Sie sind auf Seite 1von 22

SONDERDRUCK

Philosophieren mit Kindern weltweit

17
Thomas E. Jackson
Primal Wonder – Ursprüngliches
Staunen

37
Taketo Tabata
Einen sicheren Ort schaffen:
103
Warum wir in Miyagi mit
Kindern philosophieren
Niels Weidtmann
55 Interkulturelle Gerechtigkeit und
die Praxis der Menschenrechte
Ezgi Emel
2 Philosophieren mit Kindern in
einer Demokratie in der Krise 117
Nausikaa Schirilla Jan Christoph Heiser
Editorial
75 Von Aneignungsmaschinen
und Selbstökonomisierungs­
4
Amy Reed-Sandoval instanzen: Menschenbilder und
Interkulturelle Erkundung im Kompetenzgerede im Feld des
Britta Saal P4C-Klassenzimmer interkulturellen Lernens
Philosophieren mit Kindern Reflexionen über das Philosophieren Auch eine kritisch-»ganzheitliche«
weltweit mit Triqui-Kindern in Oaxaca de Antwort auf polylog 36/2016
Einleitung Juárez, Mexiko

138
10 89 Rezensionen
Anja Thielmann Tanu Biswas
170
Philosophy for Children (P4C): Philosophieren mit Kindern über
Wie alles begann Grenzen hinweg
Einleitung Eine childistische Perspektive Impressum
Thomas E. Jackson
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen1

Übersetzung von Britta Saal

Prolog: Anwesend bei der Geburt1


sahen und erlebten das Wunder, das sich ent-
Rückblickend war meine erste Erfahrung mit faltete. Es schien in der Tat, als sei die Zeit
dem ursprünglichen Staunen meine Anwe- vollkommen verschwunden. In diesem Mo-
senheit bei der Geburt meines Sohnes. Kurz ment beobachtete ich, wie er seine Augen zum
nachdem er auf die Welt kam, lag er ruhig und ersten Mal öffnete. Es war ein tiefgreifender Thomas Jackson ist Direktor der
entspannt an der Brust meiner Frau. Das Ent- Sinn des Gewahrseins und, wie ich später erst Uehiro Academy for Philosophy
bindungszimmer war angenehm kühl und ru- vollständig realisierte, ein tiefgreifender Sinn des & Ethics in Education an der
hig – alles in allem herrschte eine unaufgeregte Staunens in seinem Blick anwesend: weit geöff- University of Hawai’i.
und willkommen heißende Atmosphäre. Sein net und das, was auch immer es war, das sich Er engagiert sich professionell
Kopf war so gedreht, dass ich deutlich sein Ge- ihm zum ersten Mal zeigte, aufnehmend. In mit dem Philosophieren mit
sicht mit seinen bis jetzt ungeöffneten Augen diesem Moment lächelte er – der Situation an- Kindern seit 1984.
sehen konnte. gemessen und schön!
Es herrschte keinerlei Gefühl von Eile. Die
Natur tat ihre Arbeit. Meine Frau und ich
Die Reise von p4c nach Hawai’i
1 Der Ausdruck »primal wonder« stammt von mir, Im Jahr 1979 schloss ich meine Promotion in
aber ich verdanke einen großen Teil dessen, was ich Vergleichender Philosophie am Fachbereich
hier geschrieben habe, dem Buch von Cornelis Ver-
hoeven: The Philosophy of Wonder: An Introduction and
Philosophie der Universität Hawai’i ab. Im Au-
Incitement to Philosophy, Macmillan Company, New gust 1984, nachdem ich die außergewöhnliche polylog 37
York, 1972. Arbeit von Matthew Lipman, dem Schöpfer Seite 17
thomas E. Jackson:

der Philosophy for Children (P4C), entdeckt hatte, Lehrplan und seiner praktischen Umsetzung
verbrachte ich drei Wochen am Institute for the basiert das Philosophiemodell auf der abend-
Advancement of Philosophy for Children (IAPC) am ländischen Philosophietradition. In geschickter
Montclair State College bei einem internationa- Weise modifizierte Lipman dieses Modell für
len Workshop, der von Matthew Lipman und den Gebrauch mit Schülern des Primär- und
Ann Margaret Sharp geleitet wurde. An dem Sekundarbereichs, indem er gleichzeitig dem
Workshop nahmen ungefähr 20 akademische abendländischen Inhalt und der abendländi-
Philosophinnen und Philosophen aus der gan- schen Methode treu blieb.
Es war genau diese Kontext­ zen Welt teil, die alle begierig darauf waren, Lipmans Erkenntnis, dass Philosophie etwas
sensitivität, die die Verände- für sich zu lernen, wie dieser anregende neue sei, das an Schulen praktiziert werden könnte
rungen nötig machten, die Ansatz im Rahmen von Erziehung umgesetzt und auch sollte, und dann praktisch aus dem
nun Teil von p4c Hawai’i werden könnte, was dann wiederum die Praxis Nichts heraus einen Lehrplan mit Texten und
geworden sind. des Philosophierens ins Zentrum der Schulaus- Handbüchern für Schüler des Primar- und Se-
bildung bringen würde. kundarbereichs geschaffen zu haben, war und
Als ich nach Hawai’i zurückkam – es war ist zweifellos bahnbrechend und impulsge-
die Hochphase der Critical-Thinking-Bewegung bend. Und dass er dann auch noch einen phi-
–, begann ich bald damit, Seminare anzubieten losophisch robusten pädagogischen Ansatz und
und direkt in Schulklassen mit Grundschulleh- eine tragende Struktur entwickelt hat, um die-
rerInnen und ihren SchülerInnen einmal pro se Materialien anzuwenden sowie diejenigen
Woche zu arbeiten. Sie alle waren begierig dar- auszubilden, die Interesse daran haben, diesen
auf, diesen ungewöhnlichen Ansatz, denken zu Ansatz einzuführen, ist im Hinblick auf das un-
lehren, auszuprobieren. Dabei war von Anfang geheure Ausmaß dessen, was erreicht wurde,
an – und ist es auch immer noch – das Bestre- wahrhaft atemberaubend. Die kontinuierliche
ben, herauszufinden, was genau die Bedeutung weltweite Verbreitung ist ein klarer Beleg für
und Natur von Philosophie ausmacht, die mit die Kraft seiner Arbeit und seines Einflusses.
Kindern – beginnend im Vorschulalter über Lipman war immer großzügig und unter-
die Grund- und Mittelschule bis zur Oberstufe stützend gegenüber Bemühungen, seine Ar-
– betrieben wird, eine Herausforderung. beit zu verbreiten, und unterstützte stets auch
Ein paar Jahre lang benutzten wir Matthew Veränderungen und Abweichungen. Solche
Lipmans bahnbrechenden und auf ausgeklügelte Abweichungen seien, wie er es gemäß einem
Weise mit Philosophie durchtränkten Lehrplan wichtigen Kriterium seiner einsichtsreichen
sowohl im Primar- wie auch Sekundar­bereich. Analyse des kritischen Denkens formulierte,
Jedoch wurden schnell die Begrenzungen die- »kontextsensitiv«. Es war genau diese Kon-
ses Lehrplans, vor allem im Hinblick auf die textsensitivität, die die Veränderungen nötig
polylog 37 reichlich diverse, multikulturelle Situation der machten, die nun Teil von p4c Hawai’i gewor-
Seite 18 hawaiianischen Inseln, offenkundig: In diesem den sind. Diese Veränderungen waren 1) auf-
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

grund von Begrenzungen der Materialien an abendländischen Philosophietradition. In Be-


sich, vor allem im Hinblick auf zwei Punkte: zug auf den Inhalt heißt dies, dass die Antwort
Zum einen die zeitintensive Anforderung, die auf die Frage, ob eine Sitzung philosophisch
der richtige Gebrauch der Materialen erforder- war oder nicht, sich an der Anwesenheit oder
te; es war nicht einfach für Lehrerinnen und Abwesenheit einer – zumindest implizit in ir-
Lehrer, vom Text zu »Leitideen« zu kommen, gendeiner Art verbundenen – Bezugnahme zu
und dann die »Übungen« und »Diskussions- einem erkennbaren Bereich der abendländi-
pläne« zu verwenden, die in den Handbüchern schen Philosophie (Metaphysik, Epistemolo-
bereitgestellt wurden. Und dies betrifft direkt gie, Ethik etc.) ermisst. In Bezug auf die Praxis Lipmans Ansatz und sein
den zweiten Punkt, dass ohne anhaltende wö- gründet der Ansatz im abendländischen Argu- Philosophieverständnis, das
chentliche Unterstützung die Lehrerinnen und mentationsmodell, Begründungen, Prämissen, sich in seinen Geschichten und
Lehrer irgendwann aufgaben. Schlussfolgerungen usw. anzugeben. Lipmans in seiner Praxis wiederspiegelt,
Die Veränderungen betrafen aber außerdem Handbücher sind voll von Übungen und Dis- ist sowohl inhaltlich als auch
2) die inhaltliche Gründung der Materialien kussionsplänen, die diesen Prozess unterstüt- methodisch sehr deutlich ge-
ausschließlich in der abendländischen Phi- zen sollen. Viele dieser Übungen und Diskus- prägt von der abendländischen
losophietradition. Lipmans Absicht war klar sionspläne sind ausgezeichnete und fruchtbare Philosophietradition.
formuliert: »Philosophie für Kinder ist ein Quellen für die Untersuchung bestimmter The-
Versuch, die Geschichte der Philosophie in ei- men. Die Diskussionspläne sind verzahnt mit
ner Weise zu rekonstruieren und darzustellen, den Leitideen der abendländischen Tradition,
dass Kinder sie sich aneignen können, um dann die sich auch in den Erzählungen wiederfinden.
gut und in selbstkorrigierender Weise nachzu- In ähnlicher Weise sind die Übungen so prä-
denken und zu begründen. […] Philosophie sentiert, dass die Entwicklung von Denkfer-
für Kinder ist eine Methode der dialogischen tigkeiten durch ein tieferes Verständnis eines
Reflexion, verbunden mit verschiedenen Sicht- weitreichenderen Sinns für Logik verbessert
weisen und Denksystemen aus 2500 Jahren, wird, der nicht, wie in den meisten universi-
im Hinblick auf die Natur des Universums, die tären Philosophiefachbereichen, primär auf
Merkmale eines guten Lebens und die Kulti- formal-symbolische Logik fokussiert ist. Die-
vierung von Weisheit.«2 ser Prozess beginnt in der Erzählung Elfie und
Lipmans Ansatz und sein Philosophiever- setzt sich über Pixie bis hin zu Harry Stottelmeiers
ständnis, das sich in seinen Geschichten und in Entdeckung fort. Der Lehrplan geht dann über
seiner Praxis spiegelt, ist sowohl inhaltlich als in die Anwendung dieser Denkfertigkeiten in
auch methodisch sehr deutlich geprägt von der den Erzählungen Lisa, Mark und Suki.3 Das ist
großartige Arbeit!
2 Einleitung in Ann Margaret Sharp and Ronald
F. Reed (Hrsg.): Studies in Philosophy for Children: Harry 3 Anm. d. ÜS: Dieses sind die Titel der wichtigsten
Stottlemeier’s Discovery, Temple University Press, Phila- philosophischen Erzählungen für Kinder von Lipman. polylog 37
delphia, 1992, xiii. Übersetzung B.S. In deutscher Übersetzung gibt es Das geheimnisvolle Seite 19
thomas E. Jackson:

Was schließlich Lipmans Ansatz der »For- Schülern daran zu arbeiten, Sicherheit in der
schergemeinschaft« (community of inquiry) be- Gemeinschaft zu entwickeln, ist eine notwen-
trifft, so legt er die Hauptbetonung auf die dige Bedingung dafür, dass die Gemeinschaft
forschende Untersuchung und weniger auf fruchtbare Untersuchungen durchführen kann.
die Gemeinschaft und ihre Herausbildung. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Sicher-
Der multikulturelle Reichtum und die daraus heit hier nicht bedeutet, schwierige Angele-
resultierende gesellschaftliche Komplexität genheiten und harte Differenzen zu vermeiden.
in Hawai’i schließt jedoch unterschiedliche Intellektuelle Sicherheit zu entwickeln heißt,
Alle Mitglieder der Gemein- Sichtweisen dessen ein, was »Gemeinschaft« einen sicheren Ort zu schaffen, wo diese Dif-
schaft haben die Freiheit, bedeutet, einschließlich der Normen und Ord- ferenzen ausgedrückt, untersucht und hinter-
nahezu jede Frage stellen oder nungen, die innerhalb dieser Gemeinschaften fragt werden können.
jede Sichtweise äußern zu kön- herrschen. Diese Bedenken führten dazu, dass Meine Arbeit in Hawai’i war ein Eintau-
nen, so lange der Respekt jedem wir von Anfang an den Fokus stärker auf die chen in die vielen ethnischen, kulturellen und
Mitglied der Gemeinschaft Herausbildung körperlich, emotional und in- sprachlich mannigfaltigen Klassenzimmer des
gegenüber gewahrt bleibt. tellektuell sicherer Gemeinschaften legten. Primär- und Sekundarbereichs. Dabei offen-
Als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen barte sich, dass intellektuelle Sicherheit in
stellen wir hier unser Verständnis von intel- keiner Klassenstufe als selbstverständlich an-
lektueller Sicherheit vor: »Alle Mitglieder der genommen werden sollte – sowohl bei den Leh-
Gemeinschaft haben die Freiheit, nahezu jede rern als auch bei den Schülern. Viele fruchtba-
Frage stellen oder jede Sichtweise äußern zu re Sitzungen entstanden in Verbindung damit,
können, so lange der Respekt jedem Mitglied gemeinsam herauszuarbeiten, was überhaupt
der Gemeinschaft gegenüber gewahrt bleibt.« mit intellektueller Sicherheit gemeint ist, wel-
Heutzutage kann sowohl innerhalb als auch che Bedingungen diese fördern und welche
außerhalb der Schule Sicherheit in jedem der Bedingungen diese beeinträchtigen, wann also
drei genannten Sinne nicht als selbstverständ- intellektuelle Sicherheit gegeben ist und wann
lich angenommen werden. Häufig bringen nicht. Diese anfänglichen Sitzungen legen den
Schülerinnen und Schüler Vorurteile, Vor- Grundstein und bieten den Bezugsrahmen für
eingenommenheiten, Stereotype und ande- die Gemeinschaft und ihre weiteren Reflexi-
re spalterische Einstellungen mit, die sie zu onen darüber, wie die Gemeinschaft zusam-
Hause und in ihrer Umgebung aufgeschnappt menarbeitet, vor allem dann, wenn eine Sit-
haben. Zusammen mit den Schülerinnen und zung einmal nicht in diesem Sinne sicher war.
Dieses Eintauchen war von Anfang an eine
Wesen (Pixie) (2007) und Harry Stottelmeiers Entdeckung gemeinsam geteilte Erfahrung: Es war ein
(2009), beide mittlerweile in zweiter Auflage im Aca-
Wachsen und Lernen zusammen mit den Leh-
demia Verlag erschienen. Für beide Erzählungen gibt
polylog 37 es ebenfalls im Academia Verlag auch die Handbücher rerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schü-
Seite 20 in deutscher Übersetzung. lern. Wir arbeiteten zusammen als Mitforscher
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

und Mitmoderatoren von Untersuchungen, die Die Hauptmerkmale der


direkt aus den Fragen und Wunderfragen 4 der p4c-Untersuchung nach
p4c-Klassengemeinschaften entstanden. Die hawaiianischer Art5
intellektuelle Sicherheit bietet dabei den Rah-
men, um auf die Herausforderungen, die die- Insesondere zwei Dinge sind wichtig für eine
ser Ansatz an das Schulsystem stellt, indem er hawaiianische p4c-Untersuchung. Erstens geht
eine grundsätzliche Verschiebung der Macht- es darum, alles dafür zu tun, dass – wie oben
verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern beschrieben – die Untersuchung von den In-
mit sich bringt, zu reagieren. Diese Verschie- teressen der Kinder ausgeht und dort beginnt, Häufig entstehen und
bung beinhaltet unter anderem, wem die Ent- wo diese in ihrem Verständnis sind. Dort zu ent­wickeln sich die Unter­
scheidungsmacht darüber zukommt, wer jetzt beginnen, wo sich die Gemeinschaft in ihrem suchungen aus der einfachen
spricht und wer als nächstes spricht, sowie die Verständnis befindet, stellt eine besondere He- Ausgangsfrage: »Worüber
Freiheit der Lehrerinnen und Lehrer, sich vom rausforderung dar, weil sich in der Realität die wunderst du dich?«
Zentrum der Autorität und Verantwortung meisten Schülerinnen und Schüler eher nicht
bzgl. der Richtung, die die Stunde nehmen am selben Verstehenslevel befinden; und das,
soll, wie auch des Inhalts, der gelernt werden obwohl das Schulsystem nach Klassenstufen
soll, wegzubewegen und zu Untersuchungen aufgebaut ist und damit der Annahme folgt,
zu gelangen, bei denen niemand im Voraus alle hätten gleichermaßen alles Wesentliche,
weiß, wohin sie führen werden. Häufig entste- das man für die die nächste Stufe braucht, auf-
hen und entwickeln sich die Untersuchungen genommen. Dieses wird zusätzlich verkompli-
aus der einfachen Ausgangsfrage: »Worüber ziert durch die verschiedenen Sprachen, die
wunderst du dich?« (»What do you wonder about?«) die Kinder als ihre jeweils erste Sprache mit in
Die Untersuchungen, die mit diesen Wunder- den Unterricht bringen. Es ist besonders loh-
fragen der Kinder beginnen – seien es sehr weit nenswert, mit Lehrerinnen und Lehrern aller
gefasste Fragen oder inhaltsspezifische Fragen, Klassenstufen zusammenzuarbeiten, die trotz
die auf einem Text basieren –, offenbaren ganz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen
unmittelbar den Reichtum des multikulturel- daran arbeiten, diesen ersten speziellen Punkt
len Hintergrunds all jener Gemeinschaften, der p4c-Untersuchung in ihren Klassen zu re-
die Hawai’i zu ihrem zu Hause gemacht haben. alisieren.

4 Anm. d. ÜS: Um den Unterschied im Englischen


zwischen questions und wonderings beizubehalten, wer- 5 Die Grundlage für dieses Kapitel ist Thomas
den hier die Ausdrücke »Fragen« und »Wunderfra- Jackson: »The Art and Craft of ‘Gently Socratic’ Inquiry«,
gen« verwendet. Der Ausdruck »Wunderfragen« in in: Arthur L. Costa (Hrsg.), Developing Minds: A Re-
diesem Zusammenhang stammt von mir und ist zu source for Teaching Thinking, 3rd edition, ASCD (Asso-
unterscheiden von »der Wunderfrage« nach Steve de ciation for Supervision & Curriculum Development), polylog 37
Shazer im Rahmen der Kurzzeit-Psychotherapie. Alexandria, Virginia, 2001. Seite 21
thomas E. Jackson:

Der zweite wichtige Punkt in der hawai- versuchen, diesen Zustand so schnell wie mög-
ianischen p4c-Untersuchung ist die Idee der lich wieder loszuwerden, sondern man sollte
Mit-Untersuchung (co-inquiry). Das heißt, nie- vielmehr feiern, dass man den Mut hat, keine
mand, auch nicht die Lehrerin oder der Lehrer, Angst vor Verwirrung zu haben, und sie als
weiß im Vorhinein, wohin die Untersuchung Einladung für ein tieferes Verstehen ansehen.
führen wird. Zu Beginn ist dieser Punkt vor Sehr oft entsteht Verwirrung natürlicherwei-
allem für LehrerInnen und SchülerInnen höhe- se aus der Begegnung mit einer Fragestellung
rer Klassenstufen abschreckend und einschüch- oder Thematik, die de facto äußerst komplex
Die erste Art des Fortschritts ternd: Welche Art der Unterrichtsplanung soll ist: Man hat das vorher einfach noch nicht so
nennen wir »Verwirrung«. Das man machen, wenn man nicht weiß, wo man erkannt. Eines der traurigen Ergebnisse des-
klingt vielleicht nicht gerade wie landen wird? Dieses verlangt ein etwas anderes sen, einen bestimmten Inhalt schnell und in
Fortschritt, aber unserer Ansicht Verständnis von »Fortschritt«. Eile abzudecken und, damit einhergehend, den
nach ist es extrem wichtig zu Schwerpunkt auf standardisierte Tests mit der
erkennen und anzuerkennen, Vier Arten von Fortschritt jeweils einen richtigen Antwort zu legen, ist,
dass man verwirrt ist. Im Allgemeinen haben Erzieher und Pädago- dass man ängstlich gegenüber Verwirrung und
gen ein Interesse an Fortschritt. Fortschritt Komplexität wird, weil ja der Test nächste Wo-
ist auch in p4c-Sitzungen ein hauptsächli- che geschrieben wird. Daher ist das Verständ-
ches Anliegen: Mache ich oder machen wir nis und die Akzeptanz der wichtigen Rolle, die
Fortschritte sowohl in Bezug auf unsere Verwirrung als Teil der Reise zu einem tieferen
Gemeinschaft als auch in Bezug auf unsere Verständnis spielt, ein wirkliches Kennzeichen
Untersuchungen? Fortschritt in Bezug auf von Fortschritt.
die Gemeinschaft konzentriert sich auf die Eine zweite Form des Fortschritts ist,
Qualität der Teilnahme, des Zuhörens und neue Ideen und Gedanken zu erkennen, die
der vorherrschenden Sicherheit. Fortschritt während einer Untersuchung auftauchen
in Bezug auf die Untersuchung erwächst aus und über die man vorher noch nie nachge-
der jeweiligen individuellen Selbstreflexion dacht hat. Dies ist einer der vielen Gewin-
am Ende der Sitzung. Jeder Teilnehmer kann ne der intellektuell sicheren Gemeinschaft:
für sich herausfinden, welche Art der vier Man bekommt neue und oftmals auch er-
verschiedenen, jedoch miteinander verbunde- staunliche Gedanken und ­Ideen­von anderen
nen und gleichermaßen wichtigen Arten von Mitgliedern der Gemeinschaft zu hören. Das
Fortschritt für ihn oder sie zutrifft. kann durchaus zur Verwirrung beitragen,
Die erste Art des Fortschritts nennen wir aber in einer positiven Weise; denn man
»Verwirrung«. Das klingt vielleicht nicht gera- ist dann in einem größeren Ausmaß damit
de wie Fortschritt, aber unserer Ansicht nach beschäftigt, zu einem neuen Verständnis zu
polylog 37 ist es extrem wichtig zu erkennen und anzuer- kommen.
Seite 22 kennen, dass man verwirrt ist; man sollte nicht
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

Eine dritte Form des Fortschritts ist, wenn eine Handlung folgen zu lassen, vielleicht aber
eine Antwort beginnt aufzuscheinen. Viel- auch nicht, weil ich zum Beispiel noch mehr
leicht ist das eine Antwort, die man bereits im Klarheit brauche. Wertvoll an dieser Vorstel-
Kopf hatte, weil man bereits mit der Thema- lung von mehreren Fortschrittsarten ist, dass
tik oder Fragestellung vertraut war. Oder die es nicht die Erwartung gibt, am Ende einer
Antwort ist noch in keiner Weise vollständig, Sitzung irgendeine Art von Konsens haben
aber man bekommt eine Idee, wie man selbst zu müssen, auch wenn es möglicherweise ei-
und mit den anderen zusammen die Frage wei- nen gibt. Viel wichtiger ist, dabei zu erken-
ter erkunden kann. Und manchmal erkennt nen, dass wir am Beginn einer gemeinsamen Das »nicht im Vorhinein wissen«
man auch, dass man von einer befriedigenden Sitzung individuell oft an verschiedenen Orten eröffnet einen Raum für genau
Antwort möglicherweise noch weit entfernt des Verstehens sind. Und auf ganz natürliche solche intellektuellen Lawinen in
ist; jedoch gibt dies einem dann auch den Mut, Weise wird jeder am Ende der Sitzung einen der Gemeinschaft.
diese Offenheit zu akzeptieren. Fortschritt in seiner eigenen Art und nicht ge-
Eine vierte Form des Fortschritts ist die mäß einem von außen auferlegten Set von Kri-
Bereitschaft, wenn es sachdienlich ist, in Be- terien erlangt haben.
zug zu einigen Themenaspekten oder Fragen, Die folgende Anmerkung erfasst ganz gut,
die im Verlauf der Untersuchung aufgetaucht welchen Wert das »nicht im Vorhinein wissen«
sind, persönlich aktiv zu werden. Das kann auf für Lehrerinnen und Lehrer hat: Eines Mor-
der innerlichen Ebene geschehen, indem man gens, als ich an der Schule ankam, an der wir
z.B. eine zuvor verdeckte Einstellung oder seit einigen Monaten p4c praktizieren, grüßte
Annahme gegenüber einer anderen ethnischen mich noch vor dem Eingang eine Lehrerin und
Gruppe erkennt und für sich beschließt, diese sagte mit großem Ernst: »Wissen Sie, Dr. J.,
zu korrigieren, oder sich auch, durchaus in Er- wir unterschätzen ganz ernsthaft, wozu un-
gänzung, auf der äußerlichen Ebene in Hand- sere Kinder fähig sind. Wir reduzieren sie auf
lungen zeigen, die aus dieser geänderten Ein- die Texte und Lektionen, die wir unterrich-
stellung hervorgehen. ten.« Mit wachsender Begeisterung fuhr sie
Es ist besonders wichtig, im Gedächtnis fort: »Wenn ich mit meinen Schülern in einer
zu behalten, dass diese vier Arten des Fort- p4c-Untersuchung bin, habe ich das Gefühl,
schritts meistens zusammen in verschiedenen auf einer intellektuellen Lawine zu sein! Sie
Graden auftauchen: Ich verlasse die Stunde sind mir manchmal weit voraus in ihrem Den-
möglicherweise mit einiger Verwirrung, aber ken.« Sie machte eine kurze Pause und sagte
auch mit manchen neuen Ideen, über die ich dann mit einem Lächeln: »Und das ist ganz in
weiter nachdenken kann, und vielleicht sogar Ordnung so, nicht wahr?« Das »nicht im Vor-
mit ein paar kleinen Eindrücken einer Antwort. hinein wissen« eröffnet einen Raum für genau
Oder aber ich bin vielleicht in erster Linie ver- solche intellektuellen Lawinen in der Gemein- polylog 37
wirrt. Vielleicht fühle ich mich bereit, direkt schaft. Seite 23
thomas E. Jackson:

Über das staunende Fragen oft ein Geist, der angefüllt ist mit, wie Hannah
In all den Jahren, in denen ich direkt mit Leh- Arendt es nennt, »gefrorenen Gedanken«.6
rerinnen und Lehrern des Primarbereichs Während dieser Jahre, in denen ich mit
partnerschaftlich verbunden war, arbeitete ich Schülern gearbeitet habe, tauchten weitere
oft mit verschiedenen Klassen, beginnend mit Fragen auf: Ist das, was jüngere Kinder tun,
dem letzten Kindergarten- bzw. unmittelbaren überhaupt philosophieren? Was bedeutet »phi-
Vorschuljahr bis zur sechsten Klasse. Sehr bald losophieren« in einem sehr jungen Alter und
wurde deutlich, dass bei sehr jungen Kindern, letztlich in jedem Alter? Diese Fragen sind
Ist das, was jüngere Kinder tun, etwa vom Kindergartenalter bis zur dritten direkt verbunden mit der Grundfrage: Was
überhaupt philosophieren? Was Klasse, der Sinn des ursprünglichen Staunens meinen wir mit Philosophie? An dieser Stelle
bedeutet »Philosophieren« in besonders stark, phantasievoll, erfindungs- tauchte für mich die Idee des Staunens wieder
einem sehr jungen Alter und reich und kreativ sowie pulsierend, spielerisch auf. Ich erlangte schließlich einen Durchbruch,
letztlich in jedem Alter? und freudvoll lebendig ist. Ihre Fragen, un- als ich über Platons Aussage, Philosophieren
bewusst durchzogen mit dem jeweiligen, von beginne mit dem Staunen, nachdachte.7 Was
zu Hause geprägten kulturellen Hintergrund also Philosophie auch immer ist oder sein
und ihren eigenen Erfahrungen, bringen einen könnte, sie beginnt mit dem Staunen. Das impli-
Gedankenreichtum hervor, von dem aus man ziert, dass, wie alt wir auch immer sein mögen,
weiter in die Tiefe denken kann. Diese Vielfalt sobald sich unser Geist, wie flüchtig auch im-
repräsentiert ein reiches wie auch unerschlos- mer, in den »Staunensmodus« (wonder mode) be-
senes Feld von Ressourcen an neuen Ideen, mit gibt, wir an einem Eingangsportal zum Raum
denen man arbeiten sollte, um ihr individuel- und Ort des Staunens stehen.
les und sich im stetigen Prozess befindendes An diesem Punkt angekommen, hatte ich
Verständnis ihrer eigenen Welt wie auch der jedoch bis jetzt immer noch keine Antwort auf
vielfältigen kollektiven Welten zu entwickeln. die neu aufscheinende Frage: Wann beginnt
Die Kinder sind bis zu diesem Zeitpunkt be- 6 Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes, Mün-
merkenswert wenig irgendeiner bestimmten chen: Piper 1998, S. 171 bzw. 174.
Sichtweise verhaftet und somit offen und aktiv 7 Platon: Theaitetos, 155 d, Übersetzung von
interessiert an neuen Dingen, denen sie durch Friedrich Schleiermacher: »Denn gar sehr ist
dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die
ihre Klassenkameraden begegnen. Verwunderung; ja es gibt keinen anderen Anfang der
Wie jedoch ich und auch andere leider beob- Philosophie als diesen«, in Platon. Werke in acht Bänden,
achtet haben, werden diese anfängliche Offen- sechster Band, Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-
heit und das ursprüngliche Staunen im Verlauf gesellschaft, 1970, Übertragung von Rudolf Rufener:
der Schul- und Lebenserfahrungen zunehmend »Denn gerade das ist ja das eigentliche Erlebnis des
zum Schweigen gebracht. Das Ergebnis ist sehr Philosophen, das Staunen. Es gibt nämlich keinen an-
deren Ursprung der Philosophie als diesen«, in Pla-
polylog 37 ton. Spätdialoge I, Zürich/München: Artemis Verlag,
Seite 24 1974.
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

das Staunen selbst? Und plötzlich trat mir wie- Diese »vorkulturelle« Basis des ursprüng-
der eindringlich die Geburt meines Sohnes vor lichen Staunens ist entscheidend, weil es an
Augen sowie die Erkenntnis, dass ich in dieser diesem Punkt innerhalb des Bewusstseinsfel-
Situation an genau dem Ort gegenwärtig war, des sehr viele mögliche alternative Wege gibt,
wo das Staunen beginnt! Es beginnt mit der die Welt, die wir gerade betreten haben, zu
Geburt (wenn nicht schon früher). Wir alle verstehen, ihr »Bedeutung zu geben«. Diese
sind schon geboren mit der wesentlichen Grund- Alternativen sind die Basis der Möglichkeit für
voraussetzung für Philosophie: einem besonde- ein reichhaltiges interkulturelles Bewusstsein
ren Staunen, das ich hier als ursprüngliches Stau- und Verstehen. Jede Einlassstelle in die Welt Bei der Geburt ist das ursprüng-
nen (primal wonder) bezeichne. ist eine von einer unbegrenzten Anzahl un- liche Staunen »vorkulturell«. Das
Wir sind alle gleichermaßen mit dieser we- tergeordneter Möglichkeiten, von denen nur heißt, die reichhaltige Welt der
sentlichen Qualität geboren. Aber wir sind eine für die Möglichkeit menschlichen Lebens Wahrnehmungen ist vorkonzep-
auch einzigartig; es gibt niemand anderen in notwendig ist. Wenn meine erste Sprache und tuell in jedem kulturellen Sinn.
der Welt, der so ist wie wir. Mit dieser Einzig- Kultur Chinesisch ist, wird mir die Welt, die
artigkeit begegnen wir einer Welt, die gefüllt für mich entsteht, einen anderen Weg des Be-
ist mit anderen einzigartigen Individuen. Diese nennens und Strukturierens der Welt zeigen,
Begegnungen sind Kreuzungspunkte, angerei- als wenn dies in Englisch, Deutsch oder Ha-
chert mit den Ähnlichkeiten und Unterschie- waiianisch geschieht. Wenn ich in eine Familie
den, die das menschliche gesellschaftliche Le- hineingeboren wurde, in der ich auf zwei sehr
ben möglich machen. In diesem Schmelztiegel verschiedene Sprachen treffe, wie z.B. Chine-
des Lebens bildet sich eine Identität heraus, die sisch und Englisch, dann begegne ich bereits
innerhalb der Besonderheiten einer einzelnen hier zwei verschiedenen Systemen des Benen-
Kultur und eines historischen Moments Form nens und Wegen des Verstehens. Das ist eine
annimmt. All dies ist vertraut. Es ist das ur- übliche und weit verbreitete Erfahrung hier
sprüngliche Staunen, mit dem wir beginnen in Hawai’i. Hinzu kommt, dass ich »Mutter
und das die Grundlage für alles Folgende ist. und Vater«, »Mutter und Mutter« oder nur
Bei der Geburt ist das ursprüngliche Stau- einen Elternteil haben kann. Interkulturelles
nen »vorkulturell«. Das heißt, die reichhaltige Bewusstsein wird ermöglicht durch ein stilles
Welt der Wahrnehmungen ist vorkonzeptuell Wissen in unserem ursprünglichen Staunen,
in jedem kulturellen Sinn (phänomenologisch dass meine »Heimatkultur« nicht unbedingt
gesprochen gibt es hier noch keine Notwendig- die einzige Heimat ist, die ich bewohnen könn-
keit für die epoché). Wie es in einem Zen-Ge- te. Ich könnte auch in einer beliebigen Anzahl
danken ausgedrückt ist, beginnen wir mit ei- weiterer »Heimaten« leben.
nem »Anfänger-Geist« (Beginner’s Mind).8
der, 2016, 4. Auflage. Englische Originalausgabe: Zen
8 Shunryu Suzuki: Zen-Geist Anfänger-Geist. Un- Mind, Beginner’s Mind. Informal Talks on Zen Meditation polylog 37
terweisungen in Zen-Meditation, Freiburg i. Br.: Her- and Practice, Weatherhill 1970. Seite 25
thomas E. Jackson:

Es ist genau diese Reichweite möglicher Be- Es ist genau dieses Bewusstsein von Alternati-
nennungen, die dem ursprünglichen Staunen ven, zusammen mit dem bis dahin noch nicht
seine Kraft verleiht. Das ursprüngliche Stau- konkretisierten Bekenntnis zu der einen oder
nen trägt in sich das Bewusstsein, dass das, anderen Antwort, was einen interkulturellen
was sich entfaltet, eine Möglichkeit von einer Dialog nicht nur möglich, sondern auch au-
undefinierbar großen Zahl von Möglichkeiten ßergewöhnlich fruchtbar in seinem Potenzial
ist. Dieses Bewusstsein wird besonders of- macht, eine weit friedvollere und mitfühlende-
fenkundig bei jungen Kindern durch die ele- re Welt zu schaffen. Das ursprüngliche Staunen
Das ursprüngliche Staunen als mentare Natur der Fragen, die sie stellen, und als Grund oder gar Fundament für Philosophie
Grund oder gar Fundament der Hartnäckigkeit, mit der sie versuchen, die bedeutet, dass Philosophie die Grundlage, die
für Philosophie bedeutet, dass Antworten, die wir geben, zu verstehen. Von notwendige Bedingung für die Möglichkeit des
Philosophie die Grundlage, die ihrem Standpunkt aus sind die anfänglichen interkulturellen Verstehens überhaupt ist.
notwendige Bedingung für die Erklärungen der Erwachsenen alles andere als
Möglichkeit des interkulturellen klar. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel Über das »Nicht-in-Eile-sein« (Not Being
Verstehens überhaupt ist. hierfür stammt aus einer Untersuchung mit in a Rush)
einer Gruppe Viertklässlern, die sich aus der Damit der Sinn des ursprünglichen Staunens
Frage entwickelte: »Wenn deine Eltern keine sich entfalten und fortbestehen kann, ist es we-
Kinder hätten, würde das heißen, dass du auch sentlich, dass man nicht in Eile ist. In der Tat
keine haben wirst?« Die erste Reaktion hierauf ist »Nicht-in-Eile-sein« der Geist, der die Ar-
war, dass diese Frage keinen Sinn mache. Ein beit von p4c-Hawai’i inspiriert, belebt, beseelt
anderes Verständnis offenbarte sich bei einem und leitet. Beim erstmaligen Hören von »Wir
Schüler, der antwortete: »Nein, das heißt nicht, sind nicht in Eile…« im Rahmen von Work-
dass du keine Kinder haben würdest. Meine shops und formellen oder informellen Vorträ-
Eltern hatten keine Kinder.« Innerhalb der gen, ruft dieser eröffnende Gedanke oftmals
hawaiianischen Tradition, aus der er stammte, Verblüffen, gelegentlich ein Lächeln, manch-
sind die Eltern diejenigen, die für die Betreu- mal Verwirrung und zuweilen sogar Unbeha-
ung und Fürsorge zuständig sind; Biologie ist gen hervor. Er steht letzten Endes völlig kon-
hier nicht der bestimmende Faktor. trär zur weltlichen Realität, die wir und vor
Es ist diese Kombination aus begrenzter Er- allem auch Lehrerinnen und Lehrer jeden Tag
fahrung und nicht-verhafteter Offenheit, die erfahren.
den Kinderfragen eine besondere und heraus- Um erfolgreich p4c-Hawai’i praktizieren,
fordernde Kraft verleiht, die sich auch wieder- moderieren und daran teilnehmen zu können,
spiegelt in der Hartnäckigkeit ihres Weiter- benötigt es ein tiefes, verinnerlichtes Bekennt-
fragens – »Aber warum?« und wieder »Aber nis dazu, nicht in Eile zu sein. In Eile zu sein,
polylog 37 warum?« – als Reaktion auf die Bemühungen verhindert das Erscheinen des ursprünglichen
Seite 26 der Erwachsenen, ihre Fragen zu beantworten. Staunens. Es verhindert, sensibel und offen zu
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

sein für die Fragen und Interessen der Schüle- begrenzten Zeitraum, sondern systematisch in
rinnen und Schüler. Allerdings ist nicht in Eile die Struktur einer Schulkultur im Primar- und
zu sein besonders schwer für Lehrerinnen und Sekundarbereich einzubauen, bringt kraftvolle
Lehrer, die unter einem enormen Druck ste- Veränderungen mit sich. Es erlaubt uns, uns
hen, einen bestimmten Inhalt abzudecken, der miteinander und mit den tieferen Lebens-
von anderen – außerhalb der Klassenzimmer – rhythmen zu verbinden, die nur auftauchen,
als wichtig erachtet wird. Dieser Druck nimmt wenn die Dinge langsamer laufen.
immer weiter zu, ohne dass ein Ende in Sicht P4c systematisch einzusetzen bedeutet, re-
wäre. gelmäßig Zeit und Raum zu schaffen, um In Eile zu sein, verhindert das
Die erdrückende Realität ist, dass de facto achtsam zuzuhören, um gedankenvoll und Erscheinen des ursprünglichen
wir – Eltern, junge Erwachsene, Verwaltungs- aufmerksam das aufzunehmen, was jemand Staunens.
angestellte, Geschäftsleute, Politiker – wir anderes gesagt hat, um eine Untersuchung mit
alle, einschließlich in zunehmendem Maße einer Gruppe von Kindern oder Erwachsenen
auch unsere Kinder in immer jüngerem Alter, sich entfalten zu lassen in einem Tempo, das
in Eile sind. Wir sind in Eile, um irgendwohin nicht von der Uhr vorgegeben wird, sondern
zu gelangen – um die Kinder zur Schule oder von der Integrität der Forschergemeinschaft
zum Fußballtraining zu bringen, um auf den selbst, sensibel für die Energie in der Gemein-
letzten Tweet, die letzte SMS oder E-Mail zu schaft. Wenn man das systematisch macht,
antworten, oder um, in viel zu vielen Fällen, wird man sowohl das eigene Leben als auch
einfach zu überleben. das Leben der Schulgemeinschaft reichhaltiger
Was nicht offen und ohne weiteres zugestan- in einer zutiefst befriedigenden Weise erleben.
den wird, ist, dass in dieser Eile, um irgendwo- Das ist das Herzstück der p4c-Hawai’i-»Unter-
hin zu gelangen, einige sehr besondere Dinge, suchungszeit« (inquiry time).
die wertvoll und wesentlich sind, um wirklich
menschlich zu sein und zu werden, verloren Kinder philosophieren
gehen: unser Sinn des ursprünglichen Stau- Die vielen unterschiedlichen Kulturen, die
nens, die Fragen, die aus diesem Staunen her- die Völkergruppen in Hawai’i ausmachen,
ausfließen, die Kostbarkeit des Lebens und von bilden den Hintergrund für einen besonders
jedem Einzelnen, die Besonderheit, uns selbst reichhaltigen Ort, um an p4c-Untersuchun-
besser kennenzulernen und untereinander ver- gen mit Kindern bzw. Schülerinnen und
trauter zu werden, und die Gelegenheiten, ein Schülern der Primar- und Sekundarstufe teil-
reicheres, freudvolleres Leben zu erleben. zunehmen. Ein Teil dieses Reichtums schließt
P4c-Hawai’i lädt jeden von uns ein, den be- die Tatsache ein, dass keine kulturelle bzw.
freienden Sinn des Nicht-in-Eile-seins systema- ethnische Gruppe in der Mehrheit ist. Eine
tischer zu erfahren. P4c als einen andauernden Vielfalt von Gesichtern ist die Norm. Diese polylog 37
und kontinuierlichen Teil, nicht nur für einen Vielfalt wird des Weiteren angereichert durch Seite 27
thomas E. Jackson:

die große Zahl an hapa, gemischten Eheschlie- von Gewaltthemen.9 Drei Studien bestätigten
ßungen, wie z.B. zwischen Thai und Japanern, die positiven Auswirkungen dieses Lehrplans
Afro-Amerikanern und Japanern, indigenen in Bezug auf das Erreichen dieser Ziele.10
Hawaiianern und Weißen und so weiter. Je- Eine weitere außergewöhnliche Anerken-
doch weit entfernt davon, ein »Paradies« zu nung der Wirkung und des Erfolgs dieser Be-
sein, gibt es eine Anzahl komplexer Faktoren, mühungen an der KHS war der Besuch des
die auf den Inseln zu verschiedenen Ebenen Dalai Lama im Jahr 2012. Der Schwerpunkt
von Stress beitragen. Dazu gehören histori- seines Besuchs lag auf Erziehung, und zusätz-
Dieses Beispiel ist nur eines von sche, sozio-ökonomische und gesundheitliche lich zu zwei öffentlichen Vorlesungen äußerte
vielen, das zeigt, was geschehen Faktoren, die kontinuierlich einen unverhält- der Dalai Lama den Wunsch, sich privat mit
kann, wenn p4c systematisch nismäßigen Einfluss auf die indigene hawaiia- Schülerinnen und Schülern an einer Schule zu
in einer schulweiten Initiative nische Bevölkerung haben, vor allem in Bezug treffen, die Erfolge darin verzeichnen konnte,
eingeführt und über viele Jahre auf schlechte Gesundheit, höhere Sterblich- eine Kultur des Mitgefühls sowohl in der
durchgehalten wird. keitsraten und Jahrzehnte der Dominanz Schule wie auch der weiteren Gemeinschaft
durch eine weiße Minderheit. entwickelt zu haben. Von allen Schulen im
Ein wichtiges Beispiel für einen dokumen- Staate Hawai’i wurde die Kailua High School
tierten erfolgreichen Einfluss von p4c-Hawai’i für diese Ehre ausgewählt. Die gesamte
ist der von Amber Makaiau und ihrer Kolle- Schülerschaft verwendete einen ganzen Monat
gin Kehau Glassco entwickelte und 2004 zum dafür, sich auf diesen Besuch vorzubereiten.
ersten Mal an der Kailua High School (KHS) Ein Teil der Fragen, die im p4c-Stil von den
in Waimanalo, Ost O’ahu, eingeführte Lehr- Schülerinnen und Schülern vorbereitet wur-
plan. Verwurzelt im Ansatz des p4c-Hawai’i den, wurde ausgewählt. In einer sehr bewe-
hat der Lehrplan drei Ziele: 1) ein Verständnis genden Sitzung mit der gesamten Schülerschaft
der Geschichte der ethnischen Gruppen in den stellte jede/r Schüler/in, dessen/deren Frage
Vereinigten Staaten, ein Verständnis über die
Hinweise, die zu Gewalt führen, und ein Ver- 9 Siehe hierzu Amber S. Makaiau: Adolescent Iden-
ständnis der eigenen ethnischen Identität wie tity Exploration in a Multicultural Community Context:
An Educator’s Approach to Rethinking Psychological Iden-
auch der von anderen, 2) die Entwicklung von tity Interventions, Doctoral Dissertation, University of
bestimmten Fähigkeiten, wie z.B. kritisches Hawai’i, Manoa, 2010, 92-94.
und philosophisches Denken über Konzepte 10 Siehe hier D. Rehuher, C.-B. Momohara,
der Ethnic Studies, interpersonale Kommuni- J. Sugimoto-Matsuda, E. S. Hishinuma: Ethnic
kation und persönliche Reflexion und 3) eine Studies Course Evaluation, 2007–2008: Technical Report,
Zunahme an Empathie gegenüber anderen, an Honolulu, HI: Report to Kailua High School 2010
sowie: C.-B. Momohara, J. Sugimoto-Matsuda,
Verbundenheit, an Ermächtigung zu positiven
E. S. Hishinuma, J. Chang: Kailua High School Eth-
polylog 37 Veränderungen in der Gemeinschaft und an nic Studies Evaluation – ‘Tattoo Unit’: Technical Report,
Seite 28 persönlicher Verantwortung für die Lösung Honolulu, HI: Report to Kailua High School 2011.
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

ausgewählt wurde, seine/ihre Frage an den Sokrates es nennt, »prüfendes und selbsterfor-
Dalai Lama in Erwartung seiner Antwort. schendes Leben« (examined life) zu leben.12
Diese Versammlung wird für immer fest in Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass
den Erinnerungen derjenigen verankert sein, ich das Staunen, das ich täglich beim Philoso-
die dabei waren.11 phieren mit Kindern erfahre, absolut würdige
Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, das und schätze. Im Kindergarten bzw. unmittel-
zeigt, was geschehen kann, wenn p4c systema- baren Vorschuljahr haben die meisten zuneh-
tisch in einer schulweiten Initiative eingeführt mend die Fähigkeit für ihr philosophisches
und über viele Jahre durchgehalten wird; be- Wachstum erworben: die Sprache. In vielen In einer sicheren Umgebung
ginnend im Kindergarten bzw. Vorschuljahr Teilen der Welt lernen Kinder gleichzeitig zwei zeigen Kinder eine sanfte
und durchgehend bis zum Abschluss des Se- oder drei Sprachen. Dies gibt ihnen die Macht, sokratische (gently Socratic)
kundarbereichs, wie wir es mittlerweile in ihrem ursprünglichen Staunen und ihrer uner- Beharrlichkeit in ihrem Fragen.
ausgewählten Schulen in Hawai’i praktizieren. sättlichen Neugier eine Stimme zu geben, die
Aufbauend auf ihrer gelebten Erfahrung der sich in verschiedenen Sprachen ausgedrückt,
Multikulturalität, lernen Schülerinnen und und auch, sich der Unterschiede, die diese
Schüler des Primar- und Sekundarbereichs von Sprachen machen, bewusst zu werden.
der Diversität, die sich in den p4c-Sitzungen of- In einer sicheren Umgebung zeigen Kinder
fenbart, und wissen auch den Einfluss, den dies eine sanfte sokratische (gently Socratic) Beharr-
auf die Schulgemeinschaft hat, zu schätzen. Sie lichkeit in ihrem Fragen, die unser erwach-
realisieren, dass es tiefgreifende Unterschiede senes Denken, unsere oft unpassenden und
gibt in dem, wer sie sozial, kulturell, sexuell unvollständigen ersten Versuche, ihre »Aber
etc. sind. Ihr ursprünglicher Sinn des Staunens warum?«-Fragen zu beantworten, durchaus
lässt sie diese Unterschiede als Alternativen antreibt. Kinder laden uns mit ihrer sanften so-
sehen, die ihr eigenes Wachstum bereichern kratischen Beharrlichkeit ein, zu einigen ganz
und jedem von ihnen neue Möglichkeiten bie- fundamentalen Fragen zurückzukehren und
ten. Sie nehmen die Freiheit und Verantwor- selbst noch einmal über diese Fragen oder über
tung zu wählen, oder auch nicht, gerne an bei Fragen, über die wir noch nie nachgedacht oder
ihren Bemühungen, eine prozessuale Identität 12 Anm. d. ÜS: Siehe hier Platon: Apologie, 38a,
zu entdecken und zu gestalten im Rahmen ih- Übersetzung von Friedrich Schleiermacher: »[…]
res eigenen lebenslangen Abenteuers, ein, wie ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht ver-
dient gelebt zu werden, […]«, in Platon. Werke in acht
Bänden, zweiter Band, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1973, Übertragung von Rudolf
11 Hier der Video Link: http://p4chawaii.org/ Rufener: »[…] daß dagegen ein Leben ohne Selbst-
gallery/#prettyPhoto/30/ (21.04.2017). Und hier erforschung nicht lebenswert sei […]«, in Platon. Die
der Link zu einem Zeitungsartikel: http://www. Werke des Aufstiegs, Zürich/München: Artemis Verlag, polylog 37
midweek.com/aloha-dalai-lama/ (21.04.2017). 1974. Seite 29
thomas E. Jackson:

vor vielen Jahren das Nachdenken aufgegeben In dieser Umgebung setzen die Kinder Segel
haben, nachzudenken. Diese Beharrlichkeit ist in Richtung eines »prüfenden und selbsterfor-
ganz wichtig: sanft sokratisch, weil ihre Be- schenden Lebens«.
harrlichkeit nicht von einer vorständigen »so-
kratische Methode« geleitet wird. Sie besitzt Beginnende, hervortretende und
vielmehr eine offene Textur. Ihr ursprüngli- ausgereifte p4cHI-Gemeinschaften
ches Staunen sucht eine Verstehensebene, die Eine Art, wie ich über p4c-Hawai’i denke, ist,
irgendwie für sie »sinnvoll« ist. Dieser sanfte es wie das Leben selbst, im Sinne einer Reise
p4c-Hawai’i ist eine Reise, die sokratische Ansatz, der p4c-Hawai’i charakte- zu denken. Es ist eine Reise, die charakteri-
charakterisiert ist durch denken risiert, ist ganz ausdrücklich nicht antagonis- siert ist durch denken lernen und mehr auf sich
lernen und mehr auf sich selbst tisch. Er wendet philosophische Fertigkeiten selbst und andere zu achten – auf die Wahl, die
und andere zu achten. an, wie die Denkwerkzeuge aus der »Werk- wir treffen und auf die Person, die wir werden
zeugkiste für schlaue Denker« (Good Thinker’s und durch bewusste Wahl werden wollen.
Toolkit),13 und möchte Formen des Fortschritts P4c-Hawai’i legt den Fokus darauf, Schulge-
erreichen, die ein tieferes Verständnis des The- meinschaften als intellektuell sichere Orte auf-
mas oder der Frage, mit der die Untersuchung zubauen, an denen Schülerinnen und Schüler,
begonnen hat, darstellen. Lehrerinnen und Lehrer und auch Familien
Auf diese Weise bemühen sich die Kinder – lernen können, was es heißt, in einer Atmo-
manchmal spielerisch, manchmal mit großer sphäre zu wachsen, die freudvoll, fürsorglich
Intensität und Ernsthaftigkeit – Sinn aus ih- und rücksichtsvoll, mit einem Wort: achtsam
ren Erfahrungen zu ziehen, genauso wie auch (mindful) ist.
wir Erwachsenen uns kontinuierlich bemü- Wir finden es hilfreich, eine p4c-Ha-
hen, Sinn aus unseren Erfahrungen zu ziehen. wai’i-Gemeinschaft als eine sich in drei Phasen
13 Die Werkzeugkiste besteht aus sieben Buchsta- entfaltende Gemeinschaft zu verstehen: Zu-
ben (W, G, A, F, S, B, GB) [Anm. d. ÜS: im Engli- nächst als eine beginnende Gemeinschaft, die
schen: W, R, A, I, T, E, C], von denen jeder einen sich, wenn sie Erfahrungen gesammelt hat, in
Weg vorgibt, das Staunen und die Untersuchung auf eine hervortretende und schließlich in eine ausge-
eine tiefere Ebene zu führen, wie z.B. »Was meinst
du damit?«, »Gib einen Grund an.«, »Was ist deine
reifte Gemeinschaft entwickelt. Dies sind keine
Annahme/von was gehst du aus?«, »Was folgt dar- scharf abgegrenzten oder schnell ablaufenden
aus?«, »Stimmt das?«, »Gib ein Beispiel, damit ich das Phasen, da eine Gemeinschaft einige Tage lang
besser verstehen kann.«, oder schließlich »Wer weiß sehr ausgereift funktionieren kann und an an-
ein Gegenbeispiel?«. – Anm. d. ÜS: Der Ausdruck deren Tagen eher wie eine beginnende oder
»Werkzeugkiste für schlaue Denker« wurde über- hervortretende Gemeinschaft agiert. Aber das
nommen von Doris Daurer: Staunen Zweifeln Betrof-
fensein – Mit Kindern philosophieren, Weinheim/Basel:
ist kein Problem. Wie das Leben selbst, entfal-
polylog 37 Beltz Verlag 1999, S. 74ff; Neuausgabe: Weinheim/ tet sie sich in ihrem eigenen Rhythmus und in
Seite 30 Basel: Beltz Juventa Verlag 2017, S. 51ff. ihrer eigenen Zeit.
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

Die Lehrerin oder der Gesprächsleiter spielt über ein bestimmtes Thema geäußert werden;
eine absolut zentrale Rolle für den Erfolg einer eine Person, die sich auch mit Unsicherheit
p4c-Hawai’i-Untersuchung in jeder dieser Pha- wohl fühlt und nicht darum bemüht ist, die
sen. In einer beginnenden Gemeinschaft ist es Untersuchung zu einem Abschluss zu brin-
der Lehrer oder die Gesprächsleiterin, der/die gen, sondern willens ist, eine Untersuchung
die Ideen hinter der philosophischen Untersu- dorthin laufen zu lassen, wo »sie« und die Ge-
chung im Rahmen einer Einführung vermittelt. meinschaft möchte, dass sie hinläuft. Er oder
Sie oder er ist verantwortlich für die Etablie- sie muss des Risikos wegen willens sein, die
rung, Kontrolle und den Erhalt der Sicherheit in Antwort nicht zu wissen; in der Tat ein Mit- In dieser Phase verändern die
der Gruppe. Das beinhaltet die Kontrolle über forscher bzw. eine Mitforscherin bei der Suche Schülerinnen und Schüler ihre
den richtigen Gebrauch des Teamballs, darauf nach einer Antwort zu sein. Rolle: von bloßen Teilnehmern
zu achten, dass sich die Teilnehmer beim Na- Je mehr die Gemeinschaft wächst und reift, wandeln sie sich zu Teilnehmer-
men nennen und dass alle ausgiebig Gelegenheit wandelt sie sich von einer beginnenden zu einer Gesprächsleitern.
haben zu sprechen, aber auch die Sicherheit ha- Gemeinschaft, die »hervortritt«; das heißt, die
ben, still sein zu können. Die Lehrerin oder der Mitglieder der Gemeinschaft internalisieren die
Gesprächsleiter hat immer, wenn dies notwen- Regeln und den Ablauf, nennen einander beim
dig ist, das Recht und auch die Verantwortung, Namen, hören einander aufmerksamer zu, be-
mit oder ohne Teamball zu sprechen. ginnen spontan, die Denkwerkzeuge zu benut-
Der Lehrer oder die Gesprächsleiterin ist zen, und tragen so dazu bei, die Untersuchung
verantwortlich dafür, solche Dinge wie die auf eine tiefere Ebene zu bringen. In dieser
»Zauberwörter« (magic words)14 und die Buch- Phase verändern die Schülerinnen und Schüler
staben aus der Werkzeugkiste für schlaue Den- ihre Rolle: von bloßen Teilnehmern wandeln sie
ker einzuführen. Am wichtigsten ist, dass die sich zu Teilnehmer-Gesprächsleitern. In einer
Lehrerin oder der Gesprächsleiter gleich zu ausgereiften Gemeinschaft schließlich steht die
Beginn die Zeit und das Tempo für die Gruppe Lehrerin auf einer Linie mit ihren Schülerinnen
bestimmt. »Nicht in Eile zu sein« ist darauf und Schülern und ist gleichberechtigte Teilneh-
angewiesen, dass man sich ausreichend wohl mer-Gesprächsleiterin. Man darf nicht in Eile
fühlt mit Stille und »Wartezeiten«, die über sein, damit dies geschieht, aber es ist es auf je-
das Maß hinausgehen, das in Klassenzimmern den Fall wert zu warten, und es ist zutiefst be-
üblich ist. Es verlangt eine Person, deren ei- friedigend, wenn man einer Gemeinschaft dabei
gener Sinn des Staunens noch lebendig ist und zusehen kann, wenn sie sich in ihrem eigenen
die ausdrücklich daran interessiert ist, welche Tempo entwickelt.
authentischen Gedanken in der Gemeinschaft Unser Modell in Bezug auf die p4c-Ge-
sprächsleitung ist nicht das eines Experten/
14 Siehe hierzu auch Maria Eitzinger: Ist Philoso-
phieren mit Kindern Philosophie?, Saarbrücken: VDM einer Expertin, der/die mit Anfängern arbei- polylog 37
Verlag Dr. Müller, 2008, S. 23–25. tet. P4c-Hawai’i bietet ein anderes Modell an Seite 31
thomas E. Jackson:

– eines, das die professionellen pädagogischenBegrenztheit von Lipmans Ansatz mit seiner
Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer an- Verankerung in der westlichen Tradition ver-
erkennt. Diese kennen ihre Schülerinnen und festigte, war unsere Zusammenarbeit mit dem
Schüler, sie wissen, wenn sie Schwierigkeiten Projekt zur Vertiefung der hawaiianischen
Sprache an der Pa’ia-Grundschule auf der Insel
haben, etwas zu verstehen, und sie wissen, wie
man angemessen darauf reagiert. Lehrerinnen Maui. Diese Zusammenarbeit war nur ein klei-
und Lehrer, die an p4c-Runden teilnehmen, ner Teil der viel größeren Geschichte zur Wie-
helfen auch dabei, den Ansatz der philosophi-derbelebung und Rettung der hawaiianischen
Der Lehrer und die Lehrerin schen Untersuchung mit dem Inhalt zusam- Sprache vor ihrem nahenden Verschwinden.
verinnerlichen das Handwerks- Keiki Kawai’ae war eine der führenden Perso-
menzubringen, für den sie verantwortlich sind.
zeug der Philosophiepädagogik, Sowohl LehrerInnen als auch Gesprächsleiter­ nen dieser wichtigen Bewegung. Ich traf Keiki
und die Philosophin bzw. die Innen lernen voneinander. Der Lehrer und die im Rahmen einer Konferenz für kritisches
Gesprächsleitung entwickelt Lehrerin verinnerlichen das Handwerkszeug Denken in Honolulu, wo ich einen Vortrag
das Handwerkszeug des der Philosophiepädagogik, und die Philoso- über p4c hielt, in dem ich bereits die Verän-
Unterrichtens. phin bzw. die Gesprächsleitung entwickelt dasderungen, die wir gegenüber Lipmans Ansatz
Handwerkszeug des Unterrichtens in einer vorgenommen hatten, reflektierte. Nach dem
Schulklasse mit Hilfe der LehrerInnen. Vortrag sprach mich Keiki an und sagte, sie sei
wirklich sehr interessiert an dem, was wir ma-
In all den Jahren haben wir eng mit der Ab-
teilung für Erziehung des Staates Hawai’i und chen, und bemerkte den Unterschied zu den
der University of Hawai’i at Mānoa zusammen- anderen Ansätzen des kritischen Denkens. Sie
gearbeitet. 2012 konnten wir mit der großzü- würdigte die Betonung der Gemeinschaft, des
gigen Unterstützung der japanischen Uehiro Kreises, der Sicherheit und der Fragen, die den
Interessen der Gemeinschaft entspringen.
Foundation die Uehiro Academy for Philosophy and
Ethics in Education an der University of Hawai’i Aus dieser ersten Begegnung entwickelte
gründen. Die Academy ist eine Partnerschaft sich eine äußerst fruchtbare Beziehung, die
es mir ermöglichte, aus erster Hand über den
zwischen dem College of Arts and Humanities und
dem College of Education. außergewöhnlichen Reichtum der hawaiiani-
schen Tradition zu lernen – sowohl was die
Vergangenheit betrifft als auch die bemer-
Ursprüngliches Staunen, Pohaku kenswerte Transformation der traditionellen
und Steine – Begegnung mit dem Werte als Antwort auf die oft zerstörerischen
Projekt zur Vertiefung der ha- Einflüsse der gegenwärtigen Welt. All dies be-
waiianischen Sprache (Hawaiian findet sich in tiefer Resonanz mit dem Herz-
Language Immersion Project) stück, aus dem heraus sich p4c-Hawaii ent-
polylog 37 Eine bestimmte Serie von Ereignissen, die un- wickelt hat. Zum Beispiel gibt es Werte, die
Seite 32 sere zunehmende Erkenntnis der kulturellen im Hawaiianischen durch folgende Wörter
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

ausgedrückt werden: aloha,15 ’ohana,16 ’aina,17 Tradition immer noch existierende besonde-
pu’uhonua,18 malama,19 pono20, um nur ein paar re Anerkennung der Autorität der kupuna, der
zu nennen. Diese Ideen durchziehen unser tie- Älteren, und den Respekt ihnen gegenüber. Es
fes Bekenntnis zu p4c-Hawai’i und geben ihm werde jedoch durchaus die Notwendigkeit ge-
deutlich artikulierte Form: So sind wir »nicht sehen, die Formalität dieses Respekts »aufzu-
in Eile«, schaffen einen »intellektuell sicheren weichen«, um den Jüngeren zu ermöglichen,
Ort« (unsere pu’uhonua), gründen unsere phi- die Älteren zu hinterfragen. Dies müsse jedoch
losophische Aktivität in Forschung und nicht in in einer Weise geschehen, die den Respekt
Argumentation, und unsere Inhalte entsprin- beibehält, da dem nicht geholfen wäre, wenn Einmal wies Keiki darauf
gen aus den Interessen der Gemeinschaft, wo- die Herausforderung nach dem Modell An- hin, dass sie im Rahmen von
bei wir besonders sensibel in Bezug auf Kultur, griff-Verteidigung-Unterhöhlung unter Beru- Konferenzpräsentationen
Werte und Normen dieser Gemeinschaft sind; fung auf die »Vernunft« erfolgen würde. Das in verschiedenen Ansätzen
in manchen Klassenkontexten sind diese In- wäre zerstörerisch sowohl für die Gemein- des kritischen Denkens das
halte auch disziplinspezifisch im Rahmen von schaft als auch für die Bemühungen im Rah- »Argumentationsmodell« in
Wissenschaft, Mathematik, Sprache, Kunst men einer Untersuchung. gewisser Weise als »kulturell
oder gesellschaftlichen Studien. In den wöchentlichen Sitzungen der Ha- einmischend und aggressiv«
Einmal wies Keiki darauf hin, dass sie im waiianischkurse stellten wir deutlich die An- empfunden habe.
Rahmen von Konferenzpräsentationen in ver- sicht in den Mittelpunkt, dass wir im Rahmen
schiedenen Ansätzen des kritischen Denkens von p4c-Hawai’i ein Kreis sind, der sich zu
das »Argumentationsmodell« in gewisser Wei- allererst zu einer Gemeinschaft entwickeln
se als »kulturell einmischend und aggressiv« muss (diese ist nicht selbstverständlich gege-
empfunden habe, vor allem, was die traditio- ben). Diese bildet dann die Grundlage dafür,
nelle hawaiianische Kultur anbelangt. Als ein dass eine wirkliche gemeinsame Untersuchung
Beispiel nannte sie die in der hawaiianischen miteinander möglich ist, in der sich jede Teil-
nehmerin und jeder Teilnehmer in ihrem/sei-
15 Ein sehr reichhaltiges Wort mit vielschichtiger nem bestmöglichen Denken, das ihr/ihm und
Bedeutung. So wird es z.B. verwendet als einfache
auch den anderen dienlich ist, sicher fühlt
Begrüßungs- oder Abschiedsformel: »Willkommen«
oder »Lebe wohl«, aber auch im Sinne von »Liebe« – in der gemeinsamen Absicht, dass jeder
und noch in vielen weiteren Bedeutungen. zu seinem eigenen tieferen Verständnis der
16 »Familie« – sowohl im engen, biologischen Sinn Grundthematik bzw. Ausgangsfrage gelangt.
als auch in einer eher weiten Bedeutung. Jede einzelne Stimme wird für ihren Beitrag
17 »Land« – Aloha Aina bedeutet z.B. »Liebe für das wertgeschätzt. Es ist keine Frage des Alters
Land/Landesliebe«.
oder der Stellung. Wir forschen alle gemein-
18 »Sicherer Ort«, »Zufluchtsort«.
19 »Sorgen für«, »beschützen«.
sam, jede und jeder sanft sokratisch, wenn wir
20 »Gerecht«, »gut«, »richtig« – Na pono o na wahi- nach einem Grund fragen, eine Klärung for- polylog 37
ne bedeutet z.B. »Frauenrechte«. dern oder ein Gegenbeispiel anbieten. Dies Seite 33
thomas E. Jackson:

beabsichtigt nicht, eine Herausforderung im auf Englisch über Steine begann. Sie war sehr
negativen Sinne zu sein, sondern ein poten- ähnlich zum naturwissenschaftlichen Unter-
ziell hilfreicher Schritt nach vorn, um zu ei- richt, wie ich ihn aus meiner, lang zurück-
nem tieferen Verständnis solcher Fragen zu liegenden Schulzeit erinnerte, und begann
gelangen, auf die es bisher keine einzige oder damit, verschiedene Arten von Gesteinen
alleinige richtige Antwort gegeben hat und zu unterscheiden, wie z.B. vulkanisch, me-
auf die es möglicherweise tatsächlich auch tamorph usw. Dann wurden noch weitere
nie eine geben wird. Das bringt eine eigene Punkte behandelt, als sich plötzlich eine auf-
Die Sprache wechselte vom Strenge und auch Verantwortung eines jeden fallende Veränderung ereignete. Die Sprache
Englischen ins Hawaiianische, Mitglieds der Gemeinschaft mit sich, die je- wechselte vom Englischen ins Hawaiianische,
und an Stelle des Wortes weils eigenen Gedanken zur Thematik bzw. und an Stelle des Wortes »Stein« hörte ich
»Stein« hörte ich nun pohaku. Frage mitzuteilen – wie vorläufig sie auch im- nun pohaku. Wie mir später berichtet wurde,
mer sein mögen. diskutierten die Schülerinnen und Schüler
Ein weiterer transformativer Teil dieser Er- dann über pohaku und was sie darüber wuss-
fahrung war die Zusammenarbeit mit Keiki ten. Ein Merkmal in Bezug auf Steine, das auf
bei der Übersetzung von Schlüsselkonzep- Englisch nicht genannt wurde, war, dass po-
ten, wie z.B. »Gemeinschaft« und »Untersu- haku mana besitzen, eine geistige Energie und
chung«, ins Hawaiianische. Wir hatten einen Kraft. Als die Schülerinnen und Schüler ge-
ganz außergewöhnlichen Austausch, indem sie fragt wurden, wie sie das wüssten, bezogen
mich darüber aufklärte, wie man die einzel- sie sich in Form von Beispielen auf Erlebnisse,
nen Konzepte der »Werkzeugkiste für schlaue bei denen nach pohaku mit geeignetem mana
Denker« – »Annahme«, »Folgerung«, »Grün- für die Durchführung einer hula-Zeremonie
de«, »Belege« usw. – in eine völlig andere gesucht wurde.
Sprache und kulturelle Situation übersetzen Auffallend hieran, wie auch an anderen Un-
würde. Natürlich gibt es Ähnlichkeiten, aber tersuchungen, war unter anderem, dass diese
auch ebenso deutlich erkennbare andere Nuan- Kinder fähig waren, sich mit Leichtigkeit zwi-
cen und Unterschiede, die eingebaut sind in schen zwei sehr unterschiedlichen kulturellen
eine unterschiedliche Art, die Welt zu sehen und begrifflichen Bezugssystemen zu bewegen.
und über die Welt und unsere Beziehung zu ihr Für sie war es keine Frage des Entweder/Oder,
nachzudenken. sondern des Sowohl/Als auch. Sie waren fähig
Eine Erfahrung im Besonderen in einer zu sehen, dass jedes Bezugssystem einen Wert
Klasse der Pa’ia-Grundschule erfasst sehr gut in sich hat und dass es keine Notwendigkeit
vieles von dem, was wir alle von diesem Ko- gibt, für den einen oder anderen Exklusivität
operationsprojekt gelernt haben. Diese ereig- zu beanspruchen. In der Tat war ihre Welt ge-
polylog 37 nete sich in einer Sitzung mit Viertklässlern, nau aus diesem Grund deshalb bereichert, weil
Seite 34 die mit einer naturwissenschaftlichen Stunde sie keine Notwendigkeit fühlten, sich zwischen
Primal Wonder – Ursprüngliches Staunen

den beiden Bezugssystemen zu entscheiden, der Arbeit und den Erkenntnissen von Jinmei
sondern sie beide angemessen verwendeten. Yuan. In ihrer Dissertation beobachtet sie Fol-
Eine weitere, besonders wichtige Überra- gendes: »Ganz gleich, welche Sprachen betei-
schung für die Lehrerinnen und Lehrer dieser ligt sind – ein Übersetzer steht oft gewissen
Vertiefungs-p4c-Stunde war die Feststellung, Schwierigkeiten gegenüber, die daher rühren,
welche erstaunlichen Möglichkeiten die Schü- dass die in einer Sprache zur Verfügung ste-
lerinnen und Schüler besaßen und auch, mit henden Konzepte nicht immer mit denen, die
welchem Eifer, welcher Begeisterung und wel- in einer anderen Sprache zur Verfügung ste-
chen Fähigkeiten sie die hawaiianische Sprache hen, zusammenpassen.«21 Des Weiteren »be- »Denn der logische ›Raum‹ als
benutzten, um schwierige Ideen in Worte zu inhaltet die Übersetzung zwischen Englisch solcher ist durch diese zwei
fassen, die eine Gewandtheit der Sprache ver- und Chinesisch nicht nur, zwei Konzeptsätze Kulturen selbst schon unter-
langten, von der die Lehrerinnen und Lehrer aufeinander abzustimmen, sondern auch, zwei schiedlich strukturiert.«
nicht erwartet hätten, dass die Schülerinnen verschiedene Kulturen zu verstehen, in denen
und Schüler dieser bereits fähig wären. Die- diese Konzeptsätze zu Hause sind. Daher sind Jinmei Yuan
ser Versuch der Schülerinnen und Schüler, das Übersetzungsprobleme zwischen Englisch und
Hawaiianische in neuen, komplizierteren und Chinesisch mehr als einfach nur Probleme, die
unerprobten Weisen zu verwenden und so den dadurch verursacht sind, dass man sich zwi-
Gebrauch der Zweitsprache bis an die Grenzen schen ›logischen Räumen‹22, in denen logische
zu führen, taucht bei Lehrern in ELL(English Beziehungen anwesend sind, hin und her be-
Language Learner)-Klassen, die den p4c-Ansatz wegt. Denn der logische ›Raum‹ als solcher ist
benutzen, immer wieder auf. durch diese zwei Kulturen selbst schon unter-
schiedlich strukturiert.«23
Yuan arbeitet weiter aus: »Ohne die Aner-
Epilog: Die überwindende Kraft kennung dieser Art der Differenz lediglich zu
des ursprünglichen Staunens versuchen, chinesische Konzepte mit engli-
Die Begegnungen zwischen p4c-Hawai’i und schen in Übereinstimmung zu bringen, wird
dem Schulprojekt zur Vertiefung der hawaiia- Probleme verursachen. […] In unterschied-
nischen Sprache sind zentral für mein eigenes, lichen Sprachsystemen erzeugen die unter-
sich immer noch entwickelndes Verständnis schiedlich strukturierten ›logischen Räume‹
des ursprünglichen Staunens. Eine zusätzliche 21 Jinmei Yuan: Can Aristotelian Logic be Translated
wertvolle Quelle, das ursprüngliche Staunen into Chinese: Could there be a Chinese Harry Stottlemeier?,
als eine Grundlage für interkulturelles Verste- Saarbrücken: VDM Publishing House Ltd. 2010, S.12.
hen aufzufassen, war, dieses als eine spezielle Übersetzung B.S.
22 Anm. d. ÜS: Yuan bezieht sich hier auf Ludwig
Art von »Übersetzungsfähigkeit« bzw. Inter- Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, 3.032.
pretations- und Deutungsfähigkeit zu sehen. 23 Yuan: Can Aristotelian Logic be Translated into Chi- polylog 37
Diese Verbindung erwuchs unmittelbar aus nese?, S. 12. Übersetzung B.S. Seite 35
thomas E. Jackson:

nicht nur Konzepte, die daran scheitern, genau vorexistente Zustand bzw. diese vorexistente
zu passen, sondern auch logische Beziehungen, Bedingung macht wirkliches interkulturelles
die daran scheitern, genau zu passen.«24 Verstehen möglich. Die Hauptaufgabe von Er-
Ich behaupte, dass das ursprüngliche Stau- ziehung ist es, diesen »Anfänger-Geist«, dieses
nen die Grundlage dieser Fähigkeit ist, zwi- ursprüngliche Staunen zu erhalten und weiter
schen »unterschiedlich strukturierten ›lo- auszubauen.
gischen Räumen‹« oder unterschiedlichen Diese Aufgabe, richtig und angemessen
kulturellen »Systemen« zu »verhandeln«. Der durchgeführt, würde uns erlauben, die »Fes-
Die Hauptaufgabe von Erzie- »logische Raum« des ursprünglichen Stau- seln«, die das Ergebnis eines übermäßigen
hung ist es, diesen »Anfänger- nens ist jeder gegebenen Sprache vorgelagert Festhaltens an einem bestimmten Konzeptsatz
Geist«, dieses ursprüngliche und macht daher Übersetzung/Interpretati- sind, mit dem eine gegebene Kultur uns aus-
Staunen zu erhalten und weiter on/Deutung zwischen Kulturen möglich, vor stattet, um erstmalig »der« Welt zu begegnen,
auszubauen. allem dann, wenn »die in einer Sprache zur abzuschütteln, und sie würde uns ermöglichen,
Verfügung stehenden Konzepte nicht […] mit passend, richtig (pono) und mitfühlend an un-
denen, die in einer anderen Sprache zur Ver- seren verschiedenen Welten mit der reichhal-
fügung stehen, zusammenpassen«.25 Es ist die- tigen Vielfalt der uns umgebenden Klänge und
ser Raum des ursprünglichen Staunens, der es Handlungen teilzunehmen.
möglich macht, dass sich die Schülerinnen und In Hawai’i zu leben, mit seiner reichen kul-
Schüler der Hawaiianisch-Vertiefungs-Klasse turellen, sprachlichen und ethnischen Mannig-
so mühelos zwischen Steinen und pohaku be- faltigkeit, stellt einen ganz besonders fruchtba-
wegen können und dass potenziell wir alle uns ren Kontext dar, in den man eintauchen und
durch kulturelle Bezugssysteme hindurchbe- sich vertiefen kann. Hier zu leben, lieferte mir
wegen können. Erkenntnisse und Anhaltspunkte dafür, wie
Ich würde auch vorschlagen, dass dieser vor- die Anerkennung des ursprünglichen Staunens
sprachliche Raum des ursprünglichen Staunens vom Beginn der Schulerfahrung an dieses mit
genau der Aspekt des Geistes ist, auf den sich, angemessener und bewusster Intention in er-
wie bereits weiter oben erwähnt, Shunryu zieherisch reichhaltigen, wunder-vollen, lebens-
Suzuki als »Anfänger-Geist« bezieht.26 Dieser verändernden Weisen weiter nähren kann.

24 Ebd.: S. 13.
polylog 37 25 Ebd.: S. 12.
Seite 36 26 Suzuki: Zen-Geist Anfänger-Geist.

Das könnte Ihnen auch gefallen