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John Grogan

Marley & ich


Unser Leben
mit dem frechsten Hund
der Welt

Deutsch
von Gabriele Zigldrum

GOLDMANN
In Erinnerung an meinen Vater,
Richard Frank Grogan,
dessen einfühlsamer Geist
jede Seite dieses Buches prägt.
VORWORT

Der perfekte Hund

I m Sommer 1967, als ich zehn Jahre alt war, gab mein Vater
endlich meinem anhaltenden Betteln nach und erlaubte
mir einen eigenen H u n d . W i r fuhren alle zusammen in u n -
serer Familienkutsche tief ins ländliche Michigan, zu einem
Hof, der von einer resoluten Frau und ihrer uralten M u t t e r
betrieben wurde. D e r H o f warf n u r ein einziges Produkt ab -
H u n d e . H u n d e von jeder erdenklichen Größe, F o r m , Alter
und Temperament. Sie alle hatten nur zwei Dinge gemein-
sam: Alle waren Mischlinge, deren Abstammung niemand
mehr nachvollziehen konnte, und alle suchten ein gutes Z u -
hause. W i r waren auf einer Art Gnadenhof für H u n d e .
» N i m m dir Zeit, mein Junge«, sagte mein Vater. » D e i n e
Entscheidung heute wird dich viele Jahre lang begleiten.«
M i r war schnell klar, dass die älteren H u n d e ein Fall für
die Nächstenliebe anderer Leute waren. Ich rannte sofort
zum Welpenzwinger. »Ich würde einen n e h m e n , der nicht
zu ängstlich ist«, riet mein Vater. »Rüttel am Gitterzaun und
schau, welcher Welpe keine Angst hat.«
Ich fasste in den Zaun und zerrte daran, sodass er laut
schepperte. Ein Dutzend Welpen sprang erschrocken zu-
rück und landete in einem jaulenden Fellhaufen aufeinander.
N u r einer blieb sitzen. Er hatte goldfarbenes Fell mit einem
weißen Fleck auf der Brust, und er verteidigte das Gatter
furchtlos mit lautem Gebell. D a n n sprang er auf und leckte

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aufgeregt durch das Gitter hindurch an meinen Fingern. Es
war Liebe auf den ersten Blick.
W i r brachten ihn in einem Pappkarton nach Hause und
nannten ihn Shaun. Er war ein vorbildlicher H u n d . O h n e
M ü h e befolgte er jeden Befehl, den ich ihm beibrachte, und
benahm sich immer tadellos. Ich konnte eine Brotrinde auf
den Boden werfen, und er rührte sie nicht an, ehe ich ihm
das K o m m a n d o dazu gab. Er kam, wenn ich ihn rief, und
blieb sitzen, wenn ich es ihm sagte. Ich konnte ihn nachts al-
leine hinauslassen und sicher sein, dass er von selbst zurück-
k o m m e n würde, wenn er sein Geschäft gemacht hatte. W i r
konnten ihn mehrere Stunden lang alleine zu Hause lassen
und uns darauf verlassen, dass er nicht irgendwo hinmachen
oder sonst etwas anstellen würde. Aber natürlich ließen wir
ihn trotzdem nicht oft alleine. Er rannte neben Autos her,
ohne sie zu verfolgen, und ich konnte ohne Leine mit ihm
spazieren gehen. M a n c h m a l tauchte er bis zum Grund unse-
res kleinen Sees u n d kam mit einem riesigen Stein im Maul
wieder an die Wasseroberfläche, sodass er beinahe eine
Maulsperre hatte. Er liebte Autofahren über alles und saß
auf Familienausflügen immer brav neben mir auf dem Rück-
sitz. Dabei schaute er stundenlang nur aus dem Fenster und
betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. U n d was viel-
leicht am besten war, ich brachte ihm bei, mich auf meinem
Fahrrad wie auf einem Hundeschlitten durch unser Viertel
zu ziehen, was meine Freunde vor Neid erblassen ließ. Er ist
kein einziges Mal durchgegangen.
Er war dabei, als ich meine erste (und letzte) Zigarette
rauchte u n d als ich das erste Mal ein Mädchen küsste. U n d
er saß neben mir auf dem Beifahrersitz, als ich heimlich das
Auto meines großen Bruders n a h m und meine erste Spritz-
tour machte.
Shaun war temperamentvoll, aber zugleich besonnen,

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leidenschaftlich und doch ausgeglichen. Er besaß sogar die
Diskretion, sich für sein Geschäft in die Büsche zurückzuzie-
hen, sodass nur noch sein Kopf hervorschaute. D a n k dieser
Reinlichkeit konnte man immer barfuß über unseren Rasen
laufen.
W e n n uns am Wochenende Verwandte besuchten, fuhren
sie mit der festen Absicht wieder nach Hause, sich auch einen
H u n d anzuschaffen, so sehr hatte Shaun - oder Saint Shaun,
wie ich ihn schließlich nannte - sie beeindruckt. Natürlich
war das mit dem Heiligsein n u r ein W t z , aber wir glaubten
doch beinahe daran. M i t seinem unbekannten Stammbaum
war er einer der unzähligen unerwünschten H u n d e Ameri-
kas. U n d doch wurde er durch eine gütige Vorsehung zu ei-
nem heiß geliebten H u n d . Er trat in mein Leben und ich in
seines - und er schenkte mir damit eine Kindheit, wie sie
jedes Kind verdient hätte.
Diese Liebesgeschichte dauerte vierzehn Jahre, u n d als er
starb, war ich nicht m e h r der kleine Junge, der ihn an einem
Sommertag mit nach Hause gebracht hatte. Ich war erwach-
sen geworden, hatte einen Collegeabschluss und meinen ers-
ten festen J o b , weit weg von zu Hause. Als ich von zu Hause
auszog, hatte ich Saint Shaun dort gelassen. D o r t gehörte er
hin. Meine Eltern, beide inzwischen Rentner, riefen an, um
mir die traurige Nachricht mitzuteilen. Später erzählte mir
meine Mutter: »In fünfzig Jahren E h e habe ich deinen Vater
nur zweimal weinen sehen. Das erste Mal, als wir M a r y Ann
verloren haben« - meine Schwester, die tot zur Welt kam -,
»und das zweite Mal an dem Tag, als Shaun starb.«
Saint Shaun war der Heilige meiner Kindheit. Er war der
perfekte H u n d . Zumindest wird er das in meiner E r i n n e -
rung immer bleiben. U n d Shaun setzte die Maßstäbe, nach
denen ich später alle H u n d e beurteilen würde.
EINS

Mit Welpe zu dritt

W ir waren jung. W i r waren verliebt. W i r genossen die


erste wunderbare Zeit der Ehe, wenn m a n glaubt,
dass im Leben alles möglich ist. Die Welt gehörte uns.
U n d so kam es, dass meine Frau und ich an einem J a n u -
arabend im J a h r 1991 nach füinfzehnmonatiger E h e hastig
zusammen zu Abend aßen und dann losfuhren, um auf eine
viel versprechende Anzeige in der Palm Beach Post zu ant-
worten.
Ich weiß nicht genau, warum wir das taten. Ein paar W o -
chen zuvor war ich kurz nach Sonnenaufgang aufgewacht
und hatte gemerkt, dass Jenny nicht neben mir lag. Ich war
aufgestanden und hatte sie auf der überdachten Veranda u n -
seres kleinen Bungalows gefunden, wo sie im Bademantel an
unserem Glastisch saß und sich mit einem Stift in der H a n d
über eine Zeitung beugte.
An der Szene war nichts Ungewöhnliches. Die Palm Beach
Post war unsere Lokalzeitung und außerdem zur Hälfte für
unser Familieneinkommen verantwortlich. W i r arbeiteten
beide als Journalisten. Jenny schrieb Kolumnen für die Palm
Beach Post, und ich arbeitete als Reporter für das lokale K o n -
kurrenzblatt, den Sun-Sentinel von Südflorida, der seine Bü-
ros eine Stunde südlich in F o r t Lauderdale hatte. Jeden
Morgen warfen wir als Erstes einen Blick in die Zeitungen,
um zu sehen, wie unsere Artikel platziert worden waren u n d

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wie sie sich gegen die Konkurrenz ausnahmen. M i t Hingabe
kreisten wir ein, unterstrichen und schnitten aus.
An diesem M o r g e n jedoch steckte Jenny ihre Nase in die
Kleinanzeigen. Als ich näher herantrat, sah ich, dass sie fie-
berhaft etwas unter der Rubrik »Haustiere - H u n d e « ein-
kreiste. » O h « , sagte ich mit meiner Frischgebackener-Ehe-
mann-und-daher-sehr-sanft-und-freundlich-Stimme. »Gibt
es da etwas, was ich wissen sollte?«
Sie antwortete nicht.
»Jen-Jen?«
» D i e Pflanze«, sagte sie endlich mit einem Hauch von
Verzweiflung in der Stimme.
» D i e Pflanze?«, fragte ich.
» D i e blöde Pflanze«, präzisierte sie. »Die, die wir umge-
bracht haben.«
Die 7w'rumgebrachthaben? Ich wollte nicht darauf herum-
reiten, aber fürs Protokoll: Es handelte sich um eine Pflan-
ze, die ich gekauft und die sie um die Ecke gebracht hatte.
Ich hatte sie eines Abends damit überrascht, eine schöne,
große Dieffenbachie mit cremefarbenem Muster auf den
grünen Blättern. » G i b t es einen besonderen Anlass?«, hatte
sie gefragt. Aber es gab keinen. Ich hatte sie ihr einfach nur
geschenkt, um ihr zu sagen: »Verdammt, ist es nicht fantas-
tisch, verheiratet zu sein?«
Sie hatte sich über meine Geste und die Pflanze gefreut
und sich bedankt, indem sie mir die Arme um den Hals legte
und mich küsste. U n d dann hatte sie sofort damit angefan-
gen, mein Geschenk mit erstaunlicher Kaltblütigkeit zu tö-
ten. Natürlich nicht absichtlich; eher hat sie das arme Ding
zu Tode gepflegt. J e n n y hat nicht gerade einen grünen Dau-
men. Sie ging davon aus, dass alle Lebewesen Wasser brau-
chen, und vergaß dabei, dass sie auch Luft benötigen. Also
goss sie die Dieffenbachie täglich reichlich.

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»Pass auf, dass du sie nicht ertränkst!«, riet ich ihr.
»Okay«, antwortete sie und füllte eine weitere G i e ß -
kanne.
Je kränker die Pflanze aussah, desto m e h r goss sie sie, bis
sie schließlich in eine Art geschmolzenen Klumpen zerfloss.
Ich betrachtete ihre Uberreste im Blumentopf auf dem F e n s -
terbrett und dachte: Mann, jemand, der an böse Vorzeichen
glaubt, hätte hier jede Menge Material.
Da saß sie also und vollbrachte den unglaublichen logi-
schen Schritt von einer toten Pflanze im Blumentopf zu den
Haustieranzeigen. Bring eine Pflanze um und kauf dir einen
Welpen. Klar, das war logisch.
Ich sah mir die Zeitung, die vor ihr lag, genauer an u n d
entdeckte die Anzeige, die ihr besonderes Interesse geweckt
hatte. Sie hatte drei dicke rote Kreuze daneben gemalt. D e r
Text lautete: »Reinrassige Labradorwelpen, hellbraun. N u r
in gute Hände.«
»Also«, fing ich an, »kannst du mir diese Labrador-Pflan-
zen-Geschichte noch mal erklären?«
»Weißt du«, sagte sie und sah auf, »ich habe mich so be-
müht, und was ist passiert? Ich kann noch nicht einmal eine
dämliche Topfpflanze am Leben erhalten. Ich meine, was
muss man da schon tun? Du brauchst das verdammte D i n g
doch nur zu gießen!« Dann kam sie auf den Punkt: » W e n n
ich schon keine Topfpflanze versorgen kann, wie soll ich
dann jemals ein Baby versorgen können?«
Sie sah mich an, als würde sie gleich anfangen zu weinen.
Die Babysache, wie ich es nannte, war schon ein fester Be-
standteil von Jennys Leben geworden und wurde von Tag zu
Tag schlimmer. Als wir uns das erste Mal bei einer kleinen
Zeitung in Michigan begegnet waren, war sie erst ein paar
Monate vom College weg und das Erwachsensein schien
noch eine ferne, unbestimmte G r ö ß e . Für uns beide war es

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der erste feste J o b nach der Schule gewesen. W i r aßen jede
M e n g e Pizza, tranken viel Bier und verschwendeten keinen
Gedanken an die Möglichkeit, dass unsere Jugend eines Ta-
ges vorbei sein könnte und wir einmal etwas anderes als jun-
ge, alleinstehende, unmäßige Pizza- und Bierkonsumenten
sein würden.
Aber die J a h r e vergingen. W i r hatten gerade angefan-
gen, miteinander auszugehen, als verschiedene Jobangebo-
te - und ein einjähriges Fortbildungsprogramm in meinem
Fall - uns in unterschiedliche Richtungen im östlichen Teil
von Amerika zogen. Zuerst waren wir n u r eine Stunde Fahr-
zeit voneinander entfernt. D a n n waren es drei Stunden.
D a n n acht u n d am E n d e vierundzwanzig. Als wir schließlich
beide in Südflorida landeten und das Ganze amdich wurde,
war J e n n y fast dreißig. Ihre Freundinnen hatten Babys. Ihr
Körper sandte ihr seltsame Signale. Die einst auf ewig of-
fen stehende T ü r der Fortpflanzung schien sich langsam zu
schließen.
Ich lehnte mich von hinten über sie, umarmte sie und
drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Schon in Ordnung«, sagte
ich. Aber ich musste zugeben, dass ihre Bedenken nicht ganz
aus der Luft gegriffen waren. Keiner von uns hatte jemals
wirklich für etwas sorgen müssen. Klar, wir waren beide mit
Haustieren aufgewachsen, doch die zählten nicht wirklich.
W i r hatten ja immer gewusst, dass sich unsere Eltern um sie
k ü m m e r n würden. W i r wollten beide eines Tages Kinder,
aber war einer von uns dieser Aufgabe wirklich gewachsen?
Kinder waren so ... so ... unheimlich. Sie waren hilflos und
verletzlich und sahen aus, als würden sie sofort zerbrechen,
wenn m a n sie fallen ließ.
D a n n hellte sich Jennys M i e n e plötzlich auf. »Ich dachte,
ein H u n d wäre vielleicht gut zum Ü b e n « , sagte sie.

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Als wir in der Dunkelheit in Richtung N o r d w e s t e n zur Stadt
hinausfuhren, wo die Vororte von West Palm Beach in ausge-
dehnte Ländereien übergehen, dachte ich noch einmal über
unseren Entschluss nach, einen H u n d anzuschaffen. Es war
eine riesige Verantwortung, besonders für zwei Menschen
mit Vollzeitjob. U n d doch wussten wir, worauf wir uns ein-
ließen. W i r waren beide mit H u n d e n aufgewachsen und
hatten sie unendlich geliebt. Ich hatte Saint Shaun gehabt,
und Jenny Saint Winnie, den von der ganzen Familie heiß
geliebten English Setter. Unsere schönsten Kindheitserinne-
rungen waren mit diesen H u n d e n verbunden. W i r waren
mit ihnen auf Berge gestiegen, geschwommen, hatten mit ih-
nen gespielt und wegen ihnen Arger bekommen. W e n n J e n -
ny den H u n d wirklich nur gewollt hätte, um ihre elterlichen
Fähigkeiten zu trainieren, hätte ich versucht, es ihr auszure-
den und ihr stattdessen einen Goldfisch anzudrehen. Aber
genauso wie wir beide Kinder wollten, so wussten wir auch
beide, dass unsere Familie nur mit einem H u n d komplett
sein würde. Als wir miteinander ausgegangen waren, lange
bevor der Gedanke an Kinder aufgetaucht war, verbrachten
wir Stunden damit, über unsere Haustiere zu diskutieren,
wie sehr wir sie vermissten und wie sehr wir uns wünsch-
ten, eines Tages - wenn wir ein eigenes H a u s hatten und
Ruhe in unser Leben eingekehrt war - wieder einen H u n d
zu haben.
Jetzt war es so weit. W i r wohnten zusammen an einem
Ort, den wir so schnell nicht wieder verlassen wollten, und
wir konnten ein Haus unser Eigen nennen. Es war ein per-
fektes kleines Häuschen auf einem kleinen, eingezäunten
Grundstück, das genau die richtige G r ö ß e für einen H u n d
hatte. U n d die U m g e b u n g war ebenfalls genau richtig,
ein unkonventionelles, städtisches Wohngebiet eineinhalb
Blocks vom Intracoastal Waterway entfernt, einem Binnen-

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Wasserweg, der von N e w Jersey bis Texas verläuft und unser
Viertel, West Palm Beach, von der edlen Wohngegend in
Palm Beach trennte. Am Fuße unserer Straße, der Churchill
Road, lag ein lang gestreckter Park mit asphaltierten Wegen,
der sich über Kilometer am Ufer entlang erstreckte. Ein ide-
aler O r t zum Joggen, Radfahren und Inlineskaten. Und na-
türlich vor allem, um mit einem H u n d spazieren zu gehen.
Das H a u s stammte aus den Fünfzigerjahren und hatte ei-
nen gewissen C h a r m e - mit Kamin, grob verputzten W ä n -
den, großen Fenstern und Flügeltüren, die auf unseren Lieb-
lingsplatz hinausführten, die überdachte Veranda hinter dem
H a u s . D e r Garten war eine kleine tropische Oase, mit Pal-
men, Bromelien, Avocadobäumen und Buntnesseln in grel-
len Farben. Das Grundstück wurde von einem ausladenden
M a n g o b a u m beherrscht, der jeden Sommer seine schweren
Früchte mit lautem Plumpsen auf die Erde fallen ließ. Das
klang grotesk, als würden Leichen vom Dach geworfen. W i r
lagen dann immer im Bett und lauschten. Plumps. Plumps.
Plumps.
W i r hatten diesen Bungalow mit zwei Schlafzimmern und
einem Bad ein paar M o n a t e nach unserer Rückkehr aus den
Flitterwochen gekauft u n d uns sofort darangemacht, ihn her-
zurichten. Die Vorbesitzer, ein pensionierter Postangestell-
ter und seine Frau, hatten die Farbe G r ü n geliebt. Die Ver-
zierungen außen am H a u s waren grün. Die W ä n d e im Haus
waren grün. Die Vorhänge waren grün. Die Fensterläden wa-
ren grün. Die Haustür war grün. D e r Teppich, den sie gerade
erst angeschafft hatten, um das Haus besser verkaufen zu
können, war grün. N i c h t ein freundliches Apfelgrün oder ein
kühles Smaragdgrün oder gar ein mutiges Limonengrün, son-
dern ein ungesundes Erbsensuppengrün mit einem Hauch
von Khaki. Das Haus hatte die Atmosphäre einer Militär-
baracke.

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An unserem ersten Abend dort rissen wir jeden Z e n t i m e -
ter des neuen grünen Teppichs heraus und schleiften ihn auf
den Gehsteig hinaus. U n t e r dem Teppich entdeckten wir ma-
kellose Eichendielen, die, soweit wir das beurteilen konnten,
noch nie eine Schuhsohle gesehen hatten. W i r polierten sie,
bis sie glänzten. D a n n gingen wir einkaufen und gaben ei-
nen halben Monatslohn für einen handgewebten persischen
Teppich aus, den wir im W o h n z i m m e r vor dem Kamin aus-
rollten. Im Laufe der M o n a t e strichen wir jede grüne Ober-
fläche und tauschten jedes grüne Accessoire aus. Das H a u s
des Postbeamten wurde langsam zu unserem.
Als wir mit allem fertig waren, war es natürlich n u r lo-
gisch, dass wir uns einen großen, vierbeinigen Mitbewohner
mit scharfen Krallen, großen Zähne n und äußerst begrenz-
ten Englischkenntnissen ins H a u s holten, damit er es wieder
auseinandernehmen konnte.

»Langsam, Dingo, sonst fahren wir noch dran vorbei!«,


schimpfte Jenny. »Es muss hier ganz in der N ä h e sein.« W i r
fuhren in tiefschwarzer N a c h t durch eine Landschaft, die
einmal ein M o o r gewesen und nach dem Zweiten Weltkrieg
trockengelegt worden war, um sie zuerst als Ackerland u n d
später als Baugrund für Landliebhaber zu nutzen.
W i e Jenny vorausgesagt hatte, erfassten unsere Schein-
werfer bald einen Briefkasten mit der Adresse, nach der wir
suchten. Ich bog in einen Schotterweg ein, der in einen gro-
ßen, eingezäunten H o f mündete. Vor dem H a u s stand ein
Brunnen und dahinter war eine kleine Scheune zu sehen.
An der T ü r begrüßte uns eine Frau mittleren Alters namens
Lori. N e b e n ihr stand ein großer, friedlicher hellbrauner
Labrador.
»Das ist Lily, die stolze M a m a « , sagte Lori, nachdem
wir uns vorgestellt hatten. W i r sahen, dass Lilys Bauch fünf

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W o c h e n nach der G e b u r t noch angeschwollen war und ihre
Zitzen deutlich heraustraten. W i r knieten uns beide hin und
sie begrüßte uns freundlich. Sie war genau das, was wir uns
unter einem Labrador vorstellten - gutmütig, liebenswert,
sanft und atemberaubend schön.
» W o ist der Vater?«, fragte ich.
» O h « , sagte die Frau und zögerte den Bruchteil einer
Sekunde lang, »Sammy Boy? Er ist irgendwo draußen un-
terwegs.« D a n n fügte sie schnell hinzu: »Sicher wollen Sie
jetzt unbedingt die Welpen sehen?«
Sie führte uns durch die Küche in einen Raum, der in
eine Art Säuglingsstation umfunktioniert worden war. D e r
Boden war mit Zeitungen ausgelegt und in einer Ecke stand
eine niedrige Schachtel mit alten Handtüchern. Doch all das
n a h m e n wir n u r am Rande wahr. Kein Wunder, wo doch
vor uns n e u n kleine gelbe Welpen übereinander stolperten,
während sie sich fiepend drängten, um diese fremden Leute
zu begutachten. J e n n y schnappte nach Luft. »Meine Güte«,
sagte sie. »Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben
noch nie etwas so Reizendes gesehen.«
W i r setzten uns auf den Boden und ließen die Welpen
auf uns herumklettern, während Lily freundlich dazwischen
herumlief, mit dem Schwanz wedelte und jeden ihrer Spröss-
linge mit der Schnauze anstupste, um zu sehen, ob auch alles
in O r d n u n g war. Ich hatte mit J e n n y ausgemacht, dass wir
uns die Welpen nur ansehen, ein paar Fragen stellen und
dann noch einmal darüber nachdenken würden, ob wir uns
auch wirklich einen H u n d anschaffen wollten. »Das ist die
erste Anzeige, auf die wir uns melden«, hatte ich gesagt,
»lass uns nichts überstürzen.« Aber nach dreißig Sekunden
war mir klar, dass ich die Schlacht verloren hatte. Es stand
außer Zweifel, dass vor Morgengraue n einer dieser Welpen
uns gehören würde.

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Lori war keine professionelle Hundezüchterin. W i r hat-
ten keine Ahnung davon, wie m a n es anging, einen reinrassi-
gen H u n d zu kaufen. D o c h wir hatten genug gelesen, um zu
wissen, dass man sich von den so genannten Welpenfabriken
fernhalten sollte, diesen kommerziellen Hundezuchten, die
reinrassige H u n d e ausstießen wie eine Autofirma ihre Fließ-
bandware. Im Gegensatz zu serienmäßig produzierten Autos
können serienmäßig produzierte Rassehundwelpen nämlich
ernste Erbschäden aufweisen, von Hüftverformungen bis zu
früher Erblindung, als Folge von fortgesetzter Inzucht.
Lori dagegen betrieb die H u n d e z u c h t als Hobby, eher aus
Liebe zu dieser Rasse als aus Profitgier. Sie besaß n u r eine
H ü n d i n und einen Rüden. Die beiden stammten von ver-
schiedenen Linien ab, was Lori anhand der Stammbäume
nachweisen konnte. Dies war Lilys zweiter und voraussicht-
lich letzter Wurf, ehe sie sich in den wohlverdienten R u h e -
stand eines Haustiers auf dem Land zurückziehen würde.
Mit beiden Eltern vor O r t konnte der Käufer die Abstam-
m u n g direkt nachvollziehen - auch wenn der Vater in u n -
serem Fall irgendwo draußen unterwegs u n d damit nicht
greifbar war.
D e r W u r f bestand aus fünf Weibchen, die bis auf eines
alle bereits vergeben waren, und vier M ä n n c h e n . Lori ver-
langte 400 Dollar für das letzte Weibchen und 375 Dollar
für die Rüden. Einer der Rüden schien besonders verliebt
in uns zu sein. Er war der Verspielteste von allen, rannte auf
uns zu, purzelte auf unseren Schoß u n d kletterte an unseren
Pullovern bis zum Gesicht hinauf, um uns abzuschlabbern.
Er nagte mit erstaunlich scharfen Babyzähnen an unseren
Fingern und tapste in schiefen Kreisen auf riesigen, lohfar-
benen Pfoten um uns herum, die für den Rest seines Kör-
pers viel zu groß waren. » D e n da können Sie für 350 Dollar
haben«, sagte Lori.

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J e n n y ist eine fanatische Schnäppchenjägerin und bringt
andauernd irgendwelche Sachen nach Hause, die wir weder
brauchen noch haben wollen, nur weil sie zu günstig wa-
ren, um daran vorbeizugehen. »Ich weiß, dass du nicht Golf
spielst«, sagte sie eines Tages, als sie ein Set gebrauchter
Golfschläger aus dem Auto zog. »Aber du glaubst gar nicht,
wie günstig ich die bekommen habe!« Jetzt sah ich, wie ihre
Augen zu leuchten anfingen. » O h , Liebling«, säuselte sie,
»der kleine Kerl ist ein Sonderangebot!«
Ich muss zugeben, dass er verdammt niedlich war. U n d
verspielt. N o c h ehe ich wusste, was er vorhatte, hatte er be-
reits die Hälfte meines Uhrarmbandes verspeist.
» W i r müssen eine M u t p r o b e machen«, sagte ich. Ich
hatte J e n n y die Geschichte schon oft erzählt, wie wir Saint
Shaun ausgesucht hatten, als ich noch ein Junge war und
mein Vater mir geraten hatte, eine plötzliche Bewegung
oder L ä r m zu machen, um die scheuen Welpen von den mu-
tigen zu unterscheiden. W i e wir also da inmitten des Wel-
penhaufens saßen, warf sie mir einen entnervten Blick zu,
den sie immer für alte Grogan-Familiengeschichten parat
hat. » I m Ernst!«, sagte ich. »Es funktioniert!«
Ich stand auf, wandte mich von den Welpen ab und drehte
mich dann abrupt wieder um, wobei ich einen plötzlichen,
übertriebenen Schritt auf sie zu machte. Ich stampfte mit
dem Fuß auf und rief: »Hey!« Keiner der Welpen schien
besonders beeindruckt von den Anstrengungen dieses selt-
samen Fremden. D o c h n u r einer warf sich nach vorne, um
diesem vermeintlichen Angriff mutig die Stirn zu bieten. Es
war das Sonderangebot. Er jagte auf mich zu, warf sich ge-
gen meine Knöchel und stürzte sich auf meine Schnürsen-
kel, als wären sie gefährliche Feinde, die in die Flucht ge-
schlagen werden müssten.
»Ich glaube, das ist Schicksal«, sagte Jenny.

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»Meinst du?« Ich hob ihn mit einer H a n d hoch u n d sah
ihm ins Gesicht. Er blickte mich mit herzerweichenden brau-
nen Augen an und knabberte dann an meiner Nase. Ich ließ
ihn in Jennys Arm plumpsen, wo er das Gleiche mit ihr tat.
»Sieht aus, als würde er uns mögen«, sagte ich.
Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. W i r stellten
Lori einen Scheck über 350 Dollar aus, und sie meinte, wir
könnten in drei Wochen wiederkommen und unser Sonder-
angebot mitnehmen. Er wäre dann acht W o c h e n alt und ent-
wöhnt. W i r dankten ihr, streichelten Lily noch einmal u n d
verabschiedeten uns.
Als wir zum Auto gingen, legte ich Jenny den A r m um die
Schultern und zog sie an mich. »Unglaublich, oder?«, sagte
ich zu ihr. » W i r haben tatsächlich unseren H u n d ! «
»Ich kann es kaum erwarten, ihn nach Hause zu holen«,
meinte Jenny.
Gerade, als wir das Auto erreichten, hörten wir ein G e -
räusch. Es kam vom Wald her. Irgendetwas brach durchs
Gehölz - und schnaufte dabei sehr laut. Es klang wie aus
einem Horrorstreifen. U n d es kam näher. W i r erstarrten
und versuchten, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das
Geräusch wurde lauter. D a n n plötzlich brach das D i n g wie
ein Blitz auf die Lichtung hinaus und stürzte auf uns zu. Ein
hellbraunes Etwas. Ein sehr großes hellbraunes Etwas. Es
galoppierte ohne anzuhalten an uns vorbei, ja, sogar schein-
bar ohne uns zu bemerken, und wir sahen, dass es ein gro-
ßer Labrador war. Aber er hatte nichts mit der süßen Lily
gemein, mit der wir gerade im H a u s geschmust hatten. D i e -
ses Tier war tropfhass und bis zum Bauch voller Schlamm
und Zweige. Die Z u n g e hing ihm wild an einer Seite aus
dem Maul, und Schaum flog von seinen Lefzen, als er an uns
vorbeiraste. Einen Augenblick lang sah ich den seltsamen,
leicht verrückten und doch irgendwie fröhlichen Ausdruck

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in seinen Augen. Es war, als ob dieses T i e r gerade einen
Geist gesehen hätte - und sich vor Begeisterung gar nicht
fassen könnte.
D a n n verschwand es mit dem Getöse einer durchgehen-
den Büffelherde hinter dem H a u s . Jenny stieß einen kleinen
Schrei aus.
»Ich glaube, wir haben gerade den Papa kennen gelernt«,
sagte ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
ZWEI

Adel verpflichtet

U nsere erste Amtshandlung als frischgebackene H u n d e -


besitzer war ein Streit. Er begann auf der Heimfahrt
von der Hundezüchterin und flackerte die ganze folgende
Woche immer wieder auf. W i r konnten uns nicht einigen,
wie wir unser Sonderangebot taufen sollten. J e n n y lehnte
meine Vorschläge kategorisch ab, und ich die ihren. Eines
Morgens, bevor wir zur Arbeit gingen, eskalierte der Streit.
»Chelsea?«, sagte ich. »Das ist ein grauenhafter M ä d -
chenname. Jeder Rüde würde eher sterben als Chelsea zu
heißen!«
»Als ob er das mitbekommen würde«, konterte Jenny.
» H u n t e r « , schlug ich vor. » H u n t e r ist perfekt.«
»Hunter? Du machst Witze, oder? Was ist los mit dir, bist
du auf einem Macho-Trip? Viel zu maskulin. Im Übrigen
warst du noch nie in deinem Leben auf der Jagd.«
»Er ist ein M ä n n c h e n « , entgegnete ich schäumend vor
Wut. » U n d er soll maskulin sein. Mach daraus jetzt keine
von deinen feministischen Grundsatzfragen!«
Das Ganze drohte zu kippen. U n d ich hatte gerade den
Fehdehandschuh geworfen. Als J e n n y zum Gegenschlag aus-
holte, versuchte ich schnell, meinen Favoriten noch einmal
ins Spiel zu bringen. »Was ist falsch an Louie?«
»Nichts, wenn du auf einer Tankstelle arbeitest«, schleu-
derte Jenny mir entgegen.

23
»Hey, jetzt mach mal halblang, das war der N a m e meines
Großvaters! W i r sollten ihn wohl nach deinem Großvater
nennen, oder? G u t e r H u n d , Bill!«
W ä h r e n d wir uns so stritten, wanderte Jenny gedankenlos
zur Stereoanlage und drückte die Play-Taste. Das war eine
ihrer fiesen Kriegsstrategien. W e n n du zu verlieren drohst,
dann lass deinen Gegner einfach auf dem Trockenen sitzen.
Aus den Lautsprechern tönte Bob Marley, und das hatte so-
fort eine beruhigende W i r k u n g auf uns beide.
W i r hatten den jamaikanischen Sänger erst entdeckt, als
wir von Michigan nach Südflorida gezogen waren. In der
Weißbrotidylle des O b e r e n Mittelwestens hatten wir eine
strenge Bob-Seger-und-John-Cougar-Mellencamp-Diät ge-
nossen.
Aber hier in Südflorida, diesem pulsierenden Schmelztie-
gel, war Bob Marleys Musik auch noch ein Jahrzehnt nach
seinem Tod überall zu hören. W i r hörten sie im Autoradio,
wenn wir den Biscayne Boulevard hinunterfuhren. W i r hör-
ten sie, wenn wir in Little Havanna Kaffee tranken und in
den düsteren Etablissements der Einwandererviertel west-
lich von F o r t Lauderdale gegrilltes H ü h n c h e n aßen. W i r
hatten sie gehört, als wir zum ersten Mal Muscheln auf dem
Bahamian G o o m b a y Festival in Miami gegessen und als wir
in Key West Kunst aus Haiti gekauft hatten.
Je m e h r wir entdeckten, desto mehr verliebten wir uns, in
Südflorida und ineinander. U n d im Hintergrund war immer
Bob Marley zu hören. Er sang, wenn wir uns am Strand sonn-
ten, als wir die scheußlichen grünen W ä n d e in unserem Haus
strichen, als wir im Morgengrauen von den Schreien wilder
Papageien aufwachten und uns im ersten Sonnenlicht, das
durch den brasilianischen Pfefferbaum vor unserem Fenster
fiel, liebten. W i r verliebten uns in seine Musik, um ihrer
selbst willen u n d weil sie für den M o m e n t in unserem Leben

24
stand, in dem wir zusammengefunden hatten. Bob Marley
war der Soundtrack unseres neuen, gemeinsamen Lebens
an diesem seltsamen, exotischen, zügellosen Ort, der sich so
sehr von allen anderen Orten unterschied, wo wir bisher ge-
wohnt hatten.
U n d jetzt schallte unser Lieblingslied aus den Lautspre-
chern. Es war unser Lieblingslied, weil es so furchtbar schön
war und weil es so deutlich zu uns sprach. Marleys Stim-
me füllte den Raum aus und wiederholte immer wieder: »Is
this love that I'm feeling?« U n d im selben M o m e n t , genau
gleichzeitig, so als hätten wir das wochenlang geübt, schrien
wir beide: »Marley!«
»Das ist es!«, rief ich. »Das ist unser N a m e ! « J e n n y lä-
chelte, ein gutes Zeichen. Ich probierte es sofort aus. »Mar-
ley, hierher!«, befahl ich. »Marley, bleib! G u t e r H u n d , M a r -
ley!«
»Hey, ich glaube, das funktioniert«, sagte ich dann. Jenny
stimmte mir zu. Unser Streit war beigelegt. W i r hatten ei-
nen N a m e n für unseren Welpen.

Am nächsten Abend kam ich nach dem Abendessen ins


Schlafzimmer, wo Jenny gerade ein Buch las, und sagte: »Ich
finde, wir müssen seinen N a m e n ein wenig aufpeppen.«
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte sie. » E r hat uns
doch beiden gefallen.«
Ich hatte die Anmeldeformulare vom American Kennel
Club gelesen. Als reinrassiger Labrador mit ordentlich ein-
getragenen Eltern konnte Marley ebenfalls in die AKC-Lis-
te eingetragen werden. Das war zwar nur dann notwendig,
wenn man mit seinem H u n d auf Hundeschauen gehen oder
züchten wollte, in diesem Fall gab es kein wichtigeres D o k u -
ment. Für ein Haustier hingegen war es überflüssig.
Aber ich hatte große Pläne mit unserem Marley. Dies

25
war das erste Mal, dass ich mit so etwas wie adeliger Abstam-
m u n g in Berührung kam. Das gilt auch für meine eigene
Familie. W i e Saint Shaun, der H u n d meiner Kindheit, war
auch ich ein Individuum ungewisser und uninteressanter Ab-
stammung. In meinem Stammbaum rinden sich mehr Nati-
onen als in der Europäischen U n i o n . D u r c h diesen H u n d
hatte ich es auf einmal mit Adel zu tun, und ich würde diese
Gelegenheit nicht ungenützt verstreichen lassen. Ich gebe
zu, ich war ein wenig größenwahnsinnig.
» N e h m e n wir einmal an, wir wollen ihn bei Wettbewer-
ben starten lassen«, erklärte ich. »Hast du schon mal von
einem C h a m p i o n h u n d mit nur einem N a m e n gehört? Sie
haben immer lange Titel, so was wie Sir Dartworth of Ches-
terham.«
» U n d sein Herrchen, Graf Größenwahn von West Palm
Beach«, erwiderte Jenny trocken.
»Ich meine es ernst!«, entgegnete ich. » W i r könnten ihn
Züchtern als Beschäler zur Verfügung stellen. Hast du eine
Ahnung, wie viel die Leute für gute Zuchtrüden zahlen?
Aber dann braucht er einen tollen N a m e n . «
»Lass dich nicht aufhalten, Liebling«, sagte Jenny und
wandte sich wieder ihrem Buch zu.
N a c h d e m ich eine N a c h t lang darüber gegrübelt hatte,
fing ich sie am nächsten M o r g e n neben dem Waschbecken
im Badezimmer ab und sagte: »Mir ist der perfekte N a m e
eingefallen.«
Sie sah mich skeptisch an. »Schieß los!«
»Okay, bist du bereit? H i e r k o m m t er.« U n d dann ließ ich
mir jeden einzelnen N a m e n auf der Zunge zergehen: » G r o -
gan's ... Majestic ... Marley ... of... Churchill.«
M a n n , dachte ich, das klingt wirklich königlich.
» M a n n « , sagte Jenny, »das klingt echt blöd.«
Es war mir egal. Ich war derjenige, der sich um den Pa-

26
pierkram kümmerte, und ich hatte den N a m e n bereits ein-
getragen. M i t Tinte. J e n n y konnte feixen, so lange sie woll-
te; wenn Grogan's Majestic Marley of Churchill in ein paar
Jahren reihenweise Ehrentitel auf der Westminster-Kennel-
Club-Hundeshow abräumen und ich ihn ruhmvoll vor ei-
nem ehrfürchtigen internationalen Fernsehpublikum durch
den Ring traben lassen würde, dann würden wir ja sehen,
wer zuletzt lachte.
»Komm, mein edler Graf G r o g a n « , sagte Jenny. »Lass
uns frühstücken.«
DREI

Heimwärts

W ährend wir die Tage zählten, bis wir Marley nach


Hause holen konnten, begann ich mit reichlich Ver-
spätung, Fachliteratur über Labradors zu wälzen. Ich sage
mit reichlich Verspätung, weil einem in jedem Buch, das ich
las, derselbe eindringliche Rat gegeben wurde: Bevor man
sich einen H u n d kauft, sollte man sich eingehend über die
Rasse informieren, damit man auch weiß, worauf man sich
einlässt. D u m m gelaufen.
Jemand, der in einer kleinen W o h n u n g wohnt, sollte sich
zum Beispiel keinen Bernhardiner anschaffen. Eine Familie
mit kleinen Kindern sollte vielleicht die manchmal unbere-
chenbaren C h o w - C h o w s meiden. Ein Faulpelz, der einen
Schoßhund für gemeinsame faule Stunden vor dem Fernse-
her sucht, wird mit einem Bordercollie wahrscheinlich wahn-
sinnig, denn der braucht Arbeit und Bewegung, um glück-
lich zu sein.
Betreten musste ich zugeben, dass Jenny und ich uns so
gut wie gar nicht informiert hatten, bevor wir uns für einen
Labrador entschieden hatten. Ein einziges Kriterium war für
unsere Entscheidung für diese Rasse ausschlaggebend gewe-
sen: die Ausstrahlung. Oft hatten wir Labradors mit ihren Be-
sitzern auf dem Radweg am Ufer bewundert - große, tapsige,
verspielte Burschen, die eine Lebensfreude versprühten, wie
m a n sie auf dieser Welt nicht oft zu sehen bekommt. N o c h

28
peinlicher war die Tatsache, dass unsere Entscheidung nicht
von der Bibel aller Hunderassen, The Complète Dog Book, ver-
öffentlicht vom American Kennel Club, u n d auch nicht von
irgendeinem anderen empfehlenswerten W e r k beeinflusst
worden war. Unsere Inspirationsquelle war ein ganz ande-
rer Hundeklassiker gewesen: The Far Side von Gary Lar-
son. W i r waren große Fans dieses Comics. Darin taten und
sagten kluge, weltgewandte Labradors die unglaublichsten
Dinge. Ja, sie konnten reden! Großartig, oder? Labradors
waren ungeheuer unterhaltsame T i e r e - zumindest bei G a r y
Larson. U n d wer konnte nicht ein bisschen m e h r Spaß im
Leben gebrauchen? W i r konnten nicht widerstehen.
Als ich jetzt ernsthaftere Literatur zum T h e m a Labradors
durcharbeitete, war ich erleichtert, zu erfahren, dass unsere
Wahl, wie willkürlich sie auch gewesen war, nicht vollkom-
men abwegig zu sein schien. Die Bücher waren voll des L o -
bes über das liebenswerte, ausgeglichene Wesen des Labra-
dors, seine Kinderliebe, seinen Sanftmut und seinen Eifer.
Wegen ihrer Intelligenz und Ausdauer wurden diese H u n d e
oft im Rettungsdienst und als Blindenhunde eingesetzt. All
das klang viel versprechend für einen H u n d , der in einen
Haushalt kommen sollte, in dem es früher oder später wahr-
scheinlich auch Kinder geben würde.
Ein Buch schwärmte: » D e r Labrador ist bekannt für
seine Klugheit, seine Menschenliebe, Geschicklichkeit und
endlose Ausdauer bei jedweder Aufgabe.« Ein anderes Buch
pries die große Treue dieser Rasse. All diese Qualitäten hat-
ten den Labrador von einem reinen Jagdhund, der wegen
seines Geschicks beim Aufstöbern von abgeschossenen Fa-
sanen und Enten in eiskalten Gewässern vor allem bei der
Vogeljagd eingesetzt wurde, zum beliebtesten Haustier Ame-
rikas gemacht. Erst vor einem J a h r hatte der Labrador den
Cockerspaniel vom Spitzenplatz der vom American Kennel

29
Club aufgestellten Liste der beliebtesten Hunderassen ver-
drängt. Keine andere Rasse ist seitdem an den Labrador
herangekommen. 2004 stand er mit 146692 registrierten
H u n d e n zum fünfzehnten Mal hintereinander auf Platz
eins dieser Liste. Weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz
lag der Golden Retriever mit 52 550 Exemplaren, und den
dritten Platz hielt der Deutsche Schäferhund mit 46046
Exemplaren.
G a n z zufällig waren wir also auf eine Rasse gestoßen, von
der Amerika gar nicht genug bekommen konnte. U n d all
diese glücklichen Hundebesitzer konnten sich doch u n m ö g -
lich irren, oder? W i r hatten uns für einen sicheren Gewin-
ner entschieden. U n d doch waren die Bücher voll von omi-
nösen Warnhinweisen.
Labradors waren als Arbeitshunde gezüchtet worden und
hatten meistens unerschöpfliche Energie. Sie waren sehr
gesellig u n d sollten nicht zu lange allein gelassen werden.
Sie konnten stur und schwer erziehbar sein. Sie brauchten
täglich reichlich Auslauf, sonst konnten sie zerstörerische
Züge entwickeln. M a n c h e Exemplare waren sehr leicht er-
regbar und auch für erfahrene Hundebesitzer schwer unter
Kontrolle zu halten. Sie genossen eine scheinbar unendliche
Welpenphase, die bis zu drei Jahre oder sogar noch länger
dauern konnte. Diese lange, überschäumende Jugendzeit er-
forderte vom Besitzer zusätzliche Geduld.
Sie waren kräftig, und man hatte sie über die Jahrhun-
derte hinweg auf Schmerzunempfindlichkeit gezüchtet, eine
Qualität, die ihnen zugutekommt, wenn sie den Fischern im
Nordatlantik helfen und in das eisige Wasser tauchen. In ei-
n e m normalen Haushalt jedoch konnte genau diese Eigen-
schaft aus einem Labrador einen Elefanten im Porzellanla-
den machen. Diese großen, starken, breitschultrigen Tiere
waren sich ihrer eigenen Stärke nicht immer bewusst. Später

30
erzählte mir eine Labradorbesitzerin einmal, sie hätte ihren
Rüden an das Gartentor neben der Garage gebunden, da-
mit er dabei sein konnte, wenn sie das Auto in der Einfahrt
wusch. Das T i e r entdeckte ein Eichhörnchen u n d machte
einen Satz nach vorne, wobei es den großen Eisenrahmen
glatt aus der Wand riss.
U n d dann las ich einen Satz, der mir Angst machte. » D i e
Eltern sind mit die besten Indikatoren für das Temperament,
das ihr Welpe einmal entwickeln wird. Ein erstaunlich gro-
ßer Teil des Benehmens ist erblich bedingt.« Ich hatte wie-
der dieses schäumende, vor Dreck strotzende U n g e t ü m vor
Augen, das an jenem Abend aus dem Wald gerast gekommen
war, als wir unseren Welpen aussuchten. Großer Gott, dach-
te ich. Das Buch empfahl wärmstens, unbedingt darauf zu
bestehen, beide Eltern zu besichtigen. Ich erinnerte mich
wieder an das kaum merkliche Z ö g e r n der Züchterin, als
ich nach dem Vater der Welpen fragte. Oh ... er ist irgendwo
draußen unterwegs. U n d wie sie dann schnell das T h e m a ge-
wechselt hatte. Das alles ergab auf einmal einen Sinn. Ein be-
lesener Käufer hätte darauf bestanden, den Vater zu sehen.
Und was hätte er zu sehen bekommen? Einen wahnsinnigen
Derwisch, der blindlings durch die N a c h t raste, als ob D ä -
monen ihm am Schwanz hingen. Ich schickte ein Stoßgebet
zum Himmel, dass Marley das G e m ü t seiner M u t t e r geerbt
hatte.
Abgesehen von individuellem Erbgut haben alle reinrassi-
gen Labradors gewisse vorhersagbare Charaktereigenschaf-
ten gemeinsam. D e r American Kennel Club setzt die Stan-
dards, welche Qualitäten ein Labrador besitzen sollte. Vom
Körperbau her sind sie stämmig und muskulös, mit kurzem,
dichtem, wetterfestem Fell. Das Fell kann schwarz oder scho-
koladenbraun sein oder eine Vielzahl von Goldtönen aufwei-
sen, von hellbeige bis zu einem dunklen Fuchsrot. Eines

31
der Hauptmerkmale des Labradors ist sein dicker, kräftiger
Schwanz, der dem eines Otters ähnelt und einen Kaffeetisch
mit einem einzigen schnellen Wedeln abräumen kann. Der
Kopf ist groß und breit, mit kräftigen Kiefern und hoch an-
gesetzten Schlappohren. Die meisten Labradors haben ein
Stockmaß von sechzig Zentimetern vom Boden bis zu den
Schultern, und ein durchschnittlich gebautes Männchen
wiegt ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Kilo, obwohl man-
che Exemplare wesentlich schwerer sein können.
Aber Aussehen allein ist laut dem AKC bei einem Labra-
dor nicht alles. In den Standards des Clubs heißt es: »Das
wahre Labrador-Temperament ist genauso ein Merkmal die-
ser Rasse wie der so genannte Otterschwanz. Idealerweise
ist der Labrador freundlich, von offenem, lenkbarem Wesen,
er will gefallen und ist weder gegen Menschen noch gegen
andere T i e r e aggressiv. D e r Labrador ist sehr liebenswert.
Seine sanfte Art, seine Klugheit und seine Anpassungsfähig-
keit machen ihn zu einem idealen H u n d . «
Ein idealer H u n d ! Ein größeres L o b konnte man wohl
kaum aussprechen. Je m e h r ich las, umso wohler fühlte ich
mich mit unserer Entscheidung. N i c h t einmal die Warnun-
gen konnten mich besonders schrecken. Jenny und ich wür-
den uns mit Begeisterung auf unseren neuen H u n d einlas-
sen und ihn mit Aufmerksamkeit und Liebe überschütten.
W i r waren beide fest entschlossen, ihn zu Gehorsam und
Anstand zu erziehen, egal, wie viel Zeit das in Anspruch
n e h m e n würde. W i r gingen beide sehr gerne spazieren und
waren beinahe jeden Abend nach der Arbeit, und auch oft
morgens, unten am Wasser. Es war nur nahe liegend, un-
seren neuen H u n d auf unsere ausgedehnten Spaziergänge
mitzunehmen. W i r würden den kleinen Racker schon müde
kriegen. Jennys Büro war nicht weit von unserem Bungalow
entfernt, und sie kam jeden Mittag zum Essen nach Hause.

32
Dann könnte sie ihm im Garten hinter dem H a u s Bälle wer-
fen, damit er noch mehr von seiner ungezügelten Energie
verbrennen konnte, vor der uns alle warnten.

Eine Woche bevor wir unseren H u n d nach Hause holen


sollten, rief Jennys Schwester Susan aus Boston an. Sie, ihr
Mann und die zwei Kinder planten in der folgenden W o c h e ,
nach Disneyland zu fahren. Ob J e n n y nicht auch m i t k o m -
men und ein paar Tage mit ihnen verbringen wollte? Als ver-
narrte Tante, die jede Gelegenheit wahrnahm, ihre N i c h t e
und ihren Neffen zu sehen, wollte J e n n y unbedingt fahren.
Doch sie war hin- und hergerissen. » D a n n bin ich nicht hier,
wenn der kleine Marley nach Hause k o m m t « , sagte sie.
» D u fahrst«, entschied ich. »Ich hole den H u n d ab und
gewöhne ihn hier ein. W i r erwarten dich dann hier, wenn
du zurückkommst.«
Ich versuchte gleichgültig zu klingen, aber in W a h r h e i t
war ich überglücklich bei dem Gedanken, den kleinen W e l -
pen ein paar Tage ganz für mich alleine zu haben, um eine
starke Beziehung unter M ä n n e r n aufzubauen. Natürlich war
er unser gemeinsames Projekt, er gehörte uns beiden. Aber
ich war der Meinung, dass ein H u n d unmöglich zwei H e r -
ren dienen konnte, und wenn es nur ein Alphatier in unse-
rem Haushalt geben konnte, dann wollte ich das sein. Diese
drei Tage würden mir einen Riesenvorsprung geben.
Eine Woche später brach J e n n y nach Orlando auf - eine
Fahrt von dreieinhalb Stunden. An diesem Abend, einem
Freitag, fuhr ich nach der Arbeit zum H o f der Züchterin,
um unser neues Familienmitglied abzuholen. Als Lori mir
unseren H u n d herausbrachte, schnappte ich unwillkürlich
nach Luft. D e r kleine, wuschelige Welpe, den wir vor drei
Wochen ausgesucht hatten, hatte seine G r ö ß e m e h r als ver-
doppelt. Er kam auf mich zugestürzt und rannte mit dem

33
Kopf voran gegen meine Knöchel, ließ sich dann zu einem
Fellhaufen zusammenfallen und rollte auf den Rücken,
die Pfoten in die H ö h e , eine Geste, von der ich nur hoffen
konnte, dass sie Unterwerfung bedeutete. Lori muss meinen
Schock gespürt haben. » E r ist ganz schön gewachsen, nicht
wahr?«, sagte sie fröhlich. »Sie sollten mal sehen, wie er das
Welpenfutter wegputzt!«
Ich beugte mich hinunter, kraulte ihm den Bauch und
sagte: » K o m m s t du mit nach Hause, Marley?« Es war das
erste Mal, dass ich seinen N a m e n benutzte, und es fühlte
sich richtig an.
Im Auto baute ich ihm auf dem Beifahrersitz ein gemüdi-
ches N e s t aus Badehandtüchern und setzte ihn hinein. Aber
ich war kaum aus der Einfahrt gebogen, als er anfing, sich
aus den H a n d t ü c h e r n herauszugraben. Er robbte auf dem
Bauch über den Sitz auf mich zu und winselte dabei. Auf der
Mittelkonsole traf Marley auf das erste der unendlich vie-
len Hindernisse, denen er im Laufe seines Lebens begegnen
würde: Er saß fest, die Hinterbeine hingen auf der Beifahrer-
seite herunter und die Vorderpfoten auf der Fahrerseite. Da-
zwischen lag er bäuchlings auf der Handbremse. Seine klei-
nen Beine strampelten in alle Richtungen durch die Luft. Er
schaukelte u n d wackelte und zappelte, doch er saß fest wie
ein gestrandeter Tanker. Ich griff hinüber und streichelte
ihm über den Rücken, was ihn nur noch mehr zum Zappeln
animierte. M i t den Hinterpfoten versuchte er verzweifelt,
H a l t auf dem mit Teppich überzogenen Buckel zwischen
den Sitzen zu finden. Langsam arbeitete er sich mit den H i n -
terpfoten hinauf, sein Hinterteil stieg höher und höher, der
Schwanz wedelte wild hin und her, bis schließlich das Gesetz
der Schwerkraft eingriff. Er purzelte mit dem Kopf voran
auf der anderen Seite der Konsole hinunter, landete auf dem
Boden zu meinen Füßen und drehte sich auf das Hinterteil.

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Von dort aus war es nur noch ein kurzer, einfacher Krabbel-
weg auf meinen Schoß.
Himmel, war er glücklich - nahezu verzweifelt glücklich.
Er japste vor Freude, während er den Kopf in meinen M a -
gen bohrte und an den Knöpfen meines H e m d s herumkau-
te. Sein Schwanz schlug auf das Lenkrad wie die Nadel eines
Metronoms.
Ich fand schnell heraus, dass ich die Frequenz seines
Schwanzwedeins erhöhen konnte, indem ich ihn berühr-
te. W e n n ich beide H ä n d e am Lenkrad hatte, schlug der
Schwanz regelmäßig dreimal pro Sekunde auf. Flap, Aap,
Aap. Legte ich auch nur einen Finger auf seinen Kopf, wurde
aus diesem Walzer ein Bossa nova. Flap, flap, flap, flap, flap,
flap! Zwei Finger, und es wurde ein M a m b o : Flap, flapflap,
flap, flapflap! U n d wenn ich ihm meine ganze H a n d auf den
Kopf legte und ihn zwischen den O h r e n kraulte, explodierte
das Schlagen in ein maschinengewehrartiges flap, flap, flap,
flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap!
»Wow, du hast es aber im Blut!«, sagte ich zu ihm. » D u
bist wirklich ein Reggae-Hund.«

Als wir zu Hause ankamen, führte ich ihn hinein und löste
seine Leine. Er fing sofort an herumzuschnüffeln u n d hörte
erst auf, als er jeden Winkel erkundet hatte. D a n n setzte er
sich auf die Hinterbeine und sah mich mit schief gelegtem
Kopf an, als wollte er sagen: Nicht schlecht hier, aber wo sind
meine Geschwister?
Die Realität seines neuen Lebens ging ihm erst auf, als es
Zeit zum Schlafengehen war. Bevor ich ihn abgeholt hatte,
hatte ich ihm einen Schlafplatz in der kleinen Garage h e r g e -
richtet, die an das H a u s grenzte. W i r parkten nie darin, son-
dern nutzten sie als Abstellkammer und Waschraum. Wasch-
maschine und Trockner standen hier, und unser Bügelbrett.

35
D e r Raum war trocken und gemütlich und hatte eine Hinter-
tür, die in den umzäunten Garten hinausführte. M i t seinem
Betonboden und -wänden war er so gut wie unzerstörbar.
»Marley«, sagte ich fröhlich, als ich ihn hineinführte, »das
ist dein Zimmer.«
Ich hatte Kauspielzeug verstreut und den Boden in der
Mitte des Raumes mit alten Zeitungen ausgelegt. Außerdem
standen eine Schüssel mit Wasser und ein Körbchen aus ei-
n e m Karton mit einem alten Bettlaken darin bereit. » U n d
hier wirst du schlafen«, sagte ich und setzte ihn in das Körb-
chen. Er war eine solche U m g e b u n g gewohnt, hatte sein La-
ger aber immer mit seinen Geschwistern geteilt. Jetzt schritt
er sein Körbchen ab und sah mich verloren an. Ich startete
den ersten Versuch, trat ins H a u s zurück und schloss die
Tür. D a n n blieb ich stehen und lauschte.
Zuerst nichts. D a n n ein leises, kaum hörbares Winseln.
U n d dann ein herzzerreißendes Heulen. Es klang, als würde
m a n ihn foltern.
Ich öffnete die Tür, und sobald er mich sah, war er ruhig.
Ich ging hinein und kraulte ihn eine Weile, dann ließ ich ihn
wieder allein. Auf der anderen Seite der T ü r begann ich zu
zählen. Eins, zwei, drei ... er schaffte es sieben Sekunden,
dann fing das Gejaule wieder an. W i r wiederholten diesen
Vorgang ein paar Mal, immer mit demselben Ergebnis.
Ich war müde und beschloss, dass er sich in den Schlaf
jaulen musste. Also ließ ich ihm das Garagenlicht an, schloss
die Tür, ging in den hinteren Teil des Hauses und kroch ins
Bett. Die Betonmauern filterten sein bemitleidenswertes
H e u l e n nur geringfügig. Ich lag da und versuchte ihn zu ig-
norieren und dachte die ganze Zeit, dass er gleich aufgeben
und einschlafen würde. Das Geheul ging weiter. Auch als ich
mir das Kopfkissen über den Kopf zog, konnte ich ihn noch
hören. Ich dachte daran, dass er zum ersten Mal in seinem

36
Leben allein war, in fremder U m g e b u n g , ohne den H a u c h
eines hundeähnlichen Duftes um ihn herum. Er vermisste
seine Mutter und seine Geschwister. D e r arme kleine Kerl.
W i e würde mir das gefallen?
Ich hielt es noch eine weitere halbe Stunde lang aus, dann
stand ich auf und ging zu ihm. Sobald er mich sah, hellte
sich sein Gesicht auf und er schlug mit dem Schwanz gegen
das Körbchen. Es war, als wollte er sagen: Komm schon, spring
auch rein, hier ist genug Platz! Stattdessen h o b ich ihn mit-
samt dem Körbchen hoch und trug ihn ins Schlafzimmer,
wo ich es direkt neben unser Bett auf den Boden stellte. Ich
legte mich auf den äußersten Rand der Matratze und ließ ei-
nen Arm in das Körbchen hängen. U n d so, mit meiner H a n d
auf seiner Flanke, sodass ich spürte, wie sich sein Brustkorb
hob und senkte, schliefen wir schließlich beide ein.
VIER

Mr Wiggles

D ie folgenden drei Tage widmete ich mich mit größter


Begeisterung unserem Welpen. Ich legte mich zu ihm
auf den Boden und ließ ihn auf mir herumklettern. Ich rauf-
te mit ihm. W i r spielten Tauziehen mit einem alten H a n d -
tuch - u n d ich war verwundert, wie stark er schon war. Er
folgte mir überall hin - und versuchte alles anzuknabbern,
was in Reichweite seiner Zähne kam. Er brauchte genau ei-
nen Tag, um das Beste an seinem neuen Zuhause herauszu-
finden: Toilettenpapier. Er verschwand in der Toilette und
kam fünf Sekunden später wieder herausgeschossen, das
E n d e der Rolle zwischen den Zähnen, sodass sich das Papier
hinter ihm aufrollte, während er durchs H a u s tobte. Es sah
aus, als hätten wir für Halloween dekoriert.
Jede halbe Stunde ließ ich ihn in den Garten hinaus. W e n n
ihm mal ein Unglück im H a u s passierte, schimpfte ich ihn
aus. W e n n er draußen pinkelte, legte ich meine Wange an
seine u n d lobte ihn überschwänglich. U n d wenn er einen
Haufen in den Garten gesetzt hatte, führte ich mich auf, als
hätte er für mich sechs Richtige im L o t t o gewonnen.
Als J e n n y nach Hause kam, warf sie sich ebenfalls mit Be-
geisterung auf ihn. Es war erstaunlich. Im Laufe der Tage
entdeckte ich an meiner Frau eine sanfte, fürsorgliche Seite,
die ich bisher nicht gekannt hatte. Sie trug ihn auf dem Arm,
streichelte ihn, sie spielte mit ihm, sie war immer um ihn

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herum. Sie kämmte auf der Suche nach Flöhen und Zecken
jedes Haar seines Fells einzeln durch. U n d jede N a c h t stand
sie alle paar Stunden auf, um ihn hinauszulassen. Es war ihr
Verdienst, dass er schon nach wenigen Wochen stubenrein
wurde. Hauptsächlich futterte sie ihn.
W i r folgten genau den Anweisungen auf der Futtertüte
und gaben Marley drei große Schüsseln Welpenfutter pro
Tag. Er schlang alles bis zum letzten Krümel in wenigen Se-
kunden hinunter. Was wir hineinfüllten, musste natürlich
auch wieder heraus, und so glich unser Garten bald einem
Minenfeld. W i r mussten bei jedem Schritt auf der H u t sein.
Marleys Appetit war groß, aber seine Haufen waren riesig,
und sie sahen nicht viel anders aus als das, was er gefressen
hatte. Verdaute er das Z e u g überhaupt?
Offensichtlich schon. Marley wuchs beängstigend schnell.
W i e eine dieser faszinierenden Dschungelpflanzen, die ein
Haus in wenigen Stunden überwuchern können, breitete
er sich exponentiell in alle Richtungen aus. Jeden Tag war
er ein bisschen länger, dicker, größer und schwerer. Als ich
ihn abgeholt hatte, hatte er neuneinhalb Kilo gewogen, nach
wenigen Wochen brachte er schon zweiundzwanzig auf die
Waage. Sein süßer kleiner Welpenkopf, der auf unserer
Heimfahrt damals so gut in meine H a n d gepasst hatte, hatte
rasend schnell die G r ö ß e und F o r m eines Amboss angenom-
men. Seine Pfoten waren enorm, seine Flanken bereits gut
bemuskelt und seine Brust beinahe so breit wie ein Bulldo-
zer. U n d wie die Bücher es vorausgesagt hatten, wurde sein
dünner Welpenschwanz bald so dick und kräftig wie der ei-
nes Otters.
Was war das für eine Rute. Jeder Gegenstand in unserem
Haus, der sich auf Kniehöhe oder darunter befand, wurde
von Marleys wild wedelnder Waffe niedergemäht. Er räum-
te Kaffeetische ab, verteilte Zeitungen über den Boden,

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stieß gerahmte Fotos von Regalen, schleuderte Bierflaschen
und Weingläser durch die Gegend. Er schaffte sogar eine
Scheibe in der Fenstertür. Allmählich wanderten alle Gegen-
stände, die er nicht hinunterwarf, auf eine höhere Ebene, wo
sie vor ihm sicher waren. W e n n uns Freunde mit kleinen
Kindern besuchten, wunderten sie sich: »Euer Haus ist ja
schon babysicher!«
Marley wedelte eigentlich nicht mit dem Schwanz. Er we-
delte mit seinem ganzen Körper. Die Bewegung fing vorne
an den Schultern an und pflanzte sich dann nach hinten fort.
Er schien keine Knochen zu haben, sein Körper war ein ein-
ziger elastischer Muskel. J e n n y fing an, ihn Mr W g g l e s zu
nennen.
Am allermeisten wedelte er, wenn er etwas im Maul hatte.
Es war immer dasselbe Spiel: Er packte den nächstliegenden
Gegenstand, einen Schuh, ein Kissen oder einen Stift - ganz
egal - und rannte damit davon. Eine kleine Stimme in sei-
n e m Kopf schien ihm zuzuflüstern: »Los! Schnapp es dir!
Sabber es voll! Lauf!«
M a n c h e Gegenstände waren klein genug, um sie ganz ins
Maul zu nehmen, und das machte ihm besonders großen
Spaß - er schien dann zu denken, er hätte uns übers O h r ge-
hauen. Aber Marley war ein miserabler Pokerspieler. W e n n
er etwas ausgefressen hatte, konnte er seine Freude nicht ver-
bergen. Lebhaft war er immer, in solchen M o m e n t e n jedoch
explodierte er förmlich in einem wahnsinnigen Anfall von
Bewegungsdrang, als hätte ihn etwas gebissen. Sein Körper
bebte, sein Kopf wackelte hin und her, und sein ganzes H i n -
terteil wiegte sich in einer Art spastischem Tanz. W i r nann-
ten das den Marley-Mambo.
»Okay, was ist es diesmal?«, fragte ich ihn dann immer,
und wenn ich dann auf ihn zukam, wich er aus, wedelte mit
tänzelnden Hüften durchs Z i m m e r und warf den Kopf wie

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ein wieherndes Fohlen. Er war so überglücklich über seine
verbotene Beute, dass er sich kaum halten konnte. W e n n
ich ihn endlich in eine Ecke getrieben hatte u n d ihm das
Maul öffinete, verließ ich das Feld nie mit leeren H ä n d e n .
Irgendetwas hatte er immer aus dem Müll gezogen oder auf
dem Boden gefunden oder, als er größer wurde, direkt v o m
Esstisch geklaut. Papiertaschentücher, Kassenzettel, W e i n -
korken, Lesezeichen, Schachfiguren, Schraubverschlüsse -
unser H u n d war wie ein Wertstoffhof. Eines Tages drückte
ich seine Kiefer auseinander, spähte hinein und fand meinen
Gehaltszettel an seinem G a u m e n kleben.

Schon nach wenigen W o c h e n konnten wir uns nicht m e h r


daran erinnern, wie das Leben ohne unseren neuen M i t -
bewohner ausgesehen hatte. W i r hatten schnell zu einer
Routine gefunden. Jeden M o r g e n nahm ich ihn noch vor
der ersten Tasse Kaffee auf einen kleinen Spaziergang mit
hinunter zum Wasser. Zwischen Frühstück u n d Duschen
durchstreifte ich unseren Garten mit einer Schaufel u n d
vergrub seine Tretminen im Sand am hinteren E n d e des
Grundstücks. Jenny ging vor n e u n U h r zur Arbeit, ich ver-
ließ das Haus selten vor zehn, nachdem ich Marley mit ei-
ner Schüssel frischem Wasser und einem Berg Spielzeuge
in die Garage gesperrt und ihm mein obligatorisches »Sei
ein braver Junge, Marley« mit auf den W e g gegeben hatte.
Um halb eins kam Jenny in ihrer Mittagspause nach H a u -
se, fütterte Marley und warf ihm im Garten seinen Ball, bis
er müde war. Am Anfang fuhr sie sogar nachmittags noch
einmal kurz nach Hause, um ihn hinauszulassen. N a c h dem
Abendessen machten wir meistens zusammen einen Spazier-
gang ans Wasser, wo wir am Strand hin und her wanderten,
während die Yachten von Palm Beach im Sonnenuntergang
vorbeizogen.

41
Wandern ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Marley
wanderte ungefähr so wie eine Lokomotive auf der Flucht.
Er rannte voraus, zerrte wie wild an der Leine und hustete
sich dabei die Seele aus dem Leib. W i r zogen ihn zurück, er
zog uns vorwärts. W i r zerrten, er zerrte und hustete dabei
wie ein Kettenraucher, weil ihm das Halsband die Luft ab-
schnürte. Er sprang nach links und rechts, zu jedem Briefkas-
ten und jedem Busch, schnüffelte, hechelte und markierte
ununterbrochen, wobei er meistens mehr sich selbst traf als
das angepeilte Ziel. Er lief im Kreis und war auf einmal hin-
ter uns, sodass sich die Leine um unsere Knöchel wickelte,
um dann wieder nach vorne zu springen und uns dabei fast
umzureißen. W e n n uns jemand mit einem anderen H u n d
entgegenkam, warf sich Marley den beiden fröhlich entge-
gen und stellte sich, sobald die Leine gespannt war, auf die
Hinterbeine. Er wollte unbedingt Freundschaft schließen.
» D e r sprüht ja vor Lebensfreude«, fasste ein Hundebesitzer
es einmal treffend zusammen.
Marley war immer noch klein genug, dass wir dieses Lei-
nentauziehen gewinnen konnten, doch mit jeder Woche
änderte sich das Machtverhältnis. Er wurde immer größer
und stärker. Es war klar, dass er uns irgendwann kräftemä-
ßig überlegen sein würde. W i r wussten, dass wir ihn an die
Kandare n e h m e n und ihm beibringen mussten, ordentlich
bei Fuß zu gehen, wenn er uns nicht eines Tages zu einem
unrühmlichen E n d e unter die Räder eines vorbeifahren-
den Autos schleifen sollte. Freunde von uns, selbst erfahrene
Hundebesitzer, rieten uns, das mit der Erziehung nicht zu
überstürzen. »Es ist noch zu früh«, sagte einer. »Genießt
seine Welpenzeit, solange es geht. Sie ist schnell genug vor-
bei, und dann könnt ihr immer noch mit der Erziehung
Ernst machen.«
Genau das taten wir auch, was nicht heißt, dass wir ihm

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vollkommen seinen Willen ließen. W i r setzten durchaus
Grenzen und versuchten sie auch konsequent einzufordern.
Betten und Möbel waren tabu. Aus der Toilette trinken, M e n -
schen im Schritt herumschnüffeln und Stuhlbeine ankauen
waren strafbare Taten, obwohl sie eine Standpauke wert zu
sein schienen. Nein wurde zu unserem Lieblingswort. W i r
brachten ihm die üblichen K o m m a n d o s bei - Hierher, Bleib,
Sitz, Platz -, wenn auch mit begrenztem Erfolg. Marley war
jung und ungestüm und legte die Aufmerksamkeit einer Z i m -
merpflanze und die Unbeständigkeit von Nitroglyzerin an
den Tag. Er war so leicht erregbar, dass der kleinste Anlass
ihn in Fahrt bringen konnte, so als hätte er einen dreifachen
Espresso getrunken. Erst Jahre später wurde es uns klar,
aber er zeigte genau jene Verhaltensmerkmale, die später bei
schwer erziehbaren Kindern definiert wurden. Unser Welpe
war ein klassischer Fall von A D H S / A D S , einer »Aufmerk-
samkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität«.
U n d doch, trotz all seines jugendlichen Ü b e r m u t s , spielte
Marley eine wichtige Rolle in unserem Haushalt und in u n -
serer Beziehung. Durch seine völlige Hilflosigkeit gab er
Jenny das Gefühl, der Aufgabe, andere Lebewesen zu versor-
gen, gewachsen zu sein. Er war n u n schon mehrere W o c h e n
in ihrer Obhut, und sie hatte ihn noch nicht zur Strecke
gebracht. Ganz im Gegenteil, er entwickelte sich prächtig.
W i r scherzten schon, dass wir vielleicht aufhören sollten,
ihn zu füttern, um sein Wachstum zu bremsen u n d seinen
Energielevel niedrig zu halten.
Jennys Verwandlung von kaltblütiger Pflanzenmörderin
zur liebevollen H u n d e m a m a verblüffte mich zunehmend.
Ich glaube, sie war selbst erstaunt. Sie war ein Naturtalent.
Eines Tages begann Marley auf einmal heftig zu würgen.
Ehe ich noch wirklich begriffen hatte, was eigentlich los war,
war Jenny bereits aufgesprungen. Sie stürzte sich auf ihn u n d

43
zwang seine Kiefer mit einer H a n d auseinander. M i t der an-
deren griff sie tief in seinen Rachen hinein und brachte eine
große, vollgesabberte Zellophankugel zu Tage. Einfach so.
Marley hustete noch einmal, schlug mit dem Schwanz gegen
die W a n d und sah zu ihr auf, als wollte er fragen: Können wir
das noch mal machen?

Je wohler wir uns mit unserem neuen Familienmitglied fühl-


ten, desto wohler fühlten wir uns auch beim T h e m a Nach-
wuchs. Wenige Wochen nachdem wir Marley geholt hatten,
setzten wir alle Verhütungsmethoden ab. Das bedeutete nicht,
dass wir uns dafür entschieden hatten, schwanger zu werden.
Für zwei Leute, die ihr Leben der Unentschlossenheit ge-
weiht hatten, wäre das zu viel verlangt gewesen. W i r gingen
die Frage indirekt an, indem wir uns dafür entschieden, nicht
m e h r zu verhüten. Das war nicht ganz logisch, das war uns
klar, aber irgendwie fühlten wir uns beide besser damit. Kein
Druck. Ü b e r h a u p t kein Druck. W i r legten es nicht darauf an,
ein Baby zu bekommen, wir ließen den Dingen einfach nur
ihren Lauf. Que serd, serd und so.
Ehrlich gesagt hatten wir furchtbare Angst. W i r waren
mit m e h r e r e n Pärchen befreundet, die monate- und jahre-
lang erfolglos versucht hatten, Nachwuchs zu bekommen,
u n d ihre bemitleidenswerte Verzweiflung nach und nach
öffentlich zur Schau trugen. Bei Dinnerpartys redeten sie
zwanghaft von Arztbesuchen, Spermienzählen und genau be-
rechneten Menstruationszyklen, meistens zum großen U n -
behagen der übrigen Anwesenden. Ich meine, was soll man
denn dazu sagen? »Ich finde, deine Spermienzahl klingt sehr
vielversprechend!«? Es war beinahe unerträglich. W i r hat-
ten schreckliche Angst, so zu werden wie sie.
J e n n y hatte vor unserer Heirat ernste Probleme mit E n d o -
metriose gehabt und sich einem laparoskopischen Eingriff

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unterziehen müssen, bei dem Narbengewebe von ihren Ei-
leitern entfernt wurde. All das ließ nichts Gutes über ihre
Fruchtbarkeit vermuten. N o c h beunruhigender war ein
kleines Geheimnis aus unserer Vergangenheit. In den ers-
ten blinden, leidenschaftlichen Tagen unserer Beziehung,
als das Verlangen alles, was mit einem klaren Verstand zu
tun hatte, ausgeschaltet hatte, hatten wir jegliche Vorsicht
zusammen mit unseren Kleidern in die Ecke geworfen u n d
hemmungslosen Sex gehabt, ohne auch n u r einen Gedanken
an Verhütung zu verschwenden. N i c h t nur einmal, sondern
oft. Das war unglaublich d u m m gewesen, und wenn m a n
nun nach einigen Jahren darauf zurückblickte, dann sollten
wir eigentlich vor Dankbarkeit den Boden küssen, dass wir
einer ungewollten Schwangerschaft entgangen waren. Statt-
dessen dachten wir beide: Was stimmt nicht mit uns? Kein
normales Paar hätte ohne Folgen so hemmungslos ungeschützten
Sex haben können. W i r waren beide davon überzeugt, dass
das nicht einfach werden würde. D a h e r schwiegen wir, als
unsere Freunde uns ihren Kinderwunsch eröffneten. J e n n y
verstaute einfach ihre Pillenpackung im Arzneischrank u n d
dachte nicht mehr daran. W e n n sie schwanger würde, fantas-
tisch. W e n n nicht, nun, wir hatten uns ja schließlich sowieso
nicht aktiv darum bemüht, oder?

Der Winter in West Palm Beach ist eine wunderbare Jahres-


zeit, mit kalten Nächten und warmen, trockenen, sonnigen
Tagen. Nach dem unerträglich langen, betäubend heißen
Sommer, den man zum Großteil in klimatisierten Räumen
verbrachte oder wo man vom Schatten eines Baumes in den
des nächsten flüchtete, um der prallen Sonne zu entgehen,
konnten wir das subtropische Klima im W i n t e r voll genießen.
W i r aßen jede Mahlzeit auf unserer Veranda, pressten jeden
Morgen Orangen aus dem eigenen Garten aus, legten einen

45
kleinen Kräutergarten an, setzten ein paar Tomatenpflanzen
am Haus, pflückten riesige Hibiskusblüten und ließen sie in
Wasserschüsseln auf dem Esstisch schwimmen. Nachts schlie-
fen wir bei offenem Fenster, während der Duft der Blumen
hereinströmte.
An einem wunderschönen Tag Ende M ä r z lud Jenny eine
Arbeitskollegin mit ihrem Basset Buddy zu einem H u n d e -
treffen ein. Buddy war ein ehemaliger Tierheimbewohner
und hatte das traurigste Gesicht, das ich je gesehen habe.
W i r ließen die beiden H u n d e in den Garten, und sie rasten
sofort los. D e r alte Buddy wusste allerdings offensichtlich
nicht so recht, was er mit diesem hyperaktiven hellbraunen
Jungspund anfangen sollte, der im Kreis um ihn herumtob-
te. D o c h er nahm es gelassen, und die zwei spielten über
eine Stunde zusammen, bevor sie beide erschöpft unter dem
M a n g o b a u m niedersanken.
Ein paar Tage später fing Marley auf einmal an sich zu krat-
zen und wollte gar nicht m e h r aufhören. W i r hatten schon
Angst, dass er sich blutig kratzen würde. Jenny kniete sich
hin u n d begann mit einer ihrer Routineuntersuchungen. Sie
arbeitete sich mit den Fingern durch sein Fell, wobei sie je-
des H a a r einzeln umdrehte, um die H a u t darunter zu sehen.
Schon nach wenigen Sekunden rief sie: »Verdammt! Schau
dir das an!« Ich schielte ihr über die Schulter auf die Stelle,
wo sie Marleys Fell auseinandergekämmt hatte, und sah ge-
rade noch einen schwarzen Punkt, der sich schnell in Sicher-
heit zu bringen versuchte. W i r legten Marley flach auf den
Boden u n d prüften jeden Millimeter seines Fells. Marley war
ganz aus dem Häuschen ob dieser außerordentlichen Zuwen-
d u n g und hechelte glücklich. Sein Schwanz schlug auf den
Boden. W i r fanden sie überall. Flöhe! Ganze Schwärme. Sie
waren zwischen seinen Z e h e n und in seinem Nackenfell, so-
gar in seinen Schlappohren. Auch wenn sie langsam genug

46
gewesen wären, dass man sie hätte fangen können, was nicht
der Fall war, es waren viel zu viele.
W i r hatten schon von den legendären Floh- und Zecken-
plagen in Florida gehört. Es gab nie Frost, und so konnten
Insektenpopulationen im warmen, feuchten Klima ungehin-
dert gedeihen. H i e r gab es sogar in den Villen der Millionäre
am Strand Küchenschaben. J e n n y war außer sich. Ihr Welpe
wimmelte nur so von Ungeziefer! Natürlich beschuldigten
wir sofort Buddy, ohne es beweisen zu können. J e n n y hatte
außerdem die Wahnvorstellung, dass nicht n u r unser H u n d ,
sondern unser ganzes H a u s von der Plage befallen war. Sie
schnappte sich ihre Autoschlüssel und rannte aus der Tür.
Eine halbe Stunde später kam sie mit einer T ü t e zurück,
in der genug Chemikalien waren, um unser eigenes For-
schungslabor für Umweltschäden aufzumachen. Flohbäder
und Flohpuder und Flohsprays und Flohschaum und Floh-
gels. Sie hatte ein Gift für den Rasen gekauft, zu dessen
Einsatz ihr der Verkäufer geraten hatte, wenn wir des U n g e -
ziefers jemals H e r r werden wollten. Außerdem hatte J e n n y
noch einen speziellen Kamm gekauft, um die Eier der T i e r -
chen auszubürsten. Ich griff in die T ü t e und holte den Kas-
senbon heraus. » U m Gottes willen, Liebling«, rief ich aus,
»dafür hätten wir uns ein Sprühflugzeug kaufen können!«
Das war meiner Frau egal. Sie war auf Angriff program-
miert - diesmal um ihre Liebsten zu schützen -, u n d sie
meinte es ernst. M i t aller M a c h t warf sie sich in den Kampf.
Sie schrubbte Marley in der Badewanne mit einer Spezial-
seife ab. D a n n mischte sie die Spülung zusammen, die, wie
mir auffiel, die gleichen Inhaltsstoffe hatte wie das Rasen-
gift, und übergoss ihn damit, bis jeder Zentimeter von ihm
eingeweicht war. W ä h r e n d er in der Garage trocknete und
dabei roch wie ein kleines Chemielabor, bearbeitete J e n n y
alles wie verrückt mit dem Staubsauger - Fußboden, W ä n d e ,

47
Teppiche, Vorhänge, Sofapolster. U n d dann sprayte sie. U n d
während sie das H a u s von innen mit Flohkiller tränkte, tat
ich dasselbe von außen. »Glaubst du, wir haben die kleinen
Drecksäcke fertig gemacht?«, fragte ich, als wir endlich fer-
tig waren.
»Ich glaube schon«, antwortete sie.

U n s e r groß angelegter Angriff auf die Flohpopulation in der


Churchill Road 345 war ein Riesenerfolg. W i r untersuch-
ten Marley täglich, suchten zwischen seinen Zehen, unter
seinen O h r e n , dem Schwanz, auf seinem Bauch und überall
sonst, wo wir hinkamen. N i r g e n d w o fanden wir auch nur die
Spur eines Flohs. W i r untersuchten die Teppiche, die Sofas,
die Vorhangsäume, das Gras - nichts. W i r hatten den Feind
vernichtend geschlagen.
FÜNF

Der Teststreifen

W enige Wochen später lagen wir gerade im Bett und


lasen, als Jenny auf einmal ihr Buch zuklappte und
sagte: »Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten.«
»Was hat nichts zu bedeuten?«, fragte ich abwesend, o h n e
von meinem Buch aufzuschauen.
»Meine Periode ist zu spät.«
Damit hatte sie meine Aufmerksamkeit. » D e i n e Periode?
Wirklich?«
Ich wandte mich zu ihr um.
»Das passiert schon mal. Aber sie ist jetzt schon eine W o -
che überfällig. U n d ich fühle mich auch komisch.«
»Komisch? W i e komisch?«
»So als hätte ich eine kleine Magenverstimmung oder so
was. Ich habe neulich zum Abendessen einen Schluck Wein
getrunken, und ich dachte, ich müsste mich gleich über-
geben.«
»Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Wenn ich nur an Alkohol denke, wird mir schon
schlecht.«
Ich hatte nicht vor, das zur Sprache zu bringen, aber sie
war in letzter Zeit auch ziemlich schlecht gelaunt gewesen.
»Glaubst du - « , fing ich an.
»Ich weiß nicht. Du?«
»Woher sollte ich das denn wissen?«

49
»Ich wollte eigentlich gar nichts sagen«, meinte Jenny.
» N u r für den Fall - weißt du, ich will es nicht beschrei-
en.«
In diesem Augenblick merkte ich erst, wie wichtig das
T h e m a für sie war - und für mich auch. Das Elternsein hatte
sich an uns herangeschlichen, wir waren bereit für ein Baby.
Lange lagen wir so nebeneinander, ohne etwas zu sagen, und
starrten vor uns hin.
» W i r werden nie einschlafen«, sagte ich schließlich.
»Diese Ungewissheit bringt mich noch u m « , gab sie zu.
»Los, zieh dich an«, forderte ich sie auf, »wir fahren los
und kaufen einen Schwangerschaftstest.«
W i r zogen schnell Shorts und T-Shirt an und öffneten die
Haustür. Marley rannte uns voraus, außer sich vor Freude
bei der Aussicht auf eine nächtliche Autofahrt. Als er unse-
ren kleinen Toyota erreicht hatte, stellte er sich auf die H i n -
terbeine, sprang auf und ab und warf sich herum, dass ihm
der Sabber n u r so von den Lefzen spritzte. Er hechelte laut
u n d war ganz aus dem Häuschen in Erwartung des großen
M o m e n t s , wo ich die H i n t e r t ü r öffnen würde.
» M a n könnte meinen, er wäre der Vater, so wie er sich
aufführt!«, sagte ich.
Als ich die H i n t e r t ü r öffnete, sprang er mit einem Riesen-
satz hinein, sodass er auf dem Sitz daneben landete und mit
dem Kopf hörbar gegen die Heckscheibe schlug, offenbar
aber o h n e sich wehzutun.
Die Apotheke hatte bis Mitternacht geöffnet und ich blieb
mit Marley im Auto sitzen, während Jenny hineinrannte.
M a n c h e Dinge sollten M ä n n e r einfach nicht kaufen, und
ein Schwangerschaftsschnelltest steht auf dieser Liste ganz
weit oben. D e r H u n d lief unruhig auf dem Rücksitz hin und
her u n d jaulte, die Augen fest auf den Eingang der Apotheke
gerichtet. W i e immer, wenn er aufgeregt war, und das war

50
im Wachzustand bei ihm eigentlich grundsätzlich der Fall,
hechelte er und sabberte dabei gewaltig.
»Mann, nun beruhige dich mal«, sagte ich zu ihm. »Was
glaubst du denn, was sie tut? D u r c h die H i n t e r t ü r verschwin-
den?« Er antwortete, indem er sich schüttelte und dabei ei-
nen Sabber- und Haarregen auf mich niedergehen ließ. W i r
kannten diese Gewohnheit von ihm inzwischen u n d hatten
deshalb immer ein altes Badehandtuch für den Notfall auf
dem Beifahrersitz. Damit wischte ich mich und das Auto ab.
»Bleib locker«, sagte ich. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie
zurückkommt.«
Fünf Minuten später kam Jenny mit einer kleinen T ü t e in
der H a n d aus der Apotheke. Als wir vom Parkplatz fuhren,
quetschte Marley seine Schultern zwischen den Rückenleh-
nen unserer Sitze hindurch und balancierte mit den Vorder-
pfoten auf der Mittelkonsole, die Nase am Rückspiegel. Bei
jeder Kurve landete er mit dem Bauch auf der H a n d b r e m s e .
U n d jedes Mal rappelte er sich wieder auf und n a h m völlig
unbeeindruckt und noch fröhlicher als vorher seine Position
wieder ein.
Wenig später waren wir in unserem Badezimmer u n d
packten das Päckchen für $ 8,99 neben dem Waschbecken
aus. Ich las die Gebrauchsanweisung laut vor.
»Okay«, sagte ich. » H i e r steht, dass der Test zu n e u n u n d -
neunzig Prozent zuverlässig ist. Als Erstes musst du in die-
sen Becher pinkeln.«
Dann musste man einen schmalen Teststreifen aus Plastik
in den Urin halten und diesen dann in eine Phiole mit einer
Lösung tauchen, die mitgeliefert war.
»Jetzt müssen wir fünf M i n u t e n warten«, sagte ich.
» D a n n tauchen wir ihn fünfzehn M i n u t e n in die andere L ö -
sung. W e n n er dann blau wird, bist du offiziell schwanger,
Baby!«

51
W i r stoppten die ersten fünf Minuten. D a n n tauchte Jen-
ny den Streifen in die zweite Lösung und sagte: »Ich kann
nicht daneben stehen und zuschauen.«
W i r gingen also ins Wohnzimmer, unterhielten uns über
banale Dinge und taten so, als würden wir nur warten, bis
der Teekessel zu pfeifen anfangen würde. »Schönes Wetter
heute«, witzelte ich. Aber mein H e r z schlug wild und ich
fühlte eine nervöse Angst aus dem M a g e n aufsteigen. W e n n
der Test positiv war, wow, dann würde sich unser Leben für
immer verändern. W e n n er negativ war, würde Jenny am
Boden zerstört sein. Langsam ging mir auf, dass es mir ge-
nauso gehen würde. Eine Ewigkeit später piepte die Stopp-
uhr. »Also los«, sagte ich. »Egal, wie es ausgeht, du weißt,
dass ich dich liebe.«
Ich ging ins Bad und fischte den Teststreifen aus der Phi-
ole. Kein Zweifel, er war blau. So blau wie der tiefste Ozean.
Ein tiefes, kräftiges Marineblau. Ein Blau, das mit keiner an-
deren Farbe zu verwechseln war. »Herzlichen Glückwunsch,
Liebling«, sagte ich.
»O mein G o t t « , war alles, was sie herausbrachte, dann
warf sie sich in meine Arme.
Als wir so eng umschlungen vor dem Waschbecken stan-
den, die Augen geschlossen, fühlte ich auf einmal eine Be-
wegung an meinen Füßen. Ich sah hinunter, und da war
Marley, schwänzelnd und mit dem Kopf wackelnd; sein
Schwanz schlug so fest gegen die Badezimmertür, dass ich
schon Angst hatte, er würde Dellen hineinmachen. Als ich
mich hinunterbeugte, um ihn zu streicheln, wich er aus. O h -
oh. Da war er, der Marley-Mambo. Das konnte nur eines
bedeuten.
»Was hast du diesmal?«, fragte ich und rannte hinter ihm
her. Er raste ins W o h n z i m m e r und entkam mir nur knapp.
Als ich ihn schließlich in die Ecke getrieben hatte und sein

52
Maul öffnete, sah ich zuerst gar nichts. D a n n entdeckte
ich etwas ganz hinten auf seiner Zunge, am Rande des Ab-
grunds. Es war schmal und lang und flach. U n d so blau wie
der tiefste Ozean. Ich griff hinein und zog unseren positiven
Teststreifen heraus. »Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen
muss, mein Freund«, sagte ich. »Aber das hier k o m m t ins
Fotoalbum.«
Jenny und ich fingen an zu lachen. W i r lachten eine gan-
ze Weile. Es machte uns großen Spaß, uns zu überlegen, was
wohl in seinem großen, breiten Kopf vor sich ging. Hmm,
wenn ich das Beweisstück zerstöre, dann vergessen sie diese gan-
ze unglückliche Geschichte vielleicht, und ich muss mein Zuhause
nicht mit irgendeinem Eindringling teilen.
Dann packte Jenny Marley bei den Vorderpfoten, zog ihn
auf die Hinterbeine hoch und tanzte mit ihm durch das Z i m -
mer. » D u wirst Onkel!«, sang sie. Marley antwortete in der
für ihn typischen Weise: Er leckte ihr mit seiner großen, nas-
sen Zunge über den M u n d .
Am nächsten Tag rief mich J e n n y in der Arbeit an. Sie
war gerade beim Arzt gewesen, und dieser hatte das Tester-
gebnis offiziell bestätigt. » E r sagt, es ist alles in Ordnung!«,
sprudelte sie hervor.
Am Vorabend hatten wir die Tage im Kalender zurückge-
rechnet, um den Zeitpunkt der Empfängnis nachzuvollzie-
hen. Sie machte sich Sorgen, dass sie vielleicht bei unserer
hysterischen Flohsprühaktion vor ein paar W o c h e n schon
schwanger gewesen war. Sich all diesen Giften auszusetzen,
war doch sicher schädlich, oder? Sie fragte ihren Arzt danach
und er meinte, dass das wahrscheinlich kein Problem sei. Be-
nützen Sie die Mittel einfach nicht mehr, riet er ihr. Er gab
ihr ein Rezept für ein Vitaminpräparat für Schwangere und
sagte, sie solle in drei W o c h e n zu einem Ultraschalltermin
wiederkommen. D a n n würden wir das erste Mal einen flüch-

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tigen Blick auf den kleinen Fötus werfen können, der in J e n -
nys Bauch heranwuchs.
» W i r sollen eine Videokassette mitbringen«, sagte Jenny.
» D a m i t wir eine Kopie davon für die Nachwelt aufheben
können.«
Ich vermerkte den Termin in meinem Kalender.
SECHS

Herzensangelegenheiten

E inheimische werden Ihnen erzählen, dass es in Südflori-


da vier Jahreszeiten gibt. Die Unterschiede wären nur
fein, geben sie zu, aber es gibt dennoch vier verschiedene
Jahreszeiten. Glauben Sie das nicht. Es gibt nur zwei - die
warme, trockene Jahreszeit und die heiße, feuchte. Ungefähr
um diese Zeit, als über N a c h t die tropische Hitze wieder-
kam, wachten wir eines Morgens auf und entdeckten, dass
unser Welpe kein Welpe m e h r war. So schnell, wie sich der
Winter in einen heißen Sommer verwandelt hatte, war aus
Marley ein schlaksiger junger H u n d geworden. N a c h fünf
Monaten füllte sein Körper nun die vielen Falten seines vor-
mals viel zu großen hellbraunen Fells aus. Seine riesigen Pfo-
ten wirkten nicht mehr so überdimensioniert. Seine spitzen
Babyzähne waren imponierenden H a u e r n gewichen, die ein
Frisbee - oder einen nagelneuen Lederschuh - mit ein paar
schnellen Bissen zerstören konnten. Das T i m b r e seines Bel-
lens hatte sich in ein einschüchterndes D r ö h n e n verwandelt.
W e n n er auf den Hinterbeinen stand und wie ein russischer
Zirkusbär herumtapste, was er oft tat, konnte er mir seine
Vorderpfoten auf die Schultern legen und mir in die Augen
sehen.
Als der Tierarzt ihn zum ersten Mal sah, stieß er einen
leisen Pfiff aus und sagte: » D a haben Sie sich aber einen
Riesenkerl ausgesucht.« W i e Recht er hatte. Marley war zu

55
einem hübschen H u n d geworden, und ich fühlte mich bemü-
ßigt, J e n n y freundlich darauf hinzuweisen, dass mein hoch-
trabender N a m e für ihn gar nicht so abwegig war. Grogan's
Majestic Marley of Churchill, der übrigens in der Churchill
Road residierte, war in der Tat majestätisch. Jedenfalls dann,
wenn er gerade nicht versuchte, seinen Schwanz zu fangen.
Manchmal, wenn er sich auch den letzten Rest nervöser
Energie aus dem Leib gerannt hatte, lag er gerne auf dem
persischen Teppich im W o h n z i m m e r und sonnte sich in den
Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien fielen. M i t erhobe-
n e m Kopf, schimmernder Nase und gekreuzten Vorderpfo-
ten erinnerte er uns dann an eine ägyptische Sphinx.
W i r waren nicht die Einzigen, die die Verwandlung be-
merkten. An der Art, wie Fremde ihm aus dem Weg gingen
und zurückwichen, wenn er auf sie zukam, merkten wir, dass
sie ihn nicht länger als harmlosen Welpen ansahen. In ihren
Augen musste m a n sich n u n vor ihm fürchten.
Unsere Haustür hatte auf Augenhöhe ein kleines längli-
ches Fenster. Marley liebte Besuch, und jedes Mal, wenn es
an der T ü r klingelte, schoss er durchs Haus, machte in der
Diele eine Vollbremsung, schlitterte über den Holzboden,
schleuderte dabei die kleinen Dielenteppiche durch die Luft,
und kam erst mit einem lauten Aufprall gegen die T ü r zum
Stehen. D a n n stellte er sich auf die Hinterbeine, bellte laut,
u n d sein großer Kopf füllte das ganze Türfenster aus, sodass
er demjenigen, der vor der T ü r stand, direkt in die Augen
sah. Für Marley, der sich als unser Begrüßungspersonal an-
sah, war das ein fröhliches Ritual. Für Vertreter, Postboten
und alle anderen, die ihn nicht kannten, jedoch war es, als
wäre Cujo direkt aus dem Stephen-King-Roman gesprun-
gen, u n d nun stand n u r noch eine Holztür zwischen ihnen
und der erbarmungslosen Bestie. Viele Fremde traten über-
stürzt den Rückzug auf die Einfahrt an, wenn sie Marleys

56
kläffende Fratze im Fenster sahen, und warteten dort, bis
einer von uns zur T ü r kam.
Das war eigentlich gar nicht so schlecht.
Stadtplaner würden unser Viertel wahrscheinlich eine
Wohngegend im U m b r u c h nennen. Es war in den 1940er
und 1950er Jahren entstanden, und zuerst hatten hier vor
allem Pensionäre und Leute gewohnt, die den W i n t e r im
Süden der USA verbringen wollten. Als die ursprünglichen
Hausbesitzer starben, zog eine bunte Mischung von Rent-
nern und Arbeiterfamilien hierher und gaben dem Viertel
einen neuen Charakter. Als wir einzogen, veränderte es sich
gerade wieder, diesmal kamen vor allem Homosexuelle,
Künstler und junge Selbstständige, die von der Lage nahe
am Wasser und der schrägen Deko-Style-Architektur ange-
zogen wurden.
Unser Wohnblock diente als Puffer zwischen dem wenig
einladenden South Dixie Highway und den noblen Villen
unten am Wasser. D e r Dixie Highway war die frühere US 1,
die an Floridas östlicher Küste entlangführte und als H a u p t -
verbindungsstrecke nach Miami diente, bevor die Interstate
gebaut wurde. Sie war fünfspurig, zwei Spuren in jede Rich-
tung, mit einem gemeinsamen Mittelstreifen, und gesäumt
von leicht heruntergekommenen, unansehnlichen Super-
märkten, Tankstellen, Obstständen, Poststationen, Schnell-
restaurants und zwielichtigen Motels aus einer längst ver-
gangenen Zeit.
An der Kreuzung von Dixie Highway und Churchill
Road gab es einen Schnapsladen, einen R u n d - u m - d i e - U h r -
Supermarkt, einen Importshop mit dicken Gittern vor den
Fenstern und eine Wäscherei, in der die ganze N a c h t über
Leute waren und oft braune T ü t e n mit leeren Flaschen hin-
terließen. Unser H a u s stand in der Mitte dieses Blocks, acht
Türen von jener Kreuzung entfernt.

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Das Viertel schien uns ungefährlich, doch man erzähl-
te sich auch so manche Geschichte. Gegenstände, die man
im Garten stehen ließ, verschwanden, und einmal stahl je-
mand während einer längeren Kälteperiode unser Brenn-
holz, das ich an der Hauswand aufgestapelt hatte. Eines
Sonntags frühstückten wir in unserem Lieblingscafe und
saßen dabei an unserem üblichen Tisch am Fenster, als Jen-
ny auf ein Einschussloch in der Fensterscheibe deutete, auf
Kopfhöhe, und trocken bemerkte: »Das war letztes Mal noch
nicht da.«
Als ich eines M o r g e n s zur Arbeit fahren wollte und aus
unserer Einfahrt bog, sah ich einen M a n n im Rinnstein lie-
gen, Gesicht und H ä n d e voller Blut. Ich parkte das Auto und
rannte zu ihm, weil ich dachte, er sei angefahren worden.
D o c h als ich neben ihm niederkniete, stieg mir der Gestank
von Alkohol und U r i n in die Nase, und als er anfing zu re-
den, war mir klar, dass er betrunken war. Ich rief den N o t -
arzt und wartete auf ihn, doch als die Sanitäter da waren,
verweigerte der M a n n sich jeder Behandlung. Während die
Arzte und ich ungläubig zusahen, rappelte er sich auf und
wankte zum Schnapsladen.
U n d dann der Abend, als ein ziemlich verzweifelter M a n n
an meiner T ü r klingelte und erzählte, er wolle Freunde in
der N ä h e besuchen und ihm sei das Benzin ausgegangen.
Ob ich ihm fünf Dollar leihen könnte? Er würde sie mir
gleich am nächsten M o r g e n zurückzahlen. Na klar, Kumpel,
dachte ich. Als ich ihm stattdessen anbot, für ihn die Polizei
zu rufen, murmelte er eine lahme Ausrede und verschwand.
Am beunruhigendsten war, was wir über das Haus schräg
gegenüber hörten. N u r wenige M o n a t e vor unserem Einzug
war dort ein M o r d passiert. U n d nicht irgendein Raubmord,
sondern eine scheußlich grausame Geschichte mit einer in-
validen W i t w e und einer Kettensäge. Die Sache war durch

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alle Zeitungen gegangen, und noch ehe wir einzogen, waren
uns alle Einzelheiten bekannt gewesen - alle Einzelheiten,
bis auf den O r t des Geschehens. U n d jetzt lebten wir also
schräg gegenüber vom Tatort.
Das Opfer war eine pensionierte Lehrerin namens Ruth
Ann Nedermier gewesen. Sie hatte allein in dem H a u s ge-
wohnt und gehörte noch zur ursprünglichen Generation
der hier Ansässigen. N a c h einer Hüftoperation hatte sie eine
Krankenschwester angestellt, eine fatale Entscheidung, wie
sich herausstellte. W i e die Polizei später beweisen konnte,
hatte die Schwester der alten D a m e Schecks gestohlen u n d
ihre Unterschrift gefälscht.
Die alte D a m e war gebrechlich, aber geistig noch fit ge-
wesen, und sie hatte die Krankenschwester auf die fehlen-
den Schecks und die unerklärlichen Abbuchungen auf ihrem
Konto angesprochen. Die Schwester geriet in Panik u n d er-
schlug die alte D a m e , dann rief sie ihren Freund an, der mit
einer Kettensäge anrückte und ihr half, die Leiche in der
Badewanne zu zerstückeln. Z u s a m m e n packten sie dann die
Leichenteile in einen großen Koffer, spülten das Blut der
Frau aus der Badewanne und fuhren davon.
Mehrere Tage lang blieb das Verschwinden von M r s
Nedermier ein Rätsel, wie uns unsere N a c h b a r n später er-
zählten. Das Geheimnis konnte erst gelüftet werden, als ein
M a n n bei der Polizei anrief und von einem furchtbaren G e -
stank in seiner Garage berichtete. Die Beamten entdeckten
daraufhin den Koffer und seinen grausigen Inhalt. Als die
Polizei ihn fragte, wie der Koffer in seine Garage gekom-
men war, sagte er den Beamten die Wahrheit: Seine Tochter
hatte ihn gefragt, ob sie ihn bei ihm unterstellen könnte.
Obwohl der grausame M o r d an M r s N e d e r m i e r das Spek-
takulärste war, was je in unserem Viertel passiert war, hatte
niemand uns gegenüber auch n u r ein W o r t davon erwähnt,

59
als wir uns anschickten, unser H a u s zu kaufen. Weder der
Makler noch der Vorbesitzer, weder der N o t a r noch der
Gutachter. In unserer ersten Woche im neuen Haus kamen
die N a c h b a r n mit Keksen und einem Schmorbraten vorbei
u n d erzählten uns alles. Als wir an diesem Abend in unserem
Bett lagen, konnten wir gar nicht anders, als daran zu den-
ken, dass n u r wenige hundert M e t e r von unserem Schlafzim-
merfenster entfernt eine wehrlose W i t w e in Stücke gesägt
worden war. Es war ein Unglück, sagten wir uns, etwas, das
uns niemals passieren konnte. Trotzdem konnten wir nicht
an dem H a u s vorbeigehen oder auch n u r aus unserem Fens-
ter schauen, ohne daran zu denken, was dort geschehen war.
Irgendwie vermittelte es uns eine gewisse Sicherheit, Marley
bei uns zu haben und zu sehen, wie viel Respekt die Leute
vor ihm hatten. Er war ein großer, liebenswerter Tollpatsch
von einem H u n d , dessen Verteidigungsstrategie gegen alle
Eindringlinge sicher darin bestanden hätte, sie zu Tode zu le-
cken. D o c h das brauchten die Herumtreiber und Räuber da
draußen ja nicht zu wissen. Für sie war er groß, er war stark
und er war auf unberechenbare Weise fast verrückt. U n d das
gefiel uns.

Die Schwangerschaft bekam J e n n y gut. Sie fing an, in der


M o r g e n d ä m m e r u n g aufzustehen und mit Marley spazieren
zu gehen. Sie kochte vollwertige, gesunde Mahlzeiten aus
frischem Gemüse und Obst. Außerdem schwor sie Koffein,
Diätlimonade und natürlich jeder Art von Alkohol ab. Sie
erlaubte mir noch nicht einmal, einen Teelöffel Kochsherry
in den Topf zu rühren.
W r hatten uns fest vorgenommen, die Schwangerschaft
so lange geheim zu halten, bis wir sicher sein konnten, dass
der Fötus lebensfähig und außer Gefahr einer Fehlgeburt
war, aber keiner von uns hielt das durch. W i r waren so aus

60
dem Häuschen, dass wir uns einer Vertrauensperson nach
der anderen anvertrauten und jedem Stillschweigen aufer-
legten, bis unser Geheimnis gar kein Geheimnis m e h r war.
Zuerst erzählten wir es unseren Eltern, dann unseren G e -
schwistern, danach unseren engsten Freunden, schließlich
unseren Arbeitskollegen und Nachbarn. N a c h zehn W o c h e n
wurde Jennys Bauch ganz allmählich runder. Es war tatsäch-
lich wahr, wir bekamen ein Baby! W a r u m sollten wir unsere
Freude nicht mit der ganzen Welt teilen? Als die nächste
Ultraschalluntersuchung anstand, hätten wir es genauso gut
auf eine Litfaßsäule schreiben können: J o h n und J e n n y be-
kommen Nachwuchs.
An diesem Tag nahm ich mir vormittags frei und brach-
te, wie der Arzt es empfohlen hatte, eine Videokassette mit,
um die ersten unscharfen Bilder von unserem Baby festzu-
halten. D e r Termin sollte zur Hälfte Vorsorge und zur ande-
ren Hälfte ein Informationsgespräch sein. Eine H e b a m m e
würde all unsere Fragen beantworten, Jennys Bauchumfang
messen, den Herzschlag des Babys abhören und uns natür-
lich auch ein paar Bilder von ihm zeigen.
Schrecklich aufgeregt standen wir um n e u n U h r in der
Praxis. Die H e b a m m e , eine freundliche ältere D a m e mit
britischem Akzent, führte uns in ein kleines Sprechzimmer
und fragte ohne Umschweife: » W ü r d e n Sie gerne den H e r z -
schlag Ihres Babys hören?« Aber natürlich. W i r lauschten
gespannt, als sie mit einer Art M i k r o p h o n über Jennys Bauch
strich. W i r saßen ganz still da, mit eingefrorenem Lächeln,
und bemühten uns, den schwachen Herzschlag zu hören,
doch aus dem Lautsprecher kam nur ein Rauschen.
Die H e b a m m e erklärte uns, dass das nichts U n g e w ö h n l i -
ches war. »Es hängt davon ab, wie das Baby liegt. Manchmal
kann man nichts hören. Vielleicht ist es auch noch ein biss-
chen zu früh.« Sie bot uns an, gleich mit dem Ultraschall

61
weiterzumachen. » D a n n schauen wir uns Ihr Baby doch mal
an!«, meinte sie fröhlich.
»Unser erster Blick auf Baby Grogie«, sagte Jenny und
sah mich strahlend an. Die H e b a m m e führte uns in einen
anderen Raum und bat Jenny, sich auf eine Liege mit einem
M o n i t o r daneben zu legen.
»Ich habe eine Videokassette dabei«, sagte ich und we-
delte damit vor ihr herum.
»Lassen Sie die erst noch mal beiseite«, meinte sie, wäh-
rend sie Jennys T-Shirt hochschob und begann, mit einem
Gerät, das aussah wie ein kleiner Hockeyschläger, über ihren
Bauch zu fahren. W i r starrten auf den Monitor, sahen aber
nur eine graue, unscharfe Fläche. » H m , mit diesem Gerät
kann m a n nichts erkennen«, sagte sie in vollkommen neut-
ralem Ton. » W i r versuchen es mit einem vaginalen Ultra-
schall. Da sehen Sie viel mehr.«
Sie verließ den Raum u n d kehrte wenig später mit einer
anderen H e b a m m e zurück, einer großen Blondine mit la-
ckierten Fingernägeln. Sie hieß Essie und bat Jenny, ihre H o -
sen auszuziehen, dann führte sie eine latexbezogene Sonde
in ihre Vagina ein. Die H e b a m m e hatte Recht: Die Auflö-
sung war wesentlich besser als vorher. Sie zoomte auf etwas,
was wie ein kleines Säckchen in der Mitte der grauen Fläche
aussah, und vergrößerte es mit einem Mausklick. Dann ver-
größerte sie es n o c h einmal. U n d noch einmal. Aber statt
schärfere K o n t u r e n zu bekommen, sah das Säckchen eher
wie eine leere, formlose Socke aus. Wo waren die kleinen
Arme und Beine, von denen die Bücher über Schwanger-
schaft in der zehnten W o c h e schrieben? Wo war der kleine
Kopf? Wo das schlagende Herz? Jenny brannte immer noch
vor N e u g i e r und reckte den Kopf zur Seite zum Bildschirm
hin. Sie fragte die Schwestern mit einem nervösen Lachen:
»Ist da irgendwas drin?«

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Ich blickte auf, sah Essies Miene und wusste, dass wir die
Antwort nicht hören wollten. Plötzlich wusste ich, warum
sie nichts gesagt hatte, während sie das Bild vergrößert hat-
te. Sie antwortete Jenny in sachlichem Ton: » N i c h t das, was
man nach zehn W o c h e n erwarten würde.« Ich legte J e n n y
meine H a n d aufs Knie. W i r starrten beide weiter auf das
Gebilde auf dem Bildschirm, als ob wir es so zum L e b e n er-
wecken könnten.
»Jenny, ich glaube, wir haben hier ein Problem«, sagte
Essie. »Ich hole Dr. Sherman.«
Während wir schweigend warteten, begriff ich, was Leute
mit den Schmetterlingen meinen, die sie kurz vor einer O h n -
macht zu spüren behaupten. M i r rauschte das Blut in den
Ohren. Wenn ich mich nicht hinsetze, kippe ich um, dachte ich.
W i e peinlich wäre das denn? M e i n e starke Frau, die die N e u -
igkeit stoisch erträgt, und ihr M a n n liegt ohnmächtig am Bo-
den, während die Schwestern versuchen, ihn mit Riechsalz
wiederzubeleben. Ich hockte mich auf den Rand der Liege,
hielt Jennys H a n d und streichelte ihr den Nacken. In ihren
Augen standen Tränen, aber sie weinte nicht.
Doktor Sherman, ein großer, ansehnlicher M a n n mit r u p -
pigem, aber leutseligem Auftreten, bestätigte uns, dass der
Fötus tot war. » W i r würden sonst zweifellos einen H e r z -
schlag sehen«, sagte er. D a n n erklärte er uns ruhig, was wir
Schönaus den Büchern wussten. Dass eine von sechs Schwan-
gerschaften mit einer Fehlgeburt endet. Dass die N a t u r auf
diese Weise schwache, zurückgebliebene und schwer miss-
gebildete Föten aussortiert. Offensichtlich erinnerte er sich
an Jennys Sorge wegen der Flohsprays, denn er versicherte
uns, dass wir nichts dafür konnten. Er strich J e n n y über die
Wange und beugte sich zu ihr, als wollte er ihr einen Kuss
geben. »Es tut mir leid«, sagte er. »Sie können es in ein paar
Monaten wieder versuchen.«

63
W i r saßen beide schweigend da. Die leere Videokassette
lag auf der Liege neben uns, und ihr Anblick war mit einem
Mal unerträglich, ein grausames Zeugnis unseres blinden,
naiven Optimismus. Ich wollte sie wegwerfen. Ich wollte sie
verstecken. Ich fragte den Arzt: » W i e geht es jetzt weiter?«
» W i r müssen die Plazenta entfernen«, antwortete er. »Vor
ein paar Jahren hätten Sie gar nichts von einer Fehlgeburt
gemerkt, bis Sie Blutungen bekommen hätten.«
Er bot uns an, das W o c h e n e n d e abzuwarten und erst am
M o n t a g wiederzukommen und die Prozedur vornehmen zu
lassen - eine Abtreibung, also die Entfernung des Fötus und
der Plazenta. Aber J e n n y wollte es schnell hinter sich brin-
gen, u n d ich stimmte ihr zu. »Je eher, desto besser«, sagte
sie.
»Einverstanden«, sagte Dr. Sherman. Er gab Jenny etwas,
um ihren M u t t e r m u n d zu weiten, und ging aus dem Zim-
mer.
W i r hörten, wie er in ein anderes Sprechzimmer ging
u n d dort mit fröhlichem Geplänkel eine werdende Mutter
begrüßte. Als wir allein waren, fielen Jenny und ich uns ver-
zweifelt in die Arme und verharrten so, bis wir ein leises
Klopfen an der T ü r hörten. Es war eine ältere Frau, die wir
noch nie gesehen hatten. Sie hatte ein Bündel Papiere in der
H a n d . »Es tut mir leid, Liebes«, sagte sie zu Jenny. »Es tut
mir so leid.« U n d dann gab sie ihr die Einverständniserklä-
rung, auf der die Risiken eines solchen Eingriffs aufgelistet
waren, u n d zeigte ihr, wo sie unterschreiben musste.

Als Dr. Sherman zurückkam, war er ganz geschäftlich. Er


spritzte J e n n y zuerst Valium und dann Demerol; die P r o -
zedur danach war schnell vorüber, aber strapaziös. Er war
bereits fertig, noch ehe die Medikamente ihre volle Wir-
kung entfaltet hatten. Als es vorbei war, lag Jenny beinahe

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bewusstlos da, die Beruhigungsmittel setzten sie außer G e -
fecht. »Passen Sie auf, dass sie nicht aufhört zu a t m e n « ,
sagte der Doktor und ging aus d e m Zimmer. Ich konnte es
nicht fassen. W a r es nicht eigentlich seine Aufgabe, aufzu-
passen, dass sie nicht aufhörte zu atmen? Auf d e m F o r m u -
lar, das sie unterschrieben hatte, stand nichts von »der P a -
tient könnte aufgrund einer Uberdosis Beruhigungsmittel
aufhören zu atmen«. Ich tat wie mir geheißen und redete
laut mit Jenny, rieb ihren Arm, strich ihr leicht über die
Wange und sagte Dinge wie »Hey, Jenny! W i e heiße ich?«
Sie lag da wie tot.
Nach einigen Minuten steckte Essie ihren Kopf zur T ü r
herein, um nach uns zu sehen. Sie sah Jennys aschfahles
Gesicht und war sofort wieder verschwunden. Einen Au-
genblick später kam sie wieder hereingeeilt, einen nassen
Waschlappen und Riechsalz in der H a n d , das sie J e n n y u n -
ter die Nase hielt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe
Jenny sich rührte, und auch dann war es nur eine schwache
Bewegung. Ich redete weiter mit lauter Stimme auf sie ein
und befahl ihr, tief zu atmen, damit ich es auf meiner H a n d
spüren konnte. Ihre H a u t war immer noch aschfahl, und ich
fühlte ihren Puls bei sechzig Schlägen pro M i n u t e . Nervös
wischte ich ihr mit dem nassen Waschlappen über die Stirn,
die Wangen und den Hals. Schließlich kam sie zu sich, war
aber noch völlig benommen.
» D u hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«,
sagte ich. Sie sah mich mit leerem Blick an, als müsse sie
sich erst vergegenwärtigen, womit sie mir einen Schrecken
eingejagt haben könnte. D a n n wurden ihre Augen wieder
glasig.
Eine halbe Stunde später half ihr die Schwester beim
Anziehen, und ich führte sie aus der Praxis, wobei m a n mir
folgende Anweisungen mitgab: Zwei W o c h e n lang kein Voll-

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bad, nicht schwimmen, keine Vaginalspülungen, keine Tam-
pons, kein Sex.
Im Auto blieb J e n n y bei ihrem eisernen Schweigen, drück-
te sich gegen die Beifahrertür und starrte aus dem Fens-
ter. Ihre Augen waren rot, doch sie weinte nicht. Erfolglos
suchte ich nach tröstenden W o r t e n . Was konnte ich auch sa-
gen? Wr hatten unser Baby verloren. Sicher, ich konnte ihr
sagen, dass wir es wieder versuchen könnten. Ich konnte ihr
sagen, dass viele Pärchen dasselbe durchmachten. Aber sie
würde es nicht hören wollen, und ich wollte es nicht sagen.
Irgendwann würden wir mit Abstand auf das Ganze zurück-
blicken können. Aber nicht jetzt.
Ich fuhr eine landschaftlich schönere Strecke nach Hause,
am Strand von West Palm Beach entlang. Die Sonne wan-
derte über das Wasser, die Palmen wiegten sich sanft unter
einem wolkenlosen H i m m e l . Es war ein Tag zum Fröh-
lichsein, aber nicht für uns. Schweigend fuhren wir nach
Hause.
Als wir daheim ankamen, half ich Jenny ins Haus, bettete
sie auf die Couch und ging dann in die Garage, wo Marley
wie immer unsere Rückkehr mit atemloser Ungeduld erwar-
tete. Sobald er mich sah, tauchte er nach seinem riesigen
Rohlederknochen und stolzierte damit durch den Raum.
Sein ganzer Körper bebte und sein Schwanz schlug gegen
die Waschmaschine wie ein Knüppel auf eine Trommel. Er
wollte unbedingt, dass ich versuchte, ihm den Knochen ab-
zujagen.
» H e u t e nicht, Kumpel«, sagte ich und ließ ihn zur H i n -
tertür in den Garten hinaus. Er machte sein Geschäft unter
dem Mispelbaum und kam ins H a u s zurückgerast, nahm ei-
nen tiefen Schluck aus seiner Wasserschüssel, spritzte alles
um ihn h e r u m voll und sauste dann den Flur hinunter, um
J e n n y zu suchen. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, um

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die Hintertür abzuschließen, das verschüttete Wasser aufzu-
wischen und ihm ins W o h n z i m m e r zu folgen.
Als ich um die Ecke kam, blieb ich abrupt stehen. Ich hät-
te einen Monatslohn darauf verwettet, dass eine solche Sze-
ne niemals möglich wäre. Unser wilder, ungestümer H u n d
stand mit den Schultern zwischen Jennys Knien, sein großer,
schwerer Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Sein Schwanz hing
zwischen seinen Beinen herunter. Es war das erste Mal, dass
er nicht wedelte, wenn er einen von uns berührte. Er sah zu
ihr auf und winselte leise. Sie streichelte ein paar Mal sei-
nen Kopf, verbarg dann unvermittelt ihr Gesicht in seinem
dicken Nackenfell und fing an zu schluchzen. Ein heftiges,
haltloses Schluchzen aus tiefster Seele.
Sie verharrten lange so. Marley stand still wie eine Sta-
tue, und Jenny umarmte ihn wie eine übergroße P u p p e .
Ich stand abseits und fühlte mich wie ein ungebetener Z u -
schauer einer sehr privaten Szene. Ich wusste nicht recht,
was ich tun sollte. U n d dann, ohne aufzusehen, hob sie einen
Arm in meine Richtung, und ich setzte mich neben sie aufs
Sofa und schlang die Arme um sie. Da saßen wir drei, in stil-
ler, gemeinsamer Trauer.
SIEBEN

Hund und Herrchen

A m nächsten M o r g e n , einem Sonntag, wachte ich bei


Sonnenaufgang auf und merkte, dass Jenny neben mir
leise weinte. Sie hatte mir den Rücken zugedreht. Marley
war auch schon wach, sein Kopf ruhte auf der Matratze, und
wieder trauerte er mit seinem Frauchen. Ich stand auf und
kochte Kaffee, presste frischen Orangensaft aus, holte die
Zeitung herein und machte Toast. Als J e n n y wenig später
im Bademantel in die Küche kam, waren ihre Augen trocken
und sie schenkte mir ein tapferes Lächeln, wie um zu sagen,
dass es ihr besser ginge.
N a c h dem Frühstück beschlossen wir, mit Marley zum
Schwimmen an den Strand hinunterzugehen. Von unserem
Viertel aus versperrten ein großer Wellenbrecher aus Beton
und viele Steinblöcke den W e g zum Wasser, aber sechs Blocks
weiter südlich verliefen die Wellenbrecher weiter oben und
ließen einen kleinen weißen Strand frei, wo Treibholz he-
rumlag - ein perfekter Hundespielplatz. Als wir den Strand
erreichten, wedelte ich mit einem Stöckchen vor Marleys
Nase h e r u m und ließ ihn von der Leine. Er starrte den Ast
an, als hielte ich einen saftigen Knochen in der Hand; er ließ
ihn nicht aus den Augen. » H o l den Stock!«, rief ich und warf
das H o l z so weit ich konnte ins Wasser. Marley sprang mit
einem spektakulären Satz über die Betonmauer, galoppierte
den Strand hinunter und sprang ins kalte Wasser, dass es nur

68
so spritzte. Genau dazu sind Labradors geboren. Es ist in ih-
ren Genen angelegt und steht in ihrer Jobbeschreibung.
Niemand weiß genau, woher der Labrador eigentlich
stammt, aber so viel ist bekannt: Er stammt nicht aus L a b -
rador. Diese muskulösen, kurzhaarigen H u n d e , die das Was-
ser so sehr lieben, wurden das erste Mal im 17. J a h r h u n d e r t
ein paar H u n d e r t Meilen südlich von Labrador gesichtet,
in Neufundland. Frühe Geschichtsschreiber berichten, dass
die Fischer dort die H u n d e auf ihren Booten mit hinaus aufs
Meer nahmen, wo sie ihnen beibrachten, Leinen und N e t z e
einzuholen und Fische von den Angelhaken zu bergen. Das
dicke, ölige Fell der H u n d e machte sie unempfindlich gegen
das eisige Wasser, und ihre Schwimmkünste machten sie
zusammen mit ihrer grenzenlosen Ausdauer und der Fähig-
keit, Fische vorsichtig im Maul zu tragen, ohne das Fleisch
zu beschädigen, zu einem idealen Arbeitshund unter den har-
ten Bedingungen im Nordatlantik.
Wie diese H u n d e nach Neufundland kamen, darüber
streiten sich die Geister. Sie stammen nicht ursprünglich
von der Insel, und es gibt keine Belege, dass die Eskimos, die
als Erste dieses Gebiet besiedelten, H u n d e mitbrachten. Am
glaubwürdigsten ist die Version, dass die ältesten Vorfahren
der Retriever von Fischern aus Europa und England nach
Neufundland mitgebracht wurden. Viele von ihnen heuer-
ten ab, ließen sich an der Küste nieder und gründeten Fami-
lien. Von da an hat sich der Labrador wohl zufällig und will-
kürlich weiter vermehrt. Er hat wahrscheinlich die gleichen
Vorfahren wie der größere, langhaarigere Neufundländer.
Wie auch immer es dazu kam, diese erstaunlich begabten
H u n d e wurden bald von den Jägern auf der Insel für ihre
Zwecke eingesetzt und dienten als Jagdhunde bei der Vo-
geljagd. 1662 wanderte ein M a n n namens W. E. Cormack
aus St. John, Neufundland, über die Insel und bemerkte die

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große Zahl der einheimischen H u n d e , die seiner Meinung
nach »bewundernswert gut zu Jagdhunden erzogen und
auch ... auf andere Weise nützlich sind«. Schließlich wurde
der Englische Landadel auf die H u n d e aufmerksam, und im
frühen 19. J a h r h u n d e r t importierten sie die H u n d e als Jagd-
hunde für die Jagd auf Fasane, M o o r - und Rebhühner nach
England.
L a u t dem Labrador Retriever Club, einer nationalen Lai-
enorganisation, die 1931 gegründet wurde und sich der Be-
wahrung der Reinheit dieser Rasse verschrieben hat, kam
der N a m e Labrador irgendwann in den 18 3 Oer Jahren verse-
hentlich auf, als der offenbar geographisch wenig gebildete
Dritte Earl von Malmesbury einen Brief an den Sechsten
D u k e von Buccleuch schrieb und darin mit seinen erstklassi-
gen Retrievern prahlte. » W i r nennen meine H u n d e immer
Labradors«, schrieb er. Von da an blieb dieser N a m e . D e r
gute Earl vermerkte, dass er stets alle Anstrengungen unter-
nahm, um »die Rasse von Anfang an so rein wie möglich« zu
erhalten. Andere jedoch n a h m e n es mit dem Stammbaum
nicht so genau und kreuzten Labradors mit anderen Retrie-
vern, in der Hoffnung, dass sich ihre hervorragenden Eigen-
schaften weitervererben würden. Die G e n e der Labradors
erwiesen sich als unbezwingbar, und die Labrador-Retrie-
ver-Linie blieb einzigartig und wurde am 7. Juli 1903 vom
Kennel Club von England als eigene Rasse anerkannt.
B.W. Ziessow, ein enthusiastischer, langjähriger Züchter,
schrieb für den Labrador Retriever Club: »Die amerikani-
schen Sportler übernahmen die Rasse von England und ent-
wickelten und trainierten mit der Zeit einen H u n d , der opti-
mal für den Jagdsport in diesem Land geeignet war. Heute
wie damals wird jeder Labrador gerne in Minnesota ins eis-
kalte Wasser springen, um einen abgeschossenen Vogel he-
rauszuholen; und er wird den ganzen Tag in der Hitze des

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Südwestens Tauben jagen - als D a n k für seine gute Arbeit
genügt ihm eine Streicheleinheit.«
Das also war Marleys stolzes Erbe, und er schien zumin-
dest einen Teil davon mitbekommen zu haben. Er war ein
Meister im Beuteaufspüren. N u r die Sache mit dem Zurück-
bringen der Beute hatte er nicht ganz verstanden. Er schien
zu denken: Wenn du deinen Stock unbedingt -wiederhaben willst,
dann kannst DU ja danach tauchen.
Mit seiner Beute zwischen den Z ä h n e n kam er an den
Strand zurück. »Bring's her!«, schrie ich und klatschte in
die Hände. » K o m m schon, Junge, bring es mir!« Er kam
angetänzelt, sein ganzer Körper bebte vor Aufregung, und
dann schüttelte er sich und ließ Wasser und Sand auf mich
niederregnen. Zu meiner Überraschung ließ er danach den
Stock vor meine Füße fallen. Wow!, dachte ich. Nicht schlecht!
Ich sah zu Jenny zurück, die auf einer Bank unter einer aust-
ralischen Pinie saß, und zeigte ihr den nach oben gereckten
Daumen. Doch als ich mich bückte, um den Stock aufzuhe-
ben, war Marley schon zur Stelle. Er tauchte ab, packte den
Stock und raste dann wild Haken schlagend den Strand hi-
nunter. D a n n warf er sich herum, prallte beinahe mit mir zu-
sammen und forderte mich auf, ihn zu verfolgen. Ich rannte
ein paar Schritte in seine Richtung, doch es war klar, dass er
mir an Schnelligkeit und Beweglichkeit weit überlegen war.
» D u bist ein Labrador«, brüllte ich ihm nach. » D i r liegt das
Apportieren im Blut!«
Aber im Gegensatz zu meinem H u n d hatte ich ein weiter
entwickeltes Gehirn, das zumindest ein klein wenig m e h r
hermachte als meine Muskelkraft. Ich griff nach einem zwei-
ten Stock und machte ein Riesentheater darum, hob ihn über
den Kopf und warf ihn von einer H a n d in die andere und
ließ ihn hin und her schwingen. U n d ich konnte sehen, wie
Marleys Entschlossenheit langsam nachließ. Plötzlich hatte

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der Stock in seinem Maul, der vor wenigen Augenblicken
noch sein größter Schatz gewesen war, seinen Reiz verloren.
M e i n Stock dagegen zog ihn magisch an. Er schlich näher
und näher, bis er n u r noch wenige M e t e r von mir entfernt
war. »Tja, d u m m das, nicht wahr, Marley?« Ich kicherte, als
ich ihm den Stock vor die Augen hielt und er anfing zu schie-
len, um ihn im Blick zu behalten.
Ich konnte sehen, wie die kleinen grauen Zellen in seinem
Kopf arbeiteten und er krampfhaft überlegte, wie er den
neuen Stock erhaschen könnte, ohne den alten loszulassen.
Seine Oberlippe zitterte, als er die Chancen abzuschätzen
versuchte, mit einem H a p s beide Stöcke zu packen. Ich griff
schnell mit meiner freien H a n d nach dem Stock in seinem
Maul und zog. Er zog knurrend zurück. Ich hielt ihm den
zweiten Stock gegen die Nasenlöcher. » D u weißt, dass du
nicht widerstehen kannst«, flüsterte ich. U n d tatsächlich,
die Versuchung war zu groß. Ich spürte, wie sein Griff sich
lockerte. U n d dann handelte er. Er öffnete das Maul und
versuchte, den zweiten Stock zu fassen, ohne den ersten los-
zulassen. Blitzschnell zog ich beide Stöcke weg und hielt sie
über meinen Kopf. Er sprang in die Luft, bellte und wirbelte
herum, offensichtlich verstört darüber, dass sein so klug er-
sonnener Plan nicht aufgegangen war. »Siehst du, deswegen
bin ich das H e r r c h e n und du der H u n d « , erklärte ich ihm.
Als Reaktion schüttelte er sich und schleuderte mir noch
m e h r Sand und Wasser ins Gesicht.
Ich warf einen der Stöcke ins Wasser und er rannte wild
bellend hinterher. Als er zurückkam, schien er gerüstet. Dies-
mal war er vorsichtiger u n d weigerte sich, auch nur in meine
N ä h e zu k o m m e n . Er blieb ein paar M e t e r vor mir stehen,
seinen Stock im Maul und den Blick fest auf meinen Stock,
das neue und zugleich alte Objekt seiner Begierde, gerichtet.
Ich hielt den Stock hoch über meinen Kopf. U n d wieder sah

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ich seine grauen Zellen arbeiten. Er dachte: Diesmal warte ich
so lange hier, bis er ihn wirft. Und dann hat er keinen Stock mehr
und ich zwei. » D u denkst, ich bin blöd, nicht wahr, H u n d ? « ,
sagte ich zu ihm. Ich holte aus und warf den Stock mit einem
lauten Ächzen so weit ich konnte. Klar, Marley rannte hin-
terher, sprang mit seinem Stock im Maul ins Wasser - das
D u m m e war nur, dass ich meinen Stock nicht losgelassen
hatte. Aber merkte Marley das? Nein, er schwamm halb bis
Palm Beach, ehe ihm auffiel, dass ich den Stock immer n o c h
in der H a n d hatte.
» D u bist gemein!«, schimpfte J e n n y von ihrer Bank aus,
und als ich zu ihr zurückblickte, sah ich, dass sie lachte.
Als Marley schließlich wieder an Land kam, ließ er sich
vollkommen erschöpft in den Sand fallen, war aber immer
noch wild entschlossen, seinen Stock nicht herzugeben. Ich
zeigte ihm meinen Stock, erzählte ihm wieder, wie viel tol-
ler dieser im Gegensatz zu seinem war, u n d befahl: »Lass
los!« Wieder holte ich aus, als ob ich werfen wollte, u n d der
dumme H u n d sprang auf die Beine und rannte zurück zum
Wasser. »Lass los!«, wiederholte ich, als er zurückkam. W i r
spielten dieses Spielchen noch ein paar Mal, aber schließlich
ließ er ihn tatsächlich fallen. U n d im selben M o m e n t , als
sein Stock den Boden berührte, warf ich meinen für ihn in
die Luft. W i r wiederholten das immer wieder, und jedes Mal
schien ihm das Prinzip ein wenig klarer zu werden. Langsam
sickerte die Lektion in seinen dicken Schädel ein. W e n n er
mir den Stock zurückbrachte, würde ich immer wieder einen
neuen für ihn werfen. »Das ist wie ein Geschäftsabschluss«,
erklärte ich ihm. » D u musst etwas hergeben, um etwas zu
bekommen.« Er sprang an mir hoch und gab mir einen di-
cken Schmatz mit seinem sandigen H u n d e m a u l , was ich als
Zustimmung wertete.
Als Jenny und ich nach Hause gingen, zog Marley zum ers-

73
ten Mal nicht an der Leine. Er war erschöpft. Ich war sehr
stolz auf unseren Lernerfolg. Wochenlang hatten Jenny und
ich schon versucht, ihm ein paar grundlegende soziale Ver-
haltensregeln beizubringen, doch er hatte nur sehr kleine
Fortschritte gemacht. Es war, als würden wir einem wilden
H e n g s t beibringen wollen, aus einer Tasse Tee zu trinken.
Manchmal kam ich mir vor wie Anne Sullivan, und Marley
war H e l e n Keller. Insgeheim dachte ich an Saint Shaun zu-
rück und wie schnell ich, damals selbst noch ein Junge von
zehn Jahren, ihm alles hatte beibringen können, was not-
wendig war, um aus ihm einen tollen H u n d zu machen. Ich
fragte mich, was ich diesmal falsch machte.
Aber unser kleines Apportierspiel war so etwas wie ein
Hoffnungsschimmer. »Weißt du«, sagte ich zu Jenny, »ich
glaube wirklich, langsam kapiert er es.«
Sie sah auf ihn hinunter, wie er neben uns hertrottete. Er
war klitschnass, sein Fell war voll Sand und an seinen Lefzen
hing Schaum. Sein hart erkämpfter Stock klemmte immer
noch zwischen seinen Kiefern. » D a wäre ich mir nicht so
sicher«, sagte sie.

Am nächsten M o r g e n wachte ich wieder bei Tagesanbruch


davon auf, dass J e n n y leise neben mir weinte. »Hey«, sagte
ich und schlang meinen Arm um sie. Sie drückte ihr Gesicht
gegen meine Brust und ich fühlte, wie ihre Tränen mein T-
Shirt durchnässten.
»Alles okay«, sagte sie, »es ist nur - du weißt schon.«
Ich wusste es. Ich versuchte, den tapferen Soldaten zu spie-
len, aber ich spürte es auch, dieses dumpfe Gefühl von Ver-
lust und Versagen. Es war seltsam. N o c h vor zwei Tagen wa-
ren wir vor N e u g i e r auf unser Baby beinahe geplatzt. Und
jetzt war es, als hätte es diese Schwangerschaft nie gegeben.
Als wäre das alles n u r ein Traum gewesen, aus dem zu erwa-

74
chen uns schwerfiel. Später nahm ich Marley mit zum E i n -
kaufen. W i r fuhren zum Supermarkt, u n d J e n n y brauchte
ein paar Sachen aus der Apotheke. Auf dem Rückweg hielt
ich an einem Blumenladen und kaufte einen riesigen F r ü h -
lingsblumenstrauß samt Vase, in der Hoffnung, er würde
Jenny aufheitern. D a m i t die Vase nicht umkippte, gurtete
ich sie auf dem Rücksitz neben Marley an. Als wir an einer
Zoohandlung vorbeikamen, dachte ich spontan, dass Marley
auch eine kleine Aufheiterung gebrauchen könnte. I m m e r -
hin hatte er unserer untröstlichen J e n n y besser Trost spen-
den können als ich. »Sei ein guter J u n g e « , sagte ich. »Ich bin
gleich zurück.« Ich eilte in das Geschäft und kaufte schnell
einen riesigen Kauknochen für ihn.
Zu Hause kam uns J e n n y vor dem H a u s entgegen, u n d
Marley sprang aus dem Auto, um sie zu begrüßen. » W i r ha-
ben eine kleine Überraschung für dich«, sagte ich. D o c h als
ich die Blumen vom Rücksitz holen wollte, war die Ü b e r r a -
schung auf meiner Seite. Ich hatte einen Frühlingsstrauß mit
weißen Gänseblümchen, gelben Chrysanthemen, verschie-
denfarbigen Lilien und leuchtend roten Nelken gekauft.
Jetzt waren die Nelken verschwunden. Ich sah genauer hin
und entdeckte die geköpften Stiele, die vor wenigen M i n u -
ten noch Blüten getragen hatten. Sonst fehlte d e m Strauß
nichts. Ich starrte Marley an, der wild herumtanzte. » K o m m
hierher!«, schrie ich, und als ich ihn endlich erwischte
und ihm das Maul aufstemmte, fand ich den Beweis seiner
Schuld. Tief in seinem Rachen, zu einer formlosen Masse
zerkaut, die an Kautabak erinnerte, steckte eine einzige rote
Nelke. Die anderen waren offenbar schon in seinen Schlund
gewandert. Ich hätte ihn umbringen können.
Ich sah J e n n y an. Tränen strömten über ihr Gesicht. Aber
diesmal lachte sie Tränen. Sie hätte sich nicht m e h r gefreut,
wenn ich eigens ein kleines Orchester für eine abendliche

75
Serenade eingeflogen hätte. M i r blieb nichts anderes übrig,
als in ihr Lachen einzustimmen.
»Dieser H u n d ! « , murmelte ich.
»Ich hab mir ohnehin noch nie viel aus Nelken gemacht«,
sagte sie.
Marley war so glücklich, uns wieder lachen zu sehen, dass
er sich auf die Hinterbeine stellte und einen Freudentanz
aufführte.

Als ich am nächsten M o r g e n aufwachte, flutete Sonnenlicht


durch die Aste des brasilianischen Pfefferbaums auf unser
Bett. Ich warf einen Blick auf die U h r ; es war fast acht. Dann
sah ich hinüber zu meiner Frau, die friedlich schlief. Ihre
Brust h o b und senkte sich in langsamen, tiefen Atemzügen.
Ich küsste sie aufs Haar, legte ihr einen Arm um die Taille
und schloss wieder die Augen.
ACHT

Die Machtprobe

A ls Marley knapp sechs M o n a t e alt war, meldeten wir ihn


in einer Hundeschule an. Das war m e h r als notwendig.
Trotz seiner Fortschritte mit dem Stock an jenem Tag am
Strand erwies er sich als äußerst schwieriger Schüler, schwer
von Begriff, wild, leicht abzulenken, ein Opfer seiner uner-
schöpflichen Energie. Allmählich begannen wir zu ahnen,
dass er nicht wie andere H u n d e war. M e i n Vater fasste es
treffend zusammen, als Marley versuchte, sein Knie zu begat-
ten: »Dieser H u n d hat eine Schraube locker.« W i r brauch-
ten professionelle Hilfe.
Unser Tierarzt empfahl uns einen H u n d e - C l u b im Ort,
der jeden Dienstagabend auf dem Parkplatz hinter dem
Zeughaus einen Gehorsamkeits-Grundkurs anbot. Er wur-
de von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Clubs abgehalten,
engagierte Amateure, die zweifelsohne ihren eigenen H u n -
den bereits die höheren Weihen guten Benehmens beige-
bracht hatten. D e r Kurs dauerte acht Stunden und kostete
fünfzig Dollar, für unsere Begriffe eine lächerliche Summe,
wenn man daran dachte, dass Marley den W e r t von fünfzig
Dollar in Form von einem Paar Schuhe innerhalb von drei-
ßig Sekunden vernichten konnte. U n d der Kurs versprach,
dass wir nach der Abschlussprüfung mit Lassie der Zweiten
nach Hause gehen würden. Bei der Anmeldung trafen wir
die Dame, die unseren Kurs leiten würde. Sie war eine stren-

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ge, ernsthafte Hundetrainerin, die die M e i n u n g vertrat, dass
es keine unerziehbaren H u n d e gab, sondern nur inkonse-
quente, unfähige Besitzer.
Die erste Stunde schien ihren Standpunkt zu untermau-
ern. N o c h ehe wir aus dem Auto gestiegen waren, entdeckte
Marley die anderen H u n d e , die mit ihren Besitzern über
den Asphalt liefen. Eine Party! Er sprang über uns hinweg
aus dem Auto, und weg war er, die Leine hinter sich herzie-
hend. D a n n schoss er von einem H u n d zum nächsten, be-
schnüffelte sie an allen unziemlichen Stellen, markierte und
schleuderte große Sabberflocken durch die Luft. Für Marley
war das Ganze ein Fest der Düfte - so viele Geschlechts-
teile, so wenig Zeit und er nutzte die Gunst der Stunde,
wobei er sich immer genau außerhalb meiner Reichweite
hielt, während ich hinter ihm herjagte. I m m e r wenn ich ihn
beinahe erwischt hatte, machte er wieder einen Satz nach
vorne. Schließlich kam ich nahe genug heran, um mit einem
gigantischen Sprung mit beiden Füßen auf seiner Leine zu
landen. Das brachte ihn so ruckartig zum Stehen, dass ich
im ersten M o m e n t dachte, ich hätte ihm das Genick gebro-
chen. Er wurde umgerissen, landete auf dem Hinterteil, warf
sich h e r u m und sah mich völlig entgeistert an. Inzwischen
starrte uns die Hundetrainerin mit einem Blick an, der ver-
nichtender nicht hätte sein können, wenn ich mir die Klei-
der v o m Leib gerissen hätte u n d nackt über den Parkplatz
getanzt wäre. »Bitte begeben Sie sich auf Ihren Platz«, sagte
sie förmlich, und als sie sah, wie Jenny und ich gemeinsam
versuchten, Marley an seinen Platz zu zerren, fügte sie hin-
zu: »Sie müssen sich entscheiden, wer von Ihnen beiden die
Funktion des Trainers übernimmt.« Ich setzte zu der Erklä-
r u n g an, dass wir beide teilnehmen wollten, damit wir beide
zu H a u s e mit ihm üben konnten, aber sie unterbrach mich.
»Ein H u n d kann nur einem H e r r n gehorchen«, sagte sie

78
bestimmt. Ich wollte protestieren, doch sie brachte mich
mit einem strengen Blick zum Schweigen - wahrscheinlich
schüchterte sie damit auch die H u n d e ein -, und ich zog wie
ein begossener Pudel mit eingezogenem Schwanz vom Feld
und überließ Trainerin Jenny das K o m m a n d o .
Wahrscheinlich war das ein Fehler. Marley war inzwischen
beträchtlich stärker als Jenny, und das wusste er. Miss D o -
minatrix hatte gerade zu ihrer Einfuhrungsrede angesetzt,
in der sie erklärte, wie wichtig es sei, gegenüber Haustieren
eine Führungsposition einzunehmen, da beschloss Marley,
dass der Pudel auf der anderen Seite der Klasse einen n ä h e -
ren Blick wert war. M i t Jenny an der Leine stürzte er los.
Alle anderen H u n d e saßen brav neben ihren H e r r c h e n
und Frauchen, hielten gebührend Abstand voneinander und
warteten auf weitere Befehle. Jenny kämpfte verzweifelt um
festen Halt unter den Füßen, um Marley zu stoppen, doch
er galoppierte unbeeindruckt weiter und zog sie, versessen
aufs Pudelschnüffeln, quer über den Parkplatz. M e i n e Frau
hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit einer Wasserskiläuferin,
die von einem M o t o r b o o t gezogen wird. Alle starrten sie an.
Einige kicherten. Ich hielt mir die Augen zu.
Marley war kein Freund von langwierigen Höflichkeiten.
Er rannte die Pudeldame um und klemmte sofort seine Nase
zwischen ihre Beine. Das war wohl die Art und Weise, wie
ein H u n d fragt: » H i , bist du öfter hier?«
Nachdem Marley den Pudel ausführlich untersucht hatte,
gelang es Jenny endlich, ihn an seinen Platz zurückzuziehen.
Miss Dominatrix gab mit ruhiger Stimme bekannt: »Dies,
meine D a m e n und H e r r e n , ist ein hervorragendes Beispiel
für einen H u n d , dem man gestattet hat, zu denken, er sei
das Alphatier seines Rudels. Im M o m e n t hat er das Sagen.«
Wie um das zu bestätigen, begann Marley wie wild seinen
Schwanz zu jagen, drehte sich dabei um die eigene Achse,

79
schnappte in die Luft und wickelte die Leine so um Jennys
Knöchel, bis sie sich nicht m e h r rühren konnte. Ich litt mit
Jenny u n d war trotzdem froh, dass ich nicht an ihrer Stelle
war.
Die Trainerin begann mit den Lektionen »Sitz!« und
»Platz!«. J e n n y befahl Marley mit strenger Stimme: »Sitz!«
U n d Marley sprang auf und legte ihr die Pfoten auf die Schul-
tern. Sie drückte sein Hinterteil auf den Boden, und er rollte
sich herum, damit sie ihn am Bauch kraulen konnte. Sie ver-
suchte ihn an seinen Platz zu ziehen, und er schnappte sich
die Leine mit den Z ä h n e n und schüttelte den Kopf wild hin
u n d her, als würde er mit einer Python kämpfen. Ich konnte
es nicht mit ansehen. Als ich die Augen wieder öffnete, sah
ich, wie J e n n y bäuchlings auf dem Boden lag. Marley stand
über ihr und hechelte fröhlich. Später erklärte sie mir, sie
hätte ihm zeigen wollen, wie man das K o m m a n d o »Platz«
korrekt ausführt.
Als die Stunde zu E n d e war und J e n n y mit Marley zu
m i r kam, fing Miss Dominatrix uns ab. »Sie müssen dieses
T i e r wirklich u n t e r Kontrolle bringen«, sagte sie spöttisch.
Oh, vielen Dank für diesen wertvollen Rat. Und dabei hatten
wir uns eigentlich nur angemeldet, damit die anderen Teilneh-
mer etwas zu lachen haben! Keiner von uns sagte ein Wort.
W i r gingen n u r niedergeschlagen zu unserem Auto und fuh-
ren schweigend nach Hause. N u r Marleys lautes Hecheln
war zu hören, als er versuchte, sich von der Aufregung sei-
n e r ersten Erfahrung m i t einer Hundeschule zu erholen.
Schließlich sagte ich: »Eines ist sicher: Er geht gern zur
Schule.«

Eine W o c h e später waren Marley und ich wieder dort, dies-


mal ohne Jenny. Als ich angedeutet hatte, dass ich wahr-
scheinlich noch am ehesten Marleys Vorstellung von einem

80
Alphatier entsprach, hatte sie ihren vorläufigen Titel als
Frauchen und Befehlshaberin mit Freuden aufgegeben und
geschworen, sich nie wieder in der Öffentlichkeit blicken zu
lassen. Bevor wir das H a u s verließen, schubste ich Marley
auf den Rücken, stellte mich über ihn und knurrte mit mei-
ner einschüchterndsten Stimme: »Ich bin der Boss! Du bist
nicht der Boss! Ich bin der Boss! Verstanden, Alphahund?«
Er schlug mit dem Schwanz auf den Boden und versuchte,
meine Handgelenke anzuknabbern.
Diesmal stand der Befehl »Bei F u ß « auf d e m Plan, eine
Lektion, die mir besonders wichtig war. Ich war es leid, auf
jedem Spaziergang bei jedem Schritt mit Marley zu k ä m p -
fen. Er hatte Jenny schon einmal zu Boden gerissen, als er
einer Katze hinterherjagen wollte, dabei hatte sie sich die
Knie aufgeschlagen. Es war höchste Zeit, dass er lernte, an-
ständig an unserer Seite zu laufen. Ich zerrte ihn an allen
anderen H u n d e n vorbei an unseren Platz. Miss Dominatrix
gab jedem von uns eine kurze Kette mit je einem Ring an
beiden Enden. Das wären spezielle Halsbänder, erklärte sie
uns, mit denen wir unsere H u n d e dazu bringen würden,
brav bei Fuß zu gehen. Das Halsband war genial einfach
konstruiert. W e n n sich der H u n d gut b e n a h m und an der
Seite seines Herrchens blieb, sodass die Leine Spiel hatte,
dann hing ihm die Kette einfach nur locker um den Hals.
W e n n er jedoch einen Satz nach vorne machte oder zur Sei-
te zerrte, dann zog sich die Kette wie eine Schlinge zu und
brachte den H u n d so dazu, zu gehorchen. Unsere Trainerin
versprach, dass die H u n d e schnell lernen würden, dass ihnen
bei Ungehorsam die Luft knapp wurde. Nicht ganz fair, aber
eine tolle Erfindung, dachte ich.
Ich wollte die Kette über Marleys Kopf ziehen, aber er
war schneller und schnappte mit den Zähnen danach. Ich
zwang ihm die Kiefer auseinander, um das Halsband heraus-

81
zuziehen. W i e d e r schnappte er danach. Alle anderen H u n d e
hatten bereits ihre Halsbänder um; alle warteten. Ich packte
Marleys Schnauze mit einer H a n d und versuchte mit der
anderen, ihm die Kette überzuwerfen. Er sprang wieder zu-
rück und wand sich, um sein Maul wieder frei zu bekommen
und diese geheimnisvolle silberne Schlange erneut anzugrei-
fen. Endlich schaffte ich es, ihm die Kette über den Kopf zu
ziehen. Er ließ sich zu Boden fallen, schnappte wild um sich,
streckte die Pfoten in die Luft und warf den Kopf hin und
her, bis es ihm wieder gelang, die Kette zwischen die Zähne
zu bekommen. Ich sah die Trainerin an. » E r mag die Kette«,
sagte ich.
W i e befohlen ließ ich Marley aufstehen und nahm ihm
die Kette aus dem Maul. D a n n drückte ich ihm wie befoh-
len das Hinterteil auf den Boden und stellte mich neben ihn,
mein linkes Bein an seiner rechte Schulter. W e n n die Trai-
nerin bis drei gezählt hatte, sollte ich den Befehl »Marley,
bei Fuß!« geben und einen Schritt mit dem linken - auf gar
keinen Fall mit dem rechten - Fuß machen. W e n n er vom
Kurs abwich, würden ihn kleine Korrekturen - in Form von
einem festen, kurzen Ziehen an der Leine - wieder in die
richtige Position bringen. Miss Dominatrix gab das Kom-
mando: »Eins ... zwei ...« Marley zitterte vor Erregung.
Das glänzende fremde D i n g um seinen Hals brachte ihn auf
H o c h t o u r e n »... drei!«
»Marley, bei Fuß!«, befahl ich. Sobald ich den ersten
Schritt machte, startete er durch wie ein Kampfflugzeug
vom Flugzeugträger. Ich zog ihn fest an der Leine zurück,
und er gab ein furchtbares, hustendes Japsen von sich, als
sich die Kette um seinen Hals enger zog. Er sprang kurz zu-
rück, doch sobald sich die Kette wieder lockerte, hatte er das
W ü r g e n schon wieder vergessen. D e r winzige Teil seines G e -
hirns, der dafür zuständig war, aus Erfahrung zu lernen, hat-

82
te mit dieser Episode längst abgeschlossen. W i e d e r sprang
er nach vorne. Ich zog an der Leine, und er japste wieder. So
arbeiteten wir uns langsam über den ganzen Parkplatz vor;
Marley zerrte nach vorne, ich zerrte ihn zurück, jedes Mal
ein wenig heftiger. Er hustete und hechelte, ich ächzte u n d
schwitzte.
»Halten Sie den H u n d zurück!«, rief die Trainerin. Ich
versuchte es mit aller Kraft, aber die Botschaft kam einfach
nicht bei Marley an, und ich hatte Angst, er würde sich stran-
gulieren, ehe er das Prinzip verstanden hatte. Inzwischen lie-
fen die anderen H u n d e schon brav an der Seite ihrer H e r r -
chen und Frauchen und reagierten bereits auf feine Hilfen,
genau wie die Trainerin es vorausgesagt hatte. »Verdammt
noch mal, Marley!«, zischte ich. »Unsere Familienehre steht
auf dem Spiel!«
Die Trainerin befahl den Teilnehmern, sich in einer Reihe
aufzustellen und es noch einmal zu versuchen. U n d wieder
taumelte Marley wie betrunken über den Parkplatz, die Au-
gen weit aufgerissen und nach Luft ringend. Am anderen
Ende des Parkplatzes nannte uns die Trainerin ein gutes Bei-
spiel dafür, wie man es nicht machen sollte. » K o m m e n Sie«,
sagte sie ungeduldig. »Ich zeige es Ihnen.« Ich gab ihr die
Leine, und sie zerrte Marley erfolgreich in die Startposition.
Als sie ihm den Befehl zum Hinsetzen gab, zog sie fest am
Halsband. Tatsächlich sank er auf seine Hinterbeine und sah
konzentriert zu ihr auf. Verdammt!
M i t einem Ruck an der Leine setzte sich Miss Dominatrix
in Bewegung. Doch fast augenblicklich jagte Marley los, als
würde er den führenden Schlitten in einem H u n d e r e n n e n
ziehen. Die Trainerin nahm ihn hart zurück und brachte
ihn damit aus dem Gleichgewicht; er stolperte, keuchte u n d
machte dann einen weiteren Satz nach vorne. Es sah aus, als
würde er ihr den Arm ausreißen. Eigentlich hätte es mir pein-

83
lieh sein sollen, aber irgendwie empfand ich eine gewisse
G e n u g t u u n g . Sie hatte kein bisschen m e h r Erfolg als ich.
M e i n e Klassenkameraden kicherten, und ich strahlte vor per-
versem Stolz. Schaut her, mein Hund benimmt sich bei jedem so
daneben, nicht nur bei mir!
Jetzt, wo nicht ich, sondern jemand anders sich lächerlich
machte, musste ich zugeben, dass die Szene ziemlich witzig
war. Als die beiden endlich das andere Ende des Parkplatzes
erreicht hatten und zu uns zurückgetaumelt kamen, koch-
te Miss Dominatrix verständlicherweise vor W u t . Marley
war außer sich vor Freude. Die Trainerin zog wütend an
der Leine und Marley, mit Schaum vor dem Maul, sprang
noch wilder vorwärts; ganz offensichtlich machte ihm dieses
neue Tauziehen-Spiel Spaß, zu dem ihn diese fremde D a m e
aufforderte. Als er mich sah, trat er aufs Gaspedal. Mit ei-
n e m beinahe übernatürlichen Adrenalinstoß warf er sich in
meine Richtung und zwang Miss Dominatrix so zu einem
ordentlichen Spurt, wenn sie nicht den Boden unter den
Füßen verlieren wollte. Marley hielt erst an, als er sich vol-
ler Begeisterung auf mich warf. Miss Dominatrix sah mich
mit einem vernichtenden Blick an. Es war klar, dass ich eine
G r e n z e überschritten hatte und dass es kein Zurück mehr
gab. Marley hatte alles, was sie über H u n d e und Disziplin ge-
sagt hatte, lächerlich gemacht; er hatte sie in aller Öffentlich-
keit blamiert. Sie gab mir die Leine zurück und wandte sich
wieder an die übrigen Teilnehmer, als hätte diese unglück-
liche kleine Episode niemals stattgefunden: »Okay, Leute,
auf d r e i . . . «
Als die Stunde vorbei war, bat sie mich, noch einen M o -
m e n t zu bleiben. Ich wartete mit Marley, während sie ge-
duldig Fragen von anderen Teilnehmern beantwortete. Als
der letzte gegangen war, wandte sie sich an mich und sagte
in erstaunlich versöhnlichem Ton: »Ich glaube, Ihr H u n d

84
ist noch ein bisschen zu jung für strukturierten Gehorsams-
unterricht.«
»Ja, er ist wirklich nicht einfach, nicht wahr?«, sagte ich
und fühlte mich wie ihr Bündnispartner; jetzt, wo wir die-
selbe peinliche Erfahrung gemacht hatten.
» E r ist einfach noch nicht so weit«, sagte sie. » E r muss
erst noch ein wenig erwachsen werden.«
Langsam ahnte ich, was sie mir damit sagen wollte. »Wol-
len Sie etwa sagen ...«
» E r stört die anderen H u n d e . «
»... dass Sie ...«
» E r ist einfach zu leicht erregbar.«
»... uns aus dem Kurs werfen?«
»Sie können in sechs bis acht M o n a t e n gerne wiederkom-
men.«
»Sie werfen uns also raus?«
»Ich zahle Ihnen gerne Ihre Kursgebühren zurück.«
»Sie werfen uns raus.«
»Ja«, sagte sie endlich. »Ich werfe Sie raus.«
Als ob er sie verstanden hätte, hob Marley das Bein u n d
verfehlte den Schuh seiner geliebten Trainerin n u r um we-
nige Zentimeter.

Manchmal muss man erst wütend werden, ehe m a n etwas


ernsthaft angeht. Miss Dominatrix hatte mich wütend ge-
macht. Ich besaß einen wunderschönen, reinrassigen L a b -
rador, ein stolzes Exemplar jener Rasse, die b e r ü h m t war
für ihre Fähigkeit, Blinde zu führen, Katastrophenopfer zu
retten, mit Jägern zu arbeiten und Fische aus schäumenden
Wellen zu fangen, und all das mit Gelassenheit und Klug-
heit. W i e konnte sie es wagen, ihn nach nur zwei U n t e r -
richtsstunden aus dem Kurs zu werfen? Auch wenn er etwas
lebhafter war, er meinte es doch nur gut. Ich würde dieser

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unerträglichen, aufgeblasenen Person beweisen, dass G r o -
gan's Majestic Marley of Churchill kein Versager war. W i r
würden uns in Westminster wiedersehen.
Schon am nächsten M o r g e n n a h m ich Marley mit in unse-
ren Garten. » N i e m a n d schmeißt die Grogan-Jungs aus dem
Kurs!«, erklärte ich ihm. »Unerziehbar? W i r werden ja se-
hen, wer hier unerziehbar ist. H a b ich Recht?« Er sprang
auf und ab. » W i r schaffen das, Marley, oder?« Er wedelte
mit dem Schwanz. »Ich kann dich nicht hören. Schaffen wir
das?« Er bellte. »Das klingt schon besser. An die Arbeit!«
W i r fingen mit dem K o m m a n d o »Sitz!« an. Ich hatte das
seit seinem frühen Welpenalter mit ihm geübt, und er war
schon ganz gut darin. Ich baute mich vor ihm auf und starrte
ihn an, wie n u r Alphatiere es tun, dann befahl ich ihm mit
ruhiger, aber fester Stimme, sich hinzusetzen. Er setzte sich
hin. Ich lobte ihn. W i r wiederholten diese Ü b u n g einige
Male. D a n n gingen wir zu dem Befehl »Platz!« über. Auch
das hatte ich schon mit ihm geübt. Er starrte mich aufmerk-
sam an, reckte in freudiger Erwartung meines Befehls den
Kopf vor. Ich h o b langsam die H a n d und behielt sie oben,
während er auf den Befehl wartete. D a n n deutete ich in ei-
ner scharfen Bewegung auf den Boden, schnippte gleichzei-
tig mit den Fingern und sagte: »Platz!« Marley fiel in sich
zusammen und landete mit einem Plumps auf dem Boden.
Er hätte sich vermutlich nicht vehementer auf den Boden ge-
worfen, wenn hinter ihm eine Granate hochgegangen wäre.
Jenny, die mit ihrem Kaffee auf der Veranda saß, hatte uns
zugesehen und rief: »Bravo!«
N a c h d e m wir auch diese Ü b u n g ein paar Mal wiederholt
hatten, beschloss ich, die nächste Herausforderung anzuge-
hen: auf K o m m a n d o herkommen. Das war schwierig für
Marley. Das Problem war nicht das K o m m e n . Er konnte ein-
fach nicht auf seinem Platz warten, bis wir ihn riefen. Unser

86
konzentrationsschwacher H u n d war so ängstlich darauf be-
dacht, nicht von unserer Seite zu weichen, dass er nicht still
sitzen konnte, wenn wir uns von ihm entfernten.
Ich befahl ihm, sich vor mich hinzusetzen, und sah ihm in
die Augen. Als wir uns so anstarrten, hob ich meine Handflä-
che und hielt sie vor mich wie ein Schülerlotse seine Kelle.
»Bleib!«, sagte ich und machte einen Schritt zurück. Er er-
starrte, sah mich ängstlich an und wartete auf das kleinste
Zeichen, dass er mir folgen durfte. Als ich vier Schritte ge-
gangen war, hielt er es nicht länger aus. Er sprang los und
stürzte sich auf mich. Ich ermahnte ihn und versuchte es
noch einmal. U n d noch einmal und noch einmal. Jedes Mal
ließ er mich ein wenig weiter fortgehen, ehe er losstürzte.
Schließlich stand ich ungefähr zehn M e t e r von ihm entfernt,
die H a n d vor mir ausgestreckt. Ich wartete. Er saß wie ange-
wachsen auf seinem Platz und bebte vor Erwartung am gan-
zen Körper. Ich konnte sehen, wie seine Nervosität wuchs,
er glich einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Aber er hielt
durch. Ich zählte bis zehn. Er rührte sich nicht. Sein Blick
war starr auf mich gerichtet, seine Muskeln angespannt.
Okay, genug der Quälerei, dachte ich. Ich ließ meine H a n d
fallen und rief: »Marley, hierher!«
Als er nach vorne schoss, ging ich in die H o c k e und
klatschte in die H ä n d e , um ihn anzufeuern. Ich dachte, er
würde einfach nur wie wild durch den Garten jagen, doch
er kam direkt auf mich zu. Perfekt!, dachte ich. » N a los, J u n -
ge!«, rief ich. » K o m m her!« U n d er kam. Er raste direkt
auf mich zu. »Langsam, Junge!«, rief ich. Er raste weiter auf
mich zu. »Langsam!« Er hatte wieder diesen leeren, verrück-
ten Ausdruck im Gesicht, und in dem Augenblick vor dem
Zusammenprall wurde mir klar, dass der Lotse die Brücke
verlassen hatte. Er glich einer Büffelherde. Ich hatte gerade
noch Zeit für einen letzten Befehl. »Stopp!«, brüllte ich.

87
B U M ! Er r a m m t e mich mit unverminderter Geschwindig-
keit und warf mich zu Boden. Ich schlug hart auf. Als ich
meine Augen ein paar Sekunden später wieder öffnete, stand
er über mir, Brust an Brust, und leckte mir wild das Gesicht
ab. Wie war ich, Boss?, schien er zu fragen. Eigentlich hatte
er n u r genau meine Anweisung befolgt. Schließlich hatte ich
nichts davon gesagt, dass er stehen bleiben sollte, wenn er
bei mir ankam.
»Auftrag ausgeführt«, stöhnte ich.
J e n n y hatte uns vom Küchenfenster aus beobachtet und
rief: »Ich muss los. W e n n ihr zwei da draußen fertig seid, ver-
giss nicht, die Fenster zuzumachen. Es soll heute Nachmit-
tag regnen.« Ich gab meinem Rugby-Hund einen kleinen
Imbiss, dann duschte ich u n d ging zur Arbeit.

Als ich am Abend nach Hause kam, wartete Jenny an der


H a u s t ü r auf mich, u n d ich konnte sehen, dass sie sauer war.
»Schau mal in die Garage«, sagte sie.
Als ich die T ü r öffnete, sah ich zuerst Marley, der zer-
knirscht auf dem Boden lag. Ich bemerkte auf den ersten
Blick, dass etwas mit seiner Schnauze und seinen Pfoten
nicht stimmte. Sie waren dunkelbraun, voll angetrockne-
tem Blut. D a n n sah ich mich weiter um, und mir stockte
der Atem. Die Garage - unser unzerstörbarer Bunker - war
ein einziges Chaos. D e r Teppich war zerfetzt, die Farbe von
den Betonwänden gekratzt und das Bügelbrett umgeworfen,
sein Bezug hing in Fetzen herunter. Auch die Tür, in der ich
n u n stand, hatte es übel erwischt, sie sah aus, als hätte man
sie mit einem Häcksler bearbeitet. Im Umkreis von zwei M e -
tern lagen Holzsplitter auf dem Boden. Marley hatte sich
durch die halbe T ü r gefressen, am unteren Ende klaffte ein
Loch. An der W a n d klebte Blut, wo Marley sich Schnauze
und Pfoten wund gerieben hatte. »Verdammt«, murmelte

88
ich, mehr erschrocken als ärgerlich. Unwillkürlich musste
ich an die arme M r s N e d e r m i e r und den Kettensägenmord
gegenüber denken. Ich hatte das Gefühl, mitten am Tatort
zu stehen.
H i n t e r mir hörte ich Jennys Stimme. »Als ich heute
Mittag zum Essen nach Hause kam, war noch alles in O r d -
nung«, sagte sie. »Aber es hat schon nach Regen ausgese-
hen.« N a c h d e m sie wieder in die Arbeit gefahren war, war
ein furchtbares Gewitter mit Regen, Blitz u n d Donner, der
einem durch Mark und Bein ging, losgebrochen.
Als sie ein paar Stunden später nach Hause gekommen
war, hatte sie Marley inmitten dieses Massakers gefunden,
das er bei seinem verzweifelten Fluchtversuch veranstaltet
hatte. Er war vollkommen panisch gewesen, mit Schaum vor
dem Maul. Sein Anblick war so herzergreifend gewesen, dass
sie es nicht über sich gebracht hatte, mit ihm zu schimpfen.
Außerdem war der Vorfall ja bereits vorbei gewesen; er hätte
keine Ahnung gehabt, wofür sie ihn bestrafte. Trotzdem war
sie so erschüttert über die Zerstörung unseres neuen H a u -
ses, an dem wir so hart gearbeitet hatten, dass sie nicht fähig
gewesen war, sich um Marley zu k ü m m e r n oder aufzuräu-
men. »Warte nur, bis H e r r c h e n nach Hause kommt!«, hatte
sie ihm gedroht und die T ü r zugeschlagen.
Beim Abendessen versuchten wir, den Vorfall nüchtern zu
betrachten. Was war passiert? W i r konnten es uns n u r so
erklären: Marley, allein und schrecklich verängstigt wegen
des Gewitters, hatte beschlossen, dass seine größte Ü b e r l e -
benschance darin lag, sich durch die T ü r ins H a u s zu gra-
ben. Wahrscheinlich hörte er dabei auf irgendeinen uralten
Instinkt, den er von seinem U r a h n , dem Wolf, geerbt hatte.
Er hatte dieses Ziel mit verzweifeltem Eifer und solcher Effi-
zienz verfolgt, wie ich es ohne die Zuhilfenahme von schwe-
ren Maschinen nie für möglich gehalten hätte.

89
N a c h dem Abwasch gingen J e n n y und ich wieder zu
Marley in die Garage. Er war wieder ganz der Alte, schnapp-
te sich ein Spielzeug und sprang um uns herum, um uns zum
Tauziehen zu animieren. Ich hielt ihn fest, während Jenny
ihm mit einem Schwamm das Blut aus dem Fell wusch.
D a n n sah er schwanzwedelnd zu, wie wir das von ihm ver-
ursachte Chaos aufräumten. W i r warfen die Teppichfetzen
und den kaputten Bügelbrettbezug weg, kehrten die Reste
unserer T ü r zusammen, wischten das Blut von den Wänden
und stellten eine Einkaufsliste für den Baumarkt zusam-
m e n - im Laufe von Marleys Leben würde ich noch viele sol-
che Listen schreiben. Marley war außer sich vor Glück, dass
wir bei ihm waren und ihm bei seinen Umbaumaßnahmen
zur H a n d gingen. » D u brauchst dich gar nicht so darüber
zu freuen!«, schimpfte ich und brachte ihn für die N a c h t
ins H a u s .
NEUN

Der Stoff, aus dem die Männchen sind

J eder H u n d braucht einen guten Tierarzt, einen gut aus-


gebildeten Fachmann, der ihn gesund und kräftig erhält
und gegen Krankheiten schützt. Auch jeder frischgebackene
Hundebesitzer braucht so jemanden, vor allem wegen der
guten Ratschläge, Rückversicherungen und unentgeltlichen
Beratung, mit der Tierärzte den größten Teil ihrer Zeit ver-
bringen. W i r brauchten mehrere Anläufe, um den richtigen
Tierarzt zu finden. Einer war so beschäftigt, dass wir immer
nur seinen jungen Assistenten zu Gesicht bekamen, ein ande-
rer war so alt, dass ich dachte, er könne keinen Chihuahua
mehr von einer Katze unterscheiden. Ein dritter fühlte sich
offensichtlich nur wohlhabenden D a m e n aus Palm Beach
mit ihren handtaschengroßen Schoßhündchen verpflichtet.
U n d dann stolperten wir über den Tierarzt unserer Träu-
me. Sein N a m e war Jay Butan - alle nannten ihn Dr. Jay -,
und er war jung, intelligent, auf der H ö h e der Zeit und über-
aus freundlich. Dr. Jay konnte H u n d e verstehen wie gute
Mechaniker ihre Autos - nämlich intuitiv. Er liebte T i e r e ,
hatte aber gleichzeitig eine gesunde Einstellung dazu, wel-
chen Stellenwert sie im Leben eines Menschen einnehmen
sollten. In diesen ersten M o n a t e n hatten wir praktisch eine
Standleitung zu ihm und fragten ihn wegen jeder Kleinig-
keit. Als Marley raue, schuppige Stellen an den Ellbogen
bekam, hatte ich Angst, er könnte an einer seltenen und si-

91
cherlich ansteckenden Hautkrankheit leiden. Keine Sorge,
sagte Dr. Jay, das seien nur Schwielen vom Liegen auf dem
Boden. Eines Tages gähnte Marley mit weit aufgesperrtem
Maul, und ich entdeckte eine eigenartige, dunkelrote Verfär-
bung hinten auf seiner Zunge. Oh Gott!, dachte ich. Er hat
Krebs! Zungenkrebs! Keine Sorge, sagte Dr. Jay, das sei bloß
ein Muttermal.
An diesem N a c h m i t t a g standen Jenny und ich mit Marley
im Behandlungszimmer und diskutierten über Marleys zu-
n e h m e n d e neurotische Gewitterangst. W i r hatten gehofft,
die Verwüstungsaktion in der Garage sei eine einmalige Sa-
che gewesen, aber wie sich herausstellen sollte, war es nur der
Anfang einer lebenslangen Phobie. Obwohl Labradors doch
eigentlich den Ruf genossen, hervorragende Jagdhunde zu
sein, erschrak unser H u n d bei jedem Geräusch, das lauter
war als ein knallender Sektkorken, zu Tode. Feuerwerkskör-
per, Fehlzündungen und Schüsse jagten ihm schreckliche
Angst ein. D o n n e r war das Allerschlimmste. Schon die ers-
ten Anzeichen eines nahenden Gewitters führten bei Marley
zur Kernschmelze. W e n n wir zu Hause waren, drängte er
sich haidos zitternd und sabbernd an uns und sah sich mit
zurückgelegten O h r e n und eingezogenem Schwanz nervös
u m . W a r er allein, schlug seine Angst in Zerstörungswut
um, und er machte alles platt, was zwischen ihm und der
vermeintlichen Rettung lag. Eines Tages kam Jenny nach
Hause, als sich draußen ein Gewitter zusammenbraute, und
fand Marley mit vor Angst geweiteten Augen auf der Wasch-
maschine stehend vor, wo er nervös herumtänzelte. W i e er
dort hinaufgekommen war und was er sich davon verspro-
chen hatte, fanden wir nie heraus. Menschen spielten schließ-
lich auch manchmal verrückt, warum sollte es bei H u n d e n
anders sein?
Dr. Jay drückte mir ein Gläschen mit gelben Tabletten

92
in die H a n d und sagte: » D i e können Sie bedenkenlos an-
wenden.« Es handelte sich um ein Beruhigungsmittel, das,
wie er sich ausdrückte, »Marley die größte Angst n e h m e n
würde«. Die Strategie dabei war, dass Marley mithilfe des
Beruhigungsmittels ruhiger mit einem Gewitter fertig wer-
den und so einsehen könnte, dass es sich dabei nur um h a r m -
losen Krach handelte. Angst vor D o n n e r war nichts U n g e -
wöhnliches für einen H u n d , versicherte er uns, vor allem in
Florida, wo in den heißen Sommermonaten beinahe jeden
Nachmittag dicke Gewitterwolken über die Halbinsel roll-
ten. Marley beschnüffelte das Glas in meiner H a n d , offen-
sichtlich konnte er es kaum erwarten, seine Drogenkarriere
zu beginnen.
Dr. Jay kraulte Marleys Hals und druckste h e r u m , als
wollte er noch etwas Wichtiges sagen. » U n d Sie sollten
langsam ernsthaft darüber nachdenken, ihn kastrieren zu las-
sen«, meinte er schließlich.
»Kastrieren lassen?«, wiederholte ich ungläubig. »Sie mei-
nen . . . « I c h sah auf Marleys imponierende H o d e n hinunter,
die zwischen seinen Hinterbeinen hin und her schwangen.
Sie waren beinahe grotesk groß.
Dr. Jay sah ebenfalls hinunter und nickte. Ich muss wohl
geseufzt haben, vielleicht habe ich mir sogar selbst an die
entsprechende Stelle gegriffen, denn er fügte hinzu: »Es ist
ganz schmerzlos, und er wird danach wesentlich entspannter
sein.« Dr. Jay wusste, was für eine Herausforderung Marley
für uns darstellte. Er war so etwas wie unser Kummerkasten.
Er wusste von der katastrophalen Episode in der H u n d e s c h u -
le, von Marleys d u m m e n Streichen, seiner Zerstörungswut,
seiner Hyperaktivität. U n d in letzter Zeit hatte Marley mit
seinen sieben M o n a t e n angefangen, alles zu bespringen,
was sich bewegte, einschließlich unserer Gäste. »Das wird
einfach nur diese ganze nervöse sexuelle Energie beseitigen

93
und einen glücklicheren, ruhigeren H u n d aus ihm machen«,
sagte er. Er versprach, dass der Eingriff Marleys sonnige Aus-
gelassenheit nicht dämpfen würde.
» G r o ß e r Gott, ich weiß nicht . . . « , antwortete ich. »Das
ist so ... so endgültig.«
J e n n y dagegen hatte keinerlei solche Einwände. »Dann
schneiden wir die Dinger eben ab!«, sagte sie nur.
»Aber dann können wir nicht m e h r mit ihm züchten«,
warf ich ein. »Wollen wir denn seine Linie nicht fortfüh-
ren?« Ich hatte die beeindruckenden Zuchtprämien vor Au-
gen.
W i e d e r schien Dr. Jay sich seine W o r t e genau zu überle-
gen. »Ich glaube, Sie sollten das realistisch sehen«, sagte er.
»Marley ist ein toller Familienhund, aber ich bezweifle, dass
er die nötigen Kriterien für einen Zuchtrüden erfüllen wür-
de.« Er versuchte, so diplomatisch wie möglich zu sein, aber
sein Gesichtsausdruck verriet ihn. Auf seiner Stirn stand in
großen Lettern: Guter Mann, um der kommenden Generatio-
nen willen müssen wir diesen genetischen Fehlgriff unter allen
Umständen isolieren!
Ich sagte, wir würden es uns überlegen, dann gingen wir
mit unserem neuen Drogenvorrat nach Hause.

W ä h r e n d wir also erwogen, Marleys Männlichkeit wegzu-


operieren, zeigte J e n n y auf einmal ungewöhnlich großes
Interesse an meiner. Dr. Sherman hatte seine Zustimmung
zu einem erneuten Schwangerschaftsversuch gegeben. U n d
n u n verfolgte sie dieses Ziel mit der Entschlossenheit ei-
nes Olympiateilnehmers. Die Zeiten, als wir einfach nur
die Pille weggelassen und den Dingen ihren Lauf gelassen
hatten, waren vorbei. Im Kampf um die Befruchtung ging
J e n n y n u n in die Offensive. U n d dazu brauchte sie mich als
Verbündeten, der den Munitionsnachschub sicherte. W i e

94
die meisten M ä n n c h e n hatte ich seit meinem fünfzehnten
Lebensjahr jeden wachen M o m e n t darauf verwendet, das
andere Geschlecht davon zu überzeugen, dass ich ein geeig-
neter Geschlechtspartner war. Endlich hatte ich jemanden
gefunden, der dem zustimmte. Ich hätte begeistert sein sol-
len. Z u m ersten Mal in meinem Leben begehrte mich eine
Frau m e h r als ich sie. D e r Traum jedes Mannes. Kein Bet-
teln mehr, keine Schmeicheleien. Ich war begehrt wie ein
bewährter Zuchtrüde. Ich hätte außer mir sein sollen. Aber
plötzlich artete das Ganze in Arbeit aus, noch dazu in an-
strengende Arbeit. Jenny wollte keine fröhliche, ausgelas-
sene N u m m e r von mir, sie wollte ein Baby. U n d das hieß,
dass ich Leistung bringen musste. Das war kein Spaß mehr.
Die schönste aller Nebensachen wurde über N a c h t zu einer
klinischen Zwangssituation einschließlich Temperaturmes-
sung, Menstruationskalender und Eisprunglisten. Ich hatte
das Gefühl, in Diensten der Q u e e n zu stehen.
Das Ganze war ungefähr so erhebend wie der Besuch bei
einem Steuerberater. J e n n y war gewöhnt, dass ich auf die
kleinste Aufforderung ihrerseits freudig reagierte, und sie
dachte, dass das immer noch der Fall war. Ich war zum Bei-
spiel gerade dabei, den Abfallzerkleinerer zu reparieren, und
sie kam mit ihrem Kalender in der H a n d herein und sagte:
»Ich hatte meine letzte Periode am Siebzehnten, was bedeu-
tet ...« - sie zählte von diesem D a t u m an vorwärts -, »dass
wir es J E T Z T versuchen müssen.«
Die Grogans konnten noch nie gut unter Druck arbeiten,
und ich war dabei keine Ausnahme. Es war nur eine Fra-
ge der Zeit, bis mir die ultimative D e m ü t i g u n g widerfuhr:
Ich konnte nicht. U n d als das einmal geschehen war, war
das Spiel gelaufen. Mein Selbstvertrauen war dahin, meine
Nerven lagen bloß. Ich wusste: W e n n es einmal passiert war,
dann konnte es immer wieder passieren. M e i n Versagen wur-

95
de zu einem Selbstläufer. Je m e h r ich mich bemühte, meinen
ehelichen Pflichten nachzukommen, desto weniger konnte
ich mich entspannen. Ich vermied jede Art von körperlicher
Zuwendung, damit J e n n y nicht auf falsche Gedanken kam.
Ich entwickelte Todesangst vor dem M o m e n t , wo meine
Frau mich bitten würde, ihr die Kleider vom Leib zu reißen
u n d mit ihr zu schlafen. So weit war es gekommen. Ich fing
schon an mir vorzustellen, dass ein Leben in der zölibatären
Abgeschiedenheit eines abgelegenen Klosters vielleicht gar
kein so schlechter Zukunftsentwurf war.
Aber J e n n y gab nicht so leicht auf. Sie war der Jäger, ich
war die Beute. Als ich eines M o r g e n s in meiner Zeitungsre-
daktion saß, die n u r zehn M i n u t e n von zu Hause entfernt
war, rief J e n n y mich von der Arbeit aus an. Ob ich mich zu
H a u s e mit ihr zum Mittagessen treffen wollte? Du meinst,
ganz alleine? Ohne Aufpasser?
» W i r könnten uns auch irgendwo in einem netten Restau-
rant treffen«, entgegnete ich. Ein sehr gut besuchtes Restau-
rant. Am besten mit ein paar Kollegen. U n d beiden Schwie-
germüttern.
»Ach, k o m m schon«, schmollte sie. »Das wird lustig!«
D a n n senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. » H e u t e ist
ein ... guter Tag. Ich glaube, ich ... habe einen Eisprung.«
Eine jähe Welle der Angst überrollte mich. O Gott, nein.
Nicht das E- Wort! D e r Druck war wieder da. Es war Zeit, sich
zu beweisen oder ruhmlos unterzugehen. Sieg oder Nieder-
lage, im wahrsten Sinne des Wortes. Bitte, zwing mich nicht
dazu, wollte ich ins Telefon flehen. Stattdessen sagte ich so
cool wie möglich: »Natürlich. Ist halb eins okay?«

Als ich die H a u s t ü r öffnete, war Marley wie immer zur Stel-
le, um mich zu begrüßen. J e n n y dagegen war nirgends zu
sehen. Ich rief nach ihr. »Ich bin im Bad«, antwortete sie.

96
»Bin gleich da!« Also sah ich die Post durch, um die Zeit
totzuschlagen. Ich war in Weltuntergangsstimmung. U n g e -
fähr so mussten sich Menschen fühlen, wenn sie auf eine nie-
derschmetternde Diagnose warteten. »Hallo, Schatz«, sagte
da eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, stand
Jenny in einem H a u c h aus Seide vor mir. D u r c h das Top,
das an zwei unglaublich dünnen Trägern von ihren Schul-
tern hing, konnte ich ihren flachen Bauch sehen. Ihre Beine
hatten noch nie länger gewirkt. » W i e sehe ich aus?«, fragte
sie und stemmte kokett die H ä n d e in die Hüften. Sie sah u n -
glaublich aus. In Sachen Nachtwäsche war J e n n y sonst ein
großer Fan von Sleepshirts, u n d ich war mir sicher, dass sie
sich in diesem verführerischen Outfit albern vorkam. D o c h
es hatte den gewünschten Effekt.
Sie huschte ins Schlafzimmer, mit mir im Schlepptau. Ei-
nen M o m e n t später lagen wir uns auch schon in den Armen.
Ich schloss die Augen und konnte fühlen, wie sich mein al-
ter, verloren geglaubter Freund meldete. D e r Zauber kehrte
zurück. Du schaffst das, John. Ich versuchte, mir die schmut-
zigsten Dinge vorzustellen. Diesmal klappt es! M e i n e Finger
fummelten an den dünnen Trägerchen herum. Spiel mit,
John. Kein Druck. Jetzt konnte ich ihren Atem feucht und
warm auf meinem Gesicht fühlen. Mmmmh, sexy.
Aber was war das? Irgendetwas roch komisch. Ihr Atem.
Irgendwie vertraut und fremd zugleich, nicht unangenehm,
aber auch nicht besonders verlockend. Ich kannte diesen
Geruch, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Ich zögerte.
Was tust du da, du Idiot? Vergiss diesen Geruch. Konzentrier dich,
Mann! Konzentrier dich! Aber dieser Geruch - ich bekam ihn
einfach nicht aus dem Kopf. Du lässt dich ablenken, John. Tu
das nicht. Was war das nur? Bleib bei der Sache! M e i n e N e u -
gier war stärker. Lass es, Junge, lass es! Ich schnupperte. E t -
was zu essen, ja, das war es. Cracker? N e i n . Chips waren es

97
auch nicht. Auch kein Thunfisch. Ich war nah dran. H u n d e -
kuchen?! Das war es! Ihr Atem roch nach Hundekuchen.
Aber warum? Ich überlegte, ich hörte tatsächlich eine kleine
Stimme in meinem Kopf, die fragte: Warum hat Jenny Hunde-
kuchen gegessen? U n d gleichzeitig fühlte ich ihre Lippen auf
meinem Hals ... W i e konnte sie meinen Hals küssen und
mir gleichzeitig ins Gesicht atmen? Das ging doch gar ...
0 ... mein ... Gott!
Ich öffnete die Augen. Da, wenige Zentimeter von mei-
n e m Gesicht entfernt, ragte Marleys riesiger Kopf auf. Sein
Kinn ruhte auf der Matratze und er hechelte mit seiner Sab-
berschnauze in die Laken. Seine Augen waren halb geschlos-
sen, und er sah viel zu verliebt aus.
»Böser H u n d ! « , schrie ich und fuhr auf dem Bett zurück.
»Nein! N e i n ! Raus mit dir!«, befahl ich ihm schrill. »Los!
Ab mit dir!« D o c h es war zu spät. D e r Zauber war verflogen.
Das Kloster war wieder da.
Wegtreten, Soldat.

Am nächsten M o r g e n vereinbarte ich einen Termin, um


Marley kastrieren zu lassen. Ich sagte mir, wenn ich schon
für den Rest meines Lebens keinen Sex mehr haben würde,
dann sollte es ihm nicht besser ergehen. Dr. Jay sagte, wir
könnten Marley in der Praxis abgeben, bevor wir zur Arbeit
fuhren, und ihn danach auf dem H e i m w e g wieder abholen.
Eine W o c h e später war es so weit.
Als J e n n y und ich zum G e h e n bereit waren, sprang Marley
fröhlich herum, weil er spürte, dass ein Ausflug bevorstand.
Für Marley war jeder Ausflug schön, es spielte keine Rol-
le, wohin wir gingen oder wie lange wir blieben. D e n Müll
raustragen? Toll! Um die Ecke zum Supermarkt, um Milch
zu kaufen? Ich bin dabei! Ich fühlte, wie sich mein schlechtes
Gewissen regte. D e r arme Kerl hatte keine Ahnung, was ihn

98
erwartete. Er vertraute uns blind, und wir planten heimlich,
ihn entmannen zu lassen! Konnte es einen gemeineren Ver-
rat geben?
» K o m m her!«, sagte ich zu ihm und warf ihn spielerisch
zu Boden, wo ich ihm fest den Bauch kraulte. »Es wird nicht
schlimm, keine Sorge. Sex wird völlig überbewertet.« Aber
nicht einmal ich, der ich in den letzten W o c h e n so schlechte
Erfahrungen gemacht hatte, konnte das wirklich glauben.
W e m log ich etwas vor? Sex war toll. Sex war unglaublich.
W i r würden den armen H u n d um das größte Vergnügen
bringen, das das Leben zu bieten hat. D e r arme Kerl. Ich
fühlte mich furchtbar.
Und ich fühlte mich noch viel schlechter, als ich nach ihm
pfiff und er aus der T ü r galoppiert kam und ins Auto sprang,
voller Vertrauen, dass ich ihm nichts Böses wollte. Er war
aufgedreht und bereit, jedes Abenteuer mitzumachen, zu
dem ich ihn mitnehmen würde. J e n n y fuhr, ich saß auf d e m
Beifahrersitz. W i e immer balancierte Marley mit den Vor-
derpfoten auf der Mittelkonsole; seine Schnauze berührte
den Rückspiegel. Jedes Mal, wenn J e n n y bremste, krachte
er gegen die Windschutzscheibe, doch das war Marley egal.
Er durfte bei seinen beiden besten Freunden vorne im Auto
mitfahren. Gab es etwas Schöneres im Leben?
Ich kurbelte mein Fenster herunter, und Marley lehnte sich
zu mir herüber und versuchte, etwas von den Gerüchen drau-
ßen zu erhaschen. Bald hatte er sich ganz auf meinen Schoß
geschoben und seine Nase so fest in den schmalen Fenster-
spalt geklemmt, dass er bei jedem Atemzug schnarchte. Wa-
rum auch nicht?, dachte ich. Dies war seine letzte Autofahrt
als voll ausgerüstetes Mitglied des männlichen Geschlechts,
da war ein wenig frische Luft das Mindeste, was ich i h m ge-
währen konnte. Ich kurbelte das Fenster weit genug h e r u n -
ter, dass er die Schnauze hinausstrecken konnte. Er genoss

99
den W i n d um die Nase sichtlich, und ich kurbelte das Fens-
ter noch ein wenig weiter herunter, sodass er den ganzen
Kopf hinausstrecken konnte. Seine O h r e n flogen im Fahrt-
wind und seine Z u n g e hing ihm weit aus dem Maul, als sei er
von all den Gerüchen der Stadt ganz berauscht. Mein Gott,
war er glücklich.
Als wir den Dixie Highway hinunterfuhren, sagte ich
Jenny, wie elend mir bei dem Gedanken zumute war, was
wir mit ihm vorhatten. Sie wollte gerade etwas zweifelsfrei
höchst Herablassendes zu meinen Bedenken sagen, als ich
bemerkte, dass Marley beide Vorderpfoten auf den Rand
des halb offenen Fensters gestellt hatte. Zunächst sah ich
ihm n u r neugierig zu, ohne größere Bedenken zu haben. Im
nächsten M o m e n t hing er schon bis zu den Schultern aus
dem Fenster. Es fehlten nur noch Fliegerbrille und Schal,
dann hätte er ausgesehen wie ein Weltkriegspilot.
»John, er macht mich nervös«, sagte Jenny.
»Keine Sorge«, gab ich zurück, »er will nur ein wenig
frische Luft -«
In diesem M o m e n t schob er seine Vorderbeine aus dem
Fenster, bis seine Achselhöhlen auf dem Fensterrand ruh-
ten.
»John, halt ihn fest! H a l t ihn fest!«
D o c h ehe ich irgendetwas tun konnte, war Marley dabei,
von meinem Schoß aus dem offenen Fenster unseres Autos
zu klettern, und das bei voller Fahrt. Sein Hinterteil hing in
der Luft, mit den Hinterpfoten suchte er verzweifelt nach
Halt. D a n n passierte es. Als sein Körper an mir vorbeirutsch-
te, griff ich nach ihm und erwischte ihn gerade noch mit der
linken H a n d am Schwanz. J e n n y trat mitten im starken Ver-
kehr auf die Bremse; Marley hing n u n ganz aus dem Fens-
ter des fahrenden Autos. Ich hielt ihn mit eisernem Griff
am Schwanz fest, saß aber so verdreht auf dem Beifahrer-

100
sitz, dass ich nicht mit der anderen H a n d nach ihm greifen
konnte. Marley trabte wie ein Irrer mit den Vorderpfoten
auf dem Gehsteig neben dem Auto her.
Jenny blieb schließlich auf der Abbiegerspur stehen. H i n -
ter uns stauten sich die Autos und hupten. » U n d jetzt?«,
schrie ich. Ich steckte in der Klemme. Ich konnte ihn ja nicht
einfach wieder durch das Fenster hereinziehen. Ich konnte
auch die T ü r nicht öffnen oder auch nur meinen anderen
Arm bewegen. U n d ich wagte es auch nicht, ihn loszulassen,
denn dann wäre er sicher einem der Autofahrer, die n u n wü-
tend hinter uns ausschwenkten, vor die Kühlerhaube gelau-
fen. Ich klammerte mich an Marleys Schwanz, als ginge es
um mein Leben, das Gesicht an das Fenster gepresst, n u r
wenige Zentimeter von seinem wild hin und her schwingen-
den Hodensack entfernt.
Jenny schaltete den Warnblinker ein und rannte um das
Auto herum auf meine Seite, wo sie ihn packte u n d so lange
am Halsband festhielt, bis ich ausgestiegen war und ihr half,
ihn wieder ins Auto zu manövrieren. Unser kleines D r a m a
hatte sich direkt vor einer Autowerkstatt abgespielt, und als
Jenny den M o t o r wieder anließ, sah ich, dass alle M e c h a n i -
ker herausgekommen waren, um dem Schauspiel zuzusehen.
Sie lachten so sehr, dass ich dachte, sie würden sich in die
Hosen machen. »Danke, Jungs!«, rief ich. »Schön, dass wir
euch den Morgen versüßen konnten!«
Als wir bei der Klinik ankamen, führte ich Marley an der
kurzen Leine hinein, nur für den Fall, dass er wieder auf
irgendwelche D u m m h e i t e n kam. Meine Schuldgefühle wa-
ren wie weggeblasen, mein Entschluss stand fest. »Diesmal
kommst du mir nicht davon, Eunuch!«, erklärte ich ihm. Er
zerrte wild an der Leine, um all die Gerüche der anderen
Tiere aufzunehmen. Im W a r t e r a u m versetzte er ein paar
Katzen in Todesangst und warf ein Gestell mit Informations-

101
broschüren u m . Ich übergab ihn Dr. Jays Assistenten und
sagte: »Tun Sie es.«
Als ich Marley an diesem Abend abholte, war er ein an-
derer H u n d . Er war noch schwach von der Operation und
bewegte sich sehr vorsichtig. Seine Augen waren blutunter-
laufen und glasig von der Narkose, und er war immer noch
b e n o m m e n . U n d wo vorher so stolz seine Kronjuwelen
gebaumelt hatten, war j e t z t . . . nichts. N u r eine kleine, ver-
schrumpelte Hautfalte. Die unverwüstliche Marley-Linie
war damit offiziell und unwiderruflich zu Ende.
ZEHN

Ein irischer Segen

U nser Leben wurde immer m e h r von Arbeit bestimmt.


Die Arbeit bei der Zeitung. Die Arbeit am H a u s . Im
Garten. Selbst unsere Bemühungen, schwanger zu werden,
arteten in Arbeit aus. U n d dann noch der Vollzeitjob, Marley
zu erziehen. In vielem war er wie ein Kind, und er bean-
spruchte die gleiche Aufmerksamkeit und Zeit wie ein Kind.
So bekamen wir eine A h n u n g davon, was für eine Verantwor-
tung uns erwartete, sollten wir jemals eine Familie haben.
Aber nur bis zu einem gewissen Grad. D e n n wenn wir auch
nicht viel vom Elternsein verstanden, so wussten wir doch,
dass wir unsere Kinder nicht einfach mit einer Schüssel W a s -
ser in die Garage sperren konnten, wenn wir morgens aus
dem Haus mussten.
W i r waren noch nicht einmal zwei Jahre verheiratet u n d
fühlten doch schon die Last der Verantwortung eines er-
wachsenen, verheirateten Lebens. W i r mussten da raus. W i r
brauchten Urlaub, nur wir zwei, weit weg von all den tägli-
chen Verpflichtungen. Eines Abends überraschte ich J e n n y
mit zwei Tickets nach Irland. W i r würden drei W o c h e n weg
sein. Keine feste Reiseroute, keine Besichtigungstouren, kei-
ne Sehenswürdigkeiten. N u r ein Mietauto, eine Landkarte
und ein Bed-and-Breakfast-Führer. Schon das Gefühl, die
Tickets in der H a n d zu haben, n a h m uns eine Zentnerlast
von den Schultern. Zuerst jedoch mussten wir uns noch um

103
ein paar Dinge kümmern, in erster Linie um Marley. Eine
H u n d e p e n s i o n schied von vorneherein aus. Er war zu jung,
zu verrückt, zu wild, um dreiundzwanzig Stunden am Tag in
einem Zwinger eingesperrt zu sein. W i e Dr. Jay es voraus-
gesagt hatte, hatte die Kastration Marleys ausgelassenes W e -
sen nicht im Geringsten beeinflusst. Genauso wenig seine
unendliche Energie oder seine Verrücktheiten. Außer dass
er kein Interesse m e h r daran zeigte, leblose Gegenstände zu
besteigen, war er ganz der Alte. Er war viel zu wild - und
zu unberechenbar, wenn er in Panik geriet -, um ihn bei
F r e u n d e n abzugeben. O d e r bei Feinden. W i r brauchten ei-
n e n Hundesitter, der bei uns im H a u s wohnte. Natürlich
konnte das nicht einfach irgendjemand sein, denn Marley
stellte einiges an Herausforderungen dar. W i r brauchten je-
manden, der verantwortungsvoll, verlässlich, sehr geduldig
u n d stark genug war, um gute dreißig Kilo durchgehenden
Labrador zu halten.
W i r machten eine Liste mit den N a m e n aller Freunde,
N a c h b a r n u n d Kollegen, die uns einfielen, und strichen
dann einen nach dem anderen aus. Partytyp. Fällt weg. Zu
zerstreut. Fällt weg. Hasst Hundesabber. Fällt auch weg. Zu
schüchtern, um auf einen Dackel aufzupassen, geschweige
denn auf einen Labrador. Fällt weg. Allergisch. Fällt weg.
N i c h t bereit, H u n d e d r e c k wegzuräumen. Fällt weg. Schließ-
lich stand n u r noch ein einziger N a m e auf der Liste. Ka-
thy arbeitete in meinem Büro und war Single und ungebun-
den. Sie liebte T i e r e und träumte davon, eines Tages ihre
W o h n u n g gegen ein H a u s mit Garten einzutauschen. Sie
war sportlich und ging gerne spazieren. Zugegeben, sie war
schüchtern und hatte ein sanftes Wesen, was es ihr wahr-
scheinlich schwer machen würde, unserem Alpha-Marley ih-
ren Willen aufzuzwingen, ansonsten jedoch war sie perfekt.
U n d das Beste war, dass sie zustimmte.

104
Ich schrieb ihr eine Liste mit Anweisungen, die nicht sorg-
fältiger und ausgefeilter hätte sein können, wenn wir ihr ein
schwer krankes Kind anvertraut hätten. Das M a r l e y - M e m o
war sechs Seiten lang und lautete folgendermaßen:
F Ü T T E R N : Marley bekommt dreimal am Tag jeweils zwei
Messbecher Futter. D e r Messbecher ist in der T ü t e . Bitte füt-
tere ihn morgens, wenn du aufgestanden bist, und abends,
wenn du nach Hause kommst. Die Fütterung mittags über-
nehmen die Nachbarn. Das bedeutet sechs Messbecher pro
Tag, aber wenn er sehr hungrig wirkt, gib i h m bitte einen
Messbecher mehr. D e n k daran, dass alles, was hineinkommt,
auch wieder hinaus muss. Siehe » G A S S I G E H E N « weiter
unten.
V I T A M I N E : Marley bekommt jeden M o r g e n eine Vitamin-
tablette. Am besten lässt du sie auf den Boden fallen und tust
so, als ob er sie auf keinen Fall haben dürfe. W e n n er meint,
dass es verboten ist, wird er die Tablette hinunterschlingen.
W e n n das aus irgendeinem G r u n d nicht funktioniert, kannst
du versuchen, die Tablette in einem H u n d e k u c h e n zu verste-
cken.
W A S S E R : Bei heißem W e t t e r muss ihm immer genug
Wasser zur Verfügung stehen. W i r wechseln das Wasser
in seiner Schüssel neben dem Fressnapf einmal täglich aus
und füllen es wenn nötig auf. Vorsicht: Marley liebt es, die
Schnauze in die Wasserschüssel zu tauchen u n d U - B o o t
zu spielen. Das gibt immer eine ziemliche Schweinerei.
Er kann auch erstaunlich viel Wasser in seinen Lefzen tra-
gen, das er dann überall verteilt, wenn er losläuft. W e n n
du es nicht verhinderst, wird er seine Schnauze an deiner
Kleidung und am Sofa abwischen. Ein Letztes noch: N a c h
einem ordentlichen Schluck Wasser schüttelt er sich gern,
sodass der Sabber an den W ä n d e n , auf Lampenschirmen
etc. landet. W i r versuchen das immer abzuwischen, bevor

105
es antrocknet, denn dann bekommt man es praktisch gar
nicht m e h r ab.
F L Ö H E U N D Z E C K E N : W e n n du Ungeziefer an ihm ent-
deckst, kannst du ihn mit dem Spray einsprühen, das wir
bereitgestellt haben. W i r haben auch ein Insektenspray, mit
dem du gegebenenfalls den Teppich etc. bearbeiten kannst.
Flöhe sind klein, schnell und schwer zu fangen, aber sie ge-
hen unserer Erfahrung nach n u r selten auf Menschen über,
mach dir also keine Sorgen. Zecken sind größer und lang-
sam, manchmal entdecken wir eine in seinem Fell. W e n n du
eine entdeckst und es dir zutraust, dann fang sie und zerdrü-
cke sie in einem Taschentuch (eventuell brauchst du dazu
sogar die Fingernägel, sie sind erstaunlich zäh), oder spüle
sie ins Waschbecken oder in die Toilette (falls die Zecke sich
mit Blut voll gesogen hat, ist das die beste Entsorgungsmög-
lichkeit). Wahrscheinlich hast du davon gehört, dass Zecken
gefährliche Krankheiten mit schweren Folgeschäden auf
den M e n s c h e n übertragen können, aber mehrere Tierärzte
haben uns versichert, dass eine Ansteckungsgefahr hier in
Florida sehr gering ist. Um sicherzugehen, solltest du dir
i m m e r gründlich die H ä n d e waschen, wenn du eine Zecke
entfernt hast. Willst du eine Zecke aus Marleys Fell holen,
dann gib ihm am besten zur Ablenkung ein Spielzeug ins
Maul. D a n n nimmst du die betroffene Stelle Fell mit der
einen H a n d und benutzt die Fingernägel der anderen als
Pinzette. U n d wenn Marley zu sehr stinkt und du es dir zu-
traust, kannst du ihn im Planschbecken im Garten baden
(wir haben es extra zu diesem Zweck angeschafft), aber zieh
vorher einen Badeanzug an. Du wirst sicher nass!
O H R E N : Marley hat immer viel Ohrenschmalz in den O h -
ren. W e n n man das nicht behandelt, kann es zu Infektionen
k o m m e n . Wasch ihm in unserer Abwesenheit bitte zweimal
mit einem Wattebausch und der blauen Waschlösung so viel

106
Schmalz wie möglich aus den O h r e n . Das ist eine ziemlich
eklige Angelegenheit, am besten trägst du deshalb alte Sa-
chen.
G A S S I G E H E N : W e n n man ihn morgens nicht hinaus-
lässt, stellt Marley in der Garage alles Mögliche an. D a m i t
du deine Ruhe hast, solltest du ihn auch abends vor dem
Schlafengehen noch einmal hinauslassen, aber das ist nicht
unbedingt notwendig. Wahrscheinlich musst du i h m zum
Spazierengehen das Kettenhalsband anlegen, n i m m es ihm
danach aber immer gleich wieder ab! Er könnte sich damit
strangulieren, und wie ich Marley kenne, würde er das auch
schaffen.
E I N F A C H E K O M M A N D O S : Marley sollte beim Spazieren-
gehen bei Fuß gehen. Stell dich dazu rechts neben ihn, dann
gibst du das K o m m a n d o : »Marley, bei Fuß!« u n d machst
einen Schritt mit dem linken Fuß. Gleichzeitig ziehst du ein-
mal stark an der Leine. Das klappt normalerweise ganz gut
(er war sogar auf der Hundeschule!). W e n n er nicht an der
Leine ist, folgt er normalerweise gut auf das K o m m a n d o :
»Marley, hierher!« Wichtig: W e n n du ihn rufst, solltest du
aufrecht stehen, nicht hocken!
G E W I T T E R : Marley verliert bei Gewittern oder starken
Regengüssen manchmal ein bisschen die Nerven. Seine Beru-
higungstabletten sind im Arzneischrank. G i b ihm eine halbe
Stunde, bevor das Gewitter über euch ist, eine Tablette (du
wirst sehen, bald bist du perfekt im Wettervorhersagen!). Es
ist nicht ganz einfach, Marley eine Tablette zu verabreichen.
Er frisst sie nicht wie die Vitamintabletten, selbst wenn du
sie auf den Boden fallen lässt und so tust, als dürfte er sie
auf keinen Fall haben. Die erfolgreichste M e t h o d e besteht
darin, sich über ihn zu stellen und ihm mit einer H a n d das
Maul aufzustemmen. M i t der anderen schiebst du ihm die
Tablette so weit wie möglich in den Rachen. Du musst es

107
bis weit in den Rachen schaffen, sonst hustet er sie wieder
heraus. D a n n streich ihm so lange über die Kehle, bis er
schluckt. Wahrscheinlich musst du danach aufwischen.
H A U F E N E I N S A M M E L N : Unter dem Mangobaum liegt
eine kleine Schaufel, mit der ich Marleys Haufen einsamm-
le. Ob und wie oft du das tust, bleibt dir überlassen, je nach-
dem, wie oft du den Garten nutzen möchtest. Pass auf, wo
du hintrittst!
V E R B O T E N : Die folgenden Dinge erlauben wir Marley
NICHT:
- Auf Möbel springen
- Möbel, Schuhe, Kissen etc. ankauen
- Aus der Toilette trinken (am besten lässt man den D e -
ckel immer unten, aber Vorsicht: Er kann ihn mit der
Schnauze hochklappen!)
- D e n Garten umgraben oder irgendwelche Pflanzen
ausgraben. Das macht er oft, wenn er findet, dass er zu
wenig Aufmerksamkeit bekommt.
- Mülleimer ausleeren (wahrscheinlich musst du ihn auf
den Küchentisch stellen)
- Leute anspringen, Menschen oder Tiere an unfeinen
Stellen beschnüffeln oder sonst wie belästigen. W i r
haben auch versucht, ihm abzugewöhnen, Leute in
den Arm zu kneifen, denn das k o m m t meistens ganz
schlecht an, wie du dir sicher vorstellen kannst. Aber
er tut es manchmal trotzdem noch. Gib ihm einfach
einen Klaps aufs Hinterteil und weise ihn mit einem
strengen »Nein!« zurecht.
- Bei Tisch betteln
- Gegen die Eingangstür oder eine der Verandatüren
drücken (wie du siehst, mussten wir sie schon teilweise
ersetzen)

108
Vielen Dank noch einmal, dass du das alles für uns über-
nimmst, Kathy. Du tust uns einen riesigen Gefallen. Ich weiß
nicht, wie wir das Problem sonst gelöst hätten. Ich hoffe, du
und Marley werdet gute Freunde, und du hast mit ihm ge-
nauso viel Spaß wie wir.

Ich zeigte Jenny meine Aufzeichnungen und fragte sie, ob


ich etwas vergessen hätte. Sie las sie sich genau durch und
sagte dann: »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Das
kannst du ihr unmöglich geben.« Sie wedelte mir mit den
Blättern vor der Nase herum. »Zeig ihr das, und du kannst
Irland vergessen. Sie ist die Einzige, die sich bereit erklärt
hat, das für uns zu tun. W e n n sie das hier liest, ist alles ge-
laufen. Sie wird davonrennen und erst in Key West wieder
stehen bleiben.« Für den Fall, dass ich es immer noch nicht
verstanden hatte, wiederholte sie: »Was hast du dir n u r da-
bei gedacht?«
» D u meinst also, es ist zu viel?«
Aber ich war schon immer ein Freund von Ehrlichkeit
und zeigte Kathy meine Liste trotzdem. Kathy zuckte zwar
ein paar Mal zusammen, besonders bei dem Absatz über die
Zeckenentfernung, aber sie behielt alle Befürchtungen für
sich. Sie sah zwar ein wenig eingeschüchtert aus, war jedoch
viel zu freundlich, um ihr Angebot zurückzunehmen. » G u t e
Reise!«, sagte sie. » W i r schaffen das schon.«

Irland war genau so, wie wir es uns erträumt hatten. W u n -


derschön, ländlich, entspannend. Das W e t t e r war die meis-
te Zeit herrlich sonnig, was die Einheimischen zu großer
Sorge wegen einer drohenden D ü r r e bewog. W i e wir es
uns vorgenommen hatten, planten wir überhaupt nichts
und buchten keine einzige Rundfahrt. W i r ließen uns ein-
fach treiben, fuhren an der Küste entlang, machten halt, um

109
einzukaufen oder zu wandern oder ein Guinness zu trinken
oder einfach n u r aufs M e e r hinauszuschauen. W i r hielten
an, um mit Bauern zu plaudern, die gerade ihr H e u einhol-
ten, oder um uns gegenseitig mit Schafen auf der Straße
zu fotografieren. W e n n wir an einer interessanten Weg-
kreuzung vorbeikamen, bogen wir ab. W i r konnten uns
gar nicht verfahren, weil wir ja kein festes Ziel hatten. All
unsere Pflichten und Verantwortungen zu Hause waren in
weite Ferne gerückt.
Jeden Abend suchten wir uns eine Übernachtungsmöglich-
keit. Es waren immer Zimmer, die von Privadeuten angebo-
ten wurden, freundlichen Witwen, die uns verhätschelten,
uns Tee servierten, unsere Betten machten und uns die im-
m e r gleiche Frage zu stellen schienen: »Wollen Sie nicht
bald eine Familie gründen?« U n d dann ließen sie uns in u n -
serem Z i m m e r allein, nicht ohne uns vorher ein wissendes,
seltsam hintergründiges Lächeln zuzuwerfen, bevor sie die
T ü r hinter sich schlossen.
J e n n y und ich kamen allmählich zu der Überzeugung,
dass es in Irland gesetzlich vorgeschrieben war, über jedes
Gästebett eine lebensgroße Abbildung des Papstes oder der
Jungfrau Maria zu hängen. Manchmal auch beides. Einmal
fanden wir sogar einen überdimensionalen Rosenkranz über
dem Kopfende. Das Irische Keuschheitsgesetz für Reisende
schrieb weiterhin vor, dass alle Betten besonders laut knar-
zen mussten, sobald sich einer der Übernachtungsgäste auch
n u r umdrehte. Die U m g e b u n g war für amouröse Abenteuer
ungefähr so geeignet wie ein Kloster. W i r waren im Haus
fremder Leute - sehr katholischer Leute -, mit dünnen W ä n -
den, einem knarzenden Bett und Heiligen- und Mariensta-
tuen überall, und dazu noch einer neugierigen Vermieterin,
die höchstwahrscheinlich im N e b e n z i m m e r ihr O h r an die
W a n d drückte. Es war wirklich der letzte O r t der Welt, um

110
Sex zu haben. Was mein Verlangen nach meiner Frau natür-
lich ins Unermessliche steigerte.
Abends löschten wir das Licht und krochen ins Bett, die
Bettfedern knarzten unter uns, und sofort schob ich meine
H a n d unter Jennys Shirt.
»Auf gar keinen Fall!«, flüsterte sie dann.
»Warum nicht?«, flüsterte ich zurück.
»Bist du verrückt? M r s O'Flaherty schläft genau auf der
anderen Seite dieser Wand!«
» N a und?«
»Das geht nicht!«
»Natürlich geht das.«
»Sie wird alles hören.«
»Wir sind ganz leise.«
»Ja, klar!«
»Ich verspreche es. W i r bewegen uns nur.«
»Aber zuerst musst du ein T-Shirt über den Papst hän-
gen«, gab sie schließlich nach. » W e n n der uns die ganze Zeit
anstarrt, mache ich gar nichts.«
Sex hatte plötzlich so etwas ... Verbotenes. Es war, als
wäre ich wieder auf der Highschool und würde mich unter
den misstrauischen Augen meiner M u t t e r davonschleichen.
W e n n man in dieser U m g e b u n g Sex hatte, dann ging m a n
das Risiko ein, am nächsten M o r g e n am gemeinsamen F r ü h -
stückstisch in eine peinliche Situation zu kommen, wenn
Mrs O'Flaherty mit hochgezogenen Augenbrauen Eier und
gebratene Tomaten servierte und mit einem anzüglichen Lä-
cheln fragte: » U n d , hat das Bett Ihnen zugesagt?«
Irland war von Küste zu Küste eine N o - S e x - Z o n e . U n d
das war für mich Anreiz genug. W i r trieben es wie die Kar-
nickel.
Dabei machte sich J e n n y ständig Sorgen um ihr großes
Baby zu Hause. Alle paar Tage fütterte sie ein Telefon mit

111
einer Handvoll Münzen, um sich bei Kathy nach dem Stand
der Dinge zu erkundigen. Ich stand dabei draußen vor der
Telefonzelle und hörte Jennys Teil des Gesprächs.
»Wirklich? ... Im Ernst? ... M i t t e n im Verkehr? ... Aber
dir ist doch nichts passiert, oder? ... G o t t sei Dank ... Ja,
ich hätte auch geschrien ... Was? Deine Schuhe? ... O nein!
U n d deine Geldbörse? ... Natürlich bezahlen wir die Repa-
ratur ... G a r nichts m e h r übrig? ... Natürlich, wir bestehen
darauf, sie dir zu ersetzen ... Er hat was? ... Nasser Zement,
sagst du? W i e kann denn so was passieren?«
U n d so weiter und so weiter. Jeder Anruf war eine Litanei
von Marleys Missetaten, eine schlimmer als die andere, viele
davon überraschten sogar uns, die wir doch inzwischen leid-
geprüfte Welpenbesitzer waren. Marley war der unverbesser-
liche Schüler u n d Kathy die unerfahrene Aushilfslehrerin.
Er hatte freie Bahn.
Als wir wieder zu Hause ankamen, schoss Marley aus dem
Haus, um uns zu begrüßen. Kathy stand in der Tür, sie sah
m ü d e und abgespannt aus. Sie hatte den leeren Blick eines
erschöpften Soldaten nach einer besonders verlustreichen
Schlacht. Ihre Tasche stand fertig gepackt auf der vorderen
Veranda. Sie hielt ihre Autoschlüssel schon in der Hand, als
könne sie es gar nicht erwarten, zu entkommen. W i r über-
reichten ihr unsere mitgebrachten Geschenke, dankten ihr
überschwänglich und sagten, sie solle sich nur keine Gedan-
ken wegen der kaputten T ü r e n und anderer Schäden ma-
chen. D a n n entschuldigte sie sich höflich und war fort.
Soweit wir es nachvollziehen konnten, war es Kathy über-
haupt nicht gelungen, Marley etwas zu befehlen oder ihn
gar in den Griff zu bekommen. U n d mit jedem Sieg war er
kühner geworden. Er hatte alles Bei-Fuß-Gehen vergessen
und sie hingezerrt, wo er wollte. Er hatte sich geweigert,
zu ihr zu kommen. Er hatte sich alles geschnappt, was ihm

112
gefiel - Schuhe, Geldbeutel, Kissen -, und es nicht wieder
hergegeben. Er hatte ihr Essen vom Teller gestohlen. D e n
Abfall auseinandergepflückt. Er hatte sogar versucht, ihr ihr
Bett streitig zu machen. Er hatte beschlossen, dass er tun
und lassen konnte, was er wollte, jetzt, wo er sturmfreie
Bude hatte. U n d er würde sich von seiner sanftmütigen M i t -
bewohnerin nicht den Spaß verderben lassen.
»Arme Kathy«, sagte Jenny. »Sie sah ziemlich geschafft
aus, nicht wahr?«
»Am Ende ihrer Kräfte trifft es besser.«
»Wahrscheinlich sollten wir sie nicht noch einmal fragen,
ob sie auf unseren H u n d aufpasst.«
»Nein«, antwortete ich. »Das wäre wahrscheinlich kei-
ne gute Idee.« D a n n wandte ich mich an Marley und sagte:
»Die Flitterwochen sind vorbei, Chef. Ab morgen bist du
wieder im Training.«

Am nächsten M o r g e n mussten wir beide wieder zur Arbeit.


Aber vorher legte ich Marley das Kettenhalsband an und
ging mit ihm eine Runde spazieren. Er zog sofort ab und
tat nicht einmal so, als wolle er bei Fuß gehen. » W i r sind
wohl ein wenig übermütig, was?«, fragte ich und riss mit
aller Kraft an der Leine, sodass er das Gleichgewicht verlor.
Er richtete sich wieder auf, hustete und sah mich mit einem
gekränkten Gesichtsausdruck an, als wollte er sagen: Deswe-
gen musst du nicht gleich grob werden. Kathy war es egal, wenn
ich an der Leine gezogen habe.
»Gewöhn dich lieber wieder daran«, sagte ich u n d ließ
ihn sich hinsetzen. Ich rückte die Kette zurecht, sodass sie
weit oben am Hals saß, wo sie meiner Erfahrung nach die
größte Wirkung hatte. »Okay, versuchen wir es n o c h ein-
mal«, sagte ich. Er sah mich skeptisch an.
»Marley, bei Fuß!«, befahl ich und machte einen entschie-

113
denen Schritt mit meinem linken Fuß. Ich hielt die Leine so
kurz, dass meine linke H a n d an der Kette lag. Er zerrte, und
ich riss ihn scharf zurück, sodass sich das Halsband fester zu-
zog. »Eine arme Frau so auszunützen«, murmelte ich. »Du
solltest dich schämen.« Gegen Ende unseres Spaziergangs
hielt ich die Leine so fest in der H a n d , dass meine Knöchel
weiß hervortraten, aber ich hatte ihn endlich so weit, dass
er keinen Unsinn m e h r machte. Das war kein Spiel, son-
dern vielmehr eine Lektion fürs Leben darüber, was für Fol-
gen manche Handlungen haben konnten. W e n n er losrasen
wollte, blieb ihm die Luft weg. Jedes Mal, ohne Ausnahme.
W e n n er aber mitmachte und an meiner Seite blieb, ließ ich
locker und das Halsband hing lose um seinen Hals. Ziehen,
gewürgt werden; bei Fuß gehen, atmen. Das konnte sogar
Marley verstehen. W i r wiederholten diese Ü b u n g immer
wieder, als wir den Fahrradweg auf und ab gingen. Langsam
schien ihm zu dämmern, dass ich der H e r r und er der H u n d
war, und so sollte es auch bleiben. Als wir wieder in unsere
Einfahrt bogen, trabte mein widerspenstiger H u n d brav ne-
ben mir her, nicht perfekt, aber annehmbar. Z u m ersten Mal
in seinem Leben ging er wirklich bei Fuß, oder zumindest
etwas Ahnliches. »O ja«, sang ich fröhlich, »der Boss ist wie-
der da.«
Ein paar Tage später rief mich Jenny im Büro an. Sie war
gerade bei Dr. Sherman gewesen. »Irischer Segen«, sagte
sie. »Nächster Versuch.«
ELF

Man ist, was man frisst

D iese Schwangerschaft war anders. W i r hatten einiges


aus unserer Fehlgeburt gelernt, und diesmal wollten
wir nicht wieder dieselben Fehler machen. Vor allem hiel-
ten wir die Schwangerschaft diesmal besser geheim als jedes
Staatsgeheimnis. Außer Jennys Ärzten u n d den Arzthelfe-
rinnen wusste niemand davon, nicht einmal unsere Eltern.
W e n n Freunde zu Besuch waren, trank J e n n y Grapefruitsaft
aus einem Weinglas, um keinen Verdacht zu erregen. D u r c h
diese Geheimhaltung blieb natürlich auch unsere Vorfreude
gedämpft, auch wenn wir unter uns waren. W i r begannen
unsere Sätze mit Einschränkungen wie: » W e n n alles gut
g e h t . . . « und »Angenommen, alles geht gut . . . « E s war, als
könnten wir einen Fluch über die Schwangerschaft bringen,
bloß indem wir darüber jubelten. W i r wollten unsere Freu-
de beherrschen, damit sie nicht ins Gegenteil umschlagen
und uns zerschmettern konnte.
W i r schlossen alle chemischen Reinigungsmittel und
Insektensprays weg. Das würde uns diesmal nicht wieder
passieren. Jenny wurde eine überzeugte Anhängerin der na-
türlichen Putzkraft von Essig, womit sie sogar Marleys an-
getrockneten Speichel von den W ä n d e n bekam. W i r fanden
heraus, dass wir Marley und sein Körbchen mit Borsäure,
einem weißen Pulver, das für Insekten tödlich, für Menschen
jedoch harmlos war, flohfrei halten konnten. U n d wenn er

115
wirklich einmal eine gründliche Flohbehandlung brauchte,
dann würden wir das Profis überlassen.
J e n n y stand jeden M o r g e n in aller Frühe auf und ging
mit Marley eine Runde am Wasser spazieren. W e n n sie zu-
rückkamen, wachte ich gerade erst auf. Sie dufteten dann
nach salziger Meerluft. Meine Frau war die Gesundheit in
Person - mir einer Ausnahme: Ihr war ständig übel. Doch
sie beschwerte sich nicht; sie begrüßte vielmehr jeden neuen
Anfall von Übelkeit mit freudigem Einverständnis, denn er
war ein Zeichen dafür, dass das zerbrechliche kleine Experi-
m e n t in ihr friedlich seinen Lauf nahm.
U n d das tat es. Diesmal nahm Essie meine Videokassette
und zeichnete die ersten blassen, verschwommenen Bilder
von unserem Baby auf. W i r konnten das kleine H e r z schla-
gen sehen, die vier K a m m e r n pulsierten. W i r konnten die
Umrisse des kleinen Kopfes erkennen und alle vier Gliedma-
ßen sehen. Dr. Sherman steckte den Kopf durch die T ü r des
Sprechzimmers, um zu verkünden, dass alles in O r d n u n g
war. D a n n sah er Jenny an und sagte mit seiner tiefen Stim-
me: » W a r u m weinen Sie denn, Kind? Sie sollten sich freu-
en.« Essie gab ihm einen leichten Schlag mit dem Clipboard
und schimpfte: » N u n lassen Sie sie mal in Ruhe«, dann sah
sie J e n n y an und verdrehte die Augen, als wollte sie sagen:
»Männer! Sie haben einfach keine Ahnung!«
Hinsichtlich des U m g a n g s mit schwangeren Ehefrauen
hatte ich tatsächlich keine Ahnung. Ich ließ Jenny ihre Ruhe,
litt mit ihr, wenn ihr schlecht war oder sie Schmerzen hat-
te, und versuchte, meine Mimik im Griff zu behalten, wenn
sie darauf bestand, mir laut aus ihrem Buch mit dem Titel
Was Sie bei einer Schwangerschaft erwartet vorzulesen. Als ihr
Bauch dicker wurde, machte ich ihr Komplimente zu ihrer
Figur und sagte Dinge wie: » D u siehst toll aus, wirklich. W i e
ein schlanker, kleiner Ladendieb, der gerade einen Basket-

116
ball unter sein T-Shirt geschoben hat.« Ich tat mein Bestes,
ihr immer absurder und irrationaler werdendes Benehmen
auszuhalten. Bald hatte ich Freundschaft mit dem N a c h t -
schichtpersonal des Supermarktes geschlossen, weil ich zu
jeder Tages- und Nachtzeit vorbeikam, um Eiscreme, Apfel,
Sellerie oder Kaugummi in Geschmacksrichtungen, von de-
nen ich noch nie etwas gehört hatte, zu kaufen. »Sind Sie
sicher, dass das Nelke ist?«, fragte ich den Verkäufer an der
Kasse zum Beispiel. »Sie besteht auf Nelkenkaugummis.«
Eines Abends, als Jenny ungefähr im fünften M o n a t war,
bildete sie sich auf einmal ein, dass wir unbedingt Baby-
socken brauchten. Na klar, stimmte ich zu, und wir würden
uns eine ganze Batterie von Babysocken zulegen, bevor das
Baby kam. Aber sie meinte nicht, dass wir sie irgendwann
später brauchten. Sie meinte, dass wir sie sofort brauchten.
»Wir haben überhaupt nichts, was wir dem Baby über die
Füße ziehen können, wenn wir aus dem Krankenhaus nach
Hause kommen!«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Wen interessierte es schon, dass es bis zum errechneten
Termin noch vier M o n a t e waren? U n d dass die A u ß e n t e m p e -
ratur bis dahin frostige fünfunddreißig Grad erreicht haben
würde? Jeder noch so unerfahrene werdende Vater wusste,
dass die Babys von Kopf bis Fuß in ein Tuch gewickelt wur-
den, ehe sie aus der Wochenstation entlassen wurden. D o c h
wen interessierte das?
»Liebling, k o m m schon, sei doch vernünftig«, versuchte
ich es. »Es ist Sonntagabend, wo soll ich denn jetzt Baby-
socken herbekommen?«
»Wir brauchen Socken!«, wiederholte sie.
»Wir haben doch noch wochenlang Zeit, Socken zu kau-
fen!«, gab ich zurück. »Sogar Monate!«
»Ich sehe immer diese winzig kleinen Z e h e n vor mir«,
schniefte sie.

117
Es hatte keinen Sinn, ich setzte mich ins Auto und irrte
schimpfend herum, bis ich einen großen Supermarkt fand,
der offen hatte. Ich wählte ein Sockenpaket in fröhlichen
Farben, so lächerlich klein, dass sie aussahen wie Daumen-
wärmer. Als ich nach Hause kam und sie vor Jenny aus der
T ü t e leerte, war sie endlich zufrieden. Endlich hatten wir So-
cken. U n d G o t t sei D a n k hatten wir gerade noch die letzten
Exemplare aufgetrieben, ehe der nationale Sockennotstand
ausgerufen wurde, was jeden M o m e n t ohne Vorwarnung ge-
schehen konnte. Die zerbrechlichen kleinen Zehen unseres
Babys waren n u n sicher. W i r konnten ins Bett gehen und
beruhigt schlafen.

W ä h r e n d die Schwangerschaft voranschritt, machte auch


Marleys Training Fortschritte. Ich arbeitete jeden Tag mit
ihm und unterhielt unsere Freunde damit, dass ich »Platz!«
rief u n d Marley sich auf den Boden fallen ließ, alle viere von
sich gestreckt. Er kam verlässlich auf K o m m a n d o (außer ir-
gendetwas lenkte seine Aufmerksamkeit ab, etwas wie ein
anderer H u n d , eine Katze, ein Eichhörnchen, ein Schmetter-
ling, der Postbote oder ein fliegender Löwenzahnsamen). Er
setzte sich auf K o m m a n d o hin (außer er verspürte den star-
ken Drang, zu stehen) und lief verlässlich bei Fuß (außer er
sah etwas so Verführerisches, dass er bereit war, sich dafür zu
strangulieren - andere H u n d e , Katzen, Eichhörnchen etc.
s. o.). Er machte Fortschritte, aber deswegen verwandelte
er sich keineswegs in einen ruhigen, wohl erzogenen H u n d .
W e n n ich mich über ihn stellte und ihm strenge Befehle gab,
gehorchte er, manchmal sogar ganz eifrig. Aber im Grunde
war und blieb er einfach unverbesserlich.
Er entwickelte einen unstillbaren Appetit auf Mangos, die
massenweise in unserem Garten hinter dem Haus auf den
Boden fielen. Sie wogen reichlich ein Pfund und waren so

118
süß, dass einem die Z ä h n e wehtaten. Marley streckte sich
mit Vorliebe im Gras aus, nahm eine M a n g o zwischen seine
Vorderpfoten und löste minutiös jedes G r a m m Fruchtfleisch
von der Schale ab. Er lutschte darauf herum wie auf einem
Hustenbonbon, und wenn er die Schale wieder ausspuckte,
war sie so blank, als hätte man sie in eine Säure getaucht.
Manchmal verbrachte er Stunden da draußen, versunken in
seinem Mangoparadies.
W i e bei jedem anderen, der zu viel Obst isst, hatte
Marleys übermäßiger M a n g o k o n s u m Auswirkungen auf
seine Verdauung. Bald war unser Garten mit großen, auffäl-
lig gefärbten Hundehaufen übersät. Einen Vorteil hatte das:
M a n musste schon wirklich blind sein, um aus Versehen hi-
neinzutreten. W ä h r e n d der Mangoernte waren sie weithin
sichtbar, wie orangefarbene Verkehrskegel.
Natürlich fraß er auch andere Dinge. U n d die fanden
ebenso ihren W e g hinaus. Jeden M o r g e n , wenn ich seine
Haufen aufsammelte, sah ich das Ergebnis. H i e r ein kleiner
Plastikspielzeugsoldat, dort ein G u m m i b a n d . In einem H a u -
fen fand ich den zerbissenen Verschluss einer Limonadenfla-
sche. In einem anderen die zerkauten Uberreste eines Kugel-
schreibers. »Hier ist also mein K a m m gelandet!«, rief ich
eines Morgens aus.
Er fraß Handtücher, Badeschwämme, Socken, gebrauchte
Taschentücher. Besonders gerne mochte er Geschirrspüllap-
pen. W e n n die am anderen E n d e wieder herauskamen, sa-
hen sie auf den orangefarbenen Haufen aus wie kleine blaue
Fahnen.
Nicht alles war so leicht zu verdauen. Marley kotzte wie
ein Bulimiekranker. Oft hörten wir aus dem N e b e n z i m -
mer ein herzhaftes Gaaaaargl, und wenn wir dann hineinge-
stürmt kamen, fanden wir wieder irgendeinen Gegenstand,
inmitten eines Haufens halb verdauter M a n g o und H u n d e -

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futter. Umsichtigerweise kotzte Marley niemals auf die Die-
len oder auf das Linoleum in der Küche, wenn er es verhin-
dern konnte. Er zielte immer auf den Perserteppich.

J e n n y und ich hatten den verwegenen Gedanken, dass es


doch schön wäre, einen H u n d zu haben, den man für kurze
Zeit auch mal alleine zu Hause lassen könnte, ohne dass er
das ganze H a u s auseinander nahm. W i r waren es allmählich
leid, Marley jedes Mal in die Garage zu sperren, wenn wir
weggingen, und wie J e n n y es so schön ausdrückte: »Wozu
hat man einen H u n d , wenn er nicht einmal an die T ü r kom-
m e n kann, um einen beim H e i m k o m m e n zu begrüßen?« Es
war klar, dass wir ihn niemals alleine zu Hause lassen durften,
wenn ein Gewitter im Anzug war. Selbst unter Hundedrogen
erwies er sich noch als äußerst ausdauernd, wenn es darum
ging, sich bei Gefahr energisch nach China durchzugraben.
Bei schönem Wetter jedoch wollten wir ihn nicht jedes Mal
in die Garage sperren müssen, wenn wir kurz mal das Haus
verließen.
W i r fingen zunächst damit an, ihn kurz allein zu lassen,
wenn wir zum Einkaufen fuhren oder bei den Nachbarn vor-
beischauten. Manchmal war er guter Dinge und wir fanden
das H a u s bei unserer Rückkehr unbeschadet vor. An solchen
Tagen konnten wir sehen, wie er sich seine schwarze H u n -
deschnauze an der Scheibe hinter den kleinen Jalousien im
W o h n z i m m e r platt drückte, während er nach uns Ausschau
hielt. An anderen Tagen lief es nicht so gut. W i r sahen schon
von weitem, dass etwas nicht in O r d n u n g war, weil Marley
uns nicht am Fenster erwartete, sondern sich irgendwo ver-
steckte.
Als J e n n y im sechsten M o n a t schwanger war, kamen
wir eines Tages nach Hause und fanden Marley unter dem
Bett - was bei seiner G r ö ß e nicht einfach war. Er sah so

120
schuldbewusst aus, als hätte er gerade den Postboten u m g e -
bracht. Aus jeder Pore strömte uns Schuldbewusstsein entge-
gen. Das Haus sah in O r d n u n g aus, aber wir wussten, dass er
ein dunkles Geheimnis hatte, also gingen wir auf der Suche
nach den Spuren seiner Missetat von Z i m m e r zu Zimmer.
Dann sah ich, dass der Schutzüberzug einer der Boxen unse-
rer Stereoanlage fehlte. W i r suchten überall danach. Er war
spurlos verschwunden. Marley wäre vielleicht ungeschoren
davongekommen, hätte ich nicht am nächsten M o r g e n in
einem seiner Hundehaufen untrügliche Beweise gefunden.
N o c h tagelang fand ich Reste des Überzugs im Garten.
Als wir das nächste Mal außer H a u s waren, entfernte
Marley sorgfältig das Lautsprechergehäuse. D e r Lautspre-
cher war nicht umgeworfen oder anderweitig beschädigt, es
fehlte nur das Gehäuse, als hätte jemand es mit einer Rasier-
klinge weggeschnitten. Schließlich n a h m er sich auch den
zweiten Lautsprecher vor. Ein anderes Mal kamen wir nach
Hause und stellten fest, dass unser ehemals vierbeiniger H o -
cker nun dreibeinig war. D o c h nirgends war auch n u r ein
Span des fehlenden Beins zu finden.
W i r hätten schwören können, dass es in Südflorida nie-
mals schneit, eines Tages jedoch öffneten wir die T ü r zum
Wohnzimmer und fanden einen wahren Schneesturm vor.
Überall flogen weiße Federn herum. D u r c h das Gestöber
hindurch konnten wir Marley entdecken, der mitten in einer
Feder-Wehe vor dem Kamin stand und wild ein riesiges Kis-
sen schüttelte, als hätte er gerade einen Strauß erlegt.
Meistens versuchten wir, den Schaden gelassen zu n e h -
men. Im Leben eines jeden Hundebesitzers gibt es früher
oder später den Verlust des einen oder anderen geliebten
Erbstückes zu beklagen. N u r ein einziges Mal war ich kurz
davor, ihn aufzuschlitzen, um mir wiederzuholen, was mir
gehörte.

121
Ich hatte J e n n y zum Geburtstag eine achtzehnkarätige
Goldkette geschenkt, feingliedrig, mit einem zarten Ver-
schluss. Sie hatte sie sofort angelegt. N u r wenige Stunden
später griff sie sich entsetzt an den Hals und rief: »Meine
Kette! Sie ist weg!« D e r Verschluss musste aufgegangen
sein, vielleicht hatte sie ihn auch nicht richtig geschlossen.
»Keine Panik!«, sagte ich zu ihr. » W i r haben das Haus
nicht verlassen. Sie muss hier irgendwo sein.« U n d wir
durchkämmten das Haus, Z i m m e r um Zimmer. Während
wir suchten, fiel mir auf, dass Marley wilder war als sonst.
Ich richtete mich auf und sah ihn an. Er krümmte sich
wie ein Tausendfüßler. Als er merkte, dass ich ihn fixierte,
versuchte er mir auszuweichen. 0 nein!, dachte ich - der
Marley-Mambo! Das konnte nur eines bedeuten.
»Was hängt ihm da aus dem Maul?«, fragte Jenny mit
wachsender Panik in der Stimme. Etwas Dünnes, Feinglied-
riges. U n d golden. » O h , verdammt!«, sagte ich.
»Keine plötzlichen Bewegungen!«, befahl sie im Flüster-
ton. W i r erstarrten an O r t und Stelle.
»Okay, Junge, alles in O r d n u n g « , schmeichelte ich ihm.
Ich klang wie ein Versicherungsvertreter. »Wir sind gar
nicht böse auf dich. K o m m einfach her. W i r wollen nur
die Kette zurück.« Instinktiv versuchten Jenny und ich, ihn
mit vorsichtigen Bewegungen von zwei Seiten einzukrei-
sen. W i r benahmen uns, als wäre er komplett vermint und
eine falsche Bewegung könnte ihn zur Explosion bringen.
»Braver Marley«, sagte J e n n y in ihrem freundlichsten Ton,
»braver H u n d . Lass einfach die Kette fallen, dann ist alles in
Ordnung.«
Marley sah uns misstrauisch an und warf den Kopf hin und
her. W i r hatten ihn in die Ecke getrieben, doch er wusste,
dass er etwas hatte, was wir haben wollten. Ich konnte sehen,
wie er seine Chancen abwog, gleichsam eine Lösegeldforde-

122
rung entwarf. Liefert mir zweihundert unregistrierte Hundeku-
chen in einer unauffälligen Papiertüte, sonst seht ihr eure kostbare
kleine Kette nie wieder!
»Marley, gib das her«, flüsterte ich und machte einen klei-
nen Schritt auf ihn zu. Sein ganzer Körper wackelte hin u n d
her. Ich schlich mich Zentimeter um Zentimeter vorwärts.
Beinahe unmerklich schob sich Jenny von der Seite dichter
an ihn heran. W i r waren schon nah genug, um ihn zu berüh-
ren. Dann sahen wir uns an und wussten; ohne es zu sagen,
was zu tun war. W i r hatten das P r o g r a m m zur W i e d e r b e -
schaffung entwendeten Eigentums schon oft genug durch-
gespielt. Sie würde sich von hinten auf ihn werfen und ihn
an den Hinterbeinen festhalten, damit er nicht e n t k o m m e n
konnte. Ich würde mich auf seinen Kopf stürzen, ihm die
Kiefer aufstemmen und die W a r e retten. M i t ein bisschen
Glück war alles in wenigen Sekunden vorbei. Das war unser
Plan, und Marley ahnte es.
W i r waren n u r noch einen halben M e t e r von ihm ent-
fernt. Ich nickte J e n n y zu und formte mit den Lippen die
Worte: »Auf drei!« D o c h noch ehe wir uns auf ihn stürzen
konnten, warf er den Kopf zurück und schluckte hörbar. Das
Ende der Goldkette, das ihm noch aus dem Maul gehangen
hatte, war verschwunden. » E r frisst sie auf!«, schrie Jenny.
W i r warfen uns auf ihn, Jenny auf seine Hinterbeine und ich
auf seinen Kopf. Ich sperrte ihm den Kiefer auf und schob
meine H a n d weit in seinen Rachen. Ich suchte jede Hautfal-
te ab, erfolglos. » Z u spät«, sagte ich. » E r hat sie runterge-
schluckt.« Jenny fing an, ihm fest auf den Rücken zu klopfen
und zu schreien: »Spuck sie aus, verdammt noch mal!« Aber
es war zwecklos. Sie bekam nicht m e h r aus ihm heraus als
einen zufriedenen Rülpser.
Marley mochte zwar diese Runde gewonnen haben, aber
wir wussten, dass es n u r eine Frage der Zeit war, bis wir zu

123
unserem Recht k o m m e n würden. D e r Lauf der N a t u r war
auf unserer Seite. Früher oder später musste alles wieder he-
rauskommen. So eklig der Gedanke auch war: Irgendwann
würde ich in seinen Haufen fündig werden. W ä r e es eine sil-
berne oder eine vergoldete Kette gewesen, irgendetwas, das
nicht ganz so wertvoll war, dann hätte ich mich wohl nicht
dazu durchringen können. Aber diese Kette war aus purem
Gold gewesen und hatte mich ein kleines Vermögen gekos-
tet. Eklig oder nicht, ich würde die Kette suchen.
U n d so bereitete ich Marley sein liebstes Abführmittel
zu - eine riesige Schüssel mit überreifen, in Scheiben ge-
schnittenen Mangos - und wartete ab. Drei Tage lang blieb
ich ihm dicht auf den Fersen, wenn ich ihn hinausließ, im-
m e r mit einer einsatzbereiten Schaufel. Anstatt seine H a u -
fen über den Zaun zu werfen, lud ich jeden einzelnen auf
einem großen Brett im Gras ab, rührte mit einem Ast darin
h e r u m und spritzte ihn mit einem Gartenschlauch ab, sodass
allmählich alle Verdauungsreste im Gras landeten und nur
die fremden Objekte übrig blieben. Ich kam mir vor wie ein
Goldgräber, der an einer Rinne arbeitete und einen beachtli-
chen F u n d von heruntergeschluckten Abfällen machte, von
Schnürsenkeln bis zu Gitarrenplektren. Aber keine Gold-
kette. Wo zum Teufel war sie? H ä t t e sie nicht inzwischen
schon herauskommen müssen? Ich fragte mich allmählich,
ob ich sie übersehen und versehentlich ins Gras gespült hat-
te, wo sie für immer verschollen bleiben würde. Aber wie
hätte ich eine zwanzigkarätige Goldkette übersehen sollen?
J e n n y verfolgte meine Suchaktion von der Terrasse aus mit
gespanntem Interesse. »Hey, Goldgräber, schon Glück ge-
habt?«, rief sie laut.
Am vierten Tag schließlich zahlte sich meine Ausdauer
aus. Ich rührte gerade in Marleys letztem Haufen und mur-
melte mein obligatorisches »Ich kann nicht glauben, was

124
ich hier tue«, spülte die stinkende Masse weg und suchte
nach einer Spur der Kette. Nichts. Ich wollte schon aufge-
ben, als ich etwas Seltsames entdeckte: einen kleinen brau-
nen Klumpen, etwa so groß wie eine weiße Bohne. Er war
kaum groß genug, um darin den verschwundenen Schatz zu
vermuten, dennoch schien er irgendwie nicht in diesen H a u -
fen zu gehören. Ich hielt ihn mit meinem Ast, den ich offi-
ziell »Shit-Stick« getauft hatte, fest und richtete den Strahl
des Gartenschlauchs darauf. Als das Wasser den K l u m p e n
sauber gewaschen hatte, erkannte ich den Schimmer von
etwas außerordentlich Glänzendem und Funkelndem. H e u -
reka! Ich war auf Gold gestoßen. Die Kette war zu einem u n -
kenntlichen Haufen zusammengepresst, viel kleiner, als ich
es jemals für möglich gehalten hatte. Es war, als hätte eine
fremde außerirdische Macht, vielleicht ein schwarzes Loch,
die Kette in eine geheimnisvolle Zeit-Raum-Dimension ge-
sogen, ehe sie sie wieder ausgespuckt hatte. U n d irgendwie
stimmte das ja auch. D e r Wasserstrahl wusch Schicht um
Schicht Dreck ab, und allmählich gewann der Goldklum-
pen seine ursprüngliche F o r m zurück, die Kette schien voll-
kommen unbeschadet. So gut wie neu. Nein, besser als neu.
Ich trug sie ins H a u s und zeigte sie Jenny. Sie war außer
sich vor Freude, trotz des zweifelhaften Abenteuers, das das
Schmuckstück hinter sich hatte. W i r wunderten uns beide,
wie unglaublich die Kette glänzte, viel auffälliger als bei ih-
rem Abgang. Marleys Magensäure hatte eine erstaunliche
Wirkung gezeigt. Es war das glänzendste Gold, das ich je
gesehen hatte. » M a n n « , rief ich aus und pfiff anerkennend.
»Wir sollten eine Schmucksäuberungs-Firma eröffnen!«
»Wir könnten ein Mordsgeschäft mit den alten W i t w e n
in Palm Beach machen!«, stimmte J e n n y mir zu.
»Ja, Ladys«, verkündete ich in meiner überzeugendsten
Vertreterstimme, »unser Geheimpatent finden Sie in kei-

125
n e m Fachhandel! Die eingetragene Marley-Methode wird
Ihren geschätzten Schmuckstücken eine Brillanz verleihen,
die Sie niemals für möglich gehalten hätten!«
» D a steckt Potential drin, G r o g a n « , sagte Jenny und ging
ins H a u s , um ihr wiedergefundenes Geburtstagsgeschenk zu
desinfizieren. Sie trug diese Kette jahrelang, und jedes Mal,
wenn mein Blick darauf fiel, kam die Erinnerung an meine
kurze, extrem erfolgreiche Goldgräberkarriere wieder hoch.
Ich und mein treuer Shit-Stick hatten dort gesucht, wo noch
kein Mensch zuvor gesucht hatte. U n d wo gewiss auch nie
wieder jemand suchen würde.
ZWÖLF

Das Notbett

M an bekommt schließlich nicht jeden Tag sein ers-


tes Kind, darum n a h m e n wir die Gelegenheit sofort
wahr, als uns das St. Mary's Hospital von Palm Beach das
Angebot machte, gegen Aufpreis ein luxuriöses Gebärzim-
mer zu mieten. Die Räume glichen teuren Hotelzimmern,
groß, hell und mit Holzmöbeln ausgestattet, an den W ä n d e n
Blumentapeten, passende Vorhänge, eine große Badewanne
und für Papa eine gemütliche Schlafcouch. Statt des übli-
chen Krankenhausessens konnten die »Gäste« zwischen ver-
schiedenen Gourmetgerichten wählen. M a n konnte sogar
eine Flasche Champagner bestellen, aber die mussten die
Väter dann meistens alleine austrinken, da m a n den stillen-
den M ü t t e r n nahelegte, nicht m e h r als einen Schluck zum
Anstoßen auf das große Ereignis zu trinken.
»Mann, das ist ja wie in den Ferien!«, rief ich aus und ließ
mich auf die Couch fallen, als wir ein paar W o c h e n vor J e n -
nys errechnetem Termin eine Besichtigungstour machten.
Die Suiten waren auf Yuppies zugeschnitten und stellten
für das Krankenhaus eine wichtige zusätzliche E i n n a h m e -
quelle dar. Paare mit Geld erkauften sich hier einen Stan-
dard, der über die üblichen Leistungen der Krankenkassen
in der Geburtshilfe hinausging. Das war natürlich ein L u -
xus, aber warum nicht?
Als Jennys großer Tag schließlich da war und wir mit unse-

127
rer gepackten Tasche im Krankenhaus ankamen, sagte man
uns, dass es da ein kleines Problem gäbe.
»Ein Problem?«, fragte ich.
» H e u t e muss ein guter Tag zum Kinderkriegen sein«, er-
klärte die D a m e am Empfang fröhlich. »Alle Gebärsuiten
sind bereits belegt.«
Belegt? Dies war der wichtigste Tag in unserem Leben.
Was war mit dem bequemen Sofa und dem romantischen
D i n n e r mit Champagner? » M o m e n t mal«, beschwerte ich
mich. » W i r haben schon vor W o c h e n reserviert!«
»Tut mir leid«, erwiderte die Dame, sichdich ohne beson-
deres Mitgefühl. » W i r haben es leider nicht in der Hand,
wann bei den Frauen die W e h e n einsetzen.«
Da hatte sie allerdings Recht. Sie konnte ja niemanden zur
Eile antreiben. Sie schickte uns auf ein anderes Stockwerk,
wo m a n uns ein normales Krankenzimmer zuwies. Doch als
wir auf der Geburtsstation ankamen, hatte die Schwester
dort noch eine schlechte Nachricht für uns. »Können Sie
sich vorstellen, dass kein einziges Z i m m e r mehr frei ist?«
N e i n , das konnten wir nicht. Jenny schien das Ganze locker
zu nehmen, aber ich reagierte langsam etwas gereizt. »Was
schlagen Sie vor, den Parkplatz?«, fragte ich. Die Schwester
lächelte mich gelassen an, offensichdich war sie solche Sprü-
che von nervösen werdenden Vätern gewohnt. Sie sagte nur:
»Keine Sorge. W i r finden schon einen Platz für Sie.«
N a c h m e h r e r e n Telefonaten schickte sie uns einen lan-
gen G a n g hinunter. W i r gingen durch zahlreiche Glastü-
ren und standen schließlich wieder in einer Geburtsstation,
ganz ähnlich der, die wir gerade verlassen hatten, aber mit
einem offensichtlichen Unterschied - die Patienten hier wa-
ren eindeutig alles andere als die reichen Yuppiepaare, die
wir im Geburtsvorbereitungskurs getroffen hatten. W i r hör-
ten, wie die Schwestern Spanisch mit den Frauen sprachen.

128
Im Gang vor den Z i m m e r n warteten dunkelhäutige M ä n -
ner und spielten nervös mit ihren Strohhüten. Palm Beach
County ist als Spielwiese für die Reichen bekannt, weit we-
niger bekannt ist jedoch die Tatsache, dass es dort auch rie-
sige Farmen gibt, die sich über die trockengelegten Sümpfe
der Everglades westlich der Stadt erstrecken. Tausende von
eingewanderten Arbeitern, die meisten aus Mexiko u n d M i t -
telamerika, pilgern jedes J a h r zur Erntezeit nach Südflorida,
um dort Paprika, Tomaten, Salat und Sellerie zu ernten u n d
damit den Wintervorrat an Gemüse für die Ostküste zu si-
chern. Offenbar hatten wir herausgefunden, wo die Gastar-
beiter ihre Babys bekamen. I m m e r wieder durchschnitt der
qualvolle Schrei einer Frau die Luft, gefolgt von furchtba-
rem Stöhnen und lauten »Mi madre!«-Ruien. Es war wie im
Horrorkabinett. J e n n y war weiß wie die Wand.
Die Schwester führte uns in eine kleine Kammer, in der
ein Bett, ein Stuhl und eine Reihe elektronischer M o n i t o r e
standen. D a n n reichte sie J e n n y ein H e m d .
»Na, dann kann es ja losgehen!«, rief Dr. Sherman fröh-
lich, als er ein paar M i n u t e n später hereinstürmte. »Lassen
Sie sich von der kargen Einrichtung hier nicht abschrecken«,
sagte er. Diese Station verfüge über eine hervorragende m e -
dizinische Ausstattung, und die Schwestern wären bestens
ausgebildet. Da arme Frauen meist nicht die Möglichkeit
hatten, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, hatten sie
oft Risikoschwangerschaften. W i r wären also in den besten
Händen, versicherte Dr. Sherman, als er Jennys Fruchtblase
sprengte. D a n n verschwand er wieder so schnell, wie er ge-
kommen war.
Tatsächlich stellten wir fest, dass wir gut aufgehoben wa-
ren, als der Vormittag voranschritt und J e n n y sich durch
schreckliche W e h e n kämpfte. Die Schwestern waren erfah-
rene H e b a m m e n , die eine Atmosphäre von Vertrauen und

129
W ä r m e verbreiteten. Sie wachten aufmerksam über Jenny,
überprüften den Herzschlag des Babys und gaben ihr An-
weisungen. Ich stand hilflos daneben und versuchte irgend-
wie von N u t z e n zu sein, aber es war sinnlos. Irgendwann
knurrte mich Jenny mit zusammengebissenen Zähnen an:
» W e n n du mich noch ein einziges Mal fragst, wie es mir
geht, REISSE I C H D I R D E N K O P F AB!« Ich muss ver-
letzt ausgesehen haben, denn eine der Schwestern kam auf
meine Seite des Bettes, drückte mir mitfühlend die Schulter
und sagte: »Willkommen bei der Geburt, Dad. Das gehört
alles dazu.«
Ich schlich mich aus dem Z i m m e r und gesellte mich zu
den anderen wartenden M ä n n e r n auf dem Gang. Jeder lehn-
te an der W a n d neben der entsprechenden Tür, während un-
sere Frauen schrien und stöhnten. Ich kam mir ein wenig
lächerlich vor in meinem Poloshirt, den Khakishorts und
den Segelschuhen, aber die Farmarbeiter schienen meinen
Aufzug nicht zu bemerken. Bald lächelten und nickten wir
uns wissend zu. Sie konnten kein Englisch und ich konnte
kein Spanisch, doch das spielte keine Rolle. W i r saßen im
selben Boot.
O d e r beinahe. An diesem Tag lernte ich, dass Schmerz-
mittel in Amerika ein Luxus und keine Notwendigkeit sind.
F ü r diejenigen, die es sich leisten konnten oder deren Kran-
kenkasse es bezahlte, wie das bei unserer der Fall war, bot
das Krankenhaus Peridualanästhesien an, bei denen das
Schmerzmittel direkt ins Rückenmark gespritzt wird. N a c h -
dem J e n n y ungefähr vier Stunden in den W e h e n gelegen
hatte, kam ein Anästhesist, setzte ihr eine lange Nadel an
der Wirbelsäule und schloss eine Infusion an. N a c h wenigen
M i n u t e n war J e n n y von der Taille abwärts taub und konnte
sich entspannen und ausruhen. Die mexikanischen Frauen
nebenan hatten nicht so viel Glück. Sie mussten das Gan-

130
ze wie früher bis zum Ende durchstehen, und ihre Schreie
durchschnitten die Luft.
Die Stunden vergingen. J e n n y presste, u n d ich feuerte sie
an. Als es dunkel wurde, trat ich mit einem winzigen, ver-
schnürten Paket in den G a n g hinaus. Ich hob meinen n e u g e -
borenen Sohn über den Kopf, damit meine neuen Freunde
ihn sehen konnten, und rief: »Es el nino!« Die anderen Väter
lachten fröhlich und reckten in international verständlicher
Geste ihre D a u m e n nach oben. Anders als bei unserem hit-
zigen Streit um den N a m e n für unseren H u n d waren wir
uns schnell einig, wie wir unseren ersten Sohn n e n n e n woll-
ten. Als erster Spross der aus dem irischen C o u n t y L i m e -
rick nach Amerika eingewanderten Familie G r o g a n würde
er Patrick heißen. Eine H e b a m m e kam in unsere K a m m e r
und verkündete, jetzt wäre eine Geburtssuite frei. Es war
unsinnig, jetzt noch das Z i m m e r zu wechseln, aber sie half
Jenny in einen Rollstuhl, legte ihr unseren Sohn in den A r m
und rauschte mit uns davon. Das G o u r m e t - D i n n e r wurde
seinem N a m e n nicht gerecht.

In den Wochen vor dem Geburtstermin hatten J e n n y und


ich lange strategische Diskussionen darüber geführt, wie wir
Marley am besten auf die Ankunft unseres neuen Familien-
mitglieds vorbereiten könnten. D e n n zweifelsohne würde
unser Kind ihm seinen Ehrenplatz in unserer Familie strei-
tig machen. W i r wollten ihm das schonend beibringen. W i r
hatten Geschichten über H u n d e gehört, die schrecklich ei-
fersüchtig auf den Familiennachwuchs reagiert und sich u n -
möglich b e n o m m e n hatten - die U n t a t e n reichten von dem
Markieren wertvoller Gegenstände über das Umwerfen von
Babybadewannen bis hin zu regelrechten Angriffen -, und
schließlich im Tierheim gelandet waren. Als wir das leer
stehende Schlafzimmer in ein Kinderzimmer verwandelten,

131
ließen wir Marley sämtliche Ausstattung gründlich beschnüf-
feln, einschließlich der Wiege, dem Kinderbett und verschie-
denen anderen Utensilien zur Babypflege. Er schnüffelte
u n d sabberte und schleckte so lange, bis seine Neugier ge-
stillt war. In den sechsunddreißig Stunden, die Jenny sich
nach der G e b u r t im Krankenhaus erholte, fuhr ich regel-
mäßig nach Hause zu Marley, ausgerüstet mit Leintüchern
und allem anderen, das den Geruch unseres Babys an sich
trug. Einmal brachte ich sogar eine winzige gebrauchte W i n -
del mit nach Hause, an der Marley so begeistert schnüffelte,
dass ich schon Angst hatte, er würde sie durch die Nasen-
löcher aufsaugen und teure medizinische Hilfe brauchen.
Als ich schließlich M u t t e r und Kind mit nach Hause
brachte, ließ sich Marley nicht weiter stören. Jenny stellte
den schlafenden Patrick in seinem Autositz in die Mitte un-
seres Bettes und folgte mir dann zu Marley in die Garage,
um ihn zu begrüßen. W i r feierten ein überschwängliches
Wiedersehen. Als Marley nicht mehr verrückt und wild vor
Freude, sondern nur noch verzweifelt glücklich war, nahmen
wir ihn mit ins Haus. W i r hatten vor, einfach zur Tagesord-
n u n g überzugehen und ihm das Baby gar nicht ausdrücklich
zu zeigen. W i r würden immer in seiner N ä h e bleiben und
ihn die Anwesenheit des Neuankömmlings allmählich selbst
entdecken lassen.
Marley folgte Jenny ins Schlafzimmer und-vergrub seine
Nase tief in ihrer Tasche, während sie auspackte. Er hatte
ganz offensichdich keine Ahnung, dass da ein lebendiges
Wesen auf unserem Bett saß. D a n n bewegte sich Patrick
und stieß einen leisen, vogelartigen Ton aus. Marleys Ohren
schössen nach vorne und er erstarrte. Was war das? Patrick
fiepte noch einmal, u n d Marley hob eine Pfote in die Luft,
wie ein Jagdhund auf Vogeljagd. Mein Gott, er stand auf un-
ser Baby an wie ein Jagdhund auf seine Beute! In diesem M o -

132
ment kam mir das Federkissen in den Sinn, das er so wild ge-
schüttelt hatte. Er war doch wohl nicht so beschränkt, unser
Baby mit einem Fasan zu verwechseln?
U n d dann sprang er. Es war kein »Töte den F e i n d e -
Sprung, keine gebleckten Zähne, kein Knurren. Aber es war
auch kein »Hallo, Kleiner, willkommen daheim!«-Sprung.
Er prallte so hart mit der Brust gegen die Matratze, dass das
ganze Bett über den Boden rutschte. Patrick war inzwischen
hellwach und machte große Augen. Marley prallte zurück
und sprang wieder vor, diesmal berührte er mit der Schnau-
ze beinahe die Zehen unseres Babys. J e n n y stürzte auf das
Baby zu, ich stürzte auf den H u n d zu und zog ihn mit beiden
Händen am Nackenfell zurück. Marley war außer sich u n d
zerrte verzweifelt, um an dieses kleine Geschöpf heranzu-
kommen, das sich da klammheimlich eingeschlichen hatte.
Er stellte sich auf die Hinterbeine und ich zog ihn am H a l s -
band zurück. Ich kam mir vor wie L o n e Ranger mit Silver.
» N a « , sagte ich, »das hat ja toll geklappt.«
Jenny befreite Patrick aus dem Autositz, und ich klemmte
Marley zwischen meine Knie und hielt ihn mit beiden H ä n -
den fest. Sogar Jenny konnte erkennen, dass Marley es nicht
böse meinte. Er hechelte mit seinem typischen trotteligen
Grinsen, seine Augen leuchteten und er wedelte mit dem
Schwanz. W ä h r e n d ich ihn festhielt, kam sie langsam näher
und ließ ihn zuerst die Zehen unseres Babys beschnüffeln,
dann die Füße, schließlich die Oberschenkel. Das arme Kind
war gerade mal eineinhalb Tage alt und wurde schon von ei-
nem Staubsauger attackiert. Als Marley an die Windel kam,
schien er einen anderen Bewusstseinszustand zu erreichen,
eine Art Pampers-Nirwana. Er war im Paradies angekom-
men. Der H u n d war vollkommen euphorisch.
»Eine falsche Bewegung, Marley, und dein letztes Stünd-
lein hat geschlagen«, warnte Jenny, und das meinte sie ernst.

133
W e n n er auch n u r das kleinste Anzeichen von Aggressivität
gegenüber dem Baby gezeigt hätte, wäre es um ihn gesche-
hen gewesen. D o c h er tat nichts dergleichen. W i r begriffen
bald, dass unser Problem nicht darin bestand, Marley davon
abzuhalten, unserem Baby etwas zu Leide zu tun. Unser
Problem lag darin, ihn vom Windeleimer fernzuhalten.
Die Zeit verging, und nach einigen M o n a t e n war klar,
dass Marley in Patrick seinen neuen besten Freund gefunden
hatte. Eines Abends, als ich das Licht im H a u s löschen und
ins Bett gehen wollte, konnte ich Marley nirgends finden.
Schließlich kam ich auf die Idee, im Kinderzimmer zu su-
chen. Da lag er, am Boden ausgestreckt neben Patricks W i e -
ge. Die beiden schnarchten seligum die Wette. W e n n Patrick
in der N ä h e war, verwandelte sich unser wilder, ungestümer
H u n d in ein sanftes L a m m . Er schien verstanden zu haben,
dass es sich hier um ein zerbrechliches, schutzloses kleines
Menschenkind handelte. Er bewegte sich in Patricks N ä h e
ganz vorsichtig, leckte ihm zart das Gesicht und die Ohren.
Als Patrick anfing zu krabbeln, lag Marley regungslos auf
dem Boden u n d ließ den Kleinen auf sich herumklettern,
an seinen O h r e n ziehen, ihm in die Augen drücken und ihm
kleine Fäuste voll Fell ausreißen. Es schien ihn alles nicht
zu stören, er lag da wie eine Statue. Er war ein freundlicher
Riese neben Patrick, und er akzeptierte seine Zurückstufung
in der Familienhierarchie mit gutmütiger Resignation.
N i c h t alle waren damit einverstanden, dass wir unserem
H u n d so blind vertrauten. M a n c h e sahen in ihm nur ein wil-
des, unberechenbares und starkes T i e r - inzwischen hatte er
ungefähr fünfundvierzig Kilo erreicht - und waren der Mei-
nung, dass wir uns verantwortungslos verhielten, wenn wir
i h m unser schutzloses Kind anvertrauten. Meine Mutter war
die Sprecherin dieser Fraktion und ließ uns keine Minute
lang im Unklaren über ihre Meinung. Es tat ihr weh, wenn

134
sie sah, dass Marley ihren Enkelsohn ableckte. »Wisst ihr ei-
gentlich, wo diese Zunge schon überall war?«, fragte sie mit
sarkastischem U n t e r t o n . Sie warnte uns eindringlich davor,
einen H u n d und ein Baby jemals alleine in einem Z i m m e r
zu lassen. D e r angeborene Jagdtrieb könne ohne Vorwar-
nung wieder durchbrechen. W e n n es nach ihr ginge, dann
hätten wir für alle Zeiten eine Betonmauer zwischen Marley
und Patrick errichten müssen.
Eines Tages, als sie aus Michigan zu Besuch bei uns war,
hörte ich plötzlich ihren Schrei aus dem Wohnzimmer.
»John, schnell!«, schrie sie. » D e r H u n d beißt das Baby!«
Ich stürzte halb angezogen aus dem Schlafzimmer u n d fand
Patrick fröhlich in seiner Schaukel sitzend, Marley lag u n -
ter ihm auf dem Boden. Tatsächlich schnappte der H u n d
nach dem Baby, aber nicht so, wie meine panische M u t t e r
es befürchtete. Marley hatte sich direkt in Patricks Flug-
bahn positioniert, den Kopf auf der H ö h e , wo das in eine
Stoffbahn verpackte Hinterteil unseres Babys bei jedem
Schwung vorbeikam, ehe es wieder in die entgegengesetzte
Pachtung schwang. Jedes Mal, wenn Patricks W i n d e l p o in
erreichbare N ä h e kam, schnappte Marley spielerisch danach
und schubste ihn damit an. Patrick quietschte vor Vergnü-
gen. »Ach, M o m , keine Angst«, sagte ich. »Marley hat n u r
eine Schwäche für Patricks Windeln.«

Jenny und ich entwickelten bald eine Routine. Nachts stand


sie alle paar Stunden auf, um ihn zu stillen, und ich über-
nahm die 6-Uhr-Mahlzeit, damit sie länger schlafen konnte.
N o c h im Halbschlaf n a h m ich ihn dann aus seiner Wiege,
wickelte ihn und machte ihm sein Fläschchen warm. D a n n
kam die Belohnung: Ich setzte mich mit ihm auf die Ve-
randa, und er nuckelte an der Flasche, den kleinen, warmen
Körper an meinen Bauch geschmiegt. Manchmal ließ ich

135
mein Gesicht auf seinen Kopf sinken und schlummerte ein,
während er genüsslich weitertrank. Manchmal hörte ich
auch Radio und sah zu, wie der H i m m e l in der Morgendäm-
m e r u n g allmählich von Dunkelrot in Pink und schließlich
in Blau überging. W e n n Patrick satt war und ich einen or-
dentlichen Rülpser aus ihm herausbekommen hatte, zog ich
uns beide an, pfiff nach Marley und wir machten einen Mor-
genspaziergang zum Wasser hinunter. W i r leisteten uns
einen Sportkinderwagen mit drei breiten Reifen, mit dem
m a n beinahe überall fahren konnte, auch über Sand und
Randsteine. W i r drei müssen jeden M o r g e n ein Bild für die
G ö t t e r abgegeben haben. Marley allen voran wie ein Schlit-
tenhund, ich am Steuer, wie ich um unser Leben bremste,
und in der Mitte Patrick, der fröhlich mit den Armen winkte
wie ein Verkehrspolizist. W e n n wir nach Hause kamen, war
J e n n y schon auf und hatte Kaffee gekocht. W i r setzten Pa-
trick in seinen Hochstuhl und schütteten ein paar Cheerios
vor ihm auf das Tablett, die sich Marley im nächsten un-
bewachten Augenblick schnappte. Einem. Baby das Essen zu
klauen, dachten wir, wie tief kann dieser Hund noch sinken?
Patrick jedoch schien dieses Spielchen ungeheuren Spaß zu
machen, und sehr bald hatte er herausgefunden, wie er die
Cheerios vom Tablett schubsen musste, sodass er zusehen
konnte, wie Marley aufsprang und sie am Boden zerkaute.
Er fand auch heraus, dass er die Cheerios nur auf seinen
Schoß fallen lassen musste, damit Marley seinen Kopf unter
dem Tablett durchschob und ihm auf der Suche nach den
Leckereien in den Bauch schnoberte, was Patrick in Lachsal-
ven ausbrechen ließ.
W i r fanden, dass das Elternsein gut zu uns passte. W i r
gewöhnten uns an den Tagesablauf, freuten uns über kleine
Dinge und fanden uns zähneknirschend mit dem einen oder
anderen Rückschlag ab. U n s war klar, dass auch die schlech-

136
ten Tage bald zu lieben Erinnerungen werden würden. W i r
hatten alles, was wir uns n u r wünschen konnten. W i r hatten
unser wundervolles Baby. W i r hatten unseren tollpatschigen
Hund. W i r hatten unser kleines H a u s am Wasser. U n d na-
türlich hatten wir einander. In diesem N o v e m b e r beförderte
mich mein Verlag zum Kolumnisten, eine begehrte Stellung.
So bekam ich dreimal wöchentlich die Möglichkeit, mich
auf Seite eins über ein beliebiges T h e m a auszulassen. Das
Leben war schön. Als Patrick neun M o n a t e alt war, brachte
Jenny das T h e m a auf, wann wir über ein zweites Baby nach-
denken wollten.
»Puh, ich weiß nicht«, antwortete ich. W i r hatten i m m e r
mehrere Kinder gewollt, aber über den Zeitplan hatte ich
noch nicht konkret nachgedacht. All das gleich noch einmal
durchmachen? Darüber mussten wir genau nachdenken.
» W i r könnten ja einfach wieder die Verhütung weglassen
und abwarten, was passiert«, schlug ich vor.
»Ah«, erwiderte Jenny, »die gute alte >Que serd, serd<-Fa-
milienplanung.«
»Hey, mach dich nicht darüber lustig«, sagte ich. »Es hat
funktioniert.«
U n d das taten wir dann auch. W i r hatten gedacht, es wür-
de gut passen, wenn Jenny irgendwann innerhalb des nächs-
ten Jahres schwanger werden würde. J e n n y rechnete es mir
genau vor. »Sagen wir, es dauert sechs Monate, bis ich wie-
der schwanger bin, und dann neun M o n a t e Lieferzeit. D a n n
wären die beiden genau zwei Jahre auseinander.«
Das klang gut. Zwei Jahre war eine lange Zeit. Beinahe
eine Ewigkeit. Zwei Jahre war eigentlich gar nicht m e h r real.
Jetzt, wo ich mich der männlichen Pflicht der Besamung ge-
wachsen gezeigt hatte, war jeder Druck weg. Keine Sorgen,
kein Stress. Es würde kommen, wie es kam.
Eine Woche später war J e n n y wieder schwanger.
DREIZEHN

Ein Schrei in der Nacht

M it der neuen Schwangerschaft kehrten auch Jennys


seltsame nächtliche Gelüste zurück. Einmal war es
Malzbier, dann wieder eine Grapefruit. Einmal fragte sie
kurz vor Mitternacht: » H a b e n wir Snickers im Haus?« Es
schien wieder Zeit für eine nächtliche Einkaufstour zu sein.
Ich pfiff nach Marley, leinte ihn an und ging los. Auf dem
Parkplatz trafen wir eine junge Frau mit hochtoupiertem,
blondem Haar, roten Lippen und den höchsten Absätzen,
die ich je gesehen hatte. » O h , ist der niedlich!«, gurrte sie.
»Hallo, H ü n d c h e n . W i e heißt du denn?« Marley war natür-
lich überglücklich, eine neue Freundin gefunden zu haben,
u n d ich hielt ihn ganz kurz, damit er nicht auf ihren roten
Minirock u n d ihr weißes Tanktop sabbern konnte. » D u
möchtest mir ein Küsschen geben, nicht wahr, Hündchen?«,
sagte sie und formte mit ihren Lippen einen Kussmund.
W ä h r e n d wir so plauderten, fragte ich mich, was eine so
attraktive Frau um diese Zeit auf einem Parkplatz am Dixie
Highway machte. Sie schien kein Auto zu haben. Genauso
wenig schien sie auf dem W e g in den Supermarkt oder ge-
rade herausgekommen zu sein. Sie war einfach da, eine Park-
platzfee, die freundlich Fremde und ihre H u n d e begrüßte,
wenn diese vorbeikamen. W a r u m war sie so überaus freund-
lich? Schöne Frauen waren niemals überaus freundlich,
zumindest nicht zu fremden M ä n n e r n , die sie um Mitter-

138
nacht auf einem Parkplatz trafen. Ein Auto rollte heran u n d
ein älterer M a n n kurbelte das Fenster herunter. »Bist du
Heather?«, fragte er. Sie warf mir ein amüsiertes Lächeln
zu, als wollte sie sagen: Irgendwie muss schließlich jeder seine
Miete bezahlen.
»Ich muss los«, sagte sie u n d sprang in das Auto. »Tschüs,
Hündchen!«
»Verlieb dich nicht zu sehr in sie, Marley!«, warnte ich
meinen H u n d . » D u kannst sie dir nicht leisten.«
Ein paar Wochen später, an einem Sonntagmorgen, ging
ich mit Marley wieder zu diesem Supermarkt, um eine Zei-
tung zu kaufen, und wieder kam jemand auf uns zu, diesmal
zwei junge Frauen, fast noch Teenager. Sie wirkten m ü d e
und nervös. Anders als die Frau von neulich waren die bei-
den nicht besonders hübsch und hatten auch keine Anstren-
gungen unternommen, sich herauszuputzen. Sie sahen aus,
als brauchten sie dringend Stoff. »Harold?«, sprach mich
eine der beiden an. » N e i n « , antwortete ich, aber insgeheim
dachte ich mir: Glaubst du wirklich, dass irgendein Mann hier
für eine schnelle Nummer auftauchen und dabei seinen Labrador
mitbringen würde? Für wie wahnsinnig hielten mich die bei-
den? Als ich eine Zeitung aus dem Zeitungsständer vor dem
Supermarkt zog, bog ein Auto auf den Parkplatz - Harold,
wie ich annahm -, und die M ä d c h e n fuhren mit ihm davon.
Ich war nicht der Einzige, der das Aufblühen des Straßen-
strichs am Dixie Highway beobachtete. Als meine ältere
Schwester einmal zu Besuch war und nachmittags einen Spa-
ziergang machte, sittsam gekleidet wie eine N o n n e , wurde
sie zweimal von Freiern angesprochen, die in ihren Autos
vorbeikamen. Ein andermal besuchte uns ein Freund und
erzählte, dass ihm auf dem W e g zu uns eine Frau ihre Brüs-
te gezeigt hatte, als er vorbeifuhr. Wobei ihn das natürlich
nicht sonderlich gestört hatte.

139
N a c h d e m die Anwohner sich beschwert hatten, verspra-
chen die zuständigen Behörden, die N a m e n der überführten
Freier zu veröffentlichen. Die Polizei schickte Undercover-
Beamtinnen los, die an den entsprechenden Plätzen auf
mögliche Kunden warteten. Die verkleideten Polizistinnen
waren absolut reizlos - stellen Sie sich J. Edgar Hoover in
Frauenkleidung vor -, doch das hielt die M ä n n e r nicht da-
von ab, sie anzusprechen. Eine Festnahme fand direkt vor
unserem H a u s statt - mit einem Fernsehteam im Schlepp-
tau.
M i t den N u t t e n und ihren Freiern hätten wir uns viel-
leicht noch abgefunden, aber die kriminellen Aktivitäten
gingen noch weiter. U n s e r Viertel schien immer weiter ab-
zurutschen. Als wir eines Tages einen Spaziergang am Meer
machten, wurde J e n n y plötzlich schrecklich übel, und sie
beschloss, alleine umzukehren, während ich mit Patrick
und Marley weiterging. In einer Seitenstraße hörte sie, wie
hinter ihr ein Auto bremste. Zuerst dachte sie, dass es ein
N a c h b a r wäre, der sie begrüßen wollte, oder jemand, der
nach d e m W e g fragen wollte. D o c h als sie sich umdrehte
und in den W a g e n sah, saß der Fahrer vollkommen entblößt
darin und masturbierte. N a c h d e m Jenny ihm deutlich zu
verstehen gegeben hatte, was sie davon hielt, fuhr er rück-
wärts die Straße hinunter, um sein Nummernschild zu ver-
bergen.
Als Patrick ein knappes J a h r alt war, geschah wieder ein
M o r d in unserer Nachbarschaft. W i e M r s Nedermier war
auch dieses Opfer eine alte, alleinstehende Dame. Ihr ge-
hörte das erste Haus, wenn man vom Dixie Highway in die
Churchill Road abbog, direkt hinter der Tag und N a c h t ge-
öffneten Wäscherei. Ich kannte sie, denn sie hatte mir im-
m e r zugewinkt, wenn ich vorbeikam. Anders als bei dem
M o r d an M r s N e d e r m i e r konnten wir uns diesmal nicht

140
einreden, dass es eine interne Geschichte gewesen war. Das
Opfer war zufällig ausgewählt worden, u n d der T ä t e r war
ein Fremder, der sich in ihr H a u s geschlichen hatte, wäh-
rend sie an einem Samstagnachmittag im G a r t e n ihre W ä -
sche aufhängte. Als sie zurückkam, fesselte er ihr die H ä n d e
mit einem Telefonkabel und legte sie unter eine Matratze,
dann durchsuchte er das ganze H a u s nach Geld. Er floh mit
seiner Beute, während unsere gebrechliche Nachbarin lang-
sam unter dem Gewicht der Matratze erstickte. Die Polizei
verhaftete bald darauf einen Autofahrer, der in der N ä h e
der Wäscherei gesehen worden war; als sie seine Taschen
leerten, stellte sich heraus, dass er ganze sechzehn Dollar
und etwas Kleingeld erbeutet hatte. D e r Preis für ein M e n -
schenleben.
Die steigende Kriminalität um uns h e r u m ließ uns Marleys
unübersehbare Anwesenheit in unserem H a u s noch m e h r
schätzen. Was spielt es schon für eine Rolle, dass er ein über-
zeugter Pazifist war und seine aggressivste Angriffsweise
eine Schlabberattacke war? W e n interessierte es, dass seine
unmittelbare Reaktion auf jeden F r e m d e n darin bestand, ei-
nen Tennisball zu holen, in der Hoffnung, einen neuen Spiel-
gefährten gefunden zu haben? Die Eindringlinge mussten
das ja nicht erfahren. W e n n ein Fremder klingelte, sperrten
wir Marley nicht m e h r weg, ehe wir öffneten. W i r versi-
cherten ihnen auch nicht mehr, dass er absolut harmlos war.
Stattdessen ließen wir nun subtile W a r n u n g e n fallen, etwas
wie »In letzter Zeit ist er so unberechenbar geworden« oder
»Ich weiß nicht, wie lange die T ü r noch halten wird, wenn
er immer dagegen springt«.
W i r hatten ein Baby, und ein zweites war unterwegs. W i r
waren nicht mehr so unbeschwert, wenn es um das T h e m a
Sicherheit ging. Jenny und ich rätselten oft darüber, ob und
was Marley wohl tun würde, wenn jemand unser Baby oder

141
uns angreifen würde. Ich war der Meinung, dass er nur wild
werden u n d laut kläffen würde. J e n n y setzte mehr Vertrauen
in ihn. Sie war überzeugt, dass Marleys unbedingte Loyali-
tät uns und vor allem seinem neuen Cheerios-Spender Pa-
trick gegenüber in einer Krisensituation in einen scharfen
Beschützerinstinkt umschlagen würde, der ganz tief in ihm
schlummerte. »Niemals«, widersprach ich. » E r würde dem
Eindringling die Schnauze zwischen die Beine stecken und
sich freuen.« Auf jeden Fall waren wir uns aber einig, dass er
den L e u t e n einen Heidenrespekt einflößte. Das war uns n u r
recht. Von seiner Anwesenheit hing es ab, ob wir uns in unse-
r e m eigenen H a u s angreifbar oder sicher fühlten. U n d auch
w e n n wir weiterhin über seine Qualitäten als Wachhund dis-
kutierten, schliefen wir beruhigt, weil wir ihn bei uns hatten.
U n d dann machte er unserer Diskussion eines Abends ein
für alle Mal ein E n d e .
Es war Oktober und das W e t t e r war noch immer unverän-
dert. Die N a c h t war stickig und wir hatten die Klimaanlage
an und die Fenster geschlossen. N a c h den 11 -Uhr-Nachrich-
ten ließ ich Marley noch einmal hinaus, sah nach Patrick in
seinem Bettchen, machte das Licht aus und kroch zu Jenny
ins Bett, die bereits fest schlief. Marley ließ sich wie immer
neben meinem Bett auf den Boden fallen und stieß einen
übertriebenen Seufzer aus. Ich dämmerte gerade ein, als ich
ein Geräusch hörte - e i n e n schrillen, anhaltenden, durchdrin-
genden Ton. Ich war sofort hellwach, und Marley auch. Er
stand wie versteinert neben meinem Bett in der Dunkelheit,
die O h r e n gespitzt. Da war es wieder, man konnte es durch
die geschlossenen Fenster hören, es übertönte das Summen
der Klimaanlage. Ein Schrei. D e r Schrei einer Frau, laut
und ganz eindeutig. Im ersten M o m e n t dachte ich an herum-
albernde Teenager auf der Straße, so etwas kam schließlich
öfter vor. D o c h das war kein fröhlicher » H ö r auf, mich zu

142
kitzeln«-Schrei. Es lag Verzweiflung darin, wirkliches E n t -
setzen, und mir wurde klar, dass da jemand in furchtbaren
Schwierigkeiten steckte.
» K o m m mit, Junge«, flüsterte ich und schlüpfte aus dem
Bett.
»Geh nicht da raus«, kam es von J e n n y neben mir aus der
Dunkelheit. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie wach war und
es auch gehört hatte.
»Ruf die Polizei«, sagte ich. »Ich passe schon auf.«
Ich hielt Marley an seinem Kettenhalsband fest und
schlich in Boxershorts auf die vordere Veranda hinaus, ge-
rade noch rechtzeitig, um eine Gestalt zu sehen, die die Stra-
ße zum Ufer hinunterrannte. Da war er wieder, der Schrei,
er kam aus der entgegengesetzten Richtung. H i e r draußen,
wo keine Fensterscheiben und W ä n d e sie dämpften, war die
Stimme der Frau erstaunlich deutlich und durchdringend.
Ich hatte so etwas bisher nur in Horrorfilmen gehört. Auf
anderen Veranden ging das Licht an. Die beiden jungen
Männer, die gegenüber von uns wohnten, stürzten in U n t e r -
hosen aus der Haustür und rannten auf die Schreie zu. Ich
folgte ihnen vorsichtig in einigem Abstand, Marley dicht an
meiner Seite. Ich sah, wie sie einige Häuser weiter durch
einen Vorgarten liefen und wenige Sekunden später wieder
zurückgerannt kamen.
»Gehen Sie zu dem Mädchen!«, schrie einer der beiden
und deutete hinter sich. »Sie ist verletzt!«
»Wir verfolgen ihn!«, schrie der andere, und die beiden
rannten barfuß die Straße hinunter in die Richtung, in die
die Gestalt geflohen war. Unsere Nachbarin Barry, eine
furchtlose, alleinstehende Frau, die einen heruntergekom-
menen Bungalow neben dem H a u s von M r s N e d e r m i e r ge-
kauft und wieder hergerichtet hatte, sprang in ihr Auto u n d
schloss sich der Jagd an.

143
Ich ließ Marleys Halsband los und rannte in die Rich-
tung, aus der die Schreie kamen. Drei T ü r e n weiter fand
ich meine siebzehnjährige Nachbarin, die alleine in ihrer
Auffahrt stand. Sie krümmte sich zusammen und japste
schluchzend nach Luft. Dabei hielt sie sich die Rippen, und
ich sah, wie sich unter ihren H ä n d e n ein Blutfleck auf ihrer
Bluse ausbreitete. Sie war ein schlankes, hübsches Mädchen
mit dunkelblonden Haaren, die ihr über die Schultern fie-
len. Sie lebte mit ihrer geschiedenen M u t t e r zusammen, ei-
n e r netten Frau, die als Nachtschwester arbeitete. Ich hatte
mich ein paar Mal mit der M u t t e r unterhalten, kannte die
Tochter aber n u r vom Sehen. Ich wusste nicht einmal ihren
Namen.
» E r hat gesagt, er ersticht mich, wenn ich schreie«,
schluchzte sie; die W o r t e kamen stockend, gepresst und in
panischer H a s t heraus. »Aber ich habe geschrien. Ich habe
geschrien und er hat zugestochen!« Als würde ich ihr sonst
nicht glauben, schob sie ihre Bluse hoch und zeigte mir die
W u n d e , wo das Messer in ihren Brustkorb eingedrungen
war. »Ich habe in meinem Auto gesessen und Radio gehört.
Er kam aus dem Nichts!« Ich legte ihr die H a n d auf den
Arm, um sie zu beruhigen, und als ich das tat, sah ich, wie
ihre Knie einknickten. Sie fiel mir in die Arme, ihre Beine
klappten unter ihr zusammen. Ich ließ sie sachte zu Boden
gleiten, setzte mich neben sie und wiegte sie in den Armen.
Sie sprach jetzt leiser, ruhiger, und sie versuchte mit aller
Kraft, die Augen offen zu halten. » E r hat gesagt, ich soll
nicht schreien«, wiederholte sie immer wieder. » E r hat mir
den M u n d zugehalten u n d gesagt, ich soll nicht schreien.«
» D u hast genau das Richtige getan«, versuchte ich sie zu
beruhigen. » D u hast ihn verjagt.«
M i r kam der Gedanke, dass sie möglicherweise unter
Schock stand, und ich hatte keine Ahnung, was man in ei-

144
nem solchen Fall tun musste. Wo bleibt denn der Kranken-
wagen? Ich tröstete sie auf die einzige Art, wie ich es ver-
mochte, so, wie ich mein eigenes Kind getröstet hätte; m e h r
konnte ich nicht tun. Ich strich ihr übers Haar, hielt ihr
meine H a n d an die Wange und wischte ihr die Tränen ab.
Als sie schwächer wurde, drängte ich sie durchzuhalten und
versicherte ihr, Hilfe sei unterwegs. »Alles wird gut«, sagte
ich, dabei wusste ich nicht einmal, ob ich das selbst glau-
ben konnte. Ihr Gesicht war aschfahl. So saßen wir alleine
auf dem Gehsteig, u n d es kam mir wie Stunden vor, dabei
waren es gerade mal drei Minuten, wie es später im Poli-
zeibericht hieß. N u r allmählich kam mir der Gedanke, was
wohl mit Marley passiert war. Als ich aufsah, stand er da,
nur drei M e t e r von uns entfernt, und sah auf die Straße.
Er hatte eine lauernde, entschiedene Körperhaltung einge-
nommen, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. Er war
bereit zum Angriff. Ich sah, wie angespannt seine N a c k e n -
muskeln waren, seine Kiefer waren zusammengebissen, das
Fell zwischen seinen Schultern war gesträubt. Er war voll-
kommen auf die Straße konzentriert und schien jederzeit
sprungbereit zu sein. In diesem M o m e n t wurde mir klar,
dass Jenny Recht gehabt hatte. W e n n der bewaffnete A n -
greifer zurückkam, dann musste er zuerst an m e i n e m H u n d
vorbei. In diesem Augenblick wusste ich - und ich wusste
es mit absoluter Gewissheit -, dass Marley ihn eher töten
würde, als ihn an uns heranzulassen. M i t dem M ä d c h e n in
den Armen, von dem ich nicht wusste, ob es vielleicht ster-
ben würde, war ich ohnehin schon den Tränen nahe. D o c h
der Anblick von Marley, wie er in so untypischer Weise über
uns wachte, so majestätisch und zornig, trieb mir die T r ä n e n
in die Augen. D e r beste Freund des Menschen? Verdammt,
ja, das war er.
»Ich passe auf dich auf«, sagte ich zu dem Mädchen, aber

145
was ich eigentlich sagen wollte, was ich hätte sagen sollen,
war, dass wir auf sie aufpassten, Marley und ich. »Die Polizei
wird gleich hier sein. H a l t durch, bitte, halt durch!«
Bevor ihr die Augen zufielen, flüsterte sie: »Ich heiße
Lisa.«
»Ich bin J o h n « , sagte ich. Es schien lächerlich, sich in
dieser Situation vorzustellen, als ob wir uns auf einer Gar-
tenparty begegnet wären. Fast musste ich über die Absur-
dität der Situation lachen. Stattdessen strich ich ihr eine
Haarsträhne zurück und sagte: » D u bist jetzt in Sicherheit,
Lisa.«
W i e der Erzengel persönlich, vom H i m m e l geschickt,
tauchte plötzlich ein Polizeibeamter auf. Ich pfiff nach
Marley und rief: »Ist gut, Junge, er ist in Ordnung.« Es war,
als hätte ich mit diesem Pfiff einen Bann gebrochen. Da war
er wieder, mein tollpatschiger, gutmütiger Freund, der im
Kreis herumlief, hechelte und herumschnüffelte. Was für
ein uralter Instinkt da auch immer aus den Tiefen seines U n -
terbewusstseins aufgetaucht war, er war wieder in die Fla-
sche zurückgekrochen. Auf einmal waren überall Polizisten,
u n d wenig später kam auch ein Krankenwagen mit Trage
und sterilen Mullkompressen. Ich stand auf, erzählte der
Polizei alles, was ich wusste, und ging nach Hause. Marley
sprang vor mir her. Jenny kam mir an der Haustür entgegen,
und zusammen verfolgten wir das Drama, das sich auf der
Straße vor unserem Fenster abspielte. Unsere Straße sah aus
wie der D r e h o r t eines Fernsehkrimis. Rotes Blinklicht fiel
durch die Fenster. Ü b e r der ganzen Szene kreiste ein P o -
lizeihubschrauber u n d erleuchtete die Gärten und Straßen
mit seinem Scheinwerfer. Polizisten sperrten die Straße ab
und durchkämmten das Viertel zu Fuß. Doch vergeblich: Es
wurde nie ein Verdächtiger gefasst oder ein Motiv ermittelt.
M e i n e beiden Nachbarn, die den T ä t e r verfolgt hatten, sag-

146
ten mir später, dass sie keine Spur m e h r von ihm gefunden
hätten. Jenny und ich gingen schließlich wieder ins Bett, wo
wir noch lange wach lagen.
» D u wärst stolz auf Marley gewesen«, sagte ich zu ihr.
»Es war seltsam. Irgendwie schien er zu spüren, wie ernst
das Ganze war. Er wusste es einfach. Er hat die Gefahr ge-
spürt und war auf einmal ein ganz anderer H u n d . «
»Das habe ich dir ja gleich gesagt«, meinte sie. U n d das
stimmte.
Während der Hubschrauber über uns die Luft vibrieren
ließ, drehte sich J e n n y auf die Seite und murmelte schläfrig:
»Wieder mal nichts los in diesem Viertel.« Ich streckte die
Hand nach Marley aus, der neben meinem Bett lag.
»Das hast du gut gemacht, alter J u n g e « , flüsterte ich u n d
kraulte ihm den Kopf. » D u hast dir dein Futter verdient.«
U n d mit der H a n d auf seinem Rücken schlief ich ein.

Es ist bezeichnend für die Gleichgültigkeit, die m a n in Süd-


florida jeder Art von Kriminalität entgegenbringt, dass die-
ser Vorfall mit genau sechs Sätzen in der Zeitung erwähnt
wurde. Immerhin war ein junges M ä d c h e n in ihrem eigenen
Auto direkt vor dem elterlichen H a u s niedergestochen wor-
den. Doch in der Sonntagszeitung wurde das Verbrechen
unter der Rubrik »Verschiedenes« auf Seite 3 b kurz abge-
handelt. Die Überschrift lautete: » M a n n greift M ä d c h e n
an«.
In dem Artikel stand nichts über mich oder Marley oder
meine Nachbarn, die dem Verbrecher halbnackt hinterher-
gerannt waren. Sie erwähnten auch Barry nicht, die ihn mit
ihrem Auto verfolgt hatte. O d e r all die N a c h b a r n in der
Straße, die ihre Verandabeleuchtung angeknipst u n d den
Notruf gewählt hatten. Südflorida war so sehr an Verbre-
chen gewöhnt, dass unser kleines D r a m a n u r eine unbedeu-

147
tende Geschichte war. Keine Toten, keine Geiseln, nichts
Auffegendes.
Das Messer hatte Lisas Lunge verletzt, und sie musste
fünf Tage im Krankenhaus bleiben und sich danach mehrere
W o c h e n zu Hause erholen. Ihre M u t t e r hielt die Nachbarn
über Lisas gesundheitliche Fortschritte auf dem Laufenden,
Lisa selbst blieb jedoch im H a u s und ließ sich nicht blicken.
Ich fragte mich, was für psychische Spuren der Angriff bei
ihr hinterlassen hatte. W ü r d e sie jemals wieder ohne Angst
das H a u s verlassen können? Unser Leben hatte sich gerade
mal drei M i n u t e n lang gekreuzt, aber ich fühlte mich ihr ver-
bunden, als wäre ich ihr großer Bruder. Ich wollte ihre Pri-
vatsphäre nicht stören, trotzdem wollte ich sie gerne sehen
und mich vergewissern, dass sie wieder gesund wurde.
Als ich schließlich eines Samstags in unserer Auffahrt die
Autos wusch, sprang Marley neben mir plötzlich auf, und als
ich aufsah, stand sie da. Sie war noch hübscher, als ich sie in
E r i n n e r u n g hatte. Gebräunt, kräftig, athletisch - sie sah wie-
der ganz gesund aus. Sie lächelte und fragte: »Erinnern Sie
sich noch an mich?«
»Mal sehen«, sagte ich und tat, als wäre ich verwirrt. »Ir-
gendwie kommst du mir bekannt vor. Warst du nicht die, die
auf dem Tom-Petty-Konzert vor mir gestanden hat und sich
nicht hinsetzen wollte?«
Sie lachte, und ich fragte: » W i e geht's dir, Lisa?«
» M i r geht's gut«, antwortete sie. »Es ist beinahe wieder
alles normal.«
» D u siehst blendend aus«, versicherte ich ihr. »Viel bes-
ser als das letzte Mal, als wir uns begegnet sind.«
»Tja, stimmt«, sagte sie und schlug die Augen nieder.
»Was für eine N a c h t . «
»Ja, was für eine N a c h t « , wiederholte ich.
M e h r gab es dazu nicht zu sagen. Sie erzählte mir vom

148
Krankenhaus, den Ärzten, dem Detective, der sie befragt
hatte, den unzähligen Obstkörben, der Langeweile, als sie
zu Hause gesessen und sich erholt hatte. D o c h den Uberfall
selbst erwähnte sie mit keinem Wort, und ich tat es auch
nicht. Manche Sachen muss man auf sich beruhen lassen.
Lisa blieb lange an diesem Nachmittag. Sie begleitete
mich durch den Garten und half mir bei kleineren Arbeiten,
sie spielte mit Marley und wir redeten über belanglose D i n -
ge. Ich merkte, dass sie etwas sagen wollte, es aber nicht über
sich brachte. Sie war siebzehn; ich erwartete nicht von ihr,
dass sie die richtigen W o r t e fand. Unsere Lebenswege harten
sich ohne Plan oder Vorwarnung überschnitten, zwei F r e m -
de, die durch eine Explosion unerklärlicher Gewalt aufeinan-
dergeworfen worden waren. Für die üblichen Höflichkeiten
zwischen Nachbarn war keine Zeit gewesen, keine Zeit, um
eine Beziehung herzustellen. Innerhalb eines Augenblicks
hatten wir uns zusammen in einer Krisensituation wieder-
gefunden, ein Vater in Boxershorts und ein junges M ä d c h e n
in blutdurchtränkter Bluse, die sich aneinander und an die
Hoffnung klammerten. Zwischen uns herrschte jetzt so et-
was wie Vertrautheit. U n d zugleich eine gewisse U n b e h o l -
fenheit, ein leichtes Gefühl der Peinlichkeit, denn wir waren
einander in einem Zustand völliger Blöße begegnet. Jedes
W o r t war überflüssig. Ich wusste, dass sie mir dankbar war,
dass ich ihr damals beigestanden hatte, ich wusste, dass sie
meine Bemühungen, sie zu trösten, zu schätzen wusste, wie
unbeholfen sie auch gewesen waren. Sie hatte gefühlt, dass
ich mir wirklich Sorgen um sie machte und auf ihrer Seite
war. In dieser N a c h t auf dem Gehsteig hatten wir etwas ge-
teilt - einen dieser kurzen M o m e n t e der Klarheit, die sofort
wieder vorbei sind und doch alle anderen M o m e n t e eines
Lebens prägen. Keiner von uns würde das je vergessen.
»Ich freue mich, dass du vorbeigeschaut hast«, sagte ich.

149
»Ich mich auch«, antwortete Lisa.
Als sie ging, hatte ich ein gutes Gefühl. Sie war stark. Sie
war hart im N e h m e n . Sie würde nach vorne blicken. U n d
Jahre später sah ich mich bestätigt: Sie hatte sich eine Kar-
riere als Fernsehmoderatorin aufgebaut und ihren W e g ge-
macht.
VIERZEHN

Eine verfrühte Ankunft

J ohn.« W i e durch einen N e b e l drang eine Stimme in mei-


nen Traum. »John! John, wach auf.« Es war Jenny, sie
schüttelte mich. »John, ich glaube, das Baby k o m m t . «
Ich stützte mich auf die Ellbogen und rieb mir die Augen.
Jenny lag auf der Seite und hatte die Knie hochgezogen.
»Das Baby macht was?«
»Ich habe starke W e h e n « , sagte sie. »Ich habe die Zeit
gestoppt. W i r müssen Dr. Sherman anrufen.«
Ich war nun hellwach. Das Baby kam? Ich freute mich
schrecklich auf die G e b u r t unseres zweiten Kindes - wie-
der ein Junge, wie wir inzwischen durch die Ultraschall-
untersuchung wussten. Aber das T i m i n g war falsch, furcht-
bar falsch. Jenny war erst in der einundzwanzigsten Woche,
gerade mal die Hälfte der üblichen vierzig W o c h e n ei-
ner Schwangerschaft. In den Büchern, die sie zum T h e m a
Schwangerschaft gekauft hatte, waren Fotos, die Föten im
Mutterleib in ihrer Entwicklung zeigten. Erst vor einigen
Tagen hatten wir das Buch hervorgeholt, hatten uns die F o -
tos von einem einundzwanzig W o c h e n alten Fötus angese-
hen und uns gefragt, wie es unserem kleinen Freund wohl
gehen mochte. Mit einundzwanzig W o c h e n passt ein Fötus
in eine Handfläche. Er wiegt nicht einmal ein Pfund. Seine
Augen sind noch geschlossen, die Finger sind zerbrechliche
kleine Stummel, und seine Lunge ist noch nicht weit genug

151
entwickelt, um den Sauerstoff in der Luft zu verarbeiten.
M i t einundzwanzig W o c h e n ist ein Kind kaum lebensfähig.
Seine Überlebenschancen außerhalb des Mutterleibes sind
gering, und die Chancen, keine ernsten, lebenslangen ge-
sundheitlichen Schäden davonzutragen, sind noch kleiner.
Es hat seine G r ü n d e , warum die N a t u r es so eingerichtet
hat, dass Babys normalerweise neun Monate im Mutterleib
bleiben. M i t einundzwanzig W o c h e n stehen ihre Chancen
verdammt schlecht.
»Wahrscheinlich ist es nichts«, sagte ich. Aber mein H e r z
raste, als ich den N o t r u f der Geburtsstation im Krankenhaus
anrief und auf den Anrufbeantworter sprach. Zwei Minuten
später rief Dr. Sherman zurück. Er klang müde. »Vielleicht
sind es n u r Blähungen«, sagte er. »Aber wir sehen lieber
nach.« Er befahl mir, J e n n y sofort ins Krankenhaus zu brin-
gen. Ich rannte durchs Haus, warf einige Sachen zum Über-
nachten für sie in eine Tasche, bereitete Babyflaschen vor
und griff nach der W c k e l t a s c h e . Jenny rief ihre Freundin
und Kollegin Sandy an, die selbst gerade M u t t e r geworden
war u n d n u r ein paar Häuser weiter wohnte, und fragte, ob
wir Patrick bei ihr abgeben dürften. Inzwischen war auch
Marley aufgewacht und streckte sich gähnend. Eine nächtli-
che Spritztour! »Tut mir leid, Marley«, sagte ich zu ihm, als
ich ihn in die Garage brachte und sein bitter enttäuschtes
Gesicht sah. » D u musst die Festung bewachen.« Ich hob
Patrick aus seinem Bettchen, setzte ihn, ohne ihn zu wecken,
in seinen Autositz, und schon waren wir unterwegs.
Auf der Geburtsstation des St.-Mary-Krankenhauses gin-
gen die H e b a m m e n schnell ans Werk. Sie zogen Jenny ein
H e m d an u n d schlossen sie an ein Messgerät an, das ihre
W e h e n und den Herzschlag des Babys anzeigte. Kein Zwei-
fel, die W e h e n kamen alle sechs Minuten. Das waren ganz
sicher keine Blähungen. »Ihr Baby möchte rauskommen«,

152
sagte eine der H e b a m m e n . » W i r werden alles tun, um das
zu einem so frühen Zeitpunkt zu verhindern.«
Telefonisch gab Dr. Sherman die Anweisung, den M u t -
termund zu überprüfen. Eine H e b a m m e fühlte mit einem
behandschuhten Finger nach: D e r M u t t e r m u n d war einen
Zentimeter geöffnet. Sogar ich wusste, dass das nicht gut
war. M i t zehn Zentimetern ist er vollständig offen, und die
Mutter beginnt bei einer normal verlaufenden G e b u r t zu
pressen. M i t jeder schmerzhaften W e h e brachte Jennys Kör-
per sie einen Schritt näher an den Punkt, an dem es kein
Zurück mehr gab.
Dr. Sherman ordnete eine Infusion und eine Injektion mit
einem W e h e n h e m m e r an. Die W e h e n ebbten daraufhin ab,
doch zwei Stunden später waren sie mit unverminderter Hef-
tigkeit wieder da, sodass weitere W e h e n h e m m e r notwendig
waren. Die nächsten zwölf Tage blieb J e n n y im Kranken-
haus, unter der genauen Beobachtung von zahlreichen Spezi-
alisten und Monitoren. Ich n a h m Urlaub und spielte alleiner-
ziehenden Vater für Patrick. Ich tat mein Bestes, um alles
im Griff zu behalten - die Wäsche, die Vorräte, die Mahlzei-
ten, die Rechnungen, den Haushalt, den Garten. Oh ja, und
da war ja noch ein weiteres Mitglied unserer Familie. Statt
wie bisher die zweite Geige hinter Patrick zu spielen, flog
der arme Marley jäh aus dem Orchester. D o c h auch als ich
ihn nicht weiter beachtete, hielt er seinen Teil unserer Bezie-
hung aufrecht und ließ mich nicht aus den Augen. Er folgte
mir treu durch das Haus, wenn ich mit Patrick auf dem A r m
herumtorkelte, Wäsche aufhängte oder eine Mahlzeit zube-
reitete. W e n n ich in die Küche ging, um ein paar schmut-
zige Teller in die Spülmaschine zu stellen, kam er mir nach,
drehte sich fünfmal im Kreis, um den perfekten Platz zum
Hinlegen zu finden, und ließ sich dann auf den Boden fallen.
W e n n er sich gerade bequem eingerichtet hatte, schoss ich

153
aus der Küche und in den Waschkeller, um die Wäsche aus
der Maschine in den Trockner zu verfrachten. Er kam mir
nach, drehte sich im Kreis, kratzte so lange mit der Pfote an
den Teppichen, bis sie zu seiner Befriedigung ausgerichtet
waren, und ließ sich dann fallen, nur um zu sehen, wie ich
ins W o h n z i m m e r eilte, um die Zeitung zu holen. So ging
das den ganzen Tag. W e n n er Glück hatte, hielt ich kurz in
meinem Wahnsinn inne, um ihn zu streicheln.
Eines Abends, als Patrick endlich eingeschlafen war, fiel
ich erschöpft auf die Couch. Marley tapste zu mir herüber
und legte mir sein Tauzieh-Spielzeug auf den Schoß, dann
sah er mich mit seinen großen braunen Augen an. »Oh,
Marley«, sagte ich, »ich kann nicht mehr.« Er schob seine
Schnauze unter das Spielzeug, warf es in die Luft und war-
tete, dass ich danach greifen würde und er es mir wieder
wegschnappen konnte. »Tut mir leid, alter Freund«, sagte
ich. » H e u t e nicht.« Er zog eine Augenbraue hoch und legte
den Kopf schief. Plötzlich lag seine schöne tägliche Routine
in T r ü m m e r n . Sein Frauchen war auf unerklärliche Weise
verschwunden, sein H e r r c h e n war schlecht drauf, und nichts
war m e h r wie früher. Er jaulte kurz auf und ich konnte se-
hen, wie er versuchte, das alles zu verstehen. Warum hat John
keine Lust mehr, mit mir zu spielen? Was ist aus den Morgenspa-
ziergängen geworden? Warum gibt es keine Raufereien mehr auf
dem Boden? Und wo ist eigentlich Jenny? Sie ist doch nicht mit
diesem. Dalmatiner aus der Nachbarschaft durchgebrannt, oder?
D o c h es gab auch Lichtblicke für Marley. D e n n zu seiner
großen Freude fand ich schnell wieder zu meinem voreheli-
chen, sprich schlampigen Lebensstil zurück. Kraft meines
Amtes als einziger Erwachsener im H a u s hob ich die Ver-
o r d n u n g zur F ü h r u n g eines verheirateten Hausstandes auf
und führte wieder die einst aufgegebenen Junggesellenre-
geln ein. Solange J e n n y im Krankenhaus war, wurden die T-

154
Shirts zweimal oder sogar dreimal angezogen, n u r auffällige
Flecken wurden zwischen den Waschgängen notdürftig be-
seitigt. Milch durfte direkt aus dem Milchkarton getrunken
werden und die Klobrillen blieben hochgeklappt, außer m a n
musste sich mal draufsetzen. Sehr zu Marleys Freude ließ ich
die Badezimmertür Tag und N a c h t offen. W i r Jungs waren
ja schließlich unter uns. Das gab Marley die Möglichkeit,
mir ungewohnt nahe zu sein. Von diesem P u n k t aus war es
nur ein logischer Schritt, ihn direkt aus dem Wasserhahn der
Badewanne trinken zu lassen. J e n n y wäre entrüstet gewesen,
doch in meinen Augen war das immer n o c h besser, als ihn
aus der Toilette trinken zu lassen. Jetzt, wo die Offene-Klo-
deckel-Verordnung galt, musste ich Marley schließlich eine
sinnvolle Alternative zu diesem attraktiven Porzellanbecken
bieten, das ihn ja geradezu dazu einlud, mit der Schnauze
darin U-Boot zu spielen.
Ich ging dazu über, den Wasserhahn der Badewanne im-
mer ein kleines bisschen laufen zu lassen, wenn ich auf der
Toilette war, damit Marley kaltes, frisches Wasser schlabbern
konnte. D e r H u n d hätte sich über eine exakte Nachbildung
eines isländischen Wasserfalls nicht m e h r freuen können. Er
schob seinen Kopf quer unter den Wasserhahn und schlab-
berte drauflos. Sein Schwanz schlug wild gegen das Wasch-
becken hinter ihm. Ich kam zu der Überzeugung, dass er in
einem früheren Leben ein Kamel gewesen sein musste, denn
sein Durst war unstillbar. Schon nach wenigen Tagen wurde
mir klar, dass ich ein Badewannenmonster erschaffen hatte:
Bald ging Marley auch alleine ins Badezimmer, o h n e dass ich
dort stand, und starrte unglücklich auf den Wasserhahn. Er
schleckte jeden Tropfen ab u n d schnoberte so lange mit sei-
ner Schnauze am H a h n , bis ich es nicht länger aushielt u n d
ihn aufdrehte. Plötzlich schien das Wasser in seiner Schüssel
nicht mehr gut genug für meinen H u n d zu sein.

155
D e r nächste Schritt auf unserem W e g in die Barbarei kam,
als ich duschte. Marley entdeckte, dass er seinen Kopf nur
hinter den Duschvorhang schieben musste und statt dem
Getröpfel aus dem Wasserhahn einen ganzen Wasserfall vor-
fand. Ich seifte mich gerade ein, und plötzlich tauchte sein
haariger Kopf auf und er fing an, in den Duschstrahl zu prus-
ten. »Erzähl das bloß nicht Frauchen!«, warnte ich ihn.
Ich versuchte J e n n y einzureden, dass ich zu Hause alles
problemlos unter Kontrolle hatte. »Uns geht es prima«,
erzählte ich ihr, und dann wandte ich mich an Patrick und
fügte hinzu: » N i c h t wahr, Kumpel?« Darauf erwiderte er
sein übliches »Dada!«, und dann deutete er auf den Ventila-
tor über Jennys Bett und rief: »Uffft!« Doch sie wusste es
besser. Als ich eines Tages zu unserem täglichen Besuch mit
Patrick bei ihr auftauchte, starrte sie uns ungläubig an und
fragte: »Was in aller Welt hast du denn mit ihm gemacht?«
»Was meinst du?«, fragte ich zurück. »Es geht ihm prima.
Stimmt doch, oder?«
»Dada! Uffft!«
»Aber wie sieht er denn aus?«, erwiderte sie. »Wie in aller
Welt...«
Erst da fiel es mir auf. Irgendetwas stimmte nicht mit sei-
n e m Strampelanzug. Seine dicken Schenkelchen steckten
in den kurzen Ärmeln. D e r Stoff schnürte ihm das Blut ab.
D e r Kragen hing ihm zwischen den Beinen herum. Sein
Kopf ragte aus dem offenen Hosenschritt heraus, und seine
Arme waren irgendwo in den viel zu langen Hosenbeinen
verschwunden. Es war ein Bild für Götter.
» D u Spinner«, sagte sie. » D u hast ihm das Ding verkehrt
h e r u m angezogen.«
»Das ist deine Sicht der Dinge«, erwiderte ich.
Aber es war gelaufen. Jenny hängte sich von ihrem Kran-
kenbett aus ans Telefon, und ein paar Tage später stand

156
meine liebe Tante Anita mit ihrem Koffer vor der Tür, eine
pensionierte Krankenschwester, die als junges M ä d c h e n von
Irland nach Amerika gekommen war und n u n auf der ande-
ren Seite des Kontinents lebte. Sie machte sich fröhlich ans
Werk und stellte die alte O r d n u n g wieder her. Die J u n g g e -
sellenregeln waren damit Geschichte.

Als die Arzte Jenny schließlich nach Hause entließen, geschah


das nur unter den strengsten Auflagen. W e n n sie ein gesun-
des Baby zur Welt bringen wollte, musste sie im Bett bleiben
und sich so ruhig wie möglich verhalten. Sie durfte sich n u r
bewegen, um auf die Toilette zu gehen. Kein Kochen, keine
Windeln wechseln, keine Post hereinholen, nichts heben,
was schwerer war als eine Zahnbürste - einschließlich ihres
Babys, eine Einschränkung, die sie fast wahnsinnig machte.
Absolute Bettruhe, keine Kompromisse. Jennys Arzte hatten
die ersten W e h e n erfolgreich bekämpft, und ihr Ziel war es,
diesen Zustand für die nächsten zwölf W o c h e n zu halten.
Dann würde das Baby fünfunddreißig W o c h e n alt sein, im-
mer noch ein Winzling, aber vollständig entwickelt und be-
reit, der Welt hier draußen auf eigene Faust zu begegnen.
Das bedeutete aber, dass wir Jenny vollkommen ruhig stel-
len mussten. Tante Anita, G o t t segne sie, zog endgültig bei
uns ein. Marley war entzückt, eine neue Spielkameradin zu
haben. Ziemlich bald hatte er auch Tante Anita so weit, dass
sie ihm den Wasserhahn der Badewanne aufdrehte.
Eine Arztin kam zu uns nach Hause und setzte J e n n y ei-
nen Katheter am Oberschenkel, den sie mit einer kleinen
Pumpe an Jennys Bein verband. Von dort aus floss ununter-
brochen eine bestimmte Dosis W e h e n h e m m e r in Jennys
Blutkreislauf. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre,
schloss sie Jenny an ein Überwachungsgerät an, das aussah
wie ein Folterwerkzeug - eine übergroße Saugglocke, die

157
an eine Reihe von Kabeln angeschlossen war, die wiederum
an einem Telefon endeten. Die Saugglocke war mit einem
elastischen G u r t an Jennys Bauch befestigt und zeichnete
den Herzschlag des Babys und jede W e h e auf. Die Daten
wurden dreimal täglich an eine Krankenschwester gesendet,
die auf kleinste Unregelmäßigkeiten achtete. Ich lief in die
nächste Buchhandlung u n d kam mit einem kleinen Vermö-
gen in F o r m von Lesematerial zurück, was Jenny bereits in
den ersten drei Tagen verschlungen hatte. Sie versuchte bei
Laune zu bleiben, aber die Langeweile, das Nichtstun, die
ständige Unsicherheit über die Gesundheit ihres ungebore-
n e n Kindes wirkten zusammen und machten sie fertig. Das
Schlimmste war, dass sie M u t t e r eines fünfzehn Monate al-
ten Sohnes war, den sie nicht hochheben durfte; sie durfte
nicht zu ihm laufen, ihn nicht füttern, wenn er H u n g e r hat-
te, ihn nicht baden, wenn er schmutzig war, oder ihn trösten
und küssen, wenn er traurig war. Ich setzte ihn immer zu ihr
aufs Bett, wo er sie an den H a a r e n zog und ihr die Finger in
den M u n d steckte. D a n n deutete er auf den Ventilator über
ihrem Bett u n d rief: »Mama, uffft!« Das brachte sie zum Lä-
cheln, doch sie war nicht m e h r die Alte. Sie drehte in ihrer
erzwungenen Bewegungslosigkeit langsam durch.
Ihr treuer Begleiter in dieser Zeit war natürlich Marley.
Er richtete sich häuslich neben ihrem Bett ein, brachte eine
große Auswahl an Spielzeugen und Kauknochen mit, nur
für den Fall, dass J e n n y es sich doch noch anders überlegen
und aus dem Bett springen würde, um mit ihm eine Runde
Tauziehen zu spielen und herumzutoben. D o r t hielt er Wa-
che, Tag und Nacht. Ich kam von der Arbeit nach Hause
u n d traf Tante Anita in der Küche beim Abendessenkochen
an, Patrick in seiner W i p p e neben ihr. D a n n ging ich ins
Schlafzimmer und fand Marley neben dem Bett, das Kinn
auf die Matratze gestützt, schwanzwedelnd und die Schnau-

158
ze gegen Jennys Hals gedrückt, während sie las oder schlum-
merte oder nur an die Decke starrte. Ihr Arm ruhte auf sei-
nem Rücken. Ich strich jeden Tag im Kalender aus, um ihr
zu zeigen, dass die Zeit verging, aber für sie war es n u r ein
Beweis, wie langsam jede Minute, jede Stunde verging. M a n -
che Leute verbringen ihr Leben gerne in fauler Zurückgezo-
genheit; Jenny gehört nicht dazu. Sie kann nicht stillsitzen,
muss immer etwas zu tun haben, und die aufgezwungene Ta-
tenlosigkeit machte sie jeden Tag trübsinniger. Sie war wie
ein Segler bei Flaute, der mit wachsender Verzweiflung auf
den leisesten Windhauch wartet, der die Segel füllt, um die
Reise fortzusetzen. Ich versuchte ihr M u t zu machen und
sagte Dinge wie: »In einem Jahr denken wir an das hier zu-
rück und lachen darüber«, aber ich spürte, wie sich ein Teil
von ihr von mir entfernte. An manchen Tagen war ihr Blick
ganz abwesend.

Als Jenny noch einen vollen M o n a t Bettruhe vor sich hatte,


packte Tante Anita ihre Koffer und verabschiedete sich. Sie
war so lange geblieben, wie sie konnte, hatte ihren Aufent-
halt sogar ein paar Mal verlängert, aber sie hatte einen E h e -
mann zu Hause, der, wie sie n u r halb scherzhaft beteuerte,
höchstwahrscheinlich vor dem Fernseher verwahrloste. W i r
waren wieder auf uns alleine gestellt.
Ich tat mein Bestes, um uns über Wasser zu halten, stand
bei Tagesanbruch auf, um Patrick zu baden und anzuziehen,
fütterte ihn dann mit Hafergrütze und pürierten Karotten
und nahm ihn zusammen mit Marley auf einen kurzen Spa-
ziergang mit. D a n n brachte ich ihn zu Sandy, ging zur Arbeit
und holte ihn abends wieder ab. In der Mittagspause kam
ich nach Hause, um Jenny etwas zu essen zu machen und ihr
die Post zu bringen - für sie war das das Highlight des Ta-
ges -, warf ein paar Mal einen Stock für Marley und räum-

159
te notdürftig das H a u s auf, dem man die Vernachlässigung
langsam ansah. D e r Rasen blieb ungemäht, die Wäsche blieb
liegen und die Fliegentür der hinteren Veranda blieb kaputt,
nachdem Marley sie auf der Jagd nach einem Eichhörnchen
in einer comicreifen Szene eingerannt hatte. Wochenlang
schlug die kaputte T ü r im W i n d hin und her und wurde so
zu einer richtigen Hundetür, durch die Marley in meiner Ab-
wesenheit nach Belieben ein und aus gehen konnte, wenn er
mit der ans Bett gefesselten J e n n y alleine zu Hause war. »Ich
repariere die T ü r « , versprach ich Jenny. »Es steht schon auf
meiner Liste.« Aber ich konnte die Bestürzung in ihren Au-
gen lesen. Es kostete sie äußerste Selbstbeherrschung, nicht
aufzuspringen und ihr Zuhause wieder in Form zu bringen.
Abends, wenn Patrick eingeschlafen war, fuhr ich in den Su-
permarkt zum Einkaufen, manchmal erst um Mitternacht.
W i r lebten von Take-away-Pizza, Cheerios und jeder M e n -
ge N u d e l n . Das Tagebuch, das ich jahrelang treu geführt
hatte, blieb stumm. Ich hatte einfach keine Zeit und noch
weniger Kraft. D e r letzte Eintrag lautete kurz: »Im M o m e n t
steht uns das Wasser bis zum Hals.«
Als J e n n y endlich die fünfunddreißigste Woche erreicht
hatte, kam die Arztin zu uns und sagte: »Herzlichen Glück-
wunsch, Mädchen, Sie haben es geschafft. Sie sind wieder
frei.« Sie entfernte die Infusionspumpe und den Katheter,
n a h m den M o n i t o r ab und ging dann die schriftlichen An-
weisungen von Dr. Sherman durch. Jenny durfte wieder zu
ihrem früheren Lebensstil zurückkehren. Keine Einschrän-
kungen. Keine Medikamente mehr. W i r durften sogar wie-
der Sex haben. Das Baby war n u n voll lebensfähig. Die W e -
hen würden ganz natürlich einsetzen. »Machen Sie sich eine
schöne Zeit«, sagte die Ärztin. »Sie haben es verdient.«
J e n n y warf Patrick in die Luft, tobte mit Marley durch
den G a r t e n und warf sich auf den Haushalt. An diesem

160
Abend feierten wir in einem indischen Restaurant und gin-
gen anschließend ins Theater. Am nächsten Tag setzten wir
unsere kleine Party beim Griechen fort. D o c h noch ehe das
Gyros unseren Tisch erreicht hatte, hatte J e n n y schon hef-
tigste Wehen. Sie hatten bereits am Abend vorher angefan-
gen, als Jenny Currylamm gegessen hatte, doch sie hatte sie
ignoriert. Sie wollte sich ihren hart verdienten Abend in der
Stadt nicht von ein paar W e h e n verderben lassen. Jetzt wur-
de sie von den Schmerzen beinahe überwältigt. W i r rasten
nach Hause, wo Sandy schon auf Abruf bereit war, Patrick zu
übernehmen und ein Auge auf Marley zu haben. J e n n y war-
tete im Auto und kämpfte sich mit kurzen, flachen Atemzü-
gen durch die Wehen, während ich ihre Krankenhaustasche
holte. Als wir am Krankenhaus ankamen und ein Z i m m e r zu-
gewiesen bekamen, war Jennys M u t t e r m u n d bereits sieben
Zentimeter weit geöffnet. N i c h t einmal eine Stunde später
hielt ich unseren kleinen Sohn in den Armen. J e n n y zählte
seine Finger und Zehen. Seine Augen waren offen und hell-
wach, er hatte rote Bäckchen.
»Sie haben es geschafft«, verkündete Dr. Sherman. » E r
ist perfekt.«
C o n o r Richard Grogan, fünfeinhalb Pfund, wurde am
10. Oktober 1993 geboren. Vor Glück verschwendete ich kei-
nen Gedanken daran, dass uns für diese G e b u r t tatsächlich
eine der Luxussuiten zur Verfugung gestanden hätte, wir
aber überhaupt keine Zeit gehabt hatten, sie zu genießen.
Ein paar Minuten eher, und J e n n y hätte unseren Sohn auf
dem Parkplatz der Texaco-Tankstelle bekommen. Ich hatte
noch nicht einmal Zeit gehabt, mich auf der bequemen Va-
tercouch auszustrecken.
W i r hatten gewaltige Anstrengungen u n t e r n o m m e n , um
Conor heil auf diese Welt zu bringen. Daher wunderte es
uns nicht, dass die G e b u r t unseres Sohnes großen Trubel

161
auslöste - aber wir hatten nicht damit gerechnet, dass
sich die Lokalpresse dafür interessieren würde. Vor unserem
Krankenhauszimmerfenster drängten sich Fernsehteams
mit Satellitenschüsseln auf ihren Autos. Ich sah, wie sich die
Journalisten vor ihren Kameras postierten. »Hey, Liebling«,
sagte ich, »die Paparazzi haben dich entdeckt.«
Eine Säuglingsschwester, die sich gerade um unser Baby
kümmerte, meinte: »Ja, es ist kaum zu glauben, aber ein paar
Z i m m e r weiter ist Donald T r u m p . «
»Donald Trump?«, fragte Jenny. »Ich wusste gar nicht,
dass der schwanger war.«
D e r Immobilientycoon hatte ein paar Jahre zuvor einen
gewaltigen Medienrummel ausgelöst, als er in ein riesiges
H a u s in Palm Beach gezogen war, das vorher Marjorie
Merriweather Post gehört hatte, der großen Kunstsammle-
rin. Das Grundstück hieß Mar-a-Lago, was so viel wie »vom
M e e r zum See« bedeutet. U n d wie der N a m e schon sagt,
erstreckte sich das Grundstück über siebzehn Hektar vom
Atlantik bis zum Intracoastal Waterway, einschließlich eines
9-Loch-Golfplatzes. Vom unteren Ende unserer Straße aus
konnten wir über das Wasser blicken und die maurisch inspi-
rierten T ü r m c h e n des Hauses mit den achtundfünfzig Schlaf-
zimmern sehen, die über die Palmen ragten. Die Trumps
und die Grogans waren praktisch Nachbarn.
Ich schaltete den Fernseher an und erfuhr, dass der große
Donald u n d seine Freundin Maria Maples stolze Eltern ei-
nes Mädchens geworden waren, passenderweise nannten sie
es Tiffany. Sie war n u r wenige Stunden jünger als Conor.
» W i r müssen sie mal zum Spielen einladen«, sagte Jenny.
Von unserem Fenster aus beobachteten wir, wie die Fern-
sehteams sich vor dem Eingang postierten, um die Trumps
zu filmen, wenn sie das Krankenhaus mit ihrem Baby ver-
ließen. Maria lächelte zurückhaltend, als sie ihr Baby vor

162
die Kamera hielt; Donald winkte und zwinkerte keck mit
den Augen. »Ich fühle mich großartig!«, verkündete er vor
laufender Kamera. D a n n fuhren sie in einer Limousine mit
Chauffeur davon.
Als wir am nächsten M o r g e n das Krankenhaus verließen,
schob eine reizende ältere D a m e , die ehrenamtlich im Kran-
kenhaus arbeitete, J e n n y mit C o n o r durch die Eingangshalle
und durch die automatischen Schiebetüren in den Sonnen-
schein hinaus. Keine Kamerateams, keine Funkwagen, kein
O-Ton, keine Liveschaltung. N u r wir und unsere Begleite-
rin. Mich fragte niemand, aber ich fühlte mich auch großar-
tig. Donald war nicht der Einzige, der vor Stolz über seinen
Nachwuchs beinahe platzte. Die ältere D a m e wartete bei J e n -
ny und dem Baby, bis ich mit dem Auto vorfuhr. Bevor ich
meinen kleinen Sohn in seinen Autositz setzte, h o b ich ihn
in die Luft, damit die ganze Welt ihn sehen konnte - wenn
uns jemand beobachtet hätte -, und sagte: » C o n o r Grogan,
du bist genauso etwas Besonderes wie Tiffany T r u m p , dass
du mir das nie vergisst!«
FÜNFZEHN

Das Wochenbett-Ultimatum

W as n u n kam, hätte eigentlich die schönste Zeit unse-


res Lebens sein sollen, und in vieler Hinsicht war es
auch so. W i r hatten n u n zwei Söhne, ein Kleinkind und ein
Neugeborenes, gerade mal siebzehn Monate auseinander.
Sie waren unser Ein und Alles. D e n n o c h blieb etwas von der
Dunkelheit, die J e n n y während ihrer erzwungenen Bettruhe
ergriffen hatte. Manchmal ging es ihr wochenlang gut und
sie war glücklich über die Herausforderung, für zwei kleine
Grogans verantwortlich zu sein, die in jeder Hinsicht von
ihr abhängig waren. D a n n wieder, ohne jede Vorwarnung,
war sie plötzlich niedergeschlagen und schlecht gelaunt,
wie in einen blauen N e b e l eingehüllt, der sich manchmal
tagelang nicht verzog. W i r waren beide erschöpft von den
vielen schlaflosen N ä c h t e n . Patrick meldete sich immer
noch mindestens einmal pro Nacht, und C o n o r wachte we-
sentlich öfter auf und weinte, weil er gestillt oder gewickelt
werden wollte. Selten konnten wir länger als zwei Stunden
am Stück schlafen. In manchen N ä c h t e n schlichen wir wie
Zombies schweigend und mit glasigen Augen aneinander
vorbei, J e n n y zu einem Baby und ich zu dem anderen. W i r
waren um Mitternacht auf und um zwei Uhr, dann wieder
um halb vier und um fünf Uhr. W e n n die Sonne aufging und
einen neuen Tag und damit auch Hoffnung und bleierne M ü -
digkeit brachte, liefen wir wieder in unserem Hamsterrad.

164
Von unten kam dann Patricks süße Stimme, fröhlich und
hellwach: »Mama! Dada! Uffft!«, und wir wussten, dass es
mit dem Schlaf für diesen Tag vorbei war, ob wir wollten
oder nicht. Ich kochte stärkeren Kaffee, kam in zerknitter-
ten H e m d e n und Krawatten mit Babybreiflecken zur Arbeit.
Eines Morgens ertappte ich die junge, attraktive Redaktions-
assistentin dabei, wie sie mich anstarrte. Ich lächelte ihr ge-
schmeichelt zu. Hey, ich mag inzwischen zweifacher Vater sein,
aber die Frauen werfen immer noch ein Auge auf mich. D a n n
fragte sie: »Wissen Sie, dass Sie ein Abziehbildchen im H a a r
haben?«
Zu allem Uberfluss machte uns unser kleines Baby große
Sorgen. C o n o r hatte ohnehin Untergewicht und konnte
keine Mahlzeit bei sich behalten. J e n n y war wild entschlos-
sen, ihn zu einem robusten Kerlchen heranzufüttern, u n d
er schien genau das Gegenteil zu wollen. Sie bot ihm ihre
Brust an und er saugte hungrig daran. D a n n spuckte er mit
einem gewaltigen W ü r g e n alles wieder aus. Sie stillte ihn
wieder, er trank wieder gierig - und wenig später kam uns
wieder alles entgegen. Erbrechen im Schwall wurde zu ei-
nem stündlichen Ritual bei uns. Jedes Mal wiederholte sich
dieses Spielchen, und jedes Mal wurde J e n n y wütender. Die
Arzte diagnostizierten Reflux und schickten uns zu einem
Spezialisten, der unseren kleinen J u n g e n betäubte und ihm
eine Magensonde einführte. C o n o r überstand diese Phase
schließlich und n a h m normal zu, aber vier lange M o n a t e wa-
ren wir außer uns vor Sorge um ihn. J e n n y war ein Ausbund
von Angst, Stress und Frust, dazu kam noch der Schlafman-
gel, weil sie ihn praktisch ununterbrochen stillte und dann
hilflos zusehen musste, wie er ihr die Milch wieder entgegen-
spuckte. »Ich fühle mich so unfähig«, klagte sie. »Eine M u t -
ter sollte ihrem Baby alles geben können, was es braucht.«
Sie war vollkommen am Ende. Die lächerlichste Kleinigkeit

165
- eine offene Schranktür oder Krümel auf dem Tisch - brach-
te sie zum Explodieren.
Das G u t e daran war, dass J e n n y ihren Frust niemals an ei-
n e m der Babys ausließ. Vielmehr kümmerte sie sich mit bei-
nahe zwanghafter Sorgfalt und Geduld um die beiden. Sie
gab ihnen alles, was sie hatte. Dafür ließ sie ihren Groll und
ihre schlechte Laune an mir und vor allem an Marley aus.
Sie hatte überhaupt keine Geduld mehr mit ihm. Er stand
ganz oben auf ihrer Abschussliste und konnte ihr einfach
nichts recht machen. Jeder kleine Ausrutscher - und davon
gab es nach wie vor viele - brachte Jenny einem Ausbruch
näher. D o c h Marley blieb ungeachtet all dessen bei seinen
Verrücktheiten, d u m m e n Streichen und seiner ungezügelten
Wildheit. Ich kaufte einen blühenden Strauch und pflanzte
ihn zu E h r e n von C o n o r s G e b u r t ein, und Marley grub ihn
n o c h am selben Tag mitsamt Wurzeln aus und machte Klein-
holz aus ihm. Ich reparierte endlich die Verandatür, und
Marley, der inzwischen so an seine H u n d e t ü r gewöhnt war,
rannte sie bei nächster Gelegenheit wieder ein. Eines Tages
entwischte er uns, und als er schließlich zurückkam, hatte er
einen Damenslip im Maul - ich wollte es gar nicht genauer
wissen.
T r o t z der verschriebenen Beruhigungsmittel, die Jenny
i h m i m m e r öfter verpasste - wohl m e h r um sich selbst zu be-
ruhigen als ihn -, wurde Marleys Angst vor Gewitter jeden
Tag schlimmer. Inzwischen versetzte ihn schon der kleinste
Regenschauer in Panik. W e n n wir zu Hause waren, drängte
er sich n u r an uns und sabberte nervös unsere Kleidung voll.
W a r e n wir nicht zu Hause, versuchte er nach wie vor sich in
Sicherheit zu bringen, indem er sich durch Türen, Putz und
Linoleum grub. Je m e h r ich reparierte, umso mehr machte
er kaputt. Ich kam nicht m e h r hinterher. Ich hätte wütend
werden müssen, aber J e n n y war wütend genug für uns bei-

166
de. Stattdessen fing ich an, ihn zu decken. W e n n ich einen
zerkauten Schuh, ein Buch oder Kissen fand, versteckte ich
das Beweisstück, ehe sie es finden konnte. W e n n er durch
unser kleines, feines Zuhause tobte, unser Elefant im Por-
zellanladen, räumte ich hinter ihm auf, legte verrutschte
Teppiche wieder an ihren Platz, rückte Tischchen gerade
und wischte den Sabber ab, den er an die W ä n d e schleu-
derte. Ich fegte in Windeseile die Holzsplitter in der G a -
rage zusammen, als Marley wieder einmal die T ü r zerlegt
hatte. Ich blieb abends lange auf, flickte und schmirgelte,
und wenn J e n n y aufwachte, war das Schlimmste schon be-
hoben.
» U m Gottes willen, Marley, bist du lebensmüde?«, fragte
ich ihn eines Abends, als er schwanzwedelnd neben mir
stand und mir die O h r e n ableckte, während ich auf dem Bo-
den kniete und seine letzte Schandtat vertuschte. » D u musst
damit aufhören!«
In diese hochexplosive Stimmung kam ich eines Tages
nach Hause. Als ich die Haustür öffnete, schlug J e n n y gerade
mit den Fäusten auf Marley ein. Sie war vollkommen außer
sich, heulte und drosch auf seinen Rücken, seine Schultern
und seinen Hals ein, als wäre er eine Trommel. »Warum?«,
schrie sie ihn an, »warum machst du das? W a r u m machst du
alles kaputt?« In diesem M o m e n t sah ich die Bescherung.
Ein Sofakissen war aufgerissen, der Stoff zerfetzt und die
Füllung herausgerissen. Marley stand mit gesenktem Kopf
breitbeinig da, als stemme er sich gegen einen Sturm. Er
machte keine Anstalten zu fliehen oder den Schlägen auszu-
weichen; er stand nur da und n a h m alles hin, ohne zu win-
seln oder sich zu beklagen.
»Hey, hey, hey!«, schrie ich und packte sie an den H a n d -
gelenken. » K o m m schon, hör auf!« Sie schluchzte und rang
nach Luft. » H ö r auf!«, wiederholte ich. Ich trat zwischen

167
sie und Marley und schob mein Gesicht genau vor ihres. Es
war, als würde mich eine Fremde anstarren. Ich erkannte
den Ausdruck in ihren Augen nicht wieder. »Schaff ihn hier
raus«, sagte sie mit leiser, drohender Stimme. »Schaff ihn
hier weg. Sofort.«
»Okay, ich gehe mit ihm raus, aber du wirst dich jetzt be-
ruhigen!«, sagte ich.
»Schaff ihn raus und sorg dafür, dass er wegbleibt«, sagte
sie mit bebender Stimme. Ich öffnete die Haustür und er
stürzte hinaus. Als ich mich noch einmal umdrehte, um sei-
ne Leine vom Tisch zu nehmen, sagte Jenny: »Ich meine es
ernst. Ich will, dass er verschwindet. Ich will ihn hier nicht
m e h r haben.«
»Ach, k o m m schon«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Das
meinst du doch nicht ernst.«
»O doch. Ich habe genug von diesem H u n d . Entweder
findest du ein neues Zuhause für ihn, oder ich tue es.« Das
konnte nicht ihr Ernst sein. Sie liebte diesen H u n d . Sie ver-
götterte ihn, trotz der langen Liste seiner Untaten. Sie war
wütend und bis zum Äußersten gestresst. Sie würde es sich
schon anders überlegen. Im M o m e n t war es wohl das Beste,
ihr Zeit zu geben, damit sie sich abregen konnte. Ich ging
ohne ein weiteres W o r t zur T ü r hinaus. Im Vorgarten rannte
Marley herum, sprang auf u n d ab und schnappte in die Luft,
als wollte er mir seine Leine aus der H a n d reißen. Er war
wieder ganz der alte W r r k o p f , trotz der Abreibung, die er
gerade bekommen hatte. Ich wusste, dass J e n n y ihm nicht
wehgetan hatte. Ehrlich gesagt musste er bei unseren Raufe-
reien wesentlich härtere Schläge von mir einstecken. U n d er
raufte sehr gerne mit mir, konnte meistens gar nicht genug
davon bekommen. Unempfindlichkeit gegen Schmerzen war
ein Merkmal seiner Rasse, diese H u n d e waren unverwüsdi-
che Muskelmaschinen. Als ich einmal in unserer Auffahrt

168
das Auto wusch, sprang er Kopf voran in den E i m e r mit Sei-
fenwasser und galoppierte dann blind mit dem E i m e r über
dem Kopf durch die Vorgärten. Er hielt erst an, als er mit
vollem Tempo gegen eine Betonwand krachte. Das schien
ihn nicht weiter zu stören. Aber wenn m a n ihm im Z o r n mit
der flachen H a n d eins aufs Hinterteil gab oder ihn auch n u r
in strengem Ton ansprach, dann reagierte er tief getroffen.
Auch wenn er sich meistens wie ein grober Tollpatsch be-
nahm, so hatte er doch einen äußerst sensiblen Kern. J e n n y
hatte ihm nicht körperlich wehgetan, nicht im Geringsten,
aber sie hatte - zumindest für den M o m e n t - seine Gefühle
verletzt. Jenny bedeutete ihm alles, sie war seine beste F r e u n -
din auf der ganzen Welt, und auf einmal hatte sie sich gegen
ihn gewendet. Sie war sein Frauchen und er ihr treuer G e -
fährte. W e n n sie einen G r u n d sah, ihn zu schlagen, dann
ertrug er es stoisch. Selbst für einen H u n d war er nicht be-
sonders schlau, aber er war absolut treu. Jetzt war es an mir,
den Schaden zu beheben und die Dinge wieder ins L o t zu
bringen.
Als wir draußen auf der Straße waren, n a h m ich ihn an
die Leine und befahl ihm: »Sitz!« Er setzte sich hin. Ich
rückte ihm sein Halsband zurecht und streichelte ihm kurz
über den Kopf, bevor wir losgingen. Er warf den Kopf hoch
und sah mich an, die Z u n g e hing ihm weit aus dem Maul. Er
schien über den Zwischenfall mit J e n n y hinweg zu sein, u n d
nun hoffte ich dasselbe von ihr. »Was soll ich nur mit dir ma-
chen, du Riesendummkopf?«, fragte ich ihn. Er sprang an
mir hoch, als hätte er auf Sprungfedern gesessen, u n d fuhr
mir mit seiner Zunge über das Gesicht.
Marley und ich gingen an diesem Abend sehr lange spazie-
ren, und als ich schließlich die H a u s t ü r öffnete, war er voll-
kommen erschöpft und schien bereit, lautlos in einer Ecke
zu Boden zu sinken. J e n n y fütterte Patrick gerade ein Baby-

169
gläschen, während sie C o n o r auf ihrem Schoß wiegte. Sie
schien sich beruhigt zu haben und wieder sie selbst zu sein.
Ich machte Marley von der Leine los, und er stürzte sich auf
seine Wasserschüssel und schlabberte fröhlich drauflos, wo-
bei er das Wasser rund um seine Schüssel auf dem Boden ver-
teilte. Ich wischte es auf und warf einen vorsichtigen Blick
in Jennys Richtung, aber sie schien ungerührt. Vielleicht war
der schreckliche Augenblick ja vorbei. Vielleicht hatte sie es
sich noch einmal überlegt. Vielleicht kam sie sich wegen ih-
res Ausbruchs vorhin auch blöd vor und suchte nun nach
W o r t e n für eine Entschuldigung. Als ich an ihr vorbeiging,
Marley dicht hinter mir, sagte sie mit ruhiger Stimme und
ohne mich anzusehen: »Ich meine es ernst. Ich will, dass er
verschwindet.«

In den folgenden Tagen wiederholte sie dieses Ultimatum


oft genug, dass ich es nicht m e h r für eine leere D r o h u n g
hielt. Sie ließ nicht länger n u r Dampf ab, und dieses T h e -
ma würde sich nicht von selbst erledigen. Ich fühlte mich
schrecklich. W i e pathetisch das jetzt auch klingen mag, aber
für mich war Marley inzwischen so etwas wie mein männ-
licher Seelenverwandter, mein engster Verbündeter, mein
Freund geworden. Er war der ungezogene, wilde, unnachgie-
bige, politisch unkorrekte Freigeist, der ich immer hatte sein
wollen, wenn ich n u r den M u t dazu gehabt hätte, und ich
hatte meine Freude an seinem ungezügelten Temperament.
Egal, wie kompliziert das Leben auch war, er erinnerte mich
immer wieder an die simplen Freuden des Alltags. Egal, was
für Anforderungen man an mich stellte, er zeigte mir immer
wieder, dass es sich manchmal lohnte, ungehorsam zu sein.
In einer Welt voller Chefs war er sein eigener Herr. Der
Gedanke, ihn wegzugeben, riss mir die Seele entzwei. Aber
ich hatte n u n die Verantwortung für zwei Kinder zu tragen

170
und eine Ehefrau, die wir dringend brauchten. Ich hatte eine
schreckliche Wahl zu treffen: W e n n unser Familienfrieden
davon abhing, dass Marley abgeschafft wurde, wie konnte
ich Jennys Wunsch dann ignorieren?
Ich fing an, meine Fühler auszustrecken und diskret unter
Freunden und Kollegen nachzufragen, ob jemand vielleicht
Interesse an einem liebenswerten, lebhaften, zwei J a h r e al-
ten Labrador hätte. U b e r U m w e g e erfuhr ich von einem
Nachbarn, der erklärter H u n d e n a r r war und es nicht fer-
tigbrachte, einen H u n d in N o t im Stich zu lassen. D o c h
sogar er lehnte ab. Marleys Ruf war ihm leider vorausge-
eilt.
Jeden M o r g e n las ich die Anzeigen in der Zeitung durch,
als würde ich auf ein W u n d e r hoffen wie etwa: »Suche sehr
wilden, völlig unberechenbaren Labrador mit möglichst vie-
len Phobien. Zerstörerische Qualitäten sind ein Plus. Zahle
gut.« Stattdessen fand ich einen wachsenden M a r k t für jun-
ge H u n d e , die aus irgendeinem G r u n d weggegeben werden
sollten. Meist waren es reinrassige Tiere, für die ihre Besit-
zer erst wenige M o n a t e zuvor viel Geld ausgegeben hatten.
N u n wurden sie für einen Spottpreis angeboten, oder sogar
umsonst. Beunruhigend viele dieser ungewollten H u n d e wa-
ren Labradorrüden.
Solche Anzeigen fanden sich beinahe jeden Tag in der Zei-
tung, sie klangen herzerweichend und lächerlich zugleich.
Für mich als Betroffener und Kenner der Szene war es of-
fensichtlich, dass die wahren G r ü n d e für das Weggeben der
H u n d e verschleiert werden sollten. Die Anzeigen waren vol-
ler fröhlicher Euphemismen für Verhaltensweisen, die ich
nur zu gut kannte: »Lebhaft ... liebt Menschen ... braucht
einen großen Garten ... braucht viel Bewegung ... ausdau-
ernd ... temperamentvoll ... kräftig ... ganz eigene Persön-
lichkeit.« Es kam alles auf dasselbe heraus: ein H u n d , dem

171
seine Besitzer nicht m e h r gewachsen waren. Ein H u n d , der
zur Last geworden war. Ein H u n d , den seine Menschen auf-
gegeben hatten.
Ein Teil von mir lachte wissend; die Anzeigen waren ko-
misch in ihrer Verlogenheit. W e n n ich etwas von »mutiger
Beschützer« las, wusste ich, dass das in Wahrheit »gefürch-
teter Beißer« hieß. »Beständiger Begleiter« bedeutete »hat
Angst, allein gelassen zu werden« und »guter Wachhund«
hieß nichts anderes als »wilder Kläffer«. U n d wenn ich die
Uberschrift »Tolles Angebot« las, dann wusste ich, dass sich
dahinter n u r die verzweifelte Frage verbarg: »Wie viel muss
ich dir bezahlen, damit du mir dieses Vieh endlich vom Hals
schaffst?« Ein anderer Teil von mir war schrecklich traurig.
Ich war kein Mensch, der einfach aufgab. U n d ich glaubte
nicht, dass J e n n y so einfach aufgeben wollte. W i r gehörten
nicht zu den Menschen, die ihre Probleme einfach in der
Anzeigenspalte der Lokalzeitung ablieferten. Marley war
zweifelsfrei eine Herausforderung. Er hatte nichts mit den
ruhigen H u n d e n gemein, mit denen wir beide aufgewach-
sen waren. Er hatte eine ganze M e n g e schlechte Angewohn-
heiten. Schuldig im Sinne der Anklage. Er hatte auch nicht
m e h r viel von dem kleinen tollpatschigen Welpen, den wir
vor zwei Jahren mit nach Hause gebracht hatten. Aber auf
seine eigene verschrobene Weise gab er sein Bestes. Ein Teil
unserer Aufgabe als seine Besitzer war es, ihn nach unseren
Bedürfnissen zu formen, aber andererseits war es auch un-
sere Pflicht, ihn so zu akzeptieren, wie er war. U n d nicht nur
das, wir hätten ihn eigentlich um seiner ungebändigten H u n -
deseele willen lieben müssen. W i r hatten damals ein lebendi-
ges, atmendes Wesen mit nach Hause genommen und kein
modisches Accessoire, das man in die Ecke stellen konnte.
Er war n u n mal unser H u n d . Er gehörte zur Familie, und
bei all seinen Launen hatte er uns unsere Zuneigung doch

172
hundertfach zurückgegeben. Eine Liebe wie die seine war
für kein Geld der Welt zu kaufen. Ich war nicht bereit, ihn
wegzugeben.
Ich bemühte mich zwar weiterhin halbherzig um ei-
nen neuen Platz für ihn, gleichzeitig fing ich aber ernsthaft
an mit ihm zu arbeiten. M e i n e höchstpersönliche Mission
Impossible bestand darin, den guten Ruf dieses H u n d e s
wiederherzustellen und J e n n y zu beweisen, dass er es wert
war. Gestörte N a c h t r u h e hin oder her, ich stand von nun
an bei Tagesanbruch auf, packte Patrick in den Kinderwa-
gen und ging mit ihm und Marley zum Wasser hinunter,
wo ich mit Marley seine Lektionen durchging. Sitz. Platz.
Bei Fuß. I m m e r wieder. M e i n e Anstrengungen hatten etwas
Verzweifeltes, und Marley schien das zu spüren. H i e r ging
es um mehr, das hier war wirklich ernst. Falls ihm das nicht
ganz klar war, sagte ich es ihm oft genug mit unmissver-
ständlichen Worten: » D a s ist kein Spiel, Marley. Es geht
um alles. Los jetzt.« U n d dann übten wir alles noch ein-
mal und Patrick half uns, indem er in die H ä n d e klatschte
und seinem großen hellbraunen Freund zurief: »Mallie,
Fuuuth!«
Als ich Marley schließlich wieder bei der Hundeschule
anmeldete, war er nicht m e h r der junge Tunichtgut, mit
dem ich damals dort aufgetaucht war. Ja, er war i m m e r
noch furchtbar wild, aber inzwischen wusste er, dass ich der
H e r r war und er zu folgen hatte. Diesmal zerrte er nicht
blindlings zu den anderen H u n d e n hin (oder zumindest nur
ganz selten), er u n t e r n a h m keine unerlaubten Entdeckungs-
touren über den Platz und schnüffelte auch an keinen frem-
den Genitalien herum. Acht W o c h e n lang arbeiteten wir
mit kurzer Leine an Befehlen, und er war mit Freude - oder
vielmehr mit überschäumendem Eifer - bei der Sache. In
der letzten Stunde rief uns die Trainerin, eine entspannte

173
Frau und damit das genaue Gegenteil von Miss Dominatrix,
nach vorne. »Okay«, sagte sie. »Zeigt mal, was ihr gelernt
habt.«
Ich befahl Marley, sich hinzusetzen, und er ließ sich sofort
auf sein Hinterteil fallen. D a n n rückte ich sein Halsband zu-
recht und forderte ihn mit einem kurzen Rucken an der Lei-
ne dazu auf, bei Fuß zu gehen. W i r marschierten über den
Platz und zurück, Marley dicht an meiner Seite, sodass er
mit seiner Schulter mein Hosenbein berührte. Er benahm
sich mustergültig. D a n n forderte ich ihn wieder zum Sitzen
auf, stellte mich vor ihn und deutete mit meinem Finger di-
rekt auf seine Stirn. »Bleib!«, befahl ich mit ruhiger Stimme
u n d ließ mit der anderen H a n d die Leine fallen. D a n n ging
ich einige Schritte zurück. Seine großen braunen Augen wa-
ren auf mich gerichtet und warteten auf das kleinste Zeichen
von mir, das ihn erlösen würde. Aber er blieb sitzen. Ich ging
einmal um ihn herum. Er zitterte vor Erregung und ver-
suchte, seinen Kopf ganz h e r u m zu drehen, wie Linda Blair,
um mich im Auge zu behalten, aber er rührte sich nicht vom
Fleck. Als ich wieder direkt vor ihm stand, schnippte ich nur
so zum Spaß mit den Fingern und rief: »Volle Deckung!«
Er warf sich zu Boden, als erstürme er gerade Iwo Jima. Die
Lehrerin musste lachen, ein gutes Zeichen. D a n n drehte ich
mich um und entfernte mich etwa zehn Meter, dabei fühlte
ich seine Augen im Nacken. Aber noch immer blieb er an
O r t und Stelle. Als ich mich schließlich zu ihm umdrehte,
zitterte er heftig. D e r Vulkan stand kurz vor dem Ausbruch.
D a n n stellte ich mich breitbeinig hin und rief: »Marley ...«,
ich ließ seinen N a m e n ein paar Sekunden in der Luft hän-
gen, » . . . hierher!« Er ging ab wie eine Rakete und schoss
auf mich zu. Ich wappnete mich gegen den Aufprall. Im
letzten M o m e n t wich ich ihm mit der Eleganz eines Stier-
kämpfers aus, und er preschte an mir vorbei, kam dann im

174
Kreis zu mir zurück und schubste mich von hinten mit sei-
ner Schnauze an. » G u t e r H u n d , Marley!«, lobte ich ihn be-
geistert und ging in die Hocke. » G u t e r H u n d , guter H u n d ,
Marley!!« Er tanzte um mich herum, als hätten wir gerade
zusammen den M o u n t Everest bezwungen. Am E n d e dieses
Unterrichtstages überreichte die Trainerin jedem von uns
eine Urkunde. Marley hatte die erste Klasse des Trainings-
programms bestanden und dabei unter allen Teilnehmern
sogar den siebten Platz belegt. W e n interessierte es schon,
dass es nur acht Teilnehmer gegeben hatte und N u m m e r
acht ein psychopathischer Pitbull war, der jedem menschli-
chen Wesen in seiner U m g e b u n g ganz offensichtlich nach
dem Leben trachtete? Für mich war das Ganze ein voller
Erfolg. Marley, mein unverbesserlicher, unerziehbarer, u n g e -
zogener H u n d , hatte bestanden. Ich war vor Stolz zu Trä-
nen gerührt, und vielleicht hätte ich wirklich geheult, wäre
Marley nicht an mir hochgesprungen und hätte p r o m p t sei-
ne Urkunde gefressen.
Auf der Heimfahrt sang ich lauthals »We are the Champi-
ons«. Marley, der meine Freude und meinen Stolz spürte,
leckte mir das Ohr.
Ausnahmsweise war mir das ganz egal.

Eine Rechnung zwischen Marley und mir war noch offen.


Ich musste ihm die schlimmste seiner Unsitten abgewöh-
nen: Leute anzuspringen. Egal ob Freund oder Fremder,
Kind oder Erwachsener, Postbote oder Gasmann, Marley
begrüßte jeden auf die gleiche Art und Weise - er rannte
in vollem Tempo auf den N e u a n k ö m m l i n g zu, schlitterte
über den Boden, sprang an ihm hoch, legte ihm seine Pfo-
ten auf Brust oder Schultern und leckte ihm das Gesicht ab.
Als er noch ein knuddeliger Welpe war, hatten wir das nied-
lich gefunden, aber inzwischen war es eine lästige U n a r t ge-

175
worden, u n d manche Besucher erschreckte er mit seinem
unerwünschten Begrüßungsritual zu Tode. Er hatte schon
Kinder umgerannt, Gäste verschreckt, Blusen und T-Shirts
von F r e u n d e n verdreckt u n d beinahe meine gebrechliche
M u t t e r umgerissen. N i e m a n d wusste seine Liebesbeweise
zu schätzen. Ich hatte bereits mit den herkömmlichen H u n -
deerziehungsregeln versucht, ihm das Hochspringen abzuge-
wöhnen - o h n e Erfolg. Die Botschaft kam einfach nicht an.
D a n n gab mir ein Freund, der sich mit H u n d e n auskannte,
den entscheidenden T i p p : » W e n n du ihm das abgewöhnen
willst, musst du ihm das nächste Mal das Knie gegen die
Brust rammen.«
»Ich will ihm nicht wehtun.«
» D u tust ihm nicht weh. Ein paar ordendiche Knüffe mit
dem Knie, und ich verspreche dir, dass er damit aufhört.«
Ich musste alles auf eine Karte setzen. Marley musste sich
bessern oder uns verlassen. Als ich am nächsten Abend von
der Arbeit nach Hause kam, öffnete ich die Haustür und rief:
»Ich bin da!« W i e immer kam Marley über die Dielen ge-
rannt, um mich zu begrüßen. Die letzten M e t e r schlitterte
er wie auf Eis auf mich zu u n d h o b mit den Vorderpfoten
ab, um sie mir auf die Schultern zu legen und mir dann das
Gesicht abzulecken. In dem M o m e n t , als seine Pfoten mich
berührten, stieß ich ihm mit einer kurzen Bewegung mein
Knie vor die Brust, genau an der weichen Stelle unterhalb
des Brustkorbs. Er schnappte kurz nach Luft und glitt dann
von mir herunter zu Boden. D a n n sah er mich mit einem
gekränkten Ausdruck an, als versuchte er zu verstehen, was
plötzlich in mich gefahren war. Er hatte mich sein ganzes
Leben lang angesprungen; was sollte diese hinterhältige
Attacke?
Am nächsten Abend wiederholte sich die Szene. Er
sprang mich an, ich hob mein Knie, und er ging hustend zu

176
Boden. Ich kam mir grausam vor, aber wenn ich ihn vor der
Anzeigenseite bewahren wollte, musste ich diese Runde ge-
winnen. »Entschuldige, alter J u n g e « , sagte ich zu ihm u n d
kniete mich hin, damit er mich doch noch ablecken konnte,
»es ist nur zu deinem Besten.«
Als ich am dritten Abend nach Hause kam, schoss Marley
um die Ecke und kam mit üblicher Höchstgeschwindig-
keit auf mich zu. Aber diesmal änderte er seine Strategie.
Anstatt mich anzuspringen, behielt er alle vier Pfoten auf
dem Boden und rammte mir stattdessen mit vollem T e m p o
den Kopf gegen die Knie, sodass er mich beinahe umriss.
Ich nahm das als Sieg. » D u kannst es, Marley, du kannst es!
Guter Junge! Du hast mich nicht angesprungen!« U n d ich
kniete mich hin, damit er mich ablecken konnte, o h n e einen
Stoß vor die Brust zu riskieren. Ich war beeindruckt. Marley
hatte sich tatsächlich überreden lassen.
Dennoch war das Problem noch nicht ganz gelöst. M i c h
sprang er nun zwar nicht m e h r an, alle anderen begrüßte er
aber weiterhin auf genau dieselbe Weise. Dieser H u n d war
schlau genug, um zu verstehen, dass n u r ich eine Gefahr dar-
stellte und er alle anderen Menschen weiterhin ungestraft
anspringen konnte. Ich musste meine Offensive ausweiten,
und dazu brauchte ich die Hilfe meines guten Freundes J i m
Tolpin, ein Kollege von mir. J i m war ein gelassener, belese-
ner Typ mit Halbglatze, Brille und schlanker Figur. W e n n
Marley von irgendjemandem dachte, dass er ihn ungestraft
anspringen konnte, dann war es Jim. Eines Tages im Büro er-
klärte ich ihm meinen Plan. Er sollte nach der Arbeit bei uns
vorbeikommen, an der T ü r klingeln und hereinkommen.
W e n n Marley ihn dann ansprang, um ihn zu begrüßen, soll-
te er ihm einen sauberen Denkzettel verpassen. »Sei bloß
nicht schüchtern«, sagte ich. »Mit Andeutungen bist du bei
Marley an der falschen Adresse.«

177
An diesem Abend klingelte Jim an der T ü r und kam
herein. Natürlich fiel Marley auf unseren Trick herein
u n d kam mit fliegenden O h r e n auf ihn zugeschossen. Als
Marley abhob, um ihn anzuspringen, beherzigte Jim mei-
n e n Ratschlag. Offenbar besorgt, dass er zu schüchtern
wäre, r a m m t e er Marley sein Knie mit voller W u c h t in den
Solarplexus und setzte ihn so außer Gefecht. D e r Zusam-
menprall war im ganzen Flur zu hören. Marley stieß ein
lautes Stöhnen aus u n d glotzte Jim ungläubig an, dann ging
er zu Boden. » M e i n Gott, J i m « , rief ich, »hast du Kung-Fu
trainiert?«
» D u hast doch gesagt, er muss es spüren«, antwortete er.
U n d gespürt hatte Marley es. Er stand auf, atmete tief
durch und begrüßte J i m dann, wie ein braver H u n d es tun
sollte - auf allen vieren. W e n n er gekonnt hätte, hätte er die
weiße Flagge gehisst. Marley sprang nie wieder jemanden
an, zumindest nicht, wenn ich dabei war; und es hat ihm
auch nie wieder jemand das Knie in die Brust oder sonst wo
hingerammt.

Eines Morgens, nicht lange, nachdem Marley das Ansprin-


gen aufgegeben hatte, wachte ich auf und meine Frau war
wieder da. M e i n e Jenny, die Frau, die ich liebte und die in
diesem zähen blauen Nebel verschwunden war, war zu mir
zurückgekehrt. So plötzlich, wie die Wochenbettdepression
sie ergriffen hatte, so plötzlich war sie nun wieder vergan-
gen. Es war, als sei ein böser Geist von Jenny gewichen. N u n
war er fort. G o t t sei Dank. Sie war stark, sie war optimis-
tisch, sie war eine gute zweifache M u t t e r und blühte dabei
sogar auf. Marley stand wieder in ihrer Gunst, er hatte wie-
der festen Boden unter den Füßen. Mit einem Baby auf je-
dem Arm beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn. Sie
warf Stöckchen für ihn und mischte ihm Bratensoße ins Fut-

178
ter. Sie tanzte mit ihm durchs Zimmer, wenn ein gutes Lied
im Radio kam. An manchen Abenden, wenn er zur Ruhe
gekommen war, fand ich Jenny zusammen mit ihm auf dem
Boden, den Kopf auf seinem Hals. J e n n y war zurück. G o t t
sei Dank, sie war wieder da.
SECHZEHN

Das Vorsprechen

M anche Dinge sind einfach zu bizarr, um erfunden zu


sein - sie müssen wahr sein. Als J e n n y mich anrief,
um mir mitzuteilen, dass Marley einen Casting-Termin für
einen Film hatte, wusste ich deshalb, dass sie sich das nicht
ausgedacht haben konnte. Trotzdem konnte ich es nicht
glauben. » E r hat was?«, fragte ich.
»Einen Termin für Filmaufnahmen.«
» W i e im Kino?«
»Ja, wie im Kino, du Trottel«, sagte sie. »Ein Spielfilm.«
»Marley? In einem Spielfilm?«
So ging es noch einige Zeit hin und her, während ich
versuchte, mir unseren verrückten Bügelbrett-Zerbeißer
als stolzen Nachfolger von Rin T i n T i n vorzustellen, wie er
über die Leinwand jagt und hilflose Kinder aus brennenden
H ä u s e r n rettet.
» U n s e r Marley?«, fragte ich noch einmal, nur um ganz
sicherzugehen.
Es stimmte wirklich. Vor einer Woche hatte Jennys Vor-
gesetzte von der Palm Beach Post angerufen und gesagt, eine
Freundin von ihr brauchte unsere Hilfe. Die D a m e hieß Col-
leen McGarr, war Fotografin und hatte von einer N e w Yor-
ker Filmgesellschaft namens Shooting Gallery den Auftrag
bekommen, bei der Produktion eines Filmes mitzuarbeiten.
D r e h o r t sollte Lake W o r t h sein, ein kleiner O r t südlich von

180
uns. Colleens Auftrag bestand darin, einen »typischen H a u s -
halt in Südflorida« zu finden und ihn von oben bis unten
zu fotografieren - die Bücherregale, die Kühlschrankmagne-
ten, sogar die Schränke, einfach alles -, damit sich der Regis-
seur ein Bild machen und seinen Film realistisch ausstatten
konnte.
»Das ganze Filmteam ist schwul«, erklärte Jennys Vor-
gesetzte. »Sie versuchen herauszufinden, wie verheiratete
Paare mit Kindern hierzulande leben.«
»Eine Art anthropologische Feldstudie«, mutmaßte Jenny.
»Genau.«
»Okay«, stimmte J e n n y zu. » W e n n ich vorher nicht put-
zen muss.«
Colleen kam vorbei und fing an alles zu fotografieren,
nicht nur unsere Besitztümer, sondern auch uns selbst. W i e
wir uns anzogen, wie wir unser H a a r trugen, wie wir uns auf
der Couch lümmelten. Sie fotografierte die Zahnbürsten auf
unserem Waschbecken. Die Babys in ihren Bettchen. U n d
den typischen kastrierten H u n d , den ein durchschnittliches
Paar hierzulande besaß. O d e r zumindest das, was sie von
ihm auf Film bannen konnte. W i e sie so treffend bemerkte,
war Marley »meistens ein bisschen unscharf«.
Marley war restlos begeistert, dabei zu sein. Seit die Ba-
bys da waren, war er froh um jedes bisschen Aufmerksam-
keit, das er bekommen konnte. Colleen hätte ihn mit einem
elektrischen Rindertreiber traktieren können - solange er
ihre Aufmerksamkeit hatte, machte er begeistert mit. C o l -
leen, die große Haustiere liebte und sich von Sabberduschen
nicht einschüchtern ließ, schenkte ihm jede M e n g e Aufmerk-
samkeit und kniete sich sogar auf den Boden, um mit ihm
zu raufen.
Als Colleen sich so durch unser H a u s fotografierte, muss-
te ich unweigerlich an die Möglichkeiten denken, die sich da-

181
raus ergaben. W i r lieferten den, Filmproduzenten nicht nur
unverfälschtes anthropologisches Material, sondern nahmen
gleichzeitig auch an unserem ganz persönlichen Casting teil.
Ich hatte gehört, dass die meisten Nebendarsteller und alle
Statisten für diesen Film aus der U m g e b u n g angeheuert wer-
den sollten. Was wäre nun, wenn der Regisseur zwischen
all den Kühlschrankmagneten und Postern an der Wand ein
Naturtalent entdeckte? Es sind schon merkwürdigere Din-
ge passiert. Ich sah den Regisseur, ein Typ etwa wie Steven
Spielberg, förmlich vor mir, wie er sich über einen großen
Tisch beugt, auf dem H u n d e r t e von Fotos verteilt liegen.
Genervt geht er sie durch und murmelt immerzu »Müll! Al-
les Müll! D a m i t kann ich nicht arbeiten!« U n d dann erstarrt
er plötzlich beim Anblick eines Fotos. Darauf ist ein robust
u n d gleichzeitig sensibel aussehender, typisch heterosexuel-
ler M a n n zu sehen, der seinen Pflichten als Familienvater
nachgeht. D e r Regisseur r a m m t seinen Finger auf das Foto
u n d ruft seinen Assistenten aufgeregt zu: »Bringt mir die-
sen M a n n ! Ich muss ihn in meinem Film haben!« W e n n sie
mich schließlich ausfindig gemacht hatten, würde ich zuerst
bescheiden ablehnen, mich dann aber doch bereit erklären,
die Hauptrolle zu übernehmen. T h e Show must go on.
Colleen bedankte sich bei uns, dass wir ihr so freizügig
unser Zuhause gezeigt hatten, und ging. Sie hatte uns kei-
nen Anlass gegeben, darauf zu hoffen, dass sie oder sonst
irgendein Mitglied der Filmcrew sich noch einmal bei uns
melden würde. W i r hatten unsere Aufgabe erfüllt. Doch als
J e n n y mich ein paar Tage später im Büro anrief und sagte:
»Ich habe gerade mit Colleen M c G a r r telefoniert, und du
wirst es nicht glauben!«, da hatte ich keinen Zweifel, dass
man mich entdeckt hatte. M e i n H e r z machte einen Sprung.
» N u n sag schon!«, forderte ich sie auf.
»Sie sagt, der Regisseur möchte mit Marley arbeiten.«

182
»Marley?« Bestimmt hatte ich mich verhört. Sie schien
die Bestürzung in meiner Stimme nicht zu bemerken.
»Offenbar sucht er nach einem großen, tollpatschigen, ver-
rückten H u n d , der die Rolle des Haustiers in seinem Film
übernimmt, und da ist sein Auge auf Marley gefallen.«
»Verrückt?«, fragte ich.
»So hat sich Colleen ausgedrückt. G r o ß , tollpatschig und
verrückt.«
N u n , da war er ja an der richtigen Adresse. » H a t Colleen
erwähnt, ob er irgendetwas über mich gesagt hat?«, fragte
ich.
» N e i n « , antwortete Jenny. » W a r u m sollte er?«
Colleen holte Marley am nächsten Tag ab. Bemüht, gleich
zu Anfang einen guten Eindruck zu machen, raste er in vol-
lem Tempo durch das W o h n z i m m e r auf sie zu und n a h m
sich gerade noch die Zeit, das nächstbeste Kissen zu schnap-
pen, denn schließlich weiß man nie, wann ein viel beschäftig-
ter Filmproduzent ein kurzes Nickerchen machen möchte,
und wenn es so weit war, wollte Marley vorbereitet sein.
Als er die Holzdielen erreichte, schlitterte er bis zum
Couchtischchen, strauchelte, krachte gegen einen Stuhl,
landete auf dem Rücken, rollte sich herum, rappelte sich
auf und stieß schließlich mit Colleen zusammen. Zumindest
hatte er sie nicht angesprungen, sagte ich mir.
»Sind Sie sicher, dass wir ihm keine Beruhigungsmittel
geben sollen?«, fragte Jenny. Aber Colleen versicherte, dass
der Regisseur Marley in ungezügeltem, natürlichem Z u -
stand sehen wollte, und schon war sie mit unserem verzwei-
felt glücklichen H u n d in ihrem roten Pick-up verschwun-
den. N a c h zwei Stunden war sie wieder da und verkündete,
Marley hätte den J o b bekommen. »Ach was!«, kreischte J e n -
ny. »Das kann doch gar nicht sein!« Unsere H o c h s t i m m u n g
wurde kein bisschen getrübt, als wir hörten, dass Marley der

183
einzige Bewerber um die Rolle gewesen war. Auch nicht, als
Colleen uns eröffnete, dass Marley die einzige unbezahlte
Rolle in dem Film bekommen sollte. Ich fragte sie, wie die
Vorstellung gelaufen war.
» M i t Marley im Auto k o m m t man sich vor wie in einem
W h i r l p o o l « , sagte Colleen. » E r hat alles angeschlabbert.
Als wir ankamen, war ich völlig durchnässt.« Die Filmcrew
residierte im Gulfstream Hotel, einem verblichenen Touris-
tenklotz, der seine beste Zeit schon hinter sich hatte und
von dem man Aussicht auf die Intercoastal hatte. Als Col-
leen mit Marley dort ankam, hatte unser H u n d alle sofort
damit beeindruckt, dass er aus dem W a g e n sprang und wie
irre auf dem Parkplatz H a k e n schlug, als erwarte er, dass
jeden M o m e n t ein Luftangriff erfolgen würde. » E r war völ-
lig außer Rand und Band«, erzählte Colleen. »Völlig überge-
schnappt.«
»Ja, er ist recht leicht erregbar«, gab ich zu.
Irgendwann hatte Marley einem Crewmitglied das Scheck-
heft aus der H a n d gerissen und war damit wild im Kreis he-
rumgerast, offensichtlich in der Meinung, dass er sich so
doch n o c h ein H o n o r a r sichern könnte.
» E r ist eben geschäftstüchtig«, entschuldigte sich Jenny
mit einem Lächeln, wie es nur eine stolze M u t t e r zustande
bringt.
Schließlich hatte sich Marley doch noch so weit beruhigt,
um alle Anwesenden zu überzeugen, dass er der Rolle ge-
wachsen war. Er musste eigendich n u r sich selbst spielen.
D e r Film hieß The last Homerun, ein Baseballdrama, in dem
sich der letzte W u n s c h eines alten Mannes erfüllt, als er für
fünf Tage noch einmal jung ist und Baseball spielen darf.
Marley sollte den aufgedrehten Familienhund des Trainers
geben, der wiederum von dem pensionierten Catcher aus
der Major League, G a r y Carter, gespielt wurde.

184
»Sie wollen ihn wirklich in ihrem Film dabeihaben?«,
fragte ich, immer noch ungläubig.
»Alle haben sich in ihn verliebt«, sagte Colleen. » E r war
perfekt!«
In den Tagen bis zum D r e h b e g i n n bemerkten wir eine
leichte Veränderung in Marleys Benehmen. Eine seltsame
Ruhe war über ihn gekommen. Es war, als hätte ihm das
erfolgreiche Casting neues Selbstvertrauen gegeben. Er
benahm sich beinahe majestätisch. »Vielleicht hat er n u r
mal jemanden gebraucht, der an ihn glaubt«, sagte ich zu
Jenny.
W e n n irgendwer an ihn glaubte, dann war es unsere F e r n -
seh-Vorzeigemutter Jenny. Als der große Tag kam, badete
sie ihn. U n d kämmte ihn. Sie schnitt ihm die Krallen u n d
putzte ihm die O h r e n . Als ich am M o r g e n des ersten D r e h t a -
ges aus dem Schlafzimmer kam, fand ich Marley und J e n n y
ineinander verknäult vor, wie sie in wildem Kampf durch
das Zimmer tobten. Sie hatte ihn fest zwischen ihre Knie ge-
klemmt und hielt ihn mit einer H a n d am Halsband fest, wäh-
rend er sich wild herumwarf und freizukommen versuchte.
Es war, als würde in meinem W o h n z i m m e r ein Rodeo statt-
finden. »Was machst du denn da?«, fragte ich.
»Wonach sieht's denn aus?«, schnappte sie zurück. »Ich
putze ihm die Zähne!«
Tatsächlich hatte sie in der anderen H a n d eine Zahnbürste
und versuchte nach Kräften, seine großen weißen H a u e r zu
putzen, während Marley, schäumend und sabbernd, sich ver-
zweifelt bemühte, die Zahnbürste zu fressen. Er sah aus wie
tollwütig.
»Hast du etwa Zahnpasta verwendet?«, fragte ich und
schloss die nächste Frage gleich an: » U n d wie bitte schön
soll er die wieder ausspucken?«
» N a t r o n « , antwortete sie.

185
» G o t t sei Dank!«, rief ich. » D a n n hat er also doch keine
Tollwut.«
Eine Stunde später brachen wir zum Gulfstream Hotel
auf, die J u n g e n in ihren Autositzen, Marley zwischen ihnen.
Er hechelte mit ungewohnt frischem Atem. W i r sollten um
n e u n U h r da sein, aber schon einen Block weiter blieben wir
in einem Stau stecken. Weiter vorne war die Straße gesperrt
u n d ein Verkehrspolizist leitete den Verkehr um. Die Lokal-
presse hatte ausführlich über das Filmprojekt berichtet - es
war das größte Ereignis im verschlafenen Lake Worth, seit
vor fünfzehn Jahren der Film Body Heat dort gedreht wor-
den war - und n u n hatten sich Schaulustige auf den Weg
zum D r e h o r t gemacht. Die Polizei ließ niemanden durch.
W i r schoben uns langsam im stockenden Verkehr vorwärts,
und als wir endlich bei der Absperrung angekommen waren,
lehnte ich mich aus dem Autofenster und sagte zu dem Poli-
zisten: » W i r müssen da durch.«
» N i e m a n d darf da durch«, antwortete er. »Fahren Sie bit-
te weiter.«
» W i r gehören zum Set«, erklärte ich.
Er sah uns skeptisch an, ein Pärchen in einem Minivan
mit zwei Kleinkindern und einem H u n d auf dem Rücksitz.
»Ich sagte, weiterfahren!«, bellte er mich an.
»Unser H u n d spielt in dem Film mit«, versuchte ich es
noch einmal.
Plötzlich sah er mich mit einem veränderten, respektvolle-
ren Gesichtsausdruck an. »Sie haben den H u n d dabei?« D e r
H u n d stand auf seiner Liste.
»Ja, wir haben den H u n d dabei. Marley.«
» E r spielt sich selbst«, warf Jenny ein.
D e r Polizist drehte sich um und pfiff kräftig in seine Tril-
lerpfeife. » E r hat den H u n d dabei!«, rief er einem anderen
Polizisten weiter vorne zu. »Marley den H u n d ! «

186
U n d dieser Polizist rief wiederum einem anderen Polizis-
ten weiter vorne zu: » E r hat den H u n d ! Marley der H u n d
ist hier!«
»Durchlassen!«, rief ein weiterer Polizist. »Durchlas-
sen!«, echote ein zweiter.
Der erste Verkehrspolizist schob die Absperrung zur Seite
und winkte uns durch. » H i e r entlang, bitte«, sagte er. Ich
fühlte mich wie ein König. Als wir an ihm vorbeigefahren
waren, sagte er noch einmal, als könne er es i m m e r noch
nicht glauben: » E r hat den H u n d ! «
Auf dem Parkplatz vor dem H o t e l stand das Filmteam
schon bereit. Kabel verliefen kreuz u n d quer über den Bo-
den, Kameras und Mikrofone waren in Position. Schein-
werfer waren an Gerüsten befestigt. Kleiderständer mit
Kostümen standen herum. Im Schatten waren zwei Tische
mit Snacks und Getränken für Schauspielerund Crew vorbe-
reitet. Uberall liefen wichtig aussehende Leute mit Sonnen-
brillen herum. D e r Regisseur Bob Gosse begrüßte uns und
erklärte uns kurz, was in der ersten Szene passieren sollte. Es
war nicht schwer. Ein Minivan fährt an den Bordstein, am
Steuer sitzt Marleys Filmfrauchen, gespielt von der Schau-
spielerin Liza Harris. Ihre Tochter, dargestellt von einem
netten Teenager namens Danielle von der örtlichen Schau-
spielschule, und der Sohn, auch ein junger Schauspielanwär-
ter von gerade mal neun Jahren, sitzen zusammen mit dem
H u n d der Familie, gespielt von Marley, auf der Rückbank.
Die Tochter öffnet die Schiebetür und springt heraus, ihr
Bruder folgt ihr mit Marley an der Leine. Sie gehen aus dem
Bild. Ende der Szene.
»Das ist ja einfach«, sagte ich zu dem Regisseur. »Das
sollte er hinkriegen, kein Problem.« Ich zog Marley zur Sei-
te und wartete mit ihm auf seinen Einsatz, in den Van zu
steigen.

187
»Okay, Leute, alle mal herhören!«, rief Gosse da. »Der
H u n d ist ziemlich bescheuert, okay? Aber wenn er nicht die
ganze Szene plattmacht, dann drehen wir einfach weiter,
okay?« Er erklärte mir, was er meinte: Marley war echt - ein
typischer Familienhund, und man wollte, dass er sich auch
genau so benahm - wie ein typischer Familienhund auf ei-
n e m typischen Familienausflug. Keine Schauspielerei, keine
Einweisung, reine Realität auf der Leinwand. »Lasst ihn ein-
fach sein D i n g machen«, riet er den Schauspielern, »und
spielt um ihn herum.«
Als alle so weit waren, ließ ich Marley in den Van steigen
und gab seine Leine an den Jungen weiter, der schreckliche
Angst vor ihm zu haben schien. » E r tut nichts«, beruhigte
ich ihn. » E r will dich höchstens ablecken. Siehst du?« U n d
ich steckte meine Faust in Marleys Maul, um meine Worte
zu bekräftigen.
Klappe die erste: D e r Van fährt an den Bordstein. In dem
M o m e n t , wo die Tochter die Schiebetür öffnet, schießt ein
hellbrauner Schatten heraus, wie ein riesiger Fellball, den
man mit einer Kanone abgefeuert hat. Er schießt an den Ka-
meras vorbei und zieht eine rote Leine hinter sich her.
»Cut!«
Ich fing Marley auf dem Parkplatz wieder ein und zog ihn
zurück. »Okay, Jungs, wir versuchen das noch mal«, verkün-
dete Gosse. D a n n sagte er freundlich zu dem Jungen: »Der
H u n d ist ziemlich wild. Versuch ihn diesmal ein bisschen
fester zu halten.«
Klappe die zweite: D e r Van fährt an den Bordstein. Die
T ü r wird aufgeschoben. Die Tochter will gerade aussteigen,
als Marley sich ins Bild drängt und hinter ihr herausspringt,
diesmal mit dem J u n g e n an der Leine. Die Knöchel seiner
H a n d , die die Leine umklammert, sind so weiß wie sein G e -
sicht.

188
»Cut!«
Klappe die dritte: D e r Van fährt an den Bordstein. Die
T ü r öffnet sich. Die Tochter steigt aus, der Junge steigt aus,
die Leine in der H a n d . Er macht einen Schritt vom Van weg,
die Leine spannt sich, wird zurück in den Van gezerrt. Kein
H u n d kommt heraus. D e r J u n g e fängt an zu ziehen und zu
zerren. Er stemmt sich mit ganzer Kraft gegen die Leine.
O h n e Erfolg. Lange, schmerzlich leere Sekunden vergehen.
Der Junge zieht eine Grimasse und schaut in die Kamera.
»Cut!«
Ich spähte in den Van und sah, wie sich Marley an einer
absolut unmöglichen Stelle leckte. Er sah mich mit einem
Blick an, der zu sagen schien: Siehst du nicht, dass ich beschäf-
tigt bin?
Klappe die vierte: Ich lasse Marley zu dem J u n g e n in den
Van einsteigen und schließe die Tür. Bevor Gosse »Action!«
ruft, unterbricht er ein paar Minuten, um sich mit seinen
Assistenten zu beraten. Schließlich läuft die Szene. D e r Van
fährt an den Bordstein. Die T ü r geht auf. Die Tochter steigt
aus. Der Junge steigt ebenfalls aus, aber mit einem verwirr-
ten Ausdruck im Gesicht. Er schaut direkt in die Kamera
und hält die H a n d hoch. Daran baumelt die halbe Leine, ihr
Ende ist abgebissen und nass gesabbert.
»Cut! Cut! Cut!«
D e r Junge erklärte, dass Marley angefangen hätte, auf sei-
ner Leine herumzukauen, als sie im Van warteten, und ein-
fach nicht aufhören wollte. Crew und Schauspieler starrten
ungläubig auf die kaputte Leine, eine Mischung aus Erstau-
nen und Schrecken lag auf ihren Gesichtern, als wären sie
gerade Zeugen einer großartigen und geheimnisvollen N a -
turgewalt geworden. Ich dagegen war nicht im Mindesten
überrascht. Marley hatte schon m e h r Leinen und Stricke
zerbissen, als ich zählen konnte; er schaffte es sogar durch

189
gummierte Stahlkabel, die laut W e r b u n g auch im Flugzeug-
bau verwendet wurden. Kurz nach Conors G e b u r t war Jen-
ny mit einer neuen Errungenschaft nach Hause gekommen:
ein Hundegeschirr, mit dem sie Marley an einen Autogurt
schnallen konnte, sodass er während der Fahrt nicht im fah-
renden Auto herumwandern konnte. N a c h neunzig Sekun-
den hatte er nicht n u r das schwere Geschirr, sondern auch
den G u r t unseres nagelneuen Minivans durchgebissen.
»Okay, machen wir eine Pause«, verkündete Gosse. Dann
wandte er sich an mich und fragte in erstaunlich ruhigem
Ton: » W i e schnell können Sie eine neue Leine auftreiben?«
Er brauchte mir nicht zu erklären, wie teuer ihn jede ver-
lorene M i n u t e kam, in der Schauspieler und Crew untätig
herumsaßen.
»Einen Kilometer von hier ist eine Tierhandlung«, sagte
ich. »Ich kann in fünfzehn M i n u t e n zurück sein.«
»Kaufen Sie diesmal etwas, was er nicht durchbeißen
kann«, sagte er. Ich kehrte mit einer schweren Kettenleine
zurück, die gut in die Ausrüstung eines Löwenbändigers
gepasst hätte, und der D r e h ging weiter, eine missglückte
Klappe nach der anderen. Jede Szene war schlechter als die
vorangegangene. Irgendwann stieß Danielle mitten in der
Szene einen verzweifelten Schrei aus und rief mit echtem
Entsetzen in der Stimme: »O mein Gott! Sein D i n g ist drau-
ßen!«
»Cut!«
In einer anderen Szene sollte Danielle mit ihrem H a n d y
telefonieren, aber Marley, der zu ihren Füßen lag, hechelte
so laut, dass der Toningenieur entnervt seine Kopfhörer he-
runterriss und sich laut beschwerte: »Ich verstehe kein W o r t
von dem, was sie sagt. Ich höre n u r schweres Atmen. H ö r t
sich an wie in einem Pornostreifen.«
»Cut!«

190
So verging der erste Drehtag. Marley war eine Katastro-
phe, da gab es nichts zu beschönigen. Ein Teil von mir war
in der Defensive - Was hatten die denn erwartet? Benji zum
Nulltarif? -, der andere Teil von mir war am Boden zerstört.
Ich warf einen verschämten Blick zu den Schauspielern und
der Crew und konnte es deutlich in ihren Gesichtern lesen:
Wann verschwindet dieses Untier endlich wieder dorthin, woher
es gekommen ist? Am Abend kam einer der Assistenten mit
seinem Clipboard in der H a n d auf uns zu und sagte, dass die
Szenenabfolge für den nächsten Tag noch nicht festgelegt
sei. »Machen Sie sich nicht die M ü h e , morgen zu k o m m e n « ,
sagte er. » W i r rufen an, wenn wir Marley brauchen.« U n d
wie um ganz sicherzugehen, dass wir auch verstanden hat-
ten, wiederholte er: »Wenn Sie also nichts von uns hören,
dann tauchen Sie bitte nicht hier auf, verstanden?« Ja, ich
hatte nur zu gut verstanden. Gosse hatte seinen U n t e r g e -
benen geschickt, um die Drecksarbeit zu machen. Marleys
Filmkarriere hatte gerade erst begonnen und war schon
wieder vorbei. Ich konnte ihnen natürlich keinen Vorwurf
machen. Mit Ausnahme der Szene in Die Zehn Gebote, wo
Charlton Heston das Rote M e e r teilt, hatte Marley den größ-
ten logistischen Albtraum der Kinogeschichte geliefert. Er
war schuld daran, dass Tausende von Dollar unnütz durch
Verzögerungen und verdorbene Filmszenen vergeudet wor-
den waren. Er hatte unzählige Kostüme vollgesabbert, den
Tisch mit den Snacks abgeräumt und beinahe eine 3 0 0 0 0 -
Dollar-Kamera umgerannt. Sie würden die Szenen zusam-
menschneiden und das D r e h b u c h umschreiben, sodass M a r -
ley darin nicht m e h r vorkam. Es war die alte »Rufen Sie uns
nicht an, wir rufen Sie an«-Leier.
»Marley«, sagte ich, als wir zu Hause ankamen, »das war
deine große Chance, und du hast sie vermasselt.«

191
Am nächsten M o r g e n ärgerte ich mich immer noch über
unsere geplatzten Träume vom Ruhm, als das Telefon klin-
gelte. Es war der Assistent, der uns bat, Marley so schnell
wie möglich zum H o t e l zu bringen. »Sie meinen, Sie möch-
ten, dass er zurückkommt?«
» G a n z genau«, erklärte er. »Bob will ihn in der nächsten
Szene haben.«
Eine halbe Stunde später kam ich am Set an und konnte
immer noch nicht glauben, dass sie uns noch einmal eingela-
den hatten. Gosse begrüßte uns überschwänglich. Er hatte
die geringe Ausbeute an Filmmaterial von gestern durchge-
sehen und hätte nicht zufriedener sein können. » D e r H u n d
war zum Brüllen!«, rief er. »Einfach unschlagbar. Ein abso-
lut genialer Spinner!« Ich konnte fühlen, wie ich ein paar
Zentimeter wuchs, und straffte die Schultern.
» W i r haben immer gewusst, dass er ein Naturtalent ist«,
sagte Jenny. D e r D r e h in Lake W o r t h ging noch mehrere
Tage weiter, und Marley wuchs mit seinen Aufgaben. W i r ge-
sellten uns zu den anderen Darsteller-Eltern und Begleitern,
unterhielten uns mit ihnen, machten neue Bekanntschaften
und verstummten jedes Mal sofort, wenn der Bühnenassis-
tent rief: »Fertig zum D r e h ! « Sobald das W o r t »Cut!« ge-
fallen war, ging die Party weiter. Jenny brachte sogar die
berühmten ehemaligen Baseballstars Gary Carter und Dave
Winfield dazu, für jeden der J u n g e n einen Baseball zu sig-
nieren.
Marley wurde langsam zum Star. Die Crew, vor allem die
Frauen, k ü m m e r t e n sich rührend um ihn. Es war schrecklich
heiß, und ein Crewmitglied war eigens damit beauftragt wor-
den, Marley mit einer Schüssel und einer Flasche Wasser
überallhin zu folgen, um ihm bei Bedarf einen kühlen Drink
zu servieren. Alle versorgten ihn mit Snacks vom Büffet. Ich
ließ ihn ein paar Stunden in der O b h u t der Crew, um im

192
Büro vorbeizuschauen, und als ich zurückkam, fand ich ihn
hingegossen wie König Tut, die Pfoten in der Luft, während
er sich von der ungeheuer attraktiven Visagistin den Bauch
kraulen ließ. » E r ist so ein süßer Kerl!«, gurrte sie.
D e r ganze Starrummel stieg allmählich auch mir zu Kopf.
Ich fing an, mich mit »Marleys Besitzer« vorzustellen und
Sätze fallen zu lassen wie »In seinem nächsten Film hoffen
wir auf eine Rolle mit Gebell«. W ä h r e n d einer Drehpause
ging ich ins Foyer des Hotels, um von dort aus zu telefo-
nieren. Marley war nicht an der Leine und schnüffelte zwi-
schen den Möbeln in der Hotellobby herum. Ein Portier,
der mein Filmsternchen offenbar mit einem Streuner ver-
wechselte, fing ihn ab und versuchte, ihn zu einem Seiten-
eingang hinauszuscheuchen. » G e h nach Hause!«, schimpfte
er. »Los!«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich und hielt die Muschel mit
der H a n d zu, während ich den M a n n mit meinem vernich-
tendsten Blick bedachte. » H a b e n Sie eine Ahnung, mit wem
Sie da reden?«
W i r blieben vier Tage am Set, und als man uns mitteilte,
dass Marleys Szenen n u n alle im Kasten wären und er nicht
mehr gebraucht würde, fühlten J e n n y u n d ich uns bereits
als Teil der Shooting-Gallery-Familie. Zugegeben, die einzi-
gen unbezahlten Mitglieder, aber immerhin. »War toll mit
euch!«, rief Jenny allen in Hörweite zu, als wir Marley zum
Minivan brachten. »Ich kann es kaum erwarten, den fertigen
Film zu sehen!«
Aber das sollte noch eine Weile dauern. Einer der P r o d u -
zenten sagte, dass wir nach acht M o n a t e n anrufen sollten,
dann würden sie uns ein Exemplar zuschicken. Als ich also
nach acht M o n a t e n dort anrief, hängte mich die Sekretärin
in die Warteschleife und meinte nach ein paar Minuten:
»Versuchen Sie es bitte in ein paar M o n a t e n noch einmal.«

193
Das tat ich mehrmals, wurde aber immer wieder vertröstet.
Ich kam mir schon vor wie ein Stalker und konnte mir die
Sekretärin vorstellen, wie sie den H ö r e r zuhielt und Gos-
se an seinem Schreibtisch zuflüsterte: »Wieder dieser ver-
rückte H u n d e t y p . Was soll ich ihm diesmal sagen?«
Schließlich gab ich es auf und fand mich damit ab, dass we-
der wir noch irgendjemand sonst den Film jemals zu sehen
b e k o m m e n würden und dass das Projekt irgendwo im Müll-
eimer der Redaktion gelandet war, weil der Aufwand, diesen
verdammten H u n d aus jeder Szene herauszuschneiden, zu
groß gewesen war. Erst zwei volle Jahre später bekam ich die
Gelegenheit, Marleys Schauspielkünste zu sehen.
Ich war in der Videothek, als ich aus einer Laune heraus
den M a n n an der Kasse fragte, ob er schon mal etwas von
dem Film The Last Homerun gehört hätte. Er kannte ihn
nicht nur, er hatte ihn sogar da. Zufällig war kein einziges
Exemplar davon ausgeliehen. Ich erfuhr die ganze traurige
Geschichte erst später. D e r Shooting Gallery war es nicht
gelungen, einen Anbieter für den Film zu finden, und man
hatte Marleys Filmdebüt daher dem traurigsten aller Film-
schicksale überlassen: The Last Homerun war nur als Video
herausgekommen. M i r war das egal. Ich raste mit meiner
Kassette nach Hause und rief nach Jenny und den Jungs,
damit sie sich alle um den Fernseher versammelten. Alles
in allem war Marley knapp zwei Minuten im Bild, aber ich
fand, dass es die besten zwei M i n u t e n des Films waren. W i r
lachten! W i r weinten! W i r jubelten!
»Mallie!«, schrie Conor.
» W i r sind berühmt!«, schrie Patrick.
Marley, der nie zu Starallüren neigte, schien unbeein-
druckt. Er gähnte und kroch unter den Couchtisch. Als der
Abspann lief, war er schon eingeschlafen. W i r hielten den
Atem an, als die N a m e n aller zweibeinigen Darsteller über

194
den Bildschirm gelaufen waren. Eine M i n u t e lang dachte ich,
dass unser H u n d nicht erwähnt werden würde. Aber dann
kam es, in großen Buchstaben auf dem Bildschirm, sodass
jeder es lesen konnte: »Marley der H u n d ...As himself.«
SIEBZEHN

Im Land von Bocahontas

E inen M o n a t nach Abschluss der Dreharbeiten zu The


Last Homerun verabschiedeten wir uns von Palm Beach
und all den Erinnerungen, die daran hingen. Es hatte zwei
weitere M o r d e in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ge-
geben, aber letztendlich war es nicht das Verbrechen, son-
dern das Chaos, das uns aus unserem kleinen Bungalow
in der Churchill Road vertrieb. M i t zwei Kindern und der
damit einhergehenden Ausrüstung waren wir buchstäblich
voll bis unters Dach. Das H a u s hatte den fahlen Glanz ei-
nes Toys-»R«-us-Outlets angenommen. Marley hatte in-
zwischen knapp fünfzig Kilo erreicht und konnte sich nicht
m e h r umdrehen, ohne etwas umzuwerfen. Unser Haus hatte
zwei Schlafzimmer, und wir hatten naiverweise gedacht, dass
sich die J u n g e n das zweite Z i m m e r teilen könnten. Doch als
sie anfingen sich gegenseitig aufzuwecken und damit unsere
nächtlichen Abenteuer verdoppelten, quartierten wir Conor
in einen kleinen Raum zwischen Küche und Garage aus. Offi-
ziell war dort mein Arbeitszimmer untergebracht, wo ich Gi-
tarre spielte und Rechnungen bezahlte. Für Außenstehende
ließ sich der Zustand aber nicht schönreden: W i r hatten un-
ser Baby im D u r c h g a n g einquartiert. Das klang schrecklich.
Ein D u r c h g a n g liegt gleich neben der Garage, und eine Ga-
rage wiederum ist beinahe das Gleiche wie ein Schuppen.
U n d was waren das für Eltern, die ihr Kind in einem Schup-

196
pen aufzogen? M i t einem Durchgang verband sich auch
ein gewisses Sicherheitsrisiko: D o r t war es im Allgemeinen
zugig, und mit dem W i n d konnte auch alles andere leicht
Einlass finden: Schmutz, Reizstoffe, stechende Insekten, Fle-
dermäuse, Verbrecher, Perverse. Im Durchgan g bewahrte
man normalerweise nur Abfalleimer und nasse Turnschuhe
auf. Tatsächlich standen dort Marleys Futter- und Wasser-
schüsseln, auch noch, nachdem C o n o r dort eingezogen war.
Nicht deshalb, weil sich dieser Platz besonders gut dafür ge-
eignet hätte, sondern weil Marley sich inzwischen schon so
daran gewöhnt hatte.
Unser Gangkinderzimmer erinnerte ein wenig an einen
Dickens-Roman, aber es war wirklich gar nicht so schlimm;
eigentlich war es beinahe charmant. Ursprünglich war es als
überdachter Ubergang zwischen H a u s und Garage gebaut
worden, die Vorbesitzer hatten es dann aber vor J a h r e n ab-
gemauert. Bevor wir den Durchgan g in ein Kinderzimmer
umfunktionierten, ersetzte ich die alten, undichten Jalousien
mit neuen, dichten Fenstern. Ich befestigte neue Fenster-
läden, strich die W ä n d e und wir hängten neue Vorhänge auf.
Jenny legte weiche Teppiche aus, hängte fröhliche Bilder auf
und ließ bunte Mobiles von der Decke baumeln. U n d trotz-
dem, wie sah das Ganze aus? Unser Sohn schlief im Gang,
während der H u n d jederzeit freien Zugang zum elterlichen
Schlafzimmer hatte.
Zudem war Jenny inzwischen wieder halbtags in ihren
alten J o b bei der Post eingestiegen. Sie arbeitete meist von
zu Hause aus und versuchte, J o b und Kinder unter einen
H u t zu bringen. Es war vernünftig, dass wir uns etwas in der
N ä h e meiner Arbeit suchten. W i r waren uns einig, dass wir
umziehen mussten.
Das Leben ist voller Ironie, und so kam es, dass wir nach
monatelanger Suche ein H a u s in genau der Stadt in Süd-

197
florida fanden, über die ich mich in meinen Glossen am
meisten lustig machte. Die Stadt hieß Boca Raton, das ist
Spanisch und bedeutet wörtlich »Rattenmaul«. U n d was für
ein Maul!
Boca Raton war eine reiche republikanische Bastion,
in die in letzter Zeit vor allem Leute aus N e w Jersey und
N e w York gezogen waren. Das Kapital in der Stadt war
also n o c h jung, und die meisten dieser Neureichen wussten
nicht recht, wie sie ihr Geld stilvoll ausgeben konnten. Boca
Raton war das Land der Luxusschlitten, der roten Sportwa-
gen, pinkfarbenen Stuckhäuschen auf briefmarkengroßen
Grundstücken und griechisch umsäulten Anwesen mit Tür-
stehern davor. Die M ä n n e r trugen vorwiegend Leinenhosen
und italienische Schuhe ohne Socken und verbrachten un-
endlich viel Zeit damit, wichtig klingende Handygespräche
miteinander zu führen. Die Frauen waren so gebräunt wie
ihre Lieblings-Gucci-Taschen, ihre glatte H a u t wurde von
in erschreckenden Platin- und Silbertönen gefärbtem Haar
betont.
In der Stadt wimmelte es n u r so von Schönheitschirurgen,
u n d sie hatten die größten Häuser und das strahlendste Lä-
cheln von allen. F ü r die gut erhaltenen Frauen von Boca
war ein Brustimplantat absolut unerlässlich. Die Jüngeren
hatten alle ein atemberaubendes Dekollete; die Alteren hat-
ten ein atemberaubendes Dekollete und ein geliftetes G e -
sicht. Gesäßformung, Nasenoperation, Bauchstraffung und
gefärbte Augenbrauen rundeten das kosmetische Aufgebot
ab und vermittelten den seltsamen Eindruck, dass die weib-
lichen Einwohner von Boca eine Armee aus anatomisch per-
fekten, aufblasbaren Puppen waren. W i e ich es einmal in ei-
n e m Liedtext ausdrückte, den ich für meine Glosse schrieb:
»Fettabsaugung und Silikon - das braucht die Frau in Boca
Raton.«

198
In meiner Kolumne hatte ich mich über den Lebensstil in
Boca lustig gemacht, angefangen von dem N a m e n des Städt-
chens selbst. Die Einwohner nannten ihre Stadt nie Boca
Raton. Sie verwendeten einfach nur das vertrauliche W o r t
»Boca«. U n d sie sprachen es auch nicht so aus, wie man es
laut Lexikon aussprechen musste, nämlich mit einem langen
0 in BO-kah, sondern sie gaben ihm eher einen weichen,
nasalen Klang. Eher ein BOHW-kah, so wie in: » O h , die zu-
rechtgeschnittenen Büsche sind wundervoll hier in BOHW-
kah!«
Damals lief gerade der Disney-Film Pocahontas, und ich
begann mit einer fortlaufenden Serie, die sich an die G e -
schichte der Indianderprinzessin anlehnte, und nannte sie
»Bocahontas«. Meine goldbehangene Protagonistin war
eine geborene Vorstadtprinzessin und fuhr einen pinkfar-
benen BMW. Ihre steinharten, chirurgisch vergrößerten
Brüste ragten ins Lenkrad, was ihr erlaubte, freihändig zum
Bräunungsstudio zu fahren und dabei gleichzeitig mit ih-
rem H a n d y zu telefonieren und ihre festgesprayte Frisur im
Rückspiegel zurechtzuzupfen. Bocahontas wohnte in einem
pastellfarbenen Designerwigwam, trainierte jeden M o r g e n
im stammeseigenen Fitnessstudio - aber nur, wenn sie dort
einen Parkplatz im Umkreis von fünf M e t e r n fand - und
verbrachte ihre Nachmittage damit, im Pelz und mit einsatz-
bereiter Kreditkarte in der H a n d durch die heiligen Jagd-
gründe zu stolzieren, die unter dem N a m e n Einkaufszent-
rum bekannt waren. »Begrabt meine Kreditkarte im Mizner
Park!«, verkündet Bocahontas feierlich in einer meiner K o -
lumnen, in Anspielung auf das schickste Einkaufszentrum
der Gegend. In einer anderen Kolumne zog sie gerade ihren
hirschledernen Wonderbra an und warb dafür, dass Schön-
heitsoperationen von der Steuer absetzbar sein sollten.
Meine Darstellung war grausam. Unliebenswürdig. U n d

199
n u r ein klein wenig übertrieben. Die echten Bocahontas von
Boca waren die größten Fans meiner Kolumne und versuch-
ten immer herauszufinden, welche von ihnen mich zu mei-
ner Hauptfigur inspiriert hatte (was ich natürlich niemals
verraten werde). Ich wurde regelmäßig eingeladen, vor un-
terschiedlichen Vereinen und Versammlungen zu sprechen,
und jedes Mal stand jemand auf und stellte dieselbe Frage:
» W a r u m hassen Sie BOHW-kah so sehr?« Ich hasste Boca
nicht, erklärte ich dann. Ich liebte nur die Farce. U n d nir-
gends auf der Welt wurde einem das in solcher Reinform
geboten wie im superpinken Rattenmaul.
Es war also n u r logisch, dass das Haus, in das Jenny und
ich schließlich einzogen, mitten im H e r z e n dieser Boca-Far-
ce lag, genau zwischen den Ufergrundstücken von East Boca
Raton und den versnobten, alarmgesicherten Anwesen im
Westen (die, wie ich den Postleitzahlen-fixierten Einwoh-
nern dort gerne vor Augen hielt, nicht mehr zu Palm Beach
gehörten).
U n s e r e Nachbarschaft war eine der wenigen Mittelklasse-
gegenden, und die Leute dort pflegten damit zu kokettieren,
dass sie in jedem Fall auf der falschen Seite der Bahngleise
wohnten. Tatsächlich gab es zwei Bahngleise, eines stellte
die östliche G r e n z e des Viertels dar und eines die wesdiche.
Nachts, wenn m a n im Bett lag, konnte man die Güterzüge
auf ihrem W e g von und nach Miami hören.
»Bist du verrückt?«, sagte ich zu Jenny. » W i r können
doch nicht nach Boca ziehen! Die werden mich aus der
Stadt jagen! Die servieren meinen Kopf auf einem Bett aus
organisch angebauten Mesclun-Blattsalaten!«
»Ach, Unsinn, du übertreibst schon wieder«, sagte sie.
Die Sun-Sentinel, für die ich arbeitete, war die meistgele-
sene Zeitung in Boca Raton, weit vor dem Miami Herald,
der Palm Beach Post oder der Lokalzeitung Boca Raton News.

200
Meine Artikel wurden in dieser Stadt und ihren westlichen
Ausläufern viel gelesen, und da neben meiner Kolumne im-
mer ein Foto von mir abgedruckt wurde, wurde ich regel-
mäßig wiedererkannt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich
übertrieb. »Sie werden mir bei lebendigem Leibe die H a u t
abziehen und meinen Leichnam dann vor Tiffany's öffent-
lich zur Schau stellen!«
Aber wir hatten n u n schon monatelang gesucht, u n d
dies war das erste Haus, das alle unsere Anforderungen er-
füllte. Es passte einfach alles: G r ö ß e , Preis und Lage, stra-
tegisch günstig zwischen den beiden Büros gelegen, wo ich
arbeitete. Die öffentlichen Schulen waren dort genauso gut
wie anderswo in Südflorida, u n d bei aller Oberflächlichkeit
gab es in Boca Raton doch wunderschöne Parkanlagen, ein-
schließlich einiger der unberührtesten Strände der Gegend
um Miami und Palm Beach. M i t größten Bedenken stimmte
ich schließlich dem Kauf zu. Ich kam mir vor wie ein ent-
tarnter Geheimagent in feindlichem Gebiet. D e r Barbar war
dabei, die Grenze zu überschreiten, ein unakzeptabler Boca-
Lästerer wollte die Boca-Gartenparty sprengen. W e r k o n n -
te es ihnen verdenken, dass sie mich nicht haben wollten?
In der ersten Zeit schlich ich mit eingezogenem Kopf
durch die Stadt und war überzeugt, dass aller Augen auf mir
ruhten. Meine O h r e n glühten, wenn ich mir vorstellte, wie
die Leute hinter meinem Rücken über mich lästerten. Als
ich in der Kolumne von meinem U m z u g nach Boca berich-
tet hatte (und dabei öfters über meinen eigenen Schatten
springen musste), bekam ich einige Briefe, in denen Dinge
standen wie: »Erst machen Sie unsere Stadt zum Gespött
und dann wollen Sie hier leben? Sie schamloser Heuchler!«
U n d ich musste zugeben, dass sie irgendwie Recht hatten.
Ein begeisterter Boca-Bewohner, den ich von der Arbeit
her kannte, konnte es gar nicht erwarten, mich zur Rede zu

201
stellen: »So, Sie meinen also, dass das geschmacklose Boca
doch nicht so schlecht ist, was?«, fragte er hämisch. »Die
Parkanlagen, die Steuerklasse, die Schulen, die Strände und
die Nachbarschaft sind wohl doch nicht so übel, wenn es da-
r u m geht, ein H a u s zu kaufen, was?« Ich konnte ihm nichts
entgegensetzen.
Ich stellte allerdings bald fest, dass die meisten meiner
Nachbarn, die wie ich auf der falschen Seite von beiden
Bahngleisen wohnten, meinen Ausfällen gegenüber den, wie
einer von ihnen es nannte, »Peinlichen und Vulgären unter
uns« zustimmten. Bald fühlte ich mich heimisch.

U n s e r H a u s war 1970 gebaut worden und hatte vier Schlaf-


zimmer, doppelt so viel Wohnfläche wie unser erstes Heim
u n d nichts von dessen C h a r m e . Doch es ließ sich etwas
daraus machen, und allmählich drückten wir ihm unseren
Stempel auf. W i r rissen den Flauschteppichboden heraus
und legten Eichenparkett im Wohnzimmer, überall sonst
verlegten wir italienische Fliesen. W i r ersetzten die häss-
lichen Glasschiebetüren durch lackierte Flügeltüren, und
nach und nach verwandelte ich den kargen Vorgarten in
einen tropischen Urwald, der vor Ingwer, Helikonien und
Kletterpflanzen n u r so strotzte. Sowohl Schmetterlinge als
auch Passanten konnten sich kaum daran sattsehen.
Die zwei besten Dinge an unserem neuen Haus hatten
allerdings nichts mit dem H a u s selbst zu tun. Von unserem
Wohnzimmerfenster aus konnte man auf eine kleine Parkan-
lage mit Spielplatz schauen, überdacht von großen Pinien.
Die Kinder liebten diesen Ort. U n d im Garten hinter dem
H a u s , gleich hinter der Terrassentür, war ein Swimmingpool
in den Boden eingelassen. W i r hatten eigendich keinen
Swimmingpool gewollt, aus Sorge um unsere beiden kleinen
Söhne, und Jennys Vorschlag, ihn zuzuschütten, ließ unseren

202
Makler erbleichen. Am Tag unseres Einzugs zogen wir als
Erstes einen hüfthohen Zaun um den Pool, der einem H o c h -
sicherheitstrakt alle E h r e gemacht hätte. Die Jungs - Patrick
war damals gerade drei geworden, u n d C o n o r war achtzehn
Monate alt - lernten das Wasser mit der Begeisterung von
Delfinen lieben. D e r Park wurde zu unserem erweiterten
Garten, und der Pool versüßte uns den Sommer, den wir so
liebten. W i r hatten bald begriffen, dass in Florida ein Swim-
mingpool den entscheidenden Unterschied zwischen den
Sommer ertragen und den Sommer genießen ausmacht.
Keiner liebte unseren Pool m e h r als unser Seehund, der
stolze N a c h k o m m e der Retriever, die im Dienste der Fischer
die Ozeanwellen an den Küsten Neufundlands bezwungen
hatten. W e n n das Zaungatter am Pool offen war, war Marley
nicht mehr zu halten. Er n a h m schon im W o h n z i m m e r An-
lauf, sprang mit einem riesigen Satz durch die Terrassentür
und hob dann mit einem beherzten Sprung von der Ziegel-
terrasse ab, um mit einem gigantischen Bauchklatscher im
Pool zu landen, der in der Luft widerhallte und das Wasser
zum Überschwappen brachte. M i t Marley zu schwimmen,
war ein lebensbedrohliches Abenteuer, ungefähr so, als wür-
de man mit einem Kreuzfahrtschiff baden. Er kam immer
mit vollem Tempo auf mich zugeplantscht, seine Pfoten
schlugen wild auf das Wasser ein. Aber anstatt, wie erwartet,
im letzten M o m e n t auszuweichen, hielt er stets genau auf
mich zu und versuchte, auf mich hinaufzuklettern. W e n n er
meinen Kopf erreicht hatte, drückte er ihn unter die W a s -
seroberfläche. »Wofür hast du mich gehalten, einen Steg?«,
fragte ich ihn dann und u m a r m t e ihn, damit er wieder zu
Atem kommen konnte, dabei paddelten seine Pfoten i m m e r
noch auf Autopilot durch das Wasser, während er mir das
Gesicht ableckte.
Eines fehlte an unserem neuen Haus: ein Marley-sicherer

203
Bunker. Die Garage aus Beton in unserem alten Haus war
so gut wie unzerstörbar gewesen, und sie hatte zwei Fens-
ter gehabt, was die Temperatur auch im heißesten Sommer
erträglich gehalten hatte. U n s e r H a u s in Boca hatte eine
große Garage für zwei Autos, aber sie war völlig ungeeignet,
um Marley oder irgendein anderes Lebewesen, das nicht
bei 50 Grad Celsius überleben konnte, dort unterzubrin-
gen. Die Garage hatte keine Fenster und war brütend heiß.
Außerdem waren die W ä n d e nicht aus Beton, sondern aus
Trockenziegeln, die Marley problemlos pulverisieren konn-
te, wie er bereits bewiesen hatte. Seine Panikattacken bei
Gewitter wurden immer schlimmer, trotz der Beruhigungs-
mittel.
Als wir ihn das erste Mal alleine in unserem neuen Z u -
hause ließen, sperrten wir ihn zusammen mit einem Bett-
tuch und einer großen Schüssel Wasser in die Waschküche,
gleich neben der Küche. Als wir wenige Stunden später zu-
rückkamen, hatte er die T ü r völlig zerkratzt. Der Schaden
war nicht groß, aber wir hatten uns gerade für die nächsten
dreißigjahre verschuldet, um dieses H a u s zu kaufen, und wir
wussten, dass dieser Vorfall nichts Gutes bedeuten konnte.
»Vielleicht muss er sich erst an seine neue U m g e b u n g ge-
w ö h n e n « , schlug ich vor.
»Es ist nicht die kleinste Wolke am H i m m e l « , stellte Jen-
ny skeptisch fest. »Was passiert beim ersten Gewitter?«
Als wir ihn das nächste Mal alleine ließen, bekamen wir
die Antwort. Als wir ein Gewitter herannahen hörten, bra-
chen wir unseren Ausflug ab und eilten nach Hause, doch
es war bereits zu spät. J e n n y war ein paar Schritte vor mir,
und als sie die T ü r zur Waschküche öffnete, blieb sie wie an-
gewurzelt stehen und stieß ein entsetztes »O mein Gott!«
aus. Sie sagte das in einem Ton, als hätte sie gerade eine
Leiche entdeckt, die von der Decke baumelte. U n d noch

204
einmal: »O ... mein ... Gott!« Ich spähte über ihre Schul-
ter hinein, und es war schlimmer, als ich erwartet hatte. Da
stand Marley wild hechelnd, Pfoten und Maul blutig. Ü b e r -
all lag loses Fell von ihm herum, als wären ihm vor Angst die
Haare ausgefallen. Er hatte größeren Schaden angerichtet
als je zuvor, und das sollte etwas heißen. Eine ganze W a n d
war aufgerissen und bis auf die Sockel abgetragen. Überall
lagen Plastik- und Holzspäne und verbogene Nägel herum.
Die elektrischen Leitungen waren freigelegt. Boden u n d
Wände waren blutverschmiert. Es sah aus wie eine Szene
aus einem Horrorfilm.
»O mein G o t t « , sagte Jenny zum dritten Mal.
»O mein G o t t « , wiederholte ich. Keiner von uns brachte
etwas anderes heraus.
Als wir einige Sekunden stumm dagestanden und auf die
Verwüstung gestarrt hatten, sagte ich schließlich: »Okay, wir
schaffen das. M a n kann das alles richten.« J e n n y warf mir
einen vernichtenden Blick zu; sie kannte meine Fähigkeiten.
»Ich rufe einen Handwerker an und lasse das professionell
reparieren«, sagte ich. »Ich würde niemals versuchen, das
hier selbst zu machen.« Ich gab Marley eine Beruhigungs-
tablette und fürchtete insgeheim, dass dieser neuerliche
zerstörerische Ausbruch von ihm bei J e n n y wieder jenen
schrecklichen Zustand auslösen würde, in den sie nach C o -
nors Geburt verfallen war. D o c h sie schien diese Phase end-
gültig überwunden zu haben und n a h m das Ganze erstaun-
lich locker.
»Ein paar H u n d e r t Dollar und alles ist so gut wie neu«,
zwitscherte sie.
»Das denke ich auch«, stimmte ich ihr zu. »Ich gebe
ein paar Extra-Lesungen, dann haben wir das Geld wieder
drin.«
N a c h wenigen Augenblicken begann sich Marley zu ent-

205
spannen. Seine Augenlider wurden schwer und seine Augen
blutunterlaufen, wie immer, wenn das Beruhigungsmittel
wirkte. Er sah aus wie ein bekiffter Woodstock-Besucher. Ich
hasste es, ihn so zu sehen, ich hatte es schon immer gehasst,
und zögerte jedes Mal, ihn ruhig zu stellen. Aber die Tab-
letten halfen ihm aus seiner Panik heraus, aus dieser tödli-
chen Bedrohung, die nur in seinem Kopf existierte. W ä r e
er ein Mensch gewesen, hätte ich ihn als hochgradig psy-
chisch gestört bezeichnet. Er hatte Wahnvorstellungen, litt
unter Verfolgungsangst und war überzeugt, dass eine dunk-
le, böse M a c h t vom H i m m e l k o m m e n und ihn mitnehmen
würde. N u n rollte er sich auf dem kleinen Teppich vor dem
Spülbecken in der Küche zusammen und stieß einen tiefen
Seufzer aus. Ich kniete mich neben ihn und strich über sein
blutverkrustetes Fell. » M a n n « , sagte ich zu ihm, »was ma-
chen wir bloß mit dir?« O h n e den Kopf zu heben, sah er
mit seinen blutunterlaufenen, bekifften Augen zu mir auf,
den traurigsten, bekümmertsten Augen, die ich je gesehen
habe, u n d starrte mich nur an. Es war, als versuchte er mir
etwas zu sagen, etwas Wichtiges, das er mir unbedingt erklä-
ren musste. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß, dass du nichts
dafür kannst.«

Am nächsten Tag fuhren J e n n y und ich mit den Jungen in


eine Z o o h a n d l u n g und kauften einen riesigen Hundekä-
fig. Es gab sie in allen denkbaren Größen, und als ich dem
Verkäufer Marley beschrieb, führte er uns zu dem größten
Exemplar. Er war so groß wie ein Löwenkäfig und hatte
schwere Stahlgitterstäbe, die T ü r wurde mit zwei giganti-
schen Zylinderschlössern verschlossen, und auch der Boden
war aus dickem Stahl. Das war unsere Antwort, unser eige-
nes, tragbares Alcatraz. C o n o r und Patrick kletterten hinein,
und ich schob die Riegel vor und sperrte sie so einen M o -

206
ment lang ein. »Was meint ihr?«, fragte ich. » H ä l t der unse-
ren Superhund aus?«
Conor rüttelte am Gitter wie ein langjähriger Sträfling
und rief: »Fängnis!«
»Mallie ist unser Gefangener!«, schrie Patrick begeistert.
Zu Hause stellten wir den Zwinger neben unserer Wasch-
maschine auf. Das tragbare Alcatraz nahm beinahe die halbe
Waschküche ein. Als es vollständig aufgestellt war, rief ich
Marley. Ich warf einen Kauknochen hinein und er sprang
fröhlich hinterher. D a n n schloss ich die T ü r hinter ihm u n d
verriegelte sie. Er stand da und kaute an seiner Beute herum,
völlig unbeeindruckt von der neuen Erfahrung, die er bald
machen sollte und die man in Fachkreisen »direkte Konfron-
tation mit der Angst« nennt.
»Das ist von jetzt an dein neues Zuhause, wenn wir nicht
da sind«, sagte ich fröhlich. Marley hechelte zufrieden, ohne
eine Spur von Bekümmernis im Gesicht. D a n n legte er sich
hin und stieß einen Seufzer aus. »Das ist ein gutes Zeichen«,
sagte ich zu Jenny. »Ganz bestimmt.«
An diesem Abend beschlossen wir, unseren H u n d e h o c h -
sicherheitstrakt auszutesten. Diesmal war gar kein K n o -
chen notwendig, um Marley hineinzulocken. Ich öffnete
einfach die Tür, pfiff einmal, und schon kam er, lief hinein
und schlug mit dem Schwanz wedelnd gegen die Gitter-
stäbe. »Sei brav, Marley«, sagte ich zu ihm. Als wir die Jungs
ins Auto setzten, um zum Essen zu fahren, meinte Jenny:
»Weißt du was?«
»Was denn?«, fragte ich.
» Z u m ersten Mal, seit wir Marley haben, verlasse ich das
Haus ohne ein mulmiges Gefühl im Bauch«, sagte sie. »Ich
wusste bisher gar nicht, wie sehr mich das immer belastet
hat«, fügte sie hinzu.
»Ich weiß, was du meinst«, erwiderte ich. »Es war immer

207
eine Art Glücksspiel: Was macht unser H u n d diesmal ka-
putt?«
»Oder: W e viel wird uns dieser Kinobesuch kosten?«
»Ja, es war wie russisches Roulette.«
»Ich glaube, dieser Käfig ist die beste Anschaffung, die
wir je gemacht haben«, sagte sie.
» W i r hätten das schon lange tun sollen«, meinte ich. »See-
lenfrieden ist unbezahlbar.«
W i r waren wunderschön essen und machten anschließend
n o c h einen ausgedehnten Sonnenuntergangsspaziergang am
Strand. Die J u n g e n sprangen in den anrollenden Wellen he-
rum, jagten den Seemöwen nach und warfen Sand ins Was-
ser. J e n n y war ungewöhnlich entspannt. Allein die Gewiss-
heit, dass Marley sicher in Alcatraz saß und weder sich noch
etwas anderes gefährden konnte, wirkte wie Balsam auf ihre
Seele. »Das war wirklich ein sehr schöner Abend«, sagte sie,
als wir den W e g zu unserem H a u s hinaufgingen. Ich wollte
gerade zustimmen, als ich aus dem Augenwinkel heraus et-
was wahrnahm. Irgendetwas stimmte nicht. Ich drehte den
Kopf und starrte auf das Fenster neben der Haustür. Die
Jalousien waren geschlossen, wie immer, wenn wir nicht zu
Hause waren. Aber im unteren Drittel des Fensters waren
die Jalousiestreifen auseinandergebogen, und etwas lugte da-
zwischen hervor. Etwas Schwarzes. Etwas Nasses. U n d es
presste sich gegen die Scheibe. »Was zum ...!«, stieß ich her-
vor. » W i e ... Marley?«
Als ich die Haustür öffnete, kam mir unser einhündiges
Begrüßungskomitee entgegen, er wedelte sich seinen W e g
durch die Diele und freute sich wie verrückt, dass wir wieder
da waren. W i r schwärmten im ganzen H a u s aus, um in allen
Z i m m e r n und Schränken nach den Spuren von Marleys un-
beaufsichtigtem Abenteuer zu suchen. Im Haus war alles in
O r d n u n g , alles war unberührt. W i r näherten uns der Wasch-

208
küche. Die Käfigtür stand weit offen, als hätte sich ein heim-
licher Komplize ins H a u s geschlichen und unseren Sträfling
befreit. Ich hockte mich neben den Käfig, um mir die Sache
genauer anzusehen. Die zwei Riegel waren zurückgescho-
ben und - ein eindeutiges Indiz - tropfnass von Speichel.
»Das sieht nach Eigenarbeit aus«, sagte ich. »Irgendwie hat
sich unser Houdini seinen W e g in die Freiheit geleckt.«
»Ich kann es nicht fassen«, meinte Jenny. D a n n stieß sie
ein sehr unfeines W o r t aus. Z u m Glück waren unsere Kin-
der noch außer Hörweite.
W i r hatten Marley immer für ziemlich dämlich gehalten,
aber er war schlau genug gewesen, um herauszufinden, wie er
mit seiner langen, großen Z u n g e die Riegel langsam zurück-
schieben konnte. Er hatte es einmal geschafft und bewies in
den nächsten Wochen, dass er diesen Trick so oft wiederho-
len konnte, wie er wollte. Unser Hochsicherheitstrakt war
zu seinem Zweitwohnsitz geworden; manchmal fanden wir
ihn bei unserer Rückkehr friedlich im Käfig schlafend vor,
an anderen Tagen erwartete er uns an der Haustür. Marley
war kein Freund von aufgezwungenen Regeln.
W i r versuchten, die Riegel mit Kabelbindern zu fixieren.
Das funktionierte eine Weile. Aber eines Abends kamen wir
nach Hause, als ein Gewitter im Anzug war, und fanden eine
untere Ecke der Käfigtür wie mit einem riesigen Dosenöff-
ner zurückgebogen. Ein panischer Marley steckte in der en-
gen Öffnung fest, halb im Käfig und halb draußen. Seine
Pfoten waren wieder blutig. Ich bog das Gitter wieder zu-
rück, so gut es ging, und wir fixierten von da an nicht nur die
Riegel, sondern auch die Gitterecken. Bald mussten wir die
Ecken des Käfigs verstärken, denn Marley legte weiterhin sei-
nen ganzen Ehrgeiz in seine Ausbruchsversuche. N a c h drei
Monaten sah unser glänzender Stahlkäfig, den wir für u n b e -
zwingbar gehalten hatten, aus, als hätte man ihn mit einer

209
Haubitze bearbeitet. Die Gitterstäbe waren verbogen, der
R a h m e n auseinandergestemmt, die T ü r war ein formloses
Etwas, die Seitenteile bogen sich nach außen. Ich versuchte
weiterhin, ihn immer wieder zu reparieren, und er hielt Mar-
leys heftigen Attacken weiterhin nur ungenügend stand. Er
vermittelte uns nicht länger eine Illusion von Sicherheit. J e -
des Mal, wenn wir das H a u s verließen, und wenn es nur für
eine halbe Stunde war, fragten wir uns, ob es nun so weit
war u n d unser wahnsinniger Mitbewohner ausbrechen und
auf einen neuen Raubzug einschließlich Couchzerfleddern,
Wandabmeißeln oder Türfressen gehen würde. So viel zum
T h e m a Seelenfrieden.
ACHTZEHN

Speisen unter freiem Himmel

M arley passte genauso wenig in die Gesellschaft von


Boca Raton wie ich. Boca hatte (und so ist es sicher
heute noch) eine übermäßige Dichte an den kleinsten, kläf-
figsten und verhätscheltsten Schoßhündchen der Welt, ge-
nau der Typ H u n d , den die Bocahontas als Modeaccessoire
favorisierten. Es waren wertvolle kleine Tierchen, oft mit
Schleifchen im Fell und einem Spritzer Eau de Cologne
am Hals. Manche hatten sogar lackierte Krallen, u n d man
konnte sie an den unwahrscheinlichsten O r t e n entdecken -
sie glotzten einen etwa aus einer Designerhandtasche an,
wenn man im Bagelshop anstand, sie schnüffelten an den
Handtüchern ihrer Frauchen am Strand, sie liefen an strass-
besetzten Leinen ihren Frauchen voran in edle Antiquitäten-
läden. Meistens sah man sie in teuren Autos durch die Stadt
kreuzen, aristokratisch auf dem Schoß ihrer Besitzer hinter
dem Lenkrad thronend. Sie waren genau das Gegenteil von
Marley, ungefähr so, wie sich Grace Kelly gegenüber G o -
mer Pyle ausnimmt. Sie waren klein, verzärtelt u n d erniedri-
gend stilvoll. Marley war groß, klobig und schnüffelte an G e -
schlechtsteilen. Er wollte so schrecklich gerne in ihren Kreis
aufgenommen werden, und sie wollten das auf gar keinen
Fall. M i t seinem frisch verdauten Hundeschulen-Zeugnis
im Gepäck war Marley auf Spaziergängen halbwegs unter
Kontrolle zu halten, aber wenn er etwas Interessantes ent-

211
deckte, war er immer noch unberechenbar und pfiff auf das
Risiko, eines Erstickungstodes zu sterben. Jedes dieser teu-
ren H ü n d c h e n , die wir unterwegs trafen, war es ihm wert,
sich zu Tode zu würgen. Jedes Mal, wenn er eines von ihnen
entdeckte, stürzte er los und zog wahlweise Jenny oder mich
trotz Kettenhalsband hinter sich her. U n d jedes Mal wurde
Marley barsch zurechtgewiesen, nicht nur von dem kleinen
Bocahündchen, sondern auch von der Besitzerin des klei-
nen Bocahündchens, die ihren kleinen Fifi oder Cheri oder
die kleine Susie sofort auf den Arm nahm, als müsse sie das
T i e r c h e n vor den scharfen Z ä h n e n eines Krokodils retten.
Marley schien das nichts auszumachen. Sobald der nächste
M i n i h u n d in Sicht kam, ging alles wieder von vorne los, als
hätte es die letzte Abreibung nie gegeben. Ich hatte nie be-
sonders gut damit u m g e h e n können, wenn ich einen Korb
bekam, u n d bewunderte seine Ausdauer.
M a n konnte in Boca wunderschön essen gehen, und in
vielen Restaurants saß m a n draußen unter Palmen, deren
Stämme und Palmwedel mit kleinen weißen Lichtern behan-
gen waren. Dies war der Ort, um zu sehen und gesehen zu
werden, um einen Cafe Latte zu schlürfen und wichtig in ein
H a n d y zu brabbeln, während die Begleitung gelangweilt in
die Luft starrt. U n d das Bocaschoßhündchen war ein wich-
tiges Detail in dieser Szenerie. Pärchen brachten ihre Lieb-
linge mit und banden die Leine an den schmiedeeisernen
Tischchen fest, wo die H ü n d c h e n sich zufrieden zu Füßen
ihrer Besitzer zusammenrollten oder manchmal auch neben
ihnen am Tisch saßen und ihre Köpfchen gebieterisch reck-
ten, als wären sie pikiert über die Unaufmerksamkeit der
Kellner.
Eines Sonntagnachmittags hatten Jenny und ich die Idee,
dass es doch schön wäre, mit der ganzen Familie essen zu
gehen. » W i r sind in Boca, also benehmen wir uns auch so!«,

212
sagte ich. W i r luden die Jungen und den H u n d in unseren
Minivan und fuhren zum Mizner Park, dem schicken E i n -
kaufszentrum der Stadt. Es war einer italienischen Piazza
nachempfunden, mit breiten Ladenstraßen und zahllosen
Restaurants. W i r parkten und spazierten dann eine der La-
denstraßen hinauf und die andere wieder hinunter, wir sahen
und wurden gesehen - und was für einen Anblick müssen wir
geboten haben! Jenny hatte die J u n g e n in einen Doppelkin-
derwagen gepackt, der aussah wie ein Wägelchen des P u t z -
personals, mit all der Babyausrüstung von Apfelsaft bis zu
Feuchttüchern. Ich ging neben ihr, Marley brav an meiner
Seite - doch ich spürte, wie er in Erwartung des nächsten
Bocahündchens bebte. Er war sogar noch wilder als sonst,
ganz außer sich bei dem Gedanken, einem dieser kleinen
reinrassigen Tierchen nahe zu kommen, und ich packte sei-
ne Leine fester. Seine Zunge hing heraus, und er hechelte
wie eine Lokomotive.
W i r entschieden uns für ein Restaurant der erschwing-
lichen Preisklasse und gingen dann eine Weile daneben auf
und ab, bis ein Tisch am Rand frei wurde. D e r Tisch war
perfekt, im Schatten, mit freiem Blick auf den Springbrun-
nen in der Mitte der Piazza, und zudem schwer genug, um
einen leicht erregbaren 50-Kilo-Labrador zu halten. D a c h -
ten wir. Ich band Marleys Leine an ein Tischbein, und wir
bestellten Getränke für alle, zwei Bier und zweimal Apfel-
saft.
»Auf einen schönen Tag mit meiner wundervollen Fa-
milie«, sagte Jenny und erhob ihr Glas. W i r stießen mit
unseren Bierflaschen an und die Jungs schmetterten ihre
klebrigen Saftbecher zusammen. Da passierte es. Es ging so
schnell, dass wir es zuerst gar nicht mitbekamen. W i r wuss-
ten hinterher nur, dass wir im einen M o m e n t noch an einem
hübschen Tischchen unter freiem H i m m e l gesessen und

213
auf einen schönen Tag angestoßen hatten und im nächsten
M o m e n t genau dieser Tisch unterwegs war und sich seinen
W e g durch die M e n g e der anderen Tischchen bahnte, gegen
unschuldige Passanten krachte und dabei ein grauenhaftes,
ohrenbetäubendes Quietschen verursachte, als er über den
Betonboden schrammte. In dieser ersten Schrecksekunde,
ehe wir begriffen, was für ein furchtbares Schicksal uns hier
ereilt hatte, schien es beinahe so, als wäre unser Tisch beses-
sen, als würde er vor uns unreinen und unwillkommenen
Boca-Eindringlingen fliehen. Im nächsten M o m e n t war
mir klar, dass nicht unser Tisch besessen war, sondern unser
H u n d . Marley preschte voran, kämpfte mit jeder einzelnen
Muskelfaser; seine Leine war gespannt wie eine Klaviersai-
te. U n d dann sah ich auch, wohin Marley mit dem Tisch im
Schlepptau unterwegs war. Zwanzig M e t e r weiter auf der
Ladenstraße trippelte ein Zwergpudel neben seinem Frau-
chen her, die Nase hoch in der Luft. Ich weiß noch, dass ich
dachte: Verdammt, was findet er denn an einem Pudel? Jenny
und ich saßen noch einen Augenblick lang da, unser Bier
in der H a n d , die J u n g e n zwischen uns in ihrem Kinderwa-
gen. U n s e r hübscher kleiner Sonntagsausflug war eigent-
lich vollkommen, bis auf die Tatsache, dass unser Tisch sich
gerade seinen W e g durch die M e n g e bahnte. Im nächsten
M o m e n t waren wir aufgesprungen, riefen laut nach ihm,
rannten los und murmelten ununterbrochen an die Gäste
um uns h e r u m gerichtete Entschuldigungen. Ich erreichte
den entlaufenen Tisch als Erster, während dieser weiter über
den Betonboden auf der Piazza schrammte. Ich packte ihn,
stemmte die Füße in den Boden und lehnte mich mit aller
Kraft zurück. Gleich darauf war Jenny neben mir und zog
ebenso mit aller Kraft. Ich kam mir vor, als wären wir die
H e l d e n in einem Actionfilm und würden versuchen, einen
außer Kontrolle geratenen Z u g zu stoppen, bevor er aus den

214
Gleisen springen und eine Klippe hinunterkrachen würde.
In all dem Durcheinander wandte J e n n y ihren Kopf um u n d
rief den Jungs doch tatsächlich zu: »Sind gleich wieder da!«
Gleich wieder da? Bei ihr klang das so normal, so vorherseh-
bar, so geplant, so als würden wir so etwas öfter machen und
einfach aus einer Laune heraus, oh, warum nicht, nur so zum
Spaß mit Marley auf einen kleinen Spaziergang mit Tisch
gehen, nur kurz mal durch die Stadt, vielleicht ein bisschen
Schaufenster anschauen, ehe wir dann zur Vorspeise wieder
zurück waren.
Als wir den Tisch schließlich zum Stillstand gebracht und
Marley wieder an Land gezogen hatten, n u r wenige M e t e r
vor dem Pudel und seinem zu Tode erschrockenen Frau-
chen, wandte ich mich kurz um, um nach den J u n g e n zu
sehen. U n d erst da sah ich die Gesichter der anderen Restau-
rantgäste. Es war wie eine Szene aus einem dieser E.-F.-Hut-
ton-Werbespots, wo eine ganze lärmende M e n g e plötzlich
in Schweigen erstarrt und darauf wartet, dass eine Stimme
aus dem Off einen Investment-Ratschlag flüstert. Die M ä n -
ner brachen mitten in ihrem Telefongespräch ab, das H a n -
dy noch in der H a n d . Die Frauen starrten uns mit offenem
M u n d an. Die Bocas waren entsetzt. Schließlich brach C o -
nor das Schweigen. »Mallie weg!«, jauchzte er laut.
Ein Kellner rannte herbei und half mir, den Tisch wieder
an seinen Platz zu ziehen, während J e n n y Marley mit eiser-
ner H a n d festhielt, der immer noch auf das Objekt seiner Be-
gierde starrte. »Warten Sie, ich hole neue Gedecke«, sagte
der Kellner. »Das wird nicht nötig sein«, erwiderte J e n n y
lässig. »Wir möchten nur eben unsere Getränke bezahlen.«

N i c h t lange nach unserem w u n d e r b a r e n Ausflug in die


Restaurantszene von Boca entdeckte ich in der Bibliothek
ein Buch mit dem Titel No Bad Dogs, verfasst von der b e -

215
kannten britischen H u n d e t r a i n e r i n Barbara Woodhouse.
W i e der T i t e l schon sagt, vertritt dieses Buch dieselbe Mei-
n u n g , der auch Marleys erste Lehrmeisterin, Miss D o m i n a -
trix, angehangen hatte - dass zwischen einem unerzogenen
H u n d u n d wahrer Meisterschaft lediglich ein konfuser, ent-
scheidungsunfähiger u n d willensschwacher Besitzer steht.
W o o d h o u s e behauptete, dass das P r o b l e m nicht bei den
H u n d e n liege, sondern vielmehr bei den Menschen. Dieser
Feststellung folgte Kapitel für Kapitel die Beschreibung
der unerhörtesten Verfehlungen von H u n d e n . H u n d e , die
unaufhörlich jaulten, buddelten, rauften, bissen oder alles
besprangen. Es gab H u n d e , die grundsätzlich alle M ä n -
n e r hassten, andere, die alle Frauen hassten, H u n d e , die
klauten, u n d H u n d e , die aus Eifersucht wehrlose Kinder
angriffen. M a n c h e H u n d e fraßen sogar ihre eigenen Exkre-
m e n t e . Gott sei Dank, dachte ich, wenigstens frisst er nicht
seine eigenen Exkremente!
W ä h r e n d ich das Buch las, fühlte ich mich bei dem Gedan-
ken an unseren unvollkommenen H u n d zunehmend besser.
W i r waren inzwischen schon zu der festen Überzeugung
gekommen, dass unser Marley tatsächlich der schlimmste
H u n d der Welt war. Es war schön zu hören, was es alles für
U n a r t e n gab, die Marley nicht hatte. Er hatte keine Spur
von Bosheit in sich. Er bellte nicht viel. Er biss nicht. Er griff
niemals andere H u n d e an, höchstens, um ihnen seine Liebe
zu zeigen. Er hielt jeden für seinen besten Freund. U n d das
Beste war, dass er keinen H u n d e d r e c k fraß und sich auch
nicht darin wälzte. Außerdem gab es ja keine bösen H u n d e ,
sagte ich mir, n u r unbeholfene, unfähige Besitzer wie Jenny
und mich. Es war unser Fehler, dass Marley so geworden
war. D a n n kam ich zu Kapitel vierundzwanzig. »Leben mit
einem mental instabilen H u n d « . W ä h r e n d ich es las, muss-
te ich laut schlucken. Woodhouse beschrieb Marleys Verhal-

216
ten so einfühlsam, als hätte sie mit ihm in seinem r a m p o -
nierten Käfig gesessen. Sie sprach die krankhaften, absur-
den Verhaltensmuster an, die Zerstörungswut, wenn er allein
gelassen wurde, die eingerissenen W ä n d e u n d zerkauten
Teppiche. Sie beschrieb die Versuche von Besitzern solcher
Ungeheuer, »einen Platz im H a u s oder Garten hundesicher
zu gestalten«. Sie erwähnte sogar den Gebrauch von Beru-
higungsmitteln als letztes und höchst ineffektives Mittel,
diesen geisteskranken Tieren wieder zu einem normalen see-
lischen Zustand zu verhelfen.
»Manche H u n d e sind von G e b u r t an instabil, bei anderen
sind die Lebensumstände für diese Entwicklung verantwort-
lich, aber das Ergebnis ist immer dasselbe: Diese H u n d e
sind keine Freude, sondern vielmehr eine Belastung für ihre
Besitzer, sie verursachen hohe Kosten und bringen oft die
ganze Familie zur Verzweiflung«, schrieb W o o d h o u s e . Ich
blickte zu Marley hinunter, der zu meinen Füßen döste, u n d
fragte: » K o m m t dir das irgendwie bekannt vor?«
Im folgenden Kapitel mit der Uberschrift »Abnormes Ver-
halten bei H u n d e n « schrieb Woodhouse mit einer gewissen
Resignation: »Ich kann nicht oft genug betonen, dass die E n t -
scheidung, mit einem anormalen H u n d zu leben, auch eine
Entscheidung für ein in vielerlei Hinsicht eingeschränktes
Leben ist.« Meinte sie damit etwa die Todesangst, wenn man das
Haus verlässt, um schnell einen Liter Milch zu kaufen? »Auch
wenn Sie Ihren anormalen H u n d lieben«, fuhr W o o d h o u s e
fort, »so müssen Sie doch dafür sorgen, dass er andere L e u -
te nicht belästigt.« Andere Leute wie, hypothetisch gesprochen,
Gäste in einem Restaurant in Boca Raton, Florida?
Woodhouse hatte unseren H u n d und unsere armselige, an-
gebundene Lebensweise genau getroffen. Alles stimmte: die
unglücklichen, willensschwachen Besitzer; der mental insta-
bile, außer Kontrolle geratene H u n d ; die endlose Liste von

217
zerstörtem Eigentum; die genervten und belästigten Frem-
den und Nachbarn. W i r waren ein Musterbeispiel. »Herzli-
chen Glückwunsch, Marley!«, sagte ich zu ihm. » D u gehst
als anormal durch.« Beim Klang seines N a m e n s öffnete er
die Augen, streckte sich und rollte sich auf den Rücken, die
Pfoten in der Luft.
Ich erwartete, dass Woodhouse eine clevere Lösung für
die Besitzer eines solchen Fehlkaufes parat hatte, oder zu-
mindest ein paar hilfreiche Tipps, die bei korrekter Ausfüh-
rung auch den verrücktesten H u n d in einen gefeierten H u n -
deschau-Teilnehmer verwandeln würden. Doch sie schloss
ihr Buch mit einer wesentlich düstereren Botschaft ab: » N u r
die Besitzer von mental instabilen H u n d e n können wirklich
entscheiden, wann ein H u n d gesund und wann er mental
krank ist. N i e m a n d kann für einen Besitzer entscheiden, was
er mit einem H u n d , der abnormes Verhalten zeigt, tut. Ich
als große Hundeliebhaberin finde es barmherziger, sie ein-
schläfern zu lassen.«
Einschläfern lassen? Schluck! U n d falls das noch nicht deut-
lich genug war, fügte sie noch hinzu: »Wenn alle Möglichkei-
ten eines Trainings oder tiermedizinischer Behandlung aus-
geschöpft sind u n d für den H u n d keine Hoffnung besteht,
jemals ein halbwegs normales Leben zu führen, dann ist es
für T i e r und Halter sicherlich besser, den H u n d einschläfern
zu lassen.«
Selbst eine Barbara Woodhouse, Tierliebhaberin und er-
folgreiche Trainerin Tausender von H u n d e n , die von ihren
Besitzern schon als hoffnungsloser Fall abgestempelt waren,
zog den Schluss, dass man manchen H u n d e n einfach nicht
helfen konnte. W e n n es nach ihr ginge, dann würde man sie
alle auf humane Weise in die himmlische Hundeirrenanstalt
schicken.
»Keine Sorge, mein G r o ß e r « , sagte ich zu Marley und

218
kraulte ihm den Bauch, »in diesem H a u s wacht jeder wieder
aus seinem Schlaf auf.«
Er seufzte dramatisch und träumte dann weiter von liebes-
tollen Zwergpudeln.

Etwa um diese Zeit lernten wir auch, dass nicht alle Labra-
dors gleich sind. Tatsächlich gibt es zwei verschiedene U n -
tergruppen dieser Rasse: die Englische und die Amerikani-
sche. Die Englische Linie ist kleiner und stämmiger als die
Amerikanische, mit kompakterem Kopf u n d einem sanften,
freundlichen Wesen. Diese H u n d e werden gerne auf H u n -
deschauen gezeigt. Labradors, die aus der Amerikanischen
Linie stammen, sind wesentlich größer u n d kräftiger, mit ge-
schmeidigem, weniger untersetztem Körperbau. Sie sind für
ihre endlose Energie und ihren M u t bekannt u n d werden
vor allem zur Jagd und im Sport eingesetzt. G e n a u die Q u a -
litäten, die einen Amerikanischen Labrador im Gelände so
unbezwingbar und überlegen machen, lassen ihn in einer Fa-
milie zur Herausforderung werden. Ihre außerordentliche
Energie, so die W a r n u n g der Fachliteratur, sollte nicht u n -
terschätzt werden.
Oder wie die Broschüre eines Züchters aus Pennsylvania
es ausdrückte: » W i r werden oft gefragt, was der U n t e r -
schied zwischen Englischen und Amerikanischen Labradors
sei. D e r Unterschied ist so groß, dass der Zuchtverein be-
reits über eine Aufspaltung der Rasse nachdenkt. Die U n -
terschiede betreffen den Körperbau genauso wie das T e m -
perament. W e n n Sie nach einem H u n d suchen, den Sie im
Gelände einsetzen können, dann entscheiden Sie sich für
einen Amerikanischen Labrador. Sie sind athletisch, groß,
schlaksig und dünn, haben aber eine sehr energische, span-
nungsreiche Persönlichkeit, die sie nicht unbedingt zu den
besten Familienhunden macht. Die Englischen Labradors

219
wiederum sind gedrungen und kleiner. Es sind sehr liebens-
würdige, ruhige, ausgeglichene H u n d e . «
M i r war schnell klar, aus welcher Linie Marley stammte.
Allmählich ergab das alles einen Sinn. W i r hatten uns blind-
lings für einen Labradortyp entschieden, der am liebsten den
ganzen Tag durch die Wildnis preschte. U n d damit nicht
genug, unsere W a h l war zufällig auch noch auf ein mental
instabiles Exemplar gefallen, das gegen jeden Trainingser-
folg und jegliche Medikation oder Behandlung immun war.
G e n a u die Art von abnormem Wesen, das eine erfahrene
Hundetrainerin wie Barbara Woodhouse lieber tot gesehen
hätte. Toll, dachte ich. Endlich wissen wir Bescheid.

Kurz nachdem uns Woodhouses Buch die Augen hinsichdich


Marleys Geisteszustand geöffnet hatte, bat uns ein Nachbar,
für eine W o c h e seinen Kater bei uns aufzunehmen, solange
er im Urlaub war. Sicher, sagten wir, bringen Sie ihn nur
her. Im Vergleich zu H u n d e n waren Katzen einfach. Katzen
liefen auf Autopilot, und dieser Kater war besonders schüch-
tern und scheu, vor allem Marley gegenüber. Er würde sich
wahrscheinlich den ganzen Tag hinter der Couch verste-
cken und erst zum Fressen herauskommen, wenn wir schon
schliefen. W i r mussten n u r seinen Fressnapf außerhalb von
Marleys Reichweite aufstellen. D e r Kater würde das Katzen-
klo benutzen, das wir diskret in einer Ecke der überdachten
Terrasse neben unserem Pool platzierten. Es war nichts da-
bei, wirklich. Marley war sich nicht einmal bewusst, dass
eine Katze im H a u s war.
Als der Kater schon ein paar Tage bei uns wohnte, wur-
de ich eines frühen M o r g e n s von einem lauten, hämmern-
den Geräusch geweckt, das unsere Matratze erzittern ließ.
Es war Marley, der vor Aufregung bebend neben unserem
Bett stand und mit dem Schwanz wild gegen die Matratze

220
schlug. Wapp, wapp, wapp! Ich streckte die H a n d aus, um
ihn zu streicheln, aber er wich mir aus. Er tapste und tanzte
neben dem Bett herum. D e r Marley-Mambo. »Okay, was
ist es diesmal?«, fragte ich ihn, meine Augen immer noch
geschlossen. W i e zur Antwort ließ Marley seine Beute stolz
auf die Bettdecke fallen, n u r wenige Zentimeter von mei-
nem Gesicht entfernt. Ich war noch so müde, dass ich eine
Minute brauchte, um zu realisieren, was es war. Das D i n g
war klein, dunkel und von undefinierbarer Form, überzogen
mit grobkörnigem, kieselartigem Sand. D a n n erreichte der
Geruch meine Nasenlöcher. Ein scharfer, stechender, übler
Geruch. Ich setzte mich abrupt auf, stieß dabei J e n n y an u n d
weckte sie damit auf. Ich deutete auf Marleys Geschenk, das
auf der Decke schimmerte.
»Das ist doch wohl keine . . . « , setzte J e n n y an, mit deutli-
chem Ekel in der Stimme.
»Doch, genau das«, sagte ich. » E r hat das Katzenklo über-
fallen.«
Marley hätte nicht stolzer sein können, wenn er uns den
Hope-Diamanten gebracht hätte. W i e Barbara Woodhouse
es so weise vorausgesagt hatte, hatte unser mental instabiler,
abnormer Köter seine exkrementfressende Phase erreicht.
NEUNZEHN

Der Blitz schlägt ein

N ach C o n o r s G e b u r t dachten alle, wir würden keine


weiteren Kinder m e h r bekommen - mit Ausnahme
meiner erzkatholischen Eltern, die um Dutzende kleiner
Grogans beteten. Die meisten aus unserem Bekanntenkreis
waren Doppelverdiener mit durchschnittlich einem Kind.
Zwei Kinder galten als einigermaßen extravagant, und drei
Kinder waren schlicht unerhört. Vor allem nach der schwie-
rigen Schwangerschaft mit C o n o r verstand niemand, warum
wir uns diesen Wahnsinn freiwillig noch einmal antun woll-
ten. D o c h wir hatten unsere Phase als frisch vermählte Pflan-
zenkiller schon lange überwunden. Es gefiel uns, Eltern zu
sein. U n s e r e zwei Jungs machten uns mehr Freude, als wir
es je für möglich gehalten hätten. Sie prägten jetzt unser
Leben, und auch wenn ein Teil in uns die entspannten Ur-
laube vermisste, die faulen Samstage, an denen man Romane
lesen konnte, und die romantischen Abendessen, die sich bis
spät in die N a c h t ausdehnten, so hatten wir doch auch neue
Freuden entdeckt - in verschüttetem Apfelsaft und kleinen
Nasenabdrücken am Fenster und in der leisen Musik der
nackten Füßchen, die am frühen M o r g e n den Flur herunter-
tapsten. Auch an schlechten Tagen gab es eigentlich immer
irgendetwas, worüber man lächeln musste. Inzwischen wuss-
ten wir, was viele Eltern früher oder später einsehen müssen,
nämlich dass diese wundervollen Tage der frühen Kindheit

222
- mit Windelpopos, ersten Z ä h n e n und unverständlichem
Geplapper - nur ein strahlender, kurzer Blitz in der Odnis
eines ansonsten ganz normalen Lebens sind.
W i r verdrehten beide die Augen, als uns meine M u t t e r den
altbekannten Ratschlag gab: »Freut euch an ihnen, solange
ihr könnt, ehe ihr euch verseht, sind sie groß.« Jetzt, nach
nur wenigen Jahren, wurde uns klar, dass sie Recht hatte. Ihr
Rat war zwar tiefstes Klischee, aber wir sahen inzwischen
ein, dass sehr viel Wahrheit darin lag. Die Jungs wuchsen
wirklich schnell, und jede Woche endete ein weiteres klei-
nes Kapitel, das so nie wieder nachgeholt werden konnte.
In der einen Woche lutschte Patrick noch am Daumen, in
der nächsten hatte er diese Angewohnheit für immer aufge-
geben. In der einen Woche war C o n o r noch unser Baby in
der Wiege, ein paar Tage später sprang er schon auf seinem
Kinderbettchen herum, als wäre es ein Trampolin. Patrick
konnte anfangs kein » L « aussprechen. W e n n sich eine Frau
zu ihm hinunterbeugte und ihn anlachte, was natürlich oft
der Fall war, dann stemmte er seine kleinen Fäuste in die
Hüften, schürzte die Lippen und sagte: »Frau yacht, Patrick
yieb!« Ich wollte das immer auf Video aufnehmen, aber ei-
nes Tages brachte er das » L « auf einmal perfekt heraus, u n d
es war zu spät. Monatelang bekamen wir C o n o r nicht aus
seinen Superman-Schlafanzügen heraus. Er rannte immer
mit wehendem U m h a n g durch das H a u s und schrie: » D u -
pameen!« U n d dann war auch das vorbei, und ich hatte ei-
nen weiteren Videomoment verpasst.
Kinder sind wie eine tickende Uhr, der m a n nicht entkom-
men kann. Sie führen einem vor, dass die Zeit unerbittlich
voranschreitet und das Leben kein unendliches M e e r von
Minuten, Stunden, Tagen und Jahren ist. Unsere Babys wur-
den schneller groß, als uns beiden lieb war, was vielleicht
teilweise erklärt, warum wir ungefähr ein J a h r nach dem

223
U m z u g in unser neues H a u s in Boca die ersten Versuche
für ein drittes Kind starteten. Ich sagte zu Jenny: »Hey, wir
haben jetzt vier Schlafzimmer, warum also nicht?« Nach
zwei Versuchen war es so weit. Keiner von uns beiden hät-
te zugegeben, dass wir uns ein Mädchen wünschten, aber
natürlich war es so. W i r wünschten uns sogar verzweifelt
ein Mädchen, entgegen unseren Beteuerungen während der
Schwangerschaft, dass drei Jungs einfach toll wären. Als ein
Ultraschallbild schließlich unsere Hoffnung zu bestätigen
schien, legte J e n n y mir ihre Arme um die Schultern und flüs-
terte: »Ich bin so froh, dass ich dir vielleicht ein kleines Mäd-
chen schenken kann.« Ich war auch schrecklich glücklich.
N i c h t alle unsere Freunde teilten unsere Vorfreude. Die
Standardreaktion auf die freudige Nachricht von Jennys
Schwangerschaft war: »War das ein Unfall?« Sie konnten
sich einfach nicht vorstellen, dass eine dritte Schwanger-
schaft geplant gewesen sein könnte. U n d wenn es kein U n -
fall gewesen war, dann mussten sie unsere Zurechnungsfä-
higkeit ernsthaft infrage stellen. Eine Bekannte ging sogar
so weit, J e n n y dafür zu kritisieren, dass sie sich noch einmal
von mir hatte schwängern lassen. Sie fragte in einem Ton, als
hätte J e n n y gerade ihr gesamtes H a b u n d G u t einer Sekte
in Guyana überschrieben: »Was hast du dir nur dabei ge-
dacht? !«
U n s war das alles egal. Am 9. Januar 1997 machte Jen-
ny mir ein verspätetes Weihnachtsgeschenk: ein rosiges
Siebenpfundmädchen. W i r nannten sie Colleen. Erst jetzt
schien unsere Familie vollständig zu sein. Im Gegensatz
zu der Schwangerschaft mit Conor, die uns so viel Sorgen
und Stress bereitet hatte, war dies eine perfekte Schwanger-
schaft wie aus dem Lehrbuch gewesen, und die Geburt im
Gemeindekrankenhaus von Boca Raton eröffnete uns eine
neue Welt der Patientenfürsorge. Auf unserem G a n g gab

224
es eine Sofaecke mit einem Cappuccinoautomaten, an dem
man sich frei bedienen konnte - ganz im Boca-Stil. Als u n -
ser Baby endlich kam, war ich so von schaumigem Koffein
aufgeputscht, dass ich meine H ä n d e kaum stillhalten k o n n -
te, um die Nabelschnur durchzuschneiden.

Als Colleen eine Woche alt war, ging J e n n y das erste Mal
mit ihr an die frische Luft. Es war ein kalter, schöner Tag.
Die Jungen und ich waren im Vorgarten und pflanzten Blu-
men an. Marley hatten wir an einem Baum in der N ä h e an-
gebunden. Er lag zufrieden im Schatten und döste vor sich
hin. Jenny setzte sich neben ihn ins Gras und stellte unser
schlafendes Baby in einer tragbaren W i p p e zwischen ihn
und sich auf den Boden. N a c h ein paar M i n u t e n riefen die
Jungen nach ihrer Mutter, damit sie sich ihr W e r k genauer
ansehen sollte. Sie führten Jenny und mich von Blumenbeet
zu Blumenbeet, während Colleen neben Marley im Schat-
ten schlief. W i r kamen schließlich zu einem Beet hinter
einer großen Hecke, von wo aus wir das Baby noch sehen
konnten; wir selbst waren für Passanten von der Straße aus
aber nicht mehr sichtbar. Als wir wieder zurückgehen woll-
ten, hielt ich inne und bedeutete Jenny, durch die Hecke zu
schauen. Auf dem G e h w e g war ein älteres Pärchen stehen
geblieben und starrte mit befremdetem Gesichtsausdruck
auf die Szenerie in unserem Vorgarten. Zuerst wusste ich
nicht recht, was sie so fesselte. D a n n wurde mir klar: Von
ihrem Standpunkt aus konnten sie n u r ein zerbrechliches,
winziges Baby sehen, allein gelassen mit einem riesigen hell-
braunen H u n d als Babysitter.
W i r blieben eine Weile hinter der H e c k e stehen und ki-
cherten. Marley lag da wie eine ägyptische Sphinx, mit ge-
kreuzten Pfoten und erhobenem Kopf, und hechelte zufrie-
den. Alle paar Sekunden schob er die Schnauze zum Kopf

225
des Babys hinüber, um daran zu schnüffeln. Die armen äl-
teren Herrschaften mussten den Eindruck haben, gerade
Zeugen sträflicher Vernachlässigung eines Babys geworden
zu sein. Kein Zweifel, die Eltern waren sicher irgendwo in ei-
ner Kneipe und hatten das Baby allein in der O b h u t des Lab-
radors der N a c h b a r n zurückgelassen, der wahrscheinlich
gleich versuchen würde, das Kleine zu säugen. Als könnte
er meine Gedanken lesen, veränderte Marley prompt seine
Position und legte das Kinn auf Colleens Bauch. Sein Kopf
war größer als das ganze Baby. Er stieß einen tiefen Seufzer
aus, als wollte er sagen: Wann kommen die beiden endlich nach
Hause? Es sah aus, als wollte er Colleen beschützen, und viel-
leicht war es tatsächlich so, obwohl ich glaube, dass er nur
den Duft aus ihrer Windel genoss.
J e n n y und ich standen hinter der Hecke und grinsten uns
an. D e r Gedanke an Marley als Babysitterhund war einfach
zu schön. Ich war schon versucht, abzuwarten und zu sehen,
wie sich die Situation weiter entwickeln würde, doch dann
fiel mir ein, dass die beiden vielleicht die Polizei rufen könn-
ten. W i r waren damit davongekommen, C o n o r im Durch-
gang unterzubringen, aber wie sollten wir das hier erklären?
(»Tja, ich weiß, wie das hier auf Sie wirken muss, Officer,
aber er ist erstaunlich verantwortungsvoll ...!«) W i r traten
hinter der Hecke hervor und winkten dem Paar zu - und
konnten die Erleichterung auf ihren Gesichtern sehen. G o t t
sei Dank, das Baby war doch nicht dem H u n d überlassen
worden.
»Sie scheinen Ihrem H u n d ja wirklich zu vertrauen«, sagte
die Frau vorsichtig, offensichtlich war sie der Meinung, dass
H u n d e wild und unberechenbar waren und niemals so nah
an ein Baby herangelassen werden durften.
»Bisher hat er noch keins gefressen«, gab ich zurück.

226
Zwei Monate nach Colleens G e b u r t feierte ich meinen vier-
zigsten Geburtstag auf höchst unspektakuläre Weise - n ä m -
lich allein. D e r vierzigste soll ja ein großer W e n d e p u n k t
im Leben eines Mannes sein, an dem m a n sich von seiner
rastlosen Jugend verabschiedet und sich auf die berechen-
baren Freuden des reiferen Alters freut. W e n n also irgend-
ein runder Geburtstag eine große Feier wert ist, dann der
vierzigste. Aber nicht für mich. W i r waren inzwischen die
verantwortungsvollen Eltern von drei Kindern; J e n n y hatte
wieder ein Baby an der Brust. Es gab jetzt Wichtigeres, w o -
rüber man sich Gedanken machen musste. Ich kam von der
Arbeit nach Hause, und J e n n y war müde und abgespannt.
Nachdem wir die Reste vom Vortag gegessen hatten, badete
ich die beiden Jungs und brachte sie ins Bett, während J e n -
ny Colleen stillte. Um halb neun schliefen alle drei Kinder,
und meine Frau auch. Ich machte mir ein Bier auf, setzte
mich auf die Terrasse und starrte auf das schillernd blaue
Wasser des erleuchteten Swimmingpools. W i e i m m e r saß
Marley treu neben mir, und während ich ihn hinter den O h -
ren kraulte, fiel mir auf, dass er eigentlich an einem ähnli-
chen Wendepunkt angelangt war. W i r hatten ihn vor sechs
Jahren zu uns geholt. In Hundejahren gerechnet war er also
jetzt irgendwo Anfang vierzig. Er hatte stillschweigend ein
mittleres Alter erreicht und benahm sich dabei doch i m m e r
noch wie ein Welpe. Außer einer chronischen O h r e n t z ü n -
dung, die Dr. Jay immer wieder behandeln musste, war er
gesund. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Reife oder E r m ü -
dung. Es war mir nie eingefallen, in Marley ein Vorbild zu
sehen, aber wie ich so dasaß und an meinem Bier nippte,
wurde mir bewusst, dass er vielleicht das Geheimnis eines
glücklichen Lebens gefunden hatte. N i e abbremsen, niemals
zurückschauen, jeden Tag mit der Begeisterung eines H e r a n -
wachsenden erleben, voller M u t , N e u g i e r und Verspieltheit.

227
W e n n man sich einbildet, immer noch ein junger Kerl zu
sein, dann ist man es vielleicht auch, egal, was der Kalender
behauptet. Kein schlechter Ansatz, obwohl ich die Phase der
Couchzerstörung und Waschküchenverwüstung weglassen
würde.
»Tja, mein großer J u n g e « , sagte ich zu ihm und drück-
te meine Bierflasche in einer Geste des interrassischen
Zuprostens gegen seinen Hals, »heute Abend sind wir un-
ter uns. Auf die Vierzig! Auf das gesetztere Alter. Lass uns
darauf anstoßen, dass wir bis zum Ende mit den großen
H u n d e n mitrennen können.« D a n n rollte auch er sich zu-
sammen und schlief ein.
Ein paar Tage später blies ich immer noch Trübsal wegen
meines einsamen Geburtstags, als Jim Tolpin, mein alter
Kollege, der Marley das Anspringen abgewöhnt hatte, un-
erwartet anrief u n d fragte, ob ich Lust hätte, am nächsten
Abend, einem Samstag, mit ihm ein Bier trinken zu gehen.
J i m hatte etwa um dieselbe Zeit, als wir nach Boca Raton
gezogen waren, seinen J o b bei der Zeitung aufgegeben und
angefangen, Jura zu studieren. W i r hatten uns seit M o n a -
ten nicht m e h r gesprochen. »Klar«, sagte ich, ohne auch
n u r nachzudenken. J i m holte mich am nächsten Abend um
sechs U h r ab und wir fuhren zu einem englischen Pub, wo
wir ein Bass Ale kippten und uns die neuesten Ereignisse aus
unserem L e b e n erzählten. W i r hatten großen Spaß, bis der
Kellner rief: »Ist hier ein J o h n Grogan? Telefon für J o h n
Grogan!«
Es war Jenny, und sie klang sehr wütend und gestresst.
»Das Baby schreit, die Jungs sind außer Rand und Band, und
ich habe gerade meine Kontakdinse verloren!«, schluchzte
sie ins Telefon. »Kannst du gleich nach Hause kommen?«
»Versuch dich zu beruhigen!«, sagte ich. »Halt durch, ich
bin gleich da.« Ich hängte auf. D e r Kellner warf mir einen

228
Du-armer-bemitleidenswerter-Pantoffelheld-Blick zu u n d
sagte nur: »Mein Beileid, Kumpel!«
» K o m m « , sagte Jim. »Ich fahr dich nach Hause.«
Als wir in unsere Straße einbogen, war alles mit Autos zu-
geparkt. » H i e r feiert jemand eine Party«, stellte ich fest.
»Ja, sieht so aus«, erwiderte Jim.
»Jetzt schau dir das an!«, sagte ich, als wir zu unserem
Haus kamen, »da hat sich einer doch tatsächlich in meine
Einfahrt gestellt! Das ist ja wirklich das Letzte!« W i r park-
ten den Eindringling zu und ich forderte J i m auf, noch mit
hereinzukommen. Ich ärgerte mich immer noch über den u n -
verschämten Kerl, der sich in meine Einfahrt gestellt hatte,
als die T ü r aufging. Es war J e n n y mit Colleen auf dem Arm.
Sie sah überhaupt nicht wütend aus. Tatsächlich hatte sie ein
breites Grinsen im Gesicht. H i n t e r ihr stand ein Dudelsack-
spieler mit Kilt. Großer Gott! Was ist denn hier los?, dachte ich.
Dann warf ich einen Blick hinter den Dudelsackspieler und
sah, dass jemand den Zaun um den Swimmingpool abgebaut
und Teelichter auf das Wasser gesetzt hatte. Auf der Terrasse
drängten sich mehrere Dutzend meiner Freunde, N a c h b a r n
und Kollegen. Gerade als ich begriff, dass all die Autos auf
der Straße zu den vielen Menschen in meinem H a u s ge-
hörten, riefen sie unisono: » H a p p y Birthday, Alter!« M e i n e
Frau hatte meinen Geburtstag also doch nicht vergessen.
Als ich meinen M u n d endlich wieder zubekam, u m a r m t e
ich Jenny, gab ihr einen Kuss und flüsterte: »Das zahle ich
dir heim!«
Jemand öffnete auf der Suche nach einem Abfalleimer die
T ü r zur Waschküche, und heraus schoss Marley. Er war in
bester Partylaune. Er lief durch die M e n g e , stahl ein Mozza-
rellabrötchen vom Tablett, hob mit der Schnauze ein paar
Miniröcke hoch und nahm dann Anlauf zum offenen Swim-
mingpool. Ich erwischte ihn gerade noch, als er zu seinem

229
typischen Bauchklatscher ansetzte, und zog ihn aufs sichere
Land zurück. »Keine Sorge«, sagte ich zu ihm. »Ich heb dir
die Reste auf.«

N i c h t lange nach der Überraschungsparty - eine Party, de-


ren Erfolg man daran ablesen kann, dass um Mitternacht
die Polizei vor der T ü r stand und uns aufforderte, leiser zu
sein - wurde Marley endlich in seiner schrecklichen Angst
vor Gewitter bestätigt. An einem Sonntagnachmittag legte
ich im Garten hinter dem H a u s ein weiteres Gemüsebeet
an, als sich am H i m m e l dunkle Wolken zusammenzogen.
Gartenarbeit war inzwischen ein H o b b y von mir geworden,
und je besser ich darin wurde, desto m e h r wollte ich anpflan-
zen. Langsam eroberte ich mir den gesamten Garten. W ä h -
r e n d ich arbeitete, streifte Marley nervös um mich herum.
Sein inneres Barometer spürte das nahende Gewitter. Ich
merkte auch, dass etwas in der Luft lag, aber ich wollte mein
Projekt abschließen und n a h m mir vor, so lange weiterzuar-
beiten, bis ich die ersten Regentropfen spürte. W ä h r e n d ich
grub, sah ich immer wieder zum H i m m e l und bemerkte im
Osten über d e m M e e r eine riesige schwarze Gewitterwolke.
Marley winselte leise, er bat mich, die Schaufel hinzulegen
u n d hineinzugehen. »Entspann dich«, sagte ich zu ihm, »es
ist noch weit weg.«
Ich hatte die W o r t e kaum gesagt, als ich etwas Ungewöhn-
liches spürte, ein eigenartiges Prickeln in meinem Nacken.
D e r H i m m e l hatte sich inzwischen seltsam grünlich ver-
färbt, u n d die Luft schien plötzlich stillzustehen, als ob eine
himmlische M a c h t die W i n d e gepackt hätte und nun mit ei-
sernem Griff festhielte. Merkwürdig, dachte ich und stützte
mich auf meine Schaufel, um den H i m m e l zu betrachten.
Da h ö r t e ich es: eine brausende, knisternde Energiewoge,
wie man sie manchmal unter einem Hochspannungsmas-

230
ten wahrnehmen kann. Eine Art S u m m e n erfüllte die Luft
um mich herum, gefolgt von einer kurzen, absoluten Stille.
In diesem M o m e n t wusste ich, dass Gefahr im Verzug war,
aber ich hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Im nächsten
Augenblick war die Luft plötzlich blendend weiß, u n d dann
dröhnte eine Explosion in meinen O h r e n , wie ich sie noch
nie gehört hatte, bei keinem Gewitter, keinem Feuerwerk
und bei keiner Sprengung. Ein Energieschwall traf mich
gegen die Brust wie ein unsichtbarer Rammbock. Ich weiß
nicht, wie viele Sekunden vergingen, doch als ich die Augen
wieder öffnete, lag ich mit dem Gesicht nach unten auf dem
Boden, schmeckte Sand im M u n d und sah meine Schaufel
fünf Meter entfernt liegen. Regen prasselte auf mich nieder.
Marley lag auch am Boden, den Kopf zwischen den Pfoten,
und als er sah, dass ich den Kopf hob, kroch er verzweifelt
bäuchlings auf mich zu, wie ein Soldat, der versucht, unter
einem Stacheldrahtverhau hindurchzurobben. Als er mich
erreicht hatte, kletterte er auf meinen Rücken, vergrub seine
Schnauze in meinem Nacken und fing an, mich wie wahnsin-
nig abzulecken. Ich sah kurz auf und versuchte, meine C h a n -
cen zu berechnen, und sah, dass der Blitz in den Strommast
am Ende des Gartens eingeschlagen und über den D r a h t bis
zum Haus gerast war, zehn M e t e r von der Stelle entfernt,
wo ich gearbeitet hatte. D e r Stromzähler an der Hauswand
war völlig hinüber.
»Komm!«, schrie ich, und dann stürzten wir beide durch
den prasselnden Regen auf die H i n t e r t ü r zu, während neue
Blitze neben uns aufflackerten. W i r blieben erst stehen, als
wir sicher im H a u s waren. Ich kniete mich tropfnass auf den
Boden und versuchte zu Atem zu kommen. Marley kletterte
auf mich, leckte mir das Gesicht, knabberte an meinen O h -
ren und verteilte überall Sabber und Hundehaare. Er war völ-
lig außer sich vor Angst und zitterte unkontrolliert, Schaum

231
stand ihm vor dem Maul. Ich u m a r m t e ihn und versuchte
ihn zu beruhigen. »Mein Gott, das war knapp!«, stammelte
ich u n d merkte, dass ich ebenfalls zitterte. Marley sah mit
seinen großen, ausdrucksvollen Augen zu mir auf, diesen Au-
gen, die beinahe reden konnten. Ich wusste, was er mir sagen
wollte. Ich habe seit Jahren versucht, euch zu warnen, dass dieses
Etwas euch umbringen kann. Aber hat irgendwer auf mich ge-
hört? Nehmt ihr mich nun endlich ernst?
D e r H u n d hatte Recht. Vielleicht war seine Angst vor G e -
witter gar nicht so irrational gewesen. Vielleicht waren seine
Panikattacken beim ersten entfernten Donnergrollen seine
Art gewesen, uns klarzumachen, dass man die heftigen G e -
witter in Florida, die schlimmsten im ganzen Land, nicht
mit einem Schulterzucken abtun konnte. Vielleicht waren
all die zerstörten W ä n d e , zermeißelten T ü r e n und zerbis-
senen Teppiche seine Versuche gewesen, eine blitzdichte
H ö h l e um uns h e r u m zu bauen, in der wir uns alle behaglich
verkriechen konnten. U n d wie hatten wir es ihm vergolten?
M i t Schelte und Beruhigungsmitteln.
U n s e r H a u s lag im Dunkeln, Klimaanlage, Ventilatoren,
Fernseher und andere elektrische Geräte waren tot. D e r Si-
cherungskasten war widerlich zusammengeschmolzen. W i r
würden irgendeinen Elektriker zu einem sehr glücklichen
M a n n machen. Aber immerhin war ich am Leben, und
ebenso mein treuer Kumpel. Jenny und die Kinder waren
im W o h n z i m m e r in Sicherheit und hatten wahrscheinlich
nicht einmal mitbekommen, dass der Blitz eingeschlagen
hatte. W i r waren alle da und wohlauf. Alles andere war un-
wichtig. Ich zog Marley auf meinen Schoß, fünfundvierzig
Kilo verängstigter H u n d , und gab ihm an O r t und Stelle ein
Versprechen: N i e wieder würde ich seine Angst vor dieser
tödlichen Naturgewalt einfach abtun.
ZWANZIG

Der Hundestrand

A ls Kolumnenschreiber war ich immer auf der Suche


nach aufregenden, ungewöhnlichen Geschichten, auf
die ich mich stürzen konnte. Ich schrieb drei Artikel pro W o -
che. Die größte Herausforderung meines Jobs bestand also
darin, immer neue, interessante T h e m e n zu finden. J e d e n
Morgen scannte ich Südfloridas vier Tageszeitungen durch
und strich alles an, was eine E r w ä h n u n g wert sein könnte.
D a n n ging es darum, den geeigneten Einstieg in das jewei-
lige T h e m a zu finden. M e i n e allererste Kolumne hatte ihren
Anstoß direkt in der Schlagzeile gefunden: Acht Teenager
hatten sich zusammen in ein Auto gedrängt und waren bei
zu hohem Tempo von der Straße abgekommen u n d in einen
Kanal am Rande der Everglades gestürzt. N u r die sechzehn-
jährige Fahrerin, ihre Zwillingsschwester u n d ein drittes
Mädchen konnten sich aus dem untergegangenen Auto ret-
ten. Es war eine Riesenstory, u n d ich wollte unbedingt darü-
ber schreiben, doch aus welchem Blickwinkel heraus sollte
ich das T h e m a beleuchten? In der Hoffnung auf einen gu-
ten Einfall fuhr ich zu dem einsam gelegenen Unfallort, u n d
noch ehe ich das Auto geparkt hatte, war mir auch schon
klar, wie ich es angehen würde. Die Klassenkameraden der
fünf getöteten Kids hatten die Unfallstelle in eine Galerie
aufgesprühter Nachrufe verwandelt. U b e r eine Strecke von
einem Kilometer war der Asphalt bemalt, die Betroffenheit

233
und Erschütterung der U r h e b e r war spürbar. M i t meinem
Notizbuch in der H a n d fing ich an, die W o r t e abzuschrei-
ben. »Verschwendete J u g e n d « , stand da mit einem Pfeil, der
von der Straße in die Fluten hinunter zeigte. Dann, im Zent-
r u m dieser allgemeinen Katharsis, fand ich, was ich suchte:
eine öffendiche Entschuldigung der jungen Fahrerin, Jamie
Bardol. Da stand mit großen, klobigen Lettern in kindlicher
Schrift: »Ich wünschte, es hätte mich erwischt. Es tut mir
leid.« Ich hatte meine Kolumne gefunden.
D o c h nicht alle T h e m e n waren so düster. W e n n eine Rent-
nerin aus ihrer W o h n u n g verwiesen wurde, weil ihr dickes
H ü n d c h e n die zugelassene Gewichtsgrenze für Haustiere
überschritten hatte, schaute ich vorbei, um den schwerge-
wichtigen Übeltäter kennen zu lernen. W e n n eine verwirrte
alte D a m e ihr Auto beim Versuch einzuparken versehent-
lich gegen ein Schaufenster setzte, wobei glücklicherweise
niemand verletzt wurde, war ich zur Stelle, um mit Zeugen
zu reden. Einmal führte mich meine Arbeit in ein Migran-
tenwohnheim, am nächsten Tag in die Villa eines Millionärs,
ein andermal war eine Kreuzung in der Stadt der O r t des
Geschehens. Ich liebte diese Vielfalt, die unterschiedlichen
Leute, die ich traf; und m e h r als alles andere genoss ich die
große Freiheit, hinzugehen, wo ich wollte und wann ich
wollte, und jedem T h e m a nachzuspüren, das mich gerade
reizte.
Dabei hatten meine Arbeitgeber keine Ahnung, dass mei-
ne journalistischen Recherchetouren einem geheimen Plan
folgten: nämlich dem, meine Stellung als Kolumnist scham-
los auszunutzen, um so viele freie »Arbeitstage« wie mög-
lich herauszuschlagen. Ich arbeitete nach dem M o t t o : W e n n
der Kolumnenschreiber Spaß hat, dann hat der Leser auch
Spaß. W a r u m sollte ich mir eine todlangweilige Steuerpoli-
tiksitzung anhören, um darüber einen Artikel zu verfassen,

234
wenn ich genauso gut beispielsweise unter freiem H i m m e l
in einer Bar in Key West einen D r i n k schlürfen konnte? Ir-
gendjemand musste ja die Schmutzarbeit machen und die
Geschichte von den verlorenen Salzstreuern in Margarita-
ville erzählen, also konnte das genauso gut ich ü b e r n e h m e n .
Mir war jeder Vorwand recht, um einen Tag lang h e r u m z u -
streunen, am liebsten in Shorts und T-Shirt, und verschie-
dene entspannende und erbauliche Dinge zu tun, von denen
ich mir einredete, dass jemand sie zum W o h l e der Allge-
meinheit näher untersuchen musste. Jeder J o b hat seine
Berufsgeheimnisse, zu meinen gehörten das N o t i z b u c h des
Reporters, ein paar Stifte und ein Badehandtuch. Ich fing
an, grundsätzlich n u r noch mit Sonnenhut und Badehose
im Auto zu reisen. Einmal düste ich mit einem Propeller-
boot durch die Everglades, ein andermal wanderte ich am
Ufer des Lake Okeechobee entlang. An einem Tag fuhr ich
mit dem Fahrrad die schicke State Road A I A am Atlantik
hinunter, um aus erster H a n d über die grauenvolle Z u m u -
tung zu berichten, dass man sich als Radfahrer den W e g mit
verwirrten alten D a m e n und orientierungslosen Touristen
teilen musste. Ich verbrachte einen Tag beim Schnorcheln
durch die gefahrenvollen Riffe von Key Largo, ein andermal
verfeuerte ich gemeinsam mit einem zweimaligen Raubüber-
fallsopfer, das sich geschworen hatte, nie m e h r überfallen zu
werden, einige Ladungen Munition auf einem Schießstand.
Ich verbrachte einen gemütlichen Tag auf einem Ausflugs-
schiff und jammte einen Tag lang mit einer alternden Rock-
band. Eines Tages kletterte ich auf einen Baum u n d genoss
dort für ein paar Stunden die Einsamkeit. Ein Bauunterneh-
mer hatte vor, das Gelände platt zu walzen, um dort teure
Wohnungen zu errichten, und ich war der Meinung, dass
ich diesem letzten Uberrest von N a t u r in einer Betonwüste
zumindest einen würdigen Abschied bereiten musste. M e i n

235
größter C o u p war es, als ich meinen Redakteuren einreden
konnte, mich auf die Bahamas zu schicken, damit ich direkt
vom O r t des Geschehens von dem Hurrikan berichten konn-
te, der sich dort zusammenbraute und Richtung Südflorida
zog. D e r H u r r i k a n verzog sich aufs M e e r hinaus, ohne Scha-
den anzurichten, und ich verbrachte drei Tage Strandurlaub
in einem Luxushotel und schlürfte unter blauem Himmel
Pina Colada.
Im Zuge dieser journalistischen Streifzüge beschloss ich
eines Tages, Marley mit an den Strand zu nehmen. Für wei-
te Strecken der überfüllten Küste von Südflorida galt ein
Verbot für Haustiere, und das aus gutem Grund. Für Son-
nenanbeter, die an ihrer Bräune arbeiteten, war ein nas-
ser, schmutziger H u n d , der herumsprang, markierte und
sich neben ihnen schüttelte, wirklich das Letzte, wonach sie
sich sehnten. An beinahe jedem Strand sah man inzwischen
so ein »Tiere verboten«-Schild.
Aber es gab einen Platz, eine schmale, wenig bekannte
Uferlinie, wo keine Schilder standen; dort gab es keine Ein-
schränkungen und keine Verbote für vierbeinige Wasserrat-
ten. D e r Strand lag abgelegen zwischen West Palm Beach
und Boca Raton und gehörte nicht m e h r zu Palm Beach.
Er erstreckte sich über mehrere H u n d e r t M e t e r und lag hin-
ter einer mit Gras bewachsenen D ü n e am Ende einer Sack-
gasse. Es gab dort weder Parkplatz noch Toilettenhäuschen
oder Wasserwacht, n u r einen unberührten Fleck weißen
Sand u n d endloses Wasser. Im Laufe der Jahre hatte sich
dieses Idyll unter Hundebesitzern herumgesprochen und
galt als Südfloridas letzte Zuflucht für H u n d e , die sich in die
Brandung werfen und im Wasser herumtollen wollten, ohne
eine Geldstrafe zu riskieren. D e r O r t hatte offiziell keinen
N a m e n , inoffiziell hieß er bei allen einfach Hundestrand.
Am H u n d e s t r a n d galten eigene, ungeschriebene Gesetze,

236
die sich im Laufe der Zeit in stiller Übereinkunft der H u n -
debesitzer herausgebildet hatten und durch Gruppenzwang
und eine Art stummen moralischen Vertrag aufrechterhal-
ten wurden. Die Hundebesitzer kontrollierten sich gegensei-
tig, damit kein Außenstehender auf diese Idee kam; und sie
bestraften Zuwiderhandlungen mit vernichtenden Blicken
und gelegentlichen Zurechtweisungen. Die Regeln waren
einfach und kurz: Aggressive H u n d e mussten an der Leine
bleiben, alle anderen durften frei laufen. Die Besitzer muss-
ten Plastiktüten mitbringen und alle Spuren ihrer T i e r e be-
seitigen. Jeglicher Abfall, einschließlich dieser Plastiktüten,
musste mitgenommen werden. Für jeden H u n d sollte sein ei-
gener Vorrat an frischem Trinkwasser mitgebracht werden.
U n d vor allem durfte auf keinen Fall das Wasser verschmutzt
werden. Die Etikette verlangte von den Hundebesitzern, bei
ihrer Ankunft mit den H u n d e n in den D ü n e n , weit weg vom
Ufer, spazieren zu gehen, bis die T i e r e ihr Geschäft gemacht
hatten. Dann konnten sie das Resultat in ihre T ü t e n packen
und gefahrlos zum Wasser gehen.
Ich hatte schon vom Hundestrand gehört, war aber noch
nie dort gewesen. N u n hatte ich meinen Vorwand. Dieses
vergessene Eckchen des entschwundenen alten Florida, in
dem es noch keine Touristenhochburgen am Strand, kei-
ne gebührenpflichtigen Parkplätze und keine ü b e r h ö h t e n
Grundstückspreise gab, hatte es in die Schlagzeilen geschafft.
Eine der Tourismusbranche wohl gesonnene D a m e aus der
Bezirksverwaltung hatte diesen unerschlossenen Landstrich
ins Gespräch gebracht und zur Diskussion gestellt, warum
dort nicht dieselben Regeln gelten sollten wie überall sonst
am Strand. Sie machte ihr Anliegen deutlich: Sie wollte die
haarigen Untiere verbannen, den öffentlichen Z u g a n g ver-
bessern und diesen wertvollen Schatz für die Massen öff-
nen.

237
Ich erkannte sofort, dass mir diese Story einen perfekten
Vorwand bot, einen Tag auf Verlagskosten am Strand zu ver-
bringen. An einem strahlenden J u n i m o r g e n tauschte ich Kra-
watte und Aktentasche gegen Badehose und Flip-Flops und
fuhr mit Marley den Intercoastal Waterway hinunter. Ich
packte so viele Badetücher ins Auto, wie ich finden konn-
te - allein schon für die Hinfahrt. W i e immer ließ Marley
die Z u n g e aus dem Maul hängen und sabberte alles voll. Ich
kam mir vor, als hätte ich einen Geysir im Auto, und bedau-
erte, dass die Scheibenwischer nicht an der Innenseite der
Scheiben angebracht waren. W i e es das Hundestrand-Pro-
tokoll vorschrieb, parkte ich mehrere Blocks entfernt, wo
ich keinen Strafzettel bekommen würde, und machte mich
auf den langen W e g durch eine verschlafene Wohngegend
mit Bungalows aus den Sechzigerjahren. Marley lief voran.
Etwa auf halbem W e g rief eine grobe Stimme: »Hey, Sie da,
mit d e m H u n d ! « Ich erstarrte und erwartete einen wüten-
den Anwohner, der mich beschimpfen würde, dass ich mei-
n e n verdammten H u n d von seinem Strand fernhalten sollte.
D o c h die Stimme gehörte einem anderen Hundebesitzer,
der mit seinem großen H u n d an der Leine auf mich zukam
und mir eine Unterschriftenliste für eine Petition für den Er-
halt des Hundestrandes reichte. W i r wären wahrscheinlich
eine Weile so dagestanden und hätten uns unterhalten, aber
so wie sich Marley u n d der andere H u n d umkreisten, war es
n u r eine Frage der Zeit, bis sie a) sich im Kampf auf Leben
u n d Tod aufeinanderstürzen oder b) eine Familie gründen
würden. Ich zog Marley weiter und setzte meine Wanderung
fort. Gerade als wir den Pfad zum Strand erreichten, hockte
sich Marley in die Büsche und machte sein Geschäft. Per-
fekt. Zumindest dieses Problem war aus der Welt geschafft.
Ich sackte den Beweis ein und sagte: »Auf zum Strand!«
Als wir die D ü n e hinaufgeklettert waren, sah ich zu mei-

238
nem Erstaunen mehrere Hundebesitzer mit ihren H u n d e n
an der Leine durch das seichte Wasser waten. Was war hier
los? Ich hatte erwartet, dass die H u n d e hier frei und in u n -
gezügelter H a r m o n i e herumlaufen würden. »Gerade war
ein Beamter vom Sheriffbüro hier«, erklärte mir ein H u n -
debesitzer mürrisch. » E r hat gesagt, dass von jetzt an auch
hier Leinenpflicht gilt, und dass wir Strafe zahlen müssen,
wenn wir unsere H u n d e frei laufen lassen.« Offenbar war
ich zu spät gekommen, um die ungetrübten Freuden des
Hundestrands genießen zu können. Die Behörden hatten
die Zügel angezogen, offensichtlich auf D r u c k der politisch
einflussreichen Anti-Hunde-Lobby. Gehorsam n a h m ich
Marley an die Leine und lief wie die anderen Hundebesitzer
am Strand entlang. Ich fühlte mich dabei eher wie bei der
Leibesertüchtigung in einem Gefängnis als am letzten uner-
schlossenen Strand von Südflorida.
Dann kehrte ich mit Marley zu meinem Badetuch zurück
und wollte ihm gerade frisches Wasser in seine Trinkschüs-
sel gießen, das ich extra in einem Kanister m i t g e n o m m e n
hatte, als ein M a n n mit abgeschnittenen Jeans und schweren
Stiefeln die D ü n e herunterkam. Auf seinem bloßen Oberkör-
per prangten mehrere Tattoos. Er hielt einen muskulösen,
gefährlich aussehenden Pitbull-Terrier an einer schweren
Kette. Pitbulls sind bekannt für ihre Aggressivität. In letzter
Zeit gab es viele davon in Südflorida. Sie waren die L i e b -
lingshunde von Gangmitgliedern, Schlägern und anderen
harten Burschen. Oft waren sie dazu abgerichtet, angriffslus-
tig zu sein. Die Zeitungen waren voll von M e l d u n g e n über
Fälle, wo ein Pitbull ohne G r u n d einen Menschen oder ei-
nen anderen H u n d angefallen hatte. Manchmal ging eine
solche Auseinandersetzung für das Opfer sogar tödlich aus.
Der M a n n musste mir meine Bedenken angesehen haben,
denn er rief: »Keine Sorge! Killer tut nichts. Er greift nie an-

239
dere H u n d e an.« Ich wollte gerade erleichtert aufatmen, als
er mit deutlichem Stolz hinzufügte: »Aber Sie sollten mal
sehen, wie er ein Wildschwein fertigmacht! Ich sage Ihnen,
so eins zerfleischt er in fünfzehn Sekunden!«
Marley u n d Killer, der W l d s c h e i n zerfleischende Pitbull,
zogen an ihren Leinen, stolzierten umeinander herum und
versuchten sich zu beschnüffeln. Marley war noch nie in sei-
n e m Leben in eine Beißerei verwickelt gewesen. Anderer-
seits war er so viel größer als die meisten anderen H u n d e ,
dass er sich auch nicht einschüchtern ließ. Selbst wenn ein
anderer H u n d feindliche Signale aussandte, verstand Marley
sie nicht. Er machte n u r einen verspielten Satz nach vorne,
das Hinterteil in die H ö h e gereckt, mit wedelndem Schwanz
und einem dummen, fröhlichen Grinsen im Gesicht. Doch er
war noch nie einem trainierten Killer begegnet, einem Wild-
schweintöter. Ich sah schon vor mir, wie Killer Marley ohne
Vorwarnung an die Kehle sprang und nicht m e h r losließ. Kil-
lers Besitzer sah das Ganze völlig locker. »Solange man kein
Wildschwein ist, leckt er einen höchstens zu Tode.«
Ich erzählte ihm, dass die Polizei gerade da gewesen war
und jeden anzeigen würde, der den Leinenzwang nicht be-
achtete. » D i e greifen jetzt wohl hart durch«, sagte ich.
»So ein Quatsch!«, rief er aus und spuckte in den Sand.
»Ich k o m m e schon seit Jahren mit meinen H u n d e n hierher.
N i e m a n d braucht hier eine Leine! Das ist totaler Bockmist!«
U n d damit löste er die schwere Kette vom Halsband des Pit-
bulls, und Killer galoppierte über den Sand ins Wasser. Mar-
ley stellte sich auf die Hinterbeine und sprang auf und ab. Er
blickte Killer hinterher, dann sah er mich an. D a n n wieder
zu Killer und wieder zu mir. Seine Pfoten tapsten ungedul-
dig im Sand und er stieß ein leises, lang gezogenes Jaulen
aus. Ich wusste, was er mir damit sagen wollte. Ich suchte
die D ü n e n mit den Augen ab: keine Polizisten in Sicht. Ich

240
sah Marley an. Bitte! Bitte! Bittebitte! Ich stelle auch nichts an.
Versprochen!
» N a los, lassen Sie ihn schon laufen!«, forderte mich Kil-
lers Herrchen auf. »Ein H u n d ist nicht dafür gemacht, sein
Leben am Ende eines Stricks zu verbringen!«
»Ach, was soll's!«, sagte ich und löste die Leine. Marley
stürzte in Richtung Wasser davon und spritzte uns mit Sand
voll, als er davonstob. Er warf sich genau in dem Augenblick
ins Wasser, als eine Welle heranrollte, die ihn erst einmal
untertauchen ließ. Einen M o m e n t später erschien sein Kopf
wieder über der Wasseroberfläche, und sobald er wieder fes-
ten Boden unter den Pfoten hatte, warf er sich m i t seinem
ganzen Gewicht gegen Killer den Wildschweintöter u n d
riss ihn mit um. Sie gerieten zusammen unter eine Welle.
Ich hielt den Atem an und fragte mich, ob Marley gerade ge-
nau die Grenze überschritten hatte, die Killer in ein m ö r d e -
risches, labradorschlachtendes M o n s t e r verwandeln würde.
Doch als sie wieder auftauchten, wedelten beide mit d e m
Schwanz und es sah aus, als grinsten sie. Killer sprang M a r -
ley auf den Rücken und Marley sprang auf Killers Rücken.
Spielerisch schnappten sie nach der Kehle des anderen. Sie
jagten sich den Strand hinunter und wieder zurück u n d lie-
ßen Wolken aus Sand aufstieben. Sie sprangen sich an, tanz-
ten umeinander herum, rangelten miteinander und tauchten
ins Wasser. Ich glaube, ich habe noch nie zuvor so ausgelas-
sene Freude beobachtet, und auch danach nie wieder.
Die anderen Hundehalter folgten unserem Beispiel, und
bald liefen alle H u n d e , insgesamt ungefähr ein Duzend, frei
herum. Die H u n d e kamen glänzend miteinander aus; die Be-
sitzer hielten sich alle an die ungeschriebenen Regeln. So
sollte der Hundestrand sein. Das war das wahre Florida, u n -
berührt und unbewacht, das Florida aus einer vergessenen,
einfacheren Zeit, unbehelligt von jedem Fortschritt.

241
Es gab n u r ein kleines Problem. W ä h r e n d der Vormittag
voranschritt, trank Marley immer wieder Salzwasser. Ich lief
mit seiner Wasserschüssel hinter ihm her, aber er war zu ab-
gelenkt, um zu trinken. Mehrmals führte ich ihn direkt zur
Schüssel und steckte seine Nase hinein, aber er prustete das
frische Wasser wieder aus, als sei es Essig. Er wollte immer
n u r zurück zu seinem neuen Freund Killer und den anderen
Hunden.
Im flachen Wasser hielt er mitten im Spiel inne, um noch
m e h r Salzwasser zu schlabbern. »Lass das, du Dummkopf!«,
schrie ich ihm zu. » D i r wird noch ...« Doch noch ehe
ich den Satz beenden konnte, war es schon passiert. Er be-
kam auf einmal einen eigenartigen Ausdruck in den Augen,
dann gurgelte ein scheußliches Geräusch aus seinem M a -
gen hoch. Er machte einen Katzenbuckel und öffnete und
schloss mehrmals das Maul, als versuchte er, etwas auszuhus-
ten. Seine Schultern hoben sich und an seinem Bauch waren
seltsame wellenartige Bewegungen zu erkennen. Ich beeilte
mich, meinen Satz zu beenden: » . . . schlecht.«
In dem M o m e n t , als das W o r t meine Lippen verließ, er-
füllte Marley meine Prophezeiung und beging die ultima-
tive Hundestrand-Sünde. GAAAAARG!
Ich rannte ins Wasser, um ihn herauszuziehen, aber es war
zu spät. Alles kam hoch. GAAAAARG! Ich konnte das Fres-
sen von gestern Abend auf der Wasseroberfläche schwim-
m e n sehen, es sah erstaunlich unverarbeitet aus. Zwischen
den Fleischklümpchen waberten unverdaute Maiskörner, die
er von den Tellern der Kinder geklaut hatte, der Verschluss
einer Milchtüte und der Kopf eines kleinen Plastiksoldaten.
Die völlige Entleerung dauerte nicht länger als drei Sekun-
den, und sobald sein M a g e n leer war, sah er mich glücklich
an. Offensichtlich ging es ihm wieder gut. Er schien zu sa-
gen: Jetzt, wo ich das erledigt habe - wer kommt mit zu Body-

242
surfen? Ich sah mich nervös um, aber niemand schien etwas
mitbekommen zu haben. Die anderen Hundebesitzer waren
alle weiter unten am Strand mit ihren eigenen H u n d e n be-
schäftigt, ganz in der N ä h e half eine M u t t e r ihrem Kind da-
bei, eine Sandburg zu bauen, und ein paar verstreute Sonnen-
anbeter lagen auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Gott
sei Dank!, dachte ich, als ich in Marleys Auswurfzone watete
und dabei so lässig wie möglich mit dem Fuß im Wasser
herumrührte, um die Uberreste zu verteilen. Das wäre viel-
leicht eine Blamage gewesen! Ach was, sagte ich mir, auch
wenn wir gründlich gegen die erste Regel der H u n d e s t r a n d -
Verordnung verstoßen hatten, so war doch eigentlich nichts
Schlimmes passiert. Es war doch n u r unverdautes Fressen,
die Fische würden sich darüber freuen, oder? Ich fischte so-
gar den Milchtütenverschluss u n d den Plastiksoldaten aus
dem Wasser und steckte sie in die Tasche, um keinen Abfall
zu hinterlassen.
»Jetzt hör mir mal zu!«, mahnte ich Marley streng, fasste
seine Schnauze und zwang ihn, mich anzusehen. » H ö r auf,
Salzwasser zu trinken! Jeder H u n d weiß doch, dass man das
nicht darf!« Ich überlegte, ob ich ihn vom Strand wegziehen
und unseren Ausflug beenden sollte, aber es schien i h m jetzt
gut zu gehen. Er konnte nicht m e h r viel im M a g e n haben.
Es war passiert und wir waren noch einmal unentdeckt da-
vongekommen. Ich ließ ihn los u n d er raste den Strand h i -
nunter, um zu Killer aufzuschließen.
W o r a n ich nicht gedacht hatte, war, dass Marleys M a g e n
zwar vollständig entleert war, nicht aber seine Eingeweide.
Die Sonne spiegelte sich blendend im Wasser und ich blin-
zelte, als ich zuschaute, wie Marley mit all den anderen H u n -
den fröhlich herumsprang. W ä h r e n d ich ihm so zusah, brach
er plötzlich unvermittelt sein Spiel ab und begann, sich im
seichten Wasser in kleinen Kreisen um sich selbst zu drehen.

243
Ich kannte dieses Kreismanöver nur zu gut. Er vollführte es
jeden M o r g e n im Garten, bevor er sein Geschäft erledigte.
Es war eine Art Ritual, so als ob nicht jede Stelle gleich gut
dazu geeignet wäre, sein großzügiges Geschenk entgegenzu-
n e h m e n . M a n c h m a l dauerte dieses Gekreisel über eine M i -
nute, während er den perfekten Platz suchte. U n d nun drehte
er sich hier im seichten Wasser am Hundestrand im Kreis,
in der verbotenen Zone, wo hinzumachen noch kein H u n d
vor ihm gewagt hatte. D a n n ging er in Startposition. U n d
diesmal hatte er Publikum. Killers H e r r c h e n und mehrere
andere Hundebesitzer standen nur wenige M e t e r entfernt.
Die M u t t e r mit ihrem Kind hatte sich von der Sandburg
abgewendet, um das M e e r zu betrachten. Ein Pärchen kam
H a n d in H a n d am Wasser entlangspaziert. » N e i n « , flüsterte
ich. »Bitte, lieber Gott, nein!«
»Hey!«, schrie jemand. » H o l e n Sie Ihren H u n d da
raus!«
»Tun Sie doch was!«, rief ein anderer.
Als sie die aufgeregten Stimmen hörten, setzten sich
auch die Sonnenanbeter auf, um zu sehen, was diese U n -
ruhe ausgelöst hatte. Ich sprintete los, um bei ihm zu sein,
ehe es zu spät war. W e n n ich ihn erreichte und ihn aus sei-
ner Hockstellung reißen konnte, bevor seine Eingeweide in
Bewegung kamen, konnte ich uns vielleicht diese schreckli-
che Erniedrigung ersparen, zumindest so lange, bis ich ihn
sicher auf eine D ü n e gezogen hatte. Als ich auf ihn zurann-
te, hatte ich so etwas wie eine außerkörperliche Erfahrung.
W ä h r e n d ich lief, sah ich von oben auf mich hinunter. Die
Zeit blieb stehen, und jeder Schritt schien eine Ewigkeit zu
dauern. M e i n e Füße trafen mit einem dumpfen Geräusch
auf den Sand. M e i n e Arme ruderten durch die Luft und ich
verzog das Gesicht zu einer entsetzten Grimasse. Aus den
Augenwinkeln nahm ich meine U m g e b u n g wie in Zeitlupe

244
wahr: eine junge Frau beim Sonnenbaden, die sich mit einer
H a n d ein T-Shirt vor die Brust hielt und die andere entsetzt
zum M u n d hob, die Mutter, die ihr Kind packte u n d vom
Wasser wegzog, die Hundebesitzer mit angeekelten M i e -
nen, die wütend auf Marley zeigten, Killers H e r r c h e n , der
mit angeschwollenen Halsmuskeln etwas schrie. Marley war
inzwischen mit dem Kreiseln fertig und bereits in Startposi-
tion. Er sah zum H i m m e l auf, als schicke er ein G e b e t nach
oben. U n d über allem hörte ich meine eigene Stimme in
einem seltsam kehligen, verzerrten, lang gezogenen Schrei:
»Neeeeiiiiinü«
Ich hatte ihn beinahe erreicht, nur noch wenige Schritte.
»Marley, nein!«, schrie ich. »Nein, Marley, nein! Nein, nein,
nein, nein!!« Es war zwecklos. In dem M o m e n t , als ich ihn
erreichte, barst ein Schwall wässrigen Durchfalls aus ihm
heraus. Alle prallten zurück, flohen auf sicheren G r u n d .
Herrchen packten ihre H u n d e . Sonnenanbeter ergriffen
ihre Handtücher. D a n n war es vorbei. Marley trabte aus dem
Wasser in den Sand, schüttelte sich ausgiebig und sah dann
fröhlich hechelnd zu mir auf. Ich zog eine Plastiktüte aus
der Tasche und hielt sie hilflos hoch. Ich sah sofort, dass es
keinen Sinn hatte. Die Wellen spülten herein und verteilten
Marleys Hinterlassenschaften im Wasser und am Strand.
»Mann«, sagte Killers H e r r c h e n in einem Ton, der mich
ahnen ließ, wie sich ein Wildschwein im Augenblick vor
Killers letztem, tödlichem Sprung fühlen musste. »Das war
nicht cool.«
Nein, das war tatsächlich nicht cool. Marley und ich hat-
ten die heiligen Regeln des Hundestrandes verletzt. W i r
hatten das Wasser verschmutzt, nicht n u r einmal, sondern
zweimal, und allen den Vormittag verdorben. Es war Zeit
für einen schnellen Rückzug.
»Tut mir leid«, murmelte ich Killers Besitzer zu, als

245
ich Marley anleinte. » E r hat eine M e n g e Salzwasser ge-
schluckt.«
Zurück beim Auto warf ich Marley ein Handtuch über
und nibbelte ihn energisch trocken. Je m e h r ich nibbelte,
umso m e h r schüttelte er sich, und bald war ich voller Sand,
Sabber u n d Haare. Ich wollte ihn ausschimpfen. Ich woll-
te ihn erwürgen. D o c h es war zu spät. Außerdem, wem
wäre nicht schlecht geworden, mit literweise Salzwasser im
Bauch? W i e so viele seiner Missetaten war auch diese weder
bösartig n o c h beabsichtigt gewesen. Er hatte sich nicht ei-
n e m Befehl widersetzt und er hatte mich auch nicht vorsätz-
lich blamieren wollen. Er musste einfach mal und war dem
Ruf der N a t u r gefolgt. Klar, am falschen O r t zur falschen
Zeit und vor den falschen Leuten. Ich wusste, dass er ein
Opfer seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten geworden
war. Er war das einzige T i e r am ganzen Strand gewesen, das
d u m m genug war, Salzwasser zu trinken. Dieser H u n d war
ein Mängelexemplar. W i e konnte ich ihm das zum Vorwurf
machen?
» D u brauchst gar nicht so selbstzufrieden aussehen«,
schimpfte ich, als ich ihn auf den Rücksitz schob. Aber ge-
nau das war er. Zufrieden. Er hätte nicht glücklicher sein
können, wenn ich ihm eine eigene Karibische Insel gekauft
hätte. Er wusste schließlich nicht, dass es das letzte Mal ge-
wesen war, dass er eine Pfote in Salzwasser getaucht hatte.
Seine Tage - oder besser gesagt, Stunden - als Strandurlau-
ber waren vorbei. »Tja, Salty D o g « , sagte ich auf der H e i m -
fahrt zu ihm, »diesmal hast du's geschafft. W e n n H u n d e von
n u n an auch am H u n d e s t r a n d verboten sind, dann wissen
wir, warum.« Es dauerte zwar noch ein paar Jahre, aber letzt-
lich ist es genau so gekommen.
EINUNDZWANZIG

Nach Norden

K urz nach Colleens zweitem Geburtstag löste ich u n a b -


sichtlich eine Folge von Ereignissen aus, die schließlich
dazu führten, dass wir aus Florida wegzogen. U n d ich tat es
mit einem einzigen Mausklick. Ich war an diesem Tag früher
mit meiner Kolumne fertig geworden und hatte noch eine
halbe Stunde totzuschlagen, während ich auf meinen Redak-
teur wartete. Aus einer Laune heraus öffnete ich die W e b -
site einer Zeitschrift, die ich kurz nach unserem Hauskauf in
Palm Beach abonniert hatte. Sie hieß Organic Gardening und
war 1942 von dem exzentrischen J. I. Rodale gegründet wor-
den. Später wurde sie zur Bibel der Zurück-zur-Natur-Bewe-
gung, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufkam.
Rodale war ein N e w Yorker Geschäftsmann gewesen, der
sich auf elektrische Schalter spezialisiert hatte. Als seine G e -
sundheit schlechter wurde, suchte er nicht bei der moder-
nen Schulmedizin Hilfe, sondern zog aus der Stadt auf einen
kleinen Hof außerhalb des beschaulichen Ortes E m m a u s in
Pennsylvania und begann sich mit Gartenarbeit zu beschäfti-
gen. Er hegte ein tiefes Misstrauen gegen jede Art von Tech-
nologie und war der Meinung, dass die modernen M e t h o -
den, die inzwischen überall im Land in der Landwirtschaft
und im Gartenbau angewandt wurden und beinahe alle mit
chemischen Pestiziden und D ü n g e r arbeiteten, nicht die Ret-
ter der amerikanischen Landwirtschaft waren, wie behaup-

247
tet wurde. Rodale vertrat die T h e o r i e , dass die Chemikalien
allmählich die E r d e und ihre Bewohner vergifteten. Also
begann er, mit M e t h o d e n zu arbeiten, die die N a t u r nach-
ahmten. Er stellte große Komposthaufen mit verrottenden
Pflanzenresten auf. W e n n sie zu dickem schwarzem H u m u s
geworden waren, benutzte er diesen als D ü n g e r und Blu-
menerde. Er bedeckte seine Gartenbeete mit einer dicken
Schicht Stroh, um U n k r a u t abzuwehren und die Feuchtig-
keit zu erhalten. Er pflanzte Klee und Alfalfa an und pflügte
sie dann unter, um dem Boden Nährstoffe zurückzugeben.
Anstatt Insektizide anzuwenden, setzte er tausende von Ma-
rienkäfern u n d andere nützliche Insekten aus, die die Schäd-
linge fraßen. Er war ein Sonderling, aber seine Theorien
stellten sich als richtig heraus. Sein Garten blühte auf, und
seine Gesundheit auch, und er trompetete seine Erfolge in
seiner Zeitschrift in die Welt hinaus.
Als ich anfing, Organic Gardening zu lesen, war J. I. Rodale
schon lange tot, ebenso sein Sohn Robert, der das Geschäft
seines Vaters, Rodale Press, zu einem millionenschweren Ver-
lagshaus ausgebaut hatte. Die Zeitschrift war nicht beson-
ders gut geschrieben oder redigiert. D e r Leser bekam den
Eindruck, dass sie von einer G r u p p e begeisterter, aber laien-
hafter Anhänger von J. I.s Philosophie herausgegeben wur-
de, professionelle Gärtner ohne journalistische Ausbildung.
Später erfuhr ich, dass genau das der Fall war. Dennoch er-
schienen mir seine Ansichten über organischen Gartenbau
immer plausibler, besonders nach Jennys Fehlgeburt und
unserem Verdacht, dass sie mit den Insektiziden zusammen-
hing, die wir verwendet hatten. Als Colleen geboren wur-
de, war unser G a r t e n bereits eine kleine biologische Oase
inmitten eines vorstädtischen Meers aus chemischen D ü n -
ger- und Pestizidgärten. Oft blieben Passanten stehen und
bewunderten die Blütenpracht, um die ich mich mit wach-

248
sender Begeisterung kümmerte, und sie stellten eigentlich
immer dieselbe Frage: »Mit was düngen Sie denn, dass das
alles so schön blüht?« W e n n ich dann antwortete: » G a r
nicht«, dann sahen sie mich irritiert an, als wären sie gerade
Zeugen eines unaussprechlich unkonventionellen Vorgangs
im wohlgeordneten, gleichförmigen Boca Raton geworden.
An jenem Nachmittag in meinem Büro klickte ich mich
durch die Seiten von organicgardening.com u n d fand schließ-
lich ein Link mit dem Titel »Karrierechancen«. Ich klick-
te es an, keine Ahnung, warum. Ich liebte meine Arbeit als
Kolumnenschreiber, den täglichen Kontakt mit den Lesern,
die völlige Freiheit der T h e m e n w a h l und des Tones, in dem
ich meine Artikel schrieb. Ich liebte das Redaktionsbüro
und die quirligen, geistreichen, neurotischen, idealistischen
Leute, die es anzog. Ich liebte es, mich am Puls der Zeit zu
fühlen. Bestimmt sehnte ich mich nicht danach, die Zeitung
für irgendeine verschlafene Verlagsgesellschaft am E n d e der
Welt zu verlassen. D e n n o c h scrollte ich durch die J o b a n g e -
bote bei Rodale, eher aus Neugier, aber plötzlich hielt ich
inne. Organic Gardening, das Aushängeschild des Verlages,
suchte einen neuen leitenden Redakteur. Mein Herzschlag
setzte einen M o m e n t lang aus. Ich hatte oft überlegt, was
ein guter Journalist aus dieser Zeitschrift machen könnte.
Und nun bot sich mir eine einmalige Chance. Es war ver-
rückt, einfach lächerlich. Eine Karriere als Redakteur von
Artikeln über Blumenkohl und Kompost? W a r u m sollte ich
das wollen?
Am Abend erzählte ich J e n n y von dem Jobangebot u n d er-
wartete, dass sie mich für übergeschnappt erklärte, auch n u r
darüber nachzudenken. Zu meiner Überraschung redete sie
mir aber sogar zu, eine Bewerbung hinzuschicken. D i e Vor-
stellung, das heiße, feuchte Klima, die Verkehrsstaus u n d die
hohe Kriminalität von Südflorida hinter sich zu lassen und

249
stattdessen ein einfaches Leben auf dem Land zu führen,
gefiel ihr. Sie vermisste die normalen vier Jahreszeiten und
die Berge. Sie vermisste fallende Blätter und Narzissen. Sie
vermisste Eiszapfen und Apfelcider. Sie wollte, dass unsere
Kinder und, so lächerlich das auch klang, unser H u n d das
W u n d e r eines Schneesturms erlebten. »Marley ist noch nie
einem Schneeball hinterhergerannt«, sagte sie und strich
ihm mit ihrem bloßen Fuß über den Rücken.
»Tja, das ist natürlich ein schlagendes Argument für ei-
nen Jobwechsel«, erwiderte ich.
»Tu's doch einfach, um deine Neugier zu befriedigen«,
meinte sie. »Wart einfach ab, was passiert. W e n n sie dir ein
Angebot machen, kannst du es ja immer noch ablehnen.«
Ich musste zugeben, dass ich mir insgeheim auch wünschte,
wieder weiter in den N o r d e n zu ziehen. So sehr ich unsere
zwölf Jahre in Florida genossen hatte, so war ich doch ein
Nordlicht, das drei Dinge einfach nicht vergessen konn-
te: Berge, wechselnde Jahreszeiten und weites Land. Auch
wenn ich Florida mit seinen milden Wintern, dem scharfen
Essen und der eigenartigen Mischung von Menschen inzwi-
schen lieben gelernt hatte, so hatte ich doch nie aufgehört,
davon zu träumen, eines Tages in mein eigenes, privates Pa-
radies zu flüchten - das sicher nicht ein briefmarkengroßes
Grundstück im H e r z e n des überkandidelten Boca Raton
war, sondern ein richtiges Stück G r u n d und Boden, wo ich
in der E r d e herumgraben, mein eigenes Feuerholz schlagen
und mit meinem H u n d durch die Wälder streifen konnte.
Ich schickte eine Bewerbung ab, in der Überzeugung,
dass nichts daraus werden würde. Zwei Wochen später klin-
gelte das Telefon. Es war J. I. Rodales Enkelin, Maria Ro-
dale. Ich hatte meinen Brief mit »Sehr geehrte Damen und
H e r r e n « überschrieben und war so überrascht, dass sich die
Geschäftsführerin des Verlages bei mir meldete, dass ich sie

250
gleich noch einmal nach ihrem N a m e n fragte. Maria lag
die Zeitschrift, die von ihrem Großvater gegründet worden
war, am Herzen, und sie war fest entschlossen, wieder an den
damaligen Erfolg anzuknüpfen. Sie war überzeugt, dass sie
dazu einen professionellen Journalisten brauchte und nicht
einen weiteren Biogärtner; und sie wollte weiterreichende
und wichtigere T h e m e n wie Umweltprobleme, Genfor-
schung, Massentierhaltung und das aufkeimende Interesse
an biologischer Landwirtschaft aufgreifen.
Als ich zum Vorstellungsgespräch fuhr, war ich fest ent-
schlossen, den harten M a n n zu spielen und mich zu zieren,
aber schon als ich aus dem Flughafen kam und die erste kur-
vige Landstraße sah, war es um mich geschehen. U n d hinter
jeder Ecke bot sich ein idyllischeres Bild: hier ein Farmhaus
aus Stein, dort eine überdachte Brücke. Eisige Bäche gurgel-
ten die Felsen hinunter, und gepflügtes Ackerland erstreckte
sich wie ein goldener Teppich bis zum Horizont. N o c h dazu
war Frühling, und jeder einzelne Baum im Lehigh Valley
stand in voller, herrlicher Blüte. An einem einsamen Stra-
ßenschild hielt ich an und stieg aus meinem Mietwagen. So
weit das Auge reichte, sah ich n u r Wälder und Wiesen. Kein
Auto, keine Menschen, kein Gebäude. Vom ersten M ü n z t e -
lefon aus, das ich fand, rief ich J e n n y an: »Es ist einfach u n -
glaublich hier.«

Zwei Monate später hatten die Möbelpacker unser gesamtes


H a b und G u t aus dem Haus in Boca in einen gigantischen
Lastwagen verladen. Ein Autolaster kam, um unser Auto u n d
den Minivan abzuholen. W i r übergaben den neuen H a u s b e -
sitzern die Schlüssel und verbrachten unsere letzte N a c h t
in Florida auf dem Fußboden bei einem N a c h b a r n . Marley
lag ausgestreckt in der Mitte. » W i r zelten drinnen!«, schrie
Patrick.

251
Am nächsten M o r g e n stand ich früh auf und ging mit Mar-
ley auf seinen letzten Spaziergang in Florida. Er schnüffelte,
zerrte an der Leine und tänzelte, als wir um den Block gin-
gen, und blieb an jedem Busch und an jedem Briefkasten ste-
hen, um das Bein zu heben. Er war so wunderbar ahnungslos,
was für eine gewaltige Umstellung vor ihm lag. Ich hatte ihm
einen stabilen Reisekäfig aus Plastik für den Flug gekauft,
und auf Anraten von Dr. Jay gab ich ihm eine doppelte Dosis
Beruhigungsmittel, als wir von unserem Spaziergang zurück-
kamen. Als uns unser N a c h b a r zum Palm-Beach-Internati-
onal-Flughafen fuhr, hatte Marley blutunterlaufene Augen
und war außergewöhnlich ruhig. W i r hätten ihn an eine Ra-
kete binden können, und es hätte ihm nichts ausgemacht.
In der Wartehalle gaben die Grogans ein tolles Bild ab:
zwei kleine J u n g e n außer Rand und Band, die wild im Kreis
herumrannten, ein hungriges Baby im Kinderwagen, zwei
völlig entnervte Eltern und ein total zugedröhnter H u n d .
Um das Bild abzurunden, hatten wir auch alle unsere ande-
ren T i e r e mit: zwei Frösche, drei Goldfische, einen Einsied-
lerkrebs, eine Schnecke namens Sluggy und eine Schachtel
mit lebendigen Grillen, um die Frösche zu füttern. Als wir
uns am Check-in anstellten, baute ich den Plastikreisekäfig
zusammen. Es war der größte, den ich hatte finden kön-
nen, doch als wir an der Reihe waren, warf die uniformierte
D a m e einen Blick auf Marley, sah dann den Käfig an, dann
wieder Marley und sagte: » W i r können diesen H u n d nicht
in diesem Container mitnehmen. Er ist zu groß dafür.«
»In der Tierhandlung haben sie gesagt, das wäre das M o -
dell für große H u n d e « , versuchte ich es.
»Unsere Vorschriften besagen, dass das T i e r ohne P r o b -
leme stehen und sich umdrehen können muss«, erklärte sie
und fügte dann skeptisch hinzu: »Also los, versuchen Sie
es.«

252
Ich öffnete die T ü r und rief nach Marley, doch er war
nicht bereit, freiwillig in dieses Gefängnis zu steigen. Ich
schob und schubste, lockte und redete ihm gut zu, aber er
rührte sich nicht von der Stelle. Wo waren n u r die H u n d e -
kuchen, wenn man sie brauchte? Ich durchsuchte meine Ta-
schen nach etwas, womit ich ihn locken konnte, und fand
schließlich eine Dose mit Hustenbonbons. Etwas Besseres
hatte ich nicht. Ich nahm eines heraus u n d hielt es ihm vor
die Nase. »Marley, möchtest du ein Bonbon? K o m m , hol's
dir!« Damit warf ich es in den Käfig. Natürlich fiel er darauf
herein und schlappte fröhlich hinterher.
Die Dame hatte Recht, er passte nicht richtig hinein.
Er musste den Kopf einziehen, um nicht oben anzustoßen;
und selbst wenn er mit der Nase schon an die Rückwand
stieß, ragte sein Hinterteil immer noch zur offenen Käfig-
tür heraus. Ich drückte seinen Schwanz hinunter u n d half
ein bisschen nach, dann schloss ich die Tür. » N a , was hab
ich gesagt?«, fragte ich triumphierend und hoffte, dass die
Schalterbeamtin nun einverstanden wäre. » E r muss sich u m -
drehen können«, wiederholte sie.
» D r e h dich um, Junge«, bat ich ihn und stieß einen klei-
nen Pfiff aus. » K o m m schon, dreh dich um. « Er sah mich
über seine Schulter hinweg mit einem abwesenden Blick an,
als warte er auf Anweisungen, wie er das fertigbringen sollte.
M i t dem Kopf stieß er an die Käfigdecke an.
W e n n er sich nicht umdrehte, würde die Fluggesellschaft
ihn nicht mitnehmen. Ich sah auf meine Uhr. U n s blieben
noch zwölf Minuten, um durch den Sicherheitscheck zu
kommen, zum Gate zu laufen und in unser Flugzeug zu stei-
gen. »Marley, k o m m her!«, sagte ich, leichte Verzweiflung
in der Stimme. » K o m m schon!« Ich schnippte mit den Fin-
gern, rüttelte an der Gittertür, machte schmatzende G e r ä u -
sche. » K o m m schon!«, flehte ich. » D r e h dich schon um!«

253
Ich wollte gerade vor ihm auf die Knie fallen, als ich ein
Krachen und unmittelbar danach Patricks Stimme hörte:
»Uuups!«
»Die Frösche sind los!«, rief Jenny und stürzte davon.
»Froggy! Croaky! K o m m t zurück!«, schrien die Jungen
einstimmig.
M e i n e Frau kroch nun auf allen vieren herum und turn-
te durch die Halle, während die Frösche ihr immer einen
Sprung voraus waren. Die Leute blieben stehen und glotz-
ten sie an. Von weitem konnte m a n die Frösche nicht sehen,
n u r diese verrückte Frau mit der Wickeltasche um den Hals,
die offensichtlich schon am M o r g e n zu tief ins Glas geschaut
hatte. So wie sie J e n n y anstarrten, schienen sie jeden M o -
m e n t zu erwarten, dass sie anfing, loszujaulen.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen M o m e n t « , sagte ich
so ruhig ich konnte zu der Schalterbeamtin und schloss mich
J e n n y auf allen vieren an. N a c h d e m wir unseren Beitrag zur
U n t e r h a l t u n g der frühen Fluggäste geleistet hatten, fingen
wir Froggy und Croaky schließlich doch noch ein, kurz be-
vor sie durch die automatischen Glastüren in die endgültige
Freiheit e n t k o m m e n konnten. Als wir zurückkamen, hörte
ich ein eigenartiges Tohuwabohu aus dem Hundekäfig. D e r
ganze Kasten wackelte und schlingerte, und als ich genauer
hineinschaute, sah ich, dass Marley es irgendwie geschafft
hatte, sich umzudrehen. »Sehen Sie?«, sagte ich zu der Schal-
terbeamtin. » E r kann sich umdrehen. Kein Problem.«
»Okay«, sagte sie schließlich. »Wenn Sie darauf beste-
hen . . . «
Zwei Flughafenmitarbeiter hoben den Käfig mit Mar-
ley auf einen Rollwagen und fuhren mit ihm davon. W i r
anderen hetzten zu unserem Flugzeug und kamen gerade
in dem M o m e n t an das Gate, als die Beamten die Schran-
ke schließen wollten. M i r wurde klar, dass Marley allein in

254
Pennsylvania ankommen würde, wenn wir unser Flugzeug
verpassten, eine grauenhafte Szenerie, an die ich nicht ein-
mal denken wollte. »Warten Sie! W i r sind hier!«, schrie ich
und schubste Colleens Kinderwagen vor mir her; J e n n y und
die Jungen kamen hinter mir hergerannt.
Als wir uns auf unseren Plätzen niederließen, erlaubte ich
mir endlich, Luft zu holen. W i r hatten Marley eingeschifft.
W i r hatten die Frösche eingefangen. W i r hatten das Flug-
zeug erreicht. Nächster Stopp Allentown, Pennsylvania.
Jetzt konnte ich mich entspannen. Ich schaute aus dem Fens-
ter und sah zu, wie ein kleiner Kran den Hundekäfig h o c h -
hob. »Schaut«, sagte ich zu den Kindern. » D a ist Marley!«
Sie winkten und riefen: »Hallo, Mallie!«
Als die M o t o r e n angelassen wurden und die Stewardess
die Sicherheitsanweisungen erklärte, zog ich eine Zeitschrift
hervor. Da sah ich, wie J e n n y im Sitz vor mir erstarrte. U n d
dann hörte ich es auch. Aus den Tiefen des Flugzeugs, unter
unseren Füßen, kam ein Geräusch. Gedämpft, aber unver-
kennbar. Es war ein herzerweichend trauervolles Geräusch,
eine Art Rufen, das leise anfing und dann anschwoll. 0 mein
Gott, er heult da unten. N u r fürs Protokoll: Labradors heulen
nicht. Beagles heulen. Wölfe heulen. Aber Labradors heulen
nicht, zumindest nicht besonders gut. Marley hatte es bisher
zweimal versucht, beide Male als Antwort auf eine Polizei-
sirene. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, sein M a u l zu ei-
nem 0 verformt und dann den erbärmlichsten Ton von sich
gegeben, den ich je gehört hatte. Es war eher ein Gurgeln
als ein Ruf der Wildnis. Aber jetzt heulte er, kein Zweifel.
Die anderen Fluggäste begannen von ihren Zeitungen
und Büchern aufzusehen. Eine Stewardess, die gerade Kopf-
kissen verteilte, hielt inne und horchte. Eine D a m e auf der
anderen Seite des Ganges sah ihren M a n n an u n d sagte:
» H ö r mal! H ö r s t du das? Ich glaube, das ist ein H u n d ! « J e n -

255
ny starrte geradeaus. Ich starrte auf meine Zeitschrift. W e n n
uns irgendjemand fragte, würden wir einfach abstreiten, dass
der H u n d uns gehörte.
»Mallie ist traurig!«, sagte Patrick.
Nein, mein Sohn, wollte ich ihn korrigieren, irgendein frem-
der Hund, den wir noch nie gesehen haben und den wir nicht ken-
nen, ist traurig. Aber ich hielt die Zeitschrift nur noch höher
vor mein Gesicht und befolgte den Rat des unsterblichen Ri-
chard Milhous Nixon: glaubhaft leugnen. Die Düsenmoto-
ren heulten, das Flugzeug rollte die Startbahn hinunter und
übertönte Marleys Trauergesang. Ich stellte mir vor, wie er
da u n t e n im Dunkeln saß, allein, ängsdich, verwirrt und zu-
gedröhnt, und sich nicht einmal aufrecht hinstellen konnte.
Ich stellte mir vor, wie die M o t o r e n dort unten für Marleys
O h r e n klingen mussten, wahrscheinlich wie ein schreckli-
ches Gewitter mit Blitz u n d Donner. D e r Arme. Ich wollte
zwar nicht zugeben, dass er mir gehörte, aber ich wusste,
dass ich mir den ganzen Flug über Sorgen um ihn machen
würde.
Das Flugzeug hatte gerade abgehoben, als ich wieder ein
leises Krachen hörte. Diesmal war es Conor, der »Uuups!«
sagte. Ich schaute hinunter und starrte dann wieder ange-
strengt in meine Zeitschrift. Glaubhaft leugnen. N a c h ein
paar Sekunden sah ich mich verstohlen um. Als ich sicher
war, dass mich niemand beobachtete, lehnte ich mich vor
und flüsterte J e n n y ins Ohr: » D r e h dich nicht um, aber die
Grillen sind los.«
ZWEIUNDZWANZIG

Weiße Weihnachten

V V das auf halber H ö h e an einem steilen H ü g e l gelegen


war. Vielleicht war es auch ein kleiner Berg; die Anwohner
schienen sich in diesem Punkt nicht ganz einig zu sein. Zu
unserem Besitz gehörte auch eine Wiese, wo wilde H i m b e e -
ren wuchsen, ein Wald, wo ich nach Herzenslust H o l z schla-
gen konnte, und ein kleiner Bach mit Quelle, wo Marley
und die Jungen bald begeistert im Schlamm spielten. W i r
hatten einen Kamin und einen endlos großen Garten, und
auf dem nächsten Hügel stand eine kleine weiße Kirche, die
man im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fielen,
von unserem Küchenfenster aus sehen konnte.
Es war wie im Film, einschließlich unseres neuen N a c h -
barn, einem rotbärtigen Bären von einem M a n n , der in ei-
nem zweihundert Jahre alten Farmhaus aus Stein wohnte
und sonntags gerne auf der Terrasse hinter seinem H a u s
saß und einfach so zum Spaß mit seinem G e w e h r in den
Wald schoss, sehr zu Marleys Entsetzen. An unserem ers-
ten Tag im neuen H e i m kam er mit einer Flasche selbst ge-
machtem Wildkirschlikör und einem K o r b mit den größten
Blaubeeren, die ich je gesehen habe, vorbei. Er stellte sich
als »Digger« vor. W i e wir aus diesem Spitznamen schlos-
sen, verdient er seinen Lebensunterhalt als Baggerführer.
W e n n wir also irgendein Loch zu graben hätten oder E r d e

257
transportiert werden müsste, dann sollten wir ihn nur rufen
und er käme mit einer seiner großen Maschinen herüber.
» U n d wenn Ihnen ein Reh vors Auto läuft, dann sagen Sie
einfach Bescheid«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Wir
zerlegen es und teilen das Fleisch auf, bevor die Polizei was
merkt.« Kein Zweifel, wir waren nicht mehr in Boca.
Auf unserem Grundstück gab es Stinktiere, Opossums,
Waldmurmeltiere u n d wilden Efeu, der am Rande unseres
Wäldchens wuchs und dort die Bäume hinaufkletterte. Al-
lein dieser Anblick jagte mir schon einen wohligen Schauer
über den Rücken. Als ich eines Morgens mit der Kaffeema-
schine kämpfte und aus dem Küchenfenster sah, starrte ein
prachtvoller Hirsch, ein Achtender, zurück. Ein andermal
watschelte eine wilde Truthahnfamilie durch unseren Gar-
ten. Als Marley und ich eines Samstags durch den Wald den
H ü g e l hinunterwanderten, trafen wir auf einen Trapper, der
gerade eine Nerzfalle aufstellte. Ein Nerzjäger! Gleich hin-
ter meinem Garten! Was hätten die Bocahontas für diesen
Kontakt gegeben!
Das Landleben war friedlich und schön - und gleich-
zeitig ein wenig einsam. Die Einwohner von Pennsylvania
waren höflich, F r e m d e n gegenüber aber zurückhaltend.
U n d wir waren Fremde. N a c h den Menschenmassen und
Autoschlangen in Florida hätte ich mich über diese Einsam-
keit freuen sollen. Stattdessen grübelte ich zumindest in den
ersten M o n a t e n darüber nach, ob es richtig gewesen war,
in eine Gegend zu ziehen, wo offensichtlich sonst niemand
leben wollte. Marley dagegen hatte keine solchen Beden-
ken. Bis auf die Schüsse aus Diggers Gewehr passte ihm
das Landleben ausgezeichnet. Was wollte ein H u n d , der
m e h r Energie als Verstand hatte, mehr? Er raste über die
Wiese, brach durch die Brombeersträucher und plantschte
durch den Bach. Seine neue Lebensaufgabe war es, eines der

258
zahllosen Kaninchen zu fangen, die meinen G a r t e n als ihre
persönliche Salatbar ansahen. W e n n er ein Kaninchen sah,
das mein Gemüse mummelte, preschte er laut bellend mit
fliegenden O h r e n und trommelnden Pfoten den H ü g e l hi-
nunter. Er schlich sich dabei ungefähr so unauffällig an wie
eine Blaskapelle und kam nie näher als fünf M e t e r an seine
Beute heran, die blitzschnell in den Wald flüchtete. Passend
zu seiner Gebrauchsanweisung blieb Marley jedoch weiter-
hin optimistisch, dass der Erfolg nicht weit war. Er kam zu-
rück, schwanzwedelnd und nicht im Mindesten entmutigt,
und fünf Minuten später startete er den nächsten Versuch.
Glücklicherweise war er bei der Jagd auf Stinktiere genauso
erfolglos.
D e r Herbst kam und mit ihm ein ganz neues Spiel: Angriff
auf den Blätterhaufen! In Florida warfen die Bäume ihre Blät-
ter im Herbst nicht ab, u n d Marley war der Überzeugung,
dass diese Dinger, die n u n durch die Luft segelten, alle n u r
ihm zugedacht waren. W e n n ich die orangefarbenen und
gelben Blätter zu Haufen zusammenharkte, saß Marley ge-
duldig daneben und wartete den richtigen Zeitpunkt ab, um
zuzuschlagen. Erst wenn ich einen beeindruckenden L a u b -
haufen aufgetürmt hatte, schlich er sich geduckt an. Alle
paar Schritte verharrte er, eine Vorderpfote in der Luft, u n d
nahm W i t t e r u n g auf, wie ein Löwe in der Serengeti, der sich
an eine ahnungslose Gazelle heranschleicht. Dann, wenn ich
mich gerade befriedigt auf meinen Rechen stützte u n d mein
Werk betrachten wollte, sprang er los und jagte mit großen
Sätzen über die Wiese, h o b wenige M e t e r vor seinem Ziel
ab und landete mit einem gigantischen Bauchklatscher mit-
ten im Laubhaufen, wo er sich knurrend herumwälzte, um
sich schnappte und aus mir unerklärlichen G r ü n d e n wild
seinem Schwanz hinterherjagte, so lange, bis mein schöner
Laubhaufen wieder über die Wiese verteilt war. D a n n setzte

259
er sich hin u n d bewunderte seinerseits sein Werk. Blätterres-
te hingen in seinem Fell, und er sah mich selbstzufrieden an,
als hätte er gerade Großes geleistet.

U n s e r erstes Weihnachten in Pennsylvania sollte natürlich


weiß sein. Es war nicht einfach gewesen, Patrick und C o -
n o r zu überzeugen, dass es sich lohnte, ihr Zuhause und
ihre Freunde in Florida zu verlassen. Eines der schlagends-
ten Argumente war der Schnee gewesen. N i c h t irgendein
Schnee, sondern tiefer, fluffiger Pulverschnee, wie man ihn
von Postkarten kennt. Schnee, der in dicken, weichen Flo-
cken vom H i m m e l fällt, sich in Haufen auftürmt und genau
die richtige Konsistenz zum Schneemannbauen hat. U n d
Schnee am Weihnachtstag, nun, das war das Allerbeste, der
heilige Gral der nordischen W n t e r e r f a h r u n g . W i r malten
bewusst eine übertrieben romantische Szenerie, wie sie am
Weihnachtsmorgen aufwachen und vor dem Fenster eine
glänzend weiße Schneelandschaft vorfinden würden, völlig
unberührt, abgesehen von den Schlittenspuren, die Santa
Claus in der N a c h t hinterlassen hatte.
In der W o c h e vor dem großen Tag saßen die drei stun-
denlang zusammen vor dem Fenster. Ihre Augen hingen an
d e m trüben H i m m e l , als könnten sie ihn so dazu bewegen,
sich zu öffnen und seine Schätze freizugeben. » K o m m doch,
Schnee!«, sangen die Kinder. Sie kannten Schnee nicht, und
auch J e n n y u n d ich hatten seit Jahren keinen mehr gesehen.
W i r wünschten uns nichts sehnlicher als Schnee, aber die
Wolken wollten keinen hergeben. Einige Tage vor Weih-
nachten drängte sich die ganze Familie im Minivan zusam-
m e n u n d fuhr zu einem H o f zwei Kilometer entfernt, wo wir
eine Fichte schnitten und heißen Apfelcider am Lagerfeuer
tranken. Es war ein M o m e n t , wie er für Ferien hier im N o r -
den typisch war und wie wir ihn in Florida immer vermisst

260
hatten. Aber etwas fehlte. Wo war der verdammte Schnee?
Jenny und ich begannen allmählich zu bereuen, wie übertrie-
ben wir vom ersten Schnee geschwärmt hatten, der ganz si-
cher kommen würde. Als wir mit dem frisch geschnittenen
Baum nach Hause fuhren und der süße Fichtenduft durchs
Auto strömte, beschwerten sich die Kinder, dass wir sie an-
gelogen hätten.
Am Weihnachtsmorgen lag ein brandneuer Schlitten
unter dem Weihnachtsbaum, und genug Schneeausrüstung,
um eine Exkursion in die Antarktis zu u n t e r n e h m e n , aber
vor unserem Fenster waren nur nackte Aste, gelbe Wiesen
und braune Maisfelder zu sehen. Ich machte ein gemütli-
ches Feuer im Kamin und sagte den Kindern, dass sie G e -
duld haben müssten. D e r Schnee ließe sich nicht herbei-
zwingen.
An Silvester war immer noch kein Schnee gefallen. Sogar
Marley wirkte nervös. Er schlich herum, starrte aus dem Fens-
ter und winselte leise, als ob er sich auch irgendwie betrogen
fühlte. N a c h den Ferien gingen die Kinder wieder zur Schu-
le, und noch immer lag kein Schnee. Am Frühstückstisch
starrten sie mich mürrisch an, ihren Vater, der sie betrogen
hatte. Ich versuchte es mit lahmen Ausreden wie: »Vielleicht
brauchen die kleinen Jungs und M ä d c h e n irgendwo anders
auf der Welt den Schnee dringender als wir.«
»Ja, klar, Dad«, sagte Patrick.
Drei Wochen nach Neujahr rettete mich der Schnee
schließlich aus meinem Fegefeuer der Schuldgefühle. Er fiel
über Nacht, als alle schliefen, und Patrick schlug als Erster
Alarm. Er kam in der M o r g e n d ä m m e r u n g in unser Schlaf-
zimmer gerast und riss die Jalousien hoch. »Seht mal! Er ist
da!«, quietschte er. Jenny und ich setzten uns im Bett auf,
um unsere Rechtfertigung zu betrachten. Eine weiße Decke
lag über den Hügeln, Feldern, Bäumen u n d Hausdächern,

261
so weit das Auge reichte. »Klar ist er da«, antwortete ich läs-
sig. »Was hab ich dir gesagt?«
D e r Schnee lag schon fast knietief, und es schneite immer
noch. W e n i g später kamen auch C o n o r und Colleen Dau-
m e n lutschend und mit ihren Decken im Schlepptau den
G a n g entlanggetapst. Marley war jetzt auch auf und streckte
sich. Sein Schwanz schlug überall an, als er die allgemeine
Aufregung spürte. Ich wandte mich an J e n n y und sagte: »Ich
glaube, das war's mit Schlafen«, und als sie mir zustimmte,
wandte ich mich wieder an die Kinder und rief: »Okay, ihr
Schneehasen, dann werft euch mal in Schale!«
Die nächste halbe Stunde kämpften wir mit Reißver-
schlüssen, langen Unterhosen, Gürtelschnallen, Kapuzen
u n d Handschuhen. Als wir endlich fertig waren, sahen un-
sere Kinder aus wie M u m i e n und unsere Küche wie der Be-
reitstellungsraum der Olympischen Winterspiele. U n d ein
Mitbewerber beim Schneeclown-Abfahrtslauf in der Klasse
der Labrador-Schwergewichte war natürlich ... Marley. Ich
öffnete die Haustür, u n d noch ehe irgendwer hinaustreten
konnte, schoss Marley an uns vorbei und riss dabei die gut
verpackte Colleen u m . In dem M o m e n t , als seine Pfoten das
seltsame weiße Z e u g berührten - Ah, kalt! Ah, nass! -, über-
legte er es sich anders und versuchte eine abrupte Kehrtwen-
de. W i e jeder weiß, der schon mal bei Schnee Auto gefahren
ist, ist plötzliches Bremsen kombiniert mit engen Kehrtwen-
den keine gute Idee.
Marley kam ins Rutschen und sein Hinterteil scherte aus.
Er landete auf der Seite, rappelte sich aber gleich wieder
auf, gerade noch rechtzeitig, um einen Purzelbaum die Ve-
randatreppe hinunter zu machen und kopfüber in einem
Schneehaufen zu landen. Als er einen M o m e n t später wie-
der auftauchte, sah er aus wie ein riesiger gezuckerter D o -
nut. Außer der schwarzen Schnauze und den braunen Augen

262
war er vollkommen weiß gepudert. D e r entsetzliche Schnee-
hund. Marley wusste nicht, was er mit diesem fremden Z e u g
anfangen sollte. Er stieß mit seiner Schnauze hinein und
musste dann gewaltig niesen. Er schnappte danach und rieb
sein Gesicht darin. D a n n , als hätte sich eine riesige H a n d
vom H i m m e l herabgesenkt und ihm eine Uberdosis Adrena-
lin verpasst, trat er das Gaspedal voll durch und raste in ge-
waltigen Sprüngen um den G a r t e n herum; alle paar M e t e r
überschlug er sich oder tauchte mit der Nase voran in den
Schnee. Schnee machte fast so viel Spaß wie der Angriff auf
die nachbarliche Mülltonne.
Wenn man Marleys Spuren im Schnee verfolgte, k o n n -
te man ansatzweise nachvollziehen, wie sein verdrehtes
Gehirn arbeitete. Er vollführte spontane D r e h u n g e n und
Wendungen, wirre Sprünge und Achter, doppelte Rittber-
ger und dreifache Lutzsprünge. Es war, als folgte er einem
bizarren Algorithmus, den nur er verstehen konnte. Die Kin-
der folgten seinem Beispiel und kugelten wild im Schnee
herum, und bald war jede Falte ihrer Anoraks und H o s e n
voll Schnee. Jenny brachte Buttertoast und heißen Kakao
nach draußen und verkündete, dass heute die Schule ausfiel.
Ich wusste, dass ich meinen kleinen Nissan mit Zweiradan-
trieb bei diesen Verhältnissen niemals die Auffahrt hinauf-
bugsieren konnte, geschweige denn die hügeligen Bergstra-
ßen schaffen würde, und erklärte diesen Tag auch für mich
offiziell als schneefrei.
Im Herbst hatte ich aus Steinen eine kleine Feuerstelle
hinten im Garten gebaut. Jetzt fegte ich den Schnee dort
weg und machte ein kleines, prasselndes Feuer. Die Kinder
rutschten johlend mit dem Schlitten den H ü g e l hinunter,
am Lagerfeuer vorbei bis zum Waldrand. Marley jagte ihnen
hinterher. Ich sah zu Jenny hinüber und fragte sie: » W e n n
dir vor einem Jahr jemand gesagt hätte, dass deine Kinder

263
gleich vor der Haustür Schlitten fahren würden, hättest du
ihm geglaubt?«
»Niemals«, antwortete sie. D a n n bückte sie sich, formte
einen Schneeball und warf ihn mir gegen die Brust. Sie hatte
Schnee im Haar, gerötete Wangen und ihr Atem bildete eine
kleine Wolke. » K o m m her und küss mich«, sagte ich.
Später, als sich die Kinder am Lagerfeuer aufwärmten, ver-
suchte ich es mit einer Schlittenpartie. Ich war seit meiner
J u g e n d nicht m e h r Schlitten gefahren. »Willst du mitfah-
ren?«, fragte ich Jenny.
»Tut mir leid, Sportsfreund, du musst allein fahren«,
sagte sie.
Ich zog den Schlitten den H ü g e l hinauf und legte mich
darauf, stützte mich mit den Ellbogen ab und stellte mei-
ne Füße auf die Kufen. D a n n bewegte ich mich vor und zu-
rück, um Schwung zu holen. Marley hatte nicht oft die G e -
legenheit, auf mich herunterzuschauen. D e r Augenblick war
günstig. Er schlich zu mir herauf und schnoberte über mein
Gesicht. »Was willst du?«, fragte ich ihn, und das war für
ihn Aufforderung genug. Er kletterte zu mir auf den Schlit-
ten, grätschte über mich und ließ sich auf meinen Brustkorb
fallen. » G e h r u n t e r von mir, du Höllenhund!«, schrie ich.
D o c h es war bereits zu spät. D e r Schlitten rutschte schon
vorwärts, und wir wurden immer schneller.
»Bon voyage!«, schrie J e n n y uns nach.
U n d los ging es, der Schnee stob hoch, Marley lag auf
mir wie ein Mehlsack u n d schleckte mir begeistert übers G e -
sicht, als wir den H a n g hinunterschlitterten. M i t unserem
doppelten Gewicht bekamen wir deudich mehr Schwung als
die Kinder, und wir rasten über die Stelle hinaus, an der ihre
Spuren endeten. »Festhalten, Marley!«, schrie ich. »Es geht
in den Wald!«
W i r schössen an einem großen Walnussbaum vorbei, dann

264
zwischen zwei wilden Kirschbäumen hindurch u n d entgin-
gen wie durch ein W u n d e r allen Hindernissen, während wir
durchs Unterholz brachen. Brombeerranken zerrten an uns,
und plötzlich fiel mir ein, dass direkt vor uns die Böschung
des Baches lag, der noch nicht zugefroren war. Ich versuchte
mit den Füßen zu bremsen, aber sie hingen zwischen den
Kufen fest. Die Böschung war steil, beinahe senkrecht, u n d
wir schössen genau darauf zu. Ich hatte n u r noch Zeit, die
Arme um Marley zu schlingen, die Augen zuzukneifen und
»Whoooaaa!« zu schreien.
Unser Schlitten schoss über den Rand hinaus und stürz-
te unter uns weg. Ich fühlte mich wie eine Comicfigur in
jenem klassischen M o m e n t , wenn sie einen Augenblick in
der Luft stehen bleibt, um im nächsten katastrophal abzu-
stürzen. N u r dass ich in diesem C o m i c an einen wie verrückt
sabbernden Labrador festgeschweißt war. W i r klammerten
uns aneinander, als wir mit einem sanften »Puff« am Ufer
des Baches in einer Schneewehe landeten und, immer n o c h
halb auf dem Schlitten hängend, bis an den Rand des W a s -
sers rutschten.
Ich öffnete die Augen und versuchte meinen Zustand ein-
zuschätzen. Ich konnte Finger und Z e h e n bewegen u n d den
Kopf drehen, nichts war gebrochen. Marley war aufgestan-
den und lief um mich herum, als würde er das Ganze am
liebsten gleich noch einmal machen. Stöhnend erhob ich
mich und wischte mir den Schnee ab. »Ich bin zu alt für so
was«, sagte ich zu Marley. In den folgenden M o n a t e n sollte
immer klarer werden, dass das auch für ihn galt.

Irgendwann gegen E n d e unseres ersten W i n t e r s in P e n n -


sylvania merkte ich, dass Marley langsam auf die Rente zu-
ging. Er war in diesem Dezember n e u n geworden, u n d ganz
allmählich wurde er ein wenig ruhiger. Zwar hatte er noch

265
immer zuweilen ungezügelte Adrenalinausbrüche, wie am
Tag des ersten Schnees, doch sie waren kürzer und seltener
geworden. Tagsüber döste er am liebsten vor sich hin, und
auf unseren Spaziergängen wurde er vor mir müde. Das war
in unserer ganzen Beziehung noch niemals der Fall gewe-
sen. Eines Tages, die Temperatur war über den Gefrierpunkt
gestiegen und Frühlingstauwetter lag in der Luft, wanderte
ich mit ihm unseren H ü g e l hinunter und den nächsten wie-
der hinauf. Dieser zweite H ü g e l war noch etwas steiler als
unserer. O b e n stand die weiße Kirche, daneben lag ein alter
Friedhof mit den Gräbern von Bürgerkriegsveteranen. Ich
ging hier oft entlang, und auch Marley hatte diese Strecke
noch im letzten H e r b s t problemlos geschafft, trotz des stei-
len Anstiegs, bei dem wir beide außer Atem geraten waren.
Diesmal jedoch blieb er zurück. Ich lockte ihn den ganzen
W e g entlang, rief ihm aufmunternde W o r t e zu, aber er glich
einem Spielzeug, dessen Batterie langsam zu Ende ging.
Marley schaffte es einfach nicht bis auf den Hügel hinauf.
Ich machte eine Pause, um ihn ausruhen zu lassen; etwas,
das vorher nie notwendig gewesen war. » D u machst mir
doch jetzt nicht schlapp, oder?«, fragte ich ihn und strich
ihm mit meinem H a n d s c h u h über den Kopf. Er sah zu mir
auf; seine Augen leuchteten und seine Nase war feucht. Er
schien sich überhaupt keine Sorgen wegen seiner schlechten
Kondition zu machen. Er sah zufrieden, aber erschöpft aus,
als ob es im Leben nichts Schöneres gäbe, als an einem kal-
ten W i n t e r t a g mit seinem H e r r c h e n an einer Landstraße zu
sitzen. » W e n n du denkst, dass ich dich jetzt trage - vergiss
es!«, sagte ich zu ihm.
Die Sonne schien ihm auf den Pelz, und mir fiel auf, wie
grau sein hellbraunes Gesicht geworden war. Wegen sei-
nes hellen Fells fiel es nicht auf, war aber nicht zu leugnen.
Seine ganze Schnauze und zum Teil auch seine Brauen wa-

266
ren nicht mehr sandfarben, sondern weiß. O h n e dass wir es
gemerkt hatten, war aus unserem ewigen Welpen ein alter
H e r r geworden.
Das hieß nicht, dass er sich besser benahm als früher. M a r -
ley hatte noch immer alle seine Marotten, er war n u r ein
bisschen langsamer. Er stahl den Kindern n o c h immer das
Essen vom Teller. Er klappte immer noch mit der Nase den
Deckel des Abfalleimers in der Küche hoch u n d stöberte da-
rin herum. Er zog immer noch an der Leine. Verschluckte
noch immer verschiedenste Gegenstände aus unserem H a u s -
halt. Er trank weiterhin aus der Badewanne und schlabberte
herum. U n d wenn sich der H i m m e l verdunkelte und D o n -
ner grollte, bekam er immer noch Panik und drehte durch,
wenn er allein war. Einmal fanden wir Marley inmitten eines
Berges aus Schaumgummi vor, und Conors Matratze war bis
auf die Federn auseinandergenommen worden.
M i t den Jahren hatten wir gelernt, gelassen mit den Zer-
störungen umzugehen. Solche Vorfälle waren auch viel sel-
tener geworden, seit wir aus Florida mit seinen regelmäßi-
gen Unwettern weggezogen waren. Im Leben eines H u n d e s
musste eben so manche W a n d dran glauben, so manches Kis-
sen Federn lassen und so mancher Teppich zerfasern. W i e
jede Beziehung hatte auch diese ihren Preis. W i r hatten
gelernt, diesen Preis gegen die Freude, den Schutz und die
Kameradschaft aufzurechnen, die er uns schenkte. Von dem
Geld, das wir für unseren H u n d und seine Zerstörungswut
ausgeben mussten, hätten wir uns eine kleine Yacht kaufen
können. Aber wie viele Yachten warten den ganzen Tag n e -
ben der T ü r auf deine Rückkehr? W i e viele leben einzig für
den Moment, wenn sie auf deinen Schoß klettern und mit
dir auf einem Schlitten den H ü g e l hinunterfahren und dir
dabei das Gesicht ablecken können?
Marley hatte sich seinen Platz in unserer Familie redlich

267
verdient. Er war eben, wie er war, ein wunderliches, aber
geliebtes Familienmitglied. Niemals würde er Lassie oder
Benji sein; er würde es nie auf die Hundeschau in Westmins-
ter oder auch n u r auf die Regionalmesse schaffen. Das wuss-
ten wir inzwischen. W i r akzeptierten ihn als den H u n d , der
er war, u n d liebten ihn umso mehr.
» D u komischer alter Kauz«, sagte ich an diesem Winter-
tag am Straßenrand zu ihm und kraulte ihm den Nacken.
U n s e r Ziel, der Friedhof, war noch immer einen steilen An-
stieg weit entfernt. Aber, dachte ich, wie so oft im Leben war
der W e g das Ziel. Ich ging vor ihm in die Hocke und fuhr
ihm mit beiden H ä n d e n durchs Fell. »Lass uns einfach ein
bisschen hier sitzen«, sagte ich zu ihm. Als er sich ausgeruht
hatte, drehten wir um und wanderten nach Hause.
DREIUNDZWANZIG

Die Hühnchenparade

I n diesem Frühling beschlossen wir, unsere Fähigkeiten


als Nutztierhalter auszutesten. W i r besaßen n u n ein gro-
ßes Stück Land; es schien nur logisch, es mit ein oder zwei
Tieren zu teilen. Außerdem war ich schließlich Redakteur
der Zeitschrift Organic Gardening, die schon seit L a n g e m
die Einbindung von T i e r e n - und ihrem Mist - in eine ge-
sunde, ausgewogene Gartenarbeit predigte. »Eine K u h wäre
lustig«, schlug Jenny vor.
»Eine Kuh?«, fragte ich. »Bist du verrückt? W i r haben
noch nicht einmal einen Schuppen, wie sollen wir denn da
eine Kuh halten? Wo sollen wir sie deiner M e i n u n g nach u n -
terbringen, in der Garage neben dem Minivan?«
»Wie wär's mit Schafen?«, meinte sie ungerührt. »Schafe
sind niedlich.« Ich warf ihr meinen üblichen »Das ist doch
Unsinn«-Blick zu.
» O d e r eine Ziege?«, überlegte sie weiter. »Ziegen sind
wunderbar!«
Schließlich einigten wir uns auf H ü h n e r . Für einen G ä r t -
ner, der allen chemischen Düngemitteln und Pestiziden ab-
geschworen hatte, waren H ü h n e r unbedingt sinnvoll. Sie
kosteten nicht viel, weder in der Anschaffung n o c h in der
Haltung. Sie brauchten zum Glücklichsein nur einen klei-
nen Hühnerstall und jeden M o r g e n ein paar Tassen Kör-
nerfutter. Sie lieferten frische Eier, und wenn man sie frei

269
laufen ließ, suchten sie das Grundstück den ganzen Tag ak-
ribisch nach Käfern und W ü r m e r n ab, verspeisten Zecken,
lockerten beim H e r u m s c h a r r e n den Boden auf wie kleine
Pflugscharen, und nebenbei ließen sie Dünger fallen. Jeden
Abend kehrten sie von alleine in ihren Hühnerstall zurück.
W a s wollten wir mehr? Ein H u h n war der beste Freund des
Biogärtners. H ü h n e r waren überaus sinnvoll. U n d zudem be-
standen sie auch den Niedlichkeitstest, wie Jenny betonte.
Also H ü h n e r . J e n n y hatte sich mit einer anderen Mutter
aus der Schule angefreundet, die auf einem Bauernhof lebte
und anbot, uns beim nächsten Mal gerne ein paar Küken ab-
zugeben. Ich erzählte unserem N a c h b a r n Digger von dem
Plan u n d er stimmte zu, dass ein paar H ü h n e r durchaus sinn-
voll wären. Er hatte selbst einen großen Hühnerstall und
versorgte sich so mit Eiern und Fleisch.
»Übrigens, n u r als kleine W a r n u n g « , sagte er und ver-
schränkte die fleischigen Arme vor der Brust. »Egal, wie
Sie's anstellen, passen Sie auf, dass die Kinder den Tieren
keine N a m e n geben. W e n n sie einen N a m e n haben, sind sie
kein Geflügel mehr, dann sind sie Haustiere.«
»Stimmt«, meinte ich. In der H ü h n e r h a l t u n g war kein
Platz für Sentimentalität. Das wusste ich. H e n n e n konnten
bis zu fünfzehn J a h r e alt werden, legten aber nur in den ers-
ten J a h r e n Eier. W e n n sie damit aufhörten, war es Zeit für
den Suppentopf. Das gehörte zur H ü h n e r h a l t u n g dazu.
Digger sah mich scharf an, als wollte er meine Gedanken
lesen. » W e n n sie erst einen N a m e n haben, ist alles vorbei«,
wiederholte er.
»Absolut richtig«, versicherte ich ihm. »Keine N a m e n . «
Als ich am nächsten Abend von der Arbeit kam und un-
sere Einfahrt hinauffuhr, kamen mir alle drei Kinder aus
dem H a u s entgegengelaufen. Jedes hatte ein kleines, frisch
geschlüpftes Küken in den hohlen H ä n d e n . Jenny kam mit

270
einem vierten hinterher. Ihre Freundin D o n n a hatte die
Tierchen am Nachmittag herübergebracht. Sie waren erst
einen Tag alt und sahen mich mit schief gelegtem Kopf an,
als wollten sie fragen: »Bist du meine M a m a ? «
Patrick platzte als Erster damit heraus. »Meins heißt
Feathers!«, verkündete er.
»Meins heißt Tweety«, sagte Conor.
»Wuffy!«, brabbelte Colleen begeistert und zeigte mir ihr
Küken.
Ich sah J e n n y fragend an. »Fluffy«, erklärte Jenny. »Sie
hat ihr Küken Fluffy genannt.«
»Jenny!«, protestierte ich. »Was hat Digger uns gesagt?
Das hier sind Nutztiere, keine Haustiere!«
»Ach, komm wieder runter, Bauer John!«, sagte sie. » D u
weißt doch genauso gut wie ich, dass du diesen T i e r c h e n
hier niemals auch nur ein H a a r krümmen könntest. Schau
doch nur mal, wie süß sie sind!«
»Jenny!«, wiederholte ich mit deutlicher Genervtheit in
der Stimme.
»Ach, übrigens«, meinte sie dann und hielt mir das vierte
Küken unter die Nase. »Darf ich vorstellen? Das ist Shir-
ley.«
Feathers, Tweety, Fluffy und Shirley zogen in eine Kiste
auf der Küchentheke ein, unter einer Glühbirne, damit sie
es schön warm hatten. Sie fraßen und machten in die Kis-
te, fraßen noch mehr - und wuchsen mit atemberaubender
Geschwindigkeit. Einige Wochen, nachdem wir die Küken
bekommen hatten, schreckte ich noch vor der M o r g e n d ä m -
merung hoch. Ich setzte mich im Bett auf und lauschte. Von
unten kam ein schwacher, kränklicher Ton. Er klang heiser
und krächzend, fast wie ein Husten. Da war es wieder. Kike-
rikie! Ein paar Sekunden vergingen, dann kam die leise, aber
durchaus energische Antwort: Kiiikerikiiieeee!

271
Ich rüttelte J e n n y wach, und als sie die Augen öffnete,
fragte ich: »Als D o n n a die H ü h n e r rübergebracht hat, da
hast du sie doch gefragt, ob es auch wirklich nur H e n n e n
sind, oder?«
» D u meinst, das kann man sehen?«, fragte sie zurück und
war sofort wieder eingeschlafen.
M a n n e n n t es Geschlechtsbestimmung. Ein Bauer, der
sich damit auskennt, kann ein frisch geschlüpftes Küken un-
tersuchen u n d mit bis zu achtzigprozentiger Sicherheit sa-
gen, ob es ein M ä n n c h e n oder ein Weibchen ist. W e n n das
Geschlecht klar festgestellt ist, sind die Tiere teurer. Billiger
ist es, die Katze im Sack zu kaufen und abzuwarten. Später
k o m m e n die H ä h n e dann in den Kochtopf und die H e n n e n
werden zum Eierlegen gehalten. Diese Strategie setzt natür-
lich voraus, dass m a n das Zeug dazu hat, die Männchen zu
schlachten, zu rupfen und auszunehmen. D e n n wie jeder
weiß, der schon mal H ü h n e r aufgezogen hat, sind zwei H ä h -
ne schon einer zu viel.
W i e sich herausstellte, hatte D o n n a gar nicht versucht,
das Geschlecht unserer Küken zu bestimmen. Drei unse-
rer » L e g e h e n n e n « waren M ä n n c h e n . W i r hatten unsere
Küche unfreiwillig zu einem Waisenhaus für H ä h n c h e n ge-
macht. Das Besondere an H ä h n e n ist aber, dass sie niemals
akzeptieren werden, die zweite Geige hinter einem anderen
H ä h n c h e n zu spielen. W e n n m a n n u n gleich viele H e n n e n
und H ä h n c h e n hat, könnte m a n meinen, dass sie sich arran-
gieren und in kleine, glückliche Pärchen aufteilen würden.
D o c h das stimmt nicht. Die M ä n n c h e n bekriegen sich ge-
genseitig in blutigen Kämpfen bis zum bitteren Ende, um
zu entscheiden, wer der Anführer ist. D e r Gewinner kriegt
sie alle.
Als sie größer wurden, fingen unsere drei Streithähne an,
aufeinander einzupicken, und - was das Schlimmste war,

272
wenn man bedenkt, dass sie ja noch in unserer Küche w o h n -
ten, weil ich den Hühnerstall im Garten immer n o c h nicht
fertig gebaut hatte - sie krähten sich ihre testosteronüber-
sättigte Seele aus dem Leib. Shirley, unser einziges, armes,
überstrapaziertes Weibchen, bekam m e h r Aufmerksamkeit,
als sich irgendein weibliches Wesen wünschen kann.
Ich hätte gedacht, das Gekrähe unserer H ä h n c h e n würde
Marley in den Wahnsinn treiben. In jungen J a h r e n hatte ihn
schon das zarte Zwitschern einer einzelnen kleinen N a c h t i -
gall im Garten so in Rage versetzt, dass er laut kläffend von
Fenster zu Fenster jagte und wild auf und ab sprang. Jetzt
dagegen schienen ihn drei krähende H ä h n e direkt neben sei-
ner Futterschüssel nicht im Mindesten zu stören. Er schien
sie überhaupt nicht zu bemerken. Das Krähen wurde jeden
Tag lauter und kräftiger und hallte morgens um fünf U h r
durch das Haus. Kikerikie! Marley verschlief das ganze Spek-
takel. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass Marley
das Gekrähe vielleicht gar nicht ignorierte - vielleicht k o n n -
te er es nicht hören. Eines Nachmittags ging ich hinter ihm
her, als er in der Küche herumschnüffelte, und sagte: »Mar-
ley?« Nichts. Ich rief lauter. »Marley!« Nichts. Ich klatschte
in die H ä n d e und schrie: »MARLEY!« Da h o b er den Kopf,
als hätte sein Radargerät gerade etwas empfangen. Er stellte
die O h r e n auf. Ich klatschte noch einmal in die H ä n d e und
schrie laut seinen N a m e n . Diesmal drehte er den Kopf weit
genug, um mich hinter sich stehen zu sehen. Oh, was machst
du denn hier? Er sprang mich an, wedelte mit dem Schwanz
und war glücklich - und deutlich überrascht -, mich zu se-
hen. Er schnoberte meine Beine ab und sah mich mit einem
Schafsblick an, als wollte er fragen: Warum schleichst du dich
so an mich heran? Offensichtlich wurde mein H u n d allmäh-
lich taub.
Plötzlich passte alles zusammen. In den letzten M o n a t e n

273
hatte Marley mich manchmal gar nicht beachtet, etwas, was
er früher nie getan hatte. Ich rief nach ihm, und er schau-
te sich noch nicht einmal um. Ich ließ ihn abends vor dem
Schlafengehen noch einmal in den Garten hinaus, er schnüf-
felte im G a r t e n herum, und wenn er wieder ins Haus kom-
m e n sollte, beachtete er mein Pfeifen und Rufen überhaupt
nicht. Ein andermal schlief er im W o h n z i m m e r zu meinen
Füßen, als es an der T ü r klingelte - und öffnete noch nicht
einmal ein Auge.
Marley hatte schon immer Probleme mit den O h r e n ge-
habt. W i e viele Labradors neigte er zu Ohreninfektionen,
und wir hatten ein kleines Vermögen für Antibiotika, Salben,
Spülungen, Tabletten u n d Tierarztbesuche ausgegeben. Ein-
mal war er sogar operiert worden, um seine Gehörgänge zu
verkürzen und das Problem so in den Griff zu bekommen.
D o c h erst als wir die unüberhörbaren H ä h n e im Haus hat-
ten, kam mir der Gedanke, dass diese jahrelangen Beschwer-
den n u n ihren Tribut gefordert hatten und unser H u n d
allmählich in eine wattige Welt voll entferntem Flüstern ab-
gedriftet war.
Das schien ihm allerdings nichts auszumachen. Sein
Ruhestand bekam Marley bestens, und seine Hörprobleme
schienen sein entspanntes Landleben nicht im Geringsten
zu stören. Er zog sogar noch einen Vorteil daraus, denn
schließlich hatte er jetzt für seinen Ungehorsam eine schrift-
liche Entschuldigung vom Tierarzt. W i e sollte er denn ei-
n e m Befehl nachkommen, den er gar nicht hören konnte?
Ich schwöre, dass dieser Dickkopf seine Taubheit sehr bald
zu seinem Vorteil auszunützen lernte. Ließ man ein Stück
Fleisch in seine Futterschüssel fallen, kam er aus dem W o h n -
zimmer in die Küche getrabt. Dieses satte Geräusch konnte
er noch sehr gut wahrnehmen. Aber wenn man nach ihm
rief u n d er gerade etwas anderes vorhatte, dann wanderte er

274
einfach gemütlich weiter, ohne sich auch nur schuldbewusst
umzusehen, wie er es früher getan hätte.
»Ich glaube, der H u n d hält uns zum N a r r e n « , sagte ich zu
Jenny. Sie stimmte mir zu, dass seine H ö r p r o b l e m e n u r zeit-
weise aufzutreten schienen. I m m e r wenn wir in die H ä n d e
klatschten und ihn riefen, reagierte er nicht. W e n n wir dage-
gen Futter in seine Schüssel fallen ließen, kam er angerannt.
Er schien für alle Geräusche taub geworden zu sein außer
für das, das ihm am meisten am H e r z e n lag - oder vielmehr
am Bauch: das Geräusch von Fressen.
Marley war sein ganzes Leben lang einfach unersättlich
gewesen. W i r gaben ihm jeden Tag vier Schüsseln Hundefut-
ter - davon hätte eine Chihuahuafamilie eine ganze W o c h e
lang leben können - und ergänzten seinen Speiseplan n o c h
frei mit unseren Essensresten, entgegen jedem professionel-
len Ratgeber in Sachen Hundehaltung. Essensreste verwöhn-
ten den H u n d , und bald würde er dann sein Hundefutter
verschmähen (wenn man die Wahl zwischen einem halb auf-
gegessenen H a m b u r g e r und Trockenfutter hat, wer zögert
da lange?). Essensreste waren der schnellste W e g zur Fett-
leibigkeit. Labradors sind dafür bekannt, dass sie zur Kör-
perfülle neigen, besonders wenn sie älter werden. M a n c h e
Exemplare, vor allem die aus der Englischen Linie, waren in
späteren Jahren so rund, dass m a n meinen könnte, ihre M e n -
schen hätten sie aufgeblasen, um sie auf der Thanksgiving-
Parade in N e w York mitfliegen zu lassen.
Nicht so unser H u n d . Marley hatte viele Probleme, aber
Fettleibigkeit gehörte nicht dazu. Egal wie viele Kalorien
er zu sich nahm, er verbrannte mehr. Ständig stand er unter
Strom, und diese zügellose Ausgelassenheit verbrauchte rie-
sige Mengen an Energie. Er glich einer elektrischen Anlage,
die sofort jeden Tropfen Treibstoff in reine Kraft umsetzte.
Marley war ein bemerkenswerter physischer Ausnahmefall,

275
ein H u n d , dem Passanten beim Spazierengehen nachsahen.
Er war sehr groß für einen Labrador, beträchdich größer als
ein durchschnittlicher Rüde seiner Rasse, die normalerweise
zwischen dreißig bis fünfunddreißig Kilo wiegen. Auch als
er älter wurde, bestand sein Körper hauptsächlich aus Mus-
keln. Fünfundvierzig Kilo sehnige, gespannte Muskeln und
kaum ein G r a m m Fett. Sein Brustkorb hatte den Umfang
eines kleinen Bierfässchens, sein Fell spannte über den Rip-
pen. W i r machten uns bei ihm keine Sorgen wegen Fettlei-
bigkeit, ganz im Gegenteil. Bevor wir Florida verließen, wa-
ren wir mit Marley oft bei Dr. Jay, und jedes Mal äußerten
J e n n y u n d ich dieselben Bedenken: W r gaben ihm unglaub-
liche M e n g e n an Futter, aber er war trotzdem viel dünner als
die meisten anderen Labradors. Außerdem schien er immer
H e i ß h u n g e r zu haben, auch wenn er gerade erst einen Eimer
Trockenfutter hinuntergeschlungen hatte, der für ein Braue-
reipferd gereicht hätte. Ließen wir ihn langsam verhungern?
Dr. Jay gab immer dieselbe Antwort. Er fuhr mit seinen H ä n -
den über Marleys schlanke Seiten und unser H u n d startete
daraufhin eine wilde, glückliche Labrador-Entdeckungstour
durch das enge Behandlungszimmer. Doktor Jay sagte dann
immer, dass Marley in perfekter körperlicher Verfassung
war. » M a c h e n Sie einfach so weiter«, meinte er. U n d wenn
Marley dann zwischen seinen Beinen herumsprang oder ei-
nen Stoffball vom Behandlungstisch schnüffelte, fügte er
hinzu: »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass Marley
eine M e n g e nervöser Energie verbrennt.«
Jeden Abend nach dem Essen fütterte ich Marley. Ich
füllte seine Schüssel mit Hundefutter und mischte alle halb-
wegs schmackhaften Reste hinein, die ich finden konnte.
M i t drei kleinen Kindern am Tisch hatten wir jede Menge
halb aufgegessene Portionen übrig. Brotrinden, Steakreste,
Hühnchenkruste, Bratensoße, Reis, Karotten, Butterbrote,

276
drei Tage alte N u d e l n - alles ab in die Schüssel. U n s e r H u n d
mag sich wie ein Hofnarr b e n o m m e n haben, aber er hatte
den Speiseplan eines Prinzen von Wales. W i r verfütterten
alles an ihn, bis auf die Sachen, von denen wir wussten, dass
sie für H u n d e ungesund waren: Molkereiprodukte, Süßigkei-
ten, Kartoffeln und Schokolade. Ich habe ein Problem mit
Leuten, die für ihre Haustiere kochen, aber Marley unsere
Reste zu geben, die wir sonst weggeworfen hätten, gab mir
das Gefühl, sparsam zu sein - nichts verkam -, und außer-
dem war es eine schöne Geste. Ich bot dem immer und für
alles dankbaren Marley so eine Abwechslung zu seinem tägli-
chen, langweiligen Hundefutter.
W e n n Marley gerade einmal nicht als unser Familienend-
verwerter füngierte, war er als Familien-Klecker-Notdienst
im Einsatz. Keine Sauerei war zu groß für unseren H u n d .
Eines unserer Kinder warf einen vollen Teller mit Spaghetti
Bolognese auf den Boden, und wir brauchten n u r zu pfeifen,
und unser nasser Hundeschnauzenstaubsauger saugte jede
einzelne N u d e l ein und schleckte dann den Boden sauber,
bis er glänzte. Verirrte Erbsen, Sellerie, der unter den Tisch
gefallen war, entkommene Rigatoni, verschütteter Apfelsaft,
ganz egal. Sobald es den Boden berührte, war es Geschichte.
Z u m Erstaunen unserer Freunde schlang Marley sogar Salat-
reste hinunter.
Doch das Essen musste natürlich nicht erst auf den Boden
fallen, um in Marleys Magen zu landen. Er war ein geschick-
ter, gewissenloser Dieb, der vor allem bei unseren ahnungslo-
sen Kindern leichte Beute machte. Dabei versicherte er sich
immer zuerst, dass weder J e n n y noch ich gerade hinsahen.
Geburtstagsfeiern waren für ihn wie Weihnachten. Er wu-
selte durch die Schar von Fünfjährigen und schnappte ihnen
schamlos die H o t d o g s aus den kleinen H ä n d e n . Bei einer
Party schaffte er letztendlich zwei Drittel des Geburtstags-

277
kuchens, indem er sich Stück für Stück von den Papptellern
holte, die die Kinder auf dem Schoß hielten.
Es spielte keine Rolle, wie viel er fraß, ob zugeteilt oder
durch miese Tricks ergaunert. Er wollte immer noch mehr.
Als er taub wurde, waren wir nicht sonderlich überrascht,
dass er zwar sonst nichts m e h r hörte, das Geräusch von
Fleisch, das in seine Futterschüssel fiel, aber nach wie vor
problemlos ausmachen konnte.
Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, fand
ich das H a u s leer vor. J e n n y war mit den Kindern unterwegs,
u n d als ich nach Marley rief, bekam ich keine Antwort. Ich
ging in den ersten Stock hinauf, wo er manchmal ein Nicker-
chen hielt, wenn er allein zu Hause war, doch ich konnte ihn
nirgends entdecken. Ich zog mich um und ging wieder hi-
nunter, wo ich ihn auf frischer Tat in der Küche ertappte. Er
stand auf den Hinterbeinen, hatte mir das Hinterteil zuge-
wandt, Vorderpfoten und Brust ruhten auf unserem Küchen-
tisch. Als ich hereinkam, schlang er gerade die Reste eines
gegrillten Käsesandwichs herunter. Mein erster Impuls war,
laut zu schimpfen. Stattdessen beschloss ich dann aber, aus-
zuprobieren, wie nah ich an ihn herankommen konnte, bis
er mich bemerkte. Ich schlich auf Zehenspitzen näher, bis
ich ihn beinahe berühren konnte. W ä h r e n d er kaute, behielt
er i m m e r die T ü r zur Garage im Auge. Er wusste, dass Jenny
u n d die Kinder bei ihrer Rückkehr dort hereinkommen wür-
den. In dem M o m e n t , wo sich die T ü r öffnete, wäre er unter
dem Tisch verschwunden und würde vorgeben zu schlafen.
Offenbar war ihm noch nicht der Gedanke gekommen, dass
Papa auch nach Hause k o m m e n und sich durch die Haustür
hereinschleichen könnte.
»Ach, Marley?«, sagte ich in neutralem Ton, »was machst
du denn da?« In aller Ruhe schluckte er den Rest des Sand-
wichs hinunter; er hatte mich noch nicht bemerkt. Dabei

278
schlug er locker mit dem Schwanz, ein Zeichen, dass er
dachte, er wäre allein und käme ungeschoren mit einem ge-
lungenen Raubzug davon. Er war sichtlich mit sich zufrie-
den.
Ich räusperte mich geräuschvoll, doch er hörte mich
nicht. Ich machte schmatzende Geräusche mit dem M u n d .
Nichts. Als er ein Sandwich verputzt hatte, stieß er den lee-
ren Teller mit der Schnauze zur Seite und streckte sich, um
an die Reste auf einem zweiten Teller heranzukommen. » D u
bist so ein böser H u n d « , sagte ich, während er weiter kaute.
Ich schnippte zweimal mit den Fingern, und er hielt mitten
in einer Kaubewegung inne und starrte auf die Hintertür.
Was war das? Hat da jemand eine Autotür zugeschlagen? Einen
M o m e n t später war er sicher, dass er sich verhört hatte, u n d
wandte sich wieder seinem Sandwich zu.
In diesem Augenblick streckte ich meine H a n d aus und
berührte ihn am Hinterteil. Ich hätte auch eine Stange D y -
namit zünden können. D e r alte H u n d sprang beinahe aus
seinem Fell. Er prallte rückwärts vom Tisch ab, u n d als er
mich sah, ließ er sich sofort auf den Boden fallen und drehte
mir in einer ergebenen Geste den Bauch zu. »Vergiss es«,
sagte ich zu ihm. » D u bist geliefert.« Aber ich brachte es
einfach nicht fertig, mit ihm zu schimpfen. Er war alt; er war
taub; es war Unsinn, ihn noch erziehen zu wollen. Ich würde
ihn nicht mehr ändern. Es hatte großen Spaß gemacht, sich
an ihn heranzuschleichen, und ich hatte laut lachen müssen,
als er herumgefahren war. Als er jetzt zu meinen Füßen lag
und um Vergebung bettelte, war ich n u r ein wenig traurig.
Vielleicht hatte ich gehofft, dass seine ganze Taubheit n u r
gespielt war.

Ich baute den Hühnerstall fertig, eine einfache Konstruktion


aus Sperrholz mit einer zugbrückenartigen Leiter, die nachts

279
hochgezogen werden konnte, um Eindringlinge fernzuhal-
ten. D o n n a n a h m netterweise zwei unserer H ä h n e zurück
und gab uns stattdessen zwei H e n n e n . Jetzt hatten wir drei
Weibchen u n d einen mit Testosteron vollgepumpten Hahn,
der jede wache M i n u t e mit einem der folgenden Dinge ver-
brachte: Sex anzetteln, Sex haben und angeberisch darüber
krähen, dass er gerade Sex gehabt hatte. Jenny stellte fest,
dass H ä h n e genau das seien, was M ä n n e r wären, wenn man
sie ihren Trieben überlassen würde, ohne soziale Konventi-
onen, die ihre niedrigen Instinkte zügeln. Ich musste ihr zu-
stimmen. Ich muss sogar zugeben, dass ich den glücklichen
Bastard irgendwie beneidete.
J e d e n M o r g e n ließen wir die H ü h n e r in den Garten hi-
naus, und Marley machte ein paar halbherzige Jagdversuche.
Er sprang bellend einige Sätze auf sie zu, dann ging ihm die
Puste aus und er musste aufgeben. Es war, als würde irgend-
ein genetischer Code tief in ihm drinnen zu ihm sagen: »Du
bist ein Retriever; das sind Vögel. Meinst du nicht, dass es
eine gute Idee wäre, sie zu jagen?« Aber er war nicht mit
ganzem H e r z e n dabei. Bald hatten die H ü h n e r gelernt, dass
dieses trampelnde hellbraune M o n s t e r keine Bedrohung dar-
stellte, eher ein geringfügiges Ärgernis, und Marley lernte,
den Garten mit diesen neuen gefederten Eindringlingen zu
teilen. Eines Tages sah ich vom Unkrautjäten auf und beob-
achtete eine merkwürdige Szene: Marley und die H ü h n e r
kamen einträchtig in einer Reihe auf mich zu, die H ü h n e r
pickten hier und da, Marley schnüffelte herum. Sie sahen
aus wie alte Freunde auf einem Sonntagsspaziergang. »Wie
kannst du das nur mit deinem Stolz als Jagdhund vereinba-
ren?«, schimpfte ich ihn. Marley h o b ein Bein an einer Toma-
tenpflanze, dann beeilte er sich, zu seinen neuen Freunden
aufzuschließen.
VIERUNDZWANZIG

Die Häufchenecke

E in Mensch kann einiges von einem alten H u n d lernen.


Als die Monate vergingen und seine Unpässlichkeiten
zunahmen, brachte Marley uns viel über die unentrinnbare
Endlichkeit des Lebens bei. J e n n y und ich waren noch r e -
lativ jung. W i r hatten kleine Kinder, waren bei guter G e -
sundheit, und unsere Rente lag noch in unvorstellbar wei-
ter Ferne. W i r hätten den Lauf der Zeit o h n e weiteres
verdrängen und so tun können, als könnten uns die J a h r e
nichts anhaben. Aber Marley ließ uns dieses Verleugnen der
Tatsachen nicht durchgehen. W i r sahen, wie er allmählich
alt, grau und taub wurde, und es hatte keinen Sinn, seine
Sterblichkeit zu leugnen - und damit auch unsere. Das Alter
holt uns alle irgendwann ein, aber bei einem H u n d geht es
atemberaubend und ernüchternd schnell. In der kurzen Zeit-
spanne von zwölf Jahren hatte sich Marley von einem quir-
ligen Welpen erst in einen linkischen Jungspund, dann in
einen muskulösen, ausgewachsenen H u n d und n u n in einen
tattrigen Greis verwandelt. Ein Hundejahr entspricht etwa
sieben Menschenjahren, das hieß, dass er inzwischen auf die
neunzig zuging.
Seine einst blendend weißen Z ä h n e waren mit der Zeit
zu bräunlichen Stümpfen geworden. Drei seiner vier F a n g -
zähne fehlten, er hatte sich einen nach dem anderen bei
seinen Panikattacken abgebrochen, wenn er versuchte, sich

281
den W e g in die Sicherheit freizubeißen. Sein Atem war noch
nie ganz frisch gewesen, inzwischen jedoch ließ er einen an
eine Mülltonne in der Sonne denken. Auf seine alten Tage
hatte Marley zudem noch eine Vorliebe für Hühnermist ent-
deckt, was die Sache nicht unbedingt besser machte. Zu un-
serer großen Abscheu schlang er das Z e u g hinunter, als sei
es Kaviar.
Seine Verdauung war auch nicht m e h r das, was sie einmal
gewesen war, und er stieß so viele Gase aus wie eine Methan-
fabrik. An manchen Tagen hätte ich schwören können, dass
das E n t z ü n d e n eines einzigen Streichholzes zu einer Gasex-
plosion geführt hätte. Marley konnte mit seiner stillschwei-
genden, tödlichen Flatulenz einen ganzen Raum leeren, und
irgendwie schien seine steigende Ausdünstung in direkter
Korrelation zu der Zahl unserer abendlichen Gäste zu ste-
hen. »Marley! N i c h t schon wieder!«, schrien unsere Kinder
unisono u n d flohen als Erste. Manchmal hielt er es selbst
nicht aus und flüchtete aus dem Zimmer. Er schlief friedlich,
bis der Gestank seine Nasenlöcher erreichte; dann schlug er
plötzlich die Augen auf u n d stellte die Augenbrauen schief,
als wollte er fragen: Großer Gott, wer war das? U n d dann
stand er auf und ging einfach ins nächste Zimmer.
W e n n er gerade keinen fahren ließ, war er draußen und
setzte Haufen. O d e r er beschäftigte sich zumindest mit der
Planung derselben. Die Suche nach dem perfekten O r t für
sein Geschäft war inzwischen zu einer zwanghaften Obses-
sion geworden. Jedes Mal, wenn ich ihn hinausließ, suchte
er länger und länger herum, wanderte vor und zurück, lief
im Kreis, schnüffelte, hielt wieder inne, kratzte am Boden,
drehte sich im Kreis, lief ein Stück weiter, immer mit einem
lächerlichen Grinsen im Gesicht. W ä h r e n d er so den Boden
nach dem Hundehaufenparadies absuchte, stand ich drau-
ßen, manchmal im Regen, manchmal im Schnee, manchmal

282
in der Dunkelheit, oft barfuß, u n d ab und zu sogar n u r in
Boxershorts. Ich wusste aus Erfahrung, dass ich ihn lieber
nicht alleine lassen sollte, damit er nicht plötzlich auf die
Idee kam, den Hügel hinaufzuwandern und seine H u n d e -
freunde in der Nachbarschaft zu besuchen.
Er machte sich einen Spaß daraus, abzuhauen. W e n n sich
eine Gelegenheit bot und er dachte, dass er damit davon-
kommen könnte, dann türmte er zur Grenze unseres G r u n d -
stücks. Na ja, türmen war vielleicht zu viel gesagt. E h e r
schnüffelte und schlurfte er von einem Busch zum nächsten,
bis er außer Sichtweite war. Eines N a c h t s ließ ich ihn spät
noch einmal vor dem Schlafengehen hinaus. Gefrorener Re-
gen fiel vom H i m m e l und hatte den Boden mit einer dünne n
Eisschicht überzogen. Ich drehte mich noch einmal um und
holte einen Regenumhang aus dem Schrank in der Diele.
Als ich einen Augenblick später auf den W e g hinaustrat, war
Marley nirgends zu sehen. Ich lief in den G a r t e n hinaus, pfiff
und klatschte in die H ä n d e . Dabei wusste ich, dass er mich
nicht hören konnte, unsere N a c h b a r n dagegen wahrschein-
lich schon. Zwanzig Minuten lang lief ich im Regen durch
die Gärten unserer Nachbarn; modisch hatte ich mir in mei-
nen Gummistiefeln, den Boxershorts und meinem Regen-
umhang nichts vorzuwerfen. Ich betete, dass nirgends eine
Außenbeleuchtung anspringen würde. Je länger ich suchte,
desto wütender wurde ich. Wohin zum Teufel hat er sich dies-
mal verkrümelt? Aber als die M i n u t e n vergingen, wurde aus
meiner W u t Sorge. Ich musste an diese Geschichten denken,
die man immer wieder in der Zeitung liest: von alten M ä n -
nern, die aus dem Altenheim verschwinden u n d dann drei
Tage später irgendwo am Straßenrand erfroren aufgefun-
den werden. Ich ging zurück nach Hause, stieg die Treppe
hinauf und weckte Jenny. »Marley ist verschwunden«, sagte
ich. »Ich kann ihn nirgends finden. Er ist da draußen im Eis-

283
regen.« Sie war sofort auf den Beinen, zog sich Jeans und
Pulli an und stieg in ihre Stiefel. Gemeinsam weiteten wir
unsere Suche aus. W ä h r e n d ich durch den dunklen Wald
irrte u n d halb damit rechnete, ihn irgendwo bewusstlos lie-
gen zu sehen, hörte ich, wie J e n n y pfeifend und lockend den
H ü g e l hinauflief. Schließlich kreuzten sich unsere Wege.
» U n d ? « , fragte ich. »Nichts«, antwortete Jenny.
W r waren vom Regen durchnässt, und meine nackten
Beine waren steif vor Kälte. » K o m m « , sagte ich zu ihr, »wir
gehen nach Hause und wärmen uns auf. D a n n mache ich
mich im Auto auf die Suche.« W i r gingen den Hügel hinun-
ter und unsere Auffahrt hinauf. Da sahen wir ihn unter dem
Vordach stehen, vor dem Regen geschützt und überglück-
lich, uns zu sehen. Ich hätte ihn umbringen können. Stattdes-
sen brachte ich ihn hinein und nibbelte ihn mit einem H a n d -
tuch ab. Die ganze Küche roch unverkennbar nach nassem
H u n d . Erschöpft von seiner nächtlichen Tour schlief Marley
sofort ein und rührte sich nicht bis zum nächsten Mittag.
Marleys Augen waren schlechter geworden. Inzwischen
konnten die Kaninchen wenige M e t e r vor ihm herumhop-
peln, ohne dass er sie bemerkte. Er verteilte überall seine
H a a r e und zwang J e n n y damit, jeden Tag Staub zu saugen -
und selbst das war noch zu wenig. Die Hundehaare krochen
in jede Spalte unseres Hauses, auf jedes Kleidungsstück im
Schrank und in unser Essen. Er hatte immer schon gehaart,
inzwischen jedoch waren aus den einzelnen Haaren ganze
Büschel geworden. W e n n er sich schüttelte, flog eine Wol-
ke auf und legte sich über seine U m g e b u n g . Eines Abends
lag ich auf dem Sofa vor dem Fernseher. Marley lag vor der
C o u c h auf dem Boden und ich strich ihm abwesend mit mei-
n e m nackten Fuß über die Hüfte. In der Werbepause sah ich
zu ihm hinunter und entdeckte einen Fellball von der Größe
einer Grapefruit auf dem Boden, gleich neben der Stelle,

284
wo ich ihn gestreichelt hatte. Haarwolken wanderten über
den Fußboden wie Pusteblumenflocken auf einer Wiese im
Wind.
Am meisten Probleme bereiteten ihm seine Hüften, u n d
bald versagten sie ihm gänzlich den Dienst. Arthritis hatte
sich in seine Gelenke geschlichen und bereitete ihm Schmer-
zen. D e r gleiche H u n d , auf dem ich früher Rodeo reiten
konnte, der mit seinen Schultern den ganzen Esszimmer-
tisch hochheben und durch das Z i m m e r schieben konnte,
dieser H u n d konnte n u n kaum noch aufstehen. Er seufzte
vor Schmerz, wenn er sich hinlegte, und seufzte wieder,
wenn er sich hochkämpfte. M i r war nicht klar, wie schwach
seine Hüftgelenke tatsächlich geworden waren, bis ich ihm
eines Tages die Seite tätschelte und seine Hinterbeine u n -
ter ihm einknickten, als hätte ihn gerade jemand umgerannt.
Er brach einfach zusammen. Es war schrecklich mit anzu-
sehen.
Es bereitete ihm immer größere Schwierigkeiten, die
Treppe in den ersten Stock hinaufzukommen, doch es fiel
ihm nicht im Traum ein, alleine unten zu schlafen, auch
nicht, als wir seinen Korb unten an die Treppe gestellt hat-
ten. Marley liebte Gesellschaft, er wollte immer dabei sein.
Er liebte es, den Kopf auf unsere Matratze zu legen und uns
ins Gesicht zu hecheln, während wir schliefen, er liebte es,
seinen Kopf durch den Duschvorhang zu stecken, wenn wir
badeten, um einen Schluck zu trinken, und er wollte damit
jetzt nicht aufhören. Jeden Abend, wenn J e n n y und ich in
unser Schlafzimmer gingen, machte er am Fuß der T r e p -
pe Theater, winselte, kläffte, tapste herum und versuchte
vorsichtig mit der Vorderpfote die erste Stufe zu nehmen,
während er M u t sammelte für den Aufstieg, der ihm früher
keinerlei M ü h e bereitet hatte. Ich stand oben an der Treppe
und ermunterte ihn: » K o m m schon, alter Junge. Du schaffst

285
das.« N a c h einigen Alinuten verschwand er dann immer um
die Ecke, um Anlauf zu nehmen, und dann sprang er herauf,
wobei er das meiste Gewicht mit den Vorderpfoten trug.
M a n c h m a l schaffte er es, manchmal musste er mittendrin
abbrechen und wieder zum Fuß der Treppe zurück und es
n o c h einmal versuchen. Am schlimmsten war es, wenn er
den H a l t verlor und hilflos auf dem Bauch wieder hinunter-
rutschte. Er war zu groß für mich, um ihn zu tragen, aber
schließlich folgte ich ihm auf der Treppe und hob sein H i n -
terteil jede Stufe hinauf, während er mit den Vorderpfoten
hochstieg.
N a c h d e m eine Treppe n u n solche Schwierigkeiten für ihn
bedeutete, dachte ich, dass Marley jedes Hinauf- und H i n u n -
tersteigen vermeiden würde. Aber so war es nicht. Offenbar
hätte das zu viel Vernunft von ihm gefordert. Ganz egal, wie
schwer der Aufstieg für ihn gewesen war, er folgte mir auf
dem Fuße, wenn ich hinunterging, um ein Buch zu holen
oder auch n u r um das Licht auszuschalten. Er schlitterte hin-
ter mir die Stufen hinunter und musste wenige Sekunden
später schon wieder den quälenden Aufstieg beginnen. Jenny
u n d ich gewöhnten uns an, uns an ihm vorbeizuschleichen,
wenn er es abends hinaufgeschafft hatte, damit er nicht in
die Versuchung kam, wieder hinter uns herzukommen. W i r
dachten, dass wir uns jetzt, wo er nicht m e h r gut hörte und
tiefer und länger schlief als jemals zuvor, ganz einfach an
i h m vorbeischleichen konnten. Aber er schien es immer zu
merken, wenn wir uns davongestohlen hatten. Ich lag bei-
spielsweise im Bett und las, während er neben dem Bett auf
d e m Boden schlief und laut schnarchte. Vorsichtig schob ich
die Bettdecke weg, stieg leise aus dem Bett und schlich auf
Zehenspitzen an ihm vorbei aus dem Zimmer. An der T ü r
drehte ich mich noch einmal um, um sicherzugehen, dass
ich ihn nicht gestört hatte. D o c h ich war n u r wenige Minu-

286
ten unten, da hörte ich schon seine schweren Tapser auf der
Treppe auf der Suche nach mir. Er war vielleicht taub und
halb blind, aber sein Radar schien noch vollkommen in O r d -
nung zu sein.
So ging es nicht nur abends, sondern den ganzen Tag. Ich
saß zum Beispiel am Küchentisch und las Zeitung, Marley
lag zu meinen Füßen. D a n n stand ich auf, um mir noch ei-
nen Kaffee aus der Kanne am anderen Ende der Küche zu
holen. Obwohl ich ja in Sichtweite blieb und gleich zurück-
kam, rappelte er sich mühevoll hoch und schlurfte herüber,
um bei mir zu sein. Aber sobald er sich gemütlich zu meinen
Füßen an der Kaffeemaschine niedergelassen hatte, kehrte
ich zum Küchentisch zurück und er folgte mir wieder und
rollte sich dort zusammen. W e n n ich dann wenig später h i -
nüber ins W o h n z i m m e r ging, um das Radio anzudrehen,
kämpfte er sich wieder hoch, schleppte sich hinter mir her,
drehte sich dann neben mir im Kreis und ließ sich genau
in dem M o m e n t mit einem Stöhnen auf den Boden fallen,
wenn ich wieder in die Küche zurückgehen wollte. So ging
das den ganzen Tag, nicht n u r bei mir, sondern auch bei J e n -
ny und den Kindern.
Als er alt wurde, hatte Marley gute und schlechte Tage. Es
gab auch gute und schlechte Augenblicke, die manchmal so
dicht beieinanderlagen, dass man kaum glauben konnte, dass
es derselbe H u n d war.
Eines Abends im Frühling 2002 ging ich mit Marley für
einen kurzen Spaziergang hinaus in den Garten. Es war eine
kühle, windige Nacht. Angestachelt von der kalten Luft
rannte ich los, und Marley, dem es wohl genauso ging, galop-
pierte neben mir her wie in alten Zeiten. Ich rief ihm sogar
noch zu: »Schau, Marley, du hast immer noch etwas vom
Welpen in dir!« W i r trabten zusammen zur H a u s t ü r zurück,
und er hechelte glücklich, mit hellwachen Augen. An der

287
Verandatreppe versuchte er dann verspielt die zwei Stufen
hinaufzuspringen, doch als er sich abstoßen wollte, versag-
ten ihm seine Hüften den Dienst, und plötzlich fand er sich
in einer höchst misslichen Lage wieder: die Vorderpfoten
oben auf dem Treppenabsatz, der Bauch auf den Stufen und
sein Hinterteil auf dem Weg. So blieb er einen Augenblick
liegen und sah mich an, als wüsste er gar nicht, wie er in eine
so peinliche Situation hatte geraten können. Ich pfiff und
schlug mir mit den H ä n d e n auf die Oberschenkel, um ihn
zu locken, und er ruderte verzweifelt mit den Vorderpfoten,
um vorwärtszukommen - aber vergeblich. Er konnte sein
Hinterteil nicht m e h r hochstemmen. » K o m m , Marley!«,
rief ich, aber er konnte einfach nicht. Schließlich packte ich
ihn unter den Schultern und drehte ihn zur Seite, damit er
alle vier Pfoten auf den Boden bekam. N a c h mehreren Fehl-
versuchen gelang es i h m schließlich, sich hinzustellen. Er
machte ein paar Schritte zurück und betrachtete dann auf-
merksam die Stufen. U n d dann lief er hinauf und ins Haus.
Von diesem Tag an hatte er kein Selbstvertrauen mehr beim
Treppensteigen; er traute sich nicht m e h r an diese beiden
kleinen Stufen heran, ohne unten T h e a t e r zu machen.
Kein Zweifel, es war bitter, alt zu werden. U n d es war
unwürdig.

Marley erinnerte mich daran, dass das Leben kurz war. Er


erinnerte mich an seine flüchtigen Freuden und verpassten
Gelegenheiten. U n d daran, dass jeder von uns nur einen
einzigen Schuss hat, ohne zweite Chance. Am einen Tag
schwimmst du noch weit ins M e e r hinaus und bist über-
zeugt, dass du heute eine Seemöwe fangen wirst, und am
nächsten kannst du dich gerade noch zu deiner Wasserschüs-
sel hinunterbeugen, um zu trinken. W i e der amerikanische
Freiheitskämpfer Patrick H e n r y und wie jeder andere auch,

288
hatte ich nur ein einziges Leben. Ich landete i m m e r öfter
bei derselben Frage: W i e in aller Welt konnte ich dieses L e -
ben in der Redaktion einer Gartenzeitschrift verbringen? Es
war nicht so, dass mir mein neuer J o b keine Befriedigung
verschaffte. Ich war stolz darauf, was ich aus der Zeitschrift
gemacht hatte. Aber ich vermisste die Tageszeitung schreck-
lich. Ich vermisste die Leute, die sie lasen, und die Leute,
die sie schrieben. Ich vermisste es, direkt am Tagesgesche-
hen zu sein, und das Gefühl, dass ich auf meine eigene be-
scheidene Weise eingreifen konnte. Ich vermisste den Adre-
nalinschub, wenn man unter Zeitdruck auf eine Deadline
hinarbeitete, und die Befriedigung, wenn ich am nächsten
Morgen in meiner Mailbox eine M e n g e E-Mails mit Bezug
auf meine Kolumne vorfand. Aber am meisten vermisste ich
es, Geschichten zu erzählen. Ich fragte mich, wie ich einen
J o b , der so perfekt zu mir passte, hatte aufgeben können,
um in den trüben Wassern einer Zeitschriftenredaktion zu
fischen, wo mir ein mageres Budget zur Verfügung stand,
wo ich auf Werbeanzeigen angewiesen war, wo ich mir über
die Neubesetzung von Stellen den Kopf zerbrechen und die
wenig ehrenhaften Redaktionsarbeiten hinter den Kulissen
erledigen musste. Als ein früherer Kollege von mir neben-
bei fallen ließ, dass der Philadelphia Inquirer einen Kolumnis-
ten suchte, ließ ich mir das nicht zweimal sagen. Kolumnis-
ten-Jobs sind sehr schwer zu bekommen, auch bei kleineren
Zeitungen. W e n n eine solche Stelle tatsächlich einmal frei
wird, dann ist sie meist schon intern vergeben, sozusagen
als anerkennende Geste für verdiente Kollegen, die sich als
Reporter bewährt haben. D e r Inquirer war ein angesehenes
Blatt, das im Laufe der Jahre siebzehn Pulitzer-Preise ge-
wonnen hatte und inzwischen zu den großen Zeitungen des
Landes gehörte. Ich war ein Fan dieser Zeitung, und nun
luden mich die Herausgeber des Inquirer zu einem Vorstel-

289
lungsgespräch ein. Ich würde für diesen J o b nicht einmal
umziehen müssen. Das Büro, in dem ich arbeiten würde, war
gerade mal fünfundvierzig M i n u t e n vom Autobahnknoten
Pennsylvania entfernt, eine zumutbare Strecke. Ich glaube
eigendich nicht an Wunder, aber es schien alles beinahe zu
perfekt, um wahr zu sein, wie eine göttliche Fügung.
Im N o v e m b e r 2002 tauschte ich meine Gärtnerklamot-
ten gegen einen Presseausweis des Philadelphia Inquirer ein.
Wahrscheinlich war das der glücklichste Tag in meinem Le-
ben. Ich war wieder da, wo ich hingehörte: als Kolumnist in
einer Zeitungsredaktion.

Ich war gerade ein paar M o n a t e im neuen J o b , als die ers-


ten schweren Schneestürme des Jahres 2003 niedergingen.
D e r Schnee kam an einem Sonntagabend, und als es am
nächsten Tag aufhörte zu schneien, lagen ungefähr achtzig
Zentimeter Schnee. Die Kinder gingen drei Tage nicht zur
Schule, während sich unsere kleine Gemeinde langsam aus
dem Schnee frei grub, und ich schickte meine Kolumnen
von zu Hause aus per E-Mail. Ich lieh mir von einem Nach-
barn eine Schneefräse und räumte unsere Auffahrt und ei-
nen kleinen Z u g a n g zur H a u s t ü r frei. Ich wusste, dass Mar-
ley niemals die h o h e Schneemauer überwinden und in den
Garten gelangen, geschweige denn im tiefen Schnee neben
dem Pfad vorwärtskommen könnte, deshalb räumte ich ihm
seine eigene Toilette frei, die Häufchenecke, wie die Kin-
der sie tauften. Es war ein kleiner freier Platz gleich neben
der Auffahrt, wo er sein Geschäft verrichten konnte. Doch
als ich ihn nach draußen rief, um die neuen Räumlichkei-
ten auszuprobieren, stand er nur auf der kleinen geräumten
Fläche h e r u m u n d schnüffelte argwöhnisch am Schnee. Er
hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, welcher Platz ge-
eignet war, um dort seine Notdurft zu verrichten, und das

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hier entsprach ganz offensichtlich überhaupt nicht seinen
Vorstellungen. Er war bereit, hier sein Bein zu heben, um
zu markieren, aber das war auch wirklich das äußerste Z u g e -
ständnis. Ich soll hier einfach einen Haufen hinsetzen? Direkt vor
eurem Fenster? Das ist doch wohl nicht dein Ernst! D a m i t drehte
er sich um und kletterte mit Schwung die rutschigen Stufen
hinauf, dann trottete er ins H a u s zurück.
N a c h dem Abendessen ließ ich ihn wieder hinaus, und
diesmal konnte Marley sich den Luxus des Wartens nicht
mehr erlauben. Er musste einfach. Nervös lief er den ge-
räumten W e g auf und ab, in die Häufchenecke und wie-
der hinaus auf die Auffahrt, er schnüffelte im Schnee und
kratzte mit der Vorderpfote auf dem gefrorenen Boden
herum. Nein, hier geht es einfach nicht. Bevor ich ihn zurück-
halten konnte, schaffte er es irgendwie, auf die gefrorene
Schneemauer hinaufzuklettern, die die Schneefräse zusam-
mengeschoben hatte, und kämpfte sich durch den G a r t e n
in Richtung der weißen Kiefern, die zwanzig M e t e r entfernt
standen. Ich konnte es nicht glauben: mein arthritischer, al-
tersschwacher H u n d war auf einer alpinen Schnee tour unter-
wegs. Alle paar Schritte brach seine Hüfte ein und er sank
in den Schnee, wo er ein paar Augenblicke auf dem Bauch
ausruhte und sich dann wieder aufrappelte und weiter vor-
ankämpfte. Langsam u n d schmerzvoll arbeitete er sich im
tiefen Schnee voran, indem er sich mit seinen noch immer
kräftigen Schultern vorwärtszog. Ich stand in der Auffahrt
und überlegte, wie ich ihn retten konnte, wenn er irgend-
wann endgültig festsaß und nicht m e h r weiterkam. D o c h er
stapfte unverdrossen weiter und schaffte es schließlich bis
zur ersten Kiefer. Plötzlich wusste ich, was er vorhatte. D i e -
ser H u n d verfolgte einen Plan. U n t e r den dichten Zweigen
der Kiefer war der Schnee nur ein paar Zentimeter tief. D e r
Baum hatte den Effekt eines Regenschirms, und unter den

291
Asten konnte sich Marley frei bewegen und bequem genau
da seinen Haufen setzen, wo es ihm gefiel. Ich musste zuge-
ben, dass das ein absolut brillanter Plan war. Er lief im Kreis
und schnüffelte und kratzte wie immer, um einen würdigen
Schrein für sein tägliches Opfer zu finden. D a n n verließ er
das zu meinem größten Erstaunen gemütliche überdachte
Plätzchen und sprang zurück in den tiefen Schnee auf dem
W e g zur nächsten Kiefer. D e r erste Platz war in meinen Au-
gen perfekt gewesen, aber er entsprach offenbar nicht Mar-
leys h o h e n Ansprüchen.
M i t Ach u n d Krach erreichte er den zweiten Baum, aber
wieder befand er den Platz unter dessen Zweigen nach ein-
gehender Prüfung für ungeeignet. U n d so machte er sich
zum dritten Baum auf, und zum vierten und zum fünften.
M i t jedem Mal entfernte er sich weiter von der Auffahrt.
Ich versuchte ihn zurückzurufen, obwohl ich wusste, dass er
mich nicht hören konnte. »Marley, du wirst stecken bleiben,
du Dummkopf!«, schrie ich. Aber er pflügte weiter wild ent-
schlossen durch den Schnee. Dieser H u n d hatte eine Mis-
sion. Schließlich erreichte er den letzten Baum auf unserem
Grundstück, eine große Fichte mit einem dichten Dach aus
Zweigen. Sie stand ganz in der N ä h e der Haltestelle, wo die
Kinder immer in den Schulbus einstiegen. D o r t fand er end-
lich das Stück gefrorene Erde, nach dem er so lange gesucht
hatte, abgeschirmt und nur leicht mit Schnee bepudert. Er
drehte sich ein paar Mal im Kreis und hockte sich dann äch-
zend auf seine alten, lahmen, arthritischen Hinterläufe. End-
lich konnte er sich erleichtern. Heureka!
N a c h d e m er diese Mission erfolgreich beendet hatte,
machte er sich auf den langen, beschwerlichen Heimweg.
W ä h r e n d er sich durch den Schnee kämpfte, winkte ich mit
den Armen und klatschte in die H ä n d e , um ihn anzuspor-
nen. »Weiter so, Junge! Du schaffst es!« Aber ich konnte se-

292
hen, wie er müde wurde, und er hatte immer noch ein langes
Stück W e g vor sich. » G i b jetzt nicht auf!«, schrie ich. Aber
er schaffte es nicht weiter als zehn M e t e r an die Auffahrt
heran. D a n n war er am Ende seiner Kräfte. Er blieb stehen
und legte sich erschöpft in den Schnee. Marley sah nicht
verzweifelt aus, aber er war auch nicht glücklich. Er warf
mir einen sorgenvollen Blick zu. Was machen wir jetzt, Boss?
Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte zwar durch den Schnee
zu ihm waten, aber was dann? Er war zu schwer für mich,
um ihn zu tragen. Ich stand noch ein paar M i n u t e n rufend
und lockend da, aber Marley rührte sich nicht von der Stelle.
»Halt durch«, sagte ich zu ihm, »ich ziehe mir n u r schnell
meine Stiefel an, und dann hole ich dich.« M i r war die Idee
gekommen, dass ich ihn auf den Schlitten hieven u n d damit
zum Haus zurückziehen konnte. Sobald er mich mit d e m
Schlitten k o m m e n sah, war mein Plan hinfällig. Er sprang
auf, voller neuer Energie. M i r fiel n u r eine Erklärung dafür
ein: Er erinnerte sich wohl an unsere unrühmliche Schlitten-
fahrt durch den Wald und das Ufer hinunter und hoffte auf
eine Wiederholung. Er kam auf mich zugesprungen wie ein
Dinosaurier in einer Teergrube. Ich watete in den Schnee
und stampfte dabei einen Pfad für ihn, während er mir ent-
gegenkam. Schließlich kletterten wir beide über die Schnee-
mauer auf die Auffahrt zurück. Er schüttelte den Schnee
ab und schlug mit dem Schwanz gegen mein Knie, tapste
herum wie ein junger H u n d und sah so stolz und draufgän-
gerisch aus wie ein Abenteurer, der gerade von einem Trip
durch die Wildnis zurückgekehrt ist. W i e hatte ich auch n u r
einen M o m e n t daran zweifeln können, dass er es schaffen
würde!
Am nächsten M o r g e n räumte ich einen schmalen Pfad zu
der Fichte am Ende unseres Grundstücks für ihn frei, und
Marley kürte diesen Platz für den Rest des W i n t e r s zu seiner

293
privaten Toilette. Diese Krise war bewältigt, aber nun stellte
sich eine beunruhigendere Frage: W i e lange konnte er noch
so weitermachen? U n d wann würden die Schmerzen und
Erniedrigungen des Alters seine einfache Freude, die er an
jedem verschlafenen, faulen Tag fand, übertreffen?
FÜNFUNDZWANZIG

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit

A ls die Sommerferien da waren, packte J e n n y die Kin-


der in den Minivan und fuhr mit ihnen für eine W o -
che nach Boston zu ihrer Schwester. Ich blieb zu Hause, um
zu arbeiten. Das hätte bedeutet, dass Marley alleine blieb,
niemand hätte ihm Gesellschaft geleistet, niemand ihn hi-
nausgelassen. Von den vielen kleineren Gebrechen, die das
Alter mit sich brachte, schien ihn die mangelhafte Kontrolle
über D a r m und Blase am meisten zu stören. Marley hatte
sich in all den Jahren in vieler Hinsicht schlecht benommen ,
aber seine Toilettengewohnheiten waren immer tadellos ge-
wesen. Es war das Einzige an Marley gewesen, womit wir
hatten angeben können. Seit er ein paar M o n a t e alt war, war
ihm niemals, kein einziges Mal, ein Missgeschick im H a u s
passiert, auch nicht, wenn wir ihn mal mehrere Stunden al-
lein gelassen hatten. W i r witzelten immer, dass seine Blase
aus Stahl und sein D a r m aus Stein sein mussten.
Das war in den letzten M o n a t e n anders geworden. N u n
brauchte er schon nach ein paar Stunden eine Pinkelpause.
W e n n er musste, musste es sofort sein, und wenn wir nicht
zu Hause waren, um ihn hinauszulassen, dann blieb ihm
nichts anderes übrig, als sein Geschäft im H a u s zu verrich-
ten. Es war schrecklich für ihn, wenn ihm das passierte, u n d
wir wussten in dem M o m e n t , wenn wir das H a u s betraten,
was los war. Anstatt uns ausgelassen an der T ü r zu begrüßen,

295
wie es sonst seine Art war, stand er mit hängendem Kopf
und eingeklemmtem Schwanz ganz hinten im Zimmer und
strahlte aus jeder P o r e aus, wie peinlich ihm die Geschichte
war. W i r bestraften ihn nie deswegen. W i e hätten wir das
auch tun können? Er war beinahe dreizehn Jahre alt, viel
älter wurden Labradors nicht. W i r wussten, dass er nichts
dagegen tun konnte, und er schien es auch zu wissen. Ich
bin sicher, wenn er hätte reden können, dann hätte er uns
erklärt, dass er wirklich versucht hatte, dichtzuhalten.
J e n n y kaufte einen Dampfreiniger für den Teppich, und
wir glichen unsere Termine so ab, dass wir ihn nie länger
als ein paar Stunden alleine lassen mussten. Jenny ging von
der Schule, wo sie aushalf, zwischendurch nach Hause, um
ihn hinauszulassen. Ich verließ Abendesseneinladungen zwi-
schen d e m H a u p t g a n g und dem Dessert, um mit ihm einen
Spaziergang zu machen, den Marley natürlich so lange wie
möglich in die Länge zog, indem er herumschnüffelte und
im G a r t e n im Kreis herumlief. Unsere Freunde zogen uns
schon damit auf, wer der eigentliche H e r r im Hause Grogan
war.
W e n n J e n n y und die Kinder nun in Boston waren, hieß
das für mich, dass ich lange arbeiten konnte. Das war meine
Chance, nach der Arbeit noch in der Gegend herumzufahren
u n d die Städtchen u n d O r t e zu erkunden, über die ich nun
in meinen K o l u m n e n schrieb. Zusammen mit meinem wei-
ten H e i m w e g würde ich zehn bis zwölf Stunden außer Haus
sein. Es stand außer Frage, dass Marley nicht so lange allein
bleiben konnte, nicht einmal halb so lange. W i r beschlos-
sen daher, ihn in der örtlichen Hundepension einzumieten,
wo er jeden Sommer während unseres Urlaubs wohnte. Die
H u n d e p e n s i o n war an eine große Tierklinik angegliedert,
die professionelle tierärztliche Hilfe anbot, wenn auch nicht
den persönlichsten Service. Jedes Mal, wenn wir dort hin-

296
kamen, trafen wir einen anderen Arzt, der nichts von Marley
wusste außer den Fakten, die in seiner Karte standen. Oft
erfuhren wir noch nicht einmal die N a m e n der Arzte. Im
Gegensatz zu unserem geliebten Dr. Jay, der Marley beinahe
so gut gekannt hatte wie wir und im Laufe der Jahre ein gu-
ter Freund unserer Familie geworden war, waren diese Arzte
Fremde - zwar kompetente Fremde, aber eben Fremde. M a r -
ley schien das egal zu sein.
»Mallie geht Hundehotel.'«, kreischte Colleen, und M a r -
ley spitzte die O h r e n , als ob ihm diese Aussicht gefiele. W i r
machten Witze über das Freizeitangebot, das ihm dort ge-
boten würde: von neun U h r bis zehn U h r Löcherbuddeln,
anschließend eine Stunde Kissenzerfetzen, von elf U h r bis
Mittag Abfalldurchwühlen und so weiter. Ich lieferte ihn am
Sonntagabend dort ab und hinterließ meine H a n d y n u m m e r
am Empfang. Marley wirkte immer etwas angespannt, wenn
er irgendwo abgegeben wurde, sogar in der vertrauten U m -
gebung von Dr. Jays Praxis, und ich machte mir i m m e r ein
wenig Sorgen um ihn. N a c h jedem Besuch wirkte er ein biss-
chen magerer, seine Schnauze war oft wund vom vielen Rei-
ben an den Gitterstäben seines Zwingers, und wenn er nach
Hause kam, legte er sich in einer Ecke auf den Boden und
fiel für mehrere Stunden in Tiefschlaf, als wäre er die ganze
Zeit über schlaflos auf und ab gewandert.
Am darauffolgenden Dienstag war ich gerade in der
N ä h e der Independence Hall in der Innenstadt von Phila-
delphia, als mein H a n d y klingelte. »Bleiben Sie bitte dran,
Dr. Soundso möchte mit Ihnen sprechen«, sagte die D a m e
von der Hundepension. Es war wieder eine Tierärztin, de-
ren N a m e n ich noch nie gehört hatte. Wenige Sekunden
später war sie am Apparat. » W i r haben einen Notfall mit
Marley«, sagte sie.
M i r rutschte das H e r z in die Hose. »Einen Notfall?«

297
Die Arztin erklärte, dass Marleys M a g e n von Futter, Was-
ser u n d Luft angeschwollen war und sich dann überdehnt
um sich selbst gedreht hatte. Dabei war sein Mageninhalt
eingeklemmt worden. Als die Gase und der übrige Inhalt
nirgendwohin entweichen konnten, war sein Bauch schmerz-
voll angeschwollen. M a n nannte diesen lebensbedrohlichen
Zustand einen Torsio ventriculi, eine Magendrehung. In den
meisten Fällen war eine Operation notwendig, erklärte sie,
und wenn man den H u n d nicht behandelte, könnte er inner-
halb weniger Stunden sterben.
Sie sagte, sie habe eine Sonde durch seine Speiseröhre
eingeführt und so einen Großteil der Gase abgeleitet, die
sich in seinem M a g e n gebildet hatten. Die Schwellung war
daraufhin zurückgegangen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie
den M a g e n zurückgedreht, oder wie sie es nannte, entdreht.
Marley war noch in Narkose und schlief friedlich.
»Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«, fragte ich vor-
sichtig.
»Aber nur vorübergehend«, erklärte die Ärztin. »Wir ha-
ben die unmittelbare Krise abgewendet, aber wenn sich der
M a g e n einmal so gedreht hat, dann tut er es meistens wie-
der.«
» W i e meistens?«, fragte ich.
»Ich würde schätzen, seine Chancen stehen eins zu hun-
dert, dass sich sein M a g e n nicht noch einmal dreht«, sagte
sie. Eins zu hundert? Um Gottes willen! Er hat bessere Chancen,
in Harvard aufgenommen zu werden!
»Eins zu hundert? N i c h t mehr?«
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Sein Zustand ist sehr
ernst.«
W e n n sich sein M a g e n wieder drehte - und sie sagte ja,
dass das sicher passieren würde -, dann hatten wir zwei M ö g -
lichkeiten. Die erste war, ihn operieren zu lassen. Die Ärztin

298
sagte, sie würde Marley aufschneiden und seinen M a g e n an
der W a n d der Bauchhöhle befestigen, damit er sich nicht
wieder drehen konnte. »Die Operation kostet ungefähr zwei-
tausend Dollar«, fügte sie hinzu. Ich schluckte. » U n d es han-
delt sich hier um einen sehr schweren Eingriff. Für einen
H u n d in seinem Alter wird das nicht einfach.« Marley wür-
de sich lange davon erholen müssen, wenn er die Operation
überhaupt überstand. Manchmal überlebten ältere H u n d e
einen so schweren Eingriff nicht, erklärte sie.
»Wenn er vier oder fünf Jahre alt wäre, dann würde ich
auf jeden Fall für eine Operation plädieren«, sagte sie. »Aber
in seinem Alter müssen Sie sich wirklich überlegen, ob Sie
ihm das noch antun wollen.«
»Nicht wenn wir es vermeiden können«, antwortete ich.
»Was ist die zweite Möglichkeit?«
»Die zweite Möglichkeit ist«, und dabei zögerte sie n u r
unmerklich, »ihn einzuschläfern.«
» O h « , sagte ich.
Es fiel mir schwer, das alles richtig einzuordnen. N o c h
vor fünf Minuten war ich zur Freiheitsglocke gewandert
und hatte gedacht, Marley würde sich frohen M u t e s in der
Hundepension entspannen. Jetzt musste ich entscheiden, ob
er leben oder sterben sollte. Ich hatte noch nie etwas von
dieser Magenkomplikation gehört. Später erfuhr ich, dass
eine Magendrehung bei bestimmten Rassen recht häufig vor-
kommt, vor allem bei solchen mit breitem Brustkorb wie
bei Marley. H u n d e , die ihr Futter in wenigen Bissen h i n u n -
terschlangen - wieder wie Marley -, hatten ebenfalls ein er-
höhtes Risiko. M a n c h e Hundebesitzer behaupten, es gäbe
einen Zusammenhang zwischen dem Stress, dem ein H u n d
in einer Hundepension ausgesetzt ist, und den Blähungen,
aber später hörte ich, wie ein Professor der Tiermedizin er-
klärte, seine Forschungen hätten keinen Anhaltspunkt für

299
solche T h e o r i e n erbracht. Die Tierärztin am Telefon bestä-
tigte zwar, dass Marleys Aufregung mit all den anderen H u n -
den den Vorfall ausgelöst haben könnte. W i e immer hatte er
sein Futter hinuntergeschlungen und dabei heftig gehechelt
u n d gesabbert, aufgehetzt von den vielen anderen H u n d e n
um ihn herum. Sie n a h m an, dass Marley dabei so viel Luft
und Sabber geschluckt hatte, dass sich sein Magen endang
der Längsachse ausgedehnt und so eine Magendrehung be-
günstigt hatte. » K ö n n e n wir nicht einfach abwarten, wie es
ihm geht?«, fragte ich. »Vielleicht dreht sich sein Magen ja
nicht noch einmal.«
»Das tun wir gerade«, antwortete sie. »Abwarten und be-
obachten.« Sie wiederholte die Eins-zu-hundert-Chance
und fügte hinzu: » W e n n sich sein M a g e n wieder dreht, brau-
che ich eine schnelle Entscheidung von Ihnen. Ich kann ihn
nicht leiden lassen.«
»Ich muss mit meiner Frau darüber sprechen«, sagte ich.
»Ich rufe Sie zurück.«
Ich erreichte J e n n y auf dem Handy, als sie gerade mit den
Kindern auf einem überfüllten Ausflugsschiff in Boston Har-
bor unterwegs war. Im H i n t e r g r u n d hörte ich den Schiffsmo-
tor b r u m m e n und die Stimmen des Touristenführers durch
die Lautsprecher dröhnen. Die Verbindung war schlecht,
keiner von uns konnte den anderen richtig verstehen. Ich
schrie in mein Handy, damit sie mich verstehen konnte.
Aber bei ihr kamen n u r Satzfetzen an. Marley ... Notfall ...
M a g e n ... Operation ... einschläfern.
D a n n war es still am anderen E n d e der Leitung. »Hal-
lo?«, rief ich. »Bist du noch dran?«
»Ja«, antwortete Jenny. D a n n war sie wieder still. W i r
hatten beide gewusst, dass dieser Tag einmal kommen wür-
de; wir hatten nur nicht damit gerechnet, dass es heute sein
würde. N i c h t wenn sie u n d die Kinder unterwegs waren und

300
sich noch nicht einmal von Marley verabschieden konnten.
Nicht wenn ich neunzig M i n u t e n entfernt in Philadelphia
unterwegs war und geschäftliche Verpflichtungen hatte. Am
Ende unseres Gesprächs, oder vielmehr am E n d e unseres
bedeutungsvollen Schweigens, war klar, dass wir keine W a h l
hatten. Die Tierärztin hatte Recht. Marley baute in jeder
Hinsicht ab. Es wäre grausam, ihm eine schwere O p e r a -
tion anzutun, um zu versuchen, das Unvermeidbare hinaus-
zuschieben. Außerdem konnten wir die immensen Kosten
nicht einfach ignorieren. Es schien unanständig, beinahe u n -
moralisch, so viel Geld für einen alten H u n d auszugeben,
der ohnehin nicht mehr lange leben würde, wenn gleichzei-
tig jeden Tag unerwünschte H u n d e eingeschläfert wurden,
weil sie kein Zuhause fanden, oder, noch viel gravierender,
Kinder auf der ganzen Welt nicht ausreichend medizinisch
versorgt werden konnten, weil die finanziellen Mittel fehl-
ten. W e n n Marleys Zeit gekommen war, dann konnten wir
nichts daran ändern, und wir mussten dafür Sorge tragen,
dass er würdig und ohne zu leiden aus dem Leben schied.
W i r wussten, dass es die richtige Entscheidung war, den-
noch war keiner von uns beiden bereit, ihn zu verlieren.
Ich rief die Tierärztin zurück und teilte ihr unsere E n t -
scheidung mit. »Seine Z ä h n e sind sehr schlecht, er ist stock-
taub und seine Hüften sind so schlimm geworden, dass er
kaum noch die zwei Stufen zur Veranda h o c h k o m m t « , er-
klärte ich ihr, als ob ich sie überzeugen müsste. » E r kann
sich nicht mehr richtig hinhocken, wenn er sein Geschäft
machen muss.«
Die Tierärztin, Dr. Hopkinson, wie ich inzwischen wusste,
machte es mir einfach. »Ich glaube, es ist Zeit«, sagte sie.
»Ja, wahrscheinlich«, meinte ich, aber ich wollte nicht,
dass sie ihn einschläferte, ohne mir vorher Bescheid zu sa-
gen. W e n n möglich, wollte ich bei ihm sein. » U n d « , erin-

301
nerte ich sie, »ich baue noch immer auf dieses Eins-zu-hun-
dert-Wunder!«
»Lassen Sie uns in einer Stunde noch einmal telefonie-
ren«, sagte sie.
Eine Stunde später klang Dr. Hopkinson ein wenig op-
timistischer. Marleys Zustand war stabil. Er schlief noch
immer, mit einer Infusion am Vorderbein. Sie gab ihm nun
schon fünf Prozent Chancen. »Aber ich möchte nicht, dass
Sie sich falsche Hoffhungen machen«, sagte sie. » E r ist ein
sehr kranker H u n d . «
Am nächsten M o r g e n klang sie fröhlicher. » E r hatte eine
gute N a c h t « , sagte sie. Als ich mittags wieder anrief, hatte sie
die Infusion entfernt u n d ihm eine Mischung aus Reis und
Fleisch vorgesetzt. » E r ist völlig ausgehungert«, erklärte sie.
Bei meinem nächsten Anruf war er schon auf den Beinen.
» G u t e Nachrichten«, sagte die Arztin. »Einer unserer Tier-
arzthelfer war gerade mit ihm draußen, und er hat sein klei-
nes und großes Geschäft gemacht.« Ich jubelte ins Telefon,
als hätte er gerade den ersten Platz auf einer Hundeschau
gemacht. D a n n fügte sie hinzu: » E r fühlt sich wohl besser.
Er hat mir gerade einen dicken, nassen Kuss gegeben.« Yep,
das war unser Marley.
»Ich hätte das gestern nicht für möglich gehalten«, sagte
die Ärztin, »aber ich denke, Sie können ihn morgen mit
nach Hause n e h m e n . « U n d genau das tat ich am nächsten
Abend nach der Arbeit. Er sah furchtbar aus, schwach und
abgemagert, seine Augen waren trüb und verklebt. Er sah
aus, als hätte er eine Reise in den Tod und zurück gemacht.
U n d irgendwie stimmte das ja auch. Ich muss ebenfalls ein
wenig blass ausgesehen haben, nachdem ich die 800-Dollar-
R e c h n u n g bezahlt hatte. Als ich mich bei der Arztin für ihre
Hilfe bedankte, meinte sie: »Alle hier lieben Marley. W i r
haben alle um ihn gebangt.«

302
Ich brachte ihn zum Auto, meinen E i n s - z u - h u n d e r t - W u n -
derhund, und sagte zu ihm: » K o m m , wir bringen dich nach
Hause, wo du hingehörst.« Er stand einfach da und betrach-
tete traurig den Rücksitz, denn er wusste genau, dass er sich
genauso gut die Besteigung des Olymps hätte v o r n e h m e n
können. Er versuchte noch nicht einmal, hinaufzuspringen.
Ich rief einen Mitarbeiter der H u n d e p e n s i o n und er half
mir, Marley behutsam ins Auto zu heben. D a n n fuhr ich ihn
nach Hause, zusammen mit einer Kiste voll Medizin und
strengen Anweisungen. Marley durfte nie wieder eine große
Portion Hundefutter auf einmal hinunterschlingen oder u n -
begrenzte M e n g e n Wasser in sich hineinschlürfen. Die Z e i -
ten, in denen er in der Badewanne mit der Schnauze U - B o o t
gespielt hatte, waren vorbei. Von nun an musste er täglich
vier kleine Mahlzeiten bekommen und durfte n u r eine be-
grenzte M e n g e Wasser trinken - pro Mahlzeit nicht m e h r
als eine halbe Tasse. Die Arztin hoffte, dass sein M a g e n auf
diese Weise stabil bleiben und sich nicht wieder aufblähen
und drehen würde. Marley durfte auch nie m e h r in einer gro-
ßen Hundepension mit vielen bellenden H u n d e n um ihn h e -
rum untergebracht werden. Ich war überzeugt, dass das der
auslösende Faktor für seine kurze Bekanntschaft mit dem
Tod gewesen war, und Dr. Hopkinson stimmte mir zu.

Als ich ihn an diesem Abend nach Hause gebracht hatte,


breitete ich einen Schlafsack neben ihm auf dem Boden im
Wohnzimmer aus. Er würde die Treppe in den ersten Stock
nicht schaffen, und ich brachte es nicht fertig, ihn allein u n d
hilflos hier unten zurückzulassen. Ich wusste, dass er sich
die ganze N a c h t aufregen würde, wenn er nicht bei mir war.
»Marley, ich schlafe heute N a c h t mal bei dir!«, verkündete
ich und legte mich neben ihn. Ich streichelte ihn vom Kopf
bis zum Schwanz, bis große Fellwolken von seinem Rücken

303
aufstiegen. Ich wischte ihm die verklebten Augen sauber
u n d kraulte ihm die O h r e n , bis er vor Genuss seufzte. Jenny
würde am nächsten M o r g e n mit den Kindern nach H a u -
se kommen; dann würde sie ihn mit regelmäßigen kleinen
Mahlzeiten aus gekochtem Hackfleisch und Reis verwöh-
nen. Es hatte dreizehn Jahre gedauert, aber schließlich hatte
sich Marley doch noch Menschenfutter verdient, und zwar
keine Reste, sondern eine extra für ihn gekochte Mahlzeit.
Die Kinder würden ihn stürmisch umarmen, ohne zu wis-
sen, wie knapp es gewesen war, dass sie ihn nie wiedergese-
hen hätten.
M o r g e n würde das H a u s wieder laut und voller ungestü-
m e n Lebens sein. Aber heute N a c h t waren Marley und ich
allein. Als ich so neben ihm lag und seinen streng riechen-
den Atem im Gesicht spürte, musste ich an unsere erste ge-
meinsame N a c h t vor vielen Jahren denken, als ich ihn vom
Züchter nach Hause gebracht hatte, ein winziger Welpe, der
nach seiner M u t t e r winselte. Ich erinnerte mich, wie ich sei-
ne Kiste ins Schlafzimmer getragen hatte und wie wir beide
eingeschlafen waren, wie mein Arm über die Bettkante hing,
um ihn zu trösten. Dreizehn Jahre später lagen wir hier, im-
m e r n o c h unzertrennlich. Ich dachte an seine Welpenzeit
und seine Jugendjahre zurück, an die zerfetzten Sofas und
die aufgefressenen Matratzen, an die wilden Spaziergänge
am M e e r und die W a n g e - a n - W a n g e - T ä n z e vor unserer
d r ö h n e n d e n Stereoanlage. Ich dachte an die verschluckten
Gegenstände und die gestohlenen Gehaltsschecks, und an
die schönen, einfühlsamen M o m e n t e zwischen Mensch und
H u n d . Vor allem dachte ich daran, was für ein guter und
treuer Begleiter er all die Jahre gewesen war. U n d was für
eine Reise wir zusammen hinter uns hatten.
» D u hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Alter«,
flüsterte ich, als er sich neben mir ausstreckte und mir seine

304
Schnauze unter den Arm schob, damit ich ihn weiterkraulte.
»Es ist schön, dich wieder daheim zu haben.«
Seite an Seite schliefen wir auf dem Boden ein, sein H i n -
terteil lag halb auf meinem Schlafsack, mein A r m auf seinem
Rücken. Ich wachte einmal auf, weil er mit den Pfoten zuck-
te und im Traum leise vor sich hin wuffte. Ich stellte mir vor,
dass er davon träumte, wieder jung und stark zu sein. U n d so
schnell rannte, als gäbe es kein M o r g e n .
SECHSUNDZWANZIG

Geborgte Zeit

I n den nächsten W o c h e n erholte sich Marley zusehends. Er


hatte wieder dieses spitzbübische Glitzern in den Augen,
seine Schnauze war wieder kalt und feucht, und er bekam
wieder etwas Fleisch auf die Knochen. M a n sah ihm nicht
m e h r an, was er durchgemacht hatte. Er war damit zufrie-
den, seine Tage zu verdösen, am liebsten vor der Glastür im
Wohnzimmer, wo die Sonne hereinfiel und sein Fell wärmte.
W e g e n seiner neuen Diät, die kleine Mahlzeiten vorschrieb,
war er andauernd hungrig und bettelte und klaute noch viel
unverfrorener Essen als je zuvor. Eines Abends erwischte
ich ihn allein in der Küche, als er mit den Vorderpfoten auf
dem Küchentisch stand und Reiscrisps von einem Serviertel-
ler stahl. Keine Ahnung, wie er mit seinen kaputten Hüften
dort hinauf gekommen war. Gebrechen hin oder her, wenn
der Wille rief, dann gehorchte Marleys Körper. Ich hätte ihn
am liebsten umarmt, so froh war ich über diese unvermutete
Demonstration körperlicher Fitness.
D e r Schrecken, den uns Marley in jenem Sommer ein-
gejagt hatte, hätte J e n n y und mich eigendich aufrütteln
müssen. Aber wir verdrängten den Gedanken an Marleys
fortgeschrittenes Alter weiterhin und waren bald wieder bei
der bequemen Annahme angelangt, dass es ein einmaliger
Vorfall gewesen war und er seine ewige Wanderung in den
Sonnenuntergang wieder aufnehmen konnte. Ein Teil von

306
uns hoffte, dass er immer so weitermachen könnte. Trotz
all seiner Gebrechen war er immer noch derselbe fröhliche,
unbeschwerte H u n d . Jeden M o r g e n nach seinem Frühstück
trabte er ins Wohnzimmer, um das Sofa als riesiges Taschen-
tuch zweckzuentfremden. Er lief daran entlang, rieb sich die
Schnauze am Bezug ab und warf die Kissen herunter. D a n n
drehte er um und wiederholte das Ganze mit der anderen
Seite. Anschließend ließ er sich auf den Boden fallen, rollte
auf den Rücken und schubberte sich kräftig das Rückenfell.
Er liebte es auch, auf dem Boden zu liegen u n d hingebungs-
voll den Teppich abzulecken, als hätte jemand eine leckere
Soße darüber geschüttet. Außerdem gehörte es zu seiner
täglichen Routine, den Postboten anzubellen, den H ü h n e r n
einen Besuch abzustatten, den Behälter mit dem Vogelfut-
ter anzustarren und die Wasserhähne an der Badewanne zu
überprüfen, ob nicht doch ein Tropfen für ihn abfiel. M e h r -
mals am Tag klappte er den Deckel des Mülleimers in der
Küche hoch, um nachzusehen, welche Schätze dort auf ihn
warteten. Er führte wieder täglich den M a r l e y - M a m b o auf,
trampelte durchs Haus, schlug mit dem Schwanz gegen
Möbel und Wände; und wie früher stemmte ich ihm jeden
Tag das Maul auf, um daraus alle möglichen Zeugnisse u n -
seres täglichen Lebens zu entfernen - Kartoffelschalen u n d
Muffinpapierchen, gebrauchte Taschentücher und Zahnsei-
de. Auch auf seine alten Tage änderten sich manche Dinge
nicht.
Als der 11. September 2003 näher rückte, fuhr ich in die
kleine Stadt Shanksville, Pennsylvania, wo an jenem unseli-
gen Vormittag vor zwei Jahren der Flug United Flight 93
über einem Feld abgestürzt war, nachdem die Passagiere
sich tapfer zur W e h r gesetzt hatten. Die Kidnapper, die das
Flugzeug in ihre Gewalt gebracht hatten, hatten angeblich
geplant, nach Washington, D . C . zu fliegen und dort das Flug-

307
zeug ins Weiße H a u s oder das Kapitol stürzen zu lassen. Die
Passagiere, die das Cockpit stürmten, retteten höchstwahr-
scheinlich zahllose Leben am Boden. Anlässlich des zweiten
Jahrestages dieses Uberfalls hatten mich meine Redakteure
an den Schauplatz des Geschehens geschickt, wo ich der Tra-
gödie nachspüren u n d ihre Nachwirkungen auf die amerika-
nische Seele untersuchen sollte.
Ich verbrachte einen ganzen Tag an diesem O r t und ver-
weilte an der Gedenkstätte, die man dort errichtet hatte. Ich
sprach mit den vielen Besuchern, die dort hinkamen, um
den Toten ihren Respekt zu erweisen, interviewte Anwoh-
ner, die sich an die schreckliche Explosion erinnerten, und
unterhielt mich mit einer Frau, die ihre Tochter bei einem
Autounfall verloren hatte und hier an diesem O r t Trost in
der allgemeinen Trauer zu finden hoffte. Ich dokumentierte
die vielen Gedenkschriften und Erinnerungen auf dem Park-
platz. Aber ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich
schreiben sollte. Was konnte ich zu dieser schrecklichen Tra-
gödie sagen, was noch nicht gesagt worden war? Ich ging
zum Abendessen in die Stadt und sah meine Aufzeichnun-
gen durch. Eine Kolumne zu schreiben, ist wie einen Turm
aus Holzklötzchen zu bauen, jede Information, jedes Zitat
und jeder eingefangene Augenblick ist so ein Holzklötzchen.
Zuerst baut m a n eine breite Basis, die stark genug ist, um
eine Aussage zu stützen, und dann arbeitet man sich lang-
sam hinauf zur Spitze. M e i n Notizbuch war voll von soliden
Bausteinen, aber mir fehlte noch der Mörtel, der alles zusam-
menhielt. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit den Versatz-
stücken anfangen sollte.
N a c h dem Essen machte ich mich auf den W e g zurück
in mein Hotel, um einen Schreibversuch zu starten. Auf hal-
bem W e g kehrte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend,
um und fuhr zurück zu der Gedenkstätte, mehrere Kilome-

308
ter außerhalb der Stadt. Als ich dort ankam, verschwand die
Sonne gerade hinter den Hügeln, und die letzten Besucher
fuhren davon. Ich saß lange dort, allein, während die Son-
ne unterging und die N a c h t hereinbrach. Von den H ü g e l n
kam ein starker W i n d und ich zog meine Jacke enger um
mich. Uber mir schlug ein riesiges Sternenbanner gegen ei-
nen Fahnenmast, seine Farben glühten in den letzten glim-
menden Sonnenstrahlen. U n d plötzlich zog mich dieser ehr-
würdige O r t in seinen Bann, und mir wurde die G r ö ß e und
Bedeutung dessen klar, was hier über diesem einsamen Feld
in der Luft geschehen war. Ich sah zu der Stelle hinüber, wo
das Flugzeug aufgeschlagen hatte, dann blickte ich zu der
Flagge hinauf, und Tränen brannten mir in den Augen. Z u m
ersten Mal in meinem Leben n a h m ich mir die Zeit, die Strei-
fen zu zählen. Sieben rote und sechs weiße. D a n n zählte ich
die Sterne, fünfzig Sterne auf blauem U n t e r g r u n d . Die ame-
rikanische Flagge hatte für uns an Bedeutung gewonnen.
Sie stand wieder für H e l d e n m u t und Opferbereitschaft. Ich
wusste, was ich schreiben musste.
Ich schob meine H ä n d e tief in die Jackentaschen und ging
zum Rand des gekiesten Platzes. D o r t starrte ich in die D u n -
kelheit. Ich war hin und her gerissen. Einerseits war ich stolz
auf meine Landsleute, ganz normale Leute, die im entschei-
denden M o m e n t über sich hinausgewachsen waren, weil sie
wussten, dass es ihr letzter M o m e n t war. Andererseits fühlte
ich Demut, weil ich von den furchtbaren Ereignissen an je-
nem Tag verschont geblieben und noch am Leben war und
einfach mein glückliches Leben als Ehemann, Vater und Au-
tor weiterführen konnte. H i e r in der Dunkelheit der N a c h t
konnte ich die Begrenztheit des Lebens beinahe spüren, und
ich fühlte, wie wertvoll dieses Leben war. W i r n e h m e n es
als selbstverständlich hin, aber es ist zerbrechlich, gefährdet,
unsicher, und es kann jeden M o m e n t ohne Vorwarnung zu

309
E n d e sein. M i r wurde klar, was eigentlich selbstverständlich
sein sollte, aber viel zu oft in Vergessenheit gerät: dass jeder
Tag, jede Stunde und jede M i n u t e bewusst gelebt und ge-
schätzt werden muss.
U n d ich spürte noch etwas anderes - eine tiefe Verwunde-
r u n g über die unbegreifliche G r ö ß e des menschlichen H e r -
zens, das eine Tragödie solchen Ausmaßes verkraften kann
u n d zugleich noch Raum findet, die kleinen Sorgen und
Ängste zu fühlen, die Teil von jedem Leben sind. In meinem
Fall war das die Sorge um meinen alten H u n d . Ich schämte
mich ein wenig, dass ich sogar hier, am O r t einer so furcht-
baren menschlichen Tragödie, den scharfen Schmerz seines
bevorstehenden Verlustes spüren konnte.
Marleys Tage waren gezählt, das war klar. Jeden Tag konn-
te ein weiterer Zusammenbruch erfolgen, und wenn es so
weit war, dann würde ich nicht länger vor dem Unvermeidba-
ren davonlaufen. Jeder schwere medizinische Eingriff wäre
in seinem Alter grausam gewesen, etwas, das Jenny und ich
wohl m e h r für uns selbst als für Marley getan hätten. W i r
liebten diesen verrückten alten H u n d trotz allem - oder ge-
rade wegen allem. Aber ich wusste, dass wir ihn bald gehen
lassen mussten. Ich kehrte zu meinem Auto zurück und fuhr
zum H o t e l .

Als ich meine Kolumne am nächsten Tag per E-Mail weg-


geschickt hatte, rief ich J e n n y an. Sie sagte: »Ich möchte
nur, dass du weißt, dass Marley dich wirklich sehr vermisst.«
»Marley?«, fragte ich. » U n d wie steht es mit euch ande-
ren?«
»Natürlich fehlst du uns auch, du Blödmann, aber was ich
meine, ist, dass Marley dich wirklich vermisst. Er macht uns
alle wahnsinnig.«
In der N a c h t zuvor hatte Marley immer wieder das ganze

310
Haus nach mir abgesucht, hatte jedes Z i m m e r durchstöbert,
hatte hinter den T ü r e n und in den Wandschränken nach mir
gesucht. M i t M ü h e hatte er sich in den ersten Stock hinauf-
gekämpft, und als er mich auch dort nicht fand, war er wie-
der hinuntergeschlichen und hatte seine Suche dort fortge-
setzt. » E r war ganz außer sich«, sagte Jenny.
Er hatte sich sogar die steile Treppe in den Keller hin-
untergequält, wo er mir früher oft stundenlang fröhlich in
meiner Werkstatt Gesellschaft geleistet hatte, bis ihm die
rutschigen Holzstufen einen Strich durch die Rechnung ge-
macht hatten. D o r t hatte er zu meinen Füßen geschlafen,
während sich das feine Sägemehl wie eine Wolke über sein
Fell legte. Als er nun dort hinuntergeklettert war, kam er
nicht wieder hinauf, und er bellte und jaulte so lange, bis J e n -
ny und die Kinder zu seiner Rettung herbeieilten und ihn
Stufe für Stufe hinaufbugsierten.
Anstatt sich wie immer neben unser Bett schlafen zu le-
gen, hatte Marley sich oben an der Treppe niedergelassen,
von wo er alle Schlafzimmer und die Haustür im Blick hat-
te, falls ich 1) aus meinem Versteck herauskam oder 2) wäh-
rend der N a c h t nach Hause kam, weil ich mich heimlich
fortgeschlichen hatte, ohne ihm Bescheid zu sagen. D o r t
lag er noch, als Jenny am nächsten M o r g e n hinunterging,
um Frühstück zu machen. Erst ein paar Stunden später fiel
ihr auf, dass er sich noch nicht gezeigt hatte, was sehr unge-
wöhnlich für ihn war. Sonst war Marley immer als Erster u n -
ten, rannte uns voraus und schlug mit dem Schwanz gegen
die Haustür, damit wir ihn hinausließen. Schließlich fand sie
ihn ruhig schlafend neben meinem Bett auf dem Fußboden.
U n d dann sah sie auch den G r u n d dafür. Als sie aufgestan-
den war, hatte sie aus Versehen ihre Kopfkissen - sie schläft
immer mit drei Kopfkissen - auf meine Seite des Bettes ge-
schoben. D o r t bildeten sie unter der Decke einen großen

311
Haufen, genau an der Stelle, wo ich sonst immer schlief. Bei
seinen schlechten Augen sei ihm verziehen, dass er einen
Berg Federn mit seinem H e r r c h e n verwechselte. » E r war
überzeugt, dass du da liegst«, sagte Jenny. »Kein Zweifel, er
dachte wirklich, dass du im Bett liegst und ausschläfst!«
W i r mussten beide lachen, dann sagte Jenny: » E r ist ein
schrecklich treuer H u n d . « Das stimmte. Unser H u n d war
ein Ausbund von Hingabe.

Ich war erst eine W o c h e aus Shanksville zurück, als der Z u -


sammenbruch kam, den wir alle früher oder später erwartet
hatten. Ich war gerade im Schlafzimmer und zog mich an,
als ich ein schreckliches Gerassel hörte, gefolgt von Conors
Schrei: »Hilfe! Marley ist die Treppe runtergefallen!« Ich
kam aus dem Z i m m e r gerannt und fand ihn am Fuße der
Treppe, wo er versuchte, aufzustehen. Jenny und ich eilten
zu ihm und strichen mit den H ä n d e n über seinen Körper,
tasteten vorsichtig seine Gliedmaßen und Rippen ab, mas-
sierten ihm leicht den Rücken. Nichts schien gebrochen zu
sein. M i t einem Ächzen kam Marley auf die Beine, schüttelte
sich und tapste davon, als wäre nichts geschehen. Conor
hatte den Unfall gesehen. Er erzählte, dass Marley erst die
Treppe hinuntergehen wollte, aber dann war ihm offenbar
nach zwei Stufen aufgefallen, dass alle anderen noch oben
waren, und er hatte eine Kehrtwende versucht. Als er sich
u m d r e h e n wollte, waren ihm die Hüften weggeknickt und
er war in freiem Fall die ganze Treppe hinuntergestürzt.
» M a n n , hat er Glück gehabt«, sagte ich. »So ein Sturz hätte
ihn umbringen können!«
»Ich fasse es nicht, dass er sich nicht verletzt hat«, meinte
Jenny. » E r ist wie eine Katze mit n e u n Leben.«
Aber er hatte sich verletzt. Wenige Minuten später wurde
er zusehends steif, und als ich abends von der Arbeit nach

312
Hause kam, war Marley vollkommen lahm und konnte sich
nicht mehr bewegen. Es schien, als täte ihm alles weh, so
als ob er von Rowdys zusammengeschlagen worden wäre.
Am meisten Schwierigkeiten machte ihm sein linker Vorder-
lauf, er konnte ihn überhaupt nicht m e h r belasten. Ich ver-
mutete, dass er sich eine Sehne gerissen hatte. Als er mich
sah, versuchte er aufzustehen, um mich zu begrüßen, aber
vergeblich. Er konnte vorne links nicht m e h r auftreten, u n d
in seinen schwachen Hüften hatte er überhaupt keine Kraft
mehr. Marley hatte n u r noch ein gesundes Bein, ein trauri-
ger Zustand für jeden Vierbeiner. Schließlich schaffte er es
doch hochzukommen und versuchte, mir auf drei Beinen
entgegenzuhüpfen, aber seine Hüften versagten und er fiel
wieder zu Boden. J e n n y gab ihm ein Aspirin und hielt Eis-
würfel an sein Bein. Marley, der seinen Spieltrieb auch unter
solchen Umständen nicht vergessen hatte, versuchte, die Eis-
würfel zu fressen.
Um halb elf an diesem Abend ging es ihm noch nicht bes-
ser, und er war seit ein U h r nachmittags nicht draußen ge-
wesen, um Wasser zu lassen. Er hatte es jetzt zehn Stunden
lang zurückgehalten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn
hinausbekommen sollte, damit er sich erleichtern konnte, ge-
schweige denn, wie er danach wieder ins H a u s k o m m e n soll-
te. Ich stellte mich über ihn und griff ihm unter die Brust.
So zog ich ihn auf die Beine. Z u s a m m e n wankten wir zur
Haustür, ich hielt ihn aufrecht, während er vorwärtshinkte.
Doch als wir draußen auf der Veranda waren, blieb er wie
angewurzelt stehen. Es regnete, und die Treppenstufen, sein
Untergang, lagen nass und glitschig vor ihm. Er sah verzwei-
felt aus. » K o m m schon«, sagte ich. » N u r kurz pinkeln, dann
gehen wir wieder rein.« Aber er wollte nichts davon wissen.
Ich wünschte, ich hätte ihn überreden können, sein Geschäft
gleich auf der Veranda zu machen, aber dieser alte H u n d ließ

313
sich nicht m e h r von seinen Prinzipien abbringen. Er hinkte
zurück ins H a u s und sah mich verdrießlich an, als wollte er
sich für das entschuldigen, von dem er wusste, dass es un-
vermeidlich war. » W i r versuchen es später noch einmal«,
beruhigte ich ihn. W i e auf ein Stichwort hockte er sich auf
seinen drei noch halbwegs intakten Beinen halb nieder und
entleerte seine volle Blase mitten auf dem Dielenboden, so-
dass es um ihn h e r u m spritzte. Seit er ein kleiner Welpe ge-
wesen war, hatte Marley nicht m e h r ins H a u s gemacht.
Am nächsten M o r g e n ging es ihm besser, auch wenn er im-
mer noch hinkte wie ein Invalide. W i r ließen ihn hinaus, wo
er seine Geschäfte ohne Probleme machte. Auf drei hoben
J e n n y u n d ich ihn zusammen die Verandastufen wieder hi-
nauf, damit er zurück ins H a u s konnte. »Ich habe das sichere
Gefühl, dass Marley den ersten Stock unseres Hauses nie
wiedersehen wird«, sagte ich zu ihr. Es war klar, dass Marley
nie m e h r eine Treppe hinaufkommen würde. Er würde sich
daran gewöhnen müssen, unten zu schlafen.
An diesem Tag arbeitete ich von zu Hause aus und schrieb
gerade im Schlafzimmer auf meinem Laptop an einer Ko-
lumne, als ich etwas auf der Treppe hörte. Ich hielt im T i p -
pen inne und lauschte. Das Geräusch kam mir vertraut
vor, eine Art lautes Klappern, wie Pferdehufe auf Holz. Ich
schaute zur T ü r und hielt die Luft an. Ein paar Sekunden
später steckte Marley den Kopf um die Ecke und kam ins
Z i m m e r geschlendert. Seine Augen strahlten, als er mich ent-
deckte. Hier bist du also! Er legte mir seinen Kopf auf den
Schoß und wollte an den O h r e n gekrault werden, was er ja
auch wirklich verdient hatte.
»Marley, du hast es geschafft!«, rief ich aus. » D u alter
Gauner! Ich kann's nicht fassen, dass du hier oben bist!«
Als ich später neben ihm auf dem Boden saß und ihm den
Nacken kraulte, drehte er den Kopf und nahm spielerisch

314
mein Handgelenk ins Maul. Das war ein gutes Zeichen, ein
Hinweis auf den Welpen, der noch immer in ihm schlum-
merte. Erst wenn er eines Tages still neben mir sitzen und
mich nicht mehr zum Weitermachen ermuntern würde, wäh-
rend ich ihn kraulte, dann war seine Zeit gekommen. Am
Abend zuvor war er dem Tod nahe gewesen, u n d ich hat-
te mich einmal m e h r auf das Schlimmste gefasst gemacht.
Heute hechelte er fröhlich, kratzte mit der Pfote an meinem
Bein und versuchte, meine H a n d aufzufressen. I m m e r wenn
ich dachte, sein langes, glückliches Leben sei n u n vorbei,
kam er noch einmal hoch.
Ich zog seinen Kopf zu mir herauf und sah ihm direkt in
die Augen. » D u sagst mir, wenn es so weit ist, nicht wahr?«
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich wollte die
Entscheidung nicht alleine treffen müssen. » D u wirst es mir
sagen, nicht wahr?«
SIEBENUNDZWANZIG

Die große Wiese

I n diesem J a h r kam der W i n t e r früh, und als die Tage


kürzer wurden und der W n d durch die gefrorenen Aste
heulte, machten wir es uns in unserem behaglichen Haus ge-
müdich. Ich hackte genug Feuerholz für einen ganzen W i n -
ter und stapelte es neben der H i n t e r t ü r auf. Jenny kochte
deftige Suppen und backte Brot, und die Kinder saßen wie-
der am Fenster u n d warteten auf den Schnee. Ich erwartete
den ersten Schneefall mit einer gewissen U n r u h e , denn ich
fragte mich, ob Marley einen weiteren harten Winter über-
stehen würde. D e r letzte hatte ihm schon genug zu schaffen
gemacht, und sein Zustand hatte sich seitdem dramatisch
verschlechtert. Ich hatte keine Ahnung, wie er mit vereisten
Wegen, rutschigen Treppenstufen und verschneiten Land-
schaften zurechtkommen würde. Langsam wurde mir klar,
warum ältere Leute häufig nach Florida oder Arizona aus-
wanderten.
An einem stürmischen Sonntagabend im Dezember, als
die Kinder mit ihren Hausaufgaben fertig waren und auf
ihren Musikinstrumenten geübt hatten, machte Jenny P o p -
corn und kündete einen Heimkinoabend an. Die Kinder
stürmten los, um einen Film auszusuchen, und ich pfiff nach
Marley, um ihn hinauszulassen, während ich ein paar Ahorn-
scheite vom Holzstoß holte. W ä h r e n d ich das Holz in den
Korb schichtete, suchte er auf dem gefrorenen Gras herum

316
und hielt das Gesicht in den Wind. Er schnüffelte mit seiner
nassen Schnauze in die eisige Luft, als würde er den nahen-
den Winter wittern. Ich klatschte in die H ä n d e und winkte
mit den Armen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen,
und er folgte mir ins Haus. An den Verandastufen zögerte
er kurz, nahm dann all seinen M u t zusammen, sprang hinauf
und zog seine Hinterbeine nach.
Drinnen machte ich das Feuer an und die Kinder legten
den Film ein. Die Flammen züngelten hoch und schick-
ten ihre Hitze durch das Zimmer, was Marley wie i m m e r
dazu veranlasste, den besten Platz direkt vor dem Kamin
für sich zu beanspruchen. Ich ließ mich neben ihm auf dem
Boden nieder und legte meinen Kopf auf ein Kissen. Ich
starrte mehr ins Feuer, als den Film zu verfolgen. Marley
wollte seinen warmen Platz nicht aufgeben, aber er konnte
der Gelegenheit nicht widerstehen. Sein Lieblingsmensch
lag flach auf dem Boden, vollkommen wehrlos. W e r war
jetzt das Alphatier? Sein Schwanz begann auf den Boden
zu klopfen. D a n n robbte er auf mich zu. Er wankte auf
dem Bauch von einer Seite zur anderen, die H i n t e r b e i n e
lang ausgestreckt, und als er mich erreicht hatte, drückte
er mir seinen Kopf in die Rippen. In dem M o m e n t , als ich
die H a n d ausstreckte, um ihn zu kraulen, war alles vorbei.
Er stemmte sich hoch u n d schüttelte sich wild, dabei ging
ein Schauer losen Fells auf mich nieder. Er starrte auf mich
herunter, seine schlabbernden Lefzen hingen dicht über
meinem Gesicht. Als ich anfing zu lachen, n a h m er das als
Startzeichen, und noch ehe ich wusste, wie mir geschah,
hatte er sich mit den Vorderpfoten breitbeinig über mich
gestellt und sank dann in freiem Fall mit Karacho auf mir
zusammen. »Uff!«, schrie ich unter seinem Gewicht. » F r o n -
taler Labradorangriff!« Die Kinder quietschten vor Vergnü-
gen. Marley konnte sein Glück kaum fassen. Ich versuchte

317
gar nicht erst, ihn abzuschütteln. Er räkelte sich, sabberte,
leckte mir das Gesicht und schnoberte an meinem Hals. Ich
konnte unter seinem Gewicht kaum atmen, und nach ein
paar M i n u t e n schob ich ihn halb von mir herunter, wo er
fast den ganzen Film lang liegen blieb, Kopf, Schulter und
Vorderpfote auf meiner Brust, der Rest von ihm gegen mei-
ne Seite gedrückt.
Ich behielt es für mich, aber ich merkte, wie ich mich an
diesen M o m e n t klammerte, weil ich wusste, dass es nicht
m e h r viele davon geben würde. Marley war in der D ä m m e -
rung eines langen, ereignisreichen Lebens angekommen.
W e n n ich später daran zurückdachte, erkannte ich diesen
Abend vor dem Kamin als das, was er war: unser Abschieds-
fest. Ich streichelte Marleys Kopf, bis er einschlief, und auch
dann hörte ich nicht damit auf.
Vier Tage später packten wir unseren Minivan für einen
Familienausflug nach Florida ins Disneyland. Es war das ers-
te Mal, dass die Kinder an Weihnachten nicht zu Hause sein
würden, u n d sie waren ganz aus dem Häuschen vor Aufre-
gung. W i r wollten am nächsten M o r g e n früh losfahren, des-
wegen brachte J e n n y Marley abends in die Tierarztpraxis,
wo er eine W o c h e lang unter ständiger ärzdicher Aufsicht
bleiben konnte und wo er seine Ruhe vor anderen H u n d e n
hatte. Die Arzte und Helfer erinnerten sich noch an seine
dramatischen Eskapaden im letzten Sommer und richteten
für ihn gerne die Königssuite her. Sie versprachen, sich be-
sonders gut um ihn zu kümmern.
Als wir an diesem Abend die letzten Koffer packten, fiel
J e n n y u n d mir auf, wie seltsam es war, keinen H u n d um sich
zu haben. Kein Riesentier, das einem ständig vor die Füße
lief, uns wie unser Schatten folgte und versuchte, jedes Mal
mit uns aus der T ü r zu schleichen, wenn wir einen Koffer
ins Auto trugen. Es war auf gewisse Weise befreiend, doch

318
das Haus wirkte irgendwie verlassen und leer, auch wenn die
Kinder darin herumsprangen.
Am nächsten M o r g e n setzten wir uns bei Sonnenaufgang
in den Minivan und fuhren los Richtung Süden. In unserem
Bekanntenkreis ist es eine Art Sport, sich über diese ganze
Disneygeschichte lustig zu machen. Ich weiß nicht mehr,
wie oft ich schon gesagt habe: »Für das gleiche Geld k ö n n -
ten wir mit der ganzen Familie nach Paris fahren.« Aber wir
amüsierten uns prächtig, auch ich als nörgelnder Vater. Von
den üblichen Fallstricken einer solchen U n t e r n e h m u n g -
Übelkeit, müdigkeitsbedingte Trotzanfälle, verlorene E i n -
trittskarten, verlorene Kinder, Raufereien unter Geschwis-
tern - blieben wir weitgehend verschont. Es wurde ein toller
Familienurlaub, und wir verbrachten den Großteil der lan-
gen Rückfahrt damit, die einzelnen Karussell- und Achter-
bahnfahrten, Mahlzeiten, Schwimmrunden, einfach jeden
M o m e n t noch einmal Revue passieren zu lassen. Als wir die
halbe Strecke durch Maryland geschafft und n u r noch vier
Stunden Fahrt vor uns hatten, klingelte mein Handy. Es war
eine Tierarzthelferin der Tierarztpraxis. Marley wäre ganz
lethargisch, sagte sie, und seine Hüften wären schwächer als
sonst. Es schien ihm nicht gut zu gehen. Sie sagte, der Tier-
arzt würde um unsere Z u s t i m m u n g bitten, Marley Kortison
geben zu dürfen. Natürlich, sagte ich. Sie sollten alles tun,
damit es ihm gut ging. W i r würden unseren H u n d am nächs-
ten Tag abholen.
Als Jenny Marley am nächsten Abend, dem 29. Dezember,
abholte, sah er müde und ein wenig abgekämpft aus, aber
nicht wirklich krank. W i e man mir am Telefon gesagt hat-
te, waren seine Hüften sichtbar schwächer geworden. D e r
Tierarzt erklärte Jenny, was für Medikamente wir ihm ge-
ben sollten, dann half ihr ein Tierarzthelfer, Marley in den
Minivan zu heben. D o c h während der halbstündigen H e i m -

319
fahrt würgte er die ganze Zeit und versuchte, zähen Schleim
herauszubringen. Als J e n n y ihn zu Hause in den Vorgarten
ließ, legte er sich einfach auf den gefrorenen Boden und
konnte oder wollte sich nicht rühren. Verängstigt rief sie
mich auf der Arbeit an. »Ich bekomme ihn nicht mehr ins
H a u s « , rief sie aufgeregt, »er liegt da draußen in der Kälte
und will nicht aufstehen!« Ich fuhr sofort los, und als ich
eine Dreiviertelstunde später zu Hause ankam, hatte sie es
doch geschafft, ihn auf die Pfoten zu stellen und ins Haus zu-
rückzubugsieren. Ich fand ihn im Esszimmer auf dem Boden
ausgestreckt, eindeutig krank und nicht er selbst.
Dreizehn J a h r e lang war ich nicht ein einziges Mal
nach Hause gekommen, ohne dass er aufgesprungen war,
sich gestreckt und geschüttelt u n d mich dann hechelnd
und schwanzwedelnd begrüßt hatte, als wäre ich gerade aus
d e m Hundertjährigen Krieg heimgekehrt. N i c h t an diesem
Tag. Er folgte mir mit den Augen, als ich ins Z i m m e r kam,
aber er bewegte nicht einmal den Kopf. Ich kniete mich
neben ihn u n d streichelte seine Schnauze. Keine Reaktion.
Er versuchte nicht, mein Handgelenk zu fassen, er woll-
te nicht spielen, er h o b noch nicht einmal den Kopf. Sein
Blick schien abwesend und sein Schwanz lag schlaff auf dem
Boden.
J e n n y hatte schon zwei Nachrichten auf dem Anrufbeant-
worter der Tierklinik hinterlassen und wartete auf den Rück-
ruf des Tierarztes, doch das Ganze wuchs sich allmählich zu
einem Notfall aus. Ich rief ein drittes Mal an. N a c h einigen
M i n u t e n stand Marley langsam und mit zitternden Beinen
auf u n d versuchte abermals zu würgen, aber es kam nichts
heraus. Da fiel mir sein Bauch auf. Er sah dicker aus als sonst
u n d fühlte sich hart an. M e i n M u t sank; ich wusste, was das
bedeutete. Ich rief wieder beim Tierarzt an und beschrieb
diesmal Marleys geschwollenen Bauch. Die Empfangsdame

320
bat mich, einen Augenblick zu warten, dann sagte sie: » D e r
Doktor sagt, Sie sollen ihn sofort herbringen.«
Jenny und ich brauchten nichts zueinander zu sagen, wir
wussten beide, dass der Augenblick gekommen war. W i r rie-
fen die Kinder zusammen und erklärten ihnen, dass Marley
ins Krankenhaus musste und die Arzte dort versuchen wür-
den, ihm zu helfen, dass er aber sehr krank war. Als ich zur
Abfahrt fertig war, schaute ich ins W o h n z i m m e r und sah,
wie Jenny und die Kinder sich um Marley zusammendräng-
ten, der auf dem Boden lag, und sich verabschiedeten. Es
war offensichtlich, dass es ihm schlecht ging. Jeder konnte
ihn streicheln und noch ein paar letzte M o m e n t e mit ihm
verbringen. Die Kinder blieben verbissen optimistisch, dass
dieser H u n d , der schon immer ein Teil ihres Lebens gewe-
sen war, bald wieder da sein würde, so gut wie neu. » G u t e
Besserung, Marley«, sagte Colleen mit ihrem kleinen Stimm-
chen.
Mit Jennys Hilfe bugsierte ich Marley hinten ins Auto. Sie
umarmte ihn noch einmal kurz, dann versprach ich, mich so-
fort zu melden, wenn ich etwas N e u e s wusste, u n d fuhr mit
Marley davon. Er lag hinten im Auto auf dem Boden, den
Kopf auf die Mittelkonsole gestützt. Ich hielt das Lenkrad
mit der einen H a n d und streckte die andere nach hinten, so-
dass ich ihn am Kopf und an den Schultern streicheln k o n n -
te. »Ach, Marley«, sagte ich immer wieder.
Auf dem Parkplatz der Tierklinik half ich ihm aus dem
Auto, dann blieb er kurz stehen, um an einem Baum zu
schnüffeln, wo andere H u n d e ihre Markierung gesetzt hat-
ten - obwohl es ihm so schlecht ging, war er immer noch
neugierig. Ich ließ ihm Zeit, denn ich wusste, dass es viel-
leicht sein letzter Besuch an der frischen Luft war, die er
so liebte. D a n n zog ich vorsichtig an der Leine und führte
ihn in die Empfangshalle der Klinik. Gleich hinter der E i n -

321
gangstür beschloss er, dass er n u n weit genug gelaufen war,
u n d ließ sich vorsichtig auf dem Fliesenboden nieder. Als
es den Tierarzthelfern und mir nicht gelang, ihn wieder auf
die Beine zu stellen, brachten sie eine Trage und hoben ihn
darauf. D a n n verschwanden sie mit ihm im Untersuchungs-
zimmer.
N a c h ein paar M i n u t e n kam eine junge Tierärztin, die
ich noch nie gesehen hatte, in die Eingangshalle und führte
mich in ein Behandlungszimmer. D o r t legte sie einige Rönt-
genbilder auf einen Bildbetrachter. Sie zeigte mir, dass Mar-
leys M a g e n auf die doppelte G r ö ß e angeschwollen war. Sie
deutete außerdem auf eine weiße Linie auf dem Bild. Das
wäre ein Zeichen einer Magendrehung. Genau wie beim
letzten Mal würde sie ihn narkotisieren und eine Sonde in
seinen M a g e n einführen, um das Gas abzuleiten, das die
Blähung ausgelöst hatte. D a n n würde sie mit dem Schlauch
die Rückwand des Magens ertasten. »Es wird nicht einfach,
aber ich versuche, den M a g e n mit dem Schlauch wieder in
seine richtige Stellung zu massieren.« Wieder standen die
Chancen eins zu hundert, dieselbe Prognose, die mir Dok-
tor Hopkinson im Sommer gegeben hatte. Es hatte einmal
funktioniert, es konnte wieder funktionieren. Im Stillen war
ich immer noch optimistisch.
»Okay«, sagte ich. »Versuchen Sie es.«
N a c h einer halben Stunde tauchte sie mit grimmigem
Gesicht wieder auf. Sie hatte es dreimal versucht, aber sie
konnte die Sonde nicht in den M a g e n einführen. Sie hatte
ihm noch m e h r Narkosemittel gegeben, in der Hoffnung,
dass sich seine Bauchmuskeln dadurch entspannen würden.
Als das alles nichts nützte, hatte sie in einem letzten verzwei-
felten Versuch einen Trokar zum Entgasen gelegt, doch
auch das war nicht geglückt. »An diesem Punkt können wir
n u r noch operieren«, sagte sie. Sie hielt inne, als wollte sie

322
abschätzen, ob ich bereit war, über das Unvermeidliche zu
sprechen, dann fuhr sie fort: » O d e r es wäre vielleicht die h u -
manste Lösung, ihn einzuschläfern.«
Jenny und ich hatten diese schwere Entscheidung eigent-
lich schon vor fünf M o n a t e n getroffen. M e i n Besuch in
Shanksville hatte meinen Entschluss, Marley nicht weiter
leiden zu lassen, nur noch bestärkt. Aber jetzt, hier im W a r -
tezimmer, als ich erneut vor der Entscheidung stand, war
ich wie erstarrt. Die Ärztin spürte meine Verzweiflung und
erklärte mir die Komplikationen, die bei einer Operation
bei einem H u n d in Marleys Alter auftreten konnten. Außer-
dem machten ihr Blutspuren Sorgen, die aus dem Katheter
ausgetreten waren, was auf ein Problem in der Magenwand
hindeutete. »Wer weiß, was wir finden würden, wenn wir
hineinschauen«, sagte sie.
Ich sagte ihr, dass ich kurz hinausgehen wollte, um meine
Frau anzurufen. Auf dem Parkplatz erklärte ich Jenny dann
am Handy, dass sie vergeblich alles versucht hätten, mit Aus-
nahme einer Operation. W i r schwiegen eine kleine Ewig-
keit am Telefon, dann sagte Jenny: »Ich liebe dich, J o h n . «
»Ich dich auch, Jenny«, sagte ich.
Ich ging wieder hinein und fragte die Arztin, ob ich
ein paar Minuten mit Marley allein sein dürfte. Sie warnte
mich, dass er unter starken Betäubungsmitteln stand. » N e h -
men Sie sich die Zeit, die Sie brauchen«, sagte sie. Ich fand
ihn bewusstlos auf einer Trage auf dem Boden, am Vorder-
lauf hatte er eine Infusion. Vorsichtig kniete ich mich hin
und strich ihm mit den Fingern durch das Fell, so wie er
es besonders gerne mochte. Ich streichelte ihm über den
Rücken, n a h m seine Schlappohren einzeln in die H a n d -
diese verrückten O h r e n , die ihm in all den J a h r e n so viele
Probleme bereitet und uns ein kleines Vermögen gekostet
hatten - und spürte ihr Gewicht. Ich schob seine Lefzen zu-

323
rück und betrachtete seine schlechten, abgenutzten Zähne.
Ich n a h m eine Vorderpfote in meine H a n d . D a n n lehnte
ich meine Stirn gegen seine und blieb lange so sitzen, als
könnte ich eine Botschaft durch unsere beiden Schädel von
meinem G e h i r n in seines schicken. Ich wollte ihm noch ein
paar D i n g e sagen.
» D u weißt doch, was wir alles über dich gesagt haben,
oder?«, flüsterte ich. »Was für eine Last du bist und so wei-
ter. Glaub kein W o r t davon. Glaub es keine Sekunde lang,
Marley.« Er sollte das wissen, und noch etwas anderes. Es
gab etwas, was ich ihm noch nie gesagt hatte, niemand hatte
es ihm je gesagt. Ich wollte, dass er es hörte, bevor er ging.
»Marley«, sagte ich, »du bist ein ganz toller H u n d . «

Ich fand die Arztin wartend am Empfangstresen. »Ich bin


so weit«, sagte ich. M e i n e Stimme zitterte, was mich wirk-
lich wunderte, denn ich hatte gedacht, ich hätte mich schon
vor M o n a t e n für diesen M o m e n t gerüstet. Ich spürte, dass
ich zusammenbrechen würde, wenn ich auch nur noch ein
einziges W o r t sagte. Deswegen nickte ich nur, als sie mir
einige Formulare reichte, und unterschrieb schweigend.
Als die Formalitäten erledigt waren, folgte ich ihr wieder
zu Marley, der immer noch in Narkose lag. Ich kniete noch
einmal vor ihm nieder und nahm seinen Kopf in die Hände,
während die Arztin eine Spritze vorbereitete und an den In-
fusionsschlauch setzte. »Alles okay?«, fragte sie. Ich nickte,
dann drückte sie den Kolben herunter. Seine Lefzen zitter-
ten ganz leicht. Sie hörte sein H e r z ab und sagte, dass sich
sein Herzschlag deutlich verlangsamt habe, aber noch nicht
ausgesetzt hatte. Er war ein großer H u n d . Sie bereitete eine
zweite Spritze vor und drückte die Flüssigkeit in den Infu-
sionsschlauch. D a n n hörte sie wieder sein H e r z ab. »Er ist
tot«, sagte sie. Sie ließ mich mit ihm allein, und ich hob vor-

324
sichtig eines seiner Augenlider. Sie hatte Recht; Marley war
nicht mehr da.
Ich ging zum Empfangstresen hinaus und bezahlte die
Rechnung. Die Arztin bot mir eine »Sammeleinäscherung«
für 75 Dollar oder eine »Einzeleinäscherung«, bei der m a n
eine U r n e mit der Asche zurückbekam, für 170 Dollar an.
Ich lehnte ab, ich würde ihn mit nach Hause n e h m e n . N a c h
ein paar Minuten schob sie zusammen mit einem Helfer
einen Wagen aus dem Sprechzimmer, auf dem ein großer
schwarzer Sack lag. Sie half mir, den Sack auf den Rücksitz
des Autos zu bugsieren. D a n n schüttelte sie mir die H a n d
und sagte, dass es ihr sehr leid täte. Sie hätte ihr Bestes ge-
tan, sagte sie. »Es war Zeit für ihn«, erwiderte ich, dann
dankte ich ihr und fuhr davon.
Im Auto auf dem H e i m w e g begann ich zu weinen. Das
passierte mir eigentlich nie, nicht einmal auf Beerdigungen.
Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder gefasst. Als
ich in unsere Auffahrt einbog, waren meine Tränen versiegt.
Ich ließ Marley im Wagen und ging hinein, wo J e n n y n o c h
auf war und auf mich wartete. Die Kinder waren alle schon
im Bett. W i r würden es ihnen morgen sagen. W i r fielen
uns in die Arme und fingen beide an zu schluchzen. Ich ver-
suchte es ihr zu beschreiben, ihr zu sagen, dass er schon tief
geschlafen hatte, als das Ende kam, dass es weder Panik noch
Schock noch Schmerz gegeben hatte. D o c h ich fand keine
Worte. So wiegten wir uns nur gegenseitig in den Armen.
Später gingen wir hinaus und hoben den schweren Sack aus
dem Auto und auf einen Schubkarren, den ich für die N a c h t
in die Garage fuhr.
ACHTUNDZWANZIG

Unter den Kirschbäumen

A n diesem Abend schlief ich sofort ein, und als der Mor-
gen dämmerte, stand ich leise auf, um Jenny nicht zu
wecken, und zog mich an. In der Küche trank ich ein Glas
Wasser - der Kaffee konnte warten - und trat hinaus in den
feinen, graupeligen Nieselregen. Ich nahm eine Schaufel
u n d eine Spitzhacke und ging zum Erbsenbeet gleich neben
der Stelle unter den Kiefern, wohin Marley sich im letzten
W i n t e r für seine Geschäfte zurückgezogen hatte. Hier woll-
te ich ihn begraben.
Es war nicht sehr kalt, und der Boden war zum Glück
nicht gefroren. Im Halbdunkel des frühen Morgens begann
ich zu graben.
Als ich mich durch eine dünne Schicht Erde gearbeitet
hatte, stieß ich auf schweren, harten L e h m b o d e n mit Steinen
darin - Reste v o m Ausheben unseres Kellers -, und es ging
n u r noch schleppend voran. N a c h fünfzehn Minuten zog
ich meine Jacke aus und machte eine Pause, um wieder zu
Atem zu k o m m e n . N a c h einer halben Stunde war ich durch-
geschwitzt und noch nicht einmal einen halben M e t e r tief.
N a c h einer Dreiviertelstunde stieß ich auf Wasser. Die G r u -
be begann sich zu füllen. U n d lief immer voller. U n d voller.
Bald bedeckte schlammiges, kaltes Wasser knöcheltief den
Boden der G r u b e . Ich holte einen Eimer und versuchte es
abzuschöpfen, doch es sickerte immer wieder Wasser nach.

326
Ich konnte Marley unmöglich in dieses eiskalte, matschige
Loch legen. Auf gar keinen Fall.
Obwohl ich so hart daran gearbeitet hatte - mein H e r z
raste, als wäre ich gerade einen M a r a t h o n gelaufen -, gab
ich diese Stelle auf und wanderte durch den Garten. Schließ-
lich kam ich zu der Stelle am Fuße des Hügels, wo das Gras
aufhörte und der Wald anfing. Zwischen zwei großen, alten
Kirschbäumen, deren Zweige in der M o r g e n d ä m m e r u n g
über mir aufragten wie eine Freiluftkathedrale, setzte ich
meinen Spaten an. Diese Bäume hatten Marley und ich auf
unserer wilden Schlittenfahrt n u r knapp verfehlt, und ich
sagte laut: »Das ist ein guter Platz.« Bis hier oben waren
die Bulldozer nicht gekommen, als sie den Schiefer verteilt
hatten, und der Boden war locker und feucht. Ein T r a u m für
jeden Gärtner. Hier ging das G r a b e n leicht, und bald hatte
ich ein großes längliches Loch ausgehoben, ungefähr einein-
halb Meter tief. Ich ging zurück ins H a u s und sah, dass alle
drei Kinder wach waren. Sie schnieften leise vor sich hin.
Jenny hatte es ihnen gerade gesagt.
Es traf mich tief, sie trauern zu sehen. Dies war die erste
direkte Erfahrung mit dem Tod für sie. Ja, es war nur ein
Hund, und H u n d e k o m m e n und gehen im Laufe eines M e n -
schenlebens, manchmal einfach nur deswegen, weil sie ihren
Besitzern zu viel werden. Es war nur ein H u n d , u n d doch
stiegen mir jedes Mal die Tränen in die Augen, wenn ich
versuchte, mit den Kindern über Marley zu sprechen. Ich
sagte ihnen, dass es in O r d n u n g war, um ihn zu weinen, u n d
dass man als Hundebesitzer mit dieser Trauer leben musste,
weil H u n d e eben nicht so lange lebten wie Menschen. Ich er-
zählte ihnen, dass Marley geschlafen hatte, als er das Mittel
bekam, und dass er nichts gespürt hatte. Er dämmerte ein-
fach ein und war fort. Colleen war tieftraurig, weil sie sich
nicht richtig von ihm hatte verabschieden können. Sie hatte

327
gedacht, er würde wieder nach Hause kommen. Ich versi-
cherte ihr, dass ich mich für uns alle von ihm verabschiedet
hatte. Conor, unser angehender Schriftsteller, zeigte mir et-
was, was er für Marley gemacht hatte und das er ihm mit ins
G r a b geben wollte. Er hatte ein großes rotes H e r z gemalt
und darunter geschrieben: »Für Marley. Ich hoffe, du weißt,
wie lieb ich dich mein ganzes Leben lang gehabt habe. Du
warst immer da, wenn ich dich gebraucht habe. Im Leben
oder im Tod werde ich dich immer lieb haben. Dein Bruder
C o n o r Richard Grogan.« D a n n malte Colleen ein Bild von
einem M ä d c h e n und einem großen, hellbraunen H u n d . Da-
runter schrieb sie mit Hilfe ihres Bruders: »PS: Ich werde
dich nie vergessen.«
Ich ging alleine wieder hinaus und fuhr Marleys sterbliche
Überreste den H ü g e l hinunter. D o r t schnitt ich einen Arm
voll weicher Kiefernzweige und legte sie auf den Grund der
G r u b e . Ich hob den schweren Sack von der Schubkarre und
ließ ihn so vorsichtig wie möglich in die G r u b e gleiten, aber
es war einfach nicht möglich, das Ganze auf würdige Weise
zu tun. Ich stieg in die G r u b e und öffnete den Sack, um ihn
noch ein letztes Mal zu sehen, dann legte ich ihn in einer
natürlichen, bequemen Stellung zurecht - genau so, wie er
sich vielleicht vor dem Kamin hingelegt hätte, zusammenge-
rollt, den Kopf zur Seite gedreht. »Okay, mein Freund, das
war's«, sagte ich. Ich machte den Sack wieder zu und ging
zum H a u s zurück, um J e n n y und die Kinder zu holen.
Die ganze Familie ging mit zum G r a b . C o n o r und Colleen
hatten ihre Botschaften Rücken an Rücken in eine Klarsicht-
hülle gesteckt, und ich legte sie direkt neben Marleys Kopf.
Patrick schnitt mit seinem Taschenmesser fünf Kiefernzwei-
ge ab, für jeden von uns einen. Einer nach dem anderen war-
fen wir sie in das Grab, und ihr Duft stieg zu uns auf. W i r
hielten einen M o m e n t inne, u n d dann sagten wir alle gleich-

328
zeitig, so als hätten wir es einstudiert: »Marley, wir haben
dich lieb.« Ich n a h m die Schaufel und warf die erste Portion
Erde hinunter. Es machte ein hässliches, platschendes G e -
räusch auf dem Plastik, und J e n n y fing an zu schluchzen.
Ich schaufelte weiter. Die Kinder sahen schweigend zu. Als
das Loch halb gefüllt war, machte ich eine Pause. W i r gin-
gen alle hinauf zum H a u s und setzten uns um den Küchen-
tisch. D a n n erzählten wir uns lustige Episoden, die wir mit
Marley erlebt hatten. Einmal stiegen uns die Tränen in die
Augen, im nächsten M o m e n t mussten wir lachen. J e n n y er-
zählte, wie Marley während der Dreharbeiten zu The Last
Homerun durchgedreht hatte, als ein F r e m d e r Conor, der
damals noch ein Baby gewesen war, hochgehoben hatte. Ich
erzählte von den vielen Leinen, die er durchgebissen hatte,
und von damals, als er am Knöchel unseres N a c h b a r n das
Bein gehoben hatte. W i r überlegten, was er alles kaputt ge-
macht hatte und wie viel Tausende von Dollar uns das gekos-
tet hatte. Jetzt konnten wir darüber lachen. D a m i t die Kin-
der sich besser fühlten, sagte ich etwas zu ihnen, woran ich
selbst nicht ganz glaubte. »Marleys Seele ist jetzt oben im
Hundehimmel«, erklärte ich. » E r ist jetzt auf einer großen
goldenen Wiese und kann dort frei herumlaufen. Seine Hüf-
ten sind wieder gesund und er kann wieder richtig hören
und sehen. U n d er hat wieder alle seine Z ä h n e . Er ist wieder
ganz der Alte - und jagt den ganzen Tag Kaninchen.«
Jenny fügte hinzu: » U n d er hat jetzt unendlich viele Flie-
gentüren, durch die er durchfetzen kann.« Die Vorstellung,
wie sich Marley tollpatschig seinen W e g durch den H i m m e l
bahnt, brachte alle zum Lachen.
Es war bereits Vormittag, und ich musste zur Arbeit. Ich
ging noch einmal allein zum G r a b zurück und füllte es ganz
mit Erde auf, vorsichtig und respektvoll. D a n n trat ich die
Erde behutsam fest. Als der Boden über dem G r a b glatt u n d

329
flach war, stellte ich zwei große Steine aus dem Wald darauf.
D a n n ging ich ins Haus, n a h m eine heiße Dusche und fuhr
zur Arbeit.

In den ersten Tagen, nachdem wir Marley begraben hatten,


waren wir alle sehr still. Das Tier, das jahrelang ein so erfreu-
liches Gesprächsthema gewesen war, war zum Tabuthema
geworden. W i r versuchten, zu einem normalen Leben zu-
rückzukehren, und wenn wir von Marley sprachen, mach-
te es das n u r noch schwerer. Vor allem Colleen konnte es
nicht ertragen, seinen N a m e n zu hören oder ein Foto von
ihm zu sehen. D a n n stiegen ihr die Tränen in die Augen, sie
ballte die Fäuste und sagte wütend: »Ich will nicht über ihn
reden!«
Ich n a h m meinen üblichen Tagesplan wieder auf, fuhr
zur Arbeit, schrieb meine Kolumnen und fuhr wieder nach
Hause. Dreizehn Jahre lang hatte mich Marley an der T ü r
begrüßt, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam. Jetzt
abends durch die T ü r zu kommen, war das Allerschlimmste.
Das H a u s schien still und leer, irgendwie war es kein richti-
ges Zuhause mehr. J e n n y saugte wie verrückt Staub. Sie hat-
te sich vorgenommen, Marleys Haare, die ihm in den letzten
J a h r e n eimerweise ausgefallen waren und sich in jede Spalte
und Ritze unseres Haushaltes eingenistet hatten, endgültig
zu beseitigen. Langsam wurden die letzten Spuren des al-
ten H u n d e s verwischt. Eines Morgens wollte ich mir meine
Schuhe anziehen, und die Sohlen waren mit Marleys Fell be-
deckt, das ich beim Herumlaufen mit meinen Socken aufge-
sammelt und dann nach und nach in die Schuhe abgeladen
hatte. Ich saß nur da, betrachtete die Haare - ich strich sogar
mit zwei Fingern darüber - und lächelte. D a n n hielt ich J e n -
ny die Schuhe unter die Nase und sagte: »So leicht werden
wir ihn nicht los.« Sie lachte; aber an diesem Abend brach es

330
auf einmal aus ihr, die in den letzten Tagen nicht viel gesagt
hatte, heraus: »Ich vermisse ihn. Ich meine, ich vermisse ihn
wirklich richtig. Es tut weh, so sehr vermisse ich ihn.«
»Ich weiß«, sagte ich. » M i r geht es genauso.«
Ich wollte eine Abschiedskolumne für Marley schreiben,
doch ich hatte Angst, dass es ein überschwängliches, rührse-
liges Zeugnis meines Selbstmitleids werden und ich mich da-
mit nur erniedrigen würde. D a h e r blieb ich bei T h e m e n , die
mir weniger nahe gingen. Trotzdem n a h m ich mir fortan im-
mer ein Diktiergerät mit, damit ich die Gedanken, die mir
zu Marley kamen, gleich aufzeichnen konnte. Ich wollte ihn
so darstellen, wie er wirklich gewesen war, und nicht als per-
fekte Wiedergeburt von Lassie oder Rin T i n T i n - aber da
bestand natürlich keine Gefahr. Es gibt viele Menschen, die
ihre Haustiere nach deren Tod ganz neu erfinden und über-
natürliche, edle Geschöpfe aus ihnen machen, die alles für
ihre Herrschaft getan hätten, außer vielleicht Rührei zum
Frühstück zu servieren. Aber ich wollte ehrlich sein. Marley
war ein komischer, überlebensgroßer Klotz am Bein gewe-
sen, der das mit dem Befehlen und G e h o r c h e n nie so ganz
durchschaut hatte. Ganz ehrlich, vielleicht war er sogar der
ungezogenste H u n d der Welt gewesen. U n d trotzdem hatte
er von Anfang an intuitiv begriffen, was es hieß, der beste
Freund des Menschen zu sein.
In der Woche nach seinem Tod ging ich öfter den H ü g e l
hinunter und verweilte eine Zeit lang an seinem G r a b . Z u m
einen wollte ich sichergehen, dass sich abends keine wilden
Tiere anschlichen. Das G r a b war ungestört, aber schon jetzt
konnte ich sehen, dass ich im Frühling einige Schubkarren
Erde heranschaffen musste, um die Vertiefung aufzufüllen,
wo der aufgeschüttete Boden sich absenkte. Vor allem aber
wollte ich mit ihm zusammen sein. W e n n ich dort an seinem
Grab stand, kamen mir unwillkürlich einzelne Episoden aus

331
seinem Leben in den Sinn. Ich schämte mich beinahe, wie
tief ich um diesen H u n d trauerte, mehr als um so manchen
Menschen, den ich gekannt hatte. Ich setzte deswegen nicht
ein H u n d e l e b e n mit einem Menschenleben gleich, aber au-
ßerhalb meiner engeren Familie hatte es nur wenige M e n -
schen gegeben, die sich mir gegenüber so selbstlos gezeigt
hatten. Heimlich holte ich Marleys Kettenhalsband aus dem
Auto, wo es seit unserer letzten Fahrt in die Tierklinik ge-
legen hatte, und legte es in meine K o m m o d e unter die So-
cken, damit ich es jeden Tag berühren konnte. Die ganze
W o c h e über spürte ich einen unbestimmten Schmerz in
mir. Es war ein körperlicher Schmerz, ungefähr so wie eine
Magenverstimmung. Ich war antriebslos und unmotiviert,
brachte noch nicht einmal die Energie auf, meinen Hobbys
nachzugehen - Gitarrespielen, Holzarbeiten, Lesen. Ich
stand völlig neben mir und wusste nichts mit mir anzufan-
gen. Schließlich ging ich abends einfach früher schlafen, um
n e u n oder halb zehn.
An Silvester waren wir auf eine Party bei unseren Nach-
barn eingeladen. Unsere Freunde bekundeten vorsichtig ihr
Beileid, aber wir alle versuchten, das Gespräch in lockerem
Ton weiterzuführen. Schließlich war Silvester. Beim Abend-
essen saßen Sara und Dave Pandl neben mir am Tisch, zwei
Landschaftsarchitekten, die aus Kalifornien wieder nach
Pennsylvania gezogen waren, um sich ein altes Steinhaus aus-
zubauen. W i r waren gut befreundet und redeten lange über
H u n d e , Liebe und Verlust. Dave und Sara hatten ihre ge-
liebte Nelly, einen Australischen H ü t e h u n d , vor fünf Jahren
einschläfern lassen müssen und hatten sie auf dem Hügel
neben ihrem H a u s begraben. Dave ist einer der abgeklärtes-
ten Menschen, die ich jemals getroffen habe, ein ruhiger, sto-
ischer Spross eines wortkargen holländischen Geschlechts
in Pennsylvania. D o c h immer wenn das Gespräch auf Nelly

332
kam, kämpfte auch er mit einer tiefen inneren Trauer. Er
erzählte mir, wie er tagelang die steinigen Wälder hinter
seinem Haus durchkämmt hatte, bis er den perfekten Stein
für ihr G r a b gefunden hatte. Er hatte von N a t u r aus die
Form eines Herzens, und Dave brachte ihn zu einem Stein-
metz, der »Nelly« in seine Oberfläche einmeißelte. N a c h
all den Jahren berührte die beiden der Tod dieses H u n d e s
noch immer tief. Ihre Augen verschleierten sich, wenn sie
über Nelly redeten. Sara drückte es so aus: M a n c h m a l begeg-
nest du einem H u n d , der dein Leben wirklich berührt, und
dann kannst du ihn nie wieder vergessen. Ihre Augen waren
feucht, als sie das sagte.
An diesem Wochenende machte ich einen langen Spazier-
gang durch den Wald, und als ich am M o n t a g wieder zur
Arbeit kam, wusste ich, was ich über diesen H u n d schreiben
wollte, der mein Leben so tief berührt hatte und den ich nie-
mals vergessen würde.
Zuerst schrieb ich darüber, wie ich in der M o r g e n d ä m m e -
rung mit einer Schaufel den H ü g e l hinuntergewandert war,
und wie seltsam es gewesen war, ohne Marley draußen zu
sein. Schließlich hatte er es sich dreizehn Jahre lang zur Auf-
gabe gemacht, mich auf jedem Ausflug zu begleiten. » U n d
auf einmal war ich allein«, schrieb ich, »und hob ein G r a b
für ihn aus.«
Ich zitierte, was mein Vater auf die Nachricht, dass ich
Marley hatte einschläfern lassen müssen, gesagt hatte. U n -
ser H u n d hatte nie Komplimente bekommen, aber seine Be-
merkung kam dem noch am nächsten: »Es wird nie wieder
einen H u n d wie Marley geben.«
Ich überlegte lange, wie ich Marley beschreiben sollte,
und schließlich schrieb ich: » N i e m a n d hat ihn jemals als
tollen H u n d bezeichnet - oder auch n u r als guten H u n d .
Er war so wild wie ein Kobold, und so stark wie ein Stier. Er

333
krachte mit einer Begeisterung durchs Leben, die oft einer
Naturgewalt gleichkam. Er ist der einzige H u n d , den ich
kenne, der jemals von der Hundeschule geflogen ist.« Wei-
ter schrieb ich: »Marley war ein Couchzerstörer, ein Sabber-
könig, ein Abfalleimerdurchwühler. Was seine Intelligenz
angeht, so lassen Sie mich n u r so viel sagen: Er jagte bis
ans E n d e seiner Tage seinem Schwanz nach und war über-
zeugt, dass er dabei etwas ganz G r o ß e m auf der Spur war,
das ihm als erstem H u n d der Welt gelingen würde.« Aber
natürlich hatte er n o c h ganz andere Qualitäten gehabt, und
so beschrieb ich seine Intuition, sein Einfühlungsvermögen,
seine Liebe zu Kindern, sein gutes H e r z .
Eigentlich wollte ich vor allen Dingen ausdrücken, wie
sehr dieses T i e r unsere Seele berührt und uns die wichtigs-
ten Lektionen über das Leben gelehrt hatte. »Ein Mensch
kann viel von einem H u n d lernen, auch von so einem verrück-
ten wie unserem«, schrieb ich. »Marley lehrte mich, jeden
Tag mit ungezügelter Ausgelassenheit und Freude zu leben,
er lehrte mich, den Augenblick zu genießen und meinem
H e r z e n zu folgen. Er lehrte mich, mich an den einfachen
D i n g e n zu freuen - ein Waldspaziergang, frisch gefallener
Schnee, ein Nickerchen am Fenster, wenn die Wintersonne
hereinscheint. U n d als er alt und gebrechlich wurde, lehrte
er mich Optimismus im Angesicht von W d r i g k e i t e n . Am
meisten lehrte er mich aber über Freundschaft, Selbstlosig-
keit und vor allem über unumstößliche Treue.«
Dieser erstaunliche Gedanke - Marley als M e n t o r - kam
mir erst jetzt nach seinem Tod so richtig zu Bewusstsein. Ein
L e h r e r und Vorbild. W a r es möglich, dass ein H u n d - nicht
irgendein H u n d , sondern speziell ein so dummer, unver-
besserlicher H u n d wie unserer - Menschen auf die Dinge
hinwies, die wirklich zählten im Leben? Ich glaube schon.
Treue. M u t . Hingabe. Einfachheit. Freude. U n d genauso die

334
Dinge, die nicht wichtig waren. Ein H u n d hat keinen Sinn
für teure Autos, große Häuser oder Designerklamotten. Sta-
tussymbole bedeuten ihm nichts. Ein nasser Stock genügt
völlig. Ein H u n d beurteilt andere nicht nach ihrer H a u t -
farbe, ihrem Glauben oder ihrer Herkunft, sondern danach,
wer sie im Innersten sind. Einem H u n d ist es egal, ob m a n
reich oder arm ist, gebildet oder ein Analphabet, klug oder
dumm. Schenk ihm dein H e r z und er schenkt dir seines. Es
war wirklich ganz einfach, und doch hatten wir Menschen,
die wir doch so viel klüger und kultivierter sind, immer schon
Schwierigkeiten damit, zu erkennen, was wirklich wichtig
ist und was nicht. Als ich diese Abschiedskolumne für M a r -
ley schrieb, wurde mir klar, dass alles vor unserer Nase lag,
wenn wir nur die Augen aufmachten. M a n c h m a l schaffte es
eben nur ein H u n d mit Mundgeruch, schlechten Manieren
und reinen Absichten, einem die Augen zu öffnen.
Ich schloss meinen Text ab, schickte ihn an meinen Redak-
teur und fuhr nach Hause. Irgendwie fühlte ich mich erleich-
tert, beinahe heiter, als sei eine Bürde von mir g e n o m m e n
worden, von der ich nicht einmal gewusst hatte.
NEUNUNDZWANZIG

Der Bad-Dog-Club

A ls ich am nächsten M o r g e n ins Büro kam, blinkte das


rote Licht auf meinem Anrufbeantworter. Ich gab mei-
nen Zugangscode ein und bekam eine automatische Mittei-
lung, die ich noch nie gehört hatte: »Ihre Mailbox ist voll.
Bitte alte Nachrichten löschen.«
Ich schaltete meinen Laptop an und öffnete das E-Mail-
P r o g r a m m . Dasselbe Bild. Die Inbox war voll mit neuen
Nachrichten, vier Seiten lang nur neue Nachrichten. Das
Beantworten der E-Mails am M o r g e n war sonst ein Ritual
für mich, ein eingebautes, wenn auch ungenaues Barometer
für die Wirkung, die ich mit meiner Kolumne vom Vortag
erzielt hatte. Manchmal bekam ich nur fünf oder zehn Reak-
tionen, und an solchen Tagen wusste ich, dass ich den Ton
nicht getroffen hatte. An anderen Tagen waren es ein paar
Dutzend, das war dann ein gutes Ergebnis. Manchmal wa-
ren es sogar noch mehr. An diesem M o r g e n jedoch waren
es H u n d e r t e , weit mehr, als ich jemals bekommen hatte. Die
Betreffzeilen lauteten: »Herzliches Beileid«, » Ü b e r Ihren
Verlust« oder einfach n u r »Marley«.
Tierliebhaber sind ein ganz eigener Menschenschlag,
großzügig, einfühlsam, oft ein wenig sentimental, und sie
haben ein H e r z , so groß wie der wolkenlose Himmel. Die
meisten wollten einfach nur ihr Beileid bekunden und mir
sagen, dass sie Ähnliches erlebt hatten und wussten, was

336
meine Familie und ich jetzt durchmachten. Andere hatten
H u n d e , mit denen es langsam, aber sicher zu E n d e ging, und
sie fürchteten sich vor dem Unvermeidlichen, genau wie wir
uns gefürchtet hatten.
Ein Pärchen schrieb: » W i r können Sie vollkommen ver-
stehen und beklagen den Verlust von Marley. W i r trauern
um Rusty. Die beiden werden uns wohl immer fehlen und
können niemals wirklich ersetzt werden.« Eine Leserin na-
mens Joyce schrieb: »Danke, dass Sie uns an D u n c a n erin-
nert haben, der in unserem G a r t e n begraben liegt.« Eine
gewisse Debi fügte hinzu: »Meine Familie kann verstehen,
wie Sie sich jetzt fühlen. Vor kurzem mussten wir unseren
Golden Retriever Chewy einschläfern lassen. Er war drei-
zehn und hatte ähnliche Gebrechen, wie Sie sie von I h r e m
H u n d beschreiben. Als er es an diesem letzten Tag nicht ein-
mal mehr schaffte, aufzustehen, um hinauszugehen und sein
Geschäft zu machen, wussten wir, dass wir ihn nicht länger
leiden lassen durften. W i r hatten auch ein Begräbnis in unse-
rem Garten, unter einem roten Ahornbaum, der uns immer
an ihn erinnern wird.«
Eine andere Frau, die einen Labrador namens Katie
hatte, schrieb: »Ich schicke Ihnen mein Beileid u n d meine
Tränen. Meine kleine Katie ist erst zwei Jahre alt, u n d ich
denke mir immer: Monica, warum hast du zugelassen, dass
dieses wunderbare Wesen dir dein H e r z stiehlt?« U n d Car-
mela schrieb: »Marley muss ein toller H u n d gewesen sein,
dass seine Familie ihn so sehr geliebt hat. N u r wer selbst
einen H u n d hat, kann verstehen, wie viel Liebe sie einem
geben und wie furchtbar es ist, wenn m a n sie verliert.«
Elaine schrieb: »Unsere Haustiere verbringen n u r ein so
kurzes, kleines Leben mit uns, und die meiste Zeit davon
warten sie jeden Tag darauf, dass wir nach Hause k o m m e n .
Es ist wunderbar, wie viel Liebe und Lachen sie in unser

337
Leben bringen und wie sie uns Menschen einander näher
bringen.« N a n c y schrieb: » H u n d e sind W u n d e r des Lebens
und bereichern unser Leben so sehr.« U n d MaryPat: » N o c h
heute vermisse ich das Klirren von Max' Halsband, wenn er
auf seiner Erkundungstour durchs H a u s tapste. Diese Stille
treibt dich anfangs zum Wahnsinn, vor allem nachts.« Von
Connie: »Es ist schön, einen H u n d zu lieben, nicht wahr?
Im Vergleich dazu erscheinen viele Bekanntschaften mit
Menschen schrecklich langweilig.«
Als die Flut von E-Mails einige Tage später abflaute, zähl-
te ich sie. Beinahe achthundert Menschen, ohne Ausnahme
Tierliebhaber, hatten sich bemüßigt gefühlt, mir zu schrei-
ben. Es war eine überwältigende Resonanz, und für mich
war es wie eine Katharsis. Als ich sie alle gelesen und so
viele wie möglich beantwortet hatte, fühlte ich mich besser,
so als ob ich zu einer riesigen Selbsthilfegruppe im Internet
gehören würde. Meine eigene Trauer war in eine öffentli-
che Therapiesitzung ausgeartet, und in diesem Umfeld war
es nicht peinlich, den echten, durchdringenden Schmerz
über den Verlust von so etwas Unerheblichem wie einem
alten, streng riechenden H u n d zu beklagen. Aber die Leute
schrieben mir noch aus einem anderen G r u n d . Sie wollten
die grundlegende Aussage meines Artikels diskutieren, die
Feststellung, dass Marley der H u n d mit den schlechtesten
Manieren der ganzen Welt gewesen war. »Tut mir leid«,
hieß es da immer, »aber Ihr H u n d kann gar nicht der un-
erzogenste H u n d der Welt gewesen sein - denn den hatte
ich.« Um ihre T h e s e zu untermauern, überhäuften sie mich
mit ausführlichen Berichten über das schlechte Benehmen
ihrer Haustiere. Ich las von zerstörten Vorhängen, gestohle-
ner Damenunterwäsche, aufgefressenen Geburtstagstorten,
ruinierten Autositzen, unerlaubten Freigängen, sogar von
einem heruntergeschluckten Verlobungs-Diamantring, der

338
Marleys Vorliebe für Goldketten vergleichsweise harmlos er-
scheinen ließ. Meine Inbox glich einer Fernseh-Talkshow
zum T h e m a Böse Hunde und die Menschen, die sie lieben, wo
die Opfer bereitwillig auftreten und mit Stolz nicht etwa
die Liebenswürdigkeit ihrer Tiere, sondern deren schlechte
Eigenschaften beschreiben. Seltsamerweise spielten in den
meisten Schauergeschichten verrückte Labradors die H a u p t -
rolle, wie meiner einer gewesen war. W i r waren also nicht
allein.
Eine Frau namens Elyssa erzählte, wie ihr Labrador Mo
immer aus dem H a u s ausbrach, wenn man ihn allein ließ,
indem er sich mit Vorliebe durch das Fliegengitter aus
dem Fenster stürzte. Elyssa und ihr M a n n hatten gehofft,
die Fluchtversuche ihres H u n d e s vereiteln zu können, in-
dem sie alle Fenster im Erdgeschoss verriegelt hatten. Sie
hatten nicht daran gedacht, auch die Fenster in den oberen
Stockwerken zu schließen. Eines Tages kam ihr M a n n nach
Hause und fand im zweiten Stock ein Fliegengitter lose in
den Angeln hängend. » E r hatte furchtbare Angst davor, den
H u n d zu finden«, schrieb sie. Gerade, als ihr M a n n bereits
mit dem Schlimmsten rechnete, »kam Mo auf einmal mit
gesenktem Kopf um die Hausecke. Er wusste, dass er etwas
falsch gemacht hatte, aber wir waren sprachlos, weil er sich
nicht verletzt hatte. Er war aus dem Fenster gesprungen und
auf einem kräftigen Busch gelandet, der seinen Sturz abgefe-
dert hatte.«
D e r Labrador Larry fraß den BH seines Frauchens u n d
spuckte ihn zehn Tage später im Ganzen wieder aus. Gipsy,
ein anderer Labrador mit abenteuerlichem Geschmack, ver-
speiste eine Jalousie. Jason, eine Retriever-Irish-Setter-Mi-
schung, verschluckte einen Staubsaugerschlauch »mit Pols-
terbürste und allem«, berichtete sein Besitzer Mike. »Einmal
fraß Jason ein ein M e t e r großes Loch in eine Rigipswand,

339
ein andermal grub er eine breite Furche in den Teppich, bis
zu seinem Lieblingsplatz am Fenster.« Mike fügte hinzu:
»Aber ich habe dieses Vieh geliebt.«
Phoebe, eine Labradormischung, flog aus zwei verschiede-
nen Hundepensionen und durfte sich dort nie mehr blicken
lassen, schrieb ihre Besitzerin Aimee. »Sie brach aus ihrem
Zwinger aus und befreite dann noch zwei andere Hunde.
D a n n schlugen sie sich die ganze N a c h t den Bauch in der
Vorratskammer voll.« Hayden, ein 50-Kilo-Labrador, fraß
alles, was er zwischen die Z ä h n e bekam, berichtete seine Be-
sitzerin Carolyn, einschließlich einer ganzen Kiste Fischfut-
ter, einem Paar Wildlederhalbschuhen und einer Tube Super-
kleber, »natürlich nicht alles auf einmal«. Sie schrieb weiter:
»Aber sein Meisterstück lieferte er, als er den Rahmen des
Garagentors aus der Mauer riss, weil ich seine Leine unver-
nünftigerweise am Tor festgebunden hatte, damit er in der
Sonne liegen konnte.« T i m erzählte, dass sein gelber Labra-
dor Ralph ein genauso schlimmer Futterräuber war wie Mar-
ley, nur gerissener. Eines Tages legte T i m eine große Tafel
Schokolade auf den Kühlschrank, wo er sie vor Ralph sicher
wähnte. D a n n ging er. Sein H u n d zog mit den Pfoten die
Schubladen aus dem Küchenschrank und benutzte sie dann
als Treppe, um auf die Arbeitsplatte zu klettern. D o r t stellte
er sich auf die Hinterbeine und kam so an die Schokolade,
die spurlos verschwunden war, als T i m nach Hause kam.
Trotz der Uberdosis Zucker zeigte Ralph keine Anzeichen
von Unwohlsein. »Ein andermal«, schrieb T i m weiter, »öff-
nete Ralph den Kühlschrank und fraß den gesamten Inhalt,
einschließlich der Dosen.«
N a n c y schnitt meine Kolumne aus, um sie aufzuheben,
weil Marley sie so sehr an ihren Retriever Gracie erinnerte.
»Ich legte den Artikel auf den Küchentisch und drehte mich
um, um die Schere wegzuräumen. Als ich mich wieder zum

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Küchentisch umdrehte, hatte Gracie tatsächlich den Artikel
gefressen.«
Wow, ich fühlte mich mit jeder M i n u t e besser. Marley war
auf einmal gar kein so schrecklicher H u n d mehr. Zumindest
war er im Bad-Dog-Club in bester Gesellschaft. Ich druckte
mehrere Zuschriften aus und zeigte sie zu Hause Jenny, die
daraufhin zum ersten Mal seit Marleys Tod lachte. M e i n e
neuen Freunde von der Geheimen Bruderschaft Versagen-
der Hundebesitzer hatten uns m e h r geholfen, als sie ahnen
konnten.

Aus den Tagen wurden W o c h e n und der W i n t e r schmolz


zum Frühling. Narzissen brachen durch die E r d e und blüh-
ten an Marleys Grab, und hübsche weiße Kirschblüten rie-
selten darauf herab. Allmählich gewöhnten wir uns an unser
Leben ohne H u n d . An manchen Tagen dachte ich gar nicht
an ihn, bis ein kleiner Hinweis - ein H a a r auf meinem Pullo-
ver, das Klirren seines Kettenhalsbandes, wenn ich in die So-
ckenschublade griff - ihn mir plötzlich wieder vergegenwär-
tigte. Mit der Zeit wurden die Erinnerungen schöner und
weniger schmerzlich. Längst vergessene M o m e n t e zogen an
meinem inneren Auge vorbei, so deutlich, als würde ich ein
Video abspielen: W i e sich Lisa, das Opfer der Messerattacke,
zu Marley herabgebeugt und ihn auf die Schnauze geküsst
hatte, als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Die Be-
geisterung, mit der sich das Filmteam um ihn geschart hat-
te. W i e die Postbotin ihm jeden M o r g e n an der T ü r einen
Hundekuchen zusteckte. W i e er Mangos zwischen seinen
Pfoten hielt und das Fruchtfleisch ablutschte. W i e er mit
verklärtem Gesichtsausdruck nach den W i n d e l n der Babys
geschnappt hatte, und wie er mich um seine Beruhigungstab-
letten angebettelt hatte, als seien es Steaks gewesen. Alles
kleine M o m e n t e , die eigentlich kaum der Erinnerung wert

341
waren, u n d trotzdem waren sie auf einmal da und liefen nach
dem Zufallsprinzip an den unwahrscheinlichsten Orten und
im unerwartetsten M o m e n t auf meiner geistigen Kinolein-
wand ab. Ü b e r die meisten musste ich lächeln, manchmal
musste ich mir aber auch auf die Lippen beißen und inne-
halten.
Bei einer Sitzung im Büro kam mir die folgende Szene ins
Gedächtnis: W i r wohnten noch in West Palm Beach, Mar-
ley war noch ein Welpe und J e n n y und ich frisch verheiratet.
An einem kalten W n t e r t a g gingen wir händchenhaltend am
M e e r spazieren, Marley lief voran und zog uns vorwärts. Ich
ließ ihn auf die Wellenbrecher aus Beton hinaufspringen. Sie
waren ungefähr einen halben M e t e r breit und einen Meter
hoch über dem Wasser. »John«, protestierte Jenny, »er fällt
noch hinein!« Ich sah sie zweifelnd an. »Für wie d u m m hältst
du ihn?«, fragte ich sie. »Was glaubst du, was er macht? Ein-
fach über den Rand hinaus laufen?« Z e h n Sekunden später
tat er genau das und landete mit einem gewaltigen Platschen
im Wasser. W i r mussten ihn mühsam retten und wieder auf
die M a u e r u n d damit auf festen Boden zerren.
Einige Tage später fuhr ich gerade zu einem Gesprächster-
min, als mir auf einmal eine andere Szene aus der ersten Zeit
unserer E h e einfiel: W i r planten ein romantisches Wochen-
ende in einem kleinen Häuschen auf Sanibel Island, das war,
bevor die Kinder kamen. N u r das Brautpaar - und Marley.
Ich hatte diese Episode vollkommen vergessen, und plötz-
lich war sie wieder da, klar und deudich: W i e wir im Auto
fuhren, er zwischen uns, und wie er ab und zu den Schalthe-
bel mit der Schnauze in den Leerlauf schob. W i e wir ihn
nach einem Tag am Strand in unserem gemieteten Haus in
der W a n n e badeten und überall Sand, Wasser und Seifen-
lauge verteilten. U n d wie J e n n y und ich uns später unter
den kühlen Baumwolllaken liebten, während die Meeresbri-

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se hereinwehte und Marleys Otterschwanz gegen die M a t -
ratze schlug.
Er spielte in einigen der glücklichsten Kapitel unseres
Lebens die Hauptrolle. Kapitel, die von junger Liebe und
neuen Anfängen erzählten, von ersten beruflichen Erfolgen
und kleinen Babys. Von berauschenden Erfolgen und schwe-
ren Enttäuschungen, von Entdeckergeist und Freiheit und
Selbstverwirklichung. Er trat in unser Leben, als wir gerade
dabei waren, herauszufinden, was wir damit eigentlich anfan-
gen wollten. Er kam zu uns, als wir gerade anpackten, was
jedem Pärchen irgendwann bevorsteht, nämlich zwei ver-
schiedene Vergangenheiten zu einer gemeinsamen Zukunft
zu verweben. Er wurde Teil unserer Verschmelzung, ein fein
gesponnener, unauftrennbarer Faden in unserem gemeinsa-
men Leben. U n d genau wie wir ihn zu unserem Familien-
hund gemacht hatten, half er mit, aus uns ein Paar, Eltern,
Tierliebhaber und erwachsene Menschen zu machen. Trotz
allem, trotz aller Enttäuschungen und unerfüllten Erwartun-
gen hatte Marley uns ein Geschenk gemacht, das unbezahl-
bar und umsonst zugleich war. Er lehrte uns die Kunst der
unbedingten Liebe. W i e man sie gibt und wie man sie an-
nimmt. Wo das möglich ist, ergibt sich vieles von selbst.

Im Sommer nach Marleys Tod installierten wir einen Swim-


mingpool, und ich musste daran denken, wie sehr Marley,
unser unermüdlicher Seehund, ihn geliebt hätte, vielleicht
mehr als wir alle, auch wenn er die W a n d mit seinen Kral-
len zerkratzt und den Filter mit seinen H a a r e n verstopft
hätte. Jenny staunte, wie leicht sich ein H a u s o h n e einen
sabbernden, haarenden und manchmal vor Schmutz starren-
den H u n d sauber halten ließ. Ich musste zugeben, dass es
angenehm war, barfuß durchs Gras zu laufen, o h n e darauf
achten zu müssen, wo man hintrat. D e r Garten war eindeu-

343
tig in besserem Zustand, wenn kein großer Kaninchenjäger
mit schweren Pfoten hindurchpflügte. Kein Zweifel, das L e -
ben ohne H u n d war in vieler Hinsicht viel einfacher. W i r
konnten einfach übers Wochenende wegfahren, ohne einen
Hundesitter zu organisieren. W i r konnten abends essen ge-
hen, o h n e uns Sorgen darüber zu machen, welches Familien-
erbstück diesmal in Gefahr war. Die Kinder konnten essen,
ohne auf ihre Teller aufpassen zu müssen. W i r brauchten
den Abfalleimer nicht auf den Küchentisch zu stellen, wenn
wir das H a u s verließen. U n d wir konnten uns wieder zurück-
lehnen und in aller Ruhe das erstaunliche Schauspiel eines
schweren Gewitters betrachten. Vor allem genoss ich die
Freiheit, durchs H a u s zu streifen, ohne dass mir ein großer
hellbrauner M a g n e t an den Fersen hing.
U n d trotzdem war unsere Familie nicht ganz vollständig.

Als ich eines M o r g e n s im Spätsommer zum Frühstück her-


unterkam, reichte mir J e n n y einen Teil der Zeitung. Er war
so gefaltet, dass einem eine der hinteren Seiten gleich ins
Auge fiel. » D u wirst es nicht glauben«, sagte Jenny.
Einmal pro Woche stellte unsere Lokalzeitung einen
H u n d aus dem Tierheim vor, der ein neues Zuhause suchte.
Zu der Anzeige gehörte immer ein Foto des Hundes, sein
N a m e u n d eine kurze Beschreibung in der ersten Person, als
würde sich das T i e r selbst vorstellen und dabei natürlich sei-
ne Schokoladenseiten betonen. Auf diese Weise versuchten
die Leute vom T i e r h e i m ihre Schützlinge so liebenswert wie
möglich darzustellen. W i r amüsierten uns immer über H u n -
deporträts, nicht zuletzt, weil dahinter der Versuch stand,
ungeliebte Tiere, die schon mindestens einmal Pech gehabt
hatten, möglichst gut wegkommen zu lassen.
An diesem Tag starrte mich von dem Foto ein Gesicht an,
das ich sofort wiedererkannte. U n s e r Marley. O d e r zumin-

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dest ein H u n d , der sein eineiiger Zwilling hätte sein können.
Ein großer, hellbrauner Labradorrüde mit kantigem Kopf,
schrägen Augenbrauen und halb aufgestellten Schlappoh-
ren. Er starrte direkt in die Kamera, und von seinem Blick
ging eine zitternde Intensität aus. M i r war klar, dass er sofort
nach dem Klick den Fotografen umgerannt und die Kamera
gefressen hatte. U n t e r dem Foto stand sein N a m e : Lucky.
Ich las seine Vorstellung laut vor. Lucky hatte Folgendes
über sich zu sagen: »Voll auf Draht! Ich würde in ein ruhi-
ges Zuhause passen, wo ich lernen kann, meine Energie zu
zügeln. Ich hatte es bisher nicht einfach im Leben, deswe-
gen muss meine neue Familie Geduld mit mir haben u n d
mir behutsam H u n d e m a n i e r e n beibringen.«
»Mein Gott!«, rief ich aus. » E r ist es! Er lebt!«
»Wiedergeburt«, sagte Jenny.
Es war unheimlich, wie sehr Lucky Marley ähnelte u n d
wie sehr die Beschreibung auf Marley passte. Voll auf Draht?
Probleme, die Energie zu zügeln? H u n d e m a n i e r e n beibrin-
gen? Geduld erforderlich? W i r wussten genau, was hinter
diesen Floskeln steckte, denn wir hatten sie ja selbst verwen-
det. Unser seelisch unausgeglichener H u n d war zurück,
jung und kräftig und wilder als je zuvor. W i r standen beide
einfach nur da und starrten stumm auf die Zeitung.
»Ich denke, wir könnten ihn uns ja mal anschauen«, mein-
te ich schließlich.
» N u r so zum Spaß«, fügte J e n n y hinzu.
»Genau. N u r aus Neugier.«
»Anschauen kostet ja nichts.«
»Nein, überhaupt nichts«, bestätigte ich.
»Tja«, sagte Jenny, »warum also nicht?«
»Was haben wir zu verlieren?«

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