1960
Der Titel Mensch und Geschichte soll die Frage nach dem Verhältnis
dMes einen· zum anderen andeuten. Das harmlose »und«, welches
d ensch und Geschichte zusammenhält, ist ein Problem. In der Verbin-
/ng von »Mensch und Welt« zeigt das »und« eine Verbindung an, die
ur den Menschen wesentlich ist, aber nicht für die Welt. Denn die
natürliche Welt läßt sich ohne eine ihr nötige Beziehung zum Dasein
~e~n Menschen denken, aber kein Mensch ist denkbar ohne Welt. Wir
W ~n vom ersten bis zum letzten Atemzug welthaft. Wir kommen zur
sel], t- sie_ kommt nicht zu uns - und wir scheiden aus ihr, während sie
. er Weiter besteht. Die nächste Welt des Menschen ist aber nicht
diese
. u"b ermenschliche Welt, sondern unsere gewohnte Umwelt und '
1,1
M1twelt.
auc~ie_ zeitgenössische Mitwelt, in der und mit der wir leben, ist aber
ist . ~cht ohne weiteres eine »geschichtliche« Welt, und der Mensch
Ge~1~. t ohne weiteres eine »geschichtliche Existenz«. Das Thema der
ode~ '.chtsschreibung ist nicht die Lebensgeschichte von Individuen
hen einer sozialen Gruppe, sondern das öffentlich-politische Gesche-
Pol/ti:~ches die Taten und Schicksale von Völkern betrifft. Als ein
den Hc es Geschehen handelt die Geschichte vor allem von wechseln-
\Viederc~:sch~ftsverhältnissen. Die beiden letzten Weltkriege haben es
schiel · ~ntlich gern acht, daG Geschichte in erster Linie nicht Kulturge-
&ond ite ~nd Geistesgesr.hichte oder Ideen- und Problemgeschichte ist,
Heh t::i Veltgeschicht.'! im politischen Sinn. Die seit Dilthey gebräuch-
1}-Word ene Rde c von der »geschichtlichen Welt« und die durch
224 Mensch und Geschichte
ben mit Seinesgleichen in einer polis angelegt ist, und zwar in einem viel
höheren Grade als etwa Bienen oder Herdentiere. Ineins mit dieser
politischen Veranlagung hat der Mensch die gemeinschaftsbildende
Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung. Er ist nur Mensch, indem er
Mitmensch ist, und er kann dies nur sein, indem er sein eigenes Leben
durch die Vermittlung der sprachlichen Mitteilung mit andern teilt. Die
wechselseitige Verständigung über das, was nützlich und schädlich,
gerecht und ungerecht, wahr und falsch ist, macht nach Aristoteles das
Verbindende der häuslichen und öffentlichen Gemeinschaft des
menschlichen Lebens aus. Beide Bestimmungen des Menschenwesens
durch logos und polis sagen jedoch nichts über Geschichte aus. Es ist
also offenbar möglich, vom Menschen politisch und geistig zu spre-
chen, ohne auf die Geschichte und ihre Geschicke einzugehen. Sie fallen
uns zwar zu, aber sie bestimmen nicht unser Wesen. Daß der Mensch
g~schichtlich existiere, ist eine Behauptung der jüngsten Vergangenheit,
di~ ihre fernste Herkunft im theologisch-anthropologischen Weltbe-
gnff des Christentums hat. Nur wenn der physische Kosmos zu einer
Schöpfung Gottes wird, kann aus der Urgeschichte, welche die Schöp-
fung von Welt und Mensch ist, auch die Idee einer » Weltgeschichte«
hervorgehen, die sich dann schließlich im Menschen als einer »ge-
schichtlichen Existenz« konzentriert.
Aristoteles, der über alles nachgedacht hat - über Himmel und
Erde, Pflanzen und Tiere, Politik und Ethik, Rhetorik und Poetik- hat
der Geschichte keine einzige Schrift gewidmet, obwohl er der Freund
~le:x:anders des Großen war, der damals den Femen Osten eroberte und
~111 weltgeschichtliches Weltreich gründete. Es wäre absurd zu denken,
a_ß Aristoteles in Alexander, so wie Hegel in Napoleon, den »Welt-
geist" der Weltgeschichte hätte erblicken können, denn das würde
Voraussetzen, daß der Logos des ewigen Kosmos in die vergänglichen
~~grnata unserer Geschichte eingehen könnte. Die Dichtung ist nach
Ii nst0teles philosophischer als die Historie, weil diese nur vom Einma-
gen und Zufälligen berichtet aber nicht das Immerseiende und Im-
nierw"h
s f a rende, das so und nicht ' anders ist, zum Aufweis. bringt.
. Und
ü~ ern Aristoteles historisch vergleichende Überlegungen anstellt, z.B.
/Jh e'~ -~ers~hiedene Staatsverfassungen oder über ältere Lehren von der
u; ).1n, dringt diese historische Einleitung nicht in die Substanz seiner
cle~tersuchungen ein. Sie hat. nur die Aufgabe, die sachliche Frage nach
\'Y,i·• . ..wahr
. en S tru kttur der pbysis· oder der po/ts· vorzu b ererten.
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issen um die Mannigfaltigkeit politischer Institutionen zu verschiede-
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226 M ensch und G eschichte
1
Sie_he dazu Leo Strauß, Political Philosophy and History in: What is Politi-
ca 1 Phtlosof1hy, I 959. '
Klassisches und m odern es Denken 227
Geschichte ist aber nicht eine Stumpfheit gegenüber den großen Ereig-
nissen, sondern die klare Einsicht, daß es vom einmalig Zufallenden
und Wechselnden nur Bericht oder »Historie«, aber kein wahres Wis-
sen geben kann.
Die einzige, aber wesentliche Reflexion, zu der sich die klassischen
Historiker erhoben, ist die Einsicht des Thukydides, daß der alle Ge-
schichten bestimmende Kampf um die politische Herrschaft in der
Natur des Menschen gründet. Weil sich aber diese nie wesentlich än-
dert, war es für Thukydides evident, dafs sich vergangene und gegen-
wärtige Geschehnisse auch künftig »in gleicher oder ähnlicher Weise«
ereignen werden. Die Zukunft kann nichts völlig Neues bringen, wenn
es »die Natur aller Dinge ist zu wachsen und zu vergehen«. Für Polybios
ist das allgemeine Gesetz der politischen Geschichte der regelmäßige
Umlauf im Wechsel der Verfassungen und der plötzliche Umschlag von
Triumph in Erniedrigung. Auch ein Volk wie die Römer, das sich seiner
geschichtlichen Aufgabe äußerst bewußt war, hat nicht in der Illusion
des modernen historischen Bewußtseins gelebt, als würde sich der Gang
der Geschichte, der res gestae, fortschreitend und fortschrittlich auf die
Erfüllung eines Sinnes hin bewegen. Daß alle Völker, Staaten, Städte
und Autoritäten einem notwendigen und natürlichen Ende entgegenge-
hen, das war für antikes Empfinden und Verständnis so sinnfällig wie
die Sterblichkeit der einzelnen Menschen. Als Scipio Karthago besiegt
und zerstört hatte, scheute er sich nicht zu sagen, daß dasselbe Ge-
schick, welches die römische Macht jetzt ihren Feinden bereitet hatte,
einst auch Rom treffen werde, sowie es einst Troja und nun Karthago
traf. Sein Freund Polybios berichtet diesen Ausspruch und fügt hinzu,
daß es schwer sein würde, eine Äußerung zu finden, die staatsmänni-
scher und tiefsinniger wäre. Im Augenblick des größten Triumphes an
den Umschlag des Schicksals zu denken, gezieme einem des Andenkens
Werten Manne. Und wo immer klassisches Empfinden lebendig blieb,
ist dies die letzte Weisheit des Historikers und Politikers, der ohne
Illusionen handeln und denken kann 2. Man kann sich aber schwerlich
einen modernen Staatsmann, es sei im Westen oder im Osten, vorstel-
len, der nach der siegreichen Beendigung des letzten Weltkrieges hätte
äußern können: dasselbe Schicksal, das wir jetzt Berlin bereitet haben,
wird einst Moskau und Washington treffen! Denn das historische
Bewußtsein, das an Marx oder Comte geschult ist, versteht nicht mehr
das Einst der Zukunft mit dem Einst der Vergangenheit zusammenzu-
denken, weil es nicht wahrhaben will, daß alle irdischen Dinge entste-
hen und vergehen.
Diese Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge, die an ihrem Un-
terschied zur Beständigkeit der Bewegung der Himmelskörper beson-
ders deutlich hervortritt, ist auch der einfache und einleuchtende
Grund, mit dem Herodot seinen Bericht der Perserkriege begründet. Er
erforschte und berichtete das Geschehene nicht, weil er wie irgendein
moderner Geschichtsphilosoph der Ansicht gewesen wäre, daß die
Geschichte ein »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« sei und das
historische Bewußtsein zum Sein der Geschichte gehöre (Hegel), oder
weil er gewollt hätte, daß die Geschichte auf eine klassenlose Gesell-
schaft in einem »Reich der Freiheit« abziele (Marx), oder weil er
gemeint hätte, daß das historische Bewußtsein der » Kritik der Gegen-
wart und der Begründung der Zukunft« diene (Troeltsch), sondern weil
er als ein Grieche, dessen Sprache den Menschen schlechthin den Sterb-
lichen nennt, ein so echtes und tiefes Gefühl für die Hinfälligkeit aller
menschlichen Dinge hatte, daß er es deshalb nötig fand, den großen
Taten und Ereignissen durch Historie eine Art Unvergänglichkeit zu
sichern, weil sie ohne Historie alsbald ruhmlos dahinsinken würden,
Weil der Mensch nicht teil hat an dem unsterblichen Leben der Götter
und dem ewigen Kreislauf des Himmels, bedürfen seine Taten der
Historie, durch die sie den Sterblichen überleben.
Das Wort »Historie« bedeutet im Griechischen kein singulares
Substantiv zur Bezeichnung eines ausgezeichneten Sachgebiets, wie das
deutsche Wort «die Geschichte«, sondern ein verbales historein, d. h,
ein Erkunden, Kennen, Wissen und Berichten dessen, was unlängst oder
einst geschehen ist. Historie kann sich daher auf alles nur überhaupt
Erkundbare beziehen. Die historiae der antiken Historiker berichten,
wie noch die Storie Fiorentine von Machiavelli, Geschichten im Plural,
sie deuten aber keine Geschichte im Sinn einer geschichtlichen» Welt''•
t
und noch weniger haben die klassischen Historiker die unbeantwor ba·
re Frage nach dem Zweck, dem »Wozu«, als dem Sinn der Weltge·
schichte gestellt. Gar vieles wurde von den Griechen erstmals entdeckt,
sie haben aber nicht im modernen historischen Bewufstsein gelebt, das
im eschatologischen Futurismus des Judentums und des ChristentuJllS
wurzelt3• Die »Enrdeckung« der geschichtlichen Welt und der ge·
15
3 Siehe dazu Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in diesem Band S.1 ff.
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schichtlichen Existenz, deren Sinn in der Zukunft liegt, ist nicht das
Ergebnis einer philosophischen Einsicht, sondern das Produkt einer
hoffnungsvollen Erwartung, die sich ursprünglich auf das Reich Gottes
und schließlich auf das Reich des Menschen bezog, der sich seit F.
Bacon seinerseits schöpferisch vorkommt. Die christliche Zuversicht
auf eine kommende Erfüllung ist zwar dem modernen Geschichtsbe-
wußtsein abhanden gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als
solche ist herrschend geblieben. Sie durchdringt alles nachchristliche
europäische Denken und alle Sorge um die Geschichte, um ihr Wohin
und Wozu. Auch die radikal weltlichen Fortschrittsphilosophien von
Condorcet, Comte und Marx sind eschatologisch von der Zukunft her
motiviert, und nicht minder ihr Umschlag in negativ fortschreitende
Verfallstheorien. F. Schlegel hat diese Herkunft unseres geschichtlichen
Denkens und Handelns in dem Satz zusammengefaßt: »Der revolutio-
näre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt
aller progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte.«
Revolutionär ist dieser Wunsch, weil er den ursprünglich natürlichen
Sinn der re-uolutiones, der regelmäßigen Umläufe der Himmelskörper,
umkehrt und umstürzt, und »progressiv- ist die moderne, nachchristli-
che Bildung, weil sie von Augustins procursus zu einem künftigen
Gottesreich - »The Pilgrims Progress« - bis zu Hegels »Fortschritt im
Bewußtsein der Freiheit« und zu Marx' Erwartung eines irdischen
» Reichs der Freiheit« die Theologie der Geschichte fortschreitend ver-
weltlicht hat.
II
Die Frage, die wir uns angesichts dieser Diskrepanz zwischen moder-
~: und klassischem Denken stellen, is~, ob d!e ~erbi~dung von
Men sch ''._und« Geschichte eine so wesentlich verbm~ltche ist, ?aß ?er
. ~ch uberhaupt kein Mensch wäre, wenn er nicht geschichtlich
~•~tterte. Das seit Hegel und Marx und dann durch Dilthey und
Metdegger zur Herrschaft gekommene Vorurteil in der Beurteilung des
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ens,· ·•he11 setzt M ensch und Geschichte eman
. d ere 6 en 6"urttg.
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d •Von A.nstotdes bis ins 18. jahrhundert als feststehend galt, daß steh .
, ~' ~lensch vom Tier durch Sprache und Vernunft unterscheidet, wird
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A:~kthauptet, daß die Vernunft eine historisch bedingte Vernunft der
arurig oder gar der » Widersacher des Denkens« sei und daß sich
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der Mensch vor allen anderen Lebewesen dadurch auszeichne, daß er-
mitsamt seiner historisch wandelbaren Vernunft- »geschichtlich« exi-
stiere. Der Mensch, so wird uns versichert, habe nicht nur eine ihm
zugehörige Geschichte, sondern er sei geradezu eine geschichtliche
Existenz, und nur deshalb könne ihn auch die Geschichte der Welt
etwas angehen.
Dieses moderne Vorurteil hat seine bestimmten, zeitgeschichtlichen
Gründe, ohne schon deshalb im Wesen des Menschen begründet zu
sein. Der nächstliegende Grund für die Ineinssetzung von Mensch und
Geschichte liegt darin, daß die Geschichte, aus der wir herkommen und
die auf uns zukommt, das unausweichliche Schicksal des heutigen
Menschen zu sein scheint und cs in gewisser Weise auch ist - womit
aber nicht gesagt ist, daß die Natur des Menschen mit seinem wechseln·
den Schicksal zusammenfiele4• Aufdringlich ist für uns, die wir alle
geschichtlich leben und denken, nicht die immer gleiche Natur des
Menschen, sondern der Wandel seiner geschichtlichen Situation. Was
in die Augen fällt, ist, daß alles anders wird, als es war; unauffällig
bleibt, wie sich in allen Veränderungen der Lebensumstände die Natur
des Menschen durchhält - sofern der Mensch überhaupt ein Mensch
bleibt und nicht, wie Dilthey behauptet, als »Typus« im Prozeß der
Geschichte »zerschmilzt«. So leicht es aber ist, die raschen und ein·
schneidenden Veränderungen auf allen Gebieten zum Ausweis zu brin·
gen und am laufenden Band die »geschichtliche Situation« zu beschrei·
ben, so schwierig und fast unmöglich scheint es zu sein, das Bleibende
und Beständige des Menschenwesens noch in überzeugender Weise zur
Sprache zu bringen, denn es fehlen uns alle Voraussetzungen, welche
erforderlich wären; um im Wandel der Zeit noch ein Dauerndes und
Ewiges zu erkennen, es sei im Menschen oder im Ganzen der Welt. Die
Geschicke der Geschichte, die wir erleiden und die uns zufallen, indet11
wir sie selbst herbeiführen scheinen den Menschen so sehr in seiner
ganzen Existenz zu bestimmen, daß er es sich gar nicht mehr anders
vorstellen kann, als sei er auf Gedeih und Verderb mit der Geschichte
nolens-volens verbunden. Der heutige Mensch lebt nicht im Umkreis
der Natur, er existiert im Horizont der Geschichte, und zwar einer rd
solchen, deren Bewegung ständig umfassender und beschleunigter wi
und mit der wir wohl oder übel Schritt halten müssen, um nicht den
5t
4, . Eine g~nau entgegengesetzte Ansicht hat W. Schapp in seiner gei vollefl
I hilosophie dei; Geschichten, 1959, entwickelt.
Horizont der Geschichte 231
ßoden unter den Füßen zu verlieren. Als eine sich je und jäh verändern-
de Geschichte verlangt sie vom Menschen bestimmte Entscheidungen,
durch die er ihren Lauf möglichst beeinflussen will. Was den heutigen
Durchschnittsmenschen vorzüglich angeht und unmittelbar anspricht,
ist daher nicht das unscheinbare Entstehen, Wachsen und Vergehen der
irdischen Naturphänomene und noch weniger der regelmäßige Umlauf,
die re-volutiones der Himmelskörper, sondern geschichtliche Krisen
und Revolutionen, Über- und Untergänge. Spenglers Untergang des
Abendlandes war am Ende des ersten Weltkrieges das bedeutungsvoll-
ste Dokument dieses allgemeinen Zeitgefühls und die seither erfolgte
Entwicklung der wissenschaftlichen Technik hat dieses epochale ge-
schichtliche Bewußtsein gesteigert, auch wenn man von Spenglers The-
se nicht mehr viel wissen will. Der drohende Untergang ist aber parado-
xerweise gerade durch diejenige Wissenschaft möglich geworden, wel-
che sich nicht mit der Geschichte sondern mit der Natur befaßt und -
.
llldem sie Atome spaltet- nun am' meisten Geschichte macht und in die
Politik der Mächte unmittelbar eingreift. Die Erfindungen der die Erde
umspannenden Technik und Naturwissenschaft haben nicht nur die
Reichweite des politischen Geschehens unabsehbar erweitert und sein
Tempo beschleunigt; sie haben seit dem Beginn der industriellen Revo-
lution die Natur wie noch nie zuvor in den Dienst der Menschenge-
~chichte gestellt. Was von Natur aus lebendig ist, _scheint nur ein Rest-
estand dessen zu sein was der Mensch »noch nicht« beherrscht und
bewältigt hat. Diese du;ch wissenschaftliche Technik bewirkte Erschüt-
terung unserer ganzen bisherigen geschichtlichen Überlieferung, der
· h en und der christlichen, hat die Denkweise
kla'ss,sc · d es gegenwarngen
...
l\~~nschen vorzüglich in Bewegung gebracht, wogegen ihn das immer-
Wahrende Gleichmaß der kosmischen Bewegung der Himmelskörper
und das natürliche Entstehen und Vergehen der irdischen Phänomene
jes Lebens ungerührt läßt, zumal auch die moderne Physik immer mehr
azu kommt, die ewig zuverlässige Ordnung der Natur in Frage zu
stellen, was freilich wiederum zeitgeschichtliche Gründe haben könnte,
ve_rgleichbar der Auswirkung der industriellen Konkurrenz auf Dar-
T" L e h re von der natürlichen Selektion und dem Uberle
Wms .. b en cI es
u~htigsten. Es sind also die faktischen Geschehnisse unserer Geschich-
M 111b egn'ffen die Ereignisse der Naturwissenscha ft, d'1e d en 11eut1gen
te, .
, enschen dazu gebracht haben, auch von sich selber ausschließlich
geschicl1 ti'1c h zu denken
A'.
Der weshalb haben -·· frühere Menschengeschlechter, die doch auch
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232 Mensch und Geschichte
tigen« Menschen, als ob die Geschichte den Menschen jemals gelehrt iiIi'
ii;
hätte, ein anderer zu werden und sich zu verändern. Zwar offenbart H.:
sich in der Geschichte, wie in einem vergrößernden und vergröbernden
Spiegel, der Mensch, aber nicht als ein jeweils anderer, sondern als
immer derselbe. Der Mensch hat schon vielerlei Übergänge bestanden
und überstanden, ohne daß er je aufgehört hätte zu sein, was er immer
schon war. Auch der Unterschied von Kultur und Barbarei offenbart
unter verschiedenen Bedingungen dieselbe Natur des Menschen, der am
Anfang der Geschichte nicht weniger Mensch war, als er es am Ende
sein wird. Ihr Unterschied liegt nur darin, daß die günstigeren Bedin-
gungen eines gesetzlich geordneten Zustandes den Menschen besser zu
machen scheinen. Wir leben beständig in »Übergängen« und » zwischen
den Zeiten«, wenn auch nicht immer so selbstbewußt in einem epocha-
len Bewußtsein, fürchtend und hoffend, wie heute. Und auch zwischen
den Zeiten kann man nur leben, weil es inmitten der Zeit Dauer und
Immerwährendes gibt. Was sich immer wieder bewährt, kehrt mit der
Zeit wieder, als eine Wiederholung des Gleichen. Würde der Mensch
Von heute völlig verschieden sein von dem von gestern oder vor ein paar
?usend Jahren, so könnten wir die Menschen vergangener Zeiten und
remder Kulturen überhaupt nicht verstehen und an ihren Hervorbrin-
gungen ter·1 ne Jrmen. Und selbst wenn wir · anne Irmen, es ga"b e emen
·
geschichtlichen Wandel im Wesen des Menschen, so könnte auch er nur
geschehen, wenn sich der Mensch in allem Wechsel und Wandel we-
sentlich
!\ _ g I eichbleibt,
· · ·
denn nur Bleibendes ·
.kann sich 1
auc h wan d en.
, nl<lerntalls würde man das Veränderte und Gewandelte gar nicht als
· , .., er k ennen können. Wer einen alten Bekannten nae I1 cI ret'ß'1g
JS•)hd1·•
0
aJ, ten wiedersieht und ihn völlig verändert findet, kann diesen Ein-
234 Mensch und Geschichte
zu sagen, weil die heutigen Herrscher und ihre Gegner keine Könige
sind. Wir denken desgleichen in der Geschichte des Geistes beim Hören
der Namen »Platon« und» Kant« an die vor- und nach platonische, vor-
und nachkanrische Philosophie, das heißt an die Geschichte des Den-
kens, ohne an das Gedachte die Wahrheitsfrage zu stellen, das heißt, wir
denken gedankenlos an die verschiedenen »Entwürfe«, »Interpretatio-
nen« und »Perspektiven« bestimmter geschichtlicher Welten, in der
Meinung, man könne nach Kant die physische Welt nicht mehr in
vorkritischer Weise denken. Tausend interessante und auch wissens-
werte Verschiedenheiten der Welt- und Geschichtsbilder lassen sich auf
diese Weise herausstellen - auf Kosten der Sache selbst. Denn wer
könnte bestreiten, daß die natürliche Welt selbst, zur Zeit von Platon
und Kant, dieselbe war, obwohl sie verschieden verstanden wurde, und
daß die verschiedenen geschichtlichen Welten von Homer, Dante und
Shakespeare antiquarische Kuriositäten wären, wenn wir uns in ihren
Taten und Leiden, ihren Männern und Frauen, ihren Herren und Die-
nern, ihren Liebenden und Rachsüchtigen, ihren Verrätern und Getreu-
en, ihren Ehrgeizigen und Verzichtenden, ihren Machtgierigen und
Sichaufopfernden nicht selber wiedererkennen würden? Und so können
Wir auch aus einem griechischen oder römischen Historiker, wie Thu-
kydides oder Tacitus, ganz wesentliche Aufschlüsse für das Verständnis
unserer eigenen Zeit und überhaupt der Geschichte entnehmen, nicht
Weil der eine ein Grieche des soundsovielten Jahrhunderts und der
andere ein Römer war sondern deshalb, weil diese klassischen Histori-
k~r, ohne historische; Bewußtsein um ihre eigene geschichtliche Be-
dingtheit, ein nur selten wieder erreichtes Wissen um das dauernde
Wesen des Menschen und der politischen Angelegenheiten hatten.
Eine solche Betrachtungsweise des Menschen und der Geschichte
~nter dem Gesichtspunkt des Immerwährenden und sich in der Zeit
ewährenden ist heute unzeitgemäß, weil unser vom historischen Be-
~nßtsein besessenes Denken das Immerseiende und Immerwährende
~tcht wahrhaben will und es entbehren zu können meint. Wir denken
D~s »Sein« in der Tat aus der »Zeit«, weil wir nichts Ewiges kennen.
S 1~s klar gemacht zu haben, ist das große Verdienst von Heideggers
e,_n und Zeit. Und doch zehrt schon alle geschichtliche Zeit davon, daß
es 1111 sc h windenden
. .
Lauf und Verlauf der Geschichte Dauerndes, wenn
;~ 1 1011 nichts Ewiges gibt. Die Erkund•.mg der Geschichte verlöre jedes
tercs:,e und ,· eden Sinn wenn die Geschehnisse der Geschichte nur das
V o ru"b ergehende wären ,und nicht auch relativ dauerhaft blieben. Auch
236 Mensch und Geschichte
III
Wir fragen nun: wie kam es zu dieser modernen Verirrung, welche den
einen physischen Kosmos in eine Vielheit geschichtlicher Welten und
die immer gleiche Natur des Menschen in eine Mannigfaltigkeit ge-
schichtlicher Existenzweisen aufgelöst hat? Diese Frage läßt sich nur
durch eine historische Besinnung beantworten, welche jedoch den
Zweck hat, die Konstruktionen des historischen Bewulitseins abzubau-
en. Wir beschränken uns dabei auf die wenigen Hauptetappen, in denen
sich das historische Bewußtsein entfaltet hat, um in unseren Tagen in
der fragwürdigen Gleichsetzung von Mensch und Geschichte zu enden.
Die wesentlichen Schrittmacher auf diesem Weg zum Historismus sind
der italienische Geschichtsphilosoph G. Vico im 18. Jahrhundert und
Hegel und Marx im 19. Jahrhundert. Das historische Bewußtsein, wie
e~ sich von Vico bis zur Gegenwart entwickelt hat, ist wohl sachlich wie
historisch an seinen Gegensatz, das natunoissenscbaitliche Denken,
gebunden. Seine schärfste philosophische Formulierung fand dieser
Gegensatz von Natur und Geschichte in zwei Wissenschaften, die sich
selber als »neue« bezeichneten: in der neuen, anti-aristotelischen Na-
turwissenschaft von Descartes, um 1630, und in der scienza nuoua, der
neuen Wissenschaft von Vico um 1740.
Descartes hat den gesamten Bereich des Seienden in zwei entgegen-
gesetzte Seinsarten aufgeteilt; die res cogitans, den denkenden Men-
:hen, und die res extensa, die im Raum ausgedehnte physische Welt.
us dem Prinzip des Denkendseins konstruierte er die Natur als Gegen-
;?
stand der mathematischen Naturwissenschaft. Von dieser so begriffe-
Natur gibt es allein ein wahrhaft sicheres, nämlich mathematisches
_issen. Von der Geschichte, sagt Descartes, läßt sich nichts wahrhaft
Ü~sse~. Was wir scheinbar von ihr wissen, beruht auf Erzählung und
b erlieferung, Meinung und Gewohnheit. Die historiae vermitteln im
st
1 ~ en Fall Wahrscheinliches. Denn alles Wissen, das auf sinnlich und
rnstorisch •
w f vermittelnden Erfahrungen beruht, ist der Täuschung unter-
0
f .r en; cs ist kein wissenschaftliches Wissen vom Charakter zweifels-
rt:ier Gewißheit.
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I
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Ii
238 Mensch und Geschichte
6·-d:e1·~''., ~ahrhundert später hat Marx die These formuliert, daß die Geschichte
1~ re Naturgeschichre« des Menschen sei.
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.... 1J.
240 Mensch und Geschichte
L:~
d eschichte unserer nordwestlichen Welt - einen Dualis11111s, von welchem, als
Untergange alles alten Lebens, die still:r.e Umänderun? -~es öffentlich_en
ens der Menschen so wie die lauteren polmschen und rehg10sen Revolutio-
~en überhaupt nur verschiedenfarbige Außenseiten sind - in philosophischer
d 0 .~m ausgesprochen hat, mußte, wie gegen die allgemeine Kultur, die sie aus-
ruckt, jede Seite der lebendigen Natur, so auch die Philosophie, Rettungsmittel
:u_chen; was von der Philosophie in dieser Rücksicht getan worden ist, ist, wo es
ein und offen war, mit Wut behandelt worden, wo es verdeckter und verwirrter
~es~hah, hat sich der Verstand desselben um so leichter bemächtigt und es in das
s 0 nge dualistische Wesen umgeschaffen; auf diesen Tod haben sich alle Wissen-
c1iaften
leb . gegrun .. d et, und was noch wissenscha ft 1·1cI1, a I so wemgstens
. su b'Je k nv
.
u ei'.d1g an ihnen war, hat die Zeit vollends getötet; so daß, wenn es nicht
unn1n1ttelb ar d er G eist . d er Philosophie
. . se llJSt ware,
.. d er 111 . d'teses weite
. "'1 eer
so te~getaucht und zusarnmengeengt die Kraft seiner wachsenden Schwingen um
vo starker
d fül
u 1 l t, auch die Langeweile der Wissenschaften - d'ieser G e b"au d e eines
.
ge~1 er Vernunft verlassenen Verstandes, der, was das Ärgste ist, mit dem
am 0E~gJen Nam:n entwed~r eine~ aufklären?en oder der m~ralisch_en Vernm:,ft,
lieh e auch die Theologie runuert hat - die ganze flache Expans10n unertrag-
Feu machen und wenigstens eine Sehnsucht des Reichtums nach einem Tropfen
'f /~s, nach einer Konzentration lebendigen Anschauens und, nachdem das
0
alle~ ~nge genug erkannt worden ist, nach einer Erkenntnis des Lebendigen, die
n urch Vernunft möglich ist, erregen müßte.«
242 Mensch und Geschichte
sten Opfer gebracht werden. Hegel behauptet, daß sich diese Frage
nach dem Sinn als Wozu »notwendig« in unserem Denken erhebe,
nämlich in unserem abendländischen Denken, das sich nicht, wie das
orientalische, mit der Hinnahme des Fatums abfinden könne. Für
»uns« sei die Geschichte eine solche des Geistes und mithin der Freiheit,
wodurch die Geschichte Europas zu immer höheren Stufen der Erfül-
lung fortschreite. Auf diese Weise werde die Vorstellung des bloßen
Wechsels von Tod und Leben, des Auf- und Untergangs, durch den
Gedanken einer fortschreitenden Erfüllung und Vollendung ersetzt.
Diese »abendländische« Ansicht von der Geschichte, wonach sie eine
nicht umkehrbare Richtung auf ein künftiges Ziel hat, ist aber auch
nicht einfach »abendländisch« - den Griechen fehlte sie-, sondern
christlich bedingt. Es ist eine spezifisch biblische Vorstellung, daß die
Bewegung vom Alten zum Neuen Testament von einem Versprechen
auf eine Erfüllung abzielt, die durch die Vorsehung eines göttlichen
Willens gelenkt ist. Hegels Voraussetzung, daß eine göttliche Vernunft
im Geschichtsprozeß tätig ist, verweltlicht den christlichen Glauben an
ein kommendes Gottesreich. Nachdem Hegel die Grenzen des griechi-
schen Vernunftbegriffs erörtert hat, kommt er auf den christlichen
Vorsehungsglauben zu sprechen, um zu zeigen, daß er mit seiner These,
daß die Vernunft die Welt regiere, im Grunde übereinstimme, wenn-
gleich der Glaube an die Vorsehung zu eng und unbestimmt sei, um den
konkreten Fortgang der Weltgeschichte yerständlich machen zu kön-
nen. Hegels Philosophie der Geschichte ist insofern eine» Theodizee«,
cine Rechtfertigung Gottes, der Geist ist, in der Geschichte der Welt.
Nur auf diese Weise könne der denkende Geist des Menschen mit dem
Bösen und dem Übel der Weltgeschichte versöhnt werden, und nichts
verlange so sehr eine solche versöhnende Erkenntnis wie die Weltge-
schichte.
Um die Weltgeschichte, wie sie auf den ersten Blick erscheint, mit
dem Weltplan Gottes, beziehungsweise mit der Vernunft, in Einklang8
zu bringen, bedient sich Hegel dessen, was er die »Lisr der Vernunft«
nennt, die in und hinter den eigensüchtigen Interessen und Leidenschaf-
ten der Menschen tätig ist. Caesar und Napoleon wußten nicht, was sie
taten, als sie aus selbstsüchtigem Interesse ihre Herrschaft befestigten.
~e/~ch dieser Begriff dient Hegel nicht nu'. zur Erklärun~ der ~ialektik der
t" ~hichte, sondern ebenso ~Phr 711r Kennzeichnung der Dialektik der Natur.
,,:e 11 e: Die Vernunft in der Geschichte, ed. Lasson (1917), S. 61 f.
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\iii
244 Mensch und Geschichte
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246 Mensch und Geschichte
Der erste Satz heißt charakteristischer Weise: » Wir kennen nur eine
einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.« Sie ist für
Marx die einzige, weil sie die alles umfassende Offenbarung des Men-
schenwesens ist. Marx verwirft nicht nur den Glauben an eine Offenba-
rung Gottes in der Geschichte des Menschen, an eine Heilsgeschichte, er
schaltet auch die Geschichte der Natur ausdrücklich aus. Die Natur ist
für ihn, ebenso wie für Hegel, nur die untergeordnete Vorbedingung
menschengeschichtlicher Tätigkeit, zum Beispiel in den sic bedingenden
geographischen und klimatischen Verhältnissen. Einen Vorrang der
Natur vor der Geschichte des Menschen gibt es nach Marx' sarkasti-
scher Äußerung nur noch »auf einigen australischen Koralleninseln
neueren Ursprungs«. Was Marx z.B. an einem Apfel interessiert, ist
nicht, daß es von Natur aus fruchttragende Bäume gibt, sondern daß
dieses scheinbare Naturprodukt zu einer bestimmten Zeit infolge be-
stimmter ökonomisch-sozialer Verhältnisse nach Europa importiert
wurde und als Ware für Geld verhandelt wird. Daß auch der geschicht-
lich produzierende Mensch kein selbstgemachter homunculus ist, son-
dern wie der Apfel ein Geschöpf der Natur, das ist für ein solches total
geschichtliches Denken ein uninteressanter Anschein, dessen Wahrheit
die Selbstproduktion der geschichtlichen Welt durch die weltverän-
dernde Arbeit des Menschen ist. Daß der Mensch seine Welt und damit
sich selbst durch die alles verwandelnde Tätigkeit der Arbeit hervor-
bringt, ist auch die einzige fundamentale Einsicht, die Marx der Phäno-
menologie des Geistes zu entnehmen wußte. Die Physis, die am Beginn
des abendländischen Denkens alles war und als das ursprünglich selb-
ständige Sein alles Seienden die »natura rerurn« und sogar die »natura
deorurn« bestimmte, ist für das geschichtliche Denken beinahe nichts
und die Geschichte, deren Geschichten die klassischen Philosophen den
politischen Historikern überließen, ist scheinbar alles geworden. Marx
hat mit Vorliebe den Ausspruch von Hegel zitiert, daß selbst der verbre-
cherischste Gedanke großartiger und erhabener sei als alle Wunder des
Sternenhimmels, weil sich der Verbrecher als Geist seines Gedankens
bewußt sei, wogegen die Natur nichts von sich wisse. Marx staunt nicht
mehr über das, was von Natur aus immer so ist, wie es ist, und nicht
anders_ sein kann, sondern er ist empört, daß es in der geschichtlichen
Welt nicht anders ist, als es ist und er will darum die Welt »verändern",
eine Forderung, die naturgernäf nur erfüllbar ist, wenn und soweit die
»Welt« eine solche des Menschen ist.
Das »Materielle« des historischen Materialismus ist also nicht etwa
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die Natur, sondern deren Aneignung durch den Menschen. Wenn Marx
von den »rnateriellen« Lebensbedingungen der Menschen spricht, so
richtet er sich negativ gegen Hegels Ausgang von den Erfahrungen des
»Bewufstseins« und positiv auf die geschichtlichen Arbeits- und Pro-
duktionsbedingungen. In diesem Rückgang auf die so zu verstehende
»rnaterielle« Lebensweise, auf die geschichtlich bedingten Arbeits- und
Produktionsverhältnisse, besteht der einfache und fundamentale Sinn
des »hisrorischen Materialismus«. Seine kritische Zuspitzung stammt
aus Marxens Auseinandersetzung mit dem Idealismus der deutschen
Philosophie, welche die reale Geschichte der Menschheit als eine Ge-
schichte der »Idee«, des »Ceistes« und des »Bewußtseins« konstruiert
hat. Entgegen diesem Ausgang vom Bewußtsein, der von Descartes I
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begründet wurde, formuliert Marx seine materialistische These so, daß I•
er sagt, es sei nicht das »Bewußtsein«, welches das »Sein« bestimmt, Li'
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sondern umgekehrt das materielle das heißt soziale und ökonomische,
überhaupt geschichtliche Sein des Menschen, welches auch sein Be-
wußtsein bestimme. »Man kann« - schreibt Marx - »die Menschen
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durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will,
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Von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren IIll·'
zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzie- T:
r~n. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren
~le indirekt ihr materielles Leben selbst.« Diese Weise der Produktion
1st nicht bloß eine Reproduktion der physischen Existenz, sie ist viel-
tnehr immer schon eine bestimmte Art der menschlichen Tätigkeit, eine
geschichtlich bestimmte Lebensweise. Wie die Individuen ihr Leben
d_urch tätige Hervorbringung von etwas äußern, so sind sie. » Was sie
smd, fällt zusammen mit dem, was und wie sie produzieren.« Die
tnoralischen und religiösen, politischen und philosophischen Ideen,
Welche sich die Menschen von sich und ihrer Welt bewußtermaßen
tnachen, sind nichts Ursprüngliches und Selbständiges, wovon man
:~;gehen __k?nnte, sondern der ideologische Widersche!n ihrer ~irkli-
~ Betat1gung in ihren wirklichen Lebensverhältmssen. Die Ge-
schicht
d e b egmnt
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mcht ·
als sogenannte Ge1stesgesc 111c
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er Erzeugung der primitivsten Mittel zur Befriedigung der elementar-
Slen. ßedüur fmsse.
w · Diese ursprüngliche Geschichte d i ff erenz1ert
· un d er-
M~itert sich mit der Steigerung und Vervielfältigung der Bedürfnisse.
V it der Ausbreitung der verschiedenen Produktionsweisen und des
e erkehrs wird die Geschichte zur Weltgeschichte, der ein Weltmarkt
,ntspncht. Diesen ~,1zialökonomischen Begriff von Weltgeschichte
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ausschließlich geschichtlichen Denkens verkennt. Die nichtmarxisti- Denkens in Frage zu stellen. Eine solche durchaus dogmatische Voraus- I
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sche Philosophie der Geschichte ist gegenüber dem Marxismus ge- setzung unseres heutigen Denkens ist aber der Historismus, der Glaube
lähmt, weil sie ebenso geschichtlich und ebenso ideologisch denkt und an die absolute Relevanz des Relativsten: der Geschichte. Man glaubt
die zur Weltgeschichte verengte Welt verändern möchte - nur nicht so auch im bürgerlich-kapitalistischen Westen, dessen Selbstkritik die
radikal und mit weniger Unkosten. Sie hat, hundert Jahre nach Man,, L_ehre von Marx ist, weder an den Geist des lebendigen Kosmos noch an
entdeckt, daß sich der heutige Mensch »entfremdet« ist; sie weiß sich, em Reich Gottes. Man glaubt nur noch an den »Ceist der Zeit«, den
wie Marx, zwischen eine »altgewordene Welt« und einen neuen ge- Zeitgeist, »the wave of the future«, das »Geschick der Geschichte«,
schichtlichen Anfang gestellt; sie ist, wie der junge Marx, unglücklich vulgär verstanden oder sublim. Daher die hintergründige Verwandt-
darüber, daß die »alten Götter« tot und ein »neuer Gott« noch nicht sc)1aft des idealistischen und materialistischen Historismus mit einem
sichtbar ist; sie ist mit Marx, aber auch mit Nietzsche und Heidegger, seinsgeschichtlichen Denken das scheinbar von Hegel und Marx
überzeugt, daß sich der» bisherige- Mensch verwandeln müsse und da~ gl.etc h weit entfernt ist. '
die ganze bisherige Geschichte der europäischen Welt und ihre~ Ph~- d Die Bewegung von Heideggers »seinsgeschichtlichem« Denken ist
losophie zu Ende ist. Sie nennt sich darum auch gar nicht mehr »Ph•- ~rch ein Woher und Wohin und vor allem durch ein Wogegen be-
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losophie«, sondern ein »Denken des Seins« oder dessen »was iS ''• stunmt
ch , d as d're Bewegung in Gang bringt. Das Wo h er semes · »an f"ang 1·1-
nämlich jetzt und künftig - aber nicht immer! Sie teilt auch auf i~re de;:« und -~ug!eich »½_ünftigen« Denkens ist der griechi~~he Ursprung
Weise die »materialistische- These ' daß nicht das Bewußtsein das Sein,. bendland1schen Uberlieferung; das Wohin ist das Außerste oder
sondern das Sein das Bewußtsein bestimme. Sie glaubt so wenig w~e eschat on einer· ankommenden Weltwende· das Wogegen der Ver f a II d es
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Marx an einen Hegelschen »Weltgeist« und sie ist mit ihm auch dar1111 geschich
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t re en Ursprungs in unser Heute.' Anfang un d En d e, d as F ru-
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einig, daß man den Weg, der zu Hegel führte, nicht fortsetzen k~ ' steste und d s . d · 'Id F "h
as pa teste, sind ein doppel eutiges » Einst«, wer as ru e-
sondern von diesem Gipfel der europäischen Metaphysik herabstei_gell ü~ des Anfangs das Späteste des Endes im voraus entscheidet und
und auf das Absolute und Unbedingte verzichten müsse. Sie ist nicht erboit. Die Geschichte des Seins, heißt es in der Abhandlung über
zuletzt ebenso gottlos wie der Marxismus, obschon sie es nicht so
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250 Mensch und Geschichte
Instanz auf nichts anderes mehr relativ ist, auch nicht auf eine zum
nichtigen Ende entschlossene Existenz. Durch diese Verunklärung der
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Geschichte, welche Hegels historischen Sinn mit Kierkegaards Begriff
vom entscheidenden »Augenblick« kreuzt, trägt Heidegger das moder-
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ne Problem des Historismus in das »bisherige« und »künftige« Wesen
des Seins selber hinein, das vor allem Seienden west, indem es anwest
und abwest, sich entbirgt und verbirgt. Auch die Wahrheit wird zu
einem » Wahrheitsgeschehen«, das sich von Zeit zu Zeit, in »jähen
Epochen der Wahrheit« wendet. Die Wahrheit des Seins hat nun nicht
mehr, wie bei Hegel, die Tendenz, sich immer reicher zu einem »Cei-
sterreich« zu entwickeln, sondern die umgekehrte Tendenz, sich durch
Entbergung im Seienden zu verbergen und zu entziehen.
Heidegger formuliert aufs neue, was schon seit dem Beginn des
l9. Jahrhunderts bis zu Nietzsche in ganz Europa mit wachsender
Eindringlichkeit gesehen und gesagt worden ist. Das Neue daran ist,
daß er, wie G. Benn, die Bewegung des Nihilismus als die Grundbewe-
gung der gesamten Geschichte des Abendlandes behauptet und dieses
an_gebliche Grundgeschehen philosophiegeschichtlich in ein System
?rmgt, indem er alle Erscheinungen eines fortschreitenden Verfalls auf
ih'.en Ursprung aus dem Verfallen an das Seiende, im Vergessen des
Sems, zurückführt. Im scheinbaren Einvernehmen mit dem Weltgeist
als dem Geschick des Seins läßt Heidegger die Weltgeschichte als Ver-
fallsgeschichte vor sich gehen, wobei er, wie Hegel und Marx, das
Gewesene im Licht seiner angeblich notwendigen Folgen rückläufig als
~orgeschichte interpretiert und die denkerische Geschichte des Seins,
die Geschichte der Metaphysik, mit der Geschichte der Welt scheinbar
bruchlos vereint.
Was eigentlich in der gesamten Geschichte der abendländischen
~etaphysik geschieht, ist nach Heidegger das Seinsgeschick, daß »die
u_b_~rsinnliche Welt, die Ideen, Gott, das Sittengesetz, die Vernunftauto-
'h '<l er F orrschritr,
fltat · das Glück der meisten, die · Ku I rur, d'1e z·~1v1·1·isanon,
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1 re bauende Kraft einbüßen und nichtig werden«. Dieser von Nietz-
tche vorgedachte Prozeß der Entwertung aller bisherigen Werte he-
h om.nit in Heideggers Darstellung zugleich eine merkwürdige Anzie-
'f~ngskraft. Er verweist auf ein Künftiges und Kommendes, einen neuen
• g, nach der technisch verfertigten » Weltnacht«. Dem entsprechen
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252 Mensch und Geschichte
gen, was »bisher« noch verborgen ist, weil wir selbst »noch« einem
Weltalter angehören, dem »einst« ein ganz anderes folgen wird, solche
und ähnliche Worte der Zeit erzeugen in Heideggers Rede eine Atmo-
sphäre der Spannung und deuten ein verborgenes Wissen an, das über
das bisher Gesagte hinausgehen soll.
Fragt man sich, ob Heideggers leidenschaftliche Bemühung, das
»Sein « zur Sprache zu bringen und sich mit dessen Geschick ins Einver-
nehmen zu setzen, über ihren persönlichen Ernst hinaus unter einem
»Cesetz« steht, so kann die Antwort in Heideggers eigenstem Sinn nur
lauten: unter keinem anderen als dem der Not und einer »Notwendig-
keit«, die er mit Rücksicht auf jene » Weltnot« geschichtlich auslegt.
Darum kann Heideggers Anspruch auf die Not-wendigkeit seines Den-
kens nur die überzeugen, die mit ihm glauben, daß sein Denken vom
Sein selbst zugeschickt ist und »das Diktat der Wahrheit des Seins« sagt.
Darüber läßt sich vernünftig nicht rechten. Wohl aber kann man die
Frage aufwerfen, ob eine geschichtliche Not, wie groß und bedrängend
auch immer sie sein mag, der wesentliche Beweggrund einer philosophi-
schen Besinnung auf das Wesen des Seins und der Wahrheit sein kann
und ob es die Aufgabe der Philosophie ist, »dem Tiefgang der Welt-
erschütterung zu entsprechen«. Wie sollte sich aber, muß man sich
gegenüber Heidegger fragen, das Wahre und Wesentliche in der Welt
der Geschichte zeigen, wenn diese ein wandelbares Geschick ist, das als
ein solches niemals darüber entscheiden kann, was wahr und was falsch
ist, es sei denn, die Weltgeschichte wäre das Weltgericht. Heidegger
wollte aber von Anfang an das Sein aus der Zeit und die Zeit aus ihr
selbst verstehen, im Gegensatz zur ganzen abendländischen Tradition-
der griechischen wie der christlichen-, die von einem lmmerseienden
und Immerwährenden ausging, um an ihm das zeitlich Vorübergehende
und Unbeständige zu bemessen. Auch Heideggers Grundfrage nach der
»ontologischen Differenz«, dem Unterschied von Sein und Seiendet~,
ergibt sich nicht aus der griechischen Philosophie, die an das Immerset-
ende dachte, sondern aus dem modernen, weltgeschichtlichen Denken,
das Parmenides, Platon und Aristoteles so fern wie nur möglich Isr- ~s
ist, wie es in Heideggers Schrift über den Humanismus heißt, »dte
Erschütterung alles Seienden» im »[etzigen Weltaugenblick«, welche es
notwendig mache, im Unterschied zu allem Seienden, das Sein als
5t
solches zu bedenken. Wer »nur« das Seiende erforsche und »son
nichrs«, verfehle die Seinsfrage, die durch die Erfahrung des NicbtS
hindurchgehen müsse.
Der W eg zu m Historismus 253
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aw Sa111tliche Schriften 1, S . .125 f.