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Singend in den Untergang

Eine Jugend in den letzten Jahren des Reichs

Von Manfred „Freddie“ R ö b e r

Für Sascha

Wir glaubten.
Wir kämpften.
Wir verloren.
„Noch nie in der deutschen Geschichte war einer jungen

Generation ein so schönes Schicksal beschieden wie euch.“


Adolf Hitler, 1936

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Ein Wort zuvor:

Diese Aufzeichnungen aus der Erinnerung sollen keine Rechtfertigung sein. Ihr
Zweck ist vielmehr, den Nachkommenden ein wenig Verständnis dafür zu vermitteln,
warum wir, meine Generation, in unserer Zeit so dachten und handelten wie
geschildert. Jedenfalls die meisten von uns aus der „Flakhelfer-Generation“.

Wir haben uns die Zeit und die Umstände nicht ausgesucht.

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Kinderzeit in Leipzig und Breslau

Die Nacht des 2. August 1928 soll stürmisch gewesen sein. Meine
Mutter sprach Jahre später von einer normalen Geburt gegen 2 Uhr.
Verständlicherweise ist der genaue Ort meines ersten Auftritts meinem
Gedächtnis entfallen, und so habe ich mich mit mir selbst geeinigt,
daß es wohl die Martinstraße 12 im Leipziger Osten war. Sie liegt in
Anger-Crottendorf (O5). In dieser eher kleinbürgerlichen
Vorstadtstraße lebten Opa und Oma in der dritten Etage eines
vierstöckigen Mietshauses. Das Klo befand sich eine halbe Treppe
tiefer. Es wurde Opas geheimer Rauchsalon, als der Arzt ihm nach dem
ersten Schlaganfall die geliebten Zigarren verboten hatte. Omas
vortreffliche Nase - ich habe sie wohl von ihr geerbt - ortete diese
Stätte untersagten Nikotingenusses bald. Ihr besorgtes „Garl, du hast
schon wieder geroocht“ hörte der Enkel fortan mehrmals die Woche.
Weil aber Oma „Line“ (Lina) eine herzensgute Haut war und ihrem Carl
nicht böse sein konnte, blieb die Rüge stets ohne Folgen. Sie
erlangte den Charakter einen bedauernden Feststellung.

Mein Geburtshaus in Leipzig (Aufnahme 2006)

Carl Röber hatte als Ratsexpedient bei der Leipziger Stadtverwaltung


begonnen. Durch Fleiß und eine geradezu preußische Pflichterfüllung
brachte er es bis zum Stadtverwaltungsdirektor. Während meiner ersten

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Kinderjahre in Leipzig diente er der Kommune als Inspektor im
Sozialdezernat. Ich erfuhr dies, als ich ihn nach dem Zweck des
schwarzen Gummiknüppels fragte, der auf dem Rollpult in seinem
Herrenzimmer liegen geblieben war. Der Opa, erschrocken, daß ich den
von ihm zuhause vergessenen Schlagstock gesehen hatte, stotterte
Unverständliches. Die Aufklärung kam später von Oma, die ich mit
Fragen nach dem Ding bestürmte. Sie verriet mir unter dem Siegel der
Verschwiegenheit, daß ein jüngerer Fürsorgeempfänger im Amt auf den
Herrn Inspektor eingeschlagen habe. Seitdem nehme Opa den Knüppel
allmorgendlich mit in sein Büro. Er wolle sich damit verteidigen,
wenn er erneut attackiert werde. Die Vorschriften machten es ihm
nicht möglich, jedem Menschen zu helfen, der darum nachfrage. Und der
eine oder andere nehme ihm dies persönlich krumm.

Opa Carl Röber in seinem Büro in der Stadtverwaltung

Opa Carl, den ich nur mit Kurzhaarschnitt, einer Igelbürste, kannte,
war frühzeitig ergraut. Der rundliche und gemütliche Mann kleidete
sich stets korrekt. Sein Konfektionsanzug aus dunklem Tuch mußte,
obwohl an strapazierten Stellen schon glänzend, viele Jahre
aushalten. Er wurde von seiner Frau und dem etwa ab 1930
angestellten Dienstmädchen Wally Z., einer jungen Bäckersfrau,
täglich liebevoll ausgebürstet. Zur kompletten Ausstattung gehörte
eine Weste aus demselben Stoff. Von deren drittem Knopf ab
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überbrückte eine silberfarbene Uhrkette die gewölbte Distanz zum
rechts befindlichen Einstecktäschchen mit dem verchromten
Chronometer. Nur am Sonntag und an Feiertagen wurde die schwere
goldene Klappdeckeluhr angelegt. Das Oberhemd komplettierte ein
täglich ausgewechselter gestärkter Kragen, der mittels eines
Knöpfchens arretiert wurde. Letzteres verlor sich beim morgendlichen
Fixieren des frischen Kragens gern unter dem Mobiliar im
Herrenzimmer. Der Opa ärgerte sich zwar, doch habe ich ihn nie
schimpfen oder gar fluchen gehört.

Er war überhaupt ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Seine Ehe mit


Lina geborene Höber verlief ohne merkliche Komplikationen, wohl auch
ohne Höhepunkte; die häusliche Atmosphäre umhüllte den Enkelsohn mit
Harmonie. Obwohl die finanzielle Situation des Paars viele Jahre
ziemlich eng gewesen sein muß, hatte sie das Verhältnis der beiden
zueinander augenscheinlich nicht ungünstig beeinflußt. Heute kommt es
mir so vor, als lebten die beiden wirklich die gute alte Zeit, die es
real wohl nie gegeben hat. Ihr Lebensstil war ein sehr verspätetes
Biedermeier, leicht gehobene Kleinbürgerlichkeit.

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„Die Gartenlaube“

Ich weiß nicht, ob die Leipziger Großeltern tiefergehende musische


Interessen hatten. Opa war in einem Männergesangverein, und seine
Frau ging gern zu Faschingskränzchen und Damenrunden, bei denen
fröhlich musiziert wurde. Stolz war sie auf eine versilberte
Anstecknadel, die sie als Mitglied des „Königin-Luise-Bundes“, einer
deutsch-nationalen Frauenvereinigung, auswies. Obwohl ich noch nicht
lesen konnte, blätterte ich gern in der „Gartenlaube“, einer
Zeitschrift, die Oma in ihrer Jugend abonniert hatte. Es lagen
zahlreiche Jahresbände aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts
bis zum Ersten Weltkrieg vor. Das Blatt war reich bebildert, damals
natürlich noch schwarzweiß. Seine betulichen Illustrationen vor
allem aus der Welt der gehobenen Stände gaben Anlaß zu ungezählten
Fragen, die Oma Line geduldig zu beantworten suchte. Später, wenn
ich in den Schulferien in Leipzig weilte, las ich die Romane von
Hedwig Courths-Mahler, von Nathalie von Eschstruth und die der
Eugenie Marlitt, die in der Gartenlaube als Fortsetzungen erschienen
waren. Ich habe das Blatt im Verdacht, bei mir von Kindsbeinen an
einen Zug zum nostalgisch Konservativen erweckt zu haben, der durch
die konservative Gesinnung der Leipziger Großeltern unmerklich eine
bestimmte und bestimmende Fassung bekam.

Oma Lina Röber und ich 1930 in Leipzig

Opa nahm mich sonntags manchmal in die Thomaskirche mit, wenn der
weltberühmte Thomanerchor sang. Die Oma hing einem schlichten, aber
fest gefügten Protestantismus an, zitierte gelegentlich aus der
Luther-Bibel. Sie sah es darum gern, wenn der Enkel ihren Mann ins

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Gotteshaus begleitete. Aber sie drängte nicht darauf. Sie versuchte
sich bei mir nie in Religionspädagogik, selbst später lag ihr
jeglicher Missionierungsdrang fern, obwohl ich anfangs der vierziger
Jahre immer mehr vom Christentum abdriftete. Sie bedauerte das nur.
Sicherlich sogar sehr, war sie doch in ihrer diskreten Weise tief
gläubig, auch ohne häufigen Kirchenbesuch. Ihren Mann zog es, wenn
die Thomaner ausgesungen hatten und sich die Kirchenpforte wieder
öffnete, vor allem in ein in unmittelbarer Nähe liegendes Weinlokal.
Dort trank er mit Behagen seinen Sonntagsfrühschoppen, einen
„Gespritzten“, gemischt aus Wein und Selters. Dazu konsumierte er
genüßlich eine Zigarre der Mittelklasse, sichtlich froh, den
gewohnten Ordnungsruf seiner Frau ob dieser Untat gegen seine
Gesundheit einmal nicht zu hören.

Diese Jahre in Leipzig bis 1934 waren unbeschwerte Kindheit pur.


Jeder Tag begann für mich mit dem Löffeln einer leicht gesalzenen
Mehlsuppe. Ich saß bei diesem Suppenfrühstück, das die Oma für meine
Kräftigung als unabdingbar ansah, in einem hölzernen, weiß
gestrichenen Umbaustühlchen. Bei Bedarf konnte es mit wenigen
Handgriffen in ein Kinderklo umfunktioniert werden. Ich glaube
allerdings nicht, daß es diesem hinterlistigen Zweck lange gedient
hat.

Damit ich mich anschließend nicht wehrte, die ebenfalls


obligatorische Morgenmenge Lebertran gegen Rachitis zu schlucken, las
mir Oma nach deren widerwilliger Einnahme aus einer Kinderbeilage der
„Leipziger Zeitung“ vor. „Hans Kunterbunt“ und seine Freunde haben
meine kindliche Phantasie darum ebenso bevölkert wie „Max und Moritz“
und der „Struwwelpeter“. Die Kinder der Gegenwart erleben vorm
Fernseher dafür die „Sendung mit der Maus“.

Die Oma blieb zeitlebens schlank. Stolz war sie, soweit ihr Eitelkeit
überhaupt lag, auf ihr volles, später zwar ergrautes, aber noch immer
über schulterlanges Haar, das sie morgens sorgsam zu einen Zopf
flocht, um ihn kranzförmig um den Kopf zu legen oder als Dutt zu
tragen.

In Leipzig besuchte ich den Kindergarten. Nur zwei blasse


Erinnerungsbilder finden sich noch an diese Zeit: Auf dem einen sehe

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ich mich mit Buben und Mädchen bei einem Ausflug in einem Stechkahn
auf der Pleiße, auf dem anderen fällt mir eine mächtige Beule auf der
Stirn auf. Ich holte sie mir, als ich beim Fangspiel auf dem Hof des
Kindergartens gegen einen Laternenpfahl brummte.

Wally Z., selbst Mutter eines Jungen, war bei den alten Röbers nicht
nur Hausgehilfin, sondern für deren ältesten Enkel auch ein
einfühlsames Kindermädchen. Gern zog ich mit ihr los, wenn sie
mindestens einmal wöchentlich zur Eisfabrik mußte. Sie schob einen
ausgedienten Kinderwagen vor sich her, der zum Heimtransport der
passend zurecht gehackten Eisstangen diente, mit denen der
Eisschrank, ein vorsintflutlicher Vorgänger unseres Kühlschranks,
bestückt wurde. Wally plauderte mit mir wie mit einem Gleichaltrigen,
erzählte mir vom Leben der Bäckersfamilie und ließ mich an deren
Freud und Leid teilhaben. Eines Tages durfte ich mit ihrem Mann
Backwaren ausfahren. Das geschah noch mittels eines pferdebespannten
Wagens. Sehr stolz saß ich mit dem Meister oben auf dem Kutschbock,
und mein Glück war komplett, als mir der Bäcker die Zügel in die Hand
drückte und ich den lammfrommen Gaul dirigieren durfte. Der hörte
wahrscheinlich kaum auf mein hü und hott, kannte er seine Runde
durchs Leipziger Stadtviertel doch vermutlich schon im Traume.

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Ein Herr alten Schlags

Während die Eltern, mein Vater Alfred und meine Mutter Magdalena
(Magda) geborene Hentrich, damals in Plauen in der Rädelstraße
wohnten, waren meine Schwester Ursula (geboren 1930 in Plauen) und
mein Bruder Winfried (1931 dortselbst) bald in Breslau
untergebracht. Sie befanden sich in der Rosenthaler Straße 45 unter
der Obhut von Großvater Max Hentrich und dessen Hausdame Martha
Kufahl. Der Großvater oder „Großvatel“ - im Unterschied so genannt zu
den Leipziger Altvordern, die unter „Oma und Opa“ firmierten - war
von seiner Frau Elfriede Maria Hedwig (Jadwiga) geborene Machaczek
von Dembowski geschieden, die als Schauspielerin und Sängerin nach
Aussage ihres Stiefsohns Herbert eine Zeitlang eine Geliebte des
berühmten Operntenors und zeitweiligen Intendanten des Chemnitzer
„Centraltheaters“ (CT), Richard Tauber, gewesen sein soll. Großvatels
Haushälterin, die ihren Arbeitgeber als „gnädigen Herrn“ oder auch,
im Unterschied zu seinem Sohn Herbert, als „alten Herrn“ titulierte,
mußte sich gefallen lassen, „Frieda“ gerufen zu werden. Großvatel
konnte sich nicht bequemen, den Namen Martha zu verwenden, weil seine
vorhergehende Perle Frieda geheißen hatte. So mußte er sich nicht
umgewöhnen. Die Martha tolerierte die Frieda, war dies doch der
einzige Zwang, den Hentrich sen. ihr auferlegte. Sie hatte volle
Schlüsselgewalt in seinem großbürgerlichen Haushalt.

Max Hentrich besaß vor der Inflation zu Beginn der zwanziger Jahre
in Breslau angeblich über 30 Häuser. Nach der großen Geldentwertung
verblieben ihm nur noch vier; er hatte sich gewaltig verspekuliert
bei einem seiner groß angelegten Grundstücksgeschäfte. Der Sohn aus
wohlhabendem Hause - sein Vater hatte eine „Wurst- und
Fleischwarenfabrik“ betrieben - betätigte sich als Makler und lebte
ansonsten als „Rentier“ aus den Gewinnen der Immobilienverkäufe, aus
Aktieneinkünften und dem, was weitere Papiere abwarfen. Letzteres
nannte er gern „Couponschneiden“. Als er Anfang 1945 mit vielen
anderen Einwohnern aus der schlesischen Hauptstadt vor den Sowjets
flüchten mußte, besaß er noch zwei große Mietshäuser, das eine in
der Rosenthaler Straße, die heute Ulica Pomorska heißt, das andere in
der Müllerstraße um die Ecke. Beide Immobilien überstanden die
schlimmen Monate der „Festung Breslau“ im Zweiten Weltkrieg. Heute

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wohnen allein in Großvaters ehemaliger Wohnung sechs polnische
Mietsparteien.

Diese Wohnung in der Rosenthaler Straße 45 ist für mich heute noch
ein Sinnbild des Luxus im Stil des Fin de siecle. Sie bestand aus
mindestens sechs Zimmern und nahm die gesamte Etage ein. In
Großvaters Schlafzimmer gab es ein Doppelwaschbecken, das in eine
schwarze Marmorplatte eingelassen war. Das Wohn- und Speisezimmer
vermittelte durch seine Paneelierung eine behagliche Atmosphäre. Die
Frühstücksecke thronte auf einer niedrigen Empore. Mittag- und
Abendessen wurden an einem langen Ausziehtisch in der Mitte des
Raums eingenommen; Frieda trug auf. Häufig kam Großvaters im selben
Hause im obersten Stock wohnende Schwester Gertrud Scherwat zu den
Mahlzeiten. Sie trug den von ihrem Bruder aufgebrachten Spitznamen
„Blindschleiche“, der natürlich nur hinter ihrem Rücken getuschelt
wurde. Den Grund für diese wenig schmeichelhaft klingende Titulierung
kenne ich nicht.

Großvater Hentrichs Haus in Breslau (2006)

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Großvatel verkörperte, was man damals mit achtungsvollem Unterton
einen „Herrn“ nannte. Von schlankem Wuchs und gerade noch mittelgroß,
mit silbrig-weißem Haar, stets gekleidet in einen aktuellen
Schneideranzug mit Weste und Krawatte, schwang er beim Gehen auf der
Straße ein Spazierstöckchen mit silbernem Löwenknauf. Im heutigen
Sprachgebrauch würde man sagen, Max Hentrich sei durchgestylt
gewesen. Das ging so weit, daß er türkische Zigaretten mit
persönlichem Namensaufdruck rauchte und anbot. Trotzdem halte ich ihn
nicht für einen Dandy oder Snob, der nach Beachtung heischte. Sein
Stil war sein Leben, eben ein bißchen artifiziell.

Familie Hentrich in Breslau

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Familiäres Harmaggedon

Die Familie meines Vaters war in den Jahren der Weltwirtschaftskrise


verstreut. Der einstige Korporationsstudent Alfred Röber, der als
Leutnant aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte und dann erfolgreich
eine Banklehre absolvierte, konnte als entlassener Sachbearbeiter den
Lebensunterhalt seiner direkten Angehörigen nicht finanzieren. Er
war daher gern auf die großelterlichen Angebote aus Leipzig und
Breslau eingegangen, die Kinder zeitweilig zu übernehmen. Seine Frau
Magda war, ich vermute 1929, von in Plauen missionierenden
Angehörigen der „Zeugen Jehovas“ zu deren Religion bekehrt worden.
Ich kann mir ihre Konversion nur vor dem hoffnungslos verdunkelten
sozialen Horizont dieser Jahre erklären. Zeitlebens hing sie den
Ansichten der Ernsten Bibelforscher und der „Wachtturm“-Traktate" mit
fanatischer Treue an. „Harmaggedon“ gehörte fortan zu ihrem
Sprachschatz. Ihr Lieblingsthema bestand im Ausmalen des herrlichen
Daseins der überlebenden Getreuen und Auserwählten nach dem Letzten
Gericht. Ihr allerdings sollte ihre Glaubensüberzeugung zum Unheil
gereichen…

Ausflug in den 30er Jahren mit Mutter und P4

In Leipzig wurde ich anders eingestimmt. Bis 1934 flaggte Opa an


allen nationalen Feiertagen schwarz-weiß-rot. Als Fünfjähriger
bemerkte ich schon den Unterschied zur Hakenkreuzfahne, die aus den

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Fenstern mancher anderer Wohnungen hing. Und aus den Gesprächen der
Erwachsenen lernte ich frühzeitig den Begriff „Politik“ kennen,
wenn auch noch nicht verstehen. Man sprach oft über die Zeitläufte.
Religion hingegen war kein Thema, eher eine lutherische
Selbstverständlichkeit, über die es nichts zu diskutieren gab.

„Hindenburg ist gestorben“, sagte der Opa am 2. August 1934. „Genau


an Deinem sechsten Geburtstag. Da ist uns nicht nach Feststimmung
zumute. Er war ein großer Feldherr, unser Hindenburg, der Sieger von
Tannenberg. Wer wird jetzt nach ihm kommen. Wird der Hitler
Reichspräsident?“

Meine Mutter Magda, geb. Hentrich, und ich (um 1930)

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Im Dritten Reich

Noch am selben Tage ließ Adolf Hitler die Reichswehr durch deren
Oberbefehlshaber, den Reichskriegsminister Werner von Blomberg, auf
sich persönlich vereidigen. Nun war das Regiment der
Nationalsozialisten im Reich durch die bewaffnete Macht abgesichert.
Hinzu kam, daß die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten
in seiner Person zusammengefaßt wurden. Das Hakenkreuz hatte gesiegt.
Die schwarz-weiß-roten Fahnen verschwanden bald aus dem Leipziger
Straßenbild wie die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP), der Opa
angehangen hatte, aus dem Parteienspektrum, das sich bald auf die
NSDAP verengte. Nie habe ich vom Opa erfahren, wie er die NS-
Machtergreifung aufnahm.

In Breslau hingegen erhielt in Großvaters Wohnung in der Rosenthaler


Straße 45 (heute Ulica Pomorska) ein kleineres Zimmer eine neue
Funktion. Trat man durch eine Portiere, die es vom Herren- und
Bibliothekszimmer abgrenzte, blickte man auf ein nahezu mannshohes
Ölbild Adolf Hitlers. Nach diesem Porträt hieß der Raum, in dem sich
auch eine gute Kopie des „Mannes mit Goldhelm“ von Rembrandt (heute
umstritten) und ein Grammophon zum Abspielen markiger Marschlieder
befanden, fortan „Führerzimmer“.

Großvaters Sohn Herbert aus erster Ehe hatte hier seine Kultstätte.
Der ehemalige Angehörige des Jungdo, des Jungdeutschen Ordens, und
nunmehrige SA-Führer Herbert Hentrich hatte die Ausstattung angeregt
und beschafft. Onkel Herbert war kein Rabauke wie viele seiner SA-
Kameraden. Er war ein verlaufener Konservativer, der sich den
Nationalsozialisten angeschlossen hatte, weil sie ihm am ehesten
geeignet erschienen, die „Systemzeit“ der Republik von Weimar mit
ihren Auswüchsen zu überwinden und an ihrer Stelle den Volksstaat zu
errichten. Er idealisierte seinen Führer wohl auch deshalb, weil er
einen politischen Heilsbringer brauchte, um sich täglich neu von der
Richtigkeit seiner Entscheidung zugunsten der Nationalsozialisten zu
überzeugen.

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Der Standartenführer

Als Geschäftsmann war Herbert, zumindest in den dreißiger Jahren,


eine Niete. Er setzte als Geschäftsführer die Breslauer
Glockengießerei Hentrich & Zudnochowski in den Sand und ging in der
schlesischen Hauptstadt mit einer Selterswasser- und Limonadenfabrik
pleite. Beide Firmen hatte sein Vater für ihn erworben und bis zum
Untergang finanziert. Als hauptamtlicher SA-Führer - ein weiteres
mutmaßliches Motiv - hatte Herbert nun sein monatliches „Gewisses“,
und er brachte es schließlich bis zum Standartenführer dieser NS-
Miliz. Damit hatte er einen Rang inne, der dem eines Obersten bei der
Wehrmacht entsprach. Später, während des Zweiten Weltkriegs, diente
er als Luftwaffenoffizier beim Jagdgeschwader „Immelmann“. Er war
Hauptmann und NSFO (Nationalsozialistischer Führungsoffizier). Von
seiner Einheit her kannte Onkel Herbert auch Oberst Rudel, den
erfolgreichsten deutschen Schlachtflieger, der für viele junge
Menschen meiner Generation zum leuchtenden Inbegriff deutschen
Soldatentums werden sollte. Vaters Offiziersberuf und die
Soldatenvorbilder des Zweiten Weltkriegs übten prägenden Einfluß auf
meinen Charakter, meine Lebensvorstellungen, ja mein Weltbild aus.

Das dem Führerzimmer benachbarte Herrenzimmer war zugleich Bibliothek


und - Kriegsmuseum. Wo kein Mobiliar stand - Bücherschrank,
Ledersessel, Rauchtisch, Schachtischchen - waren die Wände mit
Beutestücken aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 dekoriert.
Sie waren von Max Hentrich - wie auch andere sündteure antike
Einrichtungsstücke der Wohnung - bei Auktionen ersteigert worden.
Neben zwei französischen Regimentsfahnen hingen an kräftigen Haken
Gewehre und schwere Reiterpistolen. Am meisten gefielen meinem Bruder
Winfried und mir die goldglänzenden Kürassierhelme mit ihren
wallenden Roßschweifen. Mehr als einmal mußte uns beide kleinen Buben
„Tante Frieda“, die Haushälterin, die eigentlich Martha hieß,
hindern, mit dem Schießzeug bewaffnet und martialisch behelmt durch
die Wohnung zu stürmen.

Die wenigen Male, die ich im Gegensatz zu meinen jüngeren


Geschwistern Ursula (Ursel) und Winfried in Breslau zu Besuch war,
bediente ich mich stets aus der reichhaltigen Hausbibliothek.

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Am stärksten fesselten mich Geschichtswerke, von denen mehrere, meist
schwere bebilderte Folianten, vorhanden waren. Damals wurden meine
ersten historischen Idole geboren und die grundlegenden Konturen
meines Geschichtsbildes gezeichnet: Auf dessen Bühne agierten
Friedrich der Große, Otto von Bismarck, aber auch die Rittermönche
des Deutsche Ordens sowie die geheimnisumwitterten Schwertbrüder des
Tempels von Jerusalem. Die Szenerien waren die Kreuzzüge, der
Siebenjährige Krieg, die Französische Revolution, die
Befreiungskriege und die Schlachten von 1870/71. Meine Phantasie
beschäftigte sich mit so tragischen Gestalten wie Prinz Louis
Ferdinand von Preußen, der bei Saalfeld blutjung den Soldatentod
erlitt, wie mich überhaupt solche Schicksale fesselten, die zugleich
etwas plakativ Schicksalhaftes hatten. Zu meinen Lieblingen gehörten
darum auch Theodor Körner und Heinrich von Kleist, beide Mars und
Muse. Aber auch der preußische Friedrich von der Trenck hatte es mir
samt seinem Verwandten „Trenck der Pandur“, der unter Maria Theresia
für die Österreicher focht, mächtig angetan. Der Pandur trat in
meinen Geschichtshorizont zuerst durch einen gleichnamigen Film, der
uns in einer Jugendfilmstunde der HJ gezeigt wurde. In einer
derartigen Kinoveranstaltung sah ich mit den Kameraden auch den
Streifen „Kadetten“. Fortan wußte ich, daß ich Offizier werden würde.
Und ich schwor mir, von nationaler Standhaftigkeit zu sein wie der
deutsche Widerstandskämpfer nach dem Ersten Weltkrieg, Albert Leo
Schlageter, den die Franzosen in der Golzheimer Heide erschossen.
Dabei imponierte mir nicht zuletzt, daß der Offizier, der das
Hinrichtungskommando befehligte, nach vollbrachter Tat seinen Degen
als Zeichen der Ehrerbietung vor dem gefallenen Feinde senkte.

Das Kind in Leipzig, aufgepäppelt mit Mehlsuppe, Dorschlebertran ,


Graupensuppe, Grünen Klößen, sächsischem Christstollen und mehrere
Jahre lang mit einem glotzenden Silvesterkarpfen „blau“, den es haßte
wie die Pest, gedieh prächtig. Es war eine ausgesprochene
Einzelkinderziehung, die mir zuteil wurde, denn Spielkameraden hatte
ich nicht. Oma und Opa hegten Vorbehalte gegen „die Straße“, und
selten nur gelang es mir, auf selbige zu entkommen. Ich stellte dann
allerdings auch hanebüchenen Unsinn an. So machte es mir
beispielsweise eines Tages mächtigen Spaß, die Schaufensterscheibe
eines auf der anderen Straßenseite liegenden Ladengeschäfts zu

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verdunkeln. Dies gelang mir mittels eines zufällig dort stehenden
Eimers, in dem sich zähflüssiges Pech und ein Pinsel befanden. Zu
welchem Zweck auch immer diese Garnitur dienen sollte - bestimmt
nicht zu dem, was ich damit veranstaltete. Erst, nachdem ich den
Pinsel einige Minuten heftig geschwungen hatte und im Laden das
Tageslicht immer mehr abnahm, kam der Geschäftsinhaber aus der Tür
gestürmt. Er tobte fürchterlich, und beinahe hätte ich eine Ohrfeige
eingefangen. Von dem empörten Mann zum Opa geschleppt, mußte sich
dieser ebenfalls zusammennehmen, um mir nicht die verdiente
Maulschelle zu geben.

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Plumpsklo als Buen retiro

Zu derartigen Dummejungenstreichen hatte ich ansonsten wenig


Gelegenheit. Meine überschüssigen Kräfte tobte ich im Schrebergarten
aus, den die alten Röbers im Leipziger Osten hegten und pflegten.
Dort durfte ich herumspringen und nach Herzenslust lärmen. Ich war
ein geschickter Fänger von Fluginsekten, speziell Bienen und Hummeln.
Ließen sich die Tierchen auf einer Blüte nieder, packte ich sie von
hinten an den Flügeln und ergötzte mich an ihrem ärgerlichen Gesumm
und Gebrumm. Das ging so lange gut, bis mich eine fette Hummel in den
rechten Daumen stach. Der schwoll ungeheuerlich an, und die Oma legte
kühlende Umschläge darum. In diesem Garten wuchsen allerlei leckere
Früchte, an denen ich mich laben konnte. Nur schwarze Johannisbeeren
mochte ich nicht: „So müssen Wanzen schmecken“, sagte ich zur Oma,
wenn sie die dunklen Beeren als besonders gesund pries. Auch die
roten Johannisbeeren waren nicht unbedingt mein Fall. „Zu sauer“,
wurde die Ablehnung begründet.

Es klingt absurd, aber einer meiner Lieblingsplätze in diesem Garten


war das Plumpsklo. Damals waren die menschlichen Nasen für dessen
Gerüche noch nicht so empfindlich wie heute. Das Bretterhäuschen als
solches faszinierte mich natürlich nicht; es waren seine „Tapeten“.
Lange konnte ich mir die bunten Bilderbögen aus dem deutsch-
französischen Krieg 1870/71 betrachten, mit denen der Opa aus
unerfindlichem Grunde den Lokus ausgekleidet hatte. Da schossen
Franctireurs, so nannte man damals die Partisanen, aus den
Fensterhöhlen zerstörter Häuser, da stürmte preußische Infanterie mit
gefällten Bajonetten ein Dorf, und dort schossen Kanonen eine
Stellung sturmreif. Woher die mit Reißzwecken angehefteten Seiten
stammten, habe ich nie erfahren. Auch ein weiteres Bild, das gerahmt
im Gartenhaus hing, habe ich heute noch vor Augen. Es hatte ebenfalls
etwas mit dem Klo zu tun. Es zeigte einen Vater nebst Sohn, die sich,
bewaffnet mit einer Schöpfkelle, über das Abortloch beugen. „Vatter,
verlier die Pfeife nicht“, sorgt sich der Sohn, und der Alte
antwortet: „Nee.“ Und schon saust die Pfeife, von den Zähnen nicht
mehr gehalten und der Schwerkraft folgend, in den Lokus. Als ich noch
nicht lesen konnte, hat mir die Oma den Text oft vorgesagt. Gern sah
ich dem Opa beim Imkern zu. Er rauchte, wenn er mit den Bienen zu tun

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hatte, aber auch sonst im Garten, Pfeife. Am Bienenstand zog er sich
eine seltsame Kopfbedeckung mit Gazeschleier übers Haupt, was ihm
einen gespenstischen Anblick verlieh. Dazu machte er mächtig Dampf.
Erstaunlicherweise schalt ihn diesmal die Oma nicht, daß er „wieder
geroocht“ habe.

Im Leipziger Garten

Gern, wenn auch nicht sehr oft, kamen die Söhne Alfred und Herbert -
dieser der Röber´sche Herbert und Bruder meines Vaters im Unterschied
zum Hentrich´schen - nach Leipzig zu ihren Eltern. In der Wohnung und
im Garten wurde mit bescheidenen Mitteln manches harmonische
Familienfest begangen. Ein Foto aus späteren Jahren, vielleicht drei
Jahre vor Kriegsbeginn, zeigt ein solches Familientreffen im Garten.
Neben Oma und Opa sitzen da in trautem Verein in der Laube Vater
Alfred und Mutter Magda, Omas Halbschwester Emma Lehne, Vaters Bruder
Herbert Röber mit seiner Frau (oder noch Verlobten?) Edith geb.
Lindemann und ich. Auffällig ist, daß mein Vater, ein patriotischer
Sachse, auf dem Bild eine Lederbuxn trägt. Er hat dieses bajuwarische
Kleidungsstück zeitlebens geliebt, auch wenn es ihm nach Meinung
seiner Frau überhaupt nicht stand. Mit meinen zwei präsentieren sich
daher vier nackte Knie unterschiedlicher Jahrgänge im Bild.

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Der erste Freund

Ende 1934 konnte Vater seine Familie endlich zusammenführen. Als


Mitglied des NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps), einer
Parteigliederung, oder durch eigenes Bemühen hatte er einen
Sachbearbeiterposten bei der soeben geschaffenen Deutschen
Zentralstelle für Lederbewirtschaftung in der Reichshauptstadt
bekommen. Wir zogen von Plauen nach Berlin, in den Bezirk Steglitz.
In der Schöneberger Straße 14, einem Eckhaus mit Kneipe, fand sich
eine geräumige Wohnung im zweiten Stock. Sie verfügte auch über zwei
Balkone, doch konnte der eine in Richtung Holsteinische Straße nicht
genutzt werden, weil er angeblich baufällig war.

Die Leipziger Großeltern hatten mich nur ungern zurückgegeben, doch


ging ich froh nach Berlin in der Erwartung, dort endlich
Spielkameraden zu finden. Und so war es auch: Mein Freund wurde der
gleichaltrige Fritz (Fritzi) Cordes, der gegenüber, in der
Schöneberger Straße 2, bei seinen Eltern wohnte. Fritzis Vater war,
glaube ich, Angestellter wie mein Erzeuger. Der Knabe und ich hatten
sich sozusagen gesucht und gefunden. Wir waren ein Duo wie Max und
Moritz.

Singend in den Untergang Seite 21


Erste Rauchversuche

Mit Fritzi rauchte ich meine erste Zigarette. Die Marke hieß
„Orienta“, und die Fünf-Stück-Packung aus dem Automaten kostete vor
dem Kriege einen Groschen, was in Berlin einen Zehner bedeutete. Das
Fünf-Pfennig-Stück hieß dort übrigens sinnigerweise Sechser. Um dem
Rauchvergnügen unbeobachtet frönen zu können, begaben wir zwei uns in
den vom Bürgersteig her nicht einsehbaren Treppenabgang einer
Kellerwohnung der Holsteinischen Straße. Beim ungeschickten Anzünden
des Glimmstengels mit dem Zündholz versengte sich Fritzi prompt die
vordersten Haare, die ihm stets ins Gesicht hingen. Zuhause roch
seine Mutter sofort den Braten, stellte ihren Sprößling zur Rede, und
dieser gestand. Die Nachricht von der ungeheuerlichen Tat der beiden
Freunde machte die Runde von Frau Cordes zu Herrn Cordes und von
diesem zu meinem Vater.

Leider hing dieser noch der Pädagogik des Rohrstocks an. Züchtigungen
waren stets in ein strenges Zeremoniell eingebunden: Mutter mußte
mich abends ins Herrenzimmer schicken, wo Vater mit gezücktem
Erziehungsinstrument auf den Delinquenten wartete.

Vater: „Was hast Du zu gestehen, mein Sohn?!“ - Manfred: „Fritzi und


ich haben geraucht.“ - „Dürft Ihr das?“ - „Nee.“ - „Und warum nicht?“
- „Kinder sollen noch nicht rauchen, weil es ungesund ist.“ - „Du
rauchtest aber trotzdem?!“ - „Ja.“ - „Hast Du also Deine Strafe
verdient?“ - Meine Antwort kam nunmehr höchst zögernd: „Ja.“ Die
Strafe wurde an Ort und Stelle exekutiert: „Bück Dich!“ Drei kräftige
Hiebe prasselten auf meinen Hintern. „Das soll fürs erste genügen.
Beim nächsten Mal ...“ Die abschließende Drohung wurde nicht
präzisiert, aber fortan ließen wir zwei Freunde uns beim -
gelegentlichen - Rauchen nicht wieder erwischen. Wir machten sowieso
keine Lungenzüge, mußten wir doch auf den ersten, versehentlichen,
fürchterlich husten. Einmal konsumierten wir „Rohrpumpen“, ein
Schilfgewächs. Es schmeckte jedoch so schauderhaft, daß wir es nie
wieder anzündeten.

Fritzi und ich, zu denen im Laufe der Zeit noch weitere Freunderln
dieser Art stießen, hatten üble Streiche in petto. So verwendeten wir
ein seinerzeit häufig angewendetes Herbizid, dessen Markenname

Singend in den Untergang Seite 22


„Unkraut-Ex“ hieß, als Knallpulver. Wenn man den Stoff aus der
Papiertüte mit einigen chemischen Zugaben mixte, wurde er zur
geballten Ladung. Die brisante Präparation wurde auf eine
Straßenbahnschiene gelegt. Sobald die Räder der Tram unsere Landmine
überrollten, gab es eine Stichflamme, die von einem lauten Knall
begleitet war. Die Straßenbahn hielt ruckartig, der Mann an der
Kurbel sprang erschreckt aus dem Triebwagen, und wir feixten von
einem Ohr zum anderen. Es versteht sich von selbst, daß wir das
Schauspiel aus der Deckung eines Hauseingangs verfolgten. Einmal
hätte uns ein Straßenbahnführer fast erwischt. Da wir aber alle
Hinterhausdurchgänge im Viertel kannten, entkamen wir ihm
schließlich, nach Luft japsend.

Einen weiteren Spaß machten wir uns damit, unter einem der fahrbaren
Zeitungskarren, wie sie an vielen Straßenecken Berlins standen, eine
Karbidflasche zu deponieren. Durch Wasserzugabe erzeugten wir in dem
Glasbehälter einen ständig zunehmenden Druck, der das Ding letztlich
kanonenschußartig zerplatzen ließ. Auch hier hüpfte wieder ein zu
Tode erschreckter Mensch aus seinem Gehäuse, was uns mächtig
verlustierte. Man hat uns Attentäter nie erwischt. Unser Glück war,
daß niemand zu Schaden kam.

Singend in den Untergang Seite 23


Eine elende Tat

1935, nach Ostern, wurde ich verspätet eingeschult. Wahrscheinlich


lag dies am Datum meines Geburtstags, der nicht in die
Jahrgangsstruktur der Klassen paßte. Meine erste Penne war die III.
Volksschule in Berlin-Steglitz. Aus dieser Schulzeit, wie überhaupt
aus meiner Volksschulzeit, kann ich mich nur an einen Vorfall
erinnern, der mir heute noch auf der Seele lastet. In der ersten
Klasse gab es auch einen Juden. Er hieß Mangold. Der arme Bub wurde
von uns mehrmals und völlig grundlos böse verdroschen. Zu dieser Tat
hatte uns niemand aufgefordert. Ich kann heute nur annehmen, daß uns
der bereits damals schwelende Judenhaß bösartig motivierte. Mangold
verschwand bald aus unserer Klasse. Wir haben ihn nie wieder gesehen
oder etwas von ihm gehört.

Singend in den Untergang Seite 24


Vater wieder Soldat

Im selben Jahr wurde Vater reaktiviert. Das Reich hatte die deutsche
Wehrhoheit, die seit dem Versailler Diktat ruhte, wiederhergestellt.
Als Hauptmann z.D. (zur Dienstleistung herangezogen) tat er Dienst
auf dem Berliner Flugplatz Schönefeld. Unser Vater war glücklich.
Soldat mit Leib und Seele, fühlte er sich nicht mehr als
„minderwertiger“ Zivilist. Fortan bejahte er, wenn auch mit
geringfügigen Einschränkungen, den Nationalsozialismus. Alle Briefe,
die von ihm erhalten sind, auch die privaten, schließen mit „Heil
Hitler“. Mit Sicherheit war er kein Judenhasser. Negative
Anspielungen auf Angehörige dieser Religionsgemeinschaft habe ich von
ihm nie gehört. Sie unterblieben daher auch in der Familienrunde.
Dennoch hing er sehr wohl der „Rassenkunde“ an.

Mein Vater Alfred Röber noch als Major

Ein Brief aus dem Jahre 1941 gibt Einblick in das Denken meines
Vaters. Sein Schreiben stammt vom 16.10.41 und ist an den k.u.k.
Major a.D. Reber in Wien gerichtet, einen Röber-Familienforscher, der

Singend in den Untergang Seite 25


im Staatsarchiv Wien allein neun Karteikästen zum Thema Roeber -
Röber - Reber - Rewer plus entsprechende Adelsnamen in Westpreußen
und der Schweiz hinterließ. Auszug:

„Etwas aggressiv bin ich gelegentlich, auch Widerspruchsgeist habe


ich in mir. Und das besonders dann, wenn meine Sachsen, meiner
Meinung nach nicht ganz berechtigt, angegriffen werden. Wenn ich mich
auch durchaus als Deutscher fühle, so bin ich doch auch wieder stolz
darauf, daß ich kein Preuße, sondern gerade ein Sachse bin, denn auch
unsere sächsische Geschichte hat genauso ihre Höhepunkte wie die
preußische. Andernteils bin ich auch stolz darauf, daß ich nordisches
Blut in den Adern habe und das zweifellos nicht zu wenig. Meine
Beschäftigung mit der Rassenkunde hat mir das jedenfalls bei meiner
Familie bestätigt. Gewiß, ich bin nur mittelgroß (nicht klein!), aber
ich bin auch der Kleinste in der Familie. Mein Vater war um ca. 3 cm
größer und mein Bruder ist es. Dabei herrscht bei ihnen mehr die
Langbeinigkeit vor, während sich bei mir im ganzen Körperbau und im
unteren Fahrgestell doch ein kleiner ostischer Einschlag bemerkbar
macht. Im Übrigen nehme ich das aber nicht tragisch. Daß jedenfalls
unsere Familie an sich der nordischen Rasse entstammt, davon bin ich
überzeugt, und es ist deshalb durchaus möglich, daß Ihre Ansicht, daß
auch wir dem großen Röberstamme angehören und uns von den Goten
herleiten, richtig ist.“

Singend in den Untergang Seite 26


Legendärer Jarl af Rower

Vater hatte es mit den nordischen Germanen. Entsprechend sahen die


Ergebnisse seiner „Ahnenforschung“ aus. Dabei stützte er sich vor
allem auf die bereits erwähnten Karteikästen des Wieners Reber. Als
mein Vater 1946, nach Kriegsende und wohl vor allem, um sein
Selbstbewußtsein wieder aufzurichten, ein Familienwappen stiftete,
schrieb er in die Gründungsurkunde:

„Die gekreuzten Schwerter im Schild erinnern an die Heimat unserer


direkten Vorfahren im Meißnischen, die Ähren an ihre Berufe als
Bauern und Gärtner; der Stubben enthält eine Anspielung auf die
Namensdeutung: Röber = Räuber, Seeräuber, Wiking. Auch die Helmzier,
der offene Seeadlerflug, weist gen Norden.“

Und dann weiter:

„Als legendärer Stammvater der Röber wird ein Erik Jarl af Rober oder
Rower genannt. Er war Unterfeldherr des deutschen Königs Heinrich I.
in den Slawenkriegen (926/27) und erbaute am Müritzsee eine Burg
(heute Stadt Röbel).“

Nun ja, über diese uradlige Abstammung kann man sich trefflich
streiten. Urkundlich belegt ist hingegen das schlesisch-polnische
Landadelsprädikat unserer Großmutter mütterlicherseits (Omi): „von
Dembowski“. Sie war eine außereheliche Tochter dieses Gutsherrn aus
Polnisch-Schlesien, gezeugt mit einer Bediensteten, nach der Geburt
einem Eisenbahnwerkmeister in Ratibor/OS namens Machaczek
überantwortet und später sowohl von ihrem aristokratischen Erzeuger
als auch amtlich anerkannt als „Machaczek von Dembowski“.

Bei unserer Mutter, der das Nordische ausgesprochen egal war, konnte
rassische Toleranz nicht verwundern. Ihre beste Freundin in Berlin,
eine „Zeugin Jehovas“ wie sie selbst, hieß Nessy Raffke. Vor ihrer
Bibelforschertaufe gehörte sie dem mosaischen Glauben an. Als Jüdin
ist sie wahrscheinlich ein Opfer des Holocaust geworden. Eines Tages
sagte nämlich unsere Mutter: „Sie haben die Nessy abgeholt.“ Unter
„Abholen“ stellten wir Kinder uns noch nichts Konkretes vor. Es war
ein Wort, sonst nichts. Zumindest vorerst. Jahre später ahnten wir
etwas. Diese Ahnung überkam uns nach einem einschneidenden Ereignis
Singend in den Untergang Seite 27
im Jahr 1938.

Singend in den Untergang Seite 28


„Manfred liebt Erika“

Ehe ich darauf eingehe, ist noch eines anderen Geschehens zu


gedenken, das nicht so schwergewichtig war, aber für einen Jungen,
der etwa zehn Jahre zählte, große Bedeutung besaß. Ich lernte meine
erste Freundin kennen. Sie hieß Erika, war zwölf und zu Besuch bei
Verwandten in der Holsteinischen Straße 2, also bei uns um die Ecke.
Das Mädel, eine zierliche und, wie mir schien, hübsche Blondine mit
langen Zöpfen, die sie manchmal auch offen trug, gab sich gern
kokett, und ich war wohl der erste Knabe, der anbiß. Ich verfiel
ihrem Kleinmädchencharme so sehr, daß ich es wagte, sie in einem
Hausflur überfallartig zu küssen. Vielleicht war ich noch ein bißchen
ungeschickt dabei, traf ich doch mit gespitztem Mund zuerst ihre
Nase, doch schienen ihr meine Anfangsübungen zu gefallen. Sie küßte
zurück. Fortan fühlten wir uns innig verbunden, und mein
Selbstbewußtsein wuchs von Tag zu Tag. Freund Fritzi, mutmaßlich von
unbewußtem Konkurrenzneid oder schlichter Eifersucht getrieben, ließ
das turtelnde Verhältnis seines Freundes mit dem fremden Mädchen
nicht kalt. Um unsere Bindung zu sprengen, schrieb er an mehrere
Hauswände mit Schulkreide die öffentliche Nachricht „Manfred liebt
Erika“. Er hätte uns nicht „outen“ müssen, wie man heute sagt. Denn
kurz darauf verließ Erika Berlin wieder, um in ihr Elternhaus
zurückzukehren. Ich habe sie nicht wieder gesehen, meine Kinderliebe.

Wenn der Vater vom Fliegerhorst Schönefeld nach Hause kam, entbrannte
zwischen den Eltern mehrfach Streit. Heute weiß ich, daß es um
Mutters persönliche Werbung für die Zeugen Jehovas ging. Die Geheime
Staatspolizei (Gestapo) hatte dem Luftwaffenoffizier - aus welchem
Grunde auch immer - signalisieren lassen, daß man der Propaganda für
eine verbotene Sekte, die, so die Begründung, nichts weiter als die
getarnte Vorhut einer amerikanischen Spionageorganisation sei, nicht
mehr lange tatenlos zusehen werde. Niemand wolle der Frau Röber
verwehren, den Unsinn zu glauben, den die Bibelforscher als Religion
ausgäben. Aber missionieren dürfe sie nicht mehr. In den lautstarken
elterlichen Auseinandersetzungen ging es just um diesen Punkt. Vater
wollte seiner Frau ihre Hausbesuche im Dienste der Zeugen erst
ausreden, dann verbieten. Beides nützte nichts.

Singend in den Untergang Seite 29


Sie kamen nachts

Im August 1938 war es so weit. Die Gestapo schlug zu. Sie kamen
nachts. Drei oder vier Männer in den obligatorischen Ledermänteln.
Erst Donnern an der Wohnungstür, dann Gebrüll und Getrampel in der
Wohnung. Wir drei Kinder wurden aus den Betten gescheucht, Bezüge und
Matratzen flogen auf den Boden. Die Schergen durchwühlten alles,
sogar in den Schränken des Kinderzimmers fahndeten sie nach „Zeugen-
Materialien. In allen anderen Räumen der großen Wohnung ähnliche
Szenen. Der Vater beobachtete die Tätigkeit des Überfall-Kommandos
ohne Kommentar, ließ sich lediglich die Bezeichnung der
veranlassenden Dienststelle nennen. Protest hätte keinen Sinn gehabt.

Die Hausdurchsuchung blieb erfolglos. Die von Minute zu Minute


mürrischer werdenden Gestapisten fanden nichts, jedenfalls nicht das,
was sie gesucht hatten. Es müssen ziemlich schlichte Typen oder
Anfänger im Metier gewesen sein, lagerten doch die „Wachtturm“-Hefte
sozusagen vor ihrer Nase. Der Bücherschrank in Vaters Herrenzimmer
besaß ein Fach an seiner Oberseite, zur Stubendecke hin. Es war
vermutlich ein Tresor für Bücher und Publikationen erotischen
Inhalts, die damals ein Herr, der etwas auf sich hielt, nicht offen
herumliegen ließ. Das Fach war für Kinder nicht erreichbar. Sie
hätten erst eine Trittleiter besteigen müssen. Dann hätten sie noch
immer nicht den Schlüssel besessen, mit dem Vaters Geheimnis, das von
Mutter für ihre Zwecke gebraucht wurde, gelüftet werden konnte.

Die Gestapobeamten verließen nach rund zwei Stunden die Wohnung. In


allen Zimmern sah es aus, als wäre ein Wirbelsturm durchgebraust. Sie
nahmen kein Material mit, wohl aber - die Mutter. Am nächsten Morgen,
als wir drei Kinder uns unausgeschlafen am sonntäglichen
Frühstückstisch versammelten, teilte uns Vater mit, Mutti sei
„verreist“. Selbst ich, damals zehnjährig, blickte nicht durch. Ich
wunderte mich zwar über die plötzliche Abreise nach der turbulenten
Nacht und brachte sie auch irgendwie in einen Zusammenhang mit deren
Ereignissen. Doch ich verknüpfte mein Wissen noch nicht mit dem
Begriff „Gestapo“ oder gar „KZ“.

Monate später wurde ich zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen


meinem Vater und einem seiner Bekannten. Aus diesem ging hervor, daß

Singend in den Untergang Seite 30


„Magda ins Konzentrationslager eingeliefert wurde“. Vater sagte, er
wisse noch nicht, in welches und bat anschließend seinen
Gesprächspartner, gegenüber jedermann über diese Mitteilung zu
schweigen. Sonst müsse er mit den Konsequenzen rechnen, die ihm die
Geheime Staatspolizei für den Fall angedroht habe, daß er über die
Festnahme der Mutter rede.

Mutters KZ-Ausweis

Singend in den Untergang Seite 31


Ein Brief aus Ravensbrück

Bei einem Ferienaufenthalt in Breslau sah ich den ersten Brief aus
dem „KL Ravensbrück“ (offizielle Bezeichnung). Mutter hatte zwar eine
ganze DIN-A-4-Seite voll geschrieben, doch waren nur wenige Zeilen
leserlich. Aus diesen ging hervor, es gehe ihr „gut“, und die Familie
sollte sich keine Sorgen um sie machen. Der Rest des Schreibens war
mit schwarzer Tusche unkenntlich gemacht. Es war der einzige Brief
aus der Hölle von Ravensbrück, den ich jemals zu Gesicht bekam.
Später wurde uns Kindern nur immer wieder sporadisch von den Älteren
der Familie versichert, Mutter werde bald wieder nach Hause dürfen.

Die Lagerzensur hatte Grund genug, viel Tusche zu verschwenden. Das


1938 nahe Fürstenberg errichtete Lager, anfangs für 3000 weibliche
„Schutzhäftlinge“ projektiert, sah innerhalb seiner hohen Mauern zeit
seines Bestehens etwa 132 000 Gefangene. Mindestens 10 000 Frauen, so
weiß man heute, starben in Ravensbrück. Ab 1944 war es zugleich
Vernichtungslager. Ende 1944 waren rund 4.500 Frauen in seinen 32
Wohnbaracken zusammengepfercht, und es mangelte an sanitärer und
medizinischer Versorgung. Mutter, die den lila Winkel der aus
religiösen Gründen Inhaftierten trug, arbeitete mit weiteren
Zeuginnen Jehovas die überwiegende Zeit ihrer KZ-Inhaftierung in
Außenkommandos, meistens in Gärtnereien der Lagerverwaltung und der
Umgebung. Sie und ihre Leidensgefährtinnen mußten jedoch in den
letzten Kriegsmonaten an den regelmäßigen Lager-Selektionen“
teilnehmen. Die Frauen marschierten zu diesem Zweck unbekleidet an
einer Kommission des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vorbei. Je
nach ihrer gesundheitlichen Verfassung wurden sie nach links oder
rechts gewinkt. Die Frauen der einen Seite durften weiter "leben",
die auf der anderen gingen als Bahnfracht in Viehwaggons nach
Auschwitz oder in ein anderes Lager im besetzten Polen und
größtenteils ins Gas, oder sie wurden mit lagereignen Mitteln
„liquidiert“. Am 30. April 1945 wurden die überlebenden Häftlinge von
Soldaten der Sowjetarmee befreit. Unter diesen Frauen befand sich
auch meine Mutter.

Über die Bibelforscher in der Zeit des Dritten Reiches gibt es mehr
oder minder exakte Zahlen: Beim Verbot der „Zeugen Jehovas“ 1933
sollen es rund 25.000 gewesen sein. 10.000 davon litten in den

Singend in den Untergang Seite 32


Konzentrationslagern, 2.000 sollen bis 1945 in Vernichtungslager
deportiert worden sein.

Singend in den Untergang Seite 33


In Chemnitz

Es muß 1938 gewesen sein, als wir von Berlin nach Chemnitz umzogen.
Der Luftwaffenmajor Alfred Röber war versetzt worden, zum dortigen
Wehrbezirkskommando (WBK). Am Hindenburgplatz 13 hatte sich im
zweiten Stock eine große Wohnung gefunden, die zudem noch eine
Dienstmädchenmansarde besaß. Seit der KZ-Einlieferung seiner Frau
hatte unser Vater eine Haushälterin engagiert, die von uns Kindern
heiß geliebte „Tante Betty“. Sie stammte aus Riga und war nach dem
Tod ihres Mannes, eines Ingenieurs, ziemlich verarmt. Als Baltin aus
dem großbürgerlichen deutschen Milieu der lettischen Hauptstadt war
sie in Denken und Haltung eine Dame. Sie verstand es, den Haushalt,
der aus unserem Vater und uns drei Kindern sowie einem Dienstmädchen
bestand, das bald durch ein sogenanntes „Pflichtjahrmädchen“ ersetzt
wurde, reibungslos zu organisieren. Obwohl sie eine „vollschlanke“
Figur besaß - sie hätte es verübelt, wenn man sie beleibt, rundlich
oder drall genannt hätte -, war sie körperlich behende und geistig
sehr rege, besaß Humor und eine gute Hand für den Umgang mit Kindern.
Politisch zeigte sie sich nicht sonderlich engagiert oder
interessiert. Einem Eintritt in die NS-Frauenschaft entzog sie sich
stets geschickt, ohne erkennbar eine Regimegegnerin zu sein. Die
Nationalsozialisten und ihre Partei waren ihr einfach gleichgültig.
Nur der Führer Adolf Hitler hatte bei ihr einen unbestreitbaren
Stellenwert.

Singend in den Untergang Seite 34


Ich werde Pimpf

So ist es nicht verwunderlich, daß weder mein Vater noch Tante Betty
etwas dagegen hatten, als ich im selben Jahr 1938, damals noch
freiwillig, zum Deutschen Jungvolk (DJ) stieß. Mir wurde sofort die
komplette Pimpfenuniform gekauft, die von jedem DJ-Mitglied selbst
erworben werden mußte Als Zehnjähriger wurde ich, was der Einheiten-
Einteilung nach Jahrgängen entsprach, dem Jungzug 4 zugeteilt. Die
Grundeinheit, die vier Jungzüge aufsteigender Altersklassen von zehn
bis vierzehn zählte, war das Fähnlein 5 mit dem klangvollen Namen
„Geusen“. „Der Wassergeus steht auf dem Priel“ sangen wir stolz das
Lied unserer Einheit, wenn wir durch die Straßen marschierten, voran
die Pfeifer und Trommler. Erst nach bestandener „Pimpfenprobe“, wozu
u.a. das Aufsagen der „Schwertworte“ gehörte, durften wir das
Fahrtenmesser, den HJ-Dolch mit der Klingenätzung „Blut und Ehre“,
am Koppel befestigen. Diese Armierung machte uns mächtig stolz. Und
wir waren bereit, zu halten, was wir gelobt hatten:

Ich verspreche, in der Hitlerjugend

allzeit meine Pflicht zu tun

in Liebe und Treue zum Führer

und zu unserer Fahne,

so wahr mir Gott helfe.“

Singend in den Untergang Seite 35


Erziehung im Jungvolk

Schon im Deutschen Jungvolk begannen die „Ordnungsübungen“, das


Marschieren in Formation, Linksum! Rechtsum! Augen gerade aus! die
Augen links! ganze Abteilung kehrt! und wie die Befehle alle hießen,
denen wir zu folgen hatten. Von dieser Art von Freizeitbetätigung
waren wir nie sonderlich erbaut, doch trug das Exerzieren zweifellos
zur Disziplinierung bei. Später wurde es zur Selbstverständlichkeit.
Es gab auch diesen oder jenen jungen Einheitsführer, der zu Schikanen
neigte oder einem falschen „pädagogischen“ Konzept anhing: „Sprung
auf, marsch, marsch bis zum Horizont! Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf!
Hinlegen!“ hieß es dann. Und mehr als einmal wurde „hinlegen“ just
dann geschrien, wenn sich vor den Füßen der Delinquenten eine große
Pfütze oder Schneematsch ausbreitete. Dieser „Schliff“ war aber, das
sei festgehalten, offiziell verboten. Die Reichsjugendführung der
NSDAP, an ihrer Spitze der Reichsjugendführer (und Jugendführer des
Deutschen Reiches) Baldur von Schirach, hatte den „Musischen Menschen
in soldatischer Haltung“ zum Erziehungsziel erklärt. Hitler selbst
war es gewesen, der „BvS“, wie er in Abkürzung gern genannt wurde,
auch den großem Rahmen vorgezeichnet hatte: „Jugend soll durch Jugend
geführt werden“. Man hätte diesen Leitgedanken konterkariert, wenn
das Pimpfen- und Hitlerjungendasein - von den Mädchen bei den
Deutschen Jungmädeln und im Bund Deutscher Mädel (BDM) ganz zu
schweigen - sich in Militärdrill erschöpft hätte.

1938, bei der Eröffnung der Weimar-Festspiele der deutschen Jugend,


nannte Baldur von Schirach beispielhaft jene Grundvorstellungen, die
seinen Erziehungsprinzipien die Basis gaben (dokumentiert im
ehemaligen Führerorgan der HJ, „Wille und Macht“):

„In der Fülle der geschichtlichen Gestalten unseres Volkes sind vor
allem diejenigen dem Volk ans Herz gewachsen, die in ihrem Wesen
künstlerische Züge erkennen lassen. Weil wir Deutsche sind, können
wir uns mit amusischen Erscheinungen auf die Dauer nicht befreunden.
Sie erscheinen uns als fremdes, mitunter sogar als feindliches
Element. Was macht uns Deutschen einen Friedrich so teuer? Nicht nur
sein Erfolg im Kriege und seine erhabene Größe in der Niederlage.
Tönt nicht in den Ohren unseres Volkes mit dem Kriegsgeschrei von
Kolin, Leuthen, Kunersdorf, Zorndorf und Hochkirch auch der zarte

Singend in den Untergang Seite 36


Klang seines Flötenspiels?“

Singend in den Untergang Seite 37


Bündische Jugendführer

Es muß daran erinnert werden, daß sich gerade im Jungvolk eine


größere Anzahl von ehemaligen Führern der nach 1933 aufgelösten
Verbände der Bündischen Jugend wieder gefunden hatte. Schirach und
die ehemaligen Bündischen sorgten als unfreiwillige Verbündete dafür,
daß der „Dienst“ - bei uns im Fähnlein 5 „Geusen“ gewöhnlich am
Mittwoch Nachmittag und am Samstag angesetzt - nicht zu eintönig und
mehr jungengerecht wurde: Es gab unter anderem Heimabende,
Geländespiele, Jugendfilmstunden und während der Ferien vor allem für
die Buben minderbemittelter Eltern Gelegenheit, im Zeltlager oder in
der Jugendherberge neue Kraft zu tanken. Während der Heimabende in
einem umgebauten Kellerraum las uns der Jungzugführer, ein Bub, der
nur wenige Jahre älter war als wir Jüngsten im DJ, aus
Abenteuerbüchern vor, aus Coopers „Lederstrumpf“ etwa. Aber auch die
Lesungen aus verschiedenen Karl-May-Büchern, aus Edwin Erich Dwingers
„Zwischen Weiß und Rot“ oder der „Armee hinter Stacheldraht“ sind so
unvergessen wie die Passagen aus Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“.
„Mein Kampf“ hingegen, der von Adolf Hitler, gehörte bei uns nicht
zur Lektüre, obwohl aus des Führers Buch aus der Landsberger
Festungszelle sicherlich in manchen anderen Einheiten zitiert wurde.

Singend in den Untergang Seite 38


Unverrückbare Glaubenssätze

Beim Jungvolk hielt man sich mit direkter ideologischer Beeinflussung


zurück. Nicht, weil man nicht an den Nationalsozialismus geglaubt
hätte, sondern weil auch die junge Führerschaft einfach zu wenig über
die NS-Theorien wußte. Buben dieses Alters sind an politischen Themen
noch nicht sonderlich interessiert. Dafür gab es für uns
unverrückbare Glaubenssätze. Den nachhaltigsten hatte
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nach dem Anschluß
Österreichs an das Deutsche Reich - womit bekanntlich Großdeutschland
entstand - zusammengefaßt in dem plakativen Schlagwort: „Ein Volk -
ein Reich - ein Führer“. Das haute hin. Das verstanden wir. Das
glaubten wir. Und das riß uns gefühlsmäßig mit. Wir sahen die
Goebbels´sche Parole bildhaft vor uns: Ein Volk, geeint in seinen
Stämmen, in einem wieder erstarkten Reich, das unser Stolz war,
geleitet von einem unfehlbaren Führer, dem wir blindlings vertrauten.
Das alles war, mythisch überhöht, in einem Symbol verkörpert: dem
überdimensionalen Reichsadler mit dem Hakenkreuz in den Fängen. Wenn
dieser Aar, in einen Strahlenkranz gehüllt, die „Deutsche
Wochenschau“ im Kino beschloß, lief es uns heiß und kalt über den
Rücken.

Man kann uns heute leicht vorwerfen, naiv gewesen zu sein, das System
und seine Ideologie nicht hinterfragt zu haben. Aber wer von den
Jungen verlangt, die wir damals waren, NS-Parolen kritisch zu
reflektieren, setzt zu viel voraus. Kurz: Unsere Befindlichkeit, die
Befindlichkeit der jüngsten und jungen Menschen dieser Zeit, die ich
hier beschreibe, war mehrheitlich so und nicht anders. Das muß
hinnehmen, wer Zeitgeschichte verstehen will. Man kann sie nicht von
hinten lesen.

Besonders der Kult um den Führer Adolf Hitler nahm zuweilen geradezu
religiöse Züge an. Dafür zeugt beispielsweise ein Gedicht aus dem
schmalen Bändchen „Das Lied der Getreuen - Verse ungenannter
österreichischer Hitlerjugend aus den Jahren der Verfolgung 1933 bis
1937“. Vermutlich floß das heute grotesk anmutende Poem aus der Feder
Baldur von Schirachs selbst, der trotz seiner hohen Stellung in der
NS-Hierarchie lange Jahre ein blinder Führer-Gefolgsmann war:

Singend in den Untergang Seite 39


„Bekenntnis zum Führer

Wir hörten oftmals Deiner Stimme Klang

und lauschten stumm und falteten die Hände,

da jedes Wort in unsere Seelen drang.

Wir wissen alle: Einmal kommt das Ende,

das uns befreien wird aus Not und Zwang.

Was ist ein Jahr der Zeitenwende!

Was ist da ein Gesetz, das hemmen will -

Der reine Glaube, den Du uns gegeben,

durchpulst bestimmend unser Leben.

Mein Führer, Du allein bist Weg und Ziel!“

Manchmal martialisch, immer anfeuernd und häufig romantisch, stets


jedoch emotional, wirkten die Lieder, die wir als Pimpfe einübten
und beim Marschieren durch die Stadt oder über Land sangen:
„Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren“, „Vor uns
marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen die toten Helden der Jungen
Nation“, „Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit, reißt die
Fahnen höher, Kameraden“ und, weniger pathetisch, dafür munter: „Die
blauen Dragoner, sie reiten“. Wolfgang Stumme, Musikreferent der
Reichsjugendführung (RJF), schrieb in seinem Vorwort zu einem
Liederbuch der HJ:

„Für uns soll dieses Buch die Bedeutung haben, die Lieder für die
Feste und Feiern unseres nationalsozialistischen Jahres und unseres
Lebenslaufes bereitzustellen, entstanden aus der jungen Generation
für ein junges gläubiges Volk.“

Tatsächlich: Was wir sangen, das glaubten wir - und was wir glaubten,
das sangen wir. Dichter wie Eberhard Wolfgang Möller gaben uns Verse
der Inbrunst:

„Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit. Über die Zeiten


fort seiest du gebenedeit. Heilig sind deine Seen, heilig dein Wald
und der Kranz deiner stillen Höh‘n bis an das grüne Meer.“

Singend in den Untergang Seite 40


In einer Arbeit über den Liederdichter Hans Baumann hält ein
ehemaliges BDM-Mädel (U.S. aus Stadtoldendorf, 1989 in einem Brief
an ihre einstige Reichsreferentin für den BDM, Jutta Rüdiger) fest:

„Was für einen hohen Stellenwert hatte doch früher bei uns das
gemeinsame Singen: Keine Veranstaltung der Jugend, sei es Sport,
Wandern, Heimabend, Fest oder Feier, bei der nicht auch gesungen
wurde!...Der Bedarf war groß, und das war gut für den wichtigsten
Sänger und Komponisten der damaligen Zeit, für Hans Baumann. .. Mit
seinen Liedern hat er das Lebensgefühl vieler junger Menschen genau
getroffen und ausgedrückt: ihr Wollen, ihre Freude an der
Gemeinschaft, ihren Sinn für Romantik und für das Naturerlebnis. ...“

Und die „kleine BDM-Führerin“, wie sich die Autorin kennzeichnet,


sagt weiter:

„Da steht es mit den Kampf- und Bekenntnisliedern der dreißiger Jahre
ganz anders. Aufrütteln sollten sie, aus der Enge herausführen, es
begann ja eine neue Zeit! Die meisten jungen Menschen sollten und
wollten dabei sein. Der 20- bis 22jährige Baumann hat sie in voller
Überzeugung und aus einer idealistischen Grundhaltung heraus
geschrieben, und wir haben sie ebenso überzeugt gesungen und vor
allem empfunden, ohne viel über den Inhalt nachzudenken. Das kann
heute so leicht keiner nachvollziehen. Nur aus der damaligen Zeit
sind die Bekenntnislieder zu begreifen.“

Über die Kameradschaft, die uns miteinander verband, verstanden wir


auch den übergeordneten Begriff der „Volksgemeinschaft“. Sie war für
uns kein leerer Wahn, sondern in der größten Jugendbewegung der Welt
gelebte Realität. Ein Wort des Stellvertreters des Führers, Rudolf
Heß, gab seit 1938 die große Richtung vor: „Nationalsozialist sein
heißt, ein guter Deutscher und ein guter Kamerad zu sein.“ Wir
sollten uns auch heute, viele Jahrzehnte später, nicht selbst in die
Tasche lügen. Wir haben eben nicht „nur gezwungenermaßen mitgemacht“.
Wir jungen Menschen wußten nicht, daß wir zugleich Opfer einer
geschickten Propaganda wie eines höchst pathetischen Jahrzehnts
waren. Der Zeitgeist artikulierte sich in diesem Dezennium
überwiegend im rauschhaften Pathos.

Singend in den Untergang Seite 41


„Ich trage allein die Schuld“

Baldur von Schirach hat vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT)


in Nürnberg in seiner Erklärung am 24. Mai 1946 unumwunden
eingestanden:

„Ich habe diese Generation im Glauben an Hitler und in der Treue zu


ihm erzogen. Die Jugendbewegung, die ich aufbaute, trug seinen Namen.
Ich meinte, einem Führer zu dienen, der unser Volk und die Jugend
groß, frei und glücklich machen würde. Mit mir haben Millionen junger
Menschen das geglaubt und im Nationalsozialismus ihr Ideal gesehen.
Viele sind dafür gefallen.“

Und der gewesene Reichsjugendführer bekannte sich voll zu seiner


Verantwortung:

„Es ist meine Schuld, daß ich die Jugend erzogen habe für einen Mann,
der ein millionenfacher Mörder gewesen ist ... Ich habe an diesen
Mann geglaubt, und das ist alles, was ich zu meiner Entlastung und
zur Erklärung meiner Haltung sagen kann. Ich trug die Verantwortung
für die Jugend. Ich trug den Befehl für sie, und so trage ich auch
allein für diese Jugend die Schuld. Die junge Generation ist
schuldlos ...“

Schirachs Erklärung gipfelte in der Mahnung, die er als sein letztes


Wort an die Jugend richtete, die in den Reihen von DJ und HJ
gestanden hatte:

„Wer aber nach Auschwitz noch an der Rassenpolitik festhält, macht


sich schuldig.“

Die Richter des IMT blieben von der rückhaltlosen Erklärung des
ehemaligen Jugendführers des Deutschen Reiches nicht unbeeindruckt:
Die Hitlerjugend wurde mit all ihren Jahrgängen von der Anklage
ausgenommen, eine „verbrecherische Organisation“ zu sein. Ihre
Mitglieder und die Angehörigen der Führerschaft sämtlicher HJ-Ränge
fielen bei der „Entnazifizierung“ automatisch unter die
„Jugendamnestie“. Von dieser erfaßt wurde, wer 1939 das 14.
Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und gegen den keine
spezifischen Beschuldigungen vorlagen. Schirach selbst wurde dennoch

Singend in den Untergang Seite 42


zu 20 Jahren Kriegsverbrechergefängnis in der Festung Spandau
verurteilt. Nicht wegen seiner Eigenschaft als oberster Jugendführer,
sondern infolge des Vorwurfs, für die Deportierung von 60.000 Wiener
Juden nach Auschwitz in seiner Zeit als Gauleiter und
Reichsstatthalter der österreichischen Hauptstadt mitverantwortlich
zu sein.

Das Bild des ehemaligen Reichsjugendführers wird, glaube ich, oft


verzeichnet. Sofern man ihn heute überhaupt noch wahrnimmt,
verdächtigt man ihn als lautenschlagenden Weichling oder Soldat
spielenden Fanatiker. Er war keines von beiden. Wie mir, 50 Jahre
nach Kriegsende, die schon zuvor erwähnte Dr. Jutta Rüdiger, die
ehemalige Reichsreferentin für den BDM in der Reichsjugendführung
(RJF), in einem persönlichen Gespräch versicherte, stand BvS zu
seiner Erziehungsidee vom „musischen Menschen in soldatischer
Haltung“. Er selbst, der es bei der Wehrmachts-Elitedivision
„Großdeutschland“ laut Dr. Rüdiger ohne Protektion vom einfachen
Soldaten bis zum Leutnant brachte, bemühte sich selbst, nach seiner
Maxime zu leben und zu handeln. In der RJF hatte, so Jutta Rüdiger,
BvS die Ideen. Er ließ sie von seinen Mitarbeitern umsetzen, ein
Führungsprinzip, das man heute „Delegation“ nennt. Dr. Rüdiger: „90
Prozent der Höheren HJ-Führer schätzten, daß BvS ihnen freie Hand zur
Arbeit ließ. Allerdings übte er auch, falls nötig, konstruktive
Kritik an seinen Mitarbeitern.“ Die gelernte Psychologin erinnerte
sich schließlich an ihren obersten Chef als einen Menschen mit Witz
und Humor.

In der Spandauer Zelle schrieb Schirach im März 1946 eines seiner


letzten Gedichte, das seine Neigung zum Romantisieren belegt -
vielleicht war dieser Charakterzug ein Erbteil seines Vaters, des
Generalintendanten des Staatstheaters Weimar:

„Bei Gott, wir waren jung

Begreift Ihr nicht? So wart Ihr niemals jung

wie wir es waren. Jugend ist ein Lied

vom Vogelzwitschern, Lachen, Saitenspiel,

Singend in den Untergang Seite 43


durch das die Brandung rauscht, ein süßer Sturm,

Motorentakt und tausendfacher Chor

der brüderlichen Stimmen ringsumher.

Die Melodie tönt durch Dein Leben fort

Und pickt die Elster Zeit

mit scharfem Schnabel Glanz und Glück des Seins,

ums fortzutragen in ihr dunkles Nest -

dies stiehlt sie nicht, es bleibt auf immer Dein:

daß jung Du warst.

Bei Gott, wir waren jung! Jugend ist Licht,

das nichts von Schatten weiß.

O Licht, du reines Licht!

Wie heiß und hell hast du für uns gebrannt,

daß selbst entflammte, wer uns leuchten sah.

Uns bleibt ein Schein noch in der Dämmerung.

Begreift Ihr nicht? So wart Ihr niemals jung.

Wir hatten Fehler, doch wir brachen Bahn.

Ihr erntet nie - Ihr habt auch nichts getan.

Ein weiteres Gedicht aus seiner letzten Zeit legt Zeugnis ab von
seinem Gottesverständnis:

Was zweifelst du?

Was zweifelst du?

Da droben stehen Sterne.

Singend in den Untergang Seite 44


So lang sie leuchten,

gibt es einen Gott.

Den Tapfren nah, den Feigen furchtbar ferne,

weist er den Weg

trotz Schächer und Schafott.

Was zweifelst du?

Wenn wir die Hände heben,

gibt‘s keine Macht,

die von der Freiheit trennt...

Wir sind das Schicksal,

und wir sind das Leben,

und unsere Fahne

ist das Firmament.

Singend in den Untergang Seite 45


Kaufmann über seinen Chef

Günter Kaufmann, der ehemalige Pressechef BvS´ und Hauptschriftleiter


des HJ-Führerorgans „Wille und Macht“, ließ bis ins hohe Alter nichts
auf seinen früheren Chef kommen. In einem mehrjährigen Briefwechsel,
den ich mit dem inzwischen Verstorbenen führte, der sich nach dem
Krieg der Werbebranche zugewandt hatte, wie auch in seiner im
Selbstverlag herausgegebenen Broschüre über Schirach: “Ein
Jugendführer in Deutschland“, wendet er sich vehement gegen den
Vorwurf, dieser habe die Jugend militarisiert. Er erinnert an das
belegte Wort des Reichsjugendführers an Oberstleutnant Erwin Rommel,
den späteren Feldmarschall und „Wüstenfuchs“, der damals
Verbindungsoffizier zwischen Wehrmacht und HJ war: „Ich erziehe die
Jugend für den Frieden, nicht für den Krieg.“

Kaufmann zitiert dabei auch einen von mir in der kurzlebigen


„Askania-Studiensammlung für Zeitgeschichte und Jugendforschung“ als
Autor veröffentlichten Beitrag, der, u.a. anhand von Dokumenten aus
dem Bundesarchiv in Koblenz, nachweist, daß Schirach die Gründung
einer „Reichsjugend“ torpedierte, deren ausschließlicher Zweck die
strikte und stramme vormilitärische Ausbildung der jungen Deutschen
sein sollte.

Mit Schirachs Nachfolger Artur Axmann harmonierte Kaufmann nicht so


deckungsgleich. Kaufmann vermißt in den Memoiren des zweiten und
letzten Reichsjugendführers die Distanz zu Hitler. In einer
Stellungnahme zu dem Bekenntnisbuch Axmanns „Das kann doch nicht das
Ende sein“, kritisiert der Schirach-Pressechef unter anderem die
Mitteilung Axmanns, dieser habe das Buch geschrieben, „damit die
Treue nicht aus der Welt kommt“.

Günter Kaufmann:

„Treue - ja! Aber Treue zu seinem Volk, seinem Vaterland, seiner


Familie usw., nicht die blinde Treue um jeden Preis des Opfers von
15jährigen für eine kranke, unter Realitätsverlust leidende
Persönlichkeit. Mit der Treue zum Führer läßt sich auch nicht jede
Entscheidung entschuldigen oder erklären. Die Formulierung, daß die
Treue nicht aus der Welt kommt, könnte als eine Entgegnung auf

Singend in den Untergang Seite 46


Schirachs Nürnberger Äußerung von Hitler als einem „millionenfachen
Mörder“ verstanden werden. Jedenfalls: Wenn man die
Erziehungsgrundsätze, die Wertvorstellungen der
nationalsozialistischen Jugendbewegung und die praktischen Maßnahmen
zu ihrer Verwirklichung kommenden Generationen zum Bedenken
hinterlassen will, dann nicht in Gestalt eines Treueliedes für Adolf
Hitler.“

Singend in den Untergang Seite 47


Vormieter Stephan Heym

Bis zum Kriegsbeginn ging bei uns zu Hause auf dem Chemnitzer Kaßberg
alles seinen geregelten Gang. Tante Betty schaltete und waltete,
hatte den „Familienladen“ im Griff und hielt im Verein mit der
Hausgehilfin oder dem jeweiligen Pflichtjahrmädchen die Wohnung in
Schuß. Zur Wohnung ist anzumerken, was ich erst viel später erfuhr.
Sie hatte Jahre vor uns einen später prominenten Bewohner gehabt:
Stephan Heym (eigentlich: Helmut Flieg), der nach dem Ende des
Dritten Reichs in der DDR zu den auch im Westen bekannten
Schriftstellern (z.B. „Colin“) zählte. Heym war 1933 nach den USA
emigriert und als US-Offizier nach Europa zurückgekommen. Nach dem
Zweiten Weltkrieg posierte er vor dem zerstörten Haus „Kaiserplatz
13“ (später: Hindenburgplatz) für ein Erinnerungsfoto. Auf dem Bild
steht er, „in amerikanischer Uniform vor den Resten seines
Geburtshauses, der Vorderwand mit den hohlen Ziegeln...“ Heym ließ
sich dann in der Sowjetzone, der nachmaligen Deutschen Demokratischen
Republik (DDR), nieder. Obwohl überzeugter Kommunist, war er kein
stets willfähriger Systemknecht der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands (SED), die aus dem Zusammenschluß von SPD und KPD
gebildet worden war. Er ging seiner Partei häufig durch seine Bücher
und Interviewäußerungen auf die Nerven. Als man ihn in seinem
selbstgewählten Staat mit Veröffentlichungsverboten gängeln wollte,
ließ er mehrere seiner Werke in der Bundesrepublik herausgeben.

Unser Hindenburgplatz, der vor 1933 Kaiserplatz geheißen hatte, wurde


während der SED-Zeit in Gerhart-Hauptmann-Platz umbenannt, einen
Namen, den er, berechtigterweise, heute noch trägt.

Der Kaßberg genoß in Chemnitz den Ruf eines „guten Viertels“. 1855
erstmalig bebaut, insgesamt in ein „amerikanisch“ anmutendes
Straßenraster gegliedert, bildeten die neuen Wohnhäuser am
Kaiserplatz laut Tilo Richter die erste geschlossene Platzumbauung
auf dem Kaßberg. Alleengleiche, mit viel Grün angelegte Straßenzüge,
häufig von Villen mit großen Vorgärten flankiert, ließen dieses
Stadtquartier schon vor dem Ersten Weltkrieg zum „Westend“ von
Chemnitz avancieren. Richter zitiert aus Gaudigs „Deutschem Lesebuch“
von 1928:

Singend in den Untergang Seite 48


„Und Aschenbrödels (gemeint ist hier Chemnitz) Brustgeschmeid? Das
ist der Kaßberg ... Hier wohnt der reiche Kaufmann und der
Rechtsanwalt. Unten im Mittelpunkt der Stadt arbeiten sie heiß im
Geschäft, Kontor, Expedition. ,Oben´ ruhen sie von des Tages Last und
Hitze im Kreise der Familie aus. Den weiteren Weg braucht niemand
sich verdrießen zu lassen, wer auf dem freien Kaßberg wohnen darf.“

Wenn das kein Loblied auf einen gutbürgerlichen Kiez ist!“

Der Kriegsbeginn brachte uns als erste Unannehmlichkeit, daß Vaters


Auto, auf das die Familie so stolz gewesen war, stillgelegt werden
mußte, weil Benzin für Privatzwecke nicht mehr zur Verfügung stand.
Der Opel P4 wurde in irgendeiner Garage aufgebockt, die Reifen
verschwanden in einem Wehrmachtsdepot. Wir Kinder konnten nun nicht
mehr mit dem damals einzigen Pkw am gesamten Hindenburgplatz protzen.
Wir haben das Fahrzeug übrigens nie wieder gesehen. Entweder ging es
im Bombenhagel unter oder wurde gestohlen.

Singend in den Untergang Seite 49


Reichspogromnacht

Im Chemnitzer Nobelviertel Kaßberg wurde die Synagoge von der SA in


der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 angezündet.
Sie brannte bis auf die Grundmauern nieder. Jungvolk und Hitlerjugend
hatten mit dem Anschlag der braunen Miliz nichts zu tun. Ich selbst
erfuhr erst am nächsten Tag davon, als ich zum Unterricht in die
Hans-Schemm-Schule ging. Das prachtvolle jüdische Bethaus im Stil
der Gründerzeit lag an meinem Schulweg. Nachweislich hatte Baldur von
Schirach alle höchsten HJ-Führer noch im letzten Moment telefonisch
vergattert, sich nicht zu Vollzugsgehilfen des (mutmaßlich)
Goebbels´schen Rachefeldzugs gegen die Juden machen zu lassen. Der
Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, wie sein voller
Titel lautete - der Volksmund taufte den gebürtigen Rheinländer
salopp „Jupp“ (Josef), und ein eher abfälliger Spitzname lautete
„Grand Goschier“ - wollte mit der „Reichskristallnacht“ den
vorgeblich spontanen deutschen Volkszorn über den von einem jungen
Juden kurz zuvor in Paris verübten Mord an dem deutschen Diplomaten
von Rath weltweit deutlich werden lassen. Die Synagogenbrände und
ersten öffentlichen massiven Übergriffe gegen Leib und Leben von
Juden im Deutschen Reich erzielten in der breiten Weltmeinung ein
negatives Echo. Es lautete wie ein Kommentar Schirachs, der diese
Nacht der Verfolgung und Zerstörung vor dem HJ-Führerkorps als
„Barbarei“ anprangerte.

Meine Gefühle gegenüber Juden - ich kannte ja nur den kleinen


verhauten Mangold in Berlin persönlich und das nur flüchtig - waren
indifferent. Einerseits las ich mit seltsamem Schauder, was der
„Frankenführer“ und Nürnberger NSDAP-Gauleiter Julius Streicher in
seinem antisemitischen Hetzblatt „Stürmer“ über angebliche jüdische
Ritualmorde an Arierkindern und über die Schändung von prallen
christlichen Dienstmädchen zu kolportieren wußte oder was die „Weisen
von Zion“ Übles wider die Welt der Gojim (Nichtjuden) brüteten.
Einzelheiten ihrer Verschwörung hatten sie, so ließ das rassistische
Revolverblatt wissen, sogar schriftlich niedergelegt. Schon damals
wußte aber jeder Erwachsene, der gewillt war, dies zur Kenntnis zu
nehmen, daß die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ eine
plumpe Fälschung waren (die übrigens heute schon wieder durch die

Singend in den Untergang Seite 50


Landschaft geistert). Ich nahm sie leider für bare Münze und mir
zugleich vor, mich vor „denen“ in acht zu nehmen. Doch wirklichen Haß
gegen Juden habe ich niemals empfunden. Auf den Punkt gebracht: Sie
waren mir und der Mehrzahl meiner Alterskameraden letztlich
gleichgültig - wie so unendlich vielen anderen Deutschen auch. Und
das war, wie sich zeigen sollte, im Ergebnis genauso schlimm und
tödlich wie der Haß der „Endlöser der Judenfrage“. Diese
Gleichgültigkeit eines ganzen Volkes machte Auschwitz erst möglich,
die einzige These mit der Goldhagen wohl ins Braune trifft!

Singend in den Untergang Seite 51


Kommt ein Vogel geflogen

Kommt ein Vogel geflogen. Es war das „Lercherl von Wels“, wie sich
die junge Chorsängerin aus Oberösterreich (damals Oberdonau) in
freudiger Übernahme einer schmeichelhaften Sentenz in einer
Provinzblattkritik von ihren Kavalieren gern nennen ließ. Die zu
Kriegsbeginn 26jährige vom Jahrgang 1913 war beim Central-Theater
(CT) in Chemnitz, einem prachtvollen Jugendstilbau, im Engagement.
Blauschwarzes schulterlanges Haar, nußbraune Augen, eine schlanke
Figur, wohlgeformte Beine: Die Gertrud Zwirchmayr war es schon wert,
daß Mann einmal mehr hinschaute. Mein Vater schaute nicht nur hin. Er
beschäftigte sich im Separee einer theatereigenen Weinstube mit der
„Gerti“ intensiver. Das wurde sein Pech. Die Dame gab vor, von ihm
schwanger zu sein, und der Offizier folgte dem fatalen Ehrenkodex
seines Berufs: Er heiratete sie.

Für die Verhältnisse im Kriegsjahr 1941 war die Hochzeit prachtvoll.


Wenn das Paar auch nicht in Vaters Opel zur Trauung vorfahren konnte,
so wurde doch die ganze Hochzeitsgesellschaft in Taxen zur
evangelischen Kirche gekarrt. Im Gotteshaus machte sich während der
Trauungszeremonie Gertis Bruder Ludwig, genannt „Wigg“, das
Vergnügen, seinen Chapeau Claque aus dem Leihhaus mehrfach knallend
aufspringen zu lassen. Der Pfarrer zuckte jedes Mal zusammen. Wigg
wurde einer unserer Lieblingsonkel, hatte der junge Mann doch häufig
unterhaltsame Flausen im Kopf, die uns Kinder erheiterten. Er war ein
Frauentyp, als technischer Angestellter der UFA in Babelsberg ein
nachgemachter Film-Beau, schwarzhaarig, schlank, immer zu einem
Lachen aufgelegt. Ein richtiger Luftikus.

1940 bereits hatte sich unser Vater von Magda Hentrich scheiden
lassen. Die Machthaber hatten ihn, erzählte er mir kurz vor seinem
Tode, vor die Entscheidung gestellt, sich von unserer im KZ als
„Staatsfeindin“ inhaftierten Mutter auch juristisch zu trennen oder
die Uniform auszuziehen. Schlimmer noch, sie drohten, uns Kinder
seiner Erziehungsgewalt zu entziehen und „geeigneten Organen“ zu
übergeben. Vater hat sich nie darüber geäußert, ob er seine Frau zu
diesem Zeitpunkt noch liebte.

Es fällt schwer, über unsere Stiefmutter Gutes zu sagen. Sie hat uns

Singend in den Untergang Seite 52


drei Kindern die letzte Zeit im Familienkreis nach Kräften vergällt.
Zuerst sorgte sie dafür, daß unsere geliebte Tante Betty weichen
mußte. Vater entließ seine Haushälterin erst nach längerem, aber dann
doch erfolglosem Abwehrkampf gegen seine frisch Angetraute. Gerti,
die wir mit „Mutti“ ansprechen mußten, war eine gerissene
Schwarzhändlerin. Materielle Basis ihrer Geschäfte, die im Kriege
weit außerhalb der Legalität lagen und unter schwerer Strafandrohung
standen, waren Freßpakete aus dem Gau Oberdonau (heute wieder
Oberösterreich). In Österreich, der „Ostmark“, herrschte die
überwiegende Zeit des Krieges kein derart prekärer Mangel an
Lebensmitteln wie „im Altreich“. Gertis Eltern, die ländliche
Verwandtschaft und Bekanntschaft besaßen, unternahmen regelmäßig
Hamsterzüge in die engere und weitere Umgebung von Wels. Dabei kamen
sie auch nach Wasserhub zum Hansbauern, von dem gleich die Rede sein
wird. Gerti setzte in Chemnitz den Inhalt der Freßpakete, soweit sie
nicht hier und da einige Leckerbissen für sich und ihren Mann
abzweigte, in Zigaretten und Spirituosen um. Später, als
Luftwaffenhelfer, sollte ich auch an ihren fressalen Schätzen
teilhaben. Von den Fraß- und Sauforgien im Verein mit meinem späteren
Freund Dieter Noll werde ich noch erzählen.

Zunächst aber nach Wasserhub. Der Einödhof, damals von Wels aus mit
einer Bummelbahn zu erreichen, hatte zum Einbringen der
kriegswichtigen Ernte von der zuständigen Behörde einen Ukrainer
zugewiesen bekommen. Dieser Ex-Soldat der Sowjetarmee, ein
bärenstarker Mensch von bester Konstitution, erhielt im Juli 1943
Verstärkung durch einen aus der Sicht kräftiger Bauernknechte
schlappen Oberschüler, jenen Manfred, der sich vorwitzig zum
„freiwilligen Ernteeinsatz der Hitlerjugend“ gemeldet hatte. Hätte
ich gewußt, was auf mich zukam...!

In aller Frühe, um 4 Uhr, erscholl ein Brüllruf des Hansbauern, der


uns unausgeschlafen aus den Betten jagte. Ungewaschen ging es hinaus,
zunächst aufs Kleefeld. Der taunass gemähte Klee mußte auf den Wagen
geladen werden. „Stasch“, der ukrainische Stanislaus, hatte damit
kein Problem. Er rammte seine Forke in einen Kleehaufen und warf
diesen mit elegantem Schwung auf den Wagen. Ich tat zunächst
desgleichen, stieß meine Gabel ins Kleebündel und --- Das Grünzeug

Singend in den Untergang Seite 53


war höllisch schwer. Ich bekam, was ich angestochen hatte, nicht
einmal wenige Zentimeter hoch. Stasch lachte, ich lief rot an vor
Scham, und der Ukrainer gabelte das gesamte Gemähte allein aufs
Fahrzeug.

Die Getreideernte hatte ich mir auch nicht so strapaziös vorgestellt.


Ich fand mich in der Gruppe, die hinter den Sensenmännern Hansbauer
und Stasch die gemähten Ähren bündelweise zusammenraffte und jeweils
mit einem schmalen Strang zusammenband. Die nächste Reihe der Helfer
stellte die gebundenen Garben zu Puppen zusammen. Am Abend nach einem
ebenso höllisch heißen wie anstrengenden Arbeitstag waren meine
Unterarme durch das Hantieren mit den rauhen und stacheligen Ähren so
stark aufgerieben, daß das rohe Fleisch herausschaute. Und was hatte
man uns beim ersten Frühstück gegen 7 Uhr und mittags sowie am frühen
Abend als Mahlzeit gebracht: Allweil das gleiche: Gselcht's und Most!
Nur selten, daß es einmal eine Milchsuppe, Rührei oder andere Speisen
gab, die etwas Abwechslung ins Einerlei brachten. Nach 14 Tagen
stellte sich die Wirkung prompt ein: „Dünnpfiff“ nannten wir damals,
was man heute vornehmer als Durchfall bezeichnet. Ich kam nicht mehr
vom Plumpsklo runter. Der Hansbauer schimpfte über meine
vermeintliche Drückebergerei, und ich hatte, wie man so sagt, die
Schnauze voll. Ich rief zu Hause in Chemnitz an und ließ über meinen
Bruder der Gerti mitteilen, daß ich den Ernteeinsatz abbrechen würde.

Sie muß es meinem Vater weitergegeben haben. Bereits am folgenden


Tage erreichte mich auf dem Hansbauernhof ein Telegramm, dessen
klassische Kürze mit seiner Würze mich heute noch amüsiert. Der
telegrafische Befehl meines Vaters lautete wörtlich: „Weitermachen -
stop - sonst Keile - stop - Vati.“ Vater befiehl, ich folge.

Singend in den Untergang Seite 54


Eine andere Welt

Die Eltern Zwirchmayr in Wels gehörten zum Proletariat. Der alte


Zwirchmayr war irgendwo Hilfsarbeiter gewesen. In Wels wohnten sie
als Rentner in einer Einzimmerwohnung der ehemaligen
Dragonerunterkünfte in der Kasernenstraße. Die Klos standen in einer
Reihe auf dem weitläufigen Hof, so daß sich im Winter viele
Insassen der kleinen Wohneinheiten über die Nacht mit entsprechenden
Töpfen hinweghalfen, wenn sie ein dringendes Bedürfnis überkam.

Als wir Kinder die neuen Großeltern zum ersten Mal besuchten,
eröffnete sich uns ein Blick in eine Welt der Armut, die wir vorher
nicht gekannt hatten. Wir kamen auch mit den Ansichten von „Cilly“
nicht zurecht. Gertis Mutter, die eigentlich Cäcilie hieß, wollte
ihre Erziehungsvorstellungen, die aus einem ganz anderen Milieu
stammten, an uns verwirklichen. Wir machten da nicht mit, und so gab
es zwischen ihr und uns öfter Zoff. Die Cilly verpetzte uns
daraufhin bei der Gerti, die uns prompt ihre ringeüberladenen Finger
auf die Köpfe knallte. Ich habe, mit Ausnahme von Wigg, einem schon
genannten ihrer Brüder, die gesamte österreichische Verwandtschaft
nicht ausstehen können. Ihre Mentalität war mir fremd und zuwider.
Allerdings war ich schlau genug, mir diese Abneigung möglichst wenig
anmerken zu lassen.

Singend in den Untergang Seite 55


Gerti und die Dienstmädchen

Heute frage ich mich, aus welchen Quellen diese starke Aversion
gespeist wurde: Standesdünkel? Die HJ erzog uns doch zur
Volksgemeinschaft ohne Klassenschranken! Diese Erziehung zum
Gemeinsinn versagte offenbar da, wo es um unsere Bequemlichkeit ging.
Gerti, das Kind aus dem Proletarierstand, fühlte sich unseren
gelegentlich aus ähnlichem Milieu kommenden Dienst- und
Pflichtjahrmädchen, die wir in bunter Reihe während des Krieges
hatten, näher als ihren Stiefkindern. Und so kam es, daß sie uns alle
Schwerarbeit im Haushalt aufbürdete, von der wiederum wir überzeugt
waren, daß sie eigentlich Sache unserer Hausangestellten sei. Da gab
es winters 50 Zentner Briketts im Keller aufzuschichten, Steinkohle
und Koks in Holzhorden zu schippen, dieses Brennmaterial zudem in der
kalten Jahreszeit allmorgendlich eimerweise nach oben zur Beschickung
der Kachelöfen in die Wohnung zu schleppen. Außerdem mußten wir
einkaufen gehen, während der Kriegszeit eine zeitraubende
Angelegenheit. Die Mädchen hingegen wurden vor allem mit
Kinderbetreuung beschäftigt, die Halbbrüder (?) Wilfried und Hubert
waren zu windeln, zu waschen und zu tränken. Eine der jungen Frauen
kam sogar bei uns nieder und konnte dann als Amme ihren eigenen
schreienden Nachwuchs sowie Gertis jüngsten Sprößling nähren.

Das Fragezeichen hinter dem Wort „Halbbrüder“ habe ich bewußt


gesetzt. Bis heute haben wir „echten“ Geschwister begründete Zweifel,
ob die beiden Knaben Wilfried und Hubert überhaupt mit uns verwandt
waren. Weder paßten sie in Vaters abgezirkeltes „nordisches“ Schema,
noch wiesen sie irgendeine physiognomische Ähnlichkeit mit uns auf.
Spätere Hinweise auf Gertis lockeren Lebenswandel, der unvereinbar
mit ihrem Status als Ehefrau war, lassen uns heute besagte Zweifel
fast zur negativen Gewißheit werden. (Mein Freund Dieter Noll hat
dazu in seinem Buch „Die Abenteuer des Werner Holt“ Jahre später
Einzelheiten zur „Gerti Ziesche“) ausgeplaudert!)

Singend in den Untergang Seite 56


„Penne“ und General Olbricht

Meine Einschulung in die Chemnitzer Hans-Schemm-Schule (benannt nach


einer 1935 verstorbenen NS-Größe) markierte 1938 eine neuerliche
Zäsur. Jetzt war Lernen angesagt. Leider nahm es der astrologische
„Löwe“ Manfred damit nicht so ernst, wie es erforderlich gewesen
wäre. Zu wenig Interesse am überwiegend naturwissenschaftlichen Stoff
und eine angeborene (?) Trägheit wirkten als Motivationsbremsen. Die
Penne in der Wielandstraße, ursprünglich Realgymnasium, dann
Oberrealschule, schließlich aber „Deutsche Oberschule für Knaben“
genannt, zeigt sich noch heute als ein ansehnliches Gebäude im Stil
der Neorenaissance. Die Bomben haben sie verschont. Nicht aber die
benachbarte Villa des Generals Olbricht.

Mit dem prachtvollen Haus des einstigen Leiters des Allgemeinen


Heeresamtes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW)verbindet sich eine
lebendige Erinnerung. Damals gehörte ich zu einer Einbrecherbande!
Anders kann man uns vier oder fünf Schüler nicht nennen, die wir -
wissend von der kriegsbedingten Abwesenheit der Bewohner - zunächst
aus purem Übermut ein Kellerfenster der Villa einschlugen, uns dann
hindurchzwängten und schließlich so in die meisten Räume des Hauses
gelangten. Im Keller hatten es uns die reichlichen Weinvorräte des
hohen Offiziers angetan, die uns die ersten Räusche bescherten. Dazu
rauchten wir wie die Schornsteinfeger und delektierten uns an
Eingemachtem. Und das alles am hellichten Tage.

Was wir uns bei dieser Unternehmung gedacht haben, ist mir heute noch
unerklärlich. Die Kripo kam anschließend mehrfach in die Schule, fand
aber keine geeignete Spur, und so schliefen die Nachforschungen nach
den Tätern irgendwann ein. Olbricht wurde nach der
Offiziersverschwörung, die am 20. Juli 1944 zum mißglückten Attentat
auf Hitler führte, als Mitbeteiligter hingerichtet.

Wie gesagt, meine schulischen Leistungen waren eher


unterdurchschnittlich. Mein Interesse konzentrierte sich auf
„Deutsch“ und „Geschichte“. Beide Fächer lehrte uns ein pädagogisch
recht begabter Studienrat, der zudem ein begeisterter Nazi war.
Daraus erklärt sich, warum Dr. Leutmanns (Name geändert) Sicht der
Historie von der NS-Ideologie und deren Rassenvorstellungen geprägt

Singend in den Untergang Seite 57


war. Für ihn begann und endete deutsches Schicksal mit dem
Germanentum und dessen vermeintlicher Ethik und Weltauffassung. Er
war „Deutscher Christ“, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten
wohl Wotan und Thor wieder die religiöse Szene beherrscht. Dieser
Lehrer hat lange Zeit mein Geschichtsbild mitbestimmt. Weniger, daß
er mich zu einem Rassisten gemacht hätte, aber das „Deutschland,
Deutschland über alles“ in seiner imperialistischen Lesart färbte
meine Vorstellungen von deutscher Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft mindestens so stark ein wie seit dem Anschluß Österreichs das
bereits erwähnte Goebbels´sche „Ein Volk - ein Reich - ein Führer“.

Es versteht sich von selbst, daß Dr. Leutmann uns auch in das
Mittelhochdeutsche einführte. „Es wuochs in Burgonden ein vil edel
magedin, Krimhilt geheizen..“ und gar ins Gotische mit dem „Attar
unsar su in himinam“ oder ins Altfränkische „Vater unser, der du pist
in himilum“. Letzterer Anfang des Vaterunsers provozierte bei uns
ungläubigen Thomassen stets Spott, und ein Mitschüler schlug gar vor,
ein „s“ in der Zeile durch ein „ß“ zu ersetzen. Wir waren respektlos
gegenüber dem Christentum, wen wundert‘s. Dr. Leutmann hielt es
sowieso für eine jüdische Erfindung, und ganz im Stile des „Stürmers“
verdächtigte er die Israeliten, sie hätten Jesus Christus nur
erfunden, um die Gojim übers Ohr zu hauen.

Ein kurzes Gedicht aus dem Mittelhochdeutschen, das ich sehr poetisch
fand und später auch in Liebesbriefe einstreute, ist mir bis heute
nicht entfallen:

„Du bist min,

Ich bin din,

des solt du gewiz sin,

du bist beslozzen in minem herzen.

Verlorn ist daz slüzzelin -

du muost immer drinne sin.“

Dr. Leutmann war nicht der einzige Nationalsozialist aus Überzeugung


an unserer Schule. Da war auch der Englischlehrer, ein jüngerer
Singend in den Untergang Seite 58
Studienassessor namens Pagel (Name geändert). Dieser Mann war der
einzige Pauker unserer Anstalt, der es wagte, uns saftige Ohrfeigen
zu verpassen, wenn wir nach seiner Ansicht nicht „spurten“. Pagel
wußte wohl, daß wir ihm als Sportbeauftragten im Rang eines
Stammführers der Hitlerjugend nicht ans Bein pinkeln würden, und
diesen Umstand nutzte er mit seiner Watscherei weidlich aus. Trotzdem
schätzten wir ihn. Er war im Allgemeinen umgänglich und verkaufte
seinen Stoff recht gut. Dabei blieb er stets voll auf der
parteiamtlichen Spur. Bei unserer ersten Englisch-Lektüre im
einschlägigen Schulbuch kommentierte er die Geschichte von Fred und
Betty („Here you see Fred and Betty“ begann die Lesson) dahingehend,
daß man die beiden zu den Pimpfen oder Jungmädeln hätte schicken
sollen, dann hätten sie nicht so viel leeres Stroh geredet. Das
sollte wohl ein Scherz sein, aber er war bezeichnend. Wir dachten uns
damals nichts dabei. Wie so oft.

Keine offene Indoktrination betrieb Dr. Lohder (Name geändert), unser


Schulleiter. Der Oberstudiendirektor der Hans-Schemm-Schule trug an
hohen nationalen oder NS-Feiertagen, sofern sie auch in der Schule
durch eine besondere Veranstaltung herausgehoben wurden, die
kinderkackebraune goldbelitzte Uniform der NSDAP-Bonzen. Diese Männer
wurden ob ihrer auffälligen Kostümierung allgemein „Goldfasane“
genannt. Das „Korps der Politischen Leiter“ erfreute sich nie
besonderer Beliebtheit unter der Bevölkerung. Dr. Lohder amtierte im
Nebenberuf als Kreis- oder Ortsgruppenleiter seiner Partei. Er war
nicht der Typ des Scharfmachers oder gar Denunzianten, vielmehr ein
bedächtiger Mensch mit dem Habitus des Kleinbürgers. Man kann ihn
„wohlmeinend“ nennen. Obwohl umfassend humanistisch gebildet, hatte
er das NS-Gedankengut sicher nie hinterfragt, dazu war er auch vom
Naturell her ungeeignet: Ein im Grunde seines Herzens ängstlicher
Mensch. Er wurde bei einem der Terrorangriffe auf Chemnitz gegen Ende
des Krieges durch einen Bombeneinschlag getötet. Wir haben ihm, trotz
allem, ein gutes Andenken bewahrt. Zumindest trifft dies auf mich zu.
Wer wirft den ersten Stein...

Singend in den Untergang Seite 59


Ulla mit den schönen Waden

Ach ja, die erste „richtige“ Freundin nahte. Ulla besuchte die
Oberschule für Mädchen, die Barbara-Uttmann-Schule. Die Anstalt
nannte sich nach einer Frau, die im Erzgebirge das Klöppeln
eingeführt hatte, um armen Bergmannsfrauen eine zusätzliche
Einnahmequelle zu verschaffen. Ulla hatte nichts dergleichen im Sinn.
Ein fröhliches, naives 14jähriges Kind, wollte sie, wie so viele
Gleichaltrige mitten im Kriegsjahr 1942, nur ein wenig anregende
jugendliche Gesellschaft abseits des Jungmädeldienstes und der Penne.
Ich habe keine Ahnung mehr, wo, wie und warum ihre Wahl auf mich
fiel. Wessen ich mich heute noch erinnere, sind ihre - Waden. Ich
bewunderte diese Teile von Ullas auch ansonsten ansehnlicher Anatomie
zum ersten Mal, als das Mädchen vor mir in eine Straßenbahn einstieg.
Die Wadln wuchsen mit einem sanften Schwung aus ihren Kniekehlen, um
sich dann zu verjüngen in Richtung zarter Knöchel und eleganter
schmaler Füße.

Ich verliebte mich also zuvörderst in Ullas Fahrgestell, ehe ich die
anderen Qualitäten der jungen Blondine entdeckte und zu schätzen
wußte. Diese Freundschaft kann nicht lange gedauert haben. Der Krieg
ging über sie, wie über viele andere menschliche Beziehungen, kalt
hinweg.

Singend in den Untergang Seite 60


Kinder an die Kanonen

Das Jahr 1944 begann mit einem tiefen Einschnitt ins junge Leben des
Manfred R. und seiner Klassenkameraden. Der männliche
Oberschülerjahrgang 1928 wurde, nachdem schon seit 1943 die
vorhergehenden zwei Jahrgänge aufgerufen worden waren, "zum Dienst
bei der Luftwaffe herangezogen“.

Blick auf die Feuerstellung der 210. Schweren Flakbatterie Chemnitz-Borna

Die Luftwaffenhelfer, obwohl de facto Kindersoldaten (ich war damals


15 ½ Jahre „alt“), waren kein nur bedingt tauglicher Ersatz. Der
Bundeswehr-Brigadegeneral Dr. Jürgen Schreiber stellte ihnen viel
später dieses Zeugnis aus (sein Beitrag findet sich in der
Europäischen Wehrkunde 6/1982):

„Alle Berichte aus der damaligen Zeit und aus der Rückschau der
Nachkriegszeit heben den hohen Kampfwert und die durchweg gute Moral
der Luftwaffen- und Marinehelfer hervor. Ihr Einsatzwert war vor
allem durch den hohen Intelligenzgrad der Schüler gekennzeichnet,
aber auch weitgehend durch eine idealistische Einsatzbereitschaft ...
Erwähnenswert ist auch, daß viele Flakhelfer Kriegsauszeichnungen
erworben haben ... viele Flakhelfer verwundet worden oder im Einsatz
gefallen (sind).“

Singend in den Untergang Seite 61


Die Kantine in der heutigen Kleingartensiedlung Chemnitz-Borna. Der Weg, auf dem ich
stehe, wurde in unserer LWH-Zeit als „Straße der Leiden“ bezeichnet.

Singend in den Untergang Seite 62


Batterie mit „Russenspritze“

Am 5. Januar 1944 war es also so weit. Mit Koffern und Pappkartons


rückten wir rund 30 Jungen in die ortsfeste Feuerstellung der 210.
schweren Flakbatterie ein. Sie befand sich in Chemnitz-Borna, unweit
des damals noch dort aufragenden, 1945 von den Amis beschossenen,
1946 aber unter den Kommunisten gesprengten Bismarckturms. Umgeben
war das militärische Gelände von einer Kleingartenkolonie. Das
Batterieareal war von Knüppeldämmen durchzogen, an deren Rändern die
Geschützstände für die zunächst jeweils vier Flakkanonen lagen.

Luftwaffenhelfer der 210. Schweren Flakbatterie an der sog. „Russenspritze“

Jahrzehnte später habe ich in zwei Zeitungsartikeln dieses nahezu


vergessenen oder verdrängten Kapitels des Zweiten Weltkriegs gedacht:

„Die zu Beginn des Jahres 1943 ausgegebene Jahresparole der


Reichsjugendführung (RJF) für die Hitler-Jugend beschrieb den
Tatbestand: „Kriegseinsatz der deutschen Jugend.“ Ab Januar 1943 ...
wurden die meisten Feuerstellungen der Fliegerabwehr im Reichsgebiet
mit Hitlerjungen „bemannt“. Der Einsatz dieser Luftwaffenhelfer
(Lwh), die sich zunächst aus Schülern der Jahrgänge 1926 und 1927, ab
Jahresbeginn 1944 aus Buben des Jahrgangs 1928 (und später noch
jünger) rekrutierten, wurde durch einen Erlaß des
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Reichserziehungsministers möglich, der sich wiederum auf das
Jugenddienstpflichtgesetz und die Notdienstverordnung berief. Den
Anstoß zum Einsatz der Jungen an den Kanonen hatte Reichsmarschall
Hermann Göring gegeben.

Proteste des Jugendführers des Deutschen Reichs (JFdDR) und NSDAP-


Reichsjugendführers Artur Axmann sowie des Erziehungsministeriums
gegen die Heranziehung der genannten Schüler- und HJ-Jahrgänge zum
Dienst an der Waffe blieben erfolglos. Während die Schulaufsicht um
die beschnittenen Stundenpläne bangte, befürchtete Axmann, die
kriegsrechtlich ungeklärte Situation der Lwh könnte seine
Schutzbefohlenen im Falle der Gefangennahme durch den Kriegsgegner
vor ein Erschießungskommando bringen.

Luftwaffe, Kriegsmarine und Reichsjugendführung einigten sich erst


nach längerem Tauziehen, die Kinder an den Kanonen als
„Wehrmachtsgefolge“ und Hitlerjungen zugleich zu deklarieren, um für
sie wenigstens annähernd einen Kombattantenstatus zu konstruieren.
Damit unterstanden ab 26. Januar 1943 die zunächst 16- bis
17jährigen, später sogar 15jährigen Jungen als Luftwaffen- bzw.
Marinehelfer (HJ) den Oberkommandos der beiden Waffengattungen; als
Schüler der 6. und 7. Klassen der höheren Schulen und als
Hitlerjungen waren für sie das Reichserziehungsministerium und die
Reichsjugendführung verantwortlich.

In den Flakstellungen galt auch für die Luftwaffenhelfer der


militärische Befehl. Andererseits erfolgte ihre Betreuung durch einen
dazu bestimmten Lehrer - in den Batterien wurde, soweit möglich, ein
eingeschränkter Schulunterricht erteilt - und den HJ-
Mannschaftsführer. Für das „Gemeinschaftsleben“ der Lwhs galten
zumindest theoretisch weiterhin die von der HJ entwickelten
Grundsätze der “Selbstführung der Jugend“.

Rolf Schörken, ehedem selbst Lwh, der in einer gründlichen


Untersuchung („Luftwaffenhelfer und Drittes Reich“) dem Thema zu
Leibe gerückt ist, stellt zu Recht fest, daß das Phänomen der
Luftwaffenhelfer für den „Zeithistoriker und den historisch
interessierten Zeitgenossen“ ebenso von großem Interesse sei wie für
den Sozialwissenschaftlicher und Sozialpsychologen.

Singend in den Untergang Seite 64


Eine Aussage seiner Studie:

„Das Bild, das man sich in der Zeit nach dem Kriege von den Jüngsten
des Regimes machte, war durch zwei Merkmale bestimmt. Zum einen
sprach man jetzt laut aus, was in der NS-Zeit unter keinen Umständen
gesagt werden durfte: Daß es Kinder gewesen waren, mit denen man
Schindluder getrieben, die man in Uniformen gesteckt und als
Kanonenfutter mißbraucht hatte ... Zum anderen machte sich ein
hochstilisiertes Bild von dem Grad der Verführbarkeit und dem
fanatischen Opfer- und Kampfwillen breit.“

Schörken weiter:

„Will man der Erfahrungswirklichkeit einer ganzen Generation nahe


kommen, muß man bereit sein, sich auf differenziertere Ergebnisse
einzulassen, die nicht in ein Schwarzweißbild passen.“

LWH-Abzeichen

Wie war sie nun, diese Erfahrungswirklichkeit?

Sie bestand zunächst einmal aus kreatürlicher Angst. Dieter Noll, zu


Zeiten der DDR (Deutschen Demokratischen Republik) ein
hochgeschätzter und mit dem Nationalpreis ausgezeichneter Autor - er
war Luftwaffenhelfer des Jahrgangs 1927 in „meiner“ 210. schweren
Flakbatterie und mein engster Freund - hat sie in seinem Roman „Die
Abenteuer des Werner Holt“ packend und präzise beschrieben.

Singend in den Untergang Seite 65


Die LWH-Verpflichtungsformel

Ein LWH-Kamerad in unserer Ausgangsuniform,


die der der Flieger-HJ entsprach

Singend in den Untergang Seite 66


Dieter Nolls Roman

„Zünder hat Werte!“ schrie (der Luftwaffenhelfer) Vetter,


kreidebleich vor Schreck. Die Schwungmasse der Zünderstellmaschine
(an der 8,5/8,8-cm-Kanone, der sogenannten „Russenspritze“, M.R.)
heulte los wie eine Sirene. Holt stülpte mechanisch den Stahlhelm auf
den Kopf, riß eine Patrone aus dem Korb, trug sie zu (Lwh) Wolzow,
der sie in den Zünderstelltopf einsetzte und Holt dabei zunickte ...
Wie gut das tat! Schmiedling (ein Flak-Obergefreiter und
Geschützführer) schrie: „Schießen mit Funkmeßgerät!“ Schon meldete
(Lwh) Weber: „Seite eingestellt!“ (Lwh) Gomulka folgte: „Höhe
eingestellt!“ - „Zünder!“ schrie Schmiedling. „Was is denn mit´m
Zünder!“

Vier LWH der 210./IV: Zschorn, Röber, Lohr, Noll (v.l.n.r.)

Holt sah und erlebte dies alles wie von fern, denn Angst hatte ihn
gefaßt. Angst vor dem ersten Schuß, Angst vor Bomben, Angst vor
allem, und sie hüllte ihn ein wie der Nebel am Morgen ... Dann kam
schon Schmiedling mit dem Ankündigungskommando “Gruppenfeuer!“ Holts
Herzschlag setzte aus. „Gruppe!“ krächzte Schmiedling, die
Feuerglocke rasselte, (Gefreiter) Macht riß die Patrone aus der

Singend in den Untergang Seite 67


Zünderstellmaschine und schob sie ins Rohr, der Verschlußkeil fuhr
hoch, die ledergepanzerte Hand faßte den Abzugshebel ... Mund auf!
dachte Holt noch, dann fuhr ihm ein Blitz in die Augen, wie ein
Schlag traf ihn die Schallwelle, ein furchtbares, ohrenzerreißendes
Krachen, Staub und Qualm überall, und wie im Traum sah Holt das Rohr
zurückfahren und die rauchende Kartusche ausspeien. Das Bersten und
Schmettern verstummte nicht. Plötzlich war alle Angst wie
weggewischt. Holt dachte: Das sind die Nachbarbatterien!“

Die Angst, so hieß es in meinem Jahrzehnte später erschienenen


Zeitungsbeitrag weiter, wurde immer wieder durch Tapferkeit
überwunden. Nirgends wird vermeldet, daß einer der bis zu 200 000
Luftwaffen- und Marinehelfer (geschätzt: genaue Zahlen gibt es
nicht) im entscheidenden Moment seine Einheit verlassen hätte oder
sich gar wegen Feigheit hätte verantworten müssen. Aber was das Leben
an der Schwelle des Soldatentodes für uns blutjunge Menschen
bedeutete, kann nur ermessen, wer sich im Kriege in ähnlicher
Situation befand.

Die Luftwaffenhelfer waren, wir hörten es schon, reduziert man sie


auf ihren Wert als Kombattanten, gute Soldaten und ersetzten mehrere
Flakdivisionen, deren Angehörige an den Fronten eingesetzt werden

Singend in den Untergang Seite 68


konnten. Heute frage ich mich: Woher kam dieser unbezweifelbare
Idealismus vieler, ja der meisten Lwh, aus welchen Quellen wurde er
gespeist?

Will man diese Frage beantworten, muß man sich in die Mentalität und
Gedankenwelt meiner Hitlerjugend-Generation einfühlen. Sie war vor
allem zu zweierlei erzogen: zu Disziplin und zum Gemeinsinn. Und,
diese dritte Komponente darf nicht übersehen werden, zur Härte gegen
sich selbst. Insoweit unterschied sich diese Jugend grundsätzlich von
der Jugend von heute. Adolf Hitler, der dieser Jugendbewegung, in der
ich freiwilliges Mitglied war, seinen Namen verlieh, hatte ihr auch
die Devise gegeben: „Ich wünsche mir den deutschen Jungen zäh wie
Leder, flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl.“

Auf dieser grundsätzlichen Haltung basierte natürlich auch ein durch


die Erziehung vor allem in der Jugendorganisation geformtes Denken:
Goebbels´ „Ein Volk - ein Reich - ein Führer“ war von der Mehrheit
verinnerlicht, war kaum hinterfragter politischer Glaube. Und: Jugend
hatte mutig zu sein. In Baldur von Schirachs, des ersten
Reichjugendführers, „Fahnenlied“ der HJ hieß es: „Wir marschieren mit
Hitler durch Nacht und durch Not“ und weiter: „Jugend kennt keine
Gefahren: Ist das Ziel auch noch so hoch - wir schaffen es doch!“

Auch der bereits zitierte Schörken, der das Luftwaffenhelferdasein


kritisch durchleuchtete, bestreitet nicht, daß der größte Teil der
Schüler beim Erhalt des Heranziehungsbefehls eher freudig dem Ruf an
die Waffe folgte. Der Einbruch des Militärischen ins Jungenleben
wurde erst viel später in seiner existentiellen Bedeutung erfaßt.
Noch ein Indiz: Viele der Jungen in den Feuerstellungen der Flak
glaubten unerschütterlich an den immer wieder erneut von der Führung
versprochenen „Endsieg“. Auch ich gehörte dazu. Erst am 20. April
1945, zu des Führers letztem Geburtstag, wurde ich hellsichtig, als
die avisierte „Wunderwaffe“ und die Wende des Krieges nicht kamen.

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Dienst als Soldaten

Nach der Grundausbildung an den Flakkanonen oder den Geräten auf den
Befehlsstellen, „schoben“ wir Luftwaffenhelfer ganz „normalen“ Dienst
in den Batterien. Allerdings wurde das erwachsene Militärpersonal von
Monat zu Monat weniger. Gab es 1943/44 in den Stellungen noch neben
dem Batteriechef und einem Waffenoffizier einen Hauptwachtmeister als
„Spieß“ und mehrere Unteroffiziere und Obergefreite als Ausbilder
bzw. Geschützführer, so wurden später die Kanonen auch an den
Brennpunkten des Luftkriegs fast ausschließlich mit Lwhs und den
sogenannten „Hiwis“, das heißt „hilfswilligen“ Kriegsgefangenen von
der Ostfront - damit im wesentlichen ehemaligen Angehörigen der
Sowjetarmee -, besetzt.

Das Verhältnis zur Hitler-Jugend, obwohl die Luftwaffenhelfer hinter


ihrer Dienstbezeichnung offiziell in Klammern das Kürzel „HJ“ führen
mußten, war indifferent. Ein ehemaliger Lwh, Dr. Peter Sch. in
Stuttgart, bestätigte im Oktober 1988 in einem Leserbrief an die
„Stuttgarter Nachrichten“ die Abneigung der Jungen, sich mit der HJ
noch als Luftwaffenhelfer zu identifizieren:

„So trennten sie von ihrer speziell für sie gefertigten fliegerblauen
(Ausgangs-) Uniform, die sie als Hitlerjungen ausweisen sollte, ab,
was sie mit der HJ in Verbindung bringen konnte, nicht nur die ...
Hakenkreuzarmbinde, sondern auch die HJ-Kokarde an der Mütze und
ersetzten sie, wiewohl verboten, durch den silbernen Adler der
Luftwaffe.“

Wir taten genauso. Beim Nacht- oder Tagesausgang fehlte an unserer


Ausgangsuniform die Hakenkreuzbinde. Wir nahmen sie, kaum hatten wir
die Batterie verlassen, vom Arm ab: Wir wollten Wehrmacht, nicht
Hitlerjugend sein. Und, sieht man die Fakten, waren wir auch eher
Soldaten als Angehörige einer Jugendorganisation.

Dieses Verhalten hatte aber nicht den Wert einer grundsätzlichen


politischen Entscheidung. Es bedeutete bei den wenigsten
Luftwaffenhelfern eine innere Abkehr vom Nationalsozialismus in
seiner HJ-Variante. Es sollte lediglich, so sah ich es damals und
sehe ich es heute, signalisieren, daß wir Jungen als Verteidiger des

Singend in den Untergang Seite 70


Reiches ernstgenommen werden wollten.

Der Politologe Martin Greiffenhagen, einer von unserem


Luftwaffenhelfer-Jahrgang 1928 - dieser Jahrgang stellte mit 70
Prozent (!) die meisten Kriegsfreiwilligen - vergleicht in einem 1988
veröffentlichten Aufsatz die Schülersoldaten der Flak mit den
früheren Kadetten.

„Von dem regulären Soldatenstand unterschied die Luftwaffenhelfer-


Existenz sich weniger durch die Weise der militärischen Aktivität und
Beanspruchung als durch eine Unsicherheit im Blick auf die
gesellschaftliche Rolle. Außer der Uniform gab es eigentlich keinen
institutionellen Halt für diesen neugeschaffenen Stand...

Die Bedeutung der Schule trat gegenüber der militärischen Existenz


stark zurück. Neben die Autorität der Lehrer traten ganz andere
Hierarchen. Vom Soldatenstand unterschied der Luftwaffenhelferdienst
sich soziologisch durch einen wichtigen Umstand: Ihre Gruppe war
homogen, der Klassenverband blieb erhalten, und sie fühlten sich als
Gymnasiasten den Offizieren näher als den Mannschaften.“

Dieser Analyse muß man nicht ganz folgen. Die anerzogene


„Volksgemeinschaft“, ein Gefühl der Solidarität unter der Jugend,
umfaßte ab Ende 1944 auch die Realschüler und Lehrlinge, die als
Flakhelfer eingezogen wurden. Gewiß, diese jungen Menschen hießen
nicht mehr Luftwaffenhelfer, sondern nunmehr „Flak-v-Soldaten“, was
„flakverwendungsfähig“ bedeutete. Mit dieser neuen Formel paßte sich
die Führung der immer gefährlicher werdenden Kriegslage an. Sie hatte
sich entschlossen, die Jungen bis hinunter zum Jahrgang 1930 mit
den Kanonen sogar an die Ostfront in den Erdkampf zu schicken. Und da
mußten die Buben aus Gründen des Kriegsrechts vollen und sofort
erkennbaren Soldatenstatus haben.

Im letzten Kriegsjahr fiel die Bezeichnung „Heimatflak“ im


Zusammenhang mit den Lwh fort. Unsere 210. schwere Flakbatterie wurde
- wie auch die übrigen Luftverteidigungseinheiten der Flak-
Untergruppe Chemnitz - vom Wohnort abgezogen und zunächst zum
Objektschutz der Hydrierwerke nach Hainichen verlegt. Kurze Zeit
später wurden Freiwillige für den Einsatz in anderen, gefährdeteren

Singend in den Untergang Seite 71


Teilen des Reiches gesucht. Ich gehörte zu den Luftwaffenhelfern, die
sich meldeten. Ich glaubte, wie zahlreiche Kameraden, noch immer an
die Verpflichtung, nach meinen Kräften Volk und Vaterland in seinem
Überlebenskampf zu dienen.

Der Transport an den neuen Einsatzort gestaltete sich abenteuerlich.


Es ist mir unvergeßlich, wie ich ausgerechnet am 24. Dezember 1944,
in einem Viehwaggon auf Stroh liegend, den Hl. Abend verbrachte. Ein
Kanonenofen bullerte, was das Zeug hielt, und wir Jungen dachten an
Zuhause, an Weihnachtsfeste früherer Jahre, und machten uns Gedanken,
wo wir wohl eingesetzt würden.

Bei Griesheim gerieten wir in eine gefährliche Situation. Der Zug


wurde von einem Tiefflieger angegriffen. Kurz zuvor war ich von einem
zugbegleitenden Offizier zur Bedienungsmannschaft einer 2cm-
Vierlingsflak befohlen worden, die auf einem Tieflader als Schutz
gegen Jabos diente. Als die Mustang uns im direkten Anflug ins Visier
nahm, ging uns, wie man es damals nannte, mächtig die Muffe.
Immerhin hatten wir etliche Waggons voll Flakmunition im Kreuz, die
uns um die Ohren fliegen konnte. Die rund 700 km/h schnelle Maschine,
ungeheuer wendig und wohl der beste Jagdbomber der Alliierten, gab
uns aus mehreren 12,7- mm-Maschinengewehren mächtig Pfeffer. Wir
schossen zurück, was das Zeug hielt - und hatten Glück, anders kann
man es kaum nennen. Unvermittelt drehte die Feindmaschine ab. Der
Sachschaden durch den Tieffliegerangriff hielt sich in Grenzen, es
waren keine Menschen- und nur geringfügige Materialverluste zu
beklagen.

Singend in den Untergang Seite 72


„Nischt als Jejend“

Unsere Endstation war dann ein hinterwäldlerisches Dorf im


Hessischen. Seine Bedeutung als Flakstandort gewann es wohl nur aus
der Tatsache, daß es zum tiefgestaffelten Luftverteidigungsring um
den Flugplatz Griesheim gehörte, von dem letzte deutsche Nachtjäger
aufstiegen. Der Anblick des neuen Batteriegeländes deprimierte uns.
In diesem bitterkalten Winter 44/45 mit viel Schnee präsentierte es
sich uns als jungfräuliche weiße Fläche. Rechts nichts, links nichts,
vorn nichts und hinten nichts, was sich als Gefechtsstellung hätte
ausmachen lassen. „Nischt als Jejend“, würden die Berliner sagen. Wir
fanden lediglich einige Baracken vor.

Und rund drei Dutzend ehemalige Sowjetarmisten, die unserer neu


zusammengestellten 5./121 als „Hiwis“, d.h. sogenannte Hilfswillige,
zugeteilt worden waren. Diese optisch armseligen Gestalten,
unterernährt und in zerlumpte grüngefärbte Uniformen gesteckt, mußten
zunächst in den Baracken Reisighaufen aufschütten, die uns als
Nachtlager dienten. Gemeinsam mit den “Iwans“, wie sie üblicherweise
genannt wurden, schaufelten wir tagelang die Umwallungen für unsere
sechs 8,8-cm-Kanonen (Modell 41) auf, bauten Mannschafts- und
Munitionsunterstände, weiter die B1 (Befehlsstelle), die
Gemeinschaftsbaracke und die Unterkunft für die Schreibstube. Und
siehe da: Wir stellten fest, daß die roten „Untermenschen“, die
„Bolschewiken“ - Menschen waren. Ja, sogar gelegentlich - Kameraden.
So mancher Hiwi teilte mit uns seinen letzten Vorrat an Machorka,
wenn wir nichts mehr zum Rauchen hatten. Und wir begannen im Gegenzug
von Tag zu Tag mehr diese ursprünglichen Kriegsgefangenen nicht als
Deserteure und Landesverräter zu verachten, sondern als vollwertige
Batterieangehörige zu schätzen, denen wir häufig von unserer relativ
üppigen Lwh-Verpflegung, vor allem Brot und Kartoffeln, abgaben. Das
war zwar verboten, doch ließ es unser Batterieführer, ein junger
Oberleutnant, durchgehen. Auch die Unteroffiziere bewiesen Toleranz,
zumal sie ebenfalls von der russischen Machorka profitierten, wenn
ihre Vorräte an Tabak oder Zigaretten zur Neige gegangen waren.

Ich denke noch heute an diese Menschen in den verschlissenen grünen


Uniformen gern zurück: Sie waren es, die mein Bild vom Russen für die
Zukunft weitgehend bestimmen sollten. Ich habe ihre schwermütigen

Singend in den Untergang Seite 73


Lieder, die sie so oft am Abend nach dem Ende des offiziellen
Dienstes anstimmten, lieben gelernt, ihre Unkompliziertheit, ihre
naive Kreatürlichkeit, ihre Mitmenschlichkeit, die sie bewahrten auch
in ihrer so unglücklichen Situation.

Und nicht anders erging es vielen meiner Luftwaffenhelfer-Kameraden.


Man kann sagen: In diesem kleinen Rahmen einer Batterie wurde das
parteiamtliche Zerrbild von der „sowjetischen Bestie“ revidiert -
oder zumindest relativiert. Denn heute wissen wir ja leider auch, was
unzähligen Deutschen beim Einmarsch der Sowjetarmee in unsere Städte
und Dörfer im Osten des Reichs widerfuhr. Ilja Ehrenburgs Hetzparolen
zeigten fürchterliche Wirkung. Trotzdem: Das ist nicht „der Russe“,
der deutsche Zivilisten und gefangene Soldaten mordete und Frauen vom
Kindes- bis zum Greisinnenalter schändete. Die wahre „russische
Seele“ haben wir in ihrer Tiefe als Luftwaffenhelfer gelotet.

Am neuen Standort lernte die aus dem gesamten Reichsgebiet


zusammengewürfelte Luftwaffenhelfereinheit erstmals den Krieg so
richtig kennen. Während Chemnitz bis Anfang 1945 noch eine ziemlich
bombenfreie Etappe gewesen war, wurde die hessische Flakstellung zu
unserer soldatischen Bewährungsprobe. Wir überstanden so manches Tag-
und Nachtschießen und etliche Bombenteppiche, die allerdings zumeist
schlampig plaziert waren.

Singend in den Untergang Seite 74


Das verstummte Lied

Das „Lied der Luftwaffenhelfer“ (Autor und Komponist unbekannt) ist


für immer verstummt. Es soll aber hier aufgeschrieben werden, um den
Geist, der uns damals beseelte, zu illustrieren:

„Wir Jungen von der Schule wohnen

als Landser bei den Flakkanonen.

Doch ist das alles nicht so wichtig:

nur daß wir schießen, das ist richtig.

Alarm! Alarm! Feind erkannt:

Terrorbomber überm Land.

Dollargangster werfen Brand.

Die Nacht ist heiß und unsre Wut ist kalt,

und morgen wird ein Ring ans Rohr gemalt.

Und wenn wir in die letzte Runde geh´n,

bist du, bin ich dabei -

und dann wird man Jim und Jack am Boden seh´n.

Achtung: Feuer frei!“

Wann auch immer heute ehemalige Luftwaffenhelfer, soweit sie noch


leben inzwischen alte und mehr oder minder abgeklärte Männer,
zusammentreffen: irgendwann kommen sie auf ihre „Kinderzeit an den
Kanonen“ zu sprechen. Manche mit Bitterkeit, doch für andere verklärt
sich diese Vergangenheit. Wie dem auch sei: Die von ihnen damals
geübten Tugenden Disziplin, Mut und Tapferkeit wären einer besseren
Sache würdig gewesen.

Singend in den Untergang Seite 75


Freude in der Freizeit

Doch verweilen wir bei diesem Thema. Dieter Noll, Schul- und
Flakkamerad vom Jahrgang 1927 - sein zweiter Vorname lautete
Sylvester, und an diesem Tage war er auch geboren, Noll also, der
sich eines Tages als „Werner Holt“ und mich als Gilbert Wolzow
darstellten sollte, sorgte während der vierwöchigen Ausbildungszeit
der Schüler an den Flakkanonen der Chemnitzer Batterie für Freude in
der Freizeit. Sie war überwiegend alkoholischer Natur. Dieter zapfte
im Keller der väterlichen Apotheke am Chemnitzer Falkeplatz stets,
wenn es ungesehen möglich war, aus dem Faß mit alcoholus absolutus
eine angemessene Portion ab. Den Verlust kaschierte er, indem er dem
hochprozentigen Alkohol Wasser in der gleichen Menge zuführte.

Der Sprit diente meiner Stiefmutter (in Nolls Roman die „Gerti
Ziesche“) als Basis für Liköre, die sie unter Verwendung unbekannter
Essenzen braute. Bei etlichen Nachtausgängen („Urlaub bis zum
Wecken“) besoffen wir uns gemeinsam mit Gerti wie die Panduren. Kein
Wunder, daß wir nach solchen Exzessen schlapp in die Batterie
zurückkehrten. Den häufig angesetzten „Infanteriedienst“ konnten wir
nur mit Hilfe von Pervitin, einem ebenfalls von Dieter aus Apothekers
Schrank entwendeten Aufputschmittel, das auch die Nachtjäger der der
„Wilden Sau“ bei der Luftwaffe verabreicht bekamen, durchstehen. Wir
sahen nach solchen Nächten grün wie Wasserleichen aus. Noll, der
mich, wie gesagt, nach dem Krieg in seinem Buch „Werner Holt“ als
seinen „militaristischen“ Freund „Gilbert Wolzow“ porträtieren
sollte, hat später in seinem Roman die wilden Sprüche, die ich damals
losgelassen haben muß, genüßlich wiedergekäut.

Einmal besoff sich in der Feuerstellung gar die ganze Baracke an


einem Arrak, den einer von zu Hause aus Friedensbeständen mitgebracht
hatte. Wir tranken den hochprozentigen Schnaps aus den Bakelitbechern
an unseren Feldflaschen. Schließlich waren die gesamten Lwh von
„Dora“ so voll, daß sie mitten in der Nacht vor der Unterkunft in den
Schnee kotzten. Der UvD (Unteroffizier vom Dienst) bemerkte diese
Spuren bei seinem Rundgang und jagte die ganze „blaue“ Bande im
tiefsten Winter, nur mit Nachthemd und Stahlhelm „bekleidet“, in den
Schnee. „Sprung auf, marsch! marsch! - Hinlegen! - Auf! - Hinlegen -
Ab bis zum Horizont und Rolle nach vorn!“ Und schon ragten 24 nackte

Singend in den Untergang Seite 76


Jungenbeine aus den Schneewehen wie Zaunstecken in die Höhe. Die
Stahlhelme sorgten dafür, daß wir uns mit den Köpfen tief ins feuchte
Naß bohrten.

Singend in den Untergang Seite 77


…daß Euch das Wasser im Arsche kocht“

Am nächsten Tag setzte Hauptmann Kutschera nochmals ein


Strafexerzieren an, daß uns fast die Luft wegblieb. „Ich werde Euch
beibringen, wie ihr euch zu benehmen habt“, brüllte der Batteriechef.
„Ihr Pfeifen, ihr nachgemachten Menschen, ihr Weihnachtsmänner, ich
werde euch schleifen, daß euch das Wasser im Arsche kocht. Aus euch
mache ich schon noch Soldaten!“ Beim Stubendurchgang am
darauffolgenden Samstag sorgten der Hauptwachtmeister und
Unteroffizier Ugerer (Name geändert) durch penibelste Überprüfung des
Bettenbaues, durch zentimetergenaues Nachmessen der Wäschestapel im
Spind dafür, daß möglichst vielen der Übeltäter der nächste Ausgang
gestrichen werden konnte.

Schikanen gab es viele, mit denen uns die UvDs (Unteroffiziere vom
Dienst) - häufig schlichte Obergefreite mit Volksschulbildung und von
dumpfer Abneigung gegen Oberschüler erfüllt - aufmischten. Beliebt
war beispielsweise der nächtliche „Maskenball“. Bei dieser Prozedur
folgte dem UvD-Befehl „Antreten in Ausgangsuniform, marsch! marsch!“,
der nächste auf dem Fuße: „Antreten in Drillich, marsch, marsch!
gefolgt von „Antreten in zweiter Garnitur, marsch! marsch!“. Viele
Tage hintereinander wurden die Betten eingerissen mit der Mitteilung:
„Ihr Säcke, ihr müden Bettenbauer, wir werden euch schon zeigen, was
ihr auf der Schule und bei der HJ nicht gelernt habt!“ Die Besatzung
von Baracke „Dora“ - Horst M., Werner L., Kurt Z., Dieter Noll und
drei weitere Jungen sowie ich - waren derartigen Kummer bald gewöhnt.

Vor allem Noll war unserem Kutschera ein Dorn im Auge. Der
Batteriechef, als Zivilist bei der schwarzen SS, nahm Dieter
persönlich übel, ein „Mischling zweiten Grades“ nach den Nürnberger
Gesetzen, das heißt ein „Vierteljude“, zu sein. Einmal schrie der
Hauptmann, der Anlaß ist mir unbekannt, mit Stentorstimme durchs
Gelände und eindeutig auf Noll gemünzt: „Den Judenbengel sollte man
an einen Baum binden und auspeitschen!“

Leicht hatte es Dieter auch nicht bei Unteroffizier Ugerer, von uns
kurz Luftzug (von der Abkürzung „Uffz. Ug.“ unter seiner
Schreibstubenunterschrift abgeleitet) betitelt. Dessen Spezialität
war bei den häufigen Appellen die Inspektion von Kragenbinden, einer

Singend in den Untergang Seite 78


teuflischen Erfindung, von den Preußen übernommen. Dieser
Stoffstreifen wurde in den Uniformkragen eingeknöpft und mußte stets
blütenweiß sein. Das konnte er aber nicht, weil er von Haus aus schon
mal grau aus der Wäscherei kam und weil, zweitens, besonders nach dem
I-Dienst und der damit verbundenen Schwitzkur das Ding schlicht
dreckig war. Ugerer beschuldigte Noll der „Sauerei“, sich nicht den
Hals gewaschen zu haben und befahl uns, seinen Stubenkollegen, ihm
selbigen Körperteil täglich mit einer Wurzelbürste zu bearbeiten. Der
Hals sah bald wie ein rohes Beefsteak aus.

Singend in den Untergang Seite 79


Mit Spind und Erkennungsmarke

Ein zweites Mal erwischte es Noll, als er vergessen hatte, seine


Erkennungsmarke umzuhängen. Als wir beim Appell die Hemden öffnen und
das Blech mit eingestanzter Nummer vorzeigen mußten, konnte Dieter
damit nicht aufwarten. Der Luftzug fragte verdächtig sanft: „Wo hat
denn Herr Noll seine Erkennungsmarke gelassen?“ „Im Spind, Herr
Unteroffizier!“, kam, wie aus der Pistole geschossen, die Antwort.
Ugerer: „Na fein, Luftwaffenoberhelfer Noll, dann melden Sie sich
heute mit Spind und Erkennungsmarke um 14 Uhr auf der Schreibstube!“
Hinzugesetzte werden muß: Wir hatten schwere blecherne Doppelspinde.
Unser Kamerad mußte sich mit dem ungefügen Ungetüm auf dem Buckel bis
zur Schreibstube mächtig abplagen.

Die älteren Luftwaffenoberhelfer des Jahrgangs 1927, bereits 1943


herangezogen, machten sich zu Beginn unserer Flakhelferzeit-
Kameradschaft hin, Kameradschaft her - einen Spaß daraus, die
„Batteriesäuglinge“ zu „erziehen“. Was sie darunter verstanden, läßt
sich wieder am deutlichsten am Beispiel Noll darstellen, der, wohl in
Kompensation seines „rassischen Makels“, zu einem lockeren Mundwerk
neigte und keinen Respekt vor den alten Hasen zeigte. Die
revanchierten sich fürchterlich, indem sie Dieter bei einer
Leitungsprobe an der Kanone von hinten einen Sack überstülpten, dem
vollkommen Überraschten, aber mächtig um sich Tretenden und
Schlagenden aus Hose und Unterhose rissen, um ihm dann mit
Schuhwichse den Hintern tiefschwarz zu färben. Dieter brauchte Tage,
um seinen Allerwertesten wieder sauber zu bekommen. Bei jeder
abendlichen Wäsche dieses edlen Körperteils wurde sein Tun vom
brüllenden Gelächter der Stubenkameraden begleitet.

Singend in den Untergang Seite 80


Ein Herz für die Jungen

Noll hat unserm Hauptmann Kutschera in seinem Roman „Die Abenteuer


des Werner Holt“ das Denkmal eines strammen Nazis gesetzt. Der Name
ist nur wenig verändert, und jeder von uns kannte nach dem Kriege den
Batteriechef in der Beschreibung wieder. Dieters Abneigung gegen den
Hauptmann war verständlich. Zur vorbildhaften Gegenfigur stilisierte
Dieter hingegen unseren Hauptwachtmeister hoch, der bei ihm
„Gottesknecht“ heißt. In der Tat hatte der Batteriespieß den
richtigen Draht zu „seinen Jungen“. Solange sich nicht ein Lwh mit
ausgesprochenen Disziplinverstößen hervortat, war Gottesknecht
tolerant oder sah zur Seite. Einmal ließ er uns gegenüber
durchblicken, daß er es nicht für richtig halte, halbe Kinder an die
Kanonen zu stellen.

Und das waren wir ja damals sicher noch. In unserer Stube von Baracke
„Dora“ kamen wir alle aus einer Schulklasse: der Horst M., ein
kräftiger, trotzdem musischer Junge ohne militärischen Ehrgeiz, aber
mit schulischen Erfolgen (er war „Klassenführer“ gewesen), der Kurt
Z., ein liebenswürdiger und hilfsbereiter Kamerad, dem meistens
alles recht war und der es nahm, wie es kam, und der Werner L., der
viel lieber weiterhin auf der Schulbank gesessen hätte. Im Großen und
Ganzen ließ Noll jedoch in seinem Buch synthetische Figuren agieren.
Die Protagonisten wurden von ihm jeweils mit Eigenschaften mehrerer
Kameraden, positiven wie negativen, ausgestattet.

Ich selbst fand mich, wie mehrfach gesagt, zum Teil im Gilbert
Wolzow porträtiert, einem jugendlichen Haudegen, mehr Soldat,
weniger Nazi. In der Stube von „Dora“ hatten mir die Kameraden wohl
aus diesen Gründen neben meinem üblichen Rufnamen „Freddie“ den
Spitznamen „Wehrbauer“ angehängt. Die „Gerti Ziesche“, die als
allzeit willige Beischläferin eine wenig rühmliche Rolle in der
Nollschen Handlung spielt, war mit Sicherheit die literarische
Umsetzung meiner Stiefmutter. Der Roman von Dieter ist trotz der
überwiegend fiktiven Handlung das Beste und Wahrheitsgetreueste, was
ich bisher unter dem mageren belletristischen Schrifttum über die
Flakhelfer gefunden habe. In der späteren Deutschen Demokratischen
Republik (DDR) wurde das Buch Pflichtlektüre an den Schulen, und
Dieter erhielt dafür den DDR-Nationalpreis.

Singend in den Untergang Seite 81


„Dem Vaterland gedient“

Am 2. Februar 1945 wurde der Luftwaffenoberhelfer Manfred Röber zum


Reichsarbeitsdienst (RAD) entlassen. Seine Einheit bescheinigte ihm
zum Abschied schriftlich, seit dem 5. Januar 1944 „bei dem
Flakregiment 300 dem Vaterland in seinem Kampf um Recht und Freiheit
gedient“ zu haben.

Luftwaffenhelfer vom 5.1.1944 bis 2.2.1945

Ich hatte, so lange ich zurückdenken kann, Offizier werden wollen. Es


war in erster Linie das Beispiel meines Vaters, das mich inspirierte.
Vergessen darf man auch nicht den sozialen Hintergrund. Im Dritten
Reich waren die Offiziere aller Waffengattungen - zumindest bis zum
20. Juli 1944, dem Tag des Attentats auf Hitler - eine hochangesehene
und auch bevorzugte Kaste. Schließlich blendete mich wohl auch der
Glanz der Uniform.

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Offiziersprüfung in Bad Blankenburg

Als entlassener Luftwaffenhelfer wurde ich zunächst ins thüringische


Bad Blankenburg einberufen, wo ich am 16. Februar 1945 bei der
Annahmestelle 5 für Offizierbewerber der Luftwaffe meinen
„Annahmeschein“ machte.

Annahmeschein der Luftwaffe, ausgestellt am 16.02.1945

Er bestätigte mir, „hiermit als Wehrmacht-Freiwilliger (vorgesehen


zur Übernahme in die Berufsoffizierslaufbahn der Fliegertruppe)
angenommen“ worden zu sein. Ich freute mich bei der Übergabe des
Papiers, meinem Vater mitteilen zu können, daß ich als Zweitbester
den Kurs absolviert hatte.

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Ich wollte Offizier werden wie mein Vater

Die Prüfung selbst war nicht besonders schwierig. Der sportliche Teil
beinhaltete beispielsweise das dreimalige Überklettern einer über
zwei Meter hohen sogenannten Eskaladierwand (Hinderniswand). Jeder
Prüfling mußte dazu mehrere Ziegelsteine in seinen
Wehrmachtstornister packen. Wer den Trick nicht kannte, schaffte die
Wand nicht. Ich hatte mich aber vorher schlau gemacht. „Du mußt“,
sagte mir ein Kamerad, der das Examen schon hinter sich hatte, „nach
schnellem Anlauf mit dem linken Bein etwa einen halben Meter hoch auf
der Wand auftreffen, dann trägt dich der Schwung bis nach oben, und
du kannst dich dann hinüberziehen“. Der Tip war prima, ich überwand
das Hindernis wesentlich öfter als verlangt.

Ziemlich unangenehm war ein weiterer sportlicher Prüfungsteil: Boxen.


Ich wurde im Ring einem langen Lulatsch gegenübergestellt, der nach
dem Anpfiff draufhaute, daß mir nahezu hören und sehen vergingen.
Nach wenigen Sekunden lag ich bereits am Boden, rappelte mich jedoch,
ob dieser Niederlage empört, sofort wieder auf. Nachdem ich ein
zweites Mal die Matte geküßt und mich erneut aufgerichtet hatte pfiff
der Lehrgangsoffizier ab. Etwas deprimiert fürchtete ich nunmehr, den
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Anforderungen bei diesem Prüfungsteil nicht entsprochen zu haben.
Doch Irrtum: Man wollte keineswegs die Boxkünste des einzelnen
Prüflings kennenlernen, sondern vielmehr sein Steh- und
Durchhaltevermögen. Die Parole lautete: Landgraf werde hart! Weil ich
mich bis zum Abpfiff immer wieder dem Gegner gestellt hatte bekam ich
etliche Pluspunkte auf meiner Qualifikationskarte.

Einen weiteren Prüfungsteil habe ich noch genau vor Augen. Jeder
Anwärter bekam ein Stichwort und mußte nach einer sehr kurzen
Überlegungspause zu seinem Thema einen mindestens fünf Minuten
dauernden Vortrag halten. „Der deutsche Wald“ bereitete mir keine
Probleme. Im Geiste stellte ich mir, wie auf der Oberschule im Fach
„Deutsch“ gelernt, ein Stichwortgerüst zusammen, etwa so: Mythologie:
Wald bei den Germanen, Dichtung: Lyrik von Eichendorff und anderen,
wirtschaftliche Nutzung: Möbelbau und Feuerung, Wald als
Erholungsgebiet. Ich hätte eine Stunde lang wie ein Dampfplauderer
schwätzen können, so ergiebig war das Thema. Der Offizier winkte bald
zufrieden ab. Bad Blankenburg stellte sich uns als Idylle dar. Hätten
wir uns nicht auf den Offiziersberuf und auf den weiteren Krieg
vorbereitet, wäre uns das wundervolle Waldgebiet als eine Oase des
Friedens erschienen.

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Zurück in den Bombenhagel

Dann führte mich mein Weg zurück nach Chemnitz. Ich wollte die
wenigen Urlaubstage, die man mir bis zum Einrücken beim RAD
zugebilligt hatte, zu Hause verleben. Ich kam vom Regen in die
Traufe. Chemnitz, bis dahin von alliierten Flächenangriffen nahezu
verschont, diente just in diesen Februartagen - und noch einmal im
März - als Ziel der britischen und amerikanischen Bomberflotten. Die
Industriestadt mit damals 365 000 Einwohnern, zuvor gern „sächsisches
Manchester“ wegen ihrer Textil- und Maschinenindustrie genannt,
wurde mehrfach von Hunderten von Flugzeugen seit dem 6. Februar
1945 im Teppichwurf in ihrem Kern total zerstört.

Der schwärzeste Tag, es war der 5. März, kam. Es wurde sowohl


vormittags wie am späten Abend Fliegeralarm gegeben. Die Sirenen auf
den Hausdächern heulten markerschütternd, die Menschen rannten von
den Straßen in die Luftschutzkeller, die Luftschutzwarte trieben die
Mieter aus den Wohnungen ins Souterrain. Man richtete sich, nachdem
Chemnitz nun schon mehrfach läßlich bombardiert worden war, diesmal
lediglich auf ein paar ungemütliche Stunden in kalten Gelassen ein.

Schön wär´s gewesen. Aber diesmal gingen die Alliierten mit etwa 700
Bombern in die Vollen. Ich saß mit der Familie, das heißt Stiefmutter
Gerti, dem aus der Festungsstadt Breslau noch rechtzeitig
geflüchteten Großvatel Max sowie meinem Bruder Winfried, in einem
Kellerabteil, das Vater rechtzeitig mit Balken abgestützt hatte. Zwar
im Prinzip technisch falsch, wie wir hinterher erfuhren, doch
hinreichend, uns das Leben zu retten.

Zunächst hörte man ein leises Summen, dann erste dumpfe Schläge, die
sich immer lauter wiederholten, es schwoll das Summen zum Brummen und
schließlich zum Donner an, der rollte auf uns zu, der Boden begann
unter den Füßen wellenförmig zu beben - und da schrie der Großvatel,
wie die anderen auf einer Holzbank sitzend, seit längerem schon
harthörig, in die verschreckt schweigende Kellerbesatzung: „Kommen
sie schon?!“ Die Gerti, grün im Gesicht, begann zu würgen, um dann
in hysterisches Kreischen auszubrechen, das in Anrufungen der Mutter
Maria und aller Heiligen mündete, ehe sie unter ihre Bank kroch, und
sich, der Länge lang ausgestreckt, die Ohren zuhielt.

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Das Verstecken nützte ihr nichts. Das Haus schien sich plötzlich vom
Boden zu heben, ich bekam einen Schlag wie mit einem riesigen Hammer
gegen die Brust, ein gellendes Bersten übertönte alle anderen
Geräusche, Blitzeshelle überflutete uns.

Und dann Totenstille. Die kahle Birne an der Kellerdecke war


flackernd erloschen, in der Finsternis roch es nach Mörtelstaub, nach
Verkohltem, nach Moder, nach Klärgrube. Ein Hausbewohner wollte ein
Zündholz anreißen. „Keine Flamme!“ schrie ich entsetzt, denn nunmehr
mengte sich Gasgeruch zwischen die verschiedenartigen Miasmen der
Zerstörung. Die Stadtgasleitung war leck. Endlich hatte einer eine
Taschenlampe wo auch immer hervorgekramt, und im Kegel dieser kleinen
Lichtquelle machte ich mich gemeinsam mit einem Hausbewohner der
oberen Stockwerke daran, den sogenannten „Mauerdurchbruch“
aufzupickeln. Gerätschaften für die Selbstbefreiung aus verschütteten
Kellern waren, den Luftschutzvorschriften entsprechend, vorhanden.
Der Mauerdurchbruch, vorsorglich geschaffen und nur mit einer
Ziegelbreite verschlossen, gab schnell nach. Aber was fand sich
dahinter?

Geröll. Steine und Mörtel rutschten uns entgegen. Das angrenzende


Haus, Hindenburgplatz 13 a, hatte einen Volltreffer abbekommen. Nur
noch die Fassade stand. Das übrige Gebäude war total zerbombt. Rechts
fand sich also kein Ausweg. Nun denn: Wir gingen mit vereinten
Kräften daran, den Verbindungsgang zwischen den rechten und den
linken Kellern, der zunächst durch Schutt zugeschüttet war, frei zu
räumen. Ab und zu schoben Gestein und Balkenteile nach, doch dann
ging es bereits nach einem reichlichen Meter links ab: der
Fahrradkeller! Durch diesen gelangten wir schließlich wieder ins
Freie.

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Vorschau auf‘s Letzte Gericht

Dort erwartete uns das Inferno. Aller Ecken und Enden brennende oder
schwelende Gebäude, zusammenkrachende Dachstühle, herabstürzende
glühende Balken, immer erneut aufstiebender Funkenflug wie Schwärme
von Glühwürmchen, straßenweise brennender Asphalt. Und kopflos
herumhastende Männer, Frauen und Kinder, gehüllt in klatschnasse
Decken, zu Tode erschrocken über das, was hier und da herumlag und
mit seinen kohlschwarzen Konturen nur entfernt daran erinnerte, das
es einmal menschliche Gestalt gehabt hatte.

Gert Richter, promovierter Chemnitzer Stadtarchivdirektor, hat in


seinem 1991 erschienenen Buch „Chemnitz - so wie es war“, die Bilanz
der Angriffe gegen die Stadt aufgelistet:

„Im März 1945 glich Chemnitz einer toten Stadt. Nach sechs größeren
Luftangriffen war das sächsische Manchester in Trümmern versunken.
Etwa eine Stunde dauerte das Inferno (vom 5. März). 700 schwere
Bomber flogen Welle auf Welle und entluden die todbringenden und
zerstörenden Spreng- und Brandbomben. Allein an diesem Tag starben
2105 Menschen im Bombenhagel. Die Stadt war nach dem Angriff zu zwei
Dritteln zerstört. .. Von 110.000 Wohnungen blieben nur 38.000
unbeschädigt Über hunderttausend Obdachlose zählte Chemnitz im Jahre
1945.“

Die NSDAP-Ortsgruppe Hindenburgplatz bescheinigte unserer Familie auf


einem provisorischen Papier den sogenannten „Totalschaden“. Dieses
Dokument sollte später einmal, so die Intention, Grundlage für einen
Entschädigungsantrag bilden. Unsere Familie hat für den Bombenschaden
niemals einen Pfennig gesehen.

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Ausgebombter RAD

Die Erfassungsstelle für den Reichsarbeitsdienst (RAD), bei der ich


mich melden sollte, war ebenfalls ausgebombt. Wohin ich mich nunmehr
zu wenden hatte, war auf Anhieb nicht feststellbar. Da mein
Entlassungsurlaub als Luftwaffenhelfer bald ablief, beschloß ich,
mich nach Zwickau aufzumachen, wo ich meinen Vater im
Wehrbezirkskommando (WBK) wußte.

Privat war mein alter Herr bestens untergebracht. In der Villa eines
Schrottverwerters, der im Auftrag der Wehrmacht metallene
Kriegsbeute, die nicht verwendet werden konnte, sowie Altmetall, das
bei Herr, Marine und Luftwaffe reichlich anfiel, für die
Waffenschmiede aufbereitete. Von diesem Material hatte der
Schrottfritze, den ich übrigens nie zu Gesicht bekam, eine dicke
Panzerplatte aus einem Kriegsschiff abgezweigt und zur Abdeckung des
Luftschutzbunkers im großräumigen Garten verwendet. Das war mal ein
Unterstand, der nahezu allen Bombentypen standhalten würde! Die Probe
aufs Exempel erlebte ich nicht. Als der Luftangriff auf Zwickau
erfolgte, war ich schon nicht mehr dort.

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Gemeinsame Tage

Aber der Reihe nach: Zunächst meldete ich mich in Zwickau auf Anraten
meines Vaters in der Wehrmachtserfassungsstelle. Die ließ mich
erstaunlicherweise wissen, ich würde schon von ihr hören, wenn man
meiner Dienste bedürfe. Über die zusätzliche Urlaubszeit war ich
nicht böse. Vor allem freute ich mich, einige Tage mit meinem Vater
gemeinsam verbringen zu können. Wie in Friedenszeiten kam er nach dem
Dienst im WBK nach Hause, wir aßen unser bescheidenes Abendbrot und
tranken hie und da das dünne Kriegsbier dazu. Einmal kam Vati auf die
Idee, aus Kartoffeln Schnaps zu brennen. Dieses Vorhaben beschäftigte
ihn tagelang. Einzelheiten weiß ich nicht mehr, lediglich, daß das
Gebräu, das bei dem Experiment herauskam, von undefinierbarer Farbe
und ungenießbar war. Wir hatten aber viel Spaß an unserem Experiment.

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Amis ante portas

Wie kommt die Jungfrau zum Kinde? - Man erinnert sich: Ich war
bestätigter Offiziersbewerber der Fliegertruppe. Aber was hieß in
diesen letzten Monaten des Kriegs schon Luftwaffe? Es gab mehr
Maschinen als Flugbenzin und voll ausgebildete Kampfflieger, und so
fand der Krieg der Soldaten mit den gelben Spiegeln auf den
blaugrauen Uniformaufschlägen überwiegend auf der Erde statt. In der
Regel wurden sie in sogenannten Luftwaffenfelddivisionen
zusammengefaßt, die man genauso gut der Infanterie hätte zuordnen
können.

Den Tag weiß ich nicht mehr. Die Sirenen von Zwickau heulten:
„Panzeralarm!“ Der auf- und abschwellende Ton, ein Geräusch von
geradezu beklemmend existentieller Bedrohung, scheuchte die Menschen
von den Straßen. Das bisher so noch nicht gehörte Signal, das sich in
Nuancen vom bisher gewohnten „Fliegeralarm“ unterschied, ließ
Schlimmstes ahnen: Die Amis ante portas!

Nun ja, vor den Toren standen sie zwar gerade noch nicht, doch drang
eine US-Panzerdivision im Vogtland Richtung Erzgebirge vor. Die
Deutschen stellten Alarmeinheiten zusammen aus Lazarettentlassenen,
Angehörigen des Volkssturms 3. Aufgebot, hier überwiegend aus jungen
Burschen im Hitlerjugendalter, ferner aus Urlaubern, die man
aufgriff, kurz, aus jedermann, der wie ein solcher aussah. Mich
erwischte es auf dem Zwickauer Kasernenhof, als ich meinen Vater in
seinem WBK-Dienstzimmer aufsuchen wollte, um ihn zu fragen, was ich
nunmehr angesichts des nahenden Feindes zu tun hätte.

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Zum Panzerjagdkommando

Als ich gerade ins Treppenhaus eintreten wollte, hielt mich ein
gellender Pfiff zurück. Mit schnellen Schritten näherte sich mir ein
Uscha (Unterscharführer = Unteroffizier) der Waffen-SS. Seine
Zugehörigkeit zu dieser Truppe war nicht zu übersehen: Silbern
blinkten auf dem rechten Kragenspiegel seiner olivgrünen, gescheckten
Felduniform die Siegrunen. Auf dem Ärmel prangten vier
Panzervernichtungsabzeichen. Auf der Feldmütze grinste das
Totenkopfabzeichen. Der Mann war baumlang, etwa 1,90 bis 2 Meter
groß. „He, Junge, wohin so eilig?“ wollte er wissen. Ehe ich
antworten konnte, bellte er einen Befehl: „Stell dich dort drüben
hin, wo die anderen stehen!“ Zugleich wies er in die
gegenüberliegende Ecke des Kasernenhofs, wo tatsächlich eine Gruppe
von rund 20 bunt Uniformierten und Zivilisten stand, die mir vorher
nicht aufgefallen war. „Unterscharführer“, brüllte ich zurück, „ich
will zu meinem Vater, der tut hier Dienst!“ „Das ist mir egal, und
wenn er der Kaiser von China wäre - schere dich dort rüber, sonst
gibt es gewaltigen Ärger!“ Gewohnt, Befehle militärischer
Vorgesetzter auszuführen, tat ich zögernd wie angeordnet. „Vielleicht
geht‘s ein bißchen schneller“, schrie der Uscha, drehte sich auf dem
Absatz um und strebte einer weiteren Tür auf dem Kasernenhofareal zu.
Die riß er auf und deutete ins Innere des Gebäudes: „Rein mit euch
allen!

Im Gänsemarsch zog das zusammengewürfelte Dutzend ein. Ein langer


Gang tat sich vor uns auf, bis wir nach einigen Schritten an einer
Art Tresen ankamen, wo bereits ein SS-Rottenführer (Obergefreiter
oder Stabsgefreiter) wartete. Uns ging, als wir sahen, was in den
Regalen hinter dem Mann lag, ein Licht auf: Das war ein
„Kammerbulle“. Und dann ging es ruck-zuck. Jedem, der an den Tresen
trat, flog ein Uniformstück zu: Hose, Feldbluse, Unterwäsche und was
noch so zur feldmarschmäßigen Ausrüstung gehörte. Und was fanden wir
an der Feldbluse vor? Die Siegrunen! Wir waren, merkten wir jetzt,
bei einer Alarmeinheit der Waffen-SS gelandet, der noch immer
legendären Truppe, die für ihren Kampfgeist berühmt war. Später
erfuhren wir auch deren „offizielle“ Bezeichnung:
„Panzerjagdkommando“. Komplettiert wurde unsere Ausrüstung mit der

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Armierung. Ich erhielt eine etwas antike Maschinenpistole mit
umklappbarem Drahtbügel, gebogenem Munitionsstreifen und mehrere
Stielhandgranaten. Andere der Neueingekleideten mußten außerdem eine
Panzerfaust mit sich schleppen.

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Abschied vom Vater

Auf meine nochmalige Bitte hin bekam ich eine Viertelstunde, um mich
von meinem Vater zu verabschieden. Die Erlaubnis dürfte weniger
meinen schönen blauen Augen zu danken gewesen sein. Der Hinweis, mein
Alter Herr sei hier im WBK als Oberstleutnant im Stab des
Kampfkommandanten wirkte nun doch Wunder. Schnell fand ich das Zimmer
meines Vaters. Nach dem Anklopfen, das mit einem donnernden „Herein!“
beantwortet wurde, öffnete ich ruckartig die Tür, trat einen Schritt
vor in den Raum, riß den rechten Arm hoch zur Ehrenbezeigung und
schmetterte : „SS-Grenadier Röber meldet sich gehorsamst zum
Verabschieden, Herr Oberstleutnant!“

Mein Vater starrte mich - erschrocken? entsetzt? mißbilligend? - an.


Sein Blick wanderte dann über die neue Uniform, um zuletzt auf meinem
Gesicht haften zu bleiben: „Mein Junge, verdammt nochmal, bei welchem
Haufen bist Du gelandet?!“

Die Frage war rhetorisch, hatte er doch die Runen auf dem rechten
Kragenspiegel sofort ausgemacht. Mir war bewußt, warum er erschrocken
- ja, das dürfte wohl das richtige Wort sein -, warum also er
erschrocken war. Er hatte die Waffen-SS nie besonders gemocht, weil
er in ihr eine Konkurrenzarmee der Partei zur Wehrmacht sah. Und er
liebte seine Luftwaffe und hätte es gern gesehen, wenn sein Kronprinz
des Vaters Uniform getragen hätte. Aber was half's? Mein Vater war
Realist genug zu wissen, daß ein Protest gegen meine Einkleidung in
die Uniform dieser Truppe nutzlos gewesen wäre. Die Waffen-SS und die
Feldgendarmerie hatten in den letzten Monaten des untergehenden
Reiches das Sagen. Lange habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob
mein Vater damals die Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg bereits
sicher kommen sah und mich auch aus diesem Grunde nicht gern bei
einer Einheit wußte, die vom Gegner ebenso gefürchtet wie verteufelt
wurde.

In diesen Minuten war nicht mehr viel zu reden. Wir hätten doch nicht
aussprechen können, was uns bewegte, dazu reichte die kurze Zeit
nicht. Und dann geschah etwas Seltsames: Mein Vater griff in die
Schreibtischschublade, und dann hielt er eine Pistole in der Hand.
Eine 6,35 mm, gewöhnlich „Damenpistole“ genannt. Aber das kleine Ding

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war im Nahbereich durchaus eine vollwertige Waffe. Er reichte sie mir
über den Schreibtisch. „Ich hoffe nicht, daß du sie brauchst. Aber
für alle Fälle…!“ Welche Fälle meinte er? Die Gabe blieb
unkommentiert. Ich steckte das Schießding schweigend ein, nachdem
ich mich überzeugt hatte, daß es gesichert und sein Magazin voll
bestückt war. Wir umarmten uns noch einmal. „Mach es gut, mein
Junge“, sagte mein Vater, „und komm mir unversehrt zurück.“ Er drehte
sich schnell um, als habe er in einem Wandregal nach etwas zu suchen.
Ich ging zur Tür, machte dort auf dem Absatz kehrt und grüßte mit
erhobenem rechtem Arm, wie es Vorschrift war. „Wir werden uns
wiedersehen, Vati.“ Und die Tür schloß sich hinter mir.

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Keine Fanfarenstöße

Der Marsch der zusammengefangenen Truppe ins westliche Erzgebirge


fand vor gespenstischer Kulisse statt. In der Ferne glühte ein
brandroter Himmel, der noch die Wolken über uns mit einem rosa
Abglanz färbte. Ab und zu zuckten Blitze durch die darunter lastende
Düsternis: Mündungsfeuer aus Kanonen und Geschützen der nahenden
Front. Immer wieder von den Unterführern angetrieben, hetzte unsere
buntscheckige Einheit aus Ungedienten, RADlern, Ex-Lwhs und
aufgegriffenen Urlaubern, die Kompaniestärke gehabt haben dürfte,
voran, dem Inferno entgegen.

„Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren …“: O nein, unser


Weg an die Front wurde nicht von Fanfarenstößen begleitet. Die
Stimmung war eher gedämpft. Zumeist schweigend zogen wir in
Zweierreihen dahin. Dachten einige schon an das nahe Ende? Keiner
sprach dergleichen aus, und die Unentwegten, zu denen auch ich
gehörte, hatten noch nicht alle Hoffnung aufgegeben. Noch lebte die
Vorstellung von der „Wunderwaffe“, welche die Wende des Krieges zu
unseren Gunsten bringen würde. Der große Hammer, mit dem wir unsere
Gegner zerschmettern würden: „Und wenn es in die letzte Runde geht,
bist du, bin ich dabei - und dann wird man Jim und Jack am Boden
sehen. Achtung, Feuer frei!“

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Dorfwirtshaus mit Rotem Kreuz

Unser Marsch endete in einem winzigen Erzgebirgsnest. Das Dorf oder


der Weiler besaß sogar ein Gasthaus, nur war das Gebäude
zweckentfremdet. Auf seinem Satteldach prangte ein weithin
leuchtendes Rotes Kreuz. War es ein Reservelazarett gewesen? Wir
wußten es nicht, doch kam uns diese Kennzeichnung gelegen. In der Tat
sollte es uns in den kommenden Tagen vor direkten
Tieffliegerangriffen schützen, solange wir uns in seinen Mauern
aufhielten.

Überhaupt diese Tiefflieger! Die feindlichen Jabos (Jagdbomber)


waren von früh bis spät am Himmel. Es gab nichts, was sich unten
bewegte, das sie nicht aufs Korn genommen hätten. Nachschub mußte,
soweit möglich, durch die Wälder der Umgebung herangeführt werden.
Schon in aller Morgenfrühe zog „Holzauge“, wie wir den Beobachter
nannten, seine Kreise im himmlischen Blau. Diese Maschine war es,
welche die Jabo-Einsätze dirigierte, und da war weder ein deutscher
Jäger noch ein Flakgeschütz, das den Späher heruntergeholt hätte. Wir
ballten manchesmal ob unserer Wehrlosigkeit gegen die feindliche
Luftüberlegenheit die Fäuste.

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Holzauge war wachsam

Dem Holzauge entging natürlich nicht, daß sich unten gegnerische


Kräfte befanden, und so dauerte es nicht lange, bis der Ami uns mit
Artillerie einheizte. Da in nächster Nähe unseres
Kompaniegefechtsstandes ein ausgedehntes Waldgebiet war gingen wir
dort in Deckung, und bald gruben wir auch Gräben und
Splitterunterstände. Die Amerikaner fetzten ganz gewaltig zwischen
die Bäume, die krachend zu Boden gingen, Krater öffneten sich im
lockeren Waldboden und kleinere Brände entstanden. Unsere Verluste an
Menschen und Material hielten sich zunächst in Grenzen.

Einmal, wir hatten etwa eine Woche in dem Erzgebirgskaff Stellung


bezogen, erwischte es mich auf sehr ärgerliche Weise. Als ich bei
Artilleriebeschuß in ein Schützenloch hüpfte, brannte mir plötzlich
fürchterlich der Hintern: eine Handvoll winziger Splitter hatten sich
hineingebohrt, und der Sani (Sanitäter) hatte später einige Zeit zu
tun, sie mir aus den Sitzbacken wieder herauszupulen. Das war die
einzige Verwundung, die ich im Zweiten Weltkrieg erlitt, und dafür
gab es kein Verwundetenabzeichen.

Eines Nachts, wir schliefen geruhsam in unserem Rotkreuz-Gasthaus,


wurde Alarm gegeben. Ein Stoßtrupp wurde zusammengestellt: Feindliche
Panzer in etwa zehn bis 15 Kilometer Entfernung im Anmarsch! Wir
hätten nie geglaubt, daß sich die Amis mit Tanks in unübersichtliches
Gelände vortrauen würden, aber wahrscheinlich fühlten sie sich schon
zu sicher.

Nun hatten wir, der Stoßtrupp vom „Panzerjagdkommando“, unsere


Chance. Voller Spannung und mit unguten Gefühlen lagen wir nach
längerem Marsch in einem Graben an einem Waldsaum parallel zu einer
Durchgangsstraße. Wir hatten Schiss! Immer lauter wurde das Mahlen
und Dröhnen der Panzerketten, und schließlich tauchte der erste
Sherman in unserem Blickfeld auf. Wir entsicherten unsere
Panzerfäuste, achteten auf Rückenfreiheit und legten Karabiner 98k
oder die Maschinenpistole bereit. Links neben mir visierte ein
Unterscharführer, der schon mehrere Panzerknackerabzeichen auf seinem
Ärmel trug, den Feindpanzer an, ließ den Kampfwagen in aller Ruhe
noch ein paar Meter weiter fahren und drückte dann auf den Knopf. Das

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Geschoß bohrte sich genau zwischen Turm und Wanne in den stählernen
Koloß. Mit einer Stichflamme sprang der Ausstieg auf, doch konnte
keiner der Insassen mehr aussteigen. Wie sich später herausstellte
waren sie alle tot. Der nächste Panzer, der seinen Vorgänger
beiseiteschieben wollte, wurde von mir aufs Korn genommen, doch flog
die Granate meiner Panzerfaust an ihm vorbei ins gegenüberliegende
Waldgelände. Ich hatte zu stark mit den Händen getattert; auch
Heldentum braucht Übung.

Besser trainiert war der Rottenführer zu meiner Rechten, sein Geschoß


knallte zwischen den Kettenantrieb vorn. Der Sherman wurde bei der
Detonation um 45 Grad gedreht und blieb bewegungslos liegen. Sofort
flog die Luke des Turms auf, die Besatzung kam aber kaum noch zum
Aussteigen, da wurde sie schon von unserem vereinigten Feuer voll
erwischt. Nur ein Mann der Besatzung kam gering verwundet davon, die
übrigen waren tot. Es waren, wie wir später feststellten, blutjunge
Burschen, nur zwei oder drei Jahre älter als wir, die jüngsten SS-
Grenadiere. Der leicht verwundete US-Soldat mußte uns auf dem
Rückmarsch begleiten.

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Einer schaffte es

Die Amis stellten ihr Vorrücken sofort ein. Der dritte Panzer gab
Vollgas im Rückwärtsgang und hätte beinahe seinen Nachfolger gerammt,
der dann auf einem anliegenden Holzlagerplatz eilig wendete. Noch
zweimal versuchten die Amerikaner mit Panzern durchzubrechen. Jedes
Mal wurden sie von uns abgewehrt. Allerdings: Nur einer von uns
Jungen schaffte es, einen Sherman abzuschießen. Er wurde von unserem
Einheitsführer - übrigens seltsamerweise ein Oberleutnant der
Wehrmacht - vor dem „Haufen“ am Abend mit einem EK II ausgezeichnet.

Wir hatten also bislang Glück gehabt, am meisten bangten wir davor,
Shermans mit Flammenwerfern zu begegnen. Die hätten uns im waldigen
Gelände ausgeräuchert wie Ameisen.

Und so kam der 20. April 1945, Führers Geburtstag. Es war ein
Kriegstag wie die vorhergehenden. Wir konnten die Ohren noch so tief
in den Volksempfänger versenken: Der Wehrmachtsbericht brachte kein
Wort von der Wunderwaffe. Nur V2 waren weiterhin auf London
abgeschossen worden. Das ließ uns aber schon kalt.

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Der furchtbare Friede

Wir warteten vergeblich auf den ganz großen Knaller, der den Krieg
noch wenden sollte. Wir ahnten das Ende - nein, wir wußten, es war
vorbei. Der Krieg verloren, Deutschland verloren, wir verloren. Wie
hatten wir uns doch schon als Luftwaffenhelfer mit einer Art von
vorauseilendem Galgenhumor genannt: LH = Letzte Hoffnung, und
„Genieße den Krieg, der Friede wird furchtbar sein“ gelästert. Jetzt
glotzte er uns ins Gesicht, der furchtbare Friede, den wir nicht
gewollt hatten. Der Siegfrieden war unser Ziel gewesen,
versinnbildlicht in unserem goldstrahlenden großdeutschen Aar.

Das glaubte ich bis April 1945!

Aufgeben? Abhauen? Nein, das erschien mir unmöglich. Desertion kam


nicht in Frage. Ich war Sohn eines deutschen Offiziers, selbst
Kriegsfreiwilliger und Offiziersbewerber für den aktiven Dienst und
kämpfte bei einer - zumindest nominellen - Einheit der Waffen-SS. Was
also tun? Weiterkämpfen bis zum Letzten? Bis zur sprichwörtlichen
letzten Patrone? Noch einmal heroisch sein? Das Leben, das uns im
besiegten Deutschland erwartete, war sicher nicht lebenswert, nicht
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nur, weil alle Ideale verloren waren, sondern weil es auch an allen
materiellen Ressourcen mangeln würde.

Noch heute erinnere ich das Gefühl grenzenloser Enttäuschung, ja


Verbitterung, das mich zunächst am späten Abend des
Führergeburtstags beherrschte. Sollte das wirklich alles gewesen
sein? Immer wieder die Frage: Hatten wir nunmehr tatsächlich den
verdammten Krieg verloren? Richtig schwindlig wurde einem bei diesen
Gedanken. Was würde nunmehr mit und aus uns werden? Und was aus
unserem Großdeutschen Reich? Diese Gedanken wiederholten sich wie
eine Gebetsmühle.

Und plötzlich, als sei ein Endpunkt gesetzt, verspürte man so etwas
wie tödliche Leere. Ja, alles war dahin: Unser Glaube an Führer, Volk
und Reich, der Stolz über die Größe der deutschen Nation, das Wissen
von ihrer Sendung in Europa. Das geschah auf einmal so schlagartig,
als ob die Luft aus einem angestochenen Ballon entweicht.

Wir lagen mehr oder weniger schlaflos in unserer Rotkreuz-Kneipe auf


dem Boden. Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes, Seltsames.
Nach Mitternacht wurde die Tür zu unserem Schlafraum im Tanzsaal des
ehemaligen Gasthauses aufgerissen. Unser Einheitsführer, Oberleutnant
G., brüllte uns von den Lagern Aufgefahrenen zu: „Männer, denkt
daran, keiner von euch hat ein Soldbuch, keiner trägt die
Blutgruppentätowierung!“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt, und
schon knallte die Tür wieder zu.

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Wink mit dem Zaunpfahl

Was, zum Kuckuck, meinte der Alte? (Er war übrigens etwa 30 bis 32
Jahre jung!) Warum teilt er uns, was wir wissen, in der Nacht
nochmals unter derartigem Getöse mit?

Lange mußten wir nicht darüber grübeln. Plötzlich stopfte der eine,
dann der andere und schließlich der Dritte, Vierte in seinen
Feldrucksack die wenigen Klamotten, die ein Soldat als Garderobe
besitzt. Und auf einmal verschwand erst der Erwin, dann der Otto, der
Wilhelm, der Heinz - in die Toilette des ehemaligen Gasthauses. Und
die Jungs kamen keineswegs zurück. Schließlich kapierte auch ich, was
angesagt war, und auch bei meinen zwei nächsten Bettnachbarn fiel der
Groschen.

Im Pissoir gab es nur ein Fenster, gerade groß genug, um einen Mann
noch durchzulassen. Ich zog mich also hoch, stemmte die Beine nach
vorn durch die Öffnung und ließ mich fallen. O verdammt, die Landung
war weich und zugleich höchst aromatisch: Ich steckte bis zu den
Knien im saftigen, suppigen, fein durchgegorenen Misthaufen des
ländlichen Anwesens. Der Gestank war erbärmlich. Den zwei Kameraden
blieb nichts anderes, als mir zu folgen, stand doch noch immer vor
dem Haupteingang des Hauses ein Doppelposten. Zumindest nahmen wir
das an. Und so machte sich unser Trio auf den Weg „nach Hause“.

Die Namen der zwei Kameraden sind mir entfallen, aber nennen wir sie
Max und Moritz. Unser erstes Ziel war der nahe Waldrand. Wir mußten
vor zweierlei auf der Hut sein: vor den Jabos und vor der deutschen
Feldgendarmerie. Da war es in doppelter Hinsicht zwischen den Bäumen
sicherer als auf offenem Feld oder gar einer Straße.

Diese Überlegung mußten auch andere Soldaten angestellt haben - und


ebenso die „Greifer“ der Fliegenden Standgerichte. Denn immer wieder
mal stießen wir auch im dichteren Forst auf Bäume, an deren
kräftigstem Ast eine Leiche hing. Die handgeschriebenen Schilder,
welche die Hingerichteten umgehängt trugen, machten uns erschreckend
deutlich, was uns erwartete, wenn man uns erwischte und als
Deserteure - die wir gar nicht waren, denn unser ganzer „Verein“
löste sich ja auf - in Minutenschnelle verurteilte. Dann würden wir

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auch so baumeln mit verzerrtem Gesicht und heraushängender blauer
Zunge und dem Urteilsspruch um den Hals: „Ich hänge hier, weil ich
Deutschland verraten habe“ oder „Ich bin ein Schwein und Deserteur“
oder auch „Ich ließ meine Kameraden im Stich“. Das hätten wir nicht
verdient.

Unsere allgemeine Richtung war Zwickau. Daß es inzwischen gefallen


war, das wußten wir nicht. Wir kamen ganz gut voran, immer nach
rechts und links witternd und sichernd. Als wir auf die Mulde
stießen, „entsorgten“ wir in dem Fluß unsere Stahlhelme, letzte
Waffen und Munition sowie vorsichtshalber auch die Kragenspiegel mit
den Siegrunen. Wer weiß, wie die Amis, falls sie uns schnappen
sollten, auf diese von ihnen gefürchteten Abzeichen reagieren würden?

Schließlich mußten wir den Wald verlassen. Bei C. gerieten wir in


eine verzwickte und gefährliche Situation. Plötzlich schoß eine
Artillerieeinheit. Wir konnten nicht ausmachen, ob es eine deutsche
oder eine der US-Armee war, und außerdem blieb sich das für uns
gleich. Jedenfalls sprangen kurz vor uns Erdfontänen auf, so daß wir
es für geraten hielten, einen Haken nach rechts zu schlagen. Von
unserem Standort aus konnten wir direkt in die Hauptstraße des Dorfs
blicken.

Und was sahen wir dort? Am Ende dieser Straße marschierten


nebeneinander mit angelegter Waffe drei „Kettenhunde“! Die
gefürchteten Feldgendarmen waren sicher nicht die einzigen ihrer
Truppe, die sich in diesem Kaff aufhielten. Was tun? Wir überlegten
nicht lange: In großen Sprüngen hetzten wir wie Känguruhs - durchs
Artilleriefeuer! Und wir hatten mehr Glück als Verstand, denn nach
wenigen Minuten hörte der Artilleriebeschuß auf. Er hatte mit
Sicherheit nicht uns gegolten, sondern war wohl als Sperrfeuer
gedacht. Gemächlich, und weiterhin auf Sicherheit bedacht,
marschierten wir weiter.

Jetzt tauchten wir erneut in einen Waldgürtel ein. Aufatmen. Hier


fühlten wir uns sicherer und nicht wie auf dem Präsentierteller. Im
immer dichter und dunkler werdenden Forst herrschte Stille, tiefe
Stille. Man hörte nur das Knacken brechender Zweige, die unsere Füße
niedertraten. Etwa eine Stunde lang bewegten wir uns so fort in die

Singend in den Untergang Seite 104


Richtung, in der wir Zwickau vermuteten. Leider besaßen wir keinen
Kompaß - mit ihm umzugehen, das hatten wir schon im Jungvolk gelernt
-, und so versuchten wir uns an der Bemoosung der Baumstämme und
anderen Hinweisen auf die Himmelsrichtung zu orientieren.

Singend in den Untergang Seite 105


„Hitler Youth!“

Bald wurde es wieder heller. Wir näherten uns dem Waldsaum. Mist, wir
würden schon wieder freies Feld überqueren müssen.

Die rund 20 Amis standen im Halbkreis, alle Waffen auf uns gerichtet.
Wir hatten unsere ja voreilig in die Mulde geschmissen. Voreilig?
Vielleicht war es sogar besser so? Die amerikanischen Infanteristen
sahen zwar martialisch aus, schienen uns aber nicht gleich umlegen zu
wollen. „Hands up!“ schrie einer, und ein anderer krähte,
offensichtlich vergnügt, „Hitler Youth!“ In Freddie, Max und Moritz
wallte Zorn auf: Wenn wir jetzt unsere MPis hätten! Die US-Soldaten
bedeuteten uns, unsere Feldblusen auszuziehen. Wozu das? Und dann
auch noch das Unterhemd! Das waren ja merkwürdige Sitten!

Die Amis inspizierten unsere rechten Unterarme, und als sie sich
überzeugt hatten, daß wir keine Blutgruppe eintätowiert hatten,
wurden sie noch friedlicher:„No SS!“ Na ja, das denkt ihr, ihr
Deppen!

Wenige Schritte entfernt stand hinter einem Busch ein Army-Jeep. Er


war vor dem Kühler gegen Drahthindernisse mit einer senkrecht
stehenden Metallschiene armiert. Während meine zwei Kameraden -
nennen wir sie weiterhin Max und Moritz - jeweils neben einem GI im
viersitzigen Jeep deponiert wurden, mußte ich auf der Kühlerhaube
Platz nehmen.

Und dann ging es los mit Karacho. Wenn der Fahrzeuglenker fröhlich
mit Tempo in eine Kurve ging flog ich vorn wie ein Fähnchen im Wind
an meiner Stange hin und her. Das machte dem Ami offensichtlich einen
Heidenspaß, denn trotz meines Protestgeschreis, das er auch ohne
Deutschkenntnisse verstanden haben muß, drosselte er die
Geschwindigkeit nicht.

Singend in den Untergang Seite 106


Blutwurst mit Sauerkraut

Nach rund einer Viertelstunde Fahrt erst über Stock und Stein, dann
auf Straßen, nahte offensichtlich unser Ziel: ein Sammelplatz für
deutsche Kriegsgefangene. Einfach ein freies Feld, umsäumt von
Stacheldraht. Einige hundert Wehrmachtsoldaten drängelten sich dort
schon. Sie sahen alle abgerissen aus und erschöpft. Hängende Köpfe.
Eine merkwürdige Stille lastete über dem Platz. Gegen Abend begann es
zu nieseln. Wer noch eine Zeltplane besaß, konnte sich glücklich
schätzen. Wir drei hockten nebeneinander auf dem immer nasser
werdenden Grasboden und fröstelten. Wir wußten nicht, daß dies erst
die feuchte Vorhölle war. Wir hofften noch, die Amerikaner würden uns
bald in ein etwas „wohnlicher“ eingerichtetes Lager transportieren
oder gar als Jugendliche entlassen.

„Wer kann kochen?“ Der abgerissene Gefreite, der diese Frage durch
ein Megaphon übers Lager brüllte, war offenbar von den Amis zu ihrem
Sprecher mit den Deutschen erkoren worden. Wir drei sahen uns an.
Natürlich konnten wir kochen. Aber selbstredend. Köche können sich
immer den Bauch füllen. Und unsere Bäuche knurrten schon ziemlich
laut. Ich hob den Arm, schrie: „Ich kann kochen!“ Ein bißchen mulmig
war mir schon dabei. Wenn die Amis nun US-Spezialitäten haben
wollten, was dann!?

So schlimm kam es nicht. Die Army war mit ihrem Nachschub nicht
nachgekommen und mußte sich daher mit deutschen Wehrmachtskonserven
begnügen. Und da gab es gegenwärtig unter ihrem örtlichen Beutegut
nur zwei Sorten Dosen: solche mit Sauerkraut und andere mit
Blutwurst. Na,. Da würden wir schon was zusammenpanschen können …

Für unsere Kochkünste stand uns ein großer Kessel zur Verfügung.
Vielleicht hatte in ihm früher mal Wäsche gebrodelt. Als „Köche“ ließ
man uns sogar aus dem Lager heraus. In wenigen Meter Entfernung fand
sich eine kleine Hütte, in der einmal Holz oder anderes Heizmaterial
gelagert worden war. Jedenfalls fanden sich darin noch einige Ster
bereits passend gehackter Scheite. Wir man Feuer anmacht, das hatten
wir schon als Pimpfe gelernt, und so entfachten wir unter den
argwöhnischen Augen zweier GIs mittels Spänen und einer Ausgabe
„Stars und Stripes“ unter unserem Kessel ein munteres Feuerchen. Dann

Singend in den Untergang Seite 107


manschten wir Sauerkraut und Blutwurst untereinander, rührten
andauernd und brachten so ein Gemisch zustande, das wir den GIs als
„German Sauerkraut with sausages“ (?) andienten. Und man glaubt es
nicht! Die Kerle waren von unserem Mahl begeistert! Fast der gesamte
Kessel wurde von der Wachmannschaft geleert, und wir kamen auch nicht
zu kurz. Zu unserer nicht geringen Freude kamen sogar noch einige
Amis und schenkten uns drei verwegenen Köchen „Rations“, die US-
Frontkämpferpäckchen, in denen sogar noch die Zigaretten vorhanden
waren.

Leider traf am nächsten Tag die Truppenverpflegung ein. Und mit der
kannten sich die Amerikaner aus. Nun war ihre Küchenkompanie wieder
an der Reihe. Vielleicht war es aber gut so. Lange hätten wir den
Amis kaum weismachen können, gute Köche zu sein.

Singend in den Untergang Seite 108


Kurze Vernehmung

Einige Stunden später wurden wir einzeln zur Vernehmung geführt. Ich
staunte nicht wenig, als mich der US-Major im Army-Zelt nach meinem
Eintritt mit „Guten Tag“ begrüßte. Na ja, der Tag war sicher nicht
gut, aber der Mann. Ich antwortete höflich, und dann las der Offizier
von einem Zettel die vorbereiteten Fragen ab. Name? Einheit?
Standort? Ich antwortete, wie vorgeschrieben: „Manfred Röber,
Panzerjagdkommando (den Zusatz „SS“ ließ ich vorsichtshalber weg),
Erzgebirge.“ Mehr mußte ich nach dem Kriegsrecht nicht verlautbaren.
Und mehr fragte er auch nicht. Er kritzelte auf seinen Zettel eine
Notiz, dann war ich entlassen ins Camp.

Nach Rückkehr ins provisorische Lager erwartete mich eine unangenehme


Überraschung. Zwei der mit weißen Knüppeln bewaffneten MPs lie0en die
Gefangenen in Zehnerreihen antreten. Und dann wurde intensiv
gefilzt! Mir nahmen die Diebe Armbanduhr, Füllfederhalter, einen Ring
mit Halbedelstein - den zweiten fanden sie nicht, weil ich ihn in
einer Socke versteckt hatte - und zu allem Überfluß auch noch die mit
Batterie beheizbaren Fliegerstiefel ab, die ich aus einem im
Erzgebirge gesprengten Wehrmachtsdepot gegriffen hatte. Na, das ließ
sich ja gut an!

Nach einigen Tagen in diesem Lager ging es weiter Richtung Westen.


Unsere Verladung auf die Army-Trucks werde ich nicht so schnell
vergessen. Die Amis, vor allem MPs, Militärpolizisten mit weißen
Helmen und entsprechenden Armbinden, wollten auf jede Ladefläche die
höchstmögliche Zahl von Deutschen pressen. Und das ging so: „Mak
snell, hurry up, you damn Kraut!“ und schon spürte man den Schlag mit
dem weißgestrichenen Knüppel im Kreuz. Man konnte aber nicht auf die
Ladefläche des Trucks klettern, weil diese gerappelt voll war. Das
machte den Amis nichts aus. Sie droschen, je zwei Mann, mit ihren
Schlagstöcken auf die Landser an der äußersten Ladekante ein. Nun
drückten diese ihrerseits mit aller Macht nach innen, um weiteren
Schlägen zu entgehen. In diesem Moment zogen die Militärpolizisten
die Kette an der Rückseite der Ladefläche an und, siehe da, plötzlich
war wieder etwas Raum geschaffen! Und so ging das munter weiter, bis
alles Dreschen und Fluchen nichts mehr nützte. Dann endlich war der
Truck so voll, daß keiner der unfreiwilligen Reisenden hätte umfallen

Singend in den Untergang Seite 109


können.

Das nächste Lager, das uns aufnahm, befand sich, wie wir allerdings
erst später mitbekamen, in der Nähe von Weimar. Es war wiederum nur
ein, diesmal viel riesigeres, Stacheldrahtgeviert ohne jeglichen
Unterstand. Nasse oder trockene Wiese, je nach Wetterlage. Die
Amerikaner hatten nicht viele Posten aufgestellt, wahrscheinlich
vermuteten sie richtig, die ehemaligen Gegner, die vor ihren Augen
mutlos und deprimiert auf ihren Hinteren hockten, würden vorerst
keinen Fluchtversuch unternehmen. Viel später wurde mir klar, daß
dies just der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, sich davonzumachen,
irgendwo geklautes Zivil anzuziehen und unterzutauchen. Aber
wahrscheinlich hielt mich damals, wenn ich so zurückdenke, meine
fehlende Fußbekleidung von einem Fluchtversuch ab. Meine schönen
Fliegerstiefel trug ja inzwischen wohl irgendein GI…

Singend in den Untergang Seite 110


Endlich wieder Stiefel

Bereits in diesem Lager gab es ausschließlich eine Währung:


Zigaretten. Die vergammelten Reichsmark, die dieser oder jener noch
mit sich herumtrug, waren absolut wertlos. Ich aber war zu diesem
Zeitpunkt glücklicher Besitzer von zwei Packungen Wehrmachts-
Marketenderzigaretten. Gegen eine Schachtel tauschte ich ein Paar
Kommißstiefel ein, die bewährten Kilometerfresser der deutschen
Infanterie. Welch ein Glück! In der Gesäßtasche meiner Uniform fanden
sich dazu noch zwei sogenannte Fußlappen, viel praktischer als
Strümpfe, weil sie nicht so schnell löcherig wurden und schnell
gewaschen waren.

Das Wetter war uns nicht gut gesonnen. Mehrfach regnete es, so daß
unsere Wiese sich in einen Morast verwandelte. Tagsüber war das
gerade noch hinzunehmen („Landgraf, werde hart …“), aber nachts! Bald
kam der Zeitpunkt, wo wir nicht mehr darauf achteten, ob unser
Untergrund naß oder trocken war. Die Müdigkeit überwältigte uns, und
alte wie junge Landser lagen wie hingemäht auf dem Gelände herum.
Noch ahnten wir nicht, daß diese Art von Nachtquartier von einiger
Dauer sein würde!

Singend in den Untergang Seite 111


Das Arbeitskommando

Die Amis machten nach wenigen Tagen über Lautsprecher ein Angebot. In
holperigem Deutsch suchten sie unter den Gefangenen ein
Arbeitskommando. Als Entlohnung wurde jedem Freiwilligen eine
Notration versprochen, das sogenannte GI-„Frontkämpferpäckchen“, in
dem für uns Lagerinsassen ansonsten unerreichbare Köstlichkeiten
enthalten waren. Schokolade, Nußriegel und weitere Kraftnahrung. Aber
am interessantesten deuchten uns die ebenfalls beigepackten fünf oder
sechs Ami-Zigaretten, Chesterfield, Camel und wie sie sonst noch
hießen.

Also meldeten wir drei uns, die wir schon erfolgreich als Köche
gewirkt hatten, zum Kommando. Rund 20 Mann sammelten die Amis ein,
meistens jüngere Kameraden, die sie trotz der inzwischen sehr
mangelhaften Ernährung noch für kräftig genug hielten. Wir wurden,
diesmal ohne Stockschläge, auf die Ladefläche eines Army-Trucks
verfrachtet, und ab ging es.

Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Der Lkw hielt vor einem Lagertor.
Was, noch ein Lager, und diesmal mit allem Drum und Dran, mit
Wachtürmen und Baracken, mit geteerten oder gepflasterten
Lagerstraßen! Was sollte das? Wollten die uns auf diese Weise nur
stiekum verlegen?

Singend in den Untergang Seite 112


Im KZ Dachau

Aber bald ging uns ein Licht auf, ein ganzer Scheinwerfer. Verdammt,
wir waren in einem KZ gelandet. Erkennbar war dies unschwer an den
armseligen Gestalten, die auf dem Gelände herumschlurften, total
abgemagert, verhärmt, dem Tode näher als dem Leben. Auf ihren
gestreiften Anzügen trugen sie merkwürdige, verschiedenartig gefärbte
Dreiecke, wohl Kennzeichen für die jeweilige Häftlingskategorie.

Ob Mutter wohl auch so aussieht, schoß es mir durch den Kopf. Wir und
meine Kameraden, soweit wir uns über das Thema jemals unterhalten
hatten, stellten uns ein Konzentrationslager als eine strenge
Erziehungsstätte für politisch Unbelehrbare, für Asoziale, für Homos,
für Kriminelle und, ja, auch für Bibelforscher vor, hatte man uns
doch gelehrt, die Zeugen Jehovas bildeten ein weltweites Spionagenetz
der Plutokraten und des Weltjudentums.

Die Aufgabe unseres Kommandos bestand darin, überflüssige Eisenbetten


aus den Barackenstuben auf einen Lastwagen zu laden. Offensichtlich
war das Lager - von dem wir erst später erfuhren, daß es sich dabei
um das „KL Buchenwald“ handelte - schon teilweise von den Insassen
geräumt worden.

Mit meinen zwei Kumpeln und einem Unteroffizier der Wehrmacht, der
noch seine Litzen auf den Schulterklappen trug, wollten wir gerade
zwei der ziemlich schweren Bettgestelle aus einer Stube tragen, als
es passierte: Ein noch ziemlich stämmiger und offenbar besser als
seine Leidensgenossen genährter Häftling knallte urplötzlich, nachdem
noch zwei weitere Männer in den Raum gekommen waren, die Stubentür zu
und begann auf den Unteroffizier einzuschlagen. Das Instrument,
dessen er sich bediente, war durchaus gefährlich, eine abgeschraubte
metallene Türklinke. Dem so Geprügelten lief das Blut übers Gesicht.
Schon wankend, wandte er sich zur Tür, riß sie auf und rannte
schwankenden Schritts zu unserem Ami-Truck. Und wir nichts wie
hinterher. Wir hatten nicht die Absicht, uns von den sicherlich alle
Uniformierten hassenden Lagerleuten invalide oder totschlagen zu
lassen. Auch aus anderen Baracken stürzten nunmehr Kommandoleute
heraus, die nicht besser behandelt worden waren.

Singend in den Untergang Seite 113


Der schwarze Soldat im Führerhaus des Army-Trucks, der uns gefahren
hatte, kapierte schnell, was los war. Er ließ sofort den Motor an,
während wir uns mit affenartiger Geschwindigkeit auf die Ladefläche
des Lastwagens schwangen. Und dann ging es auch schon ab durchs
Lagertor. Ein Hagel von Steinen und Knüppeln prasselte hinter unserem
Gefährt auf die Straße, aber wir waren in Sicherheit!

Ich gestehe, wir waren entsetzt und verstört. Weniger über das, was
uns widerfahren war, das haben wir schnell weggesteckt, sondern viel
mehr über das, was wir im Lager gesehen hatten. Das waren also unsere
„Erziehungsstätten“ gewesen!

In diesen Augenblicken dachte ich sehr intensiv an meine Mutter, die


es im Lager Ravensbrück wohl kaum besser gehabt haben dürfte. Das war
unmenschlich, was sich uns hier gezeigt hatte. Zum ersten Mal verband
sich für uns der Begriff „Unmenschlichkeit“ mit dem Begriff „KZ“.
Hatten wir also auch dafür gestanden und gekämpft? Und das Schlimmste
war uns noch gar nicht bekannt: Auschwitz, Maidanek und die anderen
Vernichtungslager im Osten!

Im Camp bekamen wir dann tatsächlich unsere GI-Rations. Wir konnten


uns darüber nicht genug wundern. Eine Erklärung dafür, warum wir für
nicht getane Arbeit belohnt worden waren, habe ich bis heute nicht.
Kenne sich einer mit den Amis aus!

Das provisorische Lager bei Weimar sah uns nicht lange. Sehr bald
wurden wir wieder in bekannter Manier auf Trucks geprügelt, und dann
ging es auf eine lange Fahrt. Wir Eingedosten bekamen weder Wasser
noch Verpflegung. Verstohlen klaubten wir, wenn eine Pinkelpause
angesagt war - die US-Soldaten standen dabei stets im Kreis um uns
herum, während wir unsere Notdurft verrichteten -, aus unserer Ration
in der Hosentasche ein Stückchen Schokolade oder Kraftriegel. Hygiene
war nicht mehr angesagt.

Bei der neuerlichen Lkw-Verladung hatte ich meine zwei Kumpel Max und
Moritz verloren. Ich sollte sie während der Dauer der Gefangenschaft
leider auch nicht wieder finden. Als die Fahrt beendet war hielten
wir vor einem stacheldrahtbewehrten Tor. Die Begleitmannschaft
scheuchte uns von den Trucks, und wir marschierten, wie gewohnt im

Singend in den Untergang Seite 114


Gleichschritt, auf die staubige Lagerstraße. Was würde uns erwarten?
Noch ahnten wir nicht, daß sich jetzt das Tor zum Vorhof der Hölle
hinter unserer Kolonne schloß …

Singend in den Untergang Seite 115


Wasser als Mangelware

Die Sonne schien tatsächlich an diesem Tage höllisch. Wir lechzten


nach Wasser, bekamen aber keins. Bald sollten wir erfahren, daß
Wasser in diesem Rheinwiesenlager Sinzig ebenso zur Mangelware
gehörte wie Verpflegung. Lange Zeit wurde uns nur ein Liter pro Tag
vom Naß, das direkt aus dem nebenan fließenden Vater Rhein
hochgepumpt wurde, zum trinken und waschen gegönnt. Übrigens mit
allem, was darin so schwamm. Wir mußten es nach langem Schlangestehen
aus einer Einrichtung zapfen, die uns heute wie die Waschanlage eines
primitiven Campingplatzes vorkommen würde. Das H2O war grauenvoll mit
Chlor versetzt, von dem die Amis ebensoviel hielten wie von dem
Ungezieferbekämpfungsmittel DDT, das sie uns aus Flitspritzen
verabreichten. Dabei wurden wir von Kopf bis Fuß mit dem weißen
Pulver eingenebelt.

Rheinwiesenlager Sinzig

Zur Wasserqual im Lager Sinzig hat Hermann G.


(http://www.historicmedia.de/Kriegsgefangene) eine präzise

Singend in den Untergang Seite 116


Schilderung veröffentlicht:

„Schon in der Nacht sichern sich die ersten Kameraden einen


günstigen Platz in der zu erwartenden Wasserschlange. Frühmorgens,
wenn die Zählung vorbei ist, strömt die Masse zur Wasserstelle. Eine
kilometerlange Schlange von Menschen, ausgerüstet mit allen möglichen
Behältern, bildet sich. Stunde um Stunde stehen wir, und nur ganz,
ganz langsam rücken wir vor, dem ersehnten Ziele zu. Manchmal dauert
es stundenlang, bis man wieder einige Meter vorrücken kann, denn
vielfach stockt die Wasserlieferung stundenlang. Und dann heißt es
geduldig ausharren, mag auch die Sonne noch so heiß auf uns scheinen
oder mag der Regen uns durchnässen. Wasser ist wichtiger als alles
andere, als Sonnenglut und Regen - ohne Wasser können wir uns keine
Mahlzeiten bereiten. Und das bedeutet hungern! Darum stehen, sitzen
und liegen wir, Beispiele einer nicht zu überbietenden Geduld … Wir
stehen und liegen und warten darauf, wieder ein paar Meter
weiterrücken zu können. Werden von Kameraden abgelöst und lösen
selber wieder ab. Unsagbar langsam, so langsam wie wir in der
Wasserschlange, schleichen die Stunden vorbei. Und die Sonne brennt.
So warten wir vielfach vom Morgen bis zum Abend. Und oft ist alles
Warten vergebens. Wenige Meter noch vom ersehnten Ziel entfernt, und
das Wasser wird für den Tag endgültig abgestellt. Wasserlos, wie wir
gekommen sind, ziehen wir unserm Bunker zu. Heute gibt´s kein warmes
Essen.“

Das Lager Sinzig, nach einer Quelle belegt mit 300 000 Mann, nach
anderen mit 250 000 oder weniger, präsentierte sich uns als
wimmelnder Ameisenhaufen.

Und diese wabernde Masse war wiederum in Stacheldrahtgevierte


abgeteilt, die, wie wir bald erfuhren, Cages genannt wurden. Wie
viele Cages das gesamte Camp Sinzig zählte, ist mir bis heute
unbekannt geblieben, doch erinnere ich mich noch, daß wir rechts und
links von einem Cage für „Politische“ (Parteibonzen und Waffen-SS)
und einem für ungarische Gefangene (Honved) flankiert wurden. Den
Politischen ging es, soweit überhaupt möglich, verpflegungsmäßig noch
schlechter als uns, die Ungarn hatten wir im Verdacht, zu klauen wie
die Raben, weil immer wieder Decken, Zeltplanen und andere, hier
lebensnotwendige Utensilien, über Nacht verschwanden.

Singend in den Untergang Seite 117


Nach den provisorischen Sammellagern, die wir durchlaufen hatten,
erwarteten wir nunmehr Unterkünfte in irgendeiner Form. Aber weit und
breit nichts dergleichen! Keine Zelte, keine Baracken, keine Hütten,
was auch immer. Und so machten wir es wie die Landser, die schon vor
uns eingetroffen waren: Wir gruben mit Löffeln, mit leeren
Konservendosen, mit allem, was für eine - langwierige! -
Bodenbearbeitung überhaupt brauchbar war, Erdlöcher, um uns
wenigstens provisorisch von den Nachbarn abzugrenzen und ein wenig
Witterungsschutz zu erhalten.

Manche Kameraden buddelten sich auch Zwei- oder Drei-Mann-Löcher, um


sich nachts in der „Löffelstellung“ gegenseitig zu wärmen, war es
doch in diesen letzten Apriltagen nach der Dämmerung elend kalt. Ich
hatte auch einen Jungen, der kaum älter war als ich, als
„Mitbewohner“ gefunden und dieser besaß, o Glück, sogar noch eine
Zeltplane, während ich eine Decke, die ich kurz zuvor gegen meine
letzten Zigaretten eingetauscht hatte, beisteuerte. Der junge Mann,
der als Volkssturmangehöriger kampflos an einer Panzersperre in
Gefangenschaft geraten war, erzählte mir, seine Familie habe stets
eine Abneigung gegen die Nazis gehabt, und so sei er auch nur mit
Widerwillen dem Aufruf zum Volkssturm gefolgt. ER freute sich,
nunmehr dem Krieg entgangen zu sein und hoffte auf baldige
Entlassung. Das taten wir alle, und tagtäglich durcheilten sogenannte
Latrinenparolen das Camp, die von bevorstehender Entlassung der
jüngeren Jahrgänge wissen wollten.

Ach ja, Latrinen. Das war eines der traurigsten Kapitel im


schauerlichen Rheinwiesenlager Sinzig. Während wir auf der anderen
Seite des Stroms die Zivilisten herumgehen sahen mußten wir auf etwa
zwei Meter langen und einem Meter breiten Gruben unsere Notdurft
verrichten. Zunächst genierte man sich noch ein wenig, das coram
publico zu tun, doch legte sich das bald, weil mit dem zunehmenden
Hungergefühl auch die Wurschtigkeit wuchs. Was kümmerten uns Scham,
was Hygiene, wenn wir „nichts zu fressen“ hatten!

Singend in den Untergang Seite 118


Tod in der Latrine

Doch ehe ich auf die „Verpflegung“ eingehe noch ein Wort zu den
Latrinen. Sie waren Menschenfallen. Mindestens zweimal in meiner
Lagerzeit habe ich gesehen, wie ein von Hunger und Krankheit,
meistens der Ruhr, entkräfteter Lagerinsasse in diese stinkenden
Löcher stürzte, wo er erstickte oder in der grausigen Matsche
ertrank.

Es gab keine Rettung. Wir selbst, nicht weniger hungergeschädigt,


waren zu schwach, Hilfe zu leisten oder gar einen Gestürzten aus der
Grube zu ziehen. So folgte dann eine blitzschnelle Bestattung: Die
für diese Aufgabe von den Amis oder der deutschen Lagerleitung
eingeteilten Gefangenen streuten über die Latrinenleiche eine Lage
Chlorkalk, die wiederum mit einer Schicht Erde abgedeckt wurde. Das
war alles. Keine religiöse Zeremonie für den Toten, kein
Abschiedswort welcher Art auch immer.

Vegetieren auf primitivstem Niveau

Noch heute liegen in den Rheinwiesenlagern die Gebeine ungezählter so


oder durch Krankheit und Auszehrung zu Tode gekommener Gefangener.
Sie wurden, soweit mir bekannt, nie geborgen, um sie ordentlich und
würdig zu bestatten. Im Gegenteil: Örtliche deutsche (!) Behörden

Singend in den Untergang Seite 119


verweigerten Grabungen und redeten sich zur Begründung ihrer
ablehnenden Haltung auf „Denkmalschutz“ heraus.

Viele Jahre nach dem Kriege habe ich das Buch eines kanadischen
Journalisten über die Rheinwiesenlager gelesen („Der geplante Tod“).
James Bacque spricht darin von rund einer Million Toter in den Camps.
Ich weiß nicht, ob diese immense Zahl stimmt und neige eher dazu,
eine andere Schätzung für realistisch zu halten, die von 50 000 bis
100 000 zu Tode Gekommenen ausgeht.

Und nun ein Wort zur Lagerverpflegung: Sie war katastrophal. Nach
unserem Eintreffen erhielten wir zunächst einmal - gar nichts! Erst
am nächsten Tag - wir mußten uns dazu in Reihe anstellen - bekamen
wir von zwei Amisoldaten für je zehn (!) Mann eine Büchse Fleisch und
ein Weißbrot fast an den Kopf geschmissen. Weil dieser Proviant von
vorn bis hinten nicht reichte, bastelten findige Köpfe kleine Waagen,
mit denen die kostbare Nahrung grammgenau abgewogen wurde.

Nach einigen Tagen wurden die uns zugebilligten Rationen noch mehr
geschmälert. Es gab kein Brot und schon gar kein Dosenfleisch mehr,
sondern für jeden Mann jetzt auf die befehlsgemäß ausgestreckte linke
Hand: je einen Löffel Eipulver, Milchpulver, Zucker, Nescafé,
Erbsenpulver und weitere Pülverchen, die mir nicht mehr alle
erinnerlich sind. Was mit dem Zeug anfangen?

Wir bauten uns also aus den Konservendosen, die wir vorsorglich
aufbewahrt hatten, kleine Öfen, auf denen wir aus den Pulverarten
Minisüppchen usw. kochten. Später, als es einmal Weiße Bohnen gab,
habe ich versucht, mir ein Bohnengericht zuzubereiten. Stundenlang
lag ich auf dem Bauch und blies in das Öfchen, damit sein Feuer nicht
ausgehe. Aber eine Bohnensuppe gab es nicht. Die Dinger waren noch
immer knochenhart, und als ich versucht hatte, sie zu rösten, mußte
ich sie wegschmeißen, weil sie grauenvoll schmeckten. Das, obwohl wir
nicht wählerisch waren. Wir hatten bereits sämtliches Gras, das noch
im Lager wuchs, „abgeweidet“ und sogar, soweit wir rankamen, die
Pfähle der inneren Lagerumzäunung von der Rinde befreit, um sie zu
verzehren. Gegessen wurde, was sich kochen oder gerade noch kauen
ließ.

Singend in den Untergang Seite 120


Läuse von oben bis unten

Und dazu kam, wie schon bemerkt, der chronische Wassermangel. Weil
wir es vorzogen, das wenige Naß, das uns zugebilligt war, zu trinken
und nicht zum waschen zu benutzen, verbreitete sich das Ungeziefer im
Lager in Windeseile. Wir waren schnell verlaust vom Scheitel bis zur
Sohle. Da halfen auch die häufigen DDT-Bepuderungen durch die von den
Amis eingesetzten Lagerkräfte nichts mehr. Diese Leute waren auch
nicht immer von der feinsten Sorte. Manche von ihnen stahlen, und
sogar die US-Lagerverwaltungen machten sich mit ihnen hier und da
gemein: Viele Zentner Proviant landeten auf dem Schwarzmarkt
außerhalb der Lagerzäune.

Das Leben wurde von Tag zu Tag stupider. Die Gefangenen saßen in
ihren Erdlöchern, lausten sich, dösten oder schliefen, wenn nicht
gerade wieder Regengüsse hernieder prasselten. Oder sie lagen und
hockten vor ihren Blechdosenöfchen und bliesen, was das Zeug hergab,
um ihre mehr als kärglichen Rationen zu ein paar Löffeln Suppe zu
verarbeiten.

Es bildeten sich bald zwei Fronten im Lager - die dritte stellten die
privilegierten deutschen Helfer der Amis, die Leiter der einzelnen
Cages und die Angehörigen der Lagerpolizei, um die es hier nicht geht
-: die eine bestand aus den „Alten“, den „Frontschweinen“, die andere
aus den „Jungen“ von 13 bis etwa 20 Jahren, die als Meldegänger,
Kindersoldaten, Hitlerjungen, Luftwaffenhelfer oder
Volkssturmangehörige noch in die letzten Strudel des Krieges gezogen
worden waren. Während die Jungen sich bemühten, unter den gegebenen
Umständen noch so etwas wie Haltung zu bewahren, war den Altgedienten
alles wurst. Ihre Überlebensstrategie bestand darin, nur noch für
sich selbst zu sorgen. „Du mußt Egoist sein, mein Junge“, sagte einer
dieser an vielen Fronten gestählten Landser zu mir, „wenn du
überleben willst. Mit Rotkreuz-Mentalität wirst du nicht
durchkommen!“ Es war eines dieser wenigen Gespräche oder eher
Wortwechsel zwischen einem Jungen und einem Alten, die im Lager
Sinzig überhaupt zustande kamen.

Singend in den Untergang Seite 121


Eheringe gegen Zigaretten

Was uns „Pimpfe“, wie wir oft herablassend genannt wurden, am meisten
fuchste, war der Tausch von Eheringen gegen Zigaretten, den die Alten
mit dem GI-Wachpersonal praktizierten. Warum machen die das, fragten
wir uns, wo bleibt da die Würde?! Wenn wir schon den Scheißkrieg
verloren haben, dann doch wenigstens mit Anstand! Wenn die etwas
Eßbares eingetauscht hätten, dann wäre unser Verständnis
möglicherweise größer gewesen. Aber so kam es uns wie ein Verrat an
dem Letzten, was viele noch hatten, an den Daheimgebliebenen, der
Familie vor.

Inzwischen wurden die Lagerzustände immer prekärer. Zahlreiche


Gefangene litten unter der Ruhr oder einem andersgearteten Durchfall.
So auch ich. Mit den letzten Reichsmarkscheinen versuchte ich
vergeblich, mich zu säubern. Ein meinem Erdloch benachbarter Kamerad
hatte eine Idee: „Nimm doch“, so schlug er vor, „den ganzen
Pulvermist des Tages und würge ihn trocken runter, vielleicht bremst
das.“ Es bremste in der Tat. Die Wirkung war wie die einer
Kohletablette. Ich war, unter den gegebenen Umständen glücklich, und
mein Reichsmarkbestand zweckentfremdet aufgebraucht.

Das zweite große Übel war die durch die anhaltende Hungerkur bewirkte
Schlappheit. Man ging wenige Meter, dann wurde einem schwarz vor
Augen, und man mußte sich hinsetzen, um nicht umzufallen. Der
Kreislauf war völlig ruiniert, der Blutdruck im Keller.

Nach Wochen ließen die Amerikaner das Lager umsortieren. Während


zunächst noch alle Jahrgänge wild durcheinandergelegen hatten,
sollten nunmehr Junge und Alte getrennt werden. Das hatte wohl zwei
Gründe: Zum einen sollten die Lagerinsassen im Jugendalter nunmehr
eine etwas aufgebesserte Verpflegung erhalten, zum anderen stellten
die Ami-Helfer jetzt Zelte auf, in denen von ausgesuchten Älteren
Unterricht angeboten werden sollte. Heute ist mir klar, daß bereits
zu diesem Zeitpunkt die „Reeducation“, die Umerziehung, einsetzen
sollte. Man wollte aus den vermeintlich fanatischen Jungnazis
Demokraten nach US-Ansicht machen, zumindest die ersten Keime für
eine veränderte Weltsicht einpflanzen.

Singend in den Untergang Seite 122


Erste Verbesserungen

Die Neuorganisation bestand in ihrem ersten Schritt daraus,


sogenannte „Hundertschaften“ aus den jungen Gefangenen zu bilden.
Diese Einheiten zählten zwar nicht immer korrekt hundert Mann, doch
mußte man ihnen wohl irgendeinen Namen geben. Und „Kompanien“ wollte
man sie aus verständlichen Gründen nicht taufen.

Aus welchem Grunde auch immer wurde ich von den Amis oder der
deutschen Lagerleitung zum „Hundertschaftsführer“ ernannt und
zunächst mit der Aufgabe betraut, vor allem einen geregelten Ablauf
der täglichen Zählappelle, des Wasserholens sowie der
Verpflegungsausgabe zu organisieren. Natürlich konnte ich die Knaben
und Jungmannen, die nunmehr meinem „Befehl“ unterstanden“, nicht auf
Anhieb im Kopf behalten, und so mußte ich mir ihre Namen mit einem
Bleistiftstummel notieren. Ich tat dies auf der Rückseite meiner Lwh-
Entlassungsurkunde. Leider habe ich damals meistens nur die
Familiennamen und überhaupt nicht die Herkunftsorte aufgenommen.

Singend in den Untergang Seite 123


Meine Hundertschaft

Und hier die Namen meiner Hundertschafts-Angehörigen, soweit ich sie


noch entziffern kann (die Urkunde hängt, wie schon gesagt, heute zwar
verblichen, aber gerahmt in meinem Arbeitszimmer):

„Baldauf Rudi, Machelius Erhard, Hofmann G., Richter R., Steinig M.,
Richard W., Angermann G., Moch oder Moik, Wolff H., Störz H. (?),
Niemczuk E., Smieja A., Marx G., Heß G., Kunz G., Kunz G., Kaluba H.,
Schlu … K.-H., Kirchner G., Wischnefski O. (?), Schaller E., Plänitz
M., Bielefeld P., Tscheike P., Schäfer W., Bönke H., Krüger M.,
Reichel H., Österreich G., Michael W., Graichen H., Albrecht H.,
Handschuk K., Schmidt G., Hanning G., Ciensky K.-H., Krätzler E.O.
(?), Neumüller R., Schuler W., Muskus G., Grimm H., Helmig H.,
Fleicher, Wulff, Zebek M., Heinrich S., Lehmann R., Siebdraht W.,
Hörig H., Seifert M..“

Aus heute nicht mehr nachvollziehbarem Grund sind einige Namen zwar
niedergeschrieben, aber durchgestrichen (Entlassung, gar Tod?):

„Beer G., Kühn O., Kluty M.“ kann ich noch einigermaßen lesen.

Man wird verstehen, daß ich für die richtige Schreibweise aller Namen
nicht gerade stehen kann. Dazu ist die Bleistiftschrift zu sehr
verblaßt.

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Die Franzosen übernehmen

Wir wußten nicht, daß es eine Auswirkung der Beschlüsse der Potsdamer
Konferenz war, aber jedenfalls gab es am 10. Juli (Datum nicht
hundertprozentig verbürgt!) für unser Lager Sinzig eine radikale
Veränderung: Es wurde, wie weitere Camps noch, von den Franzosen
übernommen. Was nunmehr um unsere Stacheldrahtzäune patrouillierte,
war abenteuerlich kostümiert. Die Uniformen, soweit es nicht Teile
von Zivilkleidung waren, präsentierten sich als eine operettenreife
Mixtur aus US- und Wehrmachtsklamotten, aus Monturen der Freien
Franzosen und aus Resistance-Beständen. Die meisten Bewacher hatten
ihre Gewehre mit dem Kolben nach unten geschultert.

Zunächst kamen uns die neuen „Herren“ recht bösartig vor. Nicht nur,
das sie nachts gern von den Lagertürmen ins Camp schossen, wenn einer
zur Latrine mußte (wir robbten oder krochen daraufhin, wenn uns die
Notdurft überkam, zu den stinkenden Erdlöchern), die Verpflegung
wurde auch schlagartig bedeutend magerer. Sie sank de facto unters
Minimum. Allerdings, und das muß aus Gründen der Gerechtigkeit gesagt
werden: Die Posten rund ums Sinziger Gefangenenareal wurden auch
nicht üppig ernährt. Wir sahen die Franzosen mehr als einmal an rohen
Kohlrüben knabbern, und ansonsten lebten sie augenscheinlich
vorrangig von einem tiefschwarzen Brot. Und das bei eingeschworenen
Weißbrotessern!

Das Verhalten unserer Zuchtmeister zivilisierte sich bald. Die


nächtliche Ballerei hörte auf, und hier und da gestatteten die
Soldaten sogar, daß Zivilisten aus den nahen rheinischen Dörfern
Eßbares über den doppelten Stacheldrahtzaun warfen.

Vielleicht, so argwöhnten wir, hing dies auch damit zusammen, daß man
Stimmung für den Eintritt in die Legion etrangere, die französische
Fremdenlegion, machen wollte. Immer wieder mal kam ein deutsch
sprechender Sergeant ins Cage, der für diese legendäre Truppe warb.
Ich gestehe, mir einen Eintritt überlegt zu haben. „Wein, Weib und
Gesang“, so ungefähr wurde uns das Leben in der Legion von dem Werber
angepriesen, das wäre doch eine Perspektive. Besser, als in ein total
zerstörtes Deutschland ohne jede denkbare Berufsaussicht
zurückzukehren. Und weiterhin Krieg!? Bah, wie haben wir schon als

Singend in den Untergang Seite 125


Luftwaffenhelfer gedacht: „Es ist Krieg und wird immer Krieg sein“!

Ich entschied mich gegen die Legion. Leider weiß ich den
ausschlaggebenden Grund für diese Verweigerung nicht mehr. Es war
gewiß kein Patriotismus. Das Reich war untergegangen, und es würde
für den Offiziersbewerber Freddie wohl nie eine deutsche Armee geben,
in der er dienen könnte.

Und dann kam der General Billotte ins Spiel. Diesem französischen
Soldaten habe ich in meinem Herzen ein Denkmal der Dankbarkeit
errichtet. Pierre Billotte, der als Hauptmann den Untergang der
französischen Armee im 2. Weltkrieg erlebt hatte und 1941 aus einem
deutschen Gefangenenlager in Pommern geflüchtet war, diente in der
Armee der Freien Franzosen unter General de Gaulle. 1945, in der
fraglichen Zeit, war er Oberbefehlshaber der Militärregierung
Rheinland-Hessen-Nassau. Er hatte der deutschen Bevölkerung in einem
seiner ersten Aufrufe eine „Politik der Strenge und der
Gerechtigkeit“ versprochen, und daran hielt er sich. Zunächst ließ er
die Rheinwiesenlager in seinem Dienstbereich auflösen. Am 20. Juli
war Sinzig an der Reihe. Die meisten Gefangenen wurden, den
Abmachungen von Potsdam gemäß, nach Frankreich transportiert, um noch
etliche Jahre in der Landwirtschaft oder im Bergbau zu schuften. Wir
Jungen wurden per Lkw nach Andernach in eines der verbliebenen Lager
transportiert. Inzwischen hatte General Billotte befohlen, alle
Jungen unter 18 Jahren („Die Kinder von der Flak“) zu entlassen.

Für mich kam dieser denkwürdige und heiß ersehnte Tag Ende Juli 1945,
ganz kurz vor meinem 17. Geburtstag. Nach vorhergehender nochmaliger
Registrierung und Einteilung in Entlassungsgruppen standen wir in
hundertfacher Reihe vor einem langgestreckten Tisch, hinter dem ein
Offizier und mehrere Unterchargen der Armee saßen. Unsere
persönlichen Daten wurden Mann für Mann nochmals überprüft, Name und
Geburtsdatum in den Entlassungsschein eingetragen, dann knallte ein
Stempel auf das wertvolle Papier, und wir waren - fast - frei.

Die mit Entlassungsschein mußten nochmals antreten. Der eine oder


andere war inzwischen umgefallen und von Kameraden wieder
aufgerichtet worden, dauerte der Entlassungsvorgang doch schon
Stunden. Ich stand noch auf den Beinen. Es war wohl die Freude, die

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mich aufrecht hielt.

Und nun marschierten wir durchs Lagertor, das sperrangelweit offen


stand! Selten in meinem Leben habe ich ein derartiges Glückgefühl
empfunden wie in diesem Moment. Trotz aller Ungewißheit über das
Leben, das vor uns lag, und obwohl ich weder einen Pfennig in der
Tasche noch sonstige Mittel zum Überleben besaß.

Draußen warteten bereits zahlreiche Frauen aus der Umgebung, junge


wie alte. Sie schnappten sich jeweils einen Entlassenen. Mich ergriff
am Arm ein etwa 19jähriges Mädchen, Lore B. aus Andernach. Auch sie
ist mir unvergeßlich. Sie setzte mich im Hause ihrer Eltern zunächst
in einen großen Holzzuber, der mit Seifenlaugenwasser gefüllt war.
Dann schrubbte sie den jungen nackten klapperdürren Kerl von oben bis
unten ab. Die Läuse haben es diesmal nicht überlebt.

Und Lore fütterte mich wieder heraus, soweit es die Verhältnisse


damals zuließen. Weil ich zu gierig schlang, zog ich mir eine
Gastritis zu, die mich noch zwei Jahre lang plagen sollte.

Als ich die Familie Blasweiler verließ, von den besten Wünschen
begleitet, begann für mich ein Marsch ins Unbekannte, in eine
Trümmerwüste, die zwar noch immer Deutschland hieß, in der aber das
Reich versunken war. Das Reich, an das wir geglaubt hatten, das
Reich, für dessen Größe und Ehre wir gekämpft hatten. Und das wir
verloren hatten.

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Am Ende stand vielmehr der Untergang

E n d e

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