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WOLFGANG MADERTHANER,
LUTZ MUSNER

Die Anarchie der Vorstadt


DAS A N D E R E W I E N U M 1900

BCU Clu Napoca

CAMPUS VERLAG
FRANKFURT/NEW YORK
Die Anarchie der Vorstadt

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Wolfgang Maderthaner ist Mitarbeiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs und
Geschäftsführer des Vereins für die Geschichte der Arbeiterbewegung.
Lutz Musner ist Wissenschaftssekretär des Internationalen Forschungszentrums
Kulturwissenschaften in Wien.
Der Druck Wirde gefördert
vom Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr, Wien

BIBLIOTECA
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Madertbaner, Wolfgang:
Die Anarchie der Vorstadt: das andere Wien um 1900 /
Wolfgang Maderthaner; Lutz Musner. - 2. Aufl. - Frankfurt/Main ;
N e w Y o r k : Campus Verlag, 1999
ISBN 978-3-593-36334-9

2. Aufl. 2000

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 1999 Campus Verlag G m b H , Frankfurt/Main
Umschlaggestaltung:
Umschlagmotiv: Gumpendorfstraße im 6. Wiener Gemeindebezirk (Mariahilf) um 1900
(Historisches Museum der Stadt Wien)
Satz: Satzstudio Rolfs, Dreis-Brück
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Printed in Germany
INHALT

Danksagung 7

Einleitung 9
Anarchie in Ottakring 17
Mündliches Land - Schriftliche Stadt 38
Projektion und Raster 51
Ein Panorama des Elends 68
Die Vorstadt als das >Andere< der Zivilisation 86
Kompression und Dekompression 99
Vom Populären zum Modernen: Wunschmaschine Massenkultur 111
Zur Hermeneutik des Profanen 135
Eine Kultur der Widersetzlichkeit 145
Die Revolte der Straße 166
Die Transgression des Populären: Karl Lueger
und Franz Schuhmeier 176

Anmerkungen 209
Literatur 228

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DANKSAGUNG

Das vorliegende Manuskript dankt einer Reihe namhafter Kulturwissen-


schaftler und Kulturwissenschaftlerinnen wertvolle Kritik, Hinweise, An-
regungen und Vorschläge. Besonders wollen wir dabei hervorheben: Hel-
mut Gruber (New York Polytechnic) und Anson Rabinbach (Princeton
University), die erste Entwürfe gelesen und mit ihren Anregungen und kri-
tischen Hinweisen wesentlich dazu beigetragen haben, die Endfassung zu
verfertigen. Gleiches gilt für Dan Diner (Universitäten Leipzig und Tel Aviv)
und David Frisby (University of Glasgow) sowie für Rolf Lindner und
Horst Wenzel (beide Humboldt Universität Berlin), die während ihres Auf-
enthaltes als Gastwissenschaftler des Internationalen Forschungszentrums
Kulturwissenschaften (IFK) in Wien so freundlich waren, das Manuskript
durchzusehen. Carl E. Schorske (Princeton University) und Gotthart Wun-
berg (Universität Tübingen und IFK Wien), Doyens der kultur- und lite-
raturhistorischen Erforschung der Wiener Moderne, haben mit großer Em-
pathie und konstruktiver Kritik den Autoren geholfen, Schwächen der
ersten Manuskriptentwürfe zu erkennen und die eigene Arbeit im Kontext
der internationalen Moderne-Forschung einzuschätzen. Ähnlich zu danken
gilt es auch Peter Feldbauer (Universität Wien) und Ferdinand Opll (Wie-
ner Stadt- und Landesarchiv), Aleida Assmann (Universität Konstanz) und
Christina Lutter (Universität Wien), die unser Vorhaben durch ihre kon-
struktive Kritik unterstützt und erleichtert haben.
Der vorliegende kulturwissenschaftliche Versuch über die Vorstädte in
Wien um 1900 ist Teil eines größeren, vom Bundesministerium für Wissen-
schaft und Verkehr geförderten Forschungsvorhabens zur Wiener Moder-
ne, das vom Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung durchgeführt wird
und an dem Roman Horak und Siegfried Mattl (beide Universität Wien),
Michaela Maier (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung) sowie Ger-
hard Meißl (Wiener Stadt- und Landesarchiv) und Alfred Pfoser (Wiener

7
Städtische Büchereien) beteiligt sind. Ihnen allen verdanken wir nicht nur
eine kongeniale Atmosphäre der kritischen Auseinandersetzung und des
fächerübergreifenden Gesprächs, sondern vor allem auch eine tiefe Freund-
schaft, die uns geholfen hat, über die schwierigen Phasen der Arbeit produk-
tiv hinwegzukommen. Nicole Dietrich hat durch Archiv- und Recherche-
arbeit die empirische Basis des Essays wesentlich erweitert und bereichert,
Claudia Mazanek verdanken wir ein äußerst sorgfältiges und kompetentes
Lektorat des Manuskripts.
Alle genannten Personen ließen uns vielfältige Hilfe und Unterstützung
zukommen. Für den Umstand, daß nicht alle ihre Anregungen in gleichem
Maße in der Endfassung berücksichtigt wurden, tragen allein die Autoren
die Verantwortung.

Wien, im Februar 1999

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EINLEITUNG

Zunächst war es wohl nicht mehr als ein latentes, vages, nicht näher ausge-
wiesenes Unbehagen, das sich mit immer größerem Nachdruck in einer
Unzahl von Debatten, Streitgesprächen und Kontroversen artikulierte; im
nüchternen Rahmen akademischer Veranstaltungen ebenso wie in spätnächt-
lichen Diskussionen in Cafes oder Vorstadtbeiseln. Das Unbehagen rich-
tete sich gegen eine ganz bestimmte Praxis des kulturwissenschaftlichen Dis-
kurses über die >Wiener Modernes wie er sich seit Mitte der achtziger Jahre
etabliert hatte, en vogue geworden war und zur Beförderung akademischer
Karrieren gleichermaßen diente wie - in seiner popularisierten Version -
als Basis offensiver Fremdenverkehrsstrategien. Natürlich, es gab das zu Be-
ginn der achtziger Jahre publizierte Meisterwerk von Carl E. Schorske über
die Elitenkultur der Wiener Jahrhundertwende.1 Aber anstatt Schorskes in
Richtung eines >Anderen< der Moderne durchaus offenen Ansatz zu dyna-
misieren und zu differenzieren, war das Fin de si&cle gleichsam als die Sum-
me seiner intellektuellen und künstlerischen Hervorbringungen ontologi-
siert und so zunehmend zu einem Schatzkästchen hochkultureller Pretiosen
stilisiert worden. Die lebensweltlichen Kulturen der Vorstädte, die Welten
der Zuwanderer, Proletarier und städtischen Parias blieben, analog zu ihrer
Nichtwahrnehmung in der großen Wiener Moderne-Literatur, weitgehend
ausgeblendet. Ihre projektive Erschließung durch das Zentrum, ihre eigen-
sinnige, über ökonomische Integration bei gleichzeitiger sozialer und kul-
tureller Exklusion hergestellte Verschränkung mit dem Zentrum waren nicht
einmal in Ansätzen thematisiert. Wenn die >Vorstadt< überhaupt Erwähnung
fand, dann - je nach weltanschaulicher Disposition - entweder als Ort der
Devianz und Unordnung, des Elends und der Entsittlichung oder als ein
Terrain des utopischen >Vorscheins< auf das »Rote Wien« der Zwischen-
kriegszeit, für dessen kommunale und politische Errungenschaften die Vor-
städte die soziale Massenbasis abgeben sollten.

9
Andererseits waren die Vorstädte als Topos des populären Diskurses über
Wien und das >Wiener Wesen< stets präsent geblieben. Sie waren präsent im
klassischen Wienerlied und, dies vor allem, sie waren präsent in einem größ-
tenteils mündlich tradierten Kanon von Legenden und Mythen. Von gro-
ßen Hungerrevolten war hier die Rede, von ungezügelter, lustbetonter Le-
bensfreude selbst in größter materieller Not wurde berichtet, von den
gefürchteten und zugleich bewunderten Jugendgangs der Schmelz oder des
Hernalser Flohbergs, von großen Gangstern und kleinen Gaunern in der
Pose von Sozialrebellen, die in der vorstädtischen Bevölkerung bedingungs-
losen Rückhalt fanden, von Wäschermädel- und Lumpenbällen, von soge-
nannten Glasscherbentänzen in verruchten Kaschemmen und Beiseln und
von in sich geschlossenen Territorien der Widersetzlichkeit schließlich, die
die Ordnung des Zentrums in ihr Gegenteil verkehrten und von keinem
wie auch immer verfaßten Regime zu disziplinieren waren.
Um den Spuren dieser populären Mythen gleichsam an Ort und Stelle
nachzugehen, unternahmen die beiden Autoren des vorliegenden Essays
im August des Jahres 1997 einen ausgedehnten Spaziergang durch den
Ortsteil Neulerchenfeld des Bezirkes Ottakring, damals wie heute ein Pro-
letarierbezirk schlechthin, damals wie heute Zentrum der Zuwanderung
und der ungehemmten Zinsspekulation. Obwohl in jungen Jahren selbst
aus der österreichischen Provinz zugewandert und mit den verschiedenen
Aspekten vorstädtischen Lebens durchaus vertraut, wurde uns erst an je-
nem drückend heißen Sommertag, an dem die Stadt wie entvölkert er-
schien, mit aller Deutlichkeit folgendes klar: Das soziale Elend war und ist
in dieser Stadt hinter einer Fassade von beeindruckender Schönheit ver-
borgen, die ganz offensichtlich einen an der klassizistischen Ringstraßen-
architektur orientierten, homogenen Stadtkörper suggerieren soll. Die Zins-
kasernen der Ottakringer-, Thalia-, Kopp- und Herbststraße sowie von
deren unzähligen Seitengassen sind, von ihrer äußeren Gestaltung her und
soweit sie die massiven Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs
überstanden hatten, wahre Prachtbauten, die den berühmten Ringstraßen-
palais in vielen Fällen nur um weniges nachstehen. Sie bilden in ihrer äuße-
ren Gestalt weniger einen Kontrast zum Zentrum als vielmehr seine sym-
bolische Perpetuierung und verdecken so die für Wien charakteristische,
doppelte sozialräumliche Faltung der Stadt. Denn Wien folgt in seiner Topo-
graphie einem konzentrischen Muster, in welchem sich innere und äuße-
re Vorstädte, sozial abfallend, um das Zentrum gruppieren. Die Grenzen
sind aber weniger durch baulich-ästhetische Unterschiede festgelegt als

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durch die soziale Markierung urbaner Territorialität. Nicht die materielle
Stadtgestalt allein lokalisiert die unterschiedlichen sozialen Gruppierungen
und Klassen, sondern kulturelle Praxisformen, die unterschiedliche Wahr-
nehmungen und Nutzungen städtischen Terrains ebenso wie das Ausmaß
an wechselseitiger Kommunikation bzw. Abschottung festlegen. Diese äu-
ßerliche Illusion eines homogenen Stadtkörpers aber läßt die stadtimma-
nente Politik von Identität und sozialer Differenz um so deutlicher wer-
den.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, die nach dem Ende der Ex-
kursion im Gastgarten eines Wirtshauses namens »Vorstadt« ihre erste Ge-
stalt annahmen, schien es uns naheliegend, >Wien um 1900< von seinen Rän-
dern her zu thematisieren und uns zu fragen, ob die Stadt in diesem Sinne
als sozialer Text gelesen werden könne.
Robert Musil beginnt den »Mann ohne Eigenschaften« überraschend.
Eine ausführliche meteorologische Beschreibung eines schönen Augustta-
ges des Jahres 1913 in der Hauptstadt Kakaniens plaziert Mitteleuropa in
einer politischen und atmosphärischen Metaphorik zwischen atlantischen
und zaristischen Großwetterlagen. Diese >meteorologische< Sichtweise the-
matisiert implizit den revolutionären Technologiesprung des Ersten Welt-
kriegs, variiert so die Innovationen im Flugwesen und in der Telekommu-
nikation und macht diese, auf der Folie von stereoskopischer Räumlichkeit
und Dreidimensionalität, zu Beschreibungsparametern der Stadt. Aus der
Makroperspektive taucht Musil unmittelbar in eine Schilderung städtischen
Lebens ein, die Wien zum Gegenstand einer neuen Form urbaner Textuali-
tät macht.2 Autos schießen durch schmale Gassen, ihre Bewegungen ver-
dichten sich zu Strichmustern, lösen sich in weiteren Räumen wieder auf.
Töne verbinden sich zu Geräuschprofilen, die eine Grundmelodie der Stadt
artikulieren, von der wiederum klare Töne wie Gesteinssplitter abbrechen
und wegfliegen. Und das ganze Gemisch von Beschleunigung und Behar-
rung, von Geräuschen, Tönen, Tonfolgen verbindet sich zu einem Muster,
welches dem Autor zufolge einem Betrachter selbst »nach jahrelanger Ab-
wesenheit mit geschlossenen Augen« das Wiedererkennen der k. und k.
Reichshaupt- und Residenzstadt leicht machen sollte.
Musil unternimmt hier offenbar nicht bloß den Versuch, die wissen-
schaftlich-technische Physiognomie einer der europäischen Metropolen des
Fin de sidcle zum Gegenstand von Literatur zu machen, sondern das Groß-
stadtleben überhaupt als ein charakteristisches Emblem der Moderne zu ent-
ziffern. Mobilität und Beschleunigung bedeuten ihm eine >totale< Identität

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einer Stadt, jenes Spezifikum, woran sie klarer erkennbar ist als an irgend-
einem noch so signifikanten Einzelmerkmal.
Die Großstadt ist für Musil und viele seiner Zeitgenossen zur Metapher
für >Modernität< schlechthin geworden. Jedoch früher als jene schreibt er
die Stadt als einen sozialen Text und legt damit eine Zugangsweise nahe, die
unsere vorliegende Untersuchung kulturwissenschaftlich fruchtbar machen
will. Es geht dabei, wie nachfolgendes Zitat illustriert, um die Verschrän-
kung von symbolischer Sphäre und materieller Stadtgestalt, um die Linea-
ritäten und Kontingenzen des Sozialen, um Beschleunigung und Stillstand
von Lebensformen und um die Verdinglichung von sozialen Relationen und
Referenzen in den spezifischen Formen der Urbanität.
Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nicht-
schritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen
Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen
rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhyth-
men gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Ge-
fäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und
geschichtlichen Überlieferungen besteht.3
Warum konnte Robert Musil diese Sichtweise und analytische Perspektive
wählen? Welche neuen Signaturen hatte die Moderne in den Leib der Stadt
eingeschrieben? In welcher Weise schließlich hatten sich die menschlichen
Wahrnehmungen und Werthaltungen verändert, so daß die Großstadt als
ein sozialer, d. h. gesellschaftlich lesbarer Text erscheinen konnte?
Vordergründig könnte man meinen, die Wahrnehmung der Stadt als so-
zialer Text wäre Folge einer hegemonialen Neuordnung, die das Primat der
Schrift vor die tradierten oralen Kulturen vormoderner Urbanität setzt.
Unsere im folgenden entwickelten Darlegungen sollen aber demonstrieren,
daß die Ursachen und Wechselwirkungen wesentlich komplexer sind.
Am Beispiel Wiens wollen wir herausarbeiten, daß Diskurse und Texte
als ein Projekt der symbolischen Repräsentation der Stadt für das bürger-
liche und liberale Zeitalter konstitutiv sind. Dieses Projekt schafft nicht nur
ein dynamisches und sich wandelndes Verhältnis von Zentrum und Periphe-
rie, von Innen- und Vorstadt, das die Elitenkultur in Spannung zu den po-
pulären Kulturen der Vorstädte setzt. Es schafft zugleich neue Formen so-
zialer, kultureller und ökonomischer Ungleichheit und Spaltung, die das
Stadtganze sowohl teilen als auch zugleich zu gebrochenen, herrschafts-
durchfluteten Austauschbeziehungen amalgamieren. Die spannungsreiche
und konfliktgeladene Wechselwirkung von Spaltung und Homogenisierung

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BILD 1
Favoritenlinie um 1900
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

insinuiert eine gesellschaftliche Dynamik, die für die Herausbildung frü-


her Formen von Massenkultur charakteristisch ist. Denn die über das hi-
storische Gedächtnis der Unterschichten tradierte Distanz des Populären
zu den Eliten, die damit einhergehende Widersetzlichkeit vorstädtischen
Lebens und die Fonexistenz bzw. Metamorphose gegenläufiger Subkultu-
ren perforieren die durch die bürgerliche Repräsentation der Stadt artiku-
lierte Ordnungspolitik. Sie verursachen Gegen- und Querbewegungen und
unterlaufen die umfassende Durchsetzung der Hegemonie des Zentrums.
Die Subkulturen als das Andere der bürgerlichen Repräsentation und Sym-
bolisierung der Stadt bleiben in ihrer Kontingenz und Unschärfe als disso-
nante Stimmen im öffentlichen Raum präsent. Es ist ihre Uneindeutigkeit,
ihre offensichtliche Disziplinlosigkeit und >Wildheit<, ihr Sein als das Ge-
genläufige zu Fortschritt und Zivilisation, die sie im bürgerlichen Blick als
roh, krude, ja amorph erscheinen lassen. Dieser Blick gesteht ihnen weder
eine notable Herkunft noch eine rationale Zukunft zu, d. h. sie sind ohne
Geschichte. Und dennoch: Ihre >Geschichtslosigkeit< bedeutet nicht nur

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Ohnmacht und bedingungsloses Ausgeliefertsein, sondern stellt auch jene
Barriere dar, die sie ihrer gänzlichen symbolischen Unterwerfung und >bin-
nenkolonialen< Beherrschung immer wieder entzieht. Man kann sie als das
Vexierbild der Moderne und der modernen Stadt entziffern - nämlich als
die in einem konventionellen Sinn spurlose Moderne.
Obwohl dieses Andere durch die Elitendiskurse als gestaltlos und amorph
bezeichnet und durch die Zuschreibung einer Fülle bedrohlicher, politisch
und sexuell angsterzeugender >Tatsachen< marginalisiert wird, lebt es als sozia-
le Differenz fort. Es manifestiert sich in der Alltagskultur, in den Bierhallen,
den Beiseln, an Orten des Volksvergnügens wie dem Wiener Prater und dem
Neulerchenfeld in Ottakring, in den Varietes und in den Singspielhallen.
Und es manifestiert sich auch im städtischen Niemandsland der Kleinkrimi-
nalität, der Jugendbanden und der Prostitution - ein Niemandsland, das nicht
nur einseitig soziale und kulturelle Devianz bezeichnet, sondern eben auch
Teil eines umfassenderen lebensweltlichen Spektrums der Vorstadt ist. Die-
ses Spektrum verbindet elende Lebensumstände mit Strategien materiellen
und ideellen Uberlebens ebenso wie es industriell disziplinierte Arbeit und
komprimierte, punktuelle Alltagsfluchten, sozialrebellisch verbrämte Klein-
kriminalität und politisch artikulierte Widersetzlichkeit umfaßt.
Die projektive Segmentierung städtischen Terrains durch das Soziale be-
stimmt so symbolisch die Differenz von Herrschaft und Abhängigkeit und
vielfach auch topographisch die Differenz von Zentrum und Peripherie. Die
Vorstadt formiert sich also zuerst im Kopf, bevor sie sich als materielle Kon-
figuration realisiert. Ein dieserart dynamisierter Begriff von Vorstadt be-
zeichnet je nach Kontext und analytischer Perspektive unterschiedliches -
reale Orte mit differenter Historizität (neue und alte Vorstädte), Zonen so-
zialer und kultureller Segregation, im Bezug auf das Zentrum marginalisierte
Randgebiete und imaginierte Territorien des Anderen. Mit Georg Simmel
verstehen wir damit die Grenzen, die die städtischen Territorien voneinan-
der trennen, nicht als »eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkun-
gen«, sondern als »eine soziologische, die sich räumlich formt«.4 Die da-
mit in das Stadtganze eingeschriebenen Spannungen zwischen hoher und
populärer Kultur, zwischen Hegemonie und sozialer Differenz, zwischen
verordneter Identität der >Massen< und deren >anarchischer< Widersetzlich-
keit sind Schlüsselthemen des vorliegenden Essays. Es ist ein Versuch, die
Stadt als Text des Sozialen zu lesen.
Am 17. September 1911 erhob sich das Proletarierviertel Ottakring in
einer Hungerrevolte. Dabei ging es nicht nur um Auszehrung und Nah-

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rungsmangel, vielmehr artikulierte sich darüber ein erstes, breites Aufbe-
gehren marginalisierter vorstädtischer Massen. Diese setzten sich sozial
nicht nur aus den >immer schon dagewesenen« Urbanen Unterschichten zu-
sammen; es war vor allem die große Zahl der jüngst zugewanderten Mi-
grantinnen und Migranten, deren Sehnsüchte nach einem besseren Leben
im städtischen Kontext an den neuen Realitäten von Arbeit, Konsum und
Reproduktion zu zerbrechen drohten. Sie hatten ihre mündlich und infor-
mell geformten, meist ländlich vormodern geprägten Herkunftskulturen
hinter sich gelassen, um in der Metropole ihre Lebensperspektiven neu zu
entfalten. Mit dem >Dorf im Kopf< suchten sie einen konkreten Ort, gleich-
sam eine neue Heimat in einer von Technik, Wissenschaft und planerischer
Vernunft zunehmend anders, linear und fragmentarisch zugleich konfigu-
rierten städtischen Topographie. An den Rand und in die Peripherie ge-
drängt, sollten sie sich jedoch keine neue Heimat schaffen, sondern viel-
mehr sich in subjektiver Verelendung und individueller wie kollektiver
> Verfremdung« wiederfinden. Ihre Verortung in den industriellen Planqua-
draten der Moderne zeichnet auf ihren Körpern nicht nur ein sinnliches
Panorama des Elends, sondern verschriftet und abstrahiert ihre Existenz als
das Dunkle, Gefährliche, Amorphe und Andere der städtischen Ordnung.
Ihr gleichermaßen symbolisch aufgeprägtes Anders- wie existentiell trau-
matisierendes Da-Sein erlaubt bloß ein Minimum an Freiheit und Selbst-
vergewisserung im Spannungsfeld einer entstehenden Massenkultur und ei-
ner fortlaufenden Sinnstiftung durch das Profane wie Banale. Ihr Sein
entfaltet sich entlang der Vektoren von Macht, Ohnmacht und Dissens, von
Anpassung, Indifferenz und Devianz, von Lethargie, Revolte und einer
emergenten Politik der Massen.
Mit dem vorliegenden kulturwissenschaftlichen Essay wollen wir das bis-
lang in der Moderne-Forschung vornehmlich hochkulturell gezeichnete Bild
der Wiener Jahrhundertwende und deren Eliten erweitern, relativieren und
korrigieren. Es geht darum, die Vorstädte nicht nur als Annex, sondern als
ein Inneres der Moderne zu verstehen. Wir fassen sie als jenes Feld auf, in
dem sich populäre Kultur als Medium des Austausches und der Verhand-
lung von Fortschrittsnarrativen und Rationalisierungsstrategien einerseits
sowie von sozio-kulturellen Strategien des Überlebens und der Selbstbe-
hauptung andererseits artikuliert. Sie bestimmen dadurch die Leitkulturen
des Zentrums entscheidend mit. Nicht die Annahme eines monokausalen
Determinationsverhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie steht dabei
im Vordergrund, sondern das Interesse daran, wie beide sich wechselseitig

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verschränken, beeinflussen, konstituieren und dadurch Veränderungen ih-
rer Bestimmungen und Merkmale erfahren. In dieser Sichtweise ist das hi-
storische Gewebe der Wiener Jahrhundertwende nicht allein von einem klar
umrissenen Zentrum aus strukturiert und determiniert. Seine Textur ist viel-
mehr als >Patchwork< zu sehen, in dem sich Macht und Ohnmacht, Politik
und Kultur, Fremd- und Selbstbestimmung, Populäres und Elitäres zu je-
nem Muster verweben, das dem Wiener Fin de si&cle seine ganz bestimm-
te, singuläre Färbung verleiht.

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ANARCHIE IN OTTAKRING

Zum ersten Male seit dem Oktobertag 1848, an dem die Truppen Windischgrätz'
die Hauptstadt dem Kaiser wiedererobert haben, ist in Wien auf das Volk geschos-
sen worden. Was selbst in den gewaltigsten Stürmen des Wahlrechtskampfes nicht
geschehen ist, hat sich am 17. September in Wien ereignet. In ganzen Stadtvierteln
blieb kein Haus, kein Fenster, keine Laterne unversehrt. In dem Proletarierviertel
Ottakring wurden Schulgebäude und Straßenbahnwagen in Brand gesetzt. Barrika-
den wurden gebaut, die Truppen schössen auf das Volk, und im Rücken der wild
erregten Menge plünderte das Lumpenproletariat Geschäftsläden.

So beginnt der dreißigjährige Otto Bauer - Sekretär des Clubs der sozial-
demokratischen Reichsratsabgeordneten, herausragender Vertreter der im
Cafe Central beheimateten jungen austromarxistischen Theoretiker und
nachmaliger, mehrfach wegen Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichneter
Oberleutnant der k.k. Weltkriegsarmee5 - seine im theoretischen Organ der
deutschen Sozialdemokratie veröffentlichte umfassende Kritik der Ereig-
nisse des 17. September 1911.6 Es-sei die »Weltkalamität« der Teuerung, in
Österreich durch eine Reihe von besonderen Umständen verschärft, die die
Massen der Wiener Arbeiterschaft zur »Verzweiflung« getrieben und eine
»gewohnte Straßendemonstration« zur (scheinbar) »ziellosen Revolte« der
Vorstadt gesteigert habe.
Otto Bauer deduziert diesen der politischen Strategie und Intention der
zeitgenössischen sozialdemokratischen Eliten in jeder Hinsicht zuwider lau-
fenden Aufstand des Wiener Vorstadtproletariats aus einer breiter angeleg-
ten theoretischen Einschätzung der Gesellschaftsentwicklung in der spä-
ten Habsburger Monarchie. Zweifellos hatte die im Prinzip glänzende
ökonomische Prosperität der Jahre um 1910 wenig daran geändert, daß in
Osterreich ein im Vergleich zu den industrialisierten Staaten West- und Mit-
teleuropas geringeres Lohn-, aber höheres Preisniveau gegeben war. Insge-
samt litt die Volkswirtschaft in gleicher Weise an den modernsten Erschei-

17
nungen kapitalistischer Wirtschaftsorganisation (Trusts, Syndikate) wie an
einer allgemeinen Rückständigkeit, Kleinheit, Enge. Eine zünftlerische Ge-
setzgebung hatte die Expansion von Industrie und Großhandel nachhaltig
behindert, zugleich aber den Markt in de facto jedem Produktionszweig ei-
ner kleinen Zahl kartellierter Unternehmungen ausgeliefert und somit die
Bildung von Privatmonopolen planmäßig befördert; zugleich ermöglichten
Befähigungsnachweis und Zwangsgenossenschaften auch kleineren Unter-
nehmungen entsprechende Preisabsprachen. Landwirtschaft und Viehzucht
stagnierten auf höchst rückständigem Niveau. Wiewohl knapp die Hälfte
der Bevölkerung diesem Sektor zugehörig war, mußte ein größerer Teil des
Lebensmittelbedarfs durch Import aus anderen Staaten gedeckt werden als
etwa im Deutschen Reich, dessen Bevölkerung nur mehr zu knapp 30 Pro-
zent der Land- und Forstwirtschaft angehörte. Weder die Alpen-, noch die
östlichen Reichsländer erwiesen sich imstande, die Versorgung der öster-
reichischen Städte und Industriegebiete hinreichend zu garantieren, die un-
garische Landwirtschaft (gleichsam die »natürliche« Hauptimportressource)
litt an ähnlich dramatischen Gebrechen wie die galizische.
Nun hatte die dualistische Reichsverfassung des Jahres 1867 ein einheit-
liches Wirtschaftsgebiet geschaffen, das jedoch zwei Staaten, zwei Regie-
rungen und zwei Parlamente umfaßte; die gesamte Wirtschaftsgesetzgebung
fiel in das Gebiet der Staatsverträge und des Völkerrechts. Der Widerspruch,
daß Osterreich und Ungarn juristisch souveräne Staaten waren, zugleich
aber ökonomisch und militärisch einen gemeinsamen Staat und ein gemein-
sames Zollgebiet bildeten, ließ wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen
die Form von juristischen Kämpfen um die Auslegung von Staatsverträgen
annehmen. Die ungarische Regierung als Exekutive des magyarischen Groß-
grundbesitzes hatte im Verein mit den österreichischen Agrariern ein kom-
plexes System von Agrarschutzzöllen und Einfuhrverboten durchgesetzt.
Dieses System fand im Zolltarif von 1906 als Kompromiß zwischen indu-
striellem und Finanzkapital einerseits sowie Großgrundbesitz und Groß-
agrariern andererseits seinen juristischen Ausdruck.
Zu einem Zeitpunkt, da aufgrund der strukturellen und technologischen
Rückständigkeit der österreichischen und ungarischen Landwirtschaft ver-
mehrt Lebensmittel aus dem Zollausland eingeführt werden mußten, stie-
gen nunmehr die Weltmarktpreise, die ihrerseits durch Zölle und Einfuhr-
beschränkungen im Inland noch weiter hinaufgetrieben wurden. So begann
sich die Teuerung trotz relativ günstiger Wirtschaftskonjunktur auf die Le-
benshaltung breiter, vor allem städtischer Massen gegen Ende des ersten

18
Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts fühlbar auszuwirken. Die Arbeiter-Zeitung
brachte es auf den Punkt:
Durch die Teuerung wurde die Kaufkraft des Geldes um wenigstens ein Drittel ver-
ringert. Der Arbeiter fühlt sich am Tage der Lohnauszahlung einfach betrogen. (...)
Er hat früher mit seiner Familie ein Zimmer und eine Küche allein bewohnt; heute
muß er die enge Wohnung mit zwei Bettgehern teilen. Er hat früher dreimal
wöchentlich ein Stück Rindfleisch gegessen; heute kann er sich diesen Luxus nur
noch einmal wöchentlich erlauben. Er hat früher ein paar Heller für einen Sonn-
tagsausflug, für ein Glas Bier, für ein paar Zigaretten erübrigt; heute muß er all dem
entsagen, wenn er nur seine Kinder notdürftig ernähren will.7
In ungewohnter inhaltlicher Ubereinstimmung konstatierte ein Leitartikel
der Neuen Freien Presse, wie sehr die anhaltende Teuerung bereits zum klas-
sen- und schichtübergreifenden Problem geworden war:
Unter der ungeheuerlichen Teuerung leiden die breitesten Schichten der Bevölke-
rung; der Mittelstand seufzt unter der fortwährenden und allgemeinen Aufwärts-
bewegung der Preise nicht weniger schwer als die Arbeiterschaft. Das Budget der
meisten Familien ist in Unordnung gebracht, weil in ihm die hohen Preise für die
unentbehrlichsten Lebensmittel, wie Fleisch, Mehl, Milch, Eier, Fette, kurz für fast
alle Nahrungsstoffe und die nahezu unerschwinglich hohen Mietpreise keinen Raum
finden. Die soziale Frage wurde einmal als Messer- und Gabelfrage definiert, und
die Teuerung, von der Österreich jetzt mehr als irgend ein anderes Land heimge-
sucht wird, ist das wichtigste soziale Problem, das es im Staate zur Zeit gibt. (...)
Die wirtschaftliche Bedrängnis, in der sich die Bevölkerung befindet, ist nicht zu-
letzt darauf zurückzuführen, daß man es in Österreich verlernt hat, großzügige Kon-
sumentenpolitik zu betreiben.8
In Wen wurde das Problem der Lebensmittelteuerung durch eine dramati-
sche Entwicklung des Wohnungsmarktes zusätzlich verschärft. Schlechte
Wohnverhältnisse, hohe Wohnungspreise und drückende Wohnungsnot wa-
ren die Ergebnisse von Grund- und Bauspekulation, von Spekulation mit
Baumaterial; nicht zuletzt hatten die staatlichen und städtischen Steuern
(die Gemeinde Wien bezog an die zwei Drittel ihrer ordentlichen Einnah-
men aus den Mietsteuern) zu einem beinahe völligen Stillstand im Arbei-
ter- und Kleinwohnungsbau geführt. Bereits 1907, also noch während ei-
ner gesamtwirtschaftlich günstigen Konjunkturlage, hatte ein Abschwung
des Baugewerbes mit voller Wucht eingesetzt. Bis 1910 fiel der jährliche
Wohnungszuwachs auf den tiefsten Stand seit Anfang der 1890er Jahre, in
den Außenbezirken schrumpfte das Bauvolumen auf bis zu einem Viertel
der letzten Konjunkturspitze. Damit verbunden reduzierte sich die Zahl der

19
Leerstehungen in den Arbeitervierteln in einem geradezu spektakulären
Ausmaß; Hernais, Ottakring, Fünfhaus, Rudolfsheim und Simmering wie-
sen um 1910 nur mehr minimale, Meidling und Favoriten de facto keiner-
lei Wohnungsreserven auf.9
Unter diesen Umständen konnten die Mietpreise weitgehend abgekop-
pelt von Marktmechanismen diktiert werden, eine immer größer werden-
de Anzahl von Vorstadtbewohnern mußte sich mit Wohnungen schlechte-
ster Qualität zu massiv überhöhten Preisen abfinden. »Um in einer solchen
Situation nicht gekündigt zu werden, mußte man notfalls auch unter dem
Existenzminimum vegetieren.«10 Die dringend benötigten, jedoch überaus
wenigen und zudem überteuerten in den Außenbezirken auf den Markt
kommenden Kleinwohnungen blieben vielfach unerschwinglich. Das Resü-
mee Otto Bauers ist knapp und präzise: »Wir haben schlechtere Volks-
wohnungen, höhere Wohnungspreise, drückendere Wohnungsnot als jede
andere Großstadt Europas. Tausende finden in Wien überhaupt keine Woh-
nung mehr.«11 Nun hat diese Aussage Bauers einen unzweifelhaft politisch-
agitatorischen Charakter; denn selbst in der Habsburger Monarchie kann,
nach allen uns vorliegenden Daten, davon ausgegangen werden, daß Lebens-
standards und Wohnsituation für die breiten städtischen Massen zumindest
in Budapest und Prag deutlich das Wiener Niveau unterschritten.12 Und
dennoch: Bauers agitatorisches Diktum reflektierte durchaus die Stim-
mungslage der betroffenen Wiener Vorstadtbevölkerung.
Die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt zeitigte im Verein
mit der rasanten Lebensmittelteuerung seit dem Sommer 1911 Symptome
einer außergewöhnlichen Erregung der Vorstadtbevölkerung. So konnte auf
dem Simmeringer Lebensmittelmarkt der Geschäftsverkehr nur noch un-
ter dem Schutz eines großen Polizeikontingents abgewickelt werden, und
in den Zinskasernenvierteln kam es immer wieder zu spontanen Kundge-
bungen gegen Hausbesitzer oder deren Bevollmächtigte. Am Abend des
9. September 1911 hatten sich, wie an den beiden vorhergehenden Tagen
auch, einige hundert Personen vor einem Zinshaus in Meidling zusammen-
gerottet, um gegen die Erhöhung der Mieten und die mit deren Eintrei-
bung beauftragte Hausbesorgerin zu demonstrieren. Die binnen kurzer Zeit
stark angewachsene Menge ging, aus den Nachbarhäusern wirkungsvoll un-
terstützt, gegen die einschreitenden Wachmänner und Polizeiagenten mit
Steinwürfen vor und zerstörte in der Folge zahlreiche Fensterscheiben und
Straßenlaternen. Eine von der nachrückenden Sicherheitswache getrennte,
aus drei Polizeiagenten bestehende Patrouille nahm die Verhaftung eines

20
jugendlichen Steinwerfers vor, worauf sich ein wüstes Handgemenge mit
einem Teil der Demonstranten, die den Verhafteten zu befreien versuch-
ten, entwickelte, in dessen Verlauf einer der Agenten durch einen Messer-
stich erheblich verletzt wurde. Als, wie der Polizeibericht vermerkt, die Lage
der Patrouille »sehr bedrängt« geworden war, wurden von einem der Agen-
ten mehrere Warnschüsse abgegeben, um Sukkurs durch die Sicherheits-
wache anzufordern, der es schließlich gegen zehn Uhr abends gelang, den
»Straßenpöbel endgültig zu zerstreuen«.13 Seine A.h. Majestät sah sich ver-
anlaßt, den Tagesrapport 253 ex 1911 über diese Vorfälle mit folgender >Blei-
stiftbemerkung< zu ergänzen: »Es wäre an der Zeit, diesen wiederholten Stra-
ßenexzessen ein Ende zu machen.«
Zu jener Zeit aber war es bereits kollektives Wissen breiter Teile der Wie-
ner Arbeiterschaft, daß organisierter Protest und Demonstrationen zu Er-
folgen in der politischen Auseinandersetzung führen konnten. Als 1893 die
feudal-klerikale Regierung Taaffee durch das Anwachsen eines kleinbürger-
lich-nationalen Radikalismus ihre Mehrheit verloren hatte und das Privile-
gienparlament keine arbeitsfähige Regierungsmehrheit garantieren konnte,
legte Badeni eine Wahlreform vor, die die Einführung einer fünften Kurie
mit allgemeinem Männerwahlrecht vorsah. Dem lag die nüchterne Kalku-
lation zugrunde, daß die Furcht vor im Parlament vertretenen Proletariern
eine Einigung der deutschen und der tschechischen Bourgeoisie herbeifüh-
ren werde. Den Arbeitermassen aber mußte die Erweiterung des Wahlrechts
als ein unmittelbarer Erfolg ihrer Sraßendemonstrationen erscheinen. Ähn-
liches wiederholte sich 1905 im Zuge der großen Auseinandersetzungen um
die Einführung des gleichen und allgemeinen Männerwahlrechts. Die Kro-
ne hatte zur Einschüchterung der rebellischen magyarischen Grundherren-
klasse das allgemeine Wahlrecht in Ungarn als ihr Programm proklamiert,
die Nachrichten über den Ausbruch einer russischen Revolution im Zusam-
menspiel mit der großen Manifestation der Wiener Arbeiterschaft auf der
Ringstraße verschafften den Argumenten der Straße erneut Gehör und
mündeten in der Wahlrechtsreform von 1906. Am 2. Oktober 1910 erhob
eine weitere Großdemonstration die Forderung nach Freigabe der Fleisch-
einfuhr. Und tatsächlich entschloß sich die Regierung - nachdem der Han-
delsvertrag mit Serbien zur Bestrafung für dessen Unbotmäßigkeit in der
Annexionskrise fallen gelassen und der rumänische Viehbestand im Zuge
des Zollkriegs zugrunde gegangen war - zur Einfuhr von billigem argenti-
nischem Fleisch. Wieder hatte eine Straßendemonstration ganz unmittel-
bar positive Erfolge gezeitigt, und in Teilen der organisierten Arbeiterschaft

21
begann sich ein vager Glaube an die Allmacht öffentlicher Manifestationen
zu bilden.
Die Regierung allerdings mußte ihre Zusage aufgrund des Drucks der
ungarischen Grundherren und der österreichischen Agrarier bereits nach
wenigen Monaten zurücknehmen und dem argentinischen Fleisch erneut
die Grenze sperren. Sofort wurden Stimmen nach weiteren Großdemon-
strationen laut, die Massen selbst, so Otto Bauer, setzten ihren Willen in
den sozialdemokratischen Basisorganisationen durch.14 Dazu trat ein wei-
terer Aspekt: Die Sozialdemokratie hatte die überschwenglichen Hoffnun-
gen, die in ihre Präsenz und Arbeit im »Volksparlament« gesetzt worden
waren, in keiner Weise erfüllen können. Die überlieferte Arbeitsteilung in
wirtschaftliche und politische Kampfformen stagnierte, die wechselseitige
Paralyse der herrschenden Kräfte ließ nirgendwo einen Bündnispartner zur
Durchsetzung ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Hauptforde-
rungen ausmachen. Die Sozialdemokratie war auf sich selbst gestellt, war
auf die Verteidigung von errungenen Kollektivverträgen, auf Kämpfe gegen
die Wellen von Wohnungsdelogierungen oder Kompromisse zur Erhaltung
der Lebensfähigkeit des Parlaments zurückgeworfen. Stagnation und De-
fensive ließen sie auf ihr traditionelles Instrumentarium der Politik der Stra-
ße zurückgreifen.
In Rahmen einer Serie von Protestversammlungen wurde von der Wie-
ner Sozialdemokratie für den 17. September 1911 eine Straßendemonstra-
tion angesetzt. Die Stimmungslage in der Stadt war gespannt bis gereizt
und der Ton der Reden ungewöhnlich scharf. Der Reichsratsabgeordnete
Franz Schuhmeier etwa sprach davon, daß, wenn der Ministerpräsident die
Fenster klirren und die Straße von den Rufen der Verzweiflung erdröhnen
lassen wolle, er dies durchaus erleben könne. Für Max Winter, den Stadtre-
porter der Arbeiter-Zeitung, war es an der Zeit, wieder einmal die Straße
sprechen zu lassen, um kundzutun, was des Volkes Wille sei. In dieser gro-
ßen Not, so Parteisekretär Leopold Winarsky, müsse das Volk zur Selbst-
hilfe greifen, und die Frauenfunktionärin Gabriele Proft kündigte an, daß
die »Volksaushungerer« den Notschrei der Bevölkerung, den Verzweiflungs-
schrei der Mütter zu hören bekommen würden.15 Die Vorfälle im Gefolge
einer Volksversammlung in Favoriten sollten sich als Vorzeichen der Ereig-
nisse des 17. September erweisen. Nach Abschluß dieser Veranstaltung zo-
gen die rund 4000 Teilnehmer »unter demonstrativen Rufen und Absingen
von Liedern« durch die Straßen des Bezirks, um gegen 20 Uhr zum Arbei-
terheim zurückzukehren. Als größere Gruppen den Heimweg durch die

22
Laxenburgerstraße in Richtung Peripherie antraten, kam es am Arthaber-
platz zu neuerlichen Demonstrationen, denen sich »Mob und Straßenpö-
bel« anschlossen. Die Fensterscheiben zweier Bäckereien und eines Gast-
hauses wurden eingeschlagen, die Bäckereien geplündert, eine Wachabteilung
mit Steinen beworfen. Die Polizei »mußte mit blanker Waffe die auf zirka
2000 Personen angewachsene Menge auseinander treiben« und konnte
schließlich nach nur einer Viertelstunde »Ordnung und Ruhe wiederher-
stellen«.16
Wiewohl dies ein vereinzelter Vorfall blieb, sah sich der eben erst in
Dienst getretene Statthalter und ehemalige Ministerpräsident Freiherr von
Bienerth zu umfassenden Sicherheitsvorkehrungen veranlaßt, umso mehr,
als die sozialdemokratische Parteileitung entgegen den sonst üblichen Ge-
pflogenheiten für den 17. September keinerlei Ordnungskräfte beigestellt
und keine verpflichtenden Abmarschwege festgelegt hatte. Die gesamte In-
nere Stadt und neuralgische Punkte in deren Umgebung wurden militärisch
besetzt. Die Polizeidirektion hatte alle ihre Beamten, Arzte, Agenten und
Sicherheitswachen sowie die Gewölbewache seit den frühen Morgenstun-
den in den Dienst gestellt, zusätzlich war eine Militärbereitschaft von sechs
Bataillonen und 16 Eskadronen aufgeboten worden. An sensiblen Punkten
der Inneren Stadt waren neun Eskadronen postiert, ferner an die 2000 Mann
Sicherheitswache zu Fuß und 240 zu Pferd sowie 135 Polizeiagenten und
eine entsprechende Anzahl von Konzeptbeamten - mit dem Ziel einer ent-
sprechenden Sicherung der Hofgebäude, der Ministerien und anderer ge-
fährdeter öffentlicher Objekte. Die Positionierung der Sicherheitswachen
war derart vorgesehen, »daß an den bedrohten Punkten entsprechend star-
* ke Kontingente und Reserven aufgestellt sind. So werden auf dem Wach-
zimmer in der Landhausgasse und am Michaelerplatz allein 600 Mann zu
Fuß und 120 Reiter postiert sein, um jede Demonstration vor der Hofburg
oder dem Ministerratspräsidium oder der Statthalterei verhindern zu kön-
nen; in ähnlicher Weise ist auf anderen Punkten der Inneren Stadt und in
den Bezirken vorgesorgt.«17
Insgesamt waren im Laufe des Vormittags jeweils eine Division Ulanen,
Husaren und Dragoner, mehrere Bataillone ungarischer Infanterieregimenter
sowie ein Bataillon des bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments und
der Deutschmeister in die Innenstadt und auf den Ring kommandiert wor-
den. Und obwohl die Kavallerie von der Menge zunächst mit Hochrufen
begrüßt wurde und es mit den Deutschmeistern zu förmlichen Verbrüde-
rungsszenen gekommen war,18 wirkte doch das massive Aufgebot der Bos-

23
niaken und der ungarischen Infanterie, die zunächst nichts anderes unter-
nahmen, als sich selbst zu demonstrieren, zunehmend als symbolische Pro-
vokation. Die Arbeiter-Zeitung sprach denn auch von einer »Gegendemon-
stration aller Schrecken, über die die Staatsmacht verfügt«, und von einer
»symbolischen Kriegserklärung der herrschenden Mächte«.19
Beim Maria Theresia-Monument sah man die ersten Soldatenhelme und ein Schrei
wilder Entrüstung begrüßte die Husaren. Das nächste Lager war auf dem Schmer-
lingplatz errichtet und weiter nach vorn sah man in den Seitengassen neben der Burg
die Kriegsfarbe der Dragoner und Husaren. Zwischen dem Militär und den Demon-
stranten war eine Kette Polizisten zu Pferde und zu Fuß aufgestellt. Bei jedem Of-
fizier standen gewöhnlich auch ein Polizeibeamter und einige Geheime mit ihren
Fahrrädern, die den Postendienst versahen. Das Parlament war nur von Polizisten
bewacht, die in blitzender Reihe Helm an Helm von einem Ende der Rampe bis
zum anderen standen.20
Seit dem frühen Morgen waren an die 100000 Menschen von ihren Sam-
melstellen in den Bezirken auf den Rathausplatz und vor das Parlament
gezogen, die Straßenbahner und die Post- und Telegraphenbediensteten in
ihren Arbeitsuniformen. Von fünf verschiedenen Stellen aus sprachen sämt-
liche Wiener sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten zu den Demon-
stranten, rote Fahnen, Tafeln und Transparente mit Aufschriften wie »Nie-
der mit den Fleischwucherern« oder »Die Grenzen auf« wurden an den
Kandelabern der Rathausrampe und an anderen Stellen angebracht. Gegen
elf Uhr war die Kundgebung geschlossen und der Abmarsch eines Groß-
teils der Demonstranten begann.
Die Bezirksgruppen Landstraße und Simmering versuchten, in die In-
nere Stadt einzudringen. Uber die von der Polizei offen gelassene Teinfalt-
straße wälzte sich ein dichter Menschenstrom »singend und leidenschaftli-
che Rufe ausstoßend« gegen die Freyung. Am Ausgang vom Heidenschuß
sahen sie sich einem doppelten Polizeikordon gegenüber, hinter dem bis zum
Kriegsministerium Am Hof hinauf Kavallerie Aufstellung genommen hat-
te. Magisch und magnetisch zog es die Menge gegen den Kordon der Poli-
zei; sie staute sich dort »schreiend und stöckeschwingend in beängstigen-
der Weise«, »die aufgeregten Elemente« stürmten »bedenkenlos auf den
Kordon ein...«. Nun war es die Polizei selbst, die rasch eine Tribüne im-
provisierte, von der aus verschiedene sozialdemokratische Abgeordnete die
Massen zum Abschwenken aufforderten, jedoch »immer nur mit partiel-
lem Erfolg«. Stets aufs neue drängten die Demonstranten gegen die Poli-
zeiabsperrung heran, bis sich der Einsatzleiter nach Intervention des sozial-

24
BILD 2
Septemberunruhen 1911
Bildnachweis: Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung Wien

demokratischen Reichsparteisekretärs Julius Deutsch entschloß, das Mili-


tär zurückzuziehen. In diesem Moment löste sich die Spannung spürbar,
fast augenblicklich trat Beruhigung ein und das Gros der Demonstranten
verließ in erstaunlich kurzer Zeit die Freyung, der Rest wurde von der Po-
lizei ohne nennenswerte Gegenwehr über den tiefen Graben abgedrängt.21
Zu diesem Zeitpunkt, also um die Mittagsstunden, befinden sich noch
einige tausend Manifestanten auf dem Rathausplatz, »eine ungeheure ziel-
und planlos zwischen den vielen Polizei- und Militärkordons hin und her
wirbelnde Masse«, zum überwiegenden Teil zusammengesetzt aus »jenen
verantwortungslosen jungen Leute(n), die keiner Parole gehorchen und
bei jeder Demonstration ein Korps von Nachzüglern bilden, das Teils aus
Neugierde, Teils aus Übereifer sich nicht entscheiden kann, den Platz zu
räumen«.22 Ein Polizeibericht kommt zu dem Schluß, daß unter diesen ju-
gendlichen Demonstranten Halbwüchsige aus Ottakring in einem überpro-
portional hohen Ausmaß vertreten waren und daß dieser Gemeindebezirk
offenbar der »Hauptsitz der Exzedenten« ist.23 Gegen Mittag begann die
Räumung des Rathausplatzes durch die Polizei, die bis zu diesem Zeitpunkt
mit großer Selbstbeherrschung und taktischem Gefühl vorgegangen war.

25
BILD 3
September 1911, Unruhen im Rathausviertel
Bildnachweis: Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung Wien

Gegen die vier- bis fünftausendköpfige Menge, durch den demonstrativen


und ostentativen Aufmarsch des Militärs immer wieder neu erregt und zu-
gleich festgehalten, wurden erste Attacken geritten und erste Menschen-
jagden bis hin gegen den Kärntnerring veranstaltet.
Ein Zufall löst die Wut der Massen aus, die nun nicht mehr zu halten
sind, ein elementarer Ausbruch ihres Zorns führt zu regelrechten Straßen-
schlachten: Irgendwo in der Menge hatte ein Jugendlicher einen Revolver-
schuß in die Luft abgefeuert, mehrere Knallkörper waren explodiert. Aus
einer größeren Gruppe, die in der Lichtenfelsgasse vor der Wohnung des
Bürgermeisters eine »Katzenmusik« veranstaltete,24 flog ein erster Stein ge-
gen das Rathaus und gab den Auftakt zu einem wahren Steinbombardement.
Bis in den ersten Stock des Rathauses blieb kein Fenster ganz. Der Bezirks-
leiter der Inneren Stadt ließ daraufhin die Lichtenfelsgasse von berittenen
Wachmannschaften räumen und requirierte die am Maria Theresien-Platz
stehende Militär-Reiterbereitschaft. Die einschreitende Wache wurde aus

26
einem benachbarten Gasthaus mit Bierkrügeln, Steinen, Tellern und Sesseln
beworfen, den Pferden der Berittenen wurden Stöcke zwischen die Vorder-
beine geworfen, aus den Anlagen hinter dem Rathaus Bänke herbeigeschafft
und quer über die Straßen gelegt. Währenddessen begannen die in die Rat-
hausstraße abgedrängten Demonstranten an der Hinterfront des Rathau-
ses, die Fenster zu zerschlagen. Zugleich setzte aus den Reihen der über
den Ring und den Schmerlingplatz abgedrängten Massen ein Steinbombar-
dement gegen den Justizpalast und das Gebäude des Verwaltungsgerichts-
hofes ein, das Restaurant Kraft und das Cafe Bellaria wurden devastiert.25
Als der sozialdemokratische Abgeordnete David einem in massive Bedräng-
nis geratenen Polizeioberkommissär zu Hilfe eilte, wurde er selbst von den
aufgebrachten Demonstranten mit Stockhieben attackiert. Ein anderer Teil
wiederum unterstützte David, und in der Folge entwickelte sich eine wü-
ste Schlägerei.26
Obwohl Wache und Militär die Straßen unausgesetzt räumten, sammel-
ten sich die versprengten »führer- und zügellosen Haufen« immer wieder.
Diese Haufen der Demonstranten gaben zwar nach, wurden in einzelne
Gruppen zersprengt, aber ihr innerer Zusammenhalt stellte sich immer wie-
der her. Eben vertrieben, quollen sie aus den Seitengassen wieder hervor,
formierten sich erneut, erneuerten sich in der Aktion.

Die Kavallerie durchzog nun zug- oder eskadronsweise die Straßen des Rathaus-
viertels, die Menge vor sich hertreibend. Aber diese war hartnäckig. Sie wich auf
der einen Stelle zurück, um sich sofort wieder anzusammeln. Vielfach wurde, kaum
daß das Militär vorbei war, der Kordon der Sicherheitswache wieder durchbrochen.27

Erst nach höchst mühevollen Auseinandersetzungen gelang es den Sicher-


heitskräften, die »kompakte Masse der Exzendenten auseinanderzutreiben«
und sie gegen die Bezirke Neubau und Josefstadt abzudrängen.28
Nun begann der Sturm durch Lerchenfelderstraße und Burggasse stadt-
auswärts. Mehrere abgedrängte Gruppen vereinigten sich, schlugen in Häu-
sern und Geschäften Fenster ein, zertrümmerten Gaslaternen, verwüsteten
das Cafe Brillantengrund, griffen hier das Amtshaus des 8. Bezirks in der
Schmidgasse und dort das Gebäude der Königlichen Ungarischen Garde an,
versuchten das Wachzimmer in der Schottenfeldgasse zu stürmen und er-
öffneten gegen die vorrückenden Wachmannschaften wahre Steinhagel. Bei
der Neubaugasse und in der Westbahnstraße wurden Straßenbahnwaggons
attackiert. Auf der ganzen Lerchenfelderstraße bis hinauf zum Gürtel blieb
keine Straßenlaterne, keine ungeschützte größere Auslagenscheibe von der

27
scheinbar sinnlosen Wut der durch die permanenten Polizeiattacken höchst
erregten Menge verschont.29 Es kam zu ersten Plünderungen; die Glaswa-
renniederlage Hena Isaaksohn und die Niederlage der Agentorwerke, bei-
de in der Kaiserstraße, wurden gestürmt und Lampenbrenner, Feuerzeuge,
Silberwaren, Zigarrendosen, Geschirrbestecke entwendet.30
Spätestens zu diesem Zeitpunkt schließt sich den Demonstranten der
»Straßenmob« an, das »Lumpenproletariat«, die »Ottakringer Elendsju-
gend«, jene - wie es die Arbeiter-Zeitung formuliert - »ganz junge (n) und
unverantwortliche (n) Leute, die niemand kannte und niemand gerufen hat-
te«,31 jene - in den Worten der Neuen Freien Presse - »unberufene (n), bei
jedem Tumult eingreifende(n) Elemente«, der »bekannte Troß einer Groß-
stadt«.32 Sie stürmten den eigentlichen Demonstrantenzügen voran und zer-
störten, wohin sie kamen, Laternen und Fensterscheiben. So waren vom
Gürtel her (also in entgegengesetzter Richtung des Zuges) in der Wim-
bergergasse plötzlich rund zehn vierzehn- bis fünfzehnjährige Burschen
aufgetaucht, die in aller Ruhe und »als ob sie ein Geschäft zu erledigen hät-
ten« in ungefähr der Hälfte der Häuser der Gasse bis in die Höhe des zwei-
ten Stockwerks die Fenster einwarfen. Sobald der eigentliche Zug der De-
monstranten näher kam, waren sie so schnell, wie sie gekommen waren,
wieder verschwunden.
Burggasse und Lerchenfelderstraße hatten die Funktion und Wirkung
von Ventilen gehabt; die fortgesetzten Aktionen der bewaffneten Staatsge-
walt ebenso wie die sich immer wieder sammelnden und immer wieder an-
greifenden Demonstranten entwickelten die Tumulte aber zu einer förm-
lichen Revolte der Straße. Ihr Schauplatz war jenes als »Neu-Ottakring«
bezeichnete Rasterviertel, das seit den 1890er Jahren, Matrizen amerikani-
schen modernen Städtebaus folgend, aus dem Boden gestampft worden war.
Begrenzt wurde das Viertel von der Gablenzgasse einerseits und der Grund-
steingasse und Friedrich Kaisergasse andererseits (auf einer Länge von rund
1,3 Kilometer) sowie vom Lerchenfelder Gürtel und der Vorortelinie der
Stadtbahn (auf einer Breite einem halben Kilometer). Die Gablenzgasse be-
grenzte das Rayon hin zur Schmelz, jenem weitläufigen städtischen Nie-
mandsland, welches das Reservoir darstellte, »aus dem die exzessierende
Menge ihren Zuzug erhielt«.33 Am Schnittpunkt von Vorortelinie und Tha-
liastraße befand sich die Tabakfabrik, in der Gablenzgasse eine Kaserne, auf
dem Hofferplatz und dem Habsburgplatz (dem heutigen Schuhmeierplatz),
in der Schin(n)agl-, Gablenz-, Paniken-, Grundstein- und Liebhardtgasse
(heute: Liebhartsgasse) waren städtische Schulen errichtet worden.

28
In aller Eile hatte das Polizeikommissariat Ottakring die gesamte ver-
fügbare Mannschaft in Dienst gestellt und die gefährdeten, strategisch wich-
tigen Objekte wie Magistratisches Bezirksamt und Steueramt, Tabakfabrik,
Stadtbahnhof und Frachtenmagazin, die Remise der Städtischen Straßen-
bahn etc. besetzt. Auf dem Gürtel und in der Panikengasse waren Straßen-
bahnwaggons umgeworfen und in Brand gesetzt, an der Kreuzung Thalia-
straße und Lerchenfelder Gürtel war aus den Absperrschranken einer
Straßenbaustelle und anderen verfügbaren Baumaterialien eine erste Barri-
kade errichtet worden. Die ganze Thaliastraße hinaus wurden von Kande-
laber zu Kandelaber Stacheldrahtzäune gespannt, aus städtischen Anlagen
wurden Bänke herbeigeschafft und mit Gasrohren zu weiteren Barrikaden
ausgebaut. Die Demolierung von Straßenlaternen ging indes ohne Unter-
brechung weiter.
Die requirierte und nachrückende Militärassistenz besetzte zunächst die
Tabakfabrik, auf die vordringlich ein Angriff befürchtet wurde, in weiterer
Folge wurden die Hauptstraßen zerniert und deren Zugänge gesperrt. Über-
all, wo das Militär auftauchte, wurde es mit ohrenbetäubendem Geschrei
empfangen, »mit Steinen, Eisenstücken etc. beworfen und mit Stöcken trak-
tiert«.34 Unausgesetzte Straßenräumungen mit blanker Waffe zeitigten we-
nig Erfolg, da sich die Demonstranten blitzschnell zurückzogen, sich an
anderen Stellen wieder formierten und ihre überlegene Ortskenntnis aus-
spielten, während den kommandierenden Offizieren die örtlichen Verhält-
nisse völlig unbekannt waren und den einzelnen Truppenteilen berittene
Polizisten als ortskundige Führer beigegeben werden mußten.35
Man habe, so die Polizeidirektion Wien, Demolierungen und selbst
Brandlegungen nicht verhindern können, »weil ganze Gruppen von Exze-
denten bald da, bald dort in dem ausgedehnten Bezirksterritorium auftauch-
ten, überall Gewalttätigkeiten verübten und bei Ansichtigwerden von Wa-
che und Militär ras<Jh auseinander stoben«. Aufgrund des Aufmarsches von
führer- und disziplinlosen Massen und der damit verbundenen Gefahr wäre
»die Beistellung der ganzen in Wien verfügbaren Militärbereitschaft« not-
wendig gewesen. Wenn es dennoch zur Bewältigung des Aufruhrs »viele
Stunden« brauchte, so sei dies darauf zurückzuführen, »daß die verbreche-
rischen Elemente in dem gewaltsamen Widerstande gegen die Staatsgewalt
von einem Teile der Bezirksbevölkerung auf das wirksamste unterstützt und
zur Fortsetzung ihrer Widerspenstigkeit angefeuert wurden«.36 Aus den
Fenstern der Zinskasernen wurden Steine, Eisenstücke, Biergläser und ähn-
liches gegen Polizei und Militär geschleudert; k.k. Polizeirat Emil Fröm-

29
BILD 4
Vom sozialen Protest in den kurzen Tag der Anarchie
Bildnachweis: Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung Wien

mel, der bereits den Einsatz auf der Freyung geleitet hatte, wurde von ei-
nem Bügeleisen am Kopf getroffen und schwer verletzt.
Die Ereignisse brachten den ganzen Bezirk auf die Beine. Zu den jugend-
lichen Tumultanten gesellten sich Massen von Neugierigen, an den Fenstern
hingen Menschentrauben, die Gaststätten und Kaffeehäuser waren zum Ber-
sten voll; und in abertausenden Varianten diskutierten und besprachen die
erregten Menschen das immer gleiche Thema. Und wenn »Lumpenproleta-
riat« und Halbwüchsige eine Situation ausnützten, in der die Polizei die Stra-
ße nicht mehr beherrschte, so waren dem Aufstand doch auch Momente
der Leidenschaft eigen, in denen »bis zur Ekstase entflammter Massenzorn«
zur Triebfeder der Aktion wurde:
Man denke nur, ein Wald von Bajonetten starrt den Massen entgegen, jeden Mo-
ment droht sich ein Hagel von todbringenden Geschossen über sie zu ergießen.
Sie wissen das, sie kennen das Schicksal, das ihrer harrt, wenn es blutiger Ernst wird.

30
Sie zweifeln nicht, daß dann alle ihre Leiber zuckend den Boden bedecken werden,
sie müssen auch wissen, daß es eine furchtbar ernste Sache ist, mit dem Militär an-
zubinden. Aber der Zorn kocht, die Leidenschaft gärt, treibt sie an, die Gefahr und
selbst den Tod zu verachten, mit unwiderstehlicher Gewalt drängt es sie nach vor-
wärts, mitten hinein in den Wald von Bajonetten, obgleich sie wissen, daß es sinn-
los und zwecklos ist, da die unbewaffnete Menge niemals gegen die bewaffnete
Macht etwas ausrichten kann. Ein fabelhafter ekstatischer Mut zwingt sie in den
Bann dieses ungleichen Kampfes. Und dieser Mut wird nun zu einer harten Prü-
fung für die Soldaten selbst, die es - es sei dies zugestanden - um alles in der Welt
vermeiden möchten, sich mit dem Blute unbewaffneten Volkes zu beflecken. Es kra-
chen Schüsse. Eine Salve prasselt, und nun sollte man meinen, würde Ernüchterung
eintreten. Selbst in der Feldschlacht wirkt eine aus unmittelbarer Nähe überraschend
gegen den anstürmenden Feind abgegebene Salve Winder. Doch nur wenige Schritte
weicht die Volksmenge zurück und wieder treibt es sie mit unwiderstehlicher Ge-
walt vorwärts, bis dann noch eine Salve, die leider auch Opfer fordert, sie abermals
zum Zurückweichen zwingt, aber nicht zum Fliehen. Auf wenige Schritte Distanz
bleibt die Masse dem Militär gegenüber, weicht nicht von der Stelle, hadert mit Sol-
daten und Offizieren (...). 37

Gegen drei Uhr nachmittags war der südwestliche Bezirksteil, von Thalia-
straße, Kreitnergasse und Schmelz begrenzt, militärisch besetzt. Die Kopp-
straße wurde bei der Kreitner- und Klausgasse von Bosniaken abgeriegelt,
die ihrerseits von den Demonstranten, die sich in der Herbststraße auf dem
freien Platz vor der im Bau befindlichen Heiligen-Geist-Kirche angesam-
melt hatten, mit einem Steinhagel eingedeckt wurden. Die Bosniaken gin-
gen nunmehr mit gefälltem Bajonett vor, die Menge »tobte, schrie wie wahn-
sinnig und sparte auch nicht mit Steinen«,38 um sich gegenüber dem
Arbeiterheim auf einem großen, unverbauten Gelände an der westlichen Sei-
te der Klausgasse erneut zu formieren. Als von der Koppstraße eine erste,
über die Köpfe der Demonstranten gerichtete Salve hörbar wurde, brach
die Menge in ein »furchtbares Johlen und Schreien« aus und begann erneut
ein Steinbombardemefit gegen das Militär. Den Soldaten gelang die Fest-
nahme eines Steinwerfers, der von dem Polizeiagenten Ernst Hofmann unter
Bedeckung von vier berittenen Wachen abgeführt werden sollte. In einem
wüsten Handgemenge wurde der Verhaftete von den Demonstranten be-
freit. Als die Menge nunmehr lautstark die Auslieferung des durch Stock-
hiebe und Steinwürfe bereits schwer verletzten Polizeiagenten forderte, ließ
der Kommandant der bosnischen Infanteriekompanie Feuerbefehl geben.39
Erneut wurde über die Köpfe der Menge geschossen, die Kugeln schlugen
in den gegen den Bauplatz gerichteten Feuerwänden in einer Höhe von ein

31
bis drei Stockwerken ein. Querschläger allerdings verletzten drei Demon-
stranten so schwer, daß sie in der Folge ihren Verletzungen erlagen; der
zwanzigjährige Franz Joachimsthaler erlitt einen Bauchschuß und starb noch
auf dem Weg ins Spital. Währenddessen begann das Militär einen Bajonett-
angriff, der neunzehnjährige Otto Brötzenberger, der zufällig vorbeigekom-
men war und sich in das Arbeiterheim zu retten versuchte, erlag einem
Bruststich.
Obwohl sich, wie im Polizeibericht vermerkt, die Kunde vom Waffen-
gebrauch binnen kürzester Zeit im gesamten Bezirk verbreitet hatte, »lie-
ßen die Exzedenten von weiteren Verwüstungen nicht ab«. 40 Auf der
Schmelz waren bereits die Dampfkraftvermietungsanstalt und die Schoko-
ladenfabrik Manner angegriffen worden. Daß aber »Schulen dem Pöbel ein
willkommenes Devastationsobjekt bilden würden«, war von den Sicherheits-
behörden nicht ins Kalkül gezogen worden.41 Die Tagespresse sprach über-
einstimmend von einer »Knabenrevolution«, einer »Bubenschlacht«, einer
»Revolte der Ottakringer Jugend«. Der Sturm richtete sich gegen die Real-
und Bürgerschule am Habsburgplatz, gegen die Impfstoffgewinnungsanstalt
in der Possingergasse, gegen die Volksschulen am Hofferplatz und in der
Koppstraße. Es waren die »Kinder der steinbesäten Schmelz«, überwiegend
Zwölf- bis Vierzehnjährige, vereinzelt auch Siebzehn- und Achtzehnjähri-
ge, die sich in einen kurzen Rausch der Zerstörung steigerten. Dazu kam
die Lust am Schauspiel, einer Inszenierung, der etwas Neues, Großes, Ge-
waltiges innewohnte, bei der man selbst Akteur war und doch auch zugleich
Zuseher. Zur Seite traten der Straßenjugend die Frauen und Mütter, zu de-
nen, wie die Arbeiter-Zeitung beklagte, »die Aufklärung so schwer kom-
men kann« und die dort, »wo es ihre Pflicht wäre, klar und hart zu den-
ken«, sich vom Schauspiel der Zerstörung mitreißen ließen und in ihren
Schürzen den Jungen die Steine zutrugen42 - jenen Jungen, die, wie aus dem
Boden gestampft, nun plötzlich alle Gassen und Plätze bevölkerten.43 So-
bald das Militär nachrückte, verschwanden sie wie auf ein Kommando; ein
Schuldiener gab an, mehrmals den aus dem Rotwelsch44 entlehnten Ruf »es
wird jung!« vernommen zu haben.45 Nur auf dem Habsburgplatz tobte bis
lange nach Einbruch der Dunkelheit ein Kampf zwischen Militär und Gas-
senjungen.
Diese Schule war bereits in den Nachmittagsstunden Ziel unausgesetz-
ter Angriffe gewesen. Ein ausgerissener Bagstall diente als Mauerbrecher
gegen das Schultor; Kataloge, Bücher, Hefte, alles >Papierene< wurde zer-
stört, auf die Straße geworfen und angezündet; schließlich wurde das Schul-

32
gebäude selbst in Brand gesetzt und die anrückende Feuerwehr mit allen
erdenklichen Mitteln am Eingreifen gehindert. Mitgenommen wurden al-
lerdings sämtliche Jugendspiele sowie einige Hanteln aus dem Turnsaal, die
später als Wurfgeschosse Verwendung gefunden haben mögen.
Uberall bot sich das gleiche Bild der wutentbrannten Zerstörung der
Monumente einer Moderne, die von den Revoltierenden beinahe ausschließ-
lich als Disziplinierungs- und Kontrollinstanz erfahren wurde: das Volks-
schulgebäude auf dem Hofferplatz wurde gestürmt, das massive, eiserne
Umfriedungsgitter umgerissen, an die hundert Eisenstangen in unregelmä-
ßigem Bogen abgerissen. Sie dienten als Waffen und Werkzeug, die aus dem
gemauerten Sockel herausgerissenen Ziegel als Wurfgeschosse. Auch hier
wurden Bücher, Kataloge, Formulare und Hefte herausgeholt, Stück für
Stück zerfetzt und auf die Straße geworfen. Aus den Papierfetzen wurde
ein Scheiterhaufen errichtet und unter »dem Höllenlärm eines grauenhaf-
ten Konzertes« angezündet. In der Staats-Realschule Thalhaimergasse wa-
ren der Chemiesaal und sämtliche darin befindlichen Gegenstände zur Gän-
ze zerstört und ebenso wie die in der Possingergasse an die Realschule
angebaute Impfstoffgewinnungsanstalt in Brand gesteckt worden.
Erst gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag,
brachten Polizei und Militär die Lage unter Kontrolle.
Auf dem Hoffer-Platz ist das Hauptquartier der bewaffneten Macht. Dort stehen
Infanteristen, die Gewehre in Pyramiden zusammengestellt und große Massen Ka-
vallerie. Im Dunkel der Nacht vermeint man, ein richtiges Heerlager vor sich zu
haben. Boten eilen hin und her, Patrouillen zu Pferd und zu Fuß rücken aus und
kehren wieder heim, militärische Kommandorufe ertönen und drohend klirren die
Waffen. Geht man die Thaliastraße hinauf, dann stößt man von Zeit zu Zeit auf
starke Militärkordons, die die Straße dicht abschließen. (...) Auf Nebengassen, die
ebenso wie die Thaliastraße in tiefes Dunkel gehüllt sind, kann man noch gegen
die äußeren Grenzen des Bezirkes zu vordringen. (...) Nur wenige Ansammlun-
gen sind zu bemerken, die von Neugierigen gebildet sind. Die Menschen bespre-
chen erregt die Ereignisse des Abends. (...) Die Militärmacht beherrscht völlig das
Terrain.46

Damit hatte der heiße Atem der Anarchie am Ende eines langen Septem-
bertages des Jahres 1911 abrupt sein Leben ausgehaucht. Die Hungerre-
volte gibt ein beredtes Beispiel dafür, wie die Überlagerung von Einbrü-
chen der Lebenssituation des vorstädtischen Proletariats und unerfüllten
Projektionen in die Realmacht einer seit 1907 im Reichsrat vertretenen So-
zialdemokratie - durch eine scheinbare Nebensächlichkeit ausgelöst - zu

33
einem explosiven Aufstand wird, der ebenso rasch wieder in sich zusam-
menbricht. Und doch repräsentiert dieser Aufstand mehr als den von Otto
Bauer so brillant analysierten Schnittpunkt von Ökonomie und Politik und
weist in seiner Dynamik und Gestalt weit darüber hinaus.
Schon der Polizei waren im Gefolge der Tumulte besondere und eigen-
artige Vorkommnisse aufgefallen, die ihr unverständlich und unentziffer-
bar bleiben mußten und sie in ihrer Einschätzung, es mit einem bloßen Akt
eines sinnentleerten Vandalismus und der Devastierung »durchaus unschul-
diger Gebäude« zu tun zu haben, bestärkten. So war etwa der Auslagenka-
sten einer Trafik abmontiert, auf die Straße geworfen und eingeschlagen
worden, die darin befindlichen Ansichtskarten wurden zerrissen und über
die Straße verstreut. In der Kaiserstraße und in der Lerchenfelderstraße
wurden Papierhandlungen angegriffen, die Fensterscheiben zertrümmert,
»sonstige Papierwaren« - Bücher und Schulrequisiten - aus den Auslagen
gerissen, beschädigt und zerstört auf der Straße liegengelassen.47 Als in der
Panikengasse eine Wachstube gestürmt und demoliert wird, haben die De-
monstranten schon von der Haltestelle der Elektrischen die eisernen Ta-
felträger herausgerissen und damit die gesamte Einrichtung der Wachstube
zertrümmert; der zerstörte Telegraph aber wurde wie eine Trophäe auf die
Straße geworfen.48 Dies und die späteren, für den Berichterstatter der Neu-
en Freien Presse »beinahe grotesken Kundgebungen des Pöbels« gegen nicht
weniger als zehn Volks- und Bürgerschulen in Ottakring verweisen auf Di-
mensionen der Auseinandersetzung, die offensichtlich den dinglichen Cha-
rakter sonst üblicher Demonstrationen überschreiten und Akte von beson-
derem sozialen und kulturellen Sinn sowie spezifischen Symbolgehalt setzen.
Offensichtlich artikulierte sich in den Tumulten mehr als nur der sinn-
liche Ausdruck einer politischen Ökonomie des Vorstadtelends - Nahrungs-
mittelknappheit und miserable Lebensumstände - , mehr auch als nur die
Auseinandersetzung um die Beherrschung der Straße und des Territoriums.
Der von Polizei und Presse diagnostizierte »groteske« Charakter verweist
vielmehr auf eine kulturelle Formation von Differenz, Widersetzlichkeit und
Aufbegehren, die sich linearen Ableitungen aus politischen und ökonomi-
schen Rahmenbedingungen entzieht. Es muß demzufolge die Frage gestellt
werden, wie sich diese kulturelle Formation herstellt, was sich in ihr zum
Ausdruck bringt, aus welchen Traditionen sie schöpft und wie sie in Macht-
diskurse eingelassen ist und zugleich in Differenz zu diesen steht.
Es geht damit zunächst um die Frage nach der Formierung und Ausdiffe-
renzierung einer Urbanen Moderne, der die städtische Peripherie in mehrfa-

34
eher Weise Gegenstand der Aneignung ist. Diese Aneignung kann als Ver-
such interpretiert werden, ein bestimmtes Territorium mit bestimmten so-
zialen Konfigurationen zu integrieren, zu nutzen und wirtschaftlich zu
verwerten. Die Rationalisierung dieses Vorgangs - nämlich die mehrwert-
orientierte Nutzung vorstädtischen >Humankapitals< - ist nur durch die
Herstellung einer subtilen und stets gefährdeten Balance von Disziplinierung
und Kommunikation zu erreichen. Der Prozeß der Aneignung entfaltet sich
in einem Feld von Machtsetzung und Konflikt, von Unterwerfung und Auf-
begehren und kann nicht zuletzt als Widerstreit unterschiedlicher Codie-
rungen und Symbolsetzungen gedeutet werden.
Da die disziplinäre Macht der Modernisierung nicht ausschließlich und
nicht wesentlich über die militärischen und polizeilichen Gewaltapparate
ausgeübt wird, vollzieht sich in diesem Feld der Auseinandersetzung ein
Konflikt jeweils differenter Sinn- und Bedeutungszuschreibungen. Im Kon-
text urbaner Lebenswelten stellt sich die Differenz von Stadt und Vorstadt,
von Zentrum und Peripherie nicht nur wirtschaftlich und politisch her, son-
dern vielmehr auch symbolisch und kulturell als ein Kampf um die Beset-
zung des Stadtkörpers mit Bedeutungen und Wertigkeiten. Dieser Prozeß
läßt sich als ein Wechselspiel von latenten und manifesten Momenten, von
Stillstand und Bewegung, von vordergründiger Ruhe und plötzlichen,
scheinbar unvermittelten Eruptionen der Gewalt deuten. Das Zentrum setzt
dabei die Gewalt der Schrift, in der die Zweckrationalität und Versachlichung
der Moderne zu einem Instrument der Hegemonie verschmilzt, gegen die
mündliche und traditionsgestützte populäre Kultur der Vorstadt. Deren Wi-
derstand beschränkt sich nicht nur auf das Territorium der Straße, also die
ihr eigene Domäne, sondern sucht durch den Angriff auf die öffentlichen
Manifestationen der Moderne deren Macht und Gewalt zu durchbrechen.
Darin artikuliert sich, wie vage, grotesk, obskur und ambivalent auch
immer, ein Angriff auf die symbolische Ordnung der Moderne. Die Zerstö-
rung von Schriften und Schriftträgern scheint nicht nur eine Lust an der
Destruktion von Dingen als solchen zu offenbaren, sondern vielmehr einen
tiefen Unmut über jene neue gesellschaftliche Macht, die mit der Verschrif-
tung der Vorstadt einhergeht, zu artikulieren. Die Verschriftung äußert sich
nicht nur in einer simplen Oberflächentextur in Form von Reklame- und
Geschäftsschildern, Verkehrszeichen, Schriftzügen auf Häusern beziehungs-
weise in Form der Verbreitung von Druckerzeugnissen aller Art. Sie ist viel-
mehr ein eminent tiefgreifender Prozeß sowohl der Verdinglichung als auch
der Abstraktion von subjektiven und objektiven Lebensbedingungen. Es

35
waren die neu aufkommenden Sozial- und Gesundheitsstatistiken, die Haus-
ordnungen und Arbeitsregulative, die amtlichen Zeugnisse und Beurkun-
dungen, die Polizei- und Militärverordnungen, die Gesundheitsatteste und
Sterbeprotokolle sowie die angewandten Sozialwissenschaften in Gestalt von
Kriminalanthropologie und Kriminalistik, die das Dasein der Vorstadtbe-
wohner gleichsam verwissenschaftlichten, jedenfalls aber disziplinierten.
Die Vorstädte werden im Zuge der Urbanen Modernisierung mit Schrift-
lichkeit überformt und überzogen. Dies vollzieht sich nicht nur in Gestalt
systematisierter Regulative für Arbeit und Ausbildung oder in Form von
Werbetexten für die Massenprodukte einer aufstrebenden Konsumgüter-
industrie. Vielmehr wird die >Vorstadt< in ihrer Gesamtheit als eine Welt jen-
seits der bürgerlichen Rationalität und städtischen Ordnung gezeichnet. Die
Voraussetzung dafür bildet die breite Anwendung sozialstatistischer, me-
dizinischer, epidemologischer, evolutionsbiologischer und polizeiwissen-
schaftlicher Erkenntnisse, die ihrerseits erst der Moderne einen historischen
Möglichkeitssinn verliehen und die gesellschaftlichen Umbrüche des 19. Jahr-
hunderts in ein ehernes Gehäuse der Vernunft eingefaßt haben. Sie produ-
zieren ein instrumentelles Narrativ, das die Bedingungen schaffen soll, die
Vorstädte zu »kolonisieren« und in einem umfassenden Sinne zu ordnen -
nötigenfalls unter Einsatz polizeilicher und militärischer Mittel.
Schrift und Wissenschaft werden so zu signifikanten Emblemen der
Moderne, deren Gewalt sich die vorstädtische Elendsbevölkerung durch
materiale und symbolische Akte der Zerstörung zu entziehen versucht. In
der scheinbaren Irrationalität ihrer Wut, in der Anarchie ihrer Gewalt, äu-
ßert sich eine Logik, die der herrschenden Ordnung fremd ist und die sie
nicht zu deuten vermag. Für die rebellierenden Akteure hat die Gewalt hin-
gegen sehr wohl eine eigene Rationalität, da sie darin gleichermaßen ein Ven-
til für Aggressionen wie ein Moment der Befreiung und Freiheit finden.
Somit stellt sich die Frage, wie die symbolische Gewalt der Moderne die
Vorstadt als Territorium und Erscheinungsform des »Anderen« bezeichnet,
festlegt und definiert. Es stellt sich die Frage, ob die Vorstadt bloß ein pas-
siver Gegenstand der Manipulation und Transformation ist oder ob sie nicht
auch eine eigensinnige Physiognomie und Dynamik entfaltet und dieserart
die herrschende Ordnung unterläuft und ihrerseits verändert. Können Stadt
und Vorstadt, Zentrum und Peripherie als Phänomene nur in einer linearen
Polarität begriffen oder müssen nicht beide als Momente ein und dessel-
ben Transformationsprozesses analytisch zur Disposition gestellt werden?
Sind nicht beide historische, ineinander verzahnte Formationen und Terri-

36
torien, die immer wieder über reziproke Wahrnehmungen, Zuschreibungen
und Bedeutungsaufladungen neu definiert werden? Wie formiert sich die
Stadtgestalt als Ensemble differenter kultureller Prozesse und wie stellt sich
in diesem Kontext >Vorstadt< zugleich als eine Konfiguration von Segrega-
tion und Integration, von Differenz und Identität her? Stellen sich letzt-
lich die Fragen von Macht und Ohnmacht, von Selbstbestimmung und
Fremdzuschreibung aus dem Blickwinkel der Peripherie nicht radikal an-
ders? Und was sind die lebensweltlichen Orientierungen, die Strategien des
Uberlebens und die Herausforderungen durch das Neue, die dem vorstäd-
tischen Leben Sinn verleihen?
Stellen so Segregation und Integration, kulturelle Differenz und Iden-
tität, Macht und Ohnmacht wesentliche Konstitutiva von >Vorstadt< dar, so
ist zunächst die Frage nach ihren sozialen Erscheinungsformen zu stellen.
Woher kommt die Vorstadtbevölkerung, wie ist ihre soziale Zusammenset-
zung und wie sind ihre konkreten Lebensumstände beschaffen? Wie sieht
die Topographie und die bauliche Gestalt von Vorstadt aus? Wie funktio-
niert ihr sozialer Organismus und ihr Alltag? Kurzum, es geht um eine Phä-
nomenologie des Vorstädtischen.

37
M Ü N D L I C H E S LAND - S C H R I F T L I C H E STADT

Im Prozeß der Industrialisierung nimmt die Vorstadt einen spezifischen,


dualistischen Charakter an, ist sie die Überführung, die sukzessive Inte-
gration des flachen Landes in städtisches Gefüge und urbane Strukturen:
eine Grauzone des diffusen Übergangs von agrarischer und urbaner Kul-
tur, die Negation der Landschaft im Stadtgefüge, das gleichzeitige Neben-
und Ineinanderexistieren von Industriekomplexen und Zinskasernen, von
Feldern und Gstetten, von Fabriksabplankungen und freiem^ offenen Gelän-
de. Vorstadt bezeichnet aber auch spezifische Mentalitäten, die von einem
Umfeld und Milieu bestimmt sind, das kulturelle Transformation ebenso
wie rasante industrielle Entwicklung anzeigt: ländlich-agrarische Bewußt-
seins- und Lebenswelten, eingebunden in rasch verlaufende Urbanisierungs-
prozesse, die den die Vorstadt insgesamt kennzeichnenden Übergangscha-
rakter reflektieren.49
Ebenso wie die Revolution der Stadt dem Dorf die politische Befreiung
brachte, wurde das Land durch ihre Auswirkungen zugleich der neuen Hege-
monie der industriellen Gesellschaft unterworfen. Am 13. März 1848 hatte
sich Wien erhoben, in der dritten Augustwoche war es erstmals zu bewaffne-
ten Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und städtischem Proletariat
gekommen. In diesen Tagen der stärksten sozialen Gärung in der Hauptstadt
wurde vom Reichsrat das Gesetz über die Grundentlastung beschlossen. Die
Erhebung des hauptstädtischen Proletariats hat so der Bauernbefreiung den
Weg gebahnt; Konterrevolution und Neoabsolutismus konnten die städti-
sche Revolution nur liquidieren, indem sie deren Errungenschaften für die
Bauern garantierten. Durch die Aufhebung des Erbuntertänigkeitsverhält-
nisses waren die Bauern Bürger des Staates, freie Eigentümer ihres Bodens
geworden. Vierzig Jahre nach der Revolution waren die letzten Reste des
alten Untertänigkeitsverhältnisses endgültig beseitigt, wie auch gleichzeitig
Raum für die Verfestigung neuer Abhängigkeiten geschaffen worden war.

38
Während aber das konterrevolutionäre Regime erstmals mit massivem
Verwaltungsaufwand die Beziehungen zwischen der Herrschaft und dem
Dorf engmaschig zu regeln begann und ein wesentlicher Teil des alten Ge-
meindegutes in individuelles Privateigentum übergegangen war, blieben
durchaus Gemeinschaftsvermögen der Bauernschaften, Nachbarschaften
und Interessentenschaften daneben bestehen. Dies warf grundlegende in-
terne Probleme der ländlichen Siedlungsgemeinschaften auf. Die bis zur
Jahrhundertwende weitgehend nicht geklärte Frage der Nutzungs- und Be-
sitzrechte an den ehemaligen agrarischen Gemeinschaften wurde, vor allem
in den süd- und südwestböhmischen Dörfern, Anlaß und Gegenstand von
tiefgreifenden sozialen Auseinandersetzungen. Die Ursache dafür lag im
Konflikt zwischen den altansässigen Bauern als den ehemaligen »Genossen«
der alten Realgemeinde und den Mitgliedern der neuen politischen Gemein-
de, die im Gefolge der liberalen Verfassung von 1867 traditionell hierarchisch
gegliederte Dorfgemeinschaften durch egalitäre Kommunalstrukturen neu
zu strukturieren beabsichtigte.
Im Gefolge der Revolution waren postfeudale Eigentumsformen entstan-
den, die in den kommenden Jahrzehnten von einer durchgreifenden kapi-
talistischen Entwicklung verändert wurden. Der Liberalismus brachte die
Freiteilbarkeit des Bauernlandes, die einzelne Parzelle als Ware, dramatisch
steigende Bodenpreise und damit die Abhängigkeit einer immer größer wer-
denden Anzahl bäuerlicher Wirtschaften von ihren Hypothekargläubigern.
Die mit dem Wiener Börsenkrach 1873 spektakulär eingeleitete Depres-
sion zog zudem - verstärkt durch eine Reihe von Mißernten in den Jahren
1872-76 und dem immer deutlicher spürbar werdenden Preisdruck des billi-
gen überseeischen, v. a. amerikanischen Getreides - krisenhafte Tendenzen
in der gesamten cisleithanischen, insbesondere aber der böhmischen Land-
wirtschaft nach sich, die nach 1879 in den langanhaltenden konjunkturellen
Abschwung der achtziger und neunziger Jahre mündeten. Hatten sich die
Bauern in den Jahren der günstigen Konjunktur auf hohe hypothekarische
Belastungen eingelassen und ihre Betriebe dementsprechend organisiert,
gerieten nunmehr die Schuldzinsen in ein immer größeres Mißverhältnis
zu dem durch Absatzkrisen, Preisdruck und geringeren Ernteerträgen re-
duzierten Gewinnen, die - wie Peter Heumos für die böhmischen und
mährischen Gebiete nachgewiesen hat - örtlich oft so niedrig lagen, daß
die Gestehungskosten für die jeweils nächste Feldbestellung oftmals nur
durch eine weitere Aufnahme von Hypotheken gedeckt werden konnten.50
Die liberale Mobilisierung des Bodens, die damit zusammenhängende fort-

39
schreitende Realteilung ebenso wie die Pauperisierung breiter bäuerlicher
Schichten, die Bodenzerstückelung und die dadurch bedingte »Verkleinbäu-
erlichung«, die soziale Differenzierung der Bauernschaft, der Preisverfall bei
landwirtschaftlichen Produkten, Uberschuldung und faktische Erschöpfung
der Kreditversorgung erwiesen sich als zentrale Bestimmungsmomente ei-
ner umfassenden Krise, die das gesamte agrarische Feld nachhaltig destabi-
lisieren sollte.
In Kombination mit einem seit den 1860er Jahren spürbar gewordenen,
markanten Bevölkerungswachstum führte dies zu einem bis zur Jahrhurv
dertwende stetig ansteigenden Migrationsstrom, der vor allem unterbäuer-
liche Bevölkerungssegmente abschöpfte und der in einzelnen Gebieten ei-
ner faktischen Entvölkerung gleichkam. Wie den Bodenbesitz hatte die
Revolution von 1848 die Menschen mobilisiert und eine Art agrarwirtschaft-
liche Gründerzeit verursacht, die ihrerseits den Keim späterer Krisen be-
reits in sich trug. Dieser kurze agrarische Konjunkturaufschwung führte im
Zusammenwirken mit den neuen, in der liberalen Verfassung verankerten
Bürgerrechten zu einer demographischen Dynamik, die mit dem gestiegenen
Humankapitalbedarf expandierender urbaner und industrieller Ballungsräu-
me zusammentraf. Mit der in den frühen 1870er Jahren vehement einset-
zenden Agrarkrise wurde, vermittelt und unterstützt durch neue Kommu-
nikations- und Verkehrsmittel (Telegraphie, Privatpostverkehr, Eisenbahn),
der Migrantenfluß zum Migrantemirom.
Die Eskalation der Agrarkrise hatte die Abhängigkeit des agrarischen
Feldes vom städtischen Kapital noch verschärft, hatte doch der Ubergang
von der geschlossenen Hauswirtschaft und Eigenbedarfserzeugung zur
Marktproduktion zu zunehmender Marktabbängigkeit geführt. War etwa in
den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts schätzungsweise nur ein Drittel
der böhmischen Agrarproduktion für den Markt bestimmt, so stieg dieser
Anteil bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf zwei Drittel.51 Der einsetzen-
de, dauerhafte Preisverfall von Weizen, Roggen und Zucker traf die überwie-
gend getreideproduzierenden Gebiete in drastischer und dramatischer Weise.
Diesen tiefgreifenden Wandel reflektiert Karl Renner - der an der
deutsch-tschechischen Sprach- und Landesgrenze aufgewachsene spätere
Staatskanzler und Bundespräsident - , indem er die Destabilisierung und ten-
denzielle Destruierung des ländlich-agrarischen Raumes im Wechselspiel von
Agrarkrise und Kinderreichtum, von Bewucherung und »Einbruch des Ka-
pitals in das Dorf« eindrucksvoll beschreibt. Die fortschreitende soziale Dif-
ferenzierung des Dorfes, die »Proletarisierung eines großen Teiles seiner Be-

40
wohner« führte zu einer vordem unbekannten Verfestigung sozialer und kul-
tureller Stratifizierung. Das »Verhältnis zwischen dem Bauern und seinen
Helfern« wurde zur Gänze »der persönlichen Freundschaft entkleidet und
nicht selten ganz feindselig gestaltet«, der alte »Ehrenunterschied des Ran-
ges durch den Gegensatz zweier Klassen« ersetzt,52 das ehedem »friedli-
che, freundschaftliche Zusammenwohnen« in »böse, gehässige Gegnerschaft
verwandelt«.53 War noch um die Mitte des Jahrhunderts die »Zuchtwahl nach
Tauglichkeit und insbesondere nach dem Arbeitseifer« zentrales Auswahl-
kriterium bei Verehelichungen gewesen und »im Kind nicht der Erbe, son-
dern die Arbeitskraft« gesehen worden, so setzten nunmehr die wenigen
vermögenden Großbauern einer »Verbindung mit ärmeren oder auch nur
zweitrangigen Familien« erbitterten Widerstand entgegen, »und zwischen
den betroffenen Häusern herrschte lebenslange, bittere Feindschaft«.54
Dieser Bruch in der Reproduktion bäuerlicher Kulturen und mächtige,
komplementäre Prozesse der Marktorientierung und Marktabhängigkeit, der
Industrialisierung und Kapitalisierung, des Ausbaus und der Verdichtung
der Verkehrsbeziehungen wälzten die Arbeitsverfassung im Bauernhof um
und unterwarfen das gesamte ländlich-agrarische Feld einer tiefgreifenden
sozial-kulturellen Transformation. Dorfproletariat, Dorfarmut und ländli-
che »Überschußbevölkerung« überhaupt wurden zum Hauptreservoir eines
kolossalen Stroms der Nah- und Binnenwanderung, der die (wenigen) in-
dustrialisierten Enklaven der Monarchie, vor allem aber das rasch expan-
dierende, boomende Zentrum Wien belieferte. Kurzum - die moderne Stadt
dominiert, restrukturiert, formt und überformt das Land gemäß ihrer Lo-
gik und ihren Bedürfnissen, und das dieserart passiv gewordene, transfor-
mierte und funktional neubestimmte Land schaufelt billige Arbeitskraft in
Massen in die Stadt.
Die Migrantinnen und Migranten kamen aus den verschiedenen Kronlän-
dern der Monarchie mit ihren unterschiedlichen Ethnien und differenten
Herkunftskulturen; in ihrer überwiegenden Mehrzahl aber entstammten sie
entweder den kaum industrialisierten, agrarischen Gebieten Südböhmens
und Südmährens, also gleichsam dem unmittelbaren agrarischen Hinterland
der Reichshaupt- und Residenzstadt, oder sie kamen aus Gebieten, in de-
nen die Landwirtschaft im Gefolge der Agrarkrise nur mehr als Neben-
erwerb betrieben wurde.55 Sie repräsentierten, in den Worten Otto Bauers,
den »höchsten Typus agrarisch-hauswirtschaftlicher« ebenso wie den »nie-
dersten Typus industriell-kapitalistischer« Wanderung.56 Sie kamen als un-
qualifizierte oder semiqualifizierte Arbeitskräfte für Industrie, Gewerbe und

41
private Haushalte, paßten sich der funktionellen Differenzierung der ein-
zelnen Wiener Stadtteile an, siedelten in den industriellen Arbeitervorstäd-
ten, verstärkten und verfestigten somit einen in der Gründerzeit angeleg-
ten Differenzierungsprozeß sozialräumlicher Segregation.57 Dieses Muster
ist allerdings in Hinblick auf weibliche Migrantinnen stark zu relativieren.
Durchwegs ohne Berufsqualifikation, konnten sie im großstädtischen Zu-
sammenhang beinahe ausschließlich in privaten Haushalten, zu einem ge-
ringen Teil auch in hausrechtlich verfaßten Berufen ihr Auskommen fin-
den. 1890 gab es in Wien über 86000 Dienstmädchen, 1910 knapp über
99000 (das entspricht 34 bzw. 27 Prozent aller erwerbstätigen Frauen).58
Prinzipiell bedeutete die Zuwanderung Urbanisierung und Proletarisie-
rung, Verstadtlichung und Infragestellung der traditionellen Arbeits-, Woh-
nungs- , Ernährungs- und Kleidungsweisen; die Migranten brachten aber
auch ihre verfestigten, ländlich-agrarisch verfaßten Lebensformen und
Denkweisen in den städtischen Zusammenhang, in das urbane Feld ein, wo
diese ihrerseits adaptiert, modifiziert, umgewälzt wurden.59 Die tschechi-
sche Zuwanderung nach Wien hatte eine lange Tradition und vollzog sich,
zumal es sich hierbei fast hundertprozentig um Katholiken handelte, in den
Bahnen einer permanenten ethnisch-kulturellen Assimilation, einer bereits
von zeitgenössischen Beobachtern registrierten, vergleichsweise raschen An-
passung an das großstädtische Milieu. Erst mit dem um 1900 einsetzenden
verstärkten Zuzug qualifizierter tschechischer Industriearbeiter mit stark
ausgeprägter nationaler Identität und spezifischen kulturellen Interessen
begann sich ein tschechisches Gemeinwesen mit eigenen Vereinen, Zeitun-
gen, Buchhandlungen etc. zu etablieren. Die sich ausbildende soziale und
kulturelle Festigung der tschechischen Minderheit nahm eine politische Di-
mension an: So etwa konnte der Kampf um die Einrichtung öffentlicher
Schulen Tschechen aller sozialen Schichten einen. Wie auch der ursprüng-
lich auf böhmische und mährische Kleinstädte beschränkte nationalistische
Separatismus innerhalb der Industriearbeiterschaft die Reichshauptstadt um
1910 mit voller Wucht erfaßte und - umso mehr, als es in Wien de facto
keinen einzigen größeren Industriebetrieb gab, der nicht national durch-
mischt gewesen wäre - das eben erst gefestigte innere Organisationsgefü-
ge der sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu sprengen drohte, die damit
zu einer erneuten, streng zentralistischen Organisationsreform gezwungen
war.60 Zugleich verweist aber das konkrete Wahlverhalten großer Teile der
tschechischen Zuwanderer auf rasch vollzogene Assimilierungsprozesse. Als
die nationalistisch-separatistischen tschechischen Sozialdemokraten in Wien

42
mit den Tschechisch-Bürgerlichen anläßlich der Gemeinderatswahl 1912
koalierten, konnte diese Liste nicht mehr als 13000 Stimmen (gegenüber
118000 Stimmen der deutschen Sozialdemokratie) erzielen. Die überwie-
gende Mehrheit der Tschechen hatte also ihre Stimme für die Wiener deut-
sche Sozialdemokratie abgegeben und ihr politisches Verhalten nicht nach
ethnischen Gesichtspunkten ausgerichtet.
Über die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Migrations-
strom von Angehörigen agrarischer und gewerblicher Unterschichten ge-
prägt und dominiert worden. Agrarkrise und soziale Differenzierungspro-
zesse hatten eine vormals vergleichsweise homogene ländliche Kultur
nachhaltig fragmentiert, desintegriert und im Maschinentakt der neuen Zeit
zerstört. Entscheidend wurden nunmehr die Vorgaben eines zunehmend
organisierten Urbanen und industriellen Marktes, die ihre teils >blinden
Effekte< (neue Bedürfnis- und Nachfragestrukturen, Preisverfall etc.) ge-
waltsam in eine im wesentlichen untergeordnete und nur mehr partiell
hauswirtschaftlich-agrarische Ökonomie einprägten. Dennoch ist das agra-
risch-ländliche Feld durch Kontinuitäten, vor allem einer gegenüber dem
Städtischen ganz unterschiedlichen Raum-Zeit-Konzeption charakterisiert,
die sich als endlicher, lokal gebundener und zirkulärer Jahresablauf des Sä-
ens und Erntens gegenüber dem unendlichen linearen Zeitstrom der indu-
striellen Produktion manifestiert.61
Die für das ländlich-bäuerliche Dasein typische Gemeinschaftsform, das
Dorf, ist der Inbegriff, gleichsam eine Epitome direkter Beziehungen und
Kontakte von Angesicht zu Aflgesicht. Individuen sind identifizierbar und
innerhalb dieser Gemeinschaft über ein dichtes Netz von Hierarchien und
autoritätsfixierten Abhängigkeiten eng miteinander verbunden. Dichte
Kommunikation und enge soziale Kontakte korrelieren mit einem erheb-
lichen Maß an kultureller, religiöser und politischer Normenkontrolle und
spezifisch dörflichen Bestrafungsmustern. Die Struktur der Gemeinschaft
ist sichtbar und transparent, verleitet zu >Spionage< und beruht auf der
»Durchsichtigkeit selbst noch der innersten Räume«.62
Nun ist das Rurale weder zeitlos noch statisch; zweifellos aber begün-
stigen Ökonomien und Gemeinschaften, die im wesentlichen in sich abge-
schlossen sind, in denen Wohnen und Arbeiten, Leben und kultureller Aus-
druck an einem Ort zusammenfallen, das zähe Fortleben traditioneller/
prämoderner Muster und Normen. Ländlich-agrarische Lebenswelten be-
inhalten so eine Repräsentation des Raumes, ein >Gitter im Raums das
Orientierung voraussetzt; eine Fähigkeit, Orte zu benennen und zu begrei-

43
BILD 5
Dorf in der Stadt, Brunnenmarkt in Neulerchenfeld
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

fen, die von der Einbindung in geschlossene, zyklische, organische Gemein-


schaften abhängig und bestimmt ist. Einfache Rhythmen und Zyklen wer-
den Bestandteil eines größeren und holistischen Denkens, das den gesam-
ten Lebensablauf und seine Ereignisse (von der Geburt bis zum Tod) ebenso
wie das Aufeinanderfolgen der Generationen in sich einschließt.63 Die ge-
sellschaftliche und kulturelle Integration sicherzustellen, den kosmischen
Zyklen Sinn einzuschreiben und Bedeutung zu unterlegen, ist die Aufgabe
der Religion und der verschiedenen Bekenntnisse, denen die Funktion mys-
tisch-dogmatisch eingekleideter Sozialisierungsanstalten zukommt wie sie
auch Instanzen gesellschaftlicher Zucht sind.
Die bäuerliche Kultur mit ihren geschlossenen Lebenszyklen und isolier-
ten sozialen Erfahrungsräumen trifft im Städtischen auf ein höchst komple-
xes Spannungsfeld, das an die Stelle von kultureller Identität die Differenz-
erfahrung des Fragmentarischen setzt und somit soziale Beziehungsgefüge
sichtbar und decodierbar macht. Die Zeichen der Verstädterung sind jene

44
BILD 6
Verschriftete Stadt, Ecke Lerchenfeldergürtel - Neulerchenfelderstraße
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

der Versammlung, der Ansammlung, der Kumulation und der Verdichtung.64


Die Stadt ist Anhäufung von Objekten, sie intensiviert die Komplexität des
sozialen Lebens und inszeniert das soziale Band der Menschen als Erfah-
rung der Fremdheit.65 Sie ist nicht nur eine räumliche und soziale Form des
modernen Lebens, sie ist vor allem Trägerin eines dezidierten, entschieden
modernen Bewußtseins. Der (räumliche und kulturelle) Wechsel vom Land

45
in die Stadt ist signifikant und in jedem Fall ein Bruch in der individuellen
Biographie. Das scheinbar unbegrenzte städtische Wachstum, die zunehmen-
de Komplexität und Teilung von Arbeit, die grundlegend geänderten Bezie-
hungen zwischen und innerhalb der sozialen Klassen, die Reduktion auf
objektive Arbeitskraft: Solche Veränderungen ließen die quasi ptolemäischen
Vorstellungen eines geordneten, trotz Dominanz der Natur anthropozen-
trischen Kosmos einer geschlossenen Gemeinschaft obsolet werden und
setzten an deren Stelle die städtische Erfahrung einer >kopernikanischen
Wende«; das heißt eine fundamentale Erfahrung von subjektiver Irrelevanz
im Gedränge, in der Hetze und im tosenden Lärm, in der schillernden Durch-
mischung und schmerzenden Kontingenz dieser neuen und komplexen so-
zialen Ordnung. Die Koexistenz von Systematischem und Willkürlichem,
von Sichtbarem und Unsichtbarem - das ist die eigentliche Signifikanz der
modernen Stadt als dominanter Lebensform.
Ferdinand Hanusch, nachmaliger Sozialminister der ersten österreichi-
schen Republik, der Mitte der achtziger Jahre als mittelloser Wandergesel-
le nach Wien gekommen war, beschreibt die dramatische Erfahrung dieser
kopernikanischen Wende als »das große Häusermeer, aus dem der Groß-
stadtlärm dumpf herüberdrang, der dem am Lande Aufgewachsenen Schrek-
ken und Entsetzen einflößt«. Scheinbar willkürlich aneinander vorbeiströ-
mende, manchmal kollidierende Massen, eine offensichtliche Absenz von
Verbindung und Beziehung, die aufregenden und zugleich bedrohlichen
Konsequenzen neuartiger Mobilität verdichten sich zu einer durchgängi-
gen Erfahrung von Anonymität, Verlust und Isolation:
Nun war ich in diesem großen Ameisenhaufen selbst eine Ameise.... Die großen
Häuser, die großen Auslagen, die vielen Menschen, die an mir vorübereilten ohne
sich um mich zu kümmern, die dahinrasenden Fiaker und die auf dem Pflaster pol-
ternden Omnibusse, die Pferdetramway mit ihrem Geklingel und die schimpfen-
den Fuhrwerkleute, alles das erzeugt einen solchen Lärm, den der Großstädter wohl
gewöhnt, der aber auf den zum erstenmale in eine Großstadt Kommenden so nie-
derdrückend wirkt, daß er den letzten Rest von Muth verliert, weil es ihm unmög-
lich scheint, sich in diesem Leben und Treiben zurechtzufinden. (...) Nach Wien
zu kommen und hier mein Glück zu machen, das war der Traum seit meiner frühe-
sten Jugend, wie es der Traum so Vieler ist. Nun war ich in Wien, in dieser Millio-
nenstadt und saß einsam und verlassen da, so einsam, wie ich es im Leben noch
nicht war.66

Der rhetorische Gestus einer repressiven Uniformität kann allerdings Dif-


ferenz, Komplexität, Fremdheit, Konfliktualität als konstitutive Aspekte der

46
Urbanen Erfahrung nicht allein verdeutlichen. Es geht vielmehr um einen
Widerspruch, ein Paradoxon: nämlich um die Gleichzeitigkeit von Unter-
schied, Willkür und Ordnung, von sichtbaren Fakten und Dingen und
unsichtbarer Stadtgestalt. Diese besteht zunächst aus Strukturen, die der
sinnlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich sind, aus Besitz-
verhältnissen, Bauvorschriften, Servituten, Mietzinsen, Steuern etc. Die
>Stadtgestalt< ist also nicht nur ein materielles Gebilde, sondern ebensosehr
ein Konstrukt erlernter bewußter und unbewußter Wahrnehmungsmodi.67
Sie ist derart kein einfach vorgegebenes Faktum, sondern Produkt und Pro-
zeß zugleich und Ausdruck einer jeweils eigensinnigen Verschränkung von
symbolischer und materieller Sphäre. Sie ist damit ebenso ein Feld von poli-
tischen Diskurse» der Identität wie potentiell politisierenden Erfahrungen
von kultureller Differenz.
Die Eingliederung der Zuwanderer in die städtisch-metropolitanen
Strukturen, die Anpassung ihrer agrarischen Herkunftskulturen an das ur-
bane soziale Gefüge, «die (über-) lebensnotwendige Modifikation ihrer Le-
bensweisen im Urbanen Zusammenhang verlaufen somit in einer komple-
xen, widersprüchlichen Interaktion von Adaptierung, Assimilierung und
Wertekonflikt. Die Migranten tragen ihre (ungeschriebene) Geschichte mit
sich, ihr Dorf im Kopf, und haben zugleich neue Formen der sozialen Or-
ganisation zu erlernen, neue leitende Ideen zu begreifen, die sich ihrerseits
aus dem Diktat der industriellen Disziplin und rigoroser Zeitskalen ablei-
ten. Die Großstadt gewöhnt sie »durch die Komplikation und Wirrnis des
äußeren Lebensbildes an fortwährende Abstraktionen, an Gleichgültigkeit
gegen das räumlich Nächste und enge Beziehung zu räumlich sehr Entfern-
tem«.68 Das Dorf im Kopf schafft ihre Lebenswelt in der Vorstadt, die we-
sentlich eine mündliche ist. Die soziale Grenze zwischen Innen- und Vor-
stadt definiert sich so nicht nur als eine räumliche Grenze. Zentrum und
Peripherie sind auch über die Achsen von schriftlicher und mündlicher Kul-
tur stratifiziert. Während das Zentrum Macht durch Schriftgewalt ausübt,
bleiben die Äußerungen der Vorstadt in ihrer Eigensinnigkeit und vorgeb-
lichen Geschichtslosigkeit als dissonante Stimmen im öffentlichen Raum
präsent. Die Kultur des mündlichen Austausches und der narrativen Uber-
lieferung ist soziale Benachteiligung und Behinderung ebenso wie lokaler
Schutzmantel einer oral artikulierten Lebensform, die in Dialekt, Volkslied
und Straßenslang, in Witz, Spott und Zote ihre eigene Identität schafft und
sich gegen die Vereinnahmungen des Zentrums zur Wehr setzt, denen sie
sich nichtsdestotrotz nicht zu entziehen vermag:

47
Samstag nach der Auszahlung ging man ins Wirtshaus zum Nachtmahl. Entweder
in die nahen, wo man die Woche über auf Borg kaufte, oder außerhalb der Linie
(d.i. die Verzehrungssteuergrenze). Dort waren die Sachen billiger und die Portio-
nen größer. (...) Nach dem Abendessen blieben wir sitzen. Die Musik spielte und
die Volkssänger sangen lustige Wiener Lieder voll sinnigen und weichen Humors.
(...) In solchen Augenblicken verschmolzen die Seelen aller Gäste mit der Musik
und den Liedern und waren erfüllt von Zufriedenheit, Heiterkeit und Sorglosig-
keit. Den größten Erfolg hatten die Volkssänger mit Liedern und Witzen auf die
Tschechen. (...) Ich wunderte mich sehr, daß ein großer Teil der heftig applaudie-
renden Gäste, häufig die Uberzahl, Tschechen waren, von denen nur ein geringer
Prozentsatz recht und schlecht deutsch sprach. Ich empfand es sehr schwer, daß
diese Tschechen, Gesellen und Meister mit ihren Frauen, sich darüber nicht nur nicht
beleidigten und ärgerten, sondern es als selbstverständlich ansahen, diesen Scher-
zen Beifall zu klatschen, und sie zu belachen, gleichsam um darzutun, daß sie kei-
ne Tschechen mehr seien, daß sie mit den dummen Wenzeln und Böhmaken nichts
mehr gemein hätten, und durch ihren Applaus eine Probe ihrer vollen Assimilation
mit dem echten Wiener abzulegen.69

Die Fremdheit in der Stadt und die Sprachlosigkeit in der Öffentlichkeit


verstärken ein Gefühl des Fremd- und Ausgeschlossenseins. Die Fragmentie-
rung des Lebens und der Arbeit, ihr Spurlos-Werden, erschwert individuelle
Integration und kollektive Orientierung und läßt die Zuwanderer auf ihre
ländlichen Traditionen zurückgreifen, Kontakt mit Gleichen aus der nähe-
ren Heimat suchen, Feste und Feiern nach bewährtem dörflichen Muster
abhalten.70 Karl Renner spricht in diesem Zusammenhang vom »Dorf in
der Stadt«:

Alle verrieten noch in ihrem Gehabe das Dorf und doch hatten sie alle einen ge-
wissen großstädtischen Schliff angenommen. Ich war nach Wien gekommen, um
die Großstadt kennenzulernen, um sie gleichsam zu entdecken, und sah hier einen
Ausschnitt ihrer Bevölkerung, die gewissermaßen einen Übergang vom Land in die
Stadt darstellte, ich fragte mich, wie stark denn, wenn man die gesamte Zuwande-
rung aus allen Reichsteilen zusammenfaßte, die fremdsprachige miteingeschlossen,
dieses >Dorf in der Großstadt« sein mochte.71

Der Wiener Schriftsteller und Feuilletonist Felix Saiten kommt in seiner


Beschreibung eines »Fünfkreuzertanzes« im Wiener Prater, jenes bei den
Unterschichten so überaus beliebten billigen Vergnügens, zu ganz ähnlichen
Einschätzungen. Es sind die »Einfachen und Niedrigen«, aus allen Provin-
zen des Reiches zusammengeströmt, die hier Trost finden; die in die Groß-
stadt gezogene dörfliche und kleinstädtische Jugend, die hier arbeitet, dient,

48
darbt, sich schindet. Die Großstadt wird Saiten zum Moloch, zum schwie-
rigen Grenzland, zum Niemandsland für »eine ganze junge Menschheit, die
in der ungeheuren Stadt kein zu Hause hat, die im Wirbel dieses brausen-
den Lebens verlaufen und einsam ist«. Sie sind fremd in dieser »riesigen
Stadt, von deren Arbeitsmühlen sie verschlungen, in ihrem Wesen entfärbt,
zerrieben und verbraucht werden«.72 Im rauchig-dunstigen Saal des Prater-
wirtshauses finden sie ein »Stückchen Heimat«: »Jetzt drehen sich mit stei-
fen Rücken und kurzen Leibchen die Gestalten, die Upkra so wundervoll
gemalt hat. Jetzt ist hier Böhmen, ist hier das sonnige Hügelland von Mäh-
ren und die üppig prangende Ebene der Hanna.«73 Das Rurale wird zu ei-
ner Metapher für eine bestimmte Form des Seins: aktiv, körperlich, repeti-
tiv, unbewußt, untrennbar mit dem Prozeß der Natur verbunden: »Aber
diese jungen Mädchen aus dem Volk, deren Wangen noch frisch und leuch-
tend sind von der frischen Luft ihrer heimatlichen Felder, deren Arme an
der Außenseite noch braungebrannt sind von der Sonne, in deren Licht sie
gearbeitet haben, die jungen Mädchen mit dem straffen Gang und der bieg-
samen Haltung ihrer frischen, gesunden Leiber, mit den sanften, neugieri-
gen und wie unter Liebesträumen berauschten Augen, haben die Unschuld
und Sündlosigkeit der Natur. Eine prachtvolle Hingegebenheit ist in ihrem
Tanze. Sie verrichten ihn wie ihre Arbeit, gleichmäßig, ausdauernd, uner-
müdlich (... ).«74 Der idealisierten ländlichen Natürlichkeit und (noch) unge-
brochenen körperlichen Vitalität wird das im industriellen Urbanen System
verkörperte Ödland der Häßlichkeit und Leere kontrafaktisch gegenüber-
gestellt: Handwerker und Arbeiter, die »von der dumpfen Enge ihrer Werk-
stätten, von Alkohol und der Verruchtheit der Großstadt schon in ihrem
Wesen entfärbt sind«; Frauen, die nach einigen wenigen Jahren in Wien
»schon alle Blüte abgestreift haben, (...) in ihrer Art schon hoffnungslos
verfälscht und in der Offenherzigkeit ihrer frühen Instinkte schon von La-
ster und Lüge angehaucht«; schließlich jene Unzähligen, die »in der Stadt
drinnen niedergetreten, zerstampft, vernichtet« werden, die spurlos ver-
schwinden und von denen niemand weiß.75
Felix Saiten zählt zu jenen ganz wenigen Exponenten der kulturellen Eli-
te des Wiener Fin de siecle, die das >andere Wien< der Vorstädte und Zuwan-
derer überhaupt thematisieren. Freilich beschränkt sich seine Wahrnehmung
auf ihre öffentliche Präsenz an den Orten der populären Vergnügungen wie
dem Wiener Prater. Sein Interesse richtet sich auf die Distanz der populä-
ren Kultur zur repräsentativen des Bürgertums, auf die tradierte Widersetz-
lichkeit vorstädtischen Lebens und die Fortexistenz bzw. Metamorphose ge-

49
genläufiger Subkulturen. Ihn fasziniert ihre unmittelbare Präsenz, Sinnlich-
keit und Derbheit, die durch die Flüchtigkeit, Kontingenz und Spurlosig-
keit ihrer sozialen Existenz kontrastiert werden. Doch auch Saltens Blick-
winkel ist exklusiv auf die Performanz und Exotik der vorstädtischen Kultur
ausgerichtet, ihre Lebensformen und Reproduktionsbedingungen bleiben
seltsam vage oder gänzlich ausgeblendet. Offensichtlich amalgamierten sich
Ästhetik, soziale Wahrnehmung und herrschender kultureller Diskurs zu
einer kollektiven Tradition, innerhalb deren die Vorstädte Anathema waren
und die Topographie der Stadt in sichtbare und unsichtbare Zonen geteilt
wurde.

50
PROJEKTION UND RASTER

Wie Carl E. Schorske im Ringstraßen-Kapitel seines Buches über die Wie-


ner Moderne76 schreibt, hätte ein barocker Architekt wohl versucht, die Vor-
stadt mit dem Zentrum so zu verbinden, daß eine breite Perspektive auf
die zentralen, monumentalen Teile geschaffen wäre, d.h. die Vorstadt über-
haupt erst die städtebauliche Voraussetzung für die visuelle und politische
Wahrnehmung des Zentrums als Zentrum ermöglicht hätte. Statt dessen aber
wurde die Ringstraße nicht zentrifugal auf die Vorstadt hin ausgerichtet,
sondern bildete eine in sich abgeschlossene Figur, die zugleich eine Tren-
nung der Gesellschaft definierte: die herrschenden Klassen, Adel und
(Groß-)Bürgertum in der Innenstadt mit den alten Palästen und den neu
entstandenen Refugien bürgerlicher Wohnkultur; und, davon abgetrennt,
die inneren Vorstädte mit den Kleinbürgern und Beamten und die äußeren
Vorstädte mit dem Industrieproletariat und den sozialen Unterschichten.
Die sozial segregierende Architektur der >Ringstraßenzeit< ist Teil einer
doppelten Faltung städtischen Terrains. Diese doppelte Faltung ist räum-
lich-territorialer Ausdruck von Macht und Abhängigkeit, von sozio-kultu-
reller Marginalisierung und ökonomischer Integration. Zum einen schreibt
sich in den Vorstädten eine harte, Fakten und Strukturen schaffende Signatur
von Fabriken und Industrialisierung des Alltags, rasanter Stadterweiterung,
Zinskasernenbau und expansiven Verkehrs- und Kommunikationsadern ein,
die gleichermaßen zur Quelle politischer Bewegungen (sozialdemokratische
Arbeiterbewegung) wie eines unermeßlichen Alltagselends wird. Zum an-
deren wird die Vorstadt zu einem Projektionsfeld der Herrschaft, in dem
sich wirtschaftliche Unterwerfungsinteressen mit Vorstellungen eines »An-
deren da draußen« als einem Vexierbild der Moderne vermengen. Die Vor-
stadt des Biedermeiers ist real in ihrem kulturellen Wert, daß heißt in ihrer
Gestaltung als Idylle. Die Vorstadt der Moderne ist real als Ort wirtschaft-
licher Interessen und irreal als kulturelles Wahrnehmungsfeld. Ihre eigent-
liehe Erscheinungsform verschwindet unter einer Schicht von Indifferenz,
Ignoranz, Verdrängung und Ausblendung. Pointiert könnte man sagen, die
reale Vorstadt des Biedermeiers wird durch eine phantasierte der Moderne
ersetzt und als Raum imaginierter Bedrohungen konstruiert. Die sich selbst
spiegelnde Inszenierung der Pracht des Ringstraßen-Wien und die damit er-
folgte Identitätsfeststellung einer bürgerlich-aristokratischen Herrschafts-
elite korrespondiert mit der Komplementärvorstellung eines anderen Wien,
eines >dunklen Kontinents< voller Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, der
der Domestizierung und Zivilisierung durch das Zentrum bedarf. Es ist zu-
nächst also festzustellen, welche konkreten stadtökonomischen, städtebau-
lichen und stadttopograhischen Entwicklungen und Transformationen zu
dieser Perspektivenverschiebung in der Wahrnehmung geführt haben.
Zwischen 1860 und 1890 erfuhr Wien eine entscheidende baulich-räum-
liche Umgestaltung. Die fortschreitende Arbeitsteilung und Ausdifferenzie-
rung von Nutzungen schlug sich, »vermittelt durch die Wirkungsweise der
Grundrente, in zunehmender Homogenisierung von Teilgebieten und räum-
licher Segregation von Nutzungen und Bevölkerungsgruppen nieder«.77 Im
Gefolge der Revolution von 1848 waren in den innerhalb des Linienwalls
gelegenen alten Gewerbevorstädten in der Nachfolge feudaler Erholungsland-
schaften zunehmend Mittelstandswohnquartiere entstanden. Andererseits
sammelte sich an deren Peripherie in slumartigen Auffangquartieren eine
frühindustrielle Unterschicht aus Taglöhnern und Gelegenheitsarbeitern.
Tausende von Obdachlosen wurden allabendlich von der Polizei auf »freies
Feld« über die Linie verbracht.78 Einer Bevölkerungszunahme von rund 40 %
zwischen 1830 und 1850 war lediglich eine etwa zehnprozentige Vermeh-
rung des Wohnungsbestandes gegenübergestanden. In der zweiten Hälfte
der fünfziger Jahre schließlich wurden die Zustände unhaltbar, Obdachlose
begannen, ihr Domizil auf öffentlichen Plätzen aufzuschlagen und wurden
von der Polizei in Stallungen und Gemeindearreste einlogiert.79 Wohnungs-
elend und Wohnungsnot kennzeichneten die soziale Lage der Stadt; sie ließ
sich »mit ihrem Schrecken und ihrer Trostlosigkeit durchaus mit den Zu-
ständen in der Pariser Cit£ oder dem Londoner East End vergleichen«.80
Ironischerweise war die Tatsache, daß Wien um sein Zentrum herum über
ein großes Stück freien Landes verfügen konnte, das einer modernen Urba-
nen Entwicklung offenstand, eine Folge der historischen Zurückgeblieben-
heit der Stadt.81 Bastionen, Kurtinen und das Glacis als um die Innenstadt
gelegter Fortifikationsring waren bestehen geblieben, selbst als sie ihre mili-
tärische Funktion verloren und andere europäische Hauptstädte ihre Befe-

52
BILD 7
Die Stadt als Projektion, Bezirk Favoriten um 1900
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

stigungsanlagen längst geschleift hatten. Die Revolution von 1848 hatte die
politische und strategische Bedeutung der freien Fläche des Glacis erneut
aktualisiert, allerdings nicht gegenüber einem potentiellen ausländischen
Aggressor, sondern gegenüber einer potentiell revolutionären Bevölkerung.
Die zentrale Militärkanzlei führte als Hauptargument gegen eine zivile Be-
bauung des Glacis das Fortbestehen einer revolutionären Bedrohung und
die Sicherung des kaiserlichen Hofes gegen mögliche Angriffe seitens des
vorstädtischen Proletariats an. Die Dynamik der wirtschaftlichen und so-
zialen Erfordernisse ließ solche und ähnliche Argumentationslinien jedoch
zunehmend unhaltbar werden. So vereinigten sich in der Anlage der Ring-
straße militärische Erwägungen mit dem Bedürfnis eines zur politischen
Herrschaft aufsteigenden Bürgertums nach einem monumentalen, repräsen-
tativen Boulevard. Was einst ein Ring militärischer Absonderung gewesen
war, wurde nunmehr zu einem Ring gesellschaftlicher Trennung.82
Damit war ein Prozeß in Gang gesetzt, der ein räumliches Verteilungs-
muster schaffen und stabilisieren sollte, das eine soziale Differenzierung

53
Urbanen Terrains in Form eines konzentrischen Herrschaftsnarrativs ver-
festigte. Die beiden östlichen, auf der Stadtgemarkung entstandenen Stra-
ßenvorstädte ebenso wie der relativ stadtferne 5. Bezirk (bis zu dessen Ab-
trennung 1874 inklusive Favoriten) und die Außenbezirke (Vororte)
erfuhren durch die nunmehr zuwandernden Unterschichten eine weitere
soziale Deklassierung. Die auf dem Terrain von geistlichen und weltlichen
Grundherrschaften entstandenen, zum Teil planmäßig angelegten südlichen
und westlichen Vorstädte nahmen aufgrund ihrer Zentrumsnähe die aus der
Innenstadt verdrängte Mittelschichtsbevölkerung auf und wurden im Zuge
ihrer umfassenden Sanierung zu Beamten- und bürgerlichen Wohnquartie-
ren umgestaltet. Damit kam es zu einem weiteren Exmittierungsschub von
Unterschichtsangehörigen in die Außenbezirke, wie sich etwa am Beispiel
der noch um die Jahrhundertmitte überaus verrufenen und übel beleumun-
deten Taglöhner- und Handwerkervorstadt Alt-Lerchenfeld paradigmatisch
zeigen läßt.
Auf diese Weise war ein solider Riegel zwischen den Luxuswohnungen
der inneren Stadt und der Ringstraße und den politisch und sozial konflikt-
trächtigen und potentiell gefährlichen Arbeiterwohnquartieren in den
Außenbezirken gezogen. Die komplexe Differenzierung zwischen Zentrum,
inneren und äußeren Vorstädten entspricht einer Herrschaftsgestaltung des
sozialen Raumes, die in dieser Klarheit weder in London noch in Paris auf-
trat. Bis zur Jahrhundertwende war ein stabiler Ring von dicht bebauten
Arbeitervorstädten um die Innergürtelbezirke und die Innenstadt gezogen.
Davon ausgenommen waren lediglich der 13., 18. und 19. Bezirk mit ihren
Villenanlagen und Cottagevierteln für die Ober- und höheren Mittelschich-
ten.83 Im Westen der Stadt bildete die Währingerstraße die zentrale Verbin-
dungsachse von den innerstädtischen zu den sektoral angeordneten Ober-
schichtquartieren Währings und Döblings. Insgesamt aber blieb die Ober-
schichtkonzentration in den Außenbezirken vergleichsweise gering, was
primär mit dem Fehlen eines leistungsfähigen Massenverkehrsmittels in
Zusammenhang stehen dürfte. Einzig in Hietzing, wo die 1900 in Betrieb
genommene Radiallinie der Stadtbahn eine schnelle und direkte Verbindung
zum Zentrum herstellte, kam es zu einer auch quantitativ nennenswerten
Konzentration von Angehörigen der gehobenen Mittelschicht.
Die Massierung von Arbeiter- und Unterschichtbevölkerung in den
Außenbezirken, ihr sozialräumliches Verteilungsmuster, läßt sich aus den
Ergebnissen einer amtlichen Berufsstatistik der Wahlberechtigten bei den
Reichsratswahlen 1907 relativ präzise bestimmen (wahlberechtigt waren alle

54
Männer, die das 24. Lebensjahr vollendet und ihren Militärdienst absolviert
hatten).84 Demnach erwiesen sich in dem Gürtel der äußeren Vorstädte die
dem Donaukanal zunächst gelegenen als die stärksten Arbeiter- und Un-
terschichtbezirke (also Simmering und Favoriten einerseits, Brigittenau und
Floridsdorf andererseits), während, von Währing und Döbling mit ihren
besonderen Verhältnissen abgesehen, die süd-westlich gelegenen Bezirke
Hietzing und Fünfhaus den diesbezüglich relativ schwächsten Anteil aus-
wiesen. Die Schmelz als Ausgangspunkt genommen, ist die Konzentration
von Arbeiter- und Unterschichtbevölkerung auf der Ottakring und Her-
nais zugewandten Seite am dichtesten und wird gegen Währing und Döb-
ling hin zunehmend schwächer, auf der anderen Seite ist sie in Fünfhaus
am relativ schwächsten, um über Rudolfsheim, Hietzing und Meidling kon-
tinuierlich zu steigen und ihre höchsten Werte in Favoriten und Simme-
ring zu erreichen.
Der grundlegende Wandel im sozialräumlichen Verteilungsmuster der
Stadt hatte sich zwischen 1870 und 1890 in einer Phase der Kapitalkon-
zentration vollzogen und in der Folgezeit verfestigt und stablilisiert. Ein
großer Teil der nunmehr aus den alten Gewerbevorstädten abgedrängten
Unterschichten ließ sich in deren unmittelbarer Nachbarschaft jenseits der
Linie/des Gürtels nieder, wohl nicht zuletzt deshalb, da die westlichen Vor-
städte beiderseits der Mariahilferstraße nach wie vor das Zentrum der ar-
beitsintensivsten Branche der Stadt, der Bekleidungsindustrie, bildeten.85
Bei dem weitgehenden Fehlen eines auch nur in Ansätzen leistungsfähigen
Verkehrsmittels mußte die Arbeitsstätte innerhalb einer gerade noch ver-
tretbaren Distanz gelegen sein. Das überdimensionale Wachstum und die
massive bauliche und soziale Verdichtung von Stadtteilen wie Neulerchen-
feld (wo Mitte der achtziger Jahre auf einer Fläche von nur zwei Drittel
Quadratkilometer mehr als das Doppelte an Bevölkerung zusammenge-
pfercht lebte, als in der Stadt auf einen vollen Quadratkilometer entfiel)86
findet so eine plausible Erklärung. In acht unmittelbar an die Linie anschlie-
ßenden Vororten gingen knapp zwei Drittel der hier lebenden Arbeiter und
Arbeiterinnen ihrer Tätigkeit außerhalb ihres eigentlichen Wohnortes nach.
Eine »Denkschrift der Vororte« geht denn auch davon aus, daß jene Mas-
sen von Arbeitern bei innerstädtischen Unternehmern »ihren Erwerb ha-
ben, ihre Wohnung aber der niederen Kosten der Miete und Lebensmittel
halber in den Vororten aufsuchen«.87 Und Max Winter sieht in einer Sozi-
alreportage aus dem Jahr 1901 bereits um sechs Uhr morgens »die mensch-
lichen Ameisen aus ihrem Bau« und in »dichten Schwärmen zur Arbeit«

55
ziehen. Zeitiger als im Zentrum der Stadt erwache an ihrer Grenze das
Leben:
Uber die Schmelz, hinüber und herüber, dann dem Neubauer Fabriksviertel zu,
durch die Lerchenfelder-, Thalia- und Koppstraße, durch die Grundstein- und Burg-
gasse gehen die Hauptzüge, auch über den Gürtel zu den Stadtbahnstationen und
nach Gumpendorf schwärmen die Schaaren der Ernährer und Ernährerinnen ihrer
Familien, der Mithelfer zum Haushalt und der heranreifenden Jugend, die auch
schon dem Tag abringen muß, was sie für den Tag braucht. Junge und Alte, Män-
ner und Frauen, Fröhliche und Düstere, Gebeugte und Rüstige wimmeln dahin: ge-
mächlich, zeitunglesend, rauchend, plaudernd die Frühaufsteher, hastend und drän-
gend die Verspäteten (...). 88
Die neuen Industriestandorte des Südens und Nordostens hingegen folg-
ten weitgehend einem >inkrimentalen< Wachstumsmuster. Dort hatten sich,
gemäß ihren Standortanforderungen, dynamisch expandierende Industrien
moderner Leitsektoren an den Rändern des verbauten Gebiets niedergelas-
sen und so die Voraussetzungen für das Entstehen weiterer Arbeiterwohn-
quartiere in unmittelbarer Nähe zu den Produktionsstätten geschaffen. Die
durchgängig hohen Mieten und die dadurch bedingte Umzugshäufigkeit
sowie abermals das Fehlen eines billigen Massenverkehrsmittels stellten hier
eine entsprechende Anpassung her. Nur in seltenen Fällen scheint es selbst
für hochqualifizierte Arbeiter möglich gewesen zu sein, ihren Wohnort in
größerer räumlicher Distanz vom Arbeitsplatz und in Stadtteilen, die ih-
ren (relativ) gehobeneren alltäglichen Bedürfnissen eher entsprachen, zu
wählen.89
Im Zuge eines seit Mitte der 1880er Jahre einsetzenden Industrialisie-
rungsschubs war es zu einem insulär organisierten Wachstums- und Verdich-
tungsprozeß gekommen, der die Vorstädte in schachbrettartigem Parzellie-
rungssystem in das agrarische Umfeld projizierte. Große freie Flächen in
den Außenbezirken wurden in einer eher öden orthogonalen Rasterauftei-
lung mit Mietblöcken überbaut. Die zweite Wiener Bauordnung vom 23.
September 1859 hatte mit ihrer erstmalig aufgenommenen Bestimmung, daß
Straßen möglichst geradlinig angelegt sein sollten, die Voraussetzung für
die starre Fixierung von geometrischen Ordnungsprinzipien geschaffen, die
den allgemein anerkannten Planungsgrundsatz der Gründerzeit ausdrück-
ten und zu einem späterhin von Camillo Sitte einer heftigen Kritik unter-
zogenen »fabiksmäßigen Herunterlinieren« der Bauplätze führte.90 Selbst
in jenen Fällen, wo Baulinien- und Regulierungspläne von Ringstraßenar-
chitekten ausgearbeitet wurden - Förster für die Brigittenau, Siccardsburg

56
und Van der Nüll für Favoriten - wurde das Rasterschema beibehalten und
bestenfalls durch das nach Pariser Vorbild konzipierte Element des Stern-
platzes erweitert.91
Ab Ende der siebziger Jahre begann sich zunehmend die Standortgunst
des Westbahnhofs auszuwirken. Fünfhaus, Rustenfeld und Breitensee zo-
gen die großmaßstäbliche Aufschließungsarbeit der Baugesellschaften an.
Deren Spekulationsprojekte konzentrierten sich vor allem in Neu-Fünfhaus,
dem schachbrettartig aufgeschlossenen Streifen außerhalb der Linie zwi-
schen Westbahn und Schmelzer Friedhof.92 Bereits zu Beginn der siebziger
Jahre hatte Neulerchenfeld den nördlichen Teil der Schmelz, der vom Militär
nicht beansprucht und zur Bebauung freigegeben wurde, von den Gemein-
den Fünfhaus, Rudolfsheim und Breitensee angekauft - unverbautes Ge-
biet, das vom Siedlungsbereich dieser Gemeinden durch die breite Barriere
des militärischen Sperrbereichs abgeschnitten war. Die Verbauung des nörd-
lichen Teils der Schmelz zählt zu den quantitativ bedeutendsten Bauleistun-
gen in der Geschichte Wiens; sie folgte einem strengen Prinzip der raster-
förmigen Anlage mit schnurgeraden Straßenzügen. Der rücksichtslosen
Begradigung der Bachgasse folgte jene der Thaliastraße, womit die Voraus-
setzungen für die Rasterverbauung im gesamten Bereich zwischen Gürtel
und Possingergasse bis hin zur Gablenzgasse gegeben waren.93 Die hier ent-
stehende Reißbrettstadt »nach amerikanischem Muster« brachte die Auf-
schließung des Gebiets zwischen Westbahn und Thaliastraße »in einem recht
einförmigen Schachbrettsystem« zum Abschluß.94 Tatsächlich wiederhol-
ten die neuen städtischen Gebilde, die da an der Peripherie und in den
Außenbezirken entstanden waren, Block um Block dieselbe Gestaltung.
Zentren, Mittelpunkte gab es in dieser städtischen Masse keine, bloß Aus-
schnitte, Fragmente, Trümmer. Und dennoch zitierte dieses »Niemandsland
sozialen Lebens« (Lewis Mumford), dieses »Endlager der Großstadt« - Aus-
lagerungs- und Ansiedlungsstätten der großen Industrien ebenso wie der
in Massen konzentrierten Arbeiterbevölkerung - ironischerweise die Imagi-
nation einer einheitlichen Stadt dadurch, daß die Fassaden der Zinskasernen
vielfach die neobarocke Herrschaftsarchitektur der Ringstraße imitierten.
So folgen die Vorstädte in ihrer baulich-räumlichen Gestaltung einer dop-
pelten, in sich gebrochenen Entwicklung. Die neu erschlossenen Territori-
en im Süden und Osten der Stadt sind zum einen unmittelbare räumliche
Materialisierungen des Kapitals und suchen zugleich über Architektur und
Verkehr die gleichermaßen symbolische wie reale Verschränkung mit dem
Zentrum herzustellen. In den aus vorindustriellen Vororten sich entwickeln-

57
den Außenbezirken hingegen instrumentalisiert das Kapital die Tradition
und die Zweckrationalität die Geschichte, um dieserart einen homogenen
Stadtkörper zu projizieren. So erfuhren im Laufe des Industrialisierungs-
prozesses historisch bereits angelegte Strukturunterschiede eine deutliche
Akzentuierung. Ottakring, Hernais, Penzing, Rudolfsheim und Meidling
beispielsweise hatten sich aus gewachsenen vorindustriellen Ortskernen mit
ihren kleingewerblichen Zentren, Weinbau- und Agrarsiedlungen zu Indu-
striestandorten und Proletarierbezirken entwickelt. In Ottakring war um
die Mitte des 19. Jahrhunderts um die Brauerei herum ein Fabriksviertel
entstanden, ein Mitte der achtziger Jahre einsetzender dynamischer Indu-
strialisierungsschub beseitigte die letzten Reste des mittelalterlichen Wein-
hauerortes und ließ eine gründerzeitliche Rasterstadt entstehen. Die von
der Landwirtschaft, insbesondere dem Gemüseanbau geprägten Dörfer
Braunhirschen, Rustendorf und Reindorf (1863 zur Großgemeinde Rudolfs-
heim zusammengefaßt), Sechshaus und das lange Zeit eher kleinbürgerlich
strukturierte Fünfhaus waren spätestens seit den dreißiger Jahren zu einer
durchgehenden Siedlungseinheit verwachsen, die laut zeitgenössischen Be-
richten die »eigentliche Wiener Fabrikswelt« darstellte und keineswegs mehr
den ursprünglichen Dörfern als vielmehr einer »bedeutenden Stadt« glich.
Hier dominierte die vormärzliche Textilindustrie, die Oesterlein'sche Ge-
wehrfabrik erreichte für zeitgenössische Verhältnisse geradezu gigantische
Ausmaße. Wiewohl sich der Industrialisierungs- und Verdichtungsprozeß
kontinuierlich fortsetzte (in Fünfhaus betrug das Bevölkerungswachstum
zwischen 1830 und 1851 nicht weniger als 400 Prozent), konnten vor al-
lem Rustendorf und Braunhirschen, in geringerem Ausmaß auch Fünfhaus,
ihre traditionelle Funktion als Naherholungs- und Ausflugszentrum der
Wiener Vorortebevölkerung bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts
behaupten, wie eine Reihe von bedeutenden Gast- und Vergnügungsstät-
ten (Schwenders Colosseum, das Brauhaus, Pokornys Sommerarena, das
Zobeläum, die Viktoria-, Elisabeth- und Stefaniesäle etc.) eindrucksvoll do-
kumentiert. Ahnlich Rudolfsheim war auch Meidling (das babenbergische
Meverling) bereits im Vormärz zum bedeutenden Industriestandort gewor-
den, wobei seine agrarische Struktur und seine vor allem durch die unmit-
telbare Nähe zu Schönbrunn bedingte Funktion als Fremdenverkehrsort
zunehmend in den Hintergrund traten. Mit dem Bedeutungsverlust und der
Abwanderung der Textilindustrie wurde Meidling in der Gründerzeit zum
Standort der Metall- und Maschinenfabrikation, Gaudenzdorf und Unter-
meidling entwickelten sich bis 1890 zu dicht und einheitlich verbauten

58
BILD 8
Industrielle Moderne an der Peripherie, Gasometer Simmering
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

Fabriks- und Proletarierquartieren, die Naherholungsfunktion hingegen


wurde von dem angrenzenden, von der industriellen Entwicklung kaum be-
rührten Hetzendorf übernommen.
Von Hernais abgesehen, verband sich in Meidling wie in keinem ande-
ren Vorort eine moderne, industriell-urbane Dynamik mit dem Fortwirken
prämoderner, dörflicher und ländlich-idyllischer Strukturen, ein synchro-
nes Neben- und Ineinanderexistieren von Ungleichzeitigkeiten und diver-
genten Urbanen Entwicklungsstadien (noch 1890 entfielen 60 Prozent der
gesamten Bezirksfläche auf Acker, Wiesen und Weiden). Der Kunsthistori-
ker Hans Tietze sprach davon, daß »diese Orte organische Lebewesen wa-
ren, die zum Teil plötzlich vom Grund aus umgegossen wurden«, ein Ge-
misch von »Großstadtschema und dörfischem Gewächs«: »hier sind die
trostlosen Massenquartiere der Bauspekulation, die ausgedehnten Viertel,
in denen ungehemmte Profitgier das elementare Bedürfnis nach Behausung
ungehemmt ausgeschrottet hat; und hier sind Überbleibsel dörfischer Ge-
markung, die bis heute dem städtischen Wesen erfolgreich Widerstand ge-

59
leistet haben«.95 Diesem Nebeneinander von unverwurzelter Reißbrettar-
chitektur und Resten vormoderner Bauweisen entsprach die soziale Schich-
tung des Bezirks: Zu einer guten Hälfte Arbeiterinnen und Arbeiter aus
Industrie und Gewerbe, wohnhaft in den berüchtigten >Halbritterhäusern<
an der Meidlinger Hauptstraße (eine Alt-Wiener Zinskasernenanlage in
Form einer Doppelhäuserreihe), in den bereits überbauten Teilen des nicht
minder berüchtigten Fuchsenfeldes, im neuentstandenen Proletarierviertel
bei der Philadelphiabrücke, in den einstöckigen und ebenerdigen Häusern
Gaudenzdorfs und Altmannsdorfs ebenso wie in den mehrstöckigen Zins-
kasernen Neumargarethens; zum anderen Gewerbetreibende und Geschäfts-
leute, Beamte und Lehrer, Angestellte und Bedienstete der Südbahn, der
Stadt- und Straßenbahn sowie ein für einen Außenbezirk erstaunlich ho-
her Anteil an Freiberuflern.

Wohl drängt die Stadt überall nach, wohl sucht sie sich zu weiten, aber auf Schritt
und Tritt begegnen wir noch in allen Teilen Meidlings dem alten Dorf mit seinen
überkommenen Einrichtungen und nur langsam, allzu langsam räumt die Stadt mit
diesen sehr beträchtlichen Resten auf.
In Meidling ist alles nebeneinander: das alte Dorf und die moderne Stadt; In-
dustrie und Landwirtschaft; die alte Proletariervorstadt und mitten drin die Fuhr-
werkshäuser, die Höfe unserer Fiaker und Einspänner, aber auch die dumpfen, un-
gesunden Werkstätten des »kleinen Mannes< (...) und daneben neue Viertel mit hoch
aufragenden Zinsburgen, in denen die höchste Steuer für Luft und Licht eingeho-
ben wird; die Patrizierhäuser Alt-Meidlings mit ihren idyllischen Höfen prangen
im Blumenschmuck, und wieder daneben Villenviertel, hart an der Pulsader des städ-
tischen Verkehrs, aber auch weit abgeschieden in den stillen Winkeln um den Fa-
sangarten und in der Alt-Wiener Sommerfrische Hetzendorf. Uberall mitten drin
weite Flächen, spärlich bewachsen mit Gras, aber wie übersät von dem Mist und
Schutt des Umwandlungsprozesses, der gerade auf diesen Stätten mit greifbarer
Deutlichkeit zu schauen ist. So die Reste des berüchtigten Fuchsenfeldes, die noch
von Gaudenzdorf, dem jüngsten Bezirksteil Neumargarethen und von Untermeid-
ling begrenzt sind: Gänse und Ziegen weiden darauf, dort wühlen Kinderscharen
in dem Schmutz dieser Wiesen, die Koksklauberin durchforscht die Haufen (...). 96

Auf die entscheidenden Änderungen im Urbanen Wachstums- und Struk-


turmuster reagierte der Bauzonenplan von 1892, der den westlichen Stadt-
rand als Wohngebiet mit höchstens dreigeschossiger Bebauung und den Sü-
den sowie Nordosten der Stadt als Industriezone festlegte, einen seit
längerem in Gang gekommenen Prozeß rechtlich und faktisch niederschrieb
und sich somit als »Instrument einer reinen Anpassungsplanung« erwies.97

60
BILD 9
Städtische Elektrizitätswerke in Simmering
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

Expansive Industrialisierung fordert Platz, Weite, Schrankenlosigkeit ein;


Voraussetzungen also, wie sie etwa in Simmering, in der Brigittenau und in
dem seit 1904 zum Wiener Stadtgebiet gehörenden Floridsdorf zur Genü-
ge gegeben waren.
Simmering, das traditionelle >Auffangbecken< der Stadt, nahm als Zen-
trum der Schwerindustrie ebenso Pionierstellung ein (insbesondere in dem
von Arsenal, Ost- und Aspangbahn umgrenzten Dreieck siedelte sich eine
Reihe von Betrieben der Maschinenbauindustrie an), wie es sich zugleich
unter den Wiener Industriebezirken am längsten seinen, im wesentlichen
dem Gemüsebau geschuldeten, ländlich-agrarischen Charakter bewahrte. Es
ist ein durch die Geschichte nicht codiertes Terrain, das dem Kapital die
unmittelbare Projektion seiner Logik erlaubte und nicht einmal die sym-
bolische Integration in das Stadtganze verlangte. Der Uberformung freien
Landes setzte sich kein Widerstand entgegen und eben dadurch wurde die

61
ökonomische und kommunale Mehrfachcodierung des Territoriums ermög-
licht. Es war gleichermaßen industrielle Produktionsstätte wie gesellschaft-
liche Deponie. Hier dominierten das »schmutziggraue Riesenmassiv« des
Epidemiespitals, die zentralisierten Vieh- und Schlachthöfe in St. Marx, die
städtischen Gaswerke (seit 1899) mit den imposanten Industriebauten der
Gasometer, die Elektrizitätswerke (seit 1902) und nicht zuletzt der 1873/
74 auf einem von der Gemeinde Kaiser-Ebersdorf erworbenen Areal ange-
legte Zentralfriedhof:
Das Land, das sich hier ausdehnt, ist Friedhofserde oder nackte, fast von allen Wohn-
stätten verlassene Wiesen. Hier blüht keine Heiterkeit: im weiten Umkreise des
Friedhofes ist alles ausgerottet, ausgetilgt, was zum freundlichen Behagen gehört,
und in der grauen Nebellandschaft ragen bloß die Schlote der Fabriken auf und die
gespensterhaften Todesmonumente der Grabkreuze.98
An dieser Bezirksperipherie versickerte gleichsam die Stadt, dominierte zu-
nehmend das Land, mit seinen Meierhöfen und Bauernmärkten, dazwischen
die allgegenwärtige Friedhofsszenerie. Und so ist denn auch, neben den
schnell hochgezogenen gründerzeitlichen Industriekomplexen, das Brach-
land einer riesigen Gstetten das eigentliche Wahrzeichen des Bezirks: die
nackte, graue, nur an ihren Rändern mit einigen Hütten und Kunstgärtne-
reien bestandene Simmeringer >Had< (Heide), die als militärischer Exerzier-
platz ebenso wie als proletarisches Naherholungsgebiet diente - ein »un-
parzelliertes Grundstück der Ode«, ein »Brachland der Armut«, ein »Areal
unbebauten Elends«:
Von Rekrutendrill zerstampfte, verkrüppelte, umgeknickte Halme, an denen ver-
hungerte Ziegen vergebens rupfen. (...) Grau, nebelig, unübersehbar. Im Winter häu-
fen sich hoch die Schneemassen, kaum von einem schmalen Gehpfad gesäubert, und
in der warmen Jahreszeit kampiert hier der Arme-Leute-Sommer: skrofulöse Kin-
der, mit schon in der Wiege verkrümmten Beinen, die kein anderes Spielzeug als
ein wenig schmutziges Papier mitbringen, versorgte, abgerackerte, früh gealterte
Mütter, pensionierte Arbeiter, die ihre Pfeifen rauchen, magere Gestalten aus den
>Webern<, als hätten sie eben die Gruft gesprengt, um sich auf die Heide zu schlep-
pen (...)."

Wie Simmering auch galt die 1900 von der Leopoldstadt abgetrennte und
als eigener Bezirk konstituierte Brigittenau als codierbares Territorium für
Industrialisierung und Urbanisierung. Im Jahr 1864 wurde nach Regulie-
rungsplänen der Ringstraßenarchitekten Förster und Siccardsburg das Vier-
tel um den Brigittaplatz angelegt. Das nahezu unbesiedelte Gebiet wurde

62
zum begehrten Spekulationsobjekt, Donauregulierung, die Anlage der
Nord- und Nordwestbahn sowie die Donaukanalüberbrückung zum Als-
ergrund erwiesen sich in der Folge als zentrale Impulsgeber für Betriebs-
ansiedlungen. Eine zweite Bebauungswelle während der Spätgründerzeit zog
die Ansiedlung von Großbetrieben nach sich (1913 waren 3 von 17 Wiener
Großbetrieben mit insgesamt 5 600 Beschäftigten in der Brigittenau situiert),
der an der Bezirksgrenze zur Leopoldstadt liegende Elektrotechnikbetrieb
Siemens-Schuckert band, in bezug auf die Beschäftigten- und Maschinen-
kapazität, allein ein Viertel der Produktivität aller in Wien existierenden
Großbetriebe. In unmittelbarer Nähe zu den Produktionsstätten entstan-
den Rasterviertel mit maximaler Bauparzellenauslastung, und die umgangs-
sprachlich als >Affentürkei< oder >Glasscherbeninsel< bezeichnete Brigittenau
erhielt ihre Prägung als Industriestandort und Arbeiterquartier genau dort,
wo sich eine ursprüngliche Natur- und Flußlandschaft am längsten der Ur-
banisierung entzogen hatte100 und wo seit der frühen Neuzeit die Wiener
sich in feudal-popularen Spektakeln und Festen gefeiert hatten.
Die alte, nördlich der Donau gelegene Straßen- und Verkehrssiedlung
Floridsdorf schließlich konnte spätestens seit den 1880er Jahren als eine
der »glänzendsten Industriestätten des Reichs« bezeichnet werden. Florids-
dorf hatte sich bis zur Jahrhundertwende zur unbestritten bedeutendsten
großindustriellen Agglomeration der Habsburgermetropole entwickelt. Hier
war eine überaus diversifizierte Industriezone entstanden, Firmen wie Sie-
mens & Halske, Clayton-Shuttleworth (später Hofherr-Schrantz) und Fiat
verlegten hierher die Neuanlagen oder die Auslagerungen ihrer platzauf-
wendigen Großproduktion, Betriebe der chemischen, der Textil- und Nah-
rungsmittelindustrie sowie, alles überragend, die Lokomotivfabrik und die
beiden Bahnwerkstätten bestimmten Charakter und Aussehen des Bezirks:
ein >fast amerikanisch anmutendes« Wachstum, in dessen Verlauf die Bevöl-
kerung allein im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts um beinahe 50 Pro-
zent angewachsen war. 1910 hatten hier bereits mehr als 100 fabriksmäßi-
ge Betriebe, davon sechs mit einer Belegschaftszahl von über eintausend,
ihren Standort - eine Konzentration, wie sie in keinem anderen Stadtteil
Wiens auch nur annähernd erreicht wurde.101
Angelagert an die Standorte der Industrien waren in den angesproche-
nen Außenbezirken riesige Arbeiterwohnquartiere entstanden, was soziale
Segregation und funktionale Trennung, insgesamt eine radikale Veränderung
des sozialräumlichen Musters der Stadt zur Folge hatte. Wenn aber beispiels-
weise in der Brigittenau eine durch die Trassenführung der Eisenbahnen

63
deutlich markierte Zweiteilung des Bezirkes bestehen blieb und einem ge-
schlossen verbauten Siedlungsgebiet um den Wallensteinplatz ein mehr auf-
gelockertes Areal gegen die Donau hin gegenüberstand, in dem sich Ra-
stersiedlungen, Gärten, Wiesen, kleine Fabriken und Lagerplätze ohne
erkennbare Ordnung ablösten, so war das neuartige sozialräumliche Orga-
nisationsschema in Favoriten radikal und umfassend, planmäßig und bruch-
los ausgeprägt. 1874 war es aus den zunehmend proletarisierten Teilen des
3., 4. und 5. Bezirks konstituiert worden; über den Mechanismus der Bo-
denpreise hatte eine »unter Rentabilitätsdruck stehende, arbeitsteilige Öko-
nomie eine funktionale Spezialisierung des städtischen Raumes« sowie eine
»scharfe soziale Segregation der Bevölkerung« bewirkt.102 Die Schritt für
Schritt ausgedehnte Bebauung erfolgte nach einem strikten Schema der Ver-
mischung von Wohn- und Betriebsgrundstücken. So entstand gegen den
Wiener- und Laaerberg hin ein für Wiener Verhältnisse einzigartig homo-
gener, dynamisch expandierender Stadtteil; wobei sich vor allem mittelgroße
Betriebe der Metall- und Maschinenbaubranche sowie der innovativen und
kapitalintensiven Elektrotechnik ansiedeln konnten, ohne das vorgegebe-
ne Blockrastersystem zu durchbrechen.
Ein direktes Produkt der Industrie, sollte der Bezirk, »der auf freiem
Feld wie ein aus dem Eisenbahndurchlaß sich ergießender Schwammfächer
entstand«,103 zum Inbegriff gründerzeitlicher Rasterverbauung werden. Ein
auf den Raum projiziertes, mit Zirkel und Lineal konzipiertes, den Prämis-
sen strikter Rationalität folgendes Produkt, weitgehend auf freies Land ge-
legt, eine städtische Agglomeration, die durchgeplant war.
Favoriten ist eine Stadt für sich. Da nahm Einer einmal ein Zeichenblatt her, Li-
neale und Bleistifte und machte auf das Blatt Längs- und Querstriche. Von der Fa-
vorita, dem heutigen Theresianum, ging er aus und besiedelte mit dem Bleistift auf
dem Papier die öde Landstraße, die sich gegen Himberg hinzog, rasierte die Pap-
pelbäume zur Rechten und Linken, schüttete den Straßengraben zu und ließ an ih-
ren Seiten Häuser entstehen: Fabriken und Wohngebäude. Rothschraffierte Blöcke
waren es auf dem Plan, nüchterne, graubraune Häusermassen wurden es in Wirk-
lichkeit. Und auch gegen Laxenburg zu und längs des Zuges der Staatsbahn ent-
standen Straßen, die wie Strahlen im Brennpunkt bei dem Favoritner Viadukt der
Südbahn zusammenstießen. Ein Häuschen stand am Brennpunkt: der Gasthof Steu-
del, und Ansiedlungen waren auch an den Enden der Straßen. ( . . . ) Aber was da-
zwischen liegt, ist die nüchterne Wirklichkeit des Fabriksortes. In ödester Einheit-
lichkeit reihen sich die immer grauen oder braunen, immer düsteren Häuser zu
Straßen, zu Längs- und Querstraßen, die von Simmering bis Enzersdorf reichen,
oder bilden da und dort Plätze. Diese sind gleich trostlos wie die Häuser und die

64
Gassen. Kein Denkmal schmückt sie, kein ornamentaler Brunnen erfreut das Auge,
selbst die einzigen öffentlichen Gebäude, die Schulen, sind nüchtern, wie alles da
draußen. Der Ziegelrohbau irgendeiner Fabrik mit seiner wahnsinnig gleichmäßi-
gen Fensterflucht - drei Stockwerke nebeneinander - ist die einzige Abwechslung
in dem Bild. Über dem ganzen lagert Rauch und Staub, und durch alle Gassen rast
der Lärm der Industrie. Lichtblicke nirgends und nirgends auch Ruheplätze. Alles
öde, alles nüchtern, grau in Grau alles - das ist Favoriten.104

Mit der Rasterplanung der Gründerzeit war die optimale Grundverwertung


für private Bauträger auf einem größeren Aufschließungsgebiet gefunden:
»Dieses Planungskriterium war so stark und zwingend, daß dafür selbst
Nachteile bei der Straßenanlage und beim Häuserbau in Kauf genommen
wurden, die sich aus der Mißachtung der topographischen Besonderheiten
des Geländes ergeben mußten.«105 Ohne Rücksicht auf etwaige historische
Bedingtheiten, landschaftliche Verhältnisse oder soziale Notwendigkeiten
konstruiert der Raster abstrakte Einheiten ausschließlich zum Zweck der
Kapitalverwertung. Unterschiede definieren lediglich Eck- oder Mittelbau-
platz, die (nach Möglichkeit zu normierende) Parzellengröße und der jewei-
lige konkrete Standort im größeren Zusammenhang der Urbanen Agglome-
ration. Beladen mit der sozialen Kontrolle der linearen Form bestimmt der
Raster die Ordnung der Regel, der Begradigung, der geometrischen Per-
spektive. Er ist endlose Geometrie gleichförmiger Blocks, expandierendes
Schachbrett ohne festen Rand, ohne Zentrum.106 Er ist bestimmt vom Dik-
tat der Logik, der Ratio, die auf den Raum projizierte Wirkung einer Schöp-
fung, »die ihre Heimat anderswo hat, im Geist nämlich, in der Vernunft«.107
Vor allem aber ist der Raster bestimmt von der Spekulation: »Es entstand
mehr Stadt, wenn Spekulatoren den Drang zu spekulieren empfanden.«108
Neue gesetzliche Regelungen, die das Privateigentum unabhängig von
Staat und Adel definierten und absicherten, öffneten der Spekulation Tür
und Tor und beschleunigten den Prozeß eines durchgreifenden sozialen und
kulturellen Wandels. Die Rasterbebauung, Standardrepertoire der gründer-
zeitlichen Stadtplanung, ist das klassische Planungselement für die privati-
sierte Stadt, folgt der Logik der privatistischen Auffaltung städtischen Bo-
dens. Sie konkretisiert eine zunehmende Normierung des städtischen
Lebens. Normung bedeutet aber immer auch Abstraktion. Zum Leitbild für
den privaten Bauträger wird, was als kleinster gemeinsamer Nenner, also
als kaufkräftige Nachfrage, verallgemeinerbar ist.109
Spekulative Bautätigkeit und Zuwanderung verdichten die Vorstädte zu
Zonen extremer sozialer und baulich-räumlicher Enge (die Gesamtbaulei-

65
stung im Zeitraum von 1856-1917 belief sich auf 460 000 Wohnungen). Über
das ganze 19. Jahrhundert hat sich die Einwohnerzahl der Agglomeration
Wien versiebenfacht, von 1830-1900 vervierfacht, in den letzten drei Jahr-
zehnten des Jahrhunderts verdoppelt.110 Der Höchststand mit knapp über
2 Millionen Einwohnern wurde 1910 erreicht, der jährliche Bevölkerungs-
zuwachs betrug um die Jahrhundertwende 34 000 Menschen, der Anteil der
»fremdbürtigen« Bevölkerung lag zu dieser Zeit knapp über 65Prozent. ni
Insgesamt kann von einem zonalen, peripheren Wachstum ausgegangen
werden; die immer mehr in den städtischen Einflußbereich integrierten Vor-
ortegemeinden wiesen in ihrer Einwohnerzahl überproportional starke
Wachstumsraten auf. Der Zuwachs in den Vororten ging, umso mehr als
die Geburtenrate bereits vor der Jahrhundertwende eine immer stärker rück-
läufige Tendenz aufwies, auf das Konto vor allem zweier Faktoren: einer-
seits der Zuwanderung, die seit der Grundentlastung quantitativ völlig neue
Dimensionen angenommen hatte und sich überwiegend auf die Vororte kon-
zentrierte; andererseits auf das Konto der räumlichen Verdrängung der Un-
terschichten in die peripheren Gebiete jenseits der Linie/des Gürtels im
Zuge der Ringstraßenverbauung und der damit im Zusammenhang stehen-
den radikalen Neugestaltung der alten Gewerbevorstädte zu Beamten- und
Mittelschichtsquartieren. So sei Favoriten »geradezu ein Zufluchtsort zahl-
reicher Familien geworden, welche mit keinem anderen Reichthum als dem
an Kindern versehen, in anderen Stadttheilen bei den erheblich höheren
Wohnungs- und Lebensmittelpreisen nicht zu existieren vermögen und im
wohlfeileren X. Bezirke dichtgedrängt sich aufhalten«.112
Um 1880 stellten die gewerblich-industriellen Schichten in den Vororten
über 80 Prozent der Bevölkerung, in bestimmten Gebieten lag ihr Anteil
sogar über 90 Prozent - so in Sechshaus, Favoriten, Rudolfsheim, Neuler-
chenfeld, Untermeidling und Gaudenzdorf (das mit 94 Prozent den abso-
luten Spitzenwert auswies).113 Im Jahr 1890, als Neulerchenfeld mit Otta-
kring zum 16. Bezirk vereinigt wurde, lebten von den 107000 Bewohnern
des Bezirks über 76000 von der Arbeit in Industrie und Gewerbe, das sind
70 von 100 Berufstätigen; ein Prozentsatz, wie er im gesamten Stadtbereich
nur mehr von Rudolfsheim übertroffen wurde.114
Grundsätzlich ist das Bevölkerungswachstum in den Vororten und Au-
ßenbezirken der Bautätigkeit immer vorausgeeilt. Dennoch waren die mei-
sten Baulandreserven vor der Linie bereits in den achtziger Jahren bebaut,
letzte Arrondierungen wurden im Zuge des Gürtelstraßen- und des Stadt-
bahnbaus vorgenommen. Die Neubauten sowie die Verdichtung der bereits

66
verbauten Liegenschaften führten zu extrem hoher Ausschlachtung der Par-
zellen; während es zunächst überhaupt keine Begrenzung des Bebauungs-
grades gegeben hatte, legte die Novellierung der Bauordnung 1883 die Be-
baubarkeit auf 85 Prozent der jeweiligen Grundfläche fest.
Extremer Uberbelag, massive Einkommensbelastung infolge hoher Mie-
ten und permanente Exmittierungsdrohung bestimmten die Wohnverhält-
nisse der Bevölkerung der Außenbezirke.115 Eine unüberschaubare Fülle von
zeitgenössischen, sozialreformerischen und sozialwissenschaftlichen Studien
zeichnet das Leben in den Zinskasernen als eine einzige klaustrophobische
Erfahrung.116 Die moderne Zinskaserne war jenes Durchgangslager, das das
Wohnen und Leben seiner Einwohnerschaft tatsächlich spurlos machte, die
»Traditionen und Keime von Sinnlichkeit und Kooperation ebenso blockier-
te, wie die Herausbildung der Freiheitsrechte und die Realisierung der
Glücksbedürfnisse der Person«.117 Bis zum Ersten Weltkrieg sollte sich in
den Außenbezirken ein Anteil von 85 Prozent Kleinstwohnungen (be-
stehend aus einem oder, inklusive Küche, zwei Wohnungsbestandteilen)
halten. Vier Fünftel der Bevölkerung hauste hier in dieser »ärmlichsten Woh-
nungskategorie«. Noch für die elendsten Quartiere in Kellern, Hinterge-
bäuden und Dachböden konnten Mieten verlangt werden, die die Quadrat-
meterquote selbst in den Ringstraßenhäusern übertrafen.118 Die exorbitante
Höhe der Mieten führte zu Überbelag, Bettgehertum, Unter- und After-
mietwesen, 1900 etwa hatten nur vier Prozent der Bewohner Ottakrings
einen Raum für sich.119 Eugen Philippovich stellte in einer Untersuchung
über die Wohnungsverhältnisse in den Außenbezirken aus dem Jahr 1894
jedenfalls fest, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Zustände
nicht einmal den von der Heeresverwaltung bezüglich der Raumverhältnisse
in den Kasernen aufgestellten Vorschriften entsprachen. Er wurde darin von
einer Erhebung der Schriftleitung des >Abend< aus den unmittelbaren Vor-
kriegsjahren bestätigt, die 68 Quartiere in der Brigittenau und der Leopold-
stadt mit 404 Bewohnern untersuchte und in 94 Prozent der Fälle das von
Garnisons- und Gefängnisordnungen aufgestellte Mindestmaß an Wohnflä-
che pro Kopf nicht erfüllt sah.120

67
EIN PANORAMA DES ELENDS

Wiewohl das Elend vorstädtischen Lebens in einer Fülle von journalistischen


Beiträgen und sozialreformerischen Schriften ausführlich dokumentiert und
protokolliert wurde, findet es in der Wiener >hohen< Literatur jener Zeit -
sehr im Gegensatz zu anderen westlichen Metropolen - de facto weder Er-
wähnung noch Reflexioa In der »Traumnovelle« (1925) von Arthur Schnitz-
ler unternimmt die Hauptfigur, der Arzt Fridolin, einen geheimnisumwit-
terten, nächtlichen Ausflug auf den Gallitzinberg zu einem Haus, in dem
sich Maskierte aus besseren und adeligen Kreisen zu einem erotischen Stell-
dichein treffen. Der Weg der Kutsche führt von der Alserstraße durch ein
unbekanntes Territorium von dunklen Gassen hinaus zu einer einstöckigen
Villa in elegant-minimalistischem Empirestil mit grünen Jalousien. »Sie fuh-
ren über die Alserstraße, dann unter einem Bahnviadukt der Vorstadt zu
und weiter durch schlecht beleuchtete menschenleere Nebengassen.«121
Dieser für den Verlauf und Aufbau der Novelle so nebensächliche Satz
verweist im Kontext des Schnitzlerschen Gesamtwerkes und des Wienbil-
des der literarischen Moderne auf ein bestimmtes, klassenspezifisch mo-
delliertes Wahrnehmungsmuster der Stadt. Wien wird als eine »zentrifuga-
les vom Zentrum ausgehend in die Peripherie gelesene und getextete Stadt
wahrgenommen, als ein Stadtkörper, der sich vom 1. Bezirk konzentrisch
in Richtung Mittelstädte und Peripherie (Vorstädte) sozial faltet und so seg-
mentiert. Jedem Bezirk wird seine spezifische Wohnklientel zugeordnet, die,
je nach gesellschaftlicher Stellung, auf der Werteskala oben oder unten an-
gesiedelt ist. Dem alten Hochadel und der neureichen Bourgeoisie wird die
Innere Stadt zugeordnet, dem Kleinadel der Bezirk Wieden, den Kaufleu-
ten, den Kleinbürgern und der mittleren Beamtenschaft die Bezirke 5 bis
8, und den Ärzten und Universitätslehrern die der Ringstraße nahegelege-
nen Teile des 9. Bezirkes. Diese Sichtweise der Urbanen Landschaft repro-
duziert Hilde Spiel122 in ihrem autobiographisch inspirierten Essay über die

68
Wiener Jahrhundertwende ebenso wie Stefan Zweig in seinen Lebenserin-
nerungen:
Innen wiederum spürte man, daß wie ein Baum, der Ring an Ring ansetzt, die Stadt
gewachsen war; und statt der alten Festungswälle umschloß den innersten, den kost-
barsten Kern die Ringstraße mit ihren festlichen Häusern. Innen sprachen die al-
ten Paläste des Hofs und des Adels versteinerte Geschichte; hier bei den Lich-
nowskys hatte Beethoven gespielt, hier bei den Esterhäzys war Haydn zu Gast
gewesen, da in der alten Universität war Haydns >Schöpfung< zum erstenmal er-
klungen, die Hofburg hatte Generationen von Kaisern, Schönbrunn Napoleon ge-
sehen, im Stefansdom hatten die vereinigten Fürsten der Christenheit im Dankge-
bet für die Errettung vor den Türken gekniet, die Universität hatte unzählige der
Leuchten der Wissenschaft in ihren Mauern gesehen. Dazwischen erhob sich stolz
und prunkvoll mit blinkenden Avenuen und blitzenden Geschäften die neue Ar-
chitektur. Aber das Alte haderte hier so wenig mit dem Neuen wie der gehämmer-
te Stein mit der unberührten Natur. Es war wundervoll hier zu leben, in dieser Stadt,
die gastfrei alles Fremde aufnahm und gerne sich gab, es war in ihrer leichten, wie
in Paris mit Heiterkeit beschwingten Luft natürlicher das Leben zu genießen. 123

Das dunkle, rauchige, elende und dreckige Wien, bevölkert mit Einwande-
rern, Proletariern, Hausierern, Dienstbotinnen, Arbeitslosen, Kriminellen
und sogenannten Taugenichtsen, welches flächenmäßig das Zentrum bei
weitem übertraf, ist für Zweig kein Thema. Thema ist dagegen ein imagi-
niertes, historisiertes und naturalistisch geordnetes Wien, in dem alle Strö-
me europäischer Kultur zusammengeflossen sind und dessen Multiethnizi-
tät nicht als Quelle politischer und kultureller Konflikte, sondern als quasi
alchemistische Voraussetzung eines speziellen Genius loci entschlüsselt wird,
dem es in der Sichtweise Zweigs gelänge, alle Spannungen in Harmonie
aufzulösen und dadurch ein speziell Wienerisches Flair zu schaffen. Die Tex-
tur der Stadt und die Topik ihrer Straßenzüge und Viertel wird als orga-
nisch gewachsenes Ganzes interpretiert, dessen spirituelles Gravitationszen-
trum die innere Stadt bildet.
Die Vorstädte bleiben für den bürgerlichen Blick, so wie er sich in die-
ser Literatur als bürgerliche Memoria und Perzeption sedimentiert, eigen-
tümlich unsichtbar und ausgeblendet. Wenn überhaupt, dann erscheint diese
>Welt da draußen< im Zusammenhang mit Imaginationen des Weiblichen.
Arthur Schnitzler berichtet in seinen Lebenserinnerungen von seinen Spa-
ziergängen durch die inneren Vorstädte (Neubau, Josefstadt). Der äußere
Gürtel proletarischer Vorstädte verbleibt ein Refugium der Dunkelheit und
Fremdheit; falls er sie überhaupt durchstreift hat, dann blieben sie ihm lee-

69
re, unbeschriebene Zonen, denen man allenfalls mit Abscheu, Unbehagen
und Angst begegnete. In der >Zwischenzone< der bürgerlich geprägten in-
neren Vorstädte, die sich, an ihren äußeren Rändern, zur Peripherie hin öff-
neten und hier durch soziale Durchmischung und kulturelle Heterogenität
charakterisiert waren, findet er Inspirationen für einzelne Frauenfiguren sei-
nes literarischen Werkes. Das >süße Mädel< taucht hier ebenso auf wie die
»armseligen Dirnen auf nächtlichem Männerfang«124. So heißt es etwa in
seiner Autobiographie »Jugend in Wien«:

An einem Novemberabend des Jahres 1881, auf einer unserer Promenaden durch
Vorstadtstraßen in der Neubau- und Josefstädtergegend, fügte es sich, daß wir uns
nach etlichen wohlaufgenommenen Einleitungsworten zwei jungen weiblichen Ge-
schöpfen als Begleiter anschlossen, für die die Bezeichnung >süßes Mädel< zwar da-
mals noch nicht existierte, die aber - wenigstens die eine von ihnen - mit einem
gewissen Recht Anspruch erheben durfte, nicht nur ein süßes, sondern sogar, wenn
es auch viele hunderttausend von ihr gegeben hat - das erste süße Mädel genannt
zu werden. 125

Was sich aus Arthur Schnitzlers Fiktionen des Urbanen herauslesen läßt -
und das findet sich nicht nur in seinem Werk, sondern auch in dem einer
überwiegenden Mehrzahl der Literaten der Jahrhundertwende - , ist eine
Teilung der Stadt in begehbare und unbegehbare Territorien. Die diesen Fik-
tionen zugrunde liegende mentale Kartographie scheint ein Imaginaire des
Urbanen gebildet zu haben, das wohl nicht nur für die Welt der Schrift-
steller verbindlich war, sondern für den Wahrnehmungskosmos der bürger-
lichen Schichten insgesamt.
Das »andere Wien< der Armen, der Deklassierten, der Proletarier, der Tag-
löhner, der Dienstboten und der Außenseiter entzieht sich der bürgerlichen
Wahrnehmung und fällt gleichsam aus der von ihr geschaffenen Welt her-
aus. Eine an den Standards höfischer und bürgerlicher Kultur orientierte
Blickweise schließt die Vorstadt weitgehend aus dem Kontext Urbanen Le-
bens aus - es sei denn als ein nach Tunlichkeit zu meidender Ort des Ver-
brechens und der Entsittlichung, des Abgründigen und des Unberechen-
baren. Es blieb der neuen Spezies der Großstadtreporter und Journalisten
wie z.B. Emil Kläger126 oder Max Winter und den schreibenden Polizeibe-
amten und Polizeiärzten überlassen, dieses andere Wien zu protokollieren
und so in die Perspektive der öffentlichen Wahrnehmung einzubringen.

Sehet Menschen, vom Hunger gewürgt, von Krankheit verdorben, die im Kote näch-
tigen. Männer und Weiber in fliegenden Lumpen, gehetzt durch unsere blanken Stra-

70
ßen, deren Reichtum sie besudeln könnten, hinabgedrängt in die Kloaken und auch
dort noch verfolgt von der Wut unserer Ordentlichkeit. Ihre Liebe ist das Brot, ihr
Ehrgeiz ein Lager für die Nacht, ihr Haß aber die satte Gesellschaft. 127

Max Winter hat im Zuge seiner Stadt- und Elendsreportagen ausgedehnte


Streifzüge durch die proletarischen Vorstädte (Favoriten, Floridsdorf, Sim-
mering, Ottakring, Brigittenau usw.) unternommen und die dort herrschen-
den Arbeits-, Wohnungs- und Lebensverhältnisse im Detail beschrieben.
Sein Bild von Wien hat wenig mit den lichtvollen und beschwingten Erin-
nerungen von Stefan Zweig oder mit dem »Reigen« von Arthur Schnitzler
gemein. Wenn er die Quartiere des Proletariats durchstreift, so schreibt er
von >älteren Häusern<, die gekennzeichnet sind durch »niedrige berußte
Gänge, oft altersblinde Scheiben in den Fenstern, die Höfe angefüllt mit
dem Kram, der in den Werkstätten nicht Platz findet, nirgends Hausgär-
ten, häufig Ställe, und in den neueren Bauten (...) Thür and Thür die klei-
nen Wohnungen, die Kerker der Kinder«.128 Wohnzellen reihen sich an
Wohnzellen - Winters Texte legen durchgängig die Assoziation mit Arre-
sten und Kerkerhöfen nahe: alles private Leben spielt sich in engen, düste-
ren und lichtarmen »Gelassen« ab; Erwachsenenleben - viel Arbeit, wenig
Freizeit, Sexualität vor den Augen der Bettgeher und Kinder. Und diese für
ihr Spiel und Herumtollen ganz auf die Gänge und Stiegen sowie auf jene
erbärmlichen Höfe der Massenwohnquartiere verbannt, die die Grundstück-
spekulation verschont hat.

Die Halbritter-, jetzt Muhrhäuser. Ein ganzes Buch ließe sich über diese Doppel-
häuser schreiben, ein aufregendes Buch, das von den gewaltigen Leiden des arbei-
tenden Volkes erzählt, von seiner freudlosen Jugend, von seinem frühen Dahinwel-
ken bei harter Fron, von seinem traurigen Sterben. 75V2 lautet die letzte
Türnummer dieser Altwiener Zinskaserne, deren einzige Erholungsstätte der schma-
le, langgestreckte Hof ist, der sich längs der rückwärtigen Front des Hinterhauses
dehnt. Hier spielt sich alles Leben ab, hier tummelt sich tagsüber die Riesenschar
von Kindern, die den kleinen Wohnzellen entfliehen, hier sonnen sich auf den al-
tersschwachen offenen Gängen die Alten. Jeder weiß die Geschichte und die Ge-
schicke der anderen, kennt und teilt ihre Sorgen ( . . . ) im Grunde genommen die-
selbe düstere Geschichte, dasselbe trostlose Geschick, die gleiche drückende Sorge.
Hier die Heimarbeiterin, die in ihrem Kabinett noch den krüppelhaften Mann lie-
gen hat, dort die Witwe, die alle überlebt hat, auch ihre Kinder, als Blick in die ei-
gene Zukunft dienend der jungen Proletarierin, die das benachbarte Gelaß bewohnt:
ein Kabinett gegen 8 Kronen und etliche Heller Monatsmiete. Eine Brutstätte aller
Krankheiten, dieses ganze große Haus mit seinen Hunderten von Menschen. ( . . . )

71
Alles Persönliche scheint ausgelöscht. Rückwärts aber lehnt die Bettstatt und sind
Strohsäcke und Bettzeug zum Lüften ausgelegt, weil Luft in diesen Wohnungen das
Teuerste ist. 1 2 9

Kinderarbeit ist häufig, oft schwer, kaum entlohnt. Die Arbeit im Blumen-,
Strickerei- und Schneidereigewerbe ist nicht nur auf Heimarbeiterinnen be-
schränkt, auch die Kinder müssen mithelfen, um minimale Lohnsummen
zu erwirtschaften. Die Männer arbeiten in den Fabriken, wie zum Beispiel
den großen Werkstatt- und Fabrikshallen, die sich in Floridsdorf entlang
der Nord- und Staatsbahn ausbreiten. Das Leben in den Vorstädten beginnt
sehr früh. »Um vier Uhr Morgens schon rollt polternd der unendliche Zug
der Cabswagen, der zweirädrigen Karren, auf denen Erde verführt wird,
durch die Straßen, und auch die oft zu flinken Brotwagen kommen hoch-
beladen aus den Thoren der vielen Brotfabriken heraus und verschwinden
im Dunkel der Nacht nach vielen Richtungen, um rechtzeitig mit dem Brot
für die Erwachenden zur Stelle zu sein.«130 Jene, die Arbeit haben - sei es
im Transportgewerbe, in den Fabriken, im Heimverlag, als Dienstboten, Tag-
löhner, Gesellen, Handwerker oder wie auch immer - gelten Max Winter
dabei noch als die Glücklichen, die die Stadt und die neue Ökonomie noch
nicht an den Rand des Lebens und der Existenz gedrängt hat. Die Arbeits-
losen und Arbeitssuchenden hatten noch früher auf den Beinen zu sein. Sie
bildeten die Warteschlange des Elends, eine sich für Gelegenheitsarbeiten
anstellende, jederzeit mobilisierbare Reservearmee der Arbeit.

Im Dunkel des Frühmorgens eilen sie in die Stadt, in die Schulerstraße, wo die Zei-
tungsinserate ausgehängt sind, dann zu den genossenschaftlichen Arbeitsvermitt-
lungen und zum städtischen Vermittlungsamt, laufen sich die Füße wund im Wett-
lauf ums Brot, um dann noch mehr entmuthigt heimzukehren zu den hungernden
Kindern, zu der sorgenerfüllten Mutter (...). Oder sich zu verkriechen in den Noth-
quartieren der Obdachlosen, draußen am Wienerberg oder Laaerberg in den Ring-
öfen, wo sie in den kalten Dezembernächten ein warmes Freiquartier finden. 131

Und doch waren selbst jene, die in den Ringöfen der Ziegelfabriken ihre
Unterkunft finden konnten, noch bevorzugt gegenüber jenen Hunderten
von Obdachlosen, denen als Schlafstätten nur das »unterirdische Wien<, das
weitverzweigte Kanal- und Abwassersystem entlang des Wienflusses blieb.
Emil Kläger beschreibt seinen Rundgang durch die »Quartiere im Wienka-
nal«:
Die letzten Obdachlosenunterschlüpfe im Wienkanal fanden wir außerhalb der
Umwölbung beim Stadtpark. Wir mußten einen vor Schmutz starrenden Aufzugs-

72
r

schacht besteigen, in dessen Hintergrund sich die sogenannte >Schmittn< befindet,


ein kleiner, aus Ziegeln gemauerter gewölbter Raum, in dem während des Kanal-
baues eine Schmiede installiert war. Hier schliefen auf einem umgestürzten Schieb-
karren zwei junge Burschen. In ihrem Gesichte lag der Ausdruck gierigen Verlan-
gens nach Ruhe. Ihre Leiber rangen förmlich um ein Stückchen Platz für sich. Und
einen Schritt weiter trete ich in einen kaum meterbreiten Raum unter der eisernen
Wendeltreppe, die zum Karlsturm emporführt. Hier lagen drei Menschen am Bo-
den, in schmierige Fetzen gehüllt. Es war ein Bild, das die Phantasie eines Künst-
lers geschaffen haben könnte, den soziale Empörung mächtig bewegt hat. 1 3 2

Doch nicht nur im Wienkanal nächtigten die Obdachlosen und Armen


Wiens, sondern auch unter Brücken und Viadukten, in Parkanlagen, Auen
und im Wiener Prater. Unter der Franzensbrücke, der Ferdinands- und Ste-
phanie-Brücke (heute: Schweden- bzw. Salztorbrücke) hausten Legionen
von Obdachlosen und Stadtstreunern; die von den Brücken wegführenden
Kanalschächte mit ihren Seitenräumen und Nischen bildeten ebenfalls be-
liebte Unterstände für kalte, rauhe, verschneite oder verregnete Nächte. In
diesen Schächten schlief man nicht nur, sondern man kochte auch, machte
Toilette oder saß einfach zusammen. Die Kanäle und angrenzenden Schächte
waren nicht nur deshalb beliebt, weil sie einen entsprechenden Schutz vor
der Polizei boten, sondern weil der feuchtwarme Dunst der Abwässer die
Temperatur in eiskalten Nächten erhöhte und den Aufenthalt einigermaßen
erträglich machte. In solchen Nächten suchte man den engen und direkten
Körperkontakt, denn die dieserart mobilisierte Körperwärme konnte einen
wie auch immer geringen zusätzlichen Kälteschutz garantieren.

Das nächste Quartier fanden wir oberhalb der Ferdinandsbrücke, wieder dieselbe
äußere Einrichtung. Der Schacht war etwas breiter als sonst, aber der Boden starr-
te vor Schmutz und die Luft war erfüllt von ekelhaften Gerüchen. Auf der linken
Seite schlief auf einem Brette irgendein armer Teufel. Er war ganz in Fetzen einge-
hüllt. In der Nähe seines Kopfes lagen die sogenannten »Kochsteine«. Im rechten
Gange aber lagen etwa zwanzig Leute. Übereinander, zum Knäuel gebildet, die
Gliedmaßen des anderen als Polster benützend. Sie waren förmlich ineinander ver-
graben, um so der dem Körper entströmenden Wärme teilhaftig zu werden. 1 3 3

Im Sommer nützten die Obdachlosen die Grünflächen der Stadt, vor allem
die Praterauen, um hinter Sträuchern, Unterholz und Stauden zu nächti-
gen, eine Art von Quartier und Nachtlager, das im Volksmund als >grüne
Bettfrau< bezeichnet wurde. Die Eingänge ins Gebüsch und Unterholz wa-
ren getarnt und durch künstliche Verhaue unzugänglich gemacht, um sich
dem Aufgegriffenwerden im Zuge von Polizeirazzien zu entziehen. Aber

73
auch verlassene Lastkräne an der Donau sowie Heuschober und aufgelas-
sene Lagerhäuser wurden als Unterkünfte genutzt.
Wer über etwas Geld verfügte, konnte Männerwohnheime wie jenes in
der Meldemannstraße134 aufsuchen, die gegen geringes Entgelt Essen,
Waschgelegenheiten, eine Schlafstelle und sogar eine kleine Bibliothek mit
Zeitungen und Unterhaltungslektüre bereitstellten. Eine andere Form der
billigen Unterbringung stellten die über die Vorstädte verstreuten Massen-
quaniere dar, wie z.B. die von Emil Kläger beschriebenen Unterkünfte in
der Kleinen Schiffgasse, Haidgasse und Hofenedergasse in der Leopoldstadt.
Viele dieser Massenschlafstellen waren illegal und ermöglichten den Vermie-
tern gute Geschäfte mit dem Elend ihrer Kunden. In kleinsten Räumlich-
keiten wurde eine Uberzahl von Menschen auf engstem Raum und unter
schlechtesten hygienischen Bedingungen zusammengepfercht.
Es sind Wohnungen in alten, halbverfallenen Häusern und bestehen gewöhnlich aus
drei bis vier Räumen, in denen achtzig und oft auch mehr Personen beiderlei Ge-
schlechtes übernachten. Zum Teil sind sie in Betten untergebracht, doch liegen die
meisten auf umgestürzten Kisten oder auf Fetzenwerk am Boden, ja sogar auf Fen-
sterbrettern. Für solche Lager sind durchschnittlich zwanzig bis dreißig Kreuzer
per Nacht zu entrichten. ( . . . ) Eintretend empfängt uns schwere, dicke Luft. Gerü-
che alter Eßwaren, der trockene Hauch modernden Tuchzeuges, schlechter Rauch,
mit dem die Luft belastet ist, und die furchtbaren menschlichen Ausdünstungen
verbinden sich zu einem Ensemble, das den Lungen Gewalt antut. 1 3 5

In diesen Texten der Sozialreportage wie auch im Werk jener Literaten, die
aus ihrer Zuwanderer- und sozialen Marginalisierungserfahrung die Stadt
von der Peripherie her textualisierten, erscheint Wen als ein geteilter, in
sich gespaltener und gebrochener urbaner Raum. Der slowenische Autor
Ivan Cankar war erstmals als zwanzigjähriger Student nach Wien gekom-
men und hatte an der Technischen Hochschule inskribiert. Ernsthaft zu stu-
dieren begann er allerdings nicht und kehrte nach wenigen Semestern nach
Slowenien zurück. Erst 1898, mit seinem zweiten Wienaufenthalt, begann
er seine schriftstellerische Laufbahn und fand eine Wohnungsmöglichkeit
als Untermieter bei einer Näherin in Ottakring. In seinen Texten entwirft
er denn auch immer wieder ein beinahe stereotypes Bild der Figur der pro-
letarischen >Näherin<, so, besonders eindrucksvoll, in einer gleichnamigen
Kurzgeschichte:

Sie war eine merkwürdige Frau. Sie nähte morgens ab fünf und abends bis elf, bis
Mitternacht, manchmal die ganze Nacht, sodaß sie sich nicht einmal hinlegte. An

74
solchen Tagen war sie fast hässlich - rotgeränderte Augen, die Lippen rauh, einge-
fallen das Gesicht. ( . . . ) Und seit wir jene Sache zwischen uns hatten, arbeitete sie
viel; und wenn ich um eins in der Nacht aufwachte, hörte ich sie noch draußen: es
war nämlich genau zu hören, wie die Nadel in den harten Stoff stach, und beson-
ders deutlich, wenn sie am Fingerhut wetzte. ( . . . ) Nun, sie beklagte sich nicht, ich
wenigstens habe sie nie gehört. Und es hätte auch nicht zu ihr gepaßt - sie war
zum Vieh erschaffen, das schweigt und arbeitet und schließlich liegen bleibt, wenn
es genug ist. 1 3 6

In den elf Jahren seines zweiten Wienaufenthaltes schreibt er eine Fülle li-
terarischer Skizzen über seine Erfahrungen mit der Stadt und thematisiert
dabei >das andere Wien<, das schäbige, elende Wien der Vorstädte und In-
dustrieviertel. Paradigmatisch dafür steht die Erzählung »Vor dem Ziel« aus
dem Jahr 1901, die die aus seiner Sicht unüberbrückbare soziale Kluft zwi-
schen Zentrum und Peripherie thematisiert. Wenn Begegnungen und Be-
rührungen stattfinden, so stehen sie unter dem Zeichen der Scham und des
Gefühls von Demütigung und Ausgeschlossensein bzw. der Herabwürdi-
gung, Geringschätzung und Marginalisierung durch die Angehörigen der
bürgerlichen Welt.
Der Protagonist der Erzählung, Jereb, ist eine Reflexionsfigur, in die au-
tobiographische Momente und Erfahrungen einfließen. Er lebt - obwohl
er studiert hat - schäbig, weit draußen, Lichtjahre von der Pracht der Ring-
straße entfernt, im dritten Stock einer neu errichteten Zinskaserne. Sein
Hausherr ist ein Fabriksarbeiter mit Frau und drei Kindern. Den Zugang
zu seinem Kabinett muß er sich durch Vorzimmer und Küche, in der die
Vermieter schlafen, jeweils leise und möglichst unauffällig verschaffen. Sein
Alltag ist triste - er arbeitet als Kontorist in einer Schreibstube, die ihm als
das Ende all seiner Träume erscheint. Die Vergegenwärtigung seiner sozia-
len und materiellen Lage ist ihm eine einzige »gräßliche Prozession«.137
Jerebs Leben spielt sich im Zwiespalt von unerträglicher realer Vorstadt-
existenz und uneigentlich-utopischen Projektionen ab. Er träumt davon,
reich zu sein, Macht über Menschen zu besitzen, phantasiert sich in einem
hohen Palast an einer Großstadtavenue, als größter Ehebrecher im Umkreis,
der über schöne, kühle, stolze Frauen bürgerlicher Herkunft leicht und pro-
blemlos verfügt und sie reihenweise verführt.
Doch Jerebs tatsächliche Welt hat mit diesen seinen Träumen nichts zu
tun. Keine verführerischen, Klimtschen Sujets nachgebildeten Frauen um-
geben ihn; er ist einsam. Sein Bezug zur Welt der Bürger und Bürgerfrauen
ist ein äußerlicher, bloß in seinen Vorstellungen hergestellter. Jereb emp-

75
findet sich als minderwertig und sozial ausgeschlossen. Er geniert sich für
sein Außeres, er geniert sich für die Kontur seiner Stirn, für die Wölbung
seiner Lippen, für sein Kinn und seinen schmalen Hals. Er empfindet sich
als schlaffe, groteske Figur, unförmig, knochig und abstoßend. Die Welt der
begehrten Frauen liegt unendlich weit außerhalb seines Zugriffs und spie-
gelt ihm bloß seine prinzipielle Plumpheit und Ungeschicklichkeit im Um-
gang mit dem anderen Geschlecht wider. Jereb empfindet seine Herkunft
als Verderben, als Erblast, die er nicht abzustreifen vermag. Die Erinnerung
an die Jugend, die nicht weit her sein kann, da er als zwar altersloser, aber
doch jugendlich fühlender Mann vorgestellt wird, gestaltet sich als Gang
durch ein Leichenfeld. Alle, die er gekannt, auch geliebt hat, sind bereits
verstorben, verreckt in jenen Gassen der Vorstadt, die auch die unüberwind-
baren Grenzen seiner Welt bilden. Er erkennt, wie sehr die Gosse für ihn
zur Einbahnstraße des Lebens, Schicksal und unauflösliches Rätsel einer
Welt geworden ist, die ihn und seinesgleichen zum Elend verdammt hat.
Alle, die er in seiner frühen Jugend geliebt hatte, waren nacheinander in der Gosse
gestorben, versehrt und kotig umgekommen. Mit ehrloser und abscheulicher Ar-
beit hatten sie die Verdammnis des Lebens verlängert, getrieben von jenem schädli-
chen tierischen Trieb: der Angst vor dem Tod. Nie konnte Jereb verstehen, wieso
auf der Welt so viele unglückliche, verachtete Menschen leben; warum sie sich mit
einer Arbeit quälen, die sie hassen, weil sie ihnen nichts nützt und ihnen kaum die
Rinde vom Brot abwirft, und die damit ehrlos und scheußlich ist; denn sie schwit-
zen und rackern sich ab, um das Blut in seinem trägen Laufen zu erhalten, und er-
niedrigen und besudeln sich sogar zu diesem Zweck. 1 3 8

Einzig gelegentliche Theaterbesuche erhellen seine trostlose Existenz und


stellen einen, wie auch immer gebrochenen Bezug zum Zentrum dieser Stadt
dar. Dabei wird ihm allerdings immer wieder aufs neue und schmerzlich be-
wußt, wie unzugänglich ihm die Welt der Schönen und Reichen bleiben muß
und wie sehr ein undurchdringliches Netz von Blicken, Gesten, Ein- und
Abschätzungen ihn von der begehrten bürgerlichen Existenz ausschließt.
Sein Weg von der Peripherie ins Zentrum, von der persönlichen und sozia-
len Misere in die Glanzwelt des Theaters führt ihn in die hellen, prachtvol-
len Wohn- und Geschäftsstraßen der Bürger. Dabei erfährt er ein quälen-
des Gefühl der Entfremdung, denn geschützt und aufgehoben fühlt er sich
nur in seiner ihm zur Heimat gewordenen Gesellschaft der Außenseiter und
Zukurzgekommenen. Hingegen potenzieren die jeweils kurzen Augenblicke
der Konfrontation mit der glanzvollen Welt bourgeoiser Kultur umso mehr
seine Minderwertigkeitsgefühle und Verunsicherungen, und lassen ihn zu

76
dem Schluß kommen, daß er ausschließlich mit Verachtung und Widerwil-
len, und als bloß verstörender wie verstörter, jedenfalls immer aber depla-
cierter Eindringling wahrgenommen wird.

Jereb mied die breiten, dicht bevölkerten Straßen. Die Gassen, durch welche er ging,
waren schon tief im Schatten; die Laternen standen eine weit von den anderen ent-
fernt. Er begegnete Arbeitern, die aus den Fabriken zurückgekehrten, Näherinnen,
Dienstbotinnen, Trinkern und Pflastertretern. In dieser Gesellschaft fühlte er sich
daheim, er ging frei und natürlich und gab sich seinen Gedanken ohne Angst und
Verschämtheit hin. Doch anders war es, wenn er zufällig und unverhofft auf eine
große Straße mit hohen, reichen Gebäuden und elegantem Publikum geriet. Er kroch
gleichsam in sich, er beugte den Kopf, und mit Händen und Füßen wußte er nichts
mehr anzufangen. Er schämte sich, er fühlte sich klein, verwahrlost, lächerlich; als
würde er mit seinem Äußeren, seinem fadenscheinigen Anzug, seinem ängstlichen
Vorstadtgesicht und seinen linkischen Gebärden das elegante Antlitz der Großstadt
entstellen und verschandeln. 139

Cankars Vorstadt könnte in keinem schärferen Kontrast zum Zentrum, zu


dessen Glanz und Helligkeit stehen. Kein eleganter Corso lädt zum Spa-
ziergang, keine Flaneure verlieren sich genießend im Treiben des metropo-
litanen Wien, keine intellektuelle Kaffeehauskultur regt zur Poesie, zum
Schriftstellern und zum Nachdenken an, keine private Behaglichkeit stützt
die kontemplative Distanz zu den äußeren Verhältnissen. Die städtische Pe-
ripherie in Cankars Novellen ist eine Welt der Dunkelheit und des Schmut-
zes, eine Welt, worin keine Sonne scheint. Sie ist vielmehr ein Verlies aus
verkommenen Straßen und Häusern. Die Luft ist ungesund, voller Rauch
und Dreck. Aus dieser Welt gibt es kein Entkommen - sie ist ein Zucht-
haus, das als solches nur offiziell nicht deklariert ist. In seiner Erzählung
»Mimi« schreibt Cankar:

In diese Gegend scheint nie die himmlische Sonne. Über den Dächern rankt Rauch
aus Fabriken, und gehst du die Gasse entlang, fällt dir Ruß ins Gesicht. Die Häu-
ser sind hoch und langweilig; die Leute, die dir hier entgegenkommen, sind schlecht
gekleidet, ihre Wangen sind hohl, und ihr Blick ist unzufrieden. Diese öde Vorstadt
erstreckt sich in weitem Umkreis; geh Richtung Osten oder Westen, nirgends ein
Ende. Ich kannte einen Mann, der schon einen grauen Bart und einen krummen
Rücken hatte und sein Lebtag noch nicht ans Ende jener unabsehbar langen Straße
gekommen war, die in eine hellere Welt führt. Diese Vorstadt ist ein riesiges Zucht-
haus; nicht einen freien Menschen gibt es hier. Manchmal überlegte ich, was diese
Sträflinge verbrochen hatten; ich überquerte eines Morgens die Straße und sah ih-
nen zu, wie sie in langen Reihen kamen, mit schweren, müden Schritten und ver-

77
schläferten Augen; mir schien, als hörte ich, wie unter ihren Kleidern die eisernen
Fesseln klirrten. Sie verloren sich in große, graue Gebäude ohne Fenster, und die
Tore schlossen sich hinter ihnen ( . . . ) . 1 4 0

Das von Cankar porträtierte »abseitige Wiens der um die Innenbezirke ge-
legte, breite dunkle und sonnenlose Gürtel erweist sich als Zone der sozia-
len Implosion. Die Verdichtung von lokalem Verhaftet-Sein, existentieller
Ausweglosigkeit und Nichtmobilität korrespondiert mit Flucht in Schein-
welten und uneigentliche Utopien. Dieser Gürtel der Hoffnungslosigkeit
und des sozialen Elends gerät zur Zwischenzone des Urbanen, zur Nega-
tion der Gesellschaft und zur Materialisierung des Inhumanen. Der in die-
ser Dezivilisierung zum Ausdruck kommende »innere Kolonialismus« der
Gesellschaft führt zu Krankheit, Siechtum und Alkoholismus. Diese von
Emphatie und persönlicher Betroffenheit getragene Sichtweise Ivan Cankars
läuft in eigentümlicher Weise parallel zum sozialen Text, den der medizini-
sche, kühl distanzierte und objektivierende Blick der Stadtverwaltung den
Verhältnissen der Vorstadt einschreibt. Die damit zum Ausdruck kommende
Instrumentalität der Moderne protokolliert eine »totale Archäologie« von
desolaten Wohn- und Lebensverhältnissen, sozialer Devianz und Patholo-
gie.

Das Bedürfnis nach Anregung oder wie es euphemistisch genannt wird, nach »Stär-
kung«, wohl auch nach Betäubung macht sich in dem Zusammenhange mit den viel-
fachen Sorgen und Miseren der Armuth bei der hier in Frage stehenden Bevölke-
rungsclasse nur allzuhäufig geltend. Die missliche Lage derselben gestattet es ihnen
jedoch nur in den seltensten Fällen, dieses Bedürfnis durch Bier- oder Weingenuss
zu befriedigen und so wird denn zum Branntwein die Zuflucht genommen. Die in
allen Straßen, Gassen und Gässchen so zahlreich vorhandenen Branntweinschänken
zeigen schon, wie sehr er verlangt und getrunken wird. In der That wird derselbe
theils in der Form verschiedenartiger Schnäpse, theils in derjenigen von Thee (!)
und Punsch (!) in so unheimlichen Mengen consumiert, dass sich seine Wirkung
nicht nur in der Form von Räuschen manifestiert, was noch viel trauriger, dass sei-
ne deletäre Wirkung auch in der ganzen Lebensführung, im häuslichen Zusammen-
leben, im Gesundheitszustande, und was am betrübendsten, auch in demjenigen der
Deszendenz in unverkennbarerWeise zu Tage tritt. 1 4 1

Der von zeitgenössischen bürgerlichen Sozialreformern, von sozialdemo-


kratischen Theoretikern einer antizipatorischen sozialistischen Lebensfüh-
rung und von Medizinern gleichermaßen immer wieder heftig beklagte über-
mäßige Alkoholgenuß der Wiener Vorstadtbevölkerung hatte die Funktion
einer sozialen Fluchtdroge und sollte die durchaus mangelhafte und kaum

78
hinreichende Ernährung kompensieren. Die Flucht in die Delirien eines bil-
ligen und jederzeit verfügbaren Massennarkotikums erklärt sich aus den er-
schöpfenden und verschließenden Bedingungen der industriellen Arbeit
ebenso wie aus den elenden vorstädtischen Wohnbedingungen.
Die Wohnungsverhältnisse sind bei der armen Bevölkerung im allgemeinen ungün-
stige; oft ist nur ein einziger Wohnraum vorhanden, von den Eltern und mehreren
Kindern bewohnt, in welchen gekocht und gewaschen werden muß und welcher
meist im Winter, um Heizmateriale zu ersparen, nur nothdürftig oder gar nicht ge-
lüftet wird. Bei besseren Arbeitern ist wohl nebst dem Wohnzimmer auch eine Kü-
che vorhanden; aber hier dient das Wohnzimmer in vielen Fällen auch als Schnei-
der-, Schuhmacher- oder Weberwerkstätte u.s.f., wodurch die Luft im Wohnräume
beständig verunreinigt und bei solchen Gewerben, bei welchen größere Staubent-
wicklung stattfindet, wie beim Drechslergewerbe, die Respirationsorgane der da-
selbst sich aufhaltenden zarten Kinder beständig gereizt werden. ( . . . ) Der hohe
Mietzins, theilweise bedingt durch die in Wien ungleich höher als in anderen Groß-
städten bemessene Hauszinssteuer, bedrückt in furchtbarer Weise die arme Bevöl-
kerung, und hindert dieselbe, für eine entsprechende Ernährung und Bekleidung
Sorge zu tragen. 1 4 2

Um die Jahrhundertwende ist also das vorstädtische Panorama des Elends


für die journalistische Sozialreportage sowie für Sozialreformer und die
neuen Sozialwissenschaften evident geworden. Und dennoch bemerken be-
reits zeitgenössische Stadtkritiker ein eigentümliches, widerspruchsvolles
Phänomen, das das moderne Wien von anderen europäischen Metropolen
in markanter Weise unterscheidet: das Vorstadtelend hat hierorts eine Fas-
sade und einen baulichen Rahmen, der es verbirgt und einfaßt. Das Wiener
Zinshaus folgt nämlich nicht, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen,
einer rein funktionalen Fabriksästhetik, wie dies in Manchester, Liverpool
oder ähnlich dynamisch expandierenden Industriezentren Westeuropas üb-
lich war, sondern einer widersprüchlichen und ironischen Ästhetik. Viel-
fach prachtvoll geschmückte Gründerzeitfassaden nach außen zur Straße
hin kontrastieren mit beengten, überbelegten und infrastrukturell ungenü-
gend ausgestatteten Wohnungen im Inneren und schaffen so eine wider-
sprüchliche Grammatik der Vorstadt. So schreiben bereits 1860 die beiden
Ringstraßenarchitekten Rudolf Eitelberger und Heinrich Ferstel, lange vor
der tatsächlichen baulichen Expansion der Arbeiterquartiere Wiens, daß der
spekulierende Zinshausherr sein Haus nach außen möglichst prunkvoll aus-
staffiere, um den wohnungsuchenden Wiener durch den äußeren Prunk an-
zulocken und um einen hohen Zins zu erzielen. »Solch ein kolossales Haus

79
sieht dann von Außen palastartig aus; von diesem hat es allen äußeren Schein
(...).« 143 Der Wiener Chronist F. von Radler schreibt kurz vor der 1892
erfolgten Eingemeindung von Lerchenfeld, Hernais und Ottakring in die
Wiener Kommune:
Die alles veredelnde Cultur der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts hat auch in
diesen Gebietstheilen der Umgebung Wiens eine Menge palaisartiger Wohnhäuser
geschaffen, welchen das Gepräge behäbiger Wohlhabenheit, ja sogar ostentativen
Luxus' aufgedrückt scheint. In dem vom Weichbilde der Residenz entfernt gelege-
nen Straßen von Hernais steht eine große Anzahl von drei- und vierstöckigen rie-
sigen Zinskasernen mit imponierenden Facaden, welche speculationslustige Bauge-
sellschaften in der Zeit des sogenannten volkswirtschaftlichen Aufschwunges
errichtet haben. Allerdings contrastirt gerade hier das ärmliche Interieur der dürf-
tigen Insassen mit dem Exterieur ihrer Wohnstätten. Verwundert bemerkt der dort-
hin verschlagene Fremde, etwa während einer Tramwayfahrt nach Dornbach, Ein-
zelne und Gruppen unverfälschter Hogarth'scher Gestalten aus den Fenstern
schauen und jene Verwunderung wächst zum Erstaunen, wenn er die verschiede-
nen von kunstvoll ausgeführten Karyatiden getragenen Balcons mit fadenscheini-
gen Wäschestücken, die zum Trocknen an Stricken befestigt sind, behangen sieht. 144

Zwei Jahrzehnte später, nach der vollständigen Durchkapitalisierung und


Privatisierung des vorstädtischen Terrains, stellt auch der in Wien tagende
IX. Internationale Wohnungskongreß »jene eigentümlichen Mischlinge von
äußerer Palasterscheinung und innerer Dürftigkeit« fest, »die den Voror-
ten den Stempel trostloser Ödigkeit und anspruchsvollster Schäbigkeit auf-
gedrückt haben«.145
Dieser Widerspruch von Schein und Sein, von Ästhetik und Elend kann
als sozialer Text gelesen werden, der auf ein eigensinniges Wechselspiel von
harten und weichen Signaturen der Stadt verweist. Die Grammatik der Stadt
schafft durch soziale Projektionen Terrains, Räume und Territorien als »Fak-
ten« und produziert so ihre innere Dialektik als ein Wechselspiel von Ober-
fläche und Tiefe. Die Tiefengrammatik ist dabei nichts anderes als die harte
Signatur der Stadt. Darunter verstehen wir das strukturierte Ensemble von
sozial generierten Räumen, Faltungen, Segregationen, die jedoch unmittel-
bar als fixierte Geographie und Topographie der Stadt erscheinen. Sie ist
die scheinbar ahistorische, auf den ersten Blick immer schon dagewesene
Ordnung der Stadt. Den Charakter ihrer Härte bezieht sie durch ihre De-
finitionsgewalt über Verkehr, Kommunikation, hierarchisierte Ver-Ortung
sozialer Akteure und Subzentren der Produktion und Distribution. Unter
der weichen Signatur der Stadt ist das Ensemble ihrer ästhetischen Gestalts-

80
B I L D 10
Elendsquartier am Lerchenfelder Gürtel
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

81
B I L D 11
Neulerchenfelder Vorstadtelend, Grundsteingasse
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

komponenten zu verstehen - dies bedeutet Silhouette und Hefenperspek-


tive, Ornament und Kontext, d.h. die Festlegung des öffentlichen und pri-
vaten Raumes und letztendlich auch die Fixierung von Differenzen als on-
tologisierte Kategorien des Schönen und des Häßlichen, des Hohen und des
Niedrigen. So wie die harte Signatur eine scheinbar unveränderliche Ord-
nung von Zentrum und Peripherie, von Einschluß und Ausschluß, von
Raum und sozialem Status festlegt, indem sie die Vorstadt zum chaotischen
Gegenüber der städtischen Ordnung erklärt, so scheint die weiche Signa-
tur einen homogenen Stadtleib zu schaffen und durch eine Ästhetik der
Kontinuität zu integrieren.
Auch Max Winter thematisiert in seinen Elends- und Sozialreportagen
aus dem >dunkelsten Wien< den Topos der anspruchsvollsten Schäbigkeit:
Moderne Zinsburgen verfügen über Flügeltüren, Messingbeschlag, Spiegel-
scheiben im Fensterrahmen, gußeiserne Geländer im Stiegenhaus und bunt-
verkachelte Gänge, »alles schön, alles neu, wer sollte denken, daß er beim

82
Betreten der ersten Wohnung krassestem sittlichen und sozialen Elend ge-
genübersteht?«146
Viele Zinshäuser der Wiener Vorstädte sind tatsächlich durch diese ei-
gentümliche Doppelfunktion charakterisiert: zum einen zeichnen ihre Fas-
saden ästhetisch die Pracht der Ringstraßenarchitektur nach; zum anderen
fehlt ihrem Inneren jeder Luxus und jede Weitläufigkeit, die für die Gründer-
zeitgroßbürgerhäuser so kennzeichnend sind. Das Innere ist rein als zins-
pressende Funktionalität gestaltet, die ein Minimum an Raum mit einem
Maximum an Mieterbelag und damit Zinsgewinn kombiniert. Ausreichende
Sanitäranlagen fehlen ebenso wie funktional >unnütze< Räume, die der Muße,
Zerstreuung und der komplexeren sozialen Reproduktion dienen könnten.
Nun war der Massenwohnungsbau in den Vorstädten zeitlich der Ring-
straßenverbauung ab 1857 nachgefolgt - jener räumlich-baulichen Doku-
mentation und Konservierung eines in Spannung zu seinem feudal-aristo-
kratischen Gegenüber stehenden großbürgerlichen Asthetizismus, der
überall »das Pathos einer dem Kapital verpflichteten Gründerzeit« spüren
ließ, dem »keine Form zu hohl und kein Geschäftszweck zu gering war,
um eine Selbstdarstellung zu rechtfertigen«.147 Bei der gegebenen Mono-
polstellung von Grundeigentümern und Bauträgern am Wohnungsmarkt
wurden der in diesem Zusammenhang entwickelte hohe Baustandard ebenso
wie die bautechnischen und ästhetischen Normen auch im Massenwoh-
nungsbau nicht aufgegeben. Das Beharren einer außerhalb der ökonomi-
schen Zwänge stehenden Baubehörde auf »respektable« Fassadengestaltung
ließ sich augenfällig mit im Prinzip vormodernen, auf feudalen Mustern be-
ruhenden Repräsentationsinteressen kapitalistischer Bauträger verbinden. Im
Rahmen dieser aristokratisch-großbürgerlichen Bautradition entstanden in
den Außenbezirken mehrgeschossige, repräsentative Zinshäuser mit gestal-
teten Fassaden und drapierten Ornamenten, großzügigen Portalen und ge-
räumigen Treppenhäusern mit ansprechender Pflasterung.148
Billige Effekthascherei, akademische Schablonenhaftigkeit, Gebrauch von Surroga-
ten sind die Schattenseiten dieses Stils und vor allem in der Privatarchitektur von
verhängnisvoller Wirkung. Bis in die Vorstadtviertel, die die ländliche Bauweise von
gestern ersetzen, dringend die bettelhafte Großmannssucht, die das echte Material
und die edlen Formen der Palastbauten verfälscht und verzerrt; die schäbige Ele-
ganz des Zins- und Geschäftshauses, die laue Protzenhaftigkeit der Villa - straßen-
weise den Eindruck neuer und erneuter Stadtviertel bestimmend - bilden den Re-
vers des Ehrgeizes, der in der via triumphalis der Ringstraße das erhöhte Selbstgefühl
des neuen Wien symbolisiert. 1 4 9

83
Wie schon Peter Haiko und Hannes Stekl150 nahegelegt haben, kann die auf-
wendige Fassadengestaltung der Zinshäuser in den Vorstädten allerdings
nicht allein aus dem Repräsentationsbedürfnis der Bauträger erklärt wer-
den, umso mehr als diese in einem zunehmenden Ausmaß die Objekte
ihrer Spekulation nicht mehr selbst bewohnten. Dieser scheinbare Wider-
spruch, nämlich der schäbigen Welt der Vorstadt die (fast) gleiche Fassa-
denästhetik einzuschreiben wie der Prachtarchitektur der Ringstraße und
der vom Bürger- und Beamtentum bewohnten Mittelstädte innerhalb des
Wiener Gürtels, macht jedoch herrschaftstechnisch durchaus Sinn. Unsere
These ist, daß die Fassadengestaltung auch im Hinblick auf ihre »polizei-
liche Funktion« entziffert werden muß, denn ein (fast) gleiches Außeres
der Fassaden von Zentrum und Peripherie, von Innerer Stadt und Vorstäd-
ten erzeugt Momente von urbaner Kontinuität, also einen homogenen Stadt-
leib, ohne jedoch die soziale Distanz zwischen beiden zu suspendieren. Auf
den ersten und flüchtigen Blick erkennt man keine großen Unterschiede.
So zelebriert die Architektur Identität, die sich auf den Fassaden nieder-
schreibt, während ihre Funktionalität die Differenz zementiert. Den sozialen
Unterschichten soll so der Eindruck vermittelt werden, daß zwischen ih-
nen und den Bürgern nicht ein absoluter und gewollter Unterschied be-
steht, sondern bloß ein gradueller, abgestufter und zumindest in der Phan-
tasie überbrückbarer. Die Stadt wird zwar imaginär als homogener Körper
hergestellt, die Ästhetik aber als verklammerndes Ornament von sozialer
Differenz und politischer Herrschaft formuliert. Ihre Außenwirkung, also
die scheinbare Kontinuität des Urbanen Raums, korrespondiert mit einer
politischen und sozialen Innenwirkung, die als Pazifizierung und soziale
Narkose beschrieben werden kann. Die Gleichförmigkeit der Fassaden soll
die Deklassierten dazu bringen, sich in Wohnumständen und Wohnbedin-
gungen still und passiv zu verhalten, die objektiv elend sind und pauperi-
sierend wirken.
Der Schein der Vorstadtfassaden trögt somit nicht nur, sondern er be-
trügt ihre Einwohner um die politische Erkenntnis, daß die soziale Differenz
des Kapitalismus von der Straße auch ins Innere der Architektur gedrun-
gen ist. Die Beherrschung der öffentlichen Sphäre wird somit dupliziert,
hat ihr Pendant in der Beherrschung der Privatsphäre und ist dieser tief ein-
geschrieben; oder anders ausgedrückt - die Ästhetik wird zum Co-Autor
des Privaten. Diese Ästhetik, die das Private als Refugium des Unglücks
hinter glänzenden Fassaden arretiert, soll die soziale und örtliche Margina-
lisierung über den Schein der Urbanen Kontinuität und Homogenität nicht

84
öffentlich und damit zu kultureller Artikulation und politischem Bewußt-
sein werden lassen.
Obwohl das hinter dem Schein der Fassaden eingelagerte Massenelend
sich in spontanen, kurzfristigen und folgenlosen Krawallen immer wieder
ein Ventil sucht und sich erst im Zuge der großen »Volksbewegung« des
Wahlrechtskampfes von 1905/07 als politischer Faktor artikuliert, ist es doch
als signifikantes hygienisches, medizinisches und epidemisches Problemfeld
der Kommunalpolitik durchgehend präsent. Denn der durch miserable Woh-
nungsverhältnisse, Alkoholismus, Mangelernährung und unzulängliche Be-
kleidung verursachte, insgesamt desolate Gesundheitszustand der Vorstadt-
bevölkerung drohte diese gleichermaßen untauglich für Arbeit und Armee
zu machen. Nicht so sehr humanitäre Überlegungen, sondern demographi-
sche, industrielle und instrumentelle Erwägungen brachten die Stadtverwal-
tung dazu, dieses Elend zu beschreiben, zu vermessen, zu medikalisieren
und zum Gegenstand eines sozialtechisch motivierten, planerischen Dis-
kurses zu machen.151
Dieser Vorgang kann in Analogie zu Prozessen der Kolonisierung ver-
standen werden, wie sie Michel de Certeau am Beispiel kolonialer Ethno-
graphie152 demonstriert hat. Demzufolge konstitutiert die Verschriftung des
>Unzivilisierten< einen hegemonialen Diskurs, durch den die Schrift orale
Kulturen aus der Domäne der Rationalität verbannt und sie in einen »exo-
tischen« Gegenstand verwandelt. Die Verschriftung der dem Projekt der Mo-
derne »fremden« Inhalte und Formen der »Welt da draußen« (also der vor-
städtischen Welt der weitgehend schriftlosen sozialen Unterschichten) führt
dazu, daß deren Lebenswelten aufgelöst und in »Zeichen« und »Fakten« über-
setzt werden, die zeit- und ortsunabhängig manipuliert werden können. Der
Fortschritt bekommt damit die Embleme von Schrift und Wissenschaft.
Diese Transformation erzeugt überhaupt erst das »Andere« der bürgerlichen
Zivilisation und macht es ebenso verfügbar wie sein unübersetzbarer Rest
zum Objekt der Dämonisierung, Obsession, Erotisierung und Begierde
wird.

85
DIE V O R S T A D T ALS
DAS >ANDERE< D E R ZIVILISATION

In zeitgenössischen Berichten erscheint die Vorstadt als die der städtischen


Ordnung innewohnende und verborgene Unordnung, als Kosmos sozialer
und kultureller Marginalität und als Inbegriff der städtischen Entfremdung.
Es sind »dunkle Landschaften an der Straßenbahn«, charakterisiert durch
»schweren Atem«, »stumpfe, dumpfe Freudlosigkeit« und die Konzentra-
tion des »Freudlosen, Sterilen, Gruseligen«;153 Viertel der »nackten, män-
nerstarken und messerscharfen rohen Kraft«, denen das »Siegel der Roheit«
eingeprägt ist und die sich an »sich breit hinstreckende, kotige, lehmerdige
Landstraßen« anlagern, die sich ihrerseits »abwechslungslos, in nüchtern-
ster Monotonie, langweilig-gleichartig und schnurgerade und endlos« hin-
ziehen.154 Der Feuilletonist der Arbeiter-Zeitung, Schermann, sieht im »jäm-
merlichsten aller Wiener Stadtteile«, des Ende der 1880er Jahre entlang der
Engerthstraße aus dem Boden gestampften Rasterviertels der Oberen Do-
naustadt, nichts als ein Konglomerat aus »rauchenden Schloten, unordent-
lichen Verkaufsladen, Branntweinschenken, Gestank, Schmutz, schlampi-
gen Weibern, verwahrlosten Kindern, Prostituierten«.155
Die sozialen Unterschichten verlieren durch Modernisierung und Indu-
strialisierung ihren ständischen Sozialcharakter und ihr weitgehend homo-
gen folkloristisches Erscheinungsbild, die sich beide aus der klaren Unter-
ordnung unter feudale Hierarchien definiert und ihnen in der Wahrnehmung
der Eliten ein mehr tierisches als menschliches Sein zugeordnet hatten.
Nunmehr lösen sie sich in eine heterogene Masse von als bedrohlich emp-
fundenen Außenseitern der bürgerlichen Gesellschaft auf, von denen gleicher-
maßen Funktionalität (Humankapital) gefordert wie Devianz (Kriminalität,
Prostitution) befürchtet wird.
Der Unterschied zwischen Vorstadt und Zentrum definiert sich weder
allein durch den Raum noch durch die historische Zeit oder durch je spe-
zifische Ensembles von Architektur, Technik und Infrastruktur, sondern vor

86
allem durch die Projektion von Differenz und die Herstellung sozialer und
kultureller Distanz. Soziale Distanz wird je nach Epoche und Herrschafts-
form unterschiedlich hergestellt. Wenn also Donald Olsen 156 davon spricht,
daß zwischen 1750 und 1850 die soziale Distanz zwischen den Wiener Vor-
orten bzw. Vorstädten und dem Zentrum größer war als danach, hat er recht
und unrecht zugleich. Denn natürlich ist die symbolische Differenz zwi-
schen dem Adel und den feudalen Unterschichten eine absolute und in ih-
rer Einbindung in ein religiös bestimmtes System von gesellschaftlich ge-
nau ausdifferenzierten Hierarchien eine scheinbar unumstößliche.
Mit dem Aufkommen des Kapitalismus und Industrialismus wird diese
Distanz zwar nicht geringer, wohl aber neu definiert, weil der Liberalismus
eben auch diese Formation in Frage stellt und neu codiert. Die soziale
Distanz zu den Unterschichten definiert sich nicht mehr aus einer gottge-
wollten Ordnung, sondern durch die neue Rationalität des Geldes, d.h. der
unendliche Strom der Produktion bringt Herrschende und Beherrschte ab-
strakt auf eine Ebene, auf jene der Verwertung durch das Kapital. Der denk-
baren Utopie der Aufhebung der Klassenunterschiede, der keine theologi-
sche Barriere gegenüber steht, muß eine polizeilich-militärische Ordnung
entgegengesetzt werden. Die neue soziale Distanz zwischen Bürger und
Arbeiter bestimmt sich durch die Dialektik von ökonomischer Integration
und sozialem Ausschluß bzw. räumlicher Segregation. Damit aber werden
die Vorstädte zu sozial und kulturell strikt abgetrennten Territorien, also
zu »dunklen Landschaften«. Sie sind Projektionsflächen von Bedrohungen,
die den Siegeszug der Moderne und des bürgerlichen Utopismus im Ge-
folge von Aufklärung, Liberalismus und wirtschaftlich-technischem Fort-
schritt in Frage zu stellen scheinen. An die Stelle der realen Lebenswelt der
Vorstadt, an die Stelle des Fabrikarbeiters, des Handwerkers, des Laden-
mädchens und der Heimarbeiterin treten Stereotypen von prototypischen
Unruhestiftern, potentiellen Revolutionären, Vagabunden, Kriminellen und
ein amibivalent besetzter Kosmos weiblicher Sexualität in Gestalt leicht-
fertiger, sittenloser Mädchen und professioneller Prostituierter. So schreibt
der Wiener Polizeiarzt Josef Schrank im Jahr 1886:
Wie sehr der Proletarier der übrigen Gesellschaft, man könnte sagen der höheren
Gesellschaft, sich nicht anzunähern versucht, der Verbrecher schon die übrigen
Volksclassen meidet, wohl aber nicht wie ersterer der höheren Gesellschaft zu nüt-
zen strebt, sondern lauert, um sie zu schädigen, so drängt sich die Prostituierte,
äusserlich mit dem Comfort, der für die Bewegung in höheren Kreisen nöthig ist,
ausgestattet, in die feine Gesellschaft, raubt die Ehre, zerstört das Lebensglück und

87
impft das syphilitische Gift Armen und Reichen, Hohen und Niederen mit glei-
cher Schrecklichkeit ein. 1 5 7

Es ist diese, über polymorphe Schrecknisse und Ängste »vorgestellte Vor-


stadt<, die sie vom Zentrum stärker noch trennt, als es in der separatistischen
Architektur der Ringstraße angelegt ist. Das Zusammenspiel von bürger-
lich-monumentaler Architektur und der politischen Imagination bedroh-
licher Terrains eines gestaltlosen Anderen erzeugt eine Grenze, die sich in
den Worten von Georg Simmel nicht räumlich, sondern sozial herstellt:
Nicht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk und der Landbezirk
begrenzen einander, sondern die Eigentümer und Einwohner üben die gegenseitige
Wirkung aus (...) Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen
Wirkungen, sondern eine soziologische, die sich räumlich formt« 1 5 8

Die soziokulturelle Transformation der Vorstädte geschieht jedoch alles an-


dere als linear und mechanisch. Vielmehr ist der Vorgang ambivalent, gebro-
chen und verläuft zentripetal wie zentrifugal zugleich, d. h. einzelne Segmen-
te der Unterschichten werden in der Gestalt der Arbeiter und Arbeiterinnen
Teil der industriellen Moderne und ihrer Zeit- und Arbeitsrhythmen, an-
dere wiederum werden sozialpolitisch und polizeilich stigmatisiert, da sie
sich nicht der neuen Arbeitsdisziplin unterordnen können oder wollen. Sie
widersetzen sich der Eingliederung in die industriell organisierten und dis-
ziplinierten Massen. Die Vorstädte werden so in den Augen des Zentrums
zu Orten der Differenz und der sozialen und politischen Beunruhigung.
Die Ängste der herrschenden Klassen richten sich nicht mehr so sehr
auf das >Andere< in seiner Gestalt als »entmenschter Pöbel< und >Mob<, der
nach mehr Brot schreien oder gar den Sturz von Adel und Klerus fordern
könnte, sondern die alten, der vormodernen Herrschaftsordnung innewoh-
nenden Ängste werden durch neue überformt, die sich nicht zuletzt aus
der Entstehung des industriellen Proletariats herleiten. Der männlich-bür-
gerliche Blick ist sich der sozialen und politischen Kontrolle über die Vor-
stadt nicht mehr sicher und beginnt eine Systematik des Verdachts und der
Verdächtigungen zu entwickeln. Symptomatisch dafür ist eine weitere Aus-
sage Josef Schranks:
Um über den gegenwärtigen sittlichen Zustand Wiens nur einigermassen ein wahr-
heitsgetreues Bild zu bekommen, muß man die drei Feinde der Civilisation: das Ver-
brechen, das Proletariat und die Prostitution ins Auge fassen. Wir finden alle drei
in den Grossstädten in einem bedrohlichen Ubermasse vertreten. Aus dem Prole-
tariate recrutiren sich die Verbrecher und die Prostituierten. Fast alle Verbrecher

88
fallen nach Abbüssung ihrer Strafe dem Proletariate zu. Mit wenigen Ausnahmen
stammt die Prostituirte entweder aus dem hungernden Proletariate oder wird zu-
letzt, sei es als Verbrecherin oder Bettlerin, eine Proletarierin. 159

Die Episteme des bürgerlichen Verdachts unterscheidet folgende Katego-


rien: die Vorstadt als Ort potentieller Rebellionen und Revolten, die Vor-
stadt als Ort der Krankheit, des Siechtums und der Prostitution, die Vor-
stadt als Ort der Kriminalität und des Vagantentums, die Vorstadt als Ort
ethnisch-kultureller Unordnung und Durchmischung (und damit auch als
Projektionsfläche antisemitischer Ressentiments), letztlich also die Vorstadt
als sozialpathologisches Geschwür, das den vorgeblich gesunden Stadtleib
zu bedrohen scheint.
Die Pathologisierung der Vorstadt ist jedoch nur die Oberfläche eines
viel tiefer reichenden diskursiven Prozesses, der die urbane Peripherie zum
Territorium des Niederen, des Abstoßenden, des Abschaums und der Un-
kultur und damit zum >Anderen< der bürgerlichen Gesellschaft erklärt. Diese
biologistische und kulturelle Setzung von Differenz verweist auf die Eigen-
sinnigkeiten der Konstruktion männlich-bürgerlicher Subjektivität im 19.
Jahrhundert. Darin kommt der sozialen Ausgrenzung und Marginalisierung
des >Anderen< eine funktionale Rolle für die Konstitution des Bourgeois
als universellem Subjekt von Aufklärung und Fortschritt zu. Wie Peter Stal-
lybrass and Allon White 160 gezeigt haben, führten die anti-hierarchischen
Motive des bürgerlichen Diskurses nicht nur zur Ablehnung der ständisch-
feudalen Kultur des Adels, sondern zugleich auch zu einer Abwertung der
populären Volkskultur, die als >nieder<, >vulgär< und >unrein< denunziert wur-
de.161 Der Bourgeois >reinigte< sich, diesem Erklärungsmodell zufolge,
gleichsam unbewußt von der historischen Kontingenz seiner Abkunft, dem
sozial Polymorphen und den sinnlich-erotischen Komponenten der Volks-
kultur. Das >Niedere< der Gesellschaft wurde diskursiv ebenso exterrito-
rialisiert wie die eigene (männliche) Sexualität und Instinkthaftigkeit als Be-
standteil des politsch Unbewußten internalisiert.162 Das Populäre wurde
solcherart sowohl abgewehrt wie auch begehrt. Die sozial ins Abseits ge-
schobene und marginalisierte Kultur der vorstädtischen Unterschichten er-
zeugt so eine konstitutive Abhängigkeit der bürgerlichen Identität vom >An-
deren<, indem sie das sozial Periphere zum symbolisch Zentralen macht.163
Die Angst vor der anarchisch-politischen Formation >Vorstadt< war je-
doch nicht nur Folge einer inneren Dialektik der bürgerlichen Subjektivi-
tät, sondern hatte auch reale Ursachen in einer veränderten, politischen
Funktion der europäischen Städte im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die Städte

89
sind nun nicht mehr nur ein Zentrum unter mehreren auf einem Herr-
schaftsterritorium, sie bilden nicht mehr nur einen Teil eines weitläufige-
ren, polymorphen feudalen Herrschaftsgefüges, in dem auch nichturbane
Zentren (z.B. Klöster, Adelsansitze) politische Macht besaßen, sondern
sie sind mit der Industrialisierung und der Herausbildung der National-
staaten zu den Zentren der politischen und wirtschaftlichen Macht gewor-
den.164 Während die Unterschichten der Vormoderne weitgehend problem-
los (auch in Urbanen Kontexten) segregiert werden konnten und ihre
Stellung im Produktionsprozeß zwar wichtig, doch kulturell und politisch
nicht als essentiell für die Wirtschaftsordnung erachtet wurde, rückt die in-
dustrielle Ordnung die Arbeiter und Arbeiterinnen deutlich näher an das
Zentrum der Macht heran. Nicht nur, daß die Stellung der Arbeiterschaft
im Produktionsprozeß wichtiger wird, es setzt damit auch eine politische
Selbstorganisation durch die Arbeiterbewegung ein, für die es in der poli-
tischen Vorgeschichte der merkantilen Produktion keine Entsprechungen
gibt.
Damit werden die Unterschichten für die Herrschenden gefährlicher,
vieldeutiger, unberechenbarer und unvorhersehbarer. Sie werden in ihrer
Vielgestaltigkeit, die sich vielfach der alten sozialen Kategorisierungen ent-
ledigt hat, zum Amorph-Anderen, nämlich zu einer sozio-kulturellen, dis-
kursiven Konstruktion, in der sich die traditionelle Ausgrenzung der Un-
terschichten mit neuen sozialen Ausschlußformen mischt. Diese rühren
zum einen aus der industriellen Produktionsform (Fabrikdisziplin und
Lohnarbeit) und zum anderen aus den psychischen und kulturellen Identi-
tätserfordernissen des neuen Bürgertums her. Damit wird der ausgrenzen-
de Blick der Bürgerinnen und Bürger mit einer zusätzlichen, phobischen
Dimension aufgeladen. Die sozial Anderen werden in ihrer imaginierten
Ortlosigkeit zu städtischen Nomaden und zu vagabundierenden Gespen-
stern, die jederzeit das Zentrum der Macht in Frage stellen können, die Bar-
rikaden errichten, Arbeitermilizen aufstellen und den Sturz von Regierun-
gen planmäßig und strategisch vorbereiten könnten. Dies kommt deutlich
in einem wohlbekannten Zitat aus der Neuen Freien Presse aus dem Jahr
1890 zum Ausdruck:

Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Thore der Häuser werden geschlossen, in den
Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind
verödet, auf allen Gemüthern lastet der Druck einer schweren Sorge. Das ist die
Physiognomie unserer Stadt am Festtage der Arbeiter. 165

90
In der Vorstadt als Projektionsfläche bürgerlicher Ängste droht aber nicht
nur politische Revolte, sondern in Gestalt der »industriellen Reservearmee<,
der Summe aller Arbeitsunwilligen, Tachinierer und Strizzis, die Unordnung
der Stadt schlechthin:
Hundertausend arbeitsfähige Arme sind disponibel und die Klage über Mangel an
Arbeitskräften ist eine stehende und Uebel lähmt die ehrlichsten Bestrebungen un-
serer reellsten Arbeitsgeber. Hunderttausend nervige Hände stecken in den leeren
Hosentaschen des Flaneurs der restlichen Praterauen, des »Schanzeis«, der Linien-
gräben und ähnlicher Rendezvous unserer patentirten Vaganten, aber trotz zeitwei-
liger (Schnaps=)Noth erwidern die Herren auf die lucrativsten Lockrufe, die aus
sämmtlichen Werkstätten erschallen, nur ihr stabiles: »Non possumus!« Tausende
und aber Tausende fremder Arbeiter werden mit schweren Kosten und viel localem
Nachweh importiert, und Tausende und aber Tausende unserer engeren vaterländi-
schen Lumpe liegen auf fauler Haut, als prächtigste Exemplare des classischen »dolce
far niente« in ihren Refugien und lachen ob des gewerblichen Lamento's. Eine Le-
gion veritabler Athleten, wahre Vollblut-Herkulesse, kauert tagsüber schlaftrunken
in den Surrogatschänken oder vertreibt sich die »ewig lange Zeit«, bis so ein »Ma-
lefiztag« vorbei, mit neueren Formen des Kartenmischens und sonstigen Usancen
des praktischen Kosakenthums, wäre jedoch höchstlichst empört, falls irgend ein
industrieller Ideologe ihre Mitwirkung nur zu den geringfügigsten ehrsamen Han-
tirungen erkaufen und erbitten wollte. Denn: Was ma nit rrtög'n und was ms nit
g freut, Für so a Arbeit hab'n merka Zeit (...).166

Die Pathologie der Vorstadt wird jedoch nicht nur durch das Gespenst der
Rebellion und Renitenz definiert, sondern zusätzlich durch xenophobische,
antislawische und antisemitische, nicht zuletzt vor allem auch sexuelle Äng-
ste komplementiert. Dieser Zusammenhang wird beispielhaft am Bericht
des katholischen Priesters und nachmaligen Reichsratsabgeordneten Eich-
horn über Floridsdorf und Umgebung deutlich.
Durchstreift man die breiten aber schmutzigen Straßen, so begegnen Einem mo-
dernisirte Juden mit listigen Augen, Slovaken in der Nationaltracht mit mächtigen
>Binkeln< bepackt, in denen all ihr Hab und Gut, nicht selten auch Kinder unterge-
bracht sind. Zu gewissen Stunden sind die Straßen oder Trottoirs überschwemmt
mit hageren Gestalten; auf vielen Gesichtern der männlichen ist der Stumpfsinn oder
aber die Unzufriedenheit ausgeprägt; vielen weiblichen Gestalten sieht man sofort
den Leichtsinn an. Diese Unglücklichen sind die Arbeiter und Arbeiterinnen. 167

Weibergemeinschaft und Weibertausch, so Eichhorn weiter, seien in den


Arbeitervierteln nichts Ungewöhnliches, freie Liebe und Ehe auf Kündi-
gung die »Pflanzstätte eines großen Theiles der nächsten Generation«. Zu

91
den »grauenhafter Dingen« des vorstädtischen Lebens zählten die weit ver-
breitete Kinderarbeit, und wann immer die Behörde zum Eingreifen ge-
zwungen sei, könne festgestellt werden, daß die Mehrzahl der jugendlichen,
sich noch im schulpflichtigen Alter befindlichen Mädchen bereits defloriert
sei. So habe sich schließlich in der Öffentlichkeit die Meinung gebildet,
»Floridsdorf und Umgebung sei lediglich eine Brutstätte des Lasters und
wie sittlich, so auch sanitär verseucht«.168
Der Angst vor dem vielgestaltig Anderen war also eine sexuelle und ero-
tische Komponente eingeschichtet. Damit die Identität der herrschenden
Bürger-Männer aufrechterhalten werden konnte, mußte diese Komponen-
te jedoch aus dem Bewußtsein ausgeklammert und ins Unbewußte verscho-
ben werden. Das bürgerliche Ich- und Moralkorsett mit seiner Dynamik
von sexueller Angst und Abwehr bzw. Anziehung und Begierde konstru-
iert damit die Vorstadt nicht nur als das Bedrohliche für die Sphäre der Po-
litik und Öffentlichkeit, sondern auch als unbestimmtes, jedoch gefährli-
ches Territorium des Geschlechtlichen, als ein insgeheim anziehendes und
verführerisches Terrain der Lust. Die Kulturen der sozialen Unterschich-
ten und die mit ihr in Zusammenhang gebrachte Prostitution werden durch
eine Phantasmagorie des Sexuellen überformt.169 Die Sexualität der weib-
lichen Unterschichtsangehörigen und Arbeiterinnen wird als anarchischer,
>freier<, libidinöser und dem eigenen männlichen Begehren zugänglicher
phantasiert als die Sexualität der eigenen Ehefrauen, die strengen, gleich-
sam viktorianischen Moralregeln unterworfen sind. In der Beschreibung des
Wurstelpraters von Felix Saiten liest sich dies so:
Einfach, wie nirgendwo anders sonst, enthüllen sich hier die einfachen menschli-
chen Triebe. Die Lust des Weibes am Manne. Die Lust des Mannes am Weibe. Von
ihrer aufrichtigen Kraft ist die Atmosphäre dieses Saales ganz erfüllt. ( . . . ) Unschuld
gibt es hier nicht, wenigstens nicht in unserem Sinne, nicht im gesellschaftlichen
Sittlichkeitsbegriff. ( . . . ) In ihrer Umarmung ist Erwarten und zugleich ein Vorher-
wissen. Und manche von ihnen hat jetzt schon in ihrem Antlitz einen Schimmer
sanften Duldens, jener stillen Ergebenheit, womit Frauen so oft in langen Schmer-
zen das kurze Glück ihrer Frühlingstage büßen. 1 7 0

Doch die Vorstadt wird nicht nur als Ort einer quasi ethnographischen Er-
kundung und Festschreibung einer >freieren< Sexualität konfiguriert, son-
dern ebenso als Ort der gewerblichen Unzucht, eines allgemeinen sittlichen
Verfalls und der Verseuchung gefürchtet. In seiner »Welt von Gestern« be-
schreibt Stefan Zweig die Prostitution als ein Hauptübel seiner romantisch-
prächtigen, untergegangenen Welt im Wien vor der Jahrhundertwende. Dem

92
heftigen Gefühl der Bedrohung verleiht er mit Hilfe einer militärischen
Metapher Ausdruck:
Diese ungeheure Armee der Prostitution war - ebenso wie die wirkliche Armee in
einzelne Heeresteile, Kavallerie, Artillerie, Infanterie, Festungsartillerie - in einzel-
ne Gattungen aufgeteilt. 17 '

In dieser sexuellen Topographie der Stadt lokalisiert Zweig die »Festungs-


artillerie« eindeutig in der Vorstadt, benennt diese aber als solche nicht, son-
dern spricht nur - da sie offenbar völlig außerhalb seiner bewußten Wahr-
nehmung lag - von »jenen Gegenden, wo früher im Mittelalter der Galgen
gestanden hatte oder ein Leprosenspital oder ein Kirchhof, wo die Freimän-
ner, die Henker und anderen sozial Geächteten Unterschlupf gefunden,
Gegenden also, welche die Bürgerschaft schon seit Jahrhunderten lieber
mied«.172
Die Prostitution vergleicht er mit einem dunklen Kellergewölbe, einem
unterirdischen Wien, über dem sich die makellose Fassade der bürgerlichen
Gesellschaft erhebt. Das Kapitel über Eros und Sexualität in seinen Jugend-
erinnerungen kontextualisiert >die Stadt< eindeutig innerhalb eines sexuali-
sierten Kosmos. Das Wien seiner Jugend erscheint ihm »victorianisch«, d.h.
moralisch doppelbödig und von einer infektiösen Sexualität (Syphilis als rea-
le wie imaginierte Gefahr) bedroht, die Städte seines Alters hingegen er-
scheinen ihm »fortschrittlich«, d. h. sonnig, gesund, jugendlich geprägt und
durch die heilsamen Wirkungen der Frauenemanzipation und der Freud-
schen Psychoanalyse, den sportlichen Körperkult und die Verselbständigung
der Jugend vom Übel des sexuellen Lasters und der Prostitution befreit.
Diese dramatisch gesteigerte Angst vor der >Unzucht<, die in einer Viel-
zahl von zeitgenössichen Texten und Debatten zum Ausdruck kommt,173
kann nicht nur auf die gestiegene Anzahl der Prostituierten im Gefolge des
rasanten Bevölkerungswachstums und eine verbesserte medizinische Dia-
gnostik von Geschlechtskrankheiten bei nahezu gleichbleibend schlechten
Heilungschancen zurückgeführt werden. Sie hängt wohl auch damit zusam-
men, daß die >Hetären< nicht nur in den ihnen in der Vorstadt gleichsam
offiziell zugewiesenen Räumen und Quartieren verblieben, sondern eben-
so in der Inneren Stadt präsent waren.
Wenn man den Lebensbericht der Ottakringer Dirne Josefine Mutzen-
bacher174 nicht nur als literarische Fiktion ihres präsumptiven Verfassers
Felix Saiten liest, sondern im Kontext zusätzlicher zeitgenössischer Quel-
len interpretiert, die die Stadt als sozialen Text konstruieren, so erscheinen

93
hinter den männlichen Phantasien, Projektionen und der poetischen
Fiktionalität eben auch Schemen und Umrisse einer alltäglichen Sexualität
zur Zeit der Jahrhundertwende. Unzweifelhaft hatte die Vorstadt auf die-
sem Gebiet mit den Geboten bürgerlicher Moral wenig gemein. Die Sexua-
lität der Unterschichten ist nicht durch komplexe Werberituale, romantische
Liebescodices und besitzstandsorientierte Heiratsformen und Erbschafts-
erwartungen, sondern durch Rohheit, Schnelligkeit, unmittelbare Triebab-
fuhr, vorgebliche »Morallosigkeit« und materielle Besitzlosigkeit geprägt.
Vergleichsweise niedrige hygienische Standards, schwere körperliche Arbeit,
allgegenwärtige Auszehrung, Krankheit und geringe Lebenserwartung las-
sen für erotisches Raffinement wenig Platz. Deutlich wird dies in einer Epi-
sode aus Mutzenbachers Leben, die nach dem Tod ihrer Mutter und nach
ihrer Verführung durch einen katholischen Schulkooperator als knapp Drei-
zehnjährige mit ihrem Vater ein inzestuöses Verhältnis eingegangen war.
Mein Vater hatte, nachdem die erste stürmische Zeit vorüber war, die Gewohnheit
angenommen, mich regelmäßig am Sonntag früh, vor dem Aufstehen, zu vögeln.
Das ist, wie ich heute weiß, bei allen Arbeitern der Fall, die während der Woche
müde sind, zeitlich auf müssen und deshalb meistens am Sonntag, wenn sie ausge-
schlafen sind, ihre Frauen besteigen. So war es jetzt auch bei uns Brauch gewor-
den, und während der Woche bekam ich den gewünschten Strudel nur hie und da
einmal in der Nacht, und auch da nur dann, wenn ich mir ihn selbst holte. 1 7 5

Saltens »Mutzenbacher« legt über die Vorstadt eine verdichtete Folie des
allgegenwärtig Sexuellen, in der >Männerphantasien< des Prall-Sinnlichen,
Phallisch-Lustvollen und des Raffiniert-Erotischen durch die Protagonistin
materialisert und repräsentiert werden. Abstrahiert man von diesen Phan-
tasien, so liest sich sein Text als sozialreportagehaft angelegtes Sittenbild
von sozialer Verwahrlosung, flüchtiger Triebbefriedigung und existentiel-
ler Ausweglosigkeit. Und genau als solcher wird der Text vergleichbar mit
wissenschaftlichen Abhandlungen der Kriminalanthropologie und Krimi-
nalistik der Jahrhundertwende. So berichtet etwa Max Pollak, Hof- und Ge-
richtsadvokat in Wien, über einen »Monstreprozess« gegen Ottakringer und
Hernalser Jugendliche aus dem Jahr 1907.176 Zur Verhandlung standen die
Verfehlungen der sogenannten »Scherzer Platte«, einer lose organisierten
Bande von männlichen und weiblichen Jugendlichen im Alter von elf bis
sechzehn Jahren, die sich auf Diebstahl und Prostitution spezialisiert hat-
ten. Mitangeklagt waren zwei Kupplerinnen, die unter anderen ihre min-
derjährigen Töchter der »gewerblichen Unzucht« zugeführt hatten, sowie
eine größere Anzahl männlicher Kunden, denen geschlechtlicher Mißbrauch

94
von Kindern vorgehalten wurde und unter denen sich mehrere Kellner, ein
Bäckermeister, ein Delikatessenhändler, ein akademischer Maler und ein
Arzt befanden.
Pollak, der als Verteidiger der Jugendlichen durchgehend Akteneinsicht
hatte, spricht von »schwärenden Wunden der sozialen und sittlichen Zu-
stände der Residenz«. Die Mädchen, allesamt unter vierzehn und durch-
wegs vaterlos aufgewachsen, betrieben die Prostitution gleichsam halb-
gewerblich und waren bereits sehr früh wegen Vagabondage, Diebstahl,
Bettelei und Hausiererei mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie verstan-
den es »meisterhaft«, so Pollak, »Diebstahl und Unzucht zweckmäßig zu
verbinden«.177 Ihren Kunden waren sie, laut deren Aussagen, vor allem durch
ihr »defektes Aussehen« und ihren »frechen Blick« aufgefallen. »Bloßfüßig
und verwahrlost« seien sie in der Gegend der Lerchenfelderstraße und der
Thaliastraße auf Kundenfang gegangen, hätten diese in zwei in Ottakring
von den angeklagten Kupplerinnen betriebene »förmliche Kinderbordelle«
gebracht und dort einen »Schandlohn« von wenigen Hellern kassiert. Eine
zentrale Rolle in den Aussagen der Mädchen spielt ein von der Polizei nicht
identifizierter, sogenannter »Kinderverzahrer«, der als ein Mann »mit grau
meliertem Barte, offenbar den gebildeten Ständen angehörig« beschrieben
wird und einen Großteil von ihnen an Kupplerinnen vermittelt hatte.178
Der Prozeß endete mit Kerker von sechs Monaten bis zu einem Jahr
für die Kupplerinnen und mit mehrwöchigen bis mehrmonatigen Freiheits-
strafen für die jugendlichen »Plattenmitglieder«. Die mitangeklagte männ-
liche Kundschaft wurde mit »Rücksicht auf die minimale Glaubwürdigkeit
der Zeuginnen« ausnahmslos freigesprochen.
Pollaks Abhandlung liefert gewissermaßen den wissenschaftlich >verob-
jektivierten< Paralleltext zu Saltens literarischer Fiktion. Ausführlich zitiert
Pollak die Aussagen des akademischen Malers Rudolph Klingsbor. Dieser
habe einige der Mädchen auf der Lerchenfelderstraße aufgelesen und sie zur
Aktmalerei in seine Wohnung gebracht, wo er des öfteren mit ihnen intim
geworden sei:
Nach einigen Wochen läutete es eines Abends an seiner Wohnungstür, an die auch
mit Füßen gestoßen wurde. Klingsbor, bei dem eben ein Schauspieler L. zu Besuch
war, öffnete, und es traten wieder die beiden Mädchen ein. Klingsbor wollte sie nicht
einlassen, aber sie drängten sich herein und als die Mädchen den (glattrasierten)
Schauspieler erblickten, sagte ihnen Klingsbor, in der Meinung, sie dadurch zum
Fortgehen zu bewegen, das sei ein Geistlicher. Die Beiden erklärten aber, dies sei
umso besser, die Geistlichen seien erst die »richtigen Würzen«, vielleicht sei der auch

95
ein »Krenn«. Sie sprangen im Zimmer herum und redeten von den gemeinsten Din-
gen, um den vermeintlichen Geistlichen, der sich schlafend stellte, aufzuwecken und
seine Aufmerksamkeit zu erregen. Inzwischen kam der Wohnungsgenosse Klings-
bors, der Maler Mahr, nach Hause. Die Mädchen benahmen sich jetzt noch toller
und frecher; zum Verlassen der Wohnung aufgefordert, legten sie sich auf die Erde,
hoben die Röcke auf, spreizten die Füße auseinander, verlangten in vulgären Aus-
drücken, daß man sie geschlechtlich gebrauchen solle u. dgl. m. Erst als sie Geld
erhalten hatten, entfernten sie sich. Sie kamen in der Folge wiederholt wieder; er-
hielten sie kein Geld, so schlugen sie Lärm im Hause oder stellten sich auf die Straße
und riefen zu den Fenstern unflätige Ausdrücke hinauf. 179

Diese in dramatischerWeise außerhalb der bürgerlichen Wertskalen angesie-


delte Sexualität blieb jedoch nicht nur auf die Zweigschen Zonen der
»Festungsartillerie« beschränkt. Im männlich-bürgerlichen Blick verwandel-
te sich ihre rohe, brutale Faktizität eben auch in ein Feld des Begehrens, in
einen Gegenstand abgespaltener und verdrängter Wünsche. Dadurch ist sie
zugleich grenzüberschreitend; sie diente der männlichen Bürgerjugend zur
sexuellen Initiierung und als vor- und bzw. außereheliches Exerzierfeld. So
ergab eine durch eine wissenschaftliche Wiener Zeitschrift im Jahr 1912 durch-
geführte Erhebung unter jungen Ärzten, die nach ihrer ersten Koituspartne-
rin befragt wurden, folgendes Ergebnis: Nur vier Prozent nannten ein Mäd-
chen, das als potentielle Ehefrau in Frage kam, 17 Prozent ein Dienstmäd-
chen oder eine Kellnerin, hingegen 75 Prozent aber eine Prostitutierte.180
Es ist davon auszugehen, daß diese Prozentsätze nicht nur für Jungärzte
galten, sondern repräsentativ waren für Generationen heranwachsender Bür-
gersöhne. Damit war in ihrer Sexualität die >Vorstadt< sowohl real als auch
symbolisch präsent: real als Initiations- und Fluchterfahrung und symbo-
lisch als das gefährliche Terrain der Anziehung wie der Verdrängung, der
verführerischen Lust wie auch der omnipräsenten, pathologischen Gefahr
venerischer Erkrankung, der Begierde wie auch ihrer Abwehr. So verkörpert
die Vorstadt in der Gestalt der Dirne das >Andere< der männlich-bürger-
lichen Sexualmoral. Begehrt als >groteskes< Objekt der Lust, symbolisiert
sie die sexuelle Identität des Mannes, wie er sie zugleich aber rational ab-
lehnen muß. Sie erinnert als obskures Objekt der Begierde den bürgerli-
chen Mann jeweils an sein eigenes »Niederes«, an seine Animalität und da-
mit an den Zwiespalt von Sinnlichkeit und instrumenteller Vernunft. Die
Vorstadt und ihre weibliche Codierung wird deshalb rational marginalisiert,
kollektiv unbewußt aber bleibt sie als kulturell signifikantes Moment bür-
gerlich männlicher Lebenswelten wirkungsmächtig und folgenreich.

96
So vereinigen die Prostituierten in sich vieles von dem, was das Zen-
trum an der Vorstadt am meisten fürchtet - nämlich das Vagantenhafte, das
Ortlose, das ambivalent-weiblich Sexuelle und den drohenden Verlust der
räumlichen und sozialen Distanz zwischen innerer und äußerer Stadt. Die
begehrend-abwehrende und zugleich ausgrenzende Haltung des Bürgerman-
nes gegenüber der Hetäre entspricht also letztlich dem, was Georg Simmel
als Haltung der Bürger gegenüber den Vagabunden festgestellt hat, denn
sie »verfolgen nicht nur den Vagabunden, weil sie ihn hassen, sie hassen ihn
auch, weil sie ihn um ihrer Selbsterhaltung willen verfolgen müssen (,..)«. 181
Dies bringt uns zur Frage nach den Mechanismen dieser gesellschaftli-
chen Spaltung der Stadt und der dahinter liegenden Psychodynamik. Es ist
offensichtlich nicht ausreichend, das vielgestaltig >Andere< als bloße Pro-
jektion und als Vorgang sexuell motivierter Ausgrenzung allein zu begrei-
fen. Die Aufladung des Anderen der Vorstadt mit einer Fülle von angst-
und aggressionsbesetzten Momenten verweist auf einen komplizierteren
Prozeß.
Ein Karl Renner etwa diskutiert in seiner Analyse der Vorfälle der Ot-
takringer Hungerrevolte im September 1911 die Sittlichkeit und das Phari-
säertum der honorigen Bürger als den notwendigen Gegenpol zu »Unzucht«
und »Lasterhaftigkeit« der Enterbten der Vorstädte. Das Kapital aber als
entscheidender Vektor der Spaltung der Stadt entzieht sich der unmittel-
baren Wahrnehmung sowohl durch die Bürger als auch durch die Proletari-
er. Es ist zum »allergrößten Teil mobilisiert und sichtbar sind nur die Stät-
ten, wo es verwaltet und gehandelt wird, Banken und Börse«. Das Kapital
ist ȟberall und nirgends, vagabundiert durch Stadt und Land und ist per-
sönlich sofort unsichtbar, sobald das Volk unwillig wird (...)«. 182 Es ist diese
von Karl Renner angesprochene Vagabondage des Kapitals, die nicht nur
den materiellen Stadtkörper, sondern auch seine über Wünsche und Pro-
jektionen vermittelte Imagination neu ordnet. Die Transformation, die die
kapitalistische Wirtschaftsform an den vormodernen Gesellschaften und
ihren Stadtformen vollzieht, kann man nach Gilles Deleuze und Felix Guat-
tari183 als eine veränderte Form von Wunschproduktion auffassen, die ein
gesellschaftliches Feld, einen Stadtkörper in unserem Fall, neu konfiguriert.
Kapitalismus bedeutet damit nicht nur eine Veränderung der wirtschaftli-
chen Beziehungen der Menschen zueinander, sondern auch eine Uberfor-
mung der der Gesellschaft vorgelagerten Wünsche, Phantasien und Imagi-
nationen. Oder anders gesagt: Jede Gesellschaftsform ist durch ein je eigenes
Ensemble von manifesten und latenten unbewußten Wünschen und Trie-

97
ben charakterisiert. Triebsphäre und Ökonomie greifen so ineinander und
bedingen einen »Produktionsprozeß«, in dem nicht eine Sphäre Ursache der
anderen ist, sondern beide sich wechselseitig erzeugen und sich auf einem
Stadtkörper abbilden. Dieser Vorgang ist nicht dialektisch, sondern verläuft
gebrochen und fragmentarisch. »Produktion« bedeutet so immer auch ihr
Gegenteil, nämlich soziale Kontrolle, also Anti-Produktion, die die tenden-
ziell unendliche Akkumulation des Kapitals bremst und bricht.
Diese fortlaufende Spirale von Produktion und Anti-Produktion, Ent-
grenzung und neuen Grenzziehungen ist jedoch nur um den Preis von im-
mer neuen Spaltungen auf immer neuen Ebenen zu haben. Genau an die-
sem Punkt kommt es zur prozessualen Verschränkung von Zentrum und
Peripherie, von innerer und äußerer Stadt. Indem das Kapital die dörfliche
Vorstadt vereinnahmt, d.h. die alten Sozialbeziehungen und Sozialrollen auf-
löst und neu gestaltet, die Unterschichten als Arbeiter und Arbeiterinnen
produziert, schafft es auch sein Gegenteil: eine vielgestaltige und unkanali-
sierte Masse von potentiellen Aufrührern, Vaganten, Arbeitsunwilligen und
Prostitutierten. Die politische und kulturelle Ökonomie der Bürger korre-
spondiert so mit dem Anti-Produkt der sexualisierten und vagantenhaften
Gestalt der Vorstadt. Ihr »Anderes« ist das der bürgerlichen Wunsch- und
Gesellschaftsmaschine entkommene Feld anarchischer Wünsche, das glei-
chermaßen potentielles Rebellengebiet wie Kolonialterritorium repräsen-
tiert.

98
KOMPRESSION UND DEKOMPRESSION

Die Moderne, die die Stadt spaltet und das >Andere< der Zivilisation schafft,
übersetzt sich schockartig in die Lebenswelten der Vorstadt. Diese werden
nunmehr vornehmlich über die Zeitachse definiert. Die Beschleunigung des
Alltags, die Verknappung der verfügbaren Zeit durch 60 bis 70stündige
Wochenarbeit und die Verdichtung von Reproduktion, Erholung und Ver-
gnügen auf Samstagabende und Sonntage generieren neue biographische
Muster, die sich im Wechselspiel von Bewegung und Stillstand, von Arbeits-
druck und flüchtigem Genuß, von Kompression und Dekompression aus-
prägen. Zunehmend konzentrieren sich Begehren und Genuß auf kurze, in-
tensive, zerhackte und teilweise gewaltbesetzte Vergnügungsformen. Ivan
Cankar beschreibt diese:
Ich betrat eine niedrige, verrauchte und schmierige Wirtschaft, die voll war von lau-
ten, schreienden und singenden Gästen. Auch die Frauen sangen und schrien; ge-
kleidet waren sie in bunte Fetzen; die Gesichter waren gerötet und schweißnaß, die
Wangen gedunsen, die Augen trüb. Die andere Stube war ein paar Stufen höher,
mit Papierblumen geschmückt; dichter Staub wälzte sich heraus; dort war das Po-
dium, dort wurde getanzt. Sonderbar aufgeregt waren sie alle, hastig und laut - als
stünde ein Antreiber mit der Peitsche hinter ihnen, den Sklaven. So hastig und laut,
so im Fieber würde leben, wer aus dem Grab gerufen wäre, eine einzige Nacht zu
leben und nie mehr. ( . . . )
Er war ein junger Arbeiter. Auch er war erhitzt, ganz ruhelos, und er trank viel.
»Schnell Tini!« Er nahm sie am Arm, und sie eilten in den entfachten Staub. Dort
ertönte eine Musik, geräuschvoll und roh wie auf dem Jahrmarkt. ( . . . ) Als sie zu-
rückkamen, waren sie beide seltsam erregt; schwer und schnell keuchten sie, die
Augen glühten wie hinter einem roten Nebel. 1 8 4

Die elenden, sozialen Erfahrungen an und mit der Moderne schaffen in den
Vorstädten Zonen von Verdichtung und Entdichtung. Während Wohnen und
familiäres Leben auf engstem Raum in Klein- und Kleinstwohnungen mit

99
Überbelag stattfinden, entdichten und verdünnen sich die sozialen Bezie-
hungen auf den Straßen, Plätzen und in den Vergnügungszonen. Die Ent-
stehung der frühen Massen- und Popularkultur der Moderne erscheint da-
mit eng an diese >sozial-physikalische< Wechselwirkung gebunden zu sein,
denn dort, wo Wohnen und Familienleben zur Enge, Aggression und Hoff-
nungslosigkeit führen, entsteht der Zwang, sich diesem Elend zu entzie-
hen, es auf der Straße oder im Nicht-Zuhause in eine leichtere, flüssigere
und positivere Erfahrung der Zerstreuung, des Nicht-bei-sich-Seins und der
Ablenkung zu transformieren, d. h. sich »unbestimmte Zeit< zu erschließen.
Die Vorstädte mit ihren Schaubuden und Varietes, mit ihren Beiseln und
Branntweinschenken, ihren Gastgärten und Tanzlokalen, den berüchtigten
Rayons der sogenannten Glasscherbentänze, werden zu bunten Gegenwel-
ten des Vergessens und der sozialen Aphasie.
Es muß für den außenstehenden Beobachter ein pittoresk-bizarrer, ja
grotesker Zug gewesen sein, der sich da im ausgehenden 19. Jahrhundert
Sonntag für Sonntag gegen das neu entstandene Vergnügungsviertel des Böh-
mischen Praters am Laaerberg an der äußersten Peripherie des 10. Bezirks
hinwälzte. Sie kamen aus den Tiefen Favoritens (hier vor allem aus der soge-
nannten Kreta, einem um die Quellenstraße gelegenen Hauptsiedlungsgebiet
der tschechischen Zuwanderer), aus Simmering, Erlaa und den dem Bömi-
schen Prater benachbarten Ziegelwerkskolonien; kurz, aus einem »den Mei-
sten unbekannten Stück der Kaiserstadt, das eine ganz fremde, in sich abge-
schlossene Welt umfaßt«.185 Zu Tausenden und Abertausenden zogen sie an
Sonn- und Feiertagen heran, um in den Gaststätten und Vergnügungsetablisse-
ments Bartonicek, Bezdek, Brozek, Budar, Dworacek, Klimes, Pokorny,
Sklenarik, Swoboda, Wanya etc. ihre knapp bemessene Freizeit intensiv und
lärmend, bei ausgiebigem Alkoholkonsum, bei Tanz und Flirt zu verbringen.
Die lehmigen und schmalen Fußstege, die zu dem zwischen Drascheschlössel
und der Simmeringer Linie der Staatsbahnen gelegenen Laaerwald hinauf-
führten, waren dann, wie die Constitutionelle Vorstadt-Zeitung 1884 berich-
tet, mit einem »Völklein ganz eigener Rass« überfüllt. »Ekelerregende Schnaps-
verkäuferinnen, welche in czechischem Idiom ihre Waare feilbieten« markierten
den Weg dieser »merkwürdigen Kolonie« ebenso wie »schmutzstarrende
alte Weiber, die um Almosen stehen, Krüppel, welche ihre Gebrechen zur
Schau stellen, verstimmte Leierkasten, die ihre ohrenbetäubenden Klänge
zum Besten geben«.186 Von überall her aber tönte die Tanzmusik aus den
Gastgärten, zu deren Klängen sich Jungverliebte und Paare wiegten, die einan-
der für diesen Tag und eine kurze Nacht oder auch für länger gefunden hatten.

100
Da wurden die meisten Liebesbande geknüpft, der Verehrer brauchte nur die Selig-
keiten des Ringelspiels zu bezahlen und mit seiner Erwählten die abenteuerliche
Fahrt zu machen, und sie war sein. Das Kreischen der Mädchen und das Jauchzen
der Herren bildete nebst einem ewig verstimmten, knarrenden Werkl die anmuthi-
ge Begleitmusik zu diesem Stück irdischer Wonnen. ( . . . ) Liebesschwüre werden hier
in schales Abzugbier umgesetzt, und innig umschlugen treten die Pärchen den
Heimweg an, der durch die idyllischen Wege des Laaerwaldes führt. 1 8 7

Das proletarische Vergnügungsareal des Böhmischen Praters war zu Beginn


der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts im Laaerwald auf den Gründen der
Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft entstanden.188 Zu zwei,
vom Kantinenwirt des Ziegelwerks und einem Wiener Praterunternehmer
betriebenen Ausflugsgasthäusern waren in rascher Folge weitere, meist in
>wilder< Bautätigkeit errichtete und erst im nachhinein von den Behörden
konzessionierte Lokale getreten. Um die zentrale Gaststätte, der einer »ve-
ritablen mittelalterlichen Ritterburg« nachempfundenen Pokorny-Burg, ent-
stand nun eine jahrmarktähnliche Vergnügungslandschaft, deren Betreiber
durchwegs in Wien ansässige und zu den Wirten des Laaerbergs größten-
teils in einem Subpachtverhältnis stehende Schaustellerfamilien waren. Be-
reits 1884 berichtet das Illustrierte Extrablatt über einen »schmuck herge-
richteten Ausflugsort, in dem es Restaurationen, Ringelspiel, Schaukel und
Haspel, Kraftmesser und Panoramen in Hülle und Fülle gibt. Daß das Wahr-
zeichen des Praters, der Wurstel, nicht fehlt, ist selbstverständlich«.189 Ne-
ben den zahlreichen Kegelbahnen, Schießstätten und Ringelspielen (Schei-
ben- und Fliegerkarussells) bildeten vor allem die »Hutschen« (Schaukeln)
eine enorm nachgefragte Attraktion des Böhmischen Praters - und damit
die wort-, trink- und liebesgewaltigen sogenannten »Hutschenschleuderer«,
denen Franz Molnar in der Gestalt des Liliom ein literarisches Denkmal
gesetzt hat.
Gegen Ende des Jahrhunderts setzt sich vermehrt moderne Vergnü-
gungstechnologie durch: der bei Pokorny aufgestellte »Dampfmensch« (eine
mit Hilfe eines Dampfmotors mechanisch bewegte »Menschenfigur«), die
von Josef Hossinger präsentierte »elektrische Schreibmaschine«, die im
Gasthausgarten des Adolf Kliemesch betriebene »Elektrisiermaschine« (eine
Art elektrisches Massagegerät, das auf Basis elektrostatischer Aufladung Rei-
bungsenergie erzeugte), eine mechanische Kapselschießstätte beim Gast-
haus Mrquan (bei dem die Zielfiguren ständig sowohl in ihrer horizontalen
als auch vertikalen Position verändert wurden), das in einer kreisförmigen
Schienenanlage um ein »Luftschiff« herumgeführte »Draisinen-Karussell«

101
(bei dem ein vierrädriger Wagen mit Handkraft bewegt wurde) des Mat-
thias Kloff, das »Velociped-Caroussel« (Fahrräder an den Enden mehrerer
zentral befestigter Ausleger) des Franz Schiller. Die zahlreichen, in Zelten
oder Holzbuden aufgestellten Panoramen schließlich, die Bilder und An-
sichten aus der Tier- und Pflanzenwelt sowie verschiedener Landschaften
präsentierten, können als direkte Vorläufer der Kinematographie gelten.190
Das unzweifelhaft beliebteste Vergnügen für eine dem neuartigen Dik-
tat industrieller Zeitordnung und Disziplin unterworfenen Arbeiterbevölke-
rung aber blieben die (im Böhmischen Prater de facto von allen Wirtshäu-
sern veranstalteten) »harben Tanz«. Derlei Fünf-Kreuzer-Tänze entsprachen
in besonderer Weise den Wertorientierungen und Erwartungshaltungen
einer vorstädtischen Bevölkerung, deren Leben vom Takt der Maschinen,
deren Lebensweise im Wochentakt von Zahltag zu Zahltag strukturiert war
und deren disponible Freizeit sich auf Samstagabende und Sonntage be-
schränkte. Alfons Petzold beschreibt in »Das rauhe Leben« die aus seiner
Sicht prototypische Flucht aus dem Alltag:

Die Luft in den Gasthausräumen wurde ein Gewebe aus Rauch, Staub und Aus-
dünstung, in dem Rausch, Brunst und Rauflust brüteten. Schon fingen einige Sol-
daten an, lallend und brüllend fremde Männer anzustänkern, übergaben sich einige
Frauenzimmer und mußten von den Freundinnen hinausgeführt werden. Die Tän-
ze wurden immer wilder. Die Weiber schleuderten ihre entzündete Geschlechtlich-
keit durch den Saal, und die Männer tanzten gierig um sie herum. Eine Schnell-
polka jagte die andere, die übrigen Tänze waren der rasenden Lebensgier nicht mehr
schnell genug. Zeitweise ging die schrille Musik in dem tollen Geschrei der Tan-
zenden unter, die sich durch gegenseitige Zurufe anfeuerten. Aber auch über den
Tischen hing Geschrei, geiles Frauengelächter und der lallende Gesang Betrunke-
ner: neue und alte Gassenhauer, die tränengesättigte Strophe eines Wiener »Schla-
gers«, Dirnen- und Strafhauslieder steigen durch die dicke Luft. 1 9 1

Ahnlich wie Petzold sieht auch Felix Saiten am Fünf-Kreuzer-Tanz das


Wechselspiel von Kompression und Dekompression und die Flucht aus der
eigenen Existenz. Ihm wird darin sogar das billige, rasche und fluchtartige
Massenvergnügen zum Ausdruck von Unmittelbarkeit und Authentizität,
das dem großstädtisch-distanzierten Flaneur eine Fluchtperspektive und
Projektionsfolie aus den mehrdeutigen Gefühlslagen seiner sozialen Bezie-
hungswelten zu eröffnen scheint:
Ein Ländler begann, eine kleine, bescheidene Melodie, die sich zufrieden im Kreise
um sich selbst drehte, dann wieder inne hielt, um sich gleich wieder gutgelaunt wei-
terzuschwingen. Und jetzt waren die Großstadtkinder und die vom Lande Zuge-

102
reisten deutlich zu unterscheiden. Für die einen war's eben nur wieder ein Walzer,
die anderen aber fingen an, sich in kleinen Gehschritten kirchweihmäßig zu wie-
gen, in jener ernsthaften Ruhe, mit der die Bauern den Tanz als eine feierliche Ar-
beit traktieren, und das Bauerng'wand schien unter mancher Uniform sichtbar zu
werden. Ein Juchschrei flog da und dort empor, der Erinnerung an das ferne Dorf
entstiegen, Händeklatschen, mühevolle Verschlingungen. Inmitten dieser stampfen-
den, jubelnden, lachenden und liebenden Jugendseligkeit regt sich der Wunsch, hier
nicht als Fremder stehen zu müssen, nicht wie nach fremden Tieren auf diejenigen
zu schauen, die in Ursprünglichkeit und ungebrochener Lust genießen, nicht in Grü-
belei und nachdenklichem Zögern den Inhalt froher Stunden zu messen, sondern
Anteil nehmen zu können, besinnungslos und ohne Rückhalt. Und da erträumt sich
die Phantasie einen jungen Menschen, der, in allen Finessen des Geistes, des Wis-
sens und der Kultur geschmeidig, dennoch soviel Schnellkraft sich bewahrt, daß er
den Subtilen gelegentlich entwischt, seinen Lebensunband hierher zu tragen, der
untertaucht in diesem dampfenden Tumult einfältiger Urtriebe, und dann neuge-
badet zurückkehrt zu den anderen, die nur beziehungsweise Wehmut kennen und
vieldeutige Sentimentalität.« 192

Saltens Perspektive des Fünf-Kreuzer-Tanzes ist die des Flaneurs, der sein
Stadtimago als Projektion der Brüche der eigenen Subjektivität schreibt. Wo
er die Kraft der Jugend und Erotik als ein Moment von Eigentlichkeit und
Freiheit am Werke sieht, schafft ein anderer Blick wie der des Polizisten
Josef Schrank Szenarien der Prostitution und der Gewalt:

In den Vororten Wiens, weniger in Wien selbst, gibt es Tanzlocale, wo für jeden
Tanz ein bestimmter Betrag von einigen Kreuzern zu entrichten ist. Diese Locale
werden von den niedrigsten Ständen aufgesucht, die weibliche Bevölkerung darun-
ter nimmt es mit der Moral nicht zu strenge, sondern gibt sich bei der nächstbe-
sten Gelegenheit der Prostitution hin und sei es sogar die Gassenprostitution. In
diesen Localen, die auch von der Garnison stark frequentirt werden, kommt es we-
gen den Mädchen oft zu blutigen Conflicten zwischen Civil und Militär. 193

Diese unterschiedlichen Blicke auf die Vorstadt bleiben nicht folgenlos, son-
dern bilden Genres und Narrative der modernen Stadt. Sie speisen gleicher-
maßen die romantischen wie bedrohlichen Bilder der Großstadt. Sie erzäh-
len das Großstadtleben als Roman, Reportage und später als Film wie auch
als Aktenvermerk polizeilicher Kontrolle. Damit konstituiert sich ein wi-
dersprüchliches Stadtimaginaire, das sich selbst wieder ins das Urbane rück-
schreibt.
Die multikulturelle Durchmischung der Großstadt Wien und die dadurch
ausgelösten Prozesse der kulturellen Fragmentierung und Entfremdung, der

103
gegenseitigen Abschottung und Ghettoisierung verstärken soziale Kompres-
sion und Dekompression - sie erzeugen Abgrenzungs-, Assimilierungs- und
Fluchtbedürfnisse und radikalisieren das Problem der sozialen und kul-
turellen Identität sowohl der Gruppen als auch der Individuen. Während
Ethnos, Nationalität und soziale Schichtzugehörigkeit trennend und aus-
schließend wirken, haben Konsum, Ablenkung und Zerstreuung homoge-
nisierende Wirkung, da sie im Akte des Genusses aus dem problemerzeu-
genden Anderen einen anonym Gleichen mit derselben Sehnsucht nach einer
verlorenen Heimat machen. In der kollektiven Erfahrung der tanzenden
Körper und der Musik, die auf eine verlustig gegangene Identität verweist,
wird für einen Moment lang die Differenz und reziproke Fremdheit aufge-
hoben und ein gemeinsames Schicksal intoniert.
Einen Czärdäs stimmt das Orchester an, und jetzt ist hier Ungarn. Das wechselt
und wühlt durcheinander. Das verträgt sich und gönnt einander die fünf Minuten
Heimatzauber. Hier lehnt sich keiner gegen das Lied des anderen auf, und jeder
kennt hier, ohne daß es ausgesprochen werden müßte, ohne daß es diesen einfa-
chen Gemütern jemals einfiele, dergleichen zu denken oder es auszusprechen, die
heimatlose Verlaufenheit, die Sehnsucht nach Hause, nach der Wurzelscholle, kennt
sie an sich und an anderen. Und ob nun die Musik einen Walzer spielt, einen Länd-
ler, eine Kreuzpolka oder einen Czärdäs, allen diesen Menschen hier ist eines ge-
meinsam: daß sie fremd sind in dieser riesigen Stadt ( . . . ) . 1 9 4

In diesem Zusammenhang wäre die Frage au fzuwerfen, ob nicht gerade ei-


ner Reichs- und Residenzstadt eines multikulturell verfaßten Imperiums in
besonderer Weise daran gelegen sein mußte, die Differenzen zwischen den
Kulturen und Ethnien und den später >hinzugeschaffenen< Nationalitäten
durch populäre Inszenierungen zu überdecken. Der den Wienern stereo-
typ nachgesagte Hang zum Schein, zur Oberflächenästhetik und zum All-
tagshedonismus wäre dann historisch gesehen, wie gerade in Hinblick auf
das Biedermeier oft vermutet, nicht so sehr Ausdruck einer servilen Hal-
tung gegenüber der Obrigkeit. Er wäre vor allem Erscheinungsform einer
Politik von Öffentlichkeit und öffentlicher Inszenierung, die nicht nur In-
teresse an der Aufrechterhaltung der feudal-bürgerlichen Herrschaftsinter-
essen hatte, sondern auch Formen des populären Vergnügens wenn nicht
förderte, so doch an ganz bestimmten, dafür traditionell vorgesehenen Or-
ten duldete, um auf diese Art systembedrohenden, multikulturellen Span-
nungen ein Ventil zu verschaffen.
Gleichwohl bleibt die Differenz zwischen Innenstadt und Vorstädten
herrschaftsbestimmt und artikuliert sich keineswegs nur in den Formen

104
populären Vergnügens. Sie äußert sich im Inneren der Architektur, ebenso
wie in der doppelten Faltung, d.h. der territorialen Segregation des öffent-
liches Raumes, und sie äußert sich nicht zuletzt in den Bewegungen und
Wahrnehmungen ihrer Bewohner, d.h. in ihrer imaginären Kartographie. Die
>City< schöpft nicht nur den Mehrwert der industriellen Produktion und
Finanzspekulation, sie ermöglicht dadurch eben auch die Entstehung so-
zial ausdifferenzierter und abgestufter Kulturen der Wahrnehmung und Mo-
bilität. Sie schafft auf der einen Seite den kulturkonsumierenden Bürger,
der neben Arbeit mehr und mehr Freizeit genießt und, als sozialtypologi-
sches Avantgardeprodukt, den Müßiggänger bzw. Voyeur und Flaneur, der
arbeitslos und zugleich luxuriös von den Erträgen aus Kapital und Eigen-
tum leben kann. Und sie schafft auf der anderen Seite eine Masse von Ge-
hetzten, die unter elenden Bedingungen die Vorstädte bevölkern und mit
ihrer Arbeit gerade das Überlebensnotwendige verdienen können.
In seiner Autobiographie hat der verwachsene, lungentuberkulöse
Alfons Petzold sein Leben als Lehrjunge und Hilfsarbeiter in Ottakring
als albtraumhaften Fiebermarsch durch eine vorstädtische Vorhölle, als un-
entrinnbaren Kreislauf von Unterernährung, körperlicher Deformation,
Überforderung an den häufig wechselnden Arbeitsplätzen, Krankheit und
physischen wie psychischen Zusammenbrüchen beschrieben. >Vorstadt<
steht für ihn synonym für jene Orte, »wo Verwahrlosung keine körperliche
Sünde mehr ist, weil die Armut den Leib nicht mehr schützen kann«.195
Niedergeworfen von seiner unheilbaren Lungenkrankheit durchstreift er in
der Zeit seiner erzwungenen Arbeitslosigkeit die Straßen und Plätze Otta-
krings.
In all diesen Häusern lebte vom Keller bis ins Dach hinauf mein Geschlecht, das
Geschlecht der Verdammten auf Erden. Qualvolles preßte sich hier gegen dünne,
feuchte Mauerrippen, ohnmächtige Wut zitterte mich aus den Gängen und Haus-
fluren an, hündische Demut glotzte mir aus den Fenstern entgegen. ( . . . ) Arme Ju-
gend, die da im Staub vor mir spielte. All diese Kinder mit den Kartoffelbäuchen,
Affengliedern, Wasserschädeln, skrufulösen Wunden, mit dem Gift ihrer Kaste im
Leib ( . . . ) . 1 9 6
Hingegen lebt der Flaneur, wie ihn Walter Benjamin in seiner Studie »Das
Paris des Second Empire bei Baudelaire«197 theoretisiert und Arthur Schnitz-
ler in seinen Stücken als Wiener Figur auf die Bühne gestellt hat, in schar-
fem Kontrast zu den Gehetzten der Vorstädte. Während dem Flaneur ein
geradezu interesseloser und fast zoologischer Blick auf die Stadt und ihre
Lebensäußerungen möglich wird, erscheint die Stadt dem Gehetzten als be-

105
B I L D 12
Das legendäre Vorstadtgasthaus »Zur Blauen Flasche«
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

drohliche Arena des Sozialdarwinismus. Der Flaneur kann ohne Zeitdruck


zwischen Wohnung und Cafe, Straße und Theater, Parkanlagen und Restau-
rants hin und her pendeln. Er kann seine Subjektivität verfeinern, seine Ner-
ven kultivieren, komplizierte Codes des Konsums, der Erotik und Zerstreu-
ung konstruieren, wohingegen der Gehetzte ohnmächtig im Kreislauf der
einfachen Reproduktion verbleibt. Er findet Zerstreuung und Ablenkung
allein am Sonntag in den Gasthäusern, Vergnügungstätten, Varietes, in Zir-
kus und Panoptikum.
Die Bewegung und räumliche Bewegungsfähigkeit des Gehetzten bleibt
immer unter dem Diktat der Zeit, d.h. der unaufschiebbaren Wiederaufnah-
me der Arbeit in Fabrik und Kontor. Dem Flaneur ist Zeit keine knappe
Ressource, sondern üppiges Surplus und reiches Reservoir seiner sozialen
und kulturellen Existenz. Ihm ist die Weitläufigkeit und Grenzenlosigkeit
von Raum und Zeit prinzipiell garantiert, wohingegen der Gehetzte an das
Lokale gebunden bleibt. Während das >Lokale< in der vormodernen (Klein-)
Stadt wesentlich mit geschlossenen Lebenswelten198 und isolierten sozia-

106
B I L D 13
Volksvergnügen im Wiener Prater
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

len Erfahrungsräumen korrespondiert, schafft die moderne Stadt eine Illu-


sion von Kontinuität und Weitläufigkeit. In ihr konstituiert sich das >Lokale<
nicht hermetisch, sondern als gesellschaftliches Konstrukt einer Ökonomie,
die soziale Eingrenzung und kulturelle Isolation über die Nichtverfügbar-
keit von freier Zeit und Mobilität herstellt.
Die Schaffung der industriellen Klassen erzeugt ihre eigene dialektische
Ironie von Mobilität und Seßhaftigkeit. Die mobilsten sozialen Schichten
(die Zuwanderer und Arbeitsmigranten) werden zu den Seßhaftesten, da
ihre Stellung im Produktionsprozeß und ihre Klassenzugehörigkeit sie al-
ler weiteren Mobilität beraubt und in den Produktions- und Wohnstätten
festsetzt, wohingegen der traditionell seßhafte Bürger durch Eigentum an
(neuen) Produktionsmitteln und Kapitalertrag alle Möglichkeiten der neu-
en technischen Mobilisierungsmittel (Bahn, Schiffahrt, Automobile, Flug-
zeuge) nutzen kann.

107
Die Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten der unterschiedlichen
sozialen Akteure differenzieren sich dementsprechend aus. Dem Flaneur
wie dem neuen Bürgertum ist die kulturelle Differenz-, Novitäts- und Kom-
plexitätserfahrung der Moderne, die aus Mobilisierung, technischer Inno-
vation und künstlerlisch-wissenschaftlicher Innovation erwächst, leicht
zugänglich. Ob er sich für konservative Beharrung und Abschottung in der
Uberlieferung entscheidet oder ob er sich den Ambivalenzen des >Fort-
schritts< ausliefert, die den Klassizismus/Historismus abstreifen und ein
neues Spannungsfeld von Expression, Abstraktion und rationaler (Re) Kon-
struktion eröffnen, ist letztlich den Optionen von >Klassenblick< und Indi-
vidualbiographie anheimgestellt.
Den Gehetzten der Vorstadt bleibt dagegen wenig, genauer gar keine
Wahl. Sie haben keine Optionen, sie können nicht - wie der Bildungsbür-
ger - die kulturellen Ambivalenzen der Moderne in ihrer widersprüchlichen
Synchronizität aufnehmen oder problematisieren, sondern sind auf einen
brutalen Positivismus des Hier und Jetzt reduziert.
Es war in Wien im Jahre 1885. Ich war bereits zwei Monate arbeitslos; das Geld war
aufgezehrt und ich hatte nur noch zehn Kreuzer in der Tasche, welche noch mein
einziger Rettungsanker waren. Ich machte mir den ernsten Vorsatz, jeden Tag nur
zwei Kreuzer zu verzehren. Für diese wollte ich mir immer ein Schusterlaberl kau-
fen und ich berechnete, dass ich so noch fünf Tage leben und während dieser Zeit
vielleicht doch noch eine Arbeit finden könnte. ( . . . ) Wenn auf einem entlegenen
Dorfe ein Armer Hunger leidet, so ist dies gewiß auch nicht angenehm; aber in der
Großstadt, wo dem Auge soviel geboten und der ganze Reichtum auf der Straße
zur »Schau« gestellt wird, wo die Schaufenster, in welchen Gegenstände liegen, die
Tausende kosten, hell erleuchtet sind, wo er die Menschen in Cafehäusern und Re-
staurants sitzen sieht, wo ihnen oft die auserlesensten Speisen nicht schmecken
wollen, weil sie übersättigt sind - in dieser Großstadt, die voll Reichthum strotzt,
zu hungern, das ist hundertmal ärger und kann den Menschen zur Bestie werden
lassen. Muß er doch sehen, daß all' diese Menschen, die glücklicher sind wie er, gleich-
giltig und ohne Theilnahme an ihm vorübergehen und gar oft verächtlich brum-
men, wenn der Hungernde taumelnd an einen pelzbebrämten Rock anstößt. 1 9 9

Das soziale Leben in der Vorstadt konstruiert sich aus einer Dialektik von
flüchtigen, ängstlichen und aggressiven Blicken und einem Gegenüber von
scheinbar ehernen, unveränderlichen Fakten und Tatsachen eines Industria-
lismus, der laut, gefährlich, dreckig, schnell und bedrohlich wirkt. Fabrik
und Kontor sind nicht einfach Produktionsstätten, sondern Konstitutiva von
kulturellen Praxen, >"Weltanschauungen< und Lebenswelten. Während die

108
urbane Ortlosigkeit und nomadisierende Phantasie des Flaneurs mehrere
Welten gleichermaßen möglich erscheinen läßt, gibt es für die Vorstädter
nur eine Welt. Der Flaneur genießt bzw. erleidet die Verfügbarkeit von Zeit
bis hin zur Fadesse und Langeweile; der Gehetzte erlebt Dekompression
als schmerzhaft kurzes Verweilen in der Welt der Nichtarbeit. Während der
Flaneur die Erkundung multipler Innenwelten als Identitätserfahrung kul-
tivieren und ästhetisieren kann, erscheint dem Gehetzten die Massenkul-
tur der Zerstreuung als ein Ort entspannender und grenzüberschreitender
Nichtidentität. Das Nicht-bei-sich-sein-Müssen wird weniger als >Entfrem-
dung< erlebt, denn als gewonnene Zwischenzeit und willkommenes Ein-
sprengsel in einer rigiden, durch die Moderne vereinnahmten Lebenszeit
und Lebensbiographie. Die Entäußerung, der spontane Ausdruck, das ar-
beitsfreie und nichtdisziplinierte >Außer-sich-Sein< des Gehetzten kann sich
in und an der entstehenden Massenkultur selbstlaufend, also ungezwungen
dekomprimieren. Die soziale Energie der Gehetzten (d.h. das nicht von
Arbeit und einfacher Reproduktion vereinnahmte Restquantum spontaner
Lebensäußerungen, Trieb- und Genußbefähigungen) kann sich gerade an
der von den Eliten denunzierten »Oberfläche« der Massenkultur, ihrer Spek-
takel- und >Crowd<-haftigkeit, ihrer kriterienlosen Buntheit und Exotik träu-
merisch und exilierend verlieren. Ein zeitgenössischer Beobachter beschreibt
dies am Beispiel des Böhmischen Praters:
Am Sonntag erwacht schon Mittags das fröhliche Leben und Treiben. Auf allen Feld-
wegen, die von Favoriten zum Laaerberge führen, wandern ganze Schaaren Mäd-
chen und Weiber, Männer und Burschen in dichten Massen dahin ( . . . ) . Die »Da-
men«, die mit geringen Ausnahmen der Hüte gern entbehren, gehen einzeln oder
zu Zweit nett frisirt und in bescheidenem Sonntagsstaat dahin, und am Wege ste-
hen die »Bonvivants« der entersten Gründe und die jeunesse dor£e vom zehnten
Bezirk wie die Elegants des Ringstraßen-Corsos Posten, um sich mit treffsicherem
Blick eine »Herzenskönigin« für den Sonntag oder länger zu erwählen. ( . . . ) Aus
dem Tanzsalon klingt uns die Musik eines Orchesters entgegen, das den großen Sme-
tana seinen Landsmann nennt, aber sonst wenig Beziehungen zur musikalischen Welt
hat. Nur das Mtata, mtata bildet das ewige Leitmotiv aller seiner Tänze, zu denen
die Tänzer dahinrasen, und die Zwischenpausen sind dem »Flirt« gewidmet, der
ebenso wenig aus den »Ballgesprächen« der Witzblätter als aus dem Werke »Der gute
Ton« aufweist. Da kreist das Bierkrügel in der Runde, und das Sprüchlein Wein, Weib
und Gesang ist hier in Abzugsbier, Marianka und Blechmusik variirt ( . . . ) . 2 0 0

Während der Flaneur seine Individualität im freien Wechsel der Szenen, Orte
und Selbstinszenierungen konstruieren und bestätigen kann, erlaubt die

109
Massenkultur dem Gehetzten die Erfahrung und Bestätigung seiner Exis-
tenz allein durch den Genuß ihrer nichtkolonialisierten Anteile. Das von
den Eliten abschätzig und verächtlich ausgegrenzte Andere der Massenkul-
tur, ihr vorgeblicher Mangel an >Geschmack<, >Tiefe< und >Kultur< wird ihm
so zum unverstellten sozialen Raum und damit zu einem Ort der positi-
ven Differenz und der autonomen Selbstversicherung der eigenen Identi-
tät.201
In dieser gesellschaftlichen Konstellation ist es nicht mehr der Ort, son-
dern die Zeit, die zum dominierenden Urbanen Ordnungsprinzip wird: »So
ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne
daß alle Tätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein fe-
stes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.«202 Der Faktor Zeit,
seine freie Verfügbarkeit bzw. die Unterwerfung des einzelnen unter das
Diktat von Zeitskalen, ist entscheidend für die imaginäre Kartographie ei-
ner Stadt, so wie sie sich in den Köpfen ihrer Bewohner entwickelt und ein-
lagert. Die >Zeit< produziert den Bürger-Flaneur ebenso wie den Proletarier-
Gehetzten. Einer Masse von Gehetzten, die die Vorstädte bevölkern und
mit ihrer Arbeit gerade noch ihre Subsistenz sichern können, bleibt nur das
eherne Gehäuse der einfachen Reproduktion im Wechselspiel von zehn- bis
zwölfstündiger Arbeitszeit, von Essen und Erschöpfungsschlaf.

110
VOM POPULÄREN ZUM MODERNEN:
WUNSCHMASCHINE MASSENKULTUR

Der Übergang von den ländlich verfaßten, vorindustriellen Vororten zur


modernen, industriellen Vorstadt geht also mit der Entstehung von frühen,
prototypischen Formen von Massenkultur einher. Die Massenkultur schafft
in gewisser Weise die industrielle Vorstadt als kulturelle Lebensform und
konfiguriert sie über ein Ensemble von kultureller Praxis. Sie ist damit so-
zusagen ihr neues Antlitz.
Wenn man die vormoderne Volkskultur mit ihren grotesken, karneva-
lesken Ausdrucksformen als das Vergnügen von ständisch Integrierten anse-
hen kann, so ist die entstehende Massenkultur als das organisierte Vergnü-
gen der Entwurzelten und Mobilisierten zu verstehen, die in pauperisierten
Urbanen Umwelten ihr Leben unter den Bedingungen von harter industriell-
gewerblicher Erwerbsarbeit, tristen Wohnverhältnissen und schlechter Er-
nährung neu zusammensetzen mußten. Die frühe Massenkultur - das war
die Kultur jener, die über kein symbolisches Kapital im bürgerlichen Sinne
verfügten und sich symbolische Praxis- und Umgangsformen mit ihrer Welt
erst selbst schaffen, aneignen und zu einer identitätsgestützten Lebensform
zusammenfügen mußten. Freilich war dies kein autochthoner, selbstbe-
stimmter Prozeß, sondern eine Mischung von neuem Angebot und situa-
tionsbedingter Nachfrage, Fortsetzung bzw. Neufassung von mitgebrach-
ten Traditionen, Geschlechterrollen und Alltagsstrategien.
Die Entstehung der Massenkultur kann somit als ein riesiges, gesell-
schaftliches Testlabor für eine Ästhetik und Hermeneutik des Profanen an-
gesehen werden, in dem versucht wurde, unter den Rahmenbedingungen
von Ausbeutung durch Arbeit, Ausschluß von >Hochkultur<, Marginalisie-
rung in der bürgerlichen Welt, Kargheit, geringer Lebenserwartung und
schlechter Gesundheit eine neue Rationalität des Lebens zu begründen -
eine Rationalität, die es erlaubte, die Arbeitskraft zu erhalten, ein Minimum
von Glückserfüllung zu erzielen und trotz Ressourcenmangel und Fremd-

111
bestimmung sich einen Vorschein möglichen Glücks, ein Moment von
Schönheit und eine Spur von Utopie eines anderen, besseren Lebens anzu-
eignen. Die Erzeugung von persönlicher und kollektiver Identität unter pre-
kären äußeren Bedingungen pendelte zwischen zwei Polen: den arbeitsplatz-
zemrierten Kampfformen der politisch organisierten, meist qualifizierten
Arbeiterschaft, die aus dem nicht-automatisierbaren und nicht-rationalisier-
baren Rest ihrer Arbeitskraft ein politisch-kulturelles Kapital ziehen konnte,
das sie in die Organisationsformen der Arbeiterbewegung einbrachte, und
der freizeitzentrierten kulturellen Praxis der schlechtqualifizierten Arbei-
ter und Arbeiterinnen, die einer Vernichtung durch Arbeit bzw. Arbeitslo-
sigkeit in ihrer oft exzessiven Teilnahme an der Welt des Vergnügens zu ent-
gehen suchten. An den Orten des populären Vergnügens überschnitten und
kreuzten sich verschiedene kulturelle Praxisformen. Das Wirtshaus stand
sowohl für politische Tätigkeit als auch für Spiel, Ablenkung und Alko-
holgenuß, der Prater diente der Selbstdarstellung der organisierten Arbei-
ter und Arbeiterinnen ebenso (1. Mai) wie der einfachen Reproduktion, der
Geschlechterbegegnung und dem Spektakel.
Man kann demzufolge die Massenkultur als lebensweltliche Reaktion der
kleinen Leute auf den >Arbeitsschock< der Moderne auffassen.203 Sie ent-
steht mit der gewaltdurchdrungenen Umformung der Unterschichten durch
die industriell-gewerbliche Arbeitswelt und begleitet sie als kompensatori-
sches Refugium von Glücks- und Identitätsversprechen. Zum einen schafft
sie neue, wenn auch begrenzte Möglichkeiten des Konsums, zum anderen
ist sie materieller Ausdruck einer kulturellen Praxis, die einer kargen All-
tagswelt Sinn, Ästhetik und lebensgeschichtliche Perspektive geben soll.
Unter >kultureller Praxis< verstehen wir jene Bedeutungszuschreibungen, die
aus dem Wenigen ein Mehr, aus dem Niederen Höheres, aus dem Banalen
Sinnhaftes und aus dem Profanen Wertvolles herstellen und so dem kargen
Leben eine Sinngestalt verleihen. Die kulturelle Praxis übersetzt die Lebens-
bedingungen in einen Bedeutungs- und Sinnzusammenhang und stiftet so
eine Lebenswelt, deren Funktion es ist, Ordnung und Kontinuität, Identi-
tät und Routinisierbarkeit von Lebenszusammenhängen zu garantieren. Le-
benswelten reduzieren soziale Komplexität und sollen die >Benutzbarkeit<
der Umwelt selbst unter Bedingungen von Elend, Differenz und Kontin-
genz garantieren.
Das vorindustrielle Zeitalter kennt populäre Verständigungsmedien wie
Einblattdrucke mit allgemein verständlicher Bildsprache, kurze Texte mit
religiösen, moralisierenden, makabren und apokalyptischen Inhalten, es

112
kennt vor allem aber die mündliche Mitteilung durch Erzählung, Posse,
Gesang und Schaustellerei für die Mehrheit der Illiteraten. All dies war ein-
gebunden in einen Lebens- und Alltagsrhythmus, der Arbeit von Nichtar-
beit nicht kategorial, sondern fließend trennte und der die materielle Pro-
duktion gleichsam in einen allgemeineren Ritus des symbolisch angeleiteten
Daseins einband. >Arbeit< war Teil eines umfassenderen Zyklus von Elemen-
tarereignissen, der Taufe, Kindheit, Erwachsensein, Heirat und Tod zu ei-
ner theologisch systematisierten Lebensform verband.204 Das Populäre er-
scheint darin wie ein horizontales Band, das sich durch die Produktion hin
bis zu den (meist kirchlich bedingten) Feiertagen zog. Das Vergnügen, um
das es im Populären geht, wurde durch Jahrmärkte, Kirchenfeiern, Schau-
stellertruppen, Gaukler, Tierbändiger, Monstrositätenarrangeure, Wunder-
heiler, Hausierer, Volkssänger, Zauberer und Komödianten besorgt. Das
Derbe und Herbe, der Spott, der Schrecken und die Sensation, die Span-
nung und der Nervenkitzel, aber vor allem schranken- und hemmungslose
Heiterkeit waren das Ziel. Die Feste waren oft auf mehrere Tage angesetzt
und sowohl durch Kirche wie Adel sanktioniert. Wenngleich diese Popu-
larkultur vor allem mit kirchlichen Festen in Verbindung gebracht wird, so
zeigt sich ihre Funktion und soziale Qualität nirgendwo deutlicher als in
der Hätz und im Volksfest, welche etwa mit öffentlichen Hinrichtungen
verbunden waren. Der liberale Feuilletonist Friedrich Schlögl beschreibt dies
am Beispiel der letzten öffentlichen Hinrichtung in Wien am 30. Mai 1868.
Bereits um ein Uhr nachts waren Schaulustige in großer Zahl zur Spinne-
rin am Kreuz gezogen, um das riesige Areal »lachend und kreischend und
johlend und jubilirend« in Besitz zu nehmen.
Es waren die »Habitues vom Galgenturf«, beiderlei Geschlechtes, confiscirte Ge-
sichter, Stammgäste der anrüchigsten Kneipen, stabile Insassen der schmutzigsten
Höhlen des Elends und des Lasters, ein mixtum compositum aus der vielköpfigen
Genossenschaft der Gauner... Alles, was von der gewissen Sorte nicht in Zucht-
häusern, Spitälern und sonstigen k.u.k. Besserungsanstalten gerade verwahrt gewe-
sen, war der »Hätz« vorangezogen. Bis der Morgen graute, trieb das Gesindel den
heillosesten Unfug: als es endlich Tag ward, und die Verkäufer und Ständer kamen
und ihre »Delinquentenwürstel«, »Armesünderbretzen«, »Galgendanzinger« etc. aus-
riefen, da ging der Janhagel erst recht los und die Tausende und aber Tausende wur-
den so kreuzfidel, wie es seinerzeit auf dem Brigittenauer Kirchtage Mode war. 2 0 5

Mit dem Morgengrauen kam auch die sogenannte bessere Gesellschaft dazu,
angefahren mit Fiakern, die eleganten Damen mit Opernguckern ausgerü-
stet und vom »Pawlatschen-Entrepreneur« auf die besten Plätze gehievt.

113
Dann kam der »arme Sünder« [der 23 jährige Raubmörder Georg Ratkay, d. Verf.] -
und die amtliche Procedur nahm ihren ungestörten Verlauf. - War die Menge ent-
setzt? War sie von der fürchterlichen Sühne ergriffen? Ein jubelndes Hailoh scholl
durch die Lüfte, als im Momente, wie der Scharfrichter dem Todescandidaten den
Kopf »zurecht« legte, eine Stellage einbrach und hundert Neugierige hinabpurzel-
ten. Ein lustiger Aufschrei aus mindestens tausend Kehlen lohnte ferner die witzi-
ge Tath eines Mannes, der einem Kutscher den Hut vom Kopfe schlug, weil er ihn
>in Gedanken« aufbehielt als der Priester sein Gebet zu sprechen begann.
Und was des lustigen Schabernacks mehr ist. Wie man sieht, kann sich eine
»Achtung gebietende Majorität« auch »unterm Galgen« köstlich amüsiren. 2 0 6

Interpretiert man die bis in die Gründerzeit hinein stattfindenden öffentli-


chen Hinrichtungen als prototypische Artikulationen einer feudal gepräg-
ten Volkskultur, so sind zeitgenössische Beschreibungen aufschlußreich, die
das Spektakel der Hinrichtungen mit öffentlich ausgelebter Sexualität in
Verbindung bringen und auf den engen Zusammenhang von Tod und Eros,
Öffentlichkeit und >gefährlichen< Klassen verweisen. Diese >Classen< sind
als Masse sichtbar und präsent, sie inszenieren sich im Spektakel und brin-
gen sich eigentlich zum Ausdruck, indem sie sich als organisches Kollektiv
manifestieren, das seine eigene Sprache spricht und seine eigenen Regeln
hat. Dies hat natürlich auch mit sexuellen und erotischen Ausdrucksfor-
men zu tun, die dem bürgerlichen Beobachter fremd und bedrohlich erschei-
nen müssen. So wird ihm das Spektakel zum Fremden und das Sexuelle,
das er als eine wüste kollektive Orgie phantasiert, zum eigentlichen Aus-
druck. In einem fast Canettischen Sinne baut sich die Masse auf, koitiert,
findet im konkreten Akt der Hinrichtung ihre Entladung und verliert sich.

Bis anfangs der Siebziger Jahre, d.i. zur Zeit als die Hinrichtungen in Wien »zur
Spinnerin am Kreuz« vor der Matzleinsdorfer Linie stattfanden, zogen am Vorabend
der Hinrichtung bei Einbrechen der Dämmerung lange Scharen liederlicher Weibs-
personen mit ihren Strizzis zur Richtstätte, wo selbst die ganze Nacht bis zur Mor-
gendämmerung Orgien in der wildesten Form gefeiert wurden. Unter dem Spiel
der Gitarre oder Harmonika und unter den Rufen: »Kauft brennheisse Würsteln«
und bei dem Verkaufe von Branntwein wurde Unzucht in der unverschämtesten und
frechsten Weise ausgeübt, wozu die umliegenden Felder mit ihren Gesträuchen die
geeignetste Gelegenheit darboten. 2 0 7

In derlei spektakulären Ausdrucksformen einer vormodernen, am Ubergang


zur Moderne angesiedelten und in diese graduell hineinwirkenden Popu-
larkultur, die wir im folgenden als das Feudal-Populäre rekonstruieren, zir-
kuliert das Begehren in sich selbst. Das Feudal-Populare hat in seinem In-

114
nenleben ein Moment der Autonomie des Genusses. Seine symbolischen
Ausdrucksformen, d. h. seine Sitten und Gebräuche, unterliegen zwar der
Hierarchie von Gott und Adel, aber sie sind im wesentlichen nur durch das
öffentlich-formale Herrschaftsgefälle strukturiert. Die Sphäre der Repro-
duktion erlaubt eine (noch) weitgehend freie Zirkulation der Wünsche und
Triebe. Durch den Umstand, daß der Arbeitsprozeß Teil ständisch struk-
turierter Lebensformen und nicht durch eine von außen auferlegte indu-
strielle Disziplin bestimmt ist, wird die Sphäre der Alltagskultur in einem
geringeren Ausmaß herrschaftlich determiniert. Dadurch bleiben die den
Unterschichten überlassenen Räume der Öffentlichkeit porös und von herr-
schaftsfreien Nischen durchsetzt. Herrschaft setzt dort ein, wo diese Mi-
kroÖffentlichkeit in die allgemeinere, von Adel und Kirche kontrollierte
Öffentlichkeit übergeht. Das Feudal-Populare ist deshalb gleichsam selbst-
reproduzierend und bestimmt Kontinuität bzw. Wandel weitgehend aus sich
selbst heraus. Die Ordnungsmächte der Herrschenden sind zwar präsent,
jedoch polizeilich keineswegs flächendeckend. Die vormoderne Herrschafts-
differenz von >unten< und >oben< lagert sich durch die weitgehende Begren-
zung sozialer Mobilität und die Identität von Ort und Bedeutung in die
Lebensformen der Unterschichten ein. Die Sphäre der Kultur und des Be-
gehrens kann somit potentiell freilaufend und zirkulierend belassen wer-
den.
Das Feudal-Populare kennt keinen überschießenden, subversiv gegen die
Ordnung gerichteten Symbolgehalt, der aus dem Trauma einer gestörten
Zirkulation des Begehrens erwachsen könnte. Es kennt damit auch keine
Utopie einer anderen, klassenlosen oder in sich identischen Gesellschaft.
Es gibt deshalb im Feudal-Popularen auch keine >Politik der Massen<, die
eine Einheit des Begehrens in Gestalt einer befreiten Gesellschaft der Zu-
kunft konzipieren könnte. Der >Wurschtl<, dieser Held, diese Symbolfigur
der kleinen Leute im vormodernen Wien, lebt und überlebt von Tag zu Tag.
Er respektiert keine >Herrschaft<, weiß dies jedoch zu camouflieren, und
er ist derb und sinnlich begehrend - auch im Sexuellen - , aber er läßt sich
weder gängeln noch festlegen (»Den Wurschtl kau kana darschlogn«).
Zeitgenössische Schilderungen der Wiener Volksfeste und Volksbelusti-
gungen208 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben ein anschauli-
ches Bild von der freien Zirkulation des Begehrens in einer feudal-popula-
ren Volkskultur. Äußerst beliebt war der Brigitta-Kirtag, der vor den Toren
der Stadt stattfand und zu dem jährlich bis zu 40 000 Besucher gekommen
sein sollen. Es gab »Speis« - das von den Wienern heißgeliebte Backhendl

115
- und »Trank« - Bier und Wein aus großen Fässern es gab Musik, Tanz
zur Drehorgel, Darbietungen von Hausorchestern und Militärkapellen, Zir-
kusvorstellungen, Wettkämpfe, Schaubuden und Schausteller, »Zwerge«,
Affen- und Hundekomödien und natürlich die spöttischen Darbietungen
des Wurschtls. Dazu kommt 1834 ein großes Etablissement, das sogenannte
Colosseum, eine Art >Gesamtvergnügungsstätte<, in der sich alle möglichen
Unterhaltungsformen vereinigten: Schaukeln und russische Schleudern,
Kreisfahrbahnen, englisches Karussell, Kegelbahnen, Vogelschießen und
Ringwerfen, Wilhelm-Tell-Schießen mit der Armbrust, Einsiedelei mit dem
Orakel, Schiffahrt auf einem Teich, Kunstreiter und Marionettentheater.
Besondere Anziehungspunkte waren ein Riesenelephant aus Pappe und
Leinwand, weiters ein Riesenfaß, in dessen Innerem man einen vornehm
ausgestatteten Tanzsalon plaziert hatte sowie die sogenannte Brigittenauer
Eisenbahn, die von Pferden gezogen die Augartenstraße mit dem Vergnü-
gungsgelände verband. Der Brigitta-Kirtag als Volksfest der Lebenslust und
Lebensfreude wurde Jahrzehnte hindurch gefeiert, bis im Revolutionsjahr
1848 die Behörden entschieden, daß dieses populäre Vergnügen »mit Rück-
sicht auf den Ausnahmezustand«209 nicht mehr stattfinden könne.
Das Feudal-Populare kennt Menschenansammlungen, Festlichkeiten,
Vergnügen, Hätz und Tollerei, aber sein inneres Moment der Freiheit, die
Zirkulation des Begehrens, gestaltet das Spektakel ebenso intensiv wie po-
litisch folgenlos. Es offenbart eine zirkuläre Choreographie - es beginnt,
es schwillt an, es entlädt sich und verschwindet, als ob nichts passiert wäre.
Paradigmatisch kommt dieser Rhythmus in der Beschreibung des vormärz-
lichen Brigitta-Kirtages bei Franz Grillparzer in seiner 1848 veröffentlich-
ten Novelle »Der arme Spielmann« zum Ausdruck.
Alle Leiden sind vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus und mischen
sich unter die Fußgänger, Töne entfernter Tanzmusik schallen herüber, vom Jubel
der neu Ankommenden beantwortet. Und so fort und immer weiter, bis endlich
der breite Hafen der Lust sich aufthut und Wald und Wiese, Musik und Tanz, Wein
und Schmaus, Schattenspiel und Seiltänzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu
einem pays de cocagne, einem Eldorado, einem eigentlichen Schlaraffenlande ver-
einigen, das leider, oder glücklicherweise, wie man es nimmt, nur einen und den
nächst darauffolgenden Tag dauert, dann aber verschwindet, wie der Traum einer
Sommernacht, und nur in der Erinnerung zurückbleibt und allenfalls in der Hoff-
nung. 2 1 0

Das Feudal-Populare kennt weder die Trennung von Darsteller und Zu-
schauer noch die von Bühne und Publikum. Man schaut es sich nicht von

116
außen an, sondern man lebt in ihm. Es bezeichnet sich selbst - in seinen
festlichen Riten verweist es auf ein Jenseits der bestehenden Ordnung. Im
Hier und Jetzt gebiert es den Mythos der ewigen Wiederkehr und die Sa-
kralität des ungeschiedenen Allgemein-Menschlichen jenseits von Stand und
Hierarchie. Es ist sozusagen die Selbstvergewisserung der Schöpfung. Im
Rausch, im Genuß, in der Sinnlichkeit, in der temporären Aufhebung von
sozialer Ungleichheit und Trennung sucht das >Volk< sich selbst als das Pa-
gan-Göttliche. Dies stellt die herrschenden Hierarchien von Hof und Stadt,
von Adel, Klerus und Volk auf den Kopf, ohne jedoch den politischen Kör-
per der Gesellschaft zu verändern. Indem für kurze Zeit das Unterste nach
oben gekehrt, die symbolische Ordnung befristet aufgehoben wird und »die
eigentlichen Hierophanten dieses Weihefestes: die Kinder der Dienstbar-
keit und der Arbeit«211 sind, ändert sich alles, um gleich zu bleiben. Es sind
mit einem Wort saturnalische Feste, denn so wie in den römischen Satur-
nalien, die die (zeitlich begrenzte) Wiederkehr des goldenen Zeitalters ze-
lebrierten, geht es auch bei diesen Kirchtagen und Volksfesten um die Er-
neuerung der Welt: Grenzüberschreitung und Hierarchieumkehr sind die
Mittel der Inszenierung und das >Volk< schafft sich selbst an der Grenze
von Kunst und Leben, groteskem Ereignis und historischer Zeit. Narretei,
Possenreißerei und das Lachen sind die Medien der Verwandlung und
Grenzüberschreitung. Ziel ist die Schaffung einer Zwischenzeit und Zwi-
schenwelt der Universalität, der Freiheit und des Uberflusses - mit einem
Wort: des Pagan-Göttlichen.
( . . . ) als ein Liebhaber der Menschen sage ich, besonders wenn sie in Massen für
einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teil des Ganzen fühlen, in
dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt, ja, der Gott - als einem solchen ist mir
jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine Andacht. ( . . . ) Von
dem Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber
ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in der jungen Magd,
die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber seitab vom Gewühl der Tanzen-
den folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen. 2 1 2

Wie Michail Bachtin213 gezeigt hat, stehen die vormodernen Volksfestivitä-


ten auch im Kontrast zu den offiziellen Feiertagen von Adel und Kirche,
die die Hierarchie der Gesellschaft unmittelbar abbilden und den Rang vor
das Sein und den Ernst vor das Lachen stellen. Im Karnevalesken artiku-
liert sich das Feudal-Populare als Gegenwelt zum Formalismus barocker Ge-
sellschaftsetikette. Der Geometrie höfischer Umgangsformen steht ein >gro-
tesker<, entgrenzter Raum gegenüber, der die zeitweise Befreiung vom

117
herrschenden Diskurs und von der bestehenden Gesellschaftsordnung an-
strebt und die Kommunikation unabhängig von Stand, Rang, Verdiensten
und Gütern frei laufen läßt. 214
Seit Kaiser Josef II. im Jahr 1776 die vormaligen kaiserlichen Jagdgebiete
in den Praterauen für das gemeine Volk freigegeben hatte, war der Wiener
Volks- und Wurstelprater zu einem der zentralen Ort des populären Vergnü-
gens geworden. Zeitgenössische Berichte aus der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts schildern ein bunte, vielfältige und teilweise in den Traditionen
des Mittelalters und der frühen Neuzeit verankerte >Volkskultur der Zer-
streuungc Greislereien, Wurst- und Brotverschleiß, Bier- und Metschenken,
Kaffee- und Gasthäuser, Beiseln, Ringelspiele, Kegelbahnen, mechanische
Kunsthütten, Wachsfigurenkabinette, Panoramen, Camera obscura und
Theatergebäude für mechanische Lustspiele bildeten eine reichhaltige Infra-
struktur für die Zerstreuung und Unterhaltung der kleinen Leute. 1846 zähl-
te man nicht weniger als »4 Kaffeehäuser, 17 Billards, 9 Ringelspiele, 15 Ke-
gelbahnen, 3 Schaukeln, 9 Kunstausstellungen, 3 Pulcinellihütten, 1 Haspel,
10 Gärten sowie 54 Lokale mit Wein- und Bierausschank«.215 Der Prater
war eine geteilte Welt - in der Hauptallee fand der Corso der Aristokratie
und der Nouveaux riches statt, die dort in prächtigen Gefährten und der
allerneusten Garderobe ihr Geld und ihren gesellschaftlichen Rang ausführ-
ten und von Tausenden Schaulustigen bestaunt wurden — im eigentlichen
Wurstelprater versammelten sich die kleinen Leute.

Nur wenige aus der glänzenden oder der vom Glänze angezogenen Schaar verirren
sich alsdann in den benachbarten Wurstelprater; ja Hunderte und aber Hunderte
der feinen Leute, welche mit religiöser Gewissenhaftigkeit keinen Corso versäu-
men, haben von dem poetischen Wurstelprater nicht mehr Kenntnisse, als wir vom
Inneren Madagaskars. 216

Der Wurstelprater war nicht nur ein Ort von Kreuzerltheatern, Karussells,
Kegelbahnen, Affentheatern, Magiern, Schaustellern, Menagerien und
Wachsfiguren, sondern auch ein Ort des >Karnevalesken< und Grotesken,
der Hanswursteleien und der ironischen Verkehrung der Wirklichkeit. Wie
wir der hier auszugsweise zitierten Darstellung Allands entnehmen kön-
nen, hatte die vormärzliche Polizeizensur den Praterwurstel zum Schwei-
gen und zur Pantomime vergattert. Trotzdem war sein Auftreten offensicht-
lich von einer großen Eindringlichkeit und Farbigkeit, die auf die organische
Einbettung des Praterwurstels und seiner Darbietungen in die Lebenswelt
der unteren sozialen Schichten verweist:

118
Kaum ist das Stück glücklich zu Ende gekommen, als ein fürchterlicher Trompe-
tenstoß in einer anderen Ecke des permanenten Jahrmarktes das Signal zum Begin-
ne desselben Dramas gibt. Ein großer Theil der Zuschauer läuft zugleich dahin und
sieht sich andächtig das ganze Stück noch einmal von vorn bis hinten an. Jede Kri-
tik ist dabei selbstverständlich ausgeschlossen; doch gibt es unter den Habitues des
Wursteltheaters Schusterjungen von entschieden kritischer Begabung, welche den
Charakter jedes einzelnen Wurstels in allen Nuancen studirt haben, und zwischen
Wurstel und Wurstel mit derselben Schärfe unterscheiden, wie unsere gewiegtesten
Kritiker zwischen dieser und jener Primadonna. 2 1 7

Das von Alland geschilderte Stück ist jedoch auch insofern aufschlußreich,
als es zeigt, daß der >Wurstel< nicht nur als sozialromantische Figur popu-
lärer Subversion, populären Aufbegehrens verstanden werden darf. Als In-
begriff der spezifisch Wienerischen Variante des Feudal-Popularen artiku-
lierte er auch immer wieder die Angst vor dem Fremden und Anderen,
xenophobische Ressentiments aller Art bis hin zu einem mitunter militan-
ten Antisemitismus. Diese latente Xenophobie blieb jedoch in der Alltäg-
lichkeit des Sich-selbst-Feierns als Identitätsfestschreibung des >Volkes< ver-
deckt und bildete gleichsam eine kontingente, aber keine kausale Formation.
Wie beliebt der (Wurstel-)Prater im vormärzlichen Wien war, können
wir einer anderen zeitgenössischen Schilderung entnehmen:
Aber werfe doch Deine Augen endlich in die wirre, bunte Masse von Spaziergän-
gern! Sind das nur Tausende, oder sind es Millionen, die hier wandeln, plaudern,
sitzen, Kaffee trinken, rauchen, lachen, coquettiren! Sind heute noch in Wien Men-
schen, rufst du erstaunt aus, oder ist seine Bevölkerung hier im Prater? Das sind
nicht viel, nicht sehr viel, das ist ein Meer von Menschen, ein wogendes brausendes
Meer! O du Tröpfchen; Schaue hinüber nach dem Wurstelprater, höre seinen wil-
den Jubel, sein tolles Lärmen, sein Hurrah und Holla, seine Trommeln und Trom-
peten. Und nun bedenke, daß heute Tausende lebensfrohe Wiener in den Gebirgen
herumsteigen, Tausende in den Kaffee- und Wirtshäusern sitzen, Tausende auf der
Bastei und in den Glacis promeniren, Tausende in den Lustgärten der Vorstädte ihr
Pfeifchen schmauchen und plaudern, und viele Tausende im Lerchenfelde jubiliren. 218

Das »Neue Lerchenfeld« war neben dem Prater das Zentrum vormärzlicher
Popularkultur. Es war zu Beginn des 18. Jahrhunderts als planmäßige Grün-
dung auf freien Flächen im Besitz des Stiftes Klosterneuburg angelegt wor-
den. Von Anfang an konzentrierte sich hier in ungewöhnlicher Dichte (feu-
dale) Unterschichtbevölkerung. In ihrer Mehrheit sind es Arbeiter und
Arbeiterinnen aus den Manufakturen der westlichen Vororte Wiens, insbe-
sondere die Zeugmacher des Neubauer und Schottenfelder Seiden- und Bril-

119
lantengrundes, die sich hier (aufgrund der billigeren Wohngelegenheiten
und der durch den Wegfall des städtischen »Einfuhraufschlages« günstige-
ren Lebensmittelpreise) niederlassen; dazu treten Bettler, Schmierenkomö-
dianten, Dudelsackpfeifer und andere Musikanten, Gaukler, vazierende Be-
dienstete, Läufer und Kellner, Miststierer, Flickschneider und -schuster,
Taglöhner, Stickerinnen, und nicht zuletzt die berüchtigten »Engelmache-
rinnnen«.219 Zur »Geringheit«, schreibt der dänische Dichter Adolph Wil-
helm Schack von Staffeidt anläßlich seines Wien-Aufenthaltes 1796, gesel-
le sich hier die Armut: »Im Lerchenfelde balgen sich nackte Kinder mit den
Hunden um die Knochen, hier haben die Bettler ihre Schenken und Gela-
ge, hier werden hölzerne Beiner und Pflaster abgelegt, bei Wein und Fleisch
lachen sie ihrer Wohltäter.«220 Hier werden, nach dem Brand des Hetzthea-
ters, die Tierhetzen abgehalten (beim Wirtshaus »Zum Weißen Schwan«)
und hier ortet der Polizeiarzt Josef Schrank ebenso wie im Lichtental und
in Erdberg eine zentrale Brutstätte der Prostitution. Das »non plus ultra
aller Gemeinheit« - gewesene »Küchentrabanten«, Wäschermädchen, Woll-
schlägerinnen und Fabriksarbeiterinnen - sei bereits von »Kindesbeinen auf
zu diesem famosen Industriezweig« herangebildet.221 Allerdings vergißt
Schrank auch nicht darauf hinzuweisen, daß sich gerade die Neulerchen-
felder Prostituierten des Vormärz bei den städtischen Kavalieren großer
Beliebtheit erfreuten. Sie verwendeten außergewöhnliche Sorgfalt auf ihre
Körperpflege, duldeten keinerlei Eindringen von außenstehenden Konkur-
rentinnen, entwickelten ein umfassendes System der Selbstkontrolle und
reduzierten dieserart die Ansteckungsgefahr mit venerischen Krankheiten
in einem offenbar erheblichen Ausmaß. Wenn dennoch eine von ihnen er-
krankte, so wurde sie von der weiteren Ausübung ihres Gewerbes ausge-
schlossen und von den Kolleginnen, so weit und so lange dies möglich war,
finanziell unterstützt.222
1804 zählte der Vorort, in dem, wie eine zeitgenössische Beschreibung
bemerkt, während der Sommermonate nicht selten 20 bis 30 Menschen in
einem winzigen Dachboden ihre nächtliche Unterkunft finden mußten, an
die 5300 Bewohner, weit über 50 Prozent sind Frauen, mehr als ein Drittel
ist >fremdbürtig<. Ein relativ junger Erwerbszweig ist es, der einen sukzes-
sive größer werdenden Teil der Bevölkerung beschäftigt und das Neuler-
chenfeld zu der nach dem Prater beliebtesten und bedeutendsten Stätte po-
pulärer Vergnügungen in Wien werden lassen sollte: die Ausschank von Wein
und Bier. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben, gemäß Grundbuchauf-
zeichnungen des Stiftes Klosterneuburg, von den 156 Häusern des Ortes

120
103 die Schankberechtigung inne, 83 üben sie aus.223 Franz de Paula Ga-
heis spricht von »des Heiligen Römischen Reiches größtem Wirtshaus«, in
dem insbesondere an Wochenenden »gutmüthige Fröhlichkeit« in »eine Car-
ricatur wilder Bacchantenfreude« umschlage und »Lärm, Jauchzen und jede
Art von Übermuth« dominiere.224 Beinahe jedes der Gasthäuser verfügte
über mehr oder weniger ausgedehnte Gartenanlagen, wo Volkssänger, Gei-
ger, Komödianten auftraten und in denen sich an schönen Sonntagen bis
zu 16000 Menschen versammelt haben sollen.225 Franz Gräffer erkennt im
vormärzlichen Neulerchenfeld das »wahre Tuskulum der geringeren Clas-
sen der Wiener Bevölkerung, die dort im Sommer ein immerwährendes
Volksfest zu feiern scheinen«226 und Adolf Schmidl beschreibt in seinem
1843 erschienenen Reiseführer durch die Umgebung Wiens den Vorort als
jene Gegend, wo der »Wiener Pöbel seine Landsaison« habe und als das
»Reich, wo Bacchus mit seinem ganzen Gefolge schaltet und waltet«.227 Der
deutsche demokratische Journalist Adolf Glaßbrenner, Anhänger des Jun-
gen Deutschland und meisterhafter Beschreiber des Berliner Alltagslebens,
schließlich sieht in Neulerchenfeld eine zweite, in »Schweinsleder gebun-
dene« Auflage des Wurstelpraters:

Jubel der untersten Volksklassen, aber ohne Einmischung der Anständigkeit wie im
Wurstelprater. Das Volksleben in seiner Wahrheit, ohne Veredelung. Hier schreien
und singen die Harfenisten, reißen Zoten und lachen selbst darüber, dort wackelt
der Polichinell. Bauern mit ihren Kindern, Gesellen mit ihren Liebsten, liederliche
Dirnen, Taschenspieler ( , . . ) . 2 2 8

Diese vormärzliche Vergnügungslandschaft ist durchaus diversifiziert - eine


innere Strukturierung und Differenzierung, die in ihren wesentlichen
Grundzügen bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erhalten bleibt.
Unmittelbar an der Linie lag, in der Nähe der Invalidenhaus-Filiale, der so-
genannte kleine Prater: zwei Zirkusgebäude (wo um die Jahrhundertmitte
der berühmte Kunstreiter Gillet auftrat), ein Wachsfigurenkabinett, Schieß-
buden, Ringelspiele, Lebzelter, Stände, die Mandelbäckereien (sogenannte
Mandoletti) und andere Süßigkeiten feilboten. Dann gab es noch die Un-
zahl von Beiseln und Tschecherln, Versammlungsorte der vorstädtischen
Demimonde. Hier blühte die geheime und offene Prostitution, hier kam
es zu unzähligen Messerstechereien und Raufhändeln. Bahöll-Tinerl, Füchsl,
Drei Säulen, Jägerhorn, Kieeblattl, Burgundisches Kreuz und wie sie alle
noch geheißen haben mögen - diese Lokale waren das Reich der Pülcher
und der Strizzi, der Halbwelt und der Vorstadt-Bonvivants:

121
Die iiderlichen Weibspersonen sassen rings umher, bunt gruppiert. Ihr Lieblingsin«
strument war die Zither, allein nur selten ertönte die Melodie eines Walzers. Mtll
hörte fast immer die sogenannten »Tanz«, kecke, schrillende, ausgelassene Klängt)
wobei die Burschen wieherten und paschten (Händeklatschen). Dabei durfte nie
der dieser Menschenclasse eigen zu nennende Jodler fehlen.« 229

In diesen Lokalen wurden, zum blanken Entsetzen der polizeilichen Ord-


nungsmacht, in den fünfziger Jahren »nackte Bälle« abgehalten,230 und spä-
ter, nach ihrem polizeilichen Verbot, Maskenbälle, in deren Mittelpunkt als
Männer verkleidete Frauen standen.

Maskenbälle wurden später in den obscursten Wirtshäusern Neulerchenfelds abge-


halten, und die Maske des Debradeur entsprach den Intentionen der Demimonde,
besonders der niedrigen und frechen. Es kam auf den Maskenbällen im Anfange
ihres Bestehens meist das »Zahl* mir ein Gfrornes«, späterhin wurde in den Locali-
täten niederer Art dies in ein kleines Gollasch übersetzt, ja sogar in ein Glücksech-
serl. 2 3 1

Schließlich die großen, traditionsreichen Gasthäuser, wie die Rote Bretzen,


die Blaue Flasche, der Weiße Schwan, das Goldene Fassl, der Goldene Luchs,
der Goldene Strauß, der Schwarze Adler etc., die sich um die Vergnügungs-
Avenue der Gärtnergasse (später Grundsteingasse), die Brunnengasse und
die Neulerchenfelderstraße gruppierten und deren Publikum sich ebenfalls,
wenn auch nicht ausschließlich, aus Angehörigen der >niederen Classen<
rekrutierte - Facharbeiter, kleine Gewerbemeister und deren Gesellen,
Kontoristen. In ihren größzügigen Gärten und Tanzsälen spielten Militär-
musikkapellen, hier konzertierten Josef Lanner und Johann Strauß Vater,
und der junge Revolutionär Johann Strauß führt in der Blauen Flasche sei-
ne Polka »Liguorianer-Seufzer« auf, ein Spottlied auf den als Stütze des
Absolutismus verhaßten Redemptoristenorden. Hier werden die großen
Volkssänger-Soireen und die legendären Wäschermädl-Bälle, ab dem Welt-
ausstellungsjahr 1873 auch die sogenannten Lumpenbälle abgehalten. Hier
finden wir den Säufer und Poeten der Vorstadt und des Proletariats, Ferdi-
nand Sauter, ebenso wie den jungen Friedrich Schlögl, der vor Ort für sei-
ne ersten Feuilletons recherchiert. Und hierher begibt sich Johann Nepo-
muk Nestroy, um Inspiration für die Charaktere und Typen seiner Dramen
und Satiren zu finden. Denn >der Lerchenfelder« galt zunehmend als Inbe-
griff und sinnlicher Idealtypus des urwüchsigen, männlichen Wieners aus
den entern Gründ', so wie ihn der Satiriker Märzrot um die Jahrhundert-
mitte in den »Wiener Daguerreotypen« beschrieben hat:

122
Historische Persönlichkeit, deren Ruf weit über die Grenzen Österreichs hinaus-
geht, mit redeverschlagener Grobheit, derbem Witz, überschwenglicher Gemütlich-
keit und einem instinktmäßigen Hang zum Raufen und Hinauswerfen ( . . . ) . Im
nüchternen Zustand beschäftigt sich der Lerchenfelder mit Nichtstun und Trin-
ken. 232

Der Erwerb eines großen Areals der nördlichen Schmelz von der Gemein-
de Fünfhaus im Jahre 1872 und dessen bis 1890 im wesentlichen abgeschlos-
sene Spekulationsverbauung schafft die Voraussetzung für eine dynamische
großstädtische Entwicklung und intensivierte Industrialisierung. Allerdings
sind es, im Gegensatz etwa zu Favoriten und Floridsdorf, nur in den sel-
tensten Fällen Großbetriebe moderner industrieller Leitsektoren, die sich
hier ansiedeln, sondern zum überwiegenden Teil in Souterrain-Lokalen oder
Hinterhöfen untergebrachte Schlosser-, Spengler-, Ziselier-, Tischler-, Ta-
pezierer-, Gold- und Metallschlägerwerkstätten, die mit einem oder zwei
Gesellen und ebenso vielen Lehrbuben arbeiteten. Am häufigsten vertre-
ten waren die Perlmuttdrechsler, deren hohe berufliche Qualifikation ebenso
sprichwörtlich wurde wie ihr unsagbares soziales Elend. Es ist mehr als nur
ein Symbol, daß die Baugründe in der oberen Gallitzinstraße an der äußer-
sten Peripherie Ottakrings, die zu einem vornehmen Villenviertel ausgestal-
tet werden sollten, mit Perlmutterschutt planiert wurden.
Der Berliner Schriftsteller Julius Rodenberg findet anläßlich eines Be-
suches der Wiener Weltausstellung 1873 jedenfalls ein »Mittelding zwischen
einer Fabrikstadt und einem Dorf« mit einer »lärmenden Bevölkerung und
viel Staub« vor:
Haus an Haus ein Wirtshaus oder wenigstens eine Kneipe mit Localsängerinnen,
Musikanten und langen, qualmigen Gaststuben, die voll von zechenden Menschen
sind. ( . . . ) Aber Wein und Gesang:- um vom Weibe gar nicht zu reden. Es ist ein
guter, lustiger Boden, diese Gegend der alten »Gründe von Wien« ( . . . ) . Da singt es
und da klingt es durch die ganze Nacht ( . . . ) Da sind Singspiel- und Liederhallen,
da hat die arme Mansfeld gesungen und singen jetzt Amon und Seidel und die
famose Ulke. 2 3 3

Dieses immer wieder beschriebene Phäakentum, diese oftmals angesproche-


ne Vergnügungssucht und die als geradezu manisch klassifizierte Lebenslust
der Neulerchenfelder steht in einem eigentümlichen, scheinbar krassen
Widerspruch zur sozialen Entwicklung dieses großstädtischen Vorstadtdi-
striktes, der 1890 mit der Gemeinde Ottakring vereinigt und im Zuge der
zweiten Wiener Stadterweiterung 1892 auch formal an Wen angeschlossen
wird. Seine selbst für gründerzeitliche Verhältnisse außergewöhnliche ur-

123
bane Dynamik mit den bekannten krassen sozialen Mißständen korrespon-
dierte mit einer Renaissance der traditionellen vormärzlichen Wirtshäuser,
zeitigte aber auch großangelegte und bedeutende Neugründungen. Noch
in den 1850er Jahren hatte Franz Zobel, nach dem Abbruch seines weithin
gerühmten Zobeläums in Fünfhaus, den am Beginn der Gaullachergasse ge-
legenen Goldenen Strauß übernommen, ihn um einen geräumigen Garten-
saal erweitert und zu einem zentralen Auftrittsort der beliebtesten Wiener
Volkssänger gemacht. Gegen Jahrhundertende wurde das Lokal von Georg
Neufellner übernommen, in Ottakringer Orpheum umbenannt und schließ-
lich nach umfangreichen Umbauten in das Weltspiegel-Kino, Wiens größ-
tem vorstädtischen Kinosaal, umgewandelt. Auch aus der Roten Bretzen,
dem Luchs und der Blauen Flasche gingen rasch nach 1900 Kinos hervor,
im Kino Alt-Wien war der große Tanzsaal der Bretzen mit seinen charakte-
ristischen Säulenformationen erhalten geblieben.234
1860 hatte der Neulerchenfelder Bürger Johann Kunz ein Haus Ecke
Grundsteingasse/Brunnengasse und die anschließenden Gründe erworben.
Er errichtete hier einen großen und relativ eleganten Ballsaal, den er in An-
lehnung an eine auf dem Schottenfeld gelegene, berühmte Vergnüngungs-
stätte des Vormärz Apollo-Saal nannte. Durch diesen gelangte man in eine
prächtige Gartenanlage, die sich bis zur Thaliastraße erstreckte und deren
Abschluß die überaus beliebte, in dezentem Halbdunkel gehaltene Seufzer-
Allee bildete. Die Glanzzeit des Apollo-Saales sollte allerdings nicht län-
ger als ein Dutzend Jahre dauern, er wurde 1875 verkauft, diente danach
als sogenannte Arbeiterherberge (Schlafstelle für Obdachlose), später als
Kaserne der Justizwache und fiel anschließend der hochgründerzeitlichen
Spekulationsverbauung zum Opfer.
Eben zu dieser Zeit wurden unweit davon in der Grundsteingasse an der
Stelle des ehemaligen, überaus berüchtigten Grünen Baums mit einem Fest-
konzert am 20. Oktober 1883 die neuen Thalia-Säle eröffnet. Außer der
eigentlichen Gastwirtschaft wiesen sie einen Prachtsaal (häufig von der Ka-
pelle der Hof- und Deutschmeister bespielt), einen Amorsaal (für Tanz-
und Ballveranstaltungen) und den Florasaal, der den Produktionen der
Volkssänger vorbehalten war, auf.235
Neulerchenfeld war geradezu ein Eldorado der Volkssänger, die ihre
größte Blütezeit im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erlebten.236 Ihre
enorme Popularität verdankten sie ihren im breitesten Wiener Dialekt vor-
getragenen Liedern und Schlagern, in denen sie Kritik an den Zeitumstän-
den, Schmäh und (Selbst)Ironie, Subversion und Zweideutigkeiten meister-

124
haft mit den derbsten Zoten, lasziver Mimik und dazu passendem Gebär-
denspiel zu kombinieren wußten.237

Derlei Produktionen werden daher von jungen, anständigen Damen meist gemie-
den. Man findet bei denselben viele Modistinnen, Blumenmacherinnen, Verkäufe-
rinnen, Ladenmädchen etc., die mit ihren Amants, die sie stark wechseln und meist
aus dem Stande der Commis, Comptoiristen usw. requirirt haben, debauchieren. 238

Edmund Guschelbauer, der »Alte Drahrer«, ist in den drei Jahrzehnten sei-
ner Berufslaufbahn (1869-98), die er im übrigen penibel dokumentiert hat,239
in rund 550 Wiener Gasthäusern aufgetreten, darunter über 300mal im Grü-
nen Baum und über 150mal in der Hochburg der Volkssänger, in der Roten
Bretzen. Ihr Stammlokal hatten die Vorstadt-Zelebritäten im Cafe Seidl in
der Neulerchenfelderstraße, im Weißen Schwan befand sich von 1856 bis
1910 die Musikerbörse, gleichermaßen für engagementlose Volkssänger wie
für sogenannte »Bratlgeiger«. In Neulerchenfeld gelang dem »lüsternen Faun,
umbarmherzigen Spötter und ungeniertesten Verlästerer und Verächter des
guten Geschmacks und der Gesittung«,240 Johann Fürst, der Durchbruch,
ebenso den lokalen Legenden Ignaz Nagel und Anton Amon, die in der
Blauen Flasche ihren Stammsitz hatten. Frauen waren bis in die frühen sech-
ziger Jahre vom Brettl ausgeschlossen. Danach aber feierten die >Divas der
Pawlatschen< - die sich allesamt an der unumstrittenen Köngin der Wiener
Demimonde jener Zeit, der Fiaker-Milli (Emilie Turecek-Pemer), orientier-
ten - am Lerchenfeld wahre Triumphe. Die melancholische Antonie Mans-
feld, die den Cancan und die Zote in eindeutig-zweideutiger Textierung sang
und im Alter von 35 Jahren in der Irrenanstalt endete; Fanny Hornischer,
>Aufmischer< allesamt zu Schlagern wurden, in ihren Texten noch freier als
die Mansfeld und in ihrem Jodeln und Paschen an die absolute Meisterin
im >Dudeln<, Luise Montag (eigentlich Aloisia Plechaczek), erinnernd;
schließlich Anna Ulke, die auf dem Brettl stets in einem eleganten Seiden-
kleid mit Schleppe erschien, die ihr ein livrierter Lakai nachzutragen hatte,
und deren Vortrag man eine nicht mehr steigerbare Pikanterie nachsagte.241
Die zeitversetzte, späte Blüte des Volkssängertums, die in einer offen-
sichtlichen Ungleichzeitigkeit zur rapiden Urbanen Entwicklung der Hoch-
gründerzeit steht, verweist auf den Widerspruch von Stadtgestalt und Be-
wußtsein. In ihr manifestiert sich das >Dorf im Kopf<, wo dieses als
Stadtsignatur gar nicht mehr vorhanden ist. Die Volkssänger schöpfen aus
der oralen Kultur der Vormoderne, sie phrasieren die Primärbeziehungen
dörflicher Lebenswelten und setzen so Wort gegen Schrift, Mimik und Ge-

125
BILD 14
Schaustellerei im P r a t e r
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

stik gegen behördliche Gängelung, Zote gegen Hochkultur und die eroti-
sche Rede gegen die Doppelmoral des Bürgers. Indem sie Widerstand, Sub-
version und Ironie gegen die Ratio der Moderne setzen, schaffen sie einen
Mythos von Gemeinschaft, bevor sich diese in die Anonymität des Groß-
stadtlebens auflöst. Sie repräsentieren eine Kultur des Übergangs.
Mit der fortschreitenden Kapitalisierung der städtischen Ökonomie
kommen diese überlieferten Formen einer anarchisch-organischen Volkskul-
tur zu ihrem Ende. Freilich geschieht dieses Ende nicht abrupt, sondern
die feudalen Konfigurationen des Populären verlieren sich bzw. dünnen sich
aus, und einzelne Momente davon werden als Teile der frühen Massenkultur
rekontextualisiert. Die Transformation feudal-popularer Elemente in der
entstehenden Massenkultur läuft quer zur sozialen Entgrenzung im Kapita-
lismus, die die Mobilisierung der Ware Arbeitskraft mit sich bringt. So wie
der Kapitalismus die Massenkultur als Produktionsmedium sozialer Homo-
genisierung zu nützen versucht, so realisiert sich in den Artikulationen des

126
B I L D 15
Alltagsfluchten, das Präuschersche Museum im Wiener Prater
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

>Wienerischen<, in den Rekursen auf >Gemütlichkeit< und >Schmäh< und in


der ironischen Distanz zur Herrschaft ein altes Potential der Differenz und
der Subversion. Sie können als Versuch interpretiert werden, in einer frag-
mentierten, in sich zerrissenen Welt Identität zu erfahren. Das Populäre ver-
liert dabei seine ursprüngliche, organisch anmutende, historische Bestim-
mung und transformiert sich in neue, künstlich geschaffene Strukturen -
in das, was man die Popularmodeme nennen kann. Traditionen werden so
im Lichte der neuen Erfahrung neu bestimmt, umgeformt und neuen Le-
bensverhältnissen angepaßt. Die Sehnsucht nach einem >Zu-sich-Kommen<
erfüllt sich freilich nur unvollständig und reduziert sich auf Momenterfah-
rungen, kleine Vergnügen, Ablenkungen und Alltagsfluchten.
Die Massenkultur kompensiert den Schock der Moderne durch eine Fül-
le von materiellen und technologischen Vorrichtungen, die diese Fluchten
aus dem Arbeitselend und dem Zeitdiktat der Industrialisierung ermögli-
chen sollen. Die Traummaschinen können verschiedenste Gestalt annehmen

127
- seien es nun die >Sensationstechnologien< des Praters (Karusselle, Ach-
ter- und Geisterbahnen, Riesenrad etc.), die >Imaginationstechnologien< del
Kinos und des Fußballs oder die >Narkosetechnologien< wie Alkohol und
Tabak. Ihre wesentliche Funktion besteht darin, sich Momente des Glücks,
der Ablenkung und Entspannung zu verschaffen und dem Leben jenseits
des als Kerker empfundenen Alltags Sinn und Bedeutung zu verleihen.
Der Ubergang vom Feudal-Popularen zur Popularmoderne ist mit dem
Begriff der Transformation jedoch nur unzureichend charakterisiert. Die-
ser Prozeß ist nicht einfach lineare Konsequenz von Kapital, Technologie
und Urbanisierung, sondern spiegelt eine komplizierte, mehrfach codierte
Veränderung von kulturellen Feldern und Kontexten, von gesellschaftlichen
Hierarchien und Produktionsverhältnissen wider. Es geht um die Auflösung
und Neuformierung sozialer Schichten, und es geht um die Neubestimmung
der kulturellen Praxisformen urbaner Lebenswelten. Kurzum, das Soziale
wird zum Ökonomischen, das Kulturelle zum Politischen und die politi-
sche Theologie der Vormoderne verwandelt sich in den bürgerlichen Mani-
chäismus von Individualität und Alterität.
Mit der Auflösung der feudalen Ordnung verliert sich die tendenziell
autonome, sich selbst bestimmende und reproduzierende Kraft ihres Popu-
lären und löst sich in ein fragmentiertes Universum von Projektionen und
Konstruktionen auf. Die Popularmoderne wird so als Feld von Spaltungen
und im Prozeß der Transgression geschaffen.242 Damit ist den Unterschich-
ten das diskursive Feld, welches ihre Kultur nunmehr umschließt und defi-
niert, ebenso wenig faßbar wie ihre eigene davon bestimmte Existenz. Diese
ist ihnen nur als Fragment zugänglich und wird damit zur existenziellen und
politischen Frage. Das Fragmentarische ist die Existenzform des Populären
in der Moderne, erzeugt jedoch zugleich die Sehnsucht der Marginalisier-
ten nach Ganzheit und Identität. Die Memoria des verschwundenen Pagan-
Göttlichen der Volkskultur wirkt als Stachel im Popularmodernen nach und
macht es zu einer gleichsam endlos produzierenden Wunschmaschine des
sozial Imaginären - der Träume, Alltagsfluchten und Phantasien.
Spricht man von den Anfängen der Massenkultur zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts, so assoziieren wir damit üblicherweise technisch vermittelte Vor-
richtungen des Konsums wie Kino, Grammophon, Photographie, maschinell
organisierte Vergnügungsparks sowie Sensationspresse und Dreigroschen-
hefte, billige und standardisierte Waren wie Konfektion, Haushaltsware und
Kitsch. Voraussetzungen dafür sind Massenproduktion, Infrastrukturen für
Distribution und Konsumption, die Herstellung gut zugänglicher Konsum-

128
landschaften, d. h. auch Massenverkehrsmittel, flächendeckende Werbung
und die Aufladung des Banalen mit der Aura des Besonderen. Die Massen-
kultur ist das Medium, das aus dem Wenigen ein Mehr macht und es er-
möglicht, sich mit wenig Geld kurzzeitig in eine andere Welt zu versetzen.
Die Massenkultur ist auch eine Brücke zum Fernen, indem sie mittels der
neuen visuellen Kraft und Gewalt technisch hergestellter Bilder und Images
fremde Welten in das eigene Hier und Jetzt transportiert und so vordem
unüberbrückbare Entfernungen auf scheinbare Nähe verkürzt. Durch die
Massenkultur scheint das Andere ungehindert zum Eigenen und das Ob-
jekt schnell zum Subjekt zu kommen - kurzum, durch die Neucodierung
der Phantasien werden Produzenten und Konsumenten massenhaft und ra-
tional organisiert aneinander gerückt. Der beschleunigten Zirkulation ent-
spricht die nichteinlösbare Aura der Waren, d. h. die Phantasie besetzt den
Genuß und der Konsum das Begehren. Indem die Massenkultur Substitute
setzt, bedingt sie einen transgressiven Warenhunger, der sich auf immer neue
Terrains ausdehnt.243
Die seit 1900 sich durchsetzende Konjunktur der Sensations- und Tratsch-
presse, der Schundhefte und Unterhaltungsromane, des Kinos und der
Schlager adressiert die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit und mobi-
lisiert die Phantasie als Alltagsflucht. In diesem Sinne ist die Massenkultur
universales Kintopp, d. h. die Projektion eines anderen Besseren, von dem
nur das Abbild zugänglich ist. Die Projektion artikuliert und aktualisiert
eine Differenz von Zuschauer und Abbild, von Handlung und Beobach-
tung, von Sein und Schein und von Wunsch und Wunscherfüllung. Indem
das Begehren der Lebenswelt entzogen und dem Imaginären eingeschrieben
und somit das Reale symbolisch konsumiert wird, codiert das Groteske auch
die Realität.
Ein signifikantes Beispiel für die Entwicklung der Massenkultur im Wien
der Jahrhundertwende ist die um 1895 auf dem Gelände des Wiener Praters
errichtete Vergnügungsstadt »Venedig in Wien«.244 In bislang nicht gekann-
ter Form verdichteten sich hier überkommene Formen des Volksspektakels
mit neuen technologischen und organisatorischen Infrastrukturen. Verschie-
dene Formen populären Vergnügens - Musikdarbietungen, Theaterauffüh-
rungen, Varietes, historistische Bühnen und Inszenierungen - mischten sich
mit dem >Völkerschauen< (z. B. ein >Somali-Dorf mit echten Eingeborenem
und folkloristischen Tanzdarbietungen) und neuesten Unterhaltungstech-
nologien (große Rutschbahnen, Karussels, Riesenrad, Kinematographen).
Wiens >Venedig< war freilich nicht die erste europäische Vergnügungsstadt,245

129
wohl aber die, die von ihrem Architekten Oskar Marmorek am stärksten
nach der Idee des >Gesamtkunstwerkes< geformt worden war. Das »Venedig
in Wien« bestand aus präzisen und naturgetreu nachempfundenen Repliken1
venezianischer Bauwerke - Palazzi, Kanäle, Portale, kleine Plätze, Brücken^
Häuser, Boulevards und sogar einem kleinen Kloster. Die Gesamtfläche be-
trug 50 000 Quadratmeter, wovon 8000 für Wasserflächen, Kanäle und ei-
nem Bassin mit nahezu 1000 Quadratmeter Fläche reserviert waren. Dal
mit Gebäuden versehene Areal umfaßte 5000 Quadratmeter. In diesem Wie-
ner Venedig waren Kaufläden, Reisebüros, Restaurants, Cafes, Champagner*
Pavillons, Heurige, Biergärten, Varietes, Säle für Theater- und Musikveran-
staltungen und sogar ein eigenes Postamt untergebracht. In Spitzenzeiten
waren über 2000 Mitarbeiter beschäftigt und bedienten mehr als 20 000 Be-
sucher pro Tag. Es war gleichermaßen eine bürgerliche Flaniermeile wie ein
beliebtes Ausflugsziel für kinderreiche Familien mit niedrigem Einkommen.
Dort mischten sich verschiedene soziale Klassen und Kulturen, der Bürger
mit den Arbeitern, Soldaten mit der Demimonde, elegante Damen mit den
Dienst- und Wäschermädeln aus der Vorstadt. Das Wiener Venedig erfreute
sich vor allem im Sommer großer Beliebtheit, wenn die Stadttheater und
Konzerthallen geschlossen hatten. Es verfügte über elektrisches Licht, Pho-
no- und Kinematographen und über das Wiener Riesenrad, das in Anleh-
nung an englische Vorbilder (Gigantic Wheel in Earls Court) gebaut und
1897 eröffnet wurde. Das Riesenrad ist eine 64 Meter hohe Stahlkonstruk-
tion, wiegt rund 500 Tonnen und ruht auf acht Pylonen, von denen jeder in
einem großen, pyramidenförmigen Betonklotz verankert ist. Schon im er-
sten Jahr seines Bestehens ließen sich rund 240 000 Fahrgäste in die Höhe
tragen, um den Prater und die Stadt aus der Panoramaperspektive zu sehen.
Seine sogenannten Wagons s£par£s wurden derart für bare Münze genom-
men, daß viele glaubten, sich tatsächlich in einem S6par6e zu befinden, und
wegen unsittlichen Benehmens in der Öffentlichkeit von der Polizei arre-
tiert wurden.246
1899 wurde als ein weitere technische Attraktion eine 70 Meter lange
Wasserrutschbahn erbaut. Wie sehr diese und andere >Unterhaltungstech-
nologien« die Wiener ergötzten, ist den Lebenserinnerungen von Gabor Stei-
ner, dem Besitzer des Wiener Venedig, zu entnehmen:
Dort, wo jetzt die Hochschaubahn sich befindet, hinter dem Riesenrad, war ein
prächtiger, großer Teich angelegt und »die Wasserrutschbahn« aufgestellt. In Paris
schon mit Jubel aufgenommen, drängten sich und schoben sich auch in Wien die
Besucher und es gab höchst erquickliche Szenen, wenn die Damen angstvoll sich

130
weigerten, das Boot zu besteigen, wie sie quiekten und schrien, wenn es die schar-
te Bahn hinabging, und dann wieder beruhigt lächelten, als es gemächlich im Was-
icr weiterschwamm. Jetzt kamen die für die ins Wasser gefallenen Gäste stets vor-
bereiteten Reservekostüme zur Geltung, sie wurden oft zu wenig. Natürlich war
es immer die Schuld der Fahrenden, wenn sie ins Wasser plumpsten. Das Publikum
drängte sich rund um den Teich und begleitete die Hilfeschreie der Damen mit iro-
nischen Zurufen, es wurde viel gelacht und die »große Hetz< für die Wiener war
wieder einmal erfunden. 247

Das Wiener Venedig bot eine Fülle von Attraktionen. Nicht nur Gondel-
fahrten mit eigens aus Venedig geholten Gondolieri, sondern auch die neue
künstliche Welt der Phonographen und der »lebenden und singenden Pho-
tographie«, die äußerst beliebten Zapfenstreiche der Militärmusikkapellen,
internationale Spezialitätenrestaurants (italienische Osterias und das viel-
gerühmte Restaurant Francis) und sogar ein »Automatenbüffet«, einen
Sportpalast zum Rollschuhlaufen, Ringweltmeisterschaften und skandalum-
wittert, aber mit größtem Zuspruch, ein Moulin-Rouge samt Cancan- und
afrikanischen Tänzerinnen. Gabor Steiner schreibt, daß das Moulin-Rouge
»ungeheuren Erfolg und keinerlei Hemmungen« hatte und daß das »Vene-
dig in Wien eben auf allen Ebenen des Vergnügungslebens bahnbrechend«
wirkte.248
Wie sehr aber insgesamt das Wiener Venedig als Vergnügungsstadt in ei-
nem ambivalenten Licht gesehen wurde, läßt sich verschiedenen Zitaten von
Karl Kraus aus der »Fackel« entnehmen, der schreibt »dass man in anstän-
diger Gesellschaft, besonders in Damengesellschaft, jenseits von einer Cli-
que schamloser Revolverjournalisten über den grünen Klee gelobte »Vene-
dig in Wien< nicht besuchen kann« und daß ein Fremder »von unserer Stadt
einen Eindruck« gewänne, »den er sich billiger und ungestörter - sagen wir
>anderswo< holen könnte«.249 Der damalige Wiener Polizeipräsident Franz
von Stejskal sah den »Grenzbezirk« Prater und die neue Vergnügungsstadt
pragmatischer, wenn er meinte: »Endlich hab'n wir an' Ort, wo wir alle Gau-
ner finden werden.«250
Obwohl die ursprünglich venezianische Variante der Vergnügungsstadt
bereits 1901 abgetragen wurde, da sie den Besuchern nach fünf Jahren zu
langweilig und bekannt geworden war, hielt sich die populär gewordenen
Bezeichnung »Venedig in Wien« weiterhin und bezeichnete ein Synonym
für populäre Massenunterhaltung in artifiziell nachempfundenen Urbanen
Strukturen. So baute man Nachbildungen von Gebäuden aus aller Welt -
japanische, ägyptische oder spanische Straßen. 1902 wurde diese >internatio-

131
nale Stadt< in eine »Blumenstadt« mit aus Holland importierten Blumen und
Gewächsen umgewandelt und 1905 erhellte man die künstliche >Vorstadt<
durch ein elektrisches Lichtmeer mit 300 Bogenlampen, 60 Brillantlampen
und über 10 000 Glühbirnen.
1912 mußte Gabor Steiner, der sich durch hohe Kreditaufnahme und
Zinsen verschuldet hatte, in Konkurs gehen und das »Venedig in Wien« für
immer schließen. In den nur knapp 17 Jahren seines Bestehens hatte Stei-
ners Kunststadt jedoch einen wesentlichen Beitrag zur Formierung der Mas-
senkultur der Wiener Moderne geleistet. Es war nicht nur ein opulentes,
verspieltes Testgelände für alle zeitgenössischen Formen von theatralischen
und musikalischen Inszenierungen für breite Bevölkerungsschichten (Lust-
spiele, Lokalpossen, Revuen, Ballette, Variet£, Kabarett, Ringerturniere etc.),
sondern auch einer der wichtigsten zeitgenössischen Spiel- und Rezepti-
onsorte der Wiener Operette.251 Carl Michael Ziehrer, Leopold Krenn, Carl
Lindlau und Josef Hellmesberger feierten dort große Erfolge und Gesangs-
künstlerinnen wie Mizzi Zwerenz, Fritzi Massary, Carl Tuschl, Hansi Füh-
rer und Ludwig Gottesleben reüssierten als vielbewunderte Stars des Wie-
ner Publikums. Melodien wie »Sie ist der Stolz von New York« (in »Sie ist
der Stolz von Hernais« umgedichtet) oder »O du mein Girl« wurden zu
viel gesungenen Volksschlagern.252
Der Prater, den wir an früherer Stelle als einen traditionellen Ort popu-
lären Vergnügens in Wien identifiziert haben, bildete jedoch nicht nur eine
ideale Örtlichkeit für das frühe Disneyland »Venedig in Wien«, sondern auch
für die Einführung des Kinos als Massenvergnügen.253 Sein Terrain begün-
stigte die Decodierung und Recodierung kultureller Praxis, da es mit kollek-
tiven Erinnerungen an längst vergangene Vergnügungen vorheriger Genera-
tionen gesättigt war und so die Einführung neuer Formen der Popularkultur
und »cartographies of taste« erleichterte.254 Im Zeitraum von 1900 bis 1914
wurden im Prater sechs Lichtspieltheater eröffnet, die rund 1500 Sitzplät-
ze aufwiesen. In gleicher Weise wurde Ottakring bzw. das Neulerchenfeld
zu einem vorstädtischen Kinobezirk; dort entstanden im gleichen Zeitraum
sogar 13 Lichtspieltheater mit insgesamt rund 3000 Sitzplätzen.255 Obwohl
sich die erste Expansionsphase der Lichtspieltheater bis 1910 nicht als eine
primäre >Kolonisierung< der Vorstadt bezeichnen läßt, da in der Inneren
Stadt bzw. in den innerhalb des Gürtels gelegenen Bezirken mehr Kinos als
außerhalb davon gebaut wurden und die Einbeziehung der vorstädtischen
Peripherie erst nach 1910 umfassend stattfand, kann man doch davon spre-
chen, daß das Kino von Anfang an ein Ort und ein Instrument der Mas-

132
senkultur war. Die Lichtspieltheater wurden nämlich zum einen an den
leicht zugänglichen Hauptverkehrsadern der inneren Bezirke gebaut und
zum anderen in jenen Urbanen »Landschaften des Vergnügens< angesiedelt,
die schon auf eine längere Tradition populärer Vergnügungsstätten zurück-
blicken konnten.256 Viele im 19. Jahrhundert bekannte und beliebte Gast-
häuser und Vergnügungslokale der Vorstädte wurden in Kinos umgewan-
delt, wie z.B. Die Blaue Flasche, das Ottakringer Orpheum, Die Rote
Bretzen und Zum goldenen Luchsen. Das Kino bot eine günstige Folie für
die im Zuge der Industrialisierung und veränderten Sozialbeziehungen ent-
standenen Zerstreuungsbedürfnisse der ärmeren sozialen Schichten. Es war
billig und brachte für wenig Geld viel Ablenkung vom Alltag. Es wärmte
in den Wintermonaten und bot Frauen tendenziellen Frei- und Flucht-
raum.257 Das Kino materialisierte das Bedürfnis nach Transgression und Exo-
tik durch den visuellen Import ferner Welten und Kulturen, das schon al-
lein durch die Namen einzelner Kinos wie »Weltbiograph« usw. suggeriert
wurde. Es bot ein neues Freizeitrefugium für Kinder und einen Ort für ju-
gendliche Subkulturen. Es symbolisierte Fortschritt, Geschwindigkeit und
Technik und versprach zugleich Dramatik, Gefühl, Kurzweil und Sensation.
Es verfeinerte die Darbietungsformen von Singspielhalle, Variet6 und Zir-
kus und blieb diesen Formen bis weit in dreißiger Jahre verbunden, indem
neben den eigentlichen Filmen Variet6einlagen, Pausenfüller, Tanzrevuen,
Sänger- und Artistenauftritte angeboten wurden. Man ließ sogar die Film-
schauspieler leibhaftig vor die Leinwand treten, um Illusion und Wirklich-
keit gegeneinander auszuspielen.258 Das Kino war eine mit neuen Möglich-
keiten ausgestattete Zwischenzone an der Schnittstelle von Privatheit und
Öffentlichkeit. Es bot Raum für die Annäherung der Geschlechter und er-
möglichte Liebespaaren ein ungestörtes Zusammensein fern von Eltern und
überfüllten Wohnungen. Es bot Platz für Alleinsein ebenso wie für Gesel-
ligkeit, man konnte dort für sich sein, ohne allein sein zu müssen. Es ver-
mischte Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Herkunft zu
einer >Masse< von Kinogehern.
Das Kino ist ein symbolisches Universum. Es schafft Gegen- und Paral-
lelwelten, es vermittelt Ahnungen von einem anderen Besseren, es bündelt
die Phantasie und bedingt doch nur das Verweilen im Moment. Als Traum-
und Wunschmaschine inszeniert das Kino zum einen das Glück des Augen-
blicks und zum anderen die Unveränderbarkeit der eigenen Existenz, da
sein symbolisches Universum äußerlich bleibt und in der Realität nicht zu-
gänglich ist. Indem es die Träume mobilisiert, verfestigt es das topographi-

133
sehe und soziale Schicksal und indem es sozial differente Akteure zu einer
scheinbar homogenen Masse von Konsumenten eint, bestätigt es zugleich
die soziale Segregation der Stadt ebenso wie es auf das ambivalente Dispo-
sitiv moderner Massenkultur insgesamt verweist. Denn obgleich die Mas-
senkultur die Unterschichten in der Vorstadt >verhaftet<, baut sie doch in
eigensinniger Weise eine Brücke zwischen ebendiesen Schichten und den
Eliten. In ihr tauscht sich ein breiter Strom von Symbolen, Waren und Phan-
tasien aus. In der Dynamik dieses Stromes stellen sich gleichermaßen Ent-
grenzungen wie Territorialisierungen her. Sie suggeriert einerseits die Illu-
sion grenzüberschreitenden Konsums und universeller Verfügbarkeit über
Waren und Räume und materialisiert andererseits doch nur Grenzen und
Verortungen. Sie verspricht das Ganze und schafft doch nur das Fragment.
Die Massenkultur ist also als ein multifunktionelles Gebilde zu verste-
hen, da sie psycho- wie soziodynamisch eine Fülle von oft in sich wider-
sprüchlichen Kompensations-, Innovations-, Standardisierungs- sowie Inte-
grations- und Disziplinierungsleistungen zu erfüllen hat. Sie ist zum einen
Schreibmedium der >modernen Stadt<, da sie die Gleichförmigkeit und Stan-
dardisierung des für die industrielle Produktion erforderlichen >Human-
kapitals< sichert, und sie ermöglicht zum anderen die (Wieder-)Erkennbar-
keit bzw. Routinisierbarkeit der proletarisch-vorstädtischen Lebenspraxis
und erleichtert damit die alltägliche Benutzbarkeit der >Stadt<.
Die Massenkultur >kommodifiziert< den Strom von Gütern in Form bil-
liger, industriell verfertigter Waren, die mittels neuer Zeichensysteme (Re-
klame) und rational organisierter Vertriebssysteme (Warenhäuser) zu den
Kunden weitergeleitet werden. Dadurch vollzieht sich eine >politische< Aus-
handlung sozialer Unterschiede. Die Massenkultur schreibt nicht nur einen
politischen Text der Differenz, sondern auch einen kulturellen Text der
Homogenisierung, in dem aus ethnisch und kulturell differenten Akteuren
eine anonyme Masse von scheinbar Gleichen geschaffen wird. Sie ist das
kulturelle Artikulationsmedium des Kapitals, aber sie ist zugleich und fol-
gerichtig das Gegenteil davon, nämlich eine Sphäre des Aufbegehrens, des
Widerstands und der Glückssuche.

134
ZUR HERMENEUTIK DES PROFANEN

Die Vorstadt ist zugleich Ort der äußeren Marginalisierung, Ort der verin-
nerlichten Inferiorität wie immer wieder auch Ort des Ausbruchs und
Schauplatz der Grenzüberschreitung. Symbolisch artikuliert sich diese in
Phantasien und erträumten Konsumwelten (auch im Kitsch und geliehe-
ner Kleinbürgerlichkeit) und praktisch in der Randale bis hin zu Revolten
und Aufständen. Die Vorstadt ist somit immer wieder ein Ort der Aufleh-
nung und der sozialen Utopie, die ihrerseits urbane Wirklichkeit ist, wel-
che ohne dieses Ferment nicht bestehen kann. Hier wachsen die politischen
Massenorganisationen der industriellen Arbeiterschaft; seit den »Sechshau-
ser-Arbeiterkrawallen« der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des
19. Jahrhunderts, vermehrt aber seit den frühen achtziger Jahren (als auf-
grund einiger spektakulärer anarchistischer Attentate über Wien, Florids-
dorf und Korneuburg der Ausnahmezustand verhängt wurde) war es hier
immer wieder zu spontanem und gewalttätigem Aufruhr gekommen.259
Es waren keinesfalls nur die Fortschrittsmythen moderner Technik, Wis-
senschaft und materieller Produktion, die als symbolischer Uberschuß des
Rationalen und Machbaren ein Versprechen abgaben für die Entwicklung
hin zu einer neuen Zivilisation. In diesem symbolischen Überschuß ist nicht
nur die neue Erfahrung der Lohnarbeit enthalten, sondern auch die überwäl-
tigende Erfahrung einer sich rapide ändernden industriellen Umwelt, in der
sich Ratio, Planung und Geschwindigkeit unmittelbar sinnlich und ortsmäch-
tig zum Ausdruck bringen. Dies ist als ein massiver Expansions- und Innova-
tionsschock der unmittelbaren Alltagserfahrung zu verstehen, der neben dem
Moment des Gewaltsamen eine Rationalität zitiert, die ihrerseits befreiungs-
mächtig werden kann. Denn so sehr die industrielle Logik Diszipinierung
und Einschränkung auferlegt, so ist sie doch auch Keimzelle einer anderen,
gewendeten Rationalität, die sich in den Kampf- und Organisationsformen
einer sich formierenden Arbeiterbewegung zum Ausdruck bringt.

135
Natürlich zog die scheinbar aus allen Grenzen laufende städtische Aggre-
gation allgegenwärtige gesellschaftliche Atomisierung nach sich, aber sie
generierte auch, als Antwort auf Uberfüllung, Chaos und Kontingenz,
immer wieder neu aufflammende und sich perpetuierende Kämpfe um so-
ziale Selbstbehauptung und individuelle wie kollektive Seins-Feststellung.
Die Kämpfe zentrierten sich zum einen um die Verbesserung der Arbeits-
bedingungen und zum anderen um die Teilnahme am öffentlichen und kul-
turellen Leben (allgemeines Männerwahlrecht, kommunale Mitbestimmung,
Zugang zu allgemeiner Bildung und öffentlichen Einrichtungen). Sie hat-
ten ihren Ort in der modernen Stadt und wurden von einer sich ab den frü-
hen neunziger Jahren konstituierenden demokratischen Massenpartei, die
ihre soziale Basis überwiegend unter den industriellen Arbeitermassen der
Vorstädte fand, in zunehmend zentralistischer Weise geführt und organi-
siert.260
Diese wachsende politische Selbstorganisation der Arbeiterschaft aber
wird geschaffen, begleitet und komplementär ergänzt durch kurzfristige,
vereinzelte, schnell und unerwartet ausbrechende und ebenso plötzlich wie-
der versiegende Akte gemeinschaftlichen Widerstands und zivilen Unge-
horsams. In den Streiks, Krawallen und Tumulten, die nunmehr zunehmend
den vorstädtischen Alltag mitbestimmen, äußert sich für jeweils kurze Mo-
mente die Utopie einer anderen, auf Gegenseitigkeit und Respekt gegrün-
deten städtischen Ordnung. Damit wird die Vorstadt tatsächlich, wenn auch
immer nur für einen Augenblick, zu jenem Territorium der Unruhe, des
unkalkulierbaren Anderen und der Gefahr, als das sie der ängstliche bür-
gerliche Blick imaginiert.
So wächst, widersprüchlich, retardierend und in teils gewaltsamer Aus-
einandersetzung, aus dem Chaos und dem Elend der Metropole die zivili-
sierende Kraft einer sozialen Vision, die die Hoffnungen und das Leid der
Deklassierten und städtischen Parias in sich aufnimmt und in dieser Form
zur emanzipationsgeleiteten Antwort auf das >Schockensemble< der Moder-
ne wird, das gleichermaßen Stadt und Land prägt und erschüttert. Dies ist
zunächst nicht mehr als eine Möglichkeit, eine Ahnung. Aber wie groß auch
Fehlschläge und enttäuschte Hoffnungen in den jeweils konkreten Einzel-
fällen sein mögen, die Idee, die perspektivische Möglichkeit einer höheren
sozialen Organisations- und Kooperationsform findet in den spontanen
Akten der Widersetzlichkeit nicht nur ihren ursprünglichen Ausdruck, sie
pflanzt sich durch sie fort, gewinnt an Boden und wird am Leben erhalten
- gerade in jenen Territorien und Gebieten, wo die deformierenden und

136
transformierenden Bedingungen Urbanen Lebens am nachhaltigsten kon-
zentriert und sichtbar sind.
Die im Wortsinn dislozierten Bewohner der Vorstädte, die unqualifi-
zierten Arbeitsmigranten überwiegend unterbäuerlicher Herkunft ebenso
wie die sozial deklassierten, aus dem inneren Stadtbereich verdrängten
Urbanen Unterschichten, konnten zwar auf eine lange Tradition sozialer
Resistenz zurückgreifen. Was sie aber nunmehr, im Kontext einer ihre ge-
samte Lebenswelt radikal verändernden Urbanisierungserfahrung, zu erler-
nen hatten, waren gänzlich neue Formen der Organisation. Diesen Lern-
prozeß sollte man sich nicht als einen bruchlosen, linearen Vorgang
vergegenwärtigen, sondern als ein Vorwärts- und Rückwärtsschreiten, als
eine Bewegung von Versuch und Irrtum und als einen Vorgang, in dem Spon-
taneität und Gewalt sowohl Fortschritt wie auch Rückschritt bedeuten kön-
nen. Die Herstellung neuer Kampf- und Auseinandersetzungsformen nährt
sich sowohl aus der traditionellen Wdersetzlichkeit des Populären als auch
aus deren gewaltsamen Überschreiten. Tradition und Gewalt bilden ein
gemeinsames Feld der Erprobung gesellschaftlichen Handelns, dessen ulti-
matives Ziel die Verbesserung des alltäglichen Lebens im Urbanen Kontext
ist. Doch beide laufen gegensätzlich und bewirken ein eigentümliches
Gemenge von Retardierung und Emanzipation. Dieses Gemenge ist kein
ideologisches Narrativ, sondern dessen strukturelle Voraussetzung. Das
symbolische Surplus, d.h. die akkumulierten Lernerfahrungen des Ringens
um neue Organisationsformen, findet erst im Zusammenspiel mit den aus
der Aufklärung geschöpften Fortschrittsnarrativen zu einer Ideologie der
Arbeiterbewegung zusammen. Sosehr die Gewalt als Akt des Überschrei-
tens von durch die Tradition gesetzten Grenzen auch innovativ ist, so dys-
funktional wird sie in der Sphäre der ideologischen Auseinandersetzung mit
dem Staat, die die neu errungenen Organisationsformen der Arbeiterbewe-
gung gegen das Herrschaftssystem abzustützen sucht. So bemerkt Karl Ren-
ner in seiner Analyse der Teuerungsrevolte 1911, daß es der organisierten
Arbeiterbewegung vornehmlich um die »Schulung des Proletariats zu im-
mer größeren Aufgaben in der Zukunft und die Fürsorge der Arbeiterklasse
für sich selbst in der Gegenwart« gehen müsse. Die Demonstration habe
aber nicht nur die organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße
gebracht, sondern das Volk selbst, das »Volk in der ganzen traurigen Aus-
dehnung des Begriffes«. Es seien dies Situationen, die das »Leidige einer
allgemeinen Konfusion« in sich trügen, in denen alle festen Richtlinien, alle
Abgrenzungen sich in »nebulosen Überschwang« auflösten, alles möglich,

137
das Unmögliche wahrscheinlich, das Bedingte und Begrenzte unendlich
würde.
Die schreiendste Anklage gegen die Erbärmlichkeit dieser Gesellschaftsordnung
kroch aus ihren Quartieren hervor und demonstrierte mit: Verzweifelte, für die diese
bürgerliche Gesellschaft kein Dach hat, der sie keine Werkstatt auftut, keinen La-
den zum Einkaufen offen hält; Enterbte nicht nur des Eigentums, sondern auch
des Rechtes, die Mangel an Erziehung und Existenz dem Verbrechen anheim gibt;
Verwahrloste, welche die christliche Presse deshalb beschimpft, weil ihnen diese
christliche Gesellschaft die Erziehung durch Mutter, Lehrer und Beispiel versagt
hat, denen der Staatsfiskus zwar keine Besserungsanstalten, wohl aber Branntwein-
buden und konzessionierte Schandhäuser offen hält. ( . . . ) Sie zu erlösen und das
Ungeheuer Kapitalismus, das sie immer neu erzeugt, zu ertöten bis in seinen Unheil-
schoß hinein, ist eine der heiligsten Aufgaben des Proletariats. Für sie marschieren
kann es, mit ihnen nicht

Dennoch ist die spannungsreiche Differenz von kontingenten sozialen Lern-


prozessen der Basis auf der einen Seite und Fortschrittsnarrativen der so-
zialdemokratischen Eliten auf der anderen Seite konstitutiv für die utopi-
sche Dimension der Arbeiterbewegung. Denn so sehr die Gewalt Tabuzone
des öffentlichen Diskurses sein muß, da sie zum innersten Kern der sym-
bolischen Ordnung des Staates gehört, so ist ihr Gehalt an sozialer Ener-
gie doch Treibstoff der Träume eines besseren, anderen Lebens. Diese ei-
gensinnige Spannung von Uniibersetzbarkeit, nämlich nicht Teil der
Öffentlichkeit werden zu dürfen, und Ubersetzung, nämlich das Widersetz-
liche doch zum Gegenstand des politischen Diskurses zu machen, nährt
letztlich den utopischen Gehalt der frühen Arbeiterbewegung. Die akku-
mulierten Lernerfahrungen der Unterschichten zitieren und überschreiten
gleichermaßen die Tradition insofern, als sich in ihnen ein aus ihrer sozialen
Stellung und historischen Erfahrung abgeleiteter Sinn für Ehre und Gerech-
tigkeit mit moralischer Ökonomie und einem Codex von Zumutbarkeit und
Unabhängigkeit mischen. Im sozialen Protest- und Widerstandsverhalten
vermengen sich so prämoderne, traditionale und häufig dem Kanon ländli-
cher, vorindustrieller Verhaltenscodices entlehnte Elemente mit >modernen<,
aus dem Kampf gegen die Disziplinierung durch das industrielle Fabriks-
diktat abgeleiteten Mustern. In ihnen kommt der alte traditional-individua-
listische, männliche Ehrbegriff ebenso zum Ausdruck wie ein tendenziell
geschlechterübergreifender Kollektivbegriff des organisationsgeleiteten und
rationalisierten sozialen Protests. Das Nebeneinander von traditionsbe-
stimmter Widersetzlichkeit und Fortschrittsnarrativen, ihre gleichzeitige

138
Vermengung und Inkongruenz, mit einem Wort: der immer wieder auch ge-
brochene Lernprozeß des Sozialen bringt den stummen Protest zum Spre-
chen, das Gären der Massen zur Artikulation und deren >oralisiertes< Auf-
begehren zur politischen Forderung. In und durch diese Protestformen
geben sich deren Protagonisten eine Stimme, sprechen Subjekte, deren Ge-
schichte und Schicksale schriftlich niemals niedergelegt wurden. Die spur-
lose Moderne wird damit zur geschichtsmächtigen Textur.
Die Lernprozesse im öffentlichen Raum korrespondieren mit einem ei-
gentümlichen wandlungsresistenten, beharrenden Zug im Privaten. Die
Symbolik des Privaten verweist in vielen Fällen auf alles andere denn ein
Fortschrittsnarrativ. Das Private wird dominiert durch eine »Ökonomie des
Uberlebens<, die neben der materiellen Subsistenzsicherung ein Minimum
an Alltagspoesie, Uberlebensästhetik und einer intimen Kompensation un-
erträglicher Lebensbedingungen anstrebt. Neben dem Versuch der Sicher-
stellung von Nahrung und Bekleidung implizierte dies eine kulturelle Pra-
xis der Sinngebung, die über das bloße Vegetieren und den unablässigen
Zwang zur Veräußerung der Arbeitskraft hinausweisen konnte.
Max Winter hat im Dezember 1903 ein Elendsquartier im »schlimmsten
Stadtviertel« Floridsdorfs, den Mühlschüttel, besucht.262 In einer verfalle-
nen Hütte in der Scheffelgasse (in den achtziger Jahren die Wohnung des
während des Ausnahmezustandes abgeschafften Floridsdorfer Sozialdemo-
kraten Frimmel, die zugleich als Versammlungsraum benutzt wurde) leb-
ten in einem einzigen Raum auf einer Bodenfläche knapp elf Quadtrame-
tern und einer Raumhöhe von ein Meter neunzig zwei erwachsene Frauen
und drei Kinder. Der Familienvater verbüßte zum Zeitpunkt von Winters
Besuch gerade eine mehrjährige Haftstrafe in der Strafanstalt Stein, sein an
das Zimmer anschließendes Kabinett wurde nunmehr als Rumpelkammer
verwendet. Die Ernährung der Familie bestand wochentags aus einem Laib
Brot, einem Liter Milch, Feigenkaffee und Zucker. Nur an Sonntagen gab
es zusätzlich Suppe oder Schmarren, die aus jenen Erdäpfeln zubereitet wur-
den, die die Mutter und ihre erwachsene Tochter als >Koksklauberinnen<
auf der im Besitz des Stiftes Klosterneuburg befindlichen Mistgstetten
(Mistablageplatz für zwölf Wiener Bezirke zwischen dem Inundationsdamm
und dem alten Donaubett bei Floridsdorf) während der Woche aus dem
Abfall gescharrt hatten - »für das Koksweib und ihre Brut sind auch sie
noch Leckerbissen«.263
Inmitten des geballten Elends macht Max Winter eine erstaunliche Fest-
stellung:

139
An den Wänden des lichtblau getünkten Zimmers hängen außer einigen Heiligen*
bildern auch ein fast farbloser Oeldruck der ehemaligen Kronprinzessin Stefanie
und in einem kleinen Goldrahmen ein Stich, der das Doppelporträt eines coburgi-
schen Prinzenpaares zeigt. Irgend eine Maria Immakulata und irgend ein August
haben sich da für die Patrioten verewigen lassen. U m diese Bilder dreht sich das
weitere Gespräch. 264

Der katholische Kooperator und Religionslehrer an der Grundschule im


Mühlschüttel, Rudolf Eichhorn, hatte eine ähnliche Beobachtung bereits
knapp zwei Jahrzehnte zuvor zu Papier gebracht:
In dem von 13 Personen bewohnten Zimmer (neun Schritte lang, acht Schritte breit)
hängen Heiligenbilder und das Porträt unseres durchlauchtigsten Kronprinzenpaa-
res. Die Quartiergeberin sagte mir über diese Bilder: »Die sand von früher her, wie's
uns noch besser gangen is; mir geb'ns net her, wann uns der Jud glei(ch) soviel ge-
bet, als wir ihm zahlt hab'n.« 2 6 5

Aber gerade dies verweist auf einen zentralen Aspekt der Logik und der
Realität des Urbanen Lebens mit seinen Widersprüchen und Koningenzen.
Es ist dem Menschen unmöglich, eine Bleibe, ein >Heim< zu finden, in dem
er leben kann, ohne etwas, das mehr ist als er selbst: Seine Beziehung zum
Möglichen wie zum Imaginären, ob sich dies nun in edlen, wertvollen, oder
in den geschmacklosesten Dingen und Objekten zum Ausdruck bringt, ob
diese von erlestenstem Geschmack sind oder der übelste Kitsch, die, wie es
Lefebvre bezeichnet, »Karikatur einer Poesie«266 - erst der verdinglichte Be-
zug zum Imaginären ermöglicht überhaupt ein Uberleben, auch und gerade
dem unter elendsten Bedingungen dahinvegetierenden städtischen Paria.
Die Verdinglichung des Imaginären in der Konstruktion des Privaten und
der Subjektivität speist sich offensichtlich aus mehreren Quellen: Zum ei-
nen bedeutet es ein Sich-Verorten im öffentlichen Raum als dem privaten,
der damit Grenzen und Inhalte erhält, zum anderen bedeutet es eine gelie-
hene Symbolik der Innerlichkeit, die sich an ersehnten Figuren des öffent-
lichen Lebens und aus der religiös-spirituellen Sphäre orientiert; es bedeu-
tet aber auch eine Projektion des Innen nach außen als die einzig mögliche
Poesie des Alltags. Sentimentalität und der Versuch, im Wege des Kitsches
eine erkennbare Spur des Besseren im Schlechten zu erzeugen, erscheinen
so als Wartesaal der Utopie, als Glück im Unglück und als Heimat in der
Heimatlosigkeit. Das Banale wird somit zum Heiligen, das Wertlose zum
Wertvollen und der Kitsch surrogiert das Mögliche, er ist dessen traumati-
sche Leerstelle. Denn um den Wohnraum und seinen Sinn zu finden, sind,

140
nach Lefebvre, Begriffe und Kategorien notwendig, die auf das »Diesseits
des Erlebten« und das Unbekannte und Verkannte der Alltäglichkeit ver-
weisen. Die Beziehung der Bewohner zur Natur, zum Sein und zu ihrem
eigenen Wesen hat nämlich ihren Ort zunächst und zuerst im Wohnraum,
sie realisiert sich dort und wird dort auch ablesbar.267
Nun werden die Wener Zinskasernen und vorstädtischen Elendsquar-
tiere mit ihren »kleinen Wohnräumen, hohen Miethzinsen, häufigen Zän-
kereien und dem verjährten Schmutze« ausschließlich als Orte eines »wirt-
schaftlichen und sittlichen Ruins« beschrieben,268 die, bei dem gegebenen
Mangel an Ruhe und Luft, in ihrer Reizlosigkeit und Unbehaglichkeit un-
ausweichlich zur körperlichen und geistigen Verkümmerung und Verwilde-
rung ihrer Bewohner führen mußten.269 Dazu trat die permanente Angst
vor Arbeitslosigkeit, Hunger und Delogierung:

In den vielen, vielen Zinshäusern der Vorstädte waren die Wohnungen, Gänge und
Stiegen erfüllt von dieser Angst, sie schwebte stets als dunkle Wolke über dem Le-
ben des Arbeiters; sie konnte ihn bis zum Irrsinn erregen, den tiefsten Schlaf stö-
ren, ihn am hellen Tage zum Erzittern bringen und selbst die Liebesstunde vergäl-
len. 2 7 0

Ein Jahrzehnt nach seiner Recherche im Mühlschüttel veröffentlichte Max


Winter eine Sozialreportage über das Kinderelend im Lichtental im 9. W e -
ner Gemeindebezirk. Zwischen der Franz-Josefs-Bahn und der Nußdorf-
erstraße gelegen, galt das Lichtental allgemein als heruntergekommenes, ge-
fährliches Slumgebiet - »Slums in des Wortes schlimmster Bedeutung, genau
so gesundheitswidrig wie diese, genau so kulturwidrig«. Seit dem ausgehen-
den 18. Jahrhundert waren hier ehemals selbständige Siedlungen und das
auf Liechtensteinschem Grunde gelegene Dorf Lichtental zu einer vorstäd-
tischen Agglomeration zusammengewachsen, enorme Höhenunterschiede
in der Bodenstruktur hatten hier die gründerzeitliche private Bauspekula-
tion von jeglicher Tätigkeit weitgehend ferngehalten. So präsentierte sich
das Lichtental zu Beginn des 20. Jahrhunderts als höchst sanierungsbedürf-
tiges Konglomerat von engen, dumpfen Gassen mit niederen, geduckten
Vorstadthäusern, die nur ab und zu von zwei- bis dreistöckigen Zinskaser-
nen überragt wurden; in den Häusern »enge, dumpfe, niedere Gelasse, die
von den Besitzern (...) wohl noch als Wohnungen ausgegeben werden, die
aber nichts sind als höchstens Schlafstellen, die auch den einfachsten Re-
geln der Gesundheitslehre hohnsprechen (...)«. 271 Bewohnt wurden diese
»Gelasse« in der Mehrzahl von Unqualifizierten, also Hilfsarbeitern, Kut-

141
schern, Holz- und Steinscheibern, die ihren Erwerb am nahen Donaukanal
beim Ausladen der Lastschiffe fanden. Dazu kamen Straßenkehrer, Sani*
tätsdiener, Straßenbahner, Eisenbahn- und Posthilfsarbeiter sowie eine Min*
derzahl qualifizierter, organisierter Arbeiter, deren Familieneinkommen
nicht für eine Zinshauswohnung in einem der neuen Arbeiterviertel aus*
reichte oder die schlicht und einfach aus Anhänglichkeit an ihren ange-
stammten Herkunftsort im Lichtental verblieben waren. Winter spricht von
»Stadtsklaven in Menge«, die über nichts anderes verfügten als eben das
symbolische Kapital lokaler Identität, die Bindung an die engste »Heimat«,
ein vager Stolz, eben Lichtentaler zu sein. Und wieder fällt ihm der Kitsch
und vordergründig wertlose Ramsch auf, der gerade in den ärmlichsten Be-
hausungen am häufigsten anzutreffen ist: »Die ganze Wohnung verfallen.
Die einst hellblaue Mauer abgebröckelt. Heiligenbilder an den Wänden. Al-
les dumpf und trostlos.«272
Nun stellen die Befunde Winters und Eichhorns keineswegs Einzelfälle
dar. Im Dezember 1888 hatte sich der Armenarzt, Psychiater und sozial-
demokratische Parteigründer Victor Adler mit Hilfe eines Ziegelschlagers
in die Werke der Wienerberger Aktiengesellschaft eingeschlichen und in der
von ihm gegründeten Zeitschrift »Gleichheit« sensationelle Sozialreporta-
gen über die dortigen Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse veröf-
fentlicht.273 Die »Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft« verfügte
über 18 Fabriken und einen Grundbesitz von 900 Hektar im Süden Wiens.
8000 Beschäftigte - in ihrer überwiegenden Mehrzahl Tschechen, aber auch
Slowaken und Italiener - erzeugten jährlich 200 Millionen Ziegel, was im-
merhin 50 Prozent der gesamten österreichischen Ziegelfabrikation ent-
sprach; in der intensiven Bausaison konnten täglich eine Million Ziegel ge-
liefert werden. Die Produktion war überaus arbeitsintensiv, trotz der von
dem innovativen und geschäftlich überaus erfolgreichen Heinrich Dräsche
in der Gründerzeit getätigten Investitionen wie Ringöfen und Ziegelschlag-
maschinen war der gesamte Produktionsbereich wenig mechanisiert. Noch
1903 entstammten nur 20 Prozent der erzeugten Ziegel der maschinellen
Produktion, der Rest wurde in Handarbeit verfertigt. Es war Familienar-
beit: Männer, Frauen und Kinder, denen sich häufig nur saisonal beschäf-
tigte Ledige anschlossen, bildeten kleine Partien, die im Akkord - vor al-
lem während der Sommermonate - bis zu 16 und 18 Stunden täglich
arbeiteten. Meist wurde in der Mitte der Woche ein Ruhetag eingelegt, die
>Wienerberger< kümmerte sich denn auch in keiner Weise um die Einhal-
tung irgendwelcher Arbeitszeiten. Sie zahlte nach Prämiensystem; für je-

142
des Tausend Ziegel bekamen die Partien 10 Kreuzer, allerdings erst, wenn
sie in der ganzen Saison mindestes 80.000 Ziegel erzeugt hatten, wodurch
im Spätherbst je nach Arbeitsleistung der Partien 20 bis 50 Gulden zur Aus-
zahlung gelangten, was es den Beschäftigten knapp ermöglichte, über den
Winter und die Zeit der stark eingeschränkten Arbeits- und Verdienstmög-
lichkeiten zu kommen. Blechlohn, Trucksystem und ähnliche Methoden
verstärkten die totale Ausgeliefertheit und Abhängigkeit der Wiener »Zie-
gelsklaven«.274
Seit dem Rückzug Heinrich Drasches - der die Nachfolge des »feuda-
len« Unternehmerpatriarchen Alois Miesbach angetreten hatte - und der
Umwandlung der »Wienerberger« in eine AG wurden die vordem vorbild-
lichen Sozialleistungen sukzessive demontiert und die elenden Lebens- und
Arbeitsverhältnisse in den Produktionsstätten und Arbeiterquartieren zur
Zielscheibe massiver Kritik einer immer breiter werdenden Öffentlichkeit.
Als im April 1895 an die 6000 Männer, Frauen und Kinder an insgesamt 41
Betriebs- und Produktionsstätten in den Streik traten, gerieten die immer
neuen Enthüllungen über die Zustände in den Ziegelwerken zum öffentli-
chen Skandal.275
Die Neue Freie Presse hat in einem Artikel vom 25. April 1895 insbeson-
dere auf die menschenunwürdigen Zustände in den Wohnquartieren hinge-
wiesen. Vier bis fünf Familien - meist seit längeren Jahren eingewanderte
Tschechen, die Kinder bereits in Wen geboren, »alle neben ihrer Mutter-
sprache des Deutschen ganz gut mächtig« - mußten hier jeweils in einem
Raum zusammenleben. Die Grenzen für den Lebensraum der jeweiligen
Familie waren auf den Ziegelböden mit Kreidestrichen gezogen. Im Ober-
geschoß eines stillgelegten Ringofens wohnten 26 Personen, sanitäre Ein-
richtungen jeglicher Art fehlten überall. Wasser für die Kochwäsche und
zur Körperpflege wurde den Tümpeln der Lehmgruben entnommen, Trink-
wasser aus der Werkskantine angeschleppt. Das Ehe- und Familienleben er-
schien »in diesen Massenquartieren ganz aufgehoben«.276 Engelbert Perner-
storfer sprach in der Parlamentsdebatte zum Streik der Ziegelarbeiter von
»Pesthöhlen der Unsittlichkeit« und »Brutstätten aller möglichen Scham-
losigkeit«, in denen sämtliche Lebensvollzüge gleichsam öffentlich gescha-
hen: »In diesen Zimmern schlafen die Leute; es wird in solchen Zimmern
geboren, es wird in solchen Zimmern gestorben, in solchen Zimmern fin-
det die geschlechtliche Vermischung statt, natürlich alles unter den Augen
aller Anwesenden.«277 Und so kann denn auch die Neue Freie Presse ihre
Verwunderung darüber kaum verbergen, »daß die Kinder ziemlich gesund,

143
die jungen Mädchen zum Theil gerade hübsch sind«. An den Wänden hin-
gen in den meisten Zimmern Heiligenbilder, vor den Fenstern farbige Vor-
hänge, die Schränke mit Gläsern und Schalen geschmückt. Es sei dies »der
Hand der Frauen zu danken«, die »in dieser qualvollen Enge« Ordnung und
Reinlichkeit zu erhalten wüßten.278
Die Materialisierung des Imaginären im Kitsch und Ramsch ist zunächst
eine defensive Strategie, die ein Leben unter den klaustrophobischen Be-
dingungen einer tendenziellen Auflösung des Privaten und Intimen mög-
lich und erträglich machen soll. Lebensweltlich gesehen hat dies aber auch
einen offensiven Charakter, und zwar insofern, als es um die Herstellung,
Kontinuität und Auferhaltung eines privaten Lebens unter den äußeren Be-
dingungen von Unberechenbarkeit, raschem Wandel, materieller Unsicher-
heit und sozialer Marginalisierung geht. Im Kitsch artikuliert sich so we-
niger eine Differenz von >hoher< und »niederen Kultur als vielmehr eine
kulturelle Strategie als Teil einer Ökonomie des Uberlebens. Diese Strate-
gie ist notwendig, zugleich aber nicht hinreichend, denn sie bedarf einer
komplementrären Dimension, einer spezifischen Form von Öffentlichkeit
- der Öffentlichkeit der Straße.

144
EINE KULTUR DER WIDERSETZLICHKEIT

Die Straße ist der Ort des kommunikativen Austausches jenseits familärer
Primärbeziehungen, sie ist der Schmelztiegel, der das vorstädtische Leben
erst schafft und ohne den es nichts wäre als eine in sich fragmentierte Struk-
tur, erstarrte Isolierung und Trennung der Ausgeschlossenen von einander.
Die Straße ist eine Art Vermittlungsinstanz zwischen den Unterschichts-
angehörigen, zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum und setzt
sich gewissermaßen in die Geschäftsläden, Haustore, Auslagen, ja bis in
die Wohnungen fort. Die Straße ist, innerhalb der engeren Umgebung, je-
ner Ort, wo Menschen miteinander in Beziehung treten, ohne einander
gänzlich fremd zu sein. Die Straße formt so einen komplexen Ausgleich
zwischen Rechten und Pflichten, Distanz und Beziehung ebenso wie ein
informelles System (selbstauferlegter) sozialer Kontrolle. Sie ist der Mikro-
kosmos, in dem die Vorstadt ihren Mittelpunkt hat. Sie dient dem Infor-
mationsaustausch, sie ist Symbol, Spielplatz sowie Sozialisierungs- und Er-
ziehungsinstitution der Vorstadtjugend. Die Straße ist jener Ort, wo primäre
Beziehungen aufgenommen werden. Auf ihr und durch sie manifestieren
sich die Bestandteile des vorstädtischen Lebens und bringen sich zum Aus-
druck. Die Straße ist die Zone der Territorialisierung sowohl von eigentli-
cher Öffentlichkeit wie auch von ihrem Gegenteil. Sie repräsentiert glei-
chermaßen >Normalität< wie >Abnormalität<. Die Territorialisierung von
Orten bedeutet nämlich nicht nur, diese benutzbar und sich nutzbar zu
machen, sondern auch die Eroberung von städtischem Raum und damit die
Schaffung einer Identität, die den einen von den anderen abhebt. Die Stra-
ßenkinder erobern so Gassen und Plätze und überziehen sie mit einem für
Außenstehende unsichtbaren Netz von Nutzflächen, Grenzen und Funk-
tionen. Die Erwachsenen besetzen die Orte ihres Vergnügens und funktio-
nalisieren dieserart die Stadt. Selbst die Kriminellen schaffen sich >ihre Stadt<
der Demimonde, der dunklen und gefährlichen Orte, die der Normalbür-

145
ger ängstlich meidet. Die Straße ist somit die Arena von Schicksal, Freude
und Leid, und sie ist auch der Ort der großen Demonstrationen und Mas-
senmanifestationen, der massenhaften Widerstandsaktionen und Revolten.

1st nicht der Raum, den die Straße im Stadtgeschehen einnimmt, der Ort des Wor-
tes, der Ort, an dem Worte und Zeichen ebenso wie Dinge getauscht werden? Ist
sie nicht der bevorzugte Ort zur Niederschrift des Wortes? Wo es >ausbrechen< und
sich unter Umgehung von Vorschriften und Institutionen auf den Mauern nieder
schreiben kann? 2 7 9

Aber nicht nur die Straße bildet so gesehen einen Ort der Territorialisie-
rung und der Widersetzlichkeit, sondern auch jene Randzonen zwischen
Industrieanlagen und Zinskasernen, die im Zuge der baulichen Um- und
Neugestaltung als der städtischen Nutzung noch entzogene Freiflächen in
den Vorstädten entstanden waren. >Niemandsland<, ob geplant oder zufällig
entstanden, ob ursprünglich angeeignet oder im Zuge der Verstädterung re-
definiert, ist ein komplexer sozialer Raum, der sich über den Konflikt zwi-
schen verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Interpretationsweisen
der Stadt und unterschiedlicher gesellschaftlicher Präsenz herstellt. Der
Konflikt artikuliert sich über den Widerspruch von Planungsvorgaben und
Kapitalinteresse einerseits und andererseits den Nutzerinteressen jener, die
ihr konkretes Leben in diesen Urbanen Zonen einrichten müssen. Denn die-
ses Niemandsland ist nicht leer, sondern Fläche der Rekreation, der Frei-
zeit und nicht reglementierter Alltäglichkeit. Es ist sohin Repräsentation
von Kontrolle und Widerstand und ein Ort zwischen Gesetz und Unord-
nung. Solche Orte können die unterschiedlichste Gestalt annehmen: Soge-
nannte Gstetten, also unverbaute Bauplätze im Zuge der Neuanlage von
Straßenzügen oder gemischten Wohn- und Fabriksvierteln; halbfertige oder
eben fertiggestellte Zinskasernen; Parkanlagen oder, wie im Fall der Schmelz,
nur gelegentlich genütztes militärisches Übungsgelände; Abplankungen
und Gärten; schließlich auch Bierschenken und Branntweiner. Sie sind der
»Leerraum zwischen dem Stadtkörper und seinem zu groß geschneiderten
Planungsanzug« (Lucius Burckhardt) und damit tendenziell auch herr-
schaftsfreier Raum. Unübersichtlichkeit und kaum gegebene Kontrollmög-
lichkeiten lassen diese Territorien zum Ort der primären Sozialisation vor
allem für jene werden, denen das Stigma der Undiszipliniertheit gleichsam
>natürlich< anhaftet: der halbwüchsigen Vorstadtjugend.
Ein paradigmatischer Ort ist die größte Gstetten Wiens, die Schmelz.
Die Peripherielandschaft der Schmelz, diese ursprünglich rund 50 Hektar

146
umfassende Heide, zog sich um die Jahrhundertwende (als ein wesentlicher
Teil von ihr in Form der Neu-Ottakringer Rasterstadt bereits überbaut war)
vom Neubaugürtel leicht ansteigend gegen Breitensee hin, bis in jene »Un-
endlichkeit, die von der Vorortelinie der Stadtbahn begrenzt« wurde.280 Sie
war, wie dies Siegfried Weyr ausgedrückt hat, wie kaum eine zweite eine
österreichische »Schicksalslandschaft«.281 Zur Zeit der Zweiten Türkenbe-
lagerung hatte Großwesier Kara Mustafa hier eine riesige Zeltstadt errich-
ten lassen, 1809 hatte hier Napoleon die Parade seiner Truppen abgenom-
men und im Oktober 1848 war sie einer jener Orte, an denen das Ende der
bürgerlichen Revolution eingeläutet wurde, als die kaiserlichen Truppen
unter Fürst Windischgrätz die im Schmelzer- und im unmittelbar angren-
zenden Neulerchenfelder Friedhof verschanzten Mobilgarden sturmreif
schössen und im darauf folgenden Gefecht Mann für Mann niedermetzel-
ten. Bereits 1847 hatte das Ärar die Schmelz um 50.000 Gulden erworben
und in der Folge den Truppenübungs- und Exerzierplatz der Wiener Gar-
nison eingerichtet, abgesteckt mit schwarz-gelben Holzpfählen und später
mit gußeisernen Obelisken. 1896 wurde schließlich die Radetzky-Kaserne
fertiggestellt.
Vor dem Ersten Weltkrieg trat das Militär noch einmal ein größeres Areal
der Schmelz zum Zweck urbaner Verbauung ab. Auf dem unmittelbar an
den Friedhof angrenzenden Teil des Exerzierfeldes sollte ab 1911, also bald
nach dem Ableben des Bürgermeisters, die sog. »Luegerstadt« entstehen.
Den architektonischen Leitlinien Camillo Sittes folgend, der Stadtplanung
nach ästhetischen Grundsätzen proklamierte und schematische Rasterver-
bauung und maximale Baugrundausnützung, strikt ablehnte, war hier die
Errichtung eines Nobelquartiers geplant, das u.a. das städtische Museum
beherbergen und durch eine Mauer von der proletarischen Umgebung abge-
sondert sein sollte. Die ambitionierten Pläne kamen allerdings nur in stark
verwässerter Form zur Ausführung, und die Luegerstadt mutierte, gemäß
der Benennung der neuangelegten Straßen und Plätze, zum »Nibelungen-
viertel«.282 Ebenfalls 1911 hatte die Gemeinde Wien unter dem christlich-
sozialen Bürgermeister Weiskirchner einer Gesellschaft für Notstandswoh-
nungen Baugrund im Bereich Herbststraße/Gablenzgasse/Koppstraße (heute
Standort des Franz Novy-Hofes) überlassen. In kürzester Zeit wurde hier
eine Barackensiedlung für die Unterbringung obdachloser Familien aus dem
Boden gestampft. Acht flache, einstöckige Häuser mit ihren mit Asbest-
und Gipsplatten verkleideten Holzwänden beherbergten insgesamt 128 Fami-
lien, von denen kaum eine weniger als sechs Kinder hatte. Die allgemein als

147
»Negerdörfel« bezeichnete Barackensiedlung sollte binnen kurzem zum
Inbegriff von sozialem Elend, von Verwahrlosung, Entsittlichung, (Klein-) !
Kriminalität werden; ihre letzten Überreste wurden 1952 geschliffen.283
Die weiten, ungepflegten, von Ziegelmist, Steinen und Geröll übersä-
ten Rasenflächen der Schmelz hingegen werden in zeitgenössischen Berich-
ten und Lebenserinnerungen immer wieder als das vorstädtische Kinder-
und Jugendparadies schlechthin geschildert. In einer verklärenden Rück-
schau geraten sie Alfons Petzold gar zur naturhaften Gegenwelt zu einem
großstädtischen Moloch, der - mit seinen öden Straßen und häßlichen Zins-
kasernen, in denen die Kinder an Tuberkulose vergingen, die Männer im
Suff, die Frauen am Waschtrog oder in endlosen Wochenbetten - die intak-
te Naturlandschaft der Schmelz, einem Krebsgeschwür gleich, lebensgefähr-
lich zu bedrohen begann.
Was geschah nicht alles auf dieser für das Kinderherz so unendlichen Heide, die an
den Türschwellen der Häuserzeile begann, in der wir wohnten, und wie eine Mee-
resfläche gegen die freien Wienerwaldberge anwogte; mit Baumgruppen und fanta-
stischem Schanzwerk als Inseln, durchzogen von geheimnisvollen Gräben, in de-
nen seltsames Unkraut wucherte und in üppiger Fülle Eidechsen, Kröten, Frösche,
weiter draußen sogar Feldmäuse und Wildhasen hausten. Diese Heide war für uns
Kinder die unermessliche Prärie, die Wüste Afrikas, der Tummelplatz asiatischer
Völker und, wenn der Regen über sie hinspülte, die Gefahren aller Art gebärende
See. Auf ihrer Einsamkeit gründeten wir die Republik der Kindheit, dichteten wir
im Spiele die Cooper- und Hofmannschen Wildwestgeschichten in gläubigst hin-
genommene Wirklichkeit um. ( . . . ) Zelte enstanden auf ihrem Boden und verbar-
gen abenteuerlüsterne Buben, die würdevoll als rote oder germanische Helden Kar-
toffelkraut und getrockneten Huflattich rauchten. Aus unserer Heide sogen wir die
ehrliche Wildheit, den Mut zur kühnen Tat. 2 8 4

An schönen Nachmittagen, wenn das Militär das Areal nicht mehr in An-
spruch nahm, verwandelte sich die Schmelz, wie Max Winter in einem 1913
veröffentlichten Feuilleton schreibt, in das größte Kaffeehaus Wiens. Ar-
beitslose lagerten um Gruben, in deren Mitte mit Wachstüchern gedeckte
Ziegelstöße Kartentische improvisierten, und spielten Tarock.
Da eine Spielergruppe, dort eine, hier wieder eine, wie übersät ist aber der grüne
Anger von Spielgruppen nach 6 Uhr, nach Arbeitsschluß, wo auch die Glücklichen,
die Arbeit haben, angerückt kommen, das Stündchen bis zur Dämmerung der ab-
lenkenden Zerstreuung des Tarocks zu widmen und dabei einige Lungen voll der
frischen Luft zu atmen, die vom Wiental von den Bergen im Westen und Süden zu-
getragen wird. 2 8 5

148
Die Schmelz war der bevorzugte Rendezvous-Ort für Jungverliebte, hier
ließ man Drachen steigen und hier übte sich die zwölf- bis achtzehnjährige
männliche Jugend mit größter Begeisterung in jenem neuartigen, aus Eng-
land importierten Spiel, das im Begriff stand, sich zu einem Massenspekta-
kel von einzigartiger Beliebtheit zu entwickeln und das, so Winter, die Wie-
nerjugend völlig erobert hatte: das Fußballspiel.
Erholungsraum und Luftreservoir einerseits, steht die Schmelz zum an-
deren aber auch synonym für einen Ort der sozialen Devianz und der ab-
gründigen, rauhen Seiten der Vorstadt. Zur Behauptung ihres jeweils genau
eingegrenzten und strikt definierten Territoriums organisierten sich die Stra-
ßenkinder aus den angrenzenden Gassen zu »Platten«, deren häufige und
heftige Auseinandersetzungen hin und wieder zu förmlichen Bandenkrie-
gen gerieten. Petzold erinnert sich an diese Straßenkinder als »verwahrlo-
ste junge Taugenichtse«, die kein wie auch immer geartetes Eindringen ei-
nes Außenstehenden in ihr Revier zu dulden gewillt waren: »Wehe, wenn
sie einen von uns fingen! Sie nahmen ihm alles, was er auf dem Leibe trug,
und führten die größten Scheußlichkeiten mit ihm auf.«286 Nach Einbruch
der Dunkelheit aber nahmen deren erwachsene Vorbilder von der unbe-
leuchteten Schmelz Besitz: die berüchtigten und gefürchteten, häufig aber
auch bewunderten und zur Identifikation einladenden Pülcher, Strizzis und
Plattenbrüder aus Fünfhaus, Sechshaus und Neulerchenfeld.
Die Schmelz als vielfältig codierter und genutzter Ort der Rekreation
und des Freizeitvergnügens, der Militärparaden und Truppenübungen, als
romantisierter Spiel- und Tummelplatz der Vorstadtjugend und als Ort des
Verbrechens hat sich bis in 1960er Jahre als Mythos festgeschriebenen, wie
nachstehendes Zitat von Siegfried Weyr demonstriert, in dem er die Situa-
tion um 1900 thematisiert:

Am Abend kamen nach zehn-, nach elfstündigem Arbeitstag die erschöpften Ar-
beiter und sanken auf das dürftige Gras. Tagsüber trieben sich die Horden ihrer
bloßfüssigen Kinder zwischen den emsig exerzierenden Kompanien herum, bade-
ten im Schmutzwasser des »Fixlteiches«, dem Übungsplatz der technischen Trup-
pen ( . . . ) . Die »Berittenen«, die Polizei zu Pferde, ganz schwarz mit Silber, silber-
funkelnden Lackhelmen am Kopf, waren stets auf der Jagd nach diesen Schändern
des heiligen Ärars, die sich in »Platten« organisierten wie die Erwachsenen. Die >Fün-
ferln< und die »Lercherln«, die Buben aus Fünfhaus und Neu-Lerchenfeld, herrschten
über die Schmelz. ( . . . )
Sank sanfter Frühlings-, wohltätiger Sommer-, schöner Herbstabend, konnte
man auf der Schmelz oft die wehmütigen Klänge der Mundharmoniken vernehmen,

149
die dunkle, nicht deutlich auszunehmende Gestalten bliesen. Glühende Zigaretten
punktierten die Gruppen, bis die Nacht kam. War's Neumond ohne Stern, floh al-
les rechtzeitig, denn dann regierten auf der unbeleuchteten Schmelz die »Platten«.
Die fürchterlichen Verbrecherbanden aus den umliegenden Bezirken. Sie haben die
Schmelz zu einem wahren Sodom und Gomorrha gemacht. Nie hat sich ein Wach-
mann allein zur Nachtzeit auf die Schmelz wagen können, nur in Patrouillen gin-
gen sie. Die Polizeirapporte der achtziger, neunziger Jahre haben oft schauerliche
Berichte enthalten, die alles in den Schatten stellten, was man in Kriminalromanen
lesen, auf der Flimmerleinwand der Verbrecherfilme je hat sehen können. 2 8 7

Mag man in den Beschreibungen Weyrs eine gewisse Mystifizierung und


Romantisierung sehen, so ist dennoch die Existenz dieser oft, wenn auch
nicht ausschließlich jugendlichen Banden, der »Platten«, um 1900 eindeu-
tig verbürgt. Diese Platten kann man als einen frühen Ausdruck der devi-
anten Jugendkulturen der Industriegesellschaft interpretieren. Sie entstan-
den aus den lebensweltlichen Defiziten der proletarischen Vorstadt, oder,
wie U. Tartaruga (Pseudonym für den Wiener Polizeioffizier Edmund Otto
Ehrenfreund) formuliert: »Die Eltern sind in den äußeren Bezirken viel-
fach gezwungen, ihre Kinder sich selbst zu überlassen, und so führt sie Hun-
ger und schlechte Gesellschaft frühzeitig auf Abwege.«288 Eine ebenfalls von
Tartaruga zitierte Studie des Favoritener Bezirksschulrates ergab allein für
das Jahr 1904 255 polizeiliche Anzeigen gegen Mitglieder solcher Jugend-
banden, darunter 96 wegen Diebstahls und 37 wegen boshafter Beschädi-
gung fremden Eigentums - Resultate, »die jedermann mit Grauen erfüllen
müssen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie nicht nur für Favoriten
gelten, sondern auch ein erschreckendes Streiflicht auf die wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse der anderen Arbeiterbezirke werfen«.289 Noch im
Pflichtschulalter schlossen sich die Jugendlichen zu Banden zusammen, be-
gannen mit dem Zigaretten- und Alkoholkonsum, wie sie überhaupt »an
der Vergnügungen der Größeren« teilnahmen, ihren Unterschlupf in »Kaf-
feetschecherln« fanden, dem Kartenspiel frönten und ihren Lebensunter-
halt durch Bettelei und Gelegenheitsdiebstähle verdingten. Insbesondere die
»Kastelspritzer« und »Fetzer-Platten« (Aushang- und Auslagendiebe) re-
krutierten sich häufig aus schulpflichtigen Minderjährigen, während die so-
genannten »Randal-Platten« sich aus dem Schulalter entwachsenen Halb-
wüchsigen zusammensetzten und ihre Aktionen weniger gegen das private
Eigentum als gegen die Sicherheit von Personen richteten. In späteren Jah-
ren trat die Zuhälterei dazu. Gleichwohl bilden die Jugendbanden - wie der
zeitgenössischen Presse zu entnehmen ist - nur ein, wenn auch auffallen-

150
des Segment des Plattenunwesens, das in seiner Gesamtheit ein wesentlich
allgemeineres Phänomen darstellte. Denn viele Platten rekrutierten sich ih-
rer sozialen Zusammensetzung nach nicht mehr bloß aus Jugendlichen, son-
dern aus bereits Erwachsenen, von denen viele Hilfs- und Gelegenheitsar-
beiter, Kutscher, Deserteure oder aus dem Militärdienst Entlassene waren.
Um die Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts jedenfalls wur-
de das Plattenunwesen öffentlich virulent und schien sich mehr und mehr
dem polizeilichen Zugriff und der Disziplinierung durch die Justizbehör-
den zu entziehen.290 Das Illustrierte Wiener Extrablatt widmete der Pro-
blematik eine aufsehenerregende Artikelserie, die sich von Juni bis Septem-
ber des Jahres 1905 erstreckte, zog Parallelen zu den Londoner »Hooligans«,
den Pariser »Apachen« und der Triestiner »Mularia« und kam zu der dra-
matischen, wenngleich auch offensichtlich übertriebenen und durch die bei-
gebrachten empirischen Befunde nicht belegbaren Schlußfolgerung, daß in
Paris (ebenso wie in London, Berlin, Rom, Madrid, Budapest und Prag)
durch diese Banden in zwei Monaten nicht so viele Verbrechen begangen
worden seien als in Wien in nur zwei Nächten.291 Wie auch immer - das
Problem krimineller Bandenbildung war offensichtlich geworden, wurde
durch die Sensations- und Boulevardpresse in den öffentlichen Diskurs ein-
geführt und konfrontierte eine verschreckte und verängstigte Bürgerschaft
mit den abgründigen, devianten und gewaltbesetzten Aspekten vorstädti-
schen Lebens.
Ihre unmittelbaren Vorläufer hatten die Platten in den im Wienerischen
so bezeichneten »Galerien« der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahr-
hunderts gefunden, die auf organisierte Zuhälterei, Taschendiebstahl und
Erpressung spezialisiert waren und sich nicht selten, wie etwa im Fall der
berüchtigten Leopoldstädter »Koreisl-Galerie«, aus Halbwüchsigen und
Minderjährigen zusammensetzten. »Rohe und gewalttätige Gesellen«, im
Bezirk gefürchtete »Gasthausexzedenten«, die, laut Staatsanwaltschaft,
»Kühnheit« und »stete Kampfbereitschaft mit dem Messer« auszeichnete
und deren »Rohheit« aus der »Freude, anderen Unangenehmes zu tun und
Schaden zuzufügen« entsprang,292 folgten die Platten in ihrer inneren Or-
ganisation einer strikten, sozialdarwinistischen Prinzipien folgenden Hier-
archisierung. Demnach leitet sich auch die jeweilige Bezeichnung der Ban-
den in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle vom Namen ihres Anführeres
oder ihrer Anführerin ab, wie etwa im Fall der »G'stutzten Mirzl-Platte«
(nach der knapp zwanzigjährigen Hehlerin Marie Herold, deren laut zeit-
genössischen Berichten »derbe Gesichtszüge« durch kurzgeschorenes Haar
unterstrichen waren), der Brigittenauer »Holumek-Platte«, der Ottakrin-
ger »Brosch-Platte«, der im Bereich des Währinger Gürtels agierenden »Pu-
stak-Platte«, der Lichtentaler »Steinhauer-Platte« oder der ebenfalls aus dem
Lichtental stammenden und nach einem als arbeitslos gemeldeten Kurpfu-
scher benannten »Wunderdoktor-Platte«. Nur in Ausnahmefällen wurde die
Namensgebung von geographischen oder sozialen Kriterien bestimmt, so
beispielsweise bei der Brigittenauer »Capskutscher-Platte«, der Hernalser
»Flohberger-Platte«, der Landstraßer »Fasan-Platte« (aufgeteilt in eine »jun-
ge Platte« aus der Umgebung des Paulusparks, und eine »alte Platte«, die
auch nach ihrem Anführer, dem Viehtreiber Pauli oder nach der zeitweili-
gen Beschäftigung eines Großteils ihrer Mitglieder als »Markthelfer-Plat-
te« bezeichnet wurde) und schließlich der legendären Neulerchenfelder
»Richard Wagner-Platte«, deren Mitglieder sich ausschließlich aus der en-
geren Umgebung des gleichnamigen Platzes rekrutierten.
Was >anständige<, >gutbürgerliche< Zeitgenossen allerdings in Schrecken
und in Aufregung versetzte, war weniger die bloße Existenz solcher meist
aus zehn bis fünfundzwanzig Mitgliedern bestehenden Banden, sondern
deren um die Jahrhundertwende deutlich fühlbar gewordene, rapide Vermeh-
rung sowie deren Eindringen in Territorien und Gebiete, die bislang von
derartigen Formen organisierter Kleinkriminalität verschont geblieben wa-
ren. Man habe sich, so hieß es in Zuschriften an die Zeitung Extrablatt, auf
dem Laaerberg, dem Draschefeld oder in der Umgebung der Schmelz an
»kaum glaubliche und jeder Beschreibung spottende« Zustände gewöhnt,
nunmehr aber sei etwa die einst so prachtvolle Praterstraße jeden Abend
voll von Plattenbrüdern, Prostituierten und deren Zuhältern. Ebenso herrsch-
ten neuerdings auf dem Mariahilfer Gürtel »Zustände, deren Einzelheiten
sich der Veröffentlichung entziehen«.293
Wie immer es um den realen Gehalt solcher und einer Fülle ähnlicher
Zuschriften bestellt sein möchte, Plattenwesen, Zuhälterei und Prostituti-
on waren jedenfalls eng ineinander verwoben, und dies hatte eine lange Tra-
dition. Der k.k. Polizeiärztliche Functionär Dr. Josef Schrank datiert das
Aufkommen eines quantitativ bedeutenden und effizienten Zuhältertums
in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, also in eine Zeit des gärenden,
vorrevolutionären sozialen Protestes. Die Strizzis - auch Strich-, Kappel-
oder Hackerbuben, Strawanzer, Strotter oder, nach einem in den untersten
Volksschichten Wiens* gebräuchlichen Ausdruck für Prostituierte, »Kramel-
treiber« genannt - waren meist junge Burschen, die sich durch Frechheit,
Verwegenheit und Gewalttätigkeit sowie durch ein charakteristisches, bei-

152
nahe genormtes Äußeres auszeichneten. Als Kopfbedeckung trugen sie die
typische Kappe mit aufgebogenem Schirm, das Haar mit Schweinefett und
Zuckerwasser glattgekämmt und in Form gebracht, an beiden Schläfen
»mächtige Locken«, auffallend gesteifte Krawatten, im Winter einen Pelz,
im Sommer die »zeugene Jacke«.

Wenn der Abend dunkelte, so waren sämmtliche Alleen des Glacis, die Ufer des
schmutzigen, trüben Wienflusses, der Prater, die Brigittenau, der Strand der D o -
nau, der Stadtgraben und die abgelegenen Winkel der Vorstädte mit diesem Ungezie-
fer förmlich bedeckt; ihnen folgten die Schwärme der gemeinsten Hetären, welche
oft nur die Vorübergehenden lockten, um sie dann von einer Bande Strichbuben
ausplündern zu lassen. 294

Die Prostitution bildete die Haupteinkommensquelle der Strizzis, aufge-


bessert durch Diebstähle und kleinere Raubüberfälle, ausgeführt im Verein
und in Zusammenarbeit mit den Prostituierten, zu denen sie üblicherweise
intime Beziehungen unterhielten - Verhaltensmuster, die bis in die Zeit der
Jahrhundertwende im wesentlichen unverändert blieben, nur wurde nun-
mehr die Zuhälterei zunehmend im organisierten Verband der Platte aus-
geübt. Die Prostituierten selbst, und auch dies sollte sich im Verlauf der
Jahrzehnte nicht wesentlich ändern, nahmen üblicherweise im Alter von
zwölf bis fünfzehn Jahren ihr Gewerbe auf. Allabendlich, so Josef Schrank,
traten sie »aus den dunklen fernen Regionen« der Vorstädte »in die gasum-
strahlten Räume der Stadt«.295 Mit ihnen kamen die Strizzis und Platten-
brüder, dieserart jene räumlichen und sozialen Grenzen überschreitend, die
eine symbolische Ordnung zwischen Zentrum und Vorstadt gezogen hat.
Die erwähnte Artikelserie im Illustrierten Extrablatt ist denn auch voll von
Berichten über Innenstadtwirte, Cafetiers oder Marqueure, die durch de-
ren Aktionen und Exzesse geschäftlich schwer in Mitleidenschaft gezogen
oder überhaupt zur Aufgabe ihres Berufs gezwungen worden waren.
Berühmt-berüchtigt wurde der sog. »Pflanzmurrer«. Zwei oder mehre-
re Plattenbrüder begannen nach ausgiebiger Konsumation und zu einer Zeit,
in der das jeweilige Lokal den stärksten Besuch aufwies, einen Scheinstreit,
der schnell das Personal und die übrigen Gäste miteinbezog. Diesen insze-
nierten Krawall und die allgemeine Konfusion machten sich die restlichen
Bandenmitglieder zunutze, um die Einrichtung des Lokals zu zertrümmern
und rechtzeitig vor dem Eintreffen der Polizei das Weite zu suchen. In der
Folge kam es zu Schutzgelderpressungen, und die betroffenen Wirte sahen
aus Angst vor weiteren Vorfällen üblicherweise von Anzeigen ab. Oft aber

153
bedurfte es nicht einmal mehr des inszenierten Wirbels, und es genügte
wie im Fall der wohl prominentesten und spektakulärsten Platte ihrer Zeitf
der Leopoldstädter Beer-Platte - deren martialisch-machistisches Auftreten^
ihre bloße Präsenz, um die Wirte zu Abstandszahlungen und freier Zecht
für die »Plattinger« zu veranlassen.

Einer von ihnen zog sein Taschenmesser hervor und zerschnitt mit demselben dit
Tapeten in dem Kaffeehause. Dann stieß er die Klinge seines Messers in die Mauer,
so daß der Stahl zwischen zwei Ziegelsteinen stecken blieb, und auf dem improvi«
sierten Kleiderhaken hängte er Hut und Überzieher auf. Die Gäste ergriffen dia
Flucht und der Cafetier hatte einen beträchtlichen Schaden. 296

Wurde ein Plattenmitglied von der Polizei aber aufgegriffen und verhaftet,
so wurden üblicherweise Wut- und Tobsuchtsanfälle simuliert, mit dem Ziel,
nicht in das Polizeigefangenenhaus, sondern in die Irrenanstalt am Stein-
hof eingeliefert zu werden, wo sich vielfältigere und ungleich bessere Flucht-
möglichkeiten eröffneten. Wie überhaupt den Pülchern und Strizzis ein
durchaus geschickter, in Teilen ebenso ironisierender wie distanziert-reni-
tenter Umgang mit staatlichen Obrigkeiten zugeschrieben wird. Dies schloß
eine gewisse Kenntnis der jeweiligen Gesetzeslage durchaus mit ein. So wur-
den immer wieder Übertretungen der Schankkonzession durch bestimmte
Wirte zu kleineren Erpressungen genützt; als Fluchtorte dienten ihnen häu-
fig Obdachlosenasyle, wo die Polizei keine Hausdurchsuchungen vorneh-
men durfte, oder auch die weitverzweigten Kanalschächte des unterirdischen
Wien, wo sie sich der polizeilichen Verfolgung leicht entziehen konnten.
Neben Zuhälterei, Schutzgelderpressung und Zechprellerei waren die
diversen Platten auf verschiedene Formen der Kleinkriminalität wie Dieb-
stahl, Falschspielerei, Raufhändel, Messerstechereien etc. spezialisiert. Ihre
eigentliche Intention aber scheint die »Verbreitung von Angst und Schrek-
ken<, die Inszenierung von Wirbel und Krawall gewesen zu sein. So verschie-
den die einzelnen Platten in ihrer Urbanen Lokalisierung und der Territo-
rialisierung verschiedener Stadtteile agierten, so sind ihnen doch bestimmte
Merkmale gemeinsam: Im offensichtlichen Bestreben, dem Druck schlecht
bezahlter Lohnarbeit zu entgehen, versuchten sie, ein über die Existenzsi-
cherung hinausgehendes Auskommen durch Kleinkriminalität und vor al-
lem Zuhälterei zu sichern und einen bürgerlichen Lebensstil zu kopieren,
was den typischen Strizzis und Pülchern nicht selten zu einer Karikatur der
Insignien eines ersehnten Luxuslebens geriet (goldene Uhr und Kette, prot-
zige Brillantringe, aufwendiges und exzessives Konsumverhalten). »Viele von

154
ihnen sind elegant gekleidet, fahren häufig im Fiaker und besuchen die
Rennplätze, wo sie ebenfalls Gaunereien verschiedenster Art verüben. Von
Arbeit ist bei diesen Leuten niemals die Rede.«297 So sehr sich auch diese
Banden als Gegenwelt definierten, so sehr kopierten sie in ihrer inneren,
streng hierarchischen Organisation die bürgerliche Ordnung. Nichtsdesto-
weniger suchten sie in ihrem öffentlichen Auftreten diese Ordnung durch
Randale, Skandale und Exzesse zu stören. Ihre bevorzugten Orte waren
Gasthäuser, Vergnügungsstätten und Kaffeehäuser.

Sie verbreiten Angst und Schrecken unter Gastwirthen, Cafetiers und deren Ange-
stellten, verüben Erpressungen und Gewaltthaten. Sie zechen in den Kaffeehäusern
und weigern sich dann, die Zeche zu bezahlen, trotzdem sie Geld haben, denn der
Scandal bereitet ihnen Vergnügen. Nicht immer sind sie Zechpreller. Es kommt auch
vor, daß sie im Voraus zahlen, wenn ein Cafetier ihnen die Verabreichung von Ge-
tränken verweigert. Dann aber werfen sie mit Gläsern und Flaschen herum, bedro-
hen die anderen Gäste, nur um einen Exzeß zu provociren. 2 9 8

In dieser kollektiven Umsetzung von Randale, Krawall und Exzeß als Ver-
gnügen und Gruppenziel kommt ein Mehrfaches zum Ausdruck: zum ei-
nen der Versuch, dem Elend der Vorstadt durch eine Ökonomie der Klein-
kriminalität zu entgehen, zum anderen die symbolische Ordnung der Stadt
- nämlich die Trennung von Peripherie und Zentrum - in ihr Gegenteil zu
verkehren. Dabei geht es nicht nur um die Verletzung öffentlicher Ord-
nung, sondern auch um die Aneignung von Raum und Territorien. So wird
gleichsam eine >Stadt in der Stadt< geschaffen, die durch ein eigenes, quasi
autonomes Normen- und Regelsystem definiert wird. Darin artikuliert sich
das Einzige, was die Strizzis und Kleinkriminellen der Macht des Zentrums,
der rationalen Verschriftlichung und Verregelung der Stadt entgegenzuset-
zen haben: der kollektive Einsatz von körperlicher Gewalt und die lustvol-
le Verhöhnung der herrschenden Ordnung als eigentliche Urabstimmung
der >entern Gründ<. Dennoch erleichtert gerade diese Öffentlichkeit des
Protestes ihre polizeiliche Verfolgung. Die scheinbare Ziellosigkeit und Ir-
rationalität dieses Verhaltens verweist letztlich auf einen spontanen Indivi-
dualhedonismus und eine populäre Präsenz, der jedoch die politische Di-
mension fehlt. Diese populäre Präsenz der Platten kam nicht von ungefähr,
denn sie basierte auf einer traditionell verwurzelten und überlieferten Sym-
pathie der kleinen Leute für außerhalb des Gesetzes stehende Banden, Räu-
ber und Freibeuter, die ihre Devianz als Protest gegen die jeweils Herrschen-
den inszenierten bzw. deren Protest so entziffert werden konnte. Auf diese

155
populäre Tradition, die gleichsam Strizzis und Plattenbrüder in den roman-
tischen Rang von Stadt-Piraten und Grätzl-Freibeutern erhob, verweist TSu>
taruga, wenn er über das offensichtlich aus dem Boden schießende Platten-
unwesen schreibt:
Dieser Sammelname, unter welchen man, ganz unrichtig, alles Diebsgesindel, sämt-
liche Raufbolde, Bettler, Gewalttäter, Einbrecher usw. subsumirte, drang in das Pu-
blikum, wurde von der Bühne und vom Brettel herabgesprochen und -gesungen,
stand auf Ansichtskarten und wurde, kurz gesagt, populär. 299

Turl Wiener etwa, der beliebte und weithin bekannte Volkssänger und >Ge-
sangskomiker<, reüssierte im September 1905, also zu einem Zeitpunkt, da
die Boulevardpresse in eine regelrechte Platten-Hysterie verfallen war, mit
seinem Plattenbruder-Programm im Rudolfsheimer Colosseum. Er erntete
hymnische Kritiken und allabendlich wahre Publikumsovationen. Mit der
Stilisierung eines »echten vorortlichen Strizzis«, so das Extrablatt, sei es Turl
Wiener gelungen, eine lebensvolle Wiener Figur auf die Bühne zu stellen.
Das »freche G'schau«, der eigentümlich schlendernde Gang und das frech-
pfiffige Auftreten in Verbindung mit einem Text, der das Plattenleben in
köstlicher Weise parodiere, seien die Hauptingredienzien eines stürmischen
Publikumserfolges in einer Stadt, die wie keine andere reich an drastischen
und charakteristischen Typen sei.300
Auf diese Art und Weise wird der »Wiener Strizzi< als Inbegriff des Plat-
tenbruders zu einer öffentlichen Figur, die weniger etwas über ihn selbst
aussagt als über die Sehnsucht der Deklassierten, sich gegen die herrschen-
de Ordnung und gegen unmenschliche Lebensbedingungen aufzulehnen.
Er wird sozusagen zum Stellvertreter eines konstant gärenden kollektiven
Protestes, der sich dadurch vorpolitisch und auf die Popularkultur proji-
ziert entlädt.
Wie in keinem anderen Fall - abgesehen vielleicht vom Ottakringer
»Volkstribun« Franz Schuhmeier - konzentrierten sich Hoffnungen und
Sehnsüchte, latente Rebellion und Renitenz, Sozialromantik und Projek-
tionen eines anderen, besseren und gerechteren Lebens der vorstädtischen
Elendsbevölkerung in der Person des Schränkers, »Eisenschlitzers« und Ein-
brechers Johann »Schani« Breitwieser, »König von Meidling« und »Robin
Hood von Wien«. Er galt dieser Bevölkerung als »ein Guter, ein Gerechter,
ein Held«, und Egon Erwin Kisch sah in ihm, in einem bewegten Nachruf,
einen »Mann der Tat, des Mutes, des Ernstes und der Intelligenz«.301 Breit-
wieser wurde am 1. April 1919 im nordwestlich von Wien gelegenen Markt-

156
flecken St. Andrä-Wördern in einem Haus, das er erst kurze Zeit davor über
einen Mittelsmann und unter falschem Namen erworben hatte und das er
zusammen mit seiner siebzehnjährigen Geliebten Anna Maxian bewohnte,
von der Polizei erschossen.102 Sein Begräbnis am Meidlinger Friedhof gestal-
tete sich zu einer wohl einzigartigen, demonstrativen Manifestation der Vor-
stadt. Eine unübersehbare Menschenmenge folgte dem Sarg (nach zeitge-
nössischen Schätzungen sollen es zwischen 20000 und 40000 gewesen sein),
das Grab versank in einem Meer von Blumen und Kränzen, den Trauercho-
ral sang ein Quartett der Hofoper.303 Noch Jahre danach war seine letzte
Ruhestätte permanent mit frischem Blumenschmuck übersät, und alljähr-
lich am Allerheiligentag war es den hinterbliebenen Angehörigen nicht mög-
lich, an das Grab, das von einer dichten Menschenmauer umgeben war und
um das herum Hunderte von Kerzen brannten, auch nur heranzukommen.
Als die Polizei nach ihrem Einsatz eine Hausdurchsuchung in Breitwie-
sers Anwesen vornahm, förderte sie Bemerkenswertes zutage. Im fenster-
losen Kellergeschoß stieß man auf ein vollkommen ausgestattetes Labora-
torium moderner Technologie. Fünf mächtige Kassenschränke dienten der
wissenschaftlichen Versuchsarbeit ebenso wie diverse Stahl- und Eisensor-
ten zur Materialprüfung; ein zur Gänze aufmontierter und gebrauchsberei-
ter autogener Schweißapparat für eine Hitzeentwicklung von bis zu 3600
Grad fand sich neben einer zwei Meter hohen Flasche mit 5000 Litern kom-
primierten Sauerstoffs. Maschinen, Drehbänke, eine Feldschmiede ergänz-
ten die Einrichtung ebenso wie in transportablen Schränken sortierte Fei-
len, Dietriche, Brecheisen, Bohrer für den Handbetrieb mit Schwachstrom,
das meiste davon aus eigener Fabrikation; daneben die handschriftlichen,
akribisch ausgeführten Aufzeichnungen Breitwiesers über seine Versuche
und eine durchaus auf der Höhe ihrer Zeit stehende technische Bibliothek.304
Eine Vielzahl von populären Mythen und volkstümlichen Legenden rankt
sich um die Person Breitwiesers, eines konsequenten Modernisierers und
Technik-Fanatikers, der sein Gewerbe revolutionierte und zugleich im
durchaus prämodernen Stil eines >Sozialrebellen< zu agieren verstand. Nie-
dergeschrieben hat sie, zwei Jahre nach Breitwiesers Tod, der Wiener Jour-
nalist und Herausgeber der »Internationalen Justiz- und Kriminalzeitung
Tribunal« Hermann Kraszna.305 Schani Breitwieser wurde als sechstes von
insgesamt 16 Kindern einer »verflucht-armen, hundearmen« Familie 1891
in Wen Meidling, Breitenfurterstraße 13, geboren - der Vater Schusterge-
hilfe, die Mutter Heimarbeiterin und Wäscherin, die trotz ihrer dauerhaf-
ten Schwangerschaften »geduldig wie ein Lastpferd« weiterarbeitete. Als

157
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Dauernde, besonders auffeilende Kennzeichen.


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IV. (Auf iter Brut)

II. (auf rochier H»n.l) / • /

V. (nur dem ROckent /

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B I L D 16
Der Verbrecher als Dandy, Polizeifoto Johann Breitwieser
Bildnachweis: Wiener Kriminalmuseum

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(Falz) (Tia.)

Die Abdrucke tied ee bcrmlellen, liait die IctiU G*ltnk«lw>ttt« unmittelbar Ohcr ilcr fMien eehwanea Unto to liepn keauaU
Iii «in Alnlruck nicht gelungen, k Ut Aber demselben ein neuer Abdruck tu machen.
Du» Falikii. die BefdiAdifunf odtr D«t<>rnuiUon rini-« hingen, wrkhr die Anfertifuiiy t inoa Abdruckes ftbertuuipt oder tiiira p l e n
Abdrucket retWndert. isl uttler . A u a a r k u i f ' to rewlchnen.

Unke Hand.

159
Schani mit knapp 15 Jahren zum erstenmal vor Gericht stand, berichtete
sein damaliger Verteidiger von den Lebensumständen und Wohnverhältnis-
sen der Familie, die im Laufe eines Jahrzehnts viermal zur Ubersiedlung
gezwungen und in immer kleineren Behausungen ihr Auslangen zu finden
genötigt war, dabei immer mehr an die Peripherie und in immer größere
Nähe zum berüchtigten Gatterhölzl hinter dem Meidlinger Tivoli gedrängt
wurde. Ein einziges Fenster beleuchtete eine »nackte, flügellahme Armut«,
die Einrichtung bestand aus einem einzigen Bett, Strohsäcken, einem al-
ten, ausgebrochenen Schubladekasten, einigen Schüsseln und Tellern auf ei-
nem blechernen Ofen und einigen morschen Kisten. Im Bett schliefen die
Eltern und vier von den Kindern, die übrigen auf den Strohsäcken, Schani
selbst in einem schwarzen Koffer, der die »Familienlumpen« enthielt, ein
weiterer Bruder im Waschtrog und das Kleinste im Wäschekorb. Seinen
wöchentlichen Durchschnittsverdienst von drei Gulden besserte der Vater
durch Gelegenheitsarbeiten am Meidlinger Friedhof auf; er durfte dafür an
den unbesetzten Stellen des Friedhofs Erdäpfel anbauen, die Hauptnah-
rungsquelle der Familie. Zwischen den Gräbern und Grüften spielten und
tollten die Breitwieserschen Kinder, seit ihren jüngsten Jahren einer zen-
tralen zivilisatorischen Schranke, der Scheu und dem Respekt vor dem Tod,
entwöhnt. Er habe, so der Anwalt abschließend, als er in die reinlichen und
vornehmen Quartiere der Inneren Stadt zurückkehrte, deutlich wie nie zu-
vor in seinem Leben die Scheidung und Spaltung der Großstadt in zwei völ-
lig disparate Welten fühlen können.306
Schani galt als begabtes und hochintelligentes Kind, das sich durch außer-
gewöhnliche körperliche Geschicklichkeit auszeichnete und durch diverse,
beinahe akrobatische Kunststücke, die er in den Gassen der jeweiligen Nach-
barschaft zur Aufführung brachte, der Familie bereits als Vierjähriger ein
paar Kreuzer dazuverdiente. Frühzeitig zeigten sich aber auch sein Hang
zum Despotismus, seine Mißachtung jeglicher Autorität, seine Neigung zu
Wutausbrüchen und sein Einfordern unbedingten Gehorsams. Er wuchs als
typisches Straßenkind auf, mehr >Wilder als Wener<, und der abgerissene,
bloßfüßige Bub blieb nächtelang der elterlichen Behausung fern - niemand
wußte, wo er sich herumtrieb und es kümmerte auch niemand. Ihr »Bua«, so
wird Mutter Breitwieser zitiert, sei wohl »verdurbn wia die Wurscht beim
Greisler Bacherl«.307 Diese Nächte verbrachte Schani mit Vorliebe im Gatter-
hölzl (im Volksmund Räuberhölzl genannt), einem kleinen Wald am äußer-
sten Rand Meidlings, der einst diversem »lichtscheuen Gesindel« als Rück-
zugsgebiet gedient hatte und über den nach wie vor die aufsehenerregendsten

160
B I L D 17
Der Verbrecher als Sozialrebell, Polizeifoto Johann Breitwieser
Bildnachweis: Wiener Kriminalmuseum

161
und absonderlichsten Gerüchte im Umlauf waren. Oder er trieb sich auf
dem Meidlinger Friedhof herum:

Im nahen alten Friedhof wußte er alle Namen, die Toten waren ebenso seine Be-
kannten wie die Lebenden. Er jagte zwischen den Hügeln umher, er staunte über
das Wunder des Todes, er konnte sich der Länge nach auf ein Grab legen, die Arme
ausbreitend, in den Himmel schauen und darauf schwören, daß nun der Tote sich
seine Augen leihe ( . . . ) . 3 0 8

Im Sommer, wenn das kaiserliche Schloß de facto nicht besetzt war, brach
er hin und wieder in Schönbrunn ein, um die Nacht in einem der verwai-
sten Prunkgemächer zu verbringen. Seine ungeteilte Liebe aber gehörte dem
Tiergarten, in dem er sich ungezählte Male nächtens einschließen ließ, um
die Verhaltensweisen vor allem der Bären und der Affen bis ins Detail zu
studieren. Als er in späteren Jahren von einem Polizeikommissar nach sei-
ner Schulbildung gefragt wurde, soll er folgende Antwort gegeben haben:
»A Äff war mei Lehrer und a Bär mei Professor.«309
Mit dreizehn Jahren war er in gewisser Hinsicht vollendet, mit allen
Aspekten menschlicher Existenz vertraut und er kannte Meidling, das er
gerne als sein Reich bezeichnete, besser als irgendwer sonst. Gegenüber der
polizeilichen Ordnungsmacht hatte er eine Art ironische Distanz, gegen-
über einer grenzenlosen Armut und einer sozialen Ordnung aber, die sol-
che Armut möglich machte und offenbar ruhig hinnahm, einen tiefen Haß
entwickelt.
Breitwieser tritt in eine Steinmetzlehre ein, die er nach kurzer Zeit we-
gen Differenzen mit dem Meister, der ihn zu ausbildungsfremden Arbei-
ten heranziehen will, abbricht. Konfrontiert mit dem Vorwurf seitens des
Meisters, ein »Lumpenbua« zu sein, aber auch unter dem Einfluß einer er-
sten großen Liebe, die ihm versprochen hatte, mit ihm »zu gehen«, sobald
er »schön angezogen« sei, begeht er seinen ersten größeren, noch folgen-
losen Diebstahl - er organisiert sich einen funkelnagelneuen Anzug. Als
Angeklagter vor Gericht erscheint er erstmals am 5. Februar 1906. Die An-
klage wirft ihm vor, in die versperrte Bodenabteilung des Ignaz Winter ein-
gedrungen zu sein, ein Paar Filzschuhe gestohlen und zwanzig weitere zum
Abtransport vorbereitet zu haben. Breitwieser bekennt sich schuldig und
beantwortet die richterliche Frage nach dem Motiv seiner Tat mit einem
knappen: »Aus Not.« Der Beweisantrag des Verteidigers, der auf einen
Lokalaugenschein in der Breitwieserschen Wohnung abzielt, wird abgelehnt,
und Schani zu einem Monat Kerker verurteilt.

162
B I L D 18
Der Verbrecher als Bourgeois,
Wohnzimmer der Breitwieserschen Villa in Sankt Andrä Wördern
Bildnachweis: Wiener Kriminalmuseum

Gelegenheitsarbeiten (bei einem Tierpräperator, als Markthelfer, als Hilfs-


arbeiter in einer Schirmfabrik etc.) wechseln in der Folge mit Gelegenheits-
diebstählen und weiteren Gefängnisaufenthalten ab; schließlich taucht er
vor Antritt einer sechsmonatigen Kerkerstrafe anfangs 1908 unter. Incog-
nito arbeitet er bei einem Fahrradbotendienst als »messenger boy« (im Wie-
nerischen zu »Messing-Bua« abgewandelt). Als eine Beziehung zu einer
Nobelprostituierten (gleich ihm vorstädtischer Herkunft und aus ähnlichem
sozialen Milieu) fehlschlägt, quittiert er auch diesen Dienst und beginnt
nunmehr - zunächst im organisierten Verband einer Platte, der »Bruder-
schaft der schwarzen Larven« - endgültig seine Karriere als Profi. Es ist dies
ein Leben, das ihn zwischen Einbruchsdiebstählen, Flucht und Gefängnis
pendeln läßt und ihn in den nächsten Jahren in den romantischen Rang
eines heldenhaften vorstädtischen Outlaws erheben sollte; eines, wie es der
Neue Tag formuliert, »Vorkämpfer(s) gegen die Gesellschaft, Freischaren-

163
führer(s) gegen den Staat, Enteigner(s) auf eigene Faust, Sieger(s) in eige-
ner Privatfehde«.310

Noch lief er im Zickzack den Weg, der auf die breite Straße des vollendeten Ge-
walttäters des Gesetzes führte, den der Volksmund aber in Anerkennung seines
Mutes, in der Bewunderung seiner Kühnheit, in Achtung der Redlichkeit gegen-
über seinesgleichen, wegen der Unbeugsamkeit seines festen Ja oder Nein und um
seiner Barmherzigkeit willen zum König der dunklen Gilde ausrief. 311

Breitwieser arbeitet in Wien und Umgebung professionell, prompt und rast-


los; eine Künstlernatur zweifellos, die ihren eigenen und unverwechselba-
ren Stil entwickelt hatte, jedoch auch brutal und in seiner Gefährlichkeit
unberechenbar, zugleich humorvoll, ironisch und von »ur-wienerischem Ge-
müt«.312 Und er beginnt, zunächst in seinem engeren geographischen und
sozialen Umfeld, später mehr und mehr flächendeckend über den gesam-
ten Bezirk Meidling, einen wenn auch jeweils geringen Anteil aus seinen
Beutezügen unter der Armutsbevölkerung verteilen zu lassen.
1912 hat er eine vierjährige schwere Kerkerhaft in der Strafanstalt Gar-
sten anzutreten. Entlassen am 16. März 1916, wird er in die Klosterneu-
burger Zwangsarbeitsanstalt überstellt. Er entzieht sich der Internierung
durch freiwillige Meldung zum Kriegsdienst, um bereits am ersten Tag zu
desertieren. Die letzten beiden Kriegsjahre und die folgende kurze Periode
sozialrevolutionärer Unrast sind seine eigentlich große Zeit, er wächst
gleichsam mit dem Wahnsinn dieser seiner Zeit. Als er ein weiteres Mal ge-
faßt wird, simuliert er bei seiner Verhaftung einen Tobsuchtsanfall und in
der Untersuchungshaft eine Stupor-Erkrankung derart perfekt, daß er der
Klinik Wagner-Jauregg zur Beobachtung übergeben und schließlich in die
Landesirrenanstalt am Steinhof eingeliefert wird. Wenig später, gegen Ende
des Jahres 1917, flieht er und beginnt mit einer Einbruchsserie großen Stils,
die sich nun nicht mehr (wie bisher) gegen Nobelvillen und Großbürger-
wohnungen in Ringstraßenpalais richtet, sondern beinahe ausschließlich
gegen Konzerne und Aktiengesellschaften. Seine Verbrechen bekamen, in
den Augen der Bevölkerung seines Bezirks und seiner Stadt, einen höhe-
ren Sinn; allgemein hieß es, er hebe Vermögen nur mehr für andere aus.
Breitwieser wuchs in die Rolle des sozialen Rebellen und Wohltäters, und
in der Vorstellungswelt einer durch die Kriegsentbehrungen ausgezehrten
und weiter verelendeten Bevölkerung verfestigte sich das Bild einer der kon-
kreten Realität entrückten Figur, eines symbolträchtigen Heros, der nur
stehle, um andere zu beschenken.

164
Nach und nach wurde Breitwieser so bekannt im Bezirk, daß ihn niemand mehr
verraten hätte. Ja, Breitwieser machte die Beobachtung, daß selbst manch einer der
Polizei sich blind stellte und ihn an sich vorbei ließ. Er genoß nunmehr den Ruf
eines hilfsbereiten Menschen, von dem alle möglichen Streiche erzählt wurden, und
sprach auch Recht im Kreise seiner Genossen, wenn unter ihnen Streitigkeiten aus-
brachen. Eine ganze Legendenbildung umgibt diese Zeit, und es ist nicht kontrol-
lierbar, was alles von dem, was erzählt wird, auf Wahrheit beruht. 3 1 3

Seinen letzten und spektakulärsten Coup landet er mit einem Einbruch in


die Hirtenberger Waffen- und Munitionsfabrik im Jänner 1919, bei dem er
einen Betrag von einer halben Million Goldkronen erbeuten sollte.314
Das subversive Potential dieser Kultur der Widersetzlichkeit repräsen-
tiert durch Strizzis und Vorstadtdesperados setzt sich aus mehreren Momen-
ten zusammen. Zum einen artikuliert sich darin ein Bündel von Haltungen
und Lebenseinstellungen, die auf das Fortlaufen des Feudal-Popularen im
Prozeß der Moderniserung verweisen. Zum anderen offenbart sich darin
eine Phase des gesellschaftlichen Übergangs und der Auflösung der alten
Ordnung bzw. Neuverhandlung von politischen und kulturellen Hegemo-
nien. Aus der vormärzlichen Demimonde, aus dem Heer der Stadtvagabun-
den, Standlosen, Vogelfreien und Marginalisierten ist nunmehr eine Gruppe
von polizeilich kontrollierten bzw. observierten und in diesem Sinne sicht-
und beschreibbaren Outlaws geworden. Für die Bürger und die Polizei sind
sie die Feinde der Zivilisation; für große Teile der verarmten Vorstadtbevöl-
kerung aber bilden sie eine Projektionsfolie für ihre Hoffnungen und Sehn-
süchte. Und wenn die Platten und Vorstadtbanden die Organisationskultur
der Moderne mit ihren Hierarchien und Arbeitsteilungen widerspiegeln, so
zitieren sie zugleich den Briganten- und Sozialrebellenmythos der Vormo-
derne samt den damit verknüpften Sehnsüchten nach sozialer Gerechtigkeit.
Sie sind ein Übergangsphänomen und schöpfen gleichermaßen aus feudal-
popularen Traditionen wie aus den Codes der Moderne. Am sinnfälligsten
verkörperte sich dies in Johann Breitwieser, dem Wiener Vorstadtkriminel-
len mit populärem Robin Hood-Charme und amerikanischem Know-how.
Die Kultur der Widersetzlichkeit artikuliert die Infragestellung der herr-
schenden Ordnung vielfach bloß als kriminelle Devianz. Damit kann sie
aber das Organisationspotential der Moderne nicht in politisches Handeln
umsetzen. Erst über mühevolle Lernprozesse, erst über die Erfahrung der
Straße als Ort von Politisierung und Politik, erst über Streik und Revolte,
kann sich dieses Potential in der Dialektik von Versuch und Irrtum zu ei-
ner Politik der Massen ausformen.

165
/

DIE R E V O L T E DER STRASSE

Eine vorstädtisch-proletarische Kultur der Widersetzlichkeit sollte keines-


falls als linearer und schematischer Ausdruck des Gegensatzes von Arbeit
und Kapital, von Ohnmacht und Macht, von Widerstand und Herrschaft
gesehen werden. Vielmehr ist vom ganzen Spektrum vorstädtischer Lebens-
welten auszugehen, in dem entstehendes »Klassenbewußtsein* mit Bewußt-
losigkeit, Renitenz mit Indifferenz, Moral mit Devianz, säkularisierende
Spiritualität mit anarchoider Diesseitigkeit und die Frechheit des Pülchers
mit ländlich-ängstlichem Konservativismus überlagert werden. Es äußert
sich darin Widerstand und Widersetzlichkeit als eine kontingente Forma-
tion ohne Zielbestimmung, die länger als angenommen Unzumutbarkeiten
hinzunehmen bereit ist und schneller als erwartet zu einem Strom mitrei-
ßender Gewalt werden kann. Die Formen des sozialen Protests und des
Aufstands, die aus einem so in sich widersprüchlichen Gemenge erwach-
sen, sind durch eben dieses präformiert. In diesem Sinn ist die Revolte zu-
gleich ihr Gegenteil. Sie ist das Stehenbleiben vor der organisierten Revo-
lution in der Anarchie des Aufstands und sie ist die verzweifelt schrille
Mündlichkeit vor der artikulierten politischen Rhetorik. Sie ist Wut und
Zerstörung, ohne die herrschende Ordnung aufheben zu können. Sie at-
tackiert die Totalität der Herrschaft und trifft doch nur deren individuelle
Repräsentanten. Sie kann vom scheinbar Geringsten ausgehen und mit dem
Geringsten enden. Ihre Akteure sind klassenbewußte Arbeiter ebenso wie
Pülcher und Strizzis, Frauen und Männer, Kinder und Alte. Als >Masse<,
die die Revolte trägt, läuft durch sie die Spaltung von Hoffnung und Ver-
zweiflung, Kalkül und Spontaneität, Mut und Zaghaftigkeit, Utopie und
Pessimismus, denn in jedem einzelnen ihrer Teilnehmer sind diese Spaltun-
gen als Mikrokosmos präsent. Ohne im gesamten Form und Strategie zu
haben, können nichtsdestoweniger einzelne Aktionen von hoher Präzision
und Planhaftigkeit sein.

166
Im Zusammenstoß der Revoltierenden und der Ordnungskräfte treffen
nicht nur physische Körper und Körperformationen aufeinander, sondern
unterschiedliche politische Konzeptionen des Urbanen Raumes, denn das
Aufbegehren zielt auf das Aufbrechen der symbolischen Ordnung in der
Stadt, währenddessen die staatliche Gewalt nicht nur die Straße räumen,
sondern die Distanz zwischen Zentrum und Peripherie aufrechterhalten will.
Die Angst der staatlichen Gewalt vor der Revolte bezieht sich nicht so sehr
auf die Eroberung vorstädtischen Terrains durch die >Masse<, sondern dar-
auf, daß ein solcherart geschaffenes Faktum geradewegs das Zentrum der
symbolischen Ordnung in Frage stellt. Dieser Umstand repräsentiert den
wahren Schrecken der Herrschenden, da die durch das Elend, die Herkunft
und die Hoffnungslosigkeit Vereinzelten in der Gemeinschaftserfahrung von
Verweigerung, Protest und Revolte sich als unterschiedslos Gleiche erleben
und damit den Anspruch auf soziale Gleichheit stellen könnten.
Streiks werden zu dieser Zeit zu einer beinahe alltäglichen Erscheinung
des (vor-) städtischen Lebens, sie stellen der Konkurrenzlogik des industri-
ellen Systems und des Urbanen Lebenszusammenhangs eine unmittelbar er-
fahrbare, gleichsam selbstbestimmte »politische Ökonomie* der Arbeit ge-
genüber und tragen somit immer auch Elemente des Aufruhrs und der
Revolte in sich. In der Weigerung weiterzuarbeiten, im Moment des Still-
stands werden die Streikenden zu Gleichen, wird ihre fiktive Gleichheit,
die sich aus der ihnen gemeinsamen manuellen Tätigkeit und der zwischen
den jeweiligen Qualifikationsstufen zwar gestaffelten, insgesamt jedoch
weitgehend angenäherten Entlohnung ableitet, zu einer realen, konkreten
Gleichheit: »Was sie nicht tun, teilt sich der gesamten Gesellschaft mit.«315
Der Arbeitsplatz selbst wird zum verbotenen Territorium, enthebt sich sei-
ner Alltäglichkeit, nimmt in seiner Stille und Leere sakrale Züge an, muß
geschützt und von Zuzug freigehalten werden. Solange die Streikenden als
Einheit von Gleichen agieren, die spontan gewachsene Organisation der Ar-
beitsverweigerung unversehrt ist, solange bleibt dieser eingeschriebene Sinn
erhalten, diszipliniert er aus sich heraus das gesamte Verhalten der Akteu-
re. Erst wenn die innere Organisation durch Streikbruch und ähnliche Maß-
nahmen von außen durchbrochen wird, gehen >Würde<, >Disziplin<, »Ach-
tung vor dem Gesetz< verloren, brechen sich >Wildheit<, >Zerstörungslust<
Bahn und münden in >Tumulte< und >Exzesse<.
Zu Ostern 1888 trat ein Großteil der Bediensteten der Wiener Tram-
way-Gesellschaft in den Ausstand. Am 4. November 1865 hatte der erste
Pferdetramway-Wagen die Strecke Dornbach-Schottenring durchfahren; drei

167
Jahre später waren die für den Personenverkehr wichtigsten Hauptstraßen
Wens beschient, die rentable Verkehrsanstalt wurde von einer privaten Ak-
tiengesellschaft erworben. Mitte der achtziger Jahre umfaßte das gesamte
städtische Schienennetz rund 60 Kilometer oder acht österreichische Post-
meilen, fast alle Strecken wurden, von unbedeutenden Ausnahmen (etwa
Straßenengen) abgesehen, zweigleisig geführt. Die Monopolisierung des Per-
sonentransportverkehrs durch zwei private Gesellschaften (neben der Tram-
way-Gesellschaft die Wiener General-Omnibus-Compagnie) hatte allerdings
eine mit der dynamischen Expansion der Vororte dringend anstehende An-
lage eines leistungsfähigen modernen Massentransportmittels mit entspre-
chender Tarifgestaltung verhindert.
Die hochprofitable Tramway-Gesellschaft hatte die Dienst-, Lohn- und
Arbeitsverhältnisse ihres zumeist aus Tschechen, Slowaken oder Polen be-
stehenden Personals in einem komplexen System von Überwachung, Diszi-
plinierung und Bestrafung festgelegt, niedergeschrieben in einem 45 Druck-
seiten umfassenden Dienstregulativ.316 Allerdings wurden die jeweiligen
Instruktionen und Statuten nur an eine verschwindende Minderheit des Per-
sonals ausgegeben, so daß eine der Hauptforderungen des Streiks von 1888
lautete, daß jeder Bedienstete eine gedruckte Dienstordnung zu erhalten
habe, »welche alle Bestimmungen über Arbeitszeit, Lohn und ganz genau
auch die Fälle und die Höhe der Strafen enthält, soweit solche überhaupt
notwendig sind«.317
In jedem Fall aber bedeutete die auf Zwang, Pönalen und permanente
Lohnreduktion abzielende Gestaltung des Arbeitsverhältnisses durch die Ge-
sellschaft tiefgehende Eingriffe in das traditionelle und althergebrachte
Normen- und Wertesystem ihrer Belegschaft, das sich um ehrbare Arbeit und
hinreichende Nahrung, herkömmliche Rechte, geschlossenen Arbeitsvoll-
zug und die Aufrechterhaltung von Selbstbestimmung und Autonomie in
bestimmten Bereichen des Arbeitsablaufs zentrierte. Kooperator Eichhorn
hat 1885 eine detailliert recherchierte Broschüre zu den Arbeitsverhältnissen
und Daseinsbedingungen der »Weißen Tramwaysklaven« veröffentlicht, in
der er immer wieder Analogien zur Rigorosität mittelalterlicher Ordensre-
geln und der Strenge moderner militärischer Disziplinarvorschriften zieht:
Solche körperlichen Strapazen und Entbehrungen, wie sie die Tramway-Gesellschaft
ihren Bediensteten zur Pflicht macht, legte auch der strengste Orden des Mittelal-
ters seinen Angehörigen nicht auf. ( . . . ) Ich kenne das Kloster-, wie das Kasernen-
leben und setze hinzu: Gegenüber der Abhängigkeit der Kapitalsklaven ist die viel-
gelästerte >Knechtung< in den Klöstern ein Paradies ( . . . ) . 3 1 8

168
Die effektive tägliche Arbeitszeit für Kutscher und Kondukteure betrug 16
bis 18, in Ausnahmefällen bis zu 21 Stunden. Die Pferdewärter und Foura-
gearbeiter hatten an Wochentagen mindestens 16, an Sonn- und Feiertagen
mindestens 17 Stunden zu arbeiten. Die rund 300 Stallarbeiter rekrutier-
ten sich fast zur Gänze aus ehemaligen Angehörigen der k.k. Kavallerie und
hatten in neun geräumigen und peinlichst sauber gehaltenen Stallungen etwa
2500 Pferde zu betreuen. Somit kamen auf einen Mann zehn zweispännige
(kleinere) oder neun einspännige (größere) Pferde, während bei der Kaval-
lerie einem Soldaten nur in Ausnahmefällen zwei, in äußerst seltenen Not-
fällen auch drei Pferde zugewiesen waren. Umgangston und -formen der
»Stallschaffer« waren dementsprechend sprichwörtlich derb und rauh, ihre
Anfälligkeit für übermäßigen Branntwein- und Tabakgenuß notorisch und
ihre äußere Erscheinung geprägt von Unterernährung, Auszehrung und
Überarbeitung.319
Kaum bessere Verhältnisse fanden sich bei den Kutschern und Konduk-
teuren. Von der Remise Hernais etwa wurden in der Zeit unmittelbar vor
dem Streik 377 Touren von 56 Kutschern durchgeführt. Die Ringtour dau-
erte 145, die Kaitour 109 Minuten. Auf den Kutscher kam somit eine reine
Fahrzeit von 14 Stunden und 38 Minuten; dazu traten Eßzeit, »Rundfahrt«
(von der Remise zur Kopfstation und zurück) sowie Ein- und Ausspan-
nen, was in etwa weitere zweieinhalb Stunden in Anspruch nahm. Somit
lag die tägliche Durchschnittsleistung eines Kutschers (und damit eines
Kondukteurs) ziemlich genau bei 17 Stunden.320 Jeder siebente Tag war bei
voller Gehaltsanrechnung frei. Allerdings hatte es sich eingebürgert, daß
bereits bei geringfügigen Anlässen - etwa wenn die Verspätung auf einer
Tour mehr als eine Minute ausmachte - ein bis zwei Straftouren verhängt
wurden, so daß nicht wenige Kutscher und Kondukteure auch an ihren frei-
en Tagen vier bis sechs Stunden Dienst zu absolvieren hatten. Die jeweili-
ge Mittagspause betrug je nach Strecke 20 bis 40 Minuten und hatte jeden-
falls zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags konsumiert zu werden, was
in vielen Fällen zur Folge hatte, daß die Kutscher von den Mittagsstunden
bis Mitternacht keinerlei Nahrung zu sich nehmen konnten. Ebenso häu-
fig hatten sie, um allfällige Verzögerungen und Verspätungen zu vermeiden,
ihr Essen während der Fahrt einzunehmen. R. Eichhorn berichtet, wie vie-
le der Fahrleute ihren irgendwo an der Strecke postierten Frauen oder Kin-
dern »mit irgend welchen mündlichen, schriftlichen oder geberdlichen Zei-
chen« anzeigten, wann sie zurückkommen und das dann bereitgestellte
warme Essen übernehmen könnten.321 Natürlich mußte ein derartiges Sy-

169
stem des oft und oft improvisierten »Speisenzutragens« zum Anlaß immer
wiederkehrender Familienkonflikte werden. Essen und Streiten gehörten bei
den Fuhrleuten zusammen, zitiert Eichhorn einen Kondukteur, wie über-
haupt der häufige Mangel an natürlicher Schlafens- und Essenszeit »den
Unverheirateten leicht zum Lumpen, den Verheirateten zum Tyrannen«
machten.322
Die Tramway-Gesellschaft, resümiert Victor Adler, habe eben zwei
Gattungen von Bediensteten. Die einen hätten eine Arbeitszeit von 16 bis
21 Stunden und ganz ungenügende Ernährung, die anderen arbeiteten vier
Stunden und seien reichlich genährt. Das eine seien die Menschen, das ande-
re die Pferde. Menschen seien spottbillig, Pferde kosteten aber schweres
Geld. Wenn sich die menschlichen Bediensteten dennoch willfährig, geduldig
und schweigend in diese Verhältnisse gefügt hätten, so sei dies wenig über-
raschend angesichts einer riesigen, jederzeit mobilisierbaren Reservearmee
von Arbeitslosen und Arbeitsuchenden in einer Zeit, in der alljährlich Hun-
derte von Menschen absichtlich Majestätsbeleidigungen oder andere kleine
Verbrechen begehen, um für einige Monate wenigstens die elende Gefäng-
niskost zu erlangen, oder wo die Spitäler voll sind mit Simulanten, nur um
hier ein jämmerliches Obdach und dürftige Kost zu finden.323 »Rechts- und
Ehrgefühl« aber, so Pater Eichhorn, hätten selbst die »geduldigsten Cze-
chen, Slovaken und Polaken«, die das Gros der Bediensteten stellten:

Ich begreife nun, warum den Slaven, die unter Deutschen schutzlos ein solches Da-
sein fristen, Heimtücke und Rachsucht nachgesagt wird. 3 2 4

Als im April 1888 die Direktion der Gesellschaft eine weitere Zerstücke-
lung und Zergliederung der Fahrstrecken und damit der Arbeitszeit vor-
nahm, war allerdings das Ausmaß von Zumutungen für die immer wieder
als »arme Teufel von Tramwaysklaven« apostrophierten Bediensteten - be-
fehligt von »Obersklavenaufsehern« und »Tramwaypaschas« und »Sklaven
nicht nur ihrer Lage, sondern auch ihrer Gesinnung nach«325 — nachhaltig
überschritten. Die minutengenaue Dauer von Teilstrecken war so festge-
legt worden, daß deren Über- oder Unterschreiten eine Vielzahl von Straf-
touren, die am arbeitsfreien siebenten Tag zu absolvieren waren, nach sich
zog; der Organisator der Streiks, Victor Adler, rechnete demnach detail-
liert vor, daß auf diese Weise auf nur einer Strecke in nur einer einzigen
Woche 22 Kutschern 43 zusätzliche Straftouren aufgebürdet worden wa-
ren.326 Die Kutscher, Kondukteure und Stallschaffer traten in ihrer über-
wiegenden Mehrheit in den Ausstand.

170
Adlers Taktik zielte auf Konfliktrationalisierung, Legalität, Symbolisie-
rung und Repräsentanz und zeitigte zumindest in den Anfangsphasen er-
staunliche Erfolge und Auswirkungen.
Wir erinnern uns nicht daran, daß irgendein Ereignis seit langer Zeit das schlafen-
de Bewußtsein und Gewissen des Volkes so geweckt, so in seinen Tiefen aufgewühlt
hätte, wie der Kampf der Tramwaybediensteten gegen die Tramwaygesellschaft und
ihre Zuhälter. ( . . . ) Zunächst begnügte man sich damit, denjenigen Bediensteten,
welche ihre Kollegen feige im Stich ließen und Kutscherdienste verrichteten, seine
Verachtung auszudrücken. Schimpfworte wurden ihnen zugerufen, ausgespuckt
wurde vor ihnen nicht nur in den Vororten, sondern auch auf der Ringstraße von
»anständig gekleideten Personen«. 3 2 7

Die Kutscher hielten ihre Zusammenkünfte und Streikversammlungen in


den von ihnen üblicherweise frequentierten Gasthäusern in unmittelbarer
Nähe der Remisen ab, traten in der Öffentlichkeit in ihrer Arbeitsuniform
auf und leisteten, sehr zur Überraschung der jeweiligen Einsatzleiter, zum
Großteil ohne weiteren Widerstand den Aufforderungen der einschreiten-
den Behörden folge.
Am 23. dM. Vormittag erhielt weiters Gefertigter die Mitteilung (durch einen kk.
Polizeiagenten), daß sich in Reichhart's Gasthaus in der Simmeringerstraße eine
Anzahl strikender Tramway-Kutscher in Kutscherkleidung befinde. Auf Grund des
kurz zuvor erlassenen telegr. Auftrages, Ansammlungen derartiger Kutscher in Gast-
häusern nicht zu dulden, stellte Gefertigter sämmtliche im Gasthause Reichert's
vorfindlichen Kutscher, welche übrigens willig Folge leisteten zum Coate [Kom-
missariat]. Gefertigter wurde vom Herrn Bezirksleiter in einem Tone in Gegenwart
mehrerer Herrn Beamter angesprochen, wie er sonst in kk. Amtern nicht üblich
zu sein pflegt, und zur Rede gestellt, warum diese Kutscher ins Amt gebracht wor-
den seien. Als Gefertigter sich auf das Telegramm berief meinte der Herr Bezirks-
leiter, in dem selben stehe nur, »die Kutscher seien in den Gasthäusern nicht zu
dulden«, weiter nichts. Gefertigter ließ sich in keine weiteren Auseinandersetzun-
gen ein, sondern bemerkte nur, daß er um Ablösung bitten müsse, falls der Herr
Bezirksleiter ihn für nervös halte, welcher Vorwurf ihm ebenfalls vom Herrn Be-
zirksleiter gemacht worden war. 3 2 8
Als wir in offenem Wagen den Gasthausgarten des Rieha in der Rosensteingas-
se, Ecke Hernalser Hauptstraße passierten, tönte uns und der eben vorbeireiten-
den, von der Remise abgeschickten Husaren-Patrouille entgegen: »Hunde!«, »Haut
sie nieder!«, und dgl. mehr. Da ich die Befürchtung hegte, daß die in den bezeichne-
ten Gasthäusern angesammelte, anscheinend unter einer gewissen Führung stehende
Rotte, wenn ich sie unbeachtet lasse, das von mir am Marktplatze zurückgelassene
kleine Husaren-Detachement überrumpeln oder zu einem anderen Gewaltacte ver-

171
abredet sein könnte, sprang ich sogleich aus dem Wagen, ließ den Herrn Bezirks*
leiter allein zu den Remisen fahren, die Bitte beifügend, mir Wache zu Fuß zu sen-
den und drang nun allein in das Gasthaus ein.
Die Husaren-Patrouille ließ ich halten und die einmündenden Gassen absper-
ren. Nun befahl ich, obwohl noch immer ohne jede Bedeckung, im Locale dem Wir-
the Rieha selbst sein Gasthaus sofort zu schließen. Es erhoben sich zwar viele Bier-
krüge und Schimpf- und Drohworte wurden laut; dennoch wurden die mehr all
150 Gäste durch meine entschiedene, allerdings mit Lebensgefahr verbundene Auf-
forderung eingeschüchtert und verließen das Gasthaus und Garten, dessen Pforten
ich darauf von den Husaren besetzen ließ. Als die vom Herrn Ober Coär [Kom-
missär] Müller von den Remisen her mir gesendeten 10 Wachmänner zu Fuß spä-
ter eintrafen, verfügte und that ich das Gleiche mit dem Locale Wiedermann (aus
welchem gleichfalls Beschimpfungen des Militärs erschallten) und den übrigen Gast-
häusern und Gärten von der Dorotheergasse bis zu den Remisen. Die Gäste - durch-
wegs Arbeiter und Tramwaykutscher - ließ ich stets nur einzelnweise und nur nach
und nach in verschiedene Richtungen abgehen. 3 2 9

In dem Ausmaß aber, als die Tramway-Gesellschaft zunehmend unqualifi-


zierte Streikbrecher ohne jegliche Vorbildung zum Einsatz brachte, als die
bewaffnete Staatsgewalt Dragoner in Favoriten und Husaren in Ottakring
und Hernais konzentrierte und dieserart über die betroffenen Vororte ei-
nen regelrechten Belagerungszustand verhängte, kam es vermehrt zu ge-
walttätigen Auseinandersetzungen, zu Tumulten und Krawallen. Die Sicher-
heitswache vertrieb zunächst die als lebendige Provokation in ihrer Montur
auftretenden Kutscher aus allen ihren Versammlungslokalen, arretierte je-
den Kutscher, der sich in Uniform zeigte und behielt ihn - unter Hinweis
darauf, daß alle nicht nach Wien Zuständigen nach sechs Tagen als sub-
sistenzlos abgeschoben würden - solange in Arrest, bis er seine Montur ab-
legte oder sich zu fahren bereit erklärte. Gegen die nunmehr überall auf
den Straßen sich bildenden massenhaften und spontanen Protestversamm-
lungen wurden immer wieder Kavallerieattacken geritten. Es ist dies die
Stunde der Frauen und der männlichen Vorstadtjugend. Immer wieder, wie
auch etwa anläßlich der großen Favoritener Massentumulte anläßlich des
Streiks bei der Firma Wangermann im August 1893, wird berichtet, daß es
vornehmlich »Weiber und halbwüchsige Burschen« seien, die der Staatsge-
walt den hinhaltendsten Wderstand entgegensetzten.330
Was auch in diesem Zusammenhang auffällt, ist die tumulthafte öffent-
liche Präsenz von Frauen, Kindern und Halbwüchsigen, während der Ar-
beitskampf selbst vornehmlich auf die Orte der Produktion bzw. Dienst-
leistung beschränkt bleibt. Die immer wieder kolportierte Heftigkeit des

172
Aufruhrs und des Tumults in der Öffentlichkeit rekurriert auf das im Po-
pulären traditionell enthaltene subversive Potential. Dies mag damit zusam-
menhängen, daß die Vorstadt nie völlig der öffentlichen Ordnung unter-
worfen werden konnte und damit in ihr, Schwelbränden gleichend, Zonen
des Widerstands erhalten blieben.
Die kombinierte polizeilich-militärische Ordnungsmacht ist demgemäß
mit »Raschheit und Präcision« vorgegangen. So heißt es in Polizeiberich-
ten anläßlich des Tramwaykutscher-Streiks:
Um nicht dem Steinhagel zulange ausgesetzt zu sein, commandierte ich Laufschritt
und nun begann unter rücksichtslosem Dreinhaun gegen alles was sich zu wider-
setzen versuchte, und Vornahme mehrfacher Arretierungen eine so energische Säu-
berung des Terrains (Laxenburgerstraße, Quellenplatz, Erlachgasse, Eugengasse
[heute Pernerstorfergasse]), daß an jener Stelle von den Exzedenten nichts Nen-
nenswertes mehr unternommen worden ist. 3 3 1
»Wegen der bedeutenden Ansammlungen dortselbst begab ich mich ungefähr
um 3h N.M. vom Eugenplatz [heute Viktor Adler-Platz] in die Eugengasse, wo mich
ein junger Mann nach meiner vom Trittbrette des offenen Wagens aus an die Men-
ge gerichteten Aufforderung: »auseinander zu gehen«, mit einem Regenschirm zwei-
mal über den Kopf schlug, weshalb ich den Degen zog und ihn durch einen Hieb
über die Brust mutmaßlich verletzte; er entkam, da ich nur von einem Dragoner
begleitet war und dieser an der weiteren Verfolgung dadurch behindert war, daß er
eine Frau niederritt. 332

Nach solchen Attacken zerstoben die »Pöbelhaufen« nach allen Richtun-


gen, »alle Massen mit sich reißend, von welchen die Wachen und Tramway
zuvor mit einem veritablen Steinhagel überschüttet wurden«.333 Hunderte
von Menschen verschanzten sich in Stallungen, unter Wägen, in den Gän-
gen von Häusern, in den geräumigen Schanklokalen der Bier- und Brannt-
weinschenken, in halbfertigen Neubauten. Am Keplerplatz flüchteten sich
Frauen mit ihren Kindern in die dort befindliche Kirche oder sammelten
sich auf deren Treppenaufgang.
Am anderem Ende der Stadt, in Hernais, zog sich ein Teil der jugendli-
chen Exzedenten in einen aufgelassenen Friedhof in der Dorotheergasse (der
heutigen Taubergasse) zurück:
Ich beschloß trotz der Dunkelheit den Friedhof zu durchforschen, um endlich der
Gesellen, die seit drei Tagen von dort aus Steine warfen, habhaft zu werden. Der
Herr General, den ich um Militärassistenz in der Stärke von zwei Kompagnien und
einer Escardron ersuchte, bewilligte mir diese bereitwilligst. Nachdem der Fried-
hof von allen Seiten frei steht, ließ ich ( . . . ) denselben derart umzingeln, daß alle

173
Abteilungen gleichzeitig eintrafen. Die Cavallerie rückte auf ein gegebenes Zeichen
nach, einen zweiten Kreis um die Friedhofsmauer schließend. Ich hatte aus den
Tramway Remisen vorsorglich 4 Laternen mitgenommen und umgeben von den die
Laternen tragenden Wachmännern schritt ich voran; mir nach die Infanterie Abtei-
lung sich fächerartig am Friedhofe ausbreitend; hiebei gelang es uns, einige Indivi-
duen nun zu ergreifen. (...) Infolge dieser Excursion sind von da ab die Steinwer-
fer vom Friedhofe nicht wieder erschienen, während früher - nach den Worten des
Totengräbers - diese Burschen »Fort und fort über die Planken nur so hin- und
herhupften«. 334

Doch die zersprengten Massen sammelten sich in erstaunlicher Schnellig-


keit immer wieder aufs Neue, um, so der Polizeibericht, mit »unbeschreib-
licher Roheit und Brutalität« gegen die staatliche Ordnungsmacht vorzu-
gehen. So war etwa der Eugenplatz in Favoriten gegen die Himbergerstraße
(heute Favoritenstraße) zu mit festen hölzernen Marktbuden verbaut; von
diesen Planken aus eröffneten Jugendliche und Halbwüchsige Steinbom-
bardements, gingen aus Parkanlagen und von Materiallagerplätzen gegen Mi-
litär und Polizei mit »Wurfgeschoßen aller Art« vor und verhöhnten diese
»in unbeschreiblicher Weise«. In überaus effektvoller Weise wurden sie da-
bei aus den Zinskasernen unterstützt, aus deren Fenstern Ziegelsteine, Bü-
geleisen, Töpfe, Kohlen, Glasscherben und auch Holzpfeile, an denen zu-
geschliffene Nägel befestigt waren, geschleudert wurden. All diese Aktionen
wurden von einem »nicht zu beschreibenden Gejohle«, von »Geheul und
Pfeifen« begleitet.335
Die »Exzesse« in Favoriten hatten ihren Ausgang beim sogenannten »Ro-
then Hof« des Antisemiten Hauck genommen. Tatsächlich wiesen sie, wie
viele andere spontane Protestaktionen der vorstädtischen Bevölkerung auch,
manifeste antisemitische Züge auf. So ist etwa dem Bericht des Bezirksin-
spektors Tobias Anger zu entnehmen:
Plötzlich stürzte eine Civilperson auf mich zu (angeblich der Besorger des Hauses
Nr. 32 der Erlachgasse) und teilte mir hastig mit, daß in diesem Hause sich ein Jude
versteckt halte, welcher vom Pöbel verfolgt worden sei und sich in dieses Haus ge-
flüchtet habe; er befürchte, daß der Pöbel das Haus stürme und den Juden erschlage.
Sofort verfügte ich mich mit sämmtlichen am Platz anwesenden kk. S.W aufs
schleunigste in die Erlachgasse. Bevor wir dieselbe noch erreicht hatten, wurden
wir in der Laxenburgstraße von einer johlenden, pfeifenden Menge mit zahlreichen
Steinwürfen empfangen, welche vom Quellenplatze herkam. ( . . . ) nun gieng es mit
solcher Energie im Laufschritte gegen den Pöbelhaufen, in dem die Steinwerfer star-
ken, los, daß die Menge nach allen Richtungen zerstob, worauf ich umkehrte und
in die Erlachgasse einschwenken ließ. Da selbst traf ich eine höhnende, pfeifende

174
Menge, welche es an nicht schlecht gezielten Steinwürfen nicht fehlen ließ, jedoch
eilends flüchtete, als wir in die unmittelbare Nähe gelangten.
Durch kk. S.W Insp. Antlanger der Abtheilung Meidling ließ ich unter Assi-
stenz mehrerer kk. S.W den zitternden Hebräer aus dem Haus 32 abholen, nahm
den selben zur Remise mit und schickte ihn von da unter entsprechender Bedek-
kung zum Coate, 3 3 6

Üblicherweise aber richtete sich die Zerstörungswut revoltierender Mas-


sen gegen Häuser und Gegenstände. Konsumhallen und Kaffeehäuser wur-
den geplündert, Zerbrechliches wie Fensterscheiben, verglaste Eingangstü-
ren, Gaskandelaber etc. zerschlagen. Nun ist die leichte Zerbrechlichkeit
dieser Gegenstände und Dinge sicherlich ein wesentlicher Antrieb zu ihrer
Zerstörung, allerdings nicht das entscheidende Moment. Es handelt sich
vielmehr um einen Angriff auf alle Grenzen, um die symbolische Aufhe-
bung aller Distanzen, von allem Ausschließenden.337 Im Akt des Zerstö-
rens manifestiert sich für einen kurzen Moment das Überschreiten der
Grenzen, am besten symbolisiert in der Zerstörung von gläsernen oder ir-
denen Gefäßen, die nichts sind als Grenze (Elias Canetti). So heißt es etwa
in einem Bericht der Arbeiter-Zeitung über einen Angriff von Jugendlichen
auf den Chemiesaal der Staatsrealschule in der Possingergasse im Rahmen
der Ottakringer Teuerungsrevolte vom September 1911:

Ja, in dieser Staatsrealschule haben sie wahrlich vandalisch gehaust. Der Zufall führte
eine Rotte junger Leute an die Schulfront in der Thalhaimergasse, nachdem sie vor-
her das den Vorgarten umfriedende Parkgitter fast zur Gänze zerstört hatten. Da-
mit hatten sie Material gewonnen, um den Zerstörungskampf weiter fortzusetzen.
Die Gewandtesten und Flinkesten drangen in den Garten vor und ehe sich noch
ein Mensch versah, hatten sie die sehr hoch gelegenen Parterrefenster, deren Schei-
ben längst zertrümmert waren, erklettert und waren in das Schülerlaboratorium für
den Chemieunterricht eingedrungen. Hier fand ihre sinnlose Wut der Zerstörungs-
objekte genug. Alle Tische sind voll mit Flaschen von Säuren und Chemikalien.
Tschintschin! Flaschen um Flaschen werden zerschlagen. Wer im Rausch ist, braucht
Musik. Der Kasten fliegt um, die Bänke werden umgeworfen, an den Tischen rüt-
teln sie, daß die Retorten und Flaschen zu Boden fielen. 338

175
DIE TRANSGRESSION DES POPULÄREN:
KARL LUEGER UND FRANZ SCHUHMEIER

Eineinhalb Jahre nach der Ottakringer Hungerrevolte zeigten sich die glei-
chen >Massen< an denselben Orten, in denselben Straßen und Gassen des
Bezirkes zu einem anderen Anlaß, in anderer Form und diszipliniert in einer
organisierten Trauergemeinde. Es war die wohl größte und imposanteste
Massenmanifestation, die Wien je erlebt hatte. Sie begab sich an einem kla-
ren Wintersonntag, dem 16. Februar 1913. Die Sozialdemokratische Arbei-
terpartei hatte zwar in der kurzen, ihr verbleibenden Zeit von vier Tagen
ihren gesamten, zu diesem Zeitpunkt bereits bedeutenden und in den Vor-
städten flächendeckenden Organisationsapparat zum Einsatz gebracht, der
tatsächliche Ansturm der Massen aber übertraf alle Erwartungen und sollte
sich als organisationstechnisch kaum mehr bewältigbar erweisen. Eine knappe
halbe Million Menschen, also etwa jede(r) vierte Wienerin und Wiener, war
gekommen, die Bezirksorganisation Ottakring, vom Verstorbenen Anfang
der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ein paar Dutzend
Mitarbeitern ins Leben gerufen, stellte allein 2600 Vertrauenspersonen als
Ordner. Hier wurde, so die zeitgenössische Wiener Tagespresse in beinahe
wortgleicher Ubereinstimmung, ein ungekrönter König, ein Herrscher, ein
Volkstribun, »den die Liebe und die Verehrung freiwillig zu dieser höchsten
Würde erkoren«, zu Grabe getragen:

Denn in diesen wenigen Tagen, die seit dem verhängnisvollen Schuß des Mörders
am Nordwestbahnhof verstrichen sind, hatte diese eindrucksvolle, mächtige und er-
schütternde Huldigung vor dem Toten nicht arrangiert werden können. Diese Tau-
senden und Tausenden, die gestern die Straßen von Ottakring füllten, die wie in
einer stillen, ergreifenden Mission in endlosem, langem Zuge dem Sarg folgten, sie
waren freiwillig gekommen; ohne Kommando, um eine Herzenspflicht zu erfüllen.
( . . . ) Das war nicht Neugierde, das war Pietät, herrlichste, aufrichtigste Pietät für
einen, den man geliebt. 339

176
Noch am 13. Februar, unmittelbar nach der gerichtsmedizinischen Obduk-
tion, wurde die Leiche in das Ottakringer Arbeiterheim überführt und in
einem Metallsarg mit Glasdeckel zur Schau gestellt. Der große Fest- und
Theatersaal des Arbeiterheims war unter Leitung des Reichsratsabgeord-
neten Albert Sever und eines Leichenbestattungsbeamten zu einer prunk-
vollen Trauerhalle umgestaltet worden. Uber dem Katafalk wölbte sich ein
schwarzer Baldachin, rund um das Paradebett waren Palmen und exotische
Blattpflanzen, Leuchter, Kandelaber und Kerzen gruppiert worden. Die
Ehrenwache rekrutierte sich aus Gemeindedienern in Galalivree, Parteige-
nossen der verschiedenen Korporationen, Mitgliedern der Arbeiterheim-
Feuerwehr und der Arbeiterturner. In zweieinhalb Tagen sollte der Strom
jener, die gekommen waren, ihre letzte Ehre zu erweisen, nicht mehr ab-
reißen; die jeweiligen Einlaßzeiten mußten um Stunden verlängert werden,
immer wieder kam es zu dramatischen Ausbrüchen von Trauer, Wut und
Verzweiflung.
Bei der eigentlichen Trauerfeier in den Mittagsstunden des 16. Februar
waren Spitzenvertreter aus Politik, Bürokratie, Diplomatie und Heer an-
wesend, und als der Sarg geschlossen wurde, ertönte von der Altane her
der Trauermarsch aus der Götterdämmerung, gefolgt von Franz von Sup-
p£s »Ruhe, müder Wanderer«, intoniert vom Posaunenchor der Hofoper und
400 Arbeitersängern. Hierauf wurde der Sarg in einen prunkvollen Glasga-
lawagen mit einer diesen überragenden Bürgerkrone gehievt; vor den Wa-
gen waren sechs reichgeschirrte Rappen mit Kutschern und Reitern in alt-
spanischer Tracht gespannt. Dem Trauerkondukt, der über die Hasnerstraße
auf den Gürtel und von diesem durch die Thaliastraße auf den Ottakringer
Friedhof über gut sieben Kilometer führte, zogen 18 Kranzwagen, vier Trau-
erfourgons, und eine Unzahl Blumenträger sowie zwei - ebenfalls in alt-
spanische Tracht gekleidete - berittene Laternenträger voran. Bereits seit
den Vormittagsstunden waren aus allen Bezirken schier endlose, nach Bran-
chen geordnete und radial auf das Ottakringer Arbeiterheim hin ausgerich-
tete Kolonnen aufmarschiert, mit umflorten Fahnen, Standarten und präch-
tigen Blumengewinden. Entlang des gesamten Weges hatten sich sechs- bis
zehnfache Spalierreihen gebildet, die an manchen Stellen, etwa am Gürtel,
eine geradezu beängstigende Tiefe annahmen. Die Teilnehmer am Trauer-
kondukt selbst, »diese große, endlose, unheimlich schweigende Masse«,
waren in eine Vor- und Nachhut gegliedert. Erstere füllte die Thaliastraße
vom Lerchenfeldergürtel bis über die Kreitnerstraße hinaus, letztere besetz-
te die parallel verlaufende Koppstraße und kam erst in Bewegung, als die

177
B I L D 19
Wiens größte Demonstration, das Begräbnis von Franz Schuhmeier
Bildnachweis: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung Wien

Vorhut den Ottakringer Friedhof bereits erreicht hatte. Vor dem offenen
Grab sprachen Vertreter der Parteileitung und der Gewerkschaftskommis-
sion sowie der nachmalige erste sozialdemokratische Bürgermeister Wiens,
Jakob Reumann. Richard Wagners »Pilgerchor« aus dem »Tannhäuser« be-
endete die offizielle Trauerfeier, die bis in die Abendstunden vorbeidefilie-
renden Trauergäste verwandelten das Grab in ein Meer von roten Nelken.340
Diese pompöse Todesinszenierung galt Franz Schuhmeier, dem popu-
lärsten Wiener Sozialdemokraten der Jahrhundertwende, einem Massenpo-
litiker neuen Stils, einem ebenso begabten wie populistischen Agitator und
mitreißenden Volksredner, einem Kind der Vorstadt und sozialen Aufstei-
ger, der es aus ärmlichsten Verhältnissen in die höchsten politischen Funk-
tionen gebracht hatte. Ihm war es wie keinem anderen zuvor gelungen, die
politisch und sozial Rechtlosen der Vorstädte aus ihrer Vereinzelung her-
aus zu einer organisierten, politisch bewußten und damit identitätsstiften-
den Massenbewegung zu führen. Sein als eine Manifestation des Volkes in-

178
szeniertes Begräbnis zitiert die seit Überwindung der Pest und im Barock
formalisierte, für Wien so typische enge Verbindung von Todeszeremonien
und öffentlicher Schaustellung des Populären. Was aber konnte dies im kon-
kreten historischen und gesellschaftlichen Kontext des Jahres 1913 bedeu-
ten? Verwies es bloß auf ein zähes Fortleben von Traditionen, zitierte es
nur das Feudal-Populare und die auf den Vormärz verweisende Lust am öf-
fentlichen Spektakel einer »schönen Leich< oder kam darin auch eine neue
politische Dimension zum Tragen? - Es bedeutet dies alles und es ist zu-
gleich mehr. Denn mit diesem Begräbnis wurde nicht nur einem Großen
des Volkes nach altbekannter Manier gehuldigt, sondern das >Volk< in sei-
ner neuen sozialen Organisation und seinem politischen Ausdruck öffent-
lich gemacht. Dem Populären wurden damit neue Bedeutungen eingeschrie-
ben: zum einen die Codierung urbaner Flächen als politische Territorien,
zum anderen die öffentliche Demonstration der politischen Identität einer
modernen Massenbewegung und schlußendlich bereits die latente Präsenz
eines anderen, eines »roten Wien< in statu nascendi. Franz Schuhmeier wurde
nicht nur zu Grabe getragen; er wurde zugleich als politische Ikone einer
proletarischen Vorstadtkultur befestigt.
In einer Zeit, in der zwar für den Großteil der männlichen Arbeiterschaft
das allgemeine und gleiche Wahlrecht für den Reichsrat gilt, sie aber wei-
terhin weitgehend vom politischen Leben der Kommune ausgeschlossen
bleibt, gerät das Begräbnis zur Folie der Schaustellung einer politischen Ge-
genkultur. Diese erfüllt mehrere Funktionen: die Präsenz einer gesellschaft-
lichen Massenbewegung, die ihre Teilnahme am öffentlichen Leben einfor-
dert, die Visualisierung der Arbeiterschaft als zukunftsorientierte, visionäre
Gegengesellschaft und der Selbstausweis und die Selbstversicherung des
»Anderen« als einem politischen Subjekt gesellschaftlicher Emanzipation.
Die geordnete, disziplinierte und arrangierte große Zahl der Teilnehmer de-
monstriert sich selbst als Gemeinschaft wie als Gegenkraft zum kleinbür-
gerlichen Wien des Karl Lueger und zerstört so die Illusion eines homoge-
nen Stadtleibes. Es wird das Feudal-Populare als theatralische Inszenierung
und Sich-selbst-Feiern zelebriert und als Teil eines neuen politischen Nar-
rativs bestimmt. Damit wird das Popularmoderne als Phänomen gesell-
schaftlicher Transgression zum Ausdruck gebracht.
Sowohl Franz Schuhmeier als auch Karl Lueger waren prototypische
Exponenten, Akteure und zugleich Regisseure einer auf das Ende der libe-
ralen Ära in Wen folgenden Phase des Übergangs und der Neuformulie-
rung politischer Kräfte und Hegemonien, die wir als Transgression kenn-

179
zeichnen. Darunter verstehen wir einen Prozeß der Veränderung und Neu-
verhandlung sozialer, politischer und ökonomischer Hegemonien und eine
neue Kartographierung des Urbanen Terrains. Die Stadt wird als bauliche
wie symbolische Gestalt geeint wie auch neu segmentiert. Transgression
bezeichnet einen spezifischen Zustand der Wiener Gesellschaft zwischen
1890 und 1910. Die gesellschaftlichen Strukturen sind nach wie vor durch
Monarchie, Adel, Klerus und Stände feudal übercodiert. Die spät gekom-
mene kapitalistische Modernisierung führte zu sozialer Unterdeterminie-
rung ebenso wie, im Scheitern des universalistischen Anspruchs des Libe-
ralismus, zu politischer Fragmentierung. Die symbolische Sphäre hingegen
war durch die Antagonismen von Populismus versus Honoratiorentum und
Spätaufklärung versus Fortmächtigkeit barocker Traditionen gekennzeich-
net. Der Stadtleib Wiens formte sich neu, dehnte sich über seine alten Gren-
zen aus, er wurde modernisiert und in seiner Infrastruktur technisiert und
verlor rapide sein altes, barockes und biedermeierliches Antlitz. Die Ein-
gemeindung der Vororte, die massive Zuwanderung aus den Kronländern
der Monarchie und die Kapitalisierung der Stadtökonomie veränderte nicht
nur die sozialen Beziehungen, sondern bewirkte auch soziale Neuschich-
tungen und Komplexitätssteigerung - die Herausbildung der Industriear-
beiterschaft und der Privatangestellten und eine weitere Stratifizierung der
bürgerlichen Schichten. Die politischen Hegemonien wurden in Frage ge-
stellt und unter dem Druck neuer Akteure restrukturiert.
Transgression bedeutet in diesem Sinne den Versuch, die unerledigten
Aufgaben des Liberalismus zu artikulieren und in die politische Arena einzu-
bringen. Es geht darum, das Prinzip der Gleichheit unter den neuen Urba-
nen Rahmenbedingungen von Anonymität, gesellschaftlicher Spaltung und
der Verdinglichung und Abstraktion des Sozialen vor dem Hintergrund
enormen Bevölkerungszuwachses und urbaner Expansion anzusprechen. In
der symbolischen Sphäre artikuliert sich Transgression in den Diskursen
von politischer und kultureller Identität und Grenzziehung. Organisato-
risch manifestieren sich die symbolischen Orientierungen entlang ethni-
scher, ökonomischer und ideologischer Fokussierungen in einer Unzahl von
Vereinen, politischen Klubs und den sich formierenden demokratischen
Massenparteien. Dieses widersprüchliche Amalgam von Symbolen und
Wertorientierungen und von ideologischen Positionen wie sozialen Orga-
nisationsformen wurde im Popularmodernen transparent, indem die Masse
in Polarität zum Individuum tritt, das Authentische vor die Tradition ge-
stellt und in der Vergangenheit die Linearität zur Gegenwart gesucht wird.

180
Es war ein tiefgreifender Wandel, in dem das Alte noch seine Macht zeig-
te, ohne daß das Neue seine endgültige Form gefunden hatte. Das Feudal-
Populare verlor an identitätsstiftender Kraft, und an seine Stelle trat eine
Politik der Massen als Politik ihrer vorgeblichen Authentizität. Der bür-
gerliche Substanzbegriff relativierte sich unter dem Einfluß kollektiv wirk-
samer Artikulationen des scheinbar Echten, Unverfälschten und Eigentli-
chen. Das Alte wurde zitiert, um der Stadt eine neue Signatur und dem
Neuen einen Kontext zu geben. Man pochte auf das Echte, um die Ent-
fremdungserfahrungen und den Kulturschock der Moderne zu überbrük-
ken. Man schaffte in einer Krisensituation, die alte Beziehungen zerstörte,
Gemeinsamkeit durch Imagination und Konstruktion. Man setzte das Wir,
um sich vom Anderen abgrenzen zu können. Man träumte den Traum ver-
lorener Ganzheit des Sozialen nicht als emphatische Größe, sondern als Er-
innerung an verlorene populäre Traditionen.
Transgression ist also ein eklektisches Gemisch von Übergang und Ver-
wandlung, von fortwirkenden Traditionen und einschneidenden Innovatio-
nen, sie bedeutet sowohl ein Zurückgehen wie auch ein tastendes, wiewohl
bestimmtes Voranschreiten.

Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es


eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschich-
tung der Gesellschaft sein solle. ( . . . ) Es entwickelten sich Begabungen, die früher
erstickt worden waren, oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hat-
ten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele wa-
ren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Unter-
mensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde
die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Hel-
denglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war
gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träum-
te von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Ha-
schisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von
Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven,
menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich
Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemein-
samen Atem ( . . . ) . 3 4 1

Die Vehemenz dieses Vorgangs kam nicht von ungefähr. Die Periode von
1890 bis 1910 initiierte die Politik der Massen, reagierte auf den uneinge-
lösten Universalismus des Liberalismus und bedeutete zugleich dessen Ende.
Sie repräsentierte eine Zeit des Übergangs und der Neuverhandlung bzw.

181
Neuformierung politischer und kultureller Hegemonien in einer Phase post-
liberaler und populistisch orientierter Massenpolitik. Der Liberalismus in
Wien scheiterte gleichermaßen an seinem politischen Partikularismus, der
weite Teile der (einkommensschwachen) Bevölkerungsschichten vom Wahl-
recht ausschloß, wie an einem instrumentellen Begriff von Vernunft, der
weniger Aufklärung, Emanzipation und Freiheit, als vielmehr neue soziale
Ungleichheiten und Spaltungen der Gesellschaft produzierte, ohne jedoch
die traditionalen Mächte des Adels und der Kirche wirklich ausschalten zu
können.
Für die Entwicklung des Liberalismus in den übrigen Teilen der Habs-
burger Monarchie ergibt sich ein deutlich unterschiedliches Muster. Wie
Pieter M. Judson342 anhand der Politik liberaler Vereine in verschiedenen
Kronländern nachweisen konnte, suchten diese ihre Vormachtstellung ge-
genüber anderen politischen Strömungen (Sozialdemokraten, Tschechische
und Ungarische Nationalisten, Christlich Sociale etc.) dadurch zu erhalten
bzw. zu festigen, daß sie zunehmend deutschnationale Positionen und Lo-
sungen übernahmen und soziale Ungleichheiten durch einen nationalistisch
gefärbten Diskurs zu überbrücken suchten. Dieser transformierte, >ethni-
fizierte Universalismus< entsprach den neuen national codierten Rahmen-
bedingungen der Politik um 1900, die dadurch charakterisiert war, daß sich
die deutschsprachige Bevölkerung der Monarchie mehr um die Grenzzie-
hung zu anderen Bevölkerungsgruppen bemühte als darum, diese durch ein
attraktives politisches Programm für sich zu gewinnen. Die deutschnationale
Identität, die bis in die 1880er Jahre noch für eine Mehrheit, vor allem von
am Land lebenden Österreichern deutscher Sprache mehr Fiktion als iden-
tity marker< gewesen war, wurde in den 1890er Jahren zunehmend als et-
was Fixes, Angeborenes und Überhistorisches angesehen und bildete in der
Folge die Basis für einen Nationalliberalismus bestehend aus »schriller de-
fensiver nationalistischer Rhetorik und äußerst fortschrittlichen, optimisti-
schen Behauptung über die Wirksamkeit von Bildung und Wissenschaft«343
für das Wohl der Menschheit.
Der Liberalismus hatte die Alltagsutopie der Aufklärung erzählt, ohne
diese zu einer wirklichen Alltagserfahrung der Wiener Bevölkerung machen
zu wollen. Seine Eliten waren mentalitätsmäßig dem Vormärz verhaftet ge-
blieben und suchten das Trauma der fehlgeschlagenen Bürgerrevolution von
1848 in immer neuen Kompromissen mit den feudalen Eliten zu paraphra-
sieren. Ökonomisch gelang dem Liberalismus zwar ein gigantischer Auf-
holprozeß, soziokulturell blieb er aber exklusiv auf das Besitzbürgertum und

182
auf die assimilationswilligen Juden beschränkt, die sich vom wirtschaftli-
chen Aufstieg die endgültige gesellschaftliche Anerkennung versprachen.
Der Liberalismus war erfolgreich in der Herstellung des Rechtsstaates und
der Bürgerrechte (Verfassung von 1867), doch er scheiterte an dem über-
schüssigen Universalismus seiner Ideologie. Da er diesen nur partikulär ein-
löste und die unteren Schichten ausschloß, radikalisierte der Liberalismus
die Kleinbürger und scheiterte an deren Antimodernismus und Rabiatheit.
Die einseitige Proklamation von Freiheit und Fortschritt für die Gebilde-
ten und materiell Begüterten führte zu massiven politischen Gegenbewe-
gungen derer, die vom Glanz der Ringstraße und den Segnungen des Kapi-
talismus ausgeschlossen waren.
During the last quarter of the nineteenth century, the program which the liberals
had devised against the upper classes occasioned the explosion of the lower. The
liberals succeeded in releasing the political energies of the masses, but against them-
selves rather than against their ancient foes. Every shot aimed at the enemy above
produced a hostile salvo from below. A German nationalism articulated against aris-
tocratic cosmopolitans was answered by Slavic patriots clamoring for autonomy.
When the liberals soft-pedaled their Germanism in the interest of the multi-natio-
nal state, they were branded as traitors to nationalism by an anti-liberal German
petite bourgeoisie. Laissez faire, devised to free the economy from the fetters of the
past, called forth the Marxist revolutionaries of the future. Catholicism, routed from
the school and courthouse as the handmaiden of aristocratic oppression, returned
as the ideology of peasant and artisan, for whom liberalism meant capitalism and
capitalism meant Jew. By the end of the century even the Jews, to whom Austro-
liberalism had offered emancipation, opportunity, and assimiliation to modernity,
began to turn back on their benefactors. 3 4 4

Die Jahre nach dem großen Börsenkrach 1873 und der anschließenden, bis
Mitte der achtziger Jahre andauernden wirtschaftlichen Depression brach-
ten nicht nur verminderte Einkommen, Armut und wirtschaftliche Stagna-
tion mit sich, sondern zugleich eine Rationalisierung der Produktion und
damit eine Beschleunigung des wirtschaftlichen Strukturwandels. Das Klein-
gewerbe, das Handwerk und der Handel mußten sich auf einen rapiden,
weitgehend vom Finanzkapital gesteuerten Modernisierungsschub einstel-
len, der eine signifikante Expansion des industriellen Sektors nach sich zog
und neue Leitsektoren der Großindustrie installierte. Österreichs verspäte-
ter, damit überstürzter und schockhafter Eintritt in die Ära der kapitalisti-
schen Moderne machte sich nun auch massiv sozial bemerkbar und erfaßte
gleichermaßen das Proletariat wie das Kleingewerbe und das Handwerk. Die

183
Wiener Gewerbetreibenden sahen sich spätestens ab den 1880er Jahren glei-
chermaßen vom Fabrikensystem, der Heimindustrie und neuen Distribu-
tionssystemen, deren Wettbewerbsdruck sie sich nicht gewachsen fühlten,
bedroht.345
Die Spaltung, die damit durch das höhere, mittlere und Kleinbürgertum
lief und den (unteren) Mittelstand zwischen Bürgertum und Proletariat in
wirtschaftliche Existenznöte brachte, bewirkte einen für die auf Balance aus-
gerichteten Konfiktregelungsmechanismen der traditierten politischen Kul-
tur überraschenden Radikalisierungsschub, dem die Liberalen keine adäqua-
ten politischen Artikulationsformen entgegensetzen konnten. Vielmehr
vertiefte sich dadurch die Entfremdung zwischen den Liberalen und dem
besitzlosen und einkommensschwachen Kleinbürgertum. Die Interessen-
kluft zwischen dem Kleinbürgertum und dem Besitzbürgertum war keine
neue Erscheinung, sondern im Kern schon in der bürgerlichen Revolution
von 1848 angelegt gewesen. In der Folge aber wurde sie unter den neuen
wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der liberalen Ära zu einer schis-
matischen Determinante der Politik, die durch ein extrem hierarchisches,
nach Einkommen gestaffeltes Wahlrecht und den Ausschluß einer breiten
unteren Mittelschicht nur noch vertieft wurde.
Doch gerade diese unteren Mittelschichten sollten zum Diskursfeld ei-
ner neuen, populistisch orientierten Politik jener deutschnationalen, frei-
demokratischen und christlich-sozialen Reformbewegungen werden, die sich
von den Liberalen abgespaltet und gegen sie als eigenständiges politisch-
kultuelles Lager profiliert hatten. Da es den Liberalen an einer entwickel-
ten, linken und radikaldemokratischen Tradition und Reformkultur fehlte,
die ein Citoyen-Bündnis von qualifizierten Arbeitern und unteren Mittel-
schichten als eine Mittlergruppierung zwischen dem Bürgertum und den
aus der zivilen Gesellschaft ausgeschlossenen politischen Akteuren hätte
herstellen können, kam es zu einer folgenreichen Verschmelzung von >lin-
ken<, antikapitalistischen mit >rechten<, strukturkonservativen und antimo-
dernistischen Sentiments, die vor allem in einer wachsenden Fremden- und
Judenfeindlichkeit der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden ihren
deutlichsten öffentlichen Ausdruck fand. John W Boyer hat darauf hinge-
wiesen, daß politische Protestbewegungen des gewerblichen Sektors auch
in anderen Großstädten West- und Mitteleuropas auf den Fundus antise-
mitischer Ressentiments zurückgriffen, nirgendwo aber außer in Wien zum
eigentlichen Movens und zur politischen Grundlage einer erfolgreichen an-
tiliberalen Kommunalpolitik wurden. Boyer resümiert: »Antisemitism in

184
Vienna was notable not for what it was, but for what it made eventually
possible - the destruction of Liberal rule in the city.«346
Parallel zur Spaltung und Neuformierung politischer Lager und Bewe-
gungen vollzog sich sich die Entwicklung Wiens hin zu einer Weltmetropole.
Die rasche Industrialisierung veränderte die soziale Struktur und diversifi-
zierte die unteren Schichten in alte, noch handwerklich und protoindustri-
ell orientierte Gesellen und Facharbeiter, neue Industriearbeiter - vom Hilfs-
arbeiter hin bis zum hochqualifizierten Facharbeiter in der Maschinen- und
Elektroindustrie - und das neue wachsende Heer der Privatangestellten und
Privatbeamten in Handel, Versicherungen und Banken. Die zunehmende
Multiethnisierung der Bevölkerung und die durch neue Marktkräfte, Ar-
beitsteilungen und Qualifikationsanforderungen bedingte Differenzierung
des Unternehmertums wie der lohnabhängig Beschäftigten verschärfte so-
wohl die Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen wie den verschie-
denen Nationalitäten. Für die bauliche und infrastrukturelle Gestalt Wiens
brachte die rasche Expansion der Stadt das Erfordernis einer zweiten Mo-
dernisierungsphase jenseits der Gründerzeitbauten der Ringstraße. Das Ver-
kehrsnetz, die Straßenbahnen und Massenverkehrsmittel mußten ebenso
erneuert und erweitert werden wie die Wasser-, Gas- und Stromversorgung.
Der Liberalismus, der ausgezogen war, den Bürgern Selbstbewußtsein
und politische Autonomie zu verschaffen, konnte der doppelten Herausfor-
derung von massenhafter Proletarisierung einerseits und dem eskalierenden
Kleinbürgerradikalismus bzw. den anwachsenden ethnischen und natio-
nalistischen Spannungen andererseits keine wirksame (kommunal-)poli-
tische Antwort entgegenhalten. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Absicht
förderte die elitenorientierte Politik der Liberalen die gesellschaftliche Des-
integration und den Aufruhr sowohl der unteren Mittelschichten wie auch
der Arbeiterschaft. Die neuen Massenbewegungen artikulierten sich sowohl
entlang wirtschaftlicher als auch ethnischer Vektoren und eröffneten ein ex-
plosives, politisches Spektrum von Sozialdemokratie, Christlichlich-Sozia-
len, tschechischem Nationalismus, Pangermanismus (Georg Ritter von
Schönerer) und vom, in Reaktion auf den wachsenden rassistischen Anti-
semitismus, Zionismus von Theodor Herzl.
Der Zerfall des gesellschaftlichen Körpers manifestierte sich sowohl in
den schnell wechselnden Regierungen wie in zunehmenden Straßendemon-
strationen der Arbeiter, in gewalttätigen ethnischen Auseinandersetzungen
anläßlich der sogenannten Badeni-Krise 1897347 und den Konflikten zwi-
schen deutschen Burschenschaftern und nichtdeutschen Studenten an der

185
Wiener Universität. Ein neuer Ton bestimmte die politische Sprache,und
das vormals bildungsbürgerliche Ethos der Reichsrats- und Gemeinderats-
debatten schlug in Haßtriaden, Beschimpfungen und Denunzierungen um.
Die Öffentlichkeit, vor allem die Printmedien, wurden zu rhetorischen
Schlachtfeldern, auf denen mit Stereotypen, Unterstellungen, Hetzkam-
pagnen gegen politische Gegner vorgegangen wurde. Der neue Ton der Poli-
tik kam am deutlichsten in der Person Karl Luegers, des Führers der Christ-
lich-Sozialen Partei, zum Ausdruck, der Antisemitismus, Antikapitalismus
und die Gegnerschaft zu Liberalen und Sozialdemokraten zu einem äußerst
wirkungsvollen Stil populärer Massenrhetorik verband. Lueger verstand es
meisterhaft, die unter dem doppelten Druck von Bürgertum und Proletariat
orientierungslos gewordenen Kleinbürger und sozialen Zwischenschichten
anzusprechen und sich als ihr Sprachrohr und Medium darzustellen. Er
nahm ihr Nichtgesagtes, Nochnichtgedachtes, Zurückgehaltenes - mit ei-
nem Wort ihr kollektives Ressentiment - auf und verband es zur öffent-
lichen Schaustellung und machtpolitischen Demonstration.
Aber wie spricht er auch zu ihnen. Das Dröhnen ihres Beifalls löst erst alle seine
Gaben. Beinahe genial ist es, wie er sich da seine Argumente zusammenholt. ( . . . )
In dem rasenden Anlauf, dessen sein Temperament fähig ist, überrennt er Vernunft-
gründe und Beweise, stampft große Bedeutungen in den Boden, schleudert dann
wieder mit einem Wort Nichtigkeiten so steil empor, daß sie wie die höchsten Gip-
fel der Dinge erscheinen. ( . . . ) In seinem Rednerfuror, wenn ihm schon alles egal
ist, fängt er freilich auch den Schimpf der Straße ein, reißt den Niederen und Geistes-
armen alberne Sprüche des Aberglaubens vom Munde, schnappt selbst den Pfaffen
die Effekte weg, die auf der Kanzel längst versagen wollten - aber er siegt mit alle-
dem. ( . . . ) Dieses ist seine Macht über das Volk von Wien: daß alle Typen dieses
Volkes aus seinem Mund sprechen, der Fiaker und der Schusterbub, der Veteranen-
hauptmann, der gute Advokat, die Frau Sopherl und der Armenvater. Und alle Volks-
sänger mit dazu. Vom Guschelbauer an bis zum Schmitter. Man hört Schrammel-
musik aus der Melodie seines Wortes, das picksüße Hölzl und die Winsel, hört das
Händepaschen und ein jauchzendes Estam-tam klingt in seiner Stimme beständig
an. 3 4 8

Lueger war einer der ersten Sozialaufsteiger der österreichischen Politik.


Als Sohn eines Hausmeisters des k.u.k. Polytechnicums in der Beamten-
und Kleinbürger-Vorstadt Wieden geboren, brachte er es zu einem der mä-
chigsten Wiener Bürgermeister, der seine Vorstellungen sowohl Kaiser Franz
Joseph als auch mehreren Reichsregierungen aufzuzwingen vermochte. Als
Kind der Vorstadt mit viel Ehrgeiz und Eifer ausgestattet, absolvierte er das

186
Elitegymnasium Theresianum und ein Jusstudium an der Universität. Nach
einem Zwischenspiel als Konzipient und Rechtsanwalt ging er Anfang der
1870er Jahre in die Politik und wurde 1875 in die liberale Fraktion des Ge-
meinderates gewählt. Ähnlich wie Schönerer und Herzl entfremdete er sich
bald den Liberalen und schloß sich den Demokraten an, um den liberalen
Bürgermeister Cajetan Felder zu Sturz zu bringen. Lueger unterstützte die
Deutschnationalen Schönerers beim Linzer Programm 1882 und bei der
Diskussion der sogenannten Nordbahnfrage, wo er sich als Antikapitalist
gegen das Haus Rothschild profilierte und für eine Verstaatlichung der Bah-
nen eintrat. Die Erweiterung des Wahlrechtes auf Einkommensbezieher mit
mindestens fünf Gulden Steuerleistung pro Jahr brachte Lueger mit den
Stimmen der kleinen Leute in den Reichstag. Im Wien der achtziger und
neunziger Jahre, einer »lauwarmen, trüben, unentschlossenen Zeit«, in der
eine »breite Masse der Kleinbürger (...) durch die Versammlungslokale«349
irrt, baut Lueger an seiner politischen Karriere. Er nimmt ihnen, den Hand-
werkern und ihren Gesellen, den Gewerbetreibenden, kleinen Händlern,
Fleischhauern, Fuhrunternehmern und kleinen Angestellten, die Verzagt-
heit und Skepsis und wendet ihre Minderwertigkeitsgefühle in eine mäch-
tige populistische Bewegung. Er besetzt und artikuliert die Zwischenräume,
die eine Elitendemokratie zwischen sich und den von ihr marginalisierten
Gruppen geschaffen hatte.
Man hat sie bisher gescholten. Er lobt sie. Man hat Respekt von ihnen verlangt. Er
entbindet sie jeden Respektes. Man hat ihnen gesagt, nur die Gebildeten sollen re-
gieren. E r zeigt, wie schlecht die Gebildeten das Regieren verstehen. Er, ein Gebil-
deter, ein Doktor, ein Advokat, zerfetzt die Ärzte, zerreißt die Advokaten, be-
schimpft die Professoren, verspottet die Wissenschaft; er gibt alles preis, was die
Menge einschüchtert und beengt, er schleudert es hin, trampelt lachend darauf her-
um, und die Schuster, die Schneider, die Kutscher, die Gemüsekrämer, die Budiker
jauchzen, rasen, glauben das Zeitalter sei angebrochen, das da verheißen ward mit
den Worten: selig sind die Armen im Geiste. Er bestätigt die Wiener Unterschicht
in allen ihren Eigenschaften, in ihrer geistigen Bedürfnislosigkeit, in ihrem Miß-
trauen gegen Bildung, in ihrem Weindusel, in ihrer Liebe zu Gassenhauern, in ih-
rem Festhalten am Altmodischen, in ihrer übermütigen Selbstgefälligkeit; und sie
rasen, sie rasen vor Wonne, wenn er zu ihnen spricht. 3 5 0

Ab 1887 war er Mitglied der antiliberalen Reformgruppe »Christlichsozia-


ler Verein«, die er 1893 mit dem offiziellen Namen »Christlichsoziale Par-
tei« ausstattete und deren Führung er übernahm. Als Schönerer 1888 aus
der Politik ausschied, besetzte er dessen deutschnationales Anhängerseg-

187
ment, um es mit ausgeprägter antisemitischer Propaganda in die Christlich*)
soziale Partei zu integrieren, die nun zu einem Sammelbecken sowohl VOQ
Katholiken, Demokraten wie auch Deutschnationalen wurde. Luegers gro-
ße politische Leistung war jedoch die Schaffung eines antiliberalen Bürgen
blocks, der die im Gefolge von 1848 entzweiten Gruppen von Kleinbür*
gern einerseits und wohlhabenden Hausbesitzern andererseits zu einef
klerikalen, antisozialistisch und antisemitisch motivierten Bürger-Gemein«
schaft zusammenschloß.
Lueger raffte alles zusammen, was unterhalb der Großbourgeosie und oberhalb del
Proletariats nach Befreiung rang und befähigt schien, ihn als Befreier zu betrach-
ten. Diese disparaten Schichten, die keine Gleichartigkeit ökonomischer oder kul-
tureller Interessen verband, die bedrängten Handwerker und Kleinkaufleute, die klei-
nen Beamten, die Handlungsgehilfen schmolz er zusammen zu seiner Partei, er
organisierte und disziplinierte sie, er machte aus dem von den liberalen Protzen
hochmütig verachteten »kleinen Mann« den Herrn dieser Stadt. Das negative Pro-
gramm war der Antisemitismus, das positive der Klerikalismus: ursprünglich beide
nur Reflexwirkungen des so eigenartig gefärbten Liberalismus, den er entthronen
wollte; von der >Judenherrschaft< befreite er W e n und der Pfaffenherrschaft über-
lieferte er uns. 3 5 1

1895 zum Bürgermeister gewählt, aber erst 1897 nach schwerwiegenden


Konflikten vom Kaiser in diesem Amt bestätigt, sollte Lueger sich als Mei-
ster der politischen Historisierung erweisen. Er schaffte sich seine Tradition
des eigentlichen Wienerischen als einen neuen Erfahrungshorizont des poli-
tischen Handelns und gab damit der Stadt eine eigene, neue Signatur. Er
insinuierte das scheinbare wahre und echte Wien der Kleinbürger gegen die
Entfremdungserfahrungen und den Kultur- und Arbeitsschock der Moder-
ne. Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und hervor-
ragender Exponent jener konkurrierenden Massenbewegung, die Lueger nach
der Niederlage der Liberalen zum politischen Hauptgegner erkoren hatte,
attestiert ihm eine einzigartige Volkstümlichkeit und Massensuggestion:

Lueger war weder bedeutend noch bedeutsam, aber er war, und das mag vieles an
seinen Erfolgen erklären, ein interessanter Mensch, der wahre Wiener in der Poli-
tik, der die geistige Physiognomie dieser Stadt, die ebenso zur Liebe wie zum Grim-
me reizt, restlos verkörperte und in dessen Geistesart jeder Wiener einen Teil sei-
nes Wesens erkennen durfte. Er konnte gutmütig sein, wie es nur in dieser Stadt
des Leben und Lebenlassen möglich ist, aber auch bösartig und gehässig ( . . . ) .
Im Wienerischen war er freilich zu Hause wie niemand vor ihm, da hatte sein
Wort überall Wirkung; wem es nicht gefiel, den »giftete« es wenigstens. So war er

188
die große Berühmtheit unserer Stadt, zum Schluß sogar eine Sehenswürdigkeit, die
sich kein Fremder entgehen lassen durfte. Er war populärer als jeder Schauspieler,
berühmter als jeder Gelehrte; er war eine Erscheinung und Wirkung in der Politik,
wie sie keine Großstadt auszuweisen vermag, wie sie nur in Wien möglich ist und
nur durch Lueger entstehen konnte. 3 5 2

Er schuf eine Stadtimago, die die verschiedenen kleinbürgerlichen und mit-


telständischen Segmente der Wiener Gesellschaft einte. Er schuf Wien als
Vaterstadt in Form einer imaginierten Gemeinschaft der Petite Bourgeosie.
Darin bündelte er eine Vorstellung Wiens als Inbegriff einer vorindustriell-
bürgerlichen, ständisch-familiären und christlichen Stadt, beruhend auf
Autorität, Paternalismus, Vätererbe und christlich-katholischem Wengefü-
ge. Luegers Stadtvision und Stadtgestalt hat viele Merkmale von dem, was
Benedict Anderson als Imagined Communities353 begrifflich gefaßt hat.
Gleich Andersons Verständnis von Nationen sind sie souverän (ein Quasi-
Staat im Staat), exklusiv (deutschnational und antisemitisch), egalitaristisch
und gemeinschaftlich definiert. Imaginiert ist Luegers Wen deshalb, weil
er eine Gemeinschaft adressiert, die als solche nur in der Phantasie der Sub-
jekte existiert und als reale schon deshalb nicht erfahren werden kann, weil
die meisten einander notwendigerweise fremd sein müssen. Er einte sie über
einen sezessionistischen Code des Populismus, der aus Anonymen das Wir
gegen die Anderen formt. Luegers Gemeinschaft der kleinen Leute bildet
sich in einer Situation kultureller Entfremdung, die soziale Primärbeziehun-
gen nicht mehr zuläßt und ein einigendes Band der Gemeinsamkeit durch
soziale Exklusion und Inklusion herstellt. Doch seine Stadtimago ist mehr
als nur eine Reaktion auf Industrialisierung und Anonymisierung in einer
rasch expandierenden Großstadt, vielmehr intoniert sie auch den Verlust
einer vorgeblich existenten Ganzheit. Da die Gegenwart als chaotisch und
unübersichtlich, als bedrohlich und beängstigend erfahren wird, kann Lue-
ger die Memoria des Vormärz als die goldene Zeit des Wenertums und der
Gemütlichkeit adressieren und zugleich die Bürgereinheit von 1848 als Bür-
gergemeinschaft wiederbeleben. Was in den frühen achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts als Bewegung von Kleingewerblern mit niederen Steuerleistun-
gen begonnen hatte, entwickelte sich ein Jahrzehnt später zu einer breitge-
fächerten, mittelständischen Protestströmung, die Lueger im Namen alt-
bürgerlicher Werte von Respektablität und Tugend instrumentalisierte.
Hatten die Liberalen 1848 die Bürgereinheit beschworen, um sie in der Folge
zu spalten und zu fragmentieren, so trat Lueger jetzt zur Revision an und
mobilisierte die Modernisierungsverlierer der postrevolutionären Epoche zu-

189
B I L D 20
Volkstribun, Populist und Antisemit, das Bürgermeisterdenkmal Karl Lueger
Bildnachweis: Historisches Museum der Stadt Wien

nächst gegen die Liberalen selbst und schließlich gegen die Sozialdemokra-
ten. Damit repräsentierte Luegers politische Maschinerie um 1900 nicht nur
die Kleingewerbetreibenden, sondern politisch wie kulturell das imaginierte
Ideal der Bürgereinheit zugleich auf vor- wie auf frühindustrieller Basis.354

190
Lueger nützte gleichermaßen die krisenhaften, gesellschaftlichen Rah-
menbedingungen der Habsburger Monarchie - feudalistischer Konservati-
vismus, verzögerte Modernisierung und »economics of backwardness«355 -
wie die durch den Kapitalismus verursachten, Urbanen Segmentierungen des
Sozialen - aufkeimender (Deutsch-)Nationalismus bzw. Niedergang eines
supranational gesinnten Liberalismus - zur Schaffung eines neuen, distink-
ten politischen Stils. Darin verband er Populismus (Aggregation unterschied-
licher sozialer Segmente zu einer »imagined community« als Massenbasis für
seine Politik), Personalismus (er organisierte sich zugleich als Partei und
Vaterfigur), Antisemitismus (er machte aus einer kontingenten, kulturellen
Teilformation des Feudal-Popularen eine taktisch-politische Metapher als
Identitätsnarrativ für die »Massen«) und Kollektivismus (»Christlicher So-
zialismus« als Gegenstrategie sowohl zum säkularen Sozialismus der Sozial-
demokraten als auch zum partikularistischen Universalismus der Liberalen)
zu einem eigentümlichen Gemenge von modernen Stilformen und rück-
wärtsgewandten Inhalten. In Luegers Person und Politik manifestierten sich
gleichermaßen die technischen Imperative der Moderne (Kommunalisie-
rungsprojekte und die Schaffung einer »fordistischen« Stadtstruktur) wie
regressive, autoritäre und paternalistische Visionen der Gesellschaft als »Ge-
meinschaft«. Er ging mit der Zeit, um sich ihrer radikal-demokratischen
Agenda zu entledigen. Es ging ihm nicht um politische Inhalte, sondern
um persönliche Macht, er wollte nicht Programme umsetzen, sondern eine
autoritäre Politik als Theater der Stimmungen und Ressentiments dirigieren.
Er schaffte sich seine Machtbasis über ein weitverzweigtes Klientelsystem
unter Beamten und Abhängigen. Seinen Machtanspruch leitete er nicht aus
der Ideologie ab, sondern aus dem permanenten Rekurs auf das »Wiener-
tum«, als dessen Sprachrohr und Regisseur er sich verstand.
Allerdings war er eigentlich überhaupt nicht sehr für Gesinnungen. Er liebte ein
ungeordnetes Durcheinander von Meinungen und Anschauungen, aus welchem Wust
dann im geeigneten Moment der passende Grundsatz hervorzuheben war. Das Ge-
fäß zur Aufbewahrung dieser ganz kontroversen Gedanken war für Karl Lueger die
»Wiener Gemütlichkeit«. In diesem geräumigen Wurstkessel fand alles Platz: De-
mokratie und Hofdienst, Hausherren- und Arbeiterfreundlichkeit, Judenfreund-
schaft und Antisemitismus, Deutschnationalismus und Klerikalismus und noch ein
Schock sonst unvereinbarer Gegensätze. 356

Als Lueger am 10. März 1910 starb, ging mehr als nur eine erfolgreiche Po-
litikerkarriere zu Ende. Wiens Kleinbürgertum und unterer Mittelstand ver-
loren nicht nur eine populäre Politikerfigur, sondern sie verloren ihr Sprach-

191
rohr und ihr Medium der politischen Artikulation. Er war, wie Friedrich
Austerlitz betonte, »der erste bürgerliche Politiker, der mit Massen rech-
nete, Massen bewegte, der die Wurzeln seiner Macht tief ins Erdreich senk-
te«.357
Luegers Begräbnis358 war ein gesellschaftliches Großereignis. Hundert-
tausende säumten seinen letzten Weg auf den Zentralfriedhof, wo die Be-
erdigung unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand. Der Trauerzug quer-
te die ganze Stadt - vom Rathaus über den Ring zum Stephansdom, wo
die Einsegnung unter Beisein des Kaisers, des Hochadels, städtischer und
staatlicher Würdenträger, von Ministern, Kardinälen, Erzbischöfen, Offi-
zieren vollzogen wurde. Am Aspernplatz stand eine Unmenge von Wagen
bereit, um die Trauergäste bis zum Friedhof zu fahren. Die Straßenbahnen,
die zum Zentralfriedhof führten, waren extra eingestellt worden und ein
uniformiertes Spalier von Soldaten, Polizisten, städtischen Beamten und
Schützenvereinen umschloß die Straßen, durch die der Trauerzug zog. Ganz
Wien war schwarz eingeflaggt, Würstelbuden boten Speis und Trank an und
die meisten Geschäfte waren zur Würdigung des Toten geschlossen. >Wien<
stand still, um seinem großen Politiker Respekt zu zollen und um zugleich
ein großes Volksfest zu feiern.
Luegers Populismus hatte die Kleinbürger Wiens an die politische Macht
gebracht und den Liberalismus zerstört. In Franz Schuhmeier, gleich ihm
ein Politiker der Transgression und Kind der Vorstadt und gleich ihm die
Verkörperung eines unverfälschten Urwienertums<, war ihm sein großer
Gegenspieler erwachsen. Franz Schuhmeier rekurrierte ebenso auf das Erbe
des Liberalismus, aber in einer gänzlich anderen Form. Es ging nicht um
dessen Zerstörung, sondern um die Einlösung seiner unerfüllten politischen
Agenda. Die großen Versprechen der Aufklärung und der Moderne - Bil-
dung, Gleichheit, Fortschritt und Wohlstand - sollten nicht nur einer schma-
len Elite vorbehalten sein, sondern zum wahren Universalismus des >Vol-
kes< werden. In Schuhmeier laufen die Widersprüche des ausgehenden 19.
Jahrhunderts exemplarisch zusammen: zum einen Fortschrittsgläubigkeit,
Aufklärungspathos und der Glaube an die Pädagogisierbarkeit der Massen
durch Bildung und Wissen, und zum anderen das Fortdauern von Uberlie-
ferung, oraler Volkskultur und populärer Traditionen. Er stand, wie es die
Arbeiter-Zeitung in ihren unter dem unmittelbaren Eindruck des Attentats
verfaßten Nachrufen ausdrückte, für »das Helle, das Freudige, das Resolu-
te, das Schneidige«, das den eigentümlichen Reiz und die eigentümliche
Kraft des Wiener Proletariats ausmachten und die alle verspürten, »die mit

192
ihm in innigere Berührung kommen« - kurz, »ein echter Proletarier und
ein echter Wiener«.359 Wie kein Zweiter repräsentierte er als typische Figur
der sozialen und kulturellen Transgression nicht bloß die Vorstadt, er war
die Vorstadt und er war zugleich mehr. Als prononcierter Antiklerikaler,
als exponierter Freidenker und Freimaurer war er auch zu einer Symbol-
und Identifikationsfigur des freisinnigen Wener Bürgertums geworden, das
ihm, so die Neue Freie Presse in einer posthumen Würdigung, als »uner-
schrockenen Bekämpfer der Klerikalen und als wurzelechter Wener Figur«
ein freundliches Andenken bewahren werde.360 Und der liberale »Morgen«
beschloß seine Einschätzung des Politikers Schuhmeier folgendermaßen:

Darum durfte heute auch das freisinnige Bürgertum W e n s mittrauernd an diesem


Grabe stehen, in das ein sozialdemokratischer Führer zur ewigen Ruhe gebettet
wurde. Denn jeder wahre und echte Volksmann ist ein Mitkämpfer aller freisinni-
gen Männer, aller, deren Lebensanschauung den Polizeigeist verwirft, der uns für
diesseits und jenseits »zu höheren Zwecken« bevormunden und gängeln will. 361

Der neunundvierzigjährige Schuhmeier war am späten Abend des 11. Fe-


bruar 1913 bei seiner Rückkunft von einer Agitationstour aus Stockerau,
wo er in seiner Funktion als Mitglied des Landesparteivorstandes der Nie-
derösterreichischen Sozialdemokratie als Redner aufgetreten war, in der
Ankunftshalle des Nordwestbahnhofes erschossen worden. Der Attentä-
ter, Paul Kunschak (Bruder des führenden christlichsozialen Arbeiterfunk-
tionärs Leopold Kunschak), galt als Querulant und politischer Wirrkopf.
Er hatte Schuhmeier als seinen Stenographielehrer in einem Kurs des Otta-
kringer Volksheimes kennengelernt, und zuvor schon, zu diesem Zeitpunkt
noch Sympathisant der Sozialdemokratie, im Zusammenhang mit den Un-
ruhen während des Tramwaykutscherstreiks 1888, in deren Verlauf er ver-
haftet worden war, erste Kontakte mit ihm aufgenommen. Als Motiv für
seine Tat gab er an, er habe über einen ihrer populärsten und prominente-
sten Vertreter die Sozialdemokratie, von deren Freien Gewerkschaften er
sich verfolgt und gegängelt fühlte, insgesamt treffen wollen.362
Der Ermordete war als erstes von fünf Kindern des größtenteils beschäf-
tigungslosen Bandmachergesellen und Alkoholikers Eduard Schuhmeier und
dessen Gattin Theresia, Hausbesorgerin und Wäscherin, in Wien-Margare-
then zur Welt gekommen.363 Seine Schulzeit war von schwerer Kinderar-
beit bei einem Fiaker begleitet, eine Facharbeiterausbildung als Ziseleur
mußte er auf Grund einer Augenverletzung abbrechen. Nach zwei Jahren
auf der Walz trat er 1882 in die Buntpapierfabrik Goppold und Schmiedl

193
ein, die zu dieser Zeit als Zentrum von Sozialisten, Sozialrevolutionären und
"Weltverbesserern aller Schattierungen galt.
Binnen kurzer Zeit fand sich Schuhmeier als Mitglied revolutionärer
Konventikel bei Versammlungen und Sitzungen in den Hinterstuben diver-
ser Vorstadtgasthäuser und verborgenen Kellerlokalen wieder. Seine politi-
schen Anfänge fallen in die Zeit des Anarchismus und der radikaldemokra-
tischen Phraseologie, seine wesentliche politische Sozialisierung ist der
Antiklerikalismus, dem er sich, von einem stark ausgeprägten Bildungswil-
len beseelt, auf »wissenschaftlicher Ebene< zu nähern versucht. Nach Ver-
hängung des Ausnahmezustandes (30. Juni 1884) wurde er Vertrauensmann
einer illegalisierten, fraktionierten, in sich tief gespaltenen und marginali-
sierten Arbeiterbewegung, und übernahm unter Einfluß des ebenfalls bei
Goppold und Schmiedl als Hausknecht beschäftigten Albert Sever und des
jungen Redakteurs der Adlerschen »Gleichheit« Franz Bretschneider zuneh-
mend >reformistische< Positionen. Schuhmeier wurde zum überzeugten Pro-
ponenten der Parteieinheit, was ihn allerdings nicht daran hinderte, weiter-
hin intensive Kontakte zur Linken zu unterhalten.
1887 schließt er sich unter dem Decknamen »Shakespeare« einem als
Raucherklub getarnten politischen Arbeiterverein (einer bevorzugten Or-
ganisationsform der illegalisierten Arbeiterbewegung) in Ottakring an und
übernimmt bald dessen Leitung.364 Nach der polizeilichen Aushebung ver-
büßt er eine siebenwöchige Untersuchungshaft und wird danach wegen
Übertretung des Versammlungsverbots zu einer vierundzwanzigstündigen
Arreststrafe verurteilt (insgesamt befindet er sich wegen politischer Delik-
te ein knappes Dutzend Mal in Arrest). In der Nachfolge des aufgelösten
Raucherklubs wird nun unter seiner Ägide der Arbeiterbildungsverein
»Apollo« gegründet, der Ende 1891 einen Mitgliederstand von 2300 auf-
weist und seinen jeweiligen Vereinssitz in den legendären Neulerchenfelder
Gasthäusern Rote Bretzen, Schwarzer Adler oder Weißer Engel hat. Seine
erste große öffentliche Rede hält er anläßlich der Ersten-Maifeier 1890 im
Goldenen Luchsen.
Ein Jahr zuvor war Schuhmeier für kurze Zeit in die Administration der
Arbeiter-Zeitung eingetreten, und damit hatte ein kometenhafter Aufstieg
begonnen. Mit fünfundzwanzig Jahren noch Hilfsarbeiter, stand er mit drei-
ßig an der Spitze der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse, war Reichspar-
teisekretär und Leitender Redakteur, später Herausgeber der »Volkstribü-
ne«, die binnen kurzer Zeit eine Auflage von 60000 Stück erreicht hatte
und deren Abonnement in Wien und Niederösterreich als Ausweis der Mit-

194
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B I L D 21
Arbeiteragitator und Vorstadtpatriarch Franz Schuhmeier
Bildnachweis: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung

195
gliedschaft bei der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei galt. 1894 weist ihn
eine vertrauliche Mitteilung der Wiener Polizei als einen der »täthigsten Füh-
rer« und »radikalsten Agitatoren« der Partei aus, der vor allem durch seine
»maßlosen Angriffe auf die bestehende Gesellschaftsordnung, gegen die Re-
gierung, die Behörden, die besitzenden Klassen und gegen das Unterneh-
merthum u. dgl.« von sich reden mache.365 Sein immer wieder mit ihm
durchgehendes Temperament, seine Impulsivität und seine wohl einmalige
Fähigkeit, Massenstimmungen in politische Rhetorik zu übersetzen, brach-
ten Schuhmeier nicht selten in heftige, wenn auch öffentlich nicht ausge-
tragene Konflikte zur unumstrittenen Führungsfigur seiner Partei, Victor
Adler, dem es in seiner politischen Konzeption und Strategie um eine strikt
rational geleitete soziale und kulturelle Modernisierung ging. In einem Brief
an Karl Kautsky vom 18. November 1901 etwa unterzog Adler Schuhmei-
ers gelegentlich überbordenden Populismus einer vernichtenden Kritik:
»Dann erst Schuhmeier, der sich eine Sorte von Radau-Opportunismus zu-
sammengebraut hat, die außerhalb von Wildwest (gemeint sind die westli-
chen Arbeitervorstädte Wiens; d. Verf.) unmöglich wäre, ein riesig geschick-
ter Demagoge, dem aber jeder Sinn fehlt, unsere Probleme auch nur zu
verstehen.«366
Über die Rolle des volkstümlichen Demagogen und vorstädtischen
Populisten aber ist Schuhmeier hinausgewachsen. Eine seiner größten Lei-
stungen ist die Einrichtung und der Aufbau des Ottakringer Volksheims in
Zusammenarbeit mit dem Universitätshistoriker Ludo Hartmann - eine
Volkshochschule im besten Sinn des Wortes, die Kurse zur Allgemeinbil-
dung und Berufsfortbildung ebenso anbot wie Volkstanz- und Sprachkur-
se (u.a. Deutsch für Tschechen und Tschechisch für Deutsche). An den po-
pulärwissenschaftlichen Veranstaltungen des Volksheims haben zwischen
1895 und 1905 nicht weniger als 100000 Menschen teilgenommen, ein Drit-
tel davon Arbeiterinnen und Arbeiter.367
Bei den Gemeinderatswahlen vom 31. Mai 1900 werden im vierten Wahl-
körper erstmals zwei Sozialdemokraten (die insgesamt 43 Prozent der Stim-
men auf sich vereinten) gewählt: Jakob Reumann für Favoriten und Franz
Schuhmeier für Ottakring; am 3. Jänner 1901 zieht Schuhmeier überdies
in den Reichsrat ein, dem er bis zu seiner Ermordung angehört und in dem
sich der passionierte Jäger schnell als Wehrexperte seiner Partei profiliert.
Im Wiener Gemeinderat aber wird er zum herausragenden Kontrahenten
der absolut regierenden Christlichsozialen und deren hervorragendsten Pro-
ponenten, Hermann Bilohlawek und Karl Lueger. Noch im ersten Jahr ih-

196
rer Zugehörigkeit zum Gemeinderat stimmen Reumann und Schuhmeier
für das christlichsoziale Gemeindebudget und setzen sich so über ein Tabu
der sozialdemokratischen Bewegung hinweg. Die grundsätzliche Konsens-
politik wurde aber aufgegeben, als Lueger sein Versprechen, das Gemein-
dewahlrecht zu demokratisieren, brach. Die von Schuhmeier propagierte
Fundamentalopposition wurde in der Folge nur mehr in Einzelfällen, wie
den Kommunalisierungsprojekten, aufgehoben. In Bilohlawek (bekannt ge-
worden durch Aussprüche wie: »Wenn i a Büchl seh, hab i schon gfressen«
oder »Wissenschaft ist, wenn ein Jud vom andern abschreibt«) identifizier-
te Schuhmeier (von diesem oft und oft als »Hutschenschleuderer« apostro-
phiert) den klassischen Wiener Spießer vom Grund und verachtete vor al-
lem dessen »politisches Volkssängertum«. In Lueger aber anerkannte er den
ebenbürtigen Gegner, den kongenialen populären Widerpart. Ihre verbalen
Kontroversen im Gemeinderat wurden Legende, beider Schlagfertigkeit,
Witz, Spott und Hohn konnte in tiefempfundene Feindschaft umschlagen,
Schreiduelle und wüste Beschimpfungen endeten aber ebenso oft in thea-
tralischen Versöhnungsgesten, und insbesondere Lueger rekurrierte dabei
immer wieder auf das beiden doch so urtümlich eigene >Wienertum<. Das
von vielerlei Ambivalenzen und Ambiguitäten geprägte Verhältnis dieser
ungleichen und doch so ähnlichen Zwillinge des Populären, das von massi-
ver Grobheit und bissigem Hohn über gegenseitigen Respekt bis hin zu
einer beinahe liebevollen Verehrung alle Skalen durchlief, war dementspre-
chend auch zentrales Thema des Feuilletons in den Tagen nach dem Atten-
tat auf Schuhmeier. Der grundlegende Tenor ging dahin, daß die Ähnlichkeit
ihrer volkstümlichen Rhetorik, ihrer Diktion, aber auch in ihrer rücksichts-
losen Art zu debattieren, bemerkenswert gewesen sei und sie eben deshalb
ihre gegenseitige Sympathie niemals hatten unterdrücken können. Die
»Zeit« brachte es auf den Punkt:
Schuhmeier wurde an Popularität in Wien während der letzten Jahre wohl nur von
Lueger erreicht, mit dem er trotz der erbittertsten politischen Gegnerschaft viel ge-
meinsames im Charakter, im Auftreten hatte: Beide waren typische Repräsentan-
ten des Wiener Volkstums. Dr. Lueger, der Wiener Bürger, Schuhmeier, ein Kind
des Volkes. Aus kleinen Anfängen hervorgegangen, hat Schuhmeier es im politi-
schen Leben zu einer hervorragenden Stellung gebracht und ward, wie Lueger zum
eigentlichen Führer des Wiener Mittelstandes, zum Führer der breiten Massen der
organisierten Arbeiterschaft. 3 6 8

Schuhmeier war weder Theoretiker noch Organisator, ebensowenig war er


politischer Taktiker. Er mied organisatorische Kleinarbeit, wo er konnte,

197
und er liebte die Kleinarbeit auch im Denken und Erwägen nicht. Schuh«
meier war Agitator, vor allem aber Rhetor. Als Versammlungs- und Debat-
tenredner war er von unerreichter Brillanz, auf diesem Gebiet erbrachte er
seine gültigsten Leistungen. Meisterhaft konnte er seinen unverwechselba-
ren Wiener Dialekt zum Einsatz bringen, ließ er sich von seinen Impulsen
leiten. Ein Meister echter Augenblicksrhetorik, voll Witz und Schlagkraft,
der seine Worte aus dem unmittelbaren Empfinden seiner Zuhörerschaft
schöpfte. In solchen Momenten, so wird berichtet, ging er gänzlich im Emp-
finden der Massen auf. Es mag dies ein wesentlicher Grund für das hohe
Maß an Verehrung gewesen sein, das ihm vor allem von >seinen< Ottakrin-
gern entgegengebracht wurde, zeichnete aber ebenso für sein häufiges und
eher unbedenkliches Kokettieren mit dem Antisemitismus verantwortlich
- ein laut Wilhelm Ellenbogen innerlich längst überwundener »ottakringi-
scher Atavismus«. Denn: »Seine leidenschaftlichsten Liebhaber sind immer
die Juden gewesen.«369
In dieser genuinen Figur des Populären vereinigten sich Gegensätze,
Kontraste, Wdersprüche. Eine bewußt kultivierte Kantigkeit und Resolut-
heit, in gewissem Sinn ein wienerisches >Grantlertum<, kontrastierten mit
einer von seinen engen persönlichen Bekannten immer wieder angespro-
chenen >echt wienerischen Weichheit«, mit unbändiger Lebenslust, einer san-
guinisch leichten, sorglosen Lebensführung, Liebe zur Musik und einer fast
naiven Theaterbegeisterung. »Er bekannte sich zu einem saftigen Beinfleisch
mit der gleichen Begeisterung und Ungeniertheit wie zu der ahnungsvol-
len Mystik des Nornengesanges in der Götterdämmerung.«370
Als er Abgeordneter wird, zieht er, der stets größten Wert auf Schlicht-
heit und Volkstümlichkeit des äußeren Gehabens legte, von seiner Woh-
nung in einer Zinskaserne in der Kaiserstraße in eine secessionistische Villa
am Wlhelminenberg. Der Feuilletonist der Arbeiter-Zeitung, Hugo Schulz,
sieht in seiner Person »die Genien Schubertscher Musik und Raimundscher
Poesie« zum Ausdruck gebracht.371 So nimmt es wenig wunder, daß Max
Eitelberg in der Schuhmeier-Sondernummer der satirischen Wochenschrift
»Glühlichter« konkrete Parallelen zu dem wohl bekanntesten und beliebte-
sten Volksschauspieler seiner Zeit zieht und ihn damit endgültig zu einer
genuin wienerischen Figur in der Zwischenzone von Zeitlos-Populärem und
hochkultureller, bürgerlich-theatralischer Inszenierung hochstilisiert: »Der
Zug um seinen Mund, wohl von Leid gepflügte Furchen, gab ihm eine Ähn-
lichkeit mit Girardi. Ein Teil von Girardis Wesen war ihm sicher eigen und
es war ein Teil jener Kraft, die ihm unendliche Liebe gewann.«372

198
Diese Stilisierung, seine Konstruktion zum Stellvertreter und zum In-
begriff eines in sich alle idealisierten Tugenden des echten Wieners und des
echten Arbeiters vereinigenden Volkshelden konnte auf einen historischen
Kern zurückgreifen. In gewissem Sinne wurde er zur Fortführung, ja Aus-
prägung des vordergründig gemütlichen und phäakischen Wiener Arbeiters,
der sich in den Oktobertagen des Jahres 1848 zu geschichtlicher Größe auf-
geschwungen hatte.

So wie er waren die biederen Schottenfelder Seidenweber und Lichtentaler Kupfer-


schmiede, die in Neulerchenfeld und Altottakring beim Heurigen harmlos ihre
schlagfertige Zunge spielen ließen, bis dann das Jahr 1848 ihre schlagfertige Faust
in Bewegung brachte ( . . . ) Sie [die Wiener Arbeiterschaft; d. Verf.] wurde damals
hart und scharf und kantig und knorrig, und es erwuchs dann auf dem Schotten-
feld ein Geschlecht, das emporeilte zum proletarischen Klassenkampf und das in
Franz Schuhmeier seine echteste, wesenhafteste Verkörperung fand. 3 7 3

Schuhmeier, der es vom Hilfsarbeiter mit Volkschulbildung zum glänzen-


den Kommunalpolitiker, parlamentarischen Wehrexperten und anerkannten
Journalisten gebracht hatte, stand in diesem Sinn konkret wie symbolisch
für die soziale und kulturelle Aufstiegsfähigkeit der vorstädtischen Arbei-
terschaft, als jener einzelne, in dem die Vielen die Vorauserfüllung ihrer Zu-
kunftshoffnungen erblicken konnten. Und in diesem Sinn liebte >das Volk<
in Franz Schuhmeier sich selbst, war es in ihm stolz auf sich selbst.374
Schuhmeiers Rhetorik und Politik schuf einen Begriff der Wiener Vor-
städte als Cbrono-Topos. Das heißt, die Vorstadt wird als Terrain der Poli-
tik definiert - aus einem chaotischen Konglomerat von anonymisierten so-
zialen Beziehungen, Baulichkeiten, Fragmenten des Raums und des Lebens,
aus Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, aus Elendserfahrungen und klei-
nen Alltagsfluchten und aus einem auf das Hier und Jetzt begrenzten Da-
sein, dem das Morgen nicht gesichert ist, wird ein Territorium des Uber-
gangs zu einem möglichen Anderen. Schuhmeier und die Sozialdemokratie
bringen die politische Utopie dieses möglichen Anderen in die alltäglichen
Lebensperspektiven. Die Vorstadt wird nicht als geschichtslose Gegenwart
gedacht, sondern als Ort des Ubergangs zu einem besseren Leben konstru-
iert. Somit können die Veränderungen der Wiener Vorstädte in der Zeit vor
und um die Jahrhundertwende nicht nur durch die bauliche Expansion, die
Zuwanderung aus den Kronländern und die Entwicklung neuer technischer
Infra- und Verkehrsstrukturen sowie neuer Formen des Konsums etc. ver-
standen werden, sondern auch als Veränderungen der Raum-Zeit-Erfahrun-

199
gen. Es geht um eine neue Politik der Identität. Die Arbeiter sind nicht
nur die Arbeiter und die Proletarier nicht nur einfach die Proletarier, son-
dern sie sind eine neue Entität, die mit Zukunftserwartungen und Zukunfts-
hoffnungen versehene »Arbeiterklasse«. Die Macht- und Rechtlosen erfah-
ren sich dadurch nicht mehr nur als ohnmächtige Objekte von über ihren
Köpfen hinweglaufenden industriellen und politischen Machtprozessen,
sondern als eigentliche Subjekte, die Teil eines Zukunftsprojektes sind, das
das aktuelle Leid als bloßes Durchgangsstadium erscheinen läßt.
Somit erscheint die Vorstadt nicht mehr nur als Schauplatz einer unend-
lichen Dur£e von Elend und miserablen Wohn- und Lebensverhältnissen,
sondern als ein Ort der sozialen und politischen Transformation. Die Mäch-
tigkeit dieser Konstruktion liegt in der Mischung von politischem Fort-
schrittsnarrativ, konkret vorgestellter Zukunft und flächendeckender Or-
ganisation begründet. Es ist genau diese Politik der Antizipation, die es der
Sozialdemokratie erlaubt, aus dem Nichts der vorstädtischen Sozialbezie-
hungen, aus ihrer Kontingenz und Ziellosigkeit eine schlagkräftige und ef-
fiziente Organisationsstruktur aufzubauen, für die es zu ihrer Zeit kein ver-
gleichbares Pendant gibt. Selbst einfache Organisationsabläufe, wie z.B. das
Einkassieren von Mitgliedsbeiträgen oder die Parteizeitungskolportage, wer-
den zum Teil eines quasi-religiösen Rituals erklärt, weil sie in einem Gan-
zen gedacht sind, in dem sich Ideale der bürgerlichen Revolution mit va-
gen Vorstellungen einer klassenlosen Gesellschaft zu einer utopischen
Zivilreligion vereinten. Wie durchdringend und weitreichend die Organi-
sationskraft der Sozialdemokratie in den Vorstädten bereits bei den ersten
Wahlen nach freiem und gleichem Männerwahlrecht 1907 war, zeigen die
Ergebnisse für die Bezirke Ottakring, Floridsdorf, Favoriten und Brigitten-
au, wo die Anzahl der sozialdemokratischen Stimmen von der Anzahl der
Arbeiterwähler durchschnittlich nur um 9,3 Prozent abwich (Neulerchen-
feld 5 %, Brigittenau 13,5 %). 3 7 5 Die Sozialdemokratie war in der Lage, die
aus der feudal-popularen Tradition entstammenden, kleinnetzigen Sozial-
beziehungen dörflicher Formationen in Zellen- und Sektionsstrukturen ihrer
Parteiorganisation überzuführen. Bereits 1896 kam ein vertraulicher Bericht
der niederösterreichischen Statthalterei zu dem Schluß, daß die sozialde-
mokratische Sektions- und Rayonsorganisation in den Wiener Vorstädten
nach Häusern und Straßenzügen derart ausgestaltet sei, daß auf nahezu je-
des Haus ein Vertrauensmann kam, der für die Agitation durch die Verbrei-
tung von Flugschriften, persönliche Einflußnahme etc. zu sorgen hatte. Die
dieserart forcierte Neuterritorialisierung der Stadt und Erzeugung einer

200
politischen Kartographie des Urbanen fand ihren Niederschlag in einem
nach Tausenden zählenden System von Vertrauenspersonen, die sich, wie
dies der Ottakringer Reichsratsabgeordnete Albert Sever ausdrückte, in den
Häusern besser auskannten als die Hausbesitzer oder die Hausmeister.376
Diese Mikropolitik des Sozialen, die ein dichtes Netz von Kommunikation
der Anonymität der Metropole gegenüberstellt, bedingt einen Diskurs des
Lokalen, der zum Co-Autor einer neuen Politik der Öffentlichkeit wird.
Was hieß dies nun für die traditierten Kulturen des Mündlichen und Po-
pulären? Es bedeutete vorerst nicht Verschriftlichung und damit abstrakte
Modernisierung vorstädtischer Lebenswelten, sondern es hieß, die Vorstadt
vorerst als Gegenstand eines pädagogischen Diskurses zu konstituieren.
Man begründete eine neue proletarische Kultur durch einen Rekurs auf orale
Traditionen und den Rückgriff auf vormoderne Sozialstrukturen. Dies be-
deutete nicht ein banales Abbild eines >Dorfes in der Stadt<, sondern eine
fließende Neubegründung urbaner Lebensformen im Prozeß der Transgres-
sion. Dörfliche und vorindustrielle Biographien und Familientraditionen
wurden mit neuen Idenitätszuschreibungen und Erwartungshorizonten
überformt. Den Spur- und Geschichtslosen wurde Richtung und antizipie-
rendes, politisches Handeln vermittelt - das Amorph-Andere organisierte
sich selbst zum geschichtsmächtigen Subjekt. Die spurlose Moderne der
Vorstädte begann, via Massenpolitik und Organisation Öffentlichkeit zu
bestimmen und zu formen. Das sozialdemokratische Fortschrittsnarrativ
besetzte jene Leerstelle des Urbanen Lebens, die vom Liberalismus zwar
universalpolitisch adressiert, aber nicht besetzt wurde. In diesem doppel-
ten Prozeß der Politisierung des Territoriums und der Subjektivierung des
Amorph-Anderen stellten sich die Massen als politischer Faktor her. In ei-
ner Zeit und in einer Stadt, in der, nach Robert Musil, die Verfassung libe-
ral, die Regierung aber klerikal war, in der klerikal regiert, aber freisinnig
gelebt wurde, in der vor dem Gesetz alle Bürger gleich, aber eben nicht alle
Bürger waren,377 formte sich in den Vorstädten eine zur bürgerlichen Welt
antagonistisch verfaßte Gegengesellschaft. Es fand eine Parallelbewegung
von Zentrum und Peripherie insofern statt, als sich an der Peripherie die
Konstitution des Subjekts von der Alterität und Indifferenz hin zur politi-
schen Identität vollzog, währenddessen die Subjekte des Zentrums, die bür-
gerlichen Eliten im Niedergang und in der Krise des Liberalismus die
schmerzvolle Transformation von der politischen Identität hin zur kultu-
rellen Differenz durchliefen. In der City entwickelte sich zum einen ein
subjektentkoppelter, abstrakter Kapitalismus und zum anderen eine kom-

201
plexitätsgesteigerte Kultur von Pluralismus und Subjektivismus. Das bür>
gerliche Ich spaltete sich in den irreduziblen Differenzerfahrungen der kuU
turellen Moderne.

Die Zeit bewegte sich. Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht
glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkft-
mel; und nicht erst heute. Man wußte bloß nicht, wohin. Man konnte auch nicht
recht unterscheiden, was oben und unten war, was vor und zurück ging. »Man kann
tun, was man will;« sagte sich der Mann ohne Eigenschaften achselzuckend »ei
kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an!«378

Das >Ich< wurde zum Gegenstand eines kulturellen Diskurses der Diffe-
renz und die >Massen< zu einem Diskursfeld politischer Identität. Am Ende
dieser Transgression residierte im Zentrum das nervöse und fragmentierte
Ich des Fin de Si&cle379, das als »unrettbares Ich« in der Philosophie von
Ernst Mach thematisiert und in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaf-
ten« als Fragmenttext des Individuellen erzählt wird. Die >Massen< der Vor-
stadt hingegen werden als Gruppenidentitäten neu konstruiert - und zwar
sowohl als politische Kollektivsubjekte der Sozialdemokratie wie auch als
soziale Ressentimentsobjekte des Luegerschen Populismus.
Die Phase der Transgression der "Wiener Gesellschaft in den beiden Jahr-
zehnten vor dem Ersten Weltkrieg schuf und vollendete die doppelte Fal-
tung der Stadt und bewirkte dieserart sowohl die endgültige Marginalisie-
rung feudaler Traditionen und Hegemonie als auch die Konstituierung eines
Plateaus demokratischer Massenpolitik. Darin vollzog sich eine folgenrei-
che Ironie - nämlich die Geburt der Demokratie nicht als logische Konse-
quenz des Liberalismus, sondern als Spaltung des Stadtkörpers sowohl
räumlich wie sozial in die sozialdemokratischen, vorstädtischen Arbeiter-
massen und in das christlichsoziale Lager der Kleinbürger, Beamten und Mit-
telschichten. Nicht aus einer homogenen Polis entwickelte sich die Demo-
kratie, sondern aus dem konzentrischen Macht- und Sozialgefälle der
Ringstraßenära, in der sich liberales Macht- und Selbstbewußtsein mit dem
Restbestand des feudalen Machtkerns zu einem Hegemonieamalgam ver-
einten. In das diachrone konzentrische Machtgefälle des Stadtleibes, das der
Liberalismus der Ringstraßenära geschaffen hatte, diffundiert nun die neue,
demokratische Massenpolitik weniger als dessen Aufhebung als vielmehr
als dessen Verfestigung. Die Sozialdemokratie adressierte zwar durch Schaf-
fung einer modernen, organisierten Massenpartei erfolgreich die uneinge-
löste universalistische politische Botschaft des Liberalismus, konnte aber

202
seine machtarchitektonische Hinterlassenschaft nicht antasten, da sie auf
Grund eines bis 1919 bestehenden kommunalen Kurienwahlrechts von re-
alpolitischer Einflußnahme auf die Stadt weitgehend ausgeschlossen war.
Lueger und die Christlichsozialen hingegen zerstörten die politische Macht
der Liberalen vornehmlich durch ihre Kommunalisierungsprojekte und
durch den Aufbau einer loyalen Machtbasis im städtischen Beamtenappa-
rat. Die konzentrische Faltung des Stadtleibes ließen sie aber unangetastet.
Lueger inthronisierte den Kleinbürger als neuen politischen Hegemon auf
kommunaler Ebene, und an die Stelle der liberalen Ideologie setzte er sei-
ne Person als Politik und Programm. Die Sozialdemokratie als Massenbe-
wegung war darauf beschränkt, den Stadtleib symbolisch als möglichen To-
pos einer anderen Politik, einer anderen Gesellschaft und einer anderen
Kultur zu konfigurieren und schuf dieserart einen egalitären kulturellen
Code, der nach dem Ersten Weltkrieg im >Roten Wien< bestimmend wird.
Lueger hingegen entwickelte einen sezessionistischen und xenophoben
kulturellen Code, da er nicht die Totalität der Stadt adressierte, sondern viel-
mehr deren Spaltungen. Seine Politik war die einer >Evangelisierung< der
Armen und des Ausschlusses der Anderen. Indem er die grundlegende, so-
ziale und kulturelle Segregation der Stadt weitgehend unangetastet ließ,
mußte er die darin eingelagerten, explosiven Spannungen in anderer Form
thematisieren. Die Vorstadt wurde ihm zu einem Territorium, das es in sei-
ner kleinbürgerlichen Dimension klientelistisch zu bewirtschaften und in
seiner proletarischen Dimension durch eine Politik der Symbole (Kirchen-
bauten, karitative Armen- und Waisenfürsorge) zu befrieden galt. Die so-
zialen und ökonomischen Spannungen des Stadtganzen hingegen adressierte
er in einem Diskurs der Alterität, d.h. das Fremde und Andere wird in sei-
nem Anderssein nicht nur kulturell markiert, sondern zur eigentlichen Ur-
sache politischen Übels und sozialer Mißstände erklärt. Diese Politik ist
nicht essentialistisch, sondern funktionalistisch. Luegers Antisemitismus ist
nicht rassistisch, sondern kasuistisch und populistisch: »Am wenigsten fest
saßen seine antisemitischen Gesinnungen in ihm. Mit dem politischen Ver-
stand, mit dem Vorsatz ist Lueger Antisemit gewesen, mit dem Herzen nie
(...) Wenn ihm im Privatleben eine Jude ernst kommen und ihm seine Ju-
denfeindschaft vorhalten wollte, so war Lueger förmlich gekränkt. Politik
und Menschlichkeit hat er immer als zwei streng getrennte Gebiete ange-
sehen.«380
Sein Antisemitismus kann als symbolischer Akt der Opferung, d.h. der
phantasierten Tötung des Juden und Fremden verstanden werden, um der

203
in den unversöhnten Spannungen des Stadtganzen angelegten inneren Tl«
ter-Opfer-Dynamik dadurch zu entkommen, daß man den Juden und Frem«
den zu einem Platzhalter und Stellvertreter macht. Deren Funktion ist ei|
das nichtexistierende innere und äußere Verhältnis der Klassen zu sich selbst,
d. h. ihre Sehnsucht nach Identität auszufüllen. Der Andere wird als Außen-
seiter stereotypisiert, um so das Phantasma einer in sich identischen Ge-
sellschaft überhaupt ansprechen und in der Gestalt einer »imagined com-
munity< der Bürgerstadt Wien erwecken zu können. Was so als Blockierung
für die vollständige Selbstidentität der Gemeinschaft erscheint, ist eigent-
lich die Bedingung ihrer Existenz. Erst indem man den Juden und Frem-
den die Rolle des Außenseiters und »Parasiten« auferlegt, die vorgeblich
Auflösung und Paralyse in den Gesellschaftskörper einbringen, wird das
Phantasma einer Gesellschaft als harmonischer Gemeinschaft politisch mög-
lich und populistisch funktionalisierbar.
Luegers instrumenteller Antisemitismus war nicht aus dem Nichts ge-
schaffen worden. Lueger konnte vielmehr auf eine länger zurückreichende
Tradition antijüdischer Ressentiments rekurrieren, die ideologisch und mi-
kropolitisch, vor allem auf kommunaler Ebene, aus einem katholischen An-
tisemitismus gespeist wurden, der aus populären Mythen über angebliche
jüdische Ritualmorde an christlichen Kindern381 ebenso schöpfte wie aus
offiziellen kirchlichen Doktrinen. Diese katholische Judeophobie war über
Jahrhunderte gewachsen, durch zahlreiche Pogrome immer wieder verfe-
stigt und legitimiert worden und hatte sich tief vor allem in die inneröster-
reichische, alpenländische Volkskultur eingelagert. Mehr ökonomisch fun-
dierte Formen antijüdischer Stimmungslagen entwickelten sich mit dem
Frühindustrialismus im Vormärz sowohl in Böhmen und Prag als auch in
Wien und identifizierten jüdische Industrielle (wie z. B. die Familien Mau-
thner, Wertheimstein, Epstein, Pribam) als Ursache für das soziale Elend
der Arbeiter in den Textil- und Bekleidungsmanufakturen und -fabriken,
obwohl der tatsächliche Anteil jüdischer Textilindustrieller verschwindend
gering war.382 Bei der Verschmelzung ökonomischer Formen des Antise-
mitismus mit solchen aus dem katholischen Bereich dürfte auch eine Rolle
gespielt haben, daß die überwiegend illiteraten, im gewerblich-industriel-
len Sektor beschäftigten Unterschichten mit Argwohn das »symbolische
Kapitah jüdischer Unternehmer und Geschäftsleute betrachteten, die nicht
nur schriftmächtig waren, sondern ihr Geschäftsgebaren auf der Basis von
rechnerischem Kalkül, Buchhaltung und rationalen Unternehmensstrategien
betrieben.

204
Diese kontingenten, kein systematisches politisches Narrativ konstitu-
ierenden Artikulationen des Antisemitismus, den Arthur Schnitzler »als
Gefühlsregung in zahlreichen, dazu disponierten Seelen und als höchst ent-
wicklungsfähige Idee; (der) aber weder als politischer noch als sozialer Fak-
tor (...) eine bedeutende Rolle«383 spielte, charakterisiert hatte, änderten
sich erst im Gefolge des »Börsenkrachs« von 1873. Das Revolutionsjahr von
1848 hatte reale Emanzipationsfortschritte für die Wiener Juden gebracht
und - mit Ausnahme von anfänglichen einzelnen Übergriffen auf jüdische
Unternehmer - zu keinerlei antijüdischen Gewalttätigkeiten geführt, wie
dies in anderen Teilen der Monarchie, etwa in Preßburg und in Ungarn, der
Fall war. Vielmehr bewirkte die namhafte Mitwirkung jüdischer Intellektu-
eller an den revolutionären Ereignissen (Adolf Fischhof, Karl Tausenau, Av-
ram Chajzes und Hermann Jellineck) 384 eine fast philosemitische Haltung
in der Wiener Bevölkerung, die z.B. dazu führte, daß anläßlich des Begräb-
nisses der Märzgefallenen Rabbi Isak Noe Mannheimer gemeinsam mit ei-
nem katholischen Priester und christlichen Notablen die Einsegnung der
Toten vornahm. Die im Gefolge von 1848 vollzogene bürgerliche Emanzi-
pation der Wiener Juden, die die Einschränkungen des Toleranzpatentes von
Joseph II. aufhob, führte zu einer materiellen wie kulturellen Blüte des We-
ner Judentums und ließ ihre Zahl von 6000 bis 7000 vor 1848 auf rund
40000 im Jahr 1869 hochschnellen.385 Qualitativ setzte sich die jüdische
Population aus einem relativ starken Kern von Mittelschichtsangehörigen
zusammen (viele von ihnen in Wen geboren) und aus neu zugewanderten
Juden, die aus Ungarn, Slowakei, Böhmen und Mähren kamen. Nach dem
Ausgleich 1867 verstärkte sich die Zuwanderung von Juden aus Galizien
und diese bildeten in den folgenden Jahrzehnten einen großen, kulturprä-
genden und öffentlich sichtbaren Anteil der Wiener jüdischen Gemeinde.386
1910 lebten in Wien rund 200000 Juden, und viele der Neuankömmlinge
ließen sich in der Leopoldstadt nieder, wo sie 34 Prozent der Bevölkerung
stellten.387
Der Börsenkrach von 1873 und die darauf folgende Rezession führte
nicht nur zu einem traumatischen Bruch in den Assimilations- und Mo-
dernisierungsbestrebungen der Wiener Juden, sondern spaltete diese auch
in unterschiedliche politische Fraktionen auf. Der Börsenkrach hatte näm-
lich die Grundlage für einen modernen Antisemitismus geschaffen, der Ju-
den nicht nur zu »akzidentellen Sündenböcken< für wirtschaftliche Krisen
und Stagnation in der Vormoderne stempelte, sondern die Keimzelle für
ökonomische Verschwörungstheorien bildete, die die Juden mit den Übeln

205
des Manchesterkapitalismus identifizierten388 und sie nach dem Scheitern
des politischen Liberalismus zur Zielscheibe antiliberaler Politik machten.
Die überzogenen Erwartungen an die Wundermaschine >Börse<, die nicht
nur der Mittelstaad, sondern auch viele Handwerker und Kleingewerbetrei-
bende gehegt hatten, entluden sich nun an den Juden und der Börsenkrach
wurde als »jüdischer Verrat< am »christlichen Volk< interpretiert.
Die jüdischen Reaktionen auf diesen anschwellenden und breite Teile der
Stadtbevölkerung mobilisierenden Antisemitismus neuer Prägung waren
gemischt. Ein Teil, zu dem auch die Spitzen der Gemeinde und ein Groß-
teil des assimilierten Bürgertums zählten, versuchte die feindlichen Stim-
mungslagen zu ignorieren und die Integration in das deutsche Bildungsbür-
gertum bzw. eine professionalistische Mittelstandskultur389 zu intensivieren.
Ein anderer Teil der bürgerlich-mittelständischen Juden wandte sich der
Politik zu und versuchte, die Liberale Partei zu reformieren (Heinrich Fried-
jung) bzw. schloß sich im Gefolge des Niedergangs der Liberalen neuen
postliberalen Bewegungen der Spätaufklärung an (Victor Adler). Andere wie
Dr. Josef Bloch, ein aus Galizien zugewanderter Rabbi, exponierten sich
mit einer jüdisch geprägten Variante reformierter liberaler Politik und ver-
suchten damit sowohl den Antisemitismus als auch assimilierte Reformer
wie Adler und Friedjung zu bekämpfen. Max Nordau, aber vor allem Theo-
dor Herzl stellten dem antisemitischen Projekt der Luegerschen »Vaterstadt
Wien* ihr eigenes Projekt einer »imagined community* gegenüber, das den
nationslosen Juden ihren eigenen Staat als Rahmen für die Emanzipation
und als Bollwerk gegen den Antisemitismus bringen sollte.
Das Wiener Judentum war um die Jahrhundertwende sozial, politisch
und kulturell gespalten und durch zwei extreme Pole gekennzeichnet. Zum
einen sahen sich die assimilationswilligen und assimilierten, überwiegend
dem Großbürgertum angehörenden Juden als zentralen Teil des Projektes
»Moderne* als einem Inbegriff ziviler Gesellschaft, die auf universalistischen
Prinzipien basierte und den Ideen der Spätaufklärung verpflichtet war. Ihre
kosmopolitische Orientierung korrespondierte nichtsdestotrotz mit einer
starken inneren Gruppenkohärenz und distinkten kulturellen Identitäten.390
Zum anderen schuf die große Zahl der zugewanderten osteuropäischen, vor
allem galizischen Juden eine eigenständige, der Orthodoxie und Tradition
eng verhaftete Ghettokultur im metropolitanen Kontext, die in ihrer Fremd-
heit, Andersartigkeit und Abgeschlossenheit zum Ziel massenhafter, rassi-
stischer Ressentiments wurde. Im Gegensatz zu der schon länger in Wien
ansässigen jüdischen (Groß-)Bourgeosie, die einen längeren Assimiliations-

206
prozeß hinter sich hatte und im Wege der Haskala, der jüdischen Aufklä-
rung, eine hebräische Kultur ohne besondere, äußere Erkennungszeichen
pflegte, unterschieden sich die neuen Zuwanderer durch ihren Lebensstil
und äußerlich sichtbare religiöse Gebräuche und boten sich so leichter der
Karikatur, der Diskriminierung und der rassistischen Stereotypisierung391
an.
Wiewohl Franz Schuhmeier antisemitische Ressentiments, die um die
Jahrhundertwende bereits tief in die Wiener Gesellschaft diffundiert waren
und eine politische Achse quer durch verschiedene soziale Gruppierungen
bildeten,392 auch immer wieder als ein inszenierendes Moment des Popu-
larmodernen aufgegriffen hat, besteht dennoch ein grundlegender Unter-
schied zum Luegerschen Antisemitismus. Luegers Ausgrenzung und Dif-
famierung der Juden war darauf ausgerichtet, das traumatische Erbe des
Liberalismus zu überdecken und die neuen sozialen Spaltungen zur Grund-
lage seiner Politik der Exklusion zu machen. Der Antisemitismus repräsen-
tierte in seiner politischen Strategie nicht nur ein Instrument der Massen-
mobilisierung, sondern einen integralen Bestandteil einer neuartigen
politischen Kultur, die die Massen gegen die (alten) Eliten und die »Inte-
griertem gegen die »Außenseiten aufwiegelte. Schuhmeier und die Sozial-
demokratie hingegen eigneten sich diese sozialen Spaltungen als politische
Agenda an und erklärten das Stadtganze zum kulturellen Programm der In-
klusion. Gegen die Luegersche Politik der Alterität setzen sie eine Politik
der Antizipation und Emanzipation. Beide - Lueger und die Sozialdemo-
kraten - nützen zwar das Populäre als Medium der politischen Mobilisie-
rung und Thematisierung, aber in jeweils unterschiedlichen Konstellatio-
nen. Lueger versuchte die disparaten Interessenslagen der Kleinbürger über
Historisierung und Alterisierung zu einen, die Sozialdemokraten imaginier-
ten die künftige Nobilitierung des Proletariats als sozialen und kulturellen
Träger eines neuen homogenen Stadtganzen. Lueger instrumentalisierte die
Anderen, die Juden und Fremden, als Außenseiter, um an der Macht zu blei-
ben, die Sozialdemokraten integrierten diese, um an die Macht zu kommen.
Ihre Politik der Antizipation wies im Hier und Jetzt dem Proletariat die
Funktion des kreativen Zerstörers zu, um in der Koalition mit einem frei-
sinningen, assimilierten intellektuellen Judentum eine gesellschaftliche Ord-
nung zu schaffen, in der beide Citoyen und nicht Außenseiter, Zentrum
und nicht Peripherie sind.
Die Transgression der Wiener Gesellschaft schreibt die Moderne als so-
zialen Text in die Stadt ein. Dieser Prozeß bedient sich der oralen und vor-

207
modernen Kulturen in der gleichen Weise, wie er sie zu ihrem Ende bringt.
Er überführt jene Teile in die Moderne, die sich als Objekte der Verschrift-
lichung, der Verwissenschaftlichung, der Pädagogisierung, der Rationalisie-
rung und der Planung fassen lassen und marginalisiert den Rest in zweifa-
cher Weise: zum einen als kontingente, arbiträre Vergangenheit, die aus der
verfaßten Memoria ausgeschlossen wird, und zum anderen als exotisches
Konstrukt, dem als >Urwienerischem< und zeitlos Populärem nachgetrau-
ert wird. Dieses exotische Konstrukt wird als mythologische Dimension
populärer und populistischer Politik angesprochen und so zur Grundlage
sowohl der Luegerschen Historisierung der Stadt wie auch der sozialdemo-
kratischen Nobilitierung des Proletariats gemacht. Dies kann als ein Expe-
riment verstanden werden, das von der Moderne marginalisierte Andere,
sein Spurloses und Verlorenes zu einer der zentralen Bezüge von Politik und
Identität zu erklären, um dieserart das Schockensemble der Moderne zu
kompensieren. Wie immer unterschiedlich sich die Intentionen und Inter-
essenlagen »demokratischer Massenpolitik« ausformten, in ihren kollekti-
ven Dimensionen zeigte sich der von Roben Musil angesprochene »gemein-
same Atem«. Das von der Moderne marginalisierte und historisierte Andere
kehrt so als mythologisches Moment und populäre wie populistische Di-
mension von Massenpolitik wieder. Es kehrt wieder als Traum von gesell-
schaftlicher Ganzheit, kultureller Identität und Authentizität. Es artikuliert
sich als eine Utopie, die die Moderne überhaupt erst geschaffen hat. Das
spurlose Andere der Moderne wird somit zu einer der wesentlichen Grund-
lagen dieses >kurzen< 20. Jahrhunderts.

208
ANMERKUNGEN

1 Schorske, Fin-de-Si£cle Vienna. Politics and Culture, N e w York 1981.


2 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1992,
9.
3 Ebd., 10.
4 Georg Simmel, Soziologie des Raumes (1903), in: Georg Simmel, Schriften zur
Soziologie, hsrg. von H.-J. Dahme und O. Rammstedt, Frankfurt/Main, 1983,
229.
5 Vgl. Richard Saage, O t t o Bauer, in: Walter Euchner (Hrsg.) Klassiker des So-
zialismus, Bd. 2, München 1991.
6 O t t o Bauer, Die Teuerungsrevolte in Wien, in: Die Neue Zeit, Jg. 29, 1910/11,
913-917; zur Teuerungsdemonstration und der nachfolgenden Welle von Mas-
senprozessen s. Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl, » . . . d e n Straßenexzes-
sen ein Ende machen.« Septemberunruhen und Arbeitermassenprozeß 1911, in:
Karl R. Stadler (Hrsg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870-
1936, Wien/München/Zürich 1986, 117-150.
7 Arbeiter-Zeitung (AZ), 19. September 1911,1.
8 Neue Freie Presse ( N F P ) , 19. September 1 9 1 1 , 1 .
9 Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot, Determinanten unzurei-
chender Wohnungsversorgung in Wien 1848 bis 1914, Wien 1977, 191ff.
10 Ebd., 193
11 Bauer, Teuerungsrevolte, 914; zur Illustration des quantitativen Ausmaßes der
Obdachlosigkeit sei auf eine Erhebung der Polizeidirektion Wien über das Ob-
dachlosenheim in der Triesterstraße aus dem Jahr 1912 verwiesen. Demnach fan-
den dort in den ersten drei Monaten dieses Jahres 29 522 Pfersonen Aufnahme,
das entspricht einem Tagesdurchschnitt von 324 im ersten Quartal. Das Bezirks-
kommissariat Favoriten meldete einen Rückgang jener Personen, die sich ob-
dachlos meldeten, von 367 im ersten Quartal 1911 auf 135 im Vergleichszeit-
raum 1912. Für den ganzen Bezirk wird eine Gesamtzahl von 4.574 Obdachlosen
angegeben. (Bundespolizeidirektion Wien, Archiv 1912/Scha V/1, Obdachlose,
G Z 2 2 7 / 4 vom 30. Juni 1912).

209
12 Vgl. Gerhard Melinz, Susan Zimmermann, Stadtgeschichte und Modernisierung
in der Habsburger Monarchie, in: dieselben (Hrsg.), Wien/Prag/Budapest. Ur-
banisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte, Wien 1996, 24.
13 Ministerium des Inneren (Mdl), Präsidium (Präs), 9251, Tagesrapport 253 ex
1911.
14 Bauer, Teuerungsrevolte, 916.
15 Mdl, Präs, 9951, Pr.Z. 2761/18, 26. September 1911.
16 Mdl, Präs, 9069, Pr.Z. 2334/3, 6. September 1911.
17 Mdl, Präs 9798, 19. September 1911 (Abschrift einer Notiz der k.k. Polizeidi-
rektion an die k.k. N Ö Stadthalterei, betreffend die Vorkehrungen der Polizei-
direktion am 17.9.1911).
18 AZ, 18. September 1911, 3.
19 Ebd., 2.
20 Ebd.
21 Mdl, Präs, ad 9951 Pr.Z. 2761/7, 18. September 1911.
22 AZ, 18. September 1911,2f.
23 Mdl, Präs, 9951, 21. September 1911.
24 NFI> 18. September 1911, 4.
25 Mdl, Präs, 9951, Pr.Z. 2 7 6 1 / 6 und 2761/7, 18. September 1911.
26 AZ, 18. September 1911, 4.
27 N F P 18. September 1911, 4.
28 Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2761/18, 26. September 1911.
29 Mdl, Präs, ad. 9951, Pr.Z. 2761/6, 17. September 1911.
30 Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2901/1, 3. Oktober 1911.
31 AZ, 18. September 1 9 1 1 , 4 .
32 N F P 18. September 1911, lf.
33 Mdl, Präs, 9798, 19. September 1911.
34 Mdl, Präs, 9951, Pr.Z. 2761/18, 26. September 1911.
35 N F P 18. September 1911, 5.
36 Mdl, Präs, 9798, 19. September 1911.
37 AZ, 19. September 1 9 1 1 , 3 .
38 Mdl, Präs, ad 9951, Vorfallenheitsberichte von Hauptmann Eisenkolb und
Hauptmann Holy.
39 Ebd.
40 Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2761/6, 17. September 1911.
41 Mdl, Präs, 9 7 9 8 , 1 9 . September 1911.
42 AZ, 19. September 1911, 2.
43 Die Einschätzung, daß es sich bei den Ereignissen des 17. September größten-
teils um eine Revolte der Ottakringer Gassenkinder der untersten sozialen
Schichten gehandelt habe, wird durch eine von der Polizei vorgenommene Auf-
listung des Altersprofils der Verhafteten gestützt. Allerdings ist ihre Aussage-

210
kraft insofern eingeschränkt, als die Verhaftungen größtenteils und gezwunge-
nermaßen überaus willkürlich vorgenommen wurden. Danach waren von ins-
gesamt 263 verhafteten Personen 152 unter 25 Jahren, 111 darüber, 197 waren
ledig und 66 verheiratet oder verwitwet. Von den wegen Verbrechens verhafte-
ten hatten 104 das Alter von 25 Jahren noch nicht erreicht und 47 überschrit-
ten, ledig waren hier 116 und verheiratet 35 Personen. Bei den Vergehen ist die
Anzahl mit jeweils 11 (17 ledig, 5 verheiratet) ausgeglichen, während die über
25jährigen bei den Übertretungen mit 21 zu 16 (29 ledig, 8 verheiratet) und bei
den polizeilichen Abstrafungen mit 32 zu 21 (35 ledig, 18 verheiratet/verwit-
wet) dominierten. (Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2 9 0 1 / 3 3 ) . Die sozialdemokrati-
sche Parlamentsfraktion stellte jedenfalls fest, daß unter den Verhafteten und
Angeklagten sich nur vereinzelt organisierte Arbeiter und kein einziges Mitglied
der sozialdemokratischen Jugendorganisationen befunden hatten. (Interpellation
der Abgeordneten David, Reumann und Genossen, Haus der Abgeordneten,
Stenographische Protokolle, Beilagen, 9. Sitzung der X X I Session am 5. Okto-
ber 1911.)
44 Stark an das Jiddische angelehnte Sondersprache sozialer Randgruppen wie Va-
gabunden, Hausierer, Bettler, (Klein-)Kriminelle etc., die in ihrem jeweiligen
sozialen Kontext ständige Ausdifferenzierungen erfuhr.
45 hier und im folgenden: Bericht der Polizeidirektion, BPoldion Archiv, Demon-
strationen, Teuerungsrevolte 1911.
46 AZ, 18. September 1911, 5.
47 Mdl, Präs 9951, Pr.Z. 2 9 7 1 / 8 , 9 . Oktober 1911.
48 AZ, 18. September 1911, 5.
49 Vgl. Wolfgang Slapansky/Uli Fuchs, »Die G'stetten und der Ziegelteich.« Über
die Grauzonen im Alltag und die Freiräume vor der Vorstadt (Manu.), Wien
1991.
50 Peter Heumos, Agrarische Interessen und Nationale Politik in Böhmen 1848-
1889. Sozialökonomische und organisatorische Entstehungsbedingungen der
tschechischen Bauernbewegung, Wiesbaden 1979, 70ff.
51 Jan Havranek, Die ökonomische und politische Lage der Bauernschaft in den
böhmischen Ländern, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Teil 11/1966, 96-
136, 123.
52 Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1946, 65.
53 Ebd., 59.
54 Ebd., 59f.
55 Michael John, Zuwanderung in Osterreich 1848-1914. Zu ökonomisch und psy-
chologisch bedingten Faktoren der Zuwanderung in Österreich, in: Archiv. Jahr-
buch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 1988, 102-132.
Die qualitativ und quantitativ überaus bedeutende jüdische Zuwanderung
nach W e n stellt einen Sonderfall dar und wird im Rahmen der vorliegenden Stu-

211
die im Kapitel über die »Transgression des Populären« gesondert behandelt. In
diesem Zusammenhang sei auf folgende Sekundärliteratur verweisen: John Bunzl,
Klassenkampf in der Diaspora. Zur Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung,
Wien 1975; Anson Rabinbach, The Migration of Galician Jews to Vienna, in:
Austrian History Yearbook 1 1 / 1 9 7 6 , 4 4 - 5 4 ; Die Mazzesinsel. Juden in der Wie-
ner Leopoldstadt 1918-1938. Herausgegeben und mit einem historischen Essay
von Ruth Beckermann, Wien 1984; Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt.
Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien/Köln/Weimar 1994; Marsha L.
Rozenblit, The Jews of Vienna: Assimilation and Identity, 1867-1914. Albany
1983; Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph,
Oxford 1989, Pierre Gen£e, Wiener Synagogen 1825-1938, Wien 1987, Pierre
Genee, Synagogen in Österreich, Wien 1992 und Steven Beller, Wien und die
Juden 1867-1938. Eine Kulturgeschichte, Wien 1993
56 O t t o Bauer, Die Bedingungen der nationalen Assimilation, in: Der Kampf,
Jg. 5/März 1912, 246-263,253.
57 Vgl. Monika Glettler, The Acculturation of the Czechs in Vienna, in: Dirk Hoer-
der (ed.), Labor Migration in the Atlantic Economies. The European and Nor-
th American Working Classes During the Period of Industrialization, Westwood/
London 1986,297-320.
Bis zur Jahrhundertwende jedenfalls war Wien zur weltweit größten tsche-
chischen Stadt geworden. Uber die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
kann ein konstanter tschechischer Bevölkerungsanteil von 16 bis 18 Prozent an-
genommen werden, wenngleich sich in den amtlichen Volkszählungen nur je-
weils ein Viertel bis ein Drittel davon zu seiner Herkunft bekannte, was wie-
derum in etwa der Zuwanderung in den davor liegenden sechs bis acht Jahren
entspricht. Mit der Umorientierung der Produktionsschwerpunkte von den Vor-
städten und Vororten auf die südlichen und östlichen Außenbezirke der Stadt
und dem damit verbundenen Entstehen einer industriellen Großproduktion di-
versifizierte sich auch das Siedlungsverhalten der Zuwanderen Nach wie vor füh-
rend war das traditionelle Siedlungsgebiet Favoriten (mit den Wienerberger Zie-
gelwerken), wo die Tschechen einen Anteil von nahezu einem Viertel der
Bezirksbevölkerung stellten. Dem am nächsten kam die Brigittenau mit ca. 15
Prozent, und auch die Landstraße, Ottakring, Hernais, die Leopoldstadt und
Rudolfsheim konnten auf einen relevanten Anteil an tschechischer Bevölkerung
verweisen. In nicht weniger als elf der zur Jahrhundertwende zwanzig Wiener
Bezirke überstieg die tschechische Minderheit die Fünf-Prozent-Marke, wobei
in den Wohn- und Geschäftsvierteln der Innenstadt sowie in den Villenquartie-
ren an der westlichen Peripherie der hohe Anteil weiblichen Küchen- und Dienst-
personals auffällt. In den Außenbezirken hingegen dominierte der männliche,
meist ungelernte tschechische Arbeiter, wobei verschiedene Branchen (Bauge-
werbe, Ziegeleien) durch überdurchschnittlich hohe Fluktuation gekennzeich-

212
net waren. Vgl. dazu: Gerhard Koller, Die Zuwanderung nach Wien und Buda-
pest, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 1/1986, 19ff und Michael John/
Albert Lichtblau, Ceskä Viden: Von der tschechischen Großstadt zum tsche-
chischen Dorf, in: Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbe-
wegung 1987, 34-55.
58 Renate Banik-Schweitzer, Die Großstädte im gesellschaftlichen Entwicklungs-
prozeß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, in: Melinz/Zimmermann,
Wien-Prag-Budapest, 40f.
59 Vgl. Restructuring the Rural, in: John Urry, Consuming Places, London/New
York, 1995, 77-89.
60 Wolfgang Maderthaner, Das Entstehen einer demokratischen Massenpartei: So-
zialdemokratische Organisation von 1889 bis 1918, in: Wolfgang Maderthaner/
Wolfgang C . Müller (Hrsg.), Die Organisation der österreichischen Sozialde-
mokratie, Wien 1996, 21-92, 72ff.
61 Vgl. dazu grundsätzlich Raymond Williams, The Country and the City, Lon-
don 1985.
62 Heidrun Suhr, Die fremde Stadt. Uber Geschichten vom Aufstieg und Unter-
gang in der Metropole, in: Thomas Steinfeld/Heidrun Suhr (Hrsg.), In der gro-
ßen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, Frankfurt/Main 1990,
25.
63 Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, Frankfurt/Main 1990, 39.
64 Ebd., 128.
65 Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen
Zivilisation, Berlin 1 9 9 5 , 3 4 .
66 Ferdinand Hanusch, Aus meinen Wanderjahren. Erinnerungen eines Walzbru-
ders, Reichenberg o.J. (1904), 9f.
67 Lucius Burckhardt, Die Kinder fressen ihre Revolution, Köln 1985, 97.
68 Simmel, Soziologie des Raumes, 234.
69 Gustav Haberman, Aus meinem Leben. Erinnerungen aus den Jahren 1876-1877-
1884-1896, Wien 1919, 55ff.
70 Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien - einst und jetzt. Zur Ge-
schichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien/Köln 1990,
244f.
71 Karl Renner, An der Wende zweierZeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1946,187.
72 Felix Saiten, Der Wurstelprater, Wien 1993 (Original Wien/Leipzig 1912), 76.
73 Ebd., 75.
74 Ebd., 77f.
75 Ebd., 81.
76 Schorske, Fin-de-Siöcle, 24ff.
77 Renate Banik-Schweitzer, Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens 1869-1934,
Wien 1982, 88.

213
78 Elisabeth Lichtenberger, Wien - Prag. Metropolenforschung, Wien/Köln/Wei-
mar 1993,62f.
79 Walter Kieß, Urbanismus im Industriezeitalter. Von der klassizistischen Stadt
zur Garden City, Berlin 1 9 9 1 , 1 8 4 .
80 Ebd., 183.
81 Schorske, Fin-de-Siecle, 27.
82 Ebd., 30ff.
83 Auch diese Viertel waren allerdings von geschlossenen und gleichsam insular or-
ganisierten Proletarierwohngebieten durchbrochen. So etwa Weinhaus in der
»Beamtenstadt« Währing, wo sich das Landproletariat konzentrierte, oder, in
dem durch seine Villengegenden um die Hohe Warte oder in Grinzing als be-
sonders exklusiver Wohnort geltenden Döbling, die um die Firmen Bensdorp,
Danubia und Gräf & Stift entstandene Proletariersiedlung »Krim«. Die zwischen
Obkirchergasse, Arbesbach- und Krottenbachstraße gelegene Krim stand als
reißbrettartig angelegter Proletarierdistrikt mit einer vergleichsweise hohen
Quote an Kleinkriminalität in überaus schlechtem Ruf, und wann immer in Döb-
ling oder Währing die Aufklärung von Einbrüchen, Diebstählen, Überfällen etc.
anfiel, konzentrierte die örtliche Polizei ihre Nachforschungen beinahe aus-
schließlich auf dieses Gebiet. (Christine Klusacek/Kurt Stimmer, Döbling. Vom
Gürtel zu den Weinbergen, Wien 1 9 8 8 , 1 2 0 ) .
84 Vgl. Robert Danneberg, Wer sind die Wiener Wähler, in: Der Kampf Nr. 9/1913,
397-410.
85 Gerhard Meißl, Im Spannungsfeld von Kundenhandwerk, Verlagswesen und Fa-
brik. Die Herausbildung der industriellen Marktproduktion und deren Stand-
ortbedingungen in Wien vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, in: Renate Ba-
nik-Schweitzer/Gerhard Meißl, Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der
industriellen Marktproduktion in der Habsburgerresidenz, W e n 1983,99-151.
86 Denkschrift der Vororte Wiens über die Folgen einer eventuellen Hinausrük-
kung der Verzehrungssteuer-Linie, Wien 1884, 40.
87 Ebd., 47; bei den angesprochenen Vorortegemeinden handelt es sich um Her-
nais, Neulerchenfeld, Ottakring, Währing, Fünfhaus, Untermeidling, Rudolfs-
heim und Sechshaus.
88 Max Winter, Ein Tag in Ottakring. Wie das Volk lebt, in: AZ, 16. Oktober 1901.
89 Renate Banik-Schweitzer, Production and Reduction of Social Segregation in
Vienna Through the Inter-War Period, in: Susan Zimmermann (ed.), Urban Space
and Identity in the European City 1890-1930s, Budapest 1995, 25-34.
90 Kieß, Urbanismus, 188.
91 Schachbrettartige Rasterviertel entstanden in der oberen Donaustadt um die
Engerthstraße - eine Art Entsorgungsstätte für Architektur und Existenzen - ,
im Völkert in der Leopoldstadt, auf der Landstraße im Fasangassenviertel und
auf dem Gebiet des ehemaligen Liechtensteinschen Gartens, auf der Wieden im

214
»Blechernen liirmfeld«, in Fünfhaus um den Henriettenplatz auf dem ehema-
ligen Landhausbesitz des Baron Arnstein, in Ottakring im Fabriksviertel um
die Brauerei, sowie in der Brigittenau, wo der Regulierungsplan Försters aller-
dings nur teilweise an eine entsprechend organisierte Bautätigkeit gekoppelt
war.
92 Wilhelm Kainrath/Friedl Kubelka-Bondy/Franz Kuzmich, Die alltägliche Stadt-
erneuerung. Drei Jahrhunderte Bauen und Planen in einem Wiener Außenbe-
zirk, Wien/München 1984, 45.
93 Christine Klusacek/Kurt Stimmer, Ottakring. Vom Brunnenmarkt zum Lieb-
hartstal, Wien 1983, 70ff.
94 Hans Bobek/Elisabeth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung
seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Graz/Köln 1966,100.
95 Hans Tietze, Wien. Kultur - Kunst - Geschichte, Wien/Leipzig 1931, 388.
96 Max Winter, Meidlinger Bilder, Wien 1908, 2ff.
97 Banik-Schweitzer, Zur sozialräumlichen Gliederung, 22.
98 Fahrt nach Simmering, in: Neues Wiener Tagblatt, 1. November 1918, 3.
99 Ebd., 4f.
100 Ernst Eigner (unter Mitarbeit von Peter Pokay), Die wirtschaftliche und sied-
lungsmäßige Entwicklung des Wiener Vorstadt- und Vorortebereichs, in: Wie-
ner Wirtschaftschronik, Wien o.J. (1989), 176-235,203.
101 Vgl. Heinrich Berg/Gerhard Meißl, Floridsdorf, 1894-1904-1954-1994, (Wie-
ner Geschichtsblätter, Beiheft 3/1994); sowie Raimund Hinkel, Wien X X I . Flo-
ridsdorf. Das Heimatbuch, Wien 1994.
102 Renate Schweitzer, Die Entwicklung Favoritens zum Industriebezirk, in: Wie-
ner Geschichtsblätter 4/1974, 253-263.
103 Bobeck/Lichtenberger, Wien, 299.
104 Max Winter, Rund um Favoriten. Eine Skizze aus dem Leben der Enterbten,
in: AZ, 14.12.1901.
105 Kainrath et al, Stadterneuerung, 121.
106 Sennett, Fleisch und Stein, 443f.
107 Lefebvre, Revolution, 34.
108 Sennett, Fleisch und Stein, 444.
109 Kainrath et al, Stadterneuerung, 126.
110 Vgl. Vienna and Paris, 1850-1930: The Development of the Modern City, in:
Merry E. Wiesner / Julius R. Ruff / William B. Wheeler, Discovering the We-
stern Past. A Look at the Evidence, Boston/Toronto 1993, 201-239.
111 Lichtenberger, Wien - Prag, 71. U m 1830 hatten in den innerhalb des Linien-
walls gelegenen »Vorstädten« zwei Drittel der Wiener Bevölkerung gewohnt.
Obwohl sie insbesondere um die Jahrhundertmitte und erneut um 1900 bedeu-
tende Zuwachsraten aufwiesen und 1910 mit über 9 0 0 0 0 0 ihre maximale Ein-
wohnerzahl erreichten, stellten zu diesem Zeitpunkt die Bezirke innerhalb des

215
Gürtels nur mehr 43 % der "Wiener Gesamtbevölkerung, gegenüber 52 % in den
ehemaligen Vororten und 2,6 % in der Inneren Stadt. 1870 hatten die entspre-
chenden Q u o t e n 63,7 % zu 28,7 % zu 7,6 % und 1890 50,4 % zu 44,6 % zu 5 %
betragen. Favoriten - seit 1874 als 10. Bezirk und einziges außerhalb der Linie
liegendes Gebiet zu Wien gehörig - wuchs, mit seiner den Vororten analogen
Wirtschafts- und Sozialstruktur, zwischen 1870 und 1890 jährlich um 27,5 %.
In Neulerchenfeld, der bis Ende des 19. Jahrhunderts mit den Gewerbevorstäd-
ten eng verbundenen Arbeiter-, Handwerker- und Taglöhnersiedlung, war die
Bevölkerung im Jahrzehnt von 1870-1880 um 150 % (die Zahl der Häuser um
1 1 0 % , jener der Wohnungen um 1 3 7 % ) gestiegen, um sich bis 1890 um weitere
75 % zu vergrößern. Eine Entwicklung, von der seit den 1860er Jahren auch der
vorwiegend agrarische Raum im Osten erfaßt wurde. Floridsdorf, Groß-Jed-
lersdorf und Donaufeld, die zu industriellen Brückenköpfen jenseits der Donau
geworden waren, wuchsen jährlich um 10-20%, der 21. Bezirk insgesamt um
weitere 50% im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.
112 Lichtenberger, Wien - Prag, 71.
113 Ebd., 45.
114 Karl Ziak, Von der Schmelz auf den Gallitzinberg. Gang durch die Gassen mei-
ner Kindheit und die Geschichte Ottakrings, Wien/München 1 9 8 7 , 6 6 .
115 Vgl. dazu die Studie von Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot.
Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in W e n 1848 bis 1914,
Wien 1977, die nach wie vor als das Standardwerk schlechthin zum Thema gel-
ten kann.
116 Vgl. die entsprechenden Verweise bei Peter Feldbauer / Gottfried Pirhofer, Woh-
nungsreform und Wohnungspolitik im liberalen Wien?, in: Felix Czeike (Hrsg.),
Wien in der liberalen Ära, Wien 1978, 148-190.
117 Ebd., 186.
118 Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot, 161; vgl. auch Eda Sagarra,
Vienna and its Population in the Late Nineteenth Century. Social and Demo-
graphic Change 1870-1910, in: G.J. Carr / Eda Sagarra (eds.), Fin de Sifccle
Vienna, Dublin 1985, 178-207, 186.
119 Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot, 183.
120 Bruno Frei, Wiener Wohnungs-Elend, Wien 1919,29f.
121 Arthur Schnitzler, Traumnovelle, Frankfurt/Main 1992, 39.
122 Hilde Spiel, Glanz und Untergang. Wien 1866 bis 1938, München 1994, 34ff.
123 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/
Main 1 9 7 0 , 2 9 .
124 Schnitzler, Traumnovelle, 24.
125 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Biographie, Frankfurt/Main 1981,110.
126 Emil Kläger, Durch die Quartiere der Not und des Verbrechens. Wien und die
Jahrhundertwende, Wien 1908.

216
127 Ebd., 13.
128 Max Winter, Favoriten, in: AZ 14. Dezember 1901.
129 Winter, Meidlinger Bilder, 12ff.
130 AZ; 14. Dezember 1901.
131 Ebd.
132 Kläger, Quartiere der N o t und des Verbrechens, 72.
133 Ebd., 55f.
134 Der junge Adolf Hitler war für längere Zeit als Bettgeher in der Meldemann-
straße untergebracht. Siehe dazu: Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre ei-
nes Diktators, München 1996,229ff.
135 Kläger, Quartiere der N o t und des Verbrechens, 140.
136 Ivan Cankar, Vor dem Ziel. Literarische Skizzen aus Wien, Klagenfurt/Celovec
1994, 84f.
137 Ebd., 69 f.
138 Fbd., 71 f.
139 Ebd., 59.
140 Ivan Cankar, Pavliceks Krone, Literarische Skizzen aus Wien, Klagenfurt 1995,
7f„ (Mimi, 1900)
141 Bericht des Wiener Stadtphysikats über seine Amtsthätigkeit und über die Ge-
sundheitsverhältnisse der kk. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in den Jah-
ren 1897-1899, Wien 1901, 425.
142 Ebd., 426.
143 Zit. nach: Peter Haiko / Hannes Stekl, Architektur in der industriellen Ge-
sellschaft, in: Hannes Stekl (Hrsg.), Architektur und Gesellschaft von der An-
tike bis zur Gegenwart, Salzburg 1980, 289.
144 F. von Radler, Die Volkszüge nach den Vororten in den Abendstunden, in: Wie-
nerstadt. Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag/Wien/Leipzig o. J., 105.
145 Siehe Anmerkung 143.
146 Max Winter, Streifzüge durch die Brigittenau. Eine Studie aus dem Leben des
Proletariats, in: AZ, 12. November 1901.
147 Kieß, Urbanismus, 192.
148 In diesem Sinn spricht etwa Donald Olsen von »der exzessiven Verwendung
historisierender Formen durch irgendwelche Vorstadtarchitekten, denen die
Fassade als völlig beliebige dekorative Komponente galt, bei deren Gestaltung
es auf die Wünsche der Bauherren und nicht unbedingt auf eine organische Be-
ziehung zu dem hinter ihr liegenden Gebäude ankam. Bauliche Formen, die
seriöse Architekten in der 60er Jahren mit intellektuell ernstzunehmendem In-
halt gefüllt hatten, verkamen also in den 80er Jahren zu beliebigen Häusermas-
ken, die lediglich dazu da waren, den gesellschaftlichen Prestigebedürfnissen
schlichter Vorstadtbewohner zu schmeicheln.« (Donald J. Olson, Die Stadt als
Kunstwerk. London/Paris/Wien/New York 1988, 342ff.)

217
149 Hetze, Wien, 359.
150 Haiko/Stekl, Architektur in der industriellen Gesellschaft, 288.
151 Zu einer detaillierten Beschreibung der demographischen Eckdaten siehe An-
dreas Weigel, Wien im demographischen Ubergang. Bevölkerungsentwicklung
einer Metropole im Modernisierungsprozeß, Wien 1998 (derzeit im Druck)
152 Michel de Certau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/Main 1991, 137ff.
153 Fred Heller, Ottakring, Die Kleinstadt, in: Der Tag, 16. September 1923.
154 Neues Wiener Tagblatt, 1. November 1918.
155 Der Wurstelprater, in: AZ, 17. Juli 1910.
156 Olsen, Die Stadt als Kunstwerk, 193.
157 Josef Schrank, Die Prostitution in Wien in Historischer, Administrativer und
Hygienischer Beziehung, Wien 1886, Band 1, 310.
158 Simmel, Soziologie des Raumes (1903), 229.
159 Schrank, Prostitution, Bd. I, Wien 1886, 308f.
160 Peter Stallybrass / Allon White, The Politics and Poetics of Transgression,
Ithaca/New York 1986.
161 Ebd., 191.
162 Fredric Jameson, The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic
Act, Ithaca 1986.
163 Stallybrass/White, Transgression, 5.
164 Vgl. Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, München
1993, 196.
165 N F ? 1. Mai 1890.
166 Friedrich Schlögel, Gesammelte Schriften (Bd. 2: Wiener Luft), Wien/Leipzig
1893,151.
167 R. Eichhorn, Ein Nachtrag zur Darlegung der materiellen Lage des Arbeiter-
standes in Oesterreich. Floridsdorf und Umgebung, ein sociales Bild, in: Österr.
Monatsschrift für Christliche Socialreform, Gesellschaftswissenschaft, volks-
wirtschaftliche und verwandte Fragen, 6. Band, Wien 1884, 480.
168 Ebd., 48Iff.
169 »It was above all around the figure of the prostitute that the gaze and touch,
the desires and contaminations, of the bourgeois male were articulated.« (Stal-
lybrass/White, Transgression, 137.)
170 Saiten, Wurstelprater, 76ff.
171 Zweig, Die Welt von Gestern, 106.
172 Ebd.
173 Karin Jusek, Auf der Suche nach der Verlorenen. Die Prostitutionsdebatten im
Wien der Jahrhundertwende, Wien 1994.
174 Josefine Mutzenbacher, Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von
ihr selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg, 1978.
175 Ebd., 108.

218
176 Max Pollak, Ein Monstreprozess gegen Jugendliche, in: Archiv für Kriminal-
Anthropologie und Kriminalistik (hrsg. v. Prof. Dr. Hans Gross), Bd. 32, Leip-
zig 1909, 1-28.
177 Ebd., 18.
178 Ebd., 16.
179 Ebd., 24f.
180 Zit. nach Hamann, Hitlers Wien, 519.
181 Simmel, Soziologie des Raumes, 242.
182 Karl Renner, Soziale Demonstrationen in: Der Kampf, Jg. 5/Oktober 1911, 2f.
183 Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Odipus. Kapitalismus und Schizophre-
nie I, Franfurt/Main 1977.
184 Cankar, Das Fräulein, in: Vor dem Ziel, 158f.
185 Wiener Bilder, 24. Oktober 1897, 8.
186 Constitutionelle Vorstadt-Zeitung, 30. April 1884.
187 Wiener Bilder, 24. Oktober 1894, 8.
188 Zur Geschichte und Entwicklung des Areals, im folgenden kurz referiert, sie-
he: Wolfgang Slapansky, Das kleine Vergnügen an der Peripherie. Der Böhmi-
sche Prater in Wien, Wien 1992, 52-97.
189 Illustriertes Wiener Extrablatt, 22. Mai 1884.
190 Slapansky, Das kleine Vergnügen, 82ff.
191 Alfons Petzold, Das rauhe Leben. Roman eines Menschen, Graz 1970, 385.
192 Felix Saiten, Das österreischische Antlitz. Essays, Berlin 1910, 57f.
193 Schrank, Prostitution, Bd. 1, 367.
194 Saiten, Wurstelprater, 75f.
195 Petzold, Das rauhe Leben, 178.
196 Ebd., 470f.
197 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften 1.2, Frankfurt/Main 1980, 537-569.
198 Vgl. dazu Georg Simmel: »Das Kleinstadtleben in der Antike wie im Mittelal-
ter legte den dem Einzelnen Schranken der Bewegungen und Beziehungen nach
außen, der Selbständigkeit und Differenzierung nach innen hin auf, unter de-
nen der moderne Mensch nicht atmen könnte - noch heute empfindet der
Großstädter, in die Kleinstadt versetzt, eine wenigstens der Art nach gleiche
Beengung.« (in: Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit. Essais. Frank-
furt/Main 1993, 199.)
199 Hanusch, Aus meinen Wanderjahren, 11 f.
200 Wiener Bilder, 20. Oktober 1897.
201 Zu einer umfassenden Diskussion von Massen- und Popularkultur siehe u.a.
James Naremore / Patrick Branntlinger (eds.), Modernity and Mass Culture,
Bloomington/Indianapolis 1991 sowie Dominic Strinati, An Introduction to
Theories of Popular Culture, London/New York 1995.
202 Simmel, Das Individuum und die Freiheit, 195.

219
203 Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur
1850-1970, Frankfurt/Main 1997, 38ff.
204 Vgl. Peter Laslett, The World we Have Lost, London 1965.
205 Schlögl, Wiener Blut, 137f.
206 Ebd., 138.
207 Schrank, Prostitution, Bd. 1, 380.
208 Vgl. Friedrich Reischl, Wien zur Biedermeierzeit. Volksleben in Wiens Vorstäd-
ten nach zeitgenössischen Schilderungen, W e n 1921, 206f.
209 Ebd., 207.
210 Franz Grillparzer, Der arme Spielmann, in: Grillparzers sämtliche Werke in
zwanzig Bänden, hsrg. von August Sauer, Bd. 13, Stuttgart o.J., 226.
211 Ebd., 225.
212 Ebd., 227.
213 Michail Bachtin, Rabelais und seine Zeit. Volkskultur als Gegenkultur, Frank-
furt/Main 1987.
214 Ebd., 59.
215 Reischl, Wien zur Biedermeierzeit, 97.
216 M. Alland, Licht- und Schattenbilder aus dem Wiener Leben, Leipzig o.J, 29.
217 Ebd., 38.
218 Adolf Glaßbrenner, Bilder und Träume aus Wien, Bd. 1, Leipzig 1836, 86.
219 Reischl, W e n zur Biedermeierzeit, 138. Die sogenannten »Engelmacherinnen«
waren üblicherweise für die Durchführung von Abtreibungen bei unerwünsch-
ten Schwangerschaften zuständig. Hin und wieder waren auch Fälle von (ge-
wünschter) »sachgerechter« Tötung von Pflegekindern bekannt geworden.
220 Zit. nach Ferry Kovarik, 100 Jahre Ottakring bei Wien, Wien o.J. (1992), 7-10.
221 Schrank, Prostitution, Bd. 1, 278.
222 Ebd., 288f.
223 Karl Ziak, Des heiligen Römischen Reiches größtes Wirtshaus. Der Wiener Vor-
ort Neulerchenfeld, Wien/München 1979, 44.
224 Franz de Paula Gaheis, Wanderungen und Spazierfahrten in die Gegenden um
Wien, Bd. 7, Wien 1 8 0 4 , 9 6 und 117.
225 Ebd., 96.
226 Zit. nach Reischl, Wien zur Biedermeierzeit, 140.
227 Adolf Schmidl, Die Kaiserstadt und ihre nächsten Umgebungen, Wien 1843,
337.
228 Glaßbrenner, Bilder und Träume aus Wien, Bd. 2 , 1 4 6 .
229 Schrank, Prostitution, Bd. 1, 280.
230 Ebd., 401.
231 Ebd., 403.
232 Zit. nach Ziak, Von der Schmelz auf den Gallitzinberg, 22.
233 Julius Rodenberg, Wiener Sommertage, Leipzig 1873, 238f.

220
234 Der einzige Fall, in dem eine traditionsreiche Gaststätte zu einem Kino umge-
wandelt und in späterer Zeit in ein Tanz- und Vergnügungslokal rückgebaut
wird, dieserart in der Popularkultur der Nachkriegszeit Altes in neuer Form
zitiert, ist die »Blaue Flasche«. Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner ha-
ben dem »Thumser« in den 1950er Jahren mit dem »Gschupften Ferdl« ein
Denkmal gesetzt.
235 Zu Geschichte und Entwicklung der bedeutendsten Wiener Gastwirtschaften
und Vergnügungslokale siehe das im Wiener Stadt- und Landesarchiv auflie-
gende, detail- und kenntnisreiche Manuskript von Hans Pemmer, Alt-Wiener
Gast- und Vergnügungsstätten, 3 Bände, Wien o . J . , Bd. 2, 212-367.
236 Ingrid Ganster / Helmut Kretschmer, Allweil lustig, fesch und munter (Wie-
ner Geschichtsblätter, Beiheft 2 / 1 9 9 6 ) .
237 Die Volkssänger schlossen somit direkt an die Tradition der vormärzlichen Har-
fenisten an: »Im Wurstelprater und im Lerchenfeld sitzt Vater, Sohn und Toch-
ter, und alle lachen herzlich über die giftigsten Zoten, die mit artigen Melodi-
en überzuckert aus dem Munde der sogenannten Harfenisten ertönen und von
höchst charakteristischen Minen und Gesten begleitet werden, um ihren Ef-
fekt zu erhöhen.« (Glaßbrenner, Bilder und Träume aus Wien, 52f.)
238 Schrank, Prostitution, Bd. 1, 422.
239 Pemmer, Alt-Wiener Gast- und Vergnügungsstätten, Bd. 2, 226f.
240 Schlögel, Wiener Blut, 147.
241 Vgl. Ziak, Des Heiligen Römischen Reiches größtes Wrtshaus, 105ff, und Ko-
varik, Ottakring, 2-9.
242 Vgl. Stalleybrass/White, Transgression, 191 ff.
243 Damit ist natürlich nicht die entwickelte Massenkultur der Postmoderne in ihrer
Totalität vorweggenommen, wohl aber ihre Archäologie und ihr strukturelles
Dispositiv.
244 Norbert Rubey / Peter Schoenwald, Vendig in W e n . Theater- und Vergnügungs-
stadt der Jahrhundertwende, W e n 1996.
245 Schon 1890 bzw. 1894 waren in London und Berlin artifizielle Venedigs ent-
standen; beide waren aber ästhetisch weniger einheitlich, »kulissenhafter« in
ihrer Fassadengestaltung und mit geringerem technischen Aufwand gebaut wor-
den.
246 Rubey/Schoenwald, Venedig in Wien, 70.
247 Illustrierte Wochenpost, 26. Dezember 1930.
248 Illustrierte Wochenpost, 2. Januar 1931.
249 Die Fackel, Nr. 14, August 1899.
250 Rubey/Schoenwald, Venedig in W e n , 65.
251 Vgl. dazu Moritz Csäky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne, Ein kul-
turhistorischer Essay zur österreichischen Identität, W e n 1996.
252 Rubey/Schoenwald, Venedig in W e n , 117ff.

221
253 Zur Funktion des Kinos im spezifischen, populären Kontext Wiens vgl. Hel-
mut Gruber, Red Vienna. Experiment in Working Class Culture, New York/
Oxford 1992,126f.
254 Vgl. Dick Hebdige, Hiding in the Light. On Images and Things, London/New
York 1988.
255 Werner Michael Schwarz, Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsgeschich-
te bis 1934, Wien 1992, Dokumentation, 179ff.
256 Ebd., 68 und 102ff.
257 Vgl. Monika Bernold, Kino(t)raum. Uber den Zusammenhang von Familie,
Freizeit und Konsum. In: Familie: Arbeitsplatz oder Ort des Glücks. Hrsg.
von Monika Bernold, Andrea Ellmeier u.a., Wien 1989.
258 Schwarz, Kino und Kinos in Wien, 156.
259 Anna Staudacher, Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiter-
bewegung vor Hainfeld, Wien 1988; Michael John, »Straßenkrawalle und Ex-
zesse«. Formen des sozialen Protests der Unterschichten in Wien 1880 bis 1918,
in: Melinz/Zimmermann, Wien-Prag-Budapest, 230-244.
260 Maderthaner, Sozialdemokratische Organisation, 21-92.
261 Renner, Soziale Demonstrationen, lf. (Hervorhebung im Original).
262 Zur Entwicklung des Mühlschüttel vgl. Christiane Breznik, Das Mühlschüttel
in Floridsdorf. Ideologien und Instrumente der Stadtplanung verändern ein
Quartier, Dipl. Arbeit, Wien 1992.
263 Max Winter, Alt- und Neu-Floridsdorf, in: AZ, 6. Dezember 1903, 7; in ei-
nem gesonderten Beitrag hat Winter Schicksal und Tätigkeit der Koksweiber
detailliert beschrieben: »Um eine Krümmung herum stoßen wir fast mit der
ersten Cokesklauberin zusammen. Ein altes, eingetrocknetes Weiberl, mit den
Spuren ihrer Arbeit behaftet, steht vor uns. Auf allen ihren Runzeln und Ge-
sichtsfurchen lagert der Mist, der mit dem Schweiß zusammen fast verkrustet
ist. ( . . . ) Jetzt erst verstehe ich das Verhältnis der Cokesklauberin zum Sub-
pächter des Platzes, der dadurch eine Schaar Gratisarbeiterinnen gewinnt, daß
er ihnen gestattet, die minderwerthigsten Abfälle für sich zu behalten. Selbst
der Mist der Großstadt ist nicht herrenloses Gut! ( . . . ) Da ich durch die Stri-
che des Regens vor mich hin auf das Feld sehe, steht plötzlich aus dem Mist
eine vollendete Modedame auf. Eine schlanke Erscheinung im langen Theater-
mantel, das Haar unter einem schützenden Tuch, so zeichnen sich auf dem
Untergrund der Regenatmosphäre die Contouren ab. Die moderne Venus auf
dem Misthaufen. Sie ist eine junge Cokesklauberin, und der Theatermantel ist
eine Beute aus dem Großstadtmist (...).« (Bilder aus dem X X I . Bezirk, in: AZ,
15. Juli 1902, 5.)
264 Winter, Floridsdorf, 7.
265 Eichhorn, Floridsdorf und Umgebung, 580.
266 Lefebvre, Revolution, 90f.

222
267 Ebd., 90.
268 Rudolf Eichhorn, Die weißen Sklaven der Wiener Tramway-Gesellschaft, Wien
1885, 8.
269 Eugen Phillipovich, zit. bei Feldbauer/Pirhofer, Wohnungsreform und Woh-
nungspolitik, 185.
270 Petzold, Das rauhe Leben, 300f.
271 Max Winter, Liechtentaler Kinderelend, in: AZ, 11. Mai 1913.
272 Ebd.
273 Victor Adler Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 4, Wien 1925,11-35.
274 Vgl. Wolfgang Maderthaner, Die korporative Arbeitsverweigerung. Zur Ent-
wicklung des industriellen Interessenkonflikts in Osterreich 1890-1914, in: Ar-
chiv 1995. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, 8-55,
29ff.
275 Die dominate und treibende Kraft des Streiks stellten die Frauen dar. Bei den
wiederholten Tumulten und Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär, die
in Brunn am Gebirge auch ein Todesopfer forderten, lag die Initiative ebenso
bei den Frauen wie während der gesamten Streikbewegung. »Am 18. April
vorm. rotteten sich an dem Verladeplatze des Werkes No. III und IV etwa 1000
Ziegelarbeiter zusammen, bewarfen die Verladenden mit Ziegelsteinen und ein-
zelne Weiber griffen sogar die Wachleute täthlich an.« Von den anlässlich die-
ser Vorfälle verhafteten 11 Personen waren 8 Frauen (BPoldion, Archiv, Stati-
stiken allgemein, 1895). Der Ausstand wurde mit großen Erfolgen für die
Streikenden und der Anerkennung ihrer gewerkschaftlichen Organisation be-
endet.
276 N F P 25. April 1895, 5f.
277 zit. in: Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Österreich während des
Jahres 1895, Wien 1896,260.
278 N F P 25. April 1895, 6.
279 Lefebvre, Revolution 21.
280 Ziak, Von der Schmelz auf den Gallitzinberg, 9.
281 Siegfried Weyr, Von Lampelbrunn bis Hohenwarth. Durch Wiener Vorstädte
und Vororte, Wien o.J., 83.
282 Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd.5, Wien 1997,105.
283 Vgl. Klusacek/Stimmer, Ottakring, 85.
284 Petzold, Das rauhe Leben, 66f.
285 Winter, Schmelzbummel, in: AZ, 25. September 1 9 1 3 , 1 .
286 Petzold, Das rauhe Leben, 72.
287 Weyr, Von Lampelbrunn bis Hohenwarth, 84f.
288 U. Tartaruga, Aus der Mappe eines Wiener Polizeibeamten. Kriminalistische
Streifzüge, Wien/Leipzig 1919,18.
289 Ebd., 23.

223
290 Zur Funktion und Organisation jugendlicher Str? Jenbanden vgl. die urban-
ethonographischen Arbeiten von Rolf Lindner, Straße - Straßenjunge - Stra-
ßenbande. Eine zivilisationstheoretischer Streifzug, in: Zeitschrift für Volks-
kunde, Bd. 79/1983, 192-208 sowie ders., Die wilden Cliquen zu Berlin. Ein
Beitrag zur historischen Kulturanalyse, Zeitschrift für Historische Anthropo-
logie, Heft 3 / 1 9 9 3 , 4 5 1 - 4 6 7 .
291 Illustriertes Wiener Extrablatt ( I W E ) , 18. Juli 1905, 5.
292 Staatsanwalt Hofrat Kleeborn in einer Erkenntnisgerichtsverhandlung, IWE,
29. Juni 1905, 11.
293 IWE, 14. Juni 1905,6; 15. Juni 1 9 0 5 , 1 1 ; 19. Juli 1905, 6.
294 Schrank, Prostitution, Bd. 1, 280.
295 Ebd., 279.
296 IWE, 7. Juni 1 9 0 5 , 4 .
297 IWE, 16. Juli 1905,4.
298 Ebd.
299 Tartaruga, Aus der Mappe eines Wiener Polizeibeamten, 20.
300 IWE, 10. September 1905, 17.
301 Egon Erwin Kisch, Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde, in: ders.,
Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 6 (Der rasende Reporter), Berlin/
Weimar 1993 [1972], 23.
302 Der Bourgeois von St. Andrä, in: Der Neue Tag (NT), 2. April 1919,1.
303 Meldung der Wener Hochschul-Korrespondenz, in: NT, 6. April 1919, 7.
304 Kisch, Breitwieser, 23.
305 Hermann Kraszna, Johann Breitwieser. Ein Lebensbild, 2 Bde., Wien o.J. (1921);
für den Hinweis auf diese Biographie danken wir dem Direktor des Wiener Kri-
minalmuseums, Mag. Harald Seyerl.
306 Ebd., Bd. 1, llOff.
307 Ebd., 14.
308 Ebd., 13.
309 Christine Klusacek, Der Einbrecherkönig aus Meidling, in: Wien aktuell, 5/
1989, 16.
310 NT, 2. April 1919,1.
311 Kraszna, Breitwieser, Bd. 1 , 1 5 5 .
312 Ebd., Bd. 2 , 2 1 .
313 Ebd., 147f.
314 Reinhard Pohanka, Johann Breitwieser 1919, in; ders., Räuber, Mörder, Kinds-
verderber. Eine Kriminalgeschichte Wien, Wien 1991,111.
315 Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1996 [1960], 63.
316 Eichhorn, Die weißen Sklaven, 13 ff.
317 Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 4, Wien 1925, 48.
318 Eichhorn, Die weißen Sklaven, 46, 48.

224
319 Ebd., 23ff.
320 Adler, Aufsätze, 42.
321 Eichhorn, Die weißen Sklaven, 21.
322 Ebd.
323 Adler, Aufsätze, 4.
324 Eichhorn, Die weißen Sklaven, 26.
325 Adler, Aufsätze, 50.
326 Ebd., 37.
327 Ebd., 50f.
328 Bundespolizeidirektion Wien (BPoldion), Archiv, 1888/St 4, Streik der Tram-
waybediensteten, Bericht des k.k. Bez.Inspektors Tobias Anger.
329 Ebd., Bericht des k.k. Polizei-Commissärs Camillo W n d t .
330 BPoldion Wien, Archiv 1893/St 5, Straßenexzesse in Favoriten.
331 BPoldion Wien, Archiv, 1888/St 4, Streik der Tramwaybediensteten, Bericht des
k.k. Bez.Inspektors Tobias Anger.
332 Ebd., Bericht des k.k. Polizeidirektionsconcipisten Roman Fuchs.
333 Ebd., Bericht des k.k. Polizei-Commissärs Camillo W n d t .
334 Ebd.
335 Ebd., Bericht des k.k. Polizeidirektionsconcipisten Roman Fuchs.
336 Ebd., Bericht des k.k. Bez.Inspectors Tobias Anger. Auf den Antisemitismus
als ein konstituierendes Moment von Popularkultur im W e n e r Kontext wird
an anderer Stelle gesondert eingegangen.
337 Canetti, Masse und Macht, 19.
338 AZ, 19. September 1911
339 Der Morgen. W e n e r Montagblatt, 17. Februar 1913.
340 Zum Ablauf der Trauerfeierlichkeiten siehe: Arbeiter-Zeitung, Volkstribüne,
Neue Freie Presse, Neues W e n e r Tagblatt, Der Morgen, Neues Wiener Jour-
nal und Illustriertes Wiener Extrablatt in den jeweiligen Ausgaben vom 17. Fe-
bruar 1913.
341 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 55.
342 Pieter M. Judson, Exclusive Revolutionaries. Liberal Politics, Social Experience,
and National Identity in the Austrian Empire, 1848-1914, Ann Arbor 1996.
343 Pieter M. Judson, W e n brennt! Die Revolution von 1848 und ihre liberales
Erbe, 1998, 150.
344 Schorske, Fin-de-Sificle, 117f.
345 Vgl. John W Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna, Origins of
the Christian Social Movement, 1848-1897, Chicago 1981, 44f.
346 Ebd., 70.
347 Der aus Polen stammende Ministerpräsident Kasimir Graf Badeni hat ein Spra-
chengesetz vorgelegt, wonach alle Staatsbeamten in Böhmen innerhalb von vier
Jahren ihre Zweisprachigkeit sowohl in rein deutschsprachigen als auch den

225
tschechischsprachigen Gebieten hätten nachweisen müssen. Da dies als will-
fährige Konzession an die tschechischen Nationalisten interpretiert wurde, ver-
suchten die Deutschnationalen die Beschlußfassung durch Obstruktion des
Reichstages zu verhindern und lösten damit die größte Staatskrise nach 1848
auswuchs, die zu öffentlichen Unruhen in Prag, Wien und Nordböhmen und
zur Verhängung des Ausnahmezustandes führte.
348 Saiten, Das österreichische Antlitz. Essays, Berlin 1910,133f.
349 Ebd., 131f.
350 Ebd., 132f.
351 AZ, 11. März 1910
352 AZ, 11. März 1910
353 Benedict R . Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and
Spread of Nationalism, Revised and extended version, London 1991.
354 Vgl. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna, 419.
355 Siehe: Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspec-
tive, N e w York 1965.
356 Stephan Grossmann, Lueger, in: AZ, 11. März 1910
357 Ebd., 2.
358 Vgl. Hamann, Hitlers Wien, 431ff.
359 AZ, 13. Februar 1913
360 N F P 12. Februar 1913
361 Der Morgen, 17. Februar 1913
362 Leopold Spira, Attentate, die Österreich erschütterten, Wien 1981, 35-46. Paul
Kunschak wurde von einem Geschworenengericht zum Tod durch den Strang
verurteilt. Aufgrund eines Gnadenersuches, das sich prinzipiell gegen die To-
desstrafe richtete und auch die Unterschrift der Witwe des Ermordeten, Cilly
Schuhmeier, trug, wurde das Urteil in eine lebenslange Haft umgewandelt. In
den Umsturztagen des November 1918 wurde Kunschak auf freien Fuß ge-
setzt.
363 Zu den biographischen Daten siehe: Wolfgang Maderthaner, Franz Schuhmei-
er, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Wien 1998, 31 lf.
364 Ludwig Wagner, Der Volkstribun von Ottakring. Zum 20. Todestag Franz
Schuhmeiers am 11. Februar, in: Kuckuck, 7/1933, 5f.
365 Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), Altes Parteiarchiv, Map-
pe 69.
366 Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Gesammelt und
erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, 378.
3 6 7 Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl, Integration wider Willen? Die sozial-
demokratische Arbeiterbewegung in Österreich um 1900, in: Traum und Wirk-
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3 6 8 Die Zeit, 17. Februar 1913

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369 Ebd., 243.
370 Ebd., 241.
371 Hugo Schulz, Ein Prachtkerl, in: AZ, 13. Februar 1913
372 Schuhmeier-Nummer der Glühlichter, 25. Februar 1913
373 Schulz, Prachtkerl
374 Ellenbogen, Schuhmeier, 243.
375 Maderthaner, Das Entstehen einer demokratischen Massenpartei, 75.
376 Ebd., 46.
377 Musil, Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 33.
378 Ebd., 13.
379 Vgl. dazu Michael Pollak, Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997
380 Grossmann, Lueger, 1.
381 Berühmt berüchtigt wurde der Fall des »Anderl von Rinn«, der bis in die jüngste
Zeit eine Rolle spielte und dessen »Gedenkfeiern« erst vor wenigen Jahren durch
den Tiroler Bischof Reinhold Stecher verboten wurden.
382 William O. McCagg Jr., A History of the Habsburg Jews, 1670-1918, Bloo-
mington and Indianapolis 1989, 84f.
383 Schnitzler, Jugend in Wien, 77.
384 Siegfried Mattl, 1848 - Die fatale Revolution, Ausstellungskatalog W e n 1998
385 McCagg Jr., A History of the Habsburg Jews, 145.
386 Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt, Galizische Juden auf dem Weg
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387 John Bunzl, »Arbeiterbewegung, Judenfrage und Antisemitismus am Beispiel
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dien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien 1978.
388 Peter Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitismus in Germany and Austria,
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389 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867-1914: Assimilation and Iden-
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390 Ebd.
391 Siehe dazu: Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antise-
mitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Sifccle, Wien 1997.
392 Pulzer, Political Anti-Semitism, 182.

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Die Fackel: 1899
Glühlichter: 1913
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Illustrierte Wochenpost: 1930, 1931
Der Morgen. Wiener Montagblatt: 1913
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Der Neue Tag: 1919
Neues Wiener Tagblatt: 1918
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PRIMÄRQUELLEN
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237
Denkschrift der Vororte Wiens über die Folgen einer eventuellen Hinausrückung
der Verzehrungssteuer-Linie, Wien 1884

ÖSTERREICHISCHES STAATSARCHIV:
Ministerium des Inneren (Mdl), Präsidium (Präs), 9251, Tagesrapport 253 ex 1911
Mdl, Präs, 9951, Pr.Z. 2 7 6 1 / 1 8 , 2 6 . September 1911
Mdl, Präs, 9069, Pr.Z. 2334/3, 6. September 1911
Mdl, Präs 9798, 19. September 1911 (Abschrift einer Notiz der k.k. Polizeidirek-
tion an die k.k. N Ö Stadthalterei, betreffend die Vorkehrungen der Polizeidi-
rektion am 17.9.1911)
Mdl, Präs, ad 9951 Pr.Z. 2761/7, 18. September 1911
Mdl, Präs, 9 9 5 1 , 2 1 . September 1911
Mdl, Präs, 9951, Pr.Z. 2 7 6 1 / 6 und 2761/7, 18. September 1911
Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2 7 6 1 / 1 8 , 2 6 . September 1911
Mdl, Präs, ad. 9951, Pr.Z. 2 7 6 1 / 6 , 1 7 . September 1911
Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2 9 0 1 / 1 , 3 . Oktober 1911
Mdl, Präs, 9 7 9 8 , 1 9 . September 1911
Mdl, Präs, 9951, Pr.Z. 2 7 6 1 / 1 8 , 2 6 . September 1911
Mdl, Präs, 9798, 19. September 1911
Mdl, Präs, ad 9951, Vorfallenheitsberichte von Hauptmann Eisenkolb und Haupt-
mann Holy
Mdl, Präs, ad 9951, Pr.Z. 2761/6, 17. September 1911
Mdl, Präs, 9 7 9 8 , 1 9 . September 1911
Mdl, Präs 9951, Pr.Z. 2971/8, 9. Oktober 1911

ARCHIV DER BUNDESPOLIZEIDIREKTION WIEN


Bundespolizeidirektion Wien (BPoldion), Archiv, 1888/St 4, Streik der Tramway-
bediensteten
Bericht der Polizeidirektion, BPoldion Archiv, Demonstrationen, Teuerungsrevolte
1911
BPoldion Wien, Archiv, 1893/St 5, Straßenexzesse in Favoriten

VEREIN FÜR GESCHICHTE DER ARBEITERBEWEGUNG (VGA)


Altes Parteiarchiv, Mappe 69

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