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Institutum Judaicum Delitzschianum

Münsteraner Judaistische Studien 3

DAS CORPUS HERMETICUM


einschließlich der Fragmente des Stobaeus
aus dem Griechischen
neu übertragen von Karl-Gottfried Eckart

LIT
Seit das Land Ägypten samt seinen Bewohnern der persönliche Besitz des
römischen Kaisers geworden war - ebenso wie die selbständige politische
Einheit Alexandrien mit ihrer vorwiegend griechischen Bevölkerung -,
verstärkte sich im Lande der geistige Widerstand gegen die in Alexandrien
wie Rom herrschende griechische Mehrheitskultur und -religion. Vermutlich
sind die über das Land verteilten Heiligtümer Ägyptens der Heimatort
jener religiösen Philosophie, die sich als Gespräch zwischen Hermes, dem
international bekannten Götterboten, und Thoth, seinem ägyptischen Pendant,
oder auch Asklepios, dem Heilgott, und anderen Göttern gibt. Vieles aus
der jüdischen Verehrung des unnennbaren Gottes ist hier mit eingeflossen,
und zur Gnosis, einer damals beginnenden Weltreligion, entsteht eine nicht
weltablehnende Konkurrenz. Als Ursprungszeit ist spätestens das 2. Jh. n. Chr.
anzunehmen. Der römische Prinzenerzieher Lactantius (4. Jh.) zählt zu den
ersten uns bekannten Lesern dieser Texte, die in der Renaissancezeit in einem
Corpus von 18 (17) Dialogen vereint wurden. Johannes Stobaeus (löannes
Stobaios, 5. Jh.) kannte noch mehr solcher Texte; was er daraus zitiert, ist in
den vorliegenden Band einbezogen. Alterslose ägyptische Weisheit, griechisch
formuliert (um gelesen zu werden)- als solche haben diese Dialoge seit der
Renaissancezeit bei den offeneren Geistern wieder starkes Interesse geweckt
und nachdenken lassen über eine allen Religionen der Menschen gemeinsame
Wahrheit.
Nachdem die inzwischen nachgedruckte deutsche Übersetzung von Tie-
demann (1781) lange Zeit die einzig erhältliche war und die zweibändige
Neuübersetzung von Jens Holzhausen (1997) nicht jedem erschwinglich
sein wird, legt Karl-Gottfried Eckart hier seine eigene, in Jahrzehnten des
akademischen Unterrichts gereifte Übersetzungsarbeit vor.

Prof. Dr. Karl-Gottfried Eckart, geboren 1925 in Litauen als Sohn eines Mis-
sionars im Dienst als Auslandspfarrer. Studium der Theologie von 1947 an in
Berlin (Kirchliche Hochschule) und Göttingen. Kirchliche Examina, Promo-
tion und Habilitation ebenfalls in Berlin. Dozent für Neues Testament an der
Kirchlichen Hochschule Berlin bis zur Übernahme der Hochschule durch die
Humboldt-Universität und Entpftichtung 1992.

LIT ISBN 3-8258-4199-5


Das Corpus Hermeticum
Münsteraner Judaistische Studien
Wissenschaftliche Beiträge
zur christlich-jüdischen Begegnung
herausgegeben vom
Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster

Band 3

LIT
Das Corpus Hermeticum
einschließlich der Fragmente des Stobaeus

aus dem Griechischen neu übertragen von


Karl-Gottfried Eckart

herausgegeben und
mit einer Einleitung versehen von
Folker Siegert

LIT
Titelbild: Portrait Franz Delitzschs (um 1880)

Satz und Druckvorlage: Jürgen U. Kalms

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Das Corpus Hermeticum einschließlich der Fragmente des Stobaeus : aus dem
Griechischen neu übertragen von Karl-Gottfried Eckart ; herausgegeben und mit
einer Einleitung versehen von Folker Siegert.- Münster : LIT, 1999
(Münsteraner Judaistische Studien ; 3.)
ISBN 3-8258-4199-5

NE:GT

© LIT VERLAG
Grevener Str. 179 48159 Münster Tel. 0251-23 50 91 Fax 0251-23 19 72
Inhalt
Vorwort des Herausgebers 7
Einleitung des Herausgebers 9
Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Vorwort des Übersetzers 31
Das Corpus Hermeticum 33
I: Der Poimandres des Hermes Trismegistos 35
li . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
III: Heilige Rede des Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
IV: Rede des Hermas an Tat: Der Krug, die Eins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
V: Rede des Hermes an seinen Sohn Tat, dass der unsichtbare Gott
sehr wohl sichtbar ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
VI: Dass nur in dem einen Gott das Gute ist und sonst nirgends . . . . . . . . . . . . 54
VII: Dass das größte Übel unter den Menschen die Unkenntnis über Gott ist . 56
VIII: Dass nichts, was ist, vergeht, sondern dass nur Verführte Veränderungen
als Verderben und Tod bezeichnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
IX: Über Denken und Wahrnehmung: Dass nur in dem einen Gott das Gute ist
und sonst nirgends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
X: Der Schlüssel des Hermes li"ismegistos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
XI: Nous zu Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
XII: Hermes Trismegistos an Tat: Über den allgemeinen Urgedanken . . . . . . . . 75
XIII: Des Hermes li"ismegistos geheime Rede auf dem Berge an seinen
Sohn Tat: Über die Botschaft von Wiedergeburt und Schweigen . . . . . . . . . . . . 81
Geheimer Gesang, vierte Strophe ......................... ·. . . . . . . . . . . . 85
XIV: Von Hermes Trismegistos an Asklepios ........................... 88
XVI: Definitionen des Asklepios an den König Ammon: Über Gott,
Materie, Bosheit, Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
XVII ............................................................ 95
XVIII: Über die durch das Leiden des Körpers gehinderte Seele . . . . . . . . . . . . 96
Über die Rühmung des Größeren: Das Lied auf den König . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6

Die Fragmente des Stobaeus 101


I - XI: Reden des Hermes an Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
XII - XVI: Reden des Hermes an Ammon ............................ 125
XVII-XXII: Reden des Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
XXIII: Kore Kosmou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
XXIV-XXVI: Rede des Hermes 149
XXVII-XXVIII: Hermetische Sätze 162
XXIX: Ein Gedicht des Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Register der Eigennamen ..................................... 165


Vorwort des Herausgebers

Der Inhalt dieses Bandes, der mit dem christlich-jüdischen Gespräch der Ge-
genwart nur indirekt zu tun hat, jedoch geeignet ist, auf dieses aufmerksam zu
machen, fiel uns als fertiges Geschenk in den Schoß. -
Es war im Rahmen der jährlich in Münster bzw. Bayreuth stattfindenden
Religionsgeschichtlichen Studientage, wo die hermetischen Texte das Interesse
der Teilnehmerschaft auf sich zogen als eigentümliche Dokumente eines inter-
religiösen Austauschs in jenen Jahrhunderten, wo Judentum, Christentum, das
traditionelle Heidentum und die sich bildende Gnosis in dichter Konkurrenz
lagen. So schien es uns wünschenswert, die von Herrn Prof. Dr. Eckart in
langen Jahren geleistete Übersetzungsarbeit, aus der er auf den Studientagen
"Altes und Neues" in reichem Maße zu schöpfen wusste, einem größeren Pu-
blikum zugänglich zu machen.
Die satztechnische Betreuung des Manuskripts lag in bewährter Weise in den
Händen von Jürgen U. Kalms, wissenschaftlichem Mitarbeiter des Instituts. Der
Einschluss der Veröffentlichung in die Reihe der Münsteraner Judaistischen
Studien dürfte den Vorteil bringen, dass aus diesen durchaus verständlichen
Texten, an denen zuletzt nur noch der Preis "esoterisch" war, nunmehr ein
Lesebuch wird.

Münster
Institutum Judaicum Delitzschianum
im April 1999
'
Folker Siegert
Einleitung des Herausgebers
Die kulturelle und religiöse Situation der Spätantike liefert überraschende Pa-
rallelen zu heutigen Verhältnissen, gerade in den "multikulturell" werdenden
modernen Gesellschaften. Grenzen, die offiziell hoch gelten, werden inoffiziell
unterlaufen. Das sieht man - um es an der Spätantike zu veranschaulichen - an
dem Gegensatz zwischen den wohlformulierten Definitionen der literarischen,
"hohen" Theologie und dem friedlichen Nebeneinander der Religionen (paga-
ner, jüdischer, christlicher) in den Katakomben Roms. Zwischen Heraktes und
Simson, zwischen Endymion und Jona ist da kaum oder gar kein Unterschied.
Als herausragendes Textbeispiel für ein solches Miteinander und Ineinander
(Kritiker sagen auch: Durcheinander) der Kulturen und der Ideen darf das Cor-
pus Hermeticum gelten. So nennt sich eine aus byzantinischer Zeit stammende,
mindestens aber auf das 2. Jh. n. Chr. zurückgehende Sammlung literarisch
gestalteter Dialoge zwischen Hermes, dem antiken Gott der Offenbarung, und
seiner ägyptischen Entsprechung Thoth (Tot, Tat) oder auch anderen Partnern
über Grundfragen der Gotteserkenntnis, Welterkenntnis und Selbsterkenntnis.
Solche Fragen stellte man sich in der Spätantike allgemein. Gerade in der
Zeit, in der auch das Neue Testament entstand, haben mehrere antike Religio-
nen sich zu Philosophien entwickelt, die weit über die Bedürfnisse eines be-
stimmten Kultes hinausgingen. Mit der traditionellen Götterverehrung des Hel-
lenismus, verfeinert von dessen Philosophen, konkurrierten das Judentum, das
aus diesem hervorgegangene Christentum und die aus beiden sich bildende
Gnosis. Ägypten aber, eines der hellenisierten Länder jener Zeit, stand nicht
zurück.

Der ägyptische Ursprung

Plutarch berichtet in De /side et Osiride (375 F) von hermetischen Büchern, aus


denen er - nicht aufgrund eigener Lektüre - Gleichsetzungen ägyptischer mit
griechischen Gestirnsnamen erwähnt. 1 Von ähnlichem, nämlich astrologischem,
Inhalt ist die von Gundei herausgegebene lateinische Übersetzung eines noch

1 Bedeutend später meldet dann Jamblich (De mysteriis Aegypti VIII 2) von 1200 Bü-
chern des Hermes - schon die Zahl besagt, dass er sie nicht gesehen hat, sondern
Gehörtes berichtet. Ungeflihres über den Inhalt s. ebd. VIII 4 mit dem bezeichnenden
Grundsatz: "Nicht alles sei natürlich, sagen die Ägypter". Die Naturerklärungen zielen
immer ins Übernatürliche (und jedenfalls Übenimpirische), nämlich in die Intuition
allgemeiner Prinzipien; sie zielen auf das Vorseiende, die Monade, die Weltvernunft
u. a.
10 Einleitung des Herausgebers

aus der Ptolemäerzeit stammenden Traktats, dessen Autor Hermes sein soll. 2
Eine Inhaltsangabe der 42 traditionellen herme~schen Bücher gibt im 2. Jh. n.
Chr. Clemens von Alexandrien, Stromata VI § 35,3f. Unter den Stobaeus-
Fragmenten dürfte noch manches sein, was diesen älteren Zustand der herme-
tischen Literatur widerspiegelt (bes. Fragmente VI und XX).
So besteht - bei aller Kontinuität - ein gewisser Gegensatz zu der älteren,
astrologisch oder technisch orientierten hermetischen Literatur. Sind die Ge-
stirne als Götter am Verblassen, so treten nunmehr auch bildliehe Darstellungen
der Gottheit, die in Ägypten eine so hohe Kultur erfahren hatten, in den Hin-
tergrund:3 Das efficere deos ('Götterschaffen') des- hier nicht aufgenommenen
-Traktates Asclepius (Kap. 37),4 womit die Tätigkeit des Bildhauers gemeint
ist, der ein Götterbild verfertigt, findet nur noch in XIV 8 und in der Ermah-
nung des Traktates XVII ein Echo.
In die ältere Entwicklungsstufe der Hermetik zählt noch der Brief des Thes-
salos an Claudius, wo ein Arzt nach verzweifelter Suche in einer persönlichen
Begegnung mit dem Heilgott Asklepios Informationen enthält über die magi-
sche Kraft von Pflanzen. 5 Dorthin gehören ferner jene Hermetika, die Kyrill
von Alexandrien (5. Jh.) in seiner Schrift Contra Julianum I 30 erwähnt. 6 Im
Sinne einer apologetischen Theorie, die schon das hellenistische Judentum ver-
fochten hatte, lässt er den (versteckten) Monotheismus eines Pythagoras und
eines Platon auf deren Aufenthalte in Ägypten zurückgehen, wo sie mit der dort
hoch geehrten Weisheit des Mose in Berührung gekommen seien. Eben davon
zeuge auch »der ägyptische Hermes, der auch Trismegistos heißt« und der dem
Hermes der griechischen Mythologie erst angeglichen worden sei: Auch er
habe die Weisheit Moses »teilweise« gekannt und davon profitiert. Kyrill fährt
fort:

2 Hengel, Judentum und Hellenismus, 389; Festugiere, La revelation, I 112-123. Fe-


stugiere vergleicht inhaltlich das Stobaeus-Fragment Nr. VI. Wie alt solche Texte sein
können, beweist der Papyrus Oxyrrhynchos Nr. 465 sowie hermetisch-astrologische
Überlegungen, die Eratosthenes (einem bekannten Rationalisten-!) zugeschrieben
werden.
3 Vergleichbar ist die Haltung des krypta-jüdischen Literaturkritikers, der das anonyme

Peri hyp'sous (De sublimi) geschrieben hat: Er erwähnt den mit seinem Wort schaf-
fenden Gott (9,9) mit einem Zitat aus der Septuaginta (Gen 1,3), nimmt aber Abstand
vom Polytheismus (16,2) und von den Bildern (36,3); nur der Logos reiche über das
Menschliche hinaus.
4 Vgl. koptisch im Nag-Hammadi-Codex VI 68,26 und 69,26: tamie noute.
5 Eine Präsentation dieses für echt geltenden Textes z.B. bei Festugiere, Hermetisme,

155-174 und Kontext.


6 PG 76, 548 B; vgl. Nock/Festugiere I, S. XL. Das ganze ist eine Streitschrift gegen

den von Julian »dem Abrünnigen« wieder geförderten Polytheismus.


Einleitung des Herausgebers 11

Ihn erwähnt auch in seinen Schriften Jener, der in Athen[?!] die 15 sog. Hennetischen
Bücher zusanunengestellt hat.

Es folgt ein Zitat, aus dem noch die Interessen der älteren, technischen Her-
metik ersichtlich sind. Der Bezug auf Mose meint - wie dann aus dem weiteren
ersichtlich - nur die monotheistische Grundhaltung.
Der Zuname des "dreimalgrößten" Hermes begegnet erst im 2. Jh. n. Chr. 7
Lactantius gibt im 4. Kapitel seiner Epitome institutionum divinarum einen
Eindruck vom Charakter der neueren, philosophischen Hermetika, indem er
deren zentrale Aussage, das Gottesbild, so zusammenfasst: 8
Hennes, der wegen seiner Fähigkeiten und seiner Kenntnis vieler Künste 'der Dre;-
malgrößte' genannt zu werden verdiente und der auch im Alter seiner Lehre den
Philosophen vorangeht - er wird bei den Ägyptern wie ein Gott verehrt -, erhebt die
Herrlichkeit des Einzigen Gottes mit unermesslichem Lob. Er nennt ihn 'Herrn' und
'Vater' und sagt, er sei ohne Namen, weil er eine eigene Benennung nicht nötig habe-
er sei ja einzig. Auch habe er keine Eltern, da er aus sich und durch sich sei. An den
Sohn [nämlich Thoth] schreibend, beginnt er so: "Gott zu denken ist schwierig, aber
ihn zu sagen ist auch dem unmöglich, dem es möglich ist, (ihn) zu denken [vgl.
Platon, Tim. 28C]; Vollkommenes kann nämlich von Unvollkommenem und Unsicht-
bares von Sichtbarem nicht erfasst werden."

Hier endet das Zitat bei Lactantius, dessen Fortgang als Stobaeus-Fragment Nr.
I hier nachgelesen werden kann. Es fasst die Grundthese der hermetischen
Religionsphilosophie zusammen in einer Weise, die sowohl ihren griechischen
wie ihren jüdischen Einfluss deutlich erkennen lässt.
In welchem Maße ist sie überhaupt ägyptisch? Der nichtexklusive Charakter
der hermetischen Lehren, dem gegenüber die esoterische Einkleidung eher ein
Stilmittel ist und Anreiz zum Lesen, hat es schwer gemacht, bestimmte Aus-
sagen bestimmten Gegenden und Epochen zuzuweisen. Dass dies trotzdem
nicht selten möglich ist, haben ägyptologische, koptelogische und histörlsehe
Untersuchungen wie die von Erik lversen9, Jean-Pierre Mahe und Garth Fow-
den erwiesen. Ägyptische Spruchweisheit hat sich in die literarischen Formen
der ·Sachprosa begeben, deren Ausbau bis zum platonischen Dialog 10 umso
7 Athenagoras, Supplicatio 28 (mit dem Zusatz, die Vernünftigeren unter den Ägyptern
hielten ihn für einen Menschen). In unseren Texten vgl. 'li"aktate I, II, X, XI, XIII;
dazu Stob. VI und XXVI.
8 Übersetzt nach dem Text bei Nock/Festugiere IV 105, Nr. 3b/ 4c; dort auch weitere

Lactantius-Zeugnisse über andere Grundthemen des hermetischen Denkens. Das Zitat


im Zitat entspricht dem Beginn des Stobaeus-Fragments Nr. 1 (Bd. III S. 2 bei
Festugiere).
9 Iversen, Egyptian and Hermeric Doctrine, bes. S. 29-54. Seine wichtigste Vergleichs-

basis ist (schon aufS. 7ff) die Sabaka-Inschrift aus Memphis aus dem 8. Jh. v. Chr.
Vgl. Anm. 24.
10 Genauer kann man eine eigene Gattung, genannt 'Offenbarungsdialog', für derartige
12 Einleitung des Herausgebers

näher lag, als der Lehrer-Schüler-Kontakt schon in den astrologischen Her-


metika ein Gestaltungsmittel war. 11
Die Thoth-Priester Ägyptens verehrten ihren Gott, den sie griechisch Her-
mes nannten, als Gott des Wortes - auch des magischen Wortes - und der
Schöpfung. Hermupolis Magna (kopt. Smoun, arab. el-Asmunein), Zentrum der
Verehrung des Thoth, galt ihnen als älteste Stadt der Welt. Über Jahrhunderte
hatten sie eine besondere Schöpfungslehre entwickelt, 12 die die Allgegenwart
des Göttlichen in der Welt aussagen sollte.
Trotz ihrer Protesthaltung zur damaligen hellenistischen Einheitskultur gin-
gen auch diese Priester mit der Zeit. Ein Anstrich von Esoterik war iri der
römischen Kaiserzeit ebenso modern, wie er es heute wieder ist. Seinethalben
sind die Hermetika in unserem Jahrhundert mitunter sogar für gnostisch ge-
halten worden, was dem atmosphärischen Eindruck durchaus entspricht, auch
manches Detail für sich hat, im Grundansatz jedoch nicht zutrifft. Statt Welt-
ablehnung (die gnostisch wäre) empfehlen die Traktate ja eine durchaus alte,
grundständig ägyptische Haltung, die man als Kosmotheismus bezeichnet hat:
das Göttliche, in vielen Formen verehrt, kleidet sich in das Gewand des Kos-
mos. "Ein zweiter Gott ist der Kosmos und ein unsterbliches Lebewesen" (

(Traktat VIII 1).


Auch Jan Assmann als Ägyptologe ist bereit, in den Hermetika den Nieder-
schlag alter, zeitlos gewordener Einsichten zu sehen, so dass es ihnen durchaus
zukommt, das Kolorit ihres Ursprungslandes zu tragen. 13 Der von den Juden so
derb kritisierte Bilderdienst und Polytheismus Ägyptens ist ja nur die populäre
Oberfläche einer alles vereinigenden Theologie, deren Grundgedanken sich,
griechisch formuliert, 14 in unserem Corpus Hermeticum wiederfinden.
- Als Ort dieser Neuformulierung können wir die Heiligtümer in den Land-
städten Ägyptens ansehen. 15 Wir nennen hier das Land (cMra) Ägyptens im
Texte benennen: siehe Betz, »The Problem of Apocalyptic Genre«, sehr aufschlußreich
für die Geschehnisse an spätantiken Orakeln (wobei noch genauer nach der Rolle der
Orakelpriester gefragt werden müßte).
11 Ganz anders verfuhren die ionischen Philosophen (Heraklit), Historiker (Herodot) und

Ärzte (Hippokrates), die aus eigener Beobachtung und Überlegung schrieben, im ei-
genen Namen. Ihnen verdanken wir die Anfange der westlichen, modernen Wissen-
schaft.
12 Ausführlich dargestellt von Mabe, »La Creation«.
13 Assmann, Moses der Ägypter, bes. 123-130 und 179-182.
14 In C. H. XVIII 16, Stob. IV 4 und XXIII 15 werden sogar griechische Etymologien als

Argument benützt, und der Titel von Stob. XXIII ist ein - gewollt obskures - griechi-
sches Wortspiel.
15 Vgl. Fowden, The Egyptian Hermes, 166-176. Auch wo er auf Alexandrien wieder

zurückkommt (177-186), meint er mehr das "nichtoffizielle" Alexandrien abseits des


Museums und seiner internationalisierten Gelehrtenwelt
Einleitung des Herausgebers 13

Gegensatz zu der gänzlich hellenisierten, politisch extraterritorialen Einheit


Alexandrien, Gründung des makedonischen Eroberers Alexander. Diese Stadt,
offiziell "Alexandria bei Ägypten" genannt und weltberühmt als Sitz eines
höchst griechischen Musendienstes, kommt als Entstehungsort der Hermetika
kaum in Bellracht. Damit werden freilich auch die Quellen dürftig, die uns
etwas über das soziale Mileu der hermetischen Texte sagen könnten.
Man wird - solange keine neuen Zeugnisse auftauchen - nie mehr wissen,
wie weit es in Ägypten (oder gar außerhalb) Gruppen oder Gemeinden von
"Hermetikem" gegeben hat. 16 Theodosius' Verbot des Heidentums (397 n.
Chr.) und dessen Folgen haben die Spuren verwischt. Die hermetische Tradi-
tion wurde eine bloße Buchangelegenheit: Max Webers Kennzeichnung der
Hermetik als »Laienintellektualismus« beschreibt das Ergebnis.
Das Beispiel des Johannes Stobaeus (aus Stobi am Schwarzen Meer) mag
hierfür typisch sein: Dem Namen nach bereits ein Christ, speist er die für die
Erziehung seines Sohnes Septimus zusammengestellte, enzyklopädische Zita-
tesammlung ausschließlich aus heidnischen Autoren .. Ohne selbst irgendwie
Stellung zu nehmen, rettet er aus den literarischen Überlieferungen des Hei-
dentums, was zu retten ist. Aus dreien der Traktate unseres Corpus (II, IV, IX)
zitiert er - zählt also zu seinen Textzeugen -, und daneben aus vielen anderen,
von denen sonst keine Spur mehr wäre. Sie gehören heute zum Corpus Her-
meticum im weiteren Sinn.

Wenn Ägypter griechisch schreiben

Ist unsere Hypothese vom Ursprung der philosophischen Hermetika richtig, so


erklärt es sich auch, wieso vom Tiefsinn bis zur Banalität in diesen Texten nur
ein kleiner Schritt ist. Wer schon einmal versucht hat, einen philosophischen
Gedanken in einer fremden Sprache auszudrücken, wird gemerkt haben, wie
ungewollt einfach das Ergebnis ausfällt und wie schwer es ist, eine Pointe zu
setzen. So finden sich im Urtext von C. H. XVIII 6 zwei aufeinander folgende
Ansätze, dieselbe Geschichte zu erzählen. - Griechisch war Zweitsprache in
Ägypten, stärker zwar als Englisch bei uns heute, aber auch weniger geliebt.
In den Anfangsabschnitten des Traktats XVI steht die - für einen griechisch
geschriebenen Text doch wohl paradoxe - Feststellung, tiefere Wahrheit lasse
sich korrekt und wirkungsvoll nur auf ägyptisch ausdrücken; griechische Worte

16 Fowden, der sich diese Frage stellt (The Egyptian Hermes, 186--195 und 213-215),
vergleicht die ebenfalls schwer fassbaren, deshalb aber nicht zu leugnenden Orphiker
und Pythagoreer.
14 Einleitung des Herausgebers

hingegen seien ein Geklingel. Das ist für gräko-ägyptische Texte ein literari-
scher Topos, 17 verständlich als Distanznahme zu einer Sprache, die man eigent-
lich nicht sprechen möchte. Vielleicht ist es auch bereits eine Distanznahme
gegenüber dem sich griechisch-gelehrt gebenden Gnostizismus. 18
Die Situation ägyptischer Intellektueller, die dem Hellenismus ablehnend
gegenüberstanden, war nicht einfach. Hieroglyphen kannte außer einigen Prie-
stern keiner mehr; "Schreiber des Königs" wurden nicht gebraucht. Bar jeden
öffentlichen Interesses, nährte sich die Hieroglyphenkunde kümmerlich durch
die Jahrhunderte: immer seltener und immer fehlerhafter werden die Inschrif-
ten, erhalten uns aber doch die Namen der römischen Kaiser (die rechtlich ja
die Pharaonen Ägyptens waren) bis ins 3. Jh. n. Chr.
Das Ägyptisch der Kaiserzeit, das Koptische, war indes seinerseits ein hal-
bes Griechisch geworden. 19 Es hatte einen Zustand der Sprachmischung er-
reicht, wie er dem Deutschen (angesichts des Englischen) erst noch bevorsteht.
Insofern war zu reinem Griechisch kein großer Schritt mehr. Jedoch: sehr
"rein" oder gar elegant wurden die so entstandenen Texte nicht. Die hier vor-
gelegte Übersetzung bringt sehr gut das Herbe, Ungelenke dieses Stils zum
Ausdruck, der übrigens mit der Bibel der Juden, der Septuaginta, durchaus
vergleichbar ist. Nur sind es keine Hebraismen, die ihn prägen, sondern der
ägyptische Hintergrund.
Dieser dürfte z. B. verantwortlich sein für die manchmal "unlogisch" an-
geschlossenen Nebensätze (nur ein Beispiel: Stob. Vill 5), die mit recht zufäl-
lig wirkenden Konjunktionen eingeleitet werden, wo im Koptischen schlicht
und einfach ein Umstandssatz mit e- gestanden hätte.

17 Siehe den aus dem Griechischen ins Koptische vermutlich erst übersetzten Nag-Ham-
madi-Traktat VI 61 (Z. 20.30) und 62 (Z. 15), sogar unter der Verwendung des Ter-
minus für die Hieroglyphen: shai nsah prani, "Schriftzeichen der Schreiber des Ar-
chivs (wörtl.: des Lebenshauses)". Vgl. den Berliner Zauberpapyrus, den Betz, Hel-
lenismus und Urchristentum 178 zitiert: der bezieht sich auf "das heilige Buch, ge-
nannt Hermes, gefunden in Heliopolis im Allerheiligsten des Tempels, geschrieben in
ägyptischen Buchstaben und übersetzt ins Griechische".
18 Die Nag-Hammadi-Texte, die man hier zeitlich wie geographisch vergleichen kann,

sind meistenteils aufgeschwemmt mit dem Vokabular einer philosophischen Pseudo-


Bildung, der gegenüber größeres Misstrauen am Platze ist als angesichts der - viel-
leicht auch affektierten - Simplizität unserer Texte.
19 In meinem Nag-Hammadi-Register (WUNT 26, Tübingen 1982) finden sich 200 Sei-

ten Stellenbelege für ägyptische Wörter, 130 Seiten für griechische. An Zahl der
aufgenommenen Vokabeln bietet der griechische Teil sogar gut und gerne das Drei-
fache: Zwar sind die Belege oft nur wenige, doch betreffen sie gerade die sinntragen-
den Wörter der Texte; das Ägyptische verkommt zu einer Art Kitt. - Mehr hierzu in
Etudes coptes 5 (Cahiers de Ia Bibliotheque Copte, 10), Paris/ Louvain 1998, 175-180.
Einleitung des Herausgebers 15

Der jüdische Einfluss

Wenn die literarische Einkleidung unserer Texte - zumeist als Dialoge zwi-
schen Hermes und Thoth - schon zu erkennen gibt, dass ägyptische und
griechische Weisheit hier im Dialog stehen, so ist ein dritter Partner in einigen
Traktaten mit dabei, der ungenannt bleibt, darum aber nicht weniger wirksam
ist: der jüdische. Die ältesten Verwendungen der jüdischen Bibel (in Form der
Septuaginta), die nicht der jüdisch-christlichen Tradition selbst angehören, sind
hier zu finden. So ist z. B. das Wort für 'heilig' in C. H. I 31, hagios, im
Profangriechisch selten, in der Septuaginta jedoch das übliche. Gleiches gilt für
kyrios (z. B. C. H. V 2; Stob. XXlli 18) als Gottesbezeichnung. Der Ausdruck
'Wille Gottes' (boule theou) in I 8 (vgl. Xill 19) entspricht nicht paganem,
sondern jüdischem Sprachgebrauch, wird freilich inhaltlich in unseren Texten
anders gefüllt als in der Bibel.
In der ausführlicheren Parallele zum obigen Laktanz-Zitat aus der Epitome,
nämlich dem Text der Divinae institutionesdesselben Autors, I 6,4, 20 wird aus
dem griechischen Original angeführt: "Gott ist einer; der Eine aber braucht
keinen Namen; denn der Seiende ist namenlos." - Diese Namenslosigkeit Got-
tes, für die Antike unerhört, entspricht dem 1. und 2. (3.) Gebot des Dekalogs
in damaliger jüdischer Praxis. 'Der Seiende' (ho ön) ist die aus der Septuaginta,
Exodus (2. Mose) 3,14, bekannte Interpretation des JHWH-Namens. Diese war
in der Antike kein Geheimnis: zahlreiche Amulette mit der Aufschrift ho ön,
die als solche ja wohl eher heidnisch sind als jüdisch, erweisen dies.
Zum Geben und Nehmen zwischen Juden und Ägyptern haben Gerard Mus-
sies als Ägyptologe und Ernst Bammel als Judaist eindringende Studien vorge-
legt. Nach dem jüdischen Schriftsteller Artapanos (Frg. 3) ist Hermes der Na-
me, den die Ägypter dem bei ihnen vergöttlichten Mose beilegten, ihrem lang-
jährigen Wohltäter. U. a. sei die Einteilung Ägyptens in 36 Gaue sein Werk. Er
sei sogar der Erfinder der Hieroglyphen gewesen - warum nicht auch Lehrer
des Orpheus - und habe im Gau von Hermupolis eine große Schlacht gewon-
nen. Josephus (Antiquitates II 243) erwähnt eine zeitweise Zusammenarbeit
zwischen »den heiligen Schreibern (hierogrammateis) beider Völker« und lässt
(246f.) Mose zur Bekämpfung einer Schlangenplage ausgerechnet Ibisse ein-
setzen (die heiligen Vögel des Thoth). Die Phantasie überholt dabei die Hi-
storie. Doch ist auf Papyrus der Name eines Juden- im 2. Jh. n. Chr.- bekannt,
der griechisch Hermaios (von 'Hermes'), ägyptisch Phibiön (von 'Ibis') hieß,
Sohn eines Onias (hebr. lfonja).

20 Nock/Fes tu giere, IV, 105 Nr. 3a.


16 Einleitung des Herausgebers

Jean-Pierre Mahe21 vermerkt es als ägyptischen Einfluss auf den jüdischen


Theologen Philon, wenn dieser Gottes Schaffen - und sei es auch nur sprach-
lich, metaphorisch- als ein 'Zeugen' bezeichnet. Umgekehrt bietet C. H. XI
5-8 die gleiche Verbindung einer (empedokleischen) Philosepie der Gegensät-
ze mit dem Lob des einen Schöpfers, die wir in Phiions De Deo 9-12lesen. Im
Ganzen ist die "Schöpfungsgeschichte" von C. H. I 4-19 eine nach- und neu-
gedachte biblische Urgeschichte von Genesis 1-8; Mahe22 schreibt die beiden
Texte in zwei parallelen Spalten.
Wie aber kommt der jüdische Einfluss in die hermetischen Texte? - Die
jüdische Präsenz in Ägypten ist alt. Im Jeremia-Buch, Kap. 42-44, wird Jere-
mia von einer anti-babylonisch eingestellten Gruppe jüdischer Widerständler
nach Ägypten verschleppt, wo sich (im späten 6. Jh. v.Chr.) seine Spur verliert.
In Elephantine (heute Assuan) ist ausschnittweise - durch aramäisch geschrie-
bene Papyri des 5. Jh. v.Chr. - die Präsenz einer jüdischen Militärkolonie
bekannt, die sogar einen Tempel unterhielt. Man erfährt, dass dessen Tieropfer
den Ägyptern (für die Widder und Stiere Verkörperungen hoher Gottheiten sein
konnten) ein Ärgernis waren und eingestellt wurden. Danach klafft leider eine
Infonnationslücke.
Als in Jerusalem nach dem Hohenpriesteramt des Simon, das im Sirach-
Buch (Kap. 50) so sehr gepriesen wird, das Hohepriestertum sich spaltete,
nahm Ptolemaeus VI den legitimen, aber vertriebenen Hohenpriester Onias
(wohl Onias IV) in den 160er Jahren v. Chr. in Ägypten auf und erlaubte ihm
die Errichtung eines konkurrierenden Tempels in Leontopolis (im östlichen
Delta; heute Tell el-Jehudije), der genauso lang bestand wie der in Jerusalem,
allerdings ohne Einfluss blieb.
Denn wichtiger als alles bisher Erwähnte ist das Aufkommen der Synago-
gen. Die ältesten Inschriften, die uns Synagogen in der Antike archäologisch
belegen, sind ägyptisch, u.z. noch aus dem 3. Jh. v.Chr. Sie sind auf griechisch
abgefasst. In der ganzen Mittelmeerwelt, überall, wo es eine jüdische Besied-
lung gab, breiteten die Synagogen sich aus. Da sie nicht als heilig galten (das
war nur der Tempel zu Jerusalem), konnten sie -und sollten auch -von Nicht-
juden ohne weiteres, v. a. ohne Reinheitsprobleme für die jüdische Gemeinde,
besucht werden. Dort erlebte man einen in der Antike einzigartigen, opferlosen
Wortgottesdienst, der allwöchentlich aus Gebeten, Lesungen aus heiligen Tex-
ten - auf griechisch - und mündlicher Lehre bestand, in welcher die Texte
gemeinverständlich ausgelegt wurden. 23

21 Mahe, »La Creation«, 14.


22 »La Creation«, 39-41.
23 Über den vor-rabbinischen Synagogengottesdienst s. Siegert, »Die antike Synago-
Einleitung des Htrausgebers 17

Dies ist der gegebene Ort einer Ausbreitung der Kenntnis der Bibel in der
Antike. Wir können gefahrlos annehmen, dass jüdischer Einfluss mitgewirkt
hat, die Verehrung des Einen Gottes in den hermetischen Texten zuwege zu
bringen. Nach Mare Philonenkos treffenden Analysen erweist dies weniger ein
Bücherwissen über das Judentum (etwa durch Lektüre in Septuaginta-Schrif-
ten) als vielmehr die Kenntnis der lebendigen, mündlichen Liturgie.
Die auffälligsten Berührungen mit bestimmten Bibelstellen sind in der fol-
genden Übersetzung angemerkt. Das meiste jedoch entzieht sich einem genau-
en Nachweis und liegt eher auf der Ebene der Vorstellungen oder des Sprach-
gebrauchs. Das gemeinsame Interesse an einer im Kosmos sich manifestieren-
den Schöpfergottheit hat das griechischsprachige Judentum mit der einheimi-
schen ägyptischen Kultur so stark verbunden, dass man im Einzelfall nie sagen
kann, wer wen mehr beeinflusst hat. Schöpfung durch das Wort - in C. H. I 31
z. B. geradezu biblisch ausgedrückt- ist auch eine ägyptische Lehre. 24

Sonstige Einflüsse

Daneben haben auch schon christliche Einflüsse eine Rolle gespielt, wie gleich-
falls zu einigen Stellen angemerkt werden wird. Zwar mag sein, dass Jörg
Büchli zu weit geht, wenn er den Traktat I (den Poimandres, "Menschenhirt")
als ein "paganisiertes Evangelium" - Johannesevangelium - bezeichnet. Zu
vieles war in der Spätantike Gemeingut, inhaltlich wie sprachlich. Es ist aber
doch merkwürdig, dass der älteste materielle Textzeuge des Neuen Testaments
ein Stückehen des Johannesevangeliums ist (nämlich der Papyrus 52), gefunden
in Ägypten und datierend - der Schrift nach - aus dem 2. Jh.
Daneben hat die griechische Philosophie sicher auch ihre direkten Einflüsse
ausgeübt - allein die Sprache schon transportiert sie - ; doch scheint gerade die
Nichtwörtlichkeit des Timaeus-Zitates in der oben zitierten Eröffnung des I.
Stobaeus-Fragments typisch zu sein für indirekte Aufnahme des Griechischen.
Dabei versteht sich, dass man weder die eine noch die andere Quelle nament-
lich zitiert: Die Nennung menschlicher Autoren passt nicht in die Offenba-
rungs-Szenerie.

ge<<. Wir besitzen noch - in armenischer Übersetzung und in modernen Weiterüber-


setzungen - den Wortlaut einiger vermutlich im damaligen Alexandrien gehaltener
Synagogenpredigten: Ps.-Philon, De loiUl, ein weiteres Fragment gleichen Namens
und De Sampsone. An anderen Orten dürfte schlichter, aber doch ähnlich, gepredigt
worden sein.
24 Vgl. Anm. 11; ferner Mussies, >>lnterpretatio Judaica<<, 98 Anm. 31 (wieder mit Bezug
auf die Sabaka-Inschrift).
18 Einleitung des Herausgebers

Unbeschadet dessen ist das Corpus Hermeticum das umfangreichste erhal-


tene Dokument dessen, was man 'hellenistische Mystik' nennt - wie der große
Kenner der Hermetika, Andre-Jean Festugiere, eindrücklich dargelegt hat. 25

Ägyptische und jüdische Apokalyptik

Mit dem Judentum besonders der unteren Schichten verbindet unsere Autoren
die Hoffnung auf das Vorübergehen der hellenistischen Überfremdung. Beide
Völker haben eine Apokalyptik gepflegt, die (anders als die wenigen vergleich-
baren römischen Texte) eben dies zum Zielpunkt hat. Bekannt hierfür ist auf
ägyptischer Seite das Töpferorakel, 26 dessen Entstehung sich bis weit in pha-
raonische Zeit zurückverfolgen lässt, dessen Text uns aber auf griechisch vor-
liegt. Es ist der ergreifende Ausdruck der über Jahrhunderte durchgehaltenen
Hoffnung, die Götter Ägyptens möchten wieder zurückkehren und mit ihnen
der König (Pharao) und die Ordnung aller Kräfte der Natur. Die "Stadt am
Meer" (Alexandrien), so erwartet der Seher, wird dann wieder das Fischerdorf
sein, das sie war, und Agathos Daimon (die "gute Gottheit", die auch in unseren
Hermetika eine Rolle spielt) wird umziehen nach Memphis.
Ernst Bammel27 hat aufgewiesen, dass die kleineren jüdischen Texte Ägyp-
tens - also nicht die völlig hellenisierte Schriftstellerei eines Phiion und seiner
Vorgänger - manches ägyptische Kolorit angenommen haben, und dass hinter
ihnen Leute stehen aus den Landstädten Ägyptens, weniger aus dem abgeson-
derten Alexandrien. Es scheint, dass auch auf dem Gebiet der Apokalyptik eine
stille Zusammenarbeit bestand.

Hermetik und Gnosis

Nicht zu den Einflüssen, sondern zu den gleichzeitig entstehenden Phänomenen


zählt diejenige Religion, die in der Spätantike unter dem Namen Gnosis ('Er-
kenntnis' -nämlich aus geheimer Offenbarung und in Erinnerung an die Prä-
existenz) ihre größte Zeit hatte. Eine ihrer vielen Gruppierungen berief sich auf
den Magier Sirnon in der Apostelgeschichte (8,9-24), den die sich bildende
Kirche abstieß. In unseren Texten kann man die Gnosis sozusagen im Entstehen

25 Siehe sein Personal Religion Among the Greeks über die älteren griechischen, noch
nicht jüdisch beeinflussten Belege einer solchen Mystik.
26 Siehe Koenen, »Prophezeiungen« (mit griech. Text).
27 Bammel, »Das Judentum als eine Religion Ägyptens«, 120.
Einleitung des Herausgebers 19

beobachten. Auf die eine oder andere Weise sind alle Fonnen von Gnosis
einerseits übersteigerter Platonismus, andererseits verneintes Judentum - in der
Ablehnung des Kosmos und seines Schöpfers. Im Gegenzug verspricht die
Gnosis den Menschen, die ihren überkosmischen Ursprung erkennen (vgl. etwa
C. H. I 21; X 24), Kräfte, die sie über das Schicksal erhaben, ja unsterblich
machen.
Der Gnosis nahe steht insbesondere Traktat I 12-16 mit seinem Mythos vom
überkosmischen Sündenfall. Dieser wurde - in unzähligen Varianten - eine der
Grundlehren der Gnosis. Man wird auch bemerken, dass das Wort 'Erkenntnis'
in diesem und fast allen Traktaten mit Betonung gebraucht wird - als Erinne-
rung an ein lediglich verschüttetes Vor-Wissen. Doch ist der hennetische Phi-
losoph viel mehr im Kosmos zu Hause als der Gnostiker, ja mehr sogar als das
Mönchtum, welches gleichfalls im Ägypten der Dominatszeit seinen Anfang
nahm. Auch wird im Corpus Hermeticum die alte astrologische Tradition nicht
verleugnet; man hält weiterhin die »ewigen Körper« (die Sterne) in Ehren. 28

Zur Wirkungsgeschichte

Zur reichen Wirkungsgeschichte der philosophischen Hennetika sei nur weni-


ges angedeutet. Augustin weiß von ihnen, 29 und über das Mittelalter hin blieb
vom ,,Ägyptischen Hennes" und ,;Trimegister" eine gewisse Kenntnis. 30 Der
Platonismus der Renaissance interessierte sich dann sehr für Hennes/Mercu-
rius, diesen Weisen der Vorzeit (für den man ihn zunächst hielt), und er wurde
insbesondere von den italienischen Platonisten um Marsilio Ficino hochgehal-
ten. Jan Assmann31 kennzeichnet die frühneuzeitlichen Leser der Hennetika als
"Grenzgänger, die auf dem Boden der Mosaischen Unterscheidung [zwischen
Poly- und Monotheismus] dachten", und zwar "ihre ausgrenzende Schärfe zu
mildem und zu überwinden suchten" und darum "auf der Suche nach einer
ursprünglichen Einheit über Moses hinaus nach Ägypten gingen".

28 Als Orientierungshilfe in dem uns heute in philosophisch-religiösen Fragen nicht mehr


so geläufigen Oben-Unten-Gegensatz sei der Aufsatz von D' Aquili, »The Neurophy-
siological Bases«, empfohlen.
29 De Civitate Dei VIII 23f; XVIII 39.
30 Z. B. in. der Chronik des Otto v. Freising (Historia de duabus civitatibus) I 16. -

Daneben gab es ein Buch des "Philosophen Termegistus", auch "Buch der vierund-
zwanzig Meister" genannt, usw. Zum Byzantiner Psellos s. Nock/Festugiere I S.
XLIXff.
31 Moses der Ägypter, 245.
20 Einleitung des Herausgebers

Die dabei entstandene Begeisterung flaute zwar merklich ab, als klar wurde,
dass die Hermetika keine besonders alten, sondern im Gegenteil spätantike
Texte sind. So wies es Isaac Casaubon 1614 nach. Freilich musste er sich in
manchem korrigieren lassen: Zu leicht hatte er von den christlich beeinflussten
Traktaten auf das Ganze geschlossen.
Die Faszination dieser Lektüre, die wiederkehrte, ähnelt derjenigen, welche
die Barockgelehrten über dem Talmud und über der Kabbala empfanden:
Hebräische Buchstaben versprechen mosaische Weisheit; dabei weiß man auch
hier, dass dies nur in einem sehr abgeleiteten, modernisierten Zustand der Fall
sein kann. Aber eben dies ist ja - wieder nach Assmann - Erinnerung im
Gegensatz zu toter Konservierung: Die Gedanken gehen weiter in der Verän-
derung und Neuformulierung, in fortlaufender Aktualisierung für die sich erin-
nernde Gemeinschaft.
Eine solche ist - mit dem Verbot des Heidentums - verschwunden oder
vielmehr in den Untergrund gegangen; das lässt die Texte rätselhafter erschei-
nen, als sie sein müssten.

Hermetische Philosophie und Alchimie

Das Interesse für göttliche Schöpfertätigkeit und für die Materie hat im Hei-
matland der Magie, Ägypten, den Versuch einer Anwendung hervorgerufen,
der unter dem arabischen Wort Alchimie bekannt geworden ist. Dieses Wort,
entstanden aus einer Fusion des griech. chymeia 'Schmelzkunst' mit dem ur-
alten Namen Ägyptens, Kerne (so koptisch; Plutarch: Chemia), 32 ist durchaus
passend für jene untergründig bis in die Neuzeit durchlaufende "Hermetische
Philosophie", die zu lehren vorgab, wie man die Schöpferrolle selbst überneh-
men und Materie verwandeln - reinigen, veredeln - könne. Das Corpus Her-
meticum leistet solchen Bestrebungen insofern Vorschub, als es den Satz, alles
Sein sei wandelbar, vielfältig variiert und ein - ganz ungriechisches - Interesse
an der Materie hegt.
Nach Festugiere, der in seiner Revelation d'Hermes Trismegiste die Frag-
mente spätantiker alchimistischer Schriften durchgeht, ist ab dem 2. Jh. n. Chr.
technologisches Wissen philosophisch aufgeladen worden, um zur Heilswis-
senschaft zu werden. 33 Der älteste zeitlich fassbare Autor dieser "Philosophie"
ist wiederum ein Ägypter, Zosimos von Panopolis/Achmim (auch Zosimos von
Theben genannt, ca. 4. Jh. n. Chr.). Er beruft sich auf unsere Hermetika. 34
32 Plutarch, De Iside et Osiride 364 C.
33 Festugiere, La rivilation d'Hermes Trismigiste I 217-282; hier: 262. Derlei Vorgänge
haben sich in der Neuzeit wiederholt.
Einleitung des Herausgebers 21

Jüdischer Einfluss fehlt auch hier nicht: Zosimos bietet u.a. eine ägyptische
Variante der jüdischen Legende von der Entstehung der Septuaginta, und er
benützt den Traktat über Schmelzöfen einer Jüdin Maria (das ist die Maria
Hebraea der Alchimisten). 35 Juden haben in antiker Naturwissenschaft auch
sonst eine Rolle gespielt. 36 Zusätzlich ist das Kapitel ,,Judentum und Magie"-
trotz aller biblischen und rabbinischen Verbote - weit umfangreicher, als wir
hier andeuten können, u.z. gerade in Ägypten. 37 So hatte die Fusion von Re-
ligion, Philosophie und Magie, die für die Spätantike (v. a. die Dominatszeit) so
typisch ist, in allen Teilen ihre jüdische Komponente.
Manches aus jener Zeit ist noch heute im allgemeinen Sprachgebrauch.
'Hermetischer Verschluss' meint jene absolute Dichtigkeit, die seinerzeit für
die Versuchsandordnungen der Elementenumwandlung verlangt wurde. 38 Und
zum Ausdruck 'Hermetische Philosophie' überhaupt: war nicht Hermes/Mer-
curius der Namensgeber bzw. namensgebende Planet des Quecksilbers, jenes
bevorzugten Ausgangsstoffes der Goldmacherei? In den philosophischen Her-
metika haben wir eine der Wurzeln dessen vor uns, was als magia naturaUs in
der Neuzeit ein Übergang zu den Naturwissenschaften werden sollte- wobei
sich freilich erst in dem Maße Erfolge einstellten, wie man von der Natur
lernte, ehe man sich daran machte, sie zu beherrschen.
In ihrem vor-empirischen Stadium legte diese Kunst noch großen Wert auf
die persönliche Vollkommenheit oder wenigstens Vervollkommnung des Ex-
perimentators, was Goethe - der selbst noch Alchimie betrieb - zu dem Vers
veranlasste: 39
Wenn sie den Stein der Weisen hätten I Der Weise mangelte dem Stein.

34 Festugiere I 277 (griech. 368): Titel vonCHIund IV. Dies und das folgende nur als
Stichprobe.
35 Festugiere I 268 (mit Anm. 6) und 277; im griech. Zosimos-Text der S. 363-368 vgl.
365, Z. 4: "Die Kaminographia Marias und andere Juden". Im frz. Zosimos-Text der
S. 269ff. bei Festugiere finden sich ferner Gleichsetzungen von Thoth mit Adam, von
Eva mit Pandora, Spekulationen über den "Sohn Gottes" u.a. - Bezüge auf "Bücher
der Hebräer" (ebd. 271) deuten auf die Genesis und auf ihre spekulative Auslegung im
hellenistischen Judentum. In dem griech. Zosimos-Text (367 unten) wird Salomos
Weisheit erwähnt (die von einem gewissen Membres angeregt sein soll) usw.
36 Plinius d.Ä. benennt in seiner NaturaUs historia 37, 60 (169) einen Zachalias Baby-

loniensis als Autor über Edelsteine.


37 Hier genüge der Hinweis, dass beachtenswerte Autoren wie Peter Schäfer und Giu-
seppe Veltri sich von wissenschaftlicher Seite her diesem Komplex genähert haben.
38 Auch heißt noch heute im Französischen ein Wasserbad um ein Gefaß ein bain de

Marie (was auf Mirjam, die Schwester Moses, zurückgeführt wird). Vgl. Anm. 35.
39 Goethe, Faust II, 5063f; vgl. Hartlaub, Der Stein der Weisen, 6.
22 Einleitung des Herausgebers

Wie wahr das ist, hat man bei der Atomumwandlung unserer Tage noch ge-
merkt.

Der Zustand des überlieferten Textes

Textlich ist das Corpus Hermeticum nur in mehrfach beschädigtem Zustand auf
uns gekommen. Das gilt im Großen (literarkritisch) wie im Kleinen (textkri-
tisch).
Auf literarkritischer Ebene ist zu beklagen, dass einige Traktate nur mehr ein
Torso sind; so schon der zweite. Überschriften sind nicht immer erhalten und
manchmal wenig treffend, also kaum vom ursprünglichen Autor. Am meisten
mag bedauert werden, dass die öfters (nur als Titel) zitierten Grundlehren im
heute erhaltenen Corpus Hermeticum nicht anzutreffen sind. 40 Wenn sie je
schriftliche Form hatten und im Corpus standen - ·am Anfang etwa -, so sind
sie jetzt durch den - zweifellos sehr farbigen - Poimandres ersetzt, wie auch
sonst bei Sammelwerken das erste Stück nicht selten eines der modernsten zu
sein pflegt. Vielleicht war die ursprüngliche Eröffnung zu schlicht und zu
schulmäßig und damit nicht mehr geeignet das Leseinteresse zu wecken. Denn
auch das beobachtet man in der Antike: Je später die Texte sind, je gemischter,
je abgeleiteter, umso lauter wird ihr Anspruch, Offenbarung zu sein. 41
Der Verlust der Grundlehren wird glücklicherweise einigermaßen ausgegli-
chen durch die 48 Lehrsätze des Stobaeus-Fragments XI, eine Art Katechismus
der hermetischen Philosophie.
Traktate VI, IX und X geben sich als Folge. Traktat I ist eine höchst wir-
kungsvolle Eröffnung; Traktat XVIII mit seinem - doch wohl eschatologisch
gemeinten - Pharaonenlob bildet den Abschluss.
Daneben finden sich, wie gesagt, bei Johannes Stobaeus Auszüge aus her-
metischen Schriften, die sich in keinem der 17 erhaltenen Traktate des by-
zantinischen Corpus wiederfinden; sie werden hier, sozusagen als Ersatz für
das Verlorene, mit eingeschlossen. Es sind Stücke darunter - besonders Nr.
XXIII mit dem eigenen Titel Kore kosmou -, die an Länge die hermetischen
Traktate erreichen oder übertreffen.
40 Vgl. C. H. X 1.7; XIII 1; Stob. III 1; VI 1. - Überhaupt könnte der in Unordnung
geratene Zustand der hermetischen Texte mit dazu beigetragen haben, dass man den
Adepten der Hermetischen Kunst, den Alchimisten, nachsagte, sie erklärten ignotum
per ignotius: Unbekanntes durch noch Unbekannteres.
41 In unserem Falle kann man dies freilich - in Assmanns Sinne - wohlwollend inter-
pretieren als späten Hinweis auf den frühen Ursprung monotheistischer Gottesvereh-
rung.
Einleitung des Herausgebers 23

Ein antiker Gesamttitel ist nicht. überliefert. Corpus Hermeticum ist eine
moderne Bezeichnung, die zunächst die 18 (17) gemeinsam überlieferten Trak-
tate (oder besser: Dialoge) umfasst, sodann mehr oder weniger große Mengen
vergleichbarer Texte, insbesondere die aus Stobaeus gewonnenen.
Hier nicht aufgenommen ist der nur lateinisch - unter den Schriften des
Apuleius - erhaltene Traktat Asclepius, von dessen griechischem Original sich
nur ein Blatt auf Papyrus gefunden hat, ein kurzes Zitat auf griechisch und eine
koptische Teilbearbeitung. 42 Es handelt sich um sehr freie Wiedergaben eines
Traktats, der ursprünglich Logos teleios hieß ("Vollkommene Rede"); 43 er
möchte eine Rede des Hermes an seinen Abkömmling Asklepios sein. Über-
lieferungsgeschichtlich ist er eigene Wege gegangen. Hier nicht aufgenommen
sind ferner die durchweg nur kurzen Zitate bei Kyrill von Alexandrien, Zosi-
mos u.a. 44
Zur Textkritik: Die durchweg sehr jungen Handschriften45 des griechischen
Textes (keine ist älter als das 14. Jh.) reichen nicht aus, um Verschreibungen
gegenseitig zu korrigieren und späte, mitunter wenig verständnisvolle Eintra-
gungen (Glossen) auszuscheiden. Überhaupt ist an den Texten viel geändert
worden; 46 auch das hat ihre innere Logik nicht wenig "gelockert". Die Heraus-
geber des Urtextes versuchten sozusagen das vorletzte Bearbeitungsstadium zu
fixieren. Man kann bei diesem Bestreben das Richtige mitunter nur vermuten
(konjizieren). Die hier gegebene deutsche Übersetzung tut dies mit noch
größerer Behutsamkeit als die Herausgeber des Urtextes. 47

42 Nag-Hammadi-Codex VI, 'Iraktat 8 (entspricht Asclepius 21-29). Daneben bietet der


Traktat 6 desselben Codex eine bisher noch nicht bekannte, auch aus dem Griechi-
schen übersetzte hermetische Schrift. Näheres bei Mahe, Hermes, Bd. I.
43 Synoptische Edition des Asclepius 21--29 (in dessen Bereich auch das griechische
Fragment des Logos teleios fällt sowie das Zitat bei Stobaeus IV 52/2, 47) bei Mahe,
Hermes, II 152-207.
44 Eine aktuelle Übersicht über das Erhaltene befindet sich in Mahe, »La Creation«, 5f.;

ergänzt in Paramelle/Mahe, »Extraits«. Dort wird unterschieden: CH (Corpus Her-


meticum), SH (Stobaei Hermetica), der Asclepius, DH (Definitiones Hermeticae, ein
armenisch erhaltenes Schriftchen) und HO (Hermetica Oxoniensia), letztere z.T. sich
überlappend. Griechischer Text des bisher nicht Bekannten aufS. 126 (unten)- 128;
folgen frz. Übersetzung und Kommentar.
45 Winzige Reste auf Papyri des 2./3. Jh. sind gerade geeignet, die Existenz der Texte für

ihre Zeit zu bekräftigen .


.46 Was sich im C. H. nur verdächtigen lässt, ist in der z.T. dreifachen Überlieferung-
und Bearbeitung - des Logos teleios mit Händen zu greifen.
47 Wir schweigen von völlig phantastischen Bearbeitungen, die der griechische Text in

diesem Jahrhundert auch erhalten hat, ebenso wie von einer Masse nicht seriöser
Sekundärliteratur.
24 Einleitung des Herausgebers

Übersicht. über den Inhalt

Abschließend sei ein grober Überblick über die in den Traktaten und in den
Fragmenten behandelten Hauptthemen gegeben - als Anreiz zu einer Lektüre,
die nun nicht mehr lange aufgeschoben sein soll.
Traktat I ist, wie schon gesagt, eine Art Schöpfungsgeschichte, eingebettet in
eine ,johanneische" (jedenfalls: hellenistische) Offenbarungsszenerie, ähnlich
der 5. Vision im Hirten des Hermas. Der ideelle Urmensch, Ebenbild des
Schöpfers und Weltverstandes, und das materielle Chaos, worin er sich spiegelt,
begehen in gegenseitiger Verliebtheit einen vorweltlichen Sündenfall mit ka-
tastrophalen Folgen. - Der Schlusshymnus (31) und sein Kontext sind voller
biblischer Anspielungen. 48
Traktat ll, ein an Asklepios gerichtetes Fragment, ist deutlich erkennbar als
platonischer Dialog stilisiert. Er enthält zugleich in Abschnitt 4 einen Hinweis
auf des Aristoteles "unbewegten Beweger" (Gott). Deutlich verschieden vom
Gnostizismus ist die Verurteilung der Kinderlosigkeit als eines großen Übels.
Traktat Ill ist nochmals eine Kosmogonie, voll von seltenen Wörtern, die
zum Teil aus der Septuaginta stammen.
Traktat IV lädt - mit platonischer Formel - ein, mit den "Augen des Her-
zens" (dem Verstand) zu sehen und pflegt den pythagoreisch-platonischen Ge-
meinplatz der "Eins" als Ursprung aller Dinge.
Traktat V ist ein Lobpreis des namenlosen allgegenwärtigen Gottes: Alles ist
in ihm, und von ihm und er ist in allem, was ist, ja auch was nicht ist.
Traktat VI lässt alles Gute in Gott bestehen und formuliert eine nuancierte
Haltung zum Kosmos, immer noch verschieden von der (ablehnenden)
gnostischen.
Traktat Vll, eine Art "Missionsrede" an die Menschheit, fordert auf zu pla-
tonischem "Erinnern" (an vorempirisches, vor der Geburt erworbenes Wissen).
Traktat Vlll behandelt (wie auch der X. und Xll.) den Kosmos als "zweiten
Gott" und als ewig. Er gibt den Versuch einer Philosophie der Materie. Ebenso
unjüdisch wie ungnostisch ist seine Dreiheit Gott - Kosmos - Mensch.
Traktat IX ist eine In-Schutz-Nahme des Kosmos gegen (gnostischen) Dua-
lismus, der ihn von Gott trennen und abwerten möchte.
Traktat X gibt eine Fassung der Seelenwanderungslehre. Der Mensch, hoch
gestellt in der Hierarchie des Kosmos, hat eine Fürsorgepflicht für diesen.
Traktat XI fusioniert Griechisches und Biblisches zu einer Kosmologie, ähn-
lich derjenigen Philons. 49 Wir finden hier, wie schon in I 14, ein Aufreißen des
48 Auf Papyrus erhalten ist eine christliche Abschrift aus dem 3. Jh.
49 Abschnitt 5-8 bietet die gleiche Verbindung von (empedokleischer) Philosophie der
Gegensätze mit dem Lob des einen Schöpfers wie Philon, De Deo 9-12.
Einleitung des Herausgebers 25

Himmelsgewölbes zu einem Versuch, darüber hinauszuschauen. 50 Übrigens fin-


det dort eine Anrede an Hermes Trismegistos statt, vom Verstand (des Men-
schen) kommend.
Traktat XII bietet eine sehr stoische Theodizee und Schicksalslehre, ja auch
eine Theologie des Leidens. In Abschnitt 17 erfährt man, in welchem Sinne die
Erde 'bewegt' ist.
Traktat XIII fallt in mehrer Hinsicht aus der Reihe. Zunächst werden Hermes
und Tat d~rt recht anthropomorph dargestellt. Im weiteren entgleitet der logi-
sche Faden und es entfaltet sich eine Art Zungenrede, in der nun tatsächlich
"Unbekanntes durch noch Unbekannteres" 51 erklärt zu werden scheint. Doch ist
das Anliegen des Traktats nicht so sehr didaktisch: Er läuft aus in ein Gebet,
eine Art Zungenrede, wie wir dergleichen in den gnostischen Nag-Hammadi-
Texten noch viel mehr finden. Unter dem verheißungsvollen Thema der 'Wie-
dergeburt' finden wir die proto-heideggersche Ansage der Ankunft von etwas
Unsagbarem. Abschnitte 17-20 sind ein Hymnus unter eigener Überschrift,
voll von jüdischen Wörtern (kyrios für Gott, ktisis für die Schöpfung). 52 Dass
dieses Gebet als logike thysia, 'Wort-Opfer' bezeichnet wird - vgl. I 31 -,
nähert es dem Synagogengottesdienst an: Dieses Gebet erfolgt abseits aller
konkreten Opfer, ja will selbst das Opfer sein.
Traktat XIV wendet sich an Asklepios, den jüngeren Bruder des Thoth, und
bildet eine Brücke zu der unter jenem Namen umlaufenden Literatur. Daher
auch die - oben schon genannte - Anspielung an das "Göttermachen" der
ägyptischen Bildhauer.
(Traktat XV existiert nicht: Unter dieser Nummer waren einst Stobaeus-
Fragmente eingeschaltet worden, die wir hier extra bieten.)
Traktat XVI, an »König Ammon«53 gerichtet, ist ein Protest gegen helleni-
stische Überfremdung Ägyptens. Das Weitere richtet sich gegen gnostische
Abwertung des Kosmos. Die Abschnitte 10-16 sind eine ausführliche Dämo-
nologie.

50 Wie in jenem vielfach' reproduzierten Holzschnitt, der aber eine Fälschung ist, eine
moderne Montage.
51 VgL Anm. 40.
52 Sein Metrum folgt- in neugriechischer Weise- den Akzenten, wohingegen C. H. I 31
(auch 32 am Ende) klassischen Prosarhythmus (cretici) aufweist.
53 Dieser Göttername gilt traditionell dem Herrscher in Theben, der ehemaligen Haupt-

stadt des südlichen Ägypten (Oberägypten). Der Kult dieses Gottes war schon im
klassischen Griechenland bekannt (Pindar, 4. Pythische Ode, Z. 16). Das Orakel des
(Zeus-)Ammon in der Oase Siwa hatte einst- notgedrungen- Alexander zum König
Ägyptens proklamiert. VgL zu Traktat XVIII.
26 Einleitung des Herausgebers

Traktat XVII, nur ein Fragment, gibt sich, wie schon XVI, als Anrede an den
König (Ammon) und mahnt zur Verehrung der Bilder.
Traktat XVIII schließt die Sammlung mit der Erwartung des idealen Königs.
Als Einleitung dient eine z. T. missglückte (oder von der Überlieferung verun-
staltete) musiktheoretische Abhandlung.

Aus den Stobaeus-Fragmenten sei nur das Bedeutendste hier hervorgehoben.


Fragment IV, länger als mancher C. H.-Traktat, behandelt den Unterschied
zwischen Mensch und Tier sowie die Wirkungen ewiger Kräfte in zeitlichen
Geschöpfen. Es gibt sich als Ergänzung zu den Grundlehren. Außer einer in-
tuitiven Physik von hohem Interesse versucht es auch eine Theorie der Wahr-
nehmung.
Fragment VI, astrologischen Charakters, interessiert sich für die Dekan-
Steme,54 die Kometen als Zukunftszeichen u. a. m. Astrologisch ist auch das
(obskurere) Frg. XX.
Fragment X handelt von der Zeit.
Fragment XI bietet 48 sehr kurz gefasste hermetische Lehrsätze in semiti-
schen Parallelismen.
Fragment XII-XIV entwickeln im Detail das- in XI schon angeklungene-
Thema von Vorsehung und Notwendigkeit.
Fragment XV ist eine (völlig hilflose) Theorie der Zeugung, Fragmente XVI
und XVII reflektieren das Verhältnis von Körper und Seele.
Fragment XXTII, unter eigenem Titel überliefert (Kore kosmou), ist ein zu
Traktat I sozusagen alternativer Entwurf einer Kosmogonie. Abschnitt 45 for-
muliert die ausdrückliche Ablehnung empirischen Forschens (mit Hinweis auf
anatomische Sektionen, wie sie in Alexandrien seit Jahrhunderten üblich wa-
ren).55
Fragment XXIV geht über den König, bietet auch eine kuriose Theorie vom
Unterschied der Menschenrassen: Der Kosmos-Körper der orphischen Speku-
lation56 wird hier sozusagen auf den Rücken gelegt und in der Flachlage ge-
deutet.

54 Diese 36 Gestirne, auch hOroskopoi genannt ("Aufseher der [Geburts-]Stunden") wa-


ren so bestimmt, daß jeder zehn (deka) Grade des Tierkreises "beaufsichtigte".
55 Das anatomische Wissen der Antike beruhte sonst auf den Erfahrungen der Opfer-

priester.
56 Vgl. insbesondere das jüdisch-orphische Material bei Holladay, Fragments, Phiion

(oben Anm. 49) und C. H. X 11.


Einleitung des Herausgebers 27

Fragment XXV und XXVI weisen den Seelen ihren Ort im Aufbau des
Kosmos zu, nämlich in der Luft (Grundvoraussetzung des Animismus) und
bieten eine Variante der Seelenwanderungslehre.
Literaturhinweise 1
D' AQUILI, D., »The neurobiological Bases of Myth and Concepts of Deity«,
Zygon 13, 1978, 257-275.
ASSMANN, J., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München
1998.
BAMMEL, E., »Das Judentum als eine Religion Ägyptens« (1988), in: ders.. :
Judaica et Paulina. Kleine Schriften II, Tübingen 1997 (WUNT 91),
115-121.
BETZ, H. D., »The Problem of Apocalyptic Genre in Greek and Hellenistic
Literature: The Case of the Oracle of Trophonius« (1983), in: ders.: Hel-
lenismus und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze I, Tübingen 1990,
184-208.
BÜCHLI, J., Der Poimandres - ein paganisiertes Evangelium. Sprachliche und
begriffliche Untersuchungen zum 1. Traktat des Corpus Hermeticum
(WUNT 11127), Tübingen 1987.
COLPE, »Corpus Hermeticum«, KP V 1588-1592.
FESTUGIERE, A.-J., La revelation d'Hermes Trismegiste, 4 Bde., Paris: Gabalda
1943-1954.
ders., Personal Religion Among the Greeks, Berkeley/ Los Angeles 1960.
ders., Hermetisme et mystique pai'enne, Paris: Aubier 1967.
FOWDEN, G., The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the Late Pagan
Mind, Cambridge 1986
HARTLAUB, G. F., Der Stein der Weisen. Wesen und Bildwelt der Alchemie
(Bibliothek des Germanischen National-Museums 12), München 1959
HENGEL, M., Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter
bes. Berücks. Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v.Chr. (WUNT 10),
Tübingen 1969.
HOLZHAUSEN, J., »Corpus Hermeticum«, DNP III, 203-207.
HOLLADAY, C. (Hg.), Fragments from Hellenistic Jewish Authors, Bd. N:
Orphica (SBL.TT 40), Atlanta 1996.
!VERSEN, E., Egyptian and Hermetic Doctrine, Copenhagen 1984 (Opuscula
Graecolatina, 27).
KOENEN, L., »Die Prophezeiungen des Töpfers«, ZPE 2 (1968), 178-209.
KROLL, »Hermes Trismegistos«, PRE 15, 792-823.

1 Es gelten die Abkürzungen nach SCHWERTNER, S., Internationales Abkürzungsver-


zeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 2 1993 [=Abkürzungsverzeichnis der
Theologischen Realenzyklopädie].
Literaturhinweise 29

MAHE, J.-P., Hermesen Haute-Egypte, Bd. 1: Les textes hermetiques de Nag


Hammadi et leur paralleles gr(Jci et latins; Bd. II: Le fragment du Discours
parfait et les Definitions hermetiques armeniennes, Quebec 1978.1982 (Bibl.
copte de Nag Hammadi, section: textes, 3 [bzw.] 7)
ders., »La Creation dans les Hermetica«, Recherehes Augustiniennes 21, 1986,
3-53
MussiEs, G., »The lnterpretaio Judaica of Thot-Hermes«, in: VAN Voss, D./
HOENS, J. u. a. (Hg.), Studies in Egyptian Religion, Dedicated to Prof Jan
ZANDEE (SHR 43), Leiden 1982, 89-120.
PARAMELLE, J.IMAHE, J.-P., »Extraits hermetiques inedits dans un manuscrit
d'Oxford«, Revue des Etudes Grecques 104 (1991) 109-139.
PHILONENKO, M., »Le Poimandres et la liturgie juive«, in: DUNAND, F.ILEVE-
QUE, P. (Hg.), Les syncretismes dans les religions de l'Antiquite (EPRO 46),
Leiden 1975, 204-211.
ders., »Une utilisaton du Shema dans le Poimandres«, RHPhR 59 (1979),
369-372.
SIEGERT, F., »Die antike Synagoge und das Postulat des unblutigen Opfers«, in:
EGO, B.ILANGE, A.IPILHOFER, P. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel (WUNT),
Tübingen 1999 (im Erscheinen).

Eine Bibliographie zur hermetischen Literatur findet sich in:

Das Corpus Hermeticum Deutsch. Übersetzung, im Auftr. d. Heidelberger


Akademie der Wissenschaften bearb. u. hg. v. C. COLPE und J. HOLZHAU-
SEN, 2 Bde., Stuttgart 1997, II, 643--665. Ein 3. Bd. ist geplant.
Auf diese Bände sei verwiesen für alle Kommentarfragen und für die hier nicht
aufgenommenen Texte.
30 Literaturhinweise

Die im folgenden zugrundegelegte Ausgabe des Urtextes ist:

Corpus Hermeticum. Texte etabli par A. D. NOCK et traduit par A.-J. FEsru-
GIERE, 4 Bde. (Bd. 3 und 4 teilw.: Texte etabli et traduit par A.-J. FEsru-
GIERE), Paris 1946-54 und Nachdrucke (Collection Bude).

Register zur Urtextausgabe:

DELATIE L./GOVAERTS, S./DENOOZ, J. (Hg.), Index du Corpus Hermeticum


(Lessico intellettuale europeo 13), Rom 1977.
Vorwort des Übersetzers

Jede Übertragung eines Textes in eine andere Sprache ist ein Ringen mit Wor-
ten und Begriffen, weil nun einmal Sprachen sehr selten im Wortschatz kon-
gruent sind. So sind auch in diesem Übertragungsversuch nicht immer die
gleichen deutschen Worte für entsprechende griechische verwendet worden.
Das bedeutet, dass der deutsche Leser von meiner Wahl und das heißt auch von
meinem Verstehen der Texte abhängig ist. Für den des Griechischen Kundigen
sehe ich keine Probleme, er wird ohnehin einen solchen deutschen Text nur als
Orientierungshilfe verwenden, sich im übrigen aber an das griechische Original
halten.
Was für das Vokabular gilt, gilt in gleicher Weise auch für die Syntax. Mir ist
.es wichtig, dass der Leser einen - soweit möglich - verstehbaren Text be-
kommt. Die Sätze sind also gegenüber dem Original verändert, meist verkürzt.
Syntaktische Eigenheiten des Griechischen - z. B. Genitivus absolutus u.a. -
sind im Deutschen nicht nachgeahmt, sondern in deutschen Satzkonstruktionen
wiedergegeben. Auch hier ist also der Leser vom Verstehen des Übersetzers
abhängig. Diese Abhängigkeit trifft aber in jedem Falle und für jede Überset-
zung zu. Der Versuch einer intralinearen Übersetzung scheint mir untauglich.
Er fördert ein Verstehen nicht.
Unsere Texte sind aus der Spätantike. Sie stammen in ihrer frühesten schrift-
lichen Gestalt aus einer Zeit, in der es noch keine Interpunktion oder ähnliche
Lesehilfen gab. Die Satzstrukturen wurden lediglich syntaktisch angezeigt. Das
leisteten meist Bindewörter, die es demnach in großer Zahl in unseren Texten
gibt. Sie sind des öfteren durch entsprechende Satzzeichen ersetzt worden.
Die Inkongruenz der Sprachen führt auch dazu, dass an verschiedenen Stel-
len Subjekte, Objekte oder andere Satzteile in Klammem wiederholt werden,
auch. wenn sie im griechischen Text nicht stehen. Frühere Leser des griechi-
schen Textes haben ihre Anmerkungen, eben Glossen, dazu gemacht. Auch
diese stehen im deutschen Text in Klammem, sind zusätzlich noch als Glosse
bezeichnet. Die Zählung der Paragraphen in den einzelnen Traktaten ist vom
Herausgeber des griechischen Textes übernommen, auch wenn meine Textglie-
derung sich nicht immer nach ihnen richtet.
Nun hat bereits der Editor des griechischen Textes manche Teile in Klam-
mem gesetzt. Nicht immer sind die Gründe dafür ersichtlich. Diese Klammem
wurden oft nicht übernommen.
Die interpretierenden Zusätze dieser Ausgabe - sei es in Klammem, sei es in
Fußnoten - beschränken sich auf das Notwendigste, aber auch das Nützlichste.
Sie sollen nur dazu dienen, diese sich sehr esoterisch gebenden Texte ein klein
32 Vorwort des Übersetzers

wenig in ihr Um-, Vor- und Nachfeld einzuordnen. Wo nötig, sind Umschrei-
bungen von Namen in Klammem beigefügt.
Das Verstehen unserer Texte wird dadurch zusätzlich erschwert, dass es viele
Textverderbnisse gibt. Das hat dazu geführt, dass der deutsche Textecruces (t)
enthält. Sie weisen auf die Hilflosigkeit des Übersetzers angesichts eines nicht
gelösten Textproblems hin. Sie stehen an solchen Stellen, an denen auch mit
größtem Aufwand ein einigermaßen verstehbarer deutscher Text nicht erreich-
bar schien. Wo eine Textlücke zu vermuten ist, steht (... ).
Überhaupt ist an unseren Texten mit großem Fleiß gearbeitet worden. Schon
die ersten Herausgeber haben den griechischen Text durch Konjekturen zu
verbessern gesucht, andere glichen jhn ihren Vorstellungen an. Das hat mich zu
dem Bestreben geführt, möglichst nicht solchen Konjekturen zu folgen, son-
dern einen überlieferten Text zu übersetzen. Manchem guten Kenner dieser
Texte wird also vielleicht hier und da einiges befremdlich erscheinen.
Für die Aufnahme der Texte in die Münsteraner Judaistischen Studien bin ich
Herrn Prof. Dr. Folker Siegert zu Dank verpflichtet. Es wäre sonst nicht mög-
lich geworden, diese Texte in einer kleinen Handausgabe einer größeren Leser-
schaft zugänglich zu machen. Sehr hilfreich war die Zusammenarbeit mit ihm
bei Strukturierung und Korrektur der Texte.
Über die Jahre der wiederholten Beschäftigung mit den hier vorliegenden
Texten habe ich Begleitung und Hilfe erfahren. Hier nenne ich die Namen
einiger Freunde, denen ich besonders danken möchte. Sie sind heute zumeist in
Amt und Würden. Zu allen habe ich noch Verbindung bis auf einen, den ich
deshalb zuerst nennen möchte, denn ich weiß nicht, wo er geblieben ist, Detlef
Hasse. Ferner nenne ich Eckhart Altemüller, Joachim Engelland, Bemd Roggl,
Annemarie Wemer, die zum Teil auch an der Erarbeitung der im Zusammen-
hang mit den Studien entstandenen vollständigen Konkordanz zum C. H. be-
teiligt waren. Ein besonderer Dank gebührt freilich meiner Frau, die bei den
abschließenden Durchsichten zum Druck ein immenses Maß an Arbeit über-
nommen hat. Ihr ist vor allem die Anwendung der modernen Orthographie und
Interpunktion zu verdanken.
Karlstein, im März 1999
Karl-Gottfried Eckart
Das Corpus Hermeticum
35

I
Der Poimandres des Hermes Trismegistos
1 Einst geriet ich ins Nachdenken über das Seiende. Mein Denken erhob sich
mächtig, doch blieb mein sichtbarer Körper unten, festgehalten wie Menschen,
die mit Schlaf beschwert sind, entweder wegen der reichlichen Sättigung oder
wegen der Ermüdung des Körpers. Es schien mir ein ganz ungeheuer Großer
meinen Namen zu rufen und zu mir zu sagen:
»Was willst du hören, was schauen, was denken lernen, was erkennen?«
2 Ich sagte: »Wer bist du?«
»Ich bin«, sagte er, »der Poimandres, der Geist der Herrschaft. Ich weiß, was
du willst, und ich bin überall bei dir.«
3 Da sagte ich: ))Ich will das Seiende lernen und dessen Natur bedenken und
Gott erkennen! 0 wie gern«, sagte ich, »möchte ich das hören.«
Da sagte er wiederum zu mir: »Behalte im Sinn, was du lernen willst, ich
aber werde dich lehren.«
4 Als er das gesagt hatte, veränderte er seine Gestalt. Sogleich wurde mir
alles mit einem Schlage eröffnet, und ich sah ein unbegrenztes Bild. Alles war
Licht geworden, recht angenehm und heiter, und ich war bei dem Anblick
verliebt. Aber nach kurzer Zeit war da unten herum Finsternis; im unteren Teil
war sie, fürchterlich und verdrießlich, vollkommen krumm, soviel ich vermuten
und sehen konnte. Die Finsternis schlug in feuchte Natur um, die war unsäglich
verworren und stieß Qualm aus wie vom Feuer und brachte einen Laut hervor-
unaussprechlich klagend. Dann wurde ein unartikulierter Schrei von ihr ausge-
stoßen, die· Stimme der (feuchten) Natur, wie man vermuten konnte. SAus dem
Lichte aber stieg ein heiliger Logos zur Natur herab, und ein ungezügeltes
Feuer sprang aus der feuchten Natur nach oben in die Höhe. Leicht war es und
scharf, unternehmungslustig zugleich; und die Luft, die ja flink ist, folgte dem
Hauche, als sie von Erde und Wasser bis zum Feuer aufstieg, sodass es schien,
als hinge sie von ihm herab. Erde aber und Wasser blieben durcheinanderge-
mischt, sodass man vor Wasser nichts sehen konnte. Es war aber bewegt, weil
der geistige Logos herangebracht worden war, um zu verkünden.
6 Der Poimandres aber fragte mich: »Hast du dieses Schauspiel verstanden,
was es wohl (sagen) will?«
Und ich sagte: »Das werde ich wohl noch erkennen.«
»Jenes Licht«, sagte er, »bin ich, der Nous 1, dein Gott, der schon war, bevor
die feuchte Natur aus der Finsternis erschien. Der lichte Logos aus dem Geiste
ist der Gottessohn.«
1 'Geist' - so im Folgenden übersetzt.
36 Corpus Hermeticum I

»Was weiter?«, fragte ich.


»Wisse also: Was in dir sieht und hört, das ist der Logos des Herrn, der Geist
aber ist der Vatergott Sie sind nicht voneinander getrennt; die Einheit nämlich
dieser (beiden) ist das Leben.«
»Danke!«
»Aber jetzt bedenke das Licht und nimm das Folgende zur Kenntnis.«
7 Dies sagte er und sah mich über längere Zeit scharf an, sodass ich vor
seinem Anblick erzitterte. Als er wieder aufblickte, sah ich in meinem Geiste
das Licht in unzähligen Kräften. Es war ein unbegrenzter Kosmos entstanden,
der beschützte mit größter Kraft das Feuer. Dies erhielt einen festen Standort.
Bei diesem Anblick geriet ich wegen der Rede des Poimandres ins Nachden-
ken. 8 Ich war noch wie betäubt, da sprach er wieder zu mir:
»Du hast in deinem Geist das Urbild gesehen, das vor dem unendlichen
Anfang war«- so der Poimandres zu mir.
»Woher stammen denn nun die Elemente der Natur?«, fragte ich.
Darauf erwiderte er: »Aus dem göttlichen Willen. Der nahm den Logos, sah
den schönen Kosmos und ahmte ihn nach. Er wurde durch seine eigenen Ele-
mente und die Seelengeschöpfe zum Kosmos. 9 Aber Gott, der Geist, der
mannweiblich ist, der Licht und Leben verkörpert, gebar durch das Wort einen
anderen Geist, den Schöpfer. Dieser, der Gott des Feuers und des Hauches,
erschuf sieben Verwalter. Sie umfassen in Kreisen den sichtbaren Kosmos und
ihr Walten heißt Schicksal.«
10 Gleich sprang aus den unteren Elementen Gottes der Logos Gottes in die
reine Schöpfung der Natur und wurde mit dem Schöpferverstand vereint, denn
er war ihm wesensgleich. Und so wurden die unteren Elemente der Natur, die
ohne Logos sind, zurückgelassen, sodass nur noch Materie war. 11 Der Schöp-
ferverstand, mit dem Logos (vereinigt), der die Kreise unifasst und schwirrend
im Kreise dreht, versetzte seine eigenen Geschöpfe in Drehung und ließ sie sich
von einem grenzenlosen Anfang bis zu einem unendlichen Ende drehen: Es
beginnt, wo es endet. Und der Umlauf dieser (Geschöpfe), so wie es der Geist
wollte, brachte aus den unteren Elementen Lebendes ohne Logos hervor - denn
er gab (ihnen) den Logos nicht -. Die Luft brachte Gefiedertes hervor und das
Wasser Schwimmendes. Nun waren auch Erde und Wasser voneinander ge-
trennt, ganz wie es der Geist wollte, und (die Erde) brachte aus sich selbst
hervor, was sie hatte: Lebendes, Vierfüßiges, Kriechendes; Tiere, wild und
zahm.
12 Aber der Vater aller Dinge, der Geist, weil er Leben und Licht ist, gebar
einen Menschen, ihm gleich, 2 sein eigenes Kind, und er liebte es. Weil er, über

2 Vgl. Gen 1,26f.


Corpus Hermeticum I 37

alle Maßen schön, das Bild des Vaters an sich trug, verliebte der Gott sich
wahrhaftig in seine eigene Gestalt. Alle seine Werke machte er ihm untertan. 3
13 Als der (Sohn) dann des Schöpfers Schöpfung im Vater sah, wollte er auch
selbst etwas erschaffen, und das wurde vom Vater gestattet. Er, der doch Voll-
macht haben sollte, kam in die Schöpfungssphäre und betrachtete die Ge-
schöpfe seines Bruders. Die aber verliebten sich in ihn, und jedes gab ihm
Anteil an seinem eigenen Tun. Als er so ihr Wesen erkannt und an ihrer Natur
teilhatte, wollte er die Umlaufbahn der Kreise zerreißen und die Kraft dessen,
was über dem Feuer ist, erkunden. 14 Und der, der über den Kosmos der
Sterblichen und der Tiere alle Gewalt hat, beugte sich durch das Kraftgewebe,
das er zerrissen hatte, und zeigte der unteren Natur Gottes schöne Gestalt. Als
sie diese sah, in unendlicher Schönheit, alle Macht der Verwalter und Gottes
Gestalt an sich tragend, da lächelte sie in Liebe, weil sie ja das Bild der schön-
sten Gestalt des Menschen im Wasser und seinen Schatten auf der Erde sah. Als
er jedoch die ihm ähnliche Gestalt im Wasser sah, entbrannte er in Liebe und
wollte dort wohnen. Zugleich mit dem Entschluss geschah. die Tat: Dieser Ge-
stalt ohne Logos wohnte er bei. Als nun die Natur den Geliebten empfing,
umarmte sie ihn völlig und sie vereinigten sich: Sie waren ja Liebende.
15 Und deshalb ist im Unterschied zu allem Lebenden auf Erden der Mensch
zweifach: Sterblich ist er des Körpers wegen, unsterblich aber des wahrhaftigen
Menschen wegen. Obwohl er unsterblich ist und Macht über alles hat, wider-
fatut ihm das Sterben, das dem Schicksal unterworfen ist. Obwohl er. in den
Rang oberhalb des Himmelsgewölbes gehört, wurde er zum Knecht in der
Welt. Obwohl er mannweiblich ist und von einem mannweibliehen Vater
stammt, ein ewig Wacher von einem ewig Wachen, ist er gefangen.«
16 Darauf ich: »Mein Geist, ich muss nach dem Sinn fragen!<<
Der Poimandres sagte: »Dies ist ein bis zum heutigen Tage verborgenes
Geheimnis. Denn nach der Vereinigung mit dem Menschen brachte die Natur
ein äußerst wundersames Wunder hervor. Weil der, von dem ich dir sagte, dass
er vom Vater und vom Geist4 stamme, die Natur des Zusammenwirkens der
Sieben in sich hielt, zögerte die Natur nicht, sondern gebar sogleich sieben
Menschen, der Natur der sieben Verwalter entsprechend; mannweiblich waren
sie und stolz.«
Darauf ich: »Mein Poimandres, jetzt hat mich großes Verlangen erfasst und
ich begehre zu hören. Enteile nicht!«

3 Vgl. Gen 1,28; Ps 8,7.


4 Pneuma, wörtl. 'Hauch' (oben Abschnitt 5 und 9); hingegen ist nous (oben Abschnitt
6, 9 usw.) 'Geist' im Sinne von 'Denken'.
38 Corpus Henneticum I

Und der Poimandres: »Schweige doch! Ich habe dir den ersten Gedanken
noch gar nicht entfaltet.«
»Siehe, ich schweige«, sagte ich.
17 »Die Entstehung dieser sieben, die ich erwähnte, vollzog sich in solcher
Weise: Weiblich war die Erde und das Wasser brünstig; was aber aus dem Feuer
stammt, ist die Reife. Aus dem Aether empfing die Natur den Atem und brach-
te so die Körper nach dem Bild des Menschen hervor. So wurde der Mensch
aus Leben und Licht zu Seele und Geist, nämlich aus dem Leben zu Seele und
aus dem Licht zu Geist. Und so blieben alle Dinge des sichtbaren Kosmos bis
zum Ende des Umlaufs und dem Anfang der Geschlechter.
18 Achte nun weiter auf die Lehre, die du hören willst! Nach Vollendung des
Umlaufs wurde die Fessel aller nach göttlichem Ratschluss gelöst. Alle Lebe-
wesen, die noch zweigeschlechtlich waren, wurden jetzt zugleich mit dem
Menschen aufgeteilt; einerseits entstand das Männliche und andrerseits das
Weibliche. Jetzt sprach Gott mit heiligem Wort: 'Pflanzt euch fort und vermehrt
euch reichlich, all ihr Geschöpfe und Schöpfungen' ,5 und 'jeder Verständige
soll erkennen, dass er selbst unsterblich ist und dass die Liebe Ursache des
Todes ist, und alles Seiende' .6 «
19 Als er dies gesagt hatte, erschuf die Vorsehung durch Schicksal und
himmlische Macht die Liebesvereinigungen, bewirkte die Fortpflanzungen, und
so vermehrte sich alles von Geschlecht zu Geschlecht. 'Wer sich selbst wie-
dererkannt hat, der ist schon in das ewige Gute eingegangen'; wer aber den
Leib aus unsteter Liebe vorzieht, der bleibt verirrt in der Dunkelheit, erleidet
sichtbar den Tod.«
20 Ich fragte: »Wieso begehen denn die, die nicht erkennen, eine so große
Sünde, dass sie der Unsterblichkeit beraubt werden?«
»Du scheinst über das, was du gehört hast, nicht nachgedacht zu haben, mein
Lieber! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nachdenken?!«
»Ich denke nach und erinnere mich und danke auch.«
»Wenn du nachgedacht hast, dann sage mir doch, weshalb die, die im Tode
leben, des Todes würdig sind?«
»Weil über den eigenen Körper von Anfang an die verhasste Finsternis
herrscht. Aus ihr stammt die feuchte Natur, aus der wiederum ist der Körper in
der sichtbaren Welt zusammengesetzt, aus der schließlich der Tod genährt
wird.«

5 Vgl. Gen 1,22, mit zusätzlichen Hebraismen (Wortstammwiederholungen) ausge-


drückt.
6 Lehrsatz der Gnosis. Vgl. Abschitt 21 und C. H. X 24.
Corpus Henneticum I 39

21 »Das hast du richtig bedacht, mein Lieber! Was meint aber das: 'Wer sich
selbst erkennt, geht in ihn ein', was im Wort Gottes enthalten ist?« 7
Ich antwortete: »Dass der Vater aller Dinge, von dem der Mensch abstammt,
aus Licht und Leben besteht.«
»Gut antwortest du da! Licht und Leben ist Gott, der Vater, von dem der
Mensch abstammt. Wenn du nun begriffen hast, dass er aus Leben und Licht
besteht und dass du davon herkommst, dann wirst du wieder in das Leben
eingehen.« Dieses sagte der Poimandres.
»Aber sage mir noch«, bat ich, »wie kann ich denn in das Leben eingehen,
Nous, mein Lehrer?«
»Gott spricht: 'Der verstandesbegabte Mensch muss sich wiedererkennen!' 8«
22 »Haben denn nicht alle Menschen Geist?«
»Hüte deine Zunge, du! Ich selbst, der Geist, bin mit den Heiligen, den
Guten, den Reinen, den Barmherzigen und den Frommen. Meine Gegenwart
bedeutet Hilfe. Sogleich erkennen sie alles, huldigen in Liebe dem Vater und
danken mit Loben und wohlgeordnetem Singen in Hinwendung zu ihm. Schon
bevor sie den Körper dem eigenen Tode überlassen, verabscheuen sie die Sinne,
weil sie deren Wirkungen kennen. Ja, noch mehr: Ich, der Geist selbst, werde
nicht zulassen, dass die herandrängenden Wirkungen des Körpers zur Vollen-
dung kommen. Als Türwächter werde ich die Zugänge der schlechten und
schändlichen Wirkungen verschließen und die bösen Gedanken beseitigen. 23
Den Dummen, Schlechten, Schlimmen, Neidern, Habgierigen, Mördern und
Gottlosen bin ich fern und mache dem peinigenden Gott9 Platz. Der bestürmt
einen solchen sichtlich, bewirft ihn mit der Schärfe des Feuers, ja noch mehr, er
stiftet ihn zu Ungesetzlichkeiten an, damit er um so größere Strafe erlange. Er
hört auch nicht damit auf, weil er unendliche Lust nach Greueltaten hegt. Selbst
im Dunkeln noch kämpft er unersättlich. Diesen quält er und häuft Feuer um
Feuer auf ihn.«
24 »Gut hast du mich alles gelehrt, ganz wie ich wollte, mein Geist! Sage
mir aber noch vom bevorstehenden Aufstieg!«
Dazu sagte Poimandres: »Zuerst, bei der Auflösung des stofflichen Körpers,
überlässt man den Körper selbst der Veränderung und die Gestalt, die du hat-
test, verschwindet. Die unwirksam gewordene Wohnstatt überlässt du dem
Gott, die sichtbaren Teile des Körpers kehren zu ihren Quellen zurück und
werden wieder Teile, die in ihren Kräften aufgenommen sind. Lust und Begier-

7 Hier und am Ende des Abschnitts Zitate aus einem heute verlorenen (oder fingierten?)
Werk.
8 Vgl. Abschnitt 18.
9 Oder: Dämon. Vgl. C. H. X 21; ferner Stob. XXIII 62.
40 Corpus He!llleticum I

de gehen wieder in die vernunftlose Natur. 25 Und so drängt er dann durch die
Sphären nach oben: In der ersten Zone gibt er die Kraft ab, größer oder kleiner
zu werden; in der zweiten die bösen Ränke - unwirksam gewordene List! -; in
der dritten die Verführungslust- abgetan!...:.; in der vierten die Herrschsucht-
übervorteilt nicht mehr! -; in der fünften die ruchlose Frechheit, den kecken
Leichtsinn; in der sechsten die bösen Ursachen des Reichtums- unwirksam!-;
in der siebenten Zone die hinterhältige Lüge. 26 Und dann, entblößt von den
Wirkungen der Bindung (an den Körper), gelangt er in die achte Sphäre, die
ihre eigene Kraft hat, und lobsingt mit den Wesen 10 dem Vater. Die Anwesen-
den freuen sich über seine Ankunft, und nachdem er ihnen gleich geworden ist,
hört er auch über der achten Sphäre noch Mächte mit süßer Stimme Gott
lobsingen. Nun gehen sie der Reihe nach zum Vater hinauf, liefern sich selbst
den Mächten aus und so, zu Mächten geworden, sind sie in Gott. Dieses ist das
gute Ziel für die, die Erkenntnis erlangt haben: Gott zu werden. Also, was
zögerst du noch? Willst du nicht, weil du alles übernommen hast, den Würdi-
gen ein Wegbereiter werden, damit das Menschengeschlecht durch dich von
Gott gerettet wird?«
27 Als der Poimandres dies gesagt hatte, vermischte er sich JDit mir zu den
Mächten. Ich aber dankte und pries den Vater aller Dinge, wurde von ihm
ausgesandt, mit Kräften ausgerüstet und über die Natur des Alls und die größte
Schau belehrt. Und ich begann, den Menschen die Schönheit der Frömmigkeit
und Erkenntnis zu predigen:
»Ihr Völker, erdgeborene Männer, die ihr euch dem Rausch, dem Schlaf, der
Unwissenheit über Gott hingebt, seid nüchtern, hört auf, euch zu berauschen,
euch mit sinnlosem Schlaf zu lähmen.« 28 Die es aber hörten, strömten ein-
mütig zusammen. Ich aber sagte:
»Ihr erdgeborenen Männer, warum habt ihr eucl:t dem Tod ausgeliefert, ob-
wohl ihr doch die Möglichkeit habt, an der Unsterblichkeit teilzuhaben? Ändert
euren Sinn! 11 Ihr seid mit dem Irrtum unterwegs und pflegt Umgang mit der
Unwissenheit. Trennt euch von dem finsteren Licht, nehmt teil an der Unsterb-
lichkeit, 12 verlasst das Verderben!«
29 Die einen gingen laut schwatzend fort und lieferten sich so dem Weg zum
Tode aus, die anderen baten, weiter unterwiesen zu werden, 13 und warfen sich
mir zu Füßen. Ich aber richtete sie auf und wurde dieser Gruppe zum Lehrer.
So lehrte ich sie die Worte, wie und auf welche Weise sie gerettet werden

10 Vgl. Ez 1,5ff.
11 Vgl. Mk 1,15 usw. und C. H. VII.
12 Vgl. Job 3,16-18; 5,24.
13 Vgl. Act 17 ,32.
Corpus Hermeticum I 41

sollten; ich streute die Worte der Weisheit unter ihnen aus, 14 und sie wurden mit
ambrosischem Wasser gespeist. Als es Abend geworden war und der volle
Glanz der Sonne zu schwinden begann, empfahl ich ihnen, Gott zu danken.
Und nachdem sie das Dankgebet verrichtet ·hatten, wandte sich jeder seinem
eigenen Bett zu.
30 Ich aber schrieb die Wohltat des Poimandres für mich auf15 und so, erfüllt
mit allem, was ich begehrt hatte, freute ich mich sehr. Der Schlaf des Körpers
wurde zur Nüchternheit der Seele, das Schließen der Augen zum wahren Se-
hen, mein Schweigen geschwängert mit Gutem, das Aussprechen des Wortes zu
Früchten des Guten. Dieses widerfuhr mir, als ich es von meinem Geist emp-
fing, das heißt, vom Poimandres, vom Wort der Herrschaft. Hier bin ich, gott-
begeistert durch die Wahrheit. Deshalb bringe ich Gott, dem Vater, aus ganzer
Seele und ganzer Kraft 16 Lob dar:
31 Heilig ist Gott, der Vater aller Dinge.
Heilig ist Gott, dessen Wille von den eigenen Kräften erfüllt wird.
Heilig ist Gott, der erkannt werden will und von den Seinen erkannt wird. 17
Heilig bist du, der durchs Wort alles hingestellt hat. 18
Heilig bist du, dessen Bild zur ganzen Natur wurde.
Heilig bist du, den nicht die Natur Gestalt werden ließ.
Heilig bist du, der stärker ist als jede Kraft.
Heilig bist du, der größer ist als alle Mächtigkeit.
Heilig bist du, der stärker ist als (unsere) Loblieder.
Nimm hin von Seele und Herz, die sich zu dir emporrecken, die heiligen,
geistigen Opfer, 19 du Unaussprechlicher, Unsagbarer, der du nur im Schweigen
angerufen wirst! 32 Gewähre mir, ich bitte dich, dass ich nicht falle von der
Erkenntnis, die unserem Wesen zukommt; stärke mich, damit ich ob dieser
Gnade erleuchte, die in Unwissenheit über ihre Art sind, meine Brüder, deine
Söhne! Darum glaube ich und bezeuge: Ins Leben und ins Licht gehe ich! Du
bist hochgelobt, Vater! Dein Mensch will sich dir weihen, so wie du ihm alle
Macht übergeben hast. 20

14 Vgl. Mk 4,14 par; I Joh 3,9.


15 Vgl. Dtn 6,9.
16 Vgl. Dtn 6,5.
17 Vgl. Joh 1,11; zur dreimaligen Aussage Jes 6,3.
18 Vgl. Gen 1,3; Ps 33 (32), 6; Joh 1,1.
19 Vgl. Ps 50 (49), 14; Röm 12,1; Hebr 13,15; C. H. XIII 18.
20 Vgl. Ps 8,7; Mt 11,27//Lk 10,22; Mt 28,18; Joh 5,20.27.
42

1 (... ) »Wird nicht alles Bewegte, mein Asklepios, irgendwo und von irgend-
einem in Bewegung gehalten?«
. »Gewiß.«
»Ist ·nicht notwendig der (Raum), in dem das Bewegte bewegt wird, recht
groß?«
»Notwendigerweise.«
»Ist also das Bewegende stärker als das Bewegte?«
»Natürlich stärker!«
»Hat nicht notwendig der (Raum), in dem bewegt wird, eine völlig andere
Natur als das Bewegte?«
»Und ob.«
2 »Groß ist also dieser Kosmos und kein Körper ist größer als er.«
»Zugegeben.«
»Und stark? Ist er doch voll von vielen anderen großen Körpern, mehr noch,
von allen Körpern, die es gibt.«
»So verhält es sich.«
»Ist denn der Kosmos ein Körper?«
»Ja, ein Körper.«
»Und ein bewegter?«
3 »Gewiß.«
»Wie g.-oß und von welcher Art muss nun der Raum sein, in dem (der
Kosmos) bewegt wird? Muss er nicht viel größer sein, um die große Last
aufnehmen zu können, damit nicht das Bewegte, durch die Enge bedrängt, mit
der Bewegung aufhört?«
»Er muss wohl sehr groß sein, Trismegistos.«
4 »Von welcher Art? Doch wohl von der gegensätzlichen, Asklepios? Die
dem Körper. gegensätzliche Natur ist das Unkörperliche.«
»Zugegeben.«
»Der Raum ist also unkörperlich; das Unkörperliche aber ist entweder gött-
lich oder Gott. Unter dem Göttlichen verstehe ich aber nicht das Geschaffene,
sondern das Ungeschaffene. 5 Wenn er nun göttlich ist, hat er noch Substanz.
Wenn er aber Gott ist, hat er auch keine Substanz mehr. Dennoch ist er erkenn-
bar, und zwar so: Erkennbar nämlich ist der erste Gott uns, nicht sich selbst.
Durch die Wahrnehmung nämlich begegnet das Erkennbare dem Erkennenden.
Also ist der Gott durch sich selbst nicht erkennbar. Weil er nicht etwas anderes

1 Überschrift und Anfang fehlen. Stattdessen steht die hierher nicht passende Über-
schrift: Hennes an Tat, Logos IUJtholikos.
Corpus Henneticum II 43

ist als das Erkannte, wird er von sich selbst (nicht) erkannt. 6 Für uns aber ist er
etwas anderes; deshalb wird er von uns erkannt. Wenn aber der Raum erkenn-
bar ist, dann nicht als Gott, sondern als Raum; wenn aber doch als Gott, dann
nicht als Raum, sondern als umfassende Kraft. Alles Bewegte nun wird nicht
durch ein Bewegtes bewegt, sondern durch ein Feststehendes. Und das Bewe-
gende steht fest; unmöglich, dass es sich mitbewegt.«
»Wie nun, Trismegistos, die hiesigen (Dinge) bewegen sich doch mit den
Bewegenden? Du aber hast gesagt, dass die umlaufenden Sphären von den
ruhenden Sphären bewegt werden.«
»Dieses, mein Asklepios, ist keine Mitbewegung, sondern eine Gegenbe-
wegung; denn sie bewegen sich nicht in gleicher Richtung, sondern einander
entgegengesetzt. Gegenbewegung bedeutet ein feststehendes Gegenstemmen
gegen die Bewegung. 7 Der Gegenstoß ist der Stillstand des Laufes. Die um-
laufenden Sphären, die ja durch die ruhende gegensätzlich bewegt werden,
werden von (eben dieser) feststehenden (Sphäre) in der gegenseitigen Begeg-
nung um den Drehpunkt selbst herumbewegt. Unmöglich kann es anders sein.
Meinst du, dass das Sternbild des Bären, das du weder untergehen noch auf-
gehen, aber um denselben (Punkt) kreisen siehst, sich bewegt oder feststeht?«
»Es bewegt sich, Trismegistos.«
»In was für einer Bewegung, mein Asklepios?«
»In der, die ständig um dasselbe kreist.«
»Der Umlauf ist (immer) derselbe und die Bewegung um den Drehpunkt ist
von dem Stillstand gehalten. Dass (die Bewegung) um den Drehpunkt herum
(geschieht), verhindert, dass (sie) über (ihn) hinausgeht, t und so ist die Ab-
weichung verhindert t; wenn (die Bewegung) im Drehpunkt festgelegt ist, dann
ist so auch die Gegenbewegung festgelegt, weil sie im Drehpunkt festgestellt
ist. 8 Ich will dir ein irdisches Beispiel sagen, das einleuchtet. Betrachte die
sterblichen Lebewesen, wozu ich auch den Menschen rechne, beim Schwim-
men. Wenn das Wasser fließt, wird für den Menschen die Gegenbewegung mit
Händen und Füßen zum Stillstand, sodass er nicht mit dem Wasser abgetrieben
wird.«
»Einleuchtendes Beispiel, Trismegistos.«
»Jede Bewegung wird aus dem Stillstand und vom Stillstand in Gang ge-
setzt. Nun wird die Bewegung des Kosmos und jedes stofflichen Lebewesens
nicht von außen her bewirkt, sondern von innen her nach außen, vom Sinn-
haften - ob nun von Seele oder Geist oder irgendeinem anderen Körperlosen.
Ein Körper nämlich bewegt keinen beseelten Körper, überhaupt keinen Körper,
nicht einmal einen unbeseelten.«
9 ))Wie meinst du das, Trismegistos? Gibt es denn nun keine Körper, die
Hölzer, Steine und anderes Unbeseeltes bewegen?«
44 Corpus Hermeticum II

»Keineswegs, mein Asklepios. Denn das Innere des Körpers, der das Un-
beseelte bewegt, ist nicht jener Körper, der beide bewegt, den (Körper) des
Tragenden wie den des Getragenen. Deshalb kann ein Unbeseeltes kein Un-
beseeltes bewegen. Du siehst nun, dass die Seele überlastet ist, wenn sie alleine
zwei Körper tragen soll. Und es ist klar, dass das Bewegte in einem und von
einem bewegt wird.«
10 »Muss denn das Bewegte in einem leeren (Raum) bewegt werden, Tris-
megistos?«
»Schweig, mein Asklepios! Auch kein einziges der Seienden ist leer vom
Gedanken der Existenz. Das Seiende könnte ja nicht ein Seiendes sein, wenn es
nicht voll Existenz wäre; denn das Existierende kann niemals leer sein.«
»Gibt es nun etwa nichts Leeres, Trismegistos, wie zum Beispiel Eimer,
Krug, Trog oder was es sonst derartiges gibt?«
»Pfui, welch gewaltiger Irrtum, Asklepios! Was bis zum Rande voll ist, das
hälst du für leer?«
11 »Wie meinst du das, Trismegistos?«
»Ist die Luft kein Körper?«
»Doch, ein Körper.«
»Und durchdringt nicht dieser Körper alles Seiende und erfüllt alles, da er es
durchdringt? Besteht nicht ein Körper zusammengemischt aus den vier (Ele-
menten)? So ist doch alles, was du 'leer' nennst, voll Luft. Wenn aber (voll)
von Luft, dann auch voll von den vier Körpern? Und es ergibt sich, dass der
gegenteilige Gedanke hervortritt: Dass dieses alles, das du 'voll' nennst, ohne
Luft ist, weil es von anderen Körpern eingeengt wird und keinen Platz hat, die
Luft aufzunehmen. Das also, was du 'leer' nennst, muss man 'hohl' nennen,
nicht 'leer'. Was die Existenz angeht, ist das (Hohle) voll Luft und Wind.«
12 »Ein unbestreitbarer Gedanke, Trismegistos. Wie nennen wir also den
Ort, wo sich alles bewegt?«
»Unkörperliches, mein Asklepios.«
»Und was ist nun das Unkörperliche?«
»Ganz und gar Geist, der sich selbst umgreift, frei von jedem Körper, un-
bewegt, ohne Leiden, unberührbar, selbst in sich selbst stehend, der alles in sich
fasst, allem Seienden heilsam; wie seine Strahlen ist das Gute, ist die Wahrheit,
ist das Urbild des Geistes, ist das Urbild der Seele.«
»Was ist dann aber Gott?«
»Der auch nicht eines von diesen ist, aber diesen und allen und jedem ein-
zelnen aller Seienden Grund des Seins. 13 Es bleibt also nichts übrig als das
Nichtseiende. Alles aber entsteht aus den Seienden, nicht aus den Nichtseien-
den. Das Nichtseiende hat nicht die Natur werden zu können, sondern nicht-
werden zu können; und das Seiende andererseits hat nicht die Natur niemals zu
sein.«
Corpus Hermeticum II 45

14 »Was sagst du: Nie zu sein?«


»Gott also ist nicht Geist, wohl aber Grund des Geistes; nicht Geisthauch,
aber Grund des Geisthauches; nicht Licht, aber Grund des Lichtes. Deshalb
muss man Gott mit diesen beiden Anreden verehren, die nur ihm allein zukom-
men, aber keinem anderen. Unter keinen Umständen kann einer der anderen
sogenannten Götter,'ein Mensch, ein Dämon 'gut' sein außer Gott. Und allein
dies ist er und nichts anderes. Alles andere aber kium die Natur des Guten nicht
in sich fassen. Denn es besteht aus Körper und Seele, hat aber keinen Platz, der
das Gute fassen kann. 15 Von solchem Ausmaß ist das Gute wie die Substanz
alles Seienden, des Körperlichen und des Unkörperlichen, des Sichtbaren und
des Denkbaren. Dies ist das Gute, dies ist Gott. Also nenne nun nichts anderes
'gut', sonst frevelst du, oder etwas anderes jemals 'Gott' als allein das Gute,
sonst frevelst du ebenso. 16 Zwar reden alle über das Gute, aber keiner denkt
darüber nach, was es eigentlich ist. Und deshalb denkt auch keiner über Gott
nach; sondern aus Unkenntnis nennt man die Götter und einige Menschen gut,
die es doch niemals sein oder werden können. Das Gute ist doch das Eigen-
tümlichste Gottes und von ihm untrennbar; es ist Gott selbst. Alle anderen
unsterblichen Götter werden zwar auch der Anrede 'Gott' gewürdigt, »Gott das
Gute« aber (heißt Gott) nicht der Würde wegen, sondern der Natur nach. Eines
nur ist die Natur Gottes: das Gute. Beide sind ein Geschlecht, aus dem alle
Geschlechter stammen. Wie der Gute alles gibt und nichts nimmt, so gibt Gott
alles und nimmt nichts. »Somit ist Gott das Gute, und das Gute ist Gott«.
17 Die zweite Anrede ist 'Vater', weil er alles erschafft. Denn des Vaters
Sache ist Erschaffen. Deshalb verwenden die Verständigen im Leben die größte
und frömmste Mühe auf das Kinderzeugen, und es ist das größte Mißgeschick
und Frevel, wenn einer kinderlos stirbt, und er wird nach dem Tode den Dä-
monen dafür büßen. Die Strafe aber ist folgende, dass die Seele des Kinder-
losen in einen Körper verbannt wird, der weder männlicher noch weiblicher
Natur ist, was unter der Sonne verflucht ist. Also, mein Asklepios, gib dich mit
keinem Kinderlosen ab; im Gegenteil, habe Mitleid mit dem Unglücklichen, da
du ja weißt, welche Strafe ihn erwartet. Das soll genügen, mein Asklepios, als
erste Erkenntnis der Natur aller Dinge!«
46

111
Heilige Rede des Hermes

1 »Glanz aller Dinge ist Gott und Göttliches und göttliche Natur. Ursprung
der Wesen ist Gott, -Geist, Natur und Materie- er ist Weisheit zum Erweis
aller Dinge; das Göttliche ist Ursprung, Natur, Wirkkraft, Notwendigkeit, Ziel
und Erneuerung. Unendliche Finsternis war in der Tiefe, Wasser und kaum
denkender Geist; durch göttliche Kraft waren sie im Raume. Heiliges Licht
wurde emporgesandt, im· Sande wurden aus feuchtem Wesen die Elemente
verfestigt, und alle Götter lieben die fruchtbare Natur.
2 Als alle Dinge noch ungetrennt und ungeordnet waren, 1 wurde das Leichte
in die Höhe abgesondert, das Schwere auf den feuchten Sand als tragendes
Fundament gesetzt, 2 weil alle Dinge durch Feuer getrennt und aufgehängt wa-
ren und sich vom Winde tragen ließen. Es erschien der· Himmel in sieben
Kreisen, dazu die in den Sternbildern sichtbaren Götter mit all ihren Zeichen; er
wurde mit den dortigen Göttern gestaltet, ringsum von .Luft umgeben, die vom
göttlichen Wind in der Kreisbahn getragen wird. 3 Jeder Gott brachte aus
eigener Kraft hervor, was ihm aufgetragen war. So entstanden vierfüßige Tiere,
Kriechtiere, Wassertiere, Vögel, jeglicher fruchtbare Same, Gras und das Spros-
sen aller Blüten.
t Sie sammelten sich den Samen der Wiedergeburt und die "Menschen-
generationen zur Erkenntnis göttlicher Werket. das kräftige Zeugnis der Natur,
die Menge der Menschen, die Herrschaft über alles unter dem Himmel und die
Erkenntnis des Guten, damit sie kräftig wachsen sollten .zu reichlicher Ver-
mehrung.3 (Sie sammelten) jede Seele im Fleische durch den wunderträchtigen
Lauf der Götter auf der Kreisbahn zum Auskundschaften des Himmels, des
Laufs der himmlischen Götter, der göttlichen Werke, der kräftigen Natur und
der Wunder des Guten; zur Erkenntnis der göttlichen Macht, um die von guten
und schlechten (Dämonen) bevölkerten Gegenden zu erkennen und das Kunst-
werk aller Guten (Dämonen) zu finden.
4 Leben herrscht über sie und Klugwerden, uni teilzunehmen am Lauf der
zyklischen Götter und um dorthin aufgelöst zu werden, wo große Erinnerungen
an die Kunstwerke auf der Erde sind, wenn sie sie zurücklassen in der Dun-
kelheit im Begriff der Zeiten, zu allem Werden des beseelten Fleisches und der
fruchtbaren Saat und allem Werk. Das Geringe wird durch Notwendigkeit und

1 Gen 1,2 LXX.


2 Vgl. Ps 21 (20), l.
3 Gen 1,22.28 LXX.
Corpus Henneticum III 47
Erneuerung der Götter und durch den Lauf der Natur des Zahlenkreises erneu-
ert werden. Denn das Göttliche ist die ganze geordnete Mischung, die durch die
Natur erneuert wird; im Göttlichen nämlich ruht auch die Natur.«
48

IV

(Rede) des Hermes an Tat: Der Krug, 1 die Eins

1 »Weil der Schöpfer den ganzen Kosmos schuf, nicht mit den Händen,
sondern durch den Logos, so verstehe, dass er anwesend war, dass er ewig ist,
dass er alles geschaffen hat, dass er ein Einziger ist, dass er, was ist, durch
seinen Willen schuf. Dies nämlich ist sein Körper: nicht tastbar, nicht sichtbar,
nicht meßbar, nicht zergliedert und keinem anderen Körper ähnlich. Er ist
weder Feuer noch Wasser noch Luft noch Wind, sondern all dies stammt von
ihm. Weil er gut ist, wollte er dieses (Schaffen) allein sich selbst vorbehalten
und wollte die Erde schmücken. 2 Er sandte als Schmuck des göttlichen Kör-
pers den Menschen aus, ein sterbliches Wesen, (abstammend) von einem un-
sterblichen. Die Welt der Lebewesen hat Anteil am ewigen Wesen, am Logos
der Welt und am Geist. Der Mensch wurde Zuschauer des Werkes Gottes,
staunte und erkannte den Schöpfer. 3 Den Logos nun, mein Tat, verteilte er
unter allen Menschen, den Geist aber nicht so - keineswegs weil er ihn je-
mandem mißgönnte; denn die Mißgunst kommt nicht von dort }ler, sondern ist
unten mit den Seelen der Menschen, die eben keinen Geist haben, verbunden.«
»Warum nun, mein Vater, teilte Gott den Geist nicht allen aus?«
»Mein Kind, er wollte, dass dieser den Seelen öffentlich wie ein Kampfpreis
ausgesetzt würde.«
4 »Und wo hat er ihn ausgesetzt?«
»Er füllte damit einen großen Krug und sandte ihn herab; er setzte einen
Boten ein und befahl ihm, den Herzen der Menschen Folgendes zuzurufen:
'Tauche ein, wenn du kannst, in diesen Krug, wenn du glaubst, dass du hinauf-
steigen wirst zu dem, der den Krug herabsandte, wenn du erkennst, wozu du
geschaffen bist'. Alle, die die Botschaft verstanden und in den Geist eintauch-
ten, hatten teil an der Erkenntnis und wurden als Menschen vollkommen, weil
sie den Geist empfangen hatten. Alle aber, die die Botschaft verfehlten, selbst
die Vernunftbegabten, wussten nicht, wozu und woher sie geschaffen waren,
weil sie nicht auch den Geist empfangen hatten. 5 Denn das Wahrnehmungs-
vermögen dieser Leute gleicht dem der vernunftlosen Tiere, und weil sie nur
aus Erregung und Zorn gemischt sind, bewundern sie das Beteachtenswerte
nicht, wenden sich nur den Lüsten und Begierden des Körpers zu und glauben,
dass allein deretwegen der Mensch geschaffen sei. Alle aber, die Anteil erlangt
haben an der Gabe Gottes, mein Tat, sind hinsichtlich ihres Thns Unsterbliche

1 Krater, »Mischkrug«, auch Vorratskrug, nicht Schöpfkrug. Vgl. Abschnitt 4.


Corpus Henneticum IV 49

statt (bisher) Sterbliche, da sie mit dc;m ihnen eigenen Geist alles erfassen, was
auf der Erde, was im Himmel und das, was möglicherweise über dem Himmel
ist. Nachdem sie sich so hoch erhoben haben, sehen sie das Gute, und nachdem
sie es gesehen haben, halten sie das hiesige Leben für ein Unglück. Sie verach-
ten das Körperliche und das Unkörperliche und streben nur dem Einen und
Einzigen zu. 6 Dieses, mein Tat, ist die Weisheit des Geistes, Eingraviertes der
göttlichen Dinge, die wahre Erkenntnis Gottes, denn göttlich ist der Krug.«
»Auch ich, mein Vater, möchte mich eintauchen!«
»Wenn du nicht zuerst deinen Körper hassen lernst, wirst du dich selbst nicht
lieben können. Wenn du dich dann selbst liebst, wirst du den Geist haben; und
wenn du den Geist hast, wirst du an der Weisheit teilhaben.«
»Wie meinst du das, mein Vater?«
»Es ist unmöglich, mein Kind, sich um beides zu kümmern, um das Sterb-
liche und um das Göttliche. Da nun alles Seiende zweifach ist, körperlich und
unkörperlich, worin das Sterbliche und das Göttliche enthalten sind, bleibt dem,
der wählen will, die Entscheidung für eins von beiden überlassen. {Es gibt gar
nicht zweierlei, zwischen denen die Entscheidung bliebe. }2 Aber weil das eine
geringer ist, bringt es die Wirkkraft des anderen zum Vorschein. 7 Die Kraft ist
also die Wahl des Besseren: Nicht nur für den ist sie die beste, der gewählt hat,
den Menschen göttlich zu machen, sondern sie zeigt auch die Frömmigkeit
gegenüber Gott auf. Die (Wahl) des Geringeren verdirbt zwar den Menschen,
ist aber keine Sünde gegen Gott, sondern (es geschieht) allein dies: So wie die
Festzüge öffentlich einhergehen, obwohl sie nichts bewirken können, eher hin-
derlich sind, machen diese Leute auf die gleiche Weise nur Prozessionen in
dieser Welt, verführt von den Lüsten des Körpers. 8 Wenn dieses sich so ver-
hält, mein Tat, dann haben wir einiges von Gott bekommen und werden es
behalten, einiges aber soll von uns her folgen und darf nicht fehlen; denn Gott
ist schuldlos, 3 wir aber sind schuld am. Übel, da wir dieses dem Guten vorzie-
hen. Siehst Du, mein. Kind, wie viele Körper wir durchschreiten müssen, wie
viele Dämonengruppen, Verbindungen (der Planetensphären) und Sternkreise,
um zu dem Einen und Einzigen vorzudringen? Unzugänglich nämlich ist das
Gute, unbegrenzt und ohne Ende, in sich selbst ohne Anfang, uns aber scheint
es als Anfang die Erkenntnis zu haben.
9 Die Erkenntnis ist nicht eigentlich sein Anfang, sondern bietet uns den
Anfang dessen, den wir erkennen sollen. Ergreifen wir also den Anfang, ma-
chen wir uns schnell auf den Weg. Denn es ist sehr beschwerlich, wenn einer
das Gewohnte und Gegenwärtige verlässt und sich dem Alten und Ehrwürdigen

2 Glosse.
3 Platon, Polit. 10, 617 E.
50 Corpus Hermeticum IV

zuwendet. Denn das Sichtbare befriedigt, das Unsichtbare aber macht das Glau-
ben schwer. Gut sichtbar ist das Übel, aber das Gute ist inmitten des Sichtbaren
unsichtbar. Es hat nämlich weder Gestalt noch Form. Deswegen ist es sich
selbst ähnlich, allem anderen aber unähnlich; ist es doch unmöglich, dass Un-
körperliches im Körper erscheint. 10 Dies ist der Unterschied des Ähnlichen
zum Unähnlichen, das Unähnliche ist. mangelhaft gegenüber dem Ähnlichen.
Die Eins, weil sie Ursprung und Wurzel von allem ist, ist in allem als Wurzel
und Ursprung vorhanden. Ohne Ursprung ist nichts, der Ursprung aber stammt
von keinem ab als nur von sich selbst, wenn er denn Ursprung der Anderen ist.
Die Eins nun, weil sie Ursprung ist, enthält in sich jede Zahl, ohne in irgen-
deiner enthalten zu sein, und sie erzeugt jede Zahl, ohne von einer anderen Zahl
erzeugt zu sein. 11 Alles Gezeugte ist unvollkommen und teilbar, vermehrbar
und verminderbar, am Vollkommenen aber geschieht nichts von diesem. Das
Vermehrbare wird zwar von der Eins her vermehrt, wird aber von seiner ei-
genen Schwachheit eingefangen und kann nun die Eins nicht mehr fassen.
So ist dir nun, mein Tat, dieses Gottesbild so gut wie möglich skizziert
worden. Wenn du es genau betrachtest und mit den Augen des Herzens be-
denkst, glaube mir, Kind, wirst du den Weg nach oben finden; mehr noch, das
Bild selbst wird dich führen. Das Bild hat eine Eigenheit: Die sich drängen, es
zu betrachten, hält es fest und zieht sie nach oben, wie bekanntermaßen der
Magnetstein das Eisen.«
51

(Rede) des Hermes an seinen Sohn Tat,


dass der unsichtbare Gott sehr wohl sichtbar ist

1 »Diese Rede will ich dir halten, mein Tat, damit du über den so mächtigen
Namen Gottes unterrichtet seist. Du aber denke nach, wie das, was den meisten
unsichtbar erscheint, dir sehr wohl sichtbar werden kann. Denn er wäre nicht,
wenn er unsichtbar wäre. Alles Erschienene ist gezeugt, denn es ist sichtbar.
Nur das Unsichtbare ist ewig, denn es bedarf des Erscheinens nicht: Es ist
nämlich ewig. Aber alles andere macht er (Gott) sichtbar, obwohl er selbst
unsichtbar ist, weil er ewig ist. Obwohl er sichtbar macht, wird er selbst nicht
sichtbar, weil er nicht gezeugt ist. Durch die Vorstellung bringt er alle Vor-
stellungen hervor. Nur die Gezeugten haben die Vorstellung. Denn die Schöp-
fung ist nichts anderes als Vorstellung 1• 2 Der Eine aber ist ungezeugt, folglich
auch unvorstellbar und unsichtbar. Indem er aber alles zur Vorstellung bringt,
erscheint er durch alles und in allem und am meisten denen, denen er selbst
erscheinen will. Du nun, mein Kind Tat, bete zuerst zum Herrn und Vater und
Alleinigen, und nicht nur zu einem, sondern (zu dem), von dem der eine aus-
geht - mögest du ihn gnädig finden! -, damit du den so mächtigen Gott denken
und dir einen Strahl von ihm, und sei es auch nur einen einzigen, in deinem
Denken anzünden kannst. Das Denken nämlich allein sieht das Unsichtbare, da
es ja auch selbst unsichtbar ist. Wenn du das vermagst, wird er deinen geistigen
Augen erscheinen, mein Tat.
Reichlich nämlich scheint der Herr durch den ganzen Kosmos. Kannst du
das Denken sehen, mit den Händen selbst greifen und das Bild Gottes betrach-
ten? Wenn aber das, was in dir ist, dir unsichtbar ist, wie soll er sich selbst in
dir durch die Augen zeigen? 3 Wenn du ihn sehen willst, vergegenwärtige dir
die Sonne, vergegenwärtige dir den Lauf des Mondes, vergegenwärtige dir die
Ordnung der Sterne. Wer ist es, der die Ordnung erhält? Jede Ordnung nämlich
ist definiert durch Zahl und Ort. Die Sonne, die größte der himmlischen Gott-
heiten, der alle himmlischen Götter untertan sind als einem König und Herr-
scher - diese so Gewaltige, die größer ist als Erde und Meer, erträgt über sich,
obwohl sie die Planeten hat, die kleiner sind als sie, einen, vor dem sie Ehr-
furcht hat oder den sie fürchtet, mein Kind. Keiner dieser Sterne am H_immel
durchläuft eine ähnliche oder gleiche Bahn. Wer ist es, der einem jeden Art und
Umfang der Bahn bestimmt? 4 Dort das Bärengestimt Es dreht sich fortwäh-

1 Phantasia, auch: 'Erscheinung'.


52 Corpus Hermeticum V

rend um sich selbst und führt den ganzen Kosmos mit sich. Wer hat dieses
Werk geschaffen? Wer hat um das Meer die Ufer gelegt? Wer hat das Land
befestigt?2 Es gibt einen, mein Tat, der der Schöpfer und Herr von all diesem
ist. Ist es doch unmöglich, dass Ort, Zahl oder Maß gewahrt werden ohne den
Schöpfer. Jede Ordnung ist geschaffen; was ohne Ort und Maß ist, ist unge-
schaffen. Aber sogar dieses ist nicht ohne Herrn, mein Kind. Denn auch wenn
das Ungeordnete bedürftig ist, t ... t , ist es doch unter einem Herrscher, der
ihm noch nicht die Ordnung gesetzt hat. 5 Oh, wäre es dir doch möglich, als
Vogel in die Luft aufzufliegen und so, in die Mitte zwischen Erde und Himmel
erhoben, das Feste der Erde zu sehen, das Strömen des Meeres, das Fließen der
Flüsse, das Aufsteigen der Luft, das Lodern des Feuers, den Lauf der Sterne,
die Bewegung des Firmaments, den Umlauf um all dieses! Oh, welch ein An-
blick, Kind, so glücklich, in einem einzigen Augenblick all dieses zu sehen, den
Unbeweglichen ganz in Bewegung, den Unsichtbaren sichtbar in den Dingen,
die er schafft! Dies ist die Ordnung des Kosmos und dies ist der Kosmos der
Ordnung.
6 Wenn du ihn auch in den Sterblichen erschauen willst - in denen auf der
Erde und in denen in der Tiefe - , dann bedenke, mein Kind, dass der Mensch
im Mutterleib geschaffen wird, und erforsche genau die Kunst dieser Schöp-.
fung und lerne, wer es ist, der dieses schöne und göttliche Bild des Menschen
formt! Wer hat die Augen umschrieben? Wer hat Nase und Ohren gebohrt? Wer
hat den Mund geöffnet? Wer hat die Sehnen gespannt und zusammengebun-
den? Wer hat die Adern zum Kanalsystem gemacht? Wer hat die Knochen fest
gemacht? Wer hat dem Fleisch die Haut übergezogen? Wer hat die Finger
gegliedert? Wer hat den Füßen eine breite Sohle gemacht? Wer hat die Poren
eingegraben? Wer hat die Milz eingesetzt? Wer hat das Herz pyramidenförmig
gemacht? Wer hat die Nerven zusammengesetzt? Wer hat die Leber gemacht?
Wer hat die Lungenhöhle gemacht? Wer hat den Bauch geräumig gemacht?
Wer hat die schönsten Körperteile sichtbar ausgebildet und die häßlichen ver-
borgen?
7 Siehe, wieviel Kunst bei einem Material, wieviel Arbeit bei einem Bauplan
und alles wunderschön und alles mit Maß, aber alles verschieden! Wer hat all
dies geschaffen? Welche Mutter, welcher Vater, wenn nicht der unsichtbare
Gott, der durch den ihm eigenen Willen alles bildete? 8 Niemand sagt, dass
eine Skulptur oder ein Bild ohne Bildhauer oder Maler entstanden ist. Und
dieses Geschöpf soll ohne Schöpfer entstanden sein?! Welch große Verblen-
dung, welch große Unfrömmigkeit, welch großer Unverstand! Niemals, Tat,
mein Kind, raube dem Geschöpf den Schöpfer t ... t. So mächtig ist der Vater

2 Vgl. Ps 33 (32), 6f.; 104 (103), Sf.; Hi 38,10f.


Corpus Hermeticum V 53

aller Dinge! Denn fürwahr, dieser ist ein einziger und dieses ist sein Werk,
Vater zu sein.
9 Wenn du mich aber zwingst, noch Verwegeneres zu sagen - sein Wesen ist
es, mit allem schwanger zu gehen und es zu erschaffen. Wie es unmöglich ist,
dass etwas ohne einen Schöpfer entsteht, so kann auch der nicht ewig sein,
ohne ständig alles zu erschaffen - im Himmel, in der Luft, auf der Erde, in den
Fluten, im ganzen Kosmos, im ganzen All, im Seienden und im Nichtseienden.
Im All gibt es nichts, was er nicht selbst ist. Dieser selbst ist das Seiende und
das Nichtseiende. Denn das Seiende ist erschienen, aber das Nichtseiende be-
wahrt er noch in sich selbst. 10 Dieser Gott ist stärker als sein Name, dieser ist
der Unsichtbare, dieser ist der ganz Offenbare. Der dem Geist Schaubare ist er,
der den Augen Sichtbare ist er. Dieser ist der Körperlose, der doch zugleich in
vielen Körpern, ja in allen Körpern ist. Nichts ist dieser, was nicht ist. Alles ist
und er ist. Deshalb hat alles Namen, weil es von einem Vater stammt. Deshalb
hat er selbst keinen Namen, weil er Vater des Alls ist.
Wer wollte dich nicht preisen um deinetwillen oder vor dir? Wohin soll ich
blicken, um dich zu preisen, nach oben, unten, innen, außen? Es gibt nicht Art
noch Ort um dich, nichts anderes, nichts von den Seienden. Alles ist in dir, alles
ist von dir. Alles gibst du und nichts nimmst du. Denn alles hast du, und es gibt
nichts, was du nicht hast.
11 Wann soll ich dir lobsingen? Ich kann deine Stunde und Zeit nicht be-
greifen.
Wofür soll ich lobsingen? Für das, was du erschaffen hast oder für das, was
du nicht erschaffen hast? Für das, was du offenbar gemacht hast oder für das,
was du verborgen hast?
Warum soll ich dir lobsingen? Etwa weil ich mein eigener (Herr) bin, weil
ich etwas eigenes habe, weil ich ein anderer bin? Nein, du bist's, was immer
ich bin, du bist' s, was immer ich tue, du bist' s, was immer ich sage.
Denn du bist alles, und etwas anderes gibt es nicht. Sogar was nicht ist - du
bist es. Du bist alles Gewordene, du bist das Nichtgewordene, denkender Geist,
schaffender Vater, wirkender Gott, gut und alles vollbringend. Feiner als die
Materie ist die Luft, als die Luft die Seele, als die Seele der Geist, als der Geist
Gott.«
54

VI

Dass nur in dem einen Gott das Gute ist und sonst nirgends

1 »Das Gute, mein Asklepios, ist nirgendwo als nur in dem einen Gott, mehr
noch, Gott selbst ist immer das Gute. Wenn das so ist, dann muss es im Anfang
aller Dinge ein Wesen jeder Bewegung und allen Werdens geben - denn ohne
(Bewegung und Werden) ist nichts -, das um sich eine befestigende Kraft hat,
bedürfnislos und ohne Überflüssiges, bis zum Rand gefüllt, eine Kraftquelle am
Anfang aller Dinge. Wenn ich sagen würde, jede Kraftquelle sei gut, dann wäre
ja alles immer gut. Dieses aber ist in keinem anderen der Fall als im einen Gott.
Er braucht nichts, wird also auch nicht schlecht, weil er nichts zu erwerben
trachten muss. Nichts ist ihm verwerflich, wodurch er, wenn er es wegwürfe,
traurig würde - denn Trauer ist ein Teil der Schlechtigkeit. Nichts ist mächtiger
als er, von welchem er bekämpft werden könnte- Unrecht erleiden gehört auch
nicht zu ihm. t Deshalb liebt er es. t Nichts ist ungehorsam, worüber er zürnen
würde. Nichts ist weiser (als er), dem er nacheifern könnte.
2 Wenn nun von diesen keines in seinem Wesen ist, was bleibt als allein das
Gute? Denn so, wie in einem solchen Wesen nichts von diesen (zu finden ist),
so ist auch das Gute in keinem der anderen zu finden. Denn in allen ist alles
andere, in den Kleinen, in den Großen, in den Einzelnen und in dem Lebewesen
selbst, das von allen das größte und mächtigste ist. Das Gewordene ist doch
voll Leiden, weil schon das Werden selbst mit Leiden behaftet ist. Wo aber
Leiden ist, ist das Gute bestimmt nicht. Wo aber das Gute ist, ist auch nicht ein
einziges Leiden; wo Tag ist, ist niemals Nacht; wo Nacht ist, ist niemals Tag.
Deshalb kann das Gute unmöglich im Werden sein, sondern allein im Unge-
zeugten. Wie ja in der Materie auch (nur) eine Teilnahme am All gegeben ist,
so auch (nur eine Teilnahme) am Guten. (Nur) so ist der Kosmos gut, weil er
selbst alles erschafft, aber nur im Schaffen gut ist. In allem anderen dagegen ist
er nicht gut; denn er ist leidensfähig, beweglich und Schöpfer der Leidensfä-
higen. 3 Im Menschen aber ist das Gute nur in der Mischung mit dem Schlech-
ten angelegt. Was nicht übermäßig schlecht ist, heißt hier gut; was aber hier gut
heißt, ist nur der kleinste Teil des Schlechten. Also ist hier unmöglich das Gute
vom Schlechten zu reinigen; denn das Gute gerät hier zum Schlechten. Wenn es
dann zum Schlechten geraten ist, kann es nicht länger gut bleiben; wenn es
nicht bleibt, ist es schle.cht. Also ist allein in Gott das Gute, oder Gott selbst ist
das Gute. Also, mein Asklepios, gibt es bei den Menschen nur den Begriff des
Guten, die Sache aber niemals! Es ist ja auch unmöglich; denn der materielle
Körper, der von überallher vom Übel, von Mühen, Schmerzen, Begierden,
Corpus Henneticum VI 55

Zorn, Verführung und dummen LehnDeinungen umwunden ist, kann die (Sa-
che) nicht fassen. Und das Schlimmste von allem ist, mein Asklepios, dass
jedes der eben genannten (Übel) hier für das größte Gut gehalten wird, obwohl
es vielmehr ein unüberwindliches Übel ist. Die Gefräßigkeit; die Anführerin
aller Übel, die Verführung, ist die Abwesenheit des Guten hier.
4 Ich aber danke Gott, der mir eingegeben hat, und zwar über die Erkenntnis
des Guten, dass das (Gute) unmöglich im Kosmos sein kann. Die Welt ist die
Fülle des Übels, Gott aber (die Fülle) des Guten oder das Gute (die Fülle)
Gottes. Die Höhen des Schönen sind bei seinem Wesen. Sie erscheinen wohl
klarer und zugleich edler und ·sind selbst seine Wesenheiten. Mutig muss man
sagen, mein Asklepios, dass das Wesen Gottes, wenn er denn ein Wesen hat,
das Schöne ist. Das Schöne und Gute aber kann man bei keinem der Kosmi-
schen antreffen; denn alles, was einem vor die Augen kommt, das sind Bilder
und gewissermaßen Silhouetten. Was einem aber nicht vor die Augen kommt,
das ist das (Wesen) des Schönen und Guten. Und wie d!ls Auge Gott nicht
sehen kann, so auch nicht das Schöne und Gute. Dies nämlich sind vollkom-
mene Glieder Gottes, allein ihm eigen, zugehörig, untrennbar, sehr liebenswert.
Gott selbst liebt sie, sie ihrerseits lieben· Gott.
5. Wenn du Gott denken kannst, dann wirst du das Schöne und Gute, das
Lichtgleißende, von Gott Angestrahlte denken. Jenes ist die unvergleichliche
Schönheit und jenes das unnachahmlich Gute wie auch Gott selbst. Wie du also
Gott denkst, so denke auch das Schöne und Gute; diese nämlich sind ohne
Gemeinschaft mit allen anderen Lebewesen, weil sie von Gott untrennbar sind.
Fragst du nach Gott, so fragst du auch nach dem Schönen. Ein Weg nur führt
dorthin: Frömmigkeit mit Erkenntnis. 6 Daher wagen nur die, die den Weg der
Frömmigkeit weder kennen noch je gegangen sind, den Menschen schön und
gut zu nennen. Hat er doch nicht einmal im Thaume gesehen, ob es überhaupt
etwas Schönes gibt. Vielmehr ist er von allem Schlechten gefesselt, hält das
Schlechte für gut, gebraucht es so unaufhörlich, fürchtet auch, seiner beraubt zu
werden. Dabei setzt er alles ein, um es nicht allein zu behalten, sondern zu
vermehren. Solcher Art ist das bei den Menschen Gute und Schöne, mein
Asklepios: Wir können uns ihm nicht entziehen, noch können wir es hassen.
Aber das Schlimmste von allem ist, dass wir dies auch noch brauchen und ohne
es nicht leben können.« 1

1 Weiter vgl. C. H. IX.


56

VII
Dass das größte Übel unter den Menschen die Unkenntnis über Gott ist

1 »Wohin treibt ihr, ihr Menschen, Trunkene?! Ihr schlürft die reine Lehre
der Unwissenheit, die ihr nicht vertragen könnt, die ihr vielmehr bereits aus-
speit! Haltet ein, seid nüchtern! Blickt auf mit den Augen des Herzens! Und
wenn ihr es schon nicht alle könnt, dann wenigstens die, die es können. Denn
das Übel der Unwissenheit überschwemmt die ganze Erde, verdirbt die im
Körper eingeschlossene Seele und lässt sie nicht in die Häfen des Heils einlau-
fen. 2 Vereinigt euch doch ja nicht mit dem großen Strom, nutzt die Ebbe, die
ihr den Hafen des Heils erreichen könnt, und wenn ihr dort eingelaufen seid,
sucht einen Führer, der euch zu den Pforten der Erkenntnis leitet, wo das helle
Licht ist, das ohne Finsternis ist; wo auch nicht einer trunken ist, sondern alle
nüchtern sind und mit dem Herzen hinblicken auf den, der gesehen werden
will. Denn er ist nicht hörbar, auch nicht sagbar, den Augen nicht sichtbar,
sondern nur dem Geist und dem Herzen. Zuerst musst du das Kleid, das du
trägst, zerreißen, das Tuch der Unwissenheit, den Pfeiler der Schlechtigkeit, die
Fessel des Verderbens, den finsteren Umhang, den lebendigen Tod, den sicht-
baren Leichnam, das wandelnde Grab, den darin wohnenden Räuber, der hasst,
solange er liebt und der neidisch ist, solange er hasst. 3 Solcher Art ist das
feindliche Gewand, das du angezogen hast. Es würgt dich nieder, damit du
nicht etwa beginnst, seine Bosheit zu hassen, wenn du aufsiehst und die Schön-
heit der Wahrheit und das in ihr liegende Gute erblickst, wenn du den Plan, den
er dir vorschlägt, durchdenkst. Es macht die Sinne, die wissen, aber nicht
glauben, unempfindlich, verschließt sie mit viel Materie und füllt sie mit
schmutziger Lust, damit du nicht hörst, worauf du hören solltest, und nicht
siehst, wohin du sehen solltest.« (... )
57

VIII

Dass nichts, was ist, vergeht, sondern dass nur Verführte


Veränderungen als Verderben und Tod bezeichnen

1 »Nun, mein Kind, ist über Seele und Körper zu sprechen, warum die Seele
unsterblich ist und welche Kraft es ist, die Zusammenhalt und Auflösung des
Körpers bewirkt. Der Tod hat mit nichts von alledem zu tun. Er ist vielmehr nur
ein gedankliches Konstrukt zum Begriff 'Unsterblichkeit'; eine Worthülse,
durch Wegfall der Vorsilbe 'Sterblichkeit' statt 'Unsterblichkeit' genannt. Denn
der Tod gehört dem Verderben; nichts aber im Kosmos verdirbt. Wenn nämlich
der Kosmos ein zweiter Gott und ein unsterbliches Wesen ist, ist es doch
unmöglich, dass ein Teil des unsterblichen Wesens stirbt. Denn alles, was im
Kosmos ist, ist Teil des Kosmos - vor allem der Mensch, das denkende Wesen.
2 Der Erste von allem, wahrhaft ewig, ungezeugt und Schöpfer aller, ist
Gott.
Der Zweite aber ist der nach seinem Bilde durch ihn Entstandene, der durch
ihn auch zusammengehalten, aufgezogen und unsterblich gemacht wird, weil er
von einem ewigen Vater stammt, ewiglebend, weil unsterblich. Denn das Ewig-
Lebende unterscheidet sich vom Ewigen. Letzteres stammt nicht von einem
anderen ab. Wenn es überhaupt geworden ist, dann aus sich selbst heraus.
Niemals ist es geworden, sondern immer ist es schon. Das Ewige nämlich ist
es, dem als Ewiges das All gehört. Der Vater aber ist selbst sein eigener Ewi-
ger. Der Kosmos aber ist vom Vater her ewig und unsterblich geworden. 3 Was
an Materie aufbewahrt war in seiner (Ewigkeit), das machte der Vater kugel-
förmig, nachdem er das All zum Körper gemacht und aufgeblasen hatte, und
legte ihm die Beschaffenheit bei, dass auch die (Materie) selbst unsterblich sei
und als Ewiges die Stofflichkeit habe. Ja noch mehr: Indem er der Kugel die
Eigenschaften der Ideen eingesät hatte, verschloß er sie gleichsam in einer
Höhle, weil er die Eigenschaft bei sich durch jegliche Eigenschaft ordnen woll-
te und also den ganzen Körper mit Unsterblichkeit bekleidete, damit die Ma-
terie, die sich ja seiner Anordnung entziehen wollte, sich nicht in die ihr eigene
Unordnung auflöse. Solange nämlich die Materie, mein Kind, unkörperlich
war, war sie ungeordnet. Denn sie hat doch auch hier neben den anderen klei-
nen Eigenschaften die ihr eigene (Unordnung): die Eigenschaft von Wachsen
und Abnehmen. Letzteres nennen die Menschen 'Tod'. 4 Diese Unordnung
existiert bei den irdischen Lebewesen. Die Körper der Himmlischen haben eine
Ordnung, die sie von Anfang an vom Vater zugewiesen bekommen haben.
Diese aber wird von der Wiedererneuerung jedes Einzelnen aufrechterhalten.
58 Corpus Hermeticum VIII

Die Wiedererneuerung der irdischen Körper aber ist eine Zusammenfügung;


diese Auflösung wird wiedererneuert zu unauflöslichen Körpern, das heißt zu
unsterblichen. So sind wir zwar der Wahrnehmung beraubt, dennoch gibt es
kein Verderben der Körper.
5 Das dritte Wesen aber ist der Mensch. Nach dem Bilde des Kosmos ge-
worden, nach dem Willen des Vaters im Gegensatz zu den anderen irdischen
Lebewesen mit Verstand begabt. Er hat nicht allein das gleiche Empfinden wie
der zweite Gott, sondern auch den Gedanken an den ersten. Den einen nimmt er
als einen Körper wahr, von dem anderen empfängt er das Denken, weil der ein
Körperloser und Geist ist, nämlich das Gute.«
»Und dieses Lebe~esen vergeht nicht?«
»Schweig still, mein Kind! Und bedenke, was Gott ist, was der Kosmos, was
das unsterbliche Lebewesen, was das auflösliche Lebewesen und bedenke, dass
der Kosmos von Gott stammt und in Gott ist, der Mensch aber vom Kosmos
und im Kosmos ist, Anfang aber, Inbegriff und Zusammenhalt des Ganzen ist
Gott.«
59

IX

Über Denken und Wahrnehmung: Dass nur in dem einen Gott


das Gute ist und sonst nirgends 1

1 »Gestern, mein Asklepios, habe ich das vollkommene Denken vorgetra-


gen. Nun aber halte ich es für notwendig, im Anschluss daran auch die Lehre
von der Wahrnehmung zu erörtern. Wahrnehmung und Denken scheinen fol-
genden Unterschied zu haben: Erstere ist materiell gebunden, letzteres dagegen
selbständig. Mir scheinen jedoch beide vereinigt und nicht getrennt zu sein -
bei den Menschen jedenfalls, meine ich. Bei den anderen Lebenden nämlich ist
nur die Wahrnehmung mit der Natur vereinigt, bei den Menschen auch das
Denken. Der Geist unterscheidet sich so vom Denken wie Gott von der Gott-
heit: Die Gottheit steht unter Gott, das Denken unter dem Geist, weil es eine
Schwester des Wortes ist. Oder sie sind einander Helfer: Das Wort wird nicht
laut ohne Denken, noch das Denken sichtbar ohne Wort. 2 2 Wahrnehmung und
Denken also fließen beide in den Menschen ein wie miteinander verflochten. Ist
es doch nicht möglich ohne Wahrnehmung zu denken noch ohne Denken wahr-
zunehmen.«
»Ist es -denn möglich, sich Denken auch ohne Wahrnehmung vorzustellen,
wie bei denjenigen, die im Traum Gesichte haben?«
»Mir scheint, dass beim "ftaumgesicht beide Kräfte bestehen. Bei Wachen-
den wird die Wahrnehmung auf Körper und Seele verteilt; und wenn dann diese
beiden Teile der Wahrnehmung übereinstimmen, dann wird das Denken, das
vom Geist erzeugt ist, hervorgerufen. 3 Der Geist gebiert alle Gedanken, gute,
wenn er die Befruchtung von Gott empfängt, gegenteilige, wenn von einem der
Dämonen- ist doch kein Teil des Kosmos frei von Dämonen {bei einem von
Gott erleuchteten Dämon} 3 -, der sich einschleicht und deri Samen seiner ei-
genen Kraft einsät Dann gebiert der Geist das Gesäte: Ehebruch, Mord, Va-
termißhandlung, Tempelraub, Gottlosigkeit, Würgen, Vom-Felsen-Stürzen und
alle anderen Taten der Dämonen. 4 Die Samen Gottes sind wenige nur, aber
groß, schön und gut: Tugend, Besonnenheit und Frömmigkeit. Frömmigkeit ist
Erkenntnis Gottes; wer den erkennt, ist voll alles Guten und wird göttliche
Gedanken haben, nicht aber solche wie die Menge. Deshalb gefallen die, wel-
che die Erkenntnis haben, der Menge nicht und ihnen die Menge nicht. Sie
scheinen zu rasen, erregen Gelächter; sind verhasst und verachtet, ja fast schon

1 VgL C. H. VI. Der gegenwärtige Traktat gibt sich als Fortsetzung.


2 Platon, Sophistes 263 E.
3 Glosse.
60 Corpus Henneticum IX

getötet. Ich habe doch gesagt, dass die Schlechtigkeit hier wohnen muss, wo sie
in dem ihr eigenen Lande ist. Ihr Land nämlich ist die Erde, nicht der Kosmos,
wie einige manchmal lästernd behaupten. Der Fromme aber nimmt alles auf
sich, wenn er die Erkenntnis wahrnimmt. Einem solchen nämlich ist alles gut,
auch wenn es den anderen als das Schlechte (erscheint): Sein Rat bringt alles
zur Erkenntnis, und er allein macht das Schlechte gut.
S Ich komme wieder auf die Lehre von der Wahrnehmung zurück. Es ist
menschlich, Wahrnehmung und Denken gleichzusetzen. Nicht jeder Mensch,
wie ich sagte, hat am Denken teil, sondern der eine ist materiell, der andere
wesentlich. Denn der mit Übel behaftete Materielle hat, wie ich gesagt habe,
von den Dämonen nur den Samen des Denkens; die aber mit Gutem Behafteten
sind wahrhaft von Gott gerettet. Gott aber, der Schöpfer Aller, macht sich in
seinem Schaffen alles ähnlich. Doch ist dies, obwohl es gut geworden ist, im
Gebrauch der Kraft unterschiedlich. Denn die kosmische Bewegung formt die
Geschöpfe und macht sie zu dem, was sie sind: Die einen befleckt sie mit
Schlechtigkeit, die anderen reinigt sie mit Gutem. Denn auch der Kosmos, mein
Asklepios, hat eigene Wahrnehmung und Denken, gleichwohl dem menschli-
chen nicht ähnlich, auch nicht vielfältig, sondern besser und einfacher. 6 Wahr-
nehmung und Denken des Kosmos sind eins, alles Erschaffen und wieder Zu-
sich-selbst-Zurückbringen.
Der (Kosmos) ist Werkzeug des Willens Gottes und ist wahrhaft als Werk-
zeug gemacht, damit er, weil er alles bei sich selbst von Gott empfängt, die
Samen in sich bewahrt, kraftvoll alles durch sich selbst macht, weil er auflö-
send alles erneuert und deshalb wie ein guter Gärtner des Lebens das Aufge-
löste der Veränderung anheimgibt und ihm so Erneuerung einträgt. Es gibt
etwas, was er nicht zum Leben bringt; aber im Umlauf macht er alles lebendig
und ist zugleich Ort und Schöpfer des Lebens.
7 Hingegen sind die Körper aus Materie, wenngleich mit Unterschieden. Die
einen stammen aus der Erde, andere aus dem Wasser, wieder andere aus der
Luft oder aus dem Feuer. Aber alle sind zusammengesetzt, die einen mehr, die
anderen weniger. Mehrfach (zusammengesetzt) sind die schwereren, weniger
die leichteren. Die Geschwindigkeit seiner (des Kosmos) Bewegung bewirkt
die Vielfalt der Geschöpfe. Sehr tiefes Atmen verleiht den Körpern den Cha-
rakter, mit einem Atemzug des Lebens.
8 Vater des Kosmos ist Gott, derer im Kosmos der Kosmos; der Kosmos ist
Sohn Gottes; was im Kosmos ist, stammt vom Kosmos ab. Wahrscheinlich wird
er (aus folgendem Grunde) 'Kosmos' (Schmuck/Ordnung) genannt: Er
schmückt und ordnet alles mit der Vielfalt des Werdens, mit der Ewigkeit des
Lebens, mit der Unermüdlichkeit der Kraft, mit der Eile des Schicksals, mit
dem Bestand der Elemente und der Ordnung der Geschöpfe. Also wird er
Corpus Hermeticum IX 61

notwendig und zu Recht Kosmos genannt. Wahrnehmung und Denken aller


Lebewesen kommen von außen herein, wehend von dem Umgreifenden her;
der Kosmos aber besitzt (beide ), weil er sie schon in der Entstehung ein für
allemal empfing, weil er sie von Gott empfing. 9 Gott aber ist nicht, wie es
einigen scheint, ohne Wahrnehmung und Denken. Sie lästern aus Gottesangst
Denn alles, was ist, mein Asklepios, das ist in Gott und von Gott geworden und
von dort abhängig. Das eine wirkt durch Körper, anderes bewegt durch seeli-
sches Sein, anderes macht durch den Hauch lebendig, anderes nimmt das Er-
mattete auf- selbstverständlich. Ich meine vielmehr, dass nicht er selbst alles
in sich trägt, sondern ich zeige auf, wie es sich wirklich verhält. Er ist alles, er
nimmt nicht von außen herein, gibt aber nach außen ab. Dies ist Wahrnehmung
und Denken Gottes, alles ständig zu bewegen; nie wird es eine Zeit geben, zu
der irgendetwas vom Seienden verlassen werden wird. Wann immer ich aber
vom Seienden spreche, spreche ich von Gott. Gott enthält das Seiende: Weder
ist etwas außerhalb von ihm, noch ist er außerhalb von etwas.
10 Dieses, mein Asklepios, wird dir wohl, wenn du es verstehst, als wahr
erscheinen, wenn nicht, als unglaubwürdig. Denn Denken heißt Glauben,
Nicht-Glauben heißt aber Nicht-Denken. Worte erreichen die Wahrheit nicht.
Der Geist aber ist groß und erreicht, vom Wort geleitet, einen Teil der Wahr-
heit; wenn er alles bedenkt und es in Übereinstimmung mit dem vom Wort
Mitgeteilten findet, glaubt er, ja, findet im schönen Glauben Ruhe. Denen, die
über das von Gott Geoffenbarte nachdenken, ist es glaubwürdig, denen, die
nicht nachdenken, unglaubwürdig. Soweit so gut über Denken und Wahrneh-
mung.«
62

X
Der Schlüssel des Hermes Trismegistos

1 »Die gestrige Rede habe ich dir, Asklepios, gewidmet. Also ist es billig,
die heutige dem Tat zu widmen, da sie ein Abriß der Grundlehren 1 ist, die zu
ihm gesagt worden sind. Aber der Gott, also der Vater, also das Gute, mein Tat,
haben dieselbe Natur, mehr noch, dieselbe Wirkkraft. Denn das ist der Begriff
von Natur und Wachstum, wobei es sich um Veränderbares und Bewegtes und
Unbewegtes handelt, d.h. um Göttliches und Menschliches, von denen er (Gott)
will, dass es sei. An anderer Stelle2 haben wir aber die Wirkkraft gelehrt, wie
sie zu den, anderen göttlichen und menschlichen Dingen (gehört), was man in
dieser Hinsicht bedenken muss. 2 Denn seine Wirkkraft ist der Wille und sein
Wesen das Wollen, dass alles sei. Denn was ist Gott, Vater und das Gute
anderes, als das Sein aller Dinge, die noch nicht sind, nämlich die Substanz
selbst der seienden Dinge. Dies ist Gott, dies der Vater, dies das Gute, dem
nichts von den anderen Dingen verbunden ist. Denn der Kosmos und die Sonne
sind selbst auch Vater derer, die daran teilhaben, aber nicht in gleicher Weise
für die Lebewesen Grund des Guten und Grund des Lebens. Wenn sich das aber
so verhält, dann freilich völlig veranlasst vom guten Willen, ohne welchen
weder Sein noch Werden möglich ist.
3 Der Vater der Kinder ist aber die Ursache für Zeugung und Ernährung. Er
empfängt das Streben nach dem Guten von der Sonne. Das Gute ist das Schöp-
ferische. Dieses kann aber in keinem anderen sein als in dem, der nichts selber
in die Hand nimmt, aber will, dass alles sei. Ich kann doch nicht sagen, mein
Tat, in dem, der erschafft! Denn der Erschaffende ist unvollkommen während
der langen Zeit, in der er zuweilen erschafft, zuweilen aber auch nicht erschafft,
sowohl was die Qualität als auch was die Quantität angeht; zuweilen dies,
zuweilen das, zuweilen auch das Gegenteil. Gott aber ist der Vater und das
Gute, indem er alles ist. 4 So also ist das für den, der sehen kann. Denn dieses
will er, dass es sei; und es ist, und es ist durch ihn. -Zum meisten aber es selbst
- . Denn auch alles andere ist seinetwegen; denn es ist die Eigenheit des Guten,
sich selbst als das Gute bekannt zu machen, mein Tat.«
»Du hast uns erfüllt, mein Vater, mit der guten und schönsten Schau; und es
fehlte nicht viel, und mein geistiges Auge wäre vor dieser Schau in Verzückung
geraten. Denn die Schau des Guten ist nicht so wie der Sonnenstrahl, welcher
blendet, weil er feurig ist, und die Augen sich schließen lässt. Im Gegenteil, sie

1 Vgl. Einleitung, S. 22, Anm 40.


2 C. H. III l.
Corpus Hermeticum X 63

leuchtet nur so viel, wie einer, der den Einfluss des geistigen Lichtes empfängt,
ertragen kann. Denn die (Schau) ist hell genug, um anzukommen, aber sie ist
unschädlich und arigefüllt mit der ganzen Unsterblichkeit. S Die aber, die fähig
sind, von der ganzen Schau sich mehr anzueignen, werden oft aus dem Körper
zu dem schönsten Anblick hin entrückt, wie auch Uranos und Kronos, unsere
Vorfahren, es erreicht haben. Hoffentlich auch wir, mein Vater.«
»Ja hoffentlich, mein Kind. Nun aber sind wir noch zu schwach ftir dies
Gesicht; und wir können noch nicht unsere geistigen Augen öffnen und die
unsterbliche und unbesiegbare Schönheit jenes Guten betrachten. Du wirst sie
erst dann sehen, wenn du nichts mehr über sie zu sagen hast. Denn ihre Er-
kenntnis ist göttliches Schweigen und Außerkraftsetzen aller Wahrnehmung. 6
Wer dies erkannt hat, kann nichts anderes erkennen; wer dies gesehen hat, kann
nichts anderes sehen, auch auf nichts anderes hören noch überhaupt den Körper
bewegen. Erst wer jegliche Wahrnehmung und Bewegung des Körpers vergisst,
ist zufrieden. Was jeden Geist umstrahlt, erleuchtet auch die ganze Seele.3 Es
zieht den (Geist) durch den Körper empor und verwandelt ihn ganz in Sein. Es
ist doch unmöglich, mein Kind, dass eine Seele zu Gott wird, die im Körper
eines Menschen die Schönheit des Guten betrachtet.«
7 »Was meinst du mit 'zu Gott werden', Vater?«
»Es gibt Veränderungen jeder getrennten Seele, mein Kind.«
»Was bedeutet nun wieder: 'getrennt'?«
»Hast du nicht in den Grundlehren gehört, dass von einer Seele, nämlich der
des Alls, alle Seelen abstammen und dass diese im ganzen Kosmos so kreisen,
wie sie gruppiert sind? Diese Seelen erfahren nun vielfältige Veränderungen:
Die einen zu mehr Glück, die anderen zum Gegenteil. Denn die, die in Kriech-
tieren sind, gehen über in Wassertiere, die in Wassertieren in Landtiere, die in
Landtieren in Vögel, die in Vögeln in Menschen. Die menschlichen (Seelen)
aber erreichen den Anfang der Unsterblichkeit, wenn sie in Dämonen überge-
hen- und das heißt, in den Reigen der Götter.
Es gibt aber zwei Reigen der Götter, den einen der Planeten und den anderen
der Fixsterne. 8 Und dies ist die vollkommenste Ehre der Seele: Ist die Seele in
deil Menschen gekommen, bleibt aber schlecht, dann schmeckt sie weder Un-
sterblichkeit noch hat sie Teil am Guten. Sie macht kehrt und wendet sich auf
dem Weg zurück zum Gewürm. So vollzieht sich die Bestrafung einer schlech-
ten Seele. Das Übel der Seele ist Erkenntnislosigkeit. Die Seele, die nichts
Seiendes erkennt und auch nicht dessen Natur, auch nicht das Gute, sondern
blind ist, taucht in körperliche Leiden. Die Unglückliche, die sich nicht selbst
erkennt, dient widerwärtigen und scheußlichen Körpern und trägt den Körper

3 Vgl. Philon, De Deo l.


64 Corpus Henneticum X

wie eine Last; sie herrscht nicht, sondern wird beherrscht. Dies ist das Übel der
Seele. 9 Im Gegensatz dazu ist die Tugend der Seele Erkenntnis; denn wer
erkennt, ist gut und fromm und schon göttlich.«
»Wer kann das sein, Vater?«
»Wer weder viel redet noch viel hört. Wer sich Zeit nimmt, zwei Worte zu
sagen oder zu hören, mein Kind, ist ein Schattenboxer. Denn Gott, der Vater,
das Gute lässt sich weder sagen noch hören. Weil es sich so verhält, gibt es in
allen Lebewesen die Wahrnehmungen, da sie nicht ohne ihn sein können. Die
Erkenntnis unterscheidet sich aber sehr von der Wahrnehmung. Die Wahrneh-
mung nämlich gehört dem, der über den (Körper) herrscht; die Erkenntnis aber
ist das Ziel des Wissens, das Wissen wiederum ist ein Geschenk des Gottes. 10
Denn jedes Wissen ist körperlos, benutzt aber den Verstand als Werkzeug, und
der Verstand den Körper. Beide nun gehen in den Körper ein: Das Stoffliche,
denn alles muss aus Gegensatz und Widerspruch zusammengesetzt sein. Und
dies kann anders nicht sein.« '
»Wer ist nun dieser stoffliche Gott?«
»Der schöne Kosmos. Er ist aber nicht gut. Er ist stofflich und leidensflihig.
Zwar ist er der Erste aller Leidensflihigen, aber der Zweite der Seienden und
abhängig. Er selbst ist irgendwann geworden - ewig ist er und ist im Werden,
ewig wird er. Es ist das Werden der Qualitäten und der Quantitäten. Es ist
bewegt. Jede stoffliche Bewegung ist nämlich Werden.
11 Das geistig Feststehende löst die Bewegung des Stofflichen auf folgende
Weise aus: Der Kosmos ist doch eine Kugel, das heißt ein Kopf. Über dem
Kopf ist nichts Stoffliches mehr, wie auch unterhalb der Füße nichts Geistiges
ist, sondern alles ist stofflich. Der Geist ist der Kopf und dieser ist kugelig,
nach Art eines Kopfes beweglich. Alles, was sich in der Hülle dieses Kopfes
vereinigt, ist die Seele und ist unsterblich, sodass vermöge der Seele, nachdem
der Körper geschaffen ist, (die Hülle) mehr Seele als Körper enthält. Was aber
von dieser Hülle fern ist, ist sterblich, da es mehr Körper als Seele enthält.
Jedes Lebewesen, genau wie das All, ist aus dem Stofflichen und aus dem
Geistigen zusammengesetzt.
12 Der Kosmos ist zwar der Erste, der Mensch aber ist dann bereits das
zweite Lebewesen nach dem Kosmos, das Erste aber der Sterblichen. Er hat das
Beseelte aller anderen Lebewesen. Er ist aber nicht mehr nur nicht gut, sondern
schlecht, weil sterblich. Nämlich der Kosmos ist zwar nicht gut, weil bewegt,
aber auch nicht schlecht, weil unsterblich. Der Mensch aber, weil bewegt und
weil sterblich, ist schlecht. 13 Die Seele eines Menschen wird auf diese Weise
getragen: Der Geist ist im Verstand, der Verstand in der Seele, die Seele im
Hauch. Der Hauch dringt durch die Venen, die Arterien und das Blut, bewegt
das Lebewesen und trägt es gewissermaßen. Daher behaupten einige auch, dass
Corpus Henneticum X 65

die Seele Blut sei. Sie täuschen sich aber hinsichtlich der Natur, denn sie
wissen nicht, dass der Hauch erst in die Seele entweichen muss, dann das Blut
gerinnt und die Venen und Arterien sich leeren und dann das Lebewesen stirbt.
Und dies ist der Tod des Körpers.
14 Von einem Anfang ist alles abhängig. Der Anfang aber (stammt) aus dem
Einen und Einzigen. Der Anfang wird bewegt, damit wiederum ein Anfang
werde. Das Eine aber steht allein fest, wird nicht bewegt. So gibt es nun diese
drei: Gott-Vater-Gut, Kosmos und Mensch. Gott enthält den Kosmos und der
Kosmos den Menschen. Der Kosmos ist der Sohn Gottes, der Mensch aber (ist
der Sohn) des Kosmos, wie ein Enkel (Gottes). 15 Denn Gott verkennt den
Menschen nicht, sondern erkennt ihn vollkommen und will (auch) erkannt wer-
den. Allein dieses ist dem Menschen heilbringend: die Erkenntnis Gottes. Dies
ist der Aufstieg zum Olymp. Nur auf diese Weise wird die Seele gut; niemals
ist sie gut, sondern schlecht. Notwendigerweise ist es so.«
»Wie meinst du das, Trismegistos?«
»Betrachte die Seele eines Kindes, mein Sohn, die sich noch nicht ganz
abgelöst hat, weil ihr Körper noch nicht ganz ausgewachsen ist, sondern noch
etwas wächst. Überall ist sie schön anzusehen, noch nicht getrübt von den
Leidenschaften des Körpers, da sie fast noch an der Seele des Kosmos hängt.
Wenn der Körper ausgewachsen ist und die Seele bis in den letzten Winkel des
Körpers herabgezogen hat, dann bringt sie - sich selbst auflösend - Vergessen
hervor und hat keinen Anteil am Schönen und Guten mehr. Das Vergessen aber
ist Schlechtigkeit. 16 Dasselbe widerfährt auch denen, die den Körper verlas-
sen. Denn wenn die Seele zu sich selbst hinaufsteigt, wird der Hauch ins Blut,
die Seele aber in den Hauch zurückgezogen. Der Geist wird frei von den
Umkleidungen, weil er der Natur nach göttlich ist, er nimmt einen feurigen
Körper an, wandert überall herum und überlässt die Seele dem Gericht, der
gerechten Strafe.«
»Wie meinst du das, mein Vater? Wird der Geist von der Seele und die Seele
vom Hauch getrennt, obwohl du sagst, dass die Seele eine Umkleidung des
Geistes, der Hauch aber (eine Umkleidung) der Seele sei?«
17 »Der, der zuhört, mein Kind, muss mit dem Sprechenden mitdenken und
mitatmen, das Gehör geschärfter haben, als die Stimme des Redenden ist. Die
Zusammenfügung der Umkleidungen, mein Kind, geschieht im erdgebundenen
Körper. Denn es ist unmöglich, dass der Geist in einem erdgebundenen Körper
nackt, ganz für sich allein sitzt. Denn weder ist es möglich, dass der erdge-
bundene Körper eine solche Unsterblichkeit aushält, noch dass er eine solche
Tugend (Qualität) erträgt, wenn er sich als leidensfähiger Körper mit ihr be-
rührt. Er besitzt also die Seele wie einen Schleier. Die Seele aber, die ja selbst
eine göttliche ist, gebraucht den Hauch wie einen Diener. Der Hauch aber
66 Corpus Hermeticum X

durchwaltet das Leben. 18 Wenn nun der Geist sich vom erdgebundenen Kör-
per trennt, zieht er sich gleich das eigene Hemd an, das feurige, das er nicht
haben kann, solange er im erdgebundenen Leib wohnt. Denn Erde erträgt das
Feuer nicht. Die ganze (Erde) nämlich wird schon von einem kleinen Funken
entzündet. Deswegen ist das Wasser rund um die Erde gegossen wie Schutz und
Mauer, die gegen die Flamme Widerstand leisten. Weil der Geist aber der
schärfste aller göttlichen Gedanken ist, hat er auch das schärfste aller Elemente
als Körper, das Feuer. Denn weil der Geist der Schöpfer aller Dinge ist, ge-
braucht er zur Schöpfung das Feuer als Werkzeug. Und der (Geist) des Alls ist
der Schöpfer aller Dinge, der des Menschen aber (nur) der Dinge auf der Erde.
Denn da der Geist in den Menschen vom Feuer entblößt ist, kann er nicht das
Göttliche schaffen, weil er durch seinen Wohnort menschlich ist.
19 Die menschliche Seele, nicht jede zwar, aber die fromme, ist eine dä-
monische und göttliche. Und diese, nachdem sie sich vom Körper entfernt und
den Wettstreit der Frömmigkeit ausgetragen hat, wird ganz Geist. Der Wett-
streit der Frömmigkeit: Das Göttliche erkennen und keinem Menschen Unrecht
tun! Die gottlose Seele aber bleibt bei ihrer eigenen Existenz, von sich selbst
bestraft und einen irdischen Körper suchend, in den sie eingehen möchte, einen
menschlichen nämlich. Kein anderer Körper fasst eine menschliche Seele, und
es ist nicht erlaubt, dass eine menschliche Seele in den Körper eines unver-
nünftigen Wesens einfalle. Denn dieses Gesetz ist Gottes Gesetz: Die mensch-
liche Seele vor solch großer Schande zu bewahren.«
20 »Wie wird nun, mein Vater, die menschliche Seele bestraft?«
»Ja, was ist denn nun eine größere Strafe für die menschliche Seele als die
Gottlosigkeit?! Welches Feuer hat denn eine so große Flamme wie die Gott-
losigkeit? Was gibt es für ein Raubtier, das einen Körper zerstören könnte, wie
die Gottlosigkeit, die sogar die Seele selbst (zerstören kann)? Oder siehst du
nicht, wieviel Übles. eine gottlose Seele erleidet, wenn sie schreit und ruft: 'Ich
brenne, ich lodere! 4 Was soll ich sagen, was soll ich tun? Ich weiß es nicht! Ich
werde aufgefressen, ich Unglückliche, von den Übeln, die mich in der Gewalt
haben! Ich sehe nicht, noch höre ich!'? Sind dieses nicht Schreie einer be-
straften Seele? Oder denkst du wie die meisten, mein Kind, dass eine Seele,
wenn sie den Körper verlässt,. zum Tier wird - was ein ganz großer Irrtum ist?
21 Denn auf diese Weise wird die Seele bestraft: Der Geist, wenn er Dämon5
geworden ist, ist angewiesen, für den Dienst Gottes einen feurigen Leib zu
bekommen. Wenn er in die gänzlich gottlose Seele eindringt, mißhandelt er sie
mit den Peitschen der Sünder, wodurch die gepeitschte gottlose Seele sich zu

4 Vgl. Lk 16,24.
5 Vgl. C. H. I 23.
Corpus Henneticum X 67

Mordtaten, Mißhandlungen, Lästerungen und vielerlei Gewalttaten hinwendet,


durch welche den Menschen Unrecht geschieht. Wenn aber der Geist in die
gottesfürchtige Seele eintritt, führt er sie zum Licht der Erkenntnis. Eine solche
Seele findet niemals Sättigung, wenn sie singt und allen Menschen Gutes sagt
und sowohl mit Werken als auch mit Worten alles wohltut, indem sie ihren
Vater nachahmt.
22 Deshalb, mein Kind, ist es nötig, dass einer, der Gott dankbar ist, betet
um den guten Geist zu erreichen. Die Seele wandert immer zum Besseren,
unmöglich aber zum Schlechteren. Es .gibt eine Gemeinschaft der Seelen: Die
der Götter haben Gemeinschaft mit denen der Menschen und die der Menschen
mit denen der Tiere. Die Stärkeren sorgen für die Schwächeren, die Götter für
die Menschen, die Menschen für die vernunftlosen Lebewesen, Gott aber für
alle; denn dieser ist stärker als alle, und alles ist schwächer als er. Der Kosmos
nun ist Gott untergeordnet, der Mensch aber dem Kosmos, die vernunftlosen
Lebewesen aber dem Menschen. Gott aber ist über allem und um alles herum.
Die Wirkkräfte sind gewissermaßen Strahlen Gottes, die Naturen Strahlen des
Kosmos, die Künste und Wissenschaften aber (Strahlen) des Menschen. Und
die Kräfte wirken durch den Kosmos hindurch auch auf den Menschen, durch
die natürlichen Strahlen des Kosmos. Die Naturen (wirken) durch die Elemente
und die Menschen durch Künste und Wissenschaften. 23 Und dies ist die
Durchwaltung des Alls, abhängig von der Natur des Einen und durchdringend
durch den Einen, den Geist: Nichts ist göttlicher und tätiger und einigender
zwischen Menschen und Göttern und zwischen Göttern und Menschen. Dies ist
der gute Gott. 6 Glücklich die Seele, die von diesem ganz erfüllt ist, elend aber
die Seele, die ihn gänzlich entbehrt.«
»Wie meinst du das wieder, mein Vater?«
»Denkst du denn, mein Kind, dass jede Seele den guten Geist hat? Darüber
geht doch unser Gespräch und nicht über das Dienen, über das wir vorher7
gesprochen haben, das von der Gerechtigkeit herabgesandt wird. 24 Denn die
Seele ohne Geist kann 'weder etwas sagen noch etwas tun' 8. Denn oft fliegt der
Geist aus der Seele aus . .In jener Stunde sieht die Seele nicht und hört nicht,
sondern gleicht einem vernunftlosen Tiere. Eine solche Kraft hat der Geist.
Aber er kann eine träge Seele nicht ertragen, sondern er verlässt eine solche am
Körper hängende und vom Körper niedergewürgte Seele. Eine solche Seele
aber, mein Kind, hat keinen Geist. Deshalb darf man einen solchen nicht

6 Griech. agathos daim0n, wie wir in anderen 'll'aktaten auch als Eigenname sagen
werden.
7 Abschnitt 21 (Anfang).
8 Theognis, Elegien I 177f.
68 Corpus Henneticum X

'Mensch' nennen. Denn der Mensch ist ein göttliches Lebewesen und nicht den
anderen auf der Erde wohnenden Lebewesen vergleichbar, sondern mit denen
im Himmel oben, die man 'Götter' nennt.
Ja, noch mehr- wenn man wagen soll, die Wahrheit zu sagen: Der wahre
Mensch reicht über jene hinaus, mindestens aber sind sie gleich an Kraft. 25
Denn es wird keiner der himmlischen Götter auf die Erde hinabsteigen, die
Grenze des Himmels verlassend. Der Mensch aber steigt auch in den Himmel
hinauf und mißt ihn aus und weiß, wie hoch er ist und wie tief. Er lernt auch
alles andere genau.
Ja, was mehr ist als alles andere: Ohne die Erde zu verlassen, kommt er nach
oben - solch eine Größe hat seine Ausdehnung. Deswegen muss man wagen zu
sagen, dass der irdische Mensch ein sterblicher Gott, der himmlische Gott aber
ein unsterblicher Mensch sei. 9 Eben deshalb ist durch die beiden, durch Kos-
mos und Mensch, alles. Aber alles ist unter dem Einen.«

9 Vgl. C. H. XII 1.
69

XI
Nous 1 zu Hermes

1 »Halte nun das Wort fest, Herrnes Trismegistos, und erinnere dich des
Gesagten. Da es nun mir zukommt zu reden, will. ich nicht zögern.«
»Viele haben vielerlei und verschiedenerlei über das All und über Gott ge-
sagt, die Wahrheit aber erfuhr ich dennoch nicht. So belehre du mich doch
darüber, Meister! Denn dir allein möchte ich die Offenbarung darüber glauben.«
2 Die Zeit.
»Höre, mein Kind, was es mit Gott und mit dem All auf sich hat. Gott- der
Aeon - der Kosmos - die Zeit - das Werden: Gott erschafft den Aeon, der
Aeon den Kosmos, der Kosmos die Zeit, die Zeit das Werden. Das Gute, das
Schöne, das Glück, die Weisheit ist gewissermaßen Gottes Wesen; die Identität
ist (das Wesen) des Aeon; die Ordnung (das Wesen) des Kosmos; die Verän-
derung (das Wesen) der Zeit; das Leben und der Tod (das Wesen) des Werdens.
Kraft Gottes ist Geist und Seele; (Kraft) des Aeon Bleiben und Unsterblichkeit;
(Kraft) des Kosmos fortwährende Wiederherstellung; (Kraft) der Zeit Wachsen
und Abnehmen; (Kraft) des Werdens aber Qualität. In Gott ist der Aeon; im
Aeon ist der Kosmos; im Kosmos ist die Zeit; in der Zeit ist das Werden. Bei
Gott steht der Aeon; im Aeon bewegt sich der Kosmos; im Kosmos fährt die
Zeit über; in der Zeit geschieht das Werden. 3 Gott ist die Quelle aller Dinge;
der Aeon das Wesen; der Kosmos die Materie. Gottes Kraft ist der Aeon; des
Aeon Werk der Kosmos, nie geworden, aber immer vom Aeon her im Werden
begriffen. Darum wird er auch nie vergehen; der Aeon ist nämlich unvergäng-
lich. Auch wird nichts verloren gehen von dem im Kosmos, ist doch der Kos-
mos vom Aeon umschlossen. Was aber ist die Weisheit Gottes? Das Gute und
das Schöne und Glückseligkeit und alle Thgend und der Aeon.
Der Aeon ordnet die Unsterblichkeit, indem er der Materie auch die Dauer
einsetzt. 4 Das Werden jener hängt vom Aeon ab, wie der Aeon von Gott. Das
Werden und die Zeit gibt es im Himmel und auf der Erde, weil sie von dop-
pelter Natur sind. Im Himmel sind sie nämlich unveränderbar und unvergäng-
lich, auf der Erde dagegen veränderbar und vergänglich. Gott ist die Seele des
Aeon, der Aeon (die Seele) des Kosmos, der Himmel (die Seele) der Erde. Gott
ist im Geist, der Geist in der Seele, die Seele in der Materie. Dieses alles ist
durch den Aeon. Dieses All ist ein Körper, in dem alle Körper sind. Die Seele,
voll Geist und Gott, füllt ihn innen aus; außen umgreift sie ihn, wobei sie das

1 Griechisch für: 'Geist', '(Ur)-Gedanke'; vgl. C. H. I 6, XII usw.


70 Corpus Hermeticum XI

All belebt: Außen den Kosmos, dieses große und vollkommene Lebewesen;
innen aber alle Lebewesen, wobei sie oben im Himmel in der Identität bleibt,
unten auf der Erde aber das Werden verändert. 5 Der Aeon hält diesen (Kos-
mos) zusammen, sei es aus Notwendigkeit, sei es wegen der Vorsehung, sei es
von Natur aus, oder was sonst anderes einer denkt oder denken wird. Gott wirkt
all dieses; doch Gottes Wirken, dem man weder menschliches noch göttliches
vergleichen kann, ist unübertrefflich, denn es ist Kraft.
Deshalb, Hermes, halte niemals hier unten oder dort oben etwas für gottähn-
lich, weil du sonst aus der Wahrheit herausfällst. Nichts ist ähnlich dem Unähn-
lichen, dem Einzigen, dem Einen. Auch sollst du nicht denken, dass er vor
irgendeinem aus seiner Macht weicht. Wer ist denn nach ihm noch Schöpfer
des Lebens, der Unsterblichkeit, der Veränderung? Was hat er selbst je anderes
getan? Gott ist nicht müßig, wenn auch alles andere müßig wäre. Alles ist doch
voll von Gott. Nicht einmal im Kosmos gibt es Müßiggang noch irgendwo
anders. Müßiggang ist ein leerer Begriff ohne Schöpfer und Geschöpf, 6 denn
alles muss werden, immer, an jedem Ort und jetzt. Der Schöpfer ist in allen
(Geschöpfen), nicht in irgendeinem sitzt er, und nicht in irgendeinem schafft er
- sondern alles. Obwohl er wirkende Kraft ist, findet er nicht sein Genügen von
den Werdenden, sondern die Werdenden von ihm.
Schau durch mich den vor deinem Blick ausgebreiteten Kosmos, betrachte
seine Schönheit genau. Er ist ein reiner Körper, und nichts wird je älter sein als
er- und dennoch steht er allezeit in Blüte, ist jung und blüht über und über.
7 Sieh auch die sieben ausgebreiteten Welten2, wie sie mit ewiger Ordnung
und unterschiedlichem Lauf den Aeon ausfüllen. Alles ist voll Licht, Feuer ist
nirgends; denn Liebe und Mischung der Gegensiitze und der Verschiedenheiten
ist zum Licht geworden, bestrahlt von der Wirksamkeit Gottes, des Erzeugers
alles Guten, des Beherrschers3 aller Ordnung, des Fürsten4 der sieben Welten.
(Sieh den) Mond, Vorläufer aller jener, Werkzeug der Natur, der die untere
Materie ständig verwandelt. (Sieh) auch die Erde, die Mitte des Alls, als Grund
des schönen Kosmos gelegt, Ernährerin und Amme der Erdgebundenen. Schau
auch die Menge der unsterblichen Lebewesen, wie groß sie ist, und die der
Sterblichen und zwischen beiden, den Unsterblichen und den Sterblichen, den
Mond wandern. 8 Alles ist voll Seele und alles ist bewegt: das eine am Him-
mel, das andere auf der Erde; aber das Rechte nicht nach links, das Linke nicht
nach rechts; auch das Obere nicht nach unten noch das Untere nach oben. Dass

2 Die Planeten.
3 Hier archön, ein im C. H. seltenes Wort (XIII 5; Stob. XXIV 2), erst im Gnostizismus
häufig für den Gott oberhalb der Planetensphären (im Fixstemhimmel).
4 Vgl. Stob. XXIII 25.
Corpus Hermeticum XI 71

dies aber alles Geschöpfe sind, mein teuerster Hermes, brauchst du von mir
nicht mehr zu lernen: Körper sind sie und haben Seele und werden bewegt.
Unmöglich kommen diese zusammen ohne den, der sie zusammenfügt. Es
muss also einen solchen geben, und (er kann) nur ein Einziger sein.
9 Obwohl es viele verschiedene Bewegungen gibt, die Körper auch nicht
gleich sind, ihnen allen aber nur eine einzige Geschwindigkeit zugeordnet wor-
den ist, ist es unmöglich, dass es zwei oder mehrere Schöpfer gibt. Eine einzige
Ordnung nämlich kann nicht von vielen eingehalten werden. Mit den vielen ist
der Eifer um das Bessere verbunden.
Ich muss dir auch noch sagen: Wenn nun der Schöpfer der veränderlichen
und sterblichen Lebewesen ein anderer wäre, dann würde er Begehr tragen,
auch Unsterbliche zu erschaffen, wie auch der (Schöpfer) der Unsterblichen
Sterbliche (zu erschaffen begehrte). Wohlan, wenn es denn wirklich zwei wä-
ren, es aber nur eine Materie und eine Seele gibt, bei welchem von ihnen läge
die Verantwortung für die Schöpfung? Wenn (sie) aber bei beiden (läge), bei
wem dann der größere Teil? 10 So aber denke, dass jeder lebendige Körper, sei
es der eines Unsterblichen, eines Sterblichen oder eines Tieres, aus Materie und
Seele zusammengesetzt ist. Alle lebendigen Körper sind beseelt: Die nicht-le-
bendigen (Körper) sind wieder bloße Materie; und genauso liegt eine bloße
Seele beim Schöpfer als Ursprung des Lebens. Jeder Ursprung des Lebens ist
der der Unsterblichen. Wieso sind nun die (einen) sterblichen Lebewesen an-
dere als die (anderen) sterblichen (Lebewesen)? Wieso schafft das Unsterbli-
che, das die Unsterblichkeit schafft, nicht auch das, was zu den Lebewesen
gehört?
11 Also ist klar, dass irgendeiner der Schöpfer ist. Ganz offenbar ist auch,
dass es ein einziger ist: Es (gibt) doch nur eine Seele, nur ein Leben und nur
eirte Materie. Wer fst dieser? Wer denn anderes als der einzige Gott? Welchem
Anderen kommt es denn wohl zu, beseelte Wesen zu schaffen, wenn nicht dem
alleinigen Gott? Gott ist ein Einziger!
{»Sehr lächerlich!« }5
»Wenn du nun zugestimmt hast, dass der Kosmos ewig ist und es nur eine
Sonne, einen Mond und eine Gottheit (gibt) -, an welcher Stelle willst dU: nun,
dass Gott selbst sei? 12 Er erschafft doch alles.«
{»Ungeheuer lächerlich!« }
»Ist es denn für Gott etwas Großes, Leben, Seele, Unsterblichkeit oder auch
Veränderung zu erschaffen, wenn schon du so vieles vermagst? Du siehst doch,
redest, hörst, riechst, greifst, gehst, denkst und atmest. Und es ist nicht so, dass
einer nur sieht, ein anderer hört, redet, greift, riecht, geht, denkt oder atmet.

s Anmerkung eines gnostischen Lesers. So auch im Folgenden.


72 Corpus Hermeticum XI

Sondern ein einziger ist es, der das alles (kann)! All jenes kann nicht ohne Gott
sein. Wie du, wenn du von all diesem ablässt, kein Lebender mehr bist, so ist
auch Gott, wenn er von all jenem ablässt - was man freilich nicht sagen darf-,
nicht mehr Gott.
13 Wenn also erwiesen ist, dass nichts (müßig) sein kann, um wieviel we-
niger dann Gott? Denn wenn es irgendetwas gibt, das er nicht erschafft, dann
ist er- was man freilich (auch) nicht sagen darf- unvollkommen. Wenn er also
nicht müßig ist, sondern vollkommen, dann erschafft er alles.
Wenn du dich mir noch einen Augenblick anvertraust, mein Hermes, wirst
du leicht erkennen, dass Gottes Werk ein einziges ist, damit alles wird, was
(jetzt) wird, oder was einmal geworden ist oder was werden wird. Dieses, mein
Liebster, ist Leben. Dieses ist das Schöne, dieses ist das Gute, dieses ist Gott.
14 Wenn du das auch praktisch verstehen willst, dann sieh, was dir geschieht,
wenn du zeugen willst. Freilich ist es jenem nicht ähnlich, denn jener empfindet
keine Lust, er hat auch keinen anderen als Partner. Alleinwirkend ist er, ewig
ist er am Werk; was er erschafft, ist er selbst. Würde (die Schöpfung) von ihm
getrennt, müßte mit Notwendigkeit alles zusammenfallen und alles sterben,
sodass es kein Leben mehr gäbe. Wenn aber alles Lebewesen sind, das Leben
aber nur ein einziges, dann ist auch Gott nur ein einziger. Noch einmal: Wenn
alles Lebewesen sind, sowohl im Himmel als auch auf der Erde, es aber für alle
nur ein Leben gibt, dann stammt es von Gott und ist selbst Gott. Folglich ist
alles von Gott, Leben aber ist (die) Einheit von Geist und Seele.
Der Tod ist dann nicht der Untergang der zusammengefügten Bestandteile,
sondern die Trennung der Vereinigung. 15 Ferner ist ein Abbild Gottes der
Aeon, eins des Aeon der Kosmos, des Kosmos die Sonne, (ein Abbild) der
Sonne der Mensch. Man sagt, die Veränderung sei der Tod, weil sich der Kör-
per auflöst, das Leben aber ins Unsichtbare entweicht. Nach diesem Verständ-
nis, mein lieber Hermes, sage ich, dass das Aufgelöste und der Kosmos sich
verändern {abergläubisch, wie du hörst} 6, weil Tag für Tag ein Teil von ihm ins
Unsichtbare geht, niemals aber aufgelöst wird.
Dies ist das Ergehen des Kosmos: die Umläufe und das Verschwinden. Da-
bei ist der Umlauf Wandel, aber das Verschwinden Erneuerung. 16 Allgestaltig
ist der (Kosmos), ohne festgelegte Gestalten, vielmehr ist er in sich selbst
veränderlich. Wenn nun also der Kosmos allgestaltig wurde, was könnte dann
wohl der sein, der ihn schuf? Doch keinesfalls gestaltlos. Wenn auch er allge-
staltig (ist), wird er dem Kosmos ähnlich sein. Aber wenn er (nur) eine einzige
Gestalt hat? Auf diese Weise wird er geringer sein als der Kosmos. Was wollen
wir nun sagen, dass er sei, damit wir die Sache nicht als Ausweglosigkeit

6 Glosse. Vgl. Anm. 5.


Corpus Hermeticum XI 73

hinstellen? Es darf doch nichts, was man über Gott denken kann, ausweglos
sein! Also hat er eine einzige Idee, wenn es denn überhaupt eine Idee von ihm
gibt. Diese ist nicht den Blicken untergeordnet; körperlos ist sie, zeigt aber alle
(Ideen) durch die Körper. 17 Und wundere dich nicht, wenn es eine körperlose
Idee gibt! Es gibt nämlich eine, wie es die (Idee) des Wortes (gibt). Denn in der
Schrift sieht man Zacken, die ragen steil heraus, obwohl sie doch eigentlich von
Natur ganz und gar eben und glatt sind.
Bedenke aber, was gemeint ist. Es ist zwar außerordentlich kühn, aber sehr
wahr: So wie der Mensch ohne Leben nicht leben kann, so auch Gott nicht
ohne das Gute zu tun. Dieses nämlich ist wie Leben und wie Bewegung Gottes,
nämlich das All bewegen und lebendig machen.
18 Manches von dem eben Gesagten bedarf noch eigenen Nachdenkens.
Bedenke, was ich sage: Alles ist in Gott, aber nicht so, als läge es an einem Ort,
denn ein Ort ist ja ein Körper, ein Körper aber ist unbewegt, und was liegt, hat
keine Bewegung. Denn es liegt ganz anders in der körperlosen Vorstellung.
Bedenke den, der alles umfasst, und bedenke, dass nichts begrenzender ist als
das Körperlose, nichts schneller und nichts mächtiger. Es ist selbst aber das
Unbegrenzteste, das Schnellste und Mächtigste von allen.
19 Und so denke von dir selbst und befiehl deiner Seele, irgendwohin zu
reisen, und schneller als dein Befehl wird sie dort sein. Befiehl ihr, über den
Ozean zu gehen, so wird sie ebenso schnell dort sein, nicht als ginge sie von
Ort zu Ort, sondern als sei sie schon da. Befiehl ihr auch, in den Himmel
aufzuflie~en, und sie wird keiner Flügel bedürfen. Auch wird nichts sie dabei
behindern, nicht das Feuer der Sonne, nicht der Aether, nicht der Umlauf (der
Planeten), nicht die Körper der anderen Sterne. Alles durchquerend wird sie
auffliegen bis zum letzten Körper. Wolltest du aber auch das ganze (Gewölbe)
selbst aufreißen7 und, was außerhalb liegt, ansehen - wenn es überhaupt etwas
außerhalb des Kosmos gibt -, es steht dir frei. 20 Sieh, welche Kraft, welche
Schnelligkeit du hast! Wenn schon dir solches möglich ist -, Gott etwa nicht?
So denke Gott: Er fasst alle Gedanken in sich, den Kosmos, sich selbst, das
Ganze. Wenn du dich nicht selbst Gott angleichst, kannst du über Gott nicht
nachdenken. Nur dem Ähnlichen ist das Ähnliche denkbar". Wachse über dich
selbst hinaus zu unermeßlicher Größe, springe aus deinem Körper, erhebe dich
über alle Zeit und werde so zum Aeon, dann wirst du Gott erkennen! Nichts ist
dir unmöglich, wenn du es unternimmst; halte dich selbst für unsterblich und
für fähig, alles zu erkennen, alle Kunst, alle Wissenschaft, eines jeden Lebe-
wesens Art. Werde höher als alle Höhe, werde tiefer als alle Tiefe! Nimm alle

7 Vgl. C. H. I 14.
8 Platonischer Lehrsatz, der Gemeingut wurde, vgl. I Kor 2,13.
74 Corpus Hermcticum XI

Vorstellungen der Dichter in dir selbst zusammen: die des Feuers, des Wassers,
des Trockenen wie des Feuchten; auch das Überall-zugleich-Sein: auf dem
Festland, auf dem Meere, im Himmel; das Noch-nicht-Gewordensein, Im-
Mutterleibe-Sein, Kind-, Greis-, Gestorben-Sein, das Nach-dem-Tode(-Sein).
Und wenn du dieses alles gleichzeitig bedenkst - Zeiten, Orte, Taten, Quali-
täten und Quantitäten -, kannst du Gott schauen.
21 Wenn du aber deine Seele im Körper verschließt und sie demütigst und
sagst: 'Nichts weiß ich, ich kann nichts, ich fürchte mich vor dem Meer, in den
Himmel aufzusteigen vermag ich nicht9 ; ich weiß nicht, wer ich war; auch wer
ich sein werde, weiß ich nicht', was hast du dann mit Gott zu schaffen? 10 Dann
vermagst du nichts vom Schönen und Guten zu erkennen, denn du liebst den
Körper und bist schlecht. Vollkommene Schlechtigkeit ist es, das Göttliche
nicht zu erkennen.
Das Vermögen zu erkennen, zu wollen und zu hoffen ist ein eigener, gerader
Weg, der leicht zum Guten führt. ~enn du aber auf (diesem) Wege bist, wird
(Gott) dir überall begegnen und überall erscheinen, wo und wann du es nicht
erwartest, ob du wachst oder schläfst, 1! ob du auf See bist oder auf dem Land-
wege, nachts oder tags, ob du redest oder schweigst. Denn es gibt nichts, was
(Gott) nicht ist. 22 Dann sagst du: 'Gott ist unsichtbar!' Schweig still! Wer ist
denn sichtbarer als er? Darum hat er doch all dieses gemacht, damit du ihn
durch alles erkennst. 12 Dieses ist das Gute Gottes, dieses ist seine Kraft, dass er
durch alles erscheint. Denn nichts ist unsichtbar, nicht einmal von den Kör-
perlosen. Der Geist wird im Denken sichtbar, Gott aber im Erschaffen. Dieses
ist dir soweit offenbart, Trismegistos. Alles Weitere bedenke auf die gleiche
Weise bei dir selbst, und du wirst dich nicht täuschen.«

9 Vgl. Dtn 30,12.


10 Vgl. Mk 5,7 par.
11 Vgl. Dtn 6,7; I Thess 5,10.
12 Vgl. Sap 13,1.5.9; Röm 1,20.
75

XII
Hermes Trismegistos an Tat: Über den allgemeinen Urgedanken 1

1 »Der Urgedanke, mein lieber Tat, stammt direkt aus dem Sein Gottes, falls
es überhaupt ein Sein Gottes gibt. Was dieses (Sein) wohl immer ist, weiß ganz
genau nur Gott von sich selbst. Abgetrennt vom Sein Gottes gibt es den Ur-
gedanken nicht, sondern er ist (von Gott her) entfaltet wie das Licht von der
Sonne her. Dieser Urgedanke ist bei den Menschen ein Gott. Daher sind auch
einige Menschen Götter und ihre Menschlichkeit ist der Göttlichkeit benach-
bart. Denn auch Agathos Daimon hat schon gesagt, dass die Götter unsterbliche
Menschen, die Menschen aber sterbliche Götter seien? In den Wesen ohne
Vernunft ist nur die Natur. 2 Wo Seele ist, da ist auch Urgedanke; wo Leben ist,
da ist auch Seele. Nur bei den Wesen ohne Vernunft ist die Seele das Leben
ohne Urgedanken. Der Urgedanke ist nämlich der Wohltäter der Menschensee-
len. Er wirkt ja in ihnen zum Guten. Auch in den (Seelen) ohne Vernunft wirkt
er mit der Natur eines jeden zusammen; in denen der Menschen aber arbeitet er
gegen sie. Jede Seele, die in einen Körper eintritt, wird sofort von Trauer und
Lust verdorben. Denn Trauer und Lust kochen wie Säfte eines zusammen-
gesetzten Körpers, in welche die Seele beim Eintritt hineintaucht
3 Allen Seelen, denen der Urgedanke zur Seite steht, scheint sein ureigenes
Licht, und er arbeitet gegen ihre Vorurteile an. So wie ein guter Arzt dem von
Krankheit befallenen Körper mit Brennen und Schneiden Schmerzen zufügt,
bereitet in gleicher Weise der Urgedanke einer Seele Schmerzen, indem er sie
der Lust entreißt, aus der alle Krankheit der Seele entsteht. Eine schwere
Krankheit der Seele ist Gottlosigkeit, eine zweite Eitelkeit. Aus diesen (beiden)
folgt alles Schlechte, aber nichts Gutes. So verschafft der Urgedanke, der
(scheinbar) gegen die Seele auftritt, ihr (in Wahrheit) das Gute, wie ja auch der
Arzt dem Körper die Gesundheit (verschafft). 4 Alle Menschenseelen, die nicht
den Urgedanken als Steuermann erhielten, erleiden dasselbe wie die Wesen
ohne Vernunft. Obwohl er ihnen zum Helfer wird und sie aus den Begierden
herauszieht, finden sie dennoch keine Sättigung an Übeln. Sie hören auch nicht
auf, gedankenlos den Begierden zu folgen, die auf Gedankenlosigkeit ausge-
richtet sind. Dorthin lassen sie sich im Drang des Gierens treiben, um sich wie
die Wesen ohne Vernunft gedankenlos den Gefühlen hinzugeben. Gefühle und
Begierden sind Übel ohne Sinn und Verstand. Gegen diese hat Gott als Schutz
und Beweis das Gesetz aufgestellt.«

1 So übersetzen wir hier nous (vgl. C. H. I 6, 9 usw; XI, Überschrift).


2 Vgl. C. H. X 23.
76 Corpus Hermeticum XII

5 »Dann, mein Vater, gerät der in meiner Gegenwart aufgestellte Lehrsatz


von der Vorherbestimmung in Gefahr umzustürzen. Wenn nun jemandem un-
ausweichlich vorher bestimmt ist, ein Ehebrecher zu sein, ein Tempelräuber zu
werden oder sonst etwas Schlechtes zu tun, wird er dann nicht bestraft, selbst
wenn er die Tat aus Zwang der Vorherbestimmung beging?«
»Alle Taten, mein Kind, unterliegen der Vorherbestimmung und ohne jene
geschieht nichts bei den Körperlichen. Weder Gutes noch Schlechtes geschieht
zufällig. Es ist vorherbestimmt, dass einer leidet, obwohl er das Gute tut. Des-
halb tut er (das Schlechte), damit er leidet, was er leidet, weil er (es) getan hat.
6 Worum es sich jetzt handelt, ist nicht die Lehre von Übel und Vorherbestim-
mung. Darüber haben wir schon an anderer Stelle geredet. 3 Jetzt reden wir vom
Urgedanken: Was vermag er? Und: Wie verschiedenartig ist er? Bei den Men-
schen ist er so, bei den Wesen ohne Vernunft anders. Und andererseits: Bei den
anderen Wesen ist er nicht (nur) wohltätig, sondern (sich selbst) in jeder Weise
unähnlich. Er löscht Gefühl und Begehren aus, und darüber müssen Verstän-
dige und Unverständige nachdenken. Alle Menschen unterliegen der Vorher-
bestimmung, dem Werden und der Veränderung. Anfang und Ziel, beides ge-
hört zur Vorherbestimmung. 7 Zwar erleiden alle Menschen, was vorherbe-
stimmt. ist, die verständigen aber, von denen wir gesagt haben, dass der Ur-
gedanke sie leitet, leiden nicht in gleicher Weise wie die anderen, sondern fern
vom Übel leiden sie, obwohl sie nicht übel sind.«
»Wie meinst du das wieder, mein Vater? Ist der Ehebrecher nicht schlecht?
Ist der Mörder nicht schlecht? Und die anderen alle?«
»Aber der Verständige, mein Kind, muss leiden ohne Ehebruch, aber wie ein
Ehebrecher; ohne Mord, aber wie ein Mörder; und es ist unmöglich, vor der
jeweiligen Veränderung wie auch vor dem Werden zu entfliehen. Wer ,aber den
Urgedanken hat, muss vor dem Übel fliehen. 8 Aus dem gleichen Grunde habe
ich auch den Agathos Daimon immer sagen hören - und wenn er es nieder-
geschrieben hätte, hätte er dem Menschengeschlecht einen ganz großen Dienst
erwiesen; nur jener nämlich, mein Kind, als erstgeborener Gott, weil er alles
überblickt, hat wahrhaft göttliche Worte gesprochen -, ich hörte ihn nämlich
einmal sagen: 'Alles ist eins und am meisten die (nur) verständigen Körper.'
Wir aber leben aus Kraft, Wirkung und Aeon. Und der Urgedanke dieses (Got-
tes) ist das Gute, was auch seine Seele ist. Da dieser ein solcher ist, ist nichts
vom Verständigen getrennt, sodass nun möglich ist, dass der Urgedanke, der
über alles herrscht und die Seele Gottes ist, tut, was er will.
9 Du aber denke nach, wende diese Logik auch auf die Frage an, die du mir
vorhin gestellt hast; ich meine (die Frage) nach der Vorherbestimmung (und)

3 Nicht im vorliegenden Corpus. Vgl. aber Stob. VIII 5.


Corpus Henneticum XII 77
dem Urgedanken. Wenn du die Streitreden gänzlich aufgibst, mein Kind, wirst
du herausfinden, dass der Urgedanke, die Seele Gottes, in Wahrheit über alles
herrscht, auch über die Vorherbestimmung, das Gesetz und alles andere. Für
ihn ist nichts unmöglich: Nicht, eine menschliche Seele über die Vorherbestim-
mung zu setzen; noch (eine menschliche Seele), die sich nicht um das kümmert,
was geschieht, der Vorherbestimmung zu unterwerfen. Und dieses, das Beste,
was Agathos Daimon (gesagt hat), soll nun soweit besprochen sein.«
»Und göttlich ist dieses, mein Vater, und wahr und nützlich. 10 Eins musst
du mir aber noch erklären: Du sagtest nämlich: Der Urgedanke wirkt in den
Wesen ohne Vernunft wie die Natur, weil er mit den Strebungen der (Lebe-
wesen) zusammenwirkt. Wie ich meine, sind ja die Strebungen der Wesen ohne
Vernunft Leidenschaften. Wenn aber der Urgedanke mit den Strebungen zu-
sammenwirkt, die Strebungen aber Leidenschaften (sind), ist dann nicht auch
der Urgedanke eine Leidenschaft und berührt sich mit den Leidenschaften?«
»Schön, mein Kind! Du stellst da eine gute Frage, und so will ich antworten.
11 Mein Kind, alle Erregungen im Körper sind körperlos, allen voran die Lei-
denschaften selbst. Alles Bewegende ist körperlos, alles Bewegte ist Körper,
aber das Körperlose wird vom Urgedanken bewegt. Bewegung ist Erleiden.
Beide leiden, das Bewegende und das Bewegte, das eine als Herrschendes, das
andere als Beherrschtes. Nur wenn du vom Körper fern bist, bist du auch fern
vom Erleiden. Ja vielleicht noch mehr, mein Kind: Nichts ist ohne Regung,
alles ist Erregung. Erleiden unterscheidet sich von Erregung. Das eine bewirkt,
das andere erleidet. Die Körper dagegen wirken für sich selbst: Entweder sind
sie unbewegt, oder sie werden bewegt. Welches von beiden auch der Fall ist, es
ist ein Leiden. Die Körperlosen dagegen sind immer in Wirkung, darum sind
sie Erregung. Hoffentlich verwirren dich die Begriffe nicht. 1\m und Leiden
sind also (für Körper) gleich. Es wird nicht schaden, den frommeren Begriff zu
gebrauchen.«
12 »Sehr deutlich, mein Vater, hast du den Zusammenhang dargelegt.«
»Sieh auch noch dieses, mein Kind, dass Gott dem Menschen im Gegensatz
zu allen (anderen) sterblichen Wesen dieses beides, der Unsterblichkeit gleich-
wertig, gegeben hat: den Geist (Nous) und das Wort (Logos). (Gott) hat die
Fähigkeit, sich verständlich zu äußern. Wenn einer diese (beiden) so verwendet,
wie man sie verwenden soll, wird er sich in nichts von den Unsterblichen
unterscheiden. Ja, vielmehr, wenn er den Körper verlässt, wird er von beiden in
die Versammlung der Götter und Seligen geführt.«
13 »Und die anderen Lebewesen haben keine Sprache, mein Vater?«
»Nein, Kind, wohl aber die Stimme. Die Sprache unterscheidet sich außer-
ordentlich von der Stimme. Das Wort ist allen Menschen gemeinsam, aber jede
Art Lebewesen hat eine eigene Stimme.«
78 Corpus Henneticum XII

»Aber ist nicht die Sprache der Menschen bei jedem Volk unterschiedlich,
mein Vater?«
»Schon unterschiedlich, mein Kind; aber der Mensch ist immer ein (und
derselbe). So ist auch die Sprache eine (und dieselbe); sie wird übersetzt und
findet sich genau so in Ägypten, in Persien und Griechenland. Du scheinst mir
Kraft und Größe der Sprache zu verkennen, mein Kind. Der selige Gott Aga-
rhos Daimon hat schon gesagt, dass die Seele im Körper ist, der Gedanke in der
Seele, die Sprache aber im Gedanken, Gott aber schließlich der Vater von
diesen. 14 Also ist die Sprache Bild und Gedanke Gottes, der Körper (Bild und
Gedanke) der Urgestalt, die Urgestalt wiederum (Bild und Gedanke) der Seele.
Die feinste Materie ist die Luft, die (feinste) Luft die Seele, die (feinste) Seele
der Gedanke, der (feinste) Gedanke Gott. Gott freilich umfasst alles, durch-
dringt alles. Der Gedanke umfasst (nur) die Seele, die Seele umfasst (nur) die
Luft, die Luft umfasst (nur) die Materie.
Mit Notwendigkeit sind Voraussicht und Natur Werkzeuge des Kosmos und
(zur) Ordnung der Materie (bestimmt). Jedes Gedachte ist ein Wesen und das
Wesen des Gedachten ist die Gleichförmigkeit. Jeder Körper des Alls ist viel-
fach vorhanden. Weil die zusammengesetzten Körper die Gleichförmigkeit ha-
ben und weil sie die Veränderung untereinander vollziehen, bewahren sie doch
gleichförmige Unvergänglichkeit. 15 In allen anderen zusammengesetzten Kör-
pern ist die Zahl eines jeden enthalten. Denn ohne Zahl sind Bestand oder
Zusammensetzung oder Auflösung unmöglich. Die Einsen erzeugen die Zahl
und vergrößern sie. Die wieder verkleinerte (Zahl) nehmen sie in sich auf. Die
Materie (bleibt) eins.
Dieser ganze Kosmos, der große Gott, das Abbild des größeren, vereint mit
jenem, der Ordnung und Willen des Vaters aufrecht erhält, ist der Inbegriff des
Lebens. Nichts gibt es darin während der Aeonenzeit und väterlichen Wieder-
herstellung, das nicht lebt, weder insgesamt noch einzeln. Nicht eines ist tot im
Kosmos; weder war es noch ist es noch wird es sein. Denn der Vater will, dass
es ein Lebendiges sei, solange es jedenfalls Bestand hat. Daher ist es notwen-
dig, dass Gott ist. 16 Wie könnte denn, mein Kind, in Gott, im Abbild des Alls,
im Inbegriff des Lebens, Totes sein? Denn der Tod ist Vergänglichkeit, die
Vergänglichkeit Untergang. Wie kann nun irgendein Teil vom Unvergänglichen
vergehen oder irgend(ein Teil) von Gott untergehen?«
»Mein Vater, sterben die darin (im Vergänglichen) Lebenden deshalb nicht,
weil sie seine Teile sind?«
»Still, mein Kind! Du irrst dich im Begriff des Werdenden. Freilich sterben
sie nicht, mein Kind; sondern weil sie zusammengesetzte Körper sind, werden
sie aufgelöst. Solche Auflösung ist kein Tod, sondern Auflösung einer Verbin-
dung. Sie wird nicht aufgelöst, damit sie untergehe, sondern damit Neues ent-
Corpus Henneticum XII 79

stehe. Was ist des Lebens Kraft? Nicht die Bewegung? Was ist denn im Kos-
mos unbewegt? Nichts, mein Kind.«
17 »Nicht einmal die Erde scheint dir unbewegt, mein Vater?«
»Nein, Kind, besonders sie, die so fest steht, ist vielbewegt Wie lächerlich
wäre es, wenn die Ernähretin aller unbeweglich wäre, die doch alles wachsen
lässt und erzeugt? Denn es ist unmöglich, dass einer, der etwas wachsen lässt,
es ohne Bewegung wachsen lässt. Höchst lächerlich hast du gefragt, ob ein
Viertel aller Elemente müßig sein sollte. Nichts anderes zeigt doch der unbe-
wegte Körper an als Müßigkeit.
18 Mein Kind, alles sollst du jetzt im Überblick wissen. Was im Kosmos ist,
bewegt sich: Entweder wird es kleiner, oder es wächst. Was sich bewegt, lebt
auch. Alles Lebende bleibt nicht zwangsläufig sich selbst gleich. Weil der
Kosmos im Ganzen umfassend ist, bleibt er unveränderbar, mein Kind; dage-
gen sind alle seine Teile veränderbar. Nichts kann verderben oder untergehen,
nur verwirren die Begriffe die Menschen. Nicht Werden ist Leben, sondern
Wahrnehmung, nicht Veränderung Tod, sondern Vergessen. Wenn das nun so
ist, ist alles unsterblich: die Materie, Leben, der Geist, Seele, der Urgedanke,
von dem her alles Lebende Bestand hat. 19 So ist alles Lebende um seinet-
willen unsterblich, vor allen anderen der Mensch, der für Gott empfanglieh ist
und auch mit Gott Gemeinschaft hat. Nur mit diesem Lebewesen redet Gott, in
der Nacht durch Träume, am Tage durch Anzeichen. Fortwährend sagt er ihm
die Zukunft durch Vögel, durch Eingeweide, durch Winde, durch Eichen vor-
aus. Deshalb sagt man auch vom Menschen, er wisse Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft.
20 Und betrachte auch dieses noch, mein Kind: Jedes Lebewesen hat seinen
Platz an einem bestimmten Ort des Kosmos: die Wassertiere im Wasser, die
Landtiere auf der Erde, die Flugtiere in der Luft. Der Mensch aber gebraucht
alle diese: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Er sieht auch den Himmel, berührt ihn
durch die Wahrnehmung. Gott aber ist um alles und durch alles, denn er ist
Wirkung und Kraft. Und es ist in keiner Weise schwierig, mein Kind, Gott zu
bedenken. 21 Wenn du ihn aber auch anschauen willst, sieh die Ordnung des
Kosmos und die Schönheit dieser Ordnung. Sieh die Festlegung der Erschei-
nungen, die Vorherbestimmung des Gewordenen und des Werdenden, sieh die
Materie, sie ist voller Leben. Sieh den großen Gott, der sich bewegt mit allen
Guten und Schönen: mit Göttern, Dämonen und Menschen.«
»Aber dies, mein Vater, sind Kräfte.«
»Wenn sie nun gänzlich Kräfte sind, mein Kind, von wem haben sie die
Kraft? Von einem anderen Gott? Du weißt wohl nicht, dass, wie Himmel,
Wasser, Erde, Luft Teile des Kosmos sind, so seine Glieder Leben, Unsterblich-
keit, Blut,4 Notwendigkeit, Vorsehung, Natur, Seele und Urgedanke sind? Die
4 D. h. Leben.
80 Corpus Hermeticum XII

Beständigkeit all dieser ist das sogenannte Gute! Es gibt nichts unter den
Werdenden und Gewordenen, worin Gott nicht ist.«
22 »Und in der Materie, mein Vater?«
»Mein Kind, ist etwa die Materie ohne Gott, dass du ihr einen beliebigen Ort
abteilen könntest? Was meinst du denn, was sie anderes ist als ein Haufen,
wenn sie keine Wirkung zeigt? Wenn sie aber Wirkung zeigt, von wem be-
kommt sie die Kraft? Wir sagten doch, die Wirkungen seien Teile Gottes. Von
wem werden nun alle Lebewesen lebendig gemacht? Von wem wird das Un-
sterbliche unsterblich gemacht? Von wem wird das Veränderliche verändert?
Wenn du nun Materie, Körper oder Sein nennst, musst du wissen, dass diese
selbst Wirkungen Gottes sind. Die Wirkung der Materie ist Gebundenheit an
die Materie, (die Wirkung) der Körper ist Gebundenheit an die Körper und die
(Wirkung) des Seins ist Seinsgebundenheit Und dieses ist Gott: das All. 23 Im
All ist nichts, was nicht ist. Daher ist weder Größe noch Ort noch Charakter
noch Aussehen noch Zeit um Gott herum; er ist alles. Aber das All ist durch
alles und um alles. Diese Lehre sollst du anbeten und verehren, mein Kind. Es
gibt aber nur einen Gottesdienst: Nicht schlecht sein.«
81

XITI
Des Hermes Trismegistos geheime Rede auf dem Berge an seinen Sohn
Tat: Über die Botschaft von Wiedergeburt und Schweigen

1 »In den Grundlehren 1, mein Vater, hast du rätselhaft und nicht klar ge-
sprochen, als du über die Gottheit handeltest. Du hast nicht klar geredet, als du
sagtest, dass niemand vor der Wiedergeburt gerettet werden kann. Als ich dein
Jünger geworden war, damals. beim Abstieg vom Berge, nachdem du mit mir
geredet hattest, bat ich dich, mich über die Lehre von der Wiedergeburt zu
unterrichten, weil ich dies als einziges von allem noch nicht verstehe. Und du
versprachst, es mir anzuvertrauen, bevor du die Welt verlassen würdest. Jetzt
bin ich bereit und habe mein Denken standhaft gegen die Verführung der Welt
gemacht. Du aber fülle meine (Wissens-)Lücken. Denn du versprachst, mir die
Wiedergeburtslehre zu vermitteln, indem du sie mir öffentlich oder vertraulich
vorlegst. Ich weiß nicht, mein Trismegistos, aus welchem Mutterschoß und
welchem Samen der Mensch gezeugt wurde.«
2 »Mein Kind, verständige Weisheit im Schweigen und Same ist das wahr-
haftige Gute.«
»Und wer hat gesät, mein Vater? Ich weiß noch gar nichts.«
»Der Wille des Gottes, mein Kind.«
»Und welcher Art ist das Gezeugte, mein Vater? Es ist doch ohne Anteil am
Sein und am geistigen (Sein) in mir.«
»Ein anderer als Gott wird das gezeugte göttliche Kind sein: Alles in allem,
aus allen Kräften zusammengesetzt.«
»Du gibst mir Rätsel auf, mein Vater, redest aber nicht so, wie ein Vater zum
Sohne reden sollte!«
»Dies, mein Kind, kann man nicht lehren, sondern wann immer er will, wird
es von Gott in Erinnerung gerufen.«
3 »Unmögliches sagst du inir da, mein Vater, und reine Behauptungen. Pes-
halb will ich dem geradewegs widersprechen: 'Fremd dem väterlichen Ge-
schlecht wuchs ich einst als Sohn auf - neide es mir nicht: Ich bin (vielmehr)
ein echter Sohn. Erkläre mir nun den Vorgang der Wiedergeburt!«
»Was soll ich sagen, mein Kind? Ich kann nichts sagen außer diesem: Da ich
in mir durch Gottes Erbarmen etwas (wie) ein diffuses Bild sehe, bin ich aus
mir selbst heraus- und in einen unsterblichen Körper hineingegangen. Nun bin
ich nicht mehr, der ich vorher war, sondern bin im Geist gezeugt. Diese An-

1 Vgl. Einleitung, S. 22, Anm. 40.


82 Corpus Henneticum XIII

gelegenheil kann man nicht lehren, jedenfalls nicht diesem geformten Elemen-
te, durch das man sehen muss. Deshalb auch kümmert mich die erste zusam-
mengesetzte Gestalt nicht. Zu ihr habe ich keine Beziehung mehr, keine Be-
rührung und kein Maß, all diesem bin ich fremd. Jetzt siehst du mich, mein
Kind, mit Augen, weil du nur mit Körper und Gesichtssinn hinschaust. Ich sehe
nun nicht mit diesen Augen, mein Kind.«
4 »In nicht geringe Verwirrung und Erregung der Sinne hast du mich ge-
stoßen, mein Vater, denn jetzt sehe ich mich nicht mehr.«
»Wärst du doch, mein Kind, aus dir selbst herausgegangen, wie im Schlaf
Traumwandelnde, aber das ohne Schlaf!«
»Sage mir auch dieses: Wer veranlasst die Wiedergeburt?« f
»Das Kind Gottes, der eine Mensch, durch Gottes Willen.«
5 »Nun allerdings, mein Vater, hast du mich in Sprachlosigkeit versetzt. Von
den früheren Sinnen bin ich verlassen, denn ich sehe deine Größe selbst mit
ihrer Prägung, mein Vater.«
»Aber gerade darin täuschst du dich, denn die sterbliche Gestalt ändert sich
täglich. Mit der Zeit wendet sie sich zu Wachsen und Abnehmen wie ein Trug-
bild.«
6 »Was ist denn nun wahr, mein Trismegistos?«
»Das Unbeschmutzte, mein Kind, das Unbegrenzte, das Farblose, das Ge-
staltlose, das Unbewegte, das Nackte, das Klare, das In-sich-selbst-Verständ-
liche, das unveränderlich Gute, das Unkörperhafte.«
»Ich bin ganz außer mir, mein Vater! Obwohl ich glaubte, durch dich weise
geworden zu sein, haben sich dennoch die Sinne meines Denkens verstopft.«
»So ist es, mein Kind. Das Oben ist wie Feuer, das Unten ist wie Erde, das
Feuchte ist wie Wasser, das Wehende wie Luft: Wie willst du das sinnlich
erkennen, was nicht hart ist, was nicht feucht ist, was nicht eingeengt ist, was
nicht entschlüpft, was nur mit Stärke und Kraft erkannt wird und eines bedarf,
der das Werden in Gott erkennen kann?«
7 »Also bin ich völlig außerstande, mein Vater?«
»Keineswegs, mein Kind! Zieh es an dich, und es wird kommen! Verlange
und es wird geschehen! Nutze die Wahrnehmungen des Körpers nicht, und das
Werden der Gottheit geschieht! Reinige dich von den sinnlosen Peinigungen
der Materie!«
»Habe ich denn Peinigungen in mir, mein Vater?«
»Und zwar nicht wenige, mein Kind, sondern gar schreckliche und viele.«
»Das verstehe ich nicht, mein Vater.«
»Mein Kind, dies ist bereits eine Pein: die Unwissenheit, zweitens Traurig-
keit, drittens Zügellosigkeit, viertens Begierde, fünftens Ungerechtigkeit,
sechstens Habgier, siebentens Täuschung, achtens Neid, neuntens List, zehn-
Corpus Henneticum XIII 83
tens Zorn, elftens Keckheit, zwölftens Bosheit. Diese sind also zwölf an der
Zahl. Unter diesen zwingen noch mehrere andere den eingesperrten Menschen,
durch das Geflingnis des Körpers sichtbar zu leiden. Diese aber lassen ab,
freilich nicht plötzlich, von dem, der Gottes Erbarmen erfuhr. Und so stehen
Art und Lehre der Wiedergeburt da.
8 Im übrigen sprich nicht, mein Kind, schweige fromm, sonst wird Gottes
Erbarmen nicht auf uns ruhen. Weiterhin freue dich, mein Kind, gereinigt durch
die Kräfte Gottes, auf die Vereinigung mit dem Logos. Es kam zu uns Erkennt-
nis Gottes. Als diese kam, mein Kind, wurde die Unwissenheit vertrieben. Es
kam zu uns Erkenntnis der Freude. Wenn sie da ist, wird die Traurigkeit zu
jenen fliehen, die ihr Raum geben. 9 Nach der Freude nenne ich als Kraft die
Enthaltsamkeit. 0 süßeste Kraft, ergreifen wir sie höchst freudig, mein Kind.
Wie hat sie doch, sobald sie erschien, die Zügellosigkeit ausgetrieben! Als
vierte nenne ich jetzt die Standhaftigkeit, die Kraft gegen die Begierde. Diese
Stufe, mein Kind, ist der Sitz der Gerechtigkeit. Sieh, wie sie ohne Gericht die
Ungerechtigkeit vertrieben hat. Mein Kind, wir sind gerecht geworden durch
die Abwesenheit der Ungerechtigkeit. Als sechste Kraft für uns nenne ich die
der Habgier widerstreitende Gemeinschaft. Nachdem auch sie weg ist, nenne
ich noch die Wahrheit: Es flieht die Täuschung, Wahrhheit tritt ein. Siehe, mein
Kind, wie das Gute in Gegenwart der Wahrheit erfüllt ist. Der Neid hat uns
verlassen. Durch die Wahrheit trat auch das Gute hinzu, zugleich mit Leben
und Licht; und keine Pein der Finsternis trat mehr auf, sondern besiegt sind sie
mit Brausen weggeflogen. 10 Du hast die Weise der Wiedergeburt erkannt,
mein Kind. Durch die Anwesenheit der Zehn, mein Kind, ist geistiges Werden
gesetzt; das treibt die Zwölf aus, und wir sind durch diese Entwicklung Götter
geworden. Wer also durch Erbarmen göttliches Werden erreicht und den sicht-
baren Körper hinter sich gelassen hat, der erkennt sich selbst, da er aus solchem
(Göttlichen) besteht.«
11 »Durch Gott standhaft geworden, mein Vater, sehe ich- nicht mit dem
Gesicht der Augen, sondern mit der geistigen Wirkung der Kräfte. Im Himmel
bin ich, auf der Erde, im Wasser, in der Luft; unter Tieren bin ich, unter
Pflanzen, im Mutterleib, vor dem Mutterleib, nach dem Mutterleib, überall.
Aber sage mir noch dieses: Wie können die Peinigungen der Finsternis, die
doch zwölf an der Zahl sind, von nur zehn Kräften ausgetrieben werden? Wie
geht das zu, mein Trismegistos?«
12 »Diese Wohnung, mein Kind, die auch wir durchschritten haben, ist unter
dem Tierkreis zusammengesetzt worden; und dieser besteht nun einmal aus
zwölf an der Zahl, aus nur einer Natur, aber allgestaltiger Erscheinung zur
Täuschung des Menschen. Bei diesen (zwölf) gibt es Unterscheidungen, mein
Kind, obwohl sie im Wirken vereint sind, denn die Keckheit ist vom Zorn nicht
84 Corpus Henneticum XIII

geschieden; sie sind nicht streng getrennt. Mutmaßlich aber bilden sie nach der
richtigen Lehre, nach der sie ja von zehn Kräften vertrieben sind, also von der
Zehn, die Trennung. Denn die Zehn, mein Kind, bringt die Seele hervor. Leben
und Licht aber sind vereint. Dort ist die Zahl Eins aus dem Hauch erwachsen.
Nach der Logik enthält die Eins die Zehn, und die Zehn die Eins.«
13 »Mein Vater, alles sehe ich, auch mich selbst im Geiste.«
»Das ist die Wiedergeburt, mein Kind: Sich selbst nicht mehr im dreidi-
mensionalen Körper vorzustellen. (Das geschieht) wegen der Lehre über die
Wiedergeburt, für die ich zum Erzähler geworden bin, damit wir nicht Ver-
leumder des Alls gegenüber der Menge sind, für die Gott selbst (die Wieder-
geburt) will.«
14 »Sage mir, mein Vater, wird dieser aus Kräften bestehende Körper sich je
wieder auflösen?«
»Schweige! Rede keinen Unfug! Sonst versündigst du dich und dein gei-
stiges Auge wird lästerlich. Der sichtbare, natürliche Körper ist weit entfernt
vom wesenhaften Werden. Der eine ist vergänglich, der andere unvergänglich;
der eine ist sterblich, der andere unsterblich. Weißt du denn nicht, dass du als
Gott geboren bist und als Kind des Einen wie auch ich?«
15 »Ich wollte schon immer den hymnischen Lobgesang der Kräfte hören,
mein Vater, von dem du geredet hast, nachdem du in der achten (Sphäre)
warst.«2
»Wenn der Poimandres die Acht ankündigt, tust du gut daran, schleunigst die
Hülle zu lösen. 3 Denn du bist gereinigt. Der Poimandres, der Geist der Wahr-
heit, hat mir nicht mehr überliefert, als aufgeschrieben ist, wohl wissend, dass
ich aus eigener Kraft alles erkennen und hören kann, was ich will, und auch
alles sehen. Jener erlaubte mir, das Schöne zu vollbringen. Deshalb singen auch
überall die Kräfte in mir.«
»Ich will hören, Vater, und ich will dieses erkennen.«
16 »Bleib ruhig, mein Kind, und höre nun den angemessenen Lobgesang,
das Lied der Wiedergeburt, dem ich sonst nicht zugestanden hätte, so einfach
zu erscheinen, wenn nicht jetzt für dich am Ende aller Dinge. Daher wird dieses
auch nicht gelehrt, sondern im Schweigen verborgen. So nun, mein Kind, wenn
du unter freiem Himmel stehst, im Südwind, mit dem Blick nach Westen auf
die untergehende Sonne, bete! Und ebenso, wenn sie aufgeht, mit dem Blick
nach Osten! Still, mein Kind!«

2 Vgl. C. H. I 26.
3 Vgl. II Kor 5,4.
Corpus Henneticum XIII 85

Geheimer Gesang, vierte Strophe4

17 Alle Natur des Kosmos soll den Gesang des Hymnus empfangen!
Öffne dich, Erde,
Jeder Riegel des Wassers öffne sich mir!
Thr Bäume, regt euch nicht!
Besingen will ich den Herrn der Schöpfung, das All und das Eine.
Öffnet euch, Himmel,
Thr Winde steht still!
Der unsterbliche Kreis Gottes nehme meine Verse an!
Ihn will ich besingen, der alles geschaffen hat:
Er hat die Erde befestigt, den Himmel ausgespannt5,
Aus dem Ozean das Süßwasser in den Erdkreis befohlen6,
Dass das Unbewohnte zu Nahrung und Siedlung aller Menschen diene.
Er hat dem Feuer befohlen7 ,
Göttern und Menschen zu jeglichem Tun zu erscheinen.
Lasst uns gemeinsam ihm den Lobpreis darbringen,
Ihm, der hoch über den Himmeln thront,
Dem Schöpfer aller Natur.
Er ist das Auge des Geistes,
Möge er den Lobpreis meiner Kräfte empfangen!
18 Ihr Kräfte in mir, besingt das Eine, das All!
All ihr Kräfte in mir, stimmt ein in das Lied meines Willens!
Heilige Erkenntnis!
Von dir erleuchtet, durch dich das geistige Licht besingend,
Freue ich mich in der Freude des Geistes.
All ihr Kräfte, singet mit mir!
Auch du, meine Enthaltsamkeit, singe mit mir!
Meine Gerechtigkeit, besinge durch mich das Rechte!
Du, mein Gemeinsinn, besinge durch mich das All!
Besinge, Wahrheit, die Wahrheit!
Gutes, besinge das Gute!
Leben und Licht, von euch und zu euch reicht der Lobgesang.

4 Andere Strophen sind nicht überliefert - es sei denn, man zähle C. H. I 31f. und das
41. Kapitel des Asclepius hierzu.
5 Vgl. Ps 104 (103), 2 usw.
6 Vgl. Koh 1,7.
7 Vgl. Ps 104 (103), 4.
86 Corpus Henneticum XIII

Ich danke dir, Vater, du Wirkung der Kräfte.


Ich danke dir, Gott, du Kraft meiner Wirkungen.
Dein Wort8 besingt dich durch mich;
Nimm durch mich alles im Wort:
Ein Wort-Opfergottesdienst.9
19 Dieses schreien die Kräfte in mir.
Das All besingen sie,
Was du willst, erfüllen sie,
Dein Wille - von dir, zu dir hin - das All.
Nimm von allen das Wort-Opfer!
Du All, Du in uns!
Rette, Leben! Erleuchte, Licht!
Du Geist, Gott!
Geist ist der Hirt deines Wortes.
Du Geistbringer, Schöpfer!
20 Du bist Gott!
Dies schreit dein Mensch
Beim Feuer, bei der Luft, bei der Erde,
Beim Wasser, beim Wind, bei deinen Geschöpfen!
Aus deinem Aeon fand ich den Lobpreis.
Was ich suche- in deinem Willen finde ich Ruhe!
Mit deinem Willen schaute ich diesen Lobpreis.
21 »Mein Vater, ich habe es dargebracht, auch in meiner Welt.«
»Sage: 'In der zu denkenden (Welt)', mein Kind!«
»In der zu denkenden (Welt), mein Vater- ich kann es! Von deinem Gesang
und Lobpreis ist mein Geist erleuchtet worden. Auch ich will noch mehr Lob-
preis aus meinem eigenen Herzen zu Gott hinaufschicken.«
»Mein Kind, nicht so ungestüm!«
»Ich sage im Geist, mein Vater, was ich schaue: Dir, Stammvater der Schöp-
fung, Dir, göttlicher Tat, sende ich Wort-Opfer. Gott, du Vater, du bist der Herr,
du bist der Geist, nimm an die Worte, die du von mir forderst. Wenn du willst,
kommt alles zum Ziel.«
»Du, mein Kind, sende Gott, dem Vater aller Dinge, ein angenehmes Opfer.
Aber füge auch hinzu, mein Kind: 'Durch das Wort!'«
22 »Ich danke dir, Vater. Dieses muss ich beim Beten als Lob sagen!«

8 Vgl. C. H. XII 12.


9 Vgl. C. H. I 31.
Corpus Henneticum XIII 87

»Ich freue mich, Kind, wenn du. aus der Wahrheit das Gute, unsterbliche
Frucht, bringst. Da du dies von meinem Können gelernt hast, künde das
Schweigen. Keinem, Kind, zeige die Lehre der Wiedergeburt, damit wir nicht
wie Verräter angesehen werden. Jeder von uns hat reichlich das Seine geleistet,
ich beim Reden, du beim Hören. Denkend hast du dich selbst und unseren
Vater erkannt.«
88

XIV

Von Hermes Trismegistos an Asklepios: Sei aufmerksam!

1 »Als mein Sohn Tat während deiner Abwesenheit die Natur aller Dinge
lernen wollte, erlaubte er mir nicht, (die Belehrung) aufzuschieben, solange bis
auch der noch jüngere Sohn zu der Lehre über jedes Einzelne hinzukäme. Ich
war gezwungen, ausführlicher zu reden, damit ihm die Lehre leichter verständ-
lich würde. Dir aber wollte ich vom Gesagten die wesentlichen Kapitel aus-
wählen und kurz brieflich darstellen. Dir, als einem in (Fragen) der Natur so
Bewanderten und Gelehrten, habe ich sie recht gedrängt dargestellt. 2 Wenn
alle Erscheinungen geworden sind und werden, (und wenn) es viele Gezeugte
gibt, ja vielmehr alle Erscheinungen auch unterschiedlich und nicht gleich sind,
(und wenn) das Gewordene von einem Anderen her wird, dann gibt es (doch)
einen, der dieses erschafft, und dieser ist ungezeugt, damit er älter ist als das
Gezeugte. Ich denke doch, dass das Gezeugte von einem Anderen her wird. Es
ist unmöglich, dass irgendetwas älter ist als alles, was gezeugt wurde, ausge-
nommen allein das Ungezeugte. 3 Dieser ist besser, er ist einer und ist allein
wahrhaft weise in allen Dingen. Er herrscht, weil es nichts älteres gibt, über die
Menge, Größe und Unterschiedlichkeit der Gewordenen, das heißt über den
Zusammenhang der Schöpfung. Nun ist das Gezeugte sichtbar, jener aber ist
unsichtbar. Deshalb erschafft er, damit er sichtbar wird. Und immer erschafft
er, folglich bleibt er sichtbar. 4 So soll der denken, der den Vater erkannt hat,
und wenn er (so) denkt, soll er staunen, und wenn er staunt, soll er sich selbst
selig preisen. 1
Was ist schöner als ein echter Vater? Wer ist er nun und wie wollen wir ihn
kenntlich machen? Ist es angemessen, dass nur diesem allein die Anrede 'Gott'
oder 'Schöpfer' oder 'Vater' zukommt, oder alle drei? 'Gott' wegen der Macht,
'Schöpfer' wegen der Tatkraft, 'Vater' wegen des Guten. Er ist Macht im Un-
terschied zu den Gewordenen; Tatkraft, weil alles wird. Deshalb müssen die,
die vieles und leeres Geschwätz hinter sich gelassen haben, diese zwei Dinge
bedenken: das Werdende und den Erschaffenden. Zwischen diesen gibt es
nichts, auch nichts Drittes. 5 Bei allem, was du denkst, bei allem, was du hörst,
erinnere dich an diese beiden und glaube, dass dieses alles ist. Ziehe nichts in
Zweifel, nicht die oben, nicht die unten, nicht die Göttlichen, nicht die Verän-
derbaren oder die im Innersten. Denn zwei sind alles: das Werden und das

1 Vgl. Clemens v. Alexandrien, Stromata V (14) 96,3, was nach II (9) 45,5 ein Zitat aus
dem (verlorenen, gnostischen) Hebräerevangelium ist, ferner den Anfang des Tho-
masevangeliums und hier Stob. VI 18.
Corpus Hermeticum XIV 89

Erschaffen. Es ist unmöglich, das eine vom anderen zu trennen. Und es ist auch
nicht möglich, dass der Erschaffende ohne den Werdenden ist. Jeder von ihnen
ist. dieses selbst, darum darf man auch nicht das eine vom anderen trennen,
sondern es ist sein eigenes. 6 Wenn der Erschaffende nichts anderes ist als das
Erschaffende, allein, einfach, unzusammengesetzt, für den es nötig ist, dieses
selbst zu tun, wie ja auch das Werden (nur) das Erschaffen des Erschaffenden
ist, dann ist es unmöglich, dass alles Werdende von sich selbst her Werdendes
ist. Mit Notwendigkeit wird das Werdende von einem anderen her.
Das Gezeugte wird nicht und ist auch nicht ohne den Erschaffenden. Das
eine ohne das andere verdirbt die eigene Natur, weil es des anderen beraubt ist.
Wenn nun also Übereinstimmung herrscht, dass das Seiende zwei sind, das
Werdende und das Erschaffende, ist es in der Vereinigung eines, das eine geht
voran, das andere folgt. Das Vorangehende ist der erschaffende Gott, das Fol-
gende aber das Werdende, was immer es sei. 7 Mach dir keine Sorgen um das
Werdende wegen (seiner) Vielfältigkeit und hefte Gott nicht aus Furcht
Niedrigkeit und Ruhmlosigkeit an. Einen herrlichen Ruhm hat er: Alles zu
erschaffen. Dieses ist wie Gottes Körper, das Erschaffen. Von ihm, dem Schöp-
fer, darf man nichts Schlechtes oder Schändliches glauben. Dieses folgt (erst)
dem Werden als Leiden wie der Grünspan der Bronze und der Schmutz dem
Körper. Der Kupferschmied hat ja den Grünspan nicht erfunden, die Eltern
nicht den Schmutz, Gott nicht die Schlechtigkeit. Die Fortdauer des Werdens
lässt sie gewissermaßen aufblühen. Deshalb hat Gott die Veränderung erfunden,
damit sie eine Reinigung des Werdens sei.
8 Schon der Maler macht doch Himmel und Götter, Land und Meer, Men-
schen und Tiere und alles Unbeseelte, und Gott sollte dieses nicht machen
können? Weh der vielfältigen Gedankenlosigkeit und Unkenntnis über Gott!
Solche Leute erleiden, was noch nie an Leiden dagewesen ist. Sie geben vor,
Gott fromm zu verehren und zu loben, dem sie doch nicht einmal die Erschaf-
fung aller Dinge zuschreiben. Sie kennen Gott gar nicht, und über das Nicht-
kennen hinaus handeln sie auch noch grob gottlos gegen ihn: Sie legen ihm als
Eigenheit Hochmut oder Unvermögen bei. Wenn er aber nicht alles erschafft,
unterlässt er das Erschaffen, weil er hochmütig ist oder es nicht kann. Das aber
(zu denken) ist gottlos. 9 Gott aber hat nur eine einzige Leidenschaft: das Gute.
Der gute (Gott) ist weder hochmütig noch unfähig. Dieses ist Gott: das Gute,
die Allmacht, alles zu erschaffen. Alles Gezeugte ist von Gott her geworden,
denn es stammt von dem Guten ab, von dem, der alles erschaffen kann. Wenn
du nun lernen willst, wie er erschafft, wie das Werdende wird - bitte sehr! Sieh
dir das schönste und gültigste Bild an! 10 Schau dir den Bauern an! Er streut
die Saat auf das Land, hierhin Weizen, dahin Gerste, dorthin eine andere Art.
Schau dir auch an, wie er einen· Weinstock pflanzt, einen Apfelbaum und an-
90 Corpus Hermeticum XIV

dere Bäume! So auch Gott: Im Himmel sät er Unsterblichkeit, auf der Erde
Veränderung, im All Leben und Bewegung. Dieses ist nicht vielerlei, sondern
weniges, aber Wohlberechnetes. Insgesamt sind es vier. Gott selbst ist auch das
Werden, worin das Seiende ist.«

XV

Nicht besetzte Nummer. Vgl. Einleitung, S. 25.


91

XVI
Definitionen des Asklepios an den König Ammon:
Über Gott, Materie, Bosheit, Schicksal, Sonne, denkendes Sein,
göttliches Sein, den Menschen, den Plan der Fülle 1, die sieben Sterne,
den Menschen nach dem Bilde2

1 »Mein König, hier sende ich dir die große Rede als Krönung und Erin-
nerung an alle anderen (Reden). Sie stimmt nicht (einfach) mit der Meinung der
meisten überein, sie enthält sogar einigen Widerspruch gegen jene. Sie wird dir
sogar zu einigen meiner eigenen Worte widersprüchlich erscheinen. Schon Her-
mes, mein Lehrer, der sich oft mit mir allein unterhielt, bisweilen aber auch in
Gegenwart von Tat, hat gesagt, dass den Lesern meiner Bücher mein Stil ein-
fach und deutlich erscheinen werde, obwohl er im Gegenteil undeutlich sei und
den Sinn der Worte verberge. Schließlich werde er am undeutlichsten sein,
wenn die Griechen unsere Sprache später in die ihre übersetzen wollten, was
die größte Verdrehung und Unklarheit des Geschriebenen bedeuten werde. 2
Die Rede, in der väterlichen Sprache vorgetragen, enthält deutlich den Sinn der
Worte. Denn selbst der Charakter der Sprache und die (Schreibung) der ägyp-
tischen Begriffe trägt in sich selbst die Wirkung des Gesagten. Soviel dir nur
möglich ist, mein König - du kannst ja alles -, bewahre die Rede unübersetzt
auf, damit solche Geheimnisse nicht zu den Griechen dringen; damit nicht die
Sprache der Griechen, die hochmütig und schlaff ist, wie aufgebläht, das Hei-
lige und Starke und die wirkungsvolle Sprache der Begriffe eitel mache. Denn
die Griechen, mein König, haben wirkungsvolle Worte bar jedes Beweises. Und
dies ist die Philosophie der Griechen: nur ein Wortgeklingel. Wir aber gebrau-
chen keine (leeren) Worte, sondern Klänge voll von Taten. 3 Ich will also hier
mit der Rede beginnen und Gott den Herren, Schöpfer, Vater und Schutz aller
Dinge anrufen:
Den Einen, der alles ist,
Und den, (der) alles (ist), den Einen.
Die (himmlische) Fülle von allem ist eine und in Einem,
Weil nämlich der Eine ein Zweites nicht zulässt,
Sondern das Eine beider ist.

1 Dieses Thema fehlt im erhaltenen Text des Traktats. Vgl. aber Stob. XXIII 16.
2 Diese Ankündigung wird hier nicht eingelöst; vgl. aber C. H. I 12ff.
92 Corpus Hermeticum XVI

Mein König, halte mir diesen Gedanken während der ganzen Beschäftigung
mit der Lehre fest. Denn wenn jemand versuchen sollte, den Einen von dem zu
trennen, der alles, eins und immer derselbe zu sein scheint, weil er den Begriff
'Alles' auf die Menge und nicht auf die (himmlische) Fülle anwendet- was
unmöglich ist-, der löst das All von dem Einen und verdirbt (damit) das All.
Alles muss ja eins sein, wenn es denn eins ist, und es ist ja eins und hört auch
niemals auf, eins zu sein, damit die (himmlische) Fülle nicht aufgelöst wird.
4 Sieh nun, wie auf der Mitte der Erde viele Quellen von Wasser und Feuer
sprudeln und dabei die drei Naturen sichtbar werden: Feuer, Wasser und Erde,
wie sie von einer Wurzel abhängen. Daher nimmt man an, dass (die Erde) eine
Vorratskammer der gesamten Materie ist. Sie gibt ihren Vorrat her und erhält
dafür die Existenz von oben her.
5 So nämlich schenkt der Schöpfer - ich meine die Sonne - den Himmel und
die Erde und auch das Licht reichlich, denn sie führt das Sein herab, führt die
Materie hinauf, zieht alles um ihn (den Himmel) herum und in ihn hinein und
gibt von sich selbst allen alles. Sie ist es, deren gute Wirkungen nicht nur im
Himmel und in der Luft, sondern auch auf der Erde bis in den tiefsten Grund
und Abgrund durchdringen. 6 Wenn es denn ein erkennbares Sein gibt, dann ist
dieses ihre Mächtigkeit. Die Meinung, dass es das (Sein) gibt, entsteht durch
ihr Licht. Woher nun dieses (Sein) Bestand hat oder herbeiströmt, weiß nur sie
allein, weil sie dem Ort und der Natur nach sich selbst nahe ist. (Das Sein) ist
für uns nicht sichtbar, aber wir sind durch Vermutung gezwungen, es zu den-
ken. 7 Der Anblick der (Sonne) beruht nicht auf Vermutung, sondern das Ge-
sicht der (Sonne) selbst beleuchtet aufs Herrlichste den ganzen Kosmos, den,
der oben liegt und den, der unten liegt. In der Mitte sitzt die (Sonne), bekränzt
den Kosmos. Wie ein guter Wagenlenker sichert sie den Wagen des Kosmos;
sie bindet ihn an sich, damit er nicht ungelenkt dahinfährt. Die Zügel sind
Leben, Seele, Geist, Unsterblichkeit und Werden. Sie lässt (den Wagen) nicht
weit von sich fahren, sondern, um die Wahrheit zu sagen, nahe bei sich.
8 Auf diese Weise wird alles erschaffen: Den Unsterblichen teilt sie ewiges
Leben zu; durch die Aufwärtsbewegung ihres Lichtes, das sie aus dem anderen
Teil, der zum Himmel aufblickt, hinaufsendet, ernährt sie die unsterblichen
Teile des Kosmos; durch den, der empfängt und das ganze Gewölbe von Was-
ser, Erde und Luft erleuchtet, macht sie lebendig und bringt das Werden und
durch Veränderungen auch die Lebewesen in diesen Teilen des Kosmos in
Bewegung. 9 Spiralförmig verändert und verwandelt sie gegenseitig die Arten
der Arten und Formen der Formen, indem die Veränderung untereinander ver-
tauscht· wird, wie sie es auch bei der Erschaffung der großen Körper tut. Die
Dauer jedes Körpers bedeutet Veränderung - die des unsterblichen ohne Auf-
lösung, die des sterblichen dagegen mit Auflösung. Und dies ist der Unter-
Corpus Hermeticum XVI 93

schied des Unsterblichen gegen das Sterbliche und des Sterblichen gegen das
Unsterbliche. 10 So wie das Licht der (Sonne) kräftig ist, so ist auch ihr Schaf-
fen des Lebens kräftig und,, was Ort und Aufwand betrifft, beständig. Die
vielen Dämonenchöre um die (Sonne) herum gleichen unterschiedlichen Hee-
ren, sind Nachbarn, nicht weit von den Unsterblichen entfernt. Weil sie den
Wohnort dieser (Unsterblichen) zugeteilt bekamen, überwachen sie die Men-
schen und wirken das von den Göttern Angeordnete in Wind, Sturm, Gewitter,
Veränderungen des Feuers und Erdbeben. Darüber hinaus bekämpfen sie die
Gottlosigkeit mit Hungersnöten und Kriegen. 11 Diese nämlich ist bei den
Menschen die größte Bosheit gegen die Götter. Sache der Götter ist es, (alles)
gut zu erschaffen. Sache der Menschen ist es, fromm zu sein. Sache der Dä-
monen ist es zu beschützen. Alles andere, was die Menschen zu ertragen haben,
sei es durch Irrtum, Vorwitz oder Not, was man Schicksal nennt, sei es durch
Unwissenheit, dieses alles kann man nicht bei den Göttern verrechnen. Nur die
Gottlosigkeit unterliegt dem Gericht. 12 Die Sonne ist Erhalterio und Ernäh-
retin jeder Art. So wie der denkbare Kosmos, der den sichtbaren Kosmos
umfasst und vergrößert, ihn mit verschiedenartigen und vielgestaltigen Urfor-
men füllt, so umfasst die Sonne alles im Kosmos und vergrößert und stärkt das
Werden aller (Dinge). Sie nimmt sich der Müden und Hinfälligen an.
13 Unter dieser (Sonne) hat auch der Chor der Dämonen seinen Platz -
vielmehr die Chöre, denn sie sind ja viele und verschiedenartige, unter den
Feldern der Sterne angeordnet, jedem von diesen gleichzahlig. So festgelegt,
dienen sie jedem der Sterne, sind von (ihrer) Natur her, das heißt von (ihrer)
Wirkung her, gute oder schlechte. Denn das Sein des Dämons ist Wirkung.
Dennoch gibt es unter ihnen auch einige, die aus gut und böse gemischt sind.
14 Diese alle haben die Vollmacht über die irdischen Vorgänge und das Lärmen
auf der Erde geerbt; und so stiften sie mancherlei Verwirrung in den Städten
allgemein, bei den Völkern und bei jedem Einzelnen. Sie schaffen und erwek-
ken unsere Seelen immer wieder zu sich hin, weil sie in unseren Nerven, Mark,
Venen, Arterien, ja sogar im Gehirn selbst sitzen und selbst bis ins Herz durch-
dringen. 15 Die Dämonen übernehmen jeden von uns, der entsteht und die
Seele eingehaucht bekommt. Sie sind ja in diesem Punkt Gehilfen des Wer-
dens, sie, die jed<:m Stern zugeordnet sind. Diese wechseln von Punkt zu Punkt,
sie bleiben nicht die Gleichen, sondern sie kreisen. Diese tauchen durch den
Körper hindurch in die beiden Teile der Seele ein und beunruhigen sie, jeder
entsprechend der eigenen Wirkungskraft. Der denkende Teil der Seele bleibt
von den Dämonen unbeherrscht, bereit zur Aufnahme Gottes. 16 Von dem
denkenden (Menschen), in dem durch die Sonne ein Strahl aufleuchtet - solche
gibt es freilich im Ganzen nur wenige -, werden die Dämonen getötet. Nie-
mand vermag etwas gegen einen Strahl Gottes, weder Dämonen noch Götter.
94 Corpus Hermeticum XVI

Alle anderen werden von den Dämonen in ihren Seelen und Körpern getrieben
und getragen; sie sind zufrieden und lieben die Wirkungen jener. Der Verstand,
nicht die Liebe, ist der verführte Verführer. Diese ganze irdische Ordnung
ordnen die (Dämonen) durch die Organe unserer Körper. Diese Ordnung nann-
te Hermes 'Schicksal'.
17 Der gedachte Kosmos hängt von Gott ab, der sichtbare vom. gedachten.
Die Sonne bekommt den Einfluss des guten Gottes, das heißt der Schöpfung,
durch den gedachten und den sichtbaren Kosmos. Um die Sonne herum sind
die acht Räume, die von ihr abhängen, und zwar der (Raum) der In-sich-Ru-
henden, sechs Räume der Sich-Bewegenden und der eine Raum um die Erde
herum. Von diesen Räumen hängen die Dämonen ab, von den Dämonen die
Menschen. Und so hängen schließlich alle von Gott ab. 18 Darum ist Gott der
Vater von allem, die Sonne der Schöpfer, der Kosmos das Werk der Schöpfung.
Das denkbare Sein befehligt den Himmel, der Himmel die Götter; die Dämo-
nen, den Göttern untertan, befehligen die Menschen: Dies ist das Heer der
Götter und Dämonen. 19 Dieses wirkt Gott durch sie für sich selbst, es sind ja
alles Teile Gottes. Wenn die Teile nun alles sind, dann ist alles Gott. Weil er
alles erschaffte, erschafft er auch sich selbst und hört wohl niemals auf, weil
auch er selbst unaufhörlich ist. Und wie Gott kein Ende hat, so hat auch sein
Erschaffen weder Anfang noch Ende. ( ... )«
95

XVII
( ... )»Wenn du es bedenkst, mein König: 1 Es gibt unter den Körpern Kör-
perlose.«
»Welche?«, fragte der König.
»Scheinen dir nicht die Körper, die in den Spiegeln erscheinen, körperlos zu
sein?«
»So ist es, mein Tat. Du denkst göttlich«, sagte der König.
·»Es gibt auch noch andere Körperlose. Zum Beispiel die Ideen: Scheinen sie
dir nicht, obwohl sie körperlos sind, in Körpern zu erscheinen, nicht nur die
Ideen der Beseelten, sondern auch die der Unbeseelten?«
»Schön sagst du das, mein Tat.«
»So gibt es auch Wechselwirkungen der Körperlosen auf die Körper und der
Körper auf die Körperlosen, das heißt des sichtbaren auf den gedachten Kos-
mos und des gedachten auf den sichtbaren (Kosmos). Darum bete die Götter-
bilder an, mein König, weil auch sie Ideen vom gedachten Kosmos enthalten.«
Da stand der König auf und sagte: »Du Prophet, es ist nun Zeit, sich der
Sorge um die Gäste zuzuwenden. Morgen können wir über die weiteren theo-
logischen (Probleme) reden.«

1 Es ist wohl wieder an Arnrnon zu denken. Der Anfang des Traktats und Zusammen-
hang mit dem vorigen fehlt.
96

XVIII

Über die durch das Leiden des Körpers gehinderte Seele

1 Es ist ein lächerliches Unternehmen, wenn Leute einen wundervollen Mu-


sikvortrag versprechen, aber ganz offenkundig die falsch gestimmten Instru-
mente diesem Vorhaben im Wege stehen. Wenn nämlich die Instrumente zum
Gebrauch zu schlecht sind, wird der Musikant zwangsläufig von den Zuschau-
ern verspottet. Er bietet zwar unermüdlich und in bester Absicht seine Kunst
dar, aber die Schwäche der (Instrumente) bleibt zu tadeln. Denn der Musiker
von Natur, Gott, hat nicht nur die Weise der Lieder gemacht, sondern auch den
einzelnen Instrumenten den Rhythmus (ihrer) je eigenen Melodie vorgeschrie-
ben. Unermüdlich ist Gott, denn von Gott kommt es nicht, wenn man müde
wird. 2 Wenn ein Künstler beim musikalischen Wettstreit möglichst gut musi-
zieren will, beispielsweise, wenn die Trompeter den Beweis ihfer Kunst er-
bringen wollen, oder die Flötisten auf ihren Instrumenten die Oberstimme spie-
len wollen- wenn sie also auf Blas- oder Schlaginstrumenten die Weise vor-
tragen wollen, dann wird doch niemand den Grund (eines Mißerfolges) dem
Atem des Musikers zuschreiben; nicht die Ursache dem Besseren (zuschrei-
ben); sondern ihm wird man angemessen Bewunderung zollen, dagegen die
Schadhaftigkeit des Instrumentes tadeln, weil vor allem sie dem schönen
(Klang) im Wege stand, dem Musikanten bei der Melodie hinderlich war und
den Hörer um das schöne Lied betrog. 3 Es wird doch auch niemand der
Schwäche wegen, die unserem Körper anhaftet, unser Geschlecht tadeln, son-
dern er soll erkennen, dass Gott ein unermüdlicher Geist ist, immer der Gleiche
in seiner Weisheit, der fortwährend und alle Zeit das Glück und die gleichen
Wohltaten anwendet. 4 Wenn nun besonders dem Bildhauer Pheidias die Hand-
habung des Materials nicht zur vollkommenen Zierde gehorcht hätte ( ...)
Der Musikant selbst ist nach Kräften gut; wir sollten nicht ihm die Schuld
zuschreiben, wir sollten die Schwäche der Saite tadeln, die dadurch, dass sie
die Spannung verliert, dadurch, dass sie die Spannung lockert, die Schönheit
der Musik entstellt. 5 Wenn also das Unglück am Instrument geschehen ist,
wird niemand je den Musikanten beschuldigen. Sondern in dem Maße, in dem
er das Instrument schilt, in dem Maße erhebt er den Musikanten immer dann,
wenn das wiederholte Schlagen sich auf die Saitenspannung auswirkt. Und die
Zuhörer bringen jenem Musikanten größere Liebe entgegen und haben zugleich
keine Klage gegen ihn. So auch ihr, meine Verehrten, gleicht eure eigene innere
Lyra dem Musikanten an. 6 Aber ich stelle mir einen Künstler ohne die Kunst
des Lyraspiels vor. Wenn der sich einmal auf einen besonders kunstvollen
Corpus Hermeticum XVIII 97

Vortrag vorbereitet hat, sodass er oft. das Instrument selbst benutzen kann, weil
er insgeheim den Umgang mit dem Saiten(instrument) eingeübt hat, dann
möchten die Hörer wohl über die Virtuosität des Vortrages staunen.
Man erzählt, dass einem Zitherspieler, dem der Gott der Musik ein gnädiger
Gott war, als er an einem Wettstreit auf der Zither teilnahm und ihm eine
gerissene Saite hinderlich wurde. 1 die Gnade des Größeren die Saite ersetzte,
und ihm die Gunst der (Sieger)-Ehrung gewährte. Denn anstelle der Saite habe
sich nach dem Willen des Größeren eine Grille niedergelassen, für ihn das Lied
vollendet und die Stelle der Saite eingenommen. Der Zitherspieler aber, der
nach der Ausbesserung der Saite nicht mehr betrübt war, habe die Ehrung des
Sieges erreicht. 7 So, meine Verehrten, geht es auch mir selbst, wie ich merke.
Gerade eben scheine ich noch die Schwachheit zuzugeben und gerade eben
noch krank zu sein, aber durch die Kraft des Größeren (scheine ich), ebenso
wie das Lied vor dem König zu Ende gebracht worden ist, zu musizieren.
Allerdings wird der Erfolg der Hilfe der Ruhm der Könige sein, und aus
jenen Trophäen (erwächst) der Eifer zum Dichten. Also auf! Dieses strebt auch
der Musikant an. Also los! Dieses will auch der Musikant. Dazu hat er seine
Lyra schon gestimmt, und er wird um so heller singen und um so sanfter
musizieren, je mehr sein Lied besser ist als ein Lehrgedicht. 8 Wenn ihm also
die Lyra meistens für Könige gestimmt ist und sie die Stimmung zu Lob-
gesängen mit dem Blick auf königliches Lob hat, bemüht er sich doch zuerst
um den höchsten König aller Dinge, den guten Gott. Von oben her das Lied
beginnend steigt er in der zweiten Strophe zu ·denen herab, die nach dessen
Vorbild das Zepter tragen, um endlich das Lied, das von oben her angenehm
war, nach unten zu den Königen selbst zu bringen und von dort her, woher
ihnen der Sieg verliehen wird, auch die Hoffnung auf Fortsetzung zu erwecken.
9 Der Musikant soll nun zu dem höchsten König aller Dinge kommen, (zu)
Gott, der immer unsterblich ist, unvergänglich und aus Unvergänglichem die
Kraft hat, der erste Siegreiche, von dem alle Siege der Reihe nach ausgehen,
wenn sie den (ersten) Sieg in sich tragen. 10 Wir meinen, das Lied kommt
eilends zum Lobe herab und zu den Königen, die über die allgemeine Sicher-
heit und den Frieden herrschen, denen am meisten schon seit alters her die
Macht vom größeren Gott zugemessen worden war, denen der Sieg von der
rechten Hand jenes (Gottes) verliehen worden war, denen die Kampfpreise
schon vor den Heldentaten im Krieg zugeteilt werden, deren Denkmäler auch
schon vor dem Kampf aufgestellt werden, denen nicht nur das Herrschen, son-

1 Vom Anfang des Satzes bis hierher ist der Text in doppelter Formulierung überliefert;
übersetzt ist hier nur die zweite. Die Geschichte selbst findet sich als Mythos der
Griechen bei Clemens v. Alexandrien, Protrepticus, am Anfang.
98 Corpus Henneticum XVIII

dem auch das Tapfersein beigeordnet, denen auch schon vor dem Aufmarsch
die Rohheit ausgetrieben wurde.

Über die Rühmung des Größeren: Das Lied auf den König

11 Aber jetzt eilt die Erörterung zu den Ursprüngen, die Grenze zu durch-
brechen. Sie eilt zu der Rühmung des Größeren, anschließend zu der der gott-
gleichen Könige, die uns als Siegespreis den Frieden verleihen, um damit die
Erörterung zu beschließen. Denn so, wie wir bei dem Größeren und der oberen
Kraft angefangen haben, 2 so lenken wir das Ende wieder auf das Größere
zurück. Und so wie die Sonne, die ja alle Pflanzenkeime ernährt, die selbst als
Erste die ersten Früchte emporhielt, Früchte bringt und dazu die Strahlen wie
große Hände zum Abpflücken der Früchte gebraucht - denn die Strahlen die-
nen ihr als Hände, die zuerst die reifsten Pflanzen abpflücken. So müssen auch
wir, weil wir bei dem Größeren angefangen und die Gabe seiner Weisheit
empfangen . haben und diese für unsere Seelen als himmlische Pflanzungen
brauchen, wieder die Rühmung auf das (Größere) selbst üben, für deren volles
Wachstum er selbst uns den Regen spendet. 12 Es ziemt sich, dass wir Gott,
dem Unsterblichen und Vater unserer Seelen, aus tausend Mündern und Stim-
men3 die Rühmung darbringen und, wenn das Sagen unangemessen ist, beim
Preisen. nicht wetteifern. Nicht einmal die Neugeborenen sind in der Lage, den
Vater angemessen zu besingen; was aber in ihren Kräften liegt, bringen sie
gebührend vor, 4 und darin finden sie Nachsicht. Nun ist doch aber vielmehr bei
Gott selbst dieses der Ruhm, dass er größer ist als seine Geschöpfe. Auch
Vorspiel, Anfang, Mitte und Schluss der Rührnungen bekennen den Vater als
unendlich machtvoll un~ unbegrenzt.
13 Ebenso verhält es sich auch mit dem König; Von Natur aus liegt in uns
Menschen das Rühmen, so als stammten wir von jenem ab. Wir müssen aber
um Nachsicht bitten, auch wenn diese immer schon vor der Bitte vom Vater her
kommt. So wie der Vater sich auch nicht von den Säuglingen und Neugebo-
renen wegen (ihrer) Schwachheit abwendet, sondern sich freut, weil sie ihn
erkennen, so auch die 'Erkenntnis des Alls', die allen Leben und die Rühmung
Gottes zuteilt, die sie uns geschenkt hat. 14 Denn Gott ist gut. Immer leuchtend
und allezeit in sich mit der Vollkommenheit der ihm eigenen ganzen ewigen
Würde ist er unsterblich. In sich selbst enthält er das unendliche Ende. Allezeit

2 Oben Abschnitt 1-3.


3 Vgl. das lsis-Gebet bei Apuleius, Metamorphosen XI 25,5.
4 Vgl. Ps 8,3.
Corpus Herrneticum XVIII 99

fließt er von der dortigen Wirkkraft auch in diesen Kosmos über und gewährt
die Verheißung auf rettende Rühmung. Dort gibt es keinen Unterschied unter-
einander, dort gibt es nichts Unbeständiges, sondern sie sind alle einmütig. Sie
haben alle ein Vorherwissen; einziger Gedanke ist ihnen der Vater. Nur eine
Wahrnehmung wirkt durch sie. Der Liebreiz untereinander ist die Liebe selbst,
die die Übereinstimmung aller bewirkt.
15 So also wollen wir Gott rühmen. Aber wir wollen auch zu denen hinab-
steigen, die von jenem die Herrschaft bekommen haben. Wir müssen, weil wir
bei den Königen anfangen und uns von ihnen her bemühen, auch uns selbst
schon an Lobgesänge gewöhnen und in Frömmigkeit das Größere besingen.
Den ersten Anfang des Rühmens müssen wir von diesem her einüben und so
einüben, dass in uns auch die tägliche Frömmigkeit gegen Gott und das Rüh-
men zu Ehren der Könige sei. 16 Wir müssen diesen eine Antwort geben, weil
sie uns ein gesegnetes Jahr solchen Friedens beschert haben. Die Tugend des
Königs, ja schon der Begriff allein, entscheidet den Frieden. Deshalb nämlich
ist er 'König' genannt worden, weil er mit sanftem GangS und Führungskraft
einherkommt und über das Wort zum Frieden verfügt, weil er dazu in der Lage
ist, dem fremden Reich überlegen zu sein. Deshalb ist schon der Begriff ein
Zeichen des Friedens. Oft ist schon ein Vorwurf des Königs in der Lage, den
Feind sofort zurückzudrängen. Andererseits sind doch seine Standbilder für die,
die in heftigen Sturm geraten sind, Häfen des Friedens. Wenn nur das Bild des
Königs erscheint, bewirkt es schon den Sieg und vermittelt den Einwohnern
Unerschrockenheit und Unverwundbarkeit.

s Griechisches Wortspiel zu 'König': basileus von basis leia, wörtl. 'leichter Tritt'.
Die Fragmente des Stobaeus
103

(Rede) des Hermes aus der (Rede) an Tat

1 »Gott zu denken ist schon schwierig, aber (ihn) zu sagen, ist auch dem
unmöglich, dem es möglich ist, (ihn) zu denken. 1 Denn das Unkörperliche
durch einen Körper zu bezeichnen, ist unmöglich; und dem Unvollkommenen
ist es nicht möglich, das Vollkommene zu ergreifen. Für das Ewige ist es
schwierig, mit dem Kurzlebigen zusammenzukommen. Das eine ist ewig, das
andere geht vorüber; das eine ist in Wahrheit, das andere wird von der Vor-
stellung überschattet.
Das Schwächere unterscheidet sich vom Stärkeren und das Schlechtere vom
Besseren um so viel wie das Sterbliche vom Göttlichen. 2 Der mittlere Abstand
dieser verdunkelt den Blick auf das Schöne. Den Augen sind nämlich (nur) die
Körper sichtbar, und der Zunge ist (nur) das Sichtbare sagbar. Das Unkörper-
liche, das Unsichtbare und das Ungeformte, und was der Materie nicht unter-
liegt, kann von unseren Sinnen nicht ergriffen werden. (Nur so) kann ich ver-
stehen, mein Tat, nur so: Was zu sagen unmöglich ist, das ist Gott!«

1 Vgl. Platon, Timaeus, 37 C und Einleitung, S. 11.


104

IIA

(Rede) des Hermes aus den (Reden) an Tat

»Der Mensch kann nicht wagen, über Wahrheit zu reden, mein Tat, weil er
ein unvollkommenes Wesen ist, das aus unvollkommenen Teilen zusammen-
gesetzt ist und (dessen) Behausung aus vielen fremden Körpern besteht. Was
nun möglich und recht ist, das sage ich: Wahrheit ist allein in den· ewigen
Körpern, deren 2 Körper selbst auch wahr sind. Feuer ist nur Feuer an sich und
nichts anderes; Erde ist Erde an sich und nichts anderes; Luft ist Luft an sich
und nichts anderes; Wasser ist Wasser an sich und nichts anderes. Unsere Kör-
per aber sind aus allen diesen (Elementen) zusammengesetzt. Denn sie enthal-
ten Feueranteile, sie enthalten Erdanteile, sie enthalten Wasseranteile und Luft-
anteile, sind aber weder Feuer noch Erde noch Wasser noch Luft noch sonst
etwas Wahres. Weil aber unser Dasein nicht Wahrheit als Ursprung hat, wie
kann es dann vielleicht Wahrheit sehen oder sagen? Es kann (sie) aber denken,
wenn Gott es will.
3 Nun ist alles auf der Erde nicht wahr, mein Tat, sondern Nachahmung der
Wahrheit; und noch nicht einmal alles (ist Nachahmung der Wahrheit), sondern
nur weniges. 4 Alles andere ist Lug und Trug, mein Tat, Meinungen, aufgestellt
wie Bilder der Erscheinung. Falls aber die Erscheinung den Einfluss von oben
her erhält, wird sie (wenigstens) eine Nachahmung der Wahrheit; aber ohne die
Kraft von oben her bleibt sie Lüge - nämlich so wie das Bild den Körper des
Gemalten zeigt, selbst aber nicht der Körper als Erscheinung des Sichtbaren ist.
Man sieht zwar, dass es Augen hat, es sieht aber nichts; hört auch überhaupt
nichts; auch alles andere hat ja das Bild, ist aber delinoch Täuschung, die die
Blicke der Betrachter irreführt, die zwar meinen, Wahrheit zu sehen, obwohl es
in Wahrheit nur Täuschung ist. 5. Alle, die Täuschung nicht sehen, sehen Wahr-
heit. Wenn wir nun jedes dieser (Dinge) denken oder sehen, wie sie sind, dann
denken und sehen wir Wahres. Tun wir das aber am Seienden vorbei, werden
wir weder Wahres denken noch wissen.«
6 »Vater, gibt es denn auch auf der Erde Wahrheit? Nicht ziellos (frage ich).«
»Du irrst dich, mein Kind. Wahrheit gibt es überhaupt nicht auf der Erde,
mein Tat. Das kann auch nicht sein. Es kann aber sein, dass einige Menschen
über die Wahrheit nachdenken, wenn Gott ihnen die Kraft, Gott zu schauen,
verleihen wird.«
7 »So gibt es auch nichts Wahres auf der Erde?«
»Ich denke und behaupte: Alles sind Vorstellungen und Meinungen. Wahres
denke und behaupte ich.«
Stobaeus-Fragment II A 105

»Muss man nicht dieses 'Wahres denken und behaupten' gerade Wahrheit
nennen?«
8 »Warum? Das Seiende muss man denken und behaupten, denn es gibt
nichts Wahres auf der Erde. Dies ist das Wahre, dass es hier nichts Wahres gibt.
Wie könnte das auch geschehen, mein Kind? 9 Denn die Wahrheit ist die
vollkommenste Tugend, das reine Gute selbst, das von keiner Materie getrübt
noch von einem Körper umhüllt ist, das nackte, glänzende, unerschütterliche,
heilige, unveränderliche Gute. Wie das ist, mein Kind, was hier ist, siehst du:
Unempfänglich ist es für dieses Gute; verderblich, leidvoll, auflösbar, verän-
derlich, immer sich verändernd entsteht wieder anderes aus anderem. 10 Was
nun nicht einmal sich selbst gegenüber wahr ist, wie könnte das wahr sein?
Alles, was sich verändert, ist Lüge, bleibt nicht sich selbst gleich, zeigt uns,
weil es sich wandelt, immer wieder andere Erscheinungen.«
11 »Ist denn auch ein Mensch nichts Wahres, mein Vater?«
»Gerade ein Mensch ist nicht wahr, mein Kind. Denn das Wahre ist das, das
aus sich selbst das Dasein erhält und bei sich selbst bleibt, wie es ist. Der
Mensch aber ist aus vielen (Teilen) zusammengesetzt und bleibt nicht bei sich
selbst; er ändert und wandelt sich von Lebensalter zu Lebensalter und von
Gestalt zu Gestalt und dieses, solange er noch in der Behausung ist. Und viele
erkannten die Kinder nicht mehr, wenn ein wenig Zeit dazwischen getreten
war, und ebenso wenig die Kinder die Eltern. 12 Was sich nun so verändert,
dass man es nicht wiedererkennt, kann das denn wahr sein, mein Tat? Im
Gegenteil, ist es nicht Lüge, die in vielen veränderten Erscheinungen begegnet?
Du aber denke, dass das, was bleibt und ewig ist, etwas Wahres ist. Den Men-
schen aber gibt es nicht immer; also ist er auch nichts Wahres. Der Mensch ist
ja nur eine Erscheinung; die Erscheinung ist doch aber wohl die größte Lüge.«
13 »Diese nun, mein Vater, die ewigen Körper, si11d die auch nicht wahr,
weil sie sich verändern?«
»Freilich. Alles Gewordene und Veränderbare ist nicht wahr. Vom Vorvater 1
her Gewordenes kann die Materie noch als eine wahre (Materie) gehabt haben,
aber auch diese hat durch Veränderung einen Anteil Lüge. Denn nichts, was
nicht sich selbst gleich bleibt, ist wahr.«
, 14 »Was könnte denn nun jemand wahr nennen, mein Vater?«
»Nur die Sonne (kann man), weil sie sich nicht verändert, sondern sich selbst
gleich bleibt, Wahrheit (nennen) im Gegensatz zu allen anderen. Deshalb ist sie
allein mit der Schöpfung aller Dinge im Kosmos betraut, alles beherrschend
und alles erschaffend. Ich verehre sie auch und bete ihre Wahrheit an. Nach
dem Einen und Ersten erkenne ich gerade sie als Schöpfer.«
1 3und XXIII 10.32) hat in
Propator: dieses einst seltene Wort (hier nur noch Stob. II 8
den gnostischen Nag-Harnmadi-Texten und in Zauberpapyri Parallelen bekommen.
106 Stoba,eus-Fragment II A

15 »Was könnte man denn wohl als die erste Wahrheit bezeichnen, mein
Vater?«
»Nur den Einen und Alleinigen, mein Tat, der nicht aus Materie ist, der nicht
in einem Körper ist, den Farblosen, den Gestaltlosen, den Unwandelbaren, der
sich nicht verändert, der ewig ist. 16 Aber die Lüge, mein Kind, vergeht.
Verderben hat zwar alles auf der Erde ergriffen, aber die Vorsehung des Wah-
ren umfasst (alles) und wird (alles) umfassen. Denn ohne Verderben kann Wer-
den nicht sein. Allem Werden folgt Verderben, damit wieder (Neues) werde.
Notwendig wird alles Werdende aus dem Verderbenden, notwendig verdirbt das
Werdende, damit das Werden der Seienden nicht still stehe.
Erkenne zuerst für das Werden der Seienden diesen Schöpfer. Was nun aus
dem Verderben wird, ist wohl Lüge, weil es bald so, bald so wird. Es ist
unmöglich, dass es (immer) dasselbe wird. Was nicht dasselbe (bleibt), wie
sollte das wahr sein? 17 Man muss dieses 'Erscheinungen' nennen, mein Kind,
wenn man es recht benennen will: Den Menschen (nur) eine Erscheinung der
Menschen, das Kind (nur) eine Erscheinung des Kindes, den Jugendlichen (nur)
eine Erscheinung des Jugendlichen, den Mann (nur) eine Erscheinung des Man-
nes, den Greis (nur) eine Erscheinung des Greises. Denn weder ist der Mensch
Mensch noch das Kind Kind, noch der Jugendliche Jugendlicher, noch der
Mann Mann, noch der Greis Greis. 18 Sich Veränderndes ist Lüge, das, was es
vorher war und das, was es jetzt ist.
Dieses also bedenke folgendermaßen, mein Kind, da auch diese Lügen
(noch) als Kräfte von oben her von der Wahrheit abhängen. Wenn sich das so
verhält, behaupte ich, dass (sogar) die Lüge (noch) eine Wirkung der Wahrheit
ist.«
107

IIB
(Rede) desHermesaus der (Rede) an Tat 1

1 »Dieses, mein Kind, will ich als Erstes wegen der Menschenliebe und der
Ehrfurcht vor Gott schreiben. Keine Ehrfurcht kann doch wohl so vollkommen
gerecht sein, wie das Seiende zu bedenken und dem Schöpfer für dieses (Seien-
de) Dank zu bekunden, was ich unaufhörlich tue.«
2 »Wenn es hier nichts Wahres gibt, mein Vater, was sollte einer dann tun,
damit er sein Leben gut führe?«
»Ehre Gott, mein Kind! Wer Gott ehrt, wird den höchsten Grad des Philo-
sophierens erreichen. Ohne Philosophie ist es unmöglich, den höchsten- Grad
der Gottesverehrung zu erreichen. Wer aber lernt, wie (das Seiende) ist, wie
geordnet und von wem und für wen, der wird dem Schöpfer als einem guten
Vater, einem hilfreichen Ernährer und treuen Verwalter für alles Dank wissen.
Wer aber Dank bekundet, ehrt Gott. 3 Wer aber Gott verehrt, wird auch wissen,
wo die Wahrheit ist und was sie ist. Wer aber noch mehr lernt, wird Gott noch
mehr ehren. Niemals nämlich, mein Kind, kann eine Seele, die im Körper ist
und sich zum Ergreifen des wahrhaft Guten und Wahren aufschwingt, in das
Gegenteil abgleiten. Eine Seele, die ihren eigenen Vorvater begreift, wird au-
ßerordentliche Liebe und Vergessen von allem Bösen erfahren und sich vom
Guten nicht mehr entfernen können. 4 Dieses, mein Kind, dieses soll das Ziel
der Gottesverehrung sein. Wenn du dorthin gelangst, kannst du ein gutes Leben
führen und glücklich sterben, weil deine Seele weiß, wo sie sich niedergelassen
hat (wo sie aufgeflogen ist). 5 Dieser (Weg), mein Kind, ist der einzige Weg zur
Wahrheit, den auch unsere Vorfahren (schon) gegangen sind. Und weil sie ihn
gegangen sind, erreichten sie das Gute. Heilig ist dieser Weg und eben, aber
schwierig für die Seele, die (noch) im Körper ist, zu gehen. 6 Zunächst einmal
muss sie gegen sich selbst kämpfen und einen großen Abstand (zu ihrem Kör-
per) schaffen und von dem einen (göttlichen) Teil überwunden werden. Denn
ein Kampf entsteht zwischen diesem Einen und den Zweien, wobei der Eine
flieht, die Zwei aber nach unten hinabziehen. Zwietracht und ein großer Streit
dieser gegeneinander entsteht, weil der Eine fliehen will, die Zwei sich aber
bemühen festzuhalten. 7 Der Sieg der beiden (Parteien) ist nicht gleichgewich-
tig: Das Eine strebt zum Guten, die Zwei hausen im Bösen. Das Eine sehnt
sich, befreit zu werden, die Zwei ziehen die Knechtschaft vor. Wenn nun die
zwei Teile besiegt worden sind, sind sie für sich geblieben, verlassen vom

1 Separat von· Stobaeus überliefert, ist dieser Text anscheinend die Fortsetzung - und
Vervollständigung - des vorigen.
108 Stobaeus-Fragment II B

Herrschenden. Wenn aber das Eine unterlegen ist, wird es von den Zweien
verschleppt und mit der hiesigen Lebensweise bestraft. 8 Mein Kind, dies ist
die Führung auf dem Wege dorthin: Vor dem Ende, mein Kirid, musst du zuerst
den Körper im Stich lassen, im Lebenskampf obsiegen und dann als Sieger
hinaufsteigen.«
109

111
Vom seihen

1 »Jede Seele ist unsterblich und ewigbewegt Wir haben schon in den
Grundlehren 1 die Bewegungen besprochen, die von den Kräften und die von
den Körpern verursachten. 2 Wir sagen, die Seele ist aus einem bestimmten
Sein, aber nicht aus Materie entstanden. Sie ist körperlos und stammt von
einem Körperlosen ab. Alles Gewordene ist notwendigerweise aus etwas ge-
worden. 3 Bei allen (Wesen),' bei denen dem Werden das Verderben folgt,
folgen notwendigerweise zwei Bewegungen: Einerseits die der Seele, durch die
es bewegt wird; andererseits die des Körpers, durch die (das Wesen) wächst
oder abnimmt; und wenn dann (der Körper) aufgelöst wird, wird (das Wesen
auch) aufgelöst. Diese (Bewegung) bestimme ich als die Bewegung der ver-
gänglichen Körper. 4 Die Seele ist ewigbewegt, denn sie wird ewig bewegt und
bewirkt bei anderen Bewegung. Nach dieser Logik ist jede Seele unsterblich
und ewigbewegt, hat auch als Bewegung ihre eigene Kraft.
S (Es gibt) verschiedene Seelen: göttliche, menschliche und (solche) ohne
Denkkraft. Die göttliche ist Wirkkraft ihres göttlichen Körpers. In ihm wird sie
bewegt und bewegt ihn. 6 Wenn sie durch Befreiung von den sterblichen We-
sen getrennt worden ist - von ihren eigenen Gliedern, die keine Denkkraft
haben - und herausgetreten ist in den göttlichen Körper, dann wird sie als
ewigbewegte in ihm bewegt, allezeit ihre Bahn laufend.
7 Die menschliche (Seele) hat zwar auch Anteil an der göttlichen; mit ihr ist
aber auch (das Wesen) ohne Denkkraft verknüpft, nämlich Begierde und Trieb.
Zwar sind auch diese unsterblich, weil sie Kräfte sind, aber sie sind Kräfte
sterblicher Körper. Deshalb sind sie dennoch vom göttlichen Teil weit entfernt,
auch wenn die Seele (schon) im göttlichen Körper ist. Immer, wenn eine (See-
le) in diesen sterblichen Körper eintritt, kommen auch diese zwei hinzu, und
durch ihre Anwesenheit entsteht immer (wieder) eine menschliche Seele. 8
Aber die (Seele) der (Wesen) ohne Denkkraft ist (nur) aus Trieb und Begierde
zusammengesetzt. Deswegen werden auch diese Wesen (Wesen) ohne Denk-
kraft genannt, weil die Denkkraft der Seele fortfällt.
9 Bedenke als vierte auch noch die (Seele) der Unbeseelten, die, obwohl sie
außerhalb der Körper ist, wirkt, indem sie sie bewegt. Immer, wenn diese im
göttlichen Körper bewegt wird, bringt sie diese (unbeseelten Körper) wie im
Vorbeigehen in Bewegung.«

1 Vgl. Einleitung, S. 22, Anm. 40.


110

IV
(Rede) desHermesaus den (Reden) an Tat

1 »Das hast du richtig dargestellt, mein Vater. Aber jenes lehre mich noch:
Irgendwo hast du einmal gesagt, Wissenschaft und Kunst seien die Wirkung
des Denkens. Jetzt sagst du, die Wesen ohne Denkkraft sind und heißen so
wegen des Fortfalls der Denkkraft: Nach dieser Logik ist es offensichtlich
nötig, dass die Wesen ohne Denkkraft nicht an Wissenschaft und Kunst teil-
haben, weil bei ihnen die Denkkraft fortgefallen ist.«
2 »Es ist nötig, mein Kind.«
»Wie sehen wir nun aber, mein Vater, dass einige Wesen ohne Denkkraft
Wissenschaft und Kunst anwenden? Beispielsweise speichern die Ameisen
Nahrungsvorräte für den Winter, die Vögel bauen sich ebenfalls Nester und die
Vierfüßer kennen ihre eigenen Höhlen.«
3 »Dieses, mein Kind, tun sie nicht mit Wissenschaft und Kunst, sondern
von Natur aus. Denn Wissenschaft und Kunst werden gelehrt; von diesen We-
sen ohne Denkkraft ist keines etwas gelehrt worden. Was aber von Natur aus
wird, wird durch allgemeine Kraft. Was aber durch Wissenschaft und Kunst
wird, gibt es nur bei denen, die darum wissen, nicht bei allen! Was aber von
Natur aus geschieht, wird (auch nur von der Natur) bewirkt. 4 Zum Beispiel die
Menschen: Sie sehen oben (sie gehen aufrecht) 1, aber nicht alle Menschen sind
Musiker, nicht alle Bogenschützen oder Jäger und nicht all djlS andere. Aber
einige von ihnen haben etwas gelernt, weil Wissenschaft und Kunst wirksam
sind. S Ebenso: Wenn einige Ameisen dieses täten, andere aber nicht, dann
würdest du mit Recht sagen, dass sie dieses mit Wissenschaft tun und mit
Kunst Nahrungsvorräte sammeln. Wenn aber alle in gleicher Weise von der
Natur dazu ohne ihren Willen bewegt werden, dann ist doch deutlich, dass sie
dieses nicht mit Wissenschaft und nicht mit Kunst tun.
6 Die Kräfte, mein Tat, die selbst körperlos sind, befinden sich in Körpern
und wirken durch Körper. Deshalb, mein Tat, weil sie körperlos sind, behaupte
ich auch, dass sie unsterblich sind. Weil sie ohne Körper nicht wirken können,
behaupte ich, dass sie immer in Körpern sind. 7 Die aber zu einem Zweck oder
wegen einer Aufgabe entstanden, also der Vorsehung und dem Zwang unter-
worfen sind, bleiben unmöglich jemals ohne ihre eigene Kraft. Das Seiende
wird immer sein. Dieses ist sein Körper und sein Leben. Nach dieser Logik
folgt, dass es immer Körper gibt. Daher behaupte ich auch, dass die Verkör-

1 Etymologie von anthröpos aus anö 'nach oben' und op- (qq-) 'sehen'.
Stobaeus-Fragment IV 111
perung ewige Wirkung ist. Wenn also irdische Körper auflösbar sind, Körper
aber sein müssen, weil sie Orte und Werkzeuge der Kräfte sind, die Kräfte aber
unsterblich sind, das Unsterbliche aber ewig ist, dann sind es auch Kraft und
Körpererschaffung, wenn es denn Ewiges gibt.
8 Der Seele sind nicht viele helfende Kräfte verbunden. Einige von ihnen,
nämlich die, die sich um das Leibliche kümmern, wirken schon bei der Ent-
stehung des Menschen mit der Seele zusammen. Die reineren Kräfte aber, die
mit dem geistigen Teil der Seele zusammenwirken, (wirken) je nach Verän-
derung des Lebensalters (mit der Seele zusammen).
9 Diese Kräfte hängen von den Körpern ab. Von den göttlichen Körpern
kommen sie in die sterblichen (Körper), sie, die die Körper erschaffen. Jede
von ihnen wirkt entweder auf den Körper oder auf die Seele ein. Freilich, mit
der Seele selbst sind sie (schon) ohne Körper zusammen. Denn ewig sind sie
Kräfte, aber die Seele ist nicht ewig in einem sterblichen Körper. Sie kann auch
ohne einen (sterblichen) Körper sein, die Kräfte aber können nicht ohne die
(göttlichen) Körper sein. 10 Dieses ist ein heiliges Wort, mein Kind. Ohne
Seele kann ein Körper nicht bestehen. Nur das kann sein.«
»Wie meinst du das, mein Vater?«
»Stell es dir so vor, mein Tat! Wenn die Seele vom Körper getrennt worden
ist, bleibt der Körper selbst übrig. Dieser Körper aber ist auch abgesehen von
der Zeit des Verweilens (der Seele) noch der Kraft unterworfen; er wird aufge-
löst und wird unsichtbar. Dieses aber kann der Körper nicht ohne Kraft erlei-
den. Diese Kraft verbleibt beim Körper, auch nachdem die Seele abgetrennt
wurde.
11 Dieses ist der Unterschied zwischen einem unsterblichen Körper und
einem sterblichen, dass der unsterbliche nur aus einer Materie besteht, der
andere aber nicht. Der eine handelt, der andere erleidet. Alles was wirkt,
herrscht, alles was bewirkt wird, wird (auch) beherrscht. Das Herrschende,
befehlend und frei, leitet; das Dienende wird geleitet. 12 Die Kräfte wirken
nicht nur auf die beseelten Körper ein, sondern auch auf die unbeseelten, Bäu-
me, Steine und dergleichen mehr. Sie lassen wachsen und lassen Frucht tragen;
sie lassen reifen, verderben und schmelzen; sie lassen verfaulen, zerbröckeln
und bewirken dergleichen mehr, was alles unbeseelte Körper erleiden können.
Dieses selbst nämlich, mein Kind, wird Kraft genannt, von dem aus erst das
Werdende entsteht. 13 Immer muss (etwas) werden, vieles, ja noch mehr, alles.
Niemals ist der Kosmos leer von einem Seienden; immer bewegt, schwängert
er das in ihm Seiende, das niemals vom Verderben verlassen ist.
14 Jede Kraft soll als eine immer unsterbliche gedacht werden, welche und
in was für einem Körper sie auch immer sei. 1S Einige Kräfte gehören zu den
göttlichen Körpern, die anderen zu den vergänglichen; einige sind allgemein,
112 Stobaeus-Fragment IV

andere sind speziell; die einen gehören zu den Arten, die anderen (nur) zu
Teilen. eines jeden. Göttlich sind die, die auf die ewigen Körper einwirken.
Diese sind vollkommen, weil sie auf vollkommene Körper (einwirken). Die
(nur zu) Teilen (gehörenden, wirken) durch jede einzelne Art der Lebewesen;
die speziellen (wirken) auf jeden einzelnen derer, die etwas sind.
16 Diese· Abhandlung, mein Kind, lehrt, dass alles voller Kräfte ist. Wenn
notwendigerweise die Kräfte in Körpern sind, im Kosmos aber viele Körper
sind, dann behaupte ich, dass es mehr Kräfte als Körper gibt. In einem Körper
gibt es oft eine, eine zweite und eine dritte (Kraft) abgesehen von den (mit ihm)
verbundenen allgemeinen (Kräften). Mit allgemeinen Kräften meine ich die
wahrhaft körperlichen, die durch Wahrnehmungen und Bewegungen entstanden
sind. Ohne diese Kräfte kann der Körper unmöglich Bestand haben. Andere
sind die speziellen Kräfte in den Seelen der Menschen, (wirkend) durch Kün-
ste, Wissenschaften, Bemühungen und Taten.
17 Mit den Kräften sind auch Wahrnehmungen verbunden, ja noch mehr,
Wahrnehmungen sind Wirkungen der Kräfte. 18 Bedenke nun, mein Kind, den
Unterschied zwischen Kraft und Wahrnehmung! Die Erste wird von oben her
gesandt. Die Wahrnehmung aber, die im Körper ist und von diesem das Wesen
hat, macht die Kraft sichtbar, wenn sie sie empfangen hat, so als hätte sie sie zu
einem Körper gemacht. Deswegen behaupte ich, dass die Wahrnehmungen kör-
perlich und sterblich sind, in dem Maße zusammengesetzt wie auch der Körper.
Die Wahrnehmungen werden mit dem Körper geboren und sterben mit ihm
zusammen. 19 Die unsterblichen Körper selbst haben keine/ Wahrnehmung,
weil sie aus solchem (unsterblichen) Wesen bestehen. Die Wahrnehmung zeigt
überhaupt nichts anderes an, als was an Üblem oder Gutem dem Körper zu-
gefügt oder wieder von ihm genommen wird. Den ewigen Körpern wird weder
zugefügt noch genommen. Deshalb entsteht in jenen Wahrnehmung nicht.«
20 »Wird denn in jedem Körper Wahrnehmung wahrgenommen?«
»In jedem, mein Kind, und in allen wirken Kräfte.«
»Auch in den Unbeseelten, mein Vater?«
»Auch in den Unbeseelten, mein Kind. Aber es gibt Unterschiede der Wahr-
nehmungen: Die der Wesen mit Denkkraft geschehen mit Denken, die derer
ohne Denkkraft sind allein körperlich. Die der Unbeseelten sind zwar auch
Wahrnehmungen, sind aber nur empfänglich für Zunehmen und Abnehmen.
Empfindung und Wahrnehmung hängen von eineni einzigen Punkt ab, wirken
aber durch die Kräfte zum gleichen (Ziel) zusammen. 21 Die beseelten Lebe-
wesen haben zwei andere Kräfte, die mit Wahrnehmung und Empfindung ver-
bunden sind: Trauer und Freude. Ohne diese kann kein beseeltes Lebewesen,
besonders keines mit Denkkraft, wahrnehmen. Deswegen behaupte ich auch,
dass dieses Ideen der Empfindungen sind, mehr noch, sü-i herrschen über die
Stobaeus-Fragment IV 113

Lebewesen mit Denkkraft. Die Kräf~e wirken, aber die Wahrnehmungen zeigen
die Kräfte auf. 22 Weil diese nun körperlich sind, werden sie von den Teilen der
Seele ohne Denkkraft bewegt, weshalb ich behaupte, dass beide schädlich sind.
Sich mit Lust über die Wahrnehmung zu freuen, wird sofort zum Anlass vieler
Übel für den Leidenden, und die Trauer bringt größere Schmerzen und Wehen.
Deshalb sind doch wahrscheinlich beide schädlich.«
23 »Ist denn wohl die Wahrnehmung der Seele und des Körpers die gleiche,
mein Vater?«
»Wo denkst du hin, Kind, eine Wahrnehmung der Seele? Ist nicht die Seele
körperlos, die Wahrnehmung aber Körper?«
»Ist es denn wohl die Wahrnehmung, mein Vater, die da im Körper das
Wesen hat?«
»Wenn wir sie in den Körper setzen wollten, mein Kind, zeigten wir, dass sie
der Seele oder den Kräften ähnlich wäre. Wir behaupten doch, dass das Kör-
perlose in Körpern sei. Wahrnehmung aber ist weder Kraft noch Seele noch
etwas anderes Körperloses entsprechend dem Vorhergesagten. Also ist sie dann
wohl nicht körperlos! Wenn sie nun nicht körperlos ist, dann ist sie wohl ein
Körper! Von allen Seienden müssen die einen Körper sein und die anderen
Körperlose.« '
114

(Rede) desHermesaus (den Reden) an Tat

1 »Der Herr und Schöpfer aller ewigen Körper, mein Tat, hat diese einmal
erschaffen, (danach) erschuf er nicht mehr und erschafft auch nicht (mehr).
Nachdem er diese sich selbst überlassen und miteinander vereinigt hatte, ließ er
sie, denen als Ewigen nichts mangelt, sich bewegen. Wenn sie doch irgendet-
was brauchen sollten, dann brauchen sie sich nur untereinander, aber keinerlei
Zugabe von außen, weil sie unsterblich sind. Es mussten ja auch die von ihm
gewordenen Körper eine solche (unsterbliche) Natur haben.
2 Unser Schöpfer, der ja in einem Körper ist, hat uns erschaffen, erschafft
immer und wird immer auflösbare und sterbliche Körper erschaffen. Es war
ihm nicht erlaubt und wäre auch gänzlich unmöglich, seinen eigenen Schöpfer
nachzuahmen. Der Erste erschuf aus dem ersten Sein, das ja körperlos ist, der
andere aber erschuf uns aus der entstandenen Verkörperung. 3 Nach der rich-
tigen Logik sind doch selbstverständlich jene Körper, weil aus körperlosem
Sein entstanden, unsterblich. Unsere aber sind auflösbar und sterblich, weil sie,
da ja unsere Materie aus Körpern zusammengesetzt ist, 4 um der Schwäche
willen vieler Hilfe bedürfen. Wie sollte denn der Zusammenhalt unserer Körper
gegen die Umstände (des Lebens) Bestand haben, wenn sie nicht Nahrung aus
ähnlichen Elementen zugeführt bekämen und uns täglich neu wieder Körper
werden ließen? Denn von Erde, Wasser, Luft und Feuer her haben wir eine
Zugabe, die, unsere Körper erneuernd, das Haus zusammenhält. 5 So sind wir
auch gegenüber Bewegungen recht schwach, können Bewegungen nicht einen
einzigen Tag lang aushalten. Wisse wohl, mein Kind, dass unsere Körper, wenn
sie nicht in den Nächten ausruhen würden, nicht einen einzigen Tag durchste-
hen könnten. Darum hat der Schöpfer, der ja gut ist und alles vorherweiß, zum
Erhalt des Lebens den Schlaf erschaffen, den er als den größten gegen die
Anstrengung der Bewegung einem jeden und (einem jeden) in gleichem Maß
als Zeit zugeteilt hat - und darüber hinaus zur Erholung noch mehr (Zeit). 6
Denke die Kraft des Schlafes als die größte, Kind! Sie ist (der Kraft) der Seele
entgegengesetzt, aber nicht geringer als jene. In dem Maße, in dem die Seele
Kraft der Bewegung ist, können auch die Körper nicht leben ohne Schlaf.
Nachlassen und Loslassen der angespannten Glieder ist er; 7 und von innen her
wirkt er körperbildend auf die hereingekommene Materie ein und teilt jedem
zu, was ihm eigen ist: Dem Blut das Wasser, den Knochen und dem Mark die
Erde, den Nerven und Adern die Luft, dem Sehen das Feuer. Deshalb freut sich
auch der Körper sehr über den Schlaf, weil er solche Lust wirkt.«
115

VI
(Rede) desHermesaus der (Rede) an Tat

1 »Da du ja früher in den Grundlehren 1 versprochen hast, mir über die


sechsunddreißig Dekane Aufklärung zu geben, kläre mich nun über sie und ihre
Wirkung auf!«
»Ich habe nichts dagegen, mein Tat, denn diese ist ja wohl die entscheidenste
und oberste Lehre. Du aber denke so: 2 Wir haben mit dir über den Tierkreis,
der ja die Tierzeichen trägt, die fünf Planeten, die Sonne, den Mond und
schließlich über die Bahn von jedem von ihnen gesprochen.«
»Das hast du getan, Trismegistos.«
»Ich will, dass du auch über die sechsunddreißig Dekane2 so denkst, wenn
du dich an jene erinnert hast, damit dir auch die Lehre über diese begreiflich
werde.«
»Ich habe mich erinnert, mein Vater.«
3 »Wir haben einmal gesagt, mein Kind, dass es einen Körper gibt, der alles
umfasst. Denke diesen nun als eine kreisförmige Figur. Denn so verhält es sich
mit dem All.«
»Ich denke eine solche Figur, wie du sagst, mein Vater.«
»Unter dem Kreis dieses Körpers sind die sechsunddreißig Dekane ange-
ordnet als Zwischen(kreis) zum ganzen Tierkreis. Sie trennen die beiden Krei-
se, und so, wie sie den einen erheben, begrenzen sie den anderen. 4 Sie stim-
men mit den Planeten überein, sodass sie im Umlauf des Alls wechselseitig mit
den sieben (Planeten) an Bedeutung gleich sind. Und sie hemmen den allum-
fassenden Körper, weil er ja sowieso im Umlauf der höchste ist, weil er selbst
für sich selbst alles hat. Sie beschleunigen die sieben anderen Kreise, weil diese
sich mit einer langsameren Bewegung bewegen als der ganze Kreis. Also ergibt
sich mit Notwendigkeit, dass auch sie vom All bewegt werden. 5 Lass uns nun
die (Bewegungen) der sieben und den ganzen Kreis bedenken, besonders aber
(die sechsunddreißig Dekane) wie Wächter, sodass sie sich um alles herum-
stellen, weil sie auch alles zusammenhalten und die richtige Ordnung aller
Dinge bewahren.« ·
»Ich denke diese (Gedanken), Vater, aus denen du redest.«
6 »Bedenke auch das noch, Tat, dass die (sechsunddreißig Dekane) nicht das
erleiden, was die anderen Sterne erleiden. Ungehindert stellen sie den Lauf fest,
ungehemmt kehren sie zurück. Sie werden nicht einmal vom Licht der Sonne

1 Vgl. Einleitung, S. 22, Anm 40.


2 Vgl. Einleitung, S. 26.
116 Stobaeus-Fragment VI

zugedeckt, was jedoch die anderen Sterne erleiden. Weil sie frei und über allem
sind, schützen sie wie treueWächterund Aufseher über alles Tag und Nacht
das All.«
7 »Haben denn diese auf uns eine Wirkung, mein Vater?«
»Die allergrößte, mein Kind. Wenn sie schon auf jene (Sterne) einwirken,
wie nicht auch auf uns, und zwar im Besonderen und im Allgemeinen? 8 So,
mein Kind, stammt die Wirkung aller Ereignisse überall von diesen. Zum Bei-
spiel bedenke, was ich sage: Thronbesteigungen der Könige, Aufstände in den
Städten; Hungersnot, Pest; Meerebbe, Erdbeben, nichts davon, mein Kind; ge-
schieht ohne deren Wirkung. 9 Denke noch darüber hinaus! Wenn diese (De-
kane) nun jene (Sterne) beaufsichtigen, wir aber unter den· sieben (Planeten)
sind, denkst du dann nicht, dass auch auf uns eine gewisse Wirkung von jenen
zukommt, sind wir nicht deren Söhne oder stammen von jenen ab?«
10 »Mein Vater, was für eine Art Körper haben denn die (sieben Planeten)?«
»Die meisten nennen diese Dämonen. Aber die Art der Dämonen ist keine
eigene Art; weder haben sie andere Körper aus irgendeiner eigenen Materie
noch werden sie von einer Seele bewegt wie wir, sondern sie sind Wirkungen
dieser sechsunddreißig Götter. 11 Bedenke noch darüber hinaus, mein Tat,
deren Wirken, da sie in die Erde hinein jene zeugen, die sie Zwerge nennen, die
einen hilfreich, die anderen verderbend. 12 Da sie auch im Himmel wohnen,
zeugen sie sich dienstbare Sterne und halten sie als Knechte und Soldaten.
Diese (dienstbaren Sterne) wohnen unterhalb jener (Dekane) und vermehren
sich (sich mischend). Sie schweben hoch im Aether, füllen seine1;1 Raum aus,
damit oben kein sternenleerer Raum sei. Sie ordnen das All; sie haben eigene
Kraft, die der Kraft der sechsunddreißig untergeordnet ist. Von den (sechsund-
dreißig) ausgehend, entstehen auch in den einzelnen Ländern die Zerstörungen
der anderen beseelten Lebewesen und die Fülle der Tiere, die die Früchte
beschädigen.
13 Unter diesen ist das sogenannte Bärengestirn, inmitten des Tierkreises,
aus sieben Sternen zusammengesetzt, mit einem anderen Spiegelbild über dem
Kopf. Die Wirkungsweise dieses (Doppelgestirns) gleicht einer Achse: Niemals
geht es unter, niemals geht es auf, es bleibt immer am gleichen Platz, dreht sich
um sich selbst und bewirkt so die (Kraft) des Tierkreises. Diese (Kraft) gibt
alles dieses weiter, von der Nacht zum Tage, vom Tage zur Nacht. 14 Nach
diesem (Doppelgestirn) gibt es noch einen anderen Chor von Sternen, die wir
nicht der Benennungen für wert erachtet haben. Erst unsere Nachfahren, (uns)
nachahmend, werden auch diesen Namen beilegen.
15 Unterhalb des Mondes sind noch andere Sterne, vergängliche, müßige,
die nur für kurze Zeit bestehen, aus der Erde selbst in die Luft über der Erde
aufdampfen, die auch wir sehen, wie sie sich auflösen. Sie sind vergleichbar
Stobaeus-Fragment VI 117

den von Natur unnützen Lebewesen auf der Erde, die zu nichts anderem ent-
stehen als nur dazu, dass sie wieder vergehen, beispielsweise Fliegen, Flöhe,
Würmer und dergleichen mehr. Denn jene, mein Tat, sind weder uns noch der
Welt nützlich; im Gegenteil, sie ärgern, weil sie belästigen. Sie sind nur Fol-
geerscheinungen der Natur und sind wie überflüssig beim Werden. In gleicher
Weise erreichen auch die Sterne, die von der Erde aufdampfen, nie den oberen
Raum. Sie können es auch nicht, weil sie von unten nach oben gehen müssen.
Sie sind viel zu schwer. Von ihrer eigenen Materie nach unten gezogen, er-
schöpfen sie sich bald; und aufgelöst fallen sie wieder zur Erde zurück, haben
nichts weiter bewirkt, als dass sie nur die Luft über der Erde belästigt haben.
16 Mein Tat, es gibt noch eine andere Art, sie heißen Kometen. Sie er-
scheinen von Zeit zu Zeit und werden nach kurzer Zeit wieder unsichtbar. Sie
gehen nicht auf, gehen auch nicht unter, lösen sich auch nicht auf. Sie sind
sichtbare Boten und Herolde weltweit künftiger Ereignisse. Sie haben den
Standort unterhalb des Sonnenkreises. Immer wenn sich im Kosmos etwas
ereignen wird, tauchen sie flir wenige Tage plötzlich auf. Wenn sie dann wieder
unter den Sonnenkreis zurÜckgekehrt sind, bleiben sie unsichtbar. Sie erschei-
nen im Osten, andere im Norden, wieder andere im Westen und manche im
Süden. Wir nennen sie Wahrsager. Schließlich ist das die Natur der Sterne!
17 Sterne und Sternbilder haben unterschiedliche (Bedeutung). Die Sterne
schweben hoch im Himmel; die Sternbilder dagegen sind im Körper des Him-
mels festgelegt und bewegen sich mit dem Himmel. Aus ihnen haben wir zwölf
Tierkreiszeichen benannt. 18 Nur wer dieses weiß, kann auch Gott richtig den-
ken, wenn man nicht gar zu sagen wagen muss: Nur wer ihn mit eigenen Augen
sah, hat ihn geschaut und wird selig.«
»Wahrhaftig selig, mein Vater, wer diesen geschaut hat.«
»Aber es ist unmöglich, mein Kind, dass man dieses hohe Ziel erreicht,
solange man im Körper ist. Hier muss man die eigene Seele vorbereiten, damit
sie, wenn sie dorthin gelangt, wo sie schauen darf, den Weg nicht verfehlt. 19
Alle Menschen aber, die ihren Körper lieben, werden sicherlich niemals auch
nur einen Blick auf das Schöne und Gute werfen. Wie ja auch das Schöne, mein
Kind, weder Form noch Farbe noch Körper hat.«
»Gibt es denn, mein Vater, abgesehen von diesen (Sternen und Sternbildern)
irgendetwas Schönes?«
»Gott allein, mein Kind, ja vielmehr, was noch größer ist, Gottes Name.«
118

VII
Herrnes

1 »Eine größte Göttin, mein Kind, ist eingesetzt, hat in der Mitte des Alls
ihren Platz und beobachtet alles, was auf Erden seitens der Menschen ge-
schieht. So wie Vorsehung und Notwendigkeit über die göttliche Ordnung ein-
gesetzt sind, so ist in gleicher Weise die Gerechtigkeit über die Menschen
gesetzt und wirkt bei jenen das Gleiche .. 2 Die (Vorsehung und Notwendigkeit)
beherrschen die Ordnung der Göttlichen, die Fehler nicht machen wollen und
nicht machen können. Überhaupt ist es unmöglich, dass das Göttliche irrt; von
ihm her ergibt sich auch die Fehlerlosigkeit. Dagegen ist die Gerechtigkeit zum
Beistand für die Menschen eingesetzt, die ja auf der Erde Fehler machen. 3
Denn sie sind ein Geschlecht, das sterblich und aus schlechter Materie zusam-
mengesetzt ist. Hauptsächlich geschieht es ihnen, dass sie ausgleiten, weil sie
die Kraft nicht haben, Gott zu schauen. Insbesondere über sie herrscht die
Gerechtigkeit. Dem Schicksal sind sie wegen der Wirkungen des Werdens un-
terworfen, der Gerechtigkeit wegen der Fehler im Leben.«
119

VIII
(Rede) des Hermes an den Sohn

1 »Alles hast du mir gründlich gesagt, mein Vater; aber kannst du mir nicht
noch in Erinnerung bringen, was es mit der Vorsehung auf sich hat, was mit der
Notwendigkeit und ebenso was mit dem Schicksal?«
2 »Ich habe gesagt, mein Tat, dass es in uns drei Arten von Körperlosen gibt.
Die Erste ist etwas zu Denkendes, hat keine Farbe, keine Gestalt, keinen Kör-
per, stammt aus dem ersten und zu denkenden Sein selbst. 3 Es gibt aber in uns
auch diesem entgegengesetzte Gestalthaftigkeiten. Man nimmt an: Was vom zu
denkenden Sein zum Gedanken bewegt und aufgenommen wird, wandelt sich
sofort in eine andere Art von Bewegung um - dies ist das Abbild des Denkens
des Schöpfers. 4 Die Dritte aber ist das Bild der Körperlosen. Es ereignet sich
erst im Zusammenhang mit den Körpern in Ort, Zeit, Bewegung, Gestalt, Er-
scheinung, Größe und Bild. Und diese haben zwei Aspekte: einerseits die ei-
gentümliche Beschaffenheit selbst und andererseits die eigentümliche Beschaf-
fenheit des· Körpers. Zum einen ist die eigentümliche Beschaffenheit die Ge-
stalt, die Oberfläche, das Bild, der Ort, die Zeit, die Bewegung. Zum anderen
ist die eigentümliche Beschaffenheit des Körpers die zur Gestalt gewordene
Gestalt, die zur Farbe· gewordene Farbe, die zur Form gewordene Form, die
Erscheinung und die Größe. Eines hat am anderen Anteil. S Das zu denkende
Sein hat Macht über sich selbst und (hat Macht), ein anderes zu retten, weil es
sich selbst rettet, solange es bei Gott ist; denn das Sein selbst unterliegt nicht
der Notwendigkeit. Es erwirbt eine körperliche Natur, wenn es von Gott ver-
lassen ist; und diese seine Wahl geschieht in Übereinstimmung mit der Vor-
sehung dieses Kosmos. 6 Alles Vernunftlose bewegt sich auf irgendeine Art
Vernunft zu. 7 Vernunft entspricht der Vorsehung; das Unvernünftige ist der
Notwendigkeit unterworfen; was dem Körper widerfährt, unterliegt dem
Schicksal. Und dies ist die Logik dessen, was der Vorsehung entspricht, der
Notwendigkeit unterworfen ist und dem Schicksal unterliegt.«
120

IX
(Rede) des He~es aus den (Reden) an Tat

1 »Die Materie ist geworden, mein Kind, und war da: Denn die Materie ist
das Gefäß des Werdens, das Werden aber ist die Wirkungsweise des ungezeug-
ten und präexistenten Gottes. Sie entstand, als sie den Samen des Werdens
empfing, 2 wurde veränderlich und hatte (verschiedenerlei) Gestalten, weil sie
als Form geschaffen wurde. Als sie sich veränderte, stand bei ihr (jenes Wer-
den), das kunstvoll die Gestalten der Veränderung erschafft. Die Zeugungslo-
sigkeit war und ist die Formlosigkeit der Materie, das Werden aber das Be-
wirkt-Werden.«
121

X
(Rede) des Herines aus den (Reden) an Tat

1 »So soll man über die drei Zeiten befinden: Weder existieren sie einzeln
noch sind sie vereinigt; wiederum sind sie vereinigt und existieren doch ein-
zeln. 2 Wenn du beispielsweise annimmst, dass Gegenwart ohne Vergangenheit
ist, dann kann unmöglich Gegenwart sein, wenn sie nicht immer wieder Ver-
gangenheit wird. Aus dem Vergangeneo wird die Gegenwart und aus der Ge-
genwart kommt die Zukunft. 3 Wenn man es aber noch genauer untersuchen
muss, wollen wir so denken: Die vergangene Zeit muss vergehen, damit sie
nicht mehr diese Zeit ist, und die zukünftige Zeit muss darin bestehen, dass sie
Gegenwart wird, und die gegenwärtige Zeit darf nicht darin bestehen, dass sie
bleibt. Wie kann man denn das Gegenwart nennen, was nicht einmal gegen-
wärtig sein kann, weil doch die Zeit nicht einen Augenblick lang steht, nicht
einen Zeitstrich lang (auf der Sonnenuhr) verweilt? 4 Und wiederum berührt
doch die Vergangenheit die Gegenwart und die Gegenwart wird eins mit der
Zukunft, denn in Charakter, Einheit und Zusammenhang gibt es die eine nicht
ohne die anderen. S So ist sie zusammenhängend und doch getrennt, ist eine
und immer dieselbe - die Zeit.«
122

XI
1 »Und jetzt, mein Kind, will ich das Seiende in (seinen) Hauptpunkten ver-
handeln. Du wirst das Gesagte erkennen, wenn du dich an das erinnerst, was du
gehört hast.
2 I. Alles Seiende bewegt sich;
nur das Nicht-Seiende ist unbeweglich.
2. Jeder Körper ist wandelbar;
nicht jeder Körper ist auflösbar,
einige Körper sind auflösbar.
3. Nicht jedes Lebewesen ist sterblich;
nicht jedes Lebewesen ist unsterblich.
4. Das Auflösbare ist vergänglich;
das Bleibende ist unwandelbar ewig.
5. Was immer wird, vergeht auch immer wieder;
was einmal wird, vergeht nie wieder, wird auch nichts anderes.
6. Das Erste ist Gott;
das Zweite ist der Kosmos;
das Dritte ist der Mensch.
7. Der Kosmos ist um des Menschen willen;
der Mensch ist um Gottes willen.
8. Der sichtbare (Teil) der Seele ist sterblich;
der denkende (Teil der Seele) ist unsterblich.
9. Alles Sein ist unsterblich;
alles Sein ist wandelbar.
10. Alles Seiende ist doppelt;
nichts Seiendes hat Bestand.
11. Nicht alles wird von der Seele bewegt;
die Seele aber bewegt alles Seiende.
12. Alles Leidende ist wahrnehmbar;
alles Wahrnehmbare leidet.
13. Jedes betrübte sterbliche Lebewesen freut sich auch wieder;
kein ewiges Lebewesen, in Freude lebend,
betrübt sich jemals wieder.
14. Nicht jeder Körper ist krank;
jeder kranke Körper ist auflösbar.
15. Der Urgedanke ruht in Gott;
das Nachdenken ist beim Menschen.
Das Nachdenken entspringt im Urgedanken;
Stobaeus-Fragment XI 123

der Urgedank:e ist ohne Leiden.


16. Nichts im Körper ist wahr;
alles im Körperlosen ist unverfälscht.
17. Alles Gewordene ist wandelbar;
nicht alles Gewordene ist vergänglich.
18. Nichts Gutes ist auf der Erde;
nichts Schlechtes ist im Himmel.
19. Allein Gott ist gut;
der Mensch ist schlecht.
20. Das Gute ist freier Wille;
das Schlechte ist unfreier Wille.
21. Die Götter wählen das Gute als Gutes.
22. Die gute Ordnung des Großen ist eine gute Ordnung;
die gute Ordnung ist das Gesetz.
23. Göttlich ist die Zeit;
das Gesetz ist menschlich.
24. Die Schlechtigkeit des Kosmos ist Schwelgerei; 1
die Zeit des Menschen ist Vergänglichkeit.
25. Alles im Himmel ist unverrückbar;
alles auf Erden ist verrückbar.
26. Nichts im Himmel ist geknechtet;
nichts auf Erden ist frei.
27. Nichts ist unerkennbar im Himmel;
nichts ist erkennbar auf Erden.
28. Was auf Erden ist, hat keine Gemeinschaft mit dem, was im Himmel ist.
29. Alles, was im Himmel ist, ist ohne Tadel;
alles, was auf Erden ist, ist tadelnswert.
30. Das Unsterbliche ist nicht sterblich;
das Sterbliche ist nicht unsterblich.
31. Das Gesäte ist nicht unbedingt geworden;
das Gewordene ist aber unbedingt auch gesät.
32. Zuin auflösbaren Körper gehören zwei Zeiten:
die von der Saat bis zum Werden,
die vom Werden bis zum Tod.
Zum ewigen Körper gehört die Zeit allein vom Werden an.
33. Die auflösbaren Körper wachsen auf und nehmen wieder ab.
34. Die auflösbare Materie verwandelt sich (jeweils) in ihr Gegenteil:

1 Tryphi, ein nunmehr in den Nag-Hammadi-Texten reichlich (auf griechisch) belegtes


Wort für die von den Gnostikern abgelehnte Lebensart.
124 Stobaeus-Fragment XI

in Vergehen oder in Werden;


die ewige (Materie verwandelt sich) entweder in sich selbst
oder in etwas Ähnliches.
35. Das Werden des Menschen ist (der Anfang) des Sterbens;
das Sterben des Menschen ist der Anfang des Werdens;
36. Was vergeht, das vergeht.
37. Die Seienden sind entweder in Körpern, in Ideen oder in Kräften;
ein Körper ist in Ideen (enthalten),
eine Idee aber ist auch eine Wirkung im Körper.
38. Das Unsterbliche hat keinen Anteil am Sterblichen;
das Sterbliche aber hat Anteil am Unsterblichen.
39. Sterbliches kommt nicht zu einem unsterblichen Körper;
Unsterbliches aber tritt zu einem Sterblichen hinzu.
40. Die Kräfte wirken nicht nach oben;
aber (die Kräfte) wirken nach unten.
41. Was auf Erden ist, nützt nichts dem im Himmel;
was im Himmel ist, nützt sehr dem auf Erden.
42. Der Himmel nimmt ewige Körper auf;
die Erde nimmt vergängliche Körper auf.
43. Die Erde ist ohne Logos; _
der Himmel ist voll Logos.
44. Was im Himmel ist, liegt unter dem Himmel;
was auf Erden ist, liegt auf der Erde.
45. Der Himmel ist das erste Element;
die Erde ist das letzte Element.
46. Vorsehung ist göttliche Ordnung;
Notwendigkeit ist der Vorsehung Dienerin.
47. Glück ist Erfolg ohne Regel:
Schattenbild der Kraft, trügerischer Ruhm.
48. Was ist Gott? Unwandelbar Gutes!
Was ist der Mensch? Wandelbar Schlechtes!
3 Wenn du diese Hauptpunkte und das, was ich dir mit vielen Worten dargelegt
habe, im Gedächtnis hast, kannst du sie dir leicht wieder in Erinnerung bringen;
denn diese (Hauptpunkte) sind der Inbegriff jener (Lehren). 4 Halte dich vom
Umgang mit der Menge fern! Ich möchte nämlich nicht, dass du dir die Menge
zum Feinde machst, umso mehr, weil du ihr sonst als ein Belächelnswerter
erscheinen wirst. Zum Ähnlichen wird nur Ähnliches hinzugenommen, denn
das Unähnliche ist dem Unähnlichen niemals ein Freund.
Stobaeus-Fragment XI 125

Diese Worte finden überhaupt nur wenige Hörer, außerdem werden sie auch
die wenigen Hörer nicht schnell finden. 5 Sie haben aber auch etwas Eigenes in
sich. Sie reizen die Schlechten noch mehr zur Schlechtigkeit. Deshalb muss die
Menge beaufsichtigt werden, weil sie den Wert des Gesagten nicht bedenkt.«
»Wie meinst du das, mein Vater?«
»Folgendermaßen, mein Kind: Jedes Tier ist zur Schlechtigkeit geneigter als
die Menschen und ist mit ihr vertraut; darum freut es sich auch an ihr. Wenn
nun dieses Tier etwa lernen sollte, dass der Kosmos ein gewordener ist und
alles nach Vorhersehung und Notwendigkeit geschieht, weil das· Schicksal alles
beherrscht- wird es dann nicht in vielem noch schlechter, als es selbst schon
ist? Denn dann verachtete es ja das All als Geschaffenes, legte die Ursachen
des Schlechten dem Schicksal bei und hielte sich von keinem schlechten Werk
mehr fern. Daher muss man sie bewachen, damit sie in ihrer Unkenntnis we-
niger schlecht sind aus Furcht vor dem Unbekannten.«

XII
(Rede) desHermesaus den (Reden) an Ammon

1 »Alles geschieht durch Natur und Schicksal, und es gibt keinen von Vor-
sehung entleerten Ort. Die Vorsehung ist das selbstvollkommene Wort des
überhimmlischen Gottes.
Es gibt zwei Mächte, die von selbst aus diesem (Gott) herausgewachsen
sind: Notwendigkeit und Schicksal. Das Schicksal dient der Vorsehung und der
Notwendigkeit. 2 Dein Schicksal wiederum di~nen die Sterne. Weder kann
einer dem Schicksal entkommen noch sich bergen vor den Schrecknissen dieser
(Sterne). Denn die Sterne sind die Waffen des Schicksals, auf dessen Weisung
sie alles in der Natur und bei den Menschen vollbringen.«
126

XIII
(Rede) desHermesaus den (Reden) an Ammon.

»Notwendigkeit ist ein starkes Gericht und eine unwandelbare Kraft" der
Vorsehung.«

XIV

Von der gesamten Ordnung: (Rede) desHermesaus den (Reden) an


Ammon

1 »Die den ganzen Kosmos durchwaltet, ist die Vorsehung; die zusammenhält
und umfasst, ist die Notwendigkeit. Das Schicksal führt und leitet alles mit
Zwang, denn seine Natur ist das Zwingen; es ist die Ursache beim Werden und
Vergehen des Lebens. 2 Der Kosmos hat als Erster die Vorsehung, denn früher
als sie war er entstanden, Die Vorsehung aber entfaltet sich im Hilhmel, weil
auch die Götter in Bewegung sind, sich unermüdlich und unaufhörlich um ihn
drehen und bewegen, desgleichen das Schicksal, weil es ja mit Zwang (ver-
bunden) ist. Die Vorsehung sieht vor, aber das Schicksal ist die Ursache für die
Anordnung der Gestirne. Dieses Gesetz ist unausweichlich, durch dieses ist
alles festgelegt.«
127

XV

(Rede) desHermesaus den (Reden) an Ammon.

1 »Das Bewegte bewegt sich in der Kraft der Bewegung, die das All bewegt.
Die Natur des Alls nämlich gestattet dem All Bewegungen, die eine nach ihrem
eigenen Vermögen, die andere nach der (Bewegungs-)Kraft. Die eine durch-
dringt den ganzen Kosmos und hält ihn innen zusammen, die andere tritt hinzu
und hält (ihn) außen zusammen. Und allezeit gehen sie gemeinsam. 2 Die Natur
aller Dinge, die das Gewordene hervorbringt, gibt dem Wachsenden Gestalt -
sie, die ihren eigenen Samen, das Werden, aussät; sie, die bewegliche Materie
hat. Bewegt erwärmt sie sich, und die Materie wird Feuer und Wasser, das eine
kräftig und stark, das andere ertragend. Das Feuer als Gegensatz zum Wasser
trocknete einen Teil des Wassers, und es entstand eine über dem Wasser schwe-
bende (Materie). Wenn das Wasser aufgetrocknet ist, entsteht Dunst aus den
dreien, aus dem Wasser, der Erde und dem Feuer -und die Luft ist da. 3 Dieses
geschah nach der Logik der Verbindung: Warmes mit Kaltem, Trockenes mit
Nassem, und aus deren Zusammentreffen entstehen Lebenshauch und Same
entsprechend dem umfassenden Lebenshauch.
4 Wenn dieser in den Mutterleib eingeht, verhält er sich im Samen nicht
ruhig. Weil er sich nicht ruhig verhält, verändert er den Samen, der, verändert,
Wachsen und Größe haben wird. Zur Größe wird das Abbild einer Gestalt
hinzugezogen und es gewinnt Gestalt. Aber über der Gestalt schwebt das Bild,
wodurch das Dargestellte dargestellt wird. S Weil aber der Lebenshauch im
Mutterleibe nicht die nur lebenswichtige Bewegung hat, sondern auch die
wachstumsfördemde, fügt er diese der Verbindung bei, denn sie ist Vorausset-
zung für ein vernünftiges Lebewesen. Diese (Verbindung) ist unteilbar und
unwandelbar, niemals tritt sie aus der Unwandelbarkeit heraus. Der (Lebens-
ha\lch) im Mutterleibe gebiert und entbindet durch Zusammenfügungen und
führt an die Luft außerhalb (des Mutterleibes). 6 Und nun wird die Seele, die
(schon) ganz in der Nähe ist, zum Gefahrten, aber nicht aufgrund von Ver-
wandtschaftszugehörigkeit, sondern aufgrund von Schicksalsbestimmung.
Denn in ihr ist keine Liebe, mit dem Körper (verbunden) zu sein. 7 Deswegen
gewährt sie dem Werdenden auch (nur) nach der Bestimmung des Schicksals
erkenntnisträchtige Bewegung und denkendes Sein ihres (eigenen) Lebens. Sie
kriecht zum Lebenshauch hinein und bewegt (das Werdende) zum Leben.«
128

XVI
(Rede) desHermesaus den (Reden) an Ammon

1 »Die Seele ist ein körperloses Wesen. Selbst wenn sie im Körper ist, tritt
sie nicht aus ihrer Wesenhaftigkeit heraus. Sie ist dem Wesen nach ständig
bewegt, dem Denken nach selbstbewegt, nicht in etwas bewegt, nicht auf etwas
hin, nicht wegen etwas. Sie ist früher da durch die Kraft; aber das Frühere
bedarf der Späteren nicht. 2 Das 'ln-Etwas' ist Ort, Zeit und Natur; das'Auf-
Etwas-hin' ist Übereinstimmung, Bild und Gestalt; das 'Weswegen' ist der
Körper. 3 Des Körpers wegen sind Zeit, Ort und Natur. Diese (Drei) sind
miteinander aufgrund verwandtschaftlicher Vertrautheit verbunden, weil doch
der Körper immer eines Ortes bedarf; denn es ist völlig unmöglich, dass ein
Körper ohne Ort andauert, er verändert sich naturgemäß. Unmöglich aber gibt
es Veränderung ohne Zeit und ohne naturgemäße Bewegung, noch gibt es
Dauer des Körpers ohne Übereinstimmung.
4 Des Körpers wegen also gibt ·es den Ort. Denn er übernimmt die Verän-
derungen des Körpers und lässt nicht zu, dass der veränderte (Körper) unter:.
gehe. Der Veränderte wandelt sich von einer (Gestalt) in eine andere, verliert
zwar seine (äußere) Beschaffenheit, nicht aber den Charakter als bleibender
Körper. Verändert aber in eine andere (Gestalt), hat er die Beschaffenheit der
anderen (Gestalt) inne. Der Körper aber in der Weise, wie er ein Körper ist,
bleibt auch ein Körper. Die äußere Beschaffenheit aber bleibt nicht. Der Körper
also verändert sich hinsichtlich der (äußeren) Beschaffenheit. S Körperlos frei-
lich sind der Ort, die Zeit und die natürliche Bewegung. 6 Jeder von ihnen hat
seinen eigenen Charakter: Der Charakter des Ortes ist Annahme; (der Charak-
ter) der Zeit ist Abstand und Zahl; (der Charakter) der Natur ist Bewegung; (der
Charakter) der Übereinstimmung ist Liebe; (der Charakter) des Körpers ist
Veränderung; der Charakter der Seele ist das wahrhaftige Denken.«
XVII
Vom selben 1

1 »Die Seele freilich, mein Ammon, ist ein selbständiges Sein. Schon im
Anfang wählte sie ein vom Schicksal abhängiges Leben und zog eine Seins-
weise an sich, der Materie ähnlich; die hatte Gefühl und Begehren. 2 Und das
Gefühl ist ja auch Materie. Wenn dieses Erfahrungen mit dem Plan der Seele
macht, wird es zum Mut und von Feigheit nicht abgelenkt. Das Begehren
beweist: Wenn es sich ErfahrUngen mit dem Denken der Seele verschafft, wird
es zur Besonnenheit und wird nicht von der Lust bewegt. 3 Das Denken füllt
den Mangel des Begehrens auf. Sooft beide übereinstimmen, gleiche Erfahrun-
gen machen und beide vom Denken der Seele gehalten werden, entsteht Ge-
rechtigkeit. Denn ihre gleichen Erfahrungen entfernen das Übermaß des Ge-
fühls und gleichen den Mangee des Begehrens aus. 4 Deren Anfang ist das
denkende Sein, das ganz für sich allein in seinem eigenen, alles bedenkenden
Verstand ist und Macht über seinen eigenen Verstand hat.
S Das Sein herrscht und gebietet wie ein Herrscher, sein Verstand aber wie
ein Ratgeber. 6 Der alles bedenkende Verstand freilich ist die Erkenntnis der
Gedanken des Seins, die den Vergleich zwischen Denken und Nicht-denken
ermöglichen - wie (sich) das Dunkle zum Denken, das Denken zum Nichtden-
ken, wie (sich) das Echo zur Stimme, das Licht des Mondes zur Sonne (ver-
hält). 7 Das Gefühl ist dem Begehren zu einem Denken vermählt; sie ziehen
sich gegenseitig und veranlassen untereinander das wechselseitige Denken.«

1 Der Adressat Ammon ist im Text genannt. Wieweit er auch bei den folgenden Frag-
menten im Blick ist, bleibt offen.
2 Gnostischer Terminus (kopt. sta, griech. hystereTtUJ, hier to endeon) für die Unvoll-

kommenheit der Schöpfung.


130

XVIII
(Rede) des Hermes

1 »Es gibt ja nun Sein, Vernunft (Logos), Denken und Denkvermögen, aber
nur zum Denkvermögen gehören Meinung und Wahrnehmung. Die Vernunft
strebt nach dem Sein, das Denken seinerseits strebt durch sie, ist aber mit dem
Denkvermögen verflochten. Wenn sie, einer durch den anderen, zusammenge-
troffen sind, ist eine Idee entstanden, das ist (die Idee) der Seele. Auch zu
ihrem Denkvermögen gehören Meinung und Wahrnehmung. Dieses bleibt aber
nicht auf der Stelle stehen: 2 Es wird groß und auch wieder klein und ist in sich
verschieden. Schlechter wird es nur, wenn beide sich vom Denkvermögen los-
reißen; wenn sie aber folgsam sind und vertrauen, haben sie durch die Lehren
Gemeinschaft mit der denkbegabten Vernunft. 3 Wir können wählen. Es liegt
bei uns, das Bessere zu wählen, ebenso auch das Schlechtere, leider! Die Mög-
lichkeit zur Wahl des Bösen liegt der körperlichen Natur nahe. Deshalb be-
herrscht das Schicksal den Wähler. 4 Weil nun das denkbegabte Sein in uns, die
allumfassende Vernunft, unabhängig, also immer gleichbleibend und unverän-
dert ist, berührt das Schicksal dieses (Sein) nicht. S Weil (das Sein) die erste
denkbegabte Vernunft, die vom ersten Gott stammt, gewährt, entsendet es auch
die ganze Vernunft, die die Natur den Werdenden zuordnet. Wenn die Seele nun
mit diesen (Werdenden) Gemeinschaft hat, dann hat sie auch Gemeinschaft mit
deren Schicksalen, obwohl sie mit der Natur der Werdenden nichts zu schaffen
hat.«
131

XIX

Vom selben

1 »Die Seele ist nun ein ewiges, vernunftbegabtes Sein. Sie hat als Denken
ihre eigene Vernunft (Logos). In diesem Zustand verschafft sie sich das Denk-
vermögen aus der Übereinstimmung. Wenn sie sich vom natürlichen Körper
befreit, bleibt sie für sich allein, weil sie in dem gedachten Kosmos nur sich
selbst gehört. Sie herrscht über ihre eigene Vernunft, denn sie hat eine Bewe-
gung namens Leben, dem eigenen Denken, das ins Leben kommt, ähnlich. 2
Dieses ist nämlich das Eigene der Seele, anderen etwas ihrer Eigenheit Ähn-
liches zu schenken.
3 Es sind zwei (Arten) des Lebens und der Bewegung: Die eine folgt dem
Sein, die andere folgt der Natur des Körpers. Die eine ist die allgemeinere
(Art). Die dem Sein folgt, ist unabhängig, die andere abhängig. Alles Bewegte
ist dem Zwang des Bewegers untergeordnet, 4 aber die bewegende Bewegung
macht sich die Liebe zum denkenden Sein zum Freunde. Weil doch die Seele
körperlos ist, ist sie unabhängig vom natürlichen Körper. Wenn sie einen Kör-
per hätte, hätte sie weder Vernunft noch Denken. Denn jeder Körper, obwohl er
nicht denkt, aber doch teil hat am Sein, sodass er ein Lebewesen ist, lebt
atmend. S Denn der Atem stammt aus dem Körper, aber die Vernunft stammt
aus dem Sein. (Letztere) beschaut das Schöne; die Wahrnehmungsfähigkeit
dagegen beurteilt die Erscheinungen. Die (Wahrnehmungsfähigkeit) ist aufge-
teilt in die organisch bedingten Wahrnehmungen. So ist ein Teil davon das
Sehen, ein (Teil) das Hören, dann das Riechen, das Schmecken und das Fühlen.
Wenn diese Fähigkeit dem Denkvermögen ähnlich geworden ist, urteilt sie. Die
bloße Wahrnehmung hingegen, wenn überhaupt, macht sich nur ein Bild. 6 Die
(organische Wahrnehmung) stammt aus dem Körper und nimmt alles auf; die
Vernunft aber stammt aus dem Sein, sie ist Erkennen. Zur Vernunft gehört die
Erkenntnis der Werte, zur Wahrnehmungsfähigkeit gehört die Meinung. 7 Letz-
tere erhält ihre Kraft aus dem umgebenden Kosmos, die (Erkenntnis) dagegen
aus sich selbst.«
132

XX
(Rede) des Hermes

1 »Also ist die Seele ein körperloses Sein. Wenn sie einen Körper hätte,
würde sie sich selbst nicht mehr erhalten. Jeder Körper verlangt danach zu sein;
er verlangt auch nach Leben, das in einer Ordnung festgelegt ist. 2 Bei allem,
das ein Werden hat, folgt notwendigerweise die Veränderung. Das Gewordene
wird zu einer Größe, das Gewordene hat Wachstum. Allem Gewachsenen folgt
Verkleinern, dem Verkleinem Vergehen. 3 Weil (das Gewordene) an der Gestalt
des Lebens teilhat, lebt es, und zwar in Gemeinschaft mit dem Sein der Seele.
Sie, die Ursache für das andere (Gewordene), ist früher als das Sein.
Nun sage ich, dass das vernunftbegabte Sein wird und am erkenntnisträch-
tigen Leben teilhat. Denn die Seele bringt das erkenntnisträchtige Leben. 4 Es
wird aber ein Lebewesen wegen des Lebens genannt, ein vernunftbegabtes
wegen der Erkenntnis, ein sterbliches wegen des Körpers. Selbstverständlich
bleibt die Seele mit unwandelbarer Kraft körperlos. Wie ist es denn nun mög-
lich zu sagen, dass das (Sein) ein erkennendes Lebewesen ist, wenn es nicht ein
Wesen gibt, das auch das Leben bringt? Ja, es ist noch nicht einmal möglich zu
sagen, dass es ein vernunftbegabtes gibt, wenn es nicht auch ein erkennendes
Wesen gibt, das das erkenntnisträchtige Leben bringt.
S Nicht zu allen aber kommt das Erkennen wegen der Zusammen,setzung des
Körpers hinsichtlich der Verbindung. Wenn in der Zusammensetzung das War-
me überwiegt, wird der (Körper) leicht und beweglich, wenn dagegen das Kalte
(überwiegt), wird er schwer und träge. Die Natur ordnet die Zusammensetzung
des Körpers hinsichtlich der Verbindung. 6 Drei Arten der Verbindung gibt es:
Die, in der das Warme (überwiegt), die, in der Kaltes (überwiegt) und die
ausgeglichene. Die (Natur) ordnet die (Zusammensetzung), beeinflusst durch
den Hauptstern des Sternbildes. Die Seele übernimmt die (Zusammense~zung)
wie vorherbestimmt Durch dieses Werk der Natur bringt sie Leben. 7 Die
Natur freilich vergleicht die Verbindung des Körpers mit dem Sternbild und
vereinigt das Vielgemischte mit den Verbindungen im Sternbild, sodass sie
untereinander eine innere Beziehung eingehen. Es ist nämlich das Ziel der
Verbindung im Sternbild, solche innere Beziehung herzustellen, wie ihnen das
Schicksal bestimmt.«
133

XXI
(Rede) des Hermes.

1 »Es gibt ein Ursein, allem Seienden, ja allem wahrhaft Seienden über-
geordnet. Ursein ist nämlich ein Sein, durch welches. die Wesenheit, die all-
gemeingültig heißt, allgemein erkannt wird, und zwar von den wahrhaft Seien-
den und von den Seienden, die je einzeln erkannt werden. Das diesen (Seien-
den) Entgegengesetzte, wiederum selbst entsprechend dem anderen für sich
allein, ist die Natur, ein wahrnehmbares Wesen, die in sich selbst alles Wahr-
nehmbare trägt. Zwischen diesen befinden sich denkbare und wahrnehmbare
Götter. t Die einen haben Anteil an den (nur) denkbaren, die anderen sind
vorstellbar, wieder andere halten Gemeinschaft mit den (nur) denkbaren Göt-
tern t. 2 Dieses sind Abbilder der Gedanken, wie auch die Sonne ein Abbild
des himmlischen Schöpfergottes ist. So wie jener das All geschaffen hat, so
schafft auch die Sonne die Lebewesen, lässt Pflanzen wachsen und lenkt die
Winde.«
134

XXII
(Rede) des Hermes aus der (Rede) der Aphrodite.

»Warum Kinder den Eltern oder Verwandten ähnlich werden, will ich erör-
tern. Wenn bei schäumendem Blut das Geschlecht die Nachkommenschaft sam-
melt, dann geschieht das so, als bliese aus dem ganzen Leibe das Sein der
Glieder mit göttlicher Kraft, sodass derselbe Mensch entsteht. Dasselbe ge-
schieht natürlich auch bei der Frau. Wenn nun das vom Mann Ausfließende
überwiegt und unverändert bleibt, wird das Kind dem Vater ähnlich erscheinen
und umgekehrt auf die gleiche Weise der Mutter. Wenn also bei einem Teil eine
Überlegenheit entsteht, wird (das Kind) jenem Teil auch ähnlich werden. Es
kann auch sein, dass das Kind über eine ganze Generationenkette hinweg der
Gestalt des Vaters ähnlich wird. Dabei trägt jener Dekan 1, der für die Stunde, in
der die Frau empfing, zuständig ist, die Verantwortung.«

1 Vgl. Stob. VI lff. und Einleitung, S. 26.


135

XXIII

(Rede) des Hermes Trismegistos aus dem heiligen Buch,


das den Titel trägt: Kore Kosmou 1

1 Bei diesen Worten schenkt Isis Horus zuerst süßen Ambrosiatrank ein, den
die Seelen der Götter gewöhnlich trinken. Und so beginnt lsis mit der hoch-
heiligen Rede:
2 »Horus, mein Kind, weil der vielbekränzte Himmel über aller Natur der
unten liegenden Dinge liegt und an keinem Ort etwas von den Dingen entbehrt,
die jetzt der ganze Kosmos hat, ist es unabdingbar, dass die ganze unten lie-
gende Natur von den oben Liegenden geordnet und angefüllt wird. Es ist ganz
unmöglich, dass das unten Liegende in der Lage ist, die obere Welt zu ordnen.
Notwendigerweise weichen. die Geringeren den größeren Geheimnissen. Die
Anordnung der Dinge in der Höhe ist besser als die der unten Liegenden, weil
sie insgesamt sicher ist und keinem Gedanken der Sterblichen unterliegt.
3 Daher seufzt das Untere ängstlich über die unermeßliche Schönheit und
ewige Dauer des oben Liegenden. Denn es ist der Wissenschaft und Mühe wert,
die Schönheit des Himmels zu betrachten, weil sie sich im noch unbekannten
Gott, der freilich geringer ist als die Sonne, als Reichtum und Würde der Nacht
zeigt. Sie kommt dennoch dem hellen Licht nahe, weil ja die anderen Geheim-
nisse, die teils im Himmel in Bewegungen, durch Zeiten geordnet und in Um-
laufbahnen kreisen, durch manche geheimen Stürme das Untere ordnen und
mehren.
Und so entsteht große Angst und unsägliches Suchen. 4 Solange der Schöp-
fer aller Dinge nicht wollte, hielt die Unkenntnis alle Dinge nieder. Als er dann
aber entschied, sich zu offenbaren, wer er sei, da begeisterte er die Götter m~t
Verlangen. Er schenkte ihren Gedanken vermehrt den Glanz, den er in der
Brust hatte, damit sie zunächst suchen wollten, danach zu finden begehrten,
schließlich auch glücklich vollenden könnten.
5 Dieses aber, mein wunderbarer Sohn, Horus, ist ja nicht aus sterblichem
Samen geschehen. Der war ja noch nicht da, weil die Seele noch mit den
Geheimnissen des Himmels verbunden war. Nein, dieses war der allwissende
Hermes!
Der auch alles sah,
Als er sah, begriff,

1 'Pupille (oder: Mädchen) der Welt'. Vgl. Abschnitt 36.


136 Stobaeus-Fragment XXIII

Als er begriff, offenbaren und lehren konnte.


Was er wusste, zeichnete er auf,
Was er aufgezeichnet hatte, verbarg er,
Verschwieg das. meiste beharrlich,
Oder sagte es (nur),
Damit jeder Aeon, der jünger ist als die Welt, danach suche.
6 Und so führte er die verwandten Götter als Begleiter zu den Gestirnen. Thm
folgte Tat, Sohn und zugleich Empfänger dieser Lehren. Nicht weit danach
folgte Asklepios-Imuthes auf die Ratschläge des Ptah und des Hephaistos hin.
Und dann auch alle, die sich um die treue Wahrheit des himmlischen Schau-
spiels bemühten, als die Königin aller Dinge nach der Vorsehung forschte. 7
Hermes rechtfertigte sich zwar vor dem Allumfassenden, er habe dem Sohn
noch nicht die vollständige Lehre übergeben, weil er noch nicht alt genug sei.
Aber beim (ersten) Sonnenaufgang, als er mit den Augen, die alles sehen, am
Sonnenaufgang etwas Gestaltloses wahrnahm und ihm dann, als er genauer
hinsah, langsam der klare Gedanke kam, die heiligen Zeichen der kosmischen
Elemente nahe bei den Geheimnissen des Osiris festzulegen, da erkannte er,
dass einer, der betet und diese Worte spricht, in den Himmel aufsteigt.
8 Aber es schickt sich nicht, mein Kind, dass ich diese Rede unvollständig.
lasse; vielmehr muss ich berichten, was alles Hermes sagte, als er die Bücher
versteckte. So sprach er: 'Ihr heiligen Bücher, die ihr aus meinen unvergäng-
lichen Händen stammt, ich habe euch mit Unvergänglichkeitssalbe gesalbt und
halte euch fest. Für immer unverrottbar und unvergänglich überdauert ihr die
Zeiten; unsichtbar und unauffindbar seid ihr jedem, der die Niederung dieser
Erde durchwandern wird, solange bis der alte Himmel Wesen, euer würdig,
hervorbringen wird, die der Schöpfer Seelen nennt.' Mit allen diesen Worten an
seine Bücher und Wünschen für seine eigenen Werke weihte er einen Ort in
besonderen Gebieten.
9 Die Mitte war lange Zeit hindurch untätig und verborgen. Die Natur, mein
Kind, war unfruchtbar, bis die, die Befehl hatten, den Himmel zu umwandern,
zum König aller Dinge, zu Gott, gingen. Sie zeigten die Untätigkeit der Seien-
den an und, dass es nötig sei, dass alles gründlich geordnet würde und dass das
nicht Aufgabe für irgendeinen anderen sei, sondern für ihn. Und sie sagten:
'Wir bitten dich für die Gegenwart, bedenke aber auch, was sie später nötig
hat.'
10 Als sie dieses gesagt hatten, lächelte der Gott und sprach, es solle 'Natur'
sein. Und aus seinem Wort ging ein wunderschönes Weibliches hervor. Als die
Götter sie sahen, wunderten sie sich sehr. Gott, der Vorvater, ehrte sie mit dem
Namen 'Natur' und befahl ihr, fruchtbar zu sein. 2 11 Und noch in die Runde
2 Vgl. Gen 1,22.
Stobaeus-Fragment XXIII 137

sehend, rief er dieses aus: 'Für alle sei der Himmel mit Luft und Aether ge-
füllt!' Gott sprach und es war so. 3
12 Als aber die 'Natur' mit sich zu Rate ging, erkannte sie, dass sie dem
Gebot des Vaters nicht ungehorsam sein dürfe und 13 brachte, nachdem sie mit
dem 'Kummer' zusammengekommen war, eine schöne Tochter zur Welt, die
sie 'Entdeckung' nannte. Dieser schenkte Gott das Sein und erwählte, als er es
ihr geschenkt hatte, das schon Gewordene, erfüllte es mit Geheimnissen und
schenkte der 'Entdeckung' die Macht darüber.
14 Weil er nicht wollte, dass der obere Kosmos untätig sei, sondern weil er
beschlossen hatte, diesen mit Winden zu füllen, damit die Dinge im Einzelnen
nicht unbewegt und untätig blieben, begann er mit ihnen die Arbeit und be-
nutzte für das Werden seines eigenen Werkes heilige Wesenheiten: Er nahm von
seinem eigenen Hauch4 soviel wie nötig und vermengte diesen im richtigen
Verhältnis mit Feuer und mischte es mit einigen anderen unbekannten Elemen-
ten. Nachdem er dann das eine mit dem anderen unter einigen geheimen Sprü-
chen vereint hatte, rührte er so die ganze Mischung gut durch, bis auf der
Mischung ein Element aufglänzte, viel feiner und reilier und durchsichtiger als
die, aus denen es entstanden war. So durchsichtig war dieses, dass nur der
Schöpfer es sehen konnte. 15 Dieses (Element) nun, obwohl vom Feuer ge-
brannt, schmolz nicht, noch, obwohl aus dem Hauch vollbracht, kühlte es ab,
sondern behielt die irgendwie selbstentstandene und eigene Zusammensetzung
der Mischung als Eigenart und Besonderheit bei. Gott nannte diese Zusam-
mensetzung von dem sehr wohlklingenden Namen und der ebenbildliehen Wir-
kung her 'Beseelung'.
Aus dieser Haut5 schuf er einige Myriaden Seelen und formte das Aufblühen
von der Mischung selbst zu dem, was er wollte, wohlgeordnet und gemessen,
mit gebührender Erfahrung und Einsicht. So war es nicht nötig, 16 dass sie sich
voneinander unterschieden, weil ja die aus dem Durchrühren Gottes aufdamp-
fende Blume sich selbst nicht ähnlich war: Sondern das Erste war größer und
voller als das Zweite und im ganzen reiner, das Zweite war zwar trefflich, aber
Zweites gegenüber dem Ersten, jedoch größer als das Dritte. Und so war weiter
bis zu sechzig Rängen jede Zahl genau eingeordnet.
Darüber hinaus setzte er als Gesetzgeber fest, dass alle (Seelen) ewig sein
.sollten, weil sie aus einer Wesenheit stammten, die er allein zu vollenden
wusste. Er wies ihnen in der Höhe der oberen Natur, des Himmels, Räume und

3Vgl. Gen 1,6f. usw.


4Vgl. Gen 2,7.
'Vgl. Abschnitt 18.23. Sie entsteht wie eine Art Milchhaut aus der 'Abkühlung' (Ne-
benbedeutung des griech. psychösis 'Beseelung').
138 Stobaeus-Fragment XXIII

Kammern zu, damit sie die (Himmels-)Walze in bestimmter Ordnung und nach
gebührendem Plan drehen und den Vater erfreuen sollten. 17 Und so stand er an
der schönsten Stelle des Aethers und, nachdem er die schon seienden Naturen
zu sich beordert hatte, sprach er: 'Ob, ihr Seelen, die ihr aus meinem Hauch
und meiner Fürsorge stammt, ihr schönen Kinder, die ich schon mit meinen
eigenen Händen in meinem heiligsten Kosmos entbunden habe, hört meine
Worte als diese Gesetze und geht an keinen anderen Ort als den, der euch von
meiner Entscheidung zugewiesen worden ist. Wenn ihr aber treu dort bleibt,
bleibt euch andererseits der Himmel in gleicher Weise erhalten wie auch das
(euch) angewiesene Sternchen und die Throne, angefüllt mit Tugend. Wenn ihr
aber einen Aufruhr gegen meine Beschlüsse anzettelt, schwöre ich euch beim
heiligen Hauch und dieser Mischung, aus der ich euch mit diesen meinen
seelenschaffenden Händen erzeugt habe, dass ich euch in Kürze Fesseln und
Strafen einrichten werde.'
18 So sprach der Gott, der auch mein Herr ist. Dann mischte er die verwand-
ten Elemente Wasser und Erde dazu und sagte einige ebenso verborgene, zwar
wirksame, aber den ersten nicht ähnliche Worte darüber, rührte gut durch und
regte die Mischung an, Leben zu schaffen. Ebenso nahm er die oben schwim-
menden Haut, weil sie gut durchgefärbt und kräftig geworden war, und bildete
daraus die menschenförmigen Lebewesen.
19 Den Rückstand der Mischung gab er den hochrangigen Seelen, den See-
len, die in die Wohngegend der Götter, in die Orte nahe den Sternen und zu den
heiligen Dämonen berufen worden waren und sagte: 'Erschafft, ihr Kinder,
Geschöpfe meiner Natur! Nehmt, was noch übrig ist nach meiner Arbeit, und
eine jede erschaffe etwas der eigenen Natur Ähnliches! Und diese Beispiele
will ich euch noch dazugeben.' Damit nahm er wohlgebildet und schön 20 den
Tierkreis und ordnete den Kosmos im Einklang mit den Seelenbewegungen,
verfertigte über die menschenförmigen Lebewesen hinaus die nächsten in der
Reihe, etwa die Tiere, denen er listige Kräfte und den brauchbaren schöpferi-
schen Hauch aller derer schenkte, die zukünftig ewig und. überall sein würden.
21 Danach zog er sich mit dem Versprechen zurück, mit ihren sichtbaren
Werken den unsichtbaren Geist und mit jedem weiteren den Status der Fami-
lienzugehörigkeit zu verbinden, damit jedes für sich selbst wiederum andere
ähnliche (Werke) erzeuge, die (Seelen) aber nichts anderes tun müßten, als was
sie schon immer taten.«
22 »Was taten nun die Seelen, liebe Mutter?«
Und lsis antwortete: »Als sie die Mischung der Materie in Empfang nahmen,
mein Kind Horus, versuchten sie zunächst, sie zu durchschauen. Immer wieder
beteten sie die Mischung des Vaters an und versuchten doch zu erforschen,
woraus sie zusammengesetzt war. Aber es war nicht leicht für sie, dieses her-
Stobaeus-Fragrnent XXIII 139

auszufinden. Deshalb befürchteten sie, ob sie etwa unter den Zorn des Vaters
fielen, weil sie es versucht hatten, und wandten sich also dazu, das Befohlene
zu tun. 23 Deshalb gestalteten sie aus der oberen Materie, die eine sehr leichte
Haut hatte, das schöne Geschlecht der Vögel. Als inzwischen die Mischung
schon halb geronnen war und bereits eine feste Form angenommen hatte, form-
ten sie das Geschlecht der Vierbeiner. Was aber weniger leicht war und zum
Aufschwimmen weiterer Feuchtigkeit bedurfte, (wurde) das (Geschlecht) der
Fische. Als der Rest nun schon kalt und abgesunken war, erfanden die Seelen
die Natur der Reptilien. 24 Sie selbst aber, mein Kind, als hätten sie etwas
vollbracht und schon wieder neugierig, wappneten sich mit Keckheit und han-
delten gegen den Befehl, gingen aus ihren Räumen und Kammern hervor und
wollten nicht länger an einem Ort bleiben. Immerzu bewegten sie sich und
hielten es für den Tod, in einer Wohnung zu bleiben.
25 'Dieses aber nun, mein Kind', sagte Hermes, als spräche er an meiner
Stelle, 'blieb auch dem Herrn aller ~inge und Gott nicht verborgen, was sie
taten. Deshalb suchte er für sie Strafe und Fessel, die sie als Unglück aushalten
müßten. Es schien dem Fürsten6 und Herrscher über alles richtig, die Art der
Menschen zu erfinden, damit darin das Geschlecht der Seelen für allezeit be-
straft werde. 26 Dann ließ er mich rufen und sprach', sagte Hermes: 'Du Seele
meiner Seele, du heiliger Geist1 meines Geistes, 27 wie lange sieht man schon
die verdrießliche Natur der Dinge da unten? Wie lange bleibt das schon Ge-
wordene faul und ruhmlos? Aber jetzt führe alle Götter im Himmel zu mir!'
Der Gott sprach es, mein Kind, wie Hermes sagte, und auf Befehl kamen die
Götter. 'Seht hin', sagte er, 'auf die Erde und auf alles da unten!' Und augen-
blicklich sahen und verstanden sie, was der Herr wollte. Und während er über
die Entstehung der Menschen sprach, begriffen sie, 28 was denen, die da ent-
stehen sollten, von jedem Einzelnen zu geben möglich sei.
Helios sagte: 'Ich will um so mehr leuchten.'
Selene versprach, den Lauf nach der Sonne zu beleuchten. Sie sagte auch,
sie habe schon längst Furcht, Schweigen und Schlaf als ihre Kinder gezeugt
und vor allem das Erinnern, das ihnen noch sehr schädlich sein werde.
Schon gab Kronos bekannt, er sei der Vater von Recht und Notwendigkeit.
Zeus sagte: 'Ich habe., ihnen schon Glück, Hoffnung und Frieden gezeugt,
damit dieses entstehende Volk nicht dauernd Krieg führe.'
Ares sagte, er sei schon der Vater von Kampf, Zorn und Streit.

6 Vgl. C. H. XI 7; (Pseudo-)Platon, 6. Brief, 324 D; Philon, De Cherubim 83 usw.


7 Nous hieros, nicht der biblische Ausdruckpneuma hagion. Diesem näher ist Abschnitt
34.
140 Stobaeus-Fragment XXIII

Aphrodite wollte nicht zurückstehen, sondern sagte: 'Ich werde ihnen noch
Sehnen, Lust und Lachen dazugeben, o Herr, damit die verwandten Seelen, die
schon die schlimmste Strafe ertragen müssen, nicht über Gebühr bestraft wer-
den.'
Er freute sich sehr, mein Kind, weil Aphrodite dieses sagte.
29 Hermes sprach: 'Ich werde die menschliche Natur erschaffen, habe ich
gesagt, und ich werde ihnen Weisheit, Besonnenheit, Beredsamkeit und Wahr-
heit widmen. Ich werde nicht aufhören, bei der Erfindung behilflich zu sein,
und ich werde dann für immer dem Leben der sterblichen Menschen, die unter
meinen Tierkreiszeichen geboren sind, nützlich sein. Die Tierkreiszeichen hat
mir der Vater und Schöpfer als vernünftige und verstehbare (Zeichen) gewid-
met; und (das gilt) dann um so mehr, wenn bei ihnen die obere Bewegung der
Sterne mit der natürlichen Kraft jedes Einzelnen übereinstimmt.'
Gott, der Herrscher des Kosmos, freute sich, weil er dieses hörte· und befahl,
dass das Menschengeschlecht entstehe. 30 'Ich aber', sagte Hermes, 'suchte die
Materie, die man gebrauchen muss, und fragte den Alleinherrscher. Und der
befahl den Seelen, mir den Rest der Mischung zu geben. Als ich ihn aber
bekam, fand ich ihn völlig trocken. Deshalb nahm ich mehr Wasser, als für die
Mischung nötig war, um die Zusammensetzung des Materials zu erneuern,
damit das Gebilde für immer locker, schwach und kraftlos, und nicht über die
Vernunft hinaus auch noch voller Kraft sei. Ich erschuf es und es war schön,
und ich freute mich, als ich mein Werk sah, und von unten rief ich den Allein-
herrscher herbei, es anzusehen. Der sah es auch, freute sich und befah1, dass die
Seelen eingekörpert würden.'
31 Als diese einsehen mussten, dass sie wirklich verurteilt waren, wurden sie
zuerst traurig. 32 Ich staunte nun über die Worte der Seelen. Merk auf, Horns,
Kind, du hörst geheime Lehre, die der Vorvater Kamephis von Hermes, dem
Chronisten aller Werke, überliefert bekam! Von Kamephis aber, der früher
geboren ist als alle (bekam ich es überliefert), immer dann, wenn er mich mit
der vollkommenen Dunkelheit geehrt hat. Nun aber (bekommst) du selbst sie
von mir (überliefert). 33 Mein wunderherrliches Kind, als sie nun gerade in die
Körper eingeschlossen wurden, jammerten und stöhnten die einen nur in der
Weise wie von den schon geschaffenen wilden Tieren die eigentlich freien,
wenn sie gerade von der gewohnten und geliebten Wüste getrennt werden, um
kümmerlich zu dienen. Sie kämpfen, bäumen sich auf und stimmen denen nicht
zu, die jetzt über sie gesiegt haben. Wenn es sich ergibt, töten sie die, die ihneri
die Gefangenschaft auferlegen wollen, weil sie ja überlegen sind. Die anderen
aber zischten wie alte Schlangen. 34 Eine jedoch stieß spitze Schreie aus,
lamentierte reichlich vor ihrer Rede, rollte mehrmals die Augen nach oben und
nach unten, wie es ihr gerade kam, und· sagte: 'Du Himmel, Anfang unseres
Stobaeus-Fragment XXIII 141

Werdens, ihr Aether und Luft, ihr Hände des alleinherrschenden Gottes, du
heiliger Hauch, lichtumflutet8, ihr Sterne, Augen der Götter, du unermüdliches
Licht der Sonne und des Mondes, ihr Freunde unseres Anfangs, von denen
allen getrennt wir Unglück erleiden, ja mehr noch, von großen und lichten
(Wohnungen), vom heiligen Fluss, vom reichen Pol und schließlich auch von
der glücklichen Lebensge~einschaft mit den Göttern (getrennt), in unwürdige
und niedrige Wohnungen eingeschlossen sind! 35 Was ist denn von uns Un-
glücklichen so Unziemliches getan worden? Was, das diese Strafen fordert?
Wieviele Vergehen warten noch auf uns! Was sollen wir denn bei so schlechten
Aussichten machen, damit wir diesem wässerigen und schnell auflösliehen
Körper seine Bedürfnisse erfüllen! 36 Kleine Augen umfassen die Seelen, die
nicht mehr Gottes Seelen sind, und wir seufzen, weil wir unseren Ursprung,
den Himmel, durch das Feuchte und das Runde in diesen (Augen) ganz ver-
kleinert sehen, und es gibt sogar die Zeit, in der wir ihn nicht sehen können. So
sagt doch Orpheus: 9
Nur im Lichte ist Sehen, mit Augen allein ist kein Schauen.
Wir Unglücklichen sind verurteilt, und das Sehen ist uns nur zur Hälfte
geschenkt; denn ohne das Licht ist uns auch das Sehen nicht gegeben. Dann
sind es nur noch Stellen (im Gesicht), aber keine Augen mehr. Wenn wir die
verwandten Geister in der Luft wirbeln hören, ertragen wir es nur mit Mühe,
dass wir nicht mit ihnen dahinfahren. Uns erwartet als Wohnung anstelle dieses
Kosmos hoch in der Luft nur der kleine Umfang des Herzens. 37 Ewig richtet
uns das Trauern zugrunde, weil wir, von den (Verwandten) getrennt, in solche
(Wohnung) abgestiegen sind. Herr, Vater und Schöpfer, wenn du schon so
schnell deine Werke wieder vernachlässigst, weise uns doch ein Gebiet zu,
würdige uns doch auch noch einiger, wenn auch nur kurzer Worte, solange wir
noch durch den ganzen herrlichen Kosmos hindurchsehen können!'
38 Die Seelen hatten Glück, Kind Horns, als sie das sagten. Denn der Al-
leinherrscher war gerade anwesend. Nachdem er auf dem Thron der Wahrheit
Platz genommen hatte, fing er an, Folgendes zu den Bittstellerinnen zu sagen:
'Seelen! Liebe und Zwang, nächst mir Herren und Befehlsgewaltige über alles,
sollen euch beherrschen! Ihr Seelen, ihr alle, die ihr meiner unvergänglichen
Macht dient, sollt wissen, dass ihr die Gegend des Himmels bewohnen solltet,
solange ihr fehlerlos seid. Wenn sich aber etwa einem von euch irgendein Tadel
nähert, sollt ihr, verurteilt, ein bestimmtes Land bei sterblichen Verwandten als
Wohnung nehmen. 39 Falls die Beschuldigungen gegen euch nur mäßig sind,

8 Vgl. C. H. X 6.
9 Frg. 345 (Kern).
142 S~baeus-Fragment XXIII

dürft ihr euch, nachdem ihr die hinfallige Fessel des Fleisches verlassen habt,
wieder ohne Seufzen eurem Himmel nahen. Wenn ihr aber größere Verfehlun-
gen begehen werdet, dürft ihr, weil ihr nicht mit vollkommener Würde das Ziel
der Geschöpfe erreicht habt, den Himmel nicht wieder bewohnen, auch nicht
wiederum menschliche Körper, sondern sollt für alle Zeit als dumme Tiere
umherirren.'.
40 Nachdem er das gesagt hatte, mein Kind Horus, schenkte er ihnen allen
Lebenshauch und dann wieder sagte er: 'Aber nicht planlos oder willkürlich
habe ich eure Veränderungen festgesetzt; sondern so, wie es eine zum Schlech-
teren gibt, wenn ihr etwas Unschickliches tut, so gibt es auch eine zum Bes-
seren, wenn ihr etwas in Angriff nehmt, das eurer Herkunft würdig ist. Ich
selbst und kein anderer werde Wächter und Aufseher sein.
Erkennt also, dass ihr wegen eurer vorherigen Taten die Einkörperung als
Strafe erleidet. 41 Freilich, die Veränderung durch die Wiedergeburt wird für
euch eine Veränderung der Körper sein, wie ich gesagt habe; aber Wohltat und
früheres Glück wird die Auflösung (der Körper) sein. Falls ihr aber glaubt,
irgendetwas tun zu sollen, das meiner unwürdig ist, wird euer Denken blind
werden, sodass ihr verdreht denkt und die Strafe wie eine Wohltat erfahrt, die
Veränderung zum Besseren jedoch wie Unehre und Herabsetzung. Die Gerech-
teren von euch aber, die ihr eine Veränderung zum Göttlichen erwartet,
42 sofern ihr zu. Menschen werdet, (werdet) gerechte Könige, wahrhaftige Phi-
losophen, Schöpfer und Gesetzgeber, die richtigen Seher, die echten Wur-
zelsammler, die besten Propheten der Götter, virtuose Musiker, kluge Stern-
deuter, weise Vogelschauer, gewissenhafte Opferpriester und wievieler edler
Geschäfte ihr sonst würdig seid. Sofern ihr aber zu Vögeln werdet, werdet ihr
Adler, weil die keinen Artgenossen kreischend vertreiben oder fressen; ja, sie
lassen auch nicht einmal zu, dass ein Verwandter von ihnen einem anderen
Tier, das schwächer ist als es selbst, ein Unrecht antue, denn die Natur der
Adler geht nur Gerechtem nach. Sofern ihr aber zu Vierfüßern werdet, werdet
ihr Löwen, denn das ist ein starkes Tier, hat gewissermaßen eine schlatlose
Natur und in vergänglichem Körper die unsterbliche Natur eingeübt. Sie wer-
den nicht müde und schlafen auch nicht. Sofern ihr aber Kriechtiere werdet,
werdet ihr Drachen. Das ist ein mächtiges Tier, langlebig, gutmütig und irgend-
wie auch menschenfreundlich. Es ist zahm und wird nie Gift haben. Selbst
wenn es älter wird, bleibt es immer jung wie auch die Natur der Götter. Als
Wassertiere werdet ihr Delphine, denn diese haben Mitleid mit denen, die ins
Meer fallen. Atmen sie noch, dann bringen sie sie ans Land. Sind sie aber
schon gestorben, rühren sie sie überhaupt nicht an, obwohl sie doch die ge-
fräßigsten von allen Wassertieren sind.' Als der Gott das alles gesagt hatte,
wurde er unsterblicher Intellekt. ·
Stobaeus-Fragment XXIII 143

43 Nachdem dieses so geschehen war, Kind Horus, erhob sich von der Erde
ein sehr starker Wind, unumgreitbar an Körperumfang, ausgestattet mit Denk-
kraft, der, obwohl er wusste, wonach er fragte - als Körper hatte er die Gestalt
eines Mannes angezogen, schön war er und wohlgestaltet, im Übermaß wild
und furchtbar 10 -, in dem Augenblick, als er die Seelen in die Geschöpfe
hineingehen sah, sagte:
44 'Wie heißen denn diese, mein Hermes, du Erzähler der Göttergeschich-
ten?'
Als der nun antwortete: 'Menschen', sagte er:
'Du hast gesagt, mein Hermes, der Mensch würde freche Taten unterneh-
men, neugierig mit den Augen und der geschwätzigen Zunge. Er werde auch
das hören, was ihm zu hören nicht zusteht, lüstern mit dem Geruch, bei allem
die tastende Hand gebrauchend. Und diesen hast du entschieden, unbeachtet
allein zu lassen, du Schöpfer? Ihn, der sich anschickt, wagemutig die schönen
Geheimnisse der Natur zu schauen? Und diesen willst du unbeeinträchtigt las-
sen? Ihn, der seine Gedanken bis an die Grenze der Erde ausschicken wird?
45 Die Menschen werden die Wurzeln der Pflanzen aufgraben und die Eigen-
schaften der Säfte untersuchen. Die Naturen der Steine werden sie betrachten.
Sie werden nicht allein die Tiere mittendurch aufschneiden, sond~rn auch sich
selbst, weil sie erforschen wollen, wie sie gemacht sind. Freche Hände werden
sie gar bis zum Meer ausstrecken, sie werden die selbstgewachsenen Wälder
abholzen und sich gegenseitig über das Meer fahren. Sie werden auch ausfor-
schen, was im Inneren die Natur der heiligen Tempel ist. Bis nach oben werden
sie eilen, weil sie beobachten wollen, welche Bewegung am Himmel festgesetzt
ist. Dies ist noch leidlich! Ein letzter Ort der Erde bleibt noch. Aber auch ihn
werden sie als letztes mit ihrem Wollen ergründen, die Nacht.
46 Weil sie nun keine Behinderung haben, sondern mit dem Gut der An-
nehmlichkeit betraut sind, weil sie nicht durch die widerlichen Stacheln der
Angst bezwungen werden, werden sie auch in einem sorglosen Leben schwel-
gen. Werden diese sich dann nicht mit frecher Neugier bis zum Himmel rüsten?
Werden sie nicht ihre sorglosen Seelen zu den Elementen ausstrecken?- Des-
halb lehre sie die Lust zu planen, damit sie auch die Unannehmlichkeit haben,
das Misslingen zu fürchten, damit sie durch die Bissigkeit des Kummers ge-
bändigt werden, weil sie am Erhofften scheitern. Soll doch die Neugier ihrer
Seelen betrogen werden mit Begierden und Ängsten, Kümmernissen und irre-
führenden Hoffnungen! Wechselseitige Lieben sollen ihre Seelen zerfressen,
bunte Hoffnungen, Begierden, die manchmal Erfolg haben, manchmal misslin-
gen, damit sie als süßen Köder den Erfolg zum Kampf gegen größere Übel

10 In Abschnitt 48 erhält er den Namen Momos, 'Tadel'.


144 Stobaeus-Fragment XXIII

haben. Fieber soll sie beschweren, damit sie die Begierde in Grenzen halten,
weil sie müde sind.'
47 Bist du traurig, mein Kind Horus, weil dir die Mutter dieses erklärt?
Wunderst du dich nicht, erschrickst du nicht, wie der elende Mensch beschwert
wurde? Höre noch Schlimmeres! 48 Als Momos das so sagte, freute sich Her-
mes, denn ihm wurde die Rede recht freundlich gesagt, und er tat alles, was er
versprochen hatte und sagte: 'Momos, die Natur des göttlichen Hauches, des
allumfassenden, wird doch nicht sichtbar werden! Denn ich', sagte der Herr
aller Dinge, 'soll Wächter und Verwalter sein. Als Aufseherin über alles soll
nun die scharfsichtige Göttin Adrasteia eingesetzt werden. Ich aber werde ein
verborgenes Glied verfertigen, das sich an die unfehlbare und unverletzliche
Lehre hält, durch das alles auf der Erde vom Werden bis zum letzten Vergehen
notwendigerweise geknechtet wird, das auch eine vollkommene Steifigkeit hat.
Und auch alles andere auf Erden wird diesem Glied gehorchen. Ich', sagte
Hermes, 'habe dies zu Momos gesagt'. Und' schon regte sich das Glied. 11
49 Als dieses geschehen war und die Seelen eingekörpert worden waren und
ich selbst Beifall für die Einrichtungen bekommen hatte, SO berief der Allein-
herrscher erneut einen Götterrat ein. Die Götter kamen, und er selbst sprach
wiederum Folgendes: 'Ihr Götter, alle, die ihr das Diadem, alle, die ihr auch die
unsterbliche Natur erhalten habt, die ihr für immer das Amt habt, den großen
Aeon zu verwalten, die das All nie ermüdet, auch wenn es sich euch immer
wieder anvertraut, wie lange wollen wir noch über diese unscheinbare Herr-
schaft gebieten? Wie lange soll das für Sonne und Mond unsichtbat bleiben?
Jeder von uns soll in seinem eigenen Bereich schaffen. Lasst uns diesen noch
untätigen Zustand mit Macht auslöschen. Als unglaubwürdiges Märchen soll es
den späteren Generationen erscheinen, dass es ein Chaos geben könnte. Greift
große Werke an! Ich selbst werde als Erster beginnen.'
Er sagte· das, und augenblicklich geschah weltweit eine Aufspaltung der
noch schwarzen Einheit. 51 Es erschien oben ein Himmel, ausgeschmückt mit
all seinen eigenen Geheimnissen. Die noch zitternde Erde wurde fest, weil die
Sonne schien. Sie erschien ausgeschmückt mit allem Schönen, das um sie her-
um war. Denn bei Gott muss auch das schön sein, was die Sterblichen für
schlecht halten, denn es ist erschaffen, den Gesetzen Gottes zu dienen. Der Gott
freute sich, als er sah, dass sich seine Werke schon bewegten. 52 ~achdem er
seine gleichmäßig ausgebreiteten Hände mit den vortrefflichsten Gütern der
Natur gefüllt und die Handflächen mächtig zusammengedrängt hatte, sagte er:
'Nimm, du heilige Erde, nimm, Ehrenvolle, die du die Mutter aller Dinge sein

11 Zur Herme, Symbol der kosmischen Schöpferkraft, s. Jamblich, De mysteriis Aegypti I


11 u.a.
Stobaeus-Fragrnent XXIII 145

wirst und von heute an niemandem ~achzustehen scheinst!' Der Gott sprach's,
breitete die Hände aus, Hände, wie ein Gott sie haben muss, und überließ alles
der Versammlung der Seienden. 53 Anfangs aber war überall Unwissenheit.
Jetzt aber wetteiferten die Seelen, die eingeschlossen waren, die Entehrung
jedoch nicht ertragen wollten, mit den Göttern im Himmel. Sie begriffen ihre
eigene edle Herkunft und nahmen wahr, dass sie vom selben Schöpfer ab-
stammten. Also standen sie auf, benutzten die unterlegenen Menschen als
Werkzeuge und brachten sie dazu, dass sie sich gegenseitig nachstellten, auf-
einander losgingen und sich bekriegten. Und so vermochte die Kraft Großes
gegen das Schwache, sodass die Starken die Schwachen verbrannten, töteten
oder sie, teils noch lebend, teils schon tot, in heilige unzugängliche Schluchten
hinabwarfen, 54 so lange, bis die verärgerten Elemente bei Gott, dem Allein-
herrscher, vorstellig wurden und eine Überprüfung des rohen Gemeinwesens
der Menschen forderten. Als dann schon viel Übel geschehen war, kamen die
Elemente zu dem, der sie geschaffen hatte, zu Gott, und gebrauchten solcherlei
Worte als Ausdruck der Unzufriedenheit:
55 Und zwar hatte das Feuer als Erstes die Gelegenheit zum Sprechen und
sagte: 'Herrscher, du Schöpfer dieses neuen Kosmos, du verborgener bei den
Göttern, bis jetzt bei allen Menschen erhabener Name, wie lange noch, Daimon
(Gott), hast du beschlossen, das Leben der Sterblichen gottlos zu lassen? 56
Zeige dich schon selbst, gib dem Kosmos eine Offenbarung und weise das
ungezügelte Leben in den Frieden ein. Schenke dem Leben Gesetze, schenke
der Nacht Orakel. Fülle alles mit guten Hoffnungen. Die Menschen sollen die
Rache der Götter fürchten, dann wird keiner so weitermachen. Wenn sie für
Verfehlungen angemessenen Lohn davontragen, werden die übrigen sich hüten,
weiter Unrecht zu tun. Sie werden Eide respektieren, und niemand wird künftig
gottlos denken. Sie sollen lernen zu danken, wenn sie Wohltaten empfangen
haben, damit ich, das Feuer, freudig bei Trank- und Brandopfern diene, damit
ich dir wohlriechenden Rauch vom Opferherd hinaufsende. Ich bin, Herr, bis
heute besudelt und werde durch die gottlose Frechheit der erschaffenen Men-
schen gezwungen, viel Fleisch zu verbrennen. Sie lassen mich nicht das sein,
wozu ich entstanden bin, sie verfälschen das Unvergängliche in ungebührlicher
Weise.'
57 Die Luft sprach: 'Ich selbst bin verschmutzt, Herr, vom aufsteigenden
Gestank der toten Leiber krank und nicht mehr heilsam; ich sehe von oben, was
man nicht sehen darf.'
58 Danach, mein großherziges Kind, hatte in det: Reihe das Wasser Gele-
genheit zu sprechen, und es sprach so: 'Vater, wunderbarer Schöpfer aller Din-
ge, aus dir selbst entstandener Gott, Schöpfer der um deinetwillen alles zeu-
genden Natur, befiehl doch endlich, mein Gott, dass die Wasserströme der
146 Stobaeus-Fragment XXIII

Flüsse. immer rein sein sollen, denn einerseits waschen jetzt Flüsse und Meere
die Mörder ab, andererseits nehmen sie die Gemordeten in sich auf.'
59 Dann war die betrübte Erde an der Reihe - ich muss es den Worten nach
ordnen - und, mein ruhmreiches Kind, begann so zu sprechen: 'König, Fürst
und Herrscher der himmlischen Gewölbe, unser, der Elemente, Gebieter, Vater
derer, die vor dir stehen, von denen alles den Anfang des Wachsens und Ab-
nehmens hat, bei denen schließlich im Untergehen alles mit Notwendigkeit sein
Ende findet, Hochgepriesener! Auf mir ist ein dummer und gottloser Chor von
Unmenschen. Ich habe doch Platz für alle Natur, denn ich selbst, wie du be-
fohlen hast, trage auch alles und nehme die Ermordeten auf. 60 Jetzt aber bin
ich entehrt. Aber die Hauptsache ist: Dein gefüllter irdischer Kosmos hat kei-
nen Gott. Insgesamt: Weil sie nichts zu fürchten haben, freveln sie auch gegen
meinen Nacken, Herr, und stürzen sich auf jede Bosheit. Ich bin völlig durch-
nässt und verdorben von den Säften der Leichname. 61 So, Herr, bin ich ge-
zwungen, auch den Unwürdigen Raum zu bieten. Inmitten aller, die ich trage,
will ich auch Gott Raum bieten. Schenke der Erde, wenn schon nicht dich
selbst- ich kann dir ja auch nicht Raum bieten! -:-so doch irgendeine heilige
Emanation von dir. Gib der Erde ein höheres Ansehen als allen anderen Ele-
menten! Ihr allein von all den Deinen kommt es zu, sich zu rühmen, weil sie
alles bereit hält.'
62 So redeten die Elemente. Gott sprach, und im Reden füllte er alles mit
heiliger Stimme: 'Geht hin, ihr heiligen, eines großen Vaters würdigen Kinder,
versucht nie wieder, Unruhe zu stiften, und lasst meinen ganzen Kosmos nicht
ohne euren Dienst. Schon ist eine andere Emanation meiner Natur unter euch:
Er wird heilig sein als Wächter über die Taten und unbestechlicher Richter über
Lebende, nicht nur schrecklich, sondern auch helfend, ein Tyrann derer unter
der Erde. 12 Jedem Menschen wird von Geschlecht zu Geschlecht angemessener
Lohn folgen.'
63 Und so beendeten die Elemente die Begegnung, weil der Herr es befohlen
hatte, und verhielten sich still. Jedes ging zu Werke und herrschte in seinem
eigenen Machtbereich.«
64 Daraufhin fragte Horus: »0 Mutter, wie erreichte die Erde es, Gottes
Emanation zu erhalten?«
Und lsis antwortete: »Ich vermeide es, die Entstehung zu berichten. Denn es
ist nicht erlaubt, den Anfang deiner Zeugung zu erzählen, mein starker Horus,
damit niemals später die Entstehung der unsterblichen Götter zu den Menschen
gelangt. Nur das (darf zu ihnen gelangen), womit der Alleinherrscher, Gott, der

12 Der Name dieses Richters wird nicht genannt; es ist an Osiris zu denken. Vgl. noch C.
H. I 23.
Stobaeus-Fragment XXIII 147

Weltenschöpfer und Ordner aller Dinge, vor kurzem deinen so großen Vater,
Osiris, und die sehr große Göttin, Isis, beschenkt hat, damit sie dem in jeder
Hinsicht bedürftigen Kosmos Helfer seien.
65 Sie füllten das Leben mit Leben.
Sie setzten dem Einander-Morden ein Ende.
Den ursprünglichen Göttern weihten sie Haine und Opfer.
Den Sterblichen schenkten sie Gesetze, Nahrung und Schutz.
66 'Sie werden alles Verborgene meiner Schriften erkennen und darüber
entscheiden', sagt Hermes; 'und wenn sie selbst etwas festhalten, was auch
zum Wohlergehen .der Sterblichen gereicht, meißeln sie es in Stelen und Obe-
lisken ein.'
67 Sie füllten alles mit Wohlverhalten und Gerechtigkeit, weil sie als erste
Gerichte eingesetzt hatten.
Sie führten auch den sehr großen Gott Horkos (Schwur) in das Leben ein, da
sie die Urheber von Treu und Glauben waren.
Sie lehrten diejenigen, die das Leben beendet hatten, so zu bestatten, wie es
sich gehört.
Als sie das Ungestüm des Todes untersuchten, erkannten sie, dass, wenn der
Lebenshauch, der ja gern in die Körper der Menschen zurückkehrt, einmal zu
lange ausbleibt, dies eine Ohnmacht ohne Wiederkehr bewirkt.
Diese meißelten auf geheime Säulen, was sie von Hermes gelernt hatten,
dass nämlich der Himmel voller Dämonen ist.
68 Sie allein wurden, weil sie von Hermes die geheimen Gesetzgebungen
des Gottes gelernt hatten, für den Menschen Urheber und Stifter aller Künste,
Wissenschaften und Gewerbe.
Sie richteten auf der Erde heilige Feiern ein, die den himmlischen Geheim-
nissen entsprechen, weil sie von Hermes gelernt hatten, es sei vom Schöpfer so
festgesetzt worden, dass das Untere vom Oberen mit beeinflusst wird.
Sie verschafften den Propheten in allen Dingen Vollkommenheit, weil sie die
Vergänglichkeit der Körper erkannt hatten; damit ein Prophet, der sich an-
schickt, die Hände zu den Göttern zu erheben, immer alles über die Seienden
weiß; damit Philosophie und religiöse Bildung einerseits die Seele nähre, an-
dererseits als Heilkunst den Körper heile, wenn er leidet.
69 Mein Kind, Osiris und ich forderten dieses für die Zukunft von den
Bewohnern des Himmels ein, als wir alles getan hatten und den ausgefüllten
Kosmos sahen. Also war es nicht erlaubt hinaufzugehen, bevor nicht der Al-
leinherrscher (uns) zu sich gerufen hätte 13 , damit der Himmel mit dieser Lehre
erfüllt sei und wir selbst glücklich einen leichten Aufstieg erreichen. Denn Gott
freut sich über Lieder.«
13 Vgl. Epiktet, Diss. I 9,16f.; IV 1, 105.110.
148 Stobaeus-Fragment XXIII

70 Horus sagte: »Mutter, schenke auch mir die Erkenntnis des Liedes, damit
ich nicht unwissend bleibe.«
Und lsis antwortet: »Merke auf, Kind!« ( ... )
149

XXIV

Im selben (Buch) 1

1 »Wenn du, mein hochherziges Kind, noch etwas anderes willst, dann fra-
ge!«
Und Horus sagte: »Vielgeehrte Mutter, ich möchte wissen, wie königliche
Seelen entstehen.«
Und Isl.s antwortete: »Was die königlichen Seelen angeht, Kind Horus, hat
die entstehende (Seele) die folgende Beschaffenheit: Es gibt doch im All vier
Orte, die unvergänglicher Gesetzgebung und Herrschaft unterliegen: den Him-
mel, den Aether, die Luft und die hochheilige Erde. Oben im Himmel, mein
Kind, wohnen die Götter, die mit allen anderen zusammen der Schöpfer aller
Dinge beherrscht. Im Aether aber (wohnen) die Sterne, die das große Licht, die
Sonne, beherrscht. In der Luft dann (wohnen) die göttlichen Seelen, die der
Mond beherrscht. Auf der Erde schließlich (wohnen) die Menschen und die
anderen Lebewesen, die der jeweils für eine Zeit König Gewordene beherrscht.
Denn die Götter, mein Kind, zeugen Könige, würdig irdischer Nachkommen-
schfl{t.
2 Die Fürsten sind nach den Königen zweitrangig. Von ihnen ist der, der
dem (König) am nächsten ist, auch königlicher als die anderen. Zum Beispiel
die Sonne, um wie viel sie näher an Gott ist, um so viel ist sie ·auch größer und
stärker als der Mond, der ihr gegenüber nach Ordnung und Stärke der Zweite
ist. 3 Der König ist zwar der letzte der anderen Götter, jedoch der oberste der
Menschen. Solange er auf Erden ist, ist er zwar von der wahren Göttlichkeit
entfernt. Er hat aber etwas, das dem Gott ähnlich ist, was ihn vor den Menschen
auszeichnet. Denn die Seele, die in ihn hinabgeschickt ist, stammt aus jener
Gegend, die oberhalb jener (Gegenden) liegt, aus welchen (die Seelen) in die
anderen Menschen hinabgeschickt werden.
4 Aus folgenden beiden Gründen werden die Seelen von dort zum Königsein
hinabgeschickt, mein Kind: Die Seelen, die schon in ihrem eigenen Aeon einen
rechtschaffenen und untadeligen Lebenswandel geführt haben und dann im
Begriff sind, zum Gott zu werden, (werden hinabgeschickt,) damit sie, und sei
es auch nur im Königsein, die Macht der Götter einüben. Die (Seelen, die)
schon göttlich sind, aber um ein Weniges die göttliche Weisung übertraten,
(werden hinabgeschickt,) damit sie nicht etwa im Körperwerden Strafe erlei-
den, auch aufgrund ihrer Würde und Herkunft nicht als Körperliche etwas den

1 So die Angabe bei Stobaeus; es handelt sich aber nicht um die Fortsetzung des vorigen
Traktats, sondern um einen neuen, der von XXIV bis XXVI reicht.
150 Stobaeus-Fragment XXIV

anderen Ähnliches leiden, sondern damit sie das, was sie als Freie hatten, auch
als Gebundene haben.
5 Die Unterschiede, die sich hinsichtlich der Gewohnheiten der Könige er-
geben, werden nicht im Urteil über die Seele gewertet - denn sie sind alle
göttlich-, sondern im (Urteil) über die Begleitung (der Seele) hinsichtlich der
Natur der Engel und Götter. Denn solcherlei Seelen, die zu solchem Amt hin-
untergehen, gehen nicht ohne Beratung und Begleitung. Die himmlische Ge-
rechtigkeit weiß einer jeden ihre Würde zuzuteilen, selbst wenn sie aus dem
glücklichen Land verstoßen wurde. 6 Horus, mein Kind, wenn nun die· Engel
und Götter, die sie herabführen, kriegerisch sind, dann behält die Seele das
Herrschen jener über die Gesinnung bei. Weil sie ihre eigenen Werke vergessen
hat, denkt sie, solange jene zu ihrer Begleitung gehören, vielmehr nur mit
diesen. Wenn sie nun aber friedfertig sind, dann wird auch sie selbst ihren
Lebensweg in Frieden gehen. Wenn sie dagegen das Recht lieben, wird auch sie
Recht sprechen. Wenn sie jedoch Musiker sind, wird auch sie singen. Wenn sie
die Wahrheit lieben, wird auch sie Wahrheit suchen. So kommt es, dass diese
Seelen mit Notwendigkeit die Gesinnung der Begleiter übernehmen. Sie gera-
ten in das Menschsein und vergessen ihre eigene Natur in dem Maße, wie sie
von ihr entfernt sind, und sie denken nur noch in der Gesinnung derer, die sie
(in den Körper) eingeschlossen haben.«
7 »Das gefallt mir alles gut, Mutter«, sagte Horus, »aber noch hast du mir
nicht erzählt, wie denn die adligen Seelen entstehen.«
»So wie es auf der Erde Straßen gibt, die sich voneinander unterscheiden,
mein Kind Horus, so ist es auch bei den Seelen. Auch diese haben Orte, von
denen sie ausgehen. Die (Seele), die von einem angeseheneren Orte ausgegan-
gen ist, ist vornehmer als die, die den nicht hat. So wie bei den Menschen der
Freie vornehmer zu sein scheint als der Knecht, so macht auch das Überlegene
und Königliche das Unterlegene mit Notwendigkeit zum Knecht.«
8 »Gibt es denn auch männliche und weibliche Seelen?«
»Die Seelen, mein Kind Horus, sind alle untereinander gleichartig, weil sie
aus einem Lande stammen, in dem der Schöpfer sie geprägt hat. Es gibt also
keine männlichen oder weiblichen. Eine solche Unterschei!lung gibt es nur bei
Körpern, aber noch nicht bei Körperlosen. 9 Die Unterschiedlichkeit, dass die
einen zornmütiger, die anderen zarter sind, bedingt die Luft, in der alles ge-
schieht, Kind Horns. Die Luft, mit der die Seele umkleidet ist, ist einem Körper
vergleichbar, der eigentlich ein Teig aus Elementen ist, aus Erde, Wasser, Luft
und Feuer. Weil nun die Zusammensetzung der weiblichen (Körper) mehr vom
Feuchten und Kalten bestimmt ist und weniger vom Trockenen und Warmen,
deswegen wird die in ein solches Gebilde eingeschlossene Seele nass und
weich sein, so wie bei den männlichen (Körpern) der gegenteilige Werdegang
Stobaeus-Fragment XXIV 151

zu finden ist. Denn bei diesen überwiegt das Trockene und das Warme, es
mangelt aber an Kaltem und Feuchtem. Deshalb sind die Seelen in solchen
Körpern härter und tatkräftiger.«
10 »Wie werden denn nun die Seelen verständig, meine Mutter?«
Und Isis antwortete: »Das Sehvermögen ist mit einem Kleid umhüllt. Wenn
diese Kleider fest und fett sind, sieht das Auge nicht scharf; sind sie dagegen
dünn und zart, so sehen sie sehr viel schärfer. So ist es auch mit der Seele.
Diese hat ihr eigenes körperloses Kleid, wie sie auch selbst körperlos ist. Diese
Kleidung sind die Lüfte, die in uns sind. Wenn diese nun leicht, dünn und eher
durchsichtig sind, dann ist die Seele klug. Wenn sie jedoch fest, fett und
schmutzig sind, dann sieht sie wie im Sturm nicht weit, sondern nur das, was
vor den Füßen liegt.«
11 Und Horus fragte: »Aus welchem Grund, Mutter, sind die Menschen
außerhalb unseres hochheiligen Landes mit ihrem Denkvermögen nicht wirk-
lich klug, so wie unsere?«
Und Isis antwortete: »Die Erde liegt inmitten des Alls auf dem Rücken, sie
liegt da wie ein Mensch und sieht in den Himmel. Sie hat auch so viele Glieder
wie ein Mensch. Sie sieht zum Himmel auf wie zum eigenen Vater, damit sie
entsprechend seinen Veränderungen auch ihren eigenen Zustand ändert. Nach
Süden hin liegt ihr Kopf, nach Osten hin ihre rechte Schulter, unter dem Bä-
rengestim ihre Füße, und zwar der linke unter dem Kopf der Bärin. Ihre Schen-
kel liegen mitten unter der Bärin, ihre Mitte unter der Mitte. 12 Und dafür ist
ein Zeichen, dass die südlichen Menschen, die ja auf dem Scheitel (der Erde)
wohnen, einen prächtigen Scheitel und schöne Haare haben; dass die öspichen
Menschen stets zum Kampf bereit sind und gern zum Bogen greifen, wofür der
Grund die rechte Hand ist; dass die im Westen standhaft sind, wie sie ja auch
meistens mit der linken Hand kämpfen und all das, was andere mit der rechten
Hand tun, mit der linken verrichten; dass die unter dem Bärengestim t ... t bei
den Füßen (wohnen), Menschen mit schönen Waden sind; dass die nach diesem
und ein wenig weiter (wohnen)- das, was jetzt Italien und Griechenland ist-,
dass diese alle schöne Schenkel und ansehnliche Hinterteile haben, sodass
durch die übermäßige Schönheit dieser Gliedmaßen die Menschen dort zum
Umgang der Männer miteinander absinken. 13 Diese Glieder alle, weil sie zu
allem and~en unfähig sind, bringen dort auch recht unfähige Menschen hervor.
Weil aber das uns so hochheilige Land der Vorfahren in der Mitte der Erde
liegt, die Mitte des menschlichen Körpers im Wesentlichen Wohnung des Her-
zens ist, das Herz wiederum Zuflucht der Seele ist, aus diesem Grunde, mein
Kind, haben die Menschen dort alles andere, was alle haben, in nicht gerin-
gerem Maße, vor allem aber sind sie verständiger und besonnener als alle, weil
sie auf dem Herzen geboren und aufgezogen wurden.
152 Stobaeus-Fragment XXIV

14 Zum Beispiel nimmt doch der Südwind, mein Kind, aus der Umgebung
die zusammengeballten Wolken auf und, weil das dort so mit ihnen geschieht,
sagt man, von dort fließe auch unser Fluss (der Nil), wenn dort Schneeschmelze
ist; denn wo immer eine Wolke ankommt, verdunkelt sie die dort liegende Luft
und füllt sie wie ein Nebel ganz aus. Und Nebel oder Dunkelheit sind nicht nur
für die Augen hinderlich, sondern auch für den Verstand. Mein ruhmreicher
Horus, der Ostwind gerät in Bewegung und erwärmt sich durch den immer
wiederkehrenden Sonnenaufgang; ebenso erfährt auch der diesem entgegen-
gesetzte West dasselbe wegen der Sonnenuntergänge, und darum bringen sie
kein echtes Wissen bei den Menschen, die unter ihrem Einfluss geboren sind,
hervor. Der Nordwind lässt durch die ihm eigene Kälte zusammen mit den
Körpern auch das Denkvermögen der Menschen unter seinem Einfluss erfrie-
ren. 15 Weil aber das, was in der Mitte dieser (Winde) liegt, tadellos ist, fördert
es für sich selbst und alle Dortigen Gelassenheit. Durch die anhaltende Sorg-
losigkeit zeugt, ordnet und leitet es, wetteifert nur mit solchen, siegt und gibt,
weil es den eigenen Sieg festhält, Anteil, so wie ein guter Satrap den Besiegten
Anteil gibt.«
16 »Auch das mache mir noch klar, göttliche Mutter: Aus welchem Grunde
erleiden Sprache, ja selbst die Überlegung und schließlich auch die Seele Scha-
den, solange die Menschen noch in den großen Krankheiten leben?«
Und Isis antwortete: »Mein Kind, die Lebenden freunden sich teils mit dem
Feuer an, teils mit dem Wasser, teils mit der Luft, teils mit der Erde; manche
gar mit zweien oder dreien davon, manche auch mit allen. Anders gesagt, die
einen halten sich vom Feuer fern, die anderen vom Wasser, einige von der
Erde, einige von der Luft; manche von zweien davon, manche von dreien,
manche von allen. 17 Zum Beispiel die Heuschrecke und alle Fliegen, mein
Kind, meiden das Feuer. Adler und Habicht und was sonst an Vögeln oben
herumfliegt, meidet das Wasser; Fische Luft und Land. Die Schlange wendet
sich vom Luftraum ab. Die Schlangen und alles, was kriecht, ziehen die Erde
vor; alles Schwimmende das Wasser; die Gefiederten den Luftraum, in dem
auch das Feuer zu Hause ist. Alles, was darüberfliegt, hat die Nahrung in der
Nähe. Es gibt sogar Tiere, die das Feuer lieben, wie zum Beispiel die Sala-
mander; denn sie bauen im Feuer ihre Höhlen.
18 Jedes der Elemente ist ein Mantel für die Körper. Jede Seele, die in einem
Körper steckt, wird von diesen vieren beschwert und bedrückt. Üblicherweise
wird diese (Seele) durch manche dieser (Elemente) erfreut, durch andere aber
belastet. Deswegen genießt sie nicht ihr höchstes Glück. Aber weil sie. selbst
dann noch göttlicher Natur ist, wenn sie in ihnen steckt, ist sie feindlich ge-
sonnen, aber nicht in dem Maß, wie sie gesonnen wäre, wenn sie von den
Körpern losgelöst wäre. Freilich, wenn ihr Schwanken oder Verwirrung wider-
Stobaeus-Fragment XXIV 153

fahrt, sei es wegen Krankheit oder Furcht, dann bringt sie nichts Beständiges
zuwege wie ein Mensch auf wogender See.«
154

XXV

Von Hermes: Rede der Isis an Horus

1 Horus sprach: »Wunderbar hast du mir alle Einzelheiten über die bewun-
dernswerte Seelenschöpfung Gottes auseinandergesetzt, du großmächtige Mut-
ter Isis, und ich bin immer noch voll Bewunderung. Aber du hast mir noch
nicht dargelegt, wohin die Seelen gehen, wenn sie aus den Körpern herausge-
löst sind. Weil ich nun in diese Lehre eingeweiht worden bin, will ich allein dir
danken, unsterbliche Mutter.«
2 Und Isis antwortete: »Gib Acht, Kind! Sehr wichtig ist diese Frage. 3 Hier
also soll meine Rede beginnen. Was feststeht und was nicht vergeht, hat seinen
Ort. Du wunderbarer, großer Sohn des großen Vaters Osiris! Wenn die Seelen
ungeordnet und ungestüm aus den Körpern heraustreten, werden sie in die Luft
geschüttet und mit dem anderen unendlichen Hauch zerstreut. Es kann nicht
sein, dass sie in Körper zurückkehren, solange sie noch dieselben sind. Ja, sie
können auch nicht einmal in jenen (Seelen-) Chor zurückkehren, aus dem sie
früher ausgegangen waren, wie es ja auch unmöglich ist, unten aus einem
Gefäß geschöpftes Wasser wieder an dieselbe Stelle hineinzugießen, woher es
geschöpft war. Ja, es nimmt nicht einmal die eigene Stelle wieder ein, wenn es
geschöpft und sofort wieder ausgegossen wird, sondern es vermischt sich mit
der ganzen Menge des Wassers.
4 Aber (ganz) so ist es nicht, hochherziger Horus! Ich aber als Prophetinder
unsterblichen Natur, die ich selbst auch bin und die ich durch das Feld der
Wahrheit gegangen bin, will mit dir jedes Einzelne der Seienden durchnehmen.
Darum sage ich dir dieses zuerst: Das Wasser ist doch ein Körper ohne Denk-
vermögen und wird von mancherlei Sachen zum Fluss zusammengedrängt. Die
Seele dagegen ist ein Ding besonderer Natur, Kind, königlich, und ein Werk der
Hände und des Geistes Gottes, sie führt sich selbst zum Geist hin. Was nun aber
aus einem Einzigen besteht und nicht aus anderem, kann unmöglich anderem
beigemischt werden. Daher ist die Verbindung mit ihrem Körper, auch wenn sie
zwangsweise geschehen ist, Übereinstimmung mit Gott.
5 Weil sie nun weder hingegossen noch planlos-zufällig an ein und densel-
ben Ort, sondern jede einzelne an ihre eigene Stelle hingesandt wird, ist auch
klar, warum sie leidet, solange sie noch im Körper und im Geschöpf ist; denn
sie ist gegen ihre eigene Natur ins Fleisch gebunden.
6 Aber lenke deine Aufmerksamkeit, heißgeliebter Horus, auf das folgende
Gleichnis: Stell dir vor, in ein und demselben Käfig seien Menschen, Adler,
Tauben, Schweine, Falken, Schwalben, Sperlinge, Fliegen, Schlangen, Löwen,
Stobaeus-Fragment XXV 155

Leoparden, Wölfe, Hunde, Hasen, Rinder, Schafe und andere Herdentiere, fer-
ner Seehunde, Fischotter, Schildkröten und unsere Krokodile eingeschlossen.
Dann, mein Kind, würden diese in einem Augenblick aus dem Käfig losgelas-
sen. 7 Werden sie sich nicht davonmachen?- der Mensch auf den Markt und
nach Hause?, der Adler in den Aether, wo er seinen natürlichen Lebensraum
hat?, die Tauben in die untere Luftschicht? die Falken über diesen (Tauben)?,
(Wenden sich) die Schwalben nicht immer dorthin, wo die Menschen wohnen,
die Sperlinge um die fruchttragenden Bäume herum?, die Schwäne dorthin, wo
sie singen können?, die Fliegen ganz dicht an die Erde, nur so weit von ihr
entfernt, wie sie im Dunstkreis der Menschen auffliegen können - denn, mein
Kind, es ist der Fliege eigen, Menschen zu lecken und amBoden zu fliegen?
(Laufen) die Löwen und Panther nicht ins Gebirge, die Wölfe nicht in die
Wüste, die Hunde nicht zu den Spuren der Menschen, die Hasen nicht ins
Unterholz, das Rindvieh nicht in den Stall oder auf die Weide, die Schafe nicht
in die Hürden? (Begeben sich) die Schlangen nicht in die Erdlöcher; Seehunde,
Schildkröten und ihre Artgenossen nicht in tiefes und flaches Wasser, damit
ihnen nicht das flache Land fehlt und sie das ihnen liebe Wasser nicht verlassen
müssen? So wird jedes von dem ihm innewohnenden Merkmal in die ange-
stammte Gegend gewiesen. 8 So weiß jede Seele, ob sie im Menschen oder
sonst auf der Erde lebt, wohin sie gehen muss - es sei denn, mein Kind,
irgendein Idiot 1 möchte so nebenbei sagen, ein Stier könnte im tiefen Wasser,
eine Schildkröte im Luftraum leben. Wenn nun schon die (Seelen), die in
Fleisch und Blut getaucht sind, dieses erfahren, sodass sie nicht gegen die
Ordnung verstoßen, selbst wenn sie Strafe erleiden- denn das Im-Körper-Sein
ist ja ihre Strafe-, um wie viel mehr (erfahren das) die, die an Eintauchen und
Strafe, ja auch an ihrer eigenen Freiheit teilhaben?
9 So verhält es sich mit der hochheiligen Ordnung. Du höchsterhabenes
Kind, sieh doch schon einmal oben die Ordnungen der ·Seelen an! Was zwi-
schen dem Gipfel des Himmels und dem Mond ist, bleibt Göttern, Gestirnen
und der anderen Vorsehung vorbehalten. Was aber zwischen dem Mond und
uns liegt, mein Kind, ist die Wohnung der Seelen. 10 Diese besondere Luft
enthält· doch in sich einen Weg, den wir gewöhnlich Wind nennen. Er ist eine
eigene Größe und wird zur Erquickung der Irdischen bewegt, wovon ich später
reden will. Der in sich selbst bewegte (Wind) ist jedoch in keiner Weise den
Seelen hinderlich. Obwohl er sich bewegt, können die Seelen ungehindert auf-
und abwärtsfahren, so wie es sich gerade ergibt. Unvermischt und unbehelligt
fließen sie durch die Luft wie Wasser durch Öl. 11 Dieser Zwischenraum, mein

1 Wörtl. 'Sohn des Typhon'. Typhon, der Seth der Ägypter, galt als Gegengott zu Osiris
und eine An Teufel. Sein Tiersymbol ist der Esel.
156 Stobaeus-Fragment XXV

Kind Horus, hat vier Schichten und sechzig Kammern. Von denen hat die
(Schicht) von der Erde aufwärts vier Kammern, sodass sich die Erde mit eini-
gen Hügeln und Bergrücken bis dorthin ausdehnt und erstreckt. Denn die Hö-
heneinteilung enthält nicht die Möglichkeit, dass diese über die (Berggipfel)
hinaufreicht. Die zweite (Schicht) darüber hat acht Kammern, in denen sich die
Winde bewegen. Gib acht, Kind, denn du hörst unaussprechliche Geheimnisse
über Erde und Himmel und über den ganzen Geist des mittleren Heiligtums!
Wo der Wind seine Bewegung hat, da haben auch die Vögel ihren Flug. Über
dieser (Schicht) bewegt sich die Luft nicht mehr und trägt auch keine Lebe-
wesen. Diese Luft hat von Natur aus diese Möglichkeit, dass sie ihre eigenen
acht Kammern, aber auch die vier der Erde, in denen es Lebewesen gibt,
durchstreift, weil doch die Erde nur bis an die acht Kammern der (Luft) hin-
aufreicht. 12 Die dritte (Schicht) hat sechzehn Kammern, angeftillt mit dünner
und reiner Luft. Die vierte (Schicht) hat zweiunddreißig Kammern, in denen ist
die feinste und reinste Luft, die auch durchsichtig ist. Sie grenzt von sich selbst
die oberen Himmel ab, die von Natur aus feurig sind.
13 Zudem gibt es auch noch diese Ordnung mit einem geraden Strich von
oben nach unten, unbehelligt von der Natur, sodass es zwar auch vier Schichten
gibt, aber zwölf Stufen und sechzig Kammern. In diesen Kammern, sechzig an
der Zahl, leben die Seelen, jede in der Kammer, für die sie die Eignung hat.
Denn sie haben zwar alle ein und dieselbe Beschaffenheit, nicht aber den glei-
chen Wert. Denn um wie viel jede Kammer von der Erde aus gemessen höher
ist als die andere, um so viel auch die Seelen darin. Die eine lässt der ahderen
die Rangordnung zukommen, mein Kind, die Kammer der Seele. 14 Welche
Seelen nun in welche von diesen (Kammern) zurückkehren, werde ich dir wie-
derum von hier aus aufzuzählen anfangen, mein hochgerühmter Horus, wenn
ich von Anfang an die Ordnung auf der Erde erkläre.«2

2 Das folgende Fragment dürfte der direkte Anschluss sein.


157

XXVI
Über die Seelenwerdung und Seelenwanderung

1 »Der (Raum) zwischen Erde und Himmel ist nach Maß und Ordnung
unterteilt, mein Kind Horus. Diese Kammern sind von den einen Vorfahren
'Zonen' genannt worden, von den anderen 'Firmamente' und von wieder an-
deren 'Schichten'. In diesen halten sich Seelen auf, solche, die schon wieder
von Körpern getrennt sind, und solche, die noch niemals in Körpern waren.
Entsprechend ihrer Würde, mein Kind, ist jede von ihnen einer Kammer zu-
geteilt. So wohnen also die göttlichen und königlichen in der (Kammer) über
allen, die mit der geringsten Würde und alle, die nur ganz unten sind in der
(Kammer) unter allen, die mittleren in der Mitte.
2 Die (Seelen), die zum Herrschen hinabgeschickt werden, mein Kind Ho-
rus, werden aus den oberen Zonen hinabgeschickt Wenn sie dann wieder frei
sind, steigen sie in die gleichen oder noch höhere (Zonen) hinauf, es sei denn,
einige hätten gegen die Würde der eigenen Natur oder gegen die Anordnung
des göttlichen Gesetzes verstoßen. Diese verbannt die obere Vorsehung nach
dem Grad der Verfehlungen in die unteren Kammern, so wie sie auch die
geringeren, im Blick auf Tat und Würde nämlich, aus den unteren (Kammern)
in größere und höhere hinaufführt.
3 Von oben her stammen auch die Wächter, die der allgemeinen Vorsehung
gehören, von denen der eine der Seelenwart, der andere der Seelenbegleiter ist.
Der Seelenwart ist Absender und Ordner der Seelen (in den Kammern), der
Seelenbegleiter ist Absender und Ordner der Seelen, die in Körpern sind. Nach
der Weisheit Gottes bewahrt der eine und der andere sendet aus.
4 Nach dieser Logik, mein Kind, verhält sich die Natur auf Erden entspre-
chend der Veränderung der oberen Dinge. Weil die (Natur) die Form und die
Wohnungen entwirft, werden die Seelen in Gefäße hineingesteckt. Ihr stehen
auch zwei Kräfte zur Seite, Erinnerung und Erfahrung. Die Erinnerung hat
diese Aufgabe, dass die Natur die Art eines jeden, die von Anfang an gegründet
ist, und den Teig 1, der oben ist, bewahrt und beherrscht.
Die Erfahrung (hat die Aufgabe), dass auch das Geschöpf entsprechend jeder
Seele, die hinabsteigt, um in einen Körper einzugehen, wirkt und wird. Die
flinken Seelen bekommen auch flinke Körper, die langsamen langsame, die
fleißigen fleißige, die faulen faule, die starken starke, die listigen listige und
überhaupt jede einzelne einen passenden. 5 Nicht ohne Absicht hat die (Erfah-

1 Vgl. Abschnitt 13.


158 Stobaeus-Fragment XXVI

rung) die Vögel befiedert, die Vernunftbegabten mit mehr und besseren Wahr-
nehmungsmöglichkeiten ausgerüstet. Die Vierfüßer hat sie teils mit Hörnern,
teils mit Zähnen, teils mit Krallen als Waffen stark gemacht. Die Kriechtiere
hat sie durch fließende und nachgiebige Körper beweglich gestaltet, auch damit
sie nicht durch die Feuchtigkeit des Körpers zu schwach blieben. Sie hat die
Mäuler der einen auch mit Zähnen bewehrt, das Gewicht der anderen hat sie
schwer gemacht und ihnen so Kraft gegeben. So sind nun die einen durch die
Vorsicht vor dem Tode stärker als die anderen. Aber (die Natur) hat es einge-
richtet, dass die Wassertiere, weil sie furchtsam sind, in einem Element woh-
nen, in dem das Licht keine von seinen Kräften, die es hat, zur Wirkung
bringen kann; denn im Wasser leuchtet oder brennt kein Feuer. Jedes von
ihnen, das im Wasser mit Hilfe von Flossen oder (biegsamem) Rückgrat
schwimmt, flieht, wohin immer es will. Es hat, weil es nur mit der eigenen
Furchtsamkeit umgeben ist, das Wasser als Verhüllung, um nicht gesehen zu
werden.
6 In jeden dieser Körper werden die Seelen je nach Ähnlichkeit einge-
schlossen. So gehen die urteilsfähigen in die Menschen; die menschenscheuen
in die Vögel; nicht urteilsfahige in die Vierfüßer, denn bei ihnen ist nur die
Stärke Gesetz; die listigen in die Kriechtiere, denn keins von ihnen greift die
Menschen von vorne an, sondern wirft sie aus dem Hinterhalt nieder; die
furchtsamen in die Wassertiere; und was es sonst noch an Wertlosem gibt, hat
an den übrigen Elementen teil.
7 So ergibt es sich also, dass in jedem (Körper) ein Lebewesen zu finden ist,
das seine eigene Natur nicht missbraucht.«
»Wie denn, Mutter, (könnte es missbrauchen)?«, fragte Horus.
Und Isis antwortete: »Indem der Mensch die Urteilsflihigkeit überschreitet,
mein Kind; indem der Vierfüßer die Notwendigkeit verkehrt; indem das
Kriechtier die List _aufgibt; indem das Wassertier die Furchtsamkeit verachtet;
indem der Vogel aus der Menschenscheu fallt. So viel also über den Zustand
der Oberen, ihren Abstieg und Körperwerdung.
8 Es ereignet sich aber, mein Kind, dass sich in jeder Art und Gattung der
vorhandenen (Seelen) königliche Seelen finden, und dass sie unterschiedlich
herabsteigen: manche hitzig, andere kalt; manche übermütig, andere sanftmü-
tig; einige ungebildet, andere erfahren, wieder andere unerfahren; einige faul,
andere fleißig; und überhaupt alle verschieden. Und dies ereignet sich unab-
hängig vom Charakter der Orte, von denen aus die Seelen herabspringen, um in
die Körper gesteckt zu werden. Die einen nämlich springen aus königlichem
Bereich herab, wenn die darin erfahrene Seele König wird. 9 Es gibt ja viele
Königliche: Die einen herrschen über Seelen, die anderen über Körper, andere
über Künste, manche über Wissenschaften, manche wieder über dies, manche
über das.«
Stobaeus-Fragment XXVI 159

»Wie das wieder?«, fragte Horns.


»So, mein Kind Horns, wie dein Vater Osiris über die Seelen, die sich schon
längst entfernt haben, (herrscht). Er ist der Fürst über die Toten jedes Volkes.
Der Vater aller Dinge und Lehrer, der dreimalgrößte Hermes, (regiert) alle
Planung; die ärztliche Kunst (regiert) Asklepios, der Sohn des Hephaistos;
Kraft und Stärke wiederum (regiert) Osiris und nach ihm du selbst, mein Kind.
Über Philosophie (herrscht) Arnebeskhenis2, über Dichtkunst wieder Askle-
pios-lmuthes. Ganz allgemein, mein Kind, wirst du bei genauer Prüfung finden,
dass Viele auch Vieles beherrschen und Viele Vieles regieren. 10 Aber der, der
über alles Gewalt hat, Kind, stammt aus der obersten Kammer. Der aber nur
über Einzelnes Gewalt hat, hat jene recht königliche (Kammer), aus der er seine
Herkunft hat. 11 Sie haben ihre Zone erreicht, sie wirken Feuer und Nahrung.
Die aber aus dem Feuchten stammen, leben auch im Feuchten. Die aber aus
Wissenschaft und Kunst stammen, sind auch mit Wissenschaft und Kunst be-
fasst. Die aber vom Land stammen, leben auch ländlich und nachlässig. Oben,
mein Kind, sind die Quellen aller Worte und Taten, und nach Maß und Standort
weisen sie uns das Sein zu. Nichts gibt es, was nicht von oben herabgestiegen
wäre 12 und wieder zurückkehrte, um erneut herabzusteigen.«
»Wie meinst du nun das wieder, Mutter? Erkläre es mir!«
Und Isis ihrerseits antwortete: »Die hochheilige Natur hat den Lebewesen
dieses deutliche Zeichen des Kreislaufes eingepflanzt: Diesen Atem, den wir
von oben her aus der Luft einziehen, den blasen wir wieder nach oben zurück,
um ihn neu zu empfangen. In uns gibt es nämlich, mein Kind, fleißige Bla-
sebläge für diese Arbeit; wenn sie die Eingangslöcher für die Luft schließen,
dann sind wir nicht mehr hier, sondern schon hinaufgegangen.
13 Für uns, mein hochgerühmtes Kind, kommt aus der Mischung des Teiges
noch etwas anderes hinzu.«
»Was ist es um diesen Teig, meine Mutter?«, fragte Horns.
»Er ist das Zusammentreffen und die Vermischung der vier Elemente. Aus
dieser Mischung und diesem Zusammentreffen dampft ein Nebel auf, der für
die Seele die Hülle bildet. Er läuft im Körper um. Beiden, das heißt dem
Körper und der Seele, gibt er von seinem eigenen Charakter ab. Und so ent-
stehen die .Unterschiede der seelischen und körperlichen Veränderungen.
14 Wenn nämlich in einer gewöhnlichen Körperzusammensetzung das Feuer
überwiegt, alsdann macht die Seele, wenn sie von Natur aus warm ist und einen
anderen warmen (Körper) an sich bindet, weil sie noch feuriger geworden ist,
das Lebewesen recht munter und auch leidenschaftlich, den Körper aber an-
griffslustig und schnell. 15 Wenn aber die Luft überwiegt, alsdann wird das

2 Ein Name des Horus.


160 Stobaeus-Fragment XXVI

Lebewesen leicht, sprunghaft und unstet an Seele und Körper. 16 Wenn hin-
gegen das Wasser überwiegt, wird das Lebewesen der Seele nach glücklich,
stattlich und anschmiegsam, ist in der Lage, auf andere draufzufallen und ihnen
anzuhaften wegen der (Eigenschaft) des Wassers, sich mit anderen zu vereini-
gen und zu verbinden. Denn (Wasser) ist allem zugesetzt; wenn es viel ist, löst
es (alles) in sich selbst auf und umgibt (alles); wenn es aber nur wenig ist und
versickert, wird es zu dem, mit dem es vermischt wird. Wegen dieser Wässrig-
keit und Schlaffheit erreichen die Körper keine innere Festigkeit, sondern
schon aus geringer Ursache einer Krankheit lösen sie sich auf und fallen nach
kurzer Zeit aus der eigenen Bindung heraus.
17 Wenn aber das Erdige überwiegt, alsdann wird die Seele des Lebewesens
stumpf, ohne schlanke Gelenkigkeit im Körper und ohne Kraft zum Springen,
weil die sichtbaren Glieder zu fett geworden sind; sie bleibt dann innen bei sich
selbst, von Last und Fülle gefesselt. Der Körper ist zwar stramm, aber faul und
schwer und lässt sich nur mit Gewalt von einem Vorurteil abbringen.
18 Doch wenn dann der Bestand aller (Elemente) ausgewogen ist, dann
entsteht ein Lebewesen, drängend zur Tat, leicht genug zur Bewegung, stark
zum Fühlen, edel zur Verbindung. 19 Nach dieser Logik sind alle (Lebewesen),
die vorwiegend Anteil an Feuer und Luft haben, die Vögel, die oben bei jenen
Elementen leben, aus denen sie entstanden sind. 20 Alle aber, die vorwiegend
(Anteil) am Feuer (haben), weniger aber an der Luft, dafür aber an Wasser und
Erde zu gleichen Teilen, das sind die Menschen. Bei diesem Lebewesen bildet
der Überschuss an Wärme den Verstand. Denn der Verstand in uns ist ein
warmes Gut, das zwar nicht zu brennen weiß, aber alles durchdringt und dar-
über steht. 21 Alle dagegen, die vorwiegend an Wasser und Erde, nur mäßig an
Luft und wenig am Feuer (Anteil haben), das sind die wilden Tiere. Durch die
Anwesenheit der Wärme sind sie mutiger geworden als die anderen (Lebewe-
sen). 22 Alle, die gleichen Anteil an Erde und Wasser haben, sind die Kriech-
tiere. Durch den Mangel an Feuer sind sie feige und hinterhältig, durch den
Anteil an Wasser sind sie kalt, durch den an Erde schwer und faul, durch den an
Luft flink, wenn sie sich zur Bewegung entschließen. 23 Alle, die vorwiegend
am Nassen, wenig am Trockenen (Anteil haben), das sind die Fische; durch den
Mangel an Wärme und Luft sind sie selbst auch furchtsam, durch den Überfluss
an Nässe und die Anwesenheit von Erdigem wohnen sie, weil sie (diesen Ele-
menten) verwandt sind, in aufgelöster Erde und Wasser. 24 Nach dem Anteil
jedes einzelnen Elementes und nach der Größe des Anteils wachsen die Körper
heran. Also sind die übrigen Lebewesen je nach der geringeren Zuteilung (von
Elementen) gestaltet, weil in einem jeden nur eine mäßige Wirkung der Ele-
mente vorhanden ist.
Stobaeus-Fragment XXVI 161

25 Und ferner meine ich noch, mein heißgeliebter Sohn, dass, wenn aus
einer solchen Zusammensetzung schon beim ersten Zusammentreffen die Mi-
schung und der aus ihr aufsteigende Dampf entstehen - jedenfalls solange sie
(die Elemente) ihren eigenen Charakter bewahren, sodass das Warme kein an-
deres Warmes hinzunimmt, das Luftige keinen anderen Hauch, das Feuchte
keine andere Feuchtigkeit und das Erdige keine andere feste Masse-, (dass)
alsdann das Lebewesen gesund ist.
Wenn aber, mein Kind, die (Elemente) nicht so in den Maßverhältnissen
bleiben, in denen sie sich ursprünglich befanden, sondern vielleicht eines
überwiegt - ich meine jetzt nicht die Wirkung nach außen, auch nicht die
Veränderung der Art oder der Körper beim Wachsen, sondern die zusammen-
gesetzte Mischung der Elemente, wie wir gerade besprochen haben, sodass das
Warme um einiges zunimmt oder auch um einiges abnimmt und die anderen
ebenso -, dann ist das Lebewesen krank.
26 Wenn aber das Warme und das Luftige, die ja zusammen in der Seele
wohnen, sich ebenso verhalten, dann gerät das Lebewesen in Gesichte und
Ekstasen. Denn die Elemente, durch die die Körper zerstört werden, sind dick.
27 Das Erdige selbst macht die Dichte des Körpers aus, das Feuchte aber ist in
ihm der Überguss zum Zwecke des Zusammenhaltes; die Luft dagegen ist das
Bewegliche in uns, aber das Feuer setzt dieses alles in Gang. 28 So wie nun aus
dem ersten Zusammentreffen und der Mischung der Elemente Dampf entsteht
und der Seele als Entflammen oder Aufdampfen - je nachdem, was er ist -
beigemischt ist, so führt der (Körper) die Seele zu sich, wie es seiner Natur
entspricht, sei er nun rege oder nicht. 29 Weil nun die Seele von Anfang an in
Freundschaft und Umgang bei ihm bleibt, erhält sie die Ordnung. Wenn aber
irgendein größeres Teil von außen hinzukommt, sei es zur ganzen Mischung,
sei es zu Teilen oder zu einem Einzelteil, obwohl er vorher festgelegt worden
war, dann verändert der dadurch veränderte Dampf den Zustand der Seele und
den des Körpers. 30 Das Feuer und der Hauch, die oben sind, eilen zur Seele,
weil sie mit ihnen am gleichen Orte wohnt. Das Feuchte und das Erdige, die ja
unten sind, setzen sich zum Körper, der den gleichen Wohnsitz hat.«
162

XXVII
(Ein Satz) desHermesaus der (Rede) der lsis an Horus

Mein größter König, eine anerkannte Beweisführung führt den Unterwiese-


nen in das Verlangen nach Wissen, das er vorher nicht hatte.

XXVIII
Thales, gefragt: »Was ist das Älteste der Seienden?«, antwortete: »Gott, denn
er ist das Ungezeugte.«
Sokrates, gefragt: »Was ist Gott?«, sagte: »Das Unsterbliche und Ewige.«
Hermes, gefragt: »Was ist Gott?«, sagte: »Der Schöpfer aller, der weiseste
und ewige Geist.«
163

XXIX
Über das Bestimmte: (Ein Gedicht des) Hermes 1•

An der Olympischen Schwelle drängen sich sieben Sterne,


Weitumschweifende2, und zu ihnen tritt noch der Aeon.
Nächtlicher Mond und finsterer Kronos3, die liebliche Sonne,
Paphische Priesterin\ tapferer Ares, geflügelter Hermes,
Urvater Zeus, Allzeuger, entsproß ihm Natur als die seine.
Diese erlosten die redenden Menschen; doch unter uns weilen
Mond, Zeus, Ares und Venus, der Kronos, die Sonne und Hermes.
Darum haben wir Teil, wir schlürfen den himmlischen Aether,
Träne, Gelächter und Grimm, das Werden, das Wort, Schlaf und Streben.
Träne ist Kronos, Zeus aber Werden, Worte dann Hermes,
Grimm ist Ares, der Mond aber Schlaf, Aphrodite meint Streben.
Sonne, so lieblich lachend, durch sie strahlt jeder Gedanke,
Sterblich zwar, doch gerecht, durch sie der unendliche Kosmos.

1 Auch unter dem Namen des Empedokles u. a. übeliefert


2 D. h. Planeten
3 Satum.
4 Aphrodite/Venus.
Register der Eigennamen 1

Agathos Daimön: C. H. X 23; XII 1.8.9.13


Adrasteia: Stob. XXIII 48
Aeon: C. H. XI 2.3.4.5.7:15.20; XIII 20; Stob. XXIII 5.50; XXIX
Ägypten: C. H. XII 113
ägyptisch: C. H. XVI 2
Ammon: C. H. XVI Ü; Stob. XII Ü; XIII Ü; XIV Ü; XV Ü; XVI Ü; XVII 1
Anthröpos (Mensch): C. H. I 12.14.16.17.21; XIII 4.20.43; XVI Ü; Stob. XI 2,6
Aphrodite: Stob. XXII Ü; XXIII 28; XXIX
Ares: Stob. XXIII 28; Stob. XXIX
Arnebeskhenis: Stob. XXVI 9
Asklepios: C. H. II 1.4.6.7.9.10.12.17; VI 1.3.4.6; IX 1.5.9.10; X 1; XIV Ü;
XVI Ü; Stob. XXVI 9
Asklepios-Imuthes: Stob. XXIII 6; XXVI 9
Bär (Sternbild): C. H. II 7; V 4; Stob. VI 13; XXIV 11.12
Daimön: Stob. XXIII 55.58
Dekan: Stob. VI 1.2.3.5.6.12; XXII
Dike: C. H. X 23; Stob. XXIII 28; XXIV 5
Erde: C. H. V 3.6: X 18; XI 7; XII 17; XIII 11.17.20; XVI 5.17; Stob. II A 3;
XlVI; XXIII 45.51; XXV 11
Gott, der Vater, der Gute: C. H. X 1.2.3.9.14
Griechen: C. H. XVI 1.2
Griechenland: C. H. XII 13; Stob. XXIV 12
griechisch: C. H. XVIII 16
Helios (Sonne): C. H. V 3; X 3; XII 13; XVI Ü.5.17; XVIII 11; Stob. II A 14;
VI 2.6; XVII 6; XXI 2; XXIII 7.28.50.51; XXIV 1; XXIX
Hephaistos: Stob. XXIII 6; XXVI 9
Hermes: C. H. I Ü; III Ü; IV Ü; V Ü; X Ü; XI Ü.l.5.8.13.15; XII Ü; XIII Ü;
XIV Ü; XVI 1.16; Stob. I Ü; Ila Ü; Ilb Ü; IV Ü; V Ü; VI Ü; VII Ü; VIII Ü;
IX Ü; X Ü; XII Ü; XIII Ü; XIV Ü; XV Ü; XVI Ü; XVIII Ü; XX Ü; XXI Ü;
XXII Ü; XXIII Ü.5.7.8.25.26.27.29.30.32.44.48.66.67.68; XXVI 9;
XXVIT Ü; XXVIII; XXIX Ü
Horkos (Schwur): Stob. XXIII 67
Horus: Stob. XXIII 1.2.5.22.32.38.40.43.47.64.70; XXIV 1.6.7.8.9.11.14; XXV
Ü.l.4.6.11.14; XXVI 1.2.7.9.13; XXVII Ü

1 ü = Nennung in der Überschrift.


166 Register der Eigennamen

Imuthes (lmhotep): S. Asklepios


Indien: C. H. XI 19
Isis: Stob. XXill 1.22.64.70; XXIV 1.10.11.16; XXV Ü.1.2; XXVI 7.12;
xxvnü
Italien: Stob. XXIV 12
Kamephis: Stob. XXill 32
Kronos: C. H. X 5; Stob. XXill 28; XXIX
Kythereia: Stob. XXIX
Mömos: Stob. XXill 48
Mond: Stob. VI 13; vgl. Selene
Nil: Stob. XXIV 14
Nous: C. H. I 6.9.21.24; XI Ü; XII 12
Olymp (Olympier): C. H. X 15; Stob. X 15; XXIX
Orpheus: Stob. XXill 36
Osiris: Stob. XXIII 7.64.69; XXV 3; XXVI 9
Persien: C. H. XII 3
Pheidias (Phidias): C. H. XVill 4
Poimandres: C. H. I Ü.2.6.7.8.16.21.24.27.30; XIII 15
Ptah: Stob. xxm 6
Selene (Mond): C. H. XI 7; Stob. VI 2.15; XVII 6; XXill 28.50; XIV 1; XXIX
Sokrates: Stob. XXVill
Sonne: S. Helios
Tat (Thoth): C. H. IV Ü.3.5.6.8.11; V Ü.1.2.4.8; X 1.3.4; XII Ü.1; XIII Ü; XIV
1; XVI 1; XVII; Stob. I Ü.2; II A Ü.1.3.4.6; II B Ü; IV Ü.6.10; V Ü.1; VI
ü.1.6.15.16; vm 2; IX ü; x ü; xxm 6
Thales: Stob. xxvm
Tierkreis: C. H. XIII 12; Stob. VI 2.3.13.17; XXIII 20.29
Trismegistos: C. H. I Ü; II 3.6.7.8.9.10.12; X Ü.15; XI 1.22; XII Ü; XIII
Ü.1.6.11; XIV Ü; Stob. VI 2; XXIII Ü
Typhon: Stob. XXV 8
Uranos: C. H. X 5
Zeus: Stob. XXill 28; XXIX

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