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Gershom Scholem

Ursprung und Anfänge der Kabbala

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Gershom Scholem

Ursprung und Anfange


der Kabbala

2. Auflage
mit einem Geleitwort von
Ernst Ludwig Ehrlich
und einem Nachwort von
Joseph Dan

Walter de Gruyter · Berlin · New York


2001
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Die Originalausgabe dieses Bandes erschien 1962 als Band III der Reihe Studia Judaica.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier,


das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsauf nähme

Solem, Gersôm:
Ursprung und Anfänge der Kabbala / von Gershom Scholem.
- 2. Aufl. / mit einem Geleitw. von Ernst Ludwig Ehrlich und
einem Nachw. von Joseph Dan. - Berlin ; New York : de Gruy-
ter, 2001
ISBN 3-11-017253-4

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, 10785 Berlin


Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer-
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Hubert & Co. G m b H & Co. KG, Göttingen

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Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit (Emst Ludwig Ehrlich) V


Vorwort (Gershom Scholem) VII
Zur Transkription des Hebräischen IX

I. Das Problem
1. Die Lage der Forschung - Die Auffassungen von Graetz
und Neumark 1
2. Südfrankreich im 12. Jahrhundert. Die katharische Bewe-
gung — Das Judentum im Languedoc 9
3. Die vor-kabbalistische jüdische Geheimlehre über die Schöp-
fung und die Merkaba - Literatur der Hekhaloth und jüdi-
sche Gnosis 15
4. Das Buch der Schöpfung 20
5. Die ältesten Zeugnisse über das Auftreten der Kabbala und
das Erscheinen des Buches Bahir 29

II. Das Buch Bahir


1. Literarischer Charakter und Aufbau des Buches. Verschie-
dene Schichten 43
2. Gnostische Elemente im Bahir - Pleroma und Weltenbaum 59
3. Weitere gnostische Elemente - Die Kräfte Gottes. Mid-
doth - Gnostische Umdeutung talmudischer Aussprüche -
Die doppelte Sophia und die Symbolik der Sophia als Toch-
ter und Braut 70
4. Nachweis älterer Quellen, die sich in der Tradition der deut-
schen Chassidim erhalten haben - Raza Rabba und Bahir 85
5. Die ersten drei Sephiroth 109
6. Die unteren sieben Sephiroth - Die Glieder des Urmenschen
und ihre Symbolik - Der Ort des Bösen 122
7. Syzygie des Männlichen und Weiblichen - Die 7. und
10. Sephira im Bahir - Symbolik des Gerechten 134
8. Die Symbolik der Schekhina und des Weiblichen - Der
Edelstein 143

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X Inhaltsverzeichnis

9. Elemente der Äonenlehre bei den deutschen Chassidim . . . 159


10. Seelenwanderung und Gebetsmystik im Bahir 166

III. Die ersten Kabbalisten in der Provence


1. Abraham ben Isaak aus Narbonne 175
2. Abraham ben David (Rabed) 180
3. Jakob Nazir und die Schicht der Gemeinde-Asketen, Pru-
schim und Nezirim - Katharismus und Kabbala - Offen-
barungen an Asketen und deren Formen — Lehre von der
Kawwana im Gebet 201
4. Isaak der Blinde und seine Schriften 219
5. Isaaks Lehre vom En-soph und den Sephiroth 230
6. Gut und Böse bei Isaak und in anderen Quellen 255
7. Kontemplative Mystik Isaaks - Kawwana und Debhequth 264
8. Die Schriften des '/¿/««-Kreises 273
9. Grundvorstellungen dieses Kreises - Der Ur-Äther. Licht-
und Sprach-Mystik 292
10. Die 13 Middoth, 10 Sephiroth und 3 Lichter über ihnen bei
Pseudo-Haj 307
11. Sephiroth-Lehren eines pseudepigraphischen Sendschreibens 314

IV. Das kabbalistische Zentrum in Gerona


1. Die Kabbalisten von Gerona und ihre Schriften 324
2. Debatten und Unruhen über die Propaganda der Kabbali-
sten. Ihre Rolle im Streit um die Schriften des Maimonides 349
3. Der Aufstieg durch die Kawwana. Das Nichts und die Hokhma 366
4. Lehren Azriels und Nachmanides' über den Prozeß der Ema-
nation. En-soph, Urwille und Uridee - Die Sephiroth . . . . 381
5. Der Mensch und die Seele 401
6. Das Buch Temuna und die Lehre von den Weltenzyklen oder
Schemittoth 407

Register (Namen und Sachen) 421


Nachwort (Joseph Dan) 435

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Zum Geleit
von Ernst Ludwig Ehrlich

Ursprung und Anfänge der Kabbala (Studia Judaica 3, Berlin/New


York 1962) hat seine Geschichte; denn das Buch war bereits im Jahre
1948 in Jerusalem in hebräischer Sprache erschienen, als Gershom
Scholem (5. Dezember 1897 bis 21. Februar 1982) sich inmitten we-
sentlicher Studien sowie auf der Suche nach Handschriften befand.
Daher entschloß er sich, das frühere Werk für die deutsche Ausgabe
entscheidend zu erweitern. Mir gegenüber bezeichnete er es einmal als
das wesentlichste Werk seiner wissenschaftlichen Arbeit. Es ist zu-
gleich, im Unterschied zu vielen anderen Publikationen, die oft allge-
meinere Probleme der Kabbala behandeln, das tiefstgehende Buch.
Es ist vor allem zu berücksichtigen, daß Gershom Scholem mit der
Erforschung der Kabbala eine neue Wissenschaft begründet hat, wo-
durch der Geist der Ignoranz auf diesem Gebiet beseitigt und die
Überwindung des Scharlatanismus eingeleitet wurde. Dazu ist er vor
allem durch das jahrzehntelange Studium der in aller Welt verbreiteten
Handschriften gekommen, die vor ihm noch niemals erforscht worden
waren. Im übrigen hat er erkannt, daß die Darstellung der Kabbala
nicht nur im Zusammenhang mit der jüdischen Philosophie zu sehen
ist, sondern in die Religionsgeschichte gehört, so eng sie streckenweise
auch ihre Verbindung mit der Philosophie erweisen mag.
Die Ergebnisse, zu denen Scholem gelangt ist, waren nur durch die
Erforschung der mystischen Terminologie möglich, durch deren Un-
tersuchung die Entwicklung der kabbalistischen Anschauung klar
wurde. Die Kabbala ist, wie Scholem betont, ein Phänomen des Juden-
tums im abendländisch-christlichen Bereich, das in der Provence um
die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden und von dort zu Beginn des
13. Jahrhunderts nach Spanien verpflanzt worden war, wo die Lehre
ihre klassische Entwicklung nahm.
Jüdische Mystik beginnt nicht mit der Kabbala; vielmehr hatten sich
bereits in der talmudischen Zeit gnostisch-theosophische Geheimleh-
ren über die Schöpfung und den göttlichen Thronwagen im Anschluß
an Ezechiel 1 gebildet. Die Kabbalisten fühlten sich als legitime Erben

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VI Zum Geleit

der jüdischen Tradition und wollten diese innerhalb des rabbinischen


Rahmens untermauern. Ihr Verhältnis zur Halacha war eindeutig posi-
tiv, und sie traten als Verteidiger der rabbinischen Tradition auf, deren
Vertreter allerdings ihrerseits in der Kabbala oft nur eine Art der Hete-
rodoxie sahen.
Das vorliegende Buch ist keine leichte Lektüre, aber sie ist schlecht-
hin notwendig, wenn man einen wesentlichen Zweig jüdischer Reli-
gionsgeschichte überhaupt verstehen will. Angesichts dieses Buches hat
der Philosoph Hugo Bergmann einmal geschrieben: „Ein Strom von
oben und ein Strom von unten treffen aufeinander, und aus ihrer Be-
gegnung geht die Kabbala als historisches Phänomen hervor."
Die Beschäftigung mit diesem Buch, eben als dem Grundwerk von
Scholems wissenschaftlicher Tätigkeit und als Zusammenfassung sei-
ner jahrzehntelangen Forschung, ist heute nicht weniger unverzichtbar
als bei seinem ersten Erscheinen. Es hat im übrigen mehr als ein Jahr-
zehnt gedauert, bis es die volle Aufmerksamkeit der Wissenschaft ge-
funden hat. Darüber und über Scholems andere Werke finden lebhafte
wissenschaftliche Diskussionen statt. Ein Beispiel ist etwa das Buch
Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen (herausgegeben von Peter
Schäfer und Gary Smith, Edition Suhrkamp Band 1989, Frankfurt
am Main 1996), wo sich eine Auseinandersetzung mit Scholem findet.
Gleichwohl bleibt die Tatsache bestehen, daß trotz seiner zahlreichen
anderen Schriften ohne Ursprung und Anfänge der Kabbala eine solche
Diskussion kaum möglich wäre.

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Vorwort
von Gershom Scholem

Das vorliegende Buch enthält die Resultate von Studien, die ich vor
nunmehr 40 Jahren begonnen habe. Damals galt meine erste größere
Arbeit dem Buch Bahir, dem ältesten erhaltenen kabbalistischen Text.
Die Behandlung der aus dem Buch sich ergebenden Fragestellungen,
die ich damals in jugendlicher Vermessenheit in Aussicht stellte, hat
viele Jahre auf sich warten lassen und liegt in ihrer endgültigen Form
erst in diesem Buche vor. Zwar ist dies nicht der erste Versuch, das
Problem der Entstehung der Kabbala anzugreifen, den ich unternom-
men habe. Einen ersten Entwurf, wie sich mir das Problem und seine
Lösung darstellte, habe ich 1928 in meinem Aufsatz „Zur Frage der
Entstehung der Kabbala" im „Korrespondenzblatt des Vereins für die
Begründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums" vor-
getragen. Meine Studien über die kabbalistischen Handschriften der
älteren Periode, die ich viele Jahre fortgesetzt habe und die sich als
besonders fruchtbar erwiesen, führten dann eine weitere Klärung her-
bei, deren Resultate ich zuerst 1945 in einem hebräischen Buche nie-
dergelegt habe, das unter dem Titel Reschith ha-Kabbala in Jerusalem
1948 erschienen ist. Die wesentlichen Positionen, die ich damals be-
zogen habe, sind auch in der nun vorliegenden durchgreifenden und
den hebräischen Text um mehr als das Doppelte erweiternden Neube-
arbeitung beibehalten worden. Ich habe aber jetzt die Argumentation,
soweit es im Rahmen dieses Bandes möglich war, im Detail ausgeführt,
das wesentliche Material beschrieben und analysiert, so daß die Reli-
gionshistoriker sich ihr eigenes Urteil über die hier vorgetragene neue
Auffassung bilden können. Während ich kaum annehmen kann, daß
in den hebräischen Handschriften noch wesentliches weiteres Material
zum Vorschein kommen wird, das mir bei meiner Durchforschung die-
ser Literatur im Laufe von Jahrzehnten entgangen ist, hoffe ich, daß
auch über die hier entwickelte Auffassung des Problems und Inter-
pretation des Materials hinaus neue Gesichtspunkte die Diskussion
fruchtbar gestalten können. Nachdem einmal das Eis der Ignoranz
gebrochen und der Scharlatanismus, der auf diesem Gebiet sich nur

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Vili Vorwort

allzu lange breit gemacht hat, überwunden ist, liegt der Weg für wei-
tere Forschung offen. Die Wissenschaft vom Judentum, die orienta-
lische und abendländische Religionsgeschichte werden in gleichem
Maße von einer eindringenden Erforschung und Diskussion des Phä-
nomens der Kabbala Gewinn haben.
Der Abschluß dieses Werkes wurde mir dadurch wesentlich erleich-
tert, daß das Institute of Jewish Studies in London mir ein Research
Fellowship zur Verfügung stellte und mir dadurch die Möglichkeit bot,
mich 1961 einen großen Teil des Jahres auf diese Arbeit zu konzen-
trieren, wobei mir auch die Gastfreundschaft des Warburg Instituts in
London und seiner reichen Bibliothek zustatten kam. Dankbar ge-
denke ich auch der Notwendigkeit, die mich zwang, im Verlauf meiner
Vorlesungen an der Universität Jerusalem seit 1925 immer wieder mich
und meine Schüler mit dem hier behandelten Problem zu konfron-
tieren. Wenn dieses Buch mit einem gewissen Anspruch auf Reife auf-
treten darf, so verdankt es das dem immer erneuerten kritischen
Durchdenken dieser Fragen in akademischen Vorlesungen. In diesem
Sinne darf auch ich das alte Wort des talmudischen Weisen bestätigen,
der da sagte: von allen, die mich etwas zu lehren hatten, habe ich
gelernt, am meisten aber von meinen Schülern.

Jerusalem
The Hebrew University Gershom Scholem

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Zur Transkription des Hebräischen

Hebräische Worte sind im allgemeinen nach der hier gegebenen Ta-


fel transkribiert. Hier und da vorkommende Inkonsequenzen bitte ich
zu entschuldigen. Namen und Begriffe, die in einer bestimmten Schrei-
bung üblich geworden sind, (wie Kabbala statt Qabbala) habe ich nicht
verändert. Das lautlose h der hebräischen Femininendung ah ist fort-
gelassen worden. Nur an den wenigen Stellen, wo es der Zusammen-
hang erforderte, habe ich hebräische Buchstaben benutzt.

ö m
2 b 3 η
3 bh 0 s, in der Mitte des Wortes ss
3 g ΰ <
"I d a ρ
Π h S ph
1 w Κ s
Τ ζ Ρ 1
Π h Ί r
CS t Ó s, in der Mitte des Wortes ss
' j tí sch
3 k η t
3 kh Π th
1

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I

DAS PROBLEM

1. Die Lage der Forschung — Die Auffassungen von Graetz undNeumark

Die Frage nach dem Ursprung und den Anfängen der Kabbala, der
im 13. Jahrhundert scheinbar unvermittelt auftauchenden Form der
jüdischen Mystik und Theosophie, ist unbestritten eine der schwie-
rigsten Fragen der Religionsgeschichte des Judentums nach der Zer-
störung des Tempels. Ebenso unbestritten ist sie eine der wichtigsten.
Ist doch die Bedeutung, die die kabbalistische Bewegung im Judentum
gewonnen hat, so groß und ihr Einfluß zuzeiten so überwältigend ge-
wesen, daß die Frage nach dem spezifischen historischen Charakter
dieses Phänomens für das Verständnis dessen, was innerhalb des
Judentums religiös möglich war, von kardinaler Wichtigkeit scheint.
Mit Recht ist dem Problem daher von der Forschung große Aufmerk-
samkeit gewidmet worden, und es liegen die verschiedensten Versuche
zu seiner Lösung vor. Die Schwierigkeit beruht dabei nicht nur auf
den Vorurteilen, aus denen heraus viele Gelehrte an das Problem her-
angetreten sind, obwohl solchen Vorurteilen kein geringer Anteil an
der hier herrschenden Verwirrung zukommt, sei es, daß apologetische
Motive, sei es, daß ausgesprochen feindselige Haltung dabei im Spiele
waren.
Es sind vornehmlich zwei Umstände, die die Forschung auf diesem
Gebiet besonders erschwert haben. Vor allem sind die Originalquellen,
die ältesten kabbalistischen Texte, die geeignet sind, Licht auf die
Verhältnisse zu werfen, unter denen die Kabbala hervorgetreten ist,
keineswegs genügend erforscht. Das ist nicht verwunderlich: sie ent-
halten so gut wie gar keine historischen Berichte über Vorgänge, die
die Atmosphäre, in der die Kabbala entstanden ist, oder ihren Ur-
sprung in direkten Zeugnissen und unmittelbar aufzuhellen imstande
wären. So weit solche Berichte hier vorliegen, haben wir es meistens
mit pseudepigraphischen Erzählungen und Erdichtungen zu tun.
Dieser Armut an historischen Urkunden steht nun nicht etwa ein
großer Reichtum an ausführlichen mystischen Texten gegenüber,
deren Analyse dem Religionshistoriker die Arbeit erleichtern könnte.
Vielmehr findet er sich hier vor nur fragmentarisch erhaltenen Texten,
Scholem, Kabbala ι
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2 Das Problem

die dem Verständnis die größten Schwierigkeiten bereiten, sich selt-


samer Symbole und Begriffe bedienen und oft genug geradezu unver-
ständlich sind. Diese Schwierigkeiten bei der „Entzifferung" der ältesten
Texte werden noch durch den Stil vermehrt, wo schon allein der
syntaktische Bau der Sätze oft genug den Leser zur Verzweiflung zu
treiben geeignet ist. Dazu kommt noch ein zweiter Punkt: der Umfang
dieser Originalquellen ist überaus gering. Wir haben es hier nicht mit
umfangreichen Werken zu tun, auch nicht mit persönlichen Doku-
menten, mit Briefwechseln oder biographischen Aufzeichnungen, wie
sie etwa dem Historiker der christlichen oder islamischen Mystik eine
so unschätzbare Hilfe bilden. Alle Urkunden dieser Art sind in den
Stürmen der jüdischen Geschichte fast vollkommen untergegangen.
Als es mir vergönnt war, einmal einen solchen Brief einer der zen-
tralsten Gestalten aus den Anfängen der provençalischen Kabbala
aufzufinden, war dies eine große und freudige Überraschung für mich.
Da die kabbalistische Literatur solcherart den Forschern nur ihr
grimmigstes Gesicht zuzuwenden schien, haben sich nicht viele der
Anstrengimg unterzogen, die Handschriften aus dem Staub der Biblio-
theken herauszuziehen, zu veröffentlichen und zu versuchen, sie zu
ergründen. Adolph Jellinek war der einzige Gelehrte, der, wenn auch
in sehr beschränktem Umfang, im 19. Jahrhundert Texte zur Er-
forschung der Kabbala des 13. Jahrhunderts veröffentlicht hat, und
auch unter ihnen beziehen sich nur wenige auf die früheste oder auf
die unmittelbar darauf folgende Periode. Die Autoren, die über Kabba-
la schrieben, begnügten sich mit dem, was zufälligerweise von den
Kabbalisten selbst zum Druck gebracht wurde. Es bedarf keiner
großen Phantasie um zu erfassen, wie wenig diese Ausgaben schwieriger
Texte den modernen Forscher befriedigen können und wie sehr sie
angetan sind, ihn durch fehlerhafte Lesarten und andere Mängel zu
falschen Schlüssen zu verleiten. So hat sich denn auf diesem schwierigen
Gebiet das Fehlen jeder gründlichen philologischen Detailarbeit, auf
deren Ergebnissen erst eine umfassendere Konstruktion sich tragfähig
hätte erheben können, verhängnisvoll geltend gemacht.
Wenn ich die Schwierigkeiten, mit denen der Kabbala-Forscher zu
kämpfen hat, hier ausführlich bespreche, so geschieht das, um zu
betonen, daß wir dabei nicht auf leichte und elegante Lösung von
Problemen rechnen können, die ihrer Natur nach sich elementarer und
simplistischer Behandlung entziehen. Dennoch liegt es uns ob, einen
Weg zur Lösung zu suchen und das Knäuel der Probleme, die sich hier
auftun, mit möglichster Sorgfalt und Klarheit zu entwirren. Diese
Aufgabe ist nicht so unlöslich, wie es vielleicht auf den ersten oder
auch zweiten Blick scheinen möchte. Aus der kabbalistischen Literatur
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hat sich viel mehr erhalten,
als man früher annahm. Wenn auch diese Schriften uns nicht viele

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Lage der Forschung 3

Originalquellen erhalten haben, die vor diese Zeit zurückreichen, so


geben sie uns doch wenigstens die Möglichkeit, uns eine präzise Vor-
stellung von dem Zustand der Kabbala in der Generation zu machen,
die auf ihr öffentliches Auftreten folgte. Auch aus der Analyse der
verschiedenen Strömungen, die damals in der Kabbala hochkamen
und Gestalt gewannen, läßt sich für das, was vor ihnen lag, einiges
lernen, ganz zu schweigen davon, daß gerade diese Entwicklungen in
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sich für das kabbalistische
Judentum als besonders produktiv erwiesen und die nachfolgenden
Generationen tief beeinflußt haben.
Leider scheidet für diese Betrachtung der Ursprünge und Anfänge
der Kabbala das umfangreichste Werk der kabbalistischen Literatur
des 13. Jahrhunderts, nämlich das Buch Zohar, oder der in ihm zu-
sammengefaßte Schriftenkomplex, gänzlich aus. Immer wieder ist die
Behauptung erhoben worden und wird auch in der Gegenwart oft
genug wiederholt, dieses Buch enthalte, wenn auch in später Redaktion
oder Überarbeitung, zum Teil uralte Stücke, deren Nachweis und
Analyse also für unsere Fragestellung überaus relevant wäre. Die
meisten Schriften über Kabbala nehmen von den im folgenden zu
behandelnden Quellen und Instanzen der wissenschaftlichen Erörte-
rung so gut wie gar keine Notiz, stützen sich aber desto mehr auf den
Zohar. Ich habe in dem einschlägigen Kapitel meines Buches „Die
jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" (1957) die Resultate aus-
gedehnter Detail-Forschungen über dieses Werk vorgetragen und dar-
gelegt, daß es mit den angeblich alten Stücken im Zohar leider nichts
auf sich hat. Das ganze Werk gehört dem letzten Viertel des 13. Jahr-
hunderts an und kann für die folgenden Betrachtungen nicht benutzt
werden. Versuche, doch irgendwelche älteren Bestandteile herauszu-
schälen, sind zwar auch jetzt noch unternommen worden, halten aber
keiner philologischen Nachprüfung stand und verlieren sich ins Phan-
tastische1. Der Zohar beruht durchweg auf der rabbinischen und
kabbalistischen Literatur, die vor 1275 verfaßt wurde. Würde sich
das Gegenteil überzeugend nachweisen lassen — gerade das Scheitern
eines solchen ernstlich unternommenen Versuches, an den ich Jahre
gewandt habe, hat mich von der Unhaltbarkeit dieser Annahme so
1
Die frühere Literatur ist in der Bibliographie zum 6. Kapitel meines Buches „Die
jüdische Mystik", S. 463—466 verzeichnet. Der jüngste Versuch, alte Quellen im Zohar
nachzuweisen, stammt von Prof. Samuel Belkin in seiner hebräischen Arbeit: „Der
Midrasch ha-Ne'elam und seine Quellen in den alten alexandrinischen Midraschim",
in dem Jahrbuch Sura, Bd. III, Jerusalem 1968, S. 25—92. Diese Untersuchung ist
leider in ihren Methoden und Ergebnissen völlig verfehlt und stellt einen ausgesproche-
nen Rückschritt in der Forschung dar, wie R. Zwi Werblowsky : „Philo and the Zohar",
Journal of Jewish Studies, Bd. Χ (1959), S. 23—44, 113—135, in eingehender Nach-
prüfung seiner Argumentation erwiesen hat.

1
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4 Das Problem

gründlich überzeugt! — so würde das natürlich unsere Aufgabe sehr


erleichtern. Wie die Dinge stehen, müssen wir aber auf diesen „Königs-
weg" verzichten und uns mit dem dornigeren Pfad historischer Ana-
lyse der den Anfängen der Kabbala näher stehenden Texte bescheiden.
Damit scheiden Theorien aus, die die kabbalistischen Lehren ohne
weiters bis ins Altertum zurückführen, und die in der Form, in der sie
bisher, zum Beispiel in Adolphe Francks vielgelesenem Buch vertreten
worden sind2, wissenschaftlich nicht mehr diskutiert werden können.
Ebensowenig kann Tholucks Versuch noch ernst genommen werden,
die Kabbala mit dem islamischen Sufismus in historische Beziehung
zu setzen und aus ihm herzuleiten3. Die philologische und historische
Basis dieser Untersuchungen war viel zu schwach, um die weitreichen-
den Resultate und Konsequenzen, zu denen die Autoren gelangten, zu
rechtfertigen. So ist es kein Wunder, daß die wissenschaftliche For-
schung solchen Auffassungen bald den Rücken kehrte. Andererseits
ist der Unterschied zwischen den Formen der jüdischen Mystik, die im
Mittelalter seit etwa 1200 unter dem Namen „Kabbala" auftraten,
und früheren Formen, wie sie vor allem in der jüdischen Gnosis der
Merkaba-Mystik und im deutschen Chassidismus des 12. und 13. Jahr-
hunderts auftreten, so groß, daß ein unmittelbarer Ubergang von der
einen zur anderen Form kaum vorstellbar ist. Dieser Unterschied ist
natürlich auch manchen Gelehrten nicht entgangen, die das damit
gestellte Problem nun auf ihre Weise zu beantworten suchten. Gerade
weil die Struktur des kabbalistischen Denkens so ganz anders war als
die jener älteren oder zeitgenössischen mystischen Strömungen, ver-
suchten sie Erklärungen, die darauf Rücksicht nehmen. So sind be-
sonders zwei Auffassungen von der Entstehung der Kabbala hervor-
getreten, die ihre Begründer mit den ihnen zur Verfügung stehenden
Mitteln zu erweisen unternommen haben, und deren Einfluß in den
letzten Generationen beträchtlich war. Es sind dies die Theorien von
Heinrich Graetz und David Neumark, über die ich hier Einiges sagen
möchte, obwohl, oder vielleicht gerade, weil die im Folgenden ver-
tretenen Auffassungen sich so entschieden, und gerade auch im Prin-
zipiellen und Methodischen, von den ihrigen entfernen.
a
) Adolphe Franck, La Kabbale ou la philosophie religieuse des Hébreux, Paris 1843;
3. Auflage, 1892. Franck kommt — ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von
Adolph Jellinek, Leipzig 1844, S. 286 — zu dem Resultat, „daß die Materialien der
Kabbala aus der Theologie der alten Parsen geschöpft worden sind", ohne daß diese
Entlehnung freilich der Originalität der Kabbala Abbruch tue. Denn an die Stelle des
Dualismus in Gott und Natur habe sie die absolute Einheit von Ursache und Substanz
gesetzt (Franck hält die Kabbala für ein pantheistisches System).
8
F. A. Tholuck, Commentatio de vi, quam graeca philosophia in theologia tum
Muhammedanorum tum Judaeorum exercuerit. II. Partícula: De ortu Cabbalae.
Hamburg 1837.

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Graetz und Neumark 5

Graetz 4 trägt wirklich eine historische Erklärung vor, die auf


großen Ereignissen und Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen
Geschichte beruht. Nach ihm wäre die Kabbala im Grunde nichts als
ein Produkt der Reaktion auf den radikalen Rationalismus der Maimo-
nisten, das heißt der Anhänger der Philosophie des Moses ben Maimón,
der 1204 in Fostät (Alt-Kairo) starb, aber begeisterte Anhänger überall
im Orient und auch in der Provence hatte, wo sein Hauptwerk, der
„Führer der Verwirrten", gerade in seinem Todesjahr in hebräischer
Ubersetzung des arabischen Originals erschien. Das historische Auf-
treten der Kabbala in der Provence am Anfang des 13. Jahrhunderts
fällt mit ihrer Entstehung zusammen. Obskuranten, die das Licht der
Aufklärung haßten, das aus dem Lehrhaus der neuen Rationalisten
brach, stellten ihr ein System entgegen, das sich zwar Kabbala, das
heißt wörtlich „Tradition, Überlieferung" nannte, dessen Lehren aber,
aus überhitzten Phantastenköpfen entsprangen, abergläubischen und
un jüdischen Charakters sind. Bei ihrem Kampf gegen die Aufklärung
waren sie nicht wählerisch, und scheuten sich daher nicht, für ihre
Grundauffassungen auf fremde, nicht näher bezeichnete Quellen zu-
rückzugreifen. Eine historische Kontinuität zwischen der Kabbala und
den älteren mystischen Bewegungen im Judentum, wie vor allem der
Merkaba-Mystik, besteht nicht. Nur rein literarisch haben die groben
Anthropomorphismen der Anhänger des Schi'ur Qoma, der Lehre
von der mystischen Gestalt der Gottheit5, die neuen symbolischen
Deutungen der Kabbalisten angeregt. Graetz schließt die Möglichkeit
nicht aus, daß in dieser mystischen Symbolik auch älteres Gedanken-
gut stecken könne, läßt sich aber nirgends in eine nähere Auseinander-
setzung über diese doch offensichtlich wichtige Frage ein. „Woher die
ersten Kabbalisten... ihre dem Neuplatonismus entlehnten Grundprin-
zipien bezogen haben, kann noch nicht mit voller Gewißheit angegeben
werden« ". Aber im Kampf gegen die Verflüchtigung der talmudischen
Aggada und der jüdischen Ritualgesetze bei den Anhängern der Philo-
sophie des Maimonides entwickeln die neuen Finsterlinge ihre eigene
Theorie, die auf der Annahme einer magischen Wirkung des Rituals
beruht, deren Einzelheiten sie aus kabbalistischen Offenbarungen
schöpften, die die Begründer der neuen Richtung für sich in Anspruch
nahmen. Bemerkenswerterweise spieltg erade für Graetz eine mögliche
Filiation der Kabbala zur Gnosis, wie sie für andere Autoren, die an
das hohe Alter der Kabbala glaubten, plausibel schien, keinerlei Rolle.

4 Grätz trug seine Anschauung zuerst 1862 in Note 3 zum 7. Band seiner Geschichte

der Juden vor, vgl. in der 4. Auflage, Leipzig 1908, S. 385—402: „Ursprung der
Kabbala".
* Vgl. dazu Die jüdische Mystik, S. 68—72, sowie hier unten in § 3 dieses Kapitels.
• Grätz, Bd. 7, S. 401.

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6 Das Problem

Ganz verschieden hiervon ist die Theorie David Neumarks in seiner


„Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters"7. Auch er
trägt eine Erklärung aus einem immanenten Prozeß vor, der aber nicht
an die Ereignisse anschließt, die mit dem Kampf zwischen den An-
hängern des Maimonides und seinen Gegnern zusammenhängen. Viel-
mehr sieht er in der Kabbala ein Produkt der inneren Dialektik in der
Entwicklung der philosophischen Gedanken im Judentum. Große
historische Geschehnisse spielen dabei keine wesentliche Rolle. Alles
ist auf innere Prozesse im philosophischen Denken allein gestellt. Im
Gegensatz zu Graetz billigt Neumark der Kabbala ein höheres Alter
zu und sieht in ihr das Ergebnis eines durchaus innerjüdischen Pro-
zesses, für den es keiner Anleihe bei fremden Quellen bedurfte, nämlich
eines Prozesses der Re-Mythisierung philosophischer Konzeptionen
Ihm zufolge liegt der Ausgangspunkt der philosophischen Bewegung im
Judentum einerseits in den kosmogonischen Spekulationen (Ma'asseh
Bereschith) der Talmudisten, die das Problem der Ursubstanz auf-
werfen und die Ideenlehre entwickeln, andererseits aber in der Merka-
ba-Spekulation über die Thronwelt Gottes, in der die Emanationslehre
und die Angelologie als Lehre von den Mittelwesen bei der Schöpfung
entwickelt worden sei. Diese beiden ursprünglich esoterischen Diszi-
plinen stehen in einer ständigen, sich feindselig verschärfenden Aus-
einandersetzung, die zugleich mit der fortschreitenden Aktualisierung
der eigentlich philosophischen Gehalte in diesen frühen Geheimlehren
zugleich auch den Ausgangspunkt einer rückläufigen Bewegung bilden,
eben der Kabbala, die auf diese Weise eine „latente Parallele" zur

7
Band I, Berlin 1907, S. 179—236. In der hebräischen Ausgabe seines Werkes,
New York 1921, S. 166—354 hat Neumark das Kapitel „Die Kabbala" um mehr als
das Doppelte erweitert, das somit eine der ausführlichsten Monographien über die alte
Kabbala bis zum Zohar hin geworden ist, freilich auch eine der irreführendsten. Ein
auf phantastische Grundvoraussetzungen sich beziehender spielerischer, aber unge-
meiner Scharfsinn verbindet sich hier mit einem erstaunlichen Mangel an gesundem
Urteil und historischer Kritik, aber auch mit nicht weniger erstaunlichen gelegentlichen
tiefgründigen Einsichten, die hier und da aus einer völlig unhaltbaren Methode heraus-
springen. Pathetisches Geschwätz verbindet sich mit einem Xiefblick, der dem Autor
keineswegs abging. An vielen Stellen hat er den Wortsinn der kabbalistischen Texte
sowie entscheidende Punkte der kabbalistischen Symbolik völlig mißverstanden, und
auch wo das nicht der Fall ist, schwelgt er in gewaltsamen Deutungen und der Her-
stellung philosophischer Beziehungen, von denen der kritische Leser in den Texten
nichts entdecken kann. Es scheint mir aber nicht undenkbar, daß ein künftiger Ratio-
nalist, der mehr über die von Neumark mit so viel Willkür behandelten Texte weiß
und deren Symbolik besser versteht, die dialektische und an sich fruchtbare Möglich-
keiten enthaltende Betrachtungsweise Neumarks mit größerem Erfolge und in besserer
Übereinstimmung mit Anforderungen und Ergebnissen philologischer Kritik wieder
aufnehmen könnte.

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Graetz und Neumark 7

Philosophie darstellt. „Die Philosophen kämpfen mit den mystischen


Elementen und überwinden sie, aber in den Zwischenstadien dieses
Ringens wird mancher Gedanke konzipiert, manches Bild projiziert
und manches Wort geschliffen. Diese Brocken werden von mystisch
disponierten Geistern aufgelesen und mit Elementen, die aus dem alten
Herd der Merkabalehre herkommen, zu einem neuen Gebilde geformt,
das allmählich aber stetig in den Rahmen der alten Mystik hinein-
wächst und ihn nach allen seinen ins Ungeheure wachsenden Dimen-
sionen und ornamentalen Fugen und Windungen ausfüllt8". Diesen
Prozeß glaubt Neumark an einer bestimmt aufweisbaren philosophi-
schen Literaturkette im Detail vorführen zu können, wobei der Über-
gang von philosophischen zu kabbalistischen Konzeptionen sichtbar
würde. Manche Schriftsteller, die noch in der Terminologie der Philo-
sophen schreiben, gehören im Grunde eben jener latenten Parallel-
bewegung zu, aus welcher die spekulative Form der Kabbala im 13.
Jahrhundert hervorgewachsen ist.
Graetz und Neumark gehen beide methodisch von der Frage nach
der Art der Beziehung der Kabbala zur jüdischen Philosophie des
Mittelalters aus, in deren Zusammenhang sie, jeder auf seine Weise,
die Kabbala hineinstellen. Beide begegnen sich auch in der streng
rationalistischen Wertung, das heißt aber Verwerfung der Rolle, welche
die Kabbala in solchem Zusammenhang spielt (ohne daß ein anderer
bei ihnen deutlich würde), womit die Interesselosigkeit, um nicht zu
sagen Verständnislosigkeit zusammenhängen mag, mit der beide den
spezifisch religiösen Anliegen, die in der Kabbala Ausdruck gefunden
haben, gegenüberstehen.
Beide Anschauungen enthalten, soweit ich urteilen darf, Brocken
von Wahrheit, aber nicht mehr als das. Insbesondere wird man sagen
dürfen, daß die tiefsinnige Konzeption Neumarks der allzu einfachen
Graetzschen weit überlegen scheint und Bedeutung beanspruchen darf,
selbst wenn ihre zum großen Teil überaus zweifelhafte und einer Nach-
prüfung nicht standhaltende Begründung als gescheitert anzusehen
ist, woran, wie mir scheint, kein Zweifel sein kann. Vor allem folgt aus
den von ihm angeführten Instanzen keineswegs, wie man sich nun
nach dieser Methode die Entstehung der kabbalistischen Grundbegriffe
vorzustellen habe. Dazu kommt eine fast unbegreifliche Naivität
Neumarks, der sich ausschließlich auf gedruckte Texte verließ und
zudem kritiklos ganz unbegründeten und willkürlichen Hypothesen
früherer Autoren über die Chronologie gewisser kabbalistischer Texte
folgte. Aber zweifellos haben innerhalb der philosophischen Bewegung
Strömungen der von ihm charakterisierten Art existiert, die nach dem
historischen Auftauchen der Kabbala in der Tat in sie einflossen, vor

• Neumark. Bd. I. S. 181.

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8 Das Problem

allem im 13. und 14. Jahrhundert9. Keine wirkliche Geschichte der


Kabbala wird solche Strömungen ohne Schaden vernachlässigen dürfen.
Und doch kann, wie die unbefangene Analyse der kabbalistischen Lite-
ratur, die Neumark allzu oft mit großer Gewaltsamkeit interpretiert,
es erweist, die wahre Antwort auf das Problem der Entstehung der
Kabbala nicht auf dieser Linie gefunden werden. Beide, Graetz und
Neumark, sind der Illusion der aufgeklärten Religionsvorstellung des
19. Jahrhunderts zum Opfer gefallen. Neumark zog weitreichende
Konsequenzen aus seinem Vorurteil, das in der Kabbala das Produkt
eines philosophischen und rationalen Prozesses sah, und nicht das
Produkt eines religiösen Prozesses, bei dem ganz andere Faktoren mit
im Spiele sind. Das führt bei ihm so weit, daß er allen Ernstes seinen
Ausführungen die seltsame Annahme zugrunde legen konnte, am
Beginn der kabbalistischen Literatur stünden Texte programmatischer
Natur, die von der nachfolgenden Entwicklung ausgefüllt zu werden
bestimmt waren, und es auch in der Tat wurden. Es ist eine Ironie der
Forschung, daß gerade jener „Traktat von der Emanation", Massekheth
'Asiluth, der bei ihm die Funktion eines Programms für die darauf-
folgende Entwicklung hat, keineswegs in der Mitte des 12. Jahrhunderts
verfaßt wurde, wie Neumark meinte, sonders am Anfang des 14., nach-
dem die Entwicklung der spanischen Kabbala schon ihren Höhepunkt
erreicht hatte10.
Die einfache und doch sich im Detail sehr folgenreich auswirkende
methodische Voraussetzung der folgenden Untersuchungen und der
in ihnen zum Ausdruck kommenden Anschauungen ist, daß die kabba-
listische Bewegung im Judentum adaequat nicht in den Kategorien
der Philosophiegeschichte dargestellt werden kann, sondern nur in
denen der Religionsgeschichte, so eng sich streckenweise auch ihre
Verbindung mit der Philosophie erweisen mag. Zu sehr ist von vielen
Forschern der fundamentale Tatbestand verdunkelt worden, daß es
religiöse Motive und keine anderen waren, die die Entwicklung der
Kabbala entscheidend bestimmt haben, auch noch in ihrer Ausein-

• Vor allem haben in den letzten Jahren die sehr wertvollen Studien von Georges
Vajda (Paris) über manche solcher Strömungen und Gestalten, in denen sich zwischen 1270
und 1370 philosophische und kabbalistische Tendenzen begegnen, verbinden oder aus-
einandersetzen, viel Licht verbreitet. Vgl. vor allem seine Studien, Juda ben Nissim
ibn Malka, philosophe juif marocain, Paris 1954; „La conciliation de la philosophie et
de la loi religieuse". . . de Joseph ben Abraham ibn Waqâr, in Sefarad Bd. I X und X
(1949—1950), sowie seine Arbeiten in der Revue des Études Juives und den Archives
d'histoire doctrinale et littéraire du moyen age von 1954—1961.
1 0 Neumark wurde durch Jellinek irregeführt, der diese kleine Schrift ganz grundlos

dem Jakob Nazir zuschrieb, vgl. meinen Artikel über diesen Traktat in der Enzy-
clopaedia Judaica III, Sp. 801—803. Der Traktat ist zweifellos erst nach dem Zohar
verfaßt worden.

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Südfrankreich im 12. Jahrhundert 9

andersetzung mit der Philosophie. Gewiß, die Entwicklung der jüdi-


schen Religionsgeschichte ist nicht im leeren Raum verlaufen. Auch
die Offenbarungen, die den frühesten Kabbalisten, der Tradition nach,
vom Propheten Elias zugekommen sind, haben ihren historischen Hin-
tergrund und ihre spezifische Terminologie, nach denen zu fragen
durchaus legitim ist. Aber nicht aus der Geschichte der Philosophie
sind sie zu verstehen, sondern auf anderem historischen Boden und in
anderen Kreisen als denen der Philosophen sind sie hervorgewachsen.
Diese einfache und doch so gewichtige Wahrheit sollte bei diesen Unter-
suchungen nie aus den Augen verloren werden. So wird denn auch hier
von den bei Neumark für die Entstehung der Kabbala in Anspruch ge-
nommenen Instanzen fast gar nicht die Rede sein, und jedenfalls in
ganz anderen als den von ihm gesehenen Perspektiven. Um so mehr
aber von Argumenten, die man bei ihm oder Graetz vergeblich sucht.
Schon die Untersuchung der wirklichen Zeitfolge der ältesten kabba-
listischen Texte und der in ihnen nachweisbaren Vorstellungen drängt
die Forschung in andere Bahnen. Die Geschichte der mystischen Ter-
minologie, von früheren Forschern zugunsten allgemeiner Ideen ver-
nachlässigt, liefert den authentischen Wegweiser, an dem die For-
schung sich zu orientieren hat, und ihre Untersuchung hat an der
Ausbildung der im folgenden vorgetragenen Anschauung den größten
Anteil gehabt.

2. Südfrankreich im 12. Jahrhundert


Die katharische Bewegung — Das Judentum im Languedoc

Als natürlicher Ausgangspunkt für diese Untersuchung bietet sich


die Frage: unter welchen Umständen ist die Kabbala ans Licht der
Geschichte getreten und wie sah das Zeitalter aus, in dem wir zuerst
über ihr Auftreten erfahren ? Die Kabbala als historische Erscheinung
im mittelalterlichen Judentum ist in der Provence entstanden, und
zwar in ihrem westlichen, als Languedoc bekannten Teil. Von hier
wurde sie im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts nach Spanien, nach
Aragonien und Kastilien verpflanzt, und ihre klassische Entwicklung
spielte sich im wesentlichen dann dort ab. Sie ist also ein Phänomen
des Judentums im christlichen Abendland, und wir haben keinerlei
historische Kenntnisse oder direkte Zeugnisse über ihre Existenz oder
Verbreitung in den Ländern des Islam. Wir haben aber eine wichtige
negative Instanz. Abraham Maimuni, der Sohn des Maimonides, neigte
im Unterschied zu seinem Vater mystischer Geistesart zu, wie sein
arabisch erhaltenes Werk Kifajat al-'abidin beweist, dessen teilweise
englische Übersetzung wir jetzt unter dem Titel „The High Ways to

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10 Das Problem

Perfection" besitzen. Aber Quelle der Erleuchtung und Erbauung ist


für ihn, der um 1220—1230 von Kabbala nichts weiß, der Sufismus
des Islam. Er beklagt sich, in Verbindung mit der Übernahme sufischer
Riten, darüber, daß „der Stolz Israels von ihm genommen und den
Nichtjuden gegeben wurde". Der mystische Schatz, der jetzt im Islam
ist, war eigentlich bestimmt, der Stolz und das eigenste Gut Israels zu
sein und ist dort verloren gegangen — gewiß eine bemerkenswerte
Auffassung. Und was seinen Freund, R. Abraham den Chassid, zum
Sufismus und dessen Adaption ans Judentum bringt, sind genau die
Motive theosophischer Mystik und chassidischer Erleuchtung, die die
zeitgenössischen Kabbalisten im provençalischen Kreis der Chassiditn
und Pruschim bewegen, ohne daß bei ihm Kabbalistisches resultiert11.
Erst drei oder vier Generationen später macht sich kabbalistischer
Einfluß auch in islamischen Ländern geltend. Im islamischen Spanien
hat die Kabbala bis zu ihrem Höhepunkt um 1300 ebenfalls keinerlei
nachweisbare Rolle gespielt. Der Nachdruck unserer Untersuchung
wird daher nicht auf den Stadien liegen, die die Kabbala nach ihrem
Übergang nach Spanien durchgemacht hat — von diesem Prozeß
werden wir hier nur das Anfangsstadium behandeln — sondern auf
der Frage : wie sah die Kabbala aus, bevor sie von Isaak dem Blinden
vertreten und gelehrt wurde und welche Gestalt nahm sie in seinem
eigenen Kreise an ? Inwieweit können wir von hier aus Rückschlüsse
auf ältere Quellen ziehen ? Denn alle unsere Kenntnisse über die ältesten
Kabbalisten und ihre Gruppierungen stammen aus dem Languedoc. In
Städten wie Lunel, Narbonne, Posquières und vielleicht auch in
Toulouse, Marseille und Arles finden wir die ersten Persönlichkeiten,
die uns als Kabbalisten bekannt sind. Erst deren Schüler haben die
kabbalistische Tradition nach Spanien verpflanzt, wo sie dann in
Orten wie Burgos, Gerona und Toledo Wurzel schlägt und sich von
dort auch über weitere jüdische Gemeinden verbreitet. Über Isaak den
Blinden sowie über die kabbalistischen Zirkel, die ihm nahestanden,
besitzen wir jetzt nach Durchforschung der Handschriften ein keines-
wegs verächtliches Material, so daß die Forschung hier auf eine solide
Basis gestellt werden kann. In den folgenden Kapiteln werden wir uns
mit diesem Material zu befassen haben. Demgegenüber bleibt aber das
Problem des Ursprungs der Kabbala und ihrer ersten „prähisto-
rischen" Anfänge, das in den Orient zurückführt, sehr kompliziert
und bedarf — wie wir im nächsten Kapitel sehen werden — genauerer
Untersuchung, die trotz der Exaktheit mancher Ergebnisse auf Hypo-
thesen nicht ganz verzichten kann.

11 Vgl. N. Wieder, Melila Bd. 2, Manchester 1946, S. 60—65. S. Rosenblatts Edition

und Übersetzung eines Teiles von Abrahams Werk ist in Baltimore 1927 und 1938
erschienen.

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Südfrankreich im 12. Jahrhundert 11

Südfrankreich war in der uns hier angehenden Periode, d. h.


zwischen 1150 und 1220, ein Land voll von hohen kulturellen und
religiösen Spannungen. Hier befand sich damals eines der wesent-
lichsten Zentren der mittelalterlichen Kultur, und zweifellos werden
wir auch das Judentum dieser Gegenden im Rahmen seiner Umgebung
zu verstehen haben und dürfen nicht nur mit den inneren Faktoren
rechnen, die damals im Judentum wirksam waren. Die Provence und
speziell das Languedoc sind der Sitz entwickelter höfischer und feu-
daler Kultur. Hier vollzog sich auch, durch oft nicht mehr wahrnehm-
bare oder erst jetzt in den Bereich exakter Forschung tretenden Kanäle
vermittelt, eine intime Berührung zwischen der islamischen Kultur, die
aus Spanien und Nordafrika herüberdrang, und der ritterlichen Kultur
des christlichen Mittelalters. Hier entwickelt sich in dieser Periode die
Dichtung der Troubadours zu ihren Gipfeln. Aber darüber hinaus ist
gerade Südfrankreich ein Land hoher religiöser Spannung, die ihres-
gleichen in anderen Ländern christlicher Kultur nicht hat. Hier
herrscht in dieser Periode in weiten Kreisen des Languedoc nicht mehr
das katholische Christentum, sondern die dualistische Religion der
Katharer oder Albigenser, über deren fundamentalen Charakter die
Forscher nicht ohne Grund lange im Streit lagen. Der Meinimg, daß
es sich hier — wie ihre äußeren Formen es nahelegen — wirklich nur
um die Religion einer christlichen Sekte handelt, die der Verderbnis
des Klerus und der zeitgenössischen Gesellschaft mehr oder weniger
urchristliche Ideale entgegenzusetzen suchten, steht die andere, heute
weithin angenommene Meinung gegenüber, daß wir es hier mit einer
Religion zu tun haben, die, wenn auch unter Benutzung bestimmter
christlicher Begriffe, die Fundamente des Christentums selber unter-
gräbt. Letzteres war gewiß schon die Meinung der katholischen Gegner
dieser machtvollen Häresie, zu deren Bekämpfung ja bekanntlich die
Inquisition ursprünglich ins Leben gerufen wurde, und die erst nach
einem langen und mit äußerster Erbitterung ausgefochtenen Kreuz-
zug mit Feuer und Schwert ausgerottet wurde.
Es ist heute eindeutig erwiesen, daß diese Bewegimg nicht autochthon
in Südfrankreich entstanden ist, sondern in immittelbarem histo-
rischem Zusammenhang mit der Religion der bulgarischen Bogomilen
und deren dualistischen Vorgängern steht, obwohl die Frage um-
stritten ist, ob hier eine unmittelbare historische Filiation zum alten
Manichäismus vorliegt (wie die Kirche annahm) oder ob die dua-
listischen Lehren und die spezifischen Organisationsformen dieser
mittelalterlichen „neumanichäischen" Sekten sich aus anderen Quellen
herleiten. Unentschieden ist auch bis heute die schwierige Frage, in
welchem Ausmaß in der Religion der Katharer sich auch gnostische,
nicht manichäisch vermittelte Einflüsse und Vorstellungen erhalten
haben. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu dieser Diskussion, die durch

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12 Das Problem

wichtige Funde der letzten Jahre wieder lebhaft in Fluß gekommen


ist, Stellung zu nehmen 12 . Aber die Existenz dieser überaus starken
religiösen Bewegung, über deren antikatholische Richtung kein Zweifel
bestehen kann, ist auch für unsere Betrachtung von Bedeutung. Das
provençalische Judentum, das ebenfalls im 12. Jahrhundert eine
Periode hoher Blüte durchmachte, entwickelte sich also damals in
einem Milieu, in dem das katholische Christentum in seiner orthodoxen
Ausprägung um seine bare Existenz zu kämpfen und in der Tat in
weiten Kreisen viel von seinem Einfluß verloren hatte, sowohl bei
der herrschenden feudalen und ritterlichen Schicht und deren kultu-
rellen Sprechern als auch in den breiteren Volksschichten der Bauern
und Hirten.
Diese Erscheinung steht im abendländischen Westen einzigartig da.
Es scheinen enge Beziehungen zwischen manchen Sprechern der pro-
fanen Kultur, die in der scheinbar religiös so ganz spannungslosen
Lyrik der Troubadoure ihren Höhepunkt findet, und dieser radikalen
Bewegung bestanden zu haben, die die Herzen der Massen im Lande
aufrührte und die Fundamente der Herrschaft der Kirche und ihre
Hierarchie angriff. Die Bewegimg, die von manchen der großen Feudal-
herren und einer Mehrzahl der Barone geduldet oder auch aktiv ge-
fördert wurde, hatte Wurzeln geschlagen, und es bedurfte der Ein-
mischung der Könige von Frankreich, die hier ihre eigenen Sonder-
interessen verfolgten, um jenen Kreuzzug gegen die Katharer siegreich
zu beenden und die Macht der Bewegung zu brechen. Im Herzen des
Abendlandes vermochte also eine, mindestens strukturell und vielleicht
auch historisch mit der Welt der Gnosis und des Manichäismus ver-
bundene Sekte nicht nur Fuß zu fassen, sondern auch fast die Herr-
schaft in der Gesellschaft zu erlangen. Die alten Fragestellungen, die
seinerzeit die Physiognomie der marcionitischen Gnosis bestimmt
hatten, kamen wieder hoch und bekundeten eine unverwüstliche
Lebenskraft. Die Katharer stellten, in verschiedenen Graden des
Radikalismus, den wahren Gott als Schöpfer des Intellegiblen und der
Seele dem Satan als Schöpfer der sichtbaren Welt und des Leibes entgegen.
Sie suchten mit ihrer Propaganda, die sich aus einer tief pessimistischen
Bewertung der sichtbaren Schöpfung nährte, einen Weg zur Befreiung
der Seele für die „Vollkommenen" (perfecti) aufzuzeigen. Dabei ist
interessant, daß, wie mehr als einem Kulturhistoriker aufgefallen ist,
gerade der kompromißlose Radikalismus der Sekte eine festere Brücke
zur Profankultur, die das Leben dieser Welt bejahte, herstellte als es
der katholischen Kirche mit ihrem gradualistischen und kompromiß-
reichen System gelingen wollte. Diese dialektischen Beziehungen, die
12
Vgl. die Darstellung der gegenwärtigen Lage der Forschung in Arno Borst, Die
Katharer, Stuttgart 1963, der die Literatur vollständig anführt und bespricht. Vgl.
unten Kap. 3, Anmerkung 59.

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Die katharische Bewegung 13

manchem Betrachter der inneren Verhältnisse, wie sie damals in der


Provence herrschten, aufgefallen sind, vermögen auch auf die mit dem
Aufkommen der Kabbala zusammenhängende Problematik einiges
Licht zu werfen. Es ist wohl denkbar, daß der Eindruck einer großen
Bewegung wie des Katharismus sich auch in Phänomenen wider-
spiegelt, die auf den ersten Blick ganz fern von ihm zu liegen scheinen.
Die katharische Häresie war ja, wie gesagt, in jener Zeit keine An-
gelegenheit geschlossener Konventikel, sondern das ganze Land war
in Aufregung. Auf Straßen lind Märkten predigten die bonshommes —
wie die „Vollkommenen" hießen, die das Joch der katharischen Forde-
rungen in aller Strenge auf sich genommen hatten und so als lebendige
Beispiele wirken konnten — gegen die Korruption im katholischen
Klerus, gegen seine gesellschaftlichen Privilegien und gegen viele
Dogmen der Kirche. Ihr metaphysischer Antisemitismus — viele von
ihnen wandelten mit ihrer Aufreißung eines Abgrunds zwischen dem
alten und dem neuen Testament als sich gegenseitig ausschließenden
Offenbarungen in Marcions Spuren — brauchte sie nicht daran zu
hindern, etwa in Gedankenaustausch mit Juden zu treten, die ja
wie sie Gegner des Katholizismus waren13. Dabei bleibt es schwer zu
ermessen, wieviel Wahrheit an den Beschuldigungen einiger katho-
lischer Polemisten des 13. Jahrhunderts ist, die den Häretikern ihre
Beziehungen mit den Juden vorwerfen14. Wer aber etwa die inter-
essante Schilderung des Zustands der Geister in der Provence in jener
Periode liest, wie sie Jean Guiraud im ersten Band seiner großen
„Histoire de l'Inquisition au moyen âge" gegeben hat 15 , muß sich
davon überzeugen, daß es undenkbar ist, die provençalischen Juden
hätten von dieser tiefen Erregung, die das Land durchzog, nichts
gemerkt und gesehen. In Narbonne und Toulouse, die damals auch
wichtige jüdische Zentren bildeten, gab es stürmische Auseinander-

13
L. J. Newman, Jewish Influence on Early Christian Reform Movements, New
York 1925, S. 131—207: „Jewish Influence on the Catharist Heresy", hat über die
Beteiligung von Juden an der katharischen Bewegung oder ihren Einfluß auf die
Katharer weitgehende Behauptungen aufgestellt, die der Nachprüfung kaum stand-
halten, vgl. Borst, S. 99, 105, 125. Newmans Ausführungen über Kabbala und katha-
rische Lehre, S. 175—185, sind leider ganz irrelevant. Zur Frage der Passagianer, einer
judenchristlichen Sekte, die von manchen (irrigerweise) zu den Katharern gerechnet
werden, vgl. die Literatur bei Borst, S. 112.
14
Vgl. Newman, S. 140, aus Lucas von Tuy, Adversus Albigenses, Ingolstadt 1612,
S. 189—190.
15
Jean Guiraud, Histoire de l'Inquisition au moyen age, Bd. I (Cathares et Vaudois),
Paris 1935. Zur Frage der Zusammenhänge zwischen dem asketischen Katharismus
und der weltlichen Kultur zur Zeit der provençalischen Hochblüte vgl. die Literatur-
nachweise bei Borst, S. 107—108, der von einem „wirren Geflecht von bogomilischer
Lehre und abendländischem Leben" spricht.

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14 Das Problem

Setzungen und ständige offene Reibungen zwischen den feindlichen


Lagern, und gerade in diesen Gegenden trat die Kabbala zum ersten
Male ans Licht.
Die jüdischen Gemeinden des Languedoc waren damals, mindestens
in ihren oberen Schichten, zu hoher kultureller Blüte gelangt. Die Ver-
folgungen der Kreuzzüge hatten sie nicht betroffen. In Marseille, Arles,
Montpellier, Lunel, Béziers, Narbonne, Perpignan, Carcassonne und
Toulouse blühte das Studium der Tora und des Talmud. Besonders
Narbonne hat durch viele Generationen eine große Tradition gelehrter
jüdischer Studien aufzuweisen. Noch vor dem Auftreten der Kabbala
sind seit dem 11. Jahrhundert hier oder in benachbarten Zentren
Midraschim der späteren Schicht, wie große Teile des Midrasch Rabba
zu Numeri, der Midrasch Bereschith Rabbathi und der Midrasch Tad-
sche, die religionsgeschichtlich besonders bemerkenswert sind, ent-
standen oder bearbeitet worden. Nicht nur zeigen sie deutliche Hin-
neigung zu Gedanken, die der talmudischen Geheimlehre in ihren
älteren Formen nahestehen oder sie fortsetzen, sondern einige dieser
Autoren, vor allem der des Midrasch Tadsche, haben auch noch Kennt-
nis von alten literarischen Quellen, die anderswo nicht mehr bekannt
waren. So läßt sich ein deutlicher Einfluß des apokryphen Buchs der
Jubiläen auf den Midrasch Tadsche erweisen, ohne daß wir zur Zeit
entscheiden könnten, ob solche Kenntnis dem Autor aus interner
jüdischer Tradition, von der sonst im Abendland nicht viel zu merken
ist, zugekommen ist oder aus christlichen Quellen16. Es ist aber evident,
daß die aggadische Produktion in Südfrankreich im 11. und 12. Jahr-
hundert, die sich in jenen Werken niedergeschlagen hat, als eine Art
Vorhof zu der Entwicklung der Kabbala dienen konnte, wie sie nach-
her kam. Es fehlt uns noch eine genauere Klärung des Anteils jener
älteren Generationen der Languedoc an der religiösen Kultur des
Judentums. Auch wenn hier innere Faktoren selbständig am Werke
waren, so dürfen wir es doch als sicher betrachten, daß sie zugleich
Anregung und Unterstützung von anderen jüdischen Gruppen er-
hielten. Fäden der Überlieferung spannen sich nicht nur von Narbonne
nach Nordfrankreich und dem Rheinland, wo damals wichtige Zentren
1 6 Über den Midrasch Tadsche, auch als „Baraitha des R. Pinchas ben J a i r " bekannt,

vgl. Abraham Epsteins Forschungen und Edition, mit gesonderter Pagination, in


seinen (hebräischen) Beiträgen zur Jüdischen Alterthumskunde, Erster Theil, Wien
1887, sowie seine Untersuchung über den Zusammenhang der Schrift mit dem Buch
der Jubiläen und Philo in der Revue des Études Juives, Bd. 21 (1890) S. 88—97;
22 (1891), S. 1—26. Epstein hat hier auch eine gewisse Bekanntschaft des Autors
(Moses Ha-Darschan, um 1000 in Narbonne ?) mit Schriften Philos angenommen, die
weniger überzeugend ist. Auch den Zusammenhang mit essäischer Überlieferung, den er
vermutet, halte ich für überaus zweifelhaft. Eine deutsche Übersetzung dieses Midrasch
hat August Wünsche, Aus Israels Lehrhallen, Bd. 5 (1910), S. 85—138, gegeben.

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Merkaba und jüdische Gnosis 15

jüdischer Produktivität bestanden, sondern auch — und es scheint mir


nötig, dies besonders zu betonen — nach dem Orient, wohin enge
Handelsbeziehungen bestanden. Und wer vermöchte zu sagen, welche
Gedanken oder Gedankensplitter, was für Hefte und Fragmente mit
Resten alten literarischen Materials auf diesen Wegen und Kanälen
herüberkamen ?
So dürfen wir denn sagen : nicht in einem stagnierenden oder in der
jüdischen Entwicklung zurückgebliebenen Milieu ist die Kabbala auf-
getreten, sondern in einer kämpf- und spannungsreichen Umgebung,
die ein reiches Traditionsgut, das ihr auf offene oder vielleicht auf
unsichtbare Weise zugekommen ist, in sich aufgenommen hat.

3. Die vor-kabbalistische jüdische Geheimlehre über die Schöpfung und


die Merkaba — Literatur der Hekhaloth und jüdische Gnosis

Hier müssen wir auch die Frage aufwerfen, welches der Zustand der
jüdischen Esoterik und Mystik vor dem Erscheinen der Kabbala auf
der historischen Bildfläche war. Es wurden schon oben die alten kosmo-
gonischen und thronmystischen Spekulationen der Talmudisten er-
wähnt, und es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, was von diesen
Traditionen der jüdischen Überlieferung des 12. Jahrhunderts noch
bekannt war und welche literarischen oder unmittelbaren mündlichen
Quellen für ihre Kenntnis damals zur Verfügung standen ? Denn so
groß, wie schon gesagt, der Abstand zwischen diesen alten Vor-
stellungen und der Kabbala ist, trat sie ja jedenfalls mit dem Anspruch
hervor, nicht nur die Gegenstände dieser alten Geheimlehren über die
Schöpfung und die Merkaba in rechtmäßiger Fortsetzung der alten
Lehren zu behandlen, sondern geradezu selber den Gehalt jener alten
Lehren darzustellen.
Auch in diesen Fragen hat die Forschung in der letzten Generation
wesentliche Fortschritte gemacht. Bis vor vierzig Jahren nahmen —
mit der notablen Ausnahme von Moses Gaster — die meisten Forscher
an, daß wir hier mit zwei ganz verschiedenen Entwicklungsstufen zu
rechnen haben. Einerseits existieren zwischen dem ersten und dritten
Jahrhundert vor allem in den Kreisen der Talmudisten jene zwei von der
Mischna in Hagiga II, 1 bezeugten Geheimlehren über die Schöpfung,
Bereschith, und über den Thronwagen in Ezechiel I, die Merkaba, über
die wir an einigen Stellen der talmudischen Literatur und in alten
Midraschim einige verstreute und fragmentarische, großenteils auch
unverständliche Nachrichten haben17. Diese Überlieferungen seien
17
Viel Material, keineswegs alles, ist gesammelt etwa bei Strack und Billerbeck,
Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, siebe die Stellennach-

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16 Das Problem

dann mehr oder weniger in Vergessenheit geraten und untergegangen.


Andererseits sei dann in der nachtalmudischen Zeit, in der gaonäischen
Periode (vom 7. bis zum Anfang des 11. Jahrhunderts), eine neue
mystische Welle über das Judentum, besonders in Babylonien, hinweg-
gegangen, und habe eine breite Literatur der Merkaba-Mystik und
verwandter Texte hervorgerufen, die aber mit den alten Disziplinen
nicht viel mehr als den Namen und jene talmudischen Traditionen, die
sie literarisch benutzt, gemeinsam hat. Wir können heute mit Sicher-
heit sagen, daß diese Scheidung, die die späte Merkaba-Mystik sehr
nahe an die Entstehungszeit der mittelalterlichen Kabbala heranrückt,
nicht aufrecht zu erhalten ist. Ich habe an anderer Stelle ausführlich
über diese Merkaba-Mystik der sogenannten Hekhaloth-Literatur be-
richtet und dort den Nachweis dafür angetreten, daß diese Schriften
in echtem und ungebrochenem Traditionszusammenhang mit der tal-
mudischen Geheimlehre stehen. Große Teile dieser Literatur gehören
noch der talmudischen Periode selber an und die zentralen Vorstellun-
gen dieser Texte reichen bis ins erste und zweite Jahrhundert hinauf
und stehen damit im unmittelbaren Anschluß an die produktive
Periode, in der das rabbinische Judentum sich in der großen religiösen
Gärung jener Jahrhunderte herauskristallisiert und anderen Strömun-
gen im Judentum gegenüber behauptet und durchgesetzt hat 18 . Gewiß,
nicht immer sind diese Texte in den uns vorliegenden Formen, die zum
Teil deutlich der apokalyptischen Pseudepigraphie zugehören, so alt,
wie sie beanspruchen. Aber auch in solchen Bearbeitungen reicht das
zugrunde liegende Material der Überlieferung bis in die genannte
Periode hinauf. Die mystischen Hymnen, die sich in einigen der
wichtigsten Texte finden, lassen sich mit Sicherheit mindestens bis ins
3. Jahrhundert zurückführen, und hier spricht die literarische Form
selbst gegen spätere Umarbeitung, so daß die Vorstellungen, die in
ihnen niedergelegt sind, sicher nicht später, vielleicht auch schon viel
früher entstanden sind19.
weise im Register, Bd. IV s. v. Merkaba, Thron. Ferner in den Monographien von
H. Graetz, Gnosticismus und Judenthum, Krotoschin 1846; M. Joël, Blicke in die
Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts, Bd. I, Breslau
1880, S. 103—170; M. Friedländer, Der vorchristliche jüdische Gnosticismus, Göttin-
gen 1898; Erich Bischoff, Babylonisch-Astrales im Weltbilde des Thalmud und Mi-
drasch, Leipzig 1907; G. Castelli, Gli antecedenti della Cabbala nella Bibbia e nella
Letteratura Talmudica, Actes du X l l m e Congrès des Orientalistes 1899, Tom. III,
Turin 1903, S. 57—109.
18
Vgl. meine Ausführungen in : Die Jüdische Mystik, S. 43—86,389—402 sowie vor
allem die darüber hinausführenden neuen Forschungen, die ich in meinem Buch Jewish
Gnosticism, Merkabah Mysticism and Talmudic Tradition, New York 1960, vorge-
tragen habe. Ich zitiere diese beiden Bücher im folgenden abgekürzt als J. M. (Jüdische
Mystik) und J. G. (Jewish Gnosticism).
» Vgl. J. G., sect. IV, S. 20—30.

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Merkaba und jüdische Gnosis 17

Diese Schriften enthalten Anweisungen zur Erlangung ekstatischer


Schau der himmlischen Regionen der Merkaba und Schilderungen der
Wanderungen des Ekstatikers durch diese Regionen, die sieben Him-
mel und die sieben Paläste oder Tempel, Hekhaloth, durch die der
Merkaba-Mystiker bis vor Gottes Thron gelangt. Dabei erhält der
Wanderer Offenbarungen über die himmlischen Dinge und über die
Geheimnisse der Schöpfung, über die Hierarchien der Engel und die
magischen Praktiken der Theurgie. Zum höchsten Range aufgestiegen,
erhält er vor dem Throne stehend die Schau der mystischen Gestalt
der Gottheit im Symbol jener „Gestalt wie der eines Menschen", die
der Prophet Ezechiel (1 2β) auf dem Thron der Merkaba sehen durfte.
Hier wird ihm das „Maß des Körpers", hebräisch Schïur Qoma, das
heißt eine anthropomorphistische Schilderung der als Urmensch, aber
auch als der Geliebte des Hohen Liedes, erscheinenden Gottheit zu-
sammen mit den mystischen Namen ihrer Glieder offenbart.
Das Alter dieser, für das Bewußtsein späterer, „aufgeklärter" Jahr-
hunderte sehr anstößigen Schi'ur Çowa-Mystik muß, entgegen früher
herrschenden Anschauungen, mit Sicherheit ins 2. Jahrhundert, keines-
falls später, angesetzt werden20. Zweifellos hängt sie mit der Deutung
des Hohen Liedes als einer mystischen Allegorie auf das Verhältnis
Gottes zu Israel zusammen. Wie Gott sich in Urzeiten der Gesamtheit
der Gemeinde Israel offenbart hat, etwa beim Auszug aus Ägypten, wo
er auf seiner Merkaba sichtbar erschien (wie schon in zweifellos tannai-
tischen Midraschdeutungen belegt ist)21, so wiederholt sich diese Offen-
barung in der Beziehung zwischen Gott und dem wahrhaft in die
Merkaba-Mystik Eingeweihten. Die Schilderung der Glieder des Ge-
liebten an mehreren Stellen des Hohen Liedes, auf welche die wichtig-
sten überlieferten Fragmente dieser Beschreibungen des Schi'ur Qoma
ausdrücklich Bezug nehmen, bildet die biblische Deckung für diese
offensichtlich theosophischen Mysterien, deren genauer Sinn und Zu-
sammenhang uns bis jetzt verschlossen sind. Daß wir es hier, gegen-
über der im Judentum stets so nachdrücklich aufrecht erhaltenen Bild-
losigkeit und Unsichtbarkeit Gottes mit einer Vorstellung zu tun haben,
die eine Projektion dieses Gottes in einer mystischen Gestalt kannte,
ist wohl nicht zu bezweifeln. Unter dieser Gestalt offenbart sich jene
„große Glorie" oder „große Kraft", von der als der höchsten Mani-
festation Gottes in mehreren der jüdischen Apokrypha und Apoka-
lypsen die Rede ist. Auch diese Glorie oder Kraft ist ja nicht unmittel-
bar identisch mit dem Wesen Gottes selber, sondern strahlt eben von
ihm aus. Wie weit auf diese Vorstellungen, die sich also damals auch

2 0 Vgl. zu diesem wichtigen neuen Ergebnis J . G., S. 36—42, sowie Appendix D;

Eranos-Jahrbuch I960, Bd. 29, Zürich 1961, S. 1 4 4 - 1 6 4 .


21 Vgl. Saul Liebermans Ausführungen in Appendix D zu J. G., S. 118—126.

Scbolcm, Kabbala 2
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18 Das Problem

in strikt rabbinischen Kreisen halten konnten, fremde Einflüsse aus


den Spekulationen über den himmlischen Urmenschen eingewirkt
haben mögen, läßt sich zur Zeit nicht mit Sicherheit ausmachen. An-
regungen von außen sind natürlich durchaus möglich, ja geradezu von
der Symbolik des Merkaba-Kapitels in Ezechiel I schon für die Zeit
dieses Propheten selber erwiesen, und an Kanälen, auf denen solche
Anregungen auch nach Palästina dringen konnten, hat es gewiß nicht
gefehlt. Andererseits müssen wir mit viel stärkerer immanenter Ent-
wicklung und Verarbeitung solcher Anregungen rechnen als oft ange-
nommen wird.
Der Religionshistoriker ist berechtigt, die Merkaba-Mystik als einen
der jüdischen Zweige der Gnosis zu betrachten. So wenig in den uns
erhaltenen Texten gnostische Mythen oder abstrakte Spekulationen
über die Äonen und ihre Verhältnisse zueinander vorgetragen werden,
so treffen doch auf die Mystik der Merkaba-Schriften fundamentale
Charakteristika der Gnosis zu: der Besitz einer Erkenntnis, die nicht
durch gewöhnliche intellektuelle Mittel, sondern nur auf dem Wege
einer Offenbarung und mystischen Erleuchtung zu gewinnen ist, der
Besitz einer Geheimlehre über die Ordnung der himmlischen Welten
und die Kenntnis der liturgischen und theurgisch-magischen Mittel,
die den Zutritt zu ihnen eröffnen. Anz 22 erklärte als Zentrallehre des
Gnostizismus eine methodische Anweisung zum Aufstieg der Seele von
der Erde durch die sieben Sphären der feindlichen Planetenengel und
Weltenherrscher bis zu ihrer göttlichen Heimat. Auch wenn wir, im
Einklang mit der modernen Forschung über die Gnosis, keineswegs so
weit gehen wie Anz, bleibt es doch ein Faktum, daß gerade diese Vor-
stellungen innerhalb der jüdischen Tradition, und keineswegs nur der
von jüdischen Häretikern, sich im Zentrum der esoterischen Disziplin
behauptet haben, wenn auch die Rolle der heidnischen Planetenengel
hier von anderen Archonten übernommen wird. Diese treten an den
Toren der sieben himmlischen Paläste dem Ekstatiker feindlich ent-
gegen und können nur — ganz im Sinne verschiedener uns erhaltener
gnostischen Schriften aus derselben Periode — durch den Vorweis
magischer „Siegel", durch die Rezitation von Hymnen und Gebeten
und dergleichen überwunden werden, so daß sie die Passage freigeben.
Handgreiflich bleiben hier die Beziehungen zur spätjüdischen Apoka-
lyptik, die offenbar sowohl zur jüdisch-monotheistischen als zur zum
Dualismus sich entwickelnden häretischen Gnosis plausible Übergänge
darstellt23. In der Schi'ur Çoraa-Spekulation erscheint die mystische

22
Wilhelm Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, Leipzig 1897.
28
Vgl. R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, New York 1969, der diese
Beziehungen stark betont und gegenüber allzu hypothesenfreudigen Annahmen
direkter heidnischer Einflüsse herausgehoben hat.

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Merkaba und jüdische Gnosis 19

Gestalt auf dem Thron als die des Weltschöpfers, Joser Bereschith, von
dessen kosmischem Mantel, von dem hier mehrfach die Rede ist, die
Gestirne und Firmamente ausstrahlen24. Aber diese Vorstellung des
Demiurgen ist hier durchaus monotheistisch gefaßt und entbehrt
völlig des häretischen und antinomistischen Charakters, den sie ange-
nommen hat, als der Schöpfergott dem wahren Gott entgegengestellt
wurde. Der Thron Gottes ist hier in jüdischer Terminologie die Heimat
der Seele; bei ihm endet der Aufstieg des Ekstatikers. Die Welt der
Merkaba, in die er „hinabsteigt", ist eng verwandt mit der Welt des
Pleroma der griechisch-gnostischen Texte. Nur treten hier an die Stelle
abstrakter Begriffe, die zu Äonen personifiziert werden, die Objekte
der Thronwelt, wie sie aus der Vision Ezechiels in diese Überlieferung
eingegangen sind. Zugleich bestehen zwischen diesen Texten der
Merkaba-Gnosis und der Welt der synkretistischen Magie der Zauber-
papyri unmittelbare Berührungen. Wir haben hebräische Merkaba-
Texte, die sich ganz lesen, als ob wir es mit einem der Zauberpapyri
zu tun haben25. Die Grenzen waren hier, mindestens im jüdischen
Bereich, nicht so scharf, wie sie von vielen der neueren Autoren über
die Gnosis für die Abgrenzung zwischen der christlichen Gnosis und
jener synkretistischen Magie statuiert werden.
Wir haben keinerlei Anhalt dafür, daß dieser gnostischen Theosophie
der Merkaba noch nach dem 3. Jahrhundert entscheidende schöpfe-
rische Antriebe zugekommen sind. Die produktive Entwicklung dieser
Vorstellungen hat sich offenbar, wie die Analyse der Hekhaloth-Texte
erweist, auf palästinensischem Boden abgespielt. Später treffen wir noch
hier und in Babylonien literarische Ausarbeitungen dieses älteren
Materials an, in denen sie teilweise auch eine Metamorphose in erbau-
lichen Lesestoff durchmachen. Aber nirgends begegnen uns hier neue
Gedanken. Die praktische Ausübung solcher Himmelsreisen der Seele
und „Merkaba-Schau", Sephijjath Merkaba, hat sich auch in der nach-
talmudischen Zeit erhalten, und noch aus dem 12. und 13. Jahrhundert
haben wir vereinzelte, keineswegs nur als Legenden aufzufassende Be-
richte über solche Praktiken aus Deutschland und Frankreich26. In
den Formen, die diesem alten Material mit allen möglichen späteren
Zusätzen im späten talmudischen und frühen nachtalmudischen Zeit-
alter gegeben wurden, gelangten sie als „Große Hekhaloth", „Kleine
Hekhaloth", „Schi'ur Qoma", „Buch der Merkaba" und unter anderen
Überschriften und in verschiedenen Fassungen zur Kenntnis des

24 Vgl. hierzu J. G., sect. VIII, S. 67—64.


26 Einen solchen Text habe ich im Appendix C von J. G. aus zwei Handschriften
veröffentlicht, S. 101—117.
2 4 Über authentische Nachrichten über die Merkaba-mystischen Himmelreisen fran-

zösischer Talmudisten vgl. unten Kap. 3, Anmerkung 70.


2*

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20 Das Problem

Mittelalters. Sie galten hier als alte esoterische Mischna-Sätze und


wurden in den Überschriften der ältesten Handschriften teilweise
geradezu als „Halakhoth über die Hekhaloth" 27 bezeichnet. Sie ge-
nossen durchaus autoritatives Ansehen und waren keineswegs vom
Verdacht der Häresie begleitet. Handschriften dieser Texte und der
mit ihnen zusammenhängenden theurgischen Literatur waren im Orient
bekannt, wie mehrere Fragmente der Kairoer Geniza beweisen, aber
ebenso in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland 28 . Im 12. Jahr-
hundert liefen solche Texte gerade in gelehrten Kreisen als authen-
tische Dokumente der alten Geheimlehren um 29 . Es wäre also an sich
schon zu erwarten, daß die ältesten Kabbalisten eine Beziehung zu
Traditionen, die sich solchen Ansehens erfreuten, herzustellen suchen
würden.

4. Das Buch der Schöpfung

Neben diese Schriftdenkmäler der Merkaba-Gnosis trat ein weiterer,


überaus merkwürdiger Text, der im Mittelalter in vielen Ländern und
den verschiedensten Kreisen weite Verbreitung gewann und großen
Einfluß ausübte. Das ist das „Buch der Schöpfimg", Sepher Jesira, ein
Text von nur wenigen Seiten, über dessen Ursprung und geistige
Heimat die divergentesten Anschauungen lautgeworden sind, ohne
daß bisher wirklich sichere und endgültige Resultate erzielt worden

27
So z u m Beispiel in den Handschriften, die a m A n f a n g des 12. Jhs. dem J e h u d a
ben Barzilai vorlagen, wie er in seinem K o m m e n t a r zum Buch Jesira, S. 101, bezeugt.
Auch in mehreren der aus Deutschland s t a m m e n d e n Handschriften des 13. u n d 14. Jhs.
sind die einzelnen P a r a p r a p h e n der „großen H e k h a l o t h " als Halakhoth bezeichnet.
48
So h a b e n wir in Ms. Oxford Heb. C 65 ein großes F r a g m e n t des Schi'ur Qoma, in
Ms. Sassoon 522 ein F r a g m e n t eines sehr alten u n b e k a n n t e n Merkaba-Midrasch und
eines Blattes des SchiKur Qoma. Ausschließlich aus der Geniza s t a m m e n auch die vor-
h a n d e n e n Reste der aus dem 4. J h . kommenden „Visionen Ezechiels", Re'ijjoth Jehezqel,
über die ich in J . G., S. 44—47, berichtet habe. Am Anfang des 12. Jhs. k o n n t e m a n
bei einem Kairoer Buchhändler, dessen Katalog uns durch die Geniza teilweise erhalten
geblieben ist, auch mystische u n d theurgische Texte kaufen, vgl. den T e x t in E l k a n
Adler, About H e b r e w Manuscripts, Oxford 1905, S. 40 (Nr. 82 u n d 83). Die meisten
der erhaltenen Handschriften dieser Literatur s t a m m e n aber aus Italien u n d Deutsch-
land.
29
Diese Schriften werden in den Responsen der Geonim, der babylonischen Schul-
h ä u p t e r , sowie in rabbinischen und philosophischen Schriften des f r ü h e n Mittelalters
öfters zitiert u n d von den Qaräern m i t Vorliebe zur Zielscheibe ihrer Angriffe gemacht,
ohne d a ß die rabbinischen Apologeten sie etwa abgeschüttelt h ä t t e n . D a s wichtigste
gaonäische Material über die Merkaba-Traditionen und dergleichen ist von B e n j a m i n
M. Lewin zusammengestellt worden, Otzar ha-Geonim, Thesaurus of t h e Gaonic Respon-
sa a n d Commentaries, Vol. IV, Fase. 2, Chagiga, Jerusalem 1931 S. 10—27, 53—62.

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Das Buch der Schöpfung 21

sind 30 . Das zeigt sich auch in den verschiedenen Zeitansetzungen, die


zwischen dem 2. und 6. Jahrhundert schwanken. Auch dieses Büchel-
chen ist in den ältesten Handschriften als eine Sammlung von ,,Hala-
khot über die Schöpfung" bezeichnet, und es ist durchaus nicht un-
möglich, daß es unter eben diesem Namen im Talmud angeführt ist.
In den auf uns gekommenen zwei verschiedenen Fassungen ist es in
Kapitel eingeteilt, deren einzelne Paragraphen von der mittelalter-
lichen Tradition ebenfalls als Mischna-Sätze angesehen wurden 31 .
Das Buch enthält eine sehr gedrängte Darstellung der Kosmogonie
und Kosmologie, wobei ein merkwürdiger Kontrast besteht zwischen
der Verbosität und Feierlichkeit mancher Sätze, besonders in dem
wichtigen ersten Kapitel, und der lakonischen Form, in der die eigent-
lichen Grundanschauungen und die kosmologischen Sachverhalte vor-
getragen werden. Es ist wohl von einem Autor verfaßt, der seine, sicher
von griechischen Quellen beeinflußten Anschauungen mit den talmu-
dischen Disziplinen der Schöpfungs- und Merkabalehre zusammen-
bringen wollte, wobei wir zum ersten Mal spekulativ gerichtete Um-
deutungen von Vorstellungen aus der Merkaba treffen. Vereinzelte
Versuche, das Buch als eine Art Schulbuch für den Elementarunter-
richt32 oder als eine grammatische Abhandlung über den Bau der
hebräischen Sprache anzusehen 33 , können nicht ernst genommen
werden. Das Buch stellt mit seinem Anfangssatz eine Beziehung zu
der jüdischen Spekulation über Gottes Weisheit, die Hokhma oder

30
Die ältere Literatur über das Buch der Schöpfung ist in den Artikeln von L. Ginz-
berg, Yezirah, Jewish Encyclopedia XII (1906), S. 602—606, und G. Scholem, Jezira,
Encyclopaedia Judaica I X (1932), Sp. 104—111 zusammengestellt. Dazu kommen noch
Α. M. Habermann: 'Abhanim le-Heqer Sepher Jesira, Sinai Bd. X , Jerusalem 1947,
sowie Leo Baeck, Sefer Jezira, Aus drei Jahrtausenden, Tübingen 1958, S. 256—271;
Georges Vajda, Le commentaire kairouanais sur le „Livre de la Création", R. É. J.
nouvelle série, Bd. VII, S. 7—62, Bd. X S. 67—92, Bd. X I I S. 7—33, Bd. X I I I S. 37—
61 (1947—1954).
31
Der Titel Hilkhoth Jesira ist bei Saadia und Jehuda ben Barzilai bezeugt. Den
ältesten bisher erhaltenen handschriftlichen Text hat Habermann aus einer Geniza-
Handschrift des 10. Jhs. veröffentlicht. Die von Saadia in seinem arabischen
Kommentar, ed. Mayer Lambert, Paris 1891, zu Grunde gelegte Fassung weicht von
der der meisten späteren Texte nicht unwesentlich ab. Die Erstausgabe, Mantua 1562,
enthält die zwei wichtigsten Recensionen. Eine kritische Bearbeitung des Textes ist
ein sehr schwieriges Desideratum der Forschung. Der sogenannte „kritisch redigierte
Text" der Ausgabe und Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt 1894, ist
ganz willkürlich zusammengestoppelt und wissenschaftlich wertlos.
32
So z. B. bei S. Karppe, Étude sur les origines et la nature du Zohar, Paris 1901,
S. 164.
33
Phineas Mordell, The Origin of Letters and Numerals according to the Sefer
Yetzirah, Philadelphia 1914.

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22 Das Problem

Sophia her. „In 32 wunderbaren Wegen der Weisheit 34 hat Gott... [hier
folgt eine Reihe biblischer Epitheta für Gott] seine Welt eingegraben
und geschaffen." Diese 32 Wege der Sophia sind die im ersten Kapitel
besprochenen zehn Urzahlen und die 22 Konsonanten des hebräischen
Alphabets, die in Kapitel II im allgemeinen und in den weiteren Ka-
piteln im speziellen in ihrer Bedeutung als Elemente und Bausteine
des Kosmos dargestellt werden. Die „Wege der Sophia" sind also
Grundkräfte, die von ihr ausgehen oder in denen sie sich darstellt. Sie
sind, wie in der alten Vorstellung die Sophia selbst, die Instrumente
der Schöpfung. In sie oder durch sie — die hebräische Präposition ver-
trägt beide Ubersetzungen — hat Gott, also der Herr dèr Sophia, die
Schöpfung „eingegraben". Die Symbolik der Zahl 32 kehrt auch in
manchen christlich-gnostischen Vorstellungen wieder 35 , scheint aber
in diesem Text zuerst und auf die natürlichste Weise begründet zu sein.
Die zehn Urzahlen heißen mit einem hier neugebildeten hebräischen
Wort Sephiroth, was keineswegs mit dem griechischen Wort sphaira
zusammenhängt, sondern von dem hebräischen Verbum für zählen
abgeleitet ist. Durch die Einführung eines neuen Terminus, Sephira
statt des üblichen Mispar, scheint der Autor anzudeuten, daß es sich
nicht einfach um die gewöhnlichen Zahlen, sondern um die Zahlen als
metaphysische Weltprinzipien oder Schöpfungsstufen handelt. Daß es
sich hier etwa um Emanationen aus Gott selbst handelt, ist durch den
Wortlaut und Zusammenhang des Textes eher ausgeschlossen und
konnte erst durch spätere Umdeutung in ihn hineingelesen werden.
Jeder dieser Urzahlen ist eine bestimmte Schöpfungs-Kategorie zu-
geordnet, wobei die ersten vier Sephiroth zweifellos auseinander ema-
nieren. Die erste ist das Pneuma des lebendigen Gottes, Ruah, 'Elohim
hajim, wobei der Autor die mehrschichtige Bedeutung von Ruah als
Hauch, Luft und Geist auch weiterhin benutzt. Aus ihm geht ge-
wissermaßen als Verdichtung der „Hauch vom Hauche", das heißt
das Urelement der Luft hervor, das in den späteren Kapiteln mit dem
Äther identifiziert wird, der sich in stofflichen und unstofflichen Äther
teilt. Der Begriff eines „unstofflichen Äthers", 'Awir sche'eno nithpass,
scheint wie andere hebräische Neologismen des Buches deutlich auf
34
Nethibhoth Pil'olh Hokhma. Nethibhoth der Weisheit kennt Prov. 3 17. Hier
aber gibt es nun Wege der „Mysterien der Hokhma", oder „mysteriöse Wege der
Hokhma" — beide Übersetzungen lassen sich verteidigen. Mit dem Sprachgebrauch
der Qumrän-Schriften hängt Jesira übrigens nicht zusammen. Die Wortverbindung
Pil'oth Hokhma oder Raze Hokhma findet sich in den bisher bekannt gewordenen
Texten nicht.
35
Vgl. das Brautlied der Sophia bei Preuschen, Zwei gnostische Hymnen, Gießen
1904, S. 10. Preuschen sagt S. 41: „So fehlt die Möglichkeit, die Zahl zweiunddreißig
zu deuten, für die sich keine Parallele finden läßt". Ich komme unten S. 8 l und 85
auf diese Zahl in der Brautmystik des Buches Bahir zurück.

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Das Buch der Schöpfung 23

griechische Begriffe zu weisen. Aus der Urluft entspringen Wasser und


Feuer als dritte und vierte Sephira. Aus der Urluft schuf er die 22
Grundbuchstaben, aus dem Urwasser das kosmische Chaos und aus
dem Urfeuer den Thron der Herrlichkeit und die Ordnungen der
Engel se . Ungeklärt bleibt die Art dieses sekundären Schaffens, da die
genaue begriffliche Bedeutung, die der Autor den hierbei aus dem
Bauwesen verwandten Verben haqaq, hasdbh gegeben hat, verschie-
dener Interpretation fähig ist. Er benutzt nicht das hebräische Wort
für schaffen, sondern Worte für eingraben [das heißt den Umriß oder
die Form bezeichnen ?] und aushauen, wie man einen Stein aus dem
Fels aushaut. Das aristotelische Element der Erde ist dem Autor nicht
als Urelement bekannt. Ganz anders sind die letzten sechs Sephiroth
definiert, als welche die sechs Richtungen des Raumes darstellen, von
denen aber nicht gesagt wird, daß sie aus den früheren Urelementen
emaniert seien. Dennoch heißt es von der Gesamtheit aller Sephiroth,
ihr Anfang und Ende seien miteinander verbunden und gingen inein-
ander über, so daß also jene Ur-Dekas eine, wenn auch nicht näher
bezeichnete Einheit bilden, die aber mit der Gottheit selbst keineswegs
identisch ist. Werden doch von diesen Sephiroth geradezu, und offenbar
absichtlich, Wendungen gebraucht, die der Schilderung der Hajjoth,
der den Thron tragenden Tiere in der Merkabavision Ezechiels ent-
nommen sind. Hajjoth heißt wörtlich „lebendige Wesen", und man
kann von den Sephiroth sagen, daß sie „lebendige Zahlenwesen" sind,
aber durchaus Kreaturen: „Ihre Erscheinung ist wie ein Blitzlicht37,
und ihr Ziel ist ohne Ende. Sein Wort ist in ihnen, wenn sie [von Ihm]
kommen und wenn sie zurückkehren. Auf Seinen Befehl eilen sie wie
ein Sturmwind und vor Seinem Throne werfen sie sich nieder" (I, 6).
Sie sind die „Tiefen" aller Dinge 38 : „die Tiefe des Anfangs und die
Tiefe des Endes, die Tiefe des Guten und die Tiefe des Bösen, die
Tiefe des Oben und die Tiefe des Unten, die Tiefe des Ostens und die
Tiefe des Westens, die Tiefe des Nordens und die Tiefe des Südens,
und ein einziger Herr, Gott der treue König, herrscht über sie alle von
seiner heiligen Wohnung her" (I, 5).

36
Der Autor verbindet hier also Lehren oder Deutungen über beide esoterische
Disziplinen, Bereschith und Merkaba.
37
Aus Ez. 1 14 stammt sowohl dies Bild ke-Mar'eh ha-Bazaq wie auch das gleich
dahinter benutzte, offenbar spekulativ umgedeutete raso' wa-schobh.
38
Vermutlich hat Tiefe hier den Sinn von „sich in die Tiefe erstrecken", Dimension.
Es könnte aber auch „verborgene Tiefe" bedeuten (vgl. Daniel 2 22), oder vielleicht
auch „tiefe Grundlage, Prinzip". Der Ausdruck: „Tiefe des Guten und Tiefe des Bösen"
würde nur in sehr übertragener Weise zur Bedeutung Dimension passen. Bei der „Tiefe
des Bösen" könnte man auch an die „Tiefen des Satans" in der Johannes-Apokalypse
2 24 denken

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24 Das Problem

Die Tatsache, daß die Theorie des zweiten Kapitels von der Be-
deutung der 22 Konsonanten als der Grundelemente aller Kreatur 39
sich mehrfach mit der Theorie des ersten Kapitels überschneidet40,
hat mehrere Forscher (so ζ. B. Louis Ginzberg) dazu veranlaßt, dem
Autor die Vorstellung einer Art doppelter Schöpfung zuzuschreiben.
Es gäbe dann eine ideale Schöpfung durch die abstrakt gedachten
Sephiroth und eine reale durch die Verbindung der Elemente der
Sprache. Das dunkle Beiwort belima, Verschlossenheit, das der Autor
den Sephiroth gibt — er spricht nie von Sephiroth allein, sondern stets
von Sephiroth belima — wird von manchen als Kompositum aus beli
ma, „ohne was", ohne Realität, also im Sinne von ideell aufgefaßt.
Der Wortlaut scheint aber mehr für die Bedeutung verschlossen, „in
sich abgeschlossen" zu sprechen. Ich möchte vermuten, daß auch hier
ein noch nicht identifizierter griechischer Terminus zugrunde liegt.
Eine deutliche Darlegung über das Verhältnis der Sephiroth zu den
Buchstaben fehlt vollständig in diesen Kapiteln, die die Sephiroth
weiterhin gar nicht mehr erwähnen. Während die zahlenmystische
Spekulation über die Sephiroth vermutlich neupythagoräische Quellen
haben dürfte — der berühmte Zahlensymboliker Nikomachos aus
Gerasa (um 140) stammte aus dem Ostjordanland —, läßt sich die
Vorstellung von „Buchstaben, aus denen Himmel und Erde erschaffen
worden sind", durchaus innerjüdisch verstehen. In der ersten Hälfte
des 3. Jahrhunderts findet sie sich bei dem aus Palästina gekommenen
babylonischen Amoräer Rabh 41 . Es ist durchaus denkbar, daß in der
Lehre des Autors von den 32 Wegen zwei ursprünglich verschiedene
Theorien ineinander gearbeitet oder nebeneinander gestellt worden
sind. Ins 2. oder 3. Jahrhundert und nach Palästina oder seine nächste
Umgebung würde diese Vorstellungswelt durchaus passen42.
39 E r spricht von 'Othijjoth Jessod, wobei jedes der Substantiva eine der zwei
Bedeutungen des griechischen sioicheia wiedergibt, das sowohl Buchstabe als auch
Element bezeichnet.
40 Vgl. dazu Neumark I, S. 115.
41 Berakhoth 55a, vgl. J . G., S. 78—79.
4 2 Sprachlich liegen keine zwingenden Indizien vor, das Buch später anzusetzen.

Bei dem sonst vollständigen Mangel an frühen philosophischen Schriften in hebräischer


Sprache haben wir natürlich in der bisher bekannten Literatur keine Parallelen zu
seiner technischen Sprache. In seinem allgemeinen Sprachgebrauch liegen jedenfalls
viele Berührungen gerade mit dem der Tannaüten und der ältesten Merkaba-Schriften
vor. Die Entscheidung über das Alter des Buches wird wohl am ehesten durch eine noch
immer ausstehende Analyse seines sachlichen Zusammenhangs mit spätgriechischer
Spekulation erfolgen. Leo Baecks Annahme, der Autor habe die Henaden-Lehre des
Proklos in hebräischem Gewände wiedergeben wollen, scheint mir nicht bewiesen und
muß zu vielen gewaltsamen Interpretationen Zuflucht nehmen. Einige seiner Einzel-
interpretationen zu Stellen des ersten Kapitels bleiben aber trotzdem wertvoll und
plausibel.

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Das Buch der Schöpfung 25

Durch die Kombination der 22 Konsonanten kommt alles Wirkliche


in den drei Schichten des Kosmos : der Welt, der Zeit und des mensch-
lichen Körpers als den Grundbereichen allen Seins43 zustande, speziell
aus den „231 Pforten"44, das heißt deren Kombinationen zu je zwei
Elementen, wobei dem Autor offensichtlich eine Anschauung vor-
schwebt, die für die Wurzeln der hebräischen Worte nicht drei, sondern
zwei Konsonanten annimmt. Zwischen den drei genannten Bereichen
bestehen genaue Zuordnungen, die wohl auch Beziehungen der Sym-
pathie zwischen ihnen ausdrücken. Die 22 Konsonanten zerfallen nach
dem merkwürdigen phonetischen System des Autors in drei Gruppen.
Die erste umfaßt die drei „Mütter"45 tf, », N, 'Aleph, Mem und Schin.
Ihnen entsprechen wiederum die drei schon im ersten Kapitel im Zu-
sammenhang der Sephiroth deduzierten Elemente Äther, Wasser und
43
Zweifellos besteht eine gemeinsame Quelle mit der genau entsprechenden Ein-
teilung in mundos, annus, homo in kosmologischen Ausführungen und Illustrationen
bei frühmittelalterlichen lateinischen Autoren wie Beda, wozu H a r r y Bober inter-
essantes Material gesammelt hat, vgl. Journal of the Walters Art Gallery Vol. X I X —
X X (1957), S. 78 und Abbildung 11. Bedas und Isidor von Sevillas Quellen dafür
bleiben nachzuweisen.
44
„Durch 231 Pforten geht Alles hervor. So findet sich, daß alle Kreatur und alle
Rede [Sprache] aus einem Namen hervorgeht" (II, 5). Ob damit die Alphabetreihe
als ein mystischer „Name" bezeichnet werden soll ? Solche Auffassung des Alphabets
ist bei Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie 2 , Leipzig 1925, S. 69—80
aus griechischen und lateinischen Quellen reich belegt, vgl. auch A. Dieterich, A B C —
Denkmäler, Rhein. Mus. f. Phil. Bd. 56 (1900), S. 77—105. Joseph Keil h a t in den
Wiener Jahresheften, Bd. 32 (1940), S. 79—84, ein wichtiges, hebräisch-griechisches
Amulett veröffentlicht, das das hebräische Alphabet in griechischer Transkription in
der sogenannten 'At-Basch-~R.eüie in offensichtlich magischer Absicht enthält. In
solcher Reihe wird das Alphabet in zwei Reihen bustrophedon geschrieben und dann je
zwei Buchstaben senkrecht miteinander verbunden. Das Amulett dürfte aus dem
2.—4. Jahrhundert, sicherlich nicht später sein. (Ich habe eine der von Keil und
Ludwig Blau, dem er 1926 das Amulett vorgelegt hat, nicht entzifferten drei Zeilen
nach einiger Anstrengung deutlich als den hebräischen Text von Deuter. 28 58 lesen
können.)
45
So wurde später meistens gelesen ('Immoth) und verstanden. Aber Saadia und
die Geniza-Handschrift lasen nicht 'Immoth, sondern 'Ummoth, welches ein relativ
seltenes, in der Mischna belegtes Substantiv im Sinne von „ F u n d a m e n t " ist, vgl.
Lamberts Übersetzung, S. 44. Der Wahl dieser drei Konsonanten liegt wohl eine frühe
Einteilung nach der quantitativen Artikulationsstärke der Konsonanten, Explosivae,
Spiranten und Nasale, vor. Bei ' wird der Luftstrom durch die Stimmbänder völlig
abgebrochen, bei Sch wird er, wie das Buch sagt, „pfeifend" durch Verengerung ge-
hemmt, und bei M passiert er ungehemmt durch die Nase. Über die Phonetik des
Buches Jesira vgl. M. Z. Segal, Grundlagen der hebräischen Phonetik, Jessode ha-
Phonetica ha-'ibhrith, Jerusalem 1928, S. 96—100. Aus der Phonetik des Buches läßt
sich, wie auch aus seinem Hebräisch, mit ziemlicher Sicherheit auf palästinensischen
Ursprung schließen.

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26 Das Problem

Feuer, aus denen alles Weitere hervorging, aber auch die drei Jahres-
zeiten (wiederum eine altgriechische Einteilung!) sowie die drei Teile
des Körpers, Kopf, Brust und Bauch4®. Die zweite Gruppe bilden die
sieben „Doppelkonsonanten", die in der hebräischen Phonologie des
Autors eine doppelte Aussprache besitzen47. Ihnen entsprechen u. a.
die sieben Planeten, die sieben Himmel, die sieben Wochentage und
die sieben Öffnungen des Körpers. Zugleich stellen sie aber auch die
Urbilder der sieben fundamentalen Gegensätze des menschlichen
Lebens dar : Leben und Tod, Friede und Unheil, Weisheit und Torheit,
Reichtum und Armut, Anmut und Häßlichkeit, Aussaat und Ver-
wüstung, Herrschaft und Knechtschaft. Ihnen entsprechen auch die
sechs Himmelsrichtungen und der Tempel im Zentrum der Welt, der
sie alle trägt (IV, 1—4). Die übrig bleibenden zwölf „einfachen" Kon-
sonanten entsprechen den zwölf Haupttätigkeiten des Menschen, den
Bildern des Tierkreises48, den zwölf Monaten und den zwölf Haupt-
organen („Führern") im menschlichen Körper. Die Kombinationen
all dieser Elemente enthalten die Wurzeln aller Dinge, und Gut und
Böse, „Lust und Schaden" ('Oneg und Nega', die die gleichen Konso-
santen haben), entstammen demselben Prozeß, nur in anderer An-
ordnung der Elemente (II, 4).
Es ist klar, daß von dieser sprachmystischen Kosmogonie und
Kosmologie, die noch so deutliche Beziehungen zu astrologischen Vor-
stellungen verrät, enge Linien zu der magischen Vorstellung von der
schöpferischen und Wunder-Kraft der Buchstaben und Worte führen.
Die Vorstellung, daß unser Text nicht nur theoretische Absichten ver-
folgte, sondern auch zu thaumaturgischem Gebrauch bestimmt war,
ist keineswegs absurd. Die frühmittelalterliche Tradition, die min-
destens teilweise den Text so auffaßte, wäre dann nicht im Unrecht,
wenn sie den Bericht über jene Talmudlehrer, Rabbi Chanina und
Rabbi Oschaja, die jeden Freitag die „Halakhoth über die Schöpfung"
studiert und dadurch ein Kalb erschaffen hätten, das sie dann
verzehrten, mit unserem Text (oder dessen Prototyp) zusammen-

48 Gewija muß hier die Bedeutung Oberkörper, Brust haben. Auch Philo scheidet

bei seiner Einteilung des Körpers in sieben Teile zwischen Kopf, Brust und Bauch,
de opificio mundi 118. Zu den drei Jahreszeiten vgl. Robert Eisler, Weltenmantel und
Himmelszelt, München 1910, Bd. II, S. 452, der auch auf Je§ira verweist.
47 Über die viel diskutierte Einbeziehung des R in die Konsonanten mit doppelter

Aussprache vgl. jetzt die wertvolle Untersuchung von S. Morag, Scheba' Kephuloth
BGD Κ Ρ RT, in der Festschrift für Prof. Ν. H. Tur-Sinai, Sepher Tur-Sinai,
Jerusalem 1960, S. 207—242. Auch in der stoischen Sprachtheorie werden, worauf
mich J. Weiß aufmerksam machte, die Konsonanten Β G D Κ Ρ Τ herausgehoben,
vgl. Pauly-Wissowa VI, col. 1788.
4 8 Auch der hier im Buch stets gebrauchte Terminus technicus Galgal für die Tier-

kreis-Sphäre ist tannaitisch.

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Das Buch der Schöpfung 27

brachte49. Mit der Sprachmystik der Magie hängt auch die Anschauung
des Autors zusammen, wonach die sechs Himmelsrichtungen durch die
sechs Permutationen „seines großen Namens Jaho" (hebräisch JHW)
„versiegelt" seien (I, 13). In diesen drei Konsonanten, die im he-
bräischen als matres lectionis für die nichtgeschriebenen Vokale i, a, o
benutzt werden, stecken der Gottesname Jaho, der die drei Konso-
nanten des vierbuchstabigen Gottesnamens JHWH enthält, wie auch
die Form Jao, die in die Dokumente des Synkretismus eingedrungen
ist und deren Permutationen dort ebenfalls eine Rolle spielen50. Die
späteren Vokalzeichen sind dem Autor noch nicht bekannt.
Diese Vorstellung der Funktion des Namens Jaho oder Jao legt
wichtige Parallelen nahe. Im System des Gnostikers Valentinus ist
Jao der geheime Name, mit welchem der Horos (wörtlich : die Grenze,
die Begrenzung!) die dem Christus nacheilende Sophia-Achamoth aus
der Welt des Pleroma zurückschreckt. Haben wir in dieser Versiegelung
des Kosmos — nicht des Pleroma — durch die sechs Permutationen
von Jao im Jesira-Buch nicht so etwas wie eine monotheistische,
vielleicht gar polemisch veranlaßte Parallele zu diesem valentinischen
Mythos ? In einem anderen Text offensichtlich jüdisch-synkretistischen
Charakters haben wir den Namen Jao ebenfalls als Anruf, der die Welt
in ihren Grenzen befestigt, was zu der Versiegelung in Jesira ausge-
zeichnet paßt : in der Kosmogonie des Leidener Zauberpapyrus
krümmte sich die Erde, als die Pythische Schlange erschien, „und
bäumte sich gewaltig. Doch der Himmelspol blieb fest, obwohl er mit
ihr zusammenzukommen drohte. Da sprach der Gott : Jao ! Und alles
befestigte sich, und ein großer Gott erschien, der größte, der geordnet
hat, was vorher in der Welt war und was sein wird, und nichts vom
Reich der Höhe war mehr ungeordnet". Unter den geheimen Namen
dieses größten Gottes selber tritt dann auch dieser Name Jao auf61.

48
Sanhédrin 66b, 67b. Nach Berakhoth 65a kannte Bezalel, der Architekt des
Stiftszeltes, „die Kombinationen der Buchstaben, mit denen Himmel und Erde ge-
schaffen wurden". Hieran schließt sich später die Vorstellung der Golem-Schöpfung
an, die ich in Kap. 5 meines Buches „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", Zürich 1969
ausführlich untersucht habe.
60
Beispiele für den magischen Gebrauch der 6 Permutationen von tocco in Karl
Preisendanz, Die griechischen Zauberpapyri I, S. 108 (Zeile 1045); II, S. 14.
51
Preisendanz II, S. 113. Über die Verwendung des Namens Jao in der Magie des
Synkretismus gibt es überreiches Material, dessen ältere Belege großenteils bei W. von
Baudissin, Studien zur Semitischen Religionsgeschichte I, Leipzig 1876, S. 179—264,
gesammelt sind. Die Jesira-Stelle ist dort nicht herangezogen, wie auch R. Reitzenstein
sie bei seiner Behandlung des Buches Jeçira nicht benutzt hat, für das er, aus ver-
gleichenden Betrachtungen über die spätantike Buchstabenmystik heraus eine helle-
nistische, bis ins 2. Jh. hinaufreichende Urquelle annimmt, vgl. Poimandres, Leipzig
1904, S. 291. Reitzenstein hat hier vielleicht als Historiker mit weiten Perspektiven

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28 Das Problem

Es ist schwer anzunehmen, daß hier nicht eine Beziehung zwischen


der jüdischen und den gnostischen und synkretistischen Vorstellungen
besteht. Daß die Schöpfung mit dem Namen Gottes „versiegelt" ist,
gehört zum alten Vorstellungsbestand der Merkaba-Gnosis und wird
in Kap. 9 der „Großen Hekhaloth" bezeugt. Was im Buch der Schöp-
fung von den „sechs Richtungen" des Raumes gesagt wird, wird hier
von den „Ordnungen der Schöpfung", also dem Kosmos überhaupt,
gesagt, der durch die Versiegelung mit dem großen Namen Gottes
innerhalb seiner Ordnung, Sidre Bereschith, bewahrt bleibt.
Ich habe einige Grundbegriffe des Buches Jesira hier kurz ent-
wickelt, da sie für unsere weiteren Ausführungen von grundlegender
Bedeutung sind und das Buch später von den Kabbalisten als ein
Vademecum der Kabbala gelesen und gedeutet wurde. Im Unterschied
von den späteren Umdeutungen liegt der besondere Reiz dieses Textes
in der oft glücklichen, jedenfalls stets lebendigen Anschaulichkeit und
Sinnfülle der meisten hier neu geschaffenen Begriffe für Abstraktes.
Der Autor findet konkrete und treffende Bezeichnungen für Begriffe,
denen bis dahin im Hebräischen noch keine Wortprägungen ent-
sprachen. Daß er hierbei in einigen Punkten versagt und seine Bilder
uns unverständlich bleiben — womit sie spätere Umdeutungen nur
förderten — macht uns die Energie und Schwierigkeit seiner Be-
mühungen erst recht deutlich. Die feierliche und änigmatische Vor-
tragsart des Buches ermöglichte es im Mittelalter den jüdischen Philo-
sophen und Kabbalisten zugleich, sich darauf zu berufen. Saadia inter-
pretierte es (um 933) in dem frühesten uns erhaltenen (wenn auch
nicht dem ältesten) Kommentar im Sinne seiner philosophischen Auf-
fassung der Schöpfungslehre und der jüdischen Theologie überhaupt,
und seit seiner Zeit gab es eine ganze Reihe mehr oder weniger aus-
führlicher arabischer und hebräischer Kommentare, noch bis ins 13.
besser gesehen, als viele jüdische Gelehrte, bei denen das Buch Jesira oft wie in einem
Vakuum der Religionsgeschichte steht. I m vorliegenden Zusammenhang ist auch zu
bemerken, daß Jao in der koptischen Pistis Sophia Kap. 136 in ganz ähnlichem Kontext
auftritt, indem Jesus diesen Namen nach den vier Ecken der Welt hingewandt ausruft.
Die Versiegelung der sechs Richtungen des Raumes durch die Permutationen von Jao
entspricht der Vorstellung von diesem Namen als Herr der vier Weltrichtungen, also
als Herr des Kosmos, vgl. das Material dazu bei Erik Peterson, Heis Theos, Göttingen
1926, S. 306—307. Petersons Deutung des magischen Namens Arbathiao als „die vier
Jao" ist freilich durchaus unüberzeugend. Der Zaubername bedeutet nichts als eine
synkretistische Umschreibung des Tetragrammatons als „Vierheit der [dem Namen]
Jao [zugrunde liegenden vier Buchstaben des Namens JHWH]". Dies wird durch die
Peterson noch nicht bekannte entsprechende Form Tetrasja in den hebräischen
Hekhaloth-Schriften erwiesen, vgl. meine J. M., S. 61 und 396. Auch die in Jesira
benutzte Terminologie für diese sechs Richtungen des Raumes ist sehr alt: „Oben und
unten, vorn und hinten, rechts und links" werden genau so im Akkadischen verwandt,
und derselbe Sprachgebrauch liegt auch der noch aus dem 1. Jh. stammenden Mischna

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Zeugnisse über das Auftreten der Kabbala 29

und 14. Jahrhundert hinein. Jeder fand hier mehr oder weniger, was
er suchte, und es spricht für die große Autorität des Buches, daß
Jehuda Halewi im 4. Traktat seines philosophisch-theologischen
Hauptwerks Sefiher ha-Kuzari (um 1130) ihm eine ausführliche Dar-
legung, fast einen ganzen Kommentar widmete52. Zugleich blieb der
Text aber auch in ganz anderen Kreisen einflußreich, die in seiner
Sprachtheorie eine Art Begründung der Magie sahen oder für die die
Lehre des Buches authentische Bestandteile der Merkaba-Gnosis und
derKosmogonie bildeten. In der Schule der„Gelehrten von Narbonne"
wurde das Buch ebenso studiert wie von französischen Rabbis der
Tossaphisten-Schule und bei den deutschen Chassidim derselben
Periode, und mehrere Kommentare aus diesen Kreisen, die im allge-
meinen der philosophischen Spekulation abhold waren, sind auf uns
gekommen53. Für die Wendung, die besonders die Sephiroth-Vorstellung
bei den Kabbalisten genommen hat, bieten diese Texte zum mindesten
bemerkenswerte Parallelen. Inwieweit das Studium des Buches Jesira
in diesen Kreisen im strikten Sinne als Geheimlehre angesehen wurde,
läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Man könnte vermuten, daß
es einen Text bildete, der an der Grenze der Esoterik stand, teils inner-
halb von ihr, teils aber auch schon jenseits davon.

5. Die ältesten Zeugnisse über das Auftreten der Kabbala


und das Erscheinen des Buches Bahir

Im Vorhergehenden haben wir die historischen Verhältnisse charak-


terisiert, unter denen die Kabbala ans Licht getreten ist, und uns über
den literarisch überlieferten Bestand an altem Traditionsmaterial, das
in Hagiga II, 1 zugrunde, wo vorn und hinten räumlich zu verstehen sind. Dieser
Sprachgebrauch wurde von den Amoräern nicht mehr verstanden, jedenfalls vom
Räumlichen aufs Zeitliche umgedeutet, wie S. E. Löwenstamm, Yehezkel Kaufmann
Jubilee Volume, Jerusalem 1960, S. 112—121, unter Herbeiziehung des akkadischen
Materials erwiesen hat. Ihm ist gerade diese Stelle des Buches Jesira entgangen, für
dessen Alter seine Darlegungen ein weiteres sprachliches Indiz bilden.
52
Um die Mitte des 11. Jhs. hat auch ein palästinensisches Schulhaupt, R. Jehuda
ben Joseph Kohen Rosch ha-Seder, einen arabischen Kommentar zu Jesira verfaßt,
von dem sich ein Fragment in Leningrad erhalten hat, vgl. Jacob Mann, Texts and
Studies in Jewish History and Literature I.Cincinnati 1931, S. 456—457. Vermutlich
vorsaadianische Kommentare haben in alten Handschriften auch noch dem Jehuda
ben Barzilai vorgelegen, der an mehreren Stellen daraus zitiert. Zu Saadias Kommentar
vgl. die Analyse von G. Vajda, Sa'adja commentateur du „Livre de la Création", im
Annuaire de l'Ecole Pratique des Hautes Etudes 1959—1960.
53
Ein Kommentar der „Gelehrten von Narbonne", unklar ob aus dem 11. oder
12. Jh., lag um 1230 dem Moses Taku aus Böhmen vor, vgl. Ozar Nechmad Bd. III,

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30 Das Problem

zu dieser Zeit vorlag, einige Rechenschaft gegeben. Danach dürfen wir


die weitere Frage aufwerfen, welcher Art die Kenntnisse sind, die wir
über die ersten Anfänge der Kabbala und ihr Auftreten in der Pro-
vence besitzen. Dazu verfügen wir über zwei Gruppen von Nachrichten :
von Seiten der Kabbalisten selber und von seiten ihrer ältesten Gegner.
Freilich ist nur sehr wenig von diesen Nachrichten erhalten geblieben,
aber auch dies Wenige ist von großer Bedeutung.
Die erste Gattung solcher Nachrichten geht auf Traditionen zurück,
die sich im Kreise der spanischen Schülersschüler der provençalischen
Kabbalisten erhalten haben. Sie sprechen mit großem Nachdruck von
der mystischen Inspiration, dem „Erscheinen des heiligen Geistes" in
einer der angesehensten Familien, die die rabbinische Kultur des
provençalischen Judentums repräsentierten. Diese Quellen benennen
einige historische Persönlichkeiten, die eine Offenbarung des Propheten
Elias, Gilluj Elijahu, empfangen hätten, das heißt : denen eine Tradi-
tion über himmlische Mysterien zugekommen sei, von denen die bis-
herige Überlieferung nichts wußte, sondern die ihnen als Revelationen
von oben zugekommen seien. Solche Revelationen mögen rein visio-
nären Charakters gewesen sein oder aber sich auf Erleuchtungen in der
Kontemplation beschränkt haben. Ich habe mich an anderer Stelle
über den Sinn dieser Kategorie des Gilluj Elijahu geäußert64, die für
das Verständnis des Verhältnisses von religiöser Autorität und Mystik
im Judentum sehr charakteristisch ist. Der Prophet Elias ist im rabbi-
nischen Judentum der Hüter der heiligen Tradition. Er wird am Ende,
beim Erscheinen des Messias, den Ausgleich zwischen den divergenten
Meinungen der Thoralehrer herstellen. Er erscheint jetzt den Frommen
bei allen möglichen Gelegenheiten, auf dem Marktplatz, auf ihren
Wegen und zu Hause. Wichtige religiöse Traditionen des Talmud, ja ein
ganzes Midraschwerk werden auf seine Belehrung zurückgeführt56. Er
ist bei jeder Aufnahme eines Kindes in den Bund Abrahams, also bei
Wien 1860, S. 71. Der berühmte Tossaphist R. Isaak von Dampierre erklärte das Buch
mündlich, und wir besitzen einen Kommentar des Elchanan ben Jaqar aus London,
den er nach den Überlieferungen eines Mannes verfaßt hat, der das Buch bei jenem
R. Isaak „dem Alten" studierte. Isaak starb um das Ende des 12. Jh. Vgl. M. Weinberg
über die Handschrift A 4 der Landesbibliothek in Fulda, Jahrbuch der Jüd.-Litera-
rischen Gesellschaft Bd. X X , Frankfurt a. M. 1929, S. 283. Aus den Kreisen der
deutschen Chassidim des 13. Jhs. haben wir den Kommentar des Eleazar von Worms,
vollständig nur Przemyál 1888, einen fälschlich dem Saadia Gaon zugeschriebenen und
in den Editionen des Buches gedruckten, sowie einen weiteren Kommentar des oben
genannten Elchanan aus London, den ich in New York, Jew. Theol. Seminary in einer
Pergamenthandschrift des 14. Jhs. Bl. 62—78 gefunden habe. (Die Handschrift ist
im Register des Seminars für 1931/32 im Bibliotheksbericht verzeichnet.)
Eranos-Jahrbuch Bd. 26, Zürich 1958, S. 262—266.
54

Vgl. den Artikel Elijahu in der Encyclopaedia Judaica, Bd. VI (1930), Sp. 487—
65

495; Moses W. Levinsohn, Der Prophet Elia nach denTalmudim- und Midraschim-

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Zeugnisse über das Auftreten der Kabbala 31

der Herstellung des sakralen Zusammenhangs zwischen den Geschlech-


tern durch die Beschneidung, gegenwärtig. Es sind keineswegs nur die
Mystiker, die ihm begegnen : er vermag dem einfachen, in Not gerate-
nen Juden, ebenso zu erscheinen wie dem vollendeten Frommen und
Thoragelehrten. Als der biblische Eiferer für Gott ist er der Garant der
Tradition. Er ist, wie ich es ausgedrückt habe, „keine Gestalt, von
der angenommen werden konnte, sie würde irgendetwas zum Gegen-
stand ihrer Mitteilung und Offenbarung machen, das grundsätzlich
mit solcher Tradition im Widerspruch steht"56. Eine Tradition, die als
vom Propheten Elias stammend anerkannt wurde, war also, auch wenn
sie etwas Neues brachte, in den Traditionszusammenhang des Juden-
tums für das gläubige Bewußtsein einbezogen und stand über dem
Verdacht fremder Inspiration oder häretischer Haltung. Kein Wunder
also, daß solche Berufung auf Offenbarungen des Propheten Elias an
wichtigen Stellen der Geschichte der jüdischen Mystik, gerade wo
Neues zum Vorschein kommt, immer wieder auftritt. Tradition war
eben in diesem Sinne nicht nur, was auf Erden und in der Geschichte
weitergegeben wurde, sondern auch was von oben, aus dem „himm-
lischen Lehrhaus" überliefert wurde.
In der uns erhaltenen Literatur treten diese Überlieferungen über
das Erscheinen des Propheten Elias bei den ältesten Kabbalisten zwar
erst um das Jahr 1300 auf, aber alles spricht dafür, daß sie in jenen
Schriften aus einem festen Traditionsbestand der ersten spanischen
Kabbalisten stammen. Jene Schriften sind nämlich von verschiedenen
Schülern des Salomo ben Adreth verfaßt, und geben weithin kabba-
listische Tradition wieder, wie sie in seinem Lehrhaus in Barcelona
zwischen 1270 und 1310 gelehrt wurde. Ben Adreth war aber der
wichtigste Schüler des Moses ben Nachman (Nachmanides), der noch
selbst mit den kabbalistischen Autoritäten der Provence in Berührung
stand, wie wir sehen werden, und der die kabbalistische Schule von
Gerona repräsentierte. Deren Tradition liegt also, wie wir keinen Grund
haben zu bezweifeln, hier vor. Diese Quellen nun behaupten, daß Offen-
barungen dieser Art drei oder vier bedeutenden Männern in der Pro-
vence zugekommen seien : dem Abraham ben Isaak, Gerichtspräsident
(hebräisch 'Abh Beth-Din) und Schulhaupt in Narbonne (gest. um
1179), seinem Schwiegersohn Abraham ben David in Posquières (gest.
1198) und dessen Kollegen Jakob ha-Nazir („der Nasiräer"), sowie
schließlich dem Sohn des Abraham ben David, welcher als Isaak der
Blinde bekannt geworden ist. Dieser letztere lebte vermutlich bis etwa

quellen, Dissertation Zürich, New York 1929; Robert Zion, Beiträge zur Geschichte
und Legende des Propheten Elia, Berlin 1931; Eliezer Margalioth, Elijahu ha-Nabhi,
Jerusalem 1960.
" A. a. O., S. 264.

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32 Das Problem

1232—36 in Posquières oder Narbonne. Im einzelnen bestehen zwischen


den Überlieferungen Differenzen67. Einige machen auch den Rabbi
David, den Vater des in der hebräischen Literatur unter der Abbrevia-
tur Rabed bekannten Rabbi Abraham ben David, anstelle seines
Schwiegervaters Abraham ben Isaak zum ersten Empfänger dieser
Kabbala. Ch. Albecks Vermutung, Isaak der Blinde sei der Sohn des
Abraham ben Isaak und nicht sein Enkel gewesen, wird von der Ana-
lyse der ältesten Quellen nicht bestätigt58. Um diese Gelehrten, be-
sonders aber um Isaak den Blinden, bildeten sich die ältesten uns
greifbaren Gruppen provençalischer Kabbalisten. Schüler des Rabed
und seines Sohnes, die aus Spanien kamen, um in den talmudischen
Lehrhäusern der Provence zu studieren, waren die Hauptträger der
Verpflanzung und Verbreitung der Kabbala nach und in Spanien. Wir
haben keinerlei Anhalt dafür, daß die Kabbala im präzisen Verstand
des Wortes in Spanien außerhalb dieses oder eines parallelen, nach
der Provence weisenden, Traditionszusammenhangs bekannt war.
Freilich müssen wir hier fragen : was war damals der präzise Sinn des
Wortes Kabbala im Kreis der Kabbalisten selbst ? Kabbala ist ein im
rabbinischen Hebräisch ganz gebräuchliches Wort und bedeutet eigent-
lich nur „Tradition". Im Talmud werden damit die nicht-pentateu-
chischen Teile der hebräischen Bibel bezeichnet. Später wird jede Tra-
dition so genannt, ohne daß das Wort eine spezifisch mystische Nuance
hätte. Daß es im späteren Sinne der Kabbalisten schon bei dem Philo-
sophen Salomo ibn Gabirol gebraucht wurde, ist eine verbreitete, aber
ganz falsche Annahme59. Ebenso wenig hat es mit dem aramäischen
57
Vgl. die Stellen bei Jellinek, Auswahl kabbalistischer Mystik, Leipzig 1853.
S. 4—5. Menachem Recanati tradiert um 1300: „Denn er [Elias] hat sich dem Rabbi
David 'Abh Beth-Din offenbart und ihn die Wissenschaft der Kabbala gelehrt. Er hat
sie seinerseits seinem Sohn, dem Rabed, überliefert und auch ihm hat er sich offenbart,
und er überlieferte sie seinem Sohn Isaak dem Blinden und auch ihm hat er sich offen-
bart." Eine andere alte Tradition besagt: „R. Isaak Nazir [gemeint ist wohl Isaak ben
Abraham von Narbonne] hat vom Propheten Elias empfangen, und nach ihm R. Jakob
Nazir, und von ihm der Rabed und sein Sohn Isaak der Blinde, der der vierte [Emp-
fänger] nach Elias war" (Jellinek a. a. O.) Der hebräische Ausdruck der „vierte nach
Elias" bedeutet wohl der Vierte in der Traditionstolge, seit Elias sich offenbart hat.
Es könnte aber auch bedeuten: der Vierte, der selber eine Offenbarung des Elias hatte.
Schemtobh ben Gaon, ein Schüler des Salomo benAdreth, nennt Isaak den Blinden den
„Dritten nach Elias", vgl. Ma'or wa-Schetnesch, Livorno 1839, Bl. 35b. Nach einer
Tradition bei Schemtobh, 'Emunoth, Ferrara 1556, Bl. 36b, hat nur der Schwiegervater
des Rabed (dort irrig nicht Isaak, sondern Abraham genannt), eine Offenbarung des
Elias empfangen.
58
Vgl. Albeck in seiner Einleitung zur Ausgabe von Abraham ben Isaak 'Abh Beth-
Din, Sepher ha-'Eschkol, Jerusalem 1935, S. 5.
59
M. H. Landauer, Literaturblatt des Orients, Bd. VI (1845), Sp. 196—197;
Jellinek, Beiträge zur Geschichte der Kabbala, Heft I, Leipzig 1852, S. 71; Heft II,

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Zeugnisse über das Auftreten der Kabbala 33

Worte Qibhla, Amulett, zu tun 60 . Was nun der ursprüngliche Begriff


war, den die Kabbalisten mit ihrem Gebrauch des Wortes Kabbala
verbanden, wußten die spanischen Kabbalisten noch mehrere Gene-
rationen später sehr genau. Klar und bündig drückt sich über den
Ursprung und den Sinn dieser neuen Disziplin noch im Jahre 1330
Meir ben Salomo Abi-Sahula, ein Schüler des Sai. ben Adreth aus. Er
schreibt in der Vorrede zu seinem Kommentar zum Buche Jesira: „Es
liegt uns ob, alle diese Dinge unserem Verständnis gemäß zu erforschen
und in bezug auf sie den Weg zu verfolgen, den die eingeschlagen
haben, die in unserer Generation und den uns vorangehenden Gene-
rationen seit nunmehr 200 Jahren Kabbalisten, Mequbbalim, heißen,
und sie nennen die Wissenschaft von den zehn Sephiroth und von
einigen Begründungen der [biblischen] Gebote Kabbala 61 ." Hieraus
folgt also, daß die neue theosophische Gottesauffassung, die auf der
Lehre von den zehn Sephiroth des Buches Jesira beruht, sowie die
Begründung gewisser Ritualvorschriften der Tora auf mystische Weise,
die mit dieser Lehre von den Sephiroth zusammenhing, in den Augen
dieses Kabbalisten den eigentlichen und ursprünglichen Inhalt der Kab-
bala bilden. Diese Lehre ist seiner eigenen Meinung nach keineswegs ur-
alt und geht auch nicht auf viel frühere Jahrhunderte zurück. Vielmehr
ist sie ungefähr zweihundert Jahre alt, womit wir für ihren Anfang auf
jene Epoche der ersten Revelationen des Propheten Elias zurück-
kommen, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts in der Provence einsetz-
ten. Die Überlieferungskette der Kabbala, diedieoben genannten Namen
enthält, stimmt ausgezeichnet mit dieser Nachricht überein. Es verlohnt
auch, darauf hinzuweisen, daß das klare Bewußtsein dieses späteren
Kabbalisten von der relativen Jugend der Kabbala ihn keineswegs
daran hindert, sie als einen Weg der Erkenntnis anzusehen, auf dem
zu gehen „uns obliegt".
Die zweite Gattung von Quellen, die uns zur Verfügung stehen,
spricht nicht von Personen und der Erscheinung des heiligen Geistes
S. 27; plagiiert bei J . Günzig, Die „Wundermänner" im jüdischen Volke, Antwerpen
1921, S. 89. Die ganze, sogar im hebräischen Text auf falscher Interpretation beruhende
Vermutung wird durch den arabischen Urtext hinfällig, den Stephan S. Wise, The
Improvement of the Moral Qualities, New York 1901, ediert hat, vgl. dort S. 34.
8 0 Gegen Tur-Sinais Vermutungen über die Entstehung der späteren Bedeutung des

Begriffs Kabbala aus einer Volksethymologie von Qibhla in Ben Jehudas Lexikon
Bd. X I , (1946), S. 5700. Der magische Terminus sei dann auf esoterische Lehre über-
haupt übertragen worden und mit Qabbala zusammengeworfen worden. Dieselbe irrige
Vermutung über einen solchen Zusammenhang hat schon David Kaufmann in M.G.W. J .
Bd. 41 (1897), S. 186 ausgesprochen. In Wirklichkeit stammt der Sprachgebrauch
durchaus aus gelehrten Kreisen und ist stets eindeutig mit der Bedeutung Tradition
verbunden. Nirgends findet sich in alten Texten eine solche Vermischung der Worte
Qabbala und Qibhla.
el Ms. in der Biblioteca Angelica in Rom A. 6, 13, Bl. 2b.
Scholem, Kabbala 3
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34 Das Problem

oder des Propheten Elias in den Lehrhäusern bedeutender rabbinischer


Figuren, sondern von dem Erscheinen eines kabbalistischen Buches,
das jenen erwähnten Gelehrten oder einigen uns unbekannten unter
ihren Kollegen in der Provence zugekommen sei. Dieses älteste lite-
rarische Dokument der Kabbida in dem von Abi-Sahula definierten
Sinn ist das Buch Bahir, das auch, nach dem in den Eingangsworten
genannten Mischnalehrer aus dem 2. Jahrhundert, „Midrasch des
Rabbi Nechunja ben Haqqana" heißt. Auch der Titel Bahir, „leuch-
tend", ist aus dem ersten dort zitierten Bibelvers genommen (Hiob 372i),
dessen Deutung dem besagten Rabbi zugeschrieben wird: „Nun aber
sieht man nicht das Licht, leuchtet es in den Himmeln". Die Kabba-
listen sagen nicht, daß diese Schrift etwa einem der erwähnten Ge-
lehrten durch den Propheten Elias offenbart worden sei. Ihren Worten
zufolge stellt es ein davon unabhängiges, selbständiges Dokument dar.
Wie die nähere Analyse des Buches dartun wird, war ihr Urteil in
diesem Punkt richtig, denn der Inhalt der neuen spekulativen Tradi-
tion, die sich von jenen Empfängern mystischer Erleuchtung her-
schreibt, ist keineswegs ohne Weiteres identisch mit dem Inhalt des
Buches Bahir.
Über die Herkunft dieses Buches haben wir das Zeugnis des spa-
nischen Kabbalisten Isaak ben J akob Kohen aus Soria (um 1260 bis
1270), der auf seiner kabbalistischen Wanderschaft und Suche nach
den alten Traditionen sich auch längere Zeit in der Provence aufhielt
und zweifellos die Überlieferung wiedergibt, die er bei den dortigen
Kabbalisten in Narbonne, Arles und anderen Orten gehört hat. Die
Schrift, in der dieses Zeugnis ursprünglich stand, ist uns nicht mehr
erhalten, lag aber einem hundert Jahre später schreibenden Kabba-
listen noch vor, dessen Zitat keinerlei Einwänden unterliegt. Der be-
treffende Autor, Schemtob ben Schemtob, zitiert dort mehrere Stücke
aus dieser Schrift, deren Inhalt durchaus mit anderen, sicher dem
Isaak Kohen zugehörenden Schriften zusammenhängt62. Isaak Kohen

• 2 Die betreifenden Zitate aus Schemtobs S. 'Emunoth habe ich in Madda'e ha-
Jahaduth Bd. II, Jerusalem 1927, S. 276—280 zusammengestellt. Den Passus über
Bahir ('Emwnoth Bl. 94a) habe ich teilweise nach einer Pergamenthandschrift im
Jew. Theol. Semin. in New York [Nr. 882 in der handschriftlichen Liste von Prof.
A. Marx], Bl. 112b korrigieren können. — Ganz in der Luft hängende Behauptungen,
wonach die Kabbalisten selber eine alte Tradition besessen hätten, daß Bahir von
einem der Geonim verfaßt worden sei, hat während der Drucklegung dieses Buches
Israel Weinstock in einem hebräischen Artikel: „Wann wurde der Überlieferung zu-
folge Bahir verfaßt?" aufgestellt, vgl. Sinai 1961, Bd. 49, S. 370—378; 60, S. 28—34.
Seine Behauptungen, die den Zeugnissen in der alten kabbalistischen Literatur
durchaus widersprechen, halten der Nachprüfung nicht Stand. Ihre einzige Quelle
ist eine lose hingeworfene, im Sprachgebrauch ganz unpräzise Äusserung eines Geg-
ners der Kabbala im 17. Jahrhundert!

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Erscheinen des Buches Bahir 35

schreibt: „Von den [kabbalistischen] Andeutungen, die sie [die alten


Weisen] in den Haggadoth im Talmud und in den Midraschim erwähnt
haben, ist dieses die größte und wichtigste bei den Kabbalisten, den
Einsichtigen, die in die Tiefe des Verständnisses der Bibel und des
Talmuds63 eingedrungen und in der Tiefe des großen Meeres [des Tal-
mud] bewandert sind, und dies ist das Buch Bahir, das auch mit dem
Ausdruck 'Jeruschalmi' [das heißt: als eine palästinensiche Quelle]
speziell bezeichnet wird64. Dies ist das Buch, kostbarer als Gold, welches
in geheimnisvollen und verborgenen Andeutungen den 'Einsichtigen'
[das heißt Mystikern] Israels, der Gruppe von Weisen und der Aka-
demie von alten und heiligen Männern, Rabbi Nechunja ben Haqqana
offenbart hat. Und dieses Buch ist aus Palästina den alten Weisen und
Chassidim, den Kabbalisten in Deutschland [Allemannia] zugekom-
men, und von dort gelangte es 65 zu einigen der alten hervorragenden
Gelehrten unter den Rabbinern der Provence, die aller Art von ge-
heimen Wissenschaften66 nachjagten, den Besitzern höherer Erkennt-
nis67. Jedoch haben sie es nur zum Teil gesehen und nicht ganz, denn
63
Hebr. be-'Omeq Pilpul ha-Miqra weha-Talmud. Pilpul bedeutet das scharfsinnig
eindringende Verständnis und steht, wie hier in der Fortsetzung, neben der Belesenheit
oft als rühmenswerte Eigenschaft der großen Gelehrten.
64
In der Hs. ha-mejuhad bi-Leschon Jeruschalmi, was auch heißen kann: „abgefaßt
in der Sprache des Jeruschalmi", d. h. auf Aramäisch, welche Angabe für unseren Text
freilich nicht zutrifft. Der Druck h a t ha-mejussad, was nur die zweite Übersetzung
erlauben würde. Die Lesart ha-mejuhass in Madda'e ha-Jahadulh I I , S. 277 beruht
auf einem Lesefehler. Zitate aus dem Bahir als „Jeruschalmi", was im mittelalterlichen
Sprachgebrauch oft nichts anderes als „eine aus Palästina stammende Schrift" be-
deutet, finden sich schon bei den Schülern Isaaks des Blinden. Solche Zitate des Bahir
als „Jeruschalmi" finden sich z. B. bei Ezra ben Salomo zum Hohenlied, Bl. 12 a, 20 d,
und in seinem Sod 'Es ha-Da'ath, Hs. Casanatense, Sacerdoti 179, Bl. 96a; Moses von
Burgos in seiner Erklärung zum 42-buchstabigen Gottesnamen, in der Sammlung
Liqqutim me-Rabh Haj Ga'on, Warschau 1798, Bl. 9 b ; Bachja ben Ascher, Kad ha-
Qemah, s. v. Orhitn; Menachem Recanati, Τa'ame ha-Miçwoth, Beisel 1680, Bl. 12 a;
Isaak von Akko, Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 59a.
• 5 Hebr. hophia' we-higgia'. Hopkia' h a t die Bedeutung „erscheinen", aber nicht
im buchtechnischen Sinn, sondern: „es erstrahlte, sein Glanz verbreitete sich". Die
Verbindung der beiden Verben kommt aber ungefähr auf die moderne Bedeutung
heraus.
· · Hebr. Hokhmoth reschumoth. Die Kabbalisten des 13. Jhs. gebrauchten das
Adjektiv reschumoth gern in diesem besonderen Sinn, der von mehreren mittelalter-
lichen Autoren in die im Talmud erwähnte Kategorie der Dorsche reschumoth hineinge-
lesen wurde. Vgl. Ben Jehudas Lexikon XIV, S. 6745, und Jacob C. Lauterbach, The
ancient Jewish allegorists in Talmud und Midrash, J. Q. R. n. s. Bd. I (1910/11),
S. 291—333, 503—531.
67
Hebr. Jod'e Da'ath 'Eljon, nach Num. 2426; von den Kabbalisten gern im
spezifischen Sinn von „Besitzern der Gnosis" verwandt. (Ähnliche Bezeichnung: Ba'ale
Sod ha-Madda', bei Moses von Burgos, vgl. Tarbiz IV [1933] S. 56).

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36 Das Problem

sein voller und unversehrter Text ist nicht in ihre Hände gelangt.
Jedenfalls ist es aus fernem Lande, sei es aus Palästina, sei es aus dem
Ausland, von alten Weisen und heiligen Kabbalisten zu ihnen gelangt,
die eine geordnete Tradition [Kabbala] als mündliche Überlieferung
von ihren Vätern und Vorfahren besaßen."
Dieses Zeugnis ist durchaus bemerkenswert und wir werden weiter-
hin sehen, daß es in seinen wichtigsten Stücken keineswegs auf Er-
findung beruht. Wir dürfen dabei durchaus unterscheiden zwischen
den recht spezifischen Angaben über die Herkunft des Buches Bahir
und sein Auftreten in der Provence und den allgemeinen Versiche-
rungen, daß jene ältesten Kabbalisten eine uralte Überlieferung „Von
Mund zu Mund" Generationen hindurch bewahrt hätten. Die Annahme
solcher langen Traditionsketten gehörte zum Bestand nicht nur der
kabbalistischen communis opinio, sondern auch der chassidischen
Überlieferung in Deutschland. Für die letztere haben wir vollständige
solcher Ketten mit allen Namen, über deren fiktiven Charakter kein
Zweifel sein kann 68 . Für unsere Betrachtung ist dabei eines besonders
wichtig: Isaak Kohen statuiert keineswegs eine ununterbrochene
mündliche Traditionskette zwischen den Gelehrten der Provence und
jenen alten Kreisen, aus denen das Buch Bahir gekommen sei. Vielmehr
sagt er ausdrücklich, daß das Buch ihnen s c h r i f t l i c h „aus fernem
Lande, sei es aus Palästina, sei es aus dem Ausland" zugekommen sei.
Nur jene, anonym gebliebenen Männer, die das Buch nach der Pro-
vence gebracht oder geschickt hätten, seien im Besitz einer Kabbala
als Überlieferung von ihren Vätern her gewesen, eine wie gesagt rein
formale und für den Kabbalisten sozusagen zum guten Ton gehörende
Versicherung.
Dieser Angabe des Isaak Kohen über die alten Quellen, aus denen
das Buch Bahir gekommen sei, steht nun das andere Zeugnis eines sehr
frühen Gegners der Kabbalisten gegenüber. Mei'r ben Simon aus
Narbonne, ein Zeitgenosse Isaaks des Blinden, neigt eher dazu, das
Buch modernen Autoren anzuhängen, und auch sein Zeugnis ist von
großer Bedeutung für uns. Er war ein entschiedener Gegner der
Kabbala, die sich zu seiner Zeit in der Provence ausbreitete. In einem
Sendschreiben, das er seinem antichristlichen apologetischen Werk
Milhemeth Miswa einverleibt hat, trat er um 1230—1235 sehr scharf
auf „gegen die, die Lästerliches von Gott reden und von den Gelehrten,
die in den Wegen der unverfälschten Tora wandeln und Gott fürchten,
während jene in ihren eigenen Augen weise sind und Dinge aus ihrem
eigenen Sinn erdichten und sich häretischen Meinungen zuneigen und

68
Charakteristisch dafür sind die „zwei kabbalistischen Traditionsketten des
R. Eleasar aus Worms", die H. Gross in M. G. W. J. Bd. 49 (1905), S. 692—700, publi-
ziert und besprochen hat.

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Erscheinen des Buches Bahir 37

sich einbilden, sie könnten Beweise für ihre Meinungen aus dem Wort-
laut von Haggadoth bringen, die sie auf Grund ihrer irrigen Annahmen
erklären 69 ". In diesem Schreiben gegen die Umtriebe der Kabbalisten,
das uns in anderem Zusammenhang noch beschäftigen wird, erzählt
er unter anderem in leicht geschwollenem Stil zeitgenössischer Reim-
prosa, die ich in der Ubersetzung nur z.T. nachahmen kann: „Sie
berühmen sich in lügnerischen Reden und Kunden, in Ländern von
Torakennern und Gelehrten hätten sie Bestätigung und Stärke [offen-
bar: für ihre Ideen] gefunden . . . Aber Gott bewahre uns vor dem
Frevel, solchen häretischen Reden zuzuneigen, von denen es gut täte,
in Israel zu schweigen. Und wir haben vernommen, daß ihnen schon
ein Buch verfaßt worden ist 70 und zugekommen, das sie mit dem
Namen Bahir, das heißt leuchtend, benennen, durch das sie aber
keineswegs Licht sehen. Dieses Buch ist in unsere Hände gelangt, und
wir haben daraus erhoben, daß sie es dem Rabbi Nechunja ben
Haqqana zugeschoben. Da sei Gott davor! Daran ist überhaupt nichts,
und jener Gerechte ist keineswegs darüber [das heißt: mit der Ab-
fassung eines solchen Buches] zu Fall gekommen, wie wir ihn kennen,
und ist mit den Frevlern nicht in einem Atem zu nennen. Und die
Sprache des Buches und sein ganzer Inhalt beweisen, daß es von
jemand stammt, der weder literarische Sprache noch guten Stil be-
herrscht, und an vielen Stellen enthält es häretische und ketzerische
Worte 71 ".
Hier herrscht also ein sehr verschiedener Ton im Vergleich zu den
begeisterten Worten des Isaak Kohen. Obwohl aber Meir ben Simon
sich über den pseudepigraphischen Charakter des Buches im klaren
ist, schreibt auch er es ebensowenig wie Isaak Kohen keineswegs dem
Kreis der Familie des Rabed zu, von denen gewiß nicht hätte gesagt
werden können, daß sie weder literarische Sprache noch guten Stil
beherrschten. Auf die Frage, woher das Buch den provençalischen
Kabbalisten zugekommen sei, gibt der Briefschreiber keine Antwort.
Nur aus seiner Betonung der unliterarischen Sprache und Form des
Buches folgt, daß man nach seiner Ansicht dessen Ursprung wohl in
89
Der Wortlaut des Originals ist von mir im Sepher Bialik, Tel Aviv 1934, S. 146
mitgeteilt worden. Über diese Polemik des Meir ben Simon vgl. H. Gross, in M.G.W.J.,
Bd. 30 (1880), S. 554—569.
70
Die einzig erhaltene Handschrift, Parma de Rossi 155, benutzt fast durchweg
defektive Schreibung des Hebräischen. Das Wort ^ H i s t daher, wie oft hier, als Pu'al
zu lesen, hubbar. A. Neubauer, der dieses Stück zuerst veröffentlicht hat, zog aus
seiner fehlerhaften Lesung des Wortes als Pi'el, hibber, „er hat verfaßt", die irrige
Folgerung, der Autor habe damit den dort vorher genannten R. Azriel als Autor des
Buches Bahir bezeichnen wollen. Dieser Irrtum war natürlich nur möglich, solange
die Schriften Azriels selber nicht in größerem Umfang bekannt waren.
71
Vgl. den Text des Originals bei Neubauer, J. Q. R. IV (1892), S. 357—360.

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38 Das Problem

Kreisen zu suchen habe, die der rabbinischen Kultur jener Generationen


fernstünden und häretischen Einflüssen — wobei nicht gesagt wird,
von welcher Seite — zugänglich seien.
Die beiden Dokumente, die wir im Vorhergehenden besprochen
haben, sind im Grunde die einzigen historischen Zeugnisse, die über
die Veröffentlichung des Buches sprechen, und beide stimmen bei aller
Verschiedenheit des Urteils darin überein, daß diese Veröffentlichung
in der Provence erfolgte. Wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird,
enthalten beide Zeugnisse ein Stück Wahiheit. Im Kreise Isaaks des
Blinden galt das Buch zweifellos schon als eine echte alte Quelle, die
an Wert den aggadischen Midraschim und den Schriften der Bereschith-
und Merkaba-Mystiker gleichkam. Unter den erhaltenen Fragmenten
Isaaks des Blinden selber befinden sich solche, die das Buch Bahir
unter diesem Namen zitieren. Das ganze 13. Jahrhundert hindurch
stellt das Buch Bahir den kanonischen Text dar, auf den die spanischen
Kabbalisten in weitem Maße aufbauen und Bezug nehmen. Erst mit
der Rezeption des Buches Zohar konnten die Kabbalisten der folgenden
Generationen an die Stelle der wenigen Blätter des Bahir, das im
Hebräischen nicht mehr als 40 Seiten umfaßt, eine ganze und weit-
schichtige Literatur von bedeutendem Umfang setzen, die als Autori-
tät dienen konnte. Anstatt der fragmentarischen und dunklen Aus-
sprüche des Bahir standen ihnen im Zohar relativ wohlgeordnete und
ausführliche Homilien zur Verfügung, die die Stimmung der Kabba-
listen jener späteren Generationen viel besser ausdrückten. Kein
Wunder also, daß die spätere literarische Leistung diesen ältesten Text
bald an Einfluß und Bedeutung überflügelte. Im 13. Jahrhundert galt
das Buch Bahir, wie später der Zohar, als Werk der Talmudlehrer,
wofür wir auch das ausdrückliche Zeugnis des Jakob ben Jakob Kohen,
des älteren Bruders des oben erwähnten Isaak Kohen haben. Er spricht
in seinem Kommentar zu Ezechiels Merkaba-Vision vom „Buch Bahir,
das von den Weisen des Talmud, den auserwählten Kabbalisten
[,ha-mequbbalim ha-jehidim\ verfaßt worden ist 72 ". Diesen zwei Mei-
nungen über die Herkunft und das Alter des Bahir entsprechen noch
im 19. Jahrhundert die Urteile der Gelehrten. Der einzige unter den
neueren Gelehrten, der das Buch für alt und damit offenbar auch für
72 Vgl. die Stelle in meinem Katalog der kabbalistischen Handschriften der Uni-

versitätsbibliothek Jerusalem (hebr., Jerusalem 1930), S. 208. Erst seit dem Erscheinen
dieses Buches habe ich eindeutig nachweisen können, daß Jakob ben Jakob Kohen
der Autor dieses in allen Handschriften anonym überlieferten wichtigen Buches ist.
Moses von Burgos, Jakobs Schüler, bringt in einem handschriftlich in New York er-
haltenen Kommentar zur selben Merkaba-Vision zahlreiche Zitate aus dem Kommentar
seines Lehrers, die alle in dem: anonymen Werk nachweisbar sind. Vgl. Ms. Enelow
Memorial Collection 711 im J. Th. S., das zum Teil mit einer besseren und viel älteren
Handschrift in der Sammlung Mussajoff in Jerusalem identisch ist.

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Erscheinen des Buches Bahir 39

orientalischen Ursprungs hielt, war meines Wissens Moses Gaster, der


es 1881 — ohne übrigens nähere Gründe anzugeben — als „vielleicht
älter als das zehnte Jahrhundert" erklärte73.
Natürlich können wir von Mystikern des 13. Jahrhunderts keinen
historisch-kritischen Sinn erwarten, und am wenigsten, wenn es sich
um Texte handelt, die auf ihre eigene geistige Welt in jenen Zeitläuften
von entscheidendem Einfluß waren. Und doch wird uns die Klarheit
über das Grundsätzliche überraschen, die aus der Analyse dieser zwei
Arten ältester Dokumentation zu gewinnen ist. Hier läßt sich noch
deutlich der Widerspruch zwischen zwei Tendenzen erkennen, die erst
in ihrer Vereinigung oder Auseinandersetzung die Kabbala als histo-
risches Phänomen und als historischen Faktor geschaffen haben. Einer-
seits haben wir es hier mit etwas wirklich Neuem zu tun, mit Offen-
barungen des Elias und dem „Erscheinen des heiligen Geistes in unse-
rem Lehrhaus", und Offenbarungen solcher Art haben auch bei den
spanischen Kabbalisten der Zeit nach 1250 keineswegs gefehlt, wie die
Gestalten von so ausgesprochenen „Illuminaten" wie Jakob Kohen
oder Abraham Abulafia beweisen. Andererseits haben wir es hier mit
Resten einer unartikulierten Tradition zu tun, die in Form von alten
Heften und fragmentarischen Blättern von weither oder aber aus
unterirdischen Schichten der jüdischen Gesellschaft an den Orten, wo
sie ans Licht traten, herkamen. Mit anderen Worten, wir haben es hier
mit einem Strom von oben und einem Strom von unten zu tun, und
beide treffen aufeinander, und aus ihrer Begegnung geht die Kabbala
als historisches Phänomen hervor. Mystik von Einzelnen, die in ihrer
Vision oder Kontemplation das Sehnen ihrer eigenen Seele, und viel-
leicht auch etwas von der Sehnsucht des Zeitalters, mehr oder weniger
vollkommen ausdrücken, kurz: eine aristokratische und individua-
listische Form der Religion verbindet sich hier mit Antrieben, die aus
anonymen Quellen hervorkamen. Die historische Analyse muß den
Versuch unternehmen, diese Quellen zu identifizieren oder doch ihren
Charakter zu bestimmen. Das ist etwa der erste Eindruck, der sich aus
der Prüfung der ältesten Informationen über das Auftreten der Kabba-
la ergibt. Und von hier können wir weitergehen und fragen, was sich
aus der Analyse des sachlichen Gehalts der kabbaüstischen Über-
lieferung selber lernen läßt. Was lehrt uns die Untersuchung des
Buches Bahir selbst, und welche Kenntnisse können wir aus den
Fragmenten der kabbalistischen Mystik schöpfen, die aus dem Kreis
Abraham ben Davids und von Isaak dem Blinden erhalten gebheben
sind? Mit diesen Fragen werden wir uns in den folgenden Kapiteln
vor allem zu beschäftigen haben.
73
Vgl. Gaster, Studies and Texts II, S. 1076, gegen den Steinschneider, Hebräische
Bibliographie, Bd. 21 (1881), S. 64, das Buch als „ohne Zweifel erst im 13. Jahrhundert
verfaßt" ansah.

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40 Das Problem

Für die Untersuchung dieser Anfänge der Kabbala ist es auch von
besonderem Interesse, daß uns durch eine glückliche Fügung ein über-
aus wichtiges Schriftwerk aufbewahrt geblieben ist, das Licht darüber
verbreitet, welche Gedanken in der Generation vor dem ersten Auf-
treten dieser neuen Inspiration von einem bedeutenden Talmudisten
zum Bezirk der Merkaba-Spekulation gerechnet wurden. Die Mischna
verbot ( H a g i g a II, 1, und die Ausführungen dazu in den beiden Tal-
muden), Vorträge über die Schöpfungslehre vor zwei Schülern und
über die Merkaba sogar vor einem Einzelnen zu halten, es sei denn, er
erfülle gewisse Vorbedingungen. Gewiß blieben literarische Zeugnisse
dieser Tradition, wie wir oben gesehen haben, auch im Mittelalter er-
halten. Man war sich aber zu dieser Zeit in keiner Weise mehr klar
darüber, was der ursprüngliche und authentische Inhalt dieser Tradi-
tionen war, was genau in ihren Umkreis gehörte und was nicht. So
suchten die verschiedenen geistigen Strömungen im damaligen Juden-
tum den Rahmen der sogenannten Merkabalehre jede auf ihre Weise
auszufüllen. Die Philosophen begannen, die Lehre von der Merkaba,
der himmlischen Realität, mit der Metaphysik und Ontologie zu identi-
fizieren, und die Lehre von der Schöpfung mit der Physik und der
Astronomie74. Als die Kabbala in der Provence ans Licht der Geschichte
trat, war diese Identifikation in gebildeten Kreisen schon weit ver-
breitet. Andere Gruppen hielten sich an das „Buch der Schöpfung"
und suchten in die Rätselrede jenes alten Esoterikers die jeweilige
Wissenschaft ihrer Zeit oder ihre eigenen Gedanken hineinzulesen. In
dieser Hinsicht besteht, wie schon gesagt, kein prinzipieller Unter-
schied zwischen Rationalisten wie Saadia und den Kabbalisten und
Mystikern. Im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts verfaßte Jehuda
ben Barzilai in Barcelona, eine der bedeutendsten rabbinischen Auto-
ritäten seiner Generation, einen sehr ausführlichen Kommentar zum
„Buch der Schöpfung", von dem sich eine einzige Handschrift bis in
die Neuzeit erhalten hat 75 . Der Autor war, wie wir jetzt wissen, auch
einer der Lehrer des Abraham ben Isaak aus Narbonne, das heißt also
des von der kabbalistischen Tradition selber als ersten Empfänger
der neuen kabbalistischen Revelationen bezeichneten Gelehrten in der
Provence76.
Die Stellung dieses Buches in der Geschichte der Kabbala ist um-
stritten. Nach Neumark ist es „ein unentbehrliches Mittelglied zum
Verständnisse des Entwickelungsprozesses, aus dem die Kabbala her-
vorgegangen ist. . . Barsilai bedeutet hier das innere Entwickelungs-

74 Bekannt ist diese Identifikation vor allem durch Maimonides und seine Schule

geworden, ist aber zweifellos älter.


75 Aus ihr edierte S. J. Halberstam den Text, Berlin 1885.

76 Vgl. S. Assai, Siphran schei Rischonim, Jerusalem 1935, S. 2—3.

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Jehuda ben Barzilai 41

moment. Saadia, wie nach ihm Bachia [in seiner Schrift „vom Wesen
der Seele"] bringt . . . viele Stellen aus dem biblisch-talmudischen
Schrifttum bei, aber [Jehuda ben] Barsilai hat sein Buch systematisch
darauf angelegt, alle irgendwie belangreichen Stellen in Bereschith
und Merkaba zu erklären. . . Und in der Tat kann man den Jezira-
Kommentar Barsilais von unserem Gesichtspunkte aus als den ent-
scheidenden Wendepunkt von der Ideenlehre zur Merkaba bezeichnen,
die den Urgrund der Kabbala bildet77". Neumark vermutet sogar,
der Ausdruck Kabbala in dem später gebräuchlichen Sinne sei viel-
leicht von Jehuda ben Barzilai zuerst geprägt worden78. Selbstver-
ständlich ist Neumark nach all diesem überzeugt, daß dieses Werk
den ältesten Kabbalisten bekannt gewesen und ausführlich von ihnen
benutzt worden sei.
Diese Behauptungen Neumarks hängen aber leider völlig in der Luft.
Für die Geschichte der Kabbala vermag ich in dem Buch kein positives
Entwicklungsmoment zu entdecken. Es ist mir auch nicht gelungen,
Spuren von jenem angeblich tiefen Einfluß zu finden, den nach Neu-
marks Meinung dies Werk auf die Kabbalisten des 13. Jahrhunderts
ausgeübt haben soll. Seine dafür vorgebrachten Beweise, die in sehr
willkürlichen Vergleichen bestehen, sind phantastisch. Im Gegenteil
darf man es eher als merkwürdig bezeichnen, daß das Buch den nach
Bahir schreibenden Kabbalisten des 13. Jahrhunderts unbekannt
geblieben zu sein scheint. Nur schwache Anklänge sprechen eventuell
für ihre Bekanntschaft damit. Nicht einmal Abraham Abulafia, der
1270 alle ihm erreichbaren Jesira-Kommentare studierte und aufzählt,
weiß von dem Buch79, obwohl er selber damals in Barcelona saß, also
am Abfassungsorte des Kommentars. Nicht in dem direkten Zu-
sammenhang mit der kabbalistischen Spekulation besteht das un-
leugbare Interesse dieses Buches, sondern eben in dem Kontrast zu
ihr, den es bildet. Es zeigt, daß sogar ein Autor, der sich anerkannter-
weise zur Mystik hingezogen fühlte und dieser Neigung zuweilen auch
in seinen halachischen Werken Ausdruck gab80, keinerlei Kenntnis
von einer besonderen mystischen oder gnostischen Tradition hat,

" Neumark I, S. 192.


Ibid. I, 194.
'» Vgl. Jellinek Beth ha-Midrasch, Bd. III, Leipzig 1855, S. XLII, wo diese Stelle
über die von Abulafia studierten Kommentare zu Jesira mitgeteilt ist. Nur zu den
deutschen Chassidim ist, wie Abraham Epstein, M. G. W. J., Bd. 37 (1893), S. 118, aus
dem Jesira-Kommentar des Eleazar von Worms nachgewiesen hat, Kenntnis des
Buches gedrungen. Er nennt den Autor nicht mit Namen, schreibt ihn aber an mehreren
Stellen aus. In Schriften der spanischen Kabbalisten habe ich keine solchen wörtlichen
Entlehnungen gefunden.
80
So urteilt auch ein so hervorragender Kenner der halachischen Literatur wie
S. Bialoblocki in Enzyclopaedia Judaica Bd VIII, Sp. 940.

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42 Das Problem

die in seiner Zeit und Gegend lebendig gewesen wäre. Die für die
Kabbala charakteristischen Gedankengänge, vor allem der theoso-
phische Gottesbegriff und die Äonenlehre, fehlen bei ihm vollkommen.
Er bezeugt ausdrücklich, daß sogar die von Saadia beeinflußten Speku-
lationen über die Glorie Gottes, Kabhod, die im 12. Jahrhundert den
deutschen Chassidim durchaus bekannt waren81, in seinem Land nicht
verbreitet waren und entschuldigt sich für seine ausführliche und
wiederholungsreiche Behandlung dieser Lehren damit, „daß es bei
unseren Zeitgenossen nicht üblich ist, von diesen Gegenständen zu
handeln82". Sein Werk bezeugt also gerade, wie eine nichtkabba-
listische Spekulation über diese Gegenstände unmittelbar vor dem
Auftreten der Kabbala aussah. Im ersten Teil seines Buches gibt er
eine Art Chrestomathie der talmudischen und midraschischen Stellen,
die auf die Lehrbereiche der Merkaba und des Buches Jesira und der
Schöpfungslehre irgendwie bezogen werden können. Dieser Teil ist an
sich interessant genug. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß, hätte der
Autor irgendeine Kenntnis von der kabbalistischen Theosophie gehabt,
er ihr freundlich gegenübergestanden und sie sich für seine eigenen
Ausführungen und Erklärungen angeeignet haben würde. Aber von
all dem ist hier gerade nicht die Rede. So ist denn sein Werk das
beweiskräftigste Zeugnis dafür, wie groß der Unterschied zwischen der
Lage der Dinge in Nordspanien und der Provence um 1130 und um
1180—1200 war. Dieser Unterschied liegt im erneuten Auftreten der
gnostischen Tradition im Herzen des Judentums.
81 Über diese Vorstellungen des Kabhod bei den Chassidim vgl. J . M., S. 120—125.
M Jehuda ben Barzilais Kommentar, S. 234.

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II

DAS BUCH BAHIR

1. Literarischer Charakter und Aufbau des Buches


Verschiedene Schichten

Das Buch Bahir, dessen wenige Blätter so viel von dem Geheimnis
des Ursprungs der Kabbala in sich bergen, hat die Form eines Midrasch,
das heißt einer Sammlung von Aussprüchen oder sehr kurzen Vor-
trägen im Anschluß an Bibelverse1. All diese Dinge werden in überaus
1
Im Folgenden zitiere ich nach der Paragraphenzählung in meiner kommentierten
Übersetzung: „Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala",
Leipzig 1923. Diese Übersetzung beruht im wesentlichen auf der ältesten erhaltenen
und relativ besten Handschrift, dem Cod. Monac. 209 vom Jahre 1298, welcher Codex,
wie spätere Forschungen O. Hartigs über die Gründung der Münchner Hof-Bibliothek
(Abhdlg. d. Bayr. Akad. d. Wiss., phil-hist. Kl. Bd. 28, fase. 3, München 1917) er-
wiesen haben, einer derer ist, mit denen Giov. Pico della Mirandola 1486 seine kabba-
listischen Studien begann. (In der Tat ist die älteste lateinische Übersetzung des Bahir,
die Guiglelmus Raimundus Moneada alias Flavius Mithridates für Pico angefertigt h a t
und die in dem vatikanischen Cod. Ebr. 191 erhalten ist, nach eben dieser, jetzt Münch-
ner Handschrift gearbeitet.) An manchen Stellen bin ich aber den Lesarten alter
Zitate bei den Kabbalisten des 13. Jhs. gefolgt. Die älteren Zitate des Buches sind dort
zu jedem Paragraphen nachgewiesen. Natürlich h a t sich in diesen 40 Jahren mein
Verständnis des Textes an vielen Stellen vertieft, und ich habe dann hier aufgrund
dieses besseren Verständnisses übersetzt. Handschriften des Textes aus dem 14. und
15. Jh. sind in nicht geringer Zahl erhalten, können sich aber an Wert nicht mit den
alten Zitaten, wie wir sie vor allem von etwa 1220 an aus der Schule von Gerona und
deren Nachfolgern besitzen, messen. Die gedruckten Ausgaben repräsentieren einen
ungewöhnlich korrupten Text. Merkwürdig ist, daß die erste Ausgabe, Amsterdam 1651,
wie wir durch eine Notiz bei Joh. Ch. Wolf, Bibliotheca Hebraea III (1727), S. 796,
erschließen können, wohl durch einen Christen, Jacob Bartholinus, besorgt wurde,
was das auffällige Fehlen rabbinischer Approbationen in der Ausgabe erklären würde.
Auf dem Titelblatt wird freilich behauptet, das Buch sei „auf Wunsch einiger Männer
aus Polen durch jemand, der aus Bescheidenheit ungenannt bleiben wollte", heraus-
gegeben worden. Das mit Bahir zugleich gedruckte kabbalistische Ma'jan ha-Hokhma,
das fast den selben Vermerk trägt, ist aber eben das von Wolf fälschlich als Ma *ajan
Gannitn verzeichnete, von Bartholinus anonym edierte Buch. Spätere Ausgaben haben
den Text weiter korrumpiert (Berlin 1706, Schklow 1784, Lemberg 1800 und 1866). In
Wilna 1883 wurde ein etwas besserer Text zusammen mit einem anonymen Kommentar

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44 Das Buch Bahir

losem Zusammenhang, den man schwer einen literarischen Aufbau


nennen kann, vorgetragen. Von einer einheitlichen Gedankenführung
in den verschiedenen Paragraphen kann nur mit größter Einschrän-
kung gesprochen werden, wie sich zeigen wird. Der Inhalt scheint
kunterbunt durcheinanderzugehen. Unter Benutzung einer in den
alten Midraschim nicht bekannten mystischen Terminologie werden
alle möglichen Bibelstellen und Aggadoth, mit Vorliebe natürlich solche
kosmogonischer und kosmologischer Natur gedeutet, des Weiteren
werden Buchstaben und Vokale der hebräischen Sprache, ja sogar
einzelne Akzente der hebräischen Schrift, zum Gegenstand der Speku-
lation gemacht. Ausführungen, die offensichtlich auf dem Buch Jesira
beruhen und seine Gedanken in ganz neuer Weise ausdeuten oder fort-
entwickeln, stehen neben Fragmenten ritualsymbolischer und gebets-
mystischer Richtung, die über das ganze Buch verstreut sind. Dazu
kommen Stücke psychologischen Inhalts, aber auch Fragmente über
verschiedene mystische Gottesnamen, deren magische Tendenz unver-
kennbar ist.
So kann man wirklich sagen, daß wir hier ein Potpourri vieler Motive
vor uns haben, die für die Anhänger der alten Geheimlehre von Inter-
esse sein konnten. Fast nirgends ist aber eine Darlegung wirklich zu
Ende geführt. Meistens wird sie durch andere Stücke unterbrochen,
dann wieder aufgenommen, ohne doch konsequent verfolgt zu werden.

Or ha-Ganuz eines Schülers des Salomo ben Adreth gedruckt, als dessen Autor sich
jetzt eindeutig Me'ir ben Salomo Abi-Sahula (oder: ben Sahula) erweisen läßt, unter
dessen Namen der Kommentar noch im 16. und 17. Jh. bekannt war, vgl. mein Buch
Kithbe Jad be-Kabbala, Jerusalem 1930, S. 147. In der Vorrede seines Kommentars zu
Jesira, den ich seitdem in der Handschrift der Angelica in Rom studieren konnte,
erzählt er, daß er den Kommentar zum Bahir im Jahr 1331 nach sechsjähriger Arbeit im
Alter von 70 Jahren beendet habe. Die neueste Bahir-Ausgabe ist die von Ruben Marga-
lioth, Jerusalem 1951, der vier Handschriften herangezogen hat, aber gerade nicht von
der besten Art, wie sein Text beweist. Die Handschriften, zum Teil wohl aus dem New
Yorker Seminar, sind von ihm nicht identifiziert worden. Der Herausgeber h a t es fertig-
gebracht, meine ihm bekannten, aber durch ihre historisch-kritische Richtung mißliebi-
gen Arbeiten nicht zu erwähnen. In seiner Edition ist der Text in 200 Paragraphen
geteilt. Vor 40 Jahren beabsichtigte Dr. N. Kotkow in New York eine Neuausgabe des
Bahir Textes aufgrund der New Yorker Handschriften, wurde aber noch in den Vor-
arbeiten Opfer eines Raubmordes. Seine Handschriften-Kollationierungen h a t mir
seinerzeit sein Lehrer, Prof. Alexander Marx, freundlichst zur Verfügung gestellt. Lite-
ratur über das Buch ist in meinem Artikel Bahir in der Enzyclopaedia Judaica Bd. I I I
(1929), Sp. 969—979, verzeichnet, worunter besonders David Neumark in der he-
bräischen Bearbeitung seiner Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters zu
erwähnen ist, Toldoth ha-Pilosophia be-Jisrael (1921), S. 181—185, 261—268. Dazu
kommt jetzt noch Leo Baeck, „Aus drei Jahrtausenden", Tübingen 1958, S. 272—289,
ein Versuch einer zusammenhängenden Interpretation der ersten 25 §§ des Buches, der
mir zu homiletisch und harmonistisch scheint.

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Charakter und Aufbau 45

Für die Annahme Neumarks, daß ein theoretisch-spekulativ gerichteter


Autor seine Gedanken durchaus künstlich und bewußt in diese, eigent-
lich gar nicht zu ihnen passende, Form des Midrasch eingekleidet hätte,
spricht nichts. Vielmehr wirkt diese Vortragsart durchaus als dem in
der Aggada wurzelnden Denken des Autors oder der Autoren adäquat.
Ebensowenig Grund hat die Behauptung Neumarks2, der Titel „Bahir"
komme daher, weil das Buch sich mit der Lehre vom 'Or Bahir, der
Ursubstanz der Schöpfung beschäftige, welchen Terminus die philo-
sophischen Erklärer des „Buches von der Schöpfung" sowie Jehuda
ben Barzilai gern bei ihren Ausführungen über das erstgeschaffene
Licht, das die geistige Ursubstanz der Schöpfung darstellt, verwenden.
In Wirklichkeit beschäftigt sich das Buch aber gar nicht speziell mit
dieser Lehre, und gerade der Begriff des 'Or Bahir kommt außer in dem
Bibelvers in § 1, aus dem er selber stammt, im ganzen Buch nicht
wieder vor. Und gerade dieser Paragraph handelt gar nicht von der
unter diesem Stichwort gangbaren Doktrin3.
Der Mischnalehrer Nechunja ben Haqqana kommt im Buche selbst
höchstens noch an einer Stelle wieder vor4. Daß gerade sein Name an
den Eingang gestellt wurde, in einem Paragraphen, der mit dem
Folgenden kaum in irgendeinem Zusammenhang steht, beruht wohl
darauf, daß dieser Rabbi eine der Hauptautoritäten der pseudepi-
graphischen Merkaba-Schriften ist. Er tritt in den Hekhaloth als Lehrer
der zwei anderen Hauptautoritäten, des R. Akiba und R. Ismaël auf.
So wird dieser Text damit gleichsam als eine Merkaba-Schrift identi-
fiziert. Als Hauptsprecher treten in dem Buch aber zwei Lehrer auf,
2
Neumark, Geschichte der jüd. Philosophie I (-1907), S. 197.
3
Dieser erste Paragraph, eine Art Vorspruch, handelt nur von der Identität von
Licht und Finsternis vor Gott. „R. Nechunja ben Haqqana sagte: Ein Schriftvers
sagt [Hiob 8721]: Nun aber sieht man nicht das Licht, leuchtet es [bahir hu*] in den
Himmeln, und ein anderer Schriftvers sagt [Ps. 18l2] : er macht Finsternis zu seiner
Hülle. [Hier ist] ein Widerspruch, [aber] ein dritter Vers kommt und gleicht aus
[Ps. 13912] : Auch Finsternis ist vor dir nicht finster, und Nacht strahlt wie der Tag,
Finsternis wie Licht." Baeck will in diesem Satz die Bürgschaft aller Mystik finden:
„Letzte Verborgenheit ist zugleich letzte Erkenntnis, was von unten . . . betrachtet
Finsternis ist, ist von oben her gesehen durchsichtiges Licht." (S. 273). Das Wort
Bahir kommt im Buch noch einmal vor, § 97, in einer Stelle über das verborgene
Urlicht, das Gott strahlend und leuchtend sah. Vielleicht hat Neumark hieraus
seine Vermutung entnommen.
4
Er ist wohl der in § 45 genannte R. Nechunja, nach Hss. München 209 und Paris
680, dessen Name in späteren Texten durch Rechumai ersetzt ist. Er trägt hier eine
mystische Symbolik über die Sephiroth vor. Auch § 106 wird von einem philosophischen
Autor um 1290 nicht im Namen des R. Berachja, wie in allen Handschriften, sondern
des R. Nechunja vorgetragen. Möglicherweise wollte der Autor damit aber nur ein
Zitat aus dem „Midrasch des R. Nechunja", wie das Buch Bahir ja auch genannt
wurde, einführen. Vgl. meinen Kommentar zur Stelle.

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46 Das Buch Bahir

deren Namen offensichtlich fingiert sind. Der eine heißt Rabbi Amora
oder Amoraj, was aber in den alten Quellen nie ein Personennamen ist.
'Amoraïm, d. h. Sprecher, heißen im Unterschied von den Tannaïten
in der Überlieferung die talmudischen Lehrer nach dem Abschluß der
Mischna. R. Amora heißt also weiter nichts als „Rabbi Sprecher". Der
zweite Redner heißt R. Rachmaj oder Rechumaj (die älteste Über-
lieferung hat die erste Form des Namens), womit vielleicht auf den
Namen des Amoräers Rechumi, eines babylonischen Lehrers des
4. Jahrhunderts, angespielt werden soll5. Diese beiden Hauptredner
entsprechen hier dem Akiba und Ismaël der Hekhaloth. Daneben treten
Namen auf, die uns aus den aggadischen Midraschim bekannt sind, wie
R. Berachja, R. Bun, R. Eliezer, R. Jannai, R. Jochanan, R. Meür,
R..Papias6. Akibaund Ismaël selber, diewir am ehesten erwarten würden,
treten nur ganz gelegentlich auf. In § 22 führen sie einen Dialog, der
wirklich im Midrasch Bereschith Rabba zu Gen. Ii steht. Nur selten sind
aber solche Aussprüche echte Zitate; meistens sind sie ebenfalls pseud-
epigraphischer Natur. Größere Abschnitte des Buches sind aber noch
jetzt anonym ; die Paragraphen folgen aufeinander, ohne daß irgend-
ein Name genannt würde, obwohl Diskussionen zwischen den unge-
nannten Sprechern öfters vorkommen. Ob diese Dialogform, ja auch
die Zuschreibung an bestimmte Personen, stets ursprünglich ist, läßt
sich bezweifeln, öfters scheint es, als ob sie erst einer späteren Re-
daktion entstammt, die auch Namen zugefügt oder geändert hat7. Bei
all diesem wird aber die literarische Form des Midrasch, Fragen nach
der Bedeutung schwieriger oder einander widersprechender Bibelverse,
5
Der historische Rechumi hat sich aber, soweit die Quellen reichen, nicht mit der
Geheimlehre besehäftigt.
6
Papias und Akiba, die in der alten Aggada auch sonst zusammen genannt werden,
(Bacher, Agada der Tannaïten I, S. 324—327) treten in § 86 zusammen auf. Die über-
lieferten Schriftdeutungen des Papias sind durch ihre mythischen Akzente und „agga-
dischen Kühnheiten" (Bacher) bekannt. Unbekannt ist auch R. 'Ahilai, der in § 80
einen Satz aus den Hymnen der Merkaba-Mystiker magisch ausdeutet (auf den 12-
buchstabigen Gottesnamen). Statt des im Bereschith Rabba genannten Lulliani bar
Tabri, d. h. Julianus, Sohn des Tiberius, wird der selbe Ausspruch in § 14 von R. Lewitas
ben Tiburia angeführt. In § 18 diskutieren Rabbi Amora und Mar Rachmai bar Kibhi,
der sonst nicht bekannt ist, miteinander. Soll dies der volle Name des sonst genannten
R. Rachmai sein ? Statt ist wohl 1313 zu lesen, der im jüdisch-Aramäischen öfters
vorkommende Name Bebai.
7
In den Ausführungen über die Beziehungen zwischen Bahir und der Schrift Raza
Rabba werden wir Beispiele für die Änderung solcher Namen kennlernen. Während der
Anfang der noch zu besprechenden Tafel der 10 Logoi durchaus anonym und ohne
dialogische Form vorgetragen ist. ist ihr letzter Teil, von § 114 an, unvermittelt zum
Dialog umgearbeitet, ohne daß Namen der Sprecher genannt werden. Auch
andere Stücke im zweiten Teil des Buches machen den Eindruck, als ob zusammen-
hängende Lehrsätze ziemlich künstlich in Dialoge umgearbeitet worden seien.

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Charakter und Aufbau 47

eingehalten oder nachgeahmt. Jedoch sprechen die anonymen Stücke


zum Teil deutlich für eine Vortragsart, die sich der anonymen Mischna
oder dem Buch Jesira nähert.
Daß der Text, wie er uns vorliegt, in der Tat fragmentarisch ist, wie
schon Isaak Kohen bezeugt hat, kann keinem Zweifel unterhegen. Wir
haben es mit einer Sammlung oder redigierenden Bearbeitung von
Fragmenten zu tun. Manchmal bricht der Text sogar mitten im Satz
ab, und fängt mitten in einem anderen Satz wieder an, WEIS kaum
anders als durch Blattverlust in der ältesten Vorlage zu erklären ist8.
Andere Lücken sind deutlich, so wenn in § 30 die Antwort auf eine
Frage fehlt oder wenn, wie in § 88 und am Ende von § 115, wichtige
Aufzählungen nicht zu Ende geführt werden. Während von § 107—
§ 115 eine längere anonyme Darlegung vorgetragen wird, beginnt § 116 :
„Seine Schüler sagten zu ihm", ohne daß vorher von dem Lehrer und
dessen Worten die Rede war. Dazu kommt, daß die Kabbalisten an
manchen Stellen Selbstzensur ausgeübt haben mögen, als schon in der
Provence Proteste gegen den häretischen Charakter mancher Stellen
laut wurden. So führt Mei'r ben Simon aus Narbonne eine Stelle an,
die er selber im Bahir gelesen habe, und die in allen unseren Hand-
schriften fehlt. Er schreibt: „Und was sollen wir uns lange mit den
Worten der Toren abgeben, deren Gebete und Lob- und Segenssprüche
alle auf Götter gehen, von denen sie sagen, sie seien erschaffen und
emaniert, und sie hätten einen Anfang und ein Ende. Denn in ihrer
törichten Argumentation bringen sie vor, jeder, der 'Erster* und
'Letzter' genannt wird, müssen auch einen Anfang und ein Ende
haben, worauf sie den Vers [Jes. 44β] beziehen: 'Ich bin der Erste
und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott*. So haben wir in
einem der Bücher ihres Irrtums gefunden, das sie Bahir nennen,
und so auch haben einige der Gelehrten aus ihrem Mund ver-
nommen9" (vgl. auch unten S. 353).
Daß bei der Redaktion, wie immer man sie sich vorstellen möge,
Einschübe vorgenommen und Verwirrung gestiftet wurde, läßt sich

8 So erklärt sich ζ. B. der Riß zwischen § 43 und § 44, sowie zwischen § 66 und

§ 67. §§ 67—70 bilden eine Einschaltung, deren Anfang fehlt, die aber auf § 64 zurück-
greift, während § 71 seinerseits wieder, wenn auch keineswegs syntaktisch anschließend,
den § 66 fortsetzt.
» Den hebräischen Text habe ich im Sepher Bialik, Tel Aviv 1934, S. 149 gedruckt.
Ich möchte annehmen, daß diese getilgte Stelle über den Demiurgen Joçer Bereschith,
handelte, dem dieser Vers am ehesten in den Mund gelegt werden konnte. Wie im alten
Schi 'ur Qoma, mit dem dieses Zitat wohl zusammenhängen könnte, hat der Schöpfergott
Anfang und Ende — im Unterschied zu der darüber stehenden Gottheit, dem später
als Έη-soph bezeichneten deus absconditus. Der Autor unterschied zwischen dem in
den Logoi oder Sephiroth erscheinenden Schöpfer, und dem Gott, der über den Sephi-
roth steht ?

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48 Das Buch Bah ir

mehrfach deutlich zeigen10. So auch ist die wichtige Tafel der zehn
kosmogonischen Urkategorien oder Logoi, auf die wir noch ausführ-
lich zu sprechen kommen, und die ursprünglich sicher ein einheitliches
Stück war, in ihrem zweiten Teil sowohl durch nachträgliche Dialogi-
sierung wie auch durch verschiedene Einschiebungen und Parallel-
Recensionen, sehr verstümmelt.
Die Sprache des Buches ist oft ganz verwildert, und zwar mehr, als
sich durch Verderbnis der handschriftlichen Überlieferung erklären
läßt. Die Syntax ist in manchen Stücken ziemlich unverständlich, und
die Beschwerden des Meïr ben Simon über den schlechten Stil des
Buches, die wir kennengelernt haben, sind wohlbegründet. Manche
Stellen zeichnen sich durch gehobenen Stil und feierliche Sprache aus,
die Bilder entbehren nicht der Großartigkeit — wir werden einige
Beispiele hierfür kennenlernen —, dann aber wieder lesen wir ein ganz
unbeholfenes Hebräisch, das lange nicht mehr die starke Modulations-
fähigkeit des Midrasch-Hebräisch hat. Die Sprache ist nicht die des
Talmud, obwohl die Terminologie bei Diskussionen die talmudische
nachahmt11, sondern viel eher die der späteren Aggada. Der größere
10
So stehen nebeneinander Stücke, die ganz verschiedene Auffassungen desselben
Gegenstandes voraussetzen und Erklärungen vortragen, zwischen denen nur mit Gewalt
eine ausgleichende und vereinheitlichende Erklärung möglich ist. Charakteristisch ist
etwa § 77—78, ein Zusatz, der die direkte Folge von § 76 und § 79 unterbricht und eine
Interpretation von § 76 darstellt, die gar nicht dessen ursprünglichem Sinn entspricht.
Der Begriff der „heiligen Formen" in § 77, wo sie Engel bedeuten, widerspricht dem-
selben Begriff, wie er in § 67, 69 und 116 gebraucht wird, wo er sich auf die Mani-
festationen Gottes selber in den Gliedern des Urmenschen bezieht. Daß der Ausdruck
„heilige F o r m e n " auch bei Maimonides in dem um 1180 beendeten Mischneh Tora
vorkommt, braucht bei einem so leicht sich numinoser Nuancierung anbietenden Be-
griff nicht auf quellenmäßige Zusammenhänge zurückgeführt werden. In den Hilkhoth
Jessode ha-Tora VII, 1 spricht M. davon, daß der Prophet, dessen von allem Irdischen
entleerter Sinn in der oberen Welt weilt und mit dem Bereich unter dem Thron ver-
bunden ist, dort „jene heiligen und reinen Formen", von der ersten Form bis zum
Nabel der Erde verstehen lernt. I m Bahir wird der Ausdruck wohl anderen, älteren
Quellen entstammen. Ebenso setzt § 88 den Gedanken von § 76 fort, während die
davorstehenden Stücke, besonders aber § 84 bis 87 vollkommen anderen Charakter
haben. Man sieht hier deutlich, daß Stücke über Gottesnamen und Merkabamystisches
von kabbalistischen Symboliken ganz anderer Art unterbrochen werden. Auch in
die Aufzählung der Tafel der 10 Logoi sind nach § 96 verschiedene Stücke, die gar
nichts damit zu tun haben, eingeschaltet, während erst § 101 die Aufzählung wieder
aufnimmt.
11
Solche Floskeln aus der Diskussions-Terminologie des Talmud sind z. B. la qaschja,
„das ist nicht schwer", mna' lan, „woher wissen wir", 'i ba'ith 'ema, „wenn du willst,
sage ich", la tibb'i lahh, „es sollte dir nicht fraglich sein", qajma lan, „es steht bei uns
fest" u. dgl. Sie durchziehen das ganze Buch, soweit es dialogisch aufgespalten ist.
Kema de-'at 'amer, „wie du sagst", das im allgemeinen zur Einführung von Bibelzitaten
angewandt wird, wird auch hier mitunter in erweiterter Bedeutung gebraucht; nicht

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Charakter und Aufbau 49

Teil des Buches ist hebräisch geschrieben, einige Stücke auch ara-
mäisch (das auch nicht viel taugt) und manche in einem Gemisch
beider Sprachen, wobei freilich die Proportion des Hebräischen und
des Aramäischen in den einzelnen Handschriften fluktuiert. Der
Sprachgebrauch erinnert hier und da an die in Südfrankreich verfaßten
späten Midraschim, so in der Vorliebe für den Gebrauch des Verbums
0% sim, „setzen" statt nathan „geben" (besonders in den Gleich-
nissen). Nur an wenigen Stellen, die aber zu denken geben, finden sich
klare Arabismen12. In der Provence verstand man damals kein arabisch
und gewiß nicht in Schichten, die die Sprachkunde offensichtlich so
wenig pflegten wie die Autoren oder Redaktoren des Buches Bahir.
Die hier und da vorkommenden philosophischen Floskeln erlauben
keine eindeutige Lokalisierung, ganz abgesehen davon, daß sie wahr-
scheinlich der spätesten Schicht angehören.
Denn daß sich in dem Buch verschiedene Schichten niedergeschlagen
haben, die vielleicht auch auf verschiedene Quellen zurückgehen,
scheint mit zweifellos. Ein einheitliches System des Buches, wie es vor
allem Neumark in der hebräischen Ausgabe seines Buches aufzustellen
versucht hat, gibt es meines Erachtens nicht. Es scheint, daß eine
Endredaktion so etwas wie eine ganz allgemeine Einheitlichkeit der
hier benutzten kabbalistischen Symbolik herzustellen versucht hat,
ohne doch damit die manifesten Widersprüche, die sich jetzt noch oft
genug finden, zu beseitigen. Es sieht daher eher so aus, als ob wir hier
noch Zeugnisse eines allmählichen Entwicklungsprozesses vor uns
haben, den die kabbalistische Symbolik durchgemacht hat. Wir werden
der Wortlaut, sondern eine sich daraus ergebende These oder Paraphrase werden so
zitiert, vgl. W. Bacher, Exegetische Terminologie der Jüdischen Traditionsliteratur II
(1905), S. 11, und hier §§ 37 und 39.
12
Von solchen Arabismen kommen in den vielleicht (in §§ 24—28 sicher) zusammen-
hängenden §§ 24—38 mindestens vier vor. In § 25 in einer Erklärung der Form des
Konsonnanten Daleth: u-bha'a 'abha, „es wurde dick", wobei das Verbum ba', wörtlich
„es k a m " , wie das arabische ga'a für „werden" benutzt wird; in § 27, wo be-roschah,
von der Seele gesagt, nur als „sie selber" Sinn gibt, wie das Arabische rasiha; in § 28,
wo übersetzt werden m u ß : „und was bedeutet der Vokalname Hireq ? Einen Ausdruck
für verbrennen." In der Tat heißt verbrennen im Arabischen, aber nicht im Hebräischen
und Aramäischen, haraqa; in § 38, wo ein Wortspiel zwischen Zahabh, Gold, und einem
im Hebräischen nicht existierenden Verbum nizhabh im Sinne von „weggehen" vorliegt,
welche Bedeutung aber nur die entsprechende arabische Radix dahaba h a t ; sowie in
§ 122, wo das Verbum messabbebh im Sinne von „verursachen" diese Bedeutung erst
unter arabischem Einfluß im mittelalterlichen Hebräisch angenommen hat. Dabei
kommt das Wort gerade in einem als Mischna-Satz eingeführten Epigramm über das
Verhältnis der 10 Sphären der Astronomen zu den 10 Logoi vor. Ein Arabismus dürfte
auch die Phrase halo' tir'eh, „du siehst doch", im § 48 sein, die im alten Midrasch nicht
vorkommt. Man darf hiernach wohl mit Sicherheit folgern, daß die vokalmystischen
Paragraphen des Buches aus dem arabisch-sprechenden Orient stammen.

Scholen!, Kabbala 4
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50 Das Buch Bahir

mehrere Exempel für solchen Entwicklungsprozeß hier kennenlernen.


Der Fortschritt von einem Paragraphen zum andern oder von einer
Gruppe von Stücken zur nächsten erfolgt oft auf eine rein äußerlich
assoziative Weise. Ein gerade zitierter Bibelvers wird aufgegriffen und
seinerseits zum Gegenstand von Betrachtungen gemacht; ein Begriff
oder Bild, das vorkam, wird herausgehoben und erörtert, und es ist
klar, daß dieser Assoziationsfaden, der sich durch große Teile des
Buches zieht, nur ein sehr äußerliches Ordnungsprinzip abgegeben hat,
unter dem altes und neues Material zusammengebracht werden konnte.
Merkwürdig ist dabei, daß die erste Hälfte des Buches, besser das
erste Drittel, absichtlich einfachere Stücke zu enthalten scheint, von
denen viele sich erst im Licht der in späteren Teilen des Buches viel
deutlicher auftretenden mystischen Symbolik erklären lassen.
Dabei entwickelt das Buch aber seine Anschauungen nicht in ge-
ordneter und fortschreitender Weise. Man kann überhaupt von vielen
Stücken hier nicht so sehr sagen, daß sie Anschauungen erklären, als
daß sie sie vielmehr voraussetzen und sich ihrer für eine konkrete
Fragestellung und deren Aufhellung bedienen. Dabei greift das Buch
nun an wichtigen Stellen ohne jede besondere Entschuldigung auf
mythologische Redeweise und mythische Bilder zurück, die nichts
weniger sind als „Einkleidungen" philosophischer Ideen. Die völlige
Unbekümmertheit, mit der diese Redeweise hier auftritt, ohne daß im
mindesten eine Entschuldigung oder Einschränkung für ängstliche
Gemüter versucht würde, ist ein Hauptcharakteristikum des Buchs
Bahir und unterscheidet es wesentlich von späteren Produkten der
kabbalistischen Literatur, die ihre anthropomorphistische und my-
thische Bilderwelt fast stets mit Entschuldigungen und theologischen
Reverenzen umgeben. Weder Autoren noch Redaktoren des Bahir
haben solche Bedenken gehabt. Sie dachten in diesen Vorstellungen,
die ihnen, wie immer wir ihren Ursprung erklären wollen, legitime
Bilder der göttlichen Welt schienen und von ihnen mit der gleichen
Selbstverständlichkeit behandelt wurden, mit der die alten Aggadisten
bei ihrer Rede von göttlichen Dingen in anthropromorphen Formen
verfuhren. Dies beweist schlagend, daß der Text nicht aus der Tradi-
tion philosophischen Denkens im Judentum, auch nicht aus dessen
Verfall heraus, erklärt werden kann. Eine ganz andere Welt liegt hier
zugrunde.
In den Formen aggadischer und midraschischer Rede, die gern auch
auf Frage und Antwort zwischen Lehrer und Schüler zugespitzt wird,
werden Dinge vorgetragen, die man in den alten Texten dieser Literatur
vergebens suchen würde, obwohl an vielen Stellen zweifellos auf jene
Literatur Bezug genommen wird, mit der die Kreise, aus denen das
Buch Bahir stammt, nicht unvertraut gewesen sein können. Wichtig
ist hierbei, daß nicht nur Bibelverse zum Gegenstand mystischer Deu-

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Charakter und Aufbau 51

tungen und Paraphrasen gemacht werden, sondern auch talmudische


und aggadische Sätze. Es fragt sich, ob eine solche Haltung nicht eo
ipso einen starken zeitlichen Abstand zu den so benutzten Quellen
voraussetzt, die also selber schon kanonisch geworden sind und mit
mystischen Augen gelesen werden konnten. In der sonst bekannten
aggadischen Literatur haben wir keine Beispiele dafür, daß Sätze der
Talmudlehrer von ihren eigenen Kollegen zum Gegenstand mystiscner
oder allegorischer Ausdeutungen gemacht werden. Auch zwischen den
Merkaba-Schriften und der exoterischen Aggada findet kein derartiges
Verhältnis statt. Sätze dieser exoterischen Quellen finden sich auch
dort, verlieren aber nicht ihren ursprünglichen Sinn, und Dinge, die
manchem modernen Gelehrten als Umdeutungen talmudischer Sätze
erschienen, sind in Wirklichkeit nichts anderes als genaue und durch-
aus auf richtigem Verständnis oder richtiger Tradition beruhende
Präzisierungen ihres Inhalts 13 . Niemals nimmt diese alte mystische
Literatur Sätze aus anderen Schriften auf und verwandelt sie in Sym-
bole, wie das im Bahir geschieht. Denn diesem Buch wird schon alles
zum Symbol. Jedes Wort oder jeder Satz, den es heraushebt, wird zum
Hinweis auf irgendein Geheimnis, das ebensooft unerklärt bleibt, wie
es etwa, an der betreffenden oder an anderen Stellen dès Buches, ent-
rätselt wird. Es ist typisch gnostische Exegese, die wir hier finden,
womit für die Frage des historischen Zusammenhangs mit alter gno-
stischer Tradition natürlich noch nichts gesagt ist. Die hervorgehobe-
nen Worte oder Begriffe werden zu Symbolworten, zu Benennungen
einer himmlischen Realität und weisen auf die Vorgänge hin, die sich
dort abspielen. Der alte Merkaba-Mystiker der Hekhaloth-Tradition
kommt nicht auf die Idee, Verse aus der Genesis, den Propheten oder
dem Buch der Psalmen auf Gegenstände der Merkaba-Welt zu be-
ziehen und dadurch eine genauere Vorstellung oder Beschreibung
dieser himmlischen Welt zu erlangen. Dem Gnostiker machte gerade
dies Verfahren, wie die Geschichte der Schriftdeutung in der Gnosis
zeigt, am wenigsten Schwierigkeiten. Er konnte in jedem Schriftwort
einen Hinweis oder Namen für einen der „geistigen örter" oder für
einen der Äonen entdecken, deren Beziehungen untereinander das
Gesetz der himmlischen Welt, und besonders des Pleroma, bestimmen.
Mit solcher Exegese ging er weit über die philonische Art, die Schrift
zu lesen, hinaus. Und es ist eben dies Verfahren, das wir im mystischen
Midrasch des Bahir in reicher Entwicklung wiederfinden.
Hierzu kommt ein weiteres Moment. Im Buch Bahir nehmen my-
stische Gleichnisse eine wichtige Stellung ein. Nicht weniger als etwa
fünfzig solcher Gleichnisse sind über das Buch verstreut, manche
13
Vergleiche meine J. M., S. 56—57, über den talmudischen Bericht von den vier
Gelehrten, die das Paradies betraten, und die Parallelen dazu in den Hekhaloth, sowie
auch mein J. G., S. 14—19.

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52 Das Buch Bahir

einfach und naiv, manche ausgesponnen. Daß dabei neben Gleichnissen,


die aus Talmud und Midrasch übernommen oder umgearbeitet worden
sind, auch sonst unbekannte vorkommen, in denen aber auf Realia des
orientalischen Lebens Bezug genommen wird, die klar auf Ursprung
im Orient hinweisen, wird aus § 129 evident. Dort wird in einer Er-
klärung eines mystischen Terminus „Schatzhaus der Tora" gesagt:
„Darum soll der Mensch gottesfürchtig sein und dann [erst] Tora
lernen. Vergleichbar einem Menschen, der Dattelhonig kaufen ging und
kein Gefäß mitgenommen hatte, um sie heimzubringen. Er sagte: ich
werde sie an der Brust heimtragen. Er trug sie an der Brust, sie wurden
ihm aber zu schwer. Er fürchtete, sie möchten aufbrechen und seine
Kleider beschmutzen, und warf sie hin. Da wurde er für zweierlei
bestraft: einmal für das Verderben von Speisen, und einmal für den
Verlust seines Geldes." Diese Zeilen könnten auch aus einer durchaus
unmystischen Quelle genommen sein, aber gewiß können sie nur in
einer Gegend verfaßt sein, wo die Kultur der Datteln blühte und
Dattelhonig ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs war, wie in den
wärmsten Teilen Palästinas oder in Babylonien 14 . Im südlichen Europa,
etwa in der Provence, war die Dattelpalme nur ein Zierbaum. Dies
Detail über den Dattelhonig weist darauf hin, daß auch die anderen
Ausführungen des Bahir, in denen die Doppelgeschlechtigkeit der
Palme und ihre künstliche Befruchtung vorausgesetzt und mystisch
gedeutet wird, auf orientalischen Ursprung zurückgehen. Ich komme
auf diese Symbolik noch am Ende dieses Kapitels zu sprechen.
Nicht wenige unter diesen Gleichnissen haben einen recht bizarren
und paradoxen Anstrich. Man möchte sagen, daß sie den behandelten
Gegenstand eher zu verdunkeln als zu erhellen geeignet sind. Oft ist
der eigentliche Gedanke überhaupt nur im Gleichnis entwickelt, in
das sich hier oft alte Bilder und Begriffe geflüchtet zu haben scheinen.
Gleichnisse dieser Art sind sonst in der jüdischen Literatur nicht mehr
nachweisbar, und auch die späteren Kabbalisten, wie etwa der Autor
des Zohar, benutzen stets „sinnvolle" und nicht durch ihre Paradoxie
auffallende Gleichnisse. Für diese Gattung ist etwa § 25 sehr charak-
teristisch, wo nach der mystischen Bedeutung des Vokals Pathah, a,
gefragt wird, welcher Vokalname im Hebräischen Öffnung [des Mundes]
oder auch Pforte bedeutet. „Und welche Pforte ? Damit ist die Nord-
seite gemeint, die die Pforte für die ganze Welt ist: aus der Pforte,
aus der das Böse hervorgeht, geht auch das Gute hervor. Und was
ist gut ? Da spottete er [der Lehrer] über sie und sagte : Habe ich es
Euch nicht gesagt : klein-Pathah I6 . Sie erwiderten : Wir haben es ver-

14
Vgl. dazu Imanuel Loew, die Flora der Juden, Bd. II, S. 348.
15
Pathah qatan ist der älteste Name des Vokals Segol. Die Stelle bezieht sich auf
die Vokale ä und ë im Konsonantennamen Daleth. In § 24 wird dieser Vokal Pathah

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Charakter und Àufbau 53

gessen, wiederhole es uns. Er sagte: Die Sache gleicht einem König,


der einen Thron hatte. Manchmal nahm er ihn in seine Arme, manch-
mal auf sein Haupt. Sie fragten ihn: Warum ? Weil er schön war, und
es ihm leid tat, darauf zu sitzen. Sie fragten ihn: Und wohin setzte
er ihn auf seinem Haupt ? Er sagte : Ins offene Mein, », wie es heißt
[Ps.85i2] : Wahrheit sprießt aus der Erde und Gerechtigkeit schaut vom
Himmel." Das offene Mem ist, wie wir in § 58 erfahren, ein Symbol
des Weiblichen. Die ganze Stelle bleibt total rätselhaft, auch wenn
evident ist, daß das Gleichnis irgendeine ritualsymbolische Bedeutung
hat und der Thron mit den Tephillin im jüdischen Gebetsritual, die
teils um den Arm, teils um den Kopf gebunden werden, verglichen
wird. Nach einer vielgedeuteten Talmudstelle, Berakhoth 6 a, gibt es
auch Tephillin Gottes. Aber damit ist das Gleichnis nicht etwa sinn-
voller geworden, und die Antwort tut scheinbar nichts, um den Fragen-
den entgegenzukommen. Immerhin besteht das Buch Bahir nicht nur
aus solchen Stücken, die des Lesers zu spotten scheinen, aber ihre
Zahl ist nicht klein und zeigt, wie weit wir hier von den sonst üblichen
Formen der Mitteilung entfernt sind.
Dennoch ist bei all diesem ganz Neuem, das das Buch in der he-
bräischen Literatur bildet, klar, daß der „Autor" Merkaba-Mystik
vorzutragen meint. Er sieht keineswegs einen Unterschied zwischen
der Versenkung in die Merkaba und dem Bereich, auf den seine Speku-
lationen gehen. Er spricht mehrfach von der Merkaba-LehreΙβ, während
ihm der Terminus Kabbala für die von ihm vorgetragene Lehre völlig
unbekannt ist17. Aber es ist nicht mehr die in den alten auch ihm
offenbar bekannten Schriften vorgetragene Merkabalehre, sondern
eine gnostische Umdeutung derselben. Er kennt den Ausdruck „zur
Merkaba hinabsteigen" und sucht nach einer mystischen Erklärung
für diesen auffallenden Sprachgebrauch (§60), wobei er schon auf die
neue mystische Symbolik der Ennoia Gottes, der Mahschabha, von
der noch die Rede sein wird, rekurriert. Die Versenkung in die Mer-
kaba ist ohne Gefahr und Irrtum gar nicht möglich, wie schon der
Talmud aus Jes. 3 6 herauslas18. Ja er kennt in § 46 eine Deutung von

qatan als Hinweis auf die Nordseite der Welt gedeutet, die zum Guten wie zum Bösen
offen ist.
" So vor allem in den §§ 33, 46, 48, 60, 88 und 100. Darüber hinaus wird öfters der
Bereich der Merkaba beschrieben, vor allem im § 96, ohne daß der Begriff genannt wird.
17
Das Wort mequbbal bedeutet in § 46 nur, wie im rabbinischen Sprachgebrauch,
vor Gott günstig angenommen sein. In § 134 wird mit qibbalti, „ich habe empfangen",
wirklich eine talmudische Tradition, Berakhoth 7 a, zitiert, und es liegt keine mystische
Nuance vor.
18
Vgl. Hagiga 14a, Schabbath 120a, wo zwar die Merkaba-Lehre nicht ausdrücklich
genannt ist, dem Zusammenhang nach aber gemeint sein muß. Im Bahir heißt es in
§ 100: „R. Rachmai sagte: was bedeutet [Prov. 623: "Und der Weg des Lebens sind

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54 Das Buch Bahir

Hab. 3 i als: „Gebet des Propheten Habakuk über die Merkaba",


nämlich über das Gebiet, bei dessen Studium man durch Irrtum,
Schiggajon, hindurchgehen muß (wie das 'al schigjonoth des Verses
hier gedeutet wird). Das bedeutet nach ihm: „Jeder, der sein Herz
von den Händeln der Welt freimacht und sich in die Schau der Merkaba
versenkt, wird bei Gott angenommen, als ob er den ganzen Tag betete".
Überhaupt scheint er (auch in §§ 48 und 53) den Propheten Habakuk
als Prototyp des Merkaba-Mystikers zu betrachten, eine Vorstellung,
die recht alt sein kann, da schon der Talmud, Megilla 31 a, das 3. Kap.
Habakuk als Haphtara für das Wochenfest neben der Merkabavision
Ez. 1 vorschreibt. Er spricht auch von der Verzückung Habakuks,
der in seinem Merkaba-Gebet zu einem „gewissen Orte" vordrang,
wo er Mysterien Gottës verstand19. Sonst aber spielt Ekstatisches hier
kaum eine Rolle. Eine asketische Tendenz, durchaus im Sinne der
alten Merkaba, wird an manchen Stellen sichtbar. Wer sich der Welt
entzieht, erkennt Gottes Namen (§ 66) ; wer das „Leben" haben will,
der verwerfe die Genüsse des Leibes (§ 100) — nirgends aber werden
spezifische asketische Vorschriften gegeben, wie sie etwa in den
Hekhaloth-Schriften mehrfach vorkommen.
Wie schon gesagt, fällt der Mangel an literarischer und sachlicher
Einheitlichkeit in dem Buche auf. Dennoch ist es schwierig, in dem
vorliegenden Text mit völliger Sicherheit die verschiedenen Schichten
abzuheben, die hier miteinander verbunden sind. Immerhin lassen
sich manche Stücke als Teñe einer spätesten Schicht oder letzten
Redaktion erkennen. So läßt sich von den Erklärungen über Tohu
wa-bohu in Gen. 12 am Anfang des Bahir mit Sicherheit sagen, daß
sie aus den Schriften des jüdischen Neuplatonikers Abraham bar
Chija entlehnt sind, der etwa in den zwanziger Jahren des 12. Jahr-
hunderts in Barcelona schrieb. Dieser Gelehrte scheint der erste ge-
wesen zu sein, der Tohu als die Materie und Bohu als die Form mit
einer auch im Bahir wiederkehrenden Etymologie erklärt hat 20 . Seine

Züchtigungen und Belehrung' ? Das bedeutet, daß für den, der sich mit Merkabalehre
und Schöpfungslehre beschäftigt, der Irrtum unvermeidlich ist, wie es heißt [Jes. 3 : 6] :
'Diese Irrsal liegt in deiner Hand', [d. h. :] Dinge, die nur begreift, wer in ihnen geirrt
hat".
1 8 Die hierbei gebrauchte Wendung hith'annagti li-maqom peloni im Sinn von „ich

geriet in der Verzückung bis zu einem gewissen Ort" ist ganz ungewöhnlich. Sollte
dahinter etwa fremder Sprachgebrauch stehen ? Solche unerklärte Neologismen gibt es
im Bahir auch sonst, z. B. im § 37 das auffällige 'Alpajjim be-ekad für 2000 mal.
2 0 Abraham bar Chija, Hegjon ha-Nephesch, Leipzig 1860, Bl. 2b in längeren Aus-

führungen zu Gen. 1 2 : „Alles, was man von der Hyle gesagt hat, kannst du vom
[biblischen] Tohu aussagen. Von der Form aber haben sie [die Philosophen] gesagt,
daß sie etwas ist, was die Kraft hat, die Hyle mit Gestalt und Form zu umkleiden. Und
in diesem Sinne läßt sich das Wort Bohu in zwei Bedeutungen aufteilen, da es nach

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Charakter und Aufbau 55
Schriften gelangten noch im 12. Jahrhundert zu den deutschen
Chassidim, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe21. Der Autor
hat einige seiner Schriften auch in der Provence verfaßt, soweit es
scheint, und so kann diese Entlehnung sowohl in Deutschland wie in
der Provence vorgenommen worden sein. Von ihm ist in § 10 offenbar
auch die Vorstellung übernommen, daß nur das aus Nichts Erschaffene,
wie die Hyle oder die Finsternis, mit dem Verbum bara bezeichnet
würde, während das Urlicht, das Form hat, oder wie es im Buche
Bahir heißt, Realität, mammasch, mit dem Verbum jasar in Verbin-
dung gebracht wird22. (Bahir hat hier Jesira 11,6 benutzt).
Auch die Ausführungen über die Vokale sowie der Satz, daß die
„Vokale der Tora in den Konsonanten der Seele des Lebens im Körper
des Menschen vergleichbar sind", beruhen auf den Schriften der
Grammatiker. Hier ist freilich bemerkenswert, daß dieses Gleichnis
in der jüdischen Literatur außerhalb des Bahir zuerst in Jehuda
Halewis Kuzari IV, 3 vorkommt, wenn es auch letzten Endes auf die
dem Sinn der Sprache aus zwei Worten von je zwei Konsonanten gebildet ist. Das eine
ist bo und das zweite hu . . . [und so bedeutet Bohü] das, wodurch das Tohu Bestand
erhält. Und so wäre denn Bohu die Form, welche Tohu bekleidet und ihm Bestand
gibt". Ohne ausdrücklich auf Materie und Form bezogen zu werden, kehrt diese Er-
klärung im § 2 des Bahir wieder, wo — wie in den folgenden Paragraphen — vom
Anfang der Schöpfung die Rede ist. Unannehmbar ist die Deutung Baecks, a. a. O.,
S. 273—275, der in Unkenntnis der Stelle bei Abr. bar Chija hier gerade Tohu als die
Form und Bohu als die Materie und das Böse erklären wollte. Tohu wird in §§ 9, 93
109 eindeutig als Prinzip des Bösen definiert, was zu der neuplatonischen Richtung
dieser Interpretation bei Abr. bar Chija durchaus p a ß t , wenn auch § 109 noch (oder
schon ?) einer ganz anderen Gedankenlinie zugehört.
21
G. Scholem, Reste neuplatonischer Spekulation bei den deutschen Chassidim,
M. G.W.J., Bd. 75 (1931), S. 172—191.
22
Die Ausführungen über Licht und Finsternis, die die Gedanken über Tohu und
Bohu in § 2 und § 9 fortsetzen, sind fast wörtlich aus Abr. bar Chijas Megillath ha-
Megalle, Berlin 1924, S. 16—17 übernommen. Dieses Buch ist zwischen 1120 und 1127
verfaßt worden (vgl. die Einleitung Julius Guttmanns, S. X). Dort heißt es: „Wir
finden, daß die Schrift das Sein von Dingen, die keine Form haben oder der Welt
keinen Nutzen bringen, mit Schaffen bezeichnet, das Sein von Dingen aber, die Form
haben und den Bewohnern der Welt Nutzen bringen, mit Bilden und Machen. Davon
heißt es [Jes. 45 7] : E r bildet das Licht und schafft die Finsternis, macht den Frieden
und schafft das Böse. Beim Licht, das Form und Realität hat, ist von Bilden die Rede,
bei der Finsternis, die keine Form und keine Realität hat, sondern die Abwesenheit
der Form des Lichtes und deren Verlust bezeichnet, spricht er von Schaffen." Abr. bar
Chija spricht von „Form und Realität", §ura we-Haschascha, während Rabbi Bun in
derselben Deutung des Jesajaverses, der Finsternis mammasch abspricht, was undeut-
licher ist und sowohl Substanz wie Realität bedeuten kann. Sonst stimmt alles überein.
Zu den Stücken über das Böse im Bahir, die durchaus eine Substanz oder ein positives
Sein der Mächte des Bösen voraussetzen, steht § 10 natürlich im Widerspruch. Die
philosophische und die mystische Deutung gehen eben auf verschiedene Quellen zurück.

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56 Das Buch Bahir

neupythagoräische Schule und von ihr abhängige Grammatiker


zurückgeht. Dort stellen die Vokale das Psychische im Gegensatz
zu dem in den Konsonanten dargestellten Hylischen dar23. Das Buch
Kuzari ist aus dem arabischen Urtext erst 1167 in Lunel in der Pro-
vence übersetzt worden. Es ist aber durchaus ungewiß, ob das Bahir-
Stück gerade auf diese Quelle zurückgeht und sich damit als der
letzten Schicht zugehörig erweisen würde. Es steht im Zusammen-
hang eines Vortrags des Rabbi Rachmai über den Ausdruck „Zwölf
'Stämme Gottes'", in Ps. 122 4. Dieser Passus folgt ziemlich unver-
mittelt auf ein längeres magisches Stück über die Gottesnamen und
hängt gerade mit einer Quell-Symbolik zusammen, die auch sonst
an wichtigen Stellen hier auftritt. Von der Auffassung Gottes als
Ursprung einer Quelle, von der her alles andere getränkt wird, erklärt
er die zwölf Stämme in der oberen Welt als die "Kanäle", durch die
das Wasser der Quelle weitergeleitet wird. Die Quelle ist vielleicht
hier der Name Gottes, der mit den zwölf „Kanälen" auf die dreizehn
Attribute der Gottheit weist, die die talmudische Theologie aus Ex.
34 6 geschöpft hat. Als Fortsetzung dieses § 82 erscheint dann der
weitere Zusammenhang des Stückes über die Bestandteile der Sprache.
Vokale sind punkt- und also kreisförmig, Konsonanten dagegen der
Natur der hebräischen Schrift nach quadratisch. Und so wie eine
Vergleichskette Gott ~ Seele ·~ Vokal ~ Kreis besteht, so müssen
auch die entsprechenden Glieder der Paare korreliert werden können,
nämlich die Urbilder der zwölf Stämme ~ Körper ~ Konsonanten ~
Viereck. Es ist schwer, die eine Symbolik in dieser Reihe von der
anderen zu trennen. Ist aber diese Symbolik selbst älter, so wird auch
das Paar Vokal-Konsonant darin schon älterer Tradition angehören
und nicht erst auf das Buch Kuzari zurückgehen. Auch die Fortsetzung
des Paragraphen, die auf den ersten Blick überaus rätselhaft erscheint,
läßt sich von hieraus durchaus logisch und einheitlich interpretieren.
Es heißt dort: „Und der Vokal kommt auf dem Weg der 'Kanäle' zu
den Konsonanten durch den Geruch des Opfers, und er steigt von
dort herab, wie es öfters heißt: der Duft ist ein Hinabsteigendes zu
Gott. Denn [das erste] JHWH [von den zwei hintereinander in Ex.
34 β genannten vierbuchstabigen Gottesnamen] steigt [zu dem zweiten]
JHWH hinab, und das ist, was geschrieben steht [Deut. 64]: Höre
Israel, JHWH unser Gott, JHWH ist einer." Hier wird also die Sym-
bolik auf die Magie des Opfers übertragen. Durch den Opferruch tritt
der Strom des Lebens aus der Seele, dem Quell, in die Attribute, die
Stämme, Konsonanten oder Körper, ein; er wird in sakramentaler
Magie durch die zwölf Kanäle, die in § 82 in einem Gleichnis ein-

23
Vgl. Baudissin, Studien I, S. 247—250; Dornseiff, das Alphabet, S. 52, aus
Nikomachus von Gerasa, sowie meinen Kommentar zum Bahir, S. 87—89, 168.

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Charakter und Aufbau 57

geführt werden, zu ihnen hingezogen. Und diesem geheimen Vorgang


beim Opfer entspricht im Gebet, das ja mystisch an der Stelle des
Opfers steht, die „Einung" der Namen Gottes in der Formel des
SchmcC Jisra'el.
Dies Beispiel zeigt schon, wie schwierig das Unternehmen, hier
Schichten voneinander abzuheben, wäre. Und doch kommt der auf-
merksame Leser der Schrift von der Annahme solcher Schichten nicht
los. Immer wieder zeigt sich an der Art (oder Unart), wie die einzelnen
Stücke nebeneinander gestellt oder assoziativ verbunden werden, daß
wir es mit einer Komposition zu tun haben. Typisch dafür sind der
erste und der letzte Paragraph des Buches, die beide dem eigentlich
mystischen Material gleichsam aufgesetzt sind, § 1 als wirkliches
Kopfstück vielleicht aus einer alten Midraschquelle in jene Blätter,
aus denen der Bahir redigiert wurde, hinübergekommen, der letzte
Paragraph (141) aber einfach fast wörtlich, mit einigen Auslassungen
den Pirqe Rabbi Eliezer, einem späten Midrasch (8. Jahrhundert),
entnommen. Hier gerade fehlt die symbolische Note, die sonst alles
diesem letzten Stück Vorangehende in unserem Text hat. Wörtliche
Entlehnungen eines so langen Stückes finden sich sonst nirgends im
Bahir, und es bleibt rätselhaft, warum gerade dieses Stück ans Ende
gestellt worden ist. Es erzählt die Geschichte des Sündenfalls und
der Verführung durch die Schlange, aber nicht unter mystischen
Akzenten, wie wir sie sonst bei allem finden, was das Paradies, das
Böse und das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen beim Men-
schen angeht.
Diesem sich aufdrängenden Charakter des Buches als einer Kom-
position24 entspricht es, daß uns hier manche Stücke in die Augen
21 Das Material des Buches ist im großen und ganzen so angeordnet, daß am Anfang

Stücke kosmogonischen Charakters stehen, §§ 2—18, die sich aber von § 11 an mit
Sprachmystik verweben. Solche Sprachmystik über Konsonanten, Vokale, Akzente und
Stimmen Gottes beherrscht im wesentlichen §§ 11—61. (Die §§ 12—23, 24—28, 29—32,
33—41 bilden dabei ζ. B. Untereinheiten, die aufeinander Bezug nehmen.) Hierbei zeigt
sich aber schon ein wachsendes Interesse an Spekulationen, die Motive des „Buches
von der Schöpfung" aufnehmen und weiter entwickeln. Solche Jesira-Mystik wird
besonders von § 53 an bis § 76 deutlich. Sie geht in Stücke über, welche großenteils
magische Gottesnamen behandeln und wieder in Sprachmystik einmünden, bis § 83.
Von § 84 beginnt eine Folge Sephiroth-mystischer Schriftdeutungen von besonders
hervorstechendem symbolischen Charakter. Dabei werden gerade frühere Paragraphen
zum Teil ausdrücklich zitiert, so etwas § 78 in § 87, wie es auch sonst an Rückbeziehun-
gen auf frühere Stücke nicht fehlt, ohne daß sie als Zitate auftreten. Diese Folge leitet
mit § 96 nun zu einer, mit allen möglichen Unterbrechungen bis § 115 reichenden
Erklärung der zehn Sephiroth als der zehn Logoi Gottes über. Darin ist, §§ 107—113,
ein zusammenhängendes Stück über den Satan und das böse Prinzip eingefügt, das
aber auf früher entwickelte Symboliken wie die in §§ 81—83 zurückgreift. Vielleicht
sind auch die weiteren Paragraphen bis § 124 als Fortsetzung des Vorangehenden

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58 Das Buch Bahir

fallen, von denen es gänzlich unerklärlich wäre, wie sie etwa erst im
12. Jahrhundert geschrieben sein sollten. Über die Natur solcher Stücke
werden einige eingehendere Analysen im Folgenden hoffentlich einiges
Licht verbreiten können. Gerade die Existenz solcher Fragmente
führt uns in das eigentliche Problem ein, das dieses Buch uns stellt.
Bahir ist weder einem anderen Buch der midraschischen Literatur
noch einem der kabbalistischen Werke zu vergleichen, die nach ihm
abgefaßt wurden. Es steht sozusagen an einem Scheidewege, und es
fragt sich: welcher Art ist diese Wegscheide; woher kommt sie und
wohin führt sie? Worin besteht das neue und spezifische Element,
das dem Bahir seine Bedeutung verleiht?
Die Antwort scheint mir klar: dies neue Element läßt sich in zwei
Aspekten darlegen, die miteinander verbunden sind und doch eigent-
lich zusammen gehören. Hier liegt eine neue Auffassung von der Gott-
heit vor und hier treten gnostische Elemente ans Licht, die an allen
möglichen Stellen in das Buch hineinverwoben sind und seine besondere
religiöse Physiognomie bedingen. Der Gott des Buches Bahir ist uns
aus keiner anderen Quelle jüdischen Denkens vor dem 12. Jahrhundert
bekannt. Er ist nicht mehr der heilige König der Merkaba-Gnosis und
der Hekhaloth-Schriften, der in den innersten Gemächern der Tempel
des Schweigens thront und ganz transzendent gedacht ist. Er ist auch
nicht etwa der ferne und doch so unendlich nahe Gott der deutschen
Chassidim, der alles Sein erfüllt und alles durchdringt. Er ist aber
auch nicht das verborgene Eine der Neuplatoniker, das von der Welt
der Vielheit ganz geschieden und nur durch Mittelstufen der Emana-
tionen mit ihr verbunden ist. Am allerwenigsten ist er der Gott der
jüdischen Rationalisten in der mittelalterlichen Philosophie. Hier
haben wir es mit einem theosophisch gesehenen Gottesbegriff zu tun,
mit einem Gott, der der Träger der kosmischen Potenzen ist, die Quelle
der inneren Bewegung in seinen Eigenschaften, die als Äonen hyposta-
siert werden. Dies ist der Gott, der seine Kräfte in den kosmischen
gedacht. Zuletzt verschlingen sich mit der Halakha-Mystik, die in den verschiedenen
Teilen des Buches verstreut und dann von § 117 an sehr dominierend ist, nun die
letzten Stücke, in denen die Seelenwanderung besonders nachdrücklich, aber in ein-
heitlicher Motivführung behandelt und zu verschiedenen Sephiroth-Symboliken in
Beziehung gesetzt wird, §§ 124—135. Die letzten Paragraphen des Buches §§ 136—140
nehmen noch einmal verschiedene Motive des Vorhergehenden auf und in § 141 ist,
wie schon oben bemerkt, ein künstlicher Schluß aus dem Midrasch herangeklebt. Bei
der hier gezeichneten allgemeinen Linie der Komposition ist zugleich ersichtlich, daß
Ausführungen, die den spezifischen Ort bestimmter Sephiroth oder Attribute in der
Stellung und Struktur der göttlichen Welt betreffen, und besonders sie zahlenmäßig
festlegen, sich überwiegend im späteren Teil des Buches befinden. Durch die Auf-
zählung in der „Tafel" von § 96 ff an hat der Redaktor sozusagen einen festen Rückhalt,
der ihm ermöglicht, auch Parallelversionen oft widersprechenden Charakters irgendwo
in dem fester bestimmten Schema der göttlichen Potenzen unterzubringen.

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Gnostische Elemente 59

Weltenbaum hineiiiverwoben hat, aus dem alles Sein aufwächst. Es


ist, wenn auch in der Sprache der Aggada und unter jüdischen Aus-
drucksformen, ein Gott, wie wir ihn aus gnostischer Mythologie her
kennen. Die meisten Vorträge und Schriftdeutungen des Bahir sind
in diesem Sinne gnostisch. Es ist erstaunlich, wie weit die Vorstellungs-
welt des Buches gerade von den philosophischen Konzeptionen ab-
liegt, die im Mittelalter gangbar waren, und besonders vom Neu-
platonismus. Von den Seinsstufen, die diese Schule lehrte — vom
Einen über die Welt des Nous und der Seele zur Natur und der niederen
materiellen Welt —, von ihrer Anthropologie und Eschatologie, also
Lehrstücken, die gerade im Mittelalter in monotheistischen Versionen
auch im Judentum sehr wirksam waren, von all dem weiß das Buch
nichts. Nichts weist auf einen Einfluß Gabirols und seiner Willens-
metaphysik hin, und wo sich hier und da Berührungspunkte mit neu-
platonischen Vorstellungen finden, betreffen sie Dinge, die den Gno-
stikern und den späten Neuplatonikern gemeinsam sind, wie etwa
die Wertung der Materie als Prinzip des Bösen oder die Unterscheidung
zwischen einer „Welt der Finsternis" und einer „Welt des Lichtes"25.
Einzelne Floskeln neuplatonischer Sprache, wie in § 96 „der Eine
unter allen Einen, der Einer ist in allen seinen Namen"2®, stehen
gerade in einem Hauptstück gnostischer Äonen-Spekulation. Sich
vor der Welt des heraufkommenden Aristotelismus auch nur irgend-
wie auszuweisen oder zu verteidigen, wie wir es bei einem Text jü-
discher „Theologie" aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
gewiß erwarten würden, kommt den Sprechern oder Redaktoren, wie
schon betont, nicht in den Sinn. Der mythische Ausdruck in vielen
Stücken ist hier so stark, daß es keineswegs verwundern kann, wenn
fromme Leser wie jener oben erwähnte Meir ben Simon aus Narbonne
sich über die Lektüre entsetzten und es der Häresie verdächtigten.
Es wird uns daher vor allem daran gelegen sein, diese gnostische
Bilderwelt des Bahir an einigen Beispielen kennenzulernen.

2. Gnostische Elemente im Bahir — Pleroma und Weltenbaum

Einen zentralen Platz im Denken der alten Gnostiker nimmt der


Begriff des Pleroma, der göttlichen „Fülle", ein. Dieser Begriff hat
zwei Bedeutungsnuancen. Die „Fülle" ist manchmal der Bezirk des
wahren Gottes selber, manchmal der Bezirk, in den er hinabsteigt
25
Vgl. §§ 109,127.
28
Ahad ha-'Ahadim, was etwa einem Ausdruck wie die „Henade aller Henaden"
bei Proklos genau entspricht. Sonst aber ist von solcher prokleischen Terminologie im
Bahir nichts zu spüren.

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60 Das Buch Bahir

oder in dem der verborgene Gott sich in verschiedenen Gestaltungen


manifestiert. Es ist der Ort „wo Gott wohnt". Das Pleroma ist eine
Welt der Vollkommenheit und der absoluten Harmonie, die sich aus
einer Reihe von Wesenheiten und göttlichen Emanationen heraus
entwickelt, die in der Geschichte der Gnosis unter dem Namen Äonen,
„Ewigkeiten", oberste Wirklichkeiten, bekannt sind. Das gnostische
Wissen von der Gottheit betrifft, mindestens in seinem Ausgangs-
punkt, eine innere Schöpfungsgeschichte des Alls als eine Geschichte
der Überwelt des Pleroma und als ein innergöttliches Drama, aus dem
schließlich die untere Welt hervorging, wie Hans Jonas dies Wissen
definiert hat. Auf den Vorstellungskreis des Bahir trifft die erste
Hälfte dieser Definition gewiß zu, während das gnostische inner-
göttliche Drama zwar nicht fehlt, aber zweifellos in einer Weise ab-
geschwächt auftritt, die es ermöglichte, den strikt monotheistischen
und jüdischen Charakter der Grundlehren festzuhalten. Wie dies
geschah, werden wir bei der Analyse seiner Vorstellungen über die
Schekhina sehen. Hier muß uns zuerst noch der Nachweis der gno-
stischen Struktur des Pleroma selber beschäftigen.
Im vorigen Kapitel wurde gesagt, daß die Merkaba-Mystiker an
die Stelle des gnostischen Pleroma den göttlichen Thron setzten und
an die Stelle der Äonen den Apparat der Merkaba, wie er in sinnlichen
Symbolen in der Vision Ezechiels geschildert oder aus ihr heraus ent-
wickelt wurde27. Gerade was jene Mystiker aus dem Bereich ihres
Interesses durch Übersetzung oder Transformation in eine rein jüdische
Terminologie, oder jedenfalls in eine Terminologie, die zu ihrer Zeit
keinem „Verdacht" fremden Ursprungs unterlag, auszuscheiden
gedachten, erscheint nun zu unserer Überraschung in den Fragmenten
wieder, die wir als den ältesten Schichten des Bahir zugehörig er-
kennen. Hier haben wir dieselbe Sprache und dieselben Begriffe und
vergeblich suchen wir eine Antwort auf die Frage: wie konnte diese
Terminologie ganz von neuem im 12. Jahrhundert entstehen oder
geschaffen werden, wenn hier nicht irgendeine Filiation zu verbor-
genen Quellen vorlag, die irgendwie mit der alten gnostischen Tradition
im Zusammenhang standen?
Hier ist vor allem merkwürdig, daß in halbentstellter, aber noch
immer deutlich erkennbarer Form sogar der technische Begriff des
Pleroma in seiner genauen hebräischen Übersetzung ha-Male', „das
Volle" oder „die Fülle", erscheint. Diese Fülle ist in § 4 mit großem
27
Ein Frühstadium solcher Entwicklung zwischen dem Buch Henoch und der
hebräisch erhaltenen Merkaba-Literatur, besonders den „Großen Hekhaloth", ist jetzt
durch einen wichtigen Fund in Resten der Sekten-Literatur von Qumrän endgültig
erwiesen worden, vgl. die beiden Fragmente bei J. Strugnell, The Angelic Liturgy at
Qumrân etc., Supplements to Vêtus Testamentum, vol. VII (Congress Volume, Oxford,
1959), Leiden 1960, S. 318—346.

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Gnostische Elemente 61

Nachdruck aus Deut. 33 23 als terminus technicus oder, wenn man


will, als Symbolwort herausgehoben. „Was bedeutet der Vers: 'Und
voll von Gottes Segen das Meer und den Süden besitze* ? Das bedeutet :
an jedem Ort ist der Buchstabe Beth [mit dem die Tora und auch das
Wort Berakha, Segen, beginnt, wie vorher in § 3 erklärt wurde] ge-
segnet, weil er die „Fülle" ist, wie der Vers verstanden werden kann:
Und die Fülle ist Gottes Segen. Und aus ihr tränkt er, was bedürftig
ist, und aus der Fülle wurde am Urbeginn Rat eingeholt 28 ." Diese
Stelle ist sehr merkwürdig. Sicher bezieht das Wort ha-Male' sich
nicht auf die Engelwelt, die mit einem aus dem Koran genommenen
arabischen Ausdruck im mittelalterlichen Hebräisch der spanischen
Juden als ha-Male' bezeichnet wurde 29 . Es stellt vielmehr die höchste
Realität dar, auf die der Anfang der Tora hinweist und in der die
Segensfülle Gottes enthalten ist. Der Autor spielt, wie nach ihm die
ältesten Kabbalisten, mit dem Doppelsinn des Konsonanten-Textes
BRKH, der sowohl Berakha, „Segen", als auch Berekha, „Teich"
gelesen werden kann. Aus diesem Teich, in dem Gottes Quellen
sprudeln und ihre Segensfülle aufgestaut ist, „tränkt er, was bedürftig
ist". Diese „Fülle", die wie eine Ubersetzung des griechischen Ter-
minus klingt, steht am Anfang aller Dinge, und der Vers Deut. 33 23
wird vom Autor gedeutet, als ob er besagte : Gottes Segen [oder auf-
gestauter Teich] ist die Fülle, und du [Israel, dem dieser Segen ver-
sprochen wird], besitze diesen und den künftigen Äon, die dem Süden
und dem Meer verglichen werden, wie dann in §§ 5 und 7 weiter aus-
geführt wird. Diese Segensfülle des Male' am Anfang aller Schöpfung
wird mit der Urquelle verglichen: „Ein König wollte seinen Palast
in starke Felswände bauen. Da ließ er Felsen sprengen und Blöcke
heraushauen. Ein großer Quell fließenden Wassers sprang ihm hervor.
Da sprach der König: da ich die Wasser quellend habe 30 , will ich einen
Garten pflanzen und mich an ihm ergötzen, ich und die ganze Welt."
Hier wie auch schon in der Deutung desselben Verses in Deut. 33 in
§ 3 ist also die Pleroma-Symbolik des Male' mit der Symbolik der
Tora verbunden, die einerseits das unendliche Meer ist (nach Hi.
28
Eine alte Lesart bei Todros Abulafia, in der Handschrift Hebr. 344 in München
hat: „Und aus der Fülle stieg am Urbeginn der Rat auf". Andere Hss. haben: „holte
er [Gott] Rat ein". Dieselbe Wendung: „Von wem holte er Rat ein, als er die Welt
schuf ?" findet sich mit bezug auf die Tora im Seder Elijahu Rabba, ed. Friedmann,
S. 160.
29
Vgl. dazu David Kaufmann, Studien über Salomon ibn Gabirol, Budapest
1899, S. 68, so wie seine Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilo-
sophie, Gotha 1877, S. 211 und 506. (Es wurde auch ha-Millo' gelesen,)
30
So nach der sonderbaren Konstruktion des hebräischen Textes in § 4, die in
späteren Handschriften „verbessert" worden ist (wie an vielen Stellen, deren Syntax
anormal ist).

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62 Das Buch Bahir

11 9), andererseits aber die höchste Weisheit und die Quelle, die ein
Ergötzen für alle Wesen ist, ja für Gott selber, wie die Fortsetzung
von § 4 mit einem aus dem alten Midrasch genommenen Wort über
Prov. 830 belegt. Es scheint, daß eine alte gnostische Terminologie
hier schon, in unbekannten Quellen oder Zusammenhängen über-
liefert, undurchsichtbar geworden und einer Umdeutung auf die Tora
selber unterzogen worden ist.
Von solcher Urfülle, an der alle Wesen und Gott selbst sich ergötzen,
wird aber in § 14 in einem weiteren Bild mythischen Charakters ge-
sprochen, das ebenfalls überraschende Beziehungen zur gnostischen
Terminologie des Pleroma bewahrt hat. Die Tatsache, daß dieses Bild
schon im nächsten § 15 einer völligen Umdeutung ausgesetzt ist, zeigt,
daß § 14 ein besonders altes Material enthält, einen Mythos, der hier
„mit einem milden Zwang in das System, in dem er ursprünglich nicht
erwachsen ist, hereingebracht wird"31. In § 14 lesen wir anfangs in
einem Zitat (aus Bereschith Rabba), daß die Engel nicht vor dem
zweiten Tag geschaffen wurden, damit keiner sagen könne, Michael
habe die Welt im Süden der Himmelswölbung ausgespannt, Gabriel
im Norden, und Gott selber habe in der Mitte ausgemessen. Dagegen
wird Jes. 44 24 angeführt, wo Gott von sich sagt: „Ich JHWH mache
das All, spanne den Himmel aus allein, wölbe die Erde, ich selbst
[me itti] — wer wäre bei mir gewesen, mi 'itti steht im Text". Zu dieser
alten Aggada fährt nun das Buch Bahir fort, gleich als ob es die Quelle
des Midrasch vollständiger wiedergäbe: „Ich bin es, der diesen „Baum"
gepflanzt hat, daß alle Welt sich an ihm ergötze, und habe mit ihm
das All gewölbt und seinen Namen „All" genannt, denn an ihm hängt
das All und aus ihm geht das All hervor; alle bedürfen seiner und
auf ihn schauen sie und nach ihm bangen sie, und von dort fliegen
die Seelen aus. Allein war ich, als ich ihn machte, und kein Engel
kann sich über ihn erheben und sagen: ich war vor dir da. Auch als
ich meine Erde wölbte, als ich diesen Baum pflanzte und einwurzelte,
und sie aneinander Freude haben ließ [den Baum und die Erde] und
mich selbst ihrer freute — 'wer wäre bei mir gewesen', dem ich dieses
Geheimnis offenbart hätte32?"
Daß eine Deutung dieser Stelle auf die Tora als Baum des Lebens
unmöglich ist, folgt aus dem kosmischen Bild von diesem Baum als
81
Vgl. meinen Kommentar zum Bahir, S. 19, wo ich aber die gnostische Natur des
Bildes noch nicht, betont habe.
82
Vgl. unten dieselbe Phrase im slawischen Henoch. Diese Stelle und § 99 sind die
einzigen, an denen im Bahir das Wort Sod, „Geheimnis", benutzt wird, das später in
der kabbalistischen Literatur überwuchert. Diese Zurückhaltung im Sprachgebrauch
ist recht bemerkenswert. Auch die alte Merkaba-Literatur benutzt das Wort selten,
freilich relativ häufiger den Ausdruck Raz oder aramäisch Raza, der im Bahir über-
haupt nicht vorkommt. Vgl. dazu weiterhin S. 94 ff über Raza rabba.

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Der Weltenbaum 63

Ursprung der Seelen. Es ist ein Weltenbaum, den Gott vor allem
anderen gepflanzt hat und in „seine Erde", die vielleicht selber hier
ein Symbolwort für eine Sphäre darstellt, in der der Weltenbaum
Wurzel schlägt, eingepflanzt hat. In § 15 wird aber das Gleichnis
vom Baum schon auf einen ganzen Garten übertragen, in dem der
König den Baum pflanzen wollte, zu welchem Zweck er vorher nach
Wasser graben ließ und eine Quelle ans Licht brachte, um ihn zu er-
halten. „Dann erst pflanzte er den Baum, und er blieb bestehen und
trug Frucht und seine Wurzeln gediehen, denn man bewässerte ihn
ständig mit dem, was man aus der Quelle schöpfte." Die Quelle hier
ist anscheinend dieselbe wie in § 4, wo die „Fülle" von Gottes Segen
und die Tora zusammengebracht werden. Es kann auch sein, daß hier
schon eine bestimmte Beziehung auf eine einzelne Schöpfungspotenz,
nämlich die Sophia oder Hokhma vorliegt. In § 14 haben wir es aber
nicht mit einem Gleichnis zu tun, das künstlich verengt ist und in
dem der Baum nun einer Quelle bedarf, sondern mit einem gnostischen
Bild für das Pleroma. In der Tat ist bei den Valentinianern das „All",
τό πδν, TÒ όλον usw., eine der gebräuchlichsten Bezeichnungen für
das Pleroma und das Reich der Äonen33. Ja, wie eine Parallele zu dem
Satz des Bahir liest sich die Stelle in dem neu entdeckten gnostischen
„Evangelium der Wahrheit": „Sie fanden . . . den vollkommenen
Vater, welcher das All hervorgebracht hat, in dem das All ist und
dessen das All bedarf", und weiterhin dort: „denn wessen bedurfte
das All, es sei denn der Gnosis über den Vater" 34. Auch in dem neuen
Thomas-Evangelium sagt Jesus von sich: „Ich bin das All und das
All ist von mir ausgegangen"35. Die Vorstellung, daß die Seelen von
diesem Weltenbaum ausgehen und geradezu, wie später auch bei deu
spanischen Kabbalisten, seine Frucht sind, ist jedenfalls schon in der
Gnosis der Simonianer belegt, die ja im Grunde, wie schon mehrfach
von Forschern betont worden ist, eine häretische Form jüdisch-
synkretistischer Gnosis darstellt3®. Ein Rest solcher Vorstellung vom
sï Vgl. Karl Müller, Beiträge zum Verständnis der valentinianischen Gnosis, Nach-
richten d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, phil. hist. Kl. 1920, S. 179—180.
M Vgl. Evangelium Veritatis, ed. Malinine, Puech, Quispel usw., Zürich 1966,
S. 64—66.
16 Evangelium nach Thomas, ed. Guillaumont, Puech usw., Leiden 1969, S. 43
(§ 77) ; Jean Doresse, l'Évangile selon Thomas, Paris 1959, S. 189.
' · Hippolytos, Elenchos V I , 9. Das dort erhaltene umfangreiche Fragment aus der
„Großen Verkündigung" enthält auch viele andere Begriffe und Bilder, die im Buch
Bahir wiederkehren, ohne daß wir von einer direkten Berührung reden könnten. Es ist
schon von mehreren Autoren darauf hingewiesen worden, daß dieses Fragment im
Grunde einen rein jüdisch-häretischen Charakter hat und sich als ein gnostischer
Midrasch zur Schöpfungsgeschichte der Genesis erweist. Dieser gemeinsame exegetische
Rahmen erklärt manche Parallelen, wie ζ. B. die Auffassung der 6 Tage und der
„siebenten Kraft", aber keineswegs alle.

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64 Das Buch Bahir

Lebensbaum als kosmischem Baum, der zwischen dem himmlischen


Garten Eden und dem irdischen Paradies wächst und an dem die
Seelen der Gerechten wie an einer Leiter auf- und absteigen, ist auch
in dem Midrasch Konen erhalten, der manche Gedankengänge der
alten Merkaba- und Bereschith-Spekulationen wiedergibt. Dieses Motiv
ist auch im Bahir anscheinend an späteren Stellen benutzt (§ 71 und
§ 104) ; die Stelle in § 14 geht aber weit darüber hinaus und enthält
die Vorstellung vom Seelenbaum noch unverstellt. Hier scheint es
also klar, daß alte Fragmente von kühner mythischer Bildkraft unter
den Quellen waren, aus denen das Buch Bahir redigiert wurde.
In diesem Stück wird also unter dem Bild der Pflanzung des Welten-
baumes die Schöpfung eines primordialen Äons geschildert, in dem,
wie mir scheint, freilich nicht nur etwas vom Pleroma der Gnostiker
steckt, sondern auch eine Beziehung zu jenen merkwürdigen kosmo-
gonischen Stücken im slawischen Henoch-Buch (aus dem 1. nach-
christlichen Jahrhundert) vermutet werden kann, die von einem
solchen primordialen „großen Äon" sprechen. Dieser Äon führt dort
den unerklärten Namen Adoïl, dessen Etymologie als „Äon Gottes"
jedenfalls ungemein armseliges Hebräisch wäre 37 . Was weiß der sla-
wische Henoch an zwei, offenbar dasselbe Motiv behandelnden, zum
Teil sich widersprechenden Stellen von diesem sehr rätselhaften großen
Äon ? Gott thront allein im Urlicht 38 und durchläuft es, und ruft aus
den Tiefen (des Nichtseins ?) den Adoïl hervor. Aus seinem Bauch
wird dann, als ob er vom Adoïl unterschieden wäre, „der große Äon
dessen, der alle Schöpfung trägt, geboren" (Kap. XI), wofür man
wohl lesen muß: „der große Äon, der alle Schöpfung trägt". Dieser
Äon erscheint dabei als eine ziemlich genaue Parallele zu dem Urlicht,
Or ganuz, der alten Aggada, das aller anderen Schöpfung voranging,
und wird auch hier mit der Exegese von Gen. 1 3 und der Schöpfung
des Thrones zusammengebracht. Auch die rätselhaften Steine im
Abgrund, die Gott befestigt, müssen irgendwie mit der ebenso un-
klaren kosmogonischen Tradition einer esoterischen Baraitha (d. h.
einer nicht allgemein rezipierten Mischna) zusammenhängen, die das
Bohu im Tohu wa-Bohu von Gen. 12 als „schlammige[ ?] Steine, die
37
Vaillant, Le Livre des Secrets d'Hénoch, Paris 1962, S. XI leitet es von einem
hebräischen *Ado, „Seine Ewigkeit, sein Aeon" ab. Das Wort 'Ad hat im Hebräischen
aber die besondere Eigenschaft, nicht mit Pronominal-Suffixen verbunden werden zu
können. Vaillants Annahme eines christlichen Autors für den slawischen Henoch ver-
mag ich nicht zu folgen, vgl. meine Bemerkungen im Eranos-Jahrbuch Bd. 27, Zürich
1959,.S. 251, ebenso wenig den Argumenten von J. Daniélou, Théologie du Judéo-
Christianisme, Paris 1957, S. 25—28,140—142,175. Die Beweise D.'s, soweit sie nicht auf
dubiosen Exegesen beruhen, betreffen nirgends Vorstellungen wirklich eindeutig
christlichen Charakters.
88
So mit Vaillant, S. 29.

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Der Weltenbaum 65

im Abgrund versenkt sind", erklärt39. In Kap. XVII aber heißt es in


schärferer Neuformulierung derselben Vorstellung, daß Gott vor aller
Schöpfimg einen „Äon der Schöpfung" etabliert habe, der, wie aus
der Fortsetzung über seine Teilung in Zeitelemente folgt, die Ur-Zeit
aller Schöpfung ist, die sich dann in Stunden und Tage usw. ausein-
ander legt. In der Erlösimg ist diese Urzeit, der große Äon, dann wieder
auch die ungeteilte End-Zeit. (Im Bahir „bangen alle" nach diesem
Baum, was ein ausgesprochen eschatologischer Sprachgebrauch ist.) Mit
diesem Äon vereinigen sich die Gerechten und der Äon vereinigt sich mit
ihnen, eine umkehrbare Formel, wie sie in der Merkaba-Literatur, aber
auch der nichtjüdischen Gnosis, sehr beliebt sind. Hier ist also mehr als
das übliche „Seligwerden", im Hebräischen wörtlich: „des künftigen
Äons anteilhaftig oder würdig werden". Hier liegt eschatologische
Identität mit dem Äon der Schöpfung vor, zu dem alles zurückkehrt40
— eine Vorstellung, wie sie dann in differenzierter Form auch in der
Kabbala wieder auftritt, wo Alles aus dem Äon der Bina, die auch
„der künftige Äon" heißt, hervortritt und Alles in ihn zurückkehrt
und sich wieder mit ihm vereinigt, vor allem aber die Seelen der Ge-
rechten. Dies Geheimnis, wie Gott das Sein aus dem Nichts und das
Sichtbare aus dem Unsichtbaren geformt hat 41 , das heißt: das My-
sterium des großen Äon als Medium aller Schöpfung, hat Gott auch
den Engeln nicht enthüllt, die keine „Erkenntnis dieser unendlichen
und unerkennbaren Schöpfung" erlangt haben — ganz parallel zu dem
Abschluß der Bahir-Stelle. (Der Engel Gabriel wird dabei sowohl
hier wie im Bahir § 15 genannt, freilich in verschiedenen Zusammen-
hängen.)
Diese Symbolik des Pleroma als eines Baumes wird nun in weiteren,
wohl schon spätere Entwicklungen darstellenden, Stücken des Bahir
aufgenommen und, sei es auf das Ganze der Äonen-Welt, sei es auf
einen spezifischen Äon in ihr bezogen. Wichtig ist hier an erster Stelle
3 9 Vaillant, S. 31 und Hagiga 12a. Die „schlammigen Steine, aus denen Finsternis

strömt", kennt auch das Targum zu Hiob 28 8.


4 0 Wenn der Aeon mit dem „Baum" des Bahir (und vielleicht auch der Simonianer)

verwandt ist, erklärt sich sehr gut, daß die Gerechten sich mit ihm „vereinigen" —
sind doch ihre Seelen eben von ihm ausgegangen oder „ausgeflogen". Ich habe im
Eranus-Jahrbuch a. a. O. die Vermutung geäußert, daß vielleicht der Aeon selber
ursprünglich Saddiq, „Gerechter", hieß, und Adoül aus [S]ado[q]il korrumpiert sein
könnte, ähnlich wie der „Gerechte" im Buch Bahir § 105 als solcher Baum geschildert
wird.
41 Auch hier muß an die Parallele des slawischen Henoch zum Jesjira-Buch II, 6

erinnert werden, wo es heißt: „ E r schuf aus dem Tohu Wirkliches und machte das
Nichtsein zu einem Seienden und haute aus dem unsichtbaren [oder: unstofflichen]
Äther große Säulen aus". Nicht nur das Bild vom Übergang des Nichtseienden zum
Seienden, sondern auch des Unsichtbaren zum Sichtbaren kehrt beide Mal im selben
Satz wieder.

Scholcm, Kabbala 5
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66 Das Buch Bahir

§ 85, der von Gottes Kräften — nicht im Sinne der philosophischen


Sprache, sondern der gnostischen (ζ. B. der Valentinianer), wo die
Kräfte, δυνάμεις, eben die Äonen sind, die das Pleroma erfüllen —
wiederum in einem ganz mythischen Bilde spricht. Das Stück ist in
eine spätere Erklärung von 'Isch, „Mann" als Name Gottes eingefügt,
wo (§ 84) das Schin seiner Form im Hebräischen halber V als „Wurzel
des Baumes" erklärt wird, womit offenbar schon auf eine spezielle
Sephira hingedeutet wird. Dann heißt es : „Und was ist [dieser] 'Baum',
von dem du gesprochen hast ? Er sagte zu ihm : alle Kräfte Gottes sind
übereinander [gelagert], und sie gleichen einem Baum: wie derBaum
durch das Wasser seine Früchte hervorbringt, so mehrt auch Gott
durch das Wasser die Kräfte des 'Baumes'. Und was ist Gottes Wasser ?
Das ist die Sophia, Hokhma, und das [nämlich die Früchte des Baumes]
sind die Seelen der Gerechten, die von der Quelle zum 'großen Kanal'
fliegen, und sie [die Frucht oder die Seele] steigt auf und haftet am
'Baum'. Und wodurch blüht er ? Durch Israel : wenn sie gut und gerecht
sind, so wohnt die Schekhina unter ihnen, und durch ihre Werke
wohnen sie [andere Lesart: wohnt sie] in Gottes Schoß, und er läßt
sie [Israel] fruchtbar sein und sich mehren."
Hier bildet also die Gesamtheit der Kräfte Gottes einen kosmischen
Baum, der nicht nur der Seelenbaum ist, von dem die Seelen der Ge-
rechten ausfliegen und zu dem sie offenbar zurückkehren, sondern der
auch selber von den Taten Israels abhängt, eine Idee, die in anderen
Stücken dann noch nachdrücklicher aufgenommen wird. Im Ein-
zelnen scheint hier schon eine spezifische Symbolik und Lokalisierung
der Äonen vorzuliegen. Wenn die Quelle, die den Baum bewässert,
die Sophia ist, die an allen anderen Stellen sich zwanglos als die zweite
Sephira erklärt (als die sie in § 96 dann ausdrücklich bezeichnet wird),
so ist die Wurzel die dritte Sephira, die „Mutter" in der Sprache des
Bahir, und der Baum selber stellt dann offensichtlich die Gesamtheit
der übrigen sieben Kräfte dar, die im Schöpfungswerk der sieben Tage
wirksam sind. Da sie übereinander gelagert sind, haben sie offenbar
auch eine bestimmte Struktur. Zuerst werden sie nur dem Baum ver-
glichen, in der Fortsetzung aber wird das Bild dann ganz realistisch
verwandt. Dieser kosmische Baum hat seine Wurzeln oben und wächst
selbst nach unten, ein mythisches Bild, zu dem viele Parallelen in
allen möglichen Kulturkreisen bekannt sind42. Interessant ist, daß
manche Forscher diese Vorstellung auch im Milieu der bogomilischen
Häretiker des Balkans wiederfinden wollen43. Wenn Israel gut ist,
4 2 Vgl. Ad. Jacoby, Der Baum mit den Wurzeln nach oben und den Zweigen nach

unten, Zeitschrift für Missionskunde u. Religions-Wissenschaft, Bd. 43 (1928), S. 7 8 —


86.
4 3 Dies entnehne ich einer brieflichen Mitteilung von Prof. Otto Maennchen-Helfen,

University of California, vom 1. Juli 1962.

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Der Weltenbaum 67

bringt Gott neue Seelen von Gerechten am Baum hervor. Das ist doch
wohl der Sinn der Bemerkung „er läßt sie fruchtbar sein und sich
mehren". Diese Vorstellung hängt dann ausgezeichnet mit anderen
Parallelstellen zusammen. Vor allem in § 67 und § 104 entspricht dem
Stamm des Baumes von § 85, der aus der Wurzel herauswächst, das
Bild von der Wirbelsäule im Menschen. Ist Israel gut, so bringt Gott
aus dem Ort des Samens, der dem großen Kanal in § 85 entspricht,
neue Seelen. Die Art wie der Baum-Mythos hier (und in den §§ 104
und 121) variiert wird, entspricht schon der Interpretation, die § 15
von der ältesten Gestalt, wie wir sie in § 14 kennengelernt haben, gibt.
Wann diese Umdeutungen des ältesten Materials erfolgt sind, läßt
sich nicht mit Gewißheit sagen. Daß die Baum-Symbolik auch noch
in der spätesten Schicht des Bahir eine weitere Entwicklung durch-
gemacht hat, zeigt sich in den §§ 64—67, die bei aller Verschiedenheit
eng zusammenhängen44. Der Weltenbaum von § 14 ist hier nicht mehr,
wie in § 85, das Pleroma von Gottes Kräften, sondern ist, wie am An-
fang, ins Zentrum des Universums als dessen Inneres eingepflanzt.
Der Struktur dieses Inneren entsprechen in den Bereichen des Kosmos,
die hier aus dem „Buche der Schöpfung" aufgenommen werden,
niedere Potenzen, „Aufseher" und „Archonten", Ssarim. § 64 greift
direkt auf Jesira V, 1 zurück, wo von den zwölf Weltrichtungen die
Rede ist, die der Bahir-Autor sich auf seine Weise mythisch zurecht-
tlegt: „Einen Baum hat Gott und an ihm sind zwölf Radien46: Nord-
Ost, Süd-Ost, Ost-Oben, Ost-Unten, Nord-West, Süd-West, West-
Oben, West-Unten, Nord-Oben, Nord-Unten, Süd-Oben, Süd-Unten,
und sie dehnen sich aus und gehen ins Unermeßliche fort, und sie sind
die Arme der Welt. Und in ihrem Innern ist der Baum." Diesen zwölf
Ästen des Weltenbaumes entsprechen in den drei Weltregionen des
Buches Jesira, dem „Drachen", Teli*β, als Vertreter der Welt, der
sichtbaren Himmelssphäre als Vertreter der Zeit, und dem „Herzen"
als Vertreter des menschlichen Organismus, je zwölf „Aufseher" und
je zwölf „Archonten", womit wir zweimal 36 Potenzen oder Kräfte
44
Vgl. meinen Kommentar zum Bahir, S. 67.
45
Hebräisch Gebhule 'alakhson, was hier jedenfalls als „Radien" und Zweige des
Weltenbaumes aufgefaßt wird, die mit der Wurzel der 12 Stämme Iraels zusammen-
hängen.
4
· Teli, im frühen Mittelalter als das Sternbild des Drachens aufgefaßt, ist das
syrische 'athalia, „Stella quae solem tegens eclipsim efficit", nach Payne-Smith I, 423.
In diesem Sinn kommt es schon in dem manichäischen Psalmenbuch, ed. Allberry,
fase. II, S. 196 vor. Dieser Sprachgebrauch entspricht genau dem in der zweifellos sehr
alten astronomischen „Baraitha des Samuel", und geht auf assyrisches atalû zurück,
wie schon A. E. Harkavy in Ben 'Ammi, Bd. I (1887), S. 27—36 nachgewiesen hat.
Wenn der Teli als „Himmelsschlange" oder Drache Kopf und Schwanz bewegt, ver-
ursacht er dadurch die Finsternisse.


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68 Das Buch Bahir

erhalten, die im Kosmos wirksam sind und überall wiederkehren. „Die


Potenz des einen ist [auch] im andern, und obwohl zwölf in jedem der
drei sind, haften sie alle aneinander [dies wörtlich aus Jesira VI, 3],
und alle 36 Potenzen finden sich schon im ersten, welcher der Teli
ist . . . und sie kehren alle zyklisch ineinander zurück, und die Potenz
eines jeden findet sich im andern . . . und sie alle sind im 'Herzen' voll-
endet [oder: einbeschlossen]." Man möchte annehmen, daß in diesen
36 Potenzen irgendwie die 36 Dekane der Astrologie und deren Vor-
steher stecken47. Für das Buch Bahir treten die 2 χ36 Aufseher und
Archonten mit den 72 Namen Gottes zusammen, die die jüdische Ge-
heimlehre noch in der talmudischen Zeit entwickelt hat und von denen
im Bahir von § 63 an mehrfach die Rede ist (vor allem in §§ 76—79).
§ 64 wirkt an sich wie ein sehr altes Stück, das noch keine unmittel-
bare Berührung mit mystischer Symbolik hat, wie sie in den meisten
Teilen des Bahir entwickelt wird. Das „Herz" hier ist noch gut im
Sinn des „Buches der Schöpfung" als Herrscher des menschlichen
Organismus erwähnt, nicht als mystisches Symbol. Aber in § 67, der
den Gedankengang von § 64 und vor allem dessen Terminologie auf-
greift und fortsetzt, wenn auch dazwischen sicher eine Lücke anzu-
nehmen ist, haben wir es plötzlich mit mystischen Symbolen zu tun.
Das Herz ernährt sich von den 72 Aufsehern und Archonten, und er-
nährt sie seinerseits, zugleich wird es aber als ein Symbolwort gedeutet,
als eine „Herz" genannte Sphäre, in der die „32 wunderbaren Wege
der Sophia" enthalten sind, dem Zahlenwert des hebräischen Wortes
Lebh, Herz, entsprechend.Damit sind wir mitten in kabbalistischer Sym-
bolik, auf die wir noch zu sprechen kommen.
Diese Symbolik des Herzens des Kosmos tritt hier in enge Parallele
zu einer berühmten Vorstellung, die durchaus als eigenes Gut Jehuda
Halewi in seinem Kuzari II, 36—44 entwickelt hat. Er stellte die
These auf, daß alle Völker einen Organismus bilden, in dem Israel
die Stelle des Herzens einnimmt, und daher besondere Pflichten und
Funktionen im Ganzen des Geschichtsverlaufs erfüllen muß. Es
scheint, daß bei der letzten Redaktion des Bahir in der Provençe der
Kuzari schon vorlag, der ja dort 1167 ins Hebräische übersetzt worden
war, und das Bild den letzten Redaktoren so gefiel, daß sie es mit ihrer
gnostischen Symbolik verbanden. Aus dem geschichtlichen Ganzen
wird hier der theosophische Verband der Welt. Israel ist selbst der
Stamm oder das Herz des Baumes, von dem die einzelnen Seelen als
Früchte hervorgebracht werden. Dabei ist aber ein Schwanken im
Bilde deutlich erkennbar, indem das Herz und die Frucht zusammen-
geworfen werden: das Herz wird als die „kostbare Frucht des Leibes"
17
Dies hat zuerst wohl Zofja Amaisenowa gesehen, vgl. Journal of the Warburg-
Institute Bd. XII, London 1949, S. 33.

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Der Weltenbaum 69

erklärt, was dann mit der Ritualsymbolik des Feststraußes am Laub-


hüttenfest zusammengebracht wird, wo Israel „die Frucht des Pracht-
baumes" (Lev. 23 40) „nimmt". Die Parallele zwischen dem Stamm
des Baumes 48 und der Wirbelsäule im Menschen, die der wesentlichste
Teil des Leibes ist, wird hier in den Mittelpunkt gestellt. Die 72 Kräfte,
die vorher genannt waren, erscheinen nun als die Archonten und
„heiligen Formen", die über jedes Volk gesetzt sind, während das
„heilige Israel" 4 9 den Stamm des Baumes und sein Herz einnimmt.
Die Völker sind also offenbar die aus den zwölf Hauptästen hervor-
gehenden Nebenäste, wobei freilich die Hauptäste wiederum mit den
zwölf Stämmen Israels in irgendeinem Zusammenhang stehen. Dies
wirkt sehr wie eine Übertragung von Jehuda Halewis Idee auf eine
ältere Vorstellung vom Weltenbaum und dessen Stamm, der nun mit
dem, ursprünglich damit gar nichts zu tun habenden Begriff des
Herzens aus dem Buch der „Schöpfung" zusammengebracht wird.
Die Archonten der Völker sind, der jüdischen Überlieferung durchaus
entsprechend, hier noch „heilige Formen", das heißt also Engel.
Solche Formen wohnen auch als Wächter des Weges zum Baum des
Lebens auf den 32 wunderbaren Wegen der Sophia, die selber über
der Welt der Engel stehen, aber von ihnen behütet und bewacht
werden. Dieser Zusammenhang der heiligen Formen mit der Baum-
Symbolik tritt nun weiterhin noch an einer wichtigen Stelle in § 78
auf. Das Opfer, hebräisch Qorban, wird im Sinne der Bedeutung der
hebräischen Wurzel mit „Nahebringung" erklärt, „weil es die heiligen
Formen so einander nahebringt, daß sie [wie der Autor Ez. 37 17 ver-
steht] zu einem Baum werden". So ist auch hier der Baum als der
Bereich der Potenzen Gottes gedacht, der sich unterhalb des durch-
aus persönlich gedachten, von den Potenzen selber unabhängigen
Gottes, erstreckt. Als Resultat dieser Analyse ergibt sich also, daß
die Baum- Symbolik in verschiedenen Schichten des Bahir verschie-
dene Entwicklungen durchgemacht hat.
In dieser Baumsymbolik tritt auch ein Motiv deutlich hervor, das
für die Lehre der Kabbala von der mystischen Bestimmung des jü-
dischen Menschen wesentlich geworden ist. Der Baum wird nicht nur
aus der Quelle erhalten und bewässert, sondern sein Blühen, sein
Wachsen und Gedeihen, sein Stark- oder Schlaffwerden hängt von
den Taten Israels ab. Der besondere Nachdruck, der auf dieser Er-
klärung der kosmischen Relevanz der Taten Israels liegt, wie auch die
Dialektik, die eine solche Auffassung für die „Reinheit" des Gottes-
So mag ursprünglich dagestanden haben, Guph ha-'Jlan, trotz der Lesart Noph
ha-'Ilan bei den ältesten Zeugen für unseren Text. Diese Lesart macht die Bilder von
§ 67 und die Parallele zwischen Israel und dem Stamm des Baumes sinnlos.
4 8 Ein talmudischer Ausdruck, ζ. B . Hullin 7 b ; sowie im Seder Elijahu Rabba,
ed. Friedmann. S. 71.

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70 Das Buch Bahir

begriffes mit sich brachte, treten schon hier hervor, um sich in den
später verfaßten Schriften der Kabbalisten nur noch zu steigern.
Zwischen den Schöpfergott und den Menschen tritt ein Zwischen-
bereich, der nicht einfach auf die Seite der Kreatur gehört, dessen
Verhältnis zu dem Gott, der schließlich ja diesen Baum „gepflanzt"
hat, aber nicht präzise definiert wird. In Symbolen und Bildern, die
ihrem theologischen Sinn nach unpräzis bleiben, wird hier einGedanke
zum Ausdruck gebracht, der auch in der alten aggadischen Literatur
nicht fehlt und auch dort schon einigermaßen theologisch „bedenk-
lich" ist, nämlich die Vorstellung, daß „die Gerechten der Allmacht
[Gebhura, die göttliche Dynamis] Kraft zufügen"60. Neu ist in den
Quellen der Kabbala dabei das mythische Bild, unter dem dieser Ein-
fluß vorgestellt wird. Im Vollzug des Rituals, dessen Bestandteile zu
den Äonen oder Sephiroth am Baum der Kräfte Gottes in mystische
Beziehung gesetzt werden, drückt sich diese Einflußnahme des „hei-
ligen Israel" auf jene höheren Sphären aus. Dies ist der offensicht-
liche Grund für die verschiedenen, im Bahir vorgebrachten Ritual-
symboliken und Erklärungen einzelner Vorschriften der Tora.
Es gibt also im Grunde schon hier einen Influxus von oben und einen
von unten, wie die spanische Kabbala es dann, besonders im Zohar,
ausgedrückt hat. Der obere Influxus steht hier, soweit ich sehen kann,
durchweg mit der Symbolik der Sophia als der Quelle des Welten-
baums in Zusammenhang. Viele Stellen, an denen von solcher Quell-
symbolik die Rede ist — charakteristischerweise fast durchweg nur
in Gleichnissen — lassen sich ohne Zwang auf sie beziehen51. Nur in
dem letzten Drittel des Buches ist die Symbolik der Quelle, die die
Sophia ist, auf den „Kanal" übertragen worden, durch den dies Quell-
wasser anderen Bereichen zugeleitet wird, worunter dann schon ein
späterer Äon in der Struktur dieser Kräfte zu verstehen ist, der mit
der Sophia in besonderer Beziehung steht62.

3. Weitere gnostische Elemente — Die Kräfte Gottes. Middoth —


Gnostische Umdeutung talmudischer Aussprüche — Die doppelte
Sophia und die Symbolik der Sophia als Tochter und Braut

Es sind diese einzelnen Kräfte oder ihr Zusammenwirken, auf die


das Hauptinteresse des Buches Bahir gerichtet ist. Der größte Teil
des Buches beschäftigt sich damit, diese „Kräfte Gottes", die wir
durchaus als die Äonen im Pleroma auffassen dürfen, in allen mög-
50
Midrasch 'Ekha rabbathi, ed. Buber, S. 70, und die dort zitierten Parallelen.
51
Vgl. §§ 3, 4, wo am Ende des zweiten Gleichnisses die Verbindung zwischen der
Sophia von Ps. I l i io mit der Quelle ausdrücklich hergestellt wird, und §§ 84—86.
62
So in §§ 106, 121, 125.

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Die Kräfte Gottes 71

liehen Bibelversen oder sonstigen symbolischenVerkleidungen wieder-


zufinden, wobei die biblischen Begriffe, die Sprachmystik und die
Vorstellungen der Aggada ein schier unerschöpfliches Reservoir der
Symbolik bilden. Auch hier finden wir vielfach Symbole und Begriffe
der alten Gnostiker wieder, sei es, daß sie historisch mit jenem Bereich
zusammenhängen, sei es, daß sie mit den gleichen Mitteln der Exegese
von neuem entwickelt worden sind. Aber irgendeinen Anstoß in über-
liefertem Material muß diese Exegese ja wohl gehabt haben, wenn
sie dann auch ihren eigenen Wegen gefolgt ist. Dazu kommt weiter
die Tatsache, daß ein großer Teil des Buches aus mystischen Varia-
tionen über Motive aus dem Buche Jesira besteht. In der Tat benutzt
Bahir dessen Begriff der Sephiroth, aber nicht mehr im Sinne von
zehn Idealzahlen die alle Kräfte der Schöpfung in sich schließen,
wie ihn der Jesira-Autor verstand. Jetzt werden die Sephiroth zum
Inbegriff der Äonen, der Kräfte Gottes, die auch seine Attribute sind.
Aber gerade dieser Ausdruck „Sephiroth" nimmt im Bahir keinerlei
bedeutenden Platz ein. Er tritt nur in § 87 auf, wo in den zehn Fingern,
die beim Priestersegen erhoben werden, „ein Hinweis auf die zehn
Sephiroth, mit denen Himmel und Erde versiegelt sind" gefunden
wird. Im „Buch der Schöpfung" selbst sind es nur sechs der Sephiroth,
die diese Funktion erfüllen, und hier liegt offenbar schon eine Identi-
fikation mit einer anderen Vorstellung vor. Darauf weist auch die
neue Erklärung hin, die das Buch dort von dem Sinn des Wortes
Sephiroth gibt. Nicht von saphar, zählen, sondern von Sappir, Saphir-
stein, wird das Wort abgeleitet. Sie sind also saphirische Abglänze der
Gottheit, und der Autor versteht den Psalmenvers 19 2 : „Die Himmel
erzählen die Herrlichkeit Gottes" im Sinne dieser Etymologie als:
„Die Himmel strahlen im Saphirglanz der Herrlichkeit Gottes". Diese
mystische Etymologie ist dann in der kabbalistischen Literatur klas-
sisch geworden. Es ist möglich, daß angesichts des fragmentarischen
Zustandes des Buches nicht viel aus dem sonstigen Fehlen des Ter-
minus Sephiroth gefolgert werden kann. Es bleibt aber doch über-
raschend, daß gerade in Stücken, die ganz eindeutig auf das „Buch
der Schöpfung" aufbauen, der Begriff der Sephiroth gleichsam aus-
gemerzt worden ist, und als etwas Bekanntes und Selbstverständliches
gerade in einem Stück erscheint, das sonst in keiner Verbindung mit
Motiven des Jesira-Buches steht.
Stattdessen werden diese Äonen, wenn wir sie als solche ansprechen
dürfen, in ihrer Gesamtheit mit ganz anderen Bezeichnungen um-
schrieben. Diese Namen spiegeln die Sinnfülle und Vielseitigkeit der
Äonen in der gnostischen Mythologie wider. Sie sind die Kräfte Gottes,
wie wir schon sahen. Sie sind aber auch die zehn Schöpfungsworte,
Ma'amaroth, im folgenden als Logoi wiedergegeben, durch die alles
erschaffen ist, wie ein berühmter Satz der Mischna statuiert (Tr.

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72 Das Buch Bahir

'Abhoth, V, 1). Sie sind die verschiedenen Eigenschaften und Attribute,


die Gott zukommen, hebräisch: seine Middoth. Jede einzelne Midda
ist eine besondere geistige Potenz. Dieser Sprachgebrauch, in dem die
Middoth verselbständigt und hypostasiert werden, findet sich schon
in der alten Aggada. Hier haben wir einzelne Worte, die wie jüdische
Präfigurierungen oder Parallelen zur gnostischen Äonen-Terminologie
wirken. „Sieben Middoth dienen [erfüllen eine bestimmte Funktion]
vor dem Thron der Herrlichkeit, und dies sind sie: Weisheit, Gerech-
tigkeit und Recht, Gnade und Erbarmen, Wahrheit und Friede53."
Der babylonische Amoräer Rabh (um 230), ein ausgesprochener An-
hänger der jüdischen Esoterik und Merkaba-Gnosis, sagte: „Durch
zehn Dinge ist die Welt geschaffen : durch Weisheit und Einsicht und
Wissen und Kraft und Anschreien und Stärke [Gebhura, ein Synonym
für Kraft], durch Gerechtigkeit und Recht, durch Gnade und durch
Barmherzigkeit" (Hagiga 12a). Solche abstrakten Namen, die sich
wie Aufzählungen der Äonen im Pleroma bei den Gnostikern lesen,
tauchen nun hier, nicht gelegentlich wie in jenen Zitaten, sondern
durchaus im Zentrum der Spekulationen des Bahir als mehr oder
weniger feste Bezeichnungen bestimmter Middoth auf, die offenbar
auch schon einen festen Ort in der Struktur dieser Äonen oder Middoth
haben. Hier und da schwankt dieser Ort noch, wie wir sehen werden,
aber zweifellos schwebt den Redaktoren schon eine bestimmte Struktur
dieses Verbandes vor, wie sie ja auch durch § 85 in dem Bild vom
Baum der Kräfte Gottes vorausgesetzt wird. Auch als „schöne Ge-
fäße" und als „Schätze" erscheinen diese Kräfte hier, ebenfalls im
Sinn weitverbreiteter gnostischer Metaphorik bei der Schilderung der
oberen Welten und des Pleroma54. Sowohl die späteren koptisch-
gnostischen Texte von der Art der „Pistis Sophia" als auch die man-
däische Literatur fließen von Erwähnungen solcher „Schätze" oder
„Schatzhäuser" über. Die sechs Tage der Weltschöpfung, die das
Buch Bahir in § 92 als Urtage, Jemê Qedem, bezeichnet, sind solche
Äonen, von denen das Buch sagt: „Sechs schöne Gefäße hat Gott
gemacht" (§ 39). Auch diese Rede vom „kostbaren Gefäß", vas pre-
tiosum (auch in § 52, dazu weiter unten), ist aus der valentinianischen
Gnosis wohlbekannt55.
58
'Aboth de-Rabbi Nathan, 1. Rezension, ed. Schechter, S. 110. Besonders merk-
würdig ist der Schluß dieser Stelle, wo es heißt: „Dies lehrt, daß jeder Mensch, in dem
diese Eigenschaften Middoth, sind, die Erkenntnis Gottes erlangt", was aber auch
genau übersetzt werden kann: „die Gnosis Gottes [Da'atho schei Maqom] erkennt".
Der Satz schillert in beiden Bedeutungen, einer rein moralischen und einer gnostischen,
auf die nach diesen Eigenschaften genannten Äonen bezüglichen.
54
Die Äonen als Schätze oder Schatzhäuser im Bahir §§ 96, 97, 126, 129.
66
Vgl. dazu R. Reitzenstein, Das mandäische Buch des Herrn der Größe, Heidel-
berg 1919, S. 87.

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Die Kräfte Gottes 73

Der Sprachgebrauch des Wortes Midda in dem hier vorausgesetzten


Sinne ist nicht ohne Weiteres sprachlich zu lokalisieren. Er ist nicht
auf die alte Aggada beschränkt. Auch Raschi, der berühmte Kommen-
tator und gewiß kein Kabbaiist, benutzt das Wort im Sinn von
geistiger Potenz, Hypostase56. Im Buch Jesira selbst werden die
Sephiroth nicht als Middoth bezeichnet, obwohl von der Gesamtheit
dieser zehn Zahlen gesagt wird: „ihr Maß Midda ist zehn, aber sie
haben kein Ende" (I, 5), was dort noch einfach auf die Dekade geht,
mit der sich alle Zahlen ausdrücken lassen. Aber auch in einem Text,
der schon vor 1200 bei den deutschen Chassidim verbreitet war und
dessen Alter nicht geklärt ist, der sogenannten „Mischna des Josef
ben Uziel", werden die zehn Sephiroth als zehn Middoth und zehn
Prinzipien, Schoraschim, bezeichnet57. Sonst aber hat gerade dieser
pseudepigraphische Merkaba-Text kaum irgendetwas mit der Sym-
bolik und besonderen Gedankenwelt des Buches Bahir gemeinsam,
und gerade die gnostischen Elemente, die wir hier herausheben, fehlen
dort ganz. In anderen mittelalterlichen Texten wird wiederum von
„Kräften Gottes" ganz in der gnostischen Färbung gesprochen, die
dieser Sprachgebrauch im Bahir hat. Der in Byzanz um 1100 schrei-
bende Tobia ben Eliezer warnt zum Beispiel gerade in einer Äußerung
über die Merkaba-Literatur und Schi'ur Qoma davor, Anthropomor-
phismen auf Gottes Wesen zu beziehen, die nur von den „Kräften und
Dynameis des Schöpfers des All" ausgesagt seien58. Das liegt ganz in
der Linie des Sprachgebrauchs im Bahir, wo wirklich die Aussagen
der Merkaba-Mystik so verstanden werden.
Zu diesen aus gnostischer Tradition wohlbekannten Begriffen und
Bildern fügt das Buch neue Bezeichnungen dieser Wesenheiten hinzu.
Hier sind diese Kräfte auch die zehn „Könige" (§§ 19, 32, 49), sie sind
die sieben „Stimmen", die bei der Offenbarung am Sinai gehört wurden
(§§29—32), und sie sind auch die „Kronen" (§§23, 101), die der
König trägt. Von diesem Bild aus erklärt sich dann die Bezeichnung
des höchsten aller Äonen als die „höchste Krone", Kether 'eljon,
(§§ 89, 96). Diese Bezeichnung ist besonders bemerkenswert. Sie ist
nachher in der alten kabbalistischen Literatur besonders häufig, und
es scheint, als ob durch dieses Bild von den Kronen eine Verbindung
zwischen den neuen Anschauungen und der Gottesauffassung der
Hekhaloth-Schtiiten hergestellt würde. War doch Gott dort vor allem
der heilige König, der auf der Merkaba thront, und die Autoren des
Bahir greifen darauf zurück, wenn sie in seinen Eigenschaften und
Kräften die verschiedenen Kronen sehen, mit denen er gekrönt ist.
5
* So z. B. in seinem Kommentar zu Sota 33a im Sinne einer erschaffenen, persönlich
gedachten Potenz.
" Der Text ist von Abraham Epstein in Ha-Hoqer Bd. 2, Wien 1894, S. 43 gedruckt.
58
Tobia ben Eliezer, Leqah Tobh zu Deut. 4 12, ed. Buber, S. 14.

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74 Das Buch Bahir

Es wäre aber ein großer Irrtum, wenn wir aus diesem Beinamen allein
theoretische Folgerungen über das Verhältnis dieser Kräfte und
Middoth zur Gottheit ziehen wollten. Neben Aussprüchen, die eine
klare personalistische Auffassung dieses Gottes und eine Unterschei-
dung zwischen ihm und jenen Königen, Schätzen, Stimmen, Worten
usw. vorauszusetzen scheinen, finden wir auch Äußerungen ganz
anderer Art, in denen dieses Verhältnis durchaus unklar bleibt. Ins-
besondere das Verhältnis zwischen der Gottheit und der ersten dieser
Kräfte ist keineswegs eindeutig klar. Man fragt sich, ob nicht etwa
in einigen Teilen des Buches die erste Sephira selber die Gottheit ist,
über der kein anderer Träger, Schöpfer oder Emanierer steht. Alles
ist hier noch im Fluß, und aus den bildkräftigen Symbolen haben sich
noch keine klaren Begriffe kristallisiert. Freilich darf dabei nicht ver-
gessen werden, daß von einem Herrn oder Träger der Sephiroth hier
überhaupt kaum außerhalb von Gleichnissen gesprochen wird, und
gerade diese Gleichnisse scheinen den Träger dieser Kräfte als ihre
Urquelle oder sonstigen Ursprung mit einer der in diesem Kräfte-
verband zusammengefaßten Wesenheiten zu identifizieren, ohne daß
daraus doch strikte Schlüsse auf die „Theologie" solcher Gleichnisse
gezogen werden können. Das Hauptinteresse des Buches ist eben auf
die Äonen gerichtet, sowie auf die mystische Symbolik, die mit ihnen
verbunden ist. An den vielen Stellen, wo das Buch im allgemeinen
von „Gott" spricht, bleibt die Rede ganz unbestimmt, und es kann
ebenso gut der Herr der Äonen gemeint sein wie der, der sich in ihnen
oder einer von ihnen darstellt. Immerhin scheiden nicht nur viele
Aussprüche deutlich zwischen der Sophia und ihrem Ursprung in
Gott oder in der über ihr liegenden Ennoia, dem Gedanken Gottes,
sondern in § 53 wird in dem Ausdruck „Gottes Gedanke" voraus-
gesetzt, daß eine Scheidung zwischen den beiden besteht, und der
Gedanke nicht selber das höchste ist, obwohl die Symbolik des Buches
an keiner Stelle über diesen Bereich des Gedankens, von dem noch
die Rede sein wird, hinausführt.
Der entscheidende Schritt, der hier über andere gnostische Systeme
hinaus gemacht wird, liegt in der Fixierung der Zahl dieser Kräfte
oder Äonen auf zehn, entsprechend den zehn Sephiroth des „Buches
von der Schöpfung" und den zehn Schöpfungsworten, durch die Gott
nach der alten Aggada die Welt hervorgerufen hat. Nachdem einmal
die Zahl dieser „Eigenschaften" oder Middoth Gottes festgelegt war,
mußte zwangsläufig jeder Beiname, unter dem Gott vorgestellt oder
benannt werden kann, auf eine dieser Middoth sich beziehen, welche
auf diese Weise viele symbolische Namen erhielten. Im Bahir erkennen
wir noch deutlich die Bemühungen, eine mehr oder weniger feste
Terminologie im Gebrauch dieser Symbole in Verbindung mit be-
stimmten Sephiroth einzuführen, ohne daß doch dieser Kristallisations-

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Die Kräfte Gottes 75

prozeß, in dem sich die Symbolik der alten Kabbala herausbildete,


schon zum Abschluß gekommen wäre. Die verschiedenen Versuche
liegen zum Teil in deutlichem Widerspruch miteinander. Während
die kabbalistischen Kommentatoren sich um deren Ausgleichung und
Vereinheitlichung bemühten, hat der Historiker natürlich gar kein
Interesse an solcher harmonistischen Exegese. Wir werden einige
Beispiele kennenlernen, die darauf hinweisen, daß hier verschiedene
Traditionen miteinander im Widerstreit lagen, die im Buch Bahir
nebeneinander gestellt sind. Auch dabei ist zu betonen, daß bei der
Aufstellung solcher spezifischen Symbole und Benennungen dieser
oder jener Sephira sich das Verfahren wiederholt, nach dem die
Gnostiker die Bezeichnungen für ihre Äonen wählten. Die Gnostiker
liebten es, Abstrakta wie Gedanke, Weisheit, Buße, Wahrheit, Gnade,
Größe, Schweigen, oder Bilder wie Vater, Mutter, Abgrund usw. als
Äonennamen zu wählen. Solche Namen, manche davon identisch und
manche in demselben Verfahren gnostischer Exegese neu geschaffen,
füllen die Seiten des Bahir, wo sie aus Bibelversen und selbst aus
aggadischen Aussprüchen der Rabbinen begründet oder heraus-
gelesen werden.
Hierbei erhebt sich dann wieder die Frage : müssen wir mindestens
für eine Schicht des Buches mit Überresten alter jüdischer Gnosis
rechnen, mit vormittelalterlichen Fragmenten, in denen anonyme
jüdische Gnostiker ihre mystische Auffassung von der Gottheit aus-
zusprechen suchten, ohne den jüdischen Monotheismus dabei an-
zutasten? Oder haben wir es vielmehr hier mit Versuchen mittel-
alterlicher Menschen zu tun, die aus irgendeinem Grunde zu gnostischer
Betrachtimgsweise eines Materials, das seiner Natur nach rein jüdisch
war, neu angeregt wurden ? Haben wir hier in Wirklichkeit nur das
Material der wohlbekannten und sichtbaren rabbinischen Tradition
vor uns, an dessen Bearbeitung und Verwandlung zu Symbolen sich
gerade der seelische und zeitliche Abstand der Autoren von der Periode
erweist, in der dieses Material selbst erst kristallisiert wurde ? Dies ist
die eigentliche Grundfrage, die sich dem Leser des Bahir aufdrängt.
Diese Frage läßt sich nicht aus allgemeinen Erwägungen heraus ent-
scheiden, und nur eine genaue Untersuchung der Details kann zu
einer solchen Entscheidimg führen. Ich nehme keinen Anstand, von
der Literatur der spanischen Kabbala, und besonders von der im Zohar
niedergelegten zu sagen, daß sie unzweideutig eine seelische Haltung
manifestiert, in der mittelalterliche Menschen das ihnen vorliegende
alte Material aus Talmud und Midrasch in ganz neuem Geiste bear-
beiten, indem sie es zum Gegenstand einer Exegese und Homiletik
machen, die ihrer Struktur nach zwar gnostisch ist, aber sich erst
unter dem Einfluß des Bahir voll entwickelt hat. Wie steht es aber
mit dem ältesten Text, dem Buch Bahir selber ? Auch hier läßt sich

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76 Das Buch Bahir

an manchen Stellen deutlich machen, daß wir es mit späterer Exegese


zu tun haben, die ein schon autoritativ gewordenes älteres Material
aus mittelalterlicher Geisteshaltung heraus umdeutet und ihm sym-
bolischen Charakter verleiht. Bibelverse konnten natürlich auch im
talmudischen Zeitalter als Symbole für Vorgänge in einer höheren
Seinsebene gedeutet werden. Der seelische Abstand zwischen dem
gnostischen Exegeten, sei er nun Jude oder nicht, und dem biblischen
Kanon ist evident. Auch die Art der Bearbeitung heidnischer My-
thologie im Sinne gnostischer Exegese, wie sie etwa in der „Naassener-
Predigt" zum Ausdruck kommt, die uns Hippolytos erhalten hat,
zeigt denselben seelischen Abstand zwischen dem uralten Material
des Mythos und der neuen Deutung 59 . Im Buch Bahir finden wir solche
Deutungen aber auch schon in bezug auf die talmudischeAggada.Das
zeigt sich nicht nur daran, daß an einer ganzen Zahl von Stellen Gleich-
nisse aus der aggadischen Literatur in Talmud und Midrasch, die
dort durchaus exoterischen Sinn und Zusammenhang haben, ins
Mystische transponiert werden, wobei das neue Gleichnis oft viel
seltsamer und problematischer ist als das zugrunde liegende60. Vor
allem zeigt sich das aber, wo talmudische Zitate selber als solches
altes Material behandelt werden.
Nur in einer Zeit, in der die Aggada für das fromme Bewußtsein
weiter Schichten schon selber die Autorität heiliger Texte beanspruchen
konnte und zu einer Zeit, in der sie für andere Kreise eben wegen ihrer
Extravaganzen zum Problem wurde, d. h. nach dem Aufkommen
des Qaräismus, vom 8. Jahrhundert an, ist eine Stelle wie § 52 im
Bahir möglich. Im Talmud wird in Baba Bathra 16 b Verschiedenes
über den Wert der Geburt von Töchtern tradiert. Dabei wird eine
Diskussion zwischen Mischna-Lehrern aus dem 2. Jahrhundert über
Gen. 24 ι „Und Gott segnete Abraham mit Allem" angeführt: „Was
heißt mit Allem? R. Meïr erklärte: das besagt, daß er keine Tochter
hatte. R. Jehuda erklärte: das besagt, daß er eine Tochter hatte.
Manche erklärten: Abraham hatte eine Tochter und sie hieß Bakol
[wörtlich: mit Allem]". Diese letztere Bemerkung wird im Bahir zum
Gegenstand einer mystischen Exegese gemacht, die den seltsamen
Satz über die Tochter Bakol ins Allegorische erhebt. Bakol wird als eine
59
Über die Naassener-Predigt vgl. R. Reitzenstein, Poimandres, Leipzig 1904,
S. 83—101, sowie seine Studien zum antiken Synkretismus, Leipzig 1926, S. 104—111,
161—173; H. Leisegang, Die Gnosis, Leipzig 1924, S. 112—139.
80
Solche Gleichnisse, die kabbalistische Umarbeitungen von Midrasch-Gleichnissen
sind, haben wir z. B. in § 7 (aus Schemoth Rabba, Ende von Parscha XV) ; § 12 (aus
Midrasch Tehillim, zu Ps. 27l) ; § 23 (aus Ekha Rabbathi 2 l) ; § 25 (aus einem ande-
ren Gleichnis an derselben Stelle); § 36 (aus Schir ha-Schirim Rabba 39); § 43 (aus
Wajiqra Rabba P. XXVII, § 10) ; § 86 (aus Schabbalh 152b) ; § 89 (aus Siphre zu Deut.,
ed. Finkelstein, S. 83); § 101 (wie in § 25).

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Gnostische Umdeutung talmudischer Aussprüche 77

Bezeichnung der Schekhina erklärt, der letzten göttlichen Kraft, die


am Ende von § 51 erwähnt wird und auf deren Symbolik ich noch
zurückkomme. Abraham wird dort als der Vater dieser Schekhina
bezeichnet. Dann fährt §52 fort: „Und woher hatte Abraham eine
Tochter ? [Das wissen wir] aus dem Vers [Gen. 241] Gott segnete
Abraham mit 'Allem', und es heißt [Jes. 43 7] : 'Alles' wird nach
meinem Namen genannt usw. War diese 'Segnung' nun seine Tochter
oder nicht? [andere Lesart: oder nicht vielmehr seine Mutter? 61 ].
Ja, sie war seine Tochter. Das gleicht einem König, der einen voll-
kommenen Knecht hatte . . . Da sagte der König : was soll ich diesem
Knecht geben oder was ihm tun ? Es bleibt mir nichts als ihm meinen
großen Bruder zu empfehlen, daß er ihn berate und beschütze und
ehre. Der Knecht ging mit dem großen Bruder des Köngis heim, und
lernte dessen Art. Da gewann ihn der Bruder sehr lieb und nannte
ihn seinen Freund, wie es heißt [Jes. 41 8] : Abraham, mein Freund.
Er sagte : was soll ich ihm geben oder was ihm tun ? Da habe ich ein
schönes Gefäß gemacht und darin sind schöne Edelsteine, die nicht
ihresgleichen haben, und sie sind das Juwel der Könige. Ich will es
ihm geben und möge er statt meiner an ihm teilhaben. Das ist, was
geschrieben steht: Und Gott segnete den Abraham mit 'Allem'."
Diese Stelle setzt also nicht nur eine entwickelte Symbolik der
Schekhina als „schönes Gefäß" voraus, in dem alle anderen Kräfte
Gottes oder des „großen Bruders" enthalten sind, sondern deutet
auch die talmudische Aggada, die sie voraussetzt, selber schon alle-
gorisch. Solches Verhalten bizarren Talmudstellen gegenüber ist aber
durchaus mittelalterlich und deutet auf großen Abstand von den
Quellen der aggadischen Produktion selber. Wir haben in der alten
aggadischen Literatur kein Beispiel dafür, daß die Äußerungen der
Aggadisten, die in ganz durchsichtigen Zusammenhängen gemacht
wurden, zu Mysterien umgedeutet werden. Im Mittelalter war das
dann gang und gäbe, sei es, daß die Philosophen darin esoterische
Andeutungen ihrer eigenen Meinungen fanden, sei es, daß die Mystiker
sie für sich benutzten. Auch in späten, von mystischen Gedanken-
gängen beeinflußten Aggada-Sammlungen aus dem Orient haben wir
solche Umdeutungen. So wird gerade der hier urgierte Talmudsatz
in dem sehr späten jemenitischen Midrasch Heph.es in einer Weise
mystisch umgedeutet, die nicht sehr weit von der Tendenz des Bahir
liegt. Die pseudepigraphische Einkleidung als alter Lehrsatz kann
über den Charakter des Ausspruches nicht hinwegtäuschen. „Die
Rabbinen haben gelehrt: Kol, die Tochter Abrahams, ist nicht ge-
storben, sondern sie besteht noch immer, und jeder, der sie sieht,
81
Diese Lesart würde gut mit dem Midrasch-Zitat in § 43 zusammenhängen :
„Manchmal nennt er sie 'meine Schwester', manchmal nennt er sie 'meine Tochter',
und manchmal nennt er sie 'meine Mutter'."

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78 Das Buch Bahir

hat damit einen Fund getan, wie es heißt [Prov. 817] : die mich suchen,
werden mich finden62." Durch den Proverbienvers wird hier die
Tochter also eindeutig als die Hokhma oder Sophia identifiziert, was
mit der Schekhina-Symbolik des Bahir, die ja ebenfalls in Zusammen-
hang mit der So/>/wa-Mystik steht (darüber weiter unten) zusammen-
stimmen könnte. Es ist durchaus möglich, daß der Autor jenes Satzes,
der sich nur in dem jemenitischen Midrasch erhalten hat, von einer
Deutung wußte, wie wir sie im Bahir lesen, die also schon im Orient
bekannt war. Es ist aber genau so möglich, daß er unabhängig davon
und aus dem gleichen Wunsch nach Allegorisierung eines seltsamen
Satzes eine Erklärung in der gleichen Richtung produziert hat. Auch
in der Tradition der deutschen Chassidim gab es um 1250 Bekannt-
schaft mit älterem Material, das mit der Umdeutung des Bakol in
Gen. 241 sich in etwas anderer Richtung als im Bahir befaßt. Ephraim
ben Simson führt (um 1240) zu diesem Vers eine Äußerung der Eso-
teriker, Ba'ale ha-Sod an, wonach diese Segnung darin bestand, daß
Gott dem „Fürsten der göttlichen Gegenwart" aufgetragen habe,
jeden Wunsch Abrahams zu erfüllen63. Was im Buch Bahir die Sche-
khina ist, ist hier der Engel Jahoel, der älteste Name des Engelfürsten
Metatron, dessen Verbindung mit dem Patriarchen nicht nur aus der
Abraham-Apokalypse aus dem frühen 2. Jahrhundert bekannt ist,
sondern auch noch den deutschen Chassidim im 12. Jahrhundert ge-
läufig war64. Die spezielle Exegese des Wortes Bakol auf Jahoel
ist aber wahrscheinlich erst in Deutschland entstanden, da sie auf
der dort üblichen Anwendung zahlenmystischer Deutung beruht65.
Ob die Deutung des Bahir auf die Schekhina etwa mit der besonders
bei den deutschen Chassidim geläufigen Vorstellung von der Allgegen-
wart der Schekhina zusammenhängt, wage ich nicht zu entscheiden.
Sie würde dann auf einem Wortspiel beruhen, indem der talmudische
Satz: „Die Schekhina ist an jedem Orte" (Baba Bathra 25a) zu
Schekhina bakol, „die Schekhina ist in Allem" verkürzt und dadurch
die Assoziation mit dem bakol in Gen. 241 nahe gelegt wurde : die
Schekhina ist bakol.
Ein weiteres Beispiel für solche Umdeutung haben wir in § 126. Im
Talmud wird ein Ausspruch des babylonischen Amoräers R. Assi an-
geführt: „Der Sohn Davids kommt nicht, bis alle Seelen im 'Körper'

62 Vgl. den Text bei D. S. Sassoon, Alte Aggadoth aus Jemen, Jahrbuch der jüdisch-

literarischen Gesellschaff X V I , Frankfurt a. M. 1924, hebr. Teil, S. 9.


63 Handschrift München Hebr. 15, zu Gen. 24 1. Die Stelle ist auch in der kurzen

Version dieses Kommentars gedruckt, von der ein größeres Stück als „Tora-Kommentar
des Rabbenu Ephraim" ohne Titelblatt in Smyrna um 1850 erschien, Bl. 15a.
M Vgl. J. M., S. 74.

85 Das Wort *733 hat denselben Zahlenwert wie der Engelname VnIìV.

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Gnostische Umdeutung talmudischer Aussprüche 79

erschöpft sein werden" (Jebhamoth 62 a, 63 b). Der Körper an dieser


Stelle ist das Schatzhaus der ungeborenen, präexistenten Seelen.
Diese traditionelle Deutung ist offenbar auch dem Bahir bekanntββ.
Der Ausspruch wird dort aber weiter als Stichwort für die Lehre von
der Seelenwanderung gedeutet: der dort erwähnte „Körper" sei der
Körper des Menschen, durch den die Seelen wandern müssen. Der
Ausspruch selber wird in der Form zitiert, wie mittelalterliche Autoren
ein Talmudzitat einführen, ohne den jeweiligen Urheber des Aus-
spruchs zu nennen: „Und das ist, was wir sagen". Das durchaus indi-
viduelle Wort des einen Talmudlehrers ist also hier schon zu einer
Autorität geworden und erlaubt eine Umdeutung im Sinne einer Vor-
stellung, von der die talmudische Literatur selber keinerlei Kenntnis
verrät. Dem entspricht in § 86 die Umdeutung, besser gesagt, Um-
arbeitung eines ganz anders gerichteten talmudischen Gleichnisses
im Traktat Schabbath 152 b im Sinne der Lehre von der Seelen-
wanderung67.
Wenn wir also hiernach urteilen dürfen, daß nicht wenig von dem
Material des Bahir eine Haltung zu den Quellen voraussetzt, die erst
vom frühen Mittelalter an möglich war, erlauben uns doch die Details
nicht, das Vorhandensein einer viel älteren Schicht auszuschließen.
Vielmehr scheint mir geradezu, daß sie uns hier und da zu solcher
Annahme zwingen. Unter Zugrundelegung solcher Annahme läßt
sich dann sagen, daß das gnostische, aus dem Orient kommende Ma-
terial im Buch Bahir, wenn es einmal in einem Kreis religiös erregter
und produktiver Menschen rezipiert war, durchaus hinreichend ist,
um die innere Entwicklung der Kabbala bis zum Zohar einschließlich
zu erklären. Wie aber sollen wir uns die Entwicklung erklären, die zu
jener Gärung führt, deren Zeugnisse uns im Buch Bahir selber vor-
liegen ? Hier drängt sich die Annahme auf, daß ein irgendwie gearteter
schriftlicher oder mündlicher Zusammenhang mit Älterem, Vormittel-
alterlichem besteht.
Einige Details, die, soweit ich sehe, keiner anderen Erklärimg fähig
sind, vor allem nicht einer Erklärung aus zufälliger Übereinstimmung,
beweisen, daß gnostische Symboliken, deren systematischer Ort in
einem gnostischen Rahmen, wie etwa dem der valentinianischen
Schule sinnvoll und verständlich ist, ihren Übergang auch in jüdische
Quellen gefunden haben, freilich unter weitgehender Ablösung von
dem organischen Zusammenhang mit der gnostischen Mythologie.

66
Am Anfang von § 126 heißt es: „In seiner Macht ist das Schatzhaus der Seelen".
" Den Zusammenhang dieser beiden Stellen hat schon ein alter Kritiker des kata-
lanischen Kabbalisten Schescheth des Mercadell (um 1270) erkannt, vgl. Tarbiz, Bd. 16
(1946), S. 148. Hieraach ist meine Bemerkung in meinem Kommentar zum Bahir,
S. 169 zu berichtigen.

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80 Das Buch Bahir

Wir können heute nicht mehr (oder noch nicht ?) sagen, welcher Art
diese Quellen waren, und ob hier vielleicht einmal ein ganzes, seinem
Charakter nach jüdisches System vorlag, das in Parallele zu den
klassischen gnostischen Systemen oder zu späteren gnostischen Ver-
zweigungen stand, wie sie sich im aramäisch-syrischen Sprachgebiet
lebendig erhielten, wie etwa die mandäische Gnosis. Den Redaktoren
des Bahir sind nur dunkle Überreste solcher Quellen zugekommen,
kein System, sondern Bruchstücke eines Systems, kein fester Rahmen
von Symbolen, sondern Symbol-Fragmente, deren Anziehungskraft
aber noch genügte, um die Phantasie und das Denken anzuregen,
das alte Material mit neuen Assoziationen zu verbinden und ihm so
einen neuen Inhalt zu geben.
Ein solches überraschendes Detail ist vor allem die Lehre von der
doppelten Sophia oder Hokhma, die bei den ersten Kabbalisten und
schon im Buch Bahir das Vorbild für ähnliche Symbole bildete, die
im Rahmen der göttlichen Welt, des Pleroma, einen doppelten Ort
besetzen. So haben wir hier eine doppelte „Gottesfurcht" (§§ 97,
129, 131), eine doppelte „Gerechtigkeit" (Sedeq, §§50, 133), ein
doppeltes He im Tetragrammaton J H W H (§ 20) und wohl auch eine
doppelte Schekhina (§ 116). Dabei ist dann der Bezirk und Ort des
unteren dieser Symbole („das untere He; die untere Gerechtigkeit")
stets am Rand und Abschluß der Äonenwelt und hängt mit der Sym-
bolik der Schekhina zusammen. Am genauesten sind diese Erörte-
rungen im Bahir aber gerade, wo sie sich auf die doppelte Hokhma
beziehen, und das gibt zu denken. Die Gnostiker, und besonders die
Schule Valentins, entwickelten die Vorstellung von den zwei Äonen,
die beide Sophia heißen. Die eine, die „Obere Sophia", steht hoch
oben in der Welt des Pleroma, die andere aber, die auch mit der Sym-
bolik der „Lichtjungfrau" zusammenhängt, steht an dessen Ende.
Der gnostische Mythos vom kosmischen Drama betrifft gerade jenen
Fall der unteren Sophia, die der Verführung der Hyle unterliegt und
aus dem Pleroma in die unteren Welten hinabstürzt, dort ganz oder
doch in gewissen Teilen ihres Lichtwesens exiliert ist, und die in
irgendeinem, in den verschiedenen Systemen unter verschiedenen
Symbolen beschriebenen Zusammenhang mit dem obersten Wesens-
teil der menschlichen Seele, dem Pneuma steht. Dieser Gottesfunke
im Menschen hängt mit dem Drama vom Exil der „unteren Sophia"
zusammen 68 . Genau an entsprechenden Stellen in der Struktur der
göttlichen Middoth finden wir in verschiedenen Stücken des Bahir

68
Vgl. dazu ζ. B. F. Chr. Baur, Die christliche Gnosis, Tübingen 1835, S. 124—158,
wo S. 146 die valentinianischen Symbole der unteren Sophia aufgezählt werden, die
ziemlich genau den Symbolen entsprechen, die in der Kabbala dann der letzten Sephira
beigelegt werden; F. Sagnard, la Gnose Valentinienne, Paris 1947, S. 148—176.

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Die doppelte Sophia 81

die beiden Hokhma genannten Hypostasen oder Äonen als zweite und
zehnte Sephira. Die Weisheit schlechthin ist, wie in § 96, die obere
Weisheit, der „Anfang von Gottes Wegen" in der Schöpfung. Als
Gott diese Weisheit dem Salomo ins Herz gab, glich er die höhere
der Form der für ihn faßbaren unteren Weisheit an. In der Form der
unteren Weisheit, welche die „Tochter" ist, die Gott dem Salomo
gleichsam anvermählt hat, sind die „32 Wege der Sophia", alle Kräfte
und Wege des Pleroma, zusammengefaßt (§§ 43, 62, 67).
Während aber die Kabbala nach Bahir stets zwischen der oberen
Sophia als „Weisheit Gottes" und der unteren Sophia als „Weisheit
Salomos" unterschied, ist der Sprachgebrauch im Bahir selber, wie
aus §§ 3 und 44 hervorgeht, noch anders. Von einer „Weisheit Salo-
mos" als fixiertem Symbol weiß das Buch noch nichts, vielmehr heißt
die letzte Sephira selber hier Hokhmath 'Elohim. Sie selbst ist jene
„Tochter", in der die 32 Wege der oberen Hokhma zusammengefaßt
sind und die dem Salomo — und zwar hier dem historischen, nicht
einem symbolischen Salomo — sei es „vermählt", sei es „zum Ge-
schenk gegeben" wurde. Diese mystische Hokhma wird an drei Stellen
in Gleichnissen beschrieben, in denen sie als Prinzessin einem anderen
Prinzen, also einem der anderen Äonen oder Kräfte, anvermählt und
„zum Geschenk gegeben" wird. Ursprünglich, wie im § 3, ist diese
Hokhma einfach die Tora. Von der Tora zitiert Jehuda ben Barzilai
(S. 268) aus alten Quellen: „Gott spricht zur Tora: Komm, meine
Tochter, und wir wollen dich meinem Freund Abraham anvermählen".
In § 3 tritt aber Salomo an die Stellé Abrahams. Er ist der Prinz, dem
nach I Reg. 5 26 der König seine Tochter verheiratet und zum Ge-
schenk gibt. Im § 36 ist der Prinz aber einer der Äonen selber, ohne
daß gesagt wird, welcher. In § 44 ist es der mit dem Gottesnamen
Elohim benannte, dem die Hokhma auf solche Weise anvermählt
und geschenkt wurde. Der biblische Ausdruck Hokhmath 'Elohim
heißt hier so viel wie „die Hokhma, die an Elohim gegeben wurde und
mit ihm in einem Gemach ist", nach der sehr bemerkenswerten Les-
art der ältesten Bahir-Handschrift, die später (ob aus Bedenken?)
korrigiert wurde. Da sie bereits in den oberen Sphären „vermählt"
ist, wurde sie, nach §44, dem Salomo in der irdischen Welt nur „zum
Geschenk gegeben", und sie waltet in ihm als Middath ha-Din, und
verhilft ihm dazu, Recht zu schaffen. Dies ist nach § 44 der Sinn der
beiden Verse: „JHWH schenkte dem Salomo Weisheit" und „Sie
sahen, daß Weisheit von Elohim in ihm war, Recht zu schaffen". Die
Auffassung der Tora als Tochter und Braut vermischt sich also mit
der gnostischen Auffassung der Sophia, die die Eigenschaften der
letzten Sephira hat und nicht nur Salomo sondern allen Menschen
hilft: „Solange der Mensch Recht tut, hilft ihm diese Hokhma von
Elohim und bringt ihn [Gott] nahe, tut er es aber nicht, entfernt sie
Scholem, Kabbala 6
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82 Das Buch Bahir

ihn [von Gott] und straft ihn". Es ist auch darauf hinzuweisen, daß
Jehuda ben Barzilai zu Jesira (S. 57) die Verse I Reg. 3 28 und 5 26
ebenfalls von der Sophia als dem Anfang aller Geschöpfe erklärt, die
er für seine Freunde und sein Volk reserviert habe, ohne daß dabei
jedoch die Symbolik der Tochter und der Hochzeit eine Rolle spielt.
Diese Symbolik ist offenbar das Element, das aus älteren Quellen
und gnostischer Tradition zu dem Traditionsbestand über die Hokhma,
wie ihn dieser Autor uns darbietet, hinzugetreten ist.
In wichtigen Details stimmen gnostische Ausführungen über die
„Tochter des Lichtes" und über die göttliche Seele, die mit ihr ver-
bunden ist, mit den Stellen des Bahir überein, an denen in allen mög-
lichen Formulierungen über die mystische Bedeutimg der Schekhina
gesprochen wird. Wir werden weiter unten diese Symbolik näher zu
analysieren haben. Hier ist es wichtig zu bemerken, daß die Identi-
fizierung der Schekhina als einer göttlichen Hypostase mit der gno-
stischen Sophia als wichtigstes tertium comparationis die Vorstellung
vom Exil in die untere Welt benützen konnte, nachdem einmal, wie
wir sehen werden, eine Trennung zwischen Gott und der Schekhina
vorgenommen war. Das talmudische Wort: „An jedem Ort, wohin
sie [Israel] exiliert wurden, ist die Schekhina mit ihnen" [Megilla 29a),
meinte ja nur, im alten Verstand des Begriffes Schekhina, daß Gottes
Gegenwart auch im Exil unter ihnen war. Vom Exil der Schekhina
im Sinne des Exils eines der Äonen, eben der „Tochter", in die untere
Welt hinein konnte erst bei solcher späteren Entwicklung des Begriffes
die Rede sein. Dann aber setzte sich das gnostische Motiv, das auf
irgendwelchen Wegen sich in jüdischen Kreisen des Orients erhalten
hat, mit doppeltem Nachdruck durch. So wie der letzte Äon des Ple-
roma für die Gnostiker von zentralem Interesse war, weil sich in ihm
das Mysterium des Kosmos und das Mysterium unserer eigenen
Existenz verflechten, so war das Hauptinteresse des Buches Bahir,
und auf seinen Spuren das der spanischen Kabbalisten, auf die zehnte
Sephira mehr als auf alle anderen gerichtet. In diesem großen Symbol,
dessen Verständnis für die religiöse Welt der Kabbalisten von zen-
traler Bedeutung ist 69 , treffen sich die verschiedensten Gedanken und
Motivreihen und vereinigen sich in einer aspekt- und nuancenreichen
Konzeption.
Am erstaunlichsten ist in diesem Zusammenhang gnostischer Motive
wohl § 90, wo wir lesen: „Was bedeutet [Jes. 6 3] : die ganze Erde ist
voll seiner Glorie ? Das ist jene 'Erde', die am ersten Tag geschaffen
wurde, und sie entspricht im Oberen dem Lande Israel, voll von der
Glorie Gottes. Und was ist sie [diese Erde oder Glorie] ? Die 'Weis-
heit', von der es heißt [Prov. 3 35] : Glorie besitzen die Weisen. Und

· · Vgl. meine Studie über die Schekhina im Eranos-J ahrbuch Bd. 21 (1953), S. 46—107.

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Symbolik der Sophia als Tochter 83

so heißt es auch [Ez. 3 12] : Gepriesen sei die Glorie Gottes von ihrem
Orte aus. Was ist aber Gottes Glorie ? Ein Gleichnis. Die Sache gleicht
einem König, in dessen Gemach die Königin war, an der alle seine
Heerscharen sich entzückten, und sie hatten Söhne. Die kamen täg-
lich, den König zu sehen und ihn zu preisen [wörtlich auch: zu grüßen].
Sie sagten zu ihm: wo ist unsere Mutter? Er erwiderte ihnen: ihr
könnt sie jetzt nicht sehen. Da sagten sie: Gepriesen [gegrüßt] sei sie,
wo immer sie ist ! Und was bedeutet 'von ihrem Orte aus' ? Hieraus
folgt, daß keiner da ist, der ihren Ort kennt70! Ein Gleichnis von einer
Königstochter, die von fernher kam und niemand wußte, woher sie
gekommen war, bis sie sahen, daß sie tüchtig, schön und ausgezeichnet
war in allem, was sie tat. Da sagten sie : wahrlich, diese ist gewiß aus
der Form des Lichtes genommen [andere Lesart: stammt gewiß von
der Seite des Lichtes], denn durch ihre Taten wird die Welt licht. Sie
fragten sie : woher bist Du ? Sie sagte : aus meinem Orte. Da sagten
sie: dann sind die Leute an ihrem Orte groß. Gepriesen sei sie und
gerühmt an ihrem Orte!"
Diese Stelle, in der die untere Sophia, die zu den „Weisen" gelangt,
mit der „Erde" des Pleroma und der Glorie, dem Kabhod Gottes,
zugleich aber, mit der Königstochter, einem wahren „Mädchen aus
der Fremde" identifiziert wird, spricht die Bildersprache der syrischen
Gnosis auf eine ganz unverstellte Weise. Die Königstochter erleuchtet
die Welt, in der niemand weiß, woher sie kam; aber die sie wahr-
nehmen, schließen von ihr auf die Größe jenes Ortes des Lichtes, aus
dem sie stammt. Sie entspricht überraschend der „Tochter des Lichtes"
in dem gnostischen Braut-Hymnus der Thomasakten und ähnlichen
berühmten Dokumenten der Gnosis, über deren genauen Sinn zwischen
den modernen Erforschern der Gnosis viel verhandelt worden ist71.
Deutungen auf die untere Sophia, auf den gnostischen Erlöser oder
auf die Seele sind für diese Hymnen angeboten worden. Gerade dieses
Schwanken der modernen Forscher über den Sinn der in den gnostischen
Hymnen benutzten Symbole vermag dem Forscher, der den Ur-
sprüngen der kabbalistischen Symbolik nachgeht, viel zu sagen. Denn
was der ursprüngliche Sinn dieser Symbole gewesen sein mag, ist für
unsere Betrachtung nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist viel-
mehr, daß diese verschiedenen Interpretationen zeigen, wie ent-
70 Dies ist ein Zitat der Erklärung des Jesaja-Verses in Hagiga 13b.
71 Vgl. ζ. B. A. Bevan, The Hymn of the Soul, Cambridge 1897; G. Hoffmann,
Zwei Hymnen der Thomasakten, Zeitschrift f. d. neutest. Wiss. I V (1903), S. 273—309;
Erwin Preuschen, Zwei gnostische Hymnen, Gießen 1904; Alfred Adam, Die Psalmen
des Thomas und das Perlenlied als Zeugnisse vorchristlicher Gnosis, Berlin 1969;
Günther Bornkamm, Mythos und Legende in den apokryphen Thomas-Akten, Göt-
tingen 1933; A. F. Klijn, The so-called Hymn of the Pearl, in Vigiliae Christianae
Bd. 14 (1960), S. 164—164.


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84 Das Buch Bahir

sprechende Bedeutungswandlungen und Metamorphosen der Sym-


bolik alter Quellen entstehen konnten, bei den ältesten Kabbalisten
oder deren orientalischen Vorgängern genau so gut wie bei den mo-
dernen Gelehrten. Auch die Kabbalisten hatten ja nicht jenes große
Vergleichsmaterial zur Verfügung, das jetzt, mit der Erschließung
der manichäischen Originalquellen, die Erklärungen älterer Gelehrter
problematisch macht oder als überholt erscheinen läßt. Umgekehrt
ist es gerade überaus lehrreich, daß ein so ausgezeichneter und scharf-
sinniger Forscher wie Ferdinand Chr. Baur, der an Hand von Frag-
menten arbeitete, die gewiß reicher waren als die, die etwa den Re-
daktoren des Bahir auf verschlungenen Wegen zugekommen waren,
dennoch die manichäische „Tochter des Lichts" in diesem Hymnus
mit genau denselben Wendungen charakterisiert, die die Kabbalisten
gebrauchen, wenn sie die Rolle der Schekhina und Königstochter
in der Welt beschreiben. „Sie scheint mir im Allgemeinen die Vor-
steherin und Regentin der geschaffenen sichtbaren Welt zu seyn und
diese selbst nach verschiedenen Beziehungen in sich zu repräsen-
tieren" 72 . Die Haltung der ältesten Kabbalisten zu gnostischen Frag-
menten, die zu ihnen fanden, brauchte daher nicht mehr zu sein als
ein solcher Interpretationsversuch, nur eben im Rahmen jüdischer
Vorstellungen. Die Königstochter ist verborgen und doch offenbar,
je nach den Phasen ihrer Erscheinung. Kein Wunder daher, daß diesen
zwei Seiten ihres Wesens, die in den zwei Gleichnissen an dieser Stelle
betont werden, an anderer Stelle (§ 139) eine Mondsymbolik ent-
spricht, die dann in der Fortsetzung dieser Entwicklung in der Kabbala
zu großer Bedeutung gelangt ist. Der Mond wechselt zwischen sicht-
baren und unsichtbaren Phasen. So ist in ganz anderen Bildern diese
untere Sophia einmal die Königin, Matronitha, die unsichtbar bleibt
und nach der doch alle Söhne des Königs suchen, zum anderen Mal
aber die Tochter des Königs selber, die in der Welt, die als eine Welt
der Finsternis gedacht wird, ihre Wohnung genommen hat, obwohl
sie selber aus der „Form des Lichtes" stammt 7 3 . Unter welchen Um-
ständen diese Tochter des Lichts in die Welt kam, wird nicht gesagt.
Ist diese Wohnung, die sie in der Welt genommen hat, ein Exil für
sie, wie doch sowohl die gnostische Symbolik wie ihre Deutung auf
die Glorie Gottes oder die Schekhina nahelegen ? Das wird hier nicht
gesagt, obwohl in anderen Gleichnissen (wie in §§ 45, 51, 74 und 104)
auf solchen Stand offenbar hingewiesen wird. Jedenfalls ist es für die
jüdische Auffassung des Bahir wichtig, daß es die Bestimmung der
Tochter ist, in der unteren Welt zu wirken und zu walten, und dadurch

72
F. Chr. Baur, Das manichäische Religionssystem, Tübingen 1831, S. 225.
73
Die Lesart „Form des Lichtes" kann auch mittelalterliches Hebräisch sein, vgl.
das Zitat aus Abraham bar Chija in Anmerkung 22 zu diesem Kapitel.

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Altere Quellen bei den deutschen Chassidim 85

auf den Ort hinzuweisen, an den sie eigentlich, ihrer Stellung unter
den Äonen nach, gehört. So ist denn die gnostische Tochter des Lichtes
in der jüdischen Terminologie des Bahir auch das „vom Guten Ge-
nommene", das was aus dem guten und verborgenen Licht Gottes
genommen wurde und dieser unteren Welt als deren Midda gegeben
wurde. So versteht § 97 den Vers Prov. 4 2 in wörtlicher Auffassimg
der Worte Leqah tobh: „Denn vom Guten Genommenes habe ich euch
gegeben". Diese Tochter ist aber auch „der Abglanz, der vom Ur-
licht genommen wurde" (§ 98), ganz wie es im Brautlied der Sophia
am Anfang heißt, daß „der Abglanz des Königs in ihr ist". Und ähn-
lich wie es an derselben Stelle des Bahir von dieser Midda heißt, daß
die 32 Wege der Weisheit aus dem Anfang des „Buches der Schöpfung"
in ihr zusammengefaßt seien, haben wir im griechischen Text dieses
Liedes noch den unerklärten Lobpreis der Zweiunddreißig an die
Tochter des Lichtes. Die Ubereinstimmung dieser drei Motive gibt
zu denken. Freilich ist das gnostische Material hier gründlich judaisiert.
Das vom Guten Genommene ist nicht mehr oben weggenommen
worden, um zur Erlösung in die Welt geschickt zu werden, sondern
es ist das Licht der Tora und das Walten der Schekhina, die das „Herz"
der unteren Welten bildet. Aber die Judaisierung dieser Vorstellungen
kann doch über den hier so handgreiflichen Zusammenhang mit
gnostischen Bildern und Symbolen nicht hinwegtäuschen. So werden
wir durch diese Betrachtung zu der Annahme gedrängt, das auf die
Ausbildung der Symbolik des Buches Bahir orientalische Quellen
aus der Welt der Gnosis eingewirkt haben, beziehungsweise, daß die
Schekhina-Fragmente des Bahir selber einer solchen Quellenschicht
angehören.

4. Nachweis älterer Quellen, die sich in der Tradition der deutschen


Chassidim erhalten haben — Raza Rabba und Bahir

Im Vorangehenden haben wir eine Reihe von Beispielen analysiert,


die dafür sprechen, daß es im Buche Bahir Elemente gibt, die aus der
Haltung des mittelalterlichen jüdischen Denkens nicht in einer auch
nur annähernd befriedigenden Weise zu erklären sind. Im Kontrast
dazu können wir aus der Analyse der so unvergleichlich einfacheren
Theosophie der deutschen Chassidim des 12. und 13. Jahrhunderts
lernen, wie die Entwicklung ausgesehen hätte, wenn sie rein immanent
verlaufen wäre, und wie die Anfänge theosophischer Theologie auch
im 12. Jahrhundert hochkommen konnten. Um die Ausbildung dieser
chassidischen Vorstellungen zu verstehen, bedarf es nicht mehr als
der Kenntnis der alten Jesira-Kommentare und der Theologie des
Saadia, wie sie in der oft poetisch ungenauen und in enthusiastischem

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86 Das Buch Bahir

Stil geschriebenen alten hebräischen Paraphrase seines arabischen


philosophischen Hauptwerks in diese Kreise drang74. Dort dreht sich
alles um den Begriff des Kabhod, der Glorie Gottes und seiner Schekhina,
die von den Chassidim im Gefolge Saadias als das Erstgeschaffene
aufgefaßt wurde. Im Buch Bahir dagegen haben wir darüber hinaus
es auch mit Materialien zu tun, die eine ganz andere geistige Physio-
gnomie tragen und die sich der Analyse als Überbleibsel einer älteren
und schon versunkenen geistigen Welt erschließen. Die Lehre vom
doppelten Kabhod und von dem besonders hervorgehobenem Cherub
auf dem Throne entwickelte sich bei den Chassidim ohne innere Ver-
bindung mit den Problemen des Buches Jesira und seiner zehn Se-
phiroth : Sie stammt aus Saadias Denken, das daran interessiert war,
eine völlig unüberbrückbare Differenz zwischen Gott als Schöpfer
und dem Kabhod als etwas Geschaffenem aufzurichten. In den Schriften
der Chassidim zeigt sich deutlich, wie verlegen sie vor der Aufgabe
standen, im Lichte dieser Lehre die zehn Sephiroth aus Jesira zu er-
klären. Meistens werden sie unterhalb des göttlichen Kabod lokalisiert,
manchmal aber verflechten sie sich auch mit der if«£>0¿-Vorstellung
selber. In den Schriften des Eleazar aus Worms, des deutschen Zeit-
genossen Isaaks des Blinden, treten hier und da solche Motivver-
knüpfungen auf, wie z. B. die Identifizierung der letzten Sephirá mit
der Schekhina, eine Ansicht die wir sonst nur noch in der alten Kab-
bala finden. In Eleazars Schriften findet sich keinerlei systematische
Darlegung einer solchen Auffassung. In einem kleinen Traktat Elea-
zars, dem „Buch der Weisheit", lesen wir bei einer Erklärung der
73 Pforten der Tora — 73 ist der Zahlenwert des Wortes Hokhma —,
daß „die Schekhina des Schöpfers Tochter heißt . . . und sie heißt
auch zehnte Sephira und Königsherrschaft [Malkhuth], weil die Krone
des Königtums auf seinem [also wohl Gottes] Haupte ist" 75 . Aus
solchen Stellen müssen wir zwingend folgern, daß mindestens um
1217, als diese Schrift abgefaßt wurde, Eleazar deutliche Kenntnis
einiger kabbalistischer Symbole hatte, die auch für das Buch Bahir
charakteristisch sind. Freilich benutzte er diese Symbole in völlig
verschiedener Richtung76. In seinen anderen Büchern, so in seinem
Jesira-Kommentar, erwähnt er den Kabhod gerade als erste und nicht
als zehnte Sephira.
Solches vereinzelte Vorkommen kabbalistischer Symbole ruft
natürlich die Frage hervor, ob diese „prähistorische" Entwicklung
7 4 Vgl. dazu J. M., S. 93, 116—125. Der Ursprung der Paraphrase ist wohl im

Orient zu suchen.
7 5 Handschrift Oxford, Neubauer 1568, Bl. 24b, im Sepher ha-Hokhma. Vgl. dazu

unten S. 163-164.
7 8 Vgl. auch im folgenden die Darlegungen über Kether 'Eljon, Anm. 120 und vor

allem S. 110-111.

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Ältere Quellen bei den deutschen Chassidim 87

der Kabbala nicht in einem gewissen Grade mit irgendeiner unter-


irdischen Strömung in den Kreisen der deutschen Chassidim selber
zusammenhängen könnte. Dieses eigenartige Leben der göttlichen
Middoth und Äonen ließ sich ja auch als Darstellung verschiedener
Stationen im Inneren des göttlichen Kabod verstehen, als Vorgänge,
die sich abspielen, bevor noch dieser Kabod in der Schöpfung manifest
wird. Wir könnten uns Mystiker denken, die in das Innere des sich
nach außen von seinen Throne her offenbarenden Kabod einzudringen
suchten und denen dabei Fragmente und Blätter jüdischer Gnosis
und Äonen-Spekulation in die Hand fielen, die mehr enthielten als
jene talmudischen Worte über die Schöpfungs-Logoi oder die Middoth
vor dem Thron und deren abstrakte Namen, die wir schon kennen-
gelernt haben. Diese Quellen enthielten Fragmente von viel ausge-
prägterem mythischen Charakter, wie wir im 2. und 3. Abschnitt
dieser Darlegungen gesehen oder jedenfalls als wahrscheinlich zu er-
weisen gesucht haben.
Aus vielen anderen Stellen des Buches Bahir können wir dann eine
weitere allgemeine Folgerung ziehen: wenn einmal eine solche Re-
pristination gnostischer Elemente und gnostischer Haltung erfolgte,
so konnte aus ihr heraus, aus den gleichen oder ähnlichen Voraus-
setzungen, auch neues mythisches Material im Geiste des alten pro-
duziert werden. Der Prozeß im Pleroma, der Äonen oder Sephiroth
hervorbrachte, konnte auch unter rein jüdischen Formen und auf
rein jüdisches Material bezogen eine neue Fortsetzimg erfahren, sobald
die historischen und psychologischen Vorbedingungen dafür gegeben
waren. Diese Vorbedingungen nun bestanden in der Tat in der religiösen
Bewegung der Chassidim nach den Kreuzzügen, sei es in Frankreich
und dem Rheinland, sei es in der Provence, in Ländern also, in denen
die gnostische Religion der Katharer zu beträchtlichem Einfluß, wenn
auch nicht zu voller Herrschaft, gelangt ist". Verwandte Haltung
zu einem Material, das mindestens teilweise, im alttestamentlichen
Kanon, den Gnostikern und den Urkabbalisten gemeinsam war, mußte
verwandte Resultate zeitigen, ohne daß darin ein besonderes Rätsel
läge. Die Verbindung solchen alten oder neuen Materials gnostischen
Charakters mit der religiösen und asketischen Gedankenrichtung der
deutschen Chassidim könnte die Herausbildung der gnostischen
Theosophie oder der Ur-Kabbala erklären, die im Buch Bahir
vorliegt.
Diese Frage nach einer möglichen Verbindung zwischen den Quellen
des Bahir und den deutschen Chassidim ist nun keineswegs nur eine
Sache der Hypothesen und analytischen Deduktionen. Verschiedene

77 Über die Verbreitung des Katharismus in Deutschland und Nordfrankreich vgl.


die Untersuchungen im ersten Band von J. Guiraud, Histoire de l'Inquisition, S. 1—33.

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88 Das Buch Bahir

Stücke in dem Buch, wie wir es besitzen, weisen noch auf einen deut-
lichen Zusammenhang mit Interessen der deutschen Chassidim sowie
auf Traditionen hin, die soweit wir wissen, nur dort bekannt waren
und gepflegt wurden. Die innere Analyse solcher Teile stützt das in
Kapitel 1 zitierte Zeugnis des Isaak Kohen über den Ursprung des
Bahir, das aus Deutschland nach der Provence gelangt sei. Wichtig
ist in dieser Hinsicht die Verbindung, die hier zwischen Spekulationen
über das Buch Jesira und der Magie besteht, und besonders die Aus-
führungen und Deutungen über geheime Gottesnamen mystischen
und magischen Charakters, die im Buche Bahir von §§ 63—81 einen
wichtigen Platz einnehmen. Solcher Zusammenhang und solche Inter-
essen sind für die deutschen Chassidim charakteristisch, die das
Material ihrerseits freilich schon großenteils aus Italien und dem Orient
übernahmen.
Unter diesen magischen Stücken sind drei (§§ 79—81), in denen
das Material ganz im Stile alter theurgischer Traktate abgeschrieben
wird; ohne einer spekulativen oder symbolisierenden Ausdeutung
unterworfen zu werden wie die meisten anderen dieser Stücke. Die
streng formale Haltung und Stilisierung trägt das deutliche Gepräge
der unveränderten Hinübernahme aus einer älteren Quelle. In § 79
wird der große Gottesname von 72 Namen vorgetragen, der aus den
drei Versen Ex. 1419-21 herausgeholt wurde, wo jeder Vers 72 Buch-
staben zählt. Dieser Name ist schon in der Hekhaloth-Literatur be-
kannt und wird, wenn auch kurz, im Midrasch mehrfach in einer Weise
erwähnt, die keinen Zweifel darüber läßt, daß ihm dieselbe Tradition
vor Augen stand78. Hier ist sie jedoch unvermittelt mit dem Schluß
des Buches Jesira kombiniert, als ob ein Zusammenhang zwischen
den zwei Traditionen bestünde. Auch die 72 magischen Namen sind
hiernach mit dem Namen JHWH versiegelt, ähnlich wie die sechs
Himmelsrichtungen in Jesira mit dem Namen JHW. § 80 spricht
von dem 12 buchstabigen Gottesnamen, der aus der talmudischen
Tradition, Qidduschin 71a, bekannt ist. Jedoch wird hier seine Vokali-

78 Über die Konstruktion der 72 Namen Gottes, von denen jeder 3 Konsonanten
zählt, vgl. ζ. Β. M. Schwab, Vocabulaire de l'Angélologie, Paris 1897, S. 30—32. Der
Name erscheint in dieser Form schon in theurgischen Stücken der Hekhaloth-Über-
lieferung. In den Midraschim selber wird nur das W o r t eines Lehrers aus dem 4. Jh.
erwähnt, wonach Gott Israel mit seinem Namen aus Ägypten erlöst habe, „denn der
Name Gottes besteht aus 72 Buchstaben", vgl. dazu die Nachweise bei Ludwig Blau,
Das altjüdische Zauberwesen, Budapest 1898, S. 139—140. Blau folgert aus den er-
haltenen Angaben mit Recht, daß dieser Name schon in der ersten Hälfte des 3. Jhs.
bekannt war. In einem Responsum des Hai Gaon ist der Name schon in derselben
Form wie im Bahir überliefert und stand so ζ. B. in dem magischen Sepher ha-Jaschar,
wo ihn Tobia ben Eliezer (ca. 1100) im Leqah Tobh zu E x . 14 21 gelesen zu haben
bezeugt.

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Ältere Quellen bei den deutschen Chassidim 89

sierung überliefert. Diese Vokalisation hat entsprechende Parallelen


nur noch in der Literatur der Chassidim79. Besonders auffällig ist
aber § 81, wo ein anderer Gottesname von 72 Buchstaben erwähnt
wird, der aus 12 Worten bestehen soll, welche Gott „dem Engel Mas-
mariah überliefert hat, der vor dem [himmlischen] Vorhang steht,
und er überlieferte sie dem Elias am Berge Karmel, und durch sie
stieg er [zum Himmel] auf und schmeckte den Geschmack des Todes
nicht, und dies sind die kostbaren und ausdrücklichen und herrlichen
Namen, die zwölf sind, nach der Zahl der Stämme Israels". Die ma-
gischen Namen selber, die dann hier folgen, sind in verschiedenen
Zusammenhängen nur noch, offenbar aus ähnlichen Quellen, der
Tradition der deutschen Chassidim bekannt. Eleazar von Worms kennt
diese Namen in einem magischen Sühnegebet80, das, wie alles der-
artige Material bei ihm, sicher auf ältere Vorlagen zurückgeht. In
einer Miszelle über diese zwölf Namen in einer Handschrift der Wiener
Staatsbibliothek81 wird eine genaue Anweisung zu ihrer theurgischen
Praxis gegeben. Dort wird berichtet, ein gewisser R. Todros habe von
„Rabbenu Jakob in Ramerupt [das heißt R. Jakob Tarn, dem Enkel
Raschis] und Rabbenu Elijahu in Paris die Erlaubnis erhalten, die
Seele seines Sohnes [der ermordet worden war] durch diesen Namen
auf die Erde zu bringen", um so einen Bericht über die Vorgänge bei
seiner Ermordung zu erhalten. Dies führt uns also in das Milieu der
französischen Juden im 12. Jahrhundert. In einer aus Deutschland
stammenden magischen Sammlung aus demselben Kreis wird in einer,
sicher aus einer viel älteren Quelle kopierten wichtigen Aufzählung
verschiedener magischer Gottesnamen, Schemoth mefhoraschim, auch
diese Folge von zwölf Namen überliefert, wobei der Engel Masmariah
als „Engel des Regens" bezeichnet wird82. In der aus Kreisen der

78
Der 12-buchstabige Gottesname hängt nach der talmudischen Überlieferung mit
dem dreimaligen Tetragrammaton im Priestersegen Num. 24 24 zusammen. Nach
dem Bahir ist seine Vokalisierung, Jahäwä Jahöwe Jihwö, zweifellos mit Anspielung
auf Gottes Sein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstruiert. Das sieht
mehr nach einer spekulativen, als nach alter magischer Tradition aus. Aus der Tradition
der deutschen Chassidim zitiert Elchanan ben Jaqar aus London in seinem Jessod ha-
Jessodoth, Handschr. New York, Jew. Theol. Sem. Manuskr. 838 des vorläufigen
Kataloges, Bl. 99 a die Vokalisation Jahwäh Jahöweh und Jahweh, die bemerkenswert
ist, gerade weil sie keiner grammatischen Form angepaßt ist.
80
In seinem Sode Razajja, München Hebr. 81, Bl. 63a.
81
Hs. Hebr. 47, Bl. l b — 2 a der Wiener Nationalbibliothek (A. Z. Schwarz, Nr. 152).
Hier heißt es, die Namen seien dazu gut: „Verhängnisse aufzuheben und den Toten
angesichts der ganzen Gemeinde wieder heraufzubringen".
82
Cod. British Museum, Margoliouth 752, Bl. 95 a. Manches spricht dafür, daß
dieses Stück noch zu dem vorher teilweise erhaltenen Sepher ha-Jaschar gehört, welches
vielleicht mit dem gleichnamigen, vom 9. Jh. an erwähnten magischen Werk identisch

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90 Das Buch Bahir

Chassidim stammenden New Yorker Hekhaloth-Handschrift, in der


sich auch verschiedene frühmittelalterliche magische Rezepte finden,
hat sich eine „Traumanfrage" erhalten, bei der die Schemoth mepho-
raschim angerufen werden, die „in den Thron der Glorie eingegraben
sind, die Malkiel der Engel, der stets vor Gott steht, dem Elias am
Berge Karmel überliefert hat, und durch sie stieg er auf"83. Die Namen
selber sind hier aber lange voces mysticae, die von den zwölf Namen
im Bahir ganz verschieden sind. Jedenfalls liegt hier eine feste Formel
des Traditionsbestandes vor, in der nur der Name des Engels zwischen
Masmariah und Malkiel schwankt. Es scheint mir danach erwiesen,
daß die Redaktoren des Bahir aus derselben Tradition schöpften wie
die angeführten Quellen, das heißt eben aus der der deutschen Chas-
sidim. Diese Paragraphen werden mit dem anderen alten, talmudischen
und gaonäischen Material über Magie aus dem Orient nach Deutsch-
land gelangt sein und standen vielleicht schon vor der Schlußredaktion
des Bahir mit den vorangehenden Paragraphen zusammen. Das Ende
von § 81 greift in der Tat direkt auf § 75 zurück, das von der mystischen
Bedeutung des Teli, der Himmelssphäre und des Herzens in Jesira
VI, 1 (und hier in § 64) spricht.

ist. Im Bahir heißt es, dies sei der Schern ha-mepkorasch, der auf der Stirn Arons (nach
Ex. 28 36 ff.) geschrieben war. Der erste der dann folgenden Namen entspricht in der
T a t dieser Einleitung, da er sich ungezwungen als „Stirndiadem Arons" erklären läßt:
A H S J S J R O N , was wie ein Kompositum aus Ahron und Si§ aussieht. In der erwähnten
Hs. t r i t t diese Namenfolge aber als magisches Mittel, Regen herbeizuführen, auf, wäh-
rend in derselben Sammlung Bl. 94b als der „Gottesname, der auf der Stim Arons des
Hohenpriesters eingegraben war", ein völlig anderer Name angegeben wird. Die Tradi-
tion muß sich also schon früh gespalten haben.
89
Hs. New York J . T. S. 828, Bl. 27b (in der Parallel-Hs. Oxford, Neubauer 1531
ist dies Stück nicht erhalten). Während das Buch Bahir oder seine Quelle von einem
„Namen von 12 Worten" gewußt haben muß, den ein Engel dem Elias am Karmel
überliefert habe, weiß die Tradition des Zohar an zwei Stellen, I, 16a und I I , 201b, daß
unter solchen Bedingungen dem Elias ein „Gottesname von 12 Buchstaben" überliefert
worden und Elias durch diesen Namen zum Himmel aufgestiegen sei. Der Autor des
Zohar scheint die Bahir-Stelle benutzt und variiert zu haben, wenn nicht etwa beide
Traditionen auf ein gleiches Motiv eines „Namens von Zwölf" zurückgehen, das dann
in verschiedenen magischen Traktaten verschieden entwickelt worden ist. In späteren
Handschriften über „praktische Kabbala" kommen die 12 Namen des Bahir, zum Teil
stark korrumpiert, noch oft vor, was aber für unsere Betrachtung hier nicht mehr von
Wichtigkeit ist. Höhnisch werden gerade die ersten beiden dieser Namen von Josef
Salomo Delmedigo um 1630 in seiner Polemik gegen die theoretische und praktische
Kabbala zitiert: „Sei kein Pferd und Esel, alles zu glauben, was sie von Henoch ben
Jared und Metatron, und von Elias und Ahasifjharon erzählen", vgl. 'Iggereth 'Ahuz,
in Geigers Melo Chofnajim, Breslau 1840, S. 6. Delmedigo h a t seine Kenntnis wohl aus
Cordoveros Fardes Rimmonim, Krakau 1692, Bl. 123 a bezogen, wo dieses Stück aus
Bahir zitiert wird.

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Ältere Quellen bei den deutschen Chassidim 91

Diese Verbindung der Magie mit Jesira- Studien führte bei den
deutschen Chassidim zur Entwicklung der Vorstellung vom Golem
als der durch Anwendung des Buches Jesira ausführbaren Herstellung
eines magischen Menschen. Ich habe diese Vorstellungen eingehend
an anderer Stelle untersucht84. Für uns ist aber wichtig, daß gerade
diese Vorstellung, die im Mittelalter sonst nur in diesen Kreisen leben-
dig war, auch im Buch Bahir (§ 136) zum Gegenstand von Erörterungen
gemacht wird, die über die talmudische Quelle der Idee, die dort zitiert
wird, durchaus hinausgeht, aber mit den Gedanken des Eleazar von
Worms zur Frage der Golem-Schöpfung sich nahe berührt85. Wenn
eine Schicht des Bahir aus Deutschland stammt, so läßt sich all dies
unschwer verstehen. Auch das Begriffspaar „Welt der Finsternis"
und „Welt des Lichtes", das freilich der Anschauung des Mittelalters
über diese Welt und das Jenseits überhaupt entspricht, findet sich
in der hebräischen Literatur, soweit ich sehe, zuerst in Deutschland
am Anfang des 12. Jahrhunderts. Das würde auch zu dem Auftreten
dieser Begriffe in § 127 passen86.
Wir können aber noch weitergehen. Bei einem dieser Chassidim,
dem schon erwähnten Ephraim ben Simson, hat sich ein ganzer Passus
erhalten, den er um 1240 aus Bahir zitiert87. Dieser Passus ist aber
nichts anderes als eine völlig verschiedene Version eines Stückes, das
wir in den Bahir-Texten, die aus der Provence und Spanien stammen,
wiederfinden. In dem gewöhnlichen Text wird hier (§ 18) der Vers
Ex. 15 3 „Gott ist ein Mann ['/scA] des Krieges" durch ein Gleichnis
erklärt, das besagt, es seien in den drei Konsonanten des Wortes 'Isch
die drei obersten Kräfte Gottes angedeutet. Nach dem Text bei
Ephraim ben Simson aber war hier überhaupt nicht die Rede von
Sephiroth, sondern von den drei Gottesnamen Elohitn, JHWH,
Schaddaj und ihrem Rang. Das Stück ist ganz im Geist der Chassidim
gehalten. Es verlohnt sich, hier die beiden Texte einander gegenüber-
zustellen :

81
Vgf. mein Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik, (1960), Kap. 5.
85
Vgl. a. a. O., S. 246—247.
88
Vgl. meinen Kommentar zum Bahir, S. 138. In einer alten Lesart, am Rande des
Münchener Cod. 209, heißt es: „Denn in der Welt der Finsternis lebt der Mensch vom
Brot, aber in der Welt des Lichtes lebt er nicht vom Brot allein, sondern von allem,
was aus Gottes Mund hervorgeht", d. h. von der Tora. Vgl. das Vorkommen dieses
Begriffspaars in dem Text bei Neubauer-Stern, Hebräische Berichte über die Juden-
verfolgungen während der Kreuzzüge, Berlin 1892, S. 54.
87
Hs. München, Hebr. 15, Bl. 74b.

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92 Das Buch Bahir

Bahir §18 Bahir bei Ephraim ben Simson


R. Amora sagte: was bedeutet R. Simlaj fragte den R. Re-
der Vers [Ex. 15 3] „Gott ist ein chumaj90 : was bedeutet der Vers :
Mann ['Isch] des Krieges" ? Mar ein Mann des Krieges? Er sagte
Rachmaj bar Kibi [wohl Bebai zu ihm: ich will dir ein Gleichnis
zu lesen ?] sagte zu ihm : eine so erzählen. Die Sache gleicht einem
einfache Sache sollte dir nicht König, dem ein Sohn geboren
fraglich sein. Höre mir zu und wurde. Er ging auf den Markt
ich will dich beraten. Es gleicht und kaufte ihm eine Krone und
einem König, der schöne Woh- nannte ihren Namen Aleph. Wie-
nungen hatte, und er gab jeder derum wurde ihm ein Sohn
von ihnen einen Namen, und eine geboren, da ging er und kaufte
jede war besser als die andere. ihm eine Krone und nannte ihren
Da sagte er: ich will meinem Namen Jod. Wiederum wurde
Sohn die Wohnung geben, die ihm ein dritter Sohn geboren, da
Aleph heißt, auch jene ist schön, ging er hin und kaufte ihm eine
die Schin heißt88. Was tat er? Krone und nannte sie Schin.
Er vereinigte alle drei und machte Wiederum wurde ihm ein Sohn
aus ihnen ein Haus89. Sie sagten geboren, da nahm er die Kronen
zu ihm: wie lange wirst Du noch aller und machte aus ihnen eine
deine Worte verschließen ? Er und tat sie auf das Haupt des
sagte zu ihnen: meine Söhne, Vierten, und das bedeutet 'Isch,
Aleph ist der Anfang, Jod ist das Mann. Er sagte zu ihm : wie lange
Zweite nach ihm, Schin umfaßt wirst du noch aus deinen Worten
die ganze Welt. Und warum ein Geheimnis machen? Er ant-
umfaßt Schin die ganze Welt? wortete ihm: zuerst, als Abra-
Weil mit ihm das Wort Teschu- ham kam, offenbarte sich ihm
bha, Buße, geschrieben wird. Gott, wegen seiner großen Liebe,
mit der er ihn liebte, unter dem
Namen Elohim, und das ist Aleph.
Als Isaak kam, offenbarte er sich
ihm unter dem Namen JHWH,
und das ist Jod. Als Jakob kam,
offenbarte er sich ihm unter dem
Namen Schaddaj, und das ist
Schin. Als sich aber Gott Israel
am Meer offenbarte, da nahm er
die Anfangsbuchstaben dieser drei
Namen und machte aus ihnen
eine Krone, und das ist 'Isch.

8 8 Hs. München 209 liest vorher noch: „Auch jene ist schön, die Jod heißt", was

aber in alten Zitaten fehlt. Ein alter Kommentator erklärt sogar ausdrücklich, warum
es nicht im Text stände, wo es gewiß hingehört.

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Ältere Quellen bei den deutschen Chassidim 93

Die beiden Versionen des Zitates sind für uns aufschlußreich. Der
gewöhnliche Text spricht, wie andere Stellen des Bahir-Textes nahe-
legen, von den genannten drei Konsonanten als Symbolen der obersten
drei Sephiroth91. Die zweite Version dagegen weiß nichts von solchen
Spekulationen und sieht hier nur Hinweise auf die Namen Gottes,
die den Patriarchen offenbart wurden und in dem Stichwort 'Isch
zusammengefaßt sind. Der Bahir-Text ist also auf verschiedene Weise
bearbeitet worden : entweder lag zuerst die noch im Sinne der chassi-
dischen Spekulationen über die Namen Gottes gehaltene Version vor,
die dann im Sinne der sich entwickelnden Symbolik variiert wurde,
oder aber der rezipierte Text kam schon den Chassidim in dieser Form
zu und wurde dort im Sinne ihrer viel einfacheren Gedankengänge
umgearbeitet. Der Text war also noch im Fluß, und in der Tat haben
wir in alten kabbalistischen Collektaneen Ubergänge zwischen beiden
Versionen92. Ich habe schon in meinem Kommentar zum Bahir darauf
hingewiesen, daß offenbar Ephraim ben Simson, oder wer immer der
Autor des nur anonym überlieferten Kommentars in der Münchener
Handschrift Hebr. 15 war, den Bahir nicht selbst gesehen hat,
gewiß aber nicht in der uns überlieferten Form. Er zitiert nur noch
einmal daraus, und zwar gerade den Schluß, dagegen erwähnt er nichts
davon an Stellen, an denen nach dem sehr ausgeprägten Charakter
seines Kommentars Bahir-Zitate zu erwarten wären, falls er unseren
Text gesehen hätte93. Das gilt nicht nur von dem Passus zu Gen. 24 ι,
über den ich schon S. 78 gesprochen habe, sondern auch von der Lehre
von der Seelenwanderung, die bei ihm erwähnt wird, und zwar un-

8 9 Im Buch Jesira heißen die Konsonanten „Steine", die Wörter „Häuser", was

vielleicht auch in den Sprachgebrauch dieses Gleichnisses hineinspielt.


8 0 In Cod. Hebr. Vat. 236, Bl. 92 a wird als aus dem Midrasch Bahir stammend der
rezipierte Text zitiert, aber mit der Einleitung: „Sie fragten den R. Simlaj".
91 Aleph wird so in §§ 13, 48, 53, 95 gedeutet, Schin in § 84 und 89. Jod wird sonst

nicht wieder deutlich interpretiert. In § 84 wird es in einer parallelen Deutung des


'Isch in E x . 15 3 nach dem Zahlenwert des Buchstabens auf die zehn Aussprüche
gedeutet, mit denen die Welt geschaffen wurde. Vgl. meinen Kommentar S. 91.
82 So wird in Cod. Vat. 236 gerade der Vulgata-Text mit der Einleitungsformel

„Man fragte den R. Simlaj" zitiert, welcher Name nur in dem anderen Text vorkommt.
Das Zitat hängt dort auf merkwürdige Weise mit der Stelle im Tora-Kommentar des
Menachem Sijoni zusammen, wo zu E x . 15 3 das Gleichnis von den Wohnungen zitiert,
aber ebenfalls wie hier auf die drei Gottesnamen bezogen wird.
93 Die Handschrift München 15 und die anderen Versionen des sogenannten Tora-

Kommentars des Rabbenu Ephraim verdienen eine besondere Untersuchung. Die (sehr
seltene) Smyrnaer Teilausgabe weicht nicht nur von den Handschriften, sondern auch
von der durch Chajim Joseph Gad in Johannesburg 1950, ohne Kenntnis des ersten
Drucks, aus einer unidentifizierten Handschrift publizierten Ausgabe, und alle zu-
sammen wiederum von den vielen Zitaten in den Schriften Ch. J . D. Azuláis wesentlich ab.

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94 Das Buch Bahir

mittelbar hinter einem Gleichnis über Jes. 5 2. Aber weder stellt er


eine Verbindung zwischen diesem Gleichnis und der dahinter folgenden
Lehre her, noch zitiert er das Buch Bahir dazu, wo ja in § 135 Jes. 5 2,
und zwar ebenfalls mit einem Gleichnis, als Stichvers für die Lehre
von der Seelenwanderung auftritt. Auch an anderen Stellen über
Gottesnamen, über den Priestersegen usw. beruft er sich nicht auf
Bahir, obwohl die betreffenden Stellen für seine vornehmlich zahlen-
mystische Anschauungsweise sehr gute Stützen geboten hätte. Er
kannte also entweder einen ganz anderen Text des Bahir als wir oder
hatte nur von einzelnen Stücken daraus indirekte Kenntnis, ohne
das Buch selbst gesehen zu haben.
Zu dieser Wahrnehmung, die uns eine Bahir-Stelle in zwei ganz
verschiedenen Versionen zeigt, tritt nun aber eine wichtige Ent-
deckung, die angetan ist, das Rätsel des Bahir wenigstens von einer
Seite her etwas aufzuklären, die aber zugleich das Problem der Re-
daktion des Buches besonders kompliziert. Das ist die Entdeckung
eines Zusammenhangs zwischen einer Anzahl von Stücken des Bahir
und einem verloren gegangenen Text der Merkaba-Mystik, mit der
wir uns jetzt zu befassen haben. Es verhält sich damit folgendermaßen.
Unter den wichtigsten Büchern der esoterischen Literatur, die die
Merkaba-Mystiker besaßen und die noch im 9. und 10. Jahrhundert
im Orient, in Palästina und Mesopotamien existierten, wird von ver-
schiedenen Autoren ein Buch erwähnt, das den Titel Raza Rabba,
„Das große Mysterium", führt. Sein magischer und angelologischer
Inhalt ist gut bezeugt. Die ältesten Zeugnisse über das Buch sind von
Jakob Mann aufgefunden worden. Daniel Al-Kumisi, ein qaräischer
Autor, der im 9. Jahrhundert in Jerusalem lebte, schreibt, natürlich
polemisch, gegen die „Zauberbücher", die bei den Rabbaniten in Um-
lauf waren: „Sie [die Rabbaniten] haben verschiedene Gruppen von
Büchern wie das des Bartalia Qansarin [korrupt ? Wahrscheinlich
sind es zwei Autorennamen oder Bücher] und das Buch des Bileam
und andere Bücher wie das Buch Adams und das Buch Jaschar und
das Buch von den Mysterien [lies Sepher ha-Razim] und das große
Mysterium [Raza Rabba], und sie sagen zu Israel: wir werden euch
aus diesen Büchern das verborgene Geheimnis kundtun"94. An einer
anderen Stelle schreibt derselbe Autor: „Wer betreibt heute Zauber
in Israel ? Doch die Rabbaniten, die von reinen und unreinen Gottes-
namen reden, die Amulette schreiben und Kunststücke machen und
ihre Bücher mit Namen nennen wie Sepher ha-Jaschar, Sepher ha-Ra-
zim, Sepher Adam und Raza Rabba und noch viele Zauberbücher [in
denen Rezepte dafür gegeben werden], wenn du einen Mann zu einer

1,1 Jacob Mann, Texts and Studies in Jewish History and Literature, vol. II, Phila-

delphia 1936, S. 76—76.

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Raza Rabba und Bah ir 95

Frau in Liebe bringen willst oder wenn du Haß zwischen ihnen stiften
willst und noch viele derartige Greuel, von denen uns Gott fernhalten
möge"95. Ein anderer, arabisch schreibender qaräischer Autor in Jeru-
salem berichtet im 10. Jahrhundert in größerer Detaillierung des In-
haltes gerade des Raza Rabba : „Sie [die Rabbaniten] schreiben dem
Adam ein Buch zu . . . und haben auch das Buch Raza Rabba von der
Erzählung der sieben Himmel [sab* samäwät] und der Engel und der
Parurim und Dewim und Latabhin und Jarorin und der Amulette
[gegen diese Dämonenklassen], sowie das Buch über 'Όza und 'Uziel,
[oder Ά ziel], die nach ihren Lügenworten vom Himmel herabgestiegen
sind, sowie Bartalja und Qansarin, [mit Rezepten] für Liebe und Haß,
Siebenmeilenstiefel und Traumanfragen"9®. Hier erhalten wir also
einen deutlicheren Begriff vom Inhalt des Buches. Er entsprach zum
Teil offensichtlich dem, was wir über andere Texte der Merkaba-
Gnosis wissen. Hier stand ein Bericht über die sieben Himmel und die
Engel, die in ihnen ministrieren, wie in den Hekhaloth und der „Ba-
rattila über die Schöpfungsgeschichte". Dazu traten hier aber zauber-
papyrusartige Elemente theurgischen, magischen und dämonologischen
Charakters. Dies letzte Element findet in der alten Merkaba-Literatur
keine Entsprechung, wohl aber in den jüdisch-aramäischen magischen
Inschriften auf der Innenseite von Tonschalen, wie sie vor allem von
Montgomery und Cyrus Gordon veröffentlicht worden sind97. Die vier ara-
mäischen Namen für Dämonenklassen, die der Autor nennt, sind uns
aus dieser Art Literatur vertraut98. Diese Verbindimg verschiedener
Elemente würde darauf führen, daß das Buch Raza Rabba etwa aus
derselben Periode stammt wie diese Inschriftentexte, das heißt dem
5.—8. Jahrhundert, und ein späteres Stadium der esoterischen Lite-
ratur darstellt als die wichtigsten Merkaba-Texte99. Diese und andere
Texte ganz oder teilweise magischen Charakters waren auch noch am

85
Mann, a. a. O., S. 80—81.
»· Mann, a. a. O., S. 82.
• 7 James Montgomery, Aramaic Incantation Texts from Nippur, Philadelphia 1913;
William Rossell, A Handbook of Aramaic Magical Texts, Skylands 1953; Cyrus Gordon,
Aramaic and Mandaic Magical Bowls, Archiv Orientálni vol. 6 (1934), S. 319—334;
vol. 9 (1937), S. 84—106; sowie seinen Aufsatz in Orientalia, vo. 20 (1961), S. 306—315.
98
Statt Parurim, das von Mann fälschlich mit den persischen Fravashis zusammen-
gebracht wird, ist aber zu lesen Parukhin, von assyrisch parakku, welches zusammen
mit Dewtn und Latabhajja (Unholde, genau so wie das deutsche Wort gebildet: die
Nicht-Guten) in dem mandäischen Geisterkatalog des Gima vorkommen (vgl. Peter-
mann, Rechtes Ginza S. 279, Z. 3ff.), der bei M. Lidzbarski, Uthra, Festschrift Nöldeke
zum 60. Geb., Gießen 1906, S. 641—646 besprochen ist. Zu den Jarorin vgl. Genaueres
bei Montgomery, S. 81.
· · Über das Alter der Merkaba-Texte vgl. jetzt in meinem Buch Jewish Gnosticism
und oben in Kap. 1, S. 16 ff.

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96 Das Buch Bah ir

Anfang des 11. Jahrhunderts im Orient bekannt. Das babylonische


Schulhaupt Haj ben Scherira hat sich über diese Literatur in einem
Responsum über Rezepte zu magischen Praktiken, „wie Vieles der-
gleichen sich bei uns befindet", geäußert, wo er in diesem Zusammen-
hang drei Schriften nennt, „das Sefher ha-Jaschar und das Harba-
de-Mosche, ,Schwert Moses', genannte100 . . . sowie das Buch, das Raza
Rabba heißt101.
Dieses Buch Raza Rabba galt bis auf unsere Tage als verschollen.
Soweit die Literatur der Merkaba, der Theurgie und der gewöhnlichen
Magie sich aber überhaupt erhalten hat — und es ist nicht wenig davon
da — verdanken wir das zu einem sehr großen Teil den Kreisen der
deutschen Chassidim, die ihrem eigenen Zeugnis nach über Italien
solches orientalisches Material vermittelt erhielten. Es wäre daher
durchaus nichts Überraschendes dabei, wenn auch Fragmente dieses
verschollenen Textes ihren Weg mit den anderen nach Deutschland
gefunden hätten. Es ist mir nun in der Tat gelungen, in einer Schrift
aus diesen Kreisen, die aus dem späten 13. Jahrhundert stammt,
mehrere und darunter lange Zitate aufzufinden, die aus einem Werk an-
geführt werden, das dort den hebräischen Titel Sod ha-Gadol trägt,
der nichts anderes ist als eine genaue Übersetzung des aramäischen
Titels Raza Rabba. Ob die Metamorphose vom Aramäischen zum
Hebräischen im Titel auch eine teilweise Umredaktion des alten
Buches in sich Schloß, vermögen wir nicht mehr zu entscheiden. Die
Sprache der Zitate ist meistens noch aramäisch. Jene alten Autoren,
die es im Orient erwähnen, brachten nur Dinge zur Sprache, die ihnen
an dem Inhalt des Buches besonders auffielen, oder die in dem je-
weiligen Zusammenhang, in dem sie auf das Buch zu sprechen kamen,
von Bedeutung schienen. Dies schließt keineswegs die Möglichkeit
aus, daß dort auch von anderen Mysterien die Rede war, die gelegent-
lich der Vorträge über die Hierarchie der Welten und Himmel, der
Engel und heiligen Namen berührt wurden.
Diese Zitate finden sich in einem Kommentar zum Schi'ur Qoma,
jenem alten Fragment über die mystische Gestalt der Gottheit, von
dem schon im vorigen Kapitel die Rede war. Der Autor des Kommen-
tars gehörte der Familie der Kalonymiden an, die in der Geschichte
des deutschen Chassidismus als die Hauptträgerin der esoterischen
Traditionen der deutschen Juden, welche sie aus ihrem Ursprungsland
Italien mitgebracht hatte, bekannt ist. Wahrscheinlich war es ein
R. Moses ben Eliezer ha-Darschan ben Moses ha-Darschan. Sein Groß-
1 0 0 Dieser Text ist von M. Gaster, London 1896, publiziert worden. Eine viel bessere

Hs. hat sich in dem großen magischen Codex 290 der Sammlung Sassoon in London
erhalten.
101 Ygi <jen hebräischen Text in Osar ha-Geonim zum Traktat Hagiga, Jerusalem
1931, S. 21.

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Raza Rabba und Bahir 97

vater Moses ha-Darschan, „der Prediger", war der Ehemann der Golde,
einer direkten Enkelin des berühmten R. Jehuda Chassid, der Zentral-
figur des deutschen Chassidismus102. Der Text ist offenbar sehr früh
auseinandergerissen worden, und die zwei Teile stehen in ganz ver-
schiedenen Handschriften unter verschiedenen Titeln. Sie schließen
aber ausgezeichnet aneinander an, und in beiden Teilen (aber in keiner
mir sonst bekannten Schrift aus diesen Kreisen) finden sich Zitate
aus dem „großen Mysterium"103. Diese Schrift ist bei ihm eindeutig
vom Buch Bahir unterschieden, das ihm — um 1270—1300 gewiß
kein Wunder, selbst wenn es sich um eine Rückwanderung der Schluß-
redaktion des Bahir aus der Provence nach Deutschland handelt —
ebenfalls vorlag und mehrfach zitiert wird.
Die uns erhaltenen Zitate aus dieser neu erschlossenen Quelle lassen
sich nicht durchweg eindeutig ihrem Anfang und Ende nach abgrenzen.
Manchmal heißt es: „bis hierher Wortlaut des großen Mysteriums"
ohne daß der Anfang des Zitats gekennzeichnet ist, der sich nur aus
der Struktur des Zitates selber erschließen läßt, und es ist durchaus
möglich, daß auch Stücke, die gar nicht als von dorther stammend
gekennzeichnet sind, die aber ihrer Art nach dazu passen, ihren Ur-
sprung in derselben Quelle haben. Diese Zitate beweisen, daß das
„große Mysterium" eine Mischung aus einem mystischen Midrasch,
in dem verschiedene alte Lehrer auftreten und Bibelverse deuten,
und einer Art Hekhalot-Schrift war, besonders nach der Art der
„Kleinen Hekhaloth"104. Während aber in den Hekhaloth-Schriften
Exegese keine Rolle spielt und nur gelegentlich vorkommt, unter-
halten sich hier mehrere der Heroen der Merkaba-Tradition oder ihre
Schüler nicht nur über die Merkaba-Schau, sondern auch über ver-
verschiedene Bibelverse, die mit angelologischen und kosmologischen
Vorstellungen in Zusammenhang gebracht werden. Der pseudepi-
graphische Charakter der Aussprüche des Nechunja ben Haqqana,
des R. Akiba, R. Ismael und R. Meïr ist evident. Einige dieser Stücke
sind ohne literarischen Zusammenhang mit uns sonst bekannten
Quellen, obwohl sie sich als eine Art gnostischer Midrasch darstellen
und Diskussionen der Merkaba-Autoritäten enthalten, die ebenfalls
wie eine Vorstufe des Bahir klingen. Dabei ist zwar klar, daß es sich
um Zitate handelt, ohne daß stets klar ist, wo sie enden. Andere Stellen
stehen aber in eindeutiger und klarer Verbindung mit verschiedenen
1 0 2 Ich gehe auf diese Nachweise, die ich in Reschith ha-Qabbala (1948), S. 203—210,

gegeben habe, hier nicht näher ein und begnüge mich mit der Feststellung der Resultate,
soweit sie in diesem Zusammenhange von Wichtigkeit sind.
1 0 3 Über die Handschriften der beiden Fragmente a. a. O., S. 196—199, 210—212.

Den Text selbst habe ich, soweit er für die Untersuchung des Raza Rabba von Be-
deutung ist, dort S. 212—237 in extenso publiziert.
1 0 4 Über die „Kleinen Hekhaloth" vgl. J . G., sect. X , S. 76—83.

Scholem, KabbaU 7
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98 Das Buch Bahir

Paragraphen im Bahir, die sich beim Vergleich als Bearbeitungen


herausstellen, in denen Fragen und Thesen des „Großen Mysteriums"
wörtlich aufgenommen, aber in ganz anderer Richtung, nämlich der
zur kabbalistischen Symbolik hin, weiter entwickelt werden.
In den erhaltenen Zitaten haben wir ein starkes magisches Element,
was ja nach den Zeugnissen über das Buch Raza Rabba zu erwarten
war. Geheimnamen der Engel werden diskutiert. An einer anderen
Stelle heißt es: „Ferner heißt es im Buche des „Großen Mysteriums",
daß jeder, der dies Mysterium kennt, das aus dem Trishagion [Jes.
6 3] und aus [dem in der Liturgie der Qeduscha darauf folgenden Vers
Ez. 3 12] : .Gepriesen sei die Glorie Gottes von ihrem Orte aus' hervor-
geht, des Lebens der künftigen Welt [der Seligkeit] sicher sein kann,
und dies ist der Name des Heiligen, gelobt sei Er". Die Schlußbemer-
kung zeigt deutlich, daß ein magisches Mysterium über den Namen
Gottes hier als so wichtig erklärt wird, wenn auch die Formulierung :
jeder, der dies Mysterium kennt, kann der Seligkeit versichert sein,
genau die gleiche ist, die am Eingang unseres Schi'ur Çowa-Fragments
dem gegeben wird, der sich in das Studium von Gottes Glorie versenkt.
Auch hier ist merkwürdig, daß im Buch Bahir die mystischen Deu-
tungen über die Mysterien dieser beiden Qeduscha-Yerse, §§ 89—90,
deren handgreiflich gnostische Terminologie wir schon oben kennen-
gelernt haben, nach den magischen Stücken des Bahir über die hei-
ligen Namen folgen, so wie nach anderen Paragraphen, die, wie sich
sogleich zeigen wird, ebenfalls mit der Quelle in Raza Rabba zusammen-
hängen. Es scheint, als ob aus einer anderen Quelle, die gnostische
Terminologie viel stärker aufnahm, das im „Großen Mysterium"
angedeutete oder verheißene Geheimnis über diese Verse im Bahir
umgearbeitet worden und an die Stelle des ursprünglich magischen
Inhalts getreten ist.
Im Buch Bahir beginnt die magische Schicht vor allem mit § 63,
wo Ex. 2 8 1 1 und Jos. 4 9 darauf gedeutet werden, daß jeder der zwölf
Steine, die Josua aufstellte, sechs Namen enthielt, die zusammen den
72 Namen Gottes entsprechen oder sie direkt enthielten. Die Urfassung
gerade dieses Paragraphen wird am Ende eines langen angelologischen
Zitates aus dem „Großen Mysterium" angeführt, und zwar heißt es
dort, daß einige Handschriften des Buches diesen Text hätten. Hieraus
dürfen wir folgern, daß dem chassidischen Autor das Buch noch voll-
ständig und in verschiedenen Versionen vorlag. Die alte Quelle weiß
noch nichts von den 72 Namen Gottes, obwohl sie die Deutung der
Namen auf den Steinen als Namen Gottes, die den Namen der Stämme
entsprechen, offenbar schon hat. Ein wichtiger Satz im Bahir ist dabei
schon wörtlich von hier übernommen. Im Raza Rabba dürfte die Stelle
vielleicht noch mit der Metatron-Spekulation zusammenhängen, an
der das Buch Bahir nicht interessiert ist. Denn in der Tat heißt es in

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Raza Rabba und Bahir 99

einem Fragment des Schi'ur Qoma, der Name Metatrons sei „auf die
sechs ihrer Namen [wie in Ex. 2811] gegeben und auf die zwölf Steine
[von Jos. 4 s] eingegraben"105. Man wird vermuten dürfen, daß die
betreffende magische Schicht im Bahir, also vor allem die §§ 63—84
ganz oder teilweise von dorther genommen worden sind, resp. aus
Sätzen, die dort standen, bearbeitet worden sind.
Am merkwürdigsten ist aber, daß gleich hinter dieser Stelle, die
§ 63 des Bahir entspricht, eine Fortsetzung folgt, die § 86 entspricht,
d. h. dem Paragraphen, der im Bahir fast unmittelbar auf den ma-
gischen Teil folgt. Ich stelle die beiden Passus nebeneinander:
Bahir § 86 Sod ha-Gadol
R. Meïr sagte: was bedeutet R. Meïr sagte: Was bedeutet
[Ps. 146 10]: der Herr ist König [Ps. 14610] : Der Herr ist König
für ewig, dein Gott, Zion, von für ewig, dein Gott, Zion, von
Geschlecht zu Geschlecht ? Was Geschlecht zu Geschlecht? Das
bedeutet: von Geschlecht zu Ge- lehrt, daß jene Engel den Herrn
schlecht ? R. Papias sagte : So der Welt preisen. Was sind jene ?
steht geschrieben [Eccl. 1 4] : Ein Die aus dem Namen des Menschen
Geschlecht geht und ein Ge- hervorgehen, die loben ihn zwan-
schlecht kommt. Und [auch] R. zig Jahre bis zu einem anderen
Akiba hat gesagt : Was bedeutet : Geschlecht. Und wenn ein anderes
ein Geschlecht geht und ein Ge- Geschlecht kommt, gehen jene
schlecht kommt ? Ein Geschlecht, [Engel] dahin und es kommen
das schon [einmal] gekommen ist. andere. Und wenn es kein anderes
Geschlecht gibt, loben sie bis zu
zwanzig Jahren und nicht weiter.
Und darüber hat der Herr der
Welt gesagt : Verdorren mögen
die Gebeine dessen, der die Prei-
sung des Herrn der Welt aufgibt.
Und jene Engel [die dem Namen
des Menschen zugeordnet sind]
verwandeln sich zu einem Stern
und dies ist der Glücksstern des
Menschen10e.

Der Unterschied der zwei Versionen springt in die Augen. Die ältere
(aramäische) Version hängt mit der auch sonst aus der Merkaba-
105
Vgl. Merhaba Schelema, Jerusalem 1921, Bl. 39b, nach von mir aus Hss.
verbesserter Lesung.
108
Vgl. den Urtext a. a. O., S. 232. Das Zitat schließt mit dem Vermerk H'^DS,
d. h. abbreviiert für 'ad kan Leschon ha-Sepher oder ha-Sod. Vielleicht ist auch zu
lesen «V'O^D», d. h. : „bis hierher das Zitat aus dem Sod ha-Gadol", vgl. meine Anm.
zum hebräischen Text.

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100 Das Buch Bahir

Literatur bekannten Vorstellung vom Gücksstern des Menschen zu-


sammen 10 '. Solange der Mensch Gott preist, preisen ihn die Engel,
die aus seinem Namen hervor gehen. Wer Gottes Preis unten unter-
bricht, stört die himmliche Preisung. Im Buch Bahir dagegen fehlt
die Antwort, die R. Meïr auf seine eigene Frage in der Quelle gegeben
hat. Stattdessen erscheint als der geheime Sinn der Wendung „von
Geschlecht zu Geschlecht" eine Andeutung auf die Lehre von der
Seelenwanderung, die dann durch ein Gleichnis näher erläutert wird,
das nichts ist als eine Umarbeitung eines fast identischen Gleichnisses
im babylonischen Talmud, Schabbath 152 b. Die Seele, die Gott dem
Menschen rein gegeben hat, soll ihm rein zurückgegeben werden. Das
vergleicht der Talmud mit einem König, der seinen Dienern könig-
liche Gewänder gab. „Die Klugen bewahrten sie sauber auf, die Toren
aber beschmutzten sie in der Arbeit. Als dann der König die Gewänder
zurückverlangte, freute er sich über die Klugen und zürnte über die
Toren. Hinsichtlich der Klugen befahl er: die Gewänder sind in die
Schatzkammer zu bringen und sie selber mögen in Frieden nach Hause
gehen. Hinsichtlich der Toren aber: die Gewänder sind zum Wäscher
zu bringen und sie selber sperre man ins Gefängnis." Darauf wird
dort der Vers Eccl. 12 7 bezogen: „Und der Staub kehrt zur Erde
zurück, wie er war, und der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn ge-
geben". Die Seele ist also das Prachtgewand, in das die Diener ge-
kleidet werden. Im Bahir aber wechselt dies Prachtgewand seine Be-
sitzer, in deutlicher Anspielung auf die Seelenwanderung: „Ein König
hatte Diener und kleidete sie in Gewänder aus Seide und Stickerei.
Sie gerieten auf Abwege. Da warf er sie hinaus und stieß sie weg von
sich und zog ihnen seine Gewänder aus, und sie gingen fort. Er nahm
die Gewänder und wusch sie gut, bis keinerlei Schlacken mehr an
ihnen waren, und legte sie fertig zurecht und warb sich andere Diener
und kleidete sie in jene Gewänder, ohne daß er wußte, ob die Diener
gut sein würden oder nicht So hatten sie denn teil an Gewändern,

107
Der persönliche Engel des Menschen wird mit seinem Glücksstern, Kokhabh
mozzalo, gleichgesetzt. Schon in der Merkaba-Literatur ist die Rede von dem himm-
lischen Vorhang vor dem Thron, in dem alle Wesen eingewirkt sind, wie z. B. im
3. Henoch-Buch, Kap. 46. In dem aus demselben Merkaba-Material redigierten „Alpha-
bet des R. Akiba" sieht Moses aber schon „den Stern [Mazzal] des R. Akiba im himm-
lischen Vorhang", vgl. ed. Wertheimer, Jerusalem 1914, S. 50. Dieselbe Vorstellung
beherrscht auch die Psychologie des Eleazar von Worms, der in seinem Hohkmath
ha-Nephesch, Lemberg 1876, Bl. 18, 23 und 28 ausführlich darüber handelt. Nach ihm
ist der Archetypus, Demuth, des Menschen sein „Engel" sowie sein „Stern". Diese Ver-
bindung von Engel und Stern findet sich schon in einem bekannten Wort im Midrasch
Bereschith Rabba, Sekt. 10: „Es gibt kein Gras, das nicht seinen Stern im Himmel hätte,
der es schlägt und zu ihm spricht: wachse". Ähnliches findet sich auch oft im Sepher
Chassidim, z. B. Ed. Wistinezky, § 1614.

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Raza Rabba und Bahir 101

die schon auf die Welt gekommen waren, und andere hatten sie vor
ihnen angezogen." Auch hier wird dafür derselbe Vers aus Eccl. 12 7
angeführt. Es ist also klar, daß erst bei der Umarbeitung der alten
Quelle des Raza Rabba der neue Gedanke der Seelenwanderung, von
dem auch dieser. Text noch nichts wußte, hineingearbeitet worden ist.
In der chassidischen Quelle wird aber aus dem „Großen Mysterium"
kurz hinter der vorigen Stelle eine andere angeführt, die den ersten
Gedanken weiter ausführt und dabei dann zu anderem überleitet,
das sich zu unserer Überraschung ebenfalls als Quelle eines weiteren
Stückes im Bahir herausstellt : „Und so hat R. Mei'r gesagt : Ein Ge-
schlechtgeht und ein Geschlecht kommt, die Erde aber besteht ewig. Das
ist doch einfach ! Was wollte also Salomo damit betonen ? Vielmehr deu-
tete er es so : weil ein Geschlecht geht und ein Geschlecht kommt, steht
die Erde eben ewig. Denn wäre dem nicht so, hätte die Welt kein Funda-
ment an Gerechten [die zu ihrem Bestände nötig sind]. Wo aber ein Ge-
schlecht geht und ein Geschlecht kommt, singen die [himmlischen]
Sänger und preisen Gott, ohne daß ihre Stimme gehört würde. Und
R. Akiba hat gesagt : Was bedeutet der Vers [Hab. 3 2] : Im Zorn
erinnere dich der Liebe? Diesen Vers hat der Engelfürst [Archont]
der Welt gesprochen jedes Mal, wenn er Seelen der Gerechten vor dir
darbringt. Erinnere dich der Eigenschaft deines Erbarmens und nimm
meine Opfer an . . . Einige erklären den Vers: im Zorn erinnere dich
der Liebe : sogar in der Stunde deines Zornes erinnere dich108." Während
der Anfang des Zitates also den früheren Gedankengang über die
Gerechten, die Gott in jedem Geschlecht preisen, fortführt und damit
die Deutung eines Verses aufnimmt, der dann auch in § 86 des Bahir
wiederkehrt, steht die Fortsetzung, aber nicht mehr im Namen R. Aki-
bas, am Ende von § 51 des Bahir. Dort ist sie dann mit einer neuen
Wendimg ins Sephirothsymbolische versehen. Das heißt also : bei der
Bearbeitung der alten Stücke ist gerade im Bahir immer ein neues
Element hinzugetreten das über die Quelle weit hinausführt. Gerade
die Endzeilen von § 51, deren Quelle wir solcher Art noch nachweisen
können, leiten dann zu jener Spekulation über die Tochter Abrahams
über, deren gnostische Symbolik wir oben kennengelernt haben.
Daß aber im „Großen Mysterium" auch schon Dinge zu lesen waren,
die in irgendeiner direkten Beziehung mit der Äonen-Spekulation
des Bahir standen, läßt sich aus diesen Zitaten ebenfalls nachweisen.
Im Bahir findet sich eine Liste der zehn Ma'amaroth oder Logoi Gottes,
die keineswegs mit der Liste der zehn Sephiroth des „Buches der
Schöpfung" identisch sind, aber zum Teil auf sie Bezug nehmen. Sie
sind hier schon mit einer Reihe von symbolischen Synonymen be-
zeichnet, die aufs engste mit der Symbolik der zehn kabbalistischen

jo» Vgl. den hebräischen Text in Reschtth ha-Qabbala, S. 236.

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102 Das Buch Bahir

Sephiroth zusammenhängen, wie sie dann auch an anderen Stellen


des Bahir und in der ältesten kabbalistischen Tradition vielen Deu-
tungen zugrunde gelegt wird. Wir werden uns mit der Problematik
dieser Liste noch weiter unten zu befassen haben. Hier ist wichtig,
daß eine solche Logoi-Tafel — es bleibt unklar, ob die in ihr aufge-
zählten Objekte als Sephiroth wie im Buch Jesira oder als Ma'amaroth
bezeichnet waren — sicher auch schon im „Großen Mysterium" stand.
Schon dem chassidischen Autor ist die Verwandtschaft oder Identität
der beiden Tafeln klar gewesen, und an der einen der beiden Stellen,
wo er auf sie Bezug nimmt, zitiert er ausdrücklich, „was im .Großen
Mysterium' und im Buch Bahir" steht. Es wäre natürlich von größter
Wichtigkeit für das Verständnis des Übergangs von den zehn Sephi-
roth des „Buches der Schöpfung" zu den Sephiroth der Kabbalisten,
wenn wir diese Tafel vollständig hätten. Zur Zeit müssen wir uns
damit begnügen, daß über den 7. und den 9. (und den damit zu-
sammenhängenden 10.) Logos schon genau oder fast genau dasselbe
in der alten Quelle stand, was wir jetzt im Bahir lesen. Im Bahir sind
in §§ 102—104 drei verschiedene Versionen über den Ort und die
Bedeutung des siebenten Logos erhalten, die schwer miteinander
vereinbar sind. Davon bezieht sich § 104 wiederum auf die Seelen-
wanderung und gehört damit wohl sicher einer anderen Quelle an.
§ 103 ist aber schon im „Großen Mysterium" in einer Weise angeführt,
daß man annehmen muß, daß auch § 102 schon dort voranging:
Bahir § 103 Sod ha-Gadol
Der siebente ? Aber es sind doch Und es gibt in der himmlischen
nur sechs? Das lehrt, daß hier Stadt [dem himmlischen Jeru-
der Tempel des [himmlischen] salem] den heiligen Tempel und
Heiligtums ist, und er trägt alle d e r F ü r s t d e s Antlitzes ist Hohe-

[übrigen sechs], und darum ist P ^ s ^ - Und woher wissen wir


, . , , TT j . , -, daß es dort einen Tempel gibt?
er der siebente. Und was ist er? „,. , , Γ. ~ „ r ,,3 ,
^ ^ , , ^ , Wie es dort [im „Großen Myste-
Das Denken, das weder Ende rium<<] steht; der siebente? Es
noch Grenze hat. So hat auch sind aber nur sechs? Das lehrt)
dieser Ort weder Ende noch daß sie den heiligen Tempel
Grenze. sehen109, und er trägt alle110.
1 0 8 Die Handschriften haben alle 'WIE?, wie ich übersetzt habe, was aber kaum

Sinn gibt. Die Lesart des Bahir scheint besser, und die graphische Korruption in
den Handschriften ist leicht erklärbar.
110 Direkt hinter dieser Stelle fährt die Quelle dann mit dem oben besprochenen

zweiten Zitat des R. Meür fort, das ja ebenfalls am Ende, in R. Akibas Satz, vom Opfer
im Tempel des himmlischen Jerusalem spricht. Dieser Opferdienst ist in Hagiga 12b,
dem Fragment des Schi'ur Qoma, den „Visionen Ezechiels", dem 3. Henoch und
anderen Merkabatexten beschrieben. Vgl. zu der ganzen Vorstellung H. Bietenhard,
Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum, Tübingen 1961, S. 123 bis

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Raza Rabba und Bahir 103

Der Satz, daß das himmlische Heiligtum im Zentrum der Welt steht,
und alle sechs Richtungen trägt, welche zugleich den letzten sechs
Sephiroth entsprechen, steht im 4. Kapitel des Buches der Schöpfung,
das aber nichts von einer Beziehimg des Tempels zur siebenten Se-
phira weiß. Diese Zuordnung würde zu einer Bearbeitung der zehn
Sephiroth des Jesira im Sinne der Merkaba-Lehre und der ihr ent-
sprechenden Kosmologie passen. Die Fortsetzung des Satzes im Bahir
dagegen führt ein neues Element mystisch-gnostischer Spekulation
ein. Vom Denken oder dem Gedanken Gottes als einem Äon oder
einer Sephira wissen weder Jesira noch Raza Rabba. Im Bahir dagegen
liegt ein Schwanken zwischen zwei Vorstellungen vor: die eine sah,
ganz wie die Spekulation der alten Gnostiker über die Ennoia, in der
Mahschabha die höchste aller Sephiroth oder Äonen. Die andere brachte
sie, wie hier, mit der siebenten zusammen, was ziemlich rätselhaft
bleibt. An anderen Stellen des Bahir, §§ 48 und 84, ist der heilige
Tempel des himmlischen Jerusalem gerade als Symbol der höchsten
Sephira, die sich im Aleph als Anfang aller Buchstaben darstellt,
aufgefaßt. Die Logik der Jesira-Stelle, die als Ausgangspunkt diente,
weist in der Tat auf eine Zählung an siebenter Stelle; die Logik der
mystischen Symbolik der Ennoia, die offenbar aus anderer Quelle
hereingekommen ist, weist auf die erste. Man sieht deutlich, daß hier
zwei dem Ursprung nach verschiedene Motive miteinander ringen,
und das Buch Bahir hat beide Traditionen aufgenommen.
Zu einer Bearbeitung der Liste der zehn Sephiroth des Buches
Jesira im Sinne der Merkaba-Spekulation paßt auch das weitere Zitat
aus dieser Tafel im „Großen Mysterium". „Im .Großen Mysterium'
und im Buch Bahir gibt es etwas darüber, daß es zwei 'Ophannim,
Raeder [der Merkaba] gibt111, die unter Gottes Füßen hervorgehen,
wovon eines nach Norden geht und eines nach Westen, und diese
Ophannim gehen an jedem Orte [erstrecken sich überall?], und es
ist hier nicht der Ort für Erklärungen. Und er folgert dies dort [in
den angeführten Quellen] aus dem Vers Jes. 661 : ,Der Himmel ist
mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße', was heißt, daß
diese Ophannim ein Thron für das Obere sind und unter den sieben
Erden sind sie der Schemel meiner Füße." Fast all dies, mit Aus-
nahme der Bemerkung über die Ophannim als Thron, steht in § 115
des Bahir, wo diese beiden Kräfte als der neunte und zehnte Logos
bezeichnet werden. Unser Kommentator hat also in seiner Quelle des
137, und die (von B. nicht berücksichtigte) ausgezeichnete Arbeit von A. Aptowitzer,
„Das himmlische Heiligtum nach der Aggada" (hebräisch), Tarbiz, Bd. II, 1931,
S. 137—153, 257—287.
111
Die Ophannim waren schon in den Hekhaloth-Schviiten zu Engelwesen geworden,
sind aber nun noch mehr als das, und zu kosmischen Potenzen geworden. Das Hebräisch
des Textes ist, wie auch das von Bahir § 116, besonders armselig.

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104 Das Buch Bahir

„Großen Mysteriums" offenbar dieselbe Zählung, nur wenig anders


ausgeführt, gefunden. Die Stelle steht in manifestem Widerspruch
zu der sonst auch schon im Bahir rezipierten Symbolik, wonach die
letzte Sephira keineswegs mehr mit den 'Ophannim der Merkaba
gleichgesetzt werden kann, sondern die Schekhina Gottes ist. Der
jetzige Text des Bahir sucht auf eine durchaus künstliche Weise diese
Symbolik mit der vorigen zusammenzubringen. Von solcher Schekhina-
Symbolik wußte aber die Aufzählung im „Großen Mysterium" offenbar
noch nichts.
Als Ergebnis dieser Vergleiche der in den beiden Quellen ent-
sprechenden Stücke läßt sich also zweierlei sagen : 1. eine Schicht des
Bahir ist sicher aus der Quelle bearbeitet worden, die uns in den Zi-
taten aus dem „Großen Mysterium" teilweise vorliegt; 2. Diese Um-
arbeitung beweist, daß die entscheidenden Fortschritte in der Auf-
fassung des Bahir über die Merkaba-Mystik hinaus hier aus anderen
Quellen hinzugetreten sind. Gerade da, wo gnostische Bilder am
stärksten auftreten, spricht nichts dafür, daß sie aus dieser Quelle
des Raza Rabba stammen. Entweder haben wir es hier mit einer
anderen Quellenschicht zu tun, die literarisch nicht mehr oder noch
nicht identifizierbar ist, oder aber diese Umarbeitimg ist auf Grund
neuer selbständiger Spekulationen ihrer Autoren oder der sie nähren-
den Kreise entstanden. Die Überlegungen, die wir oben über mehrere
Stellen des Bahir angestellt haben, sprechen meines Erachtens ein-
deutig dafür, daß mindestens teilweise auch hier mit älteren Quellen
zu rechnen ist und eine unabhängige Entstehung dieser Symbolsprache
viel schwieriger zu erklären wäre als eine Bekanntschaft mit älteren
hebräischen oder aramäischen Fragmenten gnostischer Sprache und
Anschauung. Gerade die Umstände, unter denen sich die noch nach-
weisbaren Stücke des Raza Rabba erhalten haben, erlauben uns an-
zunehmen, daß im Strome dieser Texte auch anderes, das keine selb-
ständigen Spuren mehr in der Literatur hinterlassen hat, den ersten
Redaktoren des Bahir und Entwicklern der kabbalistischen Symbolik
zugeflossen ist. Aber die für die Entwicklung der Kabbala besonders
wichtige Verbindung zwischen dem „Buch der Schöpfung" und der
übrigen Merkaba-Tradition ist schon in der jetzt erwiesenen orien-
talischen Quelle der Tafel der zehn Logoi erfolgt. Da wir nur Über-
reste aus der zweiten Hälfte dieser Tafel im Raza Rabba haben, läßt
sich nicht sicher sagen, ob überhaupt dort schon eine Scheidung
zwischen den Eigenschaften Gottes, die als Äonen verselbständigt
gedacht werden, und den Wesen der Merkabawelt vorgenommen
war112. Zu den auffälligen Differenzen zwischen dem Bahir und der
112 Ein ganz kurzes und daher nicht leicht durchschaubares Zitat aus dem „Großen

Mysterium" : „Denn Gott hat einen Sitz [Moschab] des Erbarmens", a. a. O. S. 237,
könnte eine Verbindung der Thron-Mystik mit den Hypostasen der Middoth anzeigen.

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Raza Rabba und Bahir 105

späteren Kabbala gehört, daß diese prinzipielle Scheidung in einigen


Teilen des Bahir, und zwar gerade denen, die mit jener Liste der zehn
Logoi zusammenhängen, noch nicht radikal durchgeführt ist, und das
erklärt sich jetzt ausgezeichnet, nachdem wir wissen, daß eine ent-
sprechende Tafel schon in der Quelle stand. Es ist durchaus denkbar,
daß diese Aufzählung von vorneherein sowohl Äonen enthielt, die
nichts waren als Hypostasen von Gottes Eigenschaften wie Weisheit,
Gnade oder Strenge, als auch Äonen-Namen, die nichts anderes waren
als Gestalten der Merkaba, wie etwa die Hajjoth, die 'Ophannim und
das Heiligtum im himmlischen Jerusalem (das ja auch in mehreren
gnostischen Systemen als Äonenname erscheint). Erst später hat ein
Prozeß der Scheidung eingesetzt, in dem dann auch die Merkabawesen
selber nur als Symbole höherer Wesenheiten in den Kräften Gottes
betrachtet wurden. Wann dieser Prozeß eingesetzt hat, läßt sich,
glaube ich, rein sachlich, wenn auch nicht zeitlich bestimmt sagen:
er begann an dem Punkte, als die Schekhina Gottes mit der letzten
dieser zehn Potenzen identifiziert wurde. Diese Identifikation — von
der noch die Rede sein wird — erlaubte nicht mehr, die Merkabawelt
anders als durch Übernahme ihrer Symbole in neuer Bedeutung mit
der Welt der Middoth Gottes in Zusammenhang zu bringen. Dieser
Prozeß war, als das Buch Bahir redigiert wurde, im wesentlichen schon
beendet, aber Überreste des älteren Zustandes haben sich an mehreren
Stellen erhalten, und das macht die große Schwierigkeit in der Inter-
pretation solcher Stücke wie §§ 115 und 123 aus, die noch eine andere
Anschauung voraussetzen.
Damit erklärt sich auch, daß einige Paragraphen offensichtlich
einer Quelle entstammen, die überhaupt noch nichts von kabba-
listischer Symbolik der Sephiroth weiß, sondern Gottes Namen und
deren Verbindung mit der Merkaba so behandeln, daß man den Ein-
druck hat, ein Fragment aus einem älteren Merkabatext zu lesen.
Gerade diese Verbindung würde dem Charakter des Raza Rabba aus-
gezeichnet entsprechen. Sie können aber auch ebenso gut aus einer
Parallelquelle übernommen sein. Solche Fragmente sind zum Beispiel
die offenbar zusammenhängenden §§ 76 und 88. In § 76 wird eine
Verbindung zwischen dem Schern ha-Mephorasch Gottes von zwölf
Konsonanten und dem von 72 Namen hergestellt. Dabei heißt es,
daß die Namen Gottes „drei Heere bilden, und jedes Heer gleicht dem
anderen und sein Name ist wie dessen Name", weil nämlich jedes
Heer mit dem Tetragrammaton versiegelt ist. § 88 nimmt dann die
Es ist aber nicht klar, in welchem Zusammenhang der Satz in der Quelle stand. Von
einem „Thron des Erbarmens" weiß auch die gewöhnliche Aggada. In der Tafel der
Logoi in § 96, und vielleicht schon in der Vorlage im „Großen Mysterium", ist der
Thron der sechste Logos. Vielleicht stammt auch diese Stelle aus dem gleichen Zu-
sammenhang der Aufzählung der zehn Logoi als Kräfte der Merkaba.

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106 Das Buch Bahir

Frage nach diesen Heeren wieder auf und beschreibt, wenigstens


fragmentarisch, die „Herrschaften" oder „Reiche" (hebr. Memscha-
loth), die zu jedem der drei Heere gehören. „Das erste ist Licht und
Licht des vollkommenen Lebens. Das zweite sind die heiligen Haj-
joth, die 'Ofihannim und die Räder, Galgalim, der Merkaba. Und alle
Scharen des Heiligen, gelobt sei er, preisen und verherrlichen und
loben und rühmen und heiligen den König, der in Heiligkeit gehüllt
ist und im Rat der Heiligen verherrlicht, den gewaltigen und furcht-
erregenden König, und krönen ihn im dreifachen Heilig" [von Jes.
6 3]. Hier zeigt sich deutlich, wie in eine Merkaba-Schrift, die sich
durch ihren Stil und die typische Betonung des Trishagion als solche
ausweist, schon eine neue gnostische Sprache eingebrochen ist, wie
die vom „Licht des vollkommenen Lebens". Das ist eine Redeweise,
die ganz nahe an die Sprache der mandäischen Texte heranführt.
Über der eigentlichen Merkaba steht als höchste „Herrschaft" das
„Licht des vollkommenen Lebens", ein Begriff, der sonst weder im
Bahir noch in der Literatur der alten Kabbala wiederkehrt. Auch
hier verbindet sich gnostische Sprache mit der der überlieferten Mer-
kaba-Traktate, und diese Verbindung ist offenbar im Orient erfolgt,
in Texten, von denen den Redaktoren des Bahir nur Bruchstücke
zugekommen sind (die dritte „Herrschaft" fehlt in unserem Frag-
ment). Daß gerade dieser § 88 in engster Nachbarschaft mit Stücken
steht, von denen wir oben nachgewiesen haben, daß sie in einem lite-
rarischen Zusammenhang mit dem „Großen Mysterium" stehen,
andererseits aber auch gnostische Umarbeitung erfahren haben wie
§§ 85, 86, 89, 90, ist wohl nicht zufällig.
Andere Zitate aus dem „Großen Mysterium" haben im Buch Bahir
keine Entsprechung mehr. Merkwürdig ist zum Beispiel die Äußerung,
die dort dem R. Ismael zugeschrieben wird: „Ich habe den getreuen
Gesandten und den Fürsten des Antlitzes gesehen und sie waren gleich
von Antlitz, und alle heiligten und priesen den Heiligen, gelobt sei er
und sprachen" — was aber folgt, ist nichts als der Anfang des zweiten
Abschnitts der Eulogie des Qaddisch-Gebetes, das hier also schon fast
in dem rezipierten Text bekannt war 113 . Daß Moses, der „treue Ge-
sandte 114 , von Angesicht dem Engel Metatron, dem „Fürsten des Ant-
litzes" gleicht und mit ihm zusammen die himmlische Liturgie an-
führt, ist eine Vorstellung, die in den bisher bekannten Merkaba-
Texten nicht belegt ist. Es gab also Gruppen, in denen die Spekulation
über Metatron, dessen Verbindung mit Moses im Talmud, Sanhédrin
38 b, bezeugt ist, weiter trieben, als ob der Metatron, zu dem Moses
113
Vgl. den hebr. Text a. a. O. S. 226.
114
Hebr. S ir Ne'eman, eine Bezeichnung, die sicher altem Sprachgebrauch der
Aggada entspricht und ähnlich in den Gedichten Qalirs (5.—6. Jh.) vorkommt, aber
auch gnostische Obertöne hat.

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Raza Rabba und Bahir 107

nach jener Stelle aufstieg, ihm mit seinem eigenen Antlitz entgegen-
getreten wäre. Dahinter könnten auch wohl weitergehende Annahmen
über das Wesen Moses' und Metatrons stehen.
Die Sprache der Zitate ist, ähnlich wie im Bahir, ein Gemisch von
Aramäisch und Hebräisch. Bei manchen Wechselreden hat man den
Eindruck, daß das Buch Raza Rabba ausgeschrieben, aber mit Zu-
sätzen in späterem Stil vermengt wurde115. Auf die Golem-Schöpfimg
115 Dies läßt sich für die lange Stelle vermuten, die ich hebräisch a. a. O., S. 227—230

gebracht habe, und deren Fortsetzung dann deutlich als aus dem Sod ha-Gadol stam-
mend bezeichnet wird (S. 232). Hier werden Worte eines Dankgebets im Text des
Schi'ur Qoma durch Gematria mit Engelnamen gleichgesetzt, was freilich eher späterer
italienisch-deutscher Tradition der Chassidim entspricht als den alten Merkaba-Texten,
für die diese Art der Beziehung aller Worte in Gebeten auf Engelnamen sonst noch
nicht nachgewiesen ist. Das Zitat, das übrigens nicht aramäisch, sondern fast rein
hebräisch ist, hat freilich nur die loseste Verbindung mit dem hier gedeuteten Engel-
namen Mi Jad'el (in zwei Worten ! wörtlich : wer ist die Hand Gottes ?). Hier lesen wir :
„Und das ist die Erklärung. Mi Jad'el ? Jener singt: wer verkündet die Machterwei-
sungen des Namens ? Und El [in den Engelnamen] ist ein Ausdruck für Kraft, wie es
an vielen Orten heißt. [Von hier beginnt scheinbar das Zitat der älteren Quelle], Und
mit jener Preisung ist Gott gelobt [nämlich in dem Gebet aus Schi'ur Qoma], denn
kein Geschöpf kann ihn gebührend preisen und auch nur ein wenig von seinem Lob
zum Ausdruck bringen. Dies sind die Worte des R. Akiba. [In den Pirqe R. Eliezer Kap. 3
steht grade dieser Satz fast wörtlich im Namen des R. Eliezer!] R. Ismael sagt: Mi
Jad'el, d. h. wer wäre etwa Gottes Ratgeber ? Gott bedarf ja [Rat] von nichts, anders
als ein irdischer König, der seine Herrschaft mit seinen Räten teilt, damit sie ihm
angemessenen Rat erteilen. Gott aber ist nicht so. R. Akiba sagte zu ihm: Es heißt
doch aber: wir wollen einen Menschen schaffen, was darauf weist, daß er die himmlische
Akademie um Rat fragte ? R. Ismael sagte : das tat er nur ihrer Ehre halber und um sie
zu erhöhen. Und wisse, daß wenn er sie um Rat gefragt hat, er nicht nach ihm ge-
handelt hat, denn sie haben gesagt [Ps. 8 5] Was ist der Mensch, daß du an ihn denken
solltest usw. R. Akiba sagte: es heißt doch aber, daß an jedem Ort, wo die Tora den
Ausdruck 'und Gott' gebraucht, damit er und seine Akademie gemeint sind ? R. Ismael
antwortete ihm: in der Tat ist es so, aber auf jeden Fall kommt der eigentliche Rat
von Gott und er bedarf keines Rates, sondern der Rat [d. h. hier wohl seine himmlische
Akademie] bedarf seiner, um von ihm Zufluß [ S c h e p h a Ü b e r f l u ß oder Influxus]
zu erhalten, anders wie beim irdischen König, der des Rates bedarf. R. Nechunja ben
Haqqana sagte zu ihnen: wie lange werdet ihr die Hauptsache beiseite lassen und
euch mit Nebensächlichem beschäftigen ? Mijad [im Engelnamen Mijad'el] bedeutet
wirklich Hand, Jad, und jener Engel lobt Gott und sagt: wer ist die Hand Gottes ?
Das heißt: wer könnte von sich sagen: ich bin die Hand Gottes?, womit gesagt ist,
daß Gott keine Hand hat. Und es gibt keinen größeren Preis als diesen, denn alles,
was eine Hand hat, braucht auch eine Hand, Gott aber, der keine Hand hat, braucht
keine Hand [d. h. Hilfe und Unterstützung von andern]. Sie sagten zu ihm: es heißt
doch aber [Hiob 12 10] : in seiner Hand ist die Seele alles Lebendigen ? Er antwortete
ihnen: um es dem Ohr auf eine Weise zu erklären, die es verstehen kann. Und so wie
er keine Hand hat, so hat er auch keinerlei anderes Glied, denn alles, was ein Glied hat,
bedarf eines Gliedes, und dies läßt sich nicht von Gott sagen, daß er irgendeiner Sache

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108 Das Buch Bahir

wird hier in einer Weise Bezug genommen, die eng mit § 136 zu-
sammenhängt, ohne daß klar wäre, ob der Passus dem Kommentator
angehört oder seiner Quelle. Es heißt hier: „Wenn ein Mensch eine
Kreatur durch das Buch Jesira erschafft, so hat er die Kraft, alles
zu schaffen außer einer Sache"11β. Welches diese Sache ist, wird nicht
bedarf . . . Und in der Stunde, wo sie die Preisung sagen, erheben sie [die Engel] sich
vor den himmlischen Vorhang, aber nicht ganz vor ihn. [Hiernach erklärt er weitere
Engelnamen, die Worten des Gebetes im Schi'ur Qotna zugeordnet sind:] Raphael, der
in seiner Preisung Gott Prunk gibt [P'er, Prunk h a t dieselben Konsonanten wie Rpha'
in Raphael], der ihn zum Boten gemacht hat, um Israel zu heilen, so daß kein anderer
Engel in seinen Grenzbereich [Befugnis] einbricht. Dies sind die Worte R. Nechunjas.
R. Akiba und R. Ismael sagten zu ihm: du hast uns doch öfters gesagt, daß er singt:
wer ist es, der sagen kann, er habe Heilung erlangt, und nicht von Gott ? [Er ant-
wortete] : meine Kinder, dies und jenes sind Worte des lebendigen Gottes. Sie sagten
zu ihm: man kann doch aber unmöglich zwei [entgegengesetzte] Worte zusammen
sagen. Er antwortete ihnen: all dies ist ein einziger Sachverhalt. Sie sagten zu ihm:
erlaube uns, ein Wort vor dir zu sagen [eine Wendung wie in den Merkaba-Stiicken in
Hagiga 14b], E r sagte: sprecht. Sie sagten zu ihm: er heißt so, weil er das Lied des
Königs [das dem König gesungen wird] heilt. Er antwortete ihnen : das ist das Werk
eines anderen [Engels], und keiner h a t oben [im Himmel] die Macht, in den Bereich
seines Gefährten einzubrechen . . . Gabardael kündet den Preis seines Schöpfers und
sagt: wer könnte kommen, dessen lirait, Gebura, so ist, daß er eine einzige von Gottes
Handlungen aufheben könnte ? Dies die Worte des R. Nechunja ben Haqqana. R. Akiba
und R. Ismael sagten zu ihm : du hast uns doch öfters gesagt, daß er Gibbor, Kraftvoller,
heißt, weil seine K r a f t größer ist als die Sammaels [des Satans], Wenn z. B. Sammael
kommt und den König oder Fürsten aufreizt, den Juden Böses anzutun, so h e b t er
[dieser Engel] seinen Plan auf, wie es heißt [Reg. I, 8 50] : ich errege Erbarmen bei
ihren Fängern, so daß sie sich ihrer erbarmen. Und so ist der Zahlenwert von Gabardael
[nämlich 248] so viel wie von rahem, was ein Ausdruck für Erbarmen ist. E r sagte zu
ihnen: labt mich mit Erquickungen, denn an meinen Worten war nichts. In jener
Stunde erscholl ein Lachen in der Merkaba und man sagte: die Schüler haben ihren
Lehrer besiegt. Da erging eine himmlische Stimme und sagte : auf alle ist der Mensch
eifersüchtig außer auf seinen Sohn und seinen Schüler [Sanhédrin 105 b]. Sie begannen
zu lachen. Er sagte zu ihnen: geht und ißt am Morgen euer Brot und trinkt guten
Mutes euren Wein, denn wir alle sind für das Leben der künftigen Welt vorgemerkt.
Sogleich stiegen sie zur Merkaba herab, und alle Bewohner der Höhe machten ihnen
Bahn, bis sie zum Fürsten des Antlitzes [Metatron] kamen, und fragten alle ihre Zweifel
und kehrten in Frieden zurück, und verdoppelten an jenem Tage das Gut [der Text
ist vielleicht zu verbessern — 1S73¡? s t a t t 1*7BD —: und sie bestimmten jenen Tag zu
einem Festtag]. Und fürder stieg R. Nechunja ben Haqqana nicht mehr mit ihnen
herab, sondern er allein und sie allein." Diese merkwürdige Angelologie bestätigt
vielleicht das alte Zeugnis über den Inhalt des Raza Rabba, das dann jedenfalls ein
späteres Stadium der Angelologie darstellt als die anderen Merkaba-Schriften.

Ii« Ygi a - a o . , S. 231. Der in diesem Zusammenhang zitierte Vers Ps. 8 β wird
ebenfalls im Bahir § 136 angeführt. Die Formulierung der Stelle in dem Schi'ur Qoma-
Kommentar ist für das Milieu der deutschen Chassidim charakteristisch, die ebenfalls
gern von der Schöpfung einer „ K r e a t u r " durch das Buch Jeçira sprechen, s t a t t den

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Die ersten drei Sephiroth 109

gesagt, es dürfte aber wohl die Sprache sein, wie in manchen Parallel-
texten und im Bahir. Dieser Satz kann natürlich, gerade da er sich
ausdrücklich auf das Buch Jesira beruft, dem Kommentator angehören.
Die unmittelbare Fortsetzung freilich, die auf Quellen im „Großen
Mysterium" zurückgreift, setzt die angelologischen Zitate, die voran-
gingen, mit der Bemerkung fort: „es gibt Handschriften, in denen
es heißt . . . " , als ob auch das Vorhergehende in allen Handschriften
stünde, das jetzt folgende aber nur in einigen. Es ist aber wohl mög-
lich, daß gerade der Satz über die Golem-Schöpfimg eine Zwischen-
bemerkung des Autors ist. Wenn nicht, wäre das noch bedeutsamer.
Das Ergebnis bleibt klar: das Buch Bahir ist nicht unter völlig
neuer Inspiration gnostischer Art verfaßt, sondern konnte auf Quellen
zurückgreifen, die uns teilweise in diesen Analysen bekannt wurden,
teilweise erschlossen werden konnten. Diese Quellen, die nicht ein-
heitlicher Art sind, waren aus dem Orient gekommen, wo ihre Ent-
stehung im Zusammenhang sei es mit der Merkaba-Literatur, sei es
mit anderer rein gnostischer Überlieferung, verständlich ist, während
sie im Abendland rätselhaft wäre. Es bleibt aber durchaus fraglich,
ob die Überlieferung dieser Fragmente von mündlicher Tradition
begleitet war, die schon in der Richtung gelegen hätte, die dann die
Kreise einschlugen, die über diese Fragmente meditierten. Es würde
durchaus zu allem oben Gesagten passen, diese Kreise irgendwo in
Frankreich in Verbindung mit der esoterischen Tradition der deut-
schen Chassidim zu suchen. Irgendwann zwischen 1130 und 1170
gelangten die Blätter dieses Ur-Bahir nach der Provence und wurden
dort jener letzten Umarbeitung und Redaktion unterzogen, in der
das Buch uns zugekommen ist. Von der eigentlichen Entwicklung
des deutschen Chassidismus selber ist das Buch in seiner Vorstellungs-
welt nur schwach berührt.

5. Die ersten drei Sephiroth

Was nun, dürfen wir nach den vorangegangenen Quellenanalysen


fragen, sind die Vorstellungen über die zehn Kräfte Gottes, die hier
sich in der ältesten Form, in der die Kabbala uns zugänglich ist,
kristallisiert haben ? Das Schema der Sephiroth ist hier noch im Fluß,
bei ihnen sonst üblichen terminus iechnicus „Golem" zu benutzen. Vgl. ζ. B. Eleazar
von Worms' Zitat im Kommentar des Naphtali Hirz Treves zum Gebetbuch, Thiengen
1560, Bogen 28, Bl. 2 b : „ E r hat [in der dort kommentierten Hymne] die 'Rede' mit
der 'Erkenntnis' zusammengestellt, weil der Mensch zwar Erkenntnis haben kann,
um eine neue Kreatur nach den Vorschriften des Buches Jesira zu schaffen, aber die
Rede vermag er ihm durch den Schern ha-Mephorasch nicht zu verleihen, was nur Gott
kann."

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110 Das Buch Bahir

mindestens in bezug auf einige dieser Kräfte und ihre Stellung im


Ganzen. Gerade diese Unfertigkeit erlaubt uns, manche Stadien des
Werdens dieses Schemas, das von der Kabbala aufgenommen wurde,
deutlicher zu sehen und die sehr verschiedenen Motive zu unter-
scheiden, die zu seiner Bildung geführt haben.
Während öfters von den Zehn als einer Einheit gesprochen wird,
besonders auch in Gleichnissen, so ist doch auch schon eine fundamen-
tale Einteilung in zwei Gruppen mehrfach deutlich erkennbar, die
dann in der Kabbala kanonisch geworden ist. Diese Einteilung in
drei obere und sieben untere Sephiroth geht auf Pirqe R. Eliezer,
einen späten Midrasch, zurück, der freilich auch viel älteres Material
enthält. Dort heißt es in Kap. 3: „Einige sagen: durch zehn Worte,
Ma'amaroth, wurde die Welt geschaffen, und in drei [Attributen]
sind sie zusammengefaßt". Diese drei höchsten Middoth, die aus
Prov. 3 19, 20 herausgelesen wurden, sind Weisheit, Hokhma, Einsicht,
Bina, und Wissen, Da'ath, die in mehreren Bibelversen zusammen
auftreten117. Gerade diese Verse werden im Bahir nicht erwähnt,
und in der Tat kommt gerade Da'ath, Wissen oder Gnosis, als Äonen-
name hier nur einmal, ganz en passant (§ 129) vor. An ihrer Stelle
tritt, aber nicht als dritter, sondern als oberster aller Logoi in § 89
und § 96 ein ganz anderes Bild auf, das der „höchsten Krone", Kether
'Eljon. „Weisheit" und „Einsicht" sind in § 32 als die zweite und
dritte Logoi-Gruppe genannt118, während die oberste, die dritte über
den beiden anderen, als das Wunderbare und Unerforschliche be-
zeichnet ist. „Welches ist das dritte? Davon hat jener Greis [hier
wohl schon der Prophet Elias119] zu jenem Kinde gesagt: was dir
zu wunderbar ist, das erforsche nicht, und was dir verborgen ist,
danach grabe nicht, in das, was dir erlaubt ist, suche Einsicht, und
lasse dich nicht mit Geheimnissen ein." Das alte Zitat aus Sir. 3 21, 22,
das von esoterischer Spekulation und auch sonst mehrfach im Talmud
gebraucht wird, ist hier also zu einem mysteriösen Wort geworden,
das den höchsten Rang, der noch über der „Weisheit" steht, be-
zeichnet.
11
' Vgl. Ex. 31 3; I. Reg. 7 14; Prov. 24 3.
118
Die zehn Gebote entsprechen den „zehn Königen", die in sieben Stimmen und
drei Worte, 'Amarim, zerfallen. Diese drei sind in Deut. 26 18 als ein höchstes Wort
angedeutet, „und von ihnen heißt es [Prov. 4 7] : Der Anfang der Weisheit ist: erwirb
Weisheit, und mit all deinem Besitz erwirb Einsicht. Wie es auch heißt [Hiob 32 8] :
Die Seele Schaddajs gibt ihnen Einsicht, die Seele, die Schaddaj entspricht, vermittelt
ihnen die 'Einsicht'." Die Fortsetzung von § 32 dann wie oben im Text.
1111
„Jener Greis" wurde an talmudischen Stellen, in denen in dieser allgemeinen
Form von einem solchen alten Mann gesprochen wird, von manchen schon früh auf
den Propheten Elias bezogen, vgl. das gaonäische Responsum bei Harkavy, Zikhron
la-Rischonim, 4. Teil, Berlin 1887, S. 9—10, wo diese Deutung schon abgelehnt wird.

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Die ersten drei Sephiroth 111

In den Schriften des Eleazar aus Worms wird das Epitheton „höchste
Krone" einige Male deutlich von einem der Namen Gottes gebraucht,
aber nicht als Beiname der ersten Sephira120. In § 96 erhält sie aber
einen geradezu göttlichen Stand, der die Frage aufkommen läßt,
ob überhaupt etwas darüber zu denken ist. „Welches sind die zehn
Logoi? Erstens: Kether *Eljon, gelobt sei und hochgepriesen sein
Name und sein Volk. Und wer ist sein Volk ? Israel, wie es heißt [Ps.
100 3] : .Wisset, daß JHWH Gott ist, er hat uns gemacht und nicht
wir' — den Einen unter allen Einen zu erkennen und zu wissen, der
Einer ist in allen seinen Namen." Die Ambiguität dieses Satzes ist
auffällig. Die höchste Krone ist dem Sinn des Bildes nach eine Krone
des Königs selber, der sich durch sie, wenn auch noch so verborgen,
als König manifestiert. Die Lobpreisungsformel, die doch eigentlich
Gott, dem Träger der Krone, gilt, ist auf die Krone selbst übertragen121.
Daß der Autor dieser Tafel im Bahir dabei deutlich an die Sephiroth
des „Buches der Schöpfung" dachte, wird gerade durch diese Formel
bewiesen. Von der ersten Sephira heißt es dort nämlich (I, 9), sie sei
„der Geist des lebendigen Gottes, gelobt und gepriesen sei der Name
des ewig Lebendigen". Die Eulogie, die sich hier klar auf den leben-
digen Gott selber bezieht und nicht auf seine Sephira, ist in leichter
Variierung im Bahir, mindestens der grammatischen Konstruktion
nach, auf die Sephira selber übertragen worden. Andererseits weist
der philosophische Ausdruck „der Eine unter allen Einen", den wir
schon S. 59 als neuplatonisch charakterisiert haben, eher auf den
Träger der Krone als auf sie selber hin. Daß Gott „in allen seinen
Namen Einer ist", lesen wir auch im Kommentar des Jehuda ben
Barzilai zu Jesira122; das ist aber wohl eine Wendung, die sich auch
in anderen Schriften finden dürfte. Jedenfalls scheint es, als ob diese
spekulativen Zusätze der letzten Redaktion in der Provence ange-
hören. Die Tafel, deren älteste Form im Raza Rabba stand, ist in
einem Milieu redigiert worden, das schon von Formeln und Begriffen
anderer Herkunft durchtränkt war.
1!!
° So in Eleazars Erklärung des Pijut T 3 ΪΓΠΧΠ, Hs. München 92, Bl. 26b, der
über die Gottes-Prädikation „der Allmächtige" sagt: „So auch heißt sein Name
höchste Krone." In seinem Sepher ha-Hokhma Hs. Oxford 1668, Bl. 6b heißt es, Gott
habe dem Moses einen klaren Spiegel gezeigt, „und das ist die höchste Krone, die auch
die zehnte Königsherrschaft heißt." Hier wird also die zehnte Sephira, die die „Königs-
heiTschaft" schlechthin ist, mit dem Namen „höchste Krone" ausgezeichnet,
eine Symbolik, die der im Buche Bahir widerspricht. In den bisher bekannten
Merkabatexten selber habe ich den Begriff einer „höchsten Krone" nicht ge-
funden.
m
Kether, die Krone, ist im Hebräischen maskulin, so daß die Apposition „gelobt
sei er" ebenso wohl auf Kether gehen kann als auf den Träger der Krone.
122
Ed. 1885, S. 13, letzte Zeüe.

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112 Das Buch Bahir

Damit stellt sich auch die Frage der Herkunft der anderen Benen-
nung der ersten Sephira, die nicht nur in sonderbar veränderter Form
in der weiteren Aufzählung dieser Tafel in § 103 auftritt, sondern noch
an einer ganzen Reihe von Stellen, in §§ 48, 53, 59, 60, 94, 134. An
ihnen wird vom Denken oder Gedanken Gottes, Mahschabha, als der
verborgensten Sphäre, aber auch als dem innersten Zentrum der sechs
ersten Logoi gesprochen. Nicht der göttliche Wille des Salomo ibn
Gabirol und seiner neuplatonischen Quellen, von dem Bahir über-
haupt nichts weiß, sondern gerade der Gedanke oder die Ur-Idee ist
die innerste Stufe, zu der alle Meditation und alles Verständnis Gottes
vordringen kann. Stammt diese Terminologie nun aus gnostischer
Tradition, wo ja in mehreren Systemen der „Gedanke", die Ennoia,
ebenfalls als oberster Äon im Pleroma aufgefaßt wird 123 ? So auch
steht in §134 geradezu der „Gedanke" den anderen „Kräften", in
denen sich Gott manifestiert, gegenüber. Oder haben wir den Ur-
sprung dieser Terminologie bei jüdischen Neuplatonikern zu suchen,
von denen sie dann erst im 12. Jahrhundert ins Bahir übernommen
und hereingearbeitet worden wäre? Für die Frage des Charakters
der aus dem Orient gekommenen Quellenschicht des Bahir wäre die
Entscheidung dieser Frage zweifellos wichtig, und dennoch wage ich
keine Antwort und muß sie offen lassen. Jedenfalls können wir
statuieren, daß bei Abraham bar Chija, dem jüdischen Neuplatoniker,
den wir schon in Abschnitt 1 dieses Kapitels als eine Quelle der letzten,
provençalischen Schicht des Bahir kennengelernt haben, das „reine
Denken", Mahschabha tehora, als Bezeichnung für die göttliche Ur-
Idee auftritt, die allem vorangeht und alles in sich umfaßt. In ihr be-
standen, der Potenz nach, und waren verborgen die beiden „höchsten
Prinzipien" oder „obersten Wurzeln", welche die Ur-Materie und
Ur-Form sind, bis sie der göttliche Wille miteinander verband124.
Diese reine Mahschabha wird nun auch im Buch Bahir zum höchsten
Rang und noch über die Sophia Gottes hinaus erhoben.
Dabei wird nun an allen diesen Stellen eine einzige Eigenschaft
dieses Denkens hervorgehoben, welche im Sinne des Bahir das mensch-
liche Denken mit dem göttlichen verbindet, nämlich seine Grenzen-
losigkeit. Beide Arten der Mahschabha werden zueinander in Parallele
gesetzt, ohne daß klar gesagt würde, daß die eine zur anderen führt,
123 Über die Ennoia in der Gnosis vgl. z. B. die Nachweise bei F. Sagnard, la Gnose
Valentinienne, Paris 1947, S. 640, im Register s. v. ivvoia, und bei W. Bousset,
Die Hauptprobleme der Gnosis, Göttingen 1907, S. 160—162 (bei den Simonianern
und Barbelognostikern).
124 Abraham bar Chija, Hegjon ha-Nephesch, Bl. 2a. Viele Kabbalisten des 13. Jhs.

benutzten diesen Ausdruck „das reine Denken" als festen mystischen terminus techni-
cus. Vgl. dazu unten Kap. III, Abschnitt 5. Nach Gabirol, Fons Vitae V, 10 sind
Materie und Form potenziell in Gottes sapientia separat vorhanden.

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Die ersten drei Sephiroth 113

wie etwa in der Kabbala der auf Bahir folgenden Generationen. Man
darf aber vermuten, weil nur so die Parallele einen vollen Sinn erhält,
daß auch hier das reine Denken des Menschen, das jeden konkreten
Inhalt von sich fernhält, und nicht über einen bestimmten Gegenstand,
sondern über sich selber meditiert, in solcher reinen Meditation auf
das göttliche Denken hinführt und mit ihm in Kommunion tritt.
Damit zeichnet sich hier, wenn ich die Andeutungen von § 60 richtig
verstehe, der Beginn einer mystischen Meditationsmethode ab, die
eigentlich gar nicht mehr des Apparates der Äonenlehre bedarf, sondern
geradenwegs auf ihr mystisches Ziel losgeht. Wenn die Äonen-Speku-
lation sich mit ihr verbindet, wie in der jüdischen Form, in der sie
sich in der Schlußredaktion des Bahir repräsentiert, so nicht, weil
dieser Weg für sie notwendig wäre, sondern aus historischen Gründen,
weil nämlich jenen, die die Mystik der Mahschabha entwickelt haben,
diese anderen Vorstellungen schon geläufig waren. Es ist für das Ver-
ständnis dieser ältesten Kabbala wichtig, die einschlägigen Haupt-
stellen zu analysieren.
Ein gewisser Übergang von der menschlichen zur göttlichen Mah-
schabha läßt sich in einer Stelle über das Gebet vermuten, wo davon
die Rede ist, daß der Betende — der Prophet Habakuk in seinem
Psalm — an einen mystischen „Ort" gelangt, von dem aus er die
Mahschabha Gottes versteht. Diese Mahschabha wird in drei wich-
tigen Symbolen repräsentiert gefunden: im Konsonanten 'Aleph,
dem Anfang aller Sprache und allen Ausdrucks, der „Wurzel der zehn
Gebote" (die mit 'Aleph beginnen); das Ohr des Menschen, 'Ozen,
das ein Abbild des Aleph ist, durch das der Mensch das Wort Gottes
vernimmt (§§ 48, 53, 95) ; der Tempel des Heiligtums. Die letztere
Symbolik ist besonders auffällig, denn während sie an den meisten
erwähnten Stellen deutlich auf die höchste Potenz Gottes bezogen
wird, wird sie in § 103 als der siebente Logos bezeichnet, der als der
heilige Tempel alle anderen — offenbar die vorangehenden sechs —
trägt. „Und was ist er [dieser Logos] ? Das Denken, das kein Ende
und Abschluß, Takhlith, hat. So hat auch dieser Ort kein Ende und
Abschluß." In § 48 heißt es aber: „das Ohr ist das Abbild des Aleph
und das Aleph der Anfang aller Buchstaben, und nicht nur dies,
sondern Aleph bedingt den Bestand aller Buchstaben, und Aleph
ist ein Abbild des Gehirns [des Sitzes des Denkens]: wie man beim
Aleph, spricht man es aus, nur den Mund öffnet [und keinen hörbaren
Laut hervorbringt, der schon etwas Bestimmtes wäre], so geht auch
das Denken ohne Ende und Abschluß". Selbst das Tetragrammaton
ist, wie hier aus Micha 2 13 herausgelesen wird, „in ihrem [das heißt
aller Dinge oder aller Buchstaben] Anfang beschlossen", welcher
Anfang eben die Mahschabha ist. Der Name JHWH selbst erhält
seine Heiligkeit, wie es dort weiter heißt, in dem Tempel des Heilig-
Scholem, Kabbala 8
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114 Das Buch Bahir

turns, dessen Ort „in der Mahschabha ist, und dies [der Tempel] ist
das Aleph"125. Der Tempel im himmlischen Jerusalem, das kosmo-
logische Symbol, das der Bahir-Autor, wie wir sahen, aus dem „Buch
der Schöpfung" und dem „Großen Mysterium" entliehen hat, ist
bei ihm ein mystisches Symbol geworden. Das unendliche göttliche
Denken, das allem vorangeht und alles in sich schließt, ist der mystische
„Tempel", in dem alle geistigen Wesen ihren Ort haben. Als Habakuk
in der „Wonne" oder „Verzückung" seines Gebetes an einen gewissen
„Ort" kam, verstand er von dort aus Gottes Mahschabha und Gottes
Schema*, was in diesem Zusammenhang soviel heißt wie die durch
das Ohr bezeichnete höchste Sphäre der Audition oder das, was von
Gott vernommen wird, das „Gerücht" oder „Gehör" von Gott. Wer
dies versteht, wird von Gottesfurcht erfüllt, und daher betete Habakuk
(3 2): „Gott, ich habe dein Vernehmen vernommen und fürchte".
Da im Hebräischen das Verbum hoeren sowohl diese eigentliche Be-
deutung als auch die des denkenden Verstehens hat, ist der Zusammen-
hang zwischen den Sphären des Denkens und der Audition, der im
Bahir hergestellt wird, nicht überraschend. Von diesem Denken als
der höchsten und verborgenen Potenz wird im Gleichnis von dem
König gesprochen, „einem zurückgezogenen, wunderbaren, verbor-
genen König, der in sein Haus ging und befahl, daß keiner nach ihm
verlange. So hat jeder, der [ihn] verlangt, Furcht, der König möchte
erfahren, daß er sein Gebot übertritt" (§ 48). Die Epitheta des Königs
hier sind genau die, die im § 32 von dem höchsten Logos, nach dem zu
fragen verboten ist, gebraucht werden. Als „König, dessen alles Er-
schaffene bedarf", wird das Denken, aus dem „Ohr und Auge schöpfen"
in § 59 bezeichnet.
Diese Symbolik des Tempels für das tiefste göttliche Denken könnte
sehr wohl aus einer ganz ähnlichen Symbolik des „Tempels" ver-
standen werden, unter der 150 Jahre später Meister Eckhart neben
so vielen anderen Metaphern den höchsten Bereich der Seele, ihr „ver-
nünftiges Erkennen" umschreibt. Die „Vernünftlichkeit" der Seele,
wie Eckhart die Vernunft in ihrem höchsten Stande nennt, ist ihr
reines Denken, in dem sie sich mit Gottes intelligere berührt, ja in
dem sie diese Vernunft Gottes selber ist. „Wo ist Gott denn in seinem
Tempel, in dem er sich in seiner Heiligkeit offenbart? Vernunft ist
der .Tempel Gottes'. Nirgends wohnt Gott eigentlicher, als in seinem
Tempel, der Vernunft, wie jener andere Meister [Aristoteles] sagte:
Gott sei eine Vernunft, die im Erkennen ihrer selbst lebt . . . denn
dort allein ist er in seiner Stille126." Die Symbolik ist dieselbe, obwohl
im Bahir wohl ein anderer Ausgangspunkt vorliegt als bei Eckhart,
125
So auch in § 84, wo zwar das Aleph und der Tempel, aber nicht die Mahschabha
erscheinen.
128
Meister Eckhart, die deutschen Werke, 1. Bd., 1957, S. 150 und 464.

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Die ersten drei Sephiroth 115

der von dem Gottesbegriff des Aristoteles ausgeht, wovon im Bahir


nichts zu spüren ist.
Das zeigt sich deutlich in § 60, einer wichtigen Stelle, die beweist,
daß ihr Autor einen klaren Begriff von dem Unterschied der Merkaba-
Schau der alten Mystiker und dem neuen Bereich hatte, der sich noch
über ihr in seiner Mystik eröffnete. „Was bedeutet es, daß wir [im
Hebräischen] den Ausdruck gebrauchen: 'es steigt im Denken auf
[in der Bedeutung von: es kam in den Sinn], und nicht sagen: 'es
steigt hinab', während wir doch [in den „Großen Hekhaloth"] sagen:
wer sich in die Schau der Merkaba versenkt, steigt hinab und steigt
[erst] nachher wieder auf? Dort [steht hinabsteigen], weil wir sagen:
wer sich in die Schau der Merkaba versenkt . . ., hier aber bei der
Mahschabha, dem Denken, findet keinerlei Schau mehr statt und
keinerlei Ende. Und alles, was weder Ende noch Abschluß hat, duldet
kein Hinabsteigen, wie die Leute [zwar] sagen: jemand ist bis ans
Ende der Meinung seines Gefährten hinabgestiegen [d. h. einge-
drungen], aber nicht: bis ans Ende seines Denkens." Die Merkaba
ist also der Gegenstand einer Schau und anschauender Versenkung,
Histakluth; ja, sie ist sogar der letzte und tiefste Gegenstand jeder
solchen Anschauung. Die Schau findet ihre Grenze an dem erschauten
Objekt. Daher läßt sich sagen, daß jene alten Mystiker „zur Merkaba
hinabsteigen". Das Denken aber ist nicht mehr Gegenstand irgend-
einer Schau oder Vision, sondern betrifft einen anderen Bereich. Es
führt nicht mehr zu einem Gegenstand, der von ihm bestimmt würde.
Es hat kein Ende und keinen Abschluß und genügt sich selbst, denn
„der Mensch denkt und gelangt damit bis ans Ende der Welt" 127 .
Ein Denken, das sich auf dieses oder jenes Ding bezieht, auf diese
oder jene Meinung als spezifischen Inhalt des Denkens, kann erschöpft
werden und man kann bis an sein Ende vordringen. Nicht so bei dem
reinen Denken, das keinen anderen Gegenstand hat als sich selber,
und durch nichts außerhalb seiner selbst bestimmt wird. Daher eben
ist die Unendlichkeit der Mahschabha ihre Haupteigenschaft, und
wird nicht umsonst an allen diesen Stellen betont. Demgegenüber
weiß aber unser Buch noch nichts von einem Ausdruck 'En-soph
im terminologischen Sinne des „Unendlichen" als Bezeichnung jener
verborgenen Realität des Herrn aller Logoi, des Gottes, der in den
Tiefen seiner eigenen Wesenheit sich verbirgt. Zwar erscheint die
Wortverbindung 'en-soph in adverbialem Gebrauch in §48: „das
Denken, mit dem man bis ins Unendliche und Abschlußlose denkt",
le-en Soph we-Takhlith, aber von einem Unendlichen als Substantiv,
127 Der Text dieses Satzes in § 63 ist aramäisch, wobei der Autor wörtlich schreibt :

schaphel le-Sopheh de-'Alma, „steigt bis ans Ende der Welt hinab", anscheinend, um
das hebräische Wort für hinabsteigen zu vermeiden, das er in § 60 gerade im Zusammen-
hang mit dem „Denken" verbietet.

8*

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116 Das Buch Bahir

über das oder an das man denkt, ist hier sicher noch nicht die
Rede128.
Zwischen dieser höchsten Mahschabha und den Kräften und Po-
tenzen Gottes, in denen sie sich „ausbreitet", was ein technischer
Ausdruck für Emanation sein kann oder auch nicht129, besteht eine
Beziehung, die nach § 134 den Gegenstand von Moses Bitte (Ex.
3318) : „Laß mich deine Herrlichkeit erkennen" bildete. „Moses sagte:
Die Wege der Kräfte weiß ich, aber ich weiß nicht, wie die Mahschabha
sich in ihnen verbreitet; ich weiß, daß in der Mahschabha die Wahr-
heit ist [ein anderer dieser Äonen, der nach § 94 'durch die Mahschabha
wirkt*], aber ich weiß ihre [der Wahrheit] Teile nicht130 und möchte
es wissen — aber man ließ es ihn nicht wissen". Dieses Nichtwissen
zeigt einen älteren Zustand der kabbalistischen Spekulation an, die
im 13. Jahrhundert, was Moses hier noch nicht weiß, sehr wohl zu
wissen glaubte, und es sogar den Moses selbst ausdrücklich wissen
ließ131.
Die zweite und dritte Sephira werden in §§ 13, 18, 32, 95 mit der
ersten, im Aleph symbolisierten zusammengedacht. Nach § 13 geht
der mystische Ort des Aleph sogar dem Ursprung der Tora voran,
die daher erst mit Beth, im Worte Bereschith beginnt. Nicht nur in
der Logoi-Tafel von § 96, sondern auch in den übrigen Teilen des
Buches fehlen Bezeichnungen der zweiten und dritten Sephira aus
dem Umkreis der Merkaba-Mystik, was ich nicht für zufällig halte.
Die Begriffe, unter denen sie dann durchweg in der Kabbala bekannt
sind, Hokhma und Bina, finden sich auch schon hier, Hokhma an
vielen Stellen, Bina nur in §§ 32 und 74.
Daß die zweite Sephira gerade als „Anfang" bezeichnet wird, ist
gewiß aus Prov. 822 verständlich, wo die Weisheit sagt: „Gott er-
schuf mich als Anfang seines Weges", enthält aber doch auch eine
weitere Implikation, die schon den Autoren des Bahir nicht fern-
gelegen haben wird. Die erste Sephira ist noch gar kein eigentlicher
„Anfang", sie ist noch ganz verborgen und vielleicht sogar anfanglos,
128
Graetz erklärt, der Ausdruck 'En-soph sei im Bahir nur „hingehaucht", vgl.
Bd. VII 4 , S. 402. Das trifft aber die Sache nicht, wie oben dargelegt. Ehrenpreis, die
Entwicklung der Emanationslehre in der Kabbala, Berlin 1896, S. 22 leugnet das Vor-
kommen des Terminus mit Recht. Zur Frage des Terminus Έη-soph vgl. dann in Kap. 3
p. 233-237.
128
Hithpaschet hat in der philosophischen Literatur der jüdischen Neuplatoniker
diese technische Bedeutung.
130
Das maskuline Suffix in halaqaw muß auf 'Emeth gehen, das im mittelalterlichen
Hebräisch stets männlich gebraucht wird, nicht (wie ich zuerst in meiner Übersetzung
und im Kommentar dazu annahm) auf das feminine Mahschabha.
1S1
Vgl. dazu Moses de Leon, Mischkan ha-'Eduth, Hs. Berlin Or. Q. 833, Bl. 41b.
Daß Moses nur die Kräfte Gottes, nicht sein Wesen erfaßte, sagt übrigens schon Philo,
de spec. leg. I. § 44ff.

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Die ersten drei Sephiroth 117

unerschaffen und nicht von Gott selbst, dessen höchste Krone sie
darstellt, zu trennen. Dies freilich wird hier nie gesagt, aber die Kon-
sistenz, mit der das Bild der Quelle für die Weisheit an den verschie-
densten Stellen gebraucht wird (§§ 3, 4, 15, 82, 85, 121), weist in diese
Richtung. In § 4 beginnt, wie wir in einer früheren Analyse gesehen
haben, das Pleroma selber erst mit dem mystischen Beth, das nicht
nur der Segen Gottes ist, sondern auch der Teich, aus dem alles ge-
tränkt wird, besonders aber der Garten, der die Welt der Logoi oder
aber den letzten unter ihnen, umfaßt. Es ist schwer zu sagen, ob die
mystischen Gleichnisse, die in diesem Zusammenhang an mehreren
Stellen angeführt werden, gepreßt werden dürfen. In diesem Fall
würde der Quell aus den starken Felsen, dem Urgestein der ersten
Sephira, die der König gesprengt hat, entspringen. Jede Aktion inner-
halb des Pieromas beginnt jedenfalls, sowohl in den Gleichnissen als
auch in direkten exegetischen Ausführungen, stets erst von diesem
Ort. Der Weltenbaum selber wird, wie wir sahen, von hierher be-
wässert (§§ 15, 85, wobei § 15, wie wir S. 62-63 sahen, Umdeutimg
des älteren Mythos über den Weltenbaum in § 14 ist). Diese Sophia
ist natürlich auch die Ur-Tora, was der aggadischen Gleichsetzung
der beiden Begriffe, aber auch der aggadischen Identifikation von
Quellwasser, frischem Wasser und Wasser überhaupt mit der Tora
entspricht132. Der kosmische Baum, von dem die Seelen ausgehen,
konnte, auch wenn das nicht seine ursprüngliche Bedeutung war,
mit einigem Mut auch auf die Tora selbst gedeutet werden, wie das
zum Beispiel § 8 und § 15 tun. Interessant ist § 8, wo die Tora der
verborgene Anfang der Welt ist. Schon der Midrasch133 deutet die
Wortfolge in Gen. 11 : „Erst als er das, wessen seine Welt bedarf,
Sorkhe Olamo [also die Tora, die auch Anfang heißt], erschaffen hatte,
erwähnte er [als drittes Wort des Verses] seinen Namen ['Elohim]".
So heißt es auch im Bahir: „Am Anfang schuf er, und was schuf er?
Was das All bedarf, Sorkhe ha-Kol, und dann erst heißt es 'Elohim".
Das, was das All nötig hat, ist im mythischen Bild von § 14 der Welten-
baum, in der harmloseren aggadischen Umdeutung von § 8 und § 15
aber die Tora, die auch Gottes Sophia ist. Nachdem er diese Quelle
„ausgegraben" hat, wie in § 4, pflanzt er den Weltenbaum, dessen
Wurzel,- die dritte Sephira, von hier aus bewässert wird. Dies dürfte
die harmonistische Exegese sein, die den Redaktoren des Bahir bei
der Nebeneinanderstellung dieser ursprünglich so verschiedenen
Stellen vorgeschwebt hat 134 .
1,2
Nachweise über die Gleichsetzung von Weisheit und Tora ζ. B. bei Strack-
Billerbeck, Bd. I I , S. 353; über die von Wasser und Tora ibid. I I , S. 436.
M» Bereschith Rabba, P. 1, § 12, ed. Theodor, S. 11.
184
Es ist auch möglich, daß auf die Weisheit sich die nicht durchsichtige Stelle in
§ 65 bezieht, wo Eccl. 5 8 mystisch gedeutet wird. Die drei Worte des Verses Jithron

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118 Das Buch Bahir

Als „Wurzel des Baumes" dürfte dieser dritte Logos in §§ 54, 84


und 118 bezeichnet sein, dem Kontext der Stellen nach, der auch
durch § 18 bestätigt wird, wenn auch dort nicht eine ausdrückliche
Zählung angegeben wird. Dem Symbol der „Wurzel des Baumes"
entspricht in § 74, der eindeutig von der Bina redet, das Symbol der
„Weltenmutter", 'Em ha-Olam, mit dem die älteste Kabbala wiederum
ein mythisch geladenes Bild aufgenommen hat. Dafür konnte sie frei-
lich einen guten Grund in der alten Exegese von Prov. 2 3 vorweisen,
welchen Vers schon der Talmud, Berakhoth 57 a, als „denn Mutter
nenne die Einsicht, Bina"136 las. Der Vers Deut. 22 7 wird auf diese
mystische Mutter und ihre sieben Kinder bezogen, die zwar hier als
die sieben Tage des Sukkoth-Festes bezeichnet werden, dem Zu-
sammenhang nach aber zweifellos der Gruppe der sieben unteren
Logoi, den „Urtagen" der Schöpfung (§ 92) entsprechen. Die sieben
unteren Sephiroth sind die Kinder der Weltenmutter. Es ist inter-
essant, daß diese, dem Bild nach so deutlich gnostische Symbolik
gerade in einem Halacha-mystischen Zusammenhang auftritt, nähm-
lich bei der Deutung der Vorschrift der Tora über das Vogelnest. Eine
entsprechende Symbolik des Vaters für die Sophia, wie sie, durchaus
konsequent, dann die Kabbalisten des 13. Jahrhunderts entwickelt
haben, ist im Bahir nicht vorhanden, obwohl diese Sephira am Schluß
desselben § 74 in einer undurchsichtigen mystischen Erklärung über
das Sukkoth-Fest ausdrücklich als das Mysterium der Sukka erwähnt
wird. Des weiteren scheint die Muttersymbolik der Bina in § 13 der
Deutung des Konsonanten Gimmel auf die dritte Sephira zugrunde
zu liegen. Von ihr, die von oben, also aus der Quelle der Sophia,
'Eres ba-kol werden jedes für sich als Symbol betrachtet. Jithron, hier wohl im Sinne
von Überfluß, höheres Sein, steht der Erde, 'Eres gegenüber, die aus ihm „behauen"
worden ist, was hier wohl soviel heißt wie: emanierte. Diese „Erde" ist die letzte
Sephira. „Und was ist Jithron ? Jedes Ding der Welt, wenn die Menschen auf der Welt
würdig sind, von seinem Glanz zu nehmen, ist Jithron." Soll dies heißen: alle Dinge
haben etwas vom Glanz, Ziw, der Sophia ? Und soll der Vers im Sinne des Bahir unge-
fähr heißen: „Die Sophia, aus der die 'Erde' genannte letzte Sephira emanierte [die
selber ja die untere Sophia ist], ist in Allem" ? Diese, sonst im Bahir nicht wieder-
kehrende Rede vom Glanz des Jithron oder mystischen Seins würde sehr wohl zu §§97
und 116 passen, wo das Urlicht der Schöpfung, das später verborgen wurde, und aus
dem die Schekhina oder untere Sophia emanierte, ursprünglich ebenfalls die obere
Sophia sein könnte. In § 116 wird das in der ältesten Handschrift München 209 und
anderen Zeugen in der Tat ausdrücklich gesagt: Die Schekhina unten „ist das Licht,
das aus dem ersten Licht, welches Hohhma ist, emanierte." Die Fortsetzung freilich
weist mit dem Gleichnis vom König und seinen sieben Söhnen eher auf Bina als das
Urlicht hin, aus dem die unteren sieben Sephiroth erhalten werden. Offenbar gab es am
Anfang zwei verschiedene Deutungen des Urlichts als Aeon unter den Aeonen. Es ist
an den hier genannten Stellen schwer, zu einer sicheren Interpretation zu gelangen.
185
So auch im Targum zur Stelle.

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Die ersten drei Sephiroth 119

„schöpft", d. h. die Emanation empfängt, erhält das „Kind" die


wohltätige Nahrung, worauf hier Gen. 21 8 gedeutet wird.
Anderer Art sind aber die Aussagen der Logoi-Tafel in § 96, die als
zweiten Logos nur die Sophia nennt, als „Anfang seines Weges", für
den dritten aber mehrere Bezeichnungen hat, die recht vielsagend
sind. „Der dritte : der Bruchort der Tora, das Schatzhaus der Sophia
[.Hokhma], der Bruchort des Geistes, der Geist Gottes. Das lehrt, daß
Gott alle Buchstaben der Tora dort herausmeißelte und sie in den
Geist eingrub und Formen [andere Lesart : seine, d. h. Gottes, Formen]
darin hervorbrachte, und davon heißt es [I Sam. 2 2, unter Benutzung
der Deutung des Verses in Berakhoth 10a] : keiner ist ein Former wie
unser Gott." Wie sind diese merkwürdigen Symbole zu erklären?
Müssen wir hier einen Widerspruch zu den anderen Stellen annehmen,
an denen die Tora mit der Sophia identifiziert wird, oder dürfen wir
sie im Einklang mit ihnen erklären ? Für das letztere spricht der Aus-
druck „Schatzhaus der Sophia", der also eine Spezifikation des zweiten
Logos, der die Sophia selber war, enthält. Die Sophia ist also schon
in einem Schatzhaus untergebracht, wo ihre Schätze für die An-
wendung oder das Regiment des Kosmos bereitstehen. Es ist ein Haus,
in das die Weisheit aufgenommen wird, das sie um sich herum baut
(vgl. Prov. 9 l : „Sophia baut ihr Haus"). In diesem Sinn werden wir
wohl auch den Ausdruck „Bruchort der Tora" zu verstehen haben.
Mahsebh ha-Tora ist als „das Behauen der Tora", als der Ort, an dem
dieses Behauen erfolgt, zu verstehen und nicht, wie man vielleicht
versucht wäre zu erklären, als der Ort, aus dem sie ausgehauen wurde.
Wie die Sophia ein Schatzhaus hat, hat auch die Tora als Urwesen-
heit ihren Ort, an dem sie „behauen", das heißt näher spezifiziert
wird. Was dort behauen wird, sagt die Fortsetzung, die freilich zu-
gleich zwei widersprechende Angaben einschließt. Es sind die Kon-
sonanten der Tora, die Gott in das Massiv der Urtora „brach" oder
„einschlug", eingrub, was auf die Idee führt, daß die Urtora, die die
Weisheit selber war, diese Formen noch auf eine ungeschiedene Weise
in einer Einheit in sich enthielt, eine Idee, die durchaus zu dem paßt,
was die ersten Kabbalisten in der Provence dann in ihren Spekulationen
über diese Sephira in deutlicherer Formulierimg vorbrachten. Zu-
gleich wird dieser Logos aber auch als der Geist Gottes, Ruah 'Elohitn,
und als die Stelle, an der dieser Geist ausgehauen wird, bezeichnet. Im
Buch Jesira war der „Geist Gottes" noch ausdrücklich als die erste
Sephira aufgeführt. Der Ort des Pneuma ist also in dieser Tafel be-
wußt verändert worden. Von den ersten zwei Logoi wußte jenes Buch
noch nichts, und die „Weisheit", von der es in offenbarem Zusammen-
hang mit den Spekulationen zeitgenössischer Kreise über die Sophia
in dem Bild von ihren 32 Wegen spricht, ist hier nicht selber eine von
den zehn Sephiroth. Dazu wurde sie offenbar erst in einem anderen

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120 Das Buch Bahir

Kreis. Weiterhin heißt es im Buch Jesira (1,10) gerade von der zweiten
Sephira, der Luft, die aus dem Pneuma Gottes hervorgegangen ist,
daß er die 22 Buchstaben dort „eingegraben und ausgehauen" hat.
Beide Angaben sind im Bahir also vereinigt und auf die dritte Sephira
übertragen worden. Diese enthält damit in einem gewissen Sinn Form
und Materie zugleich. Freilich ist dies keine Materie im Sinne der
Vorstellung von der Hyle als Ort des Bösen, wie sie Bahir für das
Tohu kennt, sondern eine durchaus positiv gewertete Materie des
Pneuma, in dem Gott seine „ F o r m e n " herstellt. Daß damit ein ge-
wisser Widerspruch zwischen dem Pneuma und der Urtora geschaffen
wird, die beide zugleich als Medium dieser Formung und „Behauung"
dienen, ist unverkennbar. Man könnte sagen, der dritte Logos sei
überdeterminiert: die Symbolik der Sophia und ihres Schatzhauses
ist mit der aus dem Jesira-Buch genommenen des Pneuma Gottes
und der in die daraus hervorgegangene Luft eingegrabenen Buch-
staben weniger vereinigt worden als durcheinander geraten.
Während die eben besprochenen Symbole der Bina aus historisch
faßbaren Spekulationen stammen, sind andere im Bahir schon ohne
solche Zusammenhänge, aus mystischen Exegesen über Bibelverse
entwickelt worden. Dazu gehört zum Beispiel ihre Auffassung als
„Gottesfurcht", Jir'a, in §§ 72 und 130, als „obere Gerechtigkeit"
in §§ 50 und 133, oder die Deutung von Hab. 3 4 als Beschreibung
dieser Sephira in §§ 98, 129, 130. Mit dem Urlicht der Schöpfung,
dessen Erfassung die höchste Seligkeit, das „verborgene G u t " ist,
wird diese Potenz in §§ 98 und 131 zusammengestellt, was aus den
übrigen Symbolen folgt, mit denen dort dies Urlicht bezeichnet wird.
E s ist selber zugleich das Licht der kommenden Welt, welcher Aus-
druck in § 106 auf die ewige Gegenwart dieses verborgenen Urlichts
gedeutet wird : „Was bedeutet es, daß wir jeden Tag von der .kommen-
den Welt', 'Olam ha-ba', sprechen, und wissen nicht, was wir sprechen ?
Die .kommende Welt' übersetzt der Targum [als Präsens] mit ,die
Welt, welche kommt'. Und was bedeutet d a s ? Das lehrt, daß vor
der Weltschöpfung es im Plan [wörtlich : in der Mahschabha] aufstieg,
ein großes Licht zum Leuchten zu schaffen. D a wurde ein großes Licht
erschaffen, das keine Kreatur hätte ertragen können. Gott sah voraus,
daß sie es nicht würden ertragen können; da nahm er ein Siebentel
davon und gab es ihnen stattdessen. Das Übrige aber verbarg er für
die kommende Welt. E r sagte : werden sie sich dieses Siebentels würdig
zeigen und es bewahren, so werde ich ihnen das Übrige in der anderen
Welt geben, und das meint ,die Welt, die kommt' — die schon von
den sechs Tagen der Schöpfung her kommt." Diese mystische Deutung
der „kommenden Welt" als ein Symbol der dritten Sephira spielt in
der weiteren Entwicklung der Kabbala, die sich dafür stets auf Bahir
beruft, eine große Rolle. Der Äon, aus dem als Mutter alles kam, ist

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Die ersten drei Sephiroth 121

auch der Äon, zu dem alles heimkehrt. Warum dieser Welt gerade
ein Siebentel des Urlichtes gegeben wurde, läßt sich rein exegetisch
aus Jes. 30 22 verstehen, wo es heißt, daß dereinst „das Licht der
Sonne siebenfach sein wird wie das Licht der sieben Tage", das heißt
wie das Urlicht der Schöpfung (§§ 37, 39). Zugleich freilich weist es
wohl auch auf die siebente Sephira hin, die aus diesem Urlicht von
Bina, das sich in den sieben Urtagen der Schöpfimg verteilt und aus-
breitet, stammt. Dieses Siebentel ist dann also die letzte der zehn
Potenzen Gottes und ist das Licht, das in der „mündlichen Tora"
scheint, das heißt in der im Leben anwendbaren Halakha, an der sich
Israel zu bewähren hat. Wenn sie das tun, so „wird der Abglanz der
vom Urlicht genommen wurde, dereinst wie das Licht selber sein"
(§ 98). Während hier das Licht, das aus dem Urlicht genommen wurde,
„mündliche Tora" heißt, wird es in § 116 als die untere Schekhina
bezeichnet. Dieses tertium comparationis hat die Verbindung her-
gestellt, die dann in der Kabbala zwischen diesen beiden Symbolen
der Schekhina und der mündlichen Tora besteht.
Eine Folge der ersten Sephiroth, vor allem der ersten drei, scheint
auch in § 34 vorzuliegen, der wie viele andere Stücke in diesem Teil
wie eine Umarbeitung älterer kosmogonischer Fragmente ins Sym-
bolische hin wirkt. Hier scheinen hintereinander aufgezählt der „An-
fang", das Pneuma oder die Stufe, aus der die Seelen kommen, der
„Bach Gottes", das Silber und das Gold. Der Übergang von kos-
mogonischer Exegese zu mystischer ist hier handgreiflich. Die Idee,
daß Gott von den Urwassern der Schöpfung nahm, und die eine Hälfte
davon ans Firmament, die andere in den Ozean tat, ist gute alte
Aggada13®. Aber hier sind diese „Wasser" im „Bach Gottes" vom
Ps. 65 io schon etwas anderes, eine pneumatische Kraft, „durch die
der Mensch zum Torastudium gelangt, wie der Herr gelehrt hat [ein
mir unbekanntes Zitat, das hier dem Rabbi Berachja zugeschrieben
wird] : Durch das Verdienst der guten Werke gelangt der Mensch zum
Torastudium". Hier sind also zwei Motive, die sich eigentlich wider-
sprechen: Einmal ist das Wasser das der Tora, zum anderen das der
guten Werke, und beide Exegesen werden nebeneinander aufgezählt.
Wahrscheinlicher ist freilich, daß in diesem Stück überhaupt nicht
von der ersten Sephira die Rede ist, sondern die Aufzählung sich auf
die zweite bis vierte bezieht, wobei die „Wassser" mit anderen Stellen
die von der Symbolik der vierten Sephira sprechen, ausgezeichnet
zusammenstimmen würden. Der Ort, aus dem die Seelen kommen,
wäre dann, wie in der Tat in dem direkt davorstehenden § 32, die
Bina. Im übernächsten Paragraphen, § 36, ist diese Symbolik dann

134 Vgl. z. B. in der, aus alten Quellen über Ma'asseh Bereschith stammenden
Kosmologie des Buches Raziel, Amsterdam 1701, Bl. 22b.

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122 Das Buch Bahir

freilich in einem rein gnostischen und wohl anderer Quellenschicht


entstammenden Stück über die „Tochter" nicht mehr auf die Bina,
sondern auf die letzte Sephira bezogen. Die beiden Paragraphen ge-
hören verschiedenen Schichten an und sind nur durch die Exegese
des Wortes „Gold" assoziativ miteinander verbunden.

6. Die unteren sieben Sephiroth — Die Glieder des Urmenschen und


ihre Symbolik — Der Ort des Bösen

In vielfacher Weise werden die sieben nächsten Logoi, denen die


Betrachtungen des Bahir größtenteils gelten, als eine besondere Ge-
samtheit hervorgehoben. Alle zehn „Könige" (§§ 19, 32) sind zwar
eine Einheit, so wie die zehn Gebote bei der Offenbarung alle „in
einem Worte ausgesprochen wurden"137, aber unter den höchsten drei
„Worten" stehen in der Hierarchie des Pleroma sieben andere Worte,
die auch die sieben „Stimmen" sind, mit denen die Tora gegeben
wurde, und die sieben Stimmen, von denen Ps. 29 spricht (§§ 29, 32 ;
die Details sind hier recht undurchschaubar). Sie sind auch die sieben
Tage der Woche, vor allem natürlich der Schöpfungswoche, von denen
jeder eine eigene Potenz oder Kraft hat, mit der er „jene Wirkung
vollbringt, die in seine Macht gegeben ist" (§§ 54, 55, 105, wo die Aus-
drücke Logos und Potenz für diese Äonen synonym durcheinander
gebraucht werden). In Gleichnissen wird auch von den sieben Söhnen
gesprochen, denen der König ihren Ort in hierarchischer Folge anwies,
von denen aber jeder, auch der letzte, in gleicher Nähe zu ihm sein
will (§116), oder von den sieben „Gärten" des Königs. Aus diesen
sieben „Urtagen" sind den Patriarchen die ihnen zugeordneten und
für sie charakteristischen Potenzen zugekommen, die sie in dieser
Welt durch ihre persönliche Führung mit Kraft erfüllt und in der
Welt manifestiert haben (§§ 92, 131, 132). Es sind auch die Sieben,
für die, wie hier (§§ 41, 45) Ps. 119 164 gedeutet wird, der Psalmist
Gott täglich preist. Vor allem aber sind sie die sieben „heiligen Formen"
Gottes, denen entsprechend Gott den Menschen in seinem Bilde schuf.
Von „heiligen Formen" spricht das Buch in verschiedenen Zusammen-
hängen. In § 67 heißen so die Archonten der Völker. In § 77 lernen
wir ebenfalls 72 solcher heiligen Formen kennen, die mit den 72 Namen
Gottes und den 72 Formen am Weltenbaum in § 64 offenbar zu-
sammen hängen. Eine andere Zählung solcher Formen scheint in § 67
vorausgesetzt zu werden (und in Fortsetzimg davon in § 69), wo von
187
So z. B. schon im Midrasch Tanhuma, Par. Jithro, § 11: „Die zehn Worte gingen
in einer Stimme aus Gottes Mund hervor . . . und die Stimme teilte sich in sieben Stim-
men."

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Die unteren sieben Sephiroth 123

den Formen die Rede ist, die die 32 Wege der Sophia, aber auch den
„Weg zum Baum des Lebens" bewachen. Ob das Engelkräfte sind
oder präexistente Formen der Hokhma, bleibt unklar. Zuerst, heißt
es in § 69, war eine Potenz jener Formen präexistent, die dem my-
stischen Garten Eden (dessen Stellung nicht präzisiert wird) zuge-
ordnet sind oder ihm vielleicht inhärieren. Erst dann erhielten die
„heiligen Formen" selber Sein. Diese Formen könnten dann schon
dieselben sein, die durch die mystische Kraft des Opfers, nach § 78,
einander nahegebracht und zu „einem Baum" werden.
Im Zusammenhang dieser sieben Formen ist nun, am deutlichsten
in § 116, unverkennbar auch in §§ 55 und 114, stets von den sieben
Gliedern die Rede, die in der Hauptsache den Menschen ausmachen.
Zweifellos entsprechen hier also den Gliedern des irdischen Menschen
solche des Urmenschen, welche diese „heiligen Formen" sind. Der Be-
griff eines Adam qadmon oder Makroanthropos (philonisch gesprochen),
der die Gesamtheit dieses kabbalistischen Pleroma aller Äonen und
Potenzen in sich faßt, ist im Bahir noch nicht als solcher vorhanden ;
sicher aber ist es die Sache selbst. Denn auch die drei höchsten Logoi
lassen sich ja, wie wir gesehen haben, wenn auch nicht als anatomische
Glieder des Urmenschen, so doch als die höchsten intellektuellen
Kräfte charakterisieren, Denken, Weisheit und Einsicht, die in ihm
wirken. Damit ist ohne Zweifel eine Beziehimg zwischen der alten
Schi'ur Qoma- Spekulation und deren frühkabbalistischer Umdeutung
im Bahir geschaffen, auch wenn in unserem fragmentarischen Text
dieser Ausdruck nicht vorkommt. Mit Recht haben alle folgenden
Kabbalisten die Ausführungen des Bahir über die Sephiroth oder die
Formen Gottes als eine solche mystische Interpretation der alten
Vorstellung verstanden. Dort wurden ja die Glieder des Urmenschen
beschrieben, wie ihn Ez. 126 auf dem Thron der Merkaba sah, oder
wie ihn das Hohelied in den Schilderungen des Geliebten beschrieb.
Dort war von einer Verbindung dieser Vorstellung mit den Sephiroth
des Buches der Schöpfung oder den Logoi, durch die die Welt ge-
schaffen wurde, noch keine Rede. Den Redaktoren des Bahir muß
sie schon selbstverständlich gewesen sein. Schon im alten Schi'ur
Qoma selbst war das, was auf dem Thron erschien, nicht Gott selbst,
sondern seine Glorie, die dort auch „der Körper der Schekhina"
heißt, Guph ha-Schekhina, das heißt die Darstellung der Gegenwart
Gottes unter körperlichen Symbolen, wie der Ekstatiker ihrer vor
Gottes Thron inne wird.
Entsprechend allem, was wir in der irdischen Welt finden, gibt es
Urbilder, Demujoth, davon oder Kräfte, aus denen es schöpft, im
Himmel. Die Zahl dieser Kräfte ist auf die der Sephiroth oder Logoi
beschränkt, während die der Urbilder nicht zahlenmäßig festgelegt
scheint. Jedoch ist ein gewisses Schwanken hier unverkennbar. Die

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124 Das Buch Bahir

Kräfte, die den sieben Gliedern im Menschen entsprechen (§§ 55, 116),
sind mit leichten Variationen fest umschrieben. Gott hat aber nicht
nur diese sieben Formen, sondern auch „siebzig Gestalten", Qomoth,
die wohl solche Urbilder sind, wie wir in § 107 in einer Deutung der
siebzig Palmen, die nach Ex. 15 27 Israel in Elim fand, lesen: sie
wurden dort mit den Urbildern dieser Palmen „begnadet", das heißt
doch wohl: sie erlangten einen geistigen Rang, an dem sie diese Ge-
stalten erfassen konnten. Die in diesem Zusammenhang in § 112 vor-
gebrachte Begründung der Gleichsetzung dieser mystischen Gestalten
mit den Palmen aus Hohelied 7 8: „Deine Gestalt gleicht der Palme"
ist die nächste Annäherung, die sich im Bahir an die Terminologie
des Schiur Qoma findet. Vielleicht sind diese Gestalten auch mit
den siebzig Namen Gottes zusammenzubringen, die in mehreren
Midraschim erwähnt werden138. Diese Gestalten selber schöpfen schon
aus den im selben Exodusvers erwähnten „zwölf Wasser quellen",
die aber (§§ 111 und 112) auch den „zwölf einfachen Konsonanten"
der Sprachtheorie des Buches der Schöpfung zugeordnet werden.
Über den Ort dieser Gestalten und Quellen im Verband des Äonen-
schema im Bahir erhalten wir keinen präzisen Aufschluß. Immerhin
liegt es nahe anzunehmen, daß sie alle nur verschiedene Manifestations-
weisen der letzten Sephira sind. Der Anfang des Verses: „Sie kamen
nach Elim", 'Elimah, wird in § 111 durch ein mystisches Wortspiel
erklärt: 'Elimah sei soviel wie 'Eli mah, was entweder heißt „zum
Was" oder „Mein Gott ist [das] Was". Und in dieser Sphäre des Was
fanden sie die zwölf Wasserquellen, die wohl auch die zwölf „Quellen
der Weisheit" sind, die in Verbindung mit den zwölf magischen Namen
und in Verbindung mit einem anderen Symbol der letzten Sephira
am Ende von § 81 erwähnt werden. In der Tat wird dieses mystische
Was, wie die Kabbalisten es dann stets gebrauchen, ein Symbol der
unteren Sophia sein, als ein höchster dem Menschen noch erfaßbarer
Gegenstand, ein Was seines Forschens oder seiner Betrachtung. Im
Bahir kommt diese später sehr beliebte Symbolik sonst nicht mehr vor.
Die Darstellung dieser sieben Kräfte oder Sephiroth erfolgt nun in
einer Kombination oder einem Nebeneinander von anthropologischer,
kosmologischer, moralischer und der Merkaba entlehnter Symbolik.
Diese Verbindung ist ein Charakteristikum der kabbalistischen Gnosis
des Bahir und eine der wichtigsten Erbschaften, die sie den darauf-
folgenden Generationen der Kabbalisten hinterlassen hat. Die Vor-
bindung mindestens der ersten drei Elemente ist auch für die antike
Gnosis oft bezeugt und hat ihre Wurzeln vielleicht schon in den
ältesten Quellen, die Bahir zugrunde lagen. Es ist klar, daß, sobald
das Buch Jesira mit seiner kosmologischen Symbolik mit der Mer-

188 Vgl. 'Agadath Schir ha-Schirim, ed. S. Schechter, Cambridge 1896, S. 9.

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Die unteren sieben Sephiroth 125

kaba- und Schiur Qoma- Spekulation in der Beschreibung der Welt


der Gottheit verbunden wurde, eine solche Kombination sich ergab.
Aber auch die gnostischen Stücke in den Pseudo-Klementinen, deren Zu-
sammenhang mit jüdischen Gedankengängen noch ersichtlich ist, haben
schon dieselbe Verbindung moralischer und kosmologischer Symbolik.
Die sechs Richtungen des Raumes und der heilige Tempel als ihr
Zentrum werden in § 55 direkt mit den sieben Gliedern des irdischen
oder himmlischen Menschen zusammengebracht. „Was sind die sieben,
von denen es heißt (Gen. 127) : ,1m Bilde Gottes schuf er ihn', in all
seinen Gliedern und in all seinen Teilen ? . . . Er sagte zu ihm : die
[Stelle der] Beschneidung und das Weib des Menschen rechnen wir
als eines, seine beiden Hände — drei, sein Kopf und sein Rumpf —
fünf, seine beiden Beine — sieben, und ihnen entsprechen ihre Kräfte
im Himmel." In § 114 ist die Aufzählung dahin variiert, daß die Stelle
der Beschneidung und das Weib des Menschen gesondert gerechnet
werden, wodurch acht Glieder139 entstehen, die auf sieben nicht durch
die Aufeinanderbeziehung des Männlichen und Weiblichen (wie in
§ 55), sondern durch die Bemerkung, der Rumpf und die Stelle der
Beschneidimg seien im Grunde nur eines, reduziert werden. Wieder
anders ist die Zählung in § 116: die Beine, die Hände, der Rumpf mit
der Stelle der Zeugung [als eines] und der Kopf, wozu als siebentes
das Weib tritt, das ja mit dem Mann nach Gen. 2 24 ,,ein Fleisch"
bildet, und die ja selber aus einem seiner Glieder entstanden ist. Hier
ist also klar, daß der Begriff der Glieder schon eine wichtige Erwei-
terung erfahren hat, die offenbar mit der Syzygien-Vorstellung des
Bahir zusammenhängt. Die doppelte Schreibung der Konsonanten
Nun und Mem deutet, wie es in Fortsetzung von § 55 in §§ 56—58
erklärt wird, auf diese Konjunktion von Männlichem und Weiblichem.
Ja, sogar die Erlösung wird in einem dunklen Satz, der den Namen
des Messias Jinon interpretiert, auf diese Konjunktion zurückgeführt.
Ps. 72 li : „Vor der Sonne aufsprosse sein Name" wird in Sanhédrin
98b gedeutet: Vor der Sonne [vor der Weltschöpfung] ist sein [des
Messias] Name Jinon. Dieser Name enthält die beiden Nun, und dazu
setzt Bahir §58 hinzu: „Durch Männliches und Weibliches muß es
geschehen", was sich wohl weniger auf die Entstehung des Namens des
Messias aus der Vereinigung der beiden Prinzipien beziehen soll als
auf die Erlösung selber. Dies ist jüdische Gnosis in ausgesprochenem
Kontrast zu antinomistischen und enkratitischen Tendenzen. Denn
auch eine berühmte apokryphe Äußerung Jesu in gnostischen Evan-
gelien spricht von der Überwindung des Männlichen und Weiblichen

139
Bahir spricht hier von acht Qesawoth am Menschen, ein Begriff, den es aus dem
Buch der Schöpfung übernommen hat, wo es die „Begrenzungen" des Raumes, d. h.
die Himmelsrichtungen, bedeutet.

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126 Das Buch Eahir

in der Erlösung, die ihre ursprüngliche Einheit wiederherstellt140,


aber nicht davon, daß solche Erlösung aus der Vereinigung des Männ-
lichen und Weiblichen selber entsteht. Die Konjunktion der beiden
Prinzipien ist ja nicht dasselbe wie ihre Überwindung in der Wieder-
herstellung des androgynen Urzustandes. Diese Syzygie des Männ-
lichen und Weiblichen ist eine Voraussetzung für den Bestand aller
Welten. Nach dem Urbild des Weiblichen, von dem Hohelied 611
spricht: „Wer ist die, die erscheint wie die Morgenröte usw. ?", wurde,
nach § 117, „das Weib vom Manne genommen, denn obere und untere
Welt können unmöglich ohne das Weibliche bestehen". Die beiden
Verben zakhor und schamor, die bei der Einführung des Gebots der
Sabbathheiligung alternierend gebraucht werden141 — wörtlich
„erwähne" oder gedenke, d. h. aktiv, und „bewahre", d. h. passiv —,
werden in § 124 auf das Männliche und Weibliche bezogen, als Prin-
zipien der himmlichen oder göttlichen Welt. Dabei spielt für die
Assoziation des Autors natürlich die Doppelbedeutung von zakhor,
das im Hebräischen sowohl „gedenke" als auch „männliches" be-
deuten kann, eine Rolle. Auch in § 36, auf den ich noch bei der Be-
sprechung der Symbolik der letzten Sephira zurückkomme, liegt die
Vorstellung einer selchen Syzygie des Männlichen und des Weiblichen
durch das Medium der Weisheit oder Tora zugrunde.
In der Tafel der zehn Logoi erscheint diese anthropologische Sym-
bolik aber nur in einer Variation der Ausführung über den achten
Logos (§ 114). In der Quelle, das heißt der entsprechenden Tafel im
Raza Rabba, scheint diese Symbolik noch nicht gestanden zu haben,
die vielmehr aus anderen jüdisch-gnostischen Quellen hereingekommen
ist. In der ursprünglichen Tafel spielte offenbar vom 4. bis zum 10. Äon
gerade Merkaba-Symbolik eine entscheidende Rolle. Wir sahen das
in den Analysen des vorvorigen Abschnitts über das „Große Myste-
rium", und auch der Text des Bahir, wie er jetzt in §§ 96, 102, 105,
115 vorliegt, bewahrt diese Beziehung aufs deutlichste. Darin unter-
scheidet er sich prinzipiell von der späteren Symbolik dieser Sephiroth,
die von einer solchen Identifikation der Sephiroth mit Merkaba-
Objekten nichts mehr wissen will und sie bestenfalls als Symbole
betrachtet, die von der wirklichen Merkaba, die unter der Welt der
Sephiroth liegt, zu unterscheiden sind. Im Bahir freilich werden neben
den Merkaba-Objekten noch andere Symbole der obengenannten Art
aufgezählt, die auf andere Motivketten zurückgehen. Aber jedenfalls
haben wir hier die Folge:
no Vgl. die Besprechung der einschlägigen Stellen bei J. Doresse, l'Évangile selon
Thomas, S. 155—161.
141
Ex. 20 8 heißt es: „Gedenke des Sabbathtages", in Deut. 5 12 aber: „Bewahre
den Sabbathtag". Daß „bewahren" gerade sich aufs Weibliche bezieht, steht in ganz
anderem Zusammenhang schon im Midrasch Tanhuma, ed. Buber. IV, S. 34.

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Die unteren sieben Sephiroth 127

4 und 5 : Gottes Rechte und Linke, aus deren Kraft die Hajjoth
und Seraphim stammen, die „zur Rechten und Linken
stehen". Sie werden dann in einem langen Satz beschrieben,
der dem feierlichen Stil nach offenbar aus einer Merkaba-
schrift genommen ist.
6: Der Thron der Glorie.
7: Der 'Arabhoth-Himmel, in der Merkaba-Gnosis stets der
höchste der sieben Himmel.
8: Hier fehlt offenbar die ursprüngliche Entsprechung zur
Merkaba, und stattdessen ist ein Satz über den „Ge-
rechten" als Äon angeführt, dessen Fortsetzung aber
wiederum der formelartigen Sprache nach aus einer äl-
teren Quelle stammen muß, die etwas in der Thronwelt
Gottes beschrieb, was jetzt durch das mystische Symbol
des „Gerechten" ersetzt worden ist. Vergleiche dazu
weiter unten.
9undl0: Die Räder der Merkaba, 'Ophannim.
Hierzu treten aber, wie gesagt, Symbole ganz anderen Charakters,
zum Teil in der erwähnten Tafel selber, mehr noch an vielen anderen
Stellen des Bahir. Hierbei sind die Symbol-Zuordnungen für den
4.—6. dieser Logoi ziemlich konsistent, während hinsichtlich der
letzten Sephiroth so eklatante Widersprüche bestehen, daß sie sich
nur mit der Annahme befriedigend erklären lassen, daß hier Frag-
mente aus verschiedenen Quellen nebeneinandergestellt sind. Die
4.—6. Stelle wird vor allem durch folgende Dreiheiten ausgefüllt:
die Middoth, Eigenschaften oder Attribute, der Gnade, der Strenge
oder des Gerichts, Hessed und Din oder Pahad (z. T. schon als
Stärke Gebhura bezeichnet), zwischen denen die Wahrheit, 'Emeth,
ausgleicht (§§24, 77, 92, 94, 129, 131).
Links, Rechts, Mitte (§§35, 77, 96, 102).
Wasser, Feuer, Vereinigung beider Elemente im „Himmel", ent-
sprechend der talmudischen Kosmologie und Etymologie des
Wortes Schamajim als Zusammensetzung aus 'Esch und Majirn
(§§ 9, 29, 30, 40, 68, 96, 102).
Die drei Patriarchen, Abraham als Repräsentant der Liebeserweisung
oder Gnade, Hessed·, Isaak als Repräsentant der Strenge oder
Furcht, Pahad; Jakob als Repräsentant der Wahrheit und des
Friedens (§§ 92, 94, 131, 132, was mit der Symbolik von „Wahr-
heit und Friede" in § 50 zusammenhängt).
Zu dieser Reihe gehören auch die „Urbilder" von Wein und Milch in
§ 93 sowie die Symbolik von Silber und Gold in §§ 34 und 38, die der
Rechten und Linken Gottes, seiner Gnade und Strenge entsprechen.
Mit den Vorstellungen des Buches Jesira über die Sephiroth haben

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128 Das Buch Bahir

diese Symboliken, die großenteils aggadische Motive benutzen und


gnostisch überhöhen, nichts mehr zu tun. Die talmudische Aggada
kennt vor allem zwei Haupteigenschaften, Middoth, Gottes, Hessed
und Din, Liebe und Strenge, wobei Middath ha-Hessed und Middath
ha-Rahamin synonym sind und kein Unterschied zwischen ihnen
gemacht wird. Gottes „Liebe" und sein „Erbarmen" sind für die
Aggada dasselbe. Das scheint auch noch für Bahir zu gelten, wo die
„Eigenschaft des Erbarmens" nur einmal (§ 24) erwähnt wird und dem
Zusammenhang nach im selben Sinn wie die der Gnade oder Liebe
— das hebräische Wort Hessed bedeutet beides. Dies ist bemerkens-
wert, weil es auf ein ältestes Stadium der kabbalistischen Symbolik
weist. In allen anderen kabbalistischen Texten nämlich wird das Er-
barmen, Rahamin, als der Ausgleich zwischen Liebe und Strenge an-
gesehen. Diesen Ausgleich stellt im Bahir aber, soweit abstrakte
Begriffe gebraucht werden, gerade die Eigenschaft der Wahrheit dar,
die in Micha 7 20 mit Jakob verbunden wird: „Du gibst Jakob Wahr-
heit". Im selben Vers wird auch Hessed mit Abraham verbunden.
Die Wahrheit ist in § 94 auch mit der Tora verbunden, in dem aus
Mal. 2 6 entnommenen Symbol der „Tora der Wahrheit". So heißt
es dort: „Die Midda, die Israel heißt, enthält in sich die Tora der
Wahrheit. Und was ist diese .Tora der Wahrheit' ? Etwas, das auf
die wahre Natur der Welten hinweist und dessen Wirken durch die
Mahschabha geschieht, und es verleiht den zehn Logoi Bestand, durch
welche die Welt besteht, und ist selber einer von ihnen." Hier ist
also zwischen die Sophia als Ur-Tora und die mündliche Tora als
letzte Sephira, die wir beide schon kennengelernt haben, ein mittlerer,
im Zentrum des Äonenschemas stehender weiterer Aspekt der Tora
eingeschaltet, der ganz dem entspricht, was später von den Kabbalisten
als die „schriftliche Tora" im Sinne der überlieferten talmudischen
Terminologie bezeichnet wurde. Von ihr ist direkt in § 99 die Rede,
wo sie das Licht ist, das die Lampe der mündlichen Tora nährt: „So
ist die mündliche Tora: obwohl sie eine Lampe ist, bedarf sie der ge-
schriebenen Tora, ihre Schwierigkeiten aufzulösen und ihre Geheim-
nisse zu erklären". Der Zusammenhang der dortigen Ausführungen
mit der Vorstellung vom verborgenen Urlicht (§§ 97 und 98) könnte
eher darauf hinweisen, daß die schriftliche Tora hier ursprünglich
nicht mit der sechsten, sondern mit der dritten Sephira verbunden
war, bei deren Erörterung wir ja sahen, daß die Tora in ihr „behauen"
wurde und spezifische Formen annahm. Das würde zu der an mehreren
Stellen (§§ 131, 133) hier vorgenommenen Identifikation zwischen
der dritten Sephira und dem Urlicht durchaus passen. Andererseits
sind die Einschaltungen in die Tafel der Logoi, in denen von §§ 97—100
über die Tora gesprochen wird, gerade nach den Ausführungen über
die sechsten Sephira erfolgt, was zu der späteren Lokalisation dieser

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Die unteren sieben Sephiroth 129

Symbolik paßt. Es ist also schwer, hier eine sichere Entscheidung zu


treffen. Die Logoi-Tafel selber weiß an sechster Stelle nichts von der
Tora, so wie sie auch von der Symbolik der drei Patriarchen nicht
weiß. Ihr zufolge ist der Thron der Glorie „das Haus der kommenden
Welt lind sein Ort eingegraben in die Hokhma"l42. So wie also die
zweite Sephira Hokhma ein „Schatzhaus" in der dritten hat, so hat
die dritte, die in § 106, wie wir sahen, als die „kommende Welt" be-
zeichnet wird, ein „Haus" in der sechsten. Die Bemerkung über ihren
Ort, der in die Hokhma eingegraben ist, ist mir nicht verständlich.
In einer der Einschaltungen, die hierauf folgen, ist aber in der Tat
in § 101 eine Beziehung zwischen dem Thron Gottes und der „Krone
der Tora" hergestellt. Diese Krone wird dort in einem paradoxen
Gleichnis mit den Kopf-Tephillin verglichen. Denn nicht nur der Jude
legt diese Tephillin jeden Morgen als Krone an, die er Gott darbringt,
sondern nach der talmudischen Aggada in Berakhoth 6 a trägt Gott
selber solche Tephillin, die in §§ 25 und 101 mit einem Thron ver-
glichen werden, den der König „manchmal in seine Arme nahm,
manchmal auf sein Haupt setzte".
Die im Bahir sehr nachdrücklich vertretene Idee von den drei Pa-
triarchen als den irdischen Repräsentanten der drei göttlichen Middoth
der Liebe, Furcht und Wahrheit setzt in ganz neuer Richtung ein
Motiv fort, das schon in dem mystischen Aggadawort aus dem 3. Jahr-
hundert: „Die Väter sind selber die Merkaba"143 auftritt und von
jedem der drei Patriarchen ausgesagt wird. Dort erscheint dieses
kühne Wort im Zusammenhang von Schrift-Exegesen, aus denen
es aber sicherlich nicht ursprünglich geflossen ist. Im Bahir, in dem
(so wenig wie in den Hekhaloth) dieses Epigramm gar nicht zitiert
wird, wird sein Gedankengang weitergedacht. Die Eigenschaft, die
jeder der Patriarchen in seinem Leben verwirklichte, deren „Urbild"
oder himmlische „Kraft" wurde ihm gegeben (§ 92). In § 132 heißt
es geradezu: „So sprach die Eigenschaft der Liebe, Hessed: Solange
Abraham auf der Welt war, brauchte ich mein Werk nicht zu tun,
denn Abraham stand dort an meiner Stelle und hütete meine Hut
[erfüllte meine Aufgabe]. Denn das ist mein Werk: Fürsprache für
die Welt zu tun." All dies tat Abraham, der die Welt zur Buße auf-
rief und auch für die Schuldigen plädierte. So sind die Patriarchen
geradezu Verkörperungen der Prinzipien göttlichen Waltens, die sie
sich als Leitschnur ihres Verhaltens gewählt haben.
Der „Himmel", der zwischen den Middoth des Wassers und Feuers
ausgleicht und Frieden schafft, erweist sich damit schon als Symbol
einer Potenz, die nicht mehr einfach den Elementarmächten Wasser,
142 Die Begründung dieses Satzes aus Gen. 1 3 ist ganz uneinsichtig, und vielleicht

nur als Übergang zu den Paragraphen über das Urlicht in §§ 97 ff. zu verstehen ?
143 Bereschith Rabba, ed. Theodor, S. 476 (Abraham), 793 (Isaak), 983 (Jakob).

Scholem, Kabbala 9
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130 Das Buch Bahir

Feuer und Himmel gleichzusetzen ist. In § 102 wird der Himmel als
weitere Ausführung des Satzes über 'Arabhoth als siebenter Logos
angeführt, aber alles, was darüber gesagt wird, paßt nicht zum sieben-
ten, sondern zum sechsten Logos. Die Lösung des Widerspruchs
dürfte sein : die Quelle der zehn Logoi, in der auf den Thron der Himmel
'Arabhoth folgte, war eine Merkaba- Quelle, wie wir sie zum Beispiel
in den Resten der Liste aus dem Raza Rabba noch vor uns haben.
Diese Quelle wußte noch nichts von einer kosmologischen Symbolik,
die Wasser, Feuer und Himmel diesen Logoi zuordnete. Da in der
Merkaba der Thron sich über 'Arabhoth erhebt, lag die Überordnung
in dieser Folge nahe. Als aber die Zuordnung der ursprünglichen Logoi
zu weiteren Symbolen begann, mit der Entwicklung des eigentlich
kabbalistischen Schemas, und die drei ersten Triaden, die ich oben
aufgezählt habe, hinzutraten, erforderte die immanente Logik die
Einführung jener Triaden die Placierung von Schamajim, Himmel,
an die sechste Stelle, was aus Jes. 661 : „Schamajim ist mein Thron"
leicht begründet werden konnte. In der Tat wird in § 65 der Thron
ausdrücklich mit dem Himmel gleichgesetzt. Der Jesaja-Vers, den
man hier erwarten würde, wird freilich erst für die Fortsetzung über
die Erde als Schemel seiner Füße in § 115 angeführt. Auch in § 40
wird „Himmel" in diesem prägnanten Sinn mit der „Wahrheit", also
einer schon fixierten Bezeichnung des sechsten Logos identifiziert;
ebenso findet sich hier die Verbindung mit dem Kopf, Rosch, die in
einem undurchsichtigen Satz auch in § 102 vorkommt („Warum heißt
er Himmel? Weil er rund wie ein Kopf ist"). Ich nehme daher an, daß
der Hauptteil von § 102 in Wirklichkeit eine Erklärung des sechsten
Logos ist, aus dem dargelegten Grunde aber mit dem siebenten ver-
bunden wurde, über den ursprünglich nur die Anfangsworte der be-
treffenden Aufzählung in § 102 sprachen.
Daß wir es im Bahir mit einer Redaktion zum Teil widersprechender
Quellen zu tun haben, erweist sich nicht weniger drastisch an einer
Analyse der Aussagen über Gottes Linke und über die Natur des
Bösen. Die Tafel in § 96 weiß von einer Verbindung des „großen
Feuers" Gottes und seiner Linken mit dem Prinzip des Bösen noch
nichts. Im Gegenteil, zu Gottes Linken stehen die „heiligen Seraphim",
zu denen wohl auch Gabriel zu rechnen ist. Eine andere Ausführung
über die Linke und Rechte Gottes haben wir in § 77, wo die 72 Namen
Gottes aus der magischen Tradition, die in §§ 76 und 79 besprochen
waren, mit dem kabbalistischen Äonen-Schema in Zusammenhang
gebracht werden144. Die 72 Namen teilen sich in 3x24, und über
je 24 ist ein Archont, Sar, gesetzt. „Und wer sind diese Archonten ?
144
§ 77 gehört zweifellos nach § 79, den er fortsetzt oder erklärt. §§ 77—78 sind
bei der Redaktion ungeschickt in das einheitliche Stück 76/79 eingeschoben worden.

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Das Böse 131

Es sind drei. Das lehrt, daß die 'Stärke', Gebhura, Archont aller hei-
ligen Formen von der linken Seite Gottes ist, und das ist Gabriel,
und von seiner Rechten ist Archont über alle heiligen Formen Michael,
und in der Mitte, die die .Wahrheit' ist, ist Uriel der Archont über
alle heiligen Formen. Und jeder Archont [herrscht über] 24 Formen,
aber seine Scharen sind zahllos, nach Hi. 25 3." Hier herrscht eine
gewisse Vermischung der abstrakten Sephirothnamen wie Gebhura,
Dynamis oder Stärke, und 'Emeth, Wahrheit, mit den Namen der
Archonten, die Engelwesen sind. Diese Vermischung, die später in
der Kabbala ganz undenkbar wäre, kehrt, wie wir sahen, auch in
§ 96 wieder, wo die Rechte und Linke überhaupt nicht durch abstrakte
Äonennamen bezeichnet werden, sondern in konkreterer Form als
Gottes Gnadenerweise und Gottes großes Feuer sowie durch Engel-
ordnungen, die unter ihrem Einfluß stehen. Diese Engelordnungen
sind aber verschieden von denen in § 77.
Ganz anders sieht diese Lehre von der „Linken Gottes" aber in
den Stücken über den Satan aus, die von §§ 107—113 einen einheit-
lichen Zusammenhang bilden und in die Liste der zehn Logoi offenbar
später hineinredigiert worden sind. Was erfahren wir hier über den
Satan ? In § 107 ist er auch der „Nordwind", eine Kraft, die aus dem
Norden her wirkt, wofür in §§ 109 und 110 Jer. 114 angeführt wird.
Der Bericht in Ex. 15 23 über Mara „dort hielt er ein Gericht und dort
versuchte er es", wird — vielleicht auf Grund einer alten aggadischen
Quelle, die verloren ist ? — dahin gedeutet, daß Gott dort Gericht
über den Satan gehalten habe, der Israel versuchte. Die Versuchung
wird hier in aggadischer Sprache ausführlich geschildert. Um das
Wasser von Mara stand der Baum des Lebens, ein sehr merkwürdiges
Motiv, das gerade in der ältesten Aggada sich findet und nachher
nicht mehr auftritt 145 . Diesen Baum des Lebens habe der Satan dort
weggenommen, um Israel dadurch zur Sünde gegen ihren himm-
lischen Vater zu verleiten. Als Moses aber den Satan sah, „da schrie
er zu Gott, und Gott zeigte ihm einen Baum [Ex. 15 25], jenen Baum
des Lebens, den der Satan fortgenommen hatte, und er warf ihn in
das Wasser". Dies Werfen wird hier aber zugleich als ein Niederwerfen
des Satans und Verminderung seiner Macht gedeutet. Man wird
Ruah Sephonith hier vielleicht besser mit „Geist aus Norden" als
mit Nordwind übersetzen. In diesem Stück werden zwar schon die
siebzig „Urbilder" erwähnt, die sie in Elim im Bild der siebzig Palmen
145 vgl. L. Ginzberg, Legends of the Jews, Bd. 6, S. 14, der diese Aggada schon in
den pseudo-philonischen „Altertümern" nachweist, einem der ältesten Midraschim, den
wir überhaupt besitzen. Eine ähnliche Erklärung wie Bahir hat auch der Tora-Kommen-
tar des Rabbenu Ephraim zur Stelle, [Smyrna ca. 1847], Bl. 36a. Die Verbindung
dürfte eine in unseren Texten der Mekkilta nicht mehr erhaltene, von einem mittel-
alterlichen Autor dort aber noch gelesene Stelle bilden.


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132 Das Buch Bahir

erfaßten, der Satan aber gehört nicht dazu, sondern tritt unabhängig
davon auf. In § 113 hören wir dann, daß der Widerspruch zwischen
diesen siebzig Urbildern oder Gestalten, Qomoth, und den 72 Formen
von §§ 76 und 77 sich dadurch auflöst, daß die zwei überschüssigen
Formen oder Archonten Israel und der „Fürst Satan" sind, die also
wohl die 70 Archonten der Völker zur Zahl 72 ergänzen. Was in § 77
die Formen waren, denen Gabriel vorstand, sind hier die Gestalten,
über die, soweit sie zur Linken Gottes sind, der Satan als Archont
gesetzt ist. Er ist hier zugleich der „Archont des Tohu". Noch weiter
geht darin aber § 109, wo er als eine Midda Gottes selber, die im
„Norden Gottes" liegt, bezeichnet wird. Die Stelle geht in der my-
thischen Formulierung weiter als das ihr zugrunde liegende aggadische
Motiv. „Und was ist dies [Prinzip der Verführung zum Bösen, das in
einem Gleichnis direkt vorher erwähnt war] ? Der Satan. Das lehrt,
daß es bei Gott eine Midda gibt, welche ,böse' heißt, und sie liegt im
Norden Gottes, denn es heißt [Jer. 114] : Von Norden her öffnet sich
das Böse; das heißt: alles Böse, das über alle Bewohner der Erde
kommt, kommt von Norden. Und welches ist diese Midda ? Es ist
die ,Form der Hand', und sie hat viele Boten, und der Name von
allen ist ,Böse, Böse', jedoch gibt es unter ihnen kleine und große.
Und sie sind es, die die Welt in Schuld stürzen, denn Tohu gehört zur
Seite des Nordens, und Tohu ist nichts anderes als das Böse, das die
Menschen in Verwirrung bringt, bis sie sündigen, und jeder böse Trieb
im Menschen stammt von dort her." In §§114 und 116 wird aber die
linke Hand als eine der heiligen sieben Formen Gottes bezeichnet,
was gut zu der Bestimmimg des Bösen als Form der Hand in diesem
Zitat paßt. Da nach der Anschauung des Midrasch, auf Grund des
Parallelismus von „Hand" und „Rechte" an mehreren Bibelstellen,
Hand schlechthin die Linke bedeutet, ist klar, was unter der „Form
der Hand" zu verstehen ist. Offenbar schwankte der Redaktor des
Bahir zwischen zwei möglichen Auffassungen, die er in seinen Quellen
fand: in der einen ist der Satan eine der sieben Formen und damit
eine der heiligen Formen selber, in der anderen ist er, mit § 113, die
71. über den dort erwähnten 70 Gestalten.
Der Satz: „Der Heilige, gelobt sei er, hat eine Midda, die böse heißt"
klingt besonders gewagt. Freilich ist das nur eine Überhöhung alter
aggadischer Anschauung. Auch dort ist die „Eigenschaft der Strenge",
Middath ha-Din, personifiziert gedacht und tritt vor Gott redend auf.
In Parallelversionen steht stattdessen „der Satan" oder sogar die
„Engel des Dienstes"14®. Im Bahir ist das Böse eine der Mächte oder

146 Das beste Beispiel bildet die Aggada über die Versuchung Abrahams im Anschluß

an Gen. 22 l. In Sanhédrin 89b spricht der Satan; in Beresckitk Rabba Par. 65, § 4,
ed. Theodor, S. 687, sprechen die Engel, die den himmlischen „Gerichtshof" bilden;

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Das Böse 133

Kräfte, durch die Gott wirkt und sich manifestiert. Von einer pri-
vativen Auffassung des Bösen, wie sie den Philosophen geläufig war,
ist hier keine Rede. Dabei ist aber bemerkenswert, daß die Etymologie,
die § 110 für das Wort Satan anbietet, dieselbe ist, wie sie Maimonides
im „Führer der Verirrten" III, 22 gibt. Dies braucht keine Entlehnung
zu sein, da solche Etymologie homiletisch nahe genug lag. Das Nun
in Satan wird nicht als Stammkonsonant betrachtet, sondern als
Bildungsaffix der nomina agentes. So ergibt sich aus der Wurzel ΠΒΟ
für Satan die Bedeutung: „Der hinunter Neigende, denn er ist es,
der die Welt nach der Seite der Schuld zu neigen sucht" 147 . Diese
Identifizierung des Bösen mit einer Midda Gottes und dem Tohu
dürfte zu den neuàrtigen kühnen Formulierungen des Bahir gehören,
die bei frommen liesern wie Meïr ben Simon aus Narbonne das Buch
in den Verdacht der Häresie brachten. In § 93 wird tatsächlich „das
Tohu, aus welchem das Böse stammt", mit dem „Feuer Gottes"
identifiziert, und im Zurückgriff auf § 92, mit der „Furcht", Pahad,
der Eigenschaft Isaaks, die wir schon als identisch mit der Middath
ha-Din und der Gebhura Gottes kennengelernt haben. Diese Erklärung
von Tohu, die es mit dem fünften Logos der Tafel in § 96 zusammen-
bringt, ist vielleicht schon eine kabbalistische Variante der Auffassung
des Tohu als Prinzip der Materie in § 2, deren philosophische Quelle
in Abraham bar Chija wir oben S. 54 kennengelernt haben. Auch in
§ 9 sind Tohu und Bohu als das Böse und der Friede erklärt, aber die
Fortsetzung bringt auch hier nicht etwa den Satan, sondern wie in
§ 77 Gabriel als Archonten der Linken, der Feuer ist. Eine rein harmo-
nistische Deutung des Bahir würde zu der Folgerung zwingen, für
die Anschauungsweise des Buches eine Identifikation von Gabriel
und dem Satan anzunehmen. In Wirklichkeit verhält es sich aber
eben so, daß über die Linke zwei verschiedene Traditionen vorlagen,
die bei der Redaktion vereinigt oder nebeneinander gestellt wurden,
wie es dem Charakter des Bahir als einem Midrasch entspricht. „Kon-
sequenzmacherei" war dabei nicht beabsichtigt. Die Einschaltungen
in §§ 106—113, die im Sinne der kabbalistischen Symbolik, die den
Redaktoren vorschwebte, sich auf den 3. und 5. Logos beziehen,
stehen aber zwischen zwei Paragraphen, die beide den 8. Logos dieser
Reihe erklären, wo sie offensichtlich nichts zu suchen haben. Freilich
sind diese §§ 105 und 114 selber sonderbar genug, da sie ihrem Inhalt
nach gar nicht den 8., sondern den 7. Logos betreffen. „Er heißt der
achte nur in bezug auf die Zählung, seiner Tätigkeit nach aber ist er
der siebente" (§ 114).

im Jalquf zur Stelle aber (I, § 96) spricht die Middath ha-Din, die dort als einer der
ministrierenden Engel gedacht ist.
147
Dem entspricht auch die auffällige Wortverbindung Sar ha-Satan in § 113.

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134 Das Buch Bahir

7. Die Syzygie des Männlichen und Weiblichen — Die 7. und 10.


Sephira im Bahir — Symbolik des Gereckten

Es wurde schon oben betont, daß die Aufzählung der zehn Logoi
in der ältesten im Bahir erhaltenen Tafel für die 7.—10. von der rezi-
pierten Ordnung der Kabbalisten abweicht. Dies gilt nicht nur für
ihre zum Teil ganz deutliche Identifikation mit Regionen der Merkaba,
es gilt vor allem auch von den spezifischen Aussagen über die 7. (resp. 8.)
und die 10. dieser Kräfte. Diese beiden sind von besonderer Bedeutung
für das Verständnis der sich bildenden Sephiroth-Lehre. Sie bilden,
wie ihre Symbolik zeigt, die Syzygie des Männlichen und Weiblichen,
deren Hineinnahme in die Welt der Äonen die Kabbala in besonders
nachdrücklicher Weise in die gnostische Tradition hineinstellt. In
die alte Tafel von §§ 96 und 102 sind diese neuen Auffassungen über
die 7. Sephira nur als Variante der älteren Angaben hineingearbeitet,
in §§ 104, 105, 114, während die entsprechenden über die 10. Sephira
in dieser Tafel überhaupt nicht auftreten, für die übrigen Teile des
Bahir aber schon eine überragende Bedeutung haben. Auch hier
scheint mir klar, daß mindestens zwei verschiedene gnostische Tradi-
tionen sich im Buch Bahir oder seinen Quellen getroffen haben: die
des Raza Rabba, das heißt einer spekulativen Fortentwicklung der
Merkaba-Gnosis, und eine andere, bisher nicht literarisch identifizier-
bare, von deren Verbindung mit der Symbolik der letzten Sephira
wir schon oben bei der Analyse gnostischer Elemente im Bahir wich-
tige Proben kennengelernt haben. Eine genauere Betrachtung des
Materials über diese beiden Sephiroth im Bahir wird uns über die
älteste Form, die die Kabbala bei ihrem historischen Auftreten in der
Provence hatte, wichtige Aufschlüsse vermitteln.
Der siebente Logos des Bahir entspricht genau dem, was in der
späteren, kanonisch gewordenen Folge der Sephiroth die neunte ist.
Schon hier treten in der Symbolik dieser Region vier Motive zusammen,
die auch weiterhin, selbst bei veränderter Lokalisation innerhalb des
„Sephiroth-Baumes", für sie charakteristisch bleiben: das des Ge-
rechten, das des Welten- und Seelengrundes, das des Sabbath und
das der Phallus-Symbolik. Die in § 103 in einer der drei Variationen
über den siebenten Logos in unserer Tafel (§§ 102—104) gebrachte
Beziehung auf den himmlischen Tempel, der das Denken sei oder im
Denken stehe, fällt aus diesen Motivketten ganz heraus, wie wir oben
bei der Besprechung der ersten Sephira sahen. Sie übernimmt nur
die Idee des „Buches der Schöpfung" von den sechs Dimensionen,
mit denen die Welt, der Raum, versiegelt ist — hier auch in § 21 in
buchstaben-mystischem Zusammenhang benutzt — und in deren
Zentrum in der irdischen Welt der Tempel von Jerusalem, in der Welt

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Die 7. und 10. Sephira 135

der Logoi der himmlische Tempel steht. Das Neue und für die Kabbala
sehr Folgenreiche liegt aber gerade in dem Zusammenschluß jener
anderen Motive.
Das Symbol des Gerechten geht auf die bekannte Aggada in Hagiga
12b zurück: „Auf einer Säule steht die Welt, und ihr Name ist Ge-
rechter, denn es heißt [Prov. 10 2β], der Gerechte ist das Fundament
der Welt." Diese eine Säule kennt der Talmud als Kontrast zu der
anderen Meinung, wonach die Welt auf den sieben Säulen ruht, die
die Weisheit (nach Prov. 9 l) ausgehauen hat. Bei einer Vereinigung
kosmologischer und ethischer Symbolik und Übertragung auf die
Äonenlehre konnte hier also ebenfalls der Gerechte als die Vereinigung
jener anderen Säulen, die in ihm zusammengefaßt sind und welche
die sieben Logoi sind, erscheinen. In der neuen Wendimg ist der Ge-
rechte natürlich nicht mehr jener irdische moralische Idealtypus,
sondern eine kosmische Potenz, die, was die irdischen Gerechten auf
dieser Welt erfüllen, nun für den ganzen Kosmos oben und unten
realisiert. Diese gnostische Überhöhung des talmudischen Begriffs
wird in § 71 deutlich, wo es heißt : „Eine Säule geht von der Erde
bis zum Himmel, und Gerechter ist ihr Name, nach den [irdischen]
Gerechten. Und sind Gerechte auf Erden, so wird sie stark, wenn aber
nicht, so erschlafft sie, und sie trägt die ganze Welt, denn es heißt:
der Gerechte ist das Fundament der Welt. Ist sie aber schlaff, so kann
die Welt nicht bestehen. Darum [heißt es im Talmud, Joma 38 b]:
Ist auch nur ein einziger Gerechter auf Erden, so erhält er die Welt."
Hier ist wohl klar, daß für die Redaktoren des Bahir das tertium
comparationis, das den himmlischen Tempel und den Gerechten als
siebente Sephira gleicherweise empfahl, der Umstand war, daß beide
die Welt oder die sechs Richtungen des Raumes „tragen" und „er-
halten". Daß diese „Säule" von der Erde bis zum Himmel reicht,
kann zwei Bedeutungen haben. Sie kann den kosmischen Lebens-
baum darstellen, der von der Erde bis zum Himmel wächst und der
hier, wie wir schon bei der Besprechung der Baumsymbolik sahen,
in §§ 14 und 64 zum Weltenbaum geworden ist. An ihm steigen die
Seelen der Gerechten auf und nieder. Und so wie der Weltenbaum
auch der Seelenbaum war, von dem die Seelen ausfliegen oder als
dessen Früchte sie erscheinen, so wird nun hier, bei der Umdeutung
des Motivs auf eine einzelne Sephira, diese selber zum Fundament der
Seelen. Es kann aber auch sein, daß Erde und Himmel selber hier
schon als mystische Symbole verstanden werden: Die „Säule" ver-
bindet die „Erde" genannte letzte Sephira mit der „Himmel" ge-
nannten sechsten. Dies würde noch deutlicher im Bild des Hieros
Gamos des Himmels mit der Erde die phallische Symbolik hervor-
treten lassen, die im Bild von der erschlaffenden und erstarkenden
Säule angedeutet ist. Hier darf auf eine gnostische Parallelsymbolik

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136 Das Buch Bahir

hingewiesen werden, die aus derselben Hypostasierung der Funktion


des „Gerechten" oder des „vollkommenen Menschen" in der Welt
entstanden ist. Ich meine die manichäische Vorstellung von einer
„Säule der Herrlichkeit". Diese Säule ist bei den Manichäern mit dem
vollkommenen Menschen identisch. Auch ist sie dort zugleich der
Lebensbaum, durch den (nach dem Bericht des Fihrist) die Seelen der
Gerechten nach dem Tod aus der unteren Welt ins Lichtparadies auf-
steigen, aus dem sie stammen148. Ganz entsprechend steigen ja auch
im jüdischen Midrasch Konen die Seelen der Gerechten am Lebens-
baum auf und nieder nach den Himmeln und von den Himmeln in
das Gan Eden genannte himmlische Paradies, „wie ein Mensch auf
einer Leiter auf und nieder steigt". Der Zusammenschluß dieser Mo-
tive aus dem Kontext an sich ganz verschiedener gnostisch-iranischer
und aggadisch-jüdischer Traditionen heraus läßt sich hier besonders
gut verfolgen. Dasselbe Bild konnte auf verschiedene Weise Zustande-
kommen. Es ist daher nicht ausgemacht, ob wir in diesem Fall auch
einen historischen Zusammenhang vorauszusetzen haben. Der würde,
falls er doch existiert hat, wie mir immerhin am wahrscheinlichsten
scheint, wiederum in den Orient weisen. Es scheint, daß gerade die
katharische Tradition das Bild des vollkommenen Menschen als Säule
nicht bewahrt hat. Die weitere Verbindung der Säule mit dem Phallus
habe ich auch in mandäischen Texten, die phallische Symbolik stark
betonen149, vergeblich gesucht. Es wäre nicht überraschend, wenn sie
in einer Parallelisierung des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos,
wie sie die manichäische Literatur kennt, sich noch nachweisen lassen
würde. Jedenfalls paßt diese ganze Syzygien- und Phallus-Symbolik
in dieselbe orientalisch-gnostische Quellenschicht wie die Schekhina-
Fragmente, die wir oben analysiert haben.
In § 104 wird dieser siebente Logos als der „Osten der Welt" be-
zeichnet, aus dem der Same Israels stammt, „denn das Rückenmark
zieht sich vom Gehirn des Menschen bis zum Phallus, und dorther
stammt der Same, wie es heißt [Jes. 43 5] : Von Osten bringe ich deinen
Samen und von Westen sammle ich dich ein". Die Vorstellung vom
Ursprung des Samens aus dem Gehirn ist im Mittelalter allgemein
verbreitet und stammt aus Galen. Der Phallus ist also der mystische
Osten, dem im Westen, wie wir sehen werden, die Schekhina gegen-
übersteht, von der es in einer talmudischen Diskussion, Baba Bathra
25a heißt: „Die Schekhina ist im Westen." Der Osten und Westen,
der Gerechte und die Schekhina bilden eine Syzygie. So wie wir die
Ii« Vgl. die Analyse des Materials bei G. Widengren, The Great Vohu Manah,
Uppsala 1945, S. 13—16.
149
Dies hat vor allem Lady Drower in ihrer Studie über die Geheimlehre der man-
däischen Priester, The Secret Adam, Oxford 1960, an vielen Stellen deutlich gemacht,
vgl. vor allem ihren Aufsatz über Adamas, Theolog. Literaturzeitung 1961, col. 173—180.

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Der Gerechte 137

Schekhina unter Symbolen des Weiblichen par excellence kennen-


lernen werden, entspricht hier dem siebenten Logos das Mäncnliche
schlechthin, das im Phallus repräsentiert ist. Es ist daher nicht er-
staunlich, daß in § 114 der Phallus als siebentes unter den Haupt-
gliedern des Menschen aufgezählt wird, dem als achtes „Glied" das
Weib des Menschen gegenübersteht, das zu ihm gehört und mit
ihm eins ist. Auch in den parallelen Aufzählungen der Glieder
des „Menschen" wird zwar nie eine direkte Zuordnung zwischen
den Gliedern und den jeweiligen Sephiroth vorgenommen, es ist
aber nach dem Zusammenhang stets klar, daß für unsere Sephira
„die Stelle der Beschneidung", das heißt der Phallus, zu denken
ist.
In § 105 wird zwar die Frage aufgeworfen, welches der achte Logos
sei, in der Antwort dagegen wird er mit dem soeben erwähnten sieben-
ten identifiziert. Hier tritt nun auch die Sabbath-Symbolik, die un-
bestimmter schon in § 39 erscheint, in direkte Beziehung zu den
anderen Symbolen. „Was ist der achte ? Einen Gerechten hat Gott in
seiner Welt, und er liebt ihn, weil er die ganze Welt erhält und ihr
Fundament ist. Er erhält ihn und läßt ihn wachsen und groß werden
und erfreut ihn . . . und er ist das Fundament aller Seelen. Du sagst,
[er sei] das Fundament aller Seelen und der achte [Logos], Es heißt
doch aber [Ex. 3117] : 'Und am siebenten Tag schabhath wa-jinna-
phasch' [was wörtlich verstanden werden kann als] ,es war Sabbath
und Beseelung'!? Ja, er ist [in der Tat] der siebente [Logos], denn
er gleicht zwischen ihnen aus. Jene sechs nämlich [teilen sich in] drei
unten und drei oben, und er gleicht zwischen ihnen aus. Und warum
heißt er der siebente ? War er denn erst am siebenten [Tag] ? Nein,
vielmehr [wird er so gezählt], weil Gott am Sabbath ruhte, in jener
Midda, von der es heißt: denn sechs Tage hat Gott gemacht, den
Himmel und die Erde, und am siebenten Tag ruhte und feierte er,
[was auch übersetzt werden kann:] war Sabbath und Beseelung."
Der Gerechte ist also einer der Äonen in Gottes Welt ; er ist eine
Midda Gottes, und der talmudische Gottesname Saddiqo schei 'Olam,
„der Gerechte der Welt", und der weitere Saddiq Haj 'Olatnim, „der
Gerechte, der ewig Lebende", konnten als Namen dieser Midda ver-
standen werden150. Als siebenter Urtag schafft er den Ausgleich
zwischen den sechs anderen Tagen oder ihren Logoi, die zum Teil,
wie wir sahen, im Widerstreit miteinander liegen. Auch dies Motiv
des Ausgleichs kehrt gerade in der phallischen Symbolik wieder.
§ 114 bezeichnet das siebente Glied wörtlich als,, die ausgleichende
[Stelle des] Bundeszeichens". Diese Anschauung vom Phallus als Aus-
gleich im Körperbau des Menschen hat Bahir dem Buch Jesira (I, 3
1 6 0 Zu diesen Namen vgl. die Nachweise bei A. Marmorstein, The Old Rabbinic

Doctrine of God I, London 1927, S. 96—96.

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138 Das Buch Bahir

kombiniert mit II, 1) entnommen. Auch der Gerechte stiftet ja, tal-
mudischen Angaben gemäß, Frieden in der Welt und schafft Aus-
gleich zwischen den widerstrebenden Gewalten. Diese Verbindung
zwischen der sexuellen Sphäre und den Gerechten ist nun aber keines-
wegs eine besondere Laune des Buches Bahir und der Kabbalisten,
die freilich auf diese Verbindung besonderen Wert gelegt haben151,
sondern sie beruht darauf, daß der Talmud mit besonderer Vorliebe
Männer, die ihren sexuellen Trieb, ihre Natur bezwungen haben, als
„Gerechte" qualifiziert. Besonders die Verbindung „Joseph der
Gerechte" wurde in der frühmittelalterlichen Literatur fast ein stän-
diger Beiname für Joseph. Bahir, das den Patriarchen göttliche Mid-
doth zuordnet, die sie realisieren, weiß zwar noch nichts von einer
Rolle Josephs als Repräsentanten des „Gerechten", diese Zuordnung
trat aber sofort nach dem Bekanntwerden des Bahir auf, so daß die
mystische „Stufe Josephs" ein fester Bestandteil der kabbalistischen
Terminologie wurde.
Die Symbolik des Sabbaths bildet die Verbindung zwischen den
beiden Motiven des Ausgleichs — in dem sich „alle Wirkungen er-
füllen" und zur Ruhe kommen (§ 105) — und der Seelenheimat. Aus
der Region des Sabbath „fliegen alle Seelen aus" (§ 39), ein Bild, das
uns wieder auf das Motiv des kosmischen Baumes zurückführt. Das
Fundament der Welt ist zugleich das Fundament der Seelen. Als die
älteren mythischen Fragmente über den Weltenbaum, der das Pleroma
und das All ist, von den Autoren des Bahir auf diese siebente Sephira
bezogen wurden, wurde auf sie auch jene Prädikation als „All" über-
tragen (§ 126). In dieser Region liegt das „Schatzhaus der Seelen".
Hiermit tritt in §§ 123—126 eine andere Symbolik zusammen. Es
gab offenbar verschiedene Traditionen über die Zuordnung der letzten
Logoi zu den Himmelsrichtungen, und die Stellen darüber, vor allem
§§ 119 und 123, sind in dieser Hinsicht ganz undurchsichtig. Während
in §§ 104—105 der Gerechte der mystische Osten war, ist er hier,
aus vorläufig nicht erklärbaren Gründen, der Südwesten. Er steht,
auch als „Weltengrund" bezeichnet, in der Mitte über den darunter
liegenden „Kräften", die den beiden Beinen im Menschen und dem
Nordwesten und dem Westen in der Welt entsprechen. Obwohl selbst
im Südwesten, geht er aus dem Süden der Welt hervor, wo im Gegen-
satz zum bösen Norden offenbar die Midda von Gottes Güte und
Gnade, Hessed, ihren Ort hat. „Auch ist in seiner [des .Gerechten']
Hand die Seele alles Lebendigen, denn er ist das .Leben der Welten'.
Und alle Schöpfung, von der [in der Schrift] die Rede ist, geschieht
durch ihn. Und von ihm heißt es : es war Sabbath und Beseelung, denn

161 Ich habe diese Vorstellung genauer im Eranos-Jahrbuch 1968, Bd. 27, S. 236 bis
297 verfolgt.

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Der Gerechte 139

er ist die Midda des Sabbathtages, und von ihm heißt es [Ex. 20 8] :
zakhor 'eth Jom ha-Schabbath [was hier mit mystischer Etymologie
übersetzt werden muß:] ordne das Männliche dem Sabbathtag zu
. . . und all dies ist von der siebenten Midda [dem siebenten Logos]
gesagt." Der Ausdruck, den ich hier im Sinne des Bahir mit „Leben
der Welten" übersetze, ist aus Dan. 12 7 gebildet und bedeutet ur-
sprünglich „der ewig Lebende". In diesem Sinn wird Haj Olamim
als Gottesname in der talmudischen Literatur gebraucht, und eine
berühmte Hymne der alten Merkaba-Mystiker ruft Gott unter diesem
Namen an 152 . Im Bahir hat sich die Bedeutung verschoben. Der
Gerechte, der dem Phallus entspricht, ist das Leben Spendende, und
vielleicht spielt hier die Vorstellung von der Weltseele als einem Äon
hinein. Das Leben der Welten und die Seele der Welt, die ihr Funda-
ment ist, konnten sehr wohl zusammengedacht werden. Die Welt-
seele als Ursprung aller Einzelseelen würde ebenfalls zu dem Bild
vom „Schatzhaus der Seelen", das in dieser Region liegt, passen153.
Das Lebendige und das Beseelte hängen ja jedenfalls hier zusammen.
Das Leben der Welten ist die produktive und erhaltende Kraft, die
den Welten aus diesem Orte zugeleitet wird. Daher heißt es selber das
„All" oder „Alles". Wie der Gerechte auf Erden die Tora vollzieht
und gleichsam die Verkörperung jener Gebote darstellt, die er erfüllt,
so ist der mystische Ort aller Gebote eben in jener Sephira des Ge-
rechten zu suchen, der das Leben der Welten ist. So heißt es in § 125:
„Warum sagen wir [in der Benediktion nach einem Imbiß von Obst,
Berakhoth 37 a und vor allem in der Parallele im palästinensischen
Talmud] : Für alles, was er erschaffen hat, [sei gepriesen, der] das
Leben der Welten [ist], und sagen nicht : was du erschaffen hast ?
Weil wir Gott preisen, der seine Weisheit, Hokhma, in das .Leben der
Welten* einströmen läßt, und dieses gibt alles . . . Das lehrt, daß im
.Leben der Welten' alle Gebote enthalten sind . . . Denn in der Stunde,
wo wir in dieser Welt der kommenden würdig sind, wird es [das Leben
der Welten] groß." Dieses Großwerden meint dasselbe wie das Wachs-
tum des Gerechten in § 105 und das Starkwerden der Säule durch die
Taten der Gerechten in § 71.

1M Vgl. J . M., S. 63.


158 Man könnte vielleicht weitergehen und das Bild von Adam heranziehen, in
dessen Körper ursprünglich alle Seelen der Gerechten vereinigt waren, nach Schemoth
•Rabba Par. 40, § 3 und Tanhuma, Par. hi tissa, § 12 (vgl. auch Ginzberg, Legends V,
75 und Murmelstein, Adam, ein Beitrag zur Messiaslehre, Wiener Zeitschr. f. d. Kunde
des Morgenlandes Bd. 35 (1928), S. 263. Schon bei manchen Judenchristen, Anhängern
des Symmachus, wird Adam als anima generalis bezeichnet, vgl. Söderberg, La
Religion des Cathares, S. 188. Dem irdischen Körper Adams entspricht der himmlische
Körper oder Guph oder das Schatzhaus der Seelen, der in dem Äon des „Gerechten"
oder vollkommenen Menschen liegt.

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140 Das Buch Bahir

Im Bahir läßt sich freilich mehrfach ein Schwanken in der Ter-


minologie und der Zählung der sieben Sephiroth sowie der siebenten,
die an ihrem Abschluß steht, bemerken. In den Diskussionen dieser
ältesten „prähistorischen" Kabbalisten, die sich hier niedergeschlagen
haben, wurden offenbar ganz verschiedene Möglichkeiten der Zäh-
lungen und verschiedene Schemata erwogen. Das zeigt sich nicht
nur in § 124, wo in Fortsetzung der Sabbath-Symbolik, in der wegen
der Deutung von schamor und zakhor (siehe S. 126) das männliche und
das weibliche Prinzip zusammen erscheinen, die siebente Midda gerade
als die der Güte Gottes bezeichnet wird. Dieses „Gute" haben wir schon
in den Ausführungen über das Urlicht kennengelernt, die in §§ 97 und 98
vorgetragen werden. Hier ist es jetzt auf eine siebente Sphäre bezogen,
von der aber der dortigen Ausführung nach sehr wohl möglich ist,
daß sie gar nicht mehr den Gerechten, sondern schon die Symbolik
der mystischen Braut als der letzten der sieben unteren Middoth
betrifft. Lev. 19 30 : „Meine Sabbathe bewahrt und mein Heiligtum
fürchtet" wird hier gerade auf das weibliche Prinzip gedeutet, das
nun mit dem männlichen als siebentes konkurriert. Der Begriff des
Heiligtums hier ist, wie aus § 118 folgt, ein Symbol des Weiblichen,
und dadurch wird die sexuelle Ausdeutung von „mein Heiligtum
fürchtet" als „Hütet euch vor unzüchtigen Gedanken, denn mein
Heiligtum ist heilig" verständlich. Die Syzygie des Männlichen und
Weiblichen in diesen zwei „Siebenten" ist evidenterweise die schon
im Midrasch erwähnte des Sabbath und der Ecclesia Israels. In Bere-
schith Rabba, Par. 11, § 8, beschwert sich der Sabbath vor Gott : allen
anderen Tagen hast du einen Partner gegeben, nur ich habe keinen.
„Da sagte Gott zu ihm: die Gemeinde Israel wird dein Partner sein."
Daß hier noch keine mystische Symbolik vorliegt, sondern einfache
Aggada, folgt schon aus dem umgekehrten Gebrauch der Genera.
Der Sabbath ist gerade weiblich, und die Gemeinde Israel wird ihm
als männlicher Partner versprochen. Im Bahir und der kabbalistischen
Symbolik ist es genau umgekehrt. In § 124: „Und welches ist die
siebente Midda? Sage: dies ist die Midda der Güte [wörtlich: des
Guten] Gottes. Und warum heißt es: meine Sabbathe bewahrt, und
nicht: meinen Sabbath? Das gleicht einem König, der eine schöne
Braut hatte und jeden Sabbath läßt er sie zu sich kommen, um einen
Tag bei ihm zu sein. Der König hatte Söhne, die er liebte. Er sagte
zu ihnen : Freut euch auch ihr am Tage meiner Freude, denn für euch
mühe ich mich ab. Und warum [heißt es vom Sabbath] einmal .ge-
denke' und einmal .bewahre' ? Gedenke, zakhor, auf das Männliche,
zakhar; Bewahre, auf das Weibliche."
Solches Schwanken findet auch in der Stellung der sieben Urtage
statt : einerseits werden sie in den vorher besprochenen Stellen als die
sieben ersten Logoi betrachtet, die mit dem Sabbath abschließen, der

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Die siebente Sephira 141

seinerseits noch drei unter sich hat (§ 123), andererseits werden sie
bei den Zusammenstellungen der Siebenheiten, wie schon oben gesagt,
den drei oberen Sephiroth gegenübergestellt. Im Bahir selbst gibt es
aber keine Stelle, die in der Einzelinterpretation des Sabbath ihn
etwa als die letzte aller Sephiroth bezeichnet. Solche mystische
Sabbathsymbolik findet sich erst später. Begreiflich ist auch die Über-
tragung des Quellenmotivs von der Hokhma auf den Gerechten,
sobald er als der phallische Sitz des Lebens angesehen wurde. Wir
sahen schon, daß nach § 125 Gott seine Hokhma „in das Leben der
Welten einströmen läßt, welches dann alles [was es empfangen hat]
weitergibt." Hier ist der Gerechte ein Kanal, oder eine Röhre, Sinnor, der
das Wasser der Quelle weiterleitet. Wahrscheinlich ist dies der „große
Kanal" in § 85 ; sicher ist dies die Bedeutung des Kanals in § 121, wo alle
sechs „Bäche Gottes" auf dem Wege des „Ausgleichs in der Mitte",
der der Kanal ist, ins Meer der letzten Sephira fließen. Dieser Kanal
wird hier mit Cant. 415 ein „Quell der Gärten, ein Brunnen lebendiger
Wasser, die vom Libanon fließen" genannt. Der Libanon wird dabei
dann ausdrücklich als die Sphäre der Hokhma definiert. Genauso
wird das Bild in der Symbolik des Sabbathtages und des Gerechten
in § 105 verwandt. Jeder Tag „hat einen Logos, der sein Herrscher
ist, nicht weil er mit ihm geschaffen wurde, sondern weil er mit ihm
jene Wirkung vollbringt, die in seine Macht gegeben ist. Haben sie
alle ihre Wirkung vollbracht und ihr Werk erfüllt, so kommt der
siebente Tag und vollbringt seine Wirkung, und alle freuen sich,
selbst Gott [mit ihnen], und nicht nur dies, sondern sie [die Wirkung]
macht ihre Seelen groß, wie es heißt: am siebenten Tag war Ruhe
und Beseelung . . . Das gleicht einem König, der sieben Gärten hatte,
und in dem mittleren Garten bewässert ein sprudelnder Quell aus
einem Brunnen fließender Wasser die drei zu seiner Rechten und
die drei zu seiner Linken. Sobald er dies Werk vollbringt, füllt er sich ;
da freuen sich alle und sagen : für uns füllt er sich. Und er bewässert
sie und macht sie wachsen, sie aber warten und ruhen. Und er tränkt
die sieben . . . Ist er denn [selber] einer von jenen [sieben] und tränkt
ihn? Sage vielmehr: er tränkt das ,Herz', und das ,Herz' tränkt dann
sie alle." Der Gerechte ist also ein Kanal, durch den alle Bäche und
Ströme der oberen Kräfte in das Meer der Schekhina oder das my-
stische „Herz" strömen. Für die Lokalisation der Sephiroth in drei
rechte und drei linke läßt sich das Gleichnis für den Sabbathtag wohl
nicht pressen. Die sechs anderen Tage haben eben, wie in dem er-
wähnten Midraschgleichnis, Partner, während der siebente, der ihre
„Ruhe" und ihren „Ausgleich" bildet, seinen Partner im Weiblichen
findet, das all diese Kräfte wie das Meer aufnimmt. Dieser Syzygie
entspricht auch die Buchstabensymbolik in § 42. Jeder Buchstabe
hat einen „Partner", wenn man das Alphabet je von vorn und von

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142 Das Buch Bahir

hinten zählt. Die fünfte Stelle nehmen dabei dann He und Sade ein.
Sade ist der Gerechte, Saddiq; He, der letzte Konsonant im Tetra-
grammaton, weist auf die letzte Sephira hin (§ 20).
Die Zählung der letzten Sephiroth geht durcheinander. In § 114
wird der siebente Logos auch als achter bezeichnet, „weil mit ihm die
acht begonnen und mit ihm die acht hinsichtlich der Zählung be-
schlossen sind, aber nach seiner Funktion ist er der siebente". Ihm
entsprechen dort die acht Tage der Beschneidung und die acht „Be-
grenzungen", Qesawoth, das heißt hier Hauptglieder des Menschen,
die, weil „der Rumpf und der Phallus als eines gerechnet werden",
in Wirklichkeit doch nur sieben sind. Danach ergeben sich dann als
der neunte und zehnte die beiden 'Ofhannim der Merkaba, die im
Bahir (§§ 115 und 123) mit einem aus Jes. 34 io genommenen Bild
als Nesahim bezeichnet werden. Nesah heißt im Hebräischen Dauer,
Bestand. Auch die unterste aller dieser Kräfte wird im § 115 als Nis-
hono schei *Olam, die Dauer der Welt, bezeichnet, eine Kraft, „die nach
Westen neigt". Von dieser Kraft erfahren wir nur hier, daß sie auch „das
Ende der Schekhina" sei, das noch unter den zwei Rädern der Merkaba
liege. Hier herrscht offensichtlich Verwirrung, denn es werden in
Exegese von Jes. 34 io drei Nesah genannte Kräfte oder Äonen auf-
geführt. Wenn aber die letzte Kraft das „Ende der Schekhina unter
Gottes Füßen" und die „letzte der sieben Erden" der alten Ma'asseh
BemcMA-Spekulation ist 154 , wie es hier heißt, so paßt das gar nicht
mehr zu der Zählung des Gerechten als achtem Logos, wohl aber sehr
gut zu der, wie schon betont wurde, dabei im Grunde intendierten
Zählung als siebentem. Überhaupt sind die wenigen Ausführungen
über diese zwei Nesahim im Bahir, die mit einer Symbolik des Fest-
straußes am Laubhüttenfest verbunden sind, undurchsichtig. Statt
der beiden Nesahim wurden später, als I.Chr. 29 n als eine Aufzählung
der Sephirothnamen verstanden und zu einem Grundstein kabba-
listischer Typologie wurde, für diese beiden Sephiroth die Namen
Nesah und Hod eingeführt. Davon weiß unser Bahirtext noch nichts,
und der Name Hod kommt als Sephiraname nur in einem Bahirzitat
bei Todros Abulafia vor, dessen Echtheit zweifelhaft ist 165 . Da diese
zwei Kräfte hier unterhalb des Gerechten oder Weltengrundes gedacht
154
In der Baraitha de-Ma'asse Bereschith, im Buch Raziel, Bl. 36 a, wird die unterste
Erde ebenfalls als eine Region in der Merkaba verstanden, die mit den Rädern der
Merkaba, den Ophannim, zusammenhängt und auf die Jes. 66 : 1 bezogen wird. Ein
besserer Text dieses Zitates im Tora-Kommentar des Bahja ben Ascher zu Lev. 1 : 1.
Diese Baraitha enthält auch eine Beschreibung der sieben Erden, die aber dort als
Regionen des Gehinnom aufgefaßt werden.
155 Vgl m e i n Buch Bahir, S. 169—160. Gerade Jehuda ben Barzilai spricht in
seinem Jeçira-Kommentar sehr oft vom Hod, der majestas, der Schekhina, während
Bahir das Wort sonst nie benutzt.

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Die Schekhina und das Weibliche 143

sind, fehlt selbstverständlich auch die sexuelle Symbolik, die ihnen


die beiden Testikeln des Körpers zuordnete, aus denen die Samen-
kraft produziert wird. Diese Symbolik, die dann mit der älteren der
beiden Beine in Konkurrenz tritt, war erst möglich, als der siebente
Logos bei der engültigen Ordnung des kabbalistischen Schemas der
Sephiroth auf den Platz der neunten Sephira gestellt wurde. Gerade
die ältere Stellung als siebente erklärt aber, wie wir sahen, die wich-
tigsten Elemente dieser Symbolik besser als die spätere Neu-
ordnung.
Daß Äonen und Archonten hier mindestens zum Teil noch iden-
tifiziert werden konnten, zeigen nicht nur die Ausführungen über
den vierten und fünften Logos, wo der Äon Gebhura „Stärke" (§ 77)
selber Archont, Sar, über alle heiligen Formen der Linken ist, sondern
auch die über den Gerechten, der in § 123 direkt als Archont be-
zeichnet wird, der über den beiden folgenden, in den Beinen des
Menschen repräsentierten „Kräften" steht. Solcher Sprachgebrauch
ist verständlich, wenn die Welt der Merkaba in der ältesten Entwick-
lung zur Kabbala hin mit personifizierten Abstraktionen und Hypo-
stasen gleichgesetzt wurde. Je stärker dieser Prozeß sich durchsetzte,
desto mehr mußte sich dann eine Tendenz zeigen, die eigentliche
Merkaba selber nach unten zu rücken, wie das später geschah. Daß
diese Tendenz schon im Buche Bahir angelegt ist, wenn sie sich auch
noch nicht völlig durchgesetzt hat, zeigt vor allem die Symbolik
der letzten dieser Kräfte, die von der eigentlichen Merkaba-
Symbolik überhaupt nichts mehr hat und ganz anderen Bereichen
entstammt.

8. Die Symbolik der Schekhina und des Weiblichen — Der Edelstein

Von überragender Wichtigkeit für diese Konzeption der letzten


Sephira ist ihre nachdrückliche Verbindung mit Symbolen des Weib-
lichen. Während bei der dritten Sephira, Bina, ein solches Bild wie
das der Weltenmutter nur en passant auftritt, häufen sich hier Bilder,
die direkt oder indirekt aufs Weibliche Bezug haben. Solche Bilder
erscheinen in der Aggada oft genug, vor allem auch in Gleichnissen,
haben aber dort niemals Bezug auf Gott oder weiblich gedachte
Aspekte der Gottheit, von denen die Aggada nichts weiß und die man
auch in der Literatur der Merkaba-Gnosis vergeblich suchen würde.
Die Übertragung solcher Bilder auf eine als weiblich gedachte Midda
Gottes, die damit in die Vorstellungswelt gnostischer Symbolik ein-
tritt, war einer der folgenreichsten Schritte bei der Ausbildung der
Kabbala. Wie wir uns diesen Prozeß zu denken haben, ob als Durch-
bruch uralter mythischer Bilder und „Archetypen" in eine Welt,

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144 Das Buch Bahir

in der diese Bilder nur noch Metaphern waren, oder als historischen
Wiederanschluß an eine gnostische Tradition, die sich von jeher solcher
Bilder bedient hatte, ist schwer zu sagen. Der Zustand der ältesten
Texte erlaubt keine Entscheidung zwischen diesen Alternativen, und
man kann vielleicht argumentieren, daß es gar keine echten Alter-
nativen sind, sondern beides miteinander wohl vereinbar war.
Eine nähere Betrachtung dieser Symbolik wird zeigen, wie tief-
greifend die Metamorphosen waren, die sich mit der Ausbildung der
Vorstellung von der letzten Sephira in der Bilderwelt der Aggada
vollzogen.
Drei oder vier Begriffe sind es vor allem, die, über alle ältere Aggada
weit hinausgehend, im Bahir identifiziert werden: die Braut, die
Königstochter oder Tochter schlechthin, die Schekhina und die Ec-
clesia Israels. Dazu treten die Symbolik der (empfangenden) Erde,
des (lichtlosen und sein Licht von der Sonne empfangenden) Mondes
und des als weiblich gedachten Ethrog, „der Frucht des Prachtbaumes"
im Feststrauß, (Lev. 23 4o), und der Dattel, die ein Abbild der Vagina
ist. Die vier ersten Begriffe werden im Bahir unterschiedslos gebraucht,
und das ist das ganz Neue. In der talmudischen Literatur ist die
Schekhina niemals ein Symbol des Weiblichen, und noch weniger
ist sie je mit der dort gern personifiziert gedachten Ecclesia Israels
identisch. Die Schekhina ist dort stets einfach Gott selber, das heißt
Gott, insofern er an einem bestimmten Ort oder bei einem bestimmten
Vorgang anwesend ist. Diese „Anwesenheit", dieses „Wohnen" Gottes
gibt der hebräische Ausdruck Schekhina präzis wieder. Dieses Sub-
stantiv wird nur von Gottes „Wohnen", von seiner Präsenz, gebraucht,
nie von der irgendeines anderen kreatürlichen Wesens. Nirgends ist
sie von Gott selber so geschieden wie das etwa die Middoth des Er-
barmens oder der Strenge sind, die schon in der Aggada wie Engel
vor Gott argumentierend und ihm gegenüberstehend auftreten. Das
Wort läßt sich an vielen Stellen mit Ausdrücken wie Gott, Herr der
Welt, der Heilige, gelobt sei er, und ähnlichen ohne jeden Unterschied
auswechseln. Im Gegensatz zu dem, was manche Forscher in ihrem
Suchen nach Hypostasen und Mittelbegriffen zwischen Gott und der
Welt angenommen haben, ist die Schekhina nie eine Qualität Gottes,
es sei denn die seiner ungeteilten, in keiner spezifischen Hinsicht
differenzierten Präsenz 156 . Daß der Begriff schon in talmudischer Zeit
freilich einer gnostischen Hypostasierung fähig war, ist sicher. Im
Talmud zwar wird nur einmal, und zwar negativ und ironisch, eine
156
Ich betone dies gegen Aufstellungen wie die in den Monographien von J. Abelson,
The Immanence of God in Rabbinical Literature, London 1912, S. 77—149, oder bei
O. S. Rankin, Israel's Wisdom Literature, Edinburgh 1936, S. 269. Diese und viele
andere älteren Autoren haben ohne Grund die kabbalistische Konzeption zum Teil
in die alten Texte hineingelesen.

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Die Schekhina und das Weibliche 145

Mehrzahl von Schekhinas erwähnt. Sanhédrin 39 b legt dem römischen


Kaiser eine Frage in den Mund, mit der er den Rabban Gamaliel
(um 100) bedrängt haben soll: Da ihr Juden behauptet, daß in jeder
Versammlung von zehn die Schekhina weilt, „wie viele Schekhinas
[aramäisch: Schekhinatha] gibt es also bei euch" ? Diese pluralistische
Verallgemeinerung, die natürlich keine Gleichsetzung der Schekhina
mit dem höchsten Gott mehr erlaubt, tritt als etwas Selbstverständ-
liches bei den Mandäern auf, deren Literatur von Erwähnungen von
Myriaden von Welten, Uthras (Schatzhäusern des Reichtums) und
Schekhinas, überquillt, ohne daß wir je genauer erfahren, was sie vor-
stellen. Es sind Lichtwesen oder Lichtorte, denen keine fest umrissene
Funktion zukommt. Auch im Manichäismus heißen die fünf Glieder
des Königs des Lichtparadieses seine fünf Schekhinasl57. Dies ist aber
ein Sprachgebrauch, der sich außerhalb des Judentums entwickelt
hat. Die Merkaba-Mystiker wissen nichts davon. Soweit die Schekhina
nicht Gottes Manifestation und Präsenz in der irdischen Welt betrifft,
sondern sich in der himmlischen Welt der Merkaba offenbart, konnte
sie auf natürliche Weise mit dem Kabhod, der Glorie Gottes, iden-
tifiziert werden. Daher konnte die Merkaba-Welt als der Ort „seiner
vor den Menschen verborgenen Schekhina in der höchsten Höhe" be-
zeichnet werden158. Statt des „Throns der Glorie" konnte hier auch
schon vom „Thron der Schekhina" gesprochen werden159. Es ist die
verborgene Schekhina, die in der Vision des Schi'ur Qoma den Ein-
geweihten erscheint. In der Theophanie schauen sie den „Körper
der Schekhina"160. Es gibt eine Stimme, die von der Schekhina, die
auf dem Throne sitzt, ausgeht und zu den Unteren spricht161. Eine
Unterscheidung zwischen Gott und der Schekhina ist hier höchstens
insofern gegeben, als vielleicht schon eine gnostische Differenzierung
zwischen dem verborgenen Wesen Gottes und seiner in Theophanien
erscheinenden, an sich ebenfalls verborgenen Gestalt mitspielt. Aber
nie führt das so weit, daß etwa von einer Relation der Schekhina zu
Gott die Rede sein könnte. Auch die Stimme, die von ihr ausgeht,
spricht nicht etwa nach oben zu Gott, sondern, als Gottes Stimme
selber, zu den Kreaturen.
Der Schritt zu solcher Verselbständigung der Schekhina ist in der
spätesten Schicht des Midrasch an einer einzigen Stelle nachweisbar.
Ein Vergleich der talmudischen Quelle, Sanhédrin 104b, und des
jungen Midrasch zeigt die Entwicklung klar an.

167 H.-C. Puech, le Manichéisme, Paris 1949, S. 76—78.


158 So im Targum zu Habakuk 3 4.
15» Vgl. 3 Enoch, ed. Odeberg, Kap. 7.

160 Alphabet des R. Akiba, Jerusalem 1914, S. 29.

1 8 1 3 Enoch, Kap. 16.

Scholen, Kabbala 10
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146 Das Buch Bahir

Talmud; Midrasch Mischie;


Die Männer der großen Ver- Als das Synhedrion den König
Sammlung zählten die auf [die Salomo mit den drei Königen und
keinen Anteil an der Seligkeit vier Privatleuten zusammen-
haben]. R. Jehuda sagte: sie stellen wollte [die keinen Anteil
wollten noch einen [den König an der Seligkeit haben], da stand
Salomo] mitzählen, da kam das die Schekhina vor Gott auf und
Bild seines Vaters [David] und sprach vor ihm·..Herr der Welten !
, . , . j . .Hier siehst Du einen Mann,
warf sich vor ihnen nieder, caie ' , . . . , .,
, , , . , , ^ behend m seiner Arbeit, vor
aber beachteten es nicht . . . Da Könige kann er sich steUen<
kam eine himmlische Stimme und [Prov 22 29], jene aber woUen
zitierte ihnen den Vers Prov. ^ u n t e r <üe Finsterlinge [unter
22 29 : .Hier siehst du einen Mann, <üe der Verdamnis Verfallenen]
behend in seiner Arbeit, vor Kö- zählen. Da ging eine himmlische
nige kann er sich stellen.' Stimme aus und sprach usw.
Der entscheidende Satz steht also gerade nicht im Talmud und den
alten Parallelen zu derselben Aggada1®2. Er war erst möglich, als
unbekannte späte Aggadisten die Schekhina zu einer Qualität Gottes
hypostasierten, die von ihm selbst geschieden ist und in ein Dialog-
verhältnis zu ihm treten kann. Ein Autor des 12. Jahrhunderts las
diesen Passus sogar in der noch weitergehenden Formulierung: „Da
warf sich die Schekhina vor Gott nieder"163. Solche Scheidimg zwischen
Gott und der Schekhina finden wir auch, lange vor der Entstehung
der Kabbala, in dem Midrasch Bereschith Rabbathi des Moses Hadar-
schan aus Narbonne164. Auch hier wird eine ältere Quelle, das Merkaba-
mystische Alphabet des R. Akiba, paraphrasiert. „R. Akiba sagte:
Als Gott die Taten der Generation des Henoch bedachte und sah,
daß sie verderbt und schlecht waren, da zog er sich und seine Schekhina
aus ihrer Mitte zurück." In der Quelle steht aber nur, ganz im Sinne
des alten Sprachgebrauchs: „Da zog ich meine Schekhina zurück"185.
Gott und seine Schekhina konnten also von diesem Autor schon ge-
trennt werden. Nun ist es natürlich möglich, daß diese Trennung aus
immanenter Entwicklung der Aggada stammt, und gerade der Mi-
drasch zu den Proverbien neigt besonders stark zur Merkaba-Mystik
und weist keine Spuren philosophischer Spekulation auf. Anderer-
162
Vgl. in S. Bubers Edition des Midrasch Mischie, Bl. 47 a. Gerade diese Stelle ist
in Abelsons Besprechung der Stellen über die Schekhina im Midrasch übersehen.
163
Zitat aus Jehuda Hassid bei Moses Taku, Kethabh tamim in der Sammelschrift
Ozar nechmad Bd. III, Wien 1860, S. 63 und 67. Moses Taku zeigt sich sehr über diese
Formulierung des Midrasch entrüstet, die er als apokryph erklärt.
184
Bereschith rabbati, ed. Albeck, Jerusalem 1940, S. 27.
145
Ed. Jerusalem, S. 10. Vgl. aber dort S.83 eine ähnliche Scheidung in (jüngeren ?)
Zusätzen.

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Die Schekhina und das Weibliche 147

seits ist es aber wohl denkbar, daß hier philosophische Gedanken-


gänge in die späte Aggada hineinspielen. Ich habe dies an einem
anderen Orte folgendermaßen resümiert 1ββ :
„Der mittelalterlichen Philosophie des Judentums war die Schekhina
als eine Manifestation Gottes durchaus gegenwärtig, und zwar als
etwas von Gott selbst Unterschiedenes. Diese . . . Hypostase nimmt
aber, im Einklang mit den hier vorherrschenden rationalen Tendenzen
zur Sicherung des reinen Monotheismus, einen Charakter an, der
allem Kabbalistischen toto coelo fernsteht. Alle Philosophen, von
Saadia über Jehuda Halewi zu Maimonides, erklären übereinstimmend,
daß die Schekhina, die auch bei ihnen mit dem in der Bibel erwähnten
Kabhod oder dem Lichtglanz Gottes identisch ist, eine freie Schöpfung
Gottes sei, wenn auch die erste, die aller grobmateriellen voranging.
Als Kreatur hat sie demnach keinerlei Teil am göttlichen Wesen oder
seiner Einheit. „Die Lichterscheinung, welche den Propheten die
Gewißheit von der Authentizität der ihm gewordenen Offenbarung
geben soll, ist ein kreatürliches Licht, heißt in der Bibel Kabhod und
in der rabbinischen Tradition Schekhina161." Diese Theorie Saadias
bildet . . . fortan eine der Grundsäulen der philosophischen Bibel-
exegese. Als erste aller Schöpfungen wird dies Urlicht ausdrücklich
definiert ζ. B. von Jehuda ben Barzilai, der kurz vor dem Auftauchen
der südfranzösischen Kabbala schrieb. Er sagt: „Als es in Gottes
Gedanken aufstieg, eine Welt zu schaffen, da schuf er als erste aller
Schöpfungen den Heiligen Geist, der auch die Glorie unseres Gottes
heißt. Dies ist ein strahlender Glanz und ein großes Licht, das auf alle
seine anderen Kreaturen ausstrahlt . . . Und die Weisen nennen dieses
große Licht Schekhina. Kein Geschöpf, weder Engel noch Seraph,
noch Prophet kann es in seiner anfänglichen Wesenheit erschauen,
und auch kein Prophet würde solche Schau überleben. Daher zeigt
Gott dem Engel und Propheten etwas vom Ende dieses Lichtes 168 ."
Daß die Schekhina ein feinmaterieller Körper sei — und als solcher
eo ipso kreatürhch —, der je nach dem Willen Gottes die Gestalt an-
nimmt, welche Gott dem Propheten zeigen will, ist auch Jehuda
Halewis Meinung. Ähnlich spricht auch Maimonides von der Schekhina
als einem „erschaffenen Licht, das Gott auf wunderbare Weise an

„Zur Entwicklungsgeschichte der kabbalistischen Konzeption der Schechinah",


Eranos-Jahrbuch 1952, Bd. X X I , S. 60—62.
" 7 Saadia, 'Emunoth we-De'oth, Abh. I I I , e d . Slucki, S. 63.
i«e Vgl. seinen Jeçira-Kommentar, S. 16—18. Der Ausdruck „das Ende der Sche-
khina" in Bahir § 116 könnte wohl schon in einer Version seinerQuelle, der Baraitka über
die Schöpfung, gestanden haben. Man könnte ihn aber auch mit dem bei Jehuda ben
Barzilai mehrfach (z. B. S. 19) gebrauchten „Ende des Hod ha-Schekhina" zusammen-
stellen. Ja, S. 39 spricht dieser Autor direkt von dem „Hod, der das erschaffene Ende
der Schekhina" sei.
10*
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148 Das Buch Bahir

irgendeinem Ort zu dessen besonderer Auszeichnung sich lagern


läßt" 169 . Daß diese Auffassung der Schekhina als einer von Gott völlig
getrennten Kreatur, wenn auch noch so hohen Ranges, den talmu-
dischen Texten völlig fremd und nur mit großer Gewaltsamkeit mit
ihnen zu vereinbaren war, dürfte diesen bedeutenden Autoren kaum
entgangen sein. Sie zogen aber solches Zerhauen des gordischen
Knotens offenbar dem Risiko vor, das die Anerkennung einer uner-
schaffenen Hypostase vom monotheistischen Standpunkt involvieren
mußte. Aber sie vermeiden, mit der einzigen Ausnahme Jehuda ben
Barzilais, überhaupt nach Möglichkeit, dieses ihr neues Prinzip an
konkreten Exegesen von Stellen über die Schekhina durchzuführen.
Von einem weiblichen Charakter der Schekhina ist ihnen nirgends
das Geringste bekannt."
Von solcher philosophischen Auffassung liegt die kabbalistische
Konzeption der Schekhina weit ab. Ihr Symbolismus hätte jene
Denker nur mit Kopfschütteln oder Schaudern erfüllen können. Wir
können nicht sagen, ob die Schekhina erst, als sie als weiblicher Äon auf-
gefaßt wurde, mit der Ecclesia Israels identifiziert wurde, oder ob
umgekehrt diese Identifikation, als sie einmal vorgenommen wurde,
das Wiederhochkommen der Archetypik des Weiblichen bedingt hat.
Für die erste Annahme sprechen jene Fragmente der ältesten Schicht
des Bahir, deren gnostischen Charakter wir früher analysiert haben.
Es ist für das Verständnis der kabbalistischen Symbolik entscheidend,
daß beide Motive, das gnostische von der Tochter des Lichts und das
aggadische von der Ecclesia Israels, in der neuen Konzeption der
Schekhina als der letzten Sephira zusammentrafen. Denn die Kenesseth
Israel, die zur Person erhobene Ecclesia und hypostasierte „Synagoge"
wird von der Aggada stets unter Bildern des Weiblichen vorgestellt.
Sie ist es, die in der Bundesschließung Gott ehelich anverlobt gedacht
wird und von ihr darf daher als weiblicher Gestalt ohne Einschränkung
gesprochen werden. Der Midrasch weiß aber von solcher Hereinnahme
der Gemeinde Israel in die göttliche Sphäre nichts, und so bleiben
die Gleichnisse von der Tochter, der Braut und der Matrona unan-
stößig. Im Buch Bahir wird dies alles nun auf eine neue Sphäre trans-
formiert, und die alten Gleichnisse erfahren eine bewußte Umarbeitung
in gnostischem Geiste.
An nicht weniger als zehn Stellen wird diese Terminologie der
Tochter, der Prinzessin, der Braut oder der Matrona, stets in derselben
Absicht, benutzt (§§ 36, 43, 44, 52, 62, 90, 97, 104, 124, 137). Der alte
Midrasch gibt etwa ein Gleichnis für die Bedeutung des Sabbaths,
der auch sonst im Talmud gern mit einer Prinzessin verglichen wird.
„Ein König zog durchs Land und ließ durch seinen Herold verkünden :

Kuzari IV, 3; Maimonides, More I, 64 und 76 Ende.

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Die Schekhina und das Weibliche 149

alle, die hier zu Gaste sind, sollen mein Angesicht nicht eher sehen,
als bis sie zuvor das Angesicht der Matrona [der Königin] gesehen
haben. So spricht auch Gott : Bringt vor mir das Opfer nicht eher dar,
als bis an ihm ein Sabbath vorübergegangen ist170." In § 43 des Bahir
wird in einem Wortspiel die Braut des Hohenliedes als das „Feld",
Sadeh, sowie als das „Gefäß", Schiddah, gedeutet, in das die höheren
Kräfte einströmen. Beide Bilder kehren auch an anderen Stellen wieder.
In § 90 wird der Kabhod Gottes einem Stück Feld verglichen, das
nahe an einem schönen Garten liegt und aus einem mystischen„Ort"
gesondert bewässert wird, „obwohl alles eins ist". Das Bild des Ge-
fäßes haben wir schon bei der Besprechung von § 52 über Abrahams
Tochter kennengelernt. In § 43 ist die Braut nun auch das „Herz"
Gottes, wobei der Zahlenwert von aV, Herz, der 32 beträgt, auf die
32 verborgenen Wege der Sophia führt, mit denen die Welt geschaffen
worden ist. „Und was sind diese 32 ? Das gleicht einem König, der sich
im innersten der Gemächer befand und die Zahl der Gemächer war 32,
und zu jedem Gemach gab es einen Weg. Ziemte es sich nun für den
König, daß jedermann auf diesen seinen Wegen beliebig seine Ge-
mächer betreten konnte? Nein! Ziemte es sich aber für ihn, seine
Perlen und Schätze, Juwelen und Edelsteine überhaupt nicht offen
zu zeigen ? Nein ! Was tat er ? Er nahm die ,'Tochter'171 und faßte in
ihr und in ihren ,Kleidern' [d. h. Erscheinungsformen] alle Wege zu-
sammen, und wer das Innere betreten will, muß hierherschauen.
Und in seiner großen Liebe zu ihr nennt er sie manchmal 'meine
Schwester', denn sie stammen aus einem ,Orte', manchmal nennt er
sie .meine Tochter', denn sie ist ja seine Tochter, und manchmal
nennt er sie .meine Mutter'." Die Schlußworte dieses Stückes, in dem
also die Funktion der mystischen Tochter deutlich bezeichnet ist,
stammen aber wiederum aus einem älteren Gleichnis des Midrasch
über die Ecclesia Israels172. Diese Ecclesia tritt im Buch Bahir selber
in § 45 in Fortsetzung dieser Ausführungen auf. Sie ist dort die Re-
präsentantin einer Potenz, die zugleich Strafgerechtigkeit und Er-
barmen übt. Wenn Israel Buße tut, wird sie zusammen mit ihnen
„zurückkehren", was sich wohl auf das Exil der Schekhina bezieht,
die jetzt von ihrem König getrennt ist. Die Tochter also ist eigentlich
nur reines Gefäß und hat nicht viel aus sich selber. Sie ist die Zu-
sammenfassung aller in sie mündenden Wege, und an ihren Kleidern
erst werden die Juwelen des Königs sichtbar. Aber eben dadurch wird
sie das Medium, durch das der Zugang zum König selber geht.

l'O Wajiqra Rabba, Par. 27, § 10 und Pesiqta de-Rab Kahana, ed. Buber, Bl. 78a.
171
Der Ausdruck im Hebräischen ist sehr sonderbar: naga' ba-Bath, „er rührte die
Tochter an".
172
Schir ha-Schirim Rabba 3,i.

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150 Das Buch Bahir

Diese Verbindung des Königs mit der Tochter wird an einer anderen
Stelle (§ 36) in einer Weise entwickelt, die wiederum für die Verbindung
zur Gnosis aufschlußreich ist. Wir sahen oben, daß der siebente Logos
der Ort der Seele alles Lebendigen und des Männlichen ist. Hier aber,
und hier allein, tritt die Seele als Symbol des Weiblichen auf, welches
jene Tochter und Prinzessin ist, die wir in § 90 als die Tochter des
Lichtes kennengelernt haben, die in die Ferne gesandt wurde, die
brath nuhra der syrischen gnostischen Texte. Das paßt zu den Aus-
sagen der Gnostiker über die Seele, aber nicht zu der sonst im Bahir
zur Herrschaft gelangten Symbolik. § 36 gibt eine mystische Ety-
mologie des Wortes Zahab, Gold, in dessen Konsonanten „drei Middoth
zusammengefaßt" seien, „das Männliche, Zakhar, und das ist das Z,
die Seele und das ist das H . . d a s ein Thron für das Ζ ist, und Β
verbürgt ihren Bestand", weil die beiden Prinzipien des Männlichen
und Weiblichen sich im Medium des Beth am Anfang des ersten Wortes
der Tora vereinigen. Diese Vereinigung ist es offenbar, in der dieses
Stück den Urakt der Schöpfung findet. Das Weibliche, das hier voraus-
gesetzt ist, wird zwar in dem nun folgenden Gleichnis, keineswegs
aber in der Erklärung selber, als solches, nämlich als Tochter, be-
zeichnet. „Und was ist die Funktion [des Beth] ? Das gleicht einem
König, der eine Tochter hatte, gut und schön, anmutig und voll-
kommen, und er verheiratete sie an einen Königssohn und gab ihr
Kleider, Krone und Schmuck, und gab sie ihm mit vielem Vermögen.
Kann der König nun ohne seine Tochter [wörtlich: außerhalb von
seiner Tochter] leben ? Nein ! Kann er immer den ganzen Tag bei ihr
sein ? Nein ! Wie machte er es ? Er machte ein Fenster zwischen sich
und ihr, und sooft die Tochter den Vater braucht und der Vater die
Tochter, kommen sie durch das Fenster zusammen. Das ist, was ge-
schrieben steht [Ps. 4514] : Alle Herrlichkeit der Königstochter ist
innen, ihr Kleid von Gold [den drei in Zahab zusammengefaßten
Middoth] durchwirkt." Auch hier ist ein Midrasch-Gleichnis über
einen König und seine Tochter, die Ecclesia, das sich im Midrasch
zum Cant. 3 9 befindet, ins Mystische variiert.
In anderen solchen Gleichnissen ist die Tochter des Königs die Tora,
von der er, obwohl er sie Israel gegeben, ja „anverlobt" hat, sich doch
nicht trennen will, und daher ein Gemach (das Heiligtum) zugerüstet
hat, in dem er bei ihnen wohnen kann, wie in Schemoth Rabba am
Anfang von Par. 33. Auch von der Tora spricht das midraschische
Gleichnis des Königs, der für seine Tochter einen Palast baute und
sie ins Innerste von sieben Gemächern setzte und verkündete: „Jeder,
der bei meiner Tochter eintritt, ist wie einer, der bei mir eintritt 173 ."
Im Bahir fallen alle diese Begriffe in ein Symbol zusammen. Die

178
Midrasch Tanhuma, gewöhnliche Rezension, Piqqude § 4.

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Die Schekhina und das Weibliche 151

Tochter des Königs ist unten, in dieser Welt, deren mystisches Prinzip
oder Midda sie darstellt (so ausdrücklich in § 98), aber sie bleibt durch
ein „Fenster" mit ihrem Vater verbunden. Sie ist das schöne Stück
Feld außerhalb des eigentlichen Gartens, das, obwohl es abgetrennt
scheint, doch mit allem in diesem mystischen Garten eines ist (§90).
Was sie hat, kommt, wie der Psalmenvers sagt, „von innen" her,
kommt aus der Welt jener Logoi und Kräfte und bleibt im Grunde
doch auch in ihr. Die Stellung der Tochter bezeichnet den Übergang
der Schekhina von der Transzendenz zur Immanenz. Als das in der
Welt Wirkende ist sie die „mündliche Tora", durch die die schriftliche
enträtselt und der Anwendung fähig wird. Daher wird auch von der
mündlichen Tora in § 97 gesagt, daß Gott in ihr die 32 Wege der So-
phia zusammengefaßt und sie dieser Welt gegeben habe. Weil in ihr
diese 32 Wege enthalten sind oder erscheinen, ist sie auch das „Herz"
(§§ 43, 67, 75, 105). „R. Rachmaj sagte: .Glorie', Kabhod, und ,Herz',
Lebh, sind [dem Zahlenwert nach] dasselbe, nur daß Glorie nach der
Wirkung im Oberen genannt wird und Herz nach der Wirkung im
Unteren, und das meinen [die biblischen Ausdrücke] von der , Glorie
Gottes' und vom ,Herz des Himmels' [Deut. 4 n ] " (§91). Der Sinn
des Terminus Herz, wie er im Buch der Schöpfung VI, 1 für die Sphäre
des Menschen überhaupt gebraucht wird, ist hier also völlig verändert.
In der Ritualsymbolik von § 62 werden die 32 Fäden in den Schau-
fäden 174 mit den 32 Wächtern verglichen, die über die Wege im Garten
des Königs, die nach § 67 auch die Wege zum Baum des Lebens sind,
wachen. Der Wächter, der über sie alle gesetzt ist, ist in einem
anderen Gleichnis desselben § 62 mit der Tochter des Königs
gleichgesetzt. Hier zeigt sich, daß schon dem Bahir die Symbolik der
letzten Sephira als „Wächter Israels", Schomer Israel (Ps. 121 4),
bekannt ist.
Die Königstochter, die aus der Form des Lichtes stammt, ist, wie
wir schon früher gesehen haben, die untere Sophia (vgl. oben S. 83).
Wie die „Weisheit" der Bibel und die Schekhina des Talmud läßt
sie sich auf die Irdischen herab. Sie ist nicht mehr die Gegenwart
Gottes allein, sondern ein spezifisches Moment in der Entfaltung seiner
Kräfte. In § 44 wird der talmudische Satz, daß der Name Salomos
im Hohenlied ein Name Gottes sei („der König, bei dem der Friede
ist")175, folgendermaßen mystisch weitergeführt: „Gott sagte: weil
dein Name wie der Name meiner Glorie lautet, will ich dir meine
.Tochter' vermählen. Aber sie ist doch bereits vermählt? Er sagte,
sie wurde ihm zum Geschenk gegeben, wie es heißt [I Reg 5 25] : Gott
174
Die Zahl der von der Tora vorgeschriebenen Schau! äden am Gewand (Num. 16 :
37 ff.) ist nach talmudischer Vorschrift 32.
176
Traktat Schebhu'oth 35b.

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152 Das Buch Bahir

schenkte dem Salomo Weisheit176." Diese Weisheit erfüllt eine doppelte


Fraktion: „Tut der Mensch recht, steht sie ihm bei und bringt ihn
Gott nahe; tut er es nicht, entfernt sie ihn [von Gott] und straft ihn",
wobei ihr alle die sieben oberen Kräfte, die in ihr zusammengefaßt
sind, zur Seite stehen. Wem aber ist diese Tochter schon vermählt,
so daß sie dem Salomo nur „geschenkt" werden kann ? Offenbar dem
Partner ihrer Syzygie, dem Prinzip des Männlichen, der der Geliebte
des Hohenliedes ist. So schließen sich auch hier die Symbole der Braut
und der Tochter zusammen. Der Zusammenhang erlaubt freilich auch
eine andere Deutung. Sie könnte auch die Braut Salomos selber sein.
In der Tat wird I Reg. 5 26 in § 3 mit einem Gleichnis erklärt: „Ein
König verheiratete seine Tochter an seinen Sohn und gab sie ihm
zum Geschenk und sagte zu ihm: Verfahre mit ihr, wie du willst."
Man könnte aus diesem Gleichnis auf ein hohes Alter des Stückes
schließen, weil hier die Geschwisterehe in Königshäusern, wie etwa
in Ägypten, vorausgesetzt würde177. In Wirklichkeit liegt aber auch
hier eine Variierung, wenn auch in extravaganter Form, eines Gleich-
nisses im Midrasch Koheleth Rabba I, 9 vor, wo, als Gleichnis für
Salomos Bitte um Weisheit, der Ratsherr des Königs dessen Tochter
verlangt. Daß die Braut-Symbolik des Bahir im allgemeinen aber
mit jener mystischen Syzygie zusammenhängt, kann nach dem Zu-
sammenhang der übrigen Stellen nicht zweifelhaft sein. Daher wird
sie unter den sieben heiligen Formen des himmlischen Menschen, wie
wir es schon sahen, als das Weibliche, das dem Phallus zugeordnet ist,
aufgeführt (§§55, 114, 116).
Besonders in den auf § 115 folgenden Stücken spielt diese Symbolik
des Weiblichen eine zentrale Rolle. Hierbei wird in §§117 und 139
auf die Doppelgeschlechtigkeit der Palme Bezug genommen, von der
die Autoren offenbar durch eigene Anschauung Kenntnis hatten, was
offensichtlich wiederum in den Orient zurückführt, wo die Kultur
der Dattelpalme einen so großen Platz einnimmt. Als besonders
nachdrückliches Symbol des Männlichen spielt der Palmenbaum auch
in der mandäischen Gnosis eine große Rolle178. Den Palmen steht in
§ 117 der Paradiesapfel, 'Ethrog, aus dem Feststrauß am Laubhütten-
fest, aber auch die Braut des Hohenliedes gegenüber. So erklärt sich
176
Hier liegt ein Wortspiel vor. Am Anfang heißt es dort: „Salomo trug [«asse]
den Namen Gottes." Das hebräische Wort für Vermählen ist hiph'il-Form desselben
Stammes. Das Wortspiel beruht aber nicht auf dem echten Sprachgebrauch der Wen-
dung nassa eth ha-Schem, was eigentlich „den Namen aussprechen" bedeutet. Die
semantische Veränderung weist auf romanischen Sprachgebrauch.
177
In der Tat hat vor Jahren Robert Eisler in einem Brief an mich diese Folgerung
gezogen. Über das „Geschenk" der auch bei ihm schon als Erstgeschaffenes hyposta-
sierten Sophia an Salomo vgl. auch Jehuda ben Barzilai zu Jeçira, S. 67.
178
Vgl. E. S. Drower, The Secret Adam, S. 7—8, 10—11.

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Die Schekhina und das Weibliche 153

der Ursprang des weiblichen Prinzips in der Welt und im Menschen :


„Das gleicht einem König, der plante, in seinem Garten neun männliche
Bäume zu pflanzen, und alle sollten Palmen sein. Er sagte : Werden
sie alle von einer Art sein, können sie nicht bestehen. Was tat er ? Er,
pflanzte einen 'Ethrog unter ihnen, und er war einer von jenen neun
von denen er [zuerst] geplant hatte, daß sie männlich sein sollten."
Wenn in Lev. 23 u von der „Frucht des Prachtbaumes und Zweigen
von Palmen" bei der Beschreibung des Feststraußes die Rede ist, so
bezieht sich das auf den weiblichen 'Ethrog. Der Baum der Pracht,
Hadar, bezieht sich auf die Pracht, die im Hohenlied verherrlicht
wird, das heißt auf die Braut, von der es heißt: „Wer ist die, die er-
scheint wie die Morgenröte?" (611). „Und ihretwegen wurde das
Weib vom Manne genommen, denn obere und untere Welt können
durchaus nicht ohne das Weibliche bestehen." Während der Midrasch
nur eine Symbolik des Palmzweiges, Lulabh, kennt, die ihn der Wirbel-
säule zuordnet179 — was in § 118 benutzt wird —, so ist die Beziehung
aufs Männliche und Weibliche hier ganz neu. In der Verbindung mit
dem weiblichen Namen Tamar wird die Palme, Tamar, auf diese
Syzygie des Männlichen und Weiblichen bezogen. Die Kinder der
Tamar, Perez und Serach (Gen. 38 28-30), bedeuten den Mond und die
Sonne, die wie das Männliche und Weibliche in der Palme enthalten
sind (§§ 138, 139). Die nähere Ausführung in § 139 verwirrt aber die
klare Anschauung der männlichen und weiblichen Palme. Der Lulabh,
der aufgereckt ist, stellt das Männliche dar, der Kern der Dattel aber,
„die nach der Weise des Weibes gespalten ist", das Weibliche, „und
ihr entpricht die Potenz des Mondes im Oberen".
Diese Sphäre ist zugleich das Meer, in das alle Bäche fließen (§§ 120,
121), das ausdrücklich mit dem 'Ethrog identifiziert wird. In § 65
heißt sie „das Meer der Hokhma", wohl, weil die Kräfte der Hokhma
und ihre Wege in sie einmünden und in ihr enthalten sind. Daß sie
die Schekhina ist, die in Israel wohnt, wird ausdrücklich in § 51 be-
tont, wo sie die Midda ist, die Gott dem David und dem Salomo
gegeben hat. In § 50 und 85 wird der Begriff der Schekhina auch mit
Sedeq, das wir schon als Symbol dieser Sphäre kennengelernt haben,
identifiziert. Sie ist eine besondere Qualität, die den Erzvätern an-
geboten wurde, als sie um eine Midda Gottes baten, nach der sie ihr
Verhalten einrichten könnten, die sie aber ausschlugen. Daher heißt
sie hier (§§61, 131, 132), der „Stein, den die Bauleute verwarfen"
(Ps. 118 22), der „zum Grundstein geworden ist". Denn als Abraham,
Isaak und Jakob diese Midda verwarfen und ihre eigene wählten,
wurde sie dem David gegeben (§§50, 85). Sie ist aber nicht nur der
Stein oder Grundstein, sondern vor allem der „Edelstein" und das
17
» z. B. in Wajiqra Rabba, Ende von Par. 30.

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154 Das Buch Bahir

kostbare Kleinod. Als solches wird sie direkt in §§ 61, 65, 131 be-
zeichnet, indirekt in Gleichnissen über sie in §§ 16, 17, 49 und 61.
Der Edelstein, der die Tochter oder Braut schmückt, wird zu einem
Symbol ihrer selbst, in dessen Strahlen „alle Gebote verfaßt sind"
(§ 131). Der schöne schmuckreiche Edelstein dieser Stelle ist dann
in § 137 die Tora als die geschmückte und gekrönte Braut, die Gott
anverlobt ist. Diese Edelsteinsymbolik kann ebenso gut aus der
aggadischen Symbolik verstanden werden, wo die Tora (im Talmud,
Zebahim 116 a) als Kleinod in Gottes Schatz erscheint, und die Seele
mit einer Perle verglichen wird180, als auch aus einem Rückgriff auf
die gnostische Sprache, wo ja die Sophia oder die Seelè ebenfalls als
Edelstein oder Perle beschrieben werden. Dieser Edelstein, in dem die
„Kleinode aller Könige und Länder" (so in § 61, aus Eccl. 2 8) zu-
sammengefaßt sind, ist deutlich von den Königen, die die aktiven
Kräfte des Pleroma sind, unterschieden. Dieser Edelstein bringt die
Jahre, das heißt die Zeit, hervor. § 49 deutet Hab. 3 2 : „Ein König
hatte einen kostbaren Edelstein . . . und wenn er sich freute, umarmte
und küßte er ihn, setzte ihn auf sein Haupt und liebte ihn. Habakuk
sagte zu ihm: Obwohl doch die .Könige' bei dir sind, ist jener Edel-
stein die Zierde deiner Welt ; darum ,in den Jahren' — in jenem Edel-
stein, der die Jahre hervorbringt —: schaffe ihm Leben."
Diese Perle, Krone oder Tochter hat aber nicht nur eine Mission
in diese Welt, als die untere Weisheit und das Mädchen aus der Fremde,
wie wir sahen, sondern ihr wohnt auch eine entgegengesetzte Dynamik
des Aufstiegs nach oben zu Gott selber inne. Es gibt also eine Be-
wegimg der Schekhina nicht nur nach außen, sondern auch nach
innen, zu jenen Kräften, die in ihre Gewänder eingewoben sind. Dies
zeigt sich besonders in einer mystischen Umdeutung einer talmu-
dischen Stelle über das Gebet. Hagiga 13 b heißt es, der Engel Sandal-
phon, der die Gebete Israels empfängt und aus ihnen eine Krone
flicht, spreche den Namen Gottes über diese Krone aus, worauf sie
(von selber) auf das Haupt ihres Herrn hinaufsteigt und ihn damit
krönt. In § 61 wird dies umgedeutet. Dieser Krone, die beim Gebet
„sehr hoch emporsteigt", ist selber „der gekrönte Edelstein, in dem
alles zusammengefaßt ist, und ist der verworfene Eckstein. Und er steigt
empor bis zu dem Ort, aus dem er herausgebrochen wurde". Dieser
Ort, der „dort" heißt, ist in § 129 klar mit Symbolen des dritten Logos
bezeichnet. Dies paßt zu den Zusammenhängen zwischen Bina als
dem Urlicht und dem Ort, an dem die Tora behauen wird, und dieser
letzten Region, die auch das „Schatzhaus der mündlichen Tora"

180 Bereschith Rabba, Par. 7, § 5, Theodor S. 64. Auf diese und ähnliche Stellen im

paläst. Talmud hat schon I. Scheftelowitz, Die mandäische Religion und das Judentum,
M. G. W. J. 69 (1929), S. 218 hingewiesen.

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Der Edelstein 155

(§§ 97 und 137) heißt. Auch §§ 131, 133 stellen dieselbe Beziehung
her. Das Urlicht und das Licht dieser Welt sind zwei Potenzen, die
beide als Edelstein symbolisiert werden. Ein höchster Edelstein, der
hier Sohereth heißt — in einem Wortspiel im Sinne von „höchstes
Gut" aufgefaßt181 —, steht dem anderen Edelstein gegenüber, der ein
Tausendstel des Glanzes jenes anderen enthält, und mit den Epitheta
der Braut und Tora als der „schöne und geschmückte Edelstein"
benannt wird, in dem Gott alle Gebote zusammenfaßte. Der untere
Edelstein ist also sozusagen aus dem oberen als ein kleines Stück
davon herausgebrochen, aber noch immer ist dort seine Heimat, und er
kehrt dorthin, zu seinem „Dort", in der Stunde des Gebets und in der
messianischen Zeit zurück. Diese Vorstellung von einer geheimen
Bewegung im Bereich der Sephiroth, nach oben nicht weniger als
nach unten, deren Trägerin gerade die Schekhina ist, ist für die Kab-
bala von zentraler Bedeutung geworden.
Daß die Tochtersymbolik gegenüber der eigentlich sexuellen Sym-
bolik des Weiblichen im Bahir stärker betont wird, ist offensichtlich182.
Andererseits ist die Syzygie des Männlichen und Weiblichen an vielen
Stellen nachdrücklich unterstrichen, wofür wir einige Beispiele schon
kennengelernt haben. Das geschlossene Mem ist das Männliche, das
offene Mem das Weibliche (§§ 57-58). Dem entspricht die Verbindung
von Osten und Westen, die einem tiefgnostischen Stück über die
Seelenwanderung zugrunde liegt. Wir haben schon oben gesehen,
daß der siebente Logos, von dem der Same Israels stammt, auch der
.Osten der Welt" heißt. Darauf wird in §104 Jes. 53s gedeutet:
„Von Osten bringe ich deinen Samen, und von Westen sammle ich
dich ein. Ist Israel gut vor Gott, so bringe ich deinen Samen von diesem
Ort, und neuer Same ersteht dir. Ist Israel aber schlecht, so nehme
ich von dem Samen, der schon in der Welt war und von dem es heißt :
,Ein Geschlecht geht und ein Geschlecht kommt', das heißt, daß es
schon einmal gekommen ist. Und was bedeutet ,νοη Westen sammle
ich dich ein?' Aus jener Midda, die stets nach Westen neigt. Warum
heißt der Westen Ma'arabh, Vermischung ? Weil dort sich aller Same
vermischt. Das gleicht einem Königssohn, der in seinen Gemächern
eine schöne und züchtige Braut hatte, und er pflegte aus dem Hause
seines Vaters Reichtümer zu nehmen und stets zu ihr zu bringen, und
sie nahm alles, legte es beiseite und mischte aller durcheinander. Nach
Ablauf der Tage wollte er sehen, was er vereinigt und gesammelt
hatte, und davon heißt es : Aus der Vermischung sammle ich dich ein.

IM In § 131 wird Sohereth mit Sehora, Ware oder Gut, zusammengestellt.


182 Von der Königin oder Gattin spricht Bahir nur in Gleichnissen, § 61 und 90.
In § 51 ist die Gattin die Gemeinde Israel als Mutter der Kinder Israel. Indirekt wird
sie als Gattin des Königs auch in § 45 vorgestellt.

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156 Das Buch Bahir

Das Haus des Vaters bedeutet aber den Osten, aus dem er den Samen
bringt und im Westen aussät; und am Ende sammelt er wieder ein,
was er ausgesät hat."
Dies Stück ist sehr bemerkenswert. Es gibt neue Seelen, die über-
haupt noch nicht in der Welt waren, sondern erst hinabsteigen, wenn
Israel „gut vor Gott" ist. Im allgemeinen zirkulieren die Seelen von
Geschlecht zu Geschlecht. Die Aussaat ist die der Seelen in die Welt,
in den von der Schekhina verwalteten Kosmos, die Sphäre des Westens,
wo nach dem Talmud die Schekhina weilt. Das Heimholen aus dem
Westen oder der Vermischung und Zerstörung kann nichts anderes
bedeuten als die Erlösung. Bis dahin gibt es als Strafe der sündigen
Seelen Israels die Seelenwanderung. Die Schekhina ist zugleich die
Braut des Königssohnes und die Ecclesia Israels. Aus ihrem Bereich,
der sowohl diese irdische Welt als auch eine mystische Region ist,
werden „nach Ablauf der Tage", d . h . eschatologisch verstanden:
am Ende der Zeit, alle Seelen wieder eingesammelt und kehren in das
Haus des Vaters zurück, den mystischen Osten. Dieselbe eschatolo-
gische Bedeutung wird am Ende von § 50 dem Gebet Hiskias bei-
gelegt: „Wenn nur Frieden und Wahrheit in meinen Tagen walten"
(II Reg. 20 19). Hiskia habe darum gebetet, daß die Midda Davids,
welche Abend ist — Abend und Westen haben im Hebräischen die
gleiche Wurzel — und die von „Friede und Wahrheit", welche Morgen
ist, in seinen Tagen „einen Tag" bilden mögen, daß „alles eines werde".
Dieser eine Tag ist zugleich die Urzeit von Gen. I5 und die Endzeit
der Erlösung, die ja eben in der Vereinigung des Männlichen und Weib-
lichen besteht, wie wir oben schon aus § 58 erfahren haben.
Dennoch bleibt, wie vorhin betont wurde, das sexuelle Moment
dieser Symbolik mehr im Hintergrund. Das Buch spricht vom
Schmuck, der der Braut oder Tochter verliehen wird, mehr als von
anderen ihrer Attribute. Besonders die Gleichnisse heben diese Auf-
fassung der Rezeptivität stark hervor. Im Bild des Gefäßes verbinden
sich die beiden Tendenzen. Das Weibliche ist das schöne Gefäß, in
dem alle Juwelen aufbewahrt werden, es ist aber zugleich das Gefäß
für die Kraft des Männlichen. Freilich ist diese letzte Midda nicht
ausschließlich rezeptiv. Sie ist zwar die ärmste unter allen, hat aber
doch auch Reichtum, eine positive Kraft in sich selber. Dies wird mit
Hinblick auf den Buchstaben Daleth, wörtlich hier als Armut ver-
standen, begründet: „Zehn Könige waren einst an einem Ort und
alle reich. Einer davon war zwar reich, aber doch nichl; wie irgendeiner
von diesen183. Da wurde er, wenn auch sein Reichtum groß war, im
Verhältnis zu den anderen arm, dal, genannt (§ 19)."

188
Ich habe das besonders schlechte und unbeholfene Hebräisch absichtlich nicht
in der Übersetzung verschönert.

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Die Schekhina und das Weibliche 157

Während in den bisher erörterten Stücken diese Verbindung der


Schekhina vor allem mit dem Männlichen als dem siebenten Logos
hervorgehoben war, haben wir in § 25 auch schon eine symbolische Dar-
stellung des Aufeinanderangewiesenseins des letzten mit dem sechsten
Logos, der die Wahrheit und der Himmel ist. Ps. 8512 wird in diesem
Sinne erklärt: „.Wahrheit' sprießt aus der ,Erde' [das heißt der Sche-
khina] und [umgekehrt] schaut [auch] .Gerechtigkeit' [als Name der
Schekhina] vom 'Himmel* her." Dabei sind an dieser Stelle diese zwei
Regionen, die so aufeinander bezogen sind, die beiden Phylakterien
der TephiUin, die der König am Armgelenk und auf dem Kopf anlegt.
Auch hier hat das Ritual schon eine mystische Bedeutung erhalten.
Die Gebote der Tora deuten den Prozeß an, in dem die göttlichen
Kräfte in ihrer eigenen Welt und in der unteren wirken. Gerade die
Beziehung der letzten Sephira zum Ganzen und ihre besondere Dy-
namik drückt sich in denjenigen Geboten aus, denen das Buch Bahir
mystische Deutungen zuteil werden läßt. So deutet das Gebot der
Abgabe der Hebe, Teruma, nach §§ 66 und 71 darauf hin, daß die
zehnte Sephira zur „Erhebung" genommen werden soll. Sie ist es,
die durch Askese und Abkehr von der Welt im Gebet „erhoben"
werden soll. Sowohl der Prozeß der Absonderung der Hebe, das heißt
die Abkehr des Mystikers von der Welt, um Gott zu suchen, als auch
die Hebe selbst, als Symbol des zu Erhebenden, der Glorie Gottes,
die nach oben gehoben wird, deuten Göttliches an. Von der Symbolik
der Schaufäden und der TephiUin wurde in diesem Zusammenhang
schon gehandelt, wie auch von der des Lulabh und Ethrog am Laub-
hüttenfest (in §§ 67, 117—120). Die Erfüllung der Gebote der Tora
vermehrt die Lichtfülle in der Welt, wie in einer eschatologischen
Deutung von Hab. 3 4 in § 98 ausgführt wird184,
Eine letzte für unsere Betrachtung wichtige Symbolentwicklung
ist die der doppelten Schekhina. Diese Aufspaltung im Begriff der
Schekhina ist nicht identisch, aber parallel zu der der Sophia in eine
obere und untere. Die Vorstellung ist aus der Umdeutung eines Zi-
tates aus der alten „Baraitha über die Schöpfung" entstanden. Ein Satz
aus dieser Baraitha über die unterste Erde wurde vom Bahir in § 115
benutzt, wie wir S. 142 festgestellt haben. In § 116 wird nun
die unmittelbare Fortsetzung dieses Satzes benutzt, freilich in einem
184
Die Deutung von Habakuk 3 i in § 98, ist, nur ins Eschatologische variiert,
mit der Jehuda ben Barzilais, S. 18—19 verwandt. Er deutet den Targum dieses
Verses fast wie Bahir um. Die talmudische Deutung von Hab. 3 4 in Pessahim 8a
enthält gerade das Motiv des Urlichts noch nicht. Auch die Deutung der Fortsetzung
in § 130 und des nächsten Verses in § 121 (wo das Debher, Pest, als Dabhar, [heiliges]
Wort oder Logos verstanden wird) finden sich im wesentlichen schon hier. Dies ist die
relativ nächste Berührung zwischen Jehuda ben Barzilai und dem Bahir, die ich finden
konnte.

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158 Das Buch Bahir

durchaus rätselhaften Rahmen. In § 115 war die Aufzählung der zehn


Logoi beendet. In § 116 wenden sich nun die Schüler, denen diese
Liste vorgetragen worden ist, an den Lehrer mit der Bemerkung:
„Jetzt wissen wir [die Ordnung der Logoi] von oben nach unten, aber
von unten nach oben wissen wir sie nicht." Der Lehrer erwidert vor-
sichtig: Ist das nicht einerlei ? Worauf die Schüler: „Unser Lehrer!
Wer hinaufsteigt, ist nicht wie, wer hinabsteigt. Denn wer hinab-
steigt, geht schnell, nicht aber so, wer hinaufsteigt. Und ferner, wer
hinaufsteigt, kann auf einem anderen Weg hinaufsteigen, den er nicht
hinabsteigen könnte." Statt einer deutlichen Erklärung über diese
dunkle Frage beginnt der ungenannte Lehrer nun eine Erklärung,
von der wir schon oben sagten, daß sie in diesen §§ 116—123 vor allem
über das Weibliche und dessen Symbolik handelt und damit jeden-
falls von unten nach oben aufzusteigen scheint. Der Lehrer leitet
seine Antwort mit einem Satz ein, der in der Quelle, in jener Baraitha
über Ma'asse Bereschith lautet: „So wie seine Schekhina oben ist,
so ist seine Schekhina unten186." Dies heißt dort: dieselbe Schekhina
ist es, die oben und unten ist, nämlich Gottes noch nicht zu einerMidda
gewordene Gegenwart. Im Bahir aber wird der Satz in einer Form
zitiert, die die Auffassung erlaubt: es gibt eine Schekhina unten, so
wie es eine oben gibt. Auf die Frage : was ist diese (untere) Schekhina ?
erfolgt die Antwort: „Das ist das Licht, das aus dem Urlicht emaniert
ist." Über die Frage, ob dieses Urlicht Hokhma oder Bina ist, haben
wir schon oben gehandelt. Jedenfalls wird die untere Schekhina hier
als die Glorie Gottes bezeichnet, die die Erde erfüllt. Die Fortsetzung
spricht dann über die sieben Söhne des Königs und die sieben heiügen
Formen, schreitet also in der Tat von unten nach oben vorwärts.
Ob diese Verdoppelung der Schekhina mit einer Aufspaltung des Weib-
lichen in Mutter und Tochter oder mit der Analogie zur doppelten
Sophia zusammenhängt, wird sich schwer entscheiden lassen. § 116
bezeichnet, wenigstens in der Lesart der ältesten Handschrift, gerade
die Sophia als dies Urlicht, während § 74 die Bina nicht nur Mutter
nennt, wie wir schon wissen, sondern auch als Glorie bezeichnet, so
daß es also ebenfalls eine obere Glorie und eine untere geben würde.
Eine solche Vorstellung von einer Pluralität der Glorie ist nun keines-
wegs eine kabbalistische Neuerung, sondern tritt schon im Talmud-
Kommentar des R. Chananel von Kairawan (11. Jahrhundert) auf,
der verschiedene Grade des Kabhod unterscheidet: „Es gibt Kabhod
über dem Kabhod"186. Diese Stelle war auch den alten Kabbalisten
185
Baraitha de-Ma'asse Bereschith, in Raziel, Bl. 36a.
189
In Chananels Kommentar zu Jebamoth 49 b. Eleazar von Worms umschreibt in
seinem Sode Razajja den oben angeführten Satz über die Schekhina aus der Baraitha
ebenfalls in diesem Sinn: „Es gibt also einen Kabhod oben und einen Kabhod unten",
vgl. das Stück aus seinem Buch im Raziel, Bl. 16b. Irrig dagegen wäre es, die symbo-

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Äonenlehre bei den deutschen Chassidim 159

bekannt und wird von ihnen zitiert. Freilich ist der Kabhod des Cha-
nanel ganz wie bei Saadia und bei Jehuda ben Barzilai ein erschaffener
Kabhod, während für das Buch Bahir und die älteste Kabbala die
Kreatürlichkeit dieser Logoi doch fraglich bleibt. Immerhin ist gerade
bei der Übertragung der Vorstellung vom verborgenen Urlicht auf
einen der Äonen, wie wir sie in §§ 97 und 106 haben, von der „Schöp-
fung" dieses Urlichtes die Rede, während es von der unteren Sche-
khina in § 116 heißt, daß sie aus dem Urlicht „emaniert" sei. Es ist
mir fraglich, wie weit man Verben wie schaffen und emanieren hier
in einem technischen Sinne nehmen darf. Wir werden dies Schwanken
der Ausdrücke noch bei den provençalischen Kabbalisten und ihren
Schülern, trotz ihrer klaren Hinneigimg zur Emanationslehre, kennen-
lernen. Ob die Äonen oder Logoi des Bahir von Gott geschaffen oder
aus ihm emaniert sind, wird, mindestens für den Großteil des Bahir,
unklar bleiben, und die Autoren haben sich eine solche Frage viel-
leicht überhaupt nicht vorgelegt.

9. Elemente der Äonenlehre bei den deutschen Chassidim

Wir sind am Ende unserer Betrachtungen über die zehn Logoi oder
Sephiroth des Buches Bahir. Hebräische Fragmente von gnostischem
Charakter, die wir entweder in der Analyse nachweisen konnten oder
als Quellen vorauszusetzen uns genötigt fanden, haben in Kreisen,
die wir noch nicht eindeutig bestimmen können, als Anregungskeim
für weitere Spekulationen in dieser Richtung gewirkt. Manches in
diesen Quellen weist nachdrücklich auf den Orient hin, manches
könnte sich gut auch bei den deutschen Chassidim entwickelt haben.
Das Buch Raza Rabba war nicht die einzige orientalische Quelle, aus
der Bahir komponiert oder redigiert wurde. Die Einzelanalyse hat
das Vorhandensein von Motiven und Symbolen aufgewiesen, die
einer bestimmten Tradition, vielleicht nur literarischer, vielleicht
aber auch lebendiger Überlieferung, entstammen. Jenes „Lehrhaus"
der Urkabbalisten hat seine Quellen einer intensiven Bearbeitung
unterzogen, hat manches stehenlassen und manchem ganz neue
jüdische Formen gegeben, hat auch manches im Sinne des gemein-
samen Rahmens, der hier zu schaffen gesucht wurde, neu zugefügt.
So dürfen wir wohl mit einer religiösen Gärung rechnen, die sich als

lische Rede von einem „Ort der oberen Schekhina" schon im Midrasch Bamidbar Rabba
Par. 4, § 14 finden zu wollen, wie Wunsches Übersetzung dieses Midrasch, Leipzig 1886,
S. 64 hat. Dort ist nur davon die Rede, daß die Schekhina im irdischen Tempel wohnt,
„entsprechend der Stätte seiner Schekhina [d. h. entsprechend dem Thron der Glorie,
der dort vorher, Par. 4 § 13, genannt war] oben". Die Begriffe Kisse ha-Kabhod schei
ma'ala und Meqom Schekhinatho schei magala sind synonym.

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160 Das Buch Bahir

lebendige Kraft bei der Aufnahme von Fragmenten alter Überliefe-


rung erwies. Solche Gärung können wir ebensowohl für Nordfrankreich
und die Rheinlande in der Periode der Kreuzzüge als auch für die
Provence annehmen, die damals von der katharischen Bewegung tief
aufgewühlt wurde. Im Bahir gibt es Dinge, die auf einen Zusammen-
hang mit jedem dieser beiden Länder weisen, und in beiden haben
vielleicht solche Gruppen bestanden, aus denen schließlich Bahir in
der uns vorliegenden Form hervorgegangen ist. In beiden Ländern
lebte die aggadische Ausdrucksform in solcher Stärke fort, daß die
anonymen Bearbeiter keine Hemmungen hatten, auch ihre neuen
Gedanken und die Produkte jener religiösen Gärung in der ihnen
gemäßen und natürlichen Form des aggadischen Midrasch auszu-
sprechen, wenn auch diese neuen Midraschim nun aufreizend und
paradox genug erschienen.
Wir besitzen religiöse Dokumente aus dem Kreis der deutschen
Chassidim, die zeigen, wie nahe die Lehre einiger unter ihnen der
Äonen-Spekulation der Gnostiker kam. Dabei ist gerade folgendes
interessant: in solchen Schriften, die ja schließlich etwa 50 Jahre
nach dem Buch Bahir verfaßt worden sind und die unmöglich als
Zeugnis für die Quellen des Buches betrachtet werden können, fehlen
gerade jene besonders auffälligen gnostischen Elemente, die die
Analyse des Bahir uns entdeckt hat. Hier haben wir es mit einem
innerjüdischen Prozeß zu tun, der eine unterirdische Tendenz auf-
nimmt, die Merkabawelt auf eine neue Weise zu beschreiben. Aus der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts haben wir von einem anonymen
Autor das Sepher ha-Hajjim, „Buch des Lebens". Dieses Buch ist
nicljt nur durch seine Parallele zur Kabbala bemerkenswert, sondern
auch, weil es uns deutlich zeigt, wieviel gnostische Elemente noch
fehlten, um solche Lehre in die Kabbala des Bahir zu transformieren —
und das Buch Bahir war damals in Südfrankreich schon bekannt!
Hier lesen wir: „Alle Himmel sind wie Punkte unter dem Himmel des
Throns der Glorie, und dort haben alle wunderbaren [Attribute] ihre
besondere Lage, Wissen für sich selbst, Einsicht für sich selbst, Weis-
heit und Gottesfurcht für sich selbst, Stärke [Gebhura] für sich selbst,
alle jene Wunderbaren, die aus der Kraft seines Kabhod stammen,
für sich selbst. Und entsprechend jenen .Glorien', die in dem höchsten
Himmel sind, der das .heilige Zehnte' heißt, gibt es Orte im neunten
[Himmel], und dort sind aus jenen Stufen aus dem großen Licht Engel
geschaffen, ein jeder nach der Größe seiner Rangstufe, von der er
seine Heiligkeit bezieht. Nach Maßgabe dessen, was er von der höchsten
Kraft empfängt, gibt es einen Engel, der aus dem Licht des .Wissens'
erschaffen worden ist, und er ist ganz wissend ; es gibt einen aus dem
Licht der Einsicht, aus dem Licht der Weisheit, aus dem Licht der
Kraft, aus dem Licht des Wunderbaren und so ohne Zahl und Ende.

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Äonenlehre bei den deutschen Chassidim 161

Jene bilden den .ersten Kabhod', und sie sind in den Universalien ent-
halten187." Hier sind also die Universalien, Kelalim, eine Ideenwelt
über den Engeln, die die höchste oder „erste Glorie" bildet. Die Ver-
wandtschaft zu den kabbalistischen Sephiroth liegt auf der Hand.
In einer längeren Version dieses Buches, aus der sich Fragmente er-
halten haben, lesen wir noch schärfer formuliert folgendes über die
göttlichen Middoth als „Orte" in der Welt des Pleroma und als Ur-
quellen, aus denen die Engel und niederen Kräfte geschaffen sind oder
entstammen: „In der oberen Welt gibt es zahllose Orte, von denen
einer höheren Rang hat als der andere, ohne Zahl und ohne Ende.
Und für jedes Ding gibt es andere Orte: Quellen der Weisheit für sich
selbst, der Einsicht gesondert, des Wissens gesondert, der Anmut
gesondert, der Liebe, Hessed, gesondert, der Gerechtigkeit gesondert,
des Erbarmens gesondert, der Rache gesondert, des Zornes gesondert.
Und nach der Quelle richtet sich der Rang der Engel, die von dort
durch Gottes Wort geschaffen werden. Denn aus der Quelle des Er-
barmens werden die Engel des Erbarmens geschaffen . . . Und so für
jede erschaffene Engelgruppe. Dem Licht der Potenz entsprechend,
von dem sie empfängt, heißt ihr Name, denn was aus dem Licht der
Potenz des Erbarmens geschaffen wird, heißt barmherziges Licht . .
[wie hier noch für die Engel dargelegt wird, die aus dem Licht der
Quelle der Weisheit, der Langmut, aus dem Licht der Stärke, aus dem
Ort von Hessed, aus dem Licht der Wahrheit und dem Ort der Sünden-
vergebung geschaffen sind, eine Folge, die zum Teil an mehrere kab-
balistische Sephiroth erinnert]. Und so verhält es sich mit allen Mid-
doth, und alles, was in der niederen Welt geschieht, kommt durch sie
zustande, und dies ist das Geheimnis der ganzen Tora und der ganzen
Schrift188." Diese Zitate zeigen, daß der Begriff von Middoth als Äonen
auch innerhalb des deutschen Chassidismus möglich war. Es wird sich
schwer sagen lassen, ob die ältesten Quellen des Bahir vielleicht auch
auf diese Anschauungen eingewirkt haben. Die Differenz besteht darin,
daß alles, was uns im Bahir als bizarr oder als spezifisch gnostisch
anmutet, hier fehlt.
Es wäre aber irrig zu übersehen, daß Möglichkeiten solcher eso-
terischen Auffassung der Merkaba- Symbole in der Richtung des
Buches Bahir in den Schriften Eleazars von Worms angedeutet sind.
Er weist auf mündliche Überlieferung über den mystischen Sinn von
solchen Symbolen hin. „Wenn es im Buch der Merkaba heißt, daß
die Engel, die über die Tore der sieben Hekhaloth gesetzt sind, auf
feurigen Pferden reiten-, die feurige Kohlen fressen188 . . ., so ist es ja
187
Sepher ha-Hajim, Handschrift München hebr. 207, Bl. 9a.
188
Handschrift München hebr. 357, B. 51b. Der hebräische Text ist in meinem
Reschith ha-Qabbala, S. 48, gedruckt.
le
» Das Zitat bezieht sich auf Kap. 16 der „Großen Hekhaloth".
Scholem, Kabball 11
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162 Das Buch Bahir

bekannt, daß oben kein Essen und Trinken stattfindet. Wollte ich
aber die Deutung niederschreiben, so würde es jemand sehen können,
der nicht würdig ist, und würde zu korrupten Auffassungen darüber
gelangen . . . Daher [kann solche Deutung] nur auf dem Wege der
Tradition, Kabbala [geschehen]", das heißt durch mündliche Über-
lieferung190. Als Symbole tiefgeistiger Sachverhalte erklärten auch
die ersten Kabbalisten die Schilderungen der Merkaba bei den Pro-
pheten und die Revelationen der Autoren der Hekhaloth-IAteiaXur.
Nicht ohne Grund wird der anonyme kabbalistische Merkaba-Kom-
mentar, als dessen wahrer Autor sich Jakob ben Kohen aus Soria
identifizieren läßt, in manchen Handschriften als „aus der Kabbala
des Chassid R. Eliezer aus Worms" stammend bezeichnet. Jakob
Kohen und sein Bruder Isaak trafen um 1250 in Narbonne einen
„Chassid und Kabbalisten", der ein Schüler des Eleazar war und offen-
bar die chassidische Tradition mit der kabbalistischen der proven-
çalischen Gruppe zu verbinden wußte191. Vielleicht war dieser namen-
lose Schüler der mündlichen Uberlieferung seines Lehrers in höherem
Maße treu, als wir aus der bloßen Vergleichung von dessen Schriften
mit denen der ältesten Kabbalisten würden entnehmen können.
Ich habe an anderer Stelle die Vorstellungen der deutschen Chas-
sidim über den Kabhod dargestellt19a. Bei ihnen verbindet sich Saadias
Lehre über die ersterschaffene Glorie, „den großen Glanz, der Sche-
khina heißt", mit einer Umdeutung im Sinne einer wiederherauf-
kommenden Logos-Lehre, die vielleicht durch unterirdisches Fort-
leben philonischer Ideen erklärbar ist. Noch im 12. Jahrhundert wurde
hier zwischen zwei Formen oder Arten des Kabhod unterschieden,
einem inneren und einem äußeren Kabhod. Dabei ist die Schekhina meis-
tens mit der inneren Glorie, ja sogar mit dem göttlichen Willen identifi-
ziert. An anderen Stellen tritt aber bei Eleazar aus Worms selber eine
Auffassung hervor, die die Schekhina schon als zehntes „Königtum"
oder Bereich von Gottes Königsherrschaft, also ganz im Sinne der
Äonen-Spekulation des Bahir, auffaßt. Am wichtigsten ist dafür eine
Stelle aus seinem Sepher ha-Hokhma, einer Erklärung des mystischen
Gottesnamens von 42 Buchstaben. In einem Stück über die Tephillin
Gottes, die aus Israels Gebeten, Tephilloth, bestehen, heißt es von
der Krone, die dadurch von unten auf Gottes Haupt hinaufsteigt,
190 Zitat aus Eleazar von Worms in 'Aruggath ha-Bossem des Abraham ben Azriel«
ed. Urbach Bd. I, Jerusalem 1939, S. 204.
1 M Dieser Mystiker in Narbonne wird von Isaak ben Jakob Kohen an drei Stellen

seines Traktates über die Emanation (§ 2, 10, 23) erwähnt, vgl. Madda'e ha-Jahaduth
II, S. 245, 254, 263. Diese historische Persönlichkeit war offensichtlich einer der Ver-
mittler zwischen den deutschen Chassidim und dem Kreis der provençalischen Kabba-
listen.
1 9 2 Vgl. J. M., S. 120—124.

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Äonenlehre bei den deutschen Chassidim 163

in einer schon ganz kabbalistischen Symbolik: „Denn die Tephilla


sitzt zur Linken Gottes wie eine Braut beim Bräutigam, und sie heißt
Königstochter; manchmal heißt sie nach ihrer Mission [zu den unteren]
auch Tochter der Stimme [der talmudische Ausdruck für die himmlische
Stimme, die manchmal den Irdischen vernehmlich wird]. Davon hat
Salomo gesagt [in Umdeutung von Prov. 8 30] : Und ich war Schekhina
bei ihm, und der Name der Schekhina ist Ekjeh [ich war], und auch
das Wort bei ihm [in dem Vers] läßt sich nach dem Targum als ,sie
wurde groß' erklären193. Sie heißt nämlich Königstochter, weil die
Schekhina bei ihm in seinem Haus ist, und darauf bezieht sich [in
Ps. 911 die Rede vom] Wohnen im Schatten Schaddais [wobei Sei,
Schatten, im Sinne von 'esel, bei, aufgefaßt wird], das bedeutet: Er
hat einen Schatten, der 'bei ihm' heißt, und dies ist die zehnte Königs-
herrschaft, Malkhuth, und sie ist das Mysterium aller Mysterien. Und
wisse, daß das Wort Sod, Mysterium, [buchstabenmystisch als] das
Wort Malkhuth erklärt werden kann. Zu jeder Seite der Schekhina
sind Kronen der KöngisherrschaftI94. Und sie selber ist 236000 My-
riaden Parasangen groß [das heißt, sie ist die im Schi'ur Qoma geschil-
derte Theophanie Gottes auf dem Thron] . . . Und sie leitet die Welt
und heißt Engel Gottes auf Grund [dieser ihrer] Mission, aber es findet
bei ihr keine Trennung [von Gott] statt. Und davon spricht der Vers
[Ex. 23 20] : Siehe ich sende einen Engel vor dir her. Dies ist die Sche-
khina. Und davon erklären die Weisen den Vers [Num. 16 4] : Moses
fiel auf sein Antlitz, d. h. weil [dort] die Schekhina war, warf er sich
vor Gott nieder195. Darum auch sahen die Propheten die Schekhina,
welche emaniert ist19®, wie es im Sepher Hekhaloth heißt, daß die
Schekhina unter dem Cherub wohnte197, und [ursprünglich] die Engel
und Menschen sie sahen. Als aber das Geschlecht des Enosch sündigte,
stieg die Schekhina nach oben auf. Der Schöpfer aber und Herr der
Schekhina ist vor allen verborgen und hat weder Maß [wie im Schi'ur
Qoma] noch Ähnlichkeit, und kein Auge hat ihn gesehen . . . Und das
ist das Mysterium der Krone und das Mysterium der Schekhina, und
jeder, der dies Wissen hat, hat Anteil an der künftigen Welt und erbt

193 Vgl. unten Anmerkung 199.


1M
Daher heißt sie selbst, wie hier Bl. 6b gesagt wird, die „höchste Krone",
vgl. oben Anm. 120.
1,5
Der Text ist korrupt, und meine Übersetzung beruht auf leichter Emendation.
Eine rabbinische Quelle für diese Erklärung habe ich nicht gefunden. Immerhin hat
Abraham ibn Ezra zur Stelle eine Erklärung in derselben Kichtung, aber nicht im
selben Wortlaut.
i · · Das hebräische Wort für emaniert, hat dieselbe Wurzel wie die Präposition
„bei", VXN.
1,7
Das Zitat steht im sogen. 3 Enoch, ed. Odeberg, Kap. 5, wo die Schekhina aber
nicht unter, sondern über dem Cherub wohnt.
11·
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164 Das Buch Bahir

beide Welten und wird vom Gericht des Gehinnom errettet und ist
oben beliebt und unten begehrt 198 ." Ebenso heißt es an anderer Stelle
desselben Buches: „Die Schekhina des Schöpfers heißt Tochter, wie
es heißt [Prov. 8 30] : Und ich war Schekhina bei ihm, und dies 'bei
ihm' wird im Targum ΓΡ3~ina übersetzt 199 , das dieselben Buchstaben
hat wie m a Γα, die Tochter ihresHerrn,undsieheißtzehnteSephiraund
Malkhuth, weil die Krone der Königsherrschaft auf ihrem Haupteist".
Das Buch, in dem dieses merkwürdige Zitat steht, wurde 1217
kurz nach dem Tod des Jehuda Chassid verfaßt. Es beweist, daß die
Symbolik der Schekhina als Tochter, als Gottes Malkhuth und als
Weltenleitung und zehnte Sephira hier schon durchaus bekannt ist.
Auch die Einheit mit ihrem Ursprung, von dem sie trotz ihrer Mission
zu den Unteren doch nicht getrennt ist, wird hier ganz im Sinne von
Bahir § 90 (im Gleichnis über das schöne Stück Feld) betont. Die
gedeuteten Bibelverse sind andere als im Bahir, und auch die Auf-
fassung der Schekhina als „Engel Gottes" ist dort nicht nachweisbar,
ist aber durchaus im Sinne der deutschen Chassidim. Da eine Be-
kanntschaft Eleazars mit dem Buch Bahir nirgends erweisbar ist,
müssen wir diese ebenso wie andere Übereinstimmungen, die wir
schon früher kennengelernt haben, auf mindestens teilweise Bekannt-
schaft mit den gleichen Quellen zurückführen, die im Bahir benutzt
sind. Und in diesem Fall ist das besonders bedeutsam. Hier haben
wir die Symbolik der Braut und der Königstochter, von der Ecclesia
auf die Schekhina übertragen, ganz wie in den ältesten Fragmenten
dieser Symbolik im Bahir, in denen wir den deutlichen Nachhall
gnostischer Sprache fanden. Der historische Sinn dieses wichtigen
Schrittes zur kabbalistischen Symbolik hin bestand ja gerade in der
Vereinigung des nationalen Moments einer mystisch aufgefaßten
Ecclesia Israels mit einer neuen religiösen Konzeption der Schekhina.
Die mystische Ecclesia erhielt einen überhistorischen Ort im inneren
Prozeß der göttlichen Welt und trat in dieser neuen Gestalt an die
Stelle geistiger Wesenheiten, von denen die alten gnostischen Symbole
sprachen. Sie ist die lebendige Trägerin des göttlichen Abglanzes in
dieser Welt. Man fragt sich, wo diese Vereinigung der beiden Grund-
motive zu dem neuen Symbol vor sich gegangen ist: ob im Orient
oder in einer der Gruppen der deutschen Chassidim. Unsere Kennt-
nisse reichen für eine Entscheidung nicht aus. Für das erstere spricht
188
Ms. Oxford, Neubauer 1568, Bl. 6a. Vgl. auch die anderen Zitate dorther,
Anm. 75 und 120. Der Text ist an ein oder zwei Stellen korrupt und die Handschrift
überhaupt recht schlecht.
199
Das Verbum TlVSNl in Num. 11 : 17 wird im Targum in der Tat mit '•SUO
wiedergegeben. Ein Targum, wie er hier im Text verwähnt wird, ist nicht bekannt.
Targumzitate mit ganz abweichenden Versionen sind in der mittelalterlichen Literatur
sehr häufig.

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Äonenlehre bei den deutschen Chassidim 165

der deutlichere Rückgriff auf die Sprache der Gnosis, für das letztere
vielleicht der sehr lebendige Sinn, den solche Verbindung im Zu-
sammenhang der historischen Erfahrung einer tiefbedrängten Ge-
meinschaft hatte, wie sie das Judentum der Kreuzzugszeit in West-
europa darstellte. Die uns bekannten Schriften der deutschen Chas-
sidim betonen die Lehre von der Schekhina und dem Kabhoi ohne
diese spezifisch historischen Züge. Als sie sich aber mit der Vorstellung
von der Ecclesia Israels vereinigte, gab das einen neuen und sehr
spezifischen Sinn. Jedes Glied an dem mystischen Corpus der Ge-
meinde Israel war dazu aufgerufen, das Geheimnis der Schekhina,
wie es in der Geschichte der Gemeinschaft zum Ausdruck kam, auch
im Leben jedes einzelnen zu manifestieren. Dies erklärt wohl die
besondere Verbindung der meisten Gebote mit dem so verstandenen
Mysterium der Schekhina, eine Verbindung, von der wir schon am
Ende von Abschnitt 8 gesprochen haben. Im Vollzug eines Gebotes
bringt der Mensch etwas von dem verborgenen Abglanz zum Vor-
schein, der auf der ganzen Welt und auf allem einzelnen in ihr und
auf jedem Tun liegt, und verbindet sich so mit dem historischen Ganzen
der Ecclesia Israels und mit der Schekhina, die deren Innerstes, ihre
mystische Realität ist. Die Sephiroth erschienen dann als die innere
Seite dieser Schekhina, als Kräfte, die nur in ihr und durch ihre Ver-
mittlung nach außen traten. Wenn sich aber auch die Beziehung der
ältesten Kabbalisten zu der Welt ihrer Symbole solcherart verstehen
läßt, so läßt sich doch die historische Entstehimg dieser Symbole
selber zulänglich nur durch die Verbindung mit den Überresten
gnostischer Äonenlehre begreifen.
Das Zitat aus Eleazar von Worms zeigt übrigens, daß hier die, sei
es gnostische, sei es aggadische „Tochter" leicht auch mit der Gestalt
des Metatron als des Engels Gottes oder Gesandten, den er nach
E x 23 20 vor Israel herschickt, identifiziert werden konnte. Solche
Identifikation ist in chassidischen Schriften öfters vorgenommen
worden und findet sich dann auch in alten kabbalistischen Doku-
menten200. Dies ist eine deutliche Überhöhung des Metatron, der in
der Merkaba-Gnosis auch den Namen Jahoel trägt. Der Engel wird
selber zu einer Gestalt des Kabhoi. Ganz Entsprechendes findet sich
übrigens bei den Manichäern, bei denen, nach Theodoret, die Licht-
jungfrau den Namen Ίωηλ führt201, der ja nichts ist als das hebräische
Jahoel, ohne daß ich darin übrigens mehr als eine Koinzidenz sehen
200 Zuerst unter Traditionen von Joseph ben Samuel aus Katalonien, die in alten
Kollektaneen der Hs. Christ Church College 198, Bl. 7 a angeführt werden: „ E r sagte
auch, daß nach ihrer Überlieferung Metatron die Schekhina sei." Andere Nachweise
habe ich Tarbiz V (1934). S. 1 8 6 — 1 8 7 , gegeben.
201 v g l ρ Chr. Baur, Das Manichäische Religionssystem, S. 161. Die Zweifel von
E . Peterson, Engel- und Dämonennamen, Rhein. Mus. f. Philol., N. F . Bd. 75 (1926),

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166 Das Buch Bahir

möchte. Das Buch Bahir selbst hat, wie schon betont, keinerlei Ma-
terial zur Metatron-Spekulation bewahrt.

10. Seelenwanderung und Gebetsmystik im Bahir

Wenn wir uns über die möglichen Beziehungen des Bahir zu seinen
Quellen und zur Überlieferung der deutschen Chassidim, wie sie sich
schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ausgebildet haben
muß, klar werden wollen, müssen wir noch zwei Punkte ins Auge
fassen, die bisher nur flüchtig berührt wurden. Dies iind die Lehre
von der Seelenwanderung und die Gebetsmystik.
Von der Seelenwanderung haben wir schon gelegentlich der Analyse
von §§ 86 und 104 gehandelt, wobei wir feststellen konnten, daß in
der Quelle von § 86, die uns im Raza Rabba erhalten ist, gerade davon
nichts stand. Sie ist also bei der Redaktion des Bahir aus einer anderen
Quelle hineingekommen. Welcher Art solche Quelle sein konnte,
läßt sich vielleicht aus den Details rekonstruieren, die Bahir vorbringt.
Dabei ist vor allem bemerkenswert, daß zwar die Sache dem Bahir
geläufig ist, aber noch kein Wort dafür geprägt ist. Von dem, erst
zwei bis drei Generationen nach Bahir ganz gebräuchlich werdenden
Ausdruck Gilgul, der dem lateinischen revolutio animarum in Augustine
Bericht über die Manichäer genau entspricht, sich aber dennoch wohl
anders erklärt202, findet sich hier nichts. Wichtig ist, daß die Lehre
zwar als ein Geheimnis vorgetragen wird, das nur Eingeweihten zu-
gänglich ist, dabei aber auch als etwas dem Autor durchaus Selbst-
verständliches, keiner besonderen Rechtfertigung Bedürftiges. Als
solches Geheimnis wurde sie auch von den Katharern gelehrt, was
wenig überraschen kann, da die Kirche diese Lehre ja formell und dog-
matisch verworfen hatte und jeder, dersie vertrat, damit eo ipso zumHäre-
tikergestempeltwurde. Die Details der Lehre sind auch bei den Katharern
ganzverschieden203. Vor allem weiß Bahir nichts von einer Wanderung in
Tierleiber oder überhaupt in andere als menschliche Daseinsformen.
Die Seelenwanderung tritt als Antwort auf die Frage nach der
Theodizee auf: „Warum geht es einem Frevler gut und einem Ge-
rechten schlecht ? Weil der Gerechte schon [einmal] in der Vergangen-
S. 404—405 über die Identität der Namen Joël und Jaoël sind sicher unbegründet.
Peterson war die jüdisch-esoterische Überlieferung über Jahoël nicht bekannt.
202
Zu Augustin vgl. die Stellennachweise bei Söderberg, la Religion des Cathares,
S. 153. Der hebr. Ausdruck Gilgul ist eine der Übersetzungen des arab. Terminus tanäsuh
und hat die gleiche Bedeutung des sich von Ort zu Ort Bewegens. Über die Geschichte
des hebr. Terminus habe ich hebr. in Tarbiz, Bd. 16 (1945), S. 135—139 gehandelt.
208
Zur katharischen Lehre über die Seelenwanderung vgl. die in Kap. 1, Anm. 12 u.
15 zitierten Werke von Guiraud, S. 59—60, Söderberg, S. 162—154, Borst, S. 168 bis 171.

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Seelen Wanderung 167

heit ein Frevler war und nun bestraft wird. Aber bestraft man denn
für [Vergehen der] Jugendtage ? . . . Ich spreche ja nicht vom [selben]
Leben ; ich spreche davon, daß er schon in der Vergangenheit da war.
Seine Genossen sagten zu ihm: Wie lange wirst du noch dunkle Worte
reden?" Als Antwort trägt R. Rachmaj ihnen im Anschluß an Jes.
5 2 das Gleichnis vom Weinbergbesitzer vor, der seinen Weinberg
immer wieder umpflanzte und säuberte, weil ihm die Trauben nicht
gut gelangen. „Wie oft? Er sagte: bis zu tausend Generationen, denn
es heißt [Ps. 105 8]: er befahl ein Wort für tausend Generationen.
Und das bedeutet der Ausspruch [in Hagiga 13b] : 974 Generationen
fehlten; da stand Gott auf und pflanzte sie in jede Generation ein
(§ 135)." Die Einwände zeigen hier, daß die Fragesteller mit der eso-
terischen Lehre, auf die sich der apokryphe R. Rachmaj bezieht,
ganz unbekannt sind. Seine Sätze sind ihnen unverständlich. Der Ge-
danke selbst wird nicht in einem theoretischen Zusammenhang, sondern
wie auch an anderen Stellen des Bahir, wo von dieser Lehre die Rede ist,
nur in einem Gleichnis entwickelt. Das Gleichnis erwähnt ausdrück-
lich nur drei mißglückte Versuche mit dem Weinberg. Unklar bleibt,
ob darin schon die spätere Vorstellung von dreimaliger Wanderung
angedeutet werden soll. Auch die talmudische Stelle, die hier auf die
Seelenwanderung gedeutet wird, weiß nichts von ihr. Der Aggada
zufolge ist die Tora 26 Generationen nach der Weltschöpfimg gegeben
worden. Ps. 105 wurde aber dahin erklärt, daß Gott „sein Wort"
(d. h. die Tora) nach Verlauf von 1000 Generationen gegeben habe.
Den Widerspruch löst dort die Antwort, 974 Generationen lästerlicher
Menschen habe Gott in alle künftigen Generationen als die Frevler
dieser Geschlechter verstreut. Im Bahir sind diese Bösen also die
schlechten Weinstöcke, denen aber die Chance, aus einer neuen Prü-
fung als Gerechte hervorzugehen, nicht verwehrt bleibt. Dasselbe
sagt § 39, wo aus der mystischen Region des Sabbath alle Seelen „bis
zu 1000 Generationen" ausfliegen. Die Vorstellung, daß die Generation,
die geht, dem Bestand an Seelen nach im Grunde dieselbe ist, die
wiederkommt (§86), deutet in die gleiche Richtung. Auch hier ist
die Begründung, wie wir gesehen haben, aus der Umarbeitung eines
aggadischen Gleichnisses im Talmud erfolgt. Nur wenn Israel würdig
ist, erhalten sie nach § 104 neue Seelen aus dem Sabbath oder Osten,
dem siebenten Logos. Die meisten Seelen müssen bis zur Erlösung
und der Heimbringung aus der Vermischung wandern. Das Ein-
sammeln des Samens, der in den Kosmos, den Bereich der Vermischung,
ausgesät ist, ist ein altes gnostisches Symbol, das in den Mysterien-
Riten gewisser antinomistischer gnostischer Sekten zu großer Be-
deutung gelangt ist 204 . Im Bahir haben wir die gleiche Symbolik, aber
2M vgl dazu L. Fendt, Gnostische Mysterien, München 1922, S. 5—14, der den
Bericht des Epiphanius über die Phibioniten ausführlich untersucht hat.

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168 Das Buch Bahir

ohne jeden antinomistischen Beiklang. Die Seelen kehren schließlich


alle in das „Haus des Vaters" heim, aus dem sie der Königssohn zu
seiner Braut gebracht hatte. Wir werden an die Auffassung vieler
älterer Forscher über den Sinn des gnostischen „Hymnus von der
Seele" erinnert, die in derselben Richtung liegt wie die Kabbalisten
diese Symbolik ihrer Quellen — gleichgültig, ob mit historischem
Recht — verstanden haben. Tritt doch auch dort das „Haus des
Vaters" im selben Zusammenhang auf.
Merkwürdig ist die weitere Ausführung dieses Themas in §§126
bis 127. Wiederum in kabbalistischer Umdeutung eines talmudischen
Wortes heißt es hier, daß der Messias erst kommen könne, wenn alle
Seelen „im Körper des Menschen" erschöpft sein und ihre Wanderung
beendet haben würden. „Dann erst werden die .neuen [Seelen]' hinaus-
treten dürfen, und dann erst ist es dem Sohn Davids vergönnt, ge-
boren zu werden. Inwiefern? Weil seine Seele als neue unter den
anderen hinaustritt." Die Seele des Messias unterliegt also der Wande-
rung nicht. Es zeigt sich dabei eine ganz eigene Note der kabba-
listischen Vorstellung. Hier haben wir es also nicht etwa mit einem
Nachklang von Reinkarnationslehren zu tun, wie sie aus den juden-
christlichen Quellen der Lehre vom wahren Propheten in den Pseudo-
Clementinen bekannt sind und auch auf entsprechende Vorstellungen
schi'itischer Sekten im Islam großen Einfluß gehabt haben205. Dort
durchläuft die Seele Adams, des wahren Propheten, selber in vielen
Gestalten den Äon, diese Welt, um schließlich in der Erscheinung
des Messias zur Ruhe zu gelangen206. Die Kabbalisten selber haben
diese Vorstellung später von sich aus noch einmal entwickelt, als sie
eine Reinkarnationskette Adam-David-Messias annahmen, die aber
nicht vor dem Ende des 13. Jahrhunderts bekannt ist. Ist diese These
des Bahir etwa noch im Orient, gar in bewußtem Gegensatz zu solchen
Vorstellungen entstanden ? Hat sie sich ganz unabhängig davon ent-
wickelt ? Es ist schwer, darauf eine Antwort zu geben. Die deutschen
Chassidim wissen überhaupt nichts von dem ganzen Ideenkreis der
Seelenwanderung, wie das ausführliche Buch Eleazars aus Worms
über die Seele, Hokhmath ha-Nephesch, zeigt. Nach der pessimistischen
Auffassung der Katharer sind alle Seelen in dieser Welt nichts als
gefallene Geister. Auch dazu steht die Lehre des Bahir, die das Herab-
kommen „neuer" Seelen immerhin als möglich und von den guten
Taten Israels bedingt ansieht, in deutlichem Kontrast. Das lange

205 Vgl. dazu Bousset, Hauptprobleme derGnosis, S. 172—176, und vor allem H. J .
Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949, S. 98—116,
334—342.
2 0 6 Vgl. vor allem die Hauptstellen in den Homilien 3,20 und Rekognitionen

II, 22.

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Seelen Wanderung 169

und geradezu geschwätzige, in sich freilich sehr merkwürdige Gleich-


nis von § 127 macht die Frage nach den Quellen dieser Auffassung
nicht einfacher. Die Totalität aller Seelen wird mit dem Brot ver-
glichen, daß der König seinen Soldaten zuschickt, die es durch Unacht-
samkeit verschimmeln ließen. Als das bei der Nachprüfung herauskam,
zürnte der König, ließ das Brot trocknen und „so gut wie möglich
wieder herstellen. Er schwur, diesen Leuten werde ich kein anderes
Brot geben, bis sie dieses ganz verschimmelte Brot aufgezehrt
haben"207. Im Unterschied zu der sonstigen Kürze der Gleichnisse
des Bahir wird dieses dann merkwürdig zerdehnt und ausgesponnen,
wobei dann das Motiv vom Brot, welches die Seelen sind, sich unver-
sehens zum Motiv des Brotes als Torastudium verschiebt. Auch hier
also gibt es neues Brot erst, wenn das alte gegessen, d. h. die sündigen
Seelen gereinigt sind. Die Sprache des Gleichnisses paßt mehr nach
Frankreich oder Deutschland als nach dem Orient208.
Ich betonte oben, daß hier keine Rechtfertigung der Lehre ver-
sucht wird, was um so merkwürdiger ist als in der Zeit, als Bahir in
der Provence redigiert wurde, die offizielle jüdische Theologie diese
Lehre völlig ablehnte209. Zwei Erklärungen sind hier möglich: ent-
weder die Lehre dieser Stücke im Bahir ist älter als die Polemik der
arabisch-jüdischen Religionsphilosophen gegen sie, oder sie wurde
in Kreisen vertreten, die von solchen philosophischen Erwägungen
überhaupt nicht berührt waren und ihnen keine Beachtung schenkten.
Solche Kreise kann es natürlich auch im Orient schon gegeben haben.
Wir wissen, daß in der Zeit der großen religiösen Gärung im Orient,
im 9. und 10. Jahrhundert, als verschiedene Formen der Seelen-
wanderungslehre in islamischen Kreisen, besonders bei einigen Mu'taz-
ziliten und den Gnostikern isma'ilitischer Richtung, Verbreitung
fanden, diese Lehren auch unter den orientalischen Juden Anhänger
hatten. Saadia polemisiert um 930 ausführlich gegen jüdische Anhänger
dieser Lehren, die er als phantastisch ablehnt210. Ein arabischer Autor
weiß, daß es Juden gibt, die als Beweis für ihren Glauben an die Seelen-
wanderung die Vision des Königs Nebukadnezar in Dan. 3 anführen,
die sie auf eine Wanderung des Königs durch verschiedene Tierformen
107
Man fragt sich, ob hier nicht vielleicht ein beabsichtigtes Wortspiel zwischen
dem jikhlu, „sie werden erschöpft [d. h. zu Ende gegangen] sein", in dem Talmudzitat
in § 126 und dem jokhlu, „sie werden verzehren" in § 127 vorliegt. Das sonderbare
Gleichnis wäre dann auf diesem Wortspiel aufgebaut.
20S pas Gleichnis gebraucht schon den Ausdruck Homer ha-Guph für „Materie des
Körpers", der ins 12. Jh. weist und in alten Fragmenten unmöglich wäre. § 127 kann
sehr wohl eine spätere Ausführung zu dem älteren Stück in § 126 bilden.
20» Vgl ( j a z u A. Schmiedl, Studien über jüdische Religionsphilosophie, Wien 1869,
S. 157—166.
210
Saadia, 'Emunoth we-De'olh VI, 7.

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170 Das Buch Bahir

bezogen, bis er wieder menschliche Gestalt annahm211. Diese Exegese


findet sich niemals bei den alten Kabbalisten. Dasselbe gilt für die
Begründungen dieser Lehre, die Qirqisani, ein qaräischer Autor des
10. Jahrhunderts, anführt. Wir wissen aus seinem „Buch der Lichter",
daß 'Anan, auf den die qaräische Tradition das Schisma zwischen
Rabbaniten und Qaräern im 8. Jahrhundert zurückführt, die Lehre
von der Seelenwanderung übernommen und ein Buch darüber verfaßt
habe. Anan stammte aus Babylonien und muß mit vielen älteren,
uns nicht mehr faßbaren Strömungen und Traditionen jüdischer
Sekten vertraut gewesen sein. Die Qaräer selber trennten sich später
von den Anhängern 'Anans, die bei der Seelenwanderungslehre blieben.
Qirqisani kannte die arabischen Schriften dieser Gruppe, die verloren
sind, oder jedenfalls die Argumente, die jene Sektierer mündlich
daraus vorbrachten, und hat zwei Kapitel seines Werkes ihrer Wider-
legung gewidmet212. Es zeigt sich dabei, daß diese alten Sektierer
ganz andere Bibelstellen zur Begründung ihrer Meinung anführten
als im Buch Bahir oder bei den alten Kabbalisten zitiert werden.
Es ist also schwierig, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen
jenen orientalisch-jüdischen Gruppen des 8.—10. Jahrhunderts und
den ältesten kabbalistischen Konventikeln in Südfrankreich im
12. Jahrhundert anzunehmen. Andererseits ist es möglich, daß diese
wie andere älteste gnostische Traditionen der Kabbalisten auf andere
Gruppen im Orient zurückgehen, über die wir keine schriftlichen
Zeugnisse besitzen. In der Nähe mandäischer und manichäischer Ge-
meinden in Mesopotamien, wo gnostisches Gut sich in so vielen Ge-
stalten lebendig erhalten hat213, können wir uns solche jüdischen
Gnostiker am ehesten vorstellen, aus deren Lehren einige Fragmente
mit anderem Material auch nach Europa gelangten. Vielleicht weist
auch die Symbolik der Dattelpalme in manchen dieser Stücke in die
gleiche Richtung. Die Schwierigkeiten solcher Annahme sollen aber
auch nicht unterschätzt werden. Teile dieser Fragmente wären den
deutschen Chassidim bekannt geworden, wie wir in diesem Kapitel
mehrfach gezeigt haben, andere Teile aber nicht. Können solche
Traditionen direkt aus dem Orient in die Provençe gelangt sein und
dort, parallel zur Entwicklung des Katharismus sich entfaltet haben ?
Die Schwierigkeit dabei bleibt die völlig untheoretische und unphilo-
211
Al-Baghdädi, Moslem Schisms and Sects, part. II, transi, by A. Halkin (1936),
S. 92.
212
Diese Kapitel sind von S. Poznaúski im arabischen Urtext vollständig mitge-
teilt worden, Semitic Studies in Memory oí Dr. Alexander Kohut, Berlin 1897, S. 436—
463.
218
Die manichäischen Lehren über die Seelenwanderung, die ältere gnostische
Lehren aufnehmen, sind speziell von A. W. Jackson in J. A. O. S. Bd. 46 (1926),
S. 246—268, untersucht worden.

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Seelenwanderung 171

sophische Form, in der gerade die Seelenwanderungsidee im Bahir


vorgebracht wird. Für die dualistische Religion der Katharer, die
eine wesentlich verschiedene Natur und Herkunft der körperlichen
und der geistigen Welt lehrten, hatte diese Vorstellung natürlich
nicht die Schwierigkeiten, die sie für die philosophische Theologie
der Monotheisten und deren Psychologie hatte. Die Lehre des Aristo-
teles von der Seele als Entelechie des Organismus mußte viel größere
Bedenken gegen die Annahme eines Übergangs der individuellen Seele
in einen anderen Körper schaffen als etwa die dualistische Psychologie
der Platoniker, in die sich solche Doktrin viel leichter einnisten konnte.
Aber auch ein jüdischer Neuplatoniker wie Abraham bar Chija will
von der Seelenwanderung nichts wissen214. Wie ist sie also doch ein
oder zwei Generationen nach ihm in die Provence gekommen? So
müssen wir wohl vorläufig die Frage nach dem historischen Ursprung
der Lehre von der Seelenwanderung im Bahir, trotz der örtlichen und
zeitlichen Nähe zur katharischen Bewegung, offen lassen. Im Ganzen
freilich neige ich mehr der ersteren Hypothese zu, daß wir es nämlich
hier doch mit Fragmenten älterer jüdisch-gnostischer Tradition zu
tun haben, die dem Kreise, aus dem das Buch Bahir stammt, auf uns
nicht sichtbaren Wegen aus dem Orient zugekommen sind.
Demgegenüber weisen die wenigen gebetsmystischen Stücke im
Bahir auf einen deutlicheren Zusammenhang mit der Gebetsmystik
der deutschen Chassidim. Auch diese kam, nach ihrer eigenen Über-
lieferung, aus dem Orient. Wir haben oben bei der Analyse der Über-
reste des Raza Rabba gesehen, daß Entwicklungen in dieser Richtung
sich in der Tat schon in dieser Schrift erkennen lassen. Die eigentliche
Entfaltung hat aber die Mystik des Gebets erst bei den Chassidim
gefunden. Die Worte des Gebets sind voller geheimer Andeutungen
und Beziehungen auf Namen der Engel und der Gottheit selber, die
der Betende in nicht klaren Zusammenhängen meditiert, oder die
eine magische Wirkung des Gebetes implizieren. Im Bahir wird das
Gebet schon mit der Konzentration des Betenden auf die Sephiroth
oder Kräfte Gottes verbunden. Die mystische Versenkung in die Mer-
kaba, in dem neuen Sinn, den der alte Begriff hier gewann, ist wie ein
Gebet, das offenbar die gleichen Sphären durchmißt oder sich auf sie
richtet. Wohl in diesem Sinne wird in §§46—49 das Gebet Habakuks
(3 iff.) als mystisches Gebet gedeutet. Es durchwandert die mystischen
„Orte" und sucht die Einheit Gottes in der Mannigfaltigkeit seiner
Werke, die seine Wirkungen (die Äonen?) sind, zu verstehen (§48).
Dem entspricht in §§ 77 und 83 die „Einigung" des Namens Gottes
in seinen Kräften, die im Schma'-Gebet (Deut. 64) symbolisiert ge-
211
Er sagt von dieser Lehre ausdrücklich, sie sei „leeres Zeug und großer Unsinn",
vgl. Megillaih ha-Megalleh, S. 61, sowie in seinem Hegjon ha-Nephesch, Bl. 5b.

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172 Das Buch Bahir

funden wird. Das Gebet wird hierbei, ganz im Sinne der alten talmu-
dischen Auffassung, als Substitut des Opfers verstanden. Sein Sinn
ist der gleiche: die Einheit der „Kräfte" in Gott zu verkünden oder
sie meditativ zu vollziehen.
Vor allem wird in diesem Sinn das Erheben der Hände im Segen
Arons (Lev. 9 22) und beim Kampf gegen Amalek (Ex. 17 11) erklärt
(§ 87, 94, 95). Das Erheben der Hände beim Priestersegen am Ende
des Gebetes entspricht dem Erheben der Hände nach dem Opfer
(§ 87) : es ist eine Geste der Vereinigung, die die zehn Sephiroth, die
hier ausdrücklich genannt sind, als ineinander enthalten begreift.
Der Sieg Israels über Amalek, wenn Moses seine Hand aufhob, liegt
auf dergleichen Ebene.Moses richtete die,, Konzentration des Herzens",
Kawwanath ha-Lebh, auf jene Midda, die Israel heißt und die die Tora
der Wahrheit in sich faßt. „Er deutete mit den zehn Fingern seiner
Hände an, daß [diese Midda] den zehn [Logoi] Bestand verleiht, so
daß, wenn sie Israel nicht beistünde, die zehn Logoi nicht mehr
täglich als heilig gepriesen würden — dann siegte Israel." Der
Ausdruck Kawwanath ha-Lebh, der dem Targum und Midrasch
entstammt215, bedeutet Sammlung des Sinnes und ist seit dem Buch
Bahir von den Kabbalisten im Sinne von „mystischer Meditation"
über die Sephiroth gebraucht worden. Es ist der Grundbegriff ihrer
Gebetsmystik. Schon im Midrasch heißt es, Israels Gebet werde jetzt
nicht erhört, da sie den ausdrücklichen Namen Gottes Schern ha-me-
phorasch, nicht wissen216. Wer also dies Geheimnis kennt, dessen
Gebet wird erhört. Eben dies wird in einer Deutung von Hab. 3 10
in § 95 sehr kühn erweitert: „Sind in Israel Einsichtige217 und solche,
die das Geheimnis des ehrwürdigen Namens wissen und ihre Hand
erheben, so werden sie sofort erhört, denn es heißt [Jes. 58 9] : dann
rufst du und Gott antwortet. [Dies ist so aufzufassen :] Wenn du [das]
anrufst, [was mit dem Worte] 'az [angedeutet wird], so antwortet
Gott. Und was bedeutet dieses [aus Aleph und Zajin zusammengesetze]
'az ? Das lehrt, daß es nicht erlaubt ist, zu dem Aleph allein zu rufen
oder zu beten, sondern nur mit den zwei mit ihm zusammenhängenden
216
Vgl. Pseudo-Jonathan zu Num. 35 20; Pesiqta Rabbati, ed. Friedmann, Bl.
198b; Midrasch Tanhuma, Par. nassa §18, ed. Buber IV, S. 34; Bamidbar Rabba,
Par. 11 § 4. Das entsprechende Verbum kawwen libbo beim Gebet z. B. in Midrasch
Tehillim zu Ps. 108, ed. Buber, S. 464.
21
· Midrasch Tehillim, Ende von Ps. 91, S. 400.
217
Maskilim wird als Terminus für die, die das Geheimnis der Vokalisation des
Gottesnamens wissen, von Abraham ibn Ezra in der von Fleischer edierten Rezension
seines Exodus-Kommentars zu Kap. 24 gebraucht. Nach A. Parnés, Kennesseth, Bd. 7,
Jerus. 1942, S. 286 wäre Maskil in diesem Sinn schon in einem Gedicht des Salomo ibn
Gabirol gebraucht, vgl. Pijjutim, ed. Bialik-Rawnitzki, Bd. II, S. 58, Z. 8. Diese
Interpretation ist mir nicht sicher.

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Gebetsmystik 173

Buchstaben zusammen, die in der Königsherrschaft zu oberst sitzen218.


Und mit Aleph zusammen, sind das drei. So bleiben [noch] sieben
von den zehn Logoi, und das bedeutet [der Buchstabe] Zajin t, [dessen
Zahlenwert sieben ist], und davon heißt es auch [Ex. 151] : ,Dann sang',
'az jaschir, [d. h. : das 'az besang] .Moses mit den Kindern Israel'."
Diese Umdeutung des hebräischen Wortes 'az benutzt einen, noch
ganz unmystischen Midrasch, in dem dies Wort in Ex. 15 ι nach
dem Zahlenwert der beiden Konsonanten Κ und t gedeutet wird,
als ob Moses gesagt hätte: „Laßt uns den einen preisen, der über den
sieben Himmeln thront"219. Der neue Gedanke ist: wenn du (in deiner
Kawwana) die zehn Logoi anrufst, die eben das Geheimnis des wahren
Namens Gottes darstellen, so antwortet Gott! Es ist verständlich,
daß diese Stelle, die so klar von einem Beten zu den Logoi oder Se-
phiroth spricht, als anstößig empfunden wurde. Offenbar war sie
unter den häretischen Äußerungen, von denen Meïr ben Simon aus
Narbonne das Buch Bahir voll fand. Er wirft den Kabbalisten aus-
drücklich vor, daß sie statt zu Gott zu den Sephiroth als Mittelwesen
beteten, womit sie sich der Vielgötterei schuldig machten. Kein
Wunder, daß manche Handschriften und Zitate die Worte „oder zu
beten" weggelassen haben! Die erste Sephira allein, das Aleph, kann
man nicht anrufen ; sie ist zu verborgen, wie § 48 zu Hab. 3 2 dasselbe
vom Aleph als dem verborgenen und zurückgezogenen König hat.
Man muß es mit den zwei nächsten Buchstaben verbinden, wobei
nicht klar ist, ob damit Jod und He gemeint sind, die mit ihm zu-
sammen den Gottesnamen 'Ehjeh bilden, oder die Buchstaben Jod
und Schin, die in § 84 zu Ex. 15 3 das mystische Symbolwort 'Isch
bilden, wie wir schon gesehen haben. In beiden Fällen sind das Sym-
bole der zweiten und dritten Sephira, durch die also allein sich der
Zugang zur ersten öffnet. Und das Gebet im ganzen umfaßt alle zehn
Sephiroth, die der Betende in seine Meditation einbezieht.
Von solcher Meditation oder Kawwana über die Sephiroth findet
sich in der bisher bekannten Literatur der deutschen Chassidim nichts.
Der Übergang lag aber nahe. Wenn die zehn Sephiroth des Buches
Jesira als göttliche Middoth aufgefaßt wurden, konnte die Gebets-
Kawwana auf die Namen Gottes auch auf sie übertragen werden.
Ob das zuerst in Deutschland oder Südfrankreich geschah, läßt sich
nicht entscheiden. Möglich ist beides.
Wir können die Ergebnisse dieser Analyse des ältesten kabba-
listischen Textes, den wir hier wenigstens nach seinen wichtigsten
Vorstellungen untersucht haben, zusammenfassen. Die Annahme einer

218 Eine Wendung aus Esther 1 14.


219 So in der Oxforder Handschrift des Midrasch Tanhuma, ed. Buber II, S. 60,
A i m . 52.

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174 Das Buch Bahir

Entstehung der ältesten kabbalistischen Gedankengänge und einer


Abfassung des Buches in der Provence läßt sich nicht aufrecht er-
halten. Materialien verschiedener, viel älterer jüdischer Quellen ge-
langten, vermutlich auf verschiedenen Wegen, um die Mitte des
12. Jahrhunderts dorthin und wurden in einem Kreis, der diese Vor-
stellungen, Traditionen und Materialien produktiv aufnahm und weiter
verarbeitete, etwa zwischen 1160 und 1180 redigiert. Intime Bekannt-
schaft mit der aggadischen Literatur und dem Schrifttum der Merkaba-
Mystik, die beweisen, daß es sich keineswegs um eine illiterate Gruppe
gehandelt haben kann, steht in sonderbarem Kontrast zu der nach-
lässigen Sprache und der schlechten Arbeit bei der Redaktion. Ältere
Quellen des Bahir lassen sich aus zahlreichen Überlieferungen in der
Literatur der deutschen Chassidim zum Teil direkt nachweisen,
zum Teil mit großer Wahrscheinlichkeit erschließen. Anderes ist viel-
leicht direkt aus dem Orient in die Provence gelangt. Einen orienta-
lischen Ursprung auch der wichtigsten, mindestens durch gewisse
Zirkel der deutschen Chassidim gegangenen, alten Stücke und Quellen
des Bahir legt ihr enger Zusammenhang mit der Sprache, Terminologie
und Symbolik der Gnosis nahe. Außer den nachweisbaren, das heißt
identifizierbaren Quellen des Bahir, wie dem Buch Raza Rabba,
müssen auch andere hebräische oder aramäische Fragmente jüdisch-
gnostischen Charakters unter diesen Quellen gewesen sein. Eine Ver-
bindung der Spekulationen des Buches von der Schöpfung über die
zehn Sephiroth mit Elementen der Merkaba-Gnosis und anderer
jüdisch-gnostischer Strömungen hat sich zuerst schon im Orient voll
zogen und hat dann die weitere Ausbildung der ältesten kabbalistischen
Lehre und Symbolik in dem provençalischen Kreis, der von diesen
Materialien Kenntnis erhielt, bewirkt. Vieles bleibt im einzelnen noch
hypothetisch, und es ist nicht ausgeschlossen, daß weitere Funde und
Analysen, besonders aus der Überlieferung der deutschen Chassidim,
noch mehr Aufschlüsse bringen können. An dem wesentlich gnostischen
Charakter dieser ältesten Form der Kabbala kann aber nicht mehr
gezweifelt werden. Unentschieden bleibt vorderhand auch die Frage
nach einem möglichen Zusammenhang der Kristallisierung der Kab-
bala in Form der Redaktion des Bahir mit der katharischen Bewegung,
ein Zusammenhang, der nicht genau erweisbar ist, aber nicht aus-
geschlossen werden kann. Geistesgeschichtlich stellt das Buch Bahir
einen vielleicht bewußten, im Sachlichen jedenfalls eindeutig fest-
stehenden Rückgriff auf archaische Symbolik dar, die in der Welt
des mittelalterlichen Judentums durchaus einzigartig ist. Mit der
Veröffentlichung des Buches Bahir tritt eine jüdische Form mythischen
Denkens in Konkurrenz und unabweisbare Auseinandersetzung mit den
rabbinischen und philosophischen Ausprägungen des mittelalterlichen
Judentums. Dieser Prozeß wird uns imFolgenden zu beschäftigen haben.

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III

DIE ERSTEN KABBALI STEN IN DER PROVENCE

1. Abraham ben Isaak aus Narbonne

Bisher haben wir uns die Analyse des ältesten literarischen Denk-
mals der Kabbala, das in der Provence zur Veröffentlichung gelangte,
angelegen sein lassen. Es ist nun angebracht, uns auch der zweiten
Seite des Problems zuzuwenden und zu fragen: was wissen wir über
die ersten Persönlichkeiten, in denen Kabbalisten ihre ältesten Lehrer
erblickten? Auch hier sind die Wege der Forschung verwickelt und
nicht mit Rosen bestreut. Vollständige Schriften und andere Doku-
mente, die sicher über die Zeit vor 1200 hinausführen, sind uns nicht
erhalten. Andererseits haben wir auch nicht ein solches Vakuum vor
uns, wie es in bezug auf die Familie des Rabbi Abraham ben David
(im folgenden, nach der in der hebräischen Literatur üblichen Ab-
breviatur seines Namens als Rabed bezeichnet), seine Kollegen und
Schüler, bisher in der Kabbala-Forschung herrschte. Hier und dort
sind verstreute Fragmente erhalten, an deren Authentizität kein be-
gründeter Zweifel bestehen kann. Durch sie vermögen wir einen Blick
in die Welt jener Mystiker zu werfen, die nicht, wie die Redaktoren
des Bahir, aus anonymen und vielleicht ein wenig suspekten Kreisen
der jüdischen Gesellschaft kamen, sondern die „zu den Vornehmen
des Landes und den Verbreitern des Torastudiums in der Gemeinde"
gehörten, nach den stolzen Worten Isaaks des Blinden in einem wich-
tigen Brief, der sich erhalten hat 1 .
Das erste Glied in dieser Kette der provençalischen Kabbala war
Abraham ben Isaak aus Narbonne, der in der hebräischen Literatur
als „R. Abraham der Gerichtspräsident" bekannt ist und einer der
bedeutendsten Talmudisten seiner Zeit war. Sein Zusammenhang mit
der Kabbala wird nicht nur durch spätere Legenden begründet, wie
manche Forscher angenommen haben, sondern durch das ausdrück-
liche Zeugnis seines Enkels Isaaks des Blinden. Dieser spricht im Plural

1
Ich habe diesen Brief, über den ich unten S. 349 ff. ausführlicher handele, im
Sepher Bialik, Tel Aviv 1934, veröffentlicht und kommentiert. Der oben zitierte
Passus, sowie das weitere Zitat daraus, vgl. dort, S. 143.

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176 Die ersten Kabbalisten in der Provence

davon, daß „seine Väter" — nicht nur sein Vater Abraham ben David
— unter den Meistern esoterischen Wissens waren. Vor allem betont
er aber, daß „kein Wort darüber aus ihrem Munde kam und sie sich
zu ihnen [d. h. zu solchen, die nicht in die Geheimlehre eingeweiht
waren] verhielten wie zu Menschen, die nicht in der [mystischen]
Wissenschaft bewandert sind, und ich habe [dies Verhalten] bei ihnen
gesehen und daraus eine Moral gezogen". Natürlich können wir, diesem
authentischen Zeugnis zufolge, keine kabbalistischen Ausführungen
im Sefiher ha-'Eschkol erwarten, dem großen Halakha-Werk des
Abraham ben Isaak, das für Talmudgelehrte bestimmt war. Die Frage
bleibt: Woher stammt der mystische Einfluß, der diesen bedeuten-
den Gelehrten zur Esoterik brachte ? Auf dem Hintergrund welcher
Neigungen oder Forschungen erhielt er die „Offenbarung des Pro-
pheten Elias", die ihm, wie wir sahen, alte kabbalistische Überlieferung
zuschreibt ?
Hier treffen wir auf einen paradoxen, aber wichtigen Sachverhalt,
der uns einiges Licht über die verschiedenen Quellen gibt, aus denen
die ältesten Kabbalisten schöpfen konnten. Abraham ben Isaak war,
wie bewiesen worden ist, ein direkter Schüler des Jehuda ben Barzilai
in Barcelona2, dem Autor des ausführlichen Kommentars zum „Buch
der Schöpfung", der hier schon mehrfach erwähnt wurde. Hiernach
dürfen wir annehmen, daß er dessen Kommentar kannte, obwohl er
ihn nirgends ausdrücklich erwähnt. Es ist natürlich wohl möglich,
daß er hier die Anregung zu weiteren Beschäftigungen mit dem Buch
Jesira und der Merkaba-Gnosis erhielt. An einer Stelle in seinem
'Eschkol deutet er auf dunkle Weise einen mystischen Kommentar
über die Aggada an, nach der Gott dem Moses den Knoten der Te-
phittin gezeigt habe: „Er zeigte ihm etwas wie Formen der [göttlichen]
Majestät und Pracht, um damit anzukündigen, daß dieses Gebot bei
ihm besonders behebt sei"3. Welcher Art diese Formen in dem himm-
lichen Licht waren, die Moses erschaute, wird hier. nicht gesagt.
In dem Jesira-Kommentar seines Lehrers finden wir dieselbe
Redeweise von „Formen der Majestät", welche die Schekhina ist,
und deren Wahrnehmung durch Moses oder die Propheten an nicht
wenigen Stellen4. Hier ist klar, daß Abraham ben Isaak die saadia-
nische Richtung seines Lehrers in der Auffassung der Schekhina und
der Lehre vom Kabhod fortsetzt. Historisch hätten wir also hier eine
2 Vgl. S. Assaph, Siphran schei Rischonim, Jerusalem 1936, S. 2—3.
8
Sepher 'Eschkol, ed. Albeck, Band I, S. 33.
4
Ibid. I, S. 223. Jehuda ben Barzilai benutzt die Ausdrücke „Majestät und Glanz"
öfters als feste Termini für das Licht des Kabhod. So spricht er von den Formen, die
den Sehern in diesem höchsten Lichte erscheinen, vgl. seinen Kommentar zu Jeçira,
S. 22, 32, 35 („Formen der Majestät, Suroth ha-Hod"), sowie seinen Kommentar über
die talmudische Aggada von dem Knoten der Tephillin, S. 33.

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Abraham ben Isaak aus Narbonne 177

einheitliche und ununterbrochene Traditionskette von Lehrer zu


Schüler, von dem Gelehrten in Barcelona, bei dem sich nicht der ge-
ringste Hinweis auf die Grundlehren der Kabbala findet, bis zu Isaak
dem Blinden, der 100 Jahre nach ihm lebte. Und dennoch haben sich
im Laufe dieser Generation die Sephirothlehre des Buches Jesira und
Saadias-Lehre von der Schekhina vollständig verändert, um nicht
zu sagen, in ihr Gegenteil verkehrt. Die Differenz zwischen dem er-
schaffenen Licht der Glorie und der Schekhina bei Saadia und Jehuda
ben Barsilai, der nicht müde wird, die Kreatürüchkeit dieser Glorie
zu unterstreichen, und der Auffassung der Schekhina im Bahir, wie
sie nachher in der Kabbala herrschend geworden ist, ist tief. Sie weist
auf zwei ganz verschiedene religiöse Konzeptionen und Denkweisen
hin. Es ist keineswegs ein Zufall, daß in dem ausführlichen Werk des
Jehuda ben Barzilai all jene gnostische Symbolik der Schekhina fehlt,
die wir im vorigen Kapitel untersucht haben. Wo also ist hier der
Ort der Krise, an dem der entscheidende Umschlag zur gnostischen
Anschauung erfolgt ist ? Liegt er nicht auf dem Wege von dem großen
Gelehrten in Barcelona zu dem Gerichtspräsidenten in Narbonne?
Ist hier nicht die Gnosis eingebrochen, die wir ja in der Generation
nach ihm schon in voller Blüte finden ? ! Kann diese große Wendung
etwa unter dem Einfluß einer Begegnung des Schülers des Jehuda
ben Barzilai mit einer anderen Tradition erfolgt sein, die mit der
ersteren in Auseinandersetzung trat und dabei die Oberhand gewann,
das heißt also mit jener Tradition, die sich im Buch Bahir nieder-
geschlagen hat ? Über die Befassung seines Kreises in Narbonne mit
dem Buch der Schöpfung als einer Grundurkunde der Geheimlehre
besitzen wir ein sehr zuverlässiges Zeugnis. Noch in der ersten Hälfte
des 13. Jahrhunderts sah Moses Taku (aus Tachau in Böhmen ?) einen
Jesira-Kommentar der „Gelehrten von Narbonne", wie schon S. 29
erwähnt wurde. Aus dem einen kurzen Zitat, das er bringt, läßt sich
aber nichts für den allgemeinen Charakter dieses Buches folgern.
Andererseits liegt kein Grund zu der Annahme vor, daß diese Ge-
lehrten in einem Buch, das in dieser Weise in der Öffentlichkeit als
kollektive Arbeit bekannt geworden war, nun gerade kabbalistische
Ansichten zur Sprache gebracht haben würden. Auf solche Art Öffent-
lichkeit können wir in diesem Kreis nicht rechnen.
Jedenfalls verhüllen die bekannt gewordenen Schriften des Abraham
von Narbonne mehr als sie auf diesem Gebiet enthüllen. Äußerungen,
in denen er etwa in der Mitteilung seiner mystischen Anschauungen
weitergegangen wäre, sind uns nicht erhalten. Dies freilich involviert
ein Problem der literarischen Kritik. Schemtob ibn Gaon, ein Kab-
balist aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts und Schüler des Salomo
ibn Adreth, erzählt an einer Stelle über die Anfänge der kabbalistischen
Literatur in der Provence. Seine Ausführungen in diesem Zusammen-
Scholem, Kabbala 12
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178 Die ersten Kabbalisten in der Provence

hang sind nachprüfbar und großenteils verifizierbar. Er sagt dort


aber auch, im Kontrast zu Abraham ben David, daß R. Abraham
der Gerichtspräsident über die Kabbala nur Stichworte, Rasche
Peraqim, niedergeschrieben habe. Diese Aufzeichnungen habe er selbst
gesehen. „Sie machen eine Reihe von ausgezeichneten Worten be-
kannt, um mit ihnen jeden Kabbalisten so anzuregen, daß er an jeder
Stelle, wo er ein solches Wort in der Bibel oder im Talmud findet,
aufmerkt5." Es versteht sich von selbst, daß ein solches Heft mit
Stichworten und nicht mehr, wenn es wirklich von diesem Gelehrten
stammen sollte, für jeden Uneingeweihten ein Buch mit sieben Siegeln
gewesen wäre. In der Aufzeichnung solcher, ihrer Bedeutung nach
unerklärt bleibenden Stichworte hätte in der Tat noch keine Profa-
nierung der esoterischen Tradition durch öffentliche Mitteilung ge-
legen. Schemtob ibn Gaon bringt an einer anderen Stelle ein wört-
liches Zitat aus diesen Aufzeichnungen. Hier sehen wir, daß es sich
in der Tat nur um eine Art mnemotechnische Hilfe für solche, die die
Hauptsache schon wußten, gehandelt haben kann. Unser Urteil über
die Authentizität dieses Dokuments, das sich leider nicht erhalten zu
haben scheint, hängt davon ab, ob wir bereit sind, diesem Gelehrten
in der Mitte des 12. Jahrhunderts schon Bekanntschaft mit der ent-
wickelten Symbolik der Sephiroth zuzuschreiben, deren Existenz in
dem einen erhaltenen Zitat trotz seiner änigmatischen Ausdrucks-
weise in die Augen springt®. Wie wir sahen, gelangten etwa um diese
Zeit das Buch Bahir oder die Quellen, aus denen es redigiert wurde,
in die Provence und wurde dort seiner Schlußredaktion unterzogen.
Unter den wenigen Stichworten dieses Zitats finden sich schon Sym-
6
Vgl. den hebräischen Text der Stelle im Sepher Bialik, S. 143, aus Hs. Oxford,
Neubauer 1630 des Buches Badde ha-'Aron des Schemtob ibn Gaon.
• Die Originalstelle, die auf literarischen Anspielungen und Wortspielen beruht,
wie sie in solchen Texten nicht selten sind, ist unübersetzbar. Sie lautet:
rraarn rrxn V'i T'a ax am nan ma laai
v
'wn n^na m tana -rnsnm ρ T'aVi p a n
R. Abraham hatte seine mystische Andeutung also an eine Bemerkung zu dem viel-
gedeuteten Wort teschi in Deut. 3218 angeschlossen. Falls das Zitat authentisch ist,
beweist es, daß das Wort 'ajin, das im Hebräischen sowohl „wo" als auch „nichts"
bedeuten kann, in Narbonne schon um 1160 als mystisches Symbol der höchsten
Sephira bekannt war. Das hebräische Zitat verbindet eine mystische Ausdeutung von
Hiob 2812 über den Ursprung der göttlichen Sophia mit einer anderen der talmu-
dischen Aggada über ben Zoma im Jeruschalmi, Hagiga II, 1. Das Buch Bahir kennt
diese mystische Terminologie noch nicht, die also wohl aus anderer Tradition herkam.
Übrigens dürfte auf dieselbe Quelle auch die weitere Bemerkung Schemtob ibn Gaons
in seinem Migdal Όζ zu Hilkhoth Teschubha VI zurückgehen, wo es heißt: „Es ist mir
bekannt, daß unser Meister Rabed s. A. Empfänger esoterischen Wissens [mequbbai
be-nistaroth] war, das in den gam und 'eth [der Tora] angedeutet ist, und aus seinen
Wassern trinken wir."

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Abraham ben Isaak aus Narbonne 179

bole, die im Bahir gar nicht vorkommen, wohl aber nachher in den
Schriften von Abraham ben Isaaks Enkel. Hier findet sich außerdem
eine Andeutung, zu der wir aus der Kabbala der ersten Generationen
überhaupt keinen Schlüssel haben. Wenn wir wirklich annehmen
dürfen, daß schon Abraham ben Isaak sich angeregt fand, den my-
stischen Symbolismus der göttlichen Middoth in den Spuren der Tra-
dition des Bahir weiterzuentwickeln, würde uns nichts hindern, das
Zeugnis des Schemtob ibn Gaon anzunehmen. Es ist aber ebenso
möglich, daß diese Liste von einem Schüler des Gerichtspräsidenten in
der Provence gegen Ende des 12. Jahrhunderts verfaßt wurde. Eineend-
gültige Entscheidung über die Echtheit läßt sich heute nicht mehrfällen.
Auch an einer anderen Stelle hat sich bei einem Autor des 13. Jahr-
hunderts ein esoterisches Fragment des Abraham ben Isaak über die
Erlösung erhalten. Sollte es echt sein — ich sehe keinen Grund, es
für unecht zu erklären — so würde R. Abraham der Gerichtspräsident
hier auch seinerseits schon als Glied einer mystischen Familientradi-
tionskette erscheinen. „So habe ich von meinen Vätern empfangen:
wenn Sedeq [was im Hebräischen sowohl Gerechtigkeit als auch den
Planeten Jupiter bedeuten kann] zur Hälfte des Thrones der Glorie
gelangt, kommt sofort die Erlösung Israels usw.7." Das Bild von
Sedeq in der halben Höhe des Thrones ist sehr sonderbar. Ist Sedeq
hier der Planet Jupiter, so ist schwer verständlich, auf welche astrolo-
' Das Stück ist von Alexander Marx i m H a - S o p h e tne-'Eres HagarV, S. 198 ver-
öffentlicht worden. Seine Fortsetzung beweist Bekanntschaft mit der früh-mittelalter-
lichen Apokalypse des Sepher Zerubabel. Daß Abraham ben Isak Jesira und Merkaba-
Schriften kannte, also das esoterische Schrifttum der vorkabbalistischen Zeit benutzte,
läßt sich mit Sicherheit aus dem ihm (und nicht seinem Schwiegersohn) zugehörigen
Kommentar zum Traktat Baba Bathra beweisen, wie schon Raphael Rabbinovicz,
Diqduqe Sophrim X I (1881), S.9—10 der Vorrede, gezeigt hat (gegen H. Gross, M.G.W. J .
1873, S. 456). Gross hielt das Zitat aus Hilhhoth Jesira über die 12 Gegensatzpaare in
der Welt für einen Kopistenzusatz, der aus dem späteren kabbalistischen Kommentar
eines Pseudo-Rabed zu Jeçira I, 2 genommen sei. In Wirklichkeit stammt die Stelle
aber aus dem Text des Buches Jesira selber, wie er in dem echten arabischen Kommen-
tar Saadias zu Jesira (Kapitel V I I I seiner Einteilung) vorliegt. Unbegründet ist auch
Gross' Verdacht gegen die Stelle, an der Abraham ben Isak aus „Büchern der Merkaba"
des längeren verschiedene magische Schutzmittel (Qibhla, hat nichts mit Kabbala zu
tun) anführt, um Gunst bei den Behörden zu finden. Feinde zu bezwingen, im Kriege
zu siegen und dergleichen, wofür die Namen der Mütter biblischer Personen angerufen
werden sollen, wie sie an der von ihm glossierten Talmudstelle Baba Bathra 91a er-
wähnt werden. Diese Überlieferungen haben sich unter Abraham ben Isaks Namen
durchaus richtig auch in sehr alten, noch ins 13. Jahrhundert reichenden Sammlungen
jüdischer Magie erhalten, wie zum Beispiel in der Hs. Casanatense 179, Bl. 119a. In
manchen Handschriften wird auch das bekannte Amulett der sieben Siegel, über das
H. A. Winkler, Siegel und Charaktere in der Muhammedanischen Zauberei, Berlin 1930,
S. 55—149 gehandelt hat, dem Abraham 'Abh Beth Din zugeschrieben, so in der Hs.
Schocken Institute, Kabb. 101, Bl. 3 a.

12·
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180 Die ersten Kabbalisten in der Provence

gische Anordnung der Autor mit dem Ausdruck „Thron der Glorie"
hinweisen wollte. Hat er doch in einem solchen Rahmen, soweit ich
sehe, gar nichts zu suchen 8 . Oder sollen wir etwa annehmen, daß
sowohl „Gerechtigkeit" wie „Thron der Glorie" hier schon mystische
Symbole sind, wie in der Tat im Buch Bahir? Verhielte sich das so,
so würde in diesen zwei Symbolen auf die Konjunktion zweier Äonen,
die sich miteinander verbinden, hingedeutet werden. Das würde recht
gut der Symbolik der Erlösung im Bahir entsprechen, wo in § 50 unter
anderem eben diese zwei Begriffe in solchem Zusammenhang benutzt
werden. Dabei bleibt aber schwierig, was mit dem sonderbaren Aus-
druck „bis zur Hälfte des Thrones der Glorie" gemeint sein soll.
Jedenfalls läßt uns dies, so ganz zufällig überlieferte Zitat, aufhorchen.
Er würde sich seinerseits schon auf Tradition seiner eigenen Vor-
fahren über mystische Symbolik berufen, was den kabbalistischen
Überlieferungen in Narbonne eventuell ein noch höheres Alter gäbe.
Wenn wir also auch vorsichtigerweise sagen müssen, daß wirkeine Ge-
wißheit haben, welche spezifischen mystischen Überlieferungen dieser
Gelehrte schon besaß und im Kreise seiner Kollegen vortrug, so scheint
es mir doch nicht zweifelhaft, daß er schon irgend etwas von der kab-
balistischen Tradition besaß. Vielleicht waren diese Dinge noch sehr
verschieden von den Vorstellungen, wie wir sie nachher in der Kabbala
Isaaks des Blinden ausgebildet finden. Vielleicht auch dürfen wir der
Angabe über Familientradition hier nicht weniger Glauben schenken
als ähnlichen Angaben über esoterische Tradition in der Familie der
Kalonymiden in Deutschland, wo niemand ernstlich die Meinung
vertreten würde, daß sie etwa von Jehuda Chassid oder seinem Vater
erfunden worden sind. In beiden Fällen erscheinen am Ende der famili-
ären Uberlieferungskette bedeutende Persönlichkeiten, die zweifellos aus
Eigenem dazu getan haben, Dingen eine neue Form gegeben und Vorstell-
ungen in mehr oder weniger geordneter Weise zusammengefaßt haben.

2. Abraham ben David (Rabed)

Wie schwierig diese Frage nach den mystischen Vorstellungen in


diesem Kreise ist und wie verschiedene Gesichter sie uns zeigt, wird
besonders deutlich, wenn wir die Nachrichten betrachten, die wir
über R. Jakob den Naziräer und R. Abraham ben David, den Schwie-
8
Freilich könnte eine solche mystische Symbolik mit Vorstellungen zusammen-
hängen, wie sie in dem chassidischen Kommentar zum Schi'ur Qoma vorkommen, auf
den im vorigen Kapitel öfters rekurriert wurde. Dort heißt es von der Schekhina ebenso
paradox, sie habe „eine Sphäre [Galgal] für sich selbst und es gäbe dort einige Gestirne,
die bei ihr ihre Stätte haben, sie selbst aber ist doch das Hauptprinzip". Vgl. den
hebräischen Text in Reschith ha-Kabbala, S. 238.

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Abraham ben David 181

gersohn des Gerichtspräsidenten von Narbonne, besitzen. Wie schon


im ersten Kapitel ausgeführt, schrieb ihnen die kabbalistische Über-
lieferung eine Offenbarung des Propheten Elias zu, was also besagt,
daß sie aus neuen Quellen der Vision oder Kontemplation kabba-
listische Ideen produzierten, die ihnen nicht aus konventionellen
Medien der Überlieferung zugekommen waren. Worin aber dies Neue
eigentlich bestand, besonders im Verhältnis zur Überlieferung des
Bahir, die in ihren Kreisen zweifellos bekannt gewesen sein wird, das
bedarf der Klärung auf Grund der Überreste ihrer eigenen Worte.
Rabed verfaßte zu mehreren Talmud-Traktaten Kommentare, und
Schemtob ibn Gaon, der sie gelesen hat, bezeugt, daß er dort „etwas
[von der Kabbala], wo er Notwendigkeit dafür sah, aber nicht mehr,
angedeutet habe", und „es sei ihm genug gewesen, sich [bei der Be-
handlung der kabbalistischen Themata] auf seinen gelehrten Sohn
[Isaak den Blinden] zu verlassen, der in dieser Wissenschaft, die er
von seinem Vater empfangen hatte, berühmt ist" 9 . Der Rabed ist
aber außer durch diese Kommentare vor allem durch seine kritischen
Einwendungen und Glossen zu dem großen halakhischen Werk des
Maimonides bekannt. Auch dort befinden sich an einigen Stellen
gelegentlich halakhischer Auseinandersetzungen mystische Wen-
dungen, die ihrer Form nach durchaus ungewöhnlich sind. Es besteht
kein großer Unterschied zwischen der Überlieferung seiner Schülers-
Schüler, wonach ihm der Prophet Elias erschienen sei, was im Grunde
doch nur ein anderer Ausdruck für Erleuchtung ist, die er von oben
empfangen habe, und zwischen seinen eigenen Worten, wonach „der
heilige Geist schon in unserem Lehrhaus erschienen ist", oder „Es
ist mir aus dem Mysterium Gottes, das er denen, die ihn fürchten,
mitteilt, offenbart worden" und dergleichen Wendungen. Dies sind
talmudische Wendungen, die für unmittelbare Eingebung und Er-
leuchtung stehen 10 . Rabed tritt als durchaus selbständige Persönlich-
keit auf, und selbst hinter halakhischen Äußerungen von ihm kann
der klare Anspruch auf höhere Inspiration stehen. In dieser Hinsicht
ist sein stolzes Selbstzeugnis im Vorwort zu seinen Erklärungen zum
Traktat 'Edujoth bemerkenswert, das ebenfalls keineswegs in dem in
der rabbinischen Literatur sonst üblichen Stil geschrieben ist. Auch
• Vgl. den Originaltext im Sepher Bialik, S. 153.
10
Immerhin sind Wendungen wie die hier erwähnten nicht notwendigerweise Hin-
weis auf mystische Inspiration und werden im Talmud ebenfalls in rein halakhischen
Zusammenhängen benutzt, um die Quelle für Aussagen zu bezeichnen, die nicht aus
mündlicher Tradition stammen und doch Autorität beanspruchen. Die Rede vom
„Erscheinen des heiligen Geistes im Lehrhaus" stammt aus dem babylonischen Talmud,
Makkoth 23 b. Die andere Wendung, die auf Psalm 25 14 beruht, kommt im Talmud
öfters vor. Es ist eine Frage des Gefühls, wie man das Gewicht solcher Ausdrücke beim
Rabed einschätzen will.

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182 Die ersten Kabbalisten in der Provence

hier öffnet sich uns ein Blick in die seelische Verfassung des Mystikers.
„Vor allem anderen muß ich jedem Leser dieses Buches, das ich hier
beginne, mitteilen, daß ich in bezug auf die hier behandelten Gegen-
stände keine Tradition aus dem Mund eines Lehrers oder Meisters
besitze, sondern unter dem Beistand Gottes allein, der den Menschen
Wissen lehrt, [diese Dinge behandle]. Und sollte sich dabei ein Irrtum
im Schreiben der Hand oder ein Irrtum im Sinne finden, so möge der
Leser wissen, daß die Verschuldung bei mir liegt und nicht bei meinen
Lehrern. Von dem aber, was sich an Gutem und Richtigem hier findet,
möge er wissen, daß es aus dem Mysterium kommt, wie der Psalmist
sagt [Ps. 2514] : Das Mysterium Gottes ist bei denen, die ihn fürchten."
Das hebräische Wort Sod kann ebenso wohl den Ratschluß Gottes
als im Sinne des späteren Sprachgebrauchs das Geheimnis Gottes
bedeuten, und die betonte Formulierung weist auf die letztere Nuance.
Es scheint mir ein Irrtum, wenn manche modernen Erklärer sagen,
mit solchen in halakhischer Diskussion höchst ungewöhnlichen Wen-
dungen „habe er nur den Gedanken aussprechen wollen, daß er die
Wahrheit getroffen habe" 1 1 . Von hier war dann ein weiterer Schritt
zu dem durchaus verfehlten Gedanken, auch die wichtigsten und
klarsten Äußerungen als Fälschungen oder spätere Zusätze entwerten
zu wollen, wenn sie im Widerspruch zu vorgefaßten Meinungen
standen.
In Wirklichkeit läßt sich aber sehr viel aus den Überresten der Äuße-
rungen der hier genannten provençalischen Gelehrten lernen, von
denen manche durchaus den Test der literarischen Kritik bestehen.
Hierbei ist besonders interessant, daß Sätze mystischer Richtung,
die sich in den eigenen Schriften dieser Gelehrten finden, entweder
in der Tat im Stil von Andeutungen geschrieben sind oder das hinter
ihnen stehende Mysterium durch exoterischen Ausdruck zu verwischen
suchen, so daß nur Traditionen, die sich bei den ältesten spanischen
Kabbalisten erhalten haben, uns auch hier den esoterischen, wirklich
kabbalistischen Aspekt ihrer Sätze enthüllen. Wir haben keinen Grund,
die eben erwähnten kabbalistischen Traditionen als unecht zu ver-
dächtigen, in denen wir zum Teil genau dieselben Wendungen und
besonders in die Augen springenden Ausdrücke wiederfinden, deren
11
Dies ist ζ. B. die Meinung von Heinrich Gross, M. G. W. J. Bd. 23 (1874), S. 169.
Die Ausführungen von Gross in diesem Aufsatz: „die Mystik des Rabed" (ib. S. 164—
182) scheinen mir völlig verfehlt. Sie laufen darauf hinaus, die in die Augen springenden
Fakten in Abrede zu stellen und auch die offensichtlichsten mystischen Elemente in
seinen Werken durch geeignete „Erklärungen" wegzuinterpretieren. Sein Aufsatz ist
ein Musterbeispiel für unangebrachte Hyperkritik. Tieferes Verständnis für diese Ele-
mente hat N. Weinstein in seinem Buch "Zur Genesis der Aggada" II (1901), S. 261 ff.
bekundet, ungeachtet der vielen phantastischen Ausführungen, an denen sein Buch
in anderen Beziehungen reich ist.

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Abraham ben David 183

genauer Sinn in jenen exoterischen Sätzen dunkel ist. Hierher gehört


weiter, daß Jakob der Naziräer ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt
mehr in der Literaturgeschichte ist. Wir wissen heute genau, um wen
es sich hier handelt. Dieser Mystiker ist kein anderer als Jakob ben
Saul aus Lunel, der ältere Bruder des Ascher ben Saul, der ihn einige-
mal in seinem Sepher ha-Minhagoth, „Buch der Gebräuche", aus-
drücklich erwähnt12. Dieses Werk stammt aus dem engsten Schüler-
kreis des Rabed und enthält an einigen Stellen schon kabbalistische
Erklärungen, die die Lehre von den Sephiroth und die spezifische
Terminologie der Kabbalisten benutzen13. In den erhaltenen Schriften
des Jakob Nazir, wie zum Beispiel seiner Komplettierung von Raschis
Kommentar zum Buche Hiob, die 1163 oder 1183 abgefaßt ist 14 ,
findet sich nichts Mystisches. Dagegen enthüllen die Überbleibsel
seiner Kommentare zu den Gebeten den doppelten Aspekt des Exo-
terischen und Esoterischen, und die nähere Untersuchung zeigt, daß
hinter dem anscheinend einfachen Sinn ein mystischer steht.
Nach einer Überlieferung bei den deutschen Chassidim hat er den
Passus in der Qeduscha des Sabbath-Morgengebetes : „Wissen und
Einsicht, Da'ath und Tebhuna, umgeben ihn", von zwei Engeln er-
klärt, die Da'ath und Tebhuna heißen, und die den Thron der Glorie
umgeben16. Diese Erklärung ruft uns das Zitat in Erinnerung, das
wir am Ende des vorigen Kapitels aus dem Sepher ha-Hajim angeführt
haben, wo u. a. Da'ath und Tebhuna als mystische Orte unterhalb
des Throns der Glorie erklärt wurden, aus denen Engel des gleichen
Namens entsprangen18. Wir besitzen aber darüber hinausgehende
Ausführungen des Jakob Nazir. In einigen Handschriften haben sich
12
Diese Identität des Jakob Nazir ist zuerst von S. Schechter in J. Q. R. V (1893),
S. 22—23, festgestellt worden, vgl. dazu meine Bemerkungen in Tarbiz Bd. VI, Heft 4,
S. 96, sowie S. Assai in der Ausgabe des Sepher ha-Minhagoth in seiner Sammlung
Siphran schei Rischonim, S. 124.
11
Vgl. in Assafs Edition, S. 133 die Stelle über Schma' Jisrael, sowie S. 144 über die
Qeduscha, Stellen, deren kabbalistische Absicht und Terminologie ganz unverkennbar
sind.
11
Das Abfassungsdatum schwankt in den Handschriften, vgl. Neubauer's Notiz in
seinem Katalog der Oxforder hebr. Hss. zu Nr. 296.
16
Hs. Vatikan hebr. 274, Bl. 205b, in mystischen Erklärungen zu den Gebeten,
die aus dem Kreis der deutschen Chassidim stammen. Es heißt dort, daß Jakob der
Naziräer diese Erklärung damit begründet habe, daß entgegen dem femininen Genus
von Da'ath und Tebhuna das Verbum „umgeben ihn" im maskulinen Genus steht,
was sich eben auf Eigennamen von Engeln, die so heißen, beziehen muß. Ein weiter-
gehender Kommentar über diese Gebetsstelle im Sinne der kabbalistischen Sephiroth-
lehre findet sich aus der Tradition der provençalischen Kabbalisten schon im Kommen-
tar des Jehuda ben Jaqar, eines der Lehrer des Nachmanides, zu den Gebeten, vgl. bei
Schechter, J.Q. R. IV, S. 249.
« Vgl. oben Kap. 2, S. 160 - 161.

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184 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Traditionen über einige Punkte der Gebetsmystik erhalten, über die


Jakob Nazir und Rabbi Abraham, das heißt der Rabed, verschiedener
Meinung waren. Diese Differenzen betrafen Details der mystischen
Kawwana bei bestimmten Gebeten: auf welche Sephira oder Midda
der Betende seine Intention, Kawwana, richten solle und mit welcher
von ihnen er bei dem jeweiligen Gebet seinen Sinn verbinden solle.
Die Echtheit dieser Sätze, die dort im Namen des Jakob Nazir vor-
gebracht werden, scheint mir keinen begründeten Zweifeln zu unter-
liegen. Im Gegenteil: ihre Echtheit folgt aus der einfachen Tatsache,
daß ein Teil der kabbalistischen Symbolik und Terminologie, die hier
benutzt wird, nach der Zeit des Rabed gar nicht mehr geläufig war und
daß auch die Angaben in einigen und darunter wichtigen Punkten im
Widerspruch zur kabbalistischen Lehre von der mystischen Kawwana
im Gebete stehen, wie sie uns aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts
überliefert ist. Ich komme auf diese Unterschiede noch unten zu
sprechen. Hierbei zeigt sich nun, daß die Bina oder Tebhuna, die in
dem oben erwähnten Zitat noch nur ein Engel war, in diesen Über-
lieferungen in ihrem vollen Glanz als göttliche Hypostase erscheint,
als eine der Sephiroth, mit deren Licht der Betende sich in seiner
Meditation aufsteigend zu vereinigen sucht. Ich glaube nicht, daß wir
annehmen dürfen, Jakob Nazir habe hier noch die Welt der Engel
mit der Welt der Sephiroth zusammengeworfen. Vielmehr scheint
mir hier ein ausgezeichnetes Beispiel für einen doppeldeutigen Ge-
brauch der Terminologie vorzuliegen, wobei der eine für die wirklich
Eingeweihten bestimmt war und der andere für die Außenstehenden.
In manchen dieser wertvollen Überlieferungen über den gëheimen
Sinn des Gebets finden wir deutliche Anklänge an die mystische Ter-
minologie des Buches Bahir17.
Diese Überlieferungen über die Gebetsmystik erhalten aber be-
sondere Bedeutung durch einen weiteren Umstand. Mehrere Mal kehrt
in ihnen der Begriff des Demiurgen, Joser Bereschiih, wieder, und zwar
in dem prägnanten mystischen Sinn, den er schon in den Fragmenten
des Schi'ur Qoma hatte, wo er nicht schlechthin das Wesen der Gott-
heit, sondern eben ihre Erscheinungsform als Demiurg und Schöpfer-
gott bezeichnete. Rabed und Jakob Nazir haben nun folgende Diffe-
renz: der eine behauptet, die Kawwana beim Schmoneh 'Essreh-Gebet,
dem Gebet der achtzehn Benediktionen, teile sich auf zwei von den
zehn Sephiroth auf, nämlich auf Bina und auf Tiph'ereth, die dritte
und sechste Sephira. Der andere sagt demgegenüber, daß „die ersten
17
Diese Traditionen haben sich z. B. in den Hss. New York, Jew. Theol. Sem. 838
(aus dem 14. Jh.), Bl. 48a, und Brit. Mus., Margoliouth 755, Bl. 85b erhalten. Mit
teilweiser Umstellung der Tradenten stehen sie auch in einer dritten Hs., Oxford 1646.
Ich habe den vollständigen hebräischen Text in Reschith ha-Kabbala, S. 73—74, publi-
ziert.

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Abraham ben David 185

drei und die letzten drei Benediktionen sich auf die Ursache der Ur-
sachen richten, die mittleren aber auf den Joser Bereschith". Dieses
Begriffspaar, causa causarum und Demiurg, ist den spanischen Kab-
balisten nachher nicht mehr geläufig, ist aber gerade darum von be-
trächtlichem Interesse. Hier erscheint, am Anfang der provençalischen
Kabbala, die Differenz zwischen der ersten Ursache, die ganz verborgen
ist, und dem gnostischen Schöpfergott, der in dieser jüdischen Konzep-
tion natürlich nicht, wie bei den Gnostikern, auf eine niedrigere und
minderwertige Wesenheit in der Hierarchie des Seins hinweist, sondern
die Manifestation des verborgenen Gottes, der ersten Ursache selber ist.
Man könnte in dieser Terminologie des Demiurgen auch ein philo-
nisches Element finden. Er hat etwas vom Logos Philos an sich. Es
ist nicht sicher, ob dieser kabbalistische Demiurg mit einer einzelnen
Sephira zu identifizieren ist. Immerhin findet sich im Kommentar
Isaaks des Bünden zum Buch der Schöpfung die Erklärung des Be-
griffes Joser, Schöpfer, auf die sechste Sephira Tifh'ereth, die auch
der Thron heiße18. Es ist wahrscheinlich, daß dieselbe Idee auch hier
schon vorliegt. Was aber sicher ist, ist, daß der Ausdruck Joser Bere-
schith hier nicht etwa, wie manchmal bei spanischen Kabbalisten
(z. B. im Kether Schern Tobh des Abraham Axelrad), auf die Sephira
Bina bezogen wird, da es ausdrücklich heißt: „Der Joser Bereschith
wird ,der große Gott' genannt, und die Sephira Bina ist wie eine Seele
für ihn, er selber aber wie ein Körper jener Seele. Und er heißt auch
.Thron der Glorie', weil er ein Thron für die Bina ist".
Drei Dinge fallen uns in Verbindung mit diesen, anscheinend so
paradoxen Anschauungen auf. Erstens : auf einer neuen Ebene haben
wir hier eine Fortsetzung der alten Anschauung des Schi'ur Qoma
und der Merkaba-Mystik, die von einem „Körper der Schekhina"
und von einem „Schöpfer des Anfangs", Joser Bereschith sprechen,
der auf dem Throne sitzt und in dieser Erscheinung gleichsam Zahl
und Maß hat. In dem kabbalistischen Fragment ist dieser Demiurg
eine mehr äußerliche Manifestation einer ihm innewohnenden inneren
Seele, die selbst keineswegs mit der ersten Ursache identisch ist,
sondern (wie im Buch Bahir) die dritte Sephira Bina darstellt. Daß
die Bina in der Tat eine Art mystischer Seele darstellt, oder ihr jeden-
falls zugeordnet wird, lesen wir ja in § 32 des Bahir. Vielleicht kam
Jakob Nazir der ursprünglichen Intention der schwierigen Stelle im
Bahir näher als die Kabbalisten der nächsten Generation, die darin
vor allem die Meinung angedeutet fanden, daß die Seele des Menschen
ihren Ursprung in der Sephira Bina habe. Zweitens: Wir haben hier
eine genaue Parallele zu der Lehre vom „besonderen Cherub", der
auf dem Throne sitzt, eine Lehre, die bei den deutschen und fran-
18
Vgl. seinen handschriftlichen Kommentar zu Jesira I, 4.

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186 Die ersten Kabbalisten in der Provence

zösischen Chassidim des 12. Jahrhunderts verbreitet war. Die Re-


pristination der gnostischen Überlieferung fügt hier nun, außer dem
alt-neuen Begriff des Joser Bereschith, der zuerst mit der Form des
Cherub identifiziert wurde — eine Identifizierung, die in alten jü-
dischen Sekten im Orient belegt ist 19 — nur die weitere Anschauung
hinzu, daß dieser Cherub einen inneren Aspekt, eine „Seele" besitzt,
welches eben die Sephiroth sind. Drittens: hier enthüllt sich uns die
mystische Note, die hinter der Verteidigimg des Anthropomorphismus
beim Rabed und den Kabbalisten steckt. Denn obwohl auch sie
zweifellos die absolute Geistigkeit der ersten Ursache festhielten,
springt doch solche Verteidigung aus all ihren Anschauungen hervor.
Diese Seite der Sache ist von besonderem historischen Interesse. Hier
erscheinen nämlich die Mystiker gerade aus ihren gnostischen Uber-
zeugungen heraus als Verteidiger der Volksreligion, des Glaubens
des einfachen Mannes. Wenn Maimonides sagte, wer glaube, daß der
Schöpfer einen Körper habe, sei ein Häretiker, und Rabed dagegen
in einer berühmt gewordenen Bemerkung einwandte, „Viele und
Bessere als er" hätten das geglaubt20, so scheint mir klar, daß hinter
dieser Kritik die Lehre der jüdischen Mystiker in Frankreich von dem
Cherub, der der Demiurg ist, steht.
Die Richtigkeit dieser Erklärung und zugleich auch die Echtheit
jener Traditionen im Namen des Jakob Nazir und des Rabed, auf die
ich mich hier bezogen habe, folgt mit Sicherheit aus einem Fragment,
das sich aus dem Kommentar des Rabed zum Talmud erhalten hat.
Es handelt über den Satz in Berakhoth 6a: „Woher wissen wir, daß
der Heilige, gelobt sei er, Tephillin anlegt?" Sein Enkel Ascher ben
David zitiert in diesem Zusammenhang „den Wortlaut [der Erklärung]
meines Großvaters, des großen Rabbi Abraham bar David: Dies be-
zieht sich auf den Fürsten des [göttlichen] Antlitzes [d. h. auf Meta-
tron], dessen Name wie der Name Seines Meisters ist. Vielleicht aber
gibt es einen über ihm, der aus der höchsten Ursache emaniert ist
und in dem die Kraft des Höchsten ist, und er ist es, der dem Moses
erschienen ist und der dem Ezechiel in der Vision des Menschen oben
18
Der Cherub als Schöpfungsengel und Demiurg wurde z. B. von Benjamin Naha-
wandi (etwa 840) gelehrt, der wohl aui ältere Sektentradition zurückgriff, vgl. L. Nemoy
in H. U. C. Α., Bd. VII (1930), S. 386, und vor allem Harry A. Wolfson, The pré-
existent angel of the Magharians and al-Nahawandi, J. Q. R. Bd. 61 (1960), S. 89—106.
Auch der von den deutschen Chassidim benutzte Terminus „der besondere [oder:
ausgezeichnete] Cherub" stammt offenbar aus diesen orientalischen Quellen, vgl. die
von Wolfson S. 91 angeführte Stelle aus Nahawandi. Die Frage, ob die Schöpfung durch
Engel geschehen sei, hat schon die ältesten jüdischen Heretiker zur Zeit des zweiten
Tempels beschäftigt, vgl. G. Quispel, Christliche Gnosis und jüdische Heterodoxie, in
„Evangelische Theologie" (1964), S. 4 des mir vorliegenden Sonderdrucks.
20
Vgl. seine Bemerkung zu Maimonides' Hilkhoth Teschubha III, Q.

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Abraham ben David 187
[Ez. ΐ2β] und den anderen Propheten erschienen ist. Aber die Ursache der
Ursachen ist keinem Menschen erschienen, [und kann] nicht durch links
oder rechts, durch vorn oder hinten [prädiziert werden]. Und dies
ist das Geheimnis, von dem es in der Kosmogonie, Ma'asseh Bereschith,
heißt : Jeder, der das Maß des Schöpfers des Anfangs, Joser Bereschith,
kennt, kann versichert sein usw. [d. h. kann seines Anteils am ewigen
Leben versichert sein]21. Und von ihm spricht der Vers [Gen. 12β] :
wir wollen einen Menschen in unserem Ebenbild machen." Graetz,
der über die Authentizität dieses Zitates, gegen die aber keine be-
gründeten Zweifel vorgebracht werden können22, Bedenken hatte,
spürte hier ganz richtig die Logoslehre. Da er aber keine Kenntnis
von den parallelen Sätzen aus diesem Kreise hatte, nahm er irriger-
weise an, daß diese Gedanken den ersten Ausgangspunkt für die
Kabbala gebildet hätten. Graetz sah diesen Ausgangspunkt in dem
Bedürfnis, die „anthropomorphistischen Aggadoth womöglich buch-
stäblich und doch annehmbar zu deuten"23. Er sah darin zugleich
ein „unsicheres Herumtappen" in der Frage der Beziehung der ersten
Ursache zur Welt, über die die Kabbala erst später eine bestimmte
Lösung aufgestellt habe. Graetz ging dabei von der zweifellos falschen
Annahme aus, daß das Buch Bahir erst am Anfang des 13. Jahr-
hunderts verfaßt worden sei, und zog nicht in Betracht, daß die
zugleich vorsichtige und doch prägnante Formulierung der Stelle in
dem Talmud-Kommentar nicht auf Unsicherheit, sondern auf be-
wußter Verschleierung der esoterischen Position beruht haben konnte.
Für uns, die wir die Zusammenhänge besser überschauen können,
ist das Zitat keineswegs unverständlich und paßt ausgezeichnet in
den Rahmen der kabbalistisch-gnostischen Umdeutung der Merkaba-
Gnosis und des Schi'ur Qoma, die wir schon gelegentlich der Analyse
des Bahir kennengelernt haben. Das Begriffspaar „Ursache der Ur-
sachen" und „Schöpfer des Anfangs" ist keineswegs zufällig, wie ja
gerade sein Auftreten in den oben besprochenen Traditionen über die
Gebetsmystik zeigt. Es handelt sich um feste Begriffe dieses Kreises.
21 Der Satz steht nicht in der Baraitha de-Ma'asseh Bereschith, sondern in den

guten Texten des Hauptfragments von Schi'ur Qoma.


» Die ganze Stelle ist in Osar Nehmad IV, S. 37 gedruckt. Grätz VII, S. 389, und
H. Gross in seinem oben erwähnten Aufsatz, S. 171, haben Einwände gegen die Echt-
heit eines bestimmten Teiles dieses Zitates vorgebracht, die aber ganz unbegründet
sind. Gross hat nicht begriffen, daß das Schwergewicht der Stelle auf ihrem Schluß-
Passus liegt, dessen Echtheit anzuerkennen auch er sich gezwungen sieht. Wenn man
gerade diesen Teil des Zitats im Zusammenhang mit den oben zitierten Ausführungen
des Jakob Nazir analysiert, so erweist sich dabei auch die Echtheit der übrigen Teile
des Zitats. Es besteht gar kein Grund, die Stücke auseinanderzureißen. Übrigens wird
das gleiche Zitat auch im 'En Jakob zum Traktat Ta'anith, Kap. I, angeführt, wo es
zur Erklärung einer anderen Aggada über den „Sendboten", d. h. Metatron dient.
23 Grätz VII, S. 389—390.

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188 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Die Vorstellung des Demiurgen widerspricht nicht etwa der Sephiroth-


Lehre, wie Graetz meinte, sondern schließt sie in sich, wie wir aus den
Sätzen des Jakob Nazir schließen können. Ferner zeigt sich, daß zwei
Motive sich leicht mit dieser ältesten kabbalistischen Erklärung des
Begriffes des Demiurgen verbinden konnten. Der Joser Bereschith oder
Cherub auf dem Throne konnte mit der Konzeption des Bahir von der
Schekhina als der letzten Sephira zusammengebracht werden. Der
göttliche Kabhod, der sich den Propheten offenbart, ist nicht mehr
erschaffen, wie bei Saadia und Jehuda ben Barzilai, sondern aus der
ersten Ursache, wenn auch vielleicht erst bei der Schöpfung, emaniert,
wie es das Buch Bahir von der Schekhina statuiert hatte 24 . Anderer-
seits konnte aber damit eine neue mystische Konzeption des obersten
Engelfürsten Metatron verbunden werden. Natürlich ist dieser Meta-
tron nicht mehr der in ein Engelwesen transformierte biblische Henoch,
Sohn des Jared, der in den Himmel entrückt wurde, um an der Spitze
des himmlischen Hofstaates zu ministrieren. Von diesem Metatron
ließ sich ja gewiß nicht sagen, daß er aus der ersten Ursache emaniert
sei. Der Autor muß also an einen höheren Metatron gedacht haben,
dessen Potenz nach seiner Erhöhung in Henoch, den Sohn des Jared,
gelegt wurde. Es ist daher weiter nicht verwunderlich, daß wir dann
bei Kabbalisten um die Mitte des 13. Jahrhunderts, und vielleicht
schon in ihren Quellen, den Begriff eines „großen Metatron", Metatron
Rabba, finden, der mit dem Metatron, der als Fürst des Antlitzes eine
Funktion in der Welt der Merkaba ausübt, kontrastiert wird 25 . Es
24
Daß dies in der Tat die Meinung des Rabed gewesen sei, könnten wir mit Sicherheit
sagen, falls wir uns von der Echtheit des langen Zitats überzeugen könnten, das
Joseph Salomo Delmedigo, Nobhloth Hokhma, Basel 1631, Bl. 5 a der unpaginierten
Vorrede, aus einer Handschrift der Hassagoth, der Einwände gegen Maimonides bringt.
Leider bin ich von der Echtheit des Zitats in keiner Weise überzeugt. Wir haben es hier
mit einer Bemerkung zu Hilkhoth Jessode ha-Tora I, 3 zu tun, bei der der Autor sich
in eine längere Diskussion über den Begriff des Sephiroth als göttliche 'Attribute der
Handlung' To'ore Pe'uila, einläßt. Gerade die außergewöhnliche Länge, die ganz im
Gegensatz zu der Wortkargheit der sonstigen Einwände des Rabed steht, spricht gegen
die Echtheit des Zitats, das ich daher bei meinen obigen Erörterungen nicht herange-
zogen habe. Es setzt in der Tat eine durchgebildete philosophische Interpretation des
Sephiroth-Begriffs voraus, die im Munde des Rabed ebenso bedeutsam wäre wie sie
unwahrscheinlich ist. Leider besitzen wir noch immer keine wissenschaftliche Ausgabe
von Rabed's Hassagoth, oder auch nur eine, die der Vollständigkeit nahe käme. Über-
raschungen auf diesem Gebiet sind keineswegs ausgeschlossen. Delmedigo sagt an
anderer Stelle seines Buches, Bl. 195b, daß er eine Hs. der ,Kabbala des Rabed aus
Posquières' besäße. Vielleicht stammt das erwähnte Zitat, auf das bisher niemand
geachtet hat, aus dieser Quelle. Ich habe mich lange vergeblich bemüht, Delmedigos
Handschrift aufzufinden.
26
Es scheint mir nicht ausgeschlossen, daß die Quelle des Ausdrucks Metatron
R abba in älteren Schriften der Hekhaloth-LiteiatuT zu suchen ist. Jakob Kohen aus

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Abraham ben David 189

ist durchaus möglich, daß die vorsichtige Formulierung des Rabed


schon einen Hinweis auf diesen doppelten Metatron enthält, wenn
er davon spricht, daß jener Talmudsatz sich „auf den Fürsten des
Antlitzes . . . oder vielleicht auf einen, den es über ihm gibt usw."
bezieht. Vielleicht steht dahinter die Ansicht, daß auch diese Ema-
nation aus der höchsten Ursache „Fürst der Welt"26, „Großer Meta-
tron" oder „Körper der Schekhina" genannt werden kann, Symbole,
die alle mit der Logoslehre und der Vorstellung von der letzten Se-
phira und ihren Kräften in den Schriften der ältesten Kabbalisten
in Zusammenhang stehen.
Es läßt sich hier eine bemerkswerte Wechselwirkung zwischen den
Kreisen der provençalischen Kabbalisten und den deutschen Chassidim
feststellen. Die Lehre von der Glorie und dem Cherub auf dem Throne
war mit den ältesten Fragmenten der „prähistorischen" Kabbala aus
Deutschland in die Provence gelangt. Nach 1200 aber wanderten Vor-
stellungen aus der Sephirothlehre des Bahir und der provençalischen
Kabbalisten dann auch in Kreise der deutschen Chassidim zurück —
wenn wir nicht etwa annehmen wollen, daß in einer Gruppe von ihnen
diese Vorstellungen von jeher bekannt waren — und gingen Amal-
gamierungen mit der Lehre vom Cherub ein, die dort beheimatet war.
Wir besitzen aus diesem Kreise einige Sätze über Gebetsmystik, die
ganz die Sprache Jakob Nazirs und des Rabed sprechen, jedoch an
Soria land ihn schon in den Quellen, die er iür seinen Kommentar zur Merkaba Ezechiels
benutzte. Traditionen, die einen solchen Unterschied zwischen dem zum Engel Meta-
tron erhobenen Henoch und einem darüber stehenden Engelwesen Metatron Rabba
bestreiten, waren im 13. Jahrhundert im Umlauf, vgl. z. B. das von mir in Reschith
ha-Kabbala, S. 252—253, mitgeteilte Stück aus Hs. Brit. Museum, Margoliouth 746,
Bl. 108b, und die in Kap. II, Anmerkung 200 zitierte Literatur.
2
· Über die Frage, wann die Identifikation des Engels Metatron mit dem „Fürsten
der Welt" eingesetzt hat, habe ich ausführlicher in meinem Buch Jewish Gnosticism,
Merkabah Mysticism and Talmudic Tradition, S. 44—50, gehandelt. Meine dortigen
Ausführungen machen frühere Aufstellungen über diesen Gegenstand hinfällig, wonach
diese Gleichung erst ein Produkt des Mittelalters wäre und nicht auf alte Tradition
zurückgeht. Als der „große Archont der ganzen Welt" wird Metatron ausdrücklich in
einer jüdisch-aramäischen Beschwörungsformel aus dem 6. Jh. bezeichnet (aus Baby-
lonien), die C. Gordon im A. O. R. I X (1937), S. 95, veröffentlicht hat, aber in dem
uns berührenden Punkt nicht richtig erklärt hat. Ferner ist diese Identifikation auch
in den Fragmenten des Merkaba Textes Raza Rabba schon zu Grunde gelegt, von denen
im vorigen Kapitel die Rede war. Die talmudischen Stellen über den „Fürsten der
Welt" nennen Metatron nicht direkt, können aber z. T. vielleicht ebenfalls schon an
ihn gedacht haben, mindestens die Stelle in Jebamoth 16b. Rabed selbst hat zweifellos
an Metatron gedacht, wenn er in seiner im 'En Jakob zum Anfang des Tr. Ta'anith
zitierten Bemerkung den Sendboten (schaliah) Gottes als den Fürsten der Welt erklärt,
der den Propheten erschienen ist, und über die Merkaba herrscht. Maimonides im
„Führer der Verwirrten" I I , 6 und die Tossaphisten (zu Jebamoth) setzen die selbe An-
schauung voraus.

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190 Die ersten Kabbalisten in der Provence

die Stelle des Demiurgen den Cherub setzen. Solche Amalgamierung


liegt zum Beispiel in dem folgenden Stück vor, das in einer New Yorker
Handschrift „aus der Kabbala des R. Eliezer [!] von Worms" an-
geführt wird. Der Autor könnte wohl einer seiner Schüler sein, die
die Lehren der beiden Gruppen konfundieren, wie vielleicht jener
ungenannte Chassid in Narbonne, von dem wir schon gehört haben.
Hier lesen wir: „Wenn jemand die Synagoge betritt um zu beten oder
an jedem anderen Orte, an dem er morgens oder abends beten will,
soll er in seinem Herzen darüber meditieren, daß der Schöpfer, gelobt
sei er, Ursache der Ursachen heißt, und kein Gedanke und keine An-
deutung ausdenken kann, was er ist, denn Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft sind in ihm enthalten und in den vier Buchstaben seines
Namens für die Wissenden angedeutet. Daher soll der Mensch in
seinem Herzen zu beten sinnen, daß sein Gebet vor dem Schöpfer,
gelobt sei er, angenommen werden möge, und zwar aus der Kraft des
.besonderen Cherub' heraus, der aus seinem großen Feuer, welches
Feuer verzehrt, emaniert und geschaffen wurde. Sowie, daß der
Schöpfer zehn Sephiroth emaniert hat und daß der Cherub eine davon
ist, und daß alles in einer vollständigen und unterschiedslosen Einheit
vereinigt ist, sowie daß der Schöpfer dem .besonderen Cherub' Zustrom
zuleitet, und vom Cherub der Zustrom nach oben [muß wohl heißen:
nach unten] steigt und von dort zu Israel. Und niemand möge sich
darüber verwundern, wie man sagen könne, daß die Kawwana des
Menschen auf den Cherub gehen möge, durch dessen Medium sein
Gebet vor der Ursache der Ursachen angenommen werden möge, und
daß er nicht [unmittelbar] sich an die Ursache der Ursachen richten
solle. Hat doch der Schöpfer auch dem Moses unserem Lehrer seine
Stimme vernehmlich gemacht und gesagt [Ex. 23 21] : ,Hüte dich vor
ihm und höre auf seine Stimme, widerstrebe ihm nicht, denn er wird
euren Frevel nicht ertragen, denn mein Name ist in ihm', das heißt:
Nimm keinen Wechsel in deiner Kawwana vor, sondern richte dein
Herz in der Stunde deines Gebets auf ihn. Und dennoch hat E r ihn
gewarnt, nicht etwa in den irrigen Gedanken zu verfallen, als ob er
[der Cherub] Kraft und Größe aus sich selber hätte. Denn alles stammt
aus Seiner Kraft, wie es das Ende des Verses beweist: ,Denn mein
Name ist in ihm', das heißt, daß er keine Kraft von sich selber hat
. . . Und willst du sagen, warum soll ich die Kawwana auf ihn richten,
wo er doch keine Kraft aus sich selber hat, sondern nur aus dir, so hat
ja schon Gott [zu Moses] gesagt : denke beim Gebet an ihn, denn mein
Name ist in ihm, denn sein Name ist der .große Metatron,' und er
heißt auch der .kleine JHWH' 2 7 . Es gibt also einen Schluß a fortiori:
27 Über den Begriff des „kleinen JHWH" vergleiche meine Jüdische Mystik,

S. 74 und 399, sowie H. Odeberg, 3 Enoch, S. 188—192 der Einleitung und S. 33—34
des Kommentars.

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Abraham ben David 191

wenn schon Moses all seine Kawwana im Gebet nur auf den Cherub
richten sollte, damit sein Gebet durch dessen Medium angenommen werde
und nicht auf die Ursache der Ursachen — um wieviel mehr gilt das für
uns. Und damit ist für den, der Gottes Namen fürchtet, genug gesagt28."
Nachdem wir so den Inhalt einer fundamentalen kabbalistischen
Anschauimg des Rabed genauer kennengelernt haben, können wir
auch anderen Fragmenten, die die Kabbalisten aus seinen Schriften
bringen und in denen wir Hinweise auf eine entfaltete theosophische
Lehre haben, mehr Vertrauen in ihre Echtheit schenken. Der Talmud-
Kommentar des Rabed, von dem Schemtob ibn Gaon bezeugt, daß
er hier und da kabbalistische Dinge behandelte, kann ohne Schwierig-
keit auch seinem Zeitgenossen und Mitschüler im Lehrhaus des Salomo
ben Adreth, dem Meir abi Sahula bekannt gewesen sein. Dort dürfte
er die Begründung des Rabed für die Aggada in *Erubkin 18 a gelesen
haben, nach der der Mensch ursprünglich zweigeschlechtlich ge-
schaffen wurde. Er erwähnt dieses Stück in einer seiner Schriften,
ohne es im Wortlaut mitzuteilen29. Dieser Wortlaut hat sich aber in
einigen kabbalistischen Kollektaneen-Sammlungen, die auf altes
Material zurückgreifen konnten, erhalten. Auch hier spricht die Unter-
suchung für die Echtheit des Zitates. Obwohl er nämlich eine kabba-
listische Erklärung für den Begriff Du-Parsuphin, der im Mittelpunkt
dieser Aggada steht, gibt, so ist sie doch gerade durchaus von der-
jenigen verschieden, die in der spanischen Kabbalistenschule über-
einstimmend bis zum Zohar einschließlich gegeben wurde. Fälscher
dieser Periode hätten dem Rabed natürlich ihre eigene Ansicht zu-
geschrieben, wie sie das in so vielen kabbalistischen Pseudepigraphen
in bezug auf andere Autoren praktiziert haben. Die beiden Gesichter
sind hier noch nicht die Sephiroth Tiph'ereth und Malkhuth, wie in
der spanischen Kabbala, sondern die beiden Middoth der reinen Strenge
und des reinen Erbarmens in Gott. Die Stelle lautet: „Der Grund
für die Erschaffung [Adams und Evas] als ,Doppelgesicht', Du-
Parsuphin, besteht darin, daß das Weib ihrem Manne gehorsam sein
soll und daß ihr Leben von seinem abhängt und sie nicht jeder seinen
eigenen Weg verfolgen sollen, vielmehr unzertrennliche Nähe und
Brüderlichkeit zwischen ihnen herrschen solle. Dann würde Frieden
zwischen ihnen und Harmonie in ihrer Wohnstatt sein. Und dies gilt
auch von den [göttlichen Middoth, die] .Wirker der Wahrheit, deren
Wirken Wahrheit ist'30 [heißen]. Der Grund der zwei Gesichter weist
28
Vgl. den hebräischen Text des Stückes in Reschith ha-Kabbala, S. 78.
29
In seiner Erklärung zu den kabbalistischen Stellen im Torakommentar des Nach-
manides, Be'ur le-Perusch ha-Ramban, Warschau 1876, Bl. 4c, im Folgenden als
Sahula zitiert.
Dies ist eine Wendung aus dem Gebet zur Heiligung des Neumonds, wo darunter
Sonne und Mond verstanden werden. Hier ist sie schon mystisch umgedeutet.

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192 Die ersten Kabbalisten in der Provence

auf zwei Dinge hin. Erstens ist es bekannt, daß zwei Gegensätze,
einer reine Strenge und der andere reines Erbarmen, emanierten.
Wenn sie nicht als ,Doppelgesicht' emaniert wären, würde jeder ein-
zelne davon seinem eigenen Prinzip gemäß wirken. Es würde aus-
sehen, als ob es zwei [unabhängige] Prinzipien gäbe, und jedes einzelne
würde ohne Verbindung mit dem anderen wirken und ohne seine Hilfe.
Nun aber, wo sie als .Doppelgesicht' erschaffen sind, findet all ihr
Wirken auf gleichmäßige Weise und in vollständiger Einheit und ohne
Trennung zwischen ihnen statt. Ferner könnte, wären sie nicht als
.Doppelgesicht' erschaffen, aus ihnen keine vollständige Einheit ent-
stehen, und die Eigenschaft der Strenge nicht in die des Erbarmens
aufsteigen, sowie [umgekehrt] die des Erbarmens in die der Strenge.
Jetzt aber, wo sie als ,Doppelgesicht' erschaffen sind, ist jedes von
ihnen dem anderen nahe und vereinigt sich mit ihm und sehnt sich
danach, sich mit ihm zu verbinden, damit alles ein Gebäude sei. Ein
Beweis dafür ist, daß die Gottesnamen aufeinander [in ihrer Bedeu-
tung] hinweisen, denn du findest, daß das Tetragrammaton [das auf
das göttliche Erbarmen bezogen wird] mitunter auch auf die Eigen-
schaft der Strenge hinweist und [der Name] Elohim, [der auf die
Strenge weist], auf die Eigenschaft des Erbarmens, wie in Gen. 19 24,
und die [Funktionen der] Eigenschaften gehen ineinander über.
Dies ist in Kürze der Grund [für die Erschaffung des Menschen als
,Doppelgesicht']. Denke darüber nach und du wirst ihn finden31."
Die beiden Middoth Gottes wirken also nicht als selbständige Prin-
zipien, die von einander unabhängig sind, sondern müssen bei aller
Gegensätzlichkeit als eine untrennbare Einheit in Gott angesehen
werden. Nur weil sie so miteinander verbunden sind, kann auch die
eine in die andere übergehen, weil jede auch etwas von der anderen
hat. Die Verwischung des Unterschieds zwischen den hier gebrauchten
Begriffen „erschaffen" und „emaniert", wobei der letztere nur den
Inhalt des ersteren näher umschreibt, weist auf die Verbindung mit
der Tradition des Bahir hin. Auch dort heißt es ja vom Licht der
Schekhina einmal, es sei erschaffen, ein anderes Mal aber, es sei ema-
niert. Aus der Verwendimg von Worten wie „Schöpfimg" läßt sich
a priori nichts über die prägnante theologische oder mystische Be-
deutung folgern, in der solche Ausdrücke benutzt werden. Der Inhalt
der Schöpfung kann eben in der Emanation bestehen. Auf jeden Fall
ist dies der Sinn der Schöpfung der göttlichen Middoth, welche die
Sephiroth sind.
Aber nicht nur gelegentlich dieser Aggada über die Natur des Men-
schen bezieht sich Rabed auf Esoterisches, das deutlich in die Richtung

31 Ich habe den Text des Stückes nach Hs. Brit. Mus. 768, Bl. 14a, und Oxford

1956, Bl. 7 a in Reschith ha-Kabbala, S. 79, mitgeteilt.

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Abraham ben David 193

der Sephira-Lehre weist, sondern auch bei anderen Themen. In seinen


Einwendungen gegen Maimonides bemerkt er von dem Begriffspaar
Vorn und Hinten, das in Ex. 33 23 mit bezug auf Gott gebraucht wird,
hier sei „ein großes Geheimnis, von dem es nicht angebracht ist, es
jedermann zu enthüllen", und Maimonides habe offenbar nichts davon
gewußt 32 . Er gibt keine nähere Erklärung dieses Geheimnisses; es
dürfte aber irgendwie mit seinen Anschauungen über den Demiurgen
und das, was über ihm oder innerhalb von ihm existiert, zusammen-
hängen. (Das hebräische Wort für Vorn hängt mit dem Wort für Innen
zusammen). Einige Male — bemerkenswerterweise nur sehr selten —
zitieren spätere Kabbalisten kurze kabbalistische Bemerkungen oder
Andeutungen im Namen des Rabed, aus denen ersichtlich ist, daß sie
entweder eine kurze Abhandlung eines seiner Schüler oder einzelne
Fragmente, die in seinem Namen überliefert wurden, besaßen. Sie
sind in der festen Terminologie der Kabbala geschrieben. Freilich
läßt sich ihre Echtheit nicht zwingend erweisen, obwohl man argu-
mentieren könnte, daß gerade ihre sehr geringe Anzahl für ihre Echt-
heit spreche — Unechtes wäre ja leicht zu produzieren gewesen —
es kann sich aber auch um Dinge handeln, die in der Tat kurz nach
seiner Zeit aufgezeichnet worden sind und ihm dann irrtümlicherweise
zugeschrieben wurden. Ich sehe vorläufig keine Möglichkeit, eine Ent-
scheidung zu treffen, neige aber eher dazu, sie für echt zu halten.
Die Zitate stammen aus der Tradition des Lehrhauses von Barcelona.
So zitiert Isaak von Akko, er habe „im Namen des Rabed" ge-
funden, „daß die [Sephira] Bina die künftige Welt ist, die 'Atara
[genannte zehnte Sephira] aber diese Welt, und darauf beziehe sich
der Vers [Ps. 106 48] : von Äon zu Äon"33. Dem Sinn nach findet sich
diese Symbolik schon im Bahir, wie wir gesehen haben. Nur wird das
Symbolwort 'Atara, „Krone", dort noch nicht gebraucht, wenn auch
in §§ 12 und 60 vorbereitet. Da es aber bei seinem Sohn Isaak dem
Blinden völlig gewöhnlich ist, ist es durchaus plausibel, daß das Zitat
echt ist. Schwieriger verhält es sich mit zwei Zitaten, vielleicht aus
der gleichen Quelle, die in einer um 1400 verfaßten Schrift des Schem-
tob ben Schemtob über die Sephiroth erhalten sind. Dort ist, ebenfalls
„im Namen des Rabed", die Rede von der Symbolik der ersten Se-
phira, auf deren Wesen das Wort bi in der Schwurformel: „Bei mir
habe ich geschworen, spricht Gott" (Gen. 22 ie) hinweist. Nach seinem
Zahlenwort zwölf deutet es zugleich die im Buch der Schöpfung
Kap. V erwähnten zwölf Richtungen des Himmels an, die aus den
zwölf „Quellen der Weisheit" emaniert sind, die in der höchsten Se-

32
Rabeds Bemerkung zu Hilkhoth Jessode ha-Tora 1,10, die im Kommentar Kesseph
Mischne erhalten ist.
33
Isaak von Akko, Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, BI. 42a.
Scholcm, Kabbala 13

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194 Die ersten Kabbalisten in der Provence

phira Kether verborgen sind. „Der Rabed nennt diese Sephira auch
,das Begreifen, das kein Ende hat', nicht daß man in bezug auf sie
von irgendeinem Begreifen ihrer selbst sprechen könnte"84. Da in
der Kabbala des 13. Jahrhunderts später oft von dreizehn Quellen
die Rede ist, die aus der ersten Sephira hervorbrechen, und nicht von
zwölf, könnte auch dies auf eine ältere Anschauung hinweisen. Das
Schwurwort Ό wird in der Tat auch von den Schülern Isaaks des
Blinden als ein Symbol der ersten Sephira benutzt 35 . Eine weitere
Äußerung über die erste Sephira Kether 'Eljon wird gleich dahinter,
„im Namen des Rabed" angeführt, wonach ihm ihre Bezeichnung
als „das sich verbergende Licht", Or ha-mith'allem bekannt gewesen
wäre: „Und er erklärte dazu: [sie heiße so], weil sie sich von allem
entzieht und verborgen ist" 36 . Sofern diese Zitate nicht etwa aus
seinen Erklärungen zum Talmud genommen sind, beruhen sie auf
Aufzeichnungen von Schülern, die diese Dinge in seinem Namen
bringen. Sind sie echt, so zeigen sie, daß er in seinen mündlichen
Äußerungen vor Adepten der Mystik sich deutlicher über die Sephiroth-
Lehre aussprach als in seinen, für einen weiteren rabbinisch gebildeten
Leserkreis bestimmten Schriften. Die Terminologie scheint mir mit
der seines Sohnes eng zusammenzuhängen, was für die Echtheit der
Überlieferung spricht. Vom „sich verbergenden Licht" spricht auch
Isaak der Blinde in seinem Kommentar zum Buch der Schöpfung.
Daß er die Unbegreiflichkeit der ersten Sephira geradezu zu einer
symbolischen Bezeichnung ihrer selbst erhebt, ist ebenfalls bemerkens-
wert. Genau dasselbe findet sich, wenn auch in anderer Formulierung,
bei seinem Sohn. Die Sephira, die in ihrer Unerkennbarkeit aller
positiven Bestimmung entzogen ist, wird eben nach dieser negativen
Bestimmung genannt. Der Ausdruck En-Soph kommt in diesen Zi-
taten noch nicht vor, obwohl die Umschreibung Hassaga sehe-en Iah
Soph, wörtlich „das Begreifen, bei dem kein Ende stattfindet", nahe
an ihn heranführt 37 . Wenn wir diese Ausführungen über die höchste

34 Aus Hs. Brit. Mus. 771, Bl. 138a, in Reschith ha-Kabbala, S. 80—81 mitgeteilt.
85 Vgl. ζ. B. Ezra, Perusch ha-'Aggadoth, Hs. Vatic. 441 Bl. 6 9 a (sowie Zohar III,
66 a, 130 a). Isaak selbst benutzt Gen. 22 16 als Stichvers für die Sephirothlehre,
Sepher Bialik, S. 144.
»« Hs. Brit. Mus. 771, Bl. 139b.
8 7 Ein weiteres Stück mystischer Symbolik des Rabed, von dessen Echtheit ich

aber nicht überzeugt bin, habe ich 1932 in einer aus der Sammlung Carmoly stammen-
den Hs. der Stadtbibliothek in Frankfurt a. M. Nr. 218—21, Bl. 21 a gefunden. Ob die Hs.
noch existiert, ist mir fraglich. Das Stück lautet: „Man fragte den Rabed s. A. : W a r u m
stehen in dem [im Morgengebet auf das Schma' folgenden Gebet] 'Emeth we-jaçibh
1 5 Wörter, die mit dem Konsonanten Waw beginnen ? Er antwortete: Weil Gott seine
W e l t mit 22 Buchstaben erschuf, die den Gottesnamen Jah bilden [wie, wird hier nicht
gesagt], der den Zahlenwert 1 5 hat, wie es heißt [Jes. 26 4: 4]: denn durch Jah hat

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Abraham ben David 195

Sephira als authentisch betrachten dürfen, so würde in ihnen wohl


schon eine neuplatonische Note zum Ausdruck kommen. So wie bei
seinem Schwiegervater sich die gnostische Tradition mit der älteren
saadianischen überschneidet, so würden wir hier schon eine Begegnung
der gnostischen Tradition mit einer heraufkommenden neuplatonischen
haben, eine Begegnung, die sich in der geistigen Welt seines Sohnes
dann viel deutlicher abzeichnet.
Dies stimmt in der Tat ausgezeichnet zu anderen historischen
Fakten. Wohnte doch gerade in jenen Jahren, als das Buch Bahir
in der Provence seine Schlußredaktion erfuhr und veröffentlicht wurde,
und in jener Stadt Lunel, wo Jakob Nazir lebte, auch Jehuda ibn
Tibbon aus Granada, der eine vom arabisch-jüdischen Neuplatonis-
mus mitgeformte literarische und religiöse Tradition mit sich brachte.
Spielt doch gerade diese Tradition in den muslimischen Teilen Spaniens
eine beträchtliche Rolle. Zwischen 1160 und 1170 übersetzte dieser
Gelehrte, auf Veranlassung einer Gruppe, die der Askese zuneigte und
an jüdisch-religiösem Denken interessiert war, unter anderem das
„Buch von den Herzenspflichten" des Bach ja ibn Pakuda und das
Buch Kuzari des Jehuda Halewi. Nach seinem ausdrücklichen Zeug-
nis übersetzte Ibn Tibbon, der „Vater der Übersetzer", den Großteil
von Bachjas Werk auf Grund einer Anregung gerade des Rabed38.
Damit eröffnet sich uns eine interessante Perspektive. Im Kreis des
Jakob Nazir und des Rabed pflegte man eine esoterische Überlieferung
gnostischen Charakters, die etwa eine oder zwei Generationen vorher
in diese Regionen gelangt war, und pflegte sie offenbar mit tiefer
JHWH die Welten geschaffen. [So verstand der Talmud diesen Vers]. Das Gebet
fängt mit 'Aleph an und endet mit He, ein Hinweis auf den Namen 'Ehjeh. Und warum
nahm er hier die Konsonanten Waw vor allen anderen Buchstaben ? Weil er die Midda
Jakobs unsers Vaters darstellt, welche die Eigenschaft der Wahrheit ist, mit der er
beginnt [seil, das Gebet 'Emeth we-jasibh}. So heißt es auch [Mi. 7 20]: Du gibst
Wahrheit an Jakob, welcher die mittlere Linie darstellt, wie es heißt [Gen. 32 i l ] :
denn mit meinem Stab habe ich diesen Jordan überschritten, d. h. mit meinem Stab,
welcher die Midda der Wahrheit ist. Und das ist das Waw, welches die mittlere Linie
ist". Das Symbol der mittleren Linie für Jakob, das der Form des Buchstabens Waw
entspricht, tritt im Buch Bahir noch nicht auf, ist aber dem Sohne des Rabed schon
geläufig. Es wäre also nicht unmöglich, daß es auch schon einen Bestandteil der my-
stischen Symbolik und Terminologie des Vaters bildete. In der „mittleren Linie"
verbinden sich die Gegensätze von Gnade und Strenge. Die Verbindung Jakobs mit
der Midda der Wahrheit haben wir schon im Buch Bahir kennengelernt. Im Unterschied
zu diesen ausgesprochen mystischen Fragmenten enthalten die Homilien des Rabed,
soweit sie erhalten sind, wie z. B. seine Predigt zum Neujahrstage, nichts Mystisches,
vgl. Derascha le-Rosch ha-Schana, ed. Abraham Shisha, London 1966 und I. Twersky
in Kirjath Sepher 32, (1956), S. 440—443.
88
Vgl. das Nachwort des Übersetzers zum 1. Kapitel der „Herzenspflichten" (das
er schon 1161 für Meschullam ben Jakob in Lunel übersetzte).
13·
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196 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Anteilnahme. Zugleich aber öffnete sich dieser Kreis dem Einfluß der
ganz oder halb neuplatonischen Literatur, die damals aus dem Ara-
bischen ins Hebräische übersetzt wurde und vorher bei den Gelehrten
der Provence nicht bekannt war. Daß das Buch von den Herzens-
pflichten, das verbreiteteste und wichtigste ethische Werk der mittel-
alterlichen jüdischen Literatur, im Grunde eine mystische Tendenz
hat und jedenfalls im Vorhof der Mystik sich bewegt, ist unumstritten.
Sein Autor predigte im 11. Jahrhundert, unter dem starken und in
die Augen springenden Einfluß der mystischen Literatur des Islam,
eine durchaus asketische Moral. Seine Anschauungen konnten sich
leicht mit den Tendenzen der neuen Kabbalisten und der deutschen
Chassidim verbinden. Ebensowenig wird es erstaunen, daß die neuen
Anschauungen Jehuda Halewis vom Wesen des jüdischen Volkes und
dem Mysterium seiner Bestimmung, seine Lehre von Israel als dem
Herz der Völker und von der spezifischen prophetischen Gabe, die
vom ersten Menschen her sich in der Nation erblich verpflanzt habe,
unschwer eine Verbindung mit der gnostischen Tradition und Mystik
über den geheimen Sinn der „Ecclesia Israel" eingehen konnten. In
Lunel und Posquières ist die Verbindung zwischen diesen Strömungen
geschaffen worden, die ihrem Charakter nach zwar verschieden waren,
sich aber in ihren asketischen Neigungen some in dem Versuch be-
gegneten, eine mystische oder halbmystische Lehre von dem beson-
deren Status des Volkes Israel in der Welt aufzustellen. Auch die
anti-aristotelische Tendenz der neuen Gnostiker konnte in diesen
beiden Werken, die gewiß nicht dem aristotelischen Flügel des jü-
dischen Denkens zuzuzählen sind, Unterstützung finden. Wir dürfen
also feststellen, daß die Verbindung zwischen den Elementen der
jüdischen Philosophie, die am meisten geeignet waren, den Mystikern
Hilfestellung zu leisten, und zwischen der „prähistorischen" Kabbala
sich sehr wohl in jenem Kreis vollziehen konnte, in welchem die Kab-
bala zuerst auf dem Schauplatz der Geschichte erschienen ist.
In der Tat finden wir, daß Rabed, wo er in einem seiner halachischen
Werke über die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf spricht39,
einerseits zwar saadianische Gedanken verwendet, andererseits aber
leicht variiert Formulierungen wiederholt, die von Bach ja geprägt
sind40. Der Schöpfergott, sagt er, steht jenseits von Transzendenz
und Immanenz, eine Auffassung, die für Mystiker sehr charakteristisch
ist und dem Kritiker des Maimonides wohl ansteht: „Alles Erschaffene
soll wissen, daß es von dem Schöpfer nicht getrennt ist", obwohl der
Schöpfer seinerseits nicht „mit ihm verbunden ist". Das Sein und
39
I m Sepher Ba'ale ha-Nephesch, ed. Berlin, Bl. 32b.
40
Er benutzt an der angegebenen Stelle Bachjas Syllogismus in den „Herzens-
pflichten", I, 7. Diesen Hinweis verdanke ich meinem verstorbenen Kollegen, Prof.
Julius Guttmann.

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Abraham ben David 197

die Existenz der Dinge bilden keine trennende Scheidewand vor dem
Schöpfer. „Es verhält sich dabei wie mit der Welt, die voll der Luft
ist und alles tritt in die Luft ein, wird von ihr affiziert, und doch bleibt
sie ihnen unsichtbar" — genau so steht es mit dem Verhältnis des
Schöpfers zum Geschöpf. Diese Analogie zwischen der alles durch-
dringenden Luft und dem Schöpfer stammt in der jüdischen Tradition
von Saadia (der dafür wohl auf ältere Quellen zurückgreifen konnte),
und gelangte bei den ersten Kabbalisten, vor allem in der auf Rabed
folgenden Generation, zu großer Beliebtheit. Die Kabbalisten nahmen
es freilich mit Saadias Worten besonders genau: der subtile Äther,
der zuerst von Gott erschaffen wurde und den heiligen Geist darstellt,
verwandelt sich bei ihnen zum „Uräther", 'Awir qadmon, der nichts
anderes als die erste Sephira ist, aus der alles emanierte. Es verdient
vielleicht auch angemerkt zu werden, daß in dem Begriffspaar „Ur-
sache der Ursachen" und „Demiurg", das ich oben analysiert
habe, der Rabed denselben hebräischen Terminus für „Ursache
der Ursachen", gebraucht wie Jehuda ibn Tibbon in seinen Über-
setzungen.
Zweifelhafter ist der Ursprung des kabbalistischen Beinamens der
zehnten Sephira, die im Buch Bahir noch nie als Malkhuth, „Königs-
herrschaft', bezeichnet wird, während dieser Terminus sich zuerst
bei Jakob Nazir aus Lunel in seinen Gebetskawwanoth findet. Von da
an ist er bei den Kabbalisten neben der Bezeichnung als 'Atara die
häufigste aller Appellativa der zehnten Sephira. Der Ursprung kann
entweder bei Jehuda ben Barzilai liegen, der Gottes Kabhod und
Malkhuth gleichsetzt41, oder in Jehuda Halewis Kuzari, wo die drei
Begriffe Kabhod, Schekhina und Malkhuth ausdrücklich identifiziert
werden42. Derselbe Sprachgebrauch findet sich aber auch in den
Schriften des Eleazar aus Worms43. Es ist also durchaus möglich,
daß der Einfluß des Kuzari sich nicht erst bei den Kabbalisten von
Gerona am Anfang des 13. Jahrhunderts geltend machte. Diese Kab-
balisten beziehen sich mehrfach auf den Kuzari als Quelle, und manche
von ihnen, wie Ezra ben Salomo, sahen in dem Autor einen der Mas-
kilim, ein Begriff, der in den Kreisen der Philosophen für Anhänger
der philosophischen Bildung, in den Kreisen der Mystiker aber für
die Esoteriker und Illuminaten gebraucht wird. So zitiert Ezra den
Satz des Kuzari I, 109 über den Rang des Moses beifällig : „Wie einer der
Maskilim in seinem Buch gesagt hat : auf seinem Antlitz ließ sich das
materielle Licht nieder, mit seinem Herzen aber war das intelligible
41 Vgl. seinen Kommentar zu Jesira, S. 16 unten.
12 Vgl. Kuzari II, 7 und vor allem IV, 3, wo noch einige andere Begriffe aus der
Bibel damit gleichgesetzt werden, die alle, mit Ausnahme des Feuers, in der kabba-
listischen Literatur nach 1200 als Symbole der zehnten Sephira erscheinen.
« Vgl. die Zitate in Kapitel 2, S. 163 — 164.

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198 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Licht verbunden"44. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß schon mit


dem Erscheinen dieses klassischen Werkes in der hebräischen Lite-
ratur es sogleich von den Kreisen der ältesten Kabbalisten als ihrem
Geist entsprechend rezipiert wurde.
Nichts mit dem Rabed hat der große kabbalistische Kommentar
zum Buch Jesira zu tun, der in dessen Ausgaben dem Abraham ben
David zugeschrieben wird, in Wirklichkeit aber einem um 1300 (kurz
nach der Veröffentlichung des ' Zohar) schreibenden Joseph ben
Schalom angehört45. Die Zuschreibung an Rabed ist erst sehr spät
erfolgt, und noch bis ins 16. Jahrhundert kannten verschiedene Hand-
schriften und Autoren den Namen des richtigen Verfassers46. Dagegen
dürften magische Zitate, die in seinem Namen vorkommen und sich
zum Teil mit Überlieferungen seines Schwiegervaters Abraham ben
Isaak decken, echt sein. So führt der Kabbaiist Isaak von Akko um
1320 einen Teil der oben (Anmerkg. 7) erwähnten Schutzmittel aus
der Überlieferung des Rabed an47.
Ein weiteres und wertvolles, echtes Zeugnis über den Rabed und
seinen Schwiegervater sowie andere Esoteriker der Zeit besitzen wir
schließlich noch in dem Fragment eines Briefes, der wohl in der Pro-
vence um 1230—1240 geschrieben ist. Dem Briefschreiber sind die
deutschen Chassidim und ihre provençalischen Zeitgenossen durchaus
als Angehörige einer einheitlichen geistigen Gruppe gegenwärtig.
Er bezieht sich auf die Kabbala eines uns sonst unbekannten Abra-
ham des Naziräers über die Sephiroth, über dessen Lehrer und ihre
Lehre von der Zusammensetzung der Engel aus Materie und Form.
Der Schreiber war in Marseille und stand in Beziehungen mit Samuel
ibn Tibbon, der vor 1230 gestorben ist. Die Echtheit des Briefes und
seiner Aussagen wird dadurch schlagend erwiesen, daß der Autor ge-
rade diese Lehre über die Engel, deren Vertreter er nennt, als einen Irr-
tum ansieht, zu dem sie durch das Faktum der beweislosen esoterischen
Tradierung gekommen seien. Er entschuldigt sie also, lehnt aber selber
offen diese Lehren zugunsten derer des Maimonides ab. Das gerade
macht ihn zu einem unverdächtigen Zeugen für die Esoterik seiner
Zeit. Das Zeugnis des Briefschreibers darf daher auch in den Teilen,
in denen es Neues enthält, als zuverlässig betrachtet werden. Be-
merkenswert ist, daß Isaak der Blinde hier nicht genannt wird. Der
Briefschreiber scheint nur ältere Zeitgenossen als Träger der Kabbala
zu kennen. Er schreibt :

44
Vgl. Tishbys Edition von Azriel, Perusch ha-'Aggadoth, S. 34, Anm. 15.
45
Vgl. meinen Aufsatz über diese Frage in Kirjath Sepher IV (1927), S. 286—302.
46
Der richtige Autor wird noch in der Pergament-Handschrift Or. 11791 des
British Museum genannt, Bl. 42a, vgl. British Museum Quarterly XVI, January 1952.
47
Zitiert in der Hs. Gaster 720, Bl. 52b, jetzt im British Museum.

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Abraham ben David 199

„Ich habe über Aie Bücher des ,Führers' [des Maimonides] meditiert
und habe gefunden, daß seine Worte mit der Kabbala des verstorbenen
R. Abraham ha-Nazir übereinstimmen und nur in Kleinigkeiten von
ihnen abweichen. Ich teile die Wahrheit in Kürze mit. Sie haben zehn
Sephiroth tradiert erhalten, wobei die erste Sephira die Hokhma ist,
und sie ist auch die erste Intelligenz, welche 'lebendiger Gott' heißt, und
von ihr heißt es: Gott hat mich am Anfang seines Weges geschaffen. Mit
der Hokhma ist alles gebaut worden, und aus ihr sind die separaten
Intelligenzen emaniert. Und über die zehnte Sephira haben sie die Tra-
dition empfangen, daß sie dasselbe sei, was unsere Lehrer an einem Ort
Fürst des göttlichen Antlitzes und an anderen Orten Fürst der Welt
nennen, und er ist es, der den Propheten erschienen ist und der die Pro-
phetien aussendet . . . und daher ist an manchen Stellen der Schrift, wo
dieser Engel spricht, die Rede von Gott, wie in [Gen. 31 3] : Gott sprach
zu Jakob ... Und dieses ist das im Hohen Lied gemeinte Geheimnis
und es ist ganz und gar ein Gleichnis für diesen Sachverhalt [der Be-
ziehung zwischen dem Menschen und der höchsten Intelligenz, dem
Nous oder der Sophia]. Und so hat der Gelehrte R. Jehuda [in Hs. Vati-
kan : R. J . Halewi] vom Hohen Lied, wörtlich dem Lied der Lieder ge-
schrieben: ein Lied, das das erlesenste aller Lieder ist, das sich an den
Engel der Glorie und an den heiligen Geist richtet. Und es heißt dort am
Ende: fliehe mein Liebster — als Gleichnis für den Engel der Glorie, der
sich einmal am Dornstrauch und einmal am Sinai offenbart hat. Und
wenn es im Buch Jesira heißt, daß der Anfang der Sephiroth mit ihrem
Ende verschlungen ist, so meint er damit, daß aus der ersten Sephira die
zweite und so alle anderen emaniert sind. Und der Meister hat im,Führer'
geschrieben, daß die obere Welt ganz aus stofflosen Formen besteht, die
von aller Materie separiert sind und Engel heißen . . . [Hier zitiert der
Briefschreiber auch Maimonides' Anschauung über die zehn Stufen
der Engel, von denen die letzte 'Ischim heiße] . . . Und ich habe aus
dem Munde des Gelehrten R. Samuel, dem Sohne des Gelehrten [Lücke !
Es fehlt offenbar: R. J . ibn Tibbon] gehört, als ich in Marseille war, daß
jedes Mal, wo im Hohen Lied der Geliebte erwähnt wird, dieser Engel,
der 'Ischim heißt, gemeint ist. So wisse denn und verstehe, daß sie
alle auf dem gleichen Wege gehen. Aber die Gelehrten des Landes wie
R.Abraham der Gerichtspräsident und R.A.B.D. [Abraham ben
David] sei. And. und der Gelehrte R. Abraham, der Chassid R. Jehuda
der Fromme aus Deutschland und der Chassid R. Eliezer [so oft statt
Eleazar] aus Garmiza [Worms] und der Chassid R. Jehuda ibn Ziza
aus Toledo, das Andenken aller sei zum Segen, von denen R. Abraham
der Nazir empfangen hat — sie alle haben auf dem Wege der Über-

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200 Die ersten Kabbalisten in der Provence

lieferung, Kabbala, ohne jeden Beweis empfangen, so wie jemand, seinem


Freunde ein Geheimnis überliefert, ohne dafür einen Beweis zu bringen.
Und deswegen sind einige unter ihnen, die die Meinung vertraten, daß die
Engel aus Stoff und Form bestehen und der Mensch ihnen darin ähnelt,
wie ihnen aus Versen der Schrift wahrscheinlich schien, wo es heißt: im
Bilde Gottes machte er den Menschen, und es gibt Engel unter ihnen, die
aus Feuer und Wasser bestehen . . . Und all dies führte sie dazu, daß
sie keine Einsicht in die [verschiedenen] Grade der stofflosen Formen
erhielten und meinten, daß die Wirklichkeit in den stoffhaltigen Formen
stärker sei. Und darum gibt es unter ihnen solche, die meinten, daß
Schi'ur Qoma wörtlich zu verstehen sei. Sie alle aber sind in der
Meinung einig, vom Schöpfer selber keine Körperlichkeit zu glauben
48"
Ob der unbekannte Abraham Nazir, der doch wohl in der Provence
saß, persönlich mit den Häuptern der deutschen Chassidim und dem
Chassid aus Toledo Umgang hatte oder nur im Briefwechsel mit ihnen
stand, läßt sich nicht entscheiden, es wäre aber für einen proven-
çalischen Gelehrten und Asketen keineswegs ungewöhnlich, auch per-
sönlich bis Toledo oder Worms gewandert zu sein. Jedenfalls war
er ein Empfänger der Tradition der Familie des Rabed und deutet
Schi'ur Qoma offenbar ähnlich wie er. Seine Tradition über die erste
Sephira als die höchste Intelligenz ist eine Variante der bei Isaak dem
Blinden vorliegenden Tradition. Von der über der Sophia stehenden
Mahschabha oder höchsten Krone weiß er nichts — aber auch Kab-
balisten, die ja von ihnen wissen, nennen die Hokhma oft genug erste
Sephira. Eine besondere Spannung zwischen den Meinungen des
Maimonides und denen der Kabbalisten existiert für den Briefschreiber
durchaus noch nicht, obwohl er Unterschiede zwischen ihnen aner-
kennt und sich auf die Seite des Maimonides stellt. Aber es fehlt hier
ganz die Nuance der Schärfe oder Feindseligkeit, die in manchen der
Auseinandersetzungen zwischen den Lagern seit dem erneuerten
Kampf um die Stellung der Maimonisten, also seit 1232, merkbar ist.
Es ist dem Briefschreiber durchaus imbekannt, daß die von ihm ab-
gelehnte Ansicht über die Engel und Intelligenzen die Salomo Gabirols
ist. Ob mit dem Gelehrten R. Abraham etwa Abraham ibn Ezra ge-
meint ist, der diese Ansicht in der Tat von Gabirol übernommen und
in seinen Kommentaren vertreten hat, läßt sich nicht entscheiden.
Es könnte sich dann nur um literarische Schülerschaft des Abraham
Nazir bei ibn Ezra handeln.

48
Ich habe den Text dieses wichtigen Dokumentes, wie er sich aus den Hss. Oxford
1816, Bl. 63 a, und Vatikan 236, Bl. 81a, wiederherstellen läßt, in meiner hebräischen
Arbeit „Die Spuren Gabirols in der Kabbala" veröffentlicht, vgl. Me'asseph Sophre
Eref Israel 1940, S. 175—176.

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Jakob Nazir 201

3. Jakob Nazir und die Schicht der Gemeinde-Asketen, Pruschim und


Nezirim —- Katharismus und Kabbala — Offenbarungen an Asketen
und deren Formen — Lehre von der Kawwana im Gebet

Was können wir aus all diesem lernen ? Doch wohl, daß im Kreis
des Rabed, des Jakob Nazir, ihrer Kollegen und Schüler sich ver-
schiedene Traditionen trafen und vermischten. Wir haben keinen
schlüssigen Beweis dafür, daß hier schon ein geordnetes oder gar voll-
ständiges Lehrsystem aufgestellt wurde, wohl aber dürfen wir sagen,
daß dieser Kreis als der Vermittler und Sprecher verschiedener Ten-
denzen auftrat, die sich hier in dieser oder der darauf folgenden Ge-
neration kristallisierten. Die wenigen Fragmente lassen eine tiefe
Gärung erkennen. Hier war die Lehre vom Kabhod wirksam, wie sie
bei den französischen und deutschen Chassidim im Schwange war.
Zugleich finden wir aber auch diese Lehre in der rein saadianischen
Version, wie sie durch die alten, vortibbonidischen Übersetzungen
an den Kommentar des Jehuda ben Barzilai zum Buch der Schöpfung
vermittelt wurde. Dem gegenüber dringt hier zweifellos eine neue
Doktrin vor, eben die des Buches Bahir oder der verschiedenen Frag-
mente, aus denen Bahir bearbeitet und redigiert wurde. Das gilt vor
allem von der Lehre von den Äonen, die innerhalb des Kabhod sind,
und von denen Saadias Kabhod nunmehr die letzte Stufe darstellt.
Gegenüber der bei den französischen Gelehrten üblichen Version der
Lehre vom Kabhod tritt diese neue Lehre nun als ein großes Mysterium
auf, und es ist offenkundig, daß den Männern dieses Kreises die Diffe-
renz zwischen dieser neuen Äonenlehre und der saadianischen Doktrin,
die ja öffentlich vertreten werden konnte, durchaus gegenwärtig und
klar war. Das zeigt sich z. B., wenn Ascher ben Saul aus Lunel über
den Kabhod ohne besondere Geheimnistuerei spricht, gleich dahinter
aber auf eine Erklärung, die auf der Sephirothlehre im präzisen kab-
balistischen Sinne beruht, als auf ein „großes Mysterium" hinweist49.
Logoslehre und Äonenlehre verschmelzen hier in eins. Zu Meditationen
und Forschungen über die Tiefen der Gottheit tritt weiter eine my-
stische Lehre von der Kawwana im Gebet, die nur Eingeweihten über-
liefert wurde.
Zugleich sind aber in diesem provençalischem Kreise noch andere
Kräfte und Einflüsse wirksam. Eine Flut von Übersetzungen aus der
jüdisch-arabischen und besonders aus der neuplatonischen Literatur,
sowohl in Originaltexten wie in jüdischen Bearbeitungen, kommt in
ihrer nächsten Umgebung hoch. Damit erhielten die Kabbalisten
Kenntnis von einem Gedankenerbe, das angetan war, ihre Anschau-
49
Sepher ha-Minhagoth, S . 133.

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202 Die ersten Kabbalisten in der Provence

ungen zu befruchten und ihre Sprache zu bereichern, und der Einfluß


dieses Erbes wird in der nächsten Generation dann überaus sichtbar.
Der Neuplatonismus erscheint im Bereich der drei großen mono-
theistischen Religionen damals oft auch in populärem Gewände, und
viele seiner Schöpfungen waren in weiteren Kreisen von Enthusiasten
und religiös Interessierten beliebter als bei den Anhängern präzisen
wissenschaftlichen Denkens. Man denke nur an die Eschatologie der
Seelen im Buch der fünf Substanzen des Pseudo-Empedokles oder
an das Pseudo-hermetische Buch von den 24 Meistern und dessen
kühne und paradoxe Definitionen der Gottheit50. Außerdem war hier
jene große religiöse Gärung wirksam, die mit der katharischen Be-
wegung einsetzte und die sich auch in verschiedenen jüdischen Gruppen
geltend machte.
In dieser Generation hören wir in Frankreich, und besonders im
Süden, mehr und mehr von Gelehrten, die mit den Beinamen ha-Pa-
rusch, der Asket, oder ha-Nazir, der Naziräer, bedacht werden. Wir
besitzen die exakte Definition dieser Begriffe in einem Text, der
zweifellos am Anfang des 13. Jahrhunderts oder bestenfalls kurz vor-
her in jenen Gegenden verfaßt wurde. Dort heißt es: „Man bestellt
Gelehrte, deren Bestimmung es ist, sich ohne Unterlaß mit der Tora
abzugeben, um so die Gemeinde die Pflicht des Torastudiums er-
füllen zu lassen und damit der Herrschaft des Himmels keine Ein-
buße geschehe. Pruschim [wörtlich: Abgesonderte] heißen Gelehrte
die sich ausschließlich dem Studium der Tora widmen ; man nennt
sie in der Sprache der Mischna Pruschim und in der Sprache der Bibel
Nezirim . . . und die Absonderung [von den Händeln der Welt] bringt
zur Reinheit51." Aus dieser Bestimmung erhellt, daß diese Institution
in Frankreich nichts mit der asketischen Bewegung der „Trauernden
um Zion", 'Abhele Sijon, zu tun hat, die viele Jahrhunderte vorher im
nahen Orient und vor allem in Palästina verbreitet war und von der
der Reisende Benjamin von Tudela noch im 12. Jahrhundert Über-
bleibsel in Jerusalem fand. Die Einrichtung dieser Institution hängt
vielmehr mit der religiösen Erregung zusammen, die im 12. Jahr-
hundert in Frankreich um sich griff und sowohl im jüdischen Milieu
wie in der christlichen Umwelt, deren Reformbewegungen und reli-
giösen Häresien nach Ausdruck rang. Natürlich liegt schon in der
hier getroffenen Wortwahl ein Hinweis auf den asketischen Geist,
der das Zeitalter bestimmte. Diese Pruschim nahmen das „Joch der
Tora" auf sich und wandten ihren Sinn von den weltlichen Angelegen-
50 Vgl. Clemens Baeumker, Studien und Charakteristiken zur Geschichte der Philo-
sophie des Mittelalters, Münster 1927, S. 194—214.
51 Das Zitat stammt aus dem von M. Giidemann, Geschichte des Erziehungswesens
und der Kultur der Juden in Deutschland und Frankreich, Wien 1880, S. 268 veröffent-
lichten wichtigen Statut Huqqe Tora.

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Jakob Nazir 203

heiten ganz ab. Sie lagen keinen Handelsgeschäften ob und suchten


Reinheit zu erlangen. Das Gemeinsame an dieser Erscheinung und
dem christlichen Mönchstum einerseits und dem Stand der perfecti
oder bonshommes bei den Katharern andererseits fällt in die Augen,
der deutlichen Differenzen ungeachtet, die sich aus der verschiedenen
Einstellung des Judentums und Christentums zur sexuellen Askese
ergaben. Die Naziräer sind nicht ohne weiteres Chassidim in dem
wohldefiniertem Sinne des „Buchs der Frommen" und des deutschen
Chassidismus52. Aber es ist offensichtlich, daß wir es hier mit einer
parallelen Schicht in den jüdischen Gemeinden zu tun haben, unter
deren Angehörigen gewiß viele auch den radikaleren Forderungen
des deutschen Chassidismus zuneigten. Rabed selber greift am Ende
seines halachischen Werkes aus dem talmudischen Material gerade
die Definition der Chassiduth auf, die der Geistesart der deutschen
Chassidim am nächsten liegt 53 . R. Ezra aus Gerona nennt in der Tat
in seinem Kommentar zu den Aggadoth den Jakob Nazir mit dem
Beinamen Jakob der Chassid 54. Was für uns wichtig ist, ist die Existenz
einer Schicht, die von vorneherein und ihrer Bestimmung nach Muße für
ein kontemplatives Leben hatte. Es liegt auf der Hand, daß aus solcher
Schicht Männer mit mystischen Tendenzen hervorgehen konnten.
Auch in den ältesten Quellen der Kabbala nach Jakob Nazir werden
Männer dieser Gruppe als Träger mystischer Überlieferung erwähnt,
wobei es sich sowohl um historische als um fingierte Persönlichkeiten
handelt, die in pseudepigraphischen Dokumenten auftreten 55 . Ja,
gerade die Fiktionen solcher Namen von Pruschim und Nezirim sind
für die Stimmung, die in den Kreisen der Kabbalisten herrschte, be-
zeichnend. Ihre Urheber wußten sehr wohl, welche Schicht mit den
52
Zum Begriff des Chassid in dieser Gruppe vgl. meine Jüdische Mystik, S. 99—103.
53
Vgl. sein Ba'ale ha-Nefesch, Bl. 32 d: „Wer in jeder Sache innerhalb [und nicht nur
auf] der strengen Rechtslinie verfährt, heißt Chassid." Rabed selbst wird übrigens in
kabbalistischen Schriften selbst öfters als Chassid bezeichnet.
M
Vgl. meine Ausführungen in Tarbiz VI, Heft 3 (1935), S. 96.
55
Abraham Nazir in dem oben erwähnten Brief um 1240; ein Jehuda Nazir ben
R. "Eli Ha-kohen wird um 1230 in Abraham ben Azriels Ά rugath ha-Bossem zitiert,
nach J. Perles, M. G. W. J. Band 27 (1877), S. 365. In der Hs. Merzbach 81 (früher in
Frankfurt am Main) wird am Anfang der Bruder Isaaks des Blinden als R. David
ha-Parusch iveha-Chassid bezeichnet. Der Vater eines Moses, der 1255 in Marseille ein
Dokument unterzeichnet, wird Menachem ha-Parusch genannt, vgl. R. E. J. Band 15,
S. 88. Ein Isaak, Sohn des Parusch R. Menachem unterzeichnet 1268 ein Dokument in
Barcelona, vgl. J. Millas, Documents Hebraics de Jueus Catalans, Barcelona 1927,
S. 89. Ein kabbalistischer Kommentar zu dem Gebet 'Alenu, der dem Haj Gaon
zugeschrieben wurde, in Wirklichkeit aber am Anfang des 13. Jh. in Südfrankreich
verfaßt worden sein dürfte, erwähnt mehrere solcher Pruschim, vgl. Ma'or wa-Schemesch,
Livorno 1839, Bl. 9a. Güdemann hat a. a. O., S. 267, aus halakhischen Schriften des
13. Jhs. noch mehrere solche Hinweise auf Pruschim zusammengestellt.

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204 Die ersten Kabbalisten in der Provence

neubelebten gnostischen Impulsen der Kabbala verbunden war. Diese


Männer studierten zwar Tora, wandten sich aber nicht der neuen
philosophischen und rationalistischen Aufklärung zu. Sie sind im
Volksglauben ebenso tief verwurzelt wie die deutschen Chassidim, und so
sind sie es wohl, die religiöse Antriebe und volkstümliche Religiosität
in die neuen Formen der kabbalistischen Bewegung hereingetragen
haben. Zweifelhaft scheint mir, ob wir diesen Kreisen die Funktion
von Kämpfern gegen die neuen rationalistischen Strömungen oder
überhaupt eine klare oppositionelle Funktion zuschreiben dürfen.
Eher scheint es, daß sie eine natürliche, organische und nicht-oppo-
sitionelle Rolle in einer Gesellschaft erfüllten, in der eine religiöse
Gärung um sich griff, die ihr Ventil auch in dieser Institution der
„Gemeindeasketen" suchte.
Ein Mann dieses Typus war Jakob der Naziräer in Lunel. Zufällig
wissen wir, daß er in dieser Lebenshaltung in seiner Gemeinde nicht
allein stand. Benjamin von Tudela sah 1165 in Lunel den R. Ascher
ha-Parusch, „der sich von den Händeln der Welt zurückgezogen hat
und Tag und Nacht dem Studium weiht und der Askese obliegt und
kein Fleisch ißt" 5 6 . Für diesen Asketen übersetzte Jehuda ibn Tibbon
Gabirols Moraltraktat „von der Verbesserung der Eigenschaften der
Seele" ins Hebräische. Graetz, der ihn auf Grund dieser Schilde-
rung mit dem bei ihm beliebten Titel Obskurant belegt, scheint den
Mystiker in ihm gerochen zu haben, der seine feindseligen Affekte
sofort in Bewegung setzt. Ascher ben Meschullam, ein Sohn des an-
gesehensten Gelehrten in einer an Gelehrten reichen Gemeinde wie
Lunel, war also ein Panisch nicht nur in dem oben definierten Sinne,
sondern ein Vertreter radikalerer Tendenzen: ein wirklicher Asket.
Nun ist es evident, daß asketische Ideale im Mittelalter zu jeder Zeit
und an jedem Ort auftreten konnten, und zwar gleicherweise im Is-
lam, Christentum und Judentum. Dennoch brauchen wir nicht zu
vergessen, daß ganz parallele Ideale in der gleichen provençalischen
Umgebung hochkamen, die von moralischen Verfallserscheinungen,
die sie am katholischen Klerus beobachten konnte, zur Glorifizierung
des Ideals bewogen wurde, das die katharischen fierfecti zu verkörpern
schienen. Wie die jüdischen Naziräer in Frankreich das Joch der
Tora in seiner ganzen Schwere, zu der auch ein asketischer Akzent
treten konnte, auf sich nahmen, so übernahmen die „Vollkommenen"
die ganze Schwere der weltverneinenden Moral des von den Bogumilen
nach Italien und Frankreich verpflanzten „Neumanichäismus", der
in ihren Augen mit dem wahren Urchristentum identisch war. Die
Enthaltung vom Fleischgenuß gehörte zu den hervorstechendsten
Momenten in der Lebensführung der katharischen „Vollkommenen".

56 Vgl. Benjamin von Tudela, ed. Adler, S. 4.

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Jakob Nazir 205

In diesem Milieu haben wir auch Jakob Nazir zu sehen. Unter den
wenigen Fragmenten, die von ihm auf uns gekommen sind, hat Ezra
von Gerona ein ausgesprochen asketisches Stück erhalten, das auch
im „Buch der Gebräuche" seines jüngeren Bruders Ascher ben Saul
steht. Die zusätzliche Seele, die nach talmudischer Aggada der Mensch
am Sabbath erhält, ist nach ihm mit der anima rationalis, dem höchsten
Seelenvermögen im Menschen identisch, die den Menschen zur Gottes-
erkenntnis anhält. „Zugleich aber regt sie ihn an, den Sabbath mit
Genuß zu feiern. Dadurch steigt seine Begierde an. Am Ausgang des
Sabbath aber spricht sie zu ihm : Schränke Deine Speise ein, und weil
seine Begierde so vermindert wird, verursacht sie dem Menschen
Schwäche. Darum haben die Weisen bestimmt, am Sabbathausgang
an Gewürzkräutern zu riechen, [um diese Schwäche, ebenso wie die
Begierde, in Schranken zu halten]57". Ezra, der in der Nachbarschaft
von Lunel, in Posquières, bei Isaak dem Blinden seine kabbalistische
Ausbildung erhielt, wird dort, falls er Jakob Nazir nicht mehr persön-
lich kennen gelernt hat, jedenfalls gute Überlieferung über ihn er-
halten haben. Dadurch tritt seine Angabe, Jakob sei in Jerusalem
gewesen und habe dort mystisch-angelelogische Traditionen erhalten,
in den Bereich des historisch Zuverlässigen. Ezra ben Salomo ist
außerordentlich spärlich mit Zitaten kabbalistischer Autoritäten, die,
so weit ich sehe, durchweg zuverlässig sind. Auch der relativ einfache
Inhalt jener Überlieferung entspricht dem anderer angelologischer
Angaben Jakobs, wie wir sie schon oben kennengelernt haben. Jakob
soll von einem R. Nehorai in Jerusalem als Grund für das im Tempel
von Jerusalem geübte Ritual des Ausschüttens von Wasser und Wein
am Laubhüttenfest die Tradition empfangen haben, daß „bei diesem
Ritual zwei Engel gegenwärtig waren, deren Funktion darin bestand,
die Früchte zur Reife zu bringen und ihnen Geschmack zu verleihen".
Das Wasser und der Wein scheinen hier, ähnlich wie im Buch Bahir,
die Qualitäten der Gnade (Wasser) und der Strenge (Wein) zu sym-
bolisieren. Ob diese Symbolik aber, zugleich mit der angelologischen
Tradition, schon aus dem Orient stammt und nicht viel mehr der
provençalischen Schicht der Bahir-Tradition allein zugehört, ist nicht
mit Sicherheit auszumachen. Anderes über diesen R. Nehorai wissen
wir nicht, und in keinem anderen, mit Sicherheit im Orient verfaßten
57
Sepher ha-Minhagoth, S. 176, sowie das Zitat Ezras in seinem Perusch 'Aggadoth
Hs. Vatikan 294, Bl. 36a. Vgl. die weitere asketische Ausdeutung dieses Zitats in
Moses de Leon, ha-Nephesch ha-Hakhama, Basel 1608, Bogen H, Bl. Id. Es wäre auch
möglich, daß die weitere Ausführung dort ebenfalls aus Jakob Nazir genommen ist.
Die drei Seelen im Menschen werden von Jakob ganz in der Art der platonisierenden
Psychologie definiert, wobei zwischen Nephesch Kaja, der vitalen Seele mit Sitz im
Herzen, und Nephesch behemith, der tierischen Seele mit Sitz in der Leber, unter-
schieden wird.

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206 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Text des 12. Jahrhunderts wird die Sephirothlehre des Bahir voraus-
gesetzt. Diese Pilgerfahrt des „Rabbenu Jakob Chassid", an der zu
zweifeln ich keinen Grund sehe, dürfte am ehesten nicht lange nach
der Eroberung Jerusalems durch Saladdin stattgefunden haben, d. h.
nach 1187, da vorher den Juden unter der Herrschaft der Kreuzfahrer
im allgemeinen das Betreten Jerusalems verboten war. Sie wird nicht
vor der Aufnahme esoterischer Studien durch Jakob Nazir anzu-
setzen, sondern eher von ihnen veranlaßt sein. Nach dem Voran-
gegangenen haben wir in der Tat jeden Grund anzunehmen, daß
solche Studien in diesem Kreise in Posquières und Lunel schon vor
1187 im Schwange waren. Spätere Legende der spanischen Kabbalisten
verband dann den Besuch des alten Kabbalisten aus Lunel im Orient
mit der angeblichen Hinwendung des Maimonides zur Kabbala kurz
vor seinem Lebensende. Unser R. Jakob soll nach Ägypten gegangen
sein und Maimonides dort eingeweiht haben. Historischen Wert hat
diese Legende nicht, deren Aufkommen um 1300 ich an anderer Stelle
untersucht habe 58 . Noch die Schriften Abrahams, des Sohnes des
Maimonides, dessen Neigung zur mystischen Religiosität ganz offen-
sichtlich ist, beziehen ihre Inspiration aus sufischen Quellen und
verraten nicht die geringste Bekanntschaft mit kabbalistischen Ideen,
wie schon oben (S. 9) erwähnt wurde.
Angesichts der obigen Ausführungen über die Schicht der jüdischen
Asketen in Frankreich, die dem kontemplativen Leben oblagen, er-
hält die Frage nach dem möglichen Zusammenhängen zwischen dem
Aufkommen der Kabbala und des Katharismus in der Mitte des
12. Jahrhunderts vermehrte Dringlichkeit. Es ist aber zweifelhaft,
ob aus der Analyse der ältesten kabbalistischen Überlieferungen
sichere Folgerungen auf solche Zusammenhänge möglich sind. In den
Angaben der katharischen Quellen oder der Inquisitionsakten über
den Glauben katliarischer Gruppen oder Individuen läßt sich nur
selten eine Parallele zu kabbalistischen Lehrelementen feststellen.
Gewiß finden wir eine Art allgemeiner Verwandtschaft in der Grund-
voraussetzung, die in beiden Gruppen die Wirklichkeit einer beson-
deren höheren Welt annimmt, die ganz und gar Gott selbst zugehört
und in der sich gewisse dramatische Vorgänge abspielen, die ihr Gegen-
stück in der unteren Welt haben. Diese höchste Welt läßt sich im
Falle der Kabbalisten mit dem gnostischen Pleroma zusammenbringen.
Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß verschiedene gnostische
Details in innerjüdischer Überlieferung ins Buch Bahir geraten sind,
wie ja auch eine Zahl gnostischer Details hier und da in katharischen
Lehren auftauchen 59 . Die Katharer sprechen ζ. B. von den vier Ele-
se
Vgl. meine Untersuchung in Tarbiz VI (1935), Heft 3, S. 90—98.
58
Vgl. die Darstellung und Diskussion der katharischen Lehren bei C. Schmidt,
Histoire et Doctrine de la Secte des Cathares ou Albigeois, Paris 1849, Bd. II, S. 1—78;

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Katharismus und Kabbala 207

menten, die jene höchste Welt zusammensetzen, so wie davon im


Kreise Isaaks des Blinden die Rede ist. Der Schöpfergott oder Demiurg,
der für die Katharer mit dem Satan zusammenfällt, hat eine Form
und Gestalt, unter der er seinen Propheten erscheint, den wahren,
guten Gott kann aber kein Auge wahrnehmen. Eine gewisse Ähnlich-
keit läßt sich auch zwischen der Lehre des Bahir über den Satan als
Verführer der Seelen, als Fürst des Tohu und der materiellen Welt,
die daraus gebildet wurde, und den Anschauungen der Katharer über
die Rolle des Satan statuieren. Freilich sind die Stücke des Bahir
durchaus jüdisch formuliert und können religionsgeschichtlich auch
in anderen Traditionen älterer Zeit verwurzelt sein. Ein Detail, das
sich in der älteren wissenschaftlichen Literatur über die Katharer
findet, wäre freilich sehr erstaunlich in seiner Parallele zu gewissen
Quellen kabbalistischer Dämonologie. Das ist die Vorstellung von den
zwei Frauen des Satan. Diese Vorstellung, die in verschiedenen Aus-
führungen über die Hierarchien des Teuflischen bei den Brüdern
Jakob und Isaak Kohen aus Soria erhalten ist, die sie von ihren
Wanderungen in der Provence um die Mitte des 13. Jahrhunderts
mitgebracht haben, würde überraschend zu derselben Idee passen,
die C. Schmidt aus einer Angabe des im allgemeinen glänzend infor-
mierten Zisterziensers Peter von Vaux-Cernay erschlossen hat. Da-
nach wären die in Ez. 23 4 genannten biblischen Typen der Ahala
und Ahaliba von manchen Katharern als die zwei Gemahlinnen des
Satans betrachtet worden. In Wirklichkeit war in der genannten
Quelle die Rede von den zwei Gemahlinnen der höchsten Gottheit,
von denen die eine die Mutter Christi, die andere aber die des Satans
gewesen sei60. Damit wird der Zusammenhang zu den kabbalistischen
Spekulationen hinfällig, die übrigens keinen immittelbaren Zusammen-
hang mit der Lehre von den Äonen und Sephiroth haben, mit der sie
erst später verbunden worden sein dürften. Es ist durchaus wahr-
scheinlich, daß die Quellen dieser dämonologischen Systeme, die in
der Provence auftauchten, doch irgendwie auf den Orient zurück-
gehen, wenngleich die Angaben, die darüber in den Isaak Kohen vor-
liegenden Quellen standen, pseudepigraphischen Charakter haben61.
Aus diesen Quellen stammt übrigens erst die Vorstellung von Lilith
als einer der Gemahlinnen oder gar als der eigentlichen Gemahlin des
Satan, die dann ins Buch Zohar eingegangen ist. Ältere orientalische
Jean Guiraud, Histoire de l'Inquisition au Moyen Age, Paris 1935, Bd. I, S. 35—77;
Ignaz von Döllinger, Geschichte der gnostisch-manichäischen Sekten im früheren
Mittelalter, München 1890, S. 132—200; Hans Söderberg, La Religion des Cathares,
Étude sur le Gnosticisme de la Basse Antiquité et du Moyen Age, Uppsala 1949; Arno
Borst, Die Katharer, Stuttgart 1953, S. 143—222.
6 0 Vgl. Schmidt a. a. O., II, S. 13 und die Berichtigung bei Borst, S. 163.
e l Vgl. unten S. 259 — 261 des Textes und die Anmerkungen dazu.

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208 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Quellen der jüdischen Magie kennen eine solche Ehe nicht, und wissen
überhaupt nichts von einer Braut oder Gattin des Satan62.
Die Paarung männlicher und weiblicher Potenzen in der oberen
Welt, die nachher in den Lehren der spanischen Kabbalisten einen
bedeutenden Platz einnahm, war anscheinend ebenfalls in katha-
rischen Kreisen bekannt63. Aber auch hier dürfen wir eher eine ge-
meinsame Grundlage solcher Vorstellungen in der alten Gnosis an-
nehmen. Es gibt aber auch Details, von denen es plausibel ist anzu-
nehmen, daß die Katharer sie von jüdischen Mystiker gehört haben,
wie etwa die Vorstellung, daß Israel der Name eines Engels im Himmel
sei64, die uns aus der Literatur der Hekhaloth gut bekannt ist. Solche
Vorstellungen können auch durch Juden, die sich den Katharern an-
geschlossen haben, in die Bewegung hineingetragen worden sein. So
hören wir ζ. B., daß am Ende des 12. Jahrhunderts an der Spitze der
italienischen Katharer als Bischof der Weber Johannes Judäus stand,
ohne daß wir freilich sicheres Zeugnis darüber besitzen, ob er wirk-
lich jüdischen Ursprungs war, wie anzunehmen naheliegt. Der Bei-
name Judäus bezeichnet im Mittelalter nicht immer jüdischen Ur-
sprung65. Eine weitere angelologische Angabe, die ich nur bei den
Katharern und in der kabbalistischen Tradition bei Moses de Leon
und im Zohar finde, hält den Propheten Elias für einen Engel, der vom
Himmel herabgekommen sei66. Berührungen zwischen den beiden
Lagern bestehen auch hier und da in den Anschauungen über das
Schicksal der Seele im irdischen Paradies, über ihren Eintritt in das
himmlische Paradies nach dem jüngsten Gericht, und über die Ge-
wänder der Seelen vor ihrer Geburt, die während ihres irdischen
Daseins im Himmel aufbewahrt werden67. Dies sind aber immer nur
lose Details und betreffen nebensächliche Punkte. In der Grund-
auffassung konnte ja zwischen den beiden Bewegungen keine sach-
liche Berührung bestehen, da die Katharer in ihrer Verwerfung der
Welt als der Schöpfung des Satans, und der Tora als des Gesetzes des
62 I m allgemeinen scheinen arabische Quellen zur Dämonologie nichts von einer Frau
des Satans zu wissen. Ich habe aber in hebräischen Texten des 14. Jhs., die sicher ζ. T.
auf arabische Quellen zurückgehen, eine „Gattin des Iblis", 'Escheth 'Iblis, erwähnt
gefunden, die jede Nacht mit Pharao geschlafen haben soll. Als des Teufels Großmutter
tritt Lilith in dem deutschen weltlichen Spiel von der Päpstin Johanna auf, das 1480
verfaßt wurde, vgl. Maximilian Rudwin, The devil in legend and literature, London
1931, S. 98. (Das Kapitel über Lilith dort ist sonst wertlos).
65 Döllinger I , S. 168.
M Ibid. I , S. 140.
65 Vgl. Borst, S. 99.
66 Vgl. Zohar I I , 197a, sowie Midrasch Ruth im Zohar Hadasch, Warschau 1885,
Bl. 84c; Moses de Leon in seinen kabbalistischen Responsen, ed. Tishby, im Qobes 'al
Jad V (1951), S. 38. Zu den katharischen Angaben vgl. Döllinger I , S. 164 u. 169.
" Döllinger I, S. 138, 156, 178.

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Katharismus und Kabbala 209

Satans, in ihrem metaphysischem Antisemitismus ja noch viel weiter


gingen als die katholische Kirche. Übrigens waren sich die jüdischen
Gelehrten in der Provençe über diesen Abgrund zwischen jüdischer
und katharischer Weltauffassung durchaus klar. Schon aus dem
Kreise des Rabed selbst, also noch aus dem 12. Jahrhundert, haben
wir eine Äußerung des der oben erwähnten Schicht der Pruschim
und Chassidim zugehörigen hochangesehenen R. Joseph ibn Plat,
die eine unverkennbar antikatharische Polemik enthält. Nach ihm
ist die Çeduscha im Morgengebet gerade in das Gebetsstück joser 'Or
eingeschaltet, das von der Schöpfung der Sonne und der Gestirne
spricht, „um der Meinung jener Menschen entgegen zu treten, daß die
Sonne und die übrigen Gestirne nicht etwa auf Geheiß ihres Schöpfers,
gelobt sei er, [sondern eben durch den Satan als Demiurgen] existierten,
denn alle Scharen der Höhe heiligen ihn [in diesem Gebetsstück] und
verkünden ihn als den Einen, der alles erschafft und über alles re-
giert" 6 8 . Das einzige Lehrstück, in dem sich Katharer und Kabba-
listen in einem Hauptpunkt begegnen, ist die Lehre von der Seelen-
wanderung. Aber auch hier sind die Details sehr verschieden. Die
Katharer betrachteten die höheren Seelen als solche der abgefallenen
Engel, die wandern müssen, bis sie in den Körper eines katharischen
perfectus gelangen. Dieser Zusammenhang zwischen der Psychologie
und dem Mythos vom Abfall der Engel vom guten Gott, der für die
katharische Auffassung entscheidend ist, fehlt in der Kabbala ganz.
Ebensowenig weiß die älteste Kabbala von einer Seelenwanderung
durch Tierleiber, die dann um die Mitte des 13. Jahrhunderts zum
erstenmal im kabbalistischen Schrifttum auftritt, als die Kabbala
längst ausgebildet war 69 . Ob darin ein Echo katharischer Auffassungen
vorliegt, läßt sich höchstens vermutungsweise sagen.
Die Neubelebung mythischer Elemente im Glauben der Katharer
ist schon von vielen Forschern bemerkt worden. In dieser Hinsicht
kann man vielleicht von einer gemeinsamen Atmosphäre sprechen.
Auch in den Anfängen der Kabbala trägt eine religiöse Bewegung,

6 8 Vgl. Sepher ha-Minhagoth S. 133. Über Joseph ibn Plat vgl. H. Gross, Gallia
Judaica, S. 284—285. Auch der Kabbaiist Azriel aus Gerona erwähnt in seinem Kom-
mentar zu den Gebeten, Hs. Oxford 1938, Bl. 202a: „Menschen, die sagen, daß die Welt
böse und mangelhaft ist und keinen Segen in sich h a t " ; ähnliches auch in seinem
„Kapitel über die Häresien", das ich im Gedenkbuch für A. Gullak und S. Klein,
Jerusalem 1942, gedruckt habe, S. 209. Daß damit die Katharer gemeint sind, scheint
mir klar. Ausdrücklich wird diese Meinung „der bei Euch [den Katholiken] Häretiker
genannten Gruppen" auch bei Meir ben Simon aus Narbonne in seinem antichristlichen
Werk zitiert, wo also ebenfalls die katharische Häresie seiner provençalischen Um-
gebung visiert ist, vgl. die Stelle in meinem Aufsatz im Sepher Bialik, S. 152.
•9 Zur katharischen Lehre von der Seelenwanderung vgl. Söderberg, S. 152—154;
Borst, S. 168—171. Vgl. auch unten S. 405 und 414.
Scholcm, Kabbala 14

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210 Die ersten Kabbalisten in der Provence

die die Grenzen, die Judentum und Christentum trennen, überschreitet,


solche Elemente zu neuem Leben. Diese Tendenz wird in gewissen
Kreisen der proven çalischen und dann der spanischen Kabbalisten
bis zum Zohar hin immer stärker. Auf die Frage nach der Herkunft
dieser Elemente läßt sich keine einheitliche und einfache Antwort
geben. Wir haben eine ganze Reihe solcher Vorstellungen in ihrem
erneuten Auftreten im Buch Bahir verfolgt und fanden sie dort in
einer innerjüdischen schriftlichen und vielleicht auch mündlichen
Tradition verwurzelt. Freilich habe ich, wie schon ausgeführt, große
Zweifel über die letztere Annahme. Andererseits müssen wir die Mög-
lichkeit eines Übergangs oder eines gegenseitigen Einflusses zwischen
katharischen und jüdischen Asketen in Betracht ziehen. Sobald
ein erster Impuls zur Ausarbeitung eines neuen gnostischen
Systems vorlag, wie das bei den Quellen des Bahir der Fall war, so
konnte er sich dann auch nach Gesetzen immanenter Entwicklung
auswirken. Dabei stoßen wir wiederum auf die Frage: was eigentlich
war das spezifisch Neue hier? Denn weder die Analyse der ältesten
Quellen der kabbalistischen Literatur, noch die der Zeugnisse über ihr
erstes Auftreten, ja auch die psychologische Betrachtung läßt einen
Zweifel darüber aufkommen, daß wirklich in der Provençe irgend
etwas Neues sich in den Gruppen der Mystiker und der ihnen nahe
stehenden Schicht der Pruschim ereignet hat, die in den großen tal-
mudischen Lehrhäusern oder den Studierstuben der verstreuten
kleineren Gemeinden in der Provençe und in Mittelfrankreich
saßen.
Damit kehren wir zu der Frage nach dem Charakter und Inhalt
jener Offenbarung des Propheten Elias zurück, von der ich im ersten
Kapitel gesprochen habe. Wenn wir das bisher Erarbeitete in Rück-
sicht ziehen, so lassen sich zu dieser Frage zwei Bemerkungen machen.
Einmal können wir durchaus verstehen, daß in Menschen von der Art
der Pruschim und Chassidim und aus ihrem kontemplativen Leben
heraus eine seelische Disposition zur Versenkung in innerliche Aspekte
ihres Glaubens entstehen konnten. Insofern unter ihnen mystische
Neigungen bestanden — etwas, das wir keineswegs von vornherein
von allen Angehörigen dieser Schicht sagen können —, so begreifen
wir unschwer, daß manche von ihnen Erleuchtungen und Offen-
barungen von oben erhielten. Solche Offenbarungen konnten zwei
Formen annehmen, und beide sind in diesen Gruppen belegt. Wir
hören in Frankreich und Deutschland im 12. und 13. Jahrhundert
von Gelehrten, die den Beinamen „der Prophet" tragen. Das ist
keineswegs ein gewichtsloser Ehrentitel, sondern weist darauf hin,
daß die Träger entweder der Merkabha-Mystik ergeben waren, visio-
näre Himmelswanderungen erlebten, wie die berühmten Tossaphisten
Isaak von Dampierre und Ezra von Moncontour oder R. Troestlin

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Offenbarungen 211

der Prophet in Erfurt, oder wirklich als Propheten auftraten. Von


Ezra dem Propheten von Moncontour wird berichtet: „er zeigte
Zeichen und Wunder. Man hörte eine Stimme aus einer Wolke mit
ihm sprechen, wie Gott mit Moses sprach. Große Gelehrte, darunter
auch [der berühmte Mystiker] Eleazar aus Worms, erhielten nach
tagelangem Fasten und Beten Gewißheit darüber, daß alle seine
Worte Wahrheit und kein Trug in seinem Munde war. Auch produ-
zierte er talmudische Erklärungen, deren gleichen man nie gehört
hatte, und enthüllte Mysterien der Tora und der Propheten 70 ." Dies
spielt zwischen 1226 und 1240, als auch messianische Verkündigungen
von ihm große Aufregung verursachten. Hier haben wir also den
klaren Fall eines bedeutenden Talmudisten, der zugleich Pneumatiker
und Prophet ist. Aus etwas früherer Zeit, um 1200, stammt das in
Paris aufgenommene hebräische Protokoll über das Auftreten eines
anderen Propheten gleichen Typus, der sich vor Zeugen mit Moses
und dem Engel Metatron, mit den Tossaphisten Rabbenu Tam und
R. Elias aus Paris unterhielt und mystische Offenbarungen über
talmudische Dinge brachte. Daß in der Languedoc, in der Nachbar-
schaft und Generation des Rabed, solche Offenbarungen über Tal-
mudisches und Halachisches ebenfalls vorkamen, wird — auch wenn
wir die oben erwähnten Wendungen Rabeds über die Erscheinung
des Heiligen Geistes in seinem Lehrhaus nicht für beweiskräftig
halten — schlüssig durch die merkwürdige Erscheinung des Jakob
aus Marvège (heute im Dep. Lozère) bewiesen, der um 1200 blühte.
Er ließ sich halachische Probleme durch „Traumanfragen", Sche'eloth
Halom, d. h. also durch eine visionäre Prozedur, beantworten 71 .
Neben Gestalten dieser Art konnten hier aber auch Mystiker von ganz
reinen Typus auftreten, deren Erleuchtungen innerlicher Art blieben
und, wenn überhaupt, in eine esoterische Doktrin mündeten.
70
Über R. Ezra den Propheten vgl. meine Nachweise in Tarbiz II (1931), S. 244,
614, sowie S. Assai in Zion V (1940), S. 117, 124, der mit Recht das dort von ihm be-
sprochene Dokument auf das Auftreten des R. Ezra bezieht. Über Tröstlin den Pro-
pheten vgl. meine Jüdische Mystik, S. 95. Um 1200 wird unter den deutschen Chassidim
ein R. Nechemia der Prophet genannt, vgl. das Stück von ihm in Merkaba Schlema,
Jerusalem 1921, BI. 30b—31a. Er ist identisch mit dem, denselben Gegenstand be-
handelnden Nechemia ben Salomo in Abraham ben Azriels 'Arugath ha-Bossem, ed.
Urbach, I, S. 33. Aus noch früherer Zeit wird von den Chronisten unter den ältesten
Gelehrten in Narbonne ein R. Jakob der Prophet genannt, vgl. Neubauer, Mediaeval
Jewish Chronicles I, S. 83.
71
Vgl. den Text über den Propheten in Paris bei D. Kaufmann, R. E. J. V, S. 274—
276. Über Jakob aus Marvège vgl. Gross, Gallia Judaica, S. 364, und R. Margulies in
der Vorrede zu seiner Ausgabe von Jakobs „Responsen vom Himmel", Lw6w 1929.
Man fragt sich, ob nicht auch der berühmte Halachist und Prediger Moses von Coucy,
der um 1236 durch Träume und Visionen zu seiner reformatorischen Tätigkeit veran-
laßt wurde, zu diesem Typus zu zählen ist.
14·
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212 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Wie kamen solche Offenbarungen zustande ? Traten sie bei mystisch


gestimmten Geistern plötzlich, ohne Vorbereitung auf oder waren
sie das Ergebnis bestimmter Handlungen und Rituale, die Vorbereitung
erforderten? Spielte dabei vielleicht auch ein theurgisches Element
eine Rolle? Wir können diese Frage nicht eindeutig beantworten.
Immerhin verfügen wir über Zeugnisse, die beweisen, daß in der Tat
in jenem provençalischen Kreis und in Frankreich solche Offenba-
rungen, mindestens teilweise, mit einem bestimmten Ritual in Zu-
sammenhang gebracht, ja sogar auf einen bestimmten Tag fixiert
wurden72. In der Mitte des 13. Jahrhunderts lebte in Narbonne ein
alter Kabbaiist, ein Schüler auch des Eleazar aus Worms, „von dessen
Lehrer man [d. h. die Leute von Narbonne, nicht nur er selbst] be-
zeugte, daß Elias s. A. sich ihm von einem Versöhnungstag zum
anderen offenbarte"73. Ob dieser Lehrer der genannte Eleazar war
oder ein anderer provençalischer Kabbaiist, steht nicht fest. Aber die
Identität des Lehrers ist für uns weniger wichtig als die Nachricht
über den Zeitpunkt, an dem ihm jeweilig der Prophet Elias erschien.
Im Talmud wird, soweit ich sehe, eine solche Erscheinung des Elias
am Versöhnungstag nur einmal (Joma 19b) en passant erwähnt, und
nicht etwa als etwas periodisch sich wiederholendes. Also gerade am
heiligsten Tage des Jahres, und gewiß aus seelischer Vorbereitung
und besonderer Konzentration heraus, erfolgte diese mit höchstem
Wertakzent versehene Offenbarung.
Wir verfügen über zwei literarische Unterlagen, in denen magische
Rituale der Beschwörung der Archonten, die über die Mysterien der
Tora gesetzt sind, genau beschrieben werden. Diese Rituale finden
gerade in der Nacht des Versöhnungstages statt. Der erste dieser
Texte ist ein Responsum auf den Namen zweier fingierter babylo-
nischer Geonim des 11. Jahrhunderts, das allen Anzeichen nach in
der Provence um 1200 in künstlichem Aramäisch verfaßt wurde.
Hier haben wir unter anderem einen gänzlich phantastischen Bericht
über eine sehr sonderbare Prozedur, die die Gelehrten der Vorzeit

72 Das Folgende beruht auf den Texten, die ich in Tarbiz X V I (1945), S. 196—209,
veröffentlicht und analysiert habe. Der wichtigste dieser Texte wurde in sehr ver-
dorbener Gestalt zuerst von Jellinek, Beth ha-Midrasch V I , (1877), S. 109—111, ver-
öffentlicht. Er hielt ihn für ein Stück orientalischer Theurgie aus dem 11. Jh., als was
er sich selbst ausgibt; in Wirklichkeit ist er ein in den Orient verlegtes Phantasie-
produkt früher provençalischer Kabbalisten, die aber damit Anschauungen und
Praktiken widerspiegeln, die in ihrem eigenen Kreis in Schwang gewesen sein mögen.
73 Vgl. a. a. O., S. 205. Spätere Autoren wie Abraham Herrera haben diese, aus
den Schriften Isaak Kohens aus Soria stammende Angabe auf Isaak den Blinden
selbst bezogen. Eine Erscheinung des Astralleibes der Verstorbenen, bei der implicite
auch an Elias gedacht sein könnte, von einem Versöhnungstag zum anderen, erwähnt
Bachja bell Ascher (1291) zu Gen. 49 33

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Offenbarungen 213

angeblich in jener Nacht vollzogen, um den „Schaddiel, den großen


König der Dämonen, Schedim, die in der Luft herrschen", zu be-
schwören und dadurch in den Besitz und die Kenntnis „aller Mysterien
des Himmels" zu gelangen74. Die Vermischung von Angelologie und
Dämonologie ist dabei sehr sonderbar. Daß dies Ritual, das hier nach
Babylonien verlegt wird, wirklich jemals geübt worden ist, halte ich
für ausgeschlossen. Es zeigt aber die Stimmimg der Gruppe, aus der
es stammt. Der zweite Teil enthält ebenfalls eine theurgische An-
weisung, von der wir aber annehmen dürfen, daß sie ein wirklich voll-
zogenes Ritual schildert. Sie stellt nur ein Glied in einer langen Kette
dar, die schon seit früher Zeit solche Anweisungen für die Beschwörung
des „Archonten der Tora" geben. Schon am Ende der „Großen He-
khaloth" steht ein auch selbständig vorkommendes Stück Sar Tora,
das darauf abzielt, und wir besitzen noch mehrere solcher Rezepte,
die aus dem Orient stammen und zum Teil auch in Handschriften
der deutschen Chassidim übergegangen sind. Sicher stammt auch
dieser Text, der ebenfalls den Vortag und die Nacht des Versöhnungs-
tages als Zeit dieses Rituals bestimmt, aus solchem Material, das aus
Babylonien über Italien nach Frankreich gelangt ist. Der Inhalt aber,
halb Beschwörung halb Gebet, läßt keinen Zweifel daran, daß er in
der uns vorliegenden Form erst in Frankreich redigiert worden ist.
Er enthält eine lange Liste von Dingen, die einer dieser Pruschim
vom Archonten der Tora zu erfahren wünscht. Er soll sein Herz für
das Torastudium öffnen, wobei besonderer Nachdruck auf die ver-
schiedenen Kategorien der Gematria und Zahlenmystik gelegt wird,
daneben aber auch auf das Verständnis der verschiedenen talmu-
dischen Disziplinen, der Kosmogonie und der Merkaba und der
göttlichen Glorie, des Kabhod, und vieler anderer, dem Autor wissens-
wert scheinender spezifischen Gegenstände der talmudischen Über-
lieferung75. Nichts weist darauf hin, daß dem Autor dieses Stückes
schon etwas von der Kabbala bekannt war, und sein Interessengebiet
deckt sich auch im Theosophischen mit dem der deutschen und fran-
zösischen Chassidim. Zugleich erfahren wir aber hier, daß auch in
solchen Kreisen man in der Nacht des Versöhnungstages auf Offen-
barungen aus dem Gebiet der exoterischen und esoterischen Tora
hoffte. Wir haben also hier eine Art von Gebet vor uns, wie es Jakob
Nazir hätte sprechen können, wenn er sich auf solche Offenbarungen
rüsten wollte.
Dies führt uns wieder auf die Frage zurück : worin eigentlich bestand
der Inhalt der „Offenbarung des Elias", die jenen Mystikern in Nar-
bonne, Posquières und Lunel zukam? Sollen wir annehmen, daß es

'« Vgl. a. a. O., S. 197—200.


Vgl. a. a. O., S. 2 0 8 - 2 0 9 .

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214 Die ersten Kabbalisten in der Provence

sich hier nur um eine religiöse Erregung gehandelt hätte oder um


Revelationen von Mysterien aller möglichen Arten, von Erklärungen
über dies und das, um Visionen, die mit der Merkaba zusammen-
hängen, wie man etwa aus der Beschreibung in dem eben besprochenen
Dokument schließen könnte ? Dann hätten wir es hier also mit Dingen
zu tun, bei denen es sich keineswegs um etwas prinzipiell Neues han-
delte, sondern um die Ausfüllung eines Rahmens von Kenntnissen,
deren Grundzüge der Beter auch vorher schon besaß. Oder sollen wir
vielmehr in diesen Revelationen etwas wirklich Neues sehen, das zu
der kabbalistischen Überlieferung des Bahir hinzutrat und ihr einen
spezifischen Charakter verlieh ? Da wir keine zuverlässigen Dokumente
hierüber besitzen, ist es schwer, auf diese Frage mit Bestimmtheit
zu antworten. Dennoch möchte ich dazu neigen, unsere Nachrichten
im Sinne der zweiten Auffassung zu interpretieren. Ich möchte die
Vermutung aussprechen, daß die Lehre von den mystischen Gebets-
meditationen das eigentlich Neue an der Kabbala im Kreis der pro-
vençalischen Gelehrten und Pruschim bildete. Wir haben zwar am
Ende des vorigen Kapitels gesehen, daß vereinzelte Stücke über den
mystischen Sinn des Gebets oder bestimmter Gebete schon im Bahir
vorkommen und daß ζ. B. ein in der Liturgie so wichtiger Vers wie
die Qeduscha (Jes. 6 3) dort schon auf die Äonen oder Sephiroth be-
zogen wurde. Wir haben es im Bahir aber mit Kommentaren zu tun
und nicht mit Anweisungen für Meditationen, die beim Sprechen des
Verses im Moment des Gebets selber vollzogen werden sollten. Der
neue Schritt, der darüber hinausreichte und aus dem die Lehre von
der Kawwana bei den Kabbalisten hervorging, die in der Geschichte
der Kabbala einen so großen Platz behauptet hat, bestand darin,
die einzelnen Worte der Stammgebete mit bestimmten Sephiroth zu
verbinden. Der Betende sollte bei der Rezitation — nach talmudischer
Vorschrift müssen Gebete gesprochen und nicht nur gedacht werden
— seinen Sinn auf eine oder mehrere der göttlichen Middoth konzen-
trieren. In diesem Sinne stellt die Kawwana im Gebet nichts als eine
praktische Anwendimg der Lehre von der Existenz der Sephiroth
oder Äonen in der Welt der Gottheit dar. Das Gebet wiederholt auf
symbolische Weise Prozesse, die sich im Pleroma der Gottheit ab-
spielen. Damit ähnelt sie also nicht mehr jenen alten magischen Ge-
beten, die auch, wie wir sahen, in die Kreise der Chassidim und ersten
Kabbalisten gelangt sind. In diesen Gebeten spricht ja der Betende
magische Worte oder heilige Namen aus, meistenteils sogar unver-
ständliche nomina barbara, die einen Bestandteil des Gebetstextes
selber bilden. Die Kawwana dagegen stellt einen Vorgang dar, der
sich ausschließlich im Bereich des Denkens abspielt. Ausgesprochen
werden nur die von jeher feststehenden Worte des Gebetes, während
die mystische Meditation den Strom der Worte im Denken begleitet

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Lehre von der Kawwana 215

und sie mit der inneren Intention des Betenden verbindet. Bei den
deutschen Chassidim scheinen die ersten Anfänge solchen Verfahrens
beim Gebet selber vorzuliegen, bei den provençalischen Kabbalisten
aber ist aus diesen Anfängen eine ganze Disziplin geworden, eine
kontemplative Disziplin, die die Verbindung des Menschen mit Gott
im Gebet betrifft.
Es ist schwierig, eine Entscheidung darüber zu treffen, inwiefern diese
Kawwana von vorneherein auch ein magisches Element enthielt, d. h.
ein Element der Aktion, die darauf hinausging, die göttlichen Middoth,
auf die sich die Intention des Gedankens richtet, zu zwingen, etwas
von ihrer Kraft auf den Betenden zu emanieren. Die ältesten solcher
Kawwanoth, die sich erhalten haben, also die des Jakob Nazir und
des Rabed, sind zweifellos Anweisungen zu mystischen Meditationen
in dem hier dargelegten Sinn und kein Anzeichen spricht bei ihnen
dafür, daß sie noch eine andere magische Absicht verfolgen. Aber
täuschen wir uns nicht darüber: die Differenzen zwischen diesen
Bereichen sind mitunter überaus subtil, und der Übergang vom Be-
reich der reinen Kontemplation zu dem der Magie konnte sich ganz
unversehens vollziehen. Mitunter hängt er einfach von den Ausdrucks-
formen des Gebetes ab. Wir können uns in abstracto leicht vorstellen,
daß der Betende, der Art und Weise zufolge, in der er sich über den
Sinn seines Gebetes ausspricht, eine Kraft von oben auf sich herab-
ziehen wollte, oder um es anders auszudrücken, sich eine Stellung
erobern wollte, in der sein Gebet erhört werden würde. Solches Gebet
dürfen wir wohl magisch nennen. Ihm können wir eine andere reine
Form des Gebets entgegenstellen, in der der Betende sich spirituell
von Stufe zu Stufe erhebt und kontemplativ in den Bereich der
höchsten Middoth oder des göttlichen Denkens selber einbezogen zu
werden strebt, und solches Gebet können wir eines mit mystischer
Kawwana nennen. Im Sinne solcher abstrakten Definitionen neigen
die Kawwanoth der ältesten Kabbalisten gewiß nach der Seite der
Mystik hin; ich bezweifle aber sehr, ob im lebendigen Vollzug des
mit Kawwana Betenden sich jene klare Scheidung zwischen den zwei
Richtungen des Gebetes vornehmen läßt. Das lebendige Gebet ist ja,
wie Jehuda Halewi es in einem seiner Gedichte formuliert hat, ein
Vorgang der Begegnung — „Als ich zu Dir ging, fand ich Dich auf
dem Weg zu mir"76 —, und es kann durchaus sein, daß sich hier auch
diese beiden Elemente begegnen. Nur in extremen Fällen wird die
Begegnung des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen im
Gebet eine ganz eindeutige Form annehmen, und sei es ganz magisch,
sei es ganz vom magischen Element frei werden. Die Geschichte der

78 Befethi liqrathkha, liqrathi meçathikha ; vgl. Diwan des Jehuda Halewi, ed. Brody,

Band III (1910), S. 151.

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216 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Lehre von der Kawwana bei den Kabbalisten kann als Musterbeispiel
für diese verschiedenen Möglichkeiten dienen, die in jeder mystischen
Lehre vom Gebet latent sind. Schon bei den ersten spanischen Kab-
balisten unter den Schülern Isaaks des Blinden treten, wie wir sehen
werden, hier und da die magischen Elemente in ihrer Lehre über die
Kawwana hervor, wie ja solche Elemente auch schon, wie wir gesehen
haben, in den „Mysterien des Gebets" bei den deutschen Chassidim
erkennbar sind, wenn der Betende ζ. B. an alle mögliche Engelnamen
denken soll, die wort- oder zahlenmystisch mit den Worten des
überlieferten Gebets zusammenhängen. Im ältesten Kreis der Kab-
balisten fehlt aber, soweit unsere Nachrichten reichen, dieses magische
Element, zum mindesten in manifester Gestalt.
Die Lehre von der mystischen Kawwana im Gebet entspricht voll-
kommen, scheint mir, den objektiven und psychologischen Bedin-
gungen einer Doktrin, die in einem exklusiven Zirkel von meditativ
begabten Männern entstanden ist. Mit ihr fügten sie den alten gno-
stischen Elementen, die in der Tradition des Bahir enthalten waren
und von ihnen in größerem Detail weiter entwickelt wurden, eine neue
Schicht hinzu. Die Schöpfung dieser Lehre trägt das Siegel der vita
contemplativa an sich. Kein Element der alten Kabbala entspricht
besser der Überlieferung von einer Offenbarung des El'as, und wir
dürfen diese Überlieferung als ein Zeugnis dafür ansehen, daß in diesem
Kreis wirklich etwas Neues aus der Tiefe hervorgebrochen ist. Wenn
auch kein direkter Beweis, so läßt sich doch ein Hinweis auf diesen
Zusammenhang noch entdecken: die Bemerkungen über die Offen-
barung des Elias, die Isaak dem Blinden oder seinen Lehrern zuge-
kommen sei, finden sich gerade in Texten, in denen spanische Kab-
balisten am Ende des 13. Jahrhunderts die Gebets-Kawwanoth zu-
sammengestellt haben". Keine andere spezifische Lehre der Kabba-
listen bezieht sich ausdrücklich auf diese Offenbarung, und vielleicht
gibt uns das einen Schlüssel.
In ihrem ursprünglichen Entwicklungsstadium im Kreis des Rabed
ist die Lehre von der Kawwana mindestens in einem wichtigen und
aufschlußreichen Punkt von der Gestalt verschieden, in der sie bei
seinen Nachfolgern geläufig war. Sobald die Kabbalisten sich über
den fundamentalen Unterschied zwischen dem Emanierenden und
der Emanation, zwischen dem verborgenen Gott, der bei ihnen 'En-
77
Im Zusammenhang der Gebetsmystik wird von Gilluj Elijahu gesprochen von
Schemtob ibn Gaon, Kether Schern Tobh, gedruckt in Ma'or wa-Schemesch (1839),
Bl. 3öb; Menachem Recanati, Torakommentar, Venedig 1545, Bl. 173d; Isaak von
Akko, Me'irath 'Enajjim, Hs. München 17, Bl. 48b. Ebenso findet sich eine Tradition
über die Offenbarung des Elias an die ältesten Kabbalisten gerade vor einem Stück
aus dem Kommentar des Azriel zu den Gebeten in der Hs. Halberstam 388, Bl. 19b,
vgl. seinen Katalog Hebräischer Handschriften, Wien 1890, S. 109.

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Lehre von der Kawwana 217

soph heißen sollte, und den Attributen oder Sephiroth, Tinter denen
er sich manifestiert und durch die er wirkt, klar wurden, legten sie
sofort Nachdruck auf die These, daß es keine unmittelbaren Kawwanoth
auf 'En-soph geben könne. Solche Möglichkeit wird durch das Wesen
des verborgenen Gottes ausgeschlossen. Könnten wir ihm in der
Kawwana begegnen, so wäre er schon nicht mehr jener verborgene
Gott, dessen Verborgenheit und Transzendenz sie nicht genug unter-
streichen konnten. Es war daher nur logisch, wenn die Kabbalisten
argumentierten, daß die Kawwana sich nur auf seine Middoth be-
ziehen könne, die zu uns hin wirken, und eine Kawwana auf 'En-soph
unmöglich sei. Als die Propaganda der Kabbalisten für das mystische
Gebet in weiteren Kreisen bekannt wurde, mußte eine solche These,
die etwas Verfängliches an sich hatte, viele empören. Im Kreis des
Rabed finden wir aber noch ohne jedes Bedenken Kawwanoth auf
die „Ursache der Ursachen", was ja nur ein philosophischer Ausdruck
für den Herrn der Attribute und anderen Ursachen ist, die von ihm
abhängen. Hier finden wir gewisse Gebete, bei denen der Weltschöpfer,
Joser Bereschith, anvisiert wird, und andere, bei denen die Kawwana
sich direkt auf die Ursache der Ursachen richtet, über deren Differenz
vom Weltschöpfer ich oben gehandelt habe. Kawwanoth dieser letzteren
Art sind schon beim Sohn des Rabed völlig verschwunden. Gerade
diese Differenz in der Auffassimg der Kawwana beweist die Zuver-
lässigkeit dieser Überlieferungen, die ja mindestens teilweise der
communis opinio der späteren Generationen widersprechen. Man
könnte annehmen, daß die Lehre von der Kawwana anfänglich eine
Art Kompromiß zwischen verschiedenen Tendenzen darstellte. Einige
unter den ältesten Kabbalisten hielten die unmittelbare Hinwendung
zur Ursache der Ursachen noch für möglich, obwohl jenes Pleroma
der Middoth, Potenzen oder Formen, dessen Wesen noch nicht speku-
lativ definiert war, schon ihr Interesse auf sich zog. Ihre gnostische
Anschauungsweise drang auch in ihre Gebetsmystik ein, ohne sie
doch ganz erobern zu können.
Zusammenfassend können wir von dieser ältesten Kabbala also
in der Tat sagen, daß sie sich aus zwei Quellen nährte : aus der Bear-
beitung alten literarischen Traditionsstoffes, der als Rohmaterial
diente, und aus der Illumination Einzelner, denen „am Anfang ein
Tor in die Wissenschaft der Kabbala geöffnet wurde"78. Diese Illu-
mination geschah nicht mehr, wie in der Zeit der Merkaba-Mystiker,
durch einen ekstatischen Aufstieg vor den göttlichen Thron. Auch
die Überlieferung der himmlischen Mysterien über die Kosmogonie
und die Merkaba erfolgte nicht mehr auf den in der Hekhaloth-lAte-
ratur angegebenen Wegen. Der Unterschied ist beträchtlich. An Stelle
78
So in der eben erwähnten Hs. Halberstam.

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218 Die ersten Kabbalisten in der Provence

der Entrückung und Ekstase steht nun die Meditation, die Vertiefung
in sich selbst und die fromme, innige Verbindung, Debhequth, mit dem
Göttlichen. Die Lehre von der mystischen Kawwana im Gebet ist
bestimmt, die Lehre vom Aufstieg der Seele zu verdrängen. Die sozu-
sagen objektiven Elemente der Hekhaloth-LiteiatuT, d. h. die Be-
schreibungen der Merkabawelt, dienen einer Umdeutung als Grund-
lage, die alles dort Existierende als mystische Symbole auffaßte. Ich
habe schon im vorigen Kapitel gezeigt, wie viel Nachdruck die Kab-
balisten darauf verwandten, um ihre Aufstellungen aus den alten
Quellen zu belegen oder zu entwickeln. Aber gerade das subjektive
Element, die Schilderung vom Aufstieg der Seele und deren Methoden,
der persönliche Aspekt und alles, was mit der Technik der „Merkaba-
schau" zusammenhängt, spielt im Kreis dieser ältesten Kabbalisten
und ihrer Schüler keine Rolle mehr79. Freilich liegt hier ein Problem
vor. Wie sich zeigen läßt, hatten für manche der oben genannten
Propheten, wie Ezra von Moncontour und Tröstlin aus Erfurt, aber
auch für Samuel aus Speyer, den Vater Jehudas des Chassid, diese
alten Anweisungen und Beschreibungen noch eminent praktische
Bedeutung. Sie vollzogen noch die Himmelfahrten der Merkaba-
mystiker und zeichneten auf, was sie dort vernahmen80. Ähnliches
gilt, wie wir sahen, von den Merkabamystischen Stücken des Bahir,
in denen unter anderem auch der Prophet Habakuk als Prototyp
solcher Mystik und der ihr entsprechenden Entrückungen figurierte.
Diese Differenz zwischen dem Charakter der Kabbala im Buch Bahir
und der Kabbala im Kreis des Rabed ist auch in anderer Hinsicht
bemerkenswert. Die Lehre von der Kawwana ist das Produkt der
kontemplativen Stimmimg und Ideale des Mittelalters, so wie die
Lehre vom Aufstieg zur Merkaba antiken Charakter trägt. Beide
spiegeln ziemlich getreu die mystischen Möglichkeiten verschiedener
Zeitalter wieder. Dennoch leben Reste der Antike in verschiedenen
Formen und verschiedenen Graden von Lebendigkeit auch in der
Welt des Mittelalters fort, ohne daß der prinzipielle Unterschied
zwischen den verschiedenen Erscheinungen davon berührt würde.
Denn auch das Alte, das seine Renaissance erlebt, hat sich, wie das
Buch Bahir zeigt, tief verwandelt und neue Formen angenommen.
" Auf diesem Punkt hat für den Kabbalistenkreis von Gerona schon I. Tishby in
seiner Einleitung zur Edition von Azriels Perusch ha-'Aggadoth, S. 24 hingewiesen.
Dasselbe gilt aber auch schon von den ältesten Kabbalisten der Provence.
80 Vgl. die Nachrichten über die Himmelfahrt des Ezra von Moncontour oben An-

merkung 70, und die über Samuel aus Speyer, den Vater des Jehuda Chassid, der
übrigens in manchen alten Quellen auch als R. Samuel der Prophet bezeichnet wurde.
In der Hs. Jerusalem 8° 1070 stehen Bl. 58 b in einer Sammlung, die viel altes Material
der deutschen Chassidim enthält, auch „die Verse, die R. Samuel aus Speyer hörte,
als er durch den gewaltigen Gottesnamen in den Himmel aufstieg".

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Isaak der Blinde 219

4. Isaak der Blinde und seine Schriften

Während der historische Charakter der Überlieferungen über den


Kreis des Rabed in Südfrankreich gesichert ist, verhält es sich mit
anderen Zentren mystischer Aktivität in Frankreich, von denen
kabbalistische Quellen des 13. Jahrhunderts zu berichten wissen,
keineswegs so günstig. Die Nachrichten stehen großenteils in Stücken,
an deren pseudepigraphischem Charakter nicht gezweifelt werden
kann. Wenn aber auch der spezifische Inhalt kabbalistischer Lehre,
die hier französischen und rheinländischen Lehrhäusern zugeschrieben
wird, nicht als authentisch angesehen werden kann, gibt doch die
Lokalisierung zu denken und könnte sehr wohl einen Hinweis auf
wirkliche Verhältnisse enthalten. Wir haben keinen Grund anzu-
nehmen, daß die Briefe, die zwischen einem Lehrhaus in Apulien und
dem in Worms über kabbalistische Punkte der Sephiroth-Lehre ge-
wechselt worden sein sollen, anderswo entstanden sind als in dem
Kreis in Südfrankreich, in den sie mit manchen anderen Dokumenten
gleichen Stils und Charakters gehören. Es war aber den wirklichen
Autoren solcher Unterschiebungen zweifellos bekannt, daß in Worms,
Speyer und anderen Orten theosophische Studien getrieben wurden,
welche die neue Kabbala nun mit ihren eigenen Interessen identifi-
zierte. Sie erkannte keinen Unterschied zwischen der Mystik der
deutschen Chassidim und ihrer eigenen an. Merkwürdig ist in dieser
Hinsicht vor allem die in einer Reihe von Nachrichten auftauchende
Erwähnung der Stadt Corbeil an der Seine als Zentrum der esoterischen
Studien. In kabbalistischen Pseudepigraphen wird sie als der Wohn-
sitz mehrerer angeblicher Kabbalisten in der Zeit zwischen 1160 und
1220 bezeichnet. Chronisten erwähnen einen „heiligen Märtyrer"
Jakob von Corbeil „den Kabbalisten", der 1203 oder 1233 gestorben
sein soll81. Groß findet in einigen von ihm erhaltenen Zitaten eine
„mystische Tendenz", die sich aber erkennbar nur in Zahlenmystik,
Gematria, in der Art der deutschen Chassidim darstellt. In einem
längeren Sendschreiben über die Symbolik der Sephiroth, das Schem-
tob ibn Gaon aufbewahrt hat, und dessen Erzählungen durchaus
phantastisch sind (siehe unten S. 314ff.), werden nicht weniger als
drei solcher Kabbalisten in Corbeil erwähnt: ein R. Acha; dessen Sohn
R. Jehuda, der bei einem R. Qeschischa die Kabbala der babylonischen
Geonim der Akademie von Sura studiert haben soll82; sowie ein noch
älterer Zeitgenosse R. Elchanan. Eine historische Person dieses
81
Dieser „Jakob der Heilige" wird in der Literatur der Tossaphisten angeführt.
Vgl. Groß, Gallia Judaica, S. 662. Nach Groß muß das Todesjahr in 1193 verbessert
werden.
82
Siehe S. 315 Anmerkung 283.

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220 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Namens, der Sohn des berühmten Tossaphisten Isaak von Dampierre»


ist 1184 als Märtyrer gestorben. Von dem Mystiker Elchanan werden
in Schriften des 13. Jahrhunderts rein kabbalistische Überlieferungen
angeführt. In einer werden die „Häupter der talmudischen Hochschule
in Lunel in den Tagen des R. Elchanan, des Kollegen des R. Eleazar
aus Worms" erwähnt83. Ein weiterer Kabbaiist Salomo aus Corbeil
wird in einem fingierten Responsum eines angeblichen Jehuschiel
oder Jechuschiel erwähnt, der den ganz unwirklichen Ehrentitel
Ga'on Aschkenazi, „deutscher Gaon", trägt. Er soll mit einem Jedidia
aus Marseille in kabbalistischer Verbindung gestanden haben84. Der
Text dieses Responsums weist auf provençalischen Ursprung hin,
und nichts spricht dafür, daß die Anschauungen über die „linke
Emanation" die dort entwickelt werden, anderswo entstanden sind
als in der Provence. So wenig wir also diese spezifischen Überliefe-
rungen, die die Kabbalisten auf Corbeil zurückführen, als authen-
tisch ansehen können, ist es doch nicht von der Hand zu weisen, daß
hier eine Erinnerung an ein wirkliches Zentrum esoterischer Studien
etwa im Sinne der deutschen Chassidim mitgewirkt hat. Falls die
Vermutung zu Recht besteht, wonach mit Elchanan von Corbeil der
Sohn des berühmten Tossaphisten Isaak von Dampierre gemeint sei,
würde diese Annahme noch mehr Gewicht erhalten, denn Isaak ist
in der Tat als Kommentator des „Buchs der Schöpfung", über das
er seinen Schülern mündliche Vorträge hielt, bekannt85. Alte Über-
lieferungen über Isaaks nächtliche Himmelfahrten und die Offen-
barungen, die er von den Engeln erhielt, werden in einer noch aus
dem 13. Jahrhundert stammenden Abhandlung über das Jahr der

83 Über den historischen Elchanan vgl. Groß, Gallia Judaica, S. 165—168. Er

wird aber in keiner nicht-kabbalistischen Quelle nach Corbeil versetzt. Moses von
Burgos führt in seiner Schrift über die linke Emanation, die „dämonischen" Sephiroth,
die „Überlieferung des alten Gaon, des Märtyrers Rabbenu Elchanan" an, vgl. Tar-
biz I V (1933), S. 224. Als Zeitgenosse des Eleazar von Worms wird der Kabbaiist in
einer alten Apologie der Kabbala angeführt, Hs. Berlin Or. Qu. 833, Bl. 90a. Dieselbe
Stelle, die aus dem oben erwähnten Sendschreiben stammt, wird auch von Todros
Abulafia im Schaar ha-Razim, Hs. München 209, Bl. 56b zitiert.
84 Über Jehuschiel oder Jechuschiel Aschkenazi vgl. meine Ausführungen in Tar-
biz I I I , S. 278 und IV, S. 68—70. Vom Zentrum in Corbeil soll, nach dem Text der
Hs. Casanatense 180, Bl. 59 b, das Schreiben des Jechuschiel sowohl nach Corbeil,
wie nach Marseille zu R. Jedidia gelangt sein, aber auch nach Worms „und von dort
zu der großen Akademie in Lunel", die aber hier nicht in die Zeit des 12. Jhs. verlegt
wird, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern in die „Tage der alten Gelehrten", Jeme
ha-Zeqenim ha-Qadmonim, Tarbiz a. a. O., S. 70.
85 Vgl. meine jüdische Mystik, S. 92—93, 403. Isaaks Schüler Elchanan ben Jaqar

aus London, von dem wir außerdem einen anderen Jesirakommentar und weitere
mystische Abhandlungen im Sinne der Theosophie der deutschen Chassidim besitzen,
scheint nicht mit dem oben erwähnten Elchanan aus Corbeil identifiziert worden zu sein.

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Isaak der Blinde und seine Schriften 221

Erlösung angeführt, ohne daß wir über ihre Echtheit oder Unechtheit
eine Entscheidung treffen können86. Auf denselben Kreis des um 1195
gestorbenen Isaak von Dampierre kommen wir auch von ganz anderen
Angaben her. An der Spitze seines Lehrhauses in Dampierre ètand
nämlich nach seinem Tode sein Schüler Isaak ben Abraham, der ältere
Bruder des bedeutenden Tossaphisten Simson aus Sens87. Dieser
Isaak gehörte aber zu den Esoterikern und wird von Jehuda ben
Jaqar und in alten kabbalistischen Collektaneen, wo Mystisches von
ihm angeführt wird, als Isaak ben Abraham Sarphathi (d. h. der
Franzose) erwähnt88. Es wird eine Äußerung von ihm zur Symbolik des
ungesäuerten Brotes angeführt, wonach es weder süß noch bitter sei,
sondern die Mitte halte und damit auf die Sephira Tiph'ereth hin-
weise, die zwischen den Gegensätzen (von süß und bitter, Gnade und
Gericht) vermittle89. Dieser Isaak ist unter den Adressaten des ersten
Briefes des Meir Abulafia aus Toledo gegen Maimonides (um 1203—
1204)90. Da er schon vor 1210 gestorben ist, haben wir hier also einen
frühen historischen Beleg für die Verbindung der ältesten Kabbalisten
mit nordfranzösischen Esoterikern um die Wende des 12. Jahrhunderts.
Ein kabbalistischer Autor der nächstfolgenden Generation kennt
um 1240 die „Esoteriker Frankreichs", Maskile Sarphath, als Gruppe,
was ebenso gut auf Nordfrankreich wie die Provence weisen könnte,
eher freilich aufs erstere91. Neben Isaak, dem Sohn des Rabed, wird
von diesem Autor auch ein Isaak Sarphathi angeführt, von dem der
Autor halb- oder ganz-kabbalistische Äußerungen über das Buch
Jesira gehört hat. Es scheint sich dabei aber nicht um Isaak ben
Abraham zu handeln, sondern um einen sonst unbekannten Isaak ben
Menachem Sarphathi, der in der Provence gelebt haben dürfte92.
Solche Angaben, die auch leicht ins Legendäre und Pseudepigra-
phische hinüberspielen konnten, zeigen, daß den provençalischen
M
Vgl. Alexander Marx, Ma amar Schnath ha-Ge'ulla, in Ha-Zophe (Budapest)
V (1921), S. 195.
87
Vgl. über ihn als Talmudisten Ephr. Urbach, Ba'ale ha-Tossaphoth, Jerusalem
1955, S. 219—226. Nachmanides erwähnt ihn in seinem Toledoth 'Adam, Venedig
1598, Bl. 32c, und in seiner Predigt zum Neujahrsfest, S. 22.
88
Vgl. J. Q. R. IV (1892), S. 250, und hier Kap. 4, Anm. 6. Schechter konnte sich
über das Ursprungsland Jehudas nicht schlüssig werden : Nordfrankreich oder Provence.
89
Hs. Christ Church College 198, Bl. 129. Es wäre freilich möglich, daß der zweite
Teil des Satzes dem kabbalistischen Sammler angehört und nur der erste, die Sephi-
roth-Symbolik von Tiph'ereth nicht benutzende Teil von Isaak ben Abraham stammt.
80
Vgl. Kitab al-Rasa'il, Paris 1871, S. 4.
91
Vgl. Sepher ha-'Emuna weha-Bittahon Kap. 18, sowie Jakob ben Schescheth,
Meschibh Debharim, Hs. Oxford 1585, Bl. 71b, wo ebenfalls von den „Rabbinen von
Frankreich und ihren Maskilim" die Rede ist.
92
a. a. O. Kap. 9 und 18. Der Autor hat diesen Isaak Sarphathi nach Kap. 9 selber
gehört. In der Hs. München 357 des 'Emuna u-Bittahon steht nach Steinschneiders

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222 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Kabbalisten der Generation nach dem Rabed an einer historischen


Legitimierung ihrer mystischen „Tradition", Kabbala, gelegen war.
Wer die wirklichen Träger und Vermittler solcher ältesten Traditionen
waren, die im 12. Jahrhundert nach der Provence kamen, können wir
über das eben Gesagte hinaus nicht mehr bestimmen. In der Provence
selber tritt neben die Überlieferung vom Meister zum Jünger jeden-
falls auch die unmittelbare mystische Erleuchtung, die zum Neu-
entstehen mancher kabbalistischen Ideen das ihrige beigetragen
haben wird. Als der wichtigste Träger solcher Erleuchtung und als
die zentrale Gestalt der ältesten Kabbala ist uns der Sohn des Rabed,
Isaak der Bünde, faßbar— im Hebräischen mit einem üblichen Euphe-
mismus Sagi-Nahor, „der Lichtreiche", genannt. Er ist keineswegs der
einzige Kabbaiist in der Familie oder unter den Schülern seines Vaters.
Wir hören, daß sein älterer Bruder David ebenfalls zur Gruppe der
Mystiker gehörte, und dessen eigener Sohn Ascher ben David führte
die Tradition seines Vaters und Onkels in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts in der Provence fort und diente zugleich auch als
eines der wichtigsten Verbindungsglieder zu dem sich neu bildenden
kabbalistischen Zentrum in Nordspanien, vor allem in Gerona93. Ein
längeres mystisches Zitat über die Fortentwicklung der Seelen nach
der Auferstehung führt Ascher aus einer unbekannten Schrift seines
Onkels an94. Ich habe oben schon eine alte Quelle zitiert, in der er
als Parusch und Chassid bezeichnet wird. Auch andere Gelehrte aus
Narbonne und Lunel sind als Kabbalisten bekannt, wie Ascher ben
Saul, der Autor des Sepher ha-Minhagoth, oder Jehuda ben Jaqar,
der Lehrer des Nachmanides, der, wenn er auch vielleicht aus Nord-
frankreich kam, doch wohl dort studiert hat. Sein unedierter Kommen-
tar zu den Gebeten enthält mehrere ausgeprägt kabbalistische Stücke96.
In den Schriften Ascher ben Davids werden noch andere proven çalische
Kabbalisten genannt, von denen wir sonst nichts wissen9®. Ascher
Angabe im Katalog der Münchner hebräischen Handschriften beide Male der volle
Name Isaak ben Menachem Sarphathi. In Kap. 18 wird er unmittelbar nach einer
Stelle aus dem Jeçira-Kommentar Isaaks des Blinden angeführt, der dort schlechthin
als Ben ha-Rabh, d. h. Sohn des Rabed, bezeichnet wird (niemals als Isaak Sarphathi).
Übrigens wird dieser Isaak beide Male mit dem Prädikat He-hakkam eingeführt, während
Isaak der Blinde immer nur He-hassid heißt.
98
Ascher zitiert seine „Eltern und Lehrer" in seinem Sepher ha-Jihud, womit nicht
nur auf seinen Vater und Onkel, sondern auch auf seinen Großvater Bezug genommen
wird, vgl. Chassidas Ausgabe von Aschers Schriften in ha-Segulla, Heft 24, S. 14 der
Sonderausgabe seines Kommentars zu den dreizehn Middoth.
81
Vgl. unten S. 271 f.
n
Vgl. J. Q. R· IV (1892), S. 2 4 8 - 2 6 0 .
M
Ascher ben David erwähnt einen Jakob bar Samuel aus Anduze (vgl. Groß,
Gallia Judaica, S. 64) sowie einen Abraham bar Isaak aus Carcassonne, vgl. M. Soave,
Ozar Nechmad IV (1863), S. 37.

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Isaak der Blinde und seine Schriften 223

ben David hat keinerlei pseudepigraphische Neigungen — deren


Träger sind anonym geblieben und nicht im unmittelbaren Kreis des
Rabed und seiner Familie zu suchen — und seine Angaben verdienen
Vertrauen.
Isaak der Blinde ragt unter all diesen Zeitgenossen durch seine
Autorität und seinen nachhaltigen Einfluß auf die ältesten Kabbalisten
hervor. Für die Kabbalaforscher des 19. Jahrhunderts war er freilich
nicht mehr als ein bloßer Name ohne Inhalt. Seine persönliche Gestalt
und seine mystische Vorstellungswelt waren dermaßen in Dunkel
gehüllt, daß so abwegige Hypothesen aufgestellt werden konnten wie
die, die ihn zum Autor des Buches Bahir machte97, übrigens ohne
auch nur einen Schein von Begründung. In Wirklichkeit aber zeigt
die Durchforschung der kabbalistischen Quellen, besonders auch der
Handschriften, daß die Tradition seiner Schüler und Schülersschüler
viele Nachrichten und Äußerungen über ihn und von ihm aufbewahrt
hat. Wir haben Abhandlungen, die wohl nach seinem Diktat auf-
gezeichnet wurden, sowie Fragmente solcher Abhandlungen, Über-
lieferungen über seine Eigenschaften und über Gebräuche, die er übte,
und es besteht kein Grund, an ihrer Authentizität zu zweifeln. Soweit
wir seine eigenen Worte haben, sind sie oft sehr mysteriös formuliert
und überaus schwer verständlich. Ich selber möchte mich nicht
rühmen, mehr als die Hälfte des von ihm überlieferten Materials ver-
standen zu haben. Er hat eine eigene Ausdrucksweise. Die Syntax
seiner Sätze ist zum Teil undurchdringlich, besonders in dem längsten
von ihm erhaltenen Stück, und öfters trägt er Gedanken vor, die
völlig unerklärt bleiben. So bleibt also genug des Rätselhaften in
seinen Worten. Nur sorgfältige Analyse und Abwägung jedes einzelnen
Satzes vermögen in den Teilen, die sich nicht etwa durch die Schriften
seiner Schüler erklären lassen, zu gesicherten Resultaten zu führen.
Glücklicherweise läßt sich aus der Literatur seiner Schüler, auch
wo sie ihn nicht direkt zitieren, viel lernen, da wir den Grundsatz
aufstellen können, daß das Gemeinsame in den kabbalistischen Vor-
stellungen seiner Schüler auf ihn zurückzuführen ist.
Isaak der Blinde ist ganz und gar Kabbaiist. Wir haben keine
exoterischen Schriften von ihm, weder Halachisches noch Homile-
tisches oder Moralisches und dergleichen. Auch ein Brief, der so etwas
wie ein Responsum über den Wortlaut einer Benediktion in der 'Amida,
dem 18-Gebet bildet und sich in einer einzigen Handschrift erhalten
hat, ist voll kabbalistischer Andeutungen. Es ist klar, daß seine Größe
und Autorität nicht auf seiner Auszeichnung in anderer Zweigen des
Torastudiums beruhte. Nach einer Angabe des Schemtob ibn Gaon
•7 So M. H. Landauer, Literaturblatt des Orients VI (1846), col. 216. Landauer
versprach, eine Begründung für seine Hypothese zu liefern, die aber auch ohne solche
ausgebliebene Begründung von allzu vielen Autoren nachgeschrieben worden ist.

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224 Die ersten Kabbalisten in der Provence

hätte sich sein Vater Rabed damit begnügt, die kabbalistischen Lehren
an manchen Stellen seiner Talmudkommentare anzudeuten, weil er
sich auf das mystische Wissen seines Sohnes, der bei ihm studierte,
ganz verließ. Diese Behauptung scheint Ursache und Folgen zu ver-
wechseln. Die Zurückhaltung des Rabed läßt sich sehr wohl auch
anders erklären. Es ist auch zweifelhaft, ob die Schriften Isaaks, in
denen er nach Schemtob ibn Gaon in allen möglichen kleinen Wörtern
große Geheimnisse angedeutet habe, schon vor dem Tod seines Vaters
als Repositorien kabbalistischen Wissens verfaßt wurden. Wir ver-
fügen über keine näheren Daten, die seinen Lebensweg und die Ab-
fassung seiner Schriften betreffen. Wir müssen aber annehmen, daß
er ein hohes Alter erreicht hat, da sein Brief nach Gerona, auf den
ich im nächsten Kapitel zu sprechen komme, um 1235 geschrieben
worden sein muß. Zitate seiner Schriften befinden sich aber schon in
früher verfaßten Werken, so z. B. Ezra ben Salomos Kommentar zu
den talmudischen Aggadoth. Er hat also etwa von 1165—1235 gelebt.
Zweifellos gehörte auch er zu der Gruppe der Pruschim, von der
schon die Rede war, wird aber nicht als Parusch oder Nazir bezeichnet,
sondern stets als „der Chassid". In den Schriften der spanischen
Kabbalisten ist er gemeint, wenn ohne Hinzufügung des Namens
schlechthin von „dem Chassid" gesprochen wird, ähnlich wie in
Schriften der deutschen Chassidim dieser Ehrentitel schlechthin stets
den Jehuda Chassid bezeichnet. Seine Schüler nennen seinen Namen
überhaupt nur selten und begnügen sich meistens mit „unser Meister
der Chassid" oder „der Chassid". Sein Neffe Ascher ben David spricht
von ihm als „mein Herr Onkel, der heilige Chassid R. Isaak der Sohn
des Rabh", und auch andere führen ihn als den „Chassid, den Sohn
des Rabh" ein. Der „Meister", Rabh, schlechthin war für sie der Rabed.
Nach der Überschrift mehrerer Handschriften von Isaaks Kommentar
zum Buch der Schöpfung scheint er seinen Wohnsitz in Posquières ge-
habt zu haben, mindestens zeitweise.
Die kabbalistische Überlieferung am Ende des 13. Jahrhunderts
weiß übereinstimmend zu berichten, daß er blind war. Ob aber die
vereinzelte Angabe bei Isaak von Akko, daß „dieser Chassid sein Leben
lang mit seinen irdischen Augen nichts gesehen habe"98, zuverlässig
ist, scheint mir recht zweifelhaft. Seine immittelbaren Schüler sprechen
von dieser Blindheit nie. Gegen Geburtsblindheit sprechen nicht nur
die elaboraten Ausführungen über Lichtmystik in einer ganzen An-
98
Isaak von Akko, Me'irat 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 140b. Er sagt dort, er
habe das von einem Schüler Isaaks des Blinden gehört, der seinen Lehrer als Adlatus
begleitet hätte. Dies ist chronologisch unmöglich, da Isaak von Akko erst gegen 1305,
also etwa 70 Jahre nach dem Tode Isaaks des Blinden nach Spanien kam. Vielleicht
ist statt „Ich habe aus dem Munde eines Gelehrten, der den Chassid . . . gesehen hat,
der vor ihm famulierte" zu lesen: „der einen Schüler des Chassid gesehen hat" usw.

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Isaak der Blinde und seine Schriften 225

zahl seiner erhaltenen Fragmente und im Jesirakommentar, die solche


Annahme zu widerlegen scheinen. Dagegen sprechen weiter auch die
Ausführungen in seinem Brief oder Gutachten über die Formel „Gott
Davids und Erbauer Jerusalems" in einer der Benediktionen der
täglichen ' A m i d a S i e verraten einen Gelehrten, der in alten Hand-
schriften forscht. Er bezieht sich auf recht entlegene mystische Texte
der geonäischen Periode (eine magische Bearbeitung der 'Amida unter
dem Titel „Gebet des Elias", Slotha de-'Elijahu, die in einigen Hand-
schriften erhalten ist100), zum Teil auf gar nicht mehr erhaltene
Schriften, und schreibt, „ich habe in einer alten MacAzor-Handschrift
gefunden", als ob er selbst und nicht für ihn arbeitende Famuli dies
gefunden habe. Danach müssen wir annehmen, daß er erst im Verlauf
seines Lebens erblindet ist. Andererseits ist seine kontemplative
Mystik in der Tat wesentlich unanschaulich. Auch die Anekdoten
über ihn beweisen nur, daß er als erwachsener Mann blind war. Es
wird von ihm berichtet, er habe die Aura um den Menschen gespürt
und danach sagen können, wer leben und wer sterben würde. Er habe
auch gewußt, ob die Seele eines Menschen schon Wanderungen durch-
gemacht habe, oder zu den „neuen" Seelen gehöre101. Über seine
99
Ein Fragment dieses Schreibens ist bisher allein in Hs. British Musum, Mar-
goliouth 755, Bl. 118a erhalten. Die Kabbalisten bezeugen mehrfach, daß Isaak gerade
diese Formel in der ' A m i d a gebraucht h a t , vgl. S. ha-'Emuna weha-Bittahon Kap. 15;
Bachja ben Ascher, Xorakommentar, Venedig 1544, Bl. 45d. Der Briefschreiber spricht
von sich in der ersten Person: „Ich, Isaak, der Sohn des Chassid [d. h. des Rabed],
das Andenken des Gerechten sei zum Segen".
100
Das magische Gebet des Elias ist z. B. in Hs. Cambridge, Add. 505 2 erhalten.
101
Schemtob ibn Gaon, Kether Schern Tobh, Hs. München 341, Bl. 50a (im Druck,
Ma'or wa-Schemesch, Bl. 52 a verdorbener Text) : „dieses Wissen besaß der Meister
R . Isaak der Sohn des Rabh, der die Aura spürte [schehaja margisch be-Hargaschath
ha-Awir], obwohl er blind war, und sagen konnte: dieser lebt und dieser stirbt". Das-
selbe h a t , offenbar aus Schemtob, Recanati in seinem Torakommentar, Bl. 209a.
Die Tradition über die „neuen" Seelen bei Recanati, Bl. 70a: „ich habe gehört, daß
der Chassid unser Meister Isaak, der Sohn des R. Abraham bar David, am Gesicht
des Menschen erkannte, ob er von den .neuen' oder von den .alten' Seelen war". Dem
Wortsinn des Zitates nach müßte man es eher auf physiognomische Kenntnisse Isaaks
beziehen, was ebenfalls voraussetzen würde, daß er erst viel später im Leben erblindete.
Der Autor der Tiqqune Zohar, der zur Zeit Recanatis schrieb, gibt in der T a t Kriterien
an, nach denen aus den Stirnlinien geschlossen werden könne, ob der Mensch schon
und in welchem Stadium der Seelenwanderung sei. Isaak ben Todros, Schemtob ibn
Gaons Lehrer, sagte seinem Schüler, es habe noch zu seiner Zeit einen Gelehrten ge-
geben, der diese Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen alten und neuen Seelen be-
sessen habe, Hs. München 341, Bl. 18b (fehlt im Druck). Dies kann sich der Zeit nach
kaum auf Isaak den Blinden beziehen, sondern eher auf einen unbekannten Kabba-
listen der Generation nach ihm, u m 1260. Schemtob ibn Gaon schrieb den ersten
Entwurf seines Kether Schern Tobh mit 28 Jahren, u m 1300, vgl. Zion, Sammelband
der historisch-ethnographischen Gesellschaft Bd. VI, Jerusalem 1934, S. 50.

Scholem, Kabbala 15
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226 Die ersten Kabbalisten in der Provence

charismatische Begabung haben wir die Überlieferung, die Kraft


seines Gebets für Kranke sei so groß gewesen, wie die des berühmten
talmudischen Charismatikers Chanina ben Dossa102. Sein Neffe hat
wohl auch ihn im Auge, wenn er über die Mystiker seiner Umgebung
schreibt und dabei ihre Kraft des Gebets hervorhebt: „Die Mystiker
Israels [Maskile Israel], die Gott suchen, zu ihm rufen und erhört
werden, die alle Nöte ihrer Mitmenschen teilen und für sie vor dem
Antlitz ihres Schöpfers flehen und sich kasteien, deren Gebet [bei
Gott] angenommen wird und durch die viele Wunder an Einzelnen
und an der Gemeinde verrichtet worden sind"103.
Isaak ist also keineswegs der einzige „Meister des Gebets", im ge-
nauen Verstand dieses Ausdrucks, in dieser Gruppe, wenn er auch
der hervorragendste unter ihnen ist. Gerade das intensive Gebets-
leben ist in diesem Kreis mit der Lehre von der Kawwana verbunden,
und es haben sich detaillierte Anweisungen von Isaak über die Medi-
tationen erhalten, die während des Sprechens gewisser Gebete voll-
zogen werden sollten104. Diese Gebetsmystik steht bei ihm schon im
Zusammenhang mit einer vollentwickelten Lehre von den Äonen,
in der sich die kabbalistische Gnosis kristallisiert hat und die nun eine
enge Verbindung mit der kontemplativen Mystik der göttlichen und
menschlichen Mahschabha, des „Denkens", eingeht. Alles, was wir
von den Überresten seiner Lehren besitzen, beruht schon auf einer
ausgebildeten Symbolik und Theorie der Sephiroth als der göttlichen
Middoth, die aus dem Urgedanken, dem „reinen Gedanken", fließen.
Außer diesen Kawwanoth besitzen wir nämlich von ihm auch ganz
spekulativ gerichtete Aufzeichnungen, die wohl von seinen Schülern
zu Papier gebracht wurden. Vielleicht hat er auch, bevor er erblindete,
selbst manches geschrieben. Vor allem kann kein Zweifel sein, daß
der unter seinem Namen gehende Kommentar zum Buch Jesira, von
dem bisher etwa 15 Handschriften bekannt geworden sind, wirklich
authentisch ist106. Stücke daraus werden von seinen direkten Schülern
103
Vgl. Recanati, Bl. 209a, und Kether Schern Tobh, Hs. München 341, Bl. 50a.
Isaak von Akko berichtet an der oben angeführten Stelle Bl. 140 b, daß Isaak den
ihn begleitenden Schüler angewiesen habe, beim Passieren einer Kirche seine Schritte
möglichst zu beschleunigen. „Dies tat er aus eigenem Antrieb zur Ehre Gottes, mit
dem sein Gedanke in communio war, und weil ihn die Gegenwart des, Geistes der Un-
reinheit' über der fremden Kultstätte zwang, seinen Gedanken zu unterbrechen".
103
Vgl. den Text der Stelle in Sepher Bialik (1934), S. 151, und unten S. 366.
im Ygi die in Anm. 77 genannten Quellen, sowie die in Reschith ha-K abbaia,
S. 245—248, mitgeteilten Kawwanoth seines Schülers Abrahams Chazan, des Vor-
beters der Gemeinde von Gerona. Diese Kawwanoth sind noch sehr viel einfacher als
die von einem anderen Schüler Isaaks, dem R. Azriel, ebenfalls in Gerona entwickelten
Kawwanoth in dessen Kommentar zu den Gebeten, vgl. unten S. 330 und Anm. 23 dazu.
106
Solche Hss. von Isaaks Kommentar befinden sich z. B. in Jerusalem 8° 2646;
Cincinnati, Hebrew Union College; British Museum Or. 11791; Oxford, Christ Church

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Isaak der Blinde und seine Schriften 227

zitiert oder auch ohne Quellenbezeichnung ausgeschrieben. An einer


Stelle in Kapitel 3 wird noch deutlich, daß ein Schüler nach Vortrag
oder Diktat Isaaks schreibt. Er führt den Gedankengang mit „und
unser Lehrer sagt" ein, womit im Zusammenhang des Ganzen sicher
nicht ein Lehrer Isaaks, sondern er selber gemeint ist. Offenbar ist
der Wortlaut weitgehend von ihm selbst geprägt, was auch für die
anderen Aufzeichnungen gilt. Seine Schüler sprechen bei Zitaten
direkt als Leschon he-Chassid. Dazu paßt auch die oft rätselhafte
Kürze und Intensität der Ausdrucksweise. Der Kommentar umfaßt
kaum mehr als 5000 Worte, von denen fast dreiviertel auf die ersten
drei Kapitel fallen. Leider hat keiner seiner Schüler oder Schülers-
Schüler diese Aufzeichnungen seinerseits zum Gegenstand eines
Kommentars genommen, den wir wohl hätten brauchen können. Nur
Isaak von Akko hat im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts eine
Paraphrase seiner Erklärungen zu einigen Mischnajoth des ersten
Kapitels gegeben106.
Des weiteren war bis ins 14. Jahrhundert eine Schrift Isaaks be-
kannt, die „Geheimnisse" über verschiedene Stellen der Tora ent-
hielt, darunter auch über die Schöpfungsgeschichte und die mystischen
Gründe mehrerer Gebote. Ziemlich viele, zum Teil auch längere Frag-
mente daraus haben sich als Leschon he-Chassid bei den Kabbalisten
von Gerona und den Schülern des Salomo ibn Adreth erhalten. Im
Lehrhaus des letzteren in Barcelona befand sich offenbar viel schrift-
liches Material, das aus der Erbschaft des Nachmanides von Gerona
hinüber gelangt sein dürfte. Jedenfalls ist die Tradition der Lehr-
häuser hier kontinuierlich. Vor allem Me'ir ibn Sahula hat in seinem
Superkommentar zu den kabbalistischen Stücken in Nachmanides'
Torakommentar eine größere Zahl solcher Zitate aufbewahrt. Nach
dem ziemlich einheitlichen Charakter dieser Stücke nehme ich, wie
gesagt, an, daß sie aus einer einzigen Sammlung oder Schrift stam-
men107. Dazu kommen noch einige kleinere Fragmente und Über-
lieferungen, die seine Schüler mündlich empfangen haben, sowie
College 198; Leiden, Warner 24; Vatikan Ebr. 202; Angelica 27, sowie eine andere
Hs. in der Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Rom ; Berlin Staatsbibliothek Qu. 942;
Amsterdam, Bibliothek der portugiesischen Gemeinde B. 49; London, Jews, College,
Hirschfeld 174; Harvard College, Hs. Friedmann 1; New York, Jew. Theol. Sem.,
Hs. Mortimer Schiff, no. 76326; sowie Halberstam 444; Milano, Ambrosiana, Bern-
heimer 67 (ein unerkanntes Fragment).
108
Ich habe Isaak von Akkos Kommentar in Kirjath Sepher, Bd. 31 (1966), S. 376
bis 396, publiziert.
io» Sahulas Kommentar, Bi'ur Sodoth ha-Ramban, wurde Warschau 1876 ediert.
In der alten Hs. München 344 von Todros Abulafias '0§ar ha-Kabhod wird Bl. 76 b
ein solches Zitat eingeleitet: „Ich habe im Buch des Chassid unseres Meisters Isaak
geschrieben gesehen". In anderen Hss. und im Druck des Buches, Warschau 1879,
S. 46, heißt es aber nur: „im Namen des Chassid" usw.
15*
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228 Die ersten Kabbalisten in der Provence

anonymes Gut, das auf ihn zurückzuführen ist. So wird bei allen
seinen Schülern eine ziemlich identische Deutung des Kapitels über
die Sophia in Hi. 28 auf die Sephirothlehre vorgetragen108. Hi. 28 ia:
„Die Weisheit aber, woher stammt sie?" wird hier stets gedeutet,
als ob der Vers zu verstehen wäre: „Die Weisheit aber stammt aus
dem Nichts", welches das „Nichts des Gedankens", der Ort, wo alles
Denken aufhört, oder vielmehr der göttliche Gedanke selber ist, der
als höchste Sephira nun als das Nichts bezeichnet wird. Daß diese
Deutung von Hi. 28 in der Provence entstanden ist, scheint mir evi-
dent. Sie stellt nämlich eine Umdeutung im Sinne der Kabbala einer
von Saadia bezeugten Erklärung jüdischer Platoniker oder Atomisten
des 9. Jahrhunderts dar, die diese selben Verse auf die Lehre von den
„geistigen Punkten" bezogen, unter denen man die Ideen, vielleicht
aber auch die Atome zu verstehen hat. Auch in der alten, vortibboni-
dischen paraphrastischen Übersetzung Saadias, die von den ältesten
Kabbalisten benutzt wurde, bevor noch die tibbonidische Ubersetzung
sich durchsetzte, wird für die Atome der hebräische, dem arabischen
nachgebildete Ausdruck ruchanijjim gebraucht. In der Provence ver-
stand man diesen Ausdruck nicht mehr und wußte nichts Rechtes
von der Lehre der Atomisten, und so kam diese Identifizierung der
„geistigen Elemente" und „subtilen Punkte" bei Saadia mit den
Sephiroth zustande109. Sie sind nun die „mystischen Atome", und
Hi. 28 gilt als ein locus classicus dafür.

108 In der T a t erklärt Isaak auch im Jesirakommentar Hi. 28 23 auf die Sephiroth-

Lehre. Ezra ben Salomo sagt in einem Brief, den ich im Sepher Bialik, S. 156, gedruckt
habe, daß der Chassid Hi. 28 iff. „auf die zehn Sephiroth" gedeutet habe. Die durchge-
führte Deutung selber ist aber nur bei seinen Schülern Ezra und Nachmanides erhalten.
io» vgl. Saadias 'Emunoth we-De'otk, Leipzig 1864, S. 22, über diese Deutung.
Daß die alte Paraphrase von Saadias Werk am Anfang des 13. Jh.s von einer kabba-
listischen Gruppe, deren Schriften wir noch besitzen, benutzt wurde, läßt sich durch
die Untersuchung der Literatur dieses Kreises, den ich weiter unten (vgl. S. 283ff.)
als den "///««-Kreis oder die Gruppe des Sepher ha-'Ijjwn bezeichne, erweisen. In
einem diesem Kreis zugehörigen „Gebet des R . Nechunja ben Haqqana" werden die
Sephiroth direkt mit der aus Saadia übernommenen Definition der Atome als die
„unteilbaren Teile", Halaqim sche-'enam mithhalqim, bezeichnet, welches die wört-
liche Wiedergabe der Paraphrase ist, Hs. München 42, Bl. 323a, b. Über die Frage,
welche griechische Vorstellung bei Saadia gemeint ist, ob atomistische, platonische
oder pythagoreische, herrschen verschiedene Ansichten, vgl. J a k o b Guttmann, die
Religionsphilosophie des Saadia, Göttingen 1882, S. 47—48; Israel Efros, Louis Ginz-
berg Jubilee Volume, vol. I, New York 1945, S. 133—142. Für unsere Untersuchung
ist diese Frage nicht relevant, ich möchte jedoch annehmen, daß die ausdrückliche
Erwähnung jüdischer Anhänger dieser Vorstellung im frühen 10. J h . eher darauf hinweist,
daß Saadia in der T a t von einer besonderen Gruppe jüdischer Atomisten spricht. Der
von Guttmann nicht berücksichtigte T e x t der alten Paraphrase legte eine Umdeutung
im Sinne der Sephiroth-Lehre viel näher als der T e x t der Übersetzung ibn Tibbons.

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Isaak der Blinde und seine Schriften 229

Außer dem Jesirakommentar haben wir etwa 70 verschiedene Frag-


mente von Isaak und Angaben über ihn und seine Traditionen, die
als echt anzusprechen sind. Nur zweimal bezieht er sich dabei auf
seinen Vater110. Wenn auch die meisten davon nur sehr kurz sind, so
ist das doch ein beträchtliches Material, wobei wir, wie billig, spätere
irrtümliche oder pseudepigraphische Zuschreibungen nicht berück-
sichtigen111. Zu diesen echten Stücken rechne ich auch eine in einer
New Yorker Handschrift erhaltene Erklärung zum Anfang des Mid-
rasch Konen, einer kosmogonisch-kosmologischen Komposition aus
Merkaba- und Bereschith-Stücken. Die Erklärung wird auf einen
R. Isaak ha-Zaqen, d. h. den Alten zurückgeführt; die Terminologie
und Anschauung berührt sich aber so nahe mit der Isaaks des Blinden
im Jesirakommentar, daß ich die beiden Isaak für eine Person halten
möchte112. Es überrascht auch nicht, daß Isaak Texte über die Welt-
schöpfung, wie sie in Gen. I, dem Buch Jesira und dem Midrasch
Konen vorlagen, zum Gegenstand mystischer Kommentare gemacht
hat. Übrigens ist die Lichtmystik in dem letztgenannten Stück be-
sonders eindringlich formuliert, was freilich seinen Grand im Wort-
laut dieses Midrasch selber hat.
Die Meinung einiger Gelehrter, daß der Beiname „Vater der Kab-
bala", mit dem der Kabbaiist Bachja ben Ascher 1291 Isaak den
Blinden belegt113, als Zeugnis dafür anzusehen sei, daß die Kabba-
listen selber den Isaak für den Urheber der Kabbala gehalten hätten,
ist ganz unbegründet114. 'Abhi ha-Kabbala heißt nichts anderes als:
besonders hervorragend in der Kabbala, und ist eine Nachahmung
des Ehrentitels 'Abhi ha-Hokhma, der im palästinensischen Talmud
Nedarim dem Jochanan ben Zakkai beigelegt wird. Auch Moses heißt
so am Anfang des Midrasch Wajiqra Rabba. Eleazar aus Worms nennt
in seinem Kommentar zu den Gebeten (Hs. Paris 772, Bl. 73) Jehuda
110
So in S. 'Emuna u-Bittahon, Ende von Kap. 1 und in Ezra, Perusch 'Aggadoth,
Hs. Vatikan 185, Bl. I I a .
111
Dazu gehören schon Angaben des Moses von Burgos in seiner Schrift über die
linke Emanation, wo er sich gelegentlich der Erörterung der ersten, vierten und sechsten
dämonischen Emanation auf angebliche Traditionen Isaaks bezieht, vgl. meine Unter-
suchung darüber in Tarbiz III (1932), S. 276—279. Isaak wurde nach der Behauptung
des Simson von Ostropol (gest. 1648), in der Vorrede zu seinem Dan jadin, von manchen
das späte dämonologische Buch Qarnajim zugeschrieben, das Simson kommentiert
(und wahrscheinlich selbst geschrieben) hat.
112
Das Stück steht in einer Sammlung, deren Material auf das 14. Jh. zurückgeht,
in der Hs. Enelow Memorial Collection 699 des Jew. Theol. Sem. in New York. Es
handelt sich um Aufzeichnungen eines Schülers, die auf einen Vortrag oder Diktat
Isaaks zurückgehen.
na vgl. Bachjas Torakommentar zu Gen. 3210.
i n Vgl. M. H. Landauer in Literaturblatt des Orients a. a. O.; M. Ehrenpreis, Die
Entwicklung der Emanationslehre in der Kabbala (1895), S. 20.

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230 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Chassid „Vater der Weisheit". Über den Ursprung der Kabbala ist
aus solcher Phraseologie nichts zu lernen.

5. Isaaks Lehre vom En-soph und den Sephiroth

In den Schriften Isaaks ist die esoterische Tradition, die im Bahir


noch im Fluß war, zu festen Vorstellungen kristallisiert und auf eigen-
artige Weise fortentwickelt. Er zitiert Bahir, wenn auch nur selten,
setzt es aber auch unausgesprochen voraus115. Es ist offensichtlich,
daß zwischen beiden eine intensive geistige Aktivität liegt. Vieles
davon mag auf den persönlichen Beitrag Isaaks zurückgehen und
seine individuelle mystische Anschauung wiedergeben. Vieles wird
ihm schon aus der Tradition des Kreises von Lunel zugekommen sein.
Nach dem einhelligen Sprachgebrauch seiner Schüler muß die Ver-
wendung des Ausdrucks Kabbala im Sinne von esoterischer Tradition,
Geheimlehre, auf ihn zurückgehen, wenn auch in den erhaltenen
Stücken das Wort nicht vorkommt11β. Der Übergang von der gewöhn-
lichen Bedeutung des Wortes Kabbala zur esoterischen Nuancierung
war leicht. Ein erster Hinweis darauf findet sich bei Jehuda ben Bar-
zilai. Er spricht von der Schöpfung des heiligen Geistes, der die
Schekhina ist, und sagt: „Die Weisen haben hierüber nicht ausführ-
lich gehandelt, damit nicht etwa die Leute dazu kommen, sich Ge-
danken über das zu machen, ,was oben ist'117 und dergleichen, und
daher pflegten sie diese Sache ihren Schülern und den Weisen flüsternd
und im Geheimen als Tradition zu überliefern"118. Der gewöhnliche
Ausdruck „etwas als Kabbala, [d. h. mündlich] überliefern" ist hier
durch die Beiworte „flüsternd und im Geheimen" als esoterische
116 In den Fragmenten Isaaks bei Sahula finden sich drei ausdrückliche Zitate des
Bahir: Bl. 23b (§ 83) ; 25c (§ 104) ; 32d (§ 96). In einem Zitat der „Ansicht des Chassid"
über den Ursprung der Seelen aus der Sephira des Gerechten, des Weltengrundes,
in Ezras Kommentar zu den Aggadoth, Hs. Vatican 441, Bl. 33a, wird der Bahirsatz
über die Seelen, die von dort ausfliegen, ohne Quellenangabe angeführt.
116 Besonders sein Neffe Ascher ben David benutzt Formeln wie „gemäß der Kab-

bala" oder „in der Sprache der Kabbala" schon ganz präzis und' nicht in dem älteren
Sinn von Tradition überhaupt. Dasselbe gilt von allen Geronaer Kabbalisten. Die
Mystiker heißen dort schon gern Ba'ale ha-Kabbala und Hakhme ha-Kabbala. Immer-
hin ist merkwürdig, daß Ascher ben Saul und Meir ben Simon, die Anfang des 13. Jh.
in der Provence schreiben, den Ausdruck Kabbalisten für diese Gruppe nicht benutzen.
Dabei war die Bezeichnung in den Schriften Ezras, die Meir ben Simon sicher kannte,
durchaus geläufig.
117 Ein Zitat der Mischna Hagiga II, 1, die das verbietet.

118 Jehuda ben Barzilai, Kommentar zu Jesira, S. 189. Der Schluß des Zitats lautet

im Original: haju mossrim ha-Dabhar le-Talmidehem ule-Hahhamim be-Lahasch ube-


$in'a be-Kabbala.

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 231

Tradition qualifiziert, und das eben ist Kabbala im Sinn der proven-
gilischen Schule. Aber auch Eleazar aus Worms führt solche Tradi-
tionen, ζ. B. über Engelnamen als „Kabbala" an 119 . Übrigens werden
daneben im Kreise Isaaks auch andere Ausdrücke verwandt. Isaak
selbst spricht in einem Brief nach Gerona in diesem Sinn von Hokhma,
Weisheit oder Wissenschaft, ohne dabei das Adjektiv penimith „eso-
terisch" hinzuzusetzen, obwohl das sonst oft geschieht120. Im 12. Jahr-
hundert kommt in Frankreich der Ausdruck Se-pharim -penimijjim für
Schriften auf, die dort der esoterischen Literatur zugerechnet wurden,
wie das Seder Elijahu Zutta121. In dem 1204 verfaßten liturgischen
Handbuch Sepher ha-Manhig des Abraham ben Nathan ha-Jarchi
aus Lunel, der in seiner Jugend bei Rabed studiert hat, werden damit
an zwei Stellen die „Großen Hekhaloth" bezeichnet 122 .
Die Sephirothvorstellung des Bahir tritt bei Isaak schon in kristalli-
sierter Form auf. Der Vers I Chr. 29 n erscheint in seinem Jesira-
kommentar (zu IV, 3) zum ersten Mal als Stichvers für die Namen
und die Folge der sieben unteren Sephiroth, besonders der fünf ersten
unter ihnen: „Bei dir, Gott, ist die Größe Geiulla, die Allmacht
Gebhura, die Pracht Tiph'ereth, die Dauer Nesach und die Majestät
Hod, denn Alles Kol im Himmel und auf Erden ist dein, die Herrschaft
Memlakha und das über-alles Erhabensein". Hierher stammen die im
Bahir noch nicht benutzten Bezeichnungen Gedulla für Chessed,
Tiph'ereth für 'Emeth, und Hod. Isaak selbst benutzt aber meistens
die Namen Hessed und Pahad (wie im Bahir) statt Gedulla und
Gebhura. Der Name Tiph'ereth ist ihm aber schon ganz geläufig.
Während in dem eben genannten Vers der Chronik der Name Kol
ein schon im Bahir für den Gerechten verwandtes Epitheton dar-
stellen soll, benutzt Isaak für diese Sephira die Bezeichnungen .Ge-
rechter' und .Weltengrund'. Für die letzte Sephira benutzt er dagegen
fast durchweg den im Bahir noch nicht geläufigen, wenn auch wohl
angedeuteten Beinamen 'Atara, der als Synonym von Kether die
unterste der zehn .Kronen' bezeichnet. Die drei ersten Sephiroth
115
So z. B. in seinen Hilkhoth ha-Kisse', gedruckt in Merkaba Schelema, 1921,
Bl. 28a.
120
Vgl. den Text des Briefes in Sepher Bialik, S. 143. Die Benutzung von penimi
im Sinne von esoterisch entspricht dem arabischen batin, und ist auch in der philo-
sophischen Literatur geläufig. Die Kabbalisten des 13. Jh.s nennen ihre Gnosis oft
Hokhma penimith.
121
Vgl. Machzor Vitry, S. 112, worauf schon Friedmann zu Psendo-'Elijahu Zutta,
S. 23— 24, aufmerksam gemacht hat.
122 Vgl. Manhig, Berlin 1855, Bl. 15 b, 16 b. Der genau entgegengesetzte Sprach-
gebrauch findet sich um dieselbe Zeit in Deutschland bei Eliezer ben Joel Halewi,
Rabi'ah, ed. Aptowitzer, Band II, S. 196. Bei ihm heißen die Merkababücher Siphre
ha-Hisonim. wohl zur Hervorhebung ihres unkanonischen Charakters.

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232 Die ersten Kabbalisten in der Provence

nennt er, wie Bahir, Kether oder Mahschabha, Hokhma und Bina.
Er erwähnt viele dieser Sephiroth in seinem Jesirakommentar im
Rahmen fester Schemata, wobei uns aber die Abfolge der Sephiroth
in ihnen keineswegs immer verständlich ist123. Das merkwürdige ist,
daß eigentlich die Details des Aufbaus der Sephiroth jenseits der
obersten drei ihn nur dort interessieren, wo es um Gebetmystik oder
Ausdeutung bestimmter Ritualgebote geht. Als Stufen des kontem-
plativen Aufstiegs, oder des eschatologischen Aufstiegs der Seele
nach dem Tode in immer höhere Sphären, haben sie ihre Bedeutung.
Nie aber werden zusammenhängende Gedanken über ihre Funktion
und Struktur vorgetragen. Besonders gilt das von den in der Entwick-
lung der Sephirothlehre besonders wichtigen Potenzen von Tiph'ereth,
Jessod und 'Atara. Dem Detail gegenüber wird bei ihm ein deutlicheres
Interesse an dem Ganzen der geistigen Potenzen, die sich in der
Sprache und in geistigen Wesenheiten überhaupt ausdrücken, er-
kennbar. Dabei sind die Unterschiede im Sprachgebrauch von Be-
griffen wie Sephiroth, Middoth, Buchstaben und Wesenheiten, Hawwa-
joth (wörtlich Essenzen) durchaus nicht immer klar, und die Inter-
pretation sieht sich oft vor große Schwierigkeiten gestellt.
Diese Schwierigkeiten hängen aber mit dem eigentlich Neuen in
Isaaks Kabbala zusammen. Deren Interesse liegt nämlich für den
historischen Blick in der Verbindung der Vorstellungswelt des Bahir
mit ganz neuen Elementen, die in die älteste, vom Bahir repräsentierte
und unter gnostischer Inspiration stehende Form der Kabbala ein-
brechen. Wir haben es hier mit spekulativen Interessen zu tun, die
nicht mehr entscheidend von der Gnosis, sondern vom Neuplatonis-
mus und einer von ihm bestimmten Sprachmystik herkommen.
Isaak ringt offensichtlich mit neuen Gedanken, die bei ihm noch
nicht zu sprachlich klaren, unmißverständlichen Ausdruck gelangen.
Die Unbeholfenheit seiner neuen Terminologie spricht eher gegen die
Annahme, daß diese Unklarheit, die es oft so schwer macht, zum Ver-
ständnis des Gemeinten vorzudringen, gewollt ist. Seine neue Ter-
minologie kommt von der Philosophie her, ohne daß doch deren philo-
sophische Quellen uns in der hebräischen Uberlieferung faßbar sind.
Die besondere Bedeutung von Isaaks Kommentar zu Jesira liegt in
dem Versuch, neue spekulative Gedanken eines kontemplativen
Mystikers in den alten Text hineinzutragen. Genau so überrascht
uns auch die Kühnheit, mit der in seinen anderen kosmogonischen Frag-
menten und in seinen Ausführungen über die mystische Theorie des
Opfers weitreichende Ideen vorgetragen werden. Auch die besondere
Anwendung, die Isaak von diesen Gedanken auf die Aufgabe des
123 Bei der Aufführung der sechs Richtungen des Raumes, Qesawoth, wird nicht

Hessed, sondern die erste Sephira als die der Höhe, Rom, erwähnt. Die Zuordnungen
der beiden Schin in den Tephillin zu den Sephiroth sind ganz rätselhaft, und dergleichen.

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Isaaks Lehre vom En-soph 233

Menschen, auf den Zusammenhang der irdischen mit der himmlischen


Welt und auf Eschatologisches macht, verdient nähere Betrachtung.
Der Weg der Mystik, wie ihn Isaak am Anfang seines Jesirakommen-
tars beschreibt, ist — wie schon Isaak von Akko in seiner Paraphrase
einiger dieser Sätze in seinem eigenen Kommentar erkannt hat —
der der systematischen Aufdeckung des Göttlichen mit den Mitteln
denkender Betrachtung und im Innersten solcher Betrachtung. Es
sind vor allem drei Stufen im Mysterium der Gottheit und ihrer Ent-
faltung in Schöpfung und Offenbarung, die Isaak statuiert. Sie heißen
bei ihm das Unendliche, Έη-soph, der Gedanke und die Rede. Das
Prinzip der Rede, Dibbur, teilt sich in die Pluralität der Reden oder
Worte, worunter bei ihm oft die sieben unteren Sephiroth verstanden
werden, die nicht nur Dibburim, sondern auch Debharim heißen. Im
Hebräischen bedeutet Dabhar sowohl Wort als Sache, und diese Koin-
zidenz ist für Isaaks Gedankenbildung offensichtlich von Bedeutimg.
Die Sephiroth, vor allem die sieben unteren, sind die Worte oder
Dinge, „die die Wirklichkeit gestalten"124. Sie stehen hier für die
Ma'amaroth, Logoi des Bahir. Auch das Denken stammt, wie wir im
vorigen Kapitel gesehen haben, schon aus diesem Text. Ganz neu
ist aber die Hervorhebung eines Bereichs des Göttlichen, der über
aller denkenden Betrachtung, ja über dem göttlichen Gedanken selber
liegt, der bei Isaak „die Ursache des Gedankens" heißt und mit einem
neuen Terminus ids Έη-soph bezeichnet wird.
Die Entstehung dieses Begriffs ist von großem Interesse für die
Geschichte der Kabbala. Es ist üblich, diese Bezeichnung als eine An-
leihe aus dem Neuplatonismus zu erklären. Christian Ginsburg, dessen
Essay über die Kabbala von vielen Autoren ausgeschrieben worden
ist, sagt: „Any doubt upon this subject must be relinquished when
the two systems are compared. The very expression 'En Soph which
the Kabbalah uses to designate the Incomprehensible One, is foreign,
and is evidently an imitation of the Greek Apeiros. The speculations
about the 'En Soph, that he is superior to actual being, thinking and
knowing, are thoroughly Neo-Platonic125." Ginsburg ging freilich
von der durchaus irrigen Meinung aus, daß die älteste wirklich kabba-
listische Schrift der neuplatonische Katechismus der Sephiroth sei,
den Azriel, Isaaks Schüler, verfaßt hat, und wo der Begriff in der Tat
auf eine dem neuplatonischen Denken besonders angenäherte Weise
erklärt wird. Für das Aufkommen des Begriffs besagt das aber nichts.
In der Tat ist der Ausdruck schon von seiten seiner sprachlichen
1M Debharim ha-methaqqenim ha-Mefi'uth, mehrfach bei ihm, ζ. B. in Hs. Halber-
stamm 444 in New York, Bl. 29b zu Gen. 1 2β:,, Wir wollen einen Menschen machen:
er beriet sich mit den Worten, die die Wirklichkeit gestalten und durch die jedes Ding
verwirklicht wurde [hebr. ja$a bahem le-Ma'asseh]".
m Christian David Ginsburg, The Kabbalah, London 1865, S. 105.

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234 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Bildung merkwürdig. Keineswegs liegt hier eine Übertragung eines


festen Begriffes aus der Sprache der Philosophen vor, sei es aus dem
Griechischen, sei es aus einem entsprechenden arabischen lä-nihäja,
so gern das angenommen worden ist12e. Die Form Έη-soph entspricht
keineswegs den Übersetzungen privativer Begriffe in der mittelalter-
lichen hebräischen Literatur, die stets die Konjunktion bilti dem
negierten Begriff voranstellen, niemals aber die Negation 'ajin dabei
benutzen. Unerfaßbar heißt bilti Mussag, nicht etwa 'en Hassaga.
Unendlich heißt bilti-Ba'al-Takhlith und nicht Έη-soph. Die Form
Έη-soph ist ganz ungewöhnlich, und Graetz war im Recht, als
er in ihr einen Beweis für die späte Entstehung des Terminus sah.
Er hätte aber zufügen müssen, daß sie auch in der hebräischen Lite-
ratur des Mittelalters völlig vereinzelt dasteht. Nur im biblischen
Schrifttum haben wir Formen wie 'En 'Onim oder 'En 'Ejal für kraft-
los. Nachher verschwindet aber solcher Sprachgebrauch vollkommen.
Wie also haben wir uns das Aufkommen des Wortes Έη-soph zu
denken? Nicht aus einer bewußten Übersetzung, sondern aus my-
stischer Deutung von Texten, die die Wortverbindung Έη-soph in
einem durchaus korrekten adverbialen Sinn und nicht als besonderen
Begriff enthielten. Besonders die Lehre Saadia Gaons überquillt von
Betonungen der Unendlichkeit Gottes, und in der alten hebräischen
Paraphrase, die sowohl den provençalischen Kabbalisten wie den deut-
schen Chassidim bekannt war, wird das unermüdlich wiederholt.
Auch Tobia ben Eliezer, der um 1097 schrieb, betont diese Eigenschaft
Gottes gerade nach einer Erwähnung der mystischen Hekhaloth-
Schriften. Gott ist ihm „erster bis ins Unergründliche, Uranfang bis
zum Unendlichen, 'ad 'en-Takhlith, bei den letzten bis zum Unend-
lichen, *ai 'en-Soph". Die adverbiale Konstruktion ist durchaus
korrekt. „Bis ins Unendliche" entsteht aus einer Verbindung „bis
da, wo kein Ende ist". Besonders in den Schriften des Eleazar aus
Worms finden sich oft solche Wendungen, in denen Έη-soph als ad-
verbiale Bestimmung vorkommt, und auch das Buch Bahir hat (siehe
oben S. 115) den gleichen Sprachgebrauch. So schreibt Eleazar etwa:
„Wenn er an das denkt, was oben ist, soll er seinem Denken keine
Grenze setzen, sondern so [soll er Gott denken] : hoch und hoch bis
ins Grenzenlose ['ad 'en qes] ; unten tief, wer kann ihn finden; und so
oben in den Weiten aller Himmel . . . und außerhalb der Himmel bis
ins Unendliche [le'en-Soph]". Oder: „In den Thron der Herrlichkeit
sind heilige Namen eingegraben, die keinem Sterblichen überliefert
worden sind, die Hymnen bis ins Unendliche singen [meschorerim
Ι2β Ygj d a z u A. Harkavy im Anhang zur hebräischen Übersetzung von Graetz,
Band V, Warschau 1896, S. 15. Phantasien über den antiken Ursprung des Ausdrucks
Έη-soph. bei Robert Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt, München 1909. S. 470
bis 474.

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Isaaks Lehre vom En-soph 235

Schiroth le-en soph]"13". Wie leicht war hier der Übergang von den
zahllosen Hymnen der Namen und Engel128 zu einer Hypostasierung,
die diese Hymnen, wie ein mystischer Leser es vielleicht auffassen
konnte, „an Έη-Soph singen". Der Terminus Έη-soph entstand, als
einer der provençalischen Kabbalisten die Wortverbindung, die eigent-
lich einen Satz darstellt, in Adverbial-Verbindungen nach Art der
oben genannten (und vielleicht der Sätze im Bahir) als Substantiv
las und solche Sätze dahin verstand, daß sie von einer Erhebung des
Gedankens oder einer Hinwendung zu einem höchsten Grad des Seins,
der nun Έη-soph heißt, sprechen. Gehört es doch zu den Grundsätzen
der mystischen Exegese, möglichst alle Worte als Substantiva zu ver-
stehen. Man darf sagen, daß in dieser Betonimg des substantivischen
Elements, des Namens in der Sprache, ein Hinweis auf die Verbindung
der Mystiker mit einer primitiveren Haltung in ihrer Sprachauffassung
enthalten ist. Letzten Endes beruht ja, ihrer Meinung nach, die Sprache
auf einer Reihe von Substantiven,die nichts anderes sind als dieNamen der
Gottheit selber, d.h. die Spracheselberist eine Texturmystischer Namen.
Wir vermögen nicht mit Gewißheit zu sagen, aus welchen genauen
Wortverbindungen und Zusammenhängen, 'en-soph zum Rang eines
Begriffes oder Kunstwortes erhoben wurde, mit dem die absolute
Wesenheit Gottes an sich bezeichnet wurde. In den Schriften der
deutschen Chassidim dient die Betonung von Gottes Unendlichkeit
als Ergänzung zur Lehre vom Kabhod, der in seiner Manifestation
gerade endliche Formen annimmt. Ein ähnliches Verhältnis konnte
auch zwischen den Middoth und Sephiroth, von denen jede einen be-
sonderen Aspekt der Gottheit wirksam oder manifest macht, und
deren unendlicher Quelle angenommen werden. Danach könnte man
vermuten, daß der Begriff unter dem Einfluß der saadianischen Theo-
logie entstanden ist, wobei die Kabbalisten dem neuen Wort einen
spezifischen Sinn beilegten. Nicht so sehr als negatives Attribut der
Gottheit im Rahmen einer intellektuellen Gotteserkenntnis tritt es
auf, sondern vielmehr als Symbol der absoluten Unmöglichkeit einer
solchen. Dies Motiv läßt sich recht deutlich aus dem ältesten Auf-
treten von Έη-soph in den Schriften der Kabbalisten heraushören.
Ist doch die Verwandlung rationaler Begriffe zu mystischen Symbolen
beim Übergang von der Philosophie zu der Kabbala ein durchaus
gewöhnlicher Vorgang. Andererseits dürfen wir nicht übersehen, daß
trotz der Fäden, die sich zwischen den deutschen Chassidim und den
Kabbalisten in der Provence spönnen, saadianischen Gedanken kein
bedeutender Einfluß auf Isaak den Blinden zugesprochen werden
127
Eleazar, Hilkhoth ha-Kabhod, gedruckt unter dem Titel Sode Razajja, Bilgoraja
1936, S. 40 sowie Hs. München 43, Bl. 217 a
128
Nathan Spira zitiert in Megalle 'amuqoth § 194 eine Stelle aus Eleazars Sode
Umana, wonach die Seraphim 'otiirim Schiroth le-'en-so-bh.

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236 Die ersten Kabbalisten in der Provence

kann, wenn sie auch in ihm nahestehenden provençalischen Kreisen


ihren Platz behauptet haben. Es ist auch gut, sich in diesem Zusammen-
hang daran zu erinnern, daß Jehuda ben Barzilais Jesirakommentar
gerade in dieser saadianischen Tradition steht. Isaaks Vater und
Großvater sprechen, wie wir sahen, mindestens zum Teil Gedanken
aus, die dem saadianischen Bereich zugehören. Bei Isaak aber ist dies
Element ganz verschwunden. Isaak ist ein kontemplativer Mystiker,
der Gnosis und Neuplatonismus verbindet. Ich möchte daher keine
sicheren Behauptungen darüber aufstellen, ob der Begriff 'En-soph
aus Sätzen des Bahir oder aus saadianischen Sätzen herausgelesen
wurde. Nur das Verfahren, nach dem der neue Begriff zustande kam,
können wir mit Sicherheit angeben. Dies Verfahren hat seine Spuren
auch in einem Sachverhalt hinterlassen, der besondere Hervorhebung
verdient, daß nämlich in vielen kabbalistischen Schriften bis zum
Zohar inklusive Sätze besonders häufig sind, in denen noch immer
die Wortverbindung Έη-soph in solchen adverbialen Zusammen-
hängen auftritt. Oft ist es schwierig zu entscheiden, ob ein bestimmter
Satz von Έη-soph in dem neuen Sinne des Wortes spricht, oder nur
von einem Aufstieg einer göttlichen Midda „bis ins Unendliche" und
dergleichen. Und was besonders interessant ist: Isaak der Blinde
selber und die meisten seiner Schüler neigen überhaupt nicht dazu,
von einer solchen höchsten und verborgenen Wirklichkeit zu sprechen,
die eindeutig Έη-soph hieße. Das tun sie nur selten und unter beson-
deren Umständen, wo dann die adverbialen Bestimmungen durchaus
aufgegeben werden und, wie bei Azriel, Έη-soph als wirklicher Eigen-
name (ohne Artikel) der höchsten Wesenheit erscheint. Die meisten
Hinweise auf Έη-soph treten hier aber noch in ganz verhüllter
und unklarer Sprache auf, und es scheint mir evident, daß dieses
Schweigen und diese Vernebelung des Sprachgebrauchs nicht etwa
unabsichtlich sind. Azriels Katechismus ist in keiner Weise für den
Sprachgebrauch der ältesten Kabbalisten charakteristisch. Immerhin
zeigt auch bei ihm und anderen die Abwesenheit des Artikels im Ge-
brauch des Wortes Έη-soph den Ursprung des Begriffes an. Nichts hätte
bei einem Kunstwort aus der Sprache der Philosophen die Konstruktion
des neuen Wortes mit dem Artikel zu verhindern brauchen. Ein solcher
Gebrauch ist in der Tat erst sehr viel später belegt, als sich die Ter-
minologie abgestumpft hatte, und kein Bewußtsein ihres Ursprungs
mehr vorhanden war. Isaak selber spricht von der „unendlichen Ur-
sache", vom „unendlichen Sein" [Hawaja be-'en-Soph] und ähnlichen
Wendungen, besonders häufig in dem ersten Kapitel seines Jesira-
kommentars129. Aber einige Stellen verraten unmißverständlich die

129 So z. B. Hithbonenuth Sibbatham [nämlich der Ursache der Essenzen] be-'en-soph


(zu I, 4) ; 'Asiluth Hawai a be-'en-soi>h (I, 5ì : der Begriff 'Omeq Tiefe wird erklärt als

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Isaaks Lehre vom En-soph 237

neue hypostasierendeTerminologie. So z.B.: „Die Kreatur hat keine


Kraft, die Innerlichkeit dessen, worauf das Denken, die Mahschabha,
hindeutet, zu erfassen, Έη-soph zu erfassen130. In diesem Sinn ist
auch der Eröffnungssatz seines Kommentars zu verstehen. Hier wird
von dem Buchstaben Beth, mit dem das „Buch der Schöpfung" ebenso
wie die Tora selber anfängt, und das den Zahlenwert 2 hat, gesagt:
„Das Beth enthält eine Hindeutung auf die Hokhma und den Haskel™1,
und er deutet damit alles an, was der Gedanke [Gottes] erfaßt bis
zum Έη-soph132, und um wieviel mehr, was in ihm [dem Gedanken]
selber enthalten ist". Für diese Auffassung von Έη-soph als festen
Terminus spricht auch seine Erklärung des Begriffes 'Omeq, Tiefe,
in Jesira I, 5, wo die zehn „Tiefen" der Urzahlen, „deren Maß zehn
ist, die aber kein Ende haben" beschrieben werden. In Isaaks Erklärung
heißt es nicht nur: „Tiefeist dasintelligere [Haskel] bis zum 'En-soph,"
was aber auch einfach „bis ins Unendliche" heißen könnte, sondern
wir lesen dort auch von der „Tiefe aus Έη-soph", d. h. von der Tiefe
jeder Sephira, die aus 'En-soph herkommt. Isaak erwähnt nirgends
eine positive Funktion dieses, als Ursache der schöpferisch gedachten
Mahschabha visierten 'En-soph und statuiert auch nirgends seinen
personalen Charakter, so daß wir etwa einfach sagen könnten, dies
sein der Schöpfergott und alle anderen Stufen seien nur seine Middoth
oder Qualitäten. Nicht „der Unendliche", sondern „das Unendliche"
scheint hier gemeint zu sein. Sogar wo er zu I, 7 den Ausdruck „der ein-
zige Herr" erklärt, der in Jesira eine durchaus personalistische Auf-
fassung des Herren der Sephiroth impliziert, heißt es bei ihm nur
merkwürdig abgeschwächt: „Jetzt deutet er auf eine unendliche
Midda [oder: auf eine Midda in Έη-soph] hin, die von keiner Seite
her ein Ende hat". Diese merkwürdige Abschwächung gerade an einem
Punkt, wo die Betonung des persönlichen Elementes der Gottheit
sich am stärksten aufdrängte, spricht dafür, daß Isaak zu neuplato-
nischen Begriffen von der Gottheit neigte, und zwar gerade zu den

ha-Haskel 'ad 'en-soph und als Soph Hassagath Mahschabha le-'en-soph. Zu I, 6 er-
wähnt er das Vermögen der Seele lehithpaschet bi-Pratim be-'en-soph. Andere Stücke
aus dem Kommentar werden in ihrer Verwendung von Έη-soph oben im Text be-
sprochen. Auch in den Zitaten Sahulas findet sich 4c die Rede von der Kette der Ur-
sachen bis „zur unendlichen Ursache". In den Kawwanoth Isaaks zu den Gebeten
heißt es, beim Worte Barukh, mit dem die Benediktionen anfangen, „zieht er [den
Segen] aus Έη-soph hervor, mamschikh me- en-soph, Hs. Christ Church College 198,
Bl. 4a.
130 vgl. den Zusammenhang der Stelle in dem unten S. 241 — 242 übersetzten
längerem Zitat.
131 vgl. über diesen Begriff auf Seite 240.
ls
* Hebräisch: we-ramaz bah hol ma sche-Hassagath ha-Mahschabha massegeth 'ad
'en-soph.

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238 Die ersten Kabbalisten in der Provence

ursprünglichen Formen dieses Denkens, die den personalen Charakter


des „Einen", des absoluten Seins nicht kennen.
Der Ausgangspunkt von Isaaks Betrachtungen liegt aber in der
Mystik der Mahschabha. Jedoch haben wir hier gleich am Quellpunkt
seines Denkens ein Paradox vor uns. Das höchste Sein schillert in
zwei Bestimmungen: einer als „das reine Denken", ein in neuplato-
nischen Texten, die auch Hebräisch vorlagen, vorkommender Begriff
für den göttlichen Gedanken 138 , und einer anderen, nicht weniger
neuplatonischen, als „das vom Denken nicht Erfaßbare", ma sehe-en
ha-Mahschabha massegeth. Der ungefüge Satz wirkt wie eine exakte
Wiedergabe eines griechischen Akatalepton oder dessen lateinischen
Equivalenz, so ζ. B. bei Scotus Erigena incomprehensibilis13i. Es wäre
logisch anzunehmen, daß die letztere Bestimmung auf einen höheren
Seinsgrad geht als den des reinen Gedankens. Dem entsprechen zwei
Äußerungen Isaaks, die sich auf das verborgene Subjekt der dritten
Person des Präteritums, das im Hebräischen nicht besonders bezeichnet
wird, beziehen. In seiner Erklärung zu Gen. 1 sagt er: „An jeder Stelle,
wo du [in der Schrift] schlechthin bara', 'assa, ,er schuf, er machte'
findest, wisse, daß es [das Subjekt] über dem reinen Gedanken ist" 135 .
Im Jesirakommentar aber erklärt er das verborgene Subjekt des ersten
Verbums in Jesira I, 1 haqaq als „das vom Denken nicht Erfaßbare".
Da die Mahschabha selber bei Isaak, der von einer Bestimmung des
Willens als des ersten emanierten Seins nichts weiß, die erste Sephira
ist, wäre demnach das von ihr Unerfaßbare nichts anderes als 'En-soph,
das dem Denken selber transzendent und verborgen ist. Der reine
Gedanke wäre die höchste schöpferische Sphäre des Seins, während
Έη-soph als das Unerfaßbare noch vor allem Denken liegt. Es ist
wohl möglich, daß dies in der Tat Isaaks Meinung war, und ich finde
in seinen eigenen Äußerungen nichts, was dem widerspricht. Die
Schwierigkeit liegt aber darin, daß alle seine Schüler, Ezra ben Salomo,
Azriel, Jakob ben Schescheth und vor allem auch sein eigener Neffe

133
So bei Abraham bar Chijja, Hegjon ha-Nephesch, Bl. 2a und in dem pseudo-
platonischen Zitat, das Azriel, Perusch ha-'Aggadoth, S. 82, benutzt hat. Die Existenz
von Materie und Form im „reinen Gedanken" Gottes entspricht ihrem Sein in der
sapienlia Gottes bei Gabirol, Fons Vitae V, 10. Jedoch ist keineswegs sicher, daß —
wie Neumark, Geschichte der Jüdischen Philosophie I, S. 607 annahm — deswegen
Gabirol die Quelle dieser Vorstellung sein muß, die sehr wohl älteren neuplatonischen
Quellen entstammen kann.
134
Vgl. de Divisione Naturae III, 19. Bei Scotus Erigena und auch in Philos An-
gabe, Gott sei ahataleptos, ist der Begriff nicht neutral gebraucht wie bei Isaak, sondern
persönlich. So auch bei den Gnostikern, zum Beispiel in den Excerpta ex Theodoto
§ 29 und bei den Ismailiten, zum Beispiel mehrfach in Strothmann, Ismailitische
Gnosistexte, Göttingen 1943.
w* Hs. Halberstam 444, Bl. 29b; Paris 363, Bl. 31a.

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Isaaks Lehre vom En-soph 239

Ascher ben David, der ihm am nächsten stand, dies Unerfaßbare teils
ausdrücklich, teils implicite mit der ersten Sephira identifizieren 136 .
Daraus ließe sich also methodisch sauber folgern, daß Isaak die ge-
meinsame Quelle dieser Identifikation ist. Das göttliche Denken wäre
dann das, das allem menschlichen Denken unerfaßbar ist ; Isaak würde
also das Wort Mahschabha in verschiedenen Bedeutungen gebrauchen :
im ersten Begriff bezeichnete es das Denken Gottes, in der Wendung
von ,dem vom Denken Unerfaßbaren' aber das menschliche Denken.
In dem Genesisfragment spricht er jedoch, wie wir sahen, sogar von
dem, was über dem „reinen Denken", also dem göttlichen Denken
steht. Ich kann den Widerspruch nicht auflösen, ohne den Texten
Gewalt anzutun. Das .Unerfaßbare' an Gott ist bei dem christlichen
Neuplatoniker Scotus Erigen a gerade mit dem Nichts identifiziert,
aus dem alle Schöpfung stammt. Bei Isaak selbst und seinen Schülern
ist dies Nichts aber wiederum die erste Sephira, aus der die göttliche
Sophia stammt. Das würde zu der zweiten Auffassung des Begriffes
durchaus passen. Isaaks Schüler scheinen sich der Problematik be-
wußt gewesen zu sein, da einige von ihnen unter dem .Unerfaßbaren'
die erste Sephira in ihrem Aufstieg bis zu Έη-soph hin und in ihrer Ver-
einigung mit ihm verstehen, am deutlichsten Jakob ben Schescheth 137 .

134
Ezra spricht in seinem Kommentar zu den Aggadoth, Hs. Vatikan 185, Bl. 8a,
davon, Gott sei über alles Lob erhaben jother mima sehe-en ha-Mahschabha massegeth.
Ascher ben David spricht Hs. Paris 823, Bl. 180a von Kether 'Eljon, „von dem das
[menschliche] Denken nichts erfassen kann". Besonders bemerkenswert ist der Sprach-
gebrauch bei Jakob ben Schescheth in Meschibh Debkarim nekhohim, Hs. Oxford 1685.
Dort heißt es Bl. 28b vom Erstemanierten: „und dies nennen wir das Unerfaßbare
bis zum Unendlichen hin". Das Nichts der ersten Sephira ist, nach Bl. 52 b, „ein sub-
tiles Sein, das das Denken nicht erfassen kann". Der intellectus agens ist seiner Auf-
fassung nach, Bl. 20b, die Sophia, eine der höchsten Stufen, „über der nichts ist als
eine Stufe, die sich vereinigt und aufsteigt bis zum Έη-soph [und die ist], was das
Denken nicht erfassen kann". Nach Bl. 67a ist der Ursprung aller Benediktionen, der
Intention nach, „die Höhe bis zum Unendlichen hin [hebräisch ha-Rom 'ad 'en-soph],
die in der Sprache der Philosophen das ,was weder Körper ist noch einem Körper in-
haeriert' heißt, in der Sprache der Meister des wahren Glaubens [der Kabbalisten]
aber ,das Unerfaßbare'." Diese Identifikation ist besonders bemerkenswert. Sie zeigt
recht klar, daß für diese Gruppe nicht so sehr die Qualität des Unpersönlichen de-
finiert wird, wenn sie vom Unerfaßbaren sprechen, sondern die der Transzendenz.
Gott ist alles, was die Höhe bis zum Unendlichen hin enthält, also beides, das Uner-
faßbare als erste Sephira und das darüberstehende Έη-soph, mit dem es vereinigt
gedacht wird. Auch f ü r den Autor des Buches ha-'Emuna weha-Bittahon, Kap. 3,
ist das 'Aleph im Worte 'Ehad des Glaubensbekenntnisses ein „Symbol des Unerfaß-
baren". Noch Bachja ben Ascher, der meistens Geronaer Quellen ausschreibt, benutzt
das Unerfaßbare als Bezeichnung der obersten Sephira, ed. 1544, Bl. 211 d.
137
Vgl. die beiden in der vorigen Anmerkung aus Bl. 20b und 67a angeführten
Stellen.

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240 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Auch die weitere Entwicklung des Gedankens, der Mahschabha,


als erste Sephira zu Hokhma oder Sophia als zweiter ist nicht un-
problematisch. Zwischen der Sophia, die schon den Anfang des Seins
aus dem Übersein, das das Nichts ist, darstellt, und der Mahschabha
kennt Isaak nämlich noch ein weiteres, aus der intellektuellen Sphäre
genommenes Symbol, das er Haskel nennt (vielleicht Heskel zu lesen).
Auch dies Wort, das er öfters im Jesirakommentar benutzt, schillert
bei ihm und seinen Schülern in verschiedenen Bedeutungen. Haskel
ist die Infinitiv-Form, die die Tätigkeit des Sekhel, des Nous be-
zeichnet. Es ist also ein hypostasiertes vernünftiges Erfassen, das
die Sophia übt; ein Seinsgrad des intelligere. Bei Isaak tritt es als
ein höherer Rang innerhalb der Hokhma selber auf, und ist manchmal
schwer von der Mahschabha selber zu unterscheiden. Das Zeugnis
späterer Kabbalisten, das Isaak die Sephira der Hokhma in zwei
geteilt habe138, bezieht sich wohl auf diese Differenzierung. Der Be-
griff Haskel ist aus Jer. 9 23 genommen, wo er (wie mehrfach in der
Bibel) mit Donath und Jedia, Wissen und Erkenntnis, zusammen-
steht. Isaak schwankt im Gebrauch des Wortes, das den Sinn eines
Aktes hat, der sich im menschlichen Denken von unten nach oben
richtet, im göttlichen aber von oben nach unten, in welch letzterem
Sinne es öfters bei seinen Schülern benutzt wird. Die Mahschabha
selber steht über diesen beiden intellektuellen Stufen von Haskel
und Hokhma, und ist mit der Sephira Kether und der Dimension der
„Höhe", Rom, im Buch Jesira identisch. Von hier und aus einer ähn-
lichen Exegese von Hab. 3 io in Bahir § 95 ist bei Isaaks Schülern
die Bezeichnung der ersten Sephira als Rom Ma'ala im Sinne von
„höchste Stufe" entstanden, die im 13. Jahrhundert häufig ist.
Wie schwierig die Interpretation von Isaaks Lehre über die Mah-
schabha ist, bei der sich offensichtlich die Rede von menschlichem
und göttlichem Denken dauernd ineinander verschränken, zeigt ein
wichtiges Stück seines Kommentars zu Jesira I, 4, dessen Ausfüh-
rungen von geradezu gesuchter Dunkelheit sind und uns vor die Frage
stellen, wie eigentlich Isaak die Dekade der Sephiroth gerechnet hat
und ob er etwa außer den Sephiroth, die die göttliche Rede oder die
göttlichen Worte umfassen, auch eine geheime Dekade der Mahschabha
138
Nach der Stelle bei Schemtob ibn Gaon, die ich in Kirjath Sepher VIII (1932),
S. 405, in seiner Schrift über die Sephiroth gedruckt habe. So sagt auch sein Neffe
Ascher ben David: „Es gibt Heister der Kabbala, die die Hokhma als zwei rechnen,
weil sie alles umgibt", vgl. Hebräische Bibliographie XII (1872), S. 82—83. So erklärt
er auch dort, das Jod im Gottesnamen JHWH enthalte, obwohl es nur ein Buchstabe
sei, doch Andeutung auf zwei Sphären, die Hokhma und „den Faden der Emanation,
der aus der ersten Sephira zu ihr gezogen wird". Dieser Faden oder Ausfluß, Meschekh,
ist vielleicht identisch mit dem Haskel, das sich zur Hokhma hinwendet und in sie
einfließt.

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 241

selber annahm, die sich dann in der des Dibbur, der Rede fortsetzt.
Isaaks Sätze sind so undurchsichtig, daß sie öfters ganz verschieden
konstruiert und dementsprechend übersetzt werden können. Jeden-
falls scheint die Mahschabha hier den anderen Sephiroth im Rahmen
eines Problems gegenübergestellt zu werden, das dem Autor durch
die Formulierung des kommentierten Satzes in Jesira : „Zehn Sephiroth
der Verschlossenheit, zehn und nicht neun, zehn und nicht elf, ver-
stehe mit Weisheit und wisse mit Verstand usw." gegeben ist. Ich
übersetze den ganzen Paragraphen hier, so gut ich kann, der zugleich
keinen Zweifel an der Uberordnung eines höchsten transzendenten
Prinzips über die Mahschabha läßt und den Nachdruck sichtbar macht,
den der Autor auf meditative Prozesse legt, durch die die menschliche
Mahschabha etwas von der göttlichen zu erfassen strebt. Während
andere kabbalistische Erklärer nach Isaak die Warnung des Jesira-
satzes dahin verstanden, die höchste Sephira nicht auszuschließen
(zehn und nicht neun !), und 'En-sofh nicht in sie einzuschließen (zehn
und nicht elf!), richtet sich bei ihm die Warnung sowohl auf die Hokh-
ma als auf die darüber stehende Mahschabha. Es ist möglich, daß,
wie die Wiederaufnahme des Jesirasatzes im Verfolg seiner Erklärung
beweisen könnte, wir es hier mit zwei verschiedenen von Isaak oder
seinem redigierenden Schüler zusammengestellten Erklärungen des
Warnungssatzes zu tun haben, die jetzt einen so problematischen
Paragraphen bilden. Er sagt:
„Zehn und nicht neun: Obwohl sie [die direkt vorher genannte
Hokhma] mit allen [anderen Sephiroth] gerechnet wird, sage nicht:
wie soll ich sagen, daß sie eine [besondere] Sephira ist ? Zehn und nicht
elf: Und wenn du sagen wolltest: nachdem die Hokhma der Anfang
des Denkens der Rede [Dibbur] ist139, wie soll ich nicht sagen elf? 140
So darfst du diese Aussage doch nicht machen, und darfst nicht die
Hokhma von Kether trennen, welches der Gedanke des Anfangs der
Rede ist, obwohl du die Mahschabha des [die Sephiroth] Zählenden
und Verbindenden [d. h. des höchsten Emanierenden] nicht erfassen
kannst [und nicht im Stande bist] darüber zu meditieren und dich
zu versenken141 in die Ursache des Gedankens des Anfangs der Rede,
13
· So lautet der Text in allen Hss., vielleicht aber ist Mahschebheth hier zu streichen,
da sonst die Hokhma bei ihm als Tehillaih ha-Dibbur bezeichnet ist.
140
Direkt vorher werden zu Jesira I, 3 die zehn Sephiroth als zwei einander ent-
sprechende Fünferreihen aufgeführt, wobei jede der Reihen die Hokhma enthält, von
der es heißt, sie sei makhra'ath ba-kol, d. h. sie gebe bei allem den Ausschlag. Diese
zwei Reihen sind sonderbar genug Ne§ah, Hod, Tiph'ereth, Hessed, Hokhma und anderer-
seits 'Atara, Sadiq, Pahad, Bina, Hokhma. Die höchste Sephira kommt dabei also
überhaupt nicht vor.
141
Das hier gebrauchte Verbum le-hithpaschet, „sich ausbreiten", wird von der
Ausbreitung der Mahschabha schon im Bahir gebraucht, aber in einem anderen Sinn.
Scholcm, Kabbala 16
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242 Die ersten Kabbalisten in der Provence

die [in ihrer Gesamtheit als Sephiroth] nichts sind als zehn. Und sage
nicht neun: nachdem die Ursache des Gedankens des Anfangs der
Rede unendlich [oder : im Unendlichen, be-En-soph] ist, wie kann ich
sie in eine Zählung einbeziehen [oder: wie kann ich sie zu einer Sephira
machen] ?142 Sage also weder, daß sie elf sind noch neun. Obwohl die
Rede [die göttliche Sprache, die sich in den Debharim den Worten
oder Dingen äußert] unendlich ist, so gibt es doch jedenfalls eine sub-
tile Ursache oder ein subtiles Sein, von dem das Denken in der Medi-
tation [Hithbonenuth] eine Andeutung erfaßt. Daher ist sie143 eine
Sephira in der Mahschabha, die ein subtiles Sein ist, in dem die Zehn-
zahl ist [d. h. in dem die Dekas schon verborgen steckt]. Und die
,Debharim' haben Middoth, Ausmessungen, und Schi'ur, Maß, die
Mahschabha aber hat kein Maß, und daher gehen sie [die Worte ?]144
in Dekaden, von den subtilen zu den geformten [Essenzen], denn zehn
aus zehn [entwickeln sie sich], die subtilen aus dem, was in der Inner-
lichkeit der subtilen [Essenzen] ist. Und aus der Kraft der Hindeutung
der Mahschabha [aus dem, worauf die Mahschabha hindeuten kann]
erkennen wir, was wir zu erfassen vermögen und was wir [als un-
faßbar] lassen sollen, weil es von dort an kein Erfassen der hindeu-
tenden Mahschabha mehr gibt. Denn das Geschöplliche hat keine
Kraft, [selbst] wo es das Innere, auf das die Mahschabha [als in ihr
enthalten] hindeutet, zu erfassen sucht, [damit auch] 'En-soph zu
erfassen145. Denn jede Meditation der Hokhma aus dem intelligere
heraus [oder: von der Haskel genannten Stufe her] betrifft die Sub-
tilität seines unendlichen Gedankens [oder: seiner in 'En-soph (grün-
denden) Mahschabha]14e. Und so sagt er ,zehn und nicht neun', denn
der [menschliche] Gedanke vermag über der Hokhma und in der
Hokhma [selbst] ein Maß nur durch Meditation [und nicht durch
diskursives Denken] zu setzen, wie es [im Text von Jesira] heißt : ver-
Dort ist davon die Rede, wie sich die göttliche Mahschabha in den Potenzen ausbreitet,
d. h. emaniert, hier aber davon, daß die Ursache der Mahschabha der Meditation un-
zugänglich ist.
142 Der Satz ist schwierig: logischerweise würden wir erwarten, daß der Fragende

damit die Mahschabha aus der Dekas der Sephiroth eigentlich ausschließen möchte,
nicht aber die Ursache der Mahschabha, die über ihr steht I
143 Der Konstruktion des Satzes nach ist das Subjekt des Satzes wohl die Ursache,
die, wo sie sich in der Mahschabha auswirkt, zu einer Sephira wird ?
144 Das Wort holhhoth, die feminine Pluralform des Partizips, das in den Hss. steht,

hat kein Subjekt im Satze. Debharim müßte eine maskuline Form mit sich führen.
Vielleicht ist aber holekheth zu lesen, mit Bezug auf die Mahschabha selber, in der die
Dekaden stecken?
146 Die Einschaltung „selbst wo es . . . zu erfassen sucht", fehlt in allen Hss. außer

der relativ besten, der Hs. des Fondo Antico Orientale 46 der Angelica in Rom.
148 Dieser schwierige Satz fehlt gerade in der Hs. Angelica. Hebräisch: sche-kol
Hitbonenuth be-Hokhma min ha-Haskel hi' Daqquth Remez Mahschabhto be-en-soph.

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 243

stehe mit Weisheit [von Isaak aufgefaßt als: erfasse die Hokhma in
der Meditation, die ihren Ort in Bina hat]."
Dies Zitat, das einen Begriff von den Schwierigkeiten gibt, mit
denen die Interpretation von Isaaks Texten zu kämpfen hat, zeigt
jedenfalls deutlich, daß Έη-soph als Gegenstand der Spekulation des
Mystikers hier ausscheidet, und die höchste Stufe für das Interesse
des Mystikers, zu der er vorzudringen oder aus der er, wie Isaak sagt,
zu „saugen" sucht, behauptet die Mahschabha. In ihr manifestiert
sich die über ihr stehende verborgene Ursache. Seine kontemplative
Mystik dreht sich um diesen Angelpunkt der „reinen Mahschabha".
Wie wir aber schon sahen, ist aus einer anderen Linie der Symbolik
heraus diese erste Sephira auch das Nichts. Isaak hat sich über den
Zusammenhang dieser zwei Symbole für die höchste Sephira, soweit
ich sehe, nicht geäußert. Wir dürfen aber wohl annehmen, gerade
nach dem angeführten Zitat, daß der reine Gedanke Gottes auch
Nichts heißen kann, nicht nur weil sie durch keine bestimmten Ge-
hegte determiniert ist, sondern weil in ihr das menschliche Denken,
das in der Meditation zu ihr vorzustoßen strebt, aufhört oder, wie
Isaaks Schüler es ausdrücken, „zunichte wird". In seinen Jesira-
kommentar hat Isaak aber diese Rede vom göttlichen Nichts nicht
eingelassen.
Im Kommentar zu Jesira findet sich keine klare Äußerung darüber,
ob die höchste Sephira, das dem Denken Unerfaßbare, mit ihrer
darüberstehenden Ursache, dem Έη-soph, durch einen anfangslosen
Emanationsprozeß von Ewigkeit her verbunden ist, also mit ihr
koexistent. Demgegenüber haben wir ein wichtiges Theorem dazu in
einer bei Sahula zitierten Erklärung Isaaks zu Gen. I i . Er ist der
erste Kabbaiist, der sich auf den palästinensischen Targum „mit
Hokhma schuf Gott" bezieht, um im ersten Wort der Tora die zweite
Sephira Hokhma wiederzufinden. Der Konsonant Beth in Bereschith
„deutet an und enthält aber die Hokhma und ihre [über ihr stehende]
Krone [die Sephira Kether] in dem einen Worte [Bereschith], um so
darauf hinzudeuten, daß beide [Sephiroth] miteinander verbunden,
ohne jedes Verweilen zwischen ihnen, emaniert sind, so daß die eine
nicht ohne die andere existierte"147. Dies ist eine These, die sehr auf-
fällig ist und, so weit ich sehe, bei Isaaks Schülern nicht mehr er-
scheint : Kether wird klar als in einem Akt mit der Sophia zusammen
emaniert gedacht, woraus wir auch folgern dürfen, daß es nicht an-
fangslos wie Έη-soph selber ist. Eine Formulierung wie bei seinem
Schüler Azriel, wonach die erste Sephira potenziell in Έη-soph war,
bevor sie in der Emanation aktualisiert wurde, fehlt bei Isaak. Wenn
Sahula 3d, wo die entscheidenden Worte im Druck ganz korrupt sind und der
Text nach der alten Hs. Parma, de Rossi 68, Bl. 4a wieder hergestellt werden muß :
ne'eflu be-ssamukh bli schehuth klal benathajim.
16·
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244 Die ersten Kabbalisten in der Provence

das erwähnte Zitat stimmt, so haben wir hier den klaren theistischen
Begriff eines Gottes, der über allen Sephiroth steht. Dazu würde
passen, daß es in Isaaks Kommentar zum Midrasch Konen heißt,
die Bina sei aus ,,den beiden innersten Stufen, der Hokhma und der
Mahschabha" emaniert, die also beide zusammen gedacht sind. Es
gibt aber einen Stand, in dem diese beiden noch nicht existierten.
Man fragt sich in diesem Zusammenhang, ob die „unendliche Ursache",
die Isaak im Jesirakommentar erwähnt, etwa von der unendlichen
Midda des „einzigen Herrn", die er zu I, 5 kennt, zu unterscheiden
ist, so daß diese letztere als entstanden zu denken wäre.
Was es immer mit der höchsten Sephira auf sich hat, so ist jeden-
falls die Hokhma der „Beginn des Seins", wie sie auch „Beginn des
Dibbur" ist. Von ihr an sind alle Sephiroth in einer klaren Kette der
Emanationen hervorgegangen. Die göttlichen Dinge sind im Sinne
seiner Sprachmystik zugleich die göttlichen Worte. Die Ideen sind
Namen. War dies Motiv schon im Báhir angelegt, wo die Sephiroth
mit den zehn Logoi zusammenfielen, so tritt es jetzt in sehr vertiefter
Weise auf. Freilich ist für den Kabbalisten die Sprachmystik zugleich
eine Mystik der Schrift und der Buchstaben. Das Verhältnis von
Schrift und Sprache ist für die Kabbala konstitutiv. Jedes Sprechen
ist in der geistigen Welt zugleich ein Schreiben, und jede Schrift ist
potentielle Rede, die bestimmt ist lautbar zu werden. Der Sprechende
gräbt gleichsam den dreidimensionalen Wortraum in die Ätherfläche
ein. Die Schrift, dem Philologen nur ein sekundäres und zudem höchst
unbrauchbares Abbild der wirklichen Sprache, ist dem Kabbalisten
der wahre Hort ihrer Geheimnisse. Das phonographische Prinzip einer
natürlichen Umsetzung von Sprache in Schrift und vice versa wirkt
in der Kabbala in der Vorstellung, daß die heiligen Buchstaben selber
jene Lineamente und Signaturen sind, die der moderne Phonetiker
auf seiner Platte suchen würde. Das schaffende Wort Gottes prägt
sich legitim eben in jenen heiligen Linien aus. Jenseits der Sprache
liegt die sprachlose Reflexion, die das reine Denken ist, man möchte
sagen, der stumme Tiefsinn, in dem das Namenlose nistet. Von Hokhma
an eröffnet sich, mit der Sephiroth-Welt identisch, die Welt des reinen
Namens als Urelement der Sprache. So verstand Isaak den Satz des
Buches Jesira II, 5, daß alle Sprache aus einem Namen hervorgeht.
Der Baum der Kräfte Gottes, der im Bahir die Sephiroth bildete, ist
hier auf die Verzweigung der Buchstaben in diesem großen Namen
übertragen. Mehr als das Baumgleichnis liebt Isaak noch das, von
einer anderen Jesirastelle (I, 7) eingegebene von der Kohle und den
aus ihr sich nährenden Flammen, Schalhabhijoth, auf das er öfters
zurückgreift. „Ihre [nämlich der Sprache und der Dinge] Wurzel ist
in einem Namen, denn die Buchstaben sind wie Zweige, die erscheinen
wie die Flammen, die sich flackernd bewegen, bei denen Bewegung

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 245

stattfindet, und die doch mit der Kohle verbunden sind, und wie die
Blätter des Baumes, und seine Äste und Zweige, deren Wurzel immer
im Baum ist . . . und alle Debharim werden zu Form, und alle Formen
gehen nur aus dem einen Namen hervor wie der Zweig, der aus der
Wurzel hervorkommt. So folgt denn, daß Alles in der Wurzel, welches
der eine Name ist, drin ist" (zu II, 5). Die Welt der Sprache ist also
eigentlich die „geistige Welt". Nur was in einem Ding an Sprache
lebt, ist sein wesentliches Leben. Dies wird ins Kabbalistische über-
steigert: die ,Worte', Dibburim machen die Welt der Sephiroth aus,
welche in ihren Konfigurationen zu den Buchstaben zusammentreten,
ebenso wie auch umgekehrt die Worte selber die Konfigurationen der
Buchstaben sind. Beides findet sich bei Isaak. Diese kaleidoskopartigen
Verhältnisse sind bei Isaak nicht völlig durchsichtig. Der Buchstabe
ist ihm jedenfalls das Element der Weltschrift. Er erklärt das hebrä-
ische Wort für Buchstaben, 'Othijoth, vom Verbum 'atha, kommen,
als „Dinge, die aus ihrer Ursache kommen", also das aus der Wurzel
„Hervorkommende". In jedem solcher Elemente sind aber, in immer
neuen Konfigurationen, alle Sephiroth enthalten: „In jedem Buch-
staben sind die zehn Sephiroth". Zu IV, 1 hören wir, daß die zehn
Sephiroth „innerliche [oder: verborgene] Wesenheiten" sind, deren
innerliches [verborgenes] Sein in der Hokhma enthalten ist, und die
zugleich Wurzeln oder Prinzipien sind, in denen sich gut und böse
noch vereint finden. „Sie [die Sephiroth] beginnen hervorzuwachsen
wie ein Baum, dessen Anfänge unerkennbar sind, bis aus ihnen eine
Pflanze wird." Die Verben, die das Buch Jesira von der Entstehung
der Buchstaben gebraucht, die Gott in das Pneuma „eingehauen hat",
legen Isaak das Bild vom Berge nahe, aus dem die rohen Steine ge-
brochen werden, die dann zu Steinen behauen und gemeißelt werden,
aus denen die wohlgeordneten Gebäude entstehen. Dies „Gebäude" ist
die Welt, aber auch die Welt der Sephiroth als solche stellt einen
solchen Bau dar, der aus seinen Elementen, und letzten Endes aus der
Hokhma, hervorgeht. Die Sphäre, in der dieses Behauen der innersten
Elemente stattfindet, ist nicht die verborgene Sophia, in der Alles
noch ungeformt vereinigt gedacht wird, sondern die ihr folgende
Sephira Bina oder Teschubha („das wohin alles zurückkehrt"), die
selber eine mystische Hyle ist, aus der die Formen herausgemeißelt
werden148.
148
Zu II, 6 erklärt Isaak das Tohu, die Urmaterie, als ein „formloses Sein, das
aus der Kraft der Bina, me-Hazmanath ha-Teschubha, emaniert ist", und aus dem die
Finsternis als ein reales Prinzip hervorgeht. Während man hier geneigt sein würde,
Tohu nicht für die Bina selbst, sondern für eine Emanation aus ihr zu halten, wird
es in Isaaks kurzem Kommentar zu Gen. 1 direkt als „die Tiefe der Teschubha" be-
zeichnet, die im Talmud (Hagiga 12b) sich hinter der Definition des Tohu als „grüner
Strich, der das All umgibt" verstecke, Hs. Halberstam 444, Bl. 29a.

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246 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Bei all diesen Ausführungen benutzt Isaak immer wieder den Be-
griff der Hawwajoth, der Essenzen oder Wesenheiten aller Dinge, der
bei ihm ebenso für die Sephiroth wie für die Buchstaben steht, aber
über sie hinausreicht. Denn nirgends ist bei ihm davon die Rede, daß
diese Essenzen entstanden oder geschaffen seien. Sie haben vielmehr
ein ursprüngliches Sein in Gott und vor allem in der Mahschabha,
und wie schon gesagt, äußert sich gerade der Jesirakommentar nirgends
über ein Entstandensein dieses Bereiches. Auf Isaak muß dem Sinn
nach die Formel zurückgehen, die sich bei seinen Schülern in Gerona
findet und die ganz der Position des Kommentars entspricht: „Die
Essenzen waren, die Emanation aber ist entstanden"149. Sie werden
vorausgesetzt, und nur über die Art und die Grade ihres Hervortretens
in der Emanation sowie auch über ihre Erfassung in der Meditation
hat Isaak in seinem Kommentar Betrachtungen angestellt. Man
könnte aus seinen Erklärungen zu I, 1 vielleicht sogar entnehmen,
daß es Essenzen gibt, die der Sophia und dem Prozeß des Denkens
gar nicht mehr gegeben sind, also Seinsweisen darstellen, die zwar
bei Gott vorhanden sind, aber nicht Gegenstände des Denkens werden
können. Dies könnte von Isaaks Bemerkung zu den Worten Peli'oth
Hokhma in I, 1 impliziert sein, welche als „der Anfang der Essenzen,
die dem Denken gegeben sind" erklärt werden. Die „wunderbaren
Pfade der Hokhma" sind nach ihm „innerliche und subtile Essenzen",
die in der Hokhma als Wurzel des Baumes sind und von ihr ausgehen
wie die Säfte, die den Stamm durchziehen. Die geheimen Adern, auf
denen diese Säfte sich im Baum verbreiten, sind selber diese Wege.
„Keine Kreatur vermag sie meditierend zu erkennen [hebr. lehith-
bonen], außer wer aus ihr [nämlich der Hokhma selber] saugt, auf dem
Weg der Meditation durch sein Saugen [sie !], und nicht durch Wissen."
Diese rätselhaften Worte scheinen darauf hinzudeuten, daß Isaak eine
Beziehung zu diesen verborgenen Wesenheiten kennt, die nicht durch
Wissen erlangt wird, sondern durch ein anderes Verfahren, eine sprach-
lose Betrachtung, die er .Saugen', Jeniqa, nennt. So hat Isaak von
Akko ihn verstanden, der die „lernende Aneignung" der Erkenntnis
von der unmittelbaren „Meditation des Intellekts" unterscheidet150.
Freilich könnte hier auch ein anderer Gedanke gemeint sein, nämlich
daß die Kreatur überhaupt nicht dieser Meditation fähig ist, sondern
nur die aus der Hokhma emanierten Sphären selber dies vermögen,
die keine Kreaturen im eigentlichen Sinn des Wortes sind. Dem würde
es entsprechen, daß Isaak an einer anderen Stelle seines Kommentars
(zu I, 3) von den in der Hokhma verborgenen Essenzen spricht, bei

149
Mehrfach bei Ezra, vgl. Sepher Bialik, S. 158, sowie im Namen des Nachmanides,
vgl. meine Nachweise in Kirjath Sepher I X (1932), S. 126.
150
Vgl. Kirjath Sepher Band 31 (1956), S. 383.

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 247

denen noch keinerlei Formung statthat, und von ihnen sagt, daß „nur
das aus ihnen emanierte Ding die Kraft hat, sie meditierend zu er-
kennen". Aber auch hier fügt Isaak höchst bezeichnend hinzu „oder
aber der Mystiker [hat diese Kraft], der es [worauf sich dieses ,es'
bezieht, ist im Zusammenhang der Konstruktion des Satzes nicht
klar] meditiert, denn aus den geformten Essenzen heraus [gelangt
er bis an] eine Meditation über die ungeformten, und aus der Inner-
lichkeit des Erfassens ihres [diesen Essenzen zugrunde liegenden]
Denkens gelangt er zur Meditation ihrer Ursache in Έη-soph [oder:
ihrer unendlichen Ursache]." Ob freilich der Mystiker, Maskil, von dem
hier die Rede ist und der im kontemplativen Fortschreiten seiner
Meditation von Stufe zu Stufe bis zu einer Meditation über die un-
endliche Ursache gelangt, auch dieses „saugenden" Verhältnisses zu
den Ursprüngen allen Seins fähig ist, hängt davon ab, wie weit man
in der Interpretation des einschlägigen oben zitierten Satzes gehen will.
Jedenfalls ist evident, daß in der Tat diese Essenzen „dem Herzen
sichtbar sind", also ein Gegenstand kontemplativer Erfassung werden
können. Denn zu Ende von Kap. I sagt Isaak von der Emanation
der körperlichen aus den geistigen Wesenheiten: „Aus den inner-
lichen geistigen Essenzen, die [den Sinnen] nicht faßbar sind, aber dem
Herzen sichtbar, hat er ausgemeißelt und sind aus ihnen emaniert
körperliche, die faßbar sind". Der Ausdruck „dem Herzen sichtbar"
ist freilich noch weit entfernt von der Terminologie des Saugens, die
sich vielleicht nur auf die Erkenntnisart der Sephiroth untereinander
bezieht. Daß diese Definition der Sephiroth und Sprachelemente als
innere Essenzen in der Sophia Gottes, die zugleich aber auch der
Meditation des Mystikers faßbar werden, eine philosophische Ter-
minologie und Tradition impliziert, scheint mir klar. Das hebräische
Wort scheint dem lateinischen essentiae nachgebildet, wie vielleicht
auch der Infinitiv Haskel dem lateinischen Terminus intelligere. Diese
subtilen Essenzen, die der geistige Ursprung der geformten Buch-
staben sind, bilden in ihrer ungeschiedenen und noch ungeformten
Einheit in der göttüchen Sophia die Urtora. Isaak erklärte den be-
kannten platonisierenden Ausspruch des Midrasch Bereschith rabba,
daß Gott die Welt schuf, in dem er auf die Tora (die dabei also die
Ideenwelt vertritt) hingeblickt habe (wie der Gott des Timaios auf
die Ideen) : Gott habe „diese Essenzen, die sich bei der Weltschöpfung
manifestieren würden, in sich selber gesehen, wie sie aus der Hokhma
ihr Sein hatten"I61. Diese eigentliche Urtora, Tora qedutna, steht ihren
Erscheinungsformen als schriftliche und mündliche Tora in den
Sephiroth von Tiph'ereth und *Atara gegenüber, und in seiner Er-
161
Zitiert in Sepher ha-'Emuna weha-Bittahon, Kap. 18, und in etwas besserem
Text, in den alten Kollektaneen der Hs. Christ Church College 198, Bl. 26b.

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248 Die ersten Kabbalisten in der Provence

klärung zum Midrasch Konen hat Isaak dieser Mystik der Tora in
ihren drei Erscheinungsstufen tiefsinnige Betrachtungen gewidmet,
auf die ich noch (S. 253ff.) zurückkomme.
Solche Essenzen gibt es auch von den äußeren und wahrnehmbaren
Dingen. In der Sephirothwelt unter Hokhma sind sie bei aller geistigen
Natur doch determiniert, in ihrer Seinsart bestimmt und begrenzt
(qebhu'oth und haquqoth), und durch sie vermag der Mystiker „zur
Meditation über die bestimmten, subtilen, aber unbegrenzten [sehe-m
lahem Gebhul] Essenzen" zu gelangen. Dieser Fortschritt in der Er-
fassung des Innerlichen aus dem Äußerlichen heraus wird immer wieder
betont. Gleich am Anfang heißt es: „Die Pfade [der Sophia] sind wie
die Fäden der Flammen, welche Pfade für die Kohlen sind, und durch
die Flammen sieht der Mensch die [zugrunde liegende] Kohle, nach
der Art eines Knäuels, denn dadurch, daß der Mensch dem Faden
nachgeht, gelangt er zum Ort des Knäuels. So auch findet der Mensch
durch die Blätter, Zweige und Äste und die vielen Stämme die Lei-
tungen [wörtlich: Höhlungen, nämlich der Säfte], die zum Eigent-
lichen \flqqar] und zur subtilen Wirklichkeit der ihrer Subtilität und
Innerlichkeit wegen unsichtbaren Wurzel hinführt".
Von der Hokhma an führt ein ungebrochener Strom der Emanation
auch über die Sephiroth hinaus zu allem unteren Sein. Alles ist mit-
einander kettenhaft verbunden und verschlungen: „Eines aus dem
anderen, das Innerliche aus dem noch Innerlicheren" und „Alle Dinge
sind Esseñzen aus Essenzen, Gesicht aus Gesicht [oder: Inneres aus
Innerem]"162 (III, 1). Was aber in der „oberen Welt" der Sephiroth
und Middoth Gottes, wenn sie auch von Ursache zu Ursache fort-
schreiten, eine Einheit war, wird bei dem Heraustreten aus dieser
Welt zu der des Vielfältigen, die bei Isaak die „Welt der Trennung"
oder „Welt der getrennten [Dinge]", *Olam ha-Niphradim, heißt153.
Diese Terminologie beruht offenbar auf einer Transformation des
philosophischen Begriffes der separaten Intelligenzen, die bei den
Philosophen separat heißen, weil sie von der Materie separierte und
reine Formen sind. Die Mystiker drehten den Sprachgebrauch um und
bezogen ihn auf die Trennung dieses Bereiches von dem der göttlichen
Einheit. Hierauf bezogen sie dann, offenbar schon in Isaaks Kreis,
152
Richtig ist aber wohl die Lesung Panim, Gesicht, da er (zum Ende von Kap. I)
von den „Gesichtern oben" spricht, die der Schöpfer gemacht habe und die der Mensch
in jeder Richtung vorfindet, wenn er sich in die oberen Dinge versenkt. Der Gegensatz
ist hier klar ahor und nicht, wie es sonst sein müßte, hison.
158
Der Terminus kommt schon im Jeçira-Kommentar vor, sowie am Ende des
Stücks über Gen. I, Hs. Halberstam 444, Bl. 29b, und kehrt dann bei seinen Schülern
wieder, so bei seinem Neffen Ascher ben David zu Gen. I in Hs. Paris 823, Bl. 180 a.
und bei Ezra in dem in Sepher Bialik, S. 166, gedrucktem Brief. Vgl. dazu auch Tarbiz
II (1931), S. 419.

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Isaaks Lehre von dem Sephiroth 249

den Vers Gen. 2 10. Der Strom, der aus Eden herausgeht, ist der der
Emanation der Sephiroth, der aber, wo er aus dem Garten, der unter-
sten Sephira, heraustritt, sich trennt und zur Vielheit der kreatür-
lichen Welt der Trennung wird. Aber auch in dieser Welt findet eine
Vereinigung statt, die aus den getrennten Kräften ein organisches
wirkungsfähiges Ganzes macht, „nach Art der Verbindimg der Flammen
mit der Kohle". Isaak deutet die Verben, die das „Buch der Schöp-
fung" von Gottes Aktion mit den Buchstaben als kosmischen Ele-
menten gebraucht, „Er wog sie, vertauschte sie und kombinierte sie",
auf die verschiedenen Akte, die innerhalb der Ur-Hyle geschehen.
Das Wägen findet noch innerhalb der Sephirothwelt statt und stellt
eine Harmonie zwischen den Kräften her, dergestalt, daß eine aus der
anderen emaniert, „denn ohne Gleichgewicht [wörtlich: Auswägung]
zwischen den Potenzen kann keine aus der anderen emanieren" (zu
II, 1). Hier haben wir offensichtlich denselben Gedanken vor uns, den
wir oben bei Isaaks Vater kennen gelernt haben, wonach die Gegen-
sätze nur dadurch wirken, daß zwischen ihnen eine gewisse Harmonie
besteht und in dem einen schon etwas vom anderen steckt. Das Ver-
tauschen bezieht sich nach ihm auf Veränderungen in der Zeit: hat
eine Midda ihre Funktion erfüllt, so beginnt eine andere zu wirken
und ihre Kräfte wirken nicht alle zusammen (II, 1 und III, 1). Die
Kombination, Seruph, ist nach ihm im Bezug auf die Welt der Niph-
radim derselbe Prozeß der Verbindung und des fruchtbaren Wirkens,
den das Wägen in der Welt der Sephiroth bezeichnet. Isaak findet in
der Aktion des Seruph eine Rückverbindung zur einheitlichen Wurzel
der getrennten Dinge. Ohne diese Rückbeziehung auf die eine Kohle
können die Flammen nicht wirken; ohne ihr Zusammenwirken im
Ganzen des Baumes können auch die Äste nicht ihre Stärke behalten.
In diesem Prozeß schreiten alle Dinge in konstantem Fortgang von
Ursache zu Ursache fort, „bis sie zu den getrennten Dingen kommen,
die unterhalb der zehn Sephiroth liegen, aus denen das Getrennte
saugt wie die Früchte des Baumes, bis sie zur vollkommenen Reife
gelangen, und mit der Vollendung ihrer Reifung fallen sie vom Ort,
an dem sie ihre Kraft gesaugt haben, ab, und andere entstehen neu
an ihrer Stelle" (zu II, 1). Dieser Prozeß gilt von allen Dingen der
geschöpflichen Welt, „von jedem nach dem Rang des Ortes, an dem
er seine Kraft saugte", und auch für die Seelen, „welches subtile
Wesenheiten sind, die an einem Ort zusammengebunden [seruroth]
sind und alle von Anfang her bestehen, deren Vitalität aber aus einer
innerlichen Kraft stammt, aus etwas, das das Herz nicht zu denken
vermag" (zu II, 2).
Alles ist also miteinander verbunden und alles ist ineinander ent-
halten, wie formelhaft mehrfach betont wird. Wie weit hierbei ein
pantheistisches Element, das durch die gebrauchten Bilder nahe-

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250 Die ersten Kabbalisten in der Provence

gelegt wird, auch in der Sache mitspielt, ist nicht leicht zu sagen. Jeden-
falls ist die Kontinuität dieser kosmischen Kette dem Autor evident,
und auch von einem abgetrennten und gesonderten Sein läßt sich
nur relativ sprechen: „Bei allen Dingen und Middoth, die als getrennt
erscheinen, findet doch keine [wirkliche] Trennung statt, denn alles
ist eines wie der Uranfang [a. Lesart : in dem Uranfang oder Prinzip],
der alles [in sich] vereint"154. Von diesem Einen heißt es bei ihm: „Er
ist in allem geeint und alles ist in ihm geeint", eigentlich eine klare
Fassung des göttlichen Immanenzprinzips. Auch die Welt des Ge-
trennten, die eine sozusagen außergöttliche Welt darstellt, ist ja in
diese Kette einbezogen, und dem entspricht eben die Möglichkeit der
Erkenntnis durch Hithbonenuth, Betrachtung oder Meditation, in
stufenweisem Aufsteigen und durch das Ineinanderschauen aller
Dinge. Vom Anschauen und Meditieren des Geformten schreitet der
Mystiker zur Anschauung des Formlosen und Innerlichen fort, und
von dort zu der der Mahschabha und der „unendlichen Ursache"
aller Wesenheiten oder, wie ja auch übersetzt werden kann, zur Ur-
sache aller Wesenheiten in 'En-soph.
Bei diesem Übergang von der Einheit der göttlichen Emanation
zur Vielheit des Getrennten spielt bei Isaak offenbar der Begriff der
Midda in einem neuen Sinn eine beträchtliche Rolle. Das Wort wird
bei ihm nicht mehr in dem älteren Sinn verwandt, den es noch im
Buch Bahir hatte, sondern hat eine, wenn auch durchaus nicht durch-
sichtige, besondere spekulative Bedeutung erhalten. Die Middoth
sind auch nicht die Attribute, die Gottes Handeln beschreiben. Sie
sind Prinzipien, Hathhaloth, von allem was sich außerhalb der gött-
lichen Einheit befindet. Um pantheistische Konsequenzen aus ihren
Voraussetzungen zu vermeiden, mußten die Kabbalisten versuchen,
einen Unterschied zwischen dem Wirken der göttlichen Middoth in
der Sephirothwelt und dem Wirken der aus ihnen schon emanierten
Middoth zu statuieren, die in der kreatiirlichen Welt aktiv sind. Das
ist in der Tat, was Isaaks Neffe, wohl im Sinn der Lehre seines Onkels,
unternommen hat. Nach ihm ist die Rede von Middoth im Bezug auf
Gott überhaupt nur hyperbolisch zu verstehen. Denn „es ist undenk-
bar, daß in Ihm ein begrenztes und entschiedenes [absolutes] Maß
stattfindet, da Er einer ist, mit allen [Middoth] vereint und in allen
auf einmal wirkt oder aber in einer von ihnen, indem er alle anderen
in ihr zusammenfaßt, und auch in einer allein wirkt er zugleich etwas
und auch dessen Gegenteil, denn die Kraft der einen ist in der anderen,
da jede Midda in der anderen enthalten ist155". Die Sephiroth heißen
also Middoth (Maasse) nur von uns aus, indem sie uns von Seiten

154 Hebräisch: schehakol ehad kemo ha-hathhala schehu mejahed hakol.


165 In Aschers Sepher ha-Jihud, ed. Chassida, S. 18.

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 251

ihrer Wirkung sichtbar und erfaßbar werden. Damit konnten die


Kabbalisten die Sephiroth mit den Attributen der Handlung iden-
tifizieren, die nach der Lehre des Maimonides der Gottheit allein zu-
geschrieben werden durften. Aber auch dies galt vor allem nur für
die sieben unteren Sephiroth, die das „Gebäude" der Schöpfung auf-
bauen. In dieser Hinsicht konnten diese Middoth auch als Instrumente
betrachtet werden, durch die der Schöpfer oder Herr der Emanationen
wirkt, „wie die Instrumente des Handwerkers, durch die er sein Werk
ausübt, und aus Gottes Licht sind diese Instrumente aufgestrahlt,
die die Weisen Sephiroth nennen". Die Middoth unterhalb der Sephiroth
unterscheiden sich von den oberen darin, daß hier eine jede nur eine
einzige Funktion auszufüllen vermag, und bei ihnen in der Tat ein
begrenztes Maß stattfindet. Hier können sich die Gegensätze nicht
in ihrer Wurzel vereinigen wie bei den oberen Middoth, aber auch sie
wirken, wie wir sahen, nur in der Rückverbindung auf diese oberen
Middoth. Die Beziehung dieses Begriffs der Midda zur Sprachmystik
der Logoi ist bei Isaak zwar vollzogen, aber durchaus undurchsichtig,
und die Bestimmung die er darüber gibt, mir unverständlich. Zu Je-
sira I, 4 Middathan 'esser, „ihr Maß ist zehn" sagt er: „Jeder Logos
— das ist hier wohl unter Dabhar zu verstehen, und nicht einfach
Ding — ist eine Midda, und was über ihr steht, ist ihre .Erfüllung'
[Millu'ah, Vervollständigung^ denn Midda ist die Potenz dessen,
was von der Midda des Messenden emaniert ist, und die Essenzen
[sind] selber Midda, und die Emanation eine unendliche Essenz [oder:
eine Essenz in Έη-sofih]". Ich vermag mit diesem schwierigen Satz
keinen deutlichen Begriff zu verbinden.
In anderer Richtung ist aber die Sprachmystik Isaaks verständ-
licher. Aus der Sophia, die wir als die noch sprachlich undifferenzierte
Urtora kennengelernt haben, wird in der nächsten Sephira Bina die
Stimme, und zwar nicht als hörbare, sondern als noch verborgene,
die erst auf späteren Stufen der Emanation zur vernehmbaren Stimme
und am Ende dieses Prozesses zur artikulierten Rede wird. Aber schon
die verborgene Stimme differenziert sich, indem sie sich hinzieht, in
viele Buchstaben. Indem die Urformen der Buchstaben „in das
Pneuma gehauen werden", welches Bina ist, erhalten sie nach Isaak
ein äußeres und ein inneres, Körper und Seele. Diese Kraft der Buch-
staben strömt in die Welt unter die Sephiroth ein und bildet an der
Himmelsphäre die geheimen, aber doch sichtbaren, Urbilder aller
Dinge in der Gestalt der 231 Tore an dieser Sphäre, die die Kombi-
nationen des hebräischen Alphabets zu je zwei Elementen sind. Die
Zahl dieser Kombinationen ist 462. Die andere Hälfte dieser Kraft
bleibt nämlich oberhalb der Sphäre. So sind die Buchstaben, wie
immer sie zusammentreten, doch nur die sichtbaren Verzweigungen
des einen Urnamens. Dabei bleibt ungesagt, ob dieser Urname das

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252 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Tetragrammaton, der Name Ehjeh oder etwa ein anderer diesen beiden
Namen zugrunde liegender mystischer Name ist. In allen Buchstaben
bleibt doch der ganze Emanationsprozeß kondensiert, und „in jedem
einzelnen Buchstaben sind alle zehn Sephiroth" (III, 2). Der Buch-
stabe wird also schon eine ganze Welt für sich, die alles künftige als
etwas, das schon in ihm angelegt ist, enthält. „ I n jedem einzelnen
Buchstaben sind subtile, innerliche und verborgene Wesenheiten,
,ohne etwas' [die noch nicht zu etwas Bestimmtem geworden sind].
Alles was aus ihnen herausgemeißelt werden würde, war schon in ihnen,
so wie im Menschen alle seine Nachkommen sind". Diese geheimen
Wesenheiten in den Buchstaben, die sich in der Schöpfung auswirken,
sind „nach Art der in der Sophia gegebenen Essenzen" gedacht. Es ist
sehr wohl möglich, daß das „Was-lose" Sein, das Sein ohne Quiddität,
auf das hier Bezug genommen wird und das in den Buchstaben steckt,
etwas mit der Definition der Sophia zu tun hat, die bei Isaaks Schülern
mit einem Wortspiel als die „Potenz des Was" erklärt wird 158 . Zu dem
Zitat aus dem Jesirakommentar paßt diese Auffassung ausgezeichnet.
Ähnliche Gedanken über die Entfaltung der Welt der Sephiroth
und der darunter stehenden finden sich, wenn auch in rätselhafter
Kürze, in Isaaks Kommentar zu Gen. I (von dem schon Sahula be-
kennt, daß er ihm teilweise unverständlich sei). Dort freilich hören
wir von einem Fortschritt vom „Glanz der Sophia" zum „Licht des
Intellekts" als Inhalt der Schöpfung des ersten Tages, der als my-
stischer Urtag alle Essenzen „im Geist, wenn auch noch nicht in der
Form" in sich enthielt. Erst bei der Ausbreitung des Lichts des In-
tellekts strahlt aus ihm das Licht aller anderen Dinge auf, und es
scheint, daß die Urschöpfung des ersten Tages für Isaak alle zehn
Sephiroth umfaßt. Die Vorgänge am zweiten Schöpfungstag werden
von ihm auf den Übergang, die „Ausbreitung des Geistes in der Form"
gedeutet. Auch die Seelen „breiten sich in die Form hin" erst am
zweiten Tage aus. Worin diese spezifische formende Kraft des Geistes,
der die Ruah 'Elohim von Gen. 1 2 ist, besteht, erfahren wir nicht. E r
ist ein Pneuma, das aus den Sephiroth Hokhma und Bina kommt,
„und heißt bei den Weisen die Kraft, die die Form ausformt". Die
hier genannten „Weisen" müssen, der benutzten Terminologie zu-
folge, Philosophen sein ; im Midrasch findet sich eine solche Wendung
nicht. Aus diesem höchsten Pneuma kommen offenbar alle Seelen,
die von den in den Geist eingegrabenen Buchstaben geprägt werden.
Die Details dieser Ausführung sind undurchsichtig. Nachdem er
zwischen Geist und Form geschieden hat, sagt Isaak unmittelbar
dahinter, daß „der Geist in den Worten der Philosophen Form heißt",
und daß eine unendliche Kette besteht, in der sich „Geist in Geist

156
So bei Azriel, Perusch 'Aggadoth, S. 84, und Tishbys Anmerkung dort.

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Isaaks Lehre von den Sephiroth 253

formt bis zum Έη-soph hin". Isaaks Erklärung springt von der Er-
klärung des zweiten Tages gleich zu der des sechsten und der Er-
schaffung des Menschen. Wie er sich die Funktionen der anderen Ur-
tage vorstellte, erfahren wir nicht.
Eine weitere sehr merkwürdige Ausführung zur Kosmogonie ent-
hält Isaaks schon erwähntes Fragment eines Kommentars zum An-
fang des Midrasch Konen. Besonders wichtig ist hier seine Erklärung
des aggadischen Satzes, daß die Tora vor der Weltschöpfimg mit
schwarzem auf weißes Feuer geschrieben gewesen sei. Isaak bringt
dies mit seinen Spekulationen über die drei Manifestationsstufen der
Tora zusammen, welches die Ur-Tora, die schriftliche und die münd-
liche Tora, sind. Die Ur-Tora war nach dem Midrasch in der Rechten
Gottes. Hierzu sagt Isaak: „In Gottes Rechte waren alle Eingra-
bungen [d. h. die innersten Signaturen, die noch keine wirklichen
Formen sind] eingegraben, die bestimmt waren, dereinst aus der
Potentialität zur Aktualität hervorzugehen. Aus der Emanation
aller Kronen [Sephiroth] wurden sie eingegraben, eingeritzt und ein-
geformt in die Stufe der Gnade [die Sephira Hessed, die auch Gottes
Rechte heißt] und zwar in einer innerlichen unvorstellbar subtilen
Formimg. Und dies heißt vom Anbeginn der Mahschabhah an die
.zusammengefaltete', noch unentfaltete Tora oder Tora der Gnade.
Mit allen anderen Eingrabungen sind in sie [vornehmlich] zwei Ein-
grabungen vorgenommen worden. Die eine hat die Form der schrift-
lichen Tora und die andere die Form der mündlichen Tora. Die Form
der schriftlichen Tora ist die der Farben des weißen Feuers, die Form
der mündlichen Tora die von Farbgestalten wie von schwarzem Feuer.
All diese Eingrabungen und die noch unentfaltete Tora selbst be-
standen potentiell [in der Idee oder der Sophia ?], und konnten weder
von einem geistigen noch von einem sinnlichen Auge wahrgenommen
werden, bis der Wille [Gottes] den Gedanken anregte, sie vermittels
der Urweisheit [Hokhma qeduma] und der verborgenen Erkenntnis
[Da'ath genuza] zur Aktualität zu bringen. So bestand denn am An-
fang des ganzen [Schöpfungs]Werkes präexistenziell die unentfaltete
Tora, welche Gottes Rechte ist, mit all jenen Einritzungen der in ihr
verborgenen Eingrabungen, und darauf zielt der Midrasch hin, indem
er sagen will, daß Gott die Ur-Tora [Tora qeduma], die aus dem
Bruchort der Bina [hier als Teschubha, Rückkehr bezeichnet] und
aus der Quelle der Ur-Hokhma stammt, nahm und in einem geistigen
Akt die unentfaltete Tora emanierte, um durch sie den Fundamenten
der Welten Dauer zu verleihen". Der Autor beschreibt dann in wieder-
um sehr undurchsichtiger Weise den Fortschritt der Emanation aus
dem Lichttropfen von Hessed, von denen seine Quelle spricht, wobei
er in Lichtmystik schwelgt. Zuerst nahm Gott zwei Namen, von denen
der erste das große Feuer oder die Sephira Gebhura wird, der andere

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254 Die ersten Kabbalisten in der Provence

sich zur „Form der schriftlichen Tora, welches die Farbe des weißen
Feuers ist" entfaltet. Sie entspricht der Sephira des göttlichen Er-
barmens, oder Tifh'ereth. Die unterste Sephira dagegen enthält,
da sie dem Walten des göttlichen Gerichtes in der Welt entspricht,
die mündliche Tora, die das schwarze Feuer ist, das auf dem Unter-
grund des weißen brennt. „Die Form der Buchstaben ist aber ohne
Vokale und nur potentiell in dies schwarze Feuer eingegraben, das
wie die Tinte [auf dem weißen Pergamente] ist". Im weißen Feuer
selber treten also die Formen der Buchstaben noch gar nicht aktuell
hervor, und wo sie es tun, sind wir schon, im Symbol des schwarzen
Feuers, im Bereich der mündlichen Tora. „Und so kann die schrift-
liche Tora keine körperliche Form annehmen, es sei denn durch die
Kraft der mündlichen Tora, das heißt: sie kann ohne diese nicht
wahrhaft verstanden werden, so wie die Weise des göttlichen Er-
barmens nur vermittels der Weise des Gerichtes erfaßt und wahr-
genommen werden kann. Und die Farbgestalten, Gawwanim, des
Schwarzen, welche die des Gerichtes sind, steigen auf und breiten
sich aus über die Gestaltungen des Weißen, die die des Erbarmens
sind, wie das Licht der Kohle. Denn die Kraft der Farbgestaltungen
der Flammen nimmt überhand, bis das Licht der Kohle wegen des
Übermaßes der Flammen, die sie bedecken, gar nicht mehr wahr-
genommen werden kann". Wir haben hier dasselbe Gleichnis von der
Kohle und ihren Flammen, das Isaak auch im Kommentar zu Jesira
so oft verwendet. Die mystische schriftliche Tora ist also in der un-
sichtbaren Form des weißen Lichtes, das vom Pergament der Tora-
rolle dargestellt wird, eigentlich noch verborgen und kann vom ge-
wöhnlichen Auge überhaupt nicht wahrgenommen werden. Nur wo
in den Flammenspielen der mystischen Lichter sie zuzeiten ausein-
treten, geben sie einen momentanten Blick auf das weiße Licht oder
die Sphäre des göttlichen Erbarmens frei. In solcher Stunde vermögen
„manche der Propheten vermittels der [ihrer Kontemplation zu-
gänglichen] ,Krone der Herrschaft' [der letzten Sephira] etwas von
diesem mystischen Glanz zu erhäschen, ein jeder nach der ihm ge-
bührenden geistigen Stufe". Aber dies kann nicht mehr sein als eine
momentane Intuition, und eine wirkliche dauernde Anschauung jener
verborgenen Form des weißen Lichtes ist ebenso unmöglich wie die
der Sonne durch ein irdisches Auge. Nur Moses, der Meister aller Pro-
pheten, vermochte eine beständige Anschauung von diesem „leuch-
tenden Spiegel" zu erlangen und in seinem prophetischen Rang mit
ihr in geistige Kommunikation zu treten.
Die Sprache dieser Symbolik ist ganz die der anderen Fragmente
Isaaks. Hier haben wir, hinter mystischen Symbolen versteckt, die
Auffassung, daß es für die Erkenntnis des gewöhnlichen Sterblichen
überhaupt so etwas wie schriftliche Tora gar nicht gibt. Alles, was

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Gut und Böse 255

wir so nennen, ist selber schon durch das Medium der mündlichen
gegangen. Die dem Menschen erfaßbare Tora ist nicht die im weißen
Licht verborgene Form, sondern eben das dunkle Licht, das schon
bestimmte Formen und Determinationen angenommen hat und damit
die Eigenschaft der göttlichen Strenge, des Gerichts, bezeichnet. Die
Torarolle selber symbolisiert das. Die Tinte und das Pergament sind
eine Einheit. Aber das durch die Tinte sichtbar werdende Element
ist schon die Schwärze, der ,dunkle Spiegel', der mündlichen Tora,
und das wahre Geheimnis der allumfassenden schriftlichen ist in den
noch nicht sichtbaren Signaturen des weißen Pergaments enthalten.
Mit einem Wort: es gibt nur mündliche Tora, und der Begriff einer
schriftlichen Tora ist letzten Endes nur in einem mystischen Bereich
vollziehbar. Er erfüllt sich nur in einer Sphäre, die allein Propheten
zugänglich ist. Wir haben hier also, am Anfang der historischen Er-
scheinung der Kabbala im Abendland, eine These, deren mystische
Radikalität kaum übertroffen werden konnte und in der Geschichte
der Kabbala in der Tat nicht übertroffen worden ist 187 . Sie weist
Isaak mehr als alles andere, was wir von ihm wissen, als echten Eso-
teriker aus. Isaaks Fragment verfiel völliger Vergessenheit, seine These
aber ist im Verlauf der Geschichte der Kabbala mehrfach, zum Teil
in noch unverhüllterer Sprache, wieder erarbeitet worden158.

6. Gut und Böse bei Isaak und in anderen Quellen

Jene göttliche Kraft, die sich von den Sephiroth aus in der Schöpfung
verbreitet, von der Welt des Thrones und der Engel an, reicht auch
unterhalb des menschlichen Bereiches bis zu den niederen Lebewesen,
ja auch den Pflanzen hinab. Auch die Bäume haben eine mystische
Wurzel in denen des Paradieses, wo sie noch Urbilder aller späteren
Bäume darstellen. Alles Untere ist mit dem Oberen verbunden und
besteht dadurch, bis es sich in solcher Kette dem Unendlichen an-
schließt. „Alle Geschöpfe auf Erden hängen von den höheren Kräften
ab, und diese von noch höheren, bis zur unendlichen Ursache hin. 169 "
Diese kosmische Kette ist mindestens im Bereich der Sephiroth eine
magnetische. Die Sephiroth und Logoi „erheben sich über sich selbst
wie etwas, das sich unter dem Einfluß eines Magneten erhebt, und
so ist [in den Worten des Buches Jesira] ihr Ende in ihrem Anfang
[beschlossen]" (zu I, 7). Es gibt aber nicht nur eine Verbindung der

157
Ich habe hierauf schon in meinem Kapitel über den Sinn der Tora in „Zur Kab-
bala und ihrer Symbolik", Zürich (1960), S. 71, hingewiesen.
168
Vgl. dort, S. 1 0 1 - 1 0 4 .
" · Zitat bei Sahula, Bl. 4c.

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256 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Emanation der Kraft, sondern auch eine der Schau, Sefhija. Zu Je-
sira I, 6 erfahren wir, daß diese Schau selber wohl der magnetische
Akt der Kommunikation ist, in dem alles zu seinen Ursprüngen auf-
steigt. Das Buch der Schöpfung sagt von den Sephiroth, ihr Schauen
sei wie der Blitz, und Isaak erklärt : „Das Schauen ist die Meditation
des einen aus dem anderen . . . und es besteht darin, daß jede Ursache
aufgenommen wird und sich erhebt und aus einer Ursache, die höher
ist als es selber, her abschaut . . ., alles ist eines im andern und eines
mit dem anderen verbunden". Also nicht nur Gott schaut in die Tiefen
seiner eigenen Weisheit, wenn er die Welt produziert, sondern eine
solche schauende Verbindung findet auch zwischen den Sephiroth
statt. Die Kontemplation des Mystikers in der Kawwana ist also nicht
ohne Parallele zu dem, was in den geistigen Wesenheiten selber vor-
geht. In der Schöpfung wirken nicht direkt die göttlichen Middoth,
die „Väter", sondern abgeleitete Middoth, Toladoth, die aus ihnen
hervorgingen. In der Isolierung, ohne Verbindung mit ihren „Vätern"
oder „Müttern", vermögen sie nichts zu produzieren.
Auch der Mensch ist in diesen Prozeß einbezogen. Er ist „aus Ver-
bindungen der Buchstaben gebaut" (Kap. III). „Und jenes obere
Gebäude von Geist [Ruah] das ihn leitet, leitet [auch] das All, und
so ist denn das All mit den Oberen und den Unteren verbunden und
besteht aus der Welt, dem Jahr und der Seele . . . Und die Seele ist
im All ausschlaggebend" (ebenda). Der Mensch ist, wie es hier weiter
heißt, der „Inbegriff aller Kreaturen, ein großes Siegel, in dem An-
fang und Ende" aller Kreaturen beschlossen sind. Die Seele des Men-
schen ist also der kostbarste Faktor, der in der Welt wirkt. Dieser
Rang gilt sogar von seinem Körper: „Der Gerechte ist ein heiliger
Körper, der von Engeln gewebt ist, und das bedeutet ,Wir wollen einen
Menschen in unserem Bilde machen' und über jedes einzelne Glied
ist ein Engel gesetzt, der ihm hilft, ein Gebot [der Tora] damit zu er-
füllen. Der Frevler hat einen Körper, der von den Engeln der Zer-
störung gewebt ist, und über jedes Glied ist ein Archont gesetzt, so
daß er mit ihm [dem Glied] eine Sünde begeht. Der Frevler hat einen
Intellekt, leicht wie Streu, der Gerechte aber schwer wie Gold160".
Hier fällt der strenge Determinismus zwischen Gerechten und Frevlern
auf. Die Seele ist unmittelbar göttlicher Art. „Der Mensch zieht auf
sich eine obere Kraft, die innerlicher ist als alles Andere, und seine
vernünftige Seele ist besonders lauter, denn sie kommt nicht durch
Vermittlung in der Verkettung der anderen Dinge zustande, sondern ist.
aus einem Etwas emaniert, dasvornehmeristalssie" (Sahula4c). Der hier
gebrauchte hebräische Ausdruck 'Injan me'ulleh könnte daran denken

160 Fragment Isaaks in der alten Hs. Vatikan 202, Bl. 116 b, einer sehr alten Samm-

lung von Material der Geronaer Schule.

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Gut und Böse 257

lassen, daß Isaak hier von Jehuda Halewis Lehre vom 'Injan 'elohi im
Kuzari I, 95 beeinflußt ist161. Enthielt doch nach ihm Adams Seele ein
solches göttliches Etwas, das freilich dort ganz anders gesehen wird als in
der Lehre der Kabbalisten. Isaak erklärte Gen. 2 i: „Er blies in seine
Nase lebendigem Odem" mit dem Gleichnis:,, Wer in einen Schlauch hin-
ein bläst, tut seinen eigenen Odem in ihn162". Hiernach müssen wir an-
nehmen, daß er das Pneuma des Menschen als direkt aus der Welt
der Emanationen stammend betrachtete, als das Göttliche im Men-
schen, das nur aktualisiert werden muß. Dem entsprechen seine Aus-
führungen über die Seele im 2. und 3. Kapitel von Jesira, die schon
oben zitiert wurden.
Wie Isaak die verschiedenen Stufen oder Vermögen der Seele unter-
scheidet, ist nicht klar. Er spricht von Nephesch im allgemeinen Sinn
als dem Träger der Sinneswahrnehmung und von den innerlicheren
Rängen der Ruhoth und Neschamoth, ohne sich über deren Verhältnis
zueinander deutlich zu erklären. Der Emanationscharakter scheint
gerade der Neschamah zuzukommen. An einer Stelle erwähnt er auch
„innerliche und [mit ihrem Ursprung] vereinigte Seelen", die offen-
bar aus Binah entspringen. Sie wirken durch Organe, Kelim, die erst
den Übergang zu den „wahrnehmbaren Formen" bilden, die ihrer-
seits aus der Kraft dieser mittleren Ursachen kommen (zu II, 2).
Dieser Begriff „innerlichster Seelen" für gewisse Wesenheiten in der
Welt der Emanation kehrt dann auch in anderen Quellen wieder183.
Zur Welt der höchsten Emanationen gehört seiner Natur nach das
Gute. Isaak hat die besondere Lichtnatur des Guten gern betont.
Das Gute ist das, was „an seinem Ursprung entzündet" war, wie Kerzen
voneinander entzündet werden. So erklärt Isaak Gen. 1 4 : „Er sah
das Licht, das entzündet war". Diese mystische Etymblogie des Guten
leitet er aus einer, bei uns in keinem Targum erhaltenen aramäischen
Übersetzimg von Ex. 30 7 her184.

m Vgl. über diese Lehre, hinter der, wenn auch verwandelt, der Begriff des Logos
steht, I. Goldziher, Le Amr ilahi (ha-'inyan ha-elohi) chez Juda Halévi, R. E. J. Bd. 50
(1905), S. 32—41; Isidore Epstein, J. Q. R. Bd. 25 (1935), S. 215—219; Israel Efros,
Proceedings of the American Academy of Jewish Research X I (1941), S. 31—33.
192
Zitat bei Sahula 5 b.
íes Vgl. ζ. Β. das als „Geheimnis der inneren Seelen, Geister und Nephaschoth"
bezeichnete Stück, das ich in Maddae ha-Jahaduth, II, S. 285 gedruckt habe. Sein
Autor, wahrscheinlich Isaak Hohen, führt es auf die Tradition zurück, die er von dem
„Chassid und vollkommenen Kabbalisten" erhalten habe, der mit dem unter gleichen
Formeln sonst von ihm eingeführten anonymen Kabbalisten in Narbonne identisch
sein dürfte, auf den er sich öfters bezieht. Das Stück hängt auch engstens mit dem
am Ende dieses Kapitels, S. 318 — 320, mitgeteilten zusammen.
161
Vgl. dieses Targum-Zitat bei Ezra zum Hohenlied, Altona (1764), Bl. l a , wo
vielleicht ursprünglich Isaak genannt war : we-ken perasch \he-Chassid] ; Azriel, Perusch
Scholem, Kabbala 17
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258 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Aber nicht nur das Gute hat seinen Ursprung in dem Aufstrahlen
der Lichter in der Emanation, sondern es gibt auch ein positiv
Böses, das mit der Wurzel des Todes zusammenhängt. Damit
nimmt Isaak die entsprechende Vorstellung des Bahir von der
Natur des Bösen in einer verwandelten Form auf. Die Gegen-
sätze, von denen Kap. 4 des Buches Jesira in Verbindung mit den
sieben, einer doppelten Aussprache fähigen Konsonanten des hebrä-
ischen Alphabets spricht, enthalten auch den von Leben und Tod,
und Isaak erklärt dazu, daß „nach der Ursache des Lebens die Ur-
sache des Todes emaniert wurde", und auch am Anfang von Kap. 2
betont er, daß die Pole der Gegensätze jeweilig „aus einem selbstän-
digen Prinzip" herkommen. Der Tod ist also mehr und etwas anderes
als das Aufhören des Lebens. Es gibt eine positive Wurzel davon.
Freilich betont Isaak zugleich, daß in der Sephiroth-Welt, in den
„inneren Wesenheiten", Gut und Böse noch nicht auseinandergetreten,
sondern harmonisch, be-Ahduth ube-Schalom, vereinigt sind. Erst
wo die „Wurzeln" sich weiter zum Baum entwickeln und in der ab-
geleiteten späteren Emanation, der die Doppelbuchstaben entsprechen,
gibt es das Böse auch als Isoliertes. Auch bleibt der Gedanke Isaaks
vom Bild des Organischen bestimmt (zu Kap. 4). Die Buchstaben
sind wie die Äste am Baum, und in ihnen entfaltet sich die Ver-
schlungenheit von Gut und Böse, die sich noch in allen Dingen durch-
dringen, so daß jede gute Midda auch ihr Böses hat und umgekehrt.
Diese Frage nach der Natur des Bösen spielt auch in andere Fragmente
Isaaks hinein. So weiß ein Fragment (bei Sahula 24b): „Alle Dinge,
die von der Linken herkommen, werden von der Unreinheit beherrscht,
wie es heißt [Jer. l u ] : Von Norden her öffnet sich das Böse". Es
gibt also eine Emanation von Dingen, die aus der Kraft der Linken
herkommen, die die Sephira Pahad oder Gebhura ist. Diese spezielle
Emanation der Linken ist keine, auf Dualismus aufgebaute selb-
ständige Parallele zu der der Sephiroth, sondern eine aus der Welt
der Sephiroth selber, wenn sie im Unteren wirkt, aus Pahad ent-
springende.
An diese und ähnliche Gedanken, die den Ursprung dieser unhei-
ligen oder zerstörerischen Kräfte sogar bis auf Bina zurückführen,
Schloß sich dann wohl noch bei provençalischen Kabbalisten des frühen
13. Jh.s eine stärker ausgearbeitete Theorie der linken Emanation
und ihrer Kräfte an, die eine ganze Metaphysik der Dämonologie ent-
'Aggadoth, S. 89; Joseph ben Samuel zu Gen. 1, in Kap. 31 von Jakob ben Schescheth,
Meschibh Debharim nekhohim sowie Jakob ben Schescheth selbst dort, Hs. Oxford,
Bl. 61a. Auch der Zoharhat der Sache nach diese Erklärung übernommen, vgl. I, 230a.
Auch hier ist die Vermittlung klar: Moses de Leon führt die Stelle aus Ezra (ungenannt)
mit dem Targum-Zitat zusammen im Sepher ha-Rimmon an, Hs. British Museum,
Margoliouth 769, Bl. 51a.

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Gut und Böse 259

hielt. Die Abhandlung, in der Isaak Kohen aus Soria um 1270 diese
Lehre vortrug, stützte sich unter anderem auf alte Papiere, die er in
Arles bei den dortigen Kabbalisten gefunden habe und die sich als
aus dem Orient gekommen ausgaben165. Die betreffenden Stücke
stehen aber viel eher in der Tradition der Gedankenentwicklung, wie
sie sich in der Provence anbahnte, und haben jedenfalls mit den orien-
talischen Quellen der Kabbala, wie wir sie teilweise im Bahir noch
fassen konnten, nichts gemeinsam. Wohl aber könnten orientalischen
Ursprungs die rein mythischen Ausführungen über das Reich der
Dämonen sein, in denen kabbalistische Gedankengänge wie die Lehre
von den Sephiroth oder überhaupt Emanationsvorstellungen gar
keine Rolle spielen. Solche Ausführungen werden von Isaak Kohen
aus theurgischen Quellen vorgebracht, die er mit den „Kleinen
Hekhaloth" und einem Sepher Malbusch in Verbindung bringt, die
aber mit den alten theurgischen Texten dieses Namens nichts zu tun
haben166. In diesen Quellen treten zuerst Sammael und Lilith als
dämonisches Ehepaar an der Spitze der finsteren Hierarchien auf.
Die Rückbeziehung dieser seltsamen Mythologeme auf eigentlich
kabbalistische Theorien ist erst von den Bearbeitern, den Brüdern Isaak
und Jakob Kohen oder deren Lehrern, hinzugefügt worden. Das Alter
dieser Vorstellungen, auf die ich hier nicht im Detail eingehen will167,

les
M adda e ha-Jakadutk II, S. 248. Die alte Schrift der Blätter, die ihm die Kab-
balisten von Arles zeigten, sollte von einem großen Gelehrten namens Maçliach ben
Pelatia aus Jerusalem stammen und von einem ,,R. Gerschom aus Damaskus" ge-
bracht worden sein, der zwei Jahre in Arles gewohnt habe und von dessen Gelehrsam-
keit und Reichtum man sich dort Wunderdinge erzählte. Am legendären Charakter
der ganzen Angaben kann nach dem Zusammenhang dort kaum ein Zweifel sein.
ue Vgl. über die „Kleinen Hekhaloth" in meinem Buch Jewish Gnosticism usw.,
S. 76—83; über das Sepher ha-Malbusch, das „Buch vom Anziehen des göttlichen
Namens", in meinem Buch „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", S. 182—183.
1β7
Die Verhältnisse der verschiedenen Quellen und Systeme, die in Isaak Kohens
Schriften benutzt sind oder vorgetragen werden, sind kompliziert. Ich habe darüber
in Tarbiz I I (1931), S. 4 3 6 - 4 4 2 ; I I I , S. 3 3 - 3 6 ; IV, S. 2 8 5 - 2 8 6 , gehandelt. Isaak
und seinem Bruder, die um 1260—1260 in der Provence nach Resten der alten Über-
lieferungen der dortigen Kabbalisten forschten, kamen alle möglichen Dinge zur Hand.
Neben seinem eigenen System, das neuplatonisch-spekulativen Charakter hat, steht
das der angeblichen Abhandlung aus Damaskus, das seinerseits schon eine Bearbeitung
älterer quasi-gnostischer Quellen ziemlich dramatischen Charakters im Sinn der Se-
phiroth-Lehre bildet, und das noch ältere System, das er im Namen der oben genannten
beiden Quellen vorträgt. In diesem fehlt die Beziehung auf die Sephiroth-Lehre gänz-
lich. Wir haben mit dämonologischen Mythen konkreter Art zu tun, die nicht mit
abstrakten Vorstellungen arbeiten. Überall besteht hier eine enge Verbindung zur
Magie und der Lehre von den wirksamen „ N a m e n " und deren Operationen. Die soge-
nannte „praktische Kabbala" ist in den Kreisen entstanden, die diese Traditionen
besonders gepflegt und entwickelt haben, die von Isaak Kohen selber ausdrücklich

17·
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260 Die ersten Kabbalisten in der Provence

zeigt sich auch darin, daß hier noch die sehr alte, von den Gno-
stikern des 2. Jh.s aus jüdischen Kreisen übernommene Etymo-
logie des Namens des Teufels Sammael, der in Konkurrenz mit
dem Namen Beliar aufkam, als „blinder Archont", Sar summa, er-
halten ist 168 . In der Provence sind aramäische Texte aufgetaucht,
die teilweise in der Tat wohl im 12. Jh. aus dem Orient direkt in die
Provence gelangt sein können, wenn auch nicht gerade in den Kreis
des Rabed und seiner Familie. Zum Teil freilich scheinen dann dort
in den ältesten Kabbalistenkreisen weitere, in offensichtlich künst-
lichem Aramäisch verfaßte Variationen der in diesen Stücken be-
handelten Themata der dämonologischen Hierarchien verfaßt
worden zu sein, von denen wir Reste besitzen, wie jenes pseudo-
gaonäische Responsum über die Beschwörung des Fürsten der Dä-
monen, die auch von der Offenbarung des Propheten Elias in der
Nacht des Versöhnungstages spricht. Die älteste Schicht dieser Quellen
unterschied schon zwischen einer alten und einer jungen Lilith und
als die Kabbala der Meister der Theurgie von der spekulativen Kabbala, d. h. der
mystischen Theologie unterschieden werden.
,ββ Die (sethianischen ?) gnostischen Texte von Nag Hammadi kennen diese Ety-

mologie von Sammael als le dieu aveugle, vgl. Jean Doresse, „Les Livres Secrets des
Gnostiques d'Egypte" (1958), S. 188, 195 und die (ihm von mir gegebenen) Nachweise
dazu in der englischen Ausgabe „The Secret Books of the Egyptian Gnostics", S. 175,
Anm. 49. Theodor bar Konai wußte noch um 900, daß die Ophiten Samiel (d. h. Sam-
mael) als einen „blinden Engel" im ersten Himmel kennen, der böse und satanisch
sei, vgl. H. Pognon, Inscriptions Mandaïtes, Paris 1898, S. 145, und die Übersetzung
des syrischen Textes dort, S. 213. (Auch nach der Ascensio Jesajae 7 9 befindet sich
Sammael unter dem ersten Himmel). Isaak Kohen kannte sogar Traditionen, die
vom Leviathan — der bei den Ophiten ja mit Sammael identisch ist — als dem „blinden
Drachen" sprechen, hebr. Tannin 'iwwer oder auch Tanninsam, was ja einem Tannin
summa entspricht, vgl. Madda'e ha-Jahaduth II, S. 262 und 264. In der mandäischen
Literatur ist Samjael als ein Dämon der Blindheit bekannt, vgl. jetzt E. S. Drower,
The Canonical Prayerbook of the Mandaeans, Leiden 1959, S. 248. Bei den Sabiern
von Harran hieß Mars „der blinde Herr", vgl. im arabischen Text des Picatrix, ed.
Ritter, Berlin (1933), S. 226, wo der aramäische Terminus Mara samja erhalten ist,
sowie Chwolson, Die Ssabier, Bd. I I (1858), S. 188, der sich dieses Beiwort nicht er-
klären konnte, das aber daher kommt, daß der Planetenengel des Mars in der sehr
alten jüdischen Engelreihe eben Sammael ist. Der Name Sammael selber ist in den
bisher bekannten sabischen Texten in Vergessenheit geraten, seine aramäische und
arabische Übersetzung dagegen nicht! Sammael als Engel des Mars z. B. bei Jehuda
ben Barzilai zu Jesira, S. 247; Raziel Bl. 17b und 34b (in dem alten Sepher ha-Razim) ;
Gaster, Studies and Texts Bd. I (1925), S. 350. Noch spätbyzantinische Zaubergebete
kennen die „blinde Schlange", vgl. A. Barb, Der Heilige und die Schlangen, S. A.
aus Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft, Wien (1952), S. 6, was offen-
bar in den gleichen Zusammenhang gehört. An diesem Detail zeigt sich also, daß in
der Tat die Quellen Isaaks alte Vorstellungen, die sich in der orientalischen Gnosis
verzweigt haben, auch im Judentum, aus dem sie stammten, bewahrt haben.

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Gut und Böse 261

kennt merkwürdige Namen von dämonischen Herrschern der drei


Bereiche des Äthers und deren Gemahlinnen, wobei sich jüdische
Namen mit solchen offensichtlich fremder Herkunft verbinden. „Die
alte Lilith ist die Frau des Sammael; beide sind in einer Stunde im
Bild Adams und Evas geboren, und sind in Umarmung miteinander.
Aschmedai, der große König der Dämonen, hat zur Frau die junge
Lilith, die Tochter des Königs, dessen Name Qaphçaphuni ist und der
Name seiner Frau Mehetabel, Tochter des Matred [aus Gen. 36 39],
und ihre Tochter ist Lilitha169". Daß die Gattin des letzten edomi-
tischen Königs aus Gen. 36 als Dämonenname auftritt, könnte in
Tat schon darauf hinweisen, daß hier eine Umdeutung dieser Königs-
reihe von Edom auf Archonten der Finsternis zugrunde lag. Sammael
ist in diesen Quellen ja ebenfalls der Herrscher über Edom, im mittel-
alterlichen Judentum seit früher Zeit ein Deckwort für das Christen-
tum, das als dem Reich der Finsternis entstammend betrachtet wurde.
ie» Vgl Maddae ha-Jahaduth, II, S. 260. Eine „Lilitha, Enkelin der Lilitha" kennt
der Text bei Montgomery, Aramaic Incant. Texts, S. 168. In einer anderen dieser Tra-
ditionen (II, 256) stehen unter Sammael, dem Archonten Edoms, die drei Könige
Aschmedai, Qaphqaphuni und Qaphçaphuni. Alle vier Archonten haben je zwei Bräute
oder Frauen, über deren Namen es verschiedene Traditionen gab, vgl. meine Zusammen-
stellung in Tarbiz IV (1933), S. 72. Die Verdoppelung der Frauen spricht für den Ur-
sprung dieses Systems im Orient. Aschmedai und Lilith haben einen Sohn, der S. 261
als großer Dämonenfürst den Beinamen „Schwert Aschmedais" führt, und da Asch-
medai hier als Archont Ismaels, d. h. des Islams auftritt, ist man sehr versucht, in
diesem Beinamen so etwas wie eine Parodie auf die bei arabischen Fürsten beliebte
K u n j a Sajf al-Islam, Schwert des Islam, zu sehen. Sein Eigenname aber soll nach der-
selben Quelle BWÏtB&^K sein. Hierin steckt ja wohl ein griechischer Name; ob viel-
leicht gar eine Verballhornisierung eines dämonisierten [Antiochus] Epiphanes ? Er
soll auch Gurjahud (so nach Handschriften zu verbessern) heißen, weil er die Archonten
Jehudas attackiert. Die kabbalistische Bearbeitung dieser Quelle h a t ihm dann schon
einen aus „der Wurzel der [zehnten Sephira] Malkhuth" geborenen Archonten der
heiligen Seite gegenübergestellt, der ganz entsprechend nun „Schwert des Messias"
heißt. Daß solche sehr alten Namen und Überlieferungen von großen Vorgängen in
mythischen Formen bewahrt bleiben konnten, überrascht nicht. H a t sich doch auch
in jüdisch-dämonologischer Überlieferung der Name des Ahriman, Agro-Mainju, des
Herrn der Dämonen im Parsismus, in nur leicht entstellter Form als Agrimus [aus
Agro-Mainus] erhalten. Er t r i t t in mehreren, in der Geniza von Kairo erhaltenen Ag-
gadas über die dämonischen Nachkommen Adams und seiner ersten Frau Lilith auf,
und heißt dort der „Erstgeborene des Adam und der Lilith". Eine alte Aggada über
Methuschelah (wörtlich : Mann des Schwertes) erzählt von der Tötung der Nachkommen
dieses Dämon Agrimus durch das Schwert des Patriarchen, vgl. die Nachweise bei
L. Ginzberg, The Legends of t h e Jews, Bd. V, S. 165—166, der schon den Zusammen-
hang mit dem persischen Ahriman erkannt hat. Den wichtigsten Text haben unab-
hängig voneinander L. Ginzberg in ha-Goren I X (1923), S. 66—68, und A. Marmor-
stein in Debhir I (1923), S. 137—138 veröffentlicht. Eine gekürzte Form dieser Aggada
ist aus einem „Buch der Geheimnisse" auch zu Eleazar von Worms gedrungen.

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262 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Erst in der Provence sind diese und ähnliche rein dämonologische


Traditionen zu einer Lehre von der „linken Emanation" ausgebaut
worden, die versuchte, sie mit der Emanationslehre von den zehn
Sephiroth in Verbindung zu setzen. Diese Vorstellungen sind dann
aus der Provence gerade nach Kastilien gelangt, wo man zwar gern
ältere pseudepigraphische Autoritäten für sie anführte, unter denen
auch Isaak der Blinde figuriert, während in Wahrheit höchst zweifel-
haft ist, ob er mit diesen Gedanken in Verbindung zu bringen ist170.
Jedoch beweisen mehrere seiner Fragmente, daß er an Fragen über
die Natur Sammaels, im mittelalterlichen Judentum der herrschend
gewordene Name des Teufels, und dessen Bereich ein gewisses Inter-
esse hatte. Aus einem weitgehend von Hirten bevölkerten Land wie
dem westlichen Languedoc erklärt sich Isaaks Ausspruch: „Wer unter
Schafherden lebt, sei es selbst auf den hohen Bergen und Einöden,
die nicht bewohnt sind, braucht sich nicht vor dem Satan und bösen
Kräften zu fürchten, denn kein böser Geist hat zwischen ihnen Herr-
schaft. Wer aber unter Ziegen lebt, [von dem gilt:] sogar wenn zehn
Häuser in seiner Umgebung und hundert Menschen bei ihm sind, so
herrscht über alle ein böser Geist171". In einem anderen Fragment
erfahren wir, daß Sammael ursprünglich aus der Kraft der Sephira
Pahad herkam, die ihm aus der letzten Sephira „ohne jede andere
Vermittlung" zugeleitet wurde. Er hatte also eine legitime Stellung
im heiligen Verband des Ganzen der Schöpfung. Erst als er sich im
Amaleq-Kampfe gegen Israel und die von ihm repräsentierte heilige
Ordnung erhob — wird dieser Kampf doch von der jüdischen Tradition
stets als ein ungeheures metaphysisches Ereignis verstanden —, ver-
lor er diesen legitimen Platz und empfängt seitdem seine Kraft nur
noch indirekt von den Gestirngeistern, „nicht mehr auf dem Wege
der ursprünglichen Schöpfungsordnung". Erst messianisch wird dieser
Stand Sammaels wiederhergestellt und dadurch der Thron Gottes
zu seinem ursprünglichen vollständigen Stand, der jetzt lädiert ist,
restituiert werden172. Hieraus ergibt sich, daß Isaak der Bünde ein
170
Nach dem Zeugnis ihrer wichtigsten Tradenten, vor allem des Isaak von Akko,
waren diese Lehren nur bei den kastilischen, aber nicht den katalonischen Kabbalisten
bekannt; das heißt in Burgos und Toledo, aber nicht in Gerona und Barcelona. Wenn
diese letztere Gruppe aber nichts davon wußte, so stammt diese Tradition jedenfalls
nicht aus Isaaks des Blinden Überlieferung. Aber gerade Moses aus Burgos führt Nach-
manides, Jehuda ben Jaqar, Isaak den Blinden und Schelemia aus Arles (aus dem
Kreis des Rabed) als Autoritäten dafür an, deren Mitteilungen aber offenbar fingiert
sind. Vgl. meine Untersuchung dazu in Tarbiz III (1932), S. 276—279.
m
Zitat bei Isaak Kohen in M adda e ha-Jahaduth II, S. 280.
172
So in Kollektaneen in Hs. British Museum Marg. 768, Bl. H 6 a , das im wesent-
lichen identisch mit dem, freilich unklarer formulierten Zitat des Chassid bei Sahula,
Bl. 17 a ist.

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Gut und Böse 263

Anhänger der Lehre von der „Wiederbringung des Satan", der Apo-
katastasis, war. Im Judentum, das keine formelle dogmatische Auto-
rität für die Bestimmung des Glaubensinhaltes anerkannte, war diese
Frage, die in der Geschichte der christlichen Kirchen eine so große
Rolle gespielt hat, offen und wurde ohne Leidenschaft behandelt.
Die Meinungen waren auch dort geteilt und die Mystiker hingen oft
dieser Lehre an. Spätere kabbalistische Theorien in dieser Richtung,
wie zum Beispiel Joseph Gikatillas „Mysterium der Schlange173",
haben ihre Inspiration wohl von Isaak dem Blinden. Das Merkwürdige
bei Isaak ist, daß der Sturz Sammaels von seinem Rang nicht, wie zu
erwarten wäre, beim Fall Adams erfolgt, für den er nach der Aggada
ja verantwortlich ist, sondern erst beim Amaleq-Kampf. Darin sind
ihm die späteren Kabbalisten nicht gefolgt, die auch wo sie die Lehre
von der Apokatastasis vertreten, sie mit der Wiederherstellung der
von der Ursünde gestörten Harmonie aller Dinge in Verbindung
bringen. Aber auch bei Gikatilla bezog die Schlange ursprünglich,
wie bei Isaak, ihre Kraft unmittelbar aus dem heiligen Bereich der
Emanationen, außerhalb deren „Mauern" sie stand und als ein Genius
der ganzen sublunarischen Welt wirkte. Auch dort bringt erst ihr Auf-
stand Unordnung im harmonischen Verband der Welten hervor und
isoliert Sammael als Genius des Bösen.
Diese Anschauung Isaaks, daß die höchsten angelischen Kräfte
ihren Influxus direkt von der zehnten Sephira beziehen, kehrt auch
in Ezras Zeugnis wieder, wonach er „aus dem Munde des Sohnes des
Meisters", d. h. von Isaak dem Blinden, die Lehre empfangen habe,
„daß Metatron nur ein Bote sei, und nicht ein spezifisches Ding, das
so heißt, sondern vielmehr heißt jeder Bote im Griechischen Metator,
und vielleicht empfangen die Boten den Influxus von der 'Atara ge-
nannten [zehnten Sephira], um ihre Sendung zu erfüllen174". Me-
tatron wäre also kein Eigenname, sondern bezeichnete die ganze
Kategorie der eine Sendung ausführenden himmlischen Kräfte. Dies
ist eine wesentlich nüchternere Auffassung als die, die wir (oben S. 186f.)
na Vgl. die teilweise Übersetzung dieses Stückes in meiner Jüdischen Mystik,
S. 437.
»« In Ezras Perusch 'Aggadoth, Hs. Vatikan 294, Bl. 48b. Die Abkürzung '»HD
[für m D S i l D ] wurde fälschlich ''VHO geschrieben und als Π^'ΓΠΒ aufgelöst. Derselbe
Fehler kehrt dort direkt vorher auch in einem anderen Zitat wieder: „Ich habe im
Namen unseres Meisters [wohl ebenfalls Isaaks des Blinden, zu dessen Ansicht das
paßt] gehört, daß der Ort der Seelen, Neschamolh, in der Teschubha genannten Sephira
Bina ist. Sie gehen von dort aus und gelangen von Stufe zu Stufe bis zur 'Atara [so
statt "»»HO zu lesen] und gehen von dort aus und schließen sich an den menschlichen
Körper an. Und nach ihrer Trennung vom Körper kehrt sie, falls würdig, zurück [in
die Sephiroth-Welt] und wird in Tiph'ereth eingebunden, das der .Bund des Lebens'
ist."

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264 Die ersten Kabbalisten in der Provence

bei seinem Vater, dem Rabed, in seinem Stück aus dem Talmud-
Kommentar kennengelernt haben. Man fragt sich, ob hier die ganze
Wahrheit über Isaaks Anschauung steckt oder nicht nur eine gelegent-
liche Bemerkung. Kein Kabbaiist sonst hat, auch wo Isaaks Erklärung
der Etymologie übernommen wurde, deswegen die Existenz eines
spezifischen Engelwesens Metatron geleugnet175. Die Etymologie
selbst ist offenbar aus dem alten talmudischen Wörterbuch 'Arukh
des Nathan ben Jechiel aus Rom entnommen, das in der Provence
wohlbekannt war (sub voce Metator). Eine Identifikation des Metatron
mit der letzten Sephira, der Schekhina, liegt Isaak offenbar ganz fern,
obwohl sie sich dann bei katalonischen Kabbalisten der ersten Gene-
ration findet17®.

7. Kontemplative Mystik Isaaks — Kawwana und Debhequth

Das Weltbild Isaaks beruht also darauf, daß die verschiedenen Be-
reiche der Schöpfung, jeder nach seinem Rang in der Hierarchie der
Dinge, in Verbindung mit den in der Sephiroth-Welt gegebenen
Wurzeln allen Seins stehen. Die begrenzten Kräfte kommen aus den
unbegrenzten, und in Allem wirkt die geheime Signatur der Buch-
staben, nirgends freilich deutlicher faßbar als im Menschen. Dem
Strom, der von oben nach unter fließt, entspricht aber auch eine Be-
wegung von unten nach oben. Wenn Isaak im Jesira-Kommentar
(Ende von Kap. III) sagt: „Alle Dinge beziehen sich auf die Wurzel
ihres eigentlichen Seins zurück177", so ist das dort in dem Sinne ge-
meint, daß jedes Ding nur in dem wirken kann, was in seinem Prinzip
angelegt ist. Aber schon seine Schüler haben Wendungen dieser Art
im Sinne einer Rückkehrbewegung aller Dinge zu Gott verstanden.
„Alles ist aus der ersten Ursache entstanden, und Alles kehrt zur ersten
Ursache zurück178". Solche Rückkehr kann eine ontologische und eine
17« Vgl. z. B. Nachmanides im Tora-Kommentar zu Ex. 12 12, der sagt, er habe
diese Etymologie „vernommen".
17« Vgl. Kap. 2, Anm. 200. Der „Wächter Israels" der Psalmen und Gebete ist aber
für Isaak nicht etwa Metatron, sondern die als Matrona gedachte zehnte Sephira, die
Schekhina. Er leitet das Wort Matrona vom aramäischen Matara ab, das Wacht be-
deutet, vgl. das Zitat bei Sahula Bl. 23d, wie auch dort 29b. Ezra und Azriel sagen
in ihrem Aggada-Kommentar, der im Teil zum Traklat Berakhotk fast identisch ist
(ed. Tishby, S. 10, mit der Introduktion: „Wir haben empfangen"), dieser Wächter
Israels sei es, der in Berakhotk 7 a mit dem mystischen Namen Aktariel benannt sei,
welcher nichts anderes als die Schekhina und der Cherub sei und „Engel der Glorie"
heiße. Vgl. dazu oben S. 151 sowie Ma'arekheth ha-'Elohuth, Mantua 1558, Bl. 72b.
177
Hebräisch: Kol ha-Debharim hozrim le-Schoresch 'Iqqaram.
178
Ezra zitiert diesen Satz in eschatologischem Zusammenhang in seinem Kommen-
tar zum Hohenlied, Altona 1764, Bl. 16a, von einem „Weisen", der wohl kein anderer

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Kawwana und Debhequth 265

eschatologische Seite haben. Auch vor dem Ende alle Dinger strebt
alles Sein, seiner Natur nach, zu seinem Ausgang zurück, im Sinne
der antiken philosophischen These vom appetitus naturalis, wie sie im
Mittelalter vor allem von den Neuplatonikern populär gemacht wurde.
Aber auch die eschatologische Nuance von der „Rückführung aller
Dinge zu ihrem ursprünglichen Sein", Haschabhath kol ha-Debharim
le-Hawajatham, fehlt bei seinen Schülern nicht und geht wohl auf ihn
zurück179. Diese Rückkehr des Menschen, der seinen besonderen Rang
durch den Besitz des göttlichen Elements in der Seele behauptet, zur
Verbindung mit seiner Wurzel wird aber, jenseits dieser eschatologischen
Perspektiven, durch den Weg der kontemplativen Mystik befördert oder
erleichtert, der Isaaks Vorstellungen von den Werten der Tora und
ihrer Gebote sowie vom religiösen Leben des Juden überhaupt zu-
grunde liegt.
Die Begriffe der Kawwana und der Debhequth sind für diese seine
Auffassung grundlegend. Beide sind offenbar eng miteinander ver-
bunden. Die theoretische Grundlegung seiner Lehre von der Kawwana,
die aus seinen konkreten Angaben über bei bestimmten Gebeten zu
vollziehende Kawwanoth nicht unmittelbar zu entnehmen ist, findet
sich in seinem Kommentar zu Jesira (I, 8). Aus dem Erfaßbaren heraus
öffnet sich ein Weg zum Unerfaßbaren, „und dazu sind die Middoth
gemacht", nämlich als Vermittlung zwischen dem Begrenzten und Un-
begrenzten. Aus der Betrachtung der unteren Middoth steigt er zu der
der oberen auf, „denn jede Midda erfüllt sich aus der, die über ihr
steht, und sie sind Israel übergeben [vielleicht auch zu verstehen im
Sinne von: ihre Folge ist Israel überliefert], um aus der Midda, die
im Herzen sichtbar wird, zu meditieren, bis zum Unendlichen hin zu
meditieren. Denn es ist kein anderer Weg zum [wahren] Beten als
der, daß der Mensch durch die begrenzten Worte [in deren Inneres]
hineingenommen wird und sich im Denken zum Unendlichen erhebt180".
Dieser letzte Satz besagt nach dem, was wir hier über Isaaks Begriff
von der Mahschabha und den Worten erarbeitet haben, nicht nur,
daß die begrenzten menschlichen Worte und das menschliche Denken
den Betenden zum Unendlichen, dem Έη-soph, erheben, sondern
bezeichnet auch den inneren Weg dieses Gebetes in der Kawwana.
Dieser Weg führt durch die Sephiroth, die relativ begrenzten „Worte"
ist als der „Philosoph" am Anfang des Kuzari I, 1. In der Literatur der '///««-Gruppe
(vgl. unten S. 283) finden wir den bekannten neuplatonischen Satz: „Alles ist aus
dem Einen und alles kehrt zum Einen zurück" als Zitat angeführt, ζ. B. im „Buch
von der wahrhaften Einheit", Hs. Jerusalem 8° 488, Bl. 16a.
" · Vgl. Nachmanides zu Jesira, in Kirjath Sepher VI (1930), S. 401, und meine
Nachweise S. 397 Anm. 183. Der hebräische Ausdruck wirkt wie eine genaue Wieder-
gabe des lateinischen restitutio omnium rerum ad integrum.
180
Vgl. den Text der Stelle M. G. W. J., Bd. 78 (1934), S. 32.

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266 Die ersten Kabbalisten in der Provence

zum unbegrenzten reinen Gedanken und von da aus in die Tiefe des
Έη-soph selber. Die göttlichen Middoth sind also der Gegenstand der
Meditation, in der der Betende sich auf die in den einzelnen Gebets-
teilen sich ankündenden, den Mystikern „überlieferten" Middoth
richtet und in der er in der gesammelten Besinnung aufs Wort das
„Urwort" findet, und in ihm den Anschluß an die unendliche Bewe-
gung der göttlichen Mahschabha selbst, in der er sich bis zum Έη-soph
erhebt Die mystische Kawwana zeigt also einen geistigen Innenraum im
Worte auf, in dem das Wort sich ins Göttliche aufschwingt. In Isaaks
Satz ist der Schluß sicher bewußt doppeldeutig formuliert, wobei ein-
mal Mahschabha im Sinne des göttlichen Denkens, zum anderen aber im
Sinne des menschlichen Denkens genommen werden kann. Man kann
vielleicht diesen Aufstieg des reinen Denkens in der Kawwana zum
Unendlichen hin mit der katholischen Formel vom Gebet als elevatio
mentís ad deum zusammenstellen, in der Friedrich Heiler „die Eigen-
art des mystischen Gebets treffend bestimmt" findet181. Der Kabbaiist
fügt hier freilich ein neues Element hinzu: er sucht sich aus seinem
Denken heraus der unendlichen Bewegung des göttlichen Denkens
selbst anzuschließen oder einzufügen, und dies eben ist sein eigent-
liches Ziel. Die Kawwana im Gebet sowie bei der Vollziehung der
religiösen Gebote dient zur Realisierung des Anschlusses an Gott,
der das letzte Ziel des Weges des Menschen zu Gott ist.
Dieser Anschluß, diese Verbindung oder communio mit Gott ist
es, die der hebräische Terminus Debhequth bezeichnet. Der Begriff
der Kabbalisten hat seinen Ursprung im Sprachgebrauch der mittel-
alterlichen jüdischen Theologen, besonders Bachja ibn Paqudas und
Abraham ibn Ezras, die das biblische Verbum dabhaq, das die Be-
deutung von „anhängen, sich anschließen" hat, vom Anschluß der
Seele an Gott oder das göttliche Licht gebrauchten. Das Torawort
Deut. 13 5 wird als Isaaks Stichwort für diese Lehre von seinen
Schülern angeführt: „Unser Meister der Chassid hat gesagt: Das
Wesentliche des Gottesdienstes der Mystiker [Maskilim] und derer,
die über Seinen Namen meditieren, liegt in diesem [Vers]: ,An Ihn
sollt ihr euch anschließen'. Und dies ist ein großes Prinzip für Tora
und Gebet, daß man sein Denken mit seinem Glauben ausgleiche 182t
als ob es ans Obere angeschlossen sei, um so den Namen [Gottes] in
seinen Buchstaben zu verbinden und in ihm die zehn Sephiroth zu
181
Vgl. Friedrich Heiler, Das Gebet, 2. Aufl., S. 291.
182
Eine vieldeutige Wendung, hinter der vielleicht mehr steht als das in Überein-
stimmung-Bringen von Denken und Glauben. 'Emuna, Glauben, wird bei Isaak mehr-
fach als Symbolwort für die zweite und zehnte Sephira gebraucht, während Mah-
schabha die erste repräsentiert. Vielleicht besagt dies „große Prinzip" also, daß der
Mystiker bei der Meditation über den Namen Gottes die zehn Sephiroth von der ersten
bis zur letzten in Harmonie bringt.

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Kawwana und Debequth 267

umfassen wie eine Flamme, die mit der Kohle verbunden ist. Mit
seinem Munde soll er ihn nach seiner Paraphrase aussprechen, in
seinem Herzen aber soll er ihn nach seinem wirklichen Bau ver-
binden183". Debhequth ist also nicht unio, sondern communio. Es hat
im Sinne des kabbalistischen Sprachgebrauchs stets bei aller Intimität
ein Element der Distanz in sich. Debhequth ist nicht Einswerden mit
Gott, sondern unendlich enge Verbindung mit ihm, entsprechend etwa
dem, was christliche Mystiker des Mittelalters adhaeresis nennen.
Debhequth kann im Hebräischen sowohl den Prozeß bezeichnen als
den durch ihn erlangten Zustand. Das Instrument dieses Prozesses
ist die Kawwana. Isaak und seine Schüler sprechen nicht von Ek-
stase, von einem einmaligen Akt des aus sich selbst Heraustretens,
in dem sich das menschliche Bewußtsein aufhebt. Die Debhequth ist
kein stürmisches Vordringen und Aufgehen in Gott, sondern ein be-
ständiger Zustand, der sich durch die Meditation ernährt und erneuert.
Weiter ist diese Schule der alten Kabbalisten im Unterschied zu
manchen späteren nicht gegangen und verleugnet darin ihren jüdisch-
theistischen Charakter keineswegs. Für sie ist nicht, wie für manche
nichtjüdischen Mystiker, die Debhequth oder mystische communio
ein Durchgangsstadium zu noch höheren Bereichen. Eine pantheistische
Überschreitung der Grenzen, die sie sich in dieser Interpretation des
mystischen Weges gesetzt haben, liegt ihnen fern184.
Wir dürfen vermuten, daß die ausführlichen Darlegungen über den
Sinn der Debhequth, die sich vor allem bei seinen Schülern Ezra und
Azriel finden (vgl. im nächsten Kapitel) und deren Bilder mit auch
sonst von Isaak gebrauchten Gleichnissen zusammenhängen, auf die
Lehre ihres Meisters zurückgehen, wie sie ja auch höchstwahrschein-
lich noch zu seinen Lebzeiten geschrieben sind. Auch Isaaks Neffe
Ascher spricht ganz in der gleichen Art von diesem Weg als dem der
echten Umkehr zu Gott, bei dem „der Mensch Taten ausgleicht und
seine Seele läutert und seine Gedanken reinigt . . . und seinen Geist
und seine Neschama-Seele an seinen Schöpfer anschließt und seinet-
wegen von den Übertretungen abläßt. Von ihm haben die Weisen
gesagt: am Ort, wo die [zu Gott] Umkehrenden stehen, vermögen
die vollkommenen Gerechten nicht zu stehen185". Nicht auf die Buß-
183
Zitiert von Ezra zum Hohenlied, Bl. 8d, und ohne Quellenangabe in seinem
Perusch 'Aggadoth. S. 16.
1M
Unannehmbar scheint mir die Interpretation Tishbys, der versucht hat, den
Stücken über Debhequth bei Ezra und Nachmanides eine viel weiter gehende Deutung
im Sinne einer völligen Vereinigung in der Ekstase mit der Gottheit selber zu geben.
Soweit die Debhequth überhaupt ekstatische Momente hat, bleibt dennoch die Indi-
vidualität des Mystikers in ihr erhalten, was T. gegenüber festzuhalten ist, vgl. seine
Ausführungen in Molad X I X (1961), Nr. 1 5 1 - 1 6 2 , S. 4 8 - 6 5 .
185
Ascher ben David, Perusch Schern ha-Mephorasch, ed. Chassida, S. 7.

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268 Die ersten Kabbalisten in der Provence

fertigen im gewöhnlichen Sinne also bezieht sich hiernach dieses be-


rühmte talmudische Wort, sondern auf die Mystiker, die im Stande
der Debhequth sind und dadurch über den Gerechten, die diesen Weg
nicht gegangen sind, stehen. Am wichtigsten ist eine bei Ezra und
Azriel im Wesentlichen gleichlautende Ausführung über den Sinn
dieses Prozesses und des in ihm zu erlangenden Standes:
„Der Betende soll sich so betrachten, als ob Gott mit ihm spricht
und ihn belehrt und anleitet, und er seine Worte in Furcht und Zittern
aufnimmt. Und er denke, daß alle Worte, die er den Menschen lehrt,
unendlich sind, aber das [menschliche] Denken breitet sich aus und
steigt auf bis zu dem Ort seines Ausgangs, und wenn es dorthin ge-
langt, bricht es ab und kann nicht weiter aufsteigen. Das Gleichnis
dafür ist die Wasserquelle, die aus dem Berg hervorgeht. Wenn Du
unter ihr einen Teich gräbst, damit die Wasser sich nicht nach allen
Seiten ausbreiten, steigen sie an, aber nur bis zum Orte der Quelle,
und nicht höher186. So auch kann das Denken nicht weiter aufsteigen
als bis zu seinem Ausgang. Und wer es wagt, sein Denken auf das zu
richten, worin der Gedanke sich nicht ausbreiten und erheben kann
[gemeint ist vielleicht : auf das Unerfaßbare im Sinne Isaaks, die erste
Sephira?], kann einem von zwei Dingen nicht entrinnen: entweder
wird infolge des übermäßigen Zwangs des Gedankens, den er zwingt
zu erfassen und zu kommunizieren mit dem, was unerfaßbar ist, seine
Seele aufsteigen und sich [von ihrer Verbindung mit dem Körper]
losreißen und zu ihrer Wurzel zurückkehren, oder'aber sein Sinn und
Intellekt werden in Verwirrung geraten und sein Körper zerstört
werden . . . Daher erhoben die alten Chassidim187 ihr Denken bis zum
Ort seines Ausgangs empor und erwähnten [in ihrer Meditation] die
Gebote und die Worte [des Gebets], und aus der Erwähnung der Worte
und dem angeschlossenen Denken heraus188 erhielten die Worte Fülle
und Segen aus der Sphäre des .Nichts des Denkens' heraus, wie wenn
jemand die Schleuse eines Wasserteichs öffnet und er sich nach allen
Seiten ausbreitet. Denn das [an Gott] angeschlossene Denken ist die
186
Ich übersetze nach Ezras Text, der logischer ist. Das Gleichnis wird in einem
anderen Zusammenhang, v o m Ursprung der Seelen, auch schon in Isaaks Stück über
das Opfer, Sahula 23 c, benutzt.
187
Gemeint sind die in Berakhoth, 30 b genannten Chassidim, von deren Gebets-
praktiken dort die Rede ist.
188
Hebräisch ha-Mahschabha ha-debheqa. Derselbe Ausdruck kehrt im Bericht
Isaaks von Akko über Isaak den Blinden wieder, dessen Text schon Jellinek, Beiträge
zur Geschichte der Kabbala II, S. XVII, mitgeteilt hat. Isaak pflegte danach den ihn
führenden Schüler anzuweisen, wenn sie an einer Kirche vorbeikämen, so schnell wie
irgendmöglich zu gehen. „Er tat dies zur Ehre Gottes, an den sein Denken angeschlossen
war [hajtha Mahschabhto debheqa bo\, denn wegen des unreinen Geistes, der dort haust,
mußte er dies sein Denken unterbrechen."

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Kawwana und Debequth 269

Quelle und der unversiegbare Segensstrom . . . Und von dieser Art


war auch die Kraft, durch die die Prophetie hinabgezogen wurde,
denn der Prophet zog sich in die Einsamkeit zurück und richtete seinen
Sinn und schloß seinen Gedanken nach oben an, und gemäß der Innig-
keit der prophetischen Debhequth schaute der Prophet und wußte das
Zukünftige189".
Es ist also im Grunde die gleiche spirituelle Aktion, die in der Ge-
bets-Meditation und dem Akt des prophetischen Aufstiegs vor sich
geht. Die kontemplative Mystik Isaaks berührt sich in diesem Punkt
der Debhequth mit den Ausführungen des Maimonides am Ende des
„Führers der Verwirrten" (III, 51) über den Rang Moses und der Erz-
väter als der höchsten für Irdische erreichbaren Stufe. Die Rück-
beziehung auf Maimonides wird in der Generation nach Isaak, so z.B.
bei Nachmanides, in diesem Punkte noch viel deutlicher. Bei Isaak
braucht es sich nicht um eine Abhängigkeit von Maimonides zu
handeln, sondern um ein gemeinsames Ideal einer höchsten Rang-
stufe der vita contemplativa. In Äußerungen Azriels wird diese Ver-
bindung der Debhequth mit der Theorie der Prophetie dann noch deut-
licher ausgeführt190. Auch in Stücken Ezras, die vielleicht auf Isaak
zurückgehen, wird die Lehre von der Debhequth mit seiner Erklärung
der Ekstase Mosis in Verbindung gebracht191. Der Anschluß des
menschlichen Denkens an die göttliche Weisheit in der Debhequth
bringt es nach Ezra geradezu dahin, daß beide Eines werden192. Inter-
essant ist, daß sogar Isaaks Gleichnis vom Faden, dem der Mensch
nachgeht, bis er zum Ort des eigentlichen Knäuels kommt, von man-
chen Kabbalisten nicht nur auf die Verhältnisse innerhalb der Sephi-
roth-Welt, sondern auf die Wege des mystischen Aufstiegs überhaupt
bezogen wurde. Die Wege der Sophia, von denen das Buch Jesira
spricht, sind nach ihnen die des mystischen Aufstiegs. Dem Lichte,
das auf diesen Wegen scheint, kann der Mensch in seinem kontempla-
tiven Denken nachgehen, bis er zum Ursprung des Lichtes, wie vom
Faden zum Knäuel gelangt193.
Isaak der Blinde bringt die Prophetie mit solcher, vom Aufschwung
der menschlichen Mahschabha zu erlangenden Erfassung der Middoth
zusammen. „Die Propheten haben, je nach ihrer Rangstufe, die Mid-
doth gesehen." Das Wesen der Prophetie bestand, wie er in einem
188 Azriel, Perusch 'Aggadoth, S. 39—40; Ezra, dessen Text anonym in der kabba-
listischen Sammlung Liqqute Schikhha u-Phe'a, Ferrara 1556, Bl. 7b—8a gedruckt ist.
190 Vgl. Azriels Brief nach Burgos, Maddae ha-Jahaduth, II, S. 239.
181 Vgl. bei Recanati zu Ex. 2410.
1 , 2 Ezra in Liqqute Schikhha, Bl. 6b. Tishby hat, zu Azriel, S. 20, die Quelle dieser

Anschauung im Mischna-Kommentar des Maimonides wahrscheinlich gemacht.


1 , s So verstand Isaak aus Akko den Anfang von Isaaks Jesira-Kommentar, vgl.

Kirjath Sepher, B d . 3 1 , S. 3 8 1 .

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270 Die ersten Kabbalisten in der Provence

schwer verständlichen Satz sagt, darin, daß sie durch ihre Aufnahme
der göttlichen Sophia ihr Denken mehr als alle anderen Menschen zu
„erweitern" vermochten194 und dadurch eine „Weite der Seele er-
hielten, sich auf unendliche Weise in den einzelnen Dingen auszu-
breiten" (zu I, 6). Was diese Ausbreitung der Seele oder des Denkens
in den Einzeldingen bedeuten soll, weiß ich nicht. Von solcher Aus-
breitung und Ausweitung spricht Isaak auch, wenn er an derselben
Stelle den kontemplativen Sinn der Gebote der Tora zu erklären
sucht, durch die der Mensch „wenigstens die Anfänge der Middoth
erfaßt". Zu Ps. 119 96: „Von allem Zweck habe ich ein Ende gesehen,
aber weitreichend ist dein Gebot" sagt Isaak dort: „Dein Gebot,
obwohl es am Anfang zweckhaft scheint, erweitert sich immer mehr
bis zum Unendlichen hin. Und wenn alles, was vergänglich ist, ein
Ende hat, kann doch kein Mensch ins [Innere] deines Gebotes ein-
dringen, das am Ende alles Erfassens steht, denn der Mensch erfaßt
gerade nur die Anfänge der Middoth". Der Mensch vermag also die
Tiefe des Gebotes der Tora, das einen bestimmten Umfang und Ende
zu haben scheint — das meint wohl das hebräische Wort Tikhla —,
nicht auszuschöpfen, denn je mehr er seinen Sinn auf dessen Betrach-
tung richtet, erweitert es sich, wie das kontemplative Denken des
Menschen selbst. Im Vollzug des Gebotes, das scheint die Meinung
Isaaks zu sein, schreitet der Mensch vom Begrenzten ins Unbegrenzte
und Unendliche fort. Die Aktivität des Mensch'en im Vollzug der Tora
konvergiert also für das Gefühl des Mystikers mit dem Aufstieg und
der Erweiterung seines kontemplativen Denkens. Die beiden Sphären
sind nicht getrennt, und offenbar ist es auch hier der Begriff der
Kawwana, der Gebot und Gebet verbindet.
Gegenüber dem Gottesdienst im Tempel, der im wesentlichen Opfer-
dienst ist, bezeichnet der Talmud das Gebet als „Gottesdienst im
Herzen" (Ta'anith 2 a). Beide Formen des Gottesdienstes, die der
äußeren Handlung und die der inneren Konzentration, sind also zwei
Seiten derselben Sache. Es ist daher nur logisch, daß schon Isaak
selber in einem uns erhaltenen längeren Stück über das „Geheimnis
des Opfers" das Ritual der Darbringung des Emporopfers, Ola, in
seinen verschiedenen Stadien im Sinne solcher mystischen Auffassung
erklärt195. Im Opfer bringt der Mensch sich selber dar; alles andere
ist nur symbolische Verkleidung. Genau so lesen wir in einem alten
Stück über das Gebet als solchen Opferdienst: „Seit der Zerstörung
191
Die Verbindung der Begriffe Hokhma und Mahschabha ist hier dieselbe wie in
dem in Anm. 192 angeführten Zitat aus Ezra, das also wohl Isaaks Anschauungen
widerspiegelt.
i»s Vgl bei Sahula, Bl. 23b, c. Wir haben in verschiedenen Handschriften speku-
lative und sehr interessante Ausarbeitungen dieses Stückes durch Azriel und Ezra,
vgl. Hs. Vat. 211, Bl. 8 b - 1 2 a .

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Kawwana und Debequth 271

des Tempels ist Israel nur der große Name [Gottes] geblieben. Und
die Gerechten und die Chassidim und Männer der Tat ziehen sich in
die Einsamkeit zurück und schüren das Feuer in den Tiefen der Brand-
stätte des Altars in ihrem eigenen Herzen; und dann vereinigen sich
aus dem reinen Denken [der Meditation] heraus alle Sephiroth und
verbinden sich miteinander, bis sie zum Quell der unendlich erhabenen
Flamme hinangezogen werden19®". Das letztere Bild scheint auf
Quellen des 'Ijjun-Kreises hinzuweisen, wo auch sonst vom Quell
der unendlich erhabenen Flamme die Rede ist, und der ganze Passus
könnte wohl aus einer provençalischen Schrift stammen. Daß diese
kontemplative Haltung bei Isaak mit asketischer Einstellung ver-
bunden ist, erfahren wir deutlich aus seinem Kommentar zu Jesira
I, 6. Er spricht dort in positiver Wertung von dem, „der seine [an-
deren] Eigenschaften aufgibt [wörtlich: läßt] und sich nur allein mit
dem Gedanken beschäftigt und alles im Gedanken verbindet und den
Gedanken erhöht und den Körper erniedrigt, um so seine Seele zum
Übergewicht zu bringen". In diesem Sinne spricht seine Schüler Ezra
davon, daß „wo die Kraft der Seele, die ihrem Schöpfer [in der De-
bhequth] angeschlossen ist, zunimmt, die Sinne, die nach den Ver-
gnügungen der niederen Welt dürsten, hinfällig werden197". An dieser
Stelle verbindet sich das asketische Moment mit dem ekstatischen.
Steht dies Zitat doch in einer Erklärung des Essens und Trinkens der
Ältesten Israels vor Gott (Ex. 24 n), das der Midrasch dahin erklärt,
sie hätten „ihre Augen vom Glanz der Schekhina genährt". Dies Essen
war also ein höchster geistiger Vorgang, bei dem sie auf alles Körper-
liche Verzicht leisten konnten und auch mußten.
Dem Rang entsprechend, den der Mensch sich in seinem Anschluß
an die göttlichen Middoth im leiblichen Leben erworben hat, wird bei
Isaak auch sein Rang in der eschatologischen Hierarchie nach der
Auferstehung, an deren körperlichem Charakter er festhält, bestimmt.
Sein Neffe erklärt unter Berufung auf ihn, was es mit der Rede vom
Einschluß der Gerechten in den „Bund des Lebens" auf sich habe.
„Jene, die in ihrem Leben sich so geführt haben, daß sie die Gebote
zu halten und in den Wegen Israels zu wandeln suchten", heißen bei
ihm (im Sinne von Jes. 45 25) Same Israels, „sogar wenn sie während
ihres Lebens nicht genügende Vollkommenheit erlangt haben, um zu
jenem hohen Rang aufzusteigen. Denn niemand kann zu diesem Rang
aufsteigen, bis er nicht aller sieben Middoth würdig geworden ist,

1M
Vgl. den Text der Stelle in M. G. W. J. Bd. 78 (1934), S. 506. Schon Meir ben
Gabbai hat sie in 'Abhodath ha-Qodesch II, 6 in seinen Ausführungen über Debhequth
herangezogen.
187
Vgl. die in Anm. 191 angeführte Stelle aus Recanati, sowie Liqqufe Schikhha
Bl. 4a.

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272 Die ersten Kabbalisten in der Provence

die .Bund ¿es Lebens' heißen. Und dies ist nur möglich, wenn er eine
Midda erlangt hat, an die er sich angeschlossen und in deren Fülle er
gestanden hat [andere Lesart: sich an sie anzuschließen und (indem
er ihr nachlebt) den Willen seines Schöpfers zu tun], und dort wird
seine Seele eingebunden, wenn sie aus dem Körper kommt, bis auch
ihre Ablösung kommt und sie zu ihrer Ursache zurückkehrt . . . Und
selbst, wer in der Läuterung seiner sämtlichen sieben Middoth, sei es
einiger, sei es der meisten von ihnen bestanden hat, wenn er nicht alle
oder fast alle [in seinem Leben] bewährt hat, wendet er ihre Middam[ ?].
Von ihm heißt es : denn siebenmal fällt der Gerechte und steht wieder
auf 1 ", und wenn Gott ihn auferstehen läßt, wird er ihre Wege voll-
ständig durchlaufen. Dann wird er in jenem Rang [dem Bund des
Lebens] von Stufe zu Stufe sich bis ins Unendliche erheben". Gerechte
und Mittelmäßige werden nach der Auferstehung einen weiteren Fort-
schritt ihrer seelischen und moralischen Vervollkommnung durch-
machen, der sie über alles hinausführen wird, was sie in ihrem Leben
erlangt haben, und in diesem Anschluß an die sieben göttlichen Mid-
doth werden alle in stetiger Weise der Prophetie teilhaftig werden.
Aus einem kurzen Hinweis bei Sahula (Bl. 34 a) läßt sich entnehmen,
daß Isaak sich auch an anderen Stellen über Gegenstände der Escha-
tologie geäußert hat, wobei vielleicht auch auf die Vorbereitung der
Erlösung durch die Reinigung der Seelen in der Seelenwanderung
Bezug genommen wurde. In den erhaltenen Stücken Isaaks findet
sich keine klare Äußerung über diesen Gegenstand, wenn er auch
einmal einen einschlägigen Satz aus Bahir § 105 zitiert. Worauf sich
das Zeugnis Isaak von Akkos bezieht, er habe eine verborgene An-
deutung auf den Unterschied zwischen Seelenwanderung, Gilgul, und
Seelenschwängerung, 'Ibbur, als zwei verschiedene Dinge in seinem
Jesira-Kommentar angebracht, vermag ich nicht zu sagen200.
Nach all diesem ist klar, daß Isaak der Blinde schon ein vollstän-
diges System kabbalistischer Symbolik teils traditionell überkommen,
teils selber ausgearbeitet hatte und daß er diesen Symbolismus auf
die verschiedensten biblischen und rabbinischen Gegenstände, auf

198 Der Text ist hier offenbar korrupt. Ich zitiere nach dem Stück bei Isaak von

Akko, Hs. München 17, Bl. 148b—149a. Der Text ließe sich auch als Andeutung auf
die Seelenwanderung verstehen: die Seele muß nach dem Aufstieg noch einmal ins
Leben zurückkehren und in die Läuterung, Masreph, durch alle sieben Middoth ein-
treten, falls der Mensch sie nicht zur Richtschnur seines moralischen Verhaltens im
irdischen Leben genommen hat. So dürfte es der etwas anders lautende Text der Hs.
Enelow Mem. Coll. im J . T. S., New York, Bl. 15a verstanden haben.
199 Im Hebräischen ein Wortspiel: „ E r steht wieder auf" ist dasselbe Verbum wie

„er bewährt". E r muß jedenfalls alle sieben Middoth als eigene und als göttliche virtutes
durchlaufen, in diesem Leben oder nach der Auferstehung.
200 Vgl Jsaaks Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 100a.

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Die Schriften des *Ijjun-Kreises 273

die ich hier nur zum Teil eingegangen bin, anwandte201. In seinem
Brief nach Gerona, den wir besitzen, gibt er, offenbar in Beantwortung
einer Anfrage, eine kurze Erklärung des letzten Psalms, hinter dessen
zehnfacher Wiederholung der Aufforderung zum Preis Gottes er eine
Andeutung auf die zehn Sephiroth von oben nach unten findet, wobei
er ebenfalls erst mit der Hokhma beginnt und die erste Sephira mit
Schweigen übergeht. Seine Andeutungen202 unterscheiden sich kaum
von seinen Anweisungen für mystische Kawwanoth in den Gebeten,
wo er ebenfalls mit ganz kurzen Worten etwa den Prozeß beschreibt,
in dem der Betende beim Bekenntnis der göttlichen Einheit, dem
Schma' Israel, die Welt der Sephiroth von unten bis nach oben durch-
läuft und dann, in der Meditation über das Wort 'ehad, ,eins', den
Kreislauf seiner Kawwana von oben nach unten vollendet und be-
schließt203. Isaak benutzt schon, in dem erwähnten Brief, den Aus-
druck „die Pflanzungen beschädigen (oder: abhauen)", den der Talmud
für die Häresie des Elischa ben Abuja gebraucht, für jede Haltung,
die die Einheit der zehn Sephiroth in Gott nicht wahrt und dadurch
den reinen Gottesglauben gefährdet. Aus seinem Kreis ist er dann
ins Erbe aller Kabbalisten übergegangen. Auch andere Bestandteile
der kabbalistischen technischen Sprache dürften, über das Nachweis-
bare hinaus, auf ihn zurückgehen, besonders in den Schriften der
Kabbalisten von Gerona. Für unsere Darlegungen genügt es, daß wir
den Nachweis erbringen konnten, daß hier, in Isaaks Fragmenten,
eine spezifische und durchaus selbständige Form der Kabbala sich
in der Provence lokalisieren und begreifen läßt, die von der Welt des
Bahir, wie wir sie kennengelemt haben, ganz wesentlich verschieden
ist. Der Same des Bahir ist, als er in die Provence fiel, in eigenartiger
Weise aufgegangen.

8. Die Schriften des 'Ijjun-Kreises

Wir wissen nicht, welcher provençalischer Gruppe das Buch Bahir


zuerst in die Hände geriet und wo es dort seine endgültige Redaktion
erhielt. Ebensowenig können wir mit Sicherheit sagen, wo zuerst etwa
201 Seine Begründungen biblischer Verbote wie der Baumfrucht der ersten drei
Jahre, 'Orla, bei Sahula 26a, der inzestuösen Ehen, Άrajoth (in Ezra, Perusch Agga-
doth, Hs. Vatikan 441, Bl. 30 a, b als Zitat des Chassid; sowie Kirjath Sepher VI,
S. 398 u. 417) beweisen, daß ihm oft schon dieselben Gedanken geläufig waren wie
der Schule von Gerona. Auch was Sahula 24 b über die Nidda und das Menstrualblut
aus Isaak bringt, steht wörtlich, aber ohne Quellenangabe, in Ezras Kommentar zum
Hohenlied 13 c.
203 Vgl. den Text im Sepher Bialik, S. 143.

209 Vgl. die Zitate in seinem Namen bei Sahula, Bl. 32d; Recanati zu Deut. 64,

ed. 1645, Bl. 194d; Hs. Christ Church College 198, Bl. 16a.
Scholem, Kabbala 18

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274 Die ersten Kabbalisten in der Provence

unmittelbare Traditionen aus dem Orient über Archonten und Äonen


in der himmlischen Welt hier Eingang gefunden haben und wo sie
in Verbindung mit der neuen Sephiroth-Lehre weiter ausgebaut
worden sind. Gemeinden wie Narbonne und Marseille hatten ihre
direkten Verbindungen nach der Levante und wir sahen schon, daß
die Gelehrten von Arles sich ebenfalls solcher Beziehungen rühmten.
Was auf diese Weise etwa im 12. Jahrhundert dorthin gelangte, ist
weit von der besonderen Geisteswelt des Buches Bahir entfernt und
die angeblichen Bearbeitungen solchen Materials in Isaak Kohens
Quellen verraten auch nichts von der Geistesart Isaaks des Blinden.
Es gibt hier eine Neigung zur Aufzählung himmlischer Wesen und
ihrer Namen, die manchmal an die Kataloge erinnert, die wir in der
Pistis Sophia und anderen spätgnostischen, ζ. B. mandäischen Ela-
boraten vor uns haben. Isaak Kohen, der uns viele solcher Listen und
Aufzählungen erhalten hat, schreibt sie einer besonderen Gruppe von
Kabbalisten zu, die nicht den Königsweg der anderen Kabbalisten
gegangen sei und die er, soweit es sich nicht um die dämonologischen
Spekulationen handelt, von denen oben die Rede war, zum Teil auf
eine Quelle zurückführt, die er als „Buch des Rab Giammai" be-
zeichnet. Dieses Buch will er in der Provence in drei Exemplaren ge-
funden haben, eines in Narbonne bei dem mehrfach erwähnten ano-
nymen Chassid, und zwei in Arles204.
Damit kommen wir auf einen sehr merkwürdigen Sachverhalt.
Das Buch des Chammai, aus dem noch Isaaks Schüler Moses von Burgos
weitere Archonten-Kataloge gnostischen Charakters zitiert, ist ver-
loren206. Dieser Name tritt aber noch in einer Reihe anderer Schriften
auf, die wohl ebenfalls ihren Ursprung in der Provence haben. Eine
historische Person dieses Namens ist unbekannt. Ob der Amoräer
Chamma ben Chanina etwa zum pseudepigraphischen Autor gemacht
werden sollte, ob der Name Rachmai "ΊΏΐΓΠ im Bahir etwa zu R. Cham-
mai "»san "ι geworden ist, oder ob wir es einfach mit einer neuen Fik-

204
M adda e ha-Jahaduth II, S. 245. Schon Steinschneider hat — Hebräische Bi-
bliographie Bd. 18 (1877), S. 20 — auf diese Stelle hingewiesen.
205
Aus einigen Zitaten bei Moses von Burgos und Isaak von Akko ließe sich frei-
lich auch eventuell schließen, daß dieses „Buch des Rab Chammai" eine erweiterte
Rezension des unten besprochenen Sepher ha-'Ijjun war, jedenfalls zum Teil dieselben
Dinge enthielt. Das Zitat, das ich in Tarbiz V, S. 181 gedruckt habe, steht in der Tat
in letzterem Buch. Ein anderes bei Moses von Burgos, Tarbiz V, S. 54, wird auch bei
Isaak von Akko angeführt, Hs. München 17, Bl. 26a, wo alles außer einer Zeile auch
im Sepher 'Ijjun steht. Aber gerade diese Zeile muß dem Zusammenhang nach dort
gestanden haben, da der Text dort sonst unvollständig ist. Hiernach ist meine Be-
merkung in Tarbiz IV, S. 69, zu berichtigen. Moses von Burgos, Tarbiz V, S. 187,
zitiert aus Chammais Buch etwas über die 32 Wege, von denen nur 30 erfaßbar seien,
worüber in unseren Texten des Buches *Ijjun überhaupt nichts vorkommt.

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Die Schriften des 'Ijjun-Kreises 275

tion zu tun haben, läßt sich nicht mehr ausmachen206. In dem wich-
tigsten uns erhaltenen Text tritt Chammai als ein spekulativer Autor
des 11. oder 12. Jahrhunderts auf, der sich schon auf pseudepigra-
phisches kabbalistisches Material im Namen des Haj Gaon (gest.
1040) bezieht207. Außer einem „Buch der Einheit", Sepher ha-Jihud,
aus dem wir nur Zitate haben208, besitzen wir ein Schriftchen unter
204
Reuchlin nennt den Autor in der T a t Hamai ben Hanina, vgl. de Arte Cabba-
listica, Hagenau 1517, Bl. 14a. Er muß das in seiner Vorlage gefunden haben. Auch
zitieren spätere Quellen ein „Großes Buch 'Ijjun" des R. Chamma bar Chanina, so
David Halewi (um 1500) im Sepher ha-Malkhuth, das in Ma'or wa-Schemesch, Livorno
1839, Bl. 24a gedruckt ist. Es gibt alte Bahir-Zitate, wo s t a t t Rachmai R. Chamai
steht, so z. B. im Zitat von § 74 bei Todros Abulafia, Osar ha-Kabhod, Hs. München
103. Schon Zunz, Die Gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 2. Aufl., S. 420 h a t auf
eine solche Stelle bei diesem Autor hingewiesen. Auch in der Wilnaer Edition des Bahir
und der ihr folgenden von R. Margalioth, Jerusalem 1951, steht an einer Stelle, § 29
der Wilnaer Einteilung, der Name des R. Chamma. Ahron Marcus h a t in seinem
anonym erschienenen Kommentar Qesset ha-Sopher zu den „Responsen vom Himmel"
des Jakob aus Marvège, Krakau 1895, S. 19, behauptet, Chammai sei kein Name,
sondern bedeute „mein Schwiegervater" und bezeichne den Abraham ben Isaak aus
Narbonne, den Schwiegervater des Rabed, als Autor. Diese Erklärung kann nicht
emst genommen werden. In Bearbeitungen des Buches 'Ijjun, wie sie in einer Reihe
von Hss. vorliegen, so schon in einer in Florenz befindlichen aus dem Jahre 1328,
wird sogar zwischen diesem Chammai und einem „ R a b Chammai dem Großen", seinem
Lehrer, unterschieden. Spätere Werke führen von ihm sogar ein „Buch über das Innere"
der Wirklichkeit an, Sepher ha-Penimijuth, vgl. Kirjath Sepher IV (1930), S. 275.
207
Das dem H a j Gaon in der T a t schon außerhalb des eigentlichen Kabbalisten-
kreises Dinge untergeschoben wurden, scheint durch ein Zitat erwiesen zu sein, das
sich gerade bei dem Kabbalistengegner Meir ben Simon aus Narbonne findet. In seinem
Werk Mühemet Mifwa führt er (Hs. Parma, de Rossi 155, Bl. 243a) aus H a j an, man
müsse beim Schma'-Gebet sich mit dem Kopf nach allen vier Himmelsrichtungen be-
wegen, „ u m damit auszusagen, daß Er in allem sei und über alles herrsche und Vor-
sehung übe". Hierzu macht vielleicht nicht H a j selber, sondern Meir ben Simon
die ganz kabbalistisch klingende Bemerkung: „Und ich habe von meinem Vater emp-
fangen, daß man sein Herz auf jede der sechs Richtungen, Qeçawoth des Raumes [nach
der Terminologie des Buches Jesira!] bis ins End- und Grenzenlose hin, 'ad 'en Soph
we-Tikhla, richten soll". Mein verstorbener Kollege S. Assaf, ein Spezialist f ü r die
Schriften des H a j Gaon, erklärte mir beide Teile dieser Äußerung als nach Stil und
Denkart im Munde H a j s undenkbar, und daher unecht. Jedenfalls konnte also ein
Mann wie Meir ben Simon solche Äußerung schon als echt annehmen. Wenn er hier,
ohne es zu ahnen, eine unerkannte, frühe kabbalistische Fälschung auf H a j s Namen
benutzte, wäre auch durchaus denkbar, daß der zweite Teil mit seinem ganz kabba-
listischen Kawwana-Begriff, der doch kaum dem Vater des Meir ben Simon zugetraut
werden könnte, schon einen Teil eines solchen Pseudo-Haj, wahrscheinlich eines Re-
sponsums, bildete. Der Vater H a j s war der ebenso berühmte Scherira Gaon.
208
Vgl. Jellinek, Auswahl kabbalistischer Mystik, Leipzig 1853, S. 9 des deutschen
Teils. Jellinek konnte nicht wissen, daß die von ihm angeführten Kabbalisten ihre
Zitate aus David Messer Leon haben, der in seinem Magen David, Hs. Halberstam 465

18*
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276 Die ersten Kabbalisten in der Provence

dem Titel „Sepher ha-Ijjun", Buch der Spekulation oder Kontem-


plation, das in Handschriften weit verbreitet war209. Was an diesem
Text überrascht, ist, daß wir es hier mit einem klaren Einbruch neu-
platonischer Sprache und Begriffe in die Lehre von der Kosmogonie
und Merkaba zu tun haben, die von der Sprache des Bahir himmel-
weit entfernt ist, sich aber auch entschieden von der Isaaks des Blinden
abhebt. Die wenigen Seiten sind fahrig und ohne architektonisches
Gefühl zusammengestellt und der Fortschritt der Darstellung ist zum
Teil ganz sprunghaft und undurchsichtig. Das Buch ist in reinem
Hebräisch geschrieben und zwar in einem merkwüridig enthusiastischen
Stil. In der langen Überschrift heißt es: „das Buch der Spekulation
des großen Meisters Rab Chammai, des Hauptes derer, die über den
Gegenstand der inneren [verborgenen] Sephiroth sprechen, und er
enthüllte in ihm das Wesentliche der ganzen Realität der verborgenen
Glorie, deren Realität und Wesen keine Kreatur verstehen kann,
[und all dies] auf wahrhafte Weise, so wie er [der verborgene Kabhod ?]
in der unterschiedslosen Einheit ist, in deren Vollkommenheit sich
Obere und Untere vereinigen, und er [dieser Kabhod] ist das Funda-
ment alles Verborgenen und Offenbaren, und von ihm geht alles aus,
was aus der wunderbaren Einheit emaniert ist. Und Rab Chammai
hat all diese Gegenstände nach dem Verfahren der Merkaba-Lehre
— 'al Derekh Ma'asseh Merkaba — erklärt und die Prophetie des
Ezechiel kommentiert". Die Sprache dieser Überschrift und des An-
fangs ist rein spekulativ. Der Begriff der unterschiedslosen Einheit,
hebräisch 'Ahduth schawa, ist aus vor-kabbalistischen hebräischen
Texten nicht bekannt. Es handelt sich, wie dann in den Schriften des
Azriel aus Gerona ganz deutlich wird, um die Einheit, in der alle
Gegensätze „gleich", das heißt identisch werden. Dieser Begriff und
die ihm entsprechende Vorstellung von der coincidentia oppositorum
in Gott und den höchsten Sephiroth, die dann vor allem bei Azriel eine
große Rolle spielt, scheint hier zuerst aufzutreten. Gott ist nach ihm
„der Eine, der sich in allen seinen Kräften eint, wie die Feuerflamme,
die sich in ihren Farben eint, und seine Kräfte emanieren aus seiner

(jetzt im Jews' College, London), Bl. 7b, um 1500 bezeugt, dieses Buch ,,vor kurzer
Zeit gesehen" zu haben. Bl. 9a sagt er, es sei eines der merkwürdigsten Bücher dieser
Disziplin, aber nur zum kleineren Teil erhalten.
209
Jellineks Edition, Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 9—10, enthält nur gerade
den Anfang. Die Fortsetzung S. 11 und 12 gehört einem anderen Text der gleichen
Gruppe an. Ein vollständiger Text, aber z. T. mit schlechten Lesarten, ist von Chas-
sida in ha-Segulla, Heft 27—28, mimeographiert veröffentlicht worden. Aus Hss.
läßt sich ein relativ guter Text herstellen. Ich benutzte vor allem Hs. München 408.
Auf die durch die im Folgenden gegebenen Analysen gegenstandslos gewordenen Be-
hauptungen bei früheren Gelehrten wie Ehrenpreis, Emanationslehre in der Kabbala,
S. 44, brauche ich nicht einzugehen.

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Die Schriften des 'ijj un-Kreises 277

Einheit wie das Augenlicht, das aus der Schwärze des Auges hervor-
geht210, und alle sind aus einander emaniert wie Duft aus Duft und
Licht aus Licht, denn das eine emaniert aus dem anderen und die
Kraft des Emanierenden ist im Emanierten, ohne daß der Emanie-
rende Einbuße erleidet". Vor aller Schöpfung ruhte er transzendent
in sich selber, in der Kraft seiner eigenen Wirklichkeit verborgen.
Am Anfang der Schöpfung aber „wurde sein Kabhod offenbar, und die
Erklärung seiner Erkenntnis besteht in fünf Dingen". Diese fünf
Dinge, die zur Gnosis führen, nennt er zwar, erklärt sie aber nicht.
Sie gehören offensichtlich in den Bereich der Sprachmystik. Sie
heißen Tiqqun, Ma'amar, Seruph, Mikhlal, Heschbon. Es scheinen
dies Verfahrensweisen zu sein, durch die die Buchstaben ihre Har-
monie erhalten {Tiqqun), zum Wort zusammentreten (Ma'amar),
permutiert werden (Seruph), in all ihren Kombinationen zusammen-
gefaßt (Mikhlal), und nach ihrem Zahlenwert berechnet werden
(Heschbon). Der Prozeß der Emanation tritt auch hier mit dem Sprach-
prozeß zusammen, ohne daß die Einzelheiten deutlich werden. Diese
fünf Vorgänge sind, wie der Autor in einem merkwürdigen Bilde sagt,
„in den Verzweigungen der Wurzel der Bewegung [offenbar der Sprach-
bewegung] vereinigt, die sich in der Wurzel der dreizehn Gegensatz-
paare verstärkt", und aus einem dünnen Hauch, dem Laut des Aleph,
sich zum Gottesnamen entfaltet, wenn ich den schwierigen Text recht
verstehe. Diese dreizehn Paare von Gegensätzen sind zugleich die
dreizehn Middoth, die als Wirkungsweisen Gottes, nach Ex. 34 6,
in der jüdischen Theologie eine große Rolle spielen. Gott wirkt in
diesen Middoth sowohl positiv wie negativ, und wir spüren hier einen
Zusammenhang mit der kabbalistischen Auffassung des Begriffs der
Midda, wie wir sie zuletzt bei Isaak kennengelernt haben. Aber hier
sind es nicht die Sephiroth, sondern Kräfte oder Wirkungsweisen, die
in der ersten Sephira beschlossen sind und aus ihr hervorbrechen. In
jenen fünf Weisen der Sprachbewegung kommt nun alles zustande,
„wie ein Quell für die Flamme und eine Flamme für den Quell, der
sich bis zu dem unergründlichen und unendlichen Lichte" hinzieht,
„das im Übermaß der verborgenen Finsternis versteckt ist. Und die Er-
kenntnis der Einheit und ihres Prinzips bezieht sich auf diese Finsternis ' '.
210 Dies entspricht der galenischen Anschauung, daß das Licht aus dem Gehirn

durch das Auge nach außen dringt. Salomo Gabirol vergleicht in der „Königskrone"
betitelten Dichtung die Schöpfung mit diesem Vorgang: „ E r zog den Ausfluß des Seins
aus dem Nichts, wie aus dem Auge dringt der Strahl des Lichts", worauf schon Jellinek
hingewiesen hat, vgl. Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 9, sowie Beiträge zur Ge-
schichte der Kabbala I, S. 36—37; II S. 29. Der Ausdruck Meschekh im Sinne von
Emanation ist auch von Isaak dem Blinden und Ascher ben David übernommen
worden. David Kaufmann, Geschichte der Atributenlehre (1877), S. 113, hat das Wort
richtig erklärt (gegen seine eigene Hypothese auf S. 1).

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278 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Die göttliche Einheit wirkt also aus der iiberschwenglichen Finster-


nis, aus der alle Lichter kommen und sich mit ihr wie die Flamme
mit ihrer Quelle verbinden. Die Welt dieser Bilder scheint mir nicht
weit von der des Johannes Scotus Erigena und des Pseudo-Dionysius
Areopagita abzuliegen, mit der sie verwandter ist als mit der Welt
des Bahir. Bei hebräischen Neuplatonikern findet sich solche Sprache
für die göttliche Einheit nicht, und wir stoßen hier auf einen mög-
lichen Zusammenhang, der noch mehrfach in diesen Untersuchungen
auftauchen wird. Es scheint, als ob bei den provençalischen Kabba-
listen die Äonenlehre der Gnostiker und des Bahir sich mit der Lehre
des Erigena von den causae -primordiales, die in ihrer Vielfalt doch
die Einheit der göttlichen Sapientia sind, verbündet hat. Solcher
Zusammenhang ist historisch plausibel. Es macht keine Schwierigkeit
anzunehmen, daß die ersten Kabbalisten in der Provence und Arago-
nien um 1180—1220 direkt oder indirekt mit Scotus Erigena bekannt
geworden sein konnten. Erreichte doch dessen Einfluß damals, direkt
vor der Verurteilung von 1210, seinen Höhenpunkt211. Auch manche Ka-
tharer scheinen Erigenas Buch benutzt zu haben, wofür wir zwei
Zeugnisse besitzen212. Es war also in den Städten, in denen die ersten
Kabbalisten saßen, keine Seltenheit, bevor Honorius III die Zer-
störung aller Exemplare in Frankreich anordnete.
Von dieser spekulativen und so ganz neuartigen Einleitung geht
das Buch ' I j j u n aber zu einer Erklärung dieser Urfinsternis und der
aus ihr kommenden Potenzen über, die sich als eine Art Kommentar
zu einem Hekhaloth-Buch des Nechunja ben Haqqana ausgibt, das
nicht mit den uns bekannten Hekhaloth-Schriften identisch ist. Dieser
Kommentar, und damit das Buch ' I j j u n überhaupt, ist es offenbar,
gegen den (neben Bahir und anderen Schriften) sich der Angriff des
bei Meir ben Simon erhaltenen Sendschreibens gegen die Kabbalisten
richtet. Um 1245 war also ein solcher Kommentar zu den Hekhaloth
„in welchem Dinge im Sinn ihrer [der Kabbalisten] Ketzerei standen",
in der Provence bekannt213. Dieser Text nennt die Siegelringe, mit
denen Himmel und Erde versiegelt sind, wie sie in ähnliche»· Weise
in der Tat in der Wertheimerschen Version der „Großen Hekhaloth"
(Kap. 23) stehen. Der magische Name, mit dem der Himmel ver-
siegelt ist, heißt aber hier Araritha, der entsprechende Name für die
Erde 'EHWJ. Der letztere Name, der in den Schriften dieser Gruppe
noch oft zum Gegenstand mystischer Spekulation gemacht wird, ist
211 Vgl. Marie-Thérèse d'Alvemy, Archives d'histoire doctrinale et littéraire du
Moyen Age, 1953, S. 32 — 81. Durch diese wichtige Arbeit ist der tiefe Einfluß des
Scotus Erigena auf französische Autoren des 12. Jahrhunderts erwiesen worden.
212
Vgl. bei Frances Yates, Journal of the Warburg and Courtauld Institute XXIII
(1960), S. 36.
213
Vgl. J. Q. R. IV (1892), S. 358.

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Die Schriften des 'ijjun-Kreises 279

offensichtlich kein alter magischer Geheimname aus theurgischer


Überlieferung, sondern ein künstliches Produkt, das aus den vier
Konsonanten zusammengesetzt ist, welche im Hebräischen als maires
lectionis verwandt werden. Abraham ibn Ezra und Jehuda Halewi
haben zuerst Deutungen dieser vier Buchstaben als der geistigsten
Elemente unter den Konsonanten vorgebracht, die daher am geeig-
netsten seien, Symbole des Gottesgeistes im Weltkörper und Elemente
der zwei wichtigsten Gottesnamen der Tora, der Namen Ehjeh und
JHWH zu bilden214. Hieraus ist dann erst ein magisches Ur-Tetra-
grammaton gebildet worden, das die Einheit dieser beiden Namen
bezeichnet und ihnen voranging215. Der Name Araritha ist aber in
sehr alten magischen Stücken der deutschen Chassidim als der Ge-
heimname des Haschmal in der Vision Ez. 1 4 nachweisbar21®. In einem
magischen Stück aus der gaonäischen Zeit, dem „Gebet des Rab
Hamnuna des Alten", kommt der Name schon ebenfalls vor 217 . Im
Buch 'Ijjun werden diese Namen im Sinne eines neuplatonischen
Gottesbegriffs ausgedeutet. Sie weisen danach sowohl auf seine statische
wie auch dynamische und in Gegensätzen sich identisch behauptende
Einheit hin. Während der eine Name also den Weg von der Magie
zur neuplatonischen Mystik zeigt, zeigt der andere den von der Sprach-
theorie der Grammatiker zur Magie der Namen, also in umgekehrter
Richtung. Beide Richtungen treffen sich in eindrucksvoller Weise
im Buch Ijjun und den ihm verwandten Schriften.
In der Fortsetzung wird die Urfinsternis nicht mehr direkt berührt.
Es wird zuerst eine „Ordnung des Herrn der Welt", dahinter dann
eine „Ordnung des Metatron" erklärt, wobei der zweite Teil offen-
sichtlich als eine Art Schi'ur Çoma-Erklärung gedacht ist. Beide
Teile beschreiben auf ihre Weise und unter dauernder Vermischung
211 v g l . Abraham ibn Ezra, Jessod Mora, Kap. 11 (in M. Creizenachs deutscher
Übersetzung, Frankfurt 1840, S. l l l f f . ) , und Jehuda Halewi, Kuzari IV, 3, sowie
D. Rosin, M. G. W. J . , Bd. 42 (1898), S. 1 5 5 - 1 6 8 .
2 1 5 Moses Cordovero zitiert im Pardess Rimonim, Kap. 21, § 3 aus einer solchen

Schrift: „Gott verbirgt seinen Namen den Eingeweihten im Namen Ehjeh und im
Namen J H W H , und dies ist der eigentliche Name "ΊΠΚ. Die Namen aber, in denen
Konsonanten verdoppelt vorkommen, sind nur für die Menge gegeben". Cordovero
lehnt diese kühne Ansicht entrüstet ab. Eine mystische Begründung für diesen Gottes-
namen hat ein dem gleichen Kreis angehöriges Stück der Handschrift München 408,
Bl. 124b—125b.
2 1 · Vgl. Hs. British Museum, Margoliouth 752, Bl. 93 b (direkt hinter einer Notiz

über astrologische Magie, in der auf das Jahr 988 exemplifiziert wird). Hier wird der
Name ΧΠΉΙΝ geschrieben, im Buch * I j j u n und den anderen Schriften dieser Gruppe
aber stets XIYHN1X. (So auch als Name des „von jeher Wirklichen" in einem Zitat
aus dem Buch Bittahon, in Kirjath Sepher I, S. 167.
2 " Dies Gebet ist ζ. B . in der Hs. British Museum 737, Bl. 298bff„ im Sepher ka-

Schem des Eleazar von Worms erhalten.

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280 Die ersten Kabbalisten in der Provence

der Merkaba-Gnosis mit neuplatonischen Bildern die Potenzen, durch


die Gott bei der Schöpfung wirkt, und die obersten Hierarchien der
von ihm ausgehenden Wesenheiten, Hawajoth. Der Autor zitiert
dabei andere, vermutlich ebenfalls fingierte Schriften218. Am Schluß
des Textes scheint es plötzlich, als ob R. Ismael alles Vorangegangene
vor Nechunja ben Haqqana vorgelesen habe, also alles aus dem ein-
gangs erwähnten Hekhaloth-Buch stamme. Der Rahmen der alten
Merkaba-Literatur wird hier deutlich benutzt, um darin ihm fremde
Inhalte einzuspannen. Mit der Welt des Buches Bahir haben diese
Vorstellungen, in denen die Sephirothlehre nur ganz nebenbei erwähnt
wird, kaum Berührung. Die dreizehn Potenzen, die aus der höchsten
Verborgenheit, Sether 'eljon ha-ne'elam — wohl jener vorerwähnten
Urfinsternis — sich manifestierten, werden mit Namen aufgezählt.
Sie sind: 1. die Ur-Hokhma, 2. das wundersame oder verborgene Licht,
'Or muphla, 3. Haschmal, 4. der Nebel, %Araphel, 5. der Thron des
Glanzes, 6. der 'Ophan der Größe, 7. der Cherub, 8. die Räder der
Merkaba, 9. der umgebende Äther, 10. der Vorhang, 11. der Thron
der Glorie, 12. der Ort der Seelen, der auch .Kammern der Größe'
heißt, 13. der äußere heilige Tempel. Hier gehen also Sephiroth-
Namen, neue Lichtmystik, Merkaba-Begriffe und kosmologische
Kräfte durcheinander. Moses von Burgos hatte eine spätere Bear-
beitung dieser Liste vor sich, die stark variierte und die ersten zehn
Potenzen offenbar mit den zehn Sephiroth der kanonisch gewordenen
Überlieferung zu identifizieren strebte 219 . Der unerkennbare Gott
gibt sich in diesen Potenzen den Anschein, als ob er einen Körper
annehme, und sein Kabhod ist, wie im alten Schiur Qoma, der „Körper
der Schekhina". Gott selber aber ist, mit einem neuplatonischen
218
So ein Buch Libhnath ha-Sappir und ein anderes namens Mikhlal Jophi. Auch
die anderen Schriften dieser Gruppe zitieren viele sonst nicht nachweisbare Aussprüche
der „Merkaba-Gelehrten" und „der Forscher", Hakhme ha-Mehqar, womit meistens
neuplatonische Quellen gemeint sein dürften.
21» Ygi <jen Text in M adda e ha-Jahaduth II, S. 209. In seiner Aufzählung steht
das „wunderbare Licht" als Bezeichnung der ersten Sephira vor der Hokhma. Sein
Text verrät eine klare Tendenz, die mit der Sephiroth-Lehre nicht übereinstimmende
Folge im Buche 'Ijjun mit ihr zu harmonisieren. Der Terminus Hokhma qeduma für
die Ur-Weisheit, den Isaak (vgl. oben S. 253) und die Schriften der 'Ijjun-Gruppe
benutzen, stammt aus dem gereimten Vorwort des provençalischen Gelehrten Moses
Qimchi (Mitte des 12. Jh.s) zu seinem in den Bibelausgaben unter dem Namen des
Abraham ibn Ezra gedruckten Kommentar zu den Proverbien, vollständig gedruckt
im Osar Tobh, der hebräischen Beilage zum Magazin für die Wissenschaft, des Juden-
tums, vol. 9 (1882), S. 36. Dies ist die Quelle, die N. Krochmal im Sinn hatte, als er
im More Neboche ha-seman sive Director errantium nostrae aetatis, ed. Ravidowitz
(1924) S. 297 und 316 den Vers als ibn Ezra angehörig zitierte. (R.s Quellennachweis
a. a. O. ist falsch, und ich verdanke Herrn Naphtali Ben-Menachem in Jerusalem den
Hinweis auf die richtige Stelle, die ich lange vergeblich gesucht habe).

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Die Schriften des 'Ijjun-Kreises 281

Bilde (das ebenfalls aus Gabirols Dichtung „Königskrone" stammen


dürfte), die „Seele der Seelen". Unterhalb des Kabhod breiten sich
dann die vier „Lager der Schekhina", die auch die vier Urelemente
und die vier Bereiche der Erzengel sind, als Gestalt des Urmenschen
aus. Dabei werden sie auf unerklärte Weise mit vier der erwähnten
dreizehn Potenzen zusammengebracht, die offenbar auch vier Haupt-
sephiroth entsprechen. Dies sind der Haschmal (entspricht Hessed),
der Nebel (entspricht der Strenge), der Thron des Glanzes (entspricht
Tiph'ereth) sowie der 'Ophan der Größe (entspricht Malkhuth). Das
wird nicht direkt gesagt, aber impliziert. Dabei werden Verse aus
mystischen Gedichten angeführt, die die selbe Sprache sprechen220.
Im Namen des Haj Gaon wird dabei ein pseudepigraphischer Aus-
spruch über die Schöpfung der Hyle angeführt, aus der, nach der
Emanation der „verborgenen Stufen", also der Sephiroth, alle Krea-
turen emaniert seien. Der Satz läßt es unklar, ob diese „Schöpfung
des Urstoffs", die in Gottes Gedanken aufstieg, ein wirklich neuer
Schöpfungsakt oder eine Fortsetzung der Emanation der Sephiroth
in einer unteren Sphäre ist. Klarer dagegen scheint mir, daß dies
Schema, wonach die Hyle und die Welt der vier Elemente unmittel-
bar unter den göttlichen Potenzen des Kabhod oder den Sephiroth
ihren Ort haben, ziemlich exakt der Ordnung des Seins bei Scotus
Erigena entspricht, wo die Hyle und die vier Elemente, nicht in ihrer
Körperlichkeit, sondern als unkörperliche dementa universalia auf-
treten, und zwar als unmittelbare Wirkungen der causae primordiales.
Dadurch würde sich auch die sonderbare Abweichung dieses kabba-
listischen Schemas von dem klassischen plotinischen der Hierarchie
des Seins erklären, und die Rangordnimg des Timaeus wäre dem Autor
irgendwie durch die schon ins Mystische transformierte, wie sie Eri-
genas Buch gibt, vermittelt worden. Erst nach dieser Hierarchie der
höchsten Wesen wird im letzten Teil des Buches ' I j j u n über Metatron
gehandelt, der aber ebenfalls im Sinne der Schiur Çowa-Lehre als
eine Erscheinung des „Körpers der Schekhina" und mit den Versen
des Cant. 5 uff. beschrieben wird. Das Ganze ist mit Zahlenmystik
und Sprachmystik stark durchsetzt. Die Engel sind für den Autor
kosmische Potenzen, die am ersten Tag erschaffen wurden.
An die Seite dieses seltsamen Elaborats tritt nun eine ganze Reihe
kleinerer Schriften und Fragmente entweder pseudepigraphischer
Aufmachung oder anonym, die unverkennbar Zeugen der gleichen
220
Der Vers, den er hier aus Mcfjan Hokhma (einem anderen, als dem unten ge-
nannten Buch) zitiert, wird in dem in Anm. 232 nachgewiesenen Text aus einem Sepher
ha-Schi'ur angeführt. Ferner zitiert 'Ijjun einen Vers eines R. Pinchas Chissma, der
im selben Stil geschrieben ist („Eines ist mit dem anderen in den Schwingen des Ge-
heimnisses der Bewegung verschlungen"). Ein Pajtan dieses Namens ist bisher ganz
unbekannt.

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282 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Geistesart sind und dieselbe besondere Sprache sprechen. Sie benutzen


sehr oft die gleichen und verwandte Symbole, ordnen sie aber in ganz
verschiedener Weise ein und erklären sie verschieden. Dabei wird
deutlich, daß den Autoren die Scheidung von Merkaba und Sephiroth
noch keineswegs klar ins Bewußtsein getreten ist, an welchem wich-
tigen Punkt doch noch die Kontinuität zum Buch Bahir hin sichtbar
wird. Überall werden beide vermischt. Merkaba-Wesen wie der Thron,
der Ophan, das Rad, der Haschmal, der Vorhang, Pargod221, ja auch
der Cherub und der Seraph werden ebenso als zur mystischen Welt
der sich aus Gott manifestierenden Potenzen angesehen wie die Se-
phiroth. Mit diesen werden sie, wie schon gesagt, teils identifiziert,
teils ohne weitere prinzipielle Unterscheidung neben sie gestellt.
Überall hat hier ein vehementer Platonisierungsprozeß eingesetzt,
der disse Schicht der alten Merkaba-Welt selber verwandelte. In
dieser Umdeutung besteht die Welt der Merkaba aus intelligiblen
Potenzen, die zum Teil noch mit alten Namen genannt werden,
die aber nicht mehr zu ihnen passen. Neben diese alten Namen treten
neue Begriffe verschiedenster Herkunft. Die Aufzählungen dieser
Potenzen gewähren das Bild eines merkwürdigen Durcheinander. Ein-
flüsse aus den verschiedensten Quellen, aus Saadia, Maimonides'
erstem Kapitel des Mischila Tora, indirekt vielleicht auch aus Gabirols
Willensmetaphysik, und aus unidentifizierbaren Neuplatonikern, sind
hier erkennbar. Der göttliche Wille, der bei Isaak dem Blinden keine
Rolle spielte, tritt nun neben und über den „reinen Gedanken" Gottes.
Die Texte erwecken den Eindruck von ersten Tast- und Geh-Ver-
suchen einer spekulativen Mystik. Ihre Sprache ist an sonderbaren
Wortverbindungen und Bildern reich, die nur zum kleinen Teil in
der alten Saadia-Paraphrase belegt oder von ihr angeregt sind. Die
Gebete, die hier verfaßt wurden, aber auch manche der Explikationen
über die intelligiblen Lichter, rufen in ihrem feierlichen und klingenden
Gebrauch der abstraktesten Begriffe der Ontologie den besonderen
Stil der pseudo-Areopagitischen Schriften in der christlichen Mystik
in Erinnerung. Der enthusiastische Stil und Faltenwurf der Sprache
verbindet diese neuplatonische Pseudepigraphie mit den sonst so ganz
anderen Geist atmenden Hymnen und Gebeten der alten Merkabamy-
stiker. Die Autoren ersetzen die nicht mehr lebendige ursprüngliche Mer-
kabawelt, von der nur noch traditionelles Wissen bei ihnen vorhandenist,
durch die neue Welt der göttlichen Lichter, Kräfte und intelligiblen
221
Dieser Vorhang vor dem Thron wird in der alten Merkaba-Gnosis oit erwähnt.
Vgl. die Nachweise in meinem Buch Jewish Gnosticism usw., S. 36. Vorhänge vor den
himmlischen Bereichen der Äonenwelt spielen — offenbar unter jüdischem Einfluß —
in den Aufzählungen der gnostischen „Pistis Sophia" eine große Rolle. Ähnliche Vor-
hänge zwischen den Emanationen erscheinen in personifizierter Form in den Quellen
Isaak Kohens.

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Die Schriften des 'ijjun-Kreises 283

Potenzen. Aber sie wissen, bei offenbar schwacher philosophischer


Orientierung, nicht oder noch nicht genau, wie sie anzuordnen sind.
Im Verlangen nach exegetischer Kontinuität suchen sie die neue Welt
recht und schlecht auf die alte zu projizieren, aber außer den klingen-
den Worten und Begriffen hat sich noch keine feste Gedankentradition
durchgesetzt. Das gibt diesen Interpretationen einen oft wunderlichen
und abstrusen Charakter. Diese Unsicherheit des Denkens zeigt sich
etwa an der Behandlung von aus der Philosophie hierher verschlagenen
Grundfragen, wie der von Materie und Form. Wir können also in diesen
Schriften den Einbruch der neuen Spekulation in die alte Tradition
in voller Gewalt beobachten, bevor er noch eine geordnete Gestalt
und feste Richtung angenommen hat. Das gibt diesen großenteils
besonders schwierigen Texten ihr Interesse. Das Haften an der Tradi-
tion und Formensprache der sich auflösenden und verwandelnden
jüdischen Gnosis führt aber auf ein noch tieferes sachliches Problem.
In diesem Prozeß entwickelt sich nicht nur eine unvergleichlich stärker
neuplatonische Elemente aufnehmende Kabbala, sondern zugleich
erstarken auf neuer Ebene die gnostischen Tendenzen selber. Der
Piatonismus und die gnostisierende Tendenz gehen dabei Arm in Arm.
Derselbe Kreis, in den der Piatonismus so nachdrücklich einbricht,
verkoppelt damit mythologisierende und einer Verwandlung der
mystischen Tradition in mystische Philosophie widerstrebende Ten-
denzen gnostischen Charakters. Sie finden ihren Ausdruck in einer
Repristination solcher gnostischen Elemente, die sich aus älterem
Traditionsbestand erhalten hatten und die nun vor einem neuen
Hintergrunde ein eigenes Leben entfalten.
Mangels eines besseren Namens fasse ich diese Schriften als die
'///«»-Gruppe oder den 'Ijjun-Kreis zusammen222. Dessen Autoren
setzen die pseudepigraphische Tradition der Hekhaloth und des Buches
Bahir fort, produzieren aber keine Midraschim, sondern Abhand-
lungen über die Namen Gottes, über die 32 Wege der Weisheit, die
Erkenntnis der höchsten Realität oder kabbalistische Gebete, in denen
ihre besonderen Anschauungen vorgetragen werden. Während Isaak
der Bünde und seine Schüler unter ihrem eigenen Namen schreiben
und auftreten und nirgends pseudepigraphische Tendenzen bei ihnen
zu bemerken sind, steht es mit den Aütoren dieser Gruppe ganz anders.
Ihre Identifizierung ist nicht mehr möglich, aber wir können sagen,
daß ihre Schriften zum Teil nach Kastilien gelangt sind, wo sie auf
verwandte Geister stießen. Es ist auch durchaus möglich, daß einige
davon nicht mehr in der Provence, sondern in Kastilien, in Burgos

822 Schon 1853 hat Jellinek die Zusammengehörigkeit verschiedener Schriften

dieser Richtung erkannt, aus deren bunter Reihe ihm freilich nur drei Texte bekannt
waren, vgl. Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 11—12 des deutschen Teils.

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284 Die ersten Kabbalisten in der Provence

oder Toledo, verfaßt worden sind. In unmittelbarem persönlichen


Zusammenhang mit Mitgliedern dieses Kreises war offensichtlich vor
allem Jakob ben Jakob Kohen aus Soria, in dessen Schriften die
Geistesart dieser Gruppe sich am unmittelbarsten fortsetzt. E r deutet
schon an ihnen herum, ohne sie freilich mit Namen zu zitieren. Sein
Lehrer, ein anonymer Chassid in Narbonne, gehörte wohl dem 'Ijjun-
Kreis an. Die angeblichen Autoren dieser Schriften umfassen eine
große Spannweite. Das neben 'Ijjun besonders wichtige Ma1 jan
ha-Hokhma, „die Quelle der Weisheit", gibt sich als Mitteilung eines
anonymen Engels an Moses223. Eine ausführliche kosmogonische
Theorie im Rahmen einer Erklärung des Tetragrammaton wird auf
einen „Midrasch Simons des Gerechten" zurückgeführt 224 . „Gebete
der Einheit", d. h. Gebete, die Gott in seiner Einheit in den verschie-
denen Sephiroth anrufen, werden hier den Tannaiten Nechunja ben
Haqqana und Rabban Gamliel zugeschrieben225. Dem Chanania ben
Teradion wird ein Buch More Sedeq beigelegt226. Eine Polemik gegen
die bei den deutschen Chassidim verbreitete Vorstellung von der
Golem-Schöpfung wird aus einem Buch Bittahon, „vom Gott ver-
trauen", angeführt, das dem Jehuda ben Bathyra, einem Tannaiten
2 2 3 „Michael hat das Buch dem Namenlosen übergeben und der Namenlose an

Moses, unseren Lehrer und er hat es offenbart, damit die Generationen daran weise
werden", wie es in der Überschrift heißt. Die Schrift ist mehrfach mit sehr korruptem
Text, zuerst Amsterdam 1651, gedruckt worden, läßt sich aber aus guten Hand-
schriften wie München 341, Mussajof 210 weitgehend restituieren. Ich lege bei Zitaten
einen solchen verbesserten T e x t zugrunde. Einige Paragraphen sind offensichtlich
bewußt unverständlich formuliert. Moses von Burgos las in einem anderen Text des
gleichen Titels Ausführungen übei; die personifizierten Emanationen unterhalb der
zehnten Sephira Malkhuth, die er ebenfalls mit der Kabbala des angeblichen Chammai
zusammenbringt, vgl. Maddae ha-Jahaduth I I , S. 289. Törichtes über dies Buch als
eine „Satyre auf die Lehren der Kabbalisten" bei M. H. Landauer, Literaturblatt des
Orients V I (1845), Sp. 228.
2 2 1 Dieser Midrasch hat aber nichts mit einem Schriftwerk im Sinne dieser Gattung

zu tun. Ein korrupter T e x t der Abhandlung ist im Kommentar des Moses Botarel zu
Jesira I I , 3 gedruckt, Mantua 1562, Bl. 6 2 a — 6 3 b . Hss. wie München 215 haben einen
ausgezeichneten Text.
2 2 5 Das Gebet des R . Nechunja ist am besten am Eingang von Mordechai Eljaschow,

Haqdamot u-Sche'arim, Pjotrkow 1909, gedruckt. E s ist eines der verbreitetsten Doku-
mente der Kabbala. Der Betende preist Gott aus jeder Sephira heraus, die er in schwung-
vollem Stil charakterisiert. Das Gebet des Rabban Gamliel ist in der Hs. Vat. 185,
Bl. 185—188, sowie der Hs. Jellinek 60 in Wien (jetzt im Warschauer Jüd. Hist. In-
stitut) erhalten. Das bei Jellinek als Fortsetzung des Buches ' I j j u n gedruckte Stück,
Auswahl S. 10—12, gehört diesem Gebet an.
2 2 8 Ein Fragment daraus ist in meinem (hebr.) Katalog der Kabbai. Hss. der Uni-

versitätsbibl., Jerusalem (1930), S. 16—17 gedruckt. Es schließt sich an das 'Abhoda


zara 17b und den „Großen Hekhaloth", Kap. 6 von R . Chananja Berichtete an. Die
dort S. 14ff. beschriebene Hs. enthält mehrere wichtige Texte des '///un-Kreises.

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Die Schriften des 'Ijjun-Kreises 285

des 1. Jahrhunderts, zugeschrieben wird227. Responsen über die Namen


Gottes und anderes werden, mit einem Sprung von den Tannaiten
zu den letzten Geonim, dem Haj Gaon unterschoben228. Die Motive
für die Zuschreibung dieser mystischen Schriften an die verschiedenen
Autoren liegen zum Teil darin, daß die wirklichen Personen sich über
den Namen Gottes und dergleichen geäußert haben, wie etwa Haj
in einem echten Responsum über den 42-buchstabigen Gottesnamen,
dessen Überlieferung ,,im Lehrhaus bekannt sei". Nicht weniger als
vier verschiedene Stücke geben die Namen der 32 Wege aus dem An-
fang von Jesira als eine Aufzählung der intellektuellen Lichter oder
angelischen Kräfte, die die Grundmächte der Schöpfung sind229. Zwei
davon sind anonym, zwei andere werden auf die „Weisen der Mischna"
und auf R. Ismael als Heros der Hekhaloth zurückgeführt. Andere
Abhandlungen aus dieser Gruppe sind anonym. So eine Erklärung
des Tetragrammatons230, eine des Namens von 72 Namen, der in der
227
Vgl. dazu mein Buch „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", S. 234—236, wo ich
das Stück übersetzt habe. Steinschneider, Hebr. Bibliogr. Bd. 16, S. 66—67 h a t die
Zugehörigkeit des Buches zu dieser Gruppe nicht deutlich gemacht. In dem Anm. 216
erwähnten Zitat wird der Ausspruch daraus den „Forschern" über die Wirklichkeit,
also den Metaphysikern, zugeschrieben. U m 1300 nennt der spanische Kabbaiist
Chananel ben Abraham den Chananja ben Teradion als Autor, vgl. Günzburg in
Hakedem I (1907), S. 117.
228
Die Erklärung H a j s zum 42-buchstabigen Gottesnamen ist in meinem erwähnten
Katalog, S. 213—217, gedruckt. Über das weitere Responsum über die zehn Sephiroth
und dreizehn Weisen des göttlichen Erbarmens siehe unten S. 308ff. Eine weitere Aus-
führung H a j s über die Schreibung des Gottesnamens in mystischer Schrift (Sternen-
buchstaben) in Kobaks Jeschurun, Bd. I I I (1859), S. 65—67 des hebr. Teils. Vgl.
auch oben Anm. 207, sowie unten S. 290 — 291.
229
Eine dieser Listen ist am Ende des Vorworts des Kommentars des Pseudo-
Rabed zu Jeçira gedruckt und steht in vielen Hss. als besondere Abhandlung. Eine
andere, die dem weiter unten genannten „Buch von der Einheit" besonders nahe steht,
ist in der Hs. Vat. 291, Bl. I I b — 1 3 b u. a. erhalten. Eine Liste der 32 Wege, die nicht
intelligible Potenzen, sondern magische Geheimnamen für sie aufführt, steht in der
Hs. der Laurentiana in Florenz, Plut. II, Cod. 18, Bl. 102b. Eine weitere kurze Liste
in einer Hs. der Casanatense in Rom, Sacerdoti 180, Bl. 60, vgl. meinen Katal. d.
Jerus. Hss. S. 110. Die erste Liste ist seit der lateinischen Übersetzung J . St. Ritt-
angels in seinem Liber Jezirah, Amsterdam 1642, öfters in europäische Sprachen über-
setzt worden, z. B. ins Englische bei Wynn Westcott, Sepker Yetzirah, London 1893,
S. 28—31; ins Deutsche von Johann Friedrich v. Meyer, das Buch Jezira, die älteste
kabbalistische Urkunde der Hebräer, Leipzig 1830, S. 1—6. In den Übersetzungen
wird der ganz undurchsichtige Charakter der hier aufgezählten Intelligenzen, Sekhalitn,
keineswegs deutlicher.
230
Perusch Schern ben 'arba' Othijoth, Hs. Florenz, Laurentiana Plut. II, Cod. 41,
Bl. 198a—201a. in einer ausgezeichneten Hs. von 1328, sowie München 24e, Paris
7652. Das erhaltene Fragment zur Kritik der Golem-Magie aus dem Buch Bittahon
stammt aus diesem Text. Dieser Kommentar zitiert auch schon das Buch Ma'jan

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286 Die ersten Kabbalisten in der Provence

magischen Überlieferung eine Rolle spielt und neben den 42-erNamen


tritt 231 , ein später dem Eleazar von Worms zugeschriebenes „Buch
von der wahrhaften Einheit", ein weiteres „Buch von der Einheit,
die zu bestätigen und zu bekräftigen allen Weisen ziemt", dessen
Überschrift schon die wörtliche Benutzung der Phraseologie der alten
Saadia-Paraphrase beweist 232 . Diese und eine andere Schrift des
Namens Sod wi-Jessod ha-qadmoni, „Mysterium und Urfundament
[der Schöpfung]", stellen Erklärungen der zehn Sephiroth im Geiste
dieses Kreises dar, wovon die letztere vielleicht schon einer späteren
Schicht als die übrigen zugehört, aber noch ganz von deren Begriffen
und Denkart durchdrungen ist 233 . Schließlich gehören hierher auch
die zwei Responsen des fingierten Gaon R. Jechuschiel aus Deutsch-
land, die schon mit den Quellen zusammenhängen, aus denen Isaak
Kohen, der Bruder von Jakob Kohen, seine Theorien über die Dämo-
nologie und die Hierarchien der finsteren Geister hatte. Hier werden
ha-Hokhma sowie Gabirols Gedicht über das Buch Jesira, ed. Bialik und Rawnizki II,
S. 58.
281
Sod Schern ben 'Ajin Beth, Hs. Florenz, Plut. XIV, Cod. 44, Bl. 1—11. Dieser
merkwürdige Text gehört wohl der späteren Schicht dieser Schriften an, wurde aber
schon ausgiebig von Jakob Kohen in der Einleitung zu seinem Sepher ha-Ora, Hs.
Milano, Bernheimer 62, Bl. 85b—93b, ausgeschrieben. Hier heißen die Mystiker nicht
nur, wie noch oft im '//jMM-Kreis die „Weisen der Merkaba" und Gnostiker, wörtlich
„Meister des Wissens", hebr. Ba'ale Jedi'a (von denen zum Teil aber auch einfach
Zeilen aus dem Schi'ur Qoma zitiert werden), sondern auch „Sprach-Mystiker" oder
„Meister der Sprache", von denen Angelologisches angeführt wird. Hinter der Schrift
findet sich als Zusatz, aber im gleichen Stil, eine lange Polemik gegen die praktische
Anwendung der Namen Gottes zu magischen Zwecken, die durch ihren besonders
scharfen Tonfall auffällt. Der Autor (wenn es derselbe ist), der vorher gerade die
magischen Kamen spekulativ ausgedeutet hat, zieht hier gegen die Lügner und Fälscher
zu Felde, welche magische Bücher zu Tausenden erdichtet hätten, mit denen sie den
Pöbel betörten. Solche Polemik gegen praktikable Magie wiederholt sich dann bei
den meisten Kabbalisten nach 1250. Ob sie mehr von Überzeugung diktiert ist oder
von Vorsicht, ist nicht leicht auszumachen.
232
Sepher ha-Jihud ha-'amitti, Hs. Jerusalem 8° 488 (vgl. S. 14 meines Katalogs),
sowie weitere Nachweise in Kirjath Sepher VI, S. 275. Das zweite, ganz verschiedene
Sepher ha-Jihud, das besonders schwierig ist, haben wir in vielen Hss., z. B. Vat. 211,
Bl. 3 b — 6 b ; Oxford Christ Church College 198, Bl. 80a—82b; New York, Halberstam
444, Bl. 23b—26b. Der Eingangssatz : „Dies ist das Buch von der Einheit usw." stammt
wörtlich aus dem Vorwort der alten Saadia-Paraphrase, wenn auch der Inhalt himmel-
weit von ihr entfernt ist. Über diese Paraphrase vgl. die ganze Literatur bei H. Malter,
Saadia Gaon, His Life and Works, Philadelphia 1921, S. 361—369.
233
Die Schrift ist in korrupter Gestalt in das im 14. Jh. kompilierte Sepher Peli'a
inkorporiert worden, vgl. ed. Koretz 1783, Bl. 109a—110b. Als selbständige Ab-
handlung mit besserem Text z. B. in Hs. München 215, Bl. 200b—204b. Auch hier
kommen längere Listen der Namen der intelligiblen Lichter vor, jedoch bemüht sich
der Autor sichtlich um ihre Harmonisierung mit der Lehre von den zehn Sephiroth.

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Die Schriften des 'Ijjun-Kreises 287

die Esoteriker von Worms, Corbeil, Lunel und Marseille zusammen-


gebracht 234 . Zu den letzten Produkten der Gruppe dürfte das „Myste-
rium des Wissens um die Realität", Sod Jediath ha-Mesi'uth, eine
Erklärung von Ez. I mit einer langen Vorrede, zu rechnen sein 235 .
In diesem seltsamen Tohuwabohu verbinden sich anscheinend licht-
mystische Erfahrungen und Kontemplationen mit literarischen Bear-
beitungen von Material, das aus kosmogonischen Theorien und Speku-
lationen stammt. Eine Beziehung auf einen klar umrissenen histo-
rischen Hintergrund wird nicht erkennbar, es sei denn in der Analyse
der Herkunft der verschiedenartigen Begriffe. Hier und da, besonders
in der „Quelle der Weisheit", läßt sich ein loser Zusammenhang mit
Ideen und Bildern wahrnehmen, die im Jesira-Kommentar Isaaks
des Blinden vorkommen. Aber es fehlt an einer unmittelbaren Be-
ziehung der Spekulationen über die Welt der göttlichen Lichter auf
die Lehre vom Menschen und deren Krönung im Ideal der Debhequth.
In einigen der Schriften wird immerhin eine Verbindung mit der
Gebetsmystik der Kawwana sichtbar 236 , in den meisten fehlt auch das.
2,4
Vgl. dazu oben Anm. 84. Die zwei Responsen des Jechuschiel, die sich durch ein
Interesse an gnostischer Dämonologie und an Geheimnamen der Kräfte dieser Sphäre
auszeichnen, stehen zusammen ζ. B. in der Hs. Casanatense, Sacerdoti 180, Bl. 69b
bis 60a; Wien, Israelii. Kultusgemeinde, Schwarz 240, Bl. 114—115. Es scheint, daß
die beiden fingierten Namen Jechuschiel und Jequtiel zusammenhängen, und nicht
zufällig t r i t t in den Fragmenten der beiden auch Jedidja auf, einmal nach Toulouse
und einmal nach Marseille verlegt, vgl. schon M. Steinschneider im Katalog d. Mün-
chener Hss. (München 1895), S. 64.
235
Der Text ist zum Teü in Hss. wie München 83, Bl. 166a—169b; Paris 843,
Bl. 20a—22a, und Schocken, Kabbala 6 erhalten. In der letzteren Hs. befindet sich
die lange, sonst unbekannte wichtige Einleitung. Der Midrasch Simons des Gerechten
wird als Quelle genannt, andere Schriften werden ungenannt benutzt. Auch hier fällt
die Zurückdrängung der Sephiroth-Lehre zugunsten eines auf andere Potenzen ge-
richteten spekulativen Interesses auf. Die Vorliebe des Kreises für feierliche und
klangreiche Termini findet in diesem Text zum Beispiel Ausdruck in der Bezeichnung
der höchsten Emanation als „höchste Innerlichkeit", Penimijuth 'eljona, oder als
„das Ur-Innerliche", Penimijuth qadmonith. Penimi h a t in allen Schriften dieses
Kreises den Beiklang von mystisch oder verborgen. Der Titel des Traktates dürfte
auf eine Abhängigkeit von dem pseudo-maimonidischen Ma'amar ha-Jihud, „Ab-
handlung über die Einheit", hinweisen, wo es (ed. Steinschneider, Berlin 1847, S. 16)
heißt, daß die Weisen die geheime Erkenntnis, soweit sie einen Hinweis auf die geistige
Welt darstellt, das „Wissen um die heilige Realität" nennen. Ich habe eine solche
Terminologie sonst nicht gefunden. Dieses ontologische Wissen ist es, daß Pseudo-
Maimonides nach Hagiga 14b auch mit dem Stichwort Pardess benennt, wofür er
seine Inspiration im „Führer der Verwirrten" selber (I, 32) bezogen hat.
So z. B. am Ende des Anm. 230 genannten Textes, Bl. 200b. Hierher gehört
vielleicht auch eine der Quellen der Erklärung des Moses von Burgos über den 42 buch-
stabigen Namen Gottes, dem schon die deutschen Chassidim viele Erklärungen nach
ihrer Geistesart gewidmet haben. Diese chassidischen Quellen wurden, wie es scheint.

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288 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Das zentrale Thema ist überall die Beschreibung der oberen Welt.
Dabei hat die elaborate Lichtmystik ein großes Ubergewicht, daneben
tritt wie bei Isaak die Sprachmystik und vor allem ein Interesse an
der theoretischen Spekulation über die Namen Gottes. Die mystischen
Namen, die in der Merkaba-Gnosis als technische Hilfsmittel zur
Konzentration und zur Sicherung des Wegs der Seele bei ihrem Auf-
stieg dienten, werden hier zu Repositorien spekulativer Mysterien,
die die Autoren in ihnen zu entdecken suchen. Auch hier sind die
mystischen Lichter und Potenzen selber Namen. In diesem Sinn sagt
Jakob Kohen, dem viele dieser Schriften bekannt gewesen sein müssen,
daß „die Namen in der oberen Welt selber Substanz sind und gött-
liche Potenzen, und ihre Substanz ist die des Lichtes des Lebens, aber
sogar die Namen der irdischen Menschen erweisen sich, wenn man
es mit ihnen genau nimmt, als mit den Substanzen identisch"237.
Schon in einer Merkaba-Schrift wie dem Alphabet des Rabbi Akiba
werden die mystischen Namen als Feuersäulen angesehen, die vor
Gottes Thron lodern, und diese Anschauung, die die Lichter und die
Namen identifiziert, wird vor allem aus der Erbschaft der ' I j j u n -
Gruppe Gemeinbesitz der spanischen Kabbala.
Sind diese Schriften älter als die der Schule von Gerona, über die
im nächsten Kapitel gehandelt werden wird, oder mit ihr gleichzeitig ?
Eine Entscheidung dieser Frage hängt von der Untersuchung des
Verhältnisses der '///«»-Schriften zu denen des Azriel ab, welches
nämlich die einzigen sind, die in dieser Schule überhaupt deutliche
von provençalischen Kabbalisten dann umgearbeitet, und mehrere solcher Erklärungen
sind ausführlich bei Moses von Burgos zitiert, dessen Schrift anonym in der Sammlung
Liqqutim me-Rabh Haj Ga'on, Warschau 1798, Bl. la—12b gedruckt ist. Ich habe
diesen Text in Tarbiz IV (1933), S. 54—61, ànalysiert und dort V, S. 61—58, die im
Druck fehlenden Einleitung und Schluß ediert. Eine dieser Quellen enthielt eine Er-
klärung dieses magischen Namens „von Seiten der Kawwana im Gebet". Ihr Autor
beschreibt den Aufstieg des Gebets durch die dreizehn Tore in den sieben Himmeln,
die Schlüssel, die diese Tore öffnen und die Engel, die an ihnen stehen und die Kaw-
wana des wahren Beters. Dieser Teil hat schon ganz die Färbung, die die Kawwana-
Lehre bei Isaak dem Blinden angenommen hat, wenn auch in den uns erhaltenen
Zitaten nur in geringem Maße von der Sephiroth-Lehre Gebrauch gemacht wird. Ich
halte für sehr wahrscheinlich, daß diese Quelle ebenfalls aus der Provence stammt,
wo sich die Elemente der chassidischen Zahlenmystik mit den neuen kabbalistischen
Lehren zuerst verschmolzen. Der Autor könnte ein Mystiker gewesen sein, der mit
beiden Kreisen in Berührung stand, wie etwa jener mehrfach genannte anonyme Chassid
in Narbonne.
2S7 Vgi die lange Ausführung über das Wesen der Namen in meinem Katalog der
kabbalistischen Hss. in Jerusalem, S. 209—210. Ich wußte damals noch nicht, wie ich
seitdem durch Zitate bei Moses von Burgos beweisen konnte, daß dieser anonyme
(weitverbreitete) Kommentar zur Merkaba Ezechiels eben Jakob Kohen zum Ver-
fasser hat.

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Die Schriften des 'Ijjun-Kreises 289

Verbindungen mit der 'Ijjun-Gruppe aufweisen. Er allein hat die


gleiche Vorliebe für die solemnen Phrasen, die in diesem Kreis ge-
läufig sind, und verwendet dieselbe neuplatonische Terminologie.
Für die Priorität der provençalischen 'Ijjun-Schrìiten spricht gerade
die oben betonte Unsicherheit der Autoren in der Deutung der von
ihnen benutzten Begriffe und Namen und ihr Schwanken in bezug
auf das Verhältnis der Sephiroth zu den Potenzen der neuen Merkaba.
Dies Schwanken existiert für Azriel nicht mehr. Der umgekehrte
Prozeß einer Auflösung eines schon festen Schemas in diesen
Schriften wäre sehr viel schwerer in den zeitlichen Rahmen dieser
Entwicklung einzugliedern und sachlich viel unerklärlicher. Es spricht
auch mehr für eine Entwicklungslinie von der Provence nach Spanien,
wie wir sie bei Isaaks Kabbala deutlich aufzeigen können, als für eine
umgekehrte von Spanien nach der Provence, für die ich keine histo-
rische Basis sehe. Ich halte es daher für die wahrscheinlichste An-
nahme, daß die wichtigsten der 'Ijjun-Schriften etwa zwischen 1200
und 1225 entstanden sind, parallel zum Wirken Isaaks des Blinden
und nur um wenig älter als die Kristallation des Zentrums in Gerona.
Manche Stücke sind aber wohl erst zwischen 1225 und 1240 ent-
standen238.
Die neuplatonische Sprache, die die kabbalistische Spekulation hier
spricht, verbindet sich aber mit einer Auffassung, die man im Unter-
schied zur negativen Theologie der Platoniker als eher positiv-theoso-
phisch charakterisieren könnte. Das hängt freilich überhaupt mit dem
Charakter des mittelalterlichen Piatonismus zusammen. Ein Text wie
08
Stücke, die wir in den Schriften Azriels nachweisen können und die durchaus
seinen besonderen Stil verraten, sind wohl schon sehr früh als selbständige Äußerungen
eines R. Jequthiel aus London nachweisbar, die er seinem Schüler, „unserem Meister
Jedidja aus Toulouse" geschickt haben soll. Die Existenz dieses Jedidja, den Jellinek
irrigerweise für den Schwager des H a j Gaon ansah (Beiträge II, S. 24—26), scheint
mir durch nichts bewiesen, aber die Beziehung des Briefes auf Toulouse in der Lan-
guedoc ist bemerkenswert. Vgl. meine Bemerkungen in Tarbiz II, S. 422. Die Auf-
zählung der sieben spirituell gedeuteten Baldachine über den Häuptern der Gerechten
im Patadies bei Azriel und Jequthiel atmet denselben Geist wie die der sieben He-
khaloth im Paradies, die im eschatologischen Teil der Antwort des Pseudo-Haj an
R. Paltoj steht. Deren provençalischer Ursprung dürfte feststehen, vgl. das S. 212 f.
gelegentlich der Offenbarung des Elias am Versöhnungstag gesagte, über welches Ritual
eben die erste Hälfte dieses Responsums handelt. Daß die Verhältnisse zwischen den
Schriften Azriels und denen dieser Gruppe kompliziert sind, zeigt sich auch am An-
fang des in Anm. 235 erwähnten Textes, der in seiner durchaus ungewöhnlichen
Phraseologie auffällig mit Wendungen aus einem Brief Azriels nach Burgos überein-
stimmt. Der Einleilungssatz des anonymen Merkaba-Kommentars scheint aus drei
Satzstücken in Azriels Brief zusammengeflickt zu sein, wenn man nicht umgekehrt
annehmen will, daß Azriel diese Wendungen dorther übernommen und an verschiedene
Stellen seines Briefes eingestreut hat.

Scholen], Kabbala 19
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290 Die ersten Kabbalisten in der Provence

das Buch von den fünf Substanzen, das dem Empedokles beigelegt
wurde, verrät in seinen erhaltenen Teilen dieselbe Neigung zu einer
theosophischen Beschreibung der oberen Welt wie die 'Ijjun- Schrif-
ten239. Die Sephiroth werden in den Schriften des 'Ijjun-Kreises ver-
wandelt: jede einzelne, ja auch jeder der 32 Wege der Sophia, wird
eine selbständige Welt, in die sich der Theosoph versenkt240. Ja, sogar
die mystische Schreibung des Gottesnamens mit 24 Punkten, die
Pseudo-Haj hier überliefert und die wohl wirklich aus orientalischen
Quellen jüdischer Magie stammt241, wird so ausgedeutet. Die Schrei-
bung imitiert offenbar die magischen Alphabete und Charaktere, wie
sie in Amuletten häufig sind und in der jüdischen Magie zum Beispiel
in alten „Engelalphabeten" vorkommen242. Sie sieht folgendermaßen
aus:
239
Vgl. die Stücke bei D. Kaufmann, Studien über Salomon ibn Gabirol, Budapest
1899, S. 16—51. Nach M. Asin Palacios, Obras Escogidas Bd. I, Madrid 1946, S. 57,
stellen diese Fragmente schon eine abgeschwächte, späte und indirekte Form des ur-
sprünglichen Pseudo-empedokleischen Systems des Ibn Masarra dar, das er dort aus-
führlich analysiert hat. Das würde also zwingen, diesen Text eher ins 12. als ins 10. J h .
anzusetzen, so daß wir damit nahe an die kabbalistischen Anfänge kommen, wo die
eschatologischen Stücke der '///««-Gruppe über die Seligkeit der Seelen in der oberen
Welt auffällig mit diesem Pseudo-Empedokles koinzidieren.
240
Der angebliche Qeschischa schreibt an seinen Schüler Jehuda, der aus Corbeil
gekommen ist, über die zehn Emanationen (ohne das Wort Sephiroth zu benutzen),
und schließt: „ D a s ist der Inbegriff der zehn .Kronen', die die Häupter der Akademien
tradiert erhielten, aber die Details der Pfade sind mehr als je aufgezählt werden
könnten, und jeder einzelne von den Pfaden ist eine besondere Welt für sich selbst".
Der oben erwähnte Pseudo-Jequthiel belehrt seinen angeblichen Schüler darüber,
daß jede einzelne Sephira eine neue Welt für sich selbst darstelle, wenn auch alle
miteinander verschlungen und aneinander hängend seien. Aus diesen Quellen haben
dann Moses von Burgos, Liqqutim, Bl. 7 a, Todros Abulafia, 'Osar ha-Kabhod (1879),
Bl. 5c und der Autor der Tiqqune Zohar geschöpft, der in einem im Hauptteil des
Zohar I, 24b eingeschalteten Stück dieselbe Anschauung vorträgt, nach der jede Midda
eine besondere Welt heißt. Vgl. auch Ma'arekheth ha-'Elohuth, Mantua 1558, Bl. 89 a,
der die These in derselben Formulierung enthält wie die Tiqqune Zohar.
241
Angeblich soll diese Schreibung von einem Chanina oder Chanunja stammen
(die Hss. variieren), der lange vor H a j Gaon in Jerusalem gelebt und die Geheimnisse
der Tora empfangen habe, mequbbal be-Sithre Tora. Auf diese Schreibung wird übrigens
in dem anderen Responsum H a j s über die zehn Sephiroth Bezug genommen, vgl.
Jellinek, Beiträge II, S. 13, der den Passus falsch erklärt hat. Beide Responsen stammen
aus demselben Kabbalistenkreis.
242
Am ältesten ist das in vielen Hss. erhaltene „Alphabet des Metatron, des himm-
lischen Schreibers", das mit dem babylonischen Merkaba-Material zu den deutschen
Chassidim gelangt ist und zu dem wir eine längere Erklärung, vielleicht aus der Feder
des Eleazar aus Worms besitzen, vgl. z. B. Hs. British Museum 752, Bl. 81b—84a.
Viele Hss. jüdischer Magie enthalten solche „Alphabete der Engel", in deren Formen
teilweise wohl Elemente der althebräischen Schrift stilisiert fortleben. Ich habe dazu

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Die Schriften des 'Ijjun-Kreises 291

8
cf

Die 24 Punkte oder Sterne dieser Schreibung entsprechen nach dem


Autor den 24 Büchern des biblischen Kanons, die vielleicht aus diesem
„verborgenen Namen" herausgewoben sind843. Der Autor belehrt die
Eingeweihten darüber, daß jeder dieser Punkte für sich selber eine
ganze Welt darstellt. Dieser Gebrauch des Terminus „Welten" für
verschiedene Seinsschichten ist zweifellos neuplatonisch. Im * I j j u n -
Kreis ist er zuerst in die kabbalistische Literatur eingedrungen. Isaak
der Blinde spricht, wie wir sahen, von der „Welt der Trennung" unter-
halb der Sephiroth, hat aber den Schritt, die Sephiroth selbst als
ebenso viele Welten anzusehen, anscheinend noch nicht gemacht.
Die obere Welt ist nun nicht mehr die der separaten Intelligenzen,
wie bei den Philosophen und in Isaaks Fragment über die Kosmogonie,
sondern die Welt der göttlichen Emanation selber. Im „Buch der
Einheit" des Pseudo-Chammai heißt es, vor der Schöpfung seien alle
Kräfte ineinander verschlungen und in Gott verborgen gewesen, „bis
die Zeit des Willens der ersten Wirkenden kam244, und sie aus der
Potenzialität in die geistige Wirklichkeit heraustraten und die Ema-
nation der oberen Welt bis zu der des zehnten Grundsteins emanierte,
der in der Sprache der Weisen der Mysterien »verdichtetes Licht',
Or 'abh, heißt, und seiner Verdichtung wegen nannten sie es auch

reiches Material aus Hss. gesammelt. Bei den Arabern erhielten sich solche Alphabete
zum Teil durch die Tradition der Sabier, vgl. Ancient Alphabets and Hieroglyphic
Characters, ed. Joseph Hammer, London 1806, das aus den angeblichen „Büchern
der Nabatäer" des Ibn Wahschijja stammt. Vgl. übrigens Steinschneiders Bemer-
kung, Zur Pseudepigraphischen Literatur, Berlin 1862, S. 30, der diese Schreibung
bei Pseudo-Haj im Auge hat.
*** Diese Folgerung ist freilich erst 60 Jahre später bei Joseph Gikatilla belegt,
vgl. mein Buch, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 61—63.
Bessere Lesart (ζ. B. Hs. Jerusalem 8° 404, Bl. 34b: „bis der Wille usw. kam".
Die Phrase entspricht dem voluntas factoris primi in Gabirols Fons Vitae III, 32. Die
von den Muttaziliten stammende Bezeichnung Gottes als factor primus, Po'el
qadmon, findet sich noch mehrfach im *///««-Kreis, wo aber die Willensmetaphysik
keine bedeutende Rolle spielt. Manche dieser Schriften, wie z. B. die „Quelle der
Weisheit", erwähnen den Willen überhaupt nicht und kennen, wie Isaak der Blinde,
nur die Maifschabha. Die Terminologie muß also nicht gerade durch Gabirol vermittelt
sein.

19*
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292 Die ersten Kabbalisten in der Provence

.vermischte Finsternis', denn alle Kräfte der Flammen245 vermischen


sich in ihr, differenzieren sich aber auch in ihr, und sie ist das Funda-
ment aller geistigen und körperlichen Welten . . . und das letzte Siegel
aller [anderen in den höheren Sephiroth emanierten] Siegel". Die
Sephiroth sind hier also Welten, aber auch Siegel, das heißt Präge-
stöcke alles Wirklichen — so wie die Platoniker von den Ideen als
Siegel sprechen —, sie sind aber auch „leuchtende Spiegel" der Gott-
heit, aus denen sich ihr Licht in allem Wirklichen reflektiert246. Manche
der Texte kennen, ganz wie das Buch von den fünf Substanzen, eine
eigene „Welt des Lebens", die von der Welt des Intellekts und der
der Seele in der Hierarchie des Seins unterschieden wird247. Von
Έη-soph als Namen des verborgenen Gottes in seiner Transzendenz
wissen diese Texte noch nichts, was ebenfalls ein Indiz ihrer Priorität
gegenüber den Schriften des Kreises von Gerona ist. Sie benutzen
aber ebenfalls gern adverbielle Phrasen über das Unendliche, wie wir
sie schon besprochen haben, und sprechen oft vom „Licht, dessen
Erhabenheit kein Ende hat". Daß der Name 'Araritha für das trans-
zendente Ursein gebraucht wird, wie schon erwähnt, beweist, daß
hier ein Bedürfnis empfunden wurde, irgendeinen Namen für die
absolute Einheit, die über allen diesen „Welten" stand, für das „Eine,
aus dem alles hervorkommt, in dem alles besteht und zu dem alles
zurückkehrt", zu finden. Das Fehlen des Namens Έη-soph kann dabei
also kein Zufall sein.

9. Grundvorstellungen dieses Kreises — Der Ur-Äther


Licht- und Sprach-Mystik

In fast allen wichtigeren Schriften dieser Gruppe tritt der Begriff


des Ur-Äthers, 'Awir qadmon, an hervorragender Stelle auf, ohne daß
dessen Ort in den verschiedenen Schemata eindeutig festgelegt wäre.
Der Begriff ist zweifellos aus Saadias Kommentar zum „Buch der
245
Das ist dieselbe Redeweise von den Schalhabhioth, die Isaak der Blinde im Jesira-
Kommentar und in der Erklärung zum Midrasch Konem öfters benutzt.
246
So z. B. in dem Anm. 230 genannten Text. Die Auffassung der Sephiroth als
Spiegel setzt voraus, daß sie das Licht Gottes von oben auffangen, aber nach unten
reflektieren. Das Bild ist dann bei allen Kabbalisten weit verbreitet, von alten Listen
der zehn Sephiroth vermittelt wie z. B. im Sod ha-Sephiroth, Hs. Vat. 171, Bl. 133a.
247
Vgl. diesen Begriff in der Eschatologie des Pseudo-Empedokles bei Kaufmann
a. a. O., S. 19, 29 und vor allem 35. Im Gebet des Rabban Gamliel steht diese Welt
über der der Seelen und der Natur. Im „Buch von der wahren Einheit" werden Dinge
erwähnt, die zwischen der Welt des Lebens und der Welt des Intellekts liegen. Diese
beiden Welten werden nebeneinander auch in der Schrift Sod we-Jessod ha-qadmoni
in der Erklärung der fünften Sephira genannt, vgl. Tarbiz II, S. 423—424.

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Der Ur-Äther 293

Schöpfung" entwickelt, wo zwischen dem wahrnehmbaren materiellen


Äther, das heißt der Luft, und dem nichtwahrnehmbaren subtilen
Äther unterschieden wird. Von dem letzteren sagt Saadia, der Wille des
Schöpfers breite sich in ihm aus und bewege ihn wie das Leben den
Körper. Dieser subtile Äther, 'Awir daq, ist bei ihm identisch mit dem
Kabhod, der alles erfüllt, „und die Nation nennt ihn Schekhina, und
der Autor des Buches der Schöpfung nennt ihn Pneuma des leben-
digen Gottes"248. Bei den Kabbalisten büeben diese Begriffe aber
nicht synonym. In den K Ijjun-Schriften beobachten wir verschiedene
Möglichkeiten, zwischen ihnen zu differenzieren. Manchmal wird der
Ur-Äther als die erste Sephira betrachtet und mit der „höchsten
Krone" des Bahir, oder gar das aus ihm entsprungene Ur-Pneuma mit
dem Nichts identifiziert, während die Schekhina, wie im Bahir, als
letzte Sephira gilt. Wo freilich die Sephiroth-Lehre überhaupt nicht
benutzt wird, wie im Fragment des Buches More Sedeq, wird das Ur-
Pneuma als eine unendliche Potenz beschrieben, die der ersten Ursache
inhäriert, jedoch zugleich eine selbständige Potenz und ein selbstän-
diges Licht sei, „Und das eben ist die Schekhina", welche als Ur-
grund aller aktiven und formenden Kräfte dargestellt wird. Nur im
Buche ' I j j u n selbst kommt der Ur-Äther nicht vor, falls er nicht etwa
im Begriff der Ur-Finsternis versteckt sein sollte.
Eine bedeutende Rolle aber spielt er in der „Quelle der Weisheit".
Dieses Schriftchen galt bei den Kabbalisten stets als eines der rätsel-
haftesten Bücher ihrer Literatur überhaupt. Noch Bär von Mezritsch
rühmte sich vor seinem Schüler Salomo aus Luzk, daß Israel Baal-
schem, der Begründer des Chassidismus, dieses Buch mit ihm gelernt
und ihm jedes Wort darin erklärt habe. Es besteht aus zwei Teilen.
Der erste spricht mehr über den Gottesnamen JHWH, seine Erzeugung
aus den Prozessen der Sprachmystik, seine wunderbare Macht und
die Rolle des Ur-Äthers im Ursprung aller Sprachbewegung, wobei
zweifellos die Vorstellung von der Einzeichnung des gesprochenen
Wortes in die Luft, die aus dem Munde des Sprechenden selbst hervor-
geht, auf die Ur-Vorgänge des schöpferischen göttlichen Sprechens
übertragen worden ist. Der zweite Teil erst entwickelt dann in mehr-
fach erneuten Ansätzen eine Kosmogonie. Der Name Gottes — damit
setzt das Buch ein — ist die Einheit der sich aus der Urwurzel ver-
zweigenden Sprachbewegung, die in den dreizehn Gegensatzpaaren,
die zugleich die dreizehn Middoth des göttlichen Waltens sind, aus
dem Ur-Äther herauswächst. Der Autor sucht zu zeigen, wie aus der
Bewegung des Aleph, des reinen Hauchs, der Name Gottes hervor-
geht. Die Details dieser Ausführung sind sehr undurchsichtig. In allen
248
Vgl. Saadia, Commentaire sur le Sefer Yesira, ed. Lambert, Paris 1891, S. 70—72
des arabischen Textes, sowie den Text der alten hebr. Übersetzung bei David Kauf-
mann in seinen Zusätzen zu Jehuda ben Barzilais Jesira-Kommentar, S. 340.

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294 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Namen, und damit in allen Elementen der Sprache, bleibt das Aleph
der innerste Grund, der als das „ausgleichende Zünglein an der Waage"
(nach Jesira II, 1) im Grunde ein Indifferenzpunkt ist. Aus dem „Ur-
Prinzip", das unentstanden in seiner Bewegung verharrt, entspringen
die Lichter der Flammen, die sich dann von ihrem Ursprung trennen
und in ihrer Differenzierung immer mehr entfernen, und die im Grunde
jene dreizehn Middoth, die in Gegensätzen wirken, sind. In einem
kühnen Symbol, das von der Schreibung des hebräischen Buchstaben
Jod ausgebt \ wird aus den Schwingen des Jod, die sich aus seinem
Ursprung entfalten, also aus der Bewegung des Ur-Jod, die Sprach-
welt geboren. Es wird als „der sprudelnde Quell" der Sprachbewegung
dargestellt, die, nachdem sie sich ins Unendliche differenziert und
verzweigt hat, wieder in ihr Zentrum und zu ihrem Ursprung zurück-
kehrt. Wer sich an die Wurzel dieser Sprachbewegung zu versetzen
imstande ist, der umfaßt alle Sprache und Wesensäußerung und ist
der Meister aller wunderbaren Wirkungen, die im besten magischen
Stil hier geschildert werden. Dabei steht der Mensch aber „in voll-
endeter Klarheit und nüchterner Besinnung, Jischubh ha-Da'ath"
am Ende seines Weges da und „wohnt im höchsten Denken, das
[seinerseits] im Ur-Äther wohnt, über dem es keine höhere Stufe gibt".
Hier haben wir also den Gedanken, daß aus der Auflösung des my-
stischen Denkens in die Mahschabha Gottes hinein, in der göttliches
Wissen erlangt wird, nun in umgekehrter Bewegung die Beharrung
des besonnenen, sich also keineswegs verlierenden Meisters der Namen
wird, der sein Denken an seine Wurzel führt und dort einpflanzt.
Bei all dem wird der Ur-Äther als die „indifferente Identität" ge-
schildert, in der sich alle Dinge verwandeln und Gegensätze werden.
Er wird offenbar als das Substrat der Welt betrachtet, in dem alle
Kräfte sich „runden"249. Wie bei den alten Naturphilosophen wird
er als geistiges Feuer gedacht, in welchem alles verschmolzen wird
— der Autor stellt die Einheitsfunktion des Ur-Äthers im Bild der
Metallausschmelzung dar. Die Kräfte des Äthers erwärmen sich und
alle werden in diesen wärmenden Kreisen zur Einheit zusammen-
geschmolzen. Aus dem Ur-Äther zieht sich, wie die Flammen aus der
Kohle, die Kette der Wege, von denen das Buch Jesira spricht. Es
steigen aus ihm Gestaltungen auf, die zyklisch in ihren Urgrund
zurückkehren und in Symbolen beschrieben werden, die offenbar mit
dem Anfang von Isaaks des Blinden Jesira-Kommentar zusammen-
hängen 250 . Vor allem aber brechen hintereinander — in anderen
249
Hierher stammt das Bild des Ur-Äthers als eines Ringes am Anfang des Zohar
I, 16a.
260
Das Bild vom Knäuel und dessen Fäden ist Isaak und der ,, Quelle der Weisheit"
gemeinsam, ebenso die Erklärung des Unterschiedes von Nathibh und Derehh am
Anfang des Je^ira-Kommentars.

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Der Ur-Äther 295

Schriften dieses Kreises nebeneinander — zwei Quellen hervor. Zuerst


eine des unendlichen Lichtes, das in großer Schnelligkeit wie Funken
in der Schmiede zerstäubt ; dann eine andere der Finsternis, in der aber
doch drei Lichtarten und „Morgen-Dämmerungen" enthalten sein
sollen. Der Äther selbst ist das Unerfragbare und in dieser Bestimmung
mit der Urfinsternis im Buche 'Ijjun identisch. In einem anderen An-
satz wird an einer späteren Stelle davon gesprochen, daß die beiden
Quellen von Licht und Finsternis aus der Urfinsternis hervorquel-
len. Moses, als ihm das kontemplative Eindringen in die Mysterien
dieses Ur-Äthers versagt wurde, begnügte sich mit der Betrach-
tung dieser zwei Quellen, aus denen nun alles Untere ausfließt und
entsteht.
Diese Kosmogonie des zweiten Teils, in der die Sprachmystik nur
nebenbei vorkommt und alles auf die mystischen Lichter gestellt
wird, betrachtet die Urfinsternis oder den Äther, aus dem alles ge-
worden ist, als das unerforschbare Vorn der Gottheit, als das an ihr,
was „vor" der Schöpfung ist. Von hier an, dem „Hinten", das auch
Gottes Glorie und Machtfülle enthält, ist alles erkennbar. Moses fand,
daß aus dem Prozeß der beiden Quellen, die hier nicht ausdrücklich
mit Potenzen der Merkaba identifiziert werden, obwohl solche Iden-
tifikation wohl dahinter steht, eine Kraft hervorgeht, die hier und in
anderen Schriften Lihluah heißt, die Ur-Feuchtigkeit. Zuerst näm-
lich wird der Strahl der Quellen immer dünner, ja haardünn, bis nur
noch feine Tropfen sickern; diese aber entfalten sich in ungeheurer
Stärke, und aus ihrer Verbindung entsteht diese Feuchtigkeit, die
sich immer weiter klärt und reinigt. Wie ein Schaum auf dem Wasser
entsteht daraus der heilige Geist wie in Gen. 12, der sich wiederum
in viele Potenzen differenziert. Dieser Ur-Schaum flimmert in Farben-
spielen, bei denen weiß und rot abwechselnd, aber doch innig mit-
einander verbunden sind. Er ist dann aber so geschildert, wie bei
Isaak dem Blinden das Wesen der Hokhma beschrieben wird, ohne
doch diesen Begriff überhaupt zu erwähnen. „Er ist etwas, das aus
der Ur-Finsternis kommt und auf Form und Schöpfung und Ver-
änderung in der Form und der Schöpfung hinweist. Diese Form ist
in dauernder Verwandlung, wie etwas Aufrechtes, das sich beugt251,
und sie ist zugleich Zentrum und Peripherie und steht am Anfang
und saugt [aus ihrem Ursprung] die Kraft von allen und wird mit
allen gezählt und alle fließen hervor und prozedieren aus ihr, ohne

2 6 1 Dies Bild wird vom Buchstaben Jod in Isaaks Jeçira-Kommentar gebraucht,

und damit zweifellos von der Hokhma, die von diesem Buchstaben symbolisiert wird.
Im Zusammenhang der „Quelle der Weisheit" aber ist damit die Verwandlung der
vertikalen geraden Linie zur gebogenen Kreisform gemeint, in der alle Dinge auch
wieder zu ihrem Ursprung zurückkehren.

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296 Die ersten Kabbalisten in der Provence

daß in ihr Ähnlichkeit oder Differenzierung stattfinden 252 ." Aus


diesen und den folgenden Ausführungen über die zehn Lichter folgt
klar, daß der Autor die Sephiroth-Lehre kennt und, ohne sie zu nennen,
mit dem von ihr unabhängig konzipierten kosmogonischen System
der vier Ur-Elemente kombiniert. Der Autor verbindet die Anschau-
ungen Isaaks, sei es aus Kenntnis seines Kommentars zu Jesira, sei
es aus mündlicher Kenntnis, mit seinen eigenen färben- und licht-
mystischen Meditationen. Die umgekehrte Annahme, daß etwa die
„Quelle der Weisheit" älter sei als Isaaks Theorie, scheint mir durch
die Umstände ausgeschlossen: der Passus wäre ohne die Beziehung
auf Isaaks Lehre über die Hokhma ganz sinnlos, während er mit ihr
durchaus verständlich wird. Daß aber diese ganze Theorie vom Äther
und den Urquellen und deren Lichtern einer anderen Überlieferung
als die rezipierte Sephiroth-Theorie entstammen, mit der sie nur
künstlich zusammengebracht wird, scheint mir ebenso klar. Die Farben
aus den Ur-Quellen, die ursprünglich nur rot und weiß waren (wohl
doch Symbole von Strenge und Gnade?), differenzieren sich im
weiteren Verlauf zu fünf und von da aus zu unendlich vielen Farben-
spielen. Denn die Quelle der Finsternis wird als aus grün, blau und
weiß gemischt angesehen. Diese Farbenspiele sind „wie die Flamme,
die aus dem Äther hervorgeht" — ein Bild, das deutlich dann am
Anfang des Buches Zohar I, 15 a in dessen Schilderung des Ur-Anfangs
der Schöpfung übergegangen ist. Im Wandel dieses höchsten Form-
Prinzips, das aus der Finsternis und dem Äther hervorbricht, ent-
stehen dann zehn Formen und Farbenspiele, die ineinander reflek-
tieren, von zehn zu hundert werden und in ihrer Potenzierung schließ-
lich zu ihrer ursprünglichen Einheit zurückkehren.
Der Autor zählt dann die Namen der zehn Lichter auf, die wohl eine
Parallele zu den zehn Sephiroth bilden. Sie tragen Namen, die in diesen
Schriften noch oft wiederkehren, aber teilweise ganz anders identi-
fiziert werden, wie Or mufhla, wunderbares Licht, Or nistar, ver-
borgenes Licht, 'Or mithnoses, funkelndes Licht, 'Or sah, klares Licht,
'Or bahir, helles Licht, 'Or mazhir, strahlendes Licht usw. Die zehn
Lichter stehen aber unterhalb der Ur-Finsternis, die nicht in ihre
Zahl einbegriffen ist. Der Autor verspricht, jedes einzelne dieser
Lichter zu erklären, was er aber in dem uns vorliegenden Texte gar
nicht tut. Stattdessen geht er wieder zur Erklärung der Urquelle
262
Diese Bestimmungen finden sich wortwörtlich von der Hokhma, die mit dem
Buchstaben Jod, dem ersten Konsonanten des Tetragrammaton, verglichen wird, im
Kommentar Isaaks zu Jeçira I, 2. Sie wird dort mit dem Gehirn verglichen, das sowohl
im Zentrum des Kopfes ist als auch in allen Gliedern wirkt, die ihre Kraft von dort
erhalten. Der Gedanke ist bei Isaak durchaus organisch entwickelt und nicht, wie in
der Quelle der Weisheit, aus dem Zusammenhang genommen und auf einen den ge-
brauchten Bildern fremden Gedanken wie den von der Urform bezogen.

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Licht- und Sprach-Mystik 297

zurück, die für ihn offenbar die Einheit der beiden vorgenannten
Quellen ist und „Licht der Quelle" heißt, Or ha-Mabbua'. Diese
Quelle heißt auch „das Licht, das zu dunkel ist, um zu leuchten" —
wiederum ein Bild, das die hebräische Vorlage für einen an der er-
wähnten Eingangsstelle des Zohar benutzten Terminus abgibt253.
Dieses Licht heißt zwar Finsternis, aber nicht, weil es wirklich dunkel
sei, sondern weil keine Kreatur, weder Engel noch Propheten, es er-
tragen oder erfassen können. Es ist die Lichtfülle, die das Auge blendet.
Daß diese Bestimmungen des „finsteren Lichtes" mit denen des Nichts
bei den Kabbalisten übereinstimmen, die wir schon kennengelernt
haben, ist evident. Dabei bleibt der offenbare Widerspruch zur Se-
phiroth-Lehre bestehen, denn was dort von der höchsten Sephira Kether
als dem Nichts ausgesagt wird, bezieht sich ja hier auf die Quelle, die
aus der Ur-Finsternis kommt, die der Äther ist. Das paßt zu dem offen-
bar von dieser Schrift beeinflußten Anfang des Zohar I, 15 a, aber
nicht zu den sonst üblichen Erklärungen der Sephiroth. In unserem
Text tritt der Autor dann noch in eine Erklärung des wunderbaren
Lichtes ein, das er überraschenderweise von dem „sich entziehenden"
Licht, 'Or mith'allem, jener „blendenden Finsternis" trennt. In anderen
Texten dieses Kreises sind beide identisch. Dies Licht wird als der
Spiegel, der alle Formen oder Farben aufnimmt, aber selber keine
hat, geschildert — ein Gleichnis der Hyle, das dann in Stücken, die
die Bilder dieses Kreises für die Sephiroth-Lehre verwenden, zur
Charakteristik einer ganz im Sinne der Lehre Gabirols als Ur-Hyle
aufgefaßten ersten Sephira angeführt wird254. Dabei zeigt sich nun,
daß die in dieser Schrift vorliegende Spekulation auf einer Auflösung
der zugrundeliegenden philosophischen Konzeption beruht. In dieser
Konzeption war natürlich die Hyle selber als das Substrat aller
Differenzierung und Empfänger aller Formen aufgefaßt, und so er-
scheint sie zum Beispiel in der Erklärung der ersten Sephira in einem
dem '/¿/«»-Kreis zugehörigen oder doch unmittelbar von ihm beein-
flußten alten Kommentar über die zehn Sephiroth. In der „Quelle
der Weisheit" dagegen sind diese Bestimmungen auseinandergerissen.
Der Spiegel, der alle Formen aufnimmt, soll das 'Or muphla sein,
nimmt aber die Unterschiede von dem über ihm stehenden „blenden-
den Licht" auf, statt daß er selber als über diesen Differentiationen
stehend gedacht würde, was dem ursprünglichen Sinn der Vorstellung
entsprechen würde. Die Bestimmungen, die eigentlich einer einzigen
Sphäre zugehören, nämlich der Hyle, sind hier auf zwei Sphären ver-

253
Im Zohar Bucina de-Qardinutha, von vielen Kabbalisten als „finsteres Licht"
erklärt, soviel wie Bucina de-Qadrinutka.
254
So im Sod ha-Sephiroth, wo diese Bestimmungen der Hyle zur Charakteristik
der als Or mith'allem bezeichneten ersten Sephira verwandt werden.

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298 Die ersten Kabbalisten in der Provence

teilt. Offenbar besaß der Autor keinen klaren Begriff der von ihm
für seine Meditationen über die himmlischen Lichter benutzten philo-
sophischen Formeln.
Am Ende der Schrift werden weitere Variationen dieses selben Ur-
vorganges vorgetragen, als ob der Autor sich nicht genug tun könne
im Versuch, eine ursprüngliche Intuition in immer erneuten Ansätzen,
die sich in ihrem Detail widersprechen, klarzumachen. Hier ist dann
die erste Quelle der Finsternis mit dem Ur-Äther selber direkt identi-
fiziert. Er war ein reines Feuer, „Feuer, das Feuer verzehrt", — man
wird an die Bestimmung Jakob Böhmes von Gott als „Zentralfeuer"
erinnert — und bestand aus sechzehn Augen, die in Bewegung waren
und ineinander übergingen. Erst in weiteren Prozessen brechen, indem
sich der Ur-Äther spaltet, zwei andere Quellen aus ihm hervor, und
hier erfahren wir dann, daß die zweite dieser Quellen dem Haschmal
der Merkaba entspricht. Die Lichter dieser Quelle überfluten nun die
Welt und aus ihrer Bewegung kommt ein Ton hervor, ein Motiv, das
in allen Schriften dieses Kreises wiederkehrt. Das Aufeinandertreffen
dieser Lichter bringt gleichsam ein „Geschrei der Lichter" hervor,
von dem alle zu berichten wissen. Hier ist nun die sonst nicht ohne
weiteres erkennbare Beziehung zu der in anderen Schriften des ' I j j u n -
Kreises deutlich vorgetragenen Schöpfungstheorie der vier Ur-Ele-
mente hergestellt, von der gleich die Rede sein wird. Das Buch schließt
mit einer überraschenden Pointe aus dem Gebiet der mystischen
Gottesnamen: die erste der beiden Quellen wird mit dem Ur-Namen
"ΊΠΝ identifiziert, die zweite mit dem aus den Konsonanten des
Tetragrammatons gebildeten dreibuchstabigen Namen "ΊΠ.
Ich habe die Hauptideen dieser Schrift hier nach dem Text der
Handschriften resümiert, ohne auf die oft ganz undurchsichtigen Details
der Einzelausführungen, besonders wo sie sich mit der Buchstaben-
mystik verquicken, einzugehen. Die Widersprüche innerhalb desselben
Textes ersparen uns die Verwunderung über die Widersprüche zwischen
der Auffassung dieses Buches und der anderer Schriften, die offenbar
in der nächsten geistigen Umgebung des Autors dieselben Ansätze
in anderer Weise entwickeln. Da auf die Sephiroth als solche nie re-
kurriert wird, wird kein direkter Widerspruch zwischen den zehn
Lichtern und den, hier offenbar über ihnen stehenden, dreizehn Mid-
doth des göttlichen Waltens sichtbar. Die Lehre von den zwei Quellen
wird in anderen Texten weniger unklar und widerspruchsvoll vor-
getragen. Im „Mysterium des Wissens um die Realität" haben wir
zum Beispiel ein deutliches System von vier Ur-Potenzen, die schlecht
zur klassischen Folge der Sephiroth passen, als der vier Grundmächte
bei der Kosmogonie. Alle haben ihren Ur-Grund in einer, hier die
Stelle des Έη-soph selber vertretenden Mahschabha. Sie, und nicht
mehr irgend etwas über ihr Stehendes ist die Wirklichkeit Gottes

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Licht- und Sprach-Mystik 299

selber. Von der ersten Sephira des Buches der Schöpfung heißt es
hier, sie sei das Letzte, was von Gottes Existenz erkannt werden könnte,
die „in den Wurzeln der Mahschabha verhaftet" ist 265 . Aus dieser
Mahschabha emanierte der Ur-Äther, der selber das Ur-Pneuma ist.
Dieser Äther spaltete sich und es gingen aus ihm zwei Lichter hervor,
die hier und in anderen Texten 'Araphel und Haschmal heißen. Dabei
vertritt 'Araphel die Dämmerung des Dunkels im ersten Quell der
„ Quelle der Weisheit" 25e , aber auch die göttliche Allmacht und Stärke,
der Haschmal dagegen in seiner übersprudelnden Lichtfülle die zweite
dieser Quellen, aber auch die göttliche Gnade. Diese erste Triade wird
aber zu einer Tetrade, indem aus dem Ur-Pneuma ein zweites Pneuma
emaniert, das bei ihm mit der zweiten Sephira identifiziert wird.
Daß dies System der Sephiroth-Lehre in ihren rezipierten Formen
widerspricht, liegt auf der Hand. Die zwei Pneumata sind hier die
zwei ersten Sephiroth des Buches der Schöpfung, das „Pneuma Gottes"
und „Pneuma aus Pneuma" oder „Luft aus Luft". Zwischen ihnen
hätten also 'Araphel und Haschmal gar keinen Platz, die aber dennoch
irgendwie mit den Sephiroth Hessed und Din im Schema des Bahir
zusammenhängen. Jedenfalls sind das hier die vier höchsten Potenzen.
Der Ur-Äther ist dabei als die „aktive Potenz" definiert, das zweite
Pneuma als die „passive Potenz". Die Vierheit zusammen erst bildet
die „Wirklichkeit des Intellekts", Mammaschuth ha-Sekhel, die nach
ihm der eigentliche Urmensch, 'Adam Qadmon, ist. Der Ausdruck
'Adam Qadmon kommt hier zum erstenmal in der kabbalistischen
Literatur vor und ist aus diesem Kreis zu den Gnostikern in Kastilien
und dem Buch Zohar gelangt. Diese rein mystische Theorie des In-
tellekts als einer zusammengesetzten Potenz, die offenbar auf ältere
neuplatonische Theorien zurückgeht (nicht notwendigerweise auf
Gabirol selbst), ist in diesem Kreis noch öfters vertreten worden. Der
Ur-Mensch ist hier also nicht die Gesamtheit aller Potenzen des Pleroma
oder der Sephiroth-Welt, sondern nur eine Konfiguration der höchsten
Potenzen. Sie bilden, mindestens im ersten Teil der Schrift, auch die
Hajoth, die „Lebewesen" der Merkaba, die zugleich auch mit einem
Wortspiel als die Hijjuth, die Vitalität oder das eigentliche Leben
definiert werden. Von hier an treten dann, in den Einzelheiten wieder
sehr undurchsichtig, die Merkaba-Potenzen wie der Thron, der Cherub
255 Hebr. *ahuza be-Schorsche ha-Mahschabha.
258 Die Namen dieser beiden Lichter treten mit solcher Konsistenz nebeneinander
in den meisten dieser Schriften auf, daß es sich hier um eine der Grundvorstellungen
des Kreises handeln muß. Ihr Ursprung bleibt noch aufzuklären. In der Merkaba-
Literatur spielt der 'Araphel keine Rolle. Zu der Licht-Mystik, die hier damit ver-
bunden wird, ist Bach ja ben Äschers Erklärung von 'Araphel als ein besonders klares
und lauteres Licht zu stellen, was er mit einem etymologischen Wortspiel zu begründen
sucht, vgl. seinen Kommentar zu Ex. 20 21.

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300 Die ersten Kabbalisten in der Provence

usw. hervor. Die Wurzeln aller Dinge bleiben aber in dieser Ur-Vier-
heit verankert. In einer anderen Wendung derselben Lehre wird in
diesem Text aber zugleich auch die These vorgetragen, daß die Hajoth
erst aus dem Haschmal selber emanierte Potenzen darstellen, so daß
also die eigentliche Merkaba — was logischer scheint — erst unter-
halb des Bereiches des Ur-Menschen, der über ihr thront, in allen ihren
Komponenten hervortritt. Der Autor erklärt den Namen Merkaba,
der wörtlich sich auch als „Zusammensetzung" verstehen läßt, als
den des Ortes, an dem die Synthese aller jener weiteren Lichter statt-
findet. Die vier Säulen des Thrones der Merkaba sind identisch mit
den vier Lagern der Schekhina, die dann im Detail beschrieben werden,
aber in ganz anderer Art als im Buche 'Ijjun. In die Erklärung des
ersten dieser Lager ist eine vollständige Auseinandersetzung über die Se-
phiroth-Liste in Kap. I von Jesira eingeschaltet, die im Sinn seiner
Merkaba-Mystik, keineswegs in dem der rezipierten Sephiroth-Lehre
verläuft. Nur in der Identifikation des Ur-Äthers mit dem göttlichen
Gedanken sind sie verbunden. Aus der Verbindung der aktiven und
der passiven Potenz entsteht nach dieser Schrift die Hyle, die hier
mit der Ur-Feuchtigkeit, Lihluah, identifiziert wird. Warum der Autor
die von ihm in Wirklichkeit geteilte Meinung der von ihm zitierten
„Forscher" ablehnt, wonach die Hyle aus dem Schöpfer emaniert
sei, bleibt ganz unklar. Er äußert sich darüber in rätselhaften Sätzen,
deren Relevanz für das Problem unverständlich bleibt.
Wieder anders ist das in der Erklärung des Pseudo-Haj zum 42-
buchstabigen Gottesnamen vorgetragene System der Kosmogonie,
in dem dieselben Begriffe in anderer Anordnung auftreten. Hier steht
am Anfang das Ur-Pneuma, aus dem zwei Potenzen fließen, zwischen
denen es ruht: der Lihluah, die Ur-Wasser oder Bohu, und der Ur-
Äther oder Tohu. Diese Unterordnung des Tohu unter Bohu und des
Äthers unter das Wasser ist sehr auffällig. Zu diesen Potenzen tritt
der Haschmal, der (wie vorher das zweite Pneuma) direkt aus dem
Ur-Pneuma stammt und seinerseits die sieben Erzengel oder höchsten
Archonten sowie die intelligente Seele aus sich entläßt. Damit erfüllt
der Haschmal hier die Doppelfunktion von Hajoth und Hijjuth. Erst
unter dem Haschmal treten der 'Araphel und der Vorhang Pargod
auf. Aus dem Vorhang fließen Merkaba-Kräfte, deren höchste der
„Feuerstrom" heißt (nach Dan. 7 io), aus dem als Funken die Seelen
der Gerechten hervorgehen. Dabei ist der neuplatonische Bereich
der Natur zum paradiesischen Ort der Seelen, die „in den Äther der
Natur eingepflanzt sind", verwandelt worden. Das Tetragrammaton
symbolisiert die Zusammenfassung aller dieser Kräfte. Die Sephiroth-
Lehre kommt dabei nicht einmal in symbolischen Andeutungen vor.
In den zwei verschiedenen „Buch der Einheit" titulierten Texten
treten die beiden möglichen Tendenzen dieser Gruppe deutlich aus-

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Licht- und Sprach-Mystik 301

einander. Der eine Text, das „Buch von der wahrhaften Einheit",
erwähnt die Sephiroth nur ganz oben hin, interessiert sich dagegen
für die Aufzählung der Kräfte der Merkaba, bei der die neuplatonische
Spekulation in völlig verwilderter und undurchsichtiger Rückbildung
erscheint. Der andere Text aber versucht, die Begriffe und Bilder
dieser Schriften eindeutig auf das kabbalistische System der Sephiroth
zu beziehen, wobei die Symbolik der Sephiroth, wie wir sie bisher
kennengelernt haben, mit diesen neuartigen Symbolen zusammen-
gebracht wird. Die Formeln der beiden Kreise fließen dabei inein-
ander über. So heißt es hier von der ersten Sephira: „Sie wird .höchste
Krone' genannt, weil sie die Stärke der Wahrheit und des Wesens
und etwas Geheimes und Verborgenes ist. Und in ihr sind geheime
und verborgene und kostbare Dinge, und sie sind die 620 Lichtsäulen
nach dem Zahlenwert von Kether257. Und alle vereinigen sich in einer
Verbindung268, ohne daß irgend etwas dabei mangelhaft wäre. Und sie
[diese Säulen] sind das Fundament von Gottes Einheit ; eine jede hat
einen eigenen Namen, der auf die göttlichen Dinge hinweist, d. h.
jeder einzelne wird mit Seinem Namen benannt. Sie umarmen ein-
ander und verbinden sich miteinander in der Emanation des Intellekts.
Und daher nennen die Meister dieses Wissens jene Sephira den uner-
faßbaren Ur-Äther, und andere nennen ihn den , Quell der Redlich-
keit', weil er die Form einer Krone, die auf dem Kopfe ruht, hat. Er
heißt auch .klares Licht', denn es entsteht in ihm etwas wie eine Spalte,
die ihre Erscheinung verändert, bis [der Äther] sich spaltet und in
dieser Spaltung die Kraft aller Sephiroth aus dem Ausfluß, dec aus
ihm fließt, entsteht. Und im Impuls der Bewegung wird die Einheit
vollkommen." In diesem Tonfall geht es hier noch weiter und werden
alle Sephiroth abgehandelt, wobei Jessod 'Olam, das Fundament der
Welt, von der siebenten an die neunte Stelle gelangt ist. Es ist klar,
daß solche Äußerungen ebenso dem Bahir wie den uns bekannten
Fragmenten Isaaks des Blinden fremd sind.
Im Vorhergehenden trat mehrfach das Bild von der Spaltung des
Ur-Äthers auf. Es ist wahrscheinlich, daß dies Bild einem ähnlichen
in Salomo Gabirols „Königskrone" seine Entstehung verdankt.
Gabirol spricht in poetischer Metapher von der Spaltung des Nichts,
aus der Gott das Sein hervorgerufen habe. Dies Bild ist dann im
'/¿/««-Kreis, dem die „Königskrone" wohlvertraut war, auf den Ur-
257
Kaph hat den Zahlenwert 20, Taw 400 und Resch 200. Diese „Lichtsäulen"
kehren in der Mehrzahl dieser Schriften wieder. Sie werden in einem hier zitierten
Vers Schesch Me'oth we-'Essrim hem Rosch Millulakh, dessen Quelle unbekannt ist,
anscheinend in einem Zusammenhang mit den 620 Buchstaben des Textes der zehn
Gebote gebracht, die doch wohl mit dem ,,Anfang deines Wortes" gemeint sind.
258
Der Autor gebraucht das Wort 'Adiquth mehrfach im spezifischen Sinn von
Emanation. So spricht er von der Emanation des Intellekts als 'Adiquth ha-Sekhel.

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302 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Äther übertragen worden, den der „Midrasch Simons des Gerechten"


seinerseits nun metaphorisch mit dem Nichts gleichsetzt, so daß der
Zusammenhang ganz deutlich wird. Es lohnt, die beiden Passus, in
denen dieser kleine Traktat von der Urschöpfung spricht, neben-
einander zu stellen, auch als Beispiel für die hier so häufigen Parallel-
Versionen desselben Gedankens in der gleichen Schrift. (Ich habe
den Text nach der Hs. München verbessert.)
Jesira 1562, Bl. 63 a: ibid. Bl. 62 b:
Bevor irgend etwas erschaffen . . . Und davon heißt es, daß
wurde, war Gott unergründlich bevor die Welt und irgendeine
und grenzenlos einzig und allein Kreatur in ihr geschaffen wurde,
[Jahid u-mejuhad259, fähig durch der Ur-Äther einzig war und aus
sich selbst in der Potenz des Be- seiner Erhabenheit nach keiner
stehens [Qijjum] zu subsistieren Seite hin neigte. Und Gottes
. . . Und seine Kraft war nicht Kraft war in ihm verborgen und
erkennbar. Da stieg es in seinem sein Kabhod war ganz unerkenn-
Sinne auf, all seine Werke zu bar, bis dieser Äther sich spaltete
produzieren, und er schuf eine und Sein Glanz erschien und sein
erste Potenz und nannte sie Ur- Kabhod sich offenbarte. In jener
Hokhma, aus der die zwölf an- Stunde produzierte er eine Po-
deren Potenzen [die den 13 Mid- tenz und nannte sie Ur -Hokhma.
doth entsprechen], kommen. Diese Das Wissen um den Ur-Äther
Potenz entspricht den zehn [Se- und den Hervorgang seiner
phiroth] in der unterschiedslosen Schöpfung wurde selbst unserem
Einheit, welche die zehn Sephiroth Lehrer Moses nicht offenbart.
der Verschlossenheit [im Buch
Jesira] sind, und darauf bezieht
sich [Ecc. 719] : Die Hokhma
gibt Kraft dem Weisen mehr 2812] ,Die Hokhma kommt aus
als zehn Machthaber in der Stadt. dem Nichts'. Diese höchste Kraft
Der Weise ist Gott, und die Rea- [hier wörtlich: Seite] ist es, die
lität dieser Potenz, welche die unbegrenzter Wille heißt. Und
Ur-Hokhma ist, ist ein reines und warum heißt sie Wille ? Weil
ganz lauteres Licht des Lebens, durch ihr Wort und ihren Willen
eingeschrieben und versiegelt im das Sein aus dem Nichts produ-
Glanz der höchsten Wölbung ziert wurde. Er heißt auch das
[Schaphrir], die das jedem Be- strahlende Licht oder Gottes Glo-
griff entzogene Nichts heißt. Und rie, wovon [Ps. 104 2] sagt: ,er
dies ist das Geheimnis von [Hi. hüllt sich in Licht wie in ein Ge-
a e In einer ganzen Reihe der '///««-Schriften, wie auch bei Azriel, kehrt die Formel

wieder, Gott sei 'ehad jahid u-mejuhad, deren Ursprung mir nicht klar ist. Im 14. Jh.
findet sich eine ganz entsprechende arabische Formel (die wohl viel älter ist), bei einem su -
fischenMystiker, vgl. R. Nicholson, S tudies in Islamic Mysticism, Cambridge 1921, S. 104.

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Licht- und Sprach-Mystik 303

wand', denn er ist in allem seinem weil er allen Ur-Wesen, die aus
Licht und Glanz einer wie die seiner wunderbaren Einheit ema-
Flamme, die in allen ihren Farben nieren, vorangeht. Und diese
eine ist und sich bis ins Unend- Hokhma ist die höchste der zehn
liche erhebt. Er heißt auch Einer, Sephiroth.
Während in Gabirols Fons Vitae die sapientia meistens als Synonym
für den göttlichen Willen gebraucht wird260, steht sie hier offensicht-
lich unterhalb von jenem Ur-Äther, der zugleich der göttliche Wille
und das Nichts ist. Hier tritt der Wille deutlich als eine höchste Potenz
in Gott hervor, die sozusagen noch über den erst mit der Ότ-Hokhma
einsetzenden Sephiroth steht. Die Identität dieser beiden, aus so ganz
verschiedenen Quellen herkommenden Symbole — denn als das
werden sie von den Kabbalisten aufgefaßt — setzt sich dann, vor
allem durch Azriel vermittelt, in der spanischen Kabbala nach 1250
ziemlich allgemein durch. Unaufgeklärt ist noch der Widerspruch bei
Gabirol selbst, der in der „Königskrone" die sapientia über den Willen
stellte, eine Auffassung, die die Kabbalisten niemals übernommen
haben2β1. Sonst aber ist die Parallele zwischen Gabirols Dichtung
und den soeben zitierten Stellen schlagend. Die Ur-Hokhma ist das
erste Sein, wie sie auch Isaak der Blinde schon als solches konzipiert
hatte. Aus den Bildern der „Quelle der Weisheit" und des „Midrasch
Simons des Gerechten" erklärt sich der feierliche Anfang des Zohar,
worauf oben schon mehrfach hingewiesen wurde. Der Quell des Lichts,
der aus der dunklen Flamme brach, „spaltete den ihn umgebenden
Ur-Äther, und infolge der Wucht dieser Spaltung leuchtete dabei ein
verborgener höchster Punkt auf", der erste Logos, der nichts anderes
ist als die \Jv-Hokhma262. Nur der schon fixierte Gebrauch des Aus-
drucks 'En-soph stammt hier nicht aus dem 'Ijjun-Kreis, alles andere
ist eine Paraphrase seiner bildkräftigsten Vorstellungen2®3.
2 . 0 Dies geht aus Baumkers ausführlichem Index zur Ausgabe des Fons Vitae,
S. 611 hervor.
2 . 1 Der einschlägige Vers der „Königskrone" ist von S. Münk, Mélanges de Philo-

sophie Juive et Arabe, S. 164, und seinen Nachfolgern dahin erklärt worden, daß er
von einem Hepb.es mezumman, einem bestimmten, begrenzten Willen spricht. Wäre
dies richtig, so würde der „unbegrenzte Wille" des Pseudo-Simon als beabsichtigter
Kontrast dazu erklärt werden können. In Wahrheit hat aber mezumman niemals diese
einschränkende Bedeutung, sondern gehört zum übernächsten Vers mezumman . . .
limschokh usw., und man muß übersetzen: „Ein Wille, dessen Bestimmung es war,
den Ausfluß des Seins aus dem Nichts zu produzieren".
2 . 2 Vgl. die genaue Übersetzung des Zohar-Anfangs in meinem Buch „Die Geheim-

nisse der Schöpfung, ein Kapitel aus dem Zohar", Berlin 1935, S. 46.
*·* Noch andere Entwicklungen über den Willen in der '///««-Gruppe habe ich in
meiner Arbeit über die Spuren Gabirols in der Kabbala in Me'asseph Sophre 'Ere}
Jisrael, Tel-Aviv 194C, S. 168—170 untersucht.

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304 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Die Vorliebe für die Aufstellung von Urkräften, selbständigen Po-


tenzen allen Seins, die aus der Gottheit emanieren, durchzieht alle
Schriften dieses Kreises. Der Midrasch Simons des Gerechten zählt
acht solcher Potenzen auf, deren Ursprung in irgendeinem neuplato-
nischen Text oder dessen Umdeutung zu suchen sein muß. Die übliche
Hierarchie des Seins bei den Neuplatonikern ist hier durch weitere
Hypostasierungen ergänzt. Der Autor spricht von der Potenz der
Einheit, der Potenz des Bestehens, der Potenz der Mannigfaltigkeit,
der Potenz der Prüfung (die am wenigsten in diesen Rahmen paßt),
der Potenz des Intelligiblen, der Potenz des Fühlbaren (welcher Ter-
minus hier und bei Azriel stets für die Welt der Seele steht), der Potenz
des Natürlichen und der Potenz der stetigen Erneuerung, Koah Hid-
dusch. Die Erklärungen, die er von diesen Potenzen gibt, sind schwerer
verständlich als die termini selber und hängen mit den undurchdring-
lichsten Paragraphen der „Quelle der Weisheit" zusammen. Diese
Potenzen kehren hier noch mehrfach wieder; sonst finden sie sich fast
nur noch bei Azriel, der in seinen Schriften sehr oft auf sie Bezug
nimmt. Es muß hier irgendeine Quelle vorhegen, die noch nicht iden-
tifiziert ist und die vielleicht in lateinischen Texten aus der Richtung
des Scotus Erigena zu suchen wäre. Pseudo-Simon stellt keine direkte
Verbindung zwischen diesen acht Potenzen und den zehn Sephiroth
her. Überhaupt erwähnt er von den letzteren nur Hokhma und Kether
l
eljon, über welche er sich ausführlich ausspricht. Die 620 Lichter in
Kether, àie in vielen 'Ijjun-Schriften erwähnt werden, sind die „Wurzeln
der Ur-Hokhma". Kether wird von ihm auch vom Verbum warten,
kathar, abgeleitet, das heißt es ist die Möglichkeit, auf deren unend-
liche Entfaltung in der Produktion aller Dinge zu warten ist. Indirekt
scheint auch auf Hessed und Din Bezug genommen zu werden. Hier
und in verschiedenen Fragmenten Isaaks des Blinden wird mit den
Derivaten der hebräischen Wurzel 'Aman gespielt, deren verschiedene
Modifikationen bei den ältesten Kabbalisten der Provence offenbar
als Symbole der verschiedensten Sephiroth angesehen wurden, von
der höchsten 'Omen in Jes. 25 χ zu 'Amon, 'Amen, 'Emun und 'Emu-
na26i. Dabei fällt die Abwesenheit der Symbolik des Weiblichen und
der Tochter in bezug auf die zehnte Sephira auf, die in den wichtigsten
Texten völlig fehlt und nur in dem Sephiroth-Kommentar des zweiten
„Buchs der Einheit" kurz angedeutet, aber auch keineswegs elaboriert
wird. Dies alte gnostische Motiv der Bahir-Überlieferung, das dann
bei den spanischen Kabbalisten eine so gewaltige weitere Entwicklung
durchgemacht hat, hat gerade in diesem Kreis keine lebendige Kraft.
Die '///««-Mystiker der Provence haben überhaupt für die Syzygien-
Vorstellung nichts übrig. Die Umwandlung neuplatonischer Begriffe
264
So im Buche * I j j u n und den beiden „Büchern der Einheit".

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Licht- und Sprach-Mystik 305

und Metaphern zu mystischen Bildern, an der sie so entscheidend


interessiert sind, vollzieht sich bei ihnen jenseits der sexuellen Bilder-
welt. Die tiefe Differenz zwischen den ältesten Quellen der Kabbala
und dem neuen Durchbruch, der hier erfolgte, kann kaum stärker
akzentuiert werden. Dagegen bleibt die Auffassung der göttlichen
Potenzen als eines kosmischen Baumes durchaus lebendig und in
mehreren '///««-Schriften kehrt die Bezeichnung mancher dieser Po-
tenzen als „Wurzel, Zweig und Frucht" wieder 265 .
Eine merkwürdige Verbindung mit der älteren Merkaba-Mystik
findet sich in der spekulativen Ausdeutung des höchsten Engels
'Anaphiel, die sich in einem sehr alten Zitat aus dem Buche 'Ijjun
erhalten hat, das in unserem Text nicht steht 266 . In alten Teilen der
echten Hekhaloth-IAteratuT wird diesem Engel eine Stelle noch über
Metatron eingeräumt 267 . Diese seine Stellung vermischt sich nun mit
Spekulationen über die erste Sephira, aber nicht nach der streng
kabbalistischen Fassung, sondern im Sinn der Definition des Buches
Jesira von der ersten Sephira als dem Pneuma des lebendigen Gottes,
das metaphorisch als ein „Zweig Gottes" aufgefaßt werden konnte,
was ja die Bedeutung von Anaphiel ist. In dem erwähnten Fragment
kreuzen sich verschiedene Bestimmungen. Sie ist unerforschlich, weil
grenzenlos. Sie ist aber zugleich der Konsonant Taw und ist eine
intelligible Potenz, die zu einem Engel wird, der noch über dem Haschmal
steht, also über der im '///««-Kreis so bedeutenden Potenz der Merkaba.
Der höchste Merkaba-Engel 'Anaphiel ist also zugleich die erste Sephira
und steht an der Stelle, wo sonst hier meistens der Ur-Äther steht. Sie ist
aber auch ein geheimes Urbild, Temuna, in der Gestalt des Menschen, mit
anderen Worten also der 'Adam qadmon, den wir in einem anderen
Text dieses Kreises kennengelernt haben. Das liegt ganz in der Linie
der Cherub-Mystik der deutschen Chassidim. Auf 'Anaphiel geht
Ez. 126. J a , er ist zugleich der ungeschiedene, indifferente Wille,
Rason schaweh, der alle Kreaturen hervorbringt und als solcher zu-
gleich das Pneuma, das im Sinne von Ezechiels Merkaba-Vision die
innere Bewegung jener geistigen Wesen, die aus ihm in der Differenzie-
rung hervortreten, lenkt. Diese Bewegimg entsteht, wenn er sich seinem
Ursprung in dem „wunderbaren namenlosen Licht" über ihm zuwendet.
265
So bei Pseudo-Simon dem Gerechten, in der Erklärung des Tetragrammatons,
sowie im „Mysterium des Wissens um die Wirklichkeit".
M · Dies Stück wird in einem anonymen kabbalistischen Kommentar zu den Gebeten

zitiert, der kaum nach 1260 verfaßt sein dürfte, Hs. Parma, Perreau II, 105, Bl. 37 a. In
einem anderen längeren Zitat aus 'Ijjun, in der wichtigen Hs. Enelow Memorial Coli.
712, Bl. 49a, wird eine ganz entsprechende Anschauung vorgetragen, nur werden
diese Bestimmungen dort nicht auf 'Anaphiel bezogen, sondern auf den Haschmal
selber.
287 Vgl. Hekhaloth Rabbathi K a p . 22 und Odeberg zu 3 Enoch, S. 59.
Scholen}, Kabbala 20
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306 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Ganz im Sinn dieser Vorstellung erklärt das „Buch von der wahr-
haften Einheit" 'Anaphiel als den Seraph und den Engel, der über
die Einheit gesetzt ist und dessen Kraft sich in sieben Lichter ver-
zweigt, die „vor dem Ort der Einheit wie ein brennendes Feuer stehen"
und mit den sieben Seraphim identisch sind, die der „Traktat von den
Hekhaloth" in Kap. VII aufzählt268. Diese Zerlegung der höchsten
Lichtkraft in die sieben Seraphim oder Lichter ist vielleicht mit der
Vorstellung der Katharer zusammenzustellen, die den Parakleten als
siebenfältig erklärten und von den sieben animae -principales sprechen269
Ich habe oben die Hyle-Spekulationen dieser Schriften erwähnt, die
sehr auffällig sind. Bei aller Verschiedenheit haben die 'Ijjun- Schriften
das gemeinsam, daß sie die Hyle als ein positives Prinzip aufzählen,
das als Hypostase unter den kosmischen Potenzen seinen Platz hat.
Nirgends wird sie hier als die Wurzel des Bösen aufgefaßt. Wir haben
hier dieselben zwei Momente, die wir auch bei Gabirol finden. Die
neuplatonische Abwertung der Hyle ist verschwunden und ihr Rang
wird vielmehr immer höher hinaufgeschoben. Im Buch * I j j u n selber
war die Emanation als hylefrei aufgefaßt. Erst hinter der Emanation der
Sephiroth wurde die Hyle geschaffen, über der sie erglänzen. Inder Liste
der 32 Wege aber ist die Hyle — nicht als Hijuli, sondern als Golem
bezeichnet — eine der 32 Potenzen oder Wege, aber weder die unterste
noch die oberste unter ihnen. Anders ist die Auffassung im Midrasch
des Pseudo-Simon. Hier steht die Hyle an der Grenze der Emanation
und bildet, nach außen gewandt, deren Rückseite. Diese Potenz des
Rückens, hinter der sich hier die Konzeption der Hyle versteckt, ist
das principium individuationis, das erst alle Formen differenziert.
Allem Natürlichen, das aus Materie und Form zusammengesetzt ist,
strömt die Kraft dieser Potenz zu. Wieder anders erklärt das „Buch
von der wahren Einheit" die Schekhina selber als das principium
individuationis. Der Thron — der in Gabirols Fons Vitae die Hyle
ist! — ist identisch mit der Potenz der Schekhina, in die alle Dinge
2ββ v g l Beth ha-Midrasch IX, S. 47. Nur der Name des ersten dieser sieben Seraphim
hat eine klare Bedeutung. Orpaniel (Orphaniel) heißt offensichtlich „der Engel, der
das Licht von Gottes Antlitz empfängt". Diese Vorstellung von den sieben Erzengeln
findet sich auch in den Pirqe Rabbi Eliezer, Kap. 4, wo aber die Namen nicht genannt
werden. Dort ministrieren sie vor dem Vorhang und gelten als die Ersterschaffenen
unter den Engeln. Diese Tradition setzt wohl die von den sieben Engeln vor Gottes
Thron aus dem Buche Thobith Kap. 12 und aus Henoch, Kap. 20 fort. Vgl. dazu
W. Lueken, Michael, Göttingen 1898, S. 36—37. Dieselben Namen wie die Hekhaloth
nennt auch das Buch 'Ijjun. Für Jakob Kohen bilden diese sieben Engel dann die
mystische Menora, die man ihm im Himmel zeigte und deren Zeichnung sich in seinem
Sepher ha-Ora, Hs. Milano, Bernheimer 62, Bl. 107 a, erhalten hat, vgl. Bernheimers
Katalog (1933) ' S. 78.
288
Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte I, S. 155, vgl. R. Reitzenstein, Die
Vorgeschichte der christlichen Taufe. Berlin 1929, S. 136—140.

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Die drei Lichter über den Sephiroth 307

gestaltlos eingehen, um sie gestaltet und durch Materie und Form


individuiert zu verlassen. Die Schekhina ist der Ursprung aller Schiedlich-
keit, ist die „Mutter alles Lebendigen". (Hier könnte eine Auffassung
der Hyle als des Weiblichen zu Grunde liegen.) Die Bestimmungen des
Pseudo-Simon über das „Hinten", die nach außen gewandte Seite
der Emanation, werden hier wiederholt, nur eben auf eine Potenz in
der Emanationswelt selbst bezogen. Im „Mysterium des Wissens um
die Wirklichkeit" wird die Theorie einiger Forscher oder Kommen-
tatoren abgelehnt, daß die Hyle direkt ids erste Potenz aus Gott
emaniert sei. Dies aber ist in der Tat die Theorie Gabirols in Fons
Vitae. Meinte der Autor sie oder ältere Quellen dieser Vorstellung,
die ihm etwa in Texten von Isaak Israeli zugekommen waren ? Dies
Schwanken ist für die Haltung des 'Ijjun-Kreises bei der Hereinnahme
philosophischer Konzeptionen in die Welt der Kabbala charakteristisch.

10. Die 13 Middoth, 10 Sephiroth und 3 Lichter über ihnen bei


Pseudo-Haj

Es bleibt ein letzter Punkt zu besprechen, der für die spätere Kab-
bala von nicht geringer Wichtigkeit geworden ist. Wir sahen, daß diese
Schriften sich im allgemeinen keine Sorgen über das Verhältnis der
traditionellen Vorstellung von den dreizehn Middoth des göttlichen
Waltens zu der sich nun kristallisierenden Lehre von den zehn Se-
phiroth machen. Das ist um so weniger erstaunlich als in diesem Kreise
im Großen und Ganzen eine rein theistische Gottesauffassung durch-
aus gewahrt bleibt. Die intelligiblen Lichter und Potenzen, von denen
hier die Rede ist, und auch die Sephiroth selber, soweit sie auftreten,
können kaum als Aspekte einer innergöttlichen Welt angesehen
werden. Noch weniger natürlich die Beschreibungen kosmogonischer
Prozesse, die sich im Ur-Äther und unter ihm abspielen. Ein Autor
beschreibt den Ur-Äther: „Warum heißt er Ur-Äther? Weil er ein
Licht ist, das unter allen Arten der Lichter in der Höhe des 'Arabhoth-
Himmels nicht seinesgleichen hat, und er ist wie ein Strahlengewand,
das aus dem Licht der Herrlichkeit Gottes des Weltenschöpfers
stammt, und über dem ganzen Kabhod ringsum ausgebreitet ist. Seine
Klarheit ist übermäßig und leuchtet und deswegen heißt er unerfaß-
barer Äther, und nicht etwa, weil dort keine anderen Potenzen wären,
die ihm vorangingen270." Wer so schreibt, für den ist der Ur-Äther
und alles Andere kein Bestandteil oder Aspekt einer Welt der Gott-
heit selber, die vielmehr klar darübersteht. Nicht Vorgänge innerhalb

270
So im Vorwort zum „Mysterium des Wissens um die Realität" in der Hs. Schok-
ken Kabb. 6. Der hebr. Text der Stelle in Reschith ha-Kabbaia, S. 169.
20·
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308 Die ersten Kabbalisten in der Provence

der Welt der Gottheit selber werden hier beschrieben, sondern davon
unterschiedene Vorgänge am Anfang der Schöpfung der Merkaba-
Welt, wie verwandelt diese Merkaba-Welt sich auch immer dem
platonisierenden Denken hier darstellt.
Es muß aber in der Provence Kabbalisten gegeben haben, die die
Sephiroth schon in Fortsetzung des Bahir und der Tradition des Rabed-
Kreises deutlich als Aspekte der Gottheit auffaßten, und sich daher
die Frage vorlegten, wie die Annahme solcher zehn göttlichen Middoth
in der Sephiroth-Lehre mit der älteren talmudischen Vorstellung von
den dreizehn Middoth des göttlichen Erbarmens und Waltens in Ein-
klang zu bringen sei. Wir besitzen ein Zitat, in dem Isaak der Bünde
mit einer solchen Erklärung kreditiert wird, die trotz der späten Be-
zeugung wohl alt ist271. Es ist freilich kaum anzunehmen, daß sie wirk-
lich von Isaak stammt, da dessen Neffe Ascher eine eingehende Ab-
handlung über diese dreizehn Middoth geschrieben hat, ohne darin
irgendeinen Bezug auf die in diesem späteren Zitat seinem Onkel zu-
geschriebene Überlieferung zu nehmen. Diese Überlieferung setzt die
dreizehn Middoth mit den Gliedern des Menschen in Korrespondenz,
vom Gehirn bis zu den Schultern und den Armen, aber nicht darunter.
Die Einteilung führt nur zum Teil Entsprechungen zu den Sephiroth
auf, von denen keineswegs alle zehn, sondern nur die ersten sieben in
der Anordnung des Bahir auftreten. Die dreizehn Middoth sind also
Modifikationen dieser sieben sephirothischen Kräfte selber in einer
Schi'ur Qoma- Symbolik.
Ganz anders stellt sich das Problem dem Responsum, das wohl um
1230 ein provençalischer Anonymus dem Haj Gaon unterschob.
Während die eben erwähnte Überlieferung keine weitere Bedeutung
in der kabbalistischen Literatur gehabt hat, nahm dieses Responsum
vom Ende des 13. Jahrhunderts an einen bedeutenden Platz ein und
hat die Ausbildung vieler späterer Spekulationen der Kabbalisten
noch im 16. Jahrhundert beeinflußt272. Es hat sich auch in vielen alten
271
Diese Erklärung „im Namen des heiligen R. Isaak des Blinden" finde ich bei
zwei kurz nach 1500 schreibenden Autoren, Abraham Adrutiel, 'Abhne Zikkaron Hs.
Jerusalem 8° 404, Bl. 108b, und Joseph Alaschqar, Sophnath Pa'neah, Hs. Jerusalem
4° 154, Bl. 125b. Die Terminologie besonders des ersten Zitates spricht für höheres
Alter. Sie erwähnt die Stufen des Haskel und der Hokhma nebeneinander. Diese Ter-
minologie gehört in der T a t der Schule Isaaks des Blinden an.
272
Das Responsum wurde zuerst in Moses Cordoveros Pardess Rimmonim, Krakau
1592, Bl. 74a, gedruckt. Yael Nadav, An Epistle of the Qabbalist Isaac Mar Hayyim
concerning the Doctrine of 'supernal Lights', ΠΊΠΧΠΪί, h a t den Text und eine Abhand-
lung darüber veröffentlicht, die ein spanischer Kabbaiist 1491 in Neapel schrieb, vgl.
Tarbiz, Bd. 26 (1957), S. 440—458. Das Responsum wird im 13. Jh. bei Todros Abu-
lafia, 'Osar ha-Kabhod (1879), Bl. 16c, und bei Bachja ben Ascher zu Ex. 34 β zitiert.
Der erstere bemerkt, dieses Responsum sei dem Ascher ben David entgangen. David
Messer Leon h a t um 1500 den Text ebenfalls ausführlich in seinem handschriftlichen

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Die drei Lichter über den Sephiroth 309

Kabbala-Handschriften erhalten. Die Phraseologie ist die der 'Ijjun-


Gruppe. Die Mystiker heißen hier noch nicht Kabbalisten, sondern
Ba'ale Reschumoth, wie noch in anderen Texten dieser Provenienz273.
Das Wort Mequbbalim kommt nur in adjektivischer Verbindung:
„Unsere Lehrer, welche aus dem Munde der alten Gelehrten emp-
fangen haben", vor, wenn es sich dabei auch natürlich um Empfang
esoterischer Tradition handelt. Der Widerspruch zwischen den beiden
Zahlen zehn und dreizehn wurde in einem noch Moses von Burgos
vorliegenden Text dieses Kreises dadurch ausgeglichen, daß unter
der zehnten Sephira drei Potenzen angenommen wurden, in denen
sie ihre Kräfte manifestiert274. Ganz anders hält es Pseudo-Haj. Nach
ihm gibt es über der ersten Sephira, in der „Wurzel aller Wurzeln",
noch drei verborgene Lichter, die nach einer alten Tradition das inner-
liche Urlicht, Or penimi qadmon, das durchsichtige (oder: überklare)
Licht, 'Or mesuhsah, und das klare Licht, Or sah, heißen sollen. (Die
drei Adjektive sind aber für den Sprachgebrauch des 'Ijjun-Kreises
charakteristisch.)
Die Übersetzung des Hauptteils der Antwort Pseudo-Hajs lautet:
„Die Antwort auf eure Frage [über dies Verhältnis] bedarf tiefen Ein-
dringens. Wurde doch schon lange Zeit vor uns und vor euch diese
Frage in den Tagen unserer alten Weisen aufgeworfen. Die Erklärung
ist lang, nicht für einen Tag und nicht für zwei Tage, denn sie ist tief
mit der esoterischen Wissenschaft verbunden, die in den Kammern
der Prophetien und in der Überlieferung der Mystiker verborgen ist.
Daher sind die Wege dieser Antwort tief, auch wenn sie euch nur in
Kürze zukommt. Die dreizehn Middoth, von denen die Tora spricht,
sind Zweige und Abstammungen, die aus den zehn Graden hervor-
gehen, die Sephiroth heißen, wobei die einen den anderen entsprechen,
mit drei weiteren, verborgenen [Graden], höchsten Prinzipien [wört-
lich: Häupter der Häupter], und wenn sie auch bei euch nicht gefunden
werden, sind sie doch den heiligen Gelehrten der Vorzeit überliefert.
Die .Abstammungen' [Derivate] sind die Aktionsweisen, die Middoth,
Eigenschaften, heißen. Die Wurzeln aber, die die Väter sind, heißen
Sephiroth — nicht etwa, weil ihnen Zahl zukäme, oder sie selber
Zahlen sind, sondern gemäß dem Geheimnis der zehn Welten, die aus
ihnen neu entstanden sind. Denn für sie selber gibt es keine zahlen-
mäßige Bestimmung und keinen Weg, sie zu erfassen, außer für den,
der sie erschaffen hat. Und darauf hat Salomo hingewiesen, wenn er
Magen David kommentiert, Hs. Jews* College, Hirschfeld 290. Cordoveros Text ist
bei Jellinek, Beiträge zur Geschichte der Kabbala, II, S. 11—14, wieder abgedruckt.
278 vgl. zu diesem Ausdruck oben Kap. I, Anm. 66. In anderen Texten dieser
Gruppe heißen die Mystiker auch Ba'ale Jedi'a und Ba'ale Mezitntna, welches synonyme
Ausdrücke für „Gnostiker" sind. Ba'ale Kabbala kommen tier nicht vor.
274 Siehe oben Anm. 223 zu diesem Kapitel.

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310 Die ersten Kabbalisten in der Provence

im Hohenlied [68] sagt: Und Welten ohne Zahl276. Mit Rücksicht


auf eure Gelehrsamkeit wollen wir euch die Namen der Sephiroth
überliefern, wie wir sie von unseren Alten empfangen haben, obwohl
wir keine Erlaubnis haben, euch mehr über die verborgene Glorie
zu offenbaren. Die zehn Sephiroth zerfallen in ihrer Bildung in drei
erste und sieben spätere. Die drei ersten sind: das wunderbare Licht,
ein Licht, das nicht erfaßt werden kann, das aber dem .reinen Ge-
danken' zugeordnet wird. Ihm sind die [zwei weiteren] Lichter des
Wissens und des Intellekts zugeordnet276, denn der Gedanke herrscht
über beide. Die sieben späteren sind sieben Lichter. Drei davon sind
die Schale des Verdienstes und die Schale der Verschuldung, und das
Zünglein des [erbarmenden] Verzeihens, das zwischen ihnen ausgleicht.
Das vierte Licht hat die Welt der Seelen neu hervorgebracht, das die
Mystiker das Fundament der Welt nennen, die Weisen des Talmuds
aber den Gerechten der Welt. Ferner gibt es ein äußeres Licht, das
verzehrendes Feuer heißt und dessen Arme Norden und Rechts sind,
und es stellt das Ende aller Lichter dar und den Anfang aller Taten.
Nun will ich Euch die drei höchsten Lichter über den zehn Sephiroth
andeuten, die keinen Anfang haben, denn sie sind Name und Substanz
der Wurzel aller Wurzeln, und der Gedanke kann sie nicht erfassen,
denn das Erfassen und das Wissen alles Erschaffenen ist zu kurz
dafür. Im Namen unserer heiligen Alten haben wir ihre Namen emp-
fangen: das innerliche Urlicht, das durchsichtige Licht und das klare
Licht, und alles ist ein Licht und eine Substanz und eine unendlich
verborgene Wurzel. . . Und wenn die Mystiker sagen, daß die Sephiroth
wie Lichter sind, so meinen sie damit nicht etwas wie das Licht der
Sonne, des Mondes und der Sterne, sondern geistige, subtile, klare und
innerliche Lichter, einen Glanz, der die Seelen bestrahlt. Wir haben
alle möglichen Forschungen bei unseren Lehrern angestellt, die aus
dem Munde der alten Gelehrten empfangen haben, um zu erfahren,
ob die drei höchsten [Lichter] besondere Namen für sich selber haben,
wie die unter ihnen stehenden. Und wir haben gefunden, daß sie alle
in der Ansicht übereinstimmen, daß sie wegen der Größe ihrer Ver-
borgenheit keinen bekannten Namen haben außer jenen Namen, die
ihnen als [jene drei] Lichter beigelegt werden, und so hat auch die
anfangslose Wurzel keinerlei bekannte Namen. Und der Name von
vier Buchstaben und noch mehr alle anderen Zunamen [Gottes] be-
ziehen sich ganz spezifisch auf die erschaffene Glorie, wenn auch die
Schreibung des Tetragrammatons, das das Fundament aller [Sephi-

275 Der Autor liest in einem Wortspiel *Olamoth, Welten, statt 'Alamoth, junge
Frauen.
27$ vgl. zu dieser Terminologie, in der M adda und Sekhel künstlich geschieden
werden, unten S. 316.

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Die drei Lichter über den Sephiroth 311

roth-] Grade ist, in der Form von subtilen Punkten erfolgt, die bei
den Mystikern bekannt ist277. Dies deutet auf das wunderbare Ge-
heimnis hin, daß sie [die Grade der Sephiroth, die im Tetragrammaton
symbolisiert sind] geistige Materie und Form aus der Kraft der drei
Grade angenommen haben, welche Namen und Substanz und Wurzel
sind. Der erste Buchstabe [Jod] stieg aus der verborgenen Wurzel
hervor und verbreitete sich als ein gedankliches Licht, und sie [?]
breiten sich aus in der Substanz der Wurzel, in ihr und nicht außer-
halb von ihr. Aus ihnen [den drei Lichtern] haben Materie und Form
angenommen die Kraft des Wissens [Hokhma] und die Kraft des
Intellekts [Bina], und sie sind der Anfang der verborgenen geistigen
Schöpfung. Und jener erste Punkt empfing [aus seinem Ursprung
in dem Urlicht] eine starke und wunderbare Kraft der Formung,
so daß sich in ihm zehn Grade auf die subtilste Weise formten. Daher
stieg ihre Zahl bis auf zehn an. Und aus der Kraft dieses Punktes
materialisierten auch zehn Grade in der Form des Buchstaben He,
der ihm folgt, und sie sind in den Punkten der richtigen Schreibung
angedeutet, die wir von unseren uralten Lehrern empfangen haben.
Und alle Kräfte waren in ihm [dem He] wie in einem geistigen Schatz-
haus verborgen. Aus der Kraft dieser zweiten Form haben Materie
und Form angenommen die sechs ,Richtungen der Welt' [die den
sechs Sephiroth und der Bina entsprechen]. In diesem Buchstaben
Waw [dessen Zahlenwert sechs ist] sind die Kräfte, die im zweiten
Buchstaben verborgen waren, nun auf manifestere Weise hervor-
getreten, und sie sind der Anfang des Offenbarwerdens der verborgenen
Welten. Daher nannten die Weisen der Sephiroth diese Sephira den
Anblick [Mar'eh, wörtlich : das Sichtbarwerden] der verborgenen Welt.
Das letzte He [im Gottesnamen] ist die Zurichtung [Tiqqun] der Wir-
kung, und sie bringt alle verborgenen Kräfte zur vollständigen Wirkung
und ist die Vollkommenheit aller Kräfte."
In einer Antwort auf eine angebliche weitere Frage über den Sinn
dieser drei Lichter führt Pseudo-Haj aus dem „Text des R. Chammai"
dieselbe Überlieferung an. Dieser „Text" ist identisch mit dem Frag-
ment aus dem „Buch der Einheit" des Chammai, das schon oben
erwähnt wurde278. Hier heißt es, daß die drei Lichter279 eine Sache
und eine Substanz seien, die „ohne Trennung und ohne Verbindung
in innigstem Zusammenhang mit der Wurzel aller Wurzeln stehen",
wofür er als materielles Beispiel den Zusammenhang von Herz, Lunge
und Milz anführt, die mit allen anderen Gliedern des Organismus
zusammen eine Wurzel haben. Auch hier fließen aus diesen drei Ur-
277
Vgl. die Figur oben S. 291, sowie Anm. 228.
278
Dies Responsum ist in Kobaks Jeschurun, III, S. 66 gedruckt. Vgl. auch Schem-
tob, 'Emunotk, Ferrara 1656, Bl. 35a und 47a.
2,i
Im Druck heißt es irrig sieben Lichter, Τ statt 1.

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312 Die ersten Kabbalisten in der Provence

lichtem die drei obersten Sephiroth des .reinen Gedankens', des


»Wissens' und des .Intellekts', durch die alle „geistigen Flammen"
Substanz annehmen und doch der Kohle, die sie nährt, verhaftet
bleiben. In der Fortsetzung folgt dann das oben S. 291 angeführte
Zitat. Die drei Responsen des Pseudo-Haj beziehen sich also deutlich
aufeinander. In zweien wird die Lehre von den drei Urlichtern auf-
gestellt und in zweien die alte magische Schreibung des Gottesnamens
überliefert und spekulativ auf die Entwicklung der zehn Sephiroth,
die in dessen vier Konsonanten angedeutet sei, bezogen. Ein Unter-
schied zwischen der Präsentation der Urlichter-Lehre besteht insofern,
als in der ersten ausführlicheren Darlegung die „Wurzel aller Wurzeln"
nicht über ihnen steht wie in der zweiten, sondern die Lichter selber
(wie die richtige Lesart lautet) „Name und Substanz der Wurzel aller
Wurzeln" sind. Alle drei sind selber ein Licht, eine Substanz und eine
unendlich verborgene Wurzel. Die Sephiroth fließen aus ihnen als
höchste Potenzen, die in gewisser Weise intelligible Materie und Form
besitzen. Diese letztere Vorstellung findet sich sonst nirgends in den
ältesten Dokumenten der Sephiroth-Lehre und scheint mir mit der
Lehre Gabirols von der Zusammensetzung aller intelligiblen Wesen-
heiten aus Materie und Form zusammenzuhängen. Der Nachdruck,
der hier auf die Wiederholung der beiden Aspekte von Materie und Form
an jeder neuen Station des sephirotischen Prozesses gelegt wird, zeigt,
daß es dem Autor nicht nur um eine zufällige Redensart zu tun war.
Das eigentliche Merkwürdige an dieser ganzen Vorstellung ist natür-
lich die Trinität der drei verborgenen Lichter, die ununterschieden
und anfangslos in der Substanz der Gottheit fließen, in ihr ineinander-
strahlen und aus ihr in die höchsten drei Sephiroth emanieren. Über
das „reine Denken", das wir im Buch Bahir und noch deutlicher bei
Isaak dem Blinden als höchste Sephira kennengelernt haben, tritt
nun in der Gottheit selber, der „Wurzel aller Wurzeln", diese rätsel-
hafte Trias, die sich doch von der christlichen Trinität durch den völlig
unpersönlichen Charakter und die Abwesenheit jeder spezifischen
Beziehung zwischen ihnen unterscheidet. Dem Autor dieser Responsen
genügte offensichtlich die im Buch *Ijjun und in der „Quelle der
Weisheit" vorgetragene Lehre von den dreizehn Gegensatzpaaren,
die als Urpotenzen aus dem Äther hervorgehen, nicht, und er ersetzte
sie durch eine einerseits einfachere, andererseits viel paradoxere Kon-
zeption. Damit war das Tor für weitere mystische Spekulationen ge-
öffnet, die über der Welt der Sephiroth noch tiefere Schichten der
Gottheit anzunehmen erlaubten. Kein Wunder, daß diese Idee dann
in der Lehre von den sogenannten Sahsahoth, den überklaren oder
durchsichtigen Lichtern, die die Wurzeln der Sephiroth-Welt bilden,
bei den Kabbalisten des 14., vor allem aber des 16. Jahrhunderts,
zu großer Bedeutung gelangte.

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Die drei Lichter über den Sephiroth 313

Die verschiedenen Lösungen, die für das Verhältnis der zehn Se-
phiroth zu den dreizehn Middoth in diesem Kreis gegeben wurden,
zeigen, daß es sich dabei nicht um ein spezifisches Interesse an der
Trinitäts-Lehre handelte. Die zweite Antwort Hajs oder Chammais
kompliziert ja auch die Lösung wieder dadurch, daß sie zwar eine
innige Verbindung zwischen der „Wurzel aller Wurzeln" und den
drei Lichtern annimmt, sie aber keineswegs mit ihnen identifiziert.
Die einzige Funktion, die diese drei Lichter haben, ist, als Quelle und
Ursprung für die obersten Sephiroth zu dienen, die dann alles Weitere
aus sich entfalten. Sie sind keine Personen und keine „Hypostasen"
in Gott. Können sie also einerseits als das vorläufige Endstadium
eines Prozesses angesehen werden, in dem von der Merkaba-Welt
ausgehend die Mystiker zu immer höheren Sphären vorzudringen
suchten, so ist doch keineswegs die Möglichkeit von der Hand zu
weisen, daß diese spezifische Lösung der Frage nach dem Charakter
der dreizehn Middoth in Kenntnis der christlichen Trinitätslehre ent-
wickelt worden ist, unter Herausnahme alles dessen, was ihren eigent-
lich christlichen Charakter ausmacht. Was bleibt, ist eine höchste
intelligible Trias, die eher an solche Triaden in der Vorstellungswelt
des Proklus erinnert als an die christliche Dogmatik. Man könnte
sagen, daß es sich um eine Rückbildung des christlichen Begriffs in
eine rein neuplatonisch gedachte Lichtmystik handelt. Die Sephiroth
selber sind hier nun eindeutig als entstanden gedacht, während die
Trias der Lichter unentstanden, anfangslos in der verborgenen Wurzel
ineinander leuchtet.
Daß den Kabbalisten eine mögliche Verbindung dieser Vorstellung
mit der christlichen Trinität nicht verborgen war, beweist das Zeugnis
des spanischen Gelehrten Profet Duran. Er erzählt in seinem 1397
verfaßten antichristlichen Werk „Schmach der Christen", er habe in
seiner Jugend von mehreren Anhängern der Kabbala die Meinung
vertreten hören, daß die christlichen Dogmen der Trinität und In-
karnation aus einer falschen Deutung an sich wahrer kabbalistischer
Thesen entstanden sei. Jesus und seine Schüler seien nicht nur große
Magier gewesen — welche Meinung ja im mittelalterlichen Judentum
allgemein verbreitet war — sondern wirkliche Kabbalisten, „nur sei
eben ihre Kabbala voller Fehler gewesen". „Die Lehre von der Trini-
tät, die sie irrigerweise in der Gottheit annehmen, ist bei ihnen aus
ihrem Fehlgehen in dieser Wissenschaft [der Kabbala] entstanden,
die das Urlicht, das strahlende Licht und das durchsichtige Licht
statuierte280." Im Kontrast dazu fehlte es übrigens schon in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht an philosophischen Gegnern
380
Kelimmaih ha-Gojim, in Ha-Sophe le-Hokhmath Jisrael III, S. 143; vgl. dazu
meine Bemerkungen in Tribute to Leo Baeck, London 1964, S. 177—178.

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314 Die ersten Kabbalisten in der Provence

der Kabbala, die zwar nichts von dieser These über die drei Lichter
wußten, wohl aber behaupteten, daß die Lehre von den zehn Sephiroth
von den Christen herkäme281. Diese These ist, wie die wirkliche Ge-
schichte der Sephiroth-Vorstellung zeigt, mit der wir uns hier befaßt
haben, genau so falsch wie die unhistorischen Annahmen der Kabba-
listen über die Entstehung der christlichen Dogmen. Es ist übrigens
auffällig, daß die Lehre des Pseudo-Haj den sogenannten „christlichen
Kabbalisten" anfangs gar nicht bekannt war und erst vom Anfang
des 17. Jahrhunderts an, nachdem der Text des Pseudo-Haj in Cor-
doveros Werk gedruckt vorlag, von ihnen aufgegriffen und für ihre
eigenen Zwecke wieder ins Christliche zurückgedeutet wurde282.

11. Sephiroth-Lehren eines pseudepigraphischen Sendschreibens

Die Responsen des Pseudo-Haj zeigen, daß in der Provence im Zu-


sammenhang mit der Lichtsymbolik des 'Ijjun-Kreises auch Tendenzen
wirkten, die die Lehre von den zehn Sephiroth in der neuen Form schon
durchaus in den Mittelpunkt stellten und sich damit dem Hauptstrom
der Tradition, den wir vorher verfolgt haben, einordneten. Es muß
in diesem Kreis recht verschiedene Persönlichkeiten gegeben haben.
Was sie von dem Kreis Isaaks des Blinden unterschied, mit dem sie
sonst Vieles gemeinsam hatten, war ihre Neigung zur Pseudepigraphie.
Im Rahmen einer längeren Epistel, deren Hauptteil sich erhalten hat,
lesen wir eine Reihe von kurzen Stücken, die wohl kurz nach dem Tod
des Eleazar aus Worms in diesem Kreis verfaßt worden sind. Ich halte
es für sicher, daß der Briefschreiber, der von seinen Reisen in der Pro-
vence und den ihm dabei in die Hände gefallenen angeblichen alten
Fragmenten berichtet, niemand anders ist als Isaak Kohen. Der Text
der Epistel ist teilweise schon bei Schemtob ibn Gaon, seinem Ver-
wandten, überliefert283. Der Stil der Erzählung, die die Stücke ver-
881 Vgl. ebenda S. 176, sowie die Zeugnisse bei Abraham Abulafia in Jellinek, Aus-
wahl kabbal. Mystik, S. 19, und in den Responsen des Isaak ben Schescheth, Nr. 166.
282
Soweit ich sehe, zuerst in der Broschüre In Cabalarti introducilo des Grafen Ca-
rolus Montecuccoli, Modena 1612, S. 26, und vor allem bei Joseph Ciantes, De Sanctis-
sima Trinitate ex antiquorum Hebraeorum testimoniis evidente* comprobata, Rom 1657.
283
Der erste Teil des Sendschreibens, dessen Autorschaft ich in früheren Arbeiten
noch nicht erkannt habe, ist bei Schemtob ibn Gaon, Badde ha-Aron IV, 3, Hs. Ox-
ford, Neubauer 1630, Bl. 45a—47b erhalten. Steinschneider, dem diese Quelle noch
nicht bekannt war, kannte den vollständigeren Text aus einer alten, mehrfach er-
haltenen, alten Apologie der Kabbala, Hs. Berlin Qu. 833, Bl. 88b—91b (sowie Kauf-
mann 240 und Ghirondi 117). Er hat Hebr. Bibliogr. Bd. 18 (1878), S. 20—21, in seinem
Aufsatz über Isaak Kohen darauf hingewiesen, ohne dessen Autorschaft zu bemerken.
Der Name Rab Qeschischa, wörtlich „der alte Meister", ist offenbar fingiert, wie der

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Sephiroth-Lehren 315

bindet, und die Art der Aneinanderreihung verschiedener Quellen


entspricht ganz seinem Stil und Verfahren in ähnlichen Sendschreiben
zur Lehre von der „linken" Emanation, die wir unter seinem Namen
besitzen. Der Briefschreiber reist in der Provence und interessiert sich
für alles Esoterische, ist aber selber kein Provençale. Seine Eschatolo-
gie ist dieselbe wie in anderen Stücken, die Isaak anderswo benutzt.
Wir erfahren, daß der Briefschreiber um die Mitte des 13. Jahrhunderts
durch Arles reiste und die Schriften, die er hier erwähnt, zur Zeit des
Vaters eines dortigen Gelehrten ans Licht gekommen sind. Das führt
etwa auf die 30 er Jahre des 13. Jahrhunderts.
Diese Epistel Isaak Kohens besteht aus mehreren, lose verknüpften
Stücken, in deren jedem eine fingierte Autorität sich über die Tradition
äußert, die sie über die zehn Sephiroth empfangen hat. Diese Tradition
wird auf das Lehrhaus der babylonischen Geonim in Matha Mechassja
bei Sura — gemeint ist offenbar Sura selber — zurückgeführt. Einer
von ihnen, R. Qeschischa, sei nach Apulien gekommen und habe dort
die Tradition an seinen Schüler Jehuda aus Corbeil weitergegeben.
Dieser sei der Lehrer Eleazars von Worms in der Mystik gewesen —
eine reine Fiktion, in der Jehuda aus Corbeil mit Jehuda dem Frommen
aus Regensburg durcheinandergeworfen wird. Die Überlieferung dieser
Autoritäten über die zehn Sephiroth folgt der des Bahir insofern, als
der Gerechte, das „Fundament der Welt", hier noch die siebente
Sephira ist, während sie bei den spanischen Kabbalisten schon zur
neunten geworden ist. Die Namen sind, wie auch die Symbole, zum
Teil aus Bahir genommen, zum Teil aber entstammen sie der Termino-
logie der '///««-Schriften, oder hängen jedenfalls aufs engste mit ihr
zusammen. Der alte Gaon oder sein Schüler spricht von der ersten
Sephira Kether als einer Kraft, die „im Wesen [man kann auch über-
setzen: Substanz] der Wurzel verborgen und aufbewahrt ist", was der
Phraseologie des Pseudo-Haj sehr nahesteht. Auch die Vorstellung
vom Äther ist hier eingedrungen. Einmal heißt die zweite Sephira,
also Hokhma, Äther, zum anderen Mal wird aber die zehnte Sephira
als „der umfassende Äther" aufgezählt, der „das Schatzhaus der
Mysterien und das Licht des Lebens" ist. Der Name der Sephira
Kether wird von Pseudo-Eleazar ganz in der selben Art spekulativ
mit Benutzung verschiedener etymologischer Nuancen der hebrä-
ischen Wurzel ausgedeutet wie im „Buch der Einheit". Von dem wirk-
lichen Sprachgebrauch Eleazars, bei dem wir den Ausdruck „höchste
Krone" in der Tat gefunden haben (siehe oben S. 111), ist aber diese
Stelle weit entfernt. Die Sephiroth heißen hier mit Vorliebe „Kronen".
des R. Amora im Buch Bahir, und aus dem Singular der im Talmud gebrauchten
Wendung Rabbanan Qeschischa'e, „unsere alten Meister", gebildet, vielleicht auch in
Nachahmung des Namens Mar Queschischa, des „Alterssohns" des Talmudlehrers
R. Chisda.

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316 Die ersten Kabbalisten in der Provence

„Alle Kronen bilden eine Welt von Triaden, die miteinander verbunden
sind, aber die höchste Krone ist eine Welt für sich selbst, die verborgen
ist und aus deren Emanation alle anderen empfangen. Sie allein ist
verborgen und verbunden mit der Wurzel aller Wurzeln, welche kein
Gedanke fassen kann, und sie empfängt stets ohne Unterlaß und
schweigend [bi-Demama daqqa] aus der Wurzel und entleert ihre
Segensfülle auf die übrigen Kronen, aber nicht ohne Unterlaß, sondern
jeweilig nach Maßgabe des Willens, der die Wurzel aller Wurzeln ist284.
Und je drei Sephiroth empfangen zusammen, ergießen sich und
schöpfen den Fluß [der Emanation] aus, bis zum , Schatzhaus der
Mysterien' hin, das die Krone der Herrschaft des Weltenschöpfers
ist." Alle Triaden „umgeben einander und sind ineinander ver-
schlungen; jede umgibt die andere, wird aber zugleich von ihr um-
geben; jede steht über der anderen, und doch steht zugleich die andere
über ihr; jede ist zugleich Anfang, Mitte und Ende; alles nach Maß-
gabe der Manifestation des höchsten Willens, aus dem sie geschaffen
sind, in ihnen".
Kether ist also keineswegs mit der Gottheit identisch, die sich viel-
mehr in ihm als die „verborgene Kraft und das Allem entrückte Wesen
offenbart". Statt Έη-sofh, das auch hier und bei Pseudo-Haj nie
vorkommt, lieben diese Pseudepigraphen das Bild von der „Wurzel
aller Wurzeln", das im Hebräischen des Mittelalters zugleich oft die
Bedeutung von höchstem Prinzip hat. Zwischen der Schöpfung der
Sephiroth und ihrer Emanation wird kein Unterschied gemacht. Der
Bereich von Kether wird hier, noch über der Welt des Intellekts, als
'Olatn ha-Mithboded bezeichnet, also als eine Welt, die für sich alleine,
abgesondert in der „Einsamkeit" besteht. Dieser Terminus dürfte
aus einem arabischen 'alim mustabidd übersetzt sein, und in neu-
platonischen Quellen, die nachzuweisen bleiben, die transzendente
Welt der Gottheit, die dem Intellekt vorangeht, bezeichnet haben.
In alten Übersetzungen neuplatonischer Quellen ins Hebräische
scheint diese Terminologie aus Spanien in die Provence gelangt zu
sein, wo ihr Sinn verändert wurde, wie ja auch die beiden in alten
Ubersetzungen geläufigen Wiedergaben des arabischen Wortes 'aql,
Intellekt, durch hebräisches Madda' und Sekhel bei den ältesten Kab-
balisten zu zwei verschiedenen Begriffen wurden, die nun den Sephiroth
Hokhma und Bina zugeordnet wurden. Übrigens sind ähnliche Um-
deutungen neuplatonischer Weltenschemata in der Tat aus Abraham
bar Chijja, der sie im Namen der „Weisen der Forschung" zitiert,
zu den deutschen Chassidim gelangt 285 .
284
Diese Identifikation ist auffällig und widerspricht der sonstigen Auffassung,
die den Urwillen von der Urwurzel trennt.
¡¡«s Ygi meinen Aufsatz, Reste neuplatonischer Spekulation bei den deutschen
Chassidim, M. G . W . J„ Bd. 75 (1932), S. 172—191.

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Sephiroth-Lehren 317

Nach dieser Äußerung des Pseudo-Eleazar fährt das Sendschreiben


mit der Mitteilung einer weiteren Offenbarung fort, die vor Zeiten
einer der Gelehrten und Asketen des Lehrhauses in Matha Mechassja
empfangen haben soll. Der Name wird, trotz der sonst so namen-
freudigen Atmosphäre dieses Dokuments, nicht genannt. Aber die
ihm zuteil gewordene Offenbarung, die er nach langer Vorbereitung
vor zehn Gelehrten ausgesprochen haben soll, wird mitgeteilt. Hier
werden die „erhabenen Kronen", wenn auch noch auf allgemeine
Weise, mit dem Ursprung der Pneumata der Propheten zusammen
gebracht. Die Offenbarung betrifft die „Pfade", wohl die am Anfang
des Buches Jesira, die aber mit den Sephiroth zusammenfallen und
von denen jeder eine eigene Welt ist. Sie werden mit Begriffen der
Lichtsymbolik des 'Ijjun-Kreises beschrieben, aber nur die drei ersten
werden genauer definiert. Auch hier ist der theistische Charakter der
Scheidung zwischen Gott selber und diesen „Pfaden" klar hervor-
gehoben: „Der Herr des All steht über allen Attributen und Gestalten.
In seiner Allmacht schuf er die Pfade der Welt, Pfad nach Pfad; ließ
Welt nach Welt neu entstehen. Der erste Pfad, das erste Licht, der
,Pfad, den der Adler nicht kennt' [Hi. 28 7], ist die Wurzel der Ge-
danken [Ideen?], und er steigt auf im ,Pfad des Glanzes', der der Ur-
intellekt [Madia' qadmon] ist, der mit dem ,reinen Gedanken' ver-
bunden ist. Aus ihm emanierte der Pfad, der den Intellekt \SekheI\
bestrahlt . . . Er ist der Glanz des festgegründeten Thrones, der sich
auf den drei Ursäulen erhebt . . . und alles Erschaffene besteht in ihm
und von dort fliegen alle Seelen der Propheten und des heiligen Israel
aus. Und ferner gibt es einen Pfad, der der Schmuck aller Pfade ist
[in dem alle Pfade als Schmuck zusammengefaßt sind, vgl. Bahir § 43]
und auch der letzte Thron." Die drei ersten Pfade sind offenbar die
drei ersten Sephiroth, der Thron mit seinen drei Säulen bildet die
nächste Sephiroth-Trias mit dem „Gerechten" als siebenter Sephira
und der letzte Thron ist die letzte Sephira, und beide Throne werden
als Orte der Verehrung und Anbetung der Engelscharen geschildert.
Durch einen Sendboten Berachja aus Damaskus sei auch diese
Offenbarung zu Eleazar nach Worms gelangt. Dann geht der Brief-
schreiber aber abrupt auf seine eigenen Reisen in der Provence über
und erzählt, was er in Arles von einem R. Salomo ben Mazliach ge-
hört habe. Dieser erzählt im Namen seines Vaters: „In den Tagen
des heiligen Rabbi Elchanan sei in der Provence ein angesehener alter
Toragelehrter gewesen, ein Haupt der Akademie in Lunel, der von
Eleazar aus Worms ein kleines Büchlein erhalten habe, .Buch der
Mysterien' genannt, das er sich verpflichtet habe, nur den Würdigen
zu zeigen". Was in diesem Buch gestanden haben soll, wird nicht
genau gesagt, man darf wohl annehmen, eine Zusammenfassung der
vorher zitierten Offenbarungen, die dadurch nach der Provence ge-

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318 Die ersten Kabbalisten in der Provence

kommen seien. Weiter hören wir dann, daß einige Zeit später der Brief-
schreiber in seinem eigenen Land (Spanien) einen großen Gelehrten
Nathanael aus Montpellier getroffen habe, mit dem er sich sehr an-
gefreundet hätte. „Ich kopierte aus einer Aufzeichnung seines Onkels
Sacharía aus Montpellier, welcher viele Jahre in den byzantinischen
Ländern verbracht und dort von einem fast 120 Jahre alten Greis
[Aufzeichnungen über die Stufen der Emanation] empfangen hatte.
Dieser Chassid, der in Philosophie und Astrologie gleichmäßig be-
wandert war, dann aber all seine Wissenschaften verschmäht und
seine Beschäftigung damit bereut hatte, war daran gegangen Gott
zu suchen, bis er endlich von einem Nachkommen des Königs David,
mit Namen R. Chisdai ha-Nassi, drei Jahre lang in die geheime Wissen-
schaft eingeweiht wurde." Die Pseudepigraphie springt bei all diesen
Angaben in die Augen, und da die Analyse von Isaak Kohens Schriften
zeigt, daß er in der Tat ältere Traditionen sammelte und verarbeitete,
sind wir zu dem Schluß gezwungen, diese literarischen Erfindungen
dem Kreis der provençalischen Gruppe zuzuschreiben, zu der sie ihrem
kabbalistischen Habitus nach so gut passen.
Jellinek nahm an, daß mit diesem Chisdai der berühmte spanische
Gelehrte und Ministers dieses Namens gemeint sei und das Stück
wirklich aus dem 10. Jahrhundert stamme286. Die Sprache ist aber,
wie auch die Vorstellungswelt, die der hier besprochenen provença-
lischen Gruppe. Vielleicht meinte der Autor einen alten Dichter, der
unter diesem Namen als Autor eines bekannten Pijjut erwähnt wird287.
Diesem Chisdai wird nun als Abschluß des großen Sendschreibens eine
Erklärung über die Seligkeit der Geister in den höheren Welten der
Sephiroth beigelegt, die ihre Nähe zur Eschatologie der Neuplatoniker
nicht verleugnet. Dort lesen wir unter anderem:
„Die Ursache aller Ursachen hat keinen Anfang und keinen Ort
noch Grenze. Als es in seinem Willen aufstieg, Welten neu zu schaffen,
da waren sie nicht faßbar und sichtbar, bis der Wille kam288 und aus
seinem großen Licht zehn innere Punkte emanierten, die wie ein Licht
sind, das die Sonne überstrahlt. Das Licht des innersten Punktes ist
nicht von seiner Substanz getrennt, und er ist ein intelligibler Punkt,
Nequda Mahschabhith, aus dessen Licht ein zweiter intelligibler
Punkt 289 aufstrahlte. Und er stellt den Anfang der Wege der ersten
284
Jellinek, Beiträge II, S. III, wo S. III—VI die ganze Stelle aus Schemtobhs
'Emunoth abgedruckt ist. Ich übersetze im folgenden nach einem aus Hss. verbesserten
Text, vgl. Tarbiz II, S. 425.
287
So in einer Liste alter synagogaler Dichter, die ich in einem Exemplar der Erstaus-
gabe von Salomo Lurias Responsen im Jew. Theol. Sem. in New York gefunden habe.
288
Vgl. oben Anm. 244.
28e
Er nennt sie hier Nequda madda'ith. Von hier stammt der Sprachgebrauch Isaak
Kohens in seinem Merkaba-Kommentar, Tarbiz II, S. 196, sowie meine Anmerkungen

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Sephiroth-Lehren 319

Ursache dar. Aus seinem Licht strahlte ein dritter Punkt auf, der die
Mutter der inneren Seelen ist, und unsere Weisen nennen diesen Punkt
'Arabhoth-Yimaaei. . . Und aus seinem Licht strahlte ein großer Glanz,
ein geistiger Punkt auf, der der Anfang der Welt der heiligen Geister
ist, und bei den Weisen der Mischna [in Hagiga 12 a] Zebhul-Himmel
heißt. Und dieser Punkt ist das Fundament der Welten, und als Sa-
lomo beim Tempelbau das Allerheiligste baute, zielte er darauf ab,
wie aus seinen Worten I. Reg. 8 13, hervorgeht. Und am Anfang der
Welt, die als Welt der Barmherzigkeit bezeichnet wird, sind mit ihr
zusammen zwei weitere Punkte aufgestrahlt, die Welten der Gnade
und des Gerichts. Hier liegt der Anfang der Schöpfung der niederen
Seelen, Nephaschoth, die neu entstehen, wenn die Körper gegründet
werden, und darum heißt [diese Welt] bei den Weisen der Makhon-
Himmel, denn er ist die Grundlage, Makhon, für den Sitz aller Welten,
die von dort emanieren, und in ihr besteht und erhält sich die Herr-
schaft der Welt des jüngsten Gerichtes . . . Und dies ist die Gestalt
des Thrones, wovon es heißt: Und mit Gnade wird sein Thron ge-
gründet. Und nach all diesen Emanationen strahlte ein Licht der
Welt auf [im Hebräischen zugleich: ein ewiges Licht], aus dem eine
Säule gebaut wurde, die in der Sprache der Weisen [im Bahir § 105]
der Gerechte der Welt heißt, von dem die Seelen ausfliegen. Diese
stammen aus dem Licht der Welt, die ,Welt der Seelen' heißt, und
formen sich in die Körper der Propheten ein. Und diese Säule ist das
Formprinzip der pneumatischen subtilen Körper, aus dem auch die
Körper der Propheten geformt werden, welche Formen von Körpern
und doch keine Körper sind. Denn wenn auch das Siegel eines ist, sind
darin doch die verschiedensten Formen eingezeichnet. Nach dieser
Emanation strahlten zwei Lichter auf, ein pneumatischer und ein
psychischer Punkt. Aus dem pneumatischen Punkt fliegen die Seelen
aus, die aus dem Licht der Barmherzigkeit aufgestrahlt sind, und
formen sich in die Körper der Besitzer des heiligen Geistes oder Pneu-
ma ein, und das ist die Formung der pneumatischen Körper, die den
Körpern ähnlich und doch keine [materiellen] Körper sind . . . Aus
dem psychischen Punkt fliegen die niederen Seelen aus, die aus dem
Glanz der Welt des Gerichts aufstrahlen und sich in die Körper der
vollkommenen und scharfsinnigen Gelehrten einformen, bei denen
Funken des heiligen Geistes aufleuchten, der über die Welt der nie-
deren Seelen erstrahlt. Und das ist die Einformung der reinen Körper,
die Attribute von Körpern haben und doch keine sind, wenn sie auch
nicht so lauter sind wie die ersten und zweiten [Arten der höheren
Körper]. Und nach dieser Emanation strahlte aus jedem einzelnen

dort, S. 206—207. Moses de Leon gebraucht Nequda mahschabhith als Symbol für die
Sephira Hokhma, vgl. sein Sepher Rimmon, Hs. Brit. Mus. 769, Bl. 26 a.

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320 Die ersten Kabbalisten in der Provence

Teil dieser punktuellen Lichter ein Licht auf, das die Emanation des
letzten Punktes ist, auf den jeder einzelne der Punkte sein Licht nach
Maßgabe des göttlichen Willens emaniert. Manchmal empfängt [dieser
letzte Punkt] von allen, manchmal nur von einigen, je nach dem Be-
fehl des höchsten Königs. Alle tragen Sehnsucht nach ihm [dem letzten
Punkt], und er trägt Sehnsucht nach ihnen, und in ihm ist die Selig-
keit aller sieben Welten, die in den sieben Tagen der Schöpfung ein-
begriffen sind . . . Von diesem Punkt an strahlt die Welt der separaten
[Intelligenzen] auf."
Die systematische Absicht dieser Äußerung ist klar. Die zehn Se-
phiroth werden als zehn Urpunkte intelligibler Art dargestellt, deren
Beziehung auf die Psychologie, Eschatologie und Prophetologie zu-
gleich entwickelt wird. Dabei fällt auf, daß die erste Sephira, der
innerste Punkt, ausdrücklich als „nicht von der Substanz getrennt"
bezeichnet wird, welche dem Zusammenhang nach jenes große Licht
ist, das noch vor der Wirkung des Willens da war, sei es mit der ersten
Ursache von jeher verbunden, sei es mit ihr identisch. Die drei pneu-
matischen Grade der Seelen entsprechen zugleich den Stufen der
Propheten, der Männer des heiligen Geistes und der Weisen und
Schriftgelehrten, über denen doch Funken des heiligen Geistes auf-
leuchten. Die Sephiroth werden irgendwie mit den sieben Himmeln
zusammengebracht, jede ist eine Welt für sich, aber auch Anfangsort
und Desiderium der ihr entspringenden Seelen. Pseudo-Chisdai hängt
aufs engste mit dem Stück des Chassid [in Narbonne] über die inneren
Seelen zusammen, das uns wohl ebenfalls durch Isaak Kohen erhalten
ist (siehe Anm. 163 zu diesem Kapitel) und sich von ihm vor allem
durch die Beistellung von Geheimnamen dieser verschiedenen Grade
der Seelen, von denen Chisdai nichts weiß, unterscheidet. Die Theorie
der intelligiblen Punkte hängt mit der S. 228 besprochenen Umdeutung
der Ideen als geistige Atome auf die Sephiroth zusammen. Aus dieser
und ähnlichen provençalischen Quellen ist sie dann zu den kastilischen
Kabbalisten gelangt, wie vor allem zu Isaak Kohen und Todros Abu-
lafia, und von da zum Autor des Zohar.
Dieselbe Rangordnung für den Ursprung und noch mehr den
Ort der höchsten Seligkeit der Propheten, Hagiographen und mysti-
schen Schriftgelehrten wird in der Schilderung der sieben Paläste
des untersten Himmels vorgetragen, die hinter der oben erwähn-
ten Schilderung des Rituals der Beschwörung des Fürsten der
Tora steht. Hier wird Sephiroth-Symbolik als selbstverständlich
vorausgesetzt. Die Paläste beginnen mit dem untersten und stei-
gen, wie auch die über sie gesetzten Archonten, im Range an. Den
höchsten Rang hat hier nicht Metatron, der über den sechsten
Palast regiert, sondern Sandalphon inne, dessen Name mit dem Ge-
heimnis der Bewältigung der Materie durch die Form zusammenge-

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Sephiroth-Lehren 321

bracht wird290. Es ist die älteste Quelle dieser nachher bei vielen
spanischen Kabbalisten benutzten mystischen Etymologie von San-
dalphon.
Wir haben damit den echten Beitrag der provençalischen Kabba-
listen zur Ausbildung der Konzeptionen, die ihnen im Buch Bahir
und zum Teil auch aus anderen orientalischen Quellen zugekommen
waren, in seinen wesentlichen Stücken analysiert291. Wir haben uns
auf die wichtigsten Elemente dieser originellen Entwicklung be-
schränkt und sind in viele Details, die aus den neuen Quellen noch
zu lernen sind, sowohl bei Isaak dem Blinden als im '/y/ww-Kreise,
nicht eingegangen. Die entscheidenden Instanzen zur Beurteilung
des Durchbruchs, der hier erfolgt ist, dürften aber voll zur Sprache
gekommen sein. Für die bisherige Forschung über die Anfänge der
Kabbala, die sich so ganz im luftleeren Raum bewegte und höchstens
290
Vgl. Tarbiz Bd. XVI, 1945, S. 2 0 2 - 2 0 3 . In der gleichen Richtung erklärt den
Namen Sandalphon dann auch Moses von Burgos, der diese Quelle kannte, vgl. den
Text Tarbiz Bd. V (1934), S. 184—185. Simon ben Zemach Duran, Magen Abhoth,
Livorno 1785, Bl. 14b, der dort klar Bücher der "///ww-Gruppe benutzt, erklärt eben-
falls Sandalphon, der bei ihm auf den intellectus agens gedeutet wird, als die Kraft,
die Materie und Form verbindet, auf Grund derselben Etymologie, der ein talmudisches
Wort Sandal im Sinne von noch formlosen Foetus zugrunde liegt. Die Wortkomponente
phon wird von Panim, Antlitz, als der innerlichen Form erklärt.
281
Damit scheiden also Schriftwerke aus, die in der Literatur zwar unter provença-
lischer Flagge segeln, sei es durch irrtümliche Zuschreibung, sei es durch pseudepi-
graphische Maskerade verursacht. Zur ersten Gattung gehört der umfangreiche Kom-
mentar zu Jesira, der in den Drucken unter dem Namen des Abraham ben David, des
Rabad, geht, als dessen wahren Autor ich aber den spanischen Kabbalisten Joseph ben
Schalom, auch Joseph der Lange genannt, nachgewiesen habe, vgl. Kirjath SepherlV,
S. 286—302, der kurz nach 1300 schrieb. Zur zweiten Gattung gehört das merkwürdige
Buch Sod Darkhe ha-'Othijoth, „Mysterium der Wege der Konsonanten", das unter
wechselnden Titeln, meistens nur fragmentarisch, in verschiedenen Hss. erhalten ist,
zum Beispiel in Vatikan 441, Bl. 183a—209a; Paris 770, Bl. 2 0 9 - 2 1 4 ; Mussajoff
(Jerusalem) 92, Bl. 14b—27a; New York 844, früher Kat. Schwager und Frankel 35,
Nr. 96, Bl. 169a—173a; New York Enelow Memorial Collection 704, Bl. 1 — 7. Dieses
Buch gibt sich in seiner Einleitung als ein Sendschreiben des Abraham ben David,
der im Einvernehmen mit einer ganzen Kabbalistenversammlung „nach Art des großen
Synhedrions' ' die Mysterien der Konsonanten, Vokale und der Wirkungen der heiligen
Namen aus alten Überlieferungen (sämtlich pseudepigraphischer Natur) gesammelt
haben will. Zu seinem Kreis werden hier gerechnet ein Jakob ben Meschullam aus
Damaskus, ein Ezra ben Salomo Kohen aus Deutschland, ein Jakob aus Spanien. In
der Hs. Enelow wird die ganze Schrift auf die „Gelehrten Lunels" zurückgeführt und
außer den vorgenannten noch ein großer Meister Isaak ha-Parusch genannt. Die nier
vorgetragene Kabbala gehört aber nach Kastilien ans Ende des 13. Jhs. und bezweckt
eine theoretische Grundlegung der Magie. Ihr Stil ist manchmal merkwürdig eng mit
dem des Moses de Leon verwandt. Die Schrift verdient in anderen Zusammenhängen
übrigens durchaus Beachtung.

Scholcm, Kabbala 21
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322 Die ersten Kabbalisten in der Provence

mit der Annahme des provençalischen Ursprungs auch des Buches


Bahir selber einer, wie im vorigen Kapitel nachgewiesen wurde, im
Entscheidenden falschen Hypothese verschrieben hatte, ist es charak-
teristisch, daß alles im vorliegenden Kapitel besprochene Material
des Rabed, seines Sohnes und des 'Ijjun-Kreises in der ausführlichen
Diskussion Neumarks in seiner „Geschichte der Jüdischen Philosophie
im Mittelalter", auch in der erweiterten hebräischen Fassung von
1921, vollständig ausgefallen ist. All diese Instanzen des wirklichen
Schrifttums der Kabbala in der Provence sind ihm unbekannt ge-
blieben. Als ich zur selben Zeit gerade meine Forschungen auf diesem
Gebiet begann, war die Entdeckung oder richtige Einordnung dieser
Quellen für die Gestaltung meiner weiteren Auffassung von entschei-
dender Bedeutung. Zeigte sich doch hier, im Unterschied zum Bahir,
wie wirklich auf dem Boden der Provence gewachsene Kabbala aus-
sah. Die historische Funktion der provençalischen Kabbala dürfen
wir also abschließend in der Verbindung der alten gnostischen Tradition,
deren Ursprünge im Orient liegen und die sich unterirdisch erhalten
hat, mit dem mittelalterlichen Neupiatonismus finden. Diese gnostische
Tradition erhält sich, ja erstarkt in gewissen Kreisen, sie wird aber
durchdrungen von Elementen einer anderen, eben der neuplatonischen
Welt, die sich hier als besonders fruchtbar erweisen. In der Form, in
der die Kabbala nun ans Licht der Geschichte tritt, schließt sie beide
Traditionen in sich, wobei der Nachdruck bald mehr auf der einen,
bald mehr auf der anderen liegt. In dieser Gestalt, oder Doppelgestalt,
ist die Kabbala dann nach Spanien verpflanzt worden. Ja, außerhalb
des in diesem Buch behandelten Zeitabschnitts haben beide Tendenzen
besonders deutliche Kristallisierungen gefunden; so etwa die gnostische
bei den kastilischen Kabbalisten einer fast rein gnostischen Richtung
und vor allem im Buche Zohar, und so etwa die neuplatonische Rich-
tung und das Erbe des lIjjun-Kreises in einer ganzen Zahl von Wer-
ken aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Unter diesen ragen,
durchweg ungedruckt, die Werke Ginnath ha-Bithan, „der Schloß-
garten", mit dem Kommentar des Jakob ben Todros292, Jessod Olam,
„Fundament der Welt", des Chananel ben Abraham ibn Asqera293
und der Kommentar zu Jesira des Meir ben Salomo ibn Sahu-
282
Unter dem Titel Ginnath Bithan ha-Melekh in Codex Gaster 1398, wo es (von
anderer Hand) einem Meir, Sohn des Eleazar aus Wormt, zugeschrieben wird. Es wurde
schon von Jakob ben Todros und Schemtob ibn Gaon kommentiert, vgl. auch Hs.
Oxford, Neubauer 1577J Beide bezeugen, in ihren Vorreden, daß das Buch anonym
erschienen ist.
298
Dies Buch ist vollständig in der bisher einzigen Hs. Giinzburg 607 erhalten,
jetzt in Moskau. David de Giinzburg hat darüber in seinem Aufsatz La Cabale à la
veille de l'apparition du Zohar gehandelt, vgl. Hakedem I (1907), S. 28—36, 111—121.
Der Aufsatz bricht in der Mitte ab.

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Zusammenfassung 323

la 294 hervor, sowie der kleine gedruckte Traktat Massoreth ha-Brith,


„Überlieferung des Bundes", des David ben Abraham há-Labhan, des
Enkels eines französischen Rabbi, von dem nicht klar ist, ob er selbst
in Südfrankreich oder in Spanien schrieb295. In den Anfängen der
spanischen Kabbala aber, die uns hier allein beschäftigen können,
durchdringen und amalgamieren sich beide Traditionen und deren
Elemente. Allerdings fehlt dabei die Berufung auf Offenbarungen,
sei es bei den wirklichen historischen Trägern dieser Überlieferung
selber, sei es in pseudepigraphischen Vermummungen.
284
Die einzige, vollständige Hs. ist in der Angelica in Rom, Capua Nr. 63, Bl. 1—210
erhalten.
2,6
Ich habe diesen Traktat im Kobez al Jad der Gesellschaft Mekize Nirdamim,
Neue Serie, Bd. I, Jerusalem 1936, S. 25—42, herausgegeben und in Gaster Anniver-
sary Volume, London 1936, S. 603—508, besprochen.

21·
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IV

DAS KABBALISTISCHE ZENTRUM IN GERONA

1. Die Kabbalisien von Gerona und ihre Schriften

Die erste erkennbare Gruppe von Kabbalisten, die sich in Spanien


bildete, hatte ihr Zentrum in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
in der kleinen katalanischen Stadt Gerona, zwischen Barcelona und
den Pyrenäen, die damals eine beträchtliche jüdische Gemeinde, nach
Barcelona die zweitgrößte des Landes, beherbergte. In den Regesten
und Akten zur Geschichte der aragonischen Juden im 13. Jahrhundert,
die in den bekannten Veröffentlichungen von Régné und Baer zu
finden sind, tritt diese Bedeutung Geronas klar hervor. In den poli-
tischen Verhältnissen der damaligen Zeit bildete das Gebiet zu beiden
Seiten der Pyrenäen bis über Perpignan hinaus einen Teil Aragoniens.
Die Verbindung zwischen Katalanien und der Languedoc, wo die
aragonischen Grafschaften Gerona und Roussillon und das Gebiet
der Grafen von Toulouse und anderer Feudalherren der Languedoc
aneinander grenzten, war überaus eng, durch die nahe Verwandtschaft
der diesseits und jenseits der Pyrenäen gesprochenen romanischen
Dialekte begünstigt. Die jüdischen Gemeinden Aragoniens standen in
engem Verkehr mit denen der Provence, und die talmudischen Lehr-
stätten der letzteren zogen die torabeflissenen jungen Leute aus
Katalanien an sich. Diese enge Beziehung bestand schon von lange her
und war im 12. Jahrhundert, der Blütezeit der provençalischen Hoch-
schulen in Narbonne, Lunel und anderswo, besonders ausgeprägt.
So ist es nur natürlich, daß Gelehrte, die ihre Ausbildung und ihre
entscheidenden Anregungen dort erhalten hatten, auch mit den dort
gepflegten esoterischen Traditionen und deren Trägern in Berührung
kamen und ihr neu erworbenes kabbalistisches Wissen von etwa
1200 an nach ihrer Heimat verpflanzten. 'Gerona war die diesen
Zentren nächstliegende größere jüdische Gemeinde in Spanien, und
von hier strahlte dann der Einfluß der neuen Kabbala weiter aus.
Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß auch andere große jüdische
Gemeinden Spaniens, vor allem Burgos und Toledo, durch unmittel-
bare Verbindungen mit der Provence von den neuen, zuerst nur
flüsternd vorgetragenen Ideen Kenntnis erhielten. Der Einfluß der

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Die Kabbalisten von Gerona 325

Kabbalistengruppe in Gerona auf die Entwicklung der spanischen


Kabbala war aber besonders tief. Dies hatte seinen Grund sowohl
in der besonderen persönlichen Physiognomie und Bedeutung der
Mitglieder dieses Kreises, als auch vornehmlich in ihrer intensiven
und ausgebreiteten literarischen Tätigkeit. Darin lag der Haupt-
unterschied zwischen dieser Gruppe und der des Rabed. Die letztere
bemühte sich noch, die kabbalistischen Ideen nach Möglichkeit ge-
heim zu halten, und lieh ihre Hand nicht zur Ausbildung einer be-
sonderen kabbalistischen Literatur. Wo solche sich, wie im 'Ijjun-
Kreis, zu bilden begann, tat sie es vor allem unter pseudepigraphischen
Verkleidungen und auch nur erst in gewissen Richtungen. Anders
lagen die Dinge in Gerona. Hier wurde zum erstenmal unter klarem
Verzicht auf Pseudepigraphie, wenn auch in einem Fall wenigstens
unter Wahrung der Anonymität, die Lehre der Kabbala, deren Ver-
treter jetzt schon fest als „Meister der Kabbala" bezeichnet werden,
nach den verschiedensten Richtungen hin bearbeitet. Dabei gab es
natürlich große Unterschiede zwischen den einzelnen Angehörigen
dieser Gruppe. Manche schrieben kurz und in Andeutungen, manche
ausführlich; manche waren konservativ und trugen den Bestand der
ihnen überkommenen Tradition vor, während andere durchaus origi-
nelle Beiträge zu deren Weiterentwicklung lieferten. Dennoch ordnen
sie sich in ihren Aktivitäten einem Gesamtbild ein, das über diese
Differenzen hinweg reicht.
In der Geschichte der alten Kabbala macht daher diese Gruppe
Epoche. Sie tritt ans Licht der Religionsgeschichte ungedeckt und
mit vollem Einsatz. Sie besteht weitgehend aus direkten und indirekten
Schülern Isaaks des Blinden. Solche Schüler haben zweifellos auch
an anderen Stellen mystische Konventikel gebildet, die uns aber nicht
erkennbar werden. In Gerona tritt jedoch deutlich hervor, was bei
Isaak undeutlich geblieben, und wird allseitig entwickelt, was dort
einseitig geblieben war. Dennoch ist es keineswegs etwa so, daß diese
Kabbalisten nun all ihre Lehren rückhaltlos und offen in klarer Dar-
legung und schöner Harmonie als eine mystische Theologie des Juden-
tums vor uns ausbreiten. Leider läßt sich eher das Gegenteil sagen:
ihre Schriften sind schwierig, die berühmtesten unter ihnen, wie die
des Nachmanides, wimmeln von halben und viertel-Anspielungen,
wenn sie nicht geradezu ganz aus ihnen bestehen, und es bedarf ge-
nauer Analyse, um hier zum Verständnis der Texte vorzudringen. Aber
die Tatsache, daß wir hier eine reiche Literatur vor uns haben, die
sich großenteils erhalten hat, erlaubt eben doch in ganz anderer Weise
solches Eindringen, auch wenn keineswegs jeder Passus in ihren
Schriften nun etwa eindeutig erklärbar wäre. Gerona wird für uns
jedenfalls als ein echtes Zentrum neuer religiöser Kräfte im Juden-
tum erkennbar, das mit dem späteren Zentrum der Kabbala in Safed,

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326 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

300 Jahre später, in mancher Hinsicht den Vergleich nicht zu scheuen


hat. Es ist das Zentrum der kontemplativen Kabbala in ihrer voll-
ständigsten Entfaltung vor dem Zohar. Der Kreis von Kabbalisten,
die hier lebten und, wie ihre Schriften beweisen, in engem geistigen
Konnex miteinander standen, darf als echte Einheit aufgefaßt werden.
Bei allen Differenzen in Details gibt es eine überwältigende Einheit
des Weltbildes und der Haltung bei ihnen. Zwischen Gerona und der
Provence gehen Briefe und Sendboten hin und her. Gelehrte wie
Ascher ben David, die selbst nicht, oder jedenfalls nur kurze Zeit in
Gerona wohnten, standen in engen Beziehungen zu diesem Zentrum
und können als Träger der Botschaft der neuen Richtung auch nach
anderen Teilen Spaniens aufgefaßt werden.
Die Existenz einer solchen Gruppe von Kabbalisten in Gerona ist
schon durch ein Dokument aus dem Anfang der 30 er Jahre des
13. Jahrhunderts bezeugt. In einem Brief des Salomo ben Abraham
aus Montpellier, des Streiters gegen Maimonides, wendet er sich in
der Überschrift zwar an Nachmanides, dem Inhalt des Briefes nach
aber an einen uns sonst unbekannten Samuel ben Isaak1. Der Tenor
des Briefes, und ebenso die Antwort des Empfängers passen aber
ausgezeichnet zur Person des Nachmanides. Am Ende seines Briefes
wendet sich der Gelehrte aus Montpellier an die Gruppe von Gelehrten
in der Stadt des Adressaten und spricht von „meinem Herrn und
seiner heiligen Gesellschaft"2. Der Terminus ist überaus charakte-
ristisch. Die Gruppe der Geronaer Mystiker wird als eine heilige Sozie-
tät bezeichnet. Dem entspricht die Antwort: „Ich habe den Brief den
Notabein unserer Stadt, unseren Gelehrten und Ältesten bekannt
gemacht, alle haben ihn zusammen gelesen, gesehen und gelobt".
Meiner Meinung nach handelt es sich bei dieser heiligen Sozietät um
die Gruppe der Kabbalisten von Gerona. So auch nennt Nachmanides
an einer Stelle den Ezra ben Salomo als „einen von unseren Genossen"3.
Auch Todros Abulafia kennt in der nächsten Generation diese Gruppe.
Er spricht von der zehnten Sephira, die auch „Hüter Israels" heiße,
die vor dem Lager Israels einhergehe: „Und so schreibt R. Moses ben
Nachman, und die Gelehrten seines Ortes, die Kabbalisten, stimmen
ihm zu"4. Auch in alten Notizen über die ältesten Kabbalisten heißt
1
Vgl. S. Halberstam, Qebhusath Mikhtabhim, Abdruck aus Kobak's Jeschurun,
Bamberg 1876, S. 50—53.
2
Statt des im Zusammenhang sinnlosen Adjektivs qeduma ist qedoscha zu
lesen.
* Nachmanides zu Lev. 19 19: „Von unseren Genossen gibt es einen, der über den
Grund des Verbots der Mischsaat hinzufügt, es ziele darauf ab, die Kräfte, die die
Pflanzen wachsen lassen, nicht durcheinander zu bringen", was wörtlich in Ezras
Kommentar zum Hohenlied steht, Bl. 18a (fälschlich 14 paginiert).
* Schaar ha-Razim, Hs. München 209, Bl. 96a.

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Die Kabbalisten von Gerona 327

es: „Die hauptsächliche Quelle dieser Wissenschaft [der Kabbala]


war in der Stadt Gerona", wobei mehrere Mitglieder des Kreises ge-
nannt werden5. Wir können nicht genau sagen, wann sich diese Gruppe
bildete. Wir wissen auch nicht mit Bestimmtheit, ob Jehuda ben Jaqar,
den Nachmanides als seinen talmudischen Lehrer nennt und der 1215
eine Urkunde des rabbinischen Gerichts in Barcelona unterzeichnete,
etwa zeitweise in Gerona lebte. Wir haben von diesem Gelehrten einen
Kommentar zu den Gebeten, der mehrfach eindeutig kabbalistische
Erklärungen im Geiste Isaaks des Blinden vorträgt. Auch andere
Mitglieder des Kreises waren offenbar beträchtlich älter als Moses ben
Nachman (Nachmanides), die hervorragendste Gestalt dieser Gruppe.
Jedenfalls können wir annehmen, daß ungefähr zwischen 1210 und
1260 dieses Zentrum in Gerona funktioniert hat, dem auch manche
ausdrücklich als Katalanier bezeichnete kabbalistische Schüler des
Nachmanides noch zuzurechnen sind, wie z. B. Schescheth des Mer-
cadell, wenn auch dessen Wirksamkeit schon einer späteren Generation
zugehört®.
Uns sind nicht weniger als zwölf Kabbalisten dieser Gruppe mit
Namen oder Decknamen bekannt, wozu noch der anonyme Autor des
Buches Temuna kommt, über den am Ende dieses Kapitels zu sprechen
ist. Hier finden wir Abraham ben Isaak Chazan, den Vorbeter der Ge-
meinde und einen bekannten synagogalen Dichter. Die Kabbalisten
kennen ihn als Ubermittler der mystischen Meditationen im Gebet,
die er von Isaak dem Blinden, seinem Lehrer erhalten hatte7. In einer
Gruppe von Mystikern, bei denen das Gebetsleben eine besondere
Bedeutung einnahm, kam dem Vorbeter oder Chazan naturgemäß ein
besonders wichtiger Platz zu. War er es doch, der die Mysterien der
Kawwana mehr als jeder andere zu kennen und zu vollziehen hatte.
Er wachte sozusagen über die Erhebung des Wortes zu seinem Urgrund,
wie seinerzeit die Merkabamystiker die Erhebung der Seele nach oben
pflegten. Seit den deutschen Chassidim und bis zu den spätesten
kabbalistischen Gruppen im 20. Jahrhundert pflegten die Mystiker
oft in eigenen Konventikeln und Synagogen das mystische Gebet
mit seinen geheimen Meditationen. Wir kennen das im Stil kabba-
listischer Poesie geschriebene Totengebet, das Nachmanides an
Abrahams Grabe vortrug und in dem er den Aufstieg der Seele zu

6 Hs. Halberstam 388 (jetzt im Jews' College, London), Bl. 19b.


• Jehuda ben Jaqar in dem Dokument bei J. Millas, Documents Hebraics de Jueus
Catalans, Barcelona 1927, Nr. X, S. 19. Vgl. auch Kap. III, Anm. 88. Näheres über
seinen Gebetskommentar bei S. Schechter, J. Q. R. IV (1892), S. 245—255. Über
Schescheth des Mercadell, dessen Familie noch 1415 in Gerona saß, vgl. meinen Auf-
satz in Tarbiz XVI (1945), S. 1 3 5 - 1 5 0 .
' Vgl. Kap. 3, Anm. 104 und den Text in Reschith ha-Kabbala, S. 246—248.

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328 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

ihrer Heimat in den oberen Sphären in kabbalistischen Begriffen


schilderte8.
An seiner Seite finden wir vor allem die beiden Kabbalisten Ezra
ben Salomo und seinen jüngeren Kollegen Azriel, der nach einigen
Angaben sein Schwiegersohn war. Daß beide aus Gerona waren, be-
zeugt Schemtob ibn Gaon und wird durch alle sonst bekannten Um-
stände bestätigt 9 . Diese beiden Männer sind in der älteren Literatur
schon seit dem 14. Jahrhundert oft verwechselt worden. Die Schriften
des einen wurden dem andern zugeschrieben, und schließlich behaup-
teten manche Forscher, beide stellten überhaupt nur eine Person dar,
was durch die Ähnlichkeit der Namen unterstützt zu werden schien.
Graetz meinte, auch wenn es sich um zwei verschiedene Personen ge-
handelt habe, „zählten sie doch in der Geschichte der Kabbala nur
als eine einzige"10. Diese älteren Annahmen sind aber alle durch die
Erforschung der Texte überholt, wie auch die Annahme, daß es sich
hier um zwei Brüder handele, der ich selbst eine Zeit lang zugeneigt
habe 11 . Besonders die Forschungen J. Tishbys haben die literarischen
Verhältnisse in der Produktion dieser beiden Kabbalisten endgültig
klargestellt, was dadurch ermöglicht wurde, daß es mir 1928 gelang,
den Kommentar des Azriel zu den talmudischen Aggadoth, wenigstens
zu einem großen Teil, für die Hebrew University Library zu erwerben
und den gleichnamigen Kommentar des Ezra dann in mehreren Hand-
schriften, und vor allem wohl vollständig in dem vatikanischen he-
bräischen Codex 441, nachweisen zu können. Tishby hat gezeigt, daß
beide keineswegs eine Person für die Geschichte der Kabbala bilden,
sondern vielmehr zwei ganz verschiedene Tendenzen repräsentieren 12 .
Völlig ausscheiden müssen aus unserer Untersuchung leider die schönen
biographischen Details über Azriel, die Senior Sachs im Vorwort eines
kabbalistischen Buches 'Ezrath ha-Schem fand und auf Azriel bezog,
8
Ich habe dies Gebet a. a. O., S. 243—245, gedruckt. Eine andere Darlegung über
den Aufstieg der Seele durch die Welten schrieb Nachmanides beim Tod eines uns
sonst unbekannten R. Pinchas aus diesem Kreise. Dies wird in einem teilweise erhal-
tenen Brief an N., den ich a. a. O., S. 249—251, ediert habe, erwähnt.
9
Vgl. Sch. ibn Gaon, Bad.de ha-Aron I, Kap. 5, sowie meine Nachweise über die
verwandtschaftliche Beziehung beider in Kirjath Sepher VI, S. 263. Die Nachricht
ist vielleicht echt.
10
Graetz, Gesch. d. Juden, VII, 4. Aufl., S. 60, was aus Jellineks Vorrede zu Beth
ha-Midrasch III (1855), S. X X X I X , entlehnt ist. Noch M. Ehrenpreis, Die Entwick-
lung der Emanationslehre, 1896, S. 24 nahm auf Landauers und Jellineks Spuren die
Identität der beiden Personen an.
11
Vgl. im (hebräischen) Gedenkbuch für A. Gullak und S. Klein, Jerusalem 1942,
S. 2 0 1 - 2 0 2 .
12
Vgl. Jesaja Tishbys Aufsätze in Zion IX (1944), S. 178—185, und seine Unter-
suchung über ihre Schriften und deren Verhältnis zueinander in Sinai VIII (1945),
S. 1 5 9 - 1 7 8 .

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Die Kabbalisten von Gerona 329

worin ihm Graetz und andere gefolgt sind13. Dies Vorwort mit seinen
Erzählungen über die Debatten des Autors mit philosophischen Geg-
nern der Kabbala und über seine Wanderungen gehört einem um
mehrere Generationen späteren Autor an, der zwar eine kleine Schrift
Azriels aufnahm und plagiierte, jedoch deutlich von ihm zu unter-
scheiden ist 14 .
Von Ezra ben Salomo, der gegen 1235 gestorben ist, besitzen wir
seinen Kommentar zum Hohen Lied, der 1764 in sehr mangelhaftem
Text in Altona unter dem Namen des Nachmanides gedruckt ist, sich
aber in vielen ausgezeichneten Handschriften erhalten hat 1 5 . Ferner
haben wir seinen Kommentar zu den talmudischen Aggadoth. Beide
Bücher oder Exzerpte aus ihnen waren weit verbreitet. Zwei kabba-
listische Briefe von ihm habe ich aus einer vatikanischen Handschrift
veröffentlicht16. Abraham Abulafia sah von ihm einen jetzt verlorenen
Kommentar zum Buch Jesira, dessen Traditionen er als „kurz und
richtig" bezeichnet 17 ; einzelne kabbalistische Stücke, so ein wichtiges
über den Baum der Erkenntnis, sind handschriftlich erhalten18.
Der Name von Azriels Vater ist uns nicht bekannt. Moses Botarel,
der in seinem Kommentar zu Jesira (III, 1) einen Azriel ben Menachem
nennt, ist so erfindungsreich in Zitaten, daß seine Angaben ohne andere
Stütze keinerlei Vertrauen verdienen. Wir besitzen von Azriel eine
ganze Anzahl von Schriften, sämtlich kabbalistischen Charakters. In

13 S. Sachs, ha-Palit, Berlin 1850, S. 4 5 - 4 9 ; vgl. auch Graetz V I I , S. 392, der


nicht erkannte, daß es sich hier nur um eine unhaltbare Kombination von Sachs
handelte, nicht um eine echte Vorrede Azriels. Bei einer Durchsicht der Hs. Oxford,
Neubauer 1940, stellte sich das sofort heraus.
14 Ich habe dies in Kirjath Sepher V (1928), S. 274 nachgewiesen. Das Buch 'Ezrath
ha-Schem benutzt schon den Zohar.
15 Eine Neuausgabe des wichtigen Buches wäre wünschenswert. Bei B a c h j a ben

Ascher beginnt die Verwirrung in der Zuschreibung an Azriel, die sich bei Menachem
Recanati und Isaak aus Akko fortsetzt. Unerklärt ist, warum Recanati in seinem Tora-
Kommentar den Autor richtig als den Hakham R . Ezra bezeichnet, in seinem späteren
Buch über die Gründe der Verbote dagegen stets als den Chassid R . Azriel. In der
Hs. Parma, de Rossi 1072 wird das Buch schon 1387 fälschlich dem Nachmanides zu-
geschrieben.
16 Vgl. Sepher Bialik (1934), S. 155—162. Die besonders inhaltsreichen Briefe sind
an einen R . Abraham gerichtet und erwähnen (S. 159) ebenfalls die „Gruppe der Ge-
nossen". In einer defekten und öfters abgekürzten Fassung stehen diese Briefe aber
(der erste mit anderer Einleitung) unter Azriels Namen in der Hs. Enelow Mem. Coll.
2271), Bl. 5 b — 6 b . Hat Azriel vielleicht wirklich Briefe Ezras überarbeitet ?
« Vgl. Beth ha-Midrasch I I I , S. X L I I I von Jellineks Einleitung.
18 In den meisten Hss. ist dies Stück unter dem Titel Sod 'Es ha-Daath anonym
erhalten. In Christ Church College 198, Bl. 8 b wird es ausdrücklich dem Ezra zuge-
schrieben, zu dem es stilistisch und sachlich in der T a t ausgezeichnet paßt. Ich habe
es im Eranos-Jahrbuch 30 (1962), S. 11 — 19, übersetzt und besprochen.

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330 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

seinem Scha'ar ha-Scho'el, das bei späteren Autoren „Erklärung über


die zehn Sephiroth" heißt, besitzen wir einen Katechismus, der die
Sephirothlehre in Frage und Antwort unter Benutzung neuplatonischer
Logik vorträgt. Die Abhandlung, zu der der Autor selber anscheinend
eine Art Kommentar geschrieben hat, ist zuerst 1850 gedruckt worden19.
Ein größeres Stück einer damit verwandten Schrift Azriels „Der Weg des
Glaubens und der Weg der Häresie" habe ich aus der Hs. Halberstam
444 veröffentlicht 20 . Diese Seiten sind besonders wertvoll. Der Kom-
mentar zum Buch Jesira, der in den Ausgaben unter dem Namen des
Nachmanides gedruckt ist, gehört, wie schon Jellinek erkannt hat,
sicher dem Azriel an. Die irrige Zuschreibung an Nachmanides erfolgte
schon früh 21 . Der Kommentar zu den talmudischen Aggadoth, den
Tishby ediert hat, stellt eine Umarbeitung und zum Teil beträchtliche
Erweiterung des Kommentars des Ezra dar, die gerade in ihren Diffe-
renzen von der ersten Version seines älteren Zeitgenossen besonders
aufschlußreich ist 22 . Leider scheint das Buch nur zum Teil erhalten
zu sein. Größere Exzerpte daraus finden sich noch in manchen Hand-
schriften . Der in den Handschriften meistens dem Ezra ben Salomo beige-
legte „Kommentar' ' zu den Gebeten, inWirklichkeit eine Sammlungmys-
tischer Meditationsanweisungen, ist von Tishby überzeugend als Eigen-
tum Azriels nachgewiesen worden. Er scheint sich nicht ganz, aber in
großen Teilen in mehreren Handschriften erhalten zu haben und ist noch
unediert 23.Tishby hat bewiesen, daß in allen charakteristischen Zügen der
Sprache und spezifischen Terminologie das Buch stets mit Azriel, aber
nirgends mit echten Schriften Ezras übereinstimmt. Einen großen Brief
Azriels aus Gerona nach Burgos habe ich 1927 veröffentlicht, wobei ich
noch schwankte, ob der Autor Azriel oder Jakob Kohen aus Soria sei, dem
19
Als Einleitung zur Ausgabe von Meir ben Gabbai, Derekh 'Emuna, Berlin 1850.
Eine Hs. von 1285 in Milano, Bernheimer 53, Bl. 113—117 b. Vgl. das Resumé des
Inhalts bei Jellinek, Beiträge I, S. 61—66.
20
Vgl. im Gedenkbuch für Gullak und Klein, S. 207—213.
21
Jellinek, Moses ben Schem-Tob de Leon, Leipzig 1851, S. 46. Abulafia unter-
scheidet ihn in der Anm. 17 nachgewiesenen Aufzählung der von ihm studierten
Kommentare zu Jesira von dem des Ezra. Die ältesten Hss. sind, soweit mir bekannt,
anonym; die Zuschreibung an Nachmanides findet sich zuerst bei M. Recanati,
Ta'ame ha-Miswoth, Hs. Brit. Museum, Margoliouth 743, Bl. 130a. Tishby hat in
Sinai VIII, S. 165—169, die Autorschaft Azriels im Detail erwiesen.
22
Eine genaue Analyse des Verhältnisses der beiden Kommentare bei Tishby in
der Einleitung zu seiner Ausgabe des Textes Azriels aus der Jerusalemer Hs. (1943).
23
Während die Hss. unter dem Namen Ezras oder anonym gehen, werden Zitate
daraus, wie z. B. im Gebetbuch des Naphtali Hirz Treves, Thiengen 1660, und Ex-
zerpte in älteren Kollektaneen oft richtig dem Azriel zugeschrieben. Es scheint also
Zufall zu sein, daß unter den mir bekannten sieben Hss. keine dieser Art erhalten sind.
Ahron Kohen aus Lunel kennt um 1330 Azriel als Autor, vgl. 'Orlwth Hajjim § 38,
Firenze 1750, Bl. 6 b.

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Die Kabbalisten von Gerona 331

er in Handschriften ebenfalls zugeschrieben wird. Seitdem ich zahlreiche


Reste der echten Schriften Jakob Kohens aufgefunden habe, kann
an der Autorschaft Azriels, zu dem er allein nach Stil und Inhalt
paßt, kein Zweifel mehr sein24. Des weiteren besitzen wir von Azriel
ausführliche Erklärungen über die Mysterien des Opfers, Sod ha-Qorban,
die noch ungedruckt sind, manche anderen kleinen Stücke aus der
Gebetsmystik, und vor allem eine kurze, aber überaus wertvolle Reihe
kabbalistischer Thesen über das Gebet, die ich ediert habe25. Es gibt
auch Reste kabbalistischer Verse, vielleicht aus einem didaktischen
Gedicht über die Kabbala, das verloren ist 28 .
Die beiden Kommentare zu den Aggadoth stellen eine Aneinander-
reihung allen aggadischen Materials dar, soweit es in den kabba-
listischen Kreisen der Provence als besonders bedeutsam und mit
esoterischem Sinn erfüllt angesehen wurde. Oft enthalten diese Zitate
gar keine eigentliche Erklärung ihres präzisen mystischen Sinnes,
obwohl auf ihn als „evident" hingewiesen wird. Besonders Ezra ist
in seinen Darlegungen sehr konservativ und erlaubt sich nur selten
ausführlichere Digressionen. Daß er seine Erklärungen mündlich von
anderen erhalten hat, kann kein Zweifel sein. In seinem Kommentar
zum Hohen Lied gab er auch eine ebenso traditionelle Erklärung des
kabbalistischen Sinnes von Genesis I, sowie eine Aufzählung der Ge-
bote der Tora mit vielen oftänigmatischen Hinweisen auf ihre mystische
Begründung. Von seinem Kommentar zu den Aggadoth des Traktats
Hagiga, der Hauptfundgrube für kosmogonische und Merkaba-
Spekulationen im Talmud, hat Ezra selber eine ausführlichere Fassung
redigiert, die in der hebräischen Handschrift 294 des Vatikan erhalten
ist. Ezras Bücher scheinen in den 20 er Jahren des 13. Jahrhunderts
verfaßt worden zu sein, wenn nicht zum Teil noch früher. Auch sie
erregten große Entrüstung bei einigen „orthodoxen" Gelehrten, als
sie in den Kabbalisten fernstehenden Kreisen bekannt wurden. In
den 40 er Jahren goß Meir aus Narbonne die Schale seines Zornes über
sie und andere kabbalistische Schriften aus27. Der Kommentar zum
24
Vgl. Madda'e ha-Jahadutk II, S. 2 3 3 - 2 4 0 . Auch das dort vorher, S. 2 3 1 - 2 3 2
edierte Fragment über den Gottesnamen gehört dem Azriel an.
26
Sod ha-Qorban Azriels in Hs. Vatikan 211, Bl. 8 b — I I a ; Christ Church College
198, Bl. 12b—15a; Halberstam 444 (New York), Bl. 24a—26a. Die gebetsmystischen
Stücke habe ich im Gedenkbuch für Gullak und Klein, S. 214—221, ediert. Über das
Stück Scha'ar ha-Kawwana, das ebenfalls dem Azriel vindiziert werden muß, vgl.
unten S. 368—371.
2
* Die anonymen Verse über die Sephiroth-Lehre, welche Deinard in dem Katalog
der Sulzbergerschen Hss. 'Or ha-Me'ir, Philadelphia 1896, S. 36, gedruckt hat, sind
zum Teil unter Azriels Namen erhalten, vgl. A. Marx in Proceedings of the Amer. Acad,
for Jewish Research IV (1933), S. 159.
« Vgl. die Stelle im Sepher Bialik, S. 147, sowie J. Q. R. IV (1892;, S. 357—360.

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332 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Hohen Lied verdiente nach ihm vernichtet zu werden, damit ein-


fältige Gemüter nicht durch ihn zu Fall kommen. Sein Talmud-
kommentar sei eine Kollektion apokrypher Aggadoth, die man dort
den Weisen des Talmud angehängt habe, um den „üblen Glauben"
der Kabbalisten zu bekräftigen. Die Literatur aus Gerona war also
damals schon in der Provence von Einfluß. Der Autor kannte auch
einen der beiden Jesirakommentare sowie einen uns sonst nicht be-
kannten Kommentar zu Qoheleth, der auch bei den Kabbalisten nie
erwähnt wird und vielleicht infolge dieses Widerspruchs und allzu
kühner Thesen kabbalistischer Selbstzensur zum Opfer gefallen ist,
wenn nicht etwa das Manuskript des Verfassers selber in die Hände
der Eiferer geriet und vernichtet wurde.
Die Umarbeitung Azriels machte aus Ezras Aggadothkommentar
ein ganz neues Buch. Azriel war zweifellos der spekulativ am meisten
interessierte, der produktivste und am tiefsten bohrende Geist dieses
Kreises, und das gibt seinen Büchern ihren besonderen persönlichen
Charakter. Mit anderen Schülern Isaaks setzt er den Prozeß fort, den
ich im vorigen Kapitel als die Platonisierung der gnostischen Kabbala
des Bahir bezeichnet habe. Bei Azriel aber ist dieser Prozeß in der Tat
an einem Höhepunkt angelangt. Zwar haben auch die anderen frühen
Kabbalisten viel in den Schriften der „Weisen der Forschung" ge-
lesen, wie sie die Philosophen zu nennen pflegen. Azriel geht über sie
hinaus. Seine Denkweise ist sowohl mit der des Ascher ben David,
des Neffen Isaaks des Blinden, als auch mit der Kabbala der 'Ijjun-
Schriften eng verbunden. Freilich scheint er aus ihnen weniger ihre
sachlichen Anschauungen übernommen zu haben, soweit ich urteilen
kann, als vielmehr ihre besondere Sprache. Darüber hinaus hat er
aber offensichtlich noch Berührung mit Quellen neuplatonischen
Denkens gehabt, die ihm nicht nur auf Hebräisch, sondern in anderen
Sprachen vorlagen. Wir haben keine Beweise dafür, daß die Gelehrten
in Gerona Arabisch konnten, nachdem ihre Provinz eine der ersten
war, die der arabischen Herrschaft entrissen wurde. Andererseits
spricht vieles dafür, daß manche unter ihnen Lateinisch lasen. Ich
möchte vermuten, daß vor allem Azriel direkt oder indirekt in Be-
rührung mit der mystischen Tradition des christlichen Neuplatonismus
gekommen ist, die aus dem großen Werk de Divisione Naturae des
Johannes Scotus Erigena stammt (vgl. oben S. 278). Manche Elemente
seiner Terminologie im Hebräischen, die sich aus dem Arabischen
nicht erklären lassen, scheinen mir Nachbildungen der lateinischen
Termini zu sein, die ihrerseits auf das Griechische des Areopagiten
zurückgehen. Ich werde auf diesen Punkt unten zurückkommen. War
es doch gerade in den Jahren, in denen Azriels Denken sich gebildet
haben muß, daß der Streit um die Orthodoxie der Gedanken des Scotus
Erigena von 1209 an entbrannte, der mit der Verurteilung und Zurück-

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Die Kabbalisten von Gerona 333

ziehung seines Hauptwerks aus den Klosterbibliotheken endete. Das


Aufsehen, das diese Auseinandersetzungen um den kühnen christlichen
Neuplatoniker machten, kann in vielen Echos ins jüdische Lager ge-
drungen sein, sei es in mündlichen Gesprächen zwischen jüdischen
und christlichen Gelehrten, sei es durch direkte Lektüre seiner Schrif-
ten. Gerade der Angriff gegen den Autor kann seinem Denken bei
manchen Juden leichter Eingang verschafft haben. Jedenfalls wird
man sagen dürfen, daß die Rolle und der Einfluß dieses Denkers auf
die spekulative Kabbala ein noch nicht gelöstes Hauptproblem der
Kabbalaforschung darstellt.
Der Katechismus Azriels, in dem er die Sephirothlehre für Anfänger
in der Kabbala in Frage und Antwort entwickelte, wurde sicher nicht
für eingeweihte Kabbalisten geschrieben, sondern um andere mit
ihren Meinungen vertraut zu machen. Da, wie S. 329 erwähnt, das bis-
her in diesem Zusammenhang stets benutzte „biographische" Material
über Azriel nicht authentisch ist und wir anderes nicht besitzen,
können wir nicht sagen, unter welchen Bedingungen er sich auf diese
Form der Schriftstellerei verwiesen sah. Die Tatsache, daß er es für
nötig hielt, seine Ansichten in quasi-philosophischer Sprache und ohne
einfache Rückbeziehung auf die Tradition der Kabbalisten zu ent-
wickeln, beweist entweder die Absicht, sich vor Angriffen zu ver-
teidigen, oder den Wunsch nach Propaganda. Vielleicht verbanden
sich hier beide Gründe. Solange wir seine übrigen Schriften nicht
kannten, konnte man annehmen, daß seine Akkomodation an den
Neuplatonismus, die in diesem Katechismus so deutlich ist, nur äußere
und didaktische Gründe hatte. Seine übrigen Schriften beweisen aber
klar, daß dem nicht so ist. Auch in tiefgründigen Schriften, die zweifel-
los nicht für Anfänger, sondern zur Lektüre der kabbalistischen
Adepten bestimmt waren, kehrt dieselbe Denkweise und Terminologie
wieder, die sich sonst bei seinen Freunden in Gerona nicht findet.
Hinter seinen Gedanken steht anscheinend ein vollständiges System,
wenn er es auch in keiner seiner Schriften als solches vorgetragen hat.
E r hat die Gedanken Isaaks des Blinden fortgesetzt, ihnen aber teilweise
eine ganz neue Formulierung und Richtung gegeben. Dabei ist es beson-
ders bedauerlich, daß wir von dem Traktat über Glauben und Häresie, der
einer systematischen Darlegungam nächsten kommt, nur den ersten Teil
besitzen, in dem er die häretischen Abweichungen vom „Wege des
[wahren] Glaubens", wie er ihn sieht, aufzählt. Die positive Darlegung
bricht in unseren Handschriften gleich am Anfang ab. Azriels Wage-
mut im Denken ist erstaunlich und seine Schriften stellen den Gegen-
pol zu dem dunklen gnostischen Stammeln im Buch Bahir dar, so
dunkel auch in ihnen noch vieles bleibt.
Neben diese Männer tritt hier Jakob ben Schescheth, von dem wir
zwei, wenn nicht drei Schriften besitzen. Auch er ist ein origineller

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334 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Kopf, der sich das Recht nimmt, Mysterien und Gründe für die Gebote
aus seinem eigenen Sinn neu zu produzieren, und sich dabei nicht nur
auf die Überlieferung seiner Lehrer, unter denen er Isaak den Blinden
nennt, zu verlassen. Er rühmt sich dessen offen: „Hätte ich dies
nicht aus meinem eigenen Sinn neu gesagt, würde ich behaupten, daß
es eine Überlieferung an Moses vom Sinai her sei"28. Darin liegt sein
Hauptunterschied von Ezra, dessen Erklärungen er oft auch direkt
widerspricht. Andererseits liegt ihm die spekulative Tiefe Azriels fern.
Demgegenüber zeichnet er sich durch eine Eigenschaft aus, die in
diesem Kreis neu ist und unsere Aufmerksamkeit besonders erregt.
Alle bisher genannten Kabbalisten seit Isaak dem Bünden erscheinen
in ihren Schriften niemals als Kämpfer. Bestenfalls suchen sie
ihre Meinungen darzulegen, vielleicht unter Verhüllungen und
Glättungen, aber ohne polemische Note. Mit Jakob ben Schescheth
escheinen die Kabbalisten zum erstenmal mit offenem Visier
auf dem Schlachtfeld. Der Feind ist klar: die philosophische
radikale Aufklärung der Anhänger des Maimonides. Wir besitzen
handschriftlich Jakobs polemisches Werk Meschibh Debharim nekhohim,
„Das Buch, das richtige Antwort erwidert"29. Es ist eine ausführliche
Polemik gegen ein philosophisches Werk über die Schöpfung von
Samuel ibn Tibbon, dem hebräischen Übersetzer von Maimonides
„Führer der Verwirrten"30. Neben die Polemik tritt in eigenen Ka-
piteln die Darlegung der echt jüdischen Anschauung der Traditiona-
listen, welche hier nun ganz offen mit den Kabbalisten identifiziert
werden. Zwischen den kabbalistischen Erklärungen des Autors über
die Weltschöpfung und andere bedeutende Themen und seinen pole-
mischen Ergüssen besteht eine innere Verbindung nur insofern, als
die Polemik sich von den kabbalistischen Grundüberzeugungen nährt.
Im Unterschied zu Azriel begründet er diese aber nirgends und be-
gnügt sich mit ihrer Darlegung. In der Polemik geht sein Buch sehr
weit. Dabei ist merkwürdig, daß Samuel ibn Tibbon, den Jakob so
erbittert bekämpft, bei Ezra ben Salomo eher ehrend zitiert wird. Ich
glaube nämlich, daß Ezra Samuels Kommentar zum Hohen Lied im
Sinne hatte, als er in seinem eigenen Kommentar zu 11 sagte: „[Der
Autor des Hohen Liedes] verglich die Debhequth der Seele mit einem
Kuß, und da der Kuß durch den Mund geschieht, mußte er in Fort-
setzung seines Gleichnisses sagen [obwohl er in Wahrheit die Vereini-
gung der Seele mit dem aktiven Intellekt meinte] : er küsse mich mit
den Küssen seines Mundes, wie dies schon vor mir einer von den zeit-
28
Vgl. 'Emuna u-Bittahon, Kap. 5.
28
Hs. Oxford, Neubauer 1585 und 1586. Eine Ausgabe des Buches ist ein wichtiges
Desiderat.
80
Samuel ibn Tibbons Buch Ma'amar jiqqawu ha-Majim, Preßburg 1837. Nach-
manides zitiert dieses Werk ohne Ressentiment in seiner Predigt über Qoheleth, S. 13.

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Die Kabbalisten von Gerona 335

genössischen Gelehrten in seinem Buch auseinandergesetzt hat."


Fast dasselbe steht in der Tat im Hohe Lied-Kommentar seines Sohnes
Moses ibn Tibbon31. Dieses Buch ist aber zu spät, um von Ezra benutzt
zu sein ; so dürfen wir wohl annehmen, daß Moses diese Erklärung wie
so vieles andere aus dem ungedruckten Kommentar seines Vaters
übernommen hat, der hier also durchaus ehrenvoll erwähnt wäre. Ganz
anders Jakob ben Schescheth. Jakob ist freilich stärkstens bemüht,
Samuel von seinem Meister und Vorbild Maimonides zu trennen.
Dieser steht auch ihm wie manchen anderen Kabbalisten viel zu hoch,
als daß er wagen würde, ihn in seine Angriffe direkt einzubeziehen.
Vielmehr sucht er nachzuweisen, daß erst ibn Tibbon die häretischen
Ansichten, die er ihm ankreidet, in Maimonides System hereintrage.
Dies System, das ihm übrigens nur aus der hebräischen Übersetzung
des ibn Tibbon selber bekannt ist, nicht im arabischen Original, be-
rührt sich Jakobs Meinung nach sehr eng mit der wahren Theologie,
also der Kabbala, wie an einigen Stellen gleichsam triumphierend
bemerkt wird, wo Jakob seinem Gegner Mißverständnisse in der Auf-
fassung des Maimonides nachweisen zu können glaubt. Aristoteles
und ibn Tibbon, aber nicht Aristoteles und Maimonides, gehören ihm
als Häresiarchen zusammen. Freilich: ibn Tibbon habe, um „den
Pöbel hinters Licht zu führen", le-rammoth he-Hamon, in frommen
Wendungen und in scheinheiliger Haltung geschrieben und seine wahre
Meinung keineswegs offen herausgesagt, vielmehr sie in doppeldeutigen
Sätzen oder vorsichtig abgewogenem Gebrauch mancher Wendungen
verborgen und nur indirekt allmählich den Pöbel vergiften wollen,
der sich durch das orthodoxe Aussehen seiner Lehre verleiten lassen
würde, auch die implicite hier mitgegebenen, nach seiner Meinung
fürchterlichen Ketzereien unbemerkt zu schlucken und anzunehmen.
Dieser polemische Teil ist in Jakobs Buch daher vornehmlich auf
Entlarvung gerichtet. Dem Heuchler und Frevler soll die Maske ab-
gerissen werden und die häretischen Implikationen seiner (averro-
istischen ?) Ketzereien sollen explicit und deutlich dargestellt und wider-
legt werden, aus religiösen und philosophischen Erwägungen heraus,
wobei kabbalistische Gedankengänge meistens keine Rolle spielen.
Daß es bei dieser Polemik für den unbefangenen Leser von ibn Tibbons
Werk, das uns ja vorliegt, nicht ohne scharfe Mißinterpretationen,
Übertreibungen und Ketzerriecherei abgeht, ist klar, wenn man auch
bezweifeln darf, ob ibn Tibbon im Herzen so orthodox gestimmt war
wie er sich gibt. Damit haben wir das überraschende Phänomen, daß
zur selben Zeit, in der Meir aus Narbonne die Kabbalisten in seinem
Sendschreiben als Häretiker anprangert, Jakob ben Schescheth und
seine Freunde sich gerade als Verteidiger der Orthodoxie versuchen

« Vgl. in der Edition, Lyk 1874, S. 14.

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336 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

oder bewähren. Jakobs Position ist dabei sogar ausgesprochener als


die des Nachmanides, denn er deckt ja seinen kabbalistischen Stand-
punkt, dessen Darlegung er eine ganze Anzahl von Kapiteln widmet,
offen auf, was Nachmanides in den auf ihn zurückgehenden Doku-
menten des Streites um Maimonides niemals getan hat. Von hieraus
gesehen hat Jakobs Polemik ein besonderes Interesse. Sie beweist,
daß in Gerona die Kabbala schon ganz in die Rolle der wahren Reprä-
sentantin des religiösen Judentums, gewissermaßen in Nachfolge der
Mission Jehuda Halewis, hineingewachsen ist.
Sowohl in diesem Buch wie in dem anonym erhaltenen Werk Sepher
ha-'Emuna weha-Bittahon, „Buch vom Glauben und der Hoffnung",
beruft sich der Autor immer wieder auf seine eigene Ansichten und
originellen Vermutungen. Um dieses Buch herrschte bisher viel Dunkel.
Es wurde schon früh dem viel berühmteren Nachmanides beigelegt32,
dessen Ansichten es aber, wie ein Vergleich mit seinem Torakommentar
zeigt, in vielen Stücken direkt entgegengesetzt ist. Bachja ben Ascher,
der es zuerst ausführlich zitiert, nennt weder Titel noch Autor 33 . Aber
noch in sehr alten Kollektaneen der Handschrift Paris 843 wird
(Blatt 84 a) in einer Erklärung des Segensspruchs, der bei der Be-
schneidung zu sprechen ist, eine mystische Erklärung über die Be-
schneidung angeführt, die in der Tat in Kap. 21 dieses Buches steht.
In der Handschrift heißt es aber: „Ich habe von dem Gelehrten
R. Jakob ben Schescheth aus Gerona [das folgende] gesehen". Es gab
also Kreise, denen seine Autorschaft noch bekannt war. In der Tat
muß man die Autorschaft Jakobs an diesem Buch auf Grund des
Vergleiches mit den beiden anderen, unter seinem Namen überlieferten
Schriften für mindestens überaus wahrscheinlich, wenn nicht für
gesichert halten. Besonders mit dem vorerwähnten polemischen Buch
sind enge Berührungen vorhanden. Es werden genau die gleichen
Autoritäten angeführt, wobei auch die kritische Abgrenzung von dem
offenbar älteren Kollegen Ezra, den er zwar oft zitiert, aber meistens
um ihm zu widersprechen, in beiden Büchern dieselbe ist. Der Stil,
die Phraseologie, Terminologie und die gebrauchten Formeln sind
die gleichen, und auch die sachlichen Probleme, die übrigens nur
selten dieselben sind, werden in der gleichen Art behandelt. Immerhin
32
Isaak von Akko nennt den Titel, kennt aber keinen Autor, vgl. Hs. München 17,
Bl. 136a. Etwa von 1350 an beginnt die Zuschreibung an Nachmanides in den Hss.,
und so auch in den zahlreichen Editionen, zuerst in der Sammlung 'Arze Lebanon,
Venedig 1601, Bl. 7a—32b. In vielen Hss. heißt das Buch einfach ,,Buch der 26 Ka-
pitel". Die bisher älteste Hs. Adler 1223, aus dem 14. Jh., ist anonym.
33
Irrigerweise wurde das Buch auf Grund der ausgiebigen Benutzung bei Bachja
diesem selber zugeschrieben, so von Jakob Reifmann, vgl. im Ha-Maggid V (1861),
S. 222 und ausführlicher in 'Alumma, I, Jerusalem 1936, S. 72 und 96, was schon von
A. Tauber, Kirjath Sepher II (1925), S. 67—68, widerlegt worden ist.

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Die Kabbalisten von Gerona 337

fallen gewisse Unterschiede auf, die noch zu erklären wären. So miß-


billigt er in seinem polemischen Buch eine Erklärung Ezras, die er
in ähnlichem Zusammenhang in diesem Werk selber gibt34. Er handelt
hier in 26 Kapiteln verschiedene Einzelfragen ab, bespricht Bibel-
verse und Gebote der Tora, talmudische Äußerungen, Gebetsstücke
und dergleichen, wobei er kabbalistische Darlegungen eng mit anderen
einfacheren Erklärungen durchwebt. Auffällig ist in beiden Werken,
daß der Autor das Wort „Geheimnis", Sod, so gut wie völlig ver-
meidet, während die anderen Autoren dieses Kreises es häufig und
gern benutzen35. Daß er dies Wort vermeidet, ist insofern verständ-
lich, als ja seine Bücher zu den ersten gehören, in denen die kabba-
listischen Lehren ziemlich unverstellt und offen auseinandergesetzt
werden. Jakob ben Schescheth geht weit über die reservierte Art des
Nachmanides heraus und bespricht Dinge, die dieser sehr sorgfältig
umgeht oder verhüllt, ganz offen. So verbietet Nachmanides in der
Vorrede zu seinem Torakommentar ausdrücklich, in dieser Wissen-
schaft (der Kabbala) irgend etwas vorzubringen, was man nicht vom
Lehrer empfangen und gehört habe. Solche Reserve schert den tem-
peramentvolleren Jakob ben Schescheth keineswegs. „Alles, was ein
Mensch auf dem Wege des Glaubens in der [Beschäftigung mit der]
Tora neu ersinnen kann, dient zur Vermehrung und Verherrlichung
der Tora3®." Der „Weg des Glaubens" ist dabei durchaus mit der
Kabbala identisch. Genau so verteidigt er in seinem polemischen Buch
das Recht, eigene Gründe für die Gebote zu ersinnen, womit er sich
also an die Seite des Maimonides stellt. „Ich weiß wohl, daß es unter
den Frommen und Gelehrten Israels jemand geben könnte, der mich
anklagt, weil ich für zwei oder drei Gebote der Tora einen Grund
niedergeschrieben habe, womit sich eine Pforte auch für andere Be-
gründungen vieler Gebote auf dem Weg der Wissenschaft eröffnet.
Ich kann aber den Beweis dafür antreten, daß jeder Gelehrte für jedes
Gebot, dessen Grund in der Tora nicht ausdrücklich angegeben ist,
solchen Grund angeben darf und dadurch Nutzen stiftet 37 ." Azriel
und Jakob ben Schescheth, jeder in seiner eigenen Art, öffnen also
34
In Kap. 19 wird hier dieselbe Ableitung von Berahha, Segen oder Segensspruch,
aus dem fast gleich klingenden Wort Berekha, Teich, gegeben, die in Hs. Oxford 1585,
Bl. 66 b, in Ezras Namen angeführt und abgelehnt wird. Vielleicht bezieht sich die
Ablehnung nicht auf die Etymologie als solche, sondern auf ihre spezifische Anwen-
dung an einer bestimmten Stelle. Die Etymologie selber ist seit Bahir und Isaak dem
Blinden kabbalistisches Gemeingut, und es ist schwer vorstellbar, daß Jakob, dem
beide Autoritäten bekannt waren, sie wirklich prinzipiell abgelehnt hätte.
35
Der Ausdruck „Geheimnisse der Prophetie" (Hs. Oxford, Bl. 26a, 71a. b) ist
38
von ihm aus Maimonides übernommen. 'Emuna u-Bittahon, Kap. 19.
37
Hs. Oxford, Bl. 9 b. Dieselbe Ansicht auch kürzer formuliert in 'Emuna u-Bitta-
hon, Kap. 8.
Scholem, Kabbala 22

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338 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

der eigenen freien Produktion der Kabbalisten die Bahn und haben
dabei mehr Nachfolger gefunden als ihre ängstlicheren und konser-
vativeren Mitstreiter.
Ein nicht minder bedeutendes Dokument ist Jakobs in Reimprosa
abgefaßte Schrift Scha'ar ha-Schamajim, „Die Himmelspforte", die
erste kabbalistische Schrift, die in diesem Stil geschrieben ist se . Nach
der präzisen Angabe über die Verzögerung der Ankunft des Messias
ist das Buch 1243 oder 1246 verfaßt worden — die Lesarten variieren.
Der Traktat stellt im Wesentlichen eine Aufzählung der zehn Sephiroth
dar, wobei in einer durch den Musivstil nur dem Kenner der kabba-
listischen Symbolik dieses Kreises deutlichen Weise alle Hauptmotive
der einzelnen Sephiroth, ihre Bedeutung, ihre Symbole und die mit
ihr in besonders engem Zusammenhang stehenden Gebote und Ver-
bote in großer Kürze abgehandelt werden39. Dabei sind von beson-
derem Interesse seine relativ langen Ausführungen über die erste
Sephira, die selber als die erste Ursache, der Wille und die innerste
Wesenheit bezeichnet wird, Bestimmungen, die auch in den zwei
anderen Büchern wiederholt werden40. An die Stelle der Mahschabha
oder vielmehr über sie ist auch bei ihm schon der Wiüe getreten, über
den er sich ähnlich wie der von ihm übrigens nicht genannte Azriel
ausläßt. Am Ende der Erklärung über die Sephiroth kommen relativ
klare Andeutungen über die Seelenwanderung, über Lohn und Strafe,
um dann mit einer fulminanten Invektive gegen die Thesen der Auf-
klärer zu schließen. Ihre Argumente, die er hier anführt, sind die der
reinen Aristoteliker im „Führer der Verwirrten" (II, 14), woher er
sie offenbar genommen hat. Bemerkenswert ist dabei seine Auslassung
über ihre spiritualistische Gebetsauffassung, gegen die der Kabbaiist
hier im Interesse der Orthodoxie vom Leder zieht. Er wirft ihnen vor,
sie behaupteten, man brauche die Gebete nicht zu sprechen, sondern
sie nur zu denken, ja, wer sich mit dem aktiven Intellekt vereinigt
habe, brauche sich an die Pflichtgebete nicht gebunden zu halten.
Nicht die „Erhörung" durch Gott, sondern die Reinigung des eigenen
Gedankens und Sinnens sei der eigentliche Sinn des Gebets41. Hier
38
Von M. Mortara in Osar nehmad III (1860), S. 153—165 veröffentücht, dem die
frühere Ausgabe nach einer anderen Hs. in den Liqqutim me-Rabh Haj Gaon, Warschau
1798, Bl. 15a—25a, unbekannt geblieben war.
38
Während spätere Kabbalisten sich bemühen, alle Gebote der Tora den sieben
unteren Sephiroth zuzuordnen, kennen die ältesten Kabbalisten noch ganze Klassen
von Geboten, die sie den drei obersten zuordnen.
40
Vgl. Scha'ar ha-Schamajim, S. 155, mit 'Emuna u-Bittahon, Kap. 5 und 12,
und Meschibh, Hs. Oxford, Bl. 66a. Auffällig ist die Vermeidung des Begriffes Kether
'Eljon in seinen Schriften.
41
Die von Jakob bekämpfte Auffassung wird in der Tat in der bisher nicht nach-
gewiesenen Quelle der pseudo-maimonidischen „Kapitel über die Einheit", Peraqim

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Die Kabbalisten von Gerona 339

haben wir also, bemerkenswert genug, eine von den Kabbalisten ver-
worfene Form der Debhequth vor uns, die im Kontrast zu der von
ihnen selbst gepflegten Mystik des Gebets steht. Wirkt doch die kabba-
listische Lehre von der Kawwana einer reinen Spiritualisierung des
Symbolischen im Gebet entgegen. Man fragt sich, ob etwa diese hier
angegriffene Theorie von dem von ihm früher bekämpften Samuel ibn
Tibbon in seinem Kommentar zum Hohen Lied entwickelt worden
ist 42 ?
Jakob ben Schescheth war älter als die berühmteste Persönlichkeit
dieses Kreises, Moses ben Nachman, der sich, wie aus Traditionen
seiner Schüler hervorgeht, in mündlichen Äußerungen über Kabba-
listisches auf ihn berief43. Nachmanides (etwa 1194—1270) nahm die
zentrale Stellung in diesem Kreise kraft seiner überragenden Autorität
auf talmudischem Gebiet ein. Wir haben uns hier nicht mit dieser
Seite seiner Tätigkeit zu befassen, in der er schnell zur größten hala-
chischen Autorität seiner Generation in Spanien wurde. Er begann
schon in sehr jungen Jahren zu schreiben, von etwa 1211 an, und als
1232 in Frankreich und Spanien der große Konflikt über die Schriften
des Maimonides ausbrach, genoß er schon weithin reichendes An-
sehen und alle Parteien wandten sich an ihn. In dem darauffolgenden
Menschenalter ist er der unbestrittene Sprecher des aragonischen
Judentums auch vor den staatüchen Behörden, bei denen er unter
dem spanischen Namen Bonastruc de Porta (oder katalanisch Saporta,
wie die weitverzweigte Familie oft in den Urkunden heißt), bekannt
war. Als 1263 ein früherer Jude aus der Provence, Paulus Christiani,
vom Dominikaner-Orden unterstützt, Religionsdisputationen mit den
jüdischen Gemeinden erzwang, wurde Nachmanides vom König zum
mi-Jihud Kap. 6, vertreten, vgl. in G. Vajdas Edition dieses aus Kabbala und Philo-
sophie merkwürdig gemischten Traktats, Qobeç 'al Jad, Bd. V (1961), S. 123—125,
sowie Tarbiz 28 (1969), S. 214. Das dort von mir gedruckte Stück aus einem Sepher
ha-Jihud ist eben das von Vajda edierte. Interessant ist, daß im 16. Jh. Joseph Asch-
kenasi in Safed, dessen Denunziationen des Unglaubens ich in Tarbiz a. a. O. besprochen
habe, sich über diese Theorie genau so entrüstet wie mehr als 300 Jahre vor ihm der
Kabbaiist in Gerona.
42
Die oben gegebene Charakteristik zeigt, wie irrig Steinschneiders Urteil war:
„Jakob ben Schescheth ist selbst weniger Mystiker als orthodoxer Theolog; allein
seine polemische Stellung zu den Philosophen genügte der bald auf ihn folgenden
kabbalistischen Schule, um ihn als Gewährsmann aufzuführen", vgl. Gesammelte
Schriften I, Berlin 1925, S. 35. Die von Steinschneider dort erwähnte Epistel Jakobs,
die Isaak von Akko zitiert, ist nichts als die oben erwähnte Invektive am Ende des
Scha'ar ha-Schamajim.
41
Ich habe solche Angaben des Nachmanides z. B. im Namen des Isaak ben Todros,
seines Schülers, im Kether Schern Tobh des Schemtob ibn Gaon gefunden, Hs. Parma,
de Rossi 1221, Bl. 236 a, sowie in einer Äußerung des Schescheth auf einem Pergament-
schnitzel, den ich im Einband der Hs. Vatikan 202 fand.
22*
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340 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Sprecher der jüdischen Gemeinden Aragoniens bestimmt 44 , wobei


er viel Rückgrat und Mut bewies. Wir besitzen auch eine große, teil-
weise kabbalistische Abhandlung, in der Nachmanides eine Rede zum
Ruhm der Tora niedergelegt hat, die er — späteren Legenden nach —
in Barcelona vor dem König und dem Adel auf dessen Einladung ge-
halten haben soll45. Die Erbitterung, die sein Auftreten in der Dis-
putation von Barcelona gegen ihn in kirchlichen Kreisen hervorrief,
führte schließlich zu päpstlichem Eingreifen und Protest beim König
Jaime I. von Aragonien und zur erzwungenen oder freiwilligen Ver-
bannung des Nachmanides, der 1267 nach Palästina auswanderte,
wo er bald nach 1269 in Akko gestorben sein dürfte.
Seinen berühmten Kommentar zur Tora, an dem er an einer größeren
Zahl von Stellen kabbalistischen Erklärungen — „nach der Weise der
Wahrheit", wie diese Stücke stets eingeleitet werden — Einlaß ge-
währte, begann er wohl in den 50 er Jahren, Schloß ihn aber in letzter
Redaktion erst in Akko ab. Der Tradition seiner Schule nach hatte
er ursprünglich die Absicht, die kabbalistischen Lehren viel offener
und ausführlicher zur Sprache zu bringen, wurde aber durch einen
warnenden Traum von seinem Vorhaben abgebracht, so daß wir nur
seine ausführlichere kabbalistische Erklärung zum ersten Kapitel der
Genesis, die seine Schüler inzwischen verbreitet hatten, besitzen 46 .
Die wortkargen und in hochsymbolischer Sprache vorgetragenen
kabbalistischen Stücke des Kommentars wurden in seiner Schule
bald auf die Goldwaage gelegt und zum Gegenstand besonderer Super-
kommentare gemacht, in denen schon neben echten Erklärungen, die
seine eigenen Schüler, wie Salomo ben Adreth, Isaak ben Todros,
David Kohen, Schescheth und Abner, aufbewahrt haben, auch deren
eigene Spekulationen sich um die Sätze des Nachmanides

44
Vgl. die Literatur über die Disputation von Barcelona bei Graetz VII, S. 120
bis 126; Cecil Roth, Harvard Theol. Rev. Bd. 43 (1950), S. 1 1 7 - 1 4 4 . Wichtig für die
Frage der Ausbreitung der Kabbala in Aragonien ist die Tatsache, daß, als 1263 die
Juden auf königlichen Befehl ihre Bücher einer Zensorenkommission zur Prüfung
abliefern mußten, kein einziges Buch kabbalistischen Inhalts abgeliefert wurde. Da
aus diesem Material dann das Werk Pugio Fidei des Raimundus Martini gearbeitet
wurde, erklärt sich, daß dieser Autor nichts von der ganzen kabbalistischen Literatur,
die doch im Lehrhaus von Gerona ihr Zentrum hatte, wußte. Man hat diese Schriften
offensichtlich zurückgehalten. Auch Paulus Christiani beruft sich dem Nachmanides
gegenüber niemals auf dessen Eigenschaft als Kabbaiist, von der er offenbar nichts weiß.
45
Die beste Ausgabe ist, nach einer vollständigen Hs., Jellineks 2. Edition unter
dem Titel Torath 'Adonaj temima, Wien 1873.
4e
Von mir in Kirjath Sepher VI, S. 415—417 ediert. Ich habe dort, S. 410—414,
auch eine kleine Abhandlung über den esoterischen Sinn der Tora ediert, die dem
Nachmanides zugeschrieben wird und die jedenfalls, falls sie nicht in der Tat echt ist,
aus dem Kreis von Gerona stammt. Sie ist von beträchtlichem Interesse.

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Die Kabbalisten von Gerona 341

ranken47. Isaak von Akko erzählt: „Ich habe einen Schüler gesehen,
der von den unmittelbaren Schülern des Nachmanides empfangen hat,
der diesen Weg [der radikalen Ausdeutung] bis zum äußersten Ende
verfolgt hat, die Worte des Meisters, einschließlich derer, wo er nach
dem Wortsinn erklärt, ganz genau zu nehmen und sie auf kabbalistische
Weise zu erklären. Dadurch irrte er in vielen Dingen, die der Meister
niemals auch nur mit der geringsten Andeutung zu sagen beabsichtigte,
sondern wo er beim reinen Wortsinn stehen blieb48." Für die schon früh
einsetzende Tendenz zur fortschreitenden Komplikation der kabba-
listischen Ideen ist dies Zeugnis sehr wertvoll. Es ist jedoch sicher,
daß Nachmanides in weitem Umfang über kabbalistische Traditionen,
die ihm in seiner Jugend durch mehrere Kanäle zugekommen sein
dürften, verfügte, sie sich auf seine eigene Weise zurecht legte und
miteinander verband. Er ließ sich in vielen seiner Schriften, sogar
in Halachischem49, gern auf mehr oder weniger ausführliche Andeu-
tungen kabbalistischer Gedankengänge ein, die vor allem, mehr als
sie enthüllten, angetan waren, den Appetit des Lesers nach weiterer
Einweihung in diese Mysterien anzuregen. In diesem Sinn kann der
propagandistische Einschlag und Wert von Nachmanides Schriften
nicht hoch genug veranschlagt werden.
Die unbezweifelte Autorität des Autors als eines Kämpfers und
Vertreters des überlieferten Judentums mußte in seinem Kreise jedem
möglichen Einwand gegen die Orthodoxie der von ihm als das eigent-
liche Mysterium im Judentum gepriesenen Gedanken die Spitze ab-
brechen. Der Prozeß der Rezeption des alten kabbalistischen Gutes
in die sozusagen offiziellen rabbinischen Kreise, den wir in der Familie
des Rabed zum erstenmal verfolgen konnten, wird durch Nachmanides
vollends besiegelt. Außer seinem Kommentar zur Tora und zum Buche
Hiob, dessen eigentlicher Schlüssel nach ihm in der kabbalistischen
47
Zwischen 1290 und 1330 bilden solche Superkommentare eine ganze Gattung
der kabbalistischen Literatur, die für die Erforschung der Kabbala vor allem in der
Zeit nach 1250 von großem Wert ist. Außer Bachja ben Ascher, dessen Tora-Kommen-
t a r in seinen kabbalistischen Stücken oft den Charakter eines solchen Superkommentars
hat, gehören hierher u. a. die speziellen Schriften des Schemtob ibn Gaon, Kether
Schern tobh ; des Isaak aus Akko, Me'irath 'Enajim ; des Josua ibn Schu'eib und dessen
Überarbeitung durch Meir ben Sahula, der anonyme Kommentar Kabbalath Saporta
(wohl nach dem Familiennamen des Nachmanides so genannt ?).
48
Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 162b.
4
· An den Anfang seiner Schrift über die halachischen Bestimmungen über Ge-
lübde, Hilkhoth Nedarim, setzte er ein längeres kabbalistisches Gedicht in aramäischer
Sprache, das J . Reifmann in der Monatsschrift ha-Karmel, II (Wilna 1874), S. 375
bis 384, abgedruckt und kommentiert hat. Die Schrift gehört zu seinen Jugendwerken.
Ferner bringt N. in seinen Novellen zum T r a k t a t Schabhu'oth 29a ein in Reimprosa
und strikt kabbalistischer Symbolik verfaßtes Stück über den Unterschied von Ge-
lübden und Schwüren.

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342 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Lehre von der Seelenwanderung liegt, werfen seine Predigten, von


denen sich mehrere erhalten haben, auf seine kabbalistischen Nei-
gungen helles Licht. Sogar bei solchen Gelegenheiten nämlich läßt
er sich ausführliche, in der Terminologie kabbalistischer Symbolik
vorgebrachte Andeutungen nicht entgehen60. Was sich die Hörer
solcher Vorträge unter dem Laienpublikum dabei gedacht haben
sollen, bleibt unverständlich, es sei denn, wir nehmen an, daß die
meisten dieser Vorträge literarische Ausarbeitungen einfacherer, wirk-
lich gehaltener, Vorträge sind und die anderen wirklich nur in dem
kleinen Kreis der Adepten, wo sie auf Verständnis rechnen konnten,
gehalten wurden. Dazu gehört z. B. eine in großen Teilen streng
mystische Rede gelegentlich einer Hochzeit, wóhl eines der Mitglieder
dieses Kreises51. Am Ende seines religionsgesetzlichen Werkes, Tole-
doth 'Adam, über die Bestimmungen, die mit dem Tod und Begräbnis
des Juden zusammenhängen, widmete er dem Problem von Lohn und
Strafe nach dem Tod, sowie überhaupt der Eschatologie ein langes
Kapitel, Schaar ha-Gemul. Dabei grenzte er sich nicht nur aufs Ent-
schiedenste von den fast rein spiritualistischen Ansichten des Mai-
monides ab, sondern nahm auch weitgehend auf die kabbalistischen
Anschauungen darüber, auf die er öfters in seinen Schriften zu sprechen
kommt, Rücksicht62. Auch in seinen religiösen Dichtungen hat Nach-
manides kabbalistische Motive entwickelt63. Er ist der erste, der
mystische Symbole in der religiösen Lyrik verwendet — nicht in
Lehrgedichten, worin er Vorgänger hatte — und steht damit für uns
am Anfang der langen Reihe kabbalistischer Dichtung.
In den vorher genannten Schriften tritt das Kabbalistische als ein
Element unter anderen auf, das über den Wortsinn der Schrift und
60
Seine Predigt über Qoheleth, ein Alterswerk, ist von A. Z. Schwarz, Frankfurt
a. M. 1913, ediert worden, eine Predigt zum Neujahrsfest (schon aus Akko) vom selben,
Frankfurt 1912.
61
Diese Predigt ist von O. H. Schorr, He-Chaluz, Bd. XII (1887), S. 111—114,
ediert worden.
62
Dieses Kapitel ist als selbständige Schrift unter dem Titel Schaar ha-Gemul oft
gedruckt worden. Dagegen enthält Nachmanides' Buch über die messianische Erlösung
nur flüchtigste Andeutungen auf Kabbalistisches, vgl. die Edition von J. Lipschitz,
Sepher ha-Ge'ulla, London 1909, und die Ergänzungen dazu von A. Z. Schwarz in der
Zeitschrift für Hebräische Bibliographie X V (1911), S. 35—36.
53
Am bedeutendsten ist sein Hymnus über das Schicksal der Seele, in Ch. Schir-
mans Anthologie der hebräischen Poesie in Spanien und der Provence II (1957),
S. 322—325, den ich im „Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5696", Berlin
1935, S. 86—89 übersetzt habe. Auch die Verse in dem Brief aus Jerusalem an seinen
Sohn Nachman, die schon in der Ausgabe seines Tora-Kommentars, Lissabon 1489,
gedruckt sind, sprechen durchaus die Sprache der kabbalistischen Symbolik. Daß
das von Jellinek, Beiträge II, hebr. Teil, S. VI—VII, gedruckte Gedicht eines Ezra
(aus dem Mahzor Vi try) dem Kabbalisten Ezra angehört ist unerwiesen.

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Die Kabbalisten von Gerona 343

die talmudische Deutung, den Midrasch hinaus noch eine neue Schicht
des Mystischen oder Symbolischen eröffnet, die der jüdischen Öffent-
lichkeit in weitem Maße erst durch Nachmanides Schriften bekannt
wurde. Dabei fällt die völlige Abwesenheit der Allegorie auf, die bei
Nachmanides als ganz individueller Zug zu betrachten ist. Die kabba-
listischen Mysterien der Tora sind von ganz anderer Art als die, die die
Philosophen besprechen. Die Philosophen verstehen unter „Geheim-
nis", besonders in der Literatur des Maimonides und seiner Schüler,
das was durch Anwendung der rationalen Grundsätze aufs Schrift-
wort oder auf die Aggada spekulativ erschlossen wird. Sod ist eine
Leistung des Denkens, das eine Schicht des Sinnes aufdeckt, welche
rationale Wahrheit im Schriftwort enthüllt. Es ist nicht etwas, das
Bestandteil einer Erleuchtung oder einer Tradition sein müßte. Kurz,
es liegt hier ein, von der Allegorie bestimmter rationaler Begriff von
Sod vor. Ganz anders ist der Sprachgebrauch von Ezra oder Nach-
manides, die unter Sod nur das verstehen, was schon in ihrem Kreis
Gegenstand eines kabbalistischen Traditionsstoffes geworden ist. So
hält zum Beispiel Nachmanides die vielberufenen „Geheimnisse" in
den Kommentaren des Abraham ibn Ezra nicht für solche im Sinne
seines kabbalistischen Sprachgebrauchs, und darf sie daher anzweifeln.
Übrigens ist er der Meinung, die freilich historisch unbegründet ist,
daß ibn Ezra einige der kabbalistischen Lehren zu Ohren gekommen
seien, und er billigt denn auch diese einschlägigen, oder die von ihm
so verstandenen, Andeutungen. Da nicht Nachmanides selbst erst,
sondern schon ibn . Ezra diese Sodoth als solche bezeichnet und Nach-
manides sie als solche zitiert, läßt sich für seinen eigenen Sprach-
gebrauch daraus nichts folgern. Manche Kabbalisten, wie Jakob ben
Schescheth, sind freilich durchaus nicht abgeneigt, solche Allegorien,
wo es ihnen paßt, aufzunehmen und solcherart philosophische und
kabbalistische „Geheimnisse" nebeneinander zu stellen oder auch zu
verbinden. Anders Nachmanides: er polemisiert gegen viele Positionen
des Maimonides, gegen seine Stellung zu der Frage des Wunders, der
Vergänglichkeit der Welt, der Angelologie und Eschatologie, über
den Sinn der Opfer, die Natur der Schekhina und anderes, aber nie-
mals läßt er sich in eine Polemik über die Allegorese, in der philoso-
phische Gedankengänge aus Metaphysik, Psychologie und Ethik in
religiöse Begriffe eingekleidet werden sollen, ein. Er nimmt diese Art
der Allegorie einfach nicht zur Kenntnis. Um 1240, als Nachmanides
auf der Höhe seiner Wirksamkeit stand, war das etwas durchaus
Einzigartiges im kulturellen Klima des spanischen Judentums.
Fünfzig Jahre später behandeln Salomo ben Adreth und Bachja ben
Ascher die Allegorie als gleichberechtigte Kategorie neben der eigent-
lichen kabbalistischen Schriftdeutung. Derselbe Salomo ben Adreth,
der später in dem großen Bannstrahl von 1305 sich gegen die Aus-

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344 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

wüchse der radikalen Allegoristen wendet, geht in seinem eigenen


Kommentar zu den Aggadoth, der freilich viel früher entstanden sein
dürfte, durchaus in deren Wegen. Nachmanides selber hat sich, falls
sich die Uberlieferung auf ihn bezieht, gegen spiritualistische Konse-
quenzen aus mystischer Schriftdeutung, die den Vollzug der Gebote
zu entwerten neigten, in einem mündlich überlieferten Wort zu
Deut. 29 28 geäußert. Er erklärte, auch wenn jemand etwas über die
Geheimnisse der Tora und die Gründe der Gebote gehört habe, sei
er dadurch nicht vom leiblichen und materiellen Vollzug der Gebote
dispensiert, denn „das Offenbare liegt uns und unseren Kindern ob,
es zu vollziehen", wie der von ihm kommentierte Spruch der Tora
besagt 54 .
Die einzige Schrift, in der Nachmanides ausschließlich als Kabbaiist
auftritt, ist sein Kommentar zum ersten Kapitel des Buches Jesira,
in dem er sich ausführlich über die zehn Sephiroth ausläßt und an
dessen Echtheit, wie ich anderswo dargelegt habe, kein Zweifel sein
kann 55 . Hier spricht sich Nachmanides über fundamentale Theoreme
der kabbalistischen Lehre aus. Damit erledigen sich so falsche, wenn
auch oft wiederholte Ansichten über die Stellung des Nachmanides
wie die, wonach er sich eigentlich nicht wirklich tief mit der Kabbala
beschäftigt habe und „als Kabbaiist kaum ernst genommen werden
kann" 56 . Hier spielt auch das Vorurteil mit, das einem so sehr in der
höheren Bildung der Zeit auf halachischem, philosophischem und
medizinischem Gebiet stehenden Mann wie Nachmanides kabba-
listische Neigungen, also „Obskurantismus", ungern zutraute und
sie, soweit sie nicht bestritten werden konnten, zu minimalisieren
suchte. Dabei haben solche Autoren verkannt, daß die Kabbala für
61
Bachja ben Ascher erklärt zu Deut. 29 28, sowie in Kad ha-Qemah s. v. Sukka,
er habe gehört, daß dies in einem Tora-Kommentar des Maimonides (an der zweiten
Stelle : des Nachmanides) stünde, der in Spanien nicht verbreitet sei. Welchen Kommen-
tar Bachja im Auge hatte, ist nicht klar. Möglich ist auch, daß er wirklich ein Zitat
aus einem Maimonides-Apokryphon gehört hat.
66
Vgl. meinen Aufsatz und die Edition in Kirjath Sepher VI (1930), S. 385—410.
Ich übergehe hier ganz den in seinen entscheidenden Stücken kabbalistischen, in Ezras
Spuren wandelnden Traktat über die Ehe und deren mystische Bedeutung, der seit
etwa 1350 unter dem Namen des Nachmanides ging. Er ist seit 1546 unter dem Titel
'Iggereth ha-Qodesch oft gedruckt worden und galt bis jetzt als authentisch. Eine fran-
zösische Übersetzung befindet sich im 2. Band von Michel Weill, La Morale du Ju-
daïsme, Paris 1877. Seine Unechtheit und spätere Abfassung — ziemlich sicher durch
Joseph Gikatilla — habe ich in Kirjath Sepher X X I (1944/45), S. 179—186 nachge-
wiesen.
66
M. Ehrenpreis, Emanationslehre, S. 32. Die meisten historischen und ideen-
geschichtlichen Behauptungen dieser Schrift über die Entwicklung der frühen Kabbala
sind ganz verfehlt. Seine Berufung auf Isaak aus Akko für sein Urteil über Nachma-
nides beruht auf einem Mißverständnis des hebräischen Textes.

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Die Kabbalisten von Gerona 345

Nachmanides, einen großen Fürsprecher der traditionellen Autorität,


eine konservative Macht darstellte, in der Tradition und Schau der
Geheimnisse sich verbinden. Nachmanides gilt in der jüdischen Lite-
raturgeschichte oft als der „jüdischste", das tiefste Anliegen des da-
maligen Judentums aussprechende Kopf unter den spanischen Juden,
als die Verkörperung des Besten und Höchsten in ihm. Vom Gesichts-
punkt eines „geläuterten Judentums" oder der reinen Halacha aus
mußte es als eine Verirrung erscheinen, daß ein so klarer Kopf, der auch
verwickeltste halachische Gedankengänge leicht durchdrang, sich mit
der Kabbala eingelassen hatte. Aber gerade diese Schicht ist zum
Verständnis der Erscheinung notwendig. Nachmanides ohne die
Kabbala und deren kontemplative Mystik wäre auf jüdischem Gebiet
ebensowenig wirklich zu verstehen, wie auf christlichem Gebiet etwa
der eine Generation nach ihm in Katalanien wirkende und sich mit
der Sephiroth-Lehre in manchem strukturell berührende Ramon
Lull57, wenn man ihn nur nach seiner ausgebreiteten Tätigkeit auf
allen möglichen Gebieten beurteilen, aber von der ars contemplativa,
in der sein Christentum erst seine Krönung erhält, absehen wollte.
Unter diesem Gesichtspunkt ist gerade der Jesirakommentar von
besonderer Bedeutung, der seine Auffassung von Gott entwickelt.
Die gnostische Äonenlehre und die neuplatonische Emanationslehre
treten hier zusammen, und wir vermögen zu sehen, wie innig sich
solche Auffassungen mit jüdischem Gefühl verbinden konnten. Für
den Monotheismus des Nachmanides, dessen jüdische Färbung gewiß
nicht in Frage gestellt werden kann, besteht kein Widerspruch zwischen
der Einheit Gottes und deren Manifestationen in den verschiedenen
Sephiroth, von denen eine jede einen Aspekt darstellt, unter dem sich
der Kabhod Gottes bis zur Schekhina hin offenbart. In seinem Tora-
kommentar, in dem ja nur die Tätigkeit Gottes in der Schöpfung be-
handelt zu werden brauchte, die auch mit den Symbolen der Theo-
sophie beschrieben werden konnte, vermied Nachmanides ein Ein-
gehen auf den Hauptpunkt, den er nur in diesem für Kabbalisten be-
stimmten Dokument zur Sprache gebracht hat.

57 Ich habe mich nicht davon überzeugen können, daß Ramon Lull in seiner Lehre

von den dignitates der Gottheit auch historisch von der Kabbala beeinflußt sei, wie
Jose Millás, Algunas relaciones entre la doctrina luliana y la cabala, in Sefarad X V I I I
(1958), S. 241—253 wahrscheinlich zu machen gesucht hat. Die gemeinsame struk-
turelle Verwandtschaft mit Scotus Erigenas Lehre in den hier in Betracht kommenden
Punkten erklärt die Parallelen zur Genüge, vgl. Frances Yates, Ramon Lull and John
Scotus Erigena, Journal of the Warburg and Courtauld Institute X X I I I (1960),
S. 1—44. Gerade in den Namen und der Struktur der Sephiroth und der dignitates
ist die Übereinstimmung nur ganz äußerlich und flüchtig, wie sie sich aus der Auf-
zählung der göttlichen Attribute zum Teil von selber ergeben mußte, und gerade die
Zehnzahl der Attribute ist Lull unbekannt.

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346 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Von wem eigentlich Nachmanides die esoterische Überlieferung


empfangen hat, ist eine offene Frage. Er erwähnt zwar in seinem
Jesirakommentar den Chassid, also Isaak den Blinden, aber nicht als
seinen Lehrer. Auch der Brief Isaaks an ihn und seinen Vetter Jona
Gerondi, von dem noch die Rede sein wird, deutet kein unmittelbares
Schülerverhältnis an. Auf Jehuda ben Jaqar bezieht sich Nachma-
nides als Lehrer vor allem in halachischen Schriften. Statt dessen
taucht in einer ganzen Reihe zweifellos echter Überlieferungen, die
alle auf Nachmanides' wichtigsten Schüler Salomo ben Adreth zurück-
gehen, eine ganz rätselhafte Figur eines Kabbalisten namens ben
Belima auf — der persönliche Vorname wird nie genannt — der
zwischen ihm und Isaak dem Blinden vermittelt habe68. Me'ir ben
Sahula kontrastiert in seinen Erklärungen zu Nachmanides (Bl. 29a)
Traditionen, die Nachmanides von ben Belima empfangen habe, mit
denen Isaaks. In sehr alten Marginalien aus dem Geronaer Kreis, die
uns die Hs. Parma, de Rossi 68, aufbewahrt hat, wird eine Debatte zwi-
schen Nachmanides und ben Belima über das Schicksal des Geistes
Naboths (I Kön. 22) erwähnt, aus der hervorgeht, daß der Letztere
eine Art Seelenwanderung oder Metamorphose auch für die höheren
Geister, ja sogar innerhalb der Welt der Sephiroth bis Bina an-
nahm59. An der Existenz eines solchen Kabbalisten kann also nicht
gezweifelt werden, so rätselhaft auch der Name ist. Es ist weder ein
Familienname, noch ein Patronym. Ein Frauenname Belima ist mir
nicht bekannt, und es ist überaus unwahrscheinlich, daß Salomo ben
Adreth seinen Schülern den Namen in korrumpierter Form überliefert
haben sollte. Es bleibt nur die Vermutung, daß ben Belima ein (aus
Jesira I, 1 genommenes ?) Pseudonym für einen anderen Namen ist,
der aus uns unbekannten Gründen und ganz gegen die sonstige Ge-
pflogenheit dieses Kreises geheimgehalten wurde. Vielleicht bringen
neue handschriftliche Funde eine Aufklärung. Jedenfalls reizt dieser
Name, der wörtlich ,,Sohn des Nichts" oder „Sohn der Verschlossen-
heit" zu übersetzen wäre, die historische Neugier. Auch ob ben Belima
nach Gerona gehört, wie wohl möglich ist, oder nach der Provence,
wo Nachmanides in seiner Jugend mit ihm zusammengekommen sein
könnte, bleibt ungewiß.
68 So am Ende von Meir ben Sahulas anonym gedrucktem Kommentar zum Bahir,

Wilna 1883, Bl. 20a. Als Lehrer des Nachmanides in der Kabbala wird er auch in Sa-
hulas Superkommentaren zu N., Warschau 1875, Bl. 32 d, und in Schemtob ibn Gaons
Kether Schern tobh, Bl. 47 b, bezeichnet, vgl. die Stelle in Kirjath Sepher VI,
S. 390.
5 9 Hs. De Rossi 68, Bl. 6 b : „Ich habe gehört, daß der Meister und ben Belima

eine Diskussion hierüber hatten und daß ben Belima ihm die Sache aus der Schrift
bewies". Vgl. den Text dieser und weiterer Überlieferungen über ben Belima in Re-
schith ha-Kabbala, S. 241—243.

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Die Kabbalisten von Gerona 347

In den Schriften Ezras und Nachmanides findet sich keinerlei Bezug


auf die kabbalistischen Anschauungen des '///««-Kreises. Daß diese
aber in Spanien inzwischen eine Stätte gefunden hatten, folgt klar
aus einem Brief an Nachmanides, in dem der Briefschreiber ihm Auf-
klärungen über die Sephirothlehre „gemäß dem Wege unserer Kab-
bala" gibt, die er von seinem Lehrer Joseph ibn Mazach empfangen
habe Die Familie Mazach gehörte zu den angesehensten Familien Tole-
dos, und ein Richter, Samuel ben Joseph ibn Mazach, der wohl ein Urenkel
des hier genannten Joseph war, starb dort 134981. Dieser toledaner
Kabbaiist um 1240—1250 teilt aber Dinge mit, die sicher aus dem
Vorrat der '///««-Gruppe stammen. Er gibt die Namen der 22 Wege
an, die zu den 10 Sephiroth gehören, vom „wunderbaren Licht" bis
zum „Vorhang" und sämtliche dieser Namen sind aus anderen Zu-
sammenhängen und ähnlichen, wenn auch nicht identischen, Auf-
zählungen im '/y/w«-Kreis bekannt. In einem Brief, den ich im vori-
gen Kapitel S. 199 mitgeteilt habe, wird ebenfalls ein toledanischer
Mystiker aus der Familie ibn Ziza erwähnt, so daß wir wenigstens
einen deutlichen Hinweis auf das Vorhandensein eines solchen Kreises
in Toledo haben, der mit der Kabbalistenfamilie Abulafia in Toledo
und Burgos, von der ich noch sprechen muß, zusammenhing.
Jona Gerondi, der Vetter des Nachmanides und als Talmudist,
asketischer Moralist und Chassid, sowie auch als Gegner desMaimonides
berühmt, ist selber als Mystiker nicht hervorgetreten. Er lebte lange
in Frankreich, gehörte aber in den dreißiger Jahren sicher zu dem
Kreis in Gerona, wie durch den Brief Isaaks des Blinden, der sich gerade
an diese beiden Gelehrten wendet und sie klar als Adepten der Kabbala
anspricht, erwiesen ist. Erst später zog er nach Barcelona. Ein anderer
Brief des Nachmanides an ihn über die Schöpfung der Seelen ver-
meidet direktes Eingehen auf kabbalistische Theoreme®2. Es zeigt
sich übrigens, wie wir aus den hier zusammengestellten Angaben sehen,
daß sich von der Korrespondenz dieser Gruppe doch manche wich-
tigen Stücke erhalten haben, die von erheblicher Bedeutung für unsere
Kenntnis sind. Sicher hat solcher Briefwechsel unter den Mystikern
eine große Rolle gespielt. Es ist sehr zu bedauern, daß wir für die
Anfänge der Kabbala nicht mehr so kostbare Dokumente der Brief-
literatur zusammenstellen können, wie wir sie etwa in W. Oehls „Deut-
60 Ich habe den Text aus einer Hs. der Sammlung Mussajof (Jerusalem) in Kir-
jath Sepher, S. 418—420, ediert. In anderen Hss. habe ich den Brief später unter Aus-
lassung aller Namen gefunden. Die Vorlage der Hs. Mussajof schöpfte aus einer Kopie
des Briefes, die jedenfalls dem Schemtob ibn Gaon vorlag.
« l Vgl. L. Zunz, Zur Geschichte und Literatur, Berlin 1845, S. 425.
•2 Der Brief ist unter den Responsen des Salomo ben Adreth gedruckt, 1883, Nr. 284.
Die Zuweisung dort an Nachmanides wird durch die Bezeugung in alten kabbalistischen
Sammlungen bestätigt, vgl. ζ. Β. Hs. Vat. 185. Bl. 191a.

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348 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

sehen Mystikerbriefen" (1931) vor uns haben. Immerhin haben die


Schüler des Nachmanides viele Papiere, die sich in den Lehrhäusern
von Gerona und Barcelona befanden, auch ohne Rücksicht auf ihre
literarische Form (oft eher Unform) abgeschrieben und uns so neben
manchen dieser Briefe auch eine große Reihe anderer kleiner Notizen
und kostbarer Aufschlüsse hinterlassen. Für ein Detailstudium der
Kabbala in Gerona, das einen eigenen Band erfordern würde, sind
diese Kollektaneen, die sich in mehreren Handschriften erhalten
haben, von großem Wert 63 . Hier befinden sich auch zwei größere
Stücke von einem Kabbalisten Barzilai, den Jakob ben Schescheth
erwähnt, darunter ein kurzer Traktat über die zehn Sephiroth64.
Jakob nennt auch einen weiteren Kabbalisten Joseph ben Samuel
aus Katalanien, dessen Erklärung zu Gen. I er am Ende seiner Pole-
mik gegen Ibn Tibbon (Kap. 31) vollständig anführt. Diese Erklärung
stellt sich als leichte Überarbeitung der fast identischen Erklärung
des Ascher ben David heraus, dessen Schriften, vor allem seine Er-
klärung des Gottesnamens, als ein Mittelglied zwischen der proven-
çalischen Kabbala und der in Gerona angesehenen werden müssen65.
Ascher selber lebte lange mit seinem Onkel zusammen, kam aber auch
nach Gerona und scheint nach dessen Tode eine Zeitlang in Béziers
gelebt zu haben66.

e3 Solche Sammlungen stehen z. B. in den Hss. de Rossi 1221, Halberstam 174,

Ghirondi 62, Casanatense 181, Oxford 1945, Christ Church College 198,
Vatican Ebr. 202.
M Vgl. Barzilais Abhandlung Hs. Christ Church College 198, Bl. 73b—74a, sowie

Günzburg 131, Nr. 9. Das zweite Stück dort ist ein wörtlicher Auszug aus Jakob ben
Schescheths Werk gegen ibn Tibbon unter Auslassung aller Exkurse, die nicht direkt
auf die hier gegebene Exegese von Ps. 144 Bezug haben. Jakob erwähnt dort, Hs.
Oxford BI. 38a, Barzilais Erklärung zu Gen. 1 3. Ob er wirklich dessen Abhandlung
über den Psalm in sein Buch aufgenommen und erweitert hat, scheint mir nicht sicher;
eher scheint es umgekehrt zu sein.
e s Aschers Perusch Schern ha-mephorasch ist von Chassida in ha-Segulla, Heft 2—10
ediert worden. In Hs. Paris 680 folgt auf Nachmanides' echten Jesira-Kommentar
Aschers Abhandlung ebenfalls unter N.s Namen als „Inbegriff des Buches Jesira von
dem großen Meister Moses bar Nachman". Hieraus erklärt sich, daß Abraham ibn
Migasch, Kebhod 'Elohim, Konstantinopel 1585, Bl. 110a/b, ein langes Zitat aus dieser
Schrift als aus dem Jesira-Kommentar des Rambam (lies: Ramban) anführt. Aus
Aschers Schriften stammen Bilder, die die Literatur der alten Kabbala in unendlichen
Varianten durchziehen, wie die Auffassung der sieben unteren Sephiroth als Menora
und als Traube, und die aller zehn Sephiroth als Kleider, die den Glanz der Gottheit
verhüllen, obwohl sie zugleich in ihnen wirkt und sich in ihnen darstellt.
ββ In einigen Hss. eines Textes von Ascher, wo aber sein Name nicht als Autor

genannt wird, heißt er in der Unterschrift „ein gelehrter Kabbaiist, der von unseren
heiligen Lehrern empfangen hat, aus der Stadt Béziers", vgl. Enelow Mem. Coll. 655,
Bl. 15a und Gaster 199, Ende von Nr. 2.

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Propaganda der Kabbalisten 349

2. Debatten und Unruhen über die Propaganda der Kabbalisten


Ihre Rolle im Streit um die Schriften des Maimonides

Aschers Tätigkeit ist mit historischen Ereignissen verbunden, deren


Echo wir in verschiedenen Dokumenten haben. Offenbar war die
Begeisterung einzelner Anhänger der Kabbala so groß, daß sie
die Schranken der esoterischen Mitteilung, die aufs Lehrhaus und
den persönlichen Kontakt in kleinstem Kreise beschränkt sein
sollte, durchbrachen und sich auf öffentliche Propaganda ihrer
Gedanken verlegten. Dabei begnügten sie sich nicht, wie etwa
Nachmanides, mit undurchsichtigen, aber die Kuriosität weckenden
Winken, die die eigentlichen Lehren selber nicht preisgaben, son-
dern gingen viel weiter. Dadurch kam die Kabbala zuerst ins
öffentliche Gerede, und die Verbreitung der Schriften Ezras und
besonders Azriels scheint ein weiteres dazu getan zu haben. Es muß
Unruhe in mehreren Gemeinden gegeben haben. Isaak der Blinde
fand sich veranlaßt, auf Grund der ihm von Nachmanides und Jona
Gerondi, die er als seine Freunde bezeichnet, vorgetragenen Infor-
mationen seinen Einspruch gegen diese Propaganda zu erheben. Er
habe bisher geschwiegen. „Denn ich wurde von großer Besorgnis
erfüllt, als ich Gelehrte, Einsichtige und Chassidim sah, die sich in
langen Reden ausließen und sich vermaßen, in ihren Büchern und
Briefen über große und erhabene Gegenstände [der Kabbala] zu
schreiben. Das Geschriebene läßt sich aber nicht im Schrank halten,
und oftmals geht es verloren oder die Eigentümer sterben, und die
Schriften gelangen in die Hände von Toren oder Spöttern, und der
Name des Himmels wird dadurch entweiht. Und dies ist in der Tat
bei ihnen passiert. Als ich noch mit ihnen im Leben zusammen war,
habe ich sie in dieser Richtung oft verwarnt, seitdem ich aber von
ihnen schied, ist durch sie Unheil angerichtet worden. Ich aber bin
ganz anders gewöhnt worden [nämlich nicht über Kabbalistisches
öffentlich zu sprechen oder zu schreiben], denn meine Väter waren
zwar die Vornehmsten des Landes und Lehrer der Tora in der Öffent-
lichkeit, aber niemals kam ein Wort aus ihrem Mund und sie ver-
fuhren mit ihnen [den Uneingeweihten] wie mit Menschen, die in der
Weisheit nicht bewandert sind, und ich habe von ihnen gesehen und
meine Lektion gelernt. Ferner habe ich [außer den vorerwähnten
Briefen des Nachmanides] auch aus den Gebieten, wo Ihr wohnt,
und über die Leute von Burgos gehört, daß sie sich offen auf Markt-
plätzen und Straßen über diese Dinge in verworrenen und voreiligen
Reden ergehen, und aus ihren Worten wird klar ersichtlich, daß ihr
Herz vom Allerhöchsten abgewichen ist 67 und sie Verwüstungen unter
67
Hebr. min ha-'eljona, ein sonderbarer Ausdruck. Meine Übersetzung beruht auf
Konjektur.

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350 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

den Pflanzungen anrichten œ , während doch die Dinge®9 geeint sind


wie die Flamme mit der Kohle verbunden ist, φ η η der Herr ist einzig
und hat keinen zweiten [neben sich], und was kannst Du vor dem Einen
zählen70 — ,vor dem Einen', das ist der große Name, der in allen zehn
[Sephiroth] geeint ist, und ich kann schriftlich nicht länger auf das,
was Ihr gefragt habt eingehen 71 ."
Die Adressaten hatten offenbar Isaak gebeten, um die entstandene
Unruhe zu beschwichtigen, selber zu ihnen zu kommen, was er aber
am Ende seines Briefes ablehnt. „Ich vermag keinen Ratschluß des
Himmels zu erkennen, wonach ich mich jetzt von meinem Orte weg-
begeben sollte, um zu Euch zu kommen. Wenn aber R. Ascher, der
Sohn meines Herrn Bruders, des gelehrten R. David sei. And., zu Euch
kommen wird, so befolgt jeden Rat, den er Euch erteilt, denn ich
werde Euch durch ihn über meine Willensmeinung Kunde geben. Er
kennt auch meine Umstände und hat mein Verhalten zu meinen Ge-
nossen mein Leben lang bis jetzt gesehen." Wir haben also eine klare
Vollmacht für seinen Neffen vor uns, der sein Leben lang um ihn war
und die Beziehungen Isaaks mit den Adepten der Kabbala genau
kannte. Er soll in der schwierigen Situation eingreifen und die In-
struktionen seines Onkels mit Hilfe der Adressaten ausführen. Nach
dem Tenor des Briefes muß es sich um ernste Zwischenfälle gehandelt
haben, die offenbar nicht nur auf einen Ort beschänkt waren. Wir
haben in seinem Brief zwischen zwei Momenten zu unterscheiden.
Einerseits wendet er sich gegen hochangesehene Gelehrte und Chas-
sidim seiner eigenen Gruppe, die, wie die blumige Wendung seines
Briefes genau verstanden werden muß, jetzt nicht mehr am Leben
sind, und deren Schriften in falsche Händen geraten sind. Anderer-
seits führt er Beschwerde über pseudo-kabbalistische Reden halb-
gebackener Anhänger in Aragonien — darauf scheint doch der Aus-
druck von den „Gebieten, wo Ihr wohnt" zu weisen — und im kasti-
lischen Byrgos. Deren Reden, welche die Kabbala „auf den Markt-
plätzen" profanieren, sind ihm offenbar nicht nur von den Adressaten
berichtet worden, denen er ja diese Kunde in seinem eigenen Brief
nicht zurückzugeben brauchte. Sie verstießen in ihnen gegen die
Lehre von der Einheit Gottes, indem sie von den Sephiroth so redeten,
als ob sie selbständige Wesenheiten seien, und nicht in der Einheit
Gottes beschlossene „Dinge" oder besser „Logoi". In Burgos saßen,
wie wir aus dem uns erhaltenen Sendschreiben Azriels dorthin wissen,
68
Dies ist der seit Isaak von allen Kabbalisten gebrauchte Ausdruck für Irrtümer
über die Beziehung der Sephiroth zu Gott, nicht nur ein allgemeiner Ausdruck für
Ketzerei überhaupt, vgl. Hagiga 14b.
68
Vgl. oben S. 233 über diese Terminologie.
70
Dies alles sind Wendungen aus Kap. I des Buches Jesira.
71
Den hebräischen Text habe ich im Sepher Bialik, S. 143—144 veröffentlicht.

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Propaganda der Kabbalisten 351

Anhänger der Kabbala, denen er Belehrung erteilte. Dies, wie der


ganze Ton des Einspruchs gegen die trotz seiner Warnung in Umlauf
gebrachte kabbalistische Literatur führt dazu, Ezra und Azriel selber
als die Zielscheibe seiner Kritik anzusehen. Nur ihre Schriften und
Briefe, und besonders die Azriels, entsprechen Isaaks Angaben. Die
Autoren waren mit ihm selbst bekannt, haben sich mit ihm in der
Provence getroffen und studiert, aber gegen seine Warnung, nachdem
sie nach Spanien zurückgekehrt waren, auf die literarische Propa-
gierung ihrer mystischen Ideen eingelassen und dadurch Tür und Tor
für MißVerständnisse geöffnet. Die große Achtung, mit der er dennoch
von den Autoren spricht, zeigt ebenfalls, daß es sich keineswegs um
die ersten besten, sondern um bedeutende Exponenten der neuen
Richtung handelte. In alten, wohl auf die Schule des Salomo benAdreth
zurückgehenden Notizen über die Anfänge der Kabbala erfahren wir,
daß „von diesen beiden — nämlich den dort vorher genannten Ezra
und Azriel — sich diese Wissenschaft ausgebreitet hat, denn sie lehrten
sie an viele"72. Dies alte Zeugnis paßt ausgezeichnet zu Isaaks Protest,
der, wenn ich ihn richtig interpretiere, sich gegen die übereifrige und
gefährliche Propaganda dieser beiden, seiner eigenen Gruppe ange-
hörenden Mystiker wendet. Isaak kann damit weder das Buch Bahir
meinen, das nicht zu seiner eigenen Zeit verfaßt wurde und gewiß
nicht von ihm bekannten „Gelehrten und Einsichtigen", noch die
Literatur der 'Ijjun-Gruppe, deren Autoren ja gerade nicht unter
ihrem Namen auftraten, sondern sich versteckten. Auch die Worte
über die Ausführlichkeit, mit der die Mysterien behandelt würden,
trifft auf sie nicht zu. Zudem war diese Literatur in Gerona nicht ver-
breitet, als Isaak seinen Brief schrieb, in dem er von „Büchern und
Briefen" spricht, die den Adressaten offensichtlich bekannt waren.
Das führt uns unausweichlich, scheint mir, auf Azriel und Ezra zurück.
Die einzige Schwierigkeit könnte in der Chronologie liegen. Die von
ihm kritisierten Autoren waren — anders ist die hebräische Wendung
nicht zu erklären — nicht mehr am Leben, als er schrieb. Nach An-
gaben späterer Chronisten wäre Ezra 1238 oder 1244 gestorben, was
durch diesen Brief, der wohl früher geschrieben wurde, widerlegt
würde. Azriel war jünger — nach einigen Handschriften war er Ezras
Schwiegersohn73. Vielleicht starben sie kurz hintereinander, noch vor
1235. Wenn ihre Bücher auch, an unseren eigenen Anforderungen
gemessen, viel zu kurz sind, waren sie doch unter den Verhältnissen
von Isaaks Zeit die ersten, in denen die kabbalistischen Themen öffent-
72 Die letzten Worte sind in der Abschrift der Stelle im „Catalog hebräischer Hand-

schriften von S. J . Halberstam", Wien 1890, S. 109 durch Homoioteleuton ausgefallen.


73 Vgl. oben Anm. 9. Eine andere Angabe, wonach Ezra der Schwiegervater des

Nachmanides war, ist wohl aus dieser entstanden. Die Angaben über Ezras Todesjahr
stehen bei Ad. Neubauer, Mediaeval Jewish Chronicles I, S. 95 und 103.

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352 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

lieh und relativ ausführlich abgehandelt wurden. (Isaaks eigene Auf-


zeichnungen scheinen sorgfältiger geheim gehalten worden zu sein.)
Daß es dort genug Material gab, das bei den Frommen der alten Schule
Anstoß erregen konnte, ist aus den Texten selber evident und wird
durch das feindselige Zeugnis des Meir ben Simon bestätigt, von dem
hier mehrfach die Rede war. Er bezieht sich unter anderen auch auf
ihre Bücher, wobei er bei seiner Abneigung gegen die ganze Richtung,
anders als Isaak, alle kabbalistischen Texte in einen Topf wirft. Der
Brief des Meir wurde wohl zwischen 1235 und 1245 geschrieben und
nimmt auf ähnliche Erscheinungen in der Provence selber Bezug,
die ein Eingreifen des bedeutenden Talmudisten Meschullam ben
Moses, des Autors des Sepher ha-Haschlama, gegen sie herbeigeführt
haben. Es fällt also ungefähr in dieselben Jahre wie die Erscheinungen
in Spanien, die Isaaks Brief hervorgerufen haben. Dieser Brief näm-
lich ist offenbar zu einer Zeit geschrieben, als Jona Gerondi wieder in
Gerona und mit Nachmanides zusammen war. Wir wissen, daß Jona
erst nach dem Abflauen des Streites um Maimonides, der 1232 be-
gonnen hatte, nach Spanien zurückkehrte — er hielt sich vorher lange
in Frankreich auf — und erhalten so als ungefähres Datum von Isaaks
Brief die Jahre um 1235. Er ist also in seinem Greisenalter geschrieben.
Während Jakob ben Schescheth .Isaak um 1240 unter den Verstor-
benen nennt, nennt ihn Ezra im Kommentar zu den Aggadoth unter
den Lebenden. Daß er im Kommentar zum Hohen Lied zweimal mit
der Eulogie für Tote genannt wird, dürfte wohl durch spätere Zusätze
von Kopisten zu erklären sein, da Tishby mit guten Gründen sehr
wahrscheinlich gemacht hat, daß Ezra diesen Kommentar im Alter
von über 50 Jahren, noch vor dem Aggadoth-Kommentar verfaßt
hat74.
Aus dem bei Meir ben Simon mitgeteilten Rundschreiben an die
provençalischen Gemeinden, das ich bald nach dem Tode Isaaks des
Blinden ansetzen möchte, erfahren wir genauer als bei Isaak die Natur
des Ärgernisses, das die Kabbalisten damals ihren Gegnern gaben,
wenn wir auch die historischen Umstände des Vorganges nicht kennen,
der dies Ärgernis hervorrief. Der Briefschreiber begnügt sich mit der
vielsagenden Andeutung, daß „einige der Gelehrten des Landes [der
Provence] im geheimen über die genauen Umstände des Vorgangs,
der uns zu diesem Brief veranlaßt hat, unterrichtet sind"75. Wir er-
fahren daraus, daß es vor allem die Gebetsmystik und die von ihr
implizierte Theologie war, und also wohl deren Propaganda und Vul-

74 Tishby in Sinai VIII (1945), S. 1 6 0 - 1 6 3 . Jakob ben Schescheth, Hs. Oxford


1585, Bl. 60a kennt Isaak als verstorben.
75 Vgl. J. Q. R. IV, S. 358. Sollte die vorsichtige Formulierung etwa auf einen Fall

von Apostasie in den Zirkeln der ältesten Kabbalisten Bezug haben ?

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Propaganda der Kabbalisten 353

garisierung, die die Gegner entrüstete. Meir aus Narbonne schreibt


unter anderem:
„Seit einiger Zeit haben sich Narren und Tröpfe hervorgewagt und in
Bezug auf den Glauben an Gott und in Sachen der Gebete undBenedik-
tionen, die bei uns von unseren Altvordern her angeordnet sind, falsche
Meinungen vertreten, Dinge, die weder in der Bibel noch im Talmud,
weder in der Tora noch in der Überlieferung noch in deren rechten dialek-
tischen Behandlung [Sebhara] irgend einen Grund haben, ja nicht ein-
mal in den apokryphen Aggadoth, die sie haben, die vielleicht [außerdem]
korrumpiert und nicht zuverlässig sind, und aus denen überhaupt kein
Beweis erbracht werden kann. Diese Narren sagen nun, der Dank und das
Gebet und der Segensspruch kämen nicht Gott, dem Urseienden, der ohne
Anfang und ohne Ende ist, zu. Wehe ihrer Seele, daß sie solche Läste-
rungen gegen den Heiligen Israels vorgebracht und sich von dem Ur-
ewigen, dem Hort von jeher, dem Ersten ohne Anfang und dem Letzten
ohne Ende abgewandt haben. ... Er hat niemand neben sich, ist einer in
vollständiger Einheit, ohne daß ihm Sephiroth zugesellt und beigefügt
werden dürften. Er ist die Ursache aller Ursachen, der das Sein aus dem
Nichts durch seinen Willen allein hervorgerufen hat, und ihm zu danken,
zu loben und zu erheben steht uns an. Er ist es, der in den Danksagungen
und Segenssprüchen Herr des All und Schöpfer des All genannt wird, und
nicht seine Kreaturen, die ein Anfang und ein Ende haben. Er ist es, der
Alles im allgemeinen und besonderen providentiell überschaut und leitet,
und nichts darf Ihm zugesellt werden, denn die Kreatur darf ihrem
Schöpfer nicht zugesellt werden, noch die Materie ihrem Bildner, noch das
Emanierte dem Emanierenden, etwa zu sagen, daß seine Einheit nur mit
ihnen zusammen vollkommen sei. Und wer den Namen Gottes und ein
anderes Ding zusammenstellt, sollte aus der Welt ausgejätet werden1*. Das
ist die Religion, an die ganz Israel glauben soll, und wer von ihr abweicht,
ist ein Ketzer und Häretiker. Und was sollen wir uns lange mit den Worten
der Toren einlassen, deren alle Gebete und Benediktionen Göttern gelten,
von denen sie sagen, daß sie erschaffen und emaniert sind, daß sie einen
Anfang und ein Ende haben. Sagen sie doch in ihren närrischen Erwä-
gungen, daß, wer Erster und Letzter heißt, einen Anfang und ein Ende
hat, was sie aus Jesajah 47 6 begründen. Das haben wir in einem der
Bücher ihres Irrtums gefunden, das sie Bahir nennen, und das haben
einige der Gelehrten aus ihrem Munde gehört. Und sie sagen, man solle
am Tage zu einem erschaffenen Gott beten und in der Nacht zu einem
anderen, der über ihm steht, aber wie er erschaffen ist, und an den Fest-
tagen noch zu einem anderen. In den Gebeten für die zehn Bußtage haben
sie vollends Verwirrung angerichtet, zu einem Erschaffenen und anderen
unter ihm Stehenden zu beten. In den übrigen Tagen des Jahres haben sie
" Ein talmudischer Satz, vgl. Sukka 46 b.
Scholcm, Kahbala 23
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354 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

im Gebet viele Unterteilungen [der Kawwana] nach ihrem unvoll-


kommenen Temperament vorgenommen. Sie sind ein Abscheu für alles
Fleisch, der Wurm ihrer Torheit wird nicht sterben und das Feuer ihrer
Einfalt nicht verlöschen. Denn sie haben sich viele Götter ausgesuchf1,
und sagen in ihrem Unverstand, daß alle miteinander verbunden sind
und alles eins ist. . . . Wenn sie sagen, daß er einer ist, warum teilen sie
dann ihr Gebet auf einen am Tage und einen anderen in der Nacht und
warum machen sie einen Unterschied zwischen Werktagen und Feier-
tagen, zwischen Bußtagen und den übrigen Tagen des Jahres, und welchen
Sinn haben all diese Unterscheidungen bei ihm? Denn in Wahrheit
sollten sie wissen, daß Gott einer ist, ohne Anfang und Ende und ohne
Veränderung. Denn er ist einer, bevor noch die Sefihiroth erschaffen und
emaniert wurden, die wirklich einen Anfang haben, wie ja auch sie zu-
geben. Und dennoch richten sie die Intention [Kawwana] ihres Herzens
in ihren Gebeten auf sie [die Sephiroth]. So müßten sie doch erkennen,
daß sie falsch reden, aber ihr Auge ist verblendet und ihr Herz verstockt.
Kurzum, alle ihre Worte sind wie Spreu vor dem Wind, leere Worte, an
denen nichts ist, Destruktion der Tora und Ketzerei. Und wie könnte es
einem Verständigen einfallen, mit ihnen anzunehmen, daß es nicht an-
gemessen sei, die Gebete an den Namen, den ersten ohne Anfang und
Ende zu richten, die Ursache aller Ursachen, welche sie in ihrer Sprache
'En-soph nennen, und wer das tut, der ist in ihren Augen einer, der die
Pflanzungen verwüstet, und verdient nicht, die ewige Seeligkeit, die den
Gotteskennern zugesichert ist, zu schauen. Wie könnte dies alles nicht in
der Tora, der Mischna und dem Talmud erklärt sein und wie könnten
diese Bücher ganz Israel im Irrtum gelassen haben, so daß sie aus der
künftigen Welt verstoßen würden, da sie ja die Pflanzungen verwüsteten?
Wehe den Augen die das sehen, wehe den Ohren die das hören, wehe der
Generation, in deren Tagen das passiert ist . . . Gibt es wohl in unserer
Zeit selbst unter den Religionen der Völker nichtigere Bücher über die
Einheit Gottes als diese? Und selbst wenn sie zugeben, daß wer zu Gott als
der Ursache aller Ursachen und dem Schöpfer des All bete, [nicht] aus der
[künfligen] Welt verstoßen wird und die ewige Seeligkeit erlangt und nicht
Verwüster der Pflanzungen heißt, so nur, weil sie in ihrer Torheit denken,
daß dies der Glaube des Pöbels sei, während sie hingegen zu denen ge-
hören, die das Geheimnis Gottes kennen und ihn fürchten und erhoffen,
durch diesen Glauben zu einer höheren Stufe als die anderen emporzu-
steigen' 8."
Nun kann es freilich keinem Zweifel unterliegen, daß die hier in so
bewegten und entrüsteten Worten angegriffene Anschauung die
77 Der Text ist korrupt. Ich lese dem Zusammenhang nach 'iwwu l'Elohuth harbe.

Das Hebräische ist aber unbefriedigend.


78 Vgl. den Text in Sepher Bialik, S. 148—149.

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Propaganda der Kabbalisten 355

Isaaks des Blinden selber ist, die wir in den Überlieferungen über seine
gebetsmystischen Meditationen und in seinem Kommentar zu Jesira
finden. Sogar die radikale Meinung, daß wer in seinem Gebet über die
„unendliche Ursache" statt über die Middoth sinnt, in Gefahr steht,
„verstoßen zu werden", also die Seeligkeit einzubüßen, ist auf vor-
sichtige Weise in seinem Jesirakommentar angedeutet (zu I, 7). Na-
türlich überspitzt der Briefschreiber die Anschauungen der Kabba-
listen und läßt sie zu vielen Göttern, die erschaffen seien, beten,
während die Kabbalisten der Schule Isaaks diese Annahme selbst-
verständlich aufs entschiedenste bestritten hätten. Besteht doch für sie
zwischen dem Kreatürlichen im eigentlichen Verstand, das heißt dem
Außergöttlichen, und dem Emanierten, das in Gott verbleibt und nur
eine Station seines eigenen Lebensprozesses darstellt oder um auch
dieses Bild zu vermeiden, einen Aspekt seiner Manifestation, ein durch-
aus prinzipieller Unterschied, den der Polemiker verwischt. Daß aber
die mystische Gottesauffassung, die in dieser Lehre von der Kawwana
zum Ausdruck kam, wirklich zu einem statisch verstandenen Mono-
theismus, wie er außerhalb der Kabbala im mittelalterlichen Judentum
gelehrt wurde, in starker Spannung stand, ist sicher. Es ist diese
Spannung, die wohl das Hauptmotiv dafür bildete, diese Ideen als
esoterisch zu behandeln. Isaaks Brief mit seiner Beschwerde über die
„Verwüstung der Pflanzungen", das heißt die Verletzung der Einheit
Gottes in seinen Sephiroth, durch unreife Geister beweist jedenfalls,
daß die Polemik des Meir aus Narbonne auch eine echte Adresse hatte
und nicht nur auf Mißverständnis aufgebaut war. Beide Dokumente
ergänzen sich und bestätigen, daß das Hervortreten der Kabbala und
ihre Propagierung in den Gemeinden sich keineswegs reibungslos voll-
zogen hat. Um so höher ist die nachhaltige Wirkung von Persönlich-
keiten wie Nachmanides einzuschätzen, deren Autorität in der Öffent-
lichkeit so groß war, daß sie Einwände wie die hier dokumentarisch be-
legten zum Verstummen bringen konnten. Isaak der Blinde, so hoch sein
Ansehen bei den Kabbaüsten selber stand, hatte in der jüdischen Öffent-
lichkeit nicht den Status, um solcher Polemik wirksam zu begegnen.
Ascher ben David selbst, der sich um die Glättung dieser Spannungen
bemühte, hat uns ebenfalls, in sehr konzilianter Sprache, die gleichen
Verhältnisse und Schwierigkeiten geschildert. Offenbar schrieb er, wie
er selber bezeugt, seine längeren Darlegungen über die Sephirothlehre
erst, als durch diese Spannungen und Skandale die Notwendigkeit sich
ergab, den Mißverständnissen entgegen zu treten. Dadurch erklärt sich
sein Abweichen von der durch die Verhältnisse hinfällig gewordenen
Reserve seines Onkels. Ascher schreibt:

„Daher habe ich mich an vielen Stellen ausführlich geäußert, wo ich


mich hätte kurz fassen sollen — wären nicht die Worte der Schmäher und
23·
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356 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Verächter, die den Mut aufgebracht haben und des Längeren unberechtigte
Anschuldigungen gegen die liebenswerten Schüler erhoben haben, die von
den Mystikern Israels [Maskile Israel] empfangen haben, die Gott
suchen, von den Frommen des Höchsten, die zu Gott schreien und erhört
werden, die alle Nöte ihrer Mitmenschen mitleiden und für sie vor ihrem
Schöpfer im Gebet eintreten, . . . durch die viele Wunder an Einzelnen
und der Gemeinde geschehen sind. Und über die Schüler, die bei ihnen
studiert und aus ihrem Munde empfangen haben, haben sie [die Gegner]
viele üblen Nachreden, denen nichts entsprach, in Umlauf gesetzt, und
es hätte wenig gefehlt, daß sie ihre Hand auch gegen ihre Lehrer erhoben
hätten. Vielleicht haben aber auch die Schüler selbst dazu beigetragen, weil
sie ihre Worte nicht genau wählten, sei es in ihren schriftlichen Äuße-
rungen, sei es in Reden vor jedermann. Obwohl ihre Absicht wohlgefällig
war, war doch ihre Sprache unzulänglich und ihre Wissenschaft dadurch
hinfällig, daß sie nicht den richtigen Weg zwischen genügender Mitteilung
an den Einsichtigen [Maskil] und Reserve vor dem Toren in ihren
Reden und Schriften einzuschlagen wußten, wodurch sie sowohl den einen
wie den andern vor Irrtum behütet hätten. So haben sie durch Dunkelheit
geirrt, indem sie ihre Worte nicht am geeigneten Platz deutlich gemacht
haben, und durch übermäßige Ausführlichkeit, wo sie ihre Mysterien
hätten geheim halten sollen. Ihre Leser oder Hörer verstanden ihre Meinung
nicht und haben ihren Gedankengang mißverstanden. So bildete sich bei
ihnen die Vorstellung, daß sie [die Schüler] an zwei höchste Prinzipien
glauben und wie Leugner der wahren Religion dastehen und daß sie die
Ursache der Ursachen ins Körperliche hinabziehen, als ob sie sich ver-
ändere. Und alles, was sie von ihnen dachten, sprachen sie aus und sagten,
daß sie einen Mittler zwischen sich und ihrem Schöpfer annehmen. Und
obwohl jene Schüler voll ausgebildet waren, so haben sie sich das doch
selbst als Folge ihres Hochmuts zuzuschreiben, daß sie nicht mit ihren
Worten zurückhielten und sich sogar zu Vorträgen in der Öffentlichkeit
verstiegen. Und es gibt auch manche unter ihnen, die nur halbgebacken
und unreif und nicht genügend eingedrungen waren. Sie gingen hin und
suchten die höchsten Sprossen der Leiter zu erstürmen, obwohl sie doch
nicht einmal zu den untersten aufgestiegen waren, und gaben dadurch
Anlaß zu Polemik und Gespött19."
Diese Äußerungen Aschers lesen sich wie eine Antwort auf das
erwähnte Rundschreiben des Meir aus Narbonne und sind vielleicht
wirklich als solche gedacht. Auch hier finden wir dieselbe Unter-
scheidung zwischen wirklichen Adepten, die nur nicht das richtige
Maß zu halten gewußt hätten, und Reden unreifer Geister, wie sie
auch Isaak der Blinde in seinem Briefe macht. Auch Aschers Kritik
bezieht sich wohl vor allem auf Ezras und Azriels Schriften, und hier
'» Vgl. a. a. O., S. 161.

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Propaganda der Kabbalisten 357

wird vielleicht der Grund deutlich, warum er sie in seinen Traktaten


niemals nennt, obwohl die sachliche Nähe besonders zu Azriels Ge-
danken unverkennbar ist. Dabei ist übrigens Ascher keineswegs bloßer
Literator und Apologet der Kabbala, sondern seine Ausführungen, be-
sonders im Epilog zu seinem Sepher ha-Jihud (S. 20) zeigen ihn als
echten Mystiker. Selbst wenn man die göttlichen Dinge — sagt er —
aufschreiben dürfte, so könnte man es nicht, ja nicht einmal mündlich
ließen sie sich sagen, und es bliebe nur bei einem hilflosen Stammeln.
Aber wenn auch die Dinge selber unsagbar sind, hegt doch in diesem
Stammeln selber ein authentischer Hinweis, der den Jünger weiter-
führen kann. Die wahren Mystiker, die „Gottes Namen nachsinnen",
man kann auch übersetzen: „über Gottes Namen zahlenmystische
Spekulationen anstellen", suchen zu zeigen, daß „das Emanierte nicht
vom Emanierenden zu trennen ist", mit anderen Worten, daß der
Prozeß des göttlichen Lebens in den Sephiroth nicht Gott gegenüber
verselbständigt werden darf, sondern — den Abweichungen unreifer
Jünger gegenüber — in der Einheit mit seiner Quelle als die Totalität
der wirkenden Gottheit aufzufassen ist.
Die Stellung, welche die Kabbalisten im Bewußtsein der jüdischen
Öffentlichkeit einnahmen, war also in der Generation Isaaks des Blinden
und der ersten spanischen Kabbalisten keineswegs schon fest be-
gründet. Von Anfang an begleiteten ihr Auftreten Einsprüche und
Kritik, die innerhalb der jüdischen Geschichte niemals ganz verstummt
sind, selbst in den Zeiten, in denen die Kabbala auf dem Höhepunkt
ihres historischen und gesellschaftlichen Einflusses stand. Die Kabba-
listen selber empfanden sich aber durchaus als legitime Erben echter
jüdischer Tradition, um deren Bestätigung und Untermauerung inner-
halb des rabbinischen Rahmens es ihnen ging. Während sie zur Halacha
durchweg positiv stehen, ist ihr Verhältnis zur anderen zeitgenössischen
Macht, nämlich der aufklärerischen jüdischen Philosophie, mindestens
in Gerona, noch unsicher. Zwei Tendenzen sind hier erkennbar. Sie
fühlen sich einerseits als Fortsetzer der Philosophen, mit denen sie
nach Möglichkeit Streit vermeiden. Sie übernehmen die Grundlagen
des Denkens, wie es von den ihnen vorangehenden platonisierenden
Aristotelikern ausgebaut worden war. Sie beanspruchen Einsicht in
Bereiche, über die die Philosophen nichts zu sagen wissen, beziehen
aber keine feindliche Stellung zu ihnen. Andererseits sahen sich viele
von ihnen gerade auf solche kritische und direkt feindselige Stellung
verwiesen und erbückten in ihrem eigenen „traditionellen" Illuminaten-
Wissen den Kontrast zu der Aufklärung, die damals in einflußreichen
Kreisen des Judentums Wurzel geschlagen hatte. Ezra selber ist ebenso
bereit, die Kabbala den Meinungen der Philosophen gegenüberzustellen,
wie er sie an anderen Stellen in Kontrast zu denen des Pöbels setzt 80 .
80
Vgl. im Perusch 'Aggadoth, Vat. 294, Bl. 36a und 40b.

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358 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Nachmanides selbst ist sehr vorsichtig, spricht sich aber im


Wesentlichen doch eher negativ über die Philosophen „die die Tora
negieren", aus81. Dennoch nahm er in dem aufregendsten Konflikt der
Zeit, dem um 1232 wieder neu ausgebrochenen Streit mit den An-
hängern des Maimonides, eine eher versöhnliche und positive Haltung
zur Pflege philosophischer Studien ein.
In der Tat ist die Frage der Stellung der Kabbalisten in diesem
Streit, der die Gemüter in Spanien und Frankreich tief erregte, von
beträchtlichem Interesse. Eine sorgfältige Analyse zeigt, daß nicht
so sehr die „Stocktalmudisten", wie Graetz sagt, sondern die Eso-
teriker als bestimmende geistige Macht hinter dieser Kontroverse
standen. Das ist in den früheren Darstellungen dieses Konfliktes
zwischen Glaube und Vernunft nicht deutlich geworden82. Es ist un-
gemein lehrreich zu sehen, daß in derselben Zeit, in der die Kabbalisten
noch gar nicht den Verdacht der Heterodoxie in allen Kreisen über-
wunden oder von sich abgeschüttelt hatten, sie als Protagonisten in
diesem Kampfe sichtbar werden. Die neue Gnosis, welche ungeahnte
Tiefen in der Tora und im Gebet, in den Aggadoth und Midraschim
aufdeckt, tritt, nur wenige Zeit nach ihrem Erscheinen auf dem Schau-
platz der Geschichte, als Verteidigerin der rabbinischen Tradition auf.
Sie steht ihr gegen die Gefahren der Liquidation und der allegorischen
Grenzverwischung, die in der immer· stärker werdenden Strömung der
neuen Aufklärung zum Vorschein kommen, zur Seite.
Dabei sind die Fronten in diesem Konflikt durchaus nicht „glatt"
und eindeutig. Gerade manche von den radikalsten Anhängern des
Maimonides bezogen Stellungen, die einer spiritualistischen Mystik
nahestehen. Die Position, die etwa der hochangesehene Schescheth aus
Saragossa in seinem Brief an die Gelehrten von Lunel (um 1200) in der
Frage der Auferstehung der Toten vertritt, steht in ihrer entschlossenen
Leugnung der körperlichen Auferstehung einer spiritualistischen Escha-
tologie viel näher als die der Kabbalisten83. Es läßt sich vermuten, daß
schon damals, kurz vor dem Tode des Maimonides, unter den Ge-
lehrten von Toledo und vielleicht auch von Lunel, die in den ersten
Konflikt über Maimonides' Lehre von der Auferstehung der Toten ver-
81
Im Scholar ha-Gemul spricht er schlankweg von den Mithpalssephim Mebattele
ha-Tora, vgl. über die Stellung des N. zur Philosophie die hebräische Arbeit von Sa-
muel Krauss, Die wissenschaftliche Beziehung zwischen Nachmanides und Maimonides,
Krakau 1906, S. 6—11 (Separatum aus Ha-Goren V).
82
Vgl. Joseph Sarachek, Faith and Reason, The Conflict over the Rationalism
of Maimonides, New York 1936; Ephraim Urbach, Zion XII (1948), S. 149—169.
83
Das wird aus der vollständigen Publikation des Briefes durch Marx in J. Q. R. 25
(1935), S. 414—428 ganz deutlich. Zum Verständnis der religiösen Stimmung, die
das Aufkommen der Kabbala in Spanien erleichterte ist dieser Brief besonders wert-
voll, und bisher nicht genügend berücksichtigt worden.

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Rolle im Streit um Maimonides 359

wickelt waren, sich einige befanden, die der Kabbala zuneigten. Von
dem Rufer in diesem Streit, Meir ben Todros Abulafia in Toledo (aus
einer Familie aus Burgos), bezeugt sein Neffe, selber einer der be-
deutendsten Kabbalisten Kastiliens nach 1260, daß er „verborgene
innere Weisheit erlangt" habe, was bei ihm sicher Einweihung in die
Kabbala bedeutet84. Freilich wird diese, an sich zuverlässige Uber-
lieferung durch den erhaltenen Kommentar dieses Autors zum Traktat
Sanhédrin nicht bestätigt. Jedenfalls geht er auch an Stellen, die
später von allen Kabbalisten mystisch gedeutet werden, nicht auf der-
artige Spekulationen ein86. Sein Bruder aber, Joseph Abulafia, der
Vater des Kabbalisten, der in Burgos wohnte, spricht in einem seiner
Briefe in dem Streit von 1232 von den „Gelehrten der Kabbala" schon
ganz doppelsinnig. Es können darunter die talmudischen Traditiona-
listen selber verstanden sein, aber auch schon die Kabbalisten als deren
Kommentatoren, auf die wir uns, wo wir diese Gelehrten nicht mehr
verstehen, zu stützen haben. Sein Satz ist nicht eindeutig, scheint aber
bewußt so formuliert zu sein, daß er auch auf die Kabbalisten im
neuen Sinne Anwendung finden konnte. Da wir wissen, daß gerade um
diese Zeit Burgos ein wichtiges Zentrum der Kabbalisten wurde, liegt
es nahe, ihn so zu verstehen: „Es liegt euch nicht ob, die Grundlagen
der Religion auf der Wage der Vernunft zu wägen. . . . Vielmehr
solltet Ihr den Spuren der Visionen der Propheten und ihrer Mysterien
nachgehen und an die Worte und Rätselreden [Allegorien] der Ge-
lehrten glauben. Und selbst wo ihre Worte verschlossen und versiegelt
sind, sind sie doch mit der Schrift der Wahrheit aufgezeichnet [d. h.
etwa: kabbalistisch zu verstehen] . . . Denn alle ihre Wege sind Wege
der Anmut und ihre Reden haben einen tiefen Sinn, und was können
wir anderes tun, als uns auf die Gelehrten der Kabbala in allem, wo
wir die Deutung ihrer Worte nicht verstehen, zu verlassen, wie sich
M
Vgl. Todros Abulafia, Osar ha-Kabhod (1879), Bl. 16d.
86
Er hätte hier, besonders zu Bl. 38 und im ganzen X. Abschnitt des Traktates
überreichlich Gelegenheit zu Andeutungen — wenigstens auf seine Bekanntschaft
mit mystischer Terminologie — gehabt. Sein Gebrauch des Wortes Kabbala ist dem
esoterischen Sprachgebrauch schnurstracks entgegengesetzt. Er sagt öfters, er wolle
alle Fragen der Eschatologie nur „nach der Kabbala, die in ganz Israel verbreitet ist",
erklären, also der exoterischen rabbinischen Tradition folgend, was ja der Gegensatz
zu der Kabbala ist, um die es sich bei den Mystikern handelt. Seine Bemerkung über
das himmlische Jerusalem (Bl. 98a) ist im Munde eines Besitzers esoterischer Weis-
heit schwer zu verstehen. Er sagt, er wüßte nichts darüber, wo sich dies Jerusalem
befände und ob es wirklich der Name einer Stufe in der himmlischen Welt sei ,,und
vielleicht wird Gott unsere Augen erleuchten, den Wortsinn dieser Lehre zu erklären".
Andererseits spricht er von der Unkörperlichkeit Gottes, die durch seine Unendlich-
keit bedingt sei, in Formeln, die auch die Kabbalisten hätten gebrauchen können
(Bl. 99b/c). Der Kommentar zu Sanhédrin ist unter dem Titel Jad Rama, Saloniki
1798, ediert worden.

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360 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

ein Blinder auf seinen Führer, der ihn den richtigen Weg führt, stützt.
Denn alle Pflanzungen der Gelehrten der Kabbala sind eine Aussaat
der Wahrheit und keine leeren Worte 86 ." Daß Jona Gerondi, der
schärfste Kämpfer gegen die Maimonisten, auch wenn er selbst (wie
die beiden Abulafias) nichts Kabbalistisches hinterlassen hat, doch
dem kabbalistischen Zirkel angehört hat, haben wir schon oben ge-
sehen.
Dasselbe gilt für den anderen Chef der antimaimunistischen Partei
Salomo ben Abraham aus Montpellier. Nachmanides benutzt in seinem
Briefwechsel mit ihm eine Wendung, die er an anderen Stellen spe-
zifisch für mystisches Wissen verwendet, konnte also darauf rechnen,
daß sein Korrespondent solche Wendung verstand 87 . Das wichtigste
Beweismaterial hat sich aber wenigstens in Bruchstücken noch in der
Gegenschrift des Abraham, des Sohnes des Maimonides, erhalten, dem
noch zwei theologische Schriften von Salomo aus Montpellier und
seinem Schüler David ben Saul vorlagen. Abrahams Polemik gegen
diese, von ihm leider nur unvollständig zitierten Dokumente zeigt bei
all ihrer Bitterkeit ganz deutlich, daß die beiden esoterische und
mystische Lehren vertraten, wie wir sie im Kreis des Rabed und vor
allem in derselben Art und Aufmachung bei den deutschen und fran-
zösischen Chassidim finden. Alles, was über ihren angeblichen Anthro-
pomorphismus gesagt wird, trifft genauestens auch die Mystik des
Eleazar aus Worms und die Kabbalisten! Man hat also diese Anti-
Maimunisten nicht richtig eingeschätzt, wenn man sie als sture Tal-
mudisten charakterisierte. Soweit Abraham spezifische Lehren und
Zitate von diesen beiden anführt, weisen sie eindeutig in diese Richtung.
Es scheint, daß diese Mystik des Kabhod sich auch bei ihnen schon
mit der älteren Form der provençalischen Kabbala verbunden hat.
Die Stellen sind ganz eindeutig, und erstaunlich ist nur, daß man sie
so beharrlich übersehen hat. Sie verteidigen keineswegs den Wortsinn
der anthropomorphistischen Aggadoth, sondern deuten auf ihren
„wahren" esoterischen Sinn hin 88 .
86
Qebufath Mikhtabhim, S. 16.
87
a. a. O., S. 64, wo aus dem Sprachgebrauch hervorgeht, daß Nachmanides, der
es ja wissen mußte, den Salomo aus Montpellier zu den JocTe Hen rechnet, was bei ihm
öfters als Bezeichnung der Mystiker benutzt wird. Die anthropomorphistischen Ag-
gadoth sind, wie er in seinem Hauptsendschreiben in diesem Streit sagt, eben nur den
Jod'e Hen verständlich, vgl. Qobes Teschubhoth ha-Rambam, Leipzig 1859, Bl. 9d.
Ähnlich auch zu Gen. 461 und in seiner Ausführung über die Seele in seiner halakhischen
Schrift Milhamoth Ά donai.
88
Vgl. die Zitate in Abraham ben Maimonides, Milhamoth Ά donai, Hannover
1867, S. 16, 20—21, und vor allem S. 29—35. Er wirft ihnen vor, daß sie über Eso-
terisches sprechen, ohne es zu verstehen. Die von ihm zitierten Anschauungen über
den Kabhod, dessen Erscheinung im Westen, über den Thron und den Vorhang davor,

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Rolle im Streit um Maimonides 361

Die Esoteriker und Gnostiker kämpfen — und das ist das Paradoxe
bei der Sache — gegen eine Spiritualisierung, in der sie eine Gefahr
für den lebendigen Glauben finden. Die gnostische Theosophie erfüllt
die Funktion, eine mystische Auffassung von Gott mit einem unge-
brochenen Glauben an die Werte und Wege der Tradition und deren
konkrete Gestaltungen zu verbinden. Die Polemik Jakob ben Sche-
scheths gegen die Spiritualisierung des Gebets, auf die oben hinge-
wiesen wurde, gehört in diesen Zusammenhang. Wenn wir fragen,
worum dann eigentlich der Streit ging, läßt sich antworten : die Philo-
sophen wollten Begriffe, die Mystiker aber Symbole. Die Maimonisten
entwarfen ein kontemplatives Weltbild, das allegorisch-rationaler
Natur ist. Alle Dinge bedeuten etwas, aber etwas, was sich im Grunde
aussprechen läßt. Die Kabbalisten in der Provence und in Gerona ent-
wickelten demgegenüber ebenfalls ein kontemplatives Weltbild, aber
eines, das symbolisch-irrationaler Natur ist. Die Allegorie, das radikale
Denkmittel der Philosophen, wird auf einen zweiten Platz verwiesen.
Die großen Symbole des göttlichen Lebens nehmen den ersten ein.
Alle Dinge bedeuten etwas, aber etwas Unaussprechliches. Ein Leben
ohne Worte und ohne Begriffe, ein Leben, das sich ihnen verschüeßt,
findet seinen Ausdruck in der neuen Symbolik. Der Kampf, den die
Geronaer Kabbalisten in verschiedenen Tonarten gegen die Maimu-
nisten führen, bezweckt im Grunde die Zerstörung eines Weltbildes
der allegorischen Immanenz. Gerettet werden sollten die Gebote und
Rituale der Tora als Symbole der Transzendenz, die in unsere Welt an
gewissen Stellen einbricht, nicht als Allegorien innerweltlicher Ideen
oder gar als innerweltliche „Erziehungsmethoden". Gerona ist kein
Zentrum der „Schwärmerei", wie sie sich dann in Abraham Abulafias
Lehren von der „prophetischen Kabbala", paradox genug, gerade auf
Maimonides selber berufen hat 89 . Es sind weniger ekstatisch auf-
flammende als in sich gekehrte, kontemplative Naturen, die hier zu
uns sprechen.
Das Symbol ist schließlich aus der Erinnerung an ekstatische Mo-
mente unaussprechlichen Gehalts geboren. Es hat etwas Aufreißendes
und Erschütterndes an sich. Die Kabbalisten von Gerona unternehmen
es, das Symbol in die Kontemplation zu bannen, ohne es zur reinen
Allegorie werden zu lassen. Das entwickelte Interesse für den sym-
bolischen Charakter des religiösen Lebens führt hier zur ersten großen
Welle der mystischen Kommentarliteratur. Die Bibel, die talmudi-
schen Aggadoth, die Vorschriften der Tora und die Gebete werden zu
entsprechen genau denen der esoterischen Schriften des Eleazar von Worms. Daß
dessen Schriften in der Provence und in Gerona bekannt waren, unterliegt keinem
Zweifel. Nachmanides bezieht sich in seinem großen Sendschreiben ausdrücklich
auf sie.
88 Vgl. dazu Kap. IV meiner Jüdischen Mystik.

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362 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

mystischen Symbolen tief verborgener göttlicher Realitäten, deren


Ausdruck in sich selbst uns unzugänglich und versagt ist. So gesehen,
konnte Maimonides' „Führer" höchstens nur in einen Vorhof der
Mystik führen, nicht mehr.
Was hier über die Rolle der Kabbalisten im Kampf um die Philo-
sophie des Maimonides gesagt wurde, findet seine volle Bestätigung
in den Gedichten des Meschullam ben Salomo Dapiera. Die vor-
nehmere Publizistik spielte sich im mittelalterlichen Hebräisch oft in
Gedichtform ab, deren eigentlich poetische Meriten gering sind, die
aber Gelegenheit zur zugespitzten und ausdruckskräftigen Darlegung
strittiger Positionen bot. Meschullam ist einer der begabtesten Pub-
lizisten dieses Stils und seine jetzt gesammelt vorhegenden Gedichte
zeigen ihn als einen ungemein fähigen Vertreter der anti-maimu-
nistischen Partei. Der Autor lebte in Gerona, war auch zeitweise Vor-
sitzender der Gemeinde und stand in engstem persönlichem und gei-
stigem Kontakt mit dem Kreis der Kabbalisten, in denen er, vor allem
in Ezra, Azriel und Nachmanides, seine Lehrer und geistigen Führer
erblickt. Er macht keinerlei Hehl daraus, daß die Kabbala den posi-
tiven Boden bildet, der seinen Kampf gegen die rationalistische Auf-
klärung trägt. Er verhöhnt die Maimunisten in geistreichen Versen, in
denen er die Schwäche ihrer Position zu zeigen sucht. Die kabbalisti-
schen Lehren selber aber, die er ihnen offenbar entgegensetzt, sind nur
für Eingeweihte, die ihre Worte wägen und zu schweigen wissen. Er
hat bei Ezra und Azriel die geheime Wissenschaft studiert :
Ja, mir sind Ezra und Azriel Beistand,
Die Kabbaloth auf meine Hände schütten90.
In einem Preisgedicht auf die Mitglieder seines Kreises klagt er um
den Tod der beiden, „deren Schilde an meinen Mauern hängen". Er
steht auf festem Grunde: „In unserer Mitte ist das Ephod, und wozu
brauchen wir Tote zu beschwören; in unsern Händen sind die unzer-
brochenen Tafeln. Des Nachman Sohn ist uns ein fester Hort, seine
Reden sind gemessen und galoppieren nicht unbesonnen darauf los.
Ezra und Azriel und meine anderen Freunde, die mich Wissen lehrten
ohne zu lügen — sie sind meine Priester, die hellen Sterne meiner
Nacht. Sie wissen Zahl und Maß für ihren Schöpfer, hüten sich aber
von Gottes Glorie öffentlich zu reden und halten aus Rücksicht auf
die Ketzer mit den Worten ein91". Seine Lehrer in der Mystik haben
ihn schweigen gelehrt, aber er erwähnt doch die mystische Kawwana
der Gebete, die Meditation im Einheitsbekenntnis, die mystischen
80
In der Ausgabe der Gedichte durch H. Brody in Jedi'oth ha-Makhon le-Heqer
ha-Schira IV (1938), S. 92.
S1
a. a. O. S. 104.

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Rolle im Streit um Maimonides 363

Gründe solcher Gebote, die gerade bei den Geronaer Kabbalisten her-
vorgehoben werden, und deutet die Sephirothlehre an92. Ganz wie
Jakob ben Schescheth, wirft er den Rationalisten vor, daß sie nicht
mehr zu beten wissen, und verteidigt den mystischen Charakter gerade
derjenigen Aggadoth, die die Rationalisten am meisten in Verlegenheit
setzten :
Ihr, die an den Aggadoth Makel findet — sachte!
Vielleicht Mysterien sind's, nicht zu bereden93.
Er verteidigt den mystischen Anthropromorphismus der Kabbalisten
und sieht in ihnen die rechten Interpreten der Eschatologie, und be-
sonders des Begriffs der „Welt der Seelen94". Diese Gedichte sind un-
gefähr in den 40er Jahren geschrieben und bilden in ihrer betont kon-
servativen Haltung einen merkwürdigen Kontrast zu den zeitgenössi-
schen Angriffen des Meir ben Simon. Aber auch die angegriffenen
Rationalisten zahlten später in gleicher poetischer Münze heim und
machten sich über die Mysterien lustig, die Nachmanides in seinen
Kommentar zur Tora hineingeheimnist habe. Sie warfen ihm Mangel
an wissenschaftlicher Bildung und pfäffischen Hochmut vor95. Er
habe seine Blöße durch die Flucht in die Kabbala zugedeckt, wo es ihm
dann leicht gefallen sei, alles mit einem Schleier des Esoterischen zu
umgeben96. Diese und ähnliche Äußerungen sind aber erst nach seinem
Tod entstanden. Zu seinen Lebzeiten war die Autorität des Nach-
manides viel zu überragend, als daß sich solche Kritik hätte hervor-
wagen können.
Wir haben das Klima umschrieben, in dem die Kabbala in Gerona
zu einem wichtigen Faktor im Judentum heranwuchs. In diesem Kreis
sah man sich auch nach Bundesgenossen und möglichen Autoritäten
um, auf die die esoterische Tradition sich berufen konnte, ohne zur
Pseudepigraphie zu greifen. So kam Jehuda Halewi, dessen Kuzari
in diesem Kreis viel zitiert wird97, zum Rang eines Adepten, und auch
92
a. a. O. S. 55, 66, 81, 109.
»3 a. a. O. S. 109, 17.
M
a. a. O. S. 18, 34, 41, 91.
»5 Vgl. das Gedicht in he-Chaluz II (1853), S. 162.
94
Schiller-Szinessy, Catal. of the Hebrew Manuscripts in Cambridge (1876), S. 182.
Beide Stellen stammen aus der Polemik des Sacharía ben Moses Kohen. Um 1290
richtet andere heftige Äußerungen gegen Nachmanides Serachja ben Isaak aus Barce-
lona, vgl. Ozar Nechmad II (1857), S. 124—126. Er wirft ihm vor, die Ansichten der
Philosophen mit denen der Gelehrten des Talmud vermengt und dadurch Verwirrung
gestiftet zu haben, während in Wirklichkeit nicht einmal ein Anfänger in der Philo-
sophie in den Problemen, mit denen Nachmanides sich ohne Ausweg abgeplagt habe,
irgend eine Schwierigkeit gefunden hätte.
· ' Nachmanides zu Hiob in der Vorrede und zu 32 2 sowie Azriel in Schaar ha-Scho'el
benutzen eine Formel aus dem Kuzari I, 77. Ezra zitiert, ohne den Kuzari zu nennen.

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364 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

in den Andeutungen auf „Geheimnisse" im Torakommentar des Abra-


ham ibn Ezra glaubte Nachmanides hier und da Anzeichen seiner Be-
kanntschaft mit „guter Kabbala" entdecken zu können98. Die neu-
platonische Stimmung dieser Autoren erleichterte ihre Adoption durch
die Kabbalisten, wenn auch die Bedenken gegen die freigeistigen
Neigungen des ibn Ezra sich lebhaft geltend machten. Es fragt sich
auch, ob vielleicht auch andere, früher unbekannte, ältere Texte nach
Gerona gelangt sein mögen, von denen die ältesten Kabbalisten keine
Kenntnis hatten. Dafür gibt es mindestens ein Indiz. Nachmanides
zitiert, freilich erst in Schriften aus den 1250er und 60er Jahren, die
apokryphe „Weisheit Salomos", die ihm in „schwerverständlichem
Aramäisch" vorlag, das aber, wie seine Abschrift beweist, nichts
anderes war als der in hebräische Charaktere transkribierte syrische
Text aus der Peschitta". Nachmanides wußte, daß das Buch auch
lateinisch existiert, und erklärte es ausdrücklich als nicht inspiriert,
obwohl er an seiner Authentizität nicht zweifelt. Neumark hat aus
diesem „literarhistorischen Sachverhalt" viel zu weitgehende Konse-
quenzen gezogen100. Der Einfluß dieser Schrift auf die Kabbala ist
ihm selbstverständlich und er spricht von einer „inneren Verwand-
schaft der Weltanschauung bzw. Geschichtsphilosophie dieser Schrift
mit den genannten [seil, kabbalistischen] Systemen." Und „wenn sie
Nachmanides gesehen hat, so haben sie wohl alle andern jüdischen
Philosophen und Kabbalisten ebenfalls gesehen." Gerade das wäre
aber erst zu beweisen. Offenbar gelangte eine Handschrift, die eine

I, 109, und IV, 25, im Kommentar zum Hohen Lied, Bl. 4a und dem Perusch 'Ag-
gadoth, in seinem Brief an R. Abraham dagegen nennt er ihn ausdrücklich und zitiert,
von ihm selber mystisch ungedeutet, die Erklärung des Opfers aus II, 26. Jakob ben
Schescheth zitiert in Meschibh, Hs. Oxford, Bl. 17 b den Kuzari I, 103. Die häufige
Benutzung in Nachmanides' Torakommentar hat schon Joseph Perles, Über den Geist
des Commentare des R. Moses ben Nachman zum Pentateuch, M. G. W. J. VII (1858),
S. 153, nachgewiesen.
98
Er tadelt die „Geheimnisse" ibn Ezras z. B. zu Gen. 241, lobt sie aber zu Exodus
29 48, im Scha'ar ha-Gemul, Ferrara 1556, Bl. 18a, und vor allem in seiner Predigt
über die Tora, S. 28, wo er über ibn Ezras Bemerkung zu Lev. 25z sagt: „In allen
seinen Büchern steht nichts, was mehr auf seine gute Kabbala hinweist, als diese
Stelle". Da er hier von einer entschieden kabbalistischen Lehre, über das Welten-
Jobel spricht, die er bei ibn Ezra angedeutet findet, benutzt er Kabbala hier zweifel-
los in der neuen technischen Bedeutung des Wortes, und nicht einfach im Sinne von
Überlieferung.
98
In der Vorrede zum Torakommentar zitiert er zwei Stücke aus der Sapientia
Salomonis, Kap. VII. Ferner erwähnt er das Buch in seiner Predigt über die Tora,
S. 22, und in der über Qoheleth, S. 9. Die letztere Stelle ist am interessantesten, weil
sie zu beweisen scheint, daß ihm das Buch vollständig vorgelegen hat.
10
« D. Neumark, Geschichte der Jüdischen Phüosophie II, 1. Hälfte (Berlin 1910),
S. 372.

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Rolle im Streit um Maimonides 365

hebräische Transkription dieses und vielleicht noch anderer Texte


aus syrischer Schrift enthielt, um 1250 aus Palästina, wahrscheinlich
aus Akko, nach Gerona — aber erst Jahrzehnte nach dem Tode Ezras
und Azriels und anderer Kabbalisten dieses Kreises. Nirgends zeigt
sich, daß gerade die Spekulationen über die Weisheit in diesem Buch
auf die weitere Gestaltung der kabbalistischen Lehre von der Sophia
irgendwelchen Einfluß gehabt hätten. Nichts berechtigt uns anzu-
nehmen, daß das Buch schon vorher in der Provence bekannt war,
oder Azriels Ideen, soweit sie neu sind, auf sie zurückgehen.
Der Autor des Zohar weiß zwar durch Nachmanides von dem Titel
der Schrift, kennt sie aber nicht mehr und denkt sich, wie Jean
Pauls Schulmeisterlein Wutz, Zitate, die zu ihr passen könnten,
selber aus101. So bleibt das Auftreten dieser Handschrift mehr ein
literarhistorisches Kuriosum ohne Bedeutung für die wirkliche
Geschichte der Kabbala.
Die Kabbala erscheint in Gerona in der voll ausgearbeiteten Gestalt
einer kontemplativen Mystik, die alle Bereiche des jüdischen Lebens
in ihren Bannkreis zieht und zu durchdringen sucht. Mit ihrer Lehre
von der Debhequth als höchstem Wert des kontemplativen Lebens und
von der Kawwana, der das Gebet und die Vollziehung der Gebote be-
gleitenden inneren Sammlung und Meditation, grenzt sich diese Mystik
von einer freischweifenden spiritualistischen Tendenz ab, die eine
unmittelbare Verbindung des Menschen mit dem Unendlichen, die
keine mittleren Stufen zu durchmessen braucht, herzustellen strebt.
Unter der Gestalt, die die Kabbala nun annimmt, bindet sie solche
schweifende Spiritualität an die Welt des menschlichen Tuns ver-
mittels der mystischen Symbole, die in allen Bezirken aufleuchten und
alles Irdische auf die Welt der Gottheit, wie sie sich in den Sephiroth
darstellt, zurückbeziehen. Sie statuiert eine Stufenleiter für die Er-
hebung meditativer Geister, die die gefährlichen Sprünge derer, die
sich unvorbereitet und undiszipliniert in das Meer der Kontemplation
stürzen, vermeidet. Gerade von hier aus wird die Wirksamkeit der
Kabbala als einer konservativen Macht besonders deutlich, wenngleich
sie selbst mit den Kräften verbunden ist, die auf eine Spiritualisierung
des konkreten Judentums ausgehen. Vielleicht nicht ihrem historischen
Bewußtsein, wohl aber ihrer Funktion nach, steht sie an einem Scheide-
wege. Sie konnte in gewissem Umfang manche Maimunisten durch das
gemeinsame Element anziehen, das die Lehre von der mystischen
Debhequth, die ja auch im „Führer der Verwirrten" nicht fehlt, zwischen
den beiden Lagern bildet. Andererseits konnte sie konservativere
Kräfte durch ihren rastlosen Kampf für die Geltung der Überlieferung
und ihre gnostische Verteidigung des Glaubens des einfachen Juden
101
Vgl. Al. Marx im Journal oí BibUcal Literature vol. 40 (1921), S. 57—69.

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366 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

an sich ziehen — der Dialektik ungeachtet, die in solcher Verteidigung


steckt. So erklärt sich, daß manche Kabbalisten die mystischen Mög-
lichkeiten ergriffen, die sie in manchen Punkten der Lehre des Mai-
monides fanden. Andere wiederum zogen es vor, die Welt des Esoteri-
schen ganz und gar von der der philosophischen Spekulation zu trennen
und sie vielmehr auf die alten Symbole der Aggada zurückzubeziehen.
Bei einem um 1230 schreibenden Autor lesen wir einen pseudepigra-
phischen Ausspruch im Namen des Maimonides, der solche Abgrenzung
nach beiden Seiten hin ausspricht. Zu Hiob 418 soll Maimonides
erklärt haben: „In seine Diener setzt er kein Vertrauen — das sind
die Philosophen, denen er das Geheimnis seiner Wirklichkeit nicht an-
vertraut hat. Und die Himmel sind nicht rein in seinen Augen — das
sind die Asketen, Pruschim, die die Einsamkeit in den Wüsteneien
suchen; auch sie sind in seinen Augen nicht rein genug, ihnen die
Wunder seiner Gottheit und das Geheimnis seines Zyklus zu offen-
baren102." Zwar waren die Kabbalisten, soweit wir urteilen können,
nicht mit den Asketen in den Wüsten Asiens oder Afrikas verbunden,
wohl aber mit jener Schicht der Pruschim und Chassidim in den
kleineren und größeren Städten Frankreichs, von der S. 202 ff. die
Rede war. Gerade aus dieser Verbindung erwuchs der ihren Gang
in der Geschichte antretenden Kabbala die Kraft zum Kampf ge-
gen die, in einer anderen Schicht verankerte, philosophische Auf-
klärung, die von den mit den Höfen der Mächtigen verbundenen
Steuerpächtern und anderen wohlhabenden Gruppen getragen und
unterstützt wurde, wie die Forschungen Isaak Baers in „A History of
the Jews in Christian Spain" (1961) so eindringlich gelehrt haben.
Zu dieser Schicht, in der die Neigung zur Aneignung fremder Lebens-
formen und zur Gleichgültigkeit dem überlieferten Gesetz gegenüber
erstarkte, gehörten auch nicht wenige Ärzte und Astronomen. Vor
allem in Gerona, aber auch in Burgos und Toledo, die selber Hoch-
burgen der Aufklärung waren, konzentrierten sich auch die konser-
vativen Kräfte in dieser Auseinandersetzung, die dann bald auch in
anderen Zentren, wie Saragossa und Barcelona, für uns sichtbar wird.

3. Der Aufstieg durch die Kawwana


Das Nichts und die Hokhma

Wir können in diesem Zusammenhang, wenn wir uns nun den An-
schauungen der Kabbalisten von Gerona zuwenden, nur einige be-
sonders wichtige Punkte hervorheben, an denen der Beitrag dieser
102 Vgl diesen Pseudo-Maimonides bei Moses Taku, Kethabh Tamim, in Oçar Neh-
tnad III, S. 66.

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Aufstieg durch Kawwana 367

Grappe zur Kristallisierung der Kabbala in Erscheinung tritt. Von


der hier intensiv einsetzenden Ausbildung der mystischen Symbolik,
die den Bereich der Sephiroth immer nachdrücklicher mit dem Ir-
dischen und Kreatürlichen verband, kann hier nicht im Detail gehan-
delt werden. In Gerona beginnt wohl die Entwicklung jener Literatur-
gattung kleiner und kleinster Traktate, in denen die Symbole, unter
denen die zehn Sephiroth vorgestellt werden können, für jede einzelne
Sephira zusammengefaßt und mehr oder weniger ausführlich be-
gründet werden. Die meisten dieser, in den Handschriften sehr zahl-
reichen Traktate gerade aus der ältesten Zeit, sind anonym103. Es zeigt
sich in ihnen, daß das Schema der Symbolik auf sehr verschiedene
Weise aufgefüllt werden konnte und viele Symbole noch im Fluß sind.
Das gilt nicht nur für die höchsten drei Sephiroth, bei denen es besonders
deutlich wird, sondern für alle. Offenbar bestehen auch zwischen den
Kabbalisten von Gerona selber weitgehende Differenzen auf diesem
Gebiet, wie sich zeigt, wenn man etwa die Sephirothsymbolik des Az-
riel, des Jakob ben Schescheth und des Nachmanides vergleicht.
Der bedeutendste Beitrag, den wir in diesem Kreise zur Vertiefung
der kabbalistischen Spekulation im Prinzipiellen erhalten, gehört dem
Azriel zu. Sein Beitrag liegt entschieden auf der Seite, die man als die
Ontologie der Kabbala ansprechen könnte, und nicht auf der Seite der
Anthropologie. Hier waren sich die Kabbalisten im Wesentlichen einig,
da sie im Menschen die Zusammenfassung aller Kräfte der Schöpfung,
die ihrerseits die Kräfte der Gottheit sind, wiederfanden und in seinem
aktiven Leben im Sinne der Tora den Wiederschein und Abglanz all
jener Kräfte aufzudecken suchten. Der Mensch, in dem alles sephiro-
thische Wesen sich abspiegelt, ist zugleich auch der Transformator,
durch den diese Kräfte zu ihrem Ursprung zurückgeleitet werden. Der
Ausgang aller Dinge aus dem Einen und die Rückkehr aller Dinge zum
Einen, wie die von ihnen übernommene neuplatonische Formel lautet,
hat sein Ziel und seinen Wendepunkt im Menschen, wenn er in der
Wendung nach innen sein eigenes Wesen zu erkennen beginnt und aus
der Vielfältigkeit seiner Natur zur Einheit seines Ursprungs zurück-
strebt. Wie immer die Art des Hervorgangs des Geschöpflichen aus
Gott gedacht werden mag, ist über die Art der Rückkehr hier doch
kein Zweifel. Sie vollzieht sich im Aufstieg der Kawwana, in der Intro-
version des Willens, der, statt nach außen sich ins Vielfältige auszu-
wirken, sich sammelt und in seiner Reinigung von allem Selbstsüch-
tigen den Anschluß an den Willen Gottes, den des „unteren Willens" an
den „oberen Willen" erreicht. Die Gebote und ihr Vollzug sind Ve-
hikel dieser Rückwendung zu Gott. Es wohnt ihnen ein spirituelles
103
Ich habe eine Bibliographie dieser Traktate über die zehn Sephiroth in Kirjath
Sepher X (1934), S. 498—515, veröffentlicht.

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368 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Element inne, das der Mensch ergreifen kann und soll und durch das er
mit der Sphäre des Göttlichen verbunden wird. Denn die Gebote selber
sind, in ihrem spirituellen Element, selbst Bestandteil des göttlichen
Kabhod104. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie die Mystik des
Opfers und die des Gebets schon bei den provençalischen Kabbalisten
in genaue Parallele gesetzt wurden. „Erhörung" des Gebets oder „An-
nahme" des Opfers weisen daraufhin, daß das Göttliche in den Bezirk
des menschlichen Willens, wo er sich dem göttlichen anschließt, ein-
bricht. Die beiden Motive der Aufhebung des eigenen Willens und
seiner Stärkung gerade in dieser Aufhebung und Selbsthingabe, die
sich zu widersprechen scheinen, bestehen in der Idee der Debhequth
nebeneinander und ineinander. Azriel hat diesen Gedanken zum deut-
lichsten Ausdruck gebracht. „Der Betende soll alles Hemmende und
Störende von sich abstoßen und das Wort zu seinem Ursprung —
wörtlich: zu seinem Nichts — zurückführen"105. Bringt er aber die
Worte an die Grenze des „Nichts", erleidet doch ihr Sein dabei keine
absolute Unterbrechung. Vielmehr erneuert es sich und schöpft aus
dieser Berührung mit seinem Ursprung „Kraft zum eigenen Bestand".
Die Debhequth des Menschen an Gott verwischt also nicht die Grenzen
zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern wahrt sie in dieser beson-
deren Form von Kommunion.
Wie weit diese Auffassung von der pantheistischen Identifizierung
des menschlichen und göttlichen Wesens entfernt war, lehrt aufs ein-
drucksvollste ein Stück, das sich anonym unter dem Titel,, Kapitel über
die Kawwana, von den alten Kabbalisten" in vielen Handschriften
findet, dessen Autor aber im engsten Kreis Azriels zu suchen ist. Nach
meiner Uberzeugung ist dem Stil und Gedanken nach Azriel selbst der
Autor. Dieser kurze Text gibt eine sehr genaue und kostbare Beschrei-
bung dessen, was in der Kawwana vorgeht. Die Ausführlichkeit und
Genauigkeit des Ausdrucks, die in der Literatur der Kabbala kein Ge-
genstück hat, haben wir zweifellos dem Umstand zu verdanken, daß
der Autor die Magie der Kawwana beschreiben wollte — dabei aber zu-
gleich ihr mystisches Wesen bis zu einem hohen Grad mitbeschrieb.
Tritt doch das Verhältnis dieser beiden Gebetshaltungen hier in sel-
tener Eindringlichkeit und Klarheit hervor. Die mystische Konformi-
tät des Willens wechselt sichtbar zu einer magischen hinüber, deren
Wurzeln, wie nicht vergessen werden darf, keineswegs erst kabba-
listisch sind. Ist es doch schon jene magische Nuance in der Konformi-
tät des Willens, die in einem berühmten Worte der „Sprüche der

104
Azriel zu den 'Aggadoth, S. 38. Ezra sagt (Hoheliedkomm. Bl. I I a ) : „Der
Vollzug des Gebotes ist selber Licht des Lebens", d. h. Manifestation des ihm inne-
wohnenden Kabhod.
106
In Azriels Thesen über das Gebet, § 9, Gedenkbuch Gullak-Klein, S. 215.

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Aufstieg durch Kawwana 369

Väter" in der Mischna ihren Ausdruck findet. R a b b a n Gamliel, der


Sohn des J e h u d a Hanassi, pflegte zu sagen: „Mache Seinen Willen wie
Deinen Willen, damit E r Deinen Willen wie Seinen Willen mache. L a ß
Deinen Willen vor Seinem Willen aufhören, damit E r den Willen an-
derer vor Deinem Willen aufhören lasse" 1 0 6 . Das Stück, das durch die
Verbindung der Theorie der Kawwana mit der Lichtsymbolik, der Me-
ditation über die Stufen verschiedener Lichter, bemerkenswert ist,
lautet in vollständiger Übersetzung:
„Wer sich etwas in seinem Sinn mit vollkommener Festigkeit vornimmt,
dem wird es zur Hauptsache. Wenn du also betest und Benediktionen
sprichst, oder sonst die Kawwana auf etwas wahrhaft richten willst, so stelle dir
vor, daß du und alles um dich Licht bist, von j eder Richtung und j eder Seite her
Licht; und in dem Licht ein Lichtthron und darauf ein .glänzendes Licht' 107
und ihm gegenüber ein Thron und darauf ein .gutes Licht' 108 . Und stehst du
zwischen ihnen und willst Rache, so wende dich dem ,Glanz' zu, und willst
du Liebe, so wende dich dem .Guten' zu, und was aus deinen Lippen kommt,
sei seinem Antlitz zugewandt. Und wende dich nach rechts, und du wirst
.leuchtendes Licht' finden109, nach links und du findest eine Aura, die das
.ausstrahlende Licht' ist 110 . Und zwischen ihnen und über ihnen das Licht
des Kabhod und um es herum Licht des Lebens. Und über ihm die Krone
des Lichtes, das die Anliegen der Gedanken krönt, die Wege der Vorstel-
lungen erleuchtet und den Glanz der Visionen beglänzt. Und dies Leuchten
ist unergründlich und unendlich, und aus seiner vollkommenen Herrlichkeit
kommen Gnade und Segen, Friede und Leben denen, die den Weg Seiner
Einigung innehalten. Zu denen aber, die von seinem Wege weichen, kommt
das Licht, das sich verbirgt und sich von einem Ding zu dessen Gegensatz
verwandelt, [und es erscheint ihm manchmal] als Heimsuchung und [manch-
mal] als rechte Führung 111 , je nach der Kawwana dessen, der sie auf rechte

1W1
Mischna, Tr. Abhoth II, 4.
107 'or Nogah, nach Prov. 4 18. Wie aus der Fortsetzung folgt, meint er damit aber
den „Lichtglanz", der in der Merkaba-Vision Ez. 1 4 erwähnt ist, und zwar vielleicht
schon in der Nuance, wie ihn die kabbalistischen Kommentare zu diesem Vers ver-
stehen. In Nogah mischen sich Gnade und Gericht. Einen „Thron des Nogah" kennt
das '/j;'w»-Schrifttum als eine der Potenzen in der Merkabawelt.
108
Jenes absolut gute Licht, von dem Gen. 1 4 spricht.
109 Or bahir, nach Hi. 37 21. Die Unterschiede dieser Grade, wie sie dem Autor

vorschweben, sind uns nicht mehr bekannt. In der alten Literatur, vor allem bei
Saadia Gaon ist das Urlicht von Gen. 1 4 selber jenes 'Or bahir.
110 Or mazhir ist in der Literatur des '///MM-Kreises eine Art Astrallicht, in welchem

die prophetischen Visionen erscheinen, vgl. hier im übernächsten Satz das Licht, das
„den Glanz der Visionen beglänzt". Vgl. das von mir im Katalog der Jerusalemer
Kabbala-Hss., S. 209, gedruckte Stück über dieses Licht aus dem Merkaba-Kommentar
des Jakob ben Jakob Kohen.
111
Ich verstehe Joscher hier im Sinne von Hajschara, der Weg zur Seligkeit, im
Gegensatz zu Tokhahoth Mussar, den Heimsuchungen dessen, der von dieser rechten
Bahn abweicht.
Scholcm, Kabbala 24
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370 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Weise zu vollziehen weiß : durch Anschluß, Debhequth, an den Gedanken und


Willen, der in seiner vollen Stärke aus dem Unergründlichen emaniert. Denn
nach der Intensität der Kawwana, mit der sie Stärke an sich zieht durch
ihren Willen und Willen durch ihre Erkenntnis und Vorstellung durch ihr
Denken und Kraft durch ihr Hingelangen [zum Urquell des Willens] und
Festigkeit durch ihre Besinnung — wenn keinerlei anderes Sinnen und An-
liegen sich in sie mischt und ihr von der Macht, mit der sie gelenkt wird, In-
tensität zuwächst, um den Strom, der aus Έη-Soph kommt, an sich zu
ziehen — [nach Maß solcher Intensität der Kawwana] vollzieht sich jedes
Ding und jeder Akt nach seinem Sinn und seinem Willen, wenn er nur die
Grenzen der endlichen Dinge und den ihren Gedanken innewohnenden Wil-
len aus dem Prinzip, aus dem sie stammen, zu umfassen weiß. Dann soll er
sich mit der Kraft seiner Kawwana über sie erheben und in die Tiefe gehen,
um den [gewöhnlichen] Weg von dessen Prinzip aus zu zerstören und einen
neuen Weg nach seinem eigenen Willen zu bahnen : durch die Kraft seiner
Kawwana, die aus der vollkommenen Glorie des sich entziehenden Lichtes
stammt112, das weder Gestalt noch Bild hat, weder Maß noch Größe, weder
Schätzung noch Grenze, weder Ende noch Grund noch Zahl, und das in gar
keiner Hinsicht endlich ist. Und wer sich solcherweise durch die Kraft seiner
Intention von Wort zu Wort erhebt, bis er zum Έη-Soph gelangt, der muß
seine Kawanna auf eine Weise lenken, die seiner Perfektion entspricht, so daß
der obere Wille sich in seinen Willen kleidet, und nicht etwa, daß nur sein
Wille allein sich in den oberen Willen kleidet. Denn der Ausfluß [der Ema-
nation, die vom göttlichen Willen ausgeht] ist nur dann wie der unerschöpf-
liche Quell, der nie abbricht, wenn er bei seiner Annäherung an den oberen
Willen sorgfältig darauf achtet, daß der obere Wille sich in den Willen seines
Verlangens kleidet. Wenn dann der obere Wille und der niedere Wille in
ihrer Ungeschiedenheit, in der Debhequth an der [göttlichen] Einheit, eins
werden, so ergießt sich der Ausfluß nach dem Maß seiner Perfektion. Die
Vervollkommnung des niederen Willens kann aber nicht geschehen, wenn er
sich ihm [dem oberen Willen] für sein eigenes Bedürfnis annähert, sondern
nur, wenn er sich [an den oberen Willen] annähert und wenn sich in ihn der
Wille einkleidet, durch den sich genug von der Ungeschiedenheit113 mani-
festiert, das sich [sonst] im verborgensten Mysterium verbirgt. Und wenn er
sich ihm auf solche Weise nähert, so nähert sich auch der obere Wille ihm
und gewährt seiner Kraft Festigkeit und seinem Willen Antrieb, alles zu voll-
enden und durchzuführen, und sei es selbst nach dem Willen seiner Seele, an
dem der obere Wille keinen Teil hat. Und das meint der Vers [Prov. 11 29] :
,Wer Gutes erstrebt, suche den Willen'. Denn soweit sein Wille an einem Ge-
genstand haftet, der dem oberen Willen entspricht, kleidet sich der Antrieb
[des göttlichen Willens] in ihn und zieht sich nach seinem eigenen [mensch-
lichen] Willen zu jedem beliebigen Gegenstand hin, um den er sich mit der
Kraft seiner Kawwana anstrengt. Und er zieht den Ausfluß herab, der die

112
Hier sind also gerade die beiden Begriffe der „vollkommenen Herrlichkeit" und
des „sich entziehenden Lichtes", die oben in gewissem Kontrast zueinander auftreten,
in einem einzigen verbunden.
113 v g l . über diesen Begriff der Haschma'a unten S. 388.

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Aufstieg durch Kawwana 371

Geheimnisse der Dinge114 und Wesenheiten auf dem Wege der Hokhma und
mit dem Geist der Bina und mit der Festigkeit der Da'ath krönt115. Und in
dem Maß, wie er sich mit dem Geist bekleidet und seine Kawwana durch
seine Worte erläutert und ihr durch seine Handlungen ein sichtbares Zei-
chen setzt, zieht er den Ausfluß von Kraft zu Kraft und von Ursache zu Ur-
sache, bis seine Handlungen im Sinne seines Willens beendet werden. Und
solcherart pflegten die Alten eine Weile vor dem Gebet in Betrachtung zu-
zubringen116 und alle übrigen Gedanken abzulenken und die Wege ihrer
Kawwana [während des folgenden Gebets] und die Kraft, die auf deren
Lenkung zu verwenden wäre, zu bestimmen. Und ebenso [auch] eine Weile
während des Gebetes, um die Kawwana in der artikulierten Rede zu reali-
sieren. Und ebenso eine Weile nach dem Gebet, um darüber zu meditieren,
wie sie die Kraft der Kawwana, die in der Rede zum Abschluß gekommen
war, auch in die Wege der sichtbaren Handlungen lenken könnten. Und da
sie wahrhaft Fromme, Chassidim, waren, wurde ihre Tora Tat und ihr Werk
gesegnet117. Und dies ist der Weg von den Wegen der Prophetie, auf dem,
wer sich mit ihm vertraut macht, zum Rang der Prophetie aufzusteigen
vermag"118.
Die wahre Kawwana, die hier beschrieben wird, ist also identisch
mit dem Weg zur Prophetie, der über die Verwirklichung der voll-
kommenen Debhequth an Gott, des Anschlusses des menschlichen
Denkens und Willens an Gottes Gedanken und Willen geht. Dem
entspricht Azriels Analyse des Gebets in seinem Kommentar zu den
Aggadoth, wo das Wort der Mischna über die Gepflogenheiten der
alten Chassidim im Gebet ähnlich gedeutet und die Parallele zur Pro-
phetie gezogen wird119. Die Illumination, die durch die Debhequth
zu erlangen ist, kann also nur dem Grad, nicht aber ihrem Wesen
nach, von der Prophetie unterschieden sein. Der Prophet ist hier nur,
wie so oft im mittelalterlichen Denken, der vollkommene Mystiker.
Auch die Thesen Azriels über das Gebet, die durch ihre Prägnanz
bemerkenswert sind, gehen auf solche Theorie des mystischen Ge-
betes aus, die sie für die Stammgebete, das Achtzehn-Gebet (die
114
Hebr. Hephes wird hier durcheinander in den drei Bedeutungen: Anliegen,
Willensantrieb und Gegenstand gebraucht.
116
Diese drei Sephiroth bezeichnen die Stufen des Hervorgehens der Wesenheiten
edler Dinge aus dem mystischen Nichts, das noch vor der „Weisheit" liegt. In Gottes
Weisheit sind sie verborgen, in Gottes Nachdenken treten sie hervor, und in Gottes
Erkenntnis gewinnen sie Gestalt.
119
So in der Mischna, Berakhoth V, 1 über die „alten Chassidim**.
117 ygi. a u s demselben Zusammenhang in Berakhoth 32 b.
118
Ich habe den hebräischen Text zuerst in M. G. W. J. 78 (1934), S. 511—512,
veröffentlicht, habe aber damals die Zugehörigkeit zu Azriel, dessen Sprachgebrauch
hier fast in jeder Zeile wiederkehrt, noch nicht erkannt, und das Stück daher zu spät
angesetzt. Der bombastische Stil des Hebräischen weist auf den engen Zusammen-
hang mit der Sprache der '///««-Schriften hin.
"» Vgl. Perusch 'Aggadoth, ed. Tishby, S. 40.
24·
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372 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

'Amida) und das Einheitsbekenntnis entwickeln. Das Achtzehn-Gebet


enthält nach ihm drei Arten von Bitten: solche, die das Wohl und
die Bedürfnisse des Körpers betreffen, das Wohl und die Bedürfnisse
der Seele und die Bedürfnisse des Lebens der Seele, das nichts anderes
ist als das geistige Leben der künftigen Welt selber. Auf der letzteren
Schicht enthüllt sich natürlich der mystische Sinn des Gebets. Es gibt
aber verschiedene Haltungen zum Gebet selber, die den drei Prinzipien
alles Wirklichen entsprechen, die Azriel in mystischer Umdeutung
aus der Metaphysik des Aristoteles übernommen hat. Diese drei Prin-
zipien sind Materie, Form und Steresis, wobei er aber, unter dem Ein-
fluß der hebräischen Übersetzung des letzteren Begriffes bei manchen
Autoren, für die Steresis das Prinzip des „Nichts" einsetzt 120 . Die
Wandlung der Materie zu immer neuen Formen geschieht durch dieses
„Nichts", das zwar einerseits — ganz im Sinne der wirklichen aristote-
lischen Lehre — auf die Privation des jeweilig Neuen bei den Ver-
änderungen, und im Sinne des Kabbalisten auf das Wirken des se-
phirothischen Prinzips der Strenge, zurückzuführen ist, andererseits
doch eine Verbindung mit der Vorstellung vom mystischen Nichts ein-
geht, aus dem alles Schöpferische kommt. Für Azriel stellen sich diese
Prinzipien vor allem so dar : das Nichts ist das, was in allem Entstehen-
den als Medium seiner Verwandlung da ist. Die Sephira der Strenge
und der Abgrenzung ist zugleich die Kraft der Veränderung in den
Dingen. Die Materie beharrt dagegen in sich selbst und erneuert sich,
ohne sich zu verändern, wie der lebendige Strom, dessen Wasser in
jeder Minute sich erneuern und doch ununterbrochen immer dieselben
sind. Diese Kraft kommt nach Azriel aus der Sephira des Erbarmens,
durch das Gott an jedem Tage die Schöpfung zugleich erneuert und
erhält. Die Form ist nach ihm aber eine der Materie inhärierende
Potenz, aus der der Materie immer neue Formen zuströmen. Sie gleicht
dem Quell, aus dem sich der Teich ausbreitet. So gibt es drei Stufen
des Gebets, in denen sich diese drei Prinzipien abspiegeln. Am nie-
drigsten steht das unspirituelle Gebet, das vom Leben der Seele, das
aus der Quelle der Bina strömt, nicht durchzogen ist. Es wird nach
ihm von der Mischna (Berakhoth IV, 2) als „feststehendes Gebet"
bezeichnet und verworfen, denn es ist wie stagnierendes Wasser in
einem Teich, dem kein Leben aus einer Quelle zuströmt. Darüber
steht das von der Mischna als „Flehen um Gnade", Tahanunim, de-
120
So bei Abraham bar Chija, Megillath ha-Megalle (1924), S. 6, wo in dem Nichts,
'Ephess, die aristotelische Steresis schon schwer zu erkennen ist: „Als es im reinen Ge-
danken aufstieg, Materie, Form und das Nichts zur Wirklichkeit hervorzubringen,
Heß er das Nichts aus ihnen aufsteigen und verband die Form mit der Materie und so
entstand die Substanz der Welt". In echt aristotelischem Zusammenhang in Charizis
Ubersetzung des More I, 17. Die tibbonidische Übersetzung von Steresis durch He'oder,
wörtlich privatio, lieh sich solcher mystischen Umdeutung nicht dar.

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Das Nichts und die Hokhma 373

finierte Gebet, in dem die Lebendigkeit der Quelle mit großer Kraft
sprudelt. Dies ist das Gebet der Form. Am höchsten aber steht das
Gebet dessen, der alles Hemmende von sich abwirft und das Wort
zu seinem Nichts zurückführt, das sein Ursprung im Nichts ist. Man
•wird hier unschwer die Verwandlung des Begriffes des Nichts zu einer
mystischen Kategorie bemerken. Dieses Gebet heißt im eigentlichen
Sinne des hebräischen Wortes Tephilla, was der Autor von dem Worte
Pillul, Gericht, ableitet. So soll auch das Gebet von der Bitte um die
Erfüllung körperlicher Bedürfnisse zu denen der Seele und dann in
die reine Spiritualität des Lebens der künftigen Welt aufsteigen.
Hier ist deutlich sichtbar, wie philosophische Gedanken von den
Mystikern aufgegriffen und in ihrem Sinne verwandelt werden. Schon
Ezra deutete das „sehr gut" in Gen. 1 31 auf die communio aller Dinge
mit dem Nichts, 'Ajin, die gerade das eigentliche Prinzip des Guten
sei und zugleich die „Ursache für die Erneuerung der Geschlechter"121.
Die Quelle dieser Vorstellung liegt offenbar in Jehuda Charizis Über-
setzung von Maimonides „Führer", die auch sonst von den Geronaer
Kabbalisten viel benutzt wurde. Dort heißt es III, 10: „Alles Gute
und Böse hat nur die Realität von Privationen [wörtlich : Nichtsen]
. . . und so hat er auch die Materie nach dieser ihrer Natur zur Wirk-
lichkeit gerufen, welche Natur auf ihrer [der Materie] dauernden Ver-
bundenheit mit dem Nichts beruht. Und darum sagt die Tora [Gen.
1 31] : ,Er sah, und siehe: sehr gut'; sogar die Realität dieser niedrigen
Materie ihrer Natur nach, die aus ihrer Verbindung mit dem Nichts
kommt, welche den Tod und alles Böse bedingt — all dieses ist gut
für den Bestand und die Dauer des Wirklichen, trotz der Veränderung,
die in den Akzidentien vorfällt." Von Charizis und Maimonides' philo-
sophischer Bibelerklärung war nur ein Schritt zum mystischen Miß-
verständnis der von ihm gebrauchten Terminologie, und so entstand
die kabbalistische Deutung von der ständigen Erneuerung der Welt
durch Gottes Güte, die sich in der beständigen Berührung alles Wirk-
lichen mit dem Nichts, das hier als höchste Potenz gedacht ist, reali-
siert. Dies Mißverständnis war aber nur möglich, weil die Kabbalisten
ihre Texte schon mit den Augen der neuplatonischen Mystiker lasen,
für die die Schöpfung aus Nichts schon selbst zu einem mystischen
Paradoxon geworden war. Dies führt uns auf die symbolische Aus-
drucksweise, mit der Azriel, mehr als jeder andere seiner Gruppe, die
Frage nach dem Ursprung der Schöpfung behandelt.
Die Geschichte der Umdeutung der Formel der Theologen von der
Schöpfung aus Nichts im Sinne der neuplatonischen Emanationslehre
121 Vgl Ezras Hoheliedkommentar, Bl. 27 a, nach der besseren Lesart der Hss.
Der Begriff der Generationen, Dorath, wird in Azriels Gebetskommentar, Hs. Oxford
1938, Bl. 223 a, mit Berufung auf die romanische Ubersetzung generaciones, auf die
Urgründe des Werdens, „die höchsten Ursachen alles Zeitlichen", gedeutet.

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374 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

als einer Schöpfung aus dem bestimmungslosen Sein oder Wesen


Gottes selber, das gerade deswegen auch Nichts heißen dürfe, läßt
sich heute schon klar verfolgen122. In allen drei monotheistischen
Religionen ist fast zur gleichen Zeit solche Umdeutung nachweisbar.
Im Christentum in der Lehre des Scotus Erigena von dem Hinab-
steigen Gottes in die primordialen Ursprünge und Urgründe aller
Dinge, die das Hinabsteigen in sein eigenes Nichts ist, aus dem Alles
stammt. „Wenn Er aber in die Urgründe der Dinge hinabsteigt, so
beginnt Er, indem Er sich solcherart gleichsam selber schafft, ein
Etwas zu sein." Denn nicht etwa aus dem Nichts im gewöhnlichen
Sinn des Wortes hat Gott die Welt erschaffen, sondern aus einem
Nichts, das Er selber ist, dem Nichts der Überwesentlichkeit der gött-
lichen Güte. Die aristotelische Bibeldeutung des Maimonides über
das „sehr gut" Gottes zur Schöpfung, die wir gerade kennengelernt
haben, berührt sich aufs überraschendste mit der Definition des Scotus
Erigena, die aus so ganz anderen Quellen, der neuplatonischen Mystik
des Dionysius Areopagita, schöpft. Zur selben Zeit tritt diese Um-
deutung bei Isaak Israeli, dem jüdischen Neuplatoniker in Nordafrika
und bei den Ismailiten, den neuplatonischen Gnostikern des schi'i-
tischen Islam auf. Immer ist es entweder Gott selbst oder eine Be-
stimmimg an ihm, die in ihrer alles umfassende Leere als Nichts be-
zeichnet wird, die als causa materialis der Schöpfung, wenn auch unter
Verklausulierungen, gedeutet wird. Nicht erst bei den Kabbalisten
heißt also schaffen so viel wie emanieren. Unter welchem Einfluß,
ob dem Israelis oder Erigenas, die kabbalistische Terminologie des
Nichts entstanden ist, die wir schon im vorigen Kapitel mehrfach an-
getroffen haben, läßt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Freilich
spricht für eine Filiation zu Erigena manches in der Sprache der Kab-
balisten, und besonders Azriels, der von einem „Übersein" Gottes in
einem hebräischen Terminus spricht, der offenbar eine unbeholfene
Wiedergabe des lateinischen sufteresse ist und sich aus dem Arabischen
nicht erklären läßt 123 . Eine Bestimmung des höchsten Seins, das noch
über allem Zählbaren und damit über allen Sephiroth (als Urzahlen)
liegt, als „absolutes Nichts" findet sich auch bei Nachmanides zu Je-
sira I, 7, wo es klar ist, daß es sich nicht etwa um das Nichts der Philo-
sophen handelt, sondern um die Gottheit selber, bestenfalls um die
122 Vgl. Harry A. Wolfson, The Meaning of ex nihilo in the Church Fathers, Arabic
and Hebrew Philosophy, and St. Thomas, in: „Mediaeval Studies in Honor of J . D. M.
Ford", 1948, S. 350—370; idem, The Meaning of ex nihilo in Isaac Israeli, J . Q. R.,
Bd. 50 (1959), S. 1—12; G. Scholem, Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung
Gottes, im „Eranos-Jahrbuch 2 5 " (1957), S. 87—119; Jürgen von Kempski, Die
Schöpfung aus Nichts, in „Merkur", Bd. 14 (München, 1960), S. 1107—1126.
123 Hebräisch Jather min ha-Kol, im Gedenkbuch für Gullak und Klein, S. 207.

Im selben Sinn auch Jithron a. a. O., S. 208, und in § 8 des Schifar ha-Scho'el.

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Das Nichts und die Hokhma 375

erste Sephira124. Die Schöpfung aus Nichts im kabbalistischen Sinne


stellt den Übergang aus diesem Ubersein Gottes, das zugleich sein
Nichts ist, in das archetypische Sein seiner Weisheit dar, und diese
Definition ist vor allem durch die Kabbalisten von Gerona in dieser
Literatur allgemein rezipiert worden. Die orthodoxe Formel verdeckt
einen esoterischen Lehrpunkt. Azriel schreibt:
„Fragt dich einer: was ist Gott? so erwidere: der nirgends mangelhaft ist.
Fragt er dich: gibt es etwas außer ihm? so erwidere: es gibt nichts außer ihm.
Fragt er dich: wie hat er Sein aus Nichts hervorgebracht, wo doch zwischen
Sein und Nichts ein großer Unterschied besteht? so erwidere: wer Sein
aus Nichts hervorbringt, dem mangelt dadurch Nichts, denn das Sein ist im
Nichts auf die Art des Nichts, und das Nichts ist das Sein auf die Art [ d. h.
unter der Modalität] des Seins12S. Und davon hat der Autor des Buchs
Jesira gesagt: Er machte sein Nichts zu seinem Sein, und hat nicht etwa
gesagt: er machte das Sein aus dem Nichts126. Dies lehrt, daß das Nichts
das Sein ist und das Sein das Nichts. Das Nichts aber wird .Träger',
Omen, genannt. Der Ort aber, dem das Sein da verbunden ist, wo es aus
dem Nichts Dasein zu haben beginnt, heißt ,Glaube', 'Emuna. Denn der
Glaube bezieht sich nicht auf ein sichtbares und faßbares Sein, wie auch
nicht auf das unsichtbare und unfaßbare Nichts, sondern eben auf den Ort,
wo das Nichts mit dem Sein zusammenhängt. Denn das Sein stammt
nicht aus dem Nichts allein, sondern Sein und Nichts zusammen stellen
das dar, was gemeint wird, wenn vom ,Sein aus Nichts' die Rede ist. Das
Sein ist also nichts als ein Nichts, und Alles ist Eines in der Einfachheit
der absoluten Ungeschiedenheit, und hierauf bezieht sich die Warnung
[Koheleth 716]: übernimm dich nicht in der Spekulation, denn unser
endlicher Intellekt vermag nicht die Vollkommenheit jenes Unerforsch-
baren zu erfassen, das mit 'En-sof h Eines ist127".
Es ist interessant, daß gerade die entscheidenden Sätze dieser Stelle
über das Sein und das Nichts ohne jedes Wort der Polemik oder Kritik
von Johannes Reuchlin, einem großen Verehrer des Nikolaus Cu-
sanus, in der ersten genaueren lateinischen Darstellung der Kabbala
zitiert werden. Freilich war sich Reuchlin über den Autor dieses,
seiner eigenen Denkweise gewiß nahestehenden Zitates nicht im Klaren.

121 Vgl. Kirjath Sepher VI, S. 404 und 408.


125 Dieser bemerkenswerte Satz dürfte der These des Liber de Causis nachgebildet
sein, eines neuplatonischen Textes, der wohl in einer frühen Übersetzung den Kabbalisten
bekannt war, wo es in § 11, ed. Bardenhewer, S. 82, heißt: Die Wirkung ist in der Ur-
sache auf die Art der Ursache, und die Ursache ist in der Wirkung auf die Art der
Wirkung. Azriel hat diese These auf den Zusammenhang von Sein und Nichts über-
tragen.
1M Für die Erklärung dieses Satzes siehe unten.

127 Vgl. den hebräischen Text im Gedenkbuch Gullak und Klein, S. 207.

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376 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Sein und Nichts sind also nur verschiedene Aspekte der eigentlich
überseienden göttlichen Realität. Es gibt ein Nichts Gottes, das das
Sein gebiert, und es gibt ein Sein Gottes, das das Nichts darstellt.
Die Art, auf die die Dinge im Nichts Gottes existieren, ist eine; die
Art, wie sie im Sein existieren ist eine andere. Beides aber sindModa-
litäten von 'En-sofh selbst, das die ungeschiedene Einheit des Etwas
und des Nichts darstellt.
Azriel benutzt dieselbe Stelle in Jesira II, 6, die von der Schöpfung
aus Nichts im wörtlichen Verstände handelt, um seine eigene mystische
Auffassung in den Text hineinzulesen. Dort heißt es wörtlich: „Er
gestaltete aus dem Tohu das Wirkliche und machte Was-Nicht-Ist
zum Was-Ist". Diese Worte, 'assa 'eno jeschno, können ebensogut
heißen: er machte das Nichtseiende zu einem Seienden, ohne daß
damit etwas über die Natur dieses Nichtseienden präjudiziert wäre
— diese Bestimmung könnte ja auf die platonische Urmaterie zu-
treffen —, wie auch : er machte das Nichts zu einem Etwas. Azriel nutzt
aber die besondere Struktur des hebräischen Satzes aus, wo 'eno „es
ist nicht" auch als Possessivpronomen verstanden werden kann: „sein
Nichts". Hierdurch erhält er die Aussage, daß Gott sein Nichts zu
seinem Sein gemacht habe, womit also Sein und Nichts als zwei ver-
schiedene Aspekte des Göttlichen selber bestimmt werden. Das Nichts
ist nicht DAS Nichts, welches von Gott unabhängig ist, sondern
SEIN Nichts. Die Verwandlung des Nichts ins Sein ist ein Ereignis
in Gott selbst, nämlich im Sinne Azriels jener Akt, in dem die gött-
liche Weisheit sich manifestiert, und beide, Nichts und Sein, sind nur
Aspekte des einen ungeschiedenen „Überseins"128.
Nachmanides hat dieselbe Idee in seinem Torakommentar so ge-
schickt verhüllt und offensichtlich bewußt das Exoterische mit dem
Esoterischen vermengt, daß man gar nicht bemerkt hat, wie sehr seine
Darstellung im Einklang mit der Lehre von der Herkunft der Hokhma
aus dem mystischen Nichts steht. Er bringt nämlich seine Lehre, auf
die er auch an anderen Stellen hinweist, nur in dem exoterischen Teil
seiner Erklärung vor, ohne das Kabbalistische deutlich abzusondern
oder den kabbalistischen Sinn, der hinter den gewöhnlichen Worten
steht, zu definieren. Dies führte manche Autoren zu dem phantastischen
Irrtum, Nachmanides vertrete in bezug auf die Schöpfung eine der
kabbalistischen geradezu entgegengesetzte Ansicht 129 . Natürlich klingt
128 Im selben Sinn gebraucht die Rede vom Nichts auch Jakob ben Schescheth,
Meschibh Kap. 19, Bl. 52b, sowie 'Emuna u-Bittahon, Kap. 12.
129 So z. B. M. Ehrenpreis, Emanationslehre, S. 32, und M. Grajwer, Die kabbalisti-
schen Lehren des Moses ben Nachman in seinem Kommentar zum Pentateuch, Breslau
1933, S. 31—36. Die letztere Schrift ist durchaus ungenügend und in entscheidenden
Punkten verfehlt. Die kabbalistischen Stellen bei Nachmanides bedürfen einer ganz
anderen, die gesamte Literatur dieses Kreises berücksichtigenden, Interpretation.

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Das Nichts und die Hokhma 377

in nichtkabbalistischer Rede alles ganz anders, und zweifellos würde


jeder Kabbaiist dem Uneingeweihten gegenüber genau dieselbe über-
lieferte Fassung der Theorie von der Schöpfung aus Nichts vertreten
haben, wie sie Nachmanides hier gibt. Die Wahl der Worte und Bilder,
sowie eine kurze aber durchaus vielsagende kabbalistische Bemerkung
am Beginn seiner Ausführungen zu Gen. 11 zeigen jedoch, daß er
zugleich eine esoterische Theorie im Auge hat, die sich im Grunde
mit der bei Azriel und Jakob ben Schescheth vorgetragenen deckt
oder doch nahe berührt. Ohne auf die Details der kabbalistischen Auf-
fassung des ersten Toraverses einzugehen, sagt Nachmanides, das
Wort Bereschith deute auf die Hokhma, in der die Grundlage (im He-
bräischen zugleich : das Element) des ganzen Sachverhalts der Schöp-
fung läge, wie es heißt (Prov. 3 19) : „Gott hat durch Hokhma die Erde
gegründet". Am Ende seiner Ausführungen betont er dann nochmals,
daß der Vers Gen. I i einen kabbalistischen Sinn habe: ,,Er spricht
vom Unteren und deutet darin das Obere an", sowie daß Hokhma
der „Anfang der Anfänge" sei, also die Grundlage oder das Element
aller Schöpfung.
Dazwischen erklärt er aber, Gott habe am Anfang aus dem abso-
luten Nichts, worauf auch das Verbum bara' hinweise, ein sehr sub-
tiles unstoffliches Element geschaffen — er gebraucht denselben
Ausdruck wie vorher von der Hokhma als Grundlage oder Element —,
das er als „hervorbringende [produzierende] Kraft" definiert. Dies
sei zur Aufnahme der Formen und zum Ubergang in das aktuelle Sein
disponiert und sei die Urmaterie, die bei den Griechen Hyle heiße.
Aus ihm sei alles Weitere hervorgegangen. Ohne nun seinen Sprung
zu erklären, setzt Nachmanides gleich dahinter auseinander, in offen-
sichtlich rein exoterischem Gedankengang, daß sowohl die Materie
des Himmels als die der Erde oder sublunarischen Welt beide direkt
aus dem Nichts erschaffen seien. Er greift dann aber auf die zuerst
genannte Hyle zurück und erklärt sie als das Tohu, die Form aber,
die sie zur Erscheinung bringt, als das Bohu von Gen. 1 2, wofür er
sich auf Bahir § 2 beruft. Tohu ist nach ihm kein wirkliches Ding,
sondern das hinter dem Nichts stehende Urelement allen Seins, wofür
er sich ebenfalls auf Jesira 11,6 beruft. Dieses urgeschaffene Element,
die Hyle, die aus Nichts kommt und sich irgendwie in die zwei be-
sonderen Materien der oberen und irdischen Welt differenziert, wird
von ihm mit einem „sehr subtilen und stofflosen Punkt" verglichen,
in dem doch schon alles, wozu er werden kann, enthalten ist. Dies
erklärt er betont als den Wortsinn des Verses, der natürlich auf einer
anderen Ebene als der kabbalistische Sinn liegt. Und doch kann auch
über diesen kein Zweifel sein. Daß das Verbum bara, das auf der exo-
terischen Ebene „aus Nichts schaffen" heißt, auf der esoterischen
vielmehr „emanieren" heißt, erfahren wir auch bei Nachmanides

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378 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

selber in dem früher erwähnten Fragment einer kabbalistischen Er-


klärung von Gen. I. Das absolute Nichts entspricht auf der esoterischen
Ebene genau demselben Begriff, den wir oben in seinem Jesira-
Kommentar als eine höchste Bestimmung Gottes selber gefunden
haben. Es ist die erste Sephira, aus der die Hokhma als Uranfang alles
Seienden entspringt. Sie selber ist die Hyle und das bestimmungs-
lose Tohu, und ihr entspricht das Bild des Urpunkts, der aus dem
Nichts aufleuchtet und in dem alles sephirotische Sein potentiell
mitgegeben oder vorgebildet ist. Himmel und Erde, die aus ihm
kommen, sind nichts als Symbole, wie wir sie schon im Bahir kennen-
gelernt haben. N. nennt zu Jesira 1,8 die Hokhma den „Ort der Welt",
welcher Ausdruck aus dem Midrasch hier den Sinn von Substrat der
Welt, Grundlage und Urelement, hat. Gott ist „Ort der Welt", in-
sofern er sich in der Sephira Hokhma als ihr Substrat manifestiert.
Die Bestimmung der Hokhma durch Formeln, die mit der philoso-
phischen Definition der Materie als des Substrats der Potentialität
aller Dinge identisch sind, findet sich genau so, nur ausgesprochener
als bei N., bei Jakob ben Schescheth und Azriel130. Auch das Bild des
Urpunkts ist bei Jakob schon angelegt, nennt er doch die Hokhma,
das „Erstemanierte", ein „sehr subtiles Sein, aus dem die gerade Linie
sich in der Emanation ausbreitet". Dies trägt Jakob gerade bei einer
Auseinandersetzung über den Irrtum derer vor, die da glauben, daß
die Welt aus einem ewig bei Gott Seienden geschaffen sei, weil sie
„die Geheimnisse der Tora nicht verstehen" ! Denn eben nicht aus
einem Sein, will er sagen, sondern aus dem mystischen Nichts, das im
'Alefh symbolisiert ist, ist die Hokhma als Anfang aller Wesenheiten,
Hawajoth, geschaffen, das heißt emaniert131. Freilich weigert sich
Jakob, in diesem Zusammenhang von einer Urmaterie zu sprechen,
welche die Hokhma sei, und ersetzt diese, durch seine eigenen Bestim-
mungen nahegelegte, Definition durch die Annahme einer doppel-
ten Urmaterie, wie bei Nachmanides, deren Wandlungen er gerade
für die Materie des Himmels genauer ausführt132. Hier dürfte die
Quelle für Nachmanides zu suchen sein. Gerade der Vergleich der
Hokhma mit der „formlosen Hyle" wird aber ohne Bedenken von

im v g i Jakob ben Schescheth, Meschibh Bl. 28a/b, der die Hokhma als Nosse Koah
Sche'ar ha-Debkarim bestimmt. Ähnlich Azriel, Perusch Aggadoth, S. 84.
131 Vgl. Jakob ben Schescheth a. a. O., Bl. 28 und 53a.

132 a. a. O., Bl. 30a—32b. Hier wird, Bl. 32a, die Deutung des Abraham bar Chija

in Hegjon ha-Nephesch 2a/b ausdrücklich als Quelle für die weitere Teilung von Hyle
und Form in je zwei Unterteilungen angeführt. Der Passus ist für die Art der Über-
nahme platonischer Exegese in der Kabbala sehr aufschlußreich. Vielleicht ist Jakobs
Paraphrase die unmittelbare Quelle für Nachmanides gewesen. Daß die Hokhma das
Fundament der Schöpfung sei, die „durch jene allem vorangehende und alles um-
gebende Wesenheit \die materia universalis] erfolgte", sagt auch Jakob, Bl. 35a.

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Die Hokhma 379

Nachmanides Lehrer Jehuda ben Jaqar in seinem Kommentar zu den


Gebeten benutzt133. Daß Nachmanides die Hyle einerseits direkt mit
dem Tohu, andererseits implicite mit der Hokhma identifiziert, ist
keineswegs so überraschend, wie es scheint. In der Tat hat die gleiche
Beziehung des Tohu auf Hokhma schon deutlich Azriel in seinem
Kommentar zu den Aggadoth vorgenommen, während andere Kab-
balisten, im '///««kreis und in Gerona, Tohu als Bina erklärten134.
In der Abhandlung des Barzilai über die Sephiroth wird die platonische
Symbolik der Hyle als Mutter mit der Hokhma als Uranfang verbunden,
„und die Hokhma wird von den Meistern der Sprache [sie!] die erste
Materie genannt, in der alle anderen Materien enthalten sind"135.
Diese Konzeption, in der die Hokhma mit der Hyle identifiziert
wird, wenn auch nur in der esoterischen Symbolik und keineswegs

133 J . Q. R . I V (1892), S. 249: Die Hokhma ist kemo Golem bit Sura.
13t Vgl. Perusch 'Aggadoth, S. 89, 92, 103, 105. S. 103 erklärt er das Tohu und Bohu
als in einem Orte gründend, der selber Tehom, Abgrund, heißt, „der unendliche,
grenzenlose und unerfoschliche Abgrund, der bis ins reine Nichts reicht". Der Abgrund
ist also nicht etwas wirklich Finsteres und Ungöttliches, sondern Symbol eines Mo-
mentes an Gott selbst. Genau so erklärt Scotus Erigena in de divisione naturae I I , 17
den finsteren Abgrund von Gen. l a als die unerkennbare Welt der ungeschiedenen,
ungestalteten und einfachen causae primordiales. Für Azriel ist der Abgrund auch
das Belima im Ausdruck Sefiroth belima in Jeçira I, 1, als das ,,WAS-lose", Unbe-
stimmbare, wo Frage und Antwort verlöschen, der Ort, „an dem der Fragende und
der Gefragte innehalten" (S. 103). Anders erklärt Ezra, Hs. Vatic. 185, Bl. 1 3 b :
„Alles, was die Tora bis zum Ende von Gen. 1 2 erklärt, bezieht sich auf die Essenzen,
die in der Sophia waren, und als Gott sich in jenes Urlicht hüllte, strahlte das Urlicht,
'Or Bahir, aus und es waren in ihm alle jene Essenzen, so wie sie in der Sophia waren
. . . und Tohu ist der Inbegriff aller Essenzen ohne Begrenzung, Form und Stoff, und
Bohu ist eingeprägt und verborgen im Tohu wie die Seele im Körper". Auch hier ist
also das Bohu, das Formelement, dem Tohu inhärent. Wenn auch die Beschreibung
des Tohu es über die gewöhnliche Materie hinwegheben soll, wird doch eine Beschrei-
bung der immateriellen Urhyle gegeben. Ezra benutzt, wig seine weiteren Ausführungen
dort zeigen, deutlich Abraham bar Chijas Begriff des doppelten Tohu in Hegjon ha-
Nephesch. Die Zuordnung der Hyle zu Bina geht wohl auf eine Symbolik zurück, in
der — aus ganz anderen, philosophischen Erwägungen fernliegenden Gründen — eine
Konzeption durchgedrungen war, die mit der oben erwähnten Fassung des Form-
begriffs unvereinbar war, nämlich die Auffassung der Hokhma als des Männlichen,
Samenhaften, und der Bina als des Weiblichen, des samenentfaltenden und gebärenden
Prinzips. Diese Auffassung Piatos im Timaios, der die Hyle Mutter und die Form
Vater nennt, entspricht genau der bei den Kabbalisten für Hokhma und Bina gebräuch-
lichen Symbolik. Bina als Mutter zog die Symbolik nach der Seite der Hyle, und dazu
trat die neuplatonische Abwertung der Materie im Verhältnis zur Form, die sich
mit ihrer Überordnung im Bereich der Sephiroth nicht vertrug. Maimonides schreibt
im More I, 17 dem Plato freilich die unbestimmtere Bezeichnung des Männlichen und
Weiblichen für Materie und Form zu, vgl. Münk zur Stelle.

Hs. Christ Church College 198, Bl. 73b.

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380 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

im alltäglichen Sprachgebrauch, stellt eine Projizierung einer philo-


sophischen Spekulation auf eine vorher und unabhängig von ihr be-
stehende dar. Das folgt schlagend schon aus der Terminologie, welche
ja in dem hier in Betracht kommenden Kreis der jüdischen Neu-
platoniker für Hokhma gerade umgekehrt war. Schon Abraham ibn
Ezra nennt den Inbegriff der Formen Hokhma, was er wohl von Ga-
birol hat, der in der Fons Vitae die sapientia zwar in verschiedener
Abwandlung der Symbolik als Wille, Form und Intellekt, niemals
aber als Hyle bezeichnet. Der neuplatonischen Tradition ist die Iden-
tifikation dieser Sephira mit dem aktiven Intellekt, dem „Geber der
Formen" zuzuschreiben, die bei Jakob ben Schescheth und anderen
Kabbalisten aufgenommen worden ist13β. Bei den Kabbalisten scheinen
sich die zwei Motive von der Hokhma als Träger und als Spender der
Formen ineinander verschlungen zu haben. Jedenfalls war die Gruppe
in Gerona der erklärten Ansicht, die in der Philosophie gerade von
Averroës vertreten wurde, daß die Formen ihrem Ursprung nach der
Hyle inhärent sind. Gott hat die Formen nicht getrennt vom form-
losen Stoff hervorgebracht, um sie dann erst mit ihm zu verbinden,
sondern er hat sie aus der Hokhma-Hyle, in der sie als noch un-
geschiedene Essenzen in reiner Potenzialität präexistierten, „hervor-
gezogen". Bohu ist ein Entwicklungsprodukt des Tohu, nicht ein
völlig separates Prinzip. In diesem Sinn erklärt Azriel die Hokhma
als „die Kraft dessen, was mögliches Sein hat, eine einfache Kraft,
die die Formen der sich wandelnden Substanzen formt", und dem
entspricht die Bestimmung der Form in seinen Thesen über das
Gebet137. Vielleicht hängt damit die seltsame Erklärung der Hyle
als „hervorbringende Kraft" zusammen, die Nachmanides an mehreren
Stellen wiederholt138. Liegt hier ein systematisches Mißverständnis
13« Ygi Jakob ben Schescheth, Meschibh, Bl. 20b (gegen die Lokalisierung als
letzte der zehn Intelligenzen bei Maimonides), 28b: „Wenn du willst, nenne die [in
Bereschith angedeutete] Wesenheit Sophia, und wenn du willst, nenne sie universelle
Intelligenz, der in der Sprache der Philosophen der intellectus agens entspricht". Die
Gleichsetzung der zwei Intelligenzen ist auch bei Gabirol mehrfach belegt. Im 'Emuna
u-Bittahon, Kap. 12 deutet Jakob den göttlichen Willen auf das 'Aleph, den ak-
tiven Intellekt auf das Jod, das in der Buchstabensymbolik der Sophia zugeordnet
ist. Ähnliches auch im Kether Schern Tobh, in Jellineks Auswahl kabbalistischer Mystik,
S. 33. In der neuplatonischen Tradition der lauteren Brüder und des Al-Kindi ist der
aktive Intellekt der Aristoteliker mit dem universellen Intellekt des Plotin identisch,
vgl. M. Wittmann, Zur Stellung Avencebrols im Entwicklungsgang der arabischen
Philosophie, Münster 1905, S. 41—48.
137 Vgl. Perusch 'Aggadoth, S. 84, sowie Tishbys Anmerkung dort, und den Text
im Gedenkbuch für Gullak und Klein, S. 215.
138 Torakommentar zu Gen. 1 1 sowie in einer Stelle über die Entstehung des Embryo

zu Lev. 12 l ; Predigt über die Tora, 1873, S. 16—17, 26. Auch in einer Schrift über
die 32 Wege aus dem 'Ijjun-Kreis wird die Hyle, Golem, als eine Kraft erklärt „die

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En-soph, Urwille und Uridee 381

des Hyle-Begriffes vor, oder ein Rückgriff auf die Lehre von der In-
härenz der Formen ? Die Auffassung der Hokhma als Urtora ließ sich
mit solcher Vorstellung zur Not vereinigen. Aber man wird annehmen
müssen, daß hier verschiedene Motive sich kreuzten und nicht mit
einem einheitlichen Ursprung der verschiedenen Bestimmungen zu
rechnen ist. Azriels Zitate aus einem Pseudo-Plato und Aristoteles
über die Urmaterie, die der materia universalis des Gabirol nahesteht,
und die substanzielle Form, die sich beide in der göttlichen Idee be-
finden und im Intellekt zusammentreten, zeigen, daß seine Speku-
lation sich aus sehr verschiedenen Quellen nähren konnte139.

4. Lehren Azriels und Nachmanides' über den Prozeß der Emanation


En-soph, Urwille und Uridee—Die Sephiroth

Wir gingen oben von der Gebetsmystik des Azriel aus, die natürlich
schon seine Gottesauffassung wiederspiegelt. Um den Fortschritt
der Entwicklung der Kabbala in Gerona genauer zu bezeichnen,
verdient diese Gottesauffassung nähere Analyse. Die Formulierungen
dieser Schule zeichnen den Weg ab, auf dem sich die frühe Kabbala
dann weiter entwickelt hat und machen vor allem auch die möglichen
Gegensätze in der Auffassung kabbalistischer Grundpositionen ver-
ständlich, die von da an hervorgetreten sind. Bei den Kabbalisten
von 1250 an bestand Unsicherheit über so wichtige Fragen wie die,
ob die erste Sephira selber nicht etwa als die transzendente Gottheit
anzusehen sei, und wie die, ob die Sephiroth als identisch mit der
Substanz der Gottheit anzusehen seien oder nur als Organe seiner
Wirkung. Die Geschichte dieser Fragestellungen liegt außerhalb des
Rahmens dieses Buches; daß sie aber durch die Bearbeitung des
kabbalistischen Materials in diesem Kreise erst deutlich werden
konnten, wird sich hier zeigen lassen.
Der Unsicherheit des Sprachgebrauchs von 'En-soph, über die im
vorigen Kapitel gehandelt wurde, steht in Gerona ein eindeutiger
Sprachgebrauch gegenüber. Hier ist *En-soph ein Kunstwort, das aus
den adverbialen Verbindungen herausgelöst worden ist und Gott
alle Dinge in ihre richtige Ordnung stellt und von Kraft zu Kraft emaniert, um alle
Dinge hervorzubringen". Nachmanides scheint diese Schrift gekannt zu haben, da seine
Lehre über den Simsum dort herstammt vgl. S. 397. N.s Erklärung über die Entstehung
des Embryo aus der Kraft der Hyle hat Entsprechungen bei Alfarabi und in der Pica-
trix des Pseudo-Magriti; vgl. H. Ritters und M. Pleßners deutsche Übersetzung (1962),
S. 354 (arabischer Text S. 338).
139 Perusch 'Aggadoth, S. 82—83. Der pseudo-Aristoteles ist Isaak Israeli, wie in-
zwischen Alexander Altmann, Journal of Jewish Studies, VII (1956), S. 31—57, nach-
gewiesen hat. Die Quellen des pseudo-Plato bleiben nachzuweisen.

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382 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

selber in seiner ganzen Unbegreiflichkeit darstellt. War ja die Be-


stimmung Gottes als des Unendlichen gerade für die alten Denker
und die Neuplatoniker, wie Jonas Cohn gezeigt hat, gerade ein Symbol
seiner Unbegreiflichkeit und nicht etwa ein verstandesmäßig zu er-
fassendes Prädikat, wozu es bei den Scholastikern wurde140. Bei den
Kabbalisten wird Gott ebenso als das Unendliche angesehen wie als
der Unendliche. Die Unbegreiflichkeit und Unbestimmbarkeit des
verborgenen Gottes, die in manchen Reden auf eine neutrale Schicht
des göttlichen Wesens zu weisen scheint, ist im Großen und Ganzen
aber doch die der unendlichen Person, wie sie in der Umdeutimg des
neuplatonischen Einen im Sinne der theistischen Religionen erscheint.
Als solche führt ihn gerade Azriel am Anfang seiner Fragen und Ant-
worten über die Sephiroth ein, denn er identifiziert 'En-soph — er
gebraucht das Wort oft und ohne jede Hemmung — mit dem Führer
der Welt und Kapitän der Schöpfung. Auch Ascher ben David spricht
sich eindeutig theistisch und personalistisch aus, wobei er 'En-soph
mit der durchaus persönlich gedachten höchsten Ursache identifiziert.
Sein Urwille, der offenbar die erste Sephira und die „innerste Kraft"
alles Wirklichen ist, die das Nichts heißt, wirkt in den verschie-
denen Middoth, in denen er sich ausbreitet oder in die er, soweit er
in der Schöpfung wirkt, seit den sechs Tagen der Schöpfung her „ein-
gepflanzt" ist. Die Middoth und Sephiroth, mindestens von Hokhma
an, sind nichts als Organe, durch die er wirkt. Zieht seine Kraft sich aus
ihnen zurück, so haben sie kein eigenes Sein; wo Er aber in ihnen
wirkt, ist ihr Sein als das der verschiedenen Stufen der Emanation
untrennbar mit der in ihnen wirkenden Kraft, die aus der Quelle und
aus 'En-soph kommt, verbunden. Von einer Auffassung der Sephiroth
als identisch mit der Substanz des 'En-soph weiß er nichts. Aber gerade
Ascher ben David leistet der Vermischung der ersten Sephira mit
'En-soph dadurch Vorschub, daß er zuweilen von ihr in denselben
Wendungen spricht, die er sonst für 'En-soph benutzt. Besonders gilt
das von seiner Erklärung der Sephiroth des Buches Jesira, wo er die
erste Sephira, „das Pneuma des lebendigen Gottes", im Einklang mit
Isaak dem Blinden als die Hokhma erklärt. Die beiden über ihr stehenden
Realitäten sind offenbar deswegen nicht klar geschieden, weil der Wille
des 'En-soph unentstanden ist, auch keinen Anfang in der Emanationhat,
sondern eben von jeher in 'En-soph vorhanden war und in diesem Sinne,
wie Ascher selber sagt, gar nicht Sephira heißen durfte. „Nur weil von
dort die Sephiroth sich ausbreiten und Alles durch den Urwillen, der
in sie eingepflanzt ist, besteht, heißt die höchste Stufe — Rom Magala,
der einzige Name, der nach ihm dieser Stufe des Willens beigelegt
werden kann — auch Sephira"141. Ascher liebt, von dem „Ausfluß",
140
Jonas Cohn, Geschichte des Unendlichkeitsproblems, Leipzig 1896, S. 71.
141
Ascher ben David, S. 6, sowie verschiedene Passus, S. 11—13.

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En-soph, Urwille und Uridee 383

Meschekh, zu sprechen, der aus Έη-soph fließt und sich in die Hokhma
und alle anderen Sephiroth ausbreitet. Dieser Ausfluß selber ist aber
die erste Sephira, die er im Symbol des 'Aleph darstellt. Sie ist ihm
die „Quelle des Lebens", denn das „Leben" selber ist ihm mit der
Hokhma identisch. Was aber aus dem 'Aleph kommt, kommt auch
aus Έη-soph, und in dem Nebeneinander solcher Wendungen konnten
die Grenzen zwischen dem Έη-soph und dem Nichts leicht verwischt
werden. Die verschiedenen Lesarten der Handschriften von Aschers
Traktaten an diesen Stellen beweisen, wie leicht der Übergang hier
war. Έη-soph steht noch über der Eins und der Quelle des Lebens,
es bleibt ganz bestimmungslos und alle persönlichen Momente seiner
Wirkung sind eben in seinen Willen hereingenommen, der als Aus-
fluß seines Wesens wirkt. Unabhängig davon, etwa als Subjekt eines
Aussagesatzes über es, erscheint Έη-soph bei ihm nie. So gibt es also
eigentlich zwei verschiedene erste Sephiroth; eine, die nur als „Höhe",
„höchste Stufe" oder „Aleph" bekannt ist, deren Wille wie der Quell
sich überall im „Garten" der Sephiroth ausbreitet, und die daher
gar nicht mit den anderen Sephiroth zusammengezählt wird142; und
eine, die wirklich als Sophia am Anfang der Zählung steht. Daß bei
solcher Betrachtung aber auch eine unpersönliche Auffassung gerade
von Έη-soph statthaben konnte, zeigt überraschenderweise Nach-
manides in seiner Erklärung zu Jesira I, 4: „Zehn und nicht elf [Se-
phiroth]: damit soll aus der Zählung das verborgene Ding, das am
Anfang von Kether steht, ausgeschlossen werden. Denn indem wir ein
Ende [von Kether] am Anfang der Wege der Hokhma sehen, wird der
Mensch bedenken, daß Kether auch einen Anfang hat. Also ist über
ihm ein verborgenes Ding, das über alles Denken und Sprechen er-
haben ist, und in keine Zählung eintritt". Hier zeigt sich die Ambi-
valenz der kabbalistischen Terminologie. Die höchste Wesenheit in
Gott ist „ein verborgenes Ding" — fürwahr eine sonderbare Bestim-
mung der unendlichen Person der Gottheit, wenn anders sie hier
wirklich als solche gedacht sein soll. Nachmanides konnte in seinen
Werken, so viel er von Gott sprach, ohne Έη-soph auskommen und
sich einer ganz orthodoxen Sprache bedienen, obwohl doch alles,
was er von Gottes Wirken zu sagen weiß, in Wahrheit nur seine se-
phirothischen Manifestationen betraf. Azriel dagegen konnte es gerade
umgekehrt machen, von Έη-soph als dem Gott, den die Philosophen
meinen, sprechen, dessen Sephiroth nur die Aspekte seiner Offen-
barung und seines Wirkens, die „kategoriale Ordnung alles Wirk-
lichen" sind. Gerade das verborgenste Moment in Gott, worauf die
Mystiker mit ihrer Rede von Έη-soph hinzielten, macht er zum öffent-

148
Am deutlichsten a. a. O., S. 4—5 (nach der Pagination der Seiten in der Edition
in ha-Segulla).

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384 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

lichsten und bereitet damit schon die Personalisierung vor, mit der
Έη-soph hier als Eigenname und nicht als die Bezeichnung eines Ab-
straktums zu erscheinen beginnt. Während sonst Έη-soph, auch bei
Azriel selbst, viel vom deus absconditus hat, der erst im theosophischen
Gottesbegriff und der Sephiroth-Vorstellung zu faßbarem Leben
gelangt, ist er in dem Kommentar über die zehn Sephiroth der Lenker
der Welt, was ja ein ganz anderes Bild vom Weltregiment nahelegt
als die Theosophie des Unendlichen und seiner Sephiroth. Für Azriel
ist offensichtlich die höchste Sephira, das Unergründliche oder Un-
erfaßbare, vor allem der göttliche Wille, der in diesem Kreis ganz
entschieden über die Uridee hinausgerückt wird. Sie ist von Έη-soph
selber zwar in abstracto unterscheidbar, in concreto aber mit ihm zu
einer realen Einheit verbunden. Der verborgene Gott wirkt durch
seinen Willen, er kleidet sich gleichsam in ihn ein und ist mit ihm eins.
Dies drückt sich bei den Kabbalisten von Gerona darin aus, daß sie
gern vom „Willen bis ins Unendliche hin", „der Höhe bis ins Unend-
liche hin", dem „Unerfaßbaren bis ins Unendliche hin" sprechen,
womit die Einheit gemeint ist, in der die unter dem jeweiligen Symbol
vorgestellte höchste Sephira sich bis zu Έη-soph hin erstreckt und mit
ihm eine Wirkungseinheit bildet 143 . Dadurch erklärt sich auch, wie
ich annehme, der merkwürdige Sprachgebrauch Azriels in seinem
tief-spekulativen Kommentar zu den Aggadoth. Hier nämlich schweigt
er fast völlig über Έη-soph, das nur einmal in selbständiger Konstruk-
tion und zweimal in adverbialen Verbindungen der bekannten Art auf-
tritt 1 4 4 , die ihrerseits wiederum im Kommentar zu den Sephiroth
ganz fehlen. Stattdessen spricht er hier nur noch vom Willen in den-
selben Wendungen (wie „außerhalb dessen nichts ist" und dergleichen),
die sonst zu Έη-soph gehören. Manchmal ließen sich die beiden Be-
griffe bei ihm unschwer austauschen145, was zu einer Vermischung
der Termini führen konnte und in der Tat schon um 1250 geführt hat.
In Wirklichkeit steht aber hinter solcher Rede vom Willen die vom
„Willen bis ins Unendliche hin", die wir gerade besprochen haben
und die Έη-soph als die letzte transzendente Wirklichkeit im Willen
mitgegeben sein läßt, ohne doch beide geradezu zu identifizieren. Die
Schwierigkeiten solcher Auffassung waren gering, so lange die Ko-
existenz und Koëternitât des Willens mit Gott als Έη-soph voraus-
gesetzt oder ausdrücklich gelehrt wurde. Sie begannen aber in dem
Moment, wo die erste Sephira selbst einen Anfang in der Emanation
zugewiesen erhielt. Von da an wurden solche Wendungen wie die oben
erwähnten problematisch und konnten, in ihrer Verbindung des Ur-
143 Vgl diese Ausdrücke bei Jakob ben Schescheth, Meschibh, Bl. 28b und 57a;
'Emuna u-Biitahon, Kap. 12.
144
Perusch 'Aggadoth, S. 24, 90, 116.
146 Besonders charakteristisch ist dafür a. a. O., S. 107.

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En-soph, Urwille und Uridee 385

entstandenen mit den Un-entstandenen, Anstoß erregen. Kein Wunder,


daß sie dann aus der kabbalistischen Literatur verschwanden.
Mit den anderen geronenser Kabbalisten ist die Mahschabha bei
Azriel um eine Stufe gesunken und wird jetzt mit der Sophia selber
identifiziert — gegen Bahir und Isaak den Blinden. Über ihr erscheint
der Wille, und beide Sphären durchdringen sich in dem Begriff des
Resoti ha-Mahschabha, des „Willens der Uridee", der bei Azriel zuerst
öfters vorkommt und so viel heißt wie „Wille, der in der Uridee ver-
borgen ist". Und zwar ist er in ihr verborgen wie die Ursache in der
Wirkung. Nicht nur in der Uridee, sondern schon in der „Tiefe des
Willens der Uridee" liegen alle Dinge verborgen und treten im ak-
tuellen Vollzug der Emanation wie in einem Relief hervor148.
Die in den Gebeten gebrauchte Formel: „Es sei wohlgefällig" oder
die Worte des Psalmisten [19 15] : „Meine Worte mögen wohlgefällig
[wörtlich: zum Willen] sein" deutet Jakob ben Schescheth auf die
Einheit íiller Logoi in Έη-soph. Er fährt fort: „Denn der Wille ist die
Ursache von allem, ist ganz verborgen und nur aus einem anderen
[Medium, durch das er sich mitteilt] verständlich, und aus ihm breitet
sich eine Essenz aus, die erfaßbar ist, und das ist die Sophia, die den
Willen auseinander legt und klärt, und aus ihr heraus wird er erkenn-
bar, nicht aus sich selber"147. Azriel liebt es, den Hiobvers (117):
„Kannst Du den Grund Gottes ausfinden?" auf diesen Urgrund in
Gott zu beziehen, der sowohl das von ihm Ergründliche als auch gerade
das Unergründliche und von allem Denken Unerfaßbare des Willens
sein kann. Aus diesem Urgrund strömen alle Wege der Weisheit, und
er ist es, der im „Kapitel über die Kawwana" wörtlich die „Voll-
kommenheit des Grundes, der mit Έη-soph eins ist" heißt, was aber
wörtlich auch übersetzt werden kann „der sich mit Έη-soph verei-
nigt", das heißt zugleich: sich bis in seine Unendlichkeit erstreckt.
So wechselt die Terminologie des Heqer, des Urgrunds, auf den alle
Betrachtung des Göttlichen zielt, für Azriel zugleich in die des Un-
grunds, hebräisch Έη-Heqer, hinüber, indem dieser Urgrund sich eben
als das Unergründliche erweist und damit schon der sprachlichen
Form nach in Parallele mit Έη-soph, dem Unendlichen, tritt. Der
Wille als Urgrund wird also zur Quelle alles Seins, die Gottheit wird
eigentlich ganz als schöpferischer Wille konzipiert, soweit sie von der
Kreatur her visiert werden kann, und das intellektualistische Element
" · Vgl. a. a. O., S. 92—94, 107. Dort, S. 101 wird die Schöpfung der Urtora mit
dem Hervortreten des unaufhörlich wirkenden Willens zur Aktualität der Idee erklärt.
Die merkwürdige Verbindung der beiden Begriffe findet sich übrigens auch in der
Schrift des Scotus Erigena über die Prädestination, wo von der voluntas rationabilis
die Rede ist, vgl. J . Huber, Johannes Scotus Erigena, München 1861, S. 74.
147 'Emuna u-Bittahon, Kap. 5, und zum Teil fast wörtlich in Schaar ha-Schamajim
S. 165.
Scholen), Kabbala 26
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386 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

der Mahschabha-Mystik wird auf die zweite Stufe zurückgedrängt.


Daß dieser schöpferische Wille bei Azriel dann im Sinne der Gedanken-
gänge, die wir oben verfolgt haben, als das Nichts aufgefaßt wird, ist
in der Geschichte der mystischen Terminologie keineswegs vereinzelt.
Auch Jakob Böhme, an dessen Rede vom „Ungrund" Azriels Aus-
führungen erinnern, sieht den Willen, der auch bei ihm ewig diesem
Ungrund entspringt, als „Nichts" an148. Es ist also kein Wunder,
daß er nirgends in diesen Schriften als Emaniertes, sondern als Ema-
nierendes auftritt. Azriel spricht in der Tat mehrfach von drei Lichtern
oder Potenzen, die bei ihm offenbar den drei höchsten Sephiroth ent-
sprechen und unter Έη-soph stehen. Sie heißen das Licht des Ema-
nierenden, das Licht der Emanation und das Licht des Emanierten.
Diese Trias wird bei ihm mehrfach mit einer anderen zusammen-
gebracht, nämlich der Potenz des Göttlichen, des Angelischen und des
Prophetischen, das zugleich das höchste Menschliche ist 149 . Daß das
unterste dieser Lichter oder Potenzen die Sephira Bina ist, ist bei
Azriel durchaus klar. Das Wesen des höchsten Menschlichen ist das
Prophetische, der Funke des göttlichen Intellekts, der in ihm auf-
leuchtet. Die Vorstellung vom Ursprung der intuitiven Kraft der
Prophetie aus Bina dürfte zu den Traditionen gehören, die diese
Schule von Isaak dem Blinden übernommen hat 150 . Sie ist keineswegs
von allen späteren Kabbalisten beibehalten worden. Azriel nennt uns
zwei Träger der Offenbarung dieser Lichter: Gott hat dem Moses die
innersten drei Sephiroth offenbart, und zwar in diesen eben genannten
Bestimmungen; und wenn der Messias kommen wird, wird der Geist
der Weisheit und der Einsicht, der (nach Jes. 112) auf ihm ruhen wird,
aus diesen drei Potenzen sich nähren161. Die „Potenz des Emanieren-
den" ist nicht etwa Έη-soph selber, sondern geht aus dem Sether
ha-Ta'aluma, dem geheimnisvollen Dunkel der Ureinheit hervor,
aus der diese drei Prinzipien stammen152.
Hiernach ist also ein Stand undenkbar, in dem Έη-soph ohne den
bei ihm ruhenden Willen wäre. Damit entsteht von neuem das Problem
118
Vgl. H. Grunsky, Jacob Böhme, Stuttgart 1956, S. 75—76; Alex. Koyré, La
philosophie de Jacob Böhme, Paris 1929, S. 328—330, 340—342.
149
Sowohl im „Kapitel über den Glauben und die Häresie", Gedenkbuch usw. . . .,
S. 208—209, wie im Kommentar zu den Gebeten, Hs. Parma, Bl. 75a—76b. Die erste
Trias allein kommt noch öfters bei Azriel vor. Vgl. auch Schaar ha-Scho'el, § 14, Bl. 4b.
150
In einem alten Stück, das unmittelbar hinter den Kawwanoth des Abraham
Chazan in Hs. München 92, Bl. 216b steht, heißt es: „Die Kraft der Prophetie kommt
aus der .Umkehr' genannten Sephira".
151
Für Moses vgl. Azriels Stück, Madda'e ha-Jahaduth II, S. 231; für den Messias
im „Kapitel über den Glauben", S. 211.
162
Vgl. a. a. O., S. 208. Derselbe Terminus auch in Azriels Brief nach Burgos,
Madda'e ita-Jahaduth II, S. 233, und in dem Kapitel über die Kawwana.

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En-soph, Urwille und Uridee 387

der Notwendigkeit der Emanation oder der Freiheit von 'En-soph


im Urakt der Schöpfung. Sind wir nicht wieder bei Plotins Position ?
Azriel gibt darauf zwei in der Formulierung verschiedene, in Wahr-
heit aber zusammenhängende Antworten. Er lehrt, daß die erste Se-
phira potenziell immer in Έη-soph war153. Das bedeutet aber nicht,
daß es nun etwa einen Zustand gäbe, wo sie, und sie allein, noch vor
den anderen Sephiroth aktualisiert worden wäre. Solchen Zustand
hat es nie gegeben, sondern hier tritt Azriels andere Antwort ein, die
aus seinem Aggadakommentar sich ergibt. Gottes „Freiheit" liegt
bei der zweiten Sephira! Die Aktualisierung der ersten Sephira, des
Willens, ist eben die Emanation der Sophia, nichts anderes. Also gibt
es aktualisierten Willen nur im Medium der Emanation und der ema-
nierten Wesenheiten. Nicht die Setzung des Nichts ist, wie bei späteren
Generationen der Kabbalisten, der Schöpfungsakt, sondern die des
Etwas, die der Sophia. Die Idee ist der verwirklichte Wille in Gott.
Es gab einen Stand, in welchem diese Verwirklichung noch nicht
stattgefunden hatte. Der Sprung der Schöpfung besteht also nicht
im Übergang von Έη-soph zur ersten Sephira, sondern von der Ein-
heit dieser beiden zur zweiten. In diesem Sprung liegt der freie Ent-
schluß Gottes zur Emanation. Diese Vorstellung entdeckt der scharfe
Beobachter bei allen Vertretern der Schule von Gerona, auch bei
Nachmanides, und sie gehört zu der Erbschaft, die von hier dem Autor
des Buches Zohar zukam. Viele andere Kabbalisten haben sie auf-
gegeben, um den Charakter aller zehn Sephiroth als Emanationen zu
sichern, womit sie aber den der ersten Sephira, wie wir ihn hier zu
bestimmen gesucht haben, notwendigerweise verändern mußten.
Sowohl von Έη-soph wie vom Willen gilt : außer ihm gibt es nichts164.
„Alle Wesen stammen aus dem unfaßbaren Uräther und ihr Sein
[Jeschuth] stammt aus dem reinen Nichts. Dieser Uräther aber ist
153 Sehaar ha-Scho'el § 8. Dieselbe Vorstellung liegt auch bei Jakob ben Schescheth,
Scha'ar ha-Schamajim, O$ar nehmad, III, S. 155—156, vor: die erste Sephira ist mit
dem Unendlichen vereinigt und ist dessen Wille. „Und mit ihr zugleich ist der Höchste
über allen Höchsten angedeutet, der Gott der Götter und Herr der Herren, die erste
Ursache und der höchste Teich, den kein Denken faßt. Und weil er [dieser Höchste]
allen Gedanken entrückt ist, kann keinerlei irgendwie begrenzter Name ihm zugeordnet
werden, und alle Dinge und Andeutungen, die über ihn in den Worten der Bibel vor-
kommen, sind von den Realitäten [den Sephiroth] ausgesagt, die aus seiner Ursache
stammen." In 'Emuna u-Bittahon, Kap. 3 werden die Verletzungen der göttlichen
Einheit, das „Abhauen der Pflanzungen", definiert, unter denen auch die Trennung
der ersten Sephira von Έη-soph, als ob dies,zwei realiter verschiedene Wesenheiten
seien, aufgeführt wird. Hieraus folgt, daß sie für den Autor zwar dem begrifflichen
Wesen nach nicht identisch, in ihrer Wirklichkeit aber untrennbar verbunden sind.
164 Während in Azriels Kommentar zu Jeçira I, 7 der Sinn von 'ehad dahin erklärt

wird, daß Έη-soph in der absoluten Ungeschiedenheit .Einer" heiße, besagtdie Parallel-
stelle in seinem Brief nach Burgos, er heiße .Einer', weil es nichts auß er ihm gäbe.

25·
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388 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

nach keiner Seite hin teilbar, und er ist ein Einfach-Eines, in dem
keine Zusammensetzung statt hat. In seiner Einheit waren alle Willens-
akte und er ist der Wille, der allem voran ging . . . Und das heißt [Hi.
23 13] : Und er ist im Einen — Er ist in der Einheit des Willens, außer-
halb von dem nichts ist 155 ." Der Wille umfaßte noch die ungeschiedene
Einheit aller Gegensätze und möglichen Willensakte. „Die Ordnung
alles Wirklichen war in der Potenz des Willens gegeben, trat aber
nicht zur sichtbaren Offenbarung hervor, bis die Zeit für ihre sichtbare
Existenz gekommen war. Die Sephiroth aber . . . hatten ihre Essenz
[.Hawwaja] im Willen ohne erkennbare Unterscheidung, die in die
Betrachtung des Denkens eingehen könnte, und aus ihnen stammt
die Emanation der Logoi, durch die die Welt geschaffen ist, [Logoi]
die mit dem Willen, außerhalb dessen nichts ist, verbunden sind158."
Weder in Έη-soph noch im Willen findet Differenzierung statt ; beide
werden als die ungeschiedene Wurzel der Gegensätze bezeichnet.
Für diese Ungeschiedenheit, die ein lateinisches indistinctio wieder-
gibt, wird im 'Ijjun-Kreis und bei Azriel der Begriff der Haschwa'a
benutzt, und ungeschieden oder indifferent heißt dort schaweh, wört-
lich „gleich", ein in diesem Sinne in der hebräischen Literatur sonst
nie gebrauchtes Wort. Sowohl Έη-soph wie der Wille sind „in bezug
auf die Gegensätze indifferent". Sie verbinden nicht die Gegensätze,
wie zum Beispiel die res divina des Jehuda Halewi157, sondern es finden
in bezug auf sie keine Unterscheidungen hier statt. Indem die Gegen-
sätze in diesen höchsten Prinzipien „gleich", d. h. ungeschieden sind,
koinzidieren sie in ihnen. In diesem Sinn wird hier oft von der „un-
geschiedenen Einheit" oder „Indifferenz der Einheit" gesprochen,
in der das uns gegensätzlich erscheinende zusammenfällt. Während
im Kommentar zu den zehn Sephiroth diese mystische Indifferenz
dem Έη-soph zugeschrieben wird, wird sie im Aggadoth-Kommentar
vom Willen, der dort, wie wir sahen, fast die Stelle des Έη-soph ein-
nimmt, ausgesagtl5s. Im Unendlichen sind die Gegensätze aufgehoben.
Ähnlich zu Jesira II, 6: „Das Eine ist der Grund der Vielheit, und die [vielfältigen]
Dinge [oder aber Sephiroth, die in dem Worte Debharim gemeint sein können], haben
kein Sein außerhalb des Einen". Dieselbe Formel im Setta*ar ha-Scho'el §§ 1, 2, 7, 12;
im Kommentar zu den Gebeten, Hs. Parma, Bl. 86a, und in dem Text, den ich im
Gedenkbuch für Gullak und Klein, S. 218, ediert habe. Die Formel ist auch bei Scotus
Erigena häufig, vgl. Huber, Johannes Scotus, S. 169: praeter eum nihil est.
166
Perusch 'Aggadoth, S. 107.
166
a. a. O., S. 110, wie auch in einer Paraphrase desselben Gedankens, S. 116.
» ' Vgl. Kuzari IV, 25, ed. Hirschfeld, S. 274—75.
168 Vgl über diesen Sprachgebrauch von 'Ahduth schawa und Haschwa'ath ha-
'Ahduth meine Bemerkungen in Sepher Zikkaron für Gullak und Klein, S. 204, und
Tishbys Nachweise in seinem Aufsatz über die Schriften Ezras und Azriels, S. 8 des
Sonderdrucks. Jakob ben Schescheth spricht davon, daß die Gegensätze im gött-
lichen Willen „geebnet" sind, jescharim, statt schawim.

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En-soph, UrwiHe und Uridee 389

Dieser Begriff konnte von der Kabbala in der jüdisch-philosophischen


Tradition nicht vorgefunden werden, und es fragt sich, wo wir die
Quelle dafür zu suchen haben. Es ist in dieser Beziehung interessant,
wie schon im Jahre 1516 Johannes Reuchlin unter ausdrücklicher
Berufung auf den Traktat über Glauben und Häresie, den wir als
Azriels Eigentum erkannt haben, den Begriff des indifferenten 'En-
soph sehr gut definiert: ,,nominaiur Ensoph, id est infinitudo, quae
est summa quaedam res secundum se incomprehensibilis et ineffabilis,
in remotissimo suae divinitatis retrocessu et in fontani luminis inac-
cessibili abysso se retrahens et contegens, ut sic nihil intelligatur ex
ea procedere, quasi absolutissima deitas per ocium omnímoda sui in
se ipsa clausione immanens nuda sine veste ac absque ullo circum-
stantiarum amictu, nec sui profusa, nec splendoris sui dilatata bonitate
indiscriminatim ens et non ens, et omnia quae rationi nostrae videntur
inter se contraria et contradictoria, ut segregata et libera unitas sim-
plicissime implicane159." Gleich dahinter verweist dann Reuchlin
auf die Lehre von der coincidentia oppositorum in Gott, „wie das ein ge-
wisser hochphilosophischer Erzpriester der Deutschen vor etwa
52 Jahren der Nachwelt als seine entschiedene Meinung hinterlassen
hat". Der Kardinal Nikolaus von Cusa starb 1464, 52 Jahre bevor
Reuchlin dies schrieb. Reuchlin, den mit Recht die Übereinstimmung
der beiden mystischen Philosophen in Erstaunen setzte, Schloß noch
nicht auf eine gemeinsame Quelle beider. Mir scheint aber, daß gerade
eine solche in Scotus Erigenas „de divisione naturae" I, 72 vorliegt,
wo eben diese Lehre schon deutlich formuliert ist, die dann auch von
älteren Zeitgenossen Azriels, wie dem von der Kirche als Häretiker
verworfenen David von Dinant, aufgenommen worden ist180. Unter
1 M J . Reuchlin, De Arte cabbalistica, am Ende des 1. Buches, Hagenau 1517,

Bl. X X I a. Reuchlins Bestimmung trifft durchaus den Kern der Auffassung Azriels.
160 Vgl. G. Théry, David de Dinant; Étude sur son pantheisme matérialiste, 1925.

Es zeigt sich also, daß die Übereinstimmung wichtiger Gedanken und Begriffe Azriels
und Scotus Erigenas so auffallend und stark ist, daß die von mir hier mehrfach er-
wogene Hypothese einer historischen Verbindung zwischen diesen beiden ernstlich
ins Auge gefaßt werden muß. Natürlich sind auf diesem Wege auch Abschwächungen,
Erweichungen, Ent-Christianisierungen und vielleicht auch Mißverständnisse vor-
gekommen, aber dennoch bleibt der christliche Neuplatoniker das nächstliegende
mögliche Vorbild zu vieler Detailpunkte bei Azriel, als daß wir hier noch mit Zufall
zu rechnen haben. Auch in der Wortwahl zeigt sich manchmal deutlich die Verbindung
mit dem Lateinischen. Haschlama als Variante für Schelemuth gibt die beiden Nuancen
des lateinischen perfectio wieder. Die Angaben des Scotus über die Welt des Logos
und Sohnes, der ja nach ihm mit seiner Weisheit identisch ist, treffen sich aufs über-
raschendste mit den Bestimmungen der ältesten Kabbalisten über die Hokhma, vgl.
Huber, S. 201—206, und gehen weit über Einzeldeutungen biblischer Worte und Be-
griffe hinaus, die auch von der Logik mystischer Bibeldeutung erzwungen werden
konnten (wie etwa die Auffassung der Schöpfungstage als intellegible Urtage, die

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390 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

den Abweichungen vom rechten Glauben, die Azriel in jenem Traktat


aufführt, lesen wir: „Der achte Abweg ist der dessen, welcher zwar
glaubt, daß er [Έη-soph] ein Übersein über Alles hat und nichts außer
ihm ist, aber nicht in bezug auf Alles indifferent [indistinkt] ist, so wie
daß er die Substanz des Ausflusses, der von ihm herkommt, nur bis
zur Potenz des Emanierenden hinzieht, die von jeher präexistiert,
aber nicht bis zur Potenz der Emanation, die aus ihr stammt, und
erst recht nicht zur Potenz des Emanierten; und auf diese Weise
nimmt er einen Mangel in seiner Kraft an. Denn wenn er die Potenz
des Emanierenden mit dem geheimnisvollen Dunkel, aus dem sie
kommt, als ununterschieden erklären will, so ist das [für ihn] unmög-
lich, da er dies Prinzip nicht anerkennt, wonach er im Sichtbaren
und Verborgenen in bezug auf das Nichts und das Sein ohne jede
Distinktion .gleich' ist, in der vollständigen Einfachheit und Unge-
schiedenheit, welche Einheit heißt161."
Man darf wohl sagen, daß die Vorliebe für neutrale Prädikationen
des Urwesens, wie wir sie hier kennengelernt haben, den Einfluß des
Neuplatonismus auf diese mystische Theologie wiederspiegelt. Erst
mit dem Einbruch neuplatonischen Denkens in die ältere gnostische
Schicht nehmen solche Konzeptionen beherrschende Stellung ein.
Das Unendliche, das Unbegreifliche, das Verborgene, das Übersein,
das Indifferente — das alles sind Bestimmungen aus derselben geistigen
Sphäre der negativen Theologie. In der Tat stellt sich Azriel ausdrück-
lich auf deren Boden: „Έη-soph ist die absolute Ungeschiedenheit
in der vollkommenen Einheit, in der keine Veränderung statt hat, und
da er grenzenlos ist, ist nichts außer ihm, und da er über allem ist,
ist er das Prinzip, in dem alles Verborgene und Sichtbare zusammen-
treffen, und da er verborgen ist, ist er die [gemeinsame] Wurzel des
Glaubens und des Unglaubens, und die Weisen der Forschung [die
Philosophen] stimmen dem zu, der sagt, daß unser Begreifen von ihm
nur auf dem Wege der Negation erfolgen kann1®2." Daß diese neutrale,
unpersönliche Art der Bestimmungen in einer Spannung zu der zu-

Scotus III, 24 und den Kabbalisten gemeinsam ist), ohne daß das viel bewiese. Der
Übergang von der Welt der Sapientia und des Wortes zu der des Geistes entspricht
bei den Geronaer Kabbalisten dem von der zweiten zur dritten Sephira, der ganz ähn-
lich, unter Ausschaltung des christologischen Elements gesehen wird. Der bei Azriel
mehrfach beliebte Begriff Haje ha-Ruah, für Bina, der in älterer jüdischer Terminologie
keinen Grund hat, erklärt sich ebenfalls zwanglos aus Erigenas Lehre vom spiritus
und dessen Beziehung zur Weisheit. Es würde ein wichtiger und weitreichender Fort-
schritt der Kabbala-Forschung sein, wenn sich diese Zusammenhänge aus dem Rang
einer Hypothese zur Gewißheit erheben lassen sollten.
161
Vgl. Sepher Zikkaron für Gullak und Klein, S. 208.
1,2
Scha'ar ha-Scho'el, § 2. Das Bild von Gott als der Wurzel des Glaubens und des
Unglaubens stammt aus Jehuda Halewi, Kuzari I, 77.

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En-soph, Urwille und Uridee 391

gleich doch persönlichen Rede von Gott als dem Lenker und Schöpfer
steht, ist unbezweifelbar, und die Kabbalisten scheinen sich damit
abgefunden zu haben. Denn nicht nur, wie an sich logisch wäre, in
seiner Wirkung und Manifestation in den Sephiroth erscheint Gott
als Schöpfer, sondern auch im Zusammenhang der Rede vom Über-
sein des Schöpfers, der über Sein und Nichtsein steht und in dem beide
koinzidieren. Wie weit darin eine Akkomodation an die gewöhnliche
Redeweise der biblischen Bestimmungen zu sehen ist, die an Stellen,
wo die Autoren sich exakt auszudrücken suchen, vermieden wird, ist
schwer zu entscheiden. Gerade in verschiedenen Schriften Azriels
wechselt die Färbung des Sprachgebrauchs vom Persönlichen zum
Unpersönlichen und Neutralen, und der Leser gewinnt den Eindruck,
daß das den Autor wenig schert. So ist die Stimmung seiner Fragen
und Antworten über die Sephiroth und seines Kommentars zu Jesira
recht verschieden von der des Kommentars zu den Aggadoth und des
Briefes nach Burgos. Kein Wunder, daß in den ersten beiden Schriften
viel und hemmungslos von Έη-soph als Schöpfergott, trotz aller neu-
platonischen Bestimmungen, gesprochen wird und er als der Gott er-
scheint, von dem die Theologie handelt163, während in den anderen
Schriften Έη-soph so gut wie gar nicht vorkommt, sondern nur als
Urgrund des Willens gerade noch absehbar ist. Am weitesten von neu-
platonischer Schulsprache scheint sich Nachmanides zu halten, bei
dem daher die Spannung zwischen der gnostischen Erbschaft des
Bahir und der neuen Spekulation am geringsten ist. Er kann ver-
meiden, von Έη-soph in seinem Torakommentar auch nur zu sprechen,
weil es eben nur der dunkle Grund ist, aus dem der offenbarende Gott,
der die Einheit der zehn Sephiroth ist, emporsteigt. Das heißt also,
Έη-soph spielt in der Religion gar keine aktive Rolle, es ist nur der
geahnte verborgene Ungrund noch im absoluten Nichts. Von hier
war ein grader Weg zu der Position des anonymen Kabbalisten, der
um 1300 sagen konnte: ,,Έη-soph ist weder in der Tora noch den
Propheten noch in den Hagiographen und Worten der Weisen auch
nur angedeutet ; nur die Mystiker haben eine kleine Andeutung darüber
empfangen", dem dann die Aussage entspricht, daß die Gottheit,
nämlich die der Religion, die dynamische Einheit der Emanation der
zehn Sephiroth selber sei164.

les Damit hängt zusammen, daß im Jesira-Kommentar Azriels Έη-soph mit anderen
Begriffen positiver Natur identifiziert wird. E r ist das Wesen, Mahuth, schlechthin,
er ist der „Herr", der in Jesira I, 5 symbolisch gemeint sei, welche sonst ganz ungewöhn-
liche Identifikation nur aus dem Zusammenhang der Exegese des Textes erklärt werden
kann.
1 M Vgl. in dem anonymen Werk Ma'arehheth ha-'Elohuth, Mantua 1568, Bl. 2 8 a

und 82b. Vgl. auch oben S. 387, Anm. 163.

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392 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Das Schwanken zwischen Bildern und Begriffen, die für 'En-soph


und die erste Sephira fast gleich lauteten oder wirklich füreinander
eintreten konnten, führte um die Mitte des 13. Jahrhunderts bei
Schülern der Geronaer Kabbalisten zur ausdrücklichen Identifizierung
der beiden. Die erste Sephira ist selber der Träger aller anderen und
kein verborgenes Urwesen steht über ihr. Was in der einen Perspektive
Έη-soph heißt, ist selber in der anderen Perspektive das Nichts oder
der Urwille. Diese Auffassung, die nach dem Zeugnis mancher Kab-
balisten dann weit verbreitet war165, wird zuerst nachdrücklich in dem
Buch Kether Schern Tobh des Abraham Axelrad aus Köln vertreten,
eines Kabbalisten, der aus der Schule des Eleazar von Worms nach
Spanien kam und dessen Buch die Zahlenmystik der deutschen Chas-
sidim mit der Sephiroth-Kabbala vor allem in der Art Ezra ben Sa-
lomos und Nachmanides verband166. Der Autor bringt die Lehre des
Nachmanides, die wir oben zitiert haben, als mündliche Überlieferung,
ohne übrigens N. zu nennen. „Ich habe gehört, daß manche über den
zehn Sephiroth eine Sephira im Unendlichen zufügen, wonach also
angenommen werden müßte, daß es am Anfang von Kether 'Eljon
ein im Unendlichen verborgenes Ding gibt, welches die Ursache der
Ursachen ist . . . und dies ist nicht richtig und leuchtet nicht ein167."
In einer Version folgt hier noch der zu Nachmanides Lebzeiten ge-
schriebene Zusatz : „Jedoch hat der Rab [Ehrentitel des Nachmanides],
unser Lehrer, möge er lange leben, geschrieben, daß es doch so sei168."
Auch in einer Sammlung alter mündlicher Überlieferungen, die einer
der Schüler dieses Kreises aufgezeichnet hat, werden beide Anschau-
ungen objektiv nebeneinander gestellt und begründet. „Ich habe
gehört, daß Kether 'Eljon nicht die Ursache der Ursachen sei, . . . denn
wenn wir sie als erste zählen, muß sie Ende und Anfang haben. Und
wenn Hokhma das Ende der ersten Sephira ist, die Kether 'Eljon ist,
muß auch an ihrem Anfang und über ihr ein verborgenes subtiles Sein
existieren, und es heißt Έη-soph und Ursache aller Ursachen, und zu
ihm beten wir. Andere aber widersprechen dieser Meinung und sagen,
daß über Kether 'Eljon keinerlei andere Ursache ist. Und wenn wir
die Sephiroth [in zehn] einteilen, so geschieht das nicht, Gott behüte,
um in ihnen [die Einheit] zu zerstören. Und wenn wir mit bezug auf
sie eins und zwei und soweiter zählen, so nur, um sie in ihren Namen
186
In dem um 1350 verfaßten Sepher ha-Schem eines R. Moses (nicht Moses de Leon,
wie viele Kabbalisten annahmen) wird diese Auffassung als die der meisten großen
Kabbalisten bezeichnet, vgl. ed. Venedig 1601, Bl. 4b, in der Sammlung Hekkal 'Adonaj.
1,8
In schlechtem Text ediert von Jellinek, Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 29
bis 48.
1,7
So lautet die schärfste Formulierung der ablehnenden Meinung, in Hs. Paris
843. Im Druck, S. 44—45, ist die Formulierung etwas schwächer.
168
So im Text des Buches nach der Hs. Milano, Bernheimer 57, Bl. 21b.

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Die Sephiroth 393

zu unterscheiden, während in Wirklichkeit alles eine ungeschiedene


Verbindung darstellt, bei der eine Trennung nur dem Namen nach
erfolgt. So sagen wir ζ. B. vom Lampenlicht, daß es an seinem Anfang
Licht, in seiner Mitte Kerze und an seinem Ende Feuer heißt [sie!],
und doch ist alles eins, nämlich Licht. So ist auch Gott, wenn der
Vergleich mit gebührender Reserve gestattet ist, wie die Kraft des
Feuers, das zugleich die Kraft hat, weiß und dunkel zu leuchten169,
aufzuschmelzen und zu verbrennen, und doch ist alles eins. Und wenn
es über Kether 'Eljon eine höchste Ursache gäbe, wie könnte es dann
im Buch Jesira heißen: zehn und nicht neun, zehn und nicht elf 170 ?"
Der Autor entscheidet sich gegen die letztere Auffassung, die von den
Meistern der Schule, unseren Texten nach, offenbar nicht geteilt
wurde. Die Theorie der Identifizierung beider Stufen erkennt offenbar
eine reale Existenz der Sephiroth gar nicht an.
Wie schon bei Isaak dem Blinden, unterscheidet Azriel in den ersten
zwei Sephiroth drei Aspekte, wobei der mittlere, der zwischen Kether
und ììokhma steht, ebenfalls als Haskel bezeichnet wird (vgl. oben
S. 240) .Auch hier bleibt unsicher, ob dies Haskel, Gottes intelligere,
eher zur ersten oder zur zweiten Sephira zu ziehen ist, doch scheint es,
daß Azriel eher der letzteren Meinung zuneigt171. Nicht deutlich wird
der Unterschied zwischen den beiden hypostasierten noetischen Akten
von Haskel und Histakluth, die bei ihm mit dem Sekhel selber, dem In-
tellekt, zu einer Trias zusammentreten. Soll etwa Haskel das reine in-
telligere bedeuten, das dem Willen entspringt, während Histakluth (das
im Hebräischen eine Reflexivform ist) das auf sich selbst bezogene, sich
zum eigenen Gegenstand machende intelligere wäre? Dafür könnte
sprechen, daß Azriel einen solchen Akt, in dem die göttliche Idee auf-
steigt, „um die Innerlichkeit ihrer selbst bis zum Erlöschen ihrer Fas-
sungskraft zu betrachten", kennt 172 . Dagegen spräche der mittelalter-
liche hebräische Sprachgebrauch, bei dem das Wort keinen reflexiven
Sinn hat und einfach „betrachten" heißt. Haskel und Histakluth ver-
einigen im Sinne des hebräischen Wortes, genau wie das lateinische in-
tuitio, Denken und Schauen. Im Gebetkommentar bezeichnet er gerade-
zu den Ausfluß, der von Gott zu uns kommt, durch den wir eine in-
tuitio von ihm haben, als Haskel1™ .Έλα anderer Aspekt desselben Aus-
1 6 9 Lies le-haqdir statt le-haqrir.
170 Vgl. den hebräischen Text in Reschith ha-Kabbala, S. 253 — 254.
1 , 1 Ezra definiert, Hs. Vatikan 441, Bl. 53a, Haskel als ,,Hokhma mit dem zu-
sammen, wovon sie abhängt". Azriel sagt im Perusch 'Aggadoth, S. 107, daß „die
Grundlage der Essenz der Hokhma das Haskel ist, das Endziel der Erfassung des
Denkens" das heißt wohl das Endziel dessen, was die Mahschabha erfassen kann.
172 vgl. Perusch 'Aggadoth, S. 116. Die Trias von Haskel, Histakluth und Sekhel
entspricht in Azriels Brief nach Burgos, S. 234, den ersten drei Sephiroth Kether,
Jtfokhma und Bina. " 3 Hs. Oxford 1938, Bl. 226a.

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394 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

flusses heißt bei ihm Da'ath, Erkenntnis oder Gnosis Gottes. Was von
Gottes intuitio, Histakluth, her gesehen Anfang wäre, das ist vom Men-
schen aus das Ende dessen, was das Denken erfassen kann, besser ge-
sagt wohl, das Ziel und der Endzweck aller Erkenntnis. In diesem Satz
könnten sich die beiden Bestimmungen treffen, die Azriel für Haskel
gibt. Einmal nämlich definiert er es als Anfang der Histakluth, ein an-
deres Mal als die Essenz der Hokhma, welche der Endzweck alles Er-
fassens des Denkens sei174. Erst in der Vereinigung dieser beiden Akte
von Haskel und Histakluth entsteht der Intellekt selber, Sekhel, als die
Mannigfaltigkeit aller ideellen Gegenstände und Essenzen im gött-
lichen Intellekt, der für Azriel. mit der Sephira5¿wa identisch ist. Sicher
kann es kein Zufall sein, daß Azriel die Hokhma sowohl als Beginn des
Seins, Hathhalath Jeschuth, als auch als Beginn der intuitio Gottes,
Tehillath Histakluth, bezeichnet. Daß dieses Haskel genau den Über-
gang aus dem Willen zum Denken der Sophia bezeichnet und damit an
dem selben Punkte steht, wo in anderer theosophischer Terminologie
aus dem Nichts das Sein hervortritt, wird ausdrücklich gesagt 175 .
Steht hinter all dem die Meinung, daß die Gottheit die Dinge hervor-
bringt, indem sie sie denkt ? Auch wenn das der Fall ist, bleiben die
Details dieser Spekulation problematisch. Die Sophia selber, in der
Gott sich doch am ehesten selber denkt und betrachtet, wird zwar
vom Haskel ausdrücklich geschieden, mit dem Beginn der Histakluth
aber dem Rang nach zusammengestellt, ohne doch damit ausdrücklich
identifiziert zu werden. Es ist, als ob diese ganze Vorstellungsreihe zur
Mystik der Sophia, die älter ist, hinzugetreten ist. In seiner Sephiroth-
Reihe bilden die Potenzen des Haskel und der Hokhma, obwohl unter-
schieden, jedenfalls nur eine Sephira176. Merkwürdig ist dabei, daß die
Trias des Intellekts, die wir hier kennengelernt haben, bei ihm
nie mit der traditionellen Trias des Erkennenden, des Erkennens
und des Erkannten in Zusammenhang gebracht wird, obwohl sie
im Gebet des Nechunja ben Haqqana den drei ersten Sephiroth
zugeordnet ist.
Uber den Sinn des Prozesses der Emanation, 'Asiluth, haben wir in
Gerona verschiedene Äußerungen. Der gnostische Charakter der Äonen
des Bahir wird, vor allem bei Ascher ben David und Azriel, durch die
neuplatonische Bestimmung der Sephiroth als Mittelwesen ersetzt.
Azriel geht darin am weitesten, da er, mindestens im Kommentar zu
den Sephiroth, alle zehn Stufen darin einbezieht. Die Emanation ist
ihm das Wirken der unendlichen Kraft im Endlichen, der Übergang
von der reinen Transzendenz des Einen zur Manifestation seiner viel-
174 Hs. Oxford 1938, Bl. 2 2 6 b und Perusch 'Aggadoth, S. 107.
175 v g l . Perusch 'Aggadoth, S. 84, sowie dort S. 81 und 107 über den Willen als Ur-
sprung der Mahschabha und der Hokhma.
17e So ausdrücklich in Maddae ha-Jahaduth II, S. 231.

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Die Sephiroth 395

fältigen Aspekte in der Schöpfung. Dazu tritt der ebenso gut plato-
nische wie dem Buch Jesira entsprechende Gedanke vom Zahlencha-
rakter der Sephiroth, die zugleich die ideale Ordnung alles Wirklichen
darstellen. Dieser Übergang zu einer Definition der Sephiroth als „In-
begriff alles Wirklichen, was in Zahlen bestimmt werden kann" und als
„Ordnung alles Erschaffenen" wurde dadurch vorbereitet, daß schon
vor Azriel arabisch schreibende Neuplatoniker wie Moses ibn Ezra die
zehn Kategorien als Ursache alles Seiende gefaßt hatten. Ob Scotus Eri-
gena eine ähnliche Auffassung vertrat, ist aus seiner Diskussion nicht
klar zu entnehmen. Man fragt sich auch, ob nicht eine bildliche Dar-
stellung des sogenannten „Baum des Porphyrius" über die Beziehung
von Genus und Spezies, wie sie — unklar von wann an — im frühen
Mittelalter Verbreitung gewann, das Mittelglied zwischen solcher Auf-
einanderbeziehung der Kategorien und der Sephiroth gebildet haben
könnte. In der Tat haben wir solche Darstellung der zehn Kategorien
1295 bei Ramon Lull im „Arbor Elementalis", dessen Stamm die
Substanz oder Hyle, dessen Blätter die neun Akzidenzien bilden177.
Solche Darstellung könnte auch schon sehr viel älter sein.
In mystischer Umdeutung sind die Sephiroth, vor allem bei Azriel,
nun zum „reinen Medium" geworden, zu etwas, was in sich selbst nicht
Gegenstand ist, sondern seiner Bestimmung nach ausschließlich Mittel
sein soll, nämlich das Mittel, in dem sich das Maßlose im Maß der Mid-
doth, das Unendliche im Endlichen auswirkt. Gott selber wirkt in den
und durch die Sephiroth wie die Seele in dem und durch den Körper.
Gott ist „in ihnen und außerhalb von ihnen und umgibt alles von innen
und von außen her wie die Seele, die sowohl im Inneren wie außerhalb
des Körpers ist", wie es Jakob ben Schescheth bestimmt178. Damit
werden natürlich auch Auffassungen wie die der Middoth als Akzi-
denzen der höchsten Kategorie, der Substanz, möglich, die zu der all-
gemeinen Tendenz dieser Schule passen179, für die die Sephiroth ja
nicht einfach die Substanz der Gottheit selber darstellen, sondern nur
deren Organe, Aspekte oder Bestimmungen, wie immer die verschie-
denen Formulierungen lauten mögen.

in Vgl. die Auszüge aus Moses ibn Ezra, 'Aruggath ha-Bossem, in Creizenachs Zion
II (1842), S. 118. Diese hebräische Übersetzung eines arabischen Originals konnte
möglicherweise dem Azriel bekannt sein. Zu Scotus Erigena vgl. vor allem De divisione
naturae I, 34. Zum Baum des Porphyrius und den Darstellungen bei Ramon Lull vgl.
Walter Ong, [Petrus] Ramus, Cambridge 1958, S. 7 8 - 8 3 , 2 3 4 - 2 3 5 ; E . W. Platzek,
in Estudios Lulianos II (1958), S. 20—24; Frances Yates, Journal of the Warburg
and Courtauld Institutes X X I I I (1960), S. 22, sowie die Abbildungen auf Taf. 15
ihres früheren Aufsatzes dort X V I I (1954), zu S. 146. Schon J . C. Schramm, Intro-
duciti3 in Dialecticam Cabbaleorum (1703), S. 53, hat auf den Baum des P. verwiesen.
"« Meschibh Debharim, Bl. 60b.
l n So zuerst, soweit ich sehe, in 'Emuna u-Bittahon, Kap. 3.

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396 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Die 'Asiluth ist zwar Emanation, aber nicht im Sinne einer Vermin-
derung im Emanierenden. Die Idee, daß das Licht bei der Emanation
nicht abnimmt, ist, wie die sprachliche Formulierung beweist, aus
einem Gleichnis des Midrasch Tanhuma zu Num. 1117 übernommen,
wo das Verbum 'asal gebraucht wird. Zugleich ist diese Vorstellung
auch gut plotinisch, bei dem ja auch die Quelle der Emanation durch
die Weitergabe ihrer Kraft an das Produkt keinerlei Einbuße ihrer
Kraft erleidet. Im Sinne der Geronaer Kabbalisten aber bleibt die Ema-
nation noch immer bei Gott und tritt nicht aus ihm heraus. Diese eso-
terische Auffassung könnte hinter der Erklärung des Nachmanides zu
dem erwähnten Vers stehen, wo er über den Begriff der 'Asiluth
spricht, ihre Erklärung als Ausfluß geradezu ablehnt und den Begriff
vielmehr vom hebräischen 'esel, „bei", als das „was bei Gott bleibt"
erklärt. Möglicherweise ist seine Polemik gegen den Sprachgebrauch
der Übersetzer, die 'Asiluth im Sinne von Ausfluß benutzen, in diesem
Sinne zu verstehen. Hinter seinem Protest steht ein esoterischer
Sprachgebrauch, wie sich in seinem Kommentar zu Jesira zeigt, wo er
selber jenen Begriff des Ausflusses, Hamschakha, für die Entstehung
der Sephiroth benutzt, den er an der erwähnten Stelle des Tora-Kom-
mentars abgelehnt hat 1 8 0 . Hier zeigt sich der Widerspruch zwischen
der theosophischen und neuplatonischen Bestimmung der Emanation.
Azriels Bestimmung der Sephiroth als Vermittlung zwischen dem
Einen und dem Vielen sucht doch zugleich der Folgerung zu entgehen,
die diese Mittelwesen außerhalb des Bezirks der Gottheit setzen müßte,
was der theosophischen Gottesanschauung, die hier entscheidend ist,
natürlich widerspricht. Die Sephiroth sind „der Gottheit lebendiges
Kleid", um mit Faust zu sprechen, aber diese „Kleider" — und das
Bild ist in diesem Kreise sehr behebt •— sind nichts von ihr Abzieh-
bares, sondern stellen ihre Erscheinungsformen dar. In einem mysti-
scheren Sinne freilich ist die Asiluth der Name oder die Namen Gottes,
wie wir schon im vorigen Kapitel gesehen haben. Diese theosophische
Auffassung bleibt in Gerona erhalten. Nur insofern als der Name Gottes
der Schöpfung eingeprägt ist, hat sie Bestand 181 . Die Offenbarung des
Namens ist die eigentliche Offenbarung, und die Tora selber ist nicht
nur ein Konglomerat von Namen Gottes, sondern ihrem Wesen nach
nichts als dieser eine Name selber. Diese Tradition, die eine ursprüng-
lich magische Überlieferung zu einer streng mystischen verwandelt, hat
ihren klaren Ausdruck zuerst in Gerona gefunden, und ist von hier aus
180
Vgl. Kirjath Sepher VI, S. 403, 406. Daß die zehn Sephiroth selber die Asiluth
sind, sagt Nachmanides zu Exod. 3 13. Danach ist Grajwers Aufstellung in dem Kapitel
„über den Begriff der Aziluth bei Nachmanides" zu berichtigen, vgl. Die kabbalistischen
Lehren des Moses ben Nachman, S. 45—56. Bachja ben Ascher vereinigt dann zu
Num. 111? Nachmanides' Erklärung mit dem von ihm abgelehnten Sinn als Emanation.
181
Perusch 'Aggadoth, S. 99.

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Die Sephiroth 397

dann zum Autor des Zohar gelangt 182 . Die Lichtmystik der Emana-
tion und die Sprachmystik des Gottesnamens bleiben auch hier die
zwei hauptsächlichsten Medien, in denen diese Welt der Sephiroth
beschrieben werden konnte.
Die zehn Sephiroth sind für Nachmanides die „Innerlichkeit" der
Buchstaben. Der Anfang und das Ende der Tora schließen sich, nach
einem mystischen Wortspiel, zum „Herzen", 3*? der Schöpfung zu-
sammen, das seiner zahlenmystischen Bedeutung nach auch auf die 32
Wege der Weisheit hinweist, die in ihr wirken. Dies „Herz" ist aber nichts
als der „Wille" Gottes selber, der die Schöpfung erhält, solange er in
ihr wirkt. Denn sie wird zum Nichts, bn, sobald der Wille seine Rich-
tung umkehrt und alle Dinge zu ihrer ursprünglichen Wesenheit zu-
rückführt, „wie jemand, der seinen Atem einzieht". Diese Rückkehr
aller Dinge zu ihrem Eigentümer ist aber ihre Heimkehr ins mystische
reine Nichts 183 . Der Uranfang der Schöpfung bestand im Hervorgang
der Hokhma aus der unendlichen Fülle der „höchsten Krone" oder des
Willens, in einem Akt der Beschränkung, Simsum, in dem der alles um-
fassende göttliche Kabhod eingeschränkt wurde. Diese Einschränkung
des Lichtes brachte erst eine Finsternis hervor, in die das klare Licht
der Hokhma ausfloß. So haben wir hier bei Nachmanides die älteste
Form der Lehre von einer Selbstbeschränkung Gottes bei der Schöp-
fung, die freilich keine des Έη-soph selber ist, wie bei viel späteren
Kabbalisten, sondern eine der ersten Sephira184.

182
Ausführlicheres hierüber in meinem Buch „Zur Kabbala und ihrer Symbolik",
S. 57—61, und die Quellennachweise dazu auf S. 266.
183
Dies ist die Apokatastasis aller Dinge im Sinne des Nachmanides, vgl. Kirjath
Sepher VI, S. 401—402, sowie auch in seiner Hymne über das Schicksal der Seele in
der Schlußstrophe und in einem Nachmanides-Zitat, das Bachja ben Ascher, Schulhan
'Arba', sub voce Se'udath Saddiqim anführt, dessen Quelle ich nicht auffinden konnte.
Auch Nachmanides Schüler sprechen von Apokatastasis im selben Sinne, so Isaak ben
Todros in seinem Kommentar zum Mahzor, Hs. Paris 839, Bl. 209 b, und das Zitat
aus einem ungenannten Schüler N's bei Sahula, Bl. 28a. Daß die Terminologie christ-
lichen Ursprungs ist, scheint mir wahrscheinlich. N. h a t auch sonst christliche Quellen
benutzt, so bei seiner Parallelisierung der Schöpfungswoche mit der Weltenwoche
(aus Isidor von Sevilla) und in seiner Lehre von der reinigenden Natur des Fegefeuers
(in Scha'ar ha-Gemul). Zu Deut. 17 14 zitiert N. einen Spruch des Neuen Testaments;
er ist also durchaus plausibel, daß er auch Acta Apóstol. 3 21 für die Heimführung
aller Dinge zu Gott benutzt haben kann.
184 vgl. N's Jesirakommentar, Kirjath Sepher VI, S. 402 — 403, wozu auch sein
Kommentar zu Hi. 28 13 zu stellen ist. Die älteste Quelle der Idee des Simfum im
kabbalistischen Sinn findet sich in einer Schrift der 'Ijjun-Gruppe, in der Vorrede
zu einer der Erklärungen über die 32 Wege der Hokhma, Hs. Florenz, Plut. II, Cod. 18,
Bl. 101a, sowie in der näheren Ausführung dieser selben Stelle, die Schemtob ben
Schemtob in seinem titellosen Buch in Hs. Brit. Mus., Margoliouth 771, Bl. 140b aus
„den Schriften der Kabbalisten" anführt. Dort heißt es: „Wie brachte er hervor und

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398 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Von hier münden dann die Ausführungen des Nachmanides zu Jesiral


in die rezipierte Sephira-Symbolik ein. Freilich ist bei ihm jenes Or
bahir, wie wir sahen, die Hokhma, während es bei Ezra eher die Bina
und bei Azriel sogar erst Tifih'ereth ist 185 . Die Einzelheiten der Sephi-
roth-Symbolik sind aber für unsere Betrachtung hier nicht mehr von
entscheidender Bedeutung. Hier setzt sich gnostische Symbolik ge-
genüber den philosophischen Bestimmungen durch. Die Totalität der
Emanation ist, besonders für Ezra und Azriel, aber auch für die an-
deren Kabbalisten dieses Kreises, sowohl der Name wie der Thron oder
die Glorie Gottes. Zugleich aber wird diese Bestimmung auch gern auf
alles, was zwischen der ersten und letzten Sephira ist, eingeschränkt.
Ist die erste Sephira, der Wille oder die Wurzel des Nichts, der „Quell
des Lebens", so ist die Welt der Emanation, die aus ihm fließt, bis zur
neunten hin dies „Leben" selber, das im „Baum des Lebens" sich aus-
wirkt, während die letzte Sephira, die Schekhina, das „Licht des Le-
bens" ist, das von dort in alle Schöpfung ausstrahlt 186 .
In der Auffassung der Emanation bei den Kabbalisten von Gerona
verbinden sich die beiden Motive des Heraustretens aus der Potentia-
lität zur Aktualität und der Reife des organischen Prozesses. Beide
haben wir in anderen Zusammenhängen schon bei Isaak dem Blinden
gefunden. Charakteristisch ist das Zusammentreten dieser Gedanken in
einem, aus diesem Kreis stammenden Stück über die Sephiroth: „Be-
vor Gott seine Welt schuf, war er mit seinem Namen allein, und sein
Name ist seiner Weisheit äquivalent. Und in seiner Weisheit waren
alle Dinge miteinander vermischt und alle Essenzen verborgen, denn
er hatte sie noch nicht aus der Potenz zur Wirklichkeit hervorgebracht,
wie ein Baum, in dessen Potenz schon die Frucht da ist, die er aber noch
nicht hervorgebracht hat. Als er die Weisheit betrachtete, da verwan-
delte er, was in der Wurzel war, zu Bergen und spaltete die Ströme
[Hi. 28 9. io], das heißt: er zog alle Essenzen, die in der Weisheit ver-
schuf seine Welt ? Wie ein Mensch, der seinen Atem an sich hält und sich selber ein-
schränkt [in Hs. Florenz heißt es: seinen Atem einschränkt], damit das Wenige das
Viele enthält. So schränkte er sein Licht in eine Spanne nach dem Maße seiner Spanne
ein, und so blieb die Welt in Finsternis und in dieser Finsternis meißelte er Felsen
aus, um aus ihnen die Wege hervorzubringen, die die Wunder der Hokhma heißen,
und das ist es, wovon die Schrift sagt [Hi. 28 i l ] : Verborgenes bringt er ans Licht."
Die Spanne Gottes, die hier erwähnt wird, steht natürlich in Kontrast zu der irdischen
Spanne, auf die sich, dem Midrasch Schemoth Rabba, Par. 34, § 1 zufolge, Gott im
Bundeszelt niederließ und „seine Schekhina in das Quadrat einer Elle einschränkte",
nämlich über dem Deckel der Bundeslade. In diesem Zusammenhang gebraucht schon
Jehuda ben Barzilai zu Jesira, S. 150, dieselbe Wendung, die hier von der Welt-
schöpfung benutzt wird: „damit das Wenige das Viele enthält".
185
Vgl. Ezras Perusch 'Aggadoth, Hs.Vat. 294, Bl. 27a, 31a, 48a, sowie sein Hohelied
Kommentar zu 11 und Bl. 27c; Azriel, Perusch 'Aggadoth, S. 78.
188
Vgl. Ezras Brief in Sepher Bialik, S. 157—168.

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Die Sephiroth 399

borgen gewesen waren, hervor und brachte sie durch seine Bina [unter-
scheidende Einsicht] ans Licht 187 ".
Im Kreis von Gerona gibt es schon keinerlei Schwanken mehr zwi-
schen der Welt der Sephiroth, die nur im symbolischen Sinn als Mer-
kaba bezeichnet werden kann, und der unter ihr stehenden Welt der
wirklichen Merkaba. Die erste oder mystische Merkaba betrifft die
Gnosis des Schöpfers, und sie allein ist, nach Nachmanides, in der
Tora angedeutet. Die Merkaba der prophetischen und mystischen
Schau dagegen, von der Ezechiel und die Hekhaloth sprechen, war
höchstens Gegenstand mündlicher Überüeferung, bis Jesaja und Eze-
chiel von ihr sprachen. Sie betrifft die Ontologie, das Wissen vom
wahren Wesen der geschöpflichen Dinge, und ist ein Schauen, das
gleichsam im Urlicht Adams erfolgt 188 . Die Propheten können nur
diese letztere Merkaba schauen, die ihre eigenen zehn Rangstufen oder
Sephiroth hat. Die prophetische Schau steigt von unten nach oben em-
por und schaut durch die Schleier dieser unteren Dekas den Abglanz
der Schekhina als der letzten Sephira der Gottheit selber189. Nur Moses
ist, allein unter allen Propheten, noch tiefer ins Geheimnis der Gott-
heit eingedrungen. Andere, wie Ascher ben David, hielten im allge-
meinen eine prophetische Schau der unteren fünf Sephiroth, dem je-
weiligen Rang der Propheten entsprechend, für möglich 190 .
Beim Ubergang von den Sephiroth zur Merkaba findet hier keinerlei
neuer Akt einer Schöpfung aus Nichts im eigentlichen Verstände statt.
Der Strom der Emanation hält zwar bei der letzten Sephira gleichsam
inne, und was sich von dort aus als kreatürliches Sein entfaltet, ist nicht
mehr „bei" Gott im Sinne der theosophischen Asiluth, die in der Welt
der Gottheit selber verbleibt. Aber nach dieser Zäsur fließt die schöp-
ferische Kraft weiter in den Bereich des Geschaffenen und von der
Einheit Gottes Abgetrennten 191 . Die schöpferische Kraft Gottes stellt
sich aber nicht nur in der einen Welt dar, die wir erkennen, sondern
alle neun Sephiroth — außer der ersten, in der als Nichts keine Gegen-
sätze bestehen—entfalten sich in ihrer doppelten Wirkung nach der Seite
der Strenge und des Erbarmens, und jede bringt nach jeder Seite tausend
Welten hervor. So wäre also das Universum eine Totalität von acht-
zehntausend Welten, eine Ziffer, in der eine alte talmudische Aggada
187
So in Hs. Brit. Mus., Margoliouth 752, Bl. 36a. Sehr ähnlich auch im Kether
Schern Tobh, bei Jellinek, Auswahl Kabbalistischer Mystik, S. 41.
188
Nachmanides in Torath Adonaj Temima, S. 23 und Schaar ha-Gemul, Bl. 23a.
Die beiden Stellen ergänzen sich ausgezeichnet.
189
Nachmanides zu Jesira, Kirjath Sepher VI, S. 407—408.
lt0
Ascher ben David in seiner Erklärung des Schern ha-Mephorasch, Hs. Casanatense,
Sacerdoti 179, Bl. 91b.
191
Am deutlichsten wird dieser Übergang, außer in den Exegesen zu Gen. 2 10, von
denen im vorigen Kapitel S. 248 f. die Rede war, in 'Emuna u-Bittahon, Kap. 24.

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400 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

wieder aufgenommen wird, die aber auch in islamischen Spekulationen


der ismaïlitischen Gnosis ihr Gegenstück hat 192 .
Azriel hat in seinem Kommentar zu den zehn Sephiroth die neu-
platonische Hierarchie des Seins in die Welt der Sephiroth hinein-
genommen. Die drei ersten Sephiroth bilden nach ihm (§ 10) die
Welt des Intellekts, die nächsten drei die Welt der Seele, während die
letzten vier die Welt des Körperlichen bilden, die an anderen Stellen
mit der Welt der Natur gleichgesetzt wird. Diese und ähnliche Zu-
ordnungen, wie z. B. die aller zehn Sephiroth zu den psychischen und
physischen Kräften des Menschen an derselben Stelle, beweisen nur,
daß eine von der neuplatonischen Tradition unabhängige Anschau-
ung auf ziemlich schematische Weise mit ihr in Zusammenhang
gebracht wird. Die drei Prinzipien alles Seienden in der plotinischen
Folge bleiben für den Kabbalisten immer noch innerhalb der Welt
der göttlichen Middoth, und erst von hier aus strahlen die Kräfte in
alles Irdische und Kreatürliche ein.
Ich gehe hier nicht näher auf die Vorstellungen dieses Kreises über
die Konstitution der Schöpfung ein, will aber doch den wichtigen
Beitrag erwähnen, den Nachmanides, in ausgesprochenem Gegensatz
zu Maimonides, mit seiner Lehre von den „verborgenen Wundern"
geleistet hat. Diese Lehre, die das Naturgesetz in gewisser Hinsicht als
einen bloßen Schein erklärt, hinter dem sich in Wirklichkeit ein
Kontinuum geheimer Wunder verbirgt, wird von ihm mehrfach als
die Grundlage der ganzen Tora erklärt. Die verborgenen Wunder,
sind solche, welche so aussehen, als ob sie weiter nichts seien als
Wirkungen des Naturverlaufs, obwohl sie es nicht sind 193 . Die Welt
in ihrer Beziehung auf den Menschen ist aber, Nachmanides zufolge,
überhaupt nicht „Natur", sondern stetig sich erneuerndes Wunder.
Die Seeligkeit des Menschen hängt sogar an der Annahme dieses
Satzes! Nachmanides ist also, wie wir wohl sagen dürfen, ein Okka-
sionalist reinsten Wassers. Die Meinung der meisten, und des Maimo-
nides unter ihnen, daß Gott nicht immer durch Wunder wirke, sondern
die Welt im Allgemeinen ihren natürlichen Lauf nimmt, ist nach N.
ein großer Irrtum, den zu bekämpfen gerade der Sinn der Offenbarung
der Tora ist. In Wirklichkeit hat freilich schon Maimonides selber in
seiner Abhandlung über die Auferstehung die Koinzidenz zwischen den
1 , 2 Die talmudische Aggada, 'Abhoda Zara 3b, kennt 18000 Welten, die zugleich

existieren. Daraus sind im 13. Jh. 18000 aufeinander folgende Áonen geworden, sowohl
bei den Kabbalisten, vgl. Bachja ben Ascher zu Num. 10 85, wie auch bei den Ismai-
liten, vgl. W. Ivanow, Journal of the Royal Asiatic Society 1931, S. 548, der diese
Ziffer für die Zahl der Welten aus einer dem Nasr ud-Din Tusi zugeschriebenen Schrift
anführt.
183 Nachmanides zu Gen. 17 l, 46 15; E x . 6 3, 13 16; Vorrede zum Hiob-Kommentar

und in seiner Predigt Torath 'Adonaj Temima, S. 13—15.

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Der Mensch und die Seele 401

Verheißungen in Lev. 26 und Deut. 33 und dem Naturgesetz als ein


„dauerndes Wunder", ein „größeres Wunderzeichen als alle anderen"
erklärt194. Auch Bachja ibn Pakuda und vor allem Jehuda Halewi
haben sich ausführlich über diese Frage ausgesprochen. Auch nach
ihnen vollzieht sich das Geschehen scheinbar in naturgesetzlicher
Ordnung, in Wahrheit aber nach der religiösen, die das Geschehen in
Einklang mit den Verheißungen für Lohn und Strafe der Tora, je
nach Israels Verhalten regelt. Der Begriff der verborgenen Wunder
tritt dabei noch nicht auf, und ist von Nachmanides aus der astro-
logischen Theorie Abraham ibn Ezras übernommen und ins Kabba-
listische umgedeutet worden195. Gott wirkt in der Natur auf geheime
Weise und wirkt einen übernatürlichen Kausalverlauf, der mit der
moralischen Weltordnung von Lohn und Strafe zusammenhängt, in
diesen Lauf der Natur hinein. Die verborgenen Wunder sind keine
historischen, lokalen oder individuellen Ereignisse, die sich unmittelbar
als Wunder erweisen, sondern stellen das Wirken der individuellen
Vorsehung innerhalb der Naturordnung dar. Während Gott als JHWH,
der das Naturgesetz von außen aufhebt, die offenen Wunder wirkt,
wirkt er als 'El Schaddaj die verborgenen Wunder für die Väter und
ganz Israel durch die Kraft der Schekhina, durch die also Israel aus
der Kausalität des Naturgesetzes herausgehoben und in die höhere
Kausalitätsordnung der beständigen Wunder hineingestellt wird. Die
göttliche Intervention, die sich in Lohn und Strafe auswirkt, tritt in
jedem Moment ein, und Regen und Sonnenschein kommen nicht aus
der verborgenen Harmonie der Schöpfung, sondern sind in diesem
Sinn verborgene Wunder. Die verborgenen Wunder, die keineswegs
in der inneren Notwendigkeit des Naturverlaufs liegen, mußten in
der Tora ausdrücklich angekündigt werden, während Sätze wie die
von der Unsterblichkeit der Seele oder der jenseitigen Vergeltung
nach dem Tode nach N. aus dem natürlichen Laufe der Dinge mit
Notwenigkeit zu folgern sind, und daher von der Tora nicht aus-
drücklich erwähnt zu werden brauchten. „Das größte Wunder ist,
daß uns die wahren, echten Wunder so gewöhnlich werden können,
werden sollen" — um mit Lessing zu sprechen.

5. Der Mensch und die Seele

In seinem Brief nach Burgos hat Azriel zugleich mit seiner spe-
zifischen Form der Theosophie auch seine Anthroprologie entwickelt,
1M
Maimonides, Qobef Teschubhoth ha-Rambam, Leipzig 1869, II, Bl. 10b.
i»6 vgl. dazu J. Kramer, Das Problem des Wunders bei den jüdischen Religions-
philosophen, Straßburg 1903, S. 29. Besonders Nachmanides' Kommentar zu Ex. 6 3
Scholen!, Kabbala 26

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402 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

und seine Konzeption der Natur und Bestimmung des Menschen ist
mit seiner Theosophie eng verflochten. Die menschliche Möglichkeit
war die einer vollendeten Analogie des Geschöpfes zum Schöpfer. So
wie der Schöpfer in der organischen Einheit eines ist, so sollte auch
die Kreatur sein. Der obere Wille hätte sich, wäre nicht der Fall
Adams dazwischen getreten, in Adam, Eva und allen ihren Nach-
kommen als einziger Gesamtwille ausgewirkt, wenn auch unter drei
verschiedenen Aspekten. Auch der Mensch ist durch dieselbe Formel
definiert wie die Gottheit : er ist das Eine, in dem die Kraft des Vielen
angelegt ist. Aber vom Menschen aus gesagt, enthält diese Formel
seine Freiheit zur Entscheidung zum Guten und zum Bösen, zur
Einheit und zur Vielheit, die die Natur der Sünde ist. Der Fall Adams
war sein Heraustreten aus dem Kontakt mit dem oberen Willen.
Ohne die Ursünde hätte es keine Individualität gegeben, die erst in
der Trennung und Verselbständigung der Vielheit entsteht. Es hätte
auch keine Dialektik der extremen Gegensätze, die sich am Menschen
auswirken, gegeben, sondern nur relative Unterschiede in der Inten-
sität, mit der die verschiedenen Middoth sich ausgewirkt hätten. Der
paradiesische Stand wäre also ein nichtindividueller und undialektischer
geblieben. Nicht in Gegensätzen hätte sich der Rhythmus des Lebens
entwickelt, sondern in leichten Schwankungen. Es gab einen höchsten
Stand des Verhaltens, Hanhaga, in dem der Mensch in völliger Kon-
formität mit dem oberen Willen sich verhalten hätte. Gegen diesen
höchsten Stand, der auch eine lebendige Einheit der Gegensätze
dargestellt hätte, verstieß Adam und hat seitdem die Möglichkeit zu
solchem wahrhaft mystischen Verhalten verloren. Erst in eschato-
logischer Perspektive wird der Stand wieder deutlich werden, den
jetzt nur die Mystiker in der Kawwana antizipieren. Das ist der
höchste Aspekt Gottes, in dem er 'Elohe 'Amen, Gott der Treue oder
der Bestätigung heißt. Unter diesem Aspekt seiner Wirkung erneuert
Gott beständig die Schöpfung der Natur. Erst wenn er wieder sichtbar
werden wird, kann der vom Fall unterbrochene Zusammenhang aller
Dinge, besonders der in Gegensätzen stehenden, wieder restituiert
werden. Alles, was mangelhaft war, muß aus der in seinem Gegensatz
angelegten Möglichkeit der Vollendung schöpfen und mit ihm eines
werden. Dieser höchsten Möglichkeit im Menschen, die über das
Intellektuelle hinaus im ganz Verborgenen gründet, entspricht die
seiner Teilhabe an Gottes Einheit, Heiligkeit und Segensfülle. Was
jetzt nur im mystischen Gebet und in der Kawwana erreicht werden
kann, dieses Teilhaben des Menschen am göttlichen Bereich, wird
erst im messianischen Reich sich voll darstellen und realisieren196.
ist für seine Benutzung des ibn Ezra in dieser Frage wichtig. Er sagt, ibn Ezra habe
unbewußt das Richtige getroffen.
1M
AU dies nach Madda'e ha-Jahaduth II, S. 234—237.

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Die Seele 403

Die Seele des Menschen ist nur im exoterischen Sinne aus dem Nichts
erschaffen. Im mystischen Verstände entstammt sie der A siluth und
ist von göttlicher Art. Sie entstammt nicht, wie die Seele der Tiere, aus
den Elementen und auch nicht aus den separaten Intelligenzen allein.
Die letztere Meinung, die Nachmanides zweifellos durch eine Schrift
des Israeli bekannt war, lehnt er als „Ansicht der Griechen" ab 197 .
Die menschliche Seele ist von der Tierseele wesensverschieden198,
und Nachmanides nimmt mit den anderen ältesten Kabbalisten die
platonische Meinung von der Seele an, wonach im Menschen ver-
schiedene Seelen, nicht nur verschiedene Vermögen einer einheitlichen
Seele, existieren. Die anima rationalis vereinigt für Nachmanides das
rationale und das mystisch-intuitive Element, ohne daß er darin
Scheidungen vornimmt. Jedoch verschiebt sich das Gewicht für ihn
unversehens nach der zweiten Seite, und die höchste Seele, die als
Neschama aus Bina und Jessod kommt, ist die Mittlerin der Prophetie,
und sie ist es, durch die der Mensch in der Debhequth sich mit der
Gottheit in Kommunion setzt, und zwar infolge des ihr eingepflanzten
Verlangens nach ihrem Ursprung199. Henoch und die drei Patriarchen,
Moses und Elias sind schon auf Erden zu diesem höchsten Stand
gelangt200, der aber keine völlige Unio mystica mit der Gottheit ist,
sondern eine communio, wie wir sie auch in den Ausführungen über
die Kawwana kennengelernt haben. In der prophetischen Schau, in
der sich die Seele mit den Gegenständen ihrer Anschauung vereinigt,
befindet sich die Seele in diesem Stand der Debhequth, in dem sie
„Erkenntnis Gottes von Angesicht zu Angesicht" erlangt201. In diesem
Verlangen nach ihrem Ursprung vermag die höchste Seele im Menschen
alle mittleren Sphären zu durchstoßen und durch ihre Taten, die sich
hier sonderbar mit der Kontemplation vereinigen, bis zu Gott zu
erheben202.
1,7 Nachmanides zu Lev. 17 11. Was dort vom Ursprung der Tierseele gesagt wird,
las er in dem pseudo-aristotelischen „Kapitel von den Elementen", das in Wirklich-
keit eine Schrift des jüdischen Neuplatonikers Isaak Israeli ist, vgl. den Text bei
A. Altmann, Journal of Jewish Studies VII (1966), S. 42.
las Vgl. Nachmanides zu Gen. 2 7.
im Vgl. zu Num. 22 23. Über den sephirotischen Ursprung von Neschama vgl. z. B.
Ex. 3113 und N.s Predigt über Qoheleth, S. 16.
200 Vgl. zu Deut. 6 28, II22, 2118, sowie im Scha'ar ha-Gemul, Bl. 21b.

201 Vgl. zu Num. 2 2 « und vor allem Deut. 3410. Eine Definition dieses Status der

Debhequth gibt N. zu Deut. 26 19. Vgl. auch oben S. 267 und Anm. 184.
202 So vor allem in der psychologischen Stelle von N.s halachischem Buch Sepher

ha-Ma'or, die schon Isaak aus Akko, Hs. München 17, Bl. 143a zur Erklärung der
Psychologie des Nachmanides mit Recht heranzieht. In seinem Responsum an seinen
Vetter Jona Gerundi über die Erschaffung der Seelen trägt N. die Lehre vor, daß die
Seele zugleich mit der sephirotischen Welt der Urtage entstanden ist, wofür er sich
auf einen von ihm mystisch gedeuteten Vers Jehuda Halewis beruft. Dies bekannte

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404 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Der eklektische Charakter der Übernahme philosophischer Thesen


über die Seele in die Kabbala zeigt sich auch darin, daß z. B. Azriel
die aristotelische Definition der Seele als Form des Körpers über-
nimmt, ohne sich über den Widerspruch dieser Bestimmung zu
wichtigen kabbalistischen Lehren zu erklären203. Dieser Widerspruch
ergibt sich durch die Übernahme und weitere Entwicklung der Lehre
von der Seelenwanderung. Während diese Lehre im Buch Bahir, wie
wir S. 166 ff. gesehen haben, ziemlich unverhüllt vorgetragen wird, er-
scheint sie merkwürdigerweise in der Provence und in Gerona als
großes Mysterium. Alle Autoren sprechen nur in Andeutungen und
verdeckten Hinweisen darüber, lassen sich auf keine nähere Be-
gründung ein, sondern setzen die Vorstellung als von der esoterischen
Tradition gegeben voraus. Der später allgemein gebrauchte Ausdruck
Gilgul für Seelenwanderung fehlt bei all diesen Autoren noch ganz.
Statt dessen sprechen sie mit Vorliebe von Sod ha-Ibbur. Das heißt
wörtlich „Geheimnis der Schwängerung", und der Ausdruck wird im
Talmud für die lange nur mündlich überlieferte Rechnung des Ka-
lenders benutzt, nach der in den Schaltjahren das Jahr durch einen
Zusatzmonat gleichsam geschwängert wird. 'Ibbur konnte aber auch
wörtlich zur Not als „Übergang" verstanden werden, und es ist wohl
in diesem Sinne, daß der Terminus von den Kabbalisten aufgegriffen
wurde. Das „Geheimnis des 1 Ibbur" ist das des Übergangs der Seele
von einem Körper zum andern, nicht etwa, wie bei den späteren
Kabbalisten 204 , wirklich ein Vorgang der Schwängerung, durch die
nach der Geburt noch manchmal eine weitere Seele zusätzlich in die
mit dem Menschen geborene eintritt.
Wir wissen bisher nicht, was die Kabbalisten der ersten Generationen
zu ihrer strikt esoterischen Behandlung dieser Lehre veranlaßt hat
und welche Gefahren sie in ihrer öffentlichen Darlegung erblickten.
Unmöglich kann Rücksicht auf die katholische Kirche mitgespielt
haben, wo diese Lehre offiziell verdammt war. Jüdische Theologie war
in dieser Hinsicht, wo Christologisches nicht hineinspielte, nicht durch
Rücksichten gebunden. Die Polemik der Philosophen gegen diese
Lehre hätte ebenfalls eher eine Auseinandersetzung herbeiführen
sollen. An Gelegenheit, seiner Ablehnung der philosophischen Kritik
dieser Lehre Ausdruck zu geben, hätte es etwa Nachmanides nicht
gefehlt. Statt dessen zieht er sich sogar in seinem Kommentar zum
Buche Hiob, dessen Schlüssel ja nach den Geronaer Kabbalisten gerade
in der Lehre von der Seelenwanderung zu finden ist, nur auf vor-
Gedicht, das die Emanation der Seele aus dem heiligen Geist verherrlicht, wird auch
sonst von N. beifällig zitiert, vgl. zu Num. 11 il.
203
Azriel, Perusch 'Aggadoth, S. 33.
2M
So zuerst bei Schemtob ibn Gaon, Κ ether Schern tob h zu Lev. 18 β, und Isaak
aus Akko, Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 100a und vor allem 139b.

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Seelenwanderung 405

sichtige und dem Uneingeweihten oft undurchsichtige Sätze zurück.


Hiob mußte, nach der kabbalistischen These, leiden, um für seine
Sünden in einem früheren Leben zu büßen. In der Rede des Elihu,
Hiob Kap. 33, findet Nachmanides — zweifellos auf Grund ihm über-
kommener Tradition — den deutlichen Hinweis und eine große Zahl
von Stichversen für diese Lehre. Alle Probleme der Theodizee finden
in dieser Lehre ihre Beantwortung. Auch biblische Vorschriften, vor
allem die Institution der Schwagerehe (Deut. 25), wonach der Bruder
eines kinderlos Verstorbenen dessen Witwe zu heiraten verbunden ist,
wird mit dem Hinweis auf diese Lehre erklärt. Der Sohn aus solcher
Ehe ist nämlich Träger der Seele des Verstorbenen und kann daher
die ihm im vorigen Leben versagte Erfüllung des Gebots der Fort-
pflanzung in diesem Leben vollziehen. Andererseits wird auch Ste-
rilität der Frauen durch Seelenvertauschung erklärt : wenn eine
männliche Seele in einen weiblichen Körper gerät, bleibt die Frau
kinderlos205. Von der Wanderung durch Tierleiber weiß die Kabbala
in Gerona noch nichts. Es ist auch bemerkenswert, daß, während die
Seelenwanderung als Antwort auf die Leiden der Gerechten und das
Wohlergehen der Bösen einen umfassenden Geltungsbereich dieser
Lehre voraussetzt, sie im Detail überaus eingeschränkt erscheint und
in Gerona weitgehend auf das Phänomen der Kinderlosigkeit reduziert
wurde. Nicht alle Vergehen, sondern nur solche, die mit der Fort-
pflanzung zusammenhängen, führen eine weitere Wanderung der
Seele herbei. Diese Wanderung ist ebenso sehr Strafe und vermehrtes
Leiden als auch eine erneute Chance zur Wiedergutmachung früherer
Verfehlungen. Die Seelenwanderung ist also eine Veranstaltung, in
der sich das göttliche Erbarmen mit der göttlichen Strenge die Waage
hält20®. Bei Azriel und anderen wird das Mysterium des 'Ibbur an-
scheinend auch mit Vorgängen in der Welt der Emanation zusammen-
gebracht, die nicht durchsichtig sind. Mehrfach wird betont, daß dies
Mysterium seine Wurzel in der Sephira Hokhma hätte, und irgendwie
im „Übergang" der in der göttlichen Sophia zusammengefaßten
Kräfte zu den späteren Sephiroth begründet ist 207 . Wird doch
206
So zuerst Ezra in seinem Perusch 'Aggadoth Hs. Vat. 441, Bl. 53a, gedruckt in
Liqqute Schikhha, Ferrara, Bl. 14b. Eine Erklärung des Buches Hiob auf Grund der
Seelenwanderungslehre trägt als Wortsinn der Schrift noch Jakob Zlotnik, A new
Introduction to the Book of Job, Jerusalem 1938 (hebräisch), vor.
20
' So bei Azriel, Perusch Tephittoth, Hs. Parma, Bl. 84a. In diesem Sinn ist die
Seelenwanderung von den Geronaer Kabbalisten von der Höllenstrafe streng unter-
schieden worden. Die Frage, ob auch Gerechte unter Umständen in neue Leiber zurück-
kehren, nicht als Strafe, sondern zum Heil der Welt, wird schon von Ezra bejaht.
207
Vgl. Azriel, Madda'e ha-Jahaduth II, S. 232 und 237, sowie die dunklen Andeu-
tungen in 'Emuna u-Bittahon, Kap. 4. Bachja ben Ascher erklärt zu Deut. 3 36 den
Begriff 'Ibbur als die Kraft der Generationen, die aus der innerlichen Kraft der Se-
phiroth gleichsam geschwängert ist.

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406 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

geradezu auch die mystische Erleuchtung durch den Ausfluß der


göttlichen Kraft von Sephira zu Sephira als Sod ha-Ibbur bezeichnet208.
Während die Geronaer Kabbalisten im allgemeinen die Seelen-
wanderung, auf Grund von Hi 33 29, auf drei Wiedergeburten nach
dem ersten Eintritt der Seele in den menschlichen Körper beschrän-
ken 209 , kannten sie wohl auch Ausnahmefälle. Ein wichtiges Detail
haben wir aus der Schule des Nachmanides. In seiner Disputation mit
dem ex-Juden Paulus Christiani beruft sich der Mönch auf die be-
kannte Aggada, wonach der Messias in der Stunde der Tempelzer-
störung geboren sei. Hierauf erwidert N. : „Diese Aggada ist entweder
nicht wahr oder hat eine andere Erklärung aus den Mysterien der
Weisen210". Obwohl diese Bemerkung in ihrem Sprachgebrauch
deutlich auf Kabbalistisches hinweist, ist sie bisher nicht verstanden
worden. Nachmanides gibt zwar eine plausible Erklärung der Aggada
nach dem Wortsinn — der Messias befände sich jetzt im irdischen
Paradies —, aber seine wahre Meinung erfahren wir erst aus den Fragen
seines Schülers Schescheth des Mercadell über die Seelenwanderung,
welcher diese Aggada nun in der Tat als Beleg für diese Lehre an-
führt211. Die Vorstellung ist also die, daß seit der Tempelzerstörung
die Seele des Messias im Prozeß des *Ibbur ist. Hiermit entfernt sich
also Nachmanides und seine Schule von der älteren Vorstellung des
Bahir § 126, wonach die Seele des Messias noch nie in einem mensch-
lichen Körper gewohnt haben wird. Demgegenüber haben wir hier
schon den Übergang zu der kurz nach Nachmanides zuerst nachweis-
baren Erklärung des Namens Adam als Abkürzung (ADaM) der drei
Existenzformen dieser Seele in Adam, David und dem Messias, wonach
also der Messias verschiedene Stufen der Inkarnation durchlaufen
muß, so daß sein Wesen in irgendeiner Gestalt „immer noch mit uns
lebt". Die anscheinend ebenfalls kurz nach Nachmanides aufge-
kommene Vorstellung von den Seelenfunken, die von einer Hauptseele
aussprühen und so durch mehrere Körper gleichzeitig gehen können,
ist in Gerona noch nicht nachweisbar212. Diese Lehre wurde in der
Schule des Salomo ben Adreth auch benutzt, um die Schwierigkeit
aufzuheben, die bei der Auferstehung der Toten für die verschiedenen
von einer Seele durchlaufenen Körper sich ergab. Die verschiedenen
Körper der Auferstandenen werden dann von Funken der gleichen
208 Vgl in seti- alten Glossen der Hs. Parma, de Rossi 68, Bl. 16a.
209
Der Vers mußte in der Tat den Kabbalisten sehr suggestiv erscheinen: „All
das wirkt Gott zwei- oder dreimal an einem Mann: seine Seele aus der Verwesung
zurückzuführen, um im Lichte des Lebens zu leuchten". Dies wurde dann der locus
classicus der Kabbalisten als Beleg für die Lehre.
210
Vgl. Wikkuah ha-Ramban, ed. Steinschneider, Berlin 1860, S. 8.
211
Vgl. Tarbiz Bd. 16 (1945), S. 144.
212
Vgl. das wichtige Stück a. a. O. S. 143.

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Lehre von den Weltenzyklen 407

Seele bewohnt213. Übrigens gibt es, Azriel zufolge, Seelen so hohen


Ranges, daß sie bei der Auferstehung gar nicht in die Welt der Körper
zurückkehren, sondern in der „Welt des Lebens" verbleiben und ¿so
die Auferstehung gar nicht, oder nur in einem rein spirituellen Sinn
mitmachen214. Damit lenken also die Kabbalisten, mindestens für
eine bevorzugte Kategorie von Seelen, zu der Leugnung der körper-
lichen Auferstehung hinüber, die gerade den radikalen Maimonisten
so bitter vorgeworfen wurde. Freilich taucht diese Vorstellung nur in
strikt esoterischen Zusammenhängen einer Schilderung des eschato-
logischen Fortschritts der Seelen nach ihrem Abscheiden aus der
irdischen Welt auf und wurde nicht in dogmatischer Form formuliert.

6. Das Buch Temuna und die Lehre von den Weltenzyklen


oder Schemittoth

Zum Abschluß dieser Untersuchungen will ich noch eine wichtige


Doktrin besprechen, die in der Schule von Gerona mehrfach ange-
deutet wird, ihre detaillierte Ausführung aber in einer besonderen
Schrift erhalten hat, die für die Entwicklung der Kabbala von großer
Bedeutung geworden ist. Dies ist die Lehre von den Schemittoth oder
Weltenzyklen, wie sie vor allem in dem anonymen Buch Temuna vor-
getragen wird. Dieses Buch gibt eine Erklärung der Buchstaben des
hebräischen Alphabets auf kabbalistischer Basis. Der Titel bedeutet:
Buch von der Gestalt, nämlich der hebräischen Buchstaben. Im
Unterschiede zu allen anderen Schriften der Kabbala aus Katalanien
tritt das Werk ohne Autorangabe auf. Die Zuweisung an den Mischna-
lehrer und Heros der Merkaba-Mystik Ismael ben Elischa, wie sie seit
dem 16. Jahrhundert üblich ist und auch in den Drucken des Buches216
vorgenommen wird, ist spät. Alle frühen Manuskripte sind anonym
und erheben keinerlei pseudepigraphischen Ansprüche. Der Vortrag
des Autors ist ganz anders als der der uns bekannten Geronaer Kabba-
listen; nichts wird diskursiv entwickelt und auf etwaige Quellen be-
zogen, sondern alles wird mit nicht weiter diskutiertem autoritativem
Anspruch vorgetragen. Dabei ist der Stil ungemein kurz und reich an
undurchsichtigen Bildern und Wendungen. Offenbar wählte der Autor
213
Hs. Parma, de Rossi 1221, Bl. 186 b.
21« Vgl. die vorsichtige, aber eindeutige Formulierung in Madda'e ha-Jahaduth IX,
S. 238.
216
Als Erstausgabe gilt Korez 1784. Ich zitiere im folgenden nach der besseren
zweiten Ausgabe, Lemberg 1892. Die wirkliche editio princeps scheint aber in Krakau
1599 gedruckt zu sein, von der 1743 Daniel Janotzki ein Exemplar in einer jüdischen
Bibliothek gesehen zu haben bezeugt, vgl. Steinschneider, Hebr. Bibliogr. X I V (1874),
S. 81. Dieser Druck ist bis heute völlig verschollen.

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408 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

absichtlich einen epigrammatischen, oft halbpoetischen und jedenfalls


andeutungsreichen Stil, der die Einzelheiten viel mehr verbirgt als
enthüllt. Das Buch ist, sollte es wirklich aus Gerona stammen, weitaus
der schwierigste Text dieser Richtung. Da Abraham Abulafia es 1280
schon als einen klassischen Text der Kabbala las, muß seine Abfassung
in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts gesetzt werden. Die sehr
detailliert ausgebildete Sephiroth-Symbolik verbietet frühere An-
setzung. Vielleicht ist es nicht in Katalanien, sondern in der Provence
entstanden. Die vorkommenden romanischen Fremdworte können der
Schreibung nach ebenso sehr katalanisch wie provençalisch sein. Die
kabbalistische Welt des Autors ist schon überaus reich entwickelt und
die im Zentrum seiner Anschauung stehende Lehre von den Schemittoth
wird von ihm mit großer Selbstverständlichkeit expliziert, als ob es
sich keineswegs um eine neue Idee handelte.
In der Tat sind in der jüdischen Literatur des Mittelalters Lehren
über kosmische Zyklen der Weltentwicklung auch außerhalb der
Kabbala bekannt. Durch indische und arabische Quellen mehr als
durch platonische Vorstellungen vermittelt Hefen besonders in astro-
logischen Schriften solche Ideen mit unter. Abraham bar Chija kennt
sie um 1125 als Lehre gewisser Philosophen. „Einige von ihnen sagen:
nachdem alle Geschöpfe aus der Potenzialität zur Aktualität über-
gegangen sind, führt sie Gott wiederum zur Potenzialität wie am
Anfang zurück und bringt sie ein zweites und drittes Mal wieder zur
Aktualität hervor und so ohne Ende. . . . Und andere von ihnen sagen,
daß die Tage der Welt 49000 Jahre sind und daß jeder der sieben
Planeten in der Welt 7000 Jahre herrscht. Wenn sie dann am Ende
der 49000 Jahre ihre Herrschaft beendet haben, zerstört Gott seine
Welt, läßt sie tausend Jahre im Zustand des Tohu, und am Ende des
50. Jahrtausend erneuert er sie wieder wie am Anfang216". Dies ist
eine auch sonst aus arabischen Quellen bekannte kosmische Theorie
der Astrologen, und der Autor sagt, wir seien nicht befugt, derartige
Dinge anzunehmen, die nur Vermutungen darstellten. Daß solche Vor-
stellungen nicht nur bei dem aragonischen Gelehrten bekannt waren,
sondern auch in anderen jüdischen Kreisen umliefen, beweist das
Zeugnis des im 10. Jahrhundert schreibenden Mutahhar al-Maqdisi,
wonach ihm ein jüdischer Gelehrter, also im Orient, versichert hat,
es gäbe unter seinen Religionsgenossen solche, die an einen unaufhör-
lichen Prozeß der Neuschöpfung von Welten glaubten217.

2ie Vgl. Megillath ha-Megalleh, Berlin 1924, S. 10. Verwandte Ideen erwähnen
auch Saadja in seinem Kommentar zu Jesira, in der französischen Übersetzung von
Lambert, S. 19, sowie Jehuda ben Barzilai, S. 174.
an Vgl. die französische Übersetzung des kitäb al-bad'i wa'1-ta'rïhi von Cl. Huart,
Bd. 2, S. 44.

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Lehre von den Weltenzyklen 409

In ihrer kabbalistischen Version sieht diese Lehre im Prinzip fol-


gendermaßen aus. Die verborgene Schöpferkraft Gottes drückt sich
nicht nur in den Sephiroth aus, sondern auch in der Abfolge von
Schöpfungen, in deren jeder die verschiedenen Sephiroth nun ihre
Kraft entfalten. Alles Innere muß sich im Äußerlichen ausdrücken,
und so muß die schöpferische Kraft jeder der göttlichen Potenzen sich
vollständig aktualisieren. Solche Realisierung ist aber nur möglich,
wenn diese Kraft sich in einer kosmischen Einheit auswirkt, deren
Gesetzlichkeit von der spezifischen Natur der jeweiligen Potenz be-
stimmt wird. Hierbei unterscheidet die kabbalistische Lehre jedoch
zwischen den ersten drei Sephiroth und den sieben unteren. Die ersten
drei sind verborgene Potenzen, die eigentlich gar keine Middoth wie
die übrigen Sephiroth sind. Das zeigt sich etwa daran, daß in der
Symbolik des Urmenschen die sieben unteren Sephiroth äußeren
Gliedern entsprechen, die drei oberen aber verborgenen Kräften des
Gehirns, die in den drei Gehirnkammern lokalisiert sind. Sie wirken
sich nicht im Sichtbaren aus und bauen keine Welten, wie die
anderen Sephiroth, sondern sind als Wurzel, Materie und Form-
kraft das Substrat des Weltprozesses, und wenn es etwa (wie das
Buch Temuna anzunehmen scheint) verborgene Strukturen gibt,
in denen sie sich ausdrücken, so sind sie auch der Kenntnis des Kab-
balisten entzogen. Die sieben unteren Sephiroth aber, die den
sieben Urtagen der Schöpfung entsprechen, drücken sich in sieben
kosmischen Einheiten aus, die jede eine besondere Schöpfung dar-
stellen. Jede ist eine vollständige Welt, die aus dem Chaos sich organisch
bildet, von dem Charakter der in ihr herrschenden Sephira geformt,
und besteht siebentausend Jahre, das heißt eine Weltenwoche Gottes,
vor dem ja nach dem Wort des Psalmisten tausend Jahre sind wie ein
Tag. Danach kehrt diese Schöpfung in den Zustand des Tohu zurück
und wird erst durch die Wirksamkeit der ihr folgenden Sephira, nach-
dem sie in einem Weltensabbath brach gelegen hat, rekonstruiert. Da
die Anhänger dieser Doktrin in der biblischen Vorschrift über das
Brachjahr (Deut 15), in dem der Acker neue Kraft schöpft, einen
Hinweis auf diese Vorstellung fanden, nannten sie jede solche Schöp-
fungseinheit mit dem von der Tora in diesem Zusammenhang ge-
brauchten Terminus Schemitta. Obwohl jeweilig eine Sephira einer
solchen Schemitta von sieben Jahrtausenden ihren Stempel aufdrückt,
wirken mit ihr zusammen doch auch die anderen Sephiroth, wiewohl
mehr im Sinne von Begleitmotiven, durch die die jeweilige Wirkung
der Hauptsephira variiert wird. In jedem Jahrtausend tritt eine dieser
mitwirkenden Sephiroth ein wenig stärker hervor als die anderen. Nach
sechs Jahrtausenden wirkt die Sephira, die die Kraft des Sabbath und
der Ruhe enthält, und die Welt feiert einen Sabbath und kehrt am
Ende dieses siebenten Jahrtausends ins Chaos zurück. Sieben solcher

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410 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Schemittoth erschöpfen die produktive Kraft, die in den sieben „Sephi-


roth des Aufbaus" verborgen liegt. Nach 49000 Jahren kehrt daher im
„großen Jubeljahr" die gesamte Schöpfung zu ihrem Ursprung in den
Schoß der Bina oder Weltenmutter zurück, wie nach der Vorschrift
der Tora über das Jubeljahr nach fünfzig Jahren „Freiheit im Lande
ausgerufen wird" und alle Dinge zu ihrem ursprünglichen Eigentümer
zurückkehren. Das Weltenjubiläum von 50000 Jahren ist also die um-
fassendste kosmische Einheit, in der die Kraft des Schöpfers sich voll-
ständig auswirkt, in der Abfolge der sieben Grundeinheiten oder
Schemittoth, die das Weltenjubiläum, hebräisch Jobhel, bilden.
Diese Lehre weist, wenn auch in einem weiteren Rahmen, eine
Strukturverwandtschaft mit der Vorstellungswelt des Joachim von
Fiore auf, der am Ende des 12. Jahrhunderts der christlichen Lehre
von der Trinität eine geschichtsmetaphysische Wendung gab, die zu
großer historischen Bedeutung gelangt ist. Auch hier lag die Vorstellung
zugrunde, daß die Gottheit sich nicht nur in den drei Personen der
Trinität ausdrückt, sondern daß deren verborgene Kraft sich auch
in der äußeren Schöpfung und in der Weltgeschichte in drei Perioden
auswirkt, deren jede ihr Gesicht von einer der Personen der Trinität
erhält. Die verborgene Fülle der Gottheit offenbart sich also in der
Totalität der aufeinander folgenden historischen Perioden oder status.
In jedem status nimmt die göttliche Offenbarung eine andere Form an.
In der Periode des Vaters gab es die Offenbarung des Alten Testaments
und die Herrschaft des mosaischen Gesetzes. In der Periode des Sohnes
begann die Herrschaft der Gnade, die sich in der katholischen Kirche
und ihren Institutionen ausdrückt. In der dritten Periode dagegen,
deren Anbruch nahe bevorsteht, wird der Heilige Geist alleine herr-
schen, der mystische Gehalt des Evangeliums wird vollends offenbar
werden und die äußeren Veranstaltungen der Kirche durchdringen
oder sie hinfällig machen. Wir brauchen hier die in den letzten Jahr-
zehnten viel erforschten historischen Implikationen dieser Lehre nicht
näher zu behandeln, die in der Geschichte des Franziskaner-Ordens
und der spiritualistischen Sekten eine so bedeutende Rolle gespielt
haben. Jedenfalls gibt die Parallele zu der kabbalistischen Theorie, in
der das utopische Elrment, das hier von so großer Sprengkraft war,
auf eine eigenartige Weise Ausdruck fand, zu denken. Ich glaube nicht,
daß wir mit unmittelbaren historischen Verbindungen zwischen den
beiden Vorstellungen zu rechnen haben. Joachim entwickelte seine
Lehre zwischen 1180 und 1200 in Kalabrien, und als sie nach Frank-
reich und Spanien übergriff, war die kabbalistische Lehre von den
Schemittoth schon ein gemeinsames Besitztum der Geronaer Kabba-
listen, wenn auch die Abfassung des Buches Temuna sicher in das
Viertel]ahrhundert fällt, in dem die großen joachitischen Pseudepi-
graphen wie der Jeremia-Kommentar verfaßt worden sind. Die An-

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Lehre von den Weltenzyklen 411

nähme einer inneren Dynamik und mystischen Struktur der Gottheit


erzwang in beiden Fällen verwandte Konsequenzen. Was aber bei
Joachim sich innerhalb des einen Verlaufs der Weltgeschichte von der
Schöpfung zur Endzeit in Perioden abspielt, wird von den Kabbalisten
auf einen Rhythmus des gesamten Weltprozesses und dessen kos-
mische Schöpfungseinheiten verteilt. Das utopische und radikale
Moment, das den astrologischen Formen dieser Lehre noch abgeht, ver-
bindet deren kabbalistische Version gerade mit der joachitischen. Ich
glaube nicht, daß die Frage der eventuellen jüdischen Abstammung
Joachims, die jetzt aufgetaucht ist, dabei eine Rolle spielt218.
Die historischen Ursprünge dieser Lehre bleiben zu untersuchen. Es
ist durchaus möglich, daß sie aus dem Orient nach der Provence gelangt
ist und sich dann dort mit der Sephiroth-Lehre verbunden hat. Die
Neigung zu großen Ziffern der kosmischen Abläufe, die schnell weit
über die 50000 Jahre des einen Weltenjubiläums hinausführte, ent-
spricht derselben Tendenz bei den Indern und der ismailitischen Gnosis.
Aus dem einen Jobhel wurden noch im 13. Jahrhundert (bei Bachja ben
Ascher bezeugt) 18000, aus den sieben Schemittoth ebenso schnell
tausende219, und durch die Annahme geometrischer Progression bei
der Verlangsamung der Gestirnumläufe am Ende jeder Schöpfungs-
periode wurden auch die 7000 Jahre jeder einzelnen Schemitta in Wirk-
lichkeit zu ungeheueren Ziffern gedehnt. Andererseits ist die Wurzel
solcher Vorstellungen in der Aggada, wenn auch schwach, so doch
nicht ganz zu verkennen. Verschiedene alte Worte spielten in diesen
Zusammenhängen bei den Kabbalisten eine Rolle. So das Epigramm
des R. Qatina in Sanhédrin 97 a: „Sechs Jahrtausende besteht die
Welt und ein weiteres ist sie öde", was paradoxerweise aus Jes 2 li be-
gründet wurde. Die Vorstellung einer solchen Weltenwoche war also
offenbar unabhängig von der Schriftgrundlage aufgekommen. Ebenso
heißt es dort: „So wie einmal in sieben Jahren die Erde brach liegt,
so hegt auch die Welt tausend Jahre in siebentausend brach", und
erst dahinter beginnt, also im 8. Jahrtausend, der neue Äon, die
„künftige Welt". Die midraschischen Pirqe Rabbi Eliezer kennen in
Kap. 51 ein periodisches Auf- und Zuklappen des Weltenbuches, oder
besser gesagt, Aufrollen der Himmelsrolle, was auf ähnliche Annahme
einer fortdauernden Schöpfung hindeutet. Ein anderes Motiv, das bei
den Kabbalisten dann zu großer Bedeutung gelangt ist, war durch
den Ausspruch des R. Abbahu (3. Jahrhundert) in Bereschith Rabba
Par. 9 gegeben, der aus Qoheleth 3 n folgerte, daß „Gott Welten
erschaffen und zerstört hat, bis er diese schuf; er sagte, diese gefallen
218
Vgl. Herbert Grundmann, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters,
Bd. 16 (1960), S. 5 1 9 - 6 2 8 .
219
So in der Abhandlung eines anonymen Kabbalisten aus dem Ende des 13. Jh.s,
die Meïr Sahula in seinem Superkommentar zu Nachmanides, Bl. 27 d—28 b. mitteilt.

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412 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

mir, jene gefallen mir nicht." Hier tritt also zum Motiv der auf unsere
Schöpfung folgenden Welten noch das der Vorwelten, das auch in der
Schemittalehre eine Rolle spielt. Die Zerstörung der Welt wird bei den
Kabbalisten von Gerona als die Unterbrechung des Stromes der
Emanation erklärt, die nicht mehr zu den unteren Welten, zu Himmel
und Erde sich ergießt, sondern in sich selber verschlossen bleibt. Die
Schöpfung bleibt dann in einem chaotischen Zustand und erst wenn
sich der Strom wieder erneuert, bildet sich neues Leben.
Im Buch Temuna erscheint die Lehre von den Schemittoth in de-
taillierter Ausführung, vor allem in enger Verbindung mit der mysti-
schen Auffassung vom Wesen der Tora. Es gibt eine höchste Tora, die
wir schon S. 253 als Tora qeduma kennengelernt haben. Diese Ur-Tora
ist nichts anderes als die göttliche Sophia, die in sich die Spuren allen
Seins und allen Werdens in reiner Spiritualität enthält. Ihre Buch-
staben sind „sehr subtil und verborgen, ohne Gestalt, Form und
Grenze". Wenn aber die unteren Sephiroth emanieren, so wirken sie
in jeder Schemitta in verschiedener Weise, nach dem besonderen Gesetz
einer jeden. Keine einzelne Schemitta vermag die ganze Kraft Gottes,
die sich in der Sophia und Ur-Tora ausdrückt, zu offenbaren. Vielmehr
teilt sich der zeitlose und in sich zusammengefaltete Inhalt dieser Ur-
Tora in der Zeit der kosmischen und historischen Schöpfung so ein,
daß jede Schemitta einen besonderen Aspekt der göttlichen Offenbarung
und damit auch der Absicht Gottes in dieser Schöpfungseinheit ent-
hüllt. Das läuft darauf hinaus, daß die besondere Gesetzlichkeit einer
jeden Schemitta sich in einer ihr entsprechenden Offenbarung der Tora
ausdrückt. Zwar verändern sich jene geistigen Engramme, die in der
Ur-Tora verborgen liegen, ihrem Wesen nach nicht, aber sie mani-
festieren sich unter verschiedenen Kombinationen und Formen, welche
die Buchstaben der Tora bilden und jeweilig in verschiedener Art, die
mit den Schemittoth wechselt, zusammentreten. Die Voraussetzung,
von der einen Tora, die zugleich eine höchste und allumfassende
mystische Essenz ist, dient hier also zur Rechtfertigung der Existenz
verschiedener Ausprägungen in den wechselnden Schemittoth. Das
Fundamentalprinzip des absoluten göttlichen Charakters der Tora
bleibt dabei gewahrt, erhält aber eine Interpretation, die eine völlig
neue Auffassung ermöglicht. Dabei muß betont werden, daß eine solche
Säule des orthodoxen Judentums seiner Zeit wie Nachmanides in
diesen Gedanken keinerlei Abweichung von der Lehre der einen gött-
lichen Offenbarung sah. Im Vorwort zu seinem Tora-Kommentar
deutet er auf den prinzipiellen Unterschied zwischen dem absoluten
Wesen der Tora und ihrer Erscheinungsweise für uns hin. Die Tora
besteht in sich selber als ein einheitlicher Organismus göttlicher Namen,
das heißt von Manifestationen seiner Kräfte oder Energien, ohne daß
eine Teilung in „verständliche" Worte dabei erfolgt, und in diesem

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Lehre von den Weltenzyklen 413

Stande ist die Tora für Menschen nicht „lesbar". Bei der Offenbarung
am Sinai aber lehrte Gott den Moses, die Tora mit Teilung der Buch-
staben und Worte so zu lesen, daß sie innerhalb der hebräischen Sprache
einen Sinn ergeben. Diese Ausführungen öffnen das Tor auch für die
Möglichkeit einer anderen mystischen Lesung, und das ist der Gedanke,
den das Buch Temuna in großer Radikalität repräsentiert.
Die Welt, in der wir leben, die Schöpfung, die vor so und so viel
tausend Jahren begonnen hat, ist nämlich diesem Buch zufolge nicht
die erste. Es ist ihr eine andere Schemitta vorausgegangen, der Äon
der Gnade, in dem alle Sephiroth unter der bestimmenden Herrschaft
dieser Hauptsephira wirkten. Die Welt, die damals „durch Gnade
erbaut" wurde — so wurde Ps 89 3 bei den Kabbalisten gedeutet —,
hat etwas vom goldenen Zeitalter des griechischen Mythos an sich.
Diese Schemitta war ganz in Licht getaucht. Die Sphären der Himmel
waren einfach und nicht aus den vier Elementen zusammengesetzt,
die Menschen standen auf höchstem geistigem Rang und besaßen einen
reinen Körper. Sogar das Vieh und die Tiere standen damals so hoch
wie in unserer Schemitta die Tiere, die die Merkaba tragen. Der Kultus
der Geschöpfe ähnelte der Gottesverehrung der Engel im jetzigen
Äon. Es gab kein Exil der Körper, wie das Israels, und kein Exil der
Seelen, welches die Seelenwanderung ist 220 . Der Mensch sah aus wie
der himmlische Mensch, den Ezechiel auf dem Throne sah. Die Mani-
festation der Ur-Tora, die den Geschöpfen dieser Schemitta zukam,
stammte ganz von Seiten der Gnade. Da es keinen bösen Trieb und
keine versuchende Schlange gab, enthielt ihre Tora, das heißt die Art,
wie die mystischen Buchstaben zu Kombinationen zusammentraten,
nichts über Unreinheit und Verbotenes. Auch die Buchstaben selber
waren damals von einfacher Form und nicht großenteils zusammen-
gesetzt wie jetzt 221 .
Ganz anders verhält es sich mit unserer Schemitta, die der Äon des
strengen Gerichts ist. Alle Kräfte des Gerichts sind hier konzentriert,
und wie jeder organische Prozeß Rückstände übrig läßt, Abfälle und
Bodensatz — bei den Kabbalisten seit dem Buch Temuna gern als
Hefe bezeichnet —, so ist diese Schemitta ein „Aufnahmeort aller
Rückstände222". Kein Wunder, daß das Gold in diesem Äon das am
gierigsten verlangte Metall ist, denn es symbolisiert in seiner roten
220
Das Buch Temuna ist der älteste Text, der das Wort Gtlgul für Seelenwanderung
benutzt, das ebenso gut als Übersetzung des arabischen tanäsuh wie eines lateinischen
revolutio erklärlich ist. Vgl. zum Ursprung der Terminologie meine Ausführungen in
Tarbiz 16 (1945), S. 1 3 6 - 1 3 9 .
221
Vgl. die Schilderung dieser Schemitta in Temuna, Bl. 37 b, in besserem Text
bei David ben Zimra, Magen David, Amsterdam 1713, Bl. 10a.
222
Vgl. a. a. O., Bl. 40a. Außer der Beschreibung hier, Bl. 38b—40a gibt der Autor
auch eine parallele, Bl. 29a.

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414 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Farbe die Gewalt des Gerichts, im Gegensatz zum weißen Silber, das
die Gnade repräsentiert. Aus der Herrschaft dieser Sephira stammen
die Exile und die Wanderungen der Seele. Von hier aus erklärt sich
auch der besondere Charakter der Tora, die den Geschöpfen den Weg
zur Gottesverehrung unter den besonderen Bedingungen dieses Äons
zu zeigen bestimmt ist. Herrscht doch jetzt der böse Trieb, der eben-
falls aus der Kraft der Strenge stammt, und verführt die Menschen
zum Götzendienst, für den in der vergangenen Periode kein Platz war.
Die Tora zielt jetzt auf Überwindung der Kraft des Bösen hin, und
deswegen gibt es in ihr Gebote und Verbote, Erlaubtes und Verbotenes,
Reines und Unreines. Nur vereinzelte Seelen, die noch aus dem vorigen
Äon stammen, sind auch in diesen zurückgekehrt, um die Welt durch
die Kraft der Gnade zu erhalten und die zerstörende Strenge des
Gerichts zu mildern. Dazu gehörten Henoch, Abraham und Moses.
Jetzt müssen sogar vollkommene Gerechte in Tierleiber wandern, und
das ist der geheime Grund für die besonderen Vorschriften über das
rituelle Schlachten. Die hier zuerst bei den Kabbalisten nachweisbare
Lehre von der Wanderung der Seelen in Tierleiber stellt, wie wir S. 209
gesehen haben, vielleicht eine direkte Berührung mit den Anschau-
ungen der Katharer dar und könnte für proven çalischen Ursprung des
Buches sprechen. Immerhin führte bei den Katharern diese Lehre,
wie in Indien, zum Vegetarianismus, während sie hier umgekehrt zu
einer sorgfältigeren Beachtung der Vorschriften über Fleischgenuß
führt: das Schlachten und die Verzehrung des Tieres hängt mit der
Heraufhebung der dort eingeschlossenen Seele aus der tierischen in
die menschliche Existenz zusammen. Von einer besonderen Hölle, die
mit der Seelenwanderung in Konkurrenz tritt, scheint der Autor nichts
zu halten. Im übrigen bespricht das Buch diese Lehre, die bei ihm
ziemlich unbeschränkte Geltung zu haben scheint, nur mit großer
Zurückhaltung, während erst der alte, in den Ausgaben mitgedruckte
Kommentar sehr aus sich herausgeht223.
Der Autor weiß sogar, daß die Buchstaben der Tora sich in diesem
Äon weigerten, zu der besonderen Verbindung zusammenzutreten,
unter der sie Israel am Sinai gegeben werden sollte, denn sie sahen das
Gesetz der Härte und Verwicklungen und Verstrickungen ins Böse,
unter dem diese Schernitici steht und wollten nicht in den Unrat hinab-
steigen, über dem der Palast dieses Äons errichtet ist, bis „Gott mit
ihnen übereinkam, daß der große und verherrlichte Name sich mit
ihnen verbinden und in der Tora enthalten sein werde"224, womit
offenbar mehr gemeint ist als die direkte Erwähnung des Gottesnamens
in der Tora. Der Name Gottes ist eben auf mystische Weise überall
223
Vgl. dazu a.a.O., Bl. 16b, 29a, 39b.
124
Vgl. a. a. O., Bl. 29b.

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Lehre von den Weltenzyklen 415

in der Tora enthalten und, wie später zum Beispiel Gikatilla sagt, in
sie eingewoben. In diese Tora, die alle zehn Sephiroth umfaßt, sind
alle Gesetze und Mysterien dieses Äon in geheimer Sprache einge-
schrieben und die besonderen Formen der Buchstaben deuten all dieses
an. „Kein Engel kann sie verstehen, sondern nur Gott allein, der sie
dem Moses erklärt und ihm ihr ganzes Mysterium mitgeteilt h a t "
(Bl. 30 a). Auf Grund dieser Unterweisung schrieb Moses die Tora in
seiner eigenen Sprache nieder, wenn auch in einer mystischen Anordnung,
die dieser geheimen Gesetzlichkeit entspricht. Der Äon muß diesem Ge-
setz der Strenge und der ihm entsprechenden Tora folgen, und erst an
seinem Ende kehren alle Dinge zu ihrem ursprünglichen Stand zurück.
Der Autor geht von der Voraussetzung aus, daß es auch innerhalb der
Schemitta eine innere Zyklik gibt. Das menschliche Geschlecht ist aus
dem einen Adam hervorgegangen und hat sich zu Millionen entfaltet.
Nach der Erlösung, die ins 6. Jahrtausend fällt — das Buch Temuna
ist ziemlich genau um das J a h r 5000 der jüdischen Ära (1240) abge-
faßt — stirbt die Menschheit im selben Rhythmus aus, in dem sie be-
gonnen hat. „Wie alles gekommen ist, in derselben Weise vergeht es".
„Die Türen auf dem Markte werden verschlossen" (Eccl 12 4), und
alles kehrt zu seinem Ursprung heim, auch die Engel der diesem Äon
entsprechenden Merkaba, die Himmelssphären und die Sterne. Alles
kehrt in seinen „Behälter" zurück, und die Welt bleibt wüst, bis Gott
aus der K r a f t der nächsten Sephira eine neue Schemitta hervorruft 2 2 5 .
Diese nächste Schemitta erscheint der unseren gegenüber wie eine
Rückkehr nach Utopia. Statt der Klassenunterschiede, die jetzt
herrschen, wird alles gleich sein. Die Tora wird nur von Dingen der
Heiligkeit und Lauterkeit handeln, und die Opfer werden nicht Tier-
opfer, sondern solche des Dankes und der Liebe sein. E s gibt keine
Seelenwanderung und keine Verunreinigung, weder des Körpers noch
der Seele. Die ganze Welt ist wie das Paradies. E s gibt keinen bösen
Trieb und keine Sünde; die Seelen wandeln wie die Engel, und Gott
in ihrer Mitte. D a s Antlitz der Menschen wird von großer Schönheit
sein und das göttliche Licht „ohne jede Hülle" reflektieren, wie sie
Moses in unserem Äon über seinem Antlitz tragen mußte, weil die
Menschen diesen Glanz nicht zu ertragen vermocht hätten. Die Schil-
derungen dieser drei Schemittoth regten die Phantasie besonders an,
und die kabbalistische Literatur der folgenden Generationen ist voll
von Spekulationen über die in ihnen herrschenden Zustände, während
die anderen Schemittoth nur schemenhaft gezeichnet werden. Über das
Weltenjobeljahr, zu dem unsere Schemitta gehört, geht das Buch
Temuna nirgends hinaus. Was danach kommt, bleibt unklar. Nach
Joseph ben Samuel aus Katalanien kehren alle Dinge in die Ver-

05 Vgl. a. a. O., Bl. 6 7 a - 6 9 a .

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416 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

borgenheit der göttlichen Weisheit zurück, und ähnlich scheint auch


Jakob ben Schescheth gedacht zu haben226. Erst spätere Kabbalisten
scheinen eine Rückkehr aller Dinge zu Έη-soph angenommen zu haben,
der dann eine neue Schöpfung aus dem mystischen Nichts folgt. Schon
bei den Nachfolgern des Nachmanides kommt es dann zu ausgrei-
fenden Spekalutionen über weitere Weltenjubiläen, die von anderen
Kabbalisten als Phantasien verworfen wurden. Nach Menachem
Recanati ist die Spekulation über das Weltenjubiläum hinaus, in dem
wir uns befinden, streng verboten. Die älteste Kabbala ist jedenfalls
innerhalb dieser Grenzen geblieben.
Wichtiger als die Details, in deren Ausmalung besonders die Kabba-
listen des 14. Jahrhunderts, Isaak von Akko, der anonyme Autor der
Bücher Peli'a und Qana, und andere Autoren unerschöpflich waren,
ist das Grundprinzip dieser Lehre. Ich meine damit die Verbindung
zwischen apokalyptischer Geschichtsmystik und theosophischer Kos-
mogonie. Die Lehre von den Schemittoth erweiterte die Perspektive
der Kabbala außerordentlich, weil sie die Entwicklung der Schöpfung
nicht nur im engen Rahmen einer kosmischen Weltenwoche sah.
Gewiß verachtete sie auch Spekulationen innerhalb dieses Rahmens
nicht. Nachmanides und andere schöpften aus Abraham bar Chija
(oder direkt aus dessen christlichen Quellen, wie z. B. Isidor von
Sevilla) die Parallelisierung zwischen dem Inhalt jedes einzelnen
Schöpfungstages und dem ihm entsprechenden Jahrtausend in der
Weltgeschichte, so daß die gesamte Geschichte als das Hervortreten
eines Inhalts erscheint, der in jedem Schöpfungstag von vorneherein
angelegt war. In diesem Rahmen der Konstruktion der Geschichte
innerhalb der einen Weltenwoche suchten die Kabbalisten die Ge-
schichte Israels und seinen Ort in der Schöpfung zu verstehen. Dem-
gegenüber suchten die Vertreter der ScAmito-Spekulation das Schick-
sal Israels aus einem umfassenderen Symbol zu erklären. Das Wesen
des Äons der Strenge selber erzwingt hier das Schicksal Israels in
seinem Auf und Ab. Diese Kabbalisten rangen nicht weniger als etwa
Jehuda Halewi in seinem Kuzari um das Verständnis der Geschichte
Israels und setzen nicht weniger nationale Akzente als er. Aber die
Spekulation über das Wirken der Sephira der Strenge in der Gottheit,
die sich in ihrer vollen Kraft auch im Äußeren auszuwirken strebt,
liefert ihnen das bedeutende Symbol, unter dem die historische Existenz
Israels mit dem Wesen der Schöpfung selber verbunden werden konnte.
Auch die Vertreter dieser Lehre erwarten ungeduldig die große messia-
nische Revolution, aber ihre Erwartung überschreitet die Grenze der
Erlösung im alten Sinne, als ob der Weltensabbath im letzten Jahr-

226 Meschibh Debharim, Hs. Oxford, Bl. 63 a; Joseph ben Samuels Ansicht bei
Isaak von Akko, Me'irath 'Enajirn Hs. München 17. Bl. 18b.

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Lehre von den Weltenzyklen 417

tausend und die vorangehende Erlösung den utopischen Trieb nicht


mehr zu befriedigen imstande sind. Daher überträgt der Autor des
Buches Temuna sein Interesse von der Erlösung am Ende unserer
Schernitici, über die er nur wenig zu berichten weiß, auf die Vision der
folgenden. Immerhin gehört schon die Vision vom Ende der Schemitta
und dem allmählichen Verlöschen der Menschheit und der Verlang-
samung des Lebensrhythmus in der ganzen Schöpfung, von dem der
ältere jüdische Messianismus nichts weiß, zu diesem Bereich der neu
ausbrechenden Utopie. Der Messias selber spielt für diese Auffassung
der Erlösung überhaupt keine sichtbare Rolle mehr, und nur die kos-
mischen Abläufe beanspruchen deis Interesse.
Für den Religionshistoriker ist das auffallendste Moment in der
Lehre von den Schemittoth die enge Verbindung zwischen streng jüdi-
scher Frömmigkeit, die die Tora als Offenbarung aufrecht erhält, und
der Vision von einer Veränderung der Erscheinung der Tora in den
anderen Schemittoth. Hier liegt ein klarer Fall von utopischem Anti-
nomismus vor. Die Auffassung des Buches, wonach, „was unten ver-
boten ist, oben erlaubt ist" (Bl. 62 a), führt zu dem logischen Resultat,
daß Dinge, die gemäß der Lesung der Tora in unserem Äon verboten
sind, in anderen Äonen erlaubt, ja geradezu geboten sein können, wenn
eine andere göttliche Qualität, wie etwa das Erbarmen an Stelle der
Strenge, in der Welt herrschen wird. Und in der Tat finden sich im
Buch Temuna selber und in Schriften, die ganz in seinen Spuren gehen,
bemerkenswerte Meinungen über die Tora, die einen virtuellen Anti-
nomismus in sich schließen.
Zwei Gedanken verdienen hier hervorgehoben zu werden. An meh-
reren Stellen hören wir, daß in der gegenwärtigen Schemitta ein Buch-
stabe in der Tora fehlt. Dieses Fehlen kann zwiefach verstanden
werden. Es kann bedeuten, daß ein Buchstabe jetzt eine mangelhafte
Form hat, im Unterschied zu seiner Vollkommenheit in der vergan-
genen, zu der er auch in der künftigen Schemitta zurückkehren wird.
Da aber jeder Buchstabe, wie das Buch unermüdlich einschärft, eine
göttliche Potenz darstellt, so würde die Mangelhaftigkeit seiner Form
bedeuten, daß die Sephira der Strenge, die jetzt überwiegt, die Wirk-
samkeit der göttlichen Lichter einschränkt, so daß sie sich nicht voll-
kommen offenbaren können. Ein solcher „fehlerhafter" oder mangel-
hafter Buchstabe ist nach dieser Auffassung das Schin im Alphabet,
das in seiner vollkommenen Form vier Köpfe haben müßte, während
wir es jetzt mit drei schreiben XB. Es kann aber auch bedeuten, daß
jetzt ein Buchstabe des Alphabets völlig fehlt, das heißt in unserem
Äon unsichtbar geworden ist, wohl aber in dem künftigen wieder her-
vortreten und lesbar werden wird. In solcher Meinung steckte natür-
lich eine prinzipiell veränderte Haltung zur überlieferten Tora. Sie
führte zu der Annahme, daß alle Verbote, die wir jetzt in der Tora
Schoten, Kabbek 27
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418 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

lesen, aus diesem fehlenden Buchstaben sich herschreiben227. Das


Alphabet und damit auch die vollständige Tora beruhten eigentlich
auf einer Folge von 23 Buchstaben, und nur weil dieser Buchstabe
jetzt überall ausgefallen ist, lesen wir in der Tora positive und negative
Vorschriften. Alles Negative hängt mit dem fehlenden Buchstaberi des
ursprünglichen Alphabets zusammen228. Ein zweiter Gedanke besagte,
daß die vollständige Tora in Wirklichkeit sieben Bücher enthalten
habe, die den sieben Sephirath und Schemittoth entsprächen. Nur in
der jetzigen Schemitta sind durch die beschränkende Kraft der Strenge
zwei dieser Bücher so zusammengeschrumpft, daß nur noch gerade
eine Andeutung auf ihre Existenz erhalten ist, wofür eine Talmudstelle
{Sabbath 116 a) herangezogen werden konnte, die besagt, daß das Buch
Numeri eigentlich aus drei Büchern besteht. Aus der Schule des Nach-
manides haben wir die Überlieferung, daß die Kraft, die der Tora inne-
wohnt, im künftigen Äon sich wieder so auswirken wird, daß wir
sieben Bücher wahrnehmen werden229. Im Buch Temuna selber ist
(Bl. 31 a) die Rede davon, daß das erste Kapitel der Genesis ein Über-
bleibsel einer volleren Tora sei, die der Schemitta der Gnade offenbart
war, in der unseren aber, in der das Licht dieses früheren Buches der
Tora bereits verschwunden ist, unsichtbar geworden sei.
Es gab also im Rahmen der Schemittoth-Lehre die verschiedensten
Möglichkeiten zu einer spiritualistischen und antinomistischen Wen-
dung der Mystik, aus den Voraussetzungen einer sich als durchaus
orthodox empfindenden Kabbala heraus. War einmal die Annahme
erlaubt, daß eine neue Kombination der Buchstaben der Tora, die an
sich unveränderlich sind, einen neuen Sinn ergeben kann, oder daß
eine Offenhaltung fehlender Buchstaben oder verschwundener Teile
der Tora geradezu deren Antlitz völlig verändern könnte, ohne daß
doch eine Veränderung im Wesen der Tora selber stattfinde, so wax
damit ein entscheidender Schritt zur Relativierung des Geltungs-
bereichs der Tora gemacht. Zugleich bestanden die Vertreter dieser
Lehre aber leidenschaftlich auf der absoluten Autorität der Tora
innerhalb der jeweiligen Schemitta. Sie waren keineswegs bereit, den
Geltungsanspruch der Vorschriften der Tora, wie sie am Sinai ge-
geben war, in diesen Zeitläuften der gegenwärtigen Schemitta einzu-
schränken. Wir besitzen einen sehr alten Kommentar zum Buch
Temuna, der über ausgezeichnete Traditionen verfügte und zum Ver-
ständnis des Buches oft unerläßlich ist. Dieser Kommentar polemisiert
gegen Juden, die den Geltungsbereich der Tora auf das heilige Land
227
Vgl. a. a. O. Bl. 61b über die Gestalt des Schin im künftigen Äon.
228
Vgl. Hs. Vatikan 223, Bl. 197a und das Zitat aus einer Schrift des Temuna-
Kreises bei David ben Zimra, Magen David, Amsterdam 1713, Bl. 47b.
2M
So bei Josua ibn Schu'eib Deraschoth, Krakau 1673, Bl. 63 a. Über die sieben
Bücher der Tora vgl. Temuna, Bl. 31a.

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Lehre von den Weltenzyklen 419

allein beschränken wollen, während ihre Gebote im Ausland nicht ver-


pflichtend seien. Er sieht in solchen Tendenzen selber, wie überhaupt
im Abfall von der Religion ein Zeichen für den Charakter dieses Äon,
für die „Härte der Schemitta", die zu solchen Aufständen gegen das
Walten des göttlichen Gesetzes führt. Das Übermaß des Bösen, das
aus der Härte der Schemitta stammt, erzeugt auch die aufrührerischen
und gottlosen Ideen selber230.
Jedenfalls ist das Buch Temuna wohl das radikalste Produkt der
Kabbala in der Epoche Isaaks des Blinden und seiner Schüler. Man
darf sich wundern, wie weit hier die Freiheit der Spekulation ging,
wenn es sich darum handelte, die kabbalistische Auffassung der Gott-
heit mit einem neuen Verständnis der Welt, nicht nur als natürliche
oder kosmische, sondern auch als historische Einheit zu verbinden.
Die Geschichte der Welt entfaltet sich nach einem inneren Gesetz,
das das verborgene Gesetz der göttlichen Natur selber ist. Jede Gnosis
verwandelt die Geschichte zu einem Symbol kosmischer Prozesse. Man
konnte dieses Prinzip aber auch umkehren und sagen, wie es hier
geschah, daß der Weltprozeß, der sich nach der Natur der göttlichen
Potenzen entfaltet, notwendigerweise historische Formen annimmt.
Die historische Abfolge des Geschehens verliert in dieser Auffassung
nichts von ihrem Sinn, wie sonst bei einer symbolischen Erklärung,
wo alles Historische nur als Projektion auf eine neue, überzeitliche
Dimension Wert behält. In der kabbalistischen Doktrin ist es aber
gerade die unauswechselbare Folge der Zeiten, die das eigentliche
Mysterium der Gottheit enthüllt. Zweifellos war der Autor des Buches
Temuna ein origineller Kopf, der seine kabbalistische Historiosophie
aus Gedanken aufbauen konnte, die bei seinen Kollegen, und vielleicht
auch bei seinen unbekannten Lehrern, nur von zweitrangiger Bedeu-
tung waren. Im übrigen beweist sein Buch in vielen Details, auf die
hier nicht einzugehen ist, deutüch seinen Zusammenhang mit der
Theosophie und dem kontemplativen Ideal der Debhequth, die auch
in dieser harten Schemitta den Menschen zu seinem wahren Ursprung
zurückzuführen vermag.
230
Vgl. den Kommentar zu Temuna, Bl. 39a. Scharfe Polemik über den Zusammen-
hang des Gesetzes dieser Schemitta mit den aufklärerischen Ideen hat im gleichen
Zusammenhang auch der im 14. Jahrhundert schreibende anonyme Autor des Buches
Qana, Poritzk 1786, Bl. 16d—17d.

27*
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420 Das kabbalistische Zentrum in Gerona

Ich habe in diesen Kapiteln die verschiedenen Strömungen dar-


gestellt, die wir nach dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse bei den
ältesten Kabbalisten, vom ersten Auftreten der Kabbala im Buch
Bahir bis etwa in die Mitte des 13. Jahrhunderts unterscheiden können.
Ich habe versucht, die bisherigen Forschungen über diesen Problem-
komplex zusammenzufassen und ihre Resultate darzulegen. Dabei
haben wir die verschiedenen religiösen und allgemein-geschichtlichen
Faktoren kennen gelernt, die in diesen Generationen wirksam waren,
in denen die Kabbala um ihre Kristallisation rang. Am Ende der
Periode, die in diesem Buch dargestellt wurde, erscheint die Kabbala
schon in voller Blüte und Kraft. Die verschiedenen Strömungen, die
sich von etwa 1250 an entwickeln, können schon auf ein reiches Erbe
der drei bis vier vorangegangenen Generationen zurückgreifen. Von
nun an beginnen die Kabbalisten ausführliche Schriften zu verfassen
und ihre Anschauungen in immer größerem Detail auszuführen. Aber
alle von nun an erkennbaren Strömungen in dieser Weiterentwicklung
der spanischen Kabbala haben ihre Wurzeln durchaus in der tiefen
religiösen Gärung der ersten Generationen. Auch die Frage nach den
Grundlagen der Kabbala, mit denen sich die folgenden Geschlechter
auseinanderzusetzen hatten, waren schon in dieser Erbschaft angelegt.
Ich habe die älteren Stadien dieser Entwicklung, die für die Religions-
geschichte von besonderer Bedeutung sind, ausführlicher analysiert
und mich in bezug auf die Leistung der letzten in den Bereich dieses
Buches fällenden Generation sehr viel kürzer gefaßt. Hier sind unsere
Kenntnisse so vielfältig und reich, daß wir heute schon ebenso gut
eine Zusammenfassung als eine detaillierte Darstellung geben können.
Ich habe den ersteren Weg gewählt, um so die wichtigsten Faktoren
und die Hauptlinien dieser Entwicklung deutlicher herauszuarbeiten
und dadurch den historischen Rahmen zu bestimmen, der nicht nur
für die weitere Kabbalaforschung selber, sondern auch für die Histo-
riker überhaupt von Bedeutung ist. Die hundert Jahre bis Nach-
manides können als die Jugendzeit der Kabbala angesehen werden,
die in der nun folgenden Zohar-Periode, die in einem doppelten Sinne
die „Glanz"-Periode der Kabbala ist, ihre volle Reife erreicht.

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REGISTER

(Namen und Sachen)

Abbahu, R. 411 Adam qadmon 123, 299, 305


Abelson, J. 144, 146 Adam—David—Messias 168, 406
Abglanz (der Gottheit), siehe Ziw Adamsbuch 94 f.
Abgrund 379 adhaeresis 267
Abner, Schüler des Kachmanides 340 Adler, Elkan 20
Abraham 76—78, 127—129, 132, 149, Adoïl 64 f.
153, 414 Äonen 51, 58, 60, 65, 70—75, 101, 104f.,
Abraham Adrutiel 308 112f., 118, 130, 139, 159—162, 165,
Abraham Axelrad 185, 392 180, 201, 226, 274, 278, 345, 394, 400,
Abraham ben Azriel 211 413—418
Abraham der Chassid 10 Agrimus 261
Abraham Chazan, siehe Abraham ben Agro-Mainju 261
Isaak Chazan AHSJSJRON (magischer Name) 90
Abraham bar Chija 54f., 84, 112, 133, Akiba 46, 97 f., lOOf., 108, 146
171, 238, 316, 372, 378f„ 408, 416 Aktariel 264
Abraham ben David, siehe Rabed Alaschqar, Joseph 308
Abraham ibn Ezra 172, 266, 279 f., 343, Albeck, Ch. 32, 176
364, 380, 401 f. Aleph 92, 103, 113, 172f., 239, 276, 293,
Abraham ben Isaak aus Carcassonne 222 378, 380, 383
Abraham ben Isaak aus Narbonne 31—32, Alfarabi 381
40, 175—180, 198 f., 275 Alkindi 380
Abraham ben Isaak Chazan in Gerona All (als Symbol) 62f„ 138f.
226, 327 f., 386 Allegorie 343 f., 361
Abraham, Sohn des Maimonides 9, 206 Alphabet des R. Akiba 100, 146, 288
Abraham ibn Migasch 348, 360 Alphabete der Engel 290 f.
Abraham Nazir 198 f., 203 Alphabet des Metatron 290
Abraham ben Nathan ha-Jarchi 231 Altmann, Alexander 381, 403
Abulafia (Familie) 347 Amaisenowa, Zofja 68
Abulafia, Abraham 39, 41, 314, 329f., Amora, Rabbi 46, 92, 315
361, 408 Amulette 33, 94f., 290
Abulafia, Joseph 359 Anan 170
Abulafia, Meir 221, 359 Anaphiel 305f.
Abulafia, Todros 61, 142, 220, 227, 290, Antinomismus 417
308, 320, 326, 359 Anz, Wilhelm 18
Acha aus Corbeil 219 Apokatastasis 263, 265, 397
Adam, der erste Mensch 139, 191 f., 257, Aptowitzer, Av. 103
261, 402 Apulien 219, 315
Adam, A. 83 Arabismen im Bah ir 49

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422 Register

'Araboih 127, 130, 307, 319 al-Baghdadi 170


'Araphel 280f., 299f. Bahir 34—39, 42—175, 177, 180f., 184f.,
Araritha 278f., 292 187, 192f., 195—197, 201, 205f., 214,
Archetypen 143, 148 siehe auch Urbilder 218, 223, 230—232, 244, 258, 272—276,
Archonten 67, 69, 101, 122, 130—133, 280, 282f., 293, 301, 308, 312, 315,
143, 212f., 261, 274, 320 317, 319, 351, 377, 385, 391, 394, 404,
blinder Archont 260 406
Aristoteles 171. 335, 372, 404 Bakol, Abrahams Tochter 76—79
Arles 14, 34, 259, 262, 274, 315, 317 Bär aus Mezritsch 293
Ascher ben David 186, 222, 224, 230, Barb, Alfons 260
239f„ 248, 250, 267, 271f., 277, 308, Barcelona 31, 40, 41,176 f., 193, 227, 262,
326, 332, 348—350, 355, 382f., 394, 327, 340, 348, 366
399 Bartalia Qansarin 94 f.
Ascher ben Meschullam ha-Parusch 204 Bartholinus, Jac. 43
Ascher ben Saul 183, 201, 205, 222, 230 Barzilai 348, 379
Aschmedaì 261 Baum des Porphyrius 395
Asin Palacios, M. 290 Baumsymbolik 62—64, 67—69, 244—246,
Askera, siehe Chananel ben Abraham 305
Askese 54, 195 f., 202, 204, 271, 366 Bäumker, Cl. 202, 303
Assai, S. 40, 176, 183, 211. 275 Baur, F. Chr. 80, 84, 165
Astrallicht 369 Beliar 260
Astrologen (über Weltenzyklen) 408 Belima 24
'Atara 193, 197, 231f., 241, 247, 263 Belkin, Samuel 3
Äther 22—23, 197, 280, 292—303, 305, Ben Belima 346
307, 312, 315, 387 Benjamin von Tudela 202, 204
Atome 228, 320 Ben-Menachem, N. 280
Attribute 188, 250f. Ben Zoma 178
Auferstehung 271f., 358, 407 Berachja 45f., 121
Aura 225 Berachja aus Damaskus 317
Aussterben der Menschheit 415, 417 Berahha 61, 337
Averroës 380 Bernheimer 306
A wir qadmon 197, 292 Beth (Buchstabe) 61. 116f., 150
Azriel aus Gerona 37, 209, 216, 226, 233, Bevan, A. 83
236, 238, 243, 252, 257, 264, 267—270, Béziers 14, 348
276, 288f.. 302—304, 328—334, 337, Bi (als Sephira-Symbol) 193 f.
349—351, 356f., 362f., 365, 367—395, Bialoblocki, S. 41
398, 400—402, 404—407 Bietenhard, H. 102 f.
Azulai, Ch. J . D. 93 Bina 65f., 110, 116—121, 154,158,184f.,
193, 232, 241, 245, 251—253, 257 f.,
263, 311. 316, 346, 371f., 379, 386,
Ba'ale Kabbala 309, 325
390, 393f., 398f., 403, 410
Ba'ale Reschumoth 309
Blau, L. 88
Bacher, W. 49
Bober, Harry 25
Bachja ben Ascher 35, 142, 212, 225, 229,
Bogomilen 11, 13, 66, 204
239, 299, 308, 329, 336, 341, 343f.,
Böhme, Jakob 298, 386
396f., 400, 405, 411
Bohu 54 f., 64, 300, 377, 379 f.
Bachja ibn Pakuda 195f., 266, 401
Bonastruc de Porta 339
Baeck, Leo 21, 24, 44f.
Bormkamm, G. 83
Baer, I. F. 324, 366

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Register 423

Borst, Arno 12f., 166, 207, 209 Da'ath 110, 160, 183, 371, 394
das Böse 55, 57, 59, 120, 130—133, 255 DaUth 156
bis 263, 419 D'Alvemy, M.-Th. 278
Botarel, Moses 284, 329 Damaskus 258, 317, 321
Bousset, Wilhelm 112, 168 Dämonologie 95, 207, 213, 258—262, 286f.
Brautmystik 22, 81, 144, 148—156, 163 f. Daniel Al-Kumisi 94
Buch der Schöpfung siehe: Jeçira Daniélou, J . 64
Buchstaben 22—27, 55, 56, 119f., 141f., David 153, 406
245, 252, 264, 278, 321, 407, 412—415, David ben Abraham ha-Labhan 323
417 f. David, Bruder Isaaks des Blinden 203,
Bun, Rabbi 46 222
Bund des Lebens 271f. David Halewi 275
Burgos 262, 269, 283, 289, 324, 330, 347, David Hohen 340
350, 359, 386, 401 David Messer Leon 275, 308
David ben Saul 360
David ben Zimra 413, 418
Carcassonne 14
Debequth 218, 265—271, 287, 334, 339,
Causa causarum 185, 187, 190f., 197, 217,
318, 338, 353f., 356, 382, 392 365, 368, 370, 403, 419
R. Chammai 274—276, 284, 291, 311 Deinard, E. 331
Chananel ben Abraham 285, 322 Dekane 68
Chananel aus Kairawan 158 Delmedigo, J . S. 90, 188
Chanania ben Teradion 284f. Demiurg, siehe Jofer Bereschith
R. Chanina 26 Demuth, siehe Urbilder
R. Chanina ben Dossa 226 Denken, siehe Mahschabha
Chanina (Chanunja) aus Jerusalem 290 Dibbur 233, 241, 244
Charizi, Jehuda 372 f. Dionysius Areopagita 278, 282, 374
Chassid (als Ehrentitel Isaaks des Blin- Döllinger, J . 207f., 306
den) 224 Doresse, Jean 260
Chassida, M. 223, 276, 348 Dornseiff, Franz 25, 56
Chassidim, deutsche 35—36, 42, 55, 58, Dorsche Reschumoth 35
78, 85—93, 159—165, 168, 173f., 189, Drower, Lady E. St. 136, 152, 260
198, 203, 213, 216, 218, 234f., 279, Du-Parfuphin 191 f.
285, 287, 327, 360, 392 Dunkel der Ureinheit 386, 390
Cherub, der besondere 86, 185—190, 264, Duran, Profet 313
305
Cherub. Cherubim 163, 280, 282, 299 Ecclesia Israels 140,144, 148—150,155f.,
Chessed, siehe Hessed 164 f., 196
Chisdai ha-Nassi 318 Eckhart, Meister 114
Christentum und Kabbala 313—314 Edelstein 153—155
Chwolson, D. 260 Edom 261
Ciantes, Joseph 314 Efros, Israel 228, 257
Cohn, Jonas 382 Ehad, jahid u-mejuhad 302
coincidentia oppositorum 276, 388—390, Ehjeh 163, 173, 195, 252, 279
402 Ehrenpreis, M. 116, 229, 276, 328, 344,
communio, siehe Debequth 376
Corbeil 219f., 287, 290 EHWJ (als Gottesname) 278f., 298
Cordovero, M. 90, 279, 308 f., 314 Einheit, unterschiedslose 190, 247, 276,
294, 302, 370, 387—390

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424 Register

Eisler, Robert 26, 152, 234 197, 203, 205, 224, 228—230, 238 f.,
Ekstase 17, 267, 269 246, 248, 257f., 263f., 267—271, 273,
Elchanan aus Corbeil 219f., 317 326, 328—337,342,344,347,349,351f.,
Elchanan ben Jaqar aus London 30, 89, 356f., 362—365, 368, 373, 379, 392f.,
220 398, 405
Eleazar aus Worms 30, 36, 41, 86, 89, Ezra ben Salomo Kohen aus Deutschland
100, 109, 111, 168, 162—165, 168, 190, 321
197f., 211 f., 220, 229, 231, 234f., 261,
279, 286, 290, 314—317, 360f., 392 factor primus 291
Elias (Prophet) 89 f., 110, 208, 403 Farbenmystik 254, 276, 295 f.
— Gebet des Elias 225 Feld 149, 151, 164
Elias, Offenbarung des Propheten 9, 30 Fendt, L. 167
bis 33, 176, 181, 210—214, 216, 260, Fenster 150f.
289 Feuchtigkeit (LiUuah) 295, 300
R. Elias aus Paris 89, 211 Feuer 127—129, 197, 294, 298
Eliezer ben Joel Halewi 231 Finsternis 45, 55, 277—280, 292f., 295
Elischa ben Abuja 273 bis 298, 397
'Elohim 91, 117, 192 Flavius Mithridates 43
Emanationslehre 58, 116, 159, 243, 246, Franck, Adolphe 4
248f., 277, 316—320, 381—399 Friede 127, 129, 156
emanieren und schaffen 158, 192, 281, Friedländer, M. 16
316, 354f., 374
'Emeth 116, 127, 130 f., 231 Gabarda'el 108
Empedokles 290, 292 Gabirol 32, 59, 112, 172, 200, 204, 238,
'Emunah 266, 375 277, 281 f., 286, 291, 297, 299, 301, 3Ô3,
'En-soph 47, 115f., 194, 216f., 230—239, 306f., 312, 380f.
247, 250f., 253, 265f., 292, 303, 316, Gabriel 62, 65, 130—133
354, 370, 375f., 381—392, 397, 416 Galenus 136, 277
Engel 48, 61 f., 69. 98—100, 131, 160f., R. Gamliel 369
163, 183f., 198—200, 205, 209, 234f., R. Gamliel, Gebet der Einheit 284, 292
256, 264, 281, 305f., 343, 413, 415 Garten 117, 122f., 141, 151, 383
Ennoia, siehe Mahschabha 53 Gaster, Moses 15, 39, 96, 260
Ephraim ben Simson 78, 91—93, 131 Gebet des Elias (magischer Text) 225
Epstein, Abraham 14, 41 Gebet des Rab Hamnuna 279
Epstein, Isidore 257 Gebete der Einheit 284
Erbarmen, siehe Rahamim Gebhura 70, 72, 108, 127, 131—133, 143,
Erde (Symbol) 82f., 118, 134, 144, 378 160,161, 231, 253, 258, 299
Erigena, siehe Johannes Scotus Erigena Gebetsmystik 44, 46, 57, 113f., 154, 162,
Erlösung 156, 167, 179, 272, 416 f. 171—173, 183—185, 194f., 223, 225f.;
Eschatologie 271f., 290, 292, 315, 318 bis 237, 265—270, 287, 327, 331, 338f.,
320, 342f., 358f., 363, 402 352—356, 365, 368—373, siehe auch
Ethrog 144, 152 f., 157 Kawwana
Evangelium 410 Gebote 113, 122, 139, 154, 157, 165, 270,
Evangelium der Wahrheit 63 337f„ 344, 363, 365, 367
Exil der Schekhina 82—84, 149 Gedulla 231
Exil, Ursprung des E. 414 Gefäß 77, 149, 156
Ezra aus Moncontour 210f., 218 Gehirn 136, 296, 308, 409
Ezra ben Salomo aus Gerona 35, 194, Gematria 107, 219, 281, 288

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Register 425

Gerechte 66f., 101, 135, 138f„ 256 Guiraud, Jean 13, 87, 166, 207
Gerechter (als Symbol) 65,127,134—139, Günzburg, David 285, 322
230, 310, 315, 317, 319 Günzig, J . 33
Gerechtigkeit 80, 120, 161 Gut und Böse 257—263
Gericht, siehe: Middath ha-Din Guttmann, Jakob 228
Gerichtshof, himmlischer 132 Guttmann, Julius 196
Gerona 31, 222, 224, 226f., 231, 262, 273,
324—327, 332, 336, 346—348, 352,
Habakuk als Merkabamystiker 54, 113,
362—366, 381, 405, 407 f., 412
218
Gerschom aus Damaskus 259
Habermann, A. M. 21
Geschwisterehe 152
Haj Gaon 88, 96, 203, 275, 281, 285,
Gikatilla, Joseph 263, 291, 344, 415
289—291, 300, 308—315
Gilgul 166, 272, 404, 413
Hajoth 23, 105, 127, 299 f.
Gilluj Elijahu 30, 216
Halberstam, S. J . 40, 216
Gimmel 118 f.
Hamai ben Hanina 275
Ginsburg, Chr. D. 233
Hatha de-Mosche 96
Ginzberg, Louis 21, 24, 131, 139, 261
Harkavy, A. E. 67, 110, 234
Glaubensbekenntnis, siehe: Schmu' Israel
Hartig, O. 43
Gleichnisse im Bahir 52f.. 61, 63, 66, 74,
Haschmal 279—282, 298—300, 305
76, 77, 79, 81, 83f., 91f., 100,114,129,
Haschwa'a (Ungeschiedenheit) 388
140f., 148—155, 167, 169
Haskel 237, 240, 242, 247, 308, 393
Glieder des Urmenschen 48, 123—125,
Hawwajoth, Essenzen 232, 245—247f.,
137, 142 f. 251, 280, 378, 388
Glorie Gottes, siehe: Kabhod He im Gottesnamen 80, 173, 311
Gnade, siehe: Hessed Hefe 413
Gnosis 5, 12, 16—19, 58—85, 87, 103f., Heilige Formen 48, 69, 122f., 131f., 143,
112, 124f., 134, 136, 143, 145, 148, 150, 152, 158
152, 154, 157, 160, 164, 167, 168, 170, Heiligtum, himmlisches 102, 105, 113,
185, 206, 208, 236, 238, 260, 283, 321 135
Gnostiker {Ba'ale Jedi'a) 286, 309 (vgl. Hekhaloth 16—20, 46, 51, 54, 58, 60, 73,
auch 35) 88, 95, 97, 115f., 129, 161—163, 188,
Gold-Symbolik 121, 127, 150, 413 208, 213, 217, 231, 259, 278, 320, 399
Goldschmidt, Lazarus 21 Henaden 59, 111
Goldziher, I. 257 Henoch 188, 403, 414
Golem-Schöpfung 27, 91, 107—109, 284f. Henochbuch (slawisch) 62 — 65
Golem (Hyle) 379, 380 Herrera, Abraham 212
Gordon, Cyrus 95, 189 Herz (als Symbol) 68, 141, 149, 151, 397
Gottesfurcht 80, 114, 120 Hessed 127—129, 138, 161, 231, 241, 253,
Gottesnamen, magische 56, 88f., 98f., 281, 299, 304, 319, 413
105, 124, 162, 259, 278f., 285f. Hieros Gamos 135
Graetz, Heinrich 4—8, 16, 116, 187 f., Himmel 129f., 135, 157, 378
204, 328f., 340 Himmelsreise der Seele 19, 210, 218, 220
Grajwer, M. 376, 396 Hiob 405
Grant, Robert 18 Hippolytus 63, 76
Groß, Heinrich 36f., 179, 182, 187, 219f. Histakluth 115, 393f.
Grundmann, H. 411 Hod 142, 231, 241
Grunsky, H. 386 Hohelied (mystische Deutung) 17, 152f.,
Güdemann, M. 202 f. 199, 331 f., 334f.

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426 Register

Hokhma 21f., 63,66,78,80—86,110—123, Isaak ben Schescheth 314


129, 139, 141, 151f., 158, 160f., 199f., Isaak ben Todros 225, 339 f., 397
232, 237, 240—248, 252, 269f., 273, Isaak Israeli, siehe Israeli, Isaak
295f., 304, 308, 311, 315f., 319, 371, 'Isch 92 f., 173
375—381, 389f., 392—394, 397f., 405, 'Ischim 199
412 Isidor von Sevilla 25, 396, 416
32 Wege der Hokhma 22, 68f., 81, 85, R. Ismael 46, 97, 106—108, 261, 280,
149, 151, 246, 269, 274, 283, 285, 290, 285, 407
294, 306, 385, 397f., Ismaïliten 169, 374, 400, 411
Meer der Hokhma 153 Israel 68f., 196, 401, 416
Hokhma penimith 231 Israel Baalschem 293
Hokhma qeduma 253, 280, 302—304 Israel als Engelname 208
Hölle 414 Israeli, Isaak 307, 374, 381, 403
Hyle 54f., 120, 245, 281, 297, 300, 306f., Ivanow, W. 400
377—381
Jacoby, Ad. 66
'Ibbur 272, 404—406 Jackson, A. W. 170
Ibn Masarra 290 Jahoel 78, 165
Ibn Tibbon, siehe Samuel ibn Tibbon Jakob von Corbeil 219
Ibn Wahschijja 291 Jakob ben Jakob Kohen 38—39, 162,
Ibn Ziza 199, 347 1881., 207, 259, 284, 286, 288, 306,
Identität 294 330f., 369
'///«»-Kreis 228,265,271,273—315,321f., Jakob aus Marvège 211, 275
325, 332, 347, 351, 369, 371, 379f., 397 Jakob ben Meschullam 321
Influxus 70, 107 Jakob ha-Nazir 31—32, 180, 183f., 186,
Inhärenz der Formen in der Materie 380f. 189, 195, 200—206, 213, 215
Innerlichkeit (als Kabb. Terminus) 287 Jakob der Prophet 211
intellectus agens 321, 334, 338, 380 Jakob bar Samuel aus Anduze 222
Intellekt 240, 252, 256, 292, 299, 301, Jakob ben Saul, siehe Jakob Nazir
310—312, 316f., 386, 393, 400 Jakob ben Schescheth 221, 238f., 258,
Intelligenzen 199, 285, 291, 320, 403 333—339, 343, 348, 352, 361, 364, 367,
intelligere 114, 237, 242, 247, 393 376—378, 380, 384f., 387, 395, 416
Isaak 127 Jakob aus Spanien 321
Isaak ben Abraham Sarphathi 221 Jakob Tarn 89, 211
Isaak von Akko 35, 193, 198, 216, 224, Jakob ben Todros 322
226f., 233, 262, 268f., 272, 274, 329, Janotzki, D. 407
336, 341, 344, 403f., 416 Jao 27 f., 88
Isaak der Blinde 10, 31, 38, 175, 180f., Jarorin 95
185, 193f., 198, 200, 205, 207, 212, Jechuschiel 220, 286 f.
216f„ 219—276, 283, 287, 291f., 294 Jedidia aus Marseille (oder Toulouse) 220,
bis 296, 301, 304, 308, 312, 314, 321, 287, 289
325, 327, 333f„ 337, 346—352, 355 bis Jehuda ben Barzilai 20, 21, 29, 40—42,
357, 385, 398, 419 81f., 111, 142, 147f., 157, 159, 176f.,
Isaak von Dampierre 29, 210, 220f. 188, 197, 201, 230, 260, 398, 408
Isaak ben Jakob Kohen 34, 88, 207, 212, Jehuda ben Bathyra 284
257, 259—263, 274, 284, 286, 314—320 Jehuda Chassid 97, 146, 164, 180, 199,
Isaak ben Menachem Sarphathi 221 224, 229f., 315
Isaak ha-Parusch 321 Jehuda aus Corbeil 219, 290, 315

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Register 427

Jehuda Halewi 29,55f., 68,147,195—197, Kabbala, Ursprung und Gebrauch des


199, 215, 257, 265, 278, 336, 363f., 388, Terminus 5, 32f., 41, 53, 229f., 359,
390, 401, 403, 416 364
Jehuda ben Jaqar 183, 221f., 262, 346, Kabbala, praktische 259
379 Kabhod, Glorie Gottes 42, 83f., 86f., 145,
Jehuda ben Joseph Rosch ha-Seder 29 147,149,151,158—160,162,165,176f.,
Jehuda Nazir 203 188, 197, 201, 213, 235, 276f., 280f.,
Jehuda ibn Tibbon 195 293, 302, 307, 310, 345, 360, 368f„ 397
Jehuda ibn Ziza 199f., 347 Kalonymiden (Familie) 96, 180
Jellinek, Ad. 32, 41, 212, 268, 275—277, Kanal (im Bahir) 56, 66, 70, 141
283f., 289f„ 309, 314, 318, 329f., 340, Karppe, S. 21
342, 392, 399 10 Kategorien und 10 Sephiroth 395
Jequthiel aus London 289 f. Katharer 11—13, 87, 136, 166, 168—171,
Jerusalem 202, 205, 290, 359 174, 203f„ 206—210, 306, 414
Jeruschalmi (als Bezeichnung des Bahir) Kaufmann, David 33, 61, 277, 290, 292f.
35 Kawwana 172f., 184,190f., 201, 214—218,
Je?ira 20—29, 40—42, 44, 55, 57, 65, 67, 226, 237, 256, 265—267, 270, 273, 287,
71, 73, 86f., 90f., 93, 102, 108, 111, 327, 331, 339, 354f., 362, 365, 367—373,
114, 119f., 125, 127, 134, 137, 151, 402 f.
173, 176f., 179, 185, 198f., 220, 226, Keil, Joseph 25
229, 236f., 241—252, 264f., 275, 292 Kempski, J. von 374
bis 300, 329f., 344Í., 348, 375—379, Kenesseth Israel, siehe: Ecclesia Israels
382 f., 388, 391, 393—395, 398 Kether 'eljon 73, llOf., 194, 232, 240f.,
243, 293, 297, 301, 304, 315, 338, 383,
Jessod 232, 301, 310, 319, 403
392f., 397
Jesus 313
J H W H , siehe Tetragrammaton Kleider der Gottheit (Sephiroth) 348, 396
Der kleine J H W H 190 Kohle und Flamme 244, 248, 254, 267,
Jinon 125 294, 312, 350
Joachim von Fiore 410f. Konformität des menschlichen und gött-
Jod 173, 294, 296, 311, 380 lichen Willens 368—371, 402
Jod'eHen 360 Könige 73, 122, 154
Königstochter, siehe: Tochtersymbolik
Johannes Judaeus 208
Körper der Schekhina 123,185,189, 280f.
Johannes Scotus Erigena 238f., 278, 281,
Kotkow, N. 44
304, 332Í., 345, 374, 379, 385, 388—390,
Koyré, Al. 386
395
Kräfte Gottes 58, 66, 71—73, 112, 157,
Jona Gerondi 346f., 349, 352, 360, 403
172
Jonas, Hans 60
Kramer, J. 401
Joseph 138
Krauss, Samuel 358
Joseph Aschkenasi 339
Kreis 56, 295
Joseph ibn Mazach 347
Krochmal, N. 280
Joseph ibn Plat 209
Kronen 73, 154, 290, 315
Joseph ben Samuel aus Katalonien 165,
höchste Krone, siehe Kether 'eljon
258, 348, 415 f.
Joseph ben Schalom 198, 321
Joseph ben Uziel 73 Lager der Schekhina 281, 300
Joser Bereschith 19, 47, 184—188, ?17 Landauer, M. H. 32, 223, 229, 284, 328
Josua ibn Schu 'eib 341 Latabhin (Unholde) 95
Jupiter (Planet) 179 Lauterbach, J . 35

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Leben 54, 106, 383, 398 Malkhuth 86, 162—164, 191, 197, 254,
Leben der Welten (Symbol) 138f., 141 261, 281
Lebensbaum 64, 131, 135 f. Malkiel 90
Leisegang, Hans 76 Malter, H. 286
Lewin, Benjamin M. 21 Mandäer 80, 95, 106, 136, 145, 152, 170,
Lewitas ben Tiburia 46 260, 274
Libanon 141 Manichäer 136, 145
Liber de causis 375 Mann, Jakob 94
Licht des vollkommenen Lebens 106 Männliches und Weibliches 125 f., 134 bis
620 Lichtsäulen 301, 304 158, 208, 379
Lichtsymbolik 120, 194, 229, 277, 280, Marcion 13
282, 287 f., 295, 309—314, 318—320, Marcus, A. 275
360 Margalioth, Eliezer 31
Lidzbarski, M. 95 Margalioth, R. 44, 275
Lilith 207f., 259—261 Margulies, R. 211
Linke Gottes 130—133, 163, 258 Marmorstein, A. 137, 261
Links und Rechts 127—133 Mars 260
Logoi 48, 57, 71, 101, 104f., 110—119, Marseille 14, 1981, 203, 220, 274, 287
122f., 126—128, 134r-158, 172f., 233, Marx, Alexander 179, 221, 331, 358, 365
244, 251, 385 Maskilim (Mystiker) 172, 197, 221, 226,
Logoslehre 185, 187, 201, 257 247, 266, 356
London 30, 89, 220, 289 Masliah ben Pelatia 259
Loewenstamm, S. E. 29 Masmariah (Engel) 89 f.
Lulabh 69, 153, 157 Massekheth Ά ¡iluth 8
Lueken, W. 306 Materie und Form 54, 59, 112, 120, 198
Lull, Ramon 345, 395 bis 200, 252, 283, 306f., 311f., 320f.,
Lunel 10, 14, 183, 195—197, 213, 220,
372Í., 377—381, 409
230f., 287, 317, 321, 324, 330, 358
Matha Mechassja 315, 317
Matrona, Matronitha 84, 148, 155, 264
Ma'amaroth, siehe Logoi Mazach, Joseph ibn 347
Ma'arekheth ha-'Elohuth 264, 290, 391 Meditation 113, 171—173, 242, 246f.,
Ma'assek Bereschith 6 250, 256, 266—269, 327, 330, 355, 371
Magie 26—28, 88—91, 98f., 179, 214f., Meer 141, 153
225, 259, 279, 286, 290, 294, 310f., 321, R. Meïr 46, 99—101
368—373 Meïr ben Gabbai 271, 330
Magnet 255 Meïr ben Salomo Abi-Sahula 33, 44, 191,
Mahschabha 53, 74, 102 f., 112—116, 128, 227, 237, 252, 255, 262, 264, 270, 272f.,
134, 200, 226, 232, 237—244, 246, 250, 322f., 341, 346, 397, 411
253, 265f., 268, 291, 294, 298—300, Meïr ben Simon aus Narbonne 36 f., 47 f.,
338, 385f., 393f. 173, 230, 275, 331, 335, 352—356. 363
Mahschabha tehora 112, 238, 243, 282, Mekhilta 131
310, 312, 317, 372 Mem 155
Maimonides 5, 40, 48, 147 f., 181, 186, Menachem ha-Parusch 203
188f., 193, 198—200, 206, 221, 251, Menachem Recanati, siehe Recanati
269, 282, 287, 326, 334—339, 343f., Menachem Sioni, siehe Sioni
358,360—362,366,373—374,379f„ 400 Menora 348
Ma 'jan ha-Hokhtna 284f., 287, 291, 293 Mensch, Wesen des M. 356, 367, 401
bis 299, 312 Mequbbalim 33, 38, 53

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Merkaba 15—20, 21, 40, 53, 97f., 103, Mortara, M. 338


115 f., 126 f., 129, 142, 174, 211, 213, Moses 106, 116, 172f., 190f., 197, 254,
282, 288, 295, 300f., 305, 308, 399, 413 269, 284, 295, 386, 399, 403, 413—415
Merkabalehre identsich mit Metaphysik Moses aus Burgos 35, 38, 220, 229, 262,
40, 276 274, 280, 287 f., 290, 309, 321
Meschekh (Emanation) 240, 277, 383 Moses aus Coucy 211
Meschullam ben Moses 352 Moses ha-Darschan 14, 146
Meschullam ben Salomo Dapiera 362 f. Moses ben Eliezer ha-Darschan 96
Messias 386, 406, 417 Moses ibn Ezra 395
Metatron 98f., 106—108,165f., 186—190, Moses de Leon 116, 205, 208, 258, 319,
211, 263f., 279, 281, 290, 305, 320 321, 392
Methuschelah 261 Moses ben Nachman, siehe Nachmanides
Michael 62, 131, 284 Moses Qimchi 280
Middath ha-Din 128, 132f., 192, 254f., Moses Taku, 29, 146, 177, 366
299, 304, 372 Moses ibn Tibbon 335
Middoth 72—74, 80, 109—110, 127—130, Müller, Karl 63
132 f., 137—140,143,150f., 160f., 172f., mundus, annus, homo 25
191 f., 214—217, 235, 237, 242, 244, Münk, S. 303
250, 256, 265f., 269—272, 355, 382, Murmelstein, Β. 139
395, 400, 402, 409 Mutahhar al-Maqdisi 408
Dreizehn Middoth 277, 285, 293f., 298, Mütter (Buchstaben) 25
302, 307—313 Muttersymbolik 66, 118, 120, 379
Midrasch Bamidbar Rabba 14, 159, 172
Midrasch Bereschith Rabba 46, 62, 100, Nachmanides 31, 183, 221, 227, 246, 262,
117, 129, 132, 140, 154, 247, 411 264f., 269, 325—330, 334, 336 f., 339
Midrasch Bereschith Rabbathi 14, 146 bis 349, 352, 355, 358, 360—365, 367,
Midrasch Ekha Rabbathi 70 374, 376—380, 381, 391 f., 396—401,
Midrasch Koheleth 152 403—406, 412, 416, 418, 420
Midrasch Konen 64, 136, 229, 244, 253 Nadav, Yael 308
bis 255, 292 Nahawandi, Benjamin 186
Midrasch Mischie 146 Namen Gottes 56, 93, 98, 111, 124, 151,
Midrasch SchemothRabba 76, 398 172,192, 244, 283—286, 288, 301, 310f.,
Midrasch Simons des Gerechten 284, 287, 357, 396, 412, 414 f.
302—306 Narbonne 10, 13, 29, 31—34, 162,
Midrasch Tadsche 14 174—177. 190, 212f., 257, 274, 324, 353
Midrasch Tanhuma 122, 126, 139, 150, Nathan ben Jechiel 264
172, 396 Nathanael aus Montpellier 318
Midrasch Wajiqra Rabba 76, 153, 229 Nazir 202f., 224
Mijad'el (Engel) 107 R. Nechemja der Prophet 211
Mikrokosmos 136 Nechunjaben Haqqana 34 f., 45, 97,107 f.,
Millas, Jose 203, 327, 345 278, 280, 284
Mittlere Linie (Symbol) 195 — Gebet des N. b. H. 228, 394
Moneada, G. R., siehe Flavius Mithridates Nehorai in Jerusalem 205
Mondsymbolik 84, 144, 153 Nemoy, Leon 186
Montecuccoli, Carolus 314 Nephesch 150, 257
Montgomery, James 95 Nesah 142, 231, 241
Montpellier 14, 318 Neschamah 257, 263, 267, 403
Mordell, Ph. 21 Neubauer, A. 37, 91, 351

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Neumark, David 4, 6—9, 40f., 44f., 49, Phalhis-Symbolik 134—143


238, 364 Phibioniten 167
Neuplatonismus 54f., 58f„ 112,171, 232f., Philo 14, 116, 162, 185, 238
236—239, 265, 276, 278—284, 289, 291, Picatrix 260, 381
292, 300f., 304—308, 313, 316, 318, Pico della Mirandola, Giov. 43
321, 332Í., 345, 367, 373—375, 379 bis Pilpul 35
380, 390f., 394—396, 400 Pinchas Chissma 281
Neupythagoraeismus 24, 56, 195 Pinchas (in Gerona ?) 328
Newman, L. J . 13 Pirqe Rabbi Eliezer 57, 110, 306, 411
Nichts 178, 228, 239 f., 243, 268, 293, 297, Pistis Sophia 28, 274, 282
301—303, 353, 368, 372—379, 382, Planetenengel 260, 262
386f., 392, 394, 397, 399, 403 Pleroma 51, 59—62, 80, 112, 117, 206
Nikolaus Cusanus 375 Plessner, M. 381
Nikomachus von Gerasa 24, 56 Plotin 380, 387, 396
Norden 132 Pneuma 80, 119f.
Nordwind 131 Pneuma Gottes 22, 293, 299, 305, 382
Odeberg, H. 190, 305 Pognon, H. 260
Oehl, W. 347 Porphyrius, Baum des 395
Ohr 113 Posquieres 31—33, 188, 196, 205, 213,
Okkasionalismus des Nachmanides 400 224
*Olam ha-ba' 120 Potenzen im 'Ijjun-Kreis 299—304,306f.,
Ong, Walter 395 386
Opfer 56, 69,123,172, 232, 331, 343, 364, Potenzen im Buch Temuna 417
368, 415 Poznanski, S. 170
Ophannim 103, 105, 127, 142, 280, 282 Preuschen, E. 22, 83
Or Bahir 45, 296, 369, 379, 398 Priestersegen 172
'Or müh*allem 194, 297, 370 Proklos 24, 59, 313
Orphaniel (Engel) 306 Propheten im Mittelalter 210f., 218
R. Oschaja 26 Prophetie 199, 254, 269, 272, 317, 320,
Osten 136, 138, 155 f. 371, 386, 399, 403
Pahad 127, 231, 241, 258, 262 Pseudo-Aristoteles 381, 403
Palmen-Symbolik 52,124,131,144,152 f., Pseudo-Clementinen 168
170 Pseudo-Dionysius, siehe Dionysius Areo-
Papias, Rabbi 46, 99 pagita
Paradies 51, 57, 64, 136, 208, 415 Pseudo-Empedokles 290, 292
Pames, Α. 172 Pseudo-Plato 381
Puech, H.-C. 145
Parukhin 95
Punkte, geistige 228, 311, 318—320
Parusch 202f., 222, 224, 366
(siehe auch Atome)
Pathah 52
Patriarchen als Merkaba 129
Paulus Christiani 339f. Qaddisch 106
Perle 83, 149, 154 Qana, Buch 416, 419
Perles, Joseph 364 Qaphqaphuni 261
Perpignan 14, 324 Qaphçaphuni 261
Peter von Vaux-Cemay 207 Qaräer 170
Peterson, Erik 28, 165 Qeduscha 98, 183, 209, 214
Pflanzungen (Sephiroth) 273, 350, 354f., R. Qeschischa 219, 290, 315
387 Qibhla (Amulett) 33, 179

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Qirqissani 170 Sachs, Senior 328


Qomoth 132 Safed 326
Quelle, Symbolik der 56, 61, 63, 66, 70, Sagnard, F. 80, 112
117, 124, 141, 193f„ 268, 271, 277, §ah$ahoth 308, 312 f.
295—303, 383 Sahula, siehe Meir ben Salomo Abi-Sahula
Quelle der Weisheit (Buch), siehe M a'jan Salomo 81f., 151—153
ha-Hokhma Salomo ben Abraham aus Montpellier
Quispel, G. 186 326, 360
Qumran-Texte 60 Salomo ben Adreth 31, 33, 44, 227, 340,
343, 346f., 351, 406
Rabbenu Tarn, siehe Jakob Tarn Salomo aus Corbeil 220
Rabbinowicz, Raph. 179 Salomo ibn Gabirol, siehe Gabirol
Rabed (Abraham ben David) 31—33, 37, Salomo aus Luzk 293
39, 175—178, 180—201, 203, 211, 215 Salomo ben Mazliach 317
bis 218, 222—224, 229, 231, 264, 321 f., Sammael 108, 259—263
325, 360 Samuel ben Joseph ibn Mazach 347
Rabh 24, 72 Samuel aus Speyer 218
R. Rachmaj 46, 56, 92, 151, 274f. Samuel ibn Tibbon 198f., 334f., 339, 348
Rachmai bar Bebai 46, 92, 167 Sandalphon (Engel) 154, 320f.
Räder der Merkaba, siehe 'Ophannim Sapientia bei Gabirol 303
Rahamim 128, 161, 191 f. Sapientia Sahmonis 364
Rankin, Ö. S., 144 Sarachek, Joseph 358
Raphael 108 Saragossa 366
Raschi 73, 183 Sassoon, D. S. 78
Raza Rabba 46, 94—109, 111, 126, 130, Satan 57, 108, 131, 207, 262 f.
134, 166, 171, 174, 189 Säule 135f., 319
Raziel-Buch 121, 142, 158, 260 Schaddaj 91 f., 110, 163, 401
Recanati, Menachem 35, 216, 225 f., 269, Schamajim 127
271, 273, 329f., 416 Schatzhaus der Tora 52, 119f., 129, 154
Rechumai, siehe Rachmai 46 Schatzhaus der Seelen 79, 138 f.
Rechumi 46 Schatzhäuser 72, 311, 315
Reifmann, Jakob 336, 341 Schechter, S. 183, 221, 327
Reitzenstein, R. 27, 306 Schefa' (Zustrom, Influxus) 107, 190, 263
restitutio omnium rerum ad integrum 265 Scheftelowitz, Is. 154
Reuchlin, Johannes 275, 375, 389
Schekhina 60, 66, 77—79, 82—84, 86,
Rittangel, J . St. 285
104f., 118, 121, 123, 136, 144—148,
Ritualsymbolik 44, 58, 69f., 151, 157
151, 153—159, 162—165, 176 f., 180,
Rom Ma'ala 240, 382
185, 188, 192, 197, 230, 264, 271, 281,
Rosin, David 279
293, 306f., 343, 398f., 401
Ruah 22, 119, 252, 295
Schelemia aus Arles 262
Rudwin, M. 208
Schemittoth 407, 409—419
Schemtob ben Gaon 32, 177 f., 181, 191,
Saadia 21, 25, 28, 41 f., 85, 147, 159, 162, 216, 219, 223—225, 240, 314, 328, 339,
169, 177, 188,197, 201, 228, 234—236, 341, 347, 404
282, 286, 292f., 408 Schemtob ben Schemtob 34, 193, 397
Sabbath 134—141, 148, 205 Scherira Gaon 275
Sacharja ben Moses Kohen 363 Schescheth des Mercadell 79, 327, 339f.,
Sacharja aus Montpellier 318 406

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Schescheth aus Saragossa 358 Sepher Zerubabel 179


Schiller-Szinessy, S. M. 363 Sephiroth 22—25, 33, 47, 66. 71, 86f., 93,
Schifi 92, 417 101—105, 109—173, 183—190, 192 bis
Schi'ur Qotna 5, 17f., 47, 73, 96, 98f., 201, 206f., 214, 217f., 221, 226, 228 bis
107 f., 123—125, 145, 163, 180, 184f., 256, 258f., 273, 276, 280—282, 284 bis
187, 200, 279f., 286, 308 293, 296—320, 330f., 333, 338, 344 bis
Schlange 263 348, 353—357, 363, 367, 372, 374f.,
Schma' Israel 57, 171, 183, 194, 239, 273, 378—399, 403, 405f., 409—416
275, 362 Serachja ben Isaak aus Barcelona 363
Schmiedl, A. 169 Seraph 282, 306
Schmidt, Ch. 206 f. Sexualsymbolik 134—143, 156, 305
Schoeps, H. J . 168 Siegel (Sephiroth als Siegel) 292, 319
Schomer Israel 151, 264, 326 Sijoni, Menachem 93
Schöpfung aus Nichts 55, 65, 373—378, Silber und Gold 121, 127
399 R. Simlaj 92
Schöpfungstage 66, 72, 118, 122, 252, Simon ben Zemach Duran 321
409 Simonianer 63, 65
Schorr, Ο. H. 342 Simson aus Ostropol 229
Schramm, J . C. 395 Simson aus Sens 221
Schrift und Sprache 244 §imfum 381, 397
Schwab, M. 88 Soave, M. 222
Schwarz, A. Z. 342 Sod 182, 337
Schwert Aschmedais und Schwert des Sod Darkhe ha-'Othijoth 321
Messias 261 Söderberg, H. 139, 166, 207, 209
Scotus Erigena, siehe Johannes Scotus Sonne 153, 191
Seele als Symbol des Weiblichen 150 Sophia, siehe Hokhma
Seele und Binah 185 Soria 34, 162
Seele der Seelen 281 Spiegel, leuchtender 254, 292
Seelen, alte und neue 168 Spiegel als Symbol der Hyle 297
Seelen, Seeligkeit der 290 Spira, Nathan 235
Seelen, Ursprung der 62f., 65, 110, 117, Steine im Abgrund 64 f.
134—139, 167, 185, 230, 252, 256, 300, Steinschneider, M. 39, 274, 285, 287, 291,
317, 319, 347, 403 314, 339, 407
Seelenfunken 407 Steresis 372
Seelenkräfte 205, 257, 403 Stern des Menschen 99 f.
Seelenwanderung 79, 93, lOOf., 102, 155f., Sterne 180, 415
166—171, 209, 225, 272, 338, 342, 346, — Verlangsamung des Gestirnumlaufs 411
404—407, 413—415 Sternenbuchstaben 285
Segal, Μ. Ζ. 25 Stimmen 73, 110, 122, 251
Sekhel 240, 310 Strenge Gottes, siehe Middath ha-Din
Sepharim penimijjim 231 Strothmann 238
Sepher ha-Chajjim 160 Strugnell, J . 60
Sepher Chassidim 100 Süden 138
Sepher ha-'Ijjun 276—281, 293, 295, 300, Sufismus 4, 10
305, 312 Sukkoth 118
Sepher ha-Jaschar 88, 89, 94r-96 Sura 315
Sepher Malbusch 259 Syzygien 125f„ 134, 136, 140, 152, 155,
Sepher Peli'a 286, 416 304

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Register 433

Targum 243, 257 f. Treves, Ν. Η. 109, 330


Tauber, Α. 336 Trieb, der böse T. 132, 414
Tebhuna 183 f. Trias von Lichtem und Potenzen bei
Teich 61, 117, 372 Azriel 386, 393 f.
Teli 57 f., 90 Trinität 312—314', 410
Tempel 113f., 125, 134, 280 Troestlin der Prophet 211, 218
siehe auch Heiligtum, himmlisches Tur-Sinai, Ν. 33
Temuna (Buch) 327, 407—419 Twersky, I. 195
TephiUin 53, 129, 157, 162, 176,186, 232
Terutna 157 Ubersein Gottes 374—376, 390f.
Teschubha 92, 245, 253, 263 Unendlichkeit 115, 243 f., 382 siehe auch
Testikel 143 'En-soph
Tetragrammaton 56, 88, 91f., 105, 113, Unerfaßbarkeit Gottes 238
190, 192, 252, 279, 284f., 291, 293f., Urbach, Ephr. 221, 358
298, 300 Urbilder 100, 123f., 129, 131f., 251, 305
Vokalisation des T. 89, 305, 310 f., 401 Urgrund und Ungrund in Gott 385, 391
Teufels Großmutter 208 Uridee, siehe Mahschabha
Theodor bar Konai 260 Uriel 131
Theodoret 165 Urlicht 55, 64, 85, 118, 120f., 128, 140,
Théry, G. 389 154f„ 157—159
Tholuck, Fr. A. 4 Urluft, siehe Äther
Thomas-Akten 83 Urmensch 281
Thomas-Evangelium 63, 126 Urpunkt 378
Thron Gottes 17—19, 23,53, 72,103—105, Ursache, erste, siehe causa causarum
123, 127, 129, 145, 179f„ 183—185, Urzeit und Endzeit 156
234, 262, 280, 282, 288, 306, 317, 398 'Uza und 'Uziel 95
Tiefen aller Dinge 23, 237
Tierkreis 26 Vajda, Georges 8, 21, 29, 339
Timaios 247, 281, 379 Vaillant, Α. 64
Tiph'ereth 184f., 191, 231f., 241, 247, Valentinus 27, 63, 66, 72, 79
254, 263, 281, 398 vas preiiosum 72, 77
Tiqqun, Ma'amar etc. 277 Vatersymbolik 118
Tishby, Is. 198, 218, 252, 267, 269, 328, Vogelnest 118
330, 352, 380, 388 Vokale 49, 52, 55f., 254, 321
Tobia ben Eliezer 73, 234 Vorhänge in der Merkabawelt 100, 108,
Tochtersymbolik 81—83, 86, 101, 122, 282, 300, 306
148—152, 163—165, 304
Tochter des Lichtes 83—85, 148, 150 Wahrheit (Symbol) 127, 156f., 195
Toku 54f., 65, 120, 132f., 207, 245, 300, Waw 195, 311
377—380, 408 f. Was 124
Toledo 199 f., 262, 284, 324, 347. 358f. Wassersymbolik 117, 121, 129, 205, 372
Tora 61—63, 116f., 119—121, 128, 150f., Weibliches 53, 125, 140, 144—158, 304
154, 161, 208, 247 f., 253—255, 340, Weill, Michel 344
381, 412—419 Wein 127, 205
Tora qeduma 253, 412 Weinstein, N. 182
Tossaphisten 29, 189, 211, 219 Weinstock, Israel 34
Toulouse 13, 14, 287, 289 Weisheit, siehe Hokhma
Traumanfragen 95, 211 Weisheit Salomos (Buch) 364
Scholcm, Kabbala 28
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434 Register

Weiss, Joseph 26 Winkler, H. A. 179


Welt der Finsternis 59, 84, 91 Wirbelsäule 67, 69, 153
Welt des Intellekts, der Seele und der Wittmann, M. 380
Natur 400 Wolf, Joh. Chr. 43
Welt des Lichtes 59, 91 Wolfson, H. A. 186, 374
Welt der Trennung 248 Worms 219f., 287
Welten 290—292, 310f., 316, 318—320 Wunder 400f.
18 000 Welten 399 f. Wünsche, August 14, 159
Weltenbaum 59, 62—70, 122, 135 Wurzel 118, 264, 277, 305, 309—313,
Weltengrund 135, 138, 142, 231, 310, 315 315f.
Weltenjobel 364, 410f., 415f.
Weltenmutter 118, 143, 410 Yates, Frances 278, 345, 395
Weltenwoche 409, 411
Weltseele 139 Zahlen 22, 281, 395
Werblowsky, R. Z. 3 Zajin 150, 172 f.
Wesenheiten (essentiae), siehe Hawajoth Zeit 154
Westcott, W. 285 Zion, Robert 31
Westen 136, 138, 142, 155 f. Ziw (Abglanz) 118, 121, 147, 165
Widengren, G. 136 Zlotnik, Jakob 405
Wieder, N. 10 Zohar 3, 8, 38, 70, 90, 191, 194, 207f.,
Wille Gottes 112,162, 215, 238, 253, 302f., 210, 225, 236, 258, 290, 294, 296f.,
305, 316, 318, 338, 353, 367, 369—371, 303, 320f., 326, 329, 365, 387, 420
382—388, 391—394, 397 f., 402 Zunz. L. 347

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Nachwort
von Joseph Dan*

Ursprung und Anfänge der Kabbala ist Gershom Scholems dritte


Publikation mit Ergebnissen seiner Studien zur frühen Kabbala. Die
erste Fassung legte er im Jahr 1946 in seinem umfangreichen Aufsatz
„Die Anfänge der Kabbala" vor, den er im zehnten Band der Reihe
Knesset Lezekher Bialik veröffentlichte (S. 179-228). Diese jährlich
erscheinende Reihe war dem Andenken an den großen, 1934 verstor-
benen Dichter Chayyim Nachman Bialik gewidmet, mit dem Scholem
befreundet war.1 Schon einige Jahre zuvor (1937) hatte Scholem im
zweiten Band von Knesset seinen berühmt gewordenen Aufsatz „Er-
lösung durch Sünde" publiziert. Dieser Essay war die Grundlage und
zugleich die Essenz der späteren Studien Scholems zu Sabbatai Zwi

* Die Übersetzung des Nachwortes wurde von Ulrike Hirschfelder (Berlin) angefer-
tigt.
1
Bialik spielte eine wichtige Rolle für Scholems berufliche Laufbahn in Jerusalem.
In den frühen zwanziger Jahren rief Bialik eine Publikationsreihe ins Leben, deren Ziel
es war, die klassischen Texte aus allen Gebieten der jüdischen Tradition einer modern-
hebräischen Leserschaft nahezubringen. Er bat Scholem, ein Programm zu erstellen, das
alle Bücher und Studien zur kabbalistischen Literatur auflistete, die in dieser Reihe
erscheinen sollten. Der detaillierte Entwurf, den Scholem in seinem Antwortschreiben
darlegte, bildete das Gerüst seiner wissenschaftlichen Arbeit in den nachfolgenden Jahr-
zehnten. Scholems Brief aus dem Jahr 1925 wurde in Devarim Bego von Abraham
Shapira, Tel Aviv (Am Oved) 1976, S. 5 9 - 6 3 , veröffentlicht [deutsche Übersetzung in:
Gershom Scholem, Die Wissenschaft vom Judentum. Judaica 6, herausgegeben, aus dem
Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von P. Schäfer in Zusammen-
arbeit mit G. Necker und U. Hirschfelder, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main
1997, S. 53-67]. Bialik bedankte sich bei Scholem mit einem Brief (20. Juli 1925), in
dem er sich sehr anerkennend über das Programm äußerte [deutsche Übersetzung: ebd.,
S. 75-76]. Er versprach, Scholems Vorschläge dem Universitätsrat der im selben Jahr
gegründeten Hebräischen Universität sowie ihrem damaligen Kanzler, Dr. J. L. Magnes,
vorzulegen. Dies war offenbar von großer Bedeutung für Scholems universitäre Lauf-
bahn, er wurde als einer der ersten Dozenten an die Hebräische Universität berufen.

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436 Nachwort

und dessen messianischer Bewegung.2 Der Beitrag „Die Anfange der


Kabbala" aus dem Jahr 1946 bildet den Kern der zweiten Fassung
seiner Studien zur frühen Kabbala 3 , die dann 1948 in Form eines
kleinen Buches im Schocken-Verlag (Jerusalem und Tel Aviv) unter
dem Titel Reshit ha-Kabbala („Der Anfang der Kabbala") erschien.
Die frühen Versionen der beiden geschichtlichen Hauptwerke Scho-
lems - Ursprung und Anfänge der Kabbala und Sabbatai Zwi — waren
also eine Art Hommage Scholems an den großen hebräischen Dichter.
Die 1948 erschienene Studie Reshit ha-Kabbala ist ähnlich gegliedert
wie Ursprung und Anfänge. Scholem erörtert zunächst allgemein das
Problem der Entstehung der Kabbala, schließt daran eine ausführliche
Untersuchung des Buches Bahir an und geht schließlich auf die beiden
wichtigsten Schulen des frühen dreizehnten Jahrhunderts — Provence
und Gerona - ein. Bei einigen Abschnitten des deutschen Textes han-
delt es sich offensichtlich um Übersetzungen der hebräischen Fassung.
Die deutsche Bearbeitung ist allerdings wesentlich umfangreicher -
ungefähr dreimal so lang wie die hebräische. Themen, die in der he-
bräischen Version nur kurz in einer Fußnote erwähnt sind, werden in
der deutschen Fassung über mehrere Seiten hinweg ausführlich behan-
delt.4 Es hat den Anschein, als ob sich Scholem in seinen hebräischen
Ausführungen an das Format der Bücher gebunden fühlte, die in der
Reihe „Studien und Texte zur esoterischen Tradition im Judentum"
erschienen, deren Herausgeber er war und in der zuvor schon wichtige
eigene und fremde Werke ediert worden waren. 5 Alle in dieser Reihe
erschienenen Bücher wurden mit einem Umfang von weniger als 200
Seiten herausgegeben. Dieses Format wollte Scholem nicht überschrei-
ten. Man darf nicht vergessen, daß Scholem bis zu diesem Zeitpunkt

2
Die deutsche Fassung von „Erlösung durch Sünde" erschien in: Gershom Scholem,
Judaica 5, aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von M.
Brocke, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992.
3
Scholem verwendete zwei unterschiedliche hebräische Begriffe für „Anfange" bzw.
„Anfang". Für den 1946 erschienenen Aufsatz wählte er den im modernen Hebräisch
üblichen Begriff hathalot. Der Ausdruck reshit, auf den er für den Titel seiner 1948
erschienenen Monographie zurückgriff, ist der klassische Terminus für den kosmischen
Urbeginn, in Anlehnung an das erste Wort der Bibel bereshit (Genesis 1,1).
4
Der hebräischen Fassung sind drei Anhänge beigegeben; das dort enthaltene Ma-
terial (zum Buch Raza Rabba, zu den Schülern von Nachmanides und eine Liste der
dem Iyyuti-Kiús zugeschriebenen Werke) wurde in der deutschen Version größtenteils
eingearbeitet.
5
Das erste Buch dieser Reihe, das 1938 herauskam, war Scholems Edition der Traum-
bilder des sabbatianischen Visionärs Mordechai Aschkenasi. In den folgenden Jahren
erschienen in dieser Reihe unter anderem I. Tishbys Dissertation zur lurianischen Kab-
bala (1942) sowie Moshe Perlmutters Studie zu den sabbatianischen Schriften von Rabbi
Jonathan Eibeschütz (1953).

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Nachwort 437

noch keine einzige umfangreiche hebräische Monographie veröffent-


licht hatte: Bei seinen Büchern handelte es sich hauptsächlich um
Texteditionen und Bibliographien, jedoch nicht um „Bücher" im Sinn
von eigenen wissenschaftlichen Abhandlungen. Wahrscheinlich war es
Scholems Unzufriedenheit mit der noch unvollständigen Behandlung
einiger Themen in Reshit ha-Kabbala, die ihn dazu veranlaßte, eine
ausführlichere Version vorzubereiten, die er auf deutsch verfaßte und
veröffentlichte.
Reshit ha-Kabbala wurde in einer relativ kleinen Auflage gedruckt.
Die Zeit, in der das Werk erschien, war ungünstig und verhinderte,
daß es die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhielt. Der Unabhängig-
keitskrieg war auf seinem Höhepunkt, und Jerusalem stand unter Be-
lagerung. Der Campus der Hebräischen Universität, einschließlich der
Nationalbibliothek, war von Jerusalem und dem gerade entstehenden
Staat Israel abgeschnitten, und die Menschen hatten andere Dinge im
Kopf als die Details der esoterischen Vorstellungen des zwölften und
dreizehnten Jahrhunderts, die aus alten Handschriften herauszulesen
waren. Ein Teil der Auflage wurde zudem versehentlich unter dem
Umschlagtitel Torat ha-Kabbala („Die Lehren der Kabbala") ausge-
liefert. Weil Scholem mit Reshit ha-Kabbala nie ganz zufrieden war,
untersagte er dem Schocken-Verlag den Nachdruck des Werkes. Heute
ist dieses Buch eine Rarität. Scholem hatte offenbar schon relativ früh
beschlossen, eine neue, ausführlichere und vollständige Abhandlung
zur frühen Kabbala zu verfassen. Dies tat er gleichzeitig auf Deutsch
und Hebräisch.
Zur selben Zeit, als Scholem an Ursprung und Anfänge arbeitete,
bereitete er noch eine vierte Version seiner Untersuchungen zu den
Anfangen der Kabbala vor. Zwischen 1959 und 1961 hielt Scholem in
seinen Kursen an der Hebräischen Universität eine Vorlesungsreihe,
die genau das Material abdeckte, das er auch in Ursprung und Anfänge
behandelte. Die Mitschriften aus diesen Seminaren wurden in vier
Heften vom Verlag der studentischen Gewerkschaft „Akademon" pu-
bliziert.6 Die Vorlesungen wurden stenographiert und dann von Scho-
lems Schülern Rivka Schatz(-Uffenheimer) und Joseph Ben Shlomo
ediert.7 Der in den vier Heften abgedruckte Text wurde nicht mit Fuß-

6
Der Verlag lief zunächst unter dem Namen Mif'al ha-Shikhpul.
7
Heft 1: Die Anfänge der Kabbala und Sefer ha-Bahir, herausgegeben von R.
Schatz, 1962 [hebräisch],
Heft 2: Die Kabbala in der Provence, herausgegeben von R. Schatz, 1963 [hebräisch];
Scholem fügte diesem Band den aus einer Handschrift kopierten Text des Sefer Yetzira-
Kommentars von Rabbi Isaak dem Blinden bei.
Heft 3: Die Kabbala in Gerona, herausgegeben von J. Ben Shlomo, 1964 [hebräisch].
Heft 4: Abraham Abulafia und Sefer ha-Temunah, herausgegeben von J. Ben
Shlomo, 1965 [hebräisch].

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438 Nachwort

noten versehen, enthält aber zahlreiche Exkurse sowie die Antworten


auf die Fragen von Studenten. Er stellt die aktuellste und ausführlich-
ste Fassung der Ansichten Scholems zu den Anfangen der Kabbala
und ihrer frühen Entwicklung dar. Warum Scholem das in diesen Vor-
lesungen behandelte Material nicht zu einem eigenen hebräischen Buch
ausarbeitete, ist nicht bekannt. 8
Scholem war gewöhnlich sehr kritisch, was seine eigenen Arbeiten
betraf. Sein berühmtestes Buch, Major Trends in Jewish Mysticism {Die
jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen)9, wurde nie ins Hebräische
übersetzt, weil ihm einige Abschnitte mißfielen. Ursprung und Anfänge
hingegen gefiel ihm sehr gut. Ich erinnere mich noch sehr genau an
den Abend im Jahr 1962, als Scholem das Buch seinen Schülern vor-
stellte, die an dem wöchentlich bei ihm zu Hause stattfindenden Se-
minar teilnahmen. Er blickte in die Runde, sah die Leute, die als
Dissertationen umfangreiche, dicke Bände verfaßten, viele von ihnen
unter seiner Betreuung, und sagte kurz und treffend: „Das ist meine
Doktorarbeit". Er nahm dabei auf den offenkundigen Unterschied
zwischen den Arbeiten, die wir zu schreiben hatten, und seiner eigenen,
dünnen Dissertation zum Buch Bahir Bezug, die einen bescheideneren
Rang einzunehmen schien. Scholem, der damals 65 Jahre alt war,
meinte zu uns: Es mag zwar ein wenig spät sein, aber auch ich kann
eine Doktorarbeit von dem Umfang vorlegen, wie ihr sie schreibt. Hier
ist sie.
Sprache und Verleger dieses Buches konnten unmöglich ignoriert
werden. Zum ersten Mal seit den dreißiger Jahren publizierte Scholem
ein Buch auf Deutsch und in Deutschland. 10 Scholem war noch immer

8
Die englische Übersetzung von Ursprung und Anfänge wurde auf Grundlage der
deutschen Fassung von Allan Arkush angefertigt und erschien 1987 bei Princeton Uni-
versity Press (Princeton, N.J.) und bei der Jewish Publication Society (Philadelphia)
unter dem Titel The Origins of the Kabbalah. Diese Fassung wurde von R. J. Zwi Wer-
blowski redigiert, der auch die Anmerkungen, die Scholem am Seitenrand seines deut-
schen Exemplars sowie in anderen Quellentexten vermerkt hatte, berücksichtigte, um
die englische Version auf den neuesten Forschungsstand zu bringen. In gewisser Weise
stellt The Origins of the Kabbalah die fünfte und letzte Fassung der Untersuchungen
Scholems zu diesem Thema dar.
9
New York (Schocken) 1941 (eigentlich vom Schocken-Verlag in Tel Aviv publi-
ziert); Neuauflagen 1946 und 1954.
10
1960 hatte Scholem unter dem Titel Zur Kabbala und ihrer Symbolik auf Deutsch
den ersten Sammelband seiner Eranos-Vorträge publiziert (Rhein-Verlag in Zürich).
1962 erschien der zweite Sammelband Von der mystischen Gestalt der Gottheit (ebenfalls
im Rhein-Verlag). Bei diesen Bänden handelte es sich nicht um „deutsche", sondern um
„schweizerische" Bücher. Die Eranos-Tagungen gaben Scholem die Möglichkeit, auf
Deutsch vorzutragen und zu schreiben, ohne sich tatsächlich in Deutschland aufzu-
halten.

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Nachwort 439

verärgert wegen der Erfahrung, die er mit der Veröffentlichung seines


auf Englisch erschienenen Buches Jewish Gnosticism, Merkabah Mysti-
cism, and Talmudic Tradition gemacht hatte." Als es 1960 herauskam,
verkündete er: „Ich werde nie wieder ein Buch auf Englisch veröffent-
lichen." Major Trends in Jewish Mysticism, sein erstes Buch, das auf
Englisch publiziert wurde, hatte Scholem eigentlich auf Deutsch ge-
schrieben. Die englische Übersetzung wurde auf der Grundlage von
Scholems Manuskript angefertigt. In den späten dreißiger Jahren und
auch in den Jahrzehnten danach war es undenkbar für einen jüdischen
Wissenschaftler, ein Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. Im Jahr
1962 war die Publikation von Ursprung und Anfänge, das auf Deutsch
bei einem Berliner Verlagshaus erschien, durchaus aufsehenerregend.
Nicht jeder in Jerusalem war damals damit einverstanden.

II

Vierzig Jahre sind seit dem Erscheinen von Ursprung und Anfänge
vergangen, beinahe sechzig Jahre seit Scholems erster Fassung dieses
Werkes.12 Im Hinblick auf die Forschungsgeschichte ist es bezeich-
nend, daß die früheste Fassung bereits alle wichtigen Texte und Analy-
sen enthält, die wir auch in der endgültigen Fassung vorfinden. Dar-
über hinaus fügte Scholem während der zwanzig Jahre, die er nach
der Publikation von Ursprung und Anfänge arbeitete und schrieb, keine
wesentlichen Fakten hinzu, die er nicht schon in der ersten Fassung
angesprochen hätte. Das heißt, daß die grundlegenden Daten und
Texte, die Scholem in den dreißiger und frühen vierziger Jahren zusam-
menstellte, das Gerüst für die Geschichte der Kabbala bildeten. 1934
veröffentlichte Scholem mehrere, zum damaligen Zeitpunkt noch un-
bekannte Dokumente zu den Anfangen der Kabbala in der Provence

" New York (The Jewish Theological Seminary) 1960; eine zweite Auflage im Ta-
schenbuchformat, mit einigen Verbesserungen und Hinzufügungen, erschien 1965.
12
Es ist auffällig, daß die Anfänge der Kabbala in Scholems Major Trends in Jewish
Mysticism nicht behandelt werden. Major Trends geht auf eine Vorlesungsreihe zurück,
die Scholem 1938 in New York hielt. Die Anfänge der Kabbala hat Scholem zweifellos
deswegen nicht berücksichtigt, weil er zu diesem Zeitpunkt an einer umfassenden Unter-
suchung arbeitete und es für unmöglich hielt, dieses Thema in einer knappen, kompri-
mierten Vorlesung wiederzugeben. Daß die Grundzüge seiner Ausführungen zu diesem
Thema in den frühen 40er Jahren Gestalt annahmen, ist offensichtlich. Zu dieser Zeit
war Scholem Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Hebräischen Universität.
Der Krieg in Europa und die Gefahren, denen die jüdische Gemeinschaft in Palästina
ausgesetzt war, beschäftigten Scholem damals ohne Zweifel ebenso sehr wie alle an-
deren.

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440 Nachwort

und in Gerona. 13 In den nachfolgenden Studien, vor allem in Reshit


ha-Kabbala, behandelte er weitere, noch unbekannte Texte und Doku-
mente, die zusammen ein völlig neues Bild dieser Epoche ergaben. In
den frühen vierziger Jahren brachte Isaiah Tishby, Scholems erster und
bedeutendster Schüler, eine Reihe von Studien zu den Kabbalisten von
Gerona heraus, einschließlich einer wissenschaftlichen Edition des
Hauptwerkes von Rabbi Azriel von Gerona. 14 Scholems wichtige Er-
kenntnisse zu Raza Rabba („Das Große Geheimnis"), eine der vermut-
lich frühen Quellen des Buches Bahir, die Zitate bei Rabbi Ephraim
be-Rabbi Shimshon sowie Charakter und Umfang der Schriften des
/^««-Kreises waren wie viele andere Entdeckungen bereits in dem
schmalen, 1948 erschienenen Buch enthalten und wurden 1962 aus-
führlicher in Ursprung und Anfänge behandelt. Danach - nichts mehr.
Nach dem Erscheinen ihrer Arbeiten zur frühen Kabbala forschten
und publizierten Scholem und Tishby zusammengenommen noch 80
Jahre, sie leisteten Hervorragendes in der Zohar-Forschung, zur mes-
sianischen Bewegung der Sabbatianer, zu den Hekhalot-Mystikern und
zum Chassidismus, aber zu den Ursprüngen der Kabbala ergaben ihre
Forschungen nichts Neues mehr.
Das Ausbleiben neuen Materials ist um so überraschender, wenn
wir folgendes bedenken: Als Scholem an Reshit ha-Kabbala arbeitete,
versuchte er, sich einen Überblick über die sein Thema betreffenden
Handschriften in einer Vielzahl von Bibliotheken in Europa, Amerika
und Israel zu verschaffen. Er studierte Hunderte von Manuskripten,
ließ einige für sich abschreiben oder photographieren und machte sich
ausführliche Notizen. Seine Aufsätze und Bücher, die auf diese Quel-
lenstudien zurückgehen, machen zugleich deutlich, wie umfangreich
das Material war, das Scholem in seinem Werk berücksichtigte. Ab-
gesehen von Moritz Steinschneider im neunzehnten Jahrhundert war
Scholem wahrscheinlich die größte Autorität für hebräische Hand-
schriften. Das Textmaterial, auf das er zurückgriff, um die Anfange der
Kabbala nachzuerzählen, stammte vor allem aus seiner eingehenden
Untersuchung der hebräischen Handschriften in München, Oxford,
Mantua, New York, London, Parma und in vielen anderen Biblio-
theken, einschließlich der wachsenden Handschriftensammlung der
Jüdischen National- und Universitätsbibliothek, in deren Judaica-
Abteilung Scholem als Bibliothekar arbeitete, nachdem er 1923 nach
Jerusalem ausgewandert war.

13
Te'uda Hadasha le-Toledot Reshit ha-Kabbala, in: Sefer Bialik, Tel Aviv 1934,
S. 1 4 1 - 1 6 2 .
14
Perush ha-Aggadot le-Rabbi Azriel, Jerusalem (Magnes Press) 1946, basierend auf
der Dissertation Tishbys, die von Scholem betreut wurde.

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Nachwort 441

Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, gelang es Scholem und
anderen Wissenschaftlern, den ersten Premierminister, David Ben
Gurion, dazu zu bewegen, seinen Namen und seinen Einfluß geltend
zu machen, um in der Nationalbibliothek eine spezielle Abteilung ein-
zurichten, in der Mikrofilmkopien von allen Judaica-Handschriften in
der Welt gesammelt werden sollten. Zahlreiche Mitarbeiter der Jeru-
salemer Nationalbibliothek trugen zur erfolgreichen Durchführung
dieses Unternehmens bei. Heute befinden sich dort Abertausende von
Kopien aller weltweit existierenden Handschriften aus privaten und
öffentlichen Sammlungen. Scholem war einer der Direktoren dieses
„Institute for Microfilmed Hebrew Manuscripts" und verfolgte stets
dessen Neuanschaffungen; er bemühte sich auch sehr um die Vergröße-
rung der Sammlung von Originalhandschriften der Nationalbiblio-
thek, die schnell zur bedeutendsten der Welt anwuchs.
Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß Scholem, als Resultat
dieser Unternehmungen, im letzten Jahrzehnt seines Lebens und Schaf-
fens Zugang zu Sammlungen von hebräischen Handschriften hatte, die
mindestens fünfmal oder vielleicht sogar zehnmal so groß waren wie
diejenigen, die ihm in den vierziger Jahren zur Verfügung standen, als
seine Arbeit zur frühen Kabbala Gestalt annahm. Wie ist es möglich,
daß ein so dramatischer Anstieg im Umfang der Quellen keine bedeu-
tende Neuentdeckung hervorbrachte, die sich auf die von Scholem
schon Jahrzehnte zuvor herausgearbeiteten Grundeinsichten auswirkte?
Selbst wenn wir annehmen, daß Scholem und Tishby in ihren späte-
ren Jahren ausschließlich mit anderen Themen beschäftigt waren, stellt
sich doch dieselbe Frage in bezug auf die nachfolgenden Generationen
von Wissenschaftlern. Nahezu ein Dutzend Forscher der jüngeren
Generation, eine Gruppe, zu der ich ebenfalls gehöre, haben in den
letzten fünfzig Jahren Arbeiten zur frühen Kabbala publiziert. Zahl-
reiche Bücher und Hunderte von Artikeln sind in diesem Zeitraum
erschienen, viele von ihnen widersprechen Scholem in kleineren oder
größeren Punkten. An Vorschlägen, die frühen Entwicklungsstufen der
Kabbala durch neue Aspekte und Interpretationen zu erhellen, hat es
nicht gefehlt. Dennoch findet sich in keiner dieser Arbeiten wesentlich
neues Material, das aus den Tausenden von erst seit kurzem verfüg-
baren Handschriften gewonnen wurde und aufgrund dessen die grund-
legenden Fakten, wie sie Scholem in seinem Werk dargestellt hat, wi-
derlegt werden konnten. Im vergangenen halben Jahrhundert blieben
die Textbasis und die historischen Grundzüge, die Scholem in den vor-
angehenden Jahrzehnten nachgezeichnet hat, unverändert. Die Funda-
mente, auf denen Scholem seine Geschichte der Kabbala aufbaute,
gerieten trotz des explosionsartig angewachsenen Materials und trotz
der Vielzahl der Publikationen, in denen der Versuch einer Neuinter-
pretation unternommen wurde, nicht ins Wanken.

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442 Nachwort

III

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist die Hoffnung auf Neuent-


deckungen zur spirituellen Welt des antiken Judentums immer geringer
geworden. Auf diesem Hintergrund muß Ursprung und Anfänge heute
unter anderen Vorzeichen gelesen werden als vor vierzig Jahren. Die
Ergebnisse der Untersuchungen Scholems zur frühen Kabbala erschie-
nen zu einem Zeitpunkt, als die ersten Publikationen von Texten und
Studien zu den Schriften vom Toten Meer herauskamen, in einer Atmo-
sphäre von sich scheinbar grenzenlos ausdehnenden neuen Horizon-
ten, die neue Zugänge zur jüdischen Spiritualität der Antike erschlos-
sen und die offenbar auch eine Neuinterpretation der Beziehung zwi-
schen Judentum und frühem Christentum nahelegten. Ungefähr zur
selben Zeit wurde bekannt, daß eine Bibliothek mit antiken Texten im
ägyptischen Nag Hammadi entdeckt wurde, in der sich möglicherweise
Originaltexte der gnostischen Literatur erhalten hätten, die neues
Licht auf das Wesen und die Vorstellungen der antiken gnostischen
Sekten werfen könnten. Diese und andere Entdeckungen ließen For-
scher darauf hoffen, daß alles, was damals noch unbekannt war, sich
in der Zukunft klären würde. Alles, was heute nur als Vermutung,
ungestützt durch Textbeweise, geäußert werden kann, würde morgen
im Lichte der gerade erst entdeckten, oder bald zu entdeckenden, bis-
lang verborgenen Texte zu beweisen sein. Es herrschte eine Atmo-
sphäre von wissenschaftlichem Optimismus, der Forscher darin be-
stärkte, gewagte Ideen und Interpretationen zu formulieren, in dem
Glauben, daß die Zukunft in Fällen, in denen das entsprechende Mate-
rial noch nicht vorliegt, weitere Beweise offenbaren werde.
Diese Stimmung wirkte sich allem Anschein nach auf Scholems
Behandlung eines zentralen Aspekts seiner Untersuchung aus: die Ur-
sprünge des Buches Bahir, des ersten kabbalistischen Buches, das in
seiner heutigen Form im letzten oder vorletzten Jahrzehnt des zwölften
Jahrhunderts verfaßt wurde (die Zeit um 1185 ist aufgrund textimma-
nenter, sprachlicher Anhaltspunkte als wahrscheinliches Entstehungs-
datum anzusehen). Die Ideen und Konzepte, die in diesem Buch zum
ersten Mal vorkommen, sind die Essenz der Kabbala: die zehn gött-
lichen Wesenheiten, die zusammen die göttliche „Gesamtheit" (Ple-
roma) ergeben; die sexuelle Dualität innerhalb der göttlichen Welt -
die Darstellung der Shekhina als weibliches Gegenstück zu den männ-
lichen Kräften innerhalb der Gottheit; die Beschreibung der göttlichen
Welt als Baum, der von oben nach unten gepflanzt ist, seine Wurzeln
tief in der göttlichen Ewigkeit hat und dessen Zweige sich zur weltli-
chen Existenz hin ausbreiten; und die Radikalisierung des Konzeptes
des Bösen in der göttlichen Welt. Ursprung, Quelle und Datierung
dieser Vorstellungen sind gleichzeitig Ursprung, Quelle und Datierung

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Nachwort 443

der Kabbala. Scholem beschrieb das Buch Bahir sehr detailliert als
eine Kompilation von Quellen, die aus verschiedenen Epochen und
kulturellen Kontexten stammen, beispielsweise dem arabisch-spani-
schen, und vertrat die Ansicht, daß viele dieser Ideen und Texte antike
jüdische Traditionen widerspiegeln, die sich über Jahrhunderte hinweg
weiterentwickelt und herausgebildet hatten. Er betonte die gnostische
Natur vieler, wenn nicht sogar aller dieser Ideen und nahm an, daß
bereits die Quellen des Bahir stark gnostisch beeinflußt waren. Scho-
lems Ausführungen lassen offen, ob es sich bei diesen gnostischen
Quellen um christliche oder jüdische handelte: Zu dieser Zeit war die
Vorstellung (an der einige Autoren immer noch festhalten) vorherr-
schend, daß der christliche Gnostizismus im Judentum entstanden war
und dort in verborgenen Quellen Verbreitung fand. Scholem legte sich
nicht fest, ob die gnostischen Elemente im Bahir auf den Einfluß von
antiken christlichen Sekten zurückgehen oder ob es eine immanent
jüdische Gnosis gab, die mündlich von Generation zu Generation wei-
tergegeben wurde und die Ende des zwölften Jahrhunderts im Buch
Bahir ihren schriftlichen Ausdruck fand. Diese Position konnte meiner
Meinung nach nur auf dem Hintergrund der allgemeinen, aufgrund
der Neuentdeckungen zu Judentum und antiker Gnosis vorherrschen-
den Stimmung eingenommen werden.
In den vergangenen Jahrzehnten hat dieser Optimismus nachgelas-
sen, und die Hoffnung, daß von Zeit zu Zeit eine dramatische Ent-
deckung unseren Kenntnissen über das antike Judentum, das frühe
Christentum oder die Gnosis Bedeutendes hinzufügen könnte, scheint
nicht mehr gerechtfertigt. Die Schriften vom Toten Meer warfen viel
mehr Fragen auf, als sie beantworteten, und die Beziehung zwischen
der Qumran-Sekte oder den Qumran-Sekten zum Judentum einerseits
und zum Christentum andererseits scheint komplexer denn je. Zweifel
wurden angemeldet am gnostischen Charakter vieler Traktate aus Nag
Hammadi, und die Idee von der Gnosis als „dritter Religion", wie sie
Hans Jonas, ein Kollege Scholems, formulierte, wird inzwischen von
vielen Forschern abgelehnt.15 Das Konzept einer „jüdischen Gnosis"
stellt sich zunehmend als problematisch dar. 16 Die Untersuchung spät-
antiker jüdischer Quellen profitierte in keiner Weise von der Suche
nach „gnostischen Elementen", und die Forschung ist heute immer
weniger bereit, sich darauf einzulassen. Gegenwärtige Untersuchungen
zu Talmud und Midrasch tendieren dazu, diese Terminologie zu ver-

15
Eine Zusammenfassung zum Problem der Gnosis bietet neuerdings Michael Allen
Williams, Rethinking „Gnosticism": An Argument for Dismantling a Dubious Category,
Princeton, N.J. (Princeton University Press) 1996.
16
Siehe zum Beispiel J. Dan, Jewish Gnosticism?, in: Jewish Studies Quarterly 2
(1995), S. 309-328.

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444 Nachwort

meiden, da sie nicht zu einem historischen Verständnis der Texte bei-


trug. Sogar die Literatur der antiken jüdischen Mystiker der talmudi-
schen Zeit, die Hekhalot- und Merkava-Literatur 17 , die Scholem im
Titel seiner 1960 erschienenen Monographie als „Jüdische Gnosis"
(Jewish Gnosticism) bezeichnete, wird heute eher mit Begriffen be-
schrieben, die zwischen dieser Literatur und „Gnosis" differenzieren,
statt ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. Immer weniger spricht für
Scholems Annahme, daß die frühe Kabbala viele ihrer Vorstellungen
und Symbole aus einer mündlichen, esoterisch-theologischen Tradition
entnahm, die möglicherweise gnostische Züge hatte.
Aufgrund dieser Erkenntnisse sind auch die Ideen, die zum ersten
Mal im Buch Bahir auftauchen und die charakteristisch für die Kab-
bala sind, in einem anderen historischen Kontext zu lesen. Ein nega-
tiver Befund kann niemals nachgewiesen werden. Es kann keinen end-
gültigen Beweis dafür geben, daß es eine mündliche Tradition oder
eine „jüdische Gnosis" nie gegeben hat. Jedenfalls erscheinen derartige
Hypothesen nicht hilfreich für ein Verständnis der Entstehung der
Kabbala im späten zwölften Jahrhundert. So wie die Dinge jetzt stehen
(sie könnten sich zwar jederzeit ändern, doch es ist eine Tatsache, daß
sie sich in den letzten fünfzig Jahren nicht geändert haben), kennen
wir keine antiken oder frühmittelalterlichen Quellen, auf welche die
neuen Ideen im Buch Bahir zurückgehen könnten. Wenn die Hoffnung
auf neue, dramatische Entdeckungen abnimmt, kann der Bahir nicht
mehr als Anthologie geheimer jüdischer Traditionen, von denen einige
bis in die Antike zurückgehen, gelesen werden, sondern ist vielmehr
als Produkt seiner eigenen Zeit und Umgebung, das heißt der Provence
oder Nordspaniens im ausgehenden zwölften Jahrhundert zu betrach-
ten. Es ist durchaus möglich, daß wir die Tautologie, die Scholem nie
in den Sinn kam, akzeptieren müssen, nämlich, daß der Autor des
Bahir der Autor des Bahir ist.18 Scholem betrachtete die Person, die
den Bahir in seiner gegenwärtigen Form redigierte, als Kompilator, als
jemanden, der Teile alter Traditionen zusammensetzte, und das noch
nicht einmal besonders gut. Angesichts der Tatsache, daß viele Jahr-
zehnte vergangen sind und keine Anhaltspunkte ans Licht gekommen
sind, die beweisen könnten, daß es solche alten Quellen tatsächlich
gab, müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß die Person,
die den Bahir, wie er uns heute vorliegt, verfaßte, dieselbe Person ist,

17
Siehe P. Schäfer, Der verborgene und offenbare Gott. Hauptthemen der frühen
jüdischen Mystik, Tübingen (J. C. B. Mohr [Paul Siebeck]) 1991; J. Dan, The Ancient
Jewish Mysticism, Tel Aviv ( M O D ) 1991; ders., Jewish Mysticism, Band I: Late Anti-
quity, Northvale, N.J. (Aronsons) 1998.
18
Siehe dazu ausführlicher J. Dan, Jewish Mysticism, Band II: The Middle Ages,
Northvale, N.J. (Aronson) 1998, S. X I V - L V I I .

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Nachwort 445

die die neuen Konzepte und Sichtweisen kreierte, die für dieses Werk
charakteristisch sind.
Das Buch Bahir stützt sich durchaus auf antike Quellen, allerdings
auf Quellen, die uns wohlbekannt sind: Sefer Yetzira, das antike „Buch
der Schöpfung" 19 , von dem der Autor des Bahir häufig Gebrauch
machte, das er jedoch auf neue, radikale Weise interpretierte; einige
Elemente der Hekhalot-Mystik, ebenfalls auf neue Art dargestellt,
sowie verwandte antike und frühmittelalterliche jüdisch-esoterische
Traditionen, die wir nachweisen können. 20 Wenn wir die Beziehung
zwischen dem Bahir und den uns bekannten Quellen untersuchen, wird
deutlich, daß wir einen radikalen Mystiker vor uns haben. Er griff
zwar auf einige Quellen als „Bausteine" zurück, aber der generelle Ein-
druck des Buches Bahir ist der eines originären Werkes. Das Buch
Bahir sollte als Produkt eines religiösen Erneuerers betrachtet werden,
eines kenntnisreichen mittelalterlichen jüdischen Mystikers, der ver-
schiedene Quellen benutzte, sie aber umformte, so daß sie seinen
neuen, revolutionären Konzepten der göttlichen Welt entsprachen. Die
mythische Vorstellung einer bisexuellen Gottheit, die aus einem Ple-
roma von männlichen und weiblichen göttlichen Hypostasen besteht
und als kosmischer Baum versinnbildlicht wird, entsprang dem Geist
eines großen jüdischen Mystikers, der seine Ideen in den kryptischen
Passagen des Buches Bahir im Stile eines Pseudo-Midrasch zum Aus-
druck brachte.

IV

Eine einschneidende Veränderung auf dem Gebiet der Philologie in


den letzten Jahrzehnten ist die kritische Einstellung zur Sprache, die
Zweifel an den Möglichkeiten der Forschung anmeldet, die „wahre"
oder „ursprüngliche" Bedeutung insbesondere von intellektuellen und
spirituellen Quellen zu erkennen. Im Hinblick auf das Wesen der

19
Zum Sefer Yetzira siehe J. Dan, The Language of Creation and Its Grammar, in:
Tradition und Translation. Festschrift für Carsten Colpe, herausgegeben von R. HafTke,
H. M. Haussig und anderen, Berlin - New York (Walter de Gruyter) 1994, S. 4 2 - 6 3 .
20
Der interessanten Frage nach der Beziehung zwischen einem beträchtlichen Teil
des Bahir (fast die gesamte erste Hälfte), der sich mit den Buchstaben des Alphabets
befaßt, und den antiken hebräischen Schriften, die sich mit der Interpretation der For-
men der hebräischen Buchstaben beschäftigen, wie beispielsweise das Alphabet des Rabbi
Aqiva und einige verwandte Texte, ging Scholem nicht nach. Es liegt auf der Hand, daß
der Autor des Bahir zwar von diesen Texten beeinflußt war, den alten Vorstellungen
jedoch nicht folgte. Er entwickelte eine eigene, neue Sprachtheorie, die in keinem direk-
ten Bezug zu den alten Traditionen steht.

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446 Nachwort

Sprache und den Glauben an ihre kommunikative Macht hatte Scho-


lem sich zeit seines Lebens den Überzeugungen verschrieben, die durch
die Philologie im neunzehnten Jahrhundert aufkamen. Das kabbalisti-
sche Sprachkonzept kam Scholems eigenem Konzept sehr nahe. 21 Dies
zeigt sich am deutlichsten in seiner Darstellung der kabbalistischen
Symbolik, die hauptsächlich auf den klassischen Definitionen Goethes
basiert.21 Da er sich mit mystischen Texten beschäftigte, war Scholem
sich natürlich des von ihm immer wieder betonten Umstandes bewußt,
daß die Mystiker ihre Erfahrungen nicht so beschrieben und beschrei-
ben konnten, wie sie sie wirklich erlebt hatten. Die Brücke zwischen
der übergeordneten, versteckten, meta-sprachlichen Wahrheit und der
Begrißlichkeit der mystischen Sprache ist das Symbol, das Scholem
als Blick auf die Wahrheit durch ein opakes Glas beschrieb, wobei das
Symbol die Punkte darstellt, die nur unvollständig und verschwommen
dahinter wahrgenommen werden können. Das Symbol ist die größt-
mögliche Annäherung an etwas, das durch die Sprache niemals aus-
gedrückt werden kann. 23
Dieses Konzept der kabbalistischen Texte und Symbole war sehr
einflußreich, es wurde praktisch von allen Forschern auf diesem Gebiet
(viele Jahre auch von mir selbst) übernommen und bildet in zahl-
reichen Büchern noch immer die Grundlage für das Verständnis der

21
Scholems wichtigster Beitrag zur Sprachtheorie ist sein Eranos-Vortrag „Der
Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala" (Eranos-Jahrbücher 39 [1970], S.
243-299; siehe auch Scholems Judaica 3, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main
1970, S. 7 - 7 0 ) . Die englische Übersetzung (Diogenes, Bd. 7 9 - 8 0 , 1972) ist ungenau
und enthält viele Fehler; eine neue englische Fassung wird von Dr. Eric Jacobson vorbe-
reitet. Eine sorgfaltige Lektüre dieses umfangreichen Aufsatzes läßt erkennen, daß die
meisten Quellen und Analysen eher Scholems Arbeiten der dreißiger denn der sechziger
Jahre widerspiegeln. Vermutlich griff Scholem auf Notizen zurück, die er bereits Jahr-
zehnte zuvor erstellt hatte und die er in seinem Vortrag fast unverändert übernahm.
Das von Scholem in diesem Vortrag beschriebene Sprachkonzept der Kabbala gleicht
in vielerlei Hinsicht den Anschauungen, die in der deutschen Philosophie der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorherrschten. Siehe dazu auch J. Dan, The Name
of God, the Name of the Rose and the Concept of Language in Jewish Mysticism, in:
Medieval Encounters 2 (1996), S. 228-248.
22
Siehe dazu ausführlicher J. Dan, Gershom Scholem and the Mystical Dimension
of Jewish History, New York (New York University Press) 1987, S. 157-173.
23
Scholem verfaßte zu diesem Thema einen knappen, sehr persönlich gehaltenen
Aufsatz mit dem Titel „Zehn unhistorische Sätze über Kabbala", zuerst erschienen in:
Geist und Werk. Zum 75. Geburtstag von Dr. Daniel Brody, Zürich 1958, S. 209-215
[wiederabgedruckt in Scholems Judaica 3, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main
1970, S. 264-271]. Von allen seinen Schriften kommt Scholem in diesem Aufsatz einer
Definition seiner eigenen Haltung zur kabbalistischen Weltsicht am nächsten. Scholems
hebräische Version, zusammen mit einer ausführlichen Untersuchung, habe ich ver-
öiTentlicht in: Jerusalem Studies in Jewish Thought 5 (1986), S. 363-385.

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Nachwort 447

jüdischen Mystik. Dennoch scheint es heute nicht länger tragfähig zu


sein. Diese Theorie basiert auf der Hypothese, daß der Forscher, der
einen mystischen und speziell einen kabbalistischen Text liest, zwischen
„Sprache" und „Symbol" unterscheiden kann: Als „Sprache" gilt der
verständliche Teil dieser Texte, unter „Symbolik" ist eine Reihe von
nur aus der Ferne wahrnehmbaren, fragmentarischen und unpräzisen
Hinweisen auf etwas, das niemals vollständig einsehbar sein wird, zu
verstehen. Um diese beiden unterschiedlichen Textschichten ausma-
chen zu können, die „wörtlich" zu nehmende und die „symbolische",
müßte der Leser allerdings Zugang zur vollen Wahrheit haben, um
dann beurteilen zu können, welcher Teil der Wahrheit wörtlich und
direkt zum Ausdruck gebracht und welcher Teil unter dem Schleier
der Symbolik verhüllt wurde. Demzufolge müßte der Leser einen dem
Verfasser noch überlegenen Einblick in die hinter den Texten stehende
Wahrheit haben. Das kann heutzutage nicht mehr akzeptiert werden,
derartige Vorstellungen sind erfolgreich von allen zeitgenössischen
Schulen, allen voran von den Dekonstruktivisten und der Postmo-
derne, angegriffen und für unhaltbar erklärt worden. Sprache wird
heute als gänzlich symbolisch verstanden, jeder Text ist nur fragmenta-
rischer Ausdruck seiner eigenen Botschaft, offen für unterschiedliche
Interpretationen. Der Historiker kann untersuchen, wie ein bestimm-
ter Text von unterschiedlichen Lesern zu unterschiedlichen Zeiten ver-
standen wurde, aber er kann niemals behaupten, die wahre, eigentliche
Intention des Autors erkannt zu haben. 24
Diese radikale Veränderung im Umgang mit der Sprache von Quel-
len schmälert jedoch in keiner Weise die Leistungen Scholems hinsicht-
lich der historisch-chronologischen Zusammenstellung von Texten und
der Erläuterung ihrer Grundideen. Nur sein häufiger Gebrauch des
Begriffs „Symbol" muß heute kritisch gelesen werden. Auch die kabba-
listische Sprachtheorie und die von den Kabbalisten eingenommene
Haltung zu Namen, und speziell zu den Gottesnamen, sollten im Licht
der in letzter Zeit auf diesem Gebiet gewonnenen Einsichten neu unter-
sucht werden.

Für die Beurteilung von Scholems methodologischer Vorgehensweise


ist auch die Beobachtung wichtig, daß er sich nur relativ ungern darauf
einließ, noch offene Fragen in seinem schriftlichen Werk zur Disposi-

24
Siehe J. Dan, In Quest for a Historical Definition of Mysticism: The Contingentai
Approach, in: Pharos - Studies in Spirituality 3 (1993), S. 5 8 - 9 0 .

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448 Nachwort

tion zu stellen. Als Lehrer unterteilte Gershom Scholem seine Arbeit in


zwei klar abgrenzbare Bereiche: In seinen Vorlesungen und Seminaren
stellte er die Ergebnisse seiner Forschungen vor. In Oberseminaren,
vor allem in den Sitzungen des Graduiertenkollegs, die bei ihm zu
Hause abgehalten wurden und die oft bis weit in die Nacht andauerten,
diskutierte er Fragen, die er für noch nicht geklärt hielt und auf die es
noch keine definitive Antwort gab. In diesen Seminaren saß Scholem
an seinem Schreibtisch, der Text lag aufgeschlagen vor ihm. Immer,
wenn ein Teilnehmer einen Vorschlag machte, den er für plausibel und
wichtig hielt, nahm er seinen Füller, tauchte ihn in die Tinte und ver-
merkte am Seitenrand die neue Interpretation. Für die Beurteilung von
Ursprung und Anfänge ist es von großer Bedeutung, daß die ersten
Oberseminare, die Scholem in der eben beschriebenen Weise abhielt,
erst stattfanden, nachdem er sein Manuskript bereits beim Verlag ein-
gereicht hatte. Dennoch waren die ersten beiden Jahre des Graduier-
tenseminars der Lektüre des Buches Bahir gewidmet; im dritten Jahr
beschäftigten wir uns mit den Schriften, die Rabbi Isaak dem Blinden,
dem großen Kabbalisten der provençalischen Schule, zugeschrieben
wurden. Diese beiden Themen nehmen mehr als die Hälfte von Ur-
sprung und Anfänge ein. Nachdem er also das Buch bereits geschrieben
hatte, und zur selben Zeit, als er diese Themen seinen Schülern in
einer Vorlesungsreihe präsentierte, hielt Scholem diese Fragen für noch
immer nicht „abgeschlossen". Er entschied sich, die Texte mit seinen
Studenten Satz für Satz aufs neue zu lesen und nach neuen Bedeu-
tungen und Interpretationen zu suchen. Als wir mit der Lektüre des
Buches Bahir begannen, nahmen wir an, daß wir ungefähr ein Drittel
der Abschnitte verstehen könnten. Als wir die Lektüre nach zwei Jah-
ren beendet hatten, mußten wir feststellen, daß wir genau genommen
höchstens ein Viertel dieses änigmatischen Werkes gemeistert hatten.
Diese selbstkritische Haltung fehlt in Scholems Vorlesungen und
Publikationen gänzlich. Bei der Lektüre von Ursprung und Anfänge
erhält man den Eindruck, daß es sich um das letzte Wort zu allen
angesprochenen Themen handelt. Wenn man das erste Drittel von Ur-
sprung und Anfänge liest, das der Untersuchung des Buches Bahir ge-
widmet ist, käme man nicht auf die Idee, daß Scholem den Bahir für
ein änigmatisches Werk hielt, das größtenteils unverständlich bleiben
wird. In dieser Hinsicht ist Scholems Darstellung irreführend, was si-
cherlich auf die Kultur, der Scholem angehörte, zurückzuführen ist,
nach der alles, was erklärt werden kann, einsichtig dargelegt werden
muß und Ungeklärtes einer zukünftigen Diskussion vorbehalten bleibt.
Im Gegensatz zu seinen Gepflogenheiten beim Lesen von Texten mit
seinen Studenten und Kollegen formulierte Scholem, wie gesagt, Fra-
gen, die er nicht beantworten konnte, nur selten schriftlich. Der Leser
von Ursprung und Anfänge kann daher, wenn erst einmal die Komple-

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Nachwort 449

xität des Themas und Scholems dichter Stil bewältigt sind, durchaus
den Eindruck erhalten, daß die Thematik des Buches leichter zu ver-
stehen sei, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Er wird nicht mit den
Fragen konfrontiert, die Scholem selbst für offen und verwirrend hielt.
Für diejenigen, die keinen Zugang zu den Quellentexten selbst haben
und sich bei ihrer Suche nach einem Verständnis der Geschichte der
Kabbala nur auf Ursprung und Anfänge verlassen, mag es so aussehen,
als ob die einzige Schwierigkeit, die sie noch von ihrem Ziel abhält,
darin besteht, daß sie Scholem verstehen müssen. Es gibt in der Tat
einen bestimmten Forschertyp auf dem Gebiet der Mystik, der die jüdi-
sche Mystik mit den Schriften von Gershom Scholem gleichsetzt und
sich ganz darauf beschränkt, Scholem zu verstehen. Es ist bedauerlich,
daß Scholem nicht deutlich genug darauf hinwies, wie komplex und
oft auch obskur dieses Thema bleibt, sogar wenn man seine Darstel-
lung der Dinge nachvollziehen kann. 25
In meinen eigenen Arbeiten habe ich versucht, statt der Haltung,
die sich in Scholems Schriften widerspiegelt, gerade die andere, die er
in seinen Seminaren zeigte, zu übernehmen. Ich habe mein Möglichstes
getan, die Probleme in all ihrer Vielschichtigkeit zu präsentieren, auch
dort, wo es keine definitive Antwort gibt. Eines dieser Probleme ist die
Frage nach der Beziehung zwischen den beiden „Helden", wenn man
sie so nennen darf, von Ursprung und Anfänge: dem Autor des Bahir
und Rabbi Isaak dem Blinden, dem wichtigsten Lehrer der Kabbala
in der Provence.
Scholem stellte die Geschichte der Kabbala als lineare Entwicklung
dar: Zuerst entstand das Buch Bahir, dann kamen die Kabbalisten der
Provence, die kabbalistische Schule von Gerona, die kastilischen
Kabbalisten und der Zohar-Kseis, und so fort, bis hin zur lurianischen
Kabbala im sechzehnten Jahrhundert, auf die der häretische Messia-
nismus der Sabbatianer und später der Chassidismus folgten. Dem
Leser zeigt sich die jüdische Mystik in Scholems Arbeiten als linearer
Entwicklungsprozeß vom späten zwölften Jahrhundert bis zur Gegen-
wart. Überraschenderweise entspricht diese Darstellung der Wirklich-

25
Scholems erster Schüler, Isaiah Tishby, nahm diesbezüglich eine noch radikalere
Haltung ein. In Unterrichtsstunden, in Seminaren stellte er Probleme dar, zu denen er
noch keine Lösung gefunden hatte. In seinen Schriften hingegen formulierte er seine
SchluBfolgerungen noch emphatischer und betonte noch stärker ihre letztendliche Gül-
tigkeit, als dies bei Scholem der Fall war. Am deutlichsten tritt dies in der Einleitung
zu Mishnat ha-Zohar sowie in den Kommentaren zu den in Tishbys ZoAar-Anthologie
enthaltenen Passagen zu Tage (Jerusalem [Mossad Bialik] 1949-1961; englische Über-
setzung: The Wisdom of the Zohar, 3 Bände, Oxford [Oxford University Press] 1989).
Tishbys kommentierte Anthologie ist bis heute das wichtigste und instruktivste Werk
zum Zohar. Auch hier erhält der Leser den Eindruck, daß dieser schwierige Text ver-
ständlicher scheint, als er es tatsächlich ist.

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450 Nachwort

keit, und auch jeder noch so kritische Forscher auf diesem Gebiet muß
zugeben, daß die Kabbalisten, die sich selbst als Traditionalisten sahen
(Kabbala bedeutet „Tradition"), in der Regel umsichtig die Schriften
ihrer Vorgänger studierten und ihren Anschauungen folgten, wobei sie
ihre eigenen Vorstellungen und Visionen der bereits existierenden kab-
balistischen Bibliothek hinzufügten. In dieser Hinsicht ist die sich über
acht Jahrhunderte erstreckende immense literarische Produktion der
Kabbalisten ziemlich genau in Schichten zu unterteilen, da jede Gene-
ration und Schule ihren eigenen, unverwechselbaren Beitrag zum an-
wachsenden Ganzen hinzufügte. Von diesem Prozeß sind lediglich die
Anfange ausgenommen, also genau der Zeitabschnitt, der in Ursprung
und Anfänge beschrieben wird.
In der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts erreichte die jüdi-
sche Philosophie ihren Höhepunkt. Gegen Ende dieses Jahrhunderts
schrieb Maimonides seinen Führer der Verwirrten, das grundlegende und
einflußreichste philosophische Werk, das er zwar auf Arabisch verfaßt
hatte, das aber schon zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ins He-
bräische übersetzt wurde. Die rationalistische Philosophie, besonders
nach der Übersetzung ihrer Hauptwerke aus dem Arabischen, wurde
zur dominanten religiösen Strömung im Judentum, die ihre Vormacht-
stellung bis ins fünfzehnte Jahrhundert beibehielt. Die wichtigste Vor-
stellung der philosophischen Richtung war die komplette und voll-
kommene Einheit Gottes, die als logische Notwendigkeit galt und den
Grundpfeiler des jüdischen Glaubens bildete. Bezeichnenderweise pro-
pagierten die Kreise der jüdischen Esoteriker und Mystiker genau zu
dem Zeitpunkt, als die philosophische Schule auf dem Höhepunkt
ihres kreativen und dynamischen Schaffens stand, eine ganz unter-
schiedliche Anschauung, indem sie die Gottheit als komplex und aus
mehreren Kräften bestehend schilderten, denen unterschiedliche Ei-
genschaften und Funktionen zukommen. Wären Maimonides diese
Lehren bekannt gewesen, er hätte sie als Häresien der schlimmsten
Sorte angesehen. Der Bahir ebenso wie Rabbi Isaak der Blinde sind
besonders herausragende Vertreter dieser neuen Entwicklung. Beide
beschreiben die göttliche Welt als ein Pleroma von zehn göttlichen
Kräften, und beide bedienen sich einer Terminologie, die sie dem aus
der Antike stammenden Sefer Yetzira, dem „Buch der Schöpfung",
entnahmen. Die Einzelheiten ihrer mystischen Vorstellung erhalten in
Ursprung und Anfänge eine ausführliche Untersuchung. Der Bahir und
Isaak der Blinde waren keine Ausnahmeerscheinungen: Wir wissen
von mindestens vier anderen Kreisen, von denen einer, der sogenannte
Iyyun-Kieis, auf den das „Buch der Kontemplation" (Sefer ha-Iyyun)
zurückgeht, wahrscheinlich in der Provence agierte (vgl. Scholems
Ausführungen oben S. 273-313). Drei andere Zirkel hatten ihre Zen-
tren in Deutschland, vor allem im Rheinland. In Ursprung und An-

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Nachwort 451

fange faßt Scholem sie unter der Bezeichnung Haside Ashkenaz bzw.
„deutsche Chassidim", die Frommen des mittelalterlichen Deutsch-
land, zusammen. Heute wissen wir, daß es sich um verschiedene,
voneinander unabhängige Schulen handelte, die die Schriften der je-
weils anderen Zirkel nicht kannten. In einer Vortragsreihe, die 1977
gedruckt wurde, habe ich versucht, diese insgesamt sechs Schulen un-
ter Hervorhebung ihrer jeweils unabhängigen Entwicklung zu charak-
terisieren.26
Das weitaus schwierigste Problem in diesem Zusammenhang ist eine
ganz einfache Frage: Kannte Rabbi Isaak der Blinde das Buch Bahir,
und sind seine Lehren, bis in die Formulierungen hinein, unter dem
Einfluß dieses Werkes entstanden? Davon ging Scholem in seiner Dar-
stellung eines linearen Entwicklungsprozesses der Kabbala offenbar
aus. Die Abhängigkeit Rabbi Isaaks vom Bahir liegt einerseits klar auf
der Hand: Bei ihm findet sich ein System von zehn göttlichen Hypo-
stasen, die zusammen das göttliche Pleroma ergeben, was den zehn
„Aussprüchen", aus denen sich der Gottesbaum im Bahir zusammen-
setzt, entspricht. Andererseits gibt es aber überraschend viele Unter-
schiede, insbesondere im Hinblick auf die zur Beschreibung des Plero-
mas verwendete Terminologie. Beide nehmen in starkem Ausmaß auf
das Sefer Yetzira Bezug, so daß ihnen eine bestimmte Gruppe von
Begriffen gemein ist. Die zentrale Bedeutung des antiken „Buches der
Schöpfung" ist aber nicht ausschließlich für diese beiden frühen kabba-
listischen Quellen charakteristisch, sondern auch für die anderen eso-
terischen und mystischen Kreise des späten zwölften und frühen drei-
zehnten Jahrhunderts. Sieht man von dieser gemeinsamen Quelle ab,
bestehen signifikante Unterschiede zwischen der Terminologie im Ba-
hir und der Rabbi Isaaks des Blinden. Ob diese Unterschiede auf ver-
schiedene Strömungen innerhalb einer Tradition zurückzuführen sind
oder ob sie vielmehr darauf verweisen, daß beide Autoren ihre Ideen
und Bilder aus ganz unterschiedlichen Quellen übernahmen, kann
letztendlich nicht geklärt werden. Wichtig ist in diesem Zusammen-
hang, daß Scholem diese Frage weder stellte noch beantwortete. Ver-
mutlich war er von einem linearen Entwicklungsprozeß der Kabbala
so überzeugt, daß er dieser Frage in seiner historischen Untersuchung
der Entstehungsgeschichte der Kabbala nicht weiter nachging. Daß
diese Frage entscheidend für die Datierung und das Verständnis der
Ursprünge der Kabbala ist, muß nicht eigens betont werden. Wenn
der Bahir und Rabbi Isaak der Blinde auf voneinander unabhängige

26
Siehe J. Dan, Early Kabbalistic Circles, Jerusalem (Akademon) 1977 [hebräisch];
siehe auch ders., Gershom Scholem and the Mystical Dimension of Jewish History, New
York (New York University Press) 1987, S. 1 8 6 - 1 8 7 .

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452 Nachwort

Quellen zurückgriffen, müssen wir die Anfänge der Kabbala ein oder
zwei Generationen vor dem Buch Bahir ansetzen und davon ausgehen,
daß es ältere Traditionen gibt, die bereits die Vorstellung von zehn
göttlichen Hypostasen kannten; einen direkten Beweis dafür gibt es
nicht.
Trotz dieser und anderer Fragen steht eines genauso fest wie vor
vierzig Jahren: Scholems einzigartiges Verdienst in der Zusammen-
stellung von Texten, Traditionen und Zitaten sowie von verstreuten
historischen und bibliographischen Belegen, aus denen er ein zusam-
menhängendes historisches Bild entwarf. In seiner kurzen Dankesrede,
die er anläßlich der Verleihung des Rothschild-Preises hielt und die
er mit der Überschrift „Der Stein, den die Bauleute verwarfen" 27 ver-
sah, sagte Scholem nicht ohne Stolz, er hätte Manuskripte, für die
sich niemand interessierte, zusammengetragen und daraus Geschichte
rekonstruiert. Das ist ihm in der Tat gelungen. Seit Scholem seine Ge-
schichte der Kabbala veröffentlichte, wächst mit der Zahl der ver-
gangenen Jahre auch die Ehrfurcht vor seiner außergewöhnlichen Lei-
stung.

27
Die Wendung spielt auf den Psalmvers „Der Stein, den die Bauleute verwarfen,
ist zum Eckstein geworden" an (Psalm 118,23). Scholems Rede wurde erstmals ver-
öffentlicht in: Molad 20 (1962), S. 135-137; englische Übersetzung in: Jerusalem Post
vom 27. 4. 1962. Zur selben Zeit, als Scholem seine Rede anläßlich der Preisverleihung
hielt, erschien Ursprung und Anfänge der Kabbala.

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