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 Editorial
Februar 2018

behauptet, die Konzentration der Gedanken den Kör

per beeinflussen? Warum sollte stilles Sitzen gar zu
mehr Mitgefühl und Achtsamkeit führen? Und was
ist das überhaupt: Achtsamkeit?

sche Fall eines harten, weil schwer zu durchschauen

den Problems. Und bislang nur unzureichend erforscht.
Umso wichtiger sind Versuche, wie wir sie in der
Titelgeschichte beschreiben (Seite 44). Die Leipziger
Neurowissenschaftlerin Tania Singer hat mit ihrem
Team das weltgrößte Experiment unternommen, die
Geheimnisse der Meditation zu entschlüsseln.
Der Aufwand, den ihr Institut dafür betreibt, ist
Meditieren hoch – aber nur so können wir hoffen, überhaupt
für die Forschung: Aufschluss zu gewinnen. Die Ergebnisse bestätigen

städter hat an der tation und ihre wohltuende Wirkung auch auf den
bislang größten Körper. Sie zeigen zugleich, dass verschiedene Übun
Meditationsstudie
Liebe Leserin, lieber Leser, gen sehr verschiedene Effekte auslösen.
teilgenommen –
Nicht jede Meditation ist für jeden Menschen
über den Weg
die harten Naturwissenschaften seien so erfolgreich, vom Zweifel zu
und für jeden Zweck geeignet, was die Suche nach
bemerkte einmal der Physiker Heinz von Foerster, innerer Ruhe
weil sie es mit vergleichsweise weichen Problemen zu berichtet er ab aber ebenso vor Enttäuschungen bewahren kann.
tun haben. Und die weichen Wissenschaften müssten Seite 44 Und noch eines belegt diese Forschung: dass auch
mit den wahrlich harten Problemen kämpfen – und Themen, die im Verdacht stehen, allzu weich zu sein,
hätten daher bislang nur wenig gesichertes Wissen
erlangt. chend wissenschaftlich gehärtet werden.
Der Gedanke missfällt anderen Physikern und
Biologen, die nicht den Eindruck haben, dass Quan
tenmechanik und Genetik es ihnen leicht machen. Er Herzlich Ihr
missfällt auch Psychologen und Soziologen, die ihre
Titelfoto: Getty Images, Montage: Svenja Kruse

Erkenntnisse nicht für so läppisch halten.

Und doch ist etwas Wahres daran: Alles Mensch
liche ist deutlich schwerer zu erforschen als die Natur.
Weil wir nicht Partikel sind, die sich stets gleich ver Christoph Kucklick
halten, sondern höchst veränderliche, reflektierende
Wesen. Und weil einzelne Faktoren im verwickelten
Netz der Menschenwelt so schwer zu isolieren sind. Besuchen Sie uns auf facebook.com/geomagazin
oder schreiben Sie uns: briefe@geo.de
ZUR GRUPPE DER VERTRACKTEN Phäno
mene gehört die Meditation: Was geschieht eigentlich
mit uns, wenn wir meditieren? Wieso sollte, wie oft

GEO 02 2018 3
 Inhalt Februar 2018

28 IHR TÄGLICH BROT

Was wir essen, verrät viel über unsere Herkunft
und unsere Kultur. Ein Fotograf hat Kinder in
aller Welt besucht und sich zeigen lassen, was
bei ihnen auf den Teller kommt.
Von Gregg Segal

44 TITELTHEMA: DIE KRAFT DER MEDITATION

Achtsamkeit und Mitgefühl, Konzentration
und Körperwahrnehmung lassen sich lernen –

studie, das Leipziger Projekt »ReSource«.

Von Philipp Brandstädter und
Roman Pawlowski

62 DIE SONNE AUF ERDEN Stalins Schergen ließen

Die Verschmelzung von Atomkernen setzt Stepan Karagodin hin-
ungeheure Energie frei. Findige Entwickler richten. Dessen Urenkel
will nun Gerechtigkeit.
wollen damit die Menschheit versorgen.
Sein Wühlen in der
Wer schafft es, das erste Fusionskraftwerk Vergangenheit versetzt
der Welt zu bauen? Russland in Aufruhr
Von Martin Schlak und Ian Allen

76 SCHAU AN!
92
Chamäleons sind Zauberkünstler: Sie narren
Forscher mit verblüffenden Tricks und tauchen
in immer neuen Arten auf. Wo? Auf Mada
gaskar, im exklusivsten Tierreich der Erde.
44
Jeder elfte Erwachsene
Von Andreas Weber und Christian Ziegler in Deutschland me-
ditiert, Trendforscher
sprechen von einer
92 KARAGODIN GEGEN STALIN »Ära der Achtsamkeit«.
Doch welche Übungen
In der Weite Sibiriens, an einem Ort früherer
machen tatsächlich
Verbannung, begehrt ein Mann gegen das Ver achtsamer und
gessen auf – und wagt das Ungeheuerliche: Er mitfühlender? Eine
will dem toten Diktator den Prozess machen. große Vergleichsstudie
Von Alexandra Rojkov und Rena Effendi gibt Antworten

4

76
Chamäleons können
die Augen einzeln
bewegen, mit der Zunge
schießen, plötzlich die
Farbe wechseln. Viele
dieser bizarren Echsen Was Kinder in einer Woche so essen,
leben ausschließlich
auf Madagaskar – und
bescheren Forschern
liche Entdeckungen
112
Wo liegt Indiens
Zukunft? Das Land
lässt sich am besten
per Zug erkunden:
Zwei GEO-Reporter
reisten, mit viel Geduld
im Gepäck, von
Mumbai nach Kolkata
GEO 02 2018
112 EIN LAND TRÄUMT ZUKUNFT — TEIL 1
Indien steht vor dem »Gewaltigen Sprung«
in Richtung Fortschritt. GEO-Reporter durch-
queren den Subkontinent per Zug – und tref -
fen im ersten Teil der Reise einen Kinderretter
und einen bemerkenswerten Unternehmer.
Von Michael Stührenberg und Giulio Di Sturco
12 KOSMOS
Unterwegs mit Zirkuskünstlern in Uganda,
bei Meerechsen im Pazifik und bei Schlitt -
schuhläufern auf dem Dach der Welt
19 HORIZONTE
In China werden Friseure militärisch gedrillt,
Kolumbiens Kaffeebauern erleben einen
Boom, und in Neuseeland lernen Kinder
Jagen, Flechten, Feuer machen
90 FORUM
Warum ist die Astrophysik so erfolgreich?
Weil sie forscht wie Sherlock Holmes,
erklärt Sibylle Anderl
hier bei Andrea Testa in Italien
103 361°
28 Wie wirken Placebos? Verstehen wir
Hunde? Werden wir immer narzisstischer?
Antworten auf diese und weitere Fragen
136 GEO TELEVISION
»Qatar’s Workers Cup« – eine Dokumen-
tation über das Leben der Bauarbeiter im
WM-Ausrichtungsland Katar
138 WELTBÜRGERIN
Oscarine Marie Catherine Ineza aus Togo
6 Unterwegs
8 Resonanz, Leserservice
111 Impressum, Fotonachweise
130 GEO-Tag der Natur 2018
132 GEO Erleben
134 Die Welt von GEO
137 Vorschau
»Durch Meditation gewinne
Fast unerschöpfliche Energie
könnte die Kernfusion der
ich Kraft. Ich kann mich
Menschheit bringen – die
ersten Prototypen sind
neu ausrichten, mehr aus -
bereits in Betrieb halten, innerlich heilen«
62 ISABEL VIRAMO VON ROON, SEITE 44
5
 Unterwegs
GEO-Reporter auf Recherche

Meditation
bedeutet Stille
Noch nie sprach
Fotograf Roman
Pawlowski (l.) so
wenig mit den
Menschen, die er
porträtierte. Denn
sie meditierten vor
seiner Kamera: auf
dem Friedhof, in
der U Bahn, bei sich
zu Hause. Seite 44

Im Reich der Echsen

Wenn das Model die Utensilien isst
Der Fotograf Gregg Segal hatte beim Shooting mit vielem
gerechnet – aber nicht mit hungrigen Kindern
Als Jungtier passt das Parsons Chamäleon auf
Christian Zieglers Daumen, später wird es groß
wie eine Katze. Der Naturfotograf hat Dutzende
trätiert – um zu zeigen, was für ein fantastisches
Tierreich dort auf dem Spiel steht. Seite 76

Etwa 40 Kinder, sieben Länder und mehr als 600 Mahlzeiten: Der
amerikanische Fotograf Gregg Segal (im Hintergrund, am Rechner)
wusste von Anfang an, dass sein Vorhaben ehrgeizig war, Essgewohn
heiten von Kindern rund um den Globus zu dokumentieren. Jeweils
eine Woche ließ er sie notieren, was sie auf dem Teller hatten. Als die
Listen fertig waren, kochten Köche und Eltern die Speisen nach.
Während der Shootings bat Segal seine kleinen Modelle um etwas, das
Kinder eigentlich nicht gern tun: ganz still halten! Malheurs geschahen
dennoch. Kinderhände landeten in der Suppe, Eis schmolz dahin,
und manchmal fehlte plötzlich ein Essen auf dem Foto: Das Kind hatte
es in einem unbemerkten Moment einfach aufgegessen. Seite 28

Persönliche Geheime
Nahaufnahme Sonnenmaschine
Sollte der russische Lange arbeitete Tri
Diktator Stalin posthum Alpha Energy im Verbor
als Mörder angeklagt genen, hatte nicht einmal
werden? Der Fotografin eine Internetseite. Der
Rena Effendi (r.) ging ehrgeizige Plan der
das Thema nahe: Auch US Firma: der Bau eines
ihr Großvater Mamed Fusionskraftwerks, das
Emin Effendi, Geologe, fast unerschöpflich Ener
gie liefert. Fotograf Ian Allen (l.) und GEO Redakteur Martin
gime in ein Arbeitslager Schlak (r.) gehörten zu den wenigen Journalisten, denen Firmen
geschickt. Seite 92 gründer Michl Binderbauer seine Maschine zeigte. Seite 62

6 GEO 02 2018
Gemeinsam #AllemGewachsen
 Resonanz
Ihre Briefe und E-Mails an GEO

GEO-AUSGABE DEZEMBER 2017

Moral
Es ist immer wieder interessant zu
sehen, wie Wissenschaftler Hinweise fin-
den und daraus Konzepte entwickeln, die
im Grunde das Welt- und Menschenbild
der Bibel bestätigen. Die innere Stimme,
die zu moralischem und altruistischem
Handeln mahnt, nennt die Bibel das von
Gott tief in die Menschen eingepflanzte
Gewissen. Und auf der anderen Seite steht
der Gegenspieler Gottes, der den Men -
schen zu rein egoistischem Handeln ver-
führen will. Die Wissenschaftler suchen
die Ursprünge dieser antagonistischen
Kräfte in der Evolutionstheorie.
Jürgen Bartosch, Ditzingen

Empathie und moralisches Verhalten
sind angeboren. Strenge Erziehungsmaß -
nahmen, religiöse oder philosophische
Belehrungen sind dafür keine Vorausset-
zung, können sogar eher kontraproduktiv
sein, sagt der Zeitgeist. Aber wieso nagen
weiter Zweifel und Misstrauen? Allzu viel
hatte ich wohl in Kirche und Schule über
Erbsünde gelernt. Und mein Vater hatte
erklärt: „Homo homini lupus“, der Mensch
ist dem Menschen ein Wolf. Er hatte den
Zweiten Weltkrieg erlebt.
Nun kommt der Artikel von Chris tian
Schwägerl gerade recht. Er zeigt, wie die
Wissenschaft den Zeitgeist auf breitester
Front bestätigt: durch psychologische Be-
obachtungen an Kindern und Erwachse -
nen, durch MRT-gestützte Hirnforschung,
durch Simulation evolutionärer Entwick-
lungen und durch die Erforschung der
menschlichen Früh geschichte. Alles sehr
plausibel, dazu sprechende und berühren-
de Bilder.
Das alles entlastet Eltern und Gesell -
schaft natürlich nicht von pädagogischer
Verantwortung. Aber die menschliche Na-
tur muss nicht länger verbissen bekämpft,
sondern nur noch gefördert werden. Wel-
che Erleichterung!
Friedrich Thimme, Seevetal
Warum helfen Menschen einander? Forscher entschlüsseln die Moral
Lebensmittelindustrie tion der UNO nennt ein Volumen
von knapp 600 Millionen Tonnen von
In der Fotoreportage verkünden Sie
264 Millionen Rindern.
eine globale Milchproduktion von mehr
als einer halben Milliarde Liter jährlich
aus fast 270 Millionen Eutern. Dies ent - Kosmos
spräche einer Milchleistung von 2 Litern
pro Rind und Jahr. Die 7,5 Milliarden Mit viel Freude habe ich das Bild
Menschen weltweit müssten weitestge- von den mongolischen Nomaden betrach -
hend auf Milchprodukte verzichten. tet. Ich war in diesem Jahr mit dem Rad
Udo Kreutzer, Coburg in der Steppe unterwegs. Es ist so wunder-
schön, die Menschen in ihrer Landschaft
Antwort der Redaktion: Tatsächlich und ihre Lebensweise kennenzulernen und
ist uns hier ein Fehler unterlaufen, gemeint sich darauf einzulassen.
sind Tonnen. Die Ernährungsorganisa- Regina Sagner, via E-Mail
»Noch nie habe ich einen verständigeren,
kenntnisreicheren, ich möchte
fast sagen gläserneren Artikel über
Nordkorea gelesen als diesen«
CARL ULLRICH, FREIBURG, ZUM INTERVIEW MIT
ANDREI LANKOW IN DER GEO-AUSGABE DEZEMBER 2017

8 GEO 02 2018
Für ein entspanntes
Älterwerden.

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 GEO-AUSGABE NOVEMBER 2017
Akkus für E-Autos
Der Artikel „Die perfekte Zelle“ war
ausgezeichnet. Ich hätte nicht gedacht,
dass es so aufwendig ist, eine Batterie für
die E-Autos herzustellen. Ich plädiere
stattdessen für Schwungräder. Diese sind
wohl energetisch günstiger in der Herstel-
lung, verleihen dem Auto eine größere
Reichweite und lassen sich aus Kunststoff
herstellen – dieser ist reißfester als Metall.
So kann man auf höhere Geschwindigkei -
ten beschleunigen und mehr Energie spei -
chern. Wenn man die Schwung räder im
Vakuum rotieren lässt, mit elektromagne-
tischer Aufhängung, geht kaum Energie
verloren, auch das Auftanken dauert nicht
so lange.
Christoph Hiller, Tuttlingen
Hypochonder
Vielleicht kann ich diesen geplagten
Menschen ein bisschen helfen: Ich war mit
30 sicher, dass ich keine 40 Jahre alt werde.
Ich hatte Lungendrüsen mit sieben, Scheu-
ermann mit 16 und war über Jahrzehnte
Sommer und Winter erkältet. Ärzte konn -
ten da nur bedingt helfen. Nun bin ich 86.
Georges Graff, Leibertingen
DAS LESERFOTO DES MONATS
Lawinen, Winde und Schmelzwasser formen die Eiskapelle am Fuße der
Watzmann-Ostwand beständig um. Claudia Gregor aus Regensburg besuchte
die Höhle nach einer Wanderung vom Königssee. Mitmachen: geo.de/leserfoto
10
G E O - A U S G A B E O K T O B E R 2 0 1 meinte,
361 Grad: Genforschung
für den Weltraum
Tauscht man den Beruf des Astro- war ein Fehlgriff. Innovation und neues
nauten gegen den des Soldaten oder gegen Wissen bedeutet Unwissen über die damit
„produktive Arbeitnehmer“, werden die be- einhergehenden Effekte und ist fast not -
schriebenen Forschungsarbeiten zur bio- wendig mit Naivität hinsichtlich ihrer
logischen Ausbeutung des Menschen zum Nützlichkeit verbunden.
Engagement für eine scheußliche Lebens -
welt. Kaum geboren, kann genetisch auf
Tauglichkeit vermessen werden, lassen sich
bei Neugeborenen Potenziale für Gewin-
ner und Verlierer festlegen.
Wer auf die Ethik von klugen Wis -
senschaftlern setzt, muss realisieren, dass
der Arbeitsschutz für junge Wissenschaft-
ler gezielt zur Verstärkung des Wettstreits
verringert ist, die Ausbildung zunehmend
auf einseitige Spezialisierung setzt und
kaum eine andere soziale Gruppe mehr
unter Karrieredruck gesetzt wird.
Fraglos liegen in der Gentechnik und
dem Wissen über Genome entscheidende
und positiv nutzbare Potenziale. Rational
und achtsam begleitet kann dieser Wis -
senszweig einige Hoffnungen einlösen.
Der Umgang mit diesen Potenzialen
erinnert aber an den klugen Edgar Allan
Poe, der Quecksilber als Mittel zur Kon-
servierung von Holzstraßen empfahl und
7 damit ein Konzept gegen den Ver-
kehrslärm in New York gefunden zu haben.
Er wusste nichts von der Giftigkeit des
Quecksilbers, und das Thema Holzstraße
Jörn Kohlus, Tönning
»Ein großes Lob für
die großartigen Repor -
tagen. Ich bin Abon -
nent seit dem ersten
Tag und habe alle Aus -
gaben bis auf eine, die
verloren gegangen ist«
CHRISTOPH GREIN, GREIFENBERG
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GEO 02 2018
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Alma Bestvater ist im wahrsten Sinne des Wortes an die Spitze geklettert. Denn sie gehört zu den weltweit besten
Frauen im Bouldern, einer Variante des Extremkletterns. Erste Erfahrungen sammelte sie im Thüringer Wald, wo
sie noch heute regelmäßig klettert. Kein Wunder also, dass sie ihr Sportstudium in Jena begonnen hat. Zumal sie
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Geschichte und weitere Gründe, nach Thüringen zu kommen, lesen Sie unter www.das-ist-thueringen.de.

Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft

 KOSMOS Die Welt in Bildern
Unterwegs mit Zirkuskünstlern in Uganda, bei Unterwasser-Godzillas auf
den Galápagosinseln und Schlittschuhläufern auf dem Dach der Welt

12 GEO 02 2018
UGANDA
Vor dem Auftritt
Feuerschlucker Patrick
Kilama probt für die Show des
einzigen Zirkus von Uganda:
Der Hiccup Circus – Schluck -
auf-Zirkus – besucht Schulen,
Slums und Flüchtlingscamps.
Dort wollen die Künstler
ihre Zuschauer nicht nur mit
Jonglagen, Akrobatik und
Tanz verzaubern und Kindern
einfache Kunststücke bei -
bringen. Sondern dabei auch
aufklären über Themen wie
Umweltschutz, Aids und Sucht

13
 ECUADOR
Godzilla auf
Tauchgang
Sie seien plump und
hässlich, fand Charles Darwin,
der die Meer echsen für die
abscheulichsten Leguane der
Welt hielt. Heute zeigen sich
Zoologen fasziniert: Die
Reptilienart hat sich genetisch
extrem angepasst. Heimisch
nur auf dem Archipel von
Galápagos, haben sich auf den
Inseln zahlreiche Unter arten
entwickelt. Eine davon wurde
2017 nach dem Kino-Monster
Godzilla benannt. Als einzige
Echse weltweit sucht die
Meerechse ihre Nahrung, vor
allem Algen, unter Wasser

14
GEO 02 2018 15
 INDIEN
Balanceakt auf
dem Dach der Welt
In den USA trainierte
Ian Andersen Eishockey-Profis,
heute will er den Sport auch
in den entlegensten Winkeln
der Welt populär machen.
Etwa in Ladakh: In der Region
ist es im Winter drei Monate
lang so kalt, dass die Schulen
schließen müssen. Dann
treffen sich die Kinder auf den
zugefrorenen Seen des Hoch-
gebirges. Bei Andersen lernen
sie, die Balance zu halten,
eine Hilfsorganisation spendet
gebrauchte Schlittschuhe

16 GEO 02 2018
17
Deutschlands Erfinder-Show

DAS DING
DES JAHRES
AB FREITAG • 9. FEB • 20:15
DANACH SAMSTAGS

WE LOVE TO ENTERTAIN YOU

 Horizonte
Unterwegs in der Welt
VIETNAM

Das Flair
der Straße
Mobile Händler
und Garküchen sollen aus den
Städten Südostasiens ver -
schwinden – zum Leid wesen
der Einheimischen

Frischen Fisch tragen die Frauen

gut sichtbar am Haken spazieren, Ge -
müse hängen sie in Bäume, und Schwei-
nefleisch lässt sich auch auf dem Dach
grillen – kommt ein Kunde, wird die
Mahlzeit per Seil hinabgelassen.
Vietnams fliegende Händler innen
sind einfallsreich, wenn es darum geht,
die jüngsten Verbote zu umgehen: Seit
einem Jahr sind in Hanoi und Ho-Chi-
Minh-Stadt offene Garküchen und mo-
bile Verkaufstheken verboten.
Dabei sind die einfachen Stände
dort ein bedeutender Wirtschaftsfak -
tor: Elf Prozent aller Arbeitskräfte in
beiden Städten sind Straßenverkäufer.
Doch die Regierung will das Stadtbild
säubern, der Gehweg soll wieder den
Fußgängern gehören, die Hygiene ver-
bessert werden.
Auch in Indonesien und Thailand
wurden die charakteristischen Buden
verboten. Gourmets sorgen sich seither
um die Streetfood-Kultur der Länder,
Touristen um das Flair der südostasia-
tischen Städte. Das zeigt nun Wirkung:
Einige Behörden erwägen, das Verbot
wieder zu lockern.

Handel vom Fahrrad aus

ist in Hanoi seit Jahrzehnten
üblich. Jetzt müssen die
Verkäufer fliehen, wenn die
Polizei naht

GEO 02 2018 19
 CHINA

IM
GLEICHSCHNITT,
MARSCH!
Friseure und Visagisten gelten
als Experten fürs Leichte und Schöne.
In China lernen sie auch Marschieren,
Singen und Tanzen auf Befehl

Jeden Morgen um 7 Uhr treffen sich

die Azubis zum Appell: Strammstehen in
Uniform, ein formierter Marsch über den
Innenhof, dann schwören die jungen Män -
ner und Frauen ihrem Arbeitgeber Treue.
Scheppernd setzt Musik ein, die Schüler
beginnen in Position zu tanzen. Bis in den
späten Abend hinein wird ihr Arbeitstag
noch dauern.
Tanzen und Marschieren, Yin und
Yang, das Fröhlich-Weiche und das Mili-

»Unsere Auszubildenden
müssen Soldaten gleichen: Sie
sollen Befehle befolgen«

Warten auf Kund-

tärisch-Harte seien stets Bestandteil der schaft: Friseur-
Appelle, erklärt Chen Hao, Leiter der Fri - Azubis schneiden
seurschule in Shanghai. Sie gehört zum Haare kostenlos
Unternehmen Wengfeng, einer der führen- und auf offener
den Beauty-Ketten in China. Straße
In jeder größeren Stadt des Landes
betreibt Wengfeng Filialen. 10000 Mit -
arbeiter bieten Haarschnitte, Gesichtsmas -
sagen und Make-up an. Eine Behandlung
kostet gerade einmal vier Euro.
Damit die Salons landesweit vergleich- Wie beim Militär informieren die Sterne
bare Qualität bieten, setzt die Firma auf auf den Schulterklappen über den Rang
militärischen Drill in der Ausbildung. An der jungen Friseurinnen und Friseure

20 Horizonte GEO 02 2018

 sollen Befehle befolgen und einheitlich
handeln“, so Chen. „Aussehen, Körperhal
tung, Kleidung – all das haben wir stan
dardisiert.“
Fünf neue Haarschnitte lernen die
Azubis pro Woche, zum Üben dürfen sie
sich nach einigen Wochen Modelle in der
Innenstadt von Shanghai suchen: Ihnen
schneiden die Schüler die Haare gratis.
Pro Jahr absolvieren 3000 Lehrlinge
die Kurse, während ihrer Ausbildung woh
nen sie auch auf dem Campus. Liebesbe
ziehungen sind dort untersagt; die jungen
Männer und Frauen sollen sich aufs Ler
nen konzentrieren. Ihr Benehmen wird per
Video überwacht: In den Unterrichts und
Links: Kritisch Übungsräumen sind Kameras installiert.
prüft der der hauseigenen Schule lernen die ange
Ausbilder die
henden Friseure zum Beispiel neue Haar teilnehmer während des Unterrichts auf

Fotos: Jonathan Browning

Arbeit der
schnitte im Gruppenunterricht: In syn ihr Handy schauen, einnicken oder gelang
Azubis. Oben:
Junge Friseure,
chronen Bewegungen schneiden sie Ponys, weilt Arbeitsblätter bekritzeln.
angetreten zum Manche Azubis gewinnen der Stren
Abendappell triert die Choreografie an Frisierköpfen ge etwas ab: Zu Hause sei er aufgestanden,
mit Kunsthaar und bellt seine Anweisun wann er wolle, erinnert sich der Schüler
gen in den Klassenraum. „Unsere Auszu Zhou Jie. „Aber hier herrschen strikte Re
bildenden müssen Soldaten gleichen: Sie geln – das hilft mir für die Zukunft.“

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Ernte des Friedens

Seit Ende des Bürgerkriegs in Kolumbien können Bauern vielerorts zum ersten Mal seit 50 Jahren
wieder ihre Felder bestellen. Das lässt die Kaffeepreise sinken

Erst vor einem Jahr verließen die

schon übernehmen Kaffeebauern wieder

die Kultivierung des Hochlands. Allein in
die besonders fruchtbare Region nahe Me-
dellín sind bereits Tausende von Kaffee-
bauern zurückgekehrt.
Nach 50 Jahren Bürgerkrieg dürfte
Kolumbien damit ein neuer Kaffeeboom
bevorstehen. Bis 2020 könnte die Produk-
tion zum Beispiel bei der begehrten Sorte
Arabica um ungefähr 40 Prozent zulegen,
schätzt die Regierung in Bogotá.
Weil Kolumbien nach Brasilien und
Vietnam bereits heute drittgrößter Kaffee -
produzent ist, würden wohl Genießer welt-
weit diese Entwicklung spüren: 13 Prozent
mehr Kaffee aus Kolumbien könnte künf-

und so die Preise drücken. Zurück im Hochland: Kaffeepflanzen erobern wieder die Anden Kolumbiens

NIEDERLANDE In den Niederlanden gehören sie zum gewohnten

STECKER AN DER TANKE
Europas Autobahnen rüsten um: Immer mehr
Tankstellen bieten Ladestationen für Elektroautos
Bild: Raststätten mit Lade säulen für Elektroautos. Allein
das niederländische Start-up Fastned betreibt an den Auto -
bahnen des Landes 63 solcher Stationen. Sie laden Fahr-
zeuge innerhalb von 20 Minuten wieder voll auf und nutzen
dafür ausschließlich Ökostrom.
Nun will das Unternehmen auch nach Deutschland
expandieren und plant 25 Ladestationen an Autobahnen
und Schnellstraßen. Die Bundesregierung fördert das Vor-
haben mit mehr als vier Millionen Euro. Ziel von Fastned
ist ein europaweites Netz von E-Tankstellen. „Wir sind die
Shell der Zukunft“, so Geschäftsführer Michiel Langezaal.
An der Umrüstung europäischer Tankstellen wollen
auch Auto- und Mineralölkonzerne verdienen. Mehrere
führende Autobauer haben zum Beispiel gemeinsam das
Joint Venture Ionity gegründet, das 400 Ladestationen ent -
lang der wichtigsten Verkehrswege in Europa errichten will.

Bei Autobahnfahrten soll ein Netz

von Ladestationen Elektro autos versorgen

22 Horizonte GEO 02 2018

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Jahr 2015 besonders stark heimsuchte.
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Weltweit müssen mehr als zwei Milliarden Menschen Wasser nutzen, soll jeder Filter reinigen können. Das
das durch Fäkalien verseucht ist. Viele sterben daran. Ein Projekt bringt reicht aus, um 100 Menschen fünf Jahre
deshalb Wasserfilter in entlegene Gebiete – mithilfe von Touristen lang mit 20 Liter Trinkwasser täglich zu
versorgen – oder eine Familie ihr ganzes
Leben lang.
50 Euro kostet das Überleben: 50 Die US amerikanische Organisation Gegründet wurde das Projekt 2009
„Waves For Waters“ bittet deshalb Men von Jon Rose. Der ehemalige Profi Surfer
filter, der verschmutztes Wasser trinkbar schen um Hilfe, die gern in entlegene Re war ein Jahr zuvor während eines Surftrips
macht. In vielen Regionen der Welt ist gionen der Erde reisen: Surfer, Backpacker, Zeuge eines Erdbebens in Sumatra gewor
sauberes Wasser ein unerschwinglicher Lu Abenteurer.
xus. Eine halbe Million Menschen sterben Diese suchen mithilfe der Website des filter Leben retten. Seither widmet er sich
jedes Jahr, weil sie verunreinigtes Wasser Projekts Sponsoren, mit deren Geld sie so dem Kampf um sauberes Trinkwasser. Bis
trinken und daran erkranken. Oft leben sie viele Filter kaufen, wie sie problemlos tra heute halfen mehr als 600 Kuriere dabei,
in schwer zugänglichen Gebieten, ohne gen können. Dann brechen sie auf: in die in 75 Ländern der Erde mehr als 4000
Zugriff auf die lebensrettende Technologie. Steppen Afrikas, die Favelas Südamerikas Filter auszuliefern.

Vorher trüb,
nachher trinkbar:
Mönche in
Myanmar können
ihr Wasser jetzt
filtern

24 Horizonte GEO 02 2018

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MEER ERLEBEN!

Auf zu neuen Häfen

Malerische Landschaften: Die norwegischen
Fjorde sind vom Schiff aus am schönsten
Charmante Metropolen: Finnlands Haupt-
MSC Cruises S.A., Ave Eugène-Pittard, 40, CH-1206 Genf
Von ihrem neuen Heimathafen Hamburg starten
die MSC Meraviglia und die MSC Magnifica zu
traumhaften Zielen in Europa
Hamburg ist die Kreuzfahrthauptstadt
Deutschlands. Jede Fahrt beginnt hier im
Herzen der Stadt mit einer Passage die
Elbe entlang, vorbei am Hafenpanorama
mit Blick auf die Elbphilharmonie, geruh-
sam entlang der Wiesen Norddeutsch-
zu neuen Häfen geht.
MSC startet 2018 erstmals mit zwei
neue Routen rund um Nord- und West-
Die MSC Meraviglia zieht es nach Nord-
europa, ihre erste Fahrt ab Hamburg geht
nach Schottland, Irland und zu den Ork-
neys. Die Hochmoore Schottlands, Loch
Ness, Dublin und London können die
entdecken. Im Hochsommer passiert die
Meraviglia auf ihrer Nordlandroute bis
Spitzbergen die malerischen norwegi-
schen Fjorde. Und im September geht es
über die Ostsee bis nach St. Petersburg.
Cleveres Extra: An Bord der Meraviglia

stadt Helsinki punktet mit lebendiger Kultur
europa im Programm.
von ihrem neuen Heimathafen erstmals
nach Málaga an die Costa del Sol. Auf
dem Weg liegen die charmanten portu-
giesischen Städte Porto und Lissabon.
sorgt die digitale Innovation „MSC for
Me“ mit smarter Technik dafür, dass die
Gäste sich das perfekte Reiseerlebnis zu-
sammenstellen können.
www.stern.de/meer-erleben

Angebote entdecken!
Ob mit der MSC Meraviglia zum Nordkap oder mit der

sich einmalige Erlebnisse zu günstigen Preisen.

Beeindruckende Natur: Bizarre Eisformen
bei den Gletschern des Nordens beobachten Beratung & Buchung 089 / 203 04 81 60 oder unter www.msc-kreuzfahrten.de

Angels Landing ist das beliebteste Ausflugsziel im Zion-Nationalpark
THAILAND
AUF DIGITALER SPURENSUCHE
Im Kampf gegen Tierseuchen setzt Thailand auf Freiwillige.
Sie helfen mit der Kamera ihres Smartphones
Die Seniorin tritt ans schmuddeli
ge Hühnergehege, streckt ihr Handy aus
und drückt ab. „Ich dachte, ich sei zu alt,
um zu helfen“, sagt Sayan Jitman, eine
von Thailands etwa 5000 ehrenamtlichen
Seuchendetektiven. „Doch so kann ich
unser Projekt unterstützen.“
Gemeint ist die Smartphone App
PODD, entwickelt von Veterinärmedi
zinern einer thailändischen Universität.
Die Idee: Privatleute fotografieren krank
wirkende Tiere und senden die Aufnah
26
USA
Aus Liebe
überrannt
Noch nie besuchten so viele Menschen die National -
parks der USA. Der Ansturm birgt Gefahren für
die sensiblen Ökosysteme, fürchten Naturschützer
Der 26. Präsident der USA war ein Visionär: 931000
Quadratkilometer Land stellte Theodore Roosevelt während
seiner Amtszeit unter Naturschutz, allein 1906 gründete er
fünf Nationalparks. Heute gibt es 59 davon. Bei Besuchern
sind sie populär wie nie. 83 Millionen Besucher zählten die
Parks im Jahr 2016, mehr als je zuvor.
nen diesem Ansturm nicht mehr gewachsen sind: Allein im
Zion Park im Bundesstaat Utah addiert sich die Länge der
metern. Die Besucher schieben sich über geschütztes Grün,
waschen Babywindeln in Flüssen und kratzen ihre Namen in
Felswände. Die Parks leiden ohnehin schon an den Folgen
cher künftig anmelden müssen. Die nationale Parkverwaltung
erwägt zudem, die Eintrittspreise in 17 Parks anzuheben.
Trotz des Besucheransturms und der ökologischen Pro
bleme plant US Präsident Donald Trump, das Budget der
Parks um mindestens 300 Millionen Dollar zu kürzen.
Junges Huhn: Nur
blass um den Schnabel,
oder schon ein Fall für
den Tierarzt?
men an eine Datenbank. Wissenschaftler
prüfen die Aufnahmen und untersuchen
auffällige Tiere innerhalb von 24 Stun
den auf Infektionskrankheiten wie Vogel
oder Schweinegrippe, denn dank ihrer
GPS Daten informieren die Bilder über
den Ort, an dem sie entstanden.
Auch die Übertragung riskanter Kei
me auf den Menschen soll eingedämmt
rung Thailands leben Mensch und Tier
dicht beieinander.
Horizonte GEO 02 2018
 WIE WAR’S?
Heute auf dem Stundenplan: Beuteltier braten
Jagen, Flechten, Feuer machen: Joey Moncarz leitet eine Schule
im neuseeländischen Busch – dort will der Pädagoge Kinder auswildern
Jäger und Sammler
als Vorbild: Joey
Moncarz unterrichtet
Kinder im Süden von
Auckland
GEO: Herr Moncarz, Sie haben lange als Lehrer an staatli -
chen Schulen unterrichtet und jetzt die Deep Green Bush-
School gegründet. Was lernen die Kinder dort?
J O E Y M O N C A R Z : Wie man sich im Wald als Teil der Natur
verhält. Wir suchen zum Beispiel essbare Pflanzen oder fangen
ten. Wir weben Leinen, legen kleine Felder an oder kümmern
uns um die Hühner der Schule. Klassenräume gibt es nicht,
GEO 02 2018 Horizonte
auch keine Hausaufgaben. Die Kinder spielen
viel, erzählen Geschichten oder malen.
Lesen, Schreiben oder Rechnen unter -
richten Sie nicht?
Nur wenn die Kinder sich dafür interessieren.
Das tun sie aber von ganz allein, weil sie bei
älteren Mitschülern oder Erwachsenen erle
ben, wie hilfreich dieses Können ist. Man
muss abwarten, bis sie reif dafür sind – man
che sind es mit fünf, andere erst mit 13 Jahren.
Digitale Geräte sind an der Privatschule
genauso verpönt wie einfache Hilfsmittel,
etwa Feuerzeuge. Sind Sie ein Technikfeind?
Nein, aber die meisten Menschen sind heute
viel zu abhängig von ihren technischen Spiel
zeugen. Zu ihrem Smartphone greifen viele
Erwachsene wie zu einer Tüte Kokain. Kinder
sollen sich nicht so hilflos fühlen. Bei uns er
leben sie stattdessen, dass sie ihre Bedürfnisse
selbst stillen können: Haben sie Hunger, ge
hen sie angeln. Das schenkt Selbstvertrauen.
Autoren Kosmos + Horizonte: Ferdinand Dyck, Jenny Niederstadt, Manuel Stark
Bereiten Sie Kinder so aber auch auf ihr
späteres Berufsleben vor?
Unsere Schüler lernen, sich selbst zu versorgen,
und sind zufrieden mit dem einfachen Leben
ohne sinnlosen Konsum. Deshalb kämen sie
auch später nicht auf die Idee, den ganzen Tag
zu arbeiten, nur um mehr Geld zu verdienen,
als sie für ihre Grundbedürfnisse brauchen.
Und wenn sie studieren wollen?
Wer sich für ein Studium interessiert, kann die
nötigen Qualifikationen leicht nachholen –
wird aber erkennen, dass er für die Universität
Schulden machen wird, der Abschluss wenig
wert ist und die meisten Jobs auch ohne aka
demische Ausbildung erledigt werden können.
In den Industrienationen sind schon jetzt zu viele Stellen mit
überqualifizierten Menschen besetzt.
Eignet sich Ihre Buschschule auch für ängstliche Kin -
der, die nie zuvor in der Wildnis waren?
Ja, bei uns fühlt sich jedes Kind wohl. Ängstliche oder schüch
terne Kinder entspannen, sobald sie sich an die Natur gewöhnt
haben – und leben auf. Dazu muss man ihnen nur Freiheit
und Vertrauen schenken.
27
 re n e s s e n , p r ä gt u n s e i
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ERNÄHRUNG

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täglich
Brot
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Fotos: Gregg Segal

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t

GEO 02 2018 28
 Andrea

29
 Siti

30
Frank

31
 CATANIA, ITALIEN
Andrea Testa
Acht Jahre, eine Schwester, Vater
Soldat, Mutter Hausfrau
Was ist dein Lieblingsessen?
Pasta Carbonara, ich mag Speck.
Welche Regeln gelten bei Tisch?
Ich muss mit geradem Rücken
dasitzen und darf nicht mit dem
Stuhl kippeln.
Was bringt dich zum Lachen?
Meine kleine Schwester. Sie macht
komische Geräusche, wenn sie mit
ihren Barbies spielt.
Was magst du an dir selbst?
Meine Intelligenz. Und dass meine
Haare im Sommer heller werden.
Woran merkst du, dass du älter
wirst?
Meine Hausaufgaben werden
schwerer.
Was wünschst du deinen Eltern?
Meinem Vater, dass er die Familie
zusammenhält. Ich hoffe, dass
meine Mutter immer bei uns bleibt.
Wir brauchen sie zum Kochen und
für die Hausarbeit.
Was bekommen die Kinder auf den Teller
und was sagt das über die Esskultur -ih
res Landes aus? Professor Marin Trenk
forscht an der Universität Frankfurt,
Schwerpunkt kulinarische Ethnologie,
und kommentiert, was auf dem Speise - logen nennen sie „Superfood“, oft ist
plan der Kinder steht. Die Bilder zeigen
jeweils das Essen einer Woche.
Pizza mit Pommes frites? Es
bleibt der einzige kulinarische Ausrei-
ßer des Jungen. Die italienische Küche
ist fest in sich verwurzelt, klassisches
„Kinderessen“ kennt man dort kaum,
Andrea bekommt das Gleiche wie Er -
wachsene auf den Teller. Das sieht
man nicht nur an der Seebrasse, die
sogar mit Kopf serviert wird, sondern
auch an der Pasta mit Linsen oder
Speck: Mit den Nudeln in Fertigsoße,
die deutschen Kinder angeboten wer-
den, hat sie nichts gemein.
GEO 02 2018
K U A L A L U M P U R , M A L A Y S I A Ich
Siti Khaliesah Nataliea
Zehn Jahre, vier Geschwister, Mutter
Hausfrau, Vater Autoverkäufer
Was ist dein Lieblingsessen?
Spaghetti Carbonara.
Gibt es bei Tisch besondere Regeln?
Ich darf nicht schwatzen.
Betet ihr vor dem Essen?
Dankgebet.
An was denkst du, bevor du
einschläfst?
Ich wünsche mir, dass mir mein
Vater Geld unter mein Kopfkissen
gesteckt hat.
Woran riechst du gern?
An gebratenen Instant-Nudeln, ich
liebe den Geruch!
Als der Mensch vor rund 12000
Jahren anfing, Ackerbau zu betreiben,
hat sich in jedem Land eine Pflanze als
Basis der Esskultur etabliert. Ethno -
es ein Kohlenhydrat: In Europa ist es
der Weizen, in Afrika die Jamswurzel,
in Südamerika die Kartoffel. In Süd-
ostasien, wie in Malaysia, nimmt der
Reis die Rolle des Superfood ein, Siti
isst ihn jeden Tag. Zum Beispiel zum
Frühstück in Form des traditionellen
„Nasi Lemak“: Reis in Kokosmilch mit
Sambal, einer Würzpaste (hier auf
Papier). Zu Hause kombiniert sie ihn
mit Hühnchen oder Wels, einem
preisgünstigen Fisch, den man gut
züchten kann. Die Konsequenz, mit
der die Eltern dem Mädchen täglich
Reis vorsetzen, unterscheidet sie von
Europäern, die längst nicht mehr an
ihrem Superfood als Hauptbestandteil
einer jeden Mahlzeit festhalten.
DAKAR, SENEGAL
Frank Fadel Agbomenou
Acht Jahre, ein Bruder, Vater
Personaler, Mutter Gastronomin
Was ist dein Lieblingsessen?
Ich mag alle Arten von Fisch.
Welche Regeln gibt es bei Tisch?
muss aufessen, was ich mir auf
den Teller gelegt habe.
Wer kocht bei euch zu Hause?
Unser Koch.
Wenn du Geld hättest, was würdest
du kaufen?
Ein auffälliges Auto.
Was magst du an dir selbst?
Dass ich in der Schule hart an
meiner Leistung arbeiten kann.
Wen vermisst du?
Meine Mutter.
Hast du einen Wunsch, der niemals
in Erfüllung gehen kann?
Dass meine Eltern wieder zusam-
menkommen. Sie leben getrennt.
Wann hast du das letzte Mal
geweint?
Vor einigen Wochen, meine Mutter
wollte mich für einen Strandaus-
flug abholen und hat kurz vorher
abgesagt.
Die Chipstüten stehen für ein
weltweites Phänomen: Obwohl Sene-
gal ebenso wie etwa Malaysia, Italien
oder Indien an den Wurzeln seiner
Esskultur festhält, ist auch hier das
Phänomen der „globalisierten Snack-
kultur“ angekommen: Der Junge isst
nicht nur Frühstück, Mittag- und
Abendessen, sondern jeden Tag min-
destens einen Snack. Diese Zwischen-
mahlzeiten haben mit dem ursprüng -
lichen Essen des Landes oft nichts
mehr zu tun. So stehen auch Pizza,
Eis und Fertigkuchen auf dem Speise-
plan des Jungen. Viele dieser Produk-
te kommen von westlichen Herstellern.
32
 June

33
 John

34
 HAMBURG, DEUTSCHLAND HAMBURG, DEUTSCHLAND

June Grosser John Hintze

Neun Jahre, eine Schwester, Mutter
Fotografin, Vater Projektmanager
Was ist dein Lieblingsessen?
Schnitzel.
Was magst du überhaupt nicht?
Curry und Trüffel.
Esst ihr zu Hause alle zusammen?
Nur am Abend, weil da mein Vater
auch zu Hause ist.
Bist du nach dem Essen satt?
Ja, aber der Hunger kommt schnell
wieder.
Wenn du genug Geld hättest, was
würdest du kaufen?
Einen Hund! Aber das erlauben
meine Eltern leider nicht. Aber viel
leicht könnte ich sie mit genügend
Geld bestechen.
Woran merkst du, dass du älter wirst?
Ich komme jetzt an die Klingel unserer
Nachbarin Susann heran.
Was magst du an dir selbst?
Meine Haare und meine Wimpern.
Wer ist dein Vorbild?
Ich will berühmt werden und mein
eigenes Vorbild sein.
Woran denkst du, bevor du
einschläfst?
Ich lese gerade ein Buch, in dem
Vampire vorkommen, und frage mich
oft im Bett: Gibt es nun Vampire
oder nicht?
HAMBURG, DEUTSCHLAND
Greta Möller
Sieben Jahre, eine Schwester,
Mutter Groß und Außenhandelskauf
frau, Vater Speditionskaufmann
Was ist dein Lieblingsessen?
Kartoffelpüree mit Fischstäbchen und
Apfelmus.
Was isst du überhaupt nicht gern?
Ich hasse Milchreis!
Wer kocht bei euch zu Hause?
Meine Mama, mein Vater wohnt nicht
mehr bei uns.
Was kannst du richtig gut?
Mit den Fingern schnipsen – sogar mit
beiden Händen gleichzeitig.
Welchen Weg kennst du ganz genau?
Den zu meinen Großeltern. Ich
komme an einem Kastanienbaum vor
bei, im Herbst suche ich im Laub
nach Kastanien.
An was denkst du, ehe du einschläfst?
An meine Mama. Ich stelle mir vor,
was sie gerade Wildes anstellt. Meist
sitzt sie aber ein Zimmer weiter auf
dem Sofa und sieht fern.
Sieben Jahre, Mutter arbeitet
in einer Moderedaktion, Vater ist
Finanzprojektleiter
Was ist dein Lieblingsessen?
Hühnchen Curry vom Chinesen und
der Braten von Oma.
Wo esst ihr zu Hause?
Normalerweise am Esstisch – doch
morgens vor der Schule bringen mir
meine Eltern ein Tablett mit Müsli
und Toast direkt an mein Bett.
Gibt es Regeln bei Tisch?
Fanta gibt es nur am Wochenende!
Was kannst du richtig gut?
Schwimmen – ich habe schon das
silberne Schwimmabzeichen, das
goldene darf man erst mit acht Jahren
anfangen. Außerdem trainiere ich
Thaiboxen, kämpfen darf ich aber
noch nicht.
Wenn du genug Geld hättest, was
würdest du kaufen?
Ein neues Auto für meine Eltern.
Das jetzige ist alt und lahm. Ich will
ein schnelles, großes.
Welchen Weg kennst du ganz genau?
Den von unserer Wohnung zu unserem
Boot.
Woran merkst du, dass du älter wirst?
Früher war es kompliziert, auf den
Kühlschrank zu klettern, um an die
Süßigkeiten heranzukommen. Das
klappt heute schon viel besser.
Was riechst du gern?
Das Parfüm meines Vaters.

Sucht man auf den Tellern der deutschen Kinder nach ty

pisch nationalen Gerichten, findet man: nichts. Deutschland ist
erst spät – mit Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 –
eine Nation geworden. Folglich war unsere Küche im Gegensatz
zu der im benachbarten Frankreich jahrhundertelang ausschließ
lich regional geprägt. Später verhinderten die Hungerjahre durch
zwei Weltkriege die Ausbildung einer gesamtdeutschen Küche.
Heute pflegen die Norddeutschen ihre regionale Esskultur nicht
in dem Maße wie ihre Landsleute im Süden. Die Hamburger
zel und Käsespätzle. Auch sieht man eine Vorstellung, die neben
ner Mensch, simples Essen. Ernähren sich Kinder in Indien oder
Italien meist wie die Großen, bekommen sie in Deutschland
vereinfachte Formen von „Erwachsenenessen“ auf den Tisch:
Nudeln mit Tomatensoße, Pommes frites, Würstchen, Salami
brötchen. Und die Fischstäbchen, das beliebteste „Meerestier“.
Einziger Ausreißer ist der Tintenfisch auf Junes Speiseplan.

GEO 02 2018 35
 MUMBAI, INDIEN

Adveeta Venkatesh
Elf Jahre, Eltern Wissenschaftler

Was ist dein Lieblingsessen?

Dosa, indische Pfannkuchen, mit
Reis und Linsenbohnen.
Was magst du überhaupt nicht?
Scharfes oder salziges Essen.
Wer kocht zu Hause?
Wir haben einen Koch, der für uns
Rotis, das indische Brot, zubereitet.
Gemüse kocht meine Mutter.
Gibt es Regeln bei Tisch?
Wir essen schweigend, sehen nicht
fern und benutzen kein Handy.
Was magst du an dir selbst?
Dass ich so ruhig und gelassen bin.
Deshalb mögen mich die anderen
Kinder.
Woran merkst du, dass du älter
wirst?
Ich löse jetzt lieber Rätsel, statt mit
meinen Barbies zu spielen.
Was würdest du gern gut können?
Ich würde gern Badminton spielen
lernen. Doch mein Vater meldete
mich beim Tennis an – damit ich
stärkere Armmuskeln bekomme.
Was riechst du gern?
Den Duft von Nachtjasmin.

Seit jeher teilen die Brahmanen,

Angehörige der höchsten Kaste in In -
dien, das Ideal der Gewaltlosigkeit:
Sie verzichten komplett auf Fleisch.
Nach ihrem Vorbild lebt die Familie
von Adveeta. Zudem ernährt sie sich
fast nur von typisch Indischem: unge-
säuertem Fladenbrot (Roti), Linsen,
Reis, Chutney und Curry. Eine Aus-
nahme ist die Marmelade zum Früh -
stück – ein Relikt der britischen Ko-
lonisation. Skurril: Wie viele Inder hat
Adveeta eine unerklärliche Leiden-
schaft für Tomatensuppe.

36 GEO 02 2018
 ALTADENA, USA

Hank Segal
Zehn Jahre, Vater Fotograf,
Mutter Sprachtrainerin

Was ist dein Lieblingsessen?

Thunfisch-Sushi.
Wo esst ihr zu Hause?
Manchmal im Wohnzimmer vor
dem Fernseher. Ich darf nicht auf
der Couch essen. Deshalb stelle
ich mir ein Tablett auf die Kante
unseres Kamins.
Hast du schon mal etwas angebaut?
In unserem Garten ziehe ich Zitro-
nen. Daraus mache ich Limonade.
Betest du vor dem Essen?
Nein, wir glauben nicht an Gott.
Woran merkst du, dass du älter
wirst?
Meine Beine werden haariger.
Wer ist dein Vorbild?
Albert Einstein und Präsident Roose-
velt, weil er Nationalparks gründete.
Außerdem Präsident Lincoln, weil er
die Sklaverei beendet hat. Und weil
ich Lincolns Bart mag.
Gibt es etwas, was du gern
können würdest?
Wählen!
Was riechst du gern?
Die geschmolzene Butter, nachdem
ich Quesadilla gemacht habe.

Schwere Mahlzeiten isst Hank

nur am Abend: Spaghetti in Tomaten -
soße, Schweineschulter mit Barbecue-
soße an Grünkohl oder Steak. Zu
Mittag sollen Sellerie, Brokkoli, Hum-
mus und ein Glas Kombucha bei die-
sem kalifornischen Jungen für eine
gesunde Ernährung sorgen. Dabei
kommen seine Eltern teils auf kuriose
Ideen: Als Snack zwischendurch trinkt
der Junge die Flüssigkeit aus dem
Peperonciniglas.

GEO 02 2018 37

NIZZA, FRANKREICH
Soulaymane Landim Silva Fernandes
Acht Jahre, eine Schwester, Mutter Krankenpflegehelferin, Vater Lieferant
Was ist dein Lieblingsessen?
Steak mit Pommes frites.
Was magst du überhaupt nicht?
Blumenkohl.
Hast du schon einmal selbst gekocht?
Nein.
Habt ihr Regeln bei Tisch?
Ich muss immer aufessen, damit kein
Essen verschwendet wird.
Was möchtest du einmal werden?
Judoka.
38
Wenn du viel Geld hättest, was würdest
du kaufen?
Ein Haus mit einem Swimmingpool.
Hast du einen Wunsch, der niemals in
Erfüllung gehen kann?
Ja, ich wünsche mir Superkräfte!
An was denkst du, bevor du einschläfst?
Ich hoffe darauf, keine Albträume
zu haben.
Woran riechst du gern?
An allem, was nach Vanille riecht.
ÈZE, FRANKREICH
Rosalie Durand
Zehn Jahre, ein Bruder, Mutter Mode -
designerin, Vater Gastronom
Was ist dein Lieblingsessen?
Linsen mit Würstchen.
Hast du schon einmal selbst gekocht?
Ja. Crêpes, Salat und Cupcakes, das
kann ich ganz allein.
Bist du nach dem Essen satt?
Nein, weil ich meist nicht aufesse.
Betet ihr vor dem Essen?
Nein.
Was siehst du, wenn du aus der Haustür
trittst?
Das Meer und die Berge.
Woran merkst du, dass du älter wirst?
Ich habe jetzt ein eigenes Handy.
Was kannst du besonders gut?
Klettern.
Was riechst du gern?
Rosen.
Wie kaum eine andere Stadt Frank -
reichs hat Nizza eine eigene Esskultur
entwickelt, die auch vom Nachbarn Ita-
lien mitgeprägt wird. Um die traditionel-
len Rezepte zu bewahren, wurde das
Label „Cuisine Nissarde“ eingeführt.
Mehrmals die Woche essen Rosalie und
Landim frischen Fisch wie etwa Sardel-
len, die an der Küste gefangen werden.
Das Mädchen nascht außerdem „Caille -
tiers“, die als Nizza-Oliven bekannt sind
und bis an die italienische Grenze ange-
baut werden. Trotz viel französischer Kü-
che stehen auch die Kinderklassiker auf
dem Speiseplan der Kinder: Bratwürst-
chen mit Kartoffelpüree und Pizza.
GEO 02 2018
39
 WEDEL, DEUTSCHLAND,
EHEMALS SYRIEN

Majo Said
Sieben Jahre, ein Bruder, Vater
hatte eine kleine Landwirtschaft,
Mutter schnitt Haare

Was ist dein Lieblingsessen?

Dolma (gefüllte Weinblätter) und
Frikadellen.
Esst ihr immer am gleichen Ort?
Ja, ich habe meinen festen Platz:
zweiter Stuhl rechts.
Welches Essen mochtest du früher
nicht, heute aber schon?
Pizza.
Was hast du schon mal geerntet?
Kirschen und Äpfel – in Syrien hat
ten wir einen Apfelbaum.
Betest du vor dem Essen?
Wir sind Jesiden und beten nicht
bei Tisch.
Wen vermisst du?
Meine Freunde Jussuf und Samed.

Majo kam vor gut zwei Jahren

aus Syrien nach Deutschland. Bis
heute isst er weitgehend wie von zu
Hause gewohnt: Auf dem Speiseplan
stehen Kebab, gefüllte Weinblätter,
Reis mit Köfte (Hackfleischbällchen),
Suppe mit Auberginen und Paprika.

nen, auch deutsche Spezialitäten zu

verzehren? Wohl kaum. Eher werden
die Norddeutschen Elemente aus der
Küche der syrischen Flüchtlinge über
nehmen. Eine mögliche Erklärung:
Wer etwa selbst kaum eine innere
Verbundenheit mit der eigenen Küche
verspürt, kann schwer andere dafür
begeistern. Anders wäre es vielleicht,
wenn der Junge ins südliche Deutsch
land, nach Bayern gekommen wäre:
Dort hat man es sogar geschafft, die
Regionalküche international als „Ger
man Cuisine“ zu vermarkten.

40 GEO 02 2018
 GESCHMACKSFORSCHUNG
»Geschmack entsteht schon
vor der Geburt«
Per Møller lässt Kleinkinder schlemmen und beschäftigt sich
mit der Ernährung von Schwangeren. Ergebnis seiner Forschung:
Was wir mögen oder nicht, legen wir schon früh im Leben fest
Interview: Vivian Pasquet
G E O : Das Kind aus den USA hat rohen Sellerie und
Brokkoli auf dem Teller – ein Gemüse, das deut-
sche Kinder oft verschmähen. Wie schaffen es kali-
fornische Eltern, ihre Kinder dafür zu begeistern?
P E R M Ø L L E R : Vielleicht hat die Mutter während der
Schwangerschaft selbst Brokkoli gegessen und das
Kind an den Geschmack gewöhnt.
Das funktioniert schon vor der Geburt?
Ja. Das Fruchtwasser nimmt Aromen aus der Nahrung
der Mutter auf, und der Embryo trinkt es. Die Ge -
schmacksknospen bilden sich bereits zu Beginn der wissenschaftlichen
zwanzigsten Schwangerschaftswoche aus. Französi- Methoden, etwa
sche Forscher haben Schwangere viel Anis essen las- MRT Untersuchun
gen des Hirns,
sen. Deren Kinder zeigten nach der Geburt weniger
ergründet der
Abneigung gegen das Gewürz als Kinder einer Ver-
Geschmacksfor
gleichsgruppe, deren Mütter kein Anis aßen. scher Per M ø ller an
Wie können Eltern auch noch nach der Geburt der Universität
Einfluss auf den Geschmack ihrer Kinder nehmen? Kopenhagen in
Am besten klappt das im ersten Lebensjahr. Zuerst Dänemark, wie der
nimmt das Kind Aromen indirekt auf, über die Mut - Mensch Geschmack
termilch. Hier gibt es ähnliche Tests wie das Anis- entwickelt
Experiment. Kinder, deren Mütter nach der Geburt
Karotten oder Knoblauch aßen, mochten diese Spei -
sen später lieber als solche, deren Mütter darauf ver-
zichteten. Um das Kind an viele Geschmäcke zu ge-
wöhnen, sollte die Mutter also sehr abwechslungsreich
essen – und dem Kind Verschiedenes anbieten, wenn
es mit fester Nahrung beginnt.
Und wenn all diese Momente verpasst sind?
Die Kinder auf den Fotos sind mindestens sieben,
viele haben kaum Salat auf den Tellern. Wie kann
man es schaffen, sie jetzt noch dafür zu begeistern?
Bei den meisten Menschen ist es nie zu spät, etwas
mögen zu lernen, es wird nur aufwendiger. Wir haben
GEO 02 2018
in Experimenten gezeigt: Sie müssen etwas nur oft
genug essen, dann fangen Sie an, es zu mögen.
Das glaube ich nicht. Ich hasse Sellerie, schon
mein Leben lang.
Wie oft haben Sie ihn denn gegessen?
Nicht oft, aber ich bin mir sicher, dass ich ihn
nicht mag.
Ich würde jedem, der etwas mögen lernen möchte,
raten, das Gericht mindestens achtmal in einer normal
großen Portion zu essen. Sicherlich gibt es Menschen,
die auch darauf nicht reagieren, wir nennen sie Non-
Responder. Und manche Abneigungen sind sogar
angeboren, gezeigt wurde das etwa für Koriander – für
manche schmeckt er immer wie Seife, egal wie oft sie
ihn probieren. Doch für die meisten gilt: Essen Sie
etwas oft genug, werden Sie die Abneigung irgend-
wann verlieren.
Kinder werden bei solchen Versuchen nicht
mitmachen.
Der Trick ist, das Unliebsame zusammen mit etwas
auf den Teller zu legen, das das Kind mag. Erst nur
ein bisschen, alle paar Tage, schließlich immer häufi-
ger. Wir haben es sogar geschafft, dass Kleinkinder
Artischockenpüree oder Winterrettich aßen. Es ist
das Prinzip der Pawlow’schen Konditionierung: Das
Gehirn schüttet Glückshormone aus, wenn Sie etwas
auf den Teller legen, das das Kind gern isst, Schnitzel
etwa. Legen Sie etwas Unbekanntes dazu, schüttet
das Hirn dennoch diese Hormone aus – auch dann,
wenn das Neue irgendwann ohne Schnitzel daliegt.
Funktioniert das auch umgekehrt? Die Kinder
haben teils viel Süßigkeiten und Fertigessen auf
ihrem Speiseplan. Kann man ihnen diese Vorliebe
wieder abtrainieren?
41
 Das ist schwieriger. Es ist, wie wenn Sie eine Fremd-
sprache erlernt haben: Egal was Sie tun, Sie werden
sie nie wieder komplett verlernen. Deshalb ist es so
wichtig, dass Kinder keine zu große Vorliebe für Un-
gesundes entwickeln.
Wäre es also am besten, ihnen sämtliche süßen
Snacks zu verbieten?
Das ist unrealistisch, obwohl es das Beste wäre. Wich-
tig ist es stattdessen, auch im Schulalter weiterhin
Abwechslung im Speiseplan zu schaffen, damit das
Kind viele Geschmackskombinationen kennenlernt.
Und: niemals ein Kind mit Süßigkeiten belohnen,
wenn es etwas anderes aufgegessen hat! Es prägt sich
sonst ein, dass das Unliebsame der Feind ist, den man
besiegen muss, ehe es das Leckere zu essen gibt. Jedes
Lebensmittel sollte den gleichen Wert haben.
Das klingt schön und gut. Aber heißt doch
auch: Wer als Kind ungesund aß, kommt kaum
noch heraus aus schlechten Vorlieben.
Da kann ich Sie trösten. Sie haben ja trotzdem einen
eigenen Willen. Aber ja, wenn Sie sich zum Beispiel
Schokolade ganz verbieten, werden Sie das zwar durch
Disziplin schaffen – doch in Wahrheit mögen Sie sie
weiterhin. Sie essen sie bloß nicht. Da greifen ähnli-
che Hirnmechanismen wie bei ehemaligen Rauchern.
Die meisten werden nie mehr Nichtraucher. Sondern
bleiben Raucher, die nicht rauchen.
Was raten Sie also?
Mal angenommen, Sie wollen sich abgewöhnen, Scho-
kolade zu essen. Dann sollten Sie die Dosis langsam
TAMBACOUNDA, SENEGAL
reduzieren, wie bei einem Drogenabhängigen. Greifen
Sira Cissokho Sie auf Produkte zurück, die weniger süß sind, etwa
auf dunkle Sorten. Sie können nicht mehr ändern, was
Elf Jahre, acht Geschwister, Vater Musiker, Mutter Hausfrau
Sie als Kind gegessen haben. Jeder Mensch hat seine
Essensgeschichte, die ihn prägt. Also blicken Sie nach
Was ist dein Lieblingsessen? Was hast du schon einmal
vorn. Besuchen Sie Kochkurse, essen Sie, was Sie noch
Ich liebe Hühnchen. geerntet? nie probiert haben. Benutzen Sie Gewürze, um Ihren
Wo esst ihr zu Hause? Hirse und Erdnuss aus unserem Geschmackssinn zu trainieren, und sprechen Sie mit
Wir essen immer im Hof. Garten. Freunden über Rezepte. Und wenn Sie Kinder haben:
Was hast du schon einmal Wenn du genug Geld hättest, Kochen Sie zusammen! Essen Sie gemeinsam. Machen
selbst gekocht? was würdest du kaufen? Sie Ernährung zu dem, was sie sein soll: ein wertvol-
Mit etwas Hilfe koche ich Eine Reise nach Mekka für les Miteinander, das Spaß macht!
Ngalakh, einen senegalesischen meine Eltern.
Hirsebrei. Was möchtest du für immer
Bist du nach dem Essen satt? aufbewahren? Seit rund zwei Jahren reist der Fotograf
Nein, wir haben nicht immer Das Armband meines toten G R E G G S E G A L um die Welt, um Kinder und ihr
genug zu essen. Großvaters. Essen zu fotografieren – und ist noch nicht fertig.
Als Nächstes möchte er die Teller südamerikanischer
Was in Indien die Linsen sind, ist im Senegal die Erdnuss. Sie Kinder erkunden. Mehr über die Entstehung seiner
wird den meisten Gerichten, meist in gemahlener Form, beigemischt. Bilder auf Seite 6.
Sie ist auch Hauptbestandteil der Soßen, in denen das Fleisch des Mäd - Der kulinarische Ethnologe MARIN TRENK
chens Sira schwimmt. Der Gedanke dahinter folgt einer simplen Über - kommentierte die Fotos der Kinder nur allzu gern:
legung: Oft müssen Familien mit wenig Geld viele Kinder satt bekom- Er hat ein Buch darüber geschrieben, wie
men, dabei hilft die Hülsenfrucht. Für sie werden große Anbauflächen unsere Art zu essen auch geschichtlich geprägt ist
im Land verwendet. („Döner Hawaii“, Klett-Cotta).

42 GEO 02 2018
 s e n S i e m i c h d u r c h ,
L e
ic h b i n A r z t !
!
ZT NEU
JET

LIES DICH GESUND.

 FORSCHUNG

Die Kraft der

Der Atem als

Anker
AXEL WASMANN (MITTE),
MEDITATIONSLEHRER

In meinen Kursen lernen die

Teilnehmer schnell, dass
Meditation nicht immer leicht
ist. Denn dabei kommt Angst
hoch, vor Gedanken, vor
Erinnerungen, vor Schmerz.
Dann hilft bewusstes Atmen.
Der Atem ist ein neutraler
Anker im Bauch, schön weit
weg vom Kopf, in dem sich
so viel dreht.
Die Suche nach Glück
ist oft leidvoll. Ich selbst war
schnell, laut und hektisch.
Habe Geld verdient. Konsu -
miert. Und mich dabei immer
nach Tiefe gesehnt. Schließ -
lich habe ich neun Jahre
als buddhistischer Mönch in
Klöstern gelebt. Bis ich mich
verliebt habe.

44 GEO 02 2018
Meditation
Augen zu. Aufrecht sitzen. Atmen. Ruhig
werden: Meditation stärkt unsere Konzentration.
Sie macht uns achtsamer und mitfühlender.
Doch welche Übungen sind am effektivsten?
Antworten gibt die weltweit größte Studie zur
Meditation. GEO-Reporter Philipp Brandstädter
war einer der Teilnehmer – er berichtet von
einer neun Monate währenden Reise durch sein
Inneres. Der Fotograf Roman Pawlowski zeigt
Meditierende an ihren Lieblingsplätzen

45
 L
EBE IM HIER UND
Jetzt. Genieße den Augen-
blick. Sei gesund, gebor-
gen, unbeschwert. Werde
glücklich. Diese Kalender-
weisheiten kreiseln durch
meinen Kopf, als ich auf einem Medita-
tionskissen balancierend mit geschlossenen
Augen eine Rosine inspiziere.
Etwas angewidert rolle ich sie zwi-
schen Daumen und Zeigefinger. Das
Glück liegt in den kleinen Dingen, rede
ich mir ein: Nimm den Moment wahr. Der
Rosinenmatsch duftet fruchtig. Nicht so
intensiv wie das Bohnerwachs in der Turn-
halle des Hauses Rheinsberg, keine an-
derthalb Stunden Reisebusgetuschel von
Berlin entfernt. Ich bin ganz hier. Wir.
Ich und meine Skepsis.
Mit Sinnsprüchen ist das nämlich so
eine Sache. Auch wenn sich in ihrem Kern
Weisheit verbirgt, klingen sie oft schwam-
mig und abgedroschen. Die Wissenschaft
mit ihren Fakten überzeugt mich schon
eher. Deshalb ist das „ReSource-Projekt“
die perfekte Gelegenheit für mich, das
Meditieren zu erlernen. Es ist die größte
Meditationsstudie, die es bislang gegeben
hat, durchgeführt vom Max-Planck-Insti -
tut für Kognitions- und Neurowissenschaf-
ten in Leipzig.
Dabei wird erstmals die Wirkung ver-
schiedener mentaler Techniken miteinan-
der verglichen: Wie verändern sie Gehirn,
Körper und Verhalten? Womit lassen sich
Achtsamkeit, Mitgefühl und die Fähigkeit,
sich in andere hineinzudenken, am besten
trainieren? Als Teilnehmer wurden 241 Me-
ditationsanfänger gesucht. Tausende haben
sich beworben. Es hat Wochen gedauert,
es in die finale Auswahl zu schaffen.
Ich habe psychologische Eignungs-
gespräche über mich ergehen lassen. Hun-
derte Fragen beantwortet, angekreuzt,
skaliert, mich selbst beurteilt. Wie intensiv
spüren Sie beim Duschen die Wassertrop-
fen auf Ihrer Haut? Ein bisschen? Ein
bisschen mehr? Keine Ahnung? Ich habe
mein Gehirn durchleuchten lassen, Blut
gespendet, in Röhrchen gespuckt, am
Computer gespielt. Dutzende Tests, die
ich in den nächsten Monaten mehrmals
wiederholen muss. Denn aus diesem im-
mensen Datenberg wollen die Forscher
später herauslesen, in welchem Maß die

46 GEO 02 2018
 Erkenntnis
statt Sieg
OLIVER GOTHE-SYREN,
WIRTSCHAFTSANWALT

Früher war ich ein scharfer

Hund, habe die Wochenenden
durchgearbeitet, vor Gericht
viel gewonnen. Profitiert
haben aber immer nur die
Insolvenzverwalter. Da wurde
ich nachdenklich. Ich begann
zu meditieren. Dabei erlange
ich Klarheit, auch im Job.
Vor manchen Verhandlungen
ziehe ich mich zurück, um
die Absichten aller Beteiligten
zu erkennen. So lassen sich
manche Fälle außergerichtlich
lösen. Das ist mir eigentlich
am liebsten.
Ich bin heute glücklicher,
sortierter. Ich brauche keine
Riesenkanzlei mehr. Ich muss
nicht immer gewinnen.
Stattdessen suche ich nach
dem Weg, der für alle am
besten ist.

GEO 02 2018 47
48 GEO 02 2018

Stille, mitten
im Alltag
SIMONE BRENNER,
PSYCHOLOGIN, UND MARCO
SPEE, REISEVERANSTALTER
Wir meditieren gern zusam
men, am liebsten zu Beginn
des Tages, aber auch unter
wegs. Im Auto, am Bahngleis,
selbst in der Schlange vor
der Supermarktkasse. Wenn
es unruhig oder stressig wird,
ist es einfach schön, gemein
sam die Zeit anzuhalten.
Wir konzentrieren uns auf
unseren Atem, auf ein Mantra,
auf Themen wie Dankbarkeit,
Liebe oder Vergebung. Das
hilft uns, bewusster und
liebevoller miteinander um-
zugehen. Das ist natürlich
nicht immer leicht. Aber je
öfter wir üben, desto weniger
lassen wir uns ablenken.
Man darf sich nicht zu ernst
nehmen und muss einfach
weitermachen.
Meditationsübungen meine Gesundheit,
mein Gehirn, mein Fühlen und Handeln
verändert haben. Ein technisches Protokoll
meiner Verwandlung. Aber wird es die
überhaupt geben?
Für meine erste Meditationslektion
finde ich mich in einer Turnhalle wieder.
Um mich herum gestresste Mütter, ge-
stresste Lehrer, gestresste Büroangestell-
te. Sie können nicht mehr ruhig schlafen,
sagen sie. Ihr Chef mache sie wahnsinnig,
sagen sie. Darum lassen sie sich in ein straf-
fes Mammutprogramm einspannen, das
Rettung verspricht.
Neun Monate ReSource: drei dreimo -
natige Meditationsmodule, bestehend aus
je zwei neuen Techniken. Jeden Tag üben,
jede Woche Unterricht. Und drei Wochen -
enden in Rheinsberg, ein Idyll zwischen
Schlosspark und Seenlandschaft.
Ich verbiege meinen Rücken in eine
ungewohnt aufrechte Haltung. Von den
knapp 200 Probanden und wissenschaft-
lichen Mitarbeitern macht Trainerin Isa -
bella auf dem Sitzkissen die beste Figur.
Gefolgt von den anderen 16 ReSource-
Lehrern. Isabella referiert gelassen und
regungslos im Lotossitz. Ich ahme sie nach,
mir schlafen die Beine ein. An meinem
rechten Schulterblatt brennt ein Muskel,
den ich bis jetzt noch nicht kannte. Isabel -
la spricht von einer Methode, die unsere
Mitte stärken soll, wenn uns der reißende
Strom der Nachrichten, Aufgaben und Er-
- wartungen fortzuspülen droht. Die Me -
thode heißt Atmen. Atmen will ich auch
- und nicke. Die Probanden um mich herum
nicken mit. Bewusstes Atmen ist die
Grundlage des Projekts, sagt Isabella. Es
soll uns in der Gegenwart verankern. Das
-
erste Modul des ReSource-Programms
heißt deshalb „Präsenz“.
MODUL »PRÄSENZ«*
Die Teilnehmer sollen zur Ruhe
kommen und sich ganz auf
den Augenblick konzentrieren.
Techniken:Atem meditation
und Bodyscan.
DENN WER SEINEN Körperzustand
bewusst wahrnimmt, der erkennt den Au -
genblick, heißt es. „Achtsamkeit“ nennen
Forscher die Konzentration auf das Hier
*Details zur Studie s. Grafik auf Seite 54/55 49
 und Jetzt. Und wer im Moment lebt, ist
glücklich. Studien belegen das.
Das leuchtet ein. Wenn mich mein
Terminplaner unter Druck setzt, lenke ich
mich mit Erinnerungen ab. Meist denke
ich dann an Deadlines, die ich versäumt,
an Hausaufgaben, die ich aufgeschoben, an
Menschen, die ich enttäuscht habe. Ich er-
setze Stress durch Stress. Am Augenblick
lebe ich vorbei. Seitdem ich in Berlin woh-
ne, bin ich hektischer, miesepetriger und
desinteressierter geworden. In der Stadt
der Heimatlosen ist mir alles zu viel, wenn
ich durch die Straßen zu einem Termin
hetze, den Blickkontakt scheue, kaum et-
was um mich herum wahrnehme. Manch -
mal weiß ich gar nicht, wen ich zuerst
ignorieren soll.
Ich will gern achtsamer sein. Meine
Welt wahrnehmen. Mein Bewusstsein ent-
wickeln.
Also dann. Beginne zu atmen, sage ich
mir.

ATEMMEDITATION
Die Aufmerksamkeit ruht ganz
auf dem Atem. Sobald Gedanken
und Gefühle auftauchen, wird
die Konzentration wieder sanft zu-
rück auf die Atmung gelenkt.

„LENKE DEINE Aufmerksamkeit auf

den Punkt, wo du gewohnt bist, den Atem
zu spüren“, sagt Isabella. „Begleite die
Atemwellen. Vom Beginn des Einatmens
bis zum Ende des Ausatmens. Und durch
die Pause dazwischen.“
Es könnte so einfach sein. Doch die
Gedanken spülen mich aus dem Raum.
Bilder, Erinnerungen, Fantasien. Sie
entführen mich erst in die Vergangenheit,
dann in die Zukunft und wieder zurück.
Ich rieche Parfüm, blinzele kurz, vor mir
die Studentin mit der weinroten Strickja -
cke und der Ballonhose. Blickkontakte an-
geln. Sie könnten das ständige Schweigen
erträglicher machen. Ich höre knurrende
Mägen, schniefende Nasen. Vor meinem
inneren Auge sehe ich ein rotes Nachrich-
tenband, das meine Gedanken verschrift-
licht. Ich säe Zweifel. Soll ich Erlösung
finden, indem ich einfach nur atme?
Tagelang passiert gar nichts. Zu Hau -
se, wo ich mir mit meinem Sitzsack und
Die Kluft zwischen Wissen und Tun
PHILIPP BRANDSTÄDTER, JOURNALIST
Neun Monate habe ich im
ReSource-Projekt intensiv
meditiert. Nein, ich habe
dadurch nicht zum großen
Glück gefunden. Aber ich
weiß nun besser, wer ich bin,
was ich kann, was ich will
und was nicht. Meine Heimat,
mein Anker, meine Kraft -
quelle: Alles liegt nur in mir
selbst und hängt von nichts
und niemand anderem ab.
Das schmerzt manchmal,
macht die Dinge aber meist
leichter. Nur gibt es eine Kluft
zwischen Wissen und Tun:
Ich weiß, was ich tun müsste,
wenn ich mal nicht klar -
komme. Aber seit Abschluss
des Projekts meditiere ich
nur noch selten.
Diese Haltung ist natürlich
Quatsch. Ich kann auch kein
Klavier in den vierten Stock
schleppen, nur weil ich theo-
retisch weiß, wie das geht.
Wenn ich glücklich und
genügsam sein will, muss ich
mein Gehirn entsprechend
trainieren.

50 GEO 02 2018
 drei Kissen ein Meditationsprovisorium abgelenkt hat. Gedanken beobachten sei
gebaut habe, spricht Coach Axel via Smart BODYSCAN wichtig, meint Trainerin Susanne. Denn
phone zu mir. Jeder von uns hat so ein Die Aufmerksamkeit wandert nach bevor wir im dritten Teil unser Mitgefühl
und nach durch jeden Körperteil
„Medifon“ bekommen. Es zeichnet unsere schulen, müssten wir erst einmal mit uns
und registriert jede Empfindung,
Übungen auf, erinnert uns an Fragebögen selbst klarkommen. Das leuchtet ein: Fällt
ohne sie zu bewerten.
und spielt die Tonspuren ab, die die Leh der Luftdruck in der Flugzeugkabine, zie
rer für die Anleitungen zu Hause einge hen wir zuerst uns selbst die Sauerstoff
sprochen haben. „RICHTE DEINE Aufmerksamkeit auf maske über.
Das Telefon ahnt nicht, dass ich die deine Zehen des linken Fußes“, flüstert
vorgegebene Meditationszeit einfach nur Axel durch die Kopfhörer. Von den Zehen
mürrisch absitze. Genauso wie die wö aus reise ich durch meinen Körper. Nehme GEDANKENMEDITATION
chentlichen Gruppentreffen in der Charité. Kribbeln, Taubheit, Wärme wahr. „Spüre Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes
Denken und Handeln zu
Den meisten Probanden geht es ähn tief in dein linkes Kniegelenk hinein“, flüs
beobachten und die Perspektiven
lich, erzählen sie. Sie sind angestrengt, tert Axel. Igitt. Es ist mehr ulkig als ange
anderer Menschen nachzu-
haben hohe Erwartungen an sich, wollen nehm, die Nuancen der Körperempfin vollziehen.
gute Daten liefern. Genau, wie es das dungen zu unterscheiden. „Sei einfach eine
Leistungsprinzip verlangt. Genau, wie Antenne, die alles wahrnimmt, ohne die
Meditation nicht funktionieren kann. Bis Wahrnehmung zu bewerten“, flüstert Axel. MEINE ERSTE Gedankenmeditation
Die Übungen machen mich ruhiger, ist eine einzige Enttäuschung. Von wegen
dämmern. gelassener, genügsamer. Meinen Alltag die Gedanken sind frei! Von wegen tau
Doch genau in dieser Zwischenwelt verändern sie auch. Ich registriere mehr send Ideen schießen uns auf einmal durch
zwischen Traum und Bewusstsein gibt es Details in meiner Umgebung. Die Giebel den Kopf! Ich komme gerade mal auf sie
jene Momente. Dort lösen sich Hast und und Sockel von Häusern, an denen ich ben. Sie wiederholen sich nur in einer
Zweifel durch Ruhe und Genügsamkeit schon hundertmal vorbeigefahren bin. Die Endlosschleife. Mein Job, meine Partnerin,
ab. Etwas verändert sich. Ich bin begeis Verästelungen der Bäume im Park. Das meine Freunde, mein Job, die letzte Party,
tert: Jetzt meditierst du endlich! Wie wird Atmen stärkt meine innere Mitte. Und ein Haushaltsplan, mein Job.
das erst sein, wenn du die Techniken per beim Sport funktioniert mein Körper wie An den Gedanken kleben meist Ur
fektioniert hast? Bist du dann wacher, leis teile, die ich nie ernsthaft hinterfragt habe.
tungsfähiger, glücklicher? stunde ist auf einmal 20 Minuten kürzer Und die ich von anderen übernommen
Und schon bin ich wieder meilenweit und die Hanteln im Fitnesscenter sind habe. Du verschwendest zu viel Zeit! Du
vom Augenblick entfernt. leichter als in der Woche zuvor. sorgst nicht genug für deine Zukunft! Du
„Wenn deine Aufmerksamkeit gewan Die Verwandlung geht schnell. Lang lebst zu ungesund!
dert ist, dann lenke sie zurück zum nächs sam wird sie mir unheimlich. Mir wird klar, dass ich in einer Ich
ten Atemzug“, sagt Axel. Seit zwölf Wochen im ReSource Pro muss noch dies und das tun Zukunft
Die hellen Momente häufen sich. jekt. Atmen, Bodyscannen und Stillsitzen gefangen bin. Die Erwartungshaltung an
Sie motivieren mich zum Üben. Langsam kriege ich mittlerweile hin. Ich finde mich derer reißt eine riesige Lücke zwischen
erschließt sich mir der Fokus auf die At erneut in Rheinsberg wieder. Retreat, dem Leben, das ich gern hätte, und dem
mung. Sie lenkt die Wahrnehmung von Runde zwei. Das nächste Modul für mei Leben, das ich gern haben sollte. Ich bin
meiner Umgebung in meinen Körper. ne Gruppe heißt „Perspektive“. Es soll die schockiert.
Atmen ist eine gute Sache, finde ich, Fähigkeit, mich in andere hineinzuverset Barfuß tragen die Teilnehmer des Re
Kontraktion und Entspannung, es ist, als zen, schulen. Source Projekts ihre Brummschädel über
ob ich einen Muskel trainieren würde. die Wiese vor dem Hotel. Kaffeetasse in
In meinem Kopf tut sich etwas. der einen Hand, Keks oder Kippe in der
Im Park unter rauschenden Blättern. MODUL »PERSPEKTIVE« anderen. Wie immer schweigen wir. Wir
Ihr Grün ist bereits dem Rot und Gold Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes achten auf die Länge unserer Schritte, die
Denken und Handeln zu beobach -
gewichen, doch die Luft fühlt sich immer Geräusche, die Grashalme zwischen den
ten und die Perspektiven anderer
noch nach Sommer an. Ich bin hier: nicht Zehen. Eine Familie spaziert an uns vorbei.
Menschen nachzuvollziehen.
gestern oder morgen, sondern jetzt. Zum Techniken: Gedankenmeditation
„Was machen die Leute da auf dem
ersten Mal. Liege im Gras und sinke mit und Perspektiv-Dyade. Rasen?“, fragt das Kind. „Guck da nicht so
jedem Atemzug tiefer in den Boden. hin, die sind behindert“, antwortet die
Ich übe „interozeptives Gewahrsein“. Mutter.
So heißt das. Per Bodyscan. Der zweiten A B J E T Z T B E O B A C H T E N W I R un Was wir da tun, ist nicht normal. Nor
Übung, die ich im Modul „Präsenz“ neben sere Gedankenwelt. Diesen kaum greifba mal ist, auf der Straße mit einem Knopf
der Atemmeditation an jedem Tag der ren Wirrwarr, den ich bis dato abschütteln im Ohr in leuchtende Geräte hineinzufa
Woche trainieren soll. musste, weil er mich von der Achtsamkeit seln. Normal ist, sich mit hundert Dingen

GEO 02 2018 51
 gleichzeitig zu beschäftigen, um nicht über
sich selbst nachdenken zu müssen.
Trainerin Susanne lächelt. Susanne
lächelt eigentlich immer. Man könnte mei
nen, es sei aufgesetzt. Mein Urteil. Meine
Schuld, dass ich das meine. Die hagere
kleine Frau gestikuliert schon die nächste
Technik in den Raum hinein: eine Dyade.
Dabei handelt es sich um eine Meditation
zu zweit. Augenbrauen werden gehoben,
Köpfe geschüttelt. Susanne lächelt.

PERSPEKTIV-DYADE
Meditation zu zweit: Ein Partner
beschreibt ein Alltagserlebnis
aus einer seiner inneren Rollen
heraus, der andere vollzieht
die Erzählperspektive unvor-
eingenommen nach. Nach fünf
Minuten tauschen beide.

WIR SEIEN SOZIALE WESEN in

Beziehungsgefügen, betont sie. Im Lauf
unseres Lebens nehmen wir verschiedene
Rollen ein, die zu Anteilen unserer Iden
tität würden. Wir seien Kinder, Freunde,
Partner, Berufstätige, Eltern. Bestimmte
Rollen für bestimmte Menschen, die ihre
eigene Sicht auf uns entwickeln. Und uns
gern mit unseren Rollen verwechseln.
Der unfreundliche Kontrolleur in der
Bahn. Die lahme Oma vor uns an der Su
permarktkasse. Das plärrende Kind in der
Nachbarwohnung. In Stresssituationen

angenehme Menschen abgeurteilt.

Also beginnen wir als Erstes, unsere
eigenen Rollen besser zu verstehen. Ich
schreibe die typischen Anteile meiner Per
sönlichkeit auf Pappkarten. Der Faulpelz,
der Angsthase, der Kontrollfreak. Der Be
obachter. Der ist omnipräsent. Immer ein
bisschen distanziert und analytisch. Beob
achten ist mein Beruf.
Und dann ist da noch der Sucher in
mir. Erst als ich gedankenverloren im Bus
nach Hause sitze, wird mir klar, dass es ihn
denlang in die Sterne starren ließ, und der,
der mich jetzt aufs Meditationskissen zerrt,
um dem tieferen Sinn und dem ganzen
Drumherum nachzugehen.
Erkenne dich selbst. Mit der Einsicht
schwingt Leichtigkeit, Gleichmut. Innerer
Nicht ganz im Irdischen
IRENE MARR, RENTNERIN
Ich habe das große Glück,
alt zu sein und Zeit zu haben.
Seit 20 Jahren meditiere ich.
Anfangs unregelmäßig, denn
da war immer dieses Denken,
Denken, Denken. Dabei ist
Regelmäßigkeit doch wichtig,
am besten meditiert man
immer zur gleichen Zeit. Ich
zum Beispiel morgens nach
dem Aufwachen, wenn
die Seele noch nicht ganz im
Irdischen ist. Die innere Stille ist
der wertvollste Moment: frei
von Gedanken, pures geistiges
Sein. Dieses Nichts ist eine
Offenbarung für mich.
Auch wenn wir sterben, wird
dieses Nichts kommen. Ich
habe schon einige Menschen
bis zum Tod begleitet, es lag
immer ein großer Frieden in
ihren Gesichtern, ein Loslassen
von materiellen Werten. Wenn
man beim Meditieren nichts
denkt, nichts wünscht, ist man
in einem ähnlichen Zustand.
Mit Wollen lässt sich das nicht
erreichen. Man muss sich hin-
setzen und warten.

52 GEO 02 2018
 Inneren Frieden finden
ISABEL VIRAMO VON ROON, PSYCHOTHERAPEUTIN UND
MEDITATIONSLEHRERIN

Ich meditiere seit über unserer körperlichen Existenz.

30 Jahren. Gern gehe ich
dazu auf Friedhöfe. Sie sind
friedvoll, geräumig und still.
Auch buddhistische Mönche
kommen dorthin, um zu
meditieren oder Vorträge zu
halten. In Berlin juckt das
niemanden. Ein paar Spinner
sieht man ja an jedem Ort.
Der Tod ist ein wichtiges
Thema in der Meditation.
Darüber entwickeln wir einen
realistischeren Zugang zu
Den können wir mit unserer
Sehnsucht nach der ewigen
Jugend auch ganz gut
gebrauchen.
Durch die Meditation
gewinne ich Kraft. Ich kann
mich neu ausrichten, inner -
lich heilen. Dinge, die mir
widerfahren, halte ich aus,
gebe ihnen Raum. Auf diese
Weise bin ich unabhängig
von anderen Menschen und
deren Urteilen.

53

Frieden. Und die Reise geht gerade erst los.
Glaube ich.
Ich sitze einem bärtigen Mann mit
Brille und Norwegerpulli gegenüber. Wir
haben noch nie ein Wort miteinander ge -
wechselt, aber vertrauen einander nun in
einer Dyade an. Wir sollen aus einer Rolle
heraus ein Erlebnis erzählen. Ich habe das
Bedürfnis, mein Gegenüber zu unterhalten.
Ich schauspielere, anstatt mich um mich
selbst zu kümmern.
Beim Mittwochtreffen klärt die Trai-
nerin die Dyaden-Sache auf: Aus verschie-
denen Rollen heraus zu sprechen lässt uns
verstehen, dass wir und jeder andere nur
eine Wirklichkeit konstruieren und dass
diese aus jedem Anteil heraus ganz anders
aussehen kann. Es reicht aber nicht, das
einmal festzustellen, das müsse wie ein
Muskel trainiert werden. Sowohl das Spre-
chen aus wechselnden Anteilen als auch
das Zuhören und Verstehen, was nicht
zwingend Gutheißen bedeuten muss.
Die Leute aus der Gruppe werden
interessanter. Olaf, den ich als verbitter-
ten Fachangestellten abgespeichert hatte,
arbeitet in Wirklichkeit als Didgeridoo-
Spieler für Wachkoma-Patienten. So kann
man sich täuschen.
Mit den Dyaden tun sich die meisten
von uns anfangs schwer, mit der unmedi-
tativen Art, mit dem Sinn. Aber dann lie -
ben sie es zuzuhören, sich in den Rollen
auszutoben, lieben es, dass ihnen niemand
ins Wort fällt.
Im Max-Planck-Institut wird mein
Kopf gescannt, schon zum dritten Mal.
Die Neurowissenschaftler wollen sehen,
wie die Meditation meine Hirnstruktur
verändert. Zuvor haben sie mit Strom -
schlägen meine Schmerzgrenze getestet,
mit Fotos von verletzten Kriegsopfern und
verkohlten Leichen mein Mitgefühl, mit
einer Horrorwelt im virtuellen Raum mei -
ne Angstreaktion. Beinahe hätte ich pa -
nisch die Kabel aus meinem 3-D-Helm
gerissen. Jetzt liege ich in der Röhre. Zeit
zum Nachdenken, über mich, das Projekt
und die guten Vorsätze für das neue Jahr.
Zwischendurch dachte ich wirklich,
meine Mitte gefunden zu haben. Ich glaub-
te, ein neues Weltbild zu entwickeln und
meine Mitmenschen daran teilhaben las -
sen zu müssen. Schlaue Ratschläge für alle.
Glückskeksweisheiten.
54
RESOU RC E-PRO JEK T
Meditation: Was wirkt wie?
Die weltweit größte Meditationsstudie zeigt, wo die jeweiligen
Stärken verschiedener mentaler Techniken liegen
DIE MEDITATIONSTECHNIKEN ...
Das ReSource-Projekt des Max-Planck-Instituts für Kognitions-
und Neurowissenschaften vergleicht drei Meditationsmodule:
Sie heißen Präsenz, Perspektive und Affekt, dauern
jeweils drei Monate und bestehen stets aus zwei Übungen.
PRÄSENZ
Verbesserung von Aufmerksamkeit
und Körperwahrnehmung: Durch
klassische Achtsamkeitsübungen sollen
die Teilnehmer zur Ruhe kommen
und sich ganz auf den Augenblick
konzentrieren.
ATEMMEDITATION BODYSCAN
Die Aufmerksamkeit ruht auf dem Atem: Ausgehend vom linken Fuß,
Sobald Gedanken und Gefühle wandert die Aufmerksamkeit nach und
auftauchen, wird die Konzentration nach durch alle Körperteile
wieder sanft auf die und registriert jede Empfindung, ohne
Atmung zurückgelenkt. sie zu bewerten.
DAUER: 10Minuten DAUER: 20Minuten
PERSPEKTIVE
Schulung der sozio-kognitiven
Fähigkeiten: Die Teilnehmer lernen,
ihr eigenes Denken und Handeln
zu beobachten und die Perspektiven
anderer Menschen nachzuvollziehen.
GEDANKENMEDITATION PERSPEKTIV-DYADE
Die Gedanken werden kategorisiert, Meditation zu zweit: Ein Partner beschreibt
etwa nach Vergangenheit/Zukunft, negativ/ ein Alltagserlebnis aus einer seinerinneren
positiv, selbst/andere. Ihr Kommen und Rollen heraus, der andere vollzieht die
Erzählperspektive unvoreingenommen nach.
so soll innere Distanz entstehen. Nach fünf Minuten tauschen beide.
DAUER: 20Minuten DAUER: 10Minuten
AFFEKT
Stärkung von Mitgefühl, Dankbarkeit
und Fürsorge: Die Teilnehmer
üben, sich selbst und anderen wohl-
wollend zu begegnen und auch
mit schwierigen Emotionen umzugehen.
HERZMEDITATION AFFEKT-DYADE
Man stellt sich ein geliebtes Wesen Meditation zu zweit: Ein Partner beschreibt,
vor und dehnt das Gefühl von Wohlwollen wie er ein positives oder negatives Erlebnis
immer weiter aus: erst auf sich emotional und körperlich empfunden
selbst, dann auf Freunde, auf schwierige hat, der andere hört empathisch zu. Nach
Mitmenschen bis hin zu Fremden. fünf Minuten tauschen beide.
DAUER: 20Minuten DAUER: 10Minuten
GEO 02 2018
 Meine Freunde sind wegen der Studie
längst skeptisch geworden. Sie fürchten,
ich sei einer Hirnwäsche zum Opfer ge-
fallen, würde mir bald den Schädel rasie-
ren und mich in orangefarbene Tücher
hüllen. Sie finden, Ruhe und Gelassenheit
... UND IHRE WIRKUNG AUF KÖRPER UND GEIST ließen mich nur Wurzeln ins Sofa schla-
gen. Kollegen haben gefragt, was denn
nicht stimme. Ich sei in letzter Zeit so
wortkarg, würde überhaupt nicht mehr
lästern oder gehässig sein. Was sei denn
Starke leichte keine keine bloß aus den ganzen politisch unkorrekten
Verbesserung Verbesserung Veränderung Messung
Randgruppenscherzen geworden.
Auf einmal wurde es mir zu eng in
Berlin. Die Leute in der Bahn, mit ihrem
dicken Fell und ihren Scheuklappen, sie
machten mich rasend. Smartphone-Zom -
MODULE bies, unaufmerksam, lieb- und leblos. Ich
passe hier nicht mehr hin. Ich weiß nicht,
PRÄSENZ

a t io n
wohin sonst, zweifle. Der MRT-Scanner
Mit g

r
surrt und pocht mich in Trance.
e füh

ze nt
PERSPEKTIVE
l

Kon

ERSCHÖPFT UND RATLOS fahre ich

AFFEKT
ins letzte Retreat. Noch einmal Rheins -
berg. Die Auszeit tut gut. In der Turnhal -
le liegen Taschentuchboxen aus. Für die
Leute, die nah am Wasser gebaut sind, er-
Hin
e ng klärt Coach Ulrike. Die letzte Phase von
in ind e ga
a n nke s r ückhlt )
de
re n es ü ReSource behandle nämlich die Regula-
St r (ge f
tion von Emotionen und das Mitgefühl,
sagt Ulrike. Als Psychotherapeutin sei sie
davon ein Fan. Es geht ans Herz.

MODUL »AFFEKT«
St re ssrü Die Teilnehmer üben, sich selbst
Sozia le ckg
(h ormon a n g und anderen wohlwollend zu
e it
Ve rb und e nh e ll)
begegnen und auch mit schwieri -
gen Emotionen umzugehen.
Techniken: Herzmeditation und
hr
we

wa

Affekt-Dyade.
Kö ne h
ab

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rp m
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er

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Im un
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ZU BEGINN der Studie war mir die Sa-
che mit dem Mitgefühl nicht so wichtig.
Das Leid in mir und um mich herum hält
sich in Grenzen, meinte ich; das konnte
DIE WICHTIGSTEN ERGEBNISSE ich bislang ganz gut bewältigen, ohne mich
Alle drei Übungsmodule steigern „Dyaden“ genannten Partner - bewusst um mehr Mitgefühl bemühen zu
die Körperwahrnehmung und senken meditationen, die auch die soziale müssen. Doch was Ulrike anspricht, passt
das Empfinden von sozialem Stress. Verbundenheit fördern. Wie erhofft,
gerade ziemlich gut zu meiner Hilflosig-
Die hormonelle Stressreaktion, gemes- stärkt das Modul „Perspektive“
sen am Cortisolspiegel, wird jedoch auch die Fähigkeit, sich in andere keit. Sie sagt, prosoziales Verhalten sei Teil
nur durch die Module „Perspektive“ hineinzudenken, das Modul „Affekt“, einer Lebenseinstellung und werde mit kör-
mit anderen mitzufühlen. pereigenen Opiaten belohnt. Der Wunsch,
das Leiden anderer zu mindern, sei die
Grundlage für ein friedliches Miteinander.

GEO 02 2018 55
 Z A HL E N & F AKTE N
Eine Studie der
Superlative
Das ReSource-Projekt ist die
umfangreichste und längste
nicht religiöse Studie zur
Wirkung von Meditation und
mentalem Training
LEITUNG: Im Jahr 2007 initiiert
von der Neurowissenschaftlerin
Tania Singer, durchgeführt
von ihrer Abteilung „Soziale
Neurowissenschaft“ am
Max-Planck-Institut für Kogni -
tions- und Neurowissenschaf
ten in Leipzig
KOSTEN: Mehrere Millionen
Euro, finanziert vom Euro -
päischen Forschungsrat und
der Max-Planck-Gesellschaft
TEILNEHMER:241 Meditations -
anfänger in Berlin und Leipzig,
dazu zwei Kontrollgruppen
von insgesamt 90 Leuten, die
nicht meditiert haben
LAUFZEIT: Von April 2013
bis Mai 2014 tägliche
mentale Übungen, wöchent
liche Gruppentreffen, drei
Wochenend-Retreats,
Nach untersuchungenvier
und zehn Monate später
DATEN: Pro Teilnehmer rund
90 verschiedene Maße zur
Erfassung von Genetik, Hormo
nen, Stress, Gehirn, kognitiven
und emotionalen Fähigkeiten,
Persönlichkeit und Verhalten
NEUHEITEN:Studiendauer und
-umfang; Vergleich verschie -
dener Trainingsmodule; Part-
nermeditationen („Dyaden“);
Alltagsbegleitung durch
Smartphones; neu entwickelte
Computerspiele, virtuelle
Welten und Aufgaben für den
Scanner
TEAM: 17 Meditationslehrer,
mehr als 20 wissenschaftliche
Mitarbeiter, mehr als zehn
Forschungsassistenten und
Projektkoordinatoren
56
Und das sei uns in dem momentanen mobile des Glücks und verpuffe dann in
Leistungssystem ein bisschen abgegangen. einer Energiewolke? Klar ist: Mein emotio-
Dort, wo nur der Wettbewerb belohnt nales Spektrum kann ich noch erweitern.
wird, gehe die Bindung zu den Mitmen - Das merke ich bei der neuen Dyade.
schen und der Zugang zu den Emotionen
verloren. Die Folge: Stress, Burnout, Sprün-
ge aus dem Bürofenster im zehnten Stock. AFFEKT-DYADE
„Richte deine Aufmerksamkeit auf den Meditation zu zweit: Ein Partner
beschreibt, wie er ein positives
Herzraum und spüre die natürliche Atem -
oder negatives Erlebnis emotional
bewegung“, sagt Ulrike. „Dann nutze dei-
und körperlich empfunden hat, der
nen persönlichen Zugang zum Herzen, andere hört empathisch zu. Nach
damit es sich öffnen kann.“ fünf Minuten tauschen beide.
HERZMEDITATION ICH MUSS Thorsten beschreiben, was
Man stellt sich ein geliebtes Wesen für mich angenehme und unangenehme
- vor und dehnt das Gefühl von
Gefühle sind. Auf die schwierigen kann
Wohlwollen immer weiter aus: erst
ich mich nicht besinnen. Bei den positiven
auf sich selbst, dann auf Freunde,
auf schwierige Mitmenschen bis hin
merke ich, dass ich mir im Überschwang
zu Fremden. meist peinlich bin, wenn ich kichere und
Blödsinn rede. Lieber sind mir die ruhigen,
schönen Gefühle, auf einer Wellenlänge
M E I N Z U G A N G ist Henriette, meine mit meinen Jungs, auf dem Hügel, ein Bier,
adipöse Katze. Die schnurrende Inkarna- ein Lächeln, eine Karmawolke. Thorsten
tion des Gleichmuts. Und zwar gute zwölf versteht das und hat Tränen in den Augen.
Pfund davon. Wenn ich an Henriette den -
ke, dann ist die Welt gleich ein bisschen E S I S T F R Ü H L I N G , die Kirschbäume
flauschiger. „Wende dich nun dir selbst zu sind übersät von rosafarbenen Blüten, viel-
und schenke dir liebevolle Selbstzuwen- leicht seit Wochen schon. Mir fällt es zum
- dung“, sagt Ulrike weiter. Und dann kom- ersten Mal auf. Die Achtsamkeit im Alltag
men vier Glückskekswünsche, die mich lässt zu wünschen übrig. Ich komme gar
einfach umhauen, weil sie die Schnittmen- nicht auf die Idee, an mein Herz zu den -
ge aller menschlichen Bedürfnisse bilden – ken und an gute Wünsche für Fahrgäste
auch wenn sie etwas gestelzt sind. „Möge in der U-Bahn. Aber ich bin gut drauf, viel-
ich glücklich sein“, spricht Ulrike vor. leicht ist das ja schon etwas. Den anderen
„Möge ich mich sicher und geborgen füh- geht es auch so. Die Herzmedita tion ist
- len. Möge ich gesund sein.“ Und ein Satz schön, das gute Gefühl funktioniert quasi
für mich: „Möge ich unbeschwert leben.“ mit einem Fingerschnippen. Die Dyaden
Mir wird warm ums Herz. Ich kann mit Alex sind witzig. Cooler Typ, ein Punk,
die Hitze in meinem Brustkorb spüren. ein Kind, ein Filmspinner. Wir erzählen
Ein breites Lächeln auf meinem Gesicht. uns keine schwierigen Geschichten, es ist
Ich weite die Wärme aus, erst auf meinen nichts mehr schwierig.
Körper, dann auf die Meditierenden um Der Druck von außen, die Macht
mich herum, dann auf meine Lieblings- schlechter Gedanken, der Stress, alles
menschen, und noch weiter. Mitgefühl für nicht mehr so schlimm. Ich mache kaum
alle. Die Energie wird schwächer, je weiter noch Sport, gehe nicht raus, denke nicht
ich ihre Dosierung strecke. Dann schwin- nach, stehe nur arrogant über den Dingen,
det meine Kraft, es ist schwierig. Trotzdem über den Problemen, fühle mich besser als
habe ich ein bisschen Glückseligkeit ent- der Rest. Wenn ich Leute sehe, die sich
facht, einfach so, ohne Lieblingssong, ohne fleißig 14 Stunden am Tag überarbeiten,
Blick aufs Meer, unabhängig. Ich bin hin dann denke ich: Macht ihr mal.
und weg. Erst war ich von der Achtsam- Wo soll das hinführen? Ich zweifle.
keit überrascht, jetzt vom Glück. „Ich glaube, wir haben uns da eine
Kann ich das noch verstärken? Werde Horde kleiner Egozentriker gezüchtet“,
ich nächsten Monat zu einem Perpetuum sagt Christina aus dem Labor.
GEO 02 2018

Meditation, verknüpft mit Yoga
ANURADHA SETH HANIG, YOGA-LEHRERIN
Wenn die Magnolie blüht,
mache ich gern Yoga im
Garten. Dabei entsteht eine
besondere Energie. Ich
werde eins mit der Natur,
mit Gott. Ich fühle mich
geerdet und weniger ge - analysiere, was mich bewegt
stresst.
Yoga ist Teil meines
Lebens, jeden Tag. Yoga
hilft mir, tiefer zu atmen,
ruhiger zu denken, besser
mit Problemen umzugehen.
Die Übungen sind wie
ein Werkzeug, um Zufrie-
GEO 02 2018
denheit, Dankbarkeit und
Glück zu erlangen. Meditation
ist damit eng verknüpft. Erst
entspanne ich meinen Körper
und Geist, danach konzen
triere ich mich auf mich und
und warum.
Das Ziel ist Selbsterkennt -
nis. Und die kommt nicht
über Nacht. Sie braucht viel
Übung, führt aber zu über
raschenden Einsichten und
einer besseren Lebensquali
tät, auch im Miteinander.
Beim letzten Training reflektieren wir
noch mal. Lothar hat seine Ernährung
umgestellt, Ute Frieden mit ihrer sterben -
den Mutter gefunden, Olaf hat sich das
Rauchen abgewöhnt, Doris hat keine Kopf-
schmerzen mehr. Wir können unsere Ge -
danken ordnen, unsere Mitte finden. Aber
in dieser Mitte sind die meisten von uns
hängen geblieben. Vielleicht braucht es für
das Mitgefühl doch mehr als nur ein paar
Wochen Training.
Wir planen, wie wir weiter meditieren
können. Mit den Tonspuren vom Medifon?
Oder traut sich jemand von uns die An -
leitung zu? Den Raum der Charité können
wir vorerst weiter benutzen.
AUF DEN DIELEN klebt Konfetti. Ich
verfrachte Flaschen und Gläser in die Kü-
che, ziehe einen Müllsack hinter mir her.
Zu meiner Geburtstagsparty waren alle da.
Meine Freunde haben mir die neue Hip -
pie-Attitüde verziehen. Und ich habe mir
die Meditationspredigten auf der Feier
verkniffen. Was gar nicht so einfach war,
denn mir sind permanent irgendwelche
Zen-Ratschläge durch den Kopf gerauscht.
Dass es hilfreich ist, sein dickes Fell abzu-
legen, wenn man mehr wahrnehmen
möchte. Dass es leichter ist, hinter den
Wasserfall der Gedanken zu treten und ihn
vergnügt zu beobachten, anstatt sich von
ihm ertränken zu lassen. Dass es nicht dar-
um geht, ein Ziel zu erreichen. Sondern
darum, eine Haltung zu kultivieren.
Eine halb leere Packung Studenten -
futter, wieder sind nur die Rosinen übrig
geblieben. Ich picke mir eine aus der Tüte
heraus und kaue zaghaft darauf herum.
Prüfe ihren Geschmack, ihre Konsistenz.
Rosinen haben Kerne. Ist mir nie aufgefal-
len. Ich nehme noch eine, fühle ihre Struk-
tur, rieche an ihr, halte sie ans Ohr. Sie
macht Geräusche. Rosinen knistern, hät -
ten Sie’s gewusst?
-
Zuletzt hat P H I L I P P B R A N D S T Ä D T E R
für GEO die schmerzhafte Genesung seiner
magersüchtigen Freundin protokolliert
(Ausgabe 04/2016).
-
R O M A N P A W L O W S K I , Fotograf, hat
- für GEO bereits Schlafende (12/2016) und
einen Hypochonder (11/2017) porträtiert.
57

Fitness fürs Gehirn
A
UF DIESES INTERVIEW
mit Tania Singer, Leiterin des
ReSource-Projekts, haben wir
drei Jahre gewartet. Jetzt lie-
gen erste zentrale Ergebnisse vor. Singer
bittet in das Haus 5 auf dem Gelände der
Berliner Charité: ein kleiner alter Back-
steinbau, eigens für die Studie renoviert.
Am Eingang stapeln sich Pantoffeln für
Meditationsteilnehmer, an den Wänden
hängen Himalaya-Bilder, fotografiert von
dem berühmten buddhistischen Mönch
Matthieu Ricard. Tania Singer kommt 20
Minuten zu spät, ihr Smartphone meldet
ständig neue Nachrichten. Konzentrieren
kann sie sich trotzdem.
G E O : Das ReSource-Projekt ist die größte
Meditationsstudie, die es bisher gegeben
hat. Sie untersuchen darin nicht nur
klassische Meditationsformen, sondern
haben eigens neue mentale Trainings -
techniken und Forschungsinstrumente
entwickelt. Warum dieser Aufwand?
T A N I A S I N G E R :Viele der bisherigen Studi-
en sind recht kurz oder haben methodi -
sche Schwächen. Am besten erforscht ist
das achtwöchige Meditationsprogramm
MBSR (Mindfulness-based Stress Reduc -
tion). Bei dieser „Stressreduktion durch
Achtsamkeit“ geht es vor allem um das
Selbst: Wie kann ich ruhiger werden, im
Moment ankommen, meine Aufmerksam -
keit schulen? Das Programm besteht aus
verschiedenen Arten der Meditation. Was
davon wie wirkt, war allerdings nicht klar.
In der ReSource-Studie haben wir daher
erstmals verschiedene mentale Techniken
miteinander verglichen. Wir wollten her-
ausfinden, wie sich neben der Achtsamkeit
auch Mitgefühl und Perspektivübernahme
am besten schulen lassen – also Basisfähig-
keiten sozialer Intelligenz. Deshalb haben
wir für jeden dieser drei Bereiche ein eige-
nes Modul entwickelt: „Präsenz“ zielt auf
Achtsamkeit, „Affekt“ auf sozio-emotio-
nale Kompetenzen wie Mitgefühl, Dank -
barkeit und den Umgang mit schwierigen
58
FORSCHUNG
Wie verändert Meditation
unser Denken und
Fühlen? Was hilft gegen
Stress? Mit der ReSource-
Studie hat die Neuro -
wissenschaftlerin Tania
Singer überraschende
Antworten gefunden
Interview: Ines Possemeyer
Emotionen, „Perspektive“ auf sozio-ko-
gnitive Fähigkeiten wie sich in andere
hineinzudenken. Wir sprechen dabei von
Perspektivenwechsel. Diese dreimonatigen
Übungsblöcke wurden von unseren Stu-
dienteilnehmern in unterschiedlicher Rei -
henfolge absolviert. Ein bisschen wie im
Fitnesscenter: Alle trainieren etwas, aber
die einen erst ihre Beine, die anderen den
Rücken. So können wir die Wirkung der
einzelnen Trainingsarten vergleichen –
statt einfach pauschal zu sagen, „Sport ist
VITA
Tania Singer, 48, hat 2010
als bis dahin jüngste
Max-Planck-Direktorin die
Abteilung „Soziale Neuro -
wissenschaft“ am MPI
für Kognitions- und Neuro -
wissenschaften in Leipzig
gegründet. Angetrieben von
der Frage, ob sich Mitgefühl
trainieren lässt, brachte
sie früh Forschung und Medi-
tation zusammen. Mit dem
Dalai Lama tauscht sich Singer
genauso aus wie mit führen - Unsere Studie zeigt, dass die Module tat-
den Ökonomen. Ihr Ziel: eine
von mehr Mitgefühl geprägte
Wirtschaft und Gesellschaft.
gesund“ oder „Meditation hilft“. Diese
Dreifaltigkeit des ReSource-Projekts ist
einzigartig – und dazu braucht man große
Teilnehmerzahlen und ein aufwendiges
Projektdesign.
Andere Meditationsstudien dauern
in der Regel acht Wochen und erfassen
zu jeder Person nur wenige Daten. Und
schon dabei springt oft die Hälfte der
Teilnehmer ab. Bei Ihnen mussten 241
Anfänger neun Monate lang meditieren
und Dutzende Tests über sich ergehen
lassen. Wie viele haben durchgehalten?
Wir hatten weniger als acht Prozent Drop-
out – das ist vermutlich ein Guinnessbuch-
Rekord! Und zu jeder Person haben wir
rund 90 Maße erhoben, von der Genetik
über Hormonwerte, Hirnscans, Verhaltens-
tests bis hin zu Fragebögen und qualita-
tiven Interviews. Diese Vielfalt erlaubt
ganz neue Verbindungsmöglichkeiten: Wie
etwa verändern sich durch bestimmte
Übungen zugleich Gehirn, Gesundheit
und Glücksempfinden?
Was genau wurde trainiert?
Das erste Modul, „Präsenz“, schult Auf-
merksamkeit, Achtsamkeit und Körper-
gewahrsein und besteht aus den Kern-
übungen der Achtsamkeitsmeditationen:
Atemmeditation und Bodyscan, also die
Konzentration auf den Körper. Eine an -
dere klassische Technik, die Meditation
zur liebevollen Güte, findet sich bei uns
als „Herzmeditation“ in dem Modul „Af-
fekt“ wieder. Darin schulen die Teilnehmer
ihr Mitgefühl und lernen, liebevolle Güte
für sich selbst und andere zu entwickeln.
Im Modul „Perspektive“ schließlich geht
es darum, zu erkennen, aus welchen Rollen
heraus wir handeln, und sich in andere
Menschen hineinzuversetzen.
Ergibt es denn tatsächlich einen
Unterschied, was ich meditiere?
Ja! Ähnlich wie es auch beim Sport darauf
ankommt, welche Muskeln ich trainiere.
sächlich jeweils andere Stärken haben, also
verschiedene Fähigkeiten selektiv verbes-
GEO 02 2018
 Tania Singer ist eine
weltweit anerkannte
Pionierin in der
Erforschung von
Mitgefühl, Empathie
und Fairness
sern. In manchen Bereichen finden wir
allerdings keine Unterschiede, etwa beim
Körpergewahrsein. Das wird von Monat
zu Monat besser, egal was man gerade
trainiert, denn jede Kontemplation fängt
mit einer Besinnung auf den Körper an.
Auch die Konzentrationsfähigkeit hat sich
nicht nur nach dem Modul „Präsenz“
deutlich gesteigert, sondern ebenso nach
dem Mitgefühlsmodul „Affekt“. Schließ-
lich geht es in beiden Modulen darum, die
Aufmerksamkeit zu fokussieren – mal auf
Atmung und Körper, mal auf Gefühle und
Gedanken.
Welche Übungen wirken denn am
besten gegen Stress?
Wir haben unterschiedliche Formen von
Stress untersucht, darunter den sozialen.
Diese Daten haben wir kürzlich publiziert.
Unter sozialem Stress leiden in unserer
GEO 02 2018
modernen Gesellschaft viele am stärksten:
Wir fürchten heute kaum noch Hunger
und Kälte, sondern vor allem, von anderen
kritisiert zu werden und ihren Anforderun-
gen nicht zu genügen. Um diese soziale
Stressreaktion zu testen, mussten unsere
Teilnehmer vor streng blickenden Prüfern
einen Bewerbungsvortrag halten und rück-
wärts rechnen. Diejenigen, die zuvor drei
Monate meditiert hatten – und zwar ganz
egal, was –, fühlten sich dabei weniger ge-
stresst als die Teilnehmer einer Kontroll-
gruppe, die gar nicht meditiert hatten. Das
war zumindest ihre subjektive Einschät-
zung in Fragebögen – und uns aus der
MBSR-Forschung bereits bekannt. Wir
wollten jedoch auch wissen, ob sich das
ebenso in der biologischen Stressreaktion
niederschlägt. Dazu haben wir vor und
nach der Prüfung im Blut das Stresshor -
mon Cortisol gemessen, einen der bekann-
testen Marker für eine soziale Stressreak-
tion. Bei jenen, die zuvor in den sozialen
Modulen „Affekt“ oder „Perspektive“ Mit-
gefühl oder Perspektivenwechsel trainiert
hatten, war die hormonelle Stressreaktion
im Vergleich zur Kontrollgruppe tatsäch-
lich um rund 50 Prozent niedriger. Aber
bei denen, die gerade das Modul „Präsenz“,
also Atemmeditation und Bodyscan, hin-
ter sich hatten, war sie unverändert hoch.
Das hat uns sehr überrascht.
Gerade diese Achtsamkeitsübungen
gelten doch als gutes Antistressmittel.
Warum nicht bei sozialem Stress?
Bei achtsamkeitsbasierten Aufmerksam-
keitsübungen konzentrieren sich Teilneh-
mer nur auf sich selbst. Das ist offenbar
nicht wirklich effizient, um sozialen Stress
zu reduzieren. Dagegen gehört zu den bei-
den anderen sozialen Modulen auch ein
Training zu zweit, das wir „kontemplative
Dyade“ nennen. Dabei meditiert ein Part -
ner über eine bestimmte Frage und teilt
dem anderen sehr Persönliches mit. Der
hört empathisch zu, ohne zu unterbrechen,
ohne zu werten. Nach fünf Minuten wird
getauscht. Die Teilnehmer entblößen sich
also vor jemandem, der sie beurteilen
könnte, und üben zugleich urteilsfreies
Zuhören. Und das täglich über Monate.
Ich vermute, dass sie das ein Stück weit
gegen sozialen Stress immunisiert. Bei
unserem Test sehen sie dann nicht nur den
kritischen Prüfer im Kittel, sondern einen
Menschen wie dich und mich.
Eine Partnermeditation ist eher
ungewöhnlich. Warum haben Sie diese
Form gewählt?
Wir wollten ja in den Modulen „Affekt“
und „Perspektive“ gezielt soziale Kompe-
tenzen schulen, also das Wir. Das machen
auch manche klassischen Meditationen,
aber dabei stellt man sich andere Men-
schen nur vor. Das ist nicht immer einfach.
Unsere dyadischen Übungen schulen da-
gegen den direkten, alltäglichen Umgang
mit anderen. Die Teilnehmer lernen, sich
im Verhältnis zu anderen zu reflektieren,
ob auf emotionaler oder auf kognitiver
Ebene. Schließlich tut es ihnen selbst auch
gut, wenn ihnen jemand wohlwollend zu-
hört – ohne zu bewerten oder Ratschläge
zu erteilen. Dadurch entwickeln sie ein
immer größeres Gefühl von Nähe und
59
 Zusammengehörigkeit. Sie sind zuneh gekommen, dann habe ich bestimmt wie nerer Körpervorgänge wie des Herzschlags.
mend bereit, Persönliches zu teilen, auch der viel zu schnell geredet und keine voll Sie ist wichtig, um sich der eigenen Ge
Unangenehmes. ständigen Sätze zusammengebracht ...“ fühle bewusst zu werden. Da konnten wir
Weil sie einander immer besser Was lernen wir beide bei der Übung? erst nach sechs Monaten nennenswerte
kennenlernen? Sie als Zuhörerin müssen herausfinden, Veränderungen messen.
Eigentlich nicht, denn die Dyadenpartner aus welchem Persönlichkeitsanteil heraus Verändert sich in so kurzer Zeit
wechseln jede Woche. Es geht hier nicht ich spreche. Sie versetzen sich also in mei auch schon das Gehirn, oder muss ich
um klassische Freundschaften, sondern um ne Perspektive, vollziehen meine Glau dazu wie ein buddhistischer Mönch
die Stärkung der „Common Humanity“, benssätze nach und versuchen daher, mein Tausende Stunden meditiert haben?
der geteilten Menschlichkeit. Durch die Handeln besser zu verstehen. Und ich Nein, wir konnten eindrucksvoll zeigen,
Dyaden fühlen sich die Teilnehmer im lerne, wie sich mein Denken und Handeln dass die Großhirnrinde auch bei Anfän
Laufe der Zeit generell anderen Menschen anders einfärbt – je nachdem, mit welchem gern bereits nach drei Monaten mentalen
verbundener. Das ist spannend, weil wir inneren Anteil ich mich gerade identifi Trainings dicker wird – und zwar jeweils
aus der Forschung wissen, dass Menschen, in den Arealen, die in dieser Zeit beson
die sich einsam fühlen, eher krank werden tion immer wieder wechsele, trainiere ich ders oft aktiviert wurden. Jedes Trainings
meine Ich Flexibilität: Ich erkenne auch modul verändert also andere synaptische
ben. Für sie könnte es therapeutisch nütz im Alltag leichter, durch welche Anteils Verbindungen, ähnlich wie wir beim Sport
lich sein, mit dieser Form der Meditation brille ich gerade schaue – und kann sie gezielt durch spezifische Übungen unsere
die Erfahrung von sozialer Verbundenheit schneller wieder wechseln. Unsere Studie Bein oder Rückenmuskulatur verbessern
zu trainieren. zeigt: Je genauer ich meine inneren Per können. Wenn ich mich zum Beispiel je
Warum gibt es unterschiedliche sönlichkeitsanteile kenne, desto besser den Tag innerlich auf Mitgefühl und Dank
kann ich mich in andere hineinversetzen. barkeit ausrichte, dann verändert sich da
übernahme? Interessant ist auch, dass dieser Effekt durch nicht nur mein Verhalten, sondern
Unser Mitgefühl bezieht sich stark auf dann besonders stark ist, wenn ich mir und auch mein Gehirn, und zwar in Netzwer
Menschen, die uns nahestehen, das hat meinem Gegenüber auch meine negativen ken, die diese sozio emotionalen Prozesse
sich evolutionär so entwickelt. In unserer oder verletzlichen Seiten eingestehe. verarbeiten. Während des Moduls „Perspek
globalisierten Welt müssen wir jedoch Je länger ich meditiere, desto stärker tive“ wiederum verändern sich Regionen,
auch lernen, diejenigen zu akzeptieren sind also die Effekte? die für die Perspektivübernahme wichtig
und zu verstehen, die uns fremd sind, die In den meisten Bereichen ja, nur die Auf sind. Wir können also durch kurzes tägli
andere religiöse oder politische Überzeu merksamkeit ließ sich nach drei Monaten ches mentales Training selektiv die „Hard
gungen haben. Wir müssen also beides kaum noch weiter steigern. Was erstaun ware“ unseres sozialen Gehirns verändern.
trainieren: mit dem Modul „Affekt“ unser lich viel Zeit braucht, ist die Verbesserung Und das bei im Mittel über Vierzigjähri
Mitgefühl, mit dem Modul „Perspektive“ der Interozeption, der Wahrnehmung in gen – also Menschen in einem Alter, in
unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzu dem, wie man bisher annahm, die graue
denken – in der Psychologie „Mentalisie Substanz, wenn überhaupt, eher dünner
ren“ oder „Theory of Mind“ (ToM) ge TIPPS und nicht dicker wird.
nannt. Dabei sind im Gehirn weitgehend
andere Areale aktiv als beim Mitgefühl. Meditieren lernen effekte an?
Das Training für diese Form von Das müssen wir noch auswerten. Aber
Perspektivenwechsel haben Sie eigens Das ReSource-Training gibt vermutlich ist auch das wie beim Sport:
entwickelt. Wie funktioniert es? es bisher nicht als Kurs. Wenn man nichts für seine Fitness tut,
Die Teilnehmer machen sich bewusst, dass Anbieter für Stressbewälti werden die Muskeln schwächer.
sie verschiedene Persönlichkeitsanteile in gung durch Achtsamkeit Kann sich zukünftig jeder je nach
sich tragen, eine Art „innere Familie“: zum (MBSR) und Bedarf eine Übung aus dem ReSource
Beispiel das verspielte Kind, die Richterin, basierte kognitive Therapie Projekt herauspicken?
strenge Lehrerin, gestresste Managerin ... (MBCT) finden sich beim Es wäre besser, in einer sinnvollen Abfol
MBSR-MBCT-Verband (www.
In der Partnermeditation, der Dyade, be ge alle Techniken zu erlernen. Denn auch
mbsr-verband.de), Übungen
schreiben sie dann Alltagserlebnisse aus wenn man sie einzeln trainiert – am Ende
und Informationen zu
einer dieser Rollen heraus. Mitgefühl in einem kosten -
ergänzen sie sich: Wenn ich Skifahren
Wie würden Sie dann zum Bei losen E-Book von Tania lerne, trainiere ich zwar auch erst einen
spiel dieses Interview aus der Rolle Ihrer Singer (www.compassion- Schneepflug, dann einen Bogen – aber
„inneren Richterin“ heraus erzählen? training.org). Einen seriösen nachher kombiniere ich alle Einzelteile.
Ich würde mein Verhalten, meine Gedan Einstieg in die Achtsamkeits - In unserem Alltag brauchen wir auch alles:
ken und Gefühle während des Interviews meditation bieten auch die Achtsamkeit, Mitgefühl und den Perspek
meist verurteilen: „Erst bin ich zu spät Apps Balloon (deutsch) und tivenwechsel.
Headspace (englisch).

60 GEO 02 2018
 GROSSES
EXTRA
LEBEN IN
DER CITY

DIESES
MAGAZIN
SPRICHT
FÜR SICH.

SCHÖNER WOHNEN im Februar.

Jetzt im Handel.
Oder reinblättern auf schoener-wohnen.de.
Gewaltige Kolben
komprimieren
im Reaktor der
Firma General
Fusion bei Vancou -
ver eine Wolke
aus Atomkernen
auf die Größe eines
Golfballs – Voraus -
setzung für die
Kernverschmelzung

62
 PHYSIK

DIE
SONNE
AUF
ERDEN
Mit der Kernfusion
die Energieprobleme der
Menschheit zu lösen
ist eine verführerische Idee.
Doch alle bisherigen
Versuche haben sich
endlos verzögert.
Nun wollen kleine
Privatfirmen beweisen,
dass es schneller geht.
Kann das gelingen?

Fotos: Ian Allen

GEO 02 2018 63

A
ALS MICHEL LABERGE beschlossen
hatte, auf der Erde eine kleine Sonne zu
erschaffen, kündigte er seine Arbeit als
Physiker und mietete bei Vancouver die
Garage einer ehemaligen Autowerkstatt.
Sie war klein, schmutzig und dunkel und
kostete 100 Dollar im Monat.
Täglich schraubte er dort an einer
fußballgroßen Maschine, aus der Kabel
ragten wie abstehende Haare. Laberge, zer-
zauster roter Bart und Doppelstegbrille,
kämpfte gegen Lecks, gegen Kurzschlüsse
und gegen eines der größten Probleme der
Physik. Monat für Monat schwanden sei -
ne Ersparnisse.
Dann, an einem Tag Anfang 2005,
dreieinhalb Jahre nach seiner Kündigung,
zündete Laberge einige Kondensatoren,
die seine Maschine mit Energie versorgten.
Es gab einen Knall, und auf einem Oszil-
loskop schlug eine Kurve nach unten aus.
Bald war er sich sicher, dass er es ge-
schafft hatte. Zu Hause umarmte er seine
Frau und sagte ihr, er, Michel Laberge,
arbeitsloser Physiker aus Bowen Island bei
Vancouver, werde nun das Energieproblem
der Menschheit lösen.
In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhun-
derts, so ist es Ende 2015 auf der Pariser
Klimakonferenz verabschiedet worden, wol-
len die Staaten der Erde nur noch so viele
Klimagase in die Atmosphäre blasen, wie
Wälder, Grasland und Kleinstlebewesen
wieder aus ihr herausfiltern und Ozeane
aufnehmen können. Bisher hat niemand
eine Energiequelle aufgetan, mit der dieses
Ziel erreichbar wäre ohne gravierende Ne-
benwirkungen.
Gas, Öl und Kohle erzeugen Klima -
gase, Atomkraftwerke radioaktive Abfälle,
64
Text : M A R T I N S C H L A K
und erneuerbare Energien verwandeln Fel- Kann sie gelingen? Ist eine Experi-
der in Einöden aus Mais oder in Wälder mentalphysik jenseits von internationalen
aus Windrädern. Forschungsverbünden und Monsterprojek -
Eine Energiequelle allerdings gibt es, ten denkbar? Und sinnvoll?
die keines dieser Probleme hat, die das Als in Michel Laberges Garage das
Klima nicht anheizt und Ressourcen nutzt, Oszilloskop ausgeschlagen und der Phy-
die schier unendlich verfügbar sind. Sie siker seine Frau umarmt hatte, fuhr er zu
hat aber ein anderes Problem: Noch funk- Investoren, die Namen trugen wie Chrysa-
tioniert sie nur in den Berechnungen der lix und BDC, auf Start-ups spezialisierte
Physiker. Sie heißt Fusionskraft. Risikokapitalgesellschaften.
In einem Atomkraftwerk werden Ker- Dort traf der Mann mit der Doppel -
ne gespalten, in einem Fusionskraftwerk stegbrille auf Menschen in maßgeschnei-
sollen sie verschmelzen. So wie in der derten Anzügen, die viele Millionen Dol-
Sonne. Ein Fusionskraftwerk würde mit lar verwalten. Laberge zeigte ihnen Fotos
einem Gramm Brennstoff so
viel Energie erzeugen wie ein
herkömmliches Kraftwerk mit
elf Tonnen Kohle. Es kann nicht
außer Kontrolle geraten und
1 GRAMM
stößt kein Kohlenstoffdioxid aus, Brennstoff kann in der Fusion so
sondern meistens nur Helium, viel Energie erzeugen wie
ein Edelgas, das Luftballons gen
Himmel trägt. 11 Tonnen Kohle in einem Kraftwerk
Eine solche „Sonnenmaschi-
ne“ ist eine alte und verführeri-
sche Idee. Manche sagen, eine abwegige. seiner Maschine, auf denen im Hinter -
In jedem Fall ist sie eine sündhaft teure. grund die alte Autowerkstatt mit Zapfsäu -
Das bislang vielversprechendste Fusions- le und Wagenheber zu sehen war, und
projekt heißt ITER, beschäftigt im Süden erklärte ihnen die Ausschläge auf dem
Frankreichs knapp 2000 Menschen und Oszilloskop. Am meisten aber interessier-
wird von 35 Nationen der Erde finanziert, ten sich die Männer für sein Versprechen.
weil kein Land es allein stemmen könnte. Michel Laberge behauptete, er könne
Derzeit werden die Kosten auf 20 Milliar- innerhalb von drei Jahren eine Fusionsma-
den Euro geschätzt. schine bauen, die mehr Energie erzeuge,
als sie zum Betrieb selbst benötige. Ein
Vorhaben, an dem bislang alle Wissen-
D schaftler gescheitert sind.
Den Kapitalgesellschaften gefiel die-
D A S I R R I T I E R T Michel Laberge nicht. ser Plan. Sie gaben Laberge etwas mehr
Er versteht sich als Start-up. So wie Apple als eine Million Dollar. Das war 2008.
angeblich in einer Garage entstanden ist; Laberge konstruierte Prototypen, pro -
so wie Airbnb die Welt der Übernachtun - duzierte Erfolge, bekam mehr Geld, bis
gen von Grund auf verändert hat mit heute 100 Millionen Dollar. Zu den Inves-
nichts als einer radikalen Idee und Geld toren gehört neben dem malaysischen
von risikobereiten Investoren; so wie Uber Staatsfonds auch die Investmentfirma des
die Welt der Taxis revolutioniert – so geht Amazon-Gründers Jeff Bezos.
Laberge die Fusionskraft an. Michl Binderbauer, der Mitgründer
Er ist nicht allein. In Südkalifornien des zweiten Start-ups, überzeugte die Ri-
tüftelt Michl Binderbauer, aufgewachsen sikokapitalgesellschaften von Microsoft-
in Österreich und überaus verschwiegen, Mitgründer Paul Allen und der Rockefel -
an demselben Vorhaben: Weltrettung im ler-Familie, die ihr Vermögen mit Öl
Hinterhof. gemacht hatte – ausgerechnet. Ihm haben
GEO 02 2018
Seit 2001 tüftelt
der kanadische
Physiker Michel
Laberge an seiner
»Sonnenmaschine«.
100 Millionen Dollar
haben Investoren
ihm bislang dafür
gegeben

65
 W E ND E L ST E I N- RE AKTO R
Das deutsche
Sonnenfeuer
In Greifswald
erproben Physiker eine
Alternative zu ITER
Konkurrenz erwächst dem
Investoren bislang 500 Millionen Dollar
gegeben. Damit könnte Michl Binderbau -
er vier große Flugzeuge vom Typ Boeing
737 kaufen oder 600 Windkraftanlagen. Er
aber baut mit diesem Geld eine Maschine,
von der niemand weiß, ob sie jemals funk-
tionieren wird.
ge ist, wer von ihnen die bessere Idee hat,
den Feind zu zähmen.
ITER ist lateinisch und bedeutet „der
Weg“, was zu verstehen ist als: der einzige
Weg. ITER ist weniger ein Projekt, es ist
vielmehr ein kleines Dorf, in dem knapp
2000 Menschen arbeiten. Dieses Dorf ent -
steht im Süden Frankreichs und wird ein -
mal 39 Gebäude umfassen, darunter ein

riment ITER nicht nur in nord DAMIT ATOMKERNE

amerikanischen Start-ups,
sondern auch in Deutschland.
Am Max Planck Institut für
Plasmaphysik in Greifswald hat
im Dezember 2015 eine riesige,
eine Milliarde Euro teure
Fusionsmaschine namens
Wendelstein 7-X ihren Betrieb
aufgenommen. Sie beruht auf
einem Reaktorprinzip, das sich
Stellarator nennt.
Der Stellarator ähnelt dem
donutförmigen Tokamak, auf den
das ITER-Experiment setzt.
spulen umgeben, doch ist der
Stellarator in einem entschei
denden Punkt überlegen: der
Stabilität des Plasmas, des
Fusionsbrennstoffs. Der Tokamak
muss bislang zusätzlich zum
Magnetfeld einen starken Strom
im Plasma induzieren, damit die
Plasmateilchen nicht von ihrer
Bahn abdriften. Dieser Strom
lässt sich nur für wenige Minuten
aufrechterhalten; das Plasma
muss daher immer wieder
an und ausgeschaltet werden.
Bei einem Stellarator sind
dagegen die Elektromagnete so
geschickt verdreht, dass kein
zusätzlicher Strom nötig ist. Er
kann im Dauerbetrieb laufen.
Allerdings ist der Stellarator
technologisch noch nicht so weit
entwickelt wie der Tokamak und
aufwendiger zu konstruieren.
Ziel der Greifswalder Forscher ist
es, bis 2021 etwa 100 Millionen
Grad heiße Plasmen zu produ
zieren, die eine halbe Stunde
stabil bleiben. Wie ITER ist auch
Wendelstein 7 X eine Maschine,
die selbst keinen Strom erzeugt.
D verschmelzen,
siebenstöckiges Reaktorhaus und ein Käl-
tekraftwerk von der Größe eines Flugha -
fenterminals.
müssen sie zwei gewaltige Hindernisse ITER ist auch ein gigantisches Ent -
überwinden. Zum einen sind die Kerne wicklungsprojekt. Jeder der 35 Staaten, dar-
umgeben von einer Wolke aus negativen unter auch Schwellenländer wie Indien
Elektronen, die sie abschirmen wie ein oder China, soll am Ende die Technologie
Schutzschild. Zum anderen sind die Ker - der Fusion beherrschen. Deshalb steuert
ne positiv geladen, weshalb sie sich gegen- jedes Land einzelne Bauteile für ITER bei.
seitig abstoßen. Um die Hürden zu be - Diese Idee ist einzigartig und tollkühn. Sie
zwingen, müssen sich die Teilchen extrem macht den Bau zu einem Albtraum für
schnell bewegen oder, was physikalisch das jeden Projektmanager.
Gleiche ist, sehr heiß sein. Allein der Reaktorkessel, das Herz
Heizt eine Fusionsmaschine Wasser- von ITER, besteht aus neun Komponen -
stoff auf, laufen nacheinander zwei Vor- ten, von denen sieben in Deutschland und
gänge ab. Zuerst entfernen sich die Elek- Italien und zwei in Südkorea gefertigt
tronen von den Kernen der Wasserstoff- werden. Den Kessel werden 18 Magnet-
atome wie Planeten, die von ihrer Bahn spulen allein für das waagerechte Magnet-
um die Sonne abdriften. Es entsteht ein feld umgeben, jede 310 Tonnen schwer.
dünnes Gemisch geladener Teilchen, ne- Neun dieser Spulen werden in einer Fabrik
gativer Elektronen und positiver Kerne, in Norditalien gewickelt, die anderen neun
das die Physiker Plasma nennen. auf der japanischen Insel Honshu. Für die
Bei noch höheren Temperaturen oder Spulen werden 88 Kilometer gurkendicke
höherem Druck kommen sich die Kerne Kabelstränge benötigt, von denen jeweils
in diesem Plasma häufig so nahe, dass sie 6,5 Kilometer in den USA und in China
fusionieren können. Dabei verwandelt sich gedreht werden, 17 Kilometer in Russland,
ein Teil ihrer Masse in Wärmeenergie. Die jeweils 18 Kilometer in Südkorea und der
Wärme lässt sich, wie in einem
gewöhnlichen Kraftwerk, mit-
hilfe von Wasserdampf und Tur-
binen in Strom umwandeln.
So lautet die Theorie. Die
20 MILLIARDEN
Realität ist komplexer. Euro wird der Fusionsreaktor
Plasma lässt sich nicht ein- ITER in Frankreich aller Voraussicht
sperren wie ein Gas. Sobald es
mit einer Wand des Reaktors in nach mindestens kosten
Berührung kommt, kühlt es ab,
die Atomkerne werden langsam
und verschmelzen nicht mehr. Fusions- EU und 22 Kilometer in Japan. Es verwun-
maschinen sind daher vor allem technolo- dert nicht, dass ITER neun Jahre hinter
gisch ausgeklügelte Gefäße, um das Plasma dem Zeitplan liegt.
in der Schwebe zu halten. Wenn dieses Monstrum von Maschi -
Michel Laberge, Michl Binderbauer ne im Jahr 2025 in Betrieb geht, wird es
und die weltweite Kooperation ITER ha - wissenschaftliche Daten produzieren, aber
ben ein gemeinsames Ziel und einen ge- keinen Strom. ITER soll beweisen, dass
meinsamen Gegner: das Plasma. Die Fra- der Bau eines Fusionskraftwerks technisch

66 GEO 02 2018
 FUSION STECH NO LOG IE 1

Ein Injektor (1) schießt ein ringförmiges
Plasma aus Deute rium- und Tritiumkernen
durch einen Trichter (2) in eine Brenn -
kammer (3). In der nächsten Generation
der Fusionsmaschine sollen 200 Pressluft
kolben (4) rund um die Brennkammer im
gleichen Moment zünden. Dabei erzeugen
sie eine kugelförmige Druckwelle, die
das Plasma zusammenpresst. Für den
Bruch teil einer Sekunde wird das Plasma
so heiß, dass jeweils ein Deuterium- mit
einem Tritiumkern verschmilzt. Dabei ent-
stehen ein Heliumkern und ein Neutron.
Gemäß Einsteins Formel E = mc ² wird in
dieser Reaktion Masse in Energie
umgewandelt. Über die Innenwand der
Brennkammer läuft ein Strudel aus
flüssigem Blei und Lithium (5) und leitet
- die Energie als Wärme ab. Gleich zeitig
fängt das flüssige Metall einen Teil der
Neutronen ab, bevor sie die Kammerwand
schädigen können. Dampfturbinen setzen
die Wärme in Elektrizität um.
1

Die Kolbenmaschine
Die Firma General Fusion komprimiert das Plasma mit
einer mächtigen Druckwelle

67
 In einer unschein
baren Fabrikhalle
nahe Los Angeles
steht »Norman«, die

reaktors von Tri

Alpha Energy. Im

zierte die Maschine

ihr erstes Plasma

68
 und wirtschaftlich möglich ist. Bis zu ei-
nem ersten solchen Kraftwerk dauert es
noch mindestens drei Jahrzehnte, sagt die
EU-Stelle Fusion for Energy, die ITER
mitfinanziert.

AN EINEM KALTEN TAG

A im Spät-
winter sitzt Michel Laberge im Büro sei-
ner Firma General Fusion in der Nähe von
Vancouver vor einem Bildschirm, über den
Zahlenkolonnen laufen. Den Raum teilt
er sich mit einem Mitarbeiter, ein Kabuff,
in das zwei Schreibtische gezwängt sind.
Er sagt, man solle hereinkommen, doch
seine zusammengekniffenen Augen sagen,
dass man eigentlich störe.
Auf Laberges Tisch liegt ein Buch mit
dem Titel „Tokamak“, keine Topfpflanzen,
keine Klebezettel, kein Telefon. Telefone,
sagt Laberge, möge er nicht, die klingelten
ständig. Er besitzt zwar ein Handy, doch
dessen Nummer kennen im Unternehmen
nur drei Menschen.
Laberge wuchs als viertes von fünf
Kindern in Québec auf, dem französisch-
sprachigen Teil Kanadas. Er erzählt, seine
Eltern hätten genug mit seinen älteren
Geschwistern zu tun gehabt. „Vermutlich
wussten sie nicht einmal, dass ich über-
haupt existierte“, sagt er.
Der junge Michel flüchtete in seine
eigene Welt, wo er Maschinen zusammen-
schraubte aus Dingen, die er im Haus fand.
Als er ungefähr zwölf Jahre alt war, baute
er aus einer Autobatterie und einem Mo -
tor einen ferngesteuerten Roboter mit
Der aus Österreich stammende Physiker Michl Binderbauer verfolgt bei Tri Alpha
einem Greifarm und verrückte damit die
Energy ein Konzept, von dem Kollegen sagen: Das wird nicht funktionieren
Mülltonnen der Nachbarn.
Später studierte er Physik, promovier-
te und arbeitete zehn Jahre lang bei einer Reaktorinneren ein magnetisches Feld, das ein Kolben das Gas in einem Motor. Das
Firma, die Laserdrucker für die Industrie Plasma einsperrt wie in einem Käfig. verlangt exakt synchronisierte Zündun-
herstellte. Er malte sich aus, bis zu seiner 1968 brachte ein Tokamak erstmals gen. Laberge dachte an die hochpräzisen
Rente in vielen kleinen Schritten Drucker Plasma für kurze Zeit unter Kontrolle. Servosteuerungen, die er in seinen Dru-
zu verbessern. Da gestand er sich ein, dass Daraufhin floss ein großer Teil des Geldes ckern verbaute. Würde er damit die Träg-
er viel Geld verdiente mit einem Job, der für Fusionsforschung in seine Entwick- heitsfusionbeherrschen?
ihn anödete. lung. Andere Konzepte gerieten in Ver- Der Versuch führte dreieinhalb Jahre
Die meisten Fusionsmaschinen, die gessenheit. später zu den Ausschlägen auf seinem Os-
bisher gebaut worden sind, beruhen wie In einer alten Veröffentlichung stieß zilloskop.
auch ITER auf einem Prinzip, das Phy - Michel Laberge auf eine andere Idee, die Damals wusste Michel Laberge noch
siker „Tokamak“ nennen: einem Reaktor magnetische Trägheitsfusion (magneto-in- nicht, dass drei Flugstunden weiter südlich
in Form eines Donuts, umschlungen von ertial fusion)heißt. Sie benötigt eine Ma - ein anderer Physiker ein ähnliches Ziel
Magnetspulen. Die Spulen erzeugen im schine, die Plasma zusammendrückt wie verfolgte. Den Namen Michl Binderbauer

GEO 02 2018 69
 hatte er noch nie gehört. Was damit zu - „Lange Zeit war Tri Alpha vor allem Binderbauer war nun spät dran mit
sammenhängt, dass so gut wie niemand je dafür bekannt, ein Geheimnis aus sich Bewerbungen, doch in Irvine, im warmen
den Namen gehört hatte. selbst zu machen“, sagt Binderbauer, 48 Kalifornien, war noch ein Platz frei, als
Der Weg zu Binderbauer, Mitgründer Jahre alt. Er trägt kurze Haare mit schar - Plasmaphysiker.
der Firma Tri Alpha Energy, führt in das fen Schnittkanten, eine goldene Uhr mit Er schloss mit Bestnoten ab und wur -
Industriegebiet von Foothill Ranch, einer vielen Rädchen und das kalifornische Lä- de erst Student, dann Mitstreiter eines der
dieser kalifornischen Planstädte, die keine cheln der Zuversicht. klügsten Köpfe der Fusionsphysik, Nor-
Seele haben, aber Straßen von der Breite Zu seiner Sonnenmaschine kam Bin - man Rostoker. Rostoker hatte Anfang der
derbauer, Sohn eines 1990er Jahre eine Fusionstechnologie ent-
österreichischenUnternehmers, wickelt, die sich Feldumkehr-Konfigura-

3,5 MILLIARDEN durch einen Zufall. Nach dem

Abitur interessierte er sich für As-
trophysik, für die Entstehung und
tion (field-reversed configuration)nennt.
Damit traten Binderbauer und Ros -
toker gegen ITER an. Gegen das Geld der
Grad müssen die Atomkerne Vernichtung der Sterne. Er bekam Welt. Aber heimlich. Fast zwei Jahrzehn-
heiß werden, damit sie sich in der ein Stipendium an der Johns te lang blieb die Firma verborgen. Er habe
Hopkins University in Baltimore, erst Erfolge vorweisen wollen, sagt Binder-
Plasmawolke vereinigen auf deren Gelände damals die bauer. In keinem anderen Forschungsge-
Datenzentrale für das Hubble- biet seien so viele unerfüllte Versprechun-
Weltraumteleskop entstand. gen gemacht worden wie bei der Fusion.
einer deutschen Autobahn. Die Halle, in Binderbauer reiste nach Baltimore. Das hat mit den Löchern im Magnet -
der das Unternehmen untergekommen ist, Auf dem Weg zum Universitätscampus lief käfig zu tun.
trägt weder ein Logo noch einen Namen, er an zerfallenen Häusern vorbei, stieg Plasma ist ein störrischer Materiezu -
nur eine große Hausnummer: 19631. über Schneematsch, Müllhaufen und Fern- stand, der seinen ganz eigenen Gesetzen
Hinter der Seitentür warten zwei Si - wärmeleitungen, an die sich Obdachlose folgt. Nie liegt es vollkommen still da.
cherheitsmänner. Ein Mitarbeiter zeigt kauerten. Das Institut, das Hubble betreu - Ständig üben seine geladenen Teilchen
den Weg in Binderbauers Büro, durch das te, war brillant, sagt er, doch die Stadt er- Kräfte aufeinander aus, wodurch Turbu-
Fenster fällt warme kalifornische Februar- schreckte ihn. Er überlegte tagelang – und lenzen entstehen, die heiße Plasmateilchen
sonne. gab das Stipendium zurück. aus dem Magnetkäfig kicken.

FU SION STECHN OLO GIE 2

2 1 5

4 3

70
 Die Geschichte der Plasmaphysik ist
eine Geschichte von der Entdeckung im -
mer neuer Wege, wie das Plasma seinem
Käfig entkommt. Je stärker die Wissen-
schaftler es in ihren Tokamaks, den donut-
förmigen Reaktoren, erhitzten, desto merk-
würdiger verhielt es sich. Sie gaben den
Phänomenen fantasievolle Namen wie
„Fischgräte“ oder „Sägezahn“ und bauten
immer größere Tokamaks, um sie zu be-
herrschen. ITER wird mit einer Höhe von
elf Metern und einem Durchmesser von
19 Metern der bislang größte Donut.
„Größe“, sagt Binderbauer, „ist keine
gute Lösung.“ Sie treibe den Bau der Fu-
sionsmaschinen in die Länge und ihren
Preis in die Höhe. Der Reaktorkessel sei-
ner Maschine ist vier Meter lang und so
schmal wie die Röhre einer Wasserrutsche.
Aber die Technik hinter dieser Ma -
schine ist absurd kompliziert. Sie formt
zwei Plasmakringel, die sich im Reaktor-
kessel zu einer zigarrenförmigen Plasma-
wolke vereinen. Im Gegensatz zu ITER
braucht Binderbauer keine 310 Tonnen
schweren Magnetspulen. Seine Teilchen
bewegen sich in der Zigarre so raffiniert
auf ihren Bahnen, dass sie ein Magnetfeld
aufbauen, in das sie sich selbst einsperren.
So die Theorie der Feldumkehr.
In der Praxis erfordert das eine soge-
nannte Neutralteilchenkanone. Sie schießt
schnelle Wasserstoffteilchen in das Plasma,
die, stark vereinfacht gesagt, die Turbulen-
zen beruhigen und eine Art schützenden
Kokon um das Plasma legen.
A
ALS MICHL BINDERBAUER den
Effekt der Kanone nach zwei Jahrzehnten
Entwicklungszeit experimentell nachwies,
begannen die Fusionsforscher in ihm ei-
nen ernsthaften Mitstreiter zu sehen. Der
Erfolg führte zu einem Vortrag vor der
ehrwürdigen American Physical Society
und im April 2015 zu einem Artikel in ei-
ner wichtigen Fachzeitschrift.
Binderbauer hatte es vollbracht, den
Magnetkäfig um sein Plasma stabil zu
halten. Sogar sehr lange stabil zu halten,
zumindest nach den Maßstäben von Fu -
sionsphysikern: fünf Millisekunden lang.
Michel Laberge, der Kanadier, sagt,
niemand brauche eine Maschine, die das
Plasma für fünf Millisekunden einsperre.
Fünf Millisekunden, so lange!
Sein jüngster Prototyp ist eine Kugel
aus Stahl, etwa doppelt so hoch wie er
selbst und versehen mit 14 Pressluftkolben.
In eine solche Kugel will er mit einer Plas-
makanone eine Wolke wabernder Teilchen
einspritzen, nicht viel größer als ein Medi-
zinball. Dann zünden die Kolben und drü -
cken das Plasma auf ein Tausendstel des
Volumens zusammen. Aus dem Medizin-
ball wird ein Golfball; die Atomkerne
rücken zusammen und fusionieren.
Während ITER das Plasma mit 310
Tonnen schweren Magnetspulen einsperrt,
Binderbauer es mit Wasserstoff beschießt,
will Laberge es im Sekundentakt zusam-
mendrücken. Die Herausforderung liegt
darin, das Plasma schneller zu komprimie-
ren, als es entweichen kann.
Die Kanone heißt „Spector 1b“ und ist
ein mannshoher Zylinder aus Elektroden -
ringen und Isolierungen. Sie benötigt für
einen Schuss dermaßen viel Energie in so
kurzer Zeit, dass sie das Stromnetz des
gesamten Bezirks lahmlegen würde. Spec-
tor 1b hängt deshalb an 124 Kabeln, jedes
von der Dicke eines Staubsaugerrohrs, die

Der Kollisionsofen
Das Start-up Tri Alpha Energy jagt schnelle
Teilchen frontal aufeinander

Starke elektrische Entladungen in Quarzröhren

(1) auf beiden Seiten der Maschine erzeugen ein
Plasma aus Protonen und Bor-Ionen, das von
Magnetspulen (2) stabilisiert wird. Die Spulen
beschleunigen die beiden Plasmawolken in den
Reaktorkessel (3), wo sie aufeinanderprallen und
eine extrem heiße, zigarrenförmige Plasma röhre
bilden. Die Teilchen bewegen sich in dieser Zigarre
so raffiniert auf ihren Bahnen, dass sie sich selbst
einsperren wie in einem Käfig. Divertoren (4)
fangen kalte Teilchen aus dem Plasma ab, während
Neutralteilchenkanonen (5) Wasserstoffteilchen
in das Plasma schießen. Diese halten das Plasma
stabil, zugleich dienen sie als Brennstoff. Bei
Temperaturen von mehr als 3 Milliarden Grad
verschmelzen Bor-Ionen und Protonen zu jeweils
drei Heliumkernen. Nutzung der Energie ist in
diesem Prototyp noch nicht vorgesehen.

GEO 02 2018 71
 35 Mikrosekunden nach der Entla-
dung strömen die Teilchen in die Spitze
der Kanone.
Nach zwei Millisekunden ist alles vor-
bei – 50-mal schneller als ein menschlicher
Wimpernschlag. Der Plasmakringel ver-
pufft, als hätte es ihn nie gegeben. Auf
einem der Bildschirme im Kontrollraum
springt ein Zähler auf 11554.
11554-mal, so oft hat die Kanone Spec-
tor 1b bereits gefeuert, und immer wieder
haben Laberges Physiker die Parameter
verstellt, das Magnetfeld, die Stromstärke.
Doch noch immer überlebt das Plasma
nicht die angestrebten 2,5 Millisekunden.
Noch fehlt eine halbe Millisekunde.
Aus drei Jahren, die Laberge für seine
erste Sonnenmaschine veranschlagt hatte,
sind mittlerweile zehn geworden. Laberge
sagt, er habe seinen Gegner unterschätzt.
ITER mag ein größenwahnsinniges
Experiment sein, doch es beruht auf For-
schung von sieben Jahrzehnten und den
Simulationen von einigen der leistungsfä-
higsten Supercomputern. Kaum jemand
hat Zweifel, dass die Maschine funktio-
nieren wird, wenn sie denn fertig wird.

A
AM MAX-PLANCK-INSTITUT für
Plasmaphysik in Garching bei München,
einem der europaweit führenden Zentren
für Fusionsforschung und Partner des Fu-
sionsprojekts ITER, kennt man die Ideen
der Start-up-Gründer. An einen Erfolg
glaubt die wissenschaftliche Direktorin
des Instituts nicht.
Auf den Bruchteil einer Sekunde genau steuern Schaltkreise aus Spulen und
Kondensatoren die Stromzufuhr von Binderbauers energiehungrigen Teilchenkanonen
„Die wahre Bewährungsprobe steht
General Fusion noch bevor“, sagt die Pro-
fessorin Sibylle Günter: „Die Druckwelle
zu Kondensatoren führen, umzugskarton- speicher, strömen über acht Düsen Was- der Kolben wird niemals perfekt kugelför-
großen Energiespeichern, in sechs Etagen serstoffmoleküle ein. mig sein.“ An unebenen Stellen aber, sagt
übereinandergestapelt. 110 Mikrosekunden vor der Entladung Günter, entweiche das Plasma schneller,
Im Kontrollraum von General Fusion baut sich um die stählerne Mittelachse der als es sich komprimieren lasse.
klickt einer von Laberges Physikern auf Kanone ein Magnetfeld auf. Auch an Binderbauers Idee hat Sibyl-
einen Schalter, ein Alarmton läutet und Dann knallt es, Strom jagt über die le Günter ernste Zweifel. Im Gegensatz
ein Warnlicht blinkt. Staubsaugerrohre und lädt ringförmige zu den meisten Fusionsforschern möchte
In der Laborhalle setzen die Arbeiter Elektroden auf. Die Spannung zwischen Binderbauer in seiner Maschine nicht
ihren Hörschutz auf. diesen Elektroden beschleunigt freie Elek- Deuterium und Tritium verschmelzen,
In Spector 1b beginnt ein auf die Mi- tronen, die benachbarte Elektronen von schwere Varianten des normalen Wasser-
krosekunde getaktetes Programm. den Atomrümpfen fortreißen. Blitzartig stoffatoms, sondern Protonen und das Ele -
230 Mikrosekunden vor der Entladung heizt das Gas zu einem Plasma auf und ment Bor. Das hat einen entscheidenden
der Kondensatoren, der großen Energie - richtet sich an den Magnetfeldlinien aus. Vorteil, denn bei dieser Reaktion entstehen

72 GEO 02 2018
 keine Neutronen, die die innere Reaktor - gerissen, in die Plasmakanone ist Luft
wand radioaktiv machen. eingedrungen und hat das Vakuum zer-
Binderbauers Reaktion hat aber auch stört. Die Ingenieure von General Fusion
einen Nachteil: Für die Verschmelzung ist müssen sie aufschrauben, scheibchenweise
eine Temperatur von 3,5 Milliarden Grad auseinanderbauen und die Isolierung aus-
nötig. 3,5 Milliarden! tauschen. Als Michel Laberge von dem
Die zu erzeugen und zu beherrschen Unfall hört, zuckt er mit den Schultern.
halten viele Forscher für unmöglich. Bin- „Ein Physiker“, sagt er, „ist eben auch nur
derbauer, sagt die Garchinger Expertin, ein besserer Klempner.“
Innerhalb der nächsten
drei Jahre möchte Laberge
trugen Namen wie „Divertor“ oder „Ver-
zerrungselektrode“.
Inzwischen ausgewachsen, ist Norman
lang wie zwei Lastwagen. Er besitzt mehr
Neutralteilchenkanonen als sein Vorgänger
und trägt am Reaktorkessel 330 Anschlüs-
se für Messinstrumente, die Ingenieure
ständig überwachen. Die Temperatur der
eingespeisten Atomkerne soll auf 45 Mil-
lionen Grad steigen.
Im Juli 2017 gelang der Norman-Crew

2 MILLISEKUNDEN das Plasma beherrschen. 100

Millionen Dollar benötige er
ein wichtiger Schritt. Einer von Michl
Binderbauers Mitarbeitern drückte im
lang überlebt das Plasma im Reaktor dafür; der Mann im Woll - Kontrollraum einen Knopf. Auf den Be-
pulli, der Anzüge hasst, muss fehl hin entluden sich Kondensatoren und
von General Fusion. Das reicht wieder Investoren überzeu- Schwungräder mit einer Energie von meh -
gen. Manchmal, sagt Michel reren Megajoule. Und in der Fabrikhalle
noch nicht für eine Verschmelzung Laberge leise zum Abschied, im Süden von Los Angeles war es dann
sei er neidisch auf seinen für den Bruchteil einer Sekunde heißer als
habe die großen Instabilitäten im Plasma Konkurrenten Binderbauer. Weil der fünf- im Inneren der Sonne.
gezähmt. Seine Maschine erreiche heute mal so viel Geld bekommen habe wie er.
eine ähnliche Leistung wie der Tokamak Wenige Monate nach seinem Tri-
bereits in den 1960er Jahren. Aber bei hö- umph, der fünf Millisekunden dauerte, GEO-Redakteur M A R T I N S C H L A K
heren Temperaturen und Drücken erwar - ordnete Michl Binderbauer an, die Ma - ist Physiker. Er glaubt, dass er den Durch-
tet Günter neue Instabilitäten, von denen schine zu zerlegen. Er schuf Platz für ih- bruch der Fusionsenergie noch erleben
bislang noch niemand etwas ahnt. ren Nachfolger. „Norman“, benannt nach wird. Geld würde er aber in keine der
Das Plasma, dieser trickreiche Feind, Tri Alphas Mitgründer Norman Rostoker, Firmen investieren. I A N A L L E N arbeitet
ist nicht besiegt. wuchs schnell, wie ein Wurm, der immer als Fotograf in Seattle. Er hat sich auf
In den Tagen nach Schuss 11554 ruht länger wurde. Fast täglich lieferten Spedi- Porträts und Stillleben von großen Indus-
Spector 1b. Eine Keramikisolierung ist teure durch das Hallentor Bauteile an, sie trieanlagen und Laboren spezialisiert.

U MWELTR ISIK EN

Wie sicher ist die Fusion?

Die Kernverschmelzung birgt geringere Gefahren als die Kernspaltung

Kann die Kernverschmelzung außer
Kontrolle geraten?
Nein. Bei Störungen wird das Plasma
im Fusionsreaktor instabil, und die
Kernverschmelzung bricht ab. Das ist
bei einem Spaltungsreaktor anders:
Dort zerfallen auch nach dem
Abschalten noch Atomkerne und
produzieren Hitze, die den Reaktor
kern zum Schmelzen bringen kann.
Entweicht aus dem Reaktor im
Normalbetrieb Radioaktivität?
Genauere Untersuchungen dazu
existieren bislang nur für die
klassischen Reaktoren nach dem
ITER-Konzept. Diese Anlagen
arbeiten mit radioaktivem Tritium,
einer schweren Variante des
Wasserstoffs. Tritium ist sehr mobil,
kann durch kleine Lecks entweichen
und sogar durch Metallwände
hindurchwandern. Ein Fusionskraft
werk benötigte einige Kilogramm
davon. Eine Sicherheitshülle und
- Filtersysteme könnten gewährleisten,
dass nicht mehr als ein Gramm des
Gases jährlich in die Umgebung
entweicht.
Wie viel radioaktiver Müll entsteht
bei der Kernfusion?
Ein Fusionsreaktor produziert ähnlich
große Mengen radioaktiver Abfälle
wie ein klassischer Atommeiler. Bei
einer Anlage mit einer Leistung von
1200 MW fallen schätzungsweise bis
zu 70 000 Tonnen während der
Betriebszeit und bei der Stilllegung
- an. Der radioaktive Müll eines
Fusionskraftwerks strahlt aber weit
schwächer als der aus der Kernspal -
tung. Die radioaktiven Isotope haben
außerdem relativ kurze Halbwerts -
zeiten. Es reicht deshalb, selbst den
am stärksten strahlenden Fusions -
müll einige Hundert Jahre zu lagern,
bis die Radioaktivität weitgehend
abgeklungen ist. Das Gros kann oft
schon nach Jahren recycelt werden.
Klaus Bachmann

GEO 02 2018 73
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Text: Andreas Weber, Fotos: Christian Ziegler

76
 Diesen Augen entgeht
nichts: Sie enthalten

system und lassen sich

ander bewegen. Das

Parsons Chamäleon
nimmt damit vor allem
Insekten und kleine
Wirbeltiere ins Visier

Chamäleons sind Zauberkünstler: Sie verblüffen Forscher mit

raffinierten Tricks – und mit immer neuen Arten. Besonders kreativ

sind sie im exklusivsten Tierreich der Erde, auf Madagaskar

GEO 02 2018 77
 leon erlegt die
Heuschrecke per
»Zungenschuss«.
Dabei beschleunigt
die Zunge 30 mal
schneller als ein
Formel 1 Wagen

78
GEO 02 2018 79
80 GEO 02 2018
 Ein Pärchen von
Brookesia decaryi ist
im Blattstreu kaum
zu erkennen. Dabei
zählt ihre Art mit acht
Zentimeter Länge zu
den größeren in der
Gruppe der Stummel -
schwanzchamäleons

81
 A
ALS SICH FRANK GLAW und Jörn Köhler von
einem Fischer auf die Insel Nosy Hara an der Nord -
spitze Madagaskars übersetzen lassen, fühlen sich die
beiden Biologen wie Forschungsreisende des 19. Jahr-
hunderts. Auf dem Boden des klapprigen Holzkahns
liegen Schlafsäcke, ein Zelt, Blechkisten mit Ausrüs-
tung: Proviant, Probeflaschen, Alkohol. Und Kameras.
Schließlich schreibt man das Jahr 2007.
Vorsichtig umrunden sie das winzige Eiland, das
der lokalen Bevölkerung als heilig gilt. Am schmalen
Strand haben Fischer aus Treibholz ein paar Gestelle
errichtet, an denen Tintenfische fahlweiß zum Trock-
nen in der Sonne baumeln. Dahinter ragt schroff und
unzugänglich die Felskante der Insel empor. Auf der
Seeseite öffnet sie sich zu einem Tal, kühl und grün, Mit aufgerissenem Maul droht
an dessen Grund ein Bach strömt. das Riesenchamäleon. Diesen Namen
Es scheint der richtige Ort zu sein. Schatten, hat es verdient: Bis zur
Schwanzspitze misst es 70 Zentime -
Feuchtigkeit, auf dem Boden Laubstreu – und keine
ter. Chamäleon-Rekord!
Spuren menschlicher Einwirkung. Die beiden For -
scher schlagen ihr Camp auf. Sie sind die Ersten, die
Nosy Hara systematisch untersuchen.
Noch ahnen sie nicht, dass sie auf eine Weltsen-
sation stoßen werden.
Glaw, Angestellter der Zoologischen Staatssamm-
lung in München, und Köhler vom Hessischen Lan -
desmuseum in Darmstadt sind Artenjäger. Sie suchen
nach archaisch wirkenden Echsen mit ruckendem
Schleichgang, plötzlichen Farbwechseln und bizarren
Hörnern, Kragen, Helmen und Drachenkämmen –
nach Chamäleons.
Schon als Studenten hatte es ihnen Madagaskar
wegen der exklusiven Tierwelt angetan. Flora und
Fauna der Insel im Osten Afrikas erscheinen oft wie
von einem anderen Planeten.
Nirgendwo auf der Erde ist die Zahl endemischer
Passt auf eine Fingerspitze:
Arten, jener Spezies, die nirgendwo sonst vorkommen, Brookesia micra ist das kleinste aller
höher als hier. Nur eine Amphibienart Madagaskars bekannten Reptilien. Dieses
ist auch andernorts anzutreffen – zwei weitere wur- Exemplar ist 17 Millimeter lang
den eingeschleppt. Bei Chamäleons ist der Endemis-
mus ebenfalls extrem, fast die Hälfte ihrer weltweit
bekannten Arten kommt allein auf Madagaskar vor:

82 GEO 02 2018
 bislang 67 Spezies. Und noch immer werden weitere
entdeckt. Allein im vergangenen Jahrzehnt waren es
mehr als ein Dutzend.
Chamäleons auf Madagaskar: Das ist ein For-
schungsgebiet, das noch heute ein wenig jener Erre-
gung verspricht, wie sie Naturforscher zu Zeiten
Alexander von Humboldts empfunden
haben müssen. Denn es steckt noch
Fast die Hälfte immer voller Rätsel.
aller Chamäleonarten Woher etwa stammt die Energie,
kommt nur mit der Chamäleons ihre Zunge her -
ausschleudern? Bei manchen Arten
auf Madagaskar vor fährt sie mit dem 264-Fachen der Erd -
beschleunigung aus dem Maul, um die
Beute, meist ein Insekt, bei großen Arten aber durch -
aus auch ein Frosch, zu packen. Astronauten oder
Düsenjägerpiloten können maximal das Neunfache
der Erdbeschleunigung aushalten ...
Lange Zeit glaubten Wissenschaftler, die Zunge
würde mit Luft aufgeblasen, um sich in Sekunden-
bruchteilen bis auf das Doppelte der Kopf-Rumpf-
Länge auszuwickeln. Auch heute können Forscher
den Mechanismus solcher Fähigkeiten immer noch
nicht ganz genau erklären. Immerhin ist mittlerweile
klar, dass sich die Muskelfasern der Chamäleonzunge
bis auf das Sechsfache ihrer Ruhelänge ausdehnen
können. Innerhalb des Zungenmuskels wird im Ruhe -
zustand mithilfe von Kollagenfasern Energie gespei-
chert: Wie eine Feder zusammengeschoben, warten
diese darauf, zum Beutefang vorzuschnellen.
EINZIGARTIG SIND AUCH die Augen der Rep-
tilien. Ihre Netzhaut enthält unter allen Lebewesen
die höchste Dichte von Sehzellen, Chamäleons kön -
nen sogar ihre Beute heranzoomen. Außerdem lassen
sich die Augen in ihren konisch zulaufenden „Türmen“
unabhängig voneinander bewegen. So können sie je-
weils die Umgebung in einem Umkreis von 180 Grad
auf Beute und Fressfeinde absuchen – um sich dann
wieder gemeinsam auf die Beute zu fokussieren.
Auf welchen Punkt im Raum die Tiere ihre
Sprungfeder-Zunge dann schleudern, bestimmen sie
jedoch nicht nur durch solch „stereoskopisches Sehen“,
sondern auch durch die Zeit, die sie zum Scharfstel-
len brauchen – als wären ihre Augen ein ausgeklügel-
tes technisches Sensorsystem.
Diese Sehfähigkeit überschreitet die von uns Men-
schen so weit, dass wir uns kaum vorstellen können,
Die Art Furcifer
ambrensis lebt auf
Madagaskar nur
in einem einzigen
Regenwaldareal. Und
das ist so klein wie
die Insel Norderney
83
 in welcher Sinneswelt Chamäleons leben. Auch Far-
ben spielen darin eine maßgebliche Rolle. Wenn auch
nicht jene, die man ihnen lange Zeit zuschrieb.
Dass Chamäleons sich durch ihre farbliche
Wandlungsfähigkeit an jeden Untergrund anpassen
könnten und sie somit zur Tarnung nutzen, ist wider -
legt. Die Farbwechsel dienen vor allem der Kommu-
nikation – oder sind schlicht Ausdruck von Gemüts -
stimmungen. Chamäleons sind emotionale Tiere. Ihre
bereits im Ruhezustand oft bunte Färbung beginnt
bei Erregung stärker zu leuchten. Auch die Paarung
ist von einem Farbspiel begleitet: Das Männchen
umklammert das Weibchen unter sich und nimmt bei
dem bis zu einer Stunde dauernden Akt langsam ei -
nen dunkleren Ton an.
Wie der Farbwechsel gesteuert wird, ist noch
nicht vollständig bekannt. Erst 2016 konnte eine
Schweizer Forschergruppe nachweisen, dass dabei
nicht nur in Hautschichten liegende Pigmente eine
Rolle spielen, sondern auch mit Kristallen gefüllte
Zellen. In diesen „Iridiophoren“ ordnen sich winzige
Prismen so an, dass die Körperfarbe heller leuchtet.
Solche Zellen waren bis dahin unbekannt. Die Stel -
lung der Iridiophoren hilft auch bei der Regulierung
der Körpertemperatur, was erklärt, warum die Farbe
eines Chamäleons unterschiedlich intensiv erscheint,
je nachdem wie warm oder kalt die Umgebung ist.

Schleimer trifft auf Schleicher.

IE BIOLOGEN Jörn Köhler und

D Frank Glaw sind 2007 allerdings auf

Nosy Hara angelandet, um einige der
unscheinbarsten Chamäleons Mada -
gaskars unter die Lupe zu nehmen: die Gruppe der
chamäleons sind zu Greifzangen
verwachsen

sogenannten Stummelschwanz- oder Erdchamäleons.
Die kaum fingerlangen bräunlichen Echsen halten
sich in der Blattstreu am Boden und in Zweigen nied -
riger Büsche auf. Zwar sind damals bereits einige
Arten dieser Gruppe beschrieben, doch Köhler und
Glaw glauben, dass sich in ihr eine viel größere Viel-
falt verbergen könnte.
Auf Knien kriechen die beiden nach Einbruch
der Dunkelheit mit Taschenlampen zwischen welken
Blättern umher. Die Echsen sitzen meist schlafend
an Stängeln eine Handbreit über dem Boden. Nach
ein paar Stunden Blätterwenden entdecken die For -
scher ein klitzekleines Reptil: kürzer als ein Daumen-
nagel! Aber es besitzt den charakteristisch gerundeten
Rücken, die typischen Augen der Chamäleons und
einen winzigen Stummelschwanz.
Zuerst halten die Männer ihren Fund für ein
nicht ausgewachsenes Tier – so zart und zierlich ist
die Kreatur. Die Jungtiere dieser Art, die sie kurz dar-
auf ebenfalls fangen, sind freilich noch kleiner: Sie
passen auf die Spitze eines Streichholzes. Ein Ver-
gleich der Höcker am Kopf und am Rücken wird
später in Deutschland ergeben, dass die Zwerge von
Nosy Hara tatsächlich mit keiner bislang beschriebe-
nen Art übereinstimmen.
Eine Sensation: Brookesia micraist das kleinste
Reptil der Welt.
Nur wenige Frosch- und Kröten -
arten sowie durchscheinende Meeres-
grundeln und karpfenartige Süßwasser-
Wie entdeckt man
fische sind unter den Wirbeltieren noch das kleinste
zierlicher. „Ich kann es mir immer noch Reptil der Welt?
kaum vorstellen“, sagt Köhler selbst
Jahre später. „Diese Winzlinge besitzen
Auf den Knien!
alles, was auch wir haben: ein Herz, eine
Leber, einen Darm, ein Gehirn – und das bei der Kör -
perlänge einer Fliege.“
Aber warum ist Brookesia micraso winzig? Wel-
chen Vorteil hat die dermaßen geringe Größe für die
Art? Das sind Standardfragen der Evolutionsbiologie.
Doch je näher die Forscher die Vielfalt Madagaskars
erkunden, desto weniger scheint eine althergebrachte

84 (WEITER AUF SEITE 88) GEO 02 2018

 PH YSIO LO GIE

Die Sprache der Farben

Die legendäre Wandlungsfähigkeit der Chamäleons dient weniger der Tarnung als der Kommunikation.
Mit Farbwechseln drücken die Tiere Erregung, Kampflust oder Stress aus. Auch ihre Körpertemperatur können
sie so regulieren: Eine helle Haut reflektiert Licht, eine dunklere nimmt mehr Wärme auf

Die Farbpalette der Chamäleons ist immens. Farbwechsel entstehen im Zusammenspiel

verschiedener Farbzellen und nanokleiner Kristalle. Die Dichte dieser Kristalle lässt sich variieren – und
damit auch die Farbe des von ihnen reflektierten Lichts

GEO 02 2018 85
86 GEO 02 2018
 Wer hat den Kampf
gewonnen? Das
erzählt die Haut der
beiden männlichen
Pantherchamäleons:
Strahlend bunt
triumphiert der
Sieger, dunkel färbt
sich der Verlierer

87

evolutionäre Wahrheit zu gelten: dass nämlich jedes
Merkmal einen Nutzen habe.
Ihre Reise führt Köhler und Glaw auch in den
Norden Madagaskars. Unterstützt von ihrem Braun
schweiger Kollegen Miguel Vences, finden sie dort
weitere Arten der Stummelschwanzchamäleons. Köh
ler selbst ist darüber wenig erstaunt: „Wenn man ei
nen tropischen Lebensraum gründlich untersucht,
findet man ungefähr alle zwei Tage eine neue Spezies.“
Vences hat in einer groß angelegten Suche nach
Fröschen und Kröten nachgewiesen, dass bislang ver
mutlich nur ein Viertel aller in den Wäldern Mada
gaskars existierenden Arten beschrieben wurde. Das
gilt möglicherweise für alle tropischen Regionen. „Die
Zahl der Amphibienarten könnte sich weltweit ver
doppeln oder sogar vervierfachen“, meint Vences.
Ähnliches könnte auch für Tiergruppen wie die
Chamäleons gelten. Erst 2015 stellte sich heraus, dass
unterschiedliche Farbvarianten des großen, spekta
kulär bunten Pantherchamäleons in Wahrheit sage
und schreibe elf unabhängige Arten darstellen. Und
2008 wurde der Lebenszyklus einer Chamäleonspe
zies beschrieben, der innerhalb von nur fünf Monaten
88
Zum Schlafen rollt
das Pantherchamäleon
seine »fünfte Hand«
ein. Beim Klettern ist
der Greifschwanz
unentbehrlich. Des-
halb kann das Tier
ihn bei Gefahr nicht,
wie manch anderes
Reptil, abwerfen
absolviert ist: Labords Chamäleons schlüpfen, wach
sen auf, paaren sich und legen ihre Eier ab – bevor die
Trockenheit im Wald so stark wird, dass die erwach
senen Tiere sterben.
IE KONNTE diese große Vielfalt –
W treme – gerade auf Madagaskar entste
hen? Ein entscheidender Faktor besteht
im Nebeneinander unterschiedlicher Lebensräume:
Flecken feuchten Waldes grenzen an Berg oder Sa
vannengebiete; eine zentral von Nord nach Süd ver
laufende Bergkette zerklüftet die Landschaft; Flüsse
bilden für viele Arten unüberwindliche Hindernisse.
In isolierten Arealen konnten so Arten voneinander
ungestört ihre individuellen Entwicklungswege gehen.
Auch plötzliche Ereignisse spalten Populationen
auf: Entsteht etwa nach einem Unwetter ein neuer
Flusslauf und schneidet einige Tiere vom Rest ihrer
Population ab, können in beiden Gruppen jeweils
kleine genetische Mutationen auf lange Sicht zu deut
lichen Veränderungen führen. Erst dann also kommt
GEO 02 2018
 Darwin zum Zuge: Selektion treibt die beiden ge -
trennten Populationen in je andere Richtungen.
Es sind also zunächst ökologische Veränderungen,
die zur Entstehung neuer Arten führen. „Species
Pump“, Artenpumpe, nennen Ökologen wie Vences
Gegenden, die aus Mosaiken einzigar-
tiger Lebensräume bestehen, in denen
Ein Mosaik aus sich je eigene biologische Typen heran-
Lebensräumen gebildet haben.
lässt neue Arten Dass die Stummelzwerge von Nosy
Hara so zierlich sind, muss somit keinen
entstehen Nutzen haben. Vielleicht ist es schlicht
so gewesen, dass wenige eh schon sehr
kleine Individuen einer Vorgängerart auf die Insel
geschwemmt wurden. Dass sich dort dann der Zwerg-
wuchs etablierte, war also die Konsequenz einer his-
torischen Panne – und nicht Ausdruck des darwin -
schen „Überlebens des besser Angepassten“. Gerade
die bizarren Körperformen der Chamäleons machen
Nicht wo, sondern wer ist dieses
Jungtier? Hinter so mancher
Farbvariante des Pantherchamäleons
verbirgt sich eine neue Art
GEO 02 2018
die gestaltende Rolle des Zufalls in der Natur deut -
lich: Sie sind ein Fest biologischer Freiheit.
Brookesia micraist nicht nur wegen ihrer Zier -
lichkeit eine Rarität: Sie ist ein „Mikroendemismus“,
eine Art, die nur an einem einzigen, isolierten Ort vor-
kommt – eben auf Nosy Hara. Wird die Insel zerstört,
droht die Mikroechse von der Erde zu verschwinden.
DIE KLEINRÄUMIGKEIT der Landschaft war
über Jahrmillionen der Motor der Diversität Mada -
gaskars – heute ist sie deren größte Bedrohung. Fast
ein Fünftel aller madagassischen Chamäleonarten lebt
in Gebieten, die kleiner als 200 Quadratkilometer
sind, also eine geringere Ausdehnung haben als etwa
die Stadt Wolfsburg. Viele Flächen waren nicht im-
mer so klein: Von den ursprünglichen Wäldern Mada-
gaskars sind heute nur noch zehn Prozent erhalten.
Längst verändern nicht mehr langsame geologi-
sche Prozesse die ökologischen Mosaike – sondern
Menschen. Vor allem durch Brandrodung.
„Es ist erschütternd, wenn man nach nur einem
Jahr an einen Ort zurückkommt, und alles ist abge -
brannt“, sagt Köhler. Mehr als die Hälfte aller mada-
gassischen Chamäleonspezies gilt als gefährdet.
Wie viele werden schon verschwunden sein, bevor
Köhler und Glaw sie überhaupt erforschen konnten?
Die Regierung des Inselstaates hat zwar mehr als
zwei Drittel der verbliebenen, meist staatlichen Wald-
flecken als Schutzgebiete vorgemerkt – aber kaum
irgendwo folgen Taten.
Das war im Fall von Nosy Hara anders. Gleich
nach der Entdeckung von Brookesia micrawurde das
Eiland zum Reservat erklärt. Das Foto des Zwerg -
chamäleons auf einem Streichholzkopf ziert heute die
meisten Informationen zur Insel im Internet. Damit
Ökotouristen die Rarität zu Gesicht bekommen, ließ
die Regierung einen Bootsanleger bauen und eine
massive Treppe mitten in das fragile Flusstal zemen-
tieren. Wege erschließen heute das noch vor wenigen
Jahren verwunschene Eiland.
„Diese Schutzmaßnahme hat leider den größten
Teil des Habitats zerstört“, so Köhler. Dennoch glaubt
er, dass trotz der Verwüstungen einige Zwergchamä-
leons überleben werden. Einfach, weil sie für Laien
kaum zu entdecken sind. Somit wäre ihre Winzigkeit
am Ende doch ein evolutionärer Vorteil.
Auch der Biologe und Philosoph DR. ANDREAS
W E B E R fühlt sich oft als Forschungsreisender:
auf GEO-Recherchen genauso wie in der Natur vor
seiner Berliner Haustür. Fotograf CHRISTIAN
Z I E G L E R hat auf der Suche nach Chamäleons sechs
Wochen auf Madagaskar verbracht und 6000
Kilometer zurückgelegt.
89
 FORUM
»Wir suchen Spuren in der
Unendlichkeit«
Die Astrophysik erforscht Ereignisse, die Milliarden Jahre
zurückliegen. Trotzdem haben wir ein erstaunlich gutes Bild davon, wie
das Universum entstand – dank der Sherlock-Holmes-Methodik
S
S T E L L E N S I E S I C H V O R , Sie erwachen aus dem
Koma und finden sich als ein ans Bett gebundener
Patient wieder, der von nun an gezwungen ist, das
Weltgeschehen von zu Hause aus passiv per Fernsehen
und Radio zu verfolgen.
Hätten Sie das Gefühl, immer noch gut über die
Außenwelt Bescheid zu wissen? Schließlich wären Sie
nun darauf angewiesen, dass alle relevanten Informa-
tionen ihren Weg zu Ihnen finden.
Sie müssten sich darauf verlassen, dass Sie sich
den richtigen Reim auf all das machen, was Sie über
die Welt erfahren. Dazu müssten Sie die Zuverlässig-
keit von Quellen einschätzen und auf vieles, worüber
nicht explizit berichtet wird, indirekt schließen.
Denn hingehen und selbst nachschauen, wie es
draußen aussieht, könnten Sie nicht mehr.
Dieses Szenario beschreibt in etwa das Schicksal
der Astronomen und Astrophysiker. Sie können nicht
aktiv das Universum erkunden, sondern sind darauf
angewiesen, allein mit denjenigen Informationen zu
arbeiten, die uns aus den Weiten des Kosmos natür-
licherweise erreichen. Anstelle von Radio- und Fern-
sehprogrammen empfangen sie elektromagnetische
90
Strahlung, kosmische Elementarteilchen, Gravitations-
wellen und Gesteinsbrocken. Auf dieser Grundlage
versuchen sie die kosmischen Phänomene und Prozes-
se zu verstehen. Sie meinen sogar, sich daraus einen
Reim auf die Entwicklung des Universums im Gan -
zen machen zu können.
Aber selbst von Nahem anschauen können sie
sich all dies nicht: Schon allein mit einer bemannten
Mission unser Sonnensystem zu verlassen wäre tech-
nisch eine enorme Herausforderung.
Und selbst wenn es uns gelänge: Die Endlichkeit
der Lichtgeschwindigkeit setzt unserer Beweglichkeit
im Kosmos eine natürliche Grenze.
W
WOHIN SO EINE SITUATION führen kann, hat
uns 2003 der Film „Good Bye, Lenin!“ demonstriert.
Dort fällt eine überzeugte Ostberliner Sozialistin ins
Koma und wacht erst nach dem Mauerfall wieder auf.
Ihr Sohn, der sich angesichts ihrer labilen Ge-
sundheit Sorgen macht, dass sie die politischen Ver-
änderungen nicht verkraften würde, spielt seiner bett-
GEO 02 2018
 lägerigen Mutter daraufhin das Weiterbestehen der
DDR vor. Mit Erfolg – bis zum Ende lebt sie mit der
Illusion eines erfolgreichen sozialistischen Staates.
Könnte uns so etwas astronomisch auch passie-
ren? Dass wir uns von unseren passiven Beobachtun-
gen des Kosmos völlig in die Irre führen lassen?
Der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Ha -
cking hat genau diese Meinung 1989 in einem Artikel
vertreten. Sein Argument lautet im Kern, dass unser
astrophysikalisches Wissen nur dann korrekt sein
kann, wenn die elektromagnetische Strahlung auf
ihrem Weg von den kosmischen Objekten zu uns
Kristallisiert sich eine Hypothese heraus, stellen
sich Anschlussfragen: Könnte es noch eine andere
Erklärung geben? Könnten wir uns irgendwo geirrt
haben? Und nach welchen weiteren Spuren müssten
wir suchen, um diese Fragen zu beantworten?
Diese Methode wird dadurch unterstützt, dass
das Universum ein „kosmisches Labor“ bereitstellt –
jedes Phänomen existiert in den unendlichen Weiten
des Kosmos in beliebig vielen Variationen, Umgebun-
gen und Entwicklungsstadien. Mit ein wenig Statis -
tik lassen sich daraus allgemeine Aussagen ableiten,
die über einzelne „Kriminalfälle“ hinausgehen.

wenn uns also gerade nicht das Schicksal der Mutter Einige »Fälle« sind noch ungelöst
ereilt, die nur manipulierte Informationen bekommt.
Diese Annahme ist laut Hacking aber nicht zu Dazu kommt, dass sich unsere Technologien zur Be-
rechtfertigen. Denn nicht einmal wenn wir Zweifel obachtung immer weiter verbessern und verfeinern.
an unseren Theorien haben, sind wir in der Lage, Die Kombination aus der Sherlock-Holmes-Methode
diese Zweifel aktiv und vor Ort zu überprüfen. Sys- und der geschickten Nutzung des kosmischen Labors
tematische Tests auf mögliche Fehlerquellen wie in ermöglicht es, dass wir heute auf ein ganz erstaunlich
den experimentellen Wissenschaften lassen sich in detailliertes Wissen über das Universum zurückgrei-
der Astrophysik nicht durchführen. fen können.
Muss man daher also mit Hacking der Meinung Nie waren wir so gut im Bilde darüber, was sich
sein, dass astrophysikalisches Wissen unsicherer ist in den Weiten des Himmels tatsächlich abspielt. Zum
als Wissen, das wir aus Experimenten erlangen? ersten Mal in der Geschichte der Menschheit besitzen
Im Gegenteil! wir ein konsistentes Bild der Entwick-
Eine beobachtende Wissenschaft lung des Kosmos, das auf empirischen
wie die Astrophysik (oder auch die Daten und nicht auf reiner Spekula -
Archäologie) rollt die Zusammenhän - tion beruht.
ge nur gewissermaßen von hinten auf: Gemäß unserem kosmologischen
Etwas ist passiert, und anhand der Standardmodell dehnt sich das Uni -
verfügbaren Spuren ist nun zu klären, versum seit dem Urknall vor 13,8 Mil-
was genau. liarden Jahren aus und kühlt sich ab.
Dieses Vorgehen ähnelt dem ei- Atome entstanden, Materie bildete
nes nüchtern schlussfolgernden Sher- Strukturen, Sterne und Galaxien ent -
lock Holmes. Demgemäß müsste es wickelten sich und entwickeln sich
schon mit dem Teufel zugehen, wenn bis heute. Für alle diese Prozesse be-
sich anhand der verfügbaren Indizien sitzen wir erfolgreiche Modelle, die
nicht aufklären ließe, was wirklich pas- uns ein Verständnis kosmischer Ent-
siert ist. In unserer komplexen Welt wicklungslinien eröffnen.
gibt es das perfekte Verbrechen nicht, Trotzdem ist uns klar, dass wir
bei dem der Täter unerkannt davon- mit unserem Verständnis noch lange
kommen kann – Hackings Pessimis- S I B Y L L E A N D E R L ist Astro - nicht am Ziel sind. Insbesondere die
mus zum Trotz. physikerin und Philosophin. Ihr Phänomene der Dunklen Energie
Buch „Das Universum und ich – und Dunklen Materie, die das Uni -
die Philosophie der Astrophysik“ versum zu dominieren scheinen und
F ist im Sommer 2017 im Hanser
Verlag erschienen.
deren Natur uns noch vollkommen
FÜR DIE ASTRONOMIE funk- rätselhaft erscheint, demonstrieren
tioniert diese Analogie in der Tat sehr uns, dass wir noch einige Kriminal-
gut. Astronomen sammeln beobacht- fälle zu lösen haben.
bare Spuren kosmischer Prozesse. Auf Doch wir können uns diesen Auf-
dieser Grundlage stellen sie Hypothe - gaben mit gesundem Selbstbewusst-
sen über mögliche „Tathergänge“ auf: Welche physi- sein stellen: Unsere „Bettlägerigkeit“ hält uns nicht
kalischen Prozesse könnten am Werk gewesen sein, davon ab, bei der Erforschung des Kosmos ganz er-
aus denen sich die Beobachtungen erklären lassen? staunlich erfolgreich zu sein.

GEO 02 2018 91
KARAGODIN
Ein mutiger junger Mann nimmt es mit einem Massenmörder des 20. Jahrhunderts auf:
Denis Karagodin will Josef Stalin den Prozess machen, weil dieser seinen Urgroßvater hin -
richten ließ. Die Anklage hat nur symbolischen Wert – doch sie bringt das Land in Aufruhr

92 RUSSLAND GEO 02 2018

STALIN
GEGEN

Text: Alexandra Rojkov, Fotos: Rena Effendi 93

 IEMAND WEISS GENAU,
N wo sie die Leiche verscharrt
haben. Hinter den Autowerk -
stätten? Oder in der Grube, in
der die Straßenhunde im Müll wühlen?
Denis Karagodin blickt über die Land -
schaft: weiße Hügel, dahinter Plattenbau -
ten und ein rauchender Schlot.
„Ich will die Mörder symbolisch ver-
nichten“, sagt Karagodin, „ganz Russland
soll wissen, wer sie waren.“
In der Luft schweben Eiskristalle, der
Wind ist schneidend wie eine Ohrfeige.
Irgendwo in der Senke, auf die Kara-
godin hinuntersieht, liegt ein Massengrab,
verschwunden unter meterhohem Schnee.
Dort, am Rand der sibirischen Stadt Tomsk,
ruhen die Opfer eines Krieges, den der rote
Diktator Josef Stalin gegen das eigene Volk
führte. Zwischen 1927 und 1953 starben
mindestens zehn Millionen Menschen
durch den Befehl Stalins, die meisten da-
von in Lagern. Einer von ihnen war Stepan
Karagodin, Denis’ Urgroßvater. Niemand
wurde dafür je zur Rechenschaft gezogen.
Denis Karagodin, 36 Jahre alt, Politik-
wissenschaftler, will das ändern. Er will
erreichen, was in Russland noch heute un-
denkbar erscheint: Josef Stalin soll als Mas-
senmörder schuldig gesprochen werden.
An jenem Ort, an den Stalins Scher -
gen einst ihre Opfer verschleppten, liegt
zu Karagodins Rechter ein kastenförmiges
Gefängnis, das noch heute in Betrieb ist.
Links ein Industriegebiet: rostige Garagen,
parkende Autos, dazwischen Werkstätten.
„Dort drüben fanden die Erschießun -
gen statt“, sagt Karagodin und zeigt auf
die Haftanstalt. Er fährt mit dem Finger
über den Horizont, bis zu den Fabrikan -
lagen. „Irgendwo da hinten entsorgte man
die Leichen.“
Denis Karagodin hat die Gesichtszü -
ge eines Boxers, kantig, wie gemeißelt. In
seinen Augenbrauen sammeln sich Schnee-
flocken. Sein Tonfall ist ungerührt. Kara-
godin nennt sich „kaltblütig“. Vielleicht
erklärt diese Kälte, wie er vollbrachte, was
niemandem vor ihm gelang.
Alles begann mit einem alten Schrift -
stück. Im Frühjahr 2012 wollte Denis Kara-
godin seine Familienpapiere digitalisieren:
Geburtsurkunden, Zeugnisse, Kaufverträ-
ge. Er mag Technik und Ordnung, schätzt
Klarheit und Struktur.
94
Im Schrank seiner Eltern stieß er auf Stepan Karagodin wurde
ein Dokument. Dünnes Papier, nicht ein -
mal DIN-A5-Format, mit rissigen Kanten:
die Urkunde über die Rehabilitierung sei-
1938 von der Geheimpolizei
erschossen. Sein Urenkel
Denis hat Jahre gebraucht,
um alle Dokumente zur
nes Urgroßvaters. Ein formales Schreiben,
Hinrichtung zu sammeln –
das viele Angehörige von Stalin-Opfern
und kann nun beweisen,
in den 1950er Jahren bekommen hatten.
dass Stalin direkt verant -
Schon als Kind hatte Karagodin ge- wortlich zeichnete
wusst, dass sein Urgroßvater unter Stalin
umgekommen war, so wie er wusste, dass
es im Winter schneien würde. Es war eine
Gewissheit, mit der man in Tomsk gebo-
ren zu sein schien.
An jenem Apriltag 2012 breitete Ka-
ragodin alle Dokumente auf seinem Tisch
aus. Es waren Zeugnisse des Lebens und
Karagodin
schafft das
Undenkbare
Sterbens seiner Verwandten: ein Echo der
Menschen, die zu seiner Familie gehört
hatten. Von seinem Urgroßvater Stepan
aber gab es nur dieses eine Papier. Karago-
din sah es an, und zum ersten Mal fragte
er sich, was genau mit seinem Urgroßvater
geschehen war.
Er wandte sich an das Tomsker Stan-
desamt; dort überreichte man ihm die
Todesurkunde seines Urgroßvaters. „Ge- Moskau
Tomsk
storben am 21. Januar 1938. Todesursache:
Erschießung.“
I E S T A D T T O M S K , in der
D Karagodins Urgroßvater bis zu
seinem Tod lebte und in der
sein Urenkel bis heute wohnt,
ist ein stilles Mahnmal stalinistischen
Terrors. Der Name lässt sich als eine Ab-
kürzung für „Der ferne Ort der Verban-
nung in der Taiga“ lesen. In diese Gegend
schickte Stalin jene, die er verdächtigte, den
Sozialismus zu sabotieren. Heute wohnen
eine halbe Million Menschen in Tomsk.
Fast jeder von ihnen hat Vorfahren durch
Stalins Diktatur verloren.
Meist kam Stalins Geheimdienst
NKWD nachts, klopften die Männer in
(WEITER AUF SEITE 98) GEO 02 2018
GEO 02 2018 95
 Im Namen der Stadt Tomsk
lässt sich das ganze Elend
des Gulags in eine Abkürzung
fassen: »Der ferne Ort
der Verbannung in der Taiga«

In der Bibliothek der

Universität recherchierte Denis
Karagodin die Drahtzieher,
die für den Tod seines Urgroß-
vaters verantwortlich waren

96 GEO 02 2018
GEO 02 2018 97
 dunkler Uniform an die Tür. Das Schwei-
gen der Hinterbliebenen wurde ihr Schutz:
Nach Sinn und Recht zu fragen war in die-
sen Zeiten gefährlich.
Diese Regel haben viele Russen bis
heute verinnerlicht. Man kritisiert die Ob -
rigkeit nicht. Man stellt keine Fragen.
Denis Karagodin aber wollte wissen,
wofür sein Urgroßvater gestorben war.
Und durch wen.
Er wandte sich an den Inlandsge -
heimdienst FSB, die Nachfolgeorganisa-
tion des NKWD. Der Urenkel verlangte
die Herausgabe jener Akten, die den Tod
seines Urgroßvaters dokumentieren.
Er bekam geschwärzte Papiere.
„Wie kann es sein, dass ein Mord ge-
schieht“, fragt Karagodin, „und niemand
wird dafür verurteilt?“
Karagodin bohrte weiter. In jenem
April setzte sich etwas in Gang, das heute,
fünf Jahre später, das Land spaltet.
Karagodin schrieb Anfragen, stellte
Anträge. Die Absagen legte er in einen
Ordner, 7,5 Zentimeter dick. Der Ordner
füllte sich so schnell, dass er sich bald
nicht mehr schließen ließ.
Karagodin wurde zu einem Virus, das
sich – einmal im System – nicht mehr lö-
schen lässt. Er schrieb an Zweigstellen,
klein und entlegen, in der Hoffnung, dass
man dort nichts von der Direktive des
Verheimlichens wusste. Gab es keine Ant-
Stalins dunkle Herrschaft
Dschugaschwili
nennt sich Stalin, der
Stählerne.
1912
1878
In Georgien wird
Iossif Wissarionowitsch
Dschugaschwili
als Sohn eines Schuh - 1
machers und einer
Wäscherin geboren.
Stalin (1), Lenin (2) im Jahr 1919
98
wort, machte er sich auf den Weg, klopfte
an Türen. Nach und nach bekam er immer
mehr Papiere: Anklagen, Verhörprotokol-
le, Todeslisten, unterschrieben von Stalins
Untergebenen.
Weil die Namen der direkten Mörder
stets geschwärzt waren, sammelte er In-
formationen zu allen Männern und Frau -
en, die in den Jahren 1937 und 1938 beim
Tomsker NKWD gearbeitet hatten. Kara -
godin verbrachte Stunden im Lesesaal der
Universitätsbibliothek: blätterte in alten
Zeitungen, schrieb jeden Namen heraus,
Ein Mord, der
bisher ohne
Sühne blieb
der in Verbindung mit dem NKWD auf -
tauchte. Irgendwann standen fast 70 Män -
ner und Frauen auf seiner Liste. Doch wer
von ihnen hatte die Erschießung seines
Urgroßvaters vollstreckt?
Karagodin rekonstruierte, wie sein
Urgroßvater gelebt hatte. In der Altstadt
von Tomsk fand er das alte Wohnhaus, ei-
nen einstöckigen Bau aus rotem Backstein.
Oktoberrevolution , die
radikalen Bolschewiki
ergreifen die Macht.
Stalin wird Minister.
1917
2 nach Lenins Tod ist er
Er lokalisierte das Gebäude, in dem Ste-
pan Karagodin verhört und wegen angeb-
licher Spionage für Japan verurteilt wurde.
Besuchte die Kirche, in der seine Urgroß-
mutter jeden Tag für die Freilassung ihres
Mannes betete.
Schließlich stand Denis Karagodin
vor jener Grube, wo die Gräser blühten
und Grillen zirpten und wo unter der Erde
die Gebeine seines Urgroßvaters lagen.
Karagodin hat alle Orte auf einer Karte
markiert: eine Topografie des Terrors.
Man sieht Tomsk den Schrecken die-
ser Zeit nicht an. Klassizistische Bauten
reihen sich an Holzhäuser aus dem 20.
Jahrhundert. Es gibt Straßen, die aussehen
wie Dörfer aus russischen Fabeln: mit ge-
schwungenen Fensterläden und geschnitz-
ten Fassaden, an den Dächern Eiszapfen
so groß wie Tropfsteine.
Auf dem zentralen Platz in Tomsk,
nahe dem Lenin-Boulevard, wächst heute
ein Birkenwäldchen; im Winter bauen
Kinder Schneemänner oder rutschen mit
dem Schlitten über die Hügel.
Früher stand hier eine Kirche: weiß
mit goldenen Kuppeln, eine Nachbildung
der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale.
Sie wurde 1934 von den Kommunisten
zerstört. Jeder Bewohner von Tomsk weiß
das, genauso wie er um Stalins Opfer weiß.
Trotzdem gibt es im Souvenirshop
nebenan Miniaturbüsten Stalins zu kaufen,
In Moskau beginnt der
erste von drei großen
Stalin wird Schauprozessen, in
sekretär der Kommunis - denen Weggefährten
tischen Partei. Stalins zum Tode …
1922 1936
1929 … verurteilt werden.
Stalin zwingt seinen Es ist der Auftakt für
Gegenspieler Trotzki den „Großen Terror“:
ins Exil. Fünf Jahre In den folgenden Jahren
werden mehr als
Alleinherrscher der 1,5 Millionen Menschen
Sowjetunion. verhaftet, fast 700 000
hingerichtet.
GEO 02 2018
 für 300 Rubel das Stück, etwa fünf Euro. aufrechten Gang eines Tänzers. Ab und
Wie geht das zusammen: Massenmord an bleibt Kobenko stehen, schaut kritisch
und Verehrung? auf die Exponate.
Der Professor An einer Wand ist ein Befehl zur De
einen Ort in Tomsk, portation aufgehängt, unterschrieben von
S GIBT
nennt Stalin
E wo man Stalins Barbarei noch
sehen kann, deutlich und unge
schönt. Er ist geschützt von ein »Genie«
Stalin. „Sehen Sie, wie simpel seine Un
terschrift ist?“, fragt Kobenko und zeigt
auf die Buchstaben. „Jeder hätte sie kopie
einer schweren Eisentür, dahinter führen ren können.“ Er lächelt milde.
abgewetzte Holzstufen in den Keller. Mit portiert wurden. Es gibt einen Verhörtisch, Geschichte wird von den Siegern ge
jedem Schritt nach unten wird die Luft an den Besucher sich setzen können. Auf schrieben: Die Nürnberger Prozesse waren
feuchter, stickiger, als stiege man hinab in der Tischplatte liegen Protokolle echter ein Tribunal der Alliierten, die den Krieg
ein Verlies. gewannen. Doch während Nazideutsch
Vor 70 Jahren waren diese Räume ge rossy, eine Zigarettenart, die auch Stalin land unterging, regierte der Kommunismus
nau das: ein Kerker. Hier, mitten im Stadt rauchte. Ein Ausstellungsraum zeigt eine in Russland bis 1991. Ein autoritäres Sys
zentrum, befand sich das Verhörgefängnis Karte von Stalins Straflagern; die Depor tem, das seine Bürger zu Hörigkeit erzog.
des NKWD. Heute ist es ein Museum, tationswege schlängeln sich über das Land Für viele Russen ist Stalin deshalb
betrieben von der Menschenrechtsorgani wie ein Schienennetz. kein Mörder. Sondern ein großer Politiker,
sation Memorial. Juri Kobenko blickt auf die Linien, der seinem Land zu wirtschaftlicher Stär
Etwa 15000 Menschen passierten die abschätzig, als sei er unzufrieden mit deren ke verhalf und es vor Hitlers Feldzug ret
ses Gefängnis. Die meisten blieben nur tete. So hat man es ihnen beigebracht, so
kurz, dann wurden sie in Arbeitslager ge ganda“, sagt Kobenko schließlich. „Mehr wird es heute gelehrt. Russlands Geschich
steckt oder erschossen. Stalin wusste, dass noch: Sie ist historischer Dreck.“ te soll eine Abfolge von Siegen sein und
die allermeisten unschuldig, dass die Ver Kobenko, 40 Jahre alt, Philologiepro die Person Stalin den Stolz einer ganzen
haftungen willkürlich waren. Wenn nur fessor, ist so etwas wie Karagodins politi Epoche verkörpern: den des Zeitalters der
fünf Prozent der „Fehler“, die Parteimit sches Gegenstück. Er bewundert Stalin Sowjetunion.
glieder anzeigten, zuträfen, sagte er 1937, Wenn Juri Kobenko an jene Zeit zu
ragodin die Geschichte ausgräbt, schütten rückdenkt, dann fällt ihm der Urlaub ein,
sprach, nicht nur jeden dieser „Feinde“ zu Menschen wie Juri Kobenko sie zu. den er als Junge mit seinen Eltern unter
vernichten, sondern auch ihre Familien. Kobenko hat Charisma und geschlif nahm. Sie fuhren nach Sewastopol, einer
Die Wände im Museum sind mit Fo fene Manieren: Er trägt dunkle Anzüge Stadt auf der Krim. Die Zugfahrt dauerte
tos beklebt: schwarz weiße Zeugnisse von und hilft Damen in den Mantel. Durch eine Woche und endete an einem weißen
die Räume von Memorial geht er mit dem Sandstrand, wo Fisch verkauft wurde und

Die 1988 gegründete

Michail Gorbatschow Gruppe Memorial
Nikita Chruschtschow kritisiert erstmals verliest zwölf Stunden
rechnet auf dem wieder die Verbrechen lang Namen von
20. Parteitag in einer Stalins. In den folgen Menschen, die unter
Geheimrede mit den Jahren werden Stalin starben. Die
den Verbrechen seines Opfer der Säuberungen Menschenrechtler tun
Vorgängers ab. rehabilitiert. dies fortan jedes Jahr.
1956 1985 2007

1953 1969 2017

Wegen eines vermeintlichen „Ärztekomplotts“ Leonid Breschnew lässt In einer Umfrage
werden neun zumeist jüdische Mediziner zu Stalins 90. Geburts nennen Russen Stalin
verhaftet. Es ist die letzte der stalinistischen tag eine Büste am Grab als „herausragendste
Säuberungen. Am 5. März stirbt Stalin. anbringen. Bis auf seine Persönlichkeit
Noch im selben Jahr dürfen 1,2 Millionen angeblichen militäri der Weltgeschichte“.
Menschen die Lager verlassen. schen Leistungen im
Zweiten Weltkrieg wird

gehend verschwiegen.

GEO 02 2018 99

Dann kam
der ersehnte
Brief
gebräunte Touristen Wassermelonen aßen.
Kobenko lief durch die gleißenden Stra-
ßen, sonnte sich im warmen Licht und
spürte Glück.
„Und heute?“, fragt Kobenko. Er kann
sich eine solche Reise nicht leisten. Koben-
ko muss den Kredit für seine Wohnung
bezahlen. Dazu versorgt er seine Mutter,
deren Rente so niedrig ist, dass es nicht
einmal für einen Ausflug in die nächste
Stadt reicht. Gleichzeitig leben Russlands
Politiker im Reichtum wie Oligarchen.
„Stalin war bescheiden“, sagt Kobenko. „Er
hatte sich seinem Volk verschrieben.“
Im Memorial-Museum gibt es einen
Raum, der einer Zelle nachempfunden ist.
100
Holzpritschen, vergitterte Fenster, ein Ei-
mer als Toilette. Auf diesen elf Quadrat-
metern lebten einst bis zu dreißig Häft -
linge. Sie wurden gefoltert, geschlagen und
ausgehungert. „Ein Untersuchungsgefäng-
nis ist eben kein Fünfsternehotel“, sagt
Kobenko. „Es gab damals viele Spione und
Verräter.“ Stalin habe das Land nur vor
Feinden schützen wollen.
Es ist die Mentalität des Totalitären:
Das Wohl aller steht über dem Wohl des
Einzelnen, auch wenn dieser dafür sterben
muss. Die hohen Opferzahlen hält Koben -
ko für übertrieben. Er streicht sich den
Anzug glatt, dann verlässt er das Museum
und tritt hinaus in den sibirischen Schnee.
Juri Kobenko glaubt nicht,
mörder ist. Dokumente, die
das beweisen, seien ge
fälscht, sagt er. So denken
nicht wenige in Russland,
auch heute noch
Einer aktuellen Umfrage zufolge hal-
ten 38 Prozent der Russen Stalin für die
herausragendste Persönlichkeit aller Zei-
ten. In den vergangenen Jahren öffneten
russlandweit Stalin-Museen, Schulhefte
mit Stalins Konterfei waren Bestseller.
Viele bewundern Stalin, weil sie die Ge-
schichte ihres Landes nicht im Detail
kennen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion
in der 1990er Jahren sind viele Archive
zwar geöffnet. Aber das Interesse an Auf-
arbeitung ist gering, eine Erinnerungskul-
tur gar gibt es nicht.
Denn einige der stalinistischen Be-
hörden bestehen noch immer: Sie wurden
nie aufgelöst, sondern nur umbenannt. So
wie der Geheimdienst NKWD, der sich
irgendwann KGB nannte und heute FSB
heißt. Ein ehemaliger KGB-Offizier ist
heute Staatspräsident: Wladimir Putin.
Das System schützt Stalins Handlanger
nach wie vor.
ENIS KARAGODIN brauch-
D te Jahre, um das System zu
durchdringen. Tagsüber arbei-
tete er als Marketingexperte,
erstellte Werbekampagnen für Mobilfunk-
firmen und Restaurants. Wenn sich der
Himmel über Tomsk abends rot färbte,
begann Karagodin zu grübeln: An welche
Stelle sollte er sich als Nächstes wenden?
Welchen Hinweis hatte er übersehen?
Um sich besser konzentrieren zu kön-
nen, strich Karagodin die Wände seines
Zimmers weiß. Hielt seinen Schreibtisch
leer wie einen Operationstisch.
Sein Zimmer wirkt kalt wie Karago-
din selbst. Alle Zeichen an ihm stehen auf
Angriff: Er lächelt Fremde nie an, und
seine Haltung ist angespannt, als könnte
er jeden Moment zum Schlag ausholen.
Diese Härte half ihm. Weil er eisern war,
schaffte er es, die Mauern des Schweigens
zu durchbrechen.
Immer wieder stellte Karagodin An-
fragen an den FSB. Stand in Behörden -
schlangen und wartete in Vorzimmern, in
denen die Karten von Russland inzwi-
schen um die Krim erweitert wurden.
Manchmal halfen Karagodin einzelne
Beamte – oft behinderten sie ihn. Mal
hatte er keine Kopie seines Ausweises mit-
gebracht. Mal den Antrag mit einem
schwarzen statt wie gefordert mit einem
GEO 02 2018
 blauen Stift unterschrieben. Im Sommer
2016 lief die Verjährungsfrist für die Akten
seines Urgroßvaters aus. Offiziell mussten
ihm die Behörden nun alle Dokumente
überlassen, inklusive des Erschießungsbe-
fehls mit Klarnamen. Stattdessen teilte
man Karagodin mit, das Papier sei inzwi-
schen vernichtet worden.
Der Schnee auf Stalins Verbrechen
wuchs immer höher. Es schien, als grabe
Denis Karagodin umsonst.

Ein Erfolg
wäre eine
Sensation
An einem Samstag im November 2016
bekam Karagodin einen merkwürdigen
Brief. Er war mit Stempeln bedeckt, so als
sei er mehrfach verschickt worden. Kara-
godin schnitt den Umschlag auf – und
erstarrte. Im Kuvert lag, sorgfältig gefaltet,
der Befehl zur Erschießung seines Urgroß-
vaters, unterschrieben von zwei Männern
und einer Frau. Es war jenes Papier, von
dem der FSB behauptet hatte, es existiere
nicht mehr.
Karagodin weiß bis heute nicht, war-
um er dieses letzte Dokument bekam. Ver-
mutlich hatte ein ahnungsloser Beamter
es abgeschickt. Karagodin hatte eine
Schwachstelle im System gefunden.
Legt man nun alle Dokumente ne -
beneinander, ergeben sie eine Befehlskette.
Sie beginnt mit dem Beschluss Nummer
P51/94 des Politbüros der Kommunisti-
schen Partei, gefasst am 2. Juli 1937: die
Erlaubnis des NKWD, „antisowjetische
Elemente“ zu inhaftieren und zu töten.
Der Beschluss trägt die Unterschrift Sta -
lins. Das letzte Papier ordnet den Tod von
Stepan Karagodin an, zusammen mit wei-
teren „Volksfeinden“.
An jenem Novembertag ging Denis
Karagodin noch einmal den Weg ab, den
sein Urgroßvater genommen hatte. Er lief
vorbei am Memorial-Museum und dem
zentralen Platz, der so leer ist, als habe
man vergessen, ihn zu bebauen. Karagodin
Das Haus, in dem Stepan Es wäre eine Sensation.
Karagodin lebte, steht Seit Karagodins Pläne bekannt wur-
noch. Unklar ist, wo genau den, ist in Russland eine Diskussion ent-
seine Gebeine ruhen brannt. Im Internet beschimpft man ihn
als Volksverräter. Selbst einige Nachfah-
ren von Stalin-Opfern sehen Karagodins
Arbeit kritisch. 60 Jahre nach dem Tod des
passierte das Gerichtsgebäude, in dem sein Diktators, sagen sie, spalte Karagodin das
Urgroßvater verurteilt wurde, und das Ge- Land in Opfer und Täter.
fängnis, in dem er starb. Wäre es nicht besser, die Vergangen-
Er erinnert sich, dass es ganz still war heit zu vergessen? Sie für immer in der
in den Straßen: Außer ihm war kein sibirischen Erde zu begraben?
Mensch unterwegs. Der Schnee fiel in di- „Um etwas zu vergessen“, meint Denis
cken Flocken, so langsam und dicht, als Karagodin, „muss man sich erst einmal
ginge man durch Nebel. Karagodin störte daran erinnern.“
das nicht. Er wusste, dass der Winter bald
vorüber sein würde.
Nun will er das Material in einen offi- A L E X A N D R A R O J K O Vfand Denis
ziellen Schuldspruch verwandeln. Mord ist Karagodin selbst für sibirische Verhältnisse
Mord, sagt Karagodin. Die russischen Ge- sehr kühl – bis er kam und ihr eine
richte seien juristisch verpflichtet, die Er- Winterjacke brachte: „Du bist viel zu kalt
schießung seines Urgroßvaters zu verfolgen. angezogen!“ Fotografin RENA EFFENDI
Am Ende des Prozesses würden sie zwar hat einen sehr persönlichen Bezug zu
den Tod der Täter festhalten müssen. Aber diesem Thema: Mehr dazu in der Rubrik
auch ihre Schuld – bis hinauf zu Stalin. „Unterwegs“ auf Seite 6 dieser Ausgabe.

GEO 02 2018 101

 DIE 7. STAFFEL

AB SAMSTAG 10.2.
20:15 FREE TV PREMIERE
 °
361 Weiterfragen

Lassen sich Herzen mit Schneckenschleim reparieren?

Nein. Aber der Schleim ist Vorbild für chirurgischen der Universität Harvard entwickelten einen derarti -
Klebstoff. Wenn sich Hellbraune Wegschnecken er- gen Schleim-Leim. Dass er haftet, zeigte sich unter
schrecken, sondern sie eine zähflüssige Masse ab, die anderem auf Wunden von Schweineherzen, die im
auf nassem und wabbeligem Untergrund klebt. Diese Labor stärker schlugen als üblicherweise bei lebenden
Materialeigenschaften könnten Ärzten helfen, Wun - Tieren. Derartige Klebstoffe könnten eine Alternative
den im Inneren des Körpers zu verschließen. Forscher zu Nähten oder Klammern bei Operationen sein.

GEO 02 2018 103


Verstehen wir Hunde?
Womöglich lange nicht so gut,
wie wir annehmen.
nitionswissenschaftler Ludwig
Huber untersucht an der Vete
rinärmedizinischen Universität
Wien die Beziehung zwischen
Mensch und Tier – unter an de
rem, indem er Hunde auf Bild
schirme starren lässt.
GEO: Hundehalter glauben
zu wissen, dass ihre Tiere sie
verstehen – und andersherum.
Warum brauchen wir dazu
wissenschaftliche Studien?
L U D W I G H U B E R : Wir Menschen
projizieren viel aus unserem Er
leben in die Hunde hinein, stärker als bei
anderen Tieren. Einer Nacktschnecke wür
den wir niemals ein Schuldgefühl unter
stellen, wenn sie unseren Salat im Garten
auffrisst. Einem Hund aber schon, wenn
er unerlaubt ein Würstchen vertilgt. Ob
das stimmt, wissen wir jedoch nicht. Da
her versuchen wir, die Annahmen über die
Hunde wissenschaftlich zu untermauern
oder zu widerlegen.
Sie haben zum Beispiel gezeigt,
dass Hunde zwischen freundlicher und
grimmiger Mimik unterscheiden kön
nen, wenn sie am Bildschirm Gesichter
Warum gefriert Heißes mitunter schneller?
Das ist und bleibt ungeklärt. Wer bei star
ken Minusgraden kaltes Wasser empor
schleudert, könnte nass werden. Wer das
aber mit kochendem Wasser tut, erntet
einen blitzgefrorenen Schneeregen.
Der Mpemba Effekt (heißes Wasser
schäftigt die Wissenschaft seit Aristoteles, tere Simulationen erbringen.
bislang ohne Ergebnis. Ein spanisches
Team liefert nun neue Erkenntnisse. Es aber auch am Computer nicht klären: Die
simulierte das Verhalten der Wassermole Ursache für den Effekt bleibt unbekannt.
104
KURIOSE FORSCHUNG
Was ist wichtiger für
die Tiere, um Gefühle eines
Menschen einzuordnen?
Seine Stimme oder der
Gesichtsausdruck?
Das haben wir noch nicht genau
untersucht. Aus einem Experi
ment zur Empathie Fähigkeit
von Hunden wissen wir, dass
sie auf menschliche Laute wie
Lachen oder Weinen etwa mit
Spielaufforderungsbellenoder
Isolationswimmern reagieren.
Denken Sie, dass Sie
die Gefühlswelt von Hunden
Psycho-Test für Haustiere:
tatsächlich verstehen?
Wonach sucht der Hund im
Nein. Wir versuchen aber in Tests, an die
menschlichen Gesicht?
Emotionen heranzukommen, messen zum
Beispiel Stresshormone im Speichel der
beobachten. Worauf achten die Tiere Tiere, um diese Werte mit dem beobach
besonders? teten Verhalten abzugleichen.
Sie können die Gefühlslage zwar sowohl
anhand der Augen als auch der Mund erkennung auch mit Schweinen. Warum ?
partie erkennen, aber hauptsächlich achten Im Gegensatz zu Hunden werden sie in
sie auf den Mund. Anscheinend weil sie unserer Gesellschaft schlechter behandelt.
wissen, dass dieser auch Kommandos aus Es gibt da einen Zusammenhang: Je in
spricht. Und sie reagieren irritiert, wenn telligenter wir ein Tier einschätzen, desto
ein Widerspruch zwischen Stimmlage und besser behandeln wir es. Ich sehe einen
Mimik besteht, also ein freundliches Ge Bedarf, zu klären, was in Nutztieren, die
sicht unfreundlich mit ihnen spricht. auf dem Teller landen, alles steckt.
küle in einem Computermodell. Erstaun
licherweise trat der Mpemba Effekt auch
kehrtem Weg: Kälteres Wasser erhitzt sich
unter bestimmten Bedingungen schneller
als warmes. Welche exakten Bedingungen
dafür herrschen müssen, sollen nun wei
Eine entscheidende Frage ließ sich
Eiswürfel lassen sich unter Umständen
schneller aus heißem Wasser herstellen
361° GEO 02 2018
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2015. Vor etwa zehn Jahren prägten Forscher in den USA den Begriff einer
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Team um die Konstanzer Psychologin Eunike Wetzel überprüfte die Aus -
sagen, indem sie Testdaten von Studenten dreier amerikanischer Universi-
täten aus drei Jahrzehnten abglich. Besonderes Augenmerk richtete sie auf
Eigenschaften wie Führungsverhalten, Eitelkeit und den Anspruch, anderen
Menschen überlegen zu sein. Das Ergebnis: Entgegen den Erwartungen
ging der Narzissmus seit 1992 leicht zurück.
Ob die Daten auf Deutschland übertragbar sind, ist offen. Zwar wird
der „Narcissistic Personality Inventory“ auch hierzulande angewendet, es www.lifta.de/tuev
gibt aber nicht solch große Datensätze. Auch steht der Test methodisch in
der Kritik, sagt der Hamburger Psychiater Claas-Hinrich Lammers. Es
würden Faktoren abgefragt, die durchaus als ein Zeichen von Selbstbewusst- GUTSCHEIN
sein gesehen werden könnten und nicht von Narzissmus. Schaut man in die Ja, schicken Sie mir meinen Prospekt – kostenlos und unverbindlich.
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 Können wir die virtuelle Welt fühlen?
Ja, mithilfe von Handschuhen und Anzügen.
Bisher erleben wir virtuelle Welten über akus-
tische und visuelle Reize, indem wir speziel- Auf dem Handschuh
sitzen sogenannte
le Brillen und Kopfhörer aufsetzen. Hoch-
Aktuatoren, die Signale in
schulforscher und Start-ups arbeiten nun an Bewegung umsetzen
Kleidungsstücken, die sanfte Berührungen,
Boxschläge oder Temperaturen spürbar ma-
chen sollen. Ziel dieser „immersiven Techno-
logien“ ist, dem Menschen intensivere Erleb-
nisse im virtuellen Raum zu bescheren, erklärt
der Spieledesigner Matthäus Oelschläger von
der Humboldt-Universität zu Berlin.
Londoner Entwickler entwarfen einen
Handschuh (im Bild), der Schallinformatio -
nen nutzt, um Magnete auf- und abzubewe -
gen. Nimmt man das Geräusch auf, wenn
jemand auf Holz klopft, und spielt es dann
Die Aktuatoren
über vibrierende Magnete auf der Haut ab, so bestehen aus
soll das Gefühl entstehen, dass man wirklich Magneten, die in
das Holz berührt, erklärt Charlotte Furet vom Vibration versetzt
werden können
Designstudio The FTR. Denkbar ist auch,
Elektroden aus der Medizintechnik einzuset -
zen, die Muskeln kontrahieren lassen.
Anfragen zur Anwendung der Techno-
logie kommen von Spieleherstellern, aber
auch aus der Medizin und der Sexindustrie.
Das Team um Charlotte Furet plant bisher
allerdings nicht, ein Produkt zu verkaufen,
sondern forscht weiter.

Die Vibrationen
werden in bestimm-
ten Situationen in
der virtuellen Welt Eine Kamera erkennt
ausgelöst anhand von farbigen
Markierungen, in
welcher Position
sich Unterarm und
Hand befinden

106 361° GEO 02 2018

 EINZIGER NACHTEIL:
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 UNSER HIRN UND SEINE WINDUNGEN

Wie wirken Placebos?

Mein kleiner Nachbar lernt gerade das Fahrrad
fahren. Natürlich geht das nicht ohne Schürfwunden
ab. Neulich kam er wieder weinend nach Hause und
präsentierte sein aufgeschrammtes Knie. Seine Mut
ter desinfizierte die Wunde, was noch einmal kräftig
brennt. Doch sofort nahm sie ihn in den Arm und
pustete den Schmerz vom Knie weg. Da hatte mein
Nachbar die Verletzung schnell vergessen.
Dabei bediente sich seine Mutter eines sehr wir

effekts. Denn ohne ein einziges Analgetikum konnte

sie den Schmerz ruck, zuck verschwinden lassen.

ationen umdeuten und ins Positive drehen kann. So

wie mein kleiner Nachbar die Schmerzen „vergisst“,
wenn er ein buntes Pflaster auf dem Knie hat.
Um das zu untersuchen, zeigte man Testpersonen
zunächst in einer Bilderserie Aufnahmen von un
genehmen Situationen, etwa von offenen Wunden.
Die Probanden wurden aufgefordert, die Bilder um
zudeuten und ihnen etwas Positives abzugewinnen.
Anschließend ermittelte man, wie gut die Testteil und der Placeboeffekt ist real im Gehirn messbar. Je
nehmer auf ein Placebo ansprachen. besser man eine schmerzhafte Situation umdeuten
In einem Hirnscanner liegend bekamen sie über kann, desto gezielter schaltet das Gehirn die Schmerz
einen Hitzereiz am Arm leichten Schmerz zugefügt. empfindung aktiv aus.
Die Behandlung erfolgte prompt: Eine schmerzstil Mein Nachbar radelt übrigens wieder fleißig
lende Creme sollte vor dem nächsten Hitzereiz schüt durch die Gegend. Dass er wieder mal stürzen wird,
zen. Die Probanden wussten nicht, dass die Creme ist sehr wahrscheinlich. Trotzdem weiß er, worauf es
keine Schmerzmittel enthielt. Dennoch berichteten wirklich ankommt: keine Angst zu haben und im
alle untersuchten Personen anschließend von deutlich mer einmal öfter aufzustehen. Mit einer fürsorglichen
weniger Schmerz trotz gleichen Hitzereizes. Mutter im Hintergrund fällt das besonders leicht.
Literatur: M. van der Meulen et al. (2017): The role of cognitive
sonders gut auf das Placebo ansprach, also besonders reappraisal in placebo analgesia: an fMRI study. Social Cognitive
wenig Schmerz verspürte: Diejenigen, die am besten and Affective Neuroscience, 12 (7): 1128
unangenehme Bilder umdeuten konnten, waren auch
für die Placebocreme am empfänglichsten.
Wie Aufnahmen der Hirnaktivität zeigten, war
bei diesen Personen während der Placebowirkung ein
DR. HENNING BECK
Areal im oberen seitlichen Stirnhirn aktiv. Diese Re
ist Buchautor, preisgekrönter
gion ist wohl am Erkennen, Bewerten und Umdeuten
Science-Slammer und arbeitet als
von Situationen beteiligt und vermittelt außerdem den Neurobiologe in Frankfurt/Main.
schmerzstillenden Effekt. Die Hirnaufnahmen zeig Für GEO kommentiert er jeden
ten bei ausgeprägtem Placeboeffekt eine starke Kopp Monat die neuesten Ideen aus
lung zwischen dieser Stirnhirnregion und den Arealen der Neuro-Szene.
im Mittelhirn, die unser Schmerzempfinden unter
drücken (und etwa Angriffspunkt von Opiaten sind).

108 361° GEO 02 2018

 CAMPUS
Was wissen Sie über Kohle,
Knete, Moos – Geld?
1 Moos, Reibach, Pleite: Diese
Begriffe ...
A stammen aus dem Jiddischen
B haben sich durch Grimms
Märchenetabliert
C hat Goethe als lyrische
Synonyme ins Spiel gebracht
2 Erfinder des Papiergeldes
waren ...
A die Ägypter
B die Chinesen
C die Römer
3 Hätte der biblische Joseph für
Jesus vor 2000 Jahren einen
Pfennig mit fünf Prozent Zinsen
angelegt, wären dies heute ...
A 500 000 Euro
B 50 Millionen Euro
C Milliarden Erdkugeln aus Gold
4 Zu den sogenannten
Kryptowährungengehört...
A der Samoanische Tala
B der Bitcoin
C der Auroracoin
Wenn Geld nichts wert ist: Drachen
5 Am 1. Oktober 2015 lancierte
aus Banknoten zu Zeiten der Inflation
Schweden ... im Deutschland der 1920er Jahre
A elektronische „Kollektomaten“
im Dom von Uppsala
B neue Banknoten 7 Das reichste Land der Erde ...
C die mobile Bezahl-App „Swish“ A ist Katar
B sind die USA
6 Nach dem Gesetz der Scharia C ist Luxemburg
dürfen islamische Banken ...
A keine Geschäfte mit Tabak - 8 In der Vergangenheit bezahlte
unternehmen tätigen man auch mit ...
B niemals Zinsen nehmen oder A Delfinzähnen
zahlen B Kaurischnecken
C in der Zeit des Ramadan keine C Tabak
Gewinne erzielen AUFLÖSUNG SEITE 110

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ISRAEL ENTDECKEN:
DIE NEGEV-WÜSTE
Traumhaft schön: die Landschaft der Negev in Israel

„Weite
spüren:
die Negev Gigantischer Blick: am Rande des Ramon-Kraters
bedeckt
Kopf an Kopf: Antilopen in fast
perfekter Symmetrie
60 nem Inneren schillert bunter Sand, und versteinerte Korallen-
Prozent riffe verraten, dass hier einst Meer war. Der Blick vom Kra-
Wie ein lang gezogenes Herzliegt der terrand ist überwältigend, vor allem bei Sonnenuntergang.
Ramon-Krater mitten in der Negev-
Israels.“ Im Timna-Park, einem hufeisenförmigen Tal, faszinieren
Wüste: Der größte Erosionskrater außergewöhnliche Felsformationen: „Salomons Säulen“,
der Welt wurde über Jahrmillionen von Wind und Wasser ein riesiger Pilz oder eine Spirale, die sich um einen Hü-
geformt. Die Ausmaße sind überwältigend, der Krater ist gel windet. So karg die Landschaft auch wirken mag: 1.382
40 Kilometer lang und über 400 Meter tief – kein Wunder, Tier- und Pflanzenarten sind hier zu Hause, von Stachel -
dass er auch „Israels Grand Canyon“ genannt wird. In sei- schweinen bis zu Steinböcken. Die Wüste lebt!

Mehr Informationen unter www.goisrael.de/Negev_Wueste

 Welche herzlosen
Gesellen ärgern uns vor
allem im Winter?

Die Milben. Gerade im Winter, wenn wir unsere Woh -

nungen heizen, bekommen viele Menschen mit einer
Allergie gegen die Spinnentierchen Probleme. Genau
genommen sind sie gegen den Kot der Hausstaubmil -
ben allergisch, die sich von Hautschuppen ernähren.
Sinkt die Luftfeuchtigkeit durch die Heizungsluft,
sterben die Milben, wobei noch mehr Allergien aus-
lösende Stoffe frei werden. Im Bild zu sehen ist ein
einen Viertelmillimeter kleiner entfernter Verwandter
der Hausstaubmilben. Der Schweizer Biologe und
Fotograf Martin Oeggerli hat die Speleorchestes -Art
mit dem Rasterelektronenmikroskop in Szene gesetzt.
Die Gattung gehört zu den Endeostigmata, die in
Wüsten der Erde zu finden sind. Wie viele winzige
Tiere haben Milben meist kein Herz und halten ihren
Kreislauf durch Bewegung am Laufen.

Etwa 50 000 Milben-Arten sind bekannt.

Ihre wahre Schönheit offenbaren sie erst
unter dem Elektronenmikroskop

AUFLÖSUNG CAMPUS VON SEITE 109

1 A Das jiddische Wort moos steht für
Münzen und Kleingeld. Der Reibach geht
zurück auf den Begriff rewach und
bedeutet Zins. Auch die Pleite hat ihren
Ursprung als plejte im Jiddischen.
2 B Die ersten Geldnoten wurden 1024
im China der Song-Dynastie gedruckt,
weil es dem Land mit dem Wachsen der
Wirtschaft schließlich an Kupfer und
Silber fehlte. Italiener waren es hingegen,
die im Europa des 14. Jahrhunderts
immaterielles Geld in Form von Schecks
einführten.
3 C Unser Gehirn sei für die Vorstellung
von exponentiellem Wachstum nicht
gemacht, sagt der als „Mister Dax“
bekannte Börsenmakler und Buchautor
Dirk Müller. Mit Zinseszins wäre aus dem
Der Wert des Bitcoin ist innerhalb eines
Jahres um 2000 Prozent gestiegen und
wird immer häufiger als Zahlungsmittel
akzeptiert. Viele weitere virtuelle
Währungen zogen nach, etwa der eher
lokal relevante „Auroracoin“ auf Island.
5 B Schweden ist weltweiter Vorreiter
in Sachen „bargeldlos zahlen“. Die Hälfte
der rund 1800 registrierten Bankfilialen
nehmen nicht einmal mehr Bargeld an.
Auch haben schwedische Banken schon
vor 2015 die benutzungsfreundliche
Bezahl-App „Swish“ entwickelt, damit sich
auch private Kleinstüberweisungen leich-
ter handhaben lassen. Trotzdem scheinen
die Schweden an ihrer Krone zu hängen,
denn im Oktober 2015 führte das Land
neue Banknoten ein.
6 A, B Nach den Regeln der Scharia sind
würden. Für einen Immobilienerwerb
werden weder Kredite noch Baufinanzie -
rungen vergeben, stattdessen erwirbt
die Bank das Gebäude zunächst selbst.
7 A, B Gemessen an der Pro-Kopf-Vertei -
lung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist
es Katar. Geht man nach dem gesamten
BIP, sind die USA mit der größten
Volkswirtschaft das reichste Land der
Welt. Die kleinste Volkswirtschaft ist der
ozeanische Inselstaat Tuvalu.
8 A, B, C Tauschmittel gab es in
vielerlei Form. Auf den Salomonen etwa
wurde über Jahrhunderte hinweg mit
Delfinzähnen gezahlt, auf den Admirali -
tätsinseln wiederum mit Hundezähnen.
1642 wurde im nordamerikanischen
Virginia Tabak zum gesetzlichen Zahlungs-
mittel erklärt, während sich in China,
Autorin: Christiane Löll

„Josephspfennig“ eine unvorstellbare

Menge Geld geworden: nämlich Gold im
Wert von vielen Milliarden Erdkugeln.
4 B, C Seit 2008 gibt es den digitalen
Bitcoin, eine Kryptowährung, die – ver
schlüsselt und anonym – einen Geldtrans
fer von Person zu Person ermöglicht.
islamischen Banken nicht nur Zinsen,
sondern auch Geschäfte rund um Tabak-,
Alkohol- oder Glücksspielunternehmen
verboten, also haram . Geld solle man
- nicht mit Geld, sondern mit Sachgütern
- und Dienstleistungen machen und so
vermeiden, dass Reiche immer reicher
Indien und Teilen Afrikas die Kauri -
schnecken (von den Malediven) durch -
setzten. Unzählige Schiffsladungen
dieser „Kaurimuscheln“ wurden übers
Meer transportiert, ihr Wert stieg mit
der Entfernung zu den Malediven.
Dörte Nohrden

110 361° GEO 02 2018

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111
 ZEITREISE

Mumbai
EIN LAND TRÄ U
Indien setzt an zum »Gewaltigen Sprung«, es will
wohlhabend, sauber und modern werden. Eine Fahrt im
»Kolkata Mail« quer durch den Subkontinent führt
zu Orten, an denen das Morgen bereits angekommen ist.
Und durch eine unveränderte Welt, in der sich
Krise und Normalität nur schwer unterscheiden lassen

Teil 1: Von Mumbai nach Jalgaon

112 Fotos: Giulio Di Sturco

UMT ZUKUNFT Kolkata

AUFBRUCH

Eine junge Frau

richtet sich nach
der Abfahrt in
Mumbai auf eine
lange Fahrt ein:
Bis der Zug in
Kolkata eintrifft,
werden fast

gehen

GEO 02 2018 113

114 GEO 02 2018
 ALLES
IM FLUSS

Hinter Varanasi
überquert der
Kolkata Mail
»Mutter Ganges«.
Ein Ziegenhirte
pflückt Futter
für seine Tiere.
Bald soll es den
Armen im Land
besser gehen

115
116 GEO 02 2018
 DULDSAME
FAHRGÄSTE

In der Bahnhofs -
halle von Mughal
Sarai richten sich
Menschen für die
Wartezeit ein.
Stundenlange Ver-
spätungen sind die
Regel im indischen
Zug verkehr

117
 MUMBAI
St at i on 1 – k m 0
Der Kinderretter im Victoria Terminus
Te x t: M I C H A E L S T Ü H R E N B E R G
hat sein schweres, feuchtes Gewand
D
ER MONSU N
über die Stadt gebreitet, und die Luft im größten
Bahnhof von Mumbai ist so stickig und schwer, dass
man sie trinken könnte. Jeder Atemzug erfordert Kraft, die Klei-
dung klebt schwer auf der schweißnassen Haut. Dazu dröhnt
ein unablässiger Lärm in der mächtigen Halle, ein Rufen und
Brüllen, kreischende Zugbremsen, Lautsprecherdurchsagen auf
Hindi und Englisch.
Und überall drängen sich ungeheure Menschenmassen.
Finden jene, die da auf nacktem Boden vor den Gleisen
liegen, wirklich Schlaf? Hunderte von ausgestreckten Leibern,
ein unwirkliches Bild. Als würden hier zwei Kino-Epochen
durcheinandergeraten: Männer aus Schwarz-Weiß-Filmen mit
Frauen in Technicolor-Saris. Wartende Passagiere, gestrandete
Migranten vom Land.
Drei Millionen Menschen drängen sich täglich durch diese
Hallen wie durch einen Tempel zertrampelter Erinnerungen.
Das Bahnhofsgebäude ist ein Prachtexemplar „viktorianischer
Neugotik“, erschaffen zum Goldenen Regierungsjubiläum von
Queen Victoria im Jahr 1887.
Schon damals zeugte der Bau von romantischer Sehnsucht
nach einer nicht mehr zurückzuholenden Vergangenheit. Heu -
te wirkt er wie ein versteinertes Plusquamperfekt. Vor Jahren
taufte die Regierung ihn um in Chhatrapati Shivaji Maharaj
Terminus. Aber dieser Bahnhof verdient seinen alten Namen.
Und fast jeder in dieser Stadt, angefangen bei den Taxifahrern,
nennt ihn weiter Victoria Terminus. Oder einfach nur VT, ge-
sprochen „Wii-Tii“.
Eigentlich suche ich nur nach Gleis 18. Dort fährt, täglich
um 21.30 Uhr, der „Kolkata Mail“ ab. Dieser Expresszug mit den
Die Route der GEO-Reporter
2160 Kilometer durch Indien: Der erste Teil
(grün) führt bis Jalgaon, im nächsten Heft lesen
Sie über die zweite, lange Etappe (rot)
Start
Victoria Terminus: Der matte
Glanz der alten Tage
MUM BA I
Mumbai
JA LG AO N
Banana City
Ein Konzern gibt Millionen
Bauern Hoffnung
118
Zugnummern 12321 und 12322 ist der Nachfolger des „Imperial
(Indian) Mail“, der ein Emblem war des vor 70 Jahren versunke-
nen British India. Der Zug war Teil der See- und Zugverbindung
von London nach Rangun in Birma, eine Achse quer durch das
British Empire.
Wie einst, verbindet der Zug auch heute Mumbai (ehemals
Bombay) mit Kolkata (ehemals Kalkutta), das Arabische Meer
mit dem Golf von Bengalen. Der Kolkata Mail durchquert einen
Subkontinent, der gerade, so will es Premierminister Narendra
Modi, zu einem „Gewaltigen Sprung“ nach vorn ansetzt. In den
kommenden vier Jahren will Narendra Modi das Land von
Grund auf modernisieren.
Indien soll digitales Vorzeigeland werden, soll „smarte
Städte“ entwickeln. Nachdem das Land jahrzehntelang hinter
seinem boomenden Nachbarn China zurückgeblieben ist, stehen
wir nun an der Schwelle zum Zeitalter des indischen Aufbruchs.
Indien, „ein reiches Land mit armen Menschen“, soll den Armen
die Macht verleihen, sich aus ihrem Elend zu befreien. Und
Indien soll „sauber“ werden, die „Clean India Mission“ hat das
ganze Land erfasst.
Lauscht man den Plänen des Premierministers, ist Indien
auf dem Weg in eine leuchtende Zukunft. Entlang der 2160
Schienenkilometer des Kolkata Mail will ich schauen, wie weit
Indiens Reise in die Zukunft bereits vorangeschritten ist.
Heilige Stadt
Das Recht auf einen sauberen,
stillen Ort
VARANASI Am Tor zur Hölle
Indiens Abhängigkeit
von der Kohle
DHA NB AD
INDIEN
K O L K A TA
Kolkata
Ziel
New Town: Ankunft in der
digitalen Zukunft
500 km
GEO-Graf ik
 Klimaanlage?
Für Zugluft sorgt
zur Not die offene
Tür, zumindest in

zügen. Manche
Waggons sind für
Frauen reserviert.
Unten: Der Bahnhof
»Victoria Terminus«
in Mumbai erstrahlt
im Glanz viktoriani
scher Neugotik

Richtung Zukunft bleiben noch

B
IS ZUR ABFAHRT
ein paar Stunden Gegenwart in Mumbai. Ich treffe
Kishore Pandit: Der VT-Stationmaster ist ein schlan -
ker Mann mit sanfter Stimme, die ihn angenehm vom Getöse
seiner Station abhebt. Dabei steht Pandit unter Druck: „Vorige
Woche ist hier ein Zug entgleist. Monsun!“
Monsun, das bedeutet: sintflutartiger Regen, überschwemm-
te Gleise, Schlammlawinen in den Straßen, Chaos überall in
Indiens Finanz- und Handelsmetropole. „Alle Vorortzüge fielen
an jenem Tag aus“, erzählt Pandit. Dabei hängt die Zumutbar -
keit des Alltags in diesem urbanen 18-Millionen-Moloch wesent-
lich vom Funktionieren seines Schienenverkehrs ab. Besonders
im Nahverkehr. Fahren keine S-Bahnen mehr, bleiben sechs
Millionen Pendler auf der Strecke.
Vier Tage später ist Kishore Pandit damit beschäftigt, Tickets Abschluss des mehrtägigen Festes zu seinen Ehren. Eine schier
für ausgefallene Züge zu erstatten. Es geht dabei um geringste endlose Prozession wälzte sich im Schritttempo durch die ver-
Beträge, meist weniger als ein Euro. Indische Bahnfahrer sind stopfte Stadt. Hunderttausende marschierten zwischen und
jedoch überwiegend arm. „15000 Menschen fordern jetzt ihr neben Wagen, die auf ihren Ladeflächen Ganesha-Statuen trans -
Geld zurück“, stöhnt Pandit. portierten. Bis zum Stadtstrand, wo alle großen und kleinen
Idole im Arabischen Meer versenkt wurden.
wie im Kontrollturm eines Schwimmmeisters am Strand von Wie üblich, wurde auch in diesem Jahr die Lautstärke der
Indien, drei Meter über dem Menschenmeer in der Wartehalle. Massenparty ermittelt. Sie erreichte 119,8 Dezibel, was dem
„Im Grunde hatten wir Glück“, glaubt der Bahnhofsvor - Lärm eines startenden Düsenflugzeugs gleicht – die menschli -
steher. Wie alle Inder schüttelt er den Kopf, wenn er Ja meint. che Schmerzgrenze liegt bei 120 dB.
„Ja, richtiges Glück! Der Monsun hat in diesem Jahr 1500 Men- An solchen Rekorden kann sich Mumbai ergötzen. Weite -
schen getötet. Nur drei Dutzend davon hier in Bombay.“ re Messwerte stehen in der „Times of India“: 1775 Tonnen Abfall,
Gewiss ist es Ganesha zu verdanken. Der Dickbäuchige mit aufgesammelt von Freiwilligen an den Ganesha-Versenkungs-
dem Elefantenkopf ist der Hindugott des Anfangs und Gelin - lokalitäten in der Bucht von Mumbai. Um den Müll wegzu -
gens, zuständig für Erfolg und Reichtum. Wie uneingeschränkt schaffen, mussten die Behörden 192 Lastwagen aufbringen und
Ganesha über Mumbai herrscht, weiß ich seit der vorvergange- die Arbeitskraft von 586 Angestellten. Sauberes Indien! „Paaga-
nen Nacht. Da fand hier Ganesh Chaturthi statt, der rauschende lapan“ stand in dem Artikel, das Hindi-Wort für Wahnsinn.

GEO 02 2018 MUMBAI JALGAON VARANASI DHANBAD KOLKATA 119

 Sichtbarer Fort -
schritt: Das »Train
Management
System« TMS gilt
als technisch
vorbildlich und
soll Zugunfälle
verhindern. Die
Gepäckverladung
ist allerdings
immer noch mühe-
volle Handarbeit

Ohne ihre Diebesbeute, versteht sich. Der bislang Letzte,

Eine Ganesha-Statue, kitschig wie eine Bollywood-Requi -
site, grüßt auch in der Halle des Victoria Terminus. Dort, wo
täglich 1100 Züge ein- und abfahren und Hunderttausende von
Hoffenden dem Gott begegnen. Auf Migranten aus den ärms -
ten Regionen Indiens wirkt sein Anblick wie das Versprechen
auf eine Zukunft frei von Not.
Leider locken die Menschenmassen auch Gesindel an, des-
wegen kann es im VT keinen wichtigeren Mann geben als Ki-
shore Pandit.
„Ich liebe die Herausforderungen, die mit meinem Job ver-
bunden sind“, erklärt der Stationmaster. Er meint nicht das
Erstatten von Pfennig-Tickets. „Nach meiner Schicht“, erzählt
Pandit weiter, „mache ich mich oft auf die Suche nach gestoh-
lenen Kindern.“
Er deutet auf die Menschenbrandung zu unseren Füßen.
„Sehe ich ein weinendes oder verängstigtes Kind auf dem
Arm oder an der Hand eines Erwachsenen, stelle ich mich ihnen
in den Weg und frage das Kind: Ist dies dein Vater? Deine
Mutter? Verneint das Kind, ergreifen die Erwachsenen meistens
die Flucht.“
den Lebensretter Pandit vor dem Ertrinken bewahren konnte,
war ein schluchzender Dreijähriger auf dem Arm einer Frau.
„Wir konnten seine Eltern ausfindig machen“, sagt der Held
bescheiden. „Es war gar nicht so schwer.“
Die meisten gestohlenen Kinder werden nach Dharavi ver-
schleppt, einem der größten Slums von Asien. Er liegt mitten
in Mumbai, und um ihn herum haben sich Leder- und Textil -
werkstätten angesiedelt. Die Kinder werden dort als Arbeits-
sklaven verdingt, weil sich geschickte kleine Hände vorzüglich
für Tätigkeiten wie Nähen und Sticken eignen.
Manche Kinder werden sogar von den eigenen Eltern an
die Slum-Mafia verkauft. „In solchen Fällen kann ich nichts
tun“, bedauert der Bahnhofsvorsteher von Mumbai und verab-
schiedet mich mit feuchten Augen.
P Ä T E R I N D E R N A C H T , als ich dann endlich im
S Kolkata Mail durch den Bundesstaat Maharashtra
schaukle, denke ich noch immer an Kishore Pandit.
Nicht nur, weil seine Kinderretter-Story derart berührt. Da war
auch jene Kurzformel, mit der dieser Weise mir das Wesen von
Mumbai beschrieben hatte: „From tragedy to festival within the
blink of an eye“ – die schlimmste Katastrophe liegt nur einen
Lidschlag entfernt von der fröhlichsten Massenfete.
So wie die Ganesha-Prozession fast unmittelbar auf den
Einsturz eines Gebäudes folgte, bei dem 33 Menschen getötet
worden waren: Mumbais schwerste Monsun-Katastrophe in
diesem Jahr – und doch nicht mehr als ein tragischer Moment,
der im Nu aus dem Bewusstsein der Stadt weggefeiert wurde.
Bollywood, die örtliche Filmindustrie, habe dieses Tragedy-
Festival-Prinzip sogar verewigt, hatte Kishore Pandit seine Be-
weisführung abgeschlossen.

120 MUMBAI JALGAON VARANASI DHANBAD KOLKATA GEO 02 2018

 Er hatte mich zu einer Gedenktafel in der Wartehalle ge -
führt. Auf ihr stehen die Namen jener, die bei der islamistischen
Terrorattacke im November 2008 getötet wurden. 174 Menschen
kamen damals ums Leben, viele im Bahnhofsgebäude, wo die
Mörder wahllos mit Kalaschnikows in die Menge feuerten: eine
nationale Tragödie.
Kurz zuvor kam der Film „Slumdog Millionaire“ in die
Kinos. In der Schlussszene tanzt das Liebespaar in absurdester
Manier auf einem Bahnsteig zwischen zwei Vorortzügen, Pandit
hatte mir die Stelle gezeigt. Genau dort, wo später in der Rea -
lität die Terror-Leichen gelegen hatten. Natürlich sei dieses
Zusammentreffen nur eine brutale Ironie des Schicksals, so der
Stationmaster: „Aber sie passt zu Mumbai.“
Und noch etwas geht mir jetzt nicht aus dem Kopf. In In -
dien, schrieb kürzlich ein Korrespondent, ergebe der Begriff
Krise keinen Sinn: „Krise setzt einen weitgehend reibungslos
funktionierenden Normalzustand voraus, der dann schockhaft
unterbrochen wird – und zu dem man, ist die Krise erst einmal
überwunden, wieder zurückkehrt. Doch diesen tendenziell per-
fekten, jedenfalls im Großen und Ganzen befriedigenden Nor -
malzustand gibt es in Indien in der Regel gar nicht. Die Krise
selbst ist hier die Normalität.“
Wie, natürlich, bei den Indian Railways.
Beim Durchfahren der nördlichen Vororte Mumbais merke
ich, dass die Waggontüren nicht geschlossen sind. „Bei dieser
GEO 02 2018
Hitze muss man gut durchlüften“, erklärt Kishore Pandit,
der Schaffner, während ich vorsichtig der Stationmaster,
durch eine dieser offenen Türen dem Trei- behält im Trubel
des VT den Über-
ben neben den Gleisen zuschaue. Dort
blick – und hält
herrscht reger Fußverkehr. Ist das nicht
Ausschau nach
gefährlich?
weinenden kleinen
Der Bahnbeamte schüttelt den Kopf, Kindern. Weinen
also stimmt er mir zu: „Manchmal ge- sie, weil sie
schieht ein Unglück.“ Ein Euphemismus. müde sind? Oder
Laut Angaben der indischen Eisenbahn - wurden sie wo-
gesellschaft sterben pro Jahr 15000 Men - möglich entführt?
schen als Fußgänger auf Gleisen. Dazu
kommen noch diejenigen, die etwa aus offenen Zugtüren fallen.
Manche Quellen sprechen von insgesamt 25 000 Toten.
25000 Tote! „Indien hat 1,3 Milliarden Einwohner“, gibt der
Schaffner zu bedenken.
zeugt vom Umgang
A
UCH DER KOLKATA MAIL
mit der Krise als Normalzustand. In Kolonialzeiten bot
der Imperial Mail einer Elite exquisiten Komfort: be-
quemes Bett mit Bad, der Speisewagen ein Spitzenrestaurant.
Heute ist dieser Zug über einen halben Kilometer lang und
befördert mehr als 2000 Passagiere, obwohl es offiziell nur 1596
sein dürfen. Derart überladen, wirkt dieser „Express“ wie eine
Metapher für das ganze Land. Und die Unterteilung in acht
(WEITER AUF SEITE 124) 121
 KLASSEN -
FAHRT

Acht Ränge gibt es

für die Fahrgäste
im Kolkata Mail. In
der einfachsten
Kategorie kostet
das Ticket für die
gesamte Strecke
umgerechnet nur
sechs Euro

122 GEO 02 2018

123
 serung sorgt für
reiche Bananen
und Erdbeerernte
in Jalgaon. Davon
profitieren auch
Kleinbauern. Bald
wird Indien der be
völkerungsreichste
Staat der Erde sein.
Nur wenn alle satt
werden, kann das
Land Erfolg haben
verschiedene Klassen – von der klimatisierten First Class (1AC)
über die „Two Tier Air Conditioned Class (2AC)“ bis hinab zu
den Holzbänken der „Unreserved General Class (UR)“ mit un -
begrenzter Passagierzahl – wirkt wie ein Symbol für Indiens
Kastengesellschaft.
Eigentlich hatte ich mich auf einen Spaziergang durch die -
sen Zug gefreut, von einer Sphäre der indischen Gesellschaft in
die nächste. Aber das ist nicht möglich. Jeder Passagier ist in
seiner Klasse eingeschlossen. Waggons mit günstigen Klassen
sind von außen leicht daran zu erkennen, dass sie anstelle echter
Fenster scheibenlose Öffnungen aufweisen, versperrt von drei
Eisenstäben. Wie Gefängniswagen.
Dafür zahlen die „Insassen“ für ihr Ticket von Mumbai nach
Kolkata auch nur sechs Euro, verglichen mit 60 Euro für die
Reise im Luxusbereich. Und wie unerträglich die Bedingungen
auch sein mögen auf dieser (laut Fahrplan) Fahrt von 38 Stunden
und 15 Minuten, niemand beschwert sich.
In der Krisen-Normalität zählt das Ankommen: nicht das
Wann, nur das Ob.
124
Bis zum Einsteigen hatte ich mir die Reise im Kolkata Mail
unkompliziert vorgestellt. Geplant war: Ankunft in Jalgaon, mei-
nem ersten Etappenziel, um 3.58 Uhr in der Frühe.
Wir verlassen Mumbai zwar pünktlich, kommen dann aber
nie über das Schaukeltempo hinaus. Gelegentlich bleibt der Zug
stehen. Draußen tiefste Nacht, nirgends ein Licht.
„Where are we?“, wo sind wir?, frage ich in die Stille mei-
nes 2AC-Abteils. Wir sind zu viert, verteilt auf je zwei Klapp-
Pritschen pro Wand. Ich liege links unten. Der Mann über mir
schnarcht seit einer Stunde, der Passagier rechts oben schläft
auch. Bleibt als potenzieller Ansprechpartner nur der ältere Herr
rechts unten, mir gegenüber.
„Do you know where we are?“, frage ich noch einmal und
schaue ihm gezielt ins Gesicht. Er lächelt freundlich, antwortet
auf Hindi, ich verstehe kein Wort.
Jetzt wird mir plötzlich mein Problem bewusst. Auf der
Strecke Mumbai–Kolkata liegen 49 Stationen. Jalgaon ist Halte-
stelle Nummer 10.
Allerdings habe ich nicht daran gedacht, die Stationen ab
Mumbai zu zählen. Und es gibt keine Durchsagen bezüglich der
jeweils nächsten Haltestelle. Deren Name ist bei der Einfahrt
nicht immer leicht zu entdecken. Oft steht er klein geschrieben
an einem unscheinbaren Bahnhofspfeiler.
Was tun? Theoretisch könnte ich mich von meinem Handy
kurz vor der geplanten Ankunftszeit in Jalgaon wecken lassen.
Nur läuft in Krisen nichts nach Plan. Die durchschnittliche Ver -
spätung des Kolkata Mail an der Endstation beträgt sieben
Stunden. Einzige Lösung: wach bleiben, den richtigen Bahnhof
identifizieren, sich durch den vollgepackten Korridor zum Aus-
gang zwängen, mit Gepäck auf den Bahnsteig springen, mitten
zwischen die dort Schlafenden. Das klappt.
Kurz nach sechs Uhr erreiche ich erschöpft mein erstes Ziel.
GEO 02 2018
 JALGAON
St ati o n 2 – km 41 0
Neue Hoffnung für viele Kleinbauern

In den Laboren
von Jain Irrigation
Systems werden
widerstandsfähige
Bananensorten
für die Region
gezüchtet. Anil
Jain (unten) glaubt,
dass Indiens Zu-
kunft auf dem Land
liegt: Das Leben
in durchgeplanten
Dörfern werde
bald besser sein
als in der Stadt

Indiens mögliche Zukunft.

I
N JALGAON BEGINNT

tra auch genannt, was nicht wirklich futuristisch klingt.

Aber hier befindet sich der Sitz von Jain Irrigation Systems Ltd.,
einer multinationalen Company mit 11500 Angestellten und
29 Niederlassungen weltweit. Ein Gigant der verarbeitenden
Lebensmittelindustrie, Zulieferer von Coca Cola, McDonald’s,
Unilever etc., ein Vertreter des globalen Superkapitalismus.
Der Konzern ist das Lebenswerk von Bhavarlal Jain. Über
ihn muss man zunächst einiges erfahren, damit das Weitere nicht
wie ein orientalisches Märchen klingt.
troleumverkäufer mit Schubkarre. Als Startkapital dienten ihm
die Ersparnisse aus drei Generationen von Kleinbauern. Deren
Vorfahren waren aus der Wüste Rajasthans nach Maharashtra
geflohen.
Ihr Nachname Jain weist sie als Anhänger des Jainismus aus.
Diese fast nur in Indien verbreitete Religion beruht auf drei ethi
schen Gesetzen: Gewaltlosigkeit gegenüber allem Leben, Frei
sein von unnötigem Besitz, Streben nach Wahrhaftigkeit. Ein
fach ausgedrückt: Jains essen vegetarisch, verzichten auf Luxus,
verabscheuen Lügen.
Unter solchen Voraussetzungen entwickelte sich Bhavarlal
Jain zu einem sehr indischen Konstrukt: kapitalistisch im Kopf
und beseelt von der Liebe zu Mahatma Gandhi, dem Vater der
indischen Unabhängigkeit, der die koloniale Weltmacht Groß
britannien durch zivilen Ungehorsam in die Knie gezwungen
hatte.
Die glühende Bewunderung für Gandhi durchstrahlte das
Wirken des Bhavarlal Jain. Und gegen Ende seines Lebens, als
der Jahresumsatz des Jain Konzerns über eine Milliarde Dollar
erreicht hatte, erfüllte sich der Tycoon einen letzten großen
Traum: Er ließ auf den Jain Hills, dem höchsten Punkt des
450 Hektar großen Firmengeländes vor den Toren Jalgaons, ein

GEO 02 2018 MUMBAI JALGAON VARANASI DHANBAD KOLKATA 125

 Ein Museum auf Museum zu Ehren Mahatma Gandhis
dem Gelände der errichten, das aussieht wie ein Tempel.
Jain Irrigation Sys- Wer heute über die Marmorplatten
tems huldigt dem des Gebäudes aus rotem Sandstein wan-
indischen National -
delt, den berieseln auf Schritt und Tritt
helden Mahatma
Gandhi-Zitate wie Verse aus einer heili-
Gandhi. Der »Mann
mit dem Spinnrad«
gen Schrift. Darunter auch grob klingen -
kämpfte gewaltfrei de Sätze wie: „Bombay, Kalkutta und die
für die Unabhän- anderen Großstädte Indiens sind wahre
gigkeit Indiens und Pestbeulen des Landes.“
für die Versöhnung „Der Mahatma liebte das rurale In -
der Religionen dien“, sagt Anil Jain. „Genau wie mein
Vater. Das liegt in der DNS der Jain-Fa-
milie. Unser Herz schlägt für die Bauern.“
Der 52-jährige Anil Jain, der seit dem Tod seines Vaters im
Februar 2016 gemeinsam mit drei Brüdern den Konzern leitet,
ist Geschäftsführer und Vizevorstand. Ein behutsam artikulie -
render Mann, dessen ruhiger Blick den Zuhörer nie aus den
Augen lässt. „Natürlich sind wir profitorientiert“, erklärt Anil
Jain die Leitlinien seines Unternehmens. „Aber wir müssen auch
das Richtige für Indien tun. Deshalb fließt der größte Teil un -
serer Gewinne zurück in die Gesellschaft. We must give back!“
Aus dem Munde eines normalen Konzernchefs würden mich
solche Worte skeptisch stimmen. Aber Jain schien es wirklich
ernst zu meinen, wie ich mit eigenen Augen gesehen hatte.
126 MUMBAI JALGAON VARANASI DHANBAD KOLKATA
Am Tag meiner Ankunft war ich durch die Bananenfelder
der Umgebung gefahren. In einem Dorf namens Sunasgaon
hatte ich Yuvraj Gopal Patil getroffen. Der Greis, gerade von
der Feldarbeit zurückgekehrt, lud mich zum Tee ein. Vermutlich
aus Stolz auf sein neues Haus. Ein solider Backsteinbau ohne
den üblichen Monsun-Schimmel an den Wänden. Das Wohn -
zimmer wirkte komfortabel, Kinder und Enkelkinder saßen
frisch gewaschen vor dem Fernseher.
Ich erging mich in Komplimenten, der Hausherr strahlte.
„Seit fünf Jahren arbeite ich mit Jain“, sagte Gopal. „Mein Ein-
kommen hat sich verdoppelt.“
Das Erfolgsrezept klingt simpel: Teamwork und Fairness.
Auf der einen Seite die Millionäre von Jain; auf der anderen
sieben Millionen Kleinbauern, die überwiegend Bananen, Man-
gos, Erdbeeren und Zwiebeln pflanzen.
In seinen Laboren klont der Konzern jene Arten, die sich
als besonders widerstandsfähig in Indiens Klima erwiesen haben,
und verkauft die Pflänzchen an die Farmer. Dann installieren
Jain-Techniker auf den Feldern eine von Sonnenenergie gespeiste
Tröpfchenbewässerung. Da der Konzern über sicheren Zugang
zum Weltmarkt verfügt, kann er den Bauern die Abnahme ihrer
Ernte garantieren, zum Höchstpreis.
Resultat: Wer mit dem Jain-Konzern arbeitet, lebt besser.
Indiens Zukunft? „Sie liegt auf dem Land“, behauptet Anil
Jain. „Wir haben 120 Millionen Kleinbauern. Das bedeutet, 500
GEO 02 2018
 Bananenstauden
wogen in Jalgaon
bis zum Horizont.
Moumita Biswas
(unten), 26, hat ein
Rückfahrticket im
Kolkata Mail gelöst –
mehr als 4000
Kilometer Zugfahrt,
um ihren Mann

nischen Kongress
zu begleiten

bis 600 Millionen Menschen hier im Land hängen von Acker -

bau und Viehzucht ab.“
Rund die Hälfte der Gesamtbevölkerung also. Doch immer
mehr fliehen in Städte, die sich weiter ausbreiten, was zudem
die Agrarfläche reduziert.
„Bedingt durch Klimawandel schrumpfen auch unsere Was-
serreserven“, fährt Anil Jain fort. „Also bleibt als Lösung nur,
was wir ‚more with less‘ nennen: eine ständig steigende Produk-
tivität zum Ausgleich rückläufiger Ressourcen. Aber ohne Gen-
technik! Allein durch Einsatz hocheffizienter Technologien wie
unserer Tröpfchenbewässerung.“
Auch Premierminister Narendra Modi hat der Verteilung
der Wasserressourcen höchste Priorität eingeräumt, um der Epi- Das amerikanische Wirtschaftsmagazin „Fortune“ kürt jähr-
demie der Bauernsuizide ein Ende zu setzen. Zehntausende lich jene Konzerne, die den stärksten Einfluss auf die Gestaltung
einfache Landwirte haben in den vergangenen Jahren den Frei- der Zukunft haben. Unter den Top Ten dieser „Change the
tod gesucht, weil ihre Ernte schlecht ausgefallen war. World“-Hitparade – knapp hinter Google und deutlich vor Star -
Mir fällt Yuvraj Gopal Patil ein, der Bauer mit dem verdop- bucks – tauchte 2015 der vergleichsweise unbekannte Name Jain
pelten Einkommen. Ich fragte einen seiner Söhne, wo er am Irrigation Systems auf.
liebsten leben würde. „In der Stadt“, sagte der 18-Jährige ohne Die Gandhi-Fans aus Banana City könnten dem Land also
Zögern. Weil sich seine Träume eben nicht allein in einem sau- eine große Hilfe sein auf dem weiten Weg in die Zukunft. Ich
beren Wohnzimmer und einem satten Bauch erschöpfen. verabschiede mich mit einer leichten Verbeugung von Anil Jain
Das weiß natürlich auch Anil Jain. Daher nun das jüngste und mache mich auf den Weg zur Bahnstation.
Projekt der Gandhi Research Foundation. Zum 150. Geburtstag Nächster Halt, ein Sehnsuchtsort: Varanasi, die heilige Stadt
des Mahatma will die Stiftung 150 Dörfer, verteilt über ganz am Ganges.
Indien, im Laufe der kommenden drei Jahre in autarke und
attraktive Gemeinden verwandeln – durch massiven Einsatz von
Kapital, Technologien, Verwaltungstechniken. Lesen Sie im kommenden Monat den zweiten Teil unserer
Das revolutionäre Projekt ist zu verstehen als die Blaupause Reportage von Fotograf G I U L I O D I S T U R C O und Autor
für eine neue Gesellschaftsform. „Das Leben in diesen Dörfern M I C H A E L S T Ü H R E N B E R G :Wie aus einem unerschrockenen
wird besser sein als in unseren Städten“, prophezeit Anil Jain. Jungen, der Kastengrenzen überwand, ein erfolgreicher Unter
„Genau das hat sich Mahatma Gandhi für Indien gewünscht.“ nehmer wurde; eine Stippvisite in der Hölle von Dhanbad; und
Fantasterei? eine Fahrt durch die vielleicht smarteste Stadt des neuen Indien.

GEO 02 2018 TEIL 2 V aranasi — Dhanbad— Kol k at a 127

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Mit spektakulären Bildern feiern international renommierte Fotografen die Schön-
heit der heimischen Natur: Priele vor der Insel Neuwerk unter einem dramatischen
Wolkenhimmel, ein blondes Weizenfeld bei Güstrow. Und der Winterwald im
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beginnt an dem Tag, an dem Sie das erste bestellte Ware erhalten, nicht jedoch vor Erhalt einer Widerrufsbelehrung
Name I Vorname Geburtsdatum gemäß den Anforderungen von Art. 246a § 1 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB. Zur Wahrung der Frist genügt bereits das rechtzeitige
Absenden ihres eindeutig erklärten Entschlusses, die Bestellung zu widerrufen. Sie können hierzu das Widerrufs-Muster
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Ja, ich bin damit einverstanden, dass GEO und Gruner+Jahr mich künftig per E-Mail oder Telefon über interessante
Medien- und Produktangebote ihrer Marken informieren. Der Nutzung meiner Daten kann ich jederzeit widersprechen. Datum I Unterschrift
 GEO-Tag der Natur
Zum 20. Mal: die große Erkundung der Vielfalt vor der Haustür

Stadt, Land, Fluss, Watt, Wald und Wiese:

Im Jubiläumsjahr der großen Arteninventur werden so viele
Lebensräume unter die Lupe genommen wie nie zuvor

Drei Bilder aus 20 Jahren:

Biomasse, becherweise –
Insekten kundler auf Zeche
Zollverein, 2017

Schroffe Schönheit:
Elbsandstein gebirge,2015

Schlick im Blick: Wattforscher

bei Bremerhaven, 2006

130 GEO 02 2018

 F Ö RD ER ER

Z WÖLF QUADRATKILOMETER Fauna und Flora besonders umfassend

Landschaft, 102 naturkundige ausfallen. Deshalb freuen wir uns, dass am
Experten aus ganz Deutschland Wochenende des 16./17. Juni 2018 wieder Zusammen für
und ein Plan: innerhalb von 24 Stunden viele Naturbegeisterte losziehen werden, Vielfalt – mit der
mindestens 1000 Tier-, Pflanzen- und Pilz- um die Natur vor der eigenen Haustür zu
arten zu finden. erkunden. Einige Veranstaltungen stehen Heinz Sielmann
So fing es an, am 5. Juni 1999. Am heute schon fest: Stiftung
Ende des ersten „GEO-Tages der Arten - • In Hamburg lädt GEO gemeinsam
vielfalt“ an der Wakenitz bei Lübeck stan- mit dem Centrum für Naturkunde
den 2066 Arten auf der Liste, und ein (CENAK) und der Loki Schmidt Stif -
weiterer Plan wurde gefasst: tung bei der Hauptveran -
diese Aktion von nun an zur staltung zu 30 öffentlichen
ständigen Einrichtung zu ma - Gefundene Arten: Exkursionen rund um Alster
chen. Jedes Jahr aufs Neue so und Elbe ein – mit Exper -
viele Menschen wie möglich ten, die zeigen, wie man
einzuladen, die Natur vor der in städtischen Grünzonen
Haustür zu entdecken; zu zei - Arten aufspürt und sicher
gen, dass Biodiversität nicht bestimmt.
nur im tropischen Regenwald 801 • Auf Norderney bieten Wisente in der Döberitzer Heide
zu erleben ist, sondern auch in Pilze Experten Exkursionen in
der dicht besiedelten, intensiv den Nationalpark Nieder - Menschen für die Schönheit
genutzten Landschaft Mittel - sächsisches Wattenmeer an. der Natur begeistern, Lebens -
europas. • Die Landesforsten räume erhalten, die Öffentlich -
Zwergfledermaus und Rie- Schleswig-Holstein laden keit für Naturschutz sensibili -
senbovist, Hundszunge und in Wälder ein, zu Bestim- sieren – das sind die Anliegen
der Heinz Sielmann Stiftung.
Alpenglöckchen, Blauflügelige 958 mungsübungen, Exkur-
Sie ist seit 2017 Hauptförderer
Prachtlibelle und Dottergelbes Käfer sionen mit Förstern und
des GEO-Tages der Natur.
Flechtenbärchen: Sowohl die Familienführungen. Gegründet wurde die
Namen als auch die Geschöp - • In Thüringen wird ge- Stiftung 1994 von dem be-
fe, die sie bezeichnen, waren meinsam mit der Stiftung kannten Naturfilmer, Forscher
lange nur einer Handvoll Spe- Naturschutz Thüringen das und Umweltschützer Heinz
zialisten geläufig. Das hat sich Arteninventar von offenen Sielmann und seiner Frau Inge.
geändert – dank der vielen Weidelandschaften erforscht. Durch den Ankauf ausge -
Tausend, die in den vergange-
2324 Machen Sie mit! Wer dehnter Naturflächen, etwa
Pflanzen
nen 19 Jahren dem Aufruf zum rund um den 16./17. Juni 2018 in Bergbaufolgelandschaften
„GEO-Tag der Natur“, wie er eine Aktion veranstalten, un- und auf ehemaligen Truppen -
übungsplätzen, sichert sie
seit 2017 heißt, gefolgt sind. Unter ihnen terstützen oder in seiner Nähe finden
wichtige Lebensräume vor
waren Kirchengemeinden und Kindergar- möchte, erhält Informationen auf www.
allem für die bedrohten Tier-
tengruppen, Schul-AGs und Naturschutz - geo-tagdernatur.de und www.facebook. und Pflanzenarten offener
vereine, Doktoren der Biologie und – die com/geo.tagdernatur . Lehrer und Schüler Heidelandschaften. Ein Modell-
große Mehrheit – ehrenamtliche Vogel-, finden dort zahlreiche Ideen für Expedi - projekt zur Wiederbelebung
Pflanzen-, Schnecken-, Spinnen-, Insek - tionen zwischen Wildnis und Stadtgrün. ganzer Landstriche stellen die
ten-, Amphibien- und Pilzkundler. Sie Kontaktieren Sie uns auch gern unter 040/ Biotopverbunde Bodensee und
haben bei ihren Exkursionen mehr als 2286 6275 oder info@geo-tagdernatur.de. Eichsfeld-Werratal am Grünen
7200 Arten aufgespürt. Wie immer wird GEO über die Aktion be- Band dar.
Kaum ein Lebensraum, der im Rah - richten, und zwar im September 2018. Im Naturerlebniszentrum am
men des GEO-Tages unerforscht geblie - Stiftungssitz Gut Herbigshagen
können Besucher die heimische
ben wäre: Feuchtgebiete und Flussläufe
Flora und Fauna erkunden:
zählten dazu, Trockenrasen und Hochge-
auf einem interaktiven Natur -
birgsalmen, der Nationalpark Bayerischer lehrpfad mit Bauerngarten
Wald ebenso wie fränkische Truppen- etwa, vor Bienenhaus und
übungsplätze und die Industriebrachen Insektennistwand, auf einem
des Ruhrgebiets. Ökobauernhof mit seltenen
Zum 20. Jubiläum des GEO-Tages Haus- und Nutztierrassen.
der Natur soll die Inventur der heimischen www.sielmann-stiftung.de

GEO 02 2018 131

 GEO Erleben
Februar 2018

SENCKENBERG, GÖRLITZ

In der Luft und

unter der Erde
Von der Vogelwelt
der Oberlausitz bis zu den
Herdentieren der Savanne
präsentiert das Senckenberg
Naturkundemuseum Görlitz
die Artenvielfalt der Erde

modellen und Dioramen. Im

Untergeschoss des Hauses
sind außerdem lebende
Echsen, Schlangen und
Korallenfische zu sehen.
Die Sammlung in Görlitz
besitzt 6,5 Millionen Objekte,
einen Schwerpunkt bilden
Bodentiere wie Würmer,
Spinnentiere und Laubkäfer.
www.senckenberg.de

Mehr wissen und erleben

Mit der GEOcard gibt es ermäßigten Eintritt in Museen,
Planetarien, Science-Center, Zoos und weitere Erlebnisorte:
Nutzen Sie Ihr Privileg als GEO-Abonnent und sparen Sie bis
zur Hälfte des Ticketpreises. Oder genießen Sie Kaufvorteile.
Hier stellen wir eine Auswahl unserer Partner vor. Mehr unter:
www.geo card.de

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bis zu 50 Prozent auf den Normaltarif. Für bereits Ermäßigungsberechtigte, etwa Studenten, wird kein weiterer Nachlass gewährt. Die Ermäßigung gilt für das
Normalangebot unserer Partner, nicht aber automatisch auch für alle Sonderausstellungen und Veranstaltungen.

132 GEO 02 2018

 NICKO CRUISES FLUSSREISEN
Kultur und Genuss per
Schiff
Fototouren am Ufer der Donau
lassen sich bei den Flusskreuzfahrten
von Nicko Cruises unternehmen:
GEO
deckungsreise von Passau über Wien
bis Budapest. www.nicko-cruises.de
WILHELM-FOERSTER-STERNWARTE UND PLANETARIUM, BERLIN
Blick in eine ferne Welt
Fremde Sonnen und mysteriöse Sternennebel können Besucher bei
wolkenlosem Himmel durch das Teleskop der Sternwarte erspähen.
360 Grad Projektionen im Kuppelraum des Planetariums am Insulaner
bringen das All ganz nah. www.planetarium-berlin.de
Eine Auswahl unserer Partner
Berlin: Museum für Naturkunde Bozen/Bruneck/Kastelbell/
Monte Rite/Sulden/Corones (IT): Messner Mountain Museum
Busdorf: Wikinger Museum Haithabu Darmstadt: Hessisches
Landesmuseum Dresden: Senckenberg Naturhistorische Samm
lungen (Museum für Völkerkunde Dresden und Japanisches Pa
lais) Frankfurt/Main: Palmengarten Glauburg: Keltenwelt am
Glauberg Hamburg: Auswanderermuseum BallinStadt Kassel:
Museum für Sepulkralkultur Leipzig: Panometer Mannheim:
Luisenpark Meran (IT): Gärten von Schloss Trauttmansdorff Mis-
telbach (A): MAMUZ Museum Münster: Allwetterzoo Münster
Oberhausen: Gasometer Stralsund: Ozeaneum Winterthur (CH):
Swiss Science Center Technorama Wolfsburg: Phæno Vortrags -
reihe: International Ocean Film Tour
GEO 02 2018
MULTIMAR WATTFORUM, TÖNNING
Was die Wellen verbergen
Eissterne, Tiefseekorallen, Kabeljau: Den
Naturschatz der Nordsee zeigt das Multimar
Wattforum in Nordfriesland. Verteilt auf 37
Schaubecken präsentiert das Aquarium mehr als
280 Tierarten, die in der Nordsee, aber auch in
deutschen Flüssen und Seen heimisch sind. Zu
den Hauptattraktionen des Museums zählt das
Skelett eines Pottwals, der vor zwei Jahrzehnten
im Wattenmeer strandete – ein Bulle, 17,5 Meter
lang und etwa 45 Tonnen schwer. Zu sehen ist
auch eine Nachbildung seiner Haut: Sie ist von
licherweise Spuren eines Kampfs mit einem Rie
senkraken. Auch über andere Meeressäuger wird
informiert, etwa Schweins und Zwergwale.
www.multimar-wattforum.de
KAISERLICHE SCHATZKAMMER, WIEN
Kleinod des Heiligen Reichs
Weltliche und geistliche Kostbarkeiten
zeigt die Kaiserliche Schatzkammer in Wien,
etwa mit Gold und Edelsteinen verzierte Hand
schuhe aus dem 13. Jahrhundert, die wohl Fried
rich II. gehörten. Das Museum in der Hofburg
insignien des Heiligen Römischen Reiches,
neben der achteckigen Krone aus purem Gold
auch Reichsapfel, Mantel, Schwert und Heilige
Lanze. www.kaiserliche-schatzkammer.at
133
 Die Welt von GEO
Neues aus den Redaktionen

GEO DIGITAL
Bergnyalas
Unsere Renner im Netz sind nur in den
Bale Mountains
heimisch. Die
Quiz: Wer schritt hier
Antilopenart gilt
durch den Schnee?
als bedroht
Beweisen Sie Ihr Talent als
Fährtenleser im Bilderrätsel:
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jedes Zimmer
Welche Gewächse Sie wo

klima zu verbessern:
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GEO REGENWALDVEREIN
Zoologischen Gesellschaft Frankfurt
Die Vielfalt in Afrikas zusammen. Das gemeinsame Projekt
Gebirgen schützen unterstützt die Kleinbauern der Region:
Die schönsten Bibliotheken Viele Familien dort sind so arm, dass sie
zwischen Stuttgart und Baltimore Hier leben Bergnyalas und Riesen- gezwungen sind, Raubbau an der Natur
Fotograf Reinhard Görner zeigt Maulwurfsratten, Bale-Grünmeerkatzen zu betreiben. Der Verein hilft ihnen, neue
eindrucksvolle Wissens tempel welt und der Äthiopische Wolf: Aufgrund ih - Einkommensquellen aufzubauen, etwa
weit: www.geo.de/bibliotheken rer abgeschiedenen Lage und der Vielfalt die Bienenzucht zur Honigproduktion.
an Biotopen zählen die Bale-Berge im Außerdem werden die Haushalte mit
Hochland Äthiopiens zu den biologisch Kochöfen ausgestattet, die wenig Brenn-
FORSCHUNG
bedeutsamsten Regionen Afrikas. holz verbrauchen.
Die Kraft der Meditation
Augen zu. Aufrecht sitzen. Atmen. Ruhig werden:
Mehr als 2000 Quadratkilometer Wie in Äthiopien setzt sich der
Meditation stärkt unsere Konzentration. Sie
macht uns achtsamer und mitfühlender. Doch
welche Übungen sind am effektivsten? Antworten
gibt die weltweit größte Studie zur Meditation.

dieses wichtigen Ökosystems soll der Verein weltweit für den Schutz tropischer
GEO-Reporter Philipp Brandstädter war einer
der Teilnehmer – er berichtet von einer neun
A U S G A B E 0X 2X 22001X8 X

G
Monate währenden Reise durch sein Inneres. Der
Fotograf Roman Pawlowski zeigt Meditierende
G

an ihren Lieblingsplätzen

Der Atem als

Die Welt mit anderen Augen sehen
Anker
AXEL WASMANN (MITTE),
MEDITATIONSLEHRER

Bale Mountains National Park schützen. Wälder und ihrer Bewohner ein. Seit der
In meinen Kursen lernen die Die Kraft der
Teilnehmer schnell, dass
Meditation nicht immer leicht
ist. Denn dabei kommt Angst Med it at ion
€ Frankreich 10,00 € Griechenland 10,50 € Italien 10,00 € Portugal (cont.) 10,00 € Spanien 10,00 €

hoch, vor Gedanken, vor

Erinnerungen, vor Schmerz. Wie stärken wir Mitgefühl
Dann hilft bewusstes Atmen.
und Achtsamkeit?
Deutschland 7,50 € Schweiz 13,00 sfr Österreich 8,50 €

Der Atem ist ein neutraler

Anker im Bauch, schön weit Neue Forschung zeigt, welche
weg vom Kopf, in dem sich
Übungen wirken
so viel dreht.
Die Suche nach Glück
ist oft leidvoll. Ich selbst war
schnell, laut und hektisch.
Habe Geld verdient. Konsu -

Doch dort sind die Nebelwälder und das Gründung 1989 hat „GEO schützt den
miert. Und mich dabei immer
nach Tiefe gesehnt. Schließ -
lich habe ich neun Jahre
als buddhistischer Mönch in
Klöstern gelebt. Bis ich mich
Benelux 8,80

verliebt habe.

44 GEO 02 2018 45

LKOI N
Was
verm
REDM
Blindtext
E RDTOELLO
der Nachwuchs
loremsa
weltweit
it merille
isst
LRER INDIEN AM ZUG
Eine Reise Richtung
Zukunft
NEUE ATOMKRAFT CHAMÄLEONS
Per Start-up zur
Energie von morgen
Bunte Riesen und
braune Zwerge

afroalpine Grasland bedroht: Äthiopiens Regenwald“ mehr als 90 Projekte initiiert

Bevölkerung wächst, immer mehr Men- und begleitet. Damit sich der Verein für
schen suchen im Grün der Berge nach Schutzprojekte einset-
Mit Lesemodus: GEO Digital Brennholz oder roden den Wald, um Fel- zen kann, ist er auf
Die neue digitale Ausgabe von der für den Ackerbau anzulegen. Auch Spenden angewiesen.
GEO ist jetzt für alle Smartphones der Klimawandel setzt die Region unter Das Konto lautet:
und Tablets erhältlich
Druck, denn die Böden trocknen aus. IBAN DE17 25120510
Um die wertvolle Artenvielfalt 0008 453100, Bank für
GEO-Abonnenten zahlen für die digitale
der Bale-Berge zu erhalten, arbeitet der Sozialwirtschaft.
Ausgabe nur 1 € pro Ausgabe – mehr unter Verein „GEO schützt den Regenwald“ www.geo.de/natur/
www.geo.de/eupgrade jetzt mit der Karl Kübel Stiftung und der regenwaldverein

134

IN EIGENER SACHE
Mit Wissen gewinnen
Alles richtig und Glück gehabt:
Franco Lauria gewann beim
GEO-Jubiläumsrätsel einen Smart
Fortwo mit Elektroantrieb. Das
Fahrzeug wurde von der Daimler AG
zur Verfügung gestellt.
GEO WISSEN ERNÄHRUNG
Wie das Abnehmen
gelingt: Diät-Forschung
Das Körpergewicht zu halten
oder abzunehmen fällt vielen Men
schen nicht leicht. GEO WISSEN
ERNÄHRUNG erklärt in seiner
aktuellen Ausgabe, welche Methoden
langfristig zum Erfolg führen – und
was jene Frauen und Männer auszeich
net, denen es gelingt, ihr geringeres
Gewicht über Jahre zu stabilisieren.
Experten stellen 46 Abnehmprogram
me auf den Prüfstand und erläutern
360° – GEO-Reportage
Auch im Januar und Februar
sendet ARTE die GEO-Reportagen
sonntags um 19.30 Uhr.
Diese und alle wiederholten
Filme sind ab Sendedatum
einen Monat lang zu sehen in der
ARTE-Playlist: www.arte.tv
Sonntag 21. 1.
Der junge Arzt Amrit lernt an der
Universitätsklinik in Varanasi auch
traditionelle Ayurveda-Therapien.
Sonntag 28. 1.
Wenn Bisons den Yellowstone-
Nationalpark verlassen, werden Rin-
derfarmer wie Tierschützer nervös.

GEO KOMPAKT

Die Magie der Wüste

Orte der Extreme, überwältigend
schön und erschreckend unbarmherzig:
Wüsten lassen das Leben an seine
Grenzen stoßen. GEOkompakt feiert
die Magie der Wüste und beantwortet
wichtige Fragen: Wie gelingt es Tieren
und Pflanzen, sich in der Kargheit zu
stehen Trockengebiete?
die Vor und Nachteile von Intervall
fasten, Low Carb, Formula und
Mischkostdiäten. Forscher ergründen
den Jo Jo Effekt, außerdem werden Sonntag 4. 2.
einige Mythen entzaubert, etwa dass In Vietnam kämpfen Artenschützer
späte Mahlzeiten dick machen. für das Überleben von Schuppen -
Zahlreiche Rezepte ermöglichen tieren – der am intensivsten illegal
zudem einen leichten Einstieg in gehandelten Spezies der Welt.
eine gesunde und kalorienreduzierte
Ernährung, ohne dass dabei der
Genuss zu kurz kommt. Denn in einer
Frage sind sich die Fachleute einig:
Nur wer sich während einer Ernäh
rungsumstellung wohlfühlt, wird
damit auch Erfolg haben.

GEOkompakt GEO WISSEN

»Die Magie der ERNÄHRUNG
Sonntag 11. 2.
Wüste«, 164 Sei- »Diäten«,
Die freiwilligen Seenotretter
ten, kostet 9,50 164 Seiten,
Euro, mit DVD kostet 9,50 der Orkney-Inseln riskieren bei den
(»Planet Wüste: Euro, mit DVD Einsätzen ihr Leben.
Mit Michael Mar- (»Abnehmen
tin auf Expedi- mit Genuss«
tion«) 16,50 Euro. mit Starkoch Mehr Infos zur 360° – GEO-Reportage unter
Weitere Themen: Alexander www.geo.de/tv oder www.arte.tv
Sahara • Dünen • Herrmann)
Timbuktu 16,50 Euro

GEO 02 2018 135


GEO Television
Unser Sender für Dokumentarfilme
Jubeln für die Kollegen: Beim »Qatar’s Workers Cup« kämpfen
Männer verschiedenster Herkunft und Hautfarbe gemeinsam um den Pokal
DOKUMENTATION
Brot und Spiele
in Katar
Ein Fußballturnier verspricht
Abwechslung vom harten Alltag der
Bauarbeiter im WM-Ausrichtungs - nern: auf Ablenkung, auf Geldpreise –
land Katar. Oder geht es
den Organisatoren in Wahrheit
um etwas ganz anderes?
„Und der Gewinner für die Organi-
sation der Fußballweltmeisterschaft 2022
ist … Katar.“ Seit Joseph Blatter 2010
die Entscheidung des Fifa-Exekutiv -
komitees verkündete, hat sich das Emirat
zu einer Mega-Baustelle gewandelt:
Hunderttausende Arbeiter aus armen
Ländern Afrikas und Asiens errichten
Stadien, Hochhaustürme, Straßen.
Auch Kenneth aus Ghana, Paul
aus Kenia und Padam aus Nepal zählen
zu den Männern, die die WM im
Wüstenstaub möglich machen – weil sie
unter Bedingungen schuften, die Men -
GEO Television, der Sender von GEO, ist über die Deutsche Telekom (Entertain), Vodafone (Giga TV)
und Amazon (Prime) zu empfangen. Mehr Infos unter:
136
TV -HIG HLIG HT S IM FEB R U AR
Packende Reportagen
Ein Yogi, ein Physiker und
ein Fotograf stehen im Mittelpunkt
des Februar-Doku-Programms
18. Februar, 20.15 Uhr:
Awake. Das Leben des Yogananda
Der Film porträtiert einen
der einflussreichsten Yoga-Gurus
und schildert, wie Yoga
in die westliche Welt kam
schenrechtsorganisationen als „moderne
Sklavenarbeit“ kritisieren. „Das ist kein
Leben hier“, klagt Paul.
Der „Qatar’s Workers Cup“, ein
Fußballturnier, das Baufirmen organisie-
ren, weckt Hoffnung unter den Män -
22. Februar und 1. März, 20.15 Uhr:
und darauf, als Fußballprofi entdeckt zu
Die Geheimnisse der Gravitation
werden. Mit Kenneth als Kapitän be - Der britische Physikprofessor
ginnt ein multinationales Team zu trai- Jim Al-Khalili erklärt die Gravitation:
nieren und Spiele zu gewinnen. Was steckt hinter der Urkraft, die
Doch als der Einzug ins Finale unseren Alltag dirigiert?
scheitert, brechen Zweifel auf: Warum
gibt sich ihr Manager auf dem Platz
loyal, interessiert sich aber nach dem
Spiel nicht mehr für ihr Schicksal? Ist
das Turnier nur ein PR-Coup, um sich
als guter Arbeitgeber darzustellen?
Und überhaupt: Was machen sie
hier, rechtlos und fern der Heimat, für
einen Hungerlohn?
Regisseur Adam Sobel hat ein Team
monatelang begleitet: auf den Baustellen,
beim Training und beim Träumen. Seine 28. Februar, 20.15 Uhr: Der Mann,
bewegende Dokumentation erscheint am der Tutanchamun fotografierte
Montag, 19. Februar, um 20.15 Uhr. Der Brite Harry Burton fotografierte die
Königsmumie. Seine Ausgrabungsbilder
lösten einen Ägypten-Hype aus
www.geo-television.de
GEO 02 2018
 Vorschau
März 2018

Ausgestorben? Von wegen!

Die Dinosaurier sind mitten
unter uns. Die Geschichte
einer unglaublichen
Verwandlung

Außerdem im Heft
Überall auf der Welt bleichen die
Korallenriffe aus. Eine Forscherin in
Hawaii züchtet robuste Arten, die
dem Riffsterben widerstehen sollen.

Per Zug in Richtung Zukunft: Im

zweiten Teil ihrer Reise durch Indien
gelangen die GEO-Reporter
nach Varanasi, Dhanbad und Kolkata.

Seit Jahrtausenden trotzen die amerikanischen

Inuit nahe dem Nordpol den Elementen. Jetzt
ändert sich das Klima ihrer Heimat dramatisch.
Zu Besuch bei den Waljägern von Alaska
GEO 03 / 2018
Meister König: In Ludwigshafen leitet erscheint
Céphas Bansah seine eigene Autowerkstatt, am 16. Februar
in Ghana regiert er ein stolzes Volk von
200 000 Menschen

GEO 02 2018 137

 Weltbürgerin
Eine von 7,592 Milliarden

Unseren Fragebogen beantwortet Oscarine Marie Catherine Ineza, 29.

Sie arbeitet als Lehrerin der fünften Klasse einer privat geführten Grundschule
in Amakpapé, Togo. Das Dorf im Landesinneren zählt rund 2500 Einwohner,
300 Kinder aus den umliegenden Orten besuchen die Schule

Wofür sind Sie dankbar? Was sollen Ihre Kinder so machen

Für das tägliche Leben und die Liebe, die
mich erfüllt. Für die Präsenz Gottes.
Was erfüllt Sie mit Hoffnung?
Als Grundschullehrerin Kindern Wissen
zu vermitteln. Damit sie vielleicht in einer
Welt mit weniger Leid und mehr Gerech -
tigkeit leben.
Was bezeichnen Sie als Heimat?
Ich bin in diesem Land ein Flüchtling, ich
komme aus Ruanda. Zwei Drittel meines
Lebens habe ich in Togo verbracht. Ich bin
dankbar, dass ich hier aufgenommen wur-
de, aber ich kann nicht sagen, dass Togo
meine Heimat ist. Heimat ist eher eine
Erinnerung, mitunter eine schmerzhafte.
Meine jüngeren Geschwister, die hier ge-
boren sind, empfinden das anders.
Wo fühlen Sie sich zu Hause?
Dort, wo mich positive Leute umgeben.
Egal ob das ein Dorf ist wie Amakpapé, in
dem ich lebe, oder eine Großstadt wie
Lomé, in der ich aufgewachsen bin.
Was braucht Ihre Nachbarschaft?
Bildung und Gesundheit. Hilfe von außen
ist dafür aber nicht genug, unsere Denk-
weise und Einstellung muss sich verändern.
Was würden Sie einem Freund nicht
verzeihen?
Nicht zu verzeihen würde bedeuten, einen
inneren Groll zu hegen und mich selbst
zu belasten. Deshalb versuche ich immer
zu verzeihen.
Was haben Sie zuletzt geschenkt
bekommen?
Eine Körpercreme.
Was war das größte Glück Ihrer
Kindheit?
Ich hatte eine schwierige Kindheit. Aber
die größte Freude eines Kindes, seine El-
tern glücklich miteinander zu sehen, habe
ich erleben dürfen.
wie Sie selbst?
Ich möchte ihnen einen richtigen Weg vor-
leben und ihnen trotzdem genug Freiheit
für die eigene Entfaltung lassen.
Wenn Sie einem Kind nur
einen Ratschlag für sein Leben geben
Ich würde ihm raten, im anderen das Gött-
liche zu erkennen.
Welches war Ihr bisher bestes
Lebensjahr?
2015, da habe ich mein Studium der Sozio-
logie an der Universität von Lomé abge-
schlossen und mich so frei wie nie gefühlt.
»Wer nicht verzeiht, Wenn Sie die Macht hätten:
Was würden Sie allen anderen Menschen
hegt inneren befehlen?
Groll und belastet Die Arbeit, die man macht, so gut wie
möglich zu erledigen. Egal ob das einen
sich selbst« Boden fegen oder unterrichten ist.
Was bewundern Sie an Männern
und Frauen?
Sicher keine äußeren Merkmale, sondern:
Liebenswürdigkeit, Ehrlichkeit.
Wovon haben Sie sich befreit?
Mich unter Druck zu setzen. Als ich mei -
ne Stelle als Grundschullehrerin angetre-
ten habe, wurde getuschelt, weil ich als
das ist nicht normal in Togo. Ich hatte das
Gefühl, mich besonders beweisen zu müs-
sen. Die Schüler haben große Fortschritte
gemacht, und niemand hat mehr geredet.
Wann haben Sie das letzte Mal
herzhaft gelacht?
Gestern, als ich bei meiner Familie war.
Amakpapé Meine Geschwister und ich haben uns Ge-
(Togo) schichten von früher erzählt, wie wir uns
Streiche gespielt haben. Uns hat der Bauch
wehgetan, so sehr haben wir gelacht.
Protokoll: Barbara Bachmann

138 GEO 02 2018

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