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ilder entschwinden, Warnzeichen ler Welt vor dem eigenen Schirm sind prin- Jordan Crandall läuft zum Beispiel nur mit
tauchen auf, die Fenster auf dem zipiell genauso dicht dran. dem seltenen Programm Cosmo Player von
Monitor schieben sich wild überein- Früh hatte das neue Medium auch unter der Firma Silicon Graphics, andere Werke
ander. Wer im Internet auf der Website Künstlern Phantasien und Fragen entfacht. sind auf Produkte mit Namen wie Shock-
http://www.documenta.de/jodi landet, der Wie umgehen mit den elektronischen Räu- wave und Acrobat Reader angewiesen. Die
ist zunächst entsetzt: Systemabsturz? Ver- men, in denen sich Millionen Menschen lassen sich zwar meist kostenlos übers Netz
lust aller Daten? nah und doch so fern sind? Wie reagieren beziehen, fressen aber Speicherplatz und
Doch der Schock ist eingeplant, das Vi- auf eine durch High-Tech-Instrumente ver- stacheln im Wechselspiel mit immer größe-
rus vorgetäuscht, die Katastrophe bleibt änderte Wahrnehmung? Welche Möglich- ren Rechnern zu verschärftem Elektronik-
aus. Das Szenario gehört zu einem Com- keiten eröffnet ein Werk, das sekunden- konsum an.
puter-Kunstwerk, an dem das belgisch-nie- schnell an jedem Ort gezeigt werden kann Doch auch Hochleistungs-PC und neue-
derländische Künstlerduo Joan Heemskerk und dessen Betrachter genauso rasch dar- ste Software garantieren noch nicht den
und Dirk Paesmans bereits seit 1994 tüftelt. auf reagieren können? Genuß aller Internetkunst. Das mit Ani-
Nun ist es ein Teil der Documenta X. Anfang der neunziger Jahre hatten sich mationen gespickte Werk von Crandall, in
Es war kaum zu vermeiden: Auch die zunächst Diskussionsforen gebildet. Erst dem winzige Symbole schwirren und Git-
Kasseler Welt-Kunstausstellung öffnet sich allmählich entstanden außerdem elektro- termuster wie in einer Lasershow Raum-
dem Internet. Über eine eigene Documen- nische Kunstwerke, die von Galerien, Uni- bilder projizieren sollen, ist selbst von spe-
ta-Website sind Termine und andere Infor- versitäten und Ausstellungsveranstaltern zialisierten Documenta-Mitarbeitern nur
mationen abzufragen, wird die allabendli- verbreitet wurden – und deren Konzepte partiell in den Griff zu bekommen. „Vieles
che Diskussionsveranstaltung „100 Tage – bisweilen auf Ideen der sechziger Jahre hier“, sagt einer, „ist an den Grenzen der
100 Gäste“ weltweit verbreitet. Kern des zurückgriffen. Machbarkeit programmiert.“ Die Kunst
Angebots freilich sind zehn Kunstwerke, Der Italiener Michelangelo Pistoletto scheint der Technik so weit voraus zu sein,
die nicht, wie Gemälde oder Skulpturen, beispielsweise hatte schon 1969 ein „Uffi- daß sie leicht einmal außer Sichtweite
greifbar-materiell existieren, sondern aus- cio dell’uomo nero“ (Büro des schwarzen gerät.
schließlich elektronisch gespeichert sind. Menschen) erdacht, in dem individuelle, Selbst konventionellere Werke reiben
Ausstellungsbesucher können ihnen in von verschiedenen Betrachtern entworfe- sich an den Bedingungen der Technik. Je-
einem speziellen Computerraum der Do- ne Zeichen gesammelt wurden. Auf der der Kunstfreund wird frustriert, wenn er
cumenta-Halle begegnen, aber User in al- Documenta X ist nun eine aktualisierte erst nach fünfminütigem Ausharren eine
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geöffnete Kühlschranktür erblickt. Die Ab-
bildung gehört zu dem poetisch-enzyklo-
pädischen Werk „Up to 625“ des US-
Künstlers Matt Mullican. Ausgehend von
Farbfeldern, kann sich der Betrachter in
einem weitverzweigten System von Bil-
dern umschauen. Da jede Abbildung durch
Doppelklick zu weiteren führt, landet
man am Ende bei 625 verschiedenen Bil-
dern. Wer die alle sehen will, braucht even-
tuell mehr als 50 Stunden – anstatt sich
wie versprochen „rasch und behende in
der Struktur und den Bildern der Website
zu bewegen“.
Wohlwollende Kenner vergleichen sol-
che Schwierigkeiten mit den Transport-
problemen eines Gemäldes, die dessen
Qualität nicht mindern. Aber im Netz soll-
te es auf Bilderwechsel ankommen, nicht
auf den Einzelanblick. Bauernschlau will
Internetkünstler Florian Wenz die Down-
loadzeit zum „integrativen Bestandteil der
Werke“ erklären wie bei einem überlangen
Film. Er unterschlägt dabei, daß Kinobe-
sucher nicht mit leerer Wartezeit genervt
werden.
Viele Werke wären offenkundig besser
mit einer CD-Rom zu nutzen als unter den
Bedingungen des real existierenden Netzes Internet-Kunst von Mullican: Warten auf die Kühlschranktür