Für Sascha
Wir glaubten.
Wir kämpften.
Wir verloren.
„Noch nie in der deutschen Geschichte war einer jungen
Diese Aufzeichnungen aus der Erinnerung sollen keine Rechtfertigung sein. Ihr
Zweck ist vielmehr, den Nachkommenden ein wenig Verständnis dafür zu vermitteln,
warum wir, meine Generation, in unserer Zeit so dachten und handelten wie
geschildert. Jedenfalls die meisten von uns aus der „Flakhelfer-Generation“.
Wir haben uns die Zeit und die Umstände nicht ausgesucht.
Die Nacht des 2. August 1928 soll stürmisch gewesen sein. Meine
Mutter sprach Jahre später von einer normalen Geburt gegen 2 Uhr.
Verständlicherweise ist der genaue Ort meines ersten Auftritts meinem
Gedächtnis entfallen, und so habe ich mich mit mir selbst geeinigt,
daß es wohl die Martinstraße 12 im Leipziger Osten war. Sie liegt in
Anger-Crottendorf (O5). In dieser eher kleinbürgerlichen
Vorstadtstraße lebten Opa und Oma in der dritten Etage eines
vierstöckigen Mietshauses. Das Klo befand sich eine halbe Treppe
tiefer. Es wurde Opas geheimer Rauchsalon, als der Arzt ihm nach dem
ersten Schlaganfall die geliebten Zigarren verboten hatte. Omas
vortreffliche Nase - ich habe sie wohl von ihr geerbt - ortete diese
Stätte untersagten Nikotingenusses bald. Ihr besorgtes „Garl, du hast
schon wieder geroocht“ hörte der Enkel fortan mehrmals die Woche.
Weil aber Oma „Line“ (Lina) eine herzensgute Haut war und ihrem Carl
nicht böse sein konnte, blieb die Rüge stets ohne Folgen. Sie
erlangte den Charakter einen bedauernden Feststellung.
Opa Carl, den ich nur mit Kurzhaarschnitt, einer Igelbürste, kannte,
war frühzeitig ergraut. Der rundliche und gemütliche Mann kleidete
sich stets korrekt. Sein Konfektionsanzug aus dunklem Tuch mußte,
obwohl an strapazierten Stellen schon glänzend, viele Jahre
aushalten. Er wurde von seiner Frau und dem etwa ab 1930
angestellten Dienstmädchen Wally Z., einer jungen Bäckersfrau,
täglich liebevoll ausgebürstet. Zur kompletten Ausstattung gehörte
eine Weste aus demselben Stoff. Von deren drittem Knopf ab
Singend in den Untergang Seite 5
überbrückte eine silberfarbene Uhrkette die gewölbte Distanz zum
rechts befindlichen Einstecktäschchen mit dem verchromten
Chronometer. Nur am Sonntag und an Feiertagen wurde die schwere
goldene Klappdeckeluhr angelegt. Das Oberhemd komplettierte ein
täglich ausgewechselter gestärkter Kragen, der mittels eines
Knöpfchens arretiert wurde. Letzteres verlor sich beim morgendlichen
Fixieren des frischen Kragens gern unter dem Mobiliar im
Herrenzimmer. Der Opa ärgerte sich zwar, doch habe ich ihn nie
schimpfen oder gar fluchen gehört.
Opa nahm mich sonntags manchmal in die Thomaskirche mit, wenn der
weltberühmte Thomanerchor sang. Die Oma hing einem schlichten, aber
fest gefügten Protestantismus an, zitierte gelegentlich aus der
Luther-Bibel. Sie sah es darum gern, wenn der Enkel ihren Mann ins
Die Oma blieb zeitlebens schlank. Stolz war sie, soweit ihr Eitelkeit
überhaupt lag, auf ihr volles, später zwar ergrautes, aber noch immer
über schulterlanges Haar, das sie morgens sorgsam zu einen Zopf
flocht, um ihn kranzförmig um den Kopf zu legen oder als Dutt zu
tragen.
Wally Z., selbst Mutter eines Jungen, war bei den alten Röbers nicht
nur Hausgehilfin, sondern für deren ältesten Enkel auch ein
einfühlsames Kindermädchen. Gern zog ich mit ihr los, wenn sie
mindestens einmal wöchentlich zur Eisfabrik mußte. Sie schob einen
ausgedienten Kinderwagen vor sich her, der zum Heimtransport der
passend zurecht gehackten Eisstangen diente, mit denen der
Eisschrank, ein vorsintflutlicher Vorgänger unseres Kühlschranks,
bestückt wurde. Wally plauderte mit mir wie mit einem Gleichaltrigen,
erzählte mir vom Leben der Bäckersfamilie und ließ mich an deren
Freud und Leid teilhaben. Eines Tages durfte ich mit ihrem Mann
Backwaren ausfahren. Das geschah noch mittels eines pferdebespannten
Wagens. Sehr stolz saß ich mit dem Meister oben auf dem Kutschbock,
und mein Glück war komplett, als mir der Bäcker die Zügel in die Hand
drückte und ich den lammfrommen Gaul dirigieren durfte. Der hörte
wahrscheinlich kaum auf mein hü und hott, kannte er seine Runde
durchs Leipziger Stadtviertel doch vermutlich schon im Traume.
Während die Eltern, mein Vater Alfred und meine Mutter Magdalena
(Magda) geborene Hentrich, damals in Plauen in der Rädelstraße
wohnten, waren meine Schwester Ursula (geboren 1930 in Plauen) und
mein Bruder Winfried (1931 dortselbst) bald in Breslau
untergebracht. Sie befanden sich in der Rosenthaler Straße 45 unter
der Obhut von Großvater Max Hentrich und dessen Hausdame Martha
Kufahl. Der Großvater oder „Großvatel“ - im Unterschied so genannt zu
den Leipziger Altvordern, die unter „Oma und Opa“ firmierten - war
von seiner Frau Elfriede Maria Hedwig (Jadwiga) geborene Machaczek
von Dembowski geschieden, die als Schauspielerin und Sängerin nach
Aussage ihres Stiefsohns Herbert eine Zeitlang eine Geliebte des
berühmten Operntenors und zeitweiligen Intendanten des Chemnitzer
„Centraltheaters“ (CT), Richard Tauber, gewesen sein soll. Großvatels
Haushälterin, die ihren Arbeitgeber als „gnädigen Herrn“ oder auch,
im Unterschied zu seinem Sohn Herbert, als „alten Herrn“ titulierte,
mußte sich gefallen lassen, „Frieda“ gerufen zu werden. Großvatel
konnte sich nicht bequemen, den Namen Martha zu verwenden, weil seine
vorhergehende Perle Frieda geheißen hatte. So mußte er sich nicht
umgewöhnen. Die Martha tolerierte die Frieda, war dies doch der
einzige Zwang, den Hentrich sen. ihr auferlegte. Sie hatte volle
Schlüsselgewalt in seinem großbürgerlichen Haushalt.
Max Hentrich besaß vor der Inflation zu Beginn der zwanziger Jahre
in Breslau angeblich über 30 Häuser. Nach der großen Geldentwertung
verblieben ihm nur noch vier; er hatte sich gewaltig verspekuliert
bei einem seiner groß angelegten Grundstücksgeschäfte. Der Sohn aus
wohlhabendem Hause - sein Vater hatte eine „Wurst- und
Fleischwarenfabrik“ betrieben - betätigte sich als Makler und lebte
ansonsten als „Rentier“ aus den Gewinnen der Immobilienverkäufe, aus
Aktieneinkünften und dem, was weitere Papiere abwarfen. Letzteres
nannte er gern „Couponschneiden“. Als er Anfang 1945 mit vielen
anderen Einwohnern aus der schlesischen Hauptstadt vor den Sowjets
flüchten mußte, besaß er noch zwei große Mietshäuser, das eine in
der Rosenthaler Straße, die heute Ulica Pomorska heißt, das andere in
der Müllerstraße um die Ecke. Beide Immobilien überstanden die
schlimmen Monate der „Festung Breslau“ im Zweiten Weltkrieg. Heute
Diese Wohnung in der Rosenthaler Straße 45 ist für mich heute noch
ein Sinnbild des Luxus im Stil des Fin de siecle. Sie bestand aus
mindestens sechs Zimmern und nahm die gesamte Etage ein. In
Großvaters Schlafzimmer gab es ein Doppelwaschbecken, das in eine
schwarze Marmorplatte eingelassen war. Das Wohn- und Speisezimmer
vermittelte durch seine Paneelierung eine behagliche Atmosphäre. Die
Frühstücksecke thronte auf einer niedrigen Empore. Mittag- und
Abendessen wurden an einem langen Ausziehtisch in der Mitte des
Raums eingenommen; Frieda trug auf. Häufig kam Großvaters im selben
Hause im obersten Stock wohnende Schwester Gertrud Scherwat zu den
Mahlzeiten. Sie trug den von ihrem Bruder aufgebrachten Spitznamen
„Blindschleiche“, der natürlich nur hinter ihrem Rücken getuschelt
wurde. Den Grund für diese wenig schmeichelhaft klingende Titulierung
kenne ich nicht.
Noch am selben Tage ließ Adolf Hitler die Reichswehr durch deren
Oberbefehlshaber, den Reichskriegsminister Werner von Blomberg, auf
sich persönlich vereidigen. Nun war das Regiment der
Nationalsozialisten im Reich durch die bewaffnete Macht abgesichert.
Hinzu kam, daß die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten
in seiner Person zusammengefaßt wurden. Das Hakenkreuz hatte gesiegt.
Die schwarz-weiß-roten Fahnen verschwanden bald aus dem Leipziger
Straßenbild wie die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP), der Opa
angehangen hatte, aus dem Parteienspektrum, das sich bald auf die
NSDAP verengte. Nie habe ich vom Opa erfahren, wie er die NS-
Machtergreifung aufnahm.
Großvaters Sohn Herbert aus erster Ehe hatte hier seine Kultstätte.
Der ehemalige Angehörige des Jungdo, des Jungdeutschen Ordens, und
nunmehrige SA-Führer Herbert Hentrich hatte die Ausstattung angeregt
und beschafft. Onkel Herbert war kein Rabauke wie viele seiner SA-
Kameraden. Er war ein verlaufener Konservativer, der sich den
Nationalsozialisten angeschlossen hatte, weil sie ihm am ehesten
geeignet erschienen, die „Systemzeit“ der Republik von Weimar mit
ihren Auswüchsen zu überwinden und an ihrer Stelle den Volksstaat zu
errichten. Er idealisierte seinen Führer wohl auch deshalb, weil er
einen politischen Heilsbringer brauchte, um sich täglich neu von der
Richtigkeit seiner Entscheidung zugunsten der Nationalsozialisten zu
überzeugen.
Im Leipziger Garten
Gern, wenn auch nicht sehr oft, kamen die Söhne Alfred und Herbert -
dieser der Röber´sche Herbert und Bruder meines Vaters im Unterschied
zum Hentrich´schen - nach Leipzig zu ihren Eltern. In der Wohnung und
im Garten wurde mit bescheidenen Mitteln manches harmonische
Familienfest begangen. Ein Foto aus späteren Jahren, vielleicht drei
Jahre vor Kriegsbeginn, zeigt ein solches Familientreffen im Garten.
Neben Oma und Opa sitzen da in trautem Verein in der Laube Vater
Alfred und Mutter Magda, Omas Halbschwester Emma Lehne, Vaters Bruder
Herbert Röber mit seiner Frau (oder noch Verlobten?) Edith geb.
Lindemann und ich. Auffällig ist, daß mein Vater, ein patriotischer
Sachse, auf dem Bild eine Lederbuxn trägt. Er hat dieses bajuwarische
Kleidungsstück zeitlebens geliebt, auch wenn es ihm nach Meinung
seiner Frau überhaupt nicht stand. Mit meinen zwei präsentieren sich
daher vier nackte Knie unterschiedlicher Jahrgänge im Bild.
Mit Fritzi rauchte ich meine erste Zigarette. Die Marke hieß
„Orienta“, und die Fünf-Stück-Packung aus dem Automaten kostete vor
dem Kriege einen Groschen, was in Berlin einen Zehner bedeutete. Das
Fünf-Pfennig-Stück hieß dort übrigens sinnigerweise Sechser. Um dem
Rauchvergnügen unbeobachtet frönen zu können, begaben wir zwei uns in
den vom Bürgersteig her nicht einsehbaren Treppenabgang einer
Kellerwohnung der Holsteinischen Straße. Beim ungeschickten Anzünden
des Glimmstengels mit dem Zündholz versengte sich Fritzi prompt die
vordersten Haare, die ihm stets ins Gesicht hingen. Zuhause roch
seine Mutter sofort den Braten, stellte ihren Sprößling zur Rede, und
dieser gestand. Die Nachricht von der ungeheuerlichen Tat der beiden
Freunde machte die Runde von Frau Cordes zu Herrn Cordes und von
diesem zu meinem Vater.
Leider hing dieser noch der Pädagogik des Rohrstocks an. Züchtigungen
waren stets in ein strenges Zeremoniell eingebunden: Mutter mußte
mich abends ins Herrenzimmer schicken, wo Vater mit gezücktem
Erziehungsinstrument auf den Delinquenten wartete.
Fritzi und ich, zu denen im Laufe der Zeit noch weitere Freunderln
dieser Art stießen, hatten üble Streiche in petto. So verwendeten wir
ein seinerzeit häufig angewendetes Herbizid, dessen Markenname
Einen weiteren Spaß machten wir uns damit, unter einem der fahrbaren
Zeitungskarren, wie sie an vielen Straßenecken Berlins standen, eine
Karbidflasche zu deponieren. Durch Wasserzugabe erzeugten wir in dem
Glasbehälter einen ständig zunehmenden Druck, der das Ding letztlich
kanonenschußartig zerplatzen ließ. Auch hier hüpfte wieder ein zu
Tode erschreckter Mensch aus seinem Gehäuse, was uns mächtig
verlustierte. Man hat uns Attentäter nie erwischt. Unser Glück war,
daß niemand zu Schaden kam.
Im selben Jahr wurde Vater reaktiviert. Das Reich hatte die deutsche
Wehrhoheit, die seit dem Versailler Diktat ruhte, wiederhergestellt.
Als Hauptmann z.D. (zur Dienstleistung herangezogen) tat er Dienst
auf dem Berliner Flugplatz Schönefeld. Unser Vater war glücklich.
Soldat mit Leib und Seele, fühlte er sich nicht mehr als
„minderwertiger“ Zivilist. Fortan bejahte er, wenn auch mit
geringfügigen Einschränkungen, den Nationalsozialismus. Alle Briefe,
die von ihm erhalten sind, auch die privaten, schließen mit „Heil
Hitler“. Mit Sicherheit war er kein Judenhasser. Negative
Anspielungen auf Angehörige dieser Religionsgemeinschaft habe ich von
ihm nie gehört. Sie unterblieben daher auch in der Familienrunde.
Dennoch hing er sehr wohl der „Rassenkunde“ an.
Ein Brief aus dem Jahre 1941 gibt Einblick in das Denken meines
Vaters. Sein Schreiben stammt vom 16.10.41 und ist an den k.u.k.
Major a.D. Reber in Wien gerichtet, einen Röber-Familienforscher, der
„Als legendärer Stammvater der Röber wird ein Erik Jarl af Rober oder
Rower genannt. Er war Unterfeldherr des deutschen Königs Heinrich I.
in den Slawenkriegen (926/27) und erbaute am Müritzsee eine Burg
(heute Stadt Röbel).“
Nun ja, über diese uradlige Abstammung kann man sich trefflich
streiten. Urkundlich belegt ist hingegen das schlesisch-polnische
Landadelsprädikat unserer Großmutter mütterlicherseits (Omi): „von
Dembowski“. Sie war eine außereheliche Tochter dieses Gutsherrn aus
Polnisch-Schlesien, gezeugt mit einer Bediensteten, nach der Geburt
einem Eisenbahnwerkmeister in Ratibor/OS namens Machaczek
überantwortet und später sowohl von ihrem aristokratischen Erzeuger
als auch amtlich anerkannt als „Machaczek von Dembowski“.
Bei unserer Mutter, der das Nordische ausgesprochen egal war, konnte
rassische Toleranz nicht verwundern. Ihre beste Freundin in Berlin,
eine „Zeugin Jehovas“ wie sie selbst, hieß Nessy Raffke. Vor ihrer
Bibelforschertaufe gehörte sie dem mosaischen Glauben an. Als Jüdin
ist sie wahrscheinlich ein Opfer des Holocaust geworden. Eines Tages
sagte nämlich unsere Mutter: „Sie haben die Nessy abgeholt.“ Unter
„Abholen“ stellten wir Kinder uns noch nichts Konkretes vor. Es war
ein Wort, sonst nichts. Zumindest vorerst. Jahre später ahnten wir
etwas. Diese Ahnung überkam uns nach einem einschneidenden Ereignis
Singend in den Untergang Seite 27
im Jahr 1938.
Wenn der Vater vom Fliegerhorst Schönefeld nach Hause kam, entbrannte
zwischen den Eltern mehrfach Streit. Heute weiß ich, daß es um
Mutters persönliche Werbung für die Zeugen Jehovas ging. Die Geheime
Staatspolizei (Gestapo) hatte dem Luftwaffenoffizier - aus welchem
Grunde auch immer - signalisieren lassen, daß man der Propaganda für
eine verbotene Sekte, die, so die Begründung, nichts weiter als die
getarnte Vorhut einer amerikanischen Spionageorganisation sei, nicht
mehr lange tatenlos zusehen werde. Niemand wolle der Frau Röber
verwehren, den Unsinn zu glauben, den die Bibelforscher als Religion
ausgäben. Aber missionieren dürfe sie nicht mehr. In den lautstarken
elterlichen Auseinandersetzungen ging es just um diesen Punkt. Vater
wollte seiner Frau ihre Hausbesuche im Dienste der Zeugen erst
ausreden, dann verbieten. Beides nützte nichts.
Im August 1938 war es so weit. Die Gestapo schlug zu. Sie kamen
nachts. Drei oder vier Männer in den obligatorischen Ledermänteln.
Erst Donnern an der Wohnungstür, dann Gebrüll und Getrampel in der
Wohnung. Wir drei Kinder wurden aus den Betten gescheucht, Bezüge und
Matratzen flogen auf den Boden. Die Schergen durchwühlten alles,
sogar in den Schränken des Kinderzimmers fahndeten sie nach „Zeugen-
Materialien. In allen anderen Räumen der großen Wohnung ähnliche
Szenen. Der Vater beobachtete die Tätigkeit des Überfall-Kommandos
ohne Kommentar, ließ sich lediglich die Bezeichnung der
veranlassenden Dienststelle nennen. Protest hätte keinen Sinn gehabt.
Mutters KZ-Ausweis
Bei einem Ferienaufenthalt in Breslau sah ich den ersten Brief aus
dem „KL Ravensbrück“ (offizielle Bezeichnung). Mutter hatte zwar eine
ganze DIN-A-4-Seite voll geschrieben, doch waren nur wenige Zeilen
leserlich. Aus diesen ging hervor, es gehe ihr „gut“, und die Familie
sollte sich keine Sorgen um sie machen. Der Rest des Schreibens war
mit schwarzer Tusche unkenntlich gemacht. Es war der einzige Brief
aus der Hölle von Ravensbrück, den ich jemals zu Gesicht bekam.
Später wurde uns Kindern nur immer wieder sporadisch von den Älteren
der Familie versichert, Mutter werde bald wieder nach Hause dürfen.
Über die Bibelforscher in der Zeit des Dritten Reiches gibt es mehr
oder minder exakte Zahlen: Beim Verbot der „Zeugen Jehovas“ 1933
sollen es rund 25.000 gewesen sein. 10.000 davon litten in den
Es muß 1938 gewesen sein, als wir von Berlin nach Chemnitz umzogen.
Der Luftwaffenmajor Alfred Röber war versetzt worden, zum dortigen
Wehrbezirkskommando (WBK). Am Hindenburgplatz 13 hatte sich im
zweiten Stock eine große Wohnung gefunden, die zudem noch eine
Dienstmädchenmansarde besaß. Seit der KZ-Einlieferung seiner Frau
hatte unser Vater eine Haushälterin engagiert, die von uns Kindern
heiß geliebte „Tante Betty“. Sie stammte aus Riga und war nach dem
Tod ihres Mannes, eines Ingenieurs, ziemlich verarmt. Als Baltin aus
dem großbürgerlichen deutschen Milieu der lettischen Hauptstadt war
sie in Denken und Haltung eine Dame. Sie verstand es, den Haushalt,
der aus unserem Vater und uns drei Kindern sowie einem Dienstmädchen
bestand, das bald durch ein sogenanntes „Pflichtjahrmädchen“ ersetzt
wurde, reibungslos zu organisieren. Obwohl sie eine „vollschlanke“
Figur besaß - sie hätte es verübelt, wenn man sie beleibt, rundlich
oder drall genannt hätte -, war sie körperlich behende und geistig
sehr rege, besaß Humor und eine gute Hand für den Umgang mit Kindern.
Politisch zeigte sie sich nicht sonderlich engagiert oder
interessiert. Einem Eintritt in die NS-Frauenschaft entzog sie sich
stets geschickt, ohne erkennbar eine Regimegegnerin zu sein. Die
Nationalsozialisten und ihre Partei waren ihr einfach gleichgültig.
Nur der Führer Adolf Hitler hatte bei ihr einen unbestreitbaren
Stellenwert.
So ist es nicht verwunderlich, daß weder mein Vater noch Tante Betty
etwas dagegen hatten, als ich im selben Jahr 1938, damals noch
freiwillig, zum Deutschen Jungvolk (DJ) stieß. Mir wurde sofort die
komplette Pimpfenuniform gekauft, die von jedem DJ-Mitglied selbst
erworben werden mußte Als Zehnjähriger wurde ich, was der Einheiten-
Einteilung nach Jahrgängen entsprach, dem Jungzug 4 zugeteilt. Die
Grundeinheit, die vier Jungzüge aufsteigender Altersklassen von zehn
bis vierzehn zählte, war das Fähnlein 5 mit dem klangvollen Namen
„Geusen“. „Der Wassergeus steht auf dem Priel“ sangen wir stolz das
Lied unserer Einheit, wenn wir durch die Straßen marschierten, voran
die Pfeifer und Trommler. Erst nach bestandener „Pimpfenprobe“, wozu
u.a. das Aufsagen der „Schwertworte“ gehörte, durften wir das
Fahrtenmesser, den HJ-Dolch mit der Klingenätzung „Blut und Ehre“,
am Koppel befestigen. Diese Armierung machte uns mächtig stolz. Und
wir waren bereit, zu halten, was wir gelobt hatten:
„In der Fülle der geschichtlichen Gestalten unseres Volkes sind vor
allem diejenigen dem Volk ans Herz gewachsen, die in ihrem Wesen
künstlerische Züge erkennen lassen. Weil wir Deutsche sind, können
wir uns mit amusischen Erscheinungen auf die Dauer nicht befreunden.
Sie erscheinen uns als fremdes, mitunter sogar als feindliches
Element. Was macht uns Deutschen einen Friedrich so teuer? Nicht nur
sein Erfolg im Kriege und seine erhabene Größe in der Niederlage.
Tönt nicht in den Ohren unseres Volkes mit dem Kriegsgeschrei von
Kolin, Leuthen, Kunersdorf, Zorndorf und Hochkirch auch der zarte
Man kann uns heute leicht vorwerfen, naiv gewesen zu sein, das System
und seine Ideologie nicht hinterfragt zu haben. Aber wer von den
Jungen verlangt, die wir damals waren, NS-Parolen kritisch zu
reflektieren, setzt zu viel voraus. Kurz: Unsere Befindlichkeit, die
Befindlichkeit der jüngsten und jungen Menschen dieser Zeit, die ich
hier beschreibe, war mehrheitlich so und nicht anders. Das muß
hinnehmen, wer Zeitgeschichte verstehen will. Man kann sie nicht von
hinten lesen.
Besonders der Kult um den Führer Adolf Hitler nahm zuweilen geradezu
religiöse Züge an. Dafür zeugt beispielsweise ein Gedicht aus dem
schmalen Bändchen „Das Lied der Getreuen - Verse ungenannter
österreichischer Hitlerjugend aus den Jahren der Verfolgung 1933 bis
1937“. Vermutlich floß das heute grotesk anmutende Poem aus der Feder
Baldur von Schirachs selbst, der trotz seiner hohen Stellung in der
NS-Hierarchie lange Jahre ein blinder Führer-Gefolgsmann war:
„Für uns soll dieses Buch die Bedeutung haben, die Lieder für die
Feste und Feiern unseres nationalsozialistischen Jahres und unseres
Lebenslaufes bereitzustellen, entstanden aus der jungen Generation
für ein junges gläubiges Volk.“
Tatsächlich: Was wir sangen, das glaubten wir - und was wir glaubten,
das sangen wir. Dichter wie Eberhard Wolfgang Möller gaben uns Verse
der Inbrunst:
„Was für einen hohen Stellenwert hatte doch früher bei uns das
gemeinsame Singen: Keine Veranstaltung der Jugend, sei es Sport,
Wandern, Heimabend, Fest oder Feier, bei der nicht auch gesungen
wurde!...Der Bedarf war groß, und das war gut für den wichtigsten
Sänger und Komponisten der damaligen Zeit, für Hans Baumann. .. Mit
seinen Liedern hat er das Lebensgefühl vieler junger Menschen genau
getroffen und ausgedrückt: ihr Wollen, ihre Freude an der
Gemeinschaft, ihren Sinn für Romantik und für das Naturerlebnis. ...“
„Da steht es mit den Kampf- und Bekenntnisliedern der dreißiger Jahre
ganz anders. Aufrütteln sollten sie, aus der Enge herausführen, es
begann ja eine neue Zeit! Die meisten jungen Menschen sollten und
wollten dabei sein. Der 20- bis 22jährige Baumann hat sie in voller
Überzeugung und aus einer idealistischen Grundhaltung heraus
geschrieben, und wir haben sie ebenso überzeugt gesungen und vor
allem empfunden, ohne viel über den Inhalt nachzudenken. Das kann
heute so leicht keiner nachvollziehen. Nur aus der damaligen Zeit
sind die Bekenntnislieder zu begreifen.“
„Es ist meine Schuld, daß ich die Jugend erzogen habe für einen Mann,
der ein millionenfacher Mörder gewesen ist ... Ich habe an diesen
Mann geglaubt, und das ist alles, was ich zu meiner Entlastung und
zur Erklärung meiner Haltung sagen kann. Ich trug die Verantwortung
für die Jugend. Ich trug den Befehl für sie, und so trage ich auch
allein für diese Jugend die Schuld. Die junge Generation ist
schuldlos ...“
Die Richter des IMT blieben von der rückhaltlosen Erklärung des
ehemaligen Jugendführers des Deutschen Reiches nicht unbeeindruckt:
Die Hitlerjugend wurde mit all ihren Jahrgängen von der Anklage
ausgenommen, eine „verbrecherische Organisation“ zu sein. Ihre
Mitglieder und die Angehörigen der Führerschaft sämtlicher HJ-Ränge
fielen bei der „Entnazifizierung“ automatisch unter die
„Jugendamnestie“. Von dieser erfaßt wurde, wer 1939 das 14.
Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und gegen den keine
spezifischen Beschuldigungen vorlagen. Schirach selbst wurde dennoch
Ein weiteres Gedicht aus seiner letzten Zeit legt Zeugnis ab von
seinem Gottesverständnis:
Günter Kaufmann:
Bis zum Kriegsbeginn ging bei uns zu Hause auf dem Chemnitzer Kaßberg
alles seinen geregelten Gang. Tante Betty schaltete und waltete,
hatte den „Familienladen“ im Griff und hielt im Verein mit der
Hausgehilfin oder dem jeweiligen Pflichtjahrmädchen die Wohnung in
Schuß. Zur Wohnung ist anzumerken, was ich erst viel später erfuhr.
Sie hatte Jahre vor uns einen später prominenten Bewohner gehabt:
Stephan Heym (eigentlich: Helmut Flieg), der nach dem Ende des
Dritten Reichs in der DDR zu den auch im Westen bekannten
Schriftstellern (z.B. „Colin“) zählte. Heym war 1933 nach den USA
emigriert und als US-Offizier nach Europa zurückgekommen. Nach dem
Zweiten Weltkrieg posierte er vor dem zerstörten Haus „Kaiserplatz
13“ (später: Hindenburgplatz) für ein Erinnerungsfoto. Auf dem Bild
steht er, „in amerikanischer Uniform vor den Resten seines
Geburtshauses, der Vorderwand mit den hohlen Ziegeln...“ Heym ließ
sich dann in der Sowjetzone, der nachmaligen Deutschen Demokratischen
Republik (DDR), nieder. Obwohl überzeugter Kommunist, war er kein
stets willfähriger Systemknecht der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands (SED), die aus dem Zusammenschluß von SPD und KPD
gebildet worden war. Er ging seiner Partei häufig durch seine Bücher
und Interviewäußerungen auf die Nerven. Als man ihn in seinem
selbstgewählten Staat mit Veröffentlichungsverboten gängeln wollte,
ließ er mehrere seiner Werke in der Bundesrepublik herausgeben.
Der Kaßberg genoß in Chemnitz den Ruf eines „guten Viertels“. 1855
erstmalig bebaut, insgesamt in ein „amerikanisch“ anmutendes
Straßenraster gegliedert, bildeten die neuen Wohnhäuser am
Kaiserplatz laut Tilo Richter die erste geschlossene Platzumbauung
auf dem Kaßberg. Alleengleiche, mit viel Grün angelegte Straßenzüge,
häufig von Villen mit großen Vorgärten flankiert, ließen dieses
Stadtquartier schon vor dem Ersten Weltkrieg zum „Westend“ von
Chemnitz avancieren. Richter zitiert aus Gaudigs „Deutschem Lesebuch“
von 1928:
Kommt ein Vogel geflogen. Es war das „Lercherl von Wels“, wie sich
die junge Chorsängerin aus Oberösterreich (damals Oberdonau) in
freudiger Übernahme einer schmeichelhaften Sentenz in einer
Provinzblattkritik von ihren Kavalieren gern nennen ließ. Die zu
Kriegsbeginn 26jährige vom Jahrgang 1913 war beim Central-Theater
(CT) in Chemnitz, einem prachtvollen Jugendstilbau, im Engagement.
Blauschwarzes schulterlanges Haar, nußbraune Augen, eine schlanke
Figur, wohlgeformte Beine: Die Gertrud Zwirchmayr war es schon wert,
daß Mann einmal mehr hinschaute. Mein Vater schaute nicht nur hin. Er
beschäftigte sich im Separee einer theatereigenen Weinstube mit der
„Gerti“ intensiver. Das wurde sein Pech. Die Dame gab vor, von ihm
schwanger zu sein, und der Offizier folgte dem fatalen Ehrenkodex
seines Berufs: Er heiratete sie.
1940 bereits hatte sich unser Vater von Magda Hentrich scheiden
lassen. Die Machthaber hatten ihn, erzählte er mir kurz vor seinem
Tode, vor die Entscheidung gestellt, sich von unserer im KZ als
„Staatsfeindin“ inhaftierten Mutter auch juristisch zu trennen oder
die Uniform auszuziehen. Schlimmer noch, sie drohten, uns Kinder
seiner Erziehungsgewalt zu entziehen und „geeigneten Organen“ zu
übergeben. Vater hat sich nie darüber geäußert, ob er seine Frau zu
diesem Zeitpunkt noch liebte.
Es fällt schwer, über unsere Stiefmutter Gutes zu sagen. Sie hat uns
Zunächst aber nach Wasserhub. Der Einödhof, damals von Wels aus mit
einer Bummelbahn zu erreichen, hatte zum Einbringen der
kriegswichtigen Ernte von der zuständigen Behörde einen Ukrainer
zugewiesen bekommen. Dieser Ex-Soldat der Sowjetarmee, ein
bärenstarker Mensch von bester Konstitution, erhielt im Juli 1943
Verstärkung durch einen aus der Sicht kräftiger Bauernknechte
schlappen Oberschüler, jenen Manfred, der sich vorwitzig zum
„freiwilligen Ernteeinsatz der Hitlerjugend“ gemeldet hatte. Hätte
ich gewußt, was auf mich zukam...!
Als wir Kinder die neuen Großeltern zum ersten Mal besuchten,
eröffnete sich uns ein Blick in eine Welt der Armut, die wir vorher
nicht gekannt hatten. Wir kamen auch mit den Ansichten von „Cilly“
nicht zurecht. Gertis Mutter, die eigentlich Cäcilie hieß, wollte
ihre Erziehungsvorstellungen, die aus einem ganz anderen Milieu
stammten, an uns verwirklichen. Wir machten da nicht mit, und so gab
es zwischen ihr und uns öfter Zoff. Die Cilly verpetzte uns
daraufhin bei der Gerti, die uns prompt ihre ringeüberladenen Finger
auf die Köpfe knallte. Ich habe, mit Ausnahme von Wigg, einem schon
genannten ihrer Brüder, die gesamte österreichische Verwandtschaft
nicht ausstehen können. Ihre Mentalität war mir fremd und zuwider.
Allerdings war ich schlau genug, mir diese Abneigung möglichst wenig
anmerken zu lassen.
Heute frage ich mich, aus welchen Quellen diese starke Aversion
gespeist wurde: Standesdünkel? Die HJ erzog uns doch zur
Volksgemeinschaft ohne Klassenschranken! Diese Erziehung zum
Gemeinsinn versagte offenbar da, wo es um unsere Bequemlichkeit ging.
Gerti, das Kind aus dem Proletarierstand, fühlte sich unseren
gelegentlich aus ähnlichem Milieu kommenden Dienst- und
Pflichtjahrmädchen, die wir in bunter Reihe während des Krieges
hatten, näher als ihren Stiefkindern. Und so kam es, daß sie uns alle
Schwerarbeit im Haushalt aufbürdete, von der wiederum wir überzeugt
waren, daß sie eigentlich Sache unserer Hausangestellten sei. Da gab
es winters 50 Zentner Briketts im Keller aufzuschichten, Steinkohle
und Koks in Holzhorden zu schippen, dieses Brennmaterial zudem in der
kalten Jahreszeit allmorgendlich eimerweise nach oben zur Beschickung
der Kachelöfen in die Wohnung zu schleppen. Außerdem mußten wir
einkaufen gehen, während der Kriegszeit eine zeitraubende
Angelegenheit. Die Mädchen hingegen wurden vor allem mit
Kinderbetreuung beschäftigt, die Halbbrüder (?) Wilfried und Hubert
waren zu windeln, zu waschen und zu tränken. Eine der jungen Frauen
kam sogar bei uns nieder und konnte dann als Amme ihren eigenen
schreienden Nachwuchs sowie Gertis jüngsten Sprößling nähren.
Was wir uns bei dieser Unternehmung gedacht haben, ist mir heute noch
unerklärlich. Die Kripo kam anschließend mehrfach in die Schule, fand
aber keine geeignete Spur, und so schliefen die Nachforschungen nach
den Tätern irgendwann ein. Olbricht wurde nach der
Offiziersverschwörung, die am 20. Juli 1944 zum mißglückten Attentat
auf Hitler führte, als Mitbeteiligter hingerichtet.
Es versteht sich von selbst, daß Dr. Leutmann uns auch in das
Mittelhochdeutsche einführte. „Es wuochs in Burgonden ein vil edel
magedin, Krimhilt geheizen..“ und gar ins Gotische mit dem „Attar
unsar su in himinam“ oder ins Altfränkische „Vater unser, der du pist
in himilum“. Letzterer Anfang des Vaterunsers provozierte bei uns
ungläubigen Thomassen stets Spott, und ein Mitschüler schlug gar vor,
ein „s“ in der Zeile durch ein „ß“ zu ersetzen. Wir waren respektlos
gegenüber dem Christentum, wen wundert‘s. Dr. Leutmann hielt es
sowieso für eine jüdische Erfindung, und ganz im Stile des „Stürmers“
verdächtigte er die Israeliten, sie hätten Jesus Christus nur
erfunden, um die Gojim übers Ohr zu hauen.
Ein kurzes Gedicht aus dem Mittelhochdeutschen, das ich sehr poetisch
fand und später auch in Liebesbriefe einstreute, ist mir bis heute
nicht entfallen:
Ach ja, die erste „richtige“ Freundin nahte. Ulla besuchte die
Oberschule für Mädchen, die Barbara-Uttmann-Schule. Die Anstalt
nannte sich nach einer Frau, die im Erzgebirge das Klöppeln
eingeführt hatte, um armen Bergmannsfrauen eine zusätzliche
Einnahmequelle zu verschaffen. Ulla hatte nichts dergleichen im Sinn.
Ein fröhliches, naives 14jähriges Kind, wollte sie, wie so viele
Gleichaltrige mitten im Kriegsjahr 1942, nur ein wenig anregende
jugendliche Gesellschaft abseits des Jungmädeldienstes und der Penne.
Ich habe keine Ahnung mehr, wo, wie und warum ihre Wahl auf mich
fiel. Wessen ich mich heute noch erinnere, sind ihre - Waden. Ich
bewunderte diese Teile von Ullas auch ansonsten ansehnlicher Anatomie
zum ersten Mal, als das Mädchen vor mir in eine Straßenbahn einstieg.
Die Wadln wuchsen mit einem sanften Schwung aus ihren Kniekehlen, um
sich dann zu verjüngen in Richtung zarter Knöchel und eleganter
schmaler Füße.
Ich verliebte mich also zuvörderst in Ullas Fahrgestell, ehe ich die
anderen Qualitäten der jungen Blondine entdeckte und zu schätzen
wußte. Diese Freundschaft kann nicht lange gedauert haben. Der Krieg
ging über sie, wie über viele andere menschliche Beziehungen, kalt
hinweg.
Das Jahr 1944 begann mit einem tiefen Einschnitt ins junge Leben des
Manfred R. und seiner Klassenkameraden. Der männliche
Oberschülerjahrgang 1928 wurde, nachdem schon seit 1943 die
vorhergehenden zwei Jahrgänge aufgerufen worden waren, "zum Dienst
bei der Luftwaffe herangezogen“.
„Alle Berichte aus der damaligen Zeit und aus der Rückschau der
Nachkriegszeit heben den hohen Kampfwert und die durchweg gute Moral
der Luftwaffen- und Marinehelfer hervor. Ihr Einsatzwert war vor
allem durch den hohen Intelligenzgrad der Schüler gekennzeichnet,
aber auch weitgehend durch eine idealistische Einsatzbereitschaft ...
Erwähnenswert ist auch, daß viele Flakhelfer Kriegsauszeichnungen
erworben haben ... viele Flakhelfer verwundet worden oder im Einsatz
gefallen (sind).“
„Das Bild, das man sich in der Zeit nach dem Kriege von den Jüngsten
des Regimes machte, war durch zwei Merkmale bestimmt. Zum einen
sprach man jetzt laut aus, was in der NS-Zeit unter keinen Umständen
gesagt werden durfte: Daß es Kinder gewesen waren, mit denen man
Schindluder getrieben, die man in Uniformen gesteckt und als
Kanonenfutter mißbraucht hatte ... Zum anderen machte sich ein
hochstilisiertes Bild von dem Grad der Verführbarkeit und dem
fanatischen Opfer- und Kampfwillen breit.“
Schörken weiter:
LWH-Abzeichen
Holt sah und erlebte dies alles wie von fern, denn Angst hatte ihn
gefaßt. Angst vor dem ersten Schuß, Angst vor Bomben, Angst vor
allem, und sie hüllte ihn ein wie der Nebel am Morgen ... Dann kam
schon Schmiedling mit dem Ankündigungskommando “Gruppenfeuer!“ Holts
Herzschlag setzte aus. „Gruppe!“ krächzte Schmiedling, die
Feuerglocke rasselte, (Gefreiter) Macht riß die Patrone aus der
Will man diese Frage beantworten, muß man sich in die Mentalität und
Gedankenwelt meiner Hitlerjugend-Generation einfühlen. Sie war vor
allem zu zweierlei erzogen: zu Disziplin und zum Gemeinsinn. Und,
diese dritte Komponente darf nicht übersehen werden, zur Härte gegen
sich selbst. Insoweit unterschied sich diese Jugend grundsätzlich von
der Jugend von heute. Adolf Hitler, der dieser Jugendbewegung, in der
ich freiwilliges Mitglied war, seinen Namen verlieh, hatte ihr auch
die Devise gegeben: „Ich wünsche mir den deutschen Jungen zäh wie
Leder, flink wie Windhunde und hart wie Kruppstahl.“
Nach der Grundausbildung an den Flakkanonen oder den Geräten auf den
Befehlsstellen, „schoben“ wir Luftwaffenhelfer ganz „normalen“ Dienst
in den Batterien. Allerdings wurde das erwachsene Militärpersonal von
Monat zu Monat weniger. Gab es 1943/44 in den Stellungen noch neben
dem Batteriechef und einem Waffenoffizier einen Hauptwachtmeister als
„Spieß“ und mehrere Unteroffiziere und Obergefreite als Ausbilder
bzw. Geschützführer, so wurden später die Kanonen auch an den
Brennpunkten des Luftkriegs fast ausschließlich mit Lwhs und den
sogenannten „Hiwis“, das heißt „hilfswilligen“ Kriegsgefangenen von
der Ostfront - damit im wesentlichen ehemaligen Angehörigen der
Sowjetarmee -, besetzt.
„So trennten sie von ihrer speziell für sie gefertigten fliegerblauen
(Ausgangs-) Uniform, die sie als Hitlerjungen ausweisen sollte, ab,
was sie mit der HJ in Verbindung bringen konnte, nicht nur die ...
Hakenkreuzarmbinde, sondern auch die HJ-Kokarde an der Mütze und
ersetzten sie, wiewohl verboten, durch den silbernen Adler der
Luftwaffe.“
Doch verweilen wir bei diesem Thema. Dieter Noll, Schul- und
Flakkamerad vom Jahrgang 1927 - sein zweiter Vorname lautete
Sylvester, und an diesem Tage war er auch geboren, Noll also, der
sich eines Tages als „Werner Holt“ und mich als Gilbert Wolzow
darstellten sollte, sorgte während der vierwöchigen Ausbildungszeit
der Schüler an den Flakkanonen der Chemnitzer Batterie für Freude in
der Freizeit. Sie war überwiegend alkoholischer Natur. Dieter zapfte
im Keller der väterlichen Apotheke am Chemnitzer Falkeplatz stets,
wenn es ungesehen möglich war, aus dem Faß mit alcoholus absolutus
eine angemessene Portion ab. Den Verlust kaschierte er, indem er dem
hochprozentigen Alkohol Wasser in der gleichen Menge zuführte.
Der Sprit diente meiner Stiefmutter (in Nolls Roman die „Gerti
Ziesche“) als Basis für Liköre, die sie unter Verwendung unbekannter
Essenzen braute. Bei etlichen Nachtausgängen („Urlaub bis zum
Wecken“) besoffen wir uns gemeinsam mit Gerti wie die Panduren. Kein
Wunder, daß wir nach solchen Exzessen schlapp in die Batterie
zurückkehrten. Den häufig angesetzten „Infanteriedienst“ konnten wir
nur mit Hilfe von Pervitin, einem ebenfalls von Dieter aus Apothekers
Schrank entwendeten Aufputschmittel, das auch die Nachtjäger der der
„Wilden Sau“ bei der Luftwaffe verabreicht bekamen, durchstehen. Wir
sahen nach solchen Nächten grün wie Wasserleichen aus. Noll, der
mich, wie gesagt, nach dem Krieg in seinem Buch „Werner Holt“ als
seinen „militaristischen“ Freund „Gilbert Wolzow“ porträtieren
sollte, hat später in seinem Roman die wilden Sprüche, die ich damals
losgelassen haben muß, genüßlich wiedergekäut.
Schikanen gab es viele, mit denen uns die UvDs (Unteroffiziere vom
Dienst) - häufig schlichte Obergefreite mit Volksschulbildung und von
dumpfer Abneigung gegen Oberschüler erfüllt - aufmischten. Beliebt
war beispielsweise der nächtliche „Maskenball“. Bei dieser Prozedur
folgte dem UvD-Befehl „Antreten in Ausgangsuniform, marsch! marsch!“,
der nächste auf dem Fuße: „Antreten in Drillich, marsch, marsch!
gefolgt von „Antreten in zweiter Garnitur, marsch! marsch!“. Viele
Tage hintereinander wurden die Betten eingerissen mit der Mitteilung:
„Ihr Säcke, ihr müden Bettenbauer, wir werden euch schon zeigen, was
ihr auf der Schule und bei der HJ nicht gelernt habt!“ Die Besatzung
von Baracke „Dora“ - Horst M., Werner L., Kurt Z., Dieter Noll und
drei weitere Jungen sowie ich - waren derartigen Kummer bald gewöhnt.
Vor allem Noll war unserem Kutschera ein Dorn im Auge. Der
Batteriechef, als Zivilist bei der schwarzen SS, nahm Dieter
persönlich übel, ein „Mischling zweiten Grades“ nach den Nürnberger
Gesetzen, das heißt ein „Vierteljude“, zu sein. Einmal schrie der
Hauptmann, der Anlaß ist mir unbekannt, mit Stentorstimme durchs
Gelände und eindeutig auf Noll gemünzt: „Den Judenbengel sollte man
an einen Baum binden und auspeitschen!“
Leicht hatte es Dieter auch nicht bei Unteroffizier Ugerer, von uns
kurz Luftzug (von der Abkürzung „Uffz. Ug.“ unter seiner
Schreibstubenunterschrift abgeleitet) betitelt. Dessen Spezialität
war bei den häufigen Appellen die Inspektion von Kragenbinden, einer
Und das waren wir ja damals sicher noch. In unserer Stube von Baracke
„Dora“ kamen wir alle aus einer Schulklasse: der Horst M., ein
kräftiger, trotzdem musischer Junge ohne militärischen Ehrgeiz, aber
mit schulischen Erfolgen (er war „Klassenführer“ gewesen), der Kurt
Z., ein liebenswürdiger und hilfsbereiter Kamerad, dem meistens
alles recht war und der es nahm, wie es kam, und der Werner L., der
viel lieber weiterhin auf der Schulbank gesessen hätte. Im Großen und
Ganzen ließ Noll jedoch in seinem Buch synthetische Figuren agieren.
Die Protagonisten wurden von ihm jeweils mit Eigenschaften mehrerer
Kameraden, positiven wie negativen, ausgestattet.
Ich selbst fand mich, wie mehrfach gesagt, zum Teil im Gilbert
Wolzow porträtiert, einem jugendlichen Haudegen, mehr Soldat,
weniger Nazi. In der Stube von „Dora“ hatten mir die Kameraden wohl
aus diesen Gründen neben meinem üblichen Rufnamen „Freddie“ den
Spitznamen „Wehrbauer“ angehängt. Die „Gerti Ziesche“, die als
allzeit willige Beischläferin eine wenig rühmliche Rolle in der
Nollschen Handlung spielt, war mit Sicherheit die literarische
Umsetzung meiner Stiefmutter. Der Roman von Dieter ist trotz der
überwiegend fiktiven Handlung das Beste und Wahrheitsgetreueste, was
ich bisher unter dem mageren belletristischen Schrifttum über die
Flakhelfer gefunden habe. In der späteren Deutschen Demokratischen
Republik (DDR) wurde das Buch Pflichtlektüre an den Schulen, und
Dieter erhielt dafür den DDR-Nationalpreis.
Die Prüfung selbst war nicht besonders schwierig. Der sportliche Teil
beinhaltete beispielsweise das dreimalige Überklettern einer über
zwei Meter hohen sogenannten Eskaladierwand (Hinderniswand). Jeder
Prüfling mußte dazu mehrere Ziegelsteine in seinen
Wehrmachtstornister packen. Wer den Trick nicht kannte, schaffte die
Wand nicht. Ich hatte mich aber vorher schlau gemacht. „Du mußt“,
sagte mir ein Kamerad, der das Examen schon hinter sich hatte, „nach
schnellem Anlauf mit dem linken Bein etwa einen halben Meter hoch auf
der Wand auftreffen, dann trägt dich der Schwung bis nach oben, und
du kannst dich dann hinüberziehen“. Der Tip war prima, ich überwand
das Hindernis wesentlich öfter als verlangt.
Einen weiteren Prüfungsteil habe ich noch genau vor Augen. Jeder
Anwärter bekam ein Stichwort und mußte nach einer sehr kurzen
Überlegungspause zu seinem Thema einen mindestens fünf Minuten
dauernden Vortrag halten. „Der deutsche Wald“ bereitete mir keine
Probleme. Im Geiste stellte ich mir, wie auf der Oberschule im Fach
„Deutsch“ gelernt, ein Stichwortgerüst zusammen, etwa so: Mythologie:
Wald bei den Germanen, Dichtung: Lyrik von Eichendorff und anderen,
wirtschaftliche Nutzung: Möbelbau und Feuerung, Wald als
Erholungsgebiet. Ich hätte eine Stunde lang wie ein Dampfplauderer
schwätzen können, so ergiebig war das Thema. Der Offizier winkte bald
zufrieden ab. Bad Blankenburg stellte sich uns als Idylle dar. Hätten
wir uns nicht auf den Offiziersberuf und auf den weiteren Krieg
vorbereitet, wäre uns das wundervolle Waldgebiet als eine Oase des
Friedens erschienen.
Dann führte mich mein Weg zurück nach Chemnitz. Ich wollte die
wenigen Urlaubstage, die man mir bis zum Einrücken beim RAD
zugebilligt hatte, zu Hause verleben. Ich kam vom Regen in die
Traufe. Chemnitz, bis dahin von alliierten Flächenangriffen nahezu
verschont, diente just in diesen Februartagen - und noch einmal im
März - als Ziel der britischen und amerikanischen Bomberflotten. Die
Industriestadt mit damals 365 000 Einwohnern, zuvor gern „sächsisches
Manchester“ wegen ihrer Textil- und Maschinenindustrie genannt,
wurde mehrfach von Hunderten von Flugzeugen seit dem 6. Februar
1945 im Teppichwurf in ihrem Kern total zerstört.
Schön wär´s gewesen. Aber diesmal gingen die Alliierten mit etwa 700
Bombern in die Vollen. Ich saß mit der Familie, das heißt Stiefmutter
Gerti, dem aus der Festungsstadt Breslau noch rechtzeitig
geflüchteten Großvatel Max sowie meinem Bruder Winfried, in einem
Kellerabteil, das Vater rechtzeitig mit Balken abgestützt hatte. Zwar
im Prinzip technisch falsch, wie wir hinterher erfuhren, doch
hinreichend, uns das Leben zu retten.
Zunächst hörte man ein leises Summen, dann erste dumpfe Schläge, die
sich immer lauter wiederholten, es schwoll das Summen zum Brummen und
schließlich zum Donner an, der rollte auf uns zu, der Boden begann
unter den Füßen wellenförmig zu beben - und da schrie der Großvatel,
wie die anderen auf einer Holzbank sitzend, seit längerem schon
harthörig, in die verschreckt schweigende Kellerbesatzung: „Kommen
sie schon?!“ Die Gerti, grün im Gesicht, begann zu würgen, um dann
in hysterisches Kreischen auszubrechen, das in Anrufungen der Mutter
Maria und aller Heiligen mündete, ehe sie unter ihre Bank kroch, und
sich, der Länge lang ausgestreckt, die Ohren zuhielt.
Dort erwartete uns das Inferno. Aller Ecken und Enden brennende oder
schwelende Gebäude, zusammenkrachende Dachstühle, herabstürzende
glühende Balken, immer erneut aufstiebender Funkenflug wie Schwärme
von Glühwürmchen, straßenweise brennender Asphalt. Und kopflos
herumhastende Männer, Frauen und Kinder, gehüllt in klatschnasse
Decken, zu Tode erschrocken über das, was hier und da herumlag und
mit seinen kohlschwarzen Konturen nur entfernt daran erinnerte, das
es einmal menschliche Gestalt gehabt hatte.
„Im März 1945 glich Chemnitz einer toten Stadt. Nach sechs größeren
Luftangriffen war das sächsische Manchester in Trümmern versunken.
Etwa eine Stunde dauerte das Inferno (vom 5. März). 700 schwere
Bomber flogen Welle auf Welle und entluden die todbringenden und
zerstörenden Spreng- und Brandbomben. Allein an diesem Tag starben
2105 Menschen im Bombenhagel. Die Stadt war nach dem Angriff zu zwei
Dritteln zerstört. .. Von 110.000 Wohnungen blieben nur 38.000
unbeschädigt Über hunderttausend Obdachlose zählte Chemnitz im Jahre
1945.“
Privat war mein alter Herr bestens untergebracht. In der Villa eines
Schrottverwerters, der im Auftrag der Wehrmacht metallene
Kriegsbeute, die nicht verwendet werden konnte, sowie Altmetall, das
bei Herr, Marine und Luftwaffe reichlich anfiel, für die
Waffenschmiede aufbereitete. Von diesem Material hatte der
Schrottfritze, den ich übrigens nie zu Gesicht bekam, eine dicke
Panzerplatte aus einem Kriegsschiff abgezweigt und zur Abdeckung des
Luftschutzbunkers im großräumigen Garten verwendet. Das war mal ein
Unterstand, der nahezu allen Bombentypen standhalten würde! Die Probe
aufs Exempel erlebte ich nicht. Als der Luftangriff auf Zwickau
erfolgte, war ich schon nicht mehr dort.
Aber der Reihe nach: Zunächst meldete ich mich in Zwickau auf Anraten
meines Vaters in der Wehrmachtserfassungsstelle. Die ließ mich
erstaunlicherweise wissen, ich würde schon von ihr hören, wenn man
meiner Dienste bedürfe. Über die zusätzliche Urlaubszeit war ich
nicht böse. Vor allem freute ich mich, einige Tage mit meinem Vater
gemeinsam verbringen zu können. Wie in Friedenszeiten kam er nach dem
Dienst im WBK nach Hause, wir aßen unser bescheidenes Abendbrot und
tranken hie und da das dünne Kriegsbier dazu. Einmal kam Vati auf die
Idee, aus Kartoffeln Schnaps zu brennen. Dieses Vorhaben beschäftigte
ihn tagelang. Einzelheiten weiß ich nicht mehr, lediglich, daß das
Gebräu, das bei dem Experiment herauskam, von undefinierbarer Farbe
und ungenießbar war. Wir hatten aber viel Spaß an unserem Experiment.
Wie kommt die Jungfrau zum Kinde? - Man erinnert sich: Ich war
bestätigter Offiziersbewerber der Fliegertruppe. Aber was hieß in
diesen letzten Monaten des Kriegs schon Luftwaffe? Es gab mehr
Maschinen als Flugbenzin und voll ausgebildete Kampfflieger, und so
fand der Krieg der Soldaten mit den gelben Spiegeln auf den
blaugrauen Uniformaufschlägen überwiegend auf der Erde statt. In der
Regel wurden sie in sogenannten Luftwaffenfelddivisionen
zusammengefaßt, die man genauso gut der Infanterie hätte zuordnen
können.
Den Tag weiß ich nicht mehr. Die Sirenen von Zwickau heulten:
„Panzeralarm!“ Der auf- und abschwellende Ton, ein Geräusch von
geradezu beklemmend existentieller Bedrohung, scheuchte die Menschen
von den Straßen. Das bisher so noch nicht gehörte Signal, das sich in
Nuancen vom bisher gewohnten „Fliegeralarm“ unterschied, ließ
Schlimmstes ahnen: Die Amis ante portas!
Nun ja, vor den Toren standen sie zwar gerade noch nicht, doch drang
eine US-Panzerdivision im Vogtland Richtung Erzgebirge vor. Die
Deutschen stellten Alarmeinheiten zusammen aus Lazarettentlassenen,
Angehörigen des Volkssturms 3. Aufgebot, hier überwiegend aus jungen
Burschen im Hitlerjugendalter, ferner aus Urlaubern, die man
aufgriff, kurz, aus jedermann, der wie ein solcher aussah. Mich
erwischte es auf dem Zwickauer Kasernenhof, als ich meinen Vater in
seinem WBK-Dienstzimmer aufsuchen wollte, um ihn zu fragen, was ich
nunmehr angesichts des nahenden Feindes zu tun hätte.
Als ich gerade ins Treppenhaus eintreten wollte, hielt mich ein
gellender Pfiff zurück. Mit schnellen Schritten näherte sich mir ein
Uscha (Unterscharführer = Unteroffizier) der Waffen-SS. Seine
Zugehörigkeit zu dieser Truppe war nicht zu übersehen: Silbern
blinkten auf dem rechten Kragenspiegel seiner olivgrünen, gescheckten
Felduniform die Siegrunen. Auf dem Ärmel prangten vier
Panzervernichtungsabzeichen. Auf der Feldmütze grinste das
Totenkopfabzeichen. Der Mann war baumlang, etwa 1,90 bis 2 Meter
groß. „He, Junge, wohin so eilig?“ wollte er wissen. Ehe ich
antworten konnte, bellte er einen Befehl: „Stell dich dort drüben
hin, wo die anderen stehen!“ Zugleich wies er in die
gegenüberliegende Ecke des Kasernenhofs, wo tatsächlich eine Gruppe
von rund 20 bunt Uniformierten und Zivilisten stand, die mir vorher
nicht aufgefallen war. „Unterscharführer“, brüllte ich zurück, „ich
will zu meinem Vater, der tut hier Dienst!“ „Das ist mir egal, und
wenn er der Kaiser von China wäre - schere dich dort rüber, sonst
gibt es gewaltigen Ärger!“ Gewohnt, Befehle militärischer
Vorgesetzter auszuführen, tat ich zögernd wie angeordnet. „Vielleicht
geht‘s ein bißchen schneller“, schrie der Uscha, drehte sich auf dem
Absatz um und strebte einer weiteren Tür auf dem Kasernenhofareal zu.
Die riß er auf und deutete ins Innere des Gebäudes: „Rein mit euch
allen!
Auf meine nochmalige Bitte hin bekam ich eine Viertelstunde, um mich
von meinem Vater zu verabschieden. Die Erlaubnis dürfte weniger
meinen schönen blauen Augen zu danken gewesen sein. Der Hinweis, mein
Alter Herr sei hier im WBK als Oberstleutnant im Stab des
Kampfkommandanten wirkte nun doch Wunder. Schnell fand ich das Zimmer
meines Vaters. Nach dem Anklopfen, das mit einem donnernden „Herein!“
beantwortet wurde, öffnete ich ruckartig die Tür, trat einen Schritt
vor in den Raum, riß den rechten Arm hoch zur Ehrenbezeigung und
schmetterte : „SS-Grenadier Röber meldet sich gehorsamst zum
Verabschieden, Herr Oberstleutnant!“
Die Frage war rhetorisch, hatte er doch die Runen auf dem rechten
Kragenspiegel sofort ausgemacht. Mir war bewußt, warum er erschrocken
- ja, das dürfte wohl das richtige Wort sein -, warum also er
erschrocken war. Er hatte die Waffen-SS nie besonders gemocht, weil
er in ihr eine Konkurrenzarmee der Partei zur Wehrmacht sah. Und er
liebte seine Luftwaffe und hätte es gern gesehen, wenn sein Kronprinz
des Vaters Uniform getragen hätte. Aber was half's? Mein Vater war
Realist genug zu wissen, daß ein Protest gegen meine Einkleidung in
die Uniform dieser Truppe nutzlos gewesen wäre. Die Waffen-SS und die
Feldgendarmerie hatten in den letzten Monaten des untergehenden
Reiches das Sagen. Lange habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob
mein Vater damals die Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg bereits
sicher kommen sah und mich auch aus diesem Grunde nicht gern bei
einer Einheit wußte, die vom Gegner ebenso gefürchtet wie verteufelt
wurde.
In diesen Minuten war nicht mehr viel zu reden. Wir hätten doch nicht
aussprechen können, was uns bewegte, dazu reichte die kurze Zeit
nicht. Und dann geschah etwas Seltsames: Mein Vater griff in die
Schreibtischschublade, und dann hielt er eine Pistole in der Hand.
Eine 6,35 mm, gewöhnlich „Damenpistole“ genannt. Aber das kleine Ding
Die Amis stellten ihr Vorrücken sofort ein. Der dritte Panzer gab
Vollgas im Rückwärtsgang und hätte beinahe seinen Nachfolger gerammt,
der dann auf einem anliegenden Holzlagerplatz eilig wendete. Noch
zweimal versuchten die Amerikaner mit Panzern durchzubrechen. Jedes
Mal wurden sie von uns abgewehrt. Allerdings: Nur einer von uns
Jungen schaffte es, einen Sherman abzuschießen. Er wurde von unserem
Einheitsführer - übrigens seltsamerweise ein Oberleutnant der
Wehrmacht - vor dem „Haufen“ am Abend mit einem EK II ausgezeichnet.
Wir hatten also bislang Glück gehabt, am meisten bangten wir davor,
Shermans mit Flammenwerfern zu begegnen. Die hätten uns im waldigen
Gelände ausgeräuchert wie Ameisen.
Und so kam der 20. April 1945, Führers Geburtstag. Es war ein
Kriegstag wie die vorhergehenden. Wir konnten die Ohren noch so tief
in den Volksempfänger versenken: Der Wehrmachtsbericht brachte kein
Wort von der Wunderwaffe. Nur V2 waren weiterhin auf London
abgeschossen worden. Das ließ uns aber schon kalt.
Wir warteten vergeblich auf den ganz großen Knaller, der den Krieg
noch wenden sollte. Wir ahnten das Ende - nein, wir wußten, es war
vorbei. Der Krieg verloren, Deutschland verloren, wir verloren. Wie
hatten wir uns doch schon als Luftwaffenhelfer mit einer Art von
vorauseilendem Galgenhumor genannt: LH = Letzte Hoffnung, und
„Genieße den Krieg, der Friede wird furchtbar sein“ gelästert. Jetzt
glotzte er uns ins Gesicht, der furchtbare Friede, den wir nicht
gewollt hatten. Der Siegfrieden war unser Ziel gewesen,
versinnbildlicht in unserem goldstrahlenden großdeutschen Aar.
Und plötzlich, als sei ein Endpunkt gesetzt, verspürte man so etwas
wie tödliche Leere. Ja, alles war dahin: Unser Glaube an Führer, Volk
und Reich, der Stolz über die Größe der deutschen Nation, das Wissen
von ihrer Sendung in Europa. Das geschah auf einmal so schlagartig,
als ob die Luft aus einem angestochenen Ballon entweicht.
Was, zum Kuckuck, meinte der Alte? (Er war übrigens etwa 30 bis 32
Jahre jung!) Warum teilt er uns, was wir wissen, in der Nacht
nochmals unter derartigem Getöse mit?
Lange mußten wir nicht darüber grübeln. Plötzlich stopfte der eine,
dann der andere und schließlich der Dritte, Vierte in seinen
Feldrucksack die wenigen Klamotten, die ein Soldat als Garderobe
besitzt. Und auf einmal verschwand erst der Erwin, dann der Otto, der
Wilhelm, der Heinz - in die Toilette des ehemaligen Gasthauses. Und
die Jungs kamen keineswegs zurück. Schließlich kapierte auch ich, was
angesagt war, und auch bei meinen zwei nächsten Bettnachbarn fiel der
Groschen.
Im Pissoir gab es nur ein Fenster, gerade groß genug, um einen Mann
noch durchzulassen. Ich zog mich also hoch, stemmte die Beine nach
vorn durch die Öffnung und ließ mich fallen. O verdammt, die Landung
war weich und zugleich höchst aromatisch: Ich steckte bis zu den
Knien im saftigen, suppigen, fein durchgegorenen Misthaufen des
ländlichen Anwesens. Der Gestank war erbärmlich. Den zwei Kameraden
blieb nichts anderes, als mir zu folgen, stand doch noch immer vor
dem Haupteingang des Hauses ein Doppelposten. Zumindest nahmen wir
das an. Und so machte sich unser Trio auf den Weg „nach Hause“.
Die Namen der zwei Kameraden sind mir entfallen, aber nennen wir sie
Max und Moritz. Unser erstes Ziel war der nahe Waldrand. Wir mußten
vor zweierlei auf der Hut sein: vor den Jabos und vor der deutschen
Feldgendarmerie. Da war es in doppelter Hinsicht zwischen den Bäumen
sicherer als auf offenem Feld oder gar einer Straße.
Bald wurde es wieder heller. Wir näherten uns dem Waldsaum. Mist, wir
würden schon wieder freies Feld überqueren müssen.
Die rund 20 Amis standen im Halbkreis, alle Waffen auf uns gerichtet.
Wir hatten unsere ja voreilig in die Mulde geschmissen. Voreilig?
Vielleicht war es sogar besser so? Die amerikanischen Infanteristen
sahen zwar martialisch aus, schienen uns aber nicht gleich umlegen zu
wollen. „Hands up!“ schrie einer, und ein anderer krähte,
offensichtlich vergnügt, „Hitler Youth!“ In Freddie, Max und Moritz
wallte Zorn auf: Wenn wir jetzt unsere MPis hätten! Die US-Soldaten
bedeuteten uns, unsere Feldblusen auszuziehen. Wozu das? Und dann
auch noch das Unterhemd! Das waren ja merkwürdige Sitten!
Die Amis inspizierten unsere rechten Unterarme, und als sie sich
überzeugt hatten, daß wir keine Blutgruppe eintätowiert hatten,
wurden sie noch friedlicher:„No SS!“ Na ja, das denkt ihr, ihr
Deppen!
Und dann ging es los mit Karacho. Wenn der Fahrzeuglenker fröhlich
mit Tempo in eine Kurve ging flog ich vorn wie ein Fähnchen im Wind
an meiner Stange hin und her. Das machte dem Ami offensichtlich einen
Heidenspaß, denn trotz meines Protestgeschreis, das er auch ohne
Deutschkenntnisse verstanden haben muß, drosselte er die
Geschwindigkeit nicht.
Nach rund einer Viertelstunde Fahrt erst über Stock und Stein, dann
auf Straßen, nahte offensichtlich unser Ziel: ein Sammelplatz für
deutsche Kriegsgefangene. Einfach ein freies Feld, umsäumt von
Stacheldraht. Einige hundert Wehrmachtsoldaten drängelten sich dort
schon. Sie sahen alle abgerissen aus und erschöpft. Hängende Köpfe.
Eine merkwürdige Stille lastete über dem Platz. Gegen Abend begann es
zu nieseln. Wer noch eine Zeltplane besaß, konnte sich glücklich
schätzen. Wir drei hockten nebeneinander auf dem immer nasser
werdenden Grasboden und fröstelten. Wir wußten nicht, daß dies erst
die feuchte Vorhölle war. Wir hofften noch, die Amerikaner würden uns
bald in ein etwas „wohnlicher“ eingerichtetes Lager transportieren
oder gar als Jugendliche entlassen.
„Wer kann kochen?“ Der abgerissene Gefreite, der diese Frage durch
ein Megaphon übers Lager brüllte, war offenbar von den Amis zu ihrem
Sprecher mit den Deutschen erkoren worden. Wir drei sahen uns an.
Natürlich konnten wir kochen. Aber selbstredend. Köche können sich
immer den Bauch füllen. Und unsere Bäuche knurrten schon ziemlich
laut. Ich hob den Arm, schrie: „Ich kann kochen!“ Ein bißchen mulmig
war mir schon dabei. Wenn die Amis nun US-Spezialitäten haben
wollten, was dann!?
So schlimm kam es nicht. Die Army war mit ihrem Nachschub nicht
nachgekommen und mußte sich daher mit deutschen Wehrmachtskonserven
begnügen. Und da gab es gegenwärtig unter ihrem örtlichen Beutegut
nur zwei Sorten Dosen: solche mit Sauerkraut und andere mit
Blutwurst. Na,. Da würden wir schon was zusammenpanschen können …
Für unsere Kochkünste stand uns ein großer Kessel zur Verfügung.
Vielleicht hatte in ihm früher mal Wäsche gebrodelt. Als „Köche“ ließ
man uns sogar aus dem Lager heraus. In wenigen Meter Entfernung fand
sich eine kleine Hütte, in der einmal Holz oder anderes Heizmaterial
gelagert worden war. Jedenfalls fanden sich darin noch einige Ster
bereits passend gehackter Scheite. Wir man Feuer anmacht, das hatten
wir schon als Pimpfe gelernt, und so entfachten wir unter den
argwöhnischen Augen zweier GIs mittels Spänen und einer Ausgabe
„Stars und Stripes“ unter unserem Kessel ein munteres Feuerchen. Dann
Leider traf am nächsten Tag die Truppenverpflegung ein. Und mit der
kannten sich die Amerikaner aus. Nun war ihre Küchenkompanie wieder
an der Reihe. Vielleicht war es aber gut so. Lange hätten wir den
Amis kaum weismachen können, gute Köche zu sein.
Einige Stunden später wurden wir einzeln zur Vernehmung geführt. Ich
staunte nicht wenig, als mich der US-Major im Army-Zelt nach meinem
Eintritt mit „Guten Tag“ begrüßte. Na ja, der Tag war sicher nicht
gut, aber der Mann. Ich antwortete höflich, und dann las der Offizier
von einem Zettel die vorbereiteten Fragen ab. Name? Einheit?
Standort? Ich antwortete, wie vorgeschrieben: „Manfred Röber,
Panzerjagdkommando (den Zusatz „SS“ ließ ich vorsichtshalber weg),
Erzgebirge.“ Mehr mußte ich nach dem Kriegsrecht nicht verlautbaren.
Und mehr fragte er auch nicht. Er kritzelte auf seinen Zettel eine
Notiz, dann war ich entlassen ins Camp.
Das nächste Lager, das uns aufnahm, befand sich, wie wir allerdings
erst später mitbekamen, in der Nähe von Weimar. Es war wiederum nur
ein, diesmal viel riesigeres, Stacheldrahtgeviert ohne jeglichen
Unterstand. Nasse oder trockene Wiese, je nach Wetterlage. Die
Amerikaner hatten nicht viele Posten aufgestellt, wahrscheinlich
vermuteten sie richtig, die ehemaligen Gegner, die vor ihren Augen
mutlos und deprimiert auf ihren Hinteren hockten, würden vorerst
keinen Fluchtversuch unternehmen. Viel später wurde mir klar, daß
dies just der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, sich davonzumachen,
irgendwo geklautes Zivil anzuziehen und unterzutauchen. Aber
wahrscheinlich hielt mich damals, wenn ich so zurückdenke, meine
fehlende Fußbekleidung von einem Fluchtversuch ab. Meine schönen
Fliegerstiefel trug ja inzwischen wohl irgendein GI…
Das Wetter war uns nicht gut gesonnen. Mehrfach regnete es, so daß
unsere Wiese sich in einen Morast verwandelte. Tagsüber war das
gerade noch hinzunehmen („Landgraf, werde hart …“), aber nachts! Bald
kam der Zeitpunkt, wo wir nicht mehr darauf achteten, ob unser
Untergrund naß oder trocken war. Die Müdigkeit überwältigte uns, und
alte wie junge Landser lagen wie hingemäht auf dem Gelände herum.
Noch ahnten wir nicht, daß diese Art von Nachtquartier von einiger
Dauer sein würde!
Die Amis machten nach wenigen Tagen über Lautsprecher ein Angebot. In
holperigem Deutsch suchten sie unter den Gefangenen ein
Arbeitskommando. Als Entlohnung wurde jedem Freiwilligen eine
Notration versprochen, das sogenannte GI-„Frontkämpferpäckchen“, in
dem für uns Lagerinsassen ansonsten unerreichbare Köstlichkeiten
enthalten waren. Schokolade, Nußriegel und weitere Kraftnahrung. Aber
am interessantesten deuchten uns die ebenfalls beigepackten fünf oder
sechs Ami-Zigaretten, Chesterfield, Camel und wie sie sonst noch
hießen.
Also meldeten wir drei uns, die wir schon erfolgreich als Köche
gewirkt hatten, zum Kommando. Rund 20 Mann sammelten die Amis ein,
meistens jüngere Kameraden, die sie trotz der inzwischen sehr
mangelhaften Ernährung noch für kräftig genug hielten. Wir wurden,
diesmal ohne Stockschläge, auf die Ladefläche eines Army-Trucks
verfrachtet, und ab ging es.
Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Der Lkw hielt vor einem Lagertor.
Was, noch ein Lager, und diesmal mit allem Drum und Dran, mit
Wachtürmen und Baracken, mit geteerten oder gepflasterten
Lagerstraßen! Was sollte das? Wollten die uns auf diese Weise nur
stiekum verlegen?
Aber bald ging uns ein Licht auf, ein ganzer Scheinwerfer. Verdammt,
wir waren in einem KZ gelandet. Erkennbar war dies unschwer an den
armseligen Gestalten, die auf dem Gelände herumschlurften, total
abgemagert, verhärmt, dem Tode näher als dem Leben. Auf ihren
gestreiften Anzügen trugen sie merkwürdige, verschiedenartig gefärbte
Dreiecke, wohl Kennzeichen für die jeweilige Häftlingskategorie.
Ob Mutter wohl auch so aussieht, schoß es mir durch den Kopf. Wir und
meine Kameraden, soweit wir uns über das Thema jemals unterhalten
hatten, stellten uns ein Konzentrationslager als eine strenge
Erziehungsstätte für politisch Unbelehrbare, für Asoziale, für Homos,
für Kriminelle und, ja, auch für Bibelforscher vor, hatte man uns
doch gelehrt, die Zeugen Jehovas bildeten ein weltweites Spionagenetz
der Plutokraten und des Weltjudentums.
Mit meinen zwei Kumpeln und einem Unteroffizier der Wehrmacht, der
noch seine Litzen auf den Schulterklappen trug, wollten wir gerade
zwei der ziemlich schweren Bettgestelle aus einer Stube tragen, als
es passierte: Ein noch ziemlich stämmiger und offenbar besser als
seine Leidensgenossen genährter Häftling knallte urplötzlich, nachdem
noch zwei weitere Männer in den Raum gekommen waren, die Stubentür zu
und begann auf den Unteroffizier einzuschlagen. Das Instrument,
dessen er sich bediente, war durchaus gefährlich, eine abgeschraubte
metallene Türklinke. Dem so Geprügelten lief das Blut übers Gesicht.
Schon wankend, wandte er sich zur Tür, riß sie auf und rannte
schwankenden Schritts zu unserem Ami-Truck. Und wir nichts wie
hinterher. Wir hatten nicht die Absicht, uns von den sicherlich alle
Uniformierten hassenden Lagerleuten invalide oder totschlagen zu
lassen. Auch aus anderen Baracken stürzten nunmehr Kommandoleute
heraus, die nicht besser behandelt worden waren.
Ich gestehe, wir waren entsetzt und verstört. Weniger über das, was
uns widerfahren war, das haben wir schnell weggesteckt, sondern viel
mehr über das, was wir im Lager gesehen hatten. Das waren also unsere
„Erziehungsstätten“ gewesen!
Das provisorische Lager bei Weimar sah uns nicht lange. Sehr bald
wurden wir wieder in bekannter Manier auf Trucks geprügelt, und dann
ging es auf eine lange Fahrt. Wir Eingedosten bekamen weder Wasser
noch Verpflegung. Verstohlen klaubten wir, wenn eine Pinkelpause
angesagt war - die US-Soldaten standen dabei stets im Kreis um uns
herum, während wir unsere Notdurft verrichteten -, aus unserer Ration
in der Hosentasche ein Stückchen Schokolade oder Kraftriegel. Hygiene
war nicht mehr angesagt.
Bei der neuerlichen Lkw-Verladung hatte ich meine zwei Kumpel Max und
Moritz verloren. Ich sollte sie während der Dauer der Gefangenschaft
leider auch nicht wieder finden. Als die Fahrt beendet war hielten
wir vor einem stacheldrahtbewehrten Tor. Die Begleitmannschaft
scheuchte uns von den Trucks, und wir marschierten, wie gewohnt im
Rheinwiesenlager Sinzig
Das Lager Sinzig, nach einer Quelle belegt mit 300 000 Mann, nach
anderen mit 250 000 oder weniger, präsentierte sich uns als
wimmelnder Ameisenhaufen.
Doch ehe ich auf die „Verpflegung“ eingehe noch ein Wort zu den
Latrinen. Sie waren Menschenfallen. Mindestens zweimal in meiner
Lagerzeit habe ich gesehen, wie ein von Hunger und Krankheit,
meistens der Ruhr, entkräfteter Lagerinsasse in diese stinkenden
Löcher stürzte, wo er erstickte oder in der grausigen Matsche
ertrank.
Viele Jahre nach dem Kriege habe ich das Buch eines kanadischen
Journalisten über die Rheinwiesenlager gelesen („Der geplante Tod“).
James Bacque spricht darin von rund einer Million Toter in den Camps.
Ich weiß nicht, ob diese immense Zahl stimmt und neige eher dazu,
eine andere Schätzung für realistisch zu halten, die von 50 000 bis
100 000 zu Tode Gekommenen ausgeht.
Und nun ein Wort zur Lagerverpflegung: Sie war katastrophal. Nach
unserem Eintreffen erhielten wir zunächst einmal - gar nichts! Erst
am nächsten Tag - wir mußten uns dazu in Reihe anstellen - bekamen
wir von zwei Amisoldaten für je zehn (!) Mann eine Büchse Fleisch und
ein Weißbrot fast an den Kopf geschmissen. Weil dieser Proviant von
vorn bis hinten nicht reichte, bastelten findige Köpfe kleine Waagen,
mit denen die kostbare Nahrung grammgenau abgewogen wurde.
Nach einigen Tagen wurden die uns zugebilligten Rationen noch mehr
geschmälert. Es gab kein Brot und schon gar kein Dosenfleisch mehr,
sondern für jeden Mann jetzt auf die befehlsgemäß ausgestreckte linke
Hand: je einen Löffel Eipulver, Milchpulver, Zucker, Nescafé,
Erbsenpulver und weitere Pülverchen, die mir nicht mehr alle
erinnerlich sind. Was mit dem Zeug anfangen?
Wir bauten uns also aus den Konservendosen, die wir vorsorglich
aufbewahrt hatten, kleine Öfen, auf denen wir aus den Pulverarten
Minisüppchen usw. kochten. Später, als es einmal Weiße Bohnen gab,
habe ich versucht, mir ein Bohnengericht zuzubereiten. Stundenlang
lag ich auf dem Bauch und blies in das Öfchen, damit sein Feuer nicht
ausgehe. Aber eine Bohnensuppe gab es nicht. Die Dinger waren noch
immer knochenhart, und als ich versucht hatte, sie zu rösten, mußte
ich sie wegschmeißen, weil sie grauenvoll schmeckten. Das, obwohl wir
nicht wählerisch waren. Wir hatten bereits sämtliches Gras, das noch
im Lager wuchs, „abgeweidet“ und sogar, soweit wir rankamen, die
Pfähle der inneren Lagerumzäunung von der Rinde befreit, um sie zu
verzehren. Gegessen wurde, was sich kochen oder gerade noch kauen
ließ.
Und dazu kam, wie schon bemerkt, der chronische Wassermangel. Weil
wir es vorzogen, das wenige Naß, das uns zugebilligt war, zu trinken
und nicht zum waschen zu benutzen, verbreitete sich das Ungeziefer im
Lager in Windeseile. Wir waren schnell verlaust vom Scheitel bis zur
Sohle. Da halfen auch die häufigen DDT-Bepuderungen durch die von den
Amis eingesetzten Lagerkräfte nichts mehr. Diese Leute waren auch
nicht immer von der feinsten Sorte. Manche von ihnen stahlen, und
sogar die US-Lagerverwaltungen machten sich mit ihnen hier und da
gemein: Viele Zentner Proviant landeten auf dem Schwarzmarkt
außerhalb der Lagerzäune.
Das Leben wurde von Tag zu Tag stupider. Die Gefangenen saßen in
ihren Erdlöchern, lausten sich, dösten oder schliefen, wenn nicht
gerade wieder Regengüsse hernieder prasselten. Oder sie lagen und
hockten vor ihren Blechdosenöfchen und bliesen, was das Zeug hergab,
um ihre mehr als kärglichen Rationen zu ein paar Löffeln Suppe zu
verarbeiten.
Es bildeten sich bald zwei Fronten im Lager - die dritte stellten die
privilegierten deutschen Helfer der Amis, die Leiter der einzelnen
Cages und die Angehörigen der Lagerpolizei, um die es hier nicht geht
-: die eine bestand aus den „Alten“, den „Frontschweinen“, die andere
aus den „Jungen“ von 13 bis etwa 20 Jahren, die als Meldegänger,
Kindersoldaten, Hitlerjungen, Luftwaffenhelfer oder
Volkssturmangehörige noch in die letzten Strudel des Krieges gezogen
worden waren. Während die Jungen sich bemühten, unter den gegebenen
Umständen noch so etwas wie Haltung zu bewahren, war den Altgedienten
alles wurst. Ihre Überlebensstrategie bestand darin, nur noch für
sich selbst zu sorgen. „Du mußt Egoist sein, mein Junge“, sagte einer
dieser an vielen Fronten gestählten Landser zu mir, „wenn du
überleben willst. Mit Rotkreuz-Mentalität wirst du nicht
durchkommen!“ Es war eines dieser wenigen Gespräche oder eher
Wortwechsel zwischen einem Jungen und einem Alten, die im Lager
Sinzig überhaupt zustande kamen.
Was uns „Pimpfe“, wie wir oft herablassend genannt wurden, am meisten
fuchste, war der Tausch von Eheringen gegen Zigaretten, den die Alten
mit dem GI-Wachpersonal praktizierten. Warum machen die das, fragten
wir uns, wo bleibt da die Würde?! Wenn wir schon den Scheißkrieg
verloren haben, dann doch wenigstens mit Anstand! Wenn die etwas
Eßbares eingetauscht hätten, dann wäre unser Verständnis
möglicherweise größer gewesen. Aber so kam es uns wie ein Verrat an
dem Letzten, was viele noch hatten, an den Daheimgebliebenen, der
Familie vor.
Das zweite große Übel war die durch die anhaltende Hungerkur bewirkte
Schlappheit. Man ging wenige Meter, dann wurde einem schwarz vor
Augen, und man mußte sich hinsetzen, um nicht umzufallen. Der
Kreislauf war völlig ruiniert, der Blutdruck im Keller.
Aus welchem Grunde auch immer wurde ich von den Amis oder der
deutschen Lagerleitung zum „Hundertschaftsführer“ ernannt und
zunächst mit der Aufgabe betraut, vor allem einen geregelten Ablauf
der täglichen Zählappelle, des Wasserholens sowie der
Verpflegungsausgabe zu organisieren. Natürlich konnte ich die Knaben
und Jungmannen, die nunmehr meinem „Befehl“ unterstanden“, nicht auf
Anhieb im Kopf behalten, und so mußte ich mir ihre Namen mit einem
Bleistiftstummel notieren. Ich tat dies auf der Rückseite meiner Lwh-
Entlassungsurkunde. Leider habe ich damals meistens nur die
Familiennamen und überhaupt nicht die Herkunftsorte aufgenommen.
„Baldauf Rudi, Machelius Erhard, Hofmann G., Richter R., Steinig M.,
Richard W., Angermann G., Moch oder Moik, Wolff H., Störz H. (?),
Niemczuk E., Smieja A., Marx G., Heß G., Kunz G., Kunz G., Kaluba H.,
Schlu … K.-H., Kirchner G., Wischnefski O. (?), Schaller E., Plänitz
M., Bielefeld P., Tscheike P., Schäfer W., Bönke H., Krüger M.,
Reichel H., Österreich G., Michael W., Graichen H., Albrecht H.,
Handschuk K., Schmidt G., Hanning G., Ciensky K.-H., Krätzler E.O.
(?), Neumüller R., Schuler W., Muskus G., Grimm H., Helmig H.,
Fleicher, Wulff, Zebek M., Heinrich S., Lehmann R., Siebdraht W.,
Hörig H., Seifert M..“
Aus heute nicht mehr nachvollziehbarem Grund sind einige Namen zwar
niedergeschrieben, aber durchgestrichen (Entlassung, gar Tod?):
„Beer G., Kühn O., Kluty M.“ kann ich noch einigermaßen lesen.
Man wird verstehen, daß ich für die richtige Schreibweise aller Namen
nicht gerade stehen kann. Dazu ist die Bleistiftschrift zu sehr
verblaßt.
Wir wußten nicht, daß es eine Auswirkung der Beschlüsse der Potsdamer
Konferenz war, aber jedenfalls gab es am 10. Juli (Datum nicht
hundertprozentig verbürgt!) für unser Lager Sinzig eine radikale
Veränderung: Es wurde, wie weitere Camps noch, von den Franzosen
übernommen. Was nunmehr um unsere Stacheldrahtzäune patrouillierte,
war abenteuerlich kostümiert. Die Uniformen, soweit es nicht Teile
von Zivilkleidung waren, präsentierten sich als eine operettenreife
Mixtur aus US- und Wehrmachtsklamotten, aus Monturen der Freien
Franzosen und aus Resistance-Beständen. Die meisten Bewacher hatten
ihre Gewehre mit dem Kolben nach unten geschultert.
Zunächst kamen uns die neuen „Herren“ recht bösartig vor. Nicht nur,
das sie nachts gern von den Lagertürmen ins Camp schossen, wenn einer
zur Latrine mußte (wir robbten oder krochen daraufhin, wenn uns die
Notdurft überkam, zu den stinkenden Erdlöchern), die Verpflegung
wurde auch schlagartig bedeutend magerer. Sie sank de facto unters
Minimum. Allerdings, und das muß aus Gründen der Gerechtigkeit gesagt
werden: Die Posten rund ums Sinziger Gefangenenareal wurden auch
nicht üppig ernährt. Wir sahen die Franzosen mehr als einmal an rohen
Kohlrüben knabbern, und ansonsten lebten sie augenscheinlich
vorrangig von einem tiefschwarzen Brot. Und das bei eingeschworenen
Weißbrotessern!
Vielleicht, so argwöhnten wir, hing dies auch damit zusammen, daß man
Stimmung für den Eintritt in die Legion etrangere, die französische
Fremdenlegion, machen wollte. Immer wieder mal kam ein deutsch
sprechender Sergeant ins Cage, der für diese legendäre Truppe warb.
Ich gestehe, mir einen Eintritt überlegt zu haben. „Wein, Weib und
Gesang“, so ungefähr wurde uns das Leben in der Legion von dem Werber
angepriesen, das wäre doch eine Perspektive. Besser, als in ein total
zerstörtes Deutschland ohne jede denkbare Berufsaussicht
zurückzukehren. Und weiterhin Krieg!? Bah, wie haben wir schon als
Ich entschied mich gegen die Legion. Leider weiß ich den
ausschlaggebenden Grund für diese Verweigerung nicht mehr. Es war
gewiß kein Patriotismus. Das Reich war untergegangen, und es würde
für den Offiziersbewerber Freddie wohl nie eine deutsche Armee geben,
in der er dienen könnte.
Und dann kam der General Billotte ins Spiel. Diesem französischen
Soldaten habe ich in meinem Herzen ein Denkmal der Dankbarkeit
errichtet. Pierre Billotte, der als Hauptmann den Untergang der
französischen Armee im 2. Weltkrieg erlebt hatte und 1941 aus einem
deutschen Gefangenenlager in Pommern geflüchtet war, diente in der
Armee der Freien Franzosen unter General de Gaulle. 1945, in der
fraglichen Zeit, war er Oberbefehlshaber der Militärregierung
Rheinland-Hessen-Nassau. Er hatte der deutschen Bevölkerung in einem
seiner ersten Aufrufe eine „Politik der Strenge und der
Gerechtigkeit“ versprochen, und daran hielt er sich. Zunächst ließ er
die Rheinwiesenlager in seinem Dienstbereich auflösen. Am 20. Juli
war Sinzig an der Reihe. Die meisten Gefangenen wurden, den
Abmachungen von Potsdam gemäß, nach Frankreich transportiert, um noch
etliche Jahre in der Landwirtschaft oder im Bergbau zu schuften. Wir
Jungen wurden per Lkw nach Andernach in eines der verbliebenen Lager
transportiert. Inzwischen hatte General Billotte befohlen, alle
Jungen unter 18 Jahren („Die Kinder von der Flak“) zu entlassen.
Für mich kam dieser denkwürdige und heiß ersehnte Tag Ende Juli 1945,
ganz kurz vor meinem 17. Geburtstag. Nach vorhergehender nochmaliger
Registrierung und Einteilung in Entlassungsgruppen standen wir in
hundertfacher Reihe vor einem langgestreckten Tisch, hinter dem ein
Offizier und mehrere Unterchargen der Armee saßen. Unsere
persönlichen Daten wurden Mann für Mann nochmals überprüft, Name und
Geburtsdatum in den Entlassungsschein eingetragen, dann knallte ein
Stempel auf das wertvolle Papier, und wir waren - fast - frei.
Als ich die Familie Blasweiler verließ, von den besten Wünschen
begleitet, begann für mich ein Marsch ins Unbekannte, in eine
Trümmerwüste, die zwar noch immer Deutschland hieß, in der aber das
Reich versunken war. Das Reich, an das wir geglaubt hatten, das
Reich, für dessen Größe und Ehre wir gekämpft hatten. Und das wir
verloren hatten.
E n d e