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3 Werke

3.1 Werkphasen höchster Produktivität zwischen 1925 und 1928 mit


vielen Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeit-
schriften sowie einer großen Anzahl unveröffentlich-
Ordnungen des Werks ter Texte (vgl. ebd., 129, 135–140).
Nimmt man die Anzahl Texte als Kriterium, zeigt
Robert Walsers Werk ist ein zerstreutes, dessen Gren- sich folgendes Bild: Walser hat selbst 15 Bücher zur
zen sich in mindestens zweifacher Hinsicht nur Publikation gebracht. Er hat über 1000 Texte (Prosa,
schwer festlegen lassen: Erstens ist der Status des ein- Gedichte, dramatische Szenen) in mehr als sechzig
zelnen Textes, der von einer autorisierten Publikation Zeitschriften, Anthologien oder Jahrbüchern und
bis zum nachgelassenen Entwurf reicht, oft nicht ein- mehr als vierzig Tageszeitungen veröffentlicht. Un-
deutig gegeben, zweitens ›wächst‹ das Werk durch gefähr ein Drittel dieser Texte erschienen auch in von
Editionen nachgelassener Texte sowie durch Funde Walser selbst veranstalteten Autorsammlungen.
bisher unbekannter Publikationen in Zeitungen und Überliefert sind zudem rund 300 Reinschrift-Manu-
Zeitschriften bis heute weiter (vgl. Groddeck 2008). skripte (Prosa, Gedichte, dramatische Szenen), von
Walser selbst hat die – seiner Vorliebe für die ›kleine denen keine Veröffentlichung bekannt ist. Auf den
Form‹ wie der Vielzahl der Publikationsorte geschul- 526 nachgelassenen Mikrogrammen finden sich un-
dete – Zerstreuung, aber damit indirekt auch die ter den von Walser nicht für die Publikation weiter-
›Einheit‹ seines Werks auf die viel zitierte Formel vom bearbeiteten Texten (die gut die Hälfe der Mikro-
»mannigfaltig zerschnittene[n] oder zertrennte[n] grammtexte ausmachen) der »Räuber«-Roman, die
Ich-Buch« (SW 20, 322) gebracht. Mit dem ›Kleinen‹ »Felix«-Szenen und rund 700 kürzere Texte (Prosa-
als gemeinsamem Nenner liegt auch eine werkpha- stücke, Gedichte, dramatische Szenen).
senübergreifende Charakterisierung vor, die sich u. a. Versucht man, Walsers Werk in eine ›Ordnung‹ zu
auf die Form des Prosastücks (vgl. Greven 1987), die bringen, so sind zwei Eigenheiten zu bedenken: Ers-
behandelten Themen (vgl. Kreienbrock 2010) oder tens hat Walser seine Texte häufig, z. T. in unter-
die Schreibverfahren und die Poetik (vgl. Schuller schiedlichen Fassungen, mehrfach publiziert: als un-
2007; Scheffler 2010) beziehen lässt. selbständige Publikationen, nach Möglichkeit in
Walsers Werk setzt sich zusammen aus Buchpub- mehreren Publikationsorganen, und gesammelt in
likationen (drei Romane, eine Erzählung, elf Samm- Buchpublikationen. Zweitens sind die Texte unter-
lungen von Prosa, Gedichten, dramatischen Texten), schiedlich überliefert, d. h. während einzelne Texte
verstreuten unselbständigen Publikationen (Prosa- als Bleistiftentwurf, Reinschrift in Tinte und Zeit-
stücke, Gedichte, dramatische Texte), nachgelasse- schriftenpublikation vorliegen, hat sich von vielen
nen Texten (ein Roman, Prosastücke, Gedichte, dra- Texten nur eine der genannten Textstufen erhalten.
matische Szenen und Dialoge) sowie rund 750 über- Dies lässt in Bezug auf das gesamte Werk sowohl eine
lieferten Briefen. textgenetische Anordnung zu, die bei den überliefer-
Nimmt man den Textumfang als Kriterium, so ten Manuskripten ansetzt, als auch eine publikati-
wurden fast 60 Prozent dieses Werks zu Lebzeiten onsgeschichtliche Anordnung, die bei den von Wal-
Walsers publiziert, während gut 40 Prozent als Rein- ser autorisierten Veröffentlichungen ansetzt (s. Kap.
schrift oder Mikrogramm-Entwurf überliefert sind 2.6). In Bezug auf das publizierte Werk wäre dann
(vgl. Greven 2004, 134). In der zeitlichen Entwick- entweder die unselbständige Publikation in Zeitun-
lung zeigen sich »enorme[] Auf- und Abschwünge gen, Zeitschriften etc. oder aber die (zeitlich meist
seiner Produktivität«, wobei sich drei Phasen beson- nachträgliche) Buchpublikation prioritär zu behan-
ders hoher Produktivität ausmachen lassen: eine deln. Die literarische Gattung hingegen bleibt als
erste mit den drei Berliner Romanen zwischen 1906 Ordnungskriterium dem Werk eher äußerlich, da
und 1909, eine zweite mit zahlreichen Veröffentli- Walser für die verschiedenen Schriftmedien Texte al-
chungen in Zeitschriften/Zeitungen und/oder Bü- ler Gattungen verfasste und sich außerdem gerade
chern zwischen 1913 und 1920 sowie eine Phase bei den Mikrogrammen Prosa, Lyrik und dramati-
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sche Texte zuweilen auf demselben Schriftträger fin- für Leser/-innen ohne entsprechende Vorkenntnisse
den. Je nachdem, nach welchem Kriterium Walsers zugänglich machen. Es bot sich daher an, verschie-
Werk angeordnet wird, ergibt sich also ein anderes dene der genannten Kriterien mit- und nebeneinan-
Bild. Insofern bleiben produktionsästhetische Auf- der anzuwenden. Walsers ›Prosastückligeschäft‹ an-
fassungen einer ›Werkentwicklung‹ – von der Blitz- gemessen wäre sicherlich eine Betrachtung der ein-
karriere als Romanautor zum Meister der kleinen zelnen Texte nach der Erstveröffentlichung meist in
Form und Virtuosen der Mikrographie – ebenso wie Zeitungen und Zeitschriften; dennoch wurde die
rezeptionsgeschichtliche Fokussierungen – insbe- Buchpublikation als Ordnungseinheit priorisiert,
sondere die Verschiebung vom Früh- zum Spätwerk zum einen aus Gründen der Übersichtlichkeit, zum
– tendenziell einseitig. anderen, weil Walser die Komposition seiner Samm-
Der Darstellung von Walsers Werk innerhalb des lungen nach Möglichkeit wesentlich mitbestimmte.
Handbuchs wurde indes aus pragmatischen Grün- Mit der Priorisierung der Buchpublikationen eröff-
den ein äußeres Kriterium zur Unterscheidung von net das Handbuch zudem einen Blick auf Einheiten
Werkphasen zugrunde gelegt, nach dem meist auch innerhalb von Walsers Werk, die in der Forschung
die biographischen Darstellungen organisiert sind bisher noch zu wenig berücksichtigt wurden.
(vgl. u. a. Mächler; Echte), nämlich die Aufent-
haltsorte des Autors. Diese Periodisierung hat sich in
der Walser-Forschung eingebürgert und wird oft Periodisierung
nicht nur als biographisches Raster verstanden, son-
dern auch inhaltlich profiliert, um – nicht unumstrit-
Frühe Werke (1898–1905)
tene – Werk- und Stilentwicklungen zu bezeichnen.
Die Unterscheidung »schroff voneinander« abgeho- Walsers veröffentlichtes Werk hat zwei Ausgangs-
bener Einheiten innerhalb des Werks, wie sie etwa punkte: Im Sonntagsblatt des Bund erscheinen ab
Jochen Greven in existenzphilosophischer Perspek- 1898 erste Gedichte sowie Fritz Kocher’s Aufsätze, die
tive anhand von zwei komplementären, sich abwech- 1904 zu Walsers erster Buchpublikation versammelt
selnden »Haltungen« zur Welt vorgenommen hat und von der Kritik relativ breit wahrgenommen wer-
(vgl. Greven 1960/2009, 165–169), ist allerdings – den. In der Zeitschrift Die Insel erscheinen seit 1899
vor allem durch das erst seit den 1960er Jahren in sei- Gedichte, Prosa und dramatische Texte (meist als
nem ganzen Umfang zutage getretene Berner Werk ›Dramolette‹ bezeichnet und erst 1919 unter dem Ti-
– einer differenzierteren Sicht gewichen. Tatsächlich tel Komödie in Buchform veröffentlicht). Insbeson-
gehen aber die Ortswechsel in Walsers Biographie dere die Märchendramolette Aschenbrödel und
auch mit einer (partiellen) künstlerischen Neuaus- Schneewittchen haben aufgrund ihrer Komplexität
richtung und ‑positionierung innerhalb des Litera- und kunstvollen Gestaltung bis heute große Beach-
turbetriebs einher. Daneben ließen sich aber selbst- tung gefunden. Eine Auswahl von meist zuvor ver-
verständlich eine ganze Reihe weiterer Kriterien zur streut erschienener Lyrik veröffentlicht Walser 1909
Unterscheidung von Werkphasen in Anschlag brin- unter dem Titel Gedichte in Buchform. Aus der Zeit
gen, etwa: die thematische Ausrichtung der Texte um 1900 stammen zwei längere Manuskripte, die erst
(zwischen Großstadt- und Naturwahrnehmung etc.; in den 1970er Jahren veröffentlicht worden sind: die
s. Kap. 4.15 u. 4.14), die Traditionsbezüge und Lektü- Gedichte aus dem Manuskript Saite und Sehnsucht
ren (s. Kap. 2.8), die Gattungen und Gattungstraditi- sowie die Dialekt-Szenenfolge Der Teich.
onen (vom Dramolett, dem Aufsatz über die Novelle
und dem Roman hin zu den verschiedenen Formen
Berliner Zeit (1905–1913)
des Feuilletons; s. Kap. 4.4), das Verhältnis von ›rea-
listischem‹ Weltbezug und autopoetischem Sprach­ Walsers Umzug nach Berlin geht mit einer themati-
experiment, die Positionsnahmen bzw. ‑verweige- schen Neuausrichtung und einer Gewichtsverlage-
rungen gegenüber der ›Jetztzeit‹, die Ausbildung un- rung hinsichtlich der Gattungen einher. Mit der
terschiedlicher Schreibverfahren oder die verschie- Großstadterfahrung und dem Theaterbetrieb durch-
denen Publikationsmedien und Publikationsräume. ziehen zwei Themen seine Produktion kürzerer
Die Anordnung innerhalb des Handbuchs soll in Texte, in denen sich Walsers produktive Auseinan-
der Feingliederung sodann einerseits die komplexe dersetzung mit der Moderne inhaltlich und formal
Entstehung und Überlieferung von Walsers Werk be- artikuliert. Walser veröffentlicht Feuilletons in einer
rücksichtigen und dieses andererseits trotzdem auch großen Zahl von Zeitungen und Zeitschriften; diese

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