischen ›Wahr(heit)‹ als Prädikat und ›Wahr(heit)‹ als Operator
besteht in folgendem: Im ersten Fall sind die Argumente von ›Wahr(heit)‹
(das, worauf ›Wahr(heit)‹ appliziert wird) Namen oder singuläre Terme, und
zwar näherhin nominalisierte Sätze entweder der einfachen Form, die aus
der Setzung eines Satzes in Anführungszeichen (›Schnee ist weiß‹ ist wahr)
resultiert, oder der Form, die dadurch entsteht, dass dem Satz die Klausel
›dass‹ vorangestellt wird (dass Schnee weiß ist, ist wahr). Im zweiten Fall sind
die Argumente von ›Wahr(heit)‹ keine nominalisierten Sätze, sondern echte
(ganze) Sätze (Es-ist-wahr-dass(:) Schnee weiß ist).
Auf den ersten Blick scheint dieser Unterschied nicht sehr relevant zu sein.
In Wirklichkeit aber ist er von immenser Tragweite, wie im folgenden zu
zeigen sein wird. Um es hier ganz kurz anzudeuten: Aus den zwei verschie-
denen syntaktischen Formen ergeben sich in semantischer und ontologischer
Hinsicht jeweils völlig verschiedene Konzeptionen. Die »Prädikatsversion«
impliziert eine »kompositionale« Semantik und Ontologie, d. h. eine solche,
die sich grundsätzlich aus den Bedeutungen oder semantischen Werten der
einzelnen Satzkomponenten (Subjekt oder singulärer Term und Prädikat)
ergibt. Eine solche Semantik impliziert ihrerseits eine Substanzontologie,
deren Unhaltbarkeit sowohl ganz allgemein als auch speziell im Falle einer
Wahrheitstheorie gezeigt werden kann. Hingegen steht die »Operatorver-
sion« in perfektem Einklang mit einer Semantik und Ontologie, die sich aus
der Annahme einer starken Version des »Kontextprinzips« ergibt, wie oben
gezeigt wurde.
An dieser Stelle ist eine Bemerkung zum Problem der so genannten »Wahr-
heitsträger (truth bearers)« zu machen. Wie das Wort ›Träger‹ zeigt, setzt die

16 
Vgl. sein Buch: Truth, 1998, 10.
170 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Verwendung des Ausdrucks ›Wahrheitsträger‹, strenggenommen, eine prädi-


katenlogische Sprache voraus: ›Wahr(heit)‹ wird als Prädikat verstanden und
damit von einem ›x‹, eben einem Träger, prädiziert. Wird aber ›Wahr(heit)‹,
wie in diesem Buch, nicht als Prädikat, sondern als Operator betrachtet, so
erweist sich die Vorstellung eines »Trägers« als unangemessen. Dennoch kann
man auch in diesem Fall von »Wahrheitsträgern« sprechen, wenn man diesen
Ausdruck in einem sehr weiten, unspezifischen Sinn verwendet.
Es soll nun hier ohne nähere Begründung weiter bemerkt werden, dass
drei »Wahrheitsträger«, d. h. jetzt genauer: drei Arten von Argumenten für
den Operator ›wahr‹, angenommen werden: die Proposition, der Satz und
die (sprachliche) Äußerung, wobei die Proposition als das fundamentale oder
primäre, der Satz als das erste abgeleitete und die Äußerung als das zweite
abgeleitete Argument betrachtet werden. In den weiteren Ausführungen wird
sich zeigen, dass eine Begründung und nähere Erläuterung dieser großen
Annahme im Rahmen einer im Grundriss formulierten neuen Semantik und
neuen Ontologie möglich ist, genauer: dass eine solche Begründung mit der
Entwicklung der neuen Semantik koinzidiert.

3.1.3.2 Die Grundidee der Wahrheit I: semantische Dimension


3.1.3.2.1 Das sprachliche Urfaktum: Indeterminiertheit vs. Determiniertheit
der Sprache

Wie immer man Wahrheit konzipieren mag, an der Sprache wird man nicht
vorbeigehen können. ›Wahr(heit)‹ ist ja der zentrale Ausdruck der Semantik,
also jener Disziplin, die gerade die Sprache zum Gegenstand hat. Um gleich
in medias res zu gelangen, geht der hier zu entfaltende Ansatz von einem Phä-
nomen aus, das man das sprachliche Urfaktum nennen könnte: das Phänomen
der Indeterminiertheit (und Unterdeterminiertheit) und der Determiniertheit
der Sprache. In ihrer allgemeinsten oder abstrakten Gestalt ist Sprache ein Sys-
tem von »bloßen« Zeichen oder Symbolen (diese können Schriftzeichen oder
Laute sein; auf die Sprache als System von Lauten wird hier der Einfachheit
halber nicht eingegangen). So genommen, ist Sprache völlig in‑ bzw. unterde-
terminiert, in jeder Hinsicht. (Die einzige hier vorhandene »Determiniertheit«,
wenn man so reden will, ist diejenige, die auf der Ebene der Bestimmung der
Sprache als eines Zeichensystems gegeben ist, und sie besteht trivialerweise
darin, dass Sprache gerade als ein System von Zeichen determiniert ist; aber die
Zeichen sind noch in jeder Hinsicht indeterminiert.) Sprache aber, wie wir sie
wie selbstverständlich kennen und gebrauchen, ist ein hochdeterminiertes, ja
in vielfacher Hinsicht ein volldeterminiertes Zeichensystem. Determiniertheit
bzw. Volldeterminiertheit der Sprache meint hier folgendes: Wir wissen, wie
wir mit dem Zeichensystem umzugehen haben, und wir verständigen uns,
3.1 Die systematischen Grundlagen 171

indem wir es gebrauchen. Kurz: (Voll)Determiniertheit besagt syntaktische


Korrektheit und semantische Signifikanz (wobei das Wort ›Signifikanz‹ hier
allgemein für das steht, was üblicherweise »Sinn«, »Bedeutung«, »Referenz«
und vor allem »Wahrheit« genannt wird). In den folgenden Ausführungen
wird die Signifikanz, also die semantische Determiniertheit der Sprache the-
matisiert, während die syntaktische Determiniertheit der Sprache, wenn man
von einigen Kontexten absieht, nicht berücksichtigt wird.
Die entscheidende Einsicht, auf die sich der hier anvisierte Ansatz stützt,
ist die folgende: Den Wahrheitsbegriff klären, heißt, das Phänomen der Inde-
terminiertheit (bzw. Unterdeterminiertheit) und der (Voll)Determiniertheit
der Sprache klären, d. h. heißt klären, wie die Bestimmung der Sprache zu
»erklären« ist, anders: wie sie zustande kommt und wie sie zu verstehen ist. Es
wird sich zeigen, dass der so genannte Wahrheitsbegriff letztlich nichts ande-
res »besagt« oder »meint« oder »beinhaltet« als den volldeterminierten Status
der Sprache (hinsichtlich ihres indikativischen oder deskriptiven Segments).
Es bleibt natürlich zu sagen, wie das genau zu verstehen ist. Diese Einsicht
soll nun schrittweise entfaltet werden.
Wie ist der Prozess der Sprachdetermination zu erklären? Wie wird Sprache
determiniert? Natürlich durch Determinatoren. Um welche Determinatoren
handelt es sich?
Zunächst sei ein kurzer Hinweis auf die Art und Weise gegeben, wie die De-
terminiertheit (im erläuterten Sinne) formaler Sprachen in der Logik und der
formalen Semantik aufgefasst wird. Hat man eine Sprache als ein rein formales
System, so kann sie durch die Einführung einer Bewertungs‑ und/oder einer
Interpretationssemantik determiniert werden. Im ersten Fall legt man fest, dass
den Sätzen (bzw. Formeln) der Sprache Wahrheitswerte zugesprochen werden.
Im Falle der Interpretationssemantik (in der Tradition Tarskis) wird ein Modell
eingeführt, d. h. ein geordnetes Paar, bestehend aus einem Bereich und einer In-
terpretationsfunktion, so dass den einzelnen nicht-logischen Ausdrücken der
Sprache semantisch-ontologische Werte zugeordnet werden. So werden den
singulären Termen Denotate und den Prädikaten deren Extension zugewiesen.
Die bewertungssemantische Bestimmung setzt den Begriff der Wahrheit
schon voraus, da »Wahrheitswerte« einfach angenommen werden. Aber auch
in der modelltheoretischen Bestimmung der Sprache ist es nicht klar, wie der
Wahrheitsbegriff genau bestimmt wird.

3.1.3.2.2 Die drei Ebenen der Sprachdetermination

Hier soll zunächst anders verfahren werden, und zwar in dem Sinne, dass die
Frage ursprünglicher  –  eben philosophisch  –  angegangen wird. Etwas ver-
einfacht ausgedrückt, wird man sagen müssen, dass die Determination der
Sprache grundsätzlich auf drei Ebenen oder in drei Formen erfolgt.
172 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

[1] Die erste Ebene bzw. Form sei die lebensweltlich-kontextuelle genannt.
Wenn Sprache nur gebraucht wird, wenn etwa Sätze im täglichen Leben ge-
äußert werden, so kann nicht bestritten werden, dass die geäußerten Sätze
semantisch bestimmt sind; denn in der Regel gehen wir erfolgreich damit
um, schaffen Kommunikation, verstehen, was wir meinen und werden von
den anderen Sprachbenutzern verstanden. Im Normalfall, der hier voraus-
gesetzt wird, enthält die Sprache auf dieser Ebene kein pragmatisches und
erst recht kein semantisches Vokabular (also Ausdrücke wie: ›behaupten‹ bzw.
›Wahr(heit)‹). Man kann diese Sprache Sprache Lo nennen. Hier ist es wichtig
festzuhalten, dass diese Sprache Lo durch Determiniertheit charakterisiert ist.
Dies zu leugnen, wäre einfach absurd. Die Frage ist nur, was dies genau
bedeutet bzw. wie dies genau zu verstehen ist. Die Sätze der rein »kon-
textuell« verwendeten Sprache »treffen« wirklich, und das heißt: auf de-
terminierte Weise, was sie »besagen« (sollen). Diese Sprache hat also einen
determinierten, ja einen volldeterminierten Status. Und dieser Status wird
durch einen rein sprachexternen Faktor, nämlich den lebensweltlichen Kon-
text, »herbeigeführt« bzw. »angezeigt«. Das heißt: hier findet keine sprachlich
artikulierte Reflexion über das statt, was mit dem Gebrauch der Sprache ge-
schieht, wie der Gebrauch bzw. die Sprache selbst zu verstehen ist u. dgl. Hier
wird die Sprache einfach gebraucht: ihr Status wird durch eine sprachexterne
Dimension, den lebensweltlichen Kontext, determiniert.
Konsequenterweise ist diese Determiniertheit keine theoretische, wissen-
schaftliche, philosophische o. ä. Sie ist einfach eine lebensweltlich-kontextuelle
Determiniertheit. Dazu wäre natürlich in mehrfacher Hinsicht einiges zu
sagen. Hier nur so viel: diese Determiniertheit ist keine evaluierte und keine
explizierte. Man kann diesen Sachverhalt auch so charakterisieren: Den ge-
äußerten Sätzen der rein kontextuell gebrauchten Sprache ist – natürlich auf
implizite, d. h. auf nicht-artikulierte Weise – immer schon ein Kontext-Ope-
rator vorangestellt zu denken, den man so ausdrücken kann: »Es-ist-kon-
textuell-gegeben-dass« (z. B. »Schnee weiß ist«). Es ist dieser vorausgesetzte
Operator, der der Kommunikationssprache ihre Determiniertheit »verleiht«.

[2] Alles ändert sich schlagartig, wenn beispielsweise Fragen irgendwelcher


Art bezüglich der sprachlichen lebensweltlichen Äußerungen auftauchen.
Dann wird der Fluss der natürlichen kommunikativen Lebenswelt unter-
brochen; ein Bruch tut sich auf zwischen der Sprache in ihrer »Natürlichkeit«
und einer anderen Ebene bzw. anderen Ebenen. Dass der lebensweltliche
Kontext unterbrochen wird, heißt, dass eine neue Ebene »auftaucht« oder ent-
steht. Damit ist die lebensweltlich-kontextuelle Determiniertheit der Sprache
zumindest fraglich geworden, sie ist in jedem Fall nicht mehr maßgebend,
ja im strengen Sinn ist sie als solche verschwunden. Um welche neue Ebene
es sich handelt, kann nicht a priori gesagt oder abgeleitet werden; denn es
3.1 Die systematischen Grundlagen 173

gibt mehrere Möglichkeiten. Aber oft und oft handelt es sich um eine ganz
bekannte, ja vertraute Ebene, die man als eine sprachexterne-sprachinterne,
also eine »gemischte« Ebene bezeichnen kann. Auf dieser neuen Ebene wird
Determiniertheit der Sprache folgendermaßen herbeigeführt bzw. angezeigt:
Eine Handlung wird von einem oder mehreren Sprechern vollzogen, und
diese Handlung wird gleichzeitig sprachlich als eine solche Handlung artiku-
liert; diese sprachlich artikulierte Handlung determiniert den geäußerten Satz.
Diese zweite Ebene ist die Ebene der Anwendung des pragmatischen Voka-
bulars. Klassisches Beispiel: War auf der lebensweltlich-kontextuellen Ebene
etwa der einfache Satz ›p‹ (z. B.: ›Schnee ist weiß‹) gegeben, d. h. geäußert
worden, so tritt jetzt eine Transformation ein, die sich etwa so artikuliert:
»Ich (oder Person S) behaupte(t) dass p (dass Schnee weiß ist)«. Das heißt:
dem geäußerten Satz wird ein sprachpragmatischer Operator explizit voran-
gestellt, den man so artikulieren bzw. »lesen« kann: »Es-ist-sprachpragma-
tisch-gesetzt-dass …« (z. B. »Schnee weiß ist«). Der einzelne Satz p erhält jetzt
seine sprachlich-semantische Determiniertheit durch einen sprachexternen
Faktor (nämlich eine Handlung) und einen sprachinternen Faktor (nämlich
die sprachliche Artikulation dieser Handlung). Da in dem Beispiel Satz p die
Sprache als ganze repräsentiert, ist zu sagen, dass auf dieser Ebene Sprache
sprachextern-sprachintern determiniert wird: durch die Anwendung des
pragmatischen Vokabulars. Den sprachlichen Ausdrücken wird »Bedeutung«
(d. h. semantische Determiniertheit) durch eine sprachlich als Satzoperator
artikulierte Handlung verliehen. Aus diesem sprachexternen-sprachinternen
»Material« speisen sich im Wesentlichen die heute weit verbreiteten pragma-
tisch orientierten Semantiken.17

[3] Die kontextuelle und die sprachpragmatische Ebene sind nicht die ein-
zigen Ebenen, auf denen Sprachdetermination stattfindet; vielmehr gibt es
eine weitere Ebene – und sie ist die unvergleichlich wichtigere, weil sie die
letztlich fundamentale Ebene ist: Das ist die Ebene, auf der das semantische
Vokabular erscheint und hier ganz besonders der zentrale semantische Aus-
druck ›Wahr(heit)‹ vorkommt. Es dürfte ohne weiteres einleuchten, dass auch
der Operator ›Es-ist-wahr-dass‹ einen determinativen oder determinierenden
Charakter bezüglich der Sprache hat – ganz analog zum sprachdeterminati-
ven Charakter des sprachpragmatischen Operators ›Es-wird-behauptet-dass‹.
Aber zwischen diesen beiden Operatoren besteht ein radikaler Unterschied,
der, wie sich zeigen wird, eine entscheidende Rolle in dem hier zu entwickeln-
den Ansatz spielen wird. Im Gegensatz zum sprachpragmatischen Operator

17  Das beste Beispiel für eine so verstandene pragmatische Richtung ist die von R.

Brandom entwickelte großangelegte Semantik, die dem programmatischen Slogan folgt:


»Semantics must answer to pragmatics« (vgl. sein Buch: Making It Explizit, 1994; vgl. 83).
174 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

beinhaltet der Wahrheitsoperator keinen Bezug zu irgendwelchen sprach-


externen Faktoren, wie lebensweltlichen Kontexten, Subjekten (Sprechern),
Handelnden, Handlungen, Vollzügen u. dgl. Der Wahrheitsoperator  –  und
überhaupt das semantische Vokabular  –  ist ein rein sprachinterner Sprach-
determinator, ja der eigentliche sprachinterne Sprachdeterminator. Richtig
verstanden, wäre zu sagen, dass durch das Vorkommnis des semantischen
Vokabulars die Sprache sich selbst determiniert. Das semantische Vokabular
ist die sprachdeterminative Dimension der Sprache selbst.
Dieser Faktor wird in eindrucksvoller Weise vom eigentlichen Gründer der
strengen (formalen) Semantik, nämlich A. Tarski, als eine Selbstverständlich-
keit angesehen, was in markanten Formulierungen in seinen Werken zum
Vorschein kommt, so z. B. in der folgenden oft zitierten Formulierung:
»Eine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, dass die Sachen sich so und so
verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.«18

Von der Aussage – und man kann dann generalisierend sagen: von der Sprache
überhaupt – sagt Tarski, dass sie besagt dass … Hier findet Selbstdetermina-
tion der Sprache statt.

3.1.3.2.3 Der Zusammenhang der drei Ebenen und die Fundamentalität der
semantischen Dimension
Bisher wurden (die) drei Ebenen der Sprachdeterminierung nur unterschieden
und jede für sich charakterisiert. Es stellt sich aber die Frage, ob sie miteinan-
der einen Zusammenhang bilden. Diese Frage ist positiv zu beantworten. Es
wird sich zeigen, dass der herauszuarbeitende Zusammenhang ein entschei-
dendes Licht auf die Problematik der Klärung des Wahrheitsbegriffs wirft.

[1] Bevor aber der Zusammenhang aufgewiesen wird, ist aus den bisherigen
Ausführungen eine wichtige Einsicht in kritischer Hinsicht zu gewinnen und
zu vermerken. In allen deflationistisch orientierten Wahrheitstheorien kommt
der unvermeidliche »selbst-ständige« Satz19 p (‹Schnee ist weiß‹) vor, und zwar
auf der rechten Seite der berühmten Äquivalenzformel »›p‹ ist wahr genau
dann wenn p«. Aber wie ist dieser »selbst-ständige« Satz p zu verstehen, wel-
chen Status hat er? Man sagt, es sei ein Satz der Metasprache, in welchen der
auf der linken Seite in Anführungszeichen gesetzte Satz p »übersetzt« werde.
Aber das hilft nicht weiter; denn man weiß nicht, welchen Status die Sprache
hat, die als Metasprache bezeichnet wird. Handelt es sich nun bei p um einen
Satz der Reklameindustrie oder einer Märchensprache oder um ein Beispiel
für eine grammatikalisch korrekte Struktur jener Sprache, der der Satz zu-

18  Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, 1933/1983, 450.


19 
Im Englischen ist die Formulierung ›self-standing sentence‹ gebräuchlich.
3.1 Die systematischen Grundlagen 175

geschrieben wird, oder was sonst? Nun haben wir gesehen, dass unqualifiziert
vorkommende (geäußerte) Sätze, also auch Satz p, als indeterminiert zu gelten
haben, solange nicht angegeben wird, von woher, d. h. durch welchen De-
terminator, sie ihre Determiniertheit erlangen. Wir haben drei Determinatoren
herausgearbeitet: den lebensweltlich-kontextuellen, den sprachpragmatischen
und den semantischen Determinator (Operator). Letzterer ist der Wahrheits-
operator. Jeder dieser Determinatoren legt den Status des in Frage stehenden
Satzes hinsichtlich der Indeterminiertheit oder Determiniertheit fest. Wenn
nun die Deflationisten einfach auf den »selbst-ständigen« Satz p in letzter
Instanz rekurrieren, ohne im Geringsten seinen Status zu charakterisieren oder
zu qualifizieren, so ist ein solches Verfahren im buchstäblichen Sinne sinnlos.
Darauf wird noch zurückzukehren sein.

[2] Es soll im folgenden in aller Kürze gezeigt werden, dass die lebenswelt-
liche/kontextuelle Sprachdetermination die sprachpragmatische voraussetzt
oder auf ihr gründet und dass die sprachpragmatische Sprachdetermination
ihrerseits die semantische voraussetzt oder auf ihr gründet, während umge-
kehrt weder die semantische Sprachdetermination die beiden anderen voraus-
setzt oder auf ihnen gründet noch auch die sprachpragmatische Sprachdeter-
mination die lebensweltlich-kontextuelle voraussetzt oder auf ihr gründet.
Um überhaupt intelligibel zu sein, muss die lebensweltliche/kontextuelle
Sprachdetermination dazu führen, dass der »selbst-ständige« (bzw. »frei«
geäußerte) Satz p einen sprachpragmatisch artikulierbaren Status erhält. Wie
sollte sonst die Determiniertheit der Sprache auf der lebensweltlichen/kon-
textuellen Ebene konzipiert werden? Ist dem so, dann impliziert die lebens-
weltliche/kontextuelle Ebene die sprachpragmatische Ebene der Sprachdeter-
mination. Kurz: Zu sagen, dass ein Satz p eine lebensweltliche/kontextuelle
Determiniertheit hat, heißt im stärksten Fall20 zu sagen, dass p einen Be-
hauptungsstatus hat. Und wieder taucht hier eine Frage auf, die sich in ana-
loger Weise im Fall der lebensweltlich-kontextuellen Sprachdetermination
aufdrängte: Was heißt es, dass ein Satz einen Behauptungsstatus hat? Was ist
überhaupt eine Behauptung?
C. Wright vertritt die Auffassung, dass für die Klärung des Wahrheits-
prädikats eine Reihe von »platitudes« anerkannt werden müssen, wobei er als
eine der wichtigsten die folgende nennt: »[T]o assert is to present as true«21.
Diese Formulierung geht zurück auf G. Frege, bei dem Sätze wie der folgende
zu lesen sind:

20  Der Einfachheit halber soll hier nur der Behauptungsmodus oder ‑status berück-

sichtigt werden.
21  Vgl. sein Buch: Truth and Objectivity, 1992, 34.
176 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

»Um etwas als wahr hinzustellen, brauchen wir kein besonderes Prädikat, sondern nur
die behauptende Kraft, mit der wir den Satz aussprechen.«22

Man wird zwar nicht sagen können, dass eine solche Formulierung eine di-
rekte Charakterisierung, geschweige denn eine Definition von »Behauptung«
enthält; aber man kann durchaus annehmen, dass sie auf indirekte Weise doch
das artikuliert, was unter Behauptung zu verstehen ist. Aber das zeigt, dass
»Behaupten« etwas bezüglich »Wahrheit« besagt, nämlich das Hinstellen [von
Wahrheit]. »Behaupten« ist daher nicht äquivalent zu »Wahrheit«. Anders
formuliert: die Operatoren ›Es wird behauptet dass‹ und ›Es ist wahr dass‹
sind in keiner Weise äquivalent.
Daraus ergibt sich also, dass die sprachpragmatische Sprachdetermination
nur unter Voraussetzung von »Wahrheit« überhaupt möglich, d. h. hier: intel-
ligibel, ist. Damit setzt die sprachpragmatische die semantische Sprachdeter-
mination voraus bzw. gründet auf ihr. Und damit erweist der Zusammenhang
der drei Ebenen der Sprachdetermination die Fundamentalität der semanti-
schen Ebene. Erneut ist der einmalig spezifische Charakter des semantischen
Vokabulars zu betonen: Dieses Vokabular ist in dem Sinne »absolut«, dass
es keinen Bezug, keine wie immer zu konzipierende Relativität auf sprach-
externe Faktoren jedweder Art beinhaltet. Durch das semantische Vokabular
spricht die Sprache über sich selbst: sie qualifiziert, determiniert sich selbst.

3.1.3.2.4 Informal-intuitive Formulierung der fundamentalen Idee der


Wahrheit
[1] Es ist jetzt möglich, eine erste, noch allgemeine und informale Formu-
lierung der fundamentalen Idee der Wahrheit zu präsentieren. Das Wort
›Wahr(heit)‹ bzw. der Operator ›Es ist wahr dass‹ bezeichnet die Überführung
der Sprache von einem indeterminierten (oder auch unterdeterminierten)
Status in einen volldeterminierten Status und auch das Ergebnis einer solchen
Überführung: die volldeterminierte Sprache. In dieser Formulierung ist ganz
allgemein von »Sprache« die Rede; dies ist insofern nicht falsch, als Sprache
letztlich als System von Sätzen – wie immer diese näher konzipiert werden
mögen – zu begreifen ist. Dennoch ist es empfehlenswert, eine spezifischere
Formulierung zu wählen und statt von »Sprache« ganz allgemein von den so
genannten »Wahrheitsträgern« (Proposition, Satz, Äußerung) zu sprechen.
Dementsprechend wäre beispielsweise zu sagen: Dass eine durch einen Satz
der gewählten Sprache ausgedrückte Proposition als wahr qualifiziert wird,
besagt, dass die Proposition von einem indeterminierten (oder auch unterde-
terminierten) in einen volldeterminierten Status überführt wird; ›Wahr(heit)‹
bezeichnet sowohl diesen Vorgang der Überführung als auch das Ergebnis der

22 
G. Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, 1978, 139.
3.1 Die systematischen Grundlagen 177

Überführung (auf diesen letzten Aspekt soll unten näher eingegangen wer-
den). Statt ›Überführung‹ kann man natürlich auf der intuitiven Ebene auch
andere Ausdrücke verwenden, beispielsweise ›Übergang‹, ›Überleitung‹ u. a.

[2] Dass der Wahrheitsoperator ›Es ist wahr dass‹ auf einen Satz/eine Pro-
position angewandt wird, hat eine Voraussetzung und eine Wirkung. Die
Voraussetzung ist, dass das Argument des Operators, der ja ein Determinator
ist, ein noch Zu-Qualifizierendes, eben ein Zu-Determinierendes ist. Damit
hat das Argument, der Satz bzw. die Proposition, einen noch indeterminierten
Status. Die Wirkung des Operators besteht darin, dass dieser indeterminierte
Status des Arguments beseitigt wird, indem das Argument einen volldetermi-
nierten Status erhält.
Der Begriff des volldeterminierten Status eines Satzes bzw. einer Pro-
position (und verallgemeinernd der Sprache überhaupt) wurde mehrmals ver-
wendet. Wie ist aber dieser zentrale Begriff zu verstehen? Die Klärung dieser
Frage ist entscheidend für den hier entwickelten Ansatz. Schon hier lässt
sich in programmatischer Hinsicht sagen, dass der volldeterminierte Status
der Sprache nichts mehr und nichts weniger meint als die volle ontologische
Dimension der Sprache. Diesem zentralen Thema wird der nächste Abschnitt
3.1.3.3 gewidmet.
An dieser Stelle dürfte zunächst eine einleuchtende Vorklärung angebracht
sein. Bekanntlich vertritt Quine eine »Disquotationstheorie« der Wahrheit:
›Wahr(heit)‹ ist eine Disquotationsfunktion23 entsprechend dem Tarskischen
Wahrheitsschema:
(T) ›p‹ ist wahr ↔ p.
Aber Quine, zumindest in einigen seiner Schriften, erkennt voll die ontologi-
sche Dimension der Wahrheit an. Seine diesbezüglichen Ausführungen dürf-
ten als einmalig in der analytischen Philosophie gelten, insofern sie – wohl
entgegen der Absicht Quines  –  in kristallklarer Weise zeigen, worin der
Grundfehler der deflationistisch orientierten Wahrheitstheorien liegt. Eine
der interessantesten Passagen findet sich in seiner Philosophie der Logik:
»Die Wahrheit hängt von der Wirklichkeit ab; aber aus diesem Grund einen Einwand
dagegen zu erheben, Sätze wahr zu nennen, wäre eine Konfusion. Das Prädikat ›wahr‹
ist genau dann von Nutzen, wenn wir zwar noch über die Wirklichkeit sprechen, aber
durch gewisse technische Schwierigkeiten gezwungen sind, von Sätzen zu sprechen.
Das Prädikat ›wahr‹ dient dann gewissermaßen dazu, durch den Satz hindurch auf die
Wirklichkeit zu weisen; es erinnert daran, daß wir zwar Sätze benutzen, dass es aber
allein auf die Wirklichkeit ankommt (reality is still the whole point).«24

23  Vgl. beispielsweise: »Zuschreibung von Wahrheit hebt die Anführungszeichen auf.

Wahrheit ist Disquotation (disquotation).« (W. O. Quine, Pursuit of Truth, 1990, 80)
24  W. O. Quine, Philosophie der Logik, 1973, 19 (modifizierte Übers.).
178 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Dieser hochinteressante Text enthält eine großartige und zutiefst richtige


Einsicht und gleichzeitig einen verhängnisvollen Fehler. Die richtige Einsicht
ist die von Quine in der zitierten Passage explizit formulierte und vertretene
These, dass es im Falle des Prädikats ›wahr‹ »allein auf die Wirklichkeit an-
kommt«; einige Zeilen vor dieser Passage wird die These im Anschluss an
Tarski noch prägnanter formuliert: »Der Satz ›Der Schnee ist weiß‹ ist, wie
Tarski uns gelehrt hat, wahr genau dann, wenn wirklicher Schnee wirklich
weiß ist«.25 Allgemein formuliert: Wahrheit besagt einen Bezug zur Welt, zur
ontologischen Dimension.
Quines Fehler besteht in der Behauptung, dass dieses Verständnis von Wahr-
heit die richtige Interpretation des berühmten Tarskischen Wahrheitsschemas
»›p‹ ist wahr ↔ p« ist. Das kann aber nur dann zutreffen, wenn ein solches
Verständnis von Wahrheit im Tarsksichen W-Schema »›p‹ ist wahr ↔ p« auch
artikuliert oder explizit gemacht wäre. Aber dies ist in keiner Weise der Fall.
Der Satz auf der rechten Seite der Äquivalenz in diesem Schema ›genau dann
wenn‹ (also ›Schnee ist weiß‹ bzw. ›p‹) kann ohne nähere Qualifikation, d. h.
Determination, in keiner Weise als ein Satz genommen werden, der über die
Welt spricht. Das haben die bisherigen Ausführungen zur Genüge gezeigt.
Aber Quine – und mit ihm die Totalität der Wahrheitsdeflationisten – nimmt
einfach an, dass dieser Satz in dem Sinne ein volldeterminierter Satz ist, dass
er über die Welt spricht. Die oben erwähnte »richtige Einsicht« Quines muss
auch explizit artikuliert oder explizit gemacht werden. Eine der Möglich-
keiten, dies zu tun, ist die Einführung bzw. Nennung jenes Operators auf der
rechten Seite, den Quine in seiner »Interpretation« explizit nennt: »really/
wirklich«. Das Resultat wäre:
(T') Es ist wahr dass Schnee weiß ist ↔ wirklich: Schnee ist weiß.
(T'') ›p‹ ist wahr ↔ wirklich: p.
Eine andere Möglichkeit ist die Einführung einer speziellen Notation auf der
Basis einer bestimmten Konvention. So hat der Verfasser in seinen bisherigen
wahrheitstheoretischen Arbeiten den Satz auf der rechten Seite der kor-
rigierten oder uminterpretierten Tarski-Äquivalenz in Fettdruck geschrieben:
(T''') ›Es ist wahr dass Schnee weiß ist‹ ↔ Schnee ist weiß.
(T'''') ›p‹ ist wahr ↔ p.
Quines »really / wirklich« entspricht genau dem Faktor, der in dieser Arbeit
volldeterminierter Status genannt wird.

[3] Um die historischen Zusammenhänge zu begreifen, ist noch folgender


Hinweis wichtig. Der mehrmals genannte und zuletzt bei Quine festgestellte

25 
Ebd. (Kursiv nicht im Original; modifizierte Übers.).
3.1 Die systematischen Grundlagen 179

Fehler geht auf Tarski selbst zurück. Seine schon einmal zitierte informale
Charakterisierung des intuitiven Wahrheitsverständnisses lautet:
»[E]ine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, dass die Sachen sich so und so
verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.«26

Das Wörtchen ›eben‹ ist der entscheidende Faktor in dieser Charakterisie-


rung, denn ohne das ›eben‹ wäre das, was eine wahre Aussage »besagen«
soll, eine sinnlose, nichtssagende Tautologie oder Wiederholung derselben
Formulierung, nämlich: ›… besagt dass: die Sachen verhalten sich so und so,
und die Sachen verhalten sich so und so‹. ›Eben‹ artikuliert die entscheidende
Differenz zwischen den beiden Sätzen und damit die Überführung des un-
qualifizierten/indeterminierten Satzes ›Die Sachen verhalten sich so und so‹
in den qualifizierten/determinierten Satz ›die Sachen verhalten sich eben so
und so‹. ›Eben‹ entspricht dem Quineschen ›really‹. Aber Tarski hat diesen
entscheidenden Faktor in seinem halbformalen Wahrheitsschema überhaupt
nicht artikuliert, d. h. nicht explizit gemacht, obwohl das Wahrheitsschema
ihm zufolge das von ihm treffend formulierte intuitive Wahrheitsverständnis
in einer korrekten und klaren Weise artikulieren sollte.27 Dieser Fehler bei
Tarski ist die eigentliche Urquelle des Grundfehlers, der allen deflationistisch
orientierten Wahrheitstheorien zugrunde liegt.

3.1.3.3 Die Grundidee der Wahrheit II: der ontologische Bezug von
›Wahr(heit)‹ als Identität von Proposition und Tatsache (Identitätsthese)
Es ist unbestreitbar, dass in der ganzen Geschichte der Philosophie der Bezug
zur Wirklichkeit, zur ontologischen Dimension, als wesentliches Ingrediens
des Wahrheitsbegriffs betrachtet wurde. Als die ganz natürliche Artikulation
dieser Einsicht galt in der Geschichte der Philosophie (und gilt heute noch in
vielen philosophischen Kreisen) die Korrespondenztheorie der Wahrheit. Mit
wenigen Ausnahmen leugnen auch die Autoren, die diese Theorie verwerfen,
den Bezug der Wahrheit zur Realität nicht; in der Regel sehen sie ihn zwar
nicht als inneres Ingrediens des Wahrheitsbegriffs, aber doch als unverzicht-
bares Moment der Rede von Wahrheit an.

[1] Wie ist der ontologische Bezug von Wahrheit genau zu erklären? Wollte
man einen ontologischen Bezug verteidigen, indem man ihn unbedingt an die
traditionelle Korrespondenztheorie der Wahrheit bindet, so würde man den
größten Problemen begegnen, ist doch die Korrespondenztheorie mit vielen

26  A. Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, 450 (Kursiv nicht

im Original).
27  Näheres dazu in: L. B. Puntel, GThW, 41 ff.
180 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Unklarheiten und Schwierigkeiten behaftet, die kaum überwindbar erschei-


nen. Hier wird zwar die Korrespondenztheorie nicht vertreten, deren Grund-
idee aber in gewisser Hinsicht bewahrt. Aus Platzgründen kann die hier ver-
tretene Konzeption nicht ausführlich dargelegt und begründet werden.
Das primäre und fundamentale Argument für den Operator ›Es ist wahr
dass‹ ist die durch einen deklarativen Satz ausgedrückte Proposition. Dem-
nach ist die Definition der Wahrheit eines Satzes bzw. einer Äußerung ab-
hängig von der Definition der Wahrheit der durch den Satz ausgedrückten
bzw. von der Äußerung intendierten Proposition: Ein Satz ist wahr genau
dann, wenn er eine wahre Proposition ausdrückt. (Entsprechend wäre »wahre
Äußerung« mit Bezug auf die Wahrheit des Satzes zu definieren, worauf aber
hier nicht eingegangen wird.) Was ist aber eine wahre Proposition? Bei der
Beantwortung dieser Frage kommt die ontologische Perspektive voll zur
Geltung.
Die Idee einer »Identität« von Denken und Sein (Realität) hat eine uralte
Tradition in der Philosophie. Aber diese Idee blieb immer ziemlich vage. S.
Candlish hat 1989 den Ausdruck ›Identity Theory of Truth‹ als Bezeichnung
für F. H. Bradleys Konzeption, dass Wahrheit mit der Realität identisch ist,
verwendet.28 Seitdem wird eine intensive Diskussion über Wahrheit unter
Verwendung dieser Bezeichnung geführt. Es wird danach gefragt, ob Autoren
wie Hegel, F. H. Bradley, G. E. Moore, B. Russell, G. Frege und andere eine
Identitätstheorie vertreten haben. In der Wahrheitsperspektive hat der Verfas-
ser schon 1990 eine bzw. die Identitätsthese vertreten: Eine wahre Proposition
»ist nichts anderes, nichts weniger und nichts mehr, als ein Bestandteil der
wirklichen Welt«.29 Nennt man den mit einer wahren Proposition intendier-
ten Bestandteil der Welt eine »Tatsache«, so sind die wahre Proposition und
die Tatsache ein und dieselbe Entität. Das ist eine Identitätsthese mit einem
präzisen Gehalt.
Die hier entwickelte Konzeption kann nicht einfach als eine Identitäts-
theorie der Wahrheit bezeichnet werden, da die Identität (zwischen wahrer
Proposition und Tatsache) nur ein Moment darstellt. Der Wahrheitsbegriff
kann daher nicht einfach mit dieser Identitätsthese identifiziert werden. Die
vielen Versionen der Identitätstheorie der Wahrheit ignorieren die anderen
Aspekte, die aber schlechterdings wesentliche Ingredienzien des Wahrheits-
begriffs sind.

[2] Die Identität von wahrer Proposition und Tatsache (als weltlicher Entität)
kann in Beziehung zum Korrespondenzgedanken gesetzt werden. In der
ganzen Geschichte der Korrespondenztheorie wurde der Begriff der Kor-

28  Vgl. seinen Aufsatz: »The Truth About F. H. Bradley«, 1989, 331–348, vgl. 338.
29 
Puntel, GThW, 325.
3.1 Die systematischen Grundlagen 181

respondenz immer als eine Relation zwischen zwei nicht-identischen Relata


verstanden – und in diesem Sinne ist die hier vertretene Identitätsthese keine
Korrespondenztheorie. Nichtsdestotrotz muss man sagen, dass die Identitäts-
these den unaufgebbaren Kern der Korrespondenztheorie durchaus bewahrt,
ohne die mit der Korrespondenztheorie gegebenen Probleme zu erben. Dieser
Kern ist der Bezug zur Welt als absolut wesentliches Ingrediens von Wahrheit.
Der Grund, warum dieser Kern des Korrespondenzgedankens bewahrt wird,
liegt darin, dass Identität als Grenzfall (limiting case) von Korrespondenz auf-
gefasst werden kann. Man könnte statt von »Grenzfall« auch vom »höchsten«
oder »perfekten Fall« von Korrespondenz sprechen. Dieser Gesichtspunkt ist
als ein kaum hoch genug einzuschätzender Faktor der hier vertretenen Wahr-
heitstheorie anzusehen.

[3] Die Rede von der Identität zwischen einer wahren Proposition und
einer Tatsache (im Sinne einer weltlichen Entität) ist in einer Hinsicht sehr
befremdlich, in einer anderen Hinsicht sehr einleuchtend. Befremdlich ist
diese Rede, weil sie im Widerspruch zu manchen liebgewordenen »Vorstel-
lungen« steht. Gemeint sind die Vorstellungen, denen zufolge Propositionen
streng mentale oder ideale Entitäten, Tatsachen jedoch weltliche Entitäten
sind, so dass sie zu zwei eindeutig verschiedenen Bereichen gehören. Ande-
rerseits ist die Rede von Identität zwischen wahrer Proposition und Tatsache
in dem Sinne einleuchtend, dass sie den Bezug von Wahrheit zur Welt am
prägnantesten artikuliert. Erst bei näherer Reflexion tauchen allerdings die
wirklichen philosophischen Probleme auf. Sie lassen sich in der Frage zu-
sammenfassen: Wie ist die Identität von wahrer Proposition und Tatsache-
in-der-Welt kohärent zu denken?
Die Autoren, die die Identitätstheorie der Wahrheit vertreten, setzen jene
Ontologie voraus, die als die traditionelle Ontologie bezeichnet werden kann,
der zufolge die Welt aus Objekten, Eigenschaften, Relationen und Tatsachen
besteht. Diese werden als bestehende Sachverhalte, als aus Objekten, Ei-
genschaften und Relationen zusammengesetzte Entitäten verstanden. Diese
Ontologie kann eine Substanzontologie genannt werden, wobei »Substanz«
als »Substratum« zu verstehen ist: als ein x, von dem Eigenschaften und Rela-
tionen prädiziert werden (können). Wie Tatsachen im Rahmen dieser Ontolo-
gie genau zu konzipieren sind, wird von den Vertretern der Identitätstheorie
nicht untersucht. In der Regel wird von »Tatsachen« in einem rein intuitiven
Sinn gesprochen. Die vorausgesetzte Ontologie bleibt völlig undurchsichtig.
Es ist verständlich, dass in einem solchen Rahmen die Frage auftaucht, ob
»Tatsachen« überhaupt »Entitäten in der Welt« sind. Erst seit einigen Jahren
wird in der analytischen Philosophie die Frage nach einer angemessenen
Ontologie entschieden angegangen. Dabei wird gerade der Begriff des »Sach-
verhalts (state of affairs)« im Rahmen dieser Substanzontologie sehr radikal in
182 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Frage gestellt.30 Aber die neuen ontologischen Ansätze haben bis jetzt in den
wahrheitstheoretischen Arbeiten und Diskussionen kaum Anklang gefunden.
Es ist im Rahmen dieses Buches nicht möglich, diese Problemlage im
Einzelnen zu analysieren. Es sei aber hier eine fundamentale Konsequenz aus
den bisherigen Ausführungen explizit formuliert und hervorgehoben: Eine
Wahrheitstheorie, die den ontologischen Bezug beinhaltet, bleibt solange vage
und letzten Endes nicht überzeugend, als die von ihr so oder so in Anspruch
genommene oder vorausgesetzte Ontologie nicht explizit gemacht wird. Wie
die Ontologie zu konzipieren ist, die in perfekter Kohärenz mit der hier vor-
gelegten semantisch-ontologischen Wahrheitstheorie steht, wurde oben (vgl.
3.1.2 [3]) gezeigt. Hier sei noch ergänzend auf die umfassende ontologische
These hingewiesen, die sich daraus ergibt. Sie wird im zweiten Satz des
Tractatus L. Wittgensteins gut formuliert:
»Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.«31

Allerdings ist der genaue Sinn des Satzes im Tractatus nicht eindeutig; denn
Wittgenstein nimmt nicht nur »Gegenstände« an, sondern auch eine aus
diesen Gegenständen gebildete »Substanz der Welt«32. Ferner erklärt er: »Was
der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Sachverhalt
ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.)«33 Die Welt als
Gesamtheit der Tatsachen ist nach dieser Sicht eine durch Sachverhalte bzw.
Tatsachen ergänzte Welt der Objekte, Eigenschaften und Relationen. Was hier
»Objekt« bzw. »Gegenstand« genannt wird, entspricht der traditionellen Ka-
tegorie der Substanz im Sinne von Substratum. Oben wurde aber gezeigt, dass
eine solche Ontologie nicht akzeptabel ist. Nichtsdestoweniger kann Wittgen-
steins berühmter Satz – entgegen seinem eigenen Verständnis des Satzes – als
eine gute Formulierung der großen ontologischen These verstanden werden,
die in Konsonanz zur semantisch-ontologischen Theorie der Wahrheit steht.

3.1.3.3a Exkurs 1: Skizzierung einer halbformalen Darstellung der


fundamentalen Idee der Wahrheit
[1] Die folgende Konzeption bzw. Darstellung hat in einer Hinsicht eine ge-
wisse Ähnlichkeit mit der ursprünglich von D. L. Grover, J. I. Camp Jr. und N.
Belnap34 entwickelten und durch R. Brandom modifizierten Prosententialen
30
  Vgl. z. B. J. Dodd, »Farewell to States of Affairs«, 1999; W. F. Vallicella, »Three
Conceptions of States of Affairs«, 2000, u. a. Zu einer kurzen Kritik an Dodds Position
und Argumentation vgl. Puntel, »Truth, Sentential Non-Compositionality, and Onto-
logy«, 2001, Fußnote 7 auf S. 253.
31  Tractatus logico-philosophicus, 1.1.
32  Ebd. 2.021.
33  Ebd. 2.01.
34  Vgl. deren Aufsatz: »Eine prosententiale Theorie der Wahrheit«, 1987, 65–125.
3.1 Die systematischen Grundlagen 183

Wahrheitstheorie. Die zentrale Idee dieser Theorie besteht in der Annahme,


dass ›Wahr(heit)‹ kein Prädikat, sondern ein Fragment einer Prosentenz ist.
Eine »Prosentenz« ist zu verstehen in Analogie zu einem Pronomen, d. h. zu
einem Ausdruck, der eine anaphorische Relation zu einem anderen (früher
vorgekommenen) Ausdruck, also zu einem Antezedens, hat. Die Vertreter der
Theorie stützen sich auf das, was sie die Tiefenstruktur der Sprache nennen.
Der Satz, in dem ›Wahr(heit)‹ erscheint, wird als ein Satz gedeutet, der auf
ein früheres Vorkommnis des Satzes (ohne ›Wahr(heit)‹) verweist. Sprachlich
gesehen, so führen die Autoren aus, hat das Vorkommnis von ›Wahr(heit)‹
immer die Form ›Das ist wahr‹, d. h. die Form einer Prosentenz, deren ein-
ziger Sinn und einzige Funktion es ist, auf einen schon vorgekommenen Satz
zu verweisen. Gemäß dieser anaphorischen Konzeption ist das berühmte
Beispiel »› Schnee ist weiß‹ ist wahr« zu analysieren als: »Betrachte: Schnee
ist weiß. Das ist wahr.«35
R. Brandom hat diese Konzeption erheblich vereinfacht und intelligibler
gemacht, indem er ›… ist wahr‹ nicht als ein synkategorematisches Fragment
eines semantisch atomaren Satzes ›das ist wahr‹ analysiert, sondern als einen
Prosentenz-bildenden Operator erklärt:
»Der Operator, der einen Satz bildet, wird auf einen Term angewendet, der ein nomi-
nalisierter Satz ist oder der sich auf ein Satzvorkommnis bezieht. Er erzeugt eine Pro-
sentenz, die dieses Vorkommnis als ihr anaphorisches Antezedens hat.«36

Die durch den Operator generierte Prosentenz hat einen anaphorischen Cha-
rakter, d. h. sie »weist zurück« auf das Vorkommnis des Satzes, der das
Argument des Operators ist. Demnach gilt: ›Es ist wahr dass Schnee weiß ist‹
ist eine Prosentenz, deren Status darin besteht, dass sie auf den (als schon vor-
gekommen vorausgesetzten) Satz ›Schnee ist weiß‹ zurückverweist. Es handelt
sich also um einen anaphorischen Deflationismus. So formuliert Brandom:
»›Es ist wahr dass Schnee weiß ist‹ drückt exakt dieselbe Tatsache aus, die ›Schnee ist
weiß‹ ausdrückt.«37

Im Gegensatz zu R. Brandom wird hier eine kataphorische Theorie der


Wahrheit vertreten. καταϕορά ist der Gegenbegriff zu ἀναϕορά. Aber beide
Konzeptionen haben einige gemeinsame grundlegende Elemente, wobei dann
die Differenz um so deutlicher zum Vorschein kommt. Gemeinsam ist die An-
nahme, dass ›Wahr(heit)‹ kein Prädikat, sondern ein Operator ist. Aber nach
der hier vertretenen Konzeption ist dieser Operator nicht ein Prosentenz-
bildender, sondern ein PERsentenz-bildender Operator. Der künstliche Aus-
druck ›PERsentenz‹ ist gebildet aus dem lateinischen ›perficere (fertig machen,

35  Ebd. 100.


36  R. Brandom, Making It Explizit, 1994, 305.
37  Ebd. 328.
184 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

vollenden, eben: volldeterminieren)‹. ›PER‹ in ›PERsentenz‹ ist gemäß der


Gerundivform zu verstehen und zu lesen: ›sententia perficienda‹, ›zu voll-
endende/vollzudeterminierende Sentenz‹.

[2] Berücksichtigt man alle bisher genannten Gesichtspunkte, so scheint es an-


gemessen zu sein, den Wahrheitsbegriff als eine zusammengesetzte Funktion,
als eine Komposition von drei Funktionen zu explizieren. Als Notation für
den Begriff der Wahrheit bzw. den Ausdruck ›Wahr(heit)‹ sei der Buchstabe
›T‹, für die erste Funktion das Symbol ›T*‹, für die zweite Funktion das Sym-
bol ›T+‹ und für die dritte Funktion das Symbol ›T׋ eingeführt. Der Wahr-
heitsbegriff wäre dann formal so darzustellen:
(WB) T = T× ° T+ ° T*
Die Funktion T* kann folgendermaßen genau definiert werden:
(T1) T* : X → Y
T* : p |→ pper ∈ Y
(dabei ist ›X‹ die Menge der unqualifizierten/indeterminierten Sätze bzw.
Propositionen ›p‹, auf die der Operator ›es ist wahr dass‹ angewandt wird, ›Y‹
die Menge der aus der Applikation des Operators ›es ist wahr dass‹ auf diese
Sätze/Propositionen resultierenden PERsentenzen bzw. PERPropositionen
›pPER‹)
Die Funktion T+
(T2) T+ : Y → Z
T+ : pper |→ p ∈ Z
(dabei ist ›Y‹ die Menge der PERsentenzen bzw. PERPropositionen ›pPER‹ im
erläuterten Sinne, ›Z‹ die Menge der volldeterminierten Sätze bzw. Proposi-
tionen ›p‹, die kataphorisch aus den PERsentenzen bzw. PERPropositionen
resultieren)
Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, reichen diese beiden Funktio-
nen T* und T+ nicht aus, um die vollständige Erklärung des Wahrheitsbegriffs
zu erreichen. Der »Identitätsthese« genannte Faktor muss als dritte Funktion
hinzugenommen werden, wobei sie sich als die wichtigste und entscheidende
herausstellt. Sie lässt sich so formulieren:
(T2) T× : Z → F
T× : p |→ f ∈ F
(dabei ist ›Z‹ die Menge der volldeterminierten Sätze bzw. Propositionen ›p‹
und ›F‹ die Menge der Tatsachen (›Facts‹) und es soll gelten:
∀p ∈ Z, ∀f ∈ F (f = T× (p) ↔ p = f).
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 185

3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse als die


universale Dimension des primordialen Seins

Mit dem vollbestimmten struktural-systematischen Theorierahmen kann die


große Aufgabe in Angriff genommen werden, philosophische Theorien nicht
nur über jede einzelne Entität, jeden einzelnen Bereich von Entitäten, über
alles und jedes im uneingeschränkten universe of discourse, sondern auch
über das uneingeschränkte universe of discourse als solches und als ganzes zu
entwickeln. Nur dieser letzten Aufgabe kann sich dieses Buch widmen – und
dies auch nur im Grundriss. Der aufgezeigte Theorierahmen ist nicht so etwas
wie ein einschränkendes theoretisches Korsett, sondern die methodische und
systematische Eröffnung des immensen Raums aller theoretischen Potentia-
litäten des Menschen.

3.2.1 Drei Wege zur Erschließung der universalen Dimension des Seins
In diesem Abschnitt soll zuerst gezeigt werden, worum es bei einer solchen
Theorie über das uneingeschränkte universe of discourse geht. Die genauere,
d. h. hier: bestimmtere Bezeichnung für diese Theorie ist: Theorie des Seins
als solchen und im Ganzen. Der erste Schritt besteht darin, das Thema dieser
Theorie näher zu bestimmen: Dies ist die Aufgabe, die universale Dimension
des Seins zu erschließen. Dazu werden drei Wege beschrieben, die als drei
Aspekte eines einzigen umfassenden Sach-verhalts zu verstehen sind.

3.2.1.1 Erster Weg: die universale Dimension des Seins als das »Es«
des theoretischen Operators oder als die von jedem theoretischen Satz
vorausgesetzte und artikulierte Dimension
Der in gewisser Weise unmittelbarste und eleganteste Weg besteht in einer
vertieften Analyse der schon im Abschnitt 3.1.1.[4] anfänglich beschriebenen
Struktur des theoretischen Satzes. Jeder theoretische Satz hat die Struktur
» T φ: Es verhält sich so dass φ«. Hier geht es nun darum, das ›Es‹ im Operator
zu deuten.

[1] Der Operator »es verhält sich so dass …« ist der absolut universale theo-
retische Operator, der keiner Beschränktheit irgendwelcher Art unterworfen
ist. Seine Bedeutung für die Philosophie geht über seine reine Funktion, den
theoretischen Status eines Satzes zu bilden, weit hinaus. Genauer müsste man
sagen, dass seine eigentliche Bedeutung eben darin besteht, die ganze Trag-
weite des theoretischen Status von Sätzen anzuzeigen. Und diese Tragweite ist
eine absolut umfassende. Um das zu zeigen, muss man über rein grammatika-
186 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

lische Analysen hinausgehen. Aber man muss bei den grammatikalischen


Aspekten ansetzen.
Das ›Es‹ in einer Formulierung wie ›es verhält sich so dass …‹ wird als ein
Pronomen und dieses näherhin als ein Expletiv aufgefasst: Das ist ein Pro-
nomen mit einer undeutlichen oder gar keiner klaren semantischen Rolle. Die
Duden-Grammatik erklärt das ›Es‹ in Verbindung mit Impersonalia, »unper-
sönlichen« Verben, so:
»›Unpersönlich‹ ist eine traditionelle Bezeichnung für Verben (Verbvarianten), die
entweder keine Subjektleerstelle eröffnen oder das Pronomen es als Subjekt verlangen,
dem Subjekt jedoch keine klare semantische Rolle zuordnen. Als Personalform kommt
dann nur die 3. Pers. Sg. infrage. Da das Pronomen es als Subjekt eines unpersönlichen
Verbs keine hinweisende Funktion hat, nennt man es einen Pseudoaktanten (ein
formales Subjekt).«38

Hauptbeispiele für solche unpersönlichen Verben sind Witterungsverben wie


›regnen‹, ›schneien‹ u. ä. Zu den unpersönlichen Verben mit dem Pseudoak-
tanten ›es‹ gehören nach Duden »im Nominativ auch einige abstrakte, häufig
vorkommende Verben, die mindestens eine weitere Ergänzung verlangen«39.
Als Beispiele werden u. a. genannt: »Jetzt gilt es, [schnell zu handeln]«; »[Um
deinen Führerschein] geht es hoffentlich nicht«; »hier handelt/dreht es sich
[um einen Serienmörder]«. Letzteres Beispiel dürfte der Formulierung des
theoretischen Operators »es verhält sich so dass …« am Ähnlichsten sein.
Aber keines der zitierten und hier nicht zitierten Duden-Beispiele wird der
spezifischen Art der Formulierung des theoretischen Operators gerecht. Es
handelt sich in der Tat um einen absolut singulären Fall, den man zwar
grammatikalisch so oder anders »erklären« mag, der aber geradezu eine über
die Grammatik hinausgehende und damit philosophische Deutung verlangt.
Sie sei im folgenden in Angriff genommen.
In der zuletzt zitierten Passage aus der Duden-Grammatik ist von im No-
minativ vorkommenden »abstrakten […] Verben« die Rede, »die mindestens
eine weitere Ergänzung verlangen«. Der theoretische Operator als Operator
verlangt auch eine Ergänzung, dies aber in einem ganz besonderen Sinn:
Die »Ergänzung« ist einfach das »Argument« (im Sinne der formalen Wis-
senschaften), das im Skopus des Operators vorkommt und von diesem »be-
stimmt« oder »qualifiziert« wird. Dieses »Argument« ist seinerseits ein Satz
und im Rahmen der struktural-systematischen Philosophie ein Primsatz, sei
es ein einfacher oder ein komplexer Primsatz (letzterer ist eine Konfiguration
von einfachen und / oder komplexen Primsätzen). Da der Primsatz gerade da-
durch – negativ – definiert ist, dass er nicht die Subjekt-Prädikat-Form hat,

38  Duden, Die Grammatik. 2005, Nr. 560, S. 413.


39 
Ebd. Nr. 562, S. 413.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 187

kann eine Formulierung wie ›es regnet‹ nicht so verstanden oder gedeutet
worden, dass ›es‹ Subjekt und ›regnet‹ Prädikat wäre.
Um die ganze Problematik dieser Formulierungen hinsichtlich des theoreti-
schen Operators richtig anzugehen, muss man beachten, dass die vollständige
sprachliche Wiedergabe dieses Operators in der »normalen« Sprache ein zwei-
faches »es« enthält, und zwar sowohl in der Formulierung des Satzes, der als
Argument dient, als auch in der Formulierung des Operators als solchen. Am
Beispiel des Primsatzes ›es regnet‹ kann dies deutlich illustriert werden: ›Es
verhält sich so dass es regnet‹. In beiden Vorkommnissen kann das ›es‹ nicht
als Subjekt aufgefasst werden. Zwischen beiden Vorkommnissen gibt es einer-
seits sowohl eine Gemeinsamkeit wie auch eine Differenz, was durch einen
Hinweis auf die formalisierende Darstellung leicht gezeigt werden kann. Die
Gemeinsamkeit ist in einer Hinsicht eine rein negative und in einer anderen
Hinsicht eine positive. Die negative Gemeinsamkeit besteht darin, dass keines
der beiden ›es‹ prädikatenlogisch formalisiert werden kann. Der Satz ›es
regnet‹ kann nicht etwa als eine Instantiierung der prädikatenlogischen Ele-
mentarformel ›Fx‹ artikuliert werden; vielmehr kann er als Primsatz einfach
mit nur einer Satzvariablen bzw. ‑konstante formalisiert werden: etwa φ. Die
positive Gemeinsamkeit ist der Umstand, dass Satz und Operator jeweils nur
als etwas »Einfaches« im Sinne von: etwas nicht weiter Zerlegbares dargestellt
werden können, einmal als ›φ‹ und einmal als › T ‹. Grammatikalisch gesehen
sind beide Sätze Teilsätze, wobei in der traditionellen Terminologie  T  als
Hauptsatz und φ als Nebensatz bezeichnet werden. Aber diese grammatika-
lische Analyse ist nicht adäquat, was an einem ganz bestimmten Punkt gezeigt
werden kann.
Abweichend von den Bestimmungen der deutschen Grammatik wird in
Formulierungen wie z. B. ›Es verhält sich so dass …‹ oder: ›Es ist wahr dass …
[etwa: φ]‹ usw. vor der Partikel ›dass‹ kein Komma gesetzt. Der Grund liegt
darin, dass diese Formulierungen als eine Einheit aufgefasst werden, so dass
man sie in pedantischer Weise folgendermaßen schreiben könnte: ›Es-verhält-
sich-so-dass …‹, ›Es-ist-wahr-dass …‹ usw. Gemäß der von der struktural-
systematischen Philosophie vertretenen Semantik sind solche Formulierungen
Operatoren, die ganze Sätze (und nicht nominalisierte Sätze der Form: ›Dass
es heute regnet, … [etwa: ist wahr, oder: ist eine Tatsache]‹) als Argumente
haben. Dass die deutsche Grammatik vor dem ›dass‹ in den genannten For-
mulierungen ein Komma verlangt, entspricht zwar einer fest etablierten Regel,
ist aber trotzdem kaum zu verstehen und zu rechtfertigen. Die Grammatik
nennt solche dass-Sätze »Inhaltssätze«.40 Im Gegensatz zur oben zitierten
neuesten (7.) Auflage der Duden-Grammatik, die sich auf eine Beschreibung
der verschiedenen Arten solcher dass-Sätze beschränkt, bringt die 2. Auflage

40 
Vgl. ebd., Nr. 1679 ff.
188 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

interessante Erläuterungen und Erklärungen. So enthält sie den Hinweis


darauf, dass diese dass-Sätze »den wesentlichen Inhalt der Gesamtaussage ent-
halten«; von dem Satz vor dem ›dass‹ wird erklärend gesagt, er wirke »ihnen
[den dass-Sätzen] gegenüber nur wie eine Anführung der eigentlichen Set-
zung«.41 Aber eine solche Regel samt ihrer Erklärung bzw. Rechtfertigung ist
inkohärent. Es ist nämlich klar, dass in Formulierungen wie ›Es ist wahr dass
Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist‹ die Partikel ›dass‹ zu jenem Satz zu
rechnen ist, der in der Duden-Terminologie die »Setzung« eines Inhaltssatzes
artikuliert (also zum Satz ›Es ist wahr‹). Es ist aber inkohärent, die »Setzung«
eines Inhalts und den Inhalt selbst durch ein Komma zu trennen.

[2] Nach diesem Exkurs über grammatikalische Aspekte und Probleme der
Formulierung des theoretischen Operators ›es verhält sich so dass …‹ ist es
möglich und angebracht, auf grundsätzlich geklärter sprachlicher Basis eine
echt philosophische Deutung der im Operator vorkommenden Partikel ›es‹ zu
wagen. Die zu vertretende These lautet: »Es« ist zwar kein Subjekt im Sinne
der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen, gleichwohl ist es eine allgemeine
»Anzeige« einer sich in allen theoretischen Sätzen auf indirekte Weise ar-
tikulierenden Dimension; diese Dimension ist das uneingeschränkte universe
of discourse, das, näher bestimmt, als die primordiale Dimension des Seins
bezeichnet werden kann.
Die Begründung dieser These besteht in einer einfachen Analyse der Struk-
tur der theoretischen Sätze im Hinblick auf ihre Voraussetzungen und Im-
plikationen. Man nehme den ganz einfachen Primsatz »es grünt«. Es leuchtet
gleich ein, dass ›es‹ hier eine Anzeige nicht eines Objekts oder von etwas
Ähnlichem, sondern von etwas nur ganz allgemein Bestimmtem ist, am besten
würde man sagen: eine Anzeige einer Raumzeitstelle. Der Sinn wäre: grün
geschieht hier und jetzt.42 Indem aber dies artikuliert wird, wird schon auf
andere und im Prinzip auf alle (realen oder möglichen) Raumzeitstellen Bezug
genommen, »in denen« es grünt. Verallgemeinernd kann man dann sagen: es
wird schon auf die ganze »Dimension grün« indirekt Bezug genommen.
Philosophisch wird man einen Schritt weiter gehen können und müssen,
indem man etwa sagt: Durch die Aussage »es grünt« nimmt man im Prinzip
Bezug auf jede andere »Dimension« der sogenannten Welt und Realität: auf
das, wozu eine explizite Beziehung besteht, aber auch auf alles, was nicht grün
ist. Wie weit kommt man und wohin gelangt man bei einer solchen Analyse

41 
Duden, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 2. Aufl., 1966, Nr. 6245.
42 
Hier wäre es nicht berechtigt zu sagen: (etwas) Grünes ist (hier und jetzt), wenn der
Ausdruck ›(etwas) Grünes‹ im Sinne eines Objekts verstanden wird, das die Eigenschaft
grün hat. Der Primsatz »es grünt (oder: es ist grün oder es ist grünend)« bzw. die durch
ihn ausgedrückte Primproposition beinhaltet und impliziert in keiner Weise eine Objekt‑
bzw. Substanzontologie.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 189

des einfachen Primsatzes »es grünt«? Im Prinzip kann man auf der Basis
einer sehr sorgfältigen und detaillierten Analyse zu einer absolut universalen
Dimension gelangen. Eine interessante Variante dieses Verfahrens wird weiter
unten als dritter Weg zur Erschließung der Dimension des Seins darzustellen
sein.
Im jetzigen Zusammenhang kann diese weitere Analyse des einfachen Prim-
satzes »es grünt« ganz anders, und zwar sehr verkürzt und sehr unkompli-
ziert, in Angriff genommen werden. Das geschieht dadurch, dass der in Frage
stehende Primsatz  –  wie übrigens im Prinzip jeder einfache Primsatz  –  als
ein theoretischer Satz analysiert und vollständig expliziert wird. Dann hat
der Primsatz die explizierte Gestalt: »es1-verhält-sich-so-dass es2 grünt«. Die
beiden Vorkommnisse von ›es‹ sind indexiert. »Es2« ist eindeutig eine Anzeige
einer speziellen Raumzeitstelle: derjenigen, die gerade »grünt«. Aber »es1«
ist eine Anzeige ganz anderer Art, d. h. eine Anzeige einer ganz anderen Di-
mension, nämlich der absolut universalen Dimension des uneingeschränkten
universe of discourse. Das lässt sich in aller Kürze so zeigen: Im Gegensatz zu
Es2, das die unmittelbare Anzeige einer bestimmten Raumzeitstelle ist, ist das
Meta-Es1 auf nichts Bestimmtes, Einzelnes, Beschränktes bezogen, sondern
ist offen für absolut alles, für alle Fälle des theoretischen Operators. Es1 ist
die Eröffnung des unbeschränkten Raums der theoretischen Artikulation sim-
pliciter. Es1 ist die Anzeige der absolut universalen Dimension.
Wie könnte oder müsste diese Dimension bezeichnet werden? Die hier
vertretene These lautet: die absolut universale Dimension des theoretisch Ar-
tikulierbaren ist die Dimension des primordialen Seins. »Primordial« wird das
Sein hier genannt, weil es nicht im Sinne des »objektiven Seins« verstanden
wird, d. h. der Dimension, die am Anfang der systematischen Darstellung den
Gegenpol zur Strukturdimension bildet, wie das weiter unten erläutert wird
(vgl. 3.3.1.3). Begründet wird die These durch folgende Analyse: Die absolut
universale Dimension, die vom »Es1« des theoretischen Operators jeden dekla-
rativen Satzes angezeigt wird, umfasst alle partikulären, alle Einzelfälle des uni-
verse of discourse. Aber dann drängt sich die Frage auf: Wie hängen diese Fälle
zusammen? Wie im übernächsten Abschnitt gezeigt werden soll, lassen sich
unendlich viele, vielfältige Zusammenhänge zwischen diesen Fällen aufweisen.
Gibt es aber einen Faktor, der nicht nur einigen oder vielen, sondern absolut
allen gemeinsam ist? Den muss es wohl geben, sonst könnte man nicht von
den – und damit von allen – Fällen des universe of discourse sprechen. Worin
besteht diese allerletzte Gemeinsamkeit, an der alle Fälle Anteil haben? Man
kann sicher Faktoren nennen, die allen Fällen des Artikulierbaren gemeinsam
sind, z. B. die universale Ausdrückbarkeit usw. Aber diese Faktoren gründen
doch in einer tieferen, ursprünglicheren Gemeinsamkeit. Diese besteht darin,
dass alle »Fälle« zuerst und fundamental »seiende Fälle« sind, Modi jener
Gemeinsamkeit, die allen anderen, soweit vorhanden, Gemeinsamkeiten zu-
190 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

grunde liegen, nämlich des Seins. Wollte jemand diese These bestreiten, so
müsste er in der Lage sein, eine noch fundamentalere oder ursprünglichere
Gemeinsamkeit zu nennen. Es ist nicht einzusehen, wie das möglich sein
könnte. Es muss bemerkt werden, dass »Sein« hier nicht nur das sogenannte
aktuale, sondern auch das mögliche Sein bedeutet.
Aus diesen Analysen ergibt sich, dass der simple Gebrauch des theo-
retischen Operators im Falle auch des einfachsten und bescheidendsten de-
klarativen Satzes die universale Dimension, die Dimension des primordialen
Seins, eröffnet und expliziert.

3.2.1.2 Zweiter Weg: die intentionale Koextensionalität des menschlichen


Geistes mit dem uneingeschränkten universe of discourse (»anima
quodammodo omnia«)
Der zweite Weg nimmt seine Inspiration aus einigen traditionellen Gedanken,
versucht diese aber neu durchzudenken, indem er sie teilweise korrigiert
und angemessener artikuliert. Es handelt sich um einen direkten Weg in dem
Sinne, dass er in der Feststellung und Beschreibung eines der zentralsten
Strukturmomente des menschlichen Geistes besteht. Dieses Strukturmoment
wird hier »die intentionale Koextensionalität des menschlichen Geistes mit
dem uneingeschränkten universe of discourse« genannt.
Schon in der Antike hat Aristoteles diesen Gedanken in geradezu klas-
sischer Weise formuliert, indem er die These aufstellte: ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς
ἐστι πάντα (wörtliche Übersetzung: »Die Seele (der Geist) ist in gewisser
Weise alle Seienden.«)43 In der lateinischen metaphysischen Tradition wurde
daraus eine Art Axiom: anima (est) quodammodo omnia. Die ganze Tragweite
dieser häufig angeführten These wurde aber in keiner Weise erfasst und noch
weniger gewürdigt. Die Phrase »in gewisser Weise« kann man mit dem Begriff
»intentional« deuten. Der Sinn der Aristotelischen These könnte dann so wie-
dergegeben werden: »Der Geist ist intentional koextensiv mit der Totalität
der Seienden«. Aristoteles spricht nur von »Seienden«, nicht von »Sein«. In
dieser Hinsicht wäre die These des Aristoteles ein beredtes Zeugnis für die
Richtigkeit der Heideggerschen Interpretation und Kritik der Metaphysik,
der zufolge diese nur das / die Seiende(n), nicht aber das Sein selbst bedacht
hat. Aber man kann über Aristoteles hinausgehen und die Rede von »allen
Seienden« oder von »der Totalität der Seienden« überwinden, indem man
stattdessen vom Sein, und zwar vom Sein als solchem und im Ganzen spricht.
Die intentionale Koextensivität des Geistes mit dem Sein als solchem und
im Ganzen ist ein Grundkonstituens des menschlichen Geistes. Es ist nicht
so, dass der menschliche Geist dies oder jenes ist und dass er anschließend

43 
ΠEΡI ΨYXHΣ (De anima) Γ 431 b 21.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 191

dieses »dies oder jenes« irgendwie »transzendiert« und dadurch zum Sein
selbst gelangt. Wenn es noch Sinn macht, hier von »Transzendenz« zu reden,
so müsste man sagen, dass der menschliche Geist diese »Transzendenz« selbst
ist. Heidegger hat diesen Sachverhalt ganz richtig und adäquat erfasst und
artikuliert, wie in Kapitel 2 (vgl. 2.2 [3]) dargestellt wurde und gleich unten
noch weiter erläutert wird. Von einer »Transzendenz« kann man hier dennoch
sprechen, aber nur in einem sehr relativen Sinn, insofern man den Sachverhalt
vor Augen hat, dass der menschlicher Geist von der Betrachtung einzelner
»Dinge (Seienden)« ausgehen kann und allmählich zur Betrachtung immer
weiterer Zusammenhänge und schließlich zum Zusammenhang aller Zusam-
menhänge, nämlich der Dimension des Seins selbst, fortschreitet. Der noch
darzustellende dritte Weg zur Erschließung der Seinsdimension wird sich als
ein solcher Prozess herausstellen. Dass aber dieser Prozess, dieses Fortschrei-
ten überhaupt stattfinden kann, gründet gerade darauf, dass der menschliche
Geist sich sozusagen »immer schon« am Zielpunkt dieses Prozesses befindet.
Einen nicht angemessenen oder höchstens nur »halb-angemessenen« An-
satz findet man bei Thomas von Aquin, insofern er auf explizite Weise von
einem ursprünglichen Verhältnis des menschlichen Geistes (oder, wie er sagt,
des menschlichen Intellekts) zum ganzen Bereich des »Seienden (ens)« spricht.
Das zeigt seine in insignifikanten Variationen ständig wiederholte These: »Das
Erste, was in den Intellekt fällt, ist Seiendes«44 oder: »Seiendes […] ist jenes,
was der Intellekt zuerst als das ihm Bekannteste begreift und in das er alles Be-
griffene auflöst, wie Avicenna zu Beginn seiner ›Metaphysik‹ sagt.«45 Es wurde
aber in Kapitel 1 gezeigt, dass Thomas von Aquin durchaus zum Sein/esse
(nach seinem Verständnis) gelangt. Dieser Umstand macht deutlich, dass man
vorsichtig sein muss, wenn man über diese Thematik beim Aquinaten spricht.
Hier ist die völlig andersgeartete berühmte Aussage eines anderen Autors
anzuführen, die auch als Motto zum vorliegenden Buch dient: Pascal. Sie ar-
tikuliert im Grunde denselben Grundgedanken, aber in einer völlig anderen
Weise, die gerade deswegen hinsichtlich der hier behandelten These sehr auf-
schlussreich ist. In seinen Pensées heißt es:
»Erkenne also, Hochmütiger, was für ein Widerspruch du dir selbst bist. Demütige
dich, ohnmächtige Vernunft, schweige, törichte Natur: lerne, dass der Mensch den
Menschen um ein Unendliches transzendiert.«46

44
  »Primum […] quod in intellectum cadit, est ens.« (De Pot, q. 9, a. 7, ad decimum-
quintum).
45  »Illud […] quod primo intellectus concipit quasi notissimum, et in quod concep-

tiones omnes resolvit, est ens, ut Avicenna dicit in principio Metaphysicae suae [lib. I, c.
ix].« Deutsche Übersetzung (teilweise modifiziert) nach: Thomas von Aquin, Von der
Wahrheit. De veritate (Quaestio I),1986, 5.
46  B. Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). Fran-

zösischer Originaltext:
192 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Es ist höchst bemerkenswert, dass Pascal sich an den Menschen wendet,


indem er seine Vernunft ohnmächtig und seine Natur töricht nennt, und dass
er ihm gleichzeitig das Schönste und Tiefste zuschreibt, das man von ihm
sagen kann: das, was seine Größe ausmacht, dass er nämlich sich selbst um ein
Unendliches transzendiert. Es ist nur allzu deutlich, dass das Wort ›Mensch‹
in seinen beiden Vorkommnissen im Satz »der Mensch transzendiert den
Menschen um ein Unendliches« nicht dieselbe Bedeutung hat. Man kann den
Unterschied durch Indexierung kennzeichnen, indem man für das erste Vor-
kommnis ›Mensch1‹ und für das zweite ›Mensch2‹ schreibt.
Die am jetzigen Punkt der Darstellung des systematischen Ansatzes zu
artikulierende These kann nun so formuliert werden: Eine sinnvolle Trans-
zendenz gibt es nur hinsichtlich von Mensch2; es ist gegenstandslos, eine wie
immer geartete Transzendenz hinsichtlich Mensch1 zu behaupten. Mit ande-
ren Worten, Transzendenz ist ein sinnvoller Begriff nur in einem relativen,
nicht in einem absoluten Sinn, das heißt: nur in einigen Hinsichten, nicht in
jeder Hinsicht.
Oberflächlich verstanden, scheint diese These eine weitreichende Impli-
kation zu haben, die als der Protagoras zugeschriebene homo-mensura-Satz
bekannt ist: »Er [Protagoras] sagt irgendwo, der Mensch sei das Maß aller
Dinge, der seienden, dass / wie sie sind, der nichtseienden, dass/wie nicht
sind.«47 Aber diese Implikation hat Pascals Aussage überhaupt nicht, wie
dies in den weiteren Ausführungen gezeigt werden soll. Das wird schon hier
deutlich, wenn man eine weitere These formuliert, die als eine weitere Inter-
pretation des Pascalschen Zitats gelten kann. Sie artikuliert eine Einsicht, die
als die der durch den homo-mensura-Satz ausgedrückten Einsicht diametral
entgegengesetzt ist: die Dimension von Mensch1, die nicht transzendiert
werden kann, ist die Dimension, die hier die intentionale Koextensivität des
menschlichen Geistes / Denkens mit dem uneingeschränkten universe of dis-
course genannt wird, wobei das universe of discourse als die universale Seins-
dimension simpliciter zu verstehen ist. Diese nicht mehr transzendierbare uni-
versale Koextensivität schließt einen Bezug zum Menschen nicht aus, besagt
aber, dass der »konkrete« Mensch, nämlich der Mensch2, von der universalen
Seinsdimension her betrachtet werden muss; anders ausgedrückt: sie im-
pliziert einen radikalen Perspektivenwechsel. Nicht die universale Dimension
wird aus der Perspektive des Menschen betrachtet und bestimmt, sondern

»Connaissez donc, superbe, quel paradoxe vous êtes à vous-même. Humiliez-vous,


raison impuissante; taisez vous, nature imbécile: apprenez que l’homme passe infiniment
l’homme.« (B. Pascal, Pensées, in: Oeuvres complètes, 1954, No. 438, S. 1207; Ausgabe
Brunschvicg Nr. 434; Kursiv nicht im Original).
47  Φησὶ [Πρωταγόρας] γάρ που »πάντων χρημάτων μέτρον« ἄνθρωπον εἶναι, »τῶν μὲν ὄντων

ὡς ἔστι, τῶν δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν«. Plato, Theaitetos 152 a.


3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 193

umgekehrt: der Mensch wird aus der universalen Perspektive allererst als das
bestimmt, was er in Wahrheit ist.
Ein weiterer – und in einer bestimmten Hinsicht der wichtigste – Philo-
soph, der den zweiten Weg zur Erschließung der Dimension des Seins be-
schritten hat, ist (der junge) Heidegger. In Kapitel 2 (vgl. 2.2) wurden vier
Ansätze beschrieben, die er unternommen hat, um die Seinsfrage zu »wieder-
holen« und zu klären. Im gegenwärtigen Kontext ist an den dritten Ansatz,
den er hauptsächlich in Sein und Zeit dargestellt hat, hinzuweisen. Hier wird
das Seinsverständnis als ein zentrales konstitutives Moment des Daseins (des
Menschen) aufgefasst, wie folgende charakteristische Passage deutlich macht:
»Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist
vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um
dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß
es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt:
Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem
Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seins-
verständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung
des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist.« (SZ § 4, S. 16)

Zum vorletzten Satz fügte Heidegger in seinem Handexemplar von Sein und
Zeit die folgende aufschlussreiche Randbemerkung hinzu: »Sein aber hier
nicht nur als Sein des Menschen (Existenz). Das wird klar aus dem Folgenden.
Das In-der-Welt-sein schließt in sich den Bezug der Existenz zum Sein im
Ganzen: Seinsverständnis.« (SZ § 4, S. 16 Fußn. a)

3.2.1.3 Dritter Weg: der Zusammenhang aller Zusammenhänge oder der


umfassendste Zusammenhang als die absolut universale Dimension des
primordialen Seins
Im Unterschied zu den beiden ersten Wegen zur Erschließung der Seins-
dimension ist der dritte Weg betont inhaltlich bestimmt. Es ist ein aufbau-
endes Verfahren, ein Verfahren von unten nach oben. Es wird nicht mit der
berühmten »Seinsfrage« angefangen; keine wie immer geartete Bedeutung des
Wortes ›Sein‹ wird vorausgesetzt oder auch nur untersucht oder analysiert.
Vielmehr wird dieser Ausdruck an einem bestimmten Punkt des inhaltlich
analysierenden und aufbauenden Verfahrens als geeignete Bezeichnung für
einen bestimmten herausgearbeiteten Sachverhalt eingeführt.
Das Verfahren besteht darin, ausgehend von den einfachen Entitäten (den
einfachen Primtatsachen bzw. den einfachen ontologischen Strukturen)
weitere Strukturiertheiten oder Zusammenhänge zu explizieren bis hin zur
Strukturiertheit aller Strukturiertheiten bzw. bis zum Zusammenhang aller
Zusammenhänge.
194 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Das folgende Diagramm möge als Leitfaden sowohl für diesen Aufbau als
auch für die weiteren Schritte einer struktural-systematischen Seinstheorie
dienen.
Im Hinblick auf die Erschließung der Dimension des primordialen Seins
genügt es, die ontologische »Makrostruktur« der Welt, des objektiven Pols
im Verhältnis von Strukturdimension und universe of discourse, nur kurz zu
charakterisieren.
ARCHITEKTONIK DER STRUKTURAL-SYSTEMATISCHEN SEINSTHEORIE
ABSOLUT UNIVERSALER ZUSAMMENHANG
PRIMORDIALE SEINSDIMENSION
SEIN als ABSOLUTE DIMENSION Personales Absolutes
SOLCHES ZWEI- Schöpfer Geschichte Christlicher GOTT

und Dimen-

im GANZEN sionalität KONTINGENTE DIMENSION = objektive Welt +


teilweise strukturale/theoretische Dimension

THEORETISCHE STRUKTU- ZUSAMMENHANG 3 WELT als OBJEKTIVER


RALE DIMENSION ZUSAMMENHANG (OBJEKTIVES SEIN)

ZUSAMMENHANG 2 EREICHE
Formale (logische/mathe- als Zusammenhänge

matische) Strukturen

Semantische Strukturen ZUSAMMENHANG 1 NDI-


VIDUEN als Zusammenhänge

PRIMTAT-

Ontologische Strukturen SACHEN:

DATEN:
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 195

Ausgangspunkt sind die Daten im schon erläuterten technischen Sinn


dieses Ausdrucks in diesem Buch. Diese Daten werden dann in einem ersten
Schritt als Primsätze, die Primpropositionen ausdrücken, und diese, wenn sie
wahr sind, als Primtatsachen aufgefasst. Primtatsachen, und zwar auch die
einfachen, sind ontologische Strukturen, genauer: ontologische Primstruk-
turen.48 (Statt »Strukturen« kann man auch »Zusammenhänge« sagen; beide
Ausdrücke werden in diesem Buch als synonyme Ausdrücke verstanden.) Die
einfachen ontologischen Primstrukturen sind die »kleinsten oder minimalen«
Strukturen/Zusammenhänge überhaupt. Als solche oder isoliert genommen
stellen sie eine Abstraktion dar. Aber die »konkreten«, d. h. »komplexen«
Strukturen sind Konfigurationen von Primtatsachen. Für die Zielsetzung
dieses Buches genügt es, von jenen Konfigurationen auszugehen, die Indivi-
duen (im robusten Sinne) heißen, wie Lebewesen, Personen u. ä. Ein so ver-
standenes Individuum, z. B. ein bestimmter Mensch, ist eine hochkomplexe
Struktur oder Konfiguration oder, wie hier meistens gesagt werden wird, ein
hochkomplexer Zusammenhang. Im Diagramm wird dieser Zusammenhang
»Zusammenhang 1« genannt.
Die Individuen ihrerseits sind in weitere Zusammenhänge eingebettet:
Sie hängen mit der Natur und allen ihren Phänomenen zusammen; aber vor
allem hängen sie mit ihresgleichen zusammen: mit den anderen Individuen
der Spezies, zu der sie gehören. Sie bilden mit ihnen einen Bereich der Welt.
Der Zusammenhang, der einen Bereich konstituiert und definiert, wird im
Diagramm als »Zusammenhang 2« bezeichnet.
Es gibt viele Bereiche. Diese Bereiche hängen ihrerseits mit allen anderen
Bereichen zusammen. Dieser Umstand konstituiert einen umfassenden Zu-
sammenhang, der das ausmacht und definiert, was die Welt heißt. Die Welt ist
der eigentliche gesamte objektive Gesamtzusammenhang, wobei »objektiv«
hier die Dimension des universe of discourse bezeichnet, auf die sich die
Dimension der fundamentalen Strukturen bezieht. Dieser objektive Gesamt-
zusammenhang, die Welt, wird im Diagramm »Zusammenhang 3« genannt.
Damit ist der Punkt erreicht, der für die Zielsetzung dieses Buches schlech-
terdings zentral und entscheidend ist; denn jetzt drängt sich die Frage auf:
Wie ist dieses Verhältnis zwischen den beiden Dimensionen  –  der »theo-
retischen« Struktur(en)dimension und der Welt-Dimension – zu begreifen?
Nur zu sagen, dass »wir«, die Theoretiker, Strukturen auf die Bereiche der
Welt bzw. auf die Welt als ganze »anwenden«, um sie zu begreifen, ist keine
adäquate Antwort auf diese Frage; denn die spezifischere Frage drängt sich
sofort auf: Wie ist diese »Anwendung« selbst möglich und zu verstehen? Es
ist klar, dass sie nur möglich ist, wenn zwischen beiden eine grundsätzliche
Gemeinsamkeit, eine Einheit vorausgesetzt wird, die das »Zusammentreffen«

48 
Für nähere Erläuterungen vgl. SuS, Kapitel 3.
196 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

beider allererst ermöglicht. Wie ist aber diese Gemeinsamkeit, diese Einheit
von theoretischer Struktur(en)dimension und Welt-Dimension aufzufassen?
Es ist aufschlussreich zu bemerken, dass so gut wie die ganze analyti-
sche Philosophie diese Frage nicht stellt; im Gegenteil, diese Philosophie
entwickelt alle ihre Theorien auf der Basis der Unterscheidung der beiden
Dimensionen, aber die Differenz selbst wird nicht bedacht. Wenn aber bei
weitem die meisten analytischen Philosophen eine Reduktion des mensch-
lichen Geistes auf Physikalisches behaupten, so hat man Anlass sich darüber
zu wundern; denn auf diese Weise wird die Dimension, die hier als die theo-
retische Dimension bezeichnet wird und die man sonst die Dimension des
Geistes, des Denkens, des Mentalen, die ideale Dimension u. ä. nennt, einfach
auf ein physikalisches Stück der Welt reduziert. Damit wird in der Tat eine
bestimmte Auffassung über das Verhältnis – und damit auch die Einheit – von
Geist und Welt vertreten, aber eine solche, die den eigentlichen Fragepunkt
vollständig verfehlt; denn der Geist (und damit die theoretische Dimension)
ist nicht einfach ein physikalisches »Stück« oder »Element« (in) der Welt, son-
dern ist jener »Punkt« (in) der Welt, der die ganze Welt intentional umfasst,
der mit der ganzen Welt intentional koextensiv ist. Doch auf diese sich von
der analytischen Philosophie her aufdrängende Problematik soll in diesem
Kontext nicht weiter eingegangen werden.
Hier ist es zunächst wichtig, auf Heideggers in Kapitel 2 dargelegten zwei-
ten Ansatz oder Weg zur Erschließung der Seinsdimension zu verweisen. Die
phänomenologisch-transzendentale Position Husserls kritisierend, zeigt Hei-
degger, dass es eine die konstituierende transzendental-phänomenologische
Subjektivität und die konstituierte Dimension des Datums bzw. der Daten
umfassende Dimension gibt, der er die Bezeichnung ›Sein‹ gibt. »Universal ist
[…] das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.«49
Im Kontext der Ausführungen dieses Buches sind die beiden differenten
Dimensionen die theoretische Struktur(en)dimension und die Dimension des
Datum/der Daten oder allgemein des universe of discourse. Wenn beide auf-
einander bezogen werden, dann ist das nur dadurch zu erklären, dass es einen
»Raum« oder eine Meta-Dimension gibt, der/die beide umgreift und deren
Verhältnis zueinander ermöglicht.
Dieser »Raum« oder diese »Meta-Dimension« wird hier als die Dimension
des Seins bezeichnet. Mit »Sein« ist aber hier (wie im obigen Zitat Heideg-
gers) nicht das »objektive Sein« gemeint, sondern das »primordiale Sein«,
das beide Seiten oder Dimensionen umfasst. Hier wird dem Ausdruck ›Sein‹
keine andere Bedeutung zugeschrieben als diejenige, die sich als der heraus-
gearbeitete Sachverhalt aus den bisherigen Analysen ergeben hat: der absolut
universale Zusammenhang oder der Zusammenhang aller Zusammenhänge.

49 
Husserliana, Bd. IX, 1962, Anlage I, 601–602 (Kursiv nicht im Original).
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 197

Anders ausgedrückt: diese absolut universale oder Urdimension ist die Ein-
heit von theoretischer Dimension und universe of discourse. Außerhalb dieser
Urdimension ist nichts vorstellbar, konzipierbar, thematisierbar u. dgl.
Um die Tragweite dieser These zu verdeutlichen, ist es besonders wichtig,
das Verhältnis von »Sein« und »Existenz« zu klären. Bekanntlich wurden
beide Ausdrücke in der Geschichte der Philosophie, vor allem in der großen
Tradition der Metaphysik, manchmal identifiziert und manchmal unterschie-
den. Darauf kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden.50 Hier werden
diese Ausdrücke bzw. Begriffe strengstens unterschieden. »Existenz« hat eine
unvergleichlich engere Bedeutung als »Sein«. »Existenz« bezeichnet immer
etwas in der Welt, in der »objektiven« Dimension, kurz: Existenz ist dasselbe
wie »objektives Sein«. Etwas existiert, wenn es ein Element der Welt, der
objektiven Dimension ist. In der metaphysischen Tradition wurde Existenz
oft oder sogar meistens als der Status der Dinge bezeichnet, insofern sie un-
abhängig vom Geist oder Intellekt »sind«. »Existenz« wurde immer so mit
Bezug auf den Geist oder Intellekt bestimmt. Im Gegensatz dazu wird Sein
hier als jene universale Dimension aufgefasst, die sowohl die Dimension des
objektiven Seins, also der Welt, als auch die Dimension des Intellekts/Geistes
(mit allem, was dazu gehört) umfasst. Es wäre daher absolut sinnlos und sinn-
widrig etwa zu fragen, ob diese universale Dimension »existiert«. Von hier aus
lässt sich im Hinblick auf die Gottesfrage sagen, dass die so weit verbreitete
und so oft gestellte und behandelte Frage: »Existiert Gott?« eine zutiefst un-
klare und missverständliche Frage ist.

3.2.2 Die umfassendste philosophische Thematik: die absolut universale


Seinsdimension als die Dimension des Seins als solchen und im Ganzen
Mit der Erschließung der universalen Dimension des primordialen Seins ist
zwar ein entscheidender Schritt getan, der aber nicht die Endetappe der phi-
losophischen Möglichkeiten und Aufgaben bedeutet; denn jetzt drängt sich
erst recht die Frage auf, wie diese Dimension näher zu begreifen ist. Das ist
nun ein ganz großes, ja das größte Thema der Philosophie gewesen und ist es
noch heute bzw. es sollte (wieder) werden. Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, hat
Heidegger in dieser Hinsicht eine epochale Leistung vollbracht, allerdings mit
völlig unzureichenden theoretischen Mitteln und mit einem nicht akzeptier-
baren Ergebnis. Die folgende Darstellung ist eine Kurzzusammenfassung der
Konzeption, die im Buch des Verfassers Struktur und Sein ihre systematische
Darstellung erfahren hat (vgl. SuS 5.2).

50  Vgl. dazu beispielsweise: A. Keller, Sein oder Existenz? Die Auslegung des Seins

bei Thomas von Aquin und in der heutigen Scholastik, 1968.


198 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

In diesem Abschnitt ist zunächst zu zeigen, dass die absolut universale


Dimension für das Denken als die Dimension des Seins als solchen und im
Ganzen zu konzipieren ist. Es sei dazu bemerkt, dass die Bezeichnung ›Seins-
dimension (bzw. Dimension des Seins)‹ als eine erste, noch anfängliche Prä-
zisierung und Abgrenzung des Ausdrucks ›Sein‹ intendiert ist. ›Dimension‹
meint nichts Bestimmtes, nicht so etwas wie »Bereich« u. dgl.

[1] Zuerst sei die Frage gestellt und behandelt, ob diese ursprüngliche, um-
fassende Einheit oder Dimension als ein explizites Thema der philosophi-
schen Theoriebildung betrachtet werden kann. Darauf wird hier die Antwort
gegeben: Die Thematisierung dieser ursprünglichen Dimension ist nicht nur
möglich, sondern sie ist auch unverzichtbar. Der Grund liegt darin, dass diese
große Möglichkeit bzw. Aufgabe einfach zu den Potentialitäten des mensch-
lichen Geistes gehört. Im voraus zu deklarieren, dass eine solche Theoriebil-
dung nicht möglich ist, ist eine gegenstandslose und dogmatische Behauptung.
Auf den Versuch kommt es an.
In der Philosophiegeschichte wurde die universale Dimension, die Seins-
dimension, mit verschiedenen Bezeichnungen belegt. Es ist zu beachten, dass
man dabei nicht genau den Sinn im Auge hatte und hat, der in den obigen
Ausführungen herausgearbeitet wurde. Meistens war bzw. ist eine »objekti-
vistische« Perspektive leitend gewesen, während der hier verfolgte Ansatz viel
radikaler und umfassender ist, insofern er die Dimension des primordialen
Seins als die ursprüngliche und umfassendste Einheit sowohl der ganzen »per-
spektivischen«  –  also der sprachlich-logisch-begrifflich-semantischen oder
kurz: theoretischen / strukturalen  –  Dimension als auch der Dimension der
Welt als des objektiven Seins auffasst und explizit thematisiert.
[i] Auf die außerordentlich lange und komplexe Geschichte der in dieser
Hinsicht unternommenen Versuche und deren Ergebnisse kann in diesem
Buch nicht eingegangen werden. Es soll nur in globaler Hinsicht auf die heu-
tige Situation kurz Bezug genommen werden. Man kann diesbezüglich zwei
»Richtungen« oder »Einstellungen« ausfindig machen. Die eine orientiert
sich an der großen metaphysischen Tradition mit betonter – negativer oder
positiver  –  Bezugnahme auf Heideggers Seinsdenken. Wie stark und ver-
sprechend diese Richtung / Einstellung ist, ist schwer zu beurteilen. Sie wurde
in Kapitel 2 ausreichend charakterisiert und soll hier nicht wieder oder weiter
behandelt werden.
[ii] Die andere Richtung / Einstellung ist die heutige analytische Philoso-
phie. Die in der Gegenwart gepflegte analytische Ontologie kann kaum als
eine Seinsphilosophie bezeichnet werden; sie ist grundsätzlich eine Philosophie
von Seienden bzw. von Seinsbereichen. Sie erschöpft sich in der Behandlung
von Einzelthemen, stellt aber nicht die Seinsfrage, wie diese in diesem Buch
verstanden wird. Das sei im folgenden durch zwei Hinweise kurz erhärtet.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 199

[a] Quine, der die Richtung der analytischen Ontologie wie wenige beein-
flusst hat, schreibt:
»Es war jüngst und ehedem in der Philosophie recht gebräuchlich, zwischen Sein als
dem weitesten Begriff und Existenz als dem engeren zu unterscheiden. Diese Unter-
scheidung stammt nicht von mir; ich will mit ›existiert‹ alles erfassen, was es gibt, und
solcherart ist auch die Bedeutung des Quantors.«51

Nach der somit artikulierten Identifizierung von »Existenz« und »Sein« hat
er über Existenz (und damit über Sein) folgendes zu sagen:
»Existenz ist, was durch die Existenzquantifikation ausgedrückt wird. Es gibt Dinge
der Art F genau dann, wenn (∃x)Fx. Dies ist so wenig hilfreich wie bezweifelbar, da ja
gerade die symbolische Schreibweise der Quantifikation von vornherein so erklärt ist.
Es ist eben eine Tatsache, dass es unvernünftig (unreasonable) ist, den Existenzbegriff
in einfacheren Begriffen explizieren zu wollen. Es gelang uns, die singuläre Existenz
›a existiert‹ zu explizieren: nämlich als ›(∃x) x = a‹. Aber die Explikation des Existenz-
quantors ›es existiert / gibt‹, ›es existieren‹ seinerseits, die Explikation der allgemeinen
Existenz, ist eine hoffnungslose (forlorn) Sache.«52

Quines »Explikation« ist eindeutig zirkulär: »Existenz« wird unter Rekurs


auf den »Existenzquantor« expliziert, aber der »Existenzquantor« seiner-
seits wird verstanden oder interpretiert unter Rekurs auf »Existenz«. Quine
behauptet, es sei eine Tatsache (!), dass es unvernünftig (unreasonable) ist,
Existenz mit Hilfe »einfacherer Terme« explizieren zu wollen. Aber eine
Explikation muss nicht mit Hilfe »einfacherer Terme« erfolgen, sondern sie
wird schon dadurch geleistet, dass ein bestimmter Term in jenem gesamten
semantisch-ontologischen »Umfeld« situiert wird, zu welchem er gehört.
Quine jedoch versäumt es, gerade nach diesem »Umfeld« zu fragen. Die Be-
hauptung, es sei eine »hoffnungslose Sache« nach der »allgemeinen Existenz«
zu fragen, ist schlicht eine willkürliche und dogmatische Behauptung.
Anschließend sei die Position eines der bekanntesten analytischen Onto-
logen der Gegenwart kurz analysiert: Peter van Inwagen. In einer Rezension
des Buches The Four-Category Ontology. A Metaphysical Foundation for
Natural Science (2006) eines anderen analytischen Ontologen, nämlich E. J.
Lowe, schreibt P. van Inwagen:
»Er [Lowe] hat nichts zu sagen über das, was Sein ist, über das, was es für etwas heißt,
dass es ist oder existiert. […] Ich würde darauf insistieren, die Frage ›Was ist Sein‹
müsse irgendwo in der Philosophie auftauchen, and die Ontologie scheint ein guter
Platz dafür zu sein.«53

Das scheint auf den ersten Blick eine sehr verheißungsvolle und programma-
tische Äußerung bzw. Frage zu sein. Die Realität sieht völlig anders aus, wenn
51  W. O. Quine, Ontologische Relativität und andere Schriften, 1975, 139.
52  Ebd. 135 (modifizierte Übers.; Kursiv nicht im Original).
53  Times Literary Supplement, January 12, 2007, 23.
200 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

man die Frage stellt, was für eine Antwort van Inwagen selbst auf die Frage
gibt, die er selbst formuliert. Wenn der im vorliegenden Buch entwickelte An-
satz einen Sinn hat, dann ergibt sich daraus, dass van Inwagens Antwort nichts
diesbezüglich Relevantes artikuliert, dass sie im Gegenteil die Frage selbst
überhaupt nicht als solche anerkennt und noch weniger behandelt; vielmehr
wird diese Frage auf einige andere »kleine« Fragen reduziert, die im Kontext
der Verwendung der Ausdrücke ›Existenz‹ und ›Sein‹ auftauchen. Das wird
deutlich, wenn man seine zentralen Aussagen in seinem 2009 publizierten
Artikel »Being, Existence, and Ontological Commitment«54 analysiert. Dieser
Artikel ist eine Art Zusammenfassung seiner in vielen anderen Arbeiten in
vielfacher Weise vorgelegten Konzeption. Er erklärt: »Die in diesem Artikel
präsentierte Meta-Ontologie ist im Wesentlichen identisch mit der Kon-
zeption Quines.«55 Und er fasst eine solche Konzeption in fünf Thesen zu-
sammen.
1. These: Sein (Being) ist nicht eine Aktivität (activity). Dabei bleibt es
sehr unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Jedenfalls versteht er unter
»Aktivität« »die allgemeinste Aktivität«, die etwas (ein Ding …) vollziehen
(exerzieren) kann. Und der Sinn scheint zu sein, dass »Sein« mit einer solchen
Aktivität nicht identifiziert werden kann. Er scheint die Distinktion zwischen
dem Sein eines Dinges und der Natur dieses Dinges verwerfen zu wollen,
indem er im Anschluss an J. L. Austin u. a. so argumentiert: »Es ist klar, dass
man diese allgemeinste Aktivität nicht vollziehen (exerzieren, engage in) kann
(vorausgesetzt, es gibt eine solche Aktivität), es sei denn, man ist [schon].«56
Aber diese Argumentation klärt überhaupt nichts; denn es stellt sich sofort
die Frage, was denn das letzte kleine Wort ›ist‹ bedeutet.
2. These: Sein ist dasselbe wie Existenz. Das ist in der Tat eine der zentralen
Thesen Quines.
3. These: Existenz ist univok (d. h. das Wort ›Existenz‹ hat immer und
durchgehend dieselbe Bedeutung).
4. These: Der spezifische (single) Sinn von Sein oder Existenz ist derjenige,
der durch die Existenzquantifikation erfasst wird. Das ist die zentralste These
der Ontologie Quines.
5. These: Diese These ist eine Globalthese: nach van Inwagen ist sie eine
Menge von zusammenhängenden Thesen, die sich auf Quines große These
über »die ontologische Verpflichtung (ontological commitment)« beziehen.
Die Globalthese versteht sich als eine Reihe von Regeln zur Führung eines on-
tologischen Disputs, d. h. über die Frage: »Was gibt es?«. Diese Regeln leiten
sich aus den ontologischen Implikationen der in einer Theorie quantifizierten
54  in: D. J. Chalmers/D. Manley/R. Wasserman (Hrsg.). Metametaphysics. New

Essays on the Foundations of Ontology, 2009, 472–506.


55  Ebd. 475.
56  Ebd. 477.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 201

Aussagen (Behauptungen) ab; diese ihrerseits ergeben sich aus folgendem


ontologischen Kriterium:
»Als Entität angesehen zu werden, heißt schlicht und einfach, als Wert einer Variablen
angesehen zu werden. […] [Wir haben] jetzt einen expliziten Standard […], nach dem
wir entscheiden können, auf welche Ontologie eine bestimmte Theorie oder Diskurs-
form festgelegt ist: Eine Theorie ist auf die und nur die Entitäten festgelegt, auf welche
die gebundenen Variablen der Theorie referieren können müssen, damit die Aussagen
der Theorie wahr sind.«57

Dieses Kriterium wurde später verkürzt zum bekannten Slogan: »Zu sein
[existieren] bedeutet, der Wert einer gebundenen Variablen zu sein (To be is
to be the value of a bound variable).«
Fragt man, wie die total an Quine angelehnte »Antwort« van Inwagens auf
die Frage »Was ist Sein?« philosophisch zu bewerten ist, so dürfte die Antwort
kaum anders lauten als: Sie leistet kaum etwas in dieser Hinsicht, genauer:
grundsätzlich leistet sie überhaupt nichts; im Gegenteil, der Frage wird aus-
gewichen. In dieser Hinsicht ist Quine eher ein Philosoph, der nichts vor-
täuscht. Wie sein Stand hinsichtlich dieser Frage ist, sagt er unverblümt. Aus
seiner von van Inwagen referierten These über das Verhältnis von Existenz
und Existenzquantor zieht er eine klare Konsequenz: »[D]ie Explikation
der allgemeinen Existenz ist eine hoffnungslose (forlorn) Sache.« (Siehe Zitat
oben.)
Was für Lowe und van Inwagen gilt, trifft allgemein auf die analytische Phi-
losophie bzw. Ontologie im Ganzen zu. Diese Feststellung sei im folgenden
durch kurze Hinweise auf einen zweiten Punkt illustriert und erhärtet.
[b] Dieser zweite Punkt ist eine für die Thematik dieses Buches überaus
interessante Diskussion, die in der gegenwärtigen analytischen Philosophie
über »absolute Allgemeinheit oder Universalität (absolute generality, uni-
versality)« geführt wird.58 Unter diesem Begriff wird in dieser Diskussion in
charakteristischer Weise »absolut alles, was ist oder was es gibt (absolutely
everything there is)« verstanden. Das ist eine sehr unbestimmte Generalaus-
sage. Aber in der analytischen Philosophie wird sie sofort mit dem logischen
Instrumentarium präzisiert, das in dieser Philosophie die absolut unentbehr-
liche Artikulationsbasis für alles bildet: die Prädikatenlogik oder Quantoren-
logik (vor allem erster Stufe) zusammen mit der Mengenlehre. Damit steht
das beherrschende Instrument der Quantifikation, in diesem Fall der All-
quantifikation, zur Verfügung: Verwendet wird dafür der All‑ oder Univer-
salquantor: für alle x oder für jedes x: … x …; symbolisch: ∀x(… x …), z. B.:
57  W. V. Quine, »Was es gibt«, in: Von einem logischen Standpunkt, 1979, 9–25; Zit.

19–20.
58  Der von A. Rayo und G. Uzquiano herausgegebene Band Absolute Generality,

2006/2009, enthält dreizehn Beiträge der wichtigsten an der Diskussion beteiligten Logi-
ker und Philosophen.
202 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Jede Entität (oder jedes Seiende) ist mit sich selbst identisch: ∀x(x=x). (Das
ist ein Beispiel mit einem besonderen Prädikat, genauer: mit der besonderen
zweistelligen Prädikatenkonstante »Identität«, die normalerweise als eine
Erweiterung der Prädikatenlogik gilt, weswegen gesagt wird: Prädikatenlogik
oder Quantorenlogik erster Stufe mit Identität.)
Der Quantor ist ein Operator, der Variablen bindet. Gebundenen Varia-
blen entsprechen Werte. Im Falle der Prädikaten‑ bzw. Quantorenlogik erster
Stufe bilden die Werte der gebundenen Variablen einen Bereich (domain). Ein
Allquantor kann nun einen eingeschränkten Bereich oder einen, genauer: den
absolut universalen Bereich als das Gesamt der Werte haben. »Alle Menschen
sind sterblich« ist ein Satz, dem ein eingeschränkter Allquantor vorangestellt
ist. Formalisiert (›M‹ für ›Mensch‹, ›S‹ für ›sterblich‹): ∀x(Mx → Sx). Im obigen
Beispiel ∀x(x = x) ist der Allquantor ein absolut uneingeschränkter Quantor,
ein absoluter Universalquantor. Es ist zu beachten, dass in der (durch Forma-
lisierung erreichbaren) genauen Artikulation eines eingeschränkten Quantors
immer ein Konditional vorkommt, der die Einschränkung bezeichnet: (Für
alle x), wenn x ein Mensch ist, dann … (d. h. wenn x ein Element des Bereichs
»Menschen« ist, dann …).
Die Frage, über die heute diskutiert wird und die für die Thematik dieses
Buches von Bedeutung ist, lautet: Was ist der Bereich des absolut uneinge-
schränkten Universalquantors? Diesbezüglich gehen die Meinungen der
Logiker und Philosophen weit auseinander. Wie in der Einleitung des zuletzt
erwähnten Buches gezeigt wird, stellen sich diesbezüglich zwei große Fragen:
Erstens, die metaphysische Frage: Gibt es oder einfach: »ist« ein all-inklusiver
oder all-umfassender Bereich des Diskurses (Is there an all-inclusive do-
main of discourse)? Zweitens, die Verfügbarkeitsfrage (availability question):
Könnte uns ein all-inklusiver oder all-umfassender Bereich des Diskurses als
ein Bereich der Erforschung verfügbar sein?59 Im folgenden wird fast aus-
schließlich die erste Frage betrachtet.
Die im Rahmen der »normalen« analytischen Philosophie gemachte Vo-
raussetzung oder Annahme dürfte so zu formulieren sein: Um die Quantifi-
kation zu verstehen, müssen wir ihren Bereich als ein Objekt verstehen, das
in irgendeiner Weise alle in ihm enthaltenen Objekte umfasst. R. Cartwright
nannte dieses Prinzip »das All-in-Einem-Prinzip (All-in-One Principle)«
und charakterisierte es so: »Das allgemeine Prinzip scheint das folgende
zu sein: über bestimmten Objekten quantifizieren heißt voraussetzen, dass
diese Objekte eine ›Kollektion (collection)‹ oder eine ›vollständige Kollek-
tion‹ sind – gewissermaßen ein Ding, das diese Objekte als seine Mitglieder
(members) hat.«60 Damit wäre dieses »Ding« nichts anderes als eine Menge,

59  Vgl. ebd. 2.


60 
R. Cartright, »Speaking of Everything«, 1994, 7.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 203

was genau der berühmten Charakterisierung (oder informalen Definition)


einer Menge durch G. Cantor entspricht: »Unter einer ›Menge‹ verstehen wir
jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten
m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ›Elemente‹ von M
genannt werden) zu einem Ganzen.«61
Diese Annahme erzeugt aber jene Antinomie, die als die Russellsche
Antinomie bekannt ist. Die postulierte universale Menge wäre die Menge,
die sich nicht selbst als Element enthält, also (mit ›R‹ für diese universale
Menge): R := {x|x ∉ x} oder kurz: R ∉ R. Wenn nun R sich nicht selbst
enthält, dann erfüllt R doch die Mengeneigenschaft: Indem sie nämlich sich
selbst nicht enthält, ist sie Element jener Menge, die sich nicht selbst enthält
und damit ist sie doch Element ihrer selbst – entgegen der Annahme. Man
nehme nun das Gegenteil an, so dass R sich selbst enthält; dann aber erfüllt
R doch nicht die Mengeneigenschaft – entgegen der Annahme: Indem sie sich
nämlich enthält, ist sie nicht Element der Menge, die sich nicht selbst enthält.
Es ergibt sich also die Antinomie: R ∈ R ↔ R ∉ R. Es ist zu bemerken, dass
zur Ableitung dieses Widerspruchs rein logische Mittel, keine Axiome und
Sätze der Mengenlehre benutzt werden. Der Widerspruch ergibt sich aus der
Annahme bzw. Anwendung des sogenannten »naiven« Komprehensions-
prinzips: ∃y∀x(x ∈ y ↔ ϕ(x), wobei ϕ(x) eine Formel ist, die ›y‹ nicht frei
enthält.
Es gibt viele Versuche, diese Antinomie zu lösen. Außer rein logischen,
werden auch semantische und pragmatische Gesichtspunkte in Betracht ge-
zogen. Darauf wird hier aus einem einfachen Grund nicht näher eingegangen:
Auch dann, wenn es gelänge, eine Lösung zu finden, mit dem Resultat,
dass dann gesagt werden könnte, wie der universale Bereich zu konzipieren
wäre, hätte dies, wie kurz zu zeigen sein wird, in einer bestimmten (noch zu
erläuternden) Hinsicht kaum eine Bedeutung für die große Thematik dieses
Buches. Dadurch wird in keiner Weise in Abrede gestellt, dass die Lösung
dieser Frage eine große Bedeutung für andere Fragestellungen hat.
Bevor das aber gezeigt wird, ist noch zu bemerken, dass eine ähnliche
Antinomie entsteht, wenn nicht nur rein logische Mittel, sondern auch men-
gentheoretische Axiome angewandt werden. Dabei geht es um das Potenz-
mengenaxiom, dass besagt: Für jede Menge M gibt es eine Menge P, deren Ele-
mente genau die Teilmengen von M sind. Nun aber zeigt Cantors berühmtes
Diagonalverfahren, dass die Potenzmenge jeder Menge größer ist als diese
Menge selbst; mit anderen Worten, die Kardinalität der Potenzmenge ist
größer als die Kardinalität der Menge selbst. Das hat zur Konsequenz, dass

61  G. Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre«, 1895/1932,


282.
204 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

es nicht gelingen kann, die universale Totalität selbst zu »bestimmen«. Die


Konsequenzen dieses Sachverhalts für die Philosophie hat P. Grim in seinem
Buch The Incomplete Universe62 ausführlich dargelegt. Darauf kann hier nicht
eingegangen werden. Der interessierte Leser sei auf das Buch des Verfassers
Struktur und Sein verwiesen.63
Die in diesem Buch anvisierte ursprüngliche universale Dimension des Seins
kann in keiner Weise als so etwas wie ein Objekt oder ähnlich konzipiert
werden. Sowohl die Prädikatenlogik als auch die Mengentheorie sind über-
haupt nicht geeignet, diese ursprüngliche Dimension zu explizieren. Es seien
die zwei Hauptgründe genannt, auf die sich diese Behauptung stützt. Erstens
setzen die Prädikatenlogik sowie die Mengentheorie eine Ontologie von Ob-
jekten (Substanzen) und Eigenschaften / Relationen voraus. (Hier wäre auch
die heutige Mereologie zu nennen, was aber hier nicht weiter erläutert wird.)
Eine solche Ontologie ist unhaltbar, wie schon oben gezeigt wurde. Aber auch
unter der Voraussetzung, dass sie haltbar wäre, hätte man es mit einer Dis-
ziplin zu tun, die sich nur mit Objekten oder, wie jetzt gesagt werden kann
und muss, nur mit Seienden, in keiner Weise aber mit dem Sein im ursprüng-
lichen Sinne befasst.
Zweitens muss darauf geachtet werden, dass die ganze Problematik bezüg-
lich des universalen Bereichs mit rein extensionalen Begriffen artikuliert wird.
Gemäß der Standardinterpretation der Prädikatenlogik wird ein Prädikat als
eine Menge verstanden; genauer: ein einstelliges Prädikat bezeichnet eine
Eigenschaft, und diese wird als die Menge der Dinge bestimmt, auf die das
Prädikat Anwendung findet; im Fall des mehrstelligen Prädikats handelt es
sich um eine Relation, wobei diese als die Menge der Tupel von Objekten
verstanden wird, auf die das mehrstellige Prädikat angewandt wird. Das
(ein‑ bzw. mehrstellige) Prädikat bezeichnet keine Entität im eigentlichen
Sinne (ein Attribut in der intensionalen Deutung des Prädikats), vielmehr hat
es nur eine Extension. Aber hier beginnen die eigentlichen philosophischen
Fragen. Was ist eigentlich eine »Extension«? Die rein mathematische bzw. nu-
merische Bestimmung ist keine Antwort auf die Frage, wie die verschiedenen
»Objekte« zusammen-hängen. Der Zusammenhang der Entitäten, die hier
»Objekte« genannt werden, bleibt völlig unexpliziert. So bleibt auch die rein
prädikatenlogisch gedeutete absolute Allgemeinheit bzw. Universalität als der
allgemeinste/universalste Zusammenhang völlig ungedacht und unartikuliert.

[2] Im Gegensatz zu der/den kurz charakterisierten analytischen Richtung(en)


sieht die struktural-systematische Philosophie die größte Thematik und Auf-
gabe darin, eine Seinstheorie zu entwickeln. Und sie versteht die Seinstheorie

62  The Incomplete Universe, 1991.


63 
Vgl. SuS, Abschnitt 5.2.2, 562–574.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 205

näher als die Theorie des Seins als solchen und des Seins im Ganzen. Vor dem
Hintergrund der langen Ausführungen besonders über Heidegger in Kapitel 2
dürfte diese doppelte Differenzierung und Präzisierung grundsätzlich und
programmatisch verständlich sein. Das Sein muss sowohl in seiner Eigenheit
als Sein als auch in seiner Totalität begriffen werden, d. h. in seiner Bestimmt-
heit, dass es alles und jedes, also alle Seienden, welcher Art auch immer,
umfasst. Die zweite Qualifikation dürfte, so weit man sie nur ganz allgemein
versteht, unmittelbar und intuitiv weitgehend einleuchten. Ganz anders ver-
hält es sich mit der ersten Qualifikation, ungeachtet des Umstands, dass sie
in verschiedenen Formen in der Geschichte der Metaphysik anzutreffen ist.
Darauf wird im Abschnitt 3.3 einzugehen sein
Eine Seinstheorie ist nur dann adäquat, wenn sie im Sinne der erläuterten
doppelten Differenzierung und Qualifikation verstanden wird. Das dürfte
einer der wichtigsten Lektionen sein, die man aus Heideggers lebenslanger
Beschäftigung mit der »Seinsfrage« ziehen muss.

[3] Welche Art von Fragen können sinnvollerweise im Hinblick auf das Sein
als solches gestellt werden? Die natürliche Tendenz sowohl im alltäglichen
Leben als auch in der Philosophie führt dazu, dass man hier wie selbstver-
ständlich die Frage stellen würde: Was ist das Sein als solches? Das scheint eine
klare und sinnvolle Frage zu sein. Aber wenn die Philosophie etwas leisten
können sollte, dann dies: Fragen, die auf den ersten Blick und gemäß dem
gesunden Menschenverstand einleuchtend und selbstverständlich sind, zu
hinterfragen. Dazu gehören ganz besonders Fragen der Form: »Was ist …?«.64
Es kann kein Zweifel bestehen, dass viele Fragen dieser Form sehr sinnvoll
sind, wie etwa: Was sind Atome? Was ist Erkenntnis? Fragen dieser Form
sind im allgemeinen dann sinnvoll, wenn sie eine Antwort erwarten lassen, die
etwas artikuliert, was das Erfragte von anderen »Dingen« unterscheidet, die
explizit angegeben werden können. Das ist aber nicht der Fall, wenn die Frage:
»Was ist das Sein?« gestellt wird. Wovon sollte sich »das Sein« unterscheiden?
Wohl nur vom »Nichts«. Aber »das Nichts« ist ein limiting concept, ja sogar
noch radikaler: ein unechter, weil total negativer »Begriff«. Die Frage: »Was
ist das Sein (die Seinsdimension)?« ist also keine sinnvolle Frage.
Welche Fragen können oder sollen dann hinsichtlich der Seinsdimension
gestellt werden? Es sind wohl Fragen der Form: Wie ist »Sein« zu verstehen,
zu explizieren? Aber man kann eine Frage auch so formulieren: Als was ist das
Sein zu begreifen? In diesem Fall hat das »was« nicht dieselbe Bedeutung und
dieselbe Konnotationen wie »was« in der Frage »Was ist das Sein?«, vielmehr ist
es nur die Anzeige des Explicans von »Sein«. Und damit ist auch das Verfahren

64  Vgl. dazu die eigenwilligen, aber doch sehr bemerkenswerten Überlegungen Hei-

deggers in seiner kleinen Monographie: Was ist das – die Philosophie?, 1956.


206 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

angedeutet, das bei einer Theorie des Seins das adäquate Verfahren ist: die Ex-
plikation. Aber dieses Wort bzw. dieser Begriff muss sorgfältig erklärt werden.

3.2.2a Exkurs 2: Der nicht konklusive »ontologische Gottesbeweis« und seine


unexplizierten Voraussetzungen: ein misslungener Versuch, die ursprüngliche
universale Seinsdimension zu artikulieren
An dieser Stelle dürfte es angebracht sein, einen Vergleich zwischen der oben
durchgeführten Erschließung der ursprünglichen universalen Seinsdimension
und dem berühmten »ontologischen Gottesbeweis« anzustellen. Der Vergleich
kann in signifikanter Weise dazu beitragen, sowohl den Status der vorgelegten
Erschließung als auch den Status des traditionellen Beweises zu verdeutlichen.
Im Fall des ontologischen Gottesbeweises ist dies gleichbedeutend mit dem
Aufweis, dass diesem Beweis in gewisser Weise eine interessante und bedeut-
same »Intuition« zugrunde liegt, die aber im Beweis selbst eine total missver-
standene Artikulation erfährt. Der explizite Beweis beruht auf Voraussetzun-
gen, die unexpliziert bleiben und die, wenn sie expliziert werden, den Beweis ut
jacet als nicht-konklusiv im folgenden Sinn erscheinen lassen: Aus Prämissen,
die auf Missverständnissen und Konfusionen beruhen, wird eine missverstan-
dene und ungerechtfertigte Konklusion gezogen. Das sei im folgenden gezeigt.

[1] Zunächst aber ist zu bemerken, dass hier eine gründliche Analyse des Argu-
ments in historischer Hinsicht nicht beabsichtigt ist; auch die schon immense,
aber immer noch wachsende Literatur über den Beweis kann hier nicht berück-
sichtigt werden. Schließlich werden auch die zahlreichen, teilweise sehr scharf-
sinnigen Formalisierungen des Beweises außer Acht gelassen. Der Grund für
diese Vorgehensweise ist zum einen der sehr enge Raum, der diesem Beweis in
diesem Buch gegeben werden kann, zum anderen – und vor allem – der Um-
stand, dass die hier vorzulegende kritische Interpretation nur den zentralen
Gedanken und dessen Voraussetzungen zu betrachten braucht.
Zu klären ist an erster Stelle eine Voraussetzung des Beweises, die zwar
aus der Perspektive der in diesem Buch schon vorgelegten Kritik der Gottes-
beweise von großer Bedeutung ist, die aber im Hinblick auf die im folgenden
anzustellenden Überlegungen nur kurz erwähnt und kommentiert, nicht
aber weiter verfolgt zu werden braucht. Sowohl Anselm von Canterbury,
von dem die erste und maßgeblich gewordene Fassung des Beweises stammt,
als auch alle Rekonstruktionen und Varianten des Beweises sprechen wie
selbstverständlich von einem Gottesbeweis. Gemäß der in diesem Buch schon
teilweise dargelegten und in den weiteren Teilen des Buches noch weiter dar-
zustellenden Konzeption handelt es sich aber nicht um einen Gottesbeweis.
Ein Beweis sollte eine Bezeichnung erhalten, die das kurz ausdrückt, was in
der Konklusion des Beweises formuliert wird. Demnach ist der Amselmsche
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 207

Beweis, strenggenommen, kein Gottesbeweis, sondern, wie noch zu zeigen


ist, ein Beweis der Existenz von »etwas, über das hinaus Größeres nicht
gedacht werden kann (aliquid quo nihil maius cogitari possit)«. Es ist aber
verständlich, dass man immer von einem Gottesbeweis gesprochen hat und
spricht, da Anselm selbst am Anfang seines berühmten Textes im voraus zu
seinem Argument Gott als »etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht
werden kann« »definiert«.
Damit unterscheidet sich Anselm von Thomas von Aquin, der erst im nach-
hinein, nach der Durchführung jedes der fünf »Beweise«, von der jeweiligen
erreichten Konklusion (dem ersten Beweger, der ersten Ursache …) sagt:
»Und das (d. h. die jeweilige Konklusion) nennen alle Gott.«65 Es wurde in
Kapitel 1 gezeigt, dass dies bei Thomas einen methodologischen Fehler dar-
stellt. Dasselbe müsste man auch vom Anselmschen Vorgehen sagen. Konkret
gesprochen: Dass auf Gott das Prädikat »etwas, über das hinaus Größeres
nicht gedacht werden kann« angewandt wird, kann nur besagen, dass Gott
das durch dieses Prädikat ausgedrückte Attribut zukommt. Da Gott – gerade
gemäß den Auffassungen von Anselm und Thomas – viele Attribute hat, kann
man Gott nicht einfach mit diesem einen Attribut identifizieren  –  mit der
Konsequenz, dass man ihn auch nicht so definieren kann. Doch auf diese Pro-
blematik bzw. Thematik soll hier nicht weiter eingegangen werden. Anvisiert
wird hier lediglich der Beweis als solcher, d. h. der Beweis hinsichtlich seiner
Prämissen und seiner Konklusion.

[2] Da hier weder eine detaillierte Rekonstruktion noch eine eingehende


Kommentierung intendiert sind, genügt es, zunächst den Originaltext des
eigentlichen Arguments anzuführen und anschließend die Zentralprämissen
und die Konklusion zu analysieren.
In Kapitel II des Proslogion von Anselm von Canterbury heißt es:
»Dass Gott wahrhaft ist.
[…]
»[Gott ist] etwas […], über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.
[…]
[G]erade auch der Tor, wenn er das vernimmt, was ich aussage als etwas, über das
hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, versteht gewiß das, was er vernimmt;
und was er versteht, ist in seinem Verstande, auch wenn er nicht versteht, daß es ist/
existiert.
Denn es ist eines, daß etwas im Verstande ist, ein anderes, zu verstehen, daß etwas
ist/existiert. […]
Also sieht auch der Tor als erwiesen an, daß etwas, über das hinaus nichts Größeres
gedacht werden kann, zumindest im Verstande ist, weil er das, wenn er es vernimmt,
versteht und weil alles, was verstanden wird, im Verstande ist.

65 
STh I q. 2 a. 3.
208 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Und gewiß kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann,
nicht allein im Verstande sein. Denn wenn es auch nur allein im Verstande ist, kann
gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit ist/existiert, was größer ist.
Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, allein im Ver-
stande ist, ist eben das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, eines,
über das hinaus Größeres gedacht werden kann.
Das aber ist doch unmöglich der Fall.
Es ist also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann,
sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit.«66

In Kapitel III entwickelt Anselm eine noch detailliertere Argumentation


unter dem Titel »Daß sein Nicht-Sein nicht gedacht werden kann [quod non
possit cogitari non esse]«. Die wesentlichen Schritte werden so formuliert:
»Daß sein [Gottes] Nicht-Sein nicht gedacht werden könnte:
Dies verhält sich fürwahr so, daß sein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden
könnte. Denn es kann gedacht werden, daß etwas ist/existiert, dessen Nicht-Sein nicht
gedacht werden könnte, was ein Größeres ist als das, dessen Nicht-Sein gedacht wer-
den kann. Wenn daher das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, als
nicht-seiend /existierend gedacht werden kann, ist eben das, über das hinaus Größeres
nicht gedacht werden kann, nicht das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden
kann, was sich nicht miteinander vereinbaren läßt. Sosehr verhält es sich darum so, dass
das etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist/existiert, daß sein
Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden könnte.«67

Die entscheidende Prämisse und ihre Begründung im ersten Text (Kapitel


II) sind in den beiden Sätzen artikuliert: »[G]ewiß kann das, über das hinaus
66 
»Capitulum II. Quod vere sit Deus. […]
[Deus est] aliquid quo nihil maius cogitari possit.
[…] sed certe ipse […] insipiens, cum audit hoc ipsum quod dico: ›aliquid quo maius
nihil cogitari potest‹, intelligit quod audit; et quod intelligit in intellectu eius est, etiam si
non intelligat illud esse. Aliud enim est rem esse in intellectu, aliud intelligere rem esse. […]
Convincitur […] etiam insipiens esse vel in intellectu aliquid quo nihil maius cogitari
potest, quia hoc cum audit intelligit, et quidquid intelligitur in intellectu est. Et certe id
quo maius cogitari nequit, non potest esse in solo intellectu. Si enim vel in solo intellectu
est, potest cogitari esse et in re quod maius est. Si ergo id, quo maius cogitari non potest,
est in solo intellectu: id ipsum quo maius cogitari non potest, est quo maius cogitari potest.
Sed certe hoc esse non potest. Existit ergo procul dubio aliquid quo maius cogitari non
valet, et in intellectu et in re.«
(Text nach der Ausgabe von F. S. Schmitt, S. Anselmi Cantuariensis Opera omnia,
1938–1961–1968, Tomus I, Vol. I, 101–102. Übers. nach: B. Mojsisch (Hrsg.), Kann
Gottes Nichtsein gedacht werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und
Gaunilo von Mormoutiers, 1989, 51–53 (modifizierte Übers.).
67  »Capitulum III. Quod non possit cogitari non esse.

Quod utique sic vere est, ut nec cogitari possit non esse. Nam potest cogitari esse
aliquid, quod non possit cogitari non esse; quod maius est quam quod non esse cogitari
potest. Quare si id quo maius nequit cogitari, potest cogitari non esse: id ipsum quo maius
cogitari nequit, non est id quo maius cogitari nequit; quod convenire non potest. Sic ergo
vere est aliquid quo maius cogitari non potest, ut nec cogitari possit non esse.« (Ebd.
102–103; deutsche Übers. 53–55 (modif.))
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 209

Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande sein. Denn
wenn es auch nur allein im Verstande ist, kann gedacht werden, daß es auch in
Wirklichkeit ist/existiert, was größer ist.« Und die entscheidende Prämisse im
zusätzlichen Text (in Kapitel III) lautet: »[E]s kann gedacht werden, daß etwas
ist/existiert, dessen Nicht-Sein nicht gedacht werden kann, was ein Größeres
ist als das, dessen Nicht-Sein gedacht werden kann.« Und die Konklusion,
die Anselm aus diesen Prämissen zieht, lautet: Um den damit entstehenden
Widerspruch auszuschließen, muss angenommen werden: »Es existiert also
ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann,
sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit« (Kapitel II) und: »Sosehr ver-
hält es sich darum so, dass das etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht
werden kann, ist/existiert, daß sein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden
kann.« (Kapitel III).

[3] Der entscheidende Fehler in den beiden Versionen dieses Beweises ist leicht
auszumachen: Aus »Es kann gedacht werden, dass etwas/das, über das hinaus
Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande, sondern auch
in der Wirklichkeit ist / existiert« folgert Anselm: Also ist/existiert etwas/
das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, auch in der Wirk-
lichkeit. Es geht also um einen Übergang von der Ebene oder Dimension »Es
kann gedacht werden dass …« zur Ebene / Dimension »Es ist/existiert …«.
Da Anselm zwischen den beiden Ebenen / Dimensionen streng unterscheidet
und da seine Argumentation sich explizit auf der Ebene/Dimension »es wird
gedacht dass …/es kann gedacht werden dass …« bewegt, kann er nicht von
der einen einfach zur anderen übergehen. Zu sagen: »Es kann gedacht werden,
dass ›das/etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann‹ nicht
nur im Verstande, sondern auch in der Wirklichkeit ist/existiert« heißt immer
noch nur, dass ein Gedanke oder ein Sachverhalt gedacht wird.
Man kann jetzt ganz deutlich zeigen, was beim »ontologischen Gottes-
beweis« vor sich geht: Anselm vergleicht zwei »Gedanken«, nämlich die
folgenden (die jeweils mit dem Operator »es wird gedacht bzw. es kann
gedacht werden dass …« artikuliert werden): (1) »Es wird gedacht dass das/
etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, im Verstande
ist/existiert«; (2) »Es kann gedacht werden dass das/etwas, über das hinaus
Größeres nicht gedacht werden kann, nicht nur im Verstande, sondern auch
in Wirklichkeit ist/existiert«. Anselm war vom »einfachen« Gedanken aus-
gegangen (nennen wir ihn den Gedanken (0)): (0) »Das/etwas, über das hinaus
Größeres nicht gedacht werden kann«. Er vergleicht (1) und (2) als zwei »Ver-
ständnisse oder Interpretationen« von (0) und stellt fest: Der in (2) artikulierte
Sachverhalt »ist größer« als der in (1) artikulierte, und macht gleich die An-
nahme: der in (0) artikulierte Gedanke wird nur dann kohärenterweise und
widerspruchsfrei gedacht, wenn er im Sinne von (2) verstanden wird. Und
210 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

von (2) schließt er direkt auf (3): »Es ist / existiert das/etwas, über das hinaus
Größeres nicht gedacht werden kann«. Hier bei (3) wird also der Operator
»es kann gedacht werden dass …« einfach fallen gelassen. Das ganze Problem
für Anselm besteht darin zu rechtfertigen bzw. zu erklären, wieso er diesen
Operator fallen lässt.
Wenn man das hoffnungslos unbestimmte und vage Wort ›größer‹ etwa
im Sinne von »umfassender« versteht, kann man Anselm problemlos kon-
zedieren, dass Satz (2) einen umfassenderen Sachverhalt ausdrückt als Satz (1).
Was aber Anselm übersieht, ist der fundamentale Umstand, dass sowohl (1) als
auch (2) Gedanken sind, und zwar im folgenden genauen Sinn: Es sind zwei
verschiedene Sachverhalte, die im Skopus der Operatoren »es wird gedacht
dass …« bzw. »es kann gedacht werden dass …« vorkommen. Um den Über-
gang zu (3) legitimerweise vollziehen zu können, müsste der Operator ›es
kann gedacht werden dass … [das / etwas, über das hinaus Größeres nicht
gedacht werden kann, in Wirklichkeit ist / existiert]« aufgegeben und der
Operator »es ist wahr dass … [das / etwas, über das hinaus Größeres nicht
gedacht werden kann, in Wirklichkeit ist / existiert]« eingeführt werden. Aber
mit welchem Recht? Diesen Schritt hat Anselm nicht getan, daher verbleibt
seine ganze Argumentation ausschließlich auf der Ebene des Skopus des
Operators »es wird gedacht dass … bzw. es kann gedacht werden dass …«.
Anselms Argumentation ist scharfsinnig – aber nicht scharfsinnig genug.

[4] Es wurde oben gesagt, dass dem Anselmschen ontologischen Beweis in


gewisser Weise eine interessante und bedeutsame »Intuition« zugrunde liegt,
die aber im Beweis selbst eine total missverstandene Artikulation erfährt. Was
damit gemeint ist, kann jetzt aufgrund eines Vergleichs mit der in diesem Buch
vertretenen systematischen Konzeption gezeigt werden.
Die Basis des Amselmschen Gedankens ist eine fraglos und in einem un-
eingeschränkten Sinn angenommene radikale Unterscheidung, die er so for-
muliert: »[E]s ist eines, daß etwas im Verstande ist, ein anderes, zu verstehen,
daß etwas existiert. (Aliud est […] rem esse in intellectu aliud intelligere rem
esse.)« Diese Dualität ist das durchgehend vorausgesetzte Grundschema des
Beweises. Die ganze Argumentation ist nichts anderes als der Versuch, aus der
einen Seite dieser Dualität auszubrechen, um die andere Seite zu erreichen.
Nun wird niemand bestreiten können, dass diese Unterscheidung nicht nur
sinnvoll, sondern sogar unvermeidbar ist; denn man kann nicht einfach davon
ausgehen, dass alles, was in unserem Denken vor sich geht, auch unmittelbarer
Ausdruck von etwas Wirklichem ist. Aber diese unbestreitbare Annahme
muss genau präzisiert werden; denn sie wird gerade in der analytischen Phi-
losophie auf beinahe totale Weise missverstanden. Sie gilt uneingeschränkt nur
in Bezug auf das Verhältnis zwischen der Dimension des Denkens und jener
Dimension, die den »objektiven Pol« des Denkens bildet, die man »die Welt«
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 211

nennen kann. Von »der Welt« als »der hinsichtlich des Denkens objektiven
Dimension« unterscheidet sich daher die Dimension des Denkens im strengen
Sinn: die Dimension des Denkens ist nicht die Dimension der Welt, auch nicht
als ein Teil oder ein Segment oder eine Dimension der »objektiven Welt«.
Die sich hier aufdrängende Frage lautet dann: Wie ist dieses Verhältnis
überhaupt möglich? Die allermeisten – vor allem analytischen – Philosophen
betrachten diese Unterscheidung und das damit gegebene Verhältnis als eine
unproblematische und unproblematisierbare Basis für alles, was man in der
Philosophie macht und machen kann. Eine solche Annahme ist inakzeptabel,
was sich in etwas polemischer Hinsicht gerade an die Adresse analytischer
Philosophen leicht erhärten lässt. Sehr viele Philosophen dieser Richtung
reduzieren jene Dimension, die hier die Dimension des Denkens genannt
wird, einfachhin auf die physikalische Welt: Geist / Denken usw. ist demnach
nur eine Dimension der physikalischen Welt. Damit wird die physikalische
Dimension als jenes Ganze betrachtet, das die Unterscheidung und das Ver-
hältnis zwischen »der Dimension Denkens« und der Dimension »der Welt«
als ein »Phänomen« in sich selbst »enthält« oder »umgreift«; aber dann ist
das, was jetzt »die physikalische Welt« genannt wird, mit »der-physika-
lischen-Welt-als-dem-hinsichtlich-des-Denkens-objektiven-Pol« nicht mehr
gleichbedeutend; vielmehr wird sie als das umfassende Ganze verstanden bzw.
vorausgesetzt, das sowohl »die Dimension des Denkens« als auch »die-Welt-
als-den-objektiven-Pol (also die »objektive Welt«) umgreift.
Diese physikalistische / materialistische Auffassung über das umfassende
Ganze wird in der struktural-systematischen Philosophie radikal abgelehnt,
und zwar aus dem allgemeinen Grund, dass diese Auffassung weder der
Dimension des Denkens noch der Dimension der »objektiven Welt« gerecht
wird. Es ist aber hochinteressant und aufschlussreich festzustellen, dass diese
(analytischen) Philosophen immer schon ein Ganzes explizit oder (meistens)
implizit annehmen. In der Tat, eine Unterscheidung und ein Verhältnis sind
nur im Rahmen eines beide umfassenden Ganzen intelligibel.
Im Hinblick auf die hier anstehende Thematik ist nun folgende Feststellung
von der größten Bedeutung: Es wäre sinnlos und sinnwidrig, die Frage auf-
zuwerfen, ob diese »Maximaldimension« des Ganzen, welche die Dimension
des Denkens (und alles, was dazu gehört) und die Dimension der »objektiven
Welt« (was in der metaphysischen Tradition »rerum natura« genannt wurde)
umfasst, nur ein Begriff/Gedanke sei oder ob es »existiere« u. dgl. Wenn man
hier noch von einem Begriff/Gedanken »der« »Maximaldimension« sprechen
will, so gibt es in diesem Fall keine Trennung mehr zwischen diesem Begriff/
Gedanken einerseits und der »Sache« andererseits; vielmehr gilt: ein solcher
Begriff/Gedanke ist immer schon die »begriffene/gedachte Sache selbst«, also
die »begriffene/gedachte Maximaldimension selbst«. In diesem Buch wird diese
»Maximaldimension« »ursprüngliche universale Seinsdimension« genannt.
212 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Dementsprechend erweist sich die in Angriff zu nehmende philosophische


Aufgabe als die Aufgabe, diese Maximaldimension, diese ursprüngliche uni-
versale Seinsdimension zu explizieren. Wie noch in den nächsten Abschnitten
dieses Kapitels zu zeigen sein wird, taucht die »Frage nach Gott« erst im
Rahmen dieser Explikation auf und wird allererst in diesem Rahmen geklärt.
Damit ist man von so etwas wie einem »ontologischen Beweis« und seinen
ungeklärten, unexplizierten und vor allem inakzeptablen Voraussetzungen
weit entfernt. Dennoch kann man im »ontologischen Beweis« – auf gewagte
Weise – den Ausdruck einer Intuition und einer Fragestellung sehen, die in
Richtung auf die in diesem Buch verfolgte Theorie des Seins als solchen und
im Ganzen weisen.
Was den Anselmschen Beweis angeht, so kann man bona fide annehmen,
dass er in gewisser Weise ein solches Ganzes anvisiert, indem er die »Dimen-
sion des Denkens (hier konkret: die Dimension des Gedankens ›das, über das
hinaus Größeres nicht gedacht werden kann‹)« und die Dimension der »Sache
(des ›Gegenpols‹ zur Dimension des Denkens, der Dimension der ›Existenz‹)«
als unzertrennliche Einheit auffasst. Man muss allerdings gleich hinzufügen,
dass ein solcher »Beweis« hinsichtlich der ursprünglichen universalen Seins-
dimension noch völlig inadäquat ist. Der Beweis artikuliert nämlich nur das/
ein Größte(s), nicht das eigentliche Umfassende. Das/ein Größte(s) lässt
immer noch das, was sozusagen »unterhalb« des/eines Größten »situiert« ist,
»außer sich«; es umfasst das »Untere, das Niedere …« überhaupt nicht. In-
sofern ist das / ein Größte(s) eine Variante des »ens supremum«, des »maxime
ens« u. dgl. Mit anderen Worten, ein solches Denken thematisiert immer nur
die Dimension des / der Seienden, nicht aber die Dimension des Seins selbst.
Im Gegensatz dazu unternimmt die struktural-systematische Philosophie
ganz entschieden eine Thematisierung der Dimension des Seins selbst. Aber
dies geschieht nicht auf der Basis von leerlaufenden Überlegungen und Ana-
lysen des Wortes ›Sein‹, sondern auf der Basis von Sachanalysen, wie sie in den
vorhergehenden Abschnitten 3.2.1–3.2.2 durchgeführt wurden.
Aus der Perspektive der vom »ontologischen Gottesbeweis« gemachten
und unexplizierten Voraussetzungen ließe sich gegen die in diesem Buch
vertretene These der ursprünglichen universalen Seinsdimension einwenden,
dass es sich zunächst nur um den Gedanken-der-ursprünglichen-universalen-
Seinsdimension handelt; ob diesem Gedanken »die Sache: ursprüngliche uni-
versale Seinsdimension« entspricht, wäre noch allererst zu »beweisen«. Die
explizite Entkräftung dieses in der Tat interessanten Einwands ist geeignet,
endgültige Klarheit über dieses große Thema bzw. diese zentrale These zu
schaffen.
Man nehme an, es handele sich nur um den Gedanken-der-ursprünglichen-
universalen-Seinsdimension, nicht um jene »Sache selbst«, die hier »die ur-
sprüngliche universale Seinsdimension selbst« genannt wird. (Man beachte,
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 213

dass man im Sinne der struktural-systematischen Philosophie hier nicht auf


naive Weise Ausdrücke wie: ›(die ursprüngliche universale Seinsdimension)
existiert oder: es gibt (die ursprüngliche universale Seinsdimension)‹ u. ä.
gebrauchen kann; denn solche Ausdrücke haben Sinn ausschließlich im
Rahmen der Unterscheidung bzw. des Verhältnisses zwischen der Dimension
des Denkens und der Dimension des (objektiven) Seins.) Dann würde das
bedeuten, dass man nur innerhalb der oder in der absoluten Immanenz
der Dimension des reinen Denkens »geblieben« wäre. Dies würde aber
weiter bedeuten, dass man nur innerhalb oder in der absoluten Immanenz
eines der beiden Pole des »großen« Verhältnisses »Dimension-des-Denkens
– Dimension-des-(objektiven)-Seins« »geblieben« wäre. Man hätte nicht
die hier gemeinte »Sache selbst« gedacht; vielmehr hätte man irgendeine
»Dimension«-nur-in‑ der-absoluten-Immanenz-der-Dimension-des-reinen-
Denkens gedacht, nicht aber jene Maximaldimension, welche sowohl die
Dimension des Denkens als auch deren Gegenpol (die Dimension des »ob-
jektiven Seins«) umfasst.
Die ursprüngliche universale Maximaldimension des Seins wird zwar
selbstverständlich gedacht, aber sie wird eben gedacht als die sowohl die
Dimension des Denkens als auch die Dimension ihres Gegenpols umfassende
Maximaldimension. Man kann diesen Sach-Verhalt kurz so ausdrücken: Die
Maximaldimension ist keine rein gedachte Maximaldimension; vielmehr ist
die Maximaldimension eine solche, die immer schon auch als eine solche
gedacht wird. Indem das Denken sich selbst und die es selbst und alles, worauf
es sich bezieht, umfassende Dimension denkt, ist es über sich selbst als reines,
in sich geschlossenes Denken hinaus.

3.2.3 Zum Begriff der »Explikation«


Der Ausdruck ›Explikation‹, vom lateinischen explicatio, wird in allen west-
lichen Sprachen verwendet, aber nicht in einheitlicher Weise. Im Deutschen
kann Explikation nicht einfach mit Erklärung identifiziert werden. ›Erklä-
rung‹ kann sowohl die semantische Erläuterung oder Analyse der Bedeutung
von Wörtern bzw. Begriffen als auch das wissenschaftliche Verfahren, das
auf Gesetze und empirische Forschungen Bezug nimmt, bezeichnen. Das
Wort ›Explikation‹ aber wird kaum im Sinne der wissenschaftlichen Er-
klärung verwendet. Ähnlich geschieht es im Englischen: Für die deutsche
›Explikation‹ wird in der Regel ›explication‹, aber für die wissenschaftliche
Erklärung ›explanation‹68 gesagt. In den anderen romanischen Sprachen wird
die jeweilige Variante des lateinischen Wortes ›explicatio‹ bzw. des deutschen
Wortes ›Explikation‹ ganz ähnlich wie das deutsche Wort ›Erklärung‹ ver-

68 
Vgl. z. B. P. Achinstein, The Nature of Explanation, 1983.
214 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

wendet, wobei für die wissenschaftliche Bedeutung dann im allgemeinen das


Epitheton »wissenschaftlich(e Explikation)« explizit beigefügt oder implizit
vorausgesetzt wird.

[1] Es ist angebracht, zuerst den Begriff der wissenschaftlichen Erklärung hier
so weit zu erklären, wie dies für die Erklärung des Begriffs der Explikation
sinnvoll und hilfreich ist. Der Ausdruck ›Erklärung‹ im streng wissenschaft-
lichen Sinn bezeichnet ein wissenschaftliches Verfahren, das auf Gesetze und
empirische Forschungen Bezug nimmt. Dies ist besonders der Fall, wenn
Erklärung als Antwort auf Warum-Fragen verstanden wird, was meistens ge-
schieht. Man kann diese Erklärung die Warum-Erklärung nennen. Dabei geht
man von einem bestimmten Phänomen oder Element (eben dem zu erklären-
den Phänomen / Element) aus, um einen Bezug dieses Phänomens/Elements
zu einem anderen (in der Regel größeren oder umfassenderen) Phänomen
oder Bereich o. ä. aufzuzeigen. Das geschieht mittels Gesetzen, die Zusam-
menhänge zwischen Phänomenen bzw. Bereichen u. ä. in allgemeiner Weise
beschreiben. Vorausgesetzt dabei ist immer eine hintergründige Dimension
(ein Bereich oder Bereiche der Natur / Welt, die Natur/Welt als ganze, der
Kosmos …) als die Dimension, innerhalb deren das zu erklärende Phänomen,
die erklärenden Faktoren und die Zusammenhänge zwischen ihnen »situiert«
sind. Aber diese Dimension wird selbst nicht thematisiert, sondern bildet eben
nur den Hintergrund.
Man kann aber mit dem Ausdruck ›Erklärung‹ auch eine etwas andere
Bedeutung verbinden, und zwar eine solche, die die Antwort auf eine andere
Frage gibt: auf eine Wie-Frage. Die so verstandene Erklärung kann kurz die
Wie-Erklärung genannt werden. Man erklärt dann etwa, wie Hurrikane ent-
stehen, wie der Lebensbereich sich entwickelt (hat), wie die Evolution vor
sich geht/gegangen ist, wie der Kosmos expandiert usw. In vielen, und zwar
meistens nicht-ontologischen, sondern eher technischen Bereichen verwendet
man dafür oft den Ausdruck ›funktionieren‹: Man erklärt, wie ein Gerät funk-
tioniert u. ä.
Im Gegensatz zur Warum-Erklärung geht man bei der Wie-Erklärung von
einem Ganzen aus, dessen innere Verfasstheit oder Strukturiertheit man ana-
lysiert; dabei wird dann klar, wie die Elemente dieses Ganzen aufeinander
bezogen sind, wie sie sich zueinander verhalten, wie dadurch das Ganze als
ein solches konstituiert ist. »Ein Ganzes« meint hier sowohl ein »kleines Gan-
zes«, wie etwa eine Maschine, ein bestimmtes physikalisches Phänomen, die
Entstehung einer bestimmten Spezies in einem bestimmten Teil des Lebens-
raums u. ä., als auch ein größeres Ganzes, wie z. B. einen ganzen Bereich (den
Bereich des Lebens, des Menschen usw.), die anorganische Natur, die orga-
nische Natur, die Natur als ganze, den Kosmos … Es ist noch anzumerken,
dass beide Erklärungsweisen oft in verschiedener Weise kombiniert werden.
3.2 Das uneingeschränkte universe of discourse 215

Der Begriff der Wie-Erklärung weist eine gewisse Nähe zum Begriff der Ex-
plikation auf, ohne dass er mit ihm identifiziert werden könnte.

[2] Um deutlich zu machen, wie der Ausdruck / Begriff »Explikation« im


Bereich der Seinstheorie verwendet wird, muss man auf einige Aspekte der
Geschichte des Terms »explicatio« hinweisen. Dieser Terminus wurde sicher
auch im »normalen« Sinn als »Auslegung«, »Erläuterung« u. ä. von Wörtern,
Texten, Begriffen usw. verwendet. Aber der Term wurde in der neuplato-
nischen Tradition als ein eminent metaphysischer Begriff gebraucht: die Welt
wurde als die Ausfaltung (ex-plicatio) des Wesens Gottes gedeutet.
Eine bemerkenswerte und für die weitere Geschichte des Terminus ent-
scheidende Aufwertung und Neuinterpretation hat dieser Gedanke bei
­Cusanus (Nikolaus von Kues) erfahren. In seinen Schriften werden die Be-
zeichnungen ›complicatio/explicatio‹69 verwendet, um das Verhältnis von Ein-
heit und Vielheit zu deuten. Die Vielheit ist die Entfaltung der Einheit, und
diese entfaltet die Vielheit in ihrer Endlichkeit. Schon in De docta ignorantia
(erschienen 1440) spielen die beiden Begriffe eine wichtige Rolle. Mit der
entfaltenden Einheit, die das Viele aus sich hervorgehen lässt, meint Cusanus
den unendlichen Gott, der die Welt an sich teilnehmen lässt:
»Daher ist die unendliche Einheit die Einfaltung von allem. Genau das besagt die Ein-
heit, die alles vereinigt. […] Gott ist daher Derjenige, der alles einfaltet (complicans),
indem alles in ihm ist. Und er ist Derjenige, der alles ausfaltet (explicans), indem er
selbst in allem ist.«70

In der Schrift De coniecturis (erschienen 1442) zeichnet sich eine neue Ent-
wicklung ab, insofern darin zum ersten Mal die Bezeichnungen complicatio/
explicatio auf den menschlichen Geist und dessen Aktivitäten angewandt
werden.
In den weiteren Schriften nehmen beide Begriffe eine zentrale Stellung im
Hinblick auf die Erkenntnisauffassung ein, und zwar so, dass die Einfaltung
als die Andeutung des Wesens des Geistes und die Entfaltung als die Mani-
festation seiner Tätigkeiten gedeutet werden; aber sie behalten ihre meta-
physische Bedeutung im Rahmen des zwischen Welt und Gott obwaltenden
Partizipationsverhältnisses. Damit wird die menschliche Erkenntnis in eine
Perspektive hineingestellt, in der sie sich selbst vor dem Hintergrund des gött-
lichen Schaffens versteht und deutet. Die Übereinstimmung zwischen dem

69  Wahrscheinlich hat Cusanus die für ihn grundlegenden Begriffe complicatio / ex-

plicatio der Schule von Chartres (Thierry von Chartres) entnommen. R. Klibansky
hat seine Abhängigkeit von Thierry von Chartres im Quellenapparat der kritischen
Ausgabe der Schrift De docta ignorantia dargelegt (vgl. Opera omnia, Bd. I).
70  »Unitas igitur infinita est omnium complicatio. Hoc quidem dicit unitas, quae omnia

unit. […] Deus ergo est omnia complicans in hoc, quod omnia in eo. Est omnia explicans in
hoc, quod ipse in omnibus.« (De docta ignorantia, Opera Omnia, Bd. I, II III)
216 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Erkennen des Menschen und dem schöpferischen Handeln Gottes wird von
Cusanus in zahlreichen Passagen beleuchtet und ausgearbeitet. Die mensch-
liche Erkenntnis kann nur im Zusammenhang mit der Schöpferkraft Gottes
verstanden werden, deren Abspiegelung sie innerhalb der endlichen Wirk-
lichkeit bildet.71
Diese Verbindung der beiden Perspektiven, der metaphysischen und der
erkenntnismäßigen (bzw. rein begrifflichen), war für die weitere Verwendung
von explicatio /Explikation entscheidend, wobei aber die zweite Perspektive
eine dominante oder sogar die ausschließliche Rolle spielte. Die typische
transzendentale Variante der zweiten Perspektive findet sich beispielsweise
bei Kant, der einfach feststellt: »Die deutsche Sprache hat für die Ausdrücke
der Exposition, Explikation, Deklaration und Definition nichts mehr, als das
eine Wort: Erklärung«. (KrV B 758) Lange nach Kant fand dann der linguistic
turn statt und mit ihm wurde die weite semantische und logische Thematik
zu einer zentralen Aufgabe für die Philosophie. Heute wird das Wort ›Ex-
plikation‹, wie schon vermerkt, fast ausschließlich in diesem Sinne und für
diesen Bereich verwendet.
Gleichwohl wird das Wort ›Explikation‹ in diesem Buch nicht nur, in ge-
wisser Hinsicht nicht einmal hauptsächlich in erkenntnismäßiger, sprachlicher
(semantischer) und logischer Perspektive, sondern vor allem in sachlich-sys-
tematischer (traditionell gesprochen: metaphysischer) Perspektive gebraucht.
Es geht um die »Erschließung« einer »Sache«, nämlich der Dimension des
primordialen Seins. Dabei wird nicht naiverweise so getan, als ob diese
»Sache« sozusagen unter völliger Abstraktion aller theoretischen Elemente
»erschlossen« werden könnte; vielmehr wird die »Sache Sein« zusammen
mit allen theoretischen Elementen artikuliert. Das heißt überhaupt nicht,
dass es sich um zwei absolut verschiedene oder gar getrennte »Dimensionen«
handeln würde (theoretische Elemente – Sache Sein); es handelt sich vielmehr
darum, der ursprünglichen Einheit beider gerecht zu werden: »Sache Sein«
sozusagen »an sich« in dem Sinne, dass sie von jedem theoretischen Element
absolut getrennt wäre, ist eine absolute Abstraktion; umgekehrt sind (die)
theoretische(n) Elemente ohne ursprünglichen Bezug zu einer »Sache« – und
letztlich zur einzigen großen »Sache, nämlich dem »Sein«  –  ebenfalls reine
Abstraktionen, ohne Sinn, d. h. ohne Inhalt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich jetzt Explikation, wie sie in diesem Buch
verstanden und praktiziert wird, näher charakterisieren. Die struktural-syste-
matische Philosophie begreift Explikation als ein analytisches/argumentati-
ves/sacherschließendes Verfahren. In der Durchführung des Verfahrens sind
alle diese drei Faktoren am Werk, aber nicht gleichmäßig: je nach Verlauf der

71  Vgl. dazu: Th. van Velthoven, Gottesschau und menschliche Kreativität. Studien

zur Erkenntnislehre des Nikolaus von Kues, 1977, 94 f.


3.3 Explikation der Seinsdimension I 217

Explikation steht manchmal der Faktor »Analyse (der sprachlichen Bedeutung


bzw. der ›Begriffe‹)«, manchmal eine bzw. die Argumentation, wieder ein
anderes Mal die abschließende Artikulation der Sache selbst im Vordergrund.

3.3 Explikation der Seinsdimension I:


Theorie des Seins als solchen

Was könnte oder sollte eine Explikation bzw. (Selbst)Explikation der Seins-
dimension zum Ausdruck bringen? Hier soll die weniger unangemessene
(weil nicht so stark vorbelastete) Bezeichnung ›immanentes Strukturmoment
oder Merkmal des Seins selbst oder der Seinsdimension‹ eingeführt werden.
Dann besteht die Aufgabe darin, im Rahmen der (Selbst)Explikation des
Seins die immanenten Strukturmomente bzw. Merkmale des Seins zum Vor-
schein zu bringen. Lassen sich aber überhaupt immanente Merkmale des
Seins angeben? Auf diese Frage ist eine positive Antwort zu geben, wie die
folgenden Ausführungen zeigen werden. Um die allgemeinsten immanenten
Strukturmomente des Seins herauszuarbeiten und zu charakterisieren, ist es
angemessen, sie als immanente Merkmale des Seins als solchen (und in diesem
Sinne als die allgemeinsten oder fundamentalsten immanenten Merkmale der
Seinsdimension) in Unterscheidung zu den Merkmalen des so oder so schon
bestimmten Seins im Ganzen (der »Seinsbereiche«) zu verstehen.
Hier soll nur eine erste Analyse und Erläuterung der allgemeinsten im-
manenten Strukturmomente in Angriff genommen werden. Um eine echte
und vollständige Theorie der Seinsdimension zu entwickeln, wäre es u. a.
nötig, die herauszuarbeitenden allgemeinsten immanenten Strukturmomente/
Merkmale in Form von allgemeinsten gesamtsystematischen Aussagen mit
strengem theoretischem Status zu artikulieren. Es handelt sich um keine
schwierige Aufgabe mehr, eher um eine Fleißarbeit. Dies ist aber in diesem
Buch nicht beabsichtigt.

[1] Es dürfte sehr hilfreich sein, zunächst auf zwei frühere Versuche hin-
zuweisen, die in gewisser Hinsicht, aber in völlig unzureichender Weise, eine
in etwa ähnliche Zielsetzung hatten.
[i] Der erste Versuch ist die in der ganzen metaphysischen Tradition, aber
speziell von Thomas von Aquin und in dessen Nachfolge, vertretene Trans-
zendentalienlehre. Auf die sehr komplexe Geschichte dieses Lehrstücks kann
hier nicht eingegangen werden.72 Hier genügt es, die sogenannten einfachen
72  Vgl. dazu umfassend: M. Pickavé (Hrsg.), Die Logik des Transzendentalen, 2003.

Vgl. auch: Jan A. Aertsen, »Die Transzendentalienlehre bei Thomas von Aquin
in ihren historischen Hintergründen und philosophischen Motiven«, 1988, 82–102; K.
Bärthlein, Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie, 1973.
218 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

(oder ursprünglichen) Transzendentalien (unum, verum, bonum [und pulch-


rum]) zu berücksichtigen. Die klassische Formulierung lautet(e): Quodlibet
ens est unum, verum, bonum [, pulchrum]: Jedes Seiende ist eines, wahr, gut
[schön]. »Pulchrum/ Schön« wurde nicht immer zu den einfachen ursprüng-
lichen Transzendentalien gerechnet.
Dazu seien hier nur zwei Bemerkungen gemacht. Erstens fällt es aus heuti-
ger Sicht auf, dass »verum /wahr« als ein Merkmal jedes Seienden betrachtet
wurde. Im Zusammenhang damit wurde in der Tradition der Metaphysik
der Begriff der ontologischen Wahrheit (veritas ontologica) vertreten. Aber
was heißt »Wahrheit« hier? Vielleicht hat Thomas von Aquin mit seinem ge-
wohnten Scharfsinn die beste Antwort darauf gegeben, allerdings eine solche,
die, strenggenommen, viele neue Fragen aufwirft. Er schreibt:
»Man findet, dass Wahrheit oder Wahres auf dreifache Weise definiert wird. Erstens
gemäß dem, was dem Sinngehalt von Wahrheit voraufgeht und worin Wahres grund-
gelegt wird. So definiert Augustinus im Buch Soliloquia: ›Wahres ist das, was ist‹, und
Avicenna im 11. Buch der ›Metaphysik‹: ›Die Wahrheit jedweden Dinges ist die Eigen-
art seines Seins, welches ihm dauerhaft eignet‹.[…] Zweitens wird das Wahre definiert
gemäß dem, worin der Sinngehalt von ›Wahres‹ seine vollendete Form erreicht. Und
so sagt Isaak [Israeli]:›Wahrheit ist die Angleichung einer Sache und des Intellekts‹.
[…] Drittens wird das Wahre definiert gemäß der ihm folgenden Wirkung, und so
sagt Hilarius [von Poitiers]: ›Wahres ist das, was Sein darstellt und offenbart‹, und
Augustinus im Buch ›Von der wahren Religion‹: ›Wahrheit ist, wodurch sich das zeigt,
was ist.‹ […].«73

Es ist offenkundig, dass Thomas diese drei Konzeptionen nicht als drei von
ihm selbst vertretene »Definitionen« von Wahrheit annimmt; vielmehr be-
richtet er, dass (damals) die Wahrheit auf die von ihm angegebene dreifache
Weise »definiert« wurde. Er selbst aber versucht, jeder der drei »Definitionen«
dennoch einen Sinn abzugewinnen, indem er genau den Punkt angibt, den
jede von ihnen artikuliert. Die eigentliche Definition, die er annimmt, ist die
zweite  –  und das ist die Formel der berühmtem Korrespondenztheorie der
Wahrheit. Der Text des Thomas ist außerordentlich aufschlussreich, wenn
man die heutige Diskussionslage im Bereich der Wahrheitstheorie und wenn
man Heideggers lebenslange Beschäftigung mit dem Wahrheitsthema beachtet.
Im Hinblick auf die Transzendentalien ergibt sich aus diesen Ausführun-
gen, dass nach Thomas die Bedeutung der These: »omne ens est verum – Jedes

73
  »Veritas sive verum tripliciter invenitur diffiniri. Uno modo secundum illud quod
praecedit rationem veritatis et in quo verum fundatur, et sic Augustinus diffinit in libro
Soliloquiorum ›veritas cuiusque rei est proprietas sui esse quod stabilitum est ei.‹ […] Alio
modo diffinitur secundum id in quo formaliter ratio veri perficitur, et sic dicit Ysaac quod
›Veritas est adaequatio rei et intellectus‹. […] Tertio modo diffinitur verum secundum
effectum consequentem, et sic dicit Hilarius quod ›Verum est declarativum et manifesta-
tivum esse‹, et Augustinus in libro De vera religione ›Veritas est qua ostenditur id quod
est‹.« (Thomas von Aquin, Von der Wahrheit, 1986, 8–11; modifizierte Übersetztung)
3.3 Explikation der Seinsdimension I 219

Seiende ist wahr« – im Sinne der ersten der von ihm charakterisierten »De-
finitionen« zu verstehen ist, freilich nicht als Definition im strengen Sinne,
sondern eher als das Fundament oder als die Voraussetzung der eigentlichen
Definition von Wahr(heit).
Die zweite Bemerkung ist kritischer Natur. Die Transzendentalienlehre
spricht ausschließlich von »Seienden (omne ens …)«, nicht von Sein. Heideg-
gers Vorwurf der »Seinsvergessenheit« trifft sie daher direkt und radikal. Die
Transzendentalienlehre ist nicht falsch, aber sie ist ober-flächlich; sie dringt
nicht bis zur Thematisierung der Dimension vor, die das Gesamt der Seienden
darstellt: das Sein.
Es sei noch eine Bemerkung zu Kants aufschlussreicher »(Um)Interpreta-
tion« der Transzendentalienlehre angefügt. Er bezieht sich auf die Transzen-
dentalienlehre, indem er sagt, es finde sich »in der Transcendentalphilosophie
der Alten noch ein Hauptstück vor, welches reine Verstandesbegriffe enthält,
die, ob sie gleich nicht unter die Kategorien gezählt werden, dennoch nach
ihnen als Begriffe a priori von Gegenständen gelten sollten, in welchem Falle
sie aber die Zahl der Kategorien vermehren würden, welches nicht sein kann«
(KrV B 113). Dann bemerkt er, dass der Gebrauch dieser Begriffe hinsichtlich
der Folgerungen »sehr kümmerlich ausfiel«, dass aber der dahinter stehende
Gedanke es doch verdient, beachtet zu werden, gibt er doch Anlass
»zur Vermuthung, daß er in irgend einer Verstandesregel seinen Grund habe, der nur,
wie es oft geschieht, falsch gedolmetscht worden. Diese vermeintlich transcendentale
Prädicate der Dinge sind nichts anders als logische Erfordernisse und Kriterien aller
Erkenntniß der Dinge überhaupt, und legen ihr die Kategorien der Quantität, nämlich
der Einheit, Vielheit und Allheit zum Grunde, nur daß sie diese, welche eigentlich
material, als zur Möglichkeit der Dinge selbst gehörig, genommen werden müßten, in
der That nur in formaler Bedeutung als zur logischen Forderung in Ansehung jeder
Erkenntniß gehörig brauchten, und doch diese Kriterien des Denkens unbehutsamer
Weise zu Eigenschaften der Dinge an sich selbst machten.« (KrV B 113–4)

Diese (Um)Interpretation macht den eigentlichen Status der transzendentalen


Subjektivitätsphilosophie schlagartig deutlich: Alle Begriffe, Gedanken u. ä.
werden streng auf die Maßstäbe der transzendentalen Subjektivität einge-
schränkt. Auf die Idee, die die transzendentale Subjektivität selbst und ihr
Gegenüber, den »objektiven Pol«, umfassende Dimension zu thematisieren,
kommt Kant nicht. Das ist die Dimension, die in der struktural-systema-
tischen Philosophie die ursprüngliche Dimension des primordialen Seins
genannt wird.
[ii] Der zweite Versuch ist das in Kapitel 2 ausführlich dargelegte und
kritisch kommentierte Vorhaben Heideggers, das Sein als solches zu »denken«.
Wie dort gezeigt wurde, hat dieser Versuch zu nichts anderem geführt als
zu wenig‑ bis nichtssagenden Behauptungen. Darauf soll hier nicht weiter
eingegangen werden. Immerhin ist es bemerkenswert, dass ein Philosoph im
220 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

20. Jahrhundert den Mut hatte, diese große Frage entschieden zu stellen und
ihr so gut wie sein ganzes Bemühen zu widmen.

[2] Die allgemeinsten immanenten Strukturmomente/Merkmale des Seins


ergeben sich aus einer (Selbst)Explikation der Seinsdimension. Nun wurden
oben drei Wege beschrieben, wie die Seinsdimension erschlossen wird. Dem
dritten Weg gemäß gelangt man zur Seinsdimension in der Weise, dass man
den »Zusammenhang« von Denken/Geist/Sprache einerseits und Welt/Uni-
versum/Sein-im-objektiven Sinne andererseits expliziert; dieser »Zusammen-
hang« verbindet beide Dimensionen miteinander, und zwar so, dass beide
Dimensionen als die Unterschiedenen einer ursprünglichen umfassenden
Dimension, der Seinsdimension, erscheinen.
Die weitere Erschließung der Seinsdimension ist deren detaillierte Ex-
plikation; diese bringt die bzw. genauer: einige der allgemeinsten immanenten
Merkmale der Seinsdimension zur Explizitheit. Es ist also immer zu beachten,
dass »Seinsdimension« hier nicht etwa wie eine platonische Entität aufgefasst
wird, aus welcher – man weiß nicht, wieso und warum – gewisse »immanente
Momente« abgeleitet werden. Es verhält sich vielmehr so, dass die »Seins-
dimension« als jene »Konstellation« erscheint, die in sich den »Zusammen-
hang« von Denken / Geist / Sprache und Welt/Universum/Sein-im-objekti-
ven-Sinne einschließt. Dieser Konstellationscharakter der Seinsdimension ist
das Thema der Explikation der Seinsdimension.
Die Explikation der Seinsdimension erfolgt zuerst grundsätzlich als Ex-
plikation des Seins als solchen.
[i] Das erste allgemeinste immanente Strukturmoment oder Merkmal des
Seins als solchen ist die absolut universale, d. h. mit der Seinsdimension selbst
koextensionale Intelligibilität der Seinsdimension und damit des Seins als
solchen. Die Seinsdimension und damit das Sein als solches erscheint als ein
Zusammenhang, näherhin als der Zusammenhang aller Zusammenhänge, der
die ganze Dimension von Denken / Geist/Sprache einschließt; es ist daher
schlechterdings undenkbar, dass sie außerhalb der Sphäre von Denken/Geist/
Sprache sein könnte. Indem die Seinsdimension bzw. das Sein als solches
wesentlich als diese Konstellation erscheint, ist sie dem Denken/Geist bzw.
der Sprache zugänglich: dieses »Zugänglichsein« ist gerade das, was die In-
telligibilität der Seinsdimension bzw. des Seins als solchen ausmacht. Diese(s)
ist begreifbar, verstehbar, erkennbar, artikulierbar usw. Es ist zu betonen, dass
die »universale Intelligibilität« der Seinsdimension bzw. des Seins selbst nicht
so zu verstehen ist, dass wir als endliche Erkennende in der Lage wären, sie
vollständig zu artikulieren; wir können zwar die ganze Weite der Dimension
und des Seins selbst in einer allgemeinen Hinsicht erahnen; aber in bestimmter
Weise können wir nur Segmente ihrer / seiner weiten, totalen Intelligibilität
erfassen.
3.3 Explikation der Seinsdimension I 221

In der Geschichte der Philosophie wurde dieses grundlegende allgemeinste


immanente Strukturmoment der Seinsdimension immer wieder in sehr viel-
fältigen Hinsichten und Terminologien oft explizit artikuliert. Die erste und
wohl berühmteste Formulierung ist der Satz des Parmenides τὸ γὰρ αὐτὸ
νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (»… denn dasselbe ist Denken und Sein«)74. Dazu zu
rechnen sind der zentrale Satz der großen metaphysischen Tradition »Ens
et verum convertuntur«, Hegels Gleichsetzung von Idee (in seinem Sinne!)
und Wirklichkeit und ganz besonders Heideggers Gleichsetzung von »Sein«
und »Wahrheit« (in seinem Sinne): Immer handelte es sich um eine zentrale
Intuition, die allerdings oft in übersteigerten und sogar kryptischen Formu-
lierungen artikuliert wurde.
Sehr lehrreich ist diese Geschichte deswegen, weil sie deutlich zeigt, wie
unterschiedlich ein und derselbe Ausdruck von verschiedenen Philosophen
verwendet und verstanden wird. Das gilt ganz besonders für die Ausdrücke
›Denken / Idee‹ etwa bei Hegel und ›Wahrheit‹ besonders bei Heidegger.
Außerordentlich aufschlussreich ist die Art und Weise, wie Heidegger den
Begriff der »Wahrheit« als nähere Explikation von »Sein« auffasst. Er inter-
pretiert »Wahrheit« von dem seinem Verständnis nach ursprünglichen Sinn
des griechischen Wortes ἀλήθεια her als »Unverborgenheit« oder Offenbarkeit
des Seins.75
Es gab immer  –  in der einen oder anderen Weise  –  eine bestimmte phi-
losophische Tradition, in welcher der Terminus ›ontologische Wahrheit‹
verwendet wurde. Aber anders als Heidegger identifizierte diese Tradition
»Wahrheit« nicht einfach mit »ontologischer Wahrheit«; vielmehr galt immer
das grundlegende Axiom: Die Wahrheit im eigentlichen Sinne liegt im Urteil
(veritas est in iudicio). Heidegger verfehlt das »Phänomen« der Wahrheit,
insofern er gerade das Verhältnis von Sprache und Sein nicht beachtet. Aus
der oben in den Grundzügen dargelegten Theorie der Wahrheit geht in aller
Deutlichkeit hervor, dass von »Wahrheit« nur dann adäquat die Rede sein
kann, wenn die ganze Dimension der Sprache explizit und radikal in die
Bestimmung des Wahrheitsbegriffs einbezogen wird. Die in einer langen
Tradition vertretene These, dass Wahrheit primär im Urteil zu situieren ist,
verfehlt den entscheidenden Punkt.
[ii] Zwei weitere Strukturmomente oder immanente Merkmale lassen sich
aus der eingehenden Analyse der Intelligibilität als des grundlegenden Struk-

74  in: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1903/1966, Bd. 1, 231 (Fragment 3

von Parmenides). Heidegger legt in charakteristischer Weise eine eigenwillige Über-


setzung vor: »Das Selbe nämlich ist Vernehmen (Denken) sowohl als auch Sein.« (ID 18)
75  In seiner Spätphase hat Heidegger seine Auffassung über »Wahrheit« (sowohl

was das Wort als auch die damit assoziierte Sache angeht) einer Revision unterzogen. Vgl.
dazu seinen Vortragstext »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in:
SD 61–80; vgl. 77.
222 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

turmoments/Merkmals der Seinsdimension gewinnen. Das eine kann man die


universale Kohärenz der Seinsdimension nennen. Dieser Bezeichnung wird
in diesem Buch (und allgemein in der struktural-systematischen Philosophie)
eine besondere und umfassende Bedeutung gegeben. In dem hier intendierten
Sinne ist Kohärenz nicht einfach mit »Konsistenz« identisch; sie ist mehr
als bloße Widerspruchsfreiheit, insofern sie einen positiven Zusammenhang
besagt. Der Genitivus in der Formulierung »universale Kohärenz der Seins-
dimension« wird als genitivus subjectivus verstanden: die Seinsdimension als
universale Kohärenz, also als universaler Zusammenhang.
Das Strukturmoment / Merkmal der universalen Kohärenz ergibt sich aus
der universalen Intelligibilität der Seinsdimension; denn etwas begreifen, ver-
stehen, erklären usw. heißt wesentlich, den Zusammenhang und damit die Ko-
härenz erfassen, in dem / der sich dieses etwas befindet. Man kann kurz sagen:
Kohärenz ist Systematizität. Aus grundlegenden Annahmen und Thesen der
struktural-systematischen Philosophie ergibt sich, dass man noch genauer und
bestimmter sagen muss: universale Kohärenz ist universale Strukturiertheit;
denn das »Sein selbst« wird als die Struktur aller Strukturen, als die ursprüng-
lichste und umfassendste Struktur begriffen.
[iii] Noch ein weiteres Strukturmoment/Merkmal kann aus dem grund-
legenden immanenten Merkmal der Intelligibilität gewonnen werden: die uni-
versale Ausdrückbarkeit der Seinsdimension und damit des Seins als solchen.
Der Terminus ›Ausdrückbarkeit‹ wird hier als eine Art künstlicher genereller
Terminus oder terminus technicus benutzt, um die ganze Palette der Zugänge
zur Wirklichkeit oder zum Sein im Ganzen bzw. der Modi der Artikulation
(Begreifen, Verstehen, Erklären usw.) der Wirklichkeit oder des Seins im
Ganzen zu bezeichnen. Es hätte einfach keinen Sinn, eine wissenschaftliche
oder philosophische Aussage über etwas oder das Ganze (der Wirklichkeit,
des Seins) zu machen, wenn dieses Etwas bzw. dieses Ganze nicht »ausdrück-
bar« (im erläuterten Sinne) wäre.76
[iv] Ein viertes allgemeines immanentes Strukturmerkmal unterscheidet sich
eindeutig von den bisher herausgearbeiteten drei Merkmalen. Da diese drei
Strukturmomente sich aus der Explikation der Seinsdimension hinsichtlich des
Intellekts ergeben, würde man sie in Übereinstimmung mit der seit Aristoteles
eingebürgerten, aber gemäß der vorliegenden Konzeption problematischen
Terminologie »theoretische Merkmale« nennen. Diese Bezeichnung kann man
verwenden, wenn man sie richtig deutet. Unter demselben Vorbehalt könnte
man sagen, dass das nun herauszuarbeitende vierte immanente Merkmal ein
»praktisches« ist, sofern es die Seinsdimension hinsichtlich des Willens, d. h.
des anderen mit dem Intellekt gleichursprünglichen Vermögens des Menschen,

76  Zur näheren Behandlung dieses großen Themas vgl SuS, bes. Kapitel 5 (Abschnitt

5.1).
3.3 Explikation der Seinsdimension I 223

charakterisiert. Sowohl der Intellekt als auch der Wille haben die Seins-
dimension zu ihrem sie definierenden absoluten Bezugspunkt, allerdings nicht
in derselben Hinsicht: Die Seinsdimension ist der den Intellekt definierende
absolut unbegrenzte, vollständige Bezugspunkt hinsichtlich der oben »theo-
retisch« genannten drei ersten immanenten Strukturmomente/Merkmale. Es
bleibt nun zu klären, welches demgegenüber dasjenige immanente Struktur-
moment/Merkmal der Seinsdimension ist, das die Hinsicht darstellt, unter
welcher die Seinsdimension den absolut unbeschränkten und vollständigen
Bezugspunkt bildet, der den Willen definiert.
Die große metaphysische Tradition hat das Wort »bonum«, »gut«, ver-
wendet, um dieses Strukturmoment / Merkmal zu bezeichnen. Daher galt
für diese Metaphysik das große Axiom: Omne ens est bonum oder ens et
bonum convertuntur: Zwischen jedem Seienden und dem bonum besteht ein
Wechselverhältnis. Aber wie ist »das Gute« zu charakterisieren? Man hat in
metaphysischer Hinsicht immer versucht, »das Gute« von zwei Seiten her zu
bestimmen: Einmal vom Willen her und zum anderen vom Sein her. Das Gute
wurde als das »formale Objekt« des Vermögens »Wille« aufgefasst, näherhin
als der Gesichtspunkt, unter welchem der Wille sich zu allem und jedem, also
in der Sprache der metaphysischen Tradition: zu jedem »materialen Objekt«
verhält (»sub ratione boni«). Auf der anderen Seite wurde das Gute vom Sein
her bestimmt, und zwar als jenes immanente Merkmal des Seins, das den
Willen »anspricht« oder dem Willen »entspricht«. Dies ist so zu verstehen:
Was immer der Wille im Einzelfall will, immer tut er dies aus der Perspektive
des Guten in diesem Sinne; denn diese Perspektive, diese Bezogenheit auf das
Gute ist es, was den Willen überhaupt definiert. Dieses vierte (»praktische«)
allgemeinste immanente Merkmal des Seins selbst ist daher als die universale
Gutheit (bonitas) zu bezeichnen.
[v] Im Verlauf der Geschichte der Metaphysik wurde auch Schönheit als ein
immanentes Strukturmerkmal des Seins als solchen genannt. Bestimmt wurde
dieses Merkmal durch den Gedanken der »Zusammenstimmung (consonan-
tia)« der anderen bisher herausgearbeiteten immanenten Strukturmomente
des Seins. Diese Einsicht ergibt sich konsequenterweise aus der Frage, wie
die Einheit oder der Zusammenhang dieser immanenten Strukturmomente
zu konzipieren ist. Nähere Erläuterungen dazu finden sich im Buch Struktur
und Sein (Abschnitt 4.4.2 [2] [i], S. 421–422).
224 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

3.4 Explikation der Seinsdimension II:


Theorie des Seins im Ganzen

Im vorhergehenden Abschnitt wurden Strukturmomente oder Merkmale


des Seins als solchen, nicht des Seins im Ganzen, d. h. nicht des Seins »in
Verbindung« oder »in Einheit« mit allen Seienden, aufgezeigt. Zwar waren
»Seiende« bei der Analyse nicht einfach total abwesend; denn die drei ersten
Strukturmomente / Merkmale wurden aus der Perspektive des Verhältnisses
von Sein und Intellekt und das vierte aus der Perspektive des Verhältnisses
von Sein und Willen »erschlossen«. Dieses Verhältnis besteht in der Tat; aber
dieses Verhältnis offenbart Strukturmomente oder Merkmale, die dem Sein
immanent sind, die ihm also als solchem, unabhängig von seinem (möglichen
oder realen) Verhältnis zu Seienden, zukommen. Mit anderen Worten: auch
dann, wenn es keine »Seienden« »gäbe«, hätte das Sein selbst diese Merkmale.
Die Bezugnahme auf (unseren) Intellekt und (unseren) Willen erfolgte nur im
Hinblick auf die Erschließung der immanenten Merkmale.
Eine deutlich andere Perspektive und damit Fragestellung eröffnet sich,
wenn das Verhältnis von Sein und (den) Seienden als solches thematisiert
wird. Für diese Thematik wird hier die Formulierung ›das Sein im Ganzen‹
verwendet.

3.4.1 Sein und Seiende: eine ebenso unverzichtbare wie missverstandene und
missbrauchte Differenz
Im Grunde handelt es sich um ein uraltes Problem der Philosophie: das Pro-
blem der Einheit und Vielheit, des Einen und Vielen. Allerdings ist die For-
mulierung ›Einheit–Vielheit‹ eine sehr abstrakte, während die Formulierung
›Sein–Seiende‹ eine unvergleichlich inhaltsreichere Formulierung ist. Wie soll
aber ein solches Problem angegangen werden?
Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit gegen die ganze Metaphysik
hat dazu geführt, dass er selbst die größten Schwierigkeiten hatte, das »Sein
selbst« zu denken. Diese ganze Problemlage bei Heidegger wurde in Kapitel 2
ausführlich dargelegt. Das Problem kann in aller Kürze so formuliert werden:
Soll das Sein nicht »vergessen« werden, so scheint dies zu besagen, dass das
Sein selbst bedacht werden muss; dies wiederum scheint zu bedeuten, dass das
Sein selbst durch eine Denkform bedacht werden muss, die nicht durch die
Berücksichtigung der Seienden bestimmt ist. Wie soll das aber überhaupt von-
stattengehen? Heidegger hat diesbezüglich eine grundsätzliche »immanente«,
d. h. sich aus seiner eigenen Position ergebende, Schwierigkeit, insofern er die
These aufstellt: »[Z]ur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne
das Seiende, daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein.« (WegM, 306; Kursiv
nicht im Original) Wenn dem so ist, so kann das Sein selbst nicht bedacht
3.4 Explikation der Seinsdimension II 225

werden, ohne dass die Seienden ebenfalls bedacht werden. Heidegger gelang
es nie, diesen ganzen Sachverhalt kohärent zu klären. Die Konzeption, die hier
entwickelt wird, hat dieses Problem nicht, was sich schon aus den bisherigen
Ausführungen ergibt und was sich deutlicher zeigen wird, wenn der nächste
entscheidende Schritt unternommen wird.

3.4.2 Die Modalitäten als Schlüssel zur Explikation des Seins im Ganzen
Auf drei verschiedenen Wegen wurde die absolute universale Dimension, die
Dimension des primordialen Seins, »erreicht«. Im Anschluss daran wurden
die wichtigsten Strukturmomente bzw. immanenten Merkmale des Seins als
solchen aufgezeigt. Die Frage lautet jetzt: Wie ist das Sein im Ganzen – das
Sein in seinem Verhältnis und / oder des Seins Verhältnis zu allen Seienden –
zu begreifen?
Mit Bedacht wird hier »im Ganzen« und nicht etwa »als Totalität« gesagt.
Der Grund liegt in dem Umstand, dass der Ausdruck bzw. der Begriff »Tota-
lität« in der heutigen Philosophie oft so verwendet und behandelt wird, dass
er große semantische, logische und mathematische Probleme aufwirft (vgl.
dazu Struktur und Sein 5.3.3). Der Ausdruck ›im Ganzen‹ soll andeuten, dass
der hier zu klärende Sachverhalt anders angegangen wird.

[1] Konfrontiert mit der Frage, wie das Sein selbst zu denken sei, kam Heideg-
ger dazu, den Gedanken des Ereignisses einzuführen, und zwar gemäß einer
Interpretation, die teilweise rein etymologische und teilweise ziemlich alltäg-
lich-banale Aspekte einschloss, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde. Dort wurde
auch gezeigt, dass Heidegger es versäumt, die großen theoretischen Potentia-
litäten des menschlichen Geistes zu berücksichtigen, beispielsweise – und vor
allem – die Modalitäten. Hier nun drängt sich die Frage auf: Von woher kann
oder soll der Hinweis darauf kommen, wie zu verfahren sei? Sollte man Fra-
gen vom Sein her stellen, Fragen, die sozusagen das Sein selbst mit sich bringt
und damit aufwirft, oder soll man unseren Geist und seine Potentialitäten
durchforsten, um herauszufinden, welche Fragen der Geist selbst an das Sein
stellen kann oder gar muss? Man kann schnell zeigen, dass diese scheinbare
Dualität eine Abstraktion ist. Denn in Wirklichkeit bilden beide Seiten eine
Einheit. Die Fragen des Geistes sind Fragen des Seins – und umgekehrt. Es
gibt hier keinen Raum für so etwas wie einen transzendentalen Standpunkt,
also einen Standpunkt, der alles absolut einseitig nur vom Subjekt und seinem
begrifflichen Apparat her zu sehen vermag.
Eine der radikalsten Fragen, die sich stellt, d. h. die – wenn die universale
Dimension des primordialen Seins erschlossen wird – an das Sein zu stellen ist
und sich vom Sein her stellt, hat es mit den Modalitäten, d. h. mit Möglichkeit,
Notwendigkeit, Kontingenz zu tun. Ist das primordiale Sein (nur) möglich, ist
226 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

es notwendig, ist es (nur) kontingent? Vor dem Hintergrund der Bedeutung,


die solche und ähnliche Fragen in der ganzen Geschichte der Philosophie
gespielt haben, und angesichts der nicht wegdisputierbaren immensen In-
telligibilität, die sie vermitteln, ist es nicht nachvollziehbar, dass viele (um
nicht zu sagen: die meisten) Philosophen nicht bereit sind, sie zu stellen, ge-
schweige denn zu behandeln, und noch viel weniger ist es nachvollziehbar,
dass viele – auf meistens implizite und manchmal auch explizite Weise – sie
zu disqualifizieren versuchen, indem sie sie einfach als sinnlos oder als Aus-
druck einer irregeleiteten Denkform deklarieren und abtun. Dies kommt einer
gewaltsamen Unterdrückung des Intelligibilitätspotentials des menschlichen
Geistes gleich.

[2] Eine modale Fragestellung, wie die hier intendierte, wird heute ganz
besonders von zwei völlig entgegengesetzten philosophischen Richtungen
bzw. Denkformen entweder völlig abgelehnt und sogar disqualifiziert oder,
wenn nicht total abgelehnt, so doch mit äußerster Skepsis betrachtet oder mit
Schweigen übergangen. Zur ersten Richtung sind besonders Heidegger und
postmoderne Autoren zu zählen. Was Heidegger angeht, so wurde in Kapitel
2 gezeigt, wie er die Modalitäten als Elemente eines seinsvergessenen meta-
physischen Denkens abtut (vgl.2.4 [2] [ii]; 2.8.2 [1]; 2.9 [1]). In Kapitel 4 wer-
den zwei Hauptrepräsentanten der postmodernen Richtung ausführlich be-
handelt; insbesondere J.-L. Marions eigenwillige »phänomenologische« – was
ihm zufolge vor allem bedeutet: »anti-metaphysische«  –  Umdeutung und
Verwendung der Modalitäten wird einer eingehenden Kritik unterzogen (vgl.
bes. 4.2.4.3 [1]]).
Zur zweiten Richtung gehören viele, vielleicht die meisten analytischen
Philosophen. Hier werden Modalitäten meistens nicht-ontologisch gedeutet
oder in ontologischer Hinsicht im Unbestimmten gelassen. Entscheidend für
diese Philosophen ist die im 20. Jahrhundert gewaltig entwickelte modale
Logik. Diesbezüglich sind zwei Gesichtspunkte auseinanderzuhalten und zu
beachten. Die modale Logik ist eine formale Wissenschaft; als solche kann sie
viele Applikationen und Interpretationen haben. Ein erster Gesichtspunkt ist
gerade die Dimension der Applikationen (oder Konkretisationen oder auch
der Bildung von Modellen) oder auch der Erweiterungen. In dieser Hinsicht
kann die modale Logik die Gestalt einer epistemischen Logik, einer deonti-
schen Logik, einer temporalen Logik, einer konditionalen Logik usw. haben.
Der andere Gesichtspunkt betrifft die Semantik der Modallogik. In Bezug
auf diese muss man zwischen der rein logischen oder formalen Semantik
und einer philosophischen Semantik unterscheiden. Die rein logische/formale
Semantik, die man allgemein als Semantik für die Modallogik bezeichnet, be-
steht im Wesentlichen darin, die Gültigkeit modallogischer Sätze zu klären,
d. h. zu definieren. In der nicht-modalen Aussagenlogik wird die Gültigkeit
3.4 Explikation der Seinsdimension II 227

logischer Sätze am einfachsten durch die Wahrheitstafeln definiert. Wahr-


heitstafeln können aber in der Modallogik nicht benutzt werden, weil diese
Logik nicht wahrheitsfunktional ist. Daher muss die Modallogik die Gültig-
keit ihrer Sätze anders definieren. Zu diesem Zweck führt die sogenannte
»Kripke-Semantik« mögliche Welten ein. Demnach verleiht die Bewertung
jeder Aussagenvariablen einen bestimmten Wahrheitswert für jede mögliche
Welt. Beispielsweise ist ein notwendiger Satz ein solcher, der in allen mög-
lichen Welten wahr ist, dem also für jede mögliche Welt der Wahrheitswert
»wahr« zugeschrieben wird.
Die philosophische Semantik geht viel weiter als die rein logische oder for-
male Semantik. Dieser Punkt kann in sehr signifikanter Weise gerade am Bei-
spiel des Begriffs der »möglichen Welten« deutlich gemacht werden. Ist dieser
Begriff, wie er in der Kripke-Semantik verwendet wird, ein reiner (logischer)
Kunstgriff, ein reines Illustrationsmittel, um die Gültigkeit modallogischer
Sätze zu »demonstrieren« (genauer: zu »veranschaulichen«)? Die Diskussio-
nen über die Kripke-Semantik und damit über die möglichen Welten zeigen,
dass es zwei Tendenzen gibt: eine rein »illustrative« oder »Kunstgriff«-Inter-
pretation und eine ontologische Interpretation. Der von D. Lewis entwickelte
modale Realismus ist ein bekanntes und vieldiskutiertes Beispiel für eine
ontologische Interpretation.77

[3] Im engen Zusammenhang mit der Modallogik befasst sich die Philosophie
allgemein mit (den) Modalitäten. Anders als in der traditionellen Philosophie
werden die Modalitäten in der analytischen Philosophie allgemein als Modi
der Wahrheit aufgefasst. Das bedeutet, dass sie grundsätzlich als »Quali-
fikationen« von Sätzen und Propositionen gedeutet werden. Die korrekte
logische Weise, sie darzustellen, besteht darin, sie als Operatoren von Sätzen/
Propositionen zu artikulieren. Es ergeben sich dann:
Es ist möglich dass P: ◊P = ¬⎕¬P
Es ist notwendig dass P: ⎕P = ¬◊¬P
Es ist kontingent dass P: ▽P = ◊P ∧ ◊¬ P oder ¬⎕P ∧ ¬⎕¬P
Die so aufgefassten Modalitäten werden gewöhnlich als alethische oder auch
als metaphysische Modalitäten bezeichnet. Davon werden die epistemischen
Modalitäten unterschieden, d. h. die Sätze / Propositionen, die a priori oder
a posteriori wahr sind, ferner die semantischen, d. h. Sätze/Propositionen,
die analytisch oder synthetisch wahr sind. Ähnliches gilt für die anderen (die
deontischen, die temporalen usw.) Modalitäten.

77  D. Lewis’ »modaler Realismus« wird in SuS einer eingehenden kritischen Analyse

unterzogen (vgl. den Abschnitt 5.3.3, 574–581).


228 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Für die Zielsetzung dieses Buches kommen nur die alethischen bzw. me-
taphysischen Modalitäten in Betracht. Hier gibt es ein Problem oder eine für
die analytische Philosophie charakteristische zumindest teilweise unklare
Problemlage. Auf der einen Seite wird von Autoren, die »metaphysische
Modalitäten« annehmen, informal so gesprochen, dass man meinen könnte,
den Modalitäten werde dabei einen echten ontologischen Status zuerkannt.
Timothy Williamson, der sich intensiv mit »metaphysischen« Modalitäten
befasst und sie annimmt, schreibt:
»In typischer Weise fragen Philosophen nicht nur, ob sich die Dinge so und so ver-
halten, sondern ob sie sich anders hätten verhalten können. Was hätte anders sein
können, ist metaphysisch kontingent; was nicht, ist metaphysisch notwendig. Wir haben
eine gewisse Erkenntnis solcher Sachen. Wir wissen, dass Heinrich VIII mehr als sechs
Frauen hätte haben können, aber dass drei plus drei nicht mehr als sechs macht.«78

Hier werden die Modalitäten eindeutig einer Sache zugeschrieben, so dass


gilt: Dasjenige Ding, das anders hätte sein können, ist kontingent. Allerdings
befasst sich T. Williamson nur mit dem Problem der Erkenntnis der meta-
physischen Modalitäten. Auch die auf das Mittelalter zurückgehende und
heute wieder oft verwendete Unterscheidung zwischen de dicto und de re
wird dahingehend verstanden, dass die Modalität im de-re-Fall eben der res,
der Sache (dem Objekt) selbst zukommt. Beispiele: ◊Fa ist eine Modalität de
re (zu lesen als: das Objekt a ist möglicherweise F). Oder: ∀x ⎕ Fx (zu lesen
als: Für alle (Objekte, Dinge, Seienden …) x gilt: x hat notwendigerweise die
Eigenschaft F).
Auf der anderen Seite werden die metaphysischen Modalitäten als alethische
Modalitäten bezeichnet und verstanden, was bedeutet, dass sie Qualifikatio-
nen nicht von Sachen, sondern von Sätzen/Propositionen sind. Berücksichtigt
man zusätzlich die Unterscheidung de dicto/de re, so wird die Modalität de
dicto so erklärt, dass die Modalität nicht einer Sache, sondern einem Satz
bzw. einer Proposition zugeschrieben wird. Demnach wären alethische/me-
taphysische Modalitäten de-dicto-Modalitäten. Wollte man zur Erklärung des
Sachverhalts etwa sagen, dass die Zuschreibung von Modalitäten immer durch
einen Satz bzw. eine Proposition geschieht, so dass zwischen Satz/Proposi-
tion einerseits und »Sache / Objekt« andererseits eine unzertrennliche Einheit
besteht, so wäre dem zu entgegnen, dass eine solche »Erklärung« in Wirklich-
keit nichts erklärt; denn wenn der als wahr qualifizierte Satz ∀xFx bedeutet:
»es ist wahr, dass alle (Objekte) x die Eigenschaft F haben«, dann besteht eine
unüberbrückbare Differenz zwischen zwei Weisen der »Modalisierung« des
Satzes (durch Einführung des Operators »es ist notwendig dass«), nämlich: ∀x
⎕Fx (= »es ist wahr, dass alle (Objekte) x notwendigerweise die Eigenschaft
78  T. Williamson, The Philosophy of Philosophy. Kapitel 5: Knowledge of Metaphy-

sical Modality, 2008, 134.


3.4 Explikation der Seinsdimension II 229

F haben« (= de re) und ⎕∀x Fx (= »der Satz ›alle (Objekte) x haben die Ei-
genschaft F‹ ist notwendigerweise wahr« bzw.: »die Proposition, dass alle
(Objekte) x die Eigenschaft F haben, ist notwendigerweise wahr«).
Man kommt also nicht darum herum zu sagen, dass in der »analytischen«
Konzeption von Modalitäten ein untergründiges ungeklärtes Problem be-
steht. Der Grund hierfür dürfte in der völlig ungeklärten Beziehung zwischen
Semantik und Ontologie, zwischen Satz/Proposition einerseits und ontologi-
scher Ebene andererseits zu sehen sein. Das Problem besteht darin, dass in der
analytischen Konzeption der Modalitäten letztlich nicht klar ist bzw. werden
kann, in welcher Weise von »Sachmodalitäten«, von Modalitäten mit onto-
logischem/metaphysischem Status gesprochen werden kann. Kurz: Erklärt
man den metaphysischen Status der Modalitäten als einen alethischen Status,
so wird die durch die Modalitäten artikulierte Qualifikation nur Sätzen/
Propositionen zuerkannt. Weil aber gemäß den semantischen und ontologi-
schen Annahmen der »normalen« analytischen Philosophie Qualifikationen
von Sätzen/Propositionen in keiner Weise als ontologische/metaphysische
Qualifikationen aufgefasst werden können, sind die analytischen Aussagen
über alethische=metaphysische(=ontologische) Modalitäten nicht nur unklar,
sondern auch inkohärent.
Die im nächsten Abschnitt kurz darzustellende Konzeption wird zeigen, in
welch eleganter und überzeugender Weise die struktural-systematische Phi-
losophie es zu einer solchen Problemlage nicht kommen lässt.

[4] Die Modalitäten stellen eine der wirklich großen Intelligibilitätspoten-


tialitäten des menschlichen Denkens dar. Sie sind die absolut unverzicht-
baren theoretischen Bestandteile einer philosophischen Konzeption. Wie
oben kurz gezeigt wurde, besagt das nicht, dass sie Begriffe oder Strukturen
des Geistes oder Denkens wären, die das Denken / der Geist sozusagen von
außen an die Wirklichkeit, an die Seinsdimension in einem oberflächlichen
Sinne herantragen oder in sie projizieren bzw. »hineinlegen« würde.79 Eine

79  Kant verwendet den Terminus ›hineinlegen‹ in einer zentralen Aussage über seine

transzendentale Konzeption: »Und so hat sogar die Physik die so vorteilhafte Revolution
ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst
in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie
von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde.« (KrV, Vorrede
zur 3. Auflage, B XIII–XIV; Kursiv nicht im Original). Dieser Text zeigt in ausgezeichne-
ter Weise die deutliche Spannung und Inkohärenz, die der subjektivitätsphilosophischen
bzw. transzendentalphilosophischen Position zugrunde liegt: Auf der einen Seite dichtet
die Vernunft der Natur nichts an, sondern sucht in ihr nur das, was sie von der Natur
lernen muss (und das ist etwas, wovon sie allein von sich her nichts wissen würde), und
zwar tut das die Vernunft nach der Maßgabe dessen, was sie selbst in die Natur hineinlegt;
auf der anderen Seite behauptet Kant, dass die Dinge an sich, das, was die Natur »an sich«
ist, (dennoch) unerkannt bleibt. Die erste »Seite« ist eine intrikate Formulierung, die aber
im Prinzip dahingehend verstanden werden kann, dass sie eine großartige und richtige
230 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

solche charakteristische subjektivitätsphilosophische Vorstellung wird von


der struktural-systematischen Philosophie radikal abgelehnt. Die Intelligibi-
litätspotentialitäten des Denkens / Geistes sind »im Grunde« Weisen, wie sich
die Seinsdimension selbst manifestiert. Das soll im folgenden Abschnitt im
Hinblick auf die universale Dimension des Seins dargelegt werden.

3.4.3 Die universale Seinsdimension als Seins-Zweidimensionalität: als


Dimension des absolutnotwendigen Seins und Dimension der kontingenten
Seienden
[1] Zuerst ist zu zeigen, wie das im vorhergehenden Abschnitt aufgezeigte
untergründige ungeklärte Problem in der struktural-systematischen Philoso-
phie überhaupt nicht auftreten kann. Diese Klärung ebnet den Weg für die im
folgenden darzustellende systematische Konzeption.
Die Erklärung dafür ist ganz einfach. Die struktural-systematische Phi-
losophie vertritt eine Semantik, eine Ontologie und eine Wahrheitstheorie,
die zur Konsequenz haben, dass das genannte Problem nicht entstehen kann.
Die wesentlichen Elemente dieser Konzeption im Hinblick auf die anste-
hende Frage sind die folgenden: Nur Primsätze, d. h. Sätze ohne die Subjekt-
Prädikat-Struktur, werden in der philosophischen Sprache in semantischer
Hinsicht zugelassen. Solche Sätze drücken Primpropositionen aus. Solche
Primpropositionen sind, wenn sie wahr sind, mit Tatsachen (Primtatsachen
oder ontologischen Primstrukturen) einfach identisch. Damit ist die Dualität
von wahrer Proposition und Primtatsache definitionsmäßig ausgeschlossen.

Einsicht artikuliert  –  wenn sie nicht auf inkohärente Weise gleichzeitig mit der in der
zweiten »Seite« behaupteten These verstanden wird. Die Inkohärenz liegt in folgendem:
Wenn die Vernunft der Natur nichts »andichtet«, sondern im Gegenteil »in ihr [der Natur]
nur das [sucht], was sie von der Natur lernen muss …«, dann ist es die Natur selbst, die
Natur an sich – was sonst? –, was erfasst/artikuliert / begriffen und damit eben erkannt
wird. Wie kann dann kohärenterweise behauptet werden, die Natur selbst, die Natur an
sich, bleibe unerkannt? Es hat aber einen guten, ja einen unverzichtbaren Sinn, davon zu
sprechen, dass die »Vernunft (das Denken)« etwas in die »Natur« »hineinlegt« – voraus-
gesetzt, man deutet dieses »hineinlegen« richtig. Und das kann gemacht werden; denn es
ist nicht nur plausibel, sondern, wie in der struktural-systematischen Philosophie gezeigt
wird, unerlässlich, eine Unterscheidung zwischen – in Kants Terminologie – »Vernunft /
Denken« und »Natur« anzuerkennen. Um die Unterscheidung aber nicht misszuverste-
hen, muss man aus dem angeführten Kant-Zitat eine überhaupt wichtige Lektion lernen:
Um die beiden explizit gemachten »Seiten« kohärenterweise behaupten zu können, muss
man sehen, dass die beiden damit artikulierten Relata zwei »Dimensionen« sind, die nur
deswegen in Beziehung zueinander gesetzt werden können, weil sie eine ihnen zugrunde-
liegende »Tiefendimension« als Einigungsband voraussetzen. Versucht man, diesen Sach-
verhalt adäquat zu klären, wird schnell deutlich, dass die Unterscheidung anders, genauer
und angemessener zu fassen ist. In der struktural-systematischen Philosophie wird sie als
die Unterscheidung zwischen der strukturalen (oder theoretischen) Dimension und dem
universe of discourse (bestimmter: der Dimension des Seins) erklärt.
3.4 Explikation der Seinsdimension II 231

Aber gerade die Dualität von  –  wahrer  –  Proposition und entsprechender


(ontologischer) »Sache« war der Grund für die oben aufgezeigte Unklarheit
und Inkohärenz der analytischen Konzeption.
Wollte man eine philosophische Sprache entwickeln bzw. sprechen, in
welcher auch syntaktisch und formal die Aussagen über die universale Di-
mension des Seins artikuliert werden, so wäre man gezwungen, grundsätzlich
viele Neologismen zu bilden, die dazu noch recht sonderbar klingen würden.
Denkt man an den in der deutschen Sprache noch recht akzeptablen Primsatz
›Es verhält sich so dass es grünt‹, so wäre die Aufgabe die, auch für die ›univer-
sale Seinsdimension‹ ein entsprechendes Verb zu finden oder zu bilden. Aber
welches? Man erinnere sich an Heideggers eigenwillige Terminologie, wenn er
vom »Sein« spricht. Er sagt (oft): »Das Sein west« (anstelle von: »Das Sein ist«).
Nimmt man diese Sprechweise an, so könnte man den dem Ausdruck/Begriff
»universale Seinsdimension« korrespondierenden struktural-systematischen
Primsatz so formulieren: »Es verhält sich so dass es universal-dimensional
west«. Im folgenden soll aber dieser Weg nicht beschritten werden, und zwar
aus dem Grund, weil dies für die Zielsetzung des vorliegenden Buches weder
nötig noch hilfreich ist; vielmehr würde ein solches Verfahren eine weitgehend
komplizierte und auch unverständliche Darstellungsweise ergeben.
Auch eine Formalisierung der im folgenden zu artikulierenden Aussagen
wird hier nicht vorgenommen, um die Darstellung nicht noch komplexer
zu machen. Es sei aber angemerkt, dass eine modallogische Formalisierung
eine relativ einfache Angelegenheit wäre. Man würde nur die modale Aus-
sagenlogik (oder, wie sie auch genannt wird, die modale propositionale Logik)
benutzen, wobei dann die vorkommenden Sätze durchgehend Primsätze
und die dabei ausgedrückten Propositionen durchgehend Primpropositionen
wären. Ein Beispiel: Der informale natürlichsprachliche Satz ›Es gibt notwen-
diges Sein‹ (bzw. der in der Heideggerschen Terminologie wiedergegebene
Satz ›Sein west notwendig‹) wäre ganz einfach so zu formalisieren: ⎕S, wobei
›S‹ für ›Sein‹ steht. Als theoretischer Satz wäre ⎕S zu lesen: ›Es verhält sich so
dass Sein notwendig west‹.
Die ganze im folgenden zu entwickelnde Argumentation im Hinblick auf
einen Beweis der These, dass die universale Seinsdimension als eine Zwei-
Dimensionalität zu explizieren ist, wird rein informal und – in syntaktischer,
nicht aber semantischer Hinsicht – weitgehend »natürlichsprachlich« durch-
geführt.

[2] Das Ziel des nun zu präsentierenden Beweises ist nicht, »die Existenz
Gottes« zu beweisen. Wie mehrmals in diesem Buch hervorgehoben, ist
eine solche Formulierung und die ihr zugrundeliegende Sicht völlig konfus
und daher theoretisch nicht behandelbar. Wann das Wort ›Gott‹ sachlicher-
weise eingeführt werden kann und soll, wird sich viel später in den weiteren
232 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Ausführungen zeigen. Hinzu kommt, dass der Ausdruck ›Existenz‹ in der


Formulierung ›die Existenz Gottes‹ völlig unklar und konfus ist. Das zeigt,
dass die vielen Diskussionen über die Frage »Existiert Gott?« im allgemeinen
und in den meisten Fällen als gegenstands‑ und sinnlos zu betrachten sind.
Das hier unmittelbar verfolgte Ziel ist die Demonstration, dass nicht
alles – das Sein selbst und im Ganzen, also mit Einschluss aller Seienden – ein-
fach kontingent ist, dass also notwendiges Sein angenommen werden muss.
Dafür wird die noch weitgehend neutrale, aber dennoch in der hier interes-
sierenden Hinsicht ausreichend bestimmte Formulierung verwendet: Es gibt
eine absolutnotwendige Dimension des Seins und eine kontingente Dimension
des Seins. In einer nicht ganz missverständnisfreien, dafür aber intuitiv hilf-
reichen Formulierung kann gesagt werden: die absolut universale Dimension
des Seins ist als Zweidimensionalität des Seins zu denken.
Es wird von der bei vielen Menschen, einschließlich vieler Philosophen
und Wissenschaftler, sehr weit verbreiteten Vorstellung ausgegangen, dass
alles kontingent ist, wobei »alles« das bezeichnet, was in diesem Buch das
Sein als solches und im Ganzen genannt wird. Die Demonstration zielt darauf
ab, diese These zu widerlegen, was durch die Präsentation eines indirekten
Beweises gemäß der Figur des modus tollens geschieht.
Bevor dieses Argument im Detail erläutert und durchgeführt wird, sind
zwei seiner Charakteristiken zu erläutern. Die erste Charakteristik besteht
darin, dass das Argument einen extrem abstrakten und maximal universalen
Sachverhalt artikuliert. In der traditionellen Terminologie würde man sagen,
dass der argumentativ explizierte Sachverhalt ein eminent metaphysischer
Sachverhalt ist. Wie dem auch sei, es verhält sich tatsächlich so, dass das Argu-
ment überhaupt keine Voraussetzungen in irgendeinem »konkreten« Bereich
oder hinsichtlich von Raum und Zeit und dgl. macht. Es arbeitet eine absolut
fundamentale und umfassende Konsequenz heraus, die die Behauptung der
»allkontingentischen These« (d. h. der These, dass alles kontingent ist) hätte:
die Möglichkeit des absoluten Nichts.
Um diesen Punkt zu illustrieren, kann man darauf hinweisen, dass dieses
Argument eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gedanken hat, welcher der tertia
via (dem sogenannten dritten »Gottesbeweis«) des Thomas von Aquin zu-
grunde liegt.80 Es handelt sich aber nur um eine gewisse Ähnlichkeit; denn so-
80  Vgl. zum folgenden die detaillierten Ausführungen in SuS 597 ff. Der einschlägige

Text in der Summa Theologiae I q. 2 a. 3 lautet:


»Der dritte Weg ist vom Möglichen und Notwendigen hergenommen und verläuft so:
Wir finden unter den Dingen solche, welche die Möglichkeit haben zu sein und nicht zu
sein, da sich einiges findet, das entsteht und vergeht und infolgedessen die Möglichkeit hat,
zu sein und nicht zu sein. Es ist aber unmöglich, dass alles, was von dieser Art ist, immer
ist [andere Textvariante: … dass alles, was ist, von dieser Art sei], weil das, was möglicher-
weise nicht sein kann, auch einmal nicht ist. Wenn also alles die Möglichkeit hat nicht zu
sein, dann war hinsichtlich der Dinge auch einmal nichts. Wenn dies aber wahr ist, dann
3.4 Explikation der Seinsdimension II 233

fort wird klar, dass zwischen beiden Argumenten fundamentale Differenzen


bestehen. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass auch Thomas auf der Basis der
Modalitäten »möglich – notwendig – kontingent« argumentiert. Es gibt aber
eine fünffache fundamentale Differenz: Erstens betrachtet Thomas nur (die)
Seiende(n), während die hier anvisierte Demonstration ganz entschieden an
allererster Stelle das Sein als solches und im Ganzen hinsichtlich der Modali-
täten thematisiert. Zweitens geht Thomas von einem konkreten feststellbaren
Phänomen aus, nämlich: es gibt Dinge, welche die Möglichkeit haben zu sein
und nicht zu sein. Im Gegensatz dazu nimmt die Demonstration in diesem
Buch überhaupt keinen Bezug auf ein konkretes Phänomen. Drittens führt
Thomas – ganz folgerichtig – den sich von der exklusiven Konzentration auf
(die) Seiende(n) her nahelegenden Zeitfaktor ein. So heißt es bei ihm: »Wenn
alles die Möglichkeit hat nicht zu sein, dann war hinsichtlich der Dinge
auch einmal nichts [aliquando nihil fuit in rebus].« Dies wirft aber nicht nur
schwierige, sondern unlösbare Probleme auf. In der hier durchzuführenden
Demonstration taucht überhaupt kein Zeitfaktor oder Ähnliches auf. Viertens
führt Thomas zur Abrundung seiner Argumentation noch den Gedanken
der Kausalität ein: »Jedes Notwendige hat die Ursache seiner Notwendigkeit
entweder von anderswoher oder nicht …« In der in diesem Buch präsentierten

wäre auch jetzt nichts, weil das, was nicht ist, nur anfängt zu sein durch etwas, was ist.
Wenn also (einmal) nichts Seiendes war, dann war es auch unmöglich, dass etwas zu sein
anfing, und so wäre auch nun nichts: was offenbar falsch ist. Also ist nicht alles Seiende
nur Mögliches, sondern es muss auch etwas Notwendiges unter den Dingen geben.
[Jedes Notwendige aber hat die Ursache seiner Notwendigkeit entweder von anders-
woher oder nicht. Es ist aber nicht möglich, dass es hinsichtlich der notwendigen (Dingen)
ins Unendliche gehe, die eine Ursache ihrer Notwendigkeit haben, wie dies auch bei den
Wirkursachen nicht möglich ist (das wurde oben, im zweiten Beweis, bewiesen). Also ist
es notwendig, etwas anzunehmen, das durch sich notwendig ist und die Ursache seiner
Notwendigkeit nicht von anderswoher hat, sondern das (vielmehr) Ursache der Not-
wendigkeit für die anderen (Dinge) ist. Dies nennen alle Gott.]« (Deutsche Übersetzung
(mit Korrekturen) aus: Thomas von Aquin, Die Gottesbeweise in der »Summe gegen die
Heiden« und der »Summe der Theologie«, 1982, 55–57.)
Der lateinische Originaltext lautet:
»Tertia via est sumpta ex possibili et necessario: quae talis est. Invenimus enim in rebus
quaedam quae sunt possibilia esse et non esse; cum quaedam inveniantur generari et cor-
rumpi, et per consequens possibilia esse et non esse. Impossibile est autem omnia quae
sunt talia, semper esse [Textvariante: … omnia quae sunt talia esse]: quia quod possibile
est non esse, quandoque non est. Si igitur omnia sunt possibilia non esse, aliquando nihil
fuit in rebus. Sed si hoc est verum, etiam nunc nihil esset: quia quod non est, non incipit
esse nisi per aliquid quod est; si igitur nihil fuit ens, impossibile fuit quod aliquid inciperet
esse, et sic modo nihil esset: quod patet esse falsum. Non ergo omnia entia sunt possibilia:
sed oportet aliquid esse necessarium in rebus.
[Omne autem necessarium vel habet causam suae necessitatis aliunde, vel non habet.
Non est autem possibile quod procedatur in infinitum in ncessariis, quae habent causam
suae necessitatis sicut nec in causis efficientibus. Ergo necesse est ponere aliquid quod
sit per se necessarium, non habens causam suae necessitatis aliunde, sed quod est causa
necessitatis aliis: quod omnes dicunt Deum.]«
234 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Demonstration wird an keiner Stelle auf den Gedanken der Kausalität rekur-
riert. Fünftens identifiziert Thomas die Konklusion seines Arguments sofort
mit Gott. Dieser Punkt wurde besonders in Kapitel 1 dargelegt und kritisiert.

[3] Die Demonstration soll nun in einer möglichst einfachen, informalen


und intuitiv verständlichen Form vorgelegt werden. Sie hat die Form des
modus tollens: Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p. Sehr abstrakt
formuliert, hat der Beweis die Struktur:
Wenn alles [das Sein als solches und im Ganzen] kontingent wäre, dann wäre das ab-
solute Nichts (nihilum absolutum) möglich;
nun ist das absolute Nichts nicht möglich;
daher ist nicht alles kontingent.

Da zwischen »Kontingenz« und »Notwendigkeit« kein Drittes geben kann,


folgt daraus, dass notwendiges Sein oder, wie hier gesagt werden soll, eine
notwendige Dimension des Seins anzunehmen ist. Diese Konklusion ist er-
sichtlich extrem abstrakt und allgemein; aber, wie noch zu zeigen sein wird, sie
bildet die angemessene Basis für weitere Ausführungen, die schließlich nach
einem langen Explikationsprozess zu »konkreten« Ergebnissen führen wird.
[i] Die Demonstration sei im Detail erläutert. Die erste Prämisse artikuliert
eine Implikation. Obwohl diese als selbstevident angesehen werden kann,
empfiehlt es sich, sie im Einzelnen zu analysieren. Wenn absolut alles, das
Sein als solches und im Ganzen, kontingent wäre, so hätte es sein können,
dass weder das Sein selbst noch irgendein ihm zugehöriges »Element« (ein
»Seiendes«) »ins Sein« gekommen wäre. Das mag wie eine phantastische abs-
trakte Fiktion aussehen, ist es aber nicht. Vielmehr handelt es sich um die ab-
solut fundamentalste Basis für alles, was wir denken, behaupten, konzipieren
usw. Die gewöhnliche Vorstellung, die mit der allkontingentischen These ver-
bunden ist, scheint der in der ersten Prämisse artikulierten Implikation nicht
zu entsprechen. »Man« stellt sich nämlich das Ganze des Seins irgendwie so
vor, dass es einen anfang‑ und endlosen Prozess darstellt, so dass Elemente
des Prozesses kontinuierlich verschwinden, aber gleichzeitig neue Elemente
entstehen – also so etwas wie eine immense sich entwickelnde Masse. Die Be-
hauptung, dass, wenn dieses Ganze kontingent wäre, es als ein solches Ganzes
auch verschwinden könnte, ist für eine solche »Vorstellung« irgendwie »un-
vorstellbar«. Das zeigt die absolute Oberflächlichkeit dieser »Vorstellung«,
die einer strengen philosophischen Analyse in keiner Weise standhalten kann.
Das ungeheure systematische Gewicht der analytisch gegebenen Klausel »so
hätte sein können« wird von der hier kritisierten »Vorstellung« überhaupt
nicht erfasst.
Die Weise, in der dieser Sachverhalt in generalisierter Form irgendwie
artikuliert werden kann, besteht in der Einführung des »Pseudo-Begriffs«
3.4 Explikation der Seinsdimension II 235

»absolutes Nichts (nihilum absolutum)«. Warum und in welchem Sinne es


sich um einen »Pseudo-Begriff« handelt, wird bei der Analyse der zweiten
Prämisse zu zeigen sein. Hier ist es zunächst sehr wichtig zu betonen, dass
die allkontingentische These dieser Implikation nicht entgehen kann. Einen
Versuch, dies doch zu erreichen, findet man manchmal in der Literatur – aller-
dings auf äußerst diffuse Weise »formuliert«. Man »argumentiert« etwa so: Es
sei zwar richtig, dass die allkontingentische These zur Konsequenz hat, dass
»alles« nicht hätte sein können oder dass es verschwinden könnte; aber man
müsse dieses »alles« doch richtig deuten, und zwar so: jedes einzelne Ding
(Seiende) hätte nicht sein können oder könnte auch nicht sein oder könnte
verschwinden; aber in diesem Fall wäre gleich ein anderes Ding (Seiendes) da,
das die Kontinuierlichkeit des anfang‑ und endlosen Seinsprozesses garan-
tieren würde. Der Seinsprozess selbst als eine solche »sich kontinuierlich
bewegende Masse« würde daher nicht verschwinden.
Aber dieser Versuch greift zu kurz. Die Reduzierung der Kontingenz auf
jedes einzelne Dinge/ Seiende lässt die Frage völlig ungeklärt, wie es sich mit
dem Gesamtprozess (dem Seinsprozess) selbst verhält. Ist der Gesamtprozess
selbst kontingent? Dann hätte er als Gesamtprozess nicht sein können und
dann könnte er als Gesamtprozess total verschwinden. Die Frage ist nicht, ob
der Gesamtprozess faktisch nicht verschwindet, sondern ob er verschwinden
kann – oder ob er nicht verschwinden kann. Nur im ersten Fall ist er selbst
kontingent, in zweiten Fall hätte er den Status der Notwendigkeit.
Die in der ersten Prämisse artikulierte Implikation bleibt bestehen. Man
beachte, dass nicht gesagt wird: … dann ist / wäre das absolute Nichts, noch
weniger wird gesagt: … dann existiert / existierte das absolute Nichts. Diese
Formulierungen sind äußerst dunkel und problematisch. Das Argument be-
schränkt sich streng auf die Dimension der Modalität Möglichkeit: … dann
wäre das absolute Nichts möglich. Das reicht vollkommen aus, um die all-
kontingentische These zu widerlegen; denn schon die reine Möglichkeit des
absoluten Nichts als Implikation dieser These bringt einen Widerspruch zum
Vorschein. Hinzu kommt, dass dadurch einige Probleme von vornherein ver-
mieden können.
[ii] Das eigentliche Gewicht des Arguments liegt in der zweiten Prämisse.
Sie artikuliert die Negation des Konsequens der ersten Prämisse: (So etwas
wie) das absolute Nichts ist nicht möglich. Um diese Behauptung zu begrün-
den, kann man (mindestens) drei Gründe ins Feld führen.
[a] Der »Begriff« des absoluten Nichts ist ein »Unbegriff«, ein nicht-denk-
barer Begriff; denn er ist selbstwidersprüchlich und derart ein Pseudo-Begriff.
Wollte man ihn nämlich überhaupt »denken«, würde man ihn bestimmen,
ihm gerade das zuschreiben, was er ausschließt: Man würde ihn in der Weise
»bestimmen«, dass man irgend etwas nennt; aber jedes wie immer geartete
»etwas« wäre eine bestimmte Weise des Seins. Man kann nur in einer parado-
236 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

xen Weise »über« den »Begriff« des absoluten Nichts sprechen – um gerade
seine Absurdität zu artikulieren. Wenn man etwa sagt: Das absolute Nichts
ist die »totale Negation« von Sein, das totale Nicht-Sein, so haben diese
Bezeichnungen nur einen Sinn oder eine Bestimmtheit, wenn sie irgendwie
etwas-als-totale-Negation bezeichnen  –  aber damit wäre irgendeine Weise
des Seins artikuliert.
[b] Der Begriff der »Möglichkeit des absoluten Nichts« ist ein absolut
paradoxer, genauer: ein radikal selbstwidersprüchlicher Begriff; denn »Mög-
lichkeit« ist immer »Möglichkeit-zu-sein«; es ist aber widersprüchlich, eine
»Möglichkeit-zu-sein des absoluten Nichts« anzunehmen.
[c] Impliziert die These, dass alles kontingent ist, die Annahme der Mög-
lichkeit des absoluten Nichts, so impliziert sie ebenfalls die weitere Annahme,
dass die Seienden aus dem absoluten Nichts in die Dimension des Seins
»treten« oder »übergehen« könn(t)en (bzw., da es seiende Dinge gibt, dass sie
aus dem absoluten Nichts ins »Sein« tatsächlich getreten oder übergegangen
sind). Aber der Gedanke eines (auch nur möglichen) »Übergangs« von der
nicht-denkbaren »Dimension« des absoluten Nichts in die Dimension des
Seins ist ein schlechterdings unsinniger, unmöglicher Pseudo-Gedanke: Aus
dem absoluten Nichts »wird« nichts. Um es bildlich zu formulieren: Aus
dem absoluten Nichts kann nicht etwas »heraustreten« und in den Bereich
des Seins »eintreten«. Die Seinsdimension und das absolute Nichts sind in
jeder Hinsicht, d. h. absolut inkompatibel. Man kann sich nur so ausdrücken,
dass man sagt: Die Seinsdimension ist die absolute Negation, der absolute
Ausschluss von so etwas wie das »absolute Nichts«. Nun gibt es im Falle
einer absoluten Negation keine Möglichkeit eines »Übergangs« von einem
»Pol« zum anderen »Pol« der Negation; denn ein solcher kontradiktorischer
Gegensatz spannt im Gegensatz zu konträren Gegensätzen kein Kontinuum
von Pol zu Pol aus.
Da die These, dass alles kontingent ist, eine absurde Konsequenz impliziert,
folgt daraus, dass nicht alles kontingent ist, d. h.: es gibt notwendiges Sein, was
man hier zunächst neutral und allgemein als eine notwendige Seinsdimension
bezeichnen kann. Q. E.D.

[4] Das Resultat des Beweises kann kurz so ausgedrückt werden: Die uni-
versale Dimension des Seins ist, bestimmter aufgefasst, eine Zweidimensio-
nalität, bestehend aus der notwendigen und der kontingenten Dimension.
Allerdings muss diese »Zweidimensionalität« richtig verstanden werden.
Es handelt sich nicht um zwei irgendwie gleichgestellte oder gleichrangige
Dimensionen; ganz im Gegenteil: da die eine Dimension die notwendige ist,
kann die andere nur als die ihr untergeordnete kontingente Dimension ver-
standen werden. Dieser Punkt wird im nächsten Abschnitt ausführlich zu
behandeln sein.
3.5 Die Explikation des Verhältnisses von absolutnotwendigem Sein 237

Bevor die Explikation der zweidimensional zu verstehenden Seinsdimen-


sion weiter geführt wird, ist es angebracht, den Ausdruck »absolutnotwendig«
einzuführen, da dieser zusammengesetzte Ausdruck eine wichtige Rolle in
den weiteren Ausführungen spielen wird. Dieser Begriff ist nicht einfach
synonym mit dem Begriff »notwendig«. »Absolut« besagt nämlich (auch)
vollständige Unabhängigkeit von etwas anderem und vollständige Nicht-
Bedingtheit durch etwas anderes. Aber die so verstandene Unabhängigkeit
und Nicht-Bedingtheit lassen sich leicht aus dem Begriff »Notwendig(es)«
eruieren oder ableiten. In diesem Sinne und aus diesem Grund wird in der
struktural-systematischen Philosophie meistens der Begriff »das Absolutnot-
wendige« oder auch, gleichbedeutend, einfach »das Absolute« verwendet.81

3.5 Die Explikation des Verhältnisses


von absolutnotwendigem Sein und kontingenter
Dimension der Seienden als Schlüssel zu einer
Konzeption über das absolutnotwendige Sein als
geistiges (personales) absolutnotwendiges Sein

An diesem Punkt der systematischen Darstellung beginnt eine neue Phase,


und zwar eine solche, die für die Thematik und somit die Zielsetzung des
vorliegenden Buches von besonderer Bedeutung ist. Am Anfang dieser neuen
Phase sollen methodologische Überlegungen stehen.

3.5.1 Methodologische Vorklärungen


Die erreichte Zweidimensionalität der universalen Seinsdimension ist ein
großes Thema, das, schon in sich selbst betrachtet und adäquat behandelt,
einen radikal neuen Weg bei der Erörterung der sogenannten großen Fragen
der Metaphysik eröffnet, ganz besonders, wenn es sich um die umfassende
im Titel des vorliegenden Buches angezeigte Frage nach dem Verhältnis von
Sein und Gott handelt. Ein zentraler Gesichtspunkt dieses neuen Ansatzes sei
gleich kurz angedeutet.
In der traditionellen metaphysischen Behandlung der Seins‑ und Gottes-
frage wird ein Weg beschritten, der als Weg von unten nach oben (bottom-up
81  In der christlich orientierten Metaphysik des Mittelalters (Thomas von Aquin)

findet man den Ausdruck bzw. den Begriff »Absolut(es)« nicht. Kant benutzt neben
dem Begriff »Notwendig(es)« vor allem den Begriff »Unbedingt(es)«. Erst die deutschen
Idealisten haben den Begriff »Absolutes« (in der Form »das Absolute«) in umfassender
Weise zur Bezeichnung des Notwendigen und Unbedingten Wesens (Gott) ausgiebig ver-
wendet. Seitdem ist es üblich, diesen Begriff im Zusammenhang mit der Rede über Gott
zu gebrauchen.
238 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

method) charakterisiert werden kann und mehrere wichtige Aspekte auf-


weist.82 Zwei der wichtigsten seien kurz beschrieben. Der erste besteht darin,
dass von einem bestimmten Phänomen der Welt ausgegangen wird, um dann
dieses Phänomen mit dem Ziel zu transzendieren, einen »höchsten Punkt«
zu erreichen. Paradebeispiele eines solchen Verfahrens sind die traditionellen
Gottesbeweise. Der zweite Aspekt ist in gewisser Weise eine sich aus dem
ersten Aspekt ergebende Folgerung für den Status der Aussagen über die »me-
taphysischen Sachverhalte«. Die dabei verwendeten Begriffe werden zuerst im
endlichen Bereich gewonnen und dann auf die »metaphysische Dimension«
übertragen. Dieses Verfahren wurde (und wird) Analogie genannt. Dem-
nach ist der primäre oder eigentliche Sinngehalt dieser Begriffe der aus der
Betrachtung von Phänomenen der Welt gewonnene Sinngehalt; dessen Über-
tragung auf Gott erfolgt nachträglich und dann nur in analoger Weise. Beide
Aspekte zeigen deutlich, dass »Gott« als ein meta-physisches X im wörtlichen
Sinne aufgefasst bzw. thematisiert wurde /wird: als ein X, dessen Grundcha-
rakteristik sein »Meta-«, sein »Jenseits-sein« ist. Das Grundproblem kann als
das Problem der Kohärenz der ganzen Konzeption gesehen werden; in viel-
fältigen Formen ist dieses Problem schon in Kapitel 1 angesprochen worden
und soll in den weiteren Ausführungen in diesem und im nächsten (vierten)
Kapitel thematisiert werden.
Im Gegensatz dazu geht die hier vertretene Konzeption keineswegs von
irgendeinem Phänomen (in) der Welt aus, allgemein: von irgendeiner end-
lichen »Sache« (was immer sie sein mag: Phänomen, Begriff, »Vollkom-
menheit (perfectio)«, Sachverhalt etc.). Aber sie geht auch nicht von einer
Betrachtung der absolut universalen Seinsdimension in der Weise aus, dass
ihre Bestimmungen in irgendeiner rein abstrakten Weise aus ihr abgeleitet
werden könnten. Vielmehr ist der Ausgangspunkt zwar die absolut universale
Dimension des Seins, aber schon als Zweidimensionalität näher bestimmt.
Daraus ergibt sich unmittelbar, welches die nächste Aufgabe für die Theorie-
bildung ist: die Explikation dieser Zweidimensionalität. Präziser formuliert:
die Aufgabe besteht darin, das Verhältnis zwischen diesen beiden Dimen-
sionen zu explizieren. Damit wird jedes der beiden Relata näher bestimmt.
Da die kontingente Dimension uns auf »natürliche« Weise bekannt ist, sieht
es zunächst so aus, als bedürfte sie keiner näheren Explikation. Aber das ist
reiner Schein. Die »Vertrautheit«, die wir uns hinsichtlich der kontingenten
Dimension (der Dimension der Welt und ihrer Elemente, also der Dinge der
Welt) zuschreiben, besagt keineswegs eine auch nur einigermaßen adäquate
Sicht des letzten philosophisch-systematischen (traditionell: metaphysischen)
Status dieser kontingenten Dimension. Aus der explikativen Analyse des Ver-
hältnisses der beiden Dimensionen ergib sich erst deren nähere Bestimmung.

82 
Zur Sonderstellung des »ontologischen Gottesbeweises« vgl. oben 3.2.2a Exkurs 2.
3.5 Die Explikation des Verhältnisses von absolutnotwendigem Sein 239

3.5.2 Die absolutnotwendige Seinsdimension als absolutnotwendiges geistiges


(personales) Sein
[1] Im Unterschied zur kontingenten Dimension, die uns zwar nicht adäquat,
aber doch in sehr reichhaltiger und extensiver Weise »gegeben« ist, ist für uns
anfänglich die absolutnotwendige Dimension noch weitgehend unbestimmt,
auch wenn in der natürlichsprachlichen Welt viele Vorstellungen gegeben
sind, deren »Gegenstand« etwas Jenseitiges ist. Solche Vorstellungen sind in
philosophischer Hinsicht samt und sonders unbrauchbar und stellen eher ein
großes Hindernis für die adäquate Erfassung und weitere Bestimmung der
absolutnotwendigen Dimension dar. Wie ist aber diese absolutnotwendige
Dimension näher zu bestimmen? Die Antwort wurde schon angedeutet:
durch die Thematisierung des Verhältnisses zwischen kontingenter und ab-
solutnotwendiger Dimension.
Die theoretische Ebene, auf welcher dieses Verhältnis angemessen gesehen
und begriffen werden kann, ist jene Ebene, die oben in Abschnitt 3.2.1.2 die
intentionale Koextensionalität des menschlichen Geistes mit dem Sein als
solchen und im Ganzen und damit mit der absolut universalen Seinsdimen-
sion genannt wurde. Wie ist diese Koextensionalität bestimmt, was schließt
sie alles ein? Sie schließt alles ein, was über das große Thema dieses Buches
gesagt werden kann und muss. Die wichtigsten Aspekte sind im folgenden
darzustellen.
Es soll im folgenden gezeigt werden, dass die absolutnotwendige Seins-
dimension als absolutnotwendiges geistiges Sein zu konzipieren ist, wobei
»geistiges Sein« hier meint: »mit Intelligenz, Wille, Freiheit« ausgestattetes
Sein. (Man kann dafür, im Anschluss an eine heute weit verbreitete Termi-
nologie, auch sagen: absolutnotwendiges personales Sein, obwohl das Wort
»Person(al)« leicht Anlass zu sehr störenden Missverständnissen geben kann.)
Es ist offensichtlich, das damit ein gewaltiger Schritt getan wird. Die Be-
stimmung der absolutnotwendigen Seinsdimension im Sinne des absolutnot-
wendigen geistigen Seins in vollem Sinn nämlich eröffnet eine völlig neue und
unendlich weite Perspektive.83

83  Zur nicht-kontingenten Seinsdimension werden oft (auch) die logischen / mathe-

matischen Strukturen (Entitäten) gerechnet. So bezeichnen die Autoren, die nur die
Existenz einer »submaximalen Welt« annehmen (vgl. dazu SuS 5.3.2 [5]), eine solche Welt
als »kontingent«. Ihnen zufolge ergibt sich die »Kontingenz« daraus, dass diese Welten
»submathematische Bereiche« sind:
»Es mag mehrere Wege geben, wie man den Begriff des submathematischen Bereichs
präziser machen kann. Man nehme an, etwas sei dann submathematisch, wenn seine Exis-
tenz kontingent ist. Dann betrachte man den Vorschlag, dass ›die Welt‹ als das Aggregat
aller kontingenten Seienden verstanden werden könnte. Das heißt, man setze voraus, dass
es ein solches Ding wie das Aggregat aller kontingenten Seienden gibt, und man definiere
›die Welt‹ als dieses Ding. Dann würden alle mathematischen Entitäten wie Mengen – die
Dinge, die zu zahlreich sind, um zu irgendeiner einzigen Entität zusammengefasst zu wer-
240 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

[2] Zugunsten dieser These lassen sich mehrere Argumente ins Feld führen.
Im folgenden sollen zwei Argumente vorgelegt werden.
[i] Das erste Argument hebt entscheidend auf einen zentralen Aspekt des
Verhältnisses zwischen der kontingenten Seinsdimension und der absolutnot-
wendigen Seinsdimension ab. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass
es theoretisch völlig unbefriedigend, ja nicht akzeptabel wäre, wenn dieses
Verhältnis nur rein negativ bestimmt würde, nämlich im Sinne der reinen
Unterscheidung zweier Seinsdimensionen; denn damit wäre nur zum Aus-
druck gebracht, dass die eine Dimension nicht die andere ist. Zu leugnen,
dass das Verhältnis zwischen beiden ein positives ist, würde auf so etwas wie
die Halbierung des menschlichen Intellekts hinauslaufen, hat dieser doch
das unbedingte Bedürfnis und die Fähigkeit zu fragen und zu begreifen, wie
dieses positive Verhältnis zu konzipieren ist. Hinzuzufügen ist, dass damit die
eigentliche Aufgabe der Philosophie völlig unerledigt gelassen wäre.
Oben wurde der spezifische Charakter des menschlichen Geistes besonders
mit der »Kurzformel« artikuliert: Der menschliche Geist ist intentional koex-
tensiv mit dem Sein im Ganzen. Somit ist er auch mit der absolutnotwendigen
Seinsdimension intentional koextensiv. Auf dieser Basis kann man nun einen
indirekten Beweis zugunsten der im Titel dieses Abschnitts formulierten
These führen.
Angenommen, die absolutnotwendige Dimension sei nicht geistig ver-
fasst, sondern sei irgendetwas anderes, etwa ein rein abstraktes Prinzip (wie
immer man so etwas konzipieren mag) oder so etwas wie eine »ursprüngliche
nicht-geistige Natur« oder etwas Ähnliches; dann hätte man die folgende
sonderbare »Gegenüberstellung«: auf der einen Seite geistig verfasste kon-
tingente Seiende, die mit dem Sein im Ganzen und damit auch mit der absolut-
notwendigen Seinsdimension intentional koextensiv sind, und auf der anderen
Seite eine rein abstrakte oder rein »naturhaft« verfasste absolutnotwendige
den – außerhalb ›der Welt‹ zu stehen kommen, gemäß dieser eingeschränkten Bedeutung
des Terms.« (J. Bigelow, »God and the New Math«, 1996, 148)
Heißt das, dass die mathematischen Entitäten, indem sie »außerhalb« der submaxi-
malen – und damit der kontingenten – Welt »liegen«, nicht-kontingent, also notwendig
sind? Aber dann »gibt es« – in welchem näheren Sinn auch immer – eine »notwendige
Seinsdimension«. Eine solche Frage stellen diese Autoren nicht und noch weniger gehen
sie ihr nach. Aber abgesehen davon, wäre hier zu klären, wie »Notwendigkeit« in diesem
Fall ontologisch zu verstehen ist. Wenn man etwa sagt, die (ontologisch verstandene) Not-
wendigkeit besage, dass etwas in allen möglichen Welten existiert, so entsteht ein Problem:
Wie werden diese Welten selbst aufgefasst? Sind sie kontingent, wie das im allgemeinen
angenommen wird? Dann hätte man einen seltsamen Begriff von »(ontologischer) Not-
wendigkeit«: Notwendig wäre etwas, das in allen möglichen kontingenten Welten existiert.
An dieser Stelle in diesem Buch kann auf diese Problematik nicht näher eingegangen
werden. Für die Klärung der Frage, wie die absolutnotwendige Seinsdimension näher zu
explizieren ist, ist es hinreichend zu sagen, dass die logischen / mathematischen Entitäten
einen nur derivativen nicht-kontingenten Status innerhalb der absolutnotwendigen Seins-
dimension haben. Für nähere Erläuterungen sei verwiesen auf SuS 5.3.4 [1] (S. 600 ff.).
3.5 Die Explikation des Verhältnisses von absolutnotwendigem Sein 241

Seinsdimension. Die so aufgefasste absolutnotwendige Seinsdimension wäre


dann definitionsmäßig weder mit sich selbst und noch weniger mit dem Sein
im Ganzen intentional koextensiv. Wäre das kohärent begreifbar?
Um darauf eine fundierte Antwort zu geben, muss man die Frage klären,
welche Kriterien oder Maßstäbe man bei der Beurteilung eines so konzipierten
Verhältnisses anlegt. Man kann zwar auf Prinzipien oder Axiome rekurrieren,
allerdings nicht in der Weise, dass sie einfach explizit aufgestellt werden; man
muss vielmehr so argumentieren, dass Prinzipien oder Axiome zugleich mit
ihrer Begründung dargelegt werden. Wie im Buch Struktur und Sein ausführ-
lich gezeigt wurde,84 kreisen bei einem solchen Unternehmen die argumenta-
tiven Überlegungen um das Kriterium der (größeren) Intelligibilität und der
sich daraus ergebenden (größeren) Kohärenz. Der Begriff der »Intelligibilität«
muss als ein ontologisch-epistemischer Begriff konzipiert werden: Einerseits
artikuliert er die ontologische Strukturiertheit der in Frage stehenden Sache
und andererseits thematisiert er auch die »Einstellung« des Intellekts be-
züglich der so strukturierten Sache. Leuchtet eine bestimmte ontologische
Strukturiertheit dem Intellekt ein, so ist Intelligibilität (hinsichtlich dieser
Strukturiertheit) im eigentlichen Sinne erreicht; dabei kann die Intelligibilität
viele Grade haben. Basiert eine Konzeption oder Theorie auf einer höheren
Intelligibilität im erläuterten Sinne, so ist sie das Resultat einer bestimmten
Form der inference to the best explanation.85
Auf dieser Basis kann nun die entscheidende Behauptung aufgestellt werden:
Die These, dass die absolutnotwendige Seinsdimension geistig verfasst ist, kann
eine unvergleichlich höhere Intelligibilität für sich in Anspruch nehmen als die
entgegengesetzte These, der zufolge diese Dimension nicht-geistig verfasst ist.
Zur Begründung kann man eine Reihe von Gesichtspunkten ins Feld führen;
zwei seien hier kurz genannt und ausgeführt. Erstens ergibt sich aus dem Ver-
hältnis zwischen der kontingenten und der absolutnotwendigen Dimension,
dass die kontingente Dimension von der absolutnotwendigen total abhängig
ist. »Totale Abhängigkeit« muss in diesem Zusammenhang streng ontologisch
gedacht werden, was bedeutet, dass der menschliche Geist hinsichtlich seines
ganzen Seins gänzlich und in jeder Hinsicht auf die absolutnotwendige Seins-
dimension angewiesen ist. Man kann dieses »Angewiesensein« verschiedent-
lich erklären, wobei aber der unverrückbare Kern immer bestehen bleibt,
nämlich: Ohne die absolutnotwendige Seinsdimension hätte der menschliche
Geist nicht aktual seiend werden können.
Der Grund dafür liegt in dem Kerngedanken des Arguments, das oben zur
Begründung der These von der Seins-Zweidimensionalität vorgelegt wurde.

84 Vgl. besonders Kapitel 6.


85 Vgl. dazu die ausgezeichneten Ausführungen von P. Forrest, God Without the Su-
pernatural. A Defense of Scientific Theism, 1996, bes. 26–35, 41–42, 117–121.
242 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Der Grund kann als die folgende Frage in diesem Zusammenhang formuliert
werden: Kann überhaupt verständlich (intelligibel) gemacht werden, dass
ein kontingentes geistiges Seiendes von einer nicht-geistig verfassten ab-
solutnotwendigen Seinsdimension in der beschriebenen Weise total abhängig
ist bzw. sein kann? Man kann dies nicht. Die nicht-geistig verfasste absolut-
notwendige Seinsdimension müsste dazu, um es salopp auszudrücken, »in
der Lage« sein: Sie müsste so verfasst sein, dass das totale Abhängigsein der
kontingenten geistig verfassten Seienden verständlich oder erklärbar wäre.
Aber als nicht-geistig verfasste Seinsdimension hat sie nichts in sich, um dies
zu leisten. Der kontingente menschliche Geist besitzt in sich Potentialitäten,
die die nicht-geistig verfasste absolutnotwendige Seinsdimension überhaupt
nicht hat. Da das Verhältnis zwischen den beiden Seinsdimensionen, wie
oben gezeigt wurde, positiv bestimmt sein muss, würde die Leugnung, dass
die absolutnotwendige Seinsdimension geistig verfasst ist, der Annahme einer
schlechterdings unerklärlichen »metaphysischen Kluft« gleichkommen. Jeder
Versuch, das genannte Verhältnis auf dieser Basis doch noch positiv zu »erklä-
ren«, würde dem spezifischen Charakter des geistig verfassten menschlichen
Seins auf der ganzen Linie nicht gerecht werden.
Der zweite Gesichtspunkt ist die oben (3.3 [2] [iii]) formulierte These der
universalen Ausdrückbarkeit des Seins im Ganzen. Universal ausdrückbar
wäre demnach auch die als nicht-geistig aufgefasste absolutnotwendige Seins-
dimension; sie wäre so oder so strukturiert. Aber dies wäre sie nur sozusagen
»in sich selbst«, sie würde sich selbst nicht als eine solche erfassen und selbst
artikulieren. Im Unterschied dazu hat der kontingente menschliche Geist den
unvergleichlich höheren Status eines Seins, das ausdrückbar und ausdrückend
(artikulierend) ist. Damit eröffnen sich dem kontingenten menschlichen Geist
Potentialitäten hinsichtlich des Handelns, der Gestaltung jeder Form, die
der nicht-geistig verfassten absolutnotwendigen Seinsdimension gänzlich
abgehen. Es kann dann nicht mehr begreifbar gemacht werden, dass der kon-
tingente menschliche Geist von einer nicht-geistigen absolutnotwendigen
Seinsdimension in seinem Sein total abhängig sein soll.
[ii] Ein zweites Argument basiert auf demselben Grundgedanken, un-
terscheidet sich aber vom ersten hinsichtlich der Form: Es artikuliert den
Grundgedanken hinsichtlich wesentlicher Aspekte des menschlichen Geistes
in generalisierter Form, und zwar in Form eines Prinzips oder Axioms.
Jede Ontologie, die dem spezifischen Charakter der verschiedenen Seien-
den bzw. der verschiedenen »Seinsbereiche« gerecht werden will, muss das
folgende ontologische Prinzip, das Prinzip des ontologischen Ranges (POR)86,
als Grundprinzip anerkennen:

86 
Für eine Erläuterung und Begründung dieses Prinzips ist der wichtigste Fall eines
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 243

(POR) Etwas von höherem ontologischem Rang kann nicht ausschließlich


aus etwas von niedrigerem ontologischem Rang entstehen oder er-
klärt werden.
Es dürfte aber unschwer einleuchten, dass die Anwendung von POR auf
das Problem der Bestimmung des Verhältnisses von absolutnotwendiger
und kontingenter Seinsdimension zu einer eindeutigen Konklusion führt;
denn offensichtlich ist eine nicht-geistig verfasste Seinsdimension von einem
niedrigeren ontologischen Rang als der ontologische Rang des kontingenten
menschlichen Geistes; dieser kann daher aus einer nicht-geistig verfassten
absolutnotwendigen Seinsdimension nicht erklärt werden. Die absolutnot-
wendige Seinsdimension muss als so verfasst konzipiert werden, dass aus ihr
die kontingente Seinsdimension voll erklärbar wird. Aber dies kann sie nur
leisten, wenn sie einen ontologischen Rang besitzt, der zumindest nicht nied-
riger ist als der ontologische Rang aller kontingenten Seienden, einschließ-
lich der kontingenten geistigen Seienden. Daraus ist zu folgern, dass die
absolutnotwendige Seinsdimension als eine geistige Seinsdimension begriffen
werden muss.
Es ist präzisierend hinzuzufügen, dass das Prinzip POR nicht als eine Ver-
werfung bestimmter Phänomene bzw. naturwissenschaftlicher Theorien miss-
verstanden werden darf, ganz besonders nicht des Phänomens der Evolution
bzw. der Evolutionstheorie(n). Voraussetzung dafür ist, dass diese Phänomene
adäquat erklärt werden und dass die betreffenden Theorien keine ungerecht-
fertigten Extrapolationen beinhalten. Darauf kann aber in diesem Buch nicht
näher eingegangen werden.87

3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein


als Schöpfer der Welt (als Schöpferabsolutes)

An diesem Punkt der Explikation der universalen Seinsdimension ist es an-


gebracht, darauf hinzuweisen bzw. daran zu erinnern, dass der Nachweis,
die absolutnotwendige Seinsdimension sei geistig verfasst, bedeutet, dass sie
genauer als absolutnotwendiges geistiges personales Sein bestimmt ist. Das
heißt: Es wird »Sein« und nicht »Seiendes« gesagt, weil die Stellung des ab-
solutnotwendigen geistigen personalen Seins absolut einmalig ist: Es ist nicht
ein »weiteres« Seiendes, und zwar, strenggenommen, auch nicht im Sinne
eines oder des »höchsten oder ersten Seienden«. Das schließt a limine aus,
es könne gesagt werden, hier werde »Onto-Theologie« im Sinne Heideggers

ontologischen Ranges, nämlich die besondere Stellung des Menschen als geistig verfassten
Seienden im Universum, von entscheidender Bedeutung.
87  Vgl. dazu SuS 605 ff.
244 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

und der postmodernen Autoren vertreten. Die von dieser Seite erhobenen
(berechtigten oder unberechtigten) Einwände dagegen greifen hier nicht.
Wohl ist hier zu sagen, dass die skizzierte Theorie in gewisser Hinsicht in
der Kontinuität einer Konzeption zu sehen ist, die besonders von Thomas
von Aquin ansatzweise – aber nicht konsequent – formuliert wurde. Gemeint
sind besonders seine Aussagen über das Absolute (Gott) als ipsum esse per se
subsistens.88 Dies wurde in Kapitel 1 ausführlich dargetan.
Hier ist ein in einer bestimmten (noch zu erläuternden) Hinsicht letzter
Schritt bei der Explikation der universalen Seinsdimension zu vollziehen. Es
ist zu zeigen, dass das absolutnotwendige geistige Sein als Schöpferabsolutes
zu begreifen ist.
Es wurde oben gezeigt, dass die kontingente Seinsdimension von der ab-
solutnotwendigen Seinsdimension bzw., wie jetzt bestimmter zu sagen ist,
vom absoluten personalen Sein total abhängig ist. Welcher Art diese Ab-
hängigkeit ist, ist jetzt im Ansatz zu zeigen. Als absolut geistig verfasst be-
sitzt das absolute Sein absolute Intelligenz und absoluten, d. h. absolut freien
Willen. Daraus kann eine Folgerung mit umfassender Tragweite gezogen
werden, nämlich: Die totale Abhängigkeit der kontingenten Seinsdimension
vom Absoluten Sein beruht auf einer freien Entscheidung des Absoluten
Seins, die kontingente Seinsdimension aus dem Nichtsein ins Sein zu setzen.
Das bedeutet, dass die totale Abhängigkeit der kontingenten Seienden vom
Absoluten Sein daher den Status des Erschaffenseins hat.
In der klassisch-christlichen Metaphysik wurde diese freie Handlung des
absoluten Seins Schöpfung genannt und diese als Hervorbringung aus dem
Nichts charakterisiert. Es ist offenkundig, dass »Nichts« hier keineswegs »ab-
solutes Nichts« heißt, ist doch das Absolute Sein immer schon vorausgesetzt.
Die christlich-metaphysische Tradition hat den Begriff der Schöpfung näher
charakterisiert als »Hervorbringung (eines Seienden) aus dem Nichtsein (aus
der Nichtexistenz) dieses Seienden und ohne ein (wie immer) zugrundelie-
gendes oder vorausgesetztes »Subjekt« (im Sinne eines zugrundeliegenden
Stoffs).«89

88  Vgl. z. B. STh I q. 4 a. 2 c; I q. 44 a. 2 c; De Pot q. 7 a.2 ad 5 – und öfters. Vgl. zur

gesamten Position Thomas von Aquins: Puntel, SGTH, Kapitel II.


89
  Die knappe und treffende Formulierung, die sich in der Tradition der christlichen
Metaphysik herausgebildet hat, lautet: »Creatio est productio entis ex nihilo sui et sub-
iecti.«
Eine charakteristische Formulierung bei Thomas v. Aquin lautet:
»Schöpfung […] ist die Hervorbringung eines Dinges [Seienden] hinsichtlich sei-
nes ganzen (substantiellen) Seins, ohne dass ein Zugrundeliegendes vorausgesetzt wäre
[Creatio […] est productio alicuius rei secundum suam totam substantiam, nullo prae-
supposito].« (STh I q. 65 a. 4 c.)
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 245

3.6.1 Fehlinterpretationen des Schöpfungsgedankens

Der Schöpfungsgedanke kann nur im Rahmen einer Konzeption des Seins


als solchen und im Ganzen richtig verstanden und gewürdigt werden. Es
handelt sich um einen der tiefsten und – man muss wohl sagen – grandiosesten
Gedanken, die der menschliche Geist haben kann. Aber gerade weil er diesen
in vielfacher Hinsicht einmaligen Status hat, ist es – zumindest für viele – nicht
leicht, ihn adäquat zu fassen und zur Geltung zu bringen. Es ist daher nicht
sehr verwunderlich, dass er – gerade heute – kaum als solcher wirklich ver-
standen und gewürdigt wird. Darüber wäre sehr viel zu sagen. Hier sollen nur
zwei charakteristische entstellende Fehldeutungen und krasse Missverständ-
nisse kurz beschrieben und richtiggestellt werden.

[1] Das erste Missverständnis ist sehr weit verbreitet; man muss wohl sogar
sagen, dass es die forma mentis des heutigen Menschen charakterisiert, inso-
fern dieser durch die moderne Lebenswelt und die technisch-wissenschaftliche
Entwicklung bestimmt wird. Es besteht darin, dass man solche Phänomene
wie »Entstehung«, »Neues«, »Herkunft« u. ä. ausschließlich im Rahmen um-
fangreicherer »Phänomene« wie »Prozess«, »Evolution« u. ä. sich vorstellen
bzw. begreifen kann. Das Charakteristische all dessen, was im Rahmen von
Prozessen, Evolution(en) u. dgl. stattfindet, liegt darin, dass immer etwas (ein
Voraus‑ bzw. Zugrundeliegendes, eine Basis, Rohstoffe u. ä.) vorausgesetzt
wird. Das scheint eine Selbstverständlichkeit für diese »moderne« Denk‑ bzw.
Vorstellungsweise zu sein. Alles, was geschieht, wird dann als Modifikation,
Neugestaltung u. ä. des »vorausgesetzten Materials« begriffen. Ein solches
»Material« wird sowohl im Kleinen wie im Großen vorausgesetzt, d. h. beim
»Begreifen« sowohl einzelner »kleiner« Phänomene als auch umfangreicherer
Phänomene  –  bis hin zum »Begreifen« der ganzen Natur/Wirklichkeit …
Letzten Endes wird das Ganze der Wirklichkeit mehr oder weniger mit dem
Kosmos-in-Evolution identifiziert.
Vor diesem Hintergrund entschwindet dem Denkhorizont der Gedanke der
Schöpfung: der Gedanke der »absoluten Entstehung« eines Seins, wobei »ab-
solute Entstehung« hier bedeutet: ohne Voraussetzung eines zugrundeliegen-
den Materials. Die ganze technisch-wissenschaftliche Lebens‑ und Denkform
vollzieht sich auf der Basis der fraglosen Voraussetzung und Annahme einer
vorliegenden bzw. zugrundeliegenden Dimension. Die Art und Weise, wie
die von bestimmten Wissenschaftlern und Philosophen, die wissenschaftliche
Ergebnisse und Theorien gewaltig extrapolieren, gestellte Frage nach dem An-
fang des evolvierenden Kosmos, der ganzen physikalischen Welt, verstanden
und behandelt wird, ist ein charakteristisches Beispiel für diese Einstellung.
Wohlgemerkt, hier sollen die Ergebnisse der Naturwissenschaften, in diesem
konkreten Fall vor allem der physikalischen Kosmologie, nicht geringschätzig
246 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

betrachtet und noch viel weniger in Frage gestellt werden. Hier werden die
der hier charakterisierten Einstellung zu verdankenden völlig unbegründeten
Extrapolationen seitens von Philosophen und auch zumindest einiger Natur-
wissenschaftler kritisiert.90

[2] Das zweite Missverständnis findet man bezeichnenderweise bei Phi-


losophen, die sich als dezidierte Kritiker der Metaphysik verstehen, indem
sie eine Denkweise zu pflegen vorgeben, die radikaler als die Metaphysik
zu sein beansprucht. Die ganz große Frage, die an die Adresse dieser Phi-
losophen zu richten ist, lautet: Wie wird Metaphysik von ihnen verstanden? In
diesem Buch werden drei dieser Philosophen ausführlich behandelt, nämlich
Heidegger, Lévinas und Marion. Heideggers Position soll im folgenden kurz
analysiert werden. Die Auffassungen von Lévinas und Marion werden in
Kapitel 4 untersucht.
[i] Wie in Kapitel 1 dargelegt wurde, charakterisiert Heidegger in seiner
posthum veröffentlichten Vorlesung Geschichte der Philosophie von Thomas
von Aquin bis Kant das Sein bei Thomas kurzerhand so: »Sein = Vorhanden-
heit« (vgl. oben 1.3.1 [1]). Im Anschluss daran schreibt er:
»Fußpunkt der Beweise [Heidegger meint die Gottesbeweise bei Thomas]: videmus
[wir sehen], sensu constat [es steht durch die Sinne fest], inveniuntur [es finden sich],
auf Seiendem, das hier steht, d. h. hier her-gestellt wurde. Hergestellt verlangt einen
Hersteller. Horizont des Seinsverständnisses, der den Beweisen zugrunde liegt: Her-
stellen und das Hergestellte als Vorhandenes. Hersteller, der selbst vorhanden sein
muß. Daß dieser [Hersteller] Schöpfer ist, d. h. aus Nichts herstellt, verschlägt ontolo-
gisch nichts gegen die These, daß Herstellen und so Vorhandensein die Idee des Seins
bestimmt, sondern bestätigt sie nur.«91

Dieser Text bringt in aller Klarheit die radikale Entstellung zum Ausdruck,
der Heidegger die große Idee der Schöpfung, wie sie in der christlichen Seins-
metaphysik artikuliert wurde, unterzieht. »Sein« wird als Vorhandenes/Vor-
handenheit missinterpretiert und als Vorhandenes wird es als Hergestelltes
vorgestellt. Beide, der postulierte Hersteller und sein Produkt, das Vor-
handene, werden ebenfalls als Vorhandene vorgestellt: »Dieses Vorhandene,
Hergestellte, verlangt einen Hersteller, der vordem vorhanden war und zwar
schlechthin, nicht erst einmal hergestellt, sondern immer vorhanden ist.«92
Und dann wird der Schöpfer als jene Instanz charakterisiert, die »aus Nichts
herstellt«. Und dieser Umstand, so wird apodiktisch behauptet, »verschlägt

90  Diese wurde in SuS ausführlich behandelt (vgl. besonders »4.5.1 Die naturwissen-

schaftlich-philosophische Kosmologie«, 433–440).


91  GA, Band 23, 94 (Kursiv nicht im Original). Ganz ähnliche Aussagen finden sich

auch im Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit (vgl. § 6, 33; § 20, 123 ff.). Diese Aussagen
wurden sehr oft in der Literatur zitiert und kommentiert.
92  Ebd. 95.
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 247

ontologisch nichts gegen die These, daß Herstellen und so Vorhandensein die
Idee des Seins bestimmt, sondern bestätigt sie nur«.
Dazu ist zu sagen, dass Heidegger hier nicht nur eine nicht-nachvollzieh-
bare Missinterpretation vorlegt, sondern auch einen absolut simplen und ele-
mentaren Denkfehler begeht, den er durch eine dogmatische Behauptung (»…
verschlägt nichts …«) zu überdecken versucht. Dass das »Sein« bei Thomas
von Heidegger völlig falsch gedeutet wird, wurde in Kapitel 1 ausführlich
dargelegt. Hier fasst er das Herstellen als ein Verhältnis zwischen Vorhande-
nen, was wohl richtig ist; denn dass etwas hergestellt wird, besagt, dass etwas
aus irgendetwas (anderem) »produziert« wird, wobei »produzieren« hier im
heutigen Sinne zu nehmen ist, nämlich als das Zustandebringen von etwas in
der Weise, dass man etwas Vorhandenes (ein Material …) in einer bestimmten
Weise bearbeitet. Herstellen »aus Nichts« ist daher widersinnig. Heidegger
macht eine inkohärente Behauptung; denn einerseits charakterisiert er das
Herstellen als ein Verhältnis zwischen Vorhandenen; andererseits fasst er
die Schöpfung als ein »Herstellen aus Nichts« auf. Aber das Nichts ist kein
Vorhandenes. Wie kann er dann beide Aussagen aufrechterhalten? Es ist of-
fenkundig, dass hier eine tiefe Inkohärenz manifest wird. Darüber verliert er
aber kein Wort.
Der einzige Weg, der Inkohärenz zu entgehen, bestünde für Heidegger
darin, zu erklären, dass der Begriff einer »Hervorbringung aus Nichts« im
Falle des »metaphysischen Gottes« keinen Sinn machte; denn, so müsste
er konsequenterweise argumentieren, der metaphysische Gott ist auch ein
Seiendes-als-Vorhandenes, so dass jedes Handeln seinerseits als ein Handeln
eines Vorhandenen gegenüber einem anderen Vorhandenen wäre. Aber ein
solches Handeln ist keine Hervorbringung aus Nichts. Wenn aber Heideg-
ger diesen Ausweg explizit vertreten hätte oder würde, so könnte man per
Umkehrschluss gegen ihn den fundamentalen Einwand erheben, dass seine
Unfähigkeit, den tiefen Gedanken einer radikalen Hervorbringung aus Nichts
richtig zu verstehen und zur Geltung zu bringen, zeigt, dass seine Prämissen,
d. h. seine Behauptungen über das Thomasische Sein-als-Vorhandenes und
ähnliche falsch sind.
Es ist bezeichnend, dass Heidegger explizit behauptet: »[…] die Ursache
als die Causa sui. So lautet der sachgerechte Name für den Gott in der Phi-
losophie.« (ID 70–71) Es wird deutlich, dass Heidegger einen unbedachten
Begriff von Ursache als ein Verhältnis zwischen Vorhandenen einfach voraus-
setzt und bedenkenlos auf Gott anwendet, wobei dann Gott für ihn als ein
Vorhandenes ein kausales Selbstverhältnis hat, causa sui ist.
Hier ist noch eine Bemerkung anzufügen. Betrachtet man Heideggers ent-
stellende Aussagen, die den Schöpfungsgedanken auf die Ebene einer Her-
stellung zwischen Vorhandenen reduzieren, so tut man gut daran, sich an das
zu erinnern, was in Kapitel 1 über seine Ausführungen über das Sein-als-Er-
248 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

eignis gezeigt wurde. Im Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag »Zeit
und Sein« wird die Frage gestellt: »Was ereignet das Ereignis? Was ist das vom
Ereignis Ereignete?« (Protok 45) Als Antwort wird explizit auf den Vortrag
Der Satz der Identität verwiesen und behauptet:
»[Es] wird im Identitätsvortrag, wenn er von seinem Ende her gedacht ist, gesagt, was
das Ereignis ereignet, d. h. ins Eigene bringt und im Ereignis behält: nämlich das Zu-
sammengehören von Sein und Mensch. In diesem Zusammengehören sind dann die
Zusammengehörenden nicht mehr Sein und Mensch, sondern  –  als Ereignete  –: die
Sterblichen im Geviert der Welt.« (Ebd.)
Hier redet Heidegger nicht mehr vom Verhältnis zwischen Sein und Sei-
endem, sondern von Ereignis und Ereignetem. Wie konzipiert er aber das
Verhältnis selbst, das jetzt bei ihm Ereignen heißt? Das letzte Zitat enthält
die Antwort, aber eher unscheinbar: »… was das Ereignis ereignet, d. h. ins
Eigene bringt und im Ereignis behält« (Kursiv nicht im Original). Also: das
Ereignen wird als ein Bringen und Behalten, also als ein Tun oder wie immer
man es ausdrücken möchte, verstanden. Aber wie konzipiert Heidegger dieses
Bringen/Behalten / Tun selbst? Darüber sagt er nur etwas, was das Ergebnis,
das Resultat des Bringens / Behaltens / Tuns ist, nämlich: »… das Zusammen-
gehören von Sein und Mensch …«, wobei »die Zusammengehörenden nicht
mehr Sein und Mensch, sondern – als Ereignete –: die Sterblichen im Geviert
der Welt« sind. Welcher Art aber ist das Ereignen selbst als Bringen/Behalten/
Tun? Darüber sagt Heidegger nichts.
Dabei macht Heidegger eine weittragende Voraussetzung, die er nicht ein-
mal anfänglich durchzudenken versucht. Man kann diese Voraussetzung da-
durch ans Licht bringen, dass man die simple Frage stellt: Wenn das Ereignen
das, was es ereignet, in das Eigene bringt und es im Ereignis behält, wird dann
dieses »was« schon als gegeben / vorhanden oder wie immer vorausgesetzt?
Wenn nicht, heißt dies, dass dieses »was« allererst hervorgebracht wird?
Und wenn allererst hervorgebracht, heißt dies dann, dass es aus Nichts oder
aus etwas Weiterem, das dann ebenfalls vorausgesetzt wäre, hervorgebracht
wird? Damit es einen Sinn hat zu sagen, dass etwas in das Eigene gebracht
und im Ereignis behalten wird, muss vorausgesetzt werden, dass es sich
um ein schon so oder so Vorhandenes handelt, das dann eben in das Eigene
gebracht und im Ereignis behalten wird. Heidegger kommt nicht darum
herum, diesen grundlegenden dunklen Punkt in seinen Aussagen zu klären.
Er müsste das folgende Dilemma auflösen: Entweder setzt er voraus, dass
das, was ereignet wird, schon so oder so vorausgesetzt wird; oder er deutet
das, was ereignet wird, als das, was allererst durch das Ereignen entsteht. Im
ersten Fall würde er das, was ereignet wird, in ziemlich trivialer Weise als
ein schon Vorhandenes deuten müssen, mit der Konsequenz, dass er darüber
nichts Weiteres gesagt hätte. Ferner hätte dies zur Konsequenz, dass dadurch
so gut wie seine ganze Konzeption über Sein, Ereignis usw. nicht einmal
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 249

mehr eine minimale Kohärenz aufwiese. Darüber hinaus würde dies zeigen,
dass auf seine Konzeption genau das zutreffen würde, was er in radikal
entstellender Weise dem metaphysischen Schöpfungsgedanken zuschreibt,
nämlich dass Schöpfung ein Herstellen zwischen Gott als Vorhandenem und
den Seienden als Vorhandenen ist; das Ereignen wäre dann ebenfalls als ein
Verhältnis zwischen Vorhandenen zu deuten, wobei er ein solches Verhältnis
als Herstellen deuten müsste. Wenn aber Heidegger seine Aussagen im Sinne
des zweiten Falls verstehen wollte, so wäre die geradlinige Konsequenz
daraus, dass das Entstehen dessen, »was das Ereignis ereignet«, als eine Her-
vorbringung aus dem Nichts, also doch als ein Erschaffen begriffen werden
müsste. Aber die explizite Annahme einer solchen Konsequenz würde das
ganze Denken Heideggers von Grund auf umwälzen.
Es ist nicht zu sehen, wie sich Heidegger aus diesem Dilemma befreien
kann. Es gibt in seinem Denken keine Möglichkeit, zwischen der Skylla der
Reduktion des Ereignens auf ein Verhältnis zwischen Vorhandenen und der
Charybdis der Deutung des Ereigneten als das, was allererst aus dem Nichts
hervorgebracht wird oder entstanden ist, hindurch zu segeln. Überblickt man
das Ganze der Heideggerschen Ausführungen, so kann man nicht umhin
zu konstatieren, dass er über kunstvolle, den Anschein der denkerischen
Radikalität und Tiefe vermittelnden Verbalismen nicht hinauskommt. Sein
Denken zeichnet sich letztlich durch eine erstaunliche Oberflächlichkeit aus.
[ii] Sowohl Lévinas als auch Marion haben sich mit dem Schöpfungs-
gedanken beschäftigt, ihn aber weitestgehend ausgehöhlt, allerdings in ver-
schiedener Weise. Besonders Marion wurde von Heidegger entscheidend
beeinflusst, indem er Heideggers Missdeutung des metaphysischen Seins (esse)
als »Vorhandenheit« und dessen sich daraus ergebendes Missverständnis der
Schöpfung als eines Herstellungsverhältnisses zwischen Vorhandenen pro-
blemlos übernahm. Wie Marion dann den Schöpfungsgedanken auf der Basis
der biblischen Aussagen versteht oder missversteht, wird in Kapitel 4 ausführ-
lich zu erörtern sein, dann nämlich, wenn die Grundzüge der Marionschen
Gesamtkonzeption schon dargestellt und analysiert wurden (vgl. Abschnitt
4.2.4.4). Im selben Kapitel wird auch Lévinas’ gänzlich unzureichende Deu-
tung der Schöpfung kritisch analysiert (vgl. Abschnitt 4.1.3.2.3).

3.6.2 Die Schöpfung als die ins-Sein-Setzung der kontingenten


Seinsdimension
Traditionell hat man versucht, die Erschaffung der Welt durch Gott mittels
einer Anwendung des metaphysisch verstandenen Kausalitätsprinzips zu de-
monstrieren. Es war klar, dass damit der Begriff der Ursache aus der Erklä-
rung innerweltlicher Phänomene gewonnen und anschließend aufgrund der
Analogielehre auf Gott übertragen wurde. Das dürfte als ein entscheidender
250 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Grund vor allem für die postmoderne Kritik an diesem Begriff bzw. als der
mittels dieses Begriffs begriffenen Schöpfung anzusehen sein. Man kann nicht
bestreiten, dass dieses Verfahren problematisch ist. Statt im Einzelnen in
diesem Zusammenhang auf diese Problematik einzugehen, soll im folgenden
ein positiver Versuch unternommen werden, den grandiosen Gedanken der
Schöpfung ohne anfänglichen expliziten Rekurs auf den Kausalgedanken zu
explizieren. Es wird sich aber zeigen, dass die Explikation dann einen Gehalt
zu Tage fördert, der nicht ohne weiteres mit dem aus Aristoteles stammenden
Begriff der Kausalität in Verbindung gebracht werden kann.
Zunächst muss die genaue Ausgangsfrage formuliert werden. Die Frage
wird in diesem Buch im Rahmen einer Explikation der ursprünglichen uni-
versalen Dimension des Seins gestellt, was bedeutet, dass sie auf bestimmten
schon aufgewiesenen Thesen basiert. Die zentrale These ist die These von
der Zweidimensionalität des Seins, also der Unterscheidung zwischen der
absolutnotwendigen und der kontingenten Seinsdimension. Die erste wurde
ferner als absolutnotwendiges geistiges oder personales Sein expliziert, das
näher als absolute Freiheit zu denken ist. Die Frage ist daher, wie das Ver-
hältnis zwischen dem absolutnotwendigen freien Sein und der kontingenten
Seinsdimension zu begreifen ist.
Oben wurde behauptet, dass die kontingente Seinsdimension von der abso-
lutnotwendigen Seinsdimension, d. h. jetzt bestimmter: vom absolutnotwendi-
gen reinen Sein, total abhängig ist. Es ist nun zu zeigen, was das heißt. Es gehört
zur Definition der kontingenten Seienden, dass sie zwar sind, aber nicht sein
könnten, also, dass sie nicht notwendigerweise sind. Dies aber bedeutet, dass sie
nicht aus sich selbst heraus sind; anders: dass der Umstand, dass sie sind, nicht
aus ihnen selbst erklärbar ist. Wenn die Seienden nicht hätten sein können, so
drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie sie sozusagen »ins Sein gekommen«
sind. Wenn sie nicht aus sich heraus und durch sich selbst ins Sein gekommen
sind, so sind sie von anderswoher ins Sein gekommen. Aber was kann hier »von
anderswoher« überhaupt heißen? Voraussetzungsmäßig ist das Einzige, was in
Frage kommt und die Frage nicht irgendwie, sondern definitiv beantwortet,
das absolutnotwendige Sein. Weil aber dieses das freie absolutnotwendige Sein
ist, kommt die Freiheit sofort ins Spiel, wenn es sich um die Beantwortung der
gestellten Frage handelt. Die kontingente Seinsdimension ist durch die absolute
Freiheit des absolutnotwendigen Seins ins Sein gekommen.
Dieser Sachverhalt ist dann adäquaterweise so auszudrücken: das freie ab-
solutwendige Sein hat die kontingente Seinsdimension ins Sein gesetzt, und
zwar absolut in dem Sinne, dass nichts Vorgängiges oder Zugrundeliegendes
oder Ähnliches vorausgesetzt wird. Die im erläuterten Sinn durch-das-ab­
so­lutnotwendige-freie-Sein-vollzogene-absolute-Setzung-ins-Sein-hin­sicht­
lich-­der-kontingenten-Seinsdimension ist das, was der adäquat artikulierte
Gedanke der Schöpfung besagt.
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 251

Man beachte, was »absolute Setzung ins Sein« eigentlich besagt und impli-
ziert bzw. was sie nicht besagt und nicht impliziert. Die Schöpfung (im aktiven
Sinne) als eine so konzipierte Setzung bezieht sich auf die kontingente Seins-
dimension als ein Ganzes, d. h. auf die Gesamtheit der Seienden. (Es ist hier
daran zu erinnern, dass nach der in der struktural-systematischen Philosophie
vertretenen Auffassung das absolutnotwendige freie Sein kein Seiendes ist.)
Das bedeutet, dass das absolutnotwendige freie Sein kein Seiendes sozusagen
isoliert ins Sein setzt, vielmehr setzt es die kontingente Seinsdimension als
ein Ganzes ins Sein. Was im Rahmen oder innerhalb der kontingenten Seins-
dimension entsteht oder hervorgebracht u. ä. wird, wird gemäß dem heraus-
gearbeiteten Schöpfungsbegriff nicht erschaffen. Der Grund dafür liegt darin,
dass alles, was in(nerhalb) der kontingenten Seinsdimension (also der »Welt«)
entsteht, hervorgebracht wird etc., immer etwas Vorgängiges voraussetzt,
wie immer man dieses »Vorgängige« bezeichnen mag (ein anderes Seiendes,
ein Material welcher Art auch immer etc.). Darüber vollständige Klarheit zu
schaffen, ist gerade heute eine der dringendsten Aufgaben, und zwar wegen
der teilweise als krass zu bezeichnenden außerordentlich weit verbreiteten
Missverständnisse des Gedankens der Schöpfung.
Wie schon bemerkt, wurde der Schöpfungsgedanke in der metaphysischen
Tradition mit dem Begriff der Kausalität zu explizieren versucht. Das wirft
ein Problem auf. Um hier klar zu sehen, muss man unbedingt zweierlei un-
terscheiden: Die traditionelle metaphysische Charakterisierung (oder, wenn
man will, Definition) des Schöpfungsgedankens – sie lautet: »Hervorbringung
(eines Seienden) aus dem Nichtsein (aus der Nichtexistenz) dieses Seienden
und ohne ein (wie immer) zugrundeliegendes oder vorausgesetztes »Sub-
jekt« (im Sinne eines zugrundeliegenden Stoffs) (productio entis ex nihilo
sui et subiecti)« – und die Subsumtion des so charakterisierten/definierten
Schöpfungsgedankens unter die Kategorie der Kausalität. Man muss zunächst
klar feststellen, dass letztlich nur der erste Punkt für das Verständnis und die
Einschätzung des metaphysischen Schöpfungsgedankens relevant ist. Ob
diese Charakterisierung / Definition dann unter einen noch allgemeineren
klassifizierenden Begriff fällt, ist eine weitere Frage.
Der Begriff der Causa /Ursache wurde etwa von Thomas häufig explizit
charakterisiert, wobei vier zumindest auf den ersten Blick nicht ohne wei-
teres als gleichbedeutend interpretierbare Formulierungen in seinen Schriften
zu finden sind, und zwar: a) »Ursache im eigentlichen Sinne von etwas ist
dasjenige, ohne welches dieses etwas nicht sein kann; denn jede Wirkung
hängt von ihrer Ursache ab.«93 b) »Ursache im eigentlichen Sinne wird das-
jenige genannt, das mit Notwendigkeit etwas nach sich zieht (wörtlich: …

93  »Illud est proprie causa alicuius, sine quo esse non potest: omnis enim effectus

dependet a sua causa.« (STh. III q. 86 a. 6, sed contra).


252 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

dasjenige …, dem mit Notwendigkeit etwas folgt).«94 Im selben Artikel heißt


es auch präzisierend: »Manchmal allerdings wird Ursache dasjenige genannt,
das [etwas] vollbringt; und das ist es, was Ursache im eigentlichen Sinne und
wahrheitsgemäß heißt; denn Ursache ist dasjenige, das eine Wirkung nach
sich zieht (oder: … dasjenige …, dem eine Wirkung folgt).«95 c) »Ursache [ist]
dasjenige, welches das Sein des anderen nach sich zieht (wörtlich: … dasjenige,
welchem das Sein des anderen folgt)«.96 d) »Dieser Name (Ausdruck) ›Ur-
sache‹ bezeichnet so etwas wie einen (oder: eine Art von) Einfluss auf das Sein
des Verursachten.«97
Wie leicht zu sehen ist, besagen diese vier Aussagen nicht dasselbe; man kann
aber auch nicht sagen, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Sie artikulieren
vielmehr in jeweils anderer Weise einen bestimmten Aspekt eines anvisierten
Begriffs. Der wichtigste Aspekt dürfte der in d) artikulierte sein: der Einfluss
auf das Sein des Verursachten. Aber die vier Aussagen spezifizieren überhaupt
nicht, was unter diesem Einfluss und unter dem »Sein« des Anderen (Ver-
ursachten) genauer zu verstehen ist. Dennoch dürfte es kaum zu bestreiten
sein, dass die vier Aussagen ein Verhältnis zwischen Seienden charakterisieren,
also zwischen »Elementen« der als vorgegeben aufgefassten Welt.
Nun subsumieren Thomas und im allgemeinen die christlich orientierten
Metaphysiker die oben wiedergegebene Charakterisierung bzw. Definition
des Schöpfungsgedankens unter diesen Begriff (bzw. unter diese Kategorie)
der Kausalität. Das liegt genau und ganz in der Konsequenz der schon fest-
gestellten Orientierung dieser Autoren am Seienden und nicht am Sein. Man
untersucht einen bestimmten Begriff als im Bereich der endlichen kontingen-
ten Seienden realisiert und dann überträgt man ihn durch einen als gewaltig
und gewagt zu bezeichnenden Sprung auch auf Gott. Dann kann der Schöp-
fungsgedanke nur als ein Extremfall der Kausalität aufgefasst werden. Das ist
aber sehr problematisch, weil alle Konnotationen, die mit dem im endlichen
Bereich realisierten Begriff gegeben sind, auch im Extremfall so oder so – und
sei es als negierte – »mitschwingen«.
Angesichts der Problemlage ist es unzulässig, den Begriff der Schöpfung
ohne weiteres unter den Begriff der Kausalität zu subsumieren. In der oben
dargestellten systematischen Erklärung des Schöpfungsgedankens wurde die-
ser folgendermaßen bestimmt: Schöpfung ist die ins-Sein-Setzung hinsichtlich
der kontingenten Seinsdimension, und zwar ohne dass irgendetwas (welcher
94
  »Proprie causa dicitur ad quam ex necessitate sequitur aliquid.« (De Pot.: De malo,
q. 3. a. 3 ad 3)
95  »Quandoque vero dicitur causa id quod est perficiens; et haec vere et proprie causa

dicitur, quia causa est ad quam sequitur effectus.« (Ebd. c.)


96  »Causa [est] ad quam sequitur esse alterius.« (In octo libros Physicorum Aristotelis

expositio, L. II, l. x, Nr. 240)


97  »Hoc […] nomen causa importat influxum quemdam ad esse causati.« (In duodecim

libros Metaphysicorum Aristotelis expositio, L. V, l. 1, Nr. 750)


3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 253

Art auch immer) vorausgesetzt wäre. Das ist ein im buchstäblichen und
strengsten Sinn absolutes Singularetantum, ein absolut einmaliger Gedanke,
der ausschließlich das Verhältnis des absolutnotwendigen Seins als Schöpfer
hinsichtlich der kontingenten Seinsdimension artikuliert.

3.6.3 Ein Einwand


Beachtet man alle relevanten Aspekte der Frage nach der Schöpfung im
Rahmen der großen Annahmen der struktural-systematischen Philosophie,
so ist es sinnvoll, die Frage zu stellen, welche Einwände dagegen erhoben
werden können. Es können viele Einwände ins Feld geführt werden, aber
solche Einwände sind meistens einfach Missverständnisse oder Ausdruck von
Denkweisen, die ihre eigenen Grundlagen nicht klären. Eine Auseinanderset-
zung mit solchen Positionen ist zwar eine in der Philosophie unverzichtbare
Aufgabe; aber die Inangriffnahme einer solchen Aufgabe gehört nicht zu den
Zielsetzungen des vorliegenden Buches.
Hier soll abschließend nur ein bestimmter Einwand kurz behandelt wer-
den, der, wenn er zutreffend wäre, den Schöpfungsgedanken sozusagen buch-
stäblich aus den Angeln heben würde. Der Einwand kann (hauptsächlich) in
zwei verschiedenen Versionen formuliert werden: in einer allgemeinen und in
einer spezifisch naturwissenschaftlichen.

[1] Die allgemeine Version kann ihrerseits eine sehr einfache und eine argu-
mentative Form annehmen. Die einfache erwächst aus der Feststellung, dass
es zu einer bestimmten weitgehend »normalen« Einstellung der Menschen
in deren Lebenswelt gehört, die »Dinge« so zu nehmen, »wie sie sind«,
sozusagen als factum brutum. Warum soll dann ein Gedanke überhaupt
ins Spiel gebracht werden, der die fundamentale Tatsache, dass Sein bzw.
Seiendes einfach »da« ist, nicht anerkennt? Ein solcher Gedanke ist aber der
Schöpfungsgedanke. Wenn der Einwand in dieser sehr allgemeinen einfachen
Form formuliert wird, ist er kaum einer langen Widerlegung bedürftig und
würdig. Es genügte darauf hinzuweisen, dass die Annahme, auf welcher er
basiert, hochproblematisch ist; denn Menschen haben zu allen Zeiten in der
einen oder anderen Weise »die Dinge«, »die Welt« u. ä. nicht einfach als das
genommen, als was sie sich unmittelbar präsentieren, indem sie einfach »da«
sind.
Der allgemeine Einwand kann aber eine argumentative Form annehmen,
die es verdient, näher betrachtet zu werden. Der heutige »normale« gebildete
Mensch, der in einer technisch-wissenschaftlichen Welt lebt, würde den Ein-
wand in der Weise argumentativ stützen, dass er darauf hinweist, man könne
nach »Erklärung(en)« nur dann sinnvollerweise suchen, wenn sich eine Frage
hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Elementen einer schon voraus-
254 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

gesetzten »Dimension« (wie immer man sie nennen mag: Natur, Welt, Kosmos
etc.) stellt; es habe aber keinen Sinn, die Frage nach einer Erklärung der
Dimension selbst zu stellen.
Der so formulierte Einwand kann sinnvollerweise nur dann behandelt
werden, wenn man zuvor über den Begriff der Erklärung Klarheit schafft. Wie
oben in Abschnitt 3.3.3 erläutert wurde, kann der Ausdruck ›Erklärung‹ so-
wohl die semantische Erläuterung oder Analyse der Bedeutung von Wörtern
bzw. Begriffen als auch das wissenschaftliche Verfahren, das auf Gesetze
und empirische Forschungen Bezug nimmt, bezeichnen. Dabei werden hin-
sichtlich der zweiten Bedeutung zwei Arten von Erklärung unterschieden:
die Warum-Erklärung und die Wie-Erklärung, die jeweils die Antwort auf
zwei verschiedene Fragen geben: Warum-Fragen und Wie-Fragen. Wenn be-
stimmte philosophische Fragen diskutiert werden, wie z. B. die Frage nach der
Schöpfung, wird der Ausdruck / Begriff »Erklärung« oft und sogar meistens
auf völlig unbestimmte und ungeklärte Weise verwendet. Dies macht keinen
Sinn. Und man kann nicht bestreiten, dass manche Darstellungen der These,
die Welt sei von Gott erschaffen worden, hoffnungslos unbestimmt und daher
sinnlos sind. Wenn die Schöpfungsfrage als Warum-Frage im erläuterten Sinne
verstanden wird, so stellt sie sich als eine falsch gestellte Frage heraus. Denn in
diesem Fall würde die von dem zu erklärenden Phänomen und dem erklären-
den »Faktor« vorausgesetzte Hintergrund-Dimension nicht thematisiert, was
für den adäquat verstandenen Begriff der Schöpfung absolut unerlässlich ist.
Es wurde nämlich im genannten Abschnitt gezeigt, dass Warum-Fragen nur
hinsichtlich der Beziehungen zwischen Elementen (in) einer vorausgesetzten
Dimension überhaupt einen Sinn haben. Aber der Schöpfungsgedanke ant-
wortet auf eine Frage bezüglich der Dimension selbst (die ganze kontingente
Seinsdimension).
Der hier behandelte Einwand artikuliert eine Einsicht, die nach Präzisie-
rung als richtig zu bezeichnen ist, zieht aber daraus eine völlig falsche Schluss-
folgerung. Die richtige Einsicht besteht darin, dass, wenn unter »Erklärung«
die Warum-Erklärung verstanden wird, nur eine Frage hinsichtlich des Zu-
sammenhangs zwischen Elementen einer schon vorausgesetzten »Dimension«
(wie immer man sie nennen mag: Natur, Welt, Kosmos etc.), nicht aber eine
Frage hinsichtlich der Dimension selbst gestellt wird. Ins Leere aber geht
das Argument, insofern es annimmt, dass die Frage nach der Schöpfung eine
Warum-Frage in diesem Sinne ist oder zu sein beansprucht. Sie ist es nicht,
obwohl man konzedieren muss, dass sie oft in dieser Weise oder ähnlich auch
von Metaphysikern verstanden und behandelt wurde und wird.
Die Schöpfungsfrage ist eine Frage nach der Dimension selbst, in der Ter-
minologie der struktural-systematischen Philosophie: nach der kontingenten
Seinsdimension selbst und als ganzer, nicht nach irgendwelchen Zusammen-
hängen innerhalb dieser kontingenten Seinsdimension.
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 255

Richtig verstanden, könnte man in Bezug auf die Schöpfungsfrage immer


noch von »Erklärung« sprechen, aber dann im Sinne einer Wie-Erklärung,
wobei dieser Begriff dann immer noch genau zu präzisieren wäre. Man müsste
angeben, wie in diesem Fall jenes »Ganze« zu verstehen ist, dessen Wie, dessen
innere Verfasstheit oder Strukturiertheit zu artikulieren ist. Dies wurde in
den vorhergehenden Abschnitten getan: Es ging immer um die ursprüng-
liche universale Seinsdimension, die durch immer neu gestellte Wie-Fragen
expliziert wurde: als Zwei-Seinsdimensionalität bis hin zur jener »Gestalt«
dieser ursprünglichen Seinsdimension, die durch das Verhältnis zwischen dem
absolutnotwendigen freien Sein und der kontingenten Seinsdimension cha-
rakterisiert ist. Die Schöpfungsfrage stellt sich dann als eine große Wie-Frage
dar: Wie ist dieses Verhältnis selbst genau zu verstehen?
Insbesondere um leicht entstehende Missverständnisse zu vermeiden, wird
in diesem Buch die Antwort auf diese Wie-Frage hinsichtlich der Schöpfungs-
thematik nicht als »Wie-Erklärung«, sondern eher als »Explikation« bezeich-
net, gemäß dem Verständnis von »Explikation«, das in 3.3.3 erläutert wurde.
Es ist für die Zielsetzung dieses Buches relevant zu bemerken, dass postmo-
derne Autoren im allgemeinen den metaphysisch artikulierten Schöpfungs-
gedanken immer als eine Antwort auf eine Warum-Frage missdeuten. Diese
kritische Behauptung kann in diesem Zusammenhang nicht näher erläutert
und begründet werden. In Kapitel 4 werden aber zwei Zentralfiguren des
postmodernen Denkens ausführlich behandelt, wobei deren Aussagen über
die Schöpfung einer ausführlichen kritischen Analyse unterzogen werden.

[2] Einen unvergleichlich höheren argumentativen Stellenwert hat der Ein-


wand gegen den Schöpfungsgedanken, wenn er im Namen der (Natur)Wis-
senschaften formuliert wird. Bekanntlich wird in der naturwissenschaftlichen
Kosmologie die Frage nach dem Anfang oder dem Ursprung des Universums
gestellt und behandelt. St. Hawking behauptet, aus den Theoremen, die er
selbst und R. Penrose bewiesen haben, gehe hervor, »dass das Universum
einen Anfang gehabt haben muss«, und er fügt gleich hinzu, dass diese Theo-
reme »über die Natur dieses Anfangs wenig Information«98 liefern. Was wird
hier unter »Ursprung« bzw. »Anfang« verstanden? Man muss feststellen,
dass diesbezüglich eine sehr weitgehende Unklarheit und Konfusion besteht,
die dafür verantwortlich zu machen ist, dass auf falschen Voraussetzungen
basierende Fragen formuliert, völlig unfundierte Behauptungen aufgestellt,
unsinnige Gegensätze konstruiert werden u. ä., und zwar sowohl von Seiten
theistischer als auch atheistischer Wissenschaftler und Philosophen.
Die naturwissenschaftliche physikalisch-kosmologische Standardtheorie
behauptet, dass das Universum in einem Urknall begonnen hat («Big Bang«‑

98 
St. Hawking, Das Universum in der Nußschale, 2001, 87.
256 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

oder Urknall-Theorie). Sie nimmt einen Punkt an, wo die Dichte des Univer-
sums und die Krümmung der Raumzeit (im mathematischen Sinn) unendlich
(gewesen) sind. Ein solcher Punkt wäre ein Fall für das, was Mathematiker
eine Singularität nennen: eine Urknall-Singularität. Dies hat eine folgen-
schwere Konsequenz: Da alle naturwissenschaftlichen Theorien die Voraus-
setzung machen, dass »die Raumzeit glatt und nahezu flach ist«99, verlieren
alle (klassischen) Naturgesetze an diesem Punkt ihre Gültigkeit. Zu fragen,
was vor der Singularität war, hat keinen Sinn mehr, da die Zeit selbst erst mit
der Urknall-Singularität begann. Daraus scheint zu folgen, dass die Frage
nach dem Ursprung oder dem Anfang des Universums naturwissenschaftlich
eindeutig beantwortet ist: Das Universum begann mit dem Urknall, irgend-
eine andere Instanz wie z. B. ein Schöpfer ist gegenstandslos, weil unfundiert.
Seit Jahrzehnten wird eine heftige Kontroverse unter Naturwissenschaft-
lern, Philosophen und Theologen über den Status der physikalisch-kosmo-
logischen Theorie(n) geführt. Einige Theologen und Philosophen geben der
Urknall-Theorie eine kreationistische Interpretation. Andere Philosophen
behaupten das genaue Gegenteil: der naturwissenschaftlich bewiesene Anfang
des Universums sei eine Erklärung, die jede andere Erklärung überflüssig
mache und sogar mit der Annahme der Existenz eines Schöpferabsoluten
nicht vereinbar sei; ihnen zufolge ist der Ursprung des Universums unver-
ursacht, das Universum ist entstanden auf spontane Weise.100
In diesem Buch wird die Auffassung vertreten, dass alle diese Positio-
nen bzw. Interpretationen Missverständnisse darstellen; der Grund dafür
liegt darin, dass sie einen fundamentalen Faktor nicht beachten, nämlich
den spezifischen Status der naturwissenschaftlichen physikalisch-kosmolo-
gischen Aussagen / Theorie(n). Wenn im Rahmen dieser Aussagen/Theorien
von »Ursprung oder Anfang des Universums« die Rede ist, so ist eine solche
Formulierung zutiefst missverständlich und ambig, wie schon oben bemerkt
wurde. Der eigentliche Sinn dieser von physikalisch-kosmologischen Physi-
kern und ambig redenden Philosophen verwendeten Ausdrücke ergibt sich
aus dem Status des naturwissenschaftlichen Modells, das in der physikalischen
Kosmologie zur Anwendung kommt. Innerhalb des Modells wird, wie die
Theoreme von Hawking und Penrose zeigen, auf einen Punkt in der Ver-
gangenheit, die Singularität, »geschlossen«. Wenn nun gesagt wird, das Uni-
versum habe seinen Ursprung oder Anfang an diesem Punkt gehabt, so kann
damit nur gemeint sein, dass das physikalische Universum an diesem Punkt

  99  St. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Uni-

versums, 1988, 67.


100  Für eine atheistische Interpretation der Urknall-Theorie vgl. Q. Smith, »The

Uncaused Beginning of the Universe«, 1988, 39–57; Ders., »Atheism, Theism and Big
Bang Cosmology«, 1991, 48‑ 66. Besonders wichtig: A. Grünbaum, »A New Critique of
Theological Interpretations of Physical Cosmology«, 2000, 1–43.
3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 257

und ab diesem Punkt als ein strukturiertes Ganzes gemäß den bekannten
Naturgesetzen erklärbar ist. In diesem Sinne – also in diesem sehr relativen
Sinne – erklärt die physikalische Kosmologie den »Ursprung« bzw. den »An-
fang« des Universums.
Von einem Ursprung oder einer Entstehung oder Erschaffung ex nihilo,
aus dem Nichts, kann dabei nicht die Rede sein. Denn das ganze Modell setzt
eben die Urknall-Singularität voraus  –  und diese ist natürlich nicht Nichts:
Die Urknall-Singularität ist nur ein etwas, das nicht durch die bekannten
Naturgesetze »strukturiert« ist. Die physikalisch-kosmologische Urknall-
Theorie besteht »nur« darin, dass sie einen (nämlich den aktuellen) Zustand
des physikalischen Universums auf einen anderen Zustand des physika-
lischen Universums »zurückführt«. Strenggenommen kann man im Sinne
dieser Theorie nicht einmal sagen, dass der Zustand des heutigen Universums
auf einen früheren Zustand desselben Universums zurückgeführt wird, da die
Singularität eigentlich nicht mehr »in der Raumzeit« liegt; gemäß dem Modell
begann nämlich die Zeit erst mit dem Urknall.
Eine Frage der Art: Und wie ist die Singularität selbst entstanden? kann
innerhalb des genannten physikalisch-kosmologischen Modells weder gestellt
und noch weniger beantwortet werden. Diesen Sachverhalt hat Hawking auf
seine Weise so ausgedrückt:
»Tatsächlich gehen alle unsere wissenschaftlichen Theorien von der Voraussetzung aus,
dass die Raumzeit glatt und nahezu flach ist. Deshalb versagen die Theorien angesichts
der Urknall-Singularität, wo die Krümmung der Raumzeit unendlich ist. Also könnte
man sich, selbst wenn es Ereignisse vor dem Urknall gegeben hat, bei der Bestimmung
dessen, was hinterher geschehen ist, nicht auf sie beziehen, weil die Vorhersagefähig-
keit am Urknall endet. Entsprechend können wir keine Aussagen über das machen, was
vorher war, wenn wir, wie es der Fall ist, nur wissen, was seit dem Urknall geschehen
ist. Soweit es uns betrifft, können Ereignisse vor dem Urknall keine Konsequenzen
haben und sollten infolgedessen auch nicht zu Bestandteilen eines wissenschaftlichen
Modells des Universums werden. Wir müssen sie deshalb aus dem Modell ausklammern
und sagen, dass die Zeit mit dem Urknall begann.«101

Daraus ist leicht zu entnehmen, dass die philosophisch-metaphysische Frage


nach dem Ursprung oder dem Anfang des Universums im physikalisch-
kosmologischen Modell nicht gestellt wird – und auch nicht gestellt werden
kann. Aufgrund der bisherigen Ausführungen in diesem Buch ist der Grund
leicht anzugeben: die philosophisch-metaphysische Frage betrifft nicht ein-
fach die Zurückführung eines Zustands des Universums auf einen anderen
Zustand des Universums, sondern das, was in diesem Buch die kontingente
Seinsdimension genannt wird: die Frage nach dem grundsätzlichen Status von
Sein, von Notwendigkeit / Absolutheit und Kontingenz.

101 
St. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 67 (Kursiv nicht im Original).
258 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

St. Hawking hat später seine Meinung geändert. Er vertritt jetzt die Auf-
fassung, dass das Universum nicht aus einer Urknall-Singularität entstanden
ist;102 ihm zufolge hat das Universum keine Ränder in Raum und Zeit.103 Zu-
sammen mit Hartle übernimmt er R. Feynmans Konzept der »Summe über
alle Geschichten« des Universums, die als randlose geschlossene gekrümmte
Flächen wie etwa die Erdoberfläche zu denken sind. Das Universum in der
imaginären Zeit muss demnach weder einen Anfang noch ein Ende haben. In
diesem Buch kann auf die Einzelheiten diese Theorie nicht näher eingegangen
werden. Hier ist nur anzumerken, dass die Implikationen für die Philosophie
von enormer Bedeutung sind. Hawking selbst hat darauf explizit aufmerksam
gemacht:
»Falls die Geschichten des Universums in imaginärer Zeit tatsächlich solche geschlos-
senen Flächen wären, wie Hartle und ich vorgeschlagen haben, hätte das grundlegende
Konsequenzen für die Philosophie und die Vorstellung von unserem Ursprung. Das
Universum wäre vollkommen in sich geschlossen. Es wäre auf keinen äußeren Einfluss
angewiesen, der das Uhrwerk aufziehen und in Gang setzen müsste. Vielmehr würde
alles im Universum von den Naturgesetzen und den Würfelwürfen innerhalb des Uni-
versums bestimmt werden.«104

In seinem früheren Werk Eine kurze Geschichte der Zeit schrieb er:
»Wenn das Universum einen Anfang hatte, können wir von der Annahme ausgehen,
dass es durch einen Schöpfer geschaffen worden sei. Doch wenn das Universum wirk-
lich völlig in sich abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine Grenze und keinen Rand
hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende: Es würde einfach sein. Wo
wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?«105

Es ist offenkundig, dass Hawking die Geschichte des Schöpfungsgedankens


nicht kennt und dass er den eigentlichen Gedanken der Schöpfung missver-
steht. Der große Philosoph und Theologe Thomas von Aquin hat in aller
nur wünschenswerten Deutlichkeit die Möglichkeit der Schöpfung einer – in
der Terminologie seiner Zeit ausgedrückt  –  »Ewigkeit der Welt (aeternitas
mundi)«, d. h. einer Welt ohne Anfang und ohne Ende, verteidigt. Hierin
besteht ihm zufolge kein Widerspruch, da Schöpfung »nur« dies bedeutet:
Abhängigkeit des ganzen kontingenten Seins von einem (genauer: vom) ab-
solutnotwendigen Sein.106
Wenn man die Schöpfungsthese richtig versteht, so wird klar, dass sie nicht
im Widerspruch zu den folgenden schon oben zitierten – teilweise allerdings
ambigen – Aussagen Hawkings steht: »Das Universum wäre vollkommen in
102 
Vgl. ebd. 73.
103 
Vgl. Das Universum in der Nußschale, 90.
104  Ebd. 93.
105  Eine kurze Geschichte der Zeit, 179; vgl. auch 216.
106  Vgl. Thomas v. Aquin, De aeternitate mundi contra murmurantes, in Opuscula

Philosophica, 1954, 105–108.


3.6 Das absolutnotwendige geistige (personale) Sein 259

sich geschlossen. Es wäre auf keinen äußeren Einfluss angewiesen, der das
Uhrwerk aufziehen und in Gang setzen müsste. Vielmehr würde alles im
Universum von den Naturgesetzen und den Würfelwürfen innerhalb des Uni-
versums bestimmt werden.«
Entsprechend dem Schöpfungsgedanken wird das ganze Sein des kon-
tingenten Universums, und damit auch das Uhrwerk selbst und der ganze
Gang des Uhrwerks bzw. des Universums erschaffen. In diesem Sinne gibt es
keinen äußeren Einfluss, der das Uhrwerk erst aufziehen müsste. Erschaffung
des kontingenten Universums ist nicht so etwas wie das Aufziehen eines – wie
denn?  –  schon vorhandenen Uhrwerks. Wäre dem so, so wäre damit eben
nicht erklärt worden, wie das Uhrwerk selbst entstanden ist. Wenn man in
dieser Terminologie bleibt, wäre zu sagen: Wenn das kontingente Universum,
aufgefasst als Uhrwerk und dessen Gang, in seinem ganzen Sein erschaffen
ist, so gilt uneingeschränkt: Das Uhrwerk ist immer schon aufgezogen, das
Universum ist vollkommen in sich geschlossen, es ist keinem äußeren Einfluss
unterstellt (das Erschaffensein ist kein äußerer Einfluss, da es nicht etwas im
Universum, sondern das Universum selbst oder als solches betrifft).
Wie ambig Hawkings Formulierungen sind, kommt im letzten Satz be-
sonders deutlich zum Ausdruck: »Vielmehr würde alles im Universum von
den Naturgesetzen und den Würfelwürfen innerhalb des Universums be-
stimmt werden« (kursiv nicht im Original). Hawkings Theorie betrifft eben
all das – und nur all das – , was innerhalb des Universums geschieht; es betrifft
nicht das Universum als solches, anders gesagt: Es betrifft nicht den »Seins-
status« des Universums.
Hawkings weitere (oben zitierte) Erläuterungen bzw. Behauptungen:
»Wenn das Universum wirklich völlig in sich abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine
Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende:
Es würde einfach sein«

bringen am prägnantesten ein sehr verbreitetes Denkschema zum Ausdruck,


aus welchem besonders hartnäckige gegen die Idee einer Schöpfung der Welt
gerichtete Vorstellungen erwachsen. Aber hier wird einfach verkannt, dass es
sich in diesem Fall um eine im Rahmen eines physikalisch-kosmologischen
Modells bestimmte »Abgeschlossenheit« des Universums handelt. Im Rah-
men dieses Modells ist es zutreffend zu sagen: Das Universum »würde einfach
sein«; und ferner: Alles in dem so bestimmten Universum würde »von den
Naturgesetzen und den Würfelwürfen innerhalb des Universums bestimmt
werden«. Aber dieses physikalisch-naturwissenschaftliche Modell erschöpft
keineswegs das ganze Frage‑ und Intelligibilitätspotential, das unserem Ver-
stand eignet. Wir können ja (und weil wir können, müssen wir) fragen: Wieso
oder in welchem Sinne können wir begründeterweise sagen, dass das Univer-
sum einfach ist? Wir verfügen über Begriffe, die das, was im Rahmen dieses
260 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Modells behauptet und verstanden wird, als völlig unzureichend erscheinen


lassen, so vor allem die modalen Begriffe: Ist das »Sein« des Universums kon-
tingent oder absolutnotwendig?

3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott


und die Aufgaben einer integralen Theorie über Gott

3.7.1 Das absolutnotwendige Sein als Schöpferabsolutes und damit als »Gott«
Abgesehen von sporadischen Hinweisen philosophiegeschichtlicher und me-
thodologischer Art ist das Wort ›Gott‹ in der ganzen bisherigen Darstellung
überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Das steht im direkten Gegensatz
zur ganzen metaphysischen Tradition, die das Wort ›Gott‹ sofort und pro-
blemlos im Anschluss an die Konklusion jeden Gottesbeweises benutzt hat,
auch wenn es klar war, dass der von der Tradition gemeinte »(christliche)
Gott« nicht etwa mit einem Ersten Beweger, einer Ersten Ursache u. ä. einfach
identifiziert werden kann. Dass das Wort ›Gott‹ bisher in sachlicher Hinsicht
in diesem Buch nicht verwendet wurde, ist kein terminologischer oder anders-
gearteter Lapsus, sondern ist Ausdruck einer zentralen These bzw. Einsicht
der hier vertretenen Konzeption. Denn erst nachdem die Explikation der
ursprünglichen universalen Seinsdimension als die absolutnotwendige Seins-
dimension, ferner als absolutnotwendiges freies oder personales Sein und
schließlich als Schöpferabsolutes aufgewiesen wurde, ist der Punkt erreicht,
an dem das Wort ›Gott‹ sinnvoll eingeführt werden kann.
Das Wort ›Gott‹ stammt ursprünglich aus der religiösen Sprache und Tra-
dition und wurde dann sehr früh in die Philosophie aufgenommen. Um die
absolut spezifische Bedeutung, die mit diesem Wort seit je in vielfältigen
Formen verbunden wurde und auch heute verbunden wird, voll zur Geltung
kommen zu lassen und um Inkohärenzen verschiedener Art auszuschließen,
wird das Wort erst an diesem Punkt der systematischen Theorie des Seins
als solchen und im Ganzen eingeführt. Damit wird nicht verkannt, dass das
Wort ›Gott‹ in sehr vielen verschiedenen Bedeutungen verwendet wurde und
wird. Man darf aber annehmen, dass es zumindest meistens zur Bezeichnung
eines wie immer näher vorgestellten oder konzipierten personalen Wesens
gebraucht wurde und wird.
Darüber hinaus muss hier betont werden, dass die mit dem Wort ›Gott‹ in
diesem Buch in Angriff genommene Thematik die christliche Konzeption von
Gott anvisiert. Dieses Buch verfolgt überhaupt nicht die Absicht, das weite
Feld der Religionen und auch nicht das speziellere Feld der sogenannten drei
monotheistischen Religionen explizit zu behandeln. Das Buch hat vielmehr
ein klar eingeschränktes und umrissenes Ziel: Es will das Problem des Ver-
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 261

hältnisses zwischen Sein und biblisch-christlich verstandenem Gott, noch ge-


nauer: zwischen Seinsdenken im Sinne einer systematischen Seinsphilosophie
und einer adäquaten Konzeption des biblisch-christlichen Gottes zu klären
versuchen. Wenn also in den weiteren Ausführungen von »Gott« die Rede ist,
so ist dabei immer der »biblisch-christliche Gott« gemeint.
Von den drei im Untertitel des Buches genannten Autoren ist J.-L. Marion
der eigentliche »christliche« Autor. Bei Heidegger verhält es sich so, dass er,
wenn er von Gott spricht, in der Regel den biblisch-christlichen Gott im Auge
hat, vor allem, wie dieser in der großen metaphysischen Tradition theoretisch
gedeutet wurde. Zwar spricht Heidegger, besonders seit etwa Mitte der 1930er
Jahre, manchmal von »Gott« in einer Weise, die sich nicht ohne weiteres in
Verbindung mit dem biblisch-christlichen Gott bringen lässt. Aber diese Re-
deweise ist nicht zentral für die Problematik des Verhältnisses zwischen Sein
und Gott bei ihm. Noch weniger einschlägig ist seine gelegentliche Rede von
»den Göttern«. Im Fall von É. Lévinas stellt sich die Sache viel schwieriger
dar. Lévinas ist ein ausgesprochener jüdischer Autor, und zwar in dem sehr
starken Sinn, dass die ganze jüdische Tradition eine zentrale Rolle in seinem
Denken spielt. Dem spezifischen Charakter seiner Auffassung über Gott wird
im vorliegenden Buch der Kürze halber durch die Bezeichnung ›biblisch‹ aus-
reichend und unmissverständlich Rechnung getragen. Es ist somit klar, wie die
große mit dem Wort ›Gott‹ anvisierte Thematik in diesem Buch zu verstehen
ist und wie sie behandelt wird.

3.7.2 Das weite Feld der Thematik einer Theorie über Gott
[1] Es muss zuerst erläutert werden, warum die sehr unübliche Formulierung
›Theorie über Gott‹ verwendet wird. Die Formulierung sagt grundsätzlich
dasselbe wie der Ausdruck ›Theo-logie‹; doch ohne nähere Qualifikation ver-
wendet, ist das Wort ›Theologie‹ zweideutig: Es kann zum einen Theologie als
eine philosophische Disziplin bezeichnen; in diesem Fall wurde in der großen
metaphysischen Tradition der Ausdruck ›natürliche (oder auch: rationale)
Theologie‹ verwendet; heute wird dafür oft der Ausdruck ›philosophische
Theologie‹ gebraucht. Zum anderen kann das Wort aber auch jene Theologie
bezeichnen, die nicht Teil der (traditionell verstandenen) Philosophie ist,
sondern jene, die sich an die Bibel und an die Kirche gebunden versteht; diese
Theologie wird »christliche Theologie« genannt, wobei sie Varianten hat, je
nach der Kirche, zu der sie sich zugehörig versteht: so gibt es eine katholische,
eine evangelische, eine orthodoxe usw. Theologie.
Die traditionell vertretene strenge Unterscheidung zwischen Philosophie
und christlicher Theologie wird, so wie sie bei christlichen Denkern im
allgemeinen verstanden wird, in diesem Buch nicht angenommen, wie das
unten noch zu erläutern sein wird. Wegen dieser teils terminologischen, teils
262 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

sachlichen Situation wird hier der Ausdruck ›Theorie über Gott‹ verwendet.
Er soll an erster Stelle andeuten, dass sich die anzustellenden Überlegungen
nicht von vornherein an der strengen traditionellen Unterscheidung zwischen
Philosophie und Theologie orientieren.
Wurde das absolutnotwendige freie Sein als Schöpferabsolutes expliziert,
so stellt sich sofort die Frage, wie das Schöpferabsolute näher aufzufassen ist.
Im Sinne der traditionellen Metaphysik spricht man dann von »Attributen
Gottes«, wobei zwischen »entitativen Attributen« (Gottes Allvollkommen-
heit, Unendlichkeit, Allmacht, Einfachheit, Unveränderlichkeit, Ewigkeit,
Allgegenwart …) und »operativen Attributen« (Gottes Erkennen, Wollen,
Freiheit) unterschieden wird. Außerdem wird Gottes Wirken »nach außen«
behandelt (Schöpfung und Erhaltung der Welt, Vorsehung …). Wegen der
sehr eingeschränkten Zielsetzung dieses Buches kann hier auf diese umfang-
reiche Thematik nicht eingegangen werden. Nur die Schöpfung wurde, al-
lerdings aus einer ganz anderen Perspektive und nur minimal, behandelt, und
zwar im Hinblick auf die zentrale Thematik dieses Buches: das Verhältnis von
Sein und Gott.107
Die Behandlung dieser »traditionellen« Thematik aus einer struktural-
systematischen Perspektive würde sich von der traditionellen Konzeption
sehr grundlegend unterscheiden. Die struktural-systematische Behandlung
würde an erster Stelle klären, welche unter den genannten Themen überhaupt
sinnvoll sind, und vor allem, in welcher Weise sie noch als sinnvoll gelten
können. Ferner würde sich die systematische Behandlung streng an der Kon-
zeption Gottes orientieren, die bis jetzt skizziert wurde. Das Resultat wäre
durch zweierlei Aspekte gekennzeichnet: einerseits würde es eine gewisse
Kontinuität zur traditionell metaphysischen Sichtweise, andererseits aber
einen grundlegend anderen und neuen Ansatz offenbaren.

[2] Es gibt zwei weitere Themenstellungen, die im folgenden in der hier ge-
botenen Kürze zu behandeln sind. Die erste gehört zu den Themenstellungen
der traditionellen Metaphysik: die Frage nach der Transzendenz Gottes. Sie ist
eigentlich kein neues Thema, sondern betrifft nur grundlegende Aspekte der
Problematik des Verhältnisses zwischen Gott und Welt. Wie diese große Frage
nach der Transzendenz Gottes im Rahmen der struktural-systematischen
Philosophie zu bestimmen bzw. zu verstehen ist, wird im nächsten Abschnitt
(3.7.3) gezeigt.
Die zweite Themenstellung ist völlig neu: Sie geht der Frage nach, ob über
die Explikation Gottes als des absolutnotwendigen freien Schöpferabsoluten

107  Eine moderne Darstellung dieser umfangreichen Thematik aus der traditionellen

Perspektive findet sich im monumentalen Werk von W. Brugger, Summe einer phi-
losophischen Gotteslehre, 1979.
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 263

hinausgegangen werden kann oder gar muss. Darauf wird eine positive Ant-
wort gegeben, womit die hier skizzierte Theorie über Gott jenes große Feld
betritt, das traditionell die Domäne der christlichen Theologie war und heute
noch ist. Dieser Thematik wird Abschnitt 3.7.4 gewidmet, wobei aber zu
bemerken ist, dass im Rahmen dieses Buches nur ein programmatischer An-
satz zu einer Weiterführung der Theorie über Gott in diesem Sinne artikuliert
werden kann. Anschließend wird in Abschnitt 3.7.4.2 eine sich aus der im-
manenten Sicht der christlichen Theologie aufdrängende Grundschwierigkeit
gegen die hier vertretene Theorie über Gott behandelt.

3.7.3 Zur Problematik der Transzendenz


Transzendenz ist immer ein ganz zentrales Thema der metaphysischen Phi-
losophie, insbesondere in ihrer christlichen Prägung gewesen. Gott wurde als
der Transzendente und Unbegreifliche schlechthin bezeichnet. Aber diese all-
gemeine Einsicht wurde überhaupt nicht einheitlich verstanden und gedeutet.

3.7.3.1 Negative Theologie und Analogielehre


Zwei Hauptrichtungen haben sich im Laufe der Geschichte in der westlichen
(lateinischen) Tradition herausgebildet: eine extreme und eine gemäßigte.

[1] Die extreme Richtung ist als negative (oder apophatische) Theologie be-
kannt. Ihre allgemeine Tendenz besteht darin, Gottes Transzendenz als etwas
ganz Anderes zu verstehen, mit der Konsequenz, dass in der Rede von Gott
ausschließlich negative Aussagen als sinnvoll betrachtet werden. Diese Ten-
denz hat sich in den verschiedensten Formen konkretisiert, auf die hier nicht
im Einzelnen eingegangen werden kann. Heute wird sie in radikalster Form
von Autoren wie É. Lévinas und ganz besonders J.-L. Marion vertreten, deren
Positionen in Kapitel 4 einer eingehenden kritischen Analyse unterzogen
werden sollen.
Die gemäßigte Hauptrichtung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Trans-
zendenz Gottes nicht rein negativ bestimmt wird. Sie stützt sich entscheidend
auf die Analogielehre. Im folgenden soll sie anhand der klassischen Gestalt, die
sie bei Thomas von Aquin erhalten hat, charakterisiert werden.108
Zunächst ist zu betonen, dass auch bei Thomas von Aquin rein negative
Aussagen hinsichtlich Gottes, und zwar ganz im Sinne der negativen Theo-

108  Vgl. dazu die ausführliche kritische Rekonstruktion der Thomasischen Konzeption,

ihrer Voraussetzungen und Implikationen bei Thomas von Aquin in der Abhandlung
des Verfassers: »Das Denken des Thomas von Aquin als summarisch-unreflektiertes
Seins‑ und Analogiedenken«, in SGTh, II, 35–176, bes. Abschnitt 3: Die Analogie und
die Gottesfrage, 114 ff.
264 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

logie, zu finden sind, beispielsweise: »Von Gott können wir nicht wissen, was
er ist, sondern nur was er nicht ist.«109 Oder: »Das Eigentliche, was Gottes
Wesenheit ausmacht, übersteigt unseren Verstand, und so bleibt uns un-
erkannt. Und deswegen ist das Höchste, das die menschliche Erkenntnis von
Gott erlangt, das Wissen, dass sie Gott nicht erkennt, insofern sie erkennt,
dass das, was Gott eigentlich ist, all das übersteigt, was wir von ihm erkennen
können.«110
Thomas macht dann allerdings andere Aussagen, die den rein negativen
Charakter der soeben zitierten Aussagen korrigieren bzw. präzisieren. Dabei
stützt er sich auf ein logisches-semantisches-ontologisches Grundaxiom, das
er so formuliert: »Das Verständnis der Negation gründet immer in einer
Affirmation; wenn also der menschliche Verstand nichts Positives von Gott
erkennen könnte, könnte er auch nichts Gott absprechen.«111 Wie er diese
Affirmation versteht, basiert auf einer weittragenden Unterscheidung hin-
sichtlich des transzendenten Gottes, die er diesbezüglich einführt und so
formuliert:
»Obwohl die Namen, die der Verstand aufgrund solcher Begriffe Gott zuschreibt, das
bezeichnen, was die göttliche Substanz ist, bezeichnen sie dennoch diese nicht voll-
kommen hinsichtlich dessen, was sie eigentlich ist, sondern nur in der Weise, in der
wir sie erkennen.«112

Dieser Unterscheidung liegt folgendes duales Schema zugrunde: modus sig-


nificandi (Bezeichnungsmodus)  –  res (oder ratio) significata (bezeichnete
Sache). Aber das wirklich Bemerkenswerte im letzten Zitat ist der Umstand,
dass Thomas die res significata (die bezeichnete Sache) eindeutig subjektiviert.
Damit redet er einem Dualismus (res secundum quod est – res secundum quod
a nobis intelligitur) das Wort, der an Kant denken lässt. Man kann verallgemei-
nernd sagen, dass die ganze Konzeption des Thomas alle genannten Aspekte
beinhaltet – damit aber auch alle realen oder nur scheinbaren Inkohärenzen,
auf die hingewiesen wurde.
Das auf Analogie basierende Verfahren verläuft auf drei Stufen oder, wie
es in der Tradition der Metaphysik heißt, auf drei Wegen (triplex via). Es
sind dies: der »Weg der Bejahung (via affirmationis)«, wodurch Gott die
109 
»De Deo scire non possumus quid sit, sed quid non sit.« (S. Th. I q. 3 Prol.)
110 
»Hoc ipsum quod est Dei substantia remanet, nostrum intellectum excedens, et
ita a nobis ignoratur: et propter hoc illud est ultimum cognitionis humanae de Deo quod
sciat se Deum nescire, in quantum cognoscit, illud quod Deus est, omne ipsum quod de
eo intelligimus, excedere.« (De pot. q. 7 a. 5 ad 14)
111  »Intellectus negationis semper fundatur in aliqua affirmatione … unde nisi intel-

lectus humanus aliquid de Deo affirmative cognosceret, nihil de Deo posset negare.« (De
pot. q. 7 a. 5)
112  »Licet nomina, quae intellectus ex talibus conceptionibus Deo attribuit, significent

id quod est divina substantia, non tamen perfecte ipsam significant secundum quod est,
sed secundum quod a nobis intelligitur.« (De pot. q. 7 a. 5 c.)
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 265

Vollkommenheiten zugeschrieben werden, die ihn als Ursache der Dinge


der Welt als seiner Wirkungen charakterisieren; der »Weg der Verneinung
(via negationis)«, der darin besteht, dass das von den positiven Aussagen
Behauptete von Gott abgesprochen wird; der »Weg des Überstiegs oder der
Exzellenz (via excellentiae vel eminentiae)«, wodurch Gott das auf dem ersten
Weg Behauptete und auf dem zweiten Weg Verneinte auf eine »überragende«
Weise zugeschrieben wird.

[2] Die Analogie ist der erkenntnismäßige Ausdruck der ontologischen


Struktur des Ganzen der Wirklichkeit. Es ist klar, dass diese Struktur
durch die Unterscheidung zwischen endlichen Dingen / Seienden und dem
transzendenten Gott charakterisiert ist. Und es ist auch klar, wie diese
Gesamtstruktur aufgefasst wird. Was sie charakterisiert, ist ihre Grundaus-
richtung am Seienden, am Endlichen, die grundsätzlich das ganze konkrete
Thomasische Denkverfahren bedingt, welches, um es bildlich auszudrücken,
von unten nach oben führt. Das wird deutlich im Fall der Gottesbeweise,
wie in Kapitel 1 dargestellt. Das kann man aber auch dadurch verdeutlichen,
dass man den zentralen Thomasischen Begriff der Vollkommenheit(en) (per-
fectio(nes)) betrachtet. Die auf Gott angewandten Namen bezeichnen nach
Thomas perfectiones. Nun trifft Thomas die grundlegende Unterscheidung
zwischen zwei Arten von perfectiones. Einmal gehört die Unvollkommenheit
des Modus, gemäß dem das Geschöpf an einer Vollkommenheit teilhat, zu
dem vom Namen der Vollkommenheit selbst Bezeichneten (in ipso nominis
significato includitur [STh I a. 13 a. 3 aa 1]): in diesem Fall handelt es sich nur
um eine nach der Terminologie der Spätscholastik »gemischte (mixta)« Voll-
kommenheit, die deshalb Gott nicht im eigentlichen Sinne (proprie), sondern
nur metaphorisch zukommt. Andere Vollkommenheiten hingegen werden so
bezeichnet, daß das durch den Namen Bezeichnete keinen Unvollkommen-
heitsmodus beinhaltet, sondern die Vollkommenheit rein als solche (absolute)
ausdrückt: Diese sind die reinen oder absoluten Vollkommenheiten, wie
»Sein«, »seiend«, »gut«, »lebend« usw. Diese Vollkommenheiten sind also
rein oder absolut hinsichtlich des Bezeichneten (significatum, perfectio sig-
nificata, res significata); insofern sie aber vom Menschen ausgesagt werden,
gehen auch sie einen Unvollkommenheitsmodus ein, der aber den Vollkom-
menheiten als solchen (absolute) äußerlich bleibt, da er als modus significandi
nur auf die Seite des Bezeichnens als einer Tätigkeit des menschlichen Geistes
gehört.
Es ist klar, dass das ganze Verfahren fundamental am Seienden, an der end-
lichen Gestalt der Vollkommenheiten orientiert ist; erst von da an beginnt die
Bewegung des Aufsteigens zur transzendenten Gestalt der »reinen« oder »ab-
soluten« Vollkommenheiten. Wie man sieht, handelt es sich um ein Verfahren
von unten nach oben, vom Endlichen zum Unendlichen, vom »Immanenten«
266 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

zum »Transzendenten«. Auch zum esse als »der Vollkommenheit aller Voll-
kommenheiten«113 gelangt Thomas nur auf diesem Weg.
Es muss hier hervorgehoben werden, dass der Weg, auf welchem Tho-
mas zum esse gelangt, sich grundlegend von dem in Abschnitt 3.2.1.3 be-
schriebenen dritten Weg zur Erschließung der universalen Seinsdimension
unterscheidet. Bei Thomas geht es darum, dass er in seiner Analyse der (end-
lichen) Seienden den Seinsakt (actus essendi) in diesen Seienden »verwirklicht«
ausmacht. Er vollzieht dann eine Transzendenzbewegung, indem er das esse,
verstanden als actus essendi, als »los-gelöst (ab-solute)« von seiner endlichen
Gestalt denkt, mit dem Ergebnis, dass er es als reine Vollkommenheit aller
Vollkommenheiten begreift.
Der genannte struktural-systematische dritte Weg verfährt anders. Zwar
besteht in dem Sinne eine gewisse Ähnlichkeit, dass auch dieser dritte Weg
in einer bestimmten Hinsicht von unten nach oben führt; der entscheidende
Unterschied ist aber, dass er nicht an der Betrachtung der Seienden orientiert
ist, nicht den Seinsakt sozusagen absondert, um ihn zur reinen Vollkom-
menheit aller Vollkommenheiten zu erheben. Vielmehr erschließt dieser Weg
die Zusammenhänge, und zwar in der Weise, dass immer weitere, umfassen-
dere Zusammenhänge bis hin zum Zusammenhang aller Zusammenhänge
erschlossen werden. Der Zusammenhang aller Zusammenhänge wird dann als
absolut universale Seinsdimension oder als Dimension des primordialen Seins
bezeichnet. Die Seinsdimension bzw. das primordiale Sein ist nicht identisch
mit dem Thomasischen esse=actus essendi. In Kapitel 1 wurde aber gezeigt,
dass der Ausdruck ›esse‹ bei Thomas in nuce an entscheidenden Stellen seines
Werkes in der Weise verwendet wird, dass er mehr als nur den actus essendi
anzeigt (vgl. 1.3.2.2). Auf implizite, völlig unentfaltete Weise dürfte Thomas
eine Konzeption des Seins anvisiert haben, die in dieselbe Richtung weist wie
die in diesem Buch präsentierte struktural-systematische Konzeption.

[3] Beide Hauptrichtungen, die negative Theologie und die sich auf die Ana-
logielehre stützende gemäßigte Position, gelangen also zu Gott als dem trans-
zendenten X in der Weise, dass sie vom Endlichen, vom Seienden ausgehen
und sich durchgehend am Seienden orientieren. Die negative Hauptrichtung
macht keine positiven Aussagen über dieses X; das wirft grundlegende Pro-
bleme auf. Man wird die Richtigkeit der oben zitierten Aussage des Thomas:
»Das Verständnis der Negation gründet immer in einer Affirmation …« kaum
in Frage stellen können. Der Kürze halber kann man hier auch eine treffende
Bemerkung von Martin Luther King über K. Barths Konzeption Gottes als
des ganz Anderen anführen:

113  »Hoc quod dico esse est actualitas omnium actuum, et propter hoc est perfectio

omnium perfectionum.« (De pot. q. 7 a. 2 ad 9)


3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 267

»Es muss […] bemerkt werden, dass K. Barth mit großer Gewissheit über die all-
gemein akzeptierten metaphysischen und ethischen Attribute Gottes, wie Herrschaft,
Majestät, Heiligkeit etc. spricht. Früher sagte man von Herbert Spencer, dass er eine
ganze Menge über den ›Unerkennbaren‹ wusste; so, in Bezug auf Barth wundert man
sich, wie er dazu gekommen ist, so vieles über den ›unbekannten Gott‹ zu wissen …«114

Im Gegensatz dazu artikuliert Thomas ein positives Verhältnis zwischen


Gott als dem esse per se subsistens und den Dingen der Welt, den kon-
tingenten Seienden. Die endlichen und kontingenten Seienden sind Modi
des esse, indem sie am esse und damit auch am esse per se subsistens teilhaben.
Diese Partizipationslehre ist ein wesentlicher Bestandteil der Thomasischen
metaphysischen Konzeption. Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, hat Thomas
aber seine Konzeption des esse nur in nuce irgendwie artikuliert; hinsichtlich
seiner Gesamtauffassung kommt sie keineswegs angemessen zur Geltung und
zur Darstellung. Meistens wird der große esse-Gedanke von einer vorwiegend
von Aristoteles und der neuplatonischen Tradition stammenden hochpro-
blematischen Begrifflichkeit und ihren ontologischen Implikationen beinahe
verschüttet, wenngleich er nie ganz verschwindet. Dieser hochproblematische
Charakter der von Thomas faktisch durchgehend benutzten Begrifflichkeit
rührt daher, dass sie Ausdruck einer grundsätzlich an den Seienden, nicht am
Sein (Thomasisch: ens, nicht: esse) orientierten Denkweise ist.
Im Ganzen gesehen bejaht die Thomasische Konzeption der Transzendenz
Gottes ganz deutlich nicht jene absolute Trennung zwischen Gott und Welt/
Mensch, die die negative Theologie in all ihren Formen kennzeichnet. Er
artikuliert vielmehr ein positives Verhältnis zwischen dem transzendenten
Gott und den endlichen Seienden. Besonders von Heidegger her ist dazu die
Frage zu stellen: Wird dieses Verhältnis als solches adäquat artikuliert? Auf-
grund aller bisherigen Ausführungen über Thomas muss darauf eine deutliche
negative Antwort gegeben werden. Das kann abschließend durch zwei Hin-
weise kurz erhärtet werden.
Der erste Hinweis ist eine Kurzanalyse einer der wichtigsten und wei-
testgehenden Aussagen des Thomas über eine nicht einfach trennende oder
unterscheidende Konzeption der Transzendenz Gottes; es ist eine Aussage
über die Immanenz Gottes in den Dingen / Seienden. In STh. I q. 8 a.1 c. be-
handelt Thomas die Frage, ob »Gott in allen Dingen sei (utrum Deus sit in
omnibus rebus)«. Um seine positive Antwort zu begründen, argumentiert
er so: Da Gott das subsistierende Sein selbst ist, muss man sagen, dass das
geschaffene Sein seine eigentlichste Wirkung ist, wobei Gott diese Wirkung
in den Dingen nicht nur hervorbringt, wenn die Dinge allererst zu sein be-
114  Cl. Carson / R. E. Luker / P. A. Russell / P. Holloran (Hrsg.), The Papers of

M. L. King. Vol II, 1994, 95–106; Zit. 106. Dazu ist zu bemerken, dass King das Zitat aus
einem Werk von A. S. Zerbe übernommen hat, ohne dies kenntlich zu machen. Vgl. dazu
die Bemerkungen der Herausgeber ebd., S. 95 und S. 106, Fußnote 22.
268 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

ginnen, sondern auch solange er sie im Sein erhält. Und dann setzt Thomas
seine Argumentation so fort: »Solange daher ein Ding das Sein hat, solange ist
erforderlich, dass Gott bei ihm anwesend sei, und zwar nach der Weise, wie es
das Sein hat. Das Sein aber ist dasjenige, was zuhöchst das Innerste ist für ein
jedes und was das Tiefere ist in allen Dingen.«115
Das sind zweifellos gewichtige und gut durchdachte Aussagen. Dennoch
muss man sagen, dass sie das Verhältnis zwischen Gott als dem esse per se
subsistens oder einfach dem esse ipsum und den endlichen Seienden in dem
Sinn noch »äußerlich« und damit völlig unzureichend artikulieren, als sie nur
eine Gegenwart oder ein Inne-sein des esse ipsum in den endlichen Seienden
thematisieren. Aber eine Gegenwart bzw. ein Inne-sein lässt das esse ipsum und
die Seienden als zwei gegeneinander Unterschiedene und sogar als zwei jeweils
gegeneinander Andere bestehen. Damit wird nicht geklärt, wie, um einen
Terminus Heideggers zu verwenden, beide letztlich »zusammengehören«.
An zweiter Stelle muss man in diesem Zusammenhang auf den Schöpfungs-
gedanken als ins-Sein-Setzung ohne irgendetwas Voraus-gegebenes hinwei-
sen. Man könnte sagen, dass damit die »Zusammengehörigkeit« von ipsum
esse und Seienden als geklärt und artikuliert gelten müsste; denn damit ist
gesagt, dass zwischen ipsum esse und Seienden nicht jenes »Andersheits-Ver-
hältnis« besteht, auf welches sich der erste Hinweis bezog, bedeutet doch die
Schöpfung, dass die Seienden vom ipsum esse (in seiner Fülle als ipsum esse
per se subsistens) ins-Sein gesetzt wurden, so dass das ipsum esse sich zwar
von den Seienden unterscheidet, aber so, dass es die Seienden sozusagen »in
sich behält«. Das trifft selbstverständlich zu. Doch damit ist nur in grund-
sätzlicher Hinsicht eine Klärung erfolgt; die detaillierte Ausarbeitung dieser
Klärung fehlt vollständig. Das zeigt sich bei Thomas von Aquin daran, dass
der Schöpfungsgedanke zwar explizit artikuliert wird, aber doch so, dass er
als ein Gedanke neben anderen erscheint. Anders gesagt: der Schöpfungs-
gedanke wird nicht in seiner ganzen Tiefe und Tragweite und hinsichtlich
seiner immensen Implikationen wirklich durchdacht und artikuliert.
Die Bewältigung dieser Aufgabe steht noch aus. Und was in diesem Zu-
sammenhang hervorgehoben werden muss, ist der Umstand, dass sie nicht
mehr im Rahmen der Konzeption des Thomas über das esse ut jacet gemeistert
werden kann. Man muss eine andere, weitere und umfassendere Konzeption
des Seins entwickeln, um das »Ver-hältnis« von Sein und Seienden und fer-
ner – viel bestimmter – das »Ver-hältnis« von absolutnotwendigem freiem Sein
als Schöpfer und geschaffener kontingenter Welt adäquat zu artikulieren. Die
Konzeption des Thomas über Transzendenz bleibt noch eine »äußerliche«.

115  »Quandiu igitur res habet esse, tandiu oportet quod Deus adsit ei, secundum

modum quo esse habet. Esse autem est illud quod est magis intimum cuilibet, et quod
profundius omnibus inest.« (STh I q. 8 a. 1 c.) (Kursiv nicht im Original).
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 269

3.7.3.2 Ansatz zu einer struktural-systematischen Konzeption über Gottes


Transzendenz

Die im folgenden zu explizierende und zu begründende These kann so for-


muliert werden: Es gibt keine absolute, sondern nur eine relative Transzen-
denz des absolutnotwendigen personalen Seins als Schöpferabsolutes bezüglich
der kontingenten Seinsdimension, im folgenden Sinne: Gottes Transzendenz
bezüglich der kontingenten Seinsdimension findet statt, besser: ereignet sich,
vollständig in der totalen Autoimmanenz des absolutnotwendigen personalen
Seins als Schöpferabsolutes.

[1] Gottes Transzendenz wäre eine absolute genau dann, wenn sie eine reine
Negation, eine reine Unterscheidung oder sogar Trennung, nur ein Jen-
seits-der-kontingenten-Seinsdimension, nur ein Anderssein besagte. Gottes
Transzendenz wird relativ genannt in einer negativen und in einer positiven
Hinsicht. Negativ meint »relative Transzendenz«, dass sie nicht absolut im
angegebenen Sinn ist. Positiv meint »relative Transzendenz«, dass sie sich
nur in Bezug auf einen oder innerhalb eines den transzendenten Gott und die
kontingenten Seienden umfassenden Gesamtraum(s), der aber Gott selbst ist,
ereignet. Dazu sind einige weitere Erläuterungen zu geben.
Die ursprüngliche universale Seinsdimension ist nicht zu konzipieren – wie
postmoderne Autoren sofort sagen würden (vgl. Kapitel 4) – als eine Dimen-
sion, die noch »vor« der absolutnotwendigen personalen Seinsdimension und
dem Schöpferabsoluten »wäre« oder, in der Sprache Heideggers, »weste«
(in welchem Sinne auch immer), oder als eine die absolutnotwendige und
die kontingente Seinsdimension noch »weiter umfassende« Über-Dimen-
sion, die also nicht Gott selbst wäre, oder schließlich als ein hintergründiger
»Horizont«, der auch für Gott eine »Bedingung« – in welchem Sinne auch
immer – oder etwas Ähnliches darstellte. Kurz: die absolutnotwendige Seins-
dimension und die kontingente Seinsdimension sind nicht im gewöhnlichen
Sinne als zwei »Sub-Dimensionen« einer noch ursprünglicheren Dimension
aufzufassen. Vielmehr sind sie die explizierte ursprüngliche Seinsdimension
selbst, die sich eben zunächst als Zwei-Seinsdimensionalität, dann weiter als
absolutnotwendige freie (personale) Seinsdimension, welche die kontingente
Seinsdimension erschafft und somit »enthält«. Die »Etappen« der (Selbst)Ex-
plikation der ursprünglichen Seinsdimension sind eben »nur« dies: Etappen
der (Selbst)Explikation. Die ursprüngliche universale Seinsdimension ist das
große Explicandum, die absolutnotwendige Seinsdimension als das-Schöpfer-
absolute-das-die-kontingente-Welt-erschaffen-hat das Explicans/Explicatum
der ursprünglichen universalen Seinsdimension.
Der verwendete Ausdruck ›Autoimmanenz‹ (»totale Autoimmanenz des
absolutnotwendigen personalen Seins als Schöpferabsolutes«) ist nicht nur
270 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

ungewöhnlich, sondern kann auch missverstanden werden. ›Immanenz‹ kon-


notiert eine Korrelativität zu einem »Äußeren«, einem »Anderen«, das durch
den Gedanken der Autoimmanenz negiert wird; aber damit nimmt die Ne-
gation Bezug auf ein Äußeres / Anderes. Im Falle der ursprünglichen univer-
salen Seinsdimension, expliziert als die-absolutnotwendige-Seinsdimension-
als-Schöpfer-der-kontingenten-Seinsdimension, ist zu sagen, dass sie nur dann
richtig gedacht wird, wenn dabei von so etwas Äußerem/Anderem keine
sinnvolle Rede mehr sein kann, auch nicht in negativer Form. Dennoch wird
der Ausdruck ›Autoimmanenz‹, mangels eines besseren, hier verwendet.
Damit soll der entscheidende Punkt bei der Frage nach der Transzendenz
Gottes artikuliert werden: Transzendenz Gottes hinsichtlich der kontingenten
Seienden ereignet sich in Gott selbst, als sein eigenes aus seiner eigenen Frei-
heit heraus sich ereignendes »Geschehen«. Indem Gott kontingente Seiende
schöpferisch ins-Sein setzt, schafft er in sich selbst jenen Unter-Schied zu sich,
den wir Transzendenz nennen. Daran festzuhalten und das durchzudenken,
ist eine harte Aufgabe, die auch in der Tradition der Metaphysik selten, wenn
überhaupt, angemessen in Angriff genommen wurde.
Oft wurde gerade in der Tradition des biblisch-christlich orientierten Den-
kens die Furcht geäußert, dass solche Gedanken einem zu verurteilenden
»Pantheismus« gleichkämen, der jeden relevanten Unterschied zwischen Gott
und den Menschen bzw. der Welt verwischt. Das aber wäre im Fall der hier
vertretenen Konzeption über die Transzendenz ein fundamentales Missver-
ständnis. Dass der Unterschied nicht »verwischt« wird, zeigt sich insbeson-
dere daran, dass Gott als freier Schöpfer eben die Menschen als geistige und
damit als freie Seiende schafft. Ein Verhältnis zwischen Freiheiten schließt so
etwas wie einen »verwischten« Unterschied zwischen ihnen radikal aus.
Höchste Zurückhaltung und Sorgfalt ist geboten, wenn in einem philoso-
phischen Werk Textstellen aus der Bibel zitiert werden. Doch erscheint es hier
im Hinblick auf biblisch-christlich orientierte Autoren und Leser angebracht,
eine Textstelle aus der Apostelgeschichte anzuführen, die zeigt – zumindest
wenn man sie philosophisch liest –, dass der in einer streng philosophischen
Sprache artikulierte Gedanke der Schöpfung und der Transzendenz der Bibel
gar nicht fremd ist. In seiner Rede auf dem Areopag in Athen sagte Paulus:
»Sie [die Menschen] sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn
keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie
auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art.«116

Das Umfassendsein, das alles-in-sich-Einbehalten durch Gott schließt eine


Transzendenz Gottes in Bezug auf die kontingente Seinsdimension nicht aus,

116  ξητεῖν τὸν ϑεόν … καὶ γε οὐ μακρὰν ἀπὸ ἑνὸς ἑκάστου ἡμῶν ὑπάρχοντα.

ἐν αὐτῷ [τῷ ϑεῷ] γὰρ ζῶμεν καὶ κινούμεϑα καὶ ἐσμέν, ὡς καὶ τινες τῶν καϑ’ ὑμᾶς ποιητῶν
εἰρήκασιν: τοῦ γὰρ καὶ γένος ἐσμέν. (Apostelgeschichte 17:27–28; Einheitsübersetzung)
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 271

im Gegenteil: sie ist dadurch allererst möglich und – unter Voraussetzung der


Schöpfung – notwendig, dass sie von Gott selbst »getragen« oder »bewirkt«
wird. Die zitierte Stelle drückt diesen Sachverhalt in aller Selbstverständlich-
keit aus.
Man kann zur Bezeichnung dieser Konzeption den Ausdruck ›Pan-
entheismus‹ verwenden, vorausgesetzt, man befreit ihn von vielen Miss-
verständnissen, die ihm anhaften, seitdem er 1828 von K. Ch. F. Krause
in die Philosophie eingeführt wurde.117 Nach Krause sollte der Terminus
die Immanenz der Welt in Gott bezeichnen; er ist gleichbedeutend mit der
»Allingottlehre«, die im Gegensatz zum Pantheismus die Abhängigkeit der
Welt von Gott und dessen Transzendenz bewahrt. Die große Frage ist aber,
wie dieses »alles in Gott« genauer zu verstehen ist. Mit »alles« kann jedenfalls
nur die Dimension der kontingenten Dinge, die Welt, gemeint sein. Aber
die Bedeutung von »in« bleibt noch ganz im Dunkel. Nur im Rahmen einer
Konzeption des Seins als solchen und im Ganzen kann darüber Klarheit
geschaffen werden. Wie immer die Geschichte dieses Terminus gewesen
sein mag, jedenfalls eignet er sich von seiner etymologischen Zusammenset-
zung her vorzüglich zur Bezeichnung der These, dass Gottes Transzendenz
hinsichtlich der kontingenten Seinsdimension nur eine relative im oben
erläuterten Sinne ist.

[2] Es sei abschließend noch auf einen gerade für die Thematik und die
Zielsetzung dieses Buches sehr wichtigen Punkt hingewiesen. Es ist bei vielen
jüdischen und christlichen Autoren beinahe zur Mode geworden, die Trans-
zendenz Gottes nicht nur zu betonen, sondern in einer Weise zu radikalisie-
ren, dass sie dann nur noch als Transzendenz in einem, wenn man so sagen
kann, extrem absoluten Sinne zu verstehen ist, und zwar in dem Sinne, wie
»absolute Transzendenz« oben erklärt wurde. Dabei droht – zumindest – die
Gefahr, dass aus Gott eine Art absolut jenseitiges Phantom gemacht wird,
dessen einzige Charakteristik darin besteht, ein absolutes Jenseits zu sein.
Man könnte in diesem Zusammenhang das Grundcharakteristikum einer
solchen Konzeption auf der Basis der beiden Grundbegriffe »Transzendenz
Gottes« und »Immanenz Gottes (in den Dingen, in der kontingenten Seins-
dimension)« etwa folgendermaßen charakterisieren: Transzendenz Gottes
und Immanenz Gottes verhalten sich umgekehrt proportional zueinander,
d. h.: je größer die Transzendenz ist, desto kleiner ist die Immanenz. Im
Grenzfall gilt dann: Wenn die Transzendenz Gottes absolut ist (im obigen
Sinne), ist die Immanenz Gottes gleich Null. Da diese (post-modernen)
Autoren die Transzendenz Gottes im absoluten Sinne »konzipieren«, ist die
Konsequenz unausweichlich: die Immanenz Gottes wird auf den Nullpunkt

117 
K. Ch. F. Krause, Vorlesungen über das System der Philosophie, 1828.
272 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

reduziert. Gott ist nur noch der absolut Andere. Wenn diese Konsequenz
von diesen Autoren nicht gezogen wird, so geschieht das aufgrund einer
tiefliegenden Inkohärenz.
Die hier entwickelte (genauer: skizzierte und angedeutete) Konzeption
über die absolutnotwendige freie schöpferische Seinsdimension und deren
Verhältnis zur kontingenten Seinsdimension lässt sich hinsichtlich des Ver-
hältnisses zwischen Transzendenz und Immanenz auf die Formel bringen:
Transzendenz Gottes und Immanenz Gottes verhalten sich zueinander direkt
proportional, nicht: umgekehrt proportional, d. h.: Je größer oder radikaler
die Transzendenz Gottes ist, desto größer oder radikaler ist seine Immanenz.

3.7.4 Der Übergang vom Schöpferabsoluten zum »Offenbarungsgott« als


Schlussthema der Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
An diesem Punkt angelangt, sieht sich die struktural-systematische Philoso-
phie mit zwei Aufgaben konfrontiert. Die erste besteht darin, die bisher dar-
gelegte Konzeption als ganze zu vertiefen und ihre vielfältigen Einzelheiten
im Detail herauszuarbeiten; zusätzlich wären mehrere schwierige damit zu-
sammenhängende Probleme zu behandeln. Als Beispiel sei das als schrecklich
zu bezeichnende Problem des Übels in der Welt genannt. So dringend diese
Aufgabe auch sein mag, sie kann in diesem Buch nicht in Angriff genommen
werden; dieses Buch hat sich nämlich zum Ziel gesetzt, nur den Ansatz einer
Konzeption in Auseinandersetzung mit ihren wichtigsten Gegenpositionen
zu entwickeln. Dazu sei aber nur vermerkt, dass die Bewältigung der ge-
nannten Aufgabe im Rahmen der bisher skizzierten allgemeinen Konzeption
mit Sicherheit zu meistens ganz anderen Resultaten führen wird als denjeni-
gen Konzeptionen, die heute von den meisten Autoren über Gott vertreten
werden. Aber das kann hier nur als eine rein programmatische Behauptung
verstanden werden.
Eine zweite Aufgabe hat einen ganz anderen, einen fundamentalen, weiter-
führenden Charakter. Sie besteht nicht darin, Einzelheiten herauszuarbeiten
und zu klären, sondern darin, einen bedeutenden weiteren Schritt zu voll-
ziehen. Das soll in diesen Abschnitt 3.7.4 dargelegt werden.

3.7.4.1 Die große methodische Zäsur: der Übergang zu einer philosophischen


Theorie über die Weltgeschichte und die Religion(en)
Wenn die systematische Philosophie so weit vorangeschritten ist, dass sie
die absolutnotwendige Seinsdimension als Schöpferabsolutes expliziert hat,
stellt sich die Frage, ob noch weitere Bestimmungen des Schöpferabsoluten
möglich oder sogar unverzichtbar sind. An diesem Punkt tritt eine tiefgrei-
fende methodische Zäsur in der systematischen Verfahrensweise ein. Weitere
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 273

Bestimmungen des Schöpferabsoluten über die Bestimmungen der absoluten


Intelligenz, des absoluten Willens bzw. der absoluten Willensfreiheit und der
Personalität hinaus sind nämlich nicht mehr von irgendwoher explizierbar
und noch weniger ableitbar, sondern hängen von einem entscheidenden Fak-
tor ab, nämlich von der Freiheit des Schöpferabsoluten.
Dieser Faktor lässt sich verdeutlichen, wenn man das Beispiel »freier
Mensch« betrachtet. Will man weitere Bestimmungen eines »freien Men-
schen« herausarbeiten, so gibt es dazu nur einen Weg: Man muss die Ge-
schichte seiner freien Entscheidungen untersuchen. Ganz analog verhält es
sich mit den weiteren Bestimmungen des freien Schöpferabsoluten: Dessen
weitere Bestimmungen ergeben sich aus der »Geschichte« seiner Freiheit.
Um herauszufinden, ob es eine solche Geschichte gibt oder nicht, muss die
Weltgeschichte und in ihr ganz speziell die Geschichte der großen Religionen
untersucht werden.
Dieser Schritt, der darin besteht, dass die Freiheit des Schöpferabsoluten
ins Spiel gebracht wird, mag als sehr gewagt und sogar als unverständlich und
erdichtet erscheinen. Er ist es nicht. Der Schritt ist absolut konsequent. Das
kann aufgrund von zwei Überlegungen kurz gezeigt werden.
Wenn man, wie es die struktural-systematische Philosophie tut, auf der
Basis von Argumenten annimmt, dass das freie (personale) absolutnotwendige
Sein die Welt, die kontingente Seinsdimension, absolut frei erschaffen, d. h. ins
Sein gesetzt hat, so ist die Welt im Lichte einer absoluten Freiheit zu sehen.
Dann ist erstens zu fragen, warum die absolute Freiheit sozusagen hier, also
bei der Erschaffung der Welt, enden sollte. Ob sie hier endet oder nicht endet,
hängt, wie im oben beschriebenen Fall eines freien Menschen, einzig und
allein von ihr selbst, der absoluten Freiheit, ab. Die freie Entscheidung des
Schöpferabsoluten kann nicht a priori oder wie immer »abgeleitet« werden,
sonst könnte man nicht von einer echten Freiheit sprechen. Sie kann nur
aufgrund der Geschichte dieser Freiheit selbst ermittelt werden. Es ist also
zwingend, an diesem Punkt der Explikation der ursprünglichen universalen
Seinsdimension, die göttliche Freiheit ins Spiel zu bringen.
Zweitens drängt sich hier unmittelbar die weitere Frage auf: Wenn es
eine Geschichte der absoluten Freiheit gibt, wo könnte sie sich manifestie-
ren – oder noch konkreter: wo hat sie sich möglicherweise manifestiert? Man
kann nicht a priori »die Wege der absoluten Freiheit« bestimmen, d. h., man
kann nicht a priori sagen, Gottes absolute Freiheit könne sich nur in dieser
oder in einer anderen Weise zeigen. Aber man wird jedenfalls darauf die all-
gemeine Antwort geben können, ja müssen: Ob und wie Gottes absolute
Freiheit sich gezeigt hat, kann nur ermittelt werden, wenn man die Welt-
geschichte »studiert«. Nun gibt es in der Weltgeschichte die Geschichte der
Religion(en). Und man kann selbstverständlich feststellen, dass es Religionen
gibt, die sich so verstehen, dass sie sich auf eine angenommene Geschichte der
274 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

göttlichen Freiheit stützen. Das ist, wenn nicht ausschließlich, so an allererster


Stelle der Fall bei der jüdisch-christlichen Religion, beim Judentum und dem
Christentum.
An diesem Punkt muss also der Philosoph, der nach einer weiteren »Be-
stimmung« des absolutnotwendigen Schöpferabsoluten fragt, sich dem philo-
sophischen Studium der Weltgeschichte bzw. der Geschichte der Religion(en)
zuwenden. Diese Zuwendung bedeutet nun eine gewaltige methodische und
thematische Wende, genauer: eine Zäsur. Ab jetzt hat er es mit der Geschichte,
mit geschichtlichen Phänomenen zu tun, die es zu deuten gilt. Die Methode
muss ab jetzt, zwar nicht ausschließlich, aber doch zumindest anfänglich eine
vorwiegend hermeneutische sein. Allerdings verhält es sich so, dass dieser Phi-
losoph, wenn er struktural-systematisch denkt, die Weltgeschichte bzw. die
Geschichte der Religion(en) vor einem großen systematisch-philosophischen
Hintergrund deuten wird.
Der Philosoph kann hier keine Grenzen, welcher Art auch immer, an-
erkennen oder respektieren, insbesondere Grenzen, die von religiösen Ge-
meinschaften, vor allem den christlichen Kirchen, gesetzt werden. Auf dieses
Thema soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden. Die ganze Thematik
der Interpretation der Weltreligionen ist eine Thematik, die in jedem Fall und
in fundamentaler Hinsicht die Philosophie angeht.
Im Zentrum der jüdisch-christlichen Religion steht der Begriff der Offen-
barung Gottes. Dies ist das Phänomen, die Erscheinung par excellence der
Freiheit Gottes. Und was sich in dieser Offenbarung Gottes zeigt, bringt
weitere »Bestimmungen« Gottes zum Vorschein. Gemäß der langen christ-
lichen Tradition ist das, was als die Offenbarung Gottes interpretiert wird,
die ausschließliche Domäne jener Disziplin, die christliche Theologie heißt,
wobei der Philosophie jede Möglichkeit und Kompetenz, dieses Phänomen
der Offenbarung zu behandeln, radikal abgesprochen wird. Die struktural-
systematische Philosophie erkennt diese der Philosophie gesetzte Grenze
überhaupt nicht an. Diese Problematik soll im letzten Abschnitt dieses Ka-
pitels abschließend behandelt werden.

3.7.4.2 Zur Problematik des Verhältnisses von »Philosophie« und


»Theologie«
Die skizzierte Konzeption hat tiefgreifende Konsequenzen für das Verhältnis
von »Philosophie« und »Theologie«. Diese beiden Ausdrücke werden hier
in Anführungszeichen gesetzt, weil deren Schlussbedeutung, die sich aus der
kurz skizzierten Konzeption ergibt, in Frage steht. Zunächst soll ein fun-
damentaler Einwand aus christlich-theologischer Sicht behandelt werden
(3.7.4.2.1); anschließend sollen Schlussüberlegungen zur ganzen Problematik
angestellt werden (3.7.4.2.2).
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 275

3.7.4.2.1 Klärung eines fundamentalen »christlich-theologischen« Einwands

Im folgenden soll zunächst ein Einwand aus der Perspektive der (traditio-
nellen) christlichen Theologie gegen die hier vertretene Konzeption über
die Philosophie und den Übergang vom Schöpferabsoluten zum Gott der
Offenbarung behandelt werden. Es soll gezeigt werden, dass dieser Einwand
aufgrund der eigenen grundlegenden Annahmen der christlichen Theologie
nicht zurecht besteht. Die Ausführungen in diesem Abschnitt erfolgen daher
sozusagen aus der selbstkritischen Innenperspektive der christlichen Theo-
logie.

[1] Die im traditionellen christlichen Denkrahmen formulierte These, dass


»Gott« der Schöpfer der Welt ist, war bzw. ist für diesen Denkrahmen die
höchste, aber auch die letzte Aussage, welche die Philosophie, wie sie in
diesem Rahmen verstanden wurde / wird, über »Gott« aufstellen kann. Mehr
kann die Philosophie nicht sagen und leisten. Damit war/ist aber für die-
sen Denkrahmen nicht der Schlusspunkt für das Denken erreicht; vielmehr
wurde/wird angenommen, dass sich jetzt eine völlig neue, zwar der Phi-
losophie, nicht aber dem Denken selbst nicht mehr zugängliche Dimension
eröffnet: die Dimension der Offenbarung, genauer hier: der geoffenbarten
»Inhalte« oder »Wahrheiten« und damit auch der ihr entsprechenden theo-
retischen Artikulation. Damit entsteht eine neue Disziplin, die im eigentlichen
Sinn christliche Theologie, eine Disziplin mit einem völlig anderen theo-
retischen Status und einem völlig anderen Gegenstand.
Beide Unterscheidungsmerkmale ergeben sich aus der fundamentalen
Distinktion zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Ebene oder
Dimension, die in der christlichen Theologie auch die Distinktion zwischen
Natur und Gnade genannt wird. Hinsichtlich des theologischen Status ist das
übernatürliche Licht oder das Licht des Glaubens oder der göttlichen Offen-
barung (lumen supernaturale oder lumen fidei seu divinae revelationis) das
zentrale Element, während die in der Heilsgeschichte geoffenbarten Wahr-
heiten den Gegenstand oder die Thematik der Theologie bilden, wobei das
Offenbarungsgeschehen seinen Höhepunkt und seine Vollendung in der Ge-
stalt Jesu Christi hat.
Gemäß dieser großen Tradition ist die Philosophie die Artikulation der
natürlichen und die (christliche) Theologie die Artikulation der so verstan-
denen übernatürlichen Ordnung (ordo naturalis – ordo supernaturalis). Der
»christliche« Gott im eigentlichen Sinne erscheint erst und ausschließlich in
der übernatürlichen Ordnung. Er ist das eigentliche Thema der sacra theo-
logia, der heiligen Theologie.
Diese Auffassung wird oft »Zwei-Stockwerk-Denken« genannt. Sie wurde
jahrhundertelang beinahe unangefochten vertreten und stellt einen klaren und
276 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

bequemen Denkrahmen dar, von welchem her man leicht zwischen der Phi-
losophie und der (christlichen) Theologie deutlich unterscheiden kann. Dass
aber diese Klarheit und Bequemlichkeit nicht als positive Elemente anzusehen
sind, wurde im 20. Jahrhundert von christlichen Theologen selbst eingesehen.
Die so verstandene Distinktion wurde nämlich von Theologen wie Henri de
Lubac,118 Karl Rahner119 und anderen kritisiert und abgelehnt.

[2] Der Hauptstreitpunkt in dieser Diskussion dürfte eine grundlegende Vo-


raussetzung sein, die der erwähnten Distinktion zugrunde liegt, nämlich die
Annahme einer reinen Natur (natura pura) des Menschen im theologischen
Sinn. De Lubac verwirft radikal eine solche Idee, während K. Rahner zwar
die Idee einer reinen Natur bejaht, nicht aber im Sinne einer Realität, sondern
nur als einen »Restbegriff« (oder »Grenzbegriff«). Doch einzig K. Rahner
hat eine sowohl im christlich-theologischen als auch im philosophischen Sinn
kohärente Konzeption vorgelegt, indem er den Begriff des »übernatürlichen
Existenzials« einführte. Den Begriff »Existenzial« entlehnte er aus Heideg-
gers Werk Sein und Zeit (vgl. SZ § 9), wo dieser Term den »Seinscharakter
des Daseins« bezeichnet, und zwar im Gegensatz zum Term ›Kategorie‹, den
Heidegger zur Bezeichnung der ontologischen Bestimmungen derjenigen
Seienden gebraucht, die nicht Dasein, d. h. nicht Menschen sind.
Wie ist nun der Begriff des »übernatürlichen Existenzials« zu verstehen
und inwiefern spielt er eine Rolle bei der Klärung des Problems des Über-
natürlichen? Rahner hat nie restlose Klarheit über diesen Begriff und seinen
Erklärungswert geschaffen; allerdings dürfte die Intuition, die der Einführung
des Begriffs zugrunde liegt, zweifelsohne zutreffend sein. Zwei entscheidende
Faktoren sollten damit artikuliert werden.
[i] Erstens wird von Rahner ausgeführt, dass Gottes universaler Heilswille
oder, genauer in seiner Terminologie, Gottes Wille zur Selbstmitteilung einen
ontologischen Effekt im Menschen (d. h. in allen Menschen) hat. Dieser Wille
ist nicht etwas rein Abstraktes, in dem Sinne, dass er nur in der »Intention«
Gottes vorhanden wäre; vielmehr ist dieser Wille ein realer Wille in dem Sinne,
dass er – um die traditionelle theologische Terminologie zu gebrauchen – die
Wirkung hat, dass dadurch der Mensch (d. h. alle Menschen) in den »über-
natürlichen Zustand oder Status« erhoben werden. Somit hat Gott eine neue
118  Vgl. besonders sein Werk: Surnaturel. Études historiques, 1946. Seine Konzeption

hat er in weiteren Arbeiten präzisiert, besonders im Aufsatz: »Le mystère du surnaturel«,


in: Recherches de Science Religieuse, 1949, 80–121. De Lubacs Schriften über das Über-
natürliche wurden im Rahmen seiner Oeuvres complètes als Bd. XII unter dem Titel: Le
Mystère du surnaturel, Paris: Les Éditions du Cerf, 2006, publiziert.
119  Eine erschöpfende Darstellung der Konzeption K. Rahners über das Übernatür-

liche findet sich im Buch von Thomas Fössel, Gott  –  Begriff und Geheimnis. H.-J.
Verweyens Fundamentaltheologie und die ihr inhärente Kritik an der Philosophie und
Theologie Karl Rahners, 2004.
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 277

ontologische Bestimmung im Menschen (d. h. in allen Menschen) oder einen


neuen ontologischen Status aller Menschen herbeigeführt, nämlich die onto-
logische Bestimmung bzw. den ontologischen Status, die/der darin besteht,
dass alle Menschen die Adressaten der Selbstmitteilung Gottes sind. Dieser
Sachverhalt zieht die bedeutsame ontologische Konsequenz nach sich, dass
die (alle) Menschen nie »im Zustand oder mit dem Status der reinen Natur«
(im theologischen Sinne) existiert haben. Zwei Zitate aus zwei verschiedenen
Schriften Rahners artikulieren diesen Gedanken in der typischen Rahnerschen
Sprache folgendermaßen:
»Diese [durch das übernatürliche Existenzial charakterisierte] ›Situation‹ […], die
umfassend und unentrinnbar dem freien Handeln des Menschen vorgegeben ist und
dieses bestimmt, besteht nicht nur in den Gedanken und Absichten Gottes, sondern
ist eine realontologische Bestimmung des Menschen selbst, die als Objektivierung des
allgemeinen göttlichen Heilswillens zwar gnadenhaft zu seinem Wesen als ›Natur‹ hin-
zutritt, dieser aber in der realen Ordnung nie fehlt.«120
»Die faktische Natur ist nie ›reine‹ Natur, sondern eine Natur in einer übernatürlichen
Ordnung, aus der der Mensch (auch als Ungläubiger und Sünder) nicht heraustreten
kann, und eine Natur, die dauernd überformt ist (was nicht heißt: gerechtfertigt ist)
durch die angebotene übernatürliche Heilsgnade. Und diese ›Existenziale‹ [ontologi-
sche Bestimmungen, LBP] seiner konkreten Natur (seiner ›historischen‹ Natur) sind
nicht rein bewußtseinsjenseitige Seinszuständlichkeiten, sondern machen sich in der
Erfahrung des Menschen geltend.«121

[ii] Der zweite Punkt, der Rahners Begriff des übernatürlichen Existenzials
charakterisiert, ergibt sich aus philosophischen Überlegungen. Wie in Ka-
pitel 1 dargestellt wurde, war Rahner vom transzendentalen Ansatz sehr
beeinflusst, er gilt ja, wenn auch mit Einschränkungen, als ein Vertreter des
»transzendentalen Thomismus«. Das hat ihn dazu geführt, das übernatürliche
Existenzial zwar als eine ontologische Bestimmung zu verstehen, aber dies
(auch) im Sinne eines transzendental verstandenen A priori des menschlichen
Geistes zu deuten. Und das verursachte eine große Unklarheit und sogar
Konfusion. Für die Behandlung der hier anstehenden Frage ist es nicht nötig,
diesen zweiten Punkt im Einzelnen zu analysieren und in die weiteren Über-
legungen einzubeziehen.

[3] K. Rahner scheint nicht die umwälzenden Konsequenzen aus seinem groß-
artigen Gedanken gezogen zu haben. So weit der Verfasser sehen kann, hat sich
auch kein Philosoph oder Theologe nach Rahner der Mühe unterzogen – und
man wird vielleicht hinzufügen müssen: den Mut aufgebracht –, diese Kon-
sequenzen explizit zu machen. Sie betreffen wesentliche Sachverhalte.
120  Artikel »Existenzial, übernatürliches«, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2.

Aufl., Bd. 3, 1959, Sp. 1301.


121  »Natur und Gnade«, in: Schriften zur Theologie, Bd. IV, 230.
278 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Im Hinblick auf die Thematik und die Zielsetzung des vorliegenden Buches
ist jene Konsequenz von besonderer Bedeutung, die das Verhältnis zwischen
Philosophie und (christlicher) Theologie betrifft. Es dürfte nicht zu bestreiten
sein, dass die traditionelle Konzeption nicht aufrechterhalten werden kann;
denn ihr zufolge ist Philosophie sozusagen ein Produkt der reinen Natur (im
theologischen Sinn); sie ist eine Aktivität nur der »natürlichen Vernunft«,
wobei sie konsequenterweise ausschließlich vom »Licht der natürlichen Ver-
nunft« geleitet wird. Aus der christlichen Perspektive ist dies aber eine reine
Abstraktion, genauer: eine Fiktion; denn ihr zufolge gibt es nichts in der
Menschheit, das »rein natürlich« (im theologischen Sinn) wäre. Die mensch-
liche Natur als solche und als ganze und damit alles, was zu ihr gehört, wurde
von Gott – in der traditionellen Terminologie ausgedrückt – zur übernatür-
lichen Ordnung erhoben, sind doch alle Menschen nach christlicher Lehre
Adressaten der Selbstmitteilung Gottes. Damit ist alles, was den Menschen
konstituiert – also sein »Wesen« (wie immer man dieses deuten mag), alle seine
Vermögen usw. – sozusagen in den großen durch die Selbstmitteilung Gottes
eröffneten Raum einbezogen.
Aus dieser These lassen sich nun mindestens zwei Konsequenzen ziehen,
die vermutlich bei der Mehrheit der christlichen Theologen auf scharfe Ab-
lehnung stoßen werden: Zum einen folgt aus der formulierten These aus
christlicher Perspektive, dass ein Theoretiker, der Philosophie betreibt, nicht
als jemand angesehen und verstanden werden kann, der sich einzig und allein
auf die Potentialitäten der rein menschlichen Vernunft stützt, indem er rein
vom Licht der (theologisch verstandenen) »rein natürlichen« Vernunft geleitet
wird. Zum anderen folgt aus der These, dass jener thematische Bereich, der
traditionell als der exklusive Bereich der christlich verstandenen Theologie
aufgefasst wird, dem Theoretiker / Philosophen als Theoretiker/Philosophen
nicht prinzipiell unzugänglich bleibt.
Der einzige Faktor, den der hier gemeinte Theoretiker/Philosoph unbe-
dingt beachten muss, ist – in negativer Formulierung – der folgende: Er darf
nicht den Anspruch erheben oder den Versuch unternehmen, die charakte-
ristisch christlichen Wahrheiten über Gott (Dreifaltigkeit, Menschwerdung
usw.) rein aus den Thesen zu gewinnen oder abzuleiten, die er ohne Rekurs
auf die Geschichte (konkret: ohne Berücksichtigung einer Interpretation der
Religionen, im Fall des »christlichen Gottes«: ohne Interpretation der Heili-
gen Schriften des Alten und Neuen Testaments) aufgestellt hat. Im Rahmen
des in diesem Kapitel dargestellten struktural-systematischen Ansatzes heißt
das: Die Explikation der ursprünglichen universalen Seinsdimension führt den
Philosophen dazu, die These aufzustellen, dass die absolutnotwendige Seins-
dimension als das Schöpferabsolute zu explizieren ist. Eine weitergehende
Explikation ist nur sinnvoll und möglich, wenn eine weitreichende metho-
dische Zäsur beachtet wird. Weitere »Bestimmungen« des bis zu diesem
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 279

Punkt explizierten Schöpferabsoluten sind nämlich nur eruierbar, wenn der


Philosoph »auf die Geschichte eingeht«, wie oben erläutert wurde. »Wahr-
heiten« wie die Dreifaltigkeit, die Menschwerdung usw. sind nur auf diesem
Weg erreichbar und artikulierbar.122

3.7.4.2.2 Einige zentrale Aspekte einer neuen Bestimmung des Verhältnisses


von »Philosophie« und »Theologie«: zum »Status« des »echten« Philosophen
gegenüber dem christlichen Glauben und der christlichen Theologie
Aus den angestellten Überlegungen ist zu folgern, dass das traditionelle Ver-
ständnis des Verhältnisses zwischen Philosophie und (christlicher) Theologie
neu bestimmt werden muss. Philosophie und Theologie bilden grundsätzlich
eine einzige universale Wissenschaft, nicht aber im Sinne einer einfachen
Identifizierung, sondern in dem Sinne, dass der thematische Bereich, mit dem
sich traditionell die christliche Theologie befasst, als jener Teil der Philosophie
verstanden wird, den diese thematisiert, wenn sie die oben beschriebene
methodologische Zäsur und den damit gegebenen methodologischen Wende-
punkt effektiv beachtet und entsprechend verfährt. Doch ist zu beachten, dass
es sich um eine zwar fundamentale, aber doch vorerst nur ganz allgemeine
These handelt, die viele Erläuterungen, Präzisierungen und Festlegungen
erfordert, um als allseitig klar und begründet gelten zu können. Im Rahmen
dieses Buches kann diese immense Aufgabe nicht in Angriff genommen
werden. Hier ist es nur möglich, zunächst auf zwei Probleme oder Fragen-
komplexe hinzuweisen, um zumindest die naheliegensten Missverständnisse
auszuschließen ([1] und [2]), und abschließend die »Situation« oder den
»Status« des »Philosophen« in diesem Zusammenhang zu klären ([3]).
122  Postmoderne christliche Autoren scheinen kein Problem in der Weise zu sehen,

wie sie die Geschichte der Religion(en) und speziell des Christentums »interpretieren«.
Sie achten überhaupt nicht auf die großen methodologischen Probleme, die ein solches
Unternehmen in sich birgt. Beispielsweise behauptet J.-L. Marion als Philosoph, anschei-
nend unbekümmert um jede methodologische Reflexion über seine eigene Behauptung:
»Ich versuche, eine reine und einfache Beschreibung zweier emblematischer Gestalten
der Gabe zu geben, die die christliche Theologie anbietet (offers), ohne in der Lage zu
sein oder unter der Notwendigkeit zu stehen, sie zu rechtfertigen – die Eucharistie und
das Bekenntnis des Glaubens. Wir beschreiben sie als zwei Tatsachen, die auf das Sein
und dessen Logik absolut irreduzibel sind, Tatsachen, die einzig aus der Perspektive der
Gabe intelligibel sind. Als eine Konsequenz erscheint agape nur als reines Gegebenes
(pure given), ohne Ableitung und ohne Legitimation. Auf diese Weise aber erscheint das
Gegebene um so mehr als ein Gegebenes.« (Preface xxiv)
Was kann es bedeuten, dass irgendetwas (bei Marion: die Eucharistie und das Glau-
bensbekenntnis) »auf das Sein und dessen Logik absolut irreduzibel sind«? Mit dieser
Problematik wird sich Kapitel 4 ausführlich befassen. Hier ist nur zu bemerken, dass es
kaum nachvollziehbar ist, dass ein Philosoph über zwei »Sachen« völlig unvermittelt Aus-
sagen machen kann, die einen ausgesprochen christlich-theologischen Charakter haben,
die daher nur verständlich und verantwortbar sind, wenn Klarheit über den christlich-
theologischen Rahmen geschaffen wurde.
280 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

[1] Das/der erste Problem / Fragenkomplex ist eher terminologischer Natur.


Wie sollte die vorgeschlagene einheitliche universale Wissenschaft genau ge-
nannt werden? Es dürfte von vornherein klar sein, dass man sie nicht einfach
mit einer der beiden nicht weiter qualifizierten Bezeichnungen ›Philosophie‹
bzw. ›Theologie‹ belegen kann. Historisch gesehen, böte sich sofort die Be-
zeichnung ›christliche Philosophie‹ an. Doch diese Bezeichnung wird hier
nicht akzeptiert, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hat sie historisch so
viele und oft so völlig divergierende und sogar sich widersprechende Deutun-
gen erfahren, dass schon aus diesem Grund die Verwendung dieser Bezeich-
nung nicht zu empfehlen wäre. Außerdem kann das Epitheton »christlich«,
in sich selbst betrachtet, d. h. unabhängig von seinem historischen Gebrauch
in diesem Kontext, eine ganze Reihe von Sachverhalten bezeichnen, u. a.: ver-
tretene Lehrinhalte, eine bestimmte Einstellung, einen bestimmten Vollzug,
einen bestimmten der Philosophie äußeren Faktor u. a. m. Meistens wird das
Wort im Sinne des »(christlichen) Glaubens« verstanden, wobei oft beide
Termini einfach synonym verwendet werden. Aber das Wort ›Glaube‹, das
eine außerordentlich komplexe und vieldeutige, auf die Bibel zurückgehende
Geschichte hat, ist ein Wort, das zwar extrem oft gebraucht wird, und zwar
in Formulierungen wie »Glaube und Vernunft«, »Philosophie und Glaube«
u. ä., das aber so unbestimmt, vieldeutig und konfus ist, dass man es einfach
als nicht brauchbar bezeichnen muss.
Bezeichnete man die hier präsentierte struktural-systematische Philosophie
als »christliche Philosophie«, was wäre damit genau gemeint? In dem am
wenigsten bedenklichen Fall wäre damit nur die »thematische« Seite gemeint,
d. h. die hier hypothetischerweise vertretene These, dass das Resultat des
»Eingehens« des struktural-systematischen Philosophen »auf die Geschichte«
dazu führt, dass ihm jener immense thematische Bereich zugänglich wird, der
traditionell als die Domäne der »christlichen« Theologie betrachtet wird. Da-
gegen spricht aber, wie gezeigt, der Umstand, dass dieses Resultat nur eines
unter anderen möglichen Resultaten ist.
Erst recht abzulehnen wäre die Bezeichnung ›christliche Philosophie‹,
wenn dadurch eine vom christlichen »Glauben« vorgegebene Einstellung oder
Motivation oder auch Inspiration gemeint wäre. Am radikalsten abzulehnen
wäre die Bezeichnung ›christliche Philosophie‹, wenn dadurch ausgedrückt
werden sollte, dass diese Philosophie »im Lichte des christlichen Glaubens«
oder auf der Basis des »Vollzugs des christlichen Glaubens« entwickelt wird.
Keine dieser verschiedenen Varianten der Bedeutung von »christlich« trifft
die hier vertretene struktural-systematische Philosophie, so dass es nicht
sachgemäß wäre, sie hier zu gebrauchen.123

123  Zu diesem ganzen Problemkomplex vgl. das sehr instruktive Buch von Ph. Ca-

pelle, Finitude et mystère, 2005.


3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 281

Zweitens bestehen sachliche Bedenken. Es ist nämlich prinzipiell möglich,


dass die oben aufgezeigte methodologische Zäsur bzw. der damit gegebene
methodologische Wendepunkt, konkret: der Umstand, dass der struktural-
systematische Philosoph »auf die Geschichte eingeht«, zu einer ganz anderen
als der christlichen Deutung der Welt‑ bzw. der Religionsgeschichte führen
kann. Der in diesem Buch favorisierte und vertretene christliche »Endpunkt«
dieses letzten großen systematischen Schrittes stellt im Prinzip nur eine Mög-
lichkeit dar. Es wäre daher unsachgemäß, die ganze struktural-systematische
Philosophie mit einer Qualifikation zu belegen, die nur diesen einen »End-
punkt« bezeichnet.

[2] Das/der zweite Problem / Fragenkomplex ergibt sich nicht – oder zumin-


dest nicht direkt – aus der oben kritisierten und abgelehnten (traditionell ver-
standenen) Distinktion zwischen »natürlichen Wahrheiten« als Domäne der
Philosophie und »geoffenbarten Wahrheiten« als Domäne der (christlichen)
Theologie; auf diese Distinktion ist das / der zweite Problem/Fragenkomplex
grundsätzlich unbezogen. Die Quelle des neuen Problems/Fragenkomplexes
liegt vielmehr in dem Umstand, dass sich die christliche Theologie immer
als engstens mit der Glaubensgemeinschaft der Kirche und hier ganz ent-
scheidend mit dem Lehramt der kirchlichen Autoritäten verbunden verstand
und versteht (was, wenn nicht ausschließlich, so doch in jedem Fall für die
katholische Theologie gilt). Wenn man nun Philosophie und (christliche)
Theologie als eine einheitliche universale Wissenschaft versteht, hat das nicht
zur Konsequenz, dass der hier gemeinte Philosoph sich als im Dienste einer
Glaubensgemeinschaft stehend und als an ein kirchliches Lehramt gebunden
verstehen müsste?
Das wäre für eine Philosophie wie die hier vertretene systematisch-struk-
turale in keiner Weise akzeptierbar. Hier wird streng daran festgehalten, dass
eine Philosophie, die sich als solche verwirklichen will, sich nicht anders denn
als von jedem äußerlichen Faktor, welcher Art auch immer, völlig unabhängig
verstehen muss. Eine Philosophie als solche kann nur absolut frei sein. Äu-
ßerliche Faktoren wären Autoritäten jedweder Art, Situationen, Bedürfnisse,
psychologische, soziale oder andere Zwänge usw. Dazu ist auch jede Art
von Verpflichtung und Ähnliches zu rechnen. Die Philosophie ist nur ihrer
»Sache« verpflichtet, wie immer man diese bezeichnen mag. Oft sagt man ganz
angemessen: die Philosophie ist nur der Wahrheit verpflichtet.
Aus der oben vertretenen These, dass Philosophie und (christliche) Theo-
logie grundsätzlich als eine einheitliche universale Wissenschaft zu verstehen
sind, folgt keineswegs, dass der Philosoph (im Sinne einer solchen Philoso-
phie) sich als im Dienste der christlichen Glaubensgemeinschaft stehend und
als an das kirchliche Lehramt gebunden verstehen müsste. Die Einheitlich-
keit von Philosophie und Theologie wird hier nämlich als eine thematische
282 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Einheitlichkeit verstanden und charakterisiert. Man muss daher zwischen


der Einheitlichkeit bezüglich des thematischen Bereichs und den konkreten
Formen der Artikulation dieses einheitlichen thematischen Bereichs streng
unterscheiden. Der für die hier anstehende Problematik wichtigste Gesichts-
punkt bei der Bestimmung des Begriffs der »konkreten Formen der Artiku-
lation« betrifft die Frage, ob dabei äußere Faktoren eine konstitutive Rolle
spielen oder nicht.
In dieser Hinsicht ist nun zu sagen, dass die hier vertretene struktural-syste-
matische Philosophie bei der Artikulation des einheitlichen thematischen Be-
reichs im obigen Sinne keine äußeren Faktoren wie Dienst an der Glaubens-
gemeinschaft, Gebundenheit an das kirchliche Lehramt u. ä. anerkennt. Im
Gegensatz dazu ist jene Form der Artikulation des einheitlichen thematischen
Bereichs, die beispielsweise an den katholisch-theologischen Fakultäten ge-
pflegt wird, eine solche, die sich in entscheidender Weise von äußeren Fak-
toren wie Dienst an der Glaubensgemeinschaft, Anerkennung des kirchlichen
Lehramts u. a. leiten und durch sie bestimmen lässt.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass ungeachtet der hier hypotheti-
scherweise vertretenen These von der thematischen Einheitlichkeit von Philo-
sophie und christlicher Theologie, man nicht ohne weiteres und undifferenziert
die tiefgehende und konsequenzenreiche Unterschiedenheit zwischen beiden
theoretischen Aktivitäten und Artikulationen ignorieren und vernachlässigen
sollte. Die Bedeutung der Verschiedenheit der Formen der Artikulation spielt
hier eine schlechterdings entscheidende Rolle.

[3] Es wäre jetzt angebracht, diese These und die dazu gegebenen Erläu-
terungen weiter zu konkretisieren, und zwar aufgrund einer Analyse der
realen Situation, in der sich heute das »christliche Denken«, ganz besonders
im Hochschulbereich, befindet. Doch dieser Aufgabe kann im vorliegenden
Buch nicht nachgegangen werden. Auf einen einzigen Punkt sei hier ab-
schließend im Kontext der Thematik des Verhältnisses zwischen Philosophie
und Theologie eingegangen: auf die »Situation« oder den »Status« des »Phi-
losophen« in diesem Zusammenhang.
[i] Diese(r) Situation / Status ist im allgemeinen immens komplex. Um sie/
ihn im Einzelnen zu analysieren, müsste ein ganzes Buch verfasst werden.
Einige Aspekte können jedoch im kritischen Anschluss an einen Text Heideg-
gers prinzipiell geklärt werden. Es handelt sich um eine Passage aus seiner in
Kapitel 2 zitierten Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 über Die Grund-
begriffe der Metaphysik,124 in der Heidegger eine der drei von ihm ana-
lysierten »Unzuträglichkeiten des überlieferten Metaphysik-Begriffs« als die

124 
GA, Bd. 29/30.
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 283

Problemlosigkeit dieser Denkweise charakterisiert. In diesem Zusammenhang


führt er dann aus:
»Weil […] der überlieferte Begriff der Metaphysik veräußerlicht und in sich selbst ver-
worren ist, kann es gar nicht dazu kommen, daß die Metaphysik in sich oder daß das
μετά im eigentlichen Sinn zum Problem wird. Umgekehrt gesagt: Weil das eigentliche
Philosophieren als das vollkommen freie Fragen des Menschen für das Mittelalter nicht
möglich ist, sondern in ihm ganz andere Haltungen wesentlich sind, weil es im Grunde
keine Philosophie des Mittelalters gibt, deshalb ist die Übernahme der Aristotelischen
Metaphysik […] von vornherein so gestaltet, daß eine Dogmatik nicht nur des Glau-
bens, sondern auch der Ersten Philosophie selbst entsteht.«125

Mit dem Charakter des »Veräußerlichten« hinsichtlich des überlieferten Be-


griffs der Metaphysik meint Heidegger den Umstand, dass gemäß dieser
Metaphysik das μετά »nicht mehr eine bestimmte Haltung des Denkens und
Erkennens [anzeigt], eine eigentümliche Umwendung gegenüber dem all-
täglichen Denken und Fragen, sondern […] nur das Zeichen für den Ort und
die Ordnung des Seienden [ist], das hinter und über dem anderen Seienden
liegt.« Und Heidegger präzisiert: »Es verschwindet hier völlig, daß das Phi-
losophieren eine eigenständige Grundhaltung ist. Metaphysik ist nivelliert
und veräußerlicht in die alltägliche Erkenntnis.«126
Auf die interpretatorische Seite dieser Aussagen wird hier nicht mehr einge-
gangen, nachdem dieses Thema in den Kapiteln 1 und 2 ausführlich erörtert
wurde. Hier ist nur das wichtig, was Heidegger über die eigenständige Grund-
haltung des Philosophen sagt, worunter er das eigentliche Philosophieren als
das vollkommen freie Fragen des Menschen versteht. Diese Grundhaltung und
damit den Status des Philosophen spricht er den mittelalterlichen Denkern
wie Thomas von Aquin ab, indem er sagt, dass es »im Grunde keine Philoso-
phie des Mittelalters gibt«. Das liegt nach Heidegger darin begründet, dass
das Denken dieser Autoren von vornherein das Ziel verfolgte und sich damit
durch das Ziel bestimmen ließ, der Intelligibilität des christlichen Glaubens
zu dienen. Dieses Ziel stand für sie so fest und außer Frage, dass ein »voll-
kommen freies Fragen des Menschen« nicht mehr möglich war.
Auf den ersten Blick scheint Heideggers Charakterisierung des Denkens
der mittelalterlichen Autoren zutreffend zu sein. Diese Charakterisierung sagt
mehr als das, was das berühmte auf Petrus Damiani zurückgehende Dictum
»philosophia ancilla theologiae [die Philosophie ist die Dienerin der Theo-
logie]«127 ausdrückt. Bei genauer Analyse allerdings erscheinen Heideggers
Aussagen als zu undifferenziert. Das Problem ist viel komplexer.

125 
Die Grundbegriffe der Metaphysik, 1992, 68–69 (Kursiv nicht im Original).
126  Ebd. 66.
127  Vgl. B. Baudoux: »Philosophia ›Ancilla Theologiae‹«, in: Antonianum 12, 1937,

293–326.
284 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

Dies wird sichtbar, wenn man versucht, die Formulierung »das vollkommen
freie Fragen des Menschen« näher zu verstehen, welches das Philosophieren
nach Heidegger charakterisieren soll. In welchem Sinne ist dieses Fragen
vollkommen frei? Genauer muss man hier so fragen: Wovon und wofür ist
dieses Fragen vollkommen frei? Dass es frei von äußeren Faktoren sein soll,
dürfte als unbestreitbar gelten und wurde oben schon gezeigt. Aber Heideg-
ger scheint viel mehr sagen zu wollen. Der Hauptpunkt scheint zu sein, dass
er das im Auge hat, wofür sich das Denken vollkommen frei halten soll. Was
ist aber dieser Faktor?
Heidegger scheint das freie Fragen des Menschen in einem absolut un-
eingeschränkten Sinne zu verstehen, insofern er jede wie immer geartete
Konzeption oder Überzeugung, die im voraus zum – und damit unabhängig
vom  –  freien Fragen besteht, aus dem freien Denken ausschließen will. Im
eigentlichen Sinne ist eine solche Konzeption oder Überzeugung aber kein äu-
ßerer Faktor; vielmehr handelt es sich um den Umstand, dass eine bestimmte
vorgegebene Konzeption oder Überzeugung ein Teil jenes »Gesamtraums«
ist, auf welchen sich das Fragen bezieht; dieser Teil ist daher in einem be-
stimmten Sinn »nicht offen«, d. h. ist sozusagen »schon besetzt«. Es ist aber zu
klären, wie dieses »Nicht-offen-sein« bzw. dieses »Besetzt-sein« – zunächst
von Teilen des Gesamtraums, auf welchen sich das Fragen bezieht – genau zu
verstehen ist.
[ii] Hier zeigt sich, dass in einer bestimmten Hinsicht der Gesamtraum des
Fragens selbst immer schon nicht-offen bzw. immer schon besetzt ist, und
zwar in dem Sinne, dass der menschliche Geist bzw. das menschliche Denken
sich immer schon in der einen oder anderen Weise auf absolut alles bezieht,
wie immer man dieses »alles« bezeichnen mag. Es handelt sich um die inten-
tionale Koextensionalität des menschlichen Geistes/Denkens mit dem Ganzen,
die in diesem Kapitel, in Abschnitt 3.3.1.2, ausführlich dargelegt wurde. Die
konkrete Weise, in der diese noch vor dem expliziten theoretischen Denken
gegebene Koextensionalität mit dem Ganzen gegeben ist, sind Vorstellungen,
Konzeptionen, Überzeugungen u. ä., und zwar sowohl hinsichtlich einzelner
Elemente oder Teile des Ganzen als auch bezüglich des Ganzen selbst.
Daraus folgt unmittelbar: das Fragen des Menschen (d. h. des Philosophen)
mag noch so »vollkommen frei« sein oder sein wollen, es kann strukturell
nicht den Umstand beseitigen, dass es nicht einfach ins Leere geht, dass es also
nicht so etwas wie eine tabula rasa ist; vielmehr stößt das »vollkommen freie«
Fragen des Menschen / Philosophen immer schon auf den durch allerlei Vor-
stellungen/Konzeptionen / Überzeugungen u. ä. besetzten Gesamtraum, auf
den es sich richtet. Es wäre eine vollkommene Illusion, eine leere Abstraktion,
wollte man annehmen oder unterstellen, dass ein radikales Fragen im Sinne
eines »vollkommen freien Fragens« ein Fragen sozusagen im luftleeren Raum
ist, d. h. ein Fragen, dass hinsichtlich eines absolut leeren Gesamtraums statt-
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 285

findet. Jedes Fragen, auch ein radikales, auch ein »vollkommen freies«, findet
immer in einem in bestimmter (soeben erläuterter) Hinsicht schon »besetzten
Gesamtraum« statt.
Das gilt noch mehr, wenn der Gesamtkontext, in dem das Fragen stattfin-
det, beachtet wird. »Kontext« ist hier als der Platz in der Geschichte der Phi-
losophie zu verstehen, in dem dieses philosophische Fragen situiert ist. Das ist
kein äußerer, sondern ein intrinsischer Faktor des philosophischen Fragens.
Und Heidegger ist ein Philosoph, der – weit mehr als die meisten Philoso-
phen – gerade diesen Umstand nicht nur irgendwie anerkannt, sondern als für
sein Denken wesentlich betrachtet hat. Aber dieser Gesamtkontext ist nichts
anderes als der immer schon so oder so gänzlich »besetzte« Gesamtraum des
philosophischen Fragens. Im Falle Heideggers und aus seiner Sicht handelt es
sich primär und fundamental um die ganze Geschichte des metaphysischen
Denkens, mit der er sich unablässig befasst bzw. auseinandergesetzt hat.
Diese allgemeine These muss aber spezifiziert werden. Der entscheidende
Faktor dabei ist die Tatsache, dass das »Besetzt-sein« des Gesamtraums für
den Philosophen in der Regel nicht unbestimmt oder konfus, sondern im
Gegenteil durch ganz bestimmte, sogar feste und entschieden bejahte bzw.
abgelehnte Konzeptionen und / oder Überzeugungen charakterisiert ist. Das
ist genau die Situation eines (im christlichen Sinne) gläubigen Menschen, der
noch vor dem radikalen philosophischen Fragen schon seinen christlichen
Glauben hat und bekennt. Kann dieser christliche gläubige Mensch ein Phi-
losoph sein, der sein Fragen als »das vollkommen freie Fragen des Menschen«
versteht? Allem Anschein nach legen die oben zitierten Aussagen Heideggers
eine klar negative Antwort auf diese Frage nahe. Auf Heideggers Position soll
gleich unten ausführlicher eingegangen werden.
Doch eine negative Antwort auf die gestellte Frage ist keineswegs einleuch-
tend, geschweige denn zwingend; im Gegenteil, sie ist das Ergebnis einer sehr
oberflächlichen Betrachtung des ganzen in Frage stehenden Sachverhalts. Das
sei abschließend gezeigt.
[iii] Hinsichtlich des anstehenden Problems kann man im konkreten Fall
des Verhältnisses zwischen einem sich theoretisch verhaltenden gläubigen
christlichen Menschen und der Philosophie grundsätzlich drei mögliche Po-
sitionen in Betracht ziehen: zwei extreme und diametral entgegengesetzte und
eine mittlere oder differenzierte. Sie werden im folgenden kurz charakterisiert
und bewertet.
[a] Die erste Extremposition ist die Position des gläubigen christlichen
Menschen, der sich bei seiner theoretischen Einstellung gänzlich vom Axiom
»fides quaerens intellectum (der Glaube auf der Suche nach Intelligibilität)«128

128  S. Anselmi Cantuariensis Opera omnia, Tomus I, Vol. I, Proslogion, Prooemium,


94.
286 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

leiten lässt. Dies bedeutet, dass für diesen Menschen der christliche Glaube
die absolute, in keiner Weise und in keinem Sinn in Frage gestellte Prämisse
für die theoretische Arbeit ist. Zur Philosophie hat dieser gläubige Mensch
ein rein instrumentelles Verhältnis: Philosophie ist für ihn ein reines Mittel
(begrifflicher, argumentativer usw. Art) zu dem Zweck, die Intelligibilität des
Glaubens zu artikulieren. Dieser sich so verstehende und verhaltende gläubige
christliche Mensch kann nicht als Philosoph im eigentlichen Sinne betrachtet
werden; es handelt sich im Gegenteil um den klassischen Status des christli-
chen Theologen. Die »Philosophie« spielt dabei im buchstäblichen Sinne ein-
zig und allein die Rolle der »ancilla theologiae – der Dienerin der Theologie«.
[b] Die zweite Extremposition, die der ersten diametral entgegensetzt ist,
ist die Position des Philosophen, der sein »vollkommen freies Fragen« in der
Weise versteht und durchführt, dass eine Kompatibilität zwischen philosophi-
scher Einstellung und christlichem Glauben grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Das »vollkommen freie Fragen« wird so radikal verstanden und praktiziert,
dass es nie zu einem Ergebnis kommen könnte, das eine positive Verbindung
zum christlichen Glauben ermöglichen oder beinhalten würde. Für diese
philosophische Position ist der christliche Glaube  –  höchstens  –  nur ein
Phänomen unter vielen anderen, die einen Gegenstand für eine philosophische
Theoriebildung ist. Diese Position scheint Heideggers Position zu sein. Man
vergleiche dazu die langen Ausführungen über dieses Problem in Kapitel 2,
Abschnitt 2.8. Dass Heideggers Position aber letzten Endes nicht restlos klar
ist, ergibt sich aus vier Feststellungen.
Erstens hat Heidegger in seiner Freiburger Vorlesung im Sommersemester
1935 über das Thema Einführung in die Metaphysik einige ganz besonders
wichtige und auf den ersten Blick eindeutige Aussagen über diesen Fragen-
komplex gemacht. Auf seine Weise behandelt er die von Leibniz formulierte
Frage: »Warum ist überhaupt etwas [Heidegger sagt: Seiendes] und nicht viel-
mehr Nichts?«129, indem er sie als die Grundfrage der Metaphysik deutet. U.
a. stellt er fest, dass diese Frage »sofort ihren Rang im Umkreis eines mensch-
lich-geschichtlichen Daseins [verliert], dem das Fragen als ursprüngliche
Macht fremd bleibt«130. Anschließend bringt er das Beispiel des Menschen,
der sich an die Bibel hält, indem er schreibt: »Wem z. B. die Bibel göttliche
Offenbarung und Wahrheit ist, der hat vor allem Fragen der Frage: ›Warum
ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‹ schon die Antwort: Das
Seiende, soweit es nicht Gott selbst ist, ist durch diesen geschaffen. Gott
selbst ›ist‹ als der ungeschaffene Schöpfer.«131 Dazu ist gleich zu bemerken,
dass Heidegger den simplen Sachverhalt übersieht, dass die Schöpfung keine
129  »Pourquoy il y a plustôt quelque chose que rien?«, in: G. W. Leibniz, Principes de

la Nature et de la Grâce, fondés en raison, Ausgabe Gerhardt, 1965, Bd. 6, 602.


130  Einführung in die Metaphysik, 1935/1983, 8.
131  Ebd. 8–9.
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 287

Antwort auf eine Warum-Frage ist, dass sie vielmehr eine Wie-Frage klärt:
Wie ist es zu erklären, dass es kontingente Seiende gibt? Eine echte sinnvolle
Warum-Frage wäre: Warum hat Gott die Welt erschaffen?132 Doch auf diese
Thematik soll hier nicht weiter eingegangen werden.
Hinsichtlich der hier behandelten Frage sind die anschließenden Behaup-
tungen Heideggers von großer Bedeutung:
»Wer auf dem Boden solchen Glaubens steht, der kann zwar das Fragen unserer Frage
in gewisser Weise nach‑ und mitvollziehen, aber er kann eigentlich nicht fragen, ohne
sich selbst als einen Gläubigen aufzugeben mit allen Folgen dieses Schrittes. Er kann
nur so tun, als ob …«133

Diese Behauptung stellt einen Denkfehler dar, da sie das Resultat einer offen-
sichtlichen einfachen Konfusion ist: Heidegger vermengt zwei Sachverhalte,
die streng zu unterscheiden sind, nämlich eine theoretische Aktivität (das
philosophische Fragen) und eine existenzielle Entscheidung (d. h. eine Ent-
scheidung, die den Willen und das praktische Handeln, nicht aber unbedingt
die theoretische Aktivität bindet).
Dieser Denkfehler kommt in der Behauptung »er [der Gläubige] kann
eigentlich nicht fragen, ohne sich selbst als einen Gläubigen aufzugeben«
zum Ausdruck. Die Formulierung »sich selbst als einen Gläubigen aufgeben«
ist ambig. Sie kann bedeuten: »sich selbst in existenzieller oder praktischer
Hinsicht als Gläubigen aufgeben« und sie kann bedeuten: »sich selbst in
theoretischer Hinsicht als Gläubigen aufgeben«. Verstanden im Sinne der
ersten Bedeutung, ist Heideggers Behauptung schlicht falsch; richtig ist sie
aber gemäß der zweiten Bedeutung. Der Gläubige, der seinen Glauben mit
allem, was dazu gehört  –  und dazu gehört auch die theoretische Seite des
Glaubens – nicht in dem Sinne aufgibt, dass der so verstandene Glaube nicht
den Stellenwert einer fraglosen Grundannahme oder Prämisse für sein phi-
losophisches/theoretisches Fragen und Denken einnimmt, verhält sich nicht
echt philosophisch, d. h. in diesem Kontext, wie Heidegger richtig formuliert:
er »kann nicht eigentlich fragen« (d. h. er kann sinnvollerweise nicht die Frage
stellen und behandeln, die Heidegger als die Grundfrage der Metaphysik
bezeichnet).
Die gemachte Unterscheidung zwischen einerseits existenzieller oder prak-
tischer und andererseits theoretischer Hinsicht ist von elementarer Bedeutung.
Die eigentliche theoretische Aktivität ist (bzw. muss sein) absolut frei von
jedem wie immer gearteten praktischen Faktor, wie zum Beispiel – und vor
allem – existenziellen Entscheidungen. Das macht den einmaligen Status von
»Theorie« aus, was allerdings selten gesehen und noch seltener richtig ex-

132  Zur großen Tragweite und dem genauen Sinn der grundlegenden Unterscheidung

von Warum-Fragen und Wie-Fragen vgl. die Erläuterungen oben in Abschnitt 3.3.3.
133  Einführung in die Metaphysik, 1935/1983, 9 (Kursiv nicht im Original).
288 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

pliziert wird. Die oben (vgl. bes. Abschnitt 3.3.1.1) vorgelegten Ausführungen
über die Struktur der theoretischen Sätze zeigen, wie fundamental dieser
Sachverhalt ist. Die gemachte Unterscheidung und ihre immense Tragweite
leugnen zu wollen, würde einen Fehler wiederholen, dem viele Philosophen,
Theologen, Ideologen usw. anheim gefallen sind und immer noch anheim
fallen. Der Fehler ist bekannt unter dem Titel Einheit von Theorie und
Praxis und wurde sogar zu einer Art Dogma der marxistischen Tradition,
der Kritischen Theorie und ähnlicher Richtungen. Das Ergebnis war bzw.
ist: Es wird dabei – im welchem Bereich auch immer – weder echte Theorie
noch echte Praxis entwickelt und realisiert; es wird nur eine riesige Rhetorik
und Konfusion beider erzeugt. Heidegger ist also im Unrecht, wenn er ganz
allgemein und völlig undifferenziert behauptet, der Gläubige könne »ei-
gentlich nicht fragen, ohne sich selbst als einen Gläubigen aufzugeben«. Es ist
aber bemerkenswert, dass Heidegger im Anschluss an die zitierte Stelle sich
gründlich zu korrigieren scheint, ohne dies allerdings explizit zuzugeben und
zu artikulieren. Er schreibt nämlich:
»Aber andererseits ist jener Glaube, wenn er sich nicht ständig der Möglichkeit des
Unglaubens aussetzt, auch kein Glauben, sondern eine Bequemlichkeit und eine
Verabredung mit sich, künftig an der Lehre als einem irgendwie Überkommenen
festzuhalten. Das ist dann weder Glauben noch Fragen, sondern Gleichgültigkeit, die
sich nunmehr mit allem, vielleicht sogar sehr interessiert, beschäftigen kann, mit dem
Glauben ebenso wie mit dem Fragen.«134

Liest man diese Sätze, so fragt man sich sofort: Was bleibt jetzt noch von
der zuerst zitierten undifferenzierten apodiktischen Behauptung übrig, die
da lautet: »[E]r [der Gläubige] kann nicht eigentlich fragen, ohne sich selbst
als einen Gläubigen aufzugeben«? Wenn nun aber von jenem Glauben, der
in diesem Zitat gemeint ist, jetzt gesagt wird, er setze sich »nicht ständig der
Möglichkeit des Unglaubens« aus und sei deswegen »kein Glauben, sondern
eine Bequemlichkeit«, was  –  d. h. welchen Glauben  –  muss dann schließ-
lich der Gläubige aufgeben, um »eigentlich fragen« zu können? Wenn der
Gläubige nicht »eigentlich fragen [kann], ohne sich selbst als einen Gläubigen
[d. h. ohne seinen Glauben] aufzugeben« und wenn nun dieser Glaube jetzt
als »weder Glauben noch Fragen« bezeichnet wird, dann drängt sich die Frage
auf: Wovon spricht denn eigentlich Heidegger? Es ist nur allzu deutlich, dass
seine Ausführungen undeutlich und vor allem völlig undifferenziert sind.
Hielte Heidegger an dieser zweiten unter dem auffallenden Operator
»andererseits« aufgestellten Behauptung unbedingt fest, so müsste er kon-
sequenterweise die erste Behauptung grundsätzlich korrigieren und – indem
seine eigenen Formulierungen verwendet werden – sagen: Der Gläubige
»kann eigentlich nicht fragen, ohne sich selbst ständig der Möglichkeit des
134 
Ebd. 9 (Kursiv nicht im Original).
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 289

Unglaubens auszusetzen», sonst wäre sein Glauben »kein Glauben, sondern


eine Bequemlichkeit …«. Und das ist nicht nur eine bemerkenswerte, sondern
vor allem eine zutiefst zutreffende Aussage.
Die beiden nächsten Feststellungen werden hier nur kurz formuliert, da sie
in Kapitel 2, Abschnitt 2.8, ausführlich dargelegt und dokumentiert wurden.
Zweitens hat Heidegger immer wieder versucht, die Dimension des christ-
lichen Glaubens (und der christlichen Theologie) als etwas letztlich Sekundä-
res, als eine hinsichtlich des »wesentlichen Denkens« in seinem Sinne letztlich
rein »ontische« Angelegenheit zu deuten.135
Drittens blieb das Problem des Verhältnisses von Sein und Gott zwiespältig:
einerseits dissoziierte Heidegger Gott und Sein radikal; andererseits wurde
das Sein als (notwendigen?) Zugang zu Gott bezeichnet.
Viertens – und das ist der wesentliche Punkt – ist Heidegger völlig andere
Wege gegangen, weg vom christlichen Gott. Das Leitwort seines Denkens
wurde »das Ereignis« und dieses wurde auf seltsame Weise mit Hilfe einer
ihresgleichen suchenden sprachlichen Virtuosität als das Geschehen der fol-
genden »elf Wesungsweisen des Ereignisses« gedeutet: Ereignis – Er-eignen –
Ver-eignung – Übereignung – Zueignung – An-eignung – Eigentlichkeit –
Eignung – Geeignetheit – Ent-eignung – Eigentum.136 Anknüpfend an die in
Kapitel 2, Abschnitt 2.6, gemachten kritischen Bemerkungen zum »Leitwort«
des späten Heidegger, nämlich »Ereignis«, sei hier ebenfalls kritisch auf einen
seltsamen Sachverhalt hingewiesen, der als eine Art Ironie der Philosophie-
geschichte angesehen werden kann.
Unter den oben in diesem Abschnitt, unter [i], zitierten und kritisch kom-
mentierten Aussagen Heideggers über die »Unzuträglichkeiten des über-
lieferten Metaphysik-Begriffs«, besonders bei Thomas von Aquin, ist die zen-
trale Aussage über die »Veräußerlichung« dieses Begriffs enthalten, worunter
Heidegger Folgendes versteht: »Metaphysik ist nivelliert und veräußerlicht in
die alltägliche Erkenntnis …«; sie zeigt »nicht mehr eine bestimmte Haltung
des Denkens und Erkennens an, eine eigentümliche Umwendung gegenüber
dem alltäglichen Denken und Fragen, sondern ist nur das Zeichen für den Ort

135  Vgl. dazu Ph. Capelle, Philosophie et Théologie dans la Pensée de Martin Heideg-

ger, 1998.
136  Diese Kaskade aus »eigen« gebildeten Worten findet sich im Kapitel V (mit dem

Titel Das Ereignis. Der Wortschatz seines Wesens) einer noch unveröffentlichten Abhand-
lung Heideggers mit dem Titel Das Ereignis. Dieses Kapitel ist die textliche Mitte der
Abhandlung, die den Wortschatz für die im Haupttext angeführten »elf Wesungsweisen
des Ereignisses« in deren Bezügen und Zusammenhang entfaltet. Diese Abhandlung ist
die sechste von den sieben großen »seynsgeschichtlichen« Abhandlungen, an deren Be-
ginn die »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)« stehen. Sie soll 2009 als Band 71 der
Gesamtausgabe erscheinen. (Die obigen Angaben über den Inhalt dieser Abhandlung sind
der in einem Prospekt des Klostermann Verlags zu findenden Vorankündigung durch den
Herausgeber entnommen.) Vgl. auch Kapitel 2, Fußnote 20.
290 Kapitel 3: Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott

und die Ordnung des Seienden, das hinter und über dem anderen Seienden
liegt«.137
Bedenkt man, dass alle diese »Wesungsweisen des Ereignisses« überhaupt
einen irgendwie verständlichen »Begriffs-« oder eher Heideggerisch: »Denk-
gehalt« grundsätzlich aus dem normal in der Alltagssprache oft und oft vor-
kommenden Wort »eigen« gewinnen, so dass dieser »Denkgehalt« gerade hier
in der Alltagssprache und in Zusammenhängen des Alltags seine eigentliche
und einzige Bedeutungsbasis hat, bedenkt man weiter, dass das Wort ›Ereig-
nis‹ eine verständliche Bedeutung ebenfalls von seiner Verwendung in der All-
tagssprache her hat, so verwundert es sehr, dass Heidegger ausgerechnet auf
dieses Wort als sein eigentliches »Leitwort« und auf die aus dessen Wurzeln
geformten Wortbildungen rekurrieren zu müssen glaubte, um seine großen,
entscheidenden, angeblich bisher ungedachten Gedanken zu artikulieren. Es
ist kaum zu sehen, wie Heidegger dem schwerwiegenden Einwand entgehen
kann, dass der von ihm gegen den »überlieferten Metaphysik-Begriff« er-
hobene Vorwurf, dieser sei »veräußerlicht in die alltägliche Erkenntnis«138,
ganz direkt und voll auf sein Denken zurückfällt. Sein ganzes Umgehen mit
seinem großen Leitwort »Ereignis« zeigt nämlich nur allzu deutlich, dass bei
ihm keine »Haltung des Denkens und Erkennens« gegeben ist, die »eine ei-
gentümliche Umwendung gegenüber dem alltäglichen Denken und Fragen«139
herbeizuführen geeignet wäre.
[c] Die dritte Position ist eine mittlere Position, welche die beiden »Pole«
des in Frage stehenden Verhältnisses – die Philosophie, verstanden als radika-
les, vollkommen freies Fragen, und den theoretisch artikulierbaren sogenann-
ten christlichen Glauben – nicht als absolut starr, ein für allemal fixiert und
keinen theoretischen Spielraum zulassend betrachtet. Die beiden zentralen
Aspekte, die auf der einen Seite den jeweils spezifischen Charakter der beiden
»Pole« uneingeschränkt bewahren und auf der anderen Seite dennoch einen
solchen Spielraum eröffnen, sind die folgenden.
Von Seiten der Philosophie wird zumindest nicht ausgeschlossen, dass ein
radikales, vollkommen freies Fragen dazu führen kann, eine Theorie zu ent-
wickeln, die als rationale Basis für eine existenzielle Bejahung des christlichen
Glaubens dient. Im optimalen Fall stellt diese »Kontinuität« des philosophi-
schen Denkens in den Themenbereich hinein, der dem christlichen Glau-
ben entspricht, die beste Form einer Gesamtkohärenz des philosophischen
Denkens dar. Von Seiten des sogenannten christlichen Glaubens wird nicht
ausgeschlossen, dass ein gläubiger christlicher Mensch ein radikales, voll-
kommen freies Fragen pflegen kann, wenn dies in dem soeben erläuterten

137  Die Grundbegriffe der Metaphysik, 1935/1983, 66.


138  Ebd.
139  Ebd.
3.7 Das geklärte Verhältnis von Sein und Gott 291

Sinne verstanden wird und geschieht. Um eine solche Einstellung zu haben,


muss der gläubige christliche Mensch weder seinen Glauben verleugnen noch
aus ihm seine Inspiration, Motivation und noch weniger seine Prämissen
schöpfen. Dass dies vollkommen kohärent ist, ergibt sich aus dem Umstand,
dass der effektive Vollzug des christlichen Glaubens auf einer existenziellen
Entscheidung basiert, während das radikale, vollkommen freie Fragen auf der
theoretischen Ebene stattfindet. Dass beide Ebenen, die Ebene der existen-
ziellen Entscheidung und die Ebene des theoretischen Fragens und Denkens,
zumindest zeitweise dissoziiert werden können, wird hier vorausgesetzt. Erst
im Verlauf der weiteren Entwicklung des theoretischen Denkens wird die
Frage seines hinsichtlich des Glaubens eventuell dissoziierten Status zum Pro-
blem, nämlich zum Kohärenzproblem: Beide Ebenen müssen im Endeffekt
miteinander korrelieren können. Wann aber dieser Endeffekt eintritt bzw.
eintreten kann bzw. muss, ist eine offene Frage. Im Grunde ist diese Situation,
die durch das gleichzeitige Gegebensein der kompromisslosen Anerkennung
der Philosophie als des vollkommen freien Fragens und der existenziellen
Entscheidung für den christlichen Glauben charakterisiert ist, die permanente,
ein Leben lang bestehende »Situation« des gläubigen christlichen Menschen,
der sich gleichzeitig und im Vollsinn als Philosoph versteht.
Wie unschwer zu erkennen ist, ist diese dritte Position die Position, die in
diesem Buch eingenommen und in diesem systematischen Kapitel zur Dar-
stellung gebracht wurde.
Kapitel 4

Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen:


É. Lévinas und J.-L. Marion

In diesem Kapitel werden die beiden vermutlich radikalsten Gegenpositionen


zu der in Kapitel 3 skizzierten systematischen Konzeption einer kritischen
Betrachtung unterzogen. Mit einigen Differenzierungen werden beide zur
philosophischen bzw. theologischen Postmoderne gerechnet. Gegen diese
ganze Richtung erhebt der Verfasser im allgemeinen hauptsächlich die beiden
folgenden Einwände.
Erstens: Indem die dieser Richtung zugehörigen Autoren jede umfassende
Konzeption der Wirklichkeit oder des Seins radikal ablehnen, berauben sie
sich selbst jeder adäquaten Basis für die Klärung des Sinns und die Behandlung
der sog. Gottesfrage. Ein »Gott« diesseits oder jenseits einer philosophischen
theory of everything, einer Konzeption des Seins als solchen und im Ganzen,
wäre letztlich ein kurioses, mysteriöses »Superding«, auch wenn man es mit
Bezeichnungen wie »die Liebe« u. ä. schmücken würde.
Zweitens: Ungeachtet aller Proteste und Gegenbehauptungen, entwickeln
diese Autoren völlig unsystematische oder minimal systematische Kon-
zeptionen, und zwar als subtile Formen jenes Denkschemas, das besonders
Heidegger »Subjektivitätsphilosophie« zu nennen pflegte; das geschieht auch
dann – und in einer gewissen Hinsicht besonders dann –, wenn einige dieser
Autoren versuchen, eine »Extroversion« oder »Umkehrung« der Subjektivität
zu vollziehen, wie dies im vorliegenden Kapitel gezeigt werden soll. Der Gott,
zu dem sie dabei in der einen oder anderen Weise gelangen – wenn sie über-
haupt zu einem X gelangen, das überhaupt den Namen »Gott« verdient – ist
dann Der Andere, der absolut Andere, der absolut Ferne, und Ähnliches. Aber
ein so konzipierter »Gott« ist in letzter Analyse nichts anderes als eine Funk-
tion der menschlichen Subjektivität. Wenn der Verfasser eine Sprachwendung
benutzen wollte, deren sich postmoderne Autoren oft und gern bedienen,
so würde er sagen müssen: ein postmodernistisch konzipierter Gott ist ein
Idol, ein Götze. Aber ein solches Wort soll hier nicht verwendet werden, ins-
besondere deswegen, weil der Gebrauch, den manche postmoderne Autoren
davon machen, um Positionen großer christlicher Autoren wie Thomas von
Aquin zu charakterisieren, eine totale Entstellung der Auffassungen dieser
großen Denker darstellt. Stattdessen wird der Verfasser sagen, dass der post-
moderne »Gott« nicht der wirklich »göttliche Gott« ist.
294 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Die hier präsentierte Kritik wird sich nicht mit der immensen Varietät
postmoderner philosophischer und theologischer Positionen befassen. Um
effektiv zu sein, müsste eine solche umfassende Kritik eine Ausführlichkeit
voraussetzen, die nicht einmal im Rahmen eines voluminösen Bandes zu
erreichen wäre. Aus diesem Grund sollen nur die zwei Autoren gründlich
und ausführlich behandelt werden, die der Verfasser als die radikalsten Op-
ponenten der in Kapitel 3 skizzierten systematischen Konzeption betrachtet:
Émmanuel Lévinas und Jean-Luc Marion. Und auch bezüglich dieser beiden
Autoren muss von vornherein betont werden, dass deren außerordentlich um-
fangreiches Oeuvre nicht in allen Details untersucht werden kann; wohl aber
erhebt die nachfolgende kritische Analyse den Anspruch, die entscheidenden
»Koordinaten« der von ihnen vertretenen Konzeptionen herauszuarbeiten
und einer minutiösen Kritik zu unterziehen.

4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der


Transzendenz »jenseits des Seins«

4.1.1 Allgemeine Charakterisierung


Lévinas stellt die große Behauptung auf: »Nicht zufällig ist die Geschichte der
abendländischen Philosophie eine Destruktion der Transzendenz gewesen.«1
Der Grund, den er zur Rechtfertigung dieser Behauptung anführt, ist, dass die
abendländische Philosophie hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich, eine
Philosophie des Seins gewesen ist. Ihm zufolge ist
»die Intelligibilität der Transzendenz […] nicht ontologisch. Die Transzendenz Gottes
kann in der Begrifflichkeit des Seins, dem Element, hinter dem die Philosophie nur
Nacht sieht, weder gesagt noch gedacht werden. Aber der Bruch zwischen der phi-
losophischen Intelligibilität und dem Jenseits des Seins bzw. der Widerspruch, dass es
das Unendliche zu be-greifen gilt, schließt Gott nicht von der Bedeutsamkeit aus, die,
obwohl sie nicht ontologisch ist, sich dennoch nicht auf simple Gedanken über das
Sein-im-Abnehmen (sur l’être en décroît), auf bloße Ansichten ohne Notwendigkeit
und auf bloße Wortspiele reduziert.«2

Wie gelangt Lévinas zu einer solchen extremen Konzeption? Um auf diese


Frage eine adäquate Antwort geben zu können, müsste man eine lange Ge-
schichte darstellen, eine Geschichte, die die wichtigsten Etappen der Philoso-
phiegeschichte in der Neuzeit und hier ganz besonders in Europa vom Ende
des 19. Jahrhunderts bis etwa Mitte der 1960er Jahre einschließt. Da diese

1  É. Lévinas, »Gott und die Philosophie«, in: B. Casper (Hrsg.), Gott nennen.

Phänomenologische Zugänge, 1981, 82–123; Zit. 84.


2  Ebd. 121.
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 295

Geschichte hier nicht nachgezeichnet werden kann, müssen einige wenige


erläuternde und kritische Bemerkungen genügen.
Im folgenden wird das, was man mit Kant »die Architektonik« (oder, ma-
thematisch, das Koordinatensystem) des Lévinasschen Denkens nennen kann,
skizziert und kritisch analysiert, obwohl es fraglich ist, ob es Sinn macht, von
»der Architektonik« des Denkens eines postmodernen Autors zu sprechen.
An der Basis von Lévinas’ Philosophie kann man jedenfalls drei fundamentale
Annahmen (oder Thesen oder Hauptkoordinaten) ausfindig machen.

4.1.2 Drei hochproblematische fundamentale Annahmen


in Lévinas’ Philosophie
4.1.2.1 Die missgeleitete Konzeption von Erkenntnis und Theorie
[1] Die erste hochproblematische Annahme ist Lévinas’ Auffassung von
Erkenntnis und Theorie. Zunächst ist zu betonen, dass man eine auffallende
Inkohärenz in Lévinas’ Verständnis und Gebrauch der Termini ›Erkennt-
nis (connaissance)‹ und ›Theorie‹ leicht entdecken kann. Auf der einen Seite
schreibt er:
»Die Erkenntnis oder die Theorie bedeutet zunächst eine solche Beziehung mit dem
Sein, dass das erkennende Seiende das erkannte Seiende sich manifestieren läßt, dabei
seine Andersheit achtet, ohne ihm in irgendeiner Weise kraft dieser Erkenntnisrelation
einen Stempel aufzudrücken. So aufgefasst bestünde das Wesen der Theorie im meta-
physischen Begehren.« (TU 49; Übersetzung geändert)

Auf der anderen Seite behauptet er: »Aber Theorie bedeutet auch Begreifen
(intelligence) – Logos des Seins –, das heißt, eine solche Weise das erkannte Sein
anzugehen, daß seine Andersheit im Verhältnis zu dem erkennenden Seienden
erlischt.« (Ebd.; Übers. korrigiert)
Lévinas zufolge ist Erkenntnis gemäß der ersten Bedeutung »um Kritik
bemüht«, während Erkenntnis gemäß der zweiten Bedeutung eine Art von
»Dogmatismus« (TU 43) ist. Bezeichnenderweise versteht Lévinas später »Er-
kenntnis/Theorie« fast ausschließlich immer in dieser zweiten Bedeutung.
Das ist auch die Bedeutung, die er immer voraussetzt, wenn er seine zentrale
Konzeption der Transzendenz entwickelt. Im folgenden wird nur diese zweite
Bedeutung berücksichtigt.
Er schreibt:
»Was die Erkenntnis betrifft: Sie ist von ihrem Wesen her eine Beziehung zu etwas, das
das Subjekt sich angleicht, das das Subjekt umgreift, dessen Andersheit man aufhebt, das
immanent wird, weil es meinem Maß und meinem Maßstab entspricht. […] Letztlich
liegt im Bereich der Erkenntnis eine Unmöglichkeit, aus sich selbst herauszutreten; von
daher kann die Sozialität (socialité) nicht die gleiche Struktur haben wie die Erkenntnis.«3
3 
E. Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, 1986, 46. Die
296 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Bezeichnenderweise scheint Lévinas anzunehmen, dass zumindest irgend-


welche Philosophen die Auffassung vertreten oder vertreten haben, dass »die
Sozialität (socialité) die gleiche Struktur habe wie die Erkenntnis«. Demgegen-
über betont er in radikaler und undifferenzierter Weise, dass Der Andere
dasjenige ist, das absolut keiner Art von Reduktion unterzogen werden kann.
Aber genau den Charakter einer Reduktion ist das, was er der Erkenntnis
zuschreibt:
»Erkenntnis wurde immer schon als Assimilation interpretiert. Auch die überra-
schendsten Entdeckungen werden schließlich absorbiert, aufgenommen, mit allem, was
am ›Nehmen‹ und ›Aufnehmen‹ liegt. Die kühnste und entfernteste Erkenntnis bringt
uns nicht mit dem wirklich Anderen in Verbindung; sie ersetzt die Sozialität nicht; sie
ist noch und immer eine Einsamkeit.«4

Auf der Basis dieser eigenartigen (Miss)Konzeption von Erkenntnis gelangt


nun Lévinas zu seiner ebenfalls eigenartigen (Miss)Konzeption von Ontolo-
gie. Eine seiner knappen Charakterisierungen lautet: »Das Soziale liegt jen-
seits der Ontologie«5, eine Aussage die er folgendermaßen interpretiert:
»Der Theorie als Begreifen der Seienden kommt der allgemeine Titel der Ontologie zu.
Die Ontologie reduziert das Andere auf das Selbe; sie fördert die Freiheit; die Freiheit
ist die Identifikation des Selben, sie läßt sich nicht durch das Andere entfremden. Hier
schlägt die Theorie einen Weg ein, auf dem sie auf das metaphysische Begehren, auf das
Wunder der Exteriorität, von dem dieses Begehren lebt, verzichtet.« (TU 50; Übers.
korrigiert)

Wenn Erkenntnis und Ontologie so verstanden werden, gehört die Beziehung


zum Anderen, die für das, was Lévinas das Soziale nennt, konstitutiv ist,
nicht in irgendeinem Sinne zur Erkenntnisordnung. Und deswegen muss
die Ontologie  –  das heißt, die Erkenntnis des Seienden  –  ihm zufolge der
Ethik Platz machen, da die Ethik die Dimension ist, in der der Andere als der
Andere voll anerkannt wird.

[2] Eine solche Konzeption stellt eine Entstellung, einen Irrtum großen Aus-
maßes dar. Dies wird deutlich, sobald man die benutzten Begriffe sorgfältig
analysiert und die sich daraus ergebenden Konsequenzen kritisch beurteilt.
Das ist ein klassischer Fall der tiefen Wahrheit des berühmten Dictum: Parvus
error in initio magnus in fine – Ein kleiner Fehler am Anfang führt zu einem
großen Fehler am Ende. Es ist leicht zu zeigen, worin Lévinas anfänglicher
Irrtum liegt.

deutsche Übersetzung in der zitierten Ausgabe enthält einen gravierenden Fehler, der hier
korrigiert wurde.
4  Ebd. 47.
5  Ebd. 44.
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 297

[i] In allen zumindest prinzipiell klaren und zutreffenden Definitionen


von Erkenntnis wird die erste zu erfüllende Bedingung so angegeben: Wenn
das Subjekt S erkennt (dass) p, dann (glaubt es dass) p.6 Nun wurde Wahrheit
in dem einen oder anderen Sinn immer als eine Beziehung des erkennenden
Subjekts zur ontologischen Dimension verstanden, also als eine Beziehung zu
einem Etwas (einer Tatsache, einer Situation etc.) in der Welt. Im allgemeinen
wurde und wird diese Beziehung Korrespondenzbeziehung genannt. Wie
diese Beziehung in der ganzen Tradition der Philosophie verstanden wurde,
hat Thomas von Aquin in klassisch gewordener Weise so artikuliert:
»Die Übereinkunft (die Korrespondenz) […] eines Seienden mit dem Verstand drückt
das Wort ›wahr‹ aus. Jede Erkenntnis aber vollzieht sich durch eine Angleichung des
Erkennenden an das erkannte Ding.«7

Da die Erkenntnis Wahrheit als essentielles Ingrediens einschließt, ist der


zentrale Punkt nicht gerade die Anpassung (Angleichung) der Dinge, des
Anderen, an das Subjekt; vielmehr verhält es sich genau umgekehrt: der Er-
kennende passt oder gleicht sich an das erkannte Ding an.
[ii] Die Erkenntnis bringt ans Licht, was das erkannte Ding als solches, als
es selbst ist. Etwas, das ein Anderes bezüglich des Subjekts ist, wird erkannt
dann und nur dann, wenn ans Licht gebracht wird, dass es ein Anderes als ein
Anderes ist, andernfalls wäre es nicht erkannt als das, was es ist, nämlich als
ein Anderes. Wo ist das zu finden, was Lévinas über Erkenntnis/Theorie sagt,
nämlich über das Verschwinden des Anderen als Anderen, wenn es erkannt
wird?
Lévinas begeht eine elementare Konfusion: die Konfusion zwischen Er-
kenntnis und praktischer Einstellung oder praktischem Handeln. An der Er-
kenntnis bemängelt er etwas, was zum Bereich des praktischen Verhaltens und
Handelns gehört. Wenn er behauptet: »Die kühnste und entfernteste Erkennt-
nis bringt uns nicht mit dem wirklich Anderen in Verbindung; sie ersetzt die
Sozialität nicht«, so wird deutlich, dass er einem konsequenzenreichen quid
pro quo erliegt. Es ist selbstverständlich, dass auch die »kühnste und entfern-
teste Erkenntnis uns nicht mit dem wirklich Anderen in Verbindung bringt«,
wenn jene Verbindung gemeint ist, die zum Bereich des praktischen Handelns
gehört. Erkenntnis ist nicht praktisches Handeln, ist nicht (praktische) An-
erkennung des Anderen, ist nicht (praktische) Respektierung des Anderen, ist
nicht reale Liebe zum Anderen u. dgl. Erkenntnis ist auch nicht die Negation
dieser praktischen Formen der Verbindung mit dem Anderen. Erkenntnis ist

6  Vgl. vom Verfasser SuS, Abschnitt 2.4.2.2, 138 ff. Die in Klammern angefügte Klausel

»(glaubt es dass)« ist die vom Verfasser eingeführte Korrektur der allgemein üblichen De-
finition, und zwar aus Gründen, die im Buch dargestellt werden (vgl. ebd. 142).
7  »Convenientiam […] entis ad intellectus exprimit hoc nomen verum. Omnis cognitio

perficitur per assimilationem cognoscentis ad rem cognitam.« De Ver q. 1. a. 1.


298 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

eben das, was ein Subjekt vollzieht, wenn es sich auf die theoretische Ebene
stellt. Auf dieser theoretischen Ebene aber wird das/der Andere als das/der
Andere eben erkannt, artikuliert. Zu behaupten, dass die »Sozialität nicht die
gleiche Struktur hat wie die Erkenntnis«, heißt, eine Selbstverständlichkeit
artikulieren. Dass Lévinas aber diese Behauptung nicht als Selbstverständlich-
keit ansieht, ist gerade Ausdruck seines quid pro quo.
[iii] Erkenntnis ist eine gewisse Weise der Einstellung von Subjekten zur
Realität: diese Einstellung wird oft veritative (wahrheitsbezogen) oder faktive
(tatsachenbezogen) genannt.8 Was dies bedeutet, kann so erklärt werden: Die
erste Bedingung in der Definition von Erkenntnis, die Wahrheitsbedingung,
wird durch einen Satz artikuliert, dem der Operator »Es verhält sich so dass
…« (implizit) vorangestellt ist. Die Bedingung hat dann die Form: »Es verhält
sich wahrheitsgemäß so dass p«. In dieser Formulierung ist unter anderem der
Umstand bemerkenswert, dass überhaupt kein Bezug auf Subjekte und sub-
jektive Faktoren genannt werden. Folglich gibt es dabei überhaupt nicht so
etwas wie »eine Relation zu einem etwas, das das Subjekt sich angleicht, das
das Subjekt umgreift«.
[iv] Eine völlig verschiedene, aber ebenfalls fundamentale Kritik an Lévinas’
Behauptungen über Erkenntnis und Theorie deckt einen Selbstwiderspruch in
ihnen auf. Lévinas vertritt eine Auffassung, die den Anspruch erhebt, diesen
ganzen Sachverhalt (d. h.: was Erkenntnis, Theorie usw. sind) zu klären. Sie
artikuliert sich in theoretischen Sätzen, die einen Zusammenhang zwischen
den verschiedenen Elementen und Aspekten des komplexen Sachverhalts
herausarbeiten und artikulieren. Nun ist die Auffassung selbst, insofern sie
eine konkret durch ein Subjekt entwickelte und vertretene Auffassung ist,
eine bestimmte Art von Erkenntnis – was sonst könnte sie überhaupt sein?
Zu bemerken ist, dass Lévinas selbst unmissverständlich erklärt, er wolle als
ein Philosoph betrachtet werden. Aber dann drängt sich für ihn ein Problem
auf. Wenn nämlich Erkenntnis und Theorie das sind, als welche er sie, wie
oben gezeigt, charakterisiert, dann muss seine eigene Konzeption in Sinne sei-
ner Charakterisierung von Erkenntnis und Theorie verstanden werden. Das
heißt: Lévinas begreift und charakterisiert Erkenntnis und Theorie als »eine
Beziehung zu etwas, das das Subjekt sich angleicht, das das Subjekt umgreift,
dessen Andersheit man aufhebt, das immanent wird, weil es meinem Maß
und meinem Maßstab entspricht«. Damit beansprucht er zu erkennen und zu
sagen, was Erkenntnis und Theorie selbst, an sich, sind. Damit erweist sich das
beanspruchte oder vollzogene Erkennen bzw. Begreifen (und Artikulieren)
dessen, was Erkenntnis / Theorie selbst ist, als selbstwidersprüchlich: Dieses
(sein) Erkennen/Begreifen entspricht nämlich nicht dem, was er sagt, wenn er

8  Vgl. beispielsweise T. Williamson, Knowledge and its Limits, 2000, 34 ff.; vgl. auch

SuS 142 ff.
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 299

Erkenntnis/Theorie charakterisiert. Es handelt sich um einen performativen


Selbstwiderspruch. Sein aktives Erkennen / Theoretisieren falsifiziert das von
ihm charakterisierte Erkennen / Theoretisieren. Seine Auffassung ist selbst-
widerlegend.

4.1.2.2 Die inkohärente Konzeption von »Metaphysik«


[1] Lévinas’ zweite Annahme oder Koordinate ist sein Verständnis und seine
Charakterisierung von Metaphysik. Er führt eine ungewöhnliche Unterschei-
dung zwischen Ontologie und Metaphysik ein. Ihm zufolge ist Ontologie
Philosophie der Seienden und des Seins als solchen und im Ganzen. Von einem
terminologischen Standpunkt aus wäre es daher in seinem Sinne Unsinn, von
einer Metaphysik des Seins zu sprechen. Wäre dies eine rein terminologische
Angelegenheit, so könnte man sie auf sich beruhen lassen. Aber sie ist nicht
nur, ja nicht einmal hauptsächlich eine rein terminologische Festlegung.
Lévinas’ Ausgangspunkt ist eine geschichtliche und eine inhaltliche Aus-
sage:
»[Metaphysik] ist dem ›Woanders‹ zugewandt, dem ›Anders‹ und dem ›Anderen‹. In
ihrer allgemeinsten Form, die sie in der Geschichte des Denkens angenommen hat,
erscheint die Metaphysik in der Tat als eine Bewegung, die von einem ›Zuhause‹ aus-
geht, das wir bewohnen, von einer uns vertrauten Welt […] und die hingeht zu einem
fremden Außersich, zu einem ›Da drüben‹. […] Das metaphysische Begehren strebt
nach ganz Anderem, nach dem absolut Anderem.« (TU 35)

Die zentralen Begriffe in Lévinas’ Charakterisierung dessen, was er (ei-


genwilligerweise) »Metaphysik« nennt, sind: »Exteriorität (extériorité)«,
»Andersheit (alterité)«, »der / das Andere (l’autre / Autrui)«. Er nennt die
Beziehung zum Anderen »eine metaphysische Beziehung« (TU 49), wobei
schnell klar wird, dass er die Beziehung zum Anderen – gemäß seinem Ge-
brauch des Ausdrucks ›Metaphysik‹ – als die (in seinem Sinne zu verstehende)
metaphysische Beziehung tout court konzipiert. Er fasst daher die metaphy-
sische Bewegung der Transzendenz als »Transaszendenz« (TU 39), und zwar
genauer so: »Dergestalt, daß der Metaphysiker und das Andere kein Ganzes
bilden.« (Ebd.) Metaphysik in Lévinas’ Verständnis ist »Bruch mit der Totali-
tät.« (Ebd.) Die metaphysische Beziehung ist die Beziehung zwischen Ich und
dem Anderen. Lévinas nennt das Ich das Selbe und das andere den Anderen.
Lévinas zufolge ist die Ethik die genuine »Metaphysik« (in seinem Sinn);
ihr kommt der absolute Primat zu und daher verdient sie es, die genuine prima
philosophia genannt zu werden. »Die Metaphysik [als Ethik, L. B. P.] geht der
Ontologie voraus.« (TU 49)9

9  Später verwendet Lévinas den Ausdruck ›Metaphysik‹ nicht mehr (oder nicht immer)

in diesem ungewöhnlichen Sinn. So heißt es z. B. in einer Vorbemerkung am Anfang seines


300 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

[2] Lévinas hat ein eigenartiges Verständnis von »Ethik«, das er folgender-
weise charakterisiert:
»Eine Infragestellung des Selben – die im Rahmen der egoistischen Spontaneität des
Selben unmöglich ist  –  geschieht durch den Anderen. Diese Infragestellung meiner
Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt Ethik. Die Fremdheit des An-
deren, der Umstand, daß er nicht auf mich, meine Gedanken und meinen Besitz zu-
rückgeführt werden kann, vollzieht sich nur als Infragestellung meiner Spontaneität,
als Ethik.« (TU 51)

Das von Lévinas benutzte französische Wort »l’éthique« ist zweideutig: Es


kann sowohl die (philosophische Disziplin der) Ethik als auch die Dimen-
sion oder den Bereich des Ethischen bezeichnen. »L’éthique« bei Lévinas
bezeichnet nicht – zumindest meistens – die Disziplin der Ethik, sondern es
bezeichnet eine Dimension des Menschen, genauer: die tiefste oder und fun-
damentalste Dimension des menschlichen Lebens. So sind die Dimensionen
der Erkenntnis und des Ethischen (in diesem Sinne) verschiedene Dimensio-
nen, die aufeinander nicht reduzierbar sind.
Zu dieser uneingeschränkten Behauptung muss man kritisch bemerken,
dass sie – abgesehen von terminologischen Festlegungen – falsch ist, weil der
»Metaphysiker« (in Lévinas’ Sinn) in jedem Fall (auch) ein Theoretiker ist, der
(wie Lévinas selbst) die Relation zwischen Ich (und somit dem Metaphysiker)
und dem Anderen artikuliert. Wie könnte dann der Metaphysiker als Theo-
retiker vom Anderen vollständig getrennt sein? Wäre er vom ihm getrennt,
könnte er die (seine) Relation zum Anderen nicht artikulieren. Das ist ein
Punkt, der an sehr verschiedenen und sehr zentralen Stellen der Philosophie
Lévinas’ immer wieder erscheint – darauf wird unten noch zurückzukommen
sein.

[3] Prinzipiell gesehen, beinhaltet die Behauptung, dass die ethische Dimen-
sion die Dimension der prima philosophia ist, keine Inkohärenz; genauer:
Ob das der Fall ist oder nicht, hängt davon ab, wie man »Dimension des
Ethischen« und prima philosophia versteht. Aber für Lévinas gibt es hier sehr
wohl ein Kohärenzproblem, ein Problem, das aus der Weise erwächst, wie er
diese Dimension bzw. diese Bezeichnung begreift. Wiederholt sagt er, dass
das Ethische nicht zum Bereich der Erkenntnis gehört. In einer bestimmten
Hinsicht ist diese Behauptung beinahe trivial, sind doch die Dimensionen der
Erkenntnis und des Ethischen zwei verschiedene Dimensionen, so dass die
eine nicht die andere ist. Aber Lévinas scheint diese Behauptung ganz anders

Buches Jenseits des Seins (= JS): »[E]inen nicht durch das Sein infizierten Gott zu ver-
nehmen, ist eine ebenso wichtige und ebenso ungesicherte menschliche Möglichkeit wie
die, das Sein dem Vergessen zu entreißen, in das es in der Metaphysik und in der Onto-
Theologie gefallen sein soll.« (JS 19)
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 301

zu verstehen. Er scheint sie auch – und hauptsächlich – so zu verstehen, dass


das Ethische nicht durch so etwas wie Erkenntnis erfasst/artikuliert werden
kann, da doch Erkenntnis »von ihrem Wesen her eine Beziehung zu etwas ist,
das das Subjekt sich angleicht, das das Subjekt umgreift, dessen Andersheit
man aufhebt, das immanent wird, weil es meinem Maß und meinem Maßstab
entspricht«.10
Daraus ergibt sich ein Dilemma für Lévinas: Entweder nimmt er an, dass
er die ethische Relation korrekt erkennt und artikuliert: In diesem Fall muss
er voraussetzen, dass die Dimensionen des Ethischen und der Erkenntnis
zwar zwei verschiedene Dimensionen sind, aber nicht in dem Sinne, dass sie
absolut voneinander getrennt und damit gegeneinander abgeschottet sind,
dass also vor allem das Ethische ein Thema ist, das von der Erkenntnis erfasst
und artikuliert werden kann; oder er hält an einer totalen Trennung im Sinne
einer totalen Abschottung fest: in diesem Fall wäre er nicht in der Lage, die
ethische Dimension zu thematisieren und zu artikulieren; indem er dies aber
doch faktisch tut, würde er sich direkt widersprechen.

4.1.2.3 Die fatale Misskonzeption von »Sein«


Lévinas’ dritte Annahme bzw. Denkkoordinate ist unzweifelhaft die wich-
tigste im Hinblick auf die Thematik des vorliegenden Buches. Sie betrifft die
Dimension des Seins. Ihm zufolge muss die zentrale Dimension des Anderen
anders als Sein bzw. seiend, als jenseits des Seins liegend, aufgefasst werden.
Das ist die große, die zentrale These, die er im Titel seines wichtigen Werkes
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht artikuliert. Die französische
Formulierung lautet: Autrement qu’être ou au délà de l’essence, die folgen-
dermaßen zu verstehen ist: ›être‹ entspricht dem lateinischen ›ens‹ und dem
deutschen ›Seiend(es)‹, während ›essence‹ nicht den traditionellen Sinn von
»essentia (Wesen)« hat, sondern im verbalen Sinn zu verstehen ist, so dass es
dem lateinischen ›esse‹ und dem deutschen »Sein« entspricht.11
Die von Lévinas an zentraler Stelle seiner Philosophie vertretene These,
dass der Andere anders als Sein bzw. seiend, als jenseits des Seins liegend, auf-
zufassen ist, hat weitreichende Konsequenzen. Wie gelangt er zu dieser Kon-
zeption? Inspiriert wurde er, vom geschichtlichen Standpunkt aus gesehen,
ganz besonders einmal von Platons berühmter Behauptung, dass die Idee
des Guten »jenseits der ousia (des Seins) ist / liegt«12, sodann von Descartes’

10 
Ethik und Unendliches, 1986, 47.
11  Zu bemerken ist, dass der französische Term ›être‹ zwei Bedeutungen hat: être =
étant / ens /Seiendes und être = esse/ Sein.
12  Vgl. Platon, Politeia VI 509 b: ἐπέκεινα τῆς οὐσίας.
302 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Idee des Unendlichen13; aber die allgemeine philosophische Basis wurde ent-
scheidend von Husserl und Heidegger geprägt. Ungeachtet seiner immensen
Bedeutung für eine Erklärung von Lévinas’ These, kann diesem historischen
Hintergrund hier nicht näher nachgegangen werden. Im folgenden werden
einige zentrale Intuitionen und Einsichten (man wird kaum von Argumenten
sprechen können), die in Lévinas’ Schriften über das Verständnis von »Sei-
end(es)/ Sein« zu finden sind, kritisch analysiert.

[1] Der erste Punkt, der die Aufmerksamkeit des akkuraten Lesers auf sich
zieht, ist die erstaunliche Ambiguität der Terme ›Sein / Seiend(es) – être‹
und ›Existenz / existieren – existence, exister‹ bei Lévinas. In vielen Passagen
scheint er diese Terme als Synonyme zu verstehen, so z. B. in der folgenden
Passage: »Sein heißt Sich-isolieren-durch-das-Existieren.«14 Aber an anderen
Stellen scheint Lévinas den beiden Termen klar nicht dieselbe Bedeutung zu-
zuschreiben, beispielsweise in dieser Passage:
»Schon das Ich existiert in einem hervorragenden Sinne: Man kann sich in der Tat nicht
vorstellen, daß das Ich zunächst existierte und zusätzlich mit Glück begabt wäre, daß
also das Glück zur Existenz als Attribut hinzukäme. Das Ich existiert als getrenntes
kraft des Genusses, d. h., weil es glücklich ist; für das Glück kann es sein bloßes Sein
opfern. Es existiert in einem hervorragenden Sinne, es existiert über dem Sein.« (TU
82; letzte Kursive nicht im Original)

Existenz in einem hervorragenden Sinne ist »über dem Sein«: Was kann das
bedeuten? Lévinas hat diesen Sachverhalt nie erklärt; stattdessen konzentriert
er sich fast ausschließlich auf »Sein / Seiend(es) – être« und identifiziert »Sein/
Seiend(es) – être« und »Existenz / existieren – existence, exister« in allen wich-
tigen Passagen seiner Schriften. Dadurch entsteht eine große Konfusion. Der
aufmerksame Leser seiner Schriften begegnet großen Schwierigkeiten, den
genauen Sinn der Texte zu verstehen. Wie dem auch sei, die wichtige Frage in
diesem Zusammenhang lautet: Wie versteht Lévinas »Sein/Seiend(es) – être«?
(Der Gebrauch der Terme ›Existenz / existieren – existence, exister‹, insoweit
sich diese Terme von den Termen ›Sein / Seind(es) – être‹ bedeutungsmäßig
unterscheiden, wird in den folgenden Überlegungen nicht weiter verfolgt, da
dieser Umstand für die Darstellung und Bewertung der Position von Lévinas
ohne nennenswerte Bedeutung ist.)15

13
  Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die
Grundlagen der Philosophie, 2008, Dritte Meditation.
14  Die Zeit und der Andere, 1984, 20 (modifizierte Übers.).
15  In einer Passage seiner Schrift Die Zeit und der Andere, in der er sich auf Heidegger

bezieht, schreibt er:


»Seine [Heideggers] Unterscheidung von Sein und Seiendem […] kennen Sie sehr wohl,
doch aus Gründen des besseren Klanges ziehe ich es vor, durch Existieren und Existieren-
des zu übersetzen, ohne diesen Ausdrücken einen spezifisch existentialistischen Sinn zu
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 303

[2] Lévinas expliziert in aller Deutlichkeit den Sinn, den er mit dem Term
»Sein/Seind(es) – être« verbindet. Zwei Passagen mögen dies belegen:
»Meine Bemühungen bestehen darin zu zeigen, dass das Wissen in Wirklichkeit eine
Immanenz ist und es durch das Wissen keinen Bruch in der Isolierung (Isolation,
isolement) des Seins gibt; dass man sich andererseits innerhalb der Kommunikation
von Wissen neben dem Anderen befindet, mit ihm nicht konfrontiert ist, ihm nicht
unmittelbar gegenübersteht. Aber in einer direkten Beziehung zum Anderen stehen,
bedeutet, weder den Anderen zu thematisieren und ihn auf die gleiche Weise wie
einen bekannten Gegenstand zu betrachten noch ihm eine Erkenntnis zu übermitteln.
In Wirklichkeit ist die Tatsache des Seins das Allerprivateste; die Existenz ist das ein-
zige, das ich nicht mitteilen kann; ich kann von ihr erzählen, aber ich kann meine
Existenz nicht teilen. Die Einsamkeit (solitude) erscheint hier also als die Isolierung
(isolement), die das eigentliche Ereignis des Seins markiert. Das Soziale liegt jenseits
der Ontologie.«16
»Durch das Sehen, durch das Berühren, durch die Sympathie, durch die Arbeit
im allgemeinen sind wir mit den anderen. Alle diese Beziehungen sind transitiv; ich
berühre einen Gegenstand, ich sehe den Anderen. Aber ich bin nicht der Andere.
Ich bin völlig allein. Es ist also das Sein in mir, die Tatsache, daß ich existiere, mein
Existieren, welches das absolut intransitive Element, etwas ohne Intentionalität, etwas
ohne Bezug, konstituiert. Man kann zwischen Seienden alles austauschen, nur nicht das
Existieren. In diesem Sinne heißt sein, sich-isolieren-durch-das-Existieren. Insofern
ich bin, bin ich Monade. Durch das Existieren und nicht durch irgendeinen Inhalt, der
unmittelbar in mir wäre, bin ich ohne Tür und ohne Fenster.«17

Man dürfte kaum eine übertreibende oder gar unfaire Behauptung aufstellen,
wenn man sagt, dass Lévinas’ »Verständnis« von »Sein/Seind(es) – être« ein
verhängnisvolles Missverständnis und einen fatalen Irrtum darstellt. Es ist
nicht schwierig, eine solche Position zu widerlegen, wie die folgenden Aus-
führungen zeigen werden.
Schon ein kurzer Hinweis auf einen Faktor bzw. ein Phänomen ist aus-
reichend, um zu zeigen, dass die folgenden Aussagen von Lévinas direkt
und gänzlich negiert werden müssen: »Die Einsamkeit (solitude) erscheint
hier also als die Isolierung (Isolation, isolement), die das eigentliche Er-
eignis des Seins markiert.« – »Es ist also das Sein in mir, die Tatsache, daß ich
existiere, mein Existieren, welches das absolut intransitive Element, etwas
ohne Intentionalität, etwas ohne Bezug, konstituiert.« Ganz im Gegenteil,
die radikalste und fundamentalste »Sache«, das »ich« Anderen mitteilen (und
so mit Anderen teilen) kann, ist präzise mein(e) Sein/Existenz. Um dies zu
zeigen – und zwar in einer unter vielen möglichen Weisen –, genügt es, das

verleihen.« (Ebd. 21) Dieser Passage ist nicht zu entnehmen, ob Lévinas die Synonymität
von ›Sein‹ und ›Existenz /existieren‹ nur in bezug auf Texte Heideggers oder auch für die
eigenen Texte behaupten will.
16  Ethik und Unendliches, 1986, 43–44 (Kursiv nicht im Original; modifizierte Übers.).
17  Die Zeit und der Andere, 21 (modifizierte Übers.).
304 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Phänomen unserer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von menschlichen


Seienden sorgfältig zu analysieren. Was offenbart unsere »reine Gegenwart,
unser reines Präsent-Sein« unter menschlichen Seienden? Was geschieht hier?
Schon das reine Präsent-Sein bedeutet, dass wir unser(e) Sein/Existenz den
anderen seienden / existierenden Menschen mitteilen und somit mit ihnen tei-
len und dass umgekehrt die anderen seienden/existierenden Menschen ihr(e)
Sein/Existenz uns mitteilen und somit mit uns teilen. Eine Gemeinschaft
von seienden / existierenden Menschen ist ein wunderbarer Ausdruck und
ein wunderbares Zur-offenbarkeit-bringen dessen, was Sein/Existenz letzt-
lich bedeutet. Mögen die Differenzen unter Menschen noch so groß, ja sogar
unüberbrückbar sein, es bleibt eine einfache nicht zu beseitigende Tatsache
bestehen, dass sie alle mindestens eine »Sache« miteinander teilen: ihr(e) Sein/
Existenz. Daraus folgt, dass sie alle an dieser immensen und fundamentalen
»Dimension« teilhaben, die man adäquaterweise die Dimension des Seins
als des universalen Raums nennen kann und die den fundamentalen Grund
der Ermöglichung der Kommunikation unter Menschen bildet. Man kann
dieses Phänomen weiter beschreiben in seinen vielen Facetten und in seiner
umfassenden Bedeutung. Dies soll hier aber nicht weiter vertieft werden. Es
sei verwiesen auf das, was in Kapitel 3 gezeigt wurde.
Aus dem Gezeigten ergibt sich für Lévinas’ ganze Philosophie eine weit-
reichende Konsequenz: Wenn Sein / Existenz gerade nicht das ist, was Lévinas
behauptet, dass es ist, wenn im Gegenteil Sein/Existenz gerade den radikal­
sten Gegensatz zu Lévinas’ »Sein/Existenz-als-Isolation/Einsamkeit« besagt,
dann bricht die immense philosophische Konzeption, die er auf dieser irrigen
Basis entwickelt, unweigerlich und kompromisslos in sich zusammen. Seine
Behauptung, dass der Andere, der Transzendente, Gott anders als Sein /
Seiend, als jenseits des Seins liegend, zu konzipieren sei, stellt sich als ein fun-
damentaler und fataler Irrtum heraus, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen ist.

4.1.3 Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz und von Gott als eine
spezifische Form der Philosophie der Subjektivität
Was ergibt sich aus den durchgeführten Analysen für die Thematik der Trans-
zendenz und von Gott? Diesbezüglich kann man in seinem Denken zwei
Einstellungen ausmachen: eine negative und eine positive. Die negative Ein-
stellung findet ihren Ausdruck in einer großen, seine ganze Philosophie total
bestimmenden These, welche die dunkle Folie einer totalen Negativität bildet,
von der sich alle seine Aussagen abheben. Die positive Einstellung artikuliert
sich in drei Ideen, die, in sich betrachtet, etwas Positives besagen, von Lévinas
aber grundsätzlich missdeutet werden.
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 305

4.1.3.1 Die totale Negativität: die Dimension des Seins


Die negative These artikuliert Lévinas so:
»Die Schwierigkeiten des Aufstiegs – sein vielfaches Scheitern und sein je neues Be-
ginnen – sind einem Schreiben eingezeichnet, in dem dazu wohl noch die Atemlosig-
keit des Autors sich bezeugt. Doch einen nicht durch das Sein infizierten Gott zu ver-
nehmen, ist eine ebenso wichtige und ebenso ungesicherte menschliche Möglichkeit
wie die, das Sein dem Vergessen zu entreißen, in das es in der Metaphysik und in der
Onto-Theologie gefallen sein soll.« (JS 19)

Es ist klar, dass Lévinas in diesem Text auf Heidegger Bezug nimmt. Auf wie
undifferenzierte Weise seine Berufung auf die Onto-theo-logie geschieht,
ergibt sich deutlich aus den langen Ausführungen über Heidegger in Ka-
pitel 2. Die Formulierung »ein durch das Sein infizierter Gott« ist absolut
bezeichnend: Sie drückt in eindrucksvoller Weise das Missverständnis aus,
dem Lévinas bezüglich der Seinskonzeption und Gott erliegt. Dieses Missver-
ständnis ist zwar grundsätzlich auf einem Heideggerschen Boden erwachsen,
hat aber auch  –  und zwar grundlegend  –  ganz spezifische Züge, die aus-
schließlich von Lévinas und aus seinem jüdischen Hintergrund stammen.
Dazu gehört der zentrale Gedanke des Anderen. Diese Thematik wurde schon
oben, besonders im Abschnitt 4.1.2.3, behandelt, weswegen sie hier nur kurze
Erwähnung findet.

4.1.3.2 Drei missdeutete positive Merkmale der Transzendenz und von Gott
4.1.3.2.1 Die Idee des Anderen als des Anderen oder der Beziehung »von
Angesicht zu Angesicht«
Die erste positive Idee ist die Idee des Anderen, der Beziehung »von Angesicht
zu Angesicht«.

[1] Lévinas betont, dass schon das andere menschliche Seiende ein Anderes,
ein Transzendentes in Bezug auf mich, auf mein Ich, ist. Nun ist Gott ihm zu-
folge das absolute, das unendliche Andere. Seine Aussagen über Gott als das
absolute, unendliche Andere sind meistens rein negativ. Die Erklärung liegt
darin, dass Lévinas ständig bemüht ist, von Gott in der Weise zu sprechen,
dass erreicht werden soll,»einen nicht durch das Sein infizierten Gott zu ver-
nehmen« (JS 19). So lehnt er strikte eine Konzeption der Transzendenz Gottes
ab, die im Rahmen einer Seinskonzeption entwickelt werde. Eine solche
Konzeption würde ihm zufolge Gott den Zwängen einer Totalität oder eines
Systems unterordnen, was er so erklärt:
»Das Selbe und das Andere können nicht in einer Erkenntnis, die sie umfaßt, zu-
sammentreten. Die Beziehungen, die das getrennte Seiende mit dem unterhält, das über
306 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

es hinausgeht, ereignen sich nicht vor dem Hintergrund der Totalität, Sie schließen sich
zu keinem System zusammen. Aber nennen wir sie nicht zusammen? Die formale Syn-
these des Wortes, das sie zusammen nennt, gehört bereits zu einer Rede, d. h. zu einer
Konstellation der Transzendenz, die die Totalität aufbricht. Die Verbindung zwischen
dem Selben und dem Anderen, in der sich schon ihre sprachliche Nachbarschaft hält,
besteht in dem Empfang von vorne und von Angesicht-zu-Angesicht, den das Ich dem
Anderen bereitet. Es ist dies eine Verbindung, die nicht auf die Totalität reduziert
werden kann; denn die Stellung des ›Gegenüber‹ ist keine Modifikation des ›Neben‹.
Selbst wenn ich mir den Anderen durch die Konjunktion ›und‹ verbunden habe, fährt
der Andere fort, mir gegenüber zu sein, sich in seinem Antlitz zu offenbaren.« (TU
111; geänderte Übers.)
Es wurde schon gezeigt, dass solche Aussagen kein Argument sind. Was kann
bedeuten zu sagen: »Das Selbe und das Andere können nicht in einer Erkennt-
nis, die sie umfasst, zusammentreten. Die Beziehungen, die das getrennte
Seiende mit dem unterhält, das über es hinausgeht, ereignen sich nicht vor dem
Hintergrund der Totalität, Sie schließen sich zu keinem System zusammen«?
Lévinas übersieht folgendes: Die Beziehung zwischen einem Subjekt (das er
»das Selbe« nennt) und einem Anderen setzt einen »Raum«, eine »Dimen-
sion« voraus, in welchem/welcher sie sich ereignet und der/die die Beziehung
allererst möglich macht. Wir sehen und sagen, dass wir eine Erkenntnis gerade
dieses Raums bzw. dieser Dimension haben, der/die die Beziehung allererst
möglich macht, und so beide, das Subjekt (das Selbe) und das Andere, um-fasst
oder um-greift. Zu sagen: »Das Selbe und das Andere können nicht in einer
Erkenntnis, die sie umfasst, zusammentreten«, ist ein einfacher Denkfehler;
denn was das Subjekt (nach Lévinas: das Selbe) und das Andere umfasst, ist
nicht die Erkenntnis, sondern das, was die Erkenntnis erkennt.
Lévinas setzt genau folgendes voraus: Er beansprucht zu erkennen, was die
Beziehung (zwischen dem Subjekt und dem Anderen) ist, und so spricht er
ständig vom dem/der beide verbindenden und damit umfassenden Raum/Di-
mension; aber er charakterisiert diesen / diese Raum/Dimension – und damit
auch die Beziehung – in absolut negativer Weise, nämlich als Trennung. Dabei
ignoriert er den Umstand, dass es keine Trennung ohne eine beide Getrennten
verbindende Dimension gibt. Er scheint vorauszusetzen, dass die einzige
Weise, wie diese(r) Raum / Dimension gedacht werden könnte, darin besteht,
dass er/sie als Totalität, als System aufgefasst wird, wobei er sich »Totalität«
und »System« als ein großes in sich geschlossenes »Ding« vorstellt. Aber eine
solche Vorstellung ist willkürlich. Wenn man die Ausdrücke ›Totalität‹ und
›System‹ verwenden will, warum sollte man a limine die Idee einer offenen
Totalität, eines offenen Systems ausschließen? Wenn der / die umfassende
Raum/Dimension die primordiale Dimension des Seins genannt wird, dann
ist diese Dimension nicht so etwas wie ein »enormes Ding«, das alles, was es
einfasst und umfasst, sozusagen erstickt und die eigene Selbstentwicklung und
‑verwirklichung verhindert; ganz im Gegenteil, diese primordiale Dimension
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 307

ist der ursprüngliche offene Raum, der alle Relationen gemäß der je eigenen
Struktur eines jeden Elements der Totalität oder des Systems allererst möglich
macht.
Was Lévinas gänzlich übersieht – und dies ist ein entscheidender Punkt –,
ist die Einsicht, dass Gott selbst das / der absolut Andere ist, dass Er dies aber
nicht wie ein anderes Endliches ist, das uns sozusagen »außerhalb« seiner
hätte. Wäre Er ein absolut Anderer in diesem Sinne, dann wäre Er selbst ein
anderes Endliches; denn er hätte etwas, was für ihn eine Grenze wäre, wie
dies unten im Abschnitt 4.2.4.2.2 gezeigt werden soll. Vielmehr ist Er ein/das
Andere(r) in dem Sinne, dass Er uns und die ganze (endliche) Welt absolut
umfasst. Anders formuliert: Seine Andersheit ist als seine Transzendenz zu be-
greifen, und zwar so, dass man sagen muss: Gottes Transzendenz und Gottes
Immanenz (im Sinne von: Gottes Umfassen von allem und jedem) sind nicht
als umgekehrt proportional, sondern als direkt proportional zu begreifen; das
heißt: Je größer Gottes Transzendenz ist, desto größer ist seine Immanenz
(d. h. sein Umfassen von allem und jedem). Indem er die absolut uneinge-
schränkte Dimension selbst ist, macht er unsere Beziehung zu ihm als dem
absoluten Anderen allererst möglich und sinnvoll. Dieser zentrale Gedanke,
den man bei Lévinas so gut wie gänzlich vermisst, wird klarer werden, wenn
wir weiter unten die beiden anderen positiven Ideen bei ihm analysieren: die
Idee der Unendlichkeit und die Idee der Schöpfung.

[2] Die Idee des Anderen als des Anderen wird von Lévinas bestimmter als die
Idee der Beziehung »von Angesicht zu Angesicht« verstanden:
»Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus. Eine
Beziehung mit dem Transzendenten – die jedoch frei von jeder Aneignung des Trans-
zendenten ist – ist eine soziale Beziehung. – Hier ist der Bereich, in dem das Transzen-
dente, das unendlich anders ist, uns fordert und uns anruft. Die Nähe des Anderen, die
Nähe des Nächsten, ist im Sein ein unerläßliches Moment der Offenbarung, Moment
einer absoluten (d. h. aus jeder Beziehung losgelösten) Gegenwart, die sich ausdrückt.
Die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht darin, uns durch sein Elend im Antlitz
des Fremden, der Witwe und des Waisen zu fordern.« (TU 106–7)

Zweifellos handelt es sich um Formulierungen, die von der hebräischen


Bibel (des Alten Testaments) inspiriert sind. Wenn man sie nur im positiven,
nicht im exklusiven Sinn versteht, so sind sie aus philosophischer und theo-
logischer Perspektive unbedenklich. Aber Lévinas versteht sie offensichtlich
in einem radikal exklusiven Sinne, nämlich folgendermaßen: Sie schließen
jede Betrachtung und jede Aussage aus, die zur Tradition einer wie immer
gearteten Philosophie des Seins gehören, damit auch zu jener Metaphysik,
die in diesem Buch Tiefenmetaphysik genannt wird. Es sei daran erinnert,
dass diese Bedeutung von Metaphysik sich toto coelo von dem unterscheidet,
was Lévinas selbst eigenwillig »Metaphysik-als-Ethik« (in seinem Sinne von
308 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

»Ethik«) nennt. Dieser Umstand wirft ein ernstes Problem für Lévinas auf,
wie die Fortsetzung der zuletzt zitierten Passage deutlich macht:

»Positiv bedeutet der Atheismus des Metaphysikers, daß unsere Beziehung mit dem
Metaphysischen ein ethisches Verhalten ist; weder die Theologie noch die Thematisie-
rung ist metaphysische Beziehung, mögen auch in der Thematisierung die Attribute
Gottes nur per analogiam erkannt werden. Die Erhebung Gottes zu seiner höchsten
und äußersten Gegenwart ist korrelativ der Gerechtigkeit, die wir den Menschen
widerfahren lassen. Dem Blick, der sich auf ihn richtet, ist das direkte Verständnis
Gottes unmöglich; der Grund für diese Unmöglichkeit ist nicht die Begrenztheit
unseres Begreifens, sondern der Umstand, daß die Beziehung mit dem Unendlichen die
vollständige Transzendenz des Anderen respektiert, ohne durch es behext zu werden;
der Grund ist der Umstand, daß unsere Möglichkeit, das Unendliche im Menschen zu
empfangen, weiter reicht als das Verständnis, das seinen Gegenstand thematisiert und
umfasst.« (TU 107; Übers. korrigiert)

Was Lévinas hier »das Metaphysische« nennt, ist das absolut Andere, letztlich
Gott. Aber Lévinas erliegt hier einer gravierenden Konfusion. Da Metaphysik
auch für Lévinas eine philosophische Disziplin ist, kann die Formulierung
»unsere Beziehung mit dem Metaphysischen« (im Sinn von Lévinas) nur
meinen: die Relation des »metaphysischen« Philosophen zur Dimension des
Metaphysischen (in Lévinas’ Sinn). Nun aber ist der »metaphysische Philo-
soph« ein Theoretiker, woraus unmittelbar folgt: Seine Relation zu dem, was
er artikuliert, d. h. zum Bereich des Metaphysischen (im Sinne von Lévinas),
ist eine Relation zum ethischen Bereich (und damit zum ethischen Verhalten
oder zur ethischen Relation selbst) und somit letztlich (wieder im Sinne von
Lévinas) zu Gott selbst. Die Relation des metaphysischen Philosophen zur
Dimension des Ethischen ist aber keine ethische, sondern eine theoretische
Relation. Das, was Lévinas in konfuser Weise »ethisches Verhalten bzw.
ethische Relation« nennt, ist Thema für den sich theoretisch verhaltenden
metaphysischen Philosophen; es ist nicht selbst dieses Sichverhalten des me-
taphysischen Philosophen zum dem Bereich, den Lévinas das Metaphysische
nennt und welchen er mit dem Ethischen identifiziert. Lévinas vermengt die
theoretische Relation und das, was diese theoretische Relation thematisiert.
Aus dieser Konfusion ergibt sich ein performativer Selbstwiderspruch in
den Schriften von Lévinas: Als ein philosophischer Metaphysiker ist Lévinas
ein Theoretiker, da er eine theoretische Relation zu allem hat, worüber er
als philosophischer Metaphysiker redet: zum Anderen, zum Bereich des
Ethischen (in seinem Sinne), zu Gott, zu absolut allem. Er artikuliert das,
wovon er als Philosoph annimmt, es sei von jedem »Gegenstand« wahr,
den er als Thema seiner philosophischen Aussagen betrachtet, möge dieser
Gegenstand der einfachste und unbedeutendste überhaupt oder der sublimste
und »entfernteste« überhaupt sein. Indem Lévinas sich als philosophischer
Metaphysiker in der beschriebenen Weise verhält, negiert er nicht das, was
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 309

er »das Metaphysische«, das »ethische Verhalten«, »die ethische Relation


zu Gott« u. ä. nennt; aber, indem er sich als philosophischer Metaphysiker
verhält, tut er etwas, was er sonst explizit verwirft, nämlich: indem er sich
theoretisch verhält, thematisiert er gerade »unsere ethische Relation zu Gott«
und Gott selbst, unterhält also eine theoretische (und nicht eine ethische)
Relation zu Gott.
Darüber hinaus vollzieht er auch etwas Weiteres, was er explizit verwirft: Er
rekurriert – zumindest implizit – auf eine Thematisierung der Attribute Gottes
auf der Basis der Analogie. In der Tat, er schreibt dem transzendenten Gott
das zu, was Begriffe wie »Präsenz«, »der / das Andere«, »Gesicht«, »Unend-
lich« und andere ausdrücken. Nun muss Lévinas voraussetzen, dass er diese
Attribute Gott nicht genau im selben Sinne zuschreibt, den sie haben, wenn
sie uns Menschen zugeschrieben werden. Das heißt: er muss voraussetzen,
dass diese Begriffe/Attribute Gott in analoger Weise zugeschrieben werden.
Die traditionelle Analogielehre war ein im Rahmen einer Seinsphilosophie
entwickelter großartiger Versuch, diesen ganzen Sachverhalt zu klären. Bei
Lévinas findet man aber immer nur die strikte Ablehnung solcher (nicht in
seinem Sinne von »Metaphysik« zu verstehenden) »metaphysischen« Lehren.
Einen positiven Klärungsversuch des ganzen Sachverhalts sucht man vergeb-
lich bei Lévinas. Seine Aussagen über Gott müssen daher als leere Aussagen
betrachtet werden.

4.1.3.2.2 Die Idee der Unendlichkeit


Das zweite positive Thema bei Lévinas ist die Idee der Unendlichkeit. Die
Inspiration zu dieser Idee hat er aus Descartes’ Dritter Meditation geschöpft,
die er auf höchst eigenwillige und kontroverse Weise interpretiert. Darauf
kann hier nicht eingegangen werden. Hier kann nur der eigentlich sachliche
Zentralpunkt angesprochen werden. Es heißt bei ihm:
»Meine [Lévinas’] Analysen sind orientiert an einer formalen Struktur: der Idee des
Unendlichen in uns. Um die Idee des Unendlichen zu haben, muß man in der Trennung
sein. Diese Trennung kann nichts als das bloße Echo der Transzendenz des Unend-
lichen sein. Sonst bestünde die Trennung in einer Korrelation; die Korrelation würde
die Totalität wiederherstellen und die Transzendenz illusorisch machen. Nun ist aber
die Idee des Unendlichen die Transzendenz selbst, der Überschuss (débordement)
einer adäquaten Idee. Wenn die Totalität sich nicht zu konstituieren vermag, so des-
wegen, weil das Unendliche sich nicht integrieren läßt. Nicht das Ungenügen des Ich
verhindert die Totalisierung, sondern die Unendlichkeit des Anderen.« (TU 109–10;
korrigierte Übers.)

Dieser Text ist außerordentlich aufschlussreich, da er deutlich macht, warum


und in welchem Sinne Lévinas’ philosophische Position unhaltbar ist. Lévinas
ist ausschließlich darum bemüht, die absolute Transzendenz des »(absoluten)
Anderen«, also Gottes, mit allen Mitteln zu bewahren. Und er meint, dies im-
310 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

pliziere die Behauptung, dass der menschliche Geist, der die Idee des Unend-
lichen hat, doch als vom Unendlichen radikal getrennt begriffen werden muss.
Er nennt »die Beziehung zwischen dem Seienden im Diesseits (wörtlich: ›hier
unten‹ – ›ici-bas‹) und dem transzendenten Seienden, die zu keiner begriff-
lichen Gemeinsamkeit und zu keiner Ganzheit führt, […] ›Beziehung ohne
Beziehung‹« (TU 110)
Lévinas scheint nicht zu merken, dass seine Aussagen eine Implikation
haben, die genau das negiert und damit ausschließt, was er in so radikaler
Weise zu sichern bemüht ist: die Transzendenz des Unendlichen. Lévinas
begreift »das Seiende im Diesseits« als getrennt vom Unendlichen. Die fatale
Implikation liegt in Folgendem: Wenn Gott nicht das/der Unendliche im
absolut umfassenden Sinn ist, dann ist er sozusagen ein »minderer Gott«, Er
ist nicht der wahre, der göttliche Gott. In der Tat, wenn es etwas gibt (ein
endliches »Seiendes im Diesseits«), das vom Unendlichen getrennt und somit
außerhalb oder abseits des Unendlichen ist, dann ist die Unendlichkeit des an-
geblichen Unendlichen eine rein relative Unendlichkeit. Aber ein nur relativ
Unendliches ist nur ein »endliches Unendliches«, ein Unendliches, das nur in
bestimmter Hinsicht, nicht aber absolut ein solches ist. Ein Beispiel für eine
solche nur relative Unendlichkeit ist die Menge der überabzählbar unendlich
vielen reellen Zahlen. Ein solches Unendliches ist relativ aufgrund der simplen
Tatsache, dass es eben nur auf reelle Zahlen eingeschränkt ist. Jede Entität, die
nicht eine reelle Zahl ist, ist daher getrennt von der unendlichen Menge der
reellen Zahlen, außerhalb dieser Menge und von ihr nicht umfasst. Es ist klar,
dass eine solche Unendlichkeit keine Unendlichkeit im absolut umfassenden
Sinne ist.
Es ist auffallend, dass Lévinas in bezeichnenderweise viel Mühe darauf
verwendet zu betonen, der Mensch solle nicht versuchen, das Unendliche
»aufzuzehren (absorber) … [oder] … zu um-fassen (com-prendre) (im ety-
mologischen Sinn des Wortes)«, »weil das Unendliche sich nicht integrieren
läßt« (TU 110). Aber Lévinas belässt es bei dieser Trennung. Er versäumt
gänzlich zu zeigen und zu sagen, dass »die Beziehung zwischen dem Seienden
im Diesseits und dem transzendenten Seienden« – dieses als Absolut Unend-
liches verstanden  –  erfordert, »daß das Seiende im Diesseits« vom Absolut
Unendlichen total umfasst und in es total einbezogen wird. Lévinas denkt nur
an ein – angebliches – Umfassen des Unendlichen durch das endliche Seiende;
er vergisst das umgekehrte Umfassen zu thematisieren: das Umfasstsein des
endlichen Seienden durch das / den absolut Unendliche(n).
Die echte Transzendenz des Unendlichen hinsichtlich des Endlichen findet
statt innerhalb der Sphäre des (genitivus subiectivus!) absolut Unendlichen,
nicht irgendwo in der Trennung vom bzw. außerhalb der Sphäre des Unend-
lichen. Gott als der absolut Transzendente, als der absolut Andere im Sinne
von Lévinas ist ein relativierter Gott, ein Gott in einer negativen Beziehung
4.1 É. Lévinas’ verfehlte Konzeption der Transzendenz »jenseits des Seins« 311

auf ein X, nämlich das endliche Seiende. Hierin ist der zentrale Irrtum in
Lévinas’ Konzeption von Gott als dem absolut Transzendenten. Die daraus zu
ziehende Folgerung kann so formuliert werden: Um den wirklich göttlichen
Gott zu artikulieren, muss man eine umfassende Konzeption von der Wirk-
lichkeit im Ganzen, genauer: vom Sein als solchen und im Ganzen entwickeln.
Dann kann bzw. muss Gott nicht als etwas innerhalb des Seins im Ganzen,
sondern als das Sein selbst in seiner Fülle gedacht zu werden.

4.1.3.2.3 Die Idee der Schöpfung


Der soeben aufgezeigte fundamentale Irrtum in Lévinas’ Konzeption von
Gott erscheint auch und wird sogar ersichtlicher in Lévinas’ Aussagen über
die dritte positive Idee, die Idee der Schöpfung. Er bejaht die Schöpfung, was
er aber darüber zu sagen hat, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was
er über die Unendlichkeit sagt. Es zeigt sich hier, dass die jüdisch-christliche
Idee der Schöpfung ihrer immensen Tragweite und ihres absolut unverzicht-
baren Gewichts beraubt wird. Es heißt bei ihm:
»Die Schöpfung aus Nichts zerbricht das System, sie setzt ein Seiendes außerhalb jeden
Systems, d. h. dort, wo seine Freiheit möglich ist. Die Schöpfung läßt dem Geschöpf
eine Spur von Abhängigkeit, aber einer Abhängigkeit ohnegleichen: Das abhängige
Seiende bezieht aus dieser außergewöhnlichen Abhängigkeit, aus dieser Beziehung,
seine eigentliche Unabhängigkeit, seine Stellung außerhalb des Systems. Das Wesent-
liche der geschaffenen Existenz besteht nicht im begrenzten Charakter seines Seins,
und die konkrete Struktur der Kreatur leitet sich nicht aus dieser Endlichkeit ab. Das
Wesentliche der geschaffenen Existenz liegt in ihrer Trennung vom Unendlichen. Diese
Trennung ist nicht bloß Verneinung. Indem sie sich als Psychismus vollzieht, öffnet sie
sich gerade der Idee des Unendlichen.« (TU 149)

In diesem Text gibt es durchaus treffende und angemessene Formulierungen.


Aber der allgemeine Tenor ist charakteristisch für die allgemeine Einstellung
von Lévinas: Er ist letztlich einzig darum bemüht, die Trennung zu behaupten.
Natürlich leugnet er nicht die Abhängigkeit des Geschöpfes vom Schöpfer;
aber er denkt nicht im mindesten durch, was diese Abhängigkeit wirklich
ist und impliziert. Er kommt nicht einmal dazu anzuerkennen, dass das Ge-
schöpf – im Fall des Menschen, des mit Freiheit ausgestatteten Geschöpfs – in
seiner Ganzheit das, was es ist, nur in der Sphäre des erschaffenden absoluten
Seins ist. Dies schließt eine Trennung von erschaffenem Seienden und dem
Schöpfer, wie Lévinas sie konzipiert, aus. Statt den immens wichtigen Ge-
danken der Schöpfung in seiner ganzen Tragweite durchzudenken, rekurriert
Lévinas schnell auf Schlagworte und Stereotype wie besonders »Totalität«,
»System« u. dgl. Diese radikale Defizienz ergibt sich direkt aus der – nicht
unbedingt im Heideggerschen Sinne zu verstehenden – »Seinsvergessenheit«
oder, genauer, aus der »Seinsverwerfung«, die den roten Faden für Lévinas’
Gesamtposition bildet.
312 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Um die kritische Beurteilung der Lévinasschen Philosophie zum Abschluss


zu bringen, dürfte es angebracht sein, auf einen Punkt hinzuweisen, der zu
zeigen scheint, dass er sich vielleicht der seiner philosophischen Position
anhaftenden offensichtlichen Fehlinterpretationen, sogar Entstellungen, De-
fizienzen, Inkohärenzen u. dgl. in etwa bewusst war. Dieser Punkt ist eine
kleine Passage in seinem Buch Wenn Gott ins Denken einfällt  –  Diskurse
über die Betroffenheit von Transzendenz, und zwar im Kapitel mit dem
Titel Fragen und Antworten. In der Antwort auf eine Frage erklärt Lévinas
überraschenderweise, wie er die von ihm behauptete »Priorität« der Ethik
gegenüber der Ontologie und Seinsphilosophie auffasst. Er akzeptiert den
Vorschlag, dass diese Priorität im transzendentalen Sinne verstanden werden
kann, wenn »transzendental eine gewisse Priorität« meint, und dann fährt er
fort, indem er erklärt,
»daß für mich das Ethische keineswegs eine Schicht darstellt, die sich unvermittelt über
die Ontologie legt, sondern das [ist], was in gewisser Weise ontologischer ist als die
Ontologie, eine Emphase der Ontologie. […] [D]as Ethische [ist] vor der Ontologie
[…]. Es ist ontologischer als die Ontologie, erhabener als die Ontologie.«18

Um diesen Text genau zu analysieren, empfiehlt es sich, Indizes an das


Wort ›Ontologie (ontologisch)‹ anzuhängen, um die Bedeutungen der Vor-
kommnisse des Wortes voneinander zu unterscheiden. Wenn das Ethische
(in Lévinas’ Sinn) »ontologischer1 als Ontologie2« ist, dann ist klar, dass
die Ontologie2, die für Lévinas immer in allen seinen Schriften die von ihm
kritisierte und verworfene Ontologie war, nicht identisch mit der Ontologie1
sein kann; die von ihm beschriebene bzw. charakterisierte und kritisierte
Ontologie (nämlich Ontologie2) stellt sich demnach für Lévinas selbst als eine
defiziente, missverstandene, falsch behandelte Form von »echter« Ontologie1
heraus. Das soeben zitierte Zugeständnis, das auf ein wahres Geständnis
hinausläuft, kommt aber zu spät, um eine gründliche Korrektur und Zurück-
nahme der desaströsen Konsequenzen zu ermöglichen, die seine lebenslange
Entstellung und Verwerfung der Ontologie für sein ganzes Oeuvre gehabt
haben. In jedem Fall machen die zitierten bemerkenswerten Formulierungen
deutlich, dass er sich doch der Tatsache bewusst war, dass er nie ausreichende
Klarheit über das erlangt hatte, was er ein Leben lang »Ontologie« nannte.
Lévinas hat nie, nicht einmal ansatzweise, eine »echte« Ontologie (seine
Ontologie1) in Angriff genommen. Und zum Schluss mag die Frage an-

18  »Fragen und Antworten«, in: É. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse

über die Betroffenheit von Transzendenz, 1999, 114. Der französische Text lautet:
»[L]’éthique n’est pas du tout une couche qui vient recouvrir l’ontologie, mais ce qui
est, en quelque façon, plus ontologique que l’ontologie, une emphase de l’ontologie. […]
l’éthique est avant l’ontologie. Elle est plus ontologique que l’ontologie, plus sublime que
l’ontologie …« (De Dieu qui vient à l’idée, 1982, 143)
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 313

gebracht sein: Wie hätte sich seine philosophische Position entwickelt, wenn
er das, was er (später) »ontologischer1 als Ontologie2« nannte, also eine adä-
quate Ontologie, herausgearbeitet oder zumindest vorausgesetzt hätte? Auf
diese Frage kann nur mit einer Unterscheidung geantwortet werden, welche
die Ambiguität der Frage offenbart: Wenn man unter »seiner philosophischen
Position« die reale, in seinen Schriften zur Darstellung gebrachte Position ver-
steht, dann lautet die Antwort: Was er als Philosoph entwickelt hätte, wäre in
jedem Fall nicht diese »seine reale philosophische Position«. Möglicherweise
wäre von ihm als Philosophen eine völlig andere Philosophie zu erwarten
gewesen, wobei dies nicht ausschlösse, dass gewisse Gedankeninhalte, die in
seiner realen Position zu finden sind, auch in einer völlig anderen philosophi-
schen Position einen Platz haben könnten. Aber Lévinas hat nie aufgehört,
jede Art von Seinsphilosophie zu verwerfen.

4.1.3.3 Lévinas’ spezifische Form der Philosophie der Subjektivität:


»extrovertierte« Subjektivität
Die – meistens kritischen – Betrachtungen in diesem Abschnitt zeigen, dass
Lévinas eine spezifische und originelle Form der Subjektivitätsphilosophie
entwickelt: Er transformiert die moderne Subjektivität, indem er eine extro-
vertierte Gestalt von Subjektivität herausarbeitet. Aber eine extrovertierte
Gestalt von Subjektivität ist immer noch eine Gestalt von Subjektivität. Lé-
vinas hat niemals die radikalen Einseitigkeiten, Engführungen und inneren
Inkohärenzen der Subjektivitätsphilosophie überwunden. In seiner Kon-
zeption erscheinen Transzendenz und Gott als eine Funktion der extrover-
tierten Subjektivität.

4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption der


»radikalen und nicht-metaphysischen Transzendenz«
und von »Gott ohne das Sein«19

Die Themen »Metaphysik«, »Transzendenz« und »Gott« bilden die Mitte


der gesamten philosophisch-theologischen Konzeption von J.-L. Marion.
Eine Behandlung dieser Themen impliziert daher eine angemessene Berück-
sichtigung seines ganzen Oeuvre. Das kann im Rahmen dieses Buches nur
sehr eingeschränkt unternommen werden. Im folgenden soll besondere Auf-
merksamkeit dem gewidmet werden, was man in einer nicht-postmodernen

19  Das erste Zitat im Titel dieses Abschnittes ist dem letzten Absatz des Aufsatzes

IM-D (S. 369) entnommen. Das zweite Zitat ist der Titel des Werkes DSL.
314 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Terminologie die innere »Logik oder Architektonik« oder auch das Fehlen
einer solchen in seinem Denken nennen kann.
Marion unternimmt es, alle bekannten und diskutierten Formen der
Transzendenz (im aktiven Sinne des Transzendierens) seinerseits zu trans-
zendieren. Er erwähnt und behandelt besonders die folgenden: Husserls
Transzendenz des Bewusstseins zum transzendentalen Ego, Heideggers
Transzendenz des Daseins zum Sein, die metaphysische Transzendenz aller
Dinge oder Seienden zum (allgemeinen Begriff des) Seienden (ens) und zum
Sein=esse und in diesem Rahmen zu Gott als ens primum / supremum und als
esse per se subsistens. Diese letzte Transzendenz ist nach Marion die Trans-
zendenz, welche die christliche Metaphysik charakterisiert, wobei diese
metaphysische Transzendenz sowohl die Zielscheibe und Folie für seine
ständige und harsche Kritik aller Konzeptionen von Gott bildet, die er als
»metaphysisch« abqualifiziert. Marion beabsichtigt mit Entschiedenheit,
jenseits der Metaphysik zu denken, die er mit Philosophie des Seienden und
des Seins identifiziert. Das Ergebnis seiner eigenen Konzeption von Trans-
zendenz, die er »radikal und nicht-metaphysisch« nennt, ist der angeblich
»göttliche Gott«, der negativ als Gott ohne das Sein und positiv als Gott als
Liebe / Caritas charakterisiert wird.
Die folgende kritische Analyse der Position Marions erfolgt in vier Schrit-
ten. Im ersten Schritt (4.2.1) werden allgemeine kritische Vorbemerkungen zu
seiner radikalen anti-metaphysischen und post-metaphysischen Einstellung
und Position und zu seiner Missdeutung von Heideggers proklamierter
»Überwindung der Metaphysik« gemacht; anschließend werden bemerkens-
werte Retractationes Marions in Bezug auf Thomas von Aquin kritisch
kommentiert. Im zweiten Schritt (4.2.2) werden ein erster fundamentaler
Widerspruch und eine seltsame Inkohärenz in Marions Auffassung über
das Verhältnis von Sein und Gott herausgearbeitet; im Exkurs 3 (4.2.2.4a)
wird die Unsachlichkeit des rhetorisch-polemischen Stils aufgezeigt und
kritisiert, den Marion bei seiner Behandlung des Problems des Verhältnisses
zwischen Sein und Gott oft pflegt. Im dritten Schritt (4.2.3) wird das Basis-
problem aufgedeckt, das Marions Gesamtkonzeption zugrunde liegt. Es
wird gezeigt, dass dieses Basisproblem und damit auch der zentrale Fehler in
Marions eigener und spezifischer Form der Aneignung und Transformation
des Husserlschen phänomenologischen Ansatzes zu sehen sind. Der zen-
trale Punkt seiner eigenen und spezifischen Form ist die zentrale These von
der Umkehrung der Subjekt-Objekt-Beziehung, eine These, aus der sich
der fundamentale Gedanke der reinen Phänomenalität ergibt. Schließlich
werden im vierten Schritt (4.2.4) die Arbitrarität von Marions »Wechsel zum
Standpunkt Gottes« und die Inkohärenz des Gebrauchs von negativen und
positiven Begriffen in seinem Diskurs über Gott einer eingehenden kritischen
Analyse unterzogen.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 315

4.2.1 Vorbemerkungen zu Marions radikaler anti-metaphysischer und post‑


metaphysischer Einstellung und zu seiner Missdeutung von Heideggers
»Überwindung der Metaphysik« sowie zu seinen Retractationes in Bezug
auf Thomas von Aquin
[1] Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, gibt es heute ein dogma fidei postmoder-
nisticum, dessen fundamentales Glaubensbekenntnis das anti-metaphysische
Credo ist, wobei »Metaphysik« mit »Onto-theo-logie« identifiziert wird.
Für die allermeisten postmodernen christlichen Autoren genügt es in der
Regel zu sagen, dass Etwas (ein Begriff, eine Frage, ein Argument, eine These,
eine Konzeption usw.) metaphysisch ist, um sich schon als berechtigt zu be-
trachten, ein solches Etwas radikal, a limine, zu verwerfen. Nicht nur teilt
Marion diese Einstellung und pflegt diesen Denkstil, sondern er steigert noch
beträchtlich die Radikalität der anti-metaphysischen Einstellung, indem er
beispielsweise schreibt:
»Ich denke, wir sollten eine der letzten Aussagen Heideggers am Ende des Vortrags
Zeit und Sein nicht vergessen, dass wir die Metaphysik von allein sterben lassen sollten:
Mit anderen Worten, lasst die Metaphysik die Metaphysik begraben, und gebraucht sie
nicht [einmal] als Metapher.«20

Seine Einstellung bzw. Behauptung ist hoch signifikant, weil sie wesentliche
Aspekte dessen deutlich macht, was im postmodernen (anti-metaphysischen)
»christlichen« Denken vor sich geht. Diese postmodernen Autoren pflegen
nur jene Passagen aus Heideggers Schriften zu zitieren, in denen er von der
Notwendigkeit der Überwindung der Metaphysik spricht, wie in Kapitel 2
bemerkt wurde. Und das führt zu krassen Fehlinterpretationen des Heideg-
gerschen Denkens. So missdeutet Marion in typischer postmoderner Ein-
stellung im oben angeführten Zitat eine Passage aus dem Ende des Vortrags
Zeit und Sein. Die Passage lautet:
»Sein ohne das Seiende denken, heißt: Sein ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken.
Eine solche Rücksicht herrscht nun aber auch noch in der Absicht, die Metaphysik
zu überwinden. Darum gilt es, vom Überwinden abzulassen und die Metaphysik sich
selbst zu überlassen. Wenn eine Überwindung nötig bleibt, dann geht sie dasjenige
Denken an, das sich eigens in das Ereignis einlässt, um Es aus ihm her auf Es zu – zu
sagen.« (ZS 25)

Wenn man nicht so weit gehen will, Heidegger einen krassen Selbstwider-
spruch zuzuschreiben, muss man den Begriff der Metaphysik in diesem Text
im Lichte seiner in Kapitel 2 ausführlich kommentierten Erläuterungen zum
Begriff der Verwindung (der Metaphysik) interpretieren. Heidegger selbst

20  I. Leask and E. Cassidy (eds.), Giveness and God. Questions of J.-L. Marion, 2005,

Chapter 13: Giving More: Jean-Luc Marion and Richard Kearney in Dialogue, 243–257;
Zit. 245.
316 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

war sich der schon zu seinen Lebzeiten entstandenen Fehlinterpretationen


voll bewusst. So schreibt er in einer schon in Kapitel 2 zitierten Passage aus
seiner Abhandlung Zur Seinsfrage:
»[D]ie Besinnungslosigkeit begann schon mit der oberflächlichen Missdeutung der
in ›Sein und Zeit‹ (1927) erörterten ›Destruktion‹, die kein anderes Anliegen kennt,
als im Abbau geläufig und leer gewordener Vorstellungen die ursprünglichen Seins-
erfahrungen der Metaphysik zurückzugewinnen.« (SeinsF 417)21

Wenn Heidegger in Zeit und Sein sagt, es gelte, »vom Überwinden [der
Metaphysik] abzulassen und die Metaphysik sich selbst zu überlassen«, so
meint er ganz deutlich, dass wir uns nicht weiterhin ständig nur mit dem
beschäftigen sollten, was er in der soeben zitierten Passage aus Zur Seinsfrage
als »geläufig und leer gewordene Vorstellungen« beschreibt; die Bemühungen
sollten vielmehr der Absicht dienen, »die ursprünglichen Seinserfahrungen
der Metaphysik zurückzugewinnen«, diese Seinserfahrungen der Metaphysik
jetzt selbst denken, und zwar indem man von der Aufgabe ablässt, »die ur-
sprünglichen und leer gewordenen Vorstellungen (der Metaphysik)« zu be-
trachten. Dieser Sinn der Heideggerschen Aussagen widerspricht direkt der
Marionschen Missdeutung der Passage am Ende von Zeit und Sein. In dieser
Passage stellt Heidegger gerade nicht die Behauptungen auf, die Marion ihm
zuschreibt, nämlich »[…] dass wir die Metaphysik von allein sterben lassen
sollten: Mit anderen Worten, lasst die Metaphysik die Metaphysik begraben,
und gebraucht sie nicht [einmal] als Metapher.« Man vergleiche diese Aus-
sagen mit Heideggers Aussagen über»das Wesen der Metaphysik«.
Seinem Buch Dieu sans l’être stellt Marion zwei Zitate als Motto voran:
Das eine ist ein Satz Pascals, das andere ein Satz Heideggers. Letzterer lautet
(im deutschen Original): »Wenn ich noch eine Theologie schreiben würde,
wozu es mich manchmal reizt, dann dürfte in ihr das Wort ›Sein‹ nicht
vorkommen.  –  Der Glaube hat das Denken des Seins nicht nötig.«22 Zwar
kann ein als Motto angeführter Satz nicht den Gesamtzusammenhang, in
dem er vorkommt, explizieren. Aber wenn ein so angeführter Satz ohne
den dazu gehörigen Gesamtzusammenhang unvermeidlicherweise Anlass zu
einer falschen Interpretation gibt, dann sollte eine Publikation ihn nicht als
Motto tragen. Genau das ist der Fall mit dem Heidegger-Satz als Motto von
Dieu sans l’être. In Kapitel 2 (Abschnitt 2.8 [3], bes. [iii]) wurden Heideggers
zahlreiche Äußerungen über das Verhältnis Sein–Gott angeführt und kom-
mentiert. Dort wird gezeigt, dass Heidegger sogar Aussagen gemacht hat,
die dem von Marion isoliert zitierten Satz direkt widersprechen. So erklärt er
beispielsweise im Brief über den Humanismus,

21  Vgl. auch Heideggers Abhandlung: »Überwindung der Metaphysik«, in: Vorträge

und Aufsätze, 1954, 71–99.


22  Zürcher Seminar, 1986, 436–7.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 317

»dass das Denken, das aus der Frage nach der Wahrheit des Seins denkt, anfäng-
licher fragt, als die Metaphysik fragen kann. Erst aus der Wahrheit des Seins läßt sich
das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von
Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt
werden, was das Wort ›Gott‹ nennen soll.« (WegM 351; Kursiv nicht im Original)

Die Konjunktion »Sein und Gott« wird hier als der Weg vom Sein zu Gott
verstanden. Sogar im unmittelbaren Kontext, in dem der von Marion als
Motto zitierte Satz steht, hat Heidegger eine Aussage gemacht, die dem
Satz, wie Marion ihn faktisch versteht bzw. verstanden wissen will, wider-
spricht. Gleich im nächsten Absatz heißt es nämlich: »Ich glaube, daß das
Sein niemals als Grund und Wesen von Gott gedacht werden kann, daß aber
gleichwohl die Erfahrung Gottes und seiner Offenbarkeit (sofern sie dem
Menschen begegnet) in der Dimension des Seins sich ereignet, was niemals
besagt, das Sein könne als mögliches Prädikat für Gott gelten.« (Kursiv
nicht im Original) Entscheidend ist hier das Wort ›gleichwohl‹, das ganz
deutlich als eine Präzisierung und sogar Korrektur des von Marion als Motto
angeführten Satzes verstanden werden muss. Was Heidegger im letzten Zitat
negativ über das Sein als »Grund und Wesen von Gott« und »Prädikat für
Gott« schreibt, wurde im Kapitel 2, Abschnitt 2.8, ausführlich und kritisch
kommentiert. Das alles zeigt, auf welch oberflächliche Weise sich Marion auf
einen Denker wie Heidegger beruft.

[2] Der Ausdruck ›Metaphysik‹ wird von Marion auf völlig undifferenzierte
Weise verwendet; er dient ihm zur bequemen und daher auch leichtfer-
tigen Bezeichnung für all das, was er hinsichtlich der Gottesfrage ablehnt.
Diese Vorgehensweise schafft einerseits eine Konfusion größten Ausmaßes
und verleitet andererseits dazu, Pseudoprobleme und Pseudolösungen zu
erzeugen und sinnlose Aussagen zu machen. Seine von Heidegger beden-
kenlos übernommene Interpretation der Metaphysik als Onto-theo-logie
könnte als eine zwar nicht in jeder Hinsicht zutreffende, aber doch nicht
grundsätzlich entstellende Charakterisierung der Hauptströmungen der so-
genannten Scholastik in der Zeit nach Thomas von Aquin akzeptiert werden.
Die große originelle »Intuition« des Thomas von Aquin hinsichtlich des esse
wurde dabei nicht nur nicht weiter vertieft und expliziert (und noch weniger
korrigiert), sondern grundsätzlich verkannt, mit der Konsequenz, dass das
esse, wenn überhaupt, so nur noch eine unverstandene verbale Rolle spielte.
Die Metaphysik wurde ausschließlich als die Wissenschaft vom Seienden als
Seienden (ens inquantum ens) verstanden. Die zwei Hauptrepräsentanten
dieser Scholastik waren Duns Skotus und Franz Suarez. Darauf wurde in
Kapitel 1 (vgl. 1.3.2.2 [1] und 1.3.2.3) hingewiesen.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders aufschlussreich, Marions Ein-
stellung zu Thomas von Aquin einer kurzen Betrachtung zu unterziehen.
318 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Seine Interpretation des Thomasischen esse in seinem Buch Dieu sans l’être
(1982, 1991) hatte manche Diskussionen ausgelöst. Hinsichtlich der zentralen
Punkte seiner frühen (Fehl)Interpretation publizierte Marion Retractationes,
besonders in seiner 1995 erschienenen Abhandlung Saint Thomas d’Aquin et
l’onto-théo-logie (= ThA-OT).23 Auf diesen Aufsatz soll im folgenden einge-
gangen werden. Überraschenderweise verteidigt Marion den großen mittel-
alterlichen Denker gegen den Vorwurf, ein »Onto-theo-loge« zu sein, und
das tut er auf in mancher Hinsicht sehr interessante Weise; aber er geht weit
über diese Behauptung hinaus, indem er darauf abzielt zu zeigen, dass der ihm
so teure Slogan »Gott ohne das Sein (Dieu sans l’être)« »als von Grund auf
(foncièrement) Thomasisch verstanden werden könnte« (ThA-OT 63).
[i] Wie bei ihm üblich, macht sich Marion Heideggers Charakterisierung
der Metaphysik als Onto-theo-logie problemlos zu eigen. Wie oberflächlich
eine solche Annahme ist, dürften die Ausführungen in Kapitel 2 und oben in
diesem Abschnitt gezeigt haben. Er nennt die folgenden drei »äußerst präzisen
Grundzüge (caractères)«, die die Metaphysik »definieren« sollen: 1. »Der
Gott (Le Dieu)« muss auf explizite Weise zum Bereich (champ) der Metaphy-
sik gehören, d. h. »er muss sich durch eine der historischen Bestimmungen des
Seins als des Seienden, etwa durch den Begriff des Seienden bestimmen lassen«
(ThA-OT 36). 2. In diesem Bereich muss »der Gott« eine kausale Begründung
aller gewöhnlichen Seienden sicherstellen. 3. Indem er das leistet, erweist sich
»der Gott« als causa sui, d. h., so interpretiert Marion, als »das Seiende, das der
höchste Grund ist, weil er auf höchste Weise (suprêmement) durch sich selbst
begründet ist« (ebd.). In zum Teil bemerkenswerten Ausführungen, die bis zu
einem gewissen Punkt denen in den Kapiteln 1 und 2 des vorliegenden Buches
ähneln, zeigt Marion, dass die Position des Thomas von Aquin nicht als Onto-
theologie in dem beschriebenen Sinn verstanden werden kann. Allerdings tut
er dabei manchen Texten des Thomas Gewalt an, und zwar vor allem, weil er
nicht dem Umstand Rechnung trägt, dass Thomas eine kategorial-ontologi-
sche Begrifflichkeit verwendet, die er von Aristoteles übernommen hat. Auf
diese Ausführungen Marions soll aber hier nicht weiter eingegangen werden.
Im Hinblick auf die in diesem Buch vertretene systematische Konzeption
und die Auseinandersetzung mit ihren drei vermutlich wichtigsten Gegnern
ist letztlich nur interessant, was Marion in den beiden letzten Abschnitten (7.
und 8.) seines Aufsatzes sagt, in denen er die Thomasische Auffassung des
Verhältnisses von esse und Gott behandelt. Seine Interpretation ist höchst
eigenwillig und eindeutig von dem von seiner Konzeption her als hochpro-
blematisch zu bezeichnenden Bestreben geleitet, Thomas von Aquin doch
noch als großen christlichen Denker anzuerkennen; das geschieht bezeichnen-

23  in: Revue Thomiste XCV, 1995, 31–66. Marion selbst verwendet die Formulierung

»partielle Retractationes (rétractations partielles)« (vgl. S. 33, Fußnote 2).


4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 319

derweise um den Preis, dass Marion Thomas seine eigene Position hinsicht-
lich des Verhältnisses von Sein und Gott unterschiebt. Er behandelt dieses
Thema in der Weise, dass er sich mit dem aus seiner Position unmittelbar
erwachsenden Einwand befasst, Thomas hätte sich doch dem »Apriori des
Seins« untergeordnet, indem er von »der Voraussetzung ausgegangen sei, dass
Gott es im allgemeinen und prinzipiell mit dem Sein zu tun habe – so dass der
Horizont des Seins für ihn (Gott) geeignet sein kann, der adäquate Horizont
seiner Offenbarung (manifestation) zu sein« (ThA-OT 55). Marion beschreibt
den Einwand so, dass er einige auffallend starke und von postmodernen
Autoren her bekannte Formulierungen verwendet. Dass Thomas doch vom
esse, nicht (nur) von ens / entia spricht, ist danach kein Gegenargument; denn
nach Thomas gilt: »[N]icht nur situiert sich (s’inscrit) Gott in der Seiendheit
(étantité), sondern er zeichnet sich aus, er ›konkretisiert‹ sich (se singularise),
kurz: er erfüllt (accomplit) seine Göttlichkeit, indem er die Seiendheit möglich
macht.« (Ebd. 56)
Zu dieser letzten Formulierung sei gleich bemerkt, dass es sonderbar ist,
wie postmoderne Autoren mit Heidegger umgehen: Sie berufen sich auf einige
seiner großen Aussagen und ignorieren (oder unterdrücken) andere. Das ge-
schieht hier: Diese Autoren vergessen die berühmte Aussage Heideggers, die
im Kapitel 2 des vorliegenden Buches mehrmals angeführt und deren ganze
Tragweite ausführlich kommentiert wurde: »[Z]ur Wahrheit des Seins gehört,
daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß niemals das Seiende ist ohne
das Sein.« (WegM 306) Und als Heidegger später »Sein« durch »Ereignis«
ersetzte, verstand er »Ereignis« nie ohne das »Ereignen« und die »Ereigneten«
(vgl. zur ganzen Thematik oben 2.4). Wenn der obige Einwand gegen das
Thomasische esse in Verbindung mit Gott erhoben wird, so kann Heideg-
ger dafür nicht gerade als Autorität in Anspruch genommen werden. Würde
man dieselbe oberflächliche Art der Rede über Sein–Seiende(s) auch in Bezug
auf Heidegger selbst gebrauchen, so müsste man ausgerechnet auch gegen
ihn den Einwand erheben, er habe das Sein nur als Sein-des-Seienden, als
die die Seiendheit stiftende Instanz gedacht. Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde,
unterscheidet sich Thomas in dieser Hinsicht radikal von Heidegger; denn
Thomas hat nie die Auffassung vertreten und könnte sie auch nicht vertreten,
dass »das esse nie ›west‹ ohne das ens oder die entia«.
[ii] Marion zieht aus diesem Einwand nicht die Konsequenz, man solle
»noch immer zuerst mit Thomas von Aquin brechen (rompre)«, will man sich
der Onto-theo-logie entledigen. Er schlägt stattdessen vor, »einen vollständig
verschiedenen Weg zu beschreiten«, der sich im Wesentlichen unter Hinweis
auf zwei Schritte und ein grundlegendes, die ganze Konzeption tragendes
»methodologisch-programmatisches« Prinzip kurz zusammenfassen lässt.
[a] Der erste Schritt besteht in der Herausarbeitung des spezifischen Cha-
rakters des esse Gottes: Dieser Charakter wird von Marion mit Vorliebe mit
320 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

dem Ausdruck ›excès – excessus‹ bezeichnet, der eine lange metaphysische (!)
Tradition hat, was Marion, der in völlig undifferenzierter Weise gegen die
»Metaphysik« unaufhörlich polemisiert, zu vergessen scheint. Das Wort kann
in Deutsch am besten durch die Kombination der Ausdrücke ›Überstieg‹
und ›Überschuss‹ oder ›Übermaß‹ wiedergegeben werden. (Der Ausdruck
›Tran-szendenz‹, im aktiven und im resultativen Sinn verstanden, wäre der ad­
äquateste deutsche Ausdruck dafür; weil aber dieser Ausdruck in sehr vielen
und verschiedenen Zusammenhängen vorkommt, soll er nicht einfach als mit
»excessus« bzw. »Überstieg-Übermaß« austauschbar verwendet werden.)
Nach Marion ist Gott aufgrund seines esse dem Sein und allen Seienden im
Sinne der Onto-theo-logie, dem Heideggerschen Ereignis usw. schlechter-
dings enthoben. Und von ihm gilt nun:
»Um es klar zu sagen, kann das Thomasische esse [Marion sagt immer: l’esse thomiste]
nicht auf der Basis von ontologischen Bestimmungen, welcher Art auch immer, ver-
standen werden, sondern nur auf der Basis seiner Distanz hinsichtlich jeder möglichen
Ontologie, und zwar in der Weise, dass im Gegensatz dazu die Anforderungen (exi-
gences), die Gottes Transzendenz dem Seienden und seinem Sein auferlegt, voll befolgt
werden.« (Ebd. 58)

Soweit sagt Marion nichts Besonderes, zumindest nicht, wenn man, wie
dies in Kapitel 1 getan wurde, nicht jedem einzelnen Text des Thomas ut
jacet ein gleiches unersetzliches Gewicht beimisst, sondern den das Werk
als ein Ganzes durchziehenden roten Faden beachtet. Aber Marion bringt
schnell seine ganze Ausrichtung bei seiner Retractatio zum Ausdruck, wenn
er dann hinzufügt: »Das Sein des Seienden erträgt (endure) seine Distanz
zum esse, weil dieses esse sich zuerst und vor allem dadurch ausweist, dass es
die Merkmale des mysterium tremendum et fascinosum eines sich begrifflich
manifestierenden Gottes besitzt.« (Ebd. 58) Nach Marion »bleibt das göttliche
esse genauso unerkannt wie Gott selbst« (ebd. 61) – und nicht nur unerkannt,
sondern auch unerkennbar.
[b] Hier versucht Marion, einen entscheidenden  –  und sehr problemati-
schen – Schritt in Richtung auf eine »Herabsetzung« des esse bis hin zu seiner
Ausschließung aus dem Bezug zu Gott zu tun. Er bezieht sich auf STh I q. 13
a. 11, wo Thomas die These vertritt, dass der Name »Qui est«24 »der maximal
angemessene Name Gottes« ist. Dann aber in der Antwort auf den (ersten)
Einwand, wonach der Name »Gott« angemessener ist, da nur er inkommuni-
kabel (incommunicabile) sei, führt Thomas drei Distinktionen ein:

24  Exodus 3:14. Die Übersetzungen dieser Stelle divergieren stark voneinander. Der

lateinische Vulgata-Text, den Thomas zitiert, ist wörtlich zu übersetzen als »(derjenige,)
der ist«. Dieser Text lieferte die Basis für das, was in Frankreich ab den 1930er Jahren »die
Exodus-Metaphysik« genannt wurde (und wird).
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 321

»Der Name Qui est ist angemessener als der Name Gott hinsichtlich dessen, woher der
Name sich ableitet, nämlich vom esse, und hinsichtlich der Weise, wie er bezeichnet
und mitbezeichnet […]: aber im Hinblick auf das, worauf der Name als Bezeichnung
angewandt wird, ist Gott der angemessenere Name, da er zur Bezeichnung der gött-
lichen Natur (natura) verwendet wird; aber noch angemessener ist der Name Tetra-
grammaton, der eingeführt wurde, um Gottes inkommunikable und, wenn man so
sagen kann, singuläre Substanz selbst zu bezeichnen.«25

Marion behauptet nun, dieser Text zeige, dass


»das esse, das Thomas von Aquin Gott zugesteht, keinen metaphysischen Horizont
eröffnet, zu keiner Onto-theo-logie gehört und eine so ferne Analogie zu dem besitzt,
was wir ›Sein‹ nennen, dass Gott nicht vom Sein her ist (Dieu n’en est pas), dass er nicht
im Sein ist (n’y est pas), sogar – so paradox es klingen mag – dass Gott nicht ist. Das
esse bezeichnet Gott nur im gleichen Maße wie er (wohl: Gott) ohne das Sein ausgesagt
wird. […] [D]ie Aussage ›Gott ohne das Sein (Dieu sans l’être)‹ könnte als von Grund
auf (foncièrement) Thomasisch verstanden werden.« (ThA-OT 63)

Marions ganze Argumentation basiert auf der Nicht-Beachtung des Um-


stands, dass die zweite und die dritte Distinktion des Thomas mit rein (und
dunklen) metaphysischen Begriffen im traditionellen Sinne operieren: natura
(was manche auch synonym mit essentia verstehen, obwohl dies sehr fraglich
ist) und vor allem substantia. Solche Begriffe gehören zu jener kategorialen
Begrifflichkeit, die historisch in Kapitel 1 und systematisch in Kapitel 3 radi-
kal in Frage gestellt wurde. Es ist paradox, dass sich Marion gerade auf solche
äußerst problematischen »metaphysischen« Begriffe bzw. Gesichtspunkte
stützt, um das esse zu depotenzieren. Im Licht des in Kapitel 1 Gezeigten
wird klar, dass die Schwäche der Thomasischen Konzeption gerade darin liegt,
dass er seine tiefsinnige Intuition hinsichtlich des esse im Zusammenhang mit
einem ganzen Arsenal von Begriffen (vor allem aristotelischer Provenienz)
artikuliert, die ihn letztlich daran hindern, seine Intuition hinsichtlich des esse
angemessen zu entwickeln.
Wie im genannten Kapitel auch gezeigt wurde, ist das Thomasische esse
selbst zutiefst defizient, insofern es nur den actus essendi, den Seinsakt be-
zeichnet. Der Weg, den das vorliegende Buch hinsichtlich der Position des
Thomas von Aquin beschreitet, besteht darin, die Schwächen und »Un-
zuträglichkeiten« (Heidegger) der Thomasischen Position durch die Entwick-
lung einer volladäquaten Seinstheorie zu überwinden. Marion hingegen zielt

25  »Hoc nomen Qui est est magis proprium nomen Dei quam hoc nomen Deus,

quantum ad id a quo imponitur, scilicet ab esse, et quantum ad modum significandi et con-


significandi […]. Sed quantum ad id ad quod imponitur nomen ad significandum, est magis
proprium hoc nomen Deus, quod imponitur ad significandum [sic!] naturam divinam. Et
adhuc magis proprium nomen est Tetragrammaton, quod es impositum ad significandam
ipsam Dei substantiam incommunicabilem, et, ut sic liceat loqui, singularem.« (STh I q.
13. a. 11 ad 1)
322 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

dezidiert darauf ab, das Thomasische esse so radikal zu depotenzieren, dass


es schließlich aus dem Diskurs über Gott verschwindet. Wohin das führt und
ob das kohärent vertreten werden kann, darauf werden die weiteren langen
Ausführungen in diesem letzten Teil des Buches eine wohlbegründete Ant-
wort zu geben versuchen.
[c] Marions Analysen der Position des Thomas von Aquin sind, wie er am
Ende seines Aufsatzes explizit darstellt, bestrebt, eine grundlegende Einsicht
oder ein grundlegendes Prinzip oder Axiom aufzuweisen; es ist allerdings hin-
zuzufügen, dass in einer anderen Hinsicht alle seine bisherigen Ausführungen
von dieser Einsicht bzw. diesem Prinzip getragen und geleitet sind. Die Ein-
sicht bzw. das Prinzip wird zunächst in der Form einer Frage formuliert: »Was
heißt es, Thomas von Aquin ernst nehmen: heißt es, Gott vom Sein her (à
partir de l’être) oder das Sein von Gott her (au départ de Dieu) zu denken?«
(ThA-OT 65) Damit artikuliert Marion das, was man den Grundrahmen
seines ganzen Denkens nennen kann: Wenn es sich um Gott handelt, so ordnet
er alles  –  jede Frage, jede Aussage, jede Konzeption …  –  dem Grundprin-
zip oder Grundaxiom unter, das gleichzeitig eine Grundforderung ist: Gott
kann adäquaterweise absolut nur von sich selbst her verstanden, artikuliert,
gesagt … werden; das heißt negativ: ein Zugang zu Gott, eine Artikulation,
ein Verstehen, ein Sagen … Gottes von irgendeiner »Dimension« her, die
nicht Gott selbst ist – wie immer man eine solche Dimension auffassen und
bezeichnen mag: als Sein, Welt, irgendwelches Phänomen oder … oder … –,
ist absolut ausgeschlossen bzw. auszuschließen. Die Hauptdimension, gegen
die Marion seine unerbittliche Kritik richtet, ist die Dimension des Seins (wie
er sie versteht bzw. missversteht).
[c'] Der außerordentlich lange Abschnitt 4.2 dieses Kapitels konzentriert
sich ausschließlich darauf, diese Haltung, diese Position und deren markan-
teste Thesen einer sehr eingehenden Kritik zu unterziehen. An dieser Stelle
wird rein programmatisch-vorwegnehmend und thetisch nur auf die zwei
wichtigsten Punkte kurz hingewiesen.
Der erste ist das soeben genannte Prinzip oder Axiom. Mit auffallender
Selbstverständlichkeit spricht Marion davon, dass von Gott nur »von Gott
selbst« her adäquat die Rede sein kann. Das nennt er in anderen Schriften den
»Standpunkt Gottes«. Der ganze Abschnitt 4.2.4.2 weiter unten ist der Dis-
kussion dieser Behauptung gewidmet. Hier nur so viel: Wie kommt Marion
dazu, von Gott zu sprechen: von woher, in welchem Sinne? In dem hier be-
trachteten Aufsatz gibt es zu dieser Frage eine kleine, beinahe unscheinbare
Formulierung, die aber eine umfassende Tragweite hat und eine immense
Problematik in sich birgt. Die Formulierung lautet:
»Es handelt sich nicht so sehr darum zu entscheiden, ob man Gott mit dem Namen
esse benennen soll oder nicht, sondern darum, ob wir über ein Verständnis des esse
verfügen, das beanspruchen könnte, zwar nicht Gott zu erreichen (atteindre), sondern
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 323

in irgendetwas, was immer es sein mag, das zu anvisieren (viser en quoi que ce soit),
was wir Gott nennen. Es handelt sich nicht darum zu entscheiden, ob wir Gott im
Namen des Seins (aus)sagen sollten (dire Dieu), sondern darum, ob das Sein (als
esse oder wie immer verstanden) noch die Qualität und die Dignität besitzt, irgend-
etwas von Gott auszusagen, das mehr ist als reines Stroh.« (Ebd. 65; Kursiv nicht im
Original)

Das sind starke Formulierungen, die Bände sprechen. Aber zunächst sei
es gestattet, für einen Moment Marions Sprache zu verwenden; dann wäre
zu sagen: In Wirklichkeit verhält es sich folgendermaßen: Solange Marion
nicht die Frage klärt, wovon-in-welchem Sinne er redet, wenn er von »Gott«
redet  –  ob von Gott / Caritas / Liebe als bzw. in Sinne von reiner-Fiktion-
oder-reinem-Traum-oder-reiner-Vorstellung oder … oder … –, solange kann
von seinem in vielen langen Schriften dargestellten Diskurs über Gott nicht
gesagt werden, er artikuliere etwas, das »mehr ist als reines Stroh«. Auf diese
zugegeben polemische Formulierung lässt sich ein Großteil der Auseinander-
setzung mit Marion zurückführen. In einer anderen Sprache ausgedrückt:
Solange Marion die gestellte Frage nicht angemessen beantwortet, kann er
nicht den Einwand entkräften, sein ganzer Diskurs über Gott sei einfach
so etwas wie ein Roman im strengen Sinne, d. h. ein fiktiver künstlerischer
Diskurs. Würde aber Marion die formulierte Frage zu klären versuchen, was
könnte er anderes sagen als: Er spreche vom seienden / existierenden Gott?
Vor dem Hintergrund seiner zahllosen diesbezüglichen Aussagen ist es al-
lerdings zu vermuten, dass er versuchen würde, das Wort ›Sein‹ um jeden
Preis zu vermeiden und stattdessen beispielsweise auf die neutestamentliche
Formulierung: »lebendiger und wahrer Gott«26 zu rekurrieren. Aber dann
müsste er die Bedeutung von »lebendig« und »wahr« erklären oder als erklärt
voraussetzen – und wie könnte er dies leisten oder voraussetzen, ohne auf
Sein Bezug zu nehmen?
Die im letzten Zitat vorkommende kleine, beinahe unscheinbare Formu-
lierung, von der oben die Rede war, lautet: »[…] was wir Gott nennen«. Das
ist eine Formulierung von J. Renard, die Marion in anderen Schriften anführt
und belegt.27 Und sie artikuliert den Angelpunkt der Marionschen Position.
Aber hier drängen sich gravierende Fragen auf: Wer sind (die) »wir«? Sind es
die Christen, und, wenn ja, welche Christen: katholische, evangelische, ortho-
doxe, andere Christen? Sind es die Muslime, die Juden, Angehörige anderer
Religionen usw. usf.? Sich auf »wir / uns« zu berufen, wenn es sich um Gott
handelt, und zwar hinsichtlich der absolut entscheidenden letzten Stütze für
den Anspruch, den wirklich »göttlichen Gott« und nicht eine »Idolatrie«

26  Vgl. den ersten Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher 1:9: »… δουλεύεν
ϑεῷ ζῶντι καὶ ἀληϑινῷ: … um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen.«
27 
J. Renard, Journal 1887–1910, 1960, 227. Vgl. IH-D 334 und unten Fußnote 76.
324 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

artikulieren zu wollen, ist nichts anderes als eine maßlose theoretische Naivi-
tät.28 Was hieße denn, Gott »von Gott her« zu verstehen, zu artikulieren …?
Bedenkenlos spricht Marion vom »Wechsel zum Standpunkt Gottes (passer
au point de vue de Dieu)« (IH-D 360). Auch das ist eine klare theoretische
Naivität, als ob wir uns sozusagen verlassen, hinter uns selbst bringen könn-
ten, um uns – wie denn? – in den »Standpunkt Gottes« zu versetzen. Und
wenn Marion, wie noch zu diskutieren ist, das »ich–wir« einer »Umkehrung«
unterzieht, so verschwindet die Subjektivität gerade nicht, sondern bleibt bei
Marion sogar das alles bestimmende Zentrum (vgl. dazu unten 4.2.3.3). Von
den fundamentalen Differenzierungen, die hier unbedingt einzuführen und
zu beachten sind und die unten in Abschnitt 4.2.4.2 ausführlich dargestellt
werden, findet sich bei Marion keine Spur.
Es ist noch auf den Umstand hinzuweisen, dass Marion selbst in keiner
Weise eine kohärente Position vertritt, wenn er Gott »von Gott her« denken
will. Wie besonders in Abschnitt 4.2.4.3 zu zeigen sein wird, versucht er in
einigen Schriften, erst »zu Gott« zu gelangen, um dann »von Gott her« über
Gott zu reden. Seine aufschlussreichste Schrift in dieser Hinsicht ist die im
soeben erwähnten Abschnitt ausführlich analysierte Schrift L’impossible pour
l’homme – Dieu (Das Unmögliche für den Menschen – Gott). Erst durch eine
(phänomenologische) Herausarbeitung des Phänomens des Unmöglichen
gelangt er zur Aussage: Das eigentliche Unmögliche ist Gott. Überhaupt ist
Marions »Zugang« zu Gott ein radikal phänomenologischer, wie dies sehr
ausführlich erläutert werden soll.
[c''] Schon die Art und Weise wie Marion die Frage nach dem Verhältnis
von Sein und Gott formuliert, lässt die irrige Voraussetzung zum Vorschein
kommen, auf der seine ganze Kritik der Seinsmetaphysik basiert: Er fragt, ob
Gott vom Sein her oder das Sein von Gott her zu denken ist. Eine solche Frage
hat, wie er sie versteht und behandelt, nur Sinn, wenn »Sein« und »Gott« so
etwas wie zwei irgendwie völlig verschiedene, ja getrennte »Größen« sind,
die dann zueinander »ins Verhältnis« gesetzt werden können oder vielleicht
müssen. Auf wie radikale Weise Marion diese irrige Voraussetzung versteht
und sie seiner hartnäckigen Ablehnung jeder Rede von Sein im Zusammen-
hang mit Gott zugrunde legt, wird ausführlich in den nächsten Abschnitten
zu analysieren sein.

28  Da Marion sich, wie noch zu zeigen ist, in fundamentaler Weise auf Husserl

stützt, um den seine ganze Konzeption tragenden phänomenologischen Ansatz zu ent-


wickeln, sei es gestattet, hier jenes Wort zu verwenden, das dieser Autor (Husserl) oft
gebraucht hat, nämlich ›Naivität‹. Selbstverständlich wird das Wort weder bei Husserl
noch in diesem Buch im psychologisch-soziologischen und noch weniger im moralischen
Sinn verstanden; hier und bei Husserl hat es einfach die Bedeutung: Unreflektiertheit,
Ahnungslosigkeit. Daher wird gesagt: »theoretische Naivität«.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 325

In diesem Buch wird gezeigt, dass das sogenannte Verhältnis von Sein und
Gott eine irreführende Formulierung des Sachverhalts ist, dass Gott der voll-
explizierte Sinn von Sein oder, einfacher gesagt, das vollexplizierte Sein selbst
ist. Sein ist gerade nicht so etwas wie ein oder gar der »Horizont«, keine Gott
selbst »umfassende« und »hinter Gott« vorauszusetzende Dimension u. dgl.;
dies muss im radikalen Widerspruch zu den endlos wiederholten diesbezügli-
chen Behauptungen Marions in aller Klarheit betont werden. Ironischerweise
wird die in diesem langen Abschnitt 4.2 präsentierte Interpretation und Kritik
der Position Marions zum Resultat führen, dass er es ist, der Gott von einem
Horizont im eigentlichen Sinne29 oder einer Grundbedingung her so oder so
zu artikulieren versucht: Sein Horizont bzw. seine Grundbedingung ist das,
was er »ein wesentliches Gesetz der Phänomenalität (une loi d’essence de la
phénoménalité)« nennt, das die »Gestalt (figure) des Paradoxes der Paradoxe«
(ED 328) hat.
Es wird jetzt klar, dass Marion von seiner sonstigen Position her den großen
Denker Thomas von Aquin, den Doctor communis der katholischen Kirche,
nur in der Weise irgendwie positiv anerkennen konnte, dass er ihn zum
maximalen negativen (apophatischen) Theologen erhob und über ihn dann
eine unglaublich abenteuerliche »Hypothese« (»unsere Hypothese (notre
hypothèse)«) wie die folgende aufstellte:

29  Der Ausdruck / Begriff »Horizont« gehört zum Grundrepertoire der Phänome-

nologie sowohl im Sinne Husserls als auch im Sinne Heideggers. Er basiert grund-
sätzlich – und zwar bei beiden Denkern – auf einer Denkweise, die von der Philosophie
der Subjektivität geprägt ist. Was Husserl anbelangt, dürfte dies außer Frage stehen.
Vgl. dazu z. B. Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, § 37, S. 145. Aber
im Falle Heideggers könnte diese Behauptung problematisch, ja falsch erscheinen.
Man muss allerdings sehen, dass der »eigentlich phänomenologische« Heidegger nur
der Heidegger (aus der Zeit) von Sein und Zeit ist, auch wenn er später sein Denken
als ein weiterhin phänomenologisch orientiertes Denken betrachtet hat (gemäß einem
grundlegend transformierten Verständnis von »Phänomenologie«). Charakteristisch in
dieser Hinsicht ist die Überschrift des ganzen Ersten Teils von SZ: »Die Interpretation
des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen
Horizontes der Frage nach dem Sein«. (SZ 55) Hier hat »Subjektivität« die Bezeichnung
›Dasein‹, was bedeutet, dass es sich um eine völlig transformierte oder uminterpretierte
Subjektivität handelt. Hier bildet das Sein sozusagen den »Horizont« der Zeit(lichkeit),
die ihrerseits den Horizont für das Dasein darstellt. Man kann nun sagen, dass Heideg-
gers spätere »Kehre« grundsätzlich darin besteht, das Sein selbst (später: als das Ereignis)
zu explizieren, statt das Sein/Ereignis nur als letzten Horizont für die Zeitlichkeit und
diese selbst als Horizont für das Dasein und dessen Interpretation zu anvisieren.
Die in Kapitel 3 des vorliegenden Buches eingeführte Dimension des primordialen
Seins oder einfach: das Sein im primordialen Sinn kann nicht als »Horizont« gemäß der
phänomenologischen Tradition verstanden werden, am allerwenigsten kann dann gesagt
werden, dass das primordiale Sein als so etwas wie der Horizont verstanden wird, von
welchem her der Sinn von »Gott« eruiert wird oder zu eruieren ist. Gemäß der struk-
tural-systematischen Philosophie ist das primordiale Sein kein wie immer verstandener
»Horizont« für »Gott«, da Gott selbst als das vollexplizierte Sein selbst verstanden wird.
326 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

»Warum nicht annehmen, dass Thomas von Aquin nur deshalb am diesem esse fest-
gehalten hat, weil er die Absicht hatte, sich aus taktischen Gründen (tactiquement)
auf den von seinen philosophischen Gesprächspartnern bevorzugten Term esse zu
stützen, ohne es (das esse) sich jedoch jemals zu eigen zu machen (sans cependant jamais
l’assumer affirmativement) und ohne es zu einem überragenden Status zu erheben (ni
l’ériger par éminence), sondern indem er es einer apophatischen (negativen) Prüfung
unterzog?« (Ebd. 64)

Eine solche »Hypothese« ist eine unglaubliche Herabsetzung des großen


Denkers auf den Status eines Taktikers. Dass sie in einer philosophischen bzw.
wissenschaftlichen Schrift aufgestellt wird, ist gänzlich unverständlich. Sie ist
schlechterdings indiskutabel und wird daher hier nicht diskutiert.

4.2.2 Inkohärenzen, Widersprüche und Ungedachtheiten in Marions


Auffassung des Verhältnisses von Sein und Gott
Marion unternimmt es, einen Gott zu artikulieren, der von Kategorien des
Seins und vom Sein selbst frei ist. Indem er eine charakteristische post-
moderne Einstellung bezieht, stellt er eine große Prämisse der christlichen
Metaphysik und der neuthomistischen Theologie, wie er sie interpretiert und
artikuliert, radikal in Frage: dass nämlich Gott, vor allen anderen Gesichts-
punkten, Sein haben muss. Im diametralen Gegensatz dazu behauptet Marion
einen »Gott ohne das Sein (Dieu sans l’être)« und situiert ihn stattdessen im
Bereich der agape, der christlichen caritas.

4.2.2.1 Der Widerspruch zwischen »Gott ist, existiert« und »Gott liebt, bevor
er ist«
Nach der Veröffentlichung von Dieu sans l’être (1982) warfen Kritiker Marion
vor, er vertrete eine atheistische Position, da er von Gott ohne das Sein spricht.
Im Vorwort (Preface) zur englischen Übersetzung seines Buches (1991) mit
diesem Titel verteidigt er sich, indem er ausführt:
»Das ganze Buch litt [nach seiner Erstveröffentlichung] unter der unvermeidlichen und
beabsichtigten Doppeldeutigkeit seines Titels: Wollte es insinuieren, dass Gott ›ohne
das Sein‹ nicht ist, oder dass er nicht existiert? Ich möchte hier die Antwort wieder-
holen, die ich damals darauf gab: Nein, definitiv nein! Gott ist, Gott existiert – und
das ist das Mindeste [was man von ihm sagen kann] [and that is the least of things].«
(Preface xix; Kursiv nicht im Original)

[1] Marions Behauptung scheint ganz klar zu sein. Sie ist es nicht. Wenn ein
Philosoph erklärt – auch wenn er es feierlich tut –, dass er etwas (eine These,
eine Aussage usw.) als zu seiner Konzeption gehörend akzeptiert oder nicht
akzeptiert, so folgt daraus nicht, dass seine Erklärung Sinn macht, dass sie
konsistent ist, dass sie wirklich klar ist etc. Der Verfasser des vorliegenden
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 327

Buches verneint entschieden, dass Marions soeben angeführte Erklärung


mit den anderen Aspekten seiner Gesamtkonzeption kompatibel ist, dass
sie unzweideutig, dass sie, in sich selbst betrachtet, konsistent, dass sie klar
ist; vielmehr meint er, das es sich um ein rein verbales Zugeständnis handelt.
In der Tat, gegen Ende desselben Paragraphen, in dem sich das obige Zitat
befindet, liest man: »Wenn […] ›Gott Liebe ist‹, dann liebt Gott, bevor er
ist.« (Preface xx; Kursiv nicht im Original) Hat Marion einen eklatanten
Widerspruch begangen? Vermutlich würde er dies leugnen. Er scheint recht
zu haben, insofern er auf die Tatsache hinweisen könnte, dass – soweit der
Verfasser sehen kann – der Einwand des Atheismus nach der Publikation des
Preface nicht mehr – oder nicht mehr mit Vehemenz – erhoben worden ist.
Die Kritiker schienen und scheinen beruhigt zu sein. Wäre dies der Fall, so
waren und sind sie im Irrtum. Dies kann wie folgt gezeigt werden.
Anders als was im systematischen Teil dieses Buches ausgeführt wurde,
macht Marion keine Distinktion zwischen »Sein« und »Existenz«, wie das
erste Zitat aus dem Preface zeigt. Demnach zu sagen (in seinem Sinne) »Gott
liebt bevor er ist« ist dasselbe wie zu sagen »Gott liebt bevor er existiert«.
Daraus folgt: der liebende Gott ist nicht-seiend und nicht-existierend. Dies
nun ist unzweifelhaft ein eklatanter Widerspruch zur Behauptung »Gott ist,
Gott existiert«. Mit Worten spielen, was so oft in postmodernen Kreisen ge-
schieht, ist keine Lösung von Sachproblemen.
[2] Marion aber scheint keinen Widerspruch zwischen beiden Aussagen zu
sehen. In der Tat, gleich im Anschluss an die erste oben zitierte Passage
schreibt er:
»Zur Debatte steht hier nicht die Möglichkeit, dass Gott das Sein erreicht, sondern
ganz im Gegenteil die Möglichkeit, dass das Sein Gott erreicht. Im Hinblick auf Gott,
ist es selbstverständlich, dass die erste Frage [Aufgabe] darin besteht, dass gefragt wird,
ob er ist [existiert]? Definiert das Sein den ersten und höchsten unter den Namen Got-
tes? Wenn Gott sich selbst anbietet, um betrachtet zu werden, und wenn er sich selbst
gibt, dass zu ihm gebetet wird, geht es ihm dann primär um das Sein?« (Preface xx)

Was für Fragen werden hier gestellt? Was kann es heißen, von der »Möglich-
keit, dass Gott das Sein erreicht« und von der »Möglichkeit, dass das Sein
Gott erreicht« zu sprechen? So gestellte Fragen setzen voraus, dass Sein
und Gott zwei völlig verschiedene, distinkte, heterogene Dimensionen (oder
etwas Ähnliches) sind. Der Verfasser des vorliegenden Buches kennt keinen
metaphysischen Denker, der sich jemals so etwas vorgestellt, geschweige
denn, so etwas behauptet hätte. Warum betrachtet Marion nicht jene in Ka-
pitel 3 formulierte Idee, dass Gott, aufgefasst als Liebe, das volle Explicatum
des Terms/Begriffs »Sein« als des Explicandum ist? Mit einem Schlag würde
damit die von Marion ins Zentrum seiner Philosophie und Theologie gestellte
sonderbare radikale Trennung von Sein und Gott verschwinden, mit der Kon-
328 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

sequenz, dass die auf einer solchen Trennung basierenden Fragen und Pro-
bleme sich als Scheinfragen und Scheinprobleme auflösen würden?
[3] In diesem Zusammenhang ist es sehr aufschlussreich, einen kurzen
Hinweis auf Hans Urs von Balthasar zu geben, den Marion hochschätzt
und preist. Von Balthasar hat Marions Aussagen über Sein und Gott streng
kritisiert, indem er den entscheidenden Punkt und die zentrale Einsicht
einleuchtend darlegte. Im Zusammenhang einer Betrachtung über den tri-
nitarischen Gott sagt er: »[D]ie Unvordenklichkeit der Selbsthingabe oder
Selbstentäußerung, die den Vater allererst zum Vater macht, [kann] nicht
der Erkenntnis, sondern nur der grundlosen Liebe zugeschrieben werden,
was diese als das ›Transzendentale schlechthin‹ ausweist.« Und dazu fügt er
folgende Fußnote an:
»Diese Aussage ist mit dem platonischen ›epekeina te-s ousias‹ [›Jenseits des Wesens/
Seins‹] (Politeia VI, 509c) schon gesichtet, darf aber nicht zu einer Entrückung Gottes
vom Sein weg verleiten (Jean-Luc Marion, Dieu sans l’être, Fayard, Paris, 1982). Die
grundlose Liebe ist nicht vor dem Sein, sondern sein höchster Akt, woran seine Begreif-
barkeit scheitert: ›gno-nai te-n hyperballousan te-s gnoseos agape-n‹ (Eph 3,19).«30

30
  H. U. von Balthasar, Theologik, Band II: Wahrheit Gottes, 1985, 163, Fußnote
9; siehe auch 125–6, Fußnote 10 (Kursiv nicht im Original). Eine eindrucksvolle kon-
zise Gesamtdarstellung der diesbezüglichen Position von Balthasars findet sich in
seinem monumentalen Werk Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. 3/I Im Raum der
Metaphysik, 1965, Teil III 943–983, besonders 943 ff.
Ganz ähnlich wie von Balthasar kommentiert ein anderer Philosoph, der Herme-
neutiker J. Grondin, die Position Marions im Rahmen einer Rezension dessen Werkes
Au lieu de soi. L’approche de Saint-Augustin, 2009, folgendermaßen:
»Marion erkennt zu wenig an, dass sein schöner und geliebter Gedanke (sa belle et
amoureuse pensée) der Schenkung / Gabe [donation] die Artikulation eines Verständ-
nisses des Seins ist und bleibt, und zwar des Seins als Gabe [ut donatum]. […] Im Hin-
blick auf Augustinus liegt Marion nicht falsch, wenn er behauptet, dass der Diskurs als
Loblied, der [Augustinus’ Werk] Confessiones ist, weniger ein Diskurs über Gott ist (im
Sinne dessen, was er [Marion] ›die‹ Metaphysik nennt), als ein Diskurs, der sich an Gott
wendet; aber wenn ›Gott lobpreisen bedeutet, dass ich auf meinen Ort hochsteige, dass
ich mich dorthin erhebe, von woher ich bin, und mich dorthin wende, wo ich herkomme‹
[Zitat aus Marions Buch Au lieu de soi ((= LS), S. 37], dann hätte man die größte Mühe,
dem Leser glaubhaft zu machen, dass dieser Gedanke nichts Metaphysisches in sich hat.
Anstatt die Confessiones als ein Werk ›an Stelle‹ der Metaphysik zu interpretieren, bleibt
es empfehlenswert, darin einen ihrer [der Metaphysik] Höhepunkte zu sehen. Vielleicht
entgegen seiner explizit deklarierten Absicht, leistet Marions Werk dazu einen wirkungs-
vollen und mit Liebe vorgetragenen Beitrag.« (J. Grondin, »Au lieu de la métaphysique?
Les méditations augustiniennes de Jean-Luc Marion«, in: http://www.laviedesidees.fr/
Au-lieu-de-la-metaphysique.html
Das sind wohlausgewogene Aussagen – allerdings mit Ausnahme der letzten Aussage,
die dem Verfasser des vorliegenden Buches unbegründet erscheint. Aus der beispiellosen
und an Schärfe und Radikalität schwerlich überbietbaren undifferenzierten Kritik Ma-
rions an »der Metaphysik« und an jeder Form einer Seinsphilosophie ist nicht gerade
»ein wirkungsvoller und mit Liebe vorgetragener Beitrag« eben zur Anerkennung eines
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 329

Nach von Balthasar ist die Liebe der höchste Akt des Seins. Das bedeutet:
Liebe ist das voll explizierte Sein, das esse plenum, das erfüllte Sein, die Fülle
des Seins. Von Balthasar schrieb einige der schönsten und tiefsten Texte über
das Sein, über »die Verwunderung über das Sein«, die er zwar nicht in theo-
retisch relevanten Formulierungen, wohl aber in einer hocheleganten und
brillanten Sprache artikuliert.31 Von Balthasar ist von Marions maßlosen
Behauptungen und Vorwürfen weit entfernt, dass das Sein im Hinblick auf
Gott nicht nur völlig bedeutungslos ist, sondern geradezu eine Idolatrie, die
Hauptidolatrie, darstellt, wie im Schlusswort (4.2.5) gezeigt wird.
[4] Wenn Marion fragt: »Im Hinblick auf Gott [With respect to God], ist es
selbstverständlich, dass die erste Frage (Aufgabe) darin besteht, dass gefragt
wird, ob er ist?«, so stellt er eine verfängliche Frage, eine Frage, die auf gänz-
lich zweideutigen Voraussetzungen beruht. Sie setzt nämlich voraus, dass,

Höhepunktes der Metaphysik (zunächst in den Confessiones des Augustinus und damit
auch in der Geschichte der Metaphysik) zu erwarten.
In ihrem Buch Reading J.-L. Marion: Exceeding Metaphysics, 2007, schreibt Chr. M.
Gschwandtner:
»Tatsächlich wurde diese neue Dimension [gemeint ist die ›vierte Dimension‹, die
Marion im letzten Kapitel seines Buches L’idole et la distance, 1977, einführt und die er
als die Dimension der Liebe (caritas) beschreibt] schon von H. U. von Balthasar arti-
kuliert, der auf Marion einen tiefen Einfluss ausgeübt hat; von Balthasar unterscheidet
eine vierfache Differenz oder Ordnung im ›Wunder des Seins‹ (dabei verweist er u. a. auf
Heidegger).« (Ebd. 282, Endnote 26).
Gschwandtner fügt überraschenderweise hinzu: »Wiederholt scheint Marion von
Balthasar in Bezug auf diese Unterscheidungen zu folgen.« Und sie verweist auf das
oben zitierte Werk von Balthasars Herrlichkeit 3/I. Gschwandters Behauptung ist
nicht nur erstaunlich, sondern völlig inkorrekt. Sie ignoriert vollständig die oben zitierte
strenge Kritik, der von Balthasar Marions »Absage an das Sein« unterzog. Außerdem
beachtet sie überhaupt nicht die große Tragweite der Tatsache, dass von Balthasar in
unmissverständlicher Weise die »Sprache des Seins« gebraucht, in absolutem Gegensatz
zu Marions nicht weniger unmissverständlicher Verwerfung einer solchen Sprache.
Schließlich vergisst die Autorin, was sie selbst genau über dieses Thema in ihrem Buch ge-
schrieben hatte, zum Beispiel auf S. 142, wo sie Marion – richtig, nach Meinung des Ver-
fassers – folgendermaßen interpretiert: »Liebe überwindet (overcomes) das Sein und macht
es bedeutungslos. Sie scheidet daher aus der Metaphysik aus, durchbricht ihre Schranken,
wird grenzenlos. Liebe überwindet alle metaphysischen Idole Gottes und denkt von Gott
höchst echt / angemessen (thinks of God most authentically).« Dies ist nichts weniger als
ein absolut schroffer Gegensatz zu dem, was von Balthasar sagt, wenn er Marion mit
den Worten kritisiert: »[Die grundlose Liebe] darf aber nicht zu einer Entrückung Gottes
vom Sein weg verleiten. […] Die grundlose Liebe ist nicht vor dem Sein, sondern sein
höchster Akt.« (Vgl. Zitat im Haupttext)
31  Vgl. z. B. die folgende Passage:

»Die Verwunderung über das Sein ist nicht nur Ansatz, sondern … bleibendes Ele-
ment (ἀρχή) des Denkens. Das aber besagt …, dass das Sein als solches und von sich her
bis zum Ende ›wundert‹, sich als Wunder, wunderlich und wunderbar benimmt. Dieses
Ur-Wunder festhaltend zu bedenken, müsste das Grundanliegen der Metaphysik sein; es
sei der Versuch gewagt, es in vier Stufen anzunähern, die von einer vierfachen Differenz
Kunde geben …« (Herrlichkeit 3/I 944–5)
330 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

wenn das Wort ›Gott‹ verwendet wird, es vollständig klar ist, worüber bzw.
wovon gesprochen wird und worauf die Frage abzielt. Aber dies ist keines-
wegs der Fall. Die sehr allgemeine und unbestimmte Formulierung »im Hin-
blick auf Gott [with respect to God]« kann sehr verschiedene Bedeutungen
haben: Sie kann bedeuten: »hinsichtlich des abstrakten Begriffs von Gott«,
»hinsichtlich des Gottesproblems« (wobei auch diese Formulierung noch sehr
unbestimmt ist), »hinsichtlich dessen, was eine bestimmte Religion meint,
wenn sie das Wort ›Gott‹ verwendet« usw. – und, schließlich, kann die For-
mulierung bedeuten: »hinsichtlich des ›lebendigen und wahren Gottes‹« (vgl.
oben Fußnote 26). Wenn die Äquivozität der Formulierung nicht von Anfang
an ausgeräumt wird, ist es sinnlos zu fragen: »Ist es selbstverständlich, dass
die erste Frage (Aufgabe) darauf hinausläuft, zu fragen, ob er ist?« Wenn eine
Frage »im Hinblick auf Gott« nur sehr allgemein formuliert wird, dann kann
eine sinnvolle Antwort darauf nur in einer konditionalen Form bestehen:
Wenn unter ›Gott‹ gemeint ist … – beispielsweise – im Sinne von: der Begriff
Gottes, oder: im Sinne von: der seiende/existierende/lebendige Gott, dann …
Anscheinend ohne die offenkundige Problematik seiner eigenen Fragen
überhaupt zu bemerken, fragt Marion weiter: »Definiert das Sein den ersten
und höchsten unter den Namen Gottes?« (Preface xx) Dazu ist zu sagen,
dass eine solche Frage einfach gegenstandslos ist, da »Sein« kein Name im
eigentlichen Sinne ist, der mit Gott zuschreibbaren Namen verglichen werden
könnte. Ein Name im eigentlichen Sinne setzt immer schon das Sein dessen
voraus, dem er zugeschrieben wird. Sein ist die absolute Voraussetzung dafür,
dass man sinnvollerweise von Namen sprechen und Namen überhaupt zu-
schreiben kann. So ist also das Sein Gottes die absolute Voraussetzung dafür,
dass ihm Namen gegeben werden können. Anders gesagt: Wenn Gott nicht
ein seiender / existierender Gott ist, ist es absolut sinnlos, ihm irgendwelche
Namen zu‑ oder abzusprechen. Es wäre ein leeres Spiel mit Worten. Sein ist,
so könnte man sagen, der eröffnende Raum für die Selbstmanifestation und
Selbstmitteilung des X, das mit dem Wort ›Gott‹ bezeichnet wird. Es ist ein-
fach unmöglich, das so verstandene und gedeutete Sein als etwas von Gott
Verschiedenes oder gar Getrenntes zu denken, als etwas, dem Gott unterwor-
fen wäre, als einen Horizont in dem Sinne, dass dieser das Sich-Manifestieren
Gottes einschränken würde.
In Marions Schriften begegnet man ständig einer manchmal explizit for-
mulierten und manchmal nur implizit vorausgesetzten Behauptung oder An-
nahme hinsichtlich des Verhältnisses von Sein und Gott, nämlich: Wenn man
dem Sein hinsichtlich Gottes irgendeine positive »Rolle« zuschreiben wollte,
so hieße dies, dass man für Gott eine Bedingung stellen würde, der sich Gott
zu unterwerfen hätte. So interpretiert er, wie noch zu zeigen sein wird, die
Rede vom Sein als Horizont für jede Aussage und somit auch für Aussagen
über Gott. Dagegen wendet er sich vehement, indem er behauptet, Gott
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 331

könne keiner Bedingung, keinem Horizont oder etwas Ähnlichem unter-


worfen werden (oder, wie er bezeichnenderweise zu formulieren pflegt: Gott
selbst könne sich keiner Bedingung, keinem Horizont oder etwas Ähnlichem
unterwerfen).
In der philosophischen und theologischen Literatur über die Thematik
Sein–Gott, ganz besonders im Anschluss an Heidegger, ist oft vom Sein-
als-Horizont die Rede. Man muss zugeben, dass manche Formulierungen in
dieser Literatur missverständlich, ja sogar sehr problematisch sind, so dass
sie zu Fragen und Behauptungen wie den oben zitierten von Marion Anlass
geben. Man muss aber sehen, wie die Aussage, dass das Sein den Horizont
für die Rede über Gott bildet, genau verstanden wird bzw. wie sie genau zu
verstehen ist. Diesbezüglich kann man eine große Schwäche und Defizienz
bei den Versuchen feststellen, ein positives Verhältnis zwischen Sein und Gott
zu artikulieren. Der entscheidende Punkt dabei ist ganz einfach dieser: Wenn
das Sein als »Horizont« bezeichnet wird, dann kann ein angemessenes po-
sitives Verhältnis von Sein und Gott nur dadurch artikuliert werden, dass das
Sein-als-Horizont selbst zum Thema gemacht wird. »Gott« erscheint dann
nicht irgendwie unter der ihm äußerlichen Bedingung von Sein und in diesem
Sinne nicht einfach »im Horizont des Seins«; vielmehr erscheint Gott als das
vollexplizierte, das erfüllte Sein selbst. Kurz: Gott ist das volle Explicatum /
Explicans des Explicandum »Sein«. Wegen dieser historisch gegebenen Kon-
notationen des Ausdrucks ›Horizont‹, wird dieser Term in diesem Buch ver-
mieden.
Welchen Sinn könnte man mit Marions zweiter Frage – »Wenn Gott sich
selbst anbietet, um betrachtet zu werden, und wenn er sich selbst gibt, dass zu
ihm gebetet wird, geht es ihm dann primär um das Sein?« – verbinden? Wenn
man davon ausgeht, dass Gott sich anbietet oder manifestiert, hat es einen Sinn
zu fragen, worum es ihm dabei primär geht? Am allerwenigsten hat es einen
Sinn zu fragen, ob es ihm dabei primär um (sein) Sein geht; denn sein Sein ist
gerade die Voraussetzung seiner Selbstmanifestation: Dass Gott sich anbietet
oder manifestiert, bedeutet gerade, dass der seiende Gott sich anbietet oder
manifestiert. Ein nicht-seiender, nicht-existierender Gott kann sich weder
manifestieren noch nicht-manifestieren. Man kann nicht umhin festzustellen,
dass Marion ein sonderbares, vollständig entstellendes Verständnis von Sein
hat.

4.2.2.2 Die verfehlte Konzeption des Verhältnisses von Sein und absoluter
Freiheit
Marions seltsame Fragen setzen sich fort in einer Art von rhetorischem
Crescendo. Er fragt: »Kein Zweifel, Gott kann und muss am Ende auch
sein; aber bestimmt ihn seine Beziehung zum Sein in so radikaler Weise wie
332 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

die Beziehung zu seinem Sein alle anderen Seienden definiert?« (Preface xx)
Das ist ein sonderbares Zugeständnis: dass Gott »am Ende« doch auch sein
kann und muss. Hier wird deutlich, wie Marion »Sein« versteht: als eine Art
Eigenschaft, die »am Ende« gegeben sein kann und gegeben sein muss. Kann?
Muss? Am Ende? Was geschieht vor diesem »Ende« ? Wie ist dieses »Ende«
zu verstehen? Angesichts dieser offensichtlichen Inkonzinnitäten scheint dem
ein sinnvolles Verständnis der Marionschen Texte suchenden Philosophen
nur noch eines übrig zu bleiben: Zu fragen, wie zu erklären sei, dass Marion
zu einer solchen Auffassung gelangen konnte. Mit dieser Frage werden sich
dieser Abschnitt und Abschnitt 4.2.3 ausführlich befassen.
Im Preface versucht Marion, die von ihm behauptete »radikale Umkehrung
der Beziehung zwischen Sein und Liebe« zu erklären:
»Unter dem Titel Gott ohne das Sein versuche ich, die absolute Freiheit Gottes in
Bezug auf alle Bestimmungen zum Vorschein zu bringen, einschließlich  –  an erster
Stelle – der grundlegenden Bedingung, die alle anderen Bedingungen – für uns, Men-
schen – allererst möglich und sogar notwendig macht: der Tatsache des Seins [oder: dass
es Sein gibt]. Denn für uns sowie für alle Seienden in der Welt ist es notwendig, zuerst
zu sein, um damit unauflösbar ›zu leben und sich zu bewegen‹ (Apostelgeschichte
17:28) und so, schließlich, auch zu lieben. Aber gilt dasselbe auch für Gott, wenn wir
nur der Versuchung widerstehen, ihn unmittelbar auf unsere Maßstäbe zu reduzieren?
Oder, im Gegenteil, sind nicht alle Bestimmungen, die für das Endliche notwendig
sind, für Ihn umgekehrt, und für Ihn allein?« (Preface xx)

Dieser Text scheint die fundamentalste Motivation hinter Marions forma


mentis auszudrücken. Aber diese Art des Denkens scheitert schon bei der
Formulierung des ersten Satzes: »Unter dem Titel Gott ohne das Sein ver-
suche ich, die absolute Freiheit Gottes in Bezug auf alle Bestimmungen zum
Vorschein zu bringen …« Der fundamentalste »Faktor« oder die absolute
Maximalbestimmung, den / die Marion Gott zuschreibt, ist dessen absolute
Freiheit, die Marion zufolge auf »alle [anderen] Bestimmungen« (Gottes) ri-
gorose Anwendung hat. Wollte man diesen Sachverhalt logisch-mathematisch
ausdrücken, würde man sagen: Die absolute Freiheit (Gottes) ist der absolute
und höchste Operator, der alle Bestimmungen (welcher Art auch immer,
einschließlich aller anderen Operatoren) als seine Argumente (im logisch-
mathematischen Sinne) hat: Dieser absolute oder Maximaloperator bestimmt
einfach alles.
Welche selbstdestruktiven Konsequenzen eine solche Auffassung nach sich
zieht, lässt sich leicht zeigen. Man wende ganz konsequent und radikal dieses
große Prinzip auf absolut alles an. Dann ergibt sich: man muss es auch auf sich
selbst anwenden. Das heißt aber im Einzelnen: Marion müsste »die absolute
Freiheit zum Vorschein bringen« auch in Bezug auf diese absolute Freiheit
selbst, also die Maximalbestimmung Gottes, die Marion »Gottes absolute
Freiheit« nennt. Dann müsste Gott absolut frei sein auch in Bezug auf eben
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 333

dies: absolut frei zu sein. Man sieht sofort, dass dies einen infiniten Regress
erzeugt: Gott wäre absolut frei in Bezug auf seine absolute Freiheit nur
dann, wenn er absolute Freiheit schon vollziehen würde, wodurch absolute
Freiheit immer schon vorausgesetzt wäre, so dass die jeweilige »höhere« oder
»frühere« oder »ursprünglichere« Freiheit nicht selbst wieder frei wäre, weil
sie jedem Freiheitsakt entzogen wäre, da sie von jedem Freiheitsakt voraus-
gesetzt wäre – und so fort ins Unendliche …
Wenn dies absurd ist oder wenn Gott das nicht sein oder tun kann, ohne
sich als Gott aufzugeben, dann kommt der sinnlose Selbstwiderspruch in
Marions Konzeption voll zum Vorschein: Sein Begriff der absoluten Freiheit
ist selbstwidersprüchlich; und noch mehr als dies: dieser Begriff stellt sich
als das exakte Gegenteil dessen heraus, was er zu sein beansprucht: Absolute
Freiheit im Sinne Marions ist absolute Unfreiheit, in dem Sinne, dass sie ge-
genüber sich selbst nicht frei ist. Würde man Marions seltsamer »Logik« (oder
genauer: »Unlogik«) folgen, so müsste man sozusagen »Gottes Situation«
entsprechend charakterisieren wie sein Landsmann J.-P. Sartre die Situation
des Menschen charakterisiert, wenn er sagt: »Der Mensch ist dazu verurteilt,
frei zu sein [L’homme est condamné à être libre]«).32 Im Falle des Menschen
mag eine solche Aussage nicht unsinnig sein, da der Mensch endlich ist und
keinen absoluten Stand hat: Seine Freiheit ist nicht absolut, da der Mensch sie
nicht aus sich selbst, sondern von einem X (wie immer man es in diesem Zu-
sammenhang auffassen mag) empfängt, das mit dem Menschen nicht identisch
ist. Aber im Falle Gottes verhält es sich völlig anders: Seine Freiheit ist ab-
solut, und sie ist absolut als seiende Freiheit; umgekehrt ist das Sein Gottes
eben dies: absolute Freiheit. Zu sagen, dass Gottes absolute Freiheit auch
gegenüber dem eigenen Sein frei ist, ist Resultat eines naiven Denkens, das
»(absolute) Freiheit« und »Sein« wie zwei getrennte Dimensionen auffasst, so
dass dann die zweite (»Sein«) selbst »Objekt« für die erste (absolute Freiheit)
ist. Marions »Verständnis« von absoluter Freiheit ist ein seltsames, wider-
sprüchliches und daher sinnloses Denkkonstrukt, eine leere und selbstwider-
sprüchliche Hypostasierung von Freiheit und Sein.
Diese Konsequenz ergibt sich auch aus der Betrachtung eines anderen
Punktes bei Marion. Wie schon oben ausgeführt wurde und weiter unten noch
detaillierter darzustellen ist, ist die tiefste oder ursprünglichste Bestimmung
Gottes nach Marion die Liebe /Caritas. Wenn aber die Freiheit Gottes, wie
im jetzigen Zusammenhang deutlich wird, absolut im Marionschen Sinne ist,
nämlich in dem Sinne, dass Gott gegen alle seine »Bestimmungen«, sogar
gegen sein Sein, frei ist, dann ist er auch frei gegen seine tiefste und ursprüng-
lichste Bestimmung, nämlich die Liebe/Caritas. Man fragt sich, welche Kohä-
renz eine solche Auffassung überhaupt in Anspruch nehmen kann. Jedenfalls

32 
J.-P. Sartre, L’existentialisme est un humanisme, 1965, 37.
334 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

ergibt sich daraus, dass Gott als absolute Freiheit in Marions Sinne so etwas
wie eine leere, selbstwidersprüchliche und inkohärente »Größe« ist.

4.2.2.2a Exkurs 3: Die historische Quelle von Marions Auffassung über ab-
solute Freiheit: Schellings Konzeption des Verhältnisses von Gottesfreiheit und
seiner Existenz
Um seine Fragen und Behauptungen auch historisch zu untermauern, ver-
weist Marion auf F. W. Schelling:
»Unter dem Titel Gott ohne das Sein haben wir nicht vor zu unterstellen, dass Gott
nicht ist, oder dass Gott nicht wahrhaft Gott ist. Wir versuchen nachzudenken über das,
was F. W. Schelling nannte ›… Freiheit Gottes gegen seine Existenz‹«. (DSE, Envoi, 10)33

Den Gesamtkomplex, in dem Schelling diese Behauptung aufstellt, lässt Ma-


rion völlig unberücksichtigt. Schelling stellt einige unabhängige Überlegungen
in Verbindung mit Descartes’ ontologischem Argument an, das er in einer sehr
eigenwilligen und problematischen Weise (re)interpretiert. Schließlich gelangt
er zum Begriff des »nothwendig seyenden, des nothwendig existirenden
Wesens«34 und wirft die Frage auf, ob dieser Begriff mit dem Begriff Gottes
identisch ist. Er negiert die Identität, indem er in einer Weise argumentiert,
die nur oberflächlich betrachtet originell erscheint. In Wirklichkeit arbeitet er
einige der radikalsten Konsequenzen aus der transzendentalen Subjektivitäts-
philosophie heraus. Er interpretiert das »nothwendig existirende Wesen« als
»das nicht nicht seyn Könnende und demnach als das nothwendig, das blind
Seyende«. Und dann behauptet er:
»Dasjenige nun aber, dem es unmöglich ist nicht zu seyn (quod non potest non-exis-
tere), diesem ist es auch nie möglich zu seyn – denn jede Möglichkeit zu seyn schließt
auch die Möglichkeit nicht zu seyn in sich – also ist das, dem es unmöglich ist nicht
zu seyn, auch nie in der Möglichkeit zu seyn, und das Seyn, die Wirklichkeit, kommt
der Möglichkeit zuvor.«35

Daraus folgert Schelling: »Wäre also Gott das nothwendig existirende Wesen,
so könnte er nur zugleich als das starre, unbewegliche, schlechthin unfreie,
keines freien Thuns, Fortschreitens, oder von sich selbst Ausgehens Fähige
bestimmt werden.«36 Dies würde »nicht auf den lebendigen, sondern auf den
todten Gott führen«.37 Aber Gott (der christliche Gott) ist ein lebendiger
Gott, stellt Schelling fest.

33  Schellings Zitat befindet sich in: F. W. Schelling, Zur Geschichte der neueren

Philosophie – Münchner Vorlesungen (1827), 1965, Bd. 5, 71–270; Zit. 92.


34  Ebd. 89.
35  Ebd.
36  Ebd. 90–91.
37  Ebd. 92.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 335

Schellings entscheidender Schritt, um zu der Aussage zu gelangen, die


Marion zitiert, nimmt hier seinen Ausgangspunkt. Er sagt: »Die Lebendigkeit
besteht eben in der Freiheit, sein eignes Seyn als ein unmittelbar, unabhängig
von ihm selbst gesetztes aufheben, und es in ein selbst-gesetztes verwandeln
zu können.«38 Er betont: »Was gegen sein eignes Seyn keine Freiheit hat, hat
überhaupt keine  –  ist absolut unfrei.«39 Das nennt er die »Freiheit Gottes
gegen seine Existenz, als Freiheit diese Existenz als eine absolut gesetzte auf-
zuheben«40.
Schellings Aussagen können nur verstanden werden, wenn man sie als Fol-
gerungen aus einer in Bezug auf die Gottesfrage konsequent und kompromiss-
los durchgeführten Transzendentalphilosophie interpretiert. Entscheidend ist
hier Kants berühmte These: »Sein ist offenbar kein reales Prädicat, d. i. ein
Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen
könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an
sich selbst.« (KrV B 626)
Dazu ist zunächst zu bemerken, dass Kants »Position« (wie auch »Set-
zung«) hauptsächlich (nicht aber ausschließlich) nicht im aktiven, sondern
im passiven oder genauer resultativen Sinne zu verstehen ist: als positum,
Gesetztes, Gesetztsein. Nach den Grundannahmen der Transzendentalphi-
losophie aber setzt die Setzung (in beiden Bedeutungen) ein setzendes Subjekt
voraus; hinsichtlich der jetzt behandelten Frage ist das Subjekt Gott selbst.
Nimmt man mit Schelling an, dass Gott als Subjekt absolute Freiheit ist und
schreibt man ihm Sein im Kantischen Sinne (als Setzung–Gesetztes) zu, so
ergibt sich daraus direkt, dass Gottes Sein nicht »absolut gesetzt« ist, wobei
»absolut gesetzt« bedeutet: »unabhängig von einem setzenden Subjekt«.
Vielmehr ist das Sein Gottes von Gott selbst gesetzt: es ist »Selbstgesetztes«.
Aber da Schelling weiter annimmt, dass Gott absolut frei ist, hat das zur wei-
teren Konsequenz, dass die Freiheit Gottes zu denken ist »als Freiheit Gottes
gegen seine Existenz [sein Sein], als Freiheit diese Existenz als eine absolut
gesetzte aufzuheben.«41 In letzter Analyse gibt es hier nichts, worüber man
sich wundern könnte – außer dem Umstand, dass ein solcher philosophischer
Theorierahmen angenommen wird, innerhalb dessen eine solche Konsequenz
nicht nur möglich, sondern auch zwingend ist. Was in Frage gestellt werden
kann bzw. muss, ist der transzendental-philosophische Theorierahmen selbst,
den Schelling voraussetzt.
Es ist kein Zufall, dass Marion auf den Text Schellings Bezug nimmt. Es gibt
in der Tat eine auffallende Übereinstimmung zwischen seinem Verständnis
von »Sein« und Kants und Schellings Auffassung. Das macht deutlich, dass
38 
Ebd.
39  Ebd. 90.
40  Ebd. 92.
41  Ebd.
336 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

seine philosophische Position grundlegend und durch und durch eine spezi-
fische Form der Subjektivitätsphilosophie ist, wie das unten in Abschnitt
4.2.3.3 zu zeigen sein wird.
Gegen Schellings These können viele Einwände grundsätzlicher Art er-
hoben werden. In diesem Kontext genügt es, auf einen Einwand hinzuweisen,
nämlich auf den gegen Marions Position im Haupttext formulierten Einwand:
die These erzeugt einen unendlichen Regress.

4.2.2.3 Marions »Umkehrungsprinzip« und das Verhältnis zwischen Gott


und Mensch
[1] Marions Ausführungen liegt ein Prinzip zugrunde, das man »Umkeh-
rungsprinzip« nennen kann. Es wird von ihm im Zusammenhang mit einer
schon oben zitierten Passage formuliert:
»[F]ür uns sowie für alle Seienden in der Welt ist es notwendig, zuerst zu sein, um
damit unauflösbar ›zu leben und sich zu bewegen‹ (Apostelgeschichte 17:28) und so,
schließlich, auch zu lieben. Aber gilt dasselbe auch für Gott, wenn wir nur der Ver-
suchung widerstehen, ihn unmittelbar auf unsere Maßstäbe zu reduzieren? Oder, im
Gegenteil, sind nicht alle Bestimmungen, die für das Endliche notwendig sind, für Ihn
umgekehrt, und für Ihn allein? Wenn […] ›Gott die Liebe ist‹, dann liebt Gott bevor
Er ist. Er ist nur, insofern Er sich selbst im Hinblick darauf bestimmt oder gestaltet
(embodies), dasjenige, das, bzw. diejenigen, die selbst zuerst zu sein hat/haben, noch
inniger zu lieben. Diese radikale Umkehrung der Beziehungen zwischen Sein und
Liebe, zwischen dem im Alten Testament geoffenbarten Namen (Exodus 3:14) und
dem tiefer, aber nicht inkonsistent, im Neuen Testament (1 Johannes 4:8) geoffenbarten
Namen, setzt voraus, dass eine Position bezogen wird, die in einem theologisch und
philosophisch ist.« (Preface xx)

Wie sich zeigen wird, ist das »Umkehrungsprinzip« ein fundamentales Prin-
zip im Denken Marions, wobei hinzuzufügen ist, dass es mehrere konkrete
Formen annimmt. Im gegenwärtigen Kontext geht es ganz allgemein um
die »Bestimmungen«, die die endlichen Seienden charakterisieren. Eine ein-
fache Frage ist ausreichend, um die innere Widersprüchlichkeit der Aussagen
Marions aufzuzeigen, die auf den ersten Blick als eindrucksvoll tief und bei-
nahe evident erscheinen. Die Frage lautet: Ist dieses Umkehrungsprinzip ein
Prinzip, das wir selbst, wir, menschliche Seiende, aufstellen?
Das kann kaum bestritten werden. Aber dann folgt daraus unmittelbar,
dass das, was das Prinzip sagt, nur für uns gilt, ist doch das Prinzip ein solches
nur entsprechend unseren, den menschlichen Maßstäben … Wenn dies aber
der Status des Prinzips ist, wie kann es auf Gott angewandt werden? Die
Anwendung auf Gott müsste auf der Basis einer Umkehrung stattfinden.
Wenn aber das Prinzip besagt, dass alle Bestimmungen, die für das End-
liche gelten, im Falle Gottes umgekehrt sind, dann muss das Prinzip selbst
bei der Anwendung auf Gott ebenfalls umgekehrt werden. Da das Prinzip
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 337

eine Negation beinhaltet (alle Bestimmungen dürfen nicht direkt auf Gott
angewandt werden), kommt seine Anwendung auf Gott einer Negation der
Negation gleich. Das Prinzip lautet: »Alle Bestimmungen des Endlichen sind
in der Anwendung auf Gott umgekehrt«. Da es sich aber um ein menschliches
Prinzip handelt, das für das Endliche gilt, ist es in der Anwendung auf Gott
umzukehren. Es ergibt sich: »Alle in der Anwendung auf Gott umgekehrten
Bestimmungen des Endlichen sind umgekehrt«. Oder anders: Das hinsichtlich
des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott gültige Umkehrungsprinzip ist
seinerseits hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott umge-
kehrt. Wie leicht zu sehen ist, ergibt sich daraus ein einen unendlichen Regress
erzeugendes Wechselspiel.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich unter anderem: Es gibt ein naives Ver-
ständnis und eine naive Anwendung des Umkehrungsprinzips bei denjenigen
Autoren, die über die Voraussetzungen und Implikationen eines solchen
Prinzips nicht reflektieren. Ein solcher Reflexionsmangel liegt im Herzen
des postmodernen Denkens. Es zeigt sich, dass dieses Prinzip selbst nichts
anderes ist als eine oberflächliche, »nur allzu menschliche« Weise, sich das
Verhältnis zwischen Mensch und Gott vorzustellen. In der Tat ist es Ausdruck
der »nur allzu menschlichen« Einstellung, auf Gott genau das Umgekehrte
alles Menschlichen zu projizieren. Anderen postmodernen Autoren folgend,
verabsäumt es Marion, seinen eigenen Diskurs einer kritischen Analyse zu
unterziehen. Er nimmt sich vor, alle Diskurse hinsichtlich der Rede von Gott
zu de-konstruieren; seinen eigenen Diskurs vergisst er.
Ein Hinweis auf ein berühmtes Dictum Heideggers kann diesen Punkt ab-
schließend verdeutlichen und genau artikulieren. Über metaphysische Sätze
(oder Prinzipien …) sagt Heidegger: »Die Umkehrung eines metaphysischen
Satzes bleibt ein metaphysischer Satz.« (WegM 328) In dem hier behandelten
Fall wäre entsprechend zu sagen: Die Umkehrung der conditio humana
bleibt conditio humana, oder: Die Umkehrung eines von theoretisierenden
Menschen aufgestellten Prinzips bleibt ein von theoretisierenden Menschen
aufgestelltes Prinzip. Die Aufgabe besteht nicht darin, die menschliche Situa-
tion auf naive Weise umzukehren; vielmehr muss die Aufgabe darin gesehen
werden, den ganzen, uneingeschränkten »Raum«, der den menschlichen Geist
charakterisiert, zu artikulieren, wie dies in Kapitel 3 gezeigt wurde. Innerhalb
dieses unendlichen Raums ist es möglich, das Thema »Gott« zu artikulieren;
genauer muss man sagen: Das Thema »Gott« ist als dieser unendliche Raum
zu artikulieren.

[2] Man muss bei Marion eine noch tiefere und störende Inkohärenz feststel-
len. Im Bemühen, die Beziehungen zwischen Mensch und Gott umzukehren,
behauptet er: »Alle Bestimmungen, die für das Endliche notwendig sind, sind
für Gott umgekehrt, und für Ihn allein« (oben zitiert). Aber Marions zen-
338 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

tralste Aussagen über Gott stellen eine eklatante Verletzung seines eigenen
Prinzips dar. Um das Hauptbeispiel zu nennen: Marion »transponiert« die
Situation der menschlichen Liebe bzw. der menschlichen Liebesbeziehungen,
wie er sie beschreibt, direkt – man muss sogar sagen: wörtlich – auf Gott. Wie
unten zu zeigen sein wird, beschreibt er als ein Beispiel eines »saturierten
Phänomens« die folgende »Liebessituation«: »[E]in bestimmtes Antlitz, das
ich liebe, unsichtbar geworden, nicht nur weil es mich blendet, sondern vor
allem weil ich darin nichts mehr als seinen unsichtbaren auf mir ruhenden
(An)Blick (regard invisible) (an)blicken will und kann.« (PhS 74)
Das ist beinahe wörtlich die Weise, wie Marion Gott konzipiert. Aber er
scheint nicht im Mindesten zu merken, was er selbst sagt und wie er es artiku-
liert. Ist er wirklich von »der Versuchung [ausgenommen], Gott unmittelbar
auf unsere Maßstäbe zu reduzieren« (Preface xx)? Dieser Versuchung erlegen
zu sein, bildet den zentralen Einwand, den Marion gegen die metaphysische
Behandlung des Themas »Gott« geltend macht. Aber jetzt wird klar, dass die-
ser Einwand, den er generell gegen die ganze christlich orientierte Metaphysik
erhebt, nicht nur haltlos ist, sondern sich gegen seine eigene Position wendet.
In der Tat, kein christlicher metaphysischer Denker – zumindest nicht unter
den wirklich großen christlichen Autoren  –  hat auf Gott das Modell eines
menschlichen Phänomens (das Phänomen der Liebe) so gedankenlos und
direkt transponiert wie Marion. Was bleibt vom Umkehrungsprinzip übrig?42

[3] Die aus Marions Aussagen zu ziehende Lektion ist klar und lautet: Unge-
achtet – genauer: gerade wegen – der Weise, wie er versucht, Gott zu denken,
indem er (angeblich) »der Versuchung widersteht, ihn unmittelbar auf unsere
Maßstäbe zu reduzieren«, präsentiert er in Wirklichkeit eine Sicht Gottes, die
aus einem offensichtlichen Anthropomorphismus resultiert. Wenn er von »uns,
menschlichen Seienden« spricht, wird er gerade dem unbegrenzten Raum, der
den menschlichen Geist charakterisiert, nicht gerecht; stattdessen basiert er
seine Überlegungen und Ausführungen auf einer verminderten Gestalt des
Menschlichen. Unter Hinweis auf Pascals schon zitierten berühmten Satz:
»Der Mensch1 übersteigt den Menschen2 um ein Unendliches« [L’homme

42  Es ist interessant anzumerken, dass sogar ein Philosoph / Theologe wie John D.

Caputo in seiner typischen postmodernen Sprache und aus einer ganz anderen Per-
spektive eine ähnliche Kritik äußert:
»Gott ohne das Sein bestätigt Derridas Verdacht, dass gerade dann, wenn jemand
vorgibt ohne jede Vermittlung zu sprechen oder zu unterrichten, wir von den massivsten
Vermittlungen heimgesucht werden. Gerade dann, wenn jemand behauptet, Gottes Stand-
punkt erreicht oder gewährt bekommen zu haben, beginnen die Dinge nur allzu ›ungött-
lich‹ zu werden. Gerade dann, wenn jemand denkt, er habe das / den Ganz Andere(n) (the
Wholly Other) ergriffen, werden wir vom Menschlichen, allzu Menschlichen heimge-
sucht …« (»God Is Wholly Other – Almost: Différance and the Hyperbolic Alterity of
God«, 1998, 195)
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 339

passe infiniment l’homme]«43, lässt sich zeigen, dass Marion den Menschen mit
»Mensch2« identifiziert und »Mensch1« nicht – zumindest nicht adäquat – be-
achtet und thematisiert.

4.2.2.4 Die Inkohärenz zwischen »Gott liebt, bevor er ist« und dem
»Gegeben-sein«44 (Gottes)
In Marions Aussagen über Sein und Gott findet man einen weiteren Wider-
spruch, dessen Klärung für die Einschätzung seiner philosophischen Position
von großer Bedeutung ist. Dieser Widerspruch kommt nicht so offensichtlich
zutage wie die bisher aufgezeigten Widersprüche; er ist eher indirekter Natur.
Aus diesem Grund wird hier dafür der schwächere Ausdruck ›Inkohärenz‹
verwendet.45

[1] Marion selbst ist der beste – wenngleich unwillige und unbewusste – Kriti-


ker seiner eigenen Position hinsichtlich der hier behandelten Thematik. Eines
seiner wichtigsten Bücher trägt den Titel Gegeben-sein. Eine Phänomenolo-
gie der Gegebenheit/ Schenkung (Étant donné: Une phénoménologie de la
donation). Der Titel der englischen Übersetzung ist Being Given: Toward a
Phenomenology of Givenness. Der Haupttitel Gegeben-sein (Étant donné,
Being Given) ist, besonders in der französischen Fassung, ein außerordent-
lich angemessener Titel, weil er nach Marions eigenen Erläuterungen eine
kohärente Deutung des Begriffs des »Gegebenen«, des zentralen Begriffs
seiner Philosophie und Theologie, artikuliert. Aber diese Konzeption, die
in sachlicher Hinsicht als kohärent zu bezeichnen ist, widerspricht direkt
anderen zentralen Aussagen Marions, auch  –  und ganz besonders  –  seinen
Aussagen über Sein und Gott, die sein ganzes Oeuvre prägen. Das soll im
folgenden gezeigt werden.
Um den Titel genau zu verstehen, muss auf die französische Fassung Étant
donné Bezug genommen werden. Marion versteht »étant – seiend« in der
Klausel »étant donné« nicht als »l’étant – das Seiende«; dies würde mit:
»l’étant est donné – das Seiende ist gegeben« gleichbedeutend sein. Bezeich-
nenderweise – aber nach Meinung des Verfassers irrigerweise – fügt Marion
hinzu, dies wäre ein »metaphysisches Verständnis«. Stattdessen will Marion

43 
B. Pascal, Pensées, 1954, No. 438, p.1207 (Kursiv nicht im Original).
44 
Preface xx bzw. ED 5 ff.
45  Gemäß der in der philosophischen Literatur weitgehend angenommenen oder

vorausgesetzten Bedeutung wird »Kohärenz« hier als »positive Kompatibilität« oder


»positiver Zusammenhang« verstanden. Kohärenz unterscheidet sich daher von »Kon-
sistenz« (im streng logischen Sinne), da diese nur »negative Kompatibilität« bezeichnet.
»Kohärenz« schließt »Konsistenz« ein, hat aber eine weitere Bedeutung als »Konsistenz«.
340 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

»étant« als ein Verb verstanden wissen, »ein Verb, das im Dienste eines
anderen Verbs steht (eines Hilfsverbs):
»Es [étant-seiend] setzt das ins Werk, was sich, von da an, am Ende als ›gegeben‹
erweist. […] Hier bereitet ›étant-seiend‹ das ›Gegebene‹, das es [das étant-seiend]
vollendet und ihm [dem étant-seiend] die Stärke eines fait accompli verleiht. [Il met
en oeuvre ce qui, dès lors, s’avère à la fin ›donné‹. […] Ici ›étant‹ prépare ›donné‹, qui
l’accomplit et lui confère la force d’un fait accompli]«. (ED 6; Kursiv nicht im Original)

Diese Formulierungen sind sehr bedeutsam; sie stellen eine angemessene


sachliche Analyse dar, insofern sie eine zumindest partielle Charakterisierung
dessen artikulieren, was »étant – seiend« für Marion bedeutet. Anstatt zu
sagen, dass »étant – seiend« »das ins Werk setzt, was sich, am Ende als ›gege-
ben‹ erweist«, könnte man einfach die adäquatere Formulierung verwenden:
Der Ausdruck ›étant – seiend‹ artikuliert das, »was sich am Ende als ›gegeben‹
erweist«. Letztere Formulierung entspricht – zumindest grundsätzlich – dem,
was in Kapitel 3 des vorliegenden Werkes herausgearbeitet wurde: »Geben-
gegeben–Liebe« ist das volle Explicatum / Explicans von »Sein«. Es wird sich
aber gleich zeigen, dass dies nicht der von Marion intendierten Interpretation
entspricht.
Warum hat Marion diesen Titel gewählt? War er sich nicht bewusst, dass
er in direktem Gegensatz, ja Widerspruch zu dem steht, was er selbst in
zahlreichen Schriften über »Seiend / Sein« sagt? Um die Inkohärenzen dieser
vielen Aussagen über »Seiend / Sein« mit dem Titel »Étant donné« zu ver-
meiden, hätte er immer sagen sollen »seiende/existierende Liebe«, »seiender/
existierender Gott« und Ähnliches. Aber das hätte die Grundkoordinaten
seiner ganzen Position total in Frage gestellt.
Das wird hier schon daran ersichtlich, dass die soeben formulierte teilweise
positive Einschätzung der Marionschen Formulierungen und Aussagen mit
einer wichtigen Restriktion versehen werden muss. In derselben Passage,
in der die soeben zitierten Aussagen vorkommen, fügt Marion einige wei-
tere Aussagen hinzu, die zwar den oben zitierten nicht (noch nicht) direkt
widersprechen, die aber deutlich die Tendenz zeigen, wie er sagt, das Sein
»abzusetzen (dé-poser)«. Die folgende Passage offenbart so etwas wie einen
Wettstreit zwischen zwei antagonistischen Tendenzen im Denken Marions:
einerseits die Tendenz, Sein-Seiend(es) als das zu verstehen, was der Titel
Étant donné korrekt artikuliert; andererseits die Tendenz, Sein-Seiend(es) ab-
zusetzen, indem es zum Verschwinden gebracht und/oder indem es auf eine
unabhängige und untergeordnete Dimension reduziert wird.

»Rein als Hilfsverb betrachtet, ›étant – seiend‹, als ein Verb, wackelt und verschwindet
im ›Gegebenen‹, da es nur darauf aus ist, dieses zu bekräftigen: ›étant – seiend‹ setzt
die Tatsache des Gegebenen und setzt sich in ihm vollständig ab [›étant‹ pose le fait
du ›donné‹ et s’y dépose tout entier]. […] Étant donné – Gegeben-sein führt nicht das
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 341

Gegebene auf den Status eines Seienden (un étant) zurück, das noch nicht adäquat
genannt wurde; auch fixiert es nicht das Gegebene in einer angeblich normativen
Seiendheit (étantité). Vielmehr enthüllt Étant donné – Gegeben-sein das Gegeben-sein
als ein solches, das niemandem etwas schuldet, gerade als Gegeben-sein, das sich auf
das Geben-als-Schenkung hinordnet [qui s’ordonne à la donation]46 und darin sogar
›étant-seiend‹ gebraucht (emploie). In einem Zug gewinnt das Gegebene seinen Cha-
rakter als Gegebenheit-als-Schenkung, und das Sein (étant-seiend verbal genommen)
verschwindet (disparaît), indem es sich darin erfüllt [en s’y accomplissant]« (ED 6;
Kursiv nicht im Original)

Es ist offenkundig, dass Marion die Tendenz hat, étant – seiend (als Verb ge-
nommen) entgegen den expliziten Erklärungen auf »un étant – ein Seiendes«
zu reduzieren, wodurch »Gegebenes« und »Sein / Seiendes« als zwei distinkte
Dimensionen betrachtet werden, so dass die Dimension des Seins/Seienden
verschwinden muss, damit das Gegebene als das Gegebene erscheint. Das
widerspricht dem, was er selbst gesagt hatte, dass »seiend« als Verb genommen
werden muss: ein Verb, das für ein anderes Verb arbeitet, indem es das ins
Werk setzt, was sich am Ende als ›gegeben‹ erweist. Nach dieser Formulierung
wäre es ein gänzliches Missverständnis, »seiend« und »gegeben/Liebe« als
zwei völlig differente Dimensionen zu verstehen; vielmehr ist »seiend« das
noch unbestimmte und somit noch nicht entfaltete Gegebene. Aber dieses
»seiend« kann nicht verschwinden, da es sich entfalten muss, bis es seine
Fülle erreicht, d. h. den Punkt, wo es die Bezeichnung »Liebe/Gabe« ver-
dient – wenn man sie als Gegeben-sein, als Gott-seiend versteht.
Das ist übrigens genau das, was von Balthasar unter »Sein« versteht, wie
oben (vgl. 4.2.2.1 [iii]) dargestellt wurde. Und das entspricht, sogar sehr genau,
zentralen Aussagen Marions in der zitierten Passage, z. B.: »Es [étant-seiend]
46  Der französische Text enthält Subtilitäten und Konnotationen, die sich aus dem

Spielen mit den verwendeten Worten ergeben. Das französische Wort für »Gegeben(es)«
ist »donné«. Daraus entwickelt Marion einige verbale Assoziationen, die, sachlich gesehen,
sehr problematisch, ja willkürlich erscheinen. Sie sind ein charakteristisches Beispiel
für das von postmodernen Autoren gepflegte Verfahren, Konzeptionen auf der Basis
von – meistens zufälligen – Wortassoziationen zu entwickeln. So wird das »donné« zum
»Geschenk(ten)«, zur »Gabe«. »Gegebenheit« wird zur »donation« (Schenkung, Geben
als Gabe). Husserls zentrale Ausdrücke: ›Geben‹, ›Gegebenes‹ ›Gegebenheit‹ erfahren
bei Marion eine Art magischen Bedeutungswandel. Es ist nicht verwunderlich, dass sich
nüchterne Husserlinterpreten gegen diese rein verbal gestützte »Uminterpretation« der
Phänomenologie mit Entschiedenheit wenden. Immerhin kann man darauf verweisen,
dass das Wort ›geben‹ (lateinisch: dare) auch die Bedeutung schenken haben kann. Aber
das ist nicht die eigentliche Bedeutung in der Phänomenologie, und jedenfalls ist sie nicht
die von Husserl gemeinte Bedeutung. Die zitierte Passage enthält die Formulierung »…
donné en tant que donné, qui s’ordonne à la donation …« Es ist offensichtlich, dass Marion
eine phantasievolle (genauer: rein lautlich bzw. aussprachlich bestehende) Assoziation
zwischen »ordonner« und »donation« intendiert. Aber »ordonner« kommt aus dem latei-
nischen »ordo / ordinare«, während »donation« aus dem lateinischen »donatio / donare«
stammt. Die rein lautliche-aussprachliche Ähnlichkeit begründet absolut keine Sinnver-
wandtschaft, geschweige denn Sinngleichheit.
342 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

setzt das ins Werk, was sich, von da an, am Ende als ›gegeben‹ erweist. […]
Hier bereitet ›étant-seiend‹ das ›Gegebene‹, das es [= étant-seiend] vollendet
und ihm [=étant-seiend] die Stärke eines fait accompli verleiht.« Daher ist
das Gegebene nach Marion gerade die Vollendung des étant-seiend. Das ent-
spricht grundsätzlich der Konzeption, die in Kapitel 3 dargestellt wurde: Gott
als das volle Explicatum / Explicans von »Sein« ist das erfüllte Sein. Wie kann
dann Marion sagen, dass étant-seiend (und damit Sein) verschwindet, dass es
sich im Gegebenen ab-setzt? Es ist widersinnig, zu sagen, dass Vollendung
Verschwindung impliziert oder gar besagt.
Marions Behauptungen erklären sich daraus, wie schon oben bemerkt
wurde, dass er die Dimensionen des Seins/Seienden einerseits und jene Di-
mension, die er Gegebenheit im Sinne von Schenkung, Gabe, Liebe usw.
nennt, andererseits wie zwei fixe getrennte Dimensionen betrachtet. Das ist
ein absolut konsequenzenreicher Fehler, der auch vielen seiner eigenen Aus-
führungen, wie soeben gezeigt, widerspricht.

[2] Es muss auch bemerkt werden, dass Marion im soeben zitierten Text die
Tendenz zeigt, einen Fehlschluss zu begehen, der in mehreren Passagen seiner
Schriften nachgewiesen werden kann. Man könnte diesen Trugschluss den
Trugschluss des Wegwerfens-der-Leiter nennen. Die Formulierung erinnert an
den vorletzten Absatz im Tractatus von L. Wittgenstein, der lautet:
»6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als
unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinaufgestiegen ist. (Er muss
sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese
Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.«

Ungeachtet der Bemühungen eingefleischter Wittgensteinianer, diese Passage


in einer Weise zu interpretieren, die absurde Konsequenzen vermeidet, kann
nicht geleugnet werden, dass Wittgenstein in dieser Passage einen kruden
Trugschluss begeht.
Wenn man einerseits Marions apodiktische Aussagen über Gott ohne das
Sein, über Gott, der liebt, bevor er ist, und ähnliche, und andererseits seine
teilweise klaren und teilweise ambigen Erläuterungen zu Étant donné – Ge-
geben-sein analysiert, so wird deutlich, dass er selbst den Trugschluss des
Wegwerfens der Leiter begeht: Gemeint ist die Leiter, die er selbst benutzt
hatte, um zu dem zu gelangen, was seine zentrale Idee und sein zentrales An-
liegen ist, nämlich zu dem reinen Phänomen (der reinen Phänomenalität), zu
nichts anderem als zu dem reinen Phänomen, dem reinen Gegebenen, wie er in
den »Einleitenden Antworten« am Anfang seines Buchs Étant donné – Being
Given betont: »Étant donné – Gegeben-sein enthüllt das Gegeben-sein als ein
solches, das niemandem etwas schuldet, gerade als Gegeben-sein, das sich auf
das Geben-als-Schenkung hinordnet [qui s’ordonne à la donation] und darin
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 343

sogar ›étant – seiend‹ gebraucht (emploie).« Aber jetzt betont Marion, dass
»›étant – seiend‹, als ein Verb, wackelt und im ›Gegebenen‹ verschwindet, da
es nur darauf aus ist, dieses zu bekräftigen: ›étant – seiend‹ setzt die Tatsache
des Gegebenen und setzt sich in ihm vollständig ab«. »Verschwinden« und
»Ab-setzung« des Seins: das sind die Ausdrücke / Begriffe, mit denen Marion
sein Wegwerfen der Leiter charakterisiert. Das ist ein Trugschluss: Wie kann
»Sein/Seiend« verschwinden, wenn es das ist, was »das ins Werk setzt, was
sich am Ende als ›gegeben‹ erweist«, was am Ende seine Vollendung erlangt?

4.2.2.4a Exkurs 4: Bemerkungen zu Marions rhetorisch-polemischem Stil bei


der Behandlung der Frage des Verhältnisses von Sein und Gott
Die bisher kritisch kommentierten Fragen Marions hinsichtlich des Verhält-
nisses von Sein und Gott können, wenn nicht als einwandfrei sinnvoll, so
doch – mindestens bis zu einem gewissen Punkt – als ausreichend sachlich
betrachtet werden. Aber in anderen Passagen seiner Schriften pflegt er einen
rhetorisch-polemischen Stil, der als völlig unsachlich zu bewerten ist, um
schwierige philosophisch-theologische Themen wie die hier diskutierten zu
behandeln. Beispielsweise formuliert er eine seiner Fragen in dem schon
mehrmals zitierten Preface zur englischen Übersetzung seines Buches Dieu
sans l’être folgendermaßen: »Zu sein oder nicht zu sein – das ist in der Tat die
erste und unverzichtbare Frage für jedes Ding und jedermann (for everything
and everyone), für den Menschen insbesondere. Aber in Bezug auf Sein soll
sich Gott wie Hamlet verhalten? – But with respect to Being does God have
to behave like Hamlet?« (Preface xx)
In einem Vortragstext aus dem Jahre 2002 mit dem Titel »Muss/soll Gott
existieren? – Dieu a-t-il à exister?«47 stellt er die Frage: »Warum sollte Gott
existieren? – Pourquoi Dieu aurait-il à exister?« Welch eine seltsame Frage!
Die Antwort darauf ist dieselbe, die oben auf eine andere ähnliche Frage
gegeben wurde: Wovon redet er, wenn er das Wort ›Gott‹ in dieser Frage
verwendet? Dann fügt er hinzu: »Vielleicht muss Gott nicht existieren, wenn
es sich so verhält, dass er sich offenbart, indem er liebt, dass er sich selbst
schenkt, um zu lieben. Wenn Gott Liebe ist.« Also, ein liebender Gott, ein
Gott als Liebe muss  –  vielleicht  –  nicht existieren, nicht sein. Sollte man
daraus folgern, dass Marions Gott eine Fiktion oder – um einen Ausdruck zu
verwenden, den er gern gebraucht, wenn er über das spricht, was er den Gott
der Metaphysik nennt – ein Idol / Götze (idol), zwar ein »schönes Idol«, aber
nichtsdestotrotz ein Idol / Götze?

47  Conférences-débats 2002 der Association Saint-Etienne, 07. Februar, 2002, in der

französischen Stadt Caen. Vgl.: http://abbaye-aux-hommes.cef.fr/activites/conf06.htm.


Die ohne Seitenangaben im Haupttext angeführten Zitate sind dieser Website entnommen.
344 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

In einer anderen Passage stellt er noch seltsamere Fragen: »Warum sollte


er existieren wie wir? – Pourquoi existerait’il comme nous?« Antwort: Kein
Metaphysiker hat jemals behauptet oder angenommen, dass Gott zu existieren
hat »wie wir«. Aber Marion fährt fort: »Mit welchem Recht können wir be-
anspruchen, Ihm unser Diktat aufzuzwingen und von Ihm verlangen, dass Er
seine Existenz beweist? Oder dass Er sich unserer Rationalität unterwirft?«
Fragen wie diese können nicht beantwortet werden, da sie einfach sinnlos
sind. Sie sind sinnlos, weil sie unter anderem auf einem hysteron-proteron-
Trugschluss basieren: Sie setzen voraus, was in Frage steht, was zu zeigen
wäre. Ein Diktat kann nur jemandem aufgezwungen werden, der überhaupt
ist/existiert, nicht einer Fiktion, nicht einem Idol/Götzen. Jemand könnte
unserer Rationalität unterworfen werden oder sein, nur unter der Bedingung,
dass er ist/existiert.
Marion geht einen Schritt weiter  –  und das ist ein hoch problematischer
Schritt. Er fragt: »Hat Gott nichts Besseres zu tun als zu existieren? – Dieu
n’a-t-il pas mieux à faire qu’à exister?« Dazu kann man nur ohne Zögern sagen:
Eine solche Frage ist sinnlos, und zwar nicht nur wegen der völlig inakzepta-
blen Annahmen, aus welchen sie erwächst; sie ist darüber hinaus eine verfäng-
liche, populistische rhetorische Frage, die nicht als ernsthafte philosophische
Frage betrachtet werden kann.  –  Und schließlich fragt Marion: »Und wir,
haben wir nichts Besseres zu tun als zu beweisen, dass Er existiert – oder dass
er nicht existiert? – Et nous, n’avons-nous pas mieux à faire qu’à démontrer
qu’il existe – ou qu’il n’existe pas?« Noch einmal: ein typischer hysteron-pro-
teron-Trugschluss. Und noch einmal die Nicht-Anerkennung, die Negation
der conditio humana. Was Marion nicht beachtet: Wir sind mit der Gottesfrage
konfrontiert; und – besonders aus christlicher Perspektive – haben wir nicht
nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, nach Klarheit über diese Frage
zu suchen. Ob, und wenn ja, in welchem Sinne man von einem »Beweis für
die Existenz Gottes« sprechen könnte oder sollte, stellt nur einen Aspekt der
Frage nach Gott dar, wie in Kapitel 3 ausgeführt wurde.

4.2.3 Der fundamentale Fehler oder das proton pseudos: Die versuchte Trans-
formation von Husserls phänomenologischem Ansatz durch Umkehrung der
Subjekt-Objekt-Beziehung und die Idee der reinen Phänomenalität
Die Herausarbeitung der Widersprüche, Inkohärenzen, arbiträren Annahmen
u. ä. in Marions philosophischem und theologischem Gesamtwerk ist eine
sinnvolle und unverzichtbare Aufgabe. Aber sie ist nicht die einzige und
nicht die wichtigste Aufgabe. Eine sinnvolle und fundamentale Frage bleibt
zu klären: Warum und wie gelangt Marion zu seiner ungewöhnlichen Kon-
zeption über Transzendenz und Gott? Darauf lässt sich eine Antwort geben,
und sie soll in diesem ausführlichen Abschnitt im Einzelnen herausgearbeitet
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 345

werden. In aller Kürze lautet die Antwort: Was erklärt, warum Marion seine
Konzeption entwickelt, ist das, was man einen magnus error in initio, einen
fundamentalen Fehler am Beginn, ein proton pseudos nennen kann. Und das
ist Marions Versuch, Husserls phänomenologischen Ansatz dadurch zu trans-
formieren oder auch zu korrigieren und zur vollen Entfaltung zu bringen,
dass die Subjekt-Objekt-Beziehung einer totalen Umkehrung unterzogen
wird, mit dem Ergebnis, dass dadurch die – nach seiner Auffassung – echte,
ursprüngliche Idee der reinen Phänomenalität erscheint.

4.2.3.1 Probleme des Husserlschen phänomenologischen Ansatzes und


Marions Transformations‑ und Vervollständigungsprojekt

[1] Marion verfolgt das Projekt, Husserls Phänomenologie in einer radikalen


Weise durchzuführen, mit dem Ziel, ihr volles Potential zu entfalten, was
für ihn bedeutet, dass grundlegende Irrtümer korrigiert und die gesamte
Gestalt dieser Denkform transformiert werden muss. Er versucht dieses Ziel
zu erreichen, indem er eine, wie er sie nennt, dritte (phänomenologische)
Reduktion durchführt. Er überwindet eine erste Reduktion, Husserls trans-
zendental-phänomenologische Reduktion, die er als eine Reduktion des Ge-
gebenen auf das transzendentale Ich interpretiert: Das Gegebene wird als das
durch das transzendentale Ich konstituierte Objekt verstanden. Aber Marion
möchte auch eine zweite Form von Reduktion überwinden, nämlich Heideg-
gers Reduktion des Gegebenen auf das Dasein und des Daseins auf die Welt
und dann auf das Sein. Und danach visiert er eine dritte Reduktion an: die
Reduktion des Gegebenen (in einem nicht-spezifischen Sinne) auf die reine
Phänomenalität, die er als reine Gegebenheit und diese als Schenkung oder
Geschenktes (donation) deutet. Dieser dritten Reduktion schreibt er eine
»unbestreitbare Priorität«48 zu.
Marion zufolge bricht die Phänomenologie, wie er sie versteht, sowohl mit
der Transzendentalphilosophie als auch mit der Metaphysik, und zwar da-
durch, dass sie in einer doppelten negativen Weise das Phänomen konzipiert.
Erstens versteht sie das Phänomen nicht als ein Objekt, d. h. nach Marion:
»nicht im Horizont der Objektität (objectité)«, nicht als etwas, das vom Sub-
jekt konstituiert wird. Zweitens wird Phänomen nicht als Seiendes (étant)
begriffen, d. h. »nicht im Horizont des Seins (être)« (ED 439).

[2] Um diese Begriffe und Zusammenhänge richtig zu begreifen, muss man


auf die zentrale Idee der Husserlschen Phänomenologie zurückgehen, auf das,

48  J.-L. Marion, »L’autre philosophie première et la question de la donation«, 1996,

29–50; Zit. 45.


346 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

was Husserl »das Prinzip aller Prinzipien« nennt. Er charakterisiert dieses


Metaprinzip folgendermaßen:
»Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle
der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ ori-ginär (sozusagen in
seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt,
aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche
Theorie irre machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede ihre Wahrheit selbst wieder nur
aus den originären Gegebenheiten schöpfen könnte. Jede Aussage, die nichts weiter
tut, als solchen Gegebenheiten durch bloße Explikation und genau sich anmessende
Bedeutung Ausdruck zu verleihen, ist also wirklich […] ein ab-soluter Anfang, im
echten Sinne zur Grundlegung berufen, principium. Das aber gilt im besonderen Maße
von den generellen Wesenserkenntnissen dieser Art, auf welche das Wort Prinzip
gewöhnlich beschränkt wird.«49

Was in der originären Anschauung gegeben ist, ist das Phänomen: das ist
Husserls zentrale Idee, und dies ist auch Marions zentrale Idee. Man muss
aber sehen, wie Marion selbst diese Formulierungen versteht und wie er in
einem weitgehenden Sinne Husserls Konzeption transformiert. Diesbezüglich
sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung.
[i] Der erste ist durch Husserls berühmte Formulierungen angezeigt: »Exis-
tenz-, Seinseinklammerung« oder »Ausschaltung der Existenz, des Seins«.50
Zunächst bezeichnen diese Formulierungen ein methodologisches Prinzip,
dem zufolge der Phänomenologe die »natürliche Einstellung« zur Welt und zu
allen Dingen ignorieren muss. Die natürliche Einstellung nimmt das an, was
Husserl die »Generalthesis« nennt, d. h. die These, dass es eine existierende
Welt gibt, dass es existierende Dinge gibt, deren Existenz oder Sein von uns,
unserem Bewusstsein, unseren intentionalen Akten völlig unabhängig ist. Mit
dieser »Existenz-, Seinseinklammerung« ist die/das unabhängige Existenz/
Sein der Welt, der Dinge, nicht rundweg negiert. Es wird nur gesagt, dass
die Aufgabe des Phänomenologen darin besteht, eine Reduktion bezüglich
dieser Einstellung zu vollziehen, so dass diese Reduktion ihn dazu führt, die
intentionalen Akte, die die Objekte konstituieren, zu untersuchen. Die Idee
der Reduktion hat mehrere Stufen, einschließlich der Stufen, die Husserl die
phänomenologische, die transzendentale und die eidetische Reduktion nennt.
Auf diesen Punkt kann hier nicht weiter eingegangen werden.
In diesem Kontext ist die Tatsache wichtig, dass Husserl später (spätestens
in der Zeit der Veröffentlichung der Ideen …, 1913) das methodologische
Prinzip (»Einklammerung der Existenz, des Seins«) in ein strenges systema-
tisches Prinzip im folgenden Sinne transformierte: Existenz/Sein wird nicht
in dem Sinne »eingeklammert«, dass sie /es nicht explizit betrachtet oder
thematisiert wird; vielmehr wird Existenz /Sein als eine von den intentionalen
49  E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 1976, § 24, 52.
50 
Vgl. beispielsweise ebd., § 31.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 347

Akten unabhängige Dimension rundweg verworfen. Existenz/Sein wird auf


Sein-für-das-Bewusstsein, auf Erscheinung / Phänomen reduziert. Das ist die
berühmte transzendental-idealistische Wende in Husserls Phänomenologie,
die zu einer Spaltung der Phänomenologie in zwei Richtungen führte: eine
idealistische und eine realistische. Husserl verwendete weiterhin die Terme
›Sein/Seiendes‹, aber er machte klar, dass er Sein ausschließlich im Sinne
einer Reduktion des Seins auf Erscheinung / Phänomen deutete. Die folgende
Passage aus den Ideen artikuliert diesen Punkt ganz klar:
»So kehrt sich der gemeine Sinn der Seinsrede um. Das Sein, das für uns das Erste ist,
ist an sich das Zweite, d. h. es ist, was es ist, nur in ›Beziehung‹ zum Ersten. Nicht
als ob eine blinde Gesetzesordnung es gemacht hätte, daß die [sic!] ordo et connexio
rerum sich nach der [sic!] ordo et connexio idearum richten müsse. Realität, sowohl
Realität des einzeln genommenen Dinges als auch Realität der ganzen Welt, entbehrt
wesensmäßig (in unserem strengen Sinne) der Selbständigkeit. Es ist nicht in sich etwas
Absolutes und bindet sich sekundär an anderes, sondern es ist in absolutem Sinne gar
nichts, es hat gar kein ›absolutes Wesen‹, es hat die Wesenheit von etwas, das prinzipiell
nur Intentionales, nur Bewußtes, bewußtseinsmäßig Vorstelliges, Erscheinendes ist.«51

Auf dieser Basis reinterpretiert Husserl seine phänomenologische Reduktion


in radikaler Weise:
»Anstatt […] in der Erfahrung naiv zu leben und das Erfahrene, die transzendente
Natur, theoretisch zu erforschen, vollziehen wir die ›phänomenologische Reduktion‹.
Mit anderen Worten: Anstatt die zum naturkonstituierenden Bewußtsein gehörigen
Akte mit ihren transzendenten Thesen in naiver Weise zu vollziehen und uns durch
die in ihnen liegenden Motivationen zu immer neuen transzendenten Thesen be-
stimmen zu lassen  –  setzen wir alle diese Thesen ›außer Aktion‹, wir machen sie
nicht mit; unseren theoretisch erfassenden und forschenden Blick richten wir auf das
reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein. Also das ist es, was als das gesuchte
›phänomenologische Residuum‹ übrig bleibt, übrig, trotzdem wir die ganze Welt mit
allen Dingen, Lebewesen, Menschen, uns selbst inbegriffen, ›ausgeschaltet‹ haben. Wir
haben eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das, recht
verstanden, alle weltlichen Transzendenzen in sich birgt, sie in sich ›konstituiert‹.«52

Es ist zu betonen, dass Husserl jetzt vom »reinen Bewußtsein in seinem ab-
soluten Eigensein« spricht. Was bedeuten »Sein«, »absolut« und »eigen« hier?
Diese Ausdrücke bzw. Begriffe stehen im Zentrum der tiefliegenden Ambi-
guität, die Husserls letzte Phase seiner phänomenologischen Konzeption cha-
rakterisiert. Einige Formulierungen in den beiden zuletzt zitierten Passagen,
wörtlich genommen, könnten vermuten lassen, dass Husserl einem absoluten
Idealismus das Wort redet. (»Das Sein, das für uns das Erste ist, ist an sich das
Zweite, d. h. es ist, was es ist, nur in ›Beziehung‹ zum Ersten.«) In diesem Fall
wäre die phänomenologische »Konstitution« dasselbe wie »Erschaffung, Er-

51  Ebd., § 50, 106.


52 
Ebd. § 50, 106–107.
348 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

zeugung, Hervorbringung«. Es wird sich unten (vgl. [3] [i]) zeigen, dass dem
nicht so ist. Im ersten Zitat sagt Husserl: »So kehrt sich der gemeine Sinn der
Seinsrede um.« Es geht also um den Sinn von »Sein«. Wie Sinn zu verstehen
ist, das ist die große Frage, die die Ambiguität der Phänomenologie anzeigt.
Man könnte hier im Anschluss an Heideggers Sprechweise sagen: Husserl
hat immer nur den Sinn (was immer das sein mag), nicht aber das Sein selbst
thematisiert.
[ii] Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass Husserl schließlich die phäno-
menologische Reduktion als ein Verfahren verstand, das zur transzendentalen
Dimension, zum transzendentalen Subjekt bzw. Ich führt. In letzter Ana-
lyse ist das Ich die Instanz, die alle »Objekte« konstituiert, wie immer diese
bezeichnet werden mögen.

[3] Was den ersten Aspekt anbelangt, so akzeptiert Marion voll und ganz
Husserls Idee des Phänomens, besonders insofern es mit der Idee der originär
gebenden Anschauung assoziiert wird. Aber er radikalisiert die Idee in einer
Weise, die, wenn überhaupt, nur von sehr wenigen Phänomenologen an-
genommen wird.
Der zweite Aspekt wird von Marion gänzlich und radikal abgelehnt, und
zwar in einer Weise, die hoch signifikant ist: Marion verwirft nicht einfach die
Idee der Konstitution; stattdessen kehrt er sie um, so dass das Subjekt es ist,
das konstituiert / invertiert wird.
[i] Von nun an wird in diesem Buch hauptsächlich Marions eigene Gestalt
der Phänomenologie berücksichtigt. Angesichts der immensen Tragweite,
die Marions phänomenologische Position für die Problematik der Themen
»Transzendenz« und »Gott« hat, ist es in kritischer Hinsicht nicht übertrieben
zu sagen, dass der fundamentale Fehler, das proton pseudos der philosophisch-
theologischen Konzeption Marions in dem Umstand zu sehen ist, dass er
Husserls Idee des Phänomens annimmt und radikalisiert. Diese zentrale These
muss nun im Detail erläutert und begründet werden, was im folgenden getan
werden soll.
In diesem Zusammenhang ist es angebracht, darauf hinzuweisen, dass eine
bemerkenswerte »Logik« in Marions Verfahren, das Problem der Transzen-
denz und besonders des Verhältnisses zwischen Sein und Gott zu behandeln,
festgestellt werden kann. In der Tat, wie die tiefen Ambiguitäten des Husserl-
schen phänomenologischen Ansatzes gezeigt haben, verschwindet das Sein als
Sein in einer Hinsicht, in einer anderen Hinsicht verschwindet es nicht ein-
fach, sondern wird auf »das reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein«,
das »phänomenologische Residuum«, reduziert.
Das macht zumindest in einer grundsätzlichen Hinsicht deutlich, warum
Marion seine ungewöhnlichen Aussagen über Sein und Gott aufstellt. Das
Phänomen ist das, was erscheint. Aber was ist dieses »was«, das Erscheinende?
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 349

Ist das, was erscheint, die Erscheinung von Sein, von Seiendem? Ist das der
Fall, dann müsste das, was die Erscheinung (das Phänomen) zum Erscheinen
bringt bzw. das, was sich in der Erscheinung zeigt, explizit thematisiert wer-
den. Aber weder Husserl noch Marion tun das. Wenn aber, auf der anderen
Seite, das, was erscheint, nicht die Erscheinung von Sein, von Seiendem ist,
dann ist die Erscheinung nicht die Erscheinung von etwas. In diesem Fall wäre
die Gesamtheit der Dinge / Seienden, die ganze Realität, das Sein im Ganzen
einfach reduziert auf reine Erscheinungen, reine Phänomene. Aber wie wären
reine Erscheinungen, reine Phänomene zu konzipieren?
Weder Husserl noch Marion gelingt es, reine Erscheinungen/Phänomene
ohne den Bezugspunkt einer konstituierenden und einer konstituierten In-
stanz zu denken: Dieses Bezugsverhältnis bleibt immer die absolut fun-
damentale Basis für alles. Wie noch zu sehen ist, hat Marion versucht, das
Verhältnis Konstituierendes-Konstituiertes, die Distinktion Subjekt-Objekt
umzukehren. Auch wenn man bereit wäre anzunehmen, dass eine solche
Umkehrung Sinn macht, bliebe das ganze Denkschema absolut im Rahmen
dieser Distinktion bzw. dieser Dualität verankert.
Mit der Verwendung des Begriffs »reine Phänomenalität« erweckt Marion
den Anschein, als ob er aus der Zwangsjacke dieser Distinktion ausgebrochen
sei. Dem ist aber keineswegs so: Seine »reine Phänomenalität« bleibt eben
»Phänomenalität« im Sinne von: Erscheinendes-für-ein-Bewusstsein/Subjekt.
Nur so denkt er das, was er »Phänomen« nennt. Der Bezug zur Subjektivität/
zum Bewusstsein ist dabei ein wesentlicher Faktor seiner Bestimmung von
»Phänomen«. Völlig anders denkt Heidegger das »Phänomen«: Nicht mehr
als Bezug oder mit Bezug zu einer Instanz, wie immer diese aufgefasst und
genannt werden mag: Subjekt(ivität) – Bewusstsein – …, sogar Dasein usw.,
sondern: »Als Bedeutung des Ausdrucks ›Phänomen‹ ist […] festzuhalten:
das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare.« (SZ 38) Wie in Kapitel 3
gezeigt wurde, ist ein »Phänomen« in diesem (Heideggerschen) Sinn das, was
sich »artikuliert« in theoretischen Sätzen, deren Struktur ist: »Es verhält sich
so dass …«.
In jedem Fall wären Husserls und Marions Positionen ein phänomenalis-
tischer Idealismus. Dieser Idealismus ist kein absoluter Idealismus. Die Am-
biguität des phänomenalistischen Idealismus ist die Ambiguität des Begriffs
der/des »phänomenologischen« Erscheinung / Phänomens; das ist die fun-
damentale Ambiguität der Husserlschen und Marionschen Phänomenologie.
Sie besteht in den beiden folgenden Annahmen dieses Idealismus: Alles wird
auf Phänomene reduziert, wobei diese ausschließlich als reine Bezugspunkte
für die/das Subjektivität/Bewusstsein bestimmt werden; andererseits werden
die Phänomene nach Husserl nur »konstituiert«, nicht etwa »erschaffen«
oder (wie auch immer) »erzeugt« oder »hervorgebracht«, während sie nach
Marion eine konstituierende Funktion haben bezüglich der Subjektivität/des
350 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Bewusstseins. Konstituierung ist nicht Erschaffung (Erzeugung, Hervorbrin-


gung) und Konstituiertes ist nicht Erschaffenes (Erzeugtes, Hervorgebrach-
tes), was für beide Interpretationsrichtungen gilt. Das kann nur bedeuten: Das
»phänomenologisch« verstandene »Phänomen« ist das Phänomen-als-die-Er-
scheinung von Etwas, das als solches und als ganzes nicht identisch ist mit dem
Phänomen oder der Erscheinung; die / das »ganze Realität/Sein« des Etwas
geht nicht darin auf, ein Sein-für-ein(e)-Bewusstsein/Subjektivität zu sein.
Umgekehrt ergibt sich, dass auch die als phänomenologisch-konstituierend
aufgefasste Subjektivität nicht die ganze (Realität der) Subjektivität dar-
stellt. Von beiden Seiten her zeigt sich, dass das Konstitutionsverhältnis eine
doppelte Dimension voraussetzt, die unthematisiert bleibt: die Dimension der
unthematisierten Subjektivität und die Dimension des unthematisierten »An-
deren«. Nennen wir diese dem Konstitutionsverhältnis entzogene doppelte
Dimension die »U-Dimension« [›U‹ für: Unkonstituierend/Unkonstituiert,
Unthematisiert, Ungedacht …].53
[ii] Jetzt drängt sich sofort die Frage auf: Was ist diese »U-Dimension«, die
die Konstitution (sowohl auf der Seite der/des Subjektivität/Bewusstseins:
Husserl) als auch auf der Seite des Anderen (des »Objekts«, des Phänomens:
Marion) voraussetzen muss, die damit der Konstitution entzogen bleibt? Die

53  Husserls Begriff der »Konstitution« ist bekanntlich ein sehr unklarer Begriff.

Darauf kann hier in interpretatorischer Hinsicht nicht näher eingegangen werden. Einzig
zwei Punkte werden hier diesbezüglich angesprochen. Der erste ist eine positiv-negative
Aussage: Konstitution hat es mit dem Sinn, nicht mit der »Realität« oder dem »Sein«
des »Gegenstandes« zu tun. Der zweite ist eine rein negative Aussage: Was immer sonst
Konstitution sein mag, sie ist in jedem Fall keine »Erschaffung (Erzeugung, Hervorbrin-
gung)« des »Gegenstandes/Seins«, den/das sie »konstituiert«. Die Husserl-Interpretin
Elisabeth Ströker hat diese zwei Punkte sehr klar und überzeugend herausgearbeitet:
»So könnte der Anschein entstehen, es handle sich bei der transzendentalen Kon-
stitution um nichts anderes als Kreation. Sie aber würde offenkundig, auch wenn sie
streng transzendental verstanden wird, in das Gegenteil dessen führen, was Husserl als
phänomenologische Begründungsbasis der Erkenntnis erstrebt, nämlich in mysteriöse
Untiefen einer rational nicht mehr nachvollziehbaren Erschaffung der Welt durch das
transzendentale Bewußtsein. Indessen hat Husserl dem Bewußtsein schöpferische, Sein
erzeugende Potenzen nirgends zugeschrieben – auch nicht dem transzendentalen Bewußt-
sein. Sowenig er ausdrücklich zur positiven Bestimmung des Konstitutionsbegriffs bei-
gesteuert hat, so klar und eindeutig geht aus den Kontexten seiner Verwendung hervor,
dass die produktiven Möglichkeiten des Bewusstseins allein stiftende, und näherhin
sinnstiftende Möglichkeiten sind. Die Noesen erzeugen nicht Sein, sie setzen Sein jeweils
in einem bestimmten Sinn. Dabei ist nicht die Frage, woher das Sein stamme, oder gar,
wer es gemacht habe. Sie hätte in der Husserlschen Philosophie gar keinen Ort. Husserls
Frage lautet metaphysisch bescheidener, aber phänomenologisch eindringlicher: welchen
Sinn die vielerlei Rede vom Sein habe, und als was dieser Sinn begriffen werden könne.
Werde aber dazu den Bewusstseinsleistungen im einzelnen nachgegangen, so zeige sich,
daß ein behauptetes Sein an sich, wie es in der natürlichen Einstellung als bewußtseins-
tranzendentes Sein verstanden wird, nichts anderes denn ein als an sich gesetztes Sein sei,
da es nicht anders begriffen werden könne als aus dem noetisch gesetzten Sinn, den solches
An-sich hat.« (E. Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, 1987, 118).
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 351

Antwort ist zunächst: Die Phänomenologie als idealistischer Phänomenalis-


mus präsupponiert eine solche U-Dimension, aber in der Phänomenologie (so-
wohl im Sinne Husserls als auch im Sinne Marions) bleibt diese U-Dimension
vollständig im Dunkeln, bleibt eine Art »dunkles Loch«.
Diese Sachlage hat eine für die Phänomenologie absolut umwälzende Kon-
sequenz. Eine große Aufgabe für das philosophische Denken kommt nämlich
zum Vorschein: Wenn die »Leistung« der Subjektivität / des Bewusstseins
sozusagen nicht so weit »greift«, dass durch sie auch das, was hier die U-
Dimension genannt wird, konstituiert bzw. erfasst (thematisiert, gedacht,
erklärt) wird, dann kann dem phänomenologischen Ansatz in keiner Weise
jene überragende, ja absolut primäre und allesbestimmende Bedeutung und
Rolle zugeschrieben werden, die sowohl Husserl als auch Marion für sie be-
anspruchen: Die Bedeutung bzw. die Rolle, die absolute prima philosophia zu
sein, wie Marion explizit formuliert.54
Wie kann oder wie soll die Philosophie mit der U-Dimension umgehen?
Kann sie oder muss sie gar überhaupt thematisiert werden? Dass sie es kann
und muss, ist eine zentrale These dieses Buches und des anderen systemati-
schen Werkes des Verfassers Struktur und Sein. Aber wie denn? Das Erste,
worauf hinzuweisen ist, ist dies: Die U-Dimension tritt sozusagen »hinter-
gründig« in Erscheinung, und zwar als eine Voraussetzung bzw. Implikation
der Phänomenologie. Sie ist sozusagen ein nur widerwillig eingestandenes,
als äußerst lästiges empfundenes und schließlich als »dunkles Loch« implizit
deklariertes Produkt des subjektivitätsphilosophischen Denkrahmens der
Phänomenologie. Für den Philosophen, der mit der U-Dimension ins reine
kommen will, der sie denken und thematisieren will, ergibt sich aus der ge-
troffenen Feststellung: Das Denken und Thematisieren setzt voraus, dass der
subjektivitätsphilosophische Denkrahmen aufgegeben wird; und das heißt
weiter, dass die Subjekt-Objekt-Distinktion nicht mehr den philosophischen
Denkrahmen bestimmt bzw. definiert. Positiv heißt das, dass eine bzw. die
»umfassende Dimension« zu denken und zu thematisieren ist, und zwar in
dem Sinne, dass sie sowohl die ganze Subjektivität mit allem, was zu ihr ge-
hört bzw. ihr zugeschrieben werden kann, als auch die ganze »Objektität«,
also die ganze Dimension des Gegenpols zur Subjektivität (wie immer diese
Dimension genannt werden mag) und – besonders – die Dimension, die oben
die U-Dimension genannt wurde wirklich umfasst. Das sei im folgenden
erläutert und begründet.
Ein Hinweis auf Heidegger ist an dieser Stelle nicht nur hilfreich, sondern
zwingt sich geradezu auf. Das ist nämlich der Punkt, der zeigt, wo sein
epochaler Schritt über Husserl hinaus zu situieren ist. Darauf wurde in den

54  Vgl. J.-L. Marion, »L’autre philosophie première et la question de la donation«,

1996, bes. 43 ff.


352 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Kapiteln 2 und 3 dieses Buches schon verwiesen. Seine treffenden Formulie-


rungen seien hier dem jetzigen Kontext entsprechend noch einmal angeführt.
In einem Brief an Husserl, in dem er auf die teilweise heftige Kritik seines
früheren Lehrers an Sein und Zeit antwortete, heißt es:
»Übereinstimmung besteht darüber, daß das Seiende im Sinne dessen, was Sie [Husserl]
›Welt‹ nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann
durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart.
Damit ist aber nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei
überhaupt nichts Seiendes – sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die
Seinsart des Seienden, in dem sich ›Welt‹ konstituiert? Das ist das zentrale Problem
von ›Sein und Zeit‹ – d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen,
daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen
Seienden und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der trans-
zendentalen Konstitution birgt. […] Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas
und seiend – obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Kon-
stituierenden selbst ist nicht zu umgehen. Universal ist daher das Problem des Seins auf
Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.«55

Marion hat diesen bedeutsamen Schritt Heideggers nicht im Geringsten be-


achtet und noch weniger vollzogen, obwohl er sich in fundamentaler Weise
auf konsequenzenreiche Einsichten und Thesen Heideggers stützt, insbeson-
dere auf dessen Interpretation und Kritik der Metaphysik.
Heideggers Argument stützt sich also auf die angenommene Universalität
des Seinsbegriffs: der Seinsbegriff ist auf alles und jedes anwendbar, also
auch auf die Subjektivität als die phänomenologisch-konstituierende Instanz.
Das ist in einem Satz ein totales Auseinandernehmen des transzendental-
phänomenologischen Ansatzes. Heidegger formuliert nämlich sehr klar das
Ergebnis der Anwendung: »Universal ist daher das Problem des Seins auf
Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.« Das ist deswegen ein totales
Auseinandernehmen, weil damit eine Dimension artikuliert wird, die das
transzendental-phänomenologische Denkschema, das Subjekt-Objekt-Denk-
schema, als völlig untergeordnet, absolut einseitig und inadäquat erscheinen
lässt. Die gemeinte Dimension ist die Seinsdimension, die, wie in Kapitel 2
gezeigt, das einzige große Thema Heideggers war.
Ein transzendental-phänomenologisch orientierter Philosoph könnte gegen
Heideggers Argument einen Einwand erheben, indem er die Universalität des
Seinsbegriffs in Frage stellt. Er könnte darauf verweisen, dass diese Annahme
gegen Husserls »Prinzip aller Prinzipien« verstößt, demzufolge »jede originär
gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis [ist], [so] daß alles,
was sich uns in der ›Intuition‹ ori-ginär […] darbietet, einfach hinzunehmen
[ist], als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich

55  E. Husserl, Gesammelte Werke, Bd. IX, 1962, Anlage I, 601–602 (Kursiv in den

drei letzten Sätzen nicht im Original).


4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 353

da gibt …«56. Der objizierende Philosoph könnte nun geltend machen, dass


sich eine »seiende« phänomenologisch-konstituierende Subjektivität sich uns
überhaupt nicht »in der ›Intuition‹ originär darbietet«; das anzunehmen, wäre
ihm zufolge widersinnig, weil die Subjektivität die Voraussetzung für jede
solche Selbstdarbietung in der Intuition ist, mit der Konsequenz, dass sie nicht
sich selbst darbieten kann.
Dazu lässt sich aber sagen, dass dieser Einwand nichts anderes als eine
Wiederholung der Grundthese der Phänomenologie darstellt, wie sie in Hus-
serls »Prinzip aller Prinzipien« artikuliert wird. Aber diese These selbst ist
Gegenstand der Diskussion. Vielleicht ist Heideggers Entwicklung die beste
Antwort auf den Einwand: Anstelle der Subjektivität mit ihrer Struktur aus
Anschauung und Begriff führte er zunehmend das Denken ins Zentrum
seiner Philosophie ein, bis Anschauung-Begriff total verschwanden. Später
sprach er nur noch von Denken. »Denken« aber ist etwas völlig anderes als
die Subjektivität. »Denken« ist kein dualer Begriff wie Subjektivität, die nur
als Gegenpol zu Objekt(ität) begriffen werden kann. Denken ist absolut uni-
versal: es kann auch sich selbst denken.
Unabhängig von Heidegger kann man auf andere Weise die oben formu-
lierte These in Bezug auf die »U-Dimension«, die als Voraussetzung und
Implikation der Phänomenologie behauptet wurde, erläutern und begründen.
Gemeint ist die These, dass eine bzw. die »umfassende Dimension« zu denken
und zu thematisieren ist, und zwar in dem Sinne, dass sie sowohl die ganze
konstituierende Subjektivität und die ganze konstituierte »Objektität« (die
Dimension des Gegenpols zur Subjektivität) sowie auch die ganze U-Di-
mension (die nicht-konstituierende Subjektivität und das nicht-konstituierte
»Andere«) wirklich ein-begreift bzw. umfasst.
Die These kann in der Weise erläutert und begründet werden, dass eine sys-
tematische Analyse dessen durchgeführt wird, was man die hier bestehende
»theoretische Sachlage« nennen kann. Damit ist folgendes gemeint: In dem
vorliegenden theoretischen Zusammenhang werden (inner‑)phänomenolo-
gische und metaphänomenologische Aussagen gemacht. Die große negative
metaphänomenologische Aussage lautet: Konstitution ist nicht Erschaffung
oder Erzeugung des Gegenstandes/Seienden. Artikulieren die (inner‑)phäno-
menologischen Aussagen das »reine« Verhältnis zwischen phänomenologisch-
konstituierender Subjektivität und dem Gegenstand als Konstituiertem, so
artikuliert die (hier: negative) metaphänomenologische Aussage ein weiteres,
umfassenderes Verhältnis, wenn auch zunächst nur negativ: das Verhältnis
zwischen der Dimension der Subjektivität-insofern-sie-sich-als-nicht-kon-
stituierend-darstellt und dem Anderen / Seienden-insofern-er / es-als-nicht-
Konstituiertes-erscheint. Aber diese nur negative Bestimmung des weiteren,

56 
Vgl. Fußnote 49.
354 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

umfassenden Verhältnisses ist nur die Kehrseite ein und derselben Medaille:
die andere Seite ist die positive Bestimmung dieses weiteren, umfassenden Ver-
hältnisses. Eine negative Relation ist immer noch eine Relation: Das Eine (die
Subjektivität) ist nicht konstituierend für das Andere; damit bezieht es sich auf
das Andere auf diese negative Weise, und so gibt es auch die entsprechende
Konverse. Wie ist das möglich? Wie kann das begriffen werden? Die Antwort
liegt auf der Hand: Nur dadurch bzw. so, dass beide als »Elemente« eines
Ganzen aufgefasst werden, wobei dieses Ganze als eine bzw. als die beide
umfassende Dimension erscheint.
Es ergibt sich: die phänomenologisch-konstituierende Subjektivität und die
phänomenologisch-konstituierte Objektität sowie die (doppelte) U-Dimen-
sion (die nicht-phänomenologisch-konstituierende Subjektivität und das nicht-
phänomenologisch-konstituierte Andere/Seiende) setzen einen umfassenden
»Raum« voraus, innerhalb dessen sie allererst als das erscheinen können, was
sie sind. Diesen »Raum« oder diese umfassende Dimension nennt Heidegger
»Sein« – und dasselbe tut der Verfasser, wie in Kapitel 3 ausgeführt wurde.
[iii] Was ergibt sich daraus für Husserl und Marion? Das Problem stellt sich
für jeden der beiden Autoren jeweils anders dar. Die konstituierende Instanz
für Husserl ist die Subjektivität / das Bewusstsein. Worauf könnte er rekur-
rieren, wollte er auch jene die beiden Pole dieses Verhältnisses umfassende
U-Dimension thematisieren? Er hätte zwei Möglichkeiten. Die erste wäre, die
Subjektivität/das Bewusstsein in dem Sinne zur absoluten Instanz zu machen,
dass die »Konstituierungsfunktion« umgedeutet oder radikalisiert wird: die
Konstituierung wäre als eine oder die das Andere, das Objekt, erzeugende,
erschaffende Funktion zu begreifen. Dann wäre das Andere nicht mehr ein
reines Phänomen-für-die-Subjektivität / das-Bewusstsein, sondern ein von
der-Subjektivität/dem-Bewusstsein Erschaffenes, Erzeugtes aufzufassen. Die
beide Pole der Relation Subjekt(ivität) – Objektivität umfassende Dimension
wäre mit dem (umgedeuteten) »konstituierenden Pol«, der Subjektivität/dem
Bewusstsein, identisch. Diese konstituierende Instanz würde die Dualität
von Subjekt(ivität) / Bewusstsein und Objekt(ivität) aufheben – von der Sub-
jekt(itivität) / dem Bewusstsein her. Das wäre ein absoluter Idealismus.
Die andere Möglichkeit für Husserl wäre, einen Weg wie den seines Schü-
lers Heidegger zu gehen, der darin besteht, dass die beide Pole der Subjekt-
Objekt-Distinktion umfassende Dimension nicht von einem der Pole her
begriffen, sondern als eine beide Pole wirklich umfassende Dimension als
solche thematisiert wird.
In beiden Fällen wäre aber Husserls Phänomenologie nicht mehr zu er-
kennen. Jeder der beiden Schritte käme einer totalen Verwerfung der Phäno-
menologie gleich.
Ganz anders stellt sich die Frage für Marion. Da er, wie noch ausführlich zu
zeigen sein wird, die Subjekt-Objekt-Relation einer Umkehrung unterzieht,
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 355

ist das Konstituierende nicht mehr die / das Subjektivität/Subjekt/Bewusst-


sein, sondern das Andere der / des Subjektivität / Subjekts/Bewusstseins, das,
was Marion das (saturierte) Phänomen nennt. Das/die Subjektivität/Sub-
jekt/Bewusstsein ist dann das Konstituierte, das (saturierte) Phänomen das
Konstituierende. Marions Artikulation seiner ganzen philosophisch-theo-
logischen Position verbleibt im Rahmen dieser invertierten Distinktion. Und
das bildet das eigentliche, das fundamentale Problem seiner Konzeption über
Transzendenz und Gott, wie noch zu zeigen ist.
Hier ist zu fragen, ob Marion die beschriebene Dualität von Subjekt und
Anderem überwunden hat, und wenn nicht, ob er sie überwinden könnte.
Nicht nur hat Marion diese Dualität nicht überwunden, sondern im Gegen-
teil: sein ganzes Denken verbleibt radikal in dieser Dualität verankert. Darauf
werden die weiteren Ausführungen eingehen. Hier möge ein kurzer Hinweis
genügen.
Nach Marion wird die Subjekt-Objekt-Beziehung umgekehrt: Das Ob-
jekt wird dann als das Phänomen (insonderheit als saturiertes Phänomen)
aufgefasst, welches das Subjekt konstituiert: Dieses wird von einem Ich zu
einem Mir/Mich transformiert. Das gilt auch und besonders für das absolute
saturierte Phänomen, das Marion als »die Erscheinungsweise« Gottes ver-
steht. Gott ist die absolute Caritas, die absolute Gabe, die sich dem Subjekt als
dem Empfänger, dem Beschenkten, in der »Gestalt« des absoluten Phänomens
»zeigt« oder mitteilt. Die umgekehrte Subjekt-Objekt-Relation hat jetzt die
Gestalt Anderes(= Phänomen)-Subjekt(= Mich / Mir/Empfänger)-Relation;
das Andere konstituiert das Subjekt, so dass die Konstituierungsfunktion
beim Anderen, beim Phänomen liegt. Dann aber drängt sich erst recht die
große Frage auf: Was heißt jetzt die umgekehrte Konstituierung? »Kon-
stituiert« das Andere/ das Phänomen das umgekehrte Subjekt in Bezug auf
dessen ganze Realität? Dann hieße die umgekehrte Konstituierung dasselbe
wie Erschaffung (Erzeugung, Hervorbringung) des umgekehrten Subjekts.
Wenn die umgekehrte Konstituierung nicht das meint, dann taucht auch
hier – in analoger Weise – das Problem auf, das im Falle Husserls aufgezeigt
wurde: Auch die umgekehrte Konstituierung setzt das, was oben eine U-
Dimension (Unkonstituierte, Unthematisierte Dimension) genannt wurde,
bei beiden Polen der umgekehrten Relation, beim Anderen / Phänomen
und beim Subjekt=Empfänger, voraus. In der Tat ist es so nach Marion,
dass die umgekehrte Konstituierung nicht Erschaffung (Erzeugung, Her-
vorbringung) meint, was sich besonders daran zeigt, dass das umgekehrte
Subjekt als Empfänger, als Beschenkter (attributaire, allocataire, adonné)
aufgefasst wird. Damit aber ein X ein Empfänger / Beschenkter sein kann,
muss es schon sein. Das Sein des umgekehrten Subjekts ist daher von der
Konstituierung nicht betroffen. Die umgekehrte Konstituierung ist nach
Marion die Relation der Schenkung seitens des Anderen / Phänomens an das
356 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

umgekehrte Subjekt als Empfänger. Damit aber das Andere / Phänomen ein
Schenkender sein kann, damit es sich selbst schenken kann, muss es allererst
sein. Diese Dimension bleibt also auch beim Anderen / Schenkenden eine U-
Dimension. Die ganze umgekehrte Konstituierung setzt somit eine doppelte
U-Dimension voraus.
Dieser Sachverhalt wirft nun ein fundamentales Problem für Marions ganze
Konzeption von Gott auf – ein Problem, das so bei Husserl nicht auftaucht
und nicht auftauchen kann. Es wird hier nur sehr kurz formuliert oder
genauer: angedeutet, da seine vielen Facetten das zentrale Thema der weiteren
Ausführungen in diesem Kapitel bilden werden. Die umgekehrte Subjekt-Ob-
jekt-Relation samt der umgekehrten Konstitution bildet in gewisser Hinsicht
die fundamentale Koordinate des Denkrahmens, innerhalb dessen Marion
seine Konzeption von Gott entwickelt. Gott erscheint dann als der absolut
Andere, der absolut Ferne u. ä., der hinsichtlich des Menschen die Relation
der sich schenkenden Caritas / Liebe hat. In dieser Weise konstituiert er den
Menschen in dem Sinne, dass der Mensch als umgekehrtes Subjekt, als Emp-
fänger der göttlichen Gabe erscheint. Zwischen Gott und Mensch obwaltet
die (Sich-selbst‑)Schenkender-Empfänger-Relation. Gott konstituiert den
Menschen als Empfänger. Ist dem aber so, dann fragt es sich, wie eigentlich
Gott konzipiert wird: als ein absolut Anderer/Ferner/Sichselbstschenkender,
der aber sozusagen ein etwas, den Menschen als Empfänger, »außer sich«
hat, und zwar in dem Sinne, dass Gott den Menschen-als-Empfänger nicht
umfasst? Ein so konzipierter Gott im Rahmen der phänomenologisch ver-
standenen Subjekt-Objekt-Beziehung und der umgekehrten Konstituierung
ist doch ein seltsamer Gott: Ein Gott, der etwas »außer sich« hat, etwas, was
er nicht umfasst, ist ein hochproblematischer Gott, um vorerst das Mindeste
zu sagen.
Freilich führt Marion als christlicher Theologe zumindest an einigen Stellen
seines Oeuvre den Begriff der Schöpfung ein. Aber er interpretiert diesen Be-
griff keineswegs in seiner ganzen Tiefe und Tragweite, wie dies unten in Ab-
schnitt 4.2.4.4 ausführlich gezeigt werden soll. Dieser Begriff, voll expliziert,
artikuliert die absolute uneingeschränkte Umfassendheit Gottes: Damit Gott
sich dem Menschen schenken kann, schafft Er allererst den Menschen, setzt
allererst den Menschen ins Sein. Der Mensch als Empfänger ist »zuvor« ein
erschaffenes Seiendes. Die Schöpfung kann absolut nicht im Denkrahmen der
»normalen« oder umgekehrten Subjekt-Objekt-Beziehung artikuliert wer-
den. Wenn man das Wort ›Konstitution‹ hier verwenden will, so muss man
sagen: Die Schöpfung ist die allererste »Konstitution« der ganzen Realität,
des ganzen Seins des Menschen. Nur auf der Basis der Schöpfung ist Gott
ein Sich-selbst-Schenkender. Die Ausdrücke ›Konstitution‹ und ›Schöpfung‹
wären in diesem Fall synonym verwendet, was dem Husserlschen und dem
sonstigen Verständnis bzw. Gebrauch von ›Konstitution‹ nicht entspricht.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 357

4.2.3.2 Der Begriff der reinen Phänomenalität und des saturierten


Phänomens
[1] Marion zielt darauf ab, das, was er echte oder reine Phänomenalität nennt,
herauszuarbeiten. Er meint, dass er damit einen – oder genauer: den – entschei-
denden Schritt über Husserl hinaus vollzieht, indem er sich in Widerspruch zu
manchen, sogar zentralen Einsichten der Husserlschen Phänomenologie stellt.
Gleichzeitig aber – und das muss besonders betont werden – hält er an dem
fest, was er als die originelle Idee der Phänomenologie betrachtet, von der er
meint, dass sie von Husserl selbst stammt und sonst in der Phänomenologie
nicht konsequent erfasst und entwickelt wurde. Damit erliegt er, wie jetzt zu
zeigen ist, dem proton pseudos, das diesem Ansatz bzw. dieser Idee anhaftet.
Marion führt eine Klassifikation der Phänomene in drei ursprüngliche
Kategorien oder Bereiche ein; Kriterium ist der zunehmende Anteil der
Anschauung in jedem Fall (vgl. ED, 4. Buch IV, 251–342; PhS, 73). Der erste
Bereich besteht aus Phänomenen, die entweder ohne nennenswerte oder
nur mit einer sehr verminderten Anschauung gegeben sind. Marion situiert
diese Kategorie von Phänomenen im Bereich der formalen Sprachen und der
»mathematischen Idealitäten« (PhS 73). Den zweiten Bereich bilden die Phä-
nomene, die in die Sphäre des gemeinen (allgemeinen, bürgerlichen) Rechts
(droit commun) gehören, deren »(von der Intention anvisierte) Bedeutung
eine adäquate intuitive Erfüllung auf ideale Weise erhalten können, die sie
aber, auf den ersten Blick und während der meisten Zeit, nicht erhalten«
(Ebd.). Schließlich ist der dritte Bereich der Bereich der saturierten Phäno-
mene (die Marion auch »Paradoxe« nennt), d. h. der Phänomene, »in denen die
Anschauung die Erwartung der Intention immer überschwemmt, in denen die
Gegebenheit/Schenkung nicht nur die Manifestation gänzlich durchdringt
(investit), sondern auch, sie übersteigend, ihre gewöhnlichen Charakteristika
modifiziert« (ED 314)).
Marion unterscheidet vier Typen (types) saturierter Phänomene. Erstens
gibt es »die Gestalt des historischen Phänomens oder des auf seinen Höhe-
punkt (excellence) erhobenen Ereignisses« (ED 318). Gemäß einem zweiten
Typ »erscheint [das Phänomen] unter dem Aspekt des Untragbaren und der
Blendung«. Marion nennt diesen Typ »das Idol (l’idole)« und sieht sein »be-
vorzugtes Vorkommnis« (ebd. 320) im Gemälde. Als einen dritten Typ von
saturierten Phänomenen betrachtet er »den absoluten Charakter des Fleisches
(chair) in der Weise, dass es sich der Kategorie der Relation entzieht und das
fait accompli auf seine Klimax erhebt« (ED 321) Schließlich kommt der vierte
Typ von saturierten Phänomenen vor »unter dem Aspekt des Nicht-Anblick-
baren (l’irregardable) und des Nicht-Reduzierbaren, insofern sie sich von
jedem Bezug auf das Ich – und damit auf die Kategorien der Modalität – frei-
machen« (ED 323). Marion nennt diesen vierten Typ »das Ikon (l’icône), weil
358 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

dieses dem Blick kein Schauspiel mehr anbietet und auch nicht den Blick
eines Zuschauers erträgt, sondern weil es umgekehrt seinen eigenen Blick auf
denjenigen (Blick?), der ihm begegnet, richtet.« (ED 323)
Marion führt noch einen weiteren, einen fünften Typ von saturierten Phä-
nomenen ein: das Phänomen mit »seiner komplexesten Gestalt, das Of-
fenbarungsphänomen (phénomène de révélation)« (ED 342). Dieses ist das
Phänomen »mit dem Maximum an saturierter Phänomenalität« und stellt
somit »die allerletzte Möglichkeit des Phänomens dar – die allerletzte, aber
zuerst nur als Möglichkeit. […] Es handelt sich um einen fünften Typ von
Saturiertheit […], nicht aber in dem Sinne, dass es den ersten vier (einzig
beschreibbaren) Typen einen neuen, einen willkürlich erfundenen Typ hin-
zufügte, um dem angeblichen Recht des ›Göttlichen‹ gerecht zu werden;
sondern weil diese Saturiertheit die anderen vier Typen in sich verschmilzt
(confondant en elle) und damit die Phänomenalität auf der zweiten Ordnung
saturiert, durch Saturierung der Saturiertheit.« (ED 326–7) Marion ist sehr
bemüht klarzumachen, er verfahre auch angesichts eines Phänomens wie Jesus
Christus »wie ein Phänomenologe – der eine gegebene phänomenologische
Möglichkeit beschreibt – und wie ein Philosoph – der den sichtbaren Christus
mit seiner möglichen konzeptuellen Rolle konfrontiert […], um ihn mögli-
cherweise zum Paradigma zu erheben« (ED 329). Er erläutert:
»Hier  –  in der Phänomenologie, in der die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit, die
Norm darstellt – sind wir nur dazu gehalten, es [das Offenbarungsphänomen] in seiner
reinen Möglichkeit und in der reduzierten Immanenz der Gegebenheit/Schenkung zu
beschreiben; wir haben hier nicht seiner wirklichen Manifestation, auch nicht seinem
ontischen Status vorzugreifen; diese bleiben die eigene Aufgabe der Offenbarungs-
theologie.« (ED 328–9)

Das wirft ein ernsthaftes Kohärenzproblem für Marion auf, wie unten ([3][v]
[a]) gezeigt wird.
Die folgenden Ausführungen befassen sich fast ausschließlich mit dem
dritten Bereich saturierter Phänomene und innerhalb dieses Bereichs mit dem
fünften Typ solcher Phänomene, mit dem »Offenbarungsphänomen«.

[2] Um Marions Aussagen über reine Phänomenalität verstehen und einschät-


zen zu können, ist es erforderlich, die Art ihrer Beschreibung zu untersuchen.
Bezeichnenderweise stützt er sich auf Kant, indem er Kants Leitfaden zur
Klassifizierung der reinen Begriffe oder Kategorien folgt: Quantität, Qualität,
Relation und Modalität.57 Indem er bei der Behandlung dieses Themas seine
57  Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Marions Grundposition im Rahmen

der Subjektivitätsphilosophie stehenbleibt, obwohl man hinzufügen muss, dass es sich


um eine umgekehrte Subjektivität handelt. Aber, wie die weiteren Ausführungen zeigen
werden, auch die Umkehrung der Subjektivität verbleibt immer noch im Rahmen einer
Subjektivitätskonzeption.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 359

Hauptidee, nämlich die These vom Überschuss oder Übermaß an Intuition


in Bezug auf den Begriff, verfolgt, versucht er zu zeigen, dass das saturierte
Phänomen die reinen Begriffe oder Kategorien und auch die Prinzipien des
Verstandes (an Intuition / Anschauung) übertrifft.
Hinsichtlich der Kategorie der Quantität ist das saturierte Phänomen un-
anblickbar (invisable, irregardable), inkommensurabel, immens, ohne Maß.
Als ein Beispiel beschreibt Marion das Phänomen des Erstaunens (der Ver-
wunderung) (vgl. PhS 58). Was die Qualität oder die intensive Größe angeht,
so erweist sich das saturierte Phänomen als unerträglich (ne peut se supporter),
und zwar in dem Sinne, dass die Wahrnehmung nicht vorwegnehmen kann,
was sie von der Intuition / Anschauung erhalten wird, so dass die Intensität
der realen Intuition/Anschauung jede durch die Wahrnehmung bewirkte
Vorwegnahme überschreitet. »Die intensive Größe der Anschauung, die das
saturierte Phänomen gibt (erzeugt), ist für den Anblick nicht erträglich«. (PhS
59) Was der Anblick nicht ertragen kann, wird von Marion als Blendung (éb-
louissement) charakterisiert. Eine Konsequenz für das saturierte Phänomen
ist nach Marion der Umstand, dass die Anschauung Realität nicht in Stufen
gewährt (donne), wie es der Kategorie der Qualität oder intensiven Größe ent-
sprechen würde; im Gegenteil, »im Fall des saturierten Phänomens gewährt
die Anschauung/Intuition Realität ohne jede Grenze (oder selbstverständlich
ohne jede Negation)« (PhS 59).
Aus der Perspektive der Relation charakterisiert Marion die saturierten
Phänomene als »absolut« (PhS 61):
»[Sie] kommen vor ohne dass sie sich, zumindest zunächst, in das Relationsnetzwerk
einbetten lassen, das die Einheit der Erfahrung sicherstellt. Und sie sind besonders
wichtig, weil man ihnen kein Substrat, keine Ursache, keine Gemeinschaft zuweisen
kann. […] Sie übernehmen den Charakter und die Würde eines Ereignisses. Ein solches
Ereignis ist ein Phänomen, das (von der Vergangenheit her) nicht vorhersehbar, (von
der Gegenwart her) nicht erschöpfend begreifbar, (von der Zukunft her) nicht wieder-
holbar, kurz: absolut, einzigartig, vorkommend, ist.« (PhS 63)

An diesem Punkt befasst sich Marion mit der Frage, ob es einen Horizont gibt,
in welchem das saturierte Phänomen erscheint. Seine diesbezügliche Position
ist: Ein Horizont ist weder erforderlich noch auch möglich, da das saturierte
Phänomen jeden wie immer gearteten Horizont übertrifft:
»Es handelt sich nicht darum, sich von einem Horizont im allgemeinen zu befreien,
[…], sondern darum, sich der jedem Horizont eigenen begrenzenden Anteriorität zu
entledigen, einer Anteriorität, die so ist, dass sie es nicht vermeiden kann, mit dem
absoluten Anspruch eines Phänomens nicht in Konflikt zu geraten.« (PhS 65)
»Indem es sich absolut gibt, gibt sich das saturierte Phänomen selbst als Absolu-
tes – befreit von jeder Analogie mit der schon gesehenen, objektivierten, begriffenen
Erfahrung. Es befreit sich selbst davon, weil es von keinem Horizont abhängig ist.
Im Gegenteil, entweder es saturiert einfach den Horizont, oder es vergrößert ihn
360 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

[démultiplie], um ihn noch mehr zu saturieren, oder es übertrifft ihn und findet sich aus
ihm ausgeschlossen. Aber diese Entstellung selbst bleibt eine Manifestation. In jedem
Fall, es [das saturierte Phänomen] hängt nicht von dieser Möglichkeitsbedingung par
excellence ab: einem Horizont, was immer er sein mag. Wir nennen es also unbedingt.«
(PhS 67)

Von ganz besonderer Bedeutung für die Thematik dieses Buches ist Marions
Behandlung der Kategorien der Modalität, die er im Sinne Kants versteht. Der
spezifische Charakter dieser Kategorien besteht in der Explizitmachung der
Relation der Objekte zum Erkenntnisapparat. Es ist hoch bezeichnend, wie
sich noch ausführlich herausstellen wird, dass Marion einzig die Kategorie der
Möglichkeit behandelt und die beiden anderen Kategorien, Existenz (Dasein)
und Notwendigkeit, vollständig ignoriert. Kant charakterisiert die Möglich-
keit so: »Das Postulat der Möglichkeit der Dinge fordert […], daß der Begriff
derselben mit den formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt zu-
sammenstimme.« (KrV B 267) Marion interpretiert die Passage dahingehend,
dass nur das, was mit dem transzendentalen Ich übereinstimme, ein mögliches
Phänomen ist. Und exakt an diesem Punkt vollzieht er eine typische Umkeh-
rung, indem er sagt, dass Kants Möglichkeitsbedingung keine Anwendung
auf saturierte Phänomene hat: »Ist Saturierung gegeben, erfährt das Ich mit
Sicherheit die Unstimmigkeit zwischen dem mindestens potentiellen Phäno-
men und den subjektiven Bedingungen seiner Erfahrung; konsequenterweise
kann das Ich in diesem Bereich kein Objekt konstituieren.« (PhS 68)
Ein Problem wirft Marions Behauptung auf, dass »das Ich mit Sicherheit
die Unstimmigkeit … erfährt«. Kant würde eine solche Behauptung rundweg
ablehnen. Marion aber stützt sich auf die von ihm vorausgesetzte Idee, dass
im Falle des saturierten Phänomens ein Überschuss, ein Exzess an Intuition/
Anschauung in Bezug auf den Begriff besteht. Diese Formulierungen sind
nur vor einem Kantischen Hintergrund verständlich. Kant hat bekanntlich
das für seine Philosophie fundamentale Axiom aufgestellt: »Gedanken ohne
Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«58 Diese strenge
Korrespondenz zwischen Anschauung und Begriff(en) wird gerade im Fall
des saturierten Phänomens durchbrochen. Damit wird die durch diese Ent-
sprechung strukturierte Konstitution eines Objekts durch das Subjekt über
Bord geworfen. Dieser Punkt ist in jeder Hinsicht zentral für Marion:
»Das saturierte Phänomen verwehrt sich dagegen, wie ein Objekt betrachtet zu wer-
den, gerade weil es mit einem vielfachen und unbeschreibbaren Überschuss erscheint,
der jeden Versuch einer Konstitution [durch das Subjekt] vereitelt. Das saturierte
Phänomen als ein nicht-objektives, genauer: nicht-objektivierbares Phänomen be-
stimmen, hat nichts zu tun mit einer Flucht ins Irrationale oder Arbiträre.« [PhS 68]

58  KrV B 75. Vgl. auch B 74: »Anschauung und Begriffe machen […] die Elemente aller

unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondie-
rende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können.«
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 361

Dieser fundamentale Sachverhalt setzt die Unterwerfungsrelation des Phäno-


mens zum Subjekt außer Kraft. Noch wichtiger ist die Einsicht: eine Umkeh-
rung dieser Relation wird vollzogen: »Weit davon entfernt, dieses Phänomen
konstituieren zu können, erfährt sich das Ich als durch es konstituiert. Kon-
stituiert und nicht konstituierend, weil es [das Ich] über keinen Standpunkt
mehr verfügt, der eine dominante Rolle hinsichtlich der es überschwem-
menden Anschauung spielen könnte.« (Ebd. 69) Auf diese Weise kommt das
Subjekt in letzter Analyse als das Angesprochene (interloqué) zum Vorschein.
»Aufgrund dieser Umkehrung erscheint das Subjekt angesprochen, indem es
vom ursprünglicheren Ereignis wesentlich überrascht wird, welches es [das
Subjekt] von sich selbst frei macht.« (Ebd. 70) Das Subjekt ist jetzt nicht mehr
»Ich (Je)«, es ist »mich, mir (moi)«
Der wichtigste Punkt in Marions Charakterisierung des saturierten Phä-
nomens ist ein weiterer Aspekt: Das saturierte Phänomen muss verstanden
werden als sich selbst zeigend. Nach Marion ist das Sich-selbst-Zeigen das
Sich-selbst-Geben: diese Gegebenheit, die Marion als Schenkung (donation)
interpretiert, ist Marions dritte phänomenologische Reduktion. Das Phäno-
men gibt bzw. zeigt bzw. schenkt sich »uns«. Sind wir aber dann noch »Sub-
jekte« im eigentlichen, sozusagen im aktiven Sinne? Darüber macht Marion
einige dezidiert sehr starke Aussagen:
»Die Phänomenologie der Gegebenheit/Schenkung hat – in unseren Augen zum ersten
Mal – mit dem ›Subjekt‹ und all ihren neueren Varianten radikal Schluss gemacht. […]
Um mit dem ›Subjekt‹ fertig zu werden, […] ist es notwendig, es nicht zu eliminieren,
sondern es umzukippen – es umzukehren. Es setzt sich wie eine Mitte: Das wird nicht
in Frage gestellt; in Frage gestellt wird aber der Modus, gemäß dem es die Mitte besetzt,
die es mit dem Titel eines (denkenden, konstituierenden, entschlossenen) ›Ich‹ in An-
spruch nimmt. […] Dem werden wir den Anspruch entgegensetzen, dass das ›Ich‹ in
Wahrheit die Mitte nicht hält, dass es stattdessen sich nur als ein Empfangendes dort
hält, wo das, was sich selbst gibt/schenkt, sich selbst zeigt, und dass es sich selbst
dort enthüllt als gegeben/geschenkt und wie ein Pol der Gegebenheit/Schenkung,
wo alles Gegebene / Geschenkte unablässig zum Vorschein kommt. In der Mitte hält
sich kein ›Subjekt‹, sondern ein Beschenktes (adonné), derjenige, dessen Funktion
im Empfangen dessen besteht, was sich ihm im Übermaß gibt/schenkt, und dessen
Privileg sich auf die Tatsache beschränkt, dass es sich selbst empfängt von dem, was es
empfängt.« (ED 441–2)

Das sind schöne Formulierungen, aber nicht gerade sehr akkurat, das sie das
reale und tiefe Problem verschleiern, das diese Konzeption aufwirft. Marion
verbleibt entschieden innerhalb der Koordinaten (einer speziellen Variante)
der Subjektivitätsphilosophie. Seine Beschreibung ist vielleicht angemessen,
allerdings nur unter der Bedingung, dass der Begriff des saturierten Phäno-
mens intelligibel und vetretbar ist und dass die Beschreibung auf nur endliche
saturierte Phänomene beschränkt wird. Im Hinblick auf Gott wirft sie ein
ernsthaftes Problem auf. Verschiedene endliche Subjekte können – wenn der
362 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Begriff des saturierten Phänomens akzeptiert wird – in dieser Weise beschrie-


ben werden: Sie sind gegenseitige Empfangene/Beschenkte und Gebende/
Schenkende. Aber was ein endliches »Subjekt« einem anderen endlichen
»Subjekt« nicht geben / schenken und was von einem (anderen) endlichen
»Subjekt« nicht gegeben / geschenkt werden kann, ist die Existenz/das Sein
dieser »Subjekte« selbst. Die Existenz / das Sein geben/schenken, ist das, was
einzig Gott an allererster Stelle tut, wenn er sich selbst, sein eigenes Sein mit-
teilt. Wie kann dies überhaupt berücksichtigt und artikuliert werden, wenn
eine umfassende, eine systematische Konzeption der Realität bzw. des Seins
im Ganzen nicht entwickelt bzw. vorausgesetzt, geschweige denn, wenn sie
explizit verworfen wird, wie dies bei Marion geschieht?
Eine umfassende, adäquate kritische Einschätzung der Position Marions
würde die Grenzen des vorliegenden Buches sprengen. Im folgenden sollen
nur zwei Punkte behandelt werden: erstens, der Begriff des saturierten Phä-
nomens ([3]); zweitens, Marions versuchte Umkehrung der Subjekt-Objekt-
Distinktion (4.2.4.3).

[3] Der Begriff des saturierten Phänomens, wie Marion ihn versteht und be-
schreibt, ist hochproblematisch und letztlich nicht akzeptierbar. Dagegen
werden im folgenden fünf Einwände erhoben, die im Wesentlichen zwei
große Themenbereiche ansprechen.
[i] Der erste Einwand hebt auf den Umstand ab, dass Marion einfach
voraussetzt, der Begriff der Intuition / Anschauung sei ein klarer und unpro-
blematischer Begriff; in Wahrheit ist er alles andere als das. Unter Intuition/
Anschauung kann Marion mit Sicherheit nicht nur und nicht hauptsächlich
sinnliche Anschauung im Sinne Kants, der deutschen Idealisten und anderer zu
dieser Tradition gehörender Philosophen verstehen. Andererseits ist es nicht
klar, was Husserl und Marion selbst wirklich meinen, wenn sie von Intuition/
Anschauung sprechen. Was Marions Ausführungen zu entnehmen ist, kann
so beschrieben werden: Intuition/Anschauung ist ein gänzlich unbestimmtes,
undifferenziertes und konfuses Konglomerat sehr heterogener Elemente, die
sich generell so charakterisieren lassen: Es sind Modi des Sehens in einem all-
gemeinen und vagen Sinne und in allen möglichen Formen und Stufen, denen
»inhaltlich Gesehenes« entsprechen soll.
Wenn Marion in den Fußstapfen Husserls einen Überschuss an Anschau-
ung im gegebenen Phänomen in Bezug auf Begriff(e) annimmt, so bewegt
er sich noch in einem  –  vielleicht ungewöhnlichen  –  phänomenologischen
Denkrahmen; man könnte daher sagen, dass die Idee des »Überschusses an
Anschauung« eine grundsätzlich mögliche phänomenologische Idee ist. Aber
Marions Interpretation des Überschusses ist nicht nur problematisch (auch
aus rein phänomenologischer Perspektive), sondern theoretisch nicht nach-
vollziehbar. Marion versteht »Überschuss« in einem eminent positiven Sinn,
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 363

als Überschuss an Inhalt und das in einem extremen und totalen Sinn: Was
sich gibt, zeigt sich selbst als sich-selbst-gebend, wobei die letzte Formulierung
wieder so verstanden wird: … zeigt sich als das, was die eigentliche »Sache«
in Wirklichkeit ist oder ausmacht. Aber gerade so etwas leistet die den Begriff
mächtig übersteigende Anschauung nicht, anders: gerade so etwas geschieht
bei einer solchen Anschauung nicht. Der Grund ist, dass die(se) Anschauung
einfach ein unbestimmtes, konfuses, undifferenziertes, unartikuliertes Kon-
glomerat ist. Soweit man hier von »Inhalt« sprechen kann, handelt es sich um
einen chaotischen Inhalt, einen klärungs‑ und artikulationsbedürftigen Inhalt.
»Alles, was sich uns in der ›Intuition‹ ori-ginär (sozusagen in seiner leibhaften
Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen […], als was es sich gibt«59,
hieße, ein unbestimmtes und konfuses Konglomerat als »die eigentliche
Sache« betrachten. Aber das, was sich in der originären Anschauung »darbie-
tet«, »gibt sich« als ein unbestimmtes und konfuses Konglomerat – und eben
nicht als das, was die eigentliche »Sache« in Wirklichkeit ist oder ausmacht.
Anders formuliert: was sich in der Anschauung darbietet, das Phänomen, ist
an allererster Stelle ein Explicandum: Es ist das, was einer Explikation bedarf,
bis das Explicatum bzw. Explicans dessen, was sich in der Anschauung zeigt,
manifest oder explizit gemacht wird. Marions Umkehrung der Beziehung
Explicandum–Explicans ist für seine ganze Prozedur charakteristisch. Es ist
ein Fall des klassischen hysteron–proteron-Trugschlusses.
[ii] Der zweite Einwand verweist auf die Tatsache, dass Marions Begriff des
saturierten Phänomens das Resultat einer Verwechslung oder Vermengung der
drei aufeinander nicht reduzierbaren Formen des Verhältnisses des mensch-
lichen Geistes zur Welt oder zu dem Dingen in ihrer grenzenlosen Vielfalt ist.
Es handelt sich um die Theoretizität, die Praktizität und die Ästhetizität.60
Marion bringt diese drei Formen durcheinander, und damit vermengt er auch
die resultierenden Phänomene. Dazu wäre sehr viel zu sagen. Hier kann dieser
ganze Sachverhalt nur minimal geklärt werden.
Es ist bezeichnend und bemerkenswert, dass Marion in der Regel auf ästhe-
tische Einstellungen und Phänomene rekurriert, wenn es sich darum handelt,
Beispiele für das zu präsentieren, was er saturierte Phänomene nennt. Darüber
hinaus bevorzugt er den visuellen Bereich, und zwar in beinahe exzessiver
Weise. Dabei verwendet er oft den deutschen Ausdruck ›An-schau-ung‹,
dessen Wurzel schauen, blicken, ist. Die folgende Passage charakterisiert gut
diese dominante visuelle Denkform bei Marion:
»Konfrontiert mit dem saturierten Phänomen, kann das Ich es nicht sehen (voir), kann
es aber auch nicht als ein Objekt anschauen/anblicken (regarder). Es hat das Auge um
es zu sehen (voir), aber nicht um den Blick (garder) auf es zu richten. Was sieht dann

59  E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 1976, 52.


60 
Vgl. dazu SuS 35, 411.
364 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

dieses Auge ohne Blick (cet oeil sans regard)? Es sieht den großen Überfluss (sura-
bondance) der intuitiven Gegebenheit (= Schenkung), nicht aber als solchen, sondern
wie eingetrübt (brouillé) durch die zu kurze Linse, die zu enge Blende, den zu kleinen
Rahmen, der ihn empfängt (reçoit) – oder vielmehr der ihn nicht aufnimmt (accueille).
Was das Auge wahrnimmt, ist nicht so sehr die Erscheinung des saturierten Phäno-
mens, als vielmehr den verschwommenen Punkt, den Nebel, das exzessiv blendende
Licht (surexposition), das es seinen normalen Erfahrungsbedingungen auferlegt. Das
Auge sieht nicht so sehr ein anderes Schauspiel als vielmehr sein eigenes nacktes Unver-
mögen, etwas überhaupt […] zu konstituieren. Durch das Sehen empfängt es [das Ich]
eine reine Gebung/Schenkung (donation), gerade weil es darin nicht mehr ein objekti-
vierbares Gegebenes diszerniert [scharf-unterscheidend erblickt] (discerne).« (PhS 69)

Zunächst wird ersichtlich, dass diese Passage die Korrektheit der oben präsen-
tierten kritischen Bemerkungen zu Marions Begriff der Anschauung/Intui-
tion bestätigt. In der Tat erklärt er selbst: Das Auge »sieht den großen Über-
fluss (surabondance) der intuitiven Gegebenheit (= Schenkung), nicht aber als
solchen, sondern wie eingetrübt durch die zu kurze Linse, die zu enge Blende
usw.« Wie kann er aber dann einfach behaupten: »Durch das Sehen empfängt
es [das Ich] eine reine Gebung / Schenkung, gerade weil es [das Ich] darin ein
objektivierbares Gegebenes nicht mehr diszerniert [scharf-unterscheidend
erblickt] (discerne)«? Wie kann das Ich eine reine Gebung/Schenkung emp-
fangen, wenn das Auge nach Marion im Anschluss an Husserl das saturierte
Phänomen »als was es sich gibt«61 hinnimmt und wenn er das so erläutert bzw.
versteht, dass es »nicht so sehr die Erscheinung des saturierten Phänomens«
wahrnimmt »als vielmehr den verschwommenen Punkt, den Nebel, das exzes-
siv blendende Licht (surexposition)«? Das ist völlig unintelligibel.
Wie oben bemerkt, stützt sich Marion beinahe ausschließlich auf Visuali-
sierungen. Es ist zwar nicht unstatthaft, Visualisierungen – in welcher Form
auch immer  –  in der Philosophie zu verwenden, obwohl Philosophie ein
theoretisches Unternehmen ist. Visualisierungen und im allgemeinen darauf
bezogene sprachliche Formulierungen können als Metaphern genommen
werden – und Metaphern, wenn richtig verstanden, sind harmlos, allerdings
sind sie nicht gerade sehr theorierelevant. Was aber bei Marion geschieht, ist
etwas ganz Anderes und Hochproblematisches: Er vermengt weitgehend die
drei Dimensionen: die theoretische, die ästhetische und, in geringerem Grade,
auch die praktische. Es steht außer Frage, dass ästhetische und praktische
Phänomene, die ästhetisch bzw. praktisch »erscheinen« und ästhetisch bzw.
praktisch wahrgenommen werden (wie immer dieses Wahrnehmen vollzogen

61  Diese Formulierung wird von Husserl verwendet in der folgenden Passage: »[…]

Prinzip aller Prinzipien: […], dass alles, was sich in der ›Intuition‹ originär […] darbietet,
einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt …« (vgl. das Zitat aus den Ideen oben in
4.2.3.1 [2] und Fußnote 49). Marions französische Wiedergabe lautet: »[…] Le principe
des principes pose que […] tout ce qui s’offre originairement à nous dans l’intuition est à
prendre tout simplement pour ce qu’il se donne …«. (PhS 39)
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 365

und verstanden wird), selbstverständlich auch »Gegenstände (im Sinne von:


Themen)« für philosophisches Theoretisieren sein können; im Falle Marions
aber geht es nicht um diese Selbstverständlichkeit, sondern um etwas Anderes.
Wenn ästhetische und praktische Phänomene zu Themen für philosophi-
sches Theoretisieren gemacht werden, so kann der Philosoph die unmittelbare
ästhetische bzw. praktische Sprache – die Sprache, die jemand (ein Künstler,
ein Mystiker, ein moralisch Handelnder usw.) verwendet, wenn er eine direkte
ästhetische bzw. praktische »Erfahrung« macht  –  nicht einfach (und das
heißt hier: buchstäblich) als eine, geschweige denn als die angemessene phi-
losophische Artikulation des ästhetischen und / oder praktischen Gegebenen/
Phänomens nehmen.62 Die Philosophie ist Interpretation, strenggenommen:
sie ist Theorie. Dies setzt eine absolut deutliche Nicht-Identifikation des theo-
retisierenden Philosophen mit dem Künstler als Künstler, mit dem Mystiker
als Mystiker, mit dem praktisch Handelnden als solchem usw. voraus. Wenn
der Philosoph einen ästhetischen, praktischen usw. Gegenstand (Thema) be-
handelt, so ist seine philosophische Einstellung selbst nicht eine ästhetisch
und/oder praktisch wahrnehmende Einstellung; sie ist eine rein theoretisch
orientierte Einstellung. Nur die theoretische Einstellung ist direkt auf das
gerichtet, was der ästhetisch, praktisch usw. wahrgenommene Gegenstand in
ihm selbst in Wahrheit ist. Gerade und genau das ist es, was in wahren Aus-
sagen über die (ästhetisch und / oder praktisch wahrgenommenen) Gegen-
stände bzw. Phänomene artikuliert wird.
Es sei nun der Versuch gemacht zu erklären, was bei Marion zu geschehen
scheint. Man muss zunächst einige Differenzierungen einführen. Zuerst sind in
seinen Ausführungen über das, was er saturierte Phänomene nennt, zweierlei
Aussagen streng auseinanderzuhalten: die beschreibenden und die philosophisch
interpretativen-kommentierenden-konzeptionellen, kurz: es ist zwischen Be-
schreibungen und Interpretationen bzw. Kommentaren bzw. Konzeptionen zu
unterscheiden. Bei den Beschreibungen ist eine weitere Unterscheidung zu ma-
chen, nämlich zwischen sachlich-theoretischen Beschreibungen, d. h. solchen,
die ausschließlich auf die Wahrheit der beschriebenen Sache abzielen, und den
subjektexpressiven Beschreibungen, d. h. hier solchen, denen es nur um die Ver-
haltensweise der beschreibenden Instanz (konkret: des beschreibenden Sub-
jekts) geht. Letztere müssen ihrerseits ebenfalls weiter differenziert werden,
nämlich zwischen subjektexpressiv-theoretischen und subjektexpressiv-nicht-
62
  Es ist zu beachten, dass sich die Person, die sich »Künstler«, »Mystiker«, »prak-
tisch Handelnder« usw. nennt oder so genannt wird, nicht immer (vielleicht sogar nicht
meistens) als Künstler, als Mystiker, als praktisch Handelnder usw. verhält, d. h. u. a. und
vor allem nicht als Künstler usw. spricht. Eine solche Person kann auch als Philosoph, als
z. B. literarischer, künstlerischer Kritiker, Interpret usw. sprechen. Daher wird im Text die
Formulierung verwendet: »… die unmittelbare ästhetische bzw. praktische Sprache – die
Sprache, die jemand (ein Künstler, ein Mystiker, ein moralisch Handelnder usw.) ver-
wendet, wenn er eine direkte ästhetische bzw. praktische ›Erfahrung‹ macht – …«
366 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

theoretischen Beschreibungen. Als »subjektexpressiv-theoretisch« werden hier


jene Beschreibungen verstanden bzw. bezeichnet, die ausschließlich die theo-
retische Verhaltensweise der beschreibenden Instanz (des Subjekts) betrachten;
als »subjektexpressiv-nicht-theoretische« Beschreibungen sind solche zu ver-
stehen, die nicht die theoretische, sondern die ästhetische, die praktische usw.
Verhaltensweise der beschreibenden Instanz artikulieren.
Bei Marion finden sich sowohl Beschreibungen als auch Interpretationen
bzw. Kommentare bzw. (wenn nicht Theorien, so doch) Konzeptionen. Und
bei den Beschreibungen finden sich ebenfalls alle soeben aufgeführten Un-
terscheidungen: die sachlich-theoretischen und die subjektexpressiven; die
subjektexpressiv-theoretischen und die subjektexpressiv-nicht-theoretischen.
Das Problem besteht darin, dass sie völlig nebeneinander, undifferenziert,
ohne einen durchsichtigen methodischen Status vorkommen. Sie werden
gerade hinsichtlich des zentralen Begriffs des saturierten Phänomens mit-
einander vermengt. Wohin das führt, wird sich im Einzelnen in den weiteren
Ausführungen zeigen.
Der entscheidende Punkt dabei ist die Rolle, die die subjektexpressiv-nicht-
theoretischen Beschreibungen spielen. Es werden Verhaltensweisen von Sub-
jekten beschrieben, so wie sie ein Künstler als Künstler, ein Mystiker als Mys-
tiker, ein praktisch Handelnder als praktisch Handelnder usw. artikulieren
würden. Es sind sozusagen nicht-theoretisch orientierte Selbstbeschreibun-
gen, Beschreibungen der eigenen Erlebnisse. Das alles ist selbstverständlich
völlig legitim, solange daraus keine unzulässigen, ungerechtfertigten Schlüsse
gezogen werden. Aber Marion tut eben dies. Seine Beschreibungen bei der
Charakterisierung des saturierten Phänomens sind das zentrale Beispiel. Es
sind, in der oben benutzen Terminologie, eindeutig subjektexpressiv-nicht-
theoretische Beschreibungen. Wenn gesagt wird, das Auge werde »geblen-
det«, dessen Anschauung werde »überschwemmt« usw., so werden damit
subjektexpressiv-nicht-theoretische Beschreibungen geliefert. Nun, gerade
daraus zieht Marion fundamentale Schlüsse im Hinblick auf das, was das
saturierte Phänomen eigentlich ist. Es ist dann eben dies: was blendet, was
überschwemmt usw. Dieser Schluss auf das, was »die Sache«, nach Marion:
das Phänomen, eigentlich ist, ist das Problematische und Unzulässige im gan-
zen Marionschen Verfahren. Hier findet ein illegitimer Übergang von einer
subjektexpressiv-nicht-theoretischen Beschreibung zu einer philosophischen
Interpretation bzw. Konzeption statt. Das ist in Frage zu stellen.
Ein typisches Beispiel für saturierte Phänomene, das schon oben (vgl.
4.2.2.3 [1]) in einem anderen Zusammenhang angeführt wurde, beschreibt
Marion folgendermaßen:
»Ein bestimmtes Antlitz, das ich liebe, unsichtbar geworden, nicht nur, weil es mich
blendet, sondern vor allem, weil ich darin nichts mehr als seinen unsichtbaren auf mir
ruhenden Blick (regard invisible) erblicken will und kann.« (PhS 74)
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 367

Es handelt sich hierbei um eine Beschreibung eines teils praktisch teils äs-
thetisch wahrgenommenen Phänomens – und nicht um eine philosophische
Interpretation oder Konzeption, es sei denn, man vermengt einfach die drei
Grundeinstellungen miteinander: die theoretische, die praktische und die
ästhetische, mit der Konsequenz, dass die ihnen entsprechenden Phänomene
ebenfalls miteinander vermengt werden. Es ist hochbezeichnend, dass die phi-
losophische Analyse der Sprache, dieses wunderbaren und unverzichtbaren
Mittels zur Artikulation all dessen, was Thema der Philosophie (und der
Wissenschaften) ist, in Marions Denken beinahe total abwesend ist.
[iii] Der dritte Einwand hat es mit dem am wenigsten intelligiblen Charakte-
ristikum des saturierten Phänomens zu tun, mit seiner Absolutheit: »Indem es
sich absolut gibt, gibt sich das saturierte Phänomen selbst als Absolutes – be-
freit von jeder Analogie mit der schon gesehenen, objektivierten, begriffenen
Erfahrung. Es befreit sich selbst davon, weil es von keinem Horizont abhängig
ist.« (PhS 67) Dies ist höchstens eine subjektexpressive-nicht-theoretische Be-
schreibung eines praktischen und/oder ästhetischen Phänomens. Aber Marion
identifiziert problemlos eine solche Beschreibung mit einer philosophischen
Interpretation bzw. Konzeption. Streng philosophisch gesehen ist ein solches
Phänomen keineswegs etwas Absolutes; ganz im Gegenteil: Es ist ein von
anderen Phänomen unterschiedenes Phänomen, daher auf sie bezogen; es hat
zweifellos einen Horizont, was leicht in einem Falle wie beispielsweise dem
von Marion beschriebenen Phänomen der Liebe ersichtlich wird: Die Person,
die eine im Beispiel beschriebene praktische oder ästhetische Einstellung hat,
denkt überhaupt nicht explizit daran, dass ihre Einstellung bzw. dass das ihr
begegnende Phänomen Voraussetzungen macht bzw. hat, dass es daher einen
Horizont hat, aber dies ist gerade auf den Umstand zurückzuführen, dass sie
sich praktisch-ästhetisch und nicht theoretisch verhält.
Wird die theoretische Einstellung eingenommen, so wird sofort klar, dass
das »bestimmte Antlitz, das ich liebe, [das] unsichtbar geworden [ist], nicht
nur, weil es mich blendet, sondern vor allem, weil ich darin nichts mehr als
seinen unsichtbaren auf mir ruhenden Blick (regard invisible) erblicken will
und kann« (PhS 74), in Wahrheit das Antlitz eines Menschen, eines mensch-
lichen Seienden, eines Seienden neben vielen anderen Seienden in der Welt,
eines ausgezeichneten Seienden ist: Es ist gerade dadurch ausgezeichnet, dass
es ein menschliches Gesicht hat, eine Person ist, mit einem Geist, der eine
unendliche Transzendenz besitzt usw. Das »saturierte Phänomen« des »be-
stimmten Antlitzes, das ich liebe« ist absolut alles andere als ein »absolutes
Phänomen« in Marions Sinn.
Es wäre einfach inakzeptabel zu behaupten, dass die theoretische Ein-
stellung zum »Antlitz, das ich liebe usw.«, solche Präsuppositionen, einen
solchen Horizont usf. nicht aufdecken würde. Dieser Sachverhalt kann leicht
und unmittelbar erhärtet werden. Wenn die liebende Person im Vollzug ihrer
368 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

liebenden Beziehung zu einem Gesicht gefragt würde: »Ist nicht das, was Sie
lieben, vielleicht eine reine Fiktion – oder Ähnliches?«, so würde diese Per-
son – vorausgesetzt, sie ist intelligent und willig darauf zu antworten – sofort
von ihrer rein praktischen Einstellung zu einer theoretischen wechseln und
darauf etwa eine Antwort der folgenden Art geben: »Nein, Nein, ich liebe
diese Person, die reale Person, mit einem realen Antlitz … usw.« Das heißt
also: diese Person, die sich im Vollzug ihres liebenden Anblickens auf das
Antlitz der geliebten Person eben nicht theoretisch verhält, setzt implizit
voraus, dass sie, in diesem Vollzug, zur realen Welt gehört, dass die geliebte
Person eine reale Person ist usw. usf.
Hier nun kann man den Grundfehler, den Marion bei seiner Charakterisie-
rung des »saturierten Phänomens« begeht, kurz, genau und einleuchtend be-
schreiben: Marion bildet einfach die »intellektuelle Situation« der Person, die
ihm zufolge die Erfahrung des von ihm so genannten saturierten Phänomens
macht, buchstäblich auf die theoretische Ebene ab. Unter »intellektueller
Situation« dieser Person sei hier das explizite Gesamtverständnis verstanden,
das diese Person von dem hat, was sich im Vollzug ihrer Erfahrung ereignet.
Dieses explizite Gesamtverständnis, wie bisher gezeigt, ist minimal: diese
Person ist sozusagen praktisch und ästhetisch einzig und allein auf das »kon-
zentriert« (man kann sogar sagen: »fixiert«), was ihr dabei widerfährt. Sie
»denkt« nicht daran, was dies eigentlich und genau bedeutet, welche Voraus-
setzungen, Implikationen usw. das von ihr Erlebte hat, wie das obige Beispiel
der liebenden Person vor dem Antlitz der geliebten Person zeigt. Marion
beschreibt die Situation-der-Person-im-Vollzug-ihres-Erlebnisses und »trans-
poniert« (oder bildet) sie einfach auf die theoretische Ebene (ab), indem er aus
ihr eine philosophische These macht. Das erklärt den philosophisch sonder-
baren Sachverhalt, dass er das saturierte Phänomen so beschreibt, wie gezeigt
wurde: Das saturierte Phänomen wird als ein X-in-splendid-isolation, als es
selbst, absolut, ohne Bedingungen, ohne Voraussetzungen, ohne Relationen,
jenseits alles begrifflich Fassbaren »gesehen« … Das könnte vielleicht eine
angemessene Beschreibung des von der erfahrenden Person Erlebten sein.
Aber, wie gezeigt, die in Frage stehende Person hat ein implizites Wissen der
Bedingungen, Voraussetzungen, Relationen, kurz: des vollen Begriffs dessen,
was sie erlebt(e).
Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine bedeutsame Konsequenz: Das,
was Marion »saturiertes Phänomen« nennt, ist nicht durch einen Überschuss
an Inhalt im Vergleich zum theoretisch wahrgenommenen und artikulierten
Phänomen charakterisiert; das genaue Gegenteil ist der Fall: das saturierte
Phänomen im Sinne Marions ist durch eine tiefe Defizienz an Inhalt cha-
rakterisiert. Der Ȇberschuss an Anschauung (in Bezug auf das Begriff-
liche)« ist in Wahrheit das Resultat des Absehens von allem Inhalt oder des
Implizitmachens (oder, um eine Husserlsche Formulierung zu verwenden: der
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 369

»Einklammerung«) allen Inhalts. Dieser »Überschuss« stellt sich in Wirklich-


keit als eine extreme Defizienz an Inhalt dar.
[iv] Es ist jetzt möglich, einen vierten Einwand gegen Marions Verständnis
von Phänomen zu formulieren. Es handelt sich um einen Einwand gegen
jenes Prinzip, das Marions entscheidenden Punkt in seinem Versuch einer
umwälzenden Transformation der phänomenologischen Idee artikuliert: seine
dritte Reduktion. Er formuliert das Prinzip so:
»[D]as Erscheinen richtet sich immer auf die Gebung/Schenkung [donation] aus nach
dem Prinzip: ›So viel Reduktion, so viel Gegebenheit/Gebung/Schenkung‹ (oder: Je
mehr/weniger Reduktion, desto mehr/weniger Gegebenheit/Gebung/Schenkung).
[Autant de réduction, autant de donation.] […] [N]ichts zeigt sich, das sich nicht
(hin)gibt. […] [N]ichts gibt sich, das sich nicht zeigt.«63

Der letzte Satz – »Nichts gibt sich, das sich nicht zeigt« – dürfte als unpro-
blematisch gelten. Hochproblematisch hingegen ist die Hauptformel des
Prinzips »So viel Reduktion, so viel Gegebenheit / Gebung/Schenkung«. So
weit der Verfasser sehen kann, wird das so formulierte Prinzip von den aller-
meisten Phänomenologen dezidiert abgelehnt. Es scheint klar zu sein, dass aus
der Tatsache, dass sich etwas zeigt, nicht folgt, dass es sich selbst »gibt«, wenn
der Ausdruck ›geben/Gegebenheit‹ verstanden wird, wie Marion ihn versteht,
nämlich als Schenkung (donation). Ein solches Prinzip könnte (zumindest in
gewisser Weise) akzeptiert werden, allerdings nur unter der Voraussetzung,
dass eine umfassende (systematische) Theorie der Gesamtrealität, des Seins
im Ganzen, entwickelt wird, die Realität / Sein als so etwas wie »universale
oder umfassende Schenkung (Gabe)« deutet; jedes einzelne »Ding« oder
»Gegebenes« (zunächst in einem unspezifischen Sinne genommen) würde
in diesem Fall als ein bestimmter Modus der Schenkung (Gabe) betrachtet
werden können und würde sich als ein solcher Modus zeigen können. Aber
eine solche umfassende systematische Theorie könnte in keinem Fall als eine
phänomenologische Theorie gelten. Und Marion ist weit davon entfernt, auch
nur die leiseste Absicht kundzutun, eine solche umfassende Theorie der Reali-
tät/des Seins zu akzeptieren oder gar zu entwickeln. Was dies zum Vorschein
bringt, ist die kaum bestreitbare Tatsache, dass Marion sich stillschweigend
auf eine theologische Sicht stützt, wobei »theologisch« hier sowohl im Sinne
der philosophischen Theologie als auch der Offenbarungstheologie zu ver-
stehen ist. Aber dieses Thema kann hier nicht weiter verfolgt werden (vgl.
aber unten 4.2.2. [2][ii]).
[v] Der fünfte Einwand hat einen speziellen Charakter: Er besteht in dem
Aufweis, dass Marions Bemühungen, Einwände zu entkräften, die gegen seine
Konzeption erhoben wurden oder werden können, ganz besonders gegen den

63  J.-L. Marion, »L’autre philosophie première et la question de la donation«, 1996,

29–50; Zit. 50.


370 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

fünften Typ von saturierten Phänomenen, das Offenbarungsphänomen, auf


der ganzen Linie scheitern. Einer der Einwände und Marions Antwort darauf
sind von besonderer Bedeutung für die Thematik dieses Buches und für die
kritische Einschätzung der Position von Marion; darauf wird im folgenden
eingegangen.
Marion unterscheidet zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit
(effectivité) des Phänomens der Offenbarung; dabei betont er, dass er als
phänomenologischer Philosoph sich nur mit der Thematik der Möglichkeit
befasst. Es bleibt noch zu sehen, was damit gemeint ist, wie diese Auffassung
begründet wird und ob sie kohärent ist.
»Das Phänomen der Offenbarung bleibt eine einfache Möglichkeit. In der Tat, wir
werden in der Lage sein, es zu beschreiben, ohne dessen Wirklichkeit vorauszusetzen,
und nichtsdestotrotz werden wir eine präzise Gestalt (figure) von ihr vorstellen (pro-
poser). […] Die Phänomenologie kann nicht entscheiden, ob eine Offenbarung jemals
sich geben kann oder muss …« (ED 327)
Diese Unterscheidung, so wie Marion sie versteht, wirft zwei ganz verschie-
dene Probleme auf; beide betreffen die Kohärenz seiner Position.
Das erste Problem erwächst aus der Tatsache, dass die »Wirklichkeit« des ge-
offenbarten Phänomens »die eigentliche Aufgabe der Offenbarungstheologie
bleibt« (ED 329). Auf dieses Problem wird in diesem Buch nicht näher einge-
gangen. Das zweite Problem ergibt sich aus dem Status von Marions eigenem
Gesamtprojekt hinsichtlich der Thematik Transzendenz und Gott. Eines seiner
radikalsten Postulate in diesem Bereich statuiert, dass Gottes Transzendenz
aller Auflagen, aller Bedingungen, aller Horizonten, aller Beschränkungen
u. ä. enthoben sein muss. Dieser Punkt bildet Marions radikalsten Einwand
gegen jede Philosophie und/oder Theologie, die auf der Dimension des Seins
aufbaut. Wiederholt behauptet er, dass Gott, wenn im Horizont des Seins kon-
zipiert, in Wirklichkeit ein Idol/Götze, nicht der wahrhaft göttliche Gott ist.
Aber nun wird Marion der Tatsache gewahr, dass seine eigene Vorgehensweise,
auch wenn sie nicht so etwas wie eine Artikulation der Seinsdimension ist bzw.
sein will, dennoch als eine Art Vorbedingung für eine Konzeption über Trans-
zendenz und Gott angesehen werden kann. Er selbst schreibt:
»Wir werden nur dies sagen: Wenn eine reale Offenbarung sich in der phänomenalen
Erscheinung geben/schenken muss, kann oder konnte, so hat sie das gekonnt, so kann
sie das und so wird sie das nur können, indem sie sich gibt/schenkt gemäß dem Typ des
Paradoxes par excellence – wie wir es beschreiben werden. Die Phänomenologie kann
nicht entscheiden, ob eine Offenbarung ›sich selbst jemals geben‹ kann oder muss, aber
sie (und sie allein) kann festlegen, dass in diesem Fall ein solches Offenbarungsphä-
nomen die Gestalt des Paradoxes der Paradoxe annehmen müsste: Wenn Offenbarung
sein muss (und die Phänomenologie hat keine Autorität, um darüber zu entscheiden),
dann wird sie annehmen, nimmt an und hat angenommen die Gestalt des Paradoxes der
Paradoxe, gemäß einem wesentlichen Gesetz der Phänomenalität. In diesem Sinne, da
die Offenbarung eine Variation der Saturierung bleibt und sie selbst eine Variation der
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 371

Phänomenalität des Phänomens als eines Gegebenen/Geschenkten ist, bleibt sie somit
noch angesiedelt unter den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen.« (ED 327–8)

Marion wirft nun selbst die Frage auf:


»Sind wir diesen ganzen Weg gegangen, nur um am Ende genau das wiederzufinden,
was wir zerstören wollten: Bedingungen, die der Möglichkeit vorangehen und sie a
priori limitieren? Genauer: finden wir diese Bedingungen nicht ausgerechnet in Bezug
auf die Offenbarung, den eigentlichen Typ von Phänomen, wieder, das sich solchen
Bedingungen aus Prinzip weder unterwerfen kann noch unterwerfen muss?« (ED 328)

Das ist eine gute Formulierung des Einwands, der sich hier wie selbstver-
ständlich aufdrängt. Aber Marions Antwort darauf ist alles andere als ein-
leuchtend, ganz im Gegenteil: Er weicht dem eigentlichen Problem aus – und
das hat eine fatale Konsequenz für seine ganze Position. Er gibt die einiger-
maßen hilflose Antwort:
»In Wirklichkeit geschieht nichts dergleichen hier – hier […] besteht die Möglichkeits-
bedingung nicht darin, das Phänomen zu ermöglichen, indem es durch Unmöglich-
keiten a priori abgegrenzt wird, sondern darin, seine Möglichkeit freizusetzen, indem
jedwede von der Phänomenalität im voraus geforderte Vorbedingung zerstört wird,
indem nämlich alle angeblichen Unmöglichkeiten aufgehoben werden und sogar die
Möglichkeit einiger unter ihnen angenommen wird. Auch das Offenbarungsphänomen
wäre als die Möglichkeit der Unmöglichkeit zu definieren.« (ED 328)

Marions Antwort verfehlt gänzlich den springenden Punkt des Problems.


Selbst dann, wenn man der Ansicht beistimmte – obwohl der Verfasser ihr
nicht beistimmt –, dass es Sinn macht, zu fordern, man müsse »die Möglich-
keit freisetzen, indem jedwede von der Phänomenalität im voraus geforderte
Vorbedingung zerstört wird, indem nämlich alle angeblichen Unmöglich-
keiten aufgehoben werden und sogar die Möglichkeit einiger unter ihnen
angenommen wird«, würde dennoch der fundamentalste Faktor, d. h. hier: die
grundlegendste Vorbedingung für einen Zugang zu Transzendenz und Gott,
gemäß dem phänomenologischen Ansatz, wie Marion ihn versteht, völlig un-
verändert bleiben: Das ist die Vorbedingung, die Marion die Phänomenalität
selbst nennt. Er interpretiert seine eigene Position dahingehend, als ob sie
das Phänomen von allen (Vor)Bedingungen befreit hätte; dabei übersieht er
vollständig die Phänomenalität selbst, d. h. den Rahmen oder die Dimension,
innerhalb dessen/deren ein Phänomen das ist, was es ist, und nur das sein
kann, was es sein soll.
Das bedeutet, dass Transzendenz und Gott an die Phänomenalität »gebun-
den« bleiben. Und Marion behauptet sogar explizit: »Wenn reale Offenbarung
sein muss, […], dann wird sie annehmen, nimmt an und hat angenommen
die Gestalt des Paradoxes der Paradoxe, gemäß einem wesentlichen Gesetz
der Phänomenalität (suivant une loi d’essence de la phénoménalité).« (ED
327–8) Die Phänomenalität und ihre essentiellen Gesetze: das sind die fun-
372 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

damentalen, die effektiv limitierenden Bedingungen der Möglichkeit für die


Offenbarung; die Offenbarung ist gebunden an und somit limitiert auf diese
fundamentale Vorbedingung. Das ist aber nicht alles: Die wichtigste Voraus-
setzung, die Marion macht, lautet: Offenbarung »bleibt eine Variation der
Saturierung« (ED 328); mit anderen (seinen) Worten: Eine Offenbarung kann
nur in phänomenaler Erscheinung stattfinden. Kurz: er kann eine Offen-
barung nicht anders konzipieren als auf der Basis oder im Rahmen oder im
Horizont der Phänomenalität, wie er sie versteht.
Hier ist die eigentlich kritische Frage zu stellen: Warum muss die Offen-
barung, Gottes Selbstmitteilung, auf diese Basis, auf diesen Rahmen bzw.
Horizont eingeschränkt werden? Die Antwort darauf im Sinne Marions
dürfte klar sein: Weil, wie schon teilweise oben gezeigt wurde und ausführ-
licher im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, Marions fundamentaler
philosophischer »Theorierahmen« durch die Koordinaten der Philosophie
der (umgekehrten) Subjektivität bestimmt ist. Der absolute Bezugspunkt ist
das Subjekt, wobei der Umstand, dass das Subjekt nach Marion das umge-
kehrte Subjekt, das Subjekt als Mich / Mir, als die empfangende (und nicht als
die konstituierende) Instanz, als das Angesprochene (l’interloqué) ist, keinen
Unterschied ausmacht. Die Struktur einer solchen umgekehrten, invertierten
Subjektivität mit ihren Koordinaten ist der fundamentale Faktor, der die
Bedingungen, die eine Offenbarung erfüllen muss – selbstverständlich a priori,
wie sonst? –, bestimmt, die also festlegt, was und wie eine Offenbarung sein
könnte oder sein sollte.
Damit ist klar, dass es Marion nicht gelingt, den ernsthaften von ihm selbst
formulierten Einwand gegen seine Position zu entkräften. In Wirklichkeit
restringiert er Offenbarung  –  und damit Transzendenz und Gott  –  auf die
Gesetze und Grenzen der Phänomenalität. Diese Gesetze und Grenzen sind
»die Bedingungen, die der Möglichkeit [der Offenbarung] vorangehen und
sie a priori limitieren«, Bedingungen gerade von der Art, die er »gerade zer-
stören wollte« (ED 328). Das ist eine immens weitreichende Restriktion: die
Restriktion auf den Rahmen der invertierten Subjektivität.
Das macht deutlich, dass Marion in keiner Weise berechtigt ist, die ganze
Tradition der christlichen Metaphysik so radikal zu kritisieren, wie er es tut.
Zumindest die in Kapitel 1 beschriebene und in systematischer Hinsicht in
Kapitel 3 skizzierte Tiefenmetaphysik ist unvergleichlich adäquater, um die
große Frage nach der Transzendenz und nach Gott zu formulieren und zu
klären. Der Hauptgrund dafür ist der Umstand, dass diese Tiefenmetaphysik
in keiner Weise Transzendenz, Gott und Offenbarung auf irgendetwas res-
tringiert, vor allem nicht auf die »wesentlichen Gesetze« der Phänomenalität
und damit auf die wie immer gedachte Subjektivität. Ihr Ausgangspunkt ist
die absolut uneingeschränkte universale Dimension, die Seinsdimension, mit
welcher der menschliche Geist intentional koextensiv ist. Diese Dimension
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 373

wird immer weiter expliziert, genauer: Sie expliziert sich immer weiter, wobei
sie sich auf einer ersten Stufe der Selbstexplikation als absolutnotwendiges
Sein und auf einer weiteren Stufe als Gott manifestiert. Gott wird dabei keinen
wie immer gedachten Restriktionen, nicht einer von den Gesetzen der Sub-
jektivität bestimmten Phänomenalität u. dgl. unterzogen. Man könnte auf
gewagte Weise sagen: Gott manifestiert sich als das voll explizierte Sein.

4.2.3.3 Umkehrung der Subjekt-Objekt-Beziehung und Radikalisierung der


Philosophie der Subjektivität
Marions ganze Bemühung gilt der Umkehrung der für die Philosophie der
Subjektivität der Neuzeit charakteristischen Subjekt-Objekt-Beziehung, wie
diese besonders von Kant und Husserl verstanden wurde. An die Stelle des
konstituierenden Ich möchte er das konstituierte Ich setzen, das er dann
»Mich/Mir« nennt. Aber diese Umkehrung  –  auch wenn man hypotheti-
scherweise annimmt, dass sie durchgeführt werden kann – setzt Marion nicht
in die Lage, aus der Philosophie der Subjektivität auszubrechen. Heideg-
ger sagte einmal: »Die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein
metaphysischer Satz.« (WegM 328) Vergleichsweise verhält es sich so, dass
die Umkehrung der für die ganze Subjektivitätsphilosophie charakteristischen
Subjekt-Objekt-Beziehung eine für die Subjektivitätsphilosophie charakte-
ristische Beziehung bleibt. Das ist ein im Hinblick auf eine allgemeine adä-
quate Einschätzung von Marions Position zentraler Punkt. In der Tat, seine
Gesamtkonzeption, ganz besonders seine Konzeption der Transzendenz und
von Gott, basiert entscheidend auf dem Theorierahmen der Philosophie der
invertierten Subjektivität. Im folgenden soll diese Konzeption einer einge-
henden kritischen Analyse unterzogen werden.

[1] Um die These, dass das Subjekt  –  das umgekehrte Subjekt, das Sub-
jekt nicht mehr als »Ich«, sondern als »Mich / Mir« – den zentralen Bezugs-
punkt für alle Aussagen und Ausführungen in Marions Oeuvre darstellt, zu
erläutern und zu begründen, soll eine kurze mathematisch/logisch orientierte
Exposition der Subjekt-Objekt-Beziehung und ihrer Umkehrung präsentiert
werden. In der traditionellen transzendentalen Perspektive – um zu wieder-
holen: das ist eine Perspektive, die Marion überwinden will, indem er sie um-
zukehren versucht – lässt sich das Objekt sehr genau als eine Funktion des
Subjekts charakterisieren. Das bedeutet: es gibt eine Eins-zu-eins-Funktion,
d. h. eine Abbildung der Dimension des Subjekts (oder der Subjektivität) (= S)
auf die Dimension des Objekts (oder der Objektivität) (= O).
Die formalisierte Fassung dieser Funktion ist: f : S → O. Die Inverse (Um-
kehrfunktion) ist die Funktion f -1: O → S, die erreicht wird, wenn f invertiert
wird. Daher gilt für jedes s in S und jedes o in O: wenn f(s) = o, dann f -1(o) = s.
374 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Der Definitionsbereich (oder Vorbereich oder Argumentbereich) von f -1 (d. h.


o) ist daher der Wertebereich von f; der Wertebereich von f  - 1 (d. h. s) ist der
Definitionsbereich von f (d. h. die Klasse der Elemente des Definitionsbereichs
von f, denen f einen Wert zuordnet). Ferner, wenn f-1 eins-zu-eins (1–1) ist,
dann ist seine Inverse, (f ‑1)-1, gleich f. Unter anderem zeigt das, dass die in-
verse Funktion (Umkehrfunktion) – im Beispiel: die Umkehrung der Subjekt-
Objekt-Beziehung  –  vom Ausgangspunkt abhängt bzw. bestimmt ist  – und
dass dieser (hier im Beispiel) die Beziehung des Subjekts zum Objekt ist. Das
bedeutet: das Subjekt ist und bleibt der durchgehend bestimmende Faktor.
Die daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Position Marions sind
weitreichend – und äußerst problematisch. Im folgenden werden nur die Kon-
sequenzen herausgearbeitet, welche die Transzendenz und Gott betreffen.
Da der permanente Bezugspunkt das Subjekt=Ich=Mich/Mir ist, können
Transzendenz und Gott nur mit explizitem Hinweis auf diesen Bezugspunkt
und von diesem obligatorischen Bezugspunkt aus konzipiert werden. Aber
das hat die bemerkenswerte Konsequenz, dass Transzendenz und Gott Funk-
tionen dieses Bezugspunktes, der Subjektivität, sind. Das Subjekt=Mich/Mir
geht über die Ebenen des objektiven Pols der Subjekt-Objekt-Beziehung
hinaus, aber es ist eben dieses Subjekt selbst, das diese transzendierende
Bewegung vollzieht. Die Hauptstufen dieser transzendierenden Bewegung
sind nach Marion das transzendentale Subjekt, dann die Welt und dann ganz
besonders die Dimension des Seins. Eine seiner wichtigsten Aussagen dies-
bezüglich ist, dass auch diese letzte Transzendenz (zum Sein hin) wieder trans-
zendiert werden muss, so dass es erforderlich ist, dass das Subjekt=Ich=Mich/
Mir über das Sein hinausgeht. Diese Sachverhalt wird weiter unten in Detail
zu betrachten sein.
Hier ist es wichtig einzusehen, dass diese Transzendenzen einfach Funk-
tionen, Projektionen, genauer (Auto‑ oder Selbst‑)Projektionen des Subjekts=​
Ich=Mich/Mir sind. Das muss so gedeutet werden: Das Subjekt=​Ich=​Mich/
Mir treibt seine eigene Extroversion weiter und weiter und damit erreicht es,
oder genauer: erzeugt es immer weitere Entfernungen von sich. An einem
Punkt, den Marion als den im Rahmen seiner Extroversionsbewegung ent-
ferntesten Punkt betrachtet, situiert er dann den absolut entfernten bzw.
fernen Gott, den er dann Liebe /Caritas nennt und als solchen charakterisiert.
Aus Marions Aussagen folgt, dass dieser Prozess bzw. diese Prozedur als
gleichzeitig und unablösbar progressiv und regressiv konzipiert ist, als Trans-
zendenz und »Retroszendenz«. »Transzendenz und Retroszendenz« deswe-
gen, weil bzw. in dem Sinne, dass die progressiv-transzendierende Bewegung
des Subjekts gleichzeitig auf das Subjekt in dem Sinne »zurückwirkt«, dass
das Subjekt transformiert wird: von einem Ich zu einem Mich/Mir. Dabei ist
immer zu bedenken und zu betonen, dass der »Fixpunkt« dieser invers-direk-
tionalen Prozedur der Ausgangspunkt ist: Das Subjekt=Ich=Mich/Mir. Gott
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 375

als der absolut entfernte Andere, jenseits des Seins, ist der-Andere-des-Sub-
jekts=Ich=Mich/Mir.
Zur größeren Klarheit ist auf den Charakter der von Marion formulierten
Sätze hinzuweisen. Da Marion eine philosophische Konzeption entwickeln
will, muss angenommen werden, dass seine Sätze theoretische Sätze sind.
Deren Struktur und Status seien zunächst in einer informalen Sprache ar-
tikuliert, wobei die natürliche Sprache benutzt wird, aber so, dass die Ar-
tikulationsform sehr kompliziert und alles andere als »natürlich« erscheint;
dies ist aber unvermeidlich, will man möglichst vollständige Klarheit über den
theoretischen Charakter dieser Sätze schaffen.
Eine Formulierung könnte sein (am Beispiel des Satzes »Gott ist (die)
Liebe«): Es verhält sich so dass (es sich auf der Basis der Struktur des partiku-
lären Subjekts=Ich=Mich / Mir so verhält dass) Gott die Liebe ist. Eine For-
malisierung ist hilfreich, um diese Struktur noch mehr zu klären. Sei  T der
uneingeschränkte Theoretische Operator »Es verhält sich so dass …«,  T PS
der beschränkte Theoretische Operator »Es verhält sich auf der Basis der
Struktur des Partikulären Subjekts=Ich=Mich / Mir so dass …«, φ der Satz
»Gott ist (die) Liebe«. Dann kann der Satz »Es verhält sich so dass (es sich
auf der Basis der Struktur des partikulären Subjekts=Ich=Mich/Mir so ver-
hält dass) Gott ist die Liebe« so formalisiert werden:  T ( T PS(φ)). Als ganzer
betrachtet ist der Satz ein uneingeschränkter theoretischer Satz, der also nicht
auf die Perspektive eines Subjekts eingeschränkt ist; er beinhaltet also den
Anspruch, absolut universal zu gelten. Aber in seinem Skopus steht ein Satz,
dem eine nur partikuläre Form des theoretischen Operators vorangestellt
ist, die Form, die den Operator auf eine beschränkte Perspektive reduziert,
nämlich auf der Basis der Struktur der Subjektivität, hier verstanden als das
Subjekt=Ich=Mich/Mir. Der Satz »Gott ist (die) Liebe«, der im Skopus dieses
zweiten Operators – des partikulären theoretischen Operators – liegt, wird
daher nicht als uneingeschränkt wahr artikuliert. Zwar konzipiert Marion
Gott letztlich als Liebe (»bevor Er ist«), aber in seinem Theorierahmen bleibt
Gott-als-Liebe eine Funktion der umgekehrten Subjektivität des Menschen.
Dieser Gott kann nicht als der wirklich göttliche Gott aufgefasst werden.64

64  Zum selben Ergebnis  –  wenn auch in einer ganz anderen Terminologie  –  gelangt

auch Guillaume de Lacoste Lareymondie in seiner unter dem Titel »Portrait de Saint
Augustin en proto-phénoménologue [Portrait des Hl. Augustinus als Proto-Phänome-
nologe]« erschienenen ausgezeichneten Rezension des vorerst letzten Buches von J.-L.
Marion Au lieu de soi. L’approche de Saint-Augustin, 2008/09. Er schreibt:
»Man findet am Ende des Schlusswortes die folgende Zusammenfassung der im Buch
vertretenen These: ›Da ich (Ich selbst, das Ich [moi, l’ego]) das bin, was ich suche (den
Ort des Selbst), da ich das bin, was ich liebe, so folgt daraus, dass ich nie aufhören werde,
dorthin zu kommen, wo der Ort des eigenen Selbst liegt (je ne cesserai jamais de venir au
lieu de soi), in dem Maße, in dem ich in das Unbegreifliche versinke, als dessen Abbild ich
mich verstehe. Dort, wo ich Gott finde, und das um so mehr als ich ihn weiterhin suche,
376 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Vor dem herausgearbeiteten Hintergrund lässt sich im gegenwärtigen Kon-


text sagen, dass das wichtigste Erfordernis im Hinblick auf die grundsätzlich
adäquate Weise, den wirklich göttlichen Gott zu artikulieren, darin besteht,
dass die auf der Struktur der (bei Marion umgekehrten) Subjektivität basie-
rende partikuläre Perspektive, ausgedrückt durch den partikulären theoreti-
schen Operator  T PS, beseitigt wird. Dass Gott Liebe ist, wird adäquat, wahr-
heitsmäßig, nur dann artikuliert, wenn jede Restriktion aufgehoben wird.
Das ist nur dann der Fall, wenn beispielsweise der Satz »Gott ist (die) Liebe«
gemäß der formalisierten Fassung  T (φ) (und nicht:  T ( T PS(φ))) gelesen und
verstanden wird, also mit der Bedeutung: Es verhält sich (uneingeschränkt,
absolut) so dass Gott (die) Liebe ist.

[2] Es ist nun möglich, den in vielfacher (vor allem methodologischer) Hin-
sicht radikalsten Einwand gegen Marions Position als ganze zu formulieren:
Marion hat nie versucht, den Theorierahmen der Philosophie der Subjektivität
zu überwinden. Philosophiegeschichtlich gesehen, bedeutet das, dass er nie
einen entscheidenden Schritt über Husserl hinaus in der Weise vollzog, wie
Heidegger es getan hat. Dieser Schritt wurde von Heidegger mit großer
Klarheit und in einleuchtenden kurzen Formulierungen charakterisiert, wie
sowohl in Kap. 1 als auch in Kap. 2 gezeigt wurde. Aufgrund des bisher Ge-
zeigten ist es nun klar, dass der erhobene Einwand bzw. Heideggers Kritik an
der Subjektivitätsphilosophie auch auf den Fall volle Anwendung hat, dass
die Konstituierendes-Konstituiertes-Relation in der Weise umgekehrt wird,
wie Marion es versucht. Darüber hinaus ist zu betonen, dass der wichtige
Gesichtspunkt hier nicht der ist, dass Heidegger eine Dimension einführt,
die er »Sein« nennt; das wirklich Wichtige ist der Umstand, dass die »Kor-
Relation«, die wechselseitige Relation zwischen Konstituierendem und Kon-
stituiertem thematisiert wird. Dies ist adäquaterweise nur dann geleistet,
wenn nicht nur und nicht hauptsächlich jedes der beiden Relata, in sich selbst
betrachtet, näher analysiert und begriffen ist; denn damit wird die Relation
als solche gar nicht wirklich und adäquat thematisiert. Dies geschieht erst
dann, wenn gesehen wird, dass die Relation eine Dimension, einen »Raum«
voraussetzt, innerhalb deren / dessen sie stattfinden kann, ein(e) Dimension/
Raum, die/ der die Relata umfasst und sie daher allererst als Relata möglich

finde ich mich selbst um so mehr, als ich nicht aufhöre, nach dem zu forschen, dessen Ab-
bild ich trage.‹ [LS 420–421] Ohne dass man genau weiß, ob es sich um das Verb ›sein‹ oder
das Verb ›folgen‹ handelt (!), ist es bezeichnend, dass das Subjekt des Satzes [immer] das
›Ich‹ ist. Gott, der wegen überbetonter Unbegreiflichkeit [à force d’être incompréhensible]
inkonsistent wird, wird nur als Spiegel des eigenen Selbst [Ich], des einzigen wahren Ak-
teurs, angesprochen (einberufen) (n’est convoqué qu’en miroir du soi, seul vrai acteur).«
(Kursiv nicht im Original)
(http://www.nonfiction.fr/article-2104-p4-portrait_de_saint_augustin_en_proto_pheno­
me​no​logue.htm).
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 377

macht. Die Meta-Dimension, dieser umfassende Raum, wird von Heideg-


ger als »Sein« bezeichnet. Ab diesem Punkt besteht die Aufgabe nicht darin,
etwa die Subjekt-Objekt-Relation umzukehren, sondern darin, diese Meta-
Dimension, die Seinsdimension, zu thematisieren, jene Dimension, die die
Subjekt-Objekt-Relation allererst möglich macht (wie immer man das Subjekt
konzipieren mag).
Das ist der Ausgangspunkt für den Versuch, die Frage nach dem Sinn von
»Gott« zu klären: nach dem Sinn des wirklich göttlichen Gottes. Und das ist
auch der Punkt, an dem sich der Verfasser von Heidegger entschieden und
definitiv trennt. Wie in Kapitel 2 ausführlich gezeigt wurde, führt Heideggers
Versuch, das Sein zu »denken« nur zu leeren Formulierungen, Tautologien,
sinnlosen Rekonstruktionen der ursprünglichen Bedeutung von Worten auf-
grund von deren Etymologie, wie sein »quasi-systematisches« Werk Beiträge
zur Philosophie (Vom Ereignis) (= Beiträge) und sein Vortrag Zeit und Sein
(= ZS) zeigen.65

4.2.3.3a Exkurs 5: Bemerkungen zu J. Schrijvers’ Interpretation und Kritik


von Marions Umkehrung der Subjekt-Objekt-Relation und zu seiner ambi-
gen Behandlung der Ontotheologie
In seinem Aufsatz »Ontotheological Turnings? Marion, Lacoste and Lévinas
on the Decentering of Modern Subjectivity«66 analysiert Joeri Schrijvers aus-
führlich Marions Versuch der Umkehrung der Subjekt-Objekt-Distinktion.
Er zeigt überzeugend, »dass eine einfache Umkehrung der Subjekt-Objekt-
Distinktion noch nicht Dezentralisierung des Subjektes bedeutet«67. Er be-
hauptet, dass »eine solche Umkehrung der Struktur und den Metaphern der
traditionellen transzendentalen Subjektivität nicht entrinnen kann«; ferner
arbeitet er die Weise heraus, in der »die Subjekt-Objekt-Distinktion in Ma-
rions’ Denken wiederkehrt und welche Konsequenzen diese Wiederkehr
haben mag«68. In sehr akkuraten Analysen zeigt er, dass der Versuch, die
moderne Subjektivität dadurch zu dezentralisieren, dass sie umgekehrt wird,
wie Marion es tut, die Tendenz zeigt, »die Realität zu ›subjektivieren‹, eine
Realität, in Bezug auf welche ich das Objekt und das Objektiv bin. […] In
einer Beziehung zu Gott stehen, heißt [dann], dass (meine eigene) Sichtbar-
keit (visibility) so weit abgeschwächt ist, dass ich mit Unsichtbarkeit voll
durchgedrungen werden kann – als ob menschliche Wesen so transparent wie

65  Vgl. SuS, Kapitel 5, 5.4.1 [3], bes. 556 ff. Vgl. auch die Abhandlung: »Metaphysik-

kritik bei Carnap und Heidegger: Analyse, Vergleich, Kritik«, jetzt in: SGTh, VII,
255–287.
66  in: Modern Theology, 2006, 221–254.
67  Ebd. 227.
68  Ebd.
378 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Objekte wären!«69 Und Schrijvers versucht »zu zeigen, dass unsere Beziehung
zu Gott nicht bedeuten muss, dass Gott Singularitäten missachtet und dass
daher Transzendenz gegenüber ontischen und immanenten Differenzen nicht
indifferent ist«70. In diesem Zusammenhang kritisiert er nicht nur Marions
»Charakterisierung der Indifferenz Gottes gegenüber dem Sein«, sondern
auch  –  und besonders  –  das, was Marion als Indifferenz Gottes gegenüber
ontischen Differenzen beschreibt.
An dieser Stelle führt er überraschenderweise den typisch postmodernen
stereotypen Begriff der Ontotheologie ein. Die Notwendigkeit, das »Ge-
heimnis der Faktizität – Geheimnis, natürlich, da wir nicht wissen, wer wir
sind (unsere Privatheit, in diesem Sinn) –« und im allgemeinen die ontischen
Differenzen in unserer Beziehung zu Gott zu respektieren, ist nach Schrijvers
»schließlich ein Mittel, mit dem Problem der Ontotheologie fertig zu werden«
(ebd.): »[O]ntotheologie muss auch als ein existenzielles Problem betrachtet
werden.«71 Wie das?
Schrijvers’ Verständnis und Behandlung der »Ontotheologie« sind nach
Ansicht des Verfassers ein sehr schwacher Punkt in seinem sonst exzellenten
Aufsatz. Dieser Begriff wird ohne jede eingehende Analyse und Prüfung
einfach übernommen. Und Schrijvers scheint eine Ambiguität und sogar
Inkohärenz in seiner Handhabung dieses Begriffs gar nicht zu bemerken. In
der Tat, er macht sich die stereotype Charakterisierung der Ontotheologie zu
eigen, die er folgendermaßen beschreibt:
»Ontotheologie ist gegeben, wenn ›Gott‹ als ein Mittel zum Zweck interpretiert wird,
d. h. wenn der Name Gottes als eine notwendige Funktion jedes rationalen Systems,
das die Totalität der Seienden zu erklären versucht, erscheint. In der Geschichte der
Philosophie hat ein solcher Versuch, eine letzte Fundierung für die kontingenten und
endlichen Seienden zu suchen, zum Gedanken geführt, dass einzig eine nicht-kontin-
gente und auch nicht-endliche Instanz als der letzte Grund oder die letzte Fundierung
dieser kontingenten Welt in Frage kommt.«72

Um eine solche Sicht zu verwerfen, verweist Schrijvers in typischer post-


moderner Einstellung ausgerechnet auf Nietzsche, als ob dieser eine un-
umstrittene Autorität in dieser Angelegenheit wäre. Ferner argumentiert er so:
»[S]olch ein Versuch, das Unendliche in der und durch die (dialektische) Negation
des Endlichen zu denken, bleibt in der Logik der Endlichkeit verfangen. Es ist immer
möglich zu fragen, wie der Grund – als Causa sui des modernen Denkens oder als die
Ideen des Platonismus – selbst gegründet ist. Diese rationale Suche nach einer letzten
Grundlegung führt als solche in einen unendlichen Regress. Um diesen Regress zu
stoppen, entschließt sich die Philosophie, ›Gott‹ in ihren Diskurs eintreten zu lassen.

69 
Ebd. 230.
70  Ebd.
71  Ebd. 221.
72  Ebd. 237.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 379

Aber dann ist dieser ›Gott‹ das Mittel, das gebraucht wird, um den Zweck zu erreichen,
den die Philosophie selbst festgelegt hat: (Er ist) der nicht-kontingente, nicht-endliche,
›ewige‹ und ›andersweltliche‹ Gott, der gründet und ergründet die endliche und kon-
tingente Welt. In diesem Sinne ist Mary Jane Rubensteins Metapher für den Gott der
Ontotheologie, einen ›deus ex machina, eingeflogen, um eine begriffliche Lücke zu
füllen‹, sehr präzise (very precise).«73

Diese Passage enthält auf konzise Weise den Kern der meisten Behauptungen,
die postmoderne Autoren aufstellen, wenn sie die christliche Metaphysik
charakterisieren und kritisieren. Als erstes ist dazu zu bemerken, dass es nicht
verständlich ist, wie Schrijvers die so verstandene Ontotheologie als »ein exis-
tenzielles Problem« in einer positiven Weise betrachten kann; denn er möchte
»die ontischen Differenzen in unserer Beziehung zu Gott« respektiert wissen;
aber dann behauptet er, gerade dies sei »ein Mittel, mit dem Problem der
Ontotheologie fertig zu werden« (vgl. Zitat oben). Wie kann das so sein? Wie
dem auch sei, einige kritische Bemerkungen zu Schrijvers’ Charakterisierung
und Einschätzung der Ontotheologie sind unumgänglich.
Aus streng systematischen Gründen, die in den Kapiteln 1 und 3 dargelegt
wurden, ist der Verfasser gegenüber den sogenannten »Beweisen für die
Existenz Gottes« radikal kritisch eingestellt. Aber seine Verwerfung dieser
»Beweise« basiert auf Argumenten, die sich radikal von der oberflächlichen
Weise unterscheiden, wie die postmodernen Autoren ihre Ablehnung prä-
sentieren. Um diese postmoderne Art zu »argumentieren« zu entlarven, ist
es sehr leicht, ein sogenanntes Retorsions‑ oder tu-quoque-Argument zu
entwickeln. Es genügt, die Frage zu stellen: Was tun oder bezwecken post-
moderne Autoren, wenn sie eine »Konzeption«, eine »Sicht« u. ä. von Gott
entwickeln und präsentieren? Wonach suchen sie, was intendieren sie zu tun?
Wie immer man hier reden mag, Tatsache ist, dass sie nach etwas Letztem
suchen, das sie aufzuweisen versuchen – wie immer sie dieses Letzte faktisch
nennen bzw. nennen mögen. Diese Feststellung gilt auch dann, wenn sie
explizit negiert wird. In welcher Weise auch immer, postmoderne Autoren
haben es eben mit »Gott« zu tun, wobei sie mit »Gott« irgendeinen Sinn
verbinden wollen und müssen, soll ihr Tun überhaupt einen Sinn haben. Die
eigentliche Frage ist nicht, ob sie diese Feststellung explizit akzeptieren oder
negieren, sondern, was sie effektiv tun. Wenn auf diese Frage keine Antwort
gegeben wird, entpuppt sich der ganze postmoderne anti-metaphysische, anti-
ontotheologische Diskurs als einfach sinnlos. Es kann nicht gesagt werden,
dass die postmodernen Autoren diesen absolut zentralen Punkt – auch nur
minimal – klären.
Schrijvers behauptet, dass »jeder Versuch, das Unendliche in der und durch
die (dialektische) Negation des Endlichen in der Logik der Endlichkeit ver-

73 
Ebd.
380 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

fangen bleibt«. Erstens verdreht diese Formulierung das, was die metaphy-
sische Tradition getan und was sie nicht getan hat: Sie hat niemals versucht,
das Unendliche lediglich »in der und durch die (dialektische) Negation des
Endlichen« zu denken; dies ist eine entstellende Charakterisierung. Die end-
liche Dimension wurde im Licht oder im Horizont der Unendlichkeit gesehen
und begriffen. Pascals berühmte (in Kapitel 3, Abschnitt 3.2.1.2 zitierte)
Formulierung »Der Mensch1 übersteigt den Menschen2 um ein Unendliches«
artikuliert genau diesen zentralen Sachverhalt. Zweitens ist zu fragen: Wie ver-
fahren die postmodernen Kritiker der Metaphysik selbst? Wie problematisch
deren Denken ist, dürfte sich schon aus den bisherigen Ausführungen über
Lévinas und Marion gezeigt haben.
Nun sagt Schrijvers, es sei »immer möglich zu fragen, wie der Grund – sei es
die Causa sui des modernen Denkens oder die Ideen des Platonismus – selbst
gegründet ist«. Eine solche Behauptung offenbart eine tiefe methodologi-
sche, begriffliche und logische Defizienz hinsichtlich der Bedeutung und des
systematischen Stellenwertes solch zentraler Begriffe wie »Grund«, »Letztes
(das letzte X)« u. dgl. Schrijvers nimmt einfach an, dass der uneingeschränkte
Gebrauch bzw. die uneingeschränkte Anwendung solcher Begriffe, besonders
des Begriffs »Grund«, völlig unproblematisch und sogar zwingend ist. Dem-
nach könnte und müsste man, nachdem man von einem »letzten Grund«
gesprochen hat, wieder fragen: Was ist der Grund des (angeblichen) letzten
Grundes? Was ist das »noch radikalere letzte X« (mit Bezug auf die Rede
vom »letzten X)«? Und so weiter. Dieses Verfahren kann am besten als völlig
undiszipliniertes, »wildes« oder »blindes« »Denken« charakterisiert werden.
In Wirklichkeit, zeigt schon eine oberflächliche Analyse, dass alle diese
Begriffe genaue Bedeutungen und adäquate, d. h. intelligible und begründ-
bare Anwendungen nur innerhalb genauer determinierter Theorierahmen
haben, mit der Konsequenz, dass jeder infinite Regress radikal ausgeschlossen
ist. Das Gespenst des infiniten Regresses taucht auf nur auf der Basis jener
Weisen zu denken, die nie einer sorgfältigen und strengen Prüfung unterzogen
wurden. Diese Gegenkritik wurde in diesem Buch in Kapitel 1 (Abschnitt 1.5)
in Auseinandersetzung mit Thomas Nagel ausführlich dargelegt.
Schrijvers Behauptung, dass »Mary Jane Rubensteins Metapher für den
Gott der Ontotheologie, einen ›deus ex machina, eingeflogen, um eine be-
griffliche Lücke zu füllen‹, sehr präzise (very precise)« ist, muss hier ent-
gegengehalten werden, dass diese »Metapher« nicht nur nicht »präzise«,
sondern schlimmer als eine Karikatur ist: Es handelt sich um eine Entstellung,
basierend auf stereotypen Annahmen und Vorstellungen. Auch dann, wenn
man den – auf ambige und irrtümliche Weise so genannten – »metaphysischen
Gott« ablehnt, kann nicht gesagt werden, dass dieser »metaphysische Gott«
»eingeflogen wird, um eine begriffliche Lücke zu füllen«. Eine solche Behaup-
tung ignoriert gänzlich die Tatsache, dass die traditionelle christliche Meta-
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 381

physik, wie sie exemplarisch vor allem durch Thomas von Aquin repräsentiert
ist, sehr hohe theoretische Standards hatte. Ein(e) »Beweis/Demonstration«
war ein(e) echte(r) Beweis / Demonstration entsprechend allen erforderlichen
logischen und wissenschaftstheoretischen Maßstäben. Und die »Konklusion«
eines Beweises bzw. einer Demonstration kann keineswegs als so etwas wie
»die Schließung einer begrifflichen Lücke« interpretiert werden, wie dies im
Zitat Rubinsteins verstanden wird. Vielmehr bringt eine Konklusion zum
Vorschein, was die Prämissen enthalten – und es ist sinnwidrig anzunehmen
und zu behaupten, dass Prämissen so etwas wie eine »begriffliche Lücke« ent-
halten, die »gestoppt« werden könnte oder müsste.
Wie in den Kapiteln 1 und 3 gezeigt wurde, liegt das Problem mit den – vom
Verfasser abgelehnten – (traditionellen) sogenannten »Beweisen für die Exis-
tenz Gottes« in dem Umstand, dass der Ausgangspunkt immer (in ver-
schiedenen Formen und Bereichen) ein isoliertes Phänomen (in) der Welt ist.
Außerdem ist zu betonen, wie an den angegebenen Stellen ebenfalls gezeigt
wurde, dass solche »Beweise« ein oberflächliches Phänomen in der christli-
chen Metaphysik waren bzw. sind, was sofort einleuchtet, wenn man beachtet,
was in diesem Buch Tiefenmetaphysik genannt wird. Führt man eine solche
Metaphysik durch, so stellt sich heraus, dass Gott sozusagen »zum Vorschein
kommt« als das, was erscheint, wenn die universale Dimension des Seins voll-
ständig und konsequent ex-pliziert wird. Eine solche Ex-plikation wird nicht
unternommen, damit eine angebliche »begriffliche Lücke« geschlossen wird.
Die Ex-plikation hat absolut nichts zu tun mit einer solchen Vorstellung;
vielmehr ist sie das Resultat der radikalen und vollständigen Verwirklichung
der intellektuellen Potentialitäten des menschlichen Geistes.

4.2.4 Der gescheiterte »Zugang zur Transzendenz [zu Gott] ohne Bedingung
und ohne Maß«74
Wie in 4.2.3 gezeigt wurde, rühren Marions Position und ihre Probleme
grundsätzlich vom phänomenologischen Ansatz her, wie er ihn versteht und
entwickelt. Es gibt aber bei ihm eine in vielfacher Hinsicht gleich grund-
sätzliche andere Denklinie, die zwar mit dem phänomenologischen Ansatz
aufs engste verbunden ist, die sich aber von diesem deutlich unterscheidet.
In diesem Abschnitt wird diese zweite Denklinie rekonstruiert und kritisch
analysiert.
Auf der Basis jenes oben dargelegten grundlegenden Merkmals des saturier-
ten Phänomens, das Marion als »die Absolutheit des Phänomens«, die totale
Unabhängigkeit des Phänomens von jedem Horizont, von jeder wie immer
gearteten Bedingung charakterisiert, zieht er eine weitreichende Konsequenz,

74 
IH-D 335.
382 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

die er mit der folgenden Frage einführt: »Können wir einen Zugang zur
Transzendenz ohne Bedingung und Maß haben?« (IH-D 335) Eine Antwort
auf diese Frage wird von ihm in jeweils verschiedenen Hinsichten einerseits
vorausgesetzt, andererseits explizit formuliert, und zwar auf der Basis von
zwei (Arten von) Verfahren. Das erste Verfahren ist ein negatives, das zweite
ein positives. Letzteres hat zwei Subverfahren: erstens, ein philosophisch-
theologisches75, das in der gänzlich unmittelbaren Einführung von Gott als
»sich selbst als solchen setzend (s’institue comme tel)« (IH-D 334) und in der
Explizitmachung von »Gottes Standpunkt« besteht; das zweite Subverfahren
ist ein phänomenologisches, das auf dem Begriff des Phänomens basiert, ganz
besonders im Sinne des fünften Typs des saturierten Phänomens (vgl. oben
4.2.4.2. [1]; vgl. ED 325 ff.). Die folgende kritische Darstellung wird zeigen,
dass diese beiden Subverfahren oder positiven Faktoren sich deutlich gegen-
seitig bedingen.

4.2.4.1 Die auf einer Fehlinterpretation basierende grundlose radikale


Verwerfung der Metaphysik (des Seins)
Das negative Verfahren besteht einfach in der radikalen Verwerfung jeder
Metaphysik. Die Verwerfung ihrerseits basiert auf der These, dass Metaphysik
Denken des Seins ist und dass das Sein nur als einschränkender Horizont kon-
zipiert werden kann. Wie radikal sich Marion auf diese Thesen stützt und wie
er sie abstützt, zeigt etwa folgende Passage:
»Was Gott anbelangt, kann sich das Verhältnis zwischen Zustimmung und Existenz
umkehren; daraus ergibt sich, dass das als Horizont oder als Transzendental (trans-
cendantal) verstandene Sein zu Recht keinen Zugang zur Gottesfrage eröffnet und auch
nicht als Kriterium für eine Entscheidung darüber herangezogen werden kann – das
Ergebnis ist somit, dass es notwendig ist, eine absolute Trennung von Sein und Gott
zu behaupten.« (IH-D 333) »Die Transzendenz, wenn man sie so [d. h. metaphysisch
und sogar über die Metaphysik hinaus] versteht, ist weit davon entfernt, sich zu öffnen;
vielmehr schließt sie [echte] Transzendenz aus.« (IH-D 334)

Es ist einigermaßen kurios, wie Marion hier argumentiert. Er geht von einem
Hinweis auf »das Modell der Fragen, die die Dinge der Welt betreffen« [IH-D
332], aus und stellt fest, dass wir bei solchen Fragen speziell das Sein oder die
Existenz der Dinge im Auge haben, indem wir zwischen Sein/Existenz und
den Dingen selbst unterscheiden. Nun behauptet er, dass eine Frage dieser Art
nicht im Hinblick auf Gott gestellt werden kann, indem er ausführt:

75  Der Ausdruck ›philosophisch-theologisch‹ bzw. ›philosophische Theologie‹ wird

hier verwendet, um einen Diskurs zu charakterisieren, der sich vom Diskurs der so-
genannten Offenbarungstheologie unterscheidet.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 383

»Wenn Gott  –  definitionsgemäß  –  die gewöhnliche Ebene der Erfahrung und ihrer
Möglichkeitsbedingungen hinsichtlich der Welt übersteigt (andernfalls verdiente er
nicht den Titel ›Gott‹, da er wie ein Phänomen der Welt unter anderen betrachtet
werden würde), in welcher Weise könnte seine Existenz – d. h. seine Einreihung unter
die Phänomene, die in der Welt existieren – als Kriterium für meine Zustimmung zu
Ihm dienen?« (IH-D 333).

Hier wird in vollendeter Klarheit offenbar, wie Marion (das) Sein versteht
bzw. missversteht. Er setzt »Sein« einfach identisch mit »Existenz«, und dann
deutet er beide von den Dingen der Welt her. Die Existenz Gottes wäre also
»seine Einreihung unter die Phänomene, die in der Welt existieren«. Das ist
eine erstaunliche Behauptung. Angesichts dessen, was in Kapitel 1 über das
Sein (esse) bei Thomas von Aquin und in Kapitel 2 über das »Sein/Seyn …«
bei Heidegger gezeigt wurde, muss von Marions Vorgehensweise gesagt
werden, dass sie einfach unter dem schon längst erreichten philosophischen
Niveau verbleibt.
Im letzten Zitat ist von »zustimmen oder beipflichten (adhérer)« die Rede.
Marions Ausführungen in diesem Zusammenhang sind grundsätzlich episte-
misch orientiert. Nun aber kritisiert er selbst das, was er »die Identifizierung
der Gottesfrage mit der Frage meiner Zustimmung (zu Gott)« (IH-D 333)
nennt, indem er sagt:
»Diese Identifizierung der Gottesfrage mit der Frage nach meiner Zustimmung cha-
rakterisiert eine ganz besondere theoretische Einstellung, die im voraus zur Gottes-
frage die Forderung nach seiner Existenz erhebt, daher auch nach einem Beweis seiner
Existenz. Nun aber setzen diese Implikationen nichts Geringeres als die ausnahmslose
Vorherrschaft (Hegemonie) des Horizontes des Seins, so wie ihn die Metaphysik ver-
steht, voraus.« (IH-D 333)

Demgegenüber betont Marion, dass Gott keinen Bedingungen, keinem Ho-


rizont u. dgl. unterworfen ist, denn »Gott setzt sich selbst (s’institue) als
solchen von seiner vor-ontologischen Bedingung und von seiner vor-trans-
zendentalen Freiheit her« (IH-D 334). Das von Marion vorausgesetzte bzw.
artikulierte Verständnis von »Sein« hat nichts, aber auch gar nichts zu tun mit
dem Thomasischen »esse« und schon gar nicht mit dem »primordialen Sein«,
das in Kapitel 3 aufgezeigt und expliziert wurde.

4.2.4.2 Die Arbitrarität und Ambiguität des unvermitteltem Wechsels zum


»Standpunkt Gottes«
Oben (vgl. 4.2.4) wurde in Marions Darstellung unseres »Zugangs zu einer
Transzendenz [zu Gott] ohne Bedingung und ohne Maß« (IH-D 335) ein
negatives und ein positives Verfahren unterschieden. Nachdem das negative
Verfahren im vorhergehenden Abschnitt dargestellt wurde, soll in diesem das
positive Verfahren behandelt werden. Es besteht aus zwei Subverfahren.
384 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Das erste positive Subverfahren, das in diesem Abschnitt thematisiert wird,


besteht aus zwei Schritten.

[1] Der erste Schritt ist das, was man – um eine polemische, aber doch ganz
adäquate Formulierung zu verwenden – die Einführung eines Deus ex ma-
china nennen kann. Marion beschreibt Gottes plötzliche Erscheinung auf der
»Weltbühne« wie folgt:
»Bevor die Welt ist [war, ins Sein kam], daher bevor das Sein seinen Horizont eröffnet,
setzt Gott sofort seine Frage auf (impose d’emblée sa question), eine Frage, der sich
niemand entziehen kann, da Gott, im voraus zu jeder Demonstration der [seiner]
Existenz, sich definiert als: ›Jener, den alle Welt kennt, beim Namen‹.76« (IH-D 334)

Zunächst ist zu bemerken, dass es erstaunlich ist, wie Marion, gerade vor dem
Hintergrund seiner anderen Schriften, hier über Gott redet. Anscheinend ver-
gisst er hier, was er selbst oft über Gott als »den ganz Anderen«, »den absolut
Fernen« u. ä. geschrieben hat. Er imitiert den Stil einiger der schlechtesten
christlichen Metaphysiker, indem er sich vorstellt, wie Gott auf der »univer-
salen oder Weltbühne« (was immer das sein mag) erscheint, wenn sie noch
sozusagen ohne »Theaterbesucher« ist (»bevor das Sein seinen Horizont
eröffnet«), und wie er dann auf Anhieb »seine Frage (sa question)« aufsetzt
(aufzwingt): Wie ist diese »seine Frage« zu verstehen? Da es voraussetzungs-
gemäß nichts außer Gott ist / existiert, kann seine Frage nur als die Frage-
nach-ihm-selbst verstanden werden. Aber wem wird die Frage aufgesetzt
bzw. aufgezwungen? Da die genannte Voraussetzung besteht, kann nur Gott
selbst der sein, dem die Frage aufgesetzt wird. Das alles macht keinen Sinn.
Das Mindeste, was man sagen muss, ist, dass Marions Formulierungen
eine immense theoretische Naivität verraten, wobei das Wort ›Naivität‹ hier
grundsätzlich im Husserlschen Sinne gebraucht wird. Was wird damit ge-
zeigt? Indem Marion sagt, dass »Gott, im voraus zu jeder Demonstration der
[seiner] Existenz, sich definiert als: ›Jener, den alle Welt kennt, beim Namen‹«,
begeht er den hysteron-proteron-Fehlschluss, der oben beschrieben wurde,
da es gerade nicht klar ist, in welchem Sinne überhaupt hier von »Gott« die
Rede ist.
Marion ignoriert vollständig solche Einwände und Erfordernisse, indem
er einfach behauptet, dass Gott keinen Fragen, keinen Bedingungen, keinen
Erfordernissen u. ä. welcher Art auch immer unterworfen ist, dass er vielmehr
in jeder nur denkbaren Hinsicht der absolute Un-bedingte ist. Er präsentiert
einen Deus ex machina, indem er die Behauptung aufstellt: »Gott setzt sich
selbst als solchen von seiner vor-ontologischen Bedingung und von seiner
vor-transzendentalen Freiheit her.« (IH-D 334) Das ist nun eine kolossale
theoretische tour de force. Wohlgemerkt, einige der zitierten Aussagen (»Gott
76 
Marion zitiert J. Renard, Journal 1887–1910, 1960, 227.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 385

setzt sich selber …«) haben einen vertretbaren, einen guten Sinn, wenn sie
anders gemeint sind, als Marion sie verstanden wissen will. Wenn es nämlich
klar ist, in welchem Sinne von »Gott« die Rede ist und wenn dann »der seiende
Gott« gemeint ist, dann stellen sich solche Aussagen als Charakterisierungen
dessen dar, was Gott ist. Aber Marion versteht sie völlig anders: Er über-
springt radikal die Frage nach dem Sinn der Rede von Gott. Er würde im
Sinne seiner (Un)Logik sogar sagen, dass die hiermit formulierte Kritik Gott
doch einer Bedingung unterwirft, nämlich der Bedingung: Wenn klar ist, wie
»Gott« gemeint ist, dann … Aber Marions vermutete Gegenkritik löst sich
sofort in nichts auf, wenn man bedenkt, dass er die Voraussetzung macht, dass
es klar ist, was er meint, wenn er von einer Bedingung spricht, die »Gott« auf-
gezwungen ist. Die angebliche »Bedingung« (wenn man hier überhaupt von
»Bedingung« sprechen kann bzw. will …) ist nichts anderes als die Artikula-
tion des Selbstverständlichen bei jeder Rede: dass die Rede überhaupt einen
Sinn hat. Es wird sich im übrigen in den weiteren Ausführungen zeigen, dass
Marion doch gerade das zu leisten versucht, was er in der zitierten Passage
und sonst explizit und radikal ablehnt: den Sinn der Rede von »Gott« klären.

[2] Der zweite Schritt betrifft einen Standpunkt, auf welchen sich Marions
ganzes Denken »über« Gott stützt, wenn auch dies nicht in allen seinen
Schriften explizit gemacht wird: den Standpunkt Gottes. Er charakterisiert
diesen zweiten Schritt so:
»Worauf es ankommt, ist, unseren endlichen Standpunkt zu transzendieren, um zum
Standpunkt Gottes zu wechseln – oder zumindest um ihn anzuvisieren, ihn der In-
tention nach zu akzeptieren.« (IH-D 360)

Marion verfährt durchgehend auf der Basis der impliziten Annahme, dass
es ihm gelungen ist, diesen Schritt zu tun. Das erklärt die kompromisslose
Einstellung zu allen Fragen, die es mit Gottes Existenz/Sein und dgl. zu
tun haben: Gott dürfen keine Forderungen, Kriterien, Rechtfertigungen u. ä.
aufgezwungen werden. Und Marion spricht so, als ob er ständigen Zugang
zum »Standpunkt Gottes« habe. Zweifellos, wenn Gottes Standpunkt für
uns Menschen keine Schimäre ist, wenn er keine Hybris ist, wenn er nicht das
Ergebnis eines tiefen Missverständnisses und einer ebenso tiefen Unverant-
wortlichkeit ist, wenn er für uns nicht eine absolute Unmöglichkeit darstellt,
dann wäre Marion im Recht. Aber ist der Begriff »Gottes Standpunkt«, wie
Marion ihn versteht, erklärt und benutzt, ein kohärenter und klarer Begriff?
Das ist zu verneinen.
Marions Position hinsichtlich dieses Punktes basiert, sofern sie sich als
philosophische versteht und daher auch philosophisch eingeschätzt werden
kann bzw. muss, auf einer tiefen Konfusion und einem weitreichenden Miss-
verständnis, wie das zu zeigen ist.
386 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Zuerst aber ist zu bemerken, dass es eine Situation gibt, in welcher es für
Theoretiker Sinn macht, vom »Standpunkt Gottes« zu sprechen: Das ist
die gänzlich spezifisch theologische Situation, in welcher der Theoretiker
(der Theologe) die Bibel als »Gottes Wort« nimmt, so dass seine eigentliche
Aufgabe darin besteht, die Bibel zu interpretieren. Wenn dann in der Durch-
führung dieser Aufgabe die Bibel zitiert und interpretiert wird, so kann der
Theologe sinnvollerweise vom »Standpunkt Gottes« sprechen; in gewisser
Hinsicht kann er davon sprechen, dass er seine Aufgabe »vom Standpunkt
Gottes aus« erfüllt. Allerdings kann der theologisch gedeutete Standpunkt
Gottes nicht in einem absoluten Sinn verstanden werden, d. h. in dem Sinne,
dass der Theologe »vom Gottes Standpunkt aus« simpliciter, ohne Restriktio-
nen sprechen könnte, da dies bedeuten würde, dass sich der Theologe einfach
an die Stelle Gottes setzen würde. Im Gegenteil, vom »Standpunkt Gottes«
und auch »vom Standpunkt Gottes aus« zu sprechen, kann für den Theologen,
der mit der eigentlich theologischen Aufgabe befasst ist, nur bedeuten, dass
er als-ein-menschliches-Wesen das, was er als Standpunkt Gottes betrachtet,
interpretiert und zur Geltung bringt. Aber dieser spezifische Punkt kann hier
nicht weiter verfolgt werden.
Alles ändert sich grundlegend, wenn die theoretische Situation nicht die
soeben beschriebene ist, d. h. wenn die Bibel nicht als »Gottes Wort« ge-
nommen und daher nicht als absolute Autorität betrachtet wird. Wenn eine
solche theoretische (biblisch-theologische) Situation nicht gegeben ist, dann
ist der Diskurs über Gott ein rein philosophischer. Es ist daher wichtig, die
Frage zu stellen, ob Marions Diskurs einen philosophischen oder einen theo-
logischen Status hat. Viele Interpreten seiner Schriften, zu denen auch der
Verfasser zählt, vertreten die Auffassung, dass bei Marion keine klare Unter-
scheidung zwischen philosophischem und theologischem Diskurs zu finden
ist.77 Dieses Thema soll hier nicht ausführlich behandelt werden. Stattdessen
wird hier davon ausgegangen, dass zumindest in seinem 2004 erschienenen,
außerordentlich wichtigen und aufschlussreichen Aufsatz L’impossible pour
l’homme – Dieu Marion, ungeachtet des Umstands, dass er Passagen aus der
Bibel zitiert, aufs Ganze und besonders in den wesentlichen Partien (mit
Ausnahme des Schlussteils), wenn nicht der Intention nach, so doch faktisch
rein philosophisch verfährt. Auf der Basis dieser Annahme stellt sich für den
kritischen Interpreten die Aufgabe, die These »Worauf es ankommt, ist, unse-
ren endlichen Standpunkt zu transzendieren, um zum Standpunkt Gottes zu
wechseln« als philosophische These einer kritischen Analyse zu unterziehen.

77  Vgl. dazu beispielsweise die sehr gut fundierten Überlegungen von Thomas A.

Carlson in seiner Einleitung in die englische Übersetzung des Buches von J.-L. Marion:
L’idole et la distance,1977: Idol and Distance: Five Studies (New York: Fordham Univer-
sity Press, 2001): »Converting the Given into the Seen: Introductory Remarks on Theo-
logical and Phenomenological Vision« (xi–xxxi).
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 387

Zweifellos können Menschen sehr verschiedene Standpunkte bezüglich


aller möglichen Fragen, Probleme, Sachverhalte usw. beziehen. Sie können
einen bestimmten Standpunkt überwinden, um einen anderen zu überneh-
men; sie können auch den Standpunkt anderer Menschen übernehmen; sie
können einen beschränkten Standpunkt aufgeben, um einen höheren zu fa-
vorisieren; sie können auch einen partikulären Standpunkt verlassen, um einen
universalen Standpunkt zu beziehen, und so weiter. Alle diese Änderungen
von Standpunkten sind möglich und sinnvoll; und der Grund dafür ist, dass
sie alle im Rahmen der Fähigkeiten und Möglichkeiten dessen, was man die
menschliche Dimension des Geistes nennen kann, stattfinden und verbleiben.
Es drängt sich dann die Frage auf: Was kann es heißen zu sagen, dass wir,
menschliche Wesen, »unseren endlichen Standpunkt« transzendieren können
oder sollten? Hierin liegt die Ambiguität der Position von Marion, oder eher:
seine Konfusion, noch genauer: sein Missverständnis.
Unseren endlichen Standpunkt zu transzendieren, bedeutet für ihn, den
»Standpunkt Gottes« zu übernehmen. Daraus folgt unmittelbar, dass er »un-
seren endlichen Standpunkt« einfach als den Standpunkt versteht (bzw. ver-
stehen muss), der uns menschliche Wesen und Geister als menschliche Wesen
und Geister simpliciter charakterisiert, da das Resultat der Transzendierung,
wie er es artikuliert, der Standpunkt Gottes selbst ist, daher der Standpunkt
einer Instanz, die sich von den menschlichen Wesen als solchen, von der
menschlichen Dimension als solcher total unterscheidet.
Es ist sinnlos vorauszusetzen oder zu fordern, dass wir als menschliche
Wesen aus unserer menschlichen Dimension oder conditio humana ausbre-
chen könnten oder gar sollten; aber es ist nicht sinnlos zu fragen, ob es nicht
etwas Positives in der grundsätzlich missverständlichen Idee der »Transzen-
dierung unseres endlichen Standpunktes« gibt. Die Antwort ist, dass dies der
Fall ist; um zu sehen, worin dieser positive Aspekt liegt, muss man auf zwei
Punkte achten.
Der erste Punkt ist die Ablehnung der einfachen Identifikation »unseres
eigenen endlichen Standpunktes« mit »dem den menschlichen Wesen und
Geistern überhaupt eigenen Standpunkt simpliciter«; der zweite Punkt ist
eine Konsequenz aus dem ersten: Man sollte nicht unseren endlichen Stand-
punkt und Gottes Standpunkt einfach gegensätzlich gegenüberstellen und
sollte daher nicht einfach von der »Transzendierung unseres eigenen end-
lichen Standpunktes, um zu Gottes Standpunkt zu wechseln«, sprechen. Diese
beiden Punkte erfordern einige Erläuterungen.
Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, besteht eine ursprüngliche Charakteristik
des menschlichen Geistes darin, dass er mit dem uneingeschränkten universe
of discouse intentional koextensiv ist, das, bestimmter gedacht, die univer-
sale Dimension simpliciter ist, welche, ebenfalls bestimmter gedacht, die pri-
mordiale Dimension des Seins, welches, wenn voll expliziert und so bestimmt,
388 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Gott selbst ist. Der menschliche Geist ist nicht diese Dimension, er ist nur mit
ihr intentional koextensiv. Es ist schlechterdings gegenstandslos und somit
sinnlos, etwas jenseits dieser Dimension denken oder annehmen und sie
transzendieren zu wollen. Es wäre ein absolut leerer Schritt, ein Null-Schritt.
Daraus folgt direkt, dass unser sogenannter menschlicher Standpunkt, wenn
er in seiner ganzen Universalität verstanden wird, mit der un-transzendier-
baren Dimension des primordialen Seins koextensiv ist. Diese Aussagen seien
weiter erläutert und präzisiert.
Kapitel 3 artikuliert Gott als das volle Explicatum der universalen Dimen-
sion des primordialen Seins, als das »erfüllte Sein«. Muss daraus gefolgert
werden, dass unser menschlicher Standpunkt mit dem Standpunkt der uni-
versalen Dimension des primordialen Seins identisch ist? Strenggenommen
wird nur die Koextensivität behauptet, wobei Koextensivität nicht einfach
dasselbe wie Identität bedeutet. Aber im Rahmen der philosophischen
Theoretisierung kann diese Differenz meistens ignoriert werden, so dass
beide Standpunkte nicht explizit unterschieden werden müssen. Der so
verstandene allgemeine oder universale Standpunkt ist der von jedem theo-
retischen Satz vorausgesetzte (und implizit artikulierte) Standpunkt, wie in
Kapitel 3 gezeigt wurde; in der Tat, es handelt sich um den Standpunkt, der
durch den universalen und absoluten Operator »Es verhält sich so dass …«
ausgedrückt wird.
In dem Maße, in dem die universale Dimension des Seins näher, d. h. zu-
nehmend adäquater, bestimmt und expliziert wird, im selben Maß muss der
Gebrauch des Begriffs »Standpunkt« sorgfältig präzisiert werden. An der all-
gemein verstandenen Koextensivität zwischen dem menschlichen universalen
theoretischen Standpunkt und der universalen Dimension des Seins darf nicht
gerüttelt werden; aber je weiter und adäquater die universale Dimension des
Seins bestimmt / expliziert wird, desto deutlicher kommt die Differenz zwi-
schen den jeweiligen Bestimmungen einerseits des Seins selbst und anderer-
seits des menschlichen (Da)Seins – und damit auch des menschlichen Stand-
punktes  –  zum Vorschein. Die maximale Determination/Determiniertheit
des Seins selbst ist seine Determination / Determiniertheit als Gott, welcher
konsequenterweise der Punkt der maximalen Differenz zum menschlichen
Sein und damit zum menschlichen Standpunkt darstellt. Dieser maximale
Differenzpunkt ist das, was Gottes Transzendenz bezüglich der mensch-
lichen Seienden und allen endlichen Seienden innerhalb der Immanenz Gottes
charakterisiert und konstituiert. An dieser Stufe des Bestimmungsprozesses
kommt die Differenz zwischen dem universalen menschlichen Standpunkt
und dem Standpunkt Gottes als absolut un-transzendierbar zum Vorschein.
Es ergibt sich somit, dass es sinnlos ist zu versuchen, unseren eigenen mensch-
lichen Standpunkt, verstanden als unser universaler theoretischer Standpunkt,
zu transzendieren, um zum Standpunkt Gottes zu gelangen.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 389

4.2.4.3 Die Inkohärenz des phänomenologischen Gebrauchs von negativen


und positiven Begriffen in der Rede von Gott
Das zweite von Marion entwickelte Verfahren, um einen Zugang zur Trans-
zendenz und zu Gott zu gewinnen, basiert auf der Idee der Phänomenalität.
In diesem Fall ist die Interdependenz der phänomenologischen und der phi-
losophisch-theologischen Verfahrensweisen besonders auffallend. Eine adä-
quate Behandlung dieses Themas würde erfordern, dass man die in dieser
Hinsicht sicher wichtigste Schrift Marions, nämlich seinen Aufsatz L’impos-
sible pour l’homme – Dieu, detailliert analysiert. Hier kann aber nur eine zwar
ausführliche, aber nicht in jeder Hinsicht detaillierte und vollständige Analyse
durchgeführt werden.

[1] Leitend für Marion ist die schon oben zitierte Frage: »Können wir einen
Zugang zur Transzendenz ohne Bedingung oder Maß haben?« (IH-D 335)
Von seinem allgemeinen phänomenologischen Ansatz her gibt er auf diese
Frage eine positive Antwort. »Gott« einfach als »Denjenigen, den alle Welt
kennt, beim Namen« (wie er sagt, indem er Jules Renard zitiert78) voraus-
setzend, formuliert er zunächst eine These, die er als eine weitere Konsequenz
aus dem dargestellten negativen Verfahren, also der Ablehnung jeder Meta-
physik, interpretiert, dass nämlich im Rahmen einer Philosophie des Seins
nichts (als Phänomen) erscheinen kann, es sei denn, es manifestiert sich als ein
Seiendes (étant, ens), ein Seiendes neben anderen Seienden; die These lehnt er
radikal ab. Nun wurde schon des öfteren in diesem Buch gezeigt, dass diese
»These« absolut keine Konsequenz aus der Philosophie bzw. Metaphysik des
Seins ist. Aber Marion stützt sich auf seine problematische These, um folgende
Überlegung anzustellen:
»[W]enn der Seinshorizont uns nicht gestattet, das zur Erscheinung zu bringen (mettre
en scène), worum es bei dem geht, was wir unter dem Namen Gott erkennen; wenn,
gleichzeitig, nichts in diesem Horizont [des Seins] erscheinen kann, es sei denn, es
manifestiert sich als ein Seiendes (étant, ens), muss nicht nur daraus gefolgert werden,
dass jede Phänomenalisierung (phénoménalisation) Gottes sich uns definitionsgemäß
als unmöglich erweist, sondern besonders, dass diese Unmöglichkeit selbst Gott de-
finiert?« (IH-D 335)

Und in der Tat zieht er aus der von ihm fälschlicherweise der Metaphysik des
Seins zugeschriebenen These in Verbindung mit seinen phänomenologischen
Annahmen die Konklusion: Gott ist »der Unmögliche«. Diese Konzeption
von Gott, die im Titel des hier zitierten Aufsatzes formuliert wird, dürfte als
die wichtigste – vor allem im Sinne von: originellste – These zu betrachten
sein, die Marion jemals in Bezug auf Gott formuliert hat. Die Frage indes

78 
Vfl. oben Fußnote 76.
390 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

drängt sich sofort auf: Was meint »möglich/unmöglich« in Marions For-


mulierungen? Die Frage stellt er selbst, und er gibt darauf eine Antwort, die
als der Schlüssel zur Interpretation und zur kritischen Einschätzung seines
gesamten philosophisch-theologischen Projekts angesehen werden muss. Er
sagt: »Sie [die Ausdrücke bzw. Begriffe ›möglich/unmöglich‹] beziehen sich
auf die Erfahrung, auf das, was sie anerkennt und was sie ausschließt – auf das,
was erscheinen kann und nicht erscheinen kann und sich sehen lassen kann,
das Phänomen.« (IH-D 335)
Bezeichnenderweise ist diese Konzeption von Möglichkeit/Unmöglichkeit
Marions Version einer der zentralsten Thesen der Subjektivitätsphilosophie,
einer These, die Kant so formuliert hat: »Das Postulat der Möglichkeit der
Dinge fordert […], daß der Begriff derselben mit den formalen Bedingungen
einer Erfahrung überhaupt zusammenstimme.« (KrV B 267) Ob ein X über-
haupt  –  also jedes Seiende (Ding), die Welt, das Sein als solches und als
Ganzes, Gott … – in diesem (transzendentalen) Sinne möglich ist, hängt allein
und gänzlich davon ab, ob es (was immer das sein mag) die Bedingungen
erfüllt, welche die Subjektivität hinsichtlich dessen, was für sie »Erfahrung«
ist, diktiert; was die Bedingungen nicht erfüllt, in unmöglich. Die Subjekti-
vität bleibt nach wie vor in Protagoras’ berühmter Formulierung »[…] das
Maß aller Dinge, der seienden, dass (wie) sie sind, der nichtseienden, dass
(wie) nicht sind«.79 Das ist ein rein transzendentaler Sinn von Möglichkeit/
Unmöglichkeit; daher ist Marions Verständnis der beiden Modalitäten am
treffendsten charakterisierbar als eine Version des transzendental-phänome-
nologischen Begriffs der Möglichkeit / Unmöglichkeit. Es ist sofort klar, dass
ein solcher Begriff ein extrem limitierter und damit ausgedünnter Begriff ist.
Diese Behauptung bedarf keiner ausführlichen Begründung, da es unmittel-
bar einleuchtet, dass die Akzeptierung bzw. Anwendung dieses Begriffs die
Konsequenz hat, dass unsere intellektuellen Potentialitäten auf drastische
und inkohärente Weise auf außerordentlich enge Grenzen reduziert werden.
Genau das aber ist es, was Marion tut, wie im folgenden zu zeigen ist.
Nachdem er die Reichweite von möglich/unmöglich in der angegebenen
Weise restringiert hat, versucht er, »aus der Not eine Tugend zu machen«.
Um die einfache Konklusion zu vermeiden, dass Gott die Bedingungen der
Subjektivität nicht erfüllt, wendet er eine spezielle Form eines von ihm hoch-
geschätzten Prinzips an: des Umkehrungsprinzips. Das Resultat dieser Um-
kehrung ist die Charakterisierung Gottes als »Der Unmögliche« simpliciter.
Wie oben gezeigt wurde, verbleibt jede Umkehrung dieser Art innerhalb des
Rahmens, dem die Umkehrung zu entrinnen versucht. Hinsichtlich des vor-
liegenden Falls der Möglichkeit / Unmöglichkeit in Bezug auf die Erfahrung
bzw. das Phänomen und Gott, hat Marions Umkehrung die bedeutsame

79 
Platon, Theaitetos 152 a.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 391

Konsequenz, dass Gott als der Unmögliche aus der alleinigen Perspektive der
Subjektivität und ihrer Struktur gänzlich und ausschließlich »gesehen« und
bestimmt wird. Das bestätigt noch einmal die oben formulierte These, dass
Gott bei Marion einfach eine reine Funktion der Subjektivität ist. Marions
Gott, der »sich selbst als solchen setzt«, ist in Wahrheit eine Funktion und das
Resultat der Reduktion Gottes auf das Maß der umgekehrten Subjektivität.
Diese kritische Analyse stellt eine volle Bestätigung der Resultate dar, zu
denen die Analyse anderer Thesen Marions geführt hat (vgl. oben 4.2.4.3).

[2] Marion unternimmt weitere Schritte. In direkter Übereinstimmung mit


Kants transzendentaler Position impliziert sein phänomenologischer Ansatz
die fundamentale Annahme über Anschauung und Begriff(e), die Kant so
formuliert: »Anschauung und Begriffe machen […] die Elemente aller unserer
Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korres-
pondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis
abgeben können.«80 Zu Marions von Kant und Husserl inspiriertem Begriff
der Anschauung wurden schon oben (vgl. 4.2.4.1) kritische Bemerkungen ge-
macht. Was Begriffe angeht, so hat er nie versucht zu klären, was sie eigentlich
sind; stattdessen übernimmt er einfach ein rein mentalistisches Verständnis
von »Begriff«, das die ganze moderne Philosophie charakterisiert (mit der
möglichen Ausnahme von Hegel). Aber diese Konzeption von »Begriff«
kann nicht ohne weiteres akzeptiert werden, besonders seitdem der von G.
Frege initiierte linguistic turn eine tiefgreifende Änderung herbeiführte. Ganz
besonders das zunächst von Frege formulierte Kontextprinzip, das den Sät-
zen, und nicht mehr den Einzelwörtern den semantischen Primat zuerkennt,
könnte die Grundlage für eine wahre Revolution in der Philosophie bilden.
Der Verfasser dieses Buches lehnt die Auffassung ab, dass Begriffe sozusa-
gen ursprüngliche mentalistische, semantische oder theoretische »Faktoren«
sind, die nicht auf etwas anderes reduziert werden können; im Gegenteil, er
versteht und erklärt sie als natürlich-kolloquiale und bequeme Abkürzungen
von Sätzen, welche ihrerseits Propositionen ausdrücken. Das kann hier nicht
näher erläutert werden.81 Es genüge zu sagen, dass nicht nur ein Wechsel
von den Wörtern (singulärer Term und Prädikat) zu den Sätzen stattfindet,
sondern auch  –  und besonders  –  dass die als philosophisch anerkannten
Sätze nicht mehr die Subjekt-Prädikat-Struktur haben. Damit ist nicht gesagt,
dass die Sätze in syntaktischer Hinsicht nicht aus Subjekt und Prädikat zu-
sammengesetzt sein können; aber solche Sätze werden dann in semantischer

80  KrV B 74. Vgl. auch B 75: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne

Begriffe sind blind.« Im allgemeinen wird der erste Satz frei so umformuliert: »Begriffe
ohne Anschauungen sind leer …« Zu diesem Problem vgl. Mario Caimi, »Gedanken
ohne Inhalt sind leer«, in: Kant-Studien, 96, 2005, 135–146.
81  Vgl. SuS, 3.1.2.1.
392 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Hinsicht als bequeme Abbreviationen (jeweils einer hohen Anzahl) von


Prim­sätzen uminterpretiert, d. h. aus Sätzen, die nicht die Subjekt-Prädikat-
Struktur haben.82 Diese Konzeption überwindet radikal den mentalistischen
Theorierahmen, der Anschauungen und Begriffe im traditionellen Sinn als
wesentliche Bestandteile hat. Damit ändert sich die ganze Fragestellung be-
züglich Begriff und Anschauung grundlegend, was aber hier nicht mehr im
Einzelnen gezeigt werden kann. Überlegungen, die Marion auf der Basis
seines transzendental-phänomenologischen Verständnisses von »(Un)Mög-
lichkeit« und seiner unvermittelten Bejahung Gottes als »Desjenigen, den alle
Welt kennt, beim Namen«83, motivieren ihn zur »Konklusion, dass wir – in
Bezug auf Gott – nichts anderem begegnen als einer dreifachen Unmöglich-
keit: Unmöglichkeit der Anschauung, Unmöglichkeit des Begriffs, damit auch
Unmöglichkeit, auch das mindeste Phänomen zu erfahren« (IH-D 341). Wie
klärt und legitimiert Marion aber die sich unmittelbar daran anschließende
Behauptung, dass Gott »Der Unmögliche für den Menschen« ist, was bei ihm
mit der Aussage gleichbedeutend ist: »Das/Der Unmögliche-für-den-oder-
gemäß-dem-Theorierahmen-der-(umgekehrten)-Subjektivität«? Man findet
bei ihm weder eine Klärung noch eine Legitimierung. Aber dann drängt sich
die Frage auf: Warum identifiziert er den uneingeschränkten Raum »des Un-
möglichen« mit Gott? Eine solche Identifikation ist unintelligibel.84

[3] Hinsichtlich dieses Punktes kann man eine auffallende Analogie zwischen
Thomas von Aquin und Marion feststellen. Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde
(vgl. 1.3.2.1 [2]), hat Thomas von Aquin einen deutlichen methodologischen
Fehler begangen, als er zu den Konklusionen jedes der »fünf Wege« hin-
zufügte: »… und das (den ersten Beweger, die erste Ursache usw.) nennen
alle Gott«. Nun sagt Marion seinerseits, nachdem er Überlegungen über
82  Vgl. ebd. 3.2.2.4.
83 
See oben Fußnoten 27 und 76.
84  Sogar einige postmoderne Philosophen und Theologen kritisieren sehr streng

­Marions Position. Ein typischer Fall ist John D. Caputo, der Marions direkten Ansatz
mit Gott-jenseits-des-Seins als inkohärent betrachtet. Ihm zufolge
»ist es gewagt (risky), mit dem Ganz Anderen zu beginnen, durchgehend auf totaler
Andersheit zu insistieren […] [weil] die Dinge uns zu entgleiten beginnen und wir an-
fangen, unseren Halt zu verlieren. Wir werden nicht wissen, was Ganz Ander(e)s ist, ob
es Gott oder irgendetwas anderes ist, oder ob es überhaupt ein Was hat. Wir werden nicht
wissen, ob Ganz Ander(e)s ein Prädikat irgendeines Dinges, so erhaben es sein mag, ist,
oder ob es selbst ein Subjekt oder ein Quasi-Subjekt ist, irgendeine Art schwarzer Halo
(halo) von Unbestimmtheit und Anonymität, der unser Leben umgibt, in es hinein-
sickert – und saturiert.« (»God Is Wholly Other – Almost: Différance and the Hyperbolic
Alterity of God«, 1998, 191)
Caputos Aufsatz erschien lang bevor Marion seinen Aufsatz »L’impossible pour
l’homme – Dieu« veröffentlichte. Zu Marions »Der Unmögliche« würde Caputo ver-
mutlich grundsätzlich das sagen, was er in der zitierten Passage über den »Ganz Anderen«
sagt.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 393

»Unmöglichkeit« bzw. »Das / Den Unmögliche(n)« angestellt hat: »Der/Das


Unmögliche, als der Begriff über allen Begriffen, bezeichnet das, was wir nur
beim Namen kennen: Gott.« (IM-D 346)
Eine entscheidende Differenz muss allerdings festgestellt werden. Das Ver-
fahren des Thomas von Aquin, von jeder Konklusion jeweils einen der fünf
Wege zum echten, vollbestimmten Gott fortzuschreiten, ist eher intelligibel,
verglichen mit Marions abruptem »theoretischem Sprung« vom »Unmögli-
chen« zu »Gott als Caritas« (ebd. 369). Zu Gott als Schöpfer gelangt Thomas
aufgrund rein philosophischer Argumente. Und die weitere Bestimmung
Gottes als Trinität, als Liebe usw. wird von ihm aufgrund klar angegebener
methodologischer Schritte erreicht: Diese verdanken sich der Akzeptierung
dessen, war er »geoffenbarte Wahrheit« nennt. Bei Marion gibt es hinsicht-
lich des Übergangs vom »Unmöglichen« zu »Gott als Caritas« keine klare
methodologische und wissenschaftstheoretische Grenzziehung zwischen phi-
losophischen und (biblisch‑)theologischen Schritten. Klar scheint zu sein,
dass die Überlegungen, die er anstellt, um zum Begriff des »Unmöglichen«
und gleich anschließend zur Identifizierung des »Unmöglichen« mit »Gott«
(nur im allgemeinen, noch nicht mit »Gott als Caritas«) zu gelangen, rein
philosophisch sind.
Auf der Basis dieser Annahme lässt sich dann feststellen, dass beide
Denker den Versuch unternehmen, einen Zugang zu Gott zu finden, der
rein philosophisch, rein »rational« ist; in diesem Sinne entwickeln beide
jeweils eine Form jener Disziplin, die traditionell »theologia naturalis oder
rationalis« genannt wurde, wobei eine tiefe Divergenz in Bezug auf den
methodologischen Status und die Inhalte der beiden Formen besteht. Wenn
man nicht alle einzelnen diesbezüglichen Aussagen des Thomas von Aquin
berücksichtigt, sondern nur die wirklich letzten und entscheidenden Koor-
dinaten seines Denkens im Auge hat, so lässt sich sagen, dass seine Form des
Zugangs zu Gott eine seinsmetaphysische ist: Im Zuge der Explikation des
Seins / esse erscheint »Gott« als das vollexplizierte Sein / esse. Man kann kurz
sagen: der Zugang zu Gott führt über das Sein /esse. Bei Marion kann von
»Sein« keine Rede sein, wohl aber vom »Unmöglichen«. Er sagt das in aller
nur wünschenswerten Klarheit: »Der einzig mögliche Zugang zu Gott öffnet
sich im Unmöglichen und führt durch es (Le seul chemin possible vers Dieu
s’ouvre dans l’impossible et passe par lui)«. (IH-D 346) Kurz: der Zugang zu
Gott führt über das Unmögliche.
Dazu ist zweierlei zu bemerken. Erstens ist dieses »natürliche, rationale«
Verfahren für Thomas in keiner Weise inkohärent. Für Marion gilt das aber
nicht; denn er betont auf sogar extreme Weise, wie bisher ausführlich dar-
gelegt und kritisiert wurde, dass Gott kein Voraus duldet, dass ihm keine
Bedingungen, keine Horizonte, Restriktionen u. dgl. auferlegt werden kön-
nen. Wenn aber die traditionelle natürliche oder rationale Theologie, deren
394 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

wichtigste Form die christlich orientierte Seinsmetaphysik ist, von Marion


deshalb abgelehnt wird, weil das Sein nach seiner Meinung als Horizont ein
Voraus ist, das eine Restriktion oder Unterwerfung für Gott darstellt, so
wirft das die Frage auf, ob sein Zugang zu Gott über das Unmögliche nicht
ebenfalls ein Voraus zu Gott, einen restringierenden Horizont o. ä. für Gott
darstellt. Wenn beide Verfahren eine verschiedene Form des Zugangs zu Gott
entfalten, warum sollte die eine Zugangsform eine Restriktion Gottes sein und
die andere nicht? Marions sonstige apodiktische Aussagen, die oben mehrfach
zitiert wurden, schließen doch jeden Zugang, welcher Art auch immer, aus.
Man muss feststellen, dass Marions Position mit ernsthaften Kohärenzpro-
blemen behaftet ist.
Zweitens ist zu fragen, wie intelligibel beide Zugangsarten sind und ob sie
Probleme aufwerfen. Der »Zugang zu Gott über das Sein« ist eine verkürzte,
unangemessene Formulierung, die leicht missverstanden werden kann. Wie
in Kapitel 3 ausführlich dargelegt und in anderen Passagen des Buches öfter
betont wurde, sind »Sein« und »Gott« nicht zwei distinkte Dimensionen, als
welche Marion sie konzipiert. Sein ist vielmehr, um es sehr drastisch, wenn
auch ganz ungewöhnlich auszudrücken, der noch nicht voll entfaltete (im
Sinne von: noch nicht voll explizierte) Gott; Gott ist das vollexplizierte Sein,
das erfüllte Sein oder die Seinsfülle.

[4] Wie ist aber das Verhältnis zwischen »dem Unmöglichen« und »Gott«
zu verstehen? Es ist kaum vorstellbar, dass man zwischen »dem Unmögli-
chen« und »Gott« ein positives analoges Verhältnis wie zwischen »Sein« und
»Gott« konzipieren kann. Zwischen »dem Unmöglichen« und »Gott« gibt es
einen nicht-intelligiblen Sprung, während das Verhältnis zwischen »Sein« und
»Gott« ein Explizierungsverhältnis ist. Der Grund für diese Differenz liegt
darin, dass der Begriff »des Unmöglichen« bei Marion ein rein subjetivitäts-
philosophischer Begriff ist: Nach Kants oben zitierter Formulierung drückt
der Begriff den Umstand aus, dass eine Sache »mit den formalen Bedingungen
einer Erfahrung überhaupt nicht zusammenstimmt«. Er drückt also eine rein
»relative« Negation aus, d. h. eine Relation relativ zur Struktur der Sub-
jektivität. Damit unterscheidet sich das Unmögliche in Marions (und Kants)
Sinn toto coelo vom Sein / esse: Dieses ist nicht definiert durch irgendwelche
wie immer gearteten Beziehungen zur Subjektivität, sondern es expliziert sich
als solches.
Damit kommt etwas Fundamentales zum Vorschein: Es ist nicht die Seins-
konzeption, die Bedingungen, einen Horizont, Restriktionen u. dgl. Gott auf-
erlegt und ihn somit inadäquat artikuliert (oder gar, wie Marion sagt, aus Gott
ein(en) »Idol / Götzen« macht; vgl. unten 4.2.5); es ist im Gegenteil Marions
Konzeption des Unmöglichen, die Gott den von der Subjektivität diktierten
Bedingungen unterordnet.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 395

[5] Von besonderer Bedeutung für die Thematik dieses Buches ist die von
Marion streng behauptete Unmöglichkeit des Begriffs in Bezug auf Gott, die
er auf der Basis seines phänomenologischen Theorierahmens so erklärt:
»Mittels einer Definition kann ich nicht legitimerweise irgendeinen Begriff Gott
zuschreiben, weil jeder Begriff eine Begrenzung und ein Umfassen (compréhen-
sion) impliziert und somit der einzig möglichen Definition [Gottes] widersprechen
würde – nämlich dass Er jede Begrenzung und somit auch jede für meinen endlichen
Geist mögliche Definition übersteigt.« (IH-D 337)
Diese Aussage gehört zu jenen, die am besten Marions forma mentis charak-
terisieren: Innerhalb ein und desselben Satzes sagt er, dass etwas nicht getan
werden kann – und dann geht er dazu über, es doch zu tun. In der zitierten
Passage sagt er zuerst, dass kein Begriff  –  mittels einer Definition  –  Gott
zugeschrieben werden kann, aber dann behauptet er, dass es eine einzige
mögliche Definition Gottes gibt, nämlich die Definition: »Gott übersteigt
jede Begrenzung und somit auch jede für meinen endlichen Geist mögliche
Definition«. Nun aber besteht eine Definition in Marions Terminologie darin,
dass ein Begriff limitiert und fassbar gemacht wird. Marions »einzig mögliche
Definition Gottes« expliziert den Begriff »Gott übersteigt jede Begrenzung
und somit auch jede für meinen endlichen Geist mögliche Definition« (oder
etwas genauer: der Begriff »Gott als das X, das jede Begrenzung und somit
auch jede für meinen endlichen Geist mögliche Definition übersteigt«). Nun
wird deutlich: genau diesen (letzten) Begriff schreibt Marion Gott direkt
zu. Aber das widerspricht direkt der anderen Behauptung: »Ich kann nicht
legitimerweise irgendeinen Begriff Gott zuschreiben.«
Ein weiterer Punkt muss angesprochen werden. Marion versucht, diese
letzte Behauptung zu untermauern, indem er sagt, »dass jeder Begriff Be-
grenzung und Umfassen (comprehénsion)« impliziert. Wenn dem aber so ist,
muss er auch sagen, dass der Begriff »Gott als das X, das jede Begrenzung und
somit auch jede für meinen endlichen Geist mögliche Definition übersteigt«
Begrenzung und Umfassen impliziert. Aber wie kann dann dieser Begriff Gott
zugeschrieben werden? Schließlich, wie kann Marion behaupten, dass »Gottes
einzig mögliche Definition« sagt, dass »Gott jede Begrenzung und somit auch
jede für meinen endlichen Geist mögliche Definition übersteigt«? Ist »Gottes
einzig mögliche Definition« nicht eine Definition? Ist sie nicht von unserem
endlichen Geist formuliert? Von wem sonst wäre sie formuliert? Es ergibt sich:
Marion muss annehmen, dass Gott auch das übersteigt, was »Gottes einzig
mögliche Definition« sagt oder ausdrückt. So, nach Marion, sagt »die einzig
mögliche Definition Gottes« nichts über Gott …
Möglicherweise würde Marion versuchen, auf diese Einwände eine Ant-
wort zu geben. Sie ist nicht in den zitierten Passagen enthalten, könnte
aber anderen Passagen in seinem Aufsatz entnommen werden. Die Ant-
wort besteht im Wesentlichen darin, dass er einfach zum Standpunkt Gottes
396 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

wechselt. Unkritisch und unproblematisch nimmt er an, dass er in der Lage


ist, dies zu tun: Er unterstellt einfach, es sei möglich, zwischen dem, was zu
»unserer Konzeptualisierung« und dem, was zu Gott selbst, zum Standpunkt
Gottes gehört, klar zu unterscheiden. Diese selbstzugeschriebene Möglich-
keit betrachtet er als eine Art magisches Instrumentarium, das ihn befähigt,
alle Probleme in Bezug auf Gott zu überwinden. Beispielsweise, wenn Pro-
bleme wegen eines Widerspruchs oder einer Inkohärenz zwischen Begriffen
auftauchen, wendet er einfach sein magisches Instrumentarium an, um das
Problem zu lösen. Hinsichtlich solcher Begriffe bzw. Begriffskonstellationen
fragt er nämlich: »Wie widerspricht sich ein Begriff selbst?« und antwortet:
»Offenbar gemäß den Normen, den Regeln und den Axiomen einer Konzeption. Man
kann nicht von einem absoluten Widerspruch sprechen, sondern immer und allein von
contradictio in conceptu85. Um welchen anderen Begriff kann es sich hier handeln als
um den Begriff unserer Vorstellung? […] Das Vorstellbare und das Nicht-Vorstellbare
gibt es nur in unserem Begriff, daher allein in unserer endlichen Konzeption, daher
für unsere Endlichkeit. Es gibt keinen anderen Widerspruch als einen konzipierbaren
(concevable) [vorstellbaren] und es gibt Konzipierbares [Vorstellbares] allein in unserer
Konzeption: quoad nos, für uns, für unseren endlichen Geist …« (IH-D 354–5)

[6] Marions magisches Instrumentarium wird von ihm insbesondere auf die
Begriffe Möglichkeit / Unmöglichkeit angewendet. Dieses Verfahren kann an-
hand einer Analyse des zentralen Aspektes seiner radikalen Reinterpretation
des sogenannten ontologischen Argumentes illustriert werden. Er sagt:
»Im Gegensatz zu dem, was man hartnäckig ständig wiederholt, besteht die Haupt-
schwierigkeit [des ontologischen Beweises] nicht in der Illegitimität des Übergangs
eines Begriffs zur Existenz als Position außerhalb des Begriffs, sondern liegt noch
radikaler in der Illegitimität der Annahme irgendeines Begriffs als der adäquaten De-
finition des göttlichen Wesens. Das Argument läuft schließlich darauf hinaus, dass von
›Gott‹ ein Idol geschmiedet wird (forger une idole de Dieu).« (IH-D 349)86

85
  Marion zitiert R. Descartes, Lettre à Arnauld, vom 29. Juli 1648, in: Oeuvres,
Bd. V, 223, 29.
86  Bezeichnenderweise präsentiert Marion eine vollständig verfehlte Reinterpretation

des ontologischen Gottesbeweises, eine Reinterpretation, die nur auf der Basis seiner
phänomenologischen Grundannahmen überhaupt konzipiert werden konnte. Grund-
sätzlich begeht er den Fehler, zwei völlig verschiedene Sachverhalte nicht sorgfältig zu
unterscheiden, die in der Geschichte dieses Arguments sowie der anderen (sogenannten
klassischen) Gottesbeweise oft vermengt wurden. Es ist eine Sache, die Existenz von X zu
beweisen; es ist eine völlig andere Sache, das bewiesene X mit Y zu identifizieren. Wenn die
Identifikation von X mit Y nicht korrekt ist, dann ist es klar, dass der Beweis der Existenz
von X nicht ein Beweis für die Existenz von Y ist.
Jetzt kann die Formulierung des Beweises bei Anselm von Canterbury analysiert
werden, allerdings nur in äußerst kurzer und vereinfachter Weise und nur zum Zweck,
Marions Reinterpretation als verfehlt aufzuweisen. Anselms Ausgangspunkt ist die De-
finition: Gott = etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann (id quo
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 397

Marion nennt diesen Sachverhalt eine »Aporie« und fragt, wie sie überwunden
werden kann. Seine Antwort ist eine Art Resümee seiner ganzen Behandlung
des großen Themas »Gott«:
»[Die Aporie kann überwunden werden] indem auf jeden angeblichen (prétendu) Be-
griff Gottes verzichtet und an seiner Unbegreiflichkeit selbst festgehalten wird. Wie
soll aber diese Unbegreiflichkeit konzipiert werden, so dass sie immer noch gestatten
würde, weiter zu denken? Indem man sie nicht nur als die Unmöglichkeit jeden Be-
griffs konzipiert, sondern auch als den Begriff der Unmöglichkeit selbst – nämlich als
die Unmöglichkeit als das Unterscheidungsmerkmal der Differenz Gottes in Bezug
auf den Menschen. In der Tat, von Gott können wir widerspruchsfrei keinen anderen
Begriff als den der Unmöglichkeit annehmen, um seine spezifische Differenz anzuzei-
gen – Gott, oder der/das Unmögliche für uns. Sobald wir einen fassbaren Begriff durch
den unfassbaren Begriff des Unmöglichen ersetzen, kippt (se renverse) das [ontologi-
sche] Argument als ganzes: Es schließt nicht mehr auf die Existenz Gottes, sondern auf
die Unmöglichkeit seiner Unmöglichkeit, daher auf seine Möglichkeit. Gott erweist
sich (s’avère) als Derjenige, dessen Möglichkeit immer möglich bleibt, und zwar genau

maius cogitari nequit). Was geschieht nun im Argument? Was das Argument zu beweisen
beabsichtigt, ist strenggenommen nur dies: die Existenz von »etwas, über das hinaus
Größeres nicht gedacht werden kann«, nichts mehr und nichts weniger. Das und nur das
ist die Konklusion des Arguments. Da nun Anselm das »etwas, über das hinaus Größeres
nicht gedacht werden kann« einfach mit »Gott« identifiziert, nimmt er an, dass der Beweis
(auch) ein Beweis für die Existenz Gottes ist. Aber diese Identifikation kann in Frage ge-
stellt werden, und der große christliche Theologe Anselm wusste natürlich, dass »Gott«
nicht einfach ohne weiteres mit »etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden
kann«, identifiziert werden kann, da das so charakterisierte »etwas« absolut grundlegende
Bestimmungen (Attribute) nicht hat, deren Bestehen absolute Voraussetzung dafür ist,
dass von »Gott« sinnvollerweise die Rede sein kann. Die vorschnelle Identifikation von
»etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann«, mit »Gott« war und ist ein
verhängnisvoller methodologischer Fehler. Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, hat Thomas
von Aquin (vielleicht als erster Autor) diesen Fehler begangen, nicht am Anfang des
Beweises, wie bei Anselm, sondern am Ende, im Anschluss an die Formulierung der
eigentlichen Konklusion. Dieser methodologische Fehler hatte desaströse Konsequenzen
in der Geschichte des christlichen Denkens über Gott. Darauf kann aber hier nicht einge-
gangen werden.
Was Marions Reinterpretation des ontologischen Arguments betrifft, so muss fest-
gestellt werden, dass die Tatsache, dass er die eingeführte und erläuterte Unterscheidung
nicht macht und nicht beachtet, ihn dazu führt, seltsame and willkürliche Behauptungen
aufzustellen. Beispielsweise behauptet er, dass nach Anselm »das etwas, über das hinaus
Größeres nicht gedacht werden kann (id quo maius cogitari nequit)« adäquat das göttliche
Wesen (l’essence divine) definiere (vgl. IH-D 349). Daran schließt Marion den Kom-
mentar an: Das Argument führt unvermeidlich dazu, dass damit nur ein Idol »Gottes«
geschmiedet werde. Aber Anselm vertritt absolut nicht das, was Marion hier behauptet.
Marion übersieht vollständig die oben gemachte Unterscheidung zwischen Beweis der
Existenz eines X und Identifikation des X mit einem Y. Es ist im übrigen absurd an-
zunehmen, dass Anselm und Thomas von Aquin dachten, sie »definierten« adäquat
»das göttliche Wesen«, wenn sie (Anselm am Anfang seines Beweises und Thomas am
Ende seiner Beweise) eine methodologische fehlerhafte Identifikation der bewiesenen
Existenz von X mit der Existenz eines Y vornahmen. Dieser Aspekt der kommentierten
Passage im Text von Marion kann hier nicht weiter verfolgt werden.
398 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

deshalb, weil es sich als unmöglich herausstellt, dass überhaupt etwas – vor allem Er
selbst – für ihn unmöglich bleibt. Die Notwendigkeit der Möglichkeit Gottes ergibt
sich aus der Unmöglichkeit seiner Unmöglichkeit.« (IH-D 349–50)
Dieser Text ist an erster Stelle ein ausgezeichnetes Beispiel für ein Spiel mit
Worten. Einige wenige Punkte genügen, um dies zu demonstrieren.
[i] Was das ontologische Argument anbelangt, ist zu sagen: Selbst wenn man
bereit wäre – for the sake of argument – anzuerkennen, dass es Sinn macht,
»einen fassbaren Begriff durch den unfassbaren Begriff des Unmöglichen zu
ersetzen«, würde daraus keineswegs folgen, dass »das [ontologische] Argu-
ment als ganzes umkippt (se renverse)«; und Marion erläutert: »Es schließt
nicht mehr auf die Existenz Gottes, sondern auf die Unmöglichkeit seiner
Unmöglichkeit, daher auf seine Möglichkeit«. Erstens würde das Argument
als ganzes nicht einfach umkippen, sondern es würde sich in etwas völlig
anderes transformieren. Zweitens kann noch weniger gesagt werden, dass in
diesem Fall das transformierte Argument »die Unmöglichkeit seiner [Gottes]
Unmöglichkeit, daher seine Möglichkeit« beweisen würde. In der Tat, würde
man Marions »Ersetzung« durchführen, so würde man als Resultat haben:
Gott = Das / Der Unmögliche. In diesem Fall würde das Argument, wenn
es konklusiv wäre, wenn irgendetwas, dann folgendes beweisen: »Das/Der
Unmögliche=Gott« ist oder existiert nicht nur in unserem Verstand, sondern
auch in der Wirklichkeit.
Wie Anselms »ontologischer Gottesbeweis« im Rahmen der struktural-
systematischen Philosophie zu interpretieren und einzuschätzen ist, wurde
in Kapitel 3 ausführlich gezeigt (vgl. »3.2.2a Exkurs 2: Der nicht konklusive
›ontologische Gottesbeweis‹ und seine unexplizierten Voraussetzungen: ein
misslungener Versuch, die ursprüngliche universale Seinsdimension zu ar-
tikulieren«).
[ii] Marion zufolge müssen wir »an der Unbegreiflichkeit Gottes fest-
halten«. Aber dann, überraschenderweise, hat er eine Menge Dinge über die
Unbegreiflichkeit selbst zu sagen: Wir müssen die Unbegreiflichkeit kon-
zipieren, daher einen Begriff von ihr bilden. Und dieser Begriff hat den Inhalt:
Unbegreiflichkeit = Unmöglichkeit jedweden Begriffs: ein Begriff, der »die
Unmöglichkeit jedweden Begriffs ausdrückt«. Wenn es sich so verhält, drückt
der Begriff nicht gerade seine eigene Unmöglichkeit aus? Marion bemerkt das
nicht oder kümmert sich nicht darum; er fährt einfach fort mit seinem Spiel
mit Worten. Es ist rätselhaft, wie man von »der Unmöglichkeit jedweden Be-
griffs« zum »Begriff der Unmöglichkeit« gelangen kann. Freilich, in Spielen
mit Worten sind alle Assoziationen erlaubt. Nachdem Marion den »Begriff
der Unmöglichkeit« erreicht hat, spricht er dann von »der Unmöglichkeit
selbst«; dabei ignoriert er  –  im Sinne von »thematisiert nicht«  –  die Dis-
tinktion zwischen »Begriff der Unmöglichkeit« und »Unmöglichkeit selbst«.
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 399

[iii] Schließlich erscheint Gott als Deus ex machina auf der Bühne, und
»Unmöglichkeit« stellt sich als »das distinktive Kennzeichen der Differenz
Gottes in Bezug auf den Menschen« heraus. Wie oben dargestellt wurde,
wirft Marions unvermittelte Annahme Gottes oder Voraussetzung Gottes ein
ernstes Problem auf. Wovon spricht er, wenn er das Wort ›Gott‹ verwendet?
Meint er »Gott« als eine Funktion, als eine reine Idee, als einen Traum – oder
als »den lebendigen und wahren Gott«? Marion gelingt es nicht, diese tiefe
Ambiguität und Unklarheit zu überwinden, und zwar aus »systematischen«
Gründen, d. h. aus Gründen, die sich aus seinem phänomenologischen Ansatz
ergeben.
Marions Spiele mit Worten mögen als literarische Stücke brillant sein, als
philosophische Thesen sind sie kaum intelligibel und daher nicht vertretbar.
Um diese Kritik zu erhärten, genügt es, den folgenden (hier mit hinzugefügten
Indizes versehenen) zentralen Satz zu analysieren: »Die Notwendigkeit der
Möglichkeit Gottes ergibt sich aus der Unmöglichkeit1 seiner Unmöglich-
keit2.« (IH-D 350) Im Lichte der vorhergehenden Ausführungen ist es klar,
dass in diesem Satz, der in konziser Weise Marions ganze Prozedur artikuliert,
die Ausdrücke ›Notwendigkeit‹ und ›Möglichkeit‹ nicht im phänomenolo-
gisch-transzendentalen Sinn gemeint sind, d. h. nicht als Ausdrücke, »die
sich auf die Erfahrung beziehen, auf das, was sie zulässt und was sie aus-
schließt – daher auf das, was erscheinen kann oder nicht erscheinen und sich
nicht sehen lassen kann, das Phänomen« (IH-D 335), sondern vielmehr den
universalen logisch-metaphysischen Sinn haben, wie dieser von der modalen
Logik und der metaphysischen Tradition erklärt wird. Schon das schafft eine
Ambiguität in Marions Formulierungen. Der Ausdruck ›Unmöglichkeit‹, der
im Satz zweimal vorkommt, wird äquivok verwendet: Im zweiten Vorkomm-
nis, also als Unmöglichkeit2, hat der Term einen rein phänomenologisch-trans-
zendentalen Sinn (entsprechend Marions Verständnis von »phänomenolo-
gisch-transzendental«), aber im ersten Vorkommnis, also als Unmöglichkeit1,
hat der Term eine universale logische und metaphysische Bedeutung. Ganz
besonders würde sich dann auch seine Rede von »Paradox(en)« als leer he-
rausstellen.
Warum klärt Marion nicht diesen doch sehr elementaren Sachverhalt?
Die Antwort dürfte auf der Hand liegen: Hätte er das gemacht, so wäre aus
seiner ganzen Prozedur bzw. »Argumentation« kaum etwas übrig geblieben.
Hinzu kommt noch, dass er oft und oft Ausdrücke wie ›(Un)Möglich‹ gemäß
dem unbestimmten und vagen alltäglichen Gebrauch verwendet, beispiels-
weise wenn in einer konkreten Situation jemand ausruft: »Aber das ist doch
unmöglich …« Ferner zitiert er gern Sätze aus der Bibel, in denen solche
Ausdrücke vorkommen. Eine explizite Analyse der genauen spezifischen
Bedeutungen dieser Ausdrücke in diesen Kontexten führt er nicht durch.
400 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Seine Behauptungen sind das Resultat der undifferenzierten Verwendung aller


dieser Vorkommnisse dieser Ausdrücke und basieren auf Äquivokationen.

[7] Ungeachtet der strengen Ablehnung der Anwendung aller Begriffe auf
Gott, hat Marion anscheinend überhaupt keine Probleme, bestimmte Begriffe
Gott zuzuschreiben. Es sind besonders Begriffe, die jeweils eine positive
Charakterisierung Gottes artikulieren. Zwei unter den wichtigsten seien hier
kurz analysiert: der Begriff der Liebe (caritas) und der Begriff der Schöpfung.
Wegen seiner Bedeutung und Problematik wird diesem zweiten Begriff der
ganze nächste Abschnitt gewidmet. Hier wird zuerst die Art und Weise ana-
lysiert, wie Marion zum Gott-als-Caritas gelangt.
Der Endpunkt von Marions phänomenologisch-philosophisch-theolo­gi­
scher Prozedur ist eine neue Episode des Einzugs von Gott als Deus ex
machina: Erst im letzten Absatz seines Aufsatzes L’impossible pour l’homme –
Dieu wird gesagt, dass es sich um einen wunderbaren Gott, einen Gott als
Caritas, als Liebe, handelt.
Dieser Absatz lautet:
»Die radikale und nicht-metaphysische Transzendenz, nach der wir gesucht haben,
offenbart sich […] in aller Klarheit in dem Unmöglichen, aber im einzigen (Un‑)
Möglichen, das Gottes würdig ist (digne de Dieu): die Caritas. Einzig für die Liebe,
daher für ›Gott [der] Liebe ist‹ (Johannes 4, 8 und 16) ist nichts unmöglich. Gottes
Transzendenz offenbart sich in der Caritas und, nur so, offenbart sich als Gottes
würdig.« (IH-D 369)

Welcher philosophische Weg hat Marion zu diesem Punkt geführt? Von »dem
Unmöglichen« bis zur Liebe gibt es keinen direkten theoretischen Weg – und
wenn es einen Weg gäbe, so schlöße er viele Zwischenstationen ein, die zu
durchlaufen wären, bevor man auf einsichtige und berechtigte Weise die große
Aussage aufstellen könnte: Gott ist Caritas/Liebe. Bei Marion gibt es keine
theoretisch nachvollziehbare Prozedur, die zu dieser Aussage führen würde.
Daher gibt es auch keine philosophische Rechtfertigung für seine Einführung
Gottes als Caritas/ Liebe. Es dürfte klar sein, dass sich Marion hier plötzlich
auf eine biblisch-theologische Ebene stellt, ohne allerdings den großen me-
thodologischen und wissenschaftstheoretischen Sprung im Geringsten zu
erläutern, geschweige denn zu rechtfertigen.

4.2.4.4 Marions verfehlte Konzeption der Schöpfung


Das letzte Thema bei Marion, das hier zu erörtern ist, ist seine Konzeption
der Schöpfung. Dieser Begriff ist das experimentum crucis jeder Konzeption
über Gott, die es verdient, als philosophisch voll durchdacht und als christlich
bezeichnet zu werden. Wenn wir uns und die ganze Welt bzw. das ganze
Universum nicht als von Gott erschaffen verstehen, dann bleiben alle unsere
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 401

Aussagen über Gott Aussagen über ein sonderbares X, das in letzter Ana-
lyse ein Idol, ein Pseudo-Gott ist. Was sagt nun Marion über Schöpfung? Im
folgenden sollen zwei zentrale Passagen in seinen Schriften über dieses zen-
trale Thema im Detail kritisch analysiert werden.

4.2.4.4.1 Die missdeutete »systematische« Einordnung des Kausalitätsbegriffs


in Bezug auf den Schöpfungsgedanken
Die erste Passage ist in seinem außerordentlich wichtigen Aufsatz L’impossible
pour l’homme–Dieu (IH-D) enthalten; hier finden sich hoch aufschlussreiche
Aussagen über die Schöpfung, insbesondere hinsichtlich des »metaphysi-
schen« Begriffs der Kausalität.

[1] Marion geht vom Phänomen der Geburt aus, das er so umschreibt:
»Ich entstehe (surgis), oder eher: ich bin entstanden in meine eigene Existenz auf eine
ganz andere Weise [als durch Kausalität] – auf die Weise eines Ereignisses (événement),
in welchem ich selbst zu mir selbst komme (j’adviens moi-même à moi-même). […] Die
Geburt, meine Geburt, die mich ins Freie liefert (délivre), die mich öffnet und mich
macht (me fait), vollzieht sich (se fait: tut sich) ohne mich. […] Meine Geburt kommt
auf mich zu (m’advient) wie ein direkt effektives Unmögliches. Somit muss ich im
Falle meiner Geburt anerkennen, dass ich eine radikale Möglichkeit erfahre – diejenige,
aus welcher ich stamme und die mich hervorgebracht hat (m’a rendu effectif).« (IH-D
356–57)

Dann fragt er: »Wie kann man, ausgehend von meiner Geburt, ein (Un‑)
Mögliches für Gott in Betracht ziehen? Verbietet nicht die Disproportion
der beiden Bereiche (Endliches und Unendliches) den Übergang und die
Assimilierung?«, und er antwortet darauf:
»Ohne Zweifel, wenn man sich an die Einteilung des Horizontes des Begriffs des
Seienden hält. Aber nicht, möglicherweise, wenn man sich auf die Ankunft (avène-
ment) des (Un‑)Möglichen als solchen konzentriert. In der Tat, was die Geburt für das
Lebewesen vollbringt, das leistet die Schöpfung vom Standpunkt Gottes – allerdings
unter der Bedingung, dass man die Schöpfung hier als einen theologischen Begriff,
nicht als Wirkursächlichkeit als Grenzbegriff (passage à la limite) versteht. Denn für
uns thematisiert und versammelt die Schöpfung die Totalität der Ereignisse, die von
sich aus vorkommen / entstehen (adviennent), ohne Begriffe, ohne Vorhersagen, daher
ohne Ursache – kurz, [die Schöpfung thematisiert] die radikalen Möglichkeiten, die
wir nicht nur in ihr empfangen, sondern vor allem, von welchen her wir uns allererst
empfangen. […] Meine Geburt öffnet mich der ganzen Schöpfung, macht alles (Un‑)
Mögliche in seiner ursprünglichen (Un‑)Möglichkeit zugänglich. Gott, der Herr des
Unmöglichen, bewirkt (effectue) die Schöpfung, indem er die (Un‑)Möglichkeit jeder
Geburt, angefangen von der meinen, wirklich macht (rendant effective).« (IH-D 358)

Wenn man davon absieht, dass Marion weitgehend ein Spiel mit Worten
treibt, besonders mit den Worten ›möglich / unmöglich‹, wie oben gezeigt
402 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

wurde, finden sich in diesem Text Formulierungen, die auf den ersten Blick
interessant und gut erscheinen, die aber bei näherer Analyse wenig oder
kaum etwas ausdrücken, das als philosophisch vertretbar oder adäquat be-
trachtet werden könnte. Ist der entscheidende »Punkt« bei der Schöpfung
(nur?) für uns? Hat nicht Marion im vorhergehenden Satz den Standpunkt
Gottes explizit erwähnt und gesagt, der Begriff der Schöpfung werde »im
theologischen Sinn« genommen? Warum und in welchen Sinn führt er
plötzlich im nächsten Satz die Klausel »für uns« ein? Wenn man von solchen
Unklarheiten absieht, so lässt sich sagen, dass einige seiner Formulierungen
in gewisser Hinsicht einige wichtige Aspekte des Schöpfungsbegriffs ar-
tikulieren, so besonders die folgende: Die Schöpfung »… thematisiert und
versammelt die Totalität der Ereignisse«. In der Tat ist die Thematisierung
der Totalität der Ereignisse (aller Seienden) die große Aufgabe, die die
christliche Metaphysik in Angriff nahm, indem sie dafür den Ausdruck /
Begriff »Schöpfung« verwendete; und das ist auch eine Aufgabe, die jede
Philosophie ernst nehmen und bewältigen muss, wenn sie überhaupt darauf
abzielt, etwas Sinnvolles über den (christlichen) Gott zu sagen. Bei Marion
aber wird diese große, diese fundamentale Aufgabe nur verbal erwähnt, nicht
aber effektiv in Angriff genommen. Aber sein Verfahren stellt sich als noch
problematischer und unzulänglicher heraus. Marions ganze philosophische
Position ist eine solche, von welcher her keine Möglichkeit besteht – nicht
einmal eine minimale  –, die große Idee der Schöpfung denkerisch zu er-
schließen, da ihre adäquate philosophische Erschließung ein Seinsdenken
voraussetzt. Aber ein Seinsdenken wird von Marion verworfen und sogar
als »die Hauptidolatrie (la principale […] idolâtrie)« (IH-D 339) bezeichnet
und betrachtet.
Bezeichnenderweise wird die doch verheißungsvolle Formulierung »die
Schöpfung thematisiert und versammelt die Totalität der Ereignisse« von
Marion sofort in einer Weise erklärt, die sie ihrer weitreichenden Bedeutung
beraubt, wodurch die wichtigen Aufgaben, die sie stellt, und die Konsequen-
zen, zu denen sie führen könnte, ausgeschlossen werden. Er spricht nämlich
von »der Totalität der Ereignisse, die von sich aus vorkommen/entstehen
(adviennent), ohne Begriffe, ohne Vorhersagen, daher ohne Ursache – kurz,
[die Schöpfung thematisiert] die radikalen Möglichen, die wir nicht nur in
ihr empfangen, sondern vor allem von welchen wir uns allererst empfangen«.
Hier drängt sich sofort die Frage auf: Wenn die Ereignisse »von sich aus
vorkommen / entstehen (adviennent)«, warum ist es sinnvoll oder gar er-
forderlich, die Idee der Schöpfung überhaupt einzuführen? Marion erläutert
den Sinn der Formulierung »von sich aus vorkommen/entstehen« durch ein
dreifaches »ohne (sans)«: ohne Begriffe, ohne Vorhersagen, ohne Ursache.
Begriffe und Vorhersagen sind theoretische Faktoren, während Ursache etwas
Ontologisches darstellt. Es macht keinen Sinn, diese drei »Sachen« im Hin-
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 403

blick auf eine Erklärung der Formulierung »von sich aus vorkommen/ent-
stehen« undifferenziert miteinander zu verbinden.

[2] In welchem Sinne nimmt Marion »Ursache« an, wenn er sie a limine
verwirft? Die große christliche metaphysische Tradition hat eine der zen-
tralen Fragen in Bezug auf den Begriff der Schöpfung so formuliert: Wie ist
es zu begreifen, dass wir und alle endlichen Seienden »von Gott stammen
oder kommen«? Es geht also nicht um eine Warum-Frage, sondern um
eine Wie-Frage. Die metaphysische Antwort stützt sich auf den Begriff der
Ursache / Kausalität. Um die eigentliche Bedeutung, die Gültigkeit und den
Erklärungswert dieses Begriffs zu verstehen, ist es absolut erforderlich, den
Begriff auf der Basis der ganzen philosophischen Konzeption, in der er seinen
systematischen Platz hat, zu erklären. Marion ignoriert das alles, indem er
Kausalität einfach als »metaphysischen Begriff« abtut. Aus seinen Schriften
geht hervor, dass bei seiner Verwerfung hauptsächlich zwei Gesichtspunkte
eine – vermutlich die entscheidende – Rolle spielen. Beide stellen Missver-
ständnisse dar.
[i] Der erste Gesichtspunkt ist Marions Charakterisierung der Kausalität
als ein Geschehen im Bereich der Seienden, ja sogar in der physikalischen
Welt. Der solchermaßen gewonnene Begriff wird ihm zufolge auf typische
metaphysische Weise auf Gott angewandt, was nicht nur unstatthaft, son-
dern absolut sinnlos sei. Auch wenn der Begriff als absoluter »Grenzbegriff
(passage à la limite)« (IH-D 358) verstanden wird, ist er völlig untauglich, das
Verhältnis zwischen Gott und der Welt zu artikulieren. Das ist ein zentraler
Punkt der allgemeinen Metaphysikkritik bei Marion.
Dazu sind einige Bemerkungen zu machen. Das gewöhnlich verstandene
Verfahren der Analogie in Bezug auf die Rede von Gott in der gewöhnlichen
Metaphysik  –  auch bei Thomas von Aquin  –  auf der Basis der drei Wege
(Weg der Affirmation oder Kausalität, der Negation und des Überschusses
oder der Steigerung (via eminentiae)) ist äußerst problematisch: Wie kann
man etwas im endlichen Bereich Vorfindbares auf Gott den Unendlichen
übertragen? Schon wenn Gott als höchstes oder erstes Seiendes verstanden
wird, so dass das Verhältnis zwischen Gott und der Welt als ein Verhältnis
zwischen Seienden – so verschieden sie auch sein mögen – gedeutet wird, ist
eine solche Übertragung nicht ohne weiteres verständlich. Das gilt aber erst
recht dann, wenn Gott nicht als ein (höchstes oder erstes) Seiendes, sondern,
wie bei Thomas von Aquin, als ipsum esse per se subsistens, als durch sich selbst
subsistierendes Sein, verstanden wird. Es handelt sich um die Problematik der
Transzendenz im aktiven Sinne des Wortes: des Übersteigens des Endlichen
oder des Seienden. Diese Problematik wurde in den Kapiteln 1 und 3 in vielen
Zusammenhängen erörtert. Es ist nicht zu leugnen, dass hier bei Marion ein
fundamentales Problem vorliegt.
404 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Beachtet man aber jene Gestalt von Metaphysik, die in Kapitel 1 »Tie-
fenmetaphysik« genannt wurde, und die systematische Entwicklung einer
solchen Denkweise in Kapitel 3, so lässt sich grundsätzlich Klarheit über
diese Problemlage schaffen. Es sei besonders auf die Ausführungen über
Transzendenz im Abschnitt 3.7.3.2 hingewiesen. Der zentrale Punkt lässt
sich kurz folgendermaßen darstellen: Eine Transzendenz=Transzendierung
findet grundsätzlich gar nicht statt, wie in den angegebenen Stellen gezeigt
wird. Man kann höchstens sagen, dass es sich bei dem Ausdruck/Begriff
»Transzendenz=Transzendierung« um eine inadäquate Bezeichnung für
das handelt, was die intentionale Koextensivität des menschlichen Geistes
mit dem Sein selbst und im Ganzen genannt wurde. Mann könnte auch
sagen, dass »Transzendenz im resultativen Sinne«, d. h. als das Resultat der
»Transzendenz=Transzendierung« ebenfalls ein inadäquater Ausdruck für
ein wesentliches Strukturmoment des menschlichen Geistes / Denkens ist.
Die Explizitmachung dieses grundlegenden Strukturmoments zeigt, dass das
traditionell verstandene Verfahren der Analogie ein ober-flächliches Ver-
fahren ist. Im Sinne einer pragmatisch-natürlichen Vorgehensweise kann man
zwar zunächst bei endlichen Seienden ansetzen und dann den beschriebenen
dreifachen Weg beschreiten; aber dies ist ein Verfahren auf der Ebene der Ȋu-
ßeren« oder Oberflächenstruktur, nicht der eigentlichen oder Tiefenstruktur
des menschlichen Geistes und Denkens. Die ursprüngliche universale Seins-
dimension ist von vornherein der absolut unbeschränkte Raum als das große
Thema des Denkens; dessen Thematisierung ist dessen Explikation, wobei
nicht so etwas wie Transzendenz=Überstieg u. dgl. stattfindet.
Das hat sehr weittragende Konsequenzen für die ganze Rede von Gott,
da Gott ja, wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, das voll explizierte ursprüngliche
Sein ist. Welche Konsequenzen ergeben sich aber daraus für den Begriff der
Kausalität im Zusammenhang mit dem großen Gedanken der Schöpfung? In
der traditionellen Metaphysik wurde der Gedanke der Schöpfung unter diesen
Begriff subsumiert: Schöpfung wurde als ein Fall von Kausalität, wenn auch
als ein ganz besonderer, aufgefasst. Dies ist äußerst problematisch, höchstens
wird man dies als eine absolut ober-flächliche Sicht bezeichnen. Das sei kurz
erläutert.
Wie immer man der Begriff der Kausalität in der aristotelischen Tradition
näher charakterisieren mag, in jedem Fall meint er – ganz allgemein formu-
liert  –  ein Zustandebringen (Hervorbringen …) von etwas aus etwas, das
schon vorhanden ist. In diesem Sinne ist Kausalität ein Geschehen zwischen
Vorhandenen. Aber Schöpfung ist nicht ein solches Zustandebringen oder
Hervorbringen oder Geschehen. Wenn man Bezeichnungen wie: ›Zustande-
bringen, Hervorbringen‹ u. ä. für Schöpfung verwendet, dann handelt sich um
ein Zustandebringen / Hervorbringen ex nihilo sui et subiecti, aus dem Nicht-
sein der betreffenden Sache und aus dem Nichtsein von etwas schon Vor-
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 405

handenem, wie immer man dies konzipieren mag. Wie in Kapitel 3, Abschnitt
3.6, ausgeführt wurde, ist Schöpfung die Ins-Sein-Setzung aus (dem) Nichts.
Das beinhaltet einen radikalen Unterschied zum Begriff der Kausalität gemäß
aristotelischer Tradition. Man könnte zwar sagen, dass in beiden Fällen – im
Falle der »gewöhnlichen« Kausalität und im Falle der Schöpfung  –  etwas
Gemeinsames gegeben ist, nämlich der Begriff des Zustandebringens/Hervor-
bringens, so dass es sich im eigentlichen Sinne um zwei Fälle eines Begriffes
handeln würde. Dazu ist aber zu sagen, dass dies eine ober-flächliche Gemein-
samkeit ist, die dem Umstand in keiner Weise Rechnung trägt, dass Schöpfung
als ins-Sein-Setzung aus (dem) Nichts etwas völlig Anderes ist als irgendeine
Art von Zustandebringen / Hervorbringen, haben doch die Ausdrücke/Be-
griffe Zustandebringen / Hervorbringen die nicht-beseitigbare Konnotation
eines Geschehens zwischen Vorhandenen.
Der Gedanke der Schöpfung ist ein absolut einmaliger Gedanke, ein ab-
solutes Singularetantum. Um ihm im vollem Umfang und in jeder Hinsicht
gerecht zu werden, sollte man ihn nicht unter den Begriff der Kausalität sub-
sumieren. Das bedeutet aber nicht im Geringsten, dass damit die Idee der
Schöpfung, so wie sie in der großen metaphysischen Tradition grundsätzlich
verstanden wurde, falsch oder inadäquat wäre. Inadäquat war nur die Sub-
sumtion des Schöpfungsgedankens unter den Begriff der Kausalität. Aber
diese Subsumtion ist, strenggenommen, dem Schöpfungsgedanken äußerlich.
Indem Marion diese Subsumtion bedenkenlos und absolut undifferenziert be-
hauptet, erliegt er dem Irrtum einer völlig falschen »systematischen« Einord-
nung des Kausalitätsbegriffs, mit der im nächsten Abschnitt (4.2.4.4.2) noch
darzustellenden Konsequenz, dass er den großen Gedanken der Schöpfung
einer totalen Aushöhlung unterzieht.
[ii] Der zweite Gesichtspunkt ist eher spezifischer Natur, Ausdruck einer
bestimmten philosophischen Konzeption, nämlich der phänomenologisch-
transzendentalen Konzeption. Eine Passage im Aufsatz L’impossible pour
l’homme – Dieu charakterisiert die Kausalität aus dieser Perspektive. Die
Grundlage von Marions Ausführungen sind die Begriffe: Möglichkeit/Un-
möglichkeit, die er, wie ausführlich gezeigt, im Anschluss an Kant rein phä-
nomenologisch-transzendental deutet: Möglich ist das, was den Bedingungen
der Subjektivität (den Begriffen) entspricht, unmöglich ist das, was diesen
Bedingungen nicht entspricht. Von hier aus denkt Marion Gott als den Un-
möglichen (in diesem Sinne). Aber dieses Unmögliche ist ihm zufolge doch
möglich. Wie soll dann diese Möglichkeit gedacht werden? Dafür führt Marion
den Begriff der »radikalen Möglichkeit« ein:
»Eine radikale Möglichkeit würde jedes Limit transzendieren und würde, indem sie in
diesem Sinne absolut un-bedingt ist, schließlich die gesuchte Transzendenz voll errei-
chen (accomplirait). Formell gesehen, würde sich diese Möglichkeit daher durch das
Transzendieren aller Unmöglichkeiten definieren – dabei nähme dieses Transzendieren
406 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

seinen Ausgangspunkt nicht in einem in den Grenzen einer positiven Vorstellung und
Konzeption vorbereiteten Nicht-Widerspruch, sondern, auf einem negativen Weg, im
Übersteigen dieser selben Grenzen, nämlich in dem, was für eine Konzeption und Re-
präsentation das Unmögliche bleibt. Die Möglichkeit im radikalen Sinne nähme ihren
Ausgangspunkt beim Unmöglichen, insofern sie es transzendiert, d. h. es aufheben
würde, indem sie es wirklich (effectif) machte. Die radikale Möglichkeit nähme ihren
Ausgangspunkt beim Unmöglichen und würde das Unmögliche, ohne durch eine Kon-
zeption eines für die endliche Repräsentation nicht-widersprüchlichen Möglichen hin-
durchzugehen, in der Wirklichkeit setzen (imposerait dans l’effectivité). Die radikale
Möglichkeit oder die Verwirklichung (effectuation) des Unmöglichen.« (IH-D 355–6)

Damit ist die Basis genannt und charakterisiert, von welcher aus Marion den
Begriff der Kausalität versteht. Er fragt: »Wie kann das gemacht werden [er
bezieht sich auf den erläuterten Begriff der radikalen Möglichkeit in Bezug auf
Gott], da ich doch kein (Un‑)Mögliches kenne?« (IH-D 356) Seine Antwort
lautet, dass wir eine solche radikale Unmöglichkeit nicht kennen, »solange wir
uns selbst als res cogitans definieren, mindestens als denkendes Wesen gemäß
meiner Vorstellung (représentation) und ihrem Begriff; in der Tat, in dieser
Stellung filtere ich sozusagen alles, was vorkommen (auf mich zukommen)
kann, gemäß dem Maßstab meiner Konzeption und ihrer Endlichkeit« (IH-D
356). Und jetzt bringt Marion den Begriff der Ursache/Kausalität ins Spiel.
Gleich anschließend schreibt er:
»Von daher und aufgrund ihrer Definition wird die Kausalität (sei es von mir aus als
einem kausalem Akteur, sei es von einer von mir verschiedenen Ursache aus) nichts
anderes verwirklichen (können) als das, was mein Begriff ihr als ein gemäß dem Nicht-
Widerspruch für meine Vorstellung Mögliches bereitgestellt hat.« (IH-D 356)

Dann stellt Marion fest: »Aber ich definiere mich nicht immer und nicht an
erster Stelle als ein solches ego cogitans gemäß der Vorstellung des Begriffs.«
(Ebd.) Damit wäre erklärt, wie die radikale Möglichkeit für mich Wirklich-
keit (effectivité) werden kann. Und damit wäre auch erklärt, wie Gott als der/
das Unmögliche gedacht werden kann bzw. sollte: jenseits des ego cogitans,
damit jenseits der Vorstellung und des Begriffs und damit – und das ist son-
derbar – jenseits des Begriffs der Kausalität. Mit anderen Worten: Ursache/
Kausalität kommt absolut nicht in Frage, um etwa den Begriff der Schöpfung
hinsichtlich der Wie-Frage näher zu bestimmen.
Man sieht, dass Marion den Begriff der Kausalität in einem rein phänome-
nologisch-transzendentalen Rahmen ansiedelt, in welchem die Möglichkeits-
bedingungen für die Erfahrung festgelegt werden. Da Gott ihm zufolge von
diesem Rahmen her als das / der Unmögliche charakterisiert wird, kommt der
Begriff der Ursache / Kausalität nicht in Frage, um seine schöpferische Tätig-
keit zu erklären.
Dazu ist nun zu sagen, dass sich auch hinsichtlich dieses Punktes zeigt, wie
radikal der transzendental-subjektivitätsphilosophische Denk‑ oder Theorie-
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 407

rahmen Marions alle seine Aussagen über Transzendenz und Gott bestimmt.
Auf naive Weise betrachtet er den Begriff der Kausalität so, als ob es klar wäre,
was damit eigentlich gemeint ist. Und die soeben unter [1] behandelte fun-
damentale Problematik der Subsumtion des Schöpfungsgedankens unter den
Begriff der Kausalität verkennt Marion gänzlich.

[3] Marions auf der ganzen Linie völlig undifferenzierte explizite und radikale
Ablehnung des Ursachenbegriffs ist um so unverständlicher, als er selbst
Formulierungen verwendet, die nichts anderes sind als Umschreibungen des
Ursachengedankens. Ein Beispiel ist folgende Aussage: »Gott, der Herr des
Unmöglichen, bewirkt (effectue) die Schöpfung, indem er die (Un‑)Möglich-
keit jeder Geburt, angefangen von der meinen, wirklich macht (rendant
effective).« (IH-D 358) Hier kommt sogar das Wort ›bewirken‹ (auf fran-
zösisch: ›effectuer‹) vor, das direkt den Ursachenbegriff artikuliert: Ursache
ist das X, das etwas bewirkt, das einen »Effekt« hat. Genau das sagt der
metaphysische Begriff der »causa efficiens«, der Wirkursache. Aber Marion
denkt nicht durch, was er selbst behauptet. Und nicht nur das: Er entwickelt
eine gewaltige Rhetorik gegen das, was er den »metaphysischen« Begriff der
Schöpfung nennt, indem er diesen auf völlig undifferenzierte und oberfläch-
liche Weise unter einen vagen Begriff von Kausalität subsumiert. Dies ist um
so seltsamer und unverständlicher, als es auf einer krassen Inkohärenz basiert.
Man muss wohl feststellen, dass diese Art zu »denken« und philosophische
Konzeptionen zu beurteilen und zu kritisieren die in diesem (wie auch in
jedem anderen) theoretischen Bereich unbedingt erforderliche Seriosität und
Solidität vermissen lässt.

[4] Worauf Marion abzielt, wenn er das »Vorkommen« der Ereignisse »aus
ihnen heraus« deutet, indem er ein dreifaches »ohne« nennt, scheint im Zu-
sammenhang des phänomenologischen Ansatzes klar zu sein: Er begreift die
erschaffenen Ereignisse als Phänomene in ihrer Absolutheit (siehe oben 4.2.4.2
[3] [iii]). Er kann sich von seinem phänomenologischen Hintergrund nicht
loslösen und das ist der eigentliche Grund dafür, dass er nicht dazu kommt,
die wirklich wesentlichen Fragen bezüglich der Schöpfung zu stellen, ge-
schweige denn zu behandeln. Diese Feststellung wird von der letzten Klausel
seiner Charakterisierung der erschaffenen Ereignisse bestätigt: Diese sind »ra-
dikale Mögliche, die wir nicht nur in ihr [der Schöpfung] empfangen, sondern
von welchen wir uns vor allem allererst empfangen«. Diese Passage offenbart,
dass Marions Denken durchgehend im Theorierahmen der Subjekt-Objekt-
Distinktion angesiedelt ist, die den Ausgangspunkt und die fundamentale
Voraussetzung des phänomenologischen Ansatzes bildet. Hier wird nun klar,
dass er die Schöpfung auf der Basis dieser Distinktion versteht. Wir emp-
408 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

fangen die (Totalität der) Ereignisse als radikale Mögliche in der Schöpfung
und von diesen Ereignissen her empfangen wir uns allererst selbst.
Dies zeigt, dass Marion die eigentliche Idee der Schöpfung fehlinterpretiert.
Wenn diese Idee etwas Bestimmtes ausdrückt, dann dies: Sie artikuliert Gottes
allumfassendes Handeln, ein Handeln, das in keiner Weise »uns« als Emp-
fangende voraussetzt, sondern das uns allererst ins Sein (in die Existenz) setzt,
so dass wir erst dadurch überhaupt »Empfangende« werden können. Es gibt
keine im voraus gegebenen oder voraussetzbaren »Empfangenden« für Gottes
kreatives Handeln. Das zeigt noch einmal, dass eine so zentrale und tiefe Idee
wie die Idee der Schöpfung nur auf der Basis und im Rahmen einer theory
of everything, einer umfassenden Konzeption über die absolut universale
Dimension, die Dimension des Seins als solchen und im Ganzen, artikuliert
werden kann. Dann wird Gott aufgefasst als Sein in seiner Seinsfülle, als Sein,
das der Schöpfer aller endlichen Seienden ist.

4.2.4.4.2 Die totale Sinnentleerung des Schöpfungsgedankens


Die zweite Passage, in der sich Marion ausführlich und in signifikanter Weise
zum Schöpfungsgedanken äußert und die daher hier noch analysiert werden
soll, ist das Kapitel VI seines neuesten Buches Au lieu de soi (2008–2009)
(= LS) mit dem Titel Die Schöpfung des Selbst (La création du soi). Dieses
Buch will eine nicht-metaphysische (genauer müsste man sagen: eine radikal
anti-metaphysische) Interpretation des Buches Bekenntnisse (Confessiones)
von Aurelius Augustinus präsentieren; faktisch bringt aber das Buch eine
Interpretation des ganzen Denkens des großen Autors. Und diese Inter-
pretation ist in jeder Hinsicht mit Marions eigener Position identisch. Die
Anti-Metaphysik ist der rote Faden, der das ganze Buch durchzieht. Das
führt zu Behauptungen und Thesen, die vor dem Hintergrund der bisheri-
gen Ausführungen über Marion im vorliegenden Buch sogar als um einige
Grade problematischer erscheinen. Es versteht sich von selbst, dass hier keine
Stellungnahme zum Buch als ganzem, vor allem nicht hinsichtlich der Frage,
ob es sich um die richtige oder adäquate Augustinusinterpretation handelt,
intendiert sein kann. Hier sollen nur einige, hinsichtlich der Zielsetzung des
vorliegenden Buches besonders wichtige Behauptungen über den großen
Schöpfungsgedanken kurz analysiert werden.

[1] Nach Marion ist Augustinus’ Verständnis der Schöpfung (creatio) nicht
eine Konzeption über die Welt (mundus, κόσμος) als die Totalität der Seienden,
sondern eine absolut nicht-metaphysische Interpretation des ersten Satzes
der Bibel: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Er betont, dass »Him-
mel und Erde« in keiner Weise mit der metaphysisch verstandenen Welt als
mundus / κόσμος gleichgesetzt werden kann. Eine solche Gleichsetzung ent-
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 409

spreche unserer gewöhnlichen »metaphysischen und griechischen Einstellung


(posture)« (LS 317). Ihm zufolge war es Heidegger, der in dieser Hinsicht »uns
die Augen geöffnet hat (nous a laissé voir)« (ebd.), indem er gezeigt habe, was
die metaphysisch gedachte Totalität der Seienden in Wirklichkeit ist: Dem-
nach bedeutet das metaphysische Sein Vorhandenheit und die Totalität der
Seienden die Totalität der Vorhandenen. In dieser metaphysischen Sicht ist
die Schöpfung nichts anderes als die Herstellung von Vorhandenen durch das
erste oder höchste Seiende, das auch ein Vorhandenes ist. »Alles Seiende, das
nicht Gott ist, bedarf der Herstellung im weitesten Sinne und der Erhaltung.
Herstellung zu Vorhandenem bzw. Herstellungsunbedürftigkeit machen den
Horizont aus, innerhalb dessen ›Sein‹ verstanden wird.« (SZ § 20, 123–4) In
der Vorlesung Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant,
gehalten im Wintersemester 1926/27, also zur selben Zeit, in der Sein und
Zeit entstanden ist, heißt es viel prägnanter: »Hergestelltes verlangt einen
Hersteller. Horizont des Seinsverständnisses, der den [Gottes‑]Beweisen zu-
grundeliegt: Herstellen und das Hergestellte als Vorhandenes. Hersteller, der
selbst vorhanden sein muss.«87
Marion übernimmt uneingeschränkt diese »Interpretation«, von der in
Kapitel 3 (Abschnitt 3.6.1 [2]) gezeigt wurde, dass sie eine kaum für möglich
gehaltene totale Entstellung sowohl des Seins /esse bei Thomas als auch des
»metaphysischen« Gedankens der Schöpfung darstellt. Dass ein Autor, der be-
tont christlich orientiert zu sein behauptet, einer solchen radikalen Verirrung
anheimfallen kann, gibt Anlass zu vielen Fragen, denen aber hier nicht nach-
gegangen wird. In der Tat stützt sich Marion gerade auf Heideggers Verirrung,
um damit seine ohne jedes Maß ins Werk gesetzte völlig undifferenzierte und
kompromisslose Ablehnung der »Metaphysik überhaupt« durch Entwick-
lung einer Immunisierungsstrategie gegen Einwände abzuschirmen. Seine
Behauptung lautet: Heidegger hat gezeigt, was sich ergibt, wenn man den
Schöpfungsgedanken als die Antwort auf eine ontologische Frage (»Warum
ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?«) versteht.
Heideggers einziger Fehler bestand nach Marion darin, vorausgesetzt zu
haben, »dass die Schöpfung (la création) beansprucht, eine  –  auch noch so
inadäquate (aussi inappropriée qu’on voudra)  –  biblische Antwort auf eine
metaphysische Frage, nämlich nach der Herkunft des Seienden zu bieten«. (LS
319) Aber der Schöpfungsgedanke, behauptet Marion, ist nicht eine Antwort
auf eine solche Warum-Frage. (Es sei angemerkt, dass Marion nicht auf den
Gedanken kommt, wie schon in Kapitel 3 ausgeführt wurde (vgl. Abschnitt
3.6.3 [1]), dass der Schöpfungsgedanke, metaphysisch betrachtet, nicht die
Antwort auf eine Warum-Frage, sondern auf eine Wie-Frage ist. Und er
achtet dann nicht darauf, dass damit der metaphysische Schöpfungsgedanke

87 
GA, Bd. 23, 94 (Kursiv nicht im Original).
410 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

erst recht der biblischen Aussage über die Schöpfung völlig entspricht, denn
diese biblische Aussage drückt eben dies aus: Wie es sich mit »Himmel und
Erde« verhält …)
In diesem Zusammenhang zitiert Marion jene Passage aus Heideggers Buch
Einführung in die Metaphysik (Freiburger Vorlesung Sommersemester 1935),
die in Kapitel 3, Abschnitt 3.7.4.4.2 [3–3] [ii], angeführt und ausführlich kom-
mentiert wurde:
»Wer auf dem Boden solchen [d. h. des biblischen] Glaubens steht, der kann zwar
das Fragen unserer Frage [d. h. der Frage: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht
vielmehr Nichts?] in gewisser Weise nach‑ und mitvollziehen, aber er kann eigentlich
nicht fragen, ohne sich selbst als einen Gläubigen aufzugeben mit allen Folgen dieses
Schrittes. Er kann nur so tun, als ob …«88

Wieder einmal missdeutet Marion einen Text Heideggers. Er beachtet nicht


den Kontext, in dem dieser Text steht. In der Tat, unmittelbar anschließend an
seine soeben zitierte Aussage schreibt Heidegger: »Aber andererseits ist jener
Glaube, wenn er sich nicht ständig der Möglichkeit des Unglaubens aussetzt,
auch kein Glauben, sondern eine Bequemlichkeit und eine Verabredung mit
sich, künftig an der Lehre als einem irgendwie Überkommenen festzuhalten.«
Wie an der soeben genannten Stelle im vorliegenden Buch gezeigt wurde,
ergibt dies eine ganz andere Interpretation der an erster Stelle zitierten Aus-
sage Heideggers. Aber Marion versäumt es, Heideggers zweite korrigierende
und explizierende Aussage auch nur anzuführen. Noch mehr versäumt er es,
die damit gegebene Problematik zu erörtern, wie dies an der erwähnten Stelle
dieses Buches getan wurde.
Stattdessen stellt Marion die Frage: »Dennoch, wie könnte man nicht über
die Schwäche (faiblesse) dieses Einwandes in Erstaunen geraten?« (LS 318)
Auf charakteristisch postmoderne Weise dreht er Heideggers Einwand um
und macht daraus gerade eine Stütze für seine radikale Ablehnung einer Deu-
tung der Schöpfung, die »metaphysisch« auch nur angehaucht wäre, wobei er
unter einer solchen Deutung diejenige versteht, die in irgendeiner Weise Sein/
Seiende(s) thematisiert. Dies geschieht folgendermaßen.
Zuerst scheint er Heidegger weitgehend entgegenzukommen, indem er –
richtig – darauf verweist, dass Heidegger Leibnizens große Frage auch später
(1949) als metaphysische Frage im folgenden Sinn verstanden hat:
»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Hier kann auch, gesetzt
daß wir nicht mehr innerhalb der Metaphysik in der gewohnten Weise metaphysisch,
sondern aus dem Wesen und der Wahrheit der Metaphysik an die Wahrheit des Seins
denken, dies gefragt sein: Woher kommt es, daß überall Seiendes den Vorrang hat und

88 
Einführung in die Metaphysik, 1935/1983, 9 (Kursiv nicht im Original).
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 411

jegliches ›ist‹ beansprucht, während das, was nicht ein Seiendes, das so verstandene
Nichts als das Sein selbst, vergessen bleibt?«89

Daraus folgert Marion folgendes: Die (metaphysische) Frage, die nach Hei-
degger »der Glaube (la foi)« zu verstehen nicht in der Lage ist, wäre nicht
eine Öffnung zur Seinsfrage; vielmehr würde sie die Seinsfrage verschließen
und verfälschen, indem sie nur die Seienden auf Kosten des Seins betrachten
würde (vgl. LS 319). Und Marion schließt: »Könnte es dann – sonderbarer-
weise – nicht sein, dass der Glaube gute Gründe hätte, eine Frage nicht zu
beachten, die gerade nicht zum Verständnis der Seinsfrage führt, sondern sie
unter dem Lärm des Seienden zum Ersticken bringt (l’étouffe sous le bruit de
l’étant)?« (LS 319)

[2] Dann aber versäumt es Marion, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen,


den Schöpfungsgedanken in Verbindung mit der Seinsfrage zu verfolgen;
stattdessen erörtert er nur die Problematik des Verhältnisses zwischen »dem
Glauben« und der Frage »Warum ist überhaupt etwas/Seiendes und nicht
vielmehr nichts?«, einer Frage, die nach Heideggers und Marions Auffassung
sich nur auf Seiende, nicht auf das Sein bezieht. Und dann argumentiert er in
der Weise, dass er rhetorische Fragen wie die folgenden stellt: »Ist es selbstver-
ständlich, dass derjenige, dem ›die Bibel göttliche Offenbarung und Wahrheit
ist‹ darin zuerst und vor allem ›nach Antworten‹ auf ›Fragen‹90 sucht?«; »Ist
es selbstverständlich, dass die Bibel zu irgendeinem Zeitpunkt die Warum-
Frage in Bezug auf die Schöpfung stellt?«; »Bietet die Bibel nicht im Gegenteil
den exemplarischen Fall einer Abwesenheit jedes Warum – nicht aus Mangel,
sondern aus Überschuss?« (LS 319)
Es wurde oben schon gezeigt, dass die Schöpfung keine Antwort auf eine
Warum-Frage ist; sie ist vielmehr die Antwort auf eine (implizite) Wie-Frage.
Wenn nun Marion im rhetorischen Frage-Stil die Behauptung aufstellt, dass
der »Bibel-Gläubige« in der Bibel nicht »zuerst und vor allem nach Ant-
worten auf Fragen« »auf der Suche ist«, so stellt er eine kaptiöse Frage, die
leicht zu entlarven ist. Vielleicht »sucht« jeder »Bibel-Gläubige« oder sogar
die Mehrheit der »Bibel-Gläubigen« nicht »zuerst und vor allem« nach »Ant-
worten auf Fragen« in der Bibel. Aber aus Marions Formulierung selbst
ergibt sich, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass der Bibel-Gläubige, wenn
auch nicht »zuerst und vor allem«, so doch auch nach Antworten auf Fragen
sucht. Die Frage ist hier vielmehr, auf welche Frage(n) der Bibel-Gläubige eine
Antwort in der Bibel suchen kann. Und in der Tat sagt Marion später: »[W]ir
werden nach der Frage suchen, auf die die Schöpfung eine Antwort gibt.«
(LS 320) Ist er in der Lage, diese Frage ausfindig zu machen? Nennt er sie

89  Einleitung zu: »Was ist Metaphysik«, 1949, in: WegM 382.
90 
Einführung in die Metaphysik, 1935/1983, 8–9.
412 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

explizit? Es wird sich gleich unten (vgl. [3]) zeigen, dass Marions Äußerungen
dazu ein typisches Beispiel nicht nur für rhetorisch verdeckte Unklarheit und
Inkohärenz, sondern vor allem für Eskamotierung des in Frage stehenden
Problems darstellen
Zuerst aber stellt er lapidar fest: »[H]eideggers Einwand gegen die Schöp-
fungslehre verkehrt sich ins Gegenteil und erscheint von nun an als ein gegen
den Strich zu lesender sehr sicherer Hinweis (une indication à rebours très
sûre) auf den zu befolgenden Weg.« (LS 320) Man würde hier erwarten, dass
Marion als »den zu befolgenden Weg« die Behandlung der Seinsfrage nennen
würde. Aber Marion ist weit davon entfernt. Die Verfolgung der Seinsfrage,
konsequent durchgeführt, würde zeigen, dass Marions unaufhörliche Polemik
gegen »die Metaphysik« völlig undifferenziert ist und, soweit es sich um eine
Metaphysik des esse im Sinne des Thomas von Aquin handelt, grundsätzlich
haltlos ist. Angesichts des in Kapitel 3 dieses Buches entwickelten Ansatzes
einer systematischen Seinskonzeption erscheint Marions unerbittliche Ab-
lehnung von allem, was in irgendeiner Weise in Richtung auf »Sein« weist,
als völlig haltlos und arbiträr. Wie weit Marion in dieser »Sein« radikal ab-
lehnenden Haltung geht, wird deutlich, wenn man analysiert, worauf er den
großen Schöpfungsgedanken reduziert.

[3] Wie gezeigt wurde, nimmt Marion an, dass der Bibel-Gläubige in der Bibel
nach Antworten auf Fragen suchen kann. Wie Marion hier verfährt, ist alles
andere als klar und kohärent, wie die entscheidende Passage zeigt:
»Wir werden nicht mehr die Frage stellen, ob die Schöpfung auf die Frage nach dem
Warum in Bezug auf die Welt eine Antwort gibt; vielmehr werden wir umgekehrt
danach suchen, auf welche Frage die Schöpfung eine Antwort bietet, da diese Ant-
wort in jedem Fall nicht die Gestalt einer Ursache, eines zureichenden Grundes, einer
Ontologie und noch viel weniger einer Kosmologie annehmen kann.« (LS 320)

Man würde jetzt selbstverständlich erwarten, dass Marion  –  endlich  –  die


Frage nennt, auf die seiner Ansicht nach die Schöpfungsaussage der Bibel eine
bzw. die Antwort gibt. Aber Marion nennt die Frage nicht, sondern fährt an-
schließend sofort weiter, indem er nicht die Frage, sondern die Antwort (und
zwar auf eine / die von ihm ständig angekündigte, aber nie genannte Frage)
rhetorisch-postmodern-enigmatisch so formuliert: »Es könnte sein, dass die
Schöpfung keine andere Antwort bringt als die Antwort selbst – in dem Sinne,
dass jedes Ding, im Himmel und auf Erden, nur einzig deshalb im Bereich des
Geschaffenen entsteht, um zu antworten.« (LS 320)91 Auf eine un-genannte

91  »Il se pourrait que la création n’apporte aucune autre réponse que la réponse

elle-même – en ce sens que toute chose, au ciel et sur la terre, ne surgit dans le créé que
précisément pour cela, répondre.«
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 413

Frage bezüglich der Schöpfung ist also die Antwort das Antworten selbst oder
das Geschöpf als Antwort.
Diese Passage  –  unter Beachtung ihres Kontextes  –  enthält in nuce eine
ganze Reihe von Unklarheiten, Inkohärenzen, ja Widersprüchlichkeiten, die,
wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, Marions Position charakte-
risieren. Eine detaillierte Analyse bringt dies zum Vorschein.
Zuerst lässt sich unschwer, wenn auch indirekt, den Formulierungen Ma-
rions entnehmen, welches die Frage ist (oder zumindest: welches eine der
Fragen ist), auf die ihm zufolge die biblische Schöpfungsaussage eine Antwort
ist. Die vorausgesetzte, aber von Marion niemals explizierte Frage ist nämlich
im explikativen Teil der zuletzt angeführten Passage, und zwar in der kleinen
Klausel: »… es sei denn gerade für das(: zu antworten)« »hintergründig«
enthalten. Positiv gewendet  –  und zwar bei voller Äquivalenz  –  lautet die
explikative Aussage: »… jedes Ding, im Himmel und auf Erden, entsteht im
Bereich des Geschaffenen gerade für das: zu antworten«. Diese Aussage ist die
Antwort auf die Frage: Wofür entsteht denn jedes Ding, im Himmel und auf
Erden, im Bereich des Geschaffenen? Es ist also eine finale Frage, eine Frage
danach, welches Ziel die Erschaffung der Welt durch Gott hat.
Das wird vollends deutlich, wenn man beachtet, wie Marion das Antworten
seitens des Geschaffenen als Ausdruck der Zielsetzung der Schöpfung näher
charakterisiert. Diesen Sachverhalt formuliert er so: »Zwischen der Schöpfung
und der Antwort obwaltet nämlich eine gegenseitige und notwendige Bindung
(lien), die sich gleichzeitig als Lobpreis (louange) und Bekenntnis (confessio)
entfaltet.« (LS 320) Eine solche Formulierung wäre unproblematisch, wenn
sie im positiven, nicht im exklusiven Sinne verstanden würde. Damit soll
gesagt werden: Wenn diese Formulierung besagt, dass die Schöpfung, wenn
vollständig begriffen und anerkannt, die »praktisch-existenzielle« Einstellung
der Lobpreisung und des Bekenntnisses einfordert und einschließt, so ist sie
zutreffend. Wird sie aber, wie dies ganz eindeutig bei Marion der Fall ist, im
exklusiven Sinne verstanden, so bedeutet sie, dass die Schöpfung nicht anderes
als reiner Lobpreis und reines Bekenntnis ist – mit totalem Ausschluss jedes
anderen Faktors oder Aspekts. Der große Schöpfungsgedanke wird dann auf
Lobpreisung und Bekenntnis absolut reduziert. Genau das ist es, was Marion
sagt und vertritt, wenn er apodiktisch behauptet:

»Himmel, Erde und jedes andere Ding mit der Bezeichnung ›Geschöpf‹ belegen,
läuft buchstäblich darauf hinaus, in ihm [dem Geschöpf] die Gabe Gottes zu lob-
preisen, Gott zu lobpreisen, indem er als der Schöpfer anerkannt wird. Es resultiert
daraus, dass die Hermeneutik der Schöpfung gerade darin besteht, die Dinge nicht
als Seiende zu definieren (à ne pas définir les choses comme des étants), […] sondern
sie als im Rahmen der Schöpfung empfangene und im Rahmen des Lobpreises zu-
rückgegebene Gaben anzuerkennen, deren Gegenwart sich nur in diesem Austausch
aufrechterhält.« (LS 324)
414 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Und diese Position negativ-positiv zusammenfassend, erklärt er:


»›Schöpfung‹ gehört weder zum Lexikon des Seienden noch des Seins; vielmehr gehört
sie zum liturgischen Vokabular, wie die Lobpreisung und das Bekenntnis (confessio),
die sie [die Schöpfung] im übrigen allein anerkennen und bestätigen.« (LS 324)

In allen seinen Schriften, besonders in dem hier betrachteten Buch Au lieu de


soi, vermeidet es Marion streng, im allgemeinen und speziell im Zusammen-
hang seiner Darstellung der Schöpfungsthematik den Term ›Seiende(s)‹ zu
verwenden; stattdessen gebraucht er den banalen Term ›Dinge (choses)‹.
In diesem nur scheinbar völlig unbedeutenden Detail kommt jene tiefe
Inkohärenz und Widersprüchlichkeit zum Vorschein, die in der bisher vor-
gelegten Kritik an seiner Position (besonders im Abschnitt 4.2.2) ausführ-
lich aufgewiesen wurde. In dem nun analysierten Text wird klar gesagt bzw.
impliziert, dass »Die Dinge« keine seienden Dinge sind. Was sind sie dann?
Marion würde die Frage mit dem charakteristischen Hinweis darauf abtun,
es handele sich bei einer solchen Frage um eine metaphysische Frage, die
Ausdruck einer »metaphysischen und griechischen Einstellung (posture)«
(LS 317) sei.

[4] Ungeachtet aller rhetorischen und arbiträren Slogans kann sich aber Marion
der Inkohärenz und Widersprüchlichkeit seiner Aussagen nicht entziehen.
Auch abgesehen von der Banalität, die der Verwendung des Ausdrucks ›Ding‹
in der Artikulation zentraler philosophischer Aussagen unweigerlich anhaftet,
bleibt er nämlich die Antwort auf die philosophisch unumgängliche Frage
schuldig: Wovon redet er denn, wenn er von »Dingen (choses)« als Gaben
spricht: von imaginären, erträumten, fiktiven usw., oder von realen  –  und
das heißt dann: seienden – »Dingen (choses)/Gaben«? Solange er diese Frage
nicht einwandfrei klärt und die entsprechenden Konsequenzen daraus nicht
rigoros zieht und beachtet, gleicht seine ganze Konzeption dem Bau eines
Luftschlosses, das zwar schön, ja wunderbar aussieht – aber eben als ein reines
Luftschloss. Würde er aber die Frage klären, dann würde das bedeuten, dass
seine (jetzige) Konzeption sich buchstäblich in Luft auflösen würde.
Die fundamentale Voraussetzung bzw. Annahme, auf die sich Marion in
diesem Zusammenhang stützt, lautet: Schöpfung als Lobpreisung und Be-
kenntnis schließt absolut so etwas wie Schöpfung als aus dem Nichts erfolgte
ins-Sein-Setzung der kontingenten Dinge / Seienden aus. Damit begeht er
einen elementaren und fundamentalen Denkfehler und eine manifeste Inkohä-
renz. In aller Kürze kann das so gezeigt werden: Unter Verwendung der Ma-
rionschen Terminologie ist die Schöpfung (im »resultativen« Sinn verstanden)
die Gesamtheit der Gott als Schöpfer lobpreisenden und bekennenden »Dinge
(choses)«. Nun wurde schon die Frage gestellt: Wenn »die Dinge« keine
seienden Dinge sind, was sind sie dann? Sind sie aber seiende Dinge, so sind
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 415

sie einfach Seiende. Was spricht dann dagegen, zu sagen: die Schöpfung ist die
Gesamtheit der Gott als Schöpfer lobpreisenden und bekennenden Seienden?
Um aber nicht den Einseitigkeiten und künstlichen Dichotomien Marions
zu verfallen, muss man Differenzierungen einführen. Der hier zu klärende
Sachverhalt kann möglichst einfach so dargestellt werden, dass man einen
reduktiv-exklusiven, einen grundsätzlichen und einen vollen Sinn von Schöp-
fung unterscheidet. Der reduktiv-exklusive Sinn entspricht Marions Kon-
zeption: Er reduziert Schöpfung auf Lobpreisung und Bekenntnis, indem er
jede Betrachtung des Status der »lobpreisenden und bekennenden Dinge«
bzw. der »lobpreisenden und bekennenden Seienden« ausschließt. Der grund-
sätzliche Sinn von Schöpfung wird herausgearbeitet, wenn der Status der »lob-
preisenden und bekennenden Dinge / Seienden« explizit thematisiert wird.
Demnach ist Schöpfung im resultativen Sinne die Gesamtheit der durch Gott
aus dem Nichts ins-Sein-gesetzten kontingenten Dinge/Seienden; Schöpfung
im resultativen Sinne setzt also Schöpfung im aktiven Sinne voraus, und zwar
als die aus dem Nichts erfolgende Ins-Sein-Setzung der kontingenten Dinge/
Seienden. Dies ist der grundsätzliche Sinn von Schöpfung. Der volle Sinn von
Schöpfung wird erreicht, wenn der grundsätzliche Sinn nicht rein abstrakt-
theoretisch artikuliert, sondern auch – sozusagen – praktisch-existenziell »an-
erkannt«, »gelebt« oder, in welcher Form auch immer, »vollzogen« wird (wie
z. B. im Singen des Buches der Preisungen, der Psalmen). Der grundsätzliche
Sinn als solcher ist eine Angelegenheit der theoretischen Betrachtung, der In-
telligibilität der Dinge / Seienden bzw. des Seins als solchen und im Ganzen;
als solcher impliziert er zwar die Möglichkeit, nicht aber die faktische Reali-
sierug des vollen Sinns. Hingegen wird der volle Sinn nie verwirklicht ohne
die explizite Voraussetzung des grundsätzlichen Sinnes.
Jetzt kann Marions weitreichender Fehler genau formuliert werden: Er
reduziert  –  und zwar in exklusiver Weise  –  die Schöpfung auf einen »ge-
meinschaftlichen und liturgischen Status (statut)« (LS 322) und betrachtet
den Ausdruck ›Schöpfung‹ als ausschließlich zum »liturgischen Vokabular«
(LS 324) gehörend. »Schöpfung« im Sinne Marions ist nicht mit dem gleich-
zusetzen, was hier »der volle Sinn der Schöpfung« genannt wird, da der volle
Sinn den grundsätzlichen Sinn voraussetzt und anerkennt, während Marions
»Sinn der Schöpfung« keinen grundsätzlichen Sinn anerkennt: Schöpfung re-
duziert sich nach ihm auf ein Antworten im Sinne eines inhaltsleeren Preisens
und Bekennens. Damit verfehlt er in kaum nachvollziebarer Weise sowohl
den zentralen biblisch-christlichen als auch den großartigen philosophischen
Schöpfungsgedanken.

[5] Dieses strenge Fazit lässt sich auf eindrucksvolle Weise aufgrund einer
Analyse von Aussagen ausgerechnet jenes großen Autors bestätigen, dessen
Konzeption Marion ausführlich analysiert und, wie sich gleich zeigen wird,
416 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

missdeutet: Augustinus. Es handelt sich ausschließlich um Aussagen, die


Marion selbst anführt und kommentiert. Drei inhaltlich miteinander zu-
sammenhängende Texte dürften genügen, um den zur Diskussion stehenden
Sachverhalt zu illustrieren bzw. zu klären.
[i] Der erste Text ist eine kurze Aussage aus dem Buch X (3, 5, 14, 278) der
Confessiones92 und lautet: »[Ich will] hören und begreifen, wie Du im Anfang
Himmel und Erde gemacht hast – Audiam et intelligam, quomodo ›in princi-
pio‹ feciste ›caelum et terram‹«.(LS 321) In seinem ausführlichen Kommentar
zu dieser Stelle, hebt Marion nur darauf ab, zu betonen, dass das Begreifen/
Verstehen (intelligere) der Schöpfung aller Dinge »einen gemeinschaftlichen
und liturgischen Status hat, weil es darauf abzielt, sowohl bei den Lesern [der
Bibel] als auch beim Verfasser [der Confessiones] das anfängliche Bekennen
hervorzurufen.« (LS 322) Es ist bezeichnend, dass er überhaupt nicht auf die
enorm wichtigen Ausdrücke bzw. Begriffe eingeht, die in diesem Text vor-
kommen: Es sind dies: Audiam – [ich will] hören, intelligam – [ich will] ver-
stehen/begreifen, quomodo – wie, und fecisti – du hast gemacht.
»Hören« ist ein Aspekt jener »praktisch-existenziellen« Haltung, die Au-
gustinus in den Confessiones einnimmt und die den Status dieses Werkes cha-
rakterisiert: Wie der Titel sagt, handelt es sich um ein Buch der Bekenntnisse.
Grundsätzlich allen Aussagen in diesem Buch ist ein »praktisch-existenzieller
Operator« vorangestellt, den man kurzerhand so formulieren kann: »Ich
bekenne (lobpreisend) dass … φ …« (wobei ›φ‹ eine Variable für eine Aussage
ist). Diesen Status kennt Marion (natürlich nicht gemäß der hier dargestellten
halbformalen Artikulation, aber das ist hier völlig unwichtig);93 aber seine
Interpretation dieses Status ist völlig einseitig und damit irreführend. Der
Hauptpunkt lässt sich kurz so darstellen: Marion beachtet nicht, dass im
Rahmen dieses Status (oder in der halbformalen Terminologie: im Skopus
des »praktisch-existenziellen [bzw. ›gemeinschaftlichen und liturgischen‹]
Operators«) Aussagen vorkommen, die rein deklarativ und damit rein theo-
retisch sind, wie vor allem: »Du (Gott, der Schöpfer) hast (hat) Himmel und
Erde erschaffen«. Darauf ist zurückzukommen.
Es ist hochinteressant gleich zu bemerken, dass Augustinus  –  faktisch  –
genau diesen Sachverhalt im Auge hat, wenn er dann in einer Konjunktion
sagt: »… et intelligam – und dass ich begreife«. Das ist der fundamentalste
»methodologische« Punkt, den Marion durchgehend und hartnäckig igno-
riert, wobei die sich daraus ergebenden Konsequenzen als gewaltig zu be-
zeichnen sind – wie gleich gezeigt werden soll.

92  Marion zitiert die Ausgabe im Rahmen der Bibliothèque augustinienne (Paris,

Desclée de Brouwer, 1947 ff.), nach »Band (volume), Kapitel, Abschnitt (section), Buch
(tome), Seite(n)« (vgl. die bibliographische Notiz in LS, S. 14).
93  Würde Marion die halbformale Darstellungsweise annehmen, so könnte oder

müsste er diesen Operator den »gemeinschaftlichen und liturgischen Operator« nennen.


4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 417

Der dritte Ausdruck / Begriff ist »quomodo – wie«. Ihm liegt keine Warum-
Frage, sondern eine Wie-Frage zugrunde, die man etwa so formulieren kann:
»[… damit ich begreife …], wie es sich mit Himmel und Erde verhält«. Die
Bedeutung dieses Gesichtspunktes dürfte unmittelbar einleuchten, nachdem
oben auf Heideggers und Marions Ausführungen über die berühmte Frage
»Warum ist überhaupt etwas / Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« ausführ-
lich eingegangen wurde.
Der vierte wichtige Ausdruck / Begriff, »fecisti – Du hast gemacht«, artiku-
liert in einer »normalen« sprachlichen Ausdrucksweise den oben erläuterten
grundsätzlichen Sinn von »Schöpfung«. Auch darauf ist zurückzukommen.
Marion beachtet überhaupt nicht das Gewicht der von ihm zitierten Aus-
sage des Augustinus. Er situiert sich von vornherein auf der »praktisch-
existenziellen« Ebene des Diskurses der Confessiones, missversteht aber diese
Ebene, indem er gerade nicht das Gewicht der vier analysierten Ausdrücke/
Begriffe beachtet.
[ii] Der zweite Text ist nicht ein einzelner Text, sondern eine kleine Samm-
lung von zusammenhängenden Texten (vgl. LS 324 ff.). Marions Absicht
besteht darin, anhand von Texten des Augustinus eine seiner umfassenden
Thesen zu erläutern und zu erhärten. Die These betrifft das, was er »den Ort
der Schöpfung« (LS 325) nennt. Sie wird so formuliert:
»Die Schöpfung kommt nicht am Anfang, sondern nach dem Vollzug des Lobpreisens
und in dessen Innerem, weil sie allein die sichtbaren Dinge als mit einem Anfang aus-
gestattet, also als geschaffene, interpretieren kann und will. Es gäbe keine Möglich-
keit, die Welt, d. h. Himmel und Erde, als von Gott erschaffen zu sehen, wenn man
im voraus nicht der Lobpreisung Gottes als Gott zustimmen würde. Somit macht
die Lobpreisung die Bedingung der liturgischen Möglichkeit einer Anerkennung der
Schöpfung manifest – auch wenn man, im Nachhinein und wie anachronistisch, den
Lobpreis verwischen und die Schöpfung als einen ontischen Anfang setzen kann. Aber
diese Verkehrung der realen und primordialen liturgischen Ordnung in eine a posteriori
rekonstruierte kosmologische Ordnung bleibt, auch wenn man sie aus Bequemlichkeit
akzeptieren kann, ein methodisches Kunststück, das als solches auch der geringsten
Legitimität hinsichtlich der confessio entbehrt. Nicht wird die confessio durch die
Schöpfung als den [vermeintlichen] ontischen Ort ihres Vollzugs ermöglicht; sondern
sie [die Schöpfung] selbst wird nur von der confessio, ihrer liturgischen Vorbedingung,
her möglich. In einem Wort, indem sie Gott lobpreist, verleiht die confessio ihren ersten
Ort der Schöpfung des Himmels und der Erde, nicht umgekehrt.« (LS 324–325)

Diese markanten Aussagen scheinen auf den ersten Blick klar zu sein; sie
sind es keineswegs. Zuerst ist zu bemerken, dass es völlig unklar ist, wie
»Schöpfung« hier zu verstehen ist: im resultativen Sinne als die Gesamtheit
der geschaffenen Dinge / Seienden oder im aktiven Sinne als die erschaffende
Handlung Gottes? Aber Marion scheint eine solche Unterscheidung nicht an-
zuerkennen, zumindest nicht explizit; vielmehr gebraucht er ständig nur die
Formulierung »die Schöpfung des Himmels und der Erde« und fügt negativ
418 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

erläuternd explizit hinzu: »[…] um zu wiederholen: nicht die Schöpfung


der Welt oder der Seienden …« (LS 326). Aber wie versteht er positiv »die
Schöpfung des Himmels und der Erde«? Das ist hier die eigentliche Frage.
Diesbezüglich beschränkt sich Marion auf jene positive Aussage, die schon
oben zitiert wurde, der zufolge »die Hermeneutik der Schöpfung gerade
darin besteht, die Dinge […] als im Rahmen der Schöpfung empfangene und
im Rahmen der Lobpreisung zurückgegebene Gaben anzuerkennen, deren
Gegenwart sich nur in diesem Austausch aufrechterhält« (LS 324). Statt aber
der Frage näher nachzugehen, was eine solche Aussage über die Dinge als
Gaben des Schöpfers alles voraussetzt und impliziert, wiederholt er ständig
zwei Arten von Aussagen: positive und negative.
In positiver Hinsicht stellt Marion eine Menge Behauptungen darüber auf,
dass »die Schöpfung des Himmels und der Erde […] ins Spiel kommt (inter-
vient), nur um auf die ursprüngliche Frage (question originelle) der confessio
zu antworten« (LS 326). Wie ist diese absolute Priorität (nach Marion: préa-
lable (LS 325)) der Lobpreisung (der confessio) gegenüber der Schöpfung zu
verstehen? Es gibt nämlich mehrere Formen einer möglichen Priorität: eine
epistemologische, eine psychologische, eine existenzielle, eine ontologische
usw. Auf den ersten Blick vermitteln die Aussagen den Eindruck, sie seien
im epistemologischen-psychologischen-existenziellen Sinne zu verstehen.
Konkret würde das bedeuten: Ein normal philosophisch ausgebildeter Leser
würde die Aussagen etwa so interpretieren: Damit ein Mensch/Theoretiker/
Philosoph die Schöpfung überhaupt verstehen und anerkennen kann, muss er
sich zuvor aktiv und positiv an einer gemeinschaftlich-liturgischen Handlung
beteiligen, in der Gott als Gott lobgepriesen wird, und zwar so, dass diese
Person der Lobpreisung voll zustimmt.
Wäre dem so, so wäre eine ontologische Aussage über die Schöpfung über-
haupt nicht ausgeschlossen; nur hätte sie in epistemologischer-psychologi-
scher-existenzieller … Hinsicht nicht die Priorität. Beide Gesichtspunkte bzw.
Aussagen würden sich damit nicht grundsätzlich ausschließen, sondern sich
gegenseitig implizieren. Eine solche Sicht scheint Marion zumindest an einer
Stelle nicht zu verwerfen, in der es heißt: »[D]ie Schöpfung gibt keine Antwort
auf die ontische oder ontologische Frage, da sie [die Schöpfung] ihr [dieser
Frage] vorausgeht und, bestenfalls (au mieux), sie [die ontische oder onto-
logische Frage] denkbar macht, allerdings immer abgeleiterweise, in zweiter
Instanz.« (LS 326) Das ist eine Aussage, die eine Menge in diesem Buch ausführ-
lich kommentierter und kritisierter Behauptungen Marions über Bord zu wer-
fen scheint. Und in der Tat, strenggenommen – das heißt: kohärenterweise – ist
diese Aussage mit den anderen – sehr zahlreichen – absolut negativen Aussagen
Marions über Ontologie, Seiendes, Sein u. ä. einfach nicht kompatibel.
Gleich im nächsten Satz heißt es nämlich signifikanterweise bei Marion: »In
der Tat, die metaphysische Interpretation der Schöpfung setzt voraus, dass
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 419

die Frage nach dem Ort der Schöpfung schon gelöst wurde, und zwar auf die
denkbar brutalste Weise (de la manière la plus brutale): als die Produktion
(production) einer Welt von Seienden durch den Vollzug der Kausalität.«
(Ebd.) Es sei hier davon abgesehen, das Vorkommen einer Formulierung wie
»auf die denkbar brutalste Weise« in einer sich philosophisch ausgebenden
Schrift auch nur zu kommentieren. Was von Marions Charakterisierung
des »metaphysischen« Schöpfungsgedankens unter Benutzung völlig un-
explizierter, nur polemisch-rhetorisch verwendeter Ausdrücke/Begriffe wie
»Produktion« und »Wirkursache« zu halten ist, ergibt sich klar aus den Aus-
führungen über diese Thematik oben in diesem Abschnitt und in Kapitel 3
(vgl. 3.6.1–3.6.2).
Die sachliche Frage lautet hier: Ist das, was Marion die metaphysische Inter-
pretation der Schöpfung nennt, die Lösung der ontischen oder ontologischen
Frage, auf die sich Marion in der vorhergehenden Passage bezogen und die er
nicht prinzipiell ausgeschlossen hat? Wenn ja, dann widerspricht sich Marion
auf eklatante Weise. Wenn nein, dann kann das nur heißen, dass Marion mit
der Formulierung »metaphysische Interpretation« entweder überhaupt keine
ontische oder ontologische Konzeption oder höchstens nur eine bestimmte
Version einer solchen Konzeption meint. Tatsache aber ist, dass Marion unter
»Metaphysik« immer  –  in welchem Sinne auch immer  –  eine Konzeption
über Sein–Seienden meint. Es bleibt also nur übrig, daraus zu schließen,
dass Marion den eklatanten Widerspruch nur vermeiden kann, wenn er mit
»metaphysischer Interpretation« eine bestimmte Form oder einige bestimmte
Formen einer ontischen oder ontologischen Konzeption meint. Dass aber
Marion eine solche Differenzierung vornimmt, darüber finden sich keine
nennenswerten Hinweise in seinen Schriften. Im Gegenteil, wie im nächsten
und letzten Abschnitt abschließend gezeigt werden soll, betrachtet Marion
»die Idolatrie des Seins selbst« als »die Hauptidolatrie« (IH-D 339).
Hier kann zusammenfassend gesagt werden: Marion zieht in keiner Weise
die oben eingeführte und erläuterte Analyse eines dreifachen Sinns von
»Schöpfung« in Betracht. Es wurde nämlich zwischen einem reduktiv-ex-
klusiven, einem grundsätzlichen und einem vollen Sinn von Schöpfung un-
terschieden. Die Priorität, auf die Marion den höchsten Wert legt, könnte im
Rahmen dieser dreifachen Unterscheidung verschiedentlich geklärt werden.
Wenn beispielsweise ein Theoretiker der existenziell vollzogenen Anerken-
nung der Schöpfung durch Gott die unbedingte epistemologische Priorität
gibt, so hieße dies dann, dass er gleich von Anfang an methodisch so verfährt,
dass er beim vollen Sinn der Schöpfung ansetzt, um dann nach und nach den
ganzen Inhalt des vollen Sinns – wozu an allererster Stelle der grundsätzliche
Sinn gehört  –  herauszuarbeiten. Das entspräche zwar nicht dem in diesem
Buch entwickelten Ansatz, aber letztlich wäre dies eine nicht fundamentale
methodologische Sachfrage.
420 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

[iii] Der dritte Text des Augustinus ist besonders aufschlussreich. U. a.


zitiert und kommentiert Marion die folgenden Aussagen:
»Und ich, worum bitte ich, wenn ich darum bitte, dass Du zu mir kommst, zu mir, der
ich nicht seiend wäre, wenn Du nicht in mir seiend wärest? […] Daher wäre ich nicht
seiend, wenn Du nicht in mir seiend wärest, oder eher ich wäre nicht seiend, wenn ich
nicht in Dir seiend wäre, in Dir, von dem gilt: ›aus ihm und durch ihn und auf ihn hin
ist die ganze Schöpfung‹ [Brief an die Römer, 11:36].«94

(Um den Sachverhalt zu unterstreichen, auf den es im jetzigen Kontext an-


kommt, wurde in der deutschen Übersetzung des Textes, Augustinus’ Wort
›esse‹ im Konjunktiv Präteritum (›essem, esses‹), die im Normalgebrauch un-
gewöhnliche Formulierung ›seiend wäre, seiend wärest‹ verwendet.)
Sonderbarerweise zitiert Marion diesen Text und unmittelbar danach stellt
er seine oben zitierten radikal negativen Behauptungen über die ontische oder
ontologische Frage und die metaphysische Interpretation auf. Wie es scheint,
interessiert ihn im Text des Augustinus nur eines: der Umstand, dass das Lob-
preisen/Bekennen »der Ort der Schöpfung« ist. Das kann in einer Hinsicht
überhaupt nicht kontrovers sein, beachtet man den Umstand, dass der Text
im Buch Confessiones vorkommt. Insofern handelt es sich um eine, wenn man
will, kontingent-kontextuelle, nicht um eine sachliche Priorität. Augustinus
macht seine Aussage über die Schöpfung im Rahmen eines Gott lobenden
Bekenntnisses. Das ist selbstverständlich vollkommen legitim. Daraus darf
man aber nicht den Schluss ziehen, den Marion daraus zieht, nämlich, dass
Aussagen über die Schöpfung absolut ausschließlich in einem solchen Rahmen
möglich und sinnvoll sind.
Im jetzigen Zusammenhang ist ein anderer Punkt wichtig. Marion achtet
überhaupt nicht auf das, was Augustinus wirklich sagt: Indem der große
Autor sein Bekenntnis artikuliert, bildet er Sätze, die einen eindeutig in-
dikativischen – und das heißt dann: theoretischen – Status haben: »Ich wäre
nicht seiend, wenn Du nicht in mir seiend wärest [non essem nisi esses in me].«
Man kann sagen, dass er dadurch – im Rahmen seines Bekenntnisses – über
sein Verhältnis zum Schöpfer reflektiert und dabei die ontologischen Voraus-
setzungen seines Bekenntnisses artikuliert. Als grundlegend stellt sich für ihn
der folgende Sachverhalt heraus: Sein »eigenes Sein« wäre nicht ohne »Gott
als Sein«: sein eigenes-im-Sein-Sein ist ein solches nur als im-Gott-als-Sein-
Sein. Das ist der grundsätzliche Sinn von Schöpfung. Um zu wiederholen:
der grundsätzliche Sinn ist eben das: grundsätzlich, was bedeutet, dass er
noch nicht der volle Sinn ist. Von hier aus lässt sich sagen, dass Marions Pro-
bleme mit Sein und Gott grundsätzlich daher rühren, dass er »Sein« als etwas

94  »Et ego, quid peto, ut venias in me, qui non essem, nisi esses in me? […] non ergo

essem, nisi esses in me, an potius non essem, nisi essem in te, ›ex quo omnia, per quem
omnia, in quo omnia‹ (Rom 11:36).« (Confessiones I, 2,2,13,276; zit. in LS 326).
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 421

Fixes, ein für allemal Fixiertes, Fertiges missversteht. Wie aber in diesem
Buch gezeigt wurde, ist »Sein« zunächst ein Wort, das ein Expressum als ein
Explicandum hat: »Gott« »erscheint« dann nicht als etwas Anderes als Sein,
als etwas jenseits von Sein oder ähnlich, sondern als das vollexplizierte Sein,
das esse plenum.
Es ist höchst bezeichnend, dass Marion auf die (von ihm selbst zitierten)
Aussagen des Augustinus über »essem – esses« überhaupt nicht eingeht. Inso-
fern missdeutet und entstellt er das Denken des großen Kirchenlehrers.

[6] Als sachliches Fazit der ganzen Analyse von einschlägigen Texten aus
seinem Augustinus-Buch und allgemein der ganzen Konzeption Marions
über die Schöpfung kommt man als Philosoph nicht umhin zu sagen: Marions
Position ist sowohl Ausdruck als auch Resultat einer kompromisslosen Denk-
verweigerung. Anders als Augustinus weigert sich Marion, die eigentlichen
Voraussetzungen des (durch Lobpreisen und Bekennen) anerkannten und in
einen existenziellen Lebensvollzug umgesetzten Schöpfungsgedankens zu
explizieren. Damit entzieht er diesem großen Gedanken seine grundsätzliche
Basis (seinen grundsätzlichen Sinn), mit dem Ergebnis, dass er dann nur ein
Luftschloss baut. Allgemeiner formuliert: Marions unaufhörliches Bestreben,
»das metaphysische Lexikon (lexique de la métaphysique)« (LS, Avertisse-
ment, 11), »das Lexikon des Seienden, […] des Seins (le lexique de l’étant,
[…] de l’être)« um absolut jeden Preis zu meiden, führt zu Ergebnissen, die
nicht nur nicht akzeptabel, sondern auch für die Sache, für die er eintreten
will, destruktiv sind.
Das sei zusammenfassend gezeigt. Es stellt sich heraus, dass Marion sich
durch seine Weigerung, die Dimension des Seins zu thematisieren, der Möglich-
keit begibt, den wirklich göttlichen Gott – in welcher Weise auch immer – zu
»erreichen« oder auch nur »anzuvisieren«. Wenn er sich nämlich weigert, den
oben herausgearbeiteten grundsätzlichen Sinn von Schöpfung anzuerkennen
und stattdessen den Schöpfungsgedanken auf Gabe, Lobpreis und Bekennt-
nis reduziert, so ergibt sich folgendes: Die geschaffenen Dinge werden damit
grundsätzlich nur als »Adressaten« Gottes angesehen, so dass Gott sich als die
schenkende Liebe erweist und die Geschöpfe mit Lobpreis und Bekenntnis
»antworten«. Damit aber bleiben die »geschaffenen Dinge« immer noch ein
»Außen« in Bezug auf Gott: Gott bleibt das ferne, völlig andere, unzugäng-
liche, absolut unerkennbare große X, ausgestattet nur mit »Namen« wie: »das/
der Unmögliche«, »die Liebe /Caritas, das / der Schenkende« u. ä. – und die
geschaffenen »Dinge« bleiben ihm gegenüber etwas Anderes, etwas, das durch
Gott nicht wirklich umfasst oder umgriffen ist. Alles, was Marion in schönen,
literarisch brillanten und sogar frommen Formulierungen über die Schöpfung
sagt, schließt in keiner Weise diese radikale allerletzte Andersheit und Ge-
trenntheit zwischen Gott und den »geschaffenen Dingen« aus.
422 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Ist dem aber so, dann wird Gott radikal relativiert: Er ist dann nicht mehr
wahrhaft unendlich, weil er »neben sich« noch etwas hat. Ein solcher Gott
ist letztlich ein Phantom und damit das Gegenteil dessen, was Marion – im
absoluten Gegensatz zur ganzen großen Tradition der christlichen Meta-
physik – zu »erreichen« oder »anzuvisieren« beansprucht, nämlich den echt
göttlichen Gott. Marions »Gott« ist gerade nicht der wahrhaft göttliche Gott.
Das bestätigt von einer anderen Seite her das Ergebnis, zu welchem die obigen
(in Abschnitt 4.2.3.3) durchgeführten Analysen seines Versuches, die Sub-
jekt-Objekt-Beziehung einer radikalen Umkehrung zu unterziehen, geführt
haben: Gott wird danach nur noch als eine Funktion der (umgekehrten) Sub-
jektivität gedacht. Ein solcher »Gott« ist nicht der wahrhaft göttliche Gott.
Dieser radikale Widerspruch ist nur überwindbar, wenn der absolute Sach-
verhalt, dass die »Dinge« durch Gott total umfasst sind, wahrhaft und radikal
durchdacht wird. Dies bedeutet aber, dass man dann »die Dinge« nicht in
unbestimmter Weise einfach als »Gaben« bei gleichzeitiger Negation, dass
sie »Seiende« sind, auffasst, sondern dass man die »ganze Realität« – und das
heißt das ganze Seiend-Sein – der »Dinge« thematisiert. Dann wäre zu sagen:
die geschaffenen Dinge sind Seiende, die, voll expliziert, sich als Seiende-als-
Gaben erweisen. Die grundsätzliche Gabe des schaffenden Gottes besteht
gerade darin, dass er kontingente Seiende allererst ins-Sein-(ge)setzt (hat).
Dies setzt aber voraus, dass man eine Konzeption des Seins entwickeln muss,
um den großen Schöpfungsgedanken zur Geltung zu bringen.
Eine weitere Konsequenz sei nur in aller Kürze erwähnt: Marions radikales
Bestreben, sogar »das Lexikon des Seienden, […] des Seins« abzulehnen, und
die darauf basierende Denkverweigerung hindern ihn daran, gerade die in
diesem Buch herausgestellten Schwächen und »Unzuträglichkeiten« (Heideg-
ger) aller Gestalten der metaphysischen Tradition (einschließlich der Thoma-
sischen) in überlegener, positiver und kreativer Weise zu überwinden.

[7] Abschließend sei der in bestimmter Hinsicht gewagte Versuch gemacht,


in aller Kürze einen Hinweis auf zumindest einen – möglicherweise den ent-
scheidenden – Grund zu geben, von welchem her man eine Erklärung dafür
gewinnen könnte, warum und wie Marion zu seiner zweifellos als seltsam
zu bezeichnenden Gesamtkonzeption gelangt ist. Die Artikulation dieses
Grundes findet man im Avertissement am Anfang seines neuesten Buches Au
lieu de soi. Die einschlägige Stelle lautet:
»[Im Zuge seiner philosophischen Entwicklung wurde Marion dazu geführt,] sich die
Frage über die Grenzen der Metaphysik zu stellen und die Möglichkeit ihrer Über-
windung (transgression) ins Auge zu fassen. Nun stellt sich diese Frage mit größerer
Klarheit im Rahmen der Phänomenologie als im Rahmen der Philosophiegeschichte:
Will man über Generalitäten, d. h. reine Approximationen und sogar ideologische
Abirrungen (dérives idéologiques) hinausgehen, so muss man Phänomene entdecken,
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 423

sie beschreiben und diejenigen identifizieren und aussondern, die sich – teilweise oder
radikal – der von der Metaphysik gesuchten (praktizierten) Objektivität und Seiendheit
(étantité) entziehen.« (LS 9)

Die – äußerst generelle und undifferenzierte – Kritik an »der Metaphysik«


könnte an einer solchen Stelle bei Marion nicht fehlen. Doch dazu wurde
in diesem Buch ausführlich Stellung genommen. Der entscheidende Punkt
in diesem Zitat ist der Hinweis auf die Phänomenologie mit der sich daraus
ergebenden Aufgabe: Phänomene zu entdecken, Phänomene zu beschreiben
und die durch Metaphysik nicht »infizierten« Phänomene zu identifizieren.
Das dürfte eine treffende Charakterisierung des »Status« der Marionschen
Denkweise sein. Die sich hier aufdrängende Frage lautet: Ist der Begriff
des Phänomens ein klarer und tragender Begriff? Ist die Entdeckung, Be-
schreibung und Identifizierung von Phänomenen schon das Verstehen oder
Begreifen von Phänomenen? Ist dadurch die Intelligibilität der »Sachen«
(wie immer man sie bezeichnen mag) erreicht? Die Antwort, die dieses
Buch auf diese Fragen gibt, ist eine rundweg negative. Das erklärt letztlich
den fundamentalen Streitpunkt bei der kritischen Analyse der Marionschen
Konzeption.

4.2.5 Schlusswort: »Die Hauptidolatrie: die Idolatrie des Seins selbst«?


Als Schlusswort zur langen Behandlung der philosophisch-theologischen
Konzeption von J.-L. Marion soll eine Passage aus seinem wichtigen Aufsatz
L’impossible pour l’homme – Dieu kurz kritisch kommentiert werden. Diese
Passage enthält einige der erstaunlichsten und arbiträrsten Behauptungen,
denen man in der ganzen philosophischen (und theologischen) Literatur
begegnen kann. Marion spricht über Theismus und Atheismus, um dann die
schärfste dieser Behauptungen aufzustellen, die in ihrer Kurzform im Titel
dieses Schlusswortes erscheint. Die Passage sei ausführlich zitiert.
»[W]enn er [der Theismus] den Anspruch erhebt, konzeptuelle Formulierungen mit
definitivem und dogmatischem Charakter zu erreichen, verurteilt er sich selbst zur
Idolatrie nicht weniger als der Atheismus: Zwischen beiden gibt es keinen anderen
Unterschied als den zwischen positiver und negativer Idolatrie. Dass man in Bezug
auf ›Gott‹ zur Konklusion gelangt, dass er existiert oder nicht existiert, das macht
anscheinend eine Differenz aus; aber diese Differenz erweist sich in Wirklichkeit als
indifferent, sobald man bemerkt, zunächst, dass man in beiden Fällen nicht anders zu
einer Konklusion gelangt, als indem man jedesmal eine Definition und einen Begriff
des Wesens ›Gottes‹ voraussetzt, derart, dass beide Konklusionen dieselbe dogmatische
Idolatrie bejahen; sodann dass man, in dem einen sowie in dem anderen Fall, voraus-
setzt, dass ›Sein‹ oder ›Existieren‹ etwas durch uns selbst noch Erkennbares bedeuten,
wenn wir es auf Gott anwenden – was alles andere als selbstverständlich ist und eine
zweite Idolatrie verrät: die Hauptidolatrie, die Idolatrie des Seins selbst (une deuxième
idolâtrie: la principale, l’idolâtrie de l’être même).« (IH-D 338–9)
424 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

Dazu seien zwei Bemerkungen gemacht. Die erste betrifft Marions Aus-
sagen über Theismus und Atheismus. Er begeht dabei einen elementaren
und schwerwiegenden Interpretationsfehler. Wie in Kapitel 1 über die tra-
ditionellen oder klassischen sogenannten Gottesbeweise, in Kapitel 3 (3.2.2a
Exkurs 2) über den nicht konklusiven »ontologischen Gottesbeweis« und
seine unexplizierten Voraussetzungen sowie in diesem Kapitel (4.2.4.3 [6])
über Marions versuchte Reinterpretation desselben Beweises gezeigt wurde,
begeht Marion genau jene Konfusion, die auch Thomas von Aquin und andere
Autoren begangen haben, als sie die Konklusion eines sog. Gottesbeweises
einfach mit »Gott« identifizierten. Marion entstellt den Theismus und ver-
fehlt damit die berechtigte und richtige Kritik, die daran zu üben ist. Keiner
der bekannten »klassischen« Gottesbeweise setzt einen Begriff und schon gar
nicht eine Definition des »Wesens Gottes« voraus. Strenggenommen setzen
diese »Beweise« nicht einmal einen bestimmten Begriff oder eine Definition
Gottes voraus; es ist vielmehr so, dass sie von bestimmten Prinzipien und
Phänomenen ausgehen und auf dieser Basis ein Argument entwickeln, um
die Existenz eines X zu beweisen, in der Annahme, diese Konklusion ergebe
sich aus den angenommenen Prinzipien in Verbindung mit einem bestimmten
Phänomen. Dieses X ist etwa bei den »fünf Wegen« des Thomas von Aquin
der Erste Beweger, die Erste Ursache, das Notwendige Sein usw. Im Anschluss
daran wird das Wort ›Gott‹ sofort eingeführt, und zwar mit einer Bedeutung,
die sich nicht aus dem Argument ergibt, sondern von anderswoher stammt.
So ist bei Thomas von Aquin mit ›Gott‹ der christliche Gott gemeint. Auf
der Basis dieser sozusagen »von außen« stammenden Bedeutung des Wortes
›Gott‹ wird dann eine Identifizierung der Konklusion des Arguments mit dem
so verstandenen »Gott« vorgenommen. In diesem Buch wurde dieser nicht
mehr zum Argument gehörender Schritt ein methodologischer Fehler genannt.
Es ist nun eigenartig, dass Marion nicht bemerkt, dass er ein ganz analoges
Verfahren anwendet, das allerdings mit einem weiteren Fehler behaftet ist.
Wenn er wirklich philosophisch verfährt, wie – zumindest grundsätzlich – im
ausführlich kommentierten Aufsatz L’impossible pour l’homme – Dieu (mit
Ausnahme der Schlussteils), so »argumentiert« er (auf seine Weise) so, dass
er schließlich zu einer oder zu der Dimension des Unmöglichen gelangt.
Dann aber, wie oben dargestellt, identifiziert er einfach »das Unmögliche«
mit »Gott«: »Der / Das Unmögliche, als der Begriff über allen Begriffen, be-
zeichnet das, was wir nur beim Namen kennen: Gott« (IM-D 346) (vgl. oben
4.2.4.3 [2]–[4]). Das ist ein analoger Fehler wie bei Thomas von Aquin (und
anderen Metaphysikern), aber diesmal im Sinne eines gravierenden Irrtums.
Es gibt nämlich einen bedeutenden Unterschied zwischen dem methodo-
logischen Fehler bei Thomas und dem methodologischen Fehler bei Marion.
Situiert man die diesbezüglichen Aussagen des Thomas im Kontext seines
ganzen Denkens, so erscheint der Fehler als nicht sehr gravierend; er stellt
4.2 J.-L. Marions verfehlte Konzeption 425

vielmehr eine Ungenauigkeit dar. Genau betrachtet, erscheint die genannte


Identifizierung bei Thomas konkret als ein Explikationsprozess. In der Tat,
er entwickelt seine Konzeption in der Weise weiter, dass er die Konklusionen
der »fünf Wege« immer weiter bestimmt, so dass am philosophischen Ende
dieses »Bestimmungs«prozesses die große Bestimmung und damit der große
Begriff des Schöpfers erscheint. Anschließend erfolgt ein großer methodolo-
gischer Einschnitt, die Annahme der geoffenbarten Wahrheiten, wodurch der
Übergang zur Theologie und damit zu noch weiteren Bestimmungen dessen
erfolgt, was jetzt auch mit vollem terminologischem Recht »Gott« genannt
wird.
Diese kurze Charakterisierung der Position des Thomas macht deutlich,
dass es einfach gegenstandslos, ja schlechterdings sinnlos ist zu sagen, wie
Marion es tut, dass »eine Definition und ein Begriff des Wesens ›Gottes‹
vorausgesetzt wird«, wie es im obigen Zitat heißt. Eine Definition oder ein
Begriff des Wesens Gottes setzt Thomas von Aquin absolut nicht voraus; wie
ausgeführt, gelangt er allererst durch viele Schritte zur Artikulation dessen,
was man (nach sorgfältiger Analyse des Begriffs) »das Wesen Gottes« nennen
könnte.
Bei Marion erfolgt die Identifizierung im Zuge zweier punktueller und in
jeder Hinsicht völlig unvermittelter »Sprünge«: von »dem Unmöglichen« zu
»Gott«, der wieder sofort mit »Gott-als-Caritas/ Liebe« identifiziert wird.
Es bleibt völlig unklar, wie diese Sprünge erfolgen: Ist es (noch) Philosophie,
ist es (schon) Theologie? Die Frage der theoretischen Rechtfertigung oder
zumindest der theoretischen Erklärung dessen, was hier passiert, stellt sich
unvermeidlich – und wird von Marion nicht beantwortet.
Es gibt noch ein weiteres, gravierendes Problem, das durch die in der
zitierten Passage zu findenden Behauptungen über Atheismus/Theismus und
Begriffe in Bezug auf Gott aufgeworfen wird. Es handelt sich um Marions
wiederholt behauptete These, dass Gott über allen Begriffen sei. Es genüge
hier darauf hinzuweisen, dass oben (vgl. besonders Abschnitt 4.2.4.3) die
Unklarheiten, Ambiguitäten und Inkohärenzen in Bezug auf Begriffe und
Definitionen, ganz besonders im Falle der von Marion behaupteten »einzigen
Definition Gottes«, ausführlich dokumentiert und kritisiert wurden.
Die zweite Bemerkung betrifft Marions stärkste Behauptung bzw. seinen
Vorwurf: »Die Hauptidolatrie ist die Idolatrie des Seins selbst.« In der Be-
handlung der Position Marions wurde in beträchtlicher Länge der komplett
unfundierte und sinnlose Charakter einer solchen Behauptung bzw. eines sol-
chen Vorwurfs aufgezeigt. Das Hauptergebnis der angestellten Überlegungen
hat eine positive und eine negative Seite. In positiver Hinsicht wurde gezeigt,
dass die universale Dimension des Seins den einzigen uneingeschränkt offenen
»Raum« darstellt, in welchem »Gott« sinnvollerweise und adäquaterweise im
Verlauf der philosophischen Theoriebildung »erscheinen« kann, und zwar
426 Kapitel 4: Kritische Betrachtung zweier radikaler Gegenpositionen

in dem Sinne, dass und aus dem Grund, weil Er selbst das volle Explicatum/
Explicans des Seins, des Seins-in-seiner-ganzen-Fülle ist. Die wichtigste ne-
gative Konklusion besteht darin, dass Marions Konzeption von Gott darauf
hinausläuft, Gott auf eine Funktion jenes »Rahmens« zu reduzieren, den er
den phänomenologischen Ansatz nennt und auf seine Weise uminterpretiert
bzw. weiterführt. Dieser Gott, ungeachtet seiner Charakterisierung als der
absolut Ferne, absolut Andere, absolut Unmögliche u. dgl., ist ein X, dessen
Bestimmung grundsätzlich durch den von der »umgekehrten Subjektivität«
gesetzten Maßstab festgelegt oder gesetzt wird. Marion gelangt theoretisch
nicht zu einem Gott, der wirklich alle Seienden der Welt, des Universums,
einschließlich aller Subjekte, auch der umgekehrten Subjekte, umfasst. Sein
Gott ist immer Der Andere der umgekehrten Subjektivität, ungeachtet der
Tatsache, dass Marion ihm plötzlich den wunderbaren Namen »Caritas /
Liebe« gibt. Der fundamentalste Grund, der dieses Scheitern erklärt, liegt in
Marions erstaunlichem Un‑ und Missverständnis und kompromissloser und
radikaler Verwerfung der umfassenden Dimension des Seins.
Angesichts dieser Sachlage ist Marions extrem starke Behauptung bzw.
ungeheurer Vorwurf, dass die Hauptidolatrie das Sein selbst ist, einfach eine
unbegründete, inkohärente und sinnlose Behauptung, kurz: sie stellt eine
philosophisch nicht mehr nachvollziehbare, auch nicht mehr diskutierbare
Behauptung dar. Historisch erwächst sie aus einer heute kaum noch für
möglich zu haltenden Unkenntnis und Entstellung der großen Tradition der
christlich orientierten Metaphysik und sachlich stößt sie auf unüberwindliche
Probleme, die nicht durch stereotypisch wiederholte Schlagworte und einen
rhetorisch-polemischen Stil rational beseitigt werden können.
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Namenverzeichnis

Achinstein, P.  213 Dodd, J.  182


Aertsen, J. A.  217 Duden  186 ff.
Anaximander  142 Dummett, M.  165
Anselm von Canterbury  56, 206–210,
396 f. Fabro, C.  40, 43
Aristoteles  17, 72, 190, 222, 250, 267, 318 Feynman, R.  258
Augustinus, A.  218, 328 f., 375, 408, 416 f., Forrest, P.  241
420 f. Fößel, Th.  276
Austin, J. L.  200 Frege, G.  165, 175 f., 180, 391
Avicenna  191, 218
Geiger, L.-B.  40
Barth, K.  14, 266 f. Gettier, E.  157
Bärthlein, K.  217 Gilson, É.  40
Baudoux, B.  283 Grim, P.  204
Baumgarten, A.  32, 45 Grondin, J.  328
Belnap, N. D.  182 Grover, D. L.  182
Bigelow, J.  240 Grünbaum, A.  256
Brandom, R. B.  173, 182 f. Gschwandtner, Chr.  329 f.
Brugger, W.  262
Bultmann, R.  119 f. Hartle, J.  258
Hawking, St.  255–259
Caimi, M.  391 Hegel, G. W. F.  5, 46, 75 ff., 180, 221, 391
Calvin  19, 22 f., 26 f. Heidegger, M.  2, 5 ff., 32, 39, 41 ff., 46 f.,
Camp, J. L., Jr., 182 67–143, 145, 148, 191, 193, 196 ff., 205,
Candlish, S.  180 218 f., 221, 224 ff., 231, 243, 246–249,
Cantor, G.  203 261, 267 ff., 276, 282–290, 293, 302, 305,
Capelle, Ph.  48, 112, 280, 289 314–319, 321, 325, 329, 331, 337, 345,
Caputo, J. D.  338, 392 348 f., 351–354, 373, 376 f., 383, 409 ff.,
Carnap, R.  147, 377 417, 422
Carson, Cl.  267 Hilarius von Poitiers  218
Cartwright, R.  202 Holloran, P.  267
Cassidy, E.  315 Horwich, P.  169
Chalmers, D. J.  31, 200 Husserl, E.  5, 81 f., 196, 302, 314, 324 f.,
Coreth, E.  46 341, 344–357, 362 ff., 373, 376, 391
Cupitt, D.  56 Hyman, J.  53 ff.
Cusanus  215
Isaak ben Salomon Israeli  218
Davidson, D.  165
de Lacoste Lareymondie, G.  375 Kant, I.  4, 14, 32 f., 45 f., 71, 73, 103 f.,
de Lubac, H.  276 110 f., 145, 216, 219, 229 f., 237, 246,
de Raeymaeker, L.  40 264, 295, 335, 358, 360, 362, 373, 390 f.,
Descartes, R.  301 f., 309, 334, 396 394, 405, 409
Diels, H.  142 Keller, A.  197
436 Namenverzeichnis

King, M. L.  266 f. Renard, J.  323, 384, 389


Klibansky, R.  215 Romanos, G. D.  165
Krause, K. Ch. F.  271 Runzo, J.  56
Kreiner, A.  4 Russell, B.  180
Küng, H.  13 ff. Russell, P. A.  267

Lacoste, J.-Y.  377 Sartre, J.-P.  333


Leask, I.  315 Schelling, F. W.  334 ff.
Leibniz, G. W.  79, 83, 286 Schrijvers, J.  377–380
Lévinas, É.  5 f., 31, 246, 249, 261, 263, Sellars, W.  148
293–313, 377, 380 Sheehan, Th.  89
Lewis, D.  227 Skotus, Duns  45, 317
Lonergan, B.  46 Smith, Q.  256
Lowe, E. J.  199, 201 Sneed, J. D.  158
Luker, R.  267 Spaemann, R.  48 f.
Spencer, H.  267
Mackie, J. L.  57 f. Spinoza, B.  75
Manley, D.  31, 200 Stegmüller, W.  158
Maréchal, J.  46 Ströker, E.  350
Marion, J.-L.  5 f., 31, 44, 48, 71, 226, 246, Suarez, Fr.  45, 317
249, 261, 263, 279, 293 f., 313–345, Swinburne, R.  48, 50 f.
348–352, 354–378, 380–387, 389–403,
405–426 Taliaferro, Ch.  53
Metz, J. B.  46 f. Tarski, A.  165, 168, 171, 174, 178, 179
Mojsisch, B.  208 Thierry von Chartres  215
Mondin, B.  40 Thomas von Aquin  7, 11, 17, 19 f., 30, 32,
Montagnes, B.  43 34–47, 59, 68, 70–74, 79 f., 82, 93, 95,
97 f., 118, 124 f., 137 f., 191, 197, 207,
Nagel, Th.  58–62, 64 f., 78, 380 217 f., 232 ff., 237, 244, 246 f., 251 f., 258,
Nietzsche, Fr.  5, 378 263–268, 276, 283, 289, 293, 297, 314 f.,
317–322, 325 f., 380 f., 383, 386, 392 f.,
Pannenberg, W.  38 397, 403, 409, 412, 422, 424 f.
Parmenides  221
Pascal, B.  12 f., 38 f., 191 f., 316, 338 f., 380 Uzquiano,G.  201
Penrose, R.  255 f.
Petrus Damiani  283 Vallicella, W. F.  182
Phillips, D. Z.  56 ff. van Inwagen, P.  199 ff.
Pickavé, M.  217 von Balthasar, H. U.  47 f., 328 f., 341
Plantinga, A.  16–28
Plato  192 Wasserman, R.  31, 200
Protagoras  192, 390 Welte, B.  40
Puntel, L. B.  40, 75, 103, 179 f., 182, 244 Williamson, T.  228, 298
Wisser, R.  128
Quine, W. V.  165 f., 169, 177 f., 199 ff. Wittgenstein, L.  31, 53–56, 88, 140, 155,
Quinn, Ph. L.  53 162, 182, 342
Wolff, Chr  31 f., 45, 145
Rahner, K.  46 ff., 276 f.
Rayo, A.  201 Zerbe, A. S.  267
Sachverzeichnis

Abgrund  123, 128–131, 133 ff. Attribut  124, 164, 204, 207, 262, 267, 302,
absolut universale Dimension  189, 193, 308 f., 397
198, 232, 238, 408 Ausdrückbarkeit  189, 222, 242
Absolute, das  234–237, 244, 305, 355 Ausschaltung der Existenz, des Seins  346
absolute Freiheit  250, 273, 331, 333 ff. Austrag  81, 129
absoluter Idealismus  33, 103, 349, 354 Autoimmanenz  269 f.
absolutes Nichts  232, 235 f., 244
Absolutheit  133, 257, 367, 407 Bayessches Theorem  51
des Phänomens  381 Bedingung  2, 55, 64, 96, 157 f., 269, 297,
absolutnotwendige Seinsdimension ​ 330 ff., 361, 381–385, 389, 401, 417
239–244, 250, 260, 269, 272, 278 Begründung  15 ff., 24, 26, 28, 36, 62, 65,
absolutnotwendiges Sein  2, 97, 146, 237, 70, 92 f., 103, 147, 152, 156, 163, 170,
250, 260 188, 203, 208, 241 f., 318, 390
actus essendi  41 f., 266, 321 Bewusstsein  20, 49 f., 314, 346–351,
Affirmation  264, 266, 403 354 f.
allkontingentische These  232, 234 f. Bibel-Gläubige, der  411 f.
Analogie  33, 40, 47, 83, 183, 238, 263 ff.,
309, 321, 359, 367, 392, 403 f. Caritas/ Liebe  314, 323, 326, 329, 333,
Analogielehre  249, 263, 266, 309 355 f., 374, 393, 400, 421, 425 f.
Andere, der / das  305–309 causa efficiens  407
Andersheit  295, 298 f., 301, 307, 392, 421 causa sui  68, 79 f., 92 f., 318, 378, 380
Anfang  2, 15, 31, 75, 83 f., 105, 126 f., 148, complicatio/explicatio  215
156, 189, 207, 234 f., 237, 245, 255–259,
296, 299, 330, 342, 346, 397, 408, 416 f., Dasein (Da-sein)  12, 47, 68, 83, 97, 113 ff.,
419, 422 118, 126, 193, 276, 325, 345, 349, 360
anima quodammodo omnia  190 de dicto/ de re  228
Ansätze in der Gottesfrage  7 Definition  50 f., 85, 148 f., 156–159, 176,
–, antimetaphysische  226, 314 f., 379, 180, 203, 216, 218 f., 250 ff., 297 f., 395 f.,
408 406, 423 ff.
–, antisystematische  10, 52 Definition Gottes  395, 424 f.
–, antitheoretische  52 Denken  4, 6 f., 11, 24, 32 ff., 38, 40 ff.,
–, direkte  7, 9, 12–29, 50, 52, 79 f. 46, 57 f., 64, 67, 70, 74–81, 83 f., 86 f.,
–, halbsystematische  7, 10 f., 29, 34, 49 f. 89–94, 97–107, 110 ff., 115 ff., 120–133,
–, inadäquate  9–65 135–142, 145, 153, 163, 172, 180 f.,
–, indirekte  7, 10 f., 27, 29, 34, 48 ff. 198, 210–213, 219 ff., 224 f., 229, 230,
–, rein systematische  11 232, 234 f., 249 f., 258, 261, 263 f., 275,
–, unsystematische  12–29 282–285, 287, 289 f., 304, 312, 314–317,
Anschauung  203, 346, 348, 352 f., 357, 322, 324 f., 330, 335 f., 338, 340, 349,
359–364, 366, 368, 391 f. 351, 353, 355, 367, 377 f., 380, 382, 385,
– und Begriff  353, 360, 391 388, 397, 407, 410, 421
Antirealismus  151 Denkverweigerung  421 f.
Ästhetizität  363 design argument  37
Atheismus  14, 58, 127, 308, 327, 423 ff. de-facto-Frage(n)  18, 25, 28
438 Sachverzeichnis

de-jure-Frage(n)  18, 25, 28 233, 244, 249, 251 f., 266 ff., 301, 314,
Differenz  80 f., 91–97, 105 f., 115 f., 118, 317–323, 326, 329, 383, 393 f., 403, 409,
129 ff., 137, 179, 183, 187, 196, 224, 228, 412, 420 f.
233, 329, 388, 393 f., 397, 399, 423 esse ipsum  41, 68, 93, 95, 268
Differenz zwischen Sein und Seien- Ethik  53, 295 f., 299 ff., 303, 307 f., 312
dem  105 Ethische, das  300 f., 312
Dimension der kontingenten Seien- excessus  47, 320
den  146 Existenz  199 ff.
dogma postmodernisticum antimetaphy- – Gottes  2, 11, 14 f., 21, 50 f., 57, 61,
sicum  6 83, 111, 114, 118, 146 f., 159, 193, 197,
donation  339, 341, 345, 351, 361, 364, 369 199 ff., 206 f., 212–217, 220 ff., 224 f.,
drei Ebenen der Sprachdetermina- 231 f., 237 ff., 243 f., 250, 255 f., 260,
tion  171, 176 262, 269, 273, 278, 302 ff., 311, 325,
drei fundamentale Arten von Struktu- 327, 334 f., 344, 346 f., 360, 362 f., 379,
ren  150 381–385, 393, 396 ff., 401, 404, 408, 424
dritte phänomenologische Reduktion  345 – und Sein  197, 200, 303 f., 382
Existenzial  118, 276, 277
Eigenschaft(en)  20, 55, 103, 157, 164, 166, –, übernatürliches  118, 276 f.
181 f., 188, 204, 219, 228 f., 332 Existenzquantor  199, 201
eine einzige universale Wissenschaft  279 Existenz-, Seinseinklammerung  346
einheitliche universale Wissenschaft  280 f. Explicandum  20, 269, 327, 331, 363, 421
Einklammerung der Existenz, des Explicans  205, 215, 269, 331, 340, 342,
Seins  346 363, 426
Endlichkeit  72, 98, 106 f., 110 f., 215, 311, Explicatum  269, 327, 331, 340, 342, 363,
378 f., 396, 406 388, 426
– des Denkens  98, 106 f., 110 f. Explikation  11, 14, 61, 83, 118, 146 f., 159,
– des Seins  110 f. 199, 201, 206, 212–217, 220 ff., 224 f.,
ens  35, 41 f., 44 f., 68, 70 f., 92 f., 97 f., 191, 237 f., 243 f., 250, 255, 260, 262, 269,
212, 218 f., 221, 223, 233, 267, 301, 314, 273, 278, 325, 346, 363, 393, 404
317, 319, 389 Extension  171, 204
ens primum  44, 68, 314
ens supremum  44, 212 fides quaerens intellectum  285
Entzug  86, 102 f., 106 formale Logik  5, 161
epistemische Dimension  156 Freiheit  93, 97, 123, 128, 133 ff., 239, 250,
Ereignen  86, 89, 95 f., 105, 248 f., 306, 319 262, 270, 273 f., 296, 311, 331–335, 383 f.
Ereignete(s)  91, 94 Fundamentalismus  21, 25
Ereignis (Er-eignis)  47, 84–92, 94–98, Fundamentalität der semantischen
101–110, 112 f., 115, 121 f., 126 f., 138 f., Dimension  174
152, 248 f., 289 f., 303, 315, 319 f., 325, Fundierung  17 f., 21–26, 28 f., 153, 241,
359, 361, 377 378
Erkenntnis  16 f., 19 ff., 23, 47, 72, 156 ff., fünf Wege  20, 34, 37–40, 80, 392 f., 424 f.
205, 215 f., 228, 264, 283, 289 f.,
295–301, 303, 305 f., 328, 346, 350, 352, Gabe  23, 69, 87, 279, 328, 341 f., 355 f.,
360, 391 369, 413 f., 418, 421 f.
–, Definition von  157 f. Gedanke  20, 46, 53, 56, 61, 64, 75, 82, 103,
Erscheinung  103, 260, 274, 347, 349 ff., 119, 150, 159 f., 190, 206, 209–212, 215,
364, 370, 372, 384, 389 219, 223, 225, 232 ff., 236, 245, 247, 250,
Erste Philosophie  73 Siehe prima 253, 258, 267 f., 270, 277, 290, 294, 300,
­philosophia 305, 307, 311, 314, 328, 360, 378, 391,
Es verhält sich so dass  117, 120, 140, 155, 404 f., 409, 421
158, 185–188, 231, 298, 349, 375, 388 Gegebenheit  57, 339, 341 f., 345, 357 f.,
esse  19, 34 f., 40–47, 68, 70 f., 74, 79, 93, 361, 364, 369
95–98, 124 f., 138, 191, 208, 210, 218, Gegebenheit / Schenkung  339, 357 f., 361
Sachverzeichnis 439

Gegeben-sein  339, 341 f. Heilsgeschichte  116, 275


Gegenstand  2, 25, 58, 72, 170, 182, 239, Herstellen  246 f., 249, 409
275, 286, 303, 308, 353, 365 Horizont  3, 110, 246, 269, 319, 321, 325,
Generalthesis  346 330 f., 345, 359, 360, 367, 370, 372,
Geviert  94 f., 248 380–384, 389, 394, 409
Glaube  17–29, 52, 54 f., 57, 73, 113 f., 118, hysteron-proteron-Fehlschluss  344, 384
121, 124, 157 f., 279 f., 285–291, 316 f.,
410 f. Idealismus  33, 103, 151, 347, 349, 354
Glaubensgemeinschaft der Kirche  281 Identitätstheorie der Wahrheit  180 f.
Gläubige, der  114 ff., 290 Identitätsthese  179 ff., 184
Gott  1–6, 9–15, 19–22, 26, 28–30, 34, Idolatrie des Seins  419, 423, 425 f.
37–40, 42 ff., 46–53, 56–60, 64, 67 f., immanente Merkmale des Seins als
71 ff., 79 f., 88, 112 f., 116, 118, 121–127, solchen  217
129–135, 137 f., 145 f., 197, 207 f., 212, Individuen  195
215 f., 231–234, 237 f., 244, 247, 249, Inkohärenz(en)  34, 87, 123, 128, 229, 231,
252, 254, 260–272, 274–278, 286 f., 289, 247, 260, 264, 272, 295, 300, 312 ff.,
293 f., 299, 304 f., 307–314, 317–344, 326, 337, 339 f., 344, 378, 389, 396, 407,
348, 355 f., 361 f., 370–386, 388–409, 412 ff., 425
413–426 Intelligibilität  12 f., 52, 61, 64, 90 f., 149 f.,
– als Caritas/ Agape/ Liebe  314, 323, 220 ff., 226, 241, 283, 285 f., 294, 415,
326, 329, 333, 355 f., 374, 393, 400, 421, 423
425 f. Intelligibilitätspotentialitäten des
– als das vollexplizierte Sein, die Fülle des Menschen  56, 90 f., 229 f., 259
Seins  331, 373, 394 intentionale Koextensionalität mit dem
– als der Unmögliche (Marion)  324, Ganzem/Universum  190, 239, 284
389–394, 397 f., 400 f., 405 ff., 421, 424 f. Intuition  35, 40 f., 78, 206, 210, 212, 221,
– als Funkion der extrovertierten Sub- 276, 317, 321, 346, 352 f., 359 f., 362 ff.
jektivität (Lévinas)  313 ipsum esse  44, 70, 79, 93, 124, 244, 268,
– als Funkion der umgekehrten Sub- 403
jektivität (Marion)  375, 391, 422, 426 ipsum esse per se subsistens  44, 93, 244,
– als ipsum esse per se subsistens  44, 93, 268, 403
244, 268, 403
– als Jenseits des Seins (Lévinas)  294–313 Jenseits des Seins  294, 299, 301, 304, 375
– ohne das Sein  313 f., 318, 321, 326, 332,
334, 338, 342 Kategorie  29, 31, 48, 50, 75 ff., 160, 164,
Gottesbeweise  11, 27, 35, 48, 50, 206 f., 182, 251 f., 276, 357, 359 f.
212, 232 f., 238, 246, 265, 396, 298, 424 Kategorien der Modalität  357, 360
Gottesfrage  1–4, 7, 9 f., 13, 16 f., 28 f., 31, Kausalitätsbegriff  401, 405
34, 36 f., 43, 48, 52, 58, 60, 112, 197, Kehre  47, 83, 121, 325
237, 263, 293, 317, 335, 344, 382 f., Koextensivität mit dem Ganzen /­
Gottesfreiheit  334 Univer-sum  190, 192, 388, 404
Grund  4–7, 27 f., 32, 34, 40, 51 f., 56, 59, Kohärenz  64 f., 95, 98, 126 f., 156, 182,
61 ff., 65, 67, 74–79, 81, 93, 97 f., 100, 222, 238, 241, 249, 333, 339 f.
110 f., 124 f., 130, 133 ff., 137, 140, 151, kompositionale Semantik  163 f.
153, 158, 177, 181, 187, 198, 203, 206, Kompositionalitätsprinzip  163
211, 219, 225, 229, 231, 237, 241 f., Konfiguration  166, 186, 195
249 ff., 256 f., 280, 294, 304, 308, 317 f., Konfigurationsweisen  161
321, 339, 363, 378, 380, 387, 394, 407, Konstituierendes  82, 196, 349, 352–355,
422, 426 372
Grundvertrauen  14 f. Konstituierendes-Konstituiertes  349, 376
Konstituiertes  62, 82, 196, 345, 349,
Hauptidolatrie, die Idolatrie des Seins 352–355, 373, 376
selbst (Marion)  419, 423, 425 f. Konstituierung  350, 354 ff.
440 Sachverzeichnis

Konstitution  31, 81 f., 347 f., 350, 352 f., Möglichkeit  10, 35, 47, 52, 63, 82, 92, 98,
356, 360 178, 198, 219, 225, 232 f., 235 f., 249,
Kontextprinzip  165, 167, 391 258, 274, 281, 288, 299, 305, 308, 327,
kontingente Seinsdimension  239 f., 243 ff., 334, 352, 354, 358, 360, 370 ff., 390, 392,
249–255, 257, 269–273 396–399, 401 f., 405 ff., 410 f., 415, 417,
Kontingenz  35, 225, 234 f., 239, 257 422
Konzeption des Seins als solchen und im Möglichkeit/Unmöglichkeit  390, 396, 405
Ganzen  245, 271, 293
Korrektiv  119, 121, 124 Natur und Gnade  275, 277
Korrespondenztheorie der Wahr- natura pura  276
heit  179 ff., 218 naturale desiderium  46
Kriterium für Theoretizität  154 f. natürliche und übernatürliche Ebene  275
natürliche Vernunft  278
last point (letzter Sinn)  58 f., 62 ff. naturwissenschaftliche Kosmologie  255
Lebensform  53, 56 f. Negation  1, 10, 69, 235 f., 264, 266, 269 f.,
Liebe /Caritas  314, 333, 374, 421 297, 337, 344, 359, 378 ff., 394, 403, 422
linguistic turn  154, 216, 391 Negative Theologie  263, 266 f.
nihilum absolutum  69, 234 f.
Mathematik  160 ff. nihilum relativum  69
maxime ens  44, 68, 212
Mengenlehre  201, 203 Offenbarungsphänomen  358, 370 f.
Mengentheorie Offenbarungstheologie  358, 369 f., 382
metaphysica generalis – allgemeine Ontologie  19, 27 f., 45 f., 61 f., 108 f., 118,
Metaphysik  31, 45, 145 120, 149, 163 f., 169 f., 181 f., 198–201,
metaphysica specialis – spezielle Metaphy- 204, 217, 229 f., 242, 296, 299, 303,
sik  31, 46 312 f., 320, 412, 418
Metaphysik  3–6, 11, 18, 27, 29–34, 38, ontologische Differenz  92 f., 118
40 f., 43, 45 f., 48, 67–77, 79 ff., 84 f., 87, ontologische Wahrheit  218, 221
90–93, 96–102, 104, 111 f., 116, 120, ontologischer Gottesbeweis  206–213,
122, 127–130, 132, 136–139, 145, 190 f., 238, 396 ff.
197, 205, 218, 223 f., 237, 244, 246, 262, Ontotheologie (Onto-theo-logie)  6, 32 f.,
264, 270, 282 f., 286 f., 289 f., 299, 305, 41, 43, 48, 67 f., 74, 80, 100, 112, 136,
307 ff., 313–318, 320, 326, 328 f., 338, 305, 315, 317–321, 377–380
343, 345, 352, 372, 379–383, 389, 402 ff., Onto-Theo-logik  79
408–412, 419, 422 f., 426 ordo naturalis  275
–, christlich orientierte  11, 29, 98, 112, ordo supernaturalis  275
237, 338, 426
–, onto-theo-logische Verfassung der  67, Panentheismus  271
75, 79 f., 132 Pantheismus  270 f.
–, Überwindung der  98 f., 314 ff. Paradox der Paradoxe  325, 370 f.
–, Verwindung der  98 f., 315 Partizipation  93, 95
Metaphysikkritik  6, 91, 97, 377, 403 Partizipationslehre  267
metaphysischer Gott  380 perfectio  41 ff., 238, 265, 266
Methode  32, 75, 151–154, 156, 274 PERsentenz  183 f.
methodische Zäsur  272, 278 Phänomen(e)  9 ff., 14, 29, 35 ff., 44, 50 ff.,
modale Logik  226 f. 57, 100, 102, 132, 134, 152, 170 f., 211,
modaler Realismus  227 214, 221, 233, 238, 243, 254, 274, 286,
Modalitäten  90 f., 97, 122, 137, 139, 303 f., 322, 324, 338, 342, 345–350,
225–229, 233, 390 354–371, 381 ff., 389 f., 392, 399, 401,
–, alethische  228 407, 423 f.
–, metaphysische  227 f. phänomenalistischer Idealismus  349
Modell  19, 22–27, 171, 257, 259, 338, 382 Phänomenalität  314, 325, 342, 344 f., 349,
mögliche Welten  227 357 f., 370–373, 389
Sachverzeichnis 441

Phänomenologie  82, 113, 119, 325, 339, Rationalität  15, 22 f., 26, 28, 56, 156, 344
341, 345–351, 353 f., 357 f., 361, 363, Realismus  151, 227
370, 422 f. Rede von Gott  263, 385, 389, 403 f.
phänomenologisch-transzendental  399, Reduktion  196, 249, 296, 345–348, 361,
405 f. 369, 391
Philosophie reine Funktion der Subjektivität  391
– der Subjektivität  81, 83, 103, 104, 304, reine Gegebenheit  345
313, 325, 373, 376 reine Phänomenalität  314, 342, 344 f.,
– und christliche Theologie  278 f. 357 f.
– und Theologie  114, 116 f., 262, 276, Reinterpretation des ontologischen
279, 281 f., 327, 339 Gottesbeweises  206–213, 238, 396 ff.
–, analytische  2, 31, 109, 154, 164, 167, Relation  164, 166, 181 ff., 204, 298, 300 f.,
177, 196, 198, 201 f., 210, 227 ff. 307 ff., 354–361, 368, 376 f., 394
–, christliche  113, 280 Relativität  148, 176, 199
–, Quasi-Definition der systemati- Religion(en)  1, 12, 18, 52 ff., 56 f., 60, 191,
schen  148 f. 218, 272 ff., 279, 330
–, struktural-systematische  64, 83, 109, religiöse Aussagen  53 f.
145 ff., 150 f., 153 f., 156 ff., 160–163,
165 ff., 185 ff., 194, 204, 211 ff., 219, 222, Sachverhalt  11, 25, 60–63, 78, 87, 93, 95,
229 ff. , 237, 251, 253 f., 262, 269, 272 ff., 97, 103 f., 111, 113 f., 125, 130, 132 f.,
278, 280 ff., 325, 398 137, 140, 149, 160, 172, 181 f., 191, 193,
philosophische Theorie  146, 148, 158, 196, 204, 209 f., 225, 228, 230, 232, 234,
160 f., 272 238, 250, 257, 271, 277, 286, 288 f., 298,
philosophische Sprache  108 f., 139, 162, 302, 309, 325, 332, 356, 361, 363 f.,
166, 230, 270 367 f., 374, 380, 397, 399, 413, 415 f.,
philosophische Theologie  369 420, 422
philosophische und theologische Sach-Verhalt  88, 213
Existenzweise  115 saturierte(s) Phänomen(e)  338, 355,
Postmoderne Philosophie/Theologie  3–7, 357–368, 370, 381 f.
31, 48, 74, 226, 244, 250, 255, 269, 279, Satz vom Grund  77–79
293 ff., 313, 315, 319, 326, 337 f., 341, scholastische Metaphysik  32
378 ff., 392, 410, 412 Schönheit  36, 223
Prädikatenlogik  110, 201 f., 204 Schöpfer  50, 133, 146, 243, 246, 253, 256,
Praktizität  363 258, 268, 270, 275, 286, 311, 393, 408,
prima philosophia  299–302, 351 413–416, 418, 420, 425
primordiale Seinsdimesion  11, 146, 185, Schöpferabsolute, das  146, 243 f., 256,
188 ff., 193 f., 196 ff., 216, 219, 225, 266, 260, 262, 269, 272–275, 279
325, 387 f. Schöpfung  20, 71, 118, 244–247, 249–255,
Primproposition(en)  166 f., 188, 195, 230 f. 258 f., 262, 268, 270 f., 286, 307, 311,
Primsatz (‑sätze)  109, 166, 186–189, 195, 356, 400–421
230 f. – als ins-Sein-Setzung  249, 252, 268, 405,
Primstruktur(en)  167, 195, 230 414 f.
Primtatsache(n)  167, 193, 195, 230 Schöpfungsgedanke  245, 247, 249,
Prinzip des ontologischen Ranges (POR) 251–255, 259, 268, 401, 405, 407 ff.,
242 411 ff., 415, 419, 421 f.
prophetisch-eschatologische Sätze  140 Schritt zurück  78, 105, 107
Proposition  149, 157, 160, 162 f., 166, Seiende(s)  2, 35–37, 41, 43 f., 60, 68 ff.,
169 f., 176 f., 179 ff., 184, 227–231, 391 72 f., 75–81, 83, 91–94, 96 ff., 105, 118,
proton pseudos  344 f., 348, 357 129, 133, 138, 189 ff., 193, 202, 218,
219, 224, 232–236, 240, 242 f., 247, 251,
Qualität  323, 358 f. 253, 270, 286 f., 295, 301, 305 f., 310 f.,
Quantifikation  199, 201 f. 315, 318 f., 330 f., 333, 336, 339, 340 f.,
Quantität  219, 358 f.
442 Sachverzeichnis

345, 347, 352 ff., 356, 385, 389 f., 403, –, natürliche  106, 108 ff., 149, 157, 162,
409–411, 413–415, 417 f., 422 166, 168, 375
– und Ereignete(s)  94, 96 –, philosophische  108 f., 149, 154, 162,
Seiendheit (étantité)  319, 341, 423 231
Sein(s) sprachliches Urfaktum  170
– als (das) Ereignis  85 f., 87, 90 f., 94 f., Sprachnot  106 f., 110
97 f., 102 f., 112, 115, 121, 126 f., 138, Sprachspiel  56 f.
325 Standpunkt Gottes  314, 322, 324, 383,
– als Horizont  330 385–388, 395 f., , 401 f.
– als solches und im Ganzen  1, 5, 9, 50, Struktur(en)  4, 64, 73, 75, 78, 88, 90, 103,
232 ff. 108 ff., 117, 120, 140, 145 f., 148–153,
– und Existenz  197, 200, 303 f., 382 155, 158–163, 166 f., 174, 185, 188,
– und esse  125, 191, 314, 393 f. 195 ff., 204, 222 f., 225, 229 f., 234, 239,
– und Gott  1, 4, 48, 67, 121 f., 124–127, 241, 265, 288, 295 f., 298, 307, 309, 311,
129, 145, 237, 260 ff., 289, 314, 317, 319, 349, 351, 353, 372, 375 ff., 391 f., 394
324–328, 330 f., 339, 343, 348, 382, 420 – aller Strukturen  222
– und Grund  77 f. –, formale  161 f., 309
– und Seiende(s)  68, 81, 91, 94, 224, 302 –, semantische  161 ff., 167
–, das erfüllte  43, 329, 331, 342, 394 –, ontologische  160 f., 167, 193
–, Gott als das volle Explicans/Explica- Strukturiertheit  151, 154, 161, 193, 214,
tum des  327, 331, 340, 388, 426 222, 241, 255
Seinsdenken  6, 45, 67, 85, 91, 98, 129, 132, Subjekt(s)  16, 40 f., 43, 83, 98, 108 f., 120,
198, 261, 402 156 ff., 163–166, 169, 186 ff., 225, 230,
Seinsdimension  10, 47, 97, 125 f., 146, 244, 251, 295, 297 f., 301, 306, 314,
159, 191 ff., 196 ff., 205 f., 211 ff., 217, 335, 344 f., 348 f., 351 f., 354 ff., 360 ff.,
220–224, 229 ff., 236–244, 249–255, 257, 372–377, 391 f., 407, 422
260, 266, 269–273, 278, 352, 370, 372, –, Depotenzierung des  156
377, 398, 404 –, umgekehrtes  355 f., 372 f.,
Seinsfrage  5, 46, 68, 80, 82, 99, 145, 193, Subjektivität  32, 45, 47, 81 ff., 103 f., 156,
198, 205, 316, 411 f. 196, 219, 293, 304, 313, 324 f., 349–355,
Seinsgeschichte  87, 98, 101 f., 104 f. 358, 372–377, 390 ff., 394, 405, 422, 426
Seinsmetaphysik  29, 32, 46, 67 f., 71, –, transzendentale  81, 219, 377
93 ff., 105, 125, 138, 246, 324, 394 –, transzendental-phänomenologi-
–, christliche  94 sche  196, 345, 390
Seinsvergessenheit  41 f., 68, 70, 99–102, Subjektivitätsphilosophie  219, 293, 313,
104 f., 219, 224, 311 334, 336, 358, 361, 373, 376, 390
Seins-Zweidimensionalität  146, 230, 241 Subjekt-Objekt-Relation  354 ff., 377
(Selbst)Explikation  217, 220, 269 Subjekt-Prädikat-Struktur (von Sät-
Selbstmitteilung  47, 96, 276 ff., 330, 372 zen)  108 f., 163, 166, 188, 230, 391 f.
semantischer Wert  160, 163 ff. Substanz  70, 75 ff., 109, 164 f., 181 f., 264,
semantisch-ontologischer Wahrheits- 321
begriff  167 Substanzontologie  108, 164 f., 169, 181,
sensus divinitatis  16, 20–23 188
Seyn  81, 84, 97 f., 122 f., 126–129, Summa  19 f., 39, 42, 45, 74, 232
131–135, 334 f., 383 System  39, 153, 170 f., 176, 271, 306, 311
Sprachdetermination  171, 173, 175 f. Systematizität  222
Sprache  22, 39, 45, 53, 78, 84, 90, 94, 96 f.,
102, 106–110, 112, 116, 120, 123, 129, Tatsache(n)  21, 23, 26, 36, 38, 49, 51, 53 f.,
137, 139, 141, 147, 149, 153 f., 156 f., 71, 74, 77, 79, 87, 98, 160 f., 179–184,
159–168, 170–177, 183, 187, 216, 220 f., 199, 230, 253, 279, 285, 297, 303 f., 310,
223, 230 f., 260, 269 f., 277, 323, 329, 312, 327, 329, 332, 340, 343, 346, 348,
338, 365, 367, 375 361, 363, 369, 370, 379 f., 397, 419, 426
– des Denkens  106–109 Theismus  27, 58, 423 ff.
Sachverzeichnis 443

Theologie  3 f., 14, 18, 21 f., 35, 37 f., 45, – der Subjekt-Objekt-Beziehung  314,
47 f., 73, 112 ff., 116–121, 124, 127–130, 344, 373 f., 377
132, 233, 243, 261 ff., 266 f., 274–282, Umkehrungsprinzip  336 ff.
286, 289, 299, 305, 308, 316, 326 f., 339, Unbegreiflichkeit Gottes  398
369, 370, 382, 393, 425 Unendlichkeit  47, 110 f., 262, 307, 309 ff.,
–, christliche  112 f., 116, 261, 274 f., 278 f., 380
281 f. Ungedachtheit  101
–, philosophische  21, 261, 382 universale Ausdrückbarkeit  189, 222
theologische Ästhetik  48, 328 universale Dimension des primordialen
theoretischer Operator  140, 155, 185–190, Seins  193, 225
375 universale Dimension des Seins  185, 204,
theoretische(r) Satz (Sätze)  56, 117, 140, 230 ff., 236, 238, 381, 388, 425
154 f., 188 f., 231, 298, 349, 375 universale Gutheit (bonitas)  223
Theoretizität  45, 82, 142, 146, 152, 154 f., universale Intelligibilität  220
363 universale Kohärenz  222
Theorie  1, 10, 16 f., 24, 30, 33 f., 51, universale Seinsdimension  146, 192, 197,
62–65, 120, 140, 145–149, 152–156, 206, 211 ff., 230 f., 255, 266, 269, 398,
158–161, 168, 179, 182 f., 185, 200 f., 404
205 f., 212, 217, 221, 224, 241, 244, universale Strukturiertheit  222
256–263, 272, 287 f., 290, 295–299, universaler Bereich  203
346, 365, 369, 406 Universalien  164
Theorie des Seins als solchen  1, 51, 145, Universalität  119, 201, 204, 352, 388
185, 205, 212, 217, 260, 272 Universalquantor  201 f.
Theorie des Seins als solchen und im Unmögliche, der / das  324, 389–394, 397 f.,
Ganzen  1, 51, 145, 185, 212, 260, 272 400 f., 405 ff., 421, 424 f.
Theorie des Seins im Ganzen  224 Unmöglichkeit des Begriffs  392, 395
Theorie über Gott  1, 146, 260–263 Unzuträglichkeiten der traditionellen
Theorieform  152 ff. Metaphysik  72 f., 282, 289, 321, 422
–, axiomatische Theorieform  153 f. Ursache  2, 19 f., 35 ff., 39 f., 79 f., 137, 207,
–, netzstrukturale / kohärenziale  152 f 232 f., 247, 249, 251 f., 260, 265, 359,
Theorierahmen  62–65, 70, 145–148, 154, 392, 401 ff., 406 f., 412, 424
160, 167, 185, 335, 372 f., 375 f., 380, Ursprung  255–258
392, 395, 407 U-Dimension  350 f., 353–356
–, Pluralität von  147
Theoriestatus  155 Verbergung  100, 102 ff.
Tiefenmetaphysik  33 f., 145 f., 307, 372, Vollkommenheit  36, 42 f., 238, 265 f.
381, 404 Vorhandenheit  71, 246, 249, 409
transzendentaler Thomismus  32, 46 f., 277 Vorläufigkeit  106 f., 110
Transzendentalien  218
Transzendentalienlehre  217, 219 Wahr(heit)  168 ff., 172 f., 176 f., 179, 183 f.,
Transzendentalphilosophie  46, 335, 345 219
Transzendenz  46 f., 83, 126, 191 f., 262 f., Wahrheit  13, 18 ff., 23–27, 34, 36, 49, 54 f.,
267–272, 294 f., 299, 304–310, 312 ff., 58, 61, 69, 71, 76, 80, 84, 92 f., 96–100,
320, 344, 348, 355, 367, 370–374, 378, 116, 122, 126 f., 131, 133 ff., 139, 141 ff.,
381 ff., 388 f., 400, 403 ff., 407 152, 156 ff., 168, 170 f., 176–184, 191,
Transzendenz und Retroszendenz  374 193, 218, 221, 224, 227, 281, 286, 296 f.,
317, 319, 328, 346, 361 f., 365, 367 f.,
Übermaß  94, 320, 359, 361 391, 393, 410 f.
übernatürlicher Zustand  276 Wahrheit des Seins  84, 92 f., 96, 98, 100,
Überschuss  309, 359 f., 362 f., 368 f., 411 116, 122, 133, 135, 141, 224, 317, 319,
Umkehrung  293, 314, 324, 332, 336 f., 410
344 f., 349, 354, 358, 360–363, 373 f., Wahrheit des Seyns  69, 126, 133 ff.
377, 390, 422
444 Sachverzeichnis

Wahrheitsbegriff  167 f., 171, 174, 179 f., Wie-Frage(n)  61, 214, 254 f., 287, 403,
184 406, 409, 411, 417
Wahrheitstheorie  27, 165, 167, 169, Wirkursache  407, 419
181 ff., 218, 230 Wirkursächlichkeit  401
Wahrscheinlichkeit  28, 51 f.
Wahrscheinlichkeiten  51 Zeit  31, 36, 39, 49, 61, 71, 77, 81–84,
Warum-Frage(n)  61–64, 214, 254 f., 287, 86–89, 92, 94 f., 99 ff., 107, 110, 115,
403, 409, 411, 417 139, 142, 193, 232, 246, 248, 256 ff., 276,
Warum-Erklärung  214, 254 302 f., 315 ff., 325, 346, 352, 357, 377,
Welt (die)  1 f., 9 f., 20, 29, 31, 35 ff., 53, 409
56 f., 60, 72, 81 f., 94 f., 110, 146, 149, Zeitlichkeit  83, 325
159, 161, 178, 180 ff., 188, 193–198, Zusammenhang  4, 25, 27, 30 f., 49, 51 f.,
210 f., 214 f., 220, 227, 238 ff., 243, 60 ff., 64 f., 68, 80, 96 ff., 114 f., 165, 168,
245, 248 f., 251–254, 258 f., 262, 265, 174, 176, 189, 191, 193, 195 f., 204, 216,
267–273, 275, 281, 287, 297, 299, 307, 218, 220, 222 f., 227, 237, 241 f., 250,
322 f., 332, 336, 342, 345 ff., 350, 352, 255, 266, 268, 271, 279, 282 f., 289, 298,
363, 367 f., 374, 378 f., 381–384, 389 f., 302, 321, 324, 328, 333, 336, 339, 348,
392, 400, 403, 408, 412 f., 417 ff., 426 353, 366, 378, 383, 404, 407, 410, 414,
Weltgeschichte  272 ff. 420
wesentliches Gesetz der Phänomenali- Zweidimensionalität  146, 230, 232, 236 ff.,
tät  370 f. 241, 250
Wie-Erklärung  214 f., 254 f.

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