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Hans Büchenbachers Erinnerungen im historischen Kontext – Aufklärung und Kritik
Eine Buchempfehlung (und zugleich eine auto-biografische Vergegenwärtigung des
Komplexes Anthroposophie/Nationalsozialismus)
Hans-Jürgen Bracker ist Waldorflehrer und ehemaliger Redakteur der
anthroposophischen Kulturzeitschrift „Novalis“. Zur historischen
Anthroposophieforschung hat er vor allem mit seinen Publikationen zu den großen
jüdischen Schülern Rudolf Steiners, Ernst Müller und Schmuel Hugo-Bergman,
beigetragen. Ein weiteres Feld der Auseinandersetzung blieb für ihn die
Verflechtungen von Anthroposophie und völkischem Gedankengut. Zur kürzlich
erschienenen Hans Büchenbacher-Edition hat er inhaltlich z.T. entscheidende
Hinweise beigesteuert, und reflektiert das Projekt nun in Verbindung einem „auto-
biografischen“ Rückblick auf die anthroposophische Politik des Unpolitischen. Eine
Buchempfehlung (und zugleich eine auto-biografische Vergegenwärtigung des
Komplexes Anthroposophie/Nationalsozialismus)
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Wer aus der lieben Verwandtschaft heraus ein Haus erbt, der kann beim Aufräumen,
Aussortieren oder Ausmisten manch unangenehme Überraschung erleben. Es müssen
nicht gerade Leichen im Keller sein –, aber üble Hinterlassenschaften, die jahrzehntelang
im Dunkeln vor sich hingegammelt, gemodert, gar gefault haben, tun auch schon das Ihre
dazu, dass man sich überlegt, das ganze Erbe auszuschlagen und vielleicht irgendwo
etwas Neues anzufangen. An diese Situation mögen sich heutige Freunde der
Anthroposophie erinnert fühlen, wenn sie auf bestimmte „Hinterlassenschaften“ ihrer
Vorgänger schauen. Ansgar Martins schaut sich im Haus „Anthroposophie“ um und
leuchtet im Keller auch in die hintersten entlegenen Winkel. Nicht als Unbeteiligter,
sondern als neugieriger, kritischer, vielleicht entfernter Verwandter...
Der bayerische Anthroposoph Hans Büchenbacher (geboren 1887 in WürzburgFürth), war
als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter getauft und christlich
erzogen worden, er galt somit nach den NS-Rassegesetzen als „Halbjude“. In der Nazizeit
gelang ihm, der seit 1931 Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in
Deutschland war, die Emigration in die Schweiz, wo er auch nach 1945 bis zu seinem
Tode 1977 lebte. Seine im Alter verfassten „Erinnerungen 1933-1949“ erschienen im
Frühjahr im Frankfurter info 3 / Mayer Verlag, herausgegeben und kommentiert vom
Betreiber dieses blogs, Ansgar Martins.
Neonazismus und Anthroposophie
Büchenbachers Erinnerungen an die Jahre der NS-Diktatur sind mir seit 1992 bekannt;
damals bekam ich Fotokopien eines 34-Seiten-Typoskripts in die Hände, das ich in einer
Nacht mit Spannung und nicht geringer Fassungslosigkeit durchlas. Das Thema
„Anthroposophen im Nationalsozialismus“ beschäftigte mich damals schon seit Jahren.
Spätestens seit Jan Peters Buch „Nationaler 'Sozialismus' von rechts“ (Berlin 1980) war
die Problematik – anhand der dort behandelten Biografie des ehemaligen
Christengemeinschaftspriesters Werner Georg Haverbeck - auf dem Tisch. In der Folge
des Anwachsens der grün-alternativen Bewegung kam auch damals schon das
Schlagwort vom „Ökofaschismus“ auf. Das markante Erscheinungsbild des Vorsitzenden
der GLSH (Grüne Liste Schleswig-Holsteins) und Demeter-Bauern Baldur Springmann im
Russenkittel war prägend in der Gründungsphase der grünen Partei. Dass er neben
ökologischem nicht nur konservatives, sondern auch völkisches Gedankengut vertrat,
wurde erst allmählich bekannt. Springmann gehörte wie Haverbeck (dieser als Präsident)
und der Bio-Lieferant Ernst-Otto Cohrs dem „Weltbund zum Schutze des Lebens“ (WSL)
an, einer Umweltschutzorganisation, die in der Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre
unauffällig mitwirkte. Peters zeigte in seinem Buch gerade am Beispiel des WSL
interpretationsbedürftige Verbindungslinien von der grünen in die braune Szene auf und
stellte die Frage, ob gewisse personelle Schnittmengen Zufall oder ideologie-immanent
seien. In der Zeitschrift „Die Bauernschaft“ des schleswig-holsteinischen Alt- und Neonazis
Thies Christophersen las ich ungefähr gleichzeitig zum ersten Mal von biologisch-
dynamischer Landwirtschaft in Auschwitz, und E.-O. Cohrs schrieb dort belustigt in einem
Leserbrief, dass er in Büchern von Rudolf Steiner Hakenkreuze gefunden hätte – ob man
diese deshalb etwa auch verbieten wolle (so wie die vom Verfassungsschutz beobachtete
und wegen des Abdrucks von Hakenkreuzen vom Verbot bedrohte „Bauernschaft“). – Die
drei Genannten wurden in der Öffentlichkeit allerdings nicht in erster Linie als
Anthroposophen sondern als Umwelt-Aktivisten wahrgenommen.
Anthroposophische Aufarbeitungen der anthroposophischen Geschichte
Dass es „Berührungen“ zwischen Anthroposophen und dem NS gab, war mir also 1992
keineswegs neu – zumal Haverbeck 1989 mit seinem Buch „Rudolf Steiner. Anwalt für
Deutschland“ mit seinem rückwärtsgewandten Welt- und Geschichtstbild an die
Öffentlichkeit getreten war, welches auf heftige Ablehnung in der aufgeschreckten
anthroposophischen Szene gestoßen war. 1991 veröffentlichte die progressiv-
anthroposophische Zeitschrift „Flensburger Hefte“ zwei Nummern zum Thema
„Anthroposophen und Nationalsozialismus“, insbesondere der zweiteilige Hauptartikel des
Rendsburger Eurythmisten und Verlegers Arfst Wagner (Untertitel: „Probleme der
Vergangenheit und Gegenwart“) stellte einen ersten Markstein in der
inneranthroposophischen Aufarbeitung der „eigenen“ NS-Vergangenheit dar. Viele, die es
hätte angehen sollen, wollten aber gar nicht so genau wissen, was im Detail bei Wagners
Recherchen herausgekommen war (deren Ergebnisse er – ohne irgendwelche
Unterstützung und auf eigene Kosten – in fünf Materialbänden herausgab); stattdessen
wurde er als Nestbeschmutzer beschimpft. Einige Jahre später schließlich legte der
damalige Goetheanum-Archivar Uwe Werner im anerkannten Wissenschaftsverlag
Oldenbourg seine umfassende Studie „Anthroposophen in der Zeit des
Nationalsozialismus“ vor (München 1999), in der er – anders als Wagner – auf
Büchenbachers Erinnerungen zurückgreifen konnte. Damit war zunächst einmal einiges
Material veröffentlicht; die Meinungen darüber, ob nun das Thema abgeschlossen werden
könne, gingen natürlich weit auseinander. Den einen war Werners Duktus zu apologetisch,
konservative Anthroposophen hingegen schien die ganze „Aufarbeitung“ unnötig,
manchen erschien diese schmerzhafte Beschäftigung aber doch als eine notwendige
Pflicht – im Sinne einer Begegnung bzw. Auseinandersetzung mit dem eigenen
Doppelgänger oder den „Schattenbildern“.
Zum Thema der „okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“ gibt es seit 1985 die Studie
des britischen Historikers Nicholas Goodrick-Clarke, der speziell Theosophie und
Ariosophie im Blick hatte und Steiner hinsichtlich einer geistigen „Mitschuld“ oder eines
„Vorbereitertums“ kaum belastete. Und Micha Brumlik konstatierte 1992 in seiner Studie
„Die Gnostiker“: „Trotz einiger Wirrungen der Anthroposophie ist ihr im ganzen jedenfalls
nicht anzulasten, dass sie sich während der Zeit des Nationalsozialismus ähnlich
diskreditiert hätte wie die protestantischen und katholischen Kirchen...“ Ob dieses Urteil zu
kurz greift, möge der Leser nach der Lektüre von Ansgar Martins Buch selber bewerten.
Der amerikanische Historiker Peter Staudenmaier jedenfalls meint im Gegensatz zu
Goodrick-Clarke und Brumlik eine innere Wesensverwandtschaft zwischen dem von ihm
so wahrgenommenen okkultistisch-rassistisch-völkischen Weltbild Steiners und dem
Nationalsozialismus oder zumindest einigen Strömungen innerhalb desselben zu
erkennen.
Durch Wagners und Werners Arbeiten wurden mittlerweile die Namen bestimmter
Protagonisten des ganzen Komplexes bekannt. Dazu gehören u.a. der Münchener
anthroposopphische Arzt Hanns Rascher (NSDAP-Mitglied seit 1931), das Dornacher
Vorstandsmitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft Guenther
Wachsmuth, die Dresdner Waldorflehrerin Elisabeth Klein und der Landwirt Erhard
Bartsch, auf NS-Seite der Führerstellvertreter Rudolf Hess als Protektor
anthroposophischer Tätigkeit im Dritten Reich, Alfred Bäumler, Oswald Pohl oder Otto
Ohlendorf. Alles diese Namen tauchen auch in Büchenbachers Erinnerungen auf. Der
Herausgeber Ansgar Martins macht die Geschichte von deren Entstehung in den 70er
Jahren weitestgehend deutlich und stellt auch die Editionsgeschichte dar. Anlässlich
Werners Buchveröffentlichung, in der Büchenbachers Erinnerungen ausgewertet und
ausführlich zitiert wurden, kamen größere Teile davon im April 1999 erstmals in Info3 zum
Abdruck; seither ist deren Existenz allgemein bekannt. Im vorliegenden Band machen die
nunmehr vollständig edierten und mit 300 Fußnoten versehenen Erinnerungen 70 Seiten
aus, mithin ein Siebtel des Gesamtumfangs. –
Seit 1999 sind weitere Arbeiten zum Thema entstanden, auch wurden neue peinliche
Verstrickungen zutage gefördert, so die Nazivergangenheit des
Christengemeinschaftspfarrers Friedrich Benesch (2004) oder auch die autobiografischen
Retuschen der anthroposophischen Historikerin Renate Riemeck (2007). Vor allem in
Amerika wurde einiges publiziert, wobei Staudenmaiers Dissertation „Between Occultism
and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy,
1900-1945“ aus dem Jahre 2010 hervorzuheben ist. Staudenmaier machte auch die
Namen zahlreicher Persönlichkeiten bekannt (s. Info 3 Nr. 7/8, 2007), die beiden Lagern
angehörten.
Helmut Zander schrieb 1999: „Über das Verhältnis von Distanz und Nähe von
Anthroposophen und Nationalsozialismus in einzelnen Fragen ist wohl noch nicht das
letzte Wort gesprochen.“ Das letzte Wort wird auch jetzt nicht gesprochen sein, mit Ansgar
Martins Buch liegen aber auf jeden Fall zahlreiche neue Beurteilungskriterien zur
Beantwortung dieser Frage vor. Dafür ist ihm uneingeschränkt zu danken und es steht zu
hoffen, dass die zahlreichen im Buch angestoßenen Fragen und mancher nur gestreifte
Hinweis eine gründliche Erarbeitung und nachfolgend auch Veröffentlichungen nach sich
ziehen werden. – Vieles könnte in dieser Buchempfehlung noch hervorgehoben werden,
doch will ich dem Leser nicht das Staunen und auch Erschrockensein angesichts zahlloser
detaillierter Schilderungen und Schicksale nehmen; deshalb – und auch, damit ich jetzt
zum Ende kommen kann – sei es hiermit nun gut.
Wer Ansgar Martins verdienstvolle Arbeit gelesen hat, wird viele Dinge in
anthroposophischen Zusammenhängen mit anderen Augen sehen können und einen
kritischen Blick gewonnen haben. Kritik ist ein Hinzugewinn und eine Bereicherung. Das
sollten sich Kritiker von Anthroposophie-Kritikern wie Martins (aber auch Zander und erst
recht Staudenmaier) immer vor Augen halten. Kritiker als Gegner oder gar Feinde zu
titulieren mag zwar – leider und immer noch – typisch anthroposophisch sein, für mich ist
es schlicht unwissenschaftlich und unanthroposophisch.
Hans-Jürgen Bracker