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Kultur

Version dieses Werkes zu sehen – diesmal


mit Internetanschluß.
KUNST
So hat jetzt in Kassel nicht nur eine neue
Kunstsparte ihren ersten Auftritt auf ober-

Außer Sichtweite ster Establishment-Ebene, sondern sie de-


monstriert auch exemplarisch ihre histori-
schen Wurzeln. Ein großes Publikum steht
dafür bereit.
Künstler erobern das Internet. Auch die zehnte Documenta Nach anfangs bis zu 7000 Usern am Tag
animiert Betrachter, sich einzuklicken. wählen immer noch bis zu 2000 Netsurfer
Doch allzuoft scheitern sie an den Tücken der Technik. täglich die Seite www.documenta.de an.
Die meisten fragen Informationen ab oder
tragen sich ins Gästebuch ein, doch viele
betrachten auch Kunst – oder versuchen es.
Vorerst nämlich, so zeigt sich, genügt die
Netzkunst selten ihren eigenen Ansprü-
chen; der Betrachter erduldet quälende Ba-
sisbemühungen. Wo ihm „Informationen
in Echtzeit“ versprochen sind, verbringt er
unter Umständen Stunden des Wartens.
Wo er zum Koautor aufrücken sollte, schei-
tert er an wirren Anweisungen. Technische
Pannen behindern ihn zusätzlich.
Irritierend wirkt schon, daß die Docu-
menta-Homepage, Start- und Informations-
platz für den Besucher, keineswegs den ein-
fachen Überblick über die gespeicherten
Netzkunstwerke bietet. Die sind nicht nur
über diverse Rubriken verstreut, sie werden
– gemäß der Doktrin der Documenta-Lei-
terin Catherine David, nach der Kunst und
Nichtkunst gleichen Ranges sind – auch
nicht von Projektbeschreibungen oder Dis-
kussionsbeiträgen abgesetzt.
Hat man schließlich doch ein Kunstwerk
aufgespürt, so stellt sich das medienspezi-
fische Problem der Software. Je nach Aus-
N. ENKER

stattung seines Computers muß der Benut-


zer bis zu acht verschiedene Programme
Pistoletto-Raum bei der Documenta: Alte Ideen elektronisch aufgemöbelt herunterladen, ehe er alle Werke zu sehen
bekommt. „Suspension“ des Amerikaners

B
ilder entschwinden, Warnzeichen ler Welt vor dem eigenen Schirm sind prin- Jordan Crandall läuft zum Beispiel nur mit
tauchen auf, die Fenster auf dem zipiell genauso dicht dran. dem seltenen Programm Cosmo Player von
Monitor schieben sich wild überein- Früh hatte das neue Medium auch unter der Firma Silicon Graphics, andere Werke
ander. Wer im Internet auf der Website Künstlern Phantasien und Fragen entfacht. sind auf Produkte mit Namen wie Shock-
http://www.documenta.de/jodi landet, der Wie umgehen mit den elektronischen Räu- wave und Acrobat Reader angewiesen. Die
ist zunächst entsetzt: Systemabsturz? Ver- men, in denen sich Millionen Menschen lassen sich zwar meist kostenlos übers Netz
lust aller Daten? nah und doch so fern sind? Wie reagieren beziehen, fressen aber Speicherplatz und
Doch der Schock ist eingeplant, das Vi- auf eine durch High-Tech-Instrumente ver- stacheln im Wechselspiel mit immer größe-
rus vorgetäuscht, die Katastrophe bleibt änderte Wahrnehmung? Welche Möglich- ren Rechnern zu verschärftem Elektronik-
aus. Das Szenario gehört zu einem Com- keiten eröffnet ein Werk, das sekunden- konsum an.
puter-Kunstwerk, an dem das belgisch-nie- schnell an jedem Ort gezeigt werden kann Doch auch Hochleistungs-PC und neue-
derländische Künstlerduo Joan Heemskerk und dessen Betrachter genauso rasch dar- ste Software garantieren noch nicht den
und Dirk Paesmans bereits seit 1994 tüftelt. auf reagieren können? Genuß aller Internetkunst. Das mit Ani-
Nun ist es ein Teil der Documenta X. Anfang der neunziger Jahre hatten sich mationen gespickte Werk von Crandall, in
Es war kaum zu vermeiden: Auch die zunächst Diskussionsforen gebildet. Erst dem winzige Symbole schwirren und Git-
Kasseler Welt-Kunstausstellung öffnet sich allmählich entstanden außerdem elektro- termuster wie in einer Lasershow Raum-
dem Internet. Über eine eigene Documen- nische Kunstwerke, die von Galerien, Uni- bilder projizieren sollen, ist selbst von spe-
ta-Website sind Termine und andere Infor- versitäten und Ausstellungsveranstaltern zialisierten Documenta-Mitarbeitern nur
mationen abzufragen, wird die allabendli- verbreitet wurden – und deren Konzepte partiell in den Griff zu bekommen. „Vieles
che Diskussionsveranstaltung „100 Tage – bisweilen auf Ideen der sechziger Jahre hier“, sagt einer, „ist an den Grenzen der
100 Gäste“ weltweit verbreitet. Kern des zurückgriffen. Machbarkeit programmiert.“ Die Kunst
Angebots freilich sind zehn Kunstwerke, Der Italiener Michelangelo Pistoletto scheint der Technik so weit voraus zu sein,
die nicht, wie Gemälde oder Skulpturen, beispielsweise hatte schon 1969 ein „Uffi- daß sie leicht einmal außer Sichtweite
greifbar-materiell existieren, sondern aus- cio dell’uomo nero“ (Büro des schwarzen gerät.
schließlich elektronisch gespeichert sind. Menschen) erdacht, in dem individuelle, Selbst konventionellere Werke reiben
Ausstellungsbesucher können ihnen in von verschiedenen Betrachtern entworfe- sich an den Bedingungen der Technik. Je-
einem speziellen Computerraum der Do- ne Zeichen gesammelt wurden. Auf der der Kunstfreund wird frustriert, wenn er
cumenta-Halle begegnen, aber User in al- Documenta X ist nun eine aktualisierte erst nach fünfminütigem Ausharren eine
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geöffnete Kühlschranktür erblickt. Die Ab-
bildung gehört zu dem poetisch-enzyklo-
pädischen Werk „Up to 625“ des US-
Künstlers Matt Mullican. Ausgehend von
Farbfeldern, kann sich der Betrachter in
einem weitverzweigten System von Bil-
dern umschauen. Da jede Abbildung durch
Doppelklick zu weiteren führt, landet
man am Ende bei 625 verschiedenen Bil-
dern. Wer die alle sehen will, braucht even-
tuell mehr als 50 Stunden – anstatt sich
wie versprochen „rasch und behende in
der Struktur und den Bildern der Website
zu bewegen“.
Wohlwollende Kenner vergleichen sol-
che Schwierigkeiten mit den Transport-
problemen eines Gemäldes, die dessen
Qualität nicht mindern. Aber im Netz soll-
te es auf Bilderwechsel ankommen, nicht
auf den Einzelanblick. Bauernschlau will
Internetkünstler Florian Wenz die Down-
loadzeit zum „integrativen Bestandteil der
Werke“ erklären wie bei einem überlangen
Film. Er unterschlägt dabei, daß Kinobe-
sucher nicht mit leerer Wartezeit genervt
werden.
Viele Werke wären offenkundig besser
mit einer CD-Rom zu nutzen als unter den
Bedingungen des real existierenden Netzes Internet-Kunst von Mullican: Warten auf die Kühlschranktür

Auch „A Description of the Equator and


Some Other Lands“ soll prinzipiell Net-
user aktivieren. Basis der Arbeit von Felix
S. Huber, Philip Pocock, Udo Noll und Flo-
rian Wenz ist ein Programm, das Daten
einander zuordnet. Diese zunächst leere
Mechanik wird von den Nutzern nach und
nach mit Kommentaren oder Bildern ge-
füllt. Doch die Idealgemeinschaft „global
kollaborierender Autoren“ (Katalog) ent-
puppt sich als Zweiklassengesellschaft. Das
gewöhnliche Publikum darf nur Texte zu-
liefern; Bilder und Filmschnipsel kommen
von einem ausgewählten Kreis sogenann-
N. ENKER

ter Agenten. Wenz nennt das Ganze eine


„Kommunikationsmaschine“.
„Website-Raum“ in Kassel, „Description of the Equator“: Die Welt endet am Stecker Bei allem Theoretisieren und gutge-
meintem Künstler-Aktionismus: Auf der
– und auf das sind sie oft auch gar nicht an- gleich ist, wo die Kunst mit Bild, Ton und Website geht es am Ende gar zu unüber-
gewiesen: In der Documenta-Halle kom- Bewegung auftritt und auch noch dem Zu- sichtlich zu. Zitternde Videoclips und vor-
men die meisten Arbeiten direkt von der schauer Einflußmöglichkeiten zugestehen beiflitzende englische Texte lassen forma-
Festplatte: Damit Besucher nicht etwa be- möchte, häufen sich die Schwierigkeiten le Gestaltung schmerzlich vermissen.
liebig und kunstfern umhersurfen, reicht und Ungereimtheiten. An Quantität fehlt es der Netzkunst
das Internet halt nur bis zum Wandstecker. In die Arbeit „without addresses“ von schon jetzt nicht. Daß dabei, unabhängig
Die Netzkunst wird auf die Funktion von Joachim Blank und Karl Heinz Jero kann von der Documenta, aufregende, radikale,
Infoterminals zurechtgestutzt. man, falls es denn gerade einmal funktio- sorgfältig ausgeführte und vermittelte
Erklärtermaßen war für Simon Lamu- niert, einen Namen eintragen. Aus dem Er- Kunstwerke entstehen werden, ist ohne
nière, den zuständigen Kurator, qualifi- gebnis der anschließenden Volltextsuche großes Risiko vorherzusagen. Einen Hin-
zierter Umgang mit dem Medium weniger im Internet wird eine eigene Website er- weis auf noch kaum erschlossene Mög-
wichtig als ein Thema, das zu Catherine zeugt, die, durch einen gelben Punkt mar- lichkeiten gibt der in Kassel nicht vertre-
Davids Documenta-Konzept der welt- kiert, im Kunstwerk abgefragt werden tene Australier Stelarc.
weiten Kulturströme paßte. So markiert kann. 30 000 Anfragen haben die Berliner Der bisherige Performancekünstler, der
das Projekt von Eva Wohlgemuth und Künstler angeblich seit der Eröffnung der mit beklemmenden Selbsttorturen aufge-
Andreas Baumann bestimmte Punkte der Website im März registriert, viel mehr, als treten ist, plant nun eine Aktion, bei der
Erde mit Skulpturen – klassische Land-art, auf den Bildschirm paßt. Der Überschuß die elektrischen Impulse seiner Muskel-
die sich ebensogut in einem Buch zeigen wird archiviert und soll irgendwann ganz spannung ins Netz eingespeist werden. Ir-
ließe. konventionell zu einer Wandinstallation gendwo weit entfernt sollen sie einen an-
Bei den Paradewerken indessen, bei de- verarbeitet werden – ein Offenbarungseid deren Körper wie eine Marionette in Be-
nen das Netz Werkzeug und Thema zu- der Netzkunst. wegung setzen. ™
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