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2. Auflage
mit einem Geleitwort von
Ernst Ludwig Ehrlich
und einem Nachwort von
Joseph Dan
Solem, Gersôm:
Ursprung und Anfänge der Kabbala / von Gershom Scholem.
- 2. Aufl. / mit einem Geleitw. von Ernst Ludwig Ehrlich und
einem Nachw. von Joseph Dan. - Berlin ; New York : de Gruy-
ter, 2001
ISBN 3-11-017253-4
I. Das Problem
1. Die Lage der Forschung - Die Auffassungen von Graetz
und Neumark 1
2. Südfrankreich im 12. Jahrhundert. Die katharische Bewe-
gung — Das Judentum im Languedoc 9
3. Die vor-kabbalistische jüdische Geheimlehre über die Schöp-
fung und die Merkaba - Literatur der Hekhaloth und jüdi-
sche Gnosis 15
4. Das Buch der Schöpfung 20
5. Die ältesten Zeugnisse über das Auftreten der Kabbala und
das Erscheinen des Buches Bahir 29
Das vorliegende Buch enthält die Resultate von Studien, die ich vor
nunmehr 40 Jahren begonnen habe. Damals galt meine erste größere
Arbeit dem Buch Bahir, dem ältesten erhaltenen kabbalistischen Text.
Die Behandlung der aus dem Buch sich ergebenden Fragestellungen,
die ich damals in jugendlicher Vermessenheit in Aussicht stellte, hat
viele Jahre auf sich warten lassen und liegt in ihrer endgültigen Form
erst in diesem Buche vor. Zwar ist dies nicht der erste Versuch, das
Problem der Entstehung der Kabbala anzugreifen, den ich unternom-
men habe. Einen ersten Entwurf, wie sich mir das Problem und seine
Lösung darstellte, habe ich 1928 in meinem Aufsatz „Zur Frage der
Entstehung der Kabbala" im „Korrespondenzblatt des Vereins für die
Begründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums" vor-
getragen. Meine Studien über die kabbalistischen Handschriften der
älteren Periode, die ich viele Jahre fortgesetzt habe und die sich als
besonders fruchtbar erwiesen, führten dann eine weitere Klärung her-
bei, deren Resultate ich zuerst 1945 in einem hebräischen Buche nie-
dergelegt habe, das unter dem Titel Reschith ha-Kabbala in Jerusalem
1948 erschienen ist. Die wesentlichen Positionen, die ich damals be-
zogen habe, sind auch in der nun vorliegenden durchgreifenden und
den hebräischen Text um mehr als das Doppelte erweiternden Neube-
arbeitung beibehalten worden. Ich habe aber jetzt die Argumentation,
soweit es im Rahmen dieses Bandes möglich war, im Detail ausgeführt,
das wesentliche Material beschrieben und analysiert, so daß die Reli-
gionshistoriker sich ihr eigenes Urteil über die hier vorgetragene neue
Auffassung bilden können. Während ich kaum annehmen kann, daß
in den hebräischen Handschriften noch wesentliches weiteres Material
zum Vorschein kommen wird, das mir bei meiner Durchforschung die-
ser Literatur im Laufe von Jahrzehnten entgangen ist, hoffe ich, daß
auch über die hier entwickelte Auffassung des Problems und Inter-
pretation des Materials hinaus neue Gesichtspunkte die Diskussion
fruchtbar gestalten können. Nachdem einmal das Eis der Ignoranz
gebrochen und der Scharlatanismus, der auf diesem Gebiet sich nur
allzu lange breit gemacht hat, überwunden ist, liegt der Weg für wei-
tere Forschung offen. Die Wissenschaft vom Judentum, die orienta-
lische und abendländische Religionsgeschichte werden in gleichem
Maße von einer eindringenden Erforschung und Diskussion des Phä-
nomens der Kabbala Gewinn haben.
Der Abschluß dieses Werkes wurde mir dadurch wesentlich erleich-
tert, daß das Institute of Jewish Studies in London mir ein Research
Fellowship zur Verfügung stellte und mir dadurch die Möglichkeit bot,
mich 1961 einen großen Teil des Jahres auf diese Arbeit zu konzen-
trieren, wobei mir auch die Gastfreundschaft des Warburg Instituts in
London und seiner reichen Bibliothek zustatten kam. Dankbar ge-
denke ich auch der Notwendigkeit, die mich zwang, im Verlauf meiner
Vorlesungen an der Universität Jerusalem seit 1925 immer wieder mich
und meine Schüler mit dem hier behandelten Problem zu konfron-
tieren. Wenn dieses Buch mit einem gewissen Anspruch auf Reife auf-
treten darf, so verdankt es das dem immer erneuerten kritischen
Durchdenken dieser Fragen in akademischen Vorlesungen. In diesem
Sinne darf auch ich das alte Wort des talmudischen Weisen bestätigen,
der da sagte: von allen, die mich etwas zu lehren hatten, habe ich
gelernt, am meisten aber von meinen Schülern.
Jerusalem
The Hebrew University Gershom Scholem
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1
DAS PROBLEM
Die Frage nach dem Ursprung und den Anfängen der Kabbala, der
im 13. Jahrhundert scheinbar unvermittelt auftauchenden Form der
jüdischen Mystik und Theosophie, ist unbestritten eine der schwie-
rigsten Fragen der Religionsgeschichte des Judentums nach der Zer-
störung des Tempels. Ebenso unbestritten ist sie eine der wichtigsten.
Ist doch die Bedeutung, die die kabbalistische Bewegung im Judentum
gewonnen hat, so groß und ihr Einfluß zuzeiten so überwältigend ge-
wesen, daß die Frage nach dem spezifischen historischen Charakter
dieses Phänomens für das Verständnis dessen, was innerhalb des
Judentums religiös möglich war, von kardinaler Wichtigkeit scheint.
Mit Recht ist dem Problem daher von der Forschung große Aufmerk-
samkeit gewidmet worden, und es liegen die verschiedensten Versuche
zu seiner Lösung vor. Die Schwierigkeit beruht dabei nicht nur auf
den Vorurteilen, aus denen heraus viele Gelehrte an das Problem her-
angetreten sind, obwohl solchen Vorurteilen kein geringer Anteil an
der hier herrschenden Verwirrung zukommt, sei es, daß apologetische
Motive, sei es, daß ausgesprochen feindselige Haltung dabei im Spiele
waren.
Es sind vornehmlich zwei Umstände, die die Forschung auf diesem
Gebiet besonders erschwert haben. Vor allem sind die Originalquellen,
die ältesten kabbalistischen Texte, die geeignet sind, Licht auf die
Verhältnisse zu werfen, unter denen die Kabbala hervorgetreten ist,
keineswegs genügend erforscht. Das ist nicht verwunderlich: sie ent-
halten so gut wie gar keine historischen Berichte über Vorgänge, die
die Atmosphäre, in der die Kabbala entstanden ist, oder ihren Ur-
sprung in direkten Zeugnissen und unmittelbar aufzuhellen imstande
wären. So weit solche Berichte hier vorliegen, haben wir es meistens
mit pseudepigraphischen Erzählungen und Erdichtungen zu tun.
Dieser Armut an historischen Urkunden steht nun nicht etwa ein
großer Reichtum an ausführlichen mystischen Texten gegenüber,
deren Analyse dem Religionshistoriker die Arbeit erleichtern könnte.
Vielmehr findet er sich hier vor nur fragmentarisch erhaltenen Texten,
Scholem, Kabbala ι
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2 Das Problem
1
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4 Das Problem
4 Grätz trug seine Anschauung zuerst 1862 in Note 3 zum 7. Band seiner Geschichte
der Juden vor, vgl. in der 4. Auflage, Leipzig 1908, S. 385—402: „Ursprung der
Kabbala".
* Vgl. dazu Die jüdische Mystik, S. 68—72, sowie hier unten in § 3 dieses Kapitels.
• Grätz, Bd. 7, S. 401.
7
Band I, Berlin 1907, S. 179—236. In der hebräischen Ausgabe seines Werkes,
New York 1921, S. 166—354 hat Neumark das Kapitel „Die Kabbala" um mehr als
das Doppelte erweitert, das somit eine der ausführlichsten Monographien über die alte
Kabbala bis zum Zohar hin geworden ist, freilich auch eine der irreführendsten. Ein
auf phantastische Grundvoraussetzungen sich beziehender spielerischer, aber unge-
meiner Scharfsinn verbindet sich hier mit einem erstaunlichen Mangel an gesundem
Urteil und historischer Kritik, aber auch mit nicht weniger erstaunlichen gelegentlichen
tiefgründigen Einsichten, die hier und da aus einer völlig unhaltbaren Methode heraus-
springen. Pathetisches Geschwätz verbindet sich mit einem Xiefblick, der dem Autor
keineswegs abging. An vielen Stellen hat er den Wortsinn der kabbalistischen Texte
sowie entscheidende Punkte der kabbalistischen Symbolik völlig mißverstanden, und
auch wo das nicht der Fall ist, schwelgt er in gewaltsamen Deutungen und der Her-
stellung philosophischer Beziehungen, von denen der kritische Leser in den Texten
nichts entdecken kann. Es scheint mir aber nicht undenkbar, daß ein künftiger Ratio-
nalist, der mehr über die von Neumark mit so viel Willkür behandelten Texte weiß
und deren Symbolik besser versteht, die dialektische und an sich fruchtbare Möglich-
keiten enthaltende Betrachtungsweise Neumarks mit größerem Erfolge und in besserer
Übereinstimmung mit Anforderungen und Ergebnissen philologischer Kritik wieder
aufnehmen könnte.
• Vor allem haben in den letzten Jahren die sehr wertvollen Studien von Georges
Vajda (Paris) über manche solcher Strömungen und Gestalten, in denen sich zwischen 1270
und 1370 philosophische und kabbalistische Tendenzen begegnen, verbinden oder aus-
einandersetzen, viel Licht verbreitet. Vgl. vor allem seine Studien, Juda ben Nissim
ibn Malka, philosophe juif marocain, Paris 1954; „La conciliation de la philosophie et
de la loi religieuse". . . de Joseph ben Abraham ibn Waqâr, in Sefarad Bd. I X und X
(1949—1950), sowie seine Arbeiten in der Revue des Études Juives und den Archives
d'histoire doctrinale et littéraire du moyen age von 1954—1961.
1 0 Neumark wurde durch Jellinek irregeführt, der diese kleine Schrift ganz grundlos
dem Jakob Nazir zuschrieb, vgl. meinen Artikel über diesen Traktat in der Enzy-
clopaedia Judaica III, Sp. 801—803. Der Traktat ist zweifellos erst nach dem Zohar
verfaßt worden.
und Übersetzung eines Teiles von Abrahams Werk ist in Baltimore 1927 und 1938
erschienen.
13
L. J. Newman, Jewish Influence on Early Christian Reform Movements, New
York 1925, S. 131—207: „Jewish Influence on the Catharist Heresy", hat über die
Beteiligung von Juden an der katharischen Bewegung oder ihren Einfluß auf die
Katharer weitgehende Behauptungen aufgestellt, die der Nachprüfung kaum stand-
halten, vgl. Borst, S. 99, 105, 125. Newmans Ausführungen über Kabbala und katha-
rische Lehre, S. 175—185, sind leider ganz irrelevant. Zur Frage der Passagianer, einer
judenchristlichen Sekte, die von manchen (irrigerweise) zu den Katharern gerechnet
werden, vgl. die Literatur bei Borst, S. 112.
14
Vgl. Newman, S. 140, aus Lucas von Tuy, Adversus Albigenses, Ingolstadt 1612,
S. 189—190.
15
Jean Guiraud, Histoire de l'Inquisition au moyen age, Bd. I (Cathares et Vaudois),
Paris 1935. Zur Frage der Zusammenhänge zwischen dem asketischen Katharismus
und der weltlichen Kultur zur Zeit der provençalischen Hochblüte vgl. die Literatur-
nachweise bei Borst, S. 107—108, der von einem „wirren Geflecht von bogomilischer
Lehre und abendländischem Leben" spricht.
Hier müssen wir auch die Frage aufwerfen, welches der Zustand der
jüdischen Esoterik und Mystik vor dem Erscheinen der Kabbala auf
der historischen Bildfläche war. Es wurden schon oben die alten kosmo-
gonischen und thronmystischen Spekulationen der Talmudisten er-
wähnt, und es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, was von diesen
Traditionen der jüdischen Überlieferung des 12. Jahrhunderts noch
bekannt war und welche literarischen oder unmittelbaren mündlichen
Quellen für ihre Kenntnis damals zur Verfügung standen ? Denn so
groß, wie schon gesagt, der Abstand zwischen diesen alten Vor-
stellungen und der Kabbala ist, trat sie ja jedenfalls mit dem Anspruch
hervor, nicht nur die Gegenstände dieser alten Geheimlehren über die
Schöpfung und die Merkaba in rechtmäßiger Fortsetzung der alten
Lehren zu behandlen, sondern geradezu selber den Gehalt jener alten
Lehren darzustellen.
Auch in diesen Fragen hat die Forschung in der letzten Generation
wesentliche Fortschritte gemacht. Bis vor vierzig Jahren nahmen —
mit der notablen Ausnahme von Moses Gaster — die meisten Forscher
an, daß wir hier mit zwei ganz verschiedenen Entwicklungsstufen zu
rechnen haben. Einerseits existieren zwischen dem ersten und dritten
Jahrhundert vor allem in den Kreisen der Talmudisten jene zwei von der
Mischna in Hagiga II, 1 bezeugten Geheimlehren über die Schöpfung,
Bereschith, und über den Thronwagen in Ezechiel I, die Merkaba, über
die wir an einigen Stellen der talmudischen Literatur und in alten
Midraschim einige verstreute und fragmentarische, großenteils auch
unverständliche Nachrichten haben17. Diese Überlieferungen seien
17
Viel Material, keineswegs alles, ist gesammelt etwa bei Strack und Billerbeck,
Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, siebe die Stellennach-
Scbolcm, Kabbala 2
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18 Das Problem
22
Wilhelm Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, Leipzig 1897.
28
Vgl. R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, New York 1969, der diese
Beziehungen stark betont und gegenüber allzu hypothesenfreudigen Annahmen
direkter heidnischer Einflüsse herausgehoben hat.
Gestalt auf dem Thron als die des Weltschöpfers, Joser Bereschith, von
dessen kosmischem Mantel, von dem hier mehrfach die Rede ist, die
Gestirne und Firmamente ausstrahlen24. Aber diese Vorstellung des
Demiurgen ist hier durchaus monotheistisch gefaßt und entbehrt
völlig des häretischen und antinomistischen Charakters, den sie ange-
nommen hat, als der Schöpfergott dem wahren Gott entgegengestellt
wurde. Der Thron Gottes ist hier in jüdischer Terminologie die Heimat
der Seele; bei ihm endet der Aufstieg des Ekstatikers. Die Welt der
Merkaba, in die er „hinabsteigt", ist eng verwandt mit der Welt des
Pleroma der griechisch-gnostischen Texte. Nur treten hier an die Stelle
abstrakter Begriffe, die zu Äonen personifiziert werden, die Objekte
der Thronwelt, wie sie aus der Vision Ezechiels in diese Überlieferung
eingegangen sind. Zugleich bestehen zwischen diesen Texten der
Merkaba-Gnosis und der Welt der synkretistischen Magie der Zauber-
papyri unmittelbare Berührungen. Wir haben hebräische Merkaba-
Texte, die sich ganz lesen, als ob wir es mit einem der Zauberpapyri
zu tun haben25. Die Grenzen waren hier, mindestens im jüdischen
Bereich, nicht so scharf, wie sie von vielen der neueren Autoren über
die Gnosis für die Abgrenzung zwischen der christlichen Gnosis und
jener synkretistischen Magie statuiert werden.
Wir haben keinerlei Anhalt dafür, daß dieser gnostischen Theosophie
der Merkaba noch nach dem 3. Jahrhundert entscheidende schöpfe-
rische Antriebe zugekommen sind. Die produktive Entwicklung dieser
Vorstellungen hat sich offenbar, wie die Analyse der Hekhaloth-Texte
erweist, auf palästinensischem Boden abgespielt. Später treffen wir noch
hier und in Babylonien literarische Ausarbeitungen dieses älteren
Materials an, in denen sie teilweise auch eine Metamorphose in erbau-
lichen Lesestoff durchmachen. Aber nirgends begegnen uns hier neue
Gedanken. Die praktische Ausübung solcher Himmelsreisen der Seele
und „Merkaba-Schau", Sephijjath Merkaba, hat sich auch in der nach-
talmudischen Zeit erhalten, und noch aus dem 12. und 13. Jahrhundert
haben wir vereinzelte, keineswegs nur als Legenden aufzufassende Be-
richte über solche Praktiken aus Deutschland und Frankreich26. In
den Formen, die diesem alten Material mit allen möglichen späteren
Zusätzen im späten talmudischen und frühen nachtalmudischen Zeit-
alter gegeben wurden, gelangten sie als „Große Hekhaloth", „Kleine
Hekhaloth", „Schi'ur Qoma", „Buch der Merkaba" und unter anderen
Überschriften und in verschiedenen Fassungen zur Kenntnis des
27
So z u m Beispiel in den Handschriften, die a m A n f a n g des 12. Jhs. dem J e h u d a
ben Barzilai vorlagen, wie er in seinem K o m m e n t a r zum Buch Jesira, S. 101, bezeugt.
Auch in mehreren der aus Deutschland s t a m m e n d e n Handschriften des 13. u n d 14. Jhs.
sind die einzelnen P a r a p r a p h e n der „großen H e k h a l o t h " als Halakhoth bezeichnet.
48
So h a b e n wir in Ms. Oxford Heb. C 65 ein großes F r a g m e n t des Schi'ur Qoma, in
Ms. Sassoon 522 ein F r a g m e n t eines sehr alten u n b e k a n n t e n Merkaba-Midrasch und
eines Blattes des SchiKur Qoma. Ausschließlich aus der Geniza s t a m m e n auch die vor-
h a n d e n e n Reste der aus dem 4. J h . kommenden „Visionen Ezechiels", Re'ijjoth Jehezqel,
über die ich in J . G., S. 44—47, berichtet habe. Am Anfang des 12. Jhs. k o n n t e m a n
bei einem Kairoer Buchhändler, dessen Katalog uns durch die Geniza teilweise erhalten
geblieben ist, auch mystische u n d theurgische Texte kaufen, vgl. den T e x t in E l k a n
Adler, About H e b r e w Manuscripts, Oxford 1905, S. 40 (Nr. 82 u n d 83). Die meisten
der erhaltenen Handschriften dieser Literatur s t a m m e n aber aus Italien u n d Deutsch-
land.
29
Diese Schriften werden in den Responsen der Geonim, der babylonischen Schul-
h ä u p t e r , sowie in rabbinischen und philosophischen Schriften des f r ü h e n Mittelalters
öfters zitiert u n d von den Qaräern m i t Vorliebe zur Zielscheibe ihrer Angriffe gemacht,
ohne d a ß die rabbinischen Apologeten sie etwa abgeschüttelt h ä t t e n . D a s wichtigste
gaonäische Material über die Merkaba-Traditionen und dergleichen ist von B e n j a m i n
M. Lewin zusammengestellt worden, Otzar ha-Geonim, Thesaurus of t h e Gaonic Respon-
sa a n d Commentaries, Vol. IV, Fase. 2, Chagiga, Jerusalem 1931 S. 10—27, 53—62.
30
Die ältere Literatur über das Buch der Schöpfung ist in den Artikeln von L. Ginz-
berg, Yezirah, Jewish Encyclopedia XII (1906), S. 602—606, und G. Scholem, Jezira,
Encyclopaedia Judaica I X (1932), Sp. 104—111 zusammengestellt. Dazu kommen noch
Α. M. Habermann: 'Abhanim le-Heqer Sepher Jesira, Sinai Bd. X , Jerusalem 1947,
sowie Leo Baeck, Sefer Jezira, Aus drei Jahrtausenden, Tübingen 1958, S. 256—271;
Georges Vajda, Le commentaire kairouanais sur le „Livre de la Création", R. É. J.
nouvelle série, Bd. VII, S. 7—62, Bd. X S. 67—92, Bd. X I I S. 7—33, Bd. X I I I S. 37—
61 (1947—1954).
31
Der Titel Hilkhoth Jesira ist bei Saadia und Jehuda ben Barzilai bezeugt. Den
ältesten bisher erhaltenen handschriftlichen Text hat Habermann aus einer Geniza-
Handschrift des 10. Jhs. veröffentlicht. Die von Saadia in seinem arabischen
Kommentar, ed. Mayer Lambert, Paris 1891, zu Grunde gelegte Fassung weicht von
der der meisten späteren Texte nicht unwesentlich ab. Die Erstausgabe, Mantua 1562,
enthält die zwei wichtigsten Recensionen. Eine kritische Bearbeitung des Textes ist
ein sehr schwieriges Desideratum der Forschung. Der sogenannte „kritisch redigierte
Text" der Ausgabe und Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt 1894, ist
ganz willkürlich zusammengestoppelt und wissenschaftlich wertlos.
32
So z. B. bei S. Karppe, Étude sur les origines et la nature du Zohar, Paris 1901,
S. 164.
33
Phineas Mordell, The Origin of Letters and Numerals according to the Sefer
Yetzirah, Philadelphia 1914.
Sophia her. „In 32 wunderbaren Wegen der Weisheit 34 hat Gott... [hier
folgt eine Reihe biblischer Epitheta für Gott] seine Welt eingegraben
und geschaffen." Diese 32 Wege der Sophia sind die im ersten Kapitel
besprochenen zehn Urzahlen und die 22 Konsonanten des hebräischen
Alphabets, die in Kapitel II im allgemeinen und in den weiteren Ka-
piteln im speziellen in ihrer Bedeutung als Elemente und Bausteine
des Kosmos dargestellt werden. Die „Wege der Sophia" sind also
Grundkräfte, die von ihr ausgehen oder in denen sie sich darstellt. Sie
sind, wie in der alten Vorstellung die Sophia selbst, die Instrumente
der Schöpfung. In sie oder durch sie — die hebräische Präposition ver-
trägt beide Ubersetzungen — hat Gott, also der Herr dèr Sophia, die
Schöpfung „eingegraben". Die Symbolik der Zahl 32 kehrt auch in
manchen christlich-gnostischen Vorstellungen wieder 35 , scheint aber
in diesem Text zuerst und auf die natürlichste Weise begründet zu sein.
Die zehn Urzahlen heißen mit einem hier neugebildeten hebräischen
Wort Sephiroth, was keineswegs mit dem griechischen Wort sphaira
zusammenhängt, sondern von dem hebräischen Verbum für zählen
abgeleitet ist. Durch die Einführung eines neuen Terminus, Sephira
statt des üblichen Mispar, scheint der Autor anzudeuten, daß es sich
nicht einfach um die gewöhnlichen Zahlen, sondern um die Zahlen als
metaphysische Weltprinzipien oder Schöpfungsstufen handelt. Daß es
sich hier etwa um Emanationen aus Gott selbst handelt, ist durch den
Wortlaut und Zusammenhang des Textes eher ausgeschlossen und
konnte erst durch spätere Umdeutung in ihn hineingelesen werden.
Jeder dieser Urzahlen ist eine bestimmte Schöpfungs-Kategorie zu-
geordnet, wobei die ersten vier Sephiroth zweifellos auseinander ema-
nieren. Die erste ist das Pneuma des lebendigen Gottes, Ruah, 'Elohim
hajim, wobei der Autor die mehrschichtige Bedeutung von Ruah als
Hauch, Luft und Geist auch weiterhin benutzt. Aus ihm geht ge-
wissermaßen als Verdichtung der „Hauch vom Hauche", das heißt
das Urelement der Luft hervor, das in den späteren Kapiteln mit dem
Äther identifiziert wird, der sich in stofflichen und unstofflichen Äther
teilt. Der Begriff eines „unstofflichen Äthers", 'Awir sche'eno nithpass,
scheint wie andere hebräische Neologismen des Buches deutlich auf
34
Nethibhoth Pil'olh Hokhma. Nethibhoth der Weisheit kennt Prov. 3 17. Hier
aber gibt es nun Wege der „Mysterien der Hokhma", oder „mysteriöse Wege der
Hokhma" — beide Übersetzungen lassen sich verteidigen. Mit dem Sprachgebrauch
der Qumrän-Schriften hängt Jesira übrigens nicht zusammen. Die Wortverbindung
Pil'oth Hokhma oder Raze Hokhma findet sich in den bisher bekannt gewordenen
Texten nicht.
35
Vgl. das Brautlied der Sophia bei Preuschen, Zwei gnostische Hymnen, Gießen
1904, S. 10. Preuschen sagt S. 41: „So fehlt die Möglichkeit, die Zahl zweiunddreißig
zu deuten, für die sich keine Parallele finden läßt". Ich komme unten S. 8 l und 85
auf diese Zahl in der Brautmystik des Buches Bahir zurück.
36
Der Autor verbindet hier also Lehren oder Deutungen über beide esoterische
Disziplinen, Bereschith und Merkaba.
37
Aus Ez. 1 14 stammt sowohl dies Bild ke-Mar'eh ha-Bazaq wie auch das gleich
dahinter benutzte, offenbar spekulativ umgedeutete raso' wa-schobh.
38
Vermutlich hat Tiefe hier den Sinn von „sich in die Tiefe erstrecken", Dimension.
Es könnte aber auch „verborgene Tiefe" bedeuten (vgl. Daniel 2 22), oder vielleicht
auch „tiefe Grundlage, Prinzip". Der Ausdruck: „Tiefe des Guten und Tiefe des Bösen"
würde nur in sehr übertragener Weise zur Bedeutung Dimension passen. Bei der „Tiefe
des Bösen" könnte man auch an die „Tiefen des Satans" in der Johannes-Apokalypse
2 24 denken
Die Tatsache, daß die Theorie des zweiten Kapitels von der Be-
deutung der 22 Konsonanten als der Grundelemente aller Kreatur 39
sich mehrfach mit der Theorie des ersten Kapitels überschneidet40,
hat mehrere Forscher (so ζ. B. Louis Ginzberg) dazu veranlaßt, dem
Autor die Vorstellung einer Art doppelter Schöpfung zuzuschreiben.
Es gäbe dann eine ideale Schöpfung durch die abstrakt gedachten
Sephiroth und eine reale durch die Verbindung der Elemente der
Sprache. Das dunkle Beiwort belima, Verschlossenheit, das der Autor
den Sephiroth gibt — er spricht nie von Sephiroth allein, sondern stets
von Sephiroth belima — wird von manchen als Kompositum aus beli
ma, „ohne was", ohne Realität, also im Sinne von ideell aufgefaßt.
Der Wortlaut scheint aber mehr für die Bedeutung verschlossen, „in
sich abgeschlossen" zu sprechen. Ich möchte vermuten, daß auch hier
ein noch nicht identifizierter griechischer Terminus zugrunde liegt.
Eine deutliche Darlegung über das Verhältnis der Sephiroth zu den
Buchstaben fehlt vollständig in diesen Kapiteln, die die Sephiroth
weiterhin gar nicht mehr erwähnen. Während die zahlenmystische
Spekulation über die Sephiroth vermutlich neupythagoräische Quellen
haben dürfte — der berühmte Zahlensymboliker Nikomachos aus
Gerasa (um 140) stammte aus dem Ostjordanland —, läßt sich die
Vorstellung von „Buchstaben, aus denen Himmel und Erde erschaffen
worden sind", durchaus innerjüdisch verstehen. In der ersten Hälfte
des 3. Jahrhunderts findet sie sich bei dem aus Palästina gekommenen
babylonischen Amoräer Rabh 41 . Es ist durchaus denkbar, daß in der
Lehre des Autors von den 32 Wegen zwei ursprünglich verschiedene
Theorien ineinander gearbeitet oder nebeneinander gestellt worden
sind. Ins 2. oder 3. Jahrhundert und nach Palästina oder seine nächste
Umgebung würde diese Vorstellungswelt durchaus passen42.
39 E r spricht von 'Othijjoth Jessod, wobei jedes der Substantiva eine der zwei
Bedeutungen des griechischen sioicheia wiedergibt, das sowohl Buchstabe als auch
Element bezeichnet.
40 Vgl. dazu Neumark I, S. 115.
41 Berakhoth 55a, vgl. J . G., S. 78—79.
4 2 Sprachlich liegen keine zwingenden Indizien vor, das Buch später anzusetzen.
Feuer, aus denen alles Weitere hervorging, aber auch die drei Jahres-
zeiten (wiederum eine altgriechische Einteilung!) sowie die drei Teile
des Körpers, Kopf, Brust und Bauch4®. Die zweite Gruppe bilden die
sieben „Doppelkonsonanten", die in der hebräischen Phonologie des
Autors eine doppelte Aussprache besitzen47. Ihnen entsprechen u. a.
die sieben Planeten, die sieben Himmel, die sieben Wochentage und
die sieben Öffnungen des Körpers. Zugleich stellen sie aber auch die
Urbilder der sieben fundamentalen Gegensätze des menschlichen
Lebens dar : Leben und Tod, Friede und Unheil, Weisheit und Torheit,
Reichtum und Armut, Anmut und Häßlichkeit, Aussaat und Ver-
wüstung, Herrschaft und Knechtschaft. Ihnen entsprechen auch die
sechs Himmelsrichtungen und der Tempel im Zentrum der Welt, der
sie alle trägt (IV, 1—4). Die übrig bleibenden zwölf „einfachen" Kon-
sonanten entsprechen den zwölf Haupttätigkeiten des Menschen, den
Bildern des Tierkreises48, den zwölf Monaten und den zwölf Haupt-
organen („Führern") im menschlichen Körper. Die Kombinationen
all dieser Elemente enthalten die Wurzeln aller Dinge, und Gut und
Böse, „Lust und Schaden" ('Oneg und Nega', die die gleichen Konso-
santen haben), entstammen demselben Prozeß, nur in anderer An-
ordnung der Elemente (II, 4).
Es ist klar, daß von dieser sprachmystischen Kosmogonie und
Kosmologie, die noch so deutliche Beziehungen zu astrologischen Vor-
stellungen verrät, enge Linien zu der magischen Vorstellung von der
schöpferischen und Wunder-Kraft der Buchstaben und Worte führen.
Die Vorstellung, daß unser Text nicht nur theoretische Absichten ver-
folgte, sondern auch zu thaumaturgischem Gebrauch bestimmt war,
ist keineswegs absurd. Die frühmittelalterliche Tradition, die min-
destens teilweise den Text so auffaßte, wäre dann nicht im Unrecht,
wenn sie den Bericht über jene Talmudlehrer, Rabbi Chanina und
Rabbi Oschaja, die jeden Freitag die „Halakhoth über die Schöpfung"
studiert und dadurch ein Kalb erschaffen hätten, das sie dann
verzehrten, mit unserem Text (oder dessen Prototyp) zusammen-
48 Gewija muß hier die Bedeutung Oberkörper, Brust haben. Auch Philo scheidet
bei seiner Einteilung des Körpers in sieben Teile zwischen Kopf, Brust und Bauch,
de opificio mundi 118. Zu den drei Jahreszeiten vgl. Robert Eisler, Weltenmantel und
Himmelszelt, München 1910, Bd. II, S. 452, der auch auf Je§ira verweist.
47 Über die viel diskutierte Einbeziehung des R in die Konsonanten mit doppelter
Aussprache vgl. jetzt die wertvolle Untersuchung von S. Morag, Scheba' Kephuloth
BGD Κ Ρ RT, in der Festschrift für Prof. Ν. H. Tur-Sinai, Sepher Tur-Sinai,
Jerusalem 1960, S. 207—242. Auch in der stoischen Sprachtheorie werden, worauf
mich J. Weiß aufmerksam machte, die Konsonanten Β G D Κ Ρ Τ herausgehoben,
vgl. Pauly-Wissowa VI, col. 1788.
4 8 Auch der hier im Buch stets gebrauchte Terminus technicus Galgal für die Tier-
brachte49. Mit der Sprachmystik der Magie hängt auch die Anschauung
des Autors zusammen, wonach die sechs Himmelsrichtungen durch die
sechs Permutationen „seines großen Namens Jaho" (hebräisch JHW)
„versiegelt" seien (I, 13). In diesen drei Konsonanten, die im he-
bräischen als matres lectionis für die nichtgeschriebenen Vokale i, a, o
benutzt werden, stecken der Gottesname Jaho, der die drei Konso-
nanten des vierbuchstabigen Gottesnamens JHWH enthält, wie auch
die Form Jao, die in die Dokumente des Synkretismus eingedrungen
ist und deren Permutationen dort ebenfalls eine Rolle spielen50. Die
späteren Vokalzeichen sind dem Autor noch nicht bekannt.
Diese Vorstellung der Funktion des Namens Jaho oder Jao legt
wichtige Parallelen nahe. Im System des Gnostikers Valentinus ist
Jao der geheime Name, mit welchem der Horos (wörtlich : die Grenze,
die Begrenzung!) die dem Christus nacheilende Sophia-Achamoth aus
der Welt des Pleroma zurückschreckt. Haben wir in dieser Versiegelung
des Kosmos — nicht des Pleroma — durch die sechs Permutationen
von Jao im Jesira-Buch nicht so etwas wie eine monotheistische,
vielleicht gar polemisch veranlaßte Parallele zu diesem valentinischen
Mythos ? In einem anderen Text offensichtlich jüdisch-synkretistischen
Charakters haben wir den Namen Jao ebenfalls als Anruf, der die Welt
in ihren Grenzen befestigt, was zu der Versiegelung in Jesira ausge-
zeichnet paßt : in der Kosmogonie des Leidener Zauberpapyrus
krümmte sich die Erde, als die Pythische Schlange erschien, „und
bäumte sich gewaltig. Doch der Himmelspol blieb fest, obwohl er mit
ihr zusammenzukommen drohte. Da sprach der Gott : Jao ! Und alles
befestigte sich, und ein großer Gott erschien, der größte, der geordnet
hat, was vorher in der Welt war und was sein wird, und nichts vom
Reich der Höhe war mehr ungeordnet". Unter den geheimen Namen
dieses größten Gottes selber tritt dann auch dieser Name Jao auf61.
48
Sanhédrin 66b, 67b. Nach Berakhoth 65a kannte Bezalel, der Architekt des
Stiftszeltes, „die Kombinationen der Buchstaben, mit denen Himmel und Erde ge-
schaffen wurden". Hieran schließt sich später die Vorstellung der Golem-Schöpfung
an, die ich in Kap. 5 meines Buches „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", Zürich 1969
ausführlich untersucht habe.
60
Beispiele für den magischen Gebrauch der 6 Permutationen von tocco in Karl
Preisendanz, Die griechischen Zauberpapyri I, S. 108 (Zeile 1045); II, S. 14.
51
Preisendanz II, S. 113. Über die Verwendung des Namens Jao in der Magie des
Synkretismus gibt es überreiches Material, dessen ältere Belege großenteils bei W. von
Baudissin, Studien zur Semitischen Religionsgeschichte I, Leipzig 1876, S. 179—264,
gesammelt sind. Die Jesira-Stelle ist dort nicht herangezogen, wie auch R. Reitzenstein
sie bei seiner Behandlung des Buches Jeçira nicht benutzt hat, für das er, aus ver-
gleichenden Betrachtungen über die spätantike Buchstabenmystik heraus eine helle-
nistische, bis ins 2. Jh. hinaufreichende Urquelle annimmt, vgl. Poimandres, Leipzig
1904, S. 291. Reitzenstein hat hier vielleicht als Historiker mit weiten Perspektiven
und 14. Jahrhundert hinein. Jeder fand hier mehr oder weniger, was
er suchte, und es spricht für die große Autorität des Buches, daß
Jehuda Halewi im 4. Traktat seines philosophisch-theologischen
Hauptwerks Sefiher ha-Kuzari (um 1130) ihm eine ausführliche Dar-
legung, fast einen ganzen Kommentar widmete52. Zugleich blieb der
Text aber auch in ganz anderen Kreisen einflußreich, die in seiner
Sprachtheorie eine Art Begründung der Magie sahen oder für die die
Lehre des Buches authentische Bestandteile der Merkaba-Gnosis und
derKosmogonie bildeten. In der Schule der„Gelehrten von Narbonne"
wurde das Buch ebenso studiert wie von französischen Rabbis der
Tossaphisten-Schule und bei den deutschen Chassidim derselben
Periode, und mehrere Kommentare aus diesen Kreisen, die im allge-
meinen der philosophischen Spekulation abhold waren, sind auf uns
gekommen53. Für die Wendung, die besonders die Sephiroth-Vorstellung
bei den Kabbalisten genommen hat, bieten diese Texte zum mindesten
bemerkenswerte Parallelen. Inwieweit das Studium des Buches Jesira
in diesen Kreisen im strikten Sinne als Geheimlehre angesehen wurde,
läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Man könnte vermuten, daß
es einen Text bildete, der an der Grenze der Esoterik stand, teils inner-
halb von ihr, teils aber auch schon jenseits davon.
Vgl. den Artikel Elijahu in der Encyclopaedia Judaica, Bd. VI (1930), Sp. 487—
65
495; Moses W. Levinsohn, Der Prophet Elia nach denTalmudim- und Midraschim-
quellen, Dissertation Zürich, New York 1929; Robert Zion, Beiträge zur Geschichte
und Legende des Propheten Elia, Berlin 1931; Eliezer Margalioth, Elijahu ha-Nabhi,
Jerusalem 1960.
" A. a. O., S. 264.
Begriffs Kabbala aus einer Volksethymologie von Qibhla in Ben Jehudas Lexikon
Bd. X I , (1946), S. 5700. Der magische Terminus sei dann auf esoterische Lehre über-
haupt übertragen worden und mit Qabbala zusammengeworfen worden. Dieselbe irrige
Vermutung über einen solchen Zusammenhang hat schon David Kaufmann in M.G.W. J .
Bd. 41 (1897), S. 186 ausgesprochen. In Wirklichkeit stammt der Sprachgebrauch
durchaus aus gelehrten Kreisen und ist stets eindeutig mit der Bedeutung Tradition
verbunden. Nirgends findet sich in alten Texten eine solche Vermischung der Worte
Qabbala und Qibhla.
el Ms. in der Biblioteca Angelica in Rom A. 6, 13, Bl. 2b.
Scholem, Kabbala 3
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34 Das Problem
• 2 Die betreifenden Zitate aus Schemtobs S. 'Emunoth habe ich in Madda'e ha-
Jahaduth Bd. II, Jerusalem 1927, S. 276—280 zusammengestellt. Den Passus über
Bahir ('Emwnoth Bl. 94a) habe ich teilweise nach einer Pergamenthandschrift im
Jew. Theol. Semin. in New York [Nr. 882 in der handschriftlichen Liste von Prof.
A. Marx], Bl. 112b korrigieren können. — Ganz in der Luft hängende Behauptungen,
wonach die Kabbalisten selber eine alte Tradition besessen hätten, daß Bahir von
einem der Geonim verfaßt worden sei, hat während der Drucklegung dieses Buches
Israel Weinstock in einem hebräischen Artikel: „Wann wurde der Überlieferung zu-
folge Bahir verfaßt?" aufgestellt, vgl. Sinai 1961, Bd. 49, S. 370—378; 60, S. 28—34.
Seine Behauptungen, die den Zeugnissen in der alten kabbalistischen Literatur
durchaus widersprechen, halten der Nachprüfung nicht Stand. Ihre einzige Quelle
ist eine lose hingeworfene, im Sprachgebrauch ganz unpräzise Äusserung eines Geg-
ners der Kabbala im 17. Jahrhundert!
sein voller und unversehrter Text ist nicht in ihre Hände gelangt.
Jedenfalls ist es aus fernem Lande, sei es aus Palästina, sei es aus dem
Ausland, von alten Weisen und heiligen Kabbalisten zu ihnen gelangt,
die eine geordnete Tradition [Kabbala] als mündliche Überlieferung
von ihren Vätern und Vorfahren besaßen."
Dieses Zeugnis ist durchaus bemerkenswert und wir werden weiter-
hin sehen, daß es in seinen wichtigsten Stücken keineswegs auf Er-
findung beruht. Wir dürfen dabei durchaus unterscheiden zwischen
den recht spezifischen Angaben über die Herkunft des Buches Bahir
und sein Auftreten in der Provence und den allgemeinen Versiche-
rungen, daß jene ältesten Kabbalisten eine uralte Überlieferung „Von
Mund zu Mund" Generationen hindurch bewahrt hätten. Die Annahme
solcher langen Traditionsketten gehörte zum Bestand nicht nur der
kabbalistischen communis opinio, sondern auch der chassidischen
Überlieferung in Deutschland. Für die letztere haben wir vollständige
solcher Ketten mit allen Namen, über deren fiktiven Charakter kein
Zweifel sein kann 68 . Für unsere Betrachtung ist dabei eines besonders
wichtig: Isaak Kohen statuiert keineswegs eine ununterbrochene
mündliche Traditionskette zwischen den Gelehrten der Provence und
jenen alten Kreisen, aus denen das Buch Bahir gekommen sei. Vielmehr
sagt er ausdrücklich, daß das Buch ihnen s c h r i f t l i c h „aus fernem
Lande, sei es aus Palästina, sei es aus dem Ausland" zugekommen sei.
Nur jene, anonym gebliebenen Männer, die das Buch nach der Pro-
vence gebracht oder geschickt hätten, seien im Besitz einer Kabbala
als Überlieferung von ihren Vätern her gewesen, eine wie gesagt rein
formale und für den Kabbalisten sozusagen zum guten Ton gehörende
Versicherung.
Dieser Angabe des Isaak Kohen über die alten Quellen, aus denen
das Buch Bahir gekommen sei, steht nun das andere Zeugnis eines sehr
frühen Gegners der Kabbalisten gegenüber. Mei'r ben Simon aus
Narbonne, ein Zeitgenosse Isaaks des Blinden, neigt eher dazu, das
Buch modernen Autoren anzuhängen, und auch sein Zeugnis ist von
großer Bedeutung für uns. Er war ein entschiedener Gegner der
Kabbala, die sich zu seiner Zeit in der Provence ausbreitete. In einem
Sendschreiben, das er seinem antichristlichen apologetischen Werk
Milhemeth Miswa einverleibt hat, trat er um 1230—1235 sehr scharf
auf „gegen die, die Lästerliches von Gott reden und von den Gelehrten,
die in den Wegen der unverfälschten Tora wandeln und Gott fürchten,
während jene in ihren eigenen Augen weise sind und Dinge aus ihrem
eigenen Sinn erdichten und sich häretischen Meinungen zuneigen und
68
Charakteristisch dafür sind die „zwei kabbalistischen Traditionsketten des
R. Eleasar aus Worms", die H. Gross in M. G. W. J. Bd. 49 (1905), S. 692—700, publi-
ziert und besprochen hat.
sich einbilden, sie könnten Beweise für ihre Meinungen aus dem Wort-
laut von Haggadoth bringen, die sie auf Grund ihrer irrigen Annahmen
erklären 69 ". In diesem Schreiben gegen die Umtriebe der Kabbalisten,
das uns in anderem Zusammenhang noch beschäftigen wird, erzählt
er unter anderem in leicht geschwollenem Stil zeitgenössischer Reim-
prosa, die ich in der Ubersetzung nur z.T. nachahmen kann: „Sie
berühmen sich in lügnerischen Reden und Kunden, in Ländern von
Torakennern und Gelehrten hätten sie Bestätigung und Stärke [offen-
bar: für ihre Ideen] gefunden . . . Aber Gott bewahre uns vor dem
Frevel, solchen häretischen Reden zuzuneigen, von denen es gut täte,
in Israel zu schweigen. Und wir haben vernommen, daß ihnen schon
ein Buch verfaßt worden ist 70 und zugekommen, das sie mit dem
Namen Bahir, das heißt leuchtend, benennen, durch das sie aber
keineswegs Licht sehen. Dieses Buch ist in unsere Hände gelangt, und
wir haben daraus erhoben, daß sie es dem Rabbi Nechunja ben
Haqqana zugeschoben. Da sei Gott davor! Daran ist überhaupt nichts,
und jener Gerechte ist keineswegs darüber [das heißt: mit der Ab-
fassung eines solchen Buches] zu Fall gekommen, wie wir ihn kennen,
und ist mit den Frevlern nicht in einem Atem zu nennen. Und die
Sprache des Buches und sein ganzer Inhalt beweisen, daß es von
jemand stammt, der weder literarische Sprache noch guten Stil be-
herrscht, und an vielen Stellen enthält es häretische und ketzerische
Worte 71 ".
Hier herrscht also ein sehr verschiedener Ton im Vergleich zu den
begeisterten Worten des Isaak Kohen. Obwohl aber Meir ben Simon
sich über den pseudepigraphischen Charakter des Buches im klaren
ist, schreibt auch er es ebensowenig wie Isaak Kohen keineswegs dem
Kreis der Familie des Rabed zu, von denen gewiß nicht hätte gesagt
werden können, daß sie weder literarische Sprache noch guten Stil
beherrschten. Auf die Frage, woher das Buch den provençalischen
Kabbalisten zugekommen sei, gibt der Briefschreiber keine Antwort.
Nur aus seiner Betonung der unliterarischen Sprache und Form des
Buches folgt, daß man nach seiner Ansicht dessen Ursprung wohl in
89
Der Wortlaut des Originals ist von mir im Sepher Bialik, Tel Aviv 1934, S. 146
mitgeteilt worden. Über diese Polemik des Meir ben Simon vgl. H. Gross, in M.G.W.J.,
Bd. 30 (1880), S. 554—569.
70
Die einzig erhaltene Handschrift, Parma de Rossi 155, benutzt fast durchweg
defektive Schreibung des Hebräischen. Das Wort ^ H i s t daher, wie oft hier, als Pu'al
zu lesen, hubbar. A. Neubauer, der dieses Stück zuerst veröffentlicht hat, zog aus
seiner fehlerhaften Lesung des Wortes als Pi'el, hibber, „er hat verfaßt", die irrige
Folgerung, der Autor habe damit den dort vorher genannten R. Azriel als Autor des
Buches Bahir bezeichnen wollen. Dieser Irrtum war natürlich nur möglich, solange
die Schriften Azriels selber nicht in größerem Umfang bekannt waren.
71
Vgl. den Text des Originals bei Neubauer, J. Q. R. IV (1892), S. 357—360.
versitätsbibliothek Jerusalem (hebr., Jerusalem 1930), S. 208. Erst seit dem Erscheinen
dieses Buches habe ich eindeutig nachweisen können, daß Jakob ben Jakob Kohen
der Autor dieses in allen Handschriften anonym überlieferten wichtigen Buches ist.
Moses von Burgos, Jakobs Schüler, bringt in einem handschriftlich in New York er-
haltenen Kommentar zur selben Merkaba-Vision zahlreiche Zitate aus dem Kommentar
seines Lehrers, die alle in dem: anonymen Werk nachweisbar sind. Vgl. Ms. Enelow
Memorial Collection 711 im J. Th. S., das zum Teil mit einer besseren und viel älteren
Handschrift in der Sammlung Mussajoff in Jerusalem identisch ist.
Für die Untersuchung dieser Anfänge der Kabbala ist es auch von
besonderem Interesse, daß uns durch eine glückliche Fügung ein über-
aus wichtiges Schriftwerk aufbewahrt geblieben ist, das Licht darüber
verbreitet, welche Gedanken in der Generation vor dem ersten Auf-
treten dieser neuen Inspiration von einem bedeutenden Talmudisten
zum Bezirk der Merkaba-Spekulation gerechnet wurden. Die Mischna
verbot ( H a g i g a II, 1, und die Ausführungen dazu in den beiden Tal-
muden), Vorträge über die Schöpfungslehre vor zwei Schülern und
über die Merkaba sogar vor einem Einzelnen zu halten, es sei denn, er
erfülle gewisse Vorbedingungen. Gewiß blieben literarische Zeugnisse
dieser Tradition, wie wir oben gesehen haben, auch im Mittelalter er-
halten. Man war sich aber zu dieser Zeit in keiner Weise mehr klar
darüber, was der ursprüngliche und authentische Inhalt dieser Tradi-
tionen war, was genau in ihren Umkreis gehörte und was nicht. So
suchten die verschiedenen geistigen Strömungen im damaligen Juden-
tum den Rahmen der sogenannten Merkabalehre jede auf ihre Weise
auszufüllen. Die Philosophen begannen, die Lehre von der Merkaba,
der himmlischen Realität, mit der Metaphysik und Ontologie zu identi-
fizieren, und die Lehre von der Schöpfung mit der Physik und der
Astronomie74. Als die Kabbala in der Provence ans Licht der Geschichte
trat, war diese Identifikation in gebildeten Kreisen schon weit ver-
breitet. Andere Gruppen hielten sich an das „Buch der Schöpfung"
und suchten in die Rätselrede jenes alten Esoterikers die jeweilige
Wissenschaft ihrer Zeit oder ihre eigenen Gedanken hineinzulesen. In
dieser Hinsicht besteht, wie schon gesagt, kein prinzipieller Unter-
schied zwischen Rationalisten wie Saadia und den Kabbalisten und
Mystikern. Im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts verfaßte Jehuda
ben Barzilai in Barcelona, eine der bedeutendsten rabbinischen Auto-
ritäten seiner Generation, einen sehr ausführlichen Kommentar zum
„Buch der Schöpfung", von dem sich eine einzige Handschrift bis in
die Neuzeit erhalten hat 75 . Der Autor war, wie wir jetzt wissen, auch
einer der Lehrer des Abraham ben Isaak aus Narbonne, das heißt also
des von der kabbalistischen Tradition selber als ersten Empfänger
der neuen kabbalistischen Revelationen bezeichneten Gelehrten in der
Provence76.
Die Stellung dieses Buches in der Geschichte der Kabbala ist um-
stritten. Nach Neumark ist es „ein unentbehrliches Mittelglied zum
Verständnisse des Entwickelungsprozesses, aus dem die Kabbala her-
vorgegangen ist. . . Barsilai bedeutet hier das innere Entwickelungs-
74 Bekannt ist diese Identifikation vor allem durch Maimonides und seine Schule
moment. Saadia, wie nach ihm Bachia [in seiner Schrift „vom Wesen
der Seele"] bringt . . . viele Stellen aus dem biblisch-talmudischen
Schrifttum bei, aber [Jehuda ben] Barsilai hat sein Buch systematisch
darauf angelegt, alle irgendwie belangreichen Stellen in Bereschith
und Merkaba zu erklären. . . Und in der Tat kann man den Jezira-
Kommentar Barsilais von unserem Gesichtspunkte aus als den ent-
scheidenden Wendepunkt von der Ideenlehre zur Merkaba bezeichnen,
die den Urgrund der Kabbala bildet77". Neumark vermutet sogar,
der Ausdruck Kabbala in dem später gebräuchlichen Sinne sei viel-
leicht von Jehuda ben Barzilai zuerst geprägt worden78. Selbstver-
ständlich ist Neumark nach all diesem überzeugt, daß dieses Werk
den ältesten Kabbalisten bekannt gewesen und ausführlich von ihnen
benutzt worden sei.
Diese Behauptungen Neumarks hängen aber leider völlig in der Luft.
Für die Geschichte der Kabbala vermag ich in dem Buch kein positives
Entwicklungsmoment zu entdecken. Es ist mir auch nicht gelungen,
Spuren von jenem angeblich tiefen Einfluß zu finden, den nach Neu-
marks Meinung dies Werk auf die Kabbalisten des 13. Jahrhunderts
ausgeübt haben soll. Seine dafür vorgebrachten Beweise, die in sehr
willkürlichen Vergleichen bestehen, sind phantastisch. Im Gegenteil
darf man es eher als merkwürdig bezeichnen, daß das Buch den nach
Bahir schreibenden Kabbalisten des 13. Jahrhunderts unbekannt
geblieben zu sein scheint. Nur schwache Anklänge sprechen eventuell
für ihre Bekanntschaft damit. Nicht einmal Abraham Abulafia, der
1270 alle ihm erreichbaren Jesira-Kommentare studierte und aufzählt,
weiß von dem Buch79, obwohl er selber damals in Barcelona saß, also
am Abfassungsorte des Kommentars. Nicht in dem direkten Zu-
sammenhang mit der kabbalistischen Spekulation besteht das un-
leugbare Interesse dieses Buches, sondern eben in dem Kontrast zu
ihr, den es bildet. Es zeigt, daß sogar ein Autor, der sich anerkannter-
weise zur Mystik hingezogen fühlte und dieser Neigung zuweilen auch
in seinen halachischen Werken Ausdruck gab80, keinerlei Kenntnis
von einer besonderen mystischen oder gnostischen Tradition hat,
die in seiner Zeit und Gegend lebendig gewesen wäre. Die für die
Kabbala charakteristischen Gedankengänge, vor allem der theoso-
phische Gottesbegriff und die Äonenlehre, fehlen bei ihm vollkommen.
Er bezeugt ausdrücklich, daß sogar die von Saadia beeinflußten Speku-
lationen über die Glorie Gottes, Kabhod, die im 12. Jahrhundert den
deutschen Chassidim durchaus bekannt waren81, in seinem Land nicht
verbreitet waren und entschuldigt sich für seine ausführliche und
wiederholungsreiche Behandlung dieser Lehren damit, „daß es bei
unseren Zeitgenossen nicht üblich ist, von diesen Gegenständen zu
handeln82". Sein Werk bezeugt also gerade, wie eine nichtkabba-
listische Spekulation über diese Gegenstände unmittelbar vor dem
Auftreten der Kabbala aussah. Im ersten Teil seines Buches gibt er
eine Art Chrestomathie der talmudischen und midraschischen Stellen,
die auf die Lehrbereiche der Merkaba und des Buches Jesira und der
Schöpfungslehre irgendwie bezogen werden können. Dieser Teil ist an
sich interessant genug. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß, hätte der
Autor irgendeine Kenntnis von der kabbalistischen Theosophie gehabt,
er ihr freundlich gegenübergestanden und sie sich für seine eigenen
Ausführungen und Erklärungen angeeignet haben würde. Aber von
all dem ist hier gerade nicht die Rede. So ist denn sein Werk das
beweiskräftigste Zeugnis dafür, wie groß der Unterschied zwischen der
Lage der Dinge in Nordspanien und der Provence um 1130 und um
1180—1200 war. Dieser Unterschied liegt im erneuten Auftreten der
gnostischen Tradition im Herzen des Judentums.
81 Über diese Vorstellungen des Kabhod bei den Chassidim vgl. J . M., S. 120—125.
M Jehuda ben Barzilais Kommentar, S. 234.
Das Buch Bahir, dessen wenige Blätter so viel von dem Geheimnis
des Ursprungs der Kabbala in sich bergen, hat die Form eines Midrasch,
das heißt einer Sammlung von Aussprüchen oder sehr kurzen Vor-
trägen im Anschluß an Bibelverse1. All diese Dinge werden in überaus
1
Im Folgenden zitiere ich nach der Paragraphenzählung in meiner kommentierten
Übersetzung: „Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala",
Leipzig 1923. Diese Übersetzung beruht im wesentlichen auf der ältesten erhaltenen
und relativ besten Handschrift, dem Cod. Monac. 209 vom Jahre 1298, welcher Codex,
wie spätere Forschungen O. Hartigs über die Gründung der Münchner Hof-Bibliothek
(Abhdlg. d. Bayr. Akad. d. Wiss., phil-hist. Kl. Bd. 28, fase. 3, München 1917) er-
wiesen haben, einer derer ist, mit denen Giov. Pico della Mirandola 1486 seine kabba-
listischen Studien begann. (In der Tat ist die älteste lateinische Übersetzung des Bahir,
die Guiglelmus Raimundus Moneada alias Flavius Mithridates für Pico angefertigt h a t
und die in dem vatikanischen Cod. Ebr. 191 erhalten ist, nach eben dieser, jetzt Münch-
ner Handschrift gearbeitet.) An manchen Stellen bin ich aber den Lesarten alter
Zitate bei den Kabbalisten des 13. Jhs. gefolgt. Die älteren Zitate des Buches sind dort
zu jedem Paragraphen nachgewiesen. Natürlich h a t sich in diesen 40 Jahren mein
Verständnis des Textes an vielen Stellen vertieft, und ich habe dann hier aufgrund
dieses besseren Verständnisses übersetzt. Handschriften des Textes aus dem 14. und
15. Jh. sind in nicht geringer Zahl erhalten, können sich aber an Wert nicht mit den
alten Zitaten, wie wir sie vor allem von etwa 1220 an aus der Schule von Gerona und
deren Nachfolgern besitzen, messen. Die gedruckten Ausgaben repräsentieren einen
ungewöhnlich korrupten Text. Merkwürdig ist, daß die erste Ausgabe, Amsterdam 1651,
wie wir durch eine Notiz bei Joh. Ch. Wolf, Bibliotheca Hebraea III (1727), S. 796,
erschließen können, wohl durch einen Christen, Jacob Bartholinus, besorgt wurde,
was das auffällige Fehlen rabbinischer Approbationen in der Ausgabe erklären würde.
Auf dem Titelblatt wird freilich behauptet, das Buch sei „auf Wunsch einiger Männer
aus Polen durch jemand, der aus Bescheidenheit ungenannt bleiben wollte", heraus-
gegeben worden. Das mit Bahir zugleich gedruckte kabbalistische Ma'jan ha-Hokhma,
das fast den selben Vermerk trägt, ist aber eben das von Wolf fälschlich als Ma *ajan
Gannitn verzeichnete, von Bartholinus anonym edierte Buch. Spätere Ausgaben haben
den Text weiter korrumpiert (Berlin 1706, Schklow 1784, Lemberg 1800 und 1866). In
Wilna 1883 wurde ein etwas besserer Text zusammen mit einem anonymen Kommentar
Or ha-Ganuz eines Schülers des Salomo ben Adreth gedruckt, als dessen Autor sich
jetzt eindeutig Me'ir ben Salomo Abi-Sahula (oder: ben Sahula) erweisen läßt, unter
dessen Namen der Kommentar noch im 16. und 17. Jh. bekannt war, vgl. mein Buch
Kithbe Jad be-Kabbala, Jerusalem 1930, S. 147. In der Vorrede seines Kommentars zu
Jesira, den ich seitdem in der Handschrift der Angelica in Rom studieren konnte,
erzählt er, daß er den Kommentar zum Bahir im Jahr 1331 nach sechsjähriger Arbeit im
Alter von 70 Jahren beendet habe. Die neueste Bahir-Ausgabe ist die von Ruben Marga-
lioth, Jerusalem 1951, der vier Handschriften herangezogen hat, aber gerade nicht von
der besten Art, wie sein Text beweist. Die Handschriften, zum Teil wohl aus dem New
Yorker Seminar, sind von ihm nicht identifiziert worden. Der Herausgeber h a t es fertig-
gebracht, meine ihm bekannten, aber durch ihre historisch-kritische Richtung mißliebi-
gen Arbeiten nicht zu erwähnen. In seiner Edition ist der Text in 200 Paragraphen
geteilt. Vor 40 Jahren beabsichtigte Dr. N. Kotkow in New York eine Neuausgabe des
Bahir Textes aufgrund der New Yorker Handschriften, wurde aber noch in den Vor-
arbeiten Opfer eines Raubmordes. Seine Handschriften-Kollationierungen h a t mir
seinerzeit sein Lehrer, Prof. Alexander Marx, freundlichst zur Verfügung gestellt. Lite-
ratur über das Buch ist in meinem Artikel Bahir in der Enzyclopaedia Judaica Bd. I I I
(1929), Sp. 969—979, verzeichnet, worunter besonders David Neumark in der he-
bräischen Bearbeitung seiner Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters zu
erwähnen ist, Toldoth ha-Pilosophia be-Jisrael (1921), S. 181—185, 261—268. Dazu
kommt jetzt noch Leo Baeck, „Aus drei Jahrtausenden", Tübingen 1958, S. 272—289,
ein Versuch einer zusammenhängenden Interpretation der ersten 25 §§ des Buches, der
mir zu homiletisch und harmonistisch scheint.
deren Namen offensichtlich fingiert sind. Der eine heißt Rabbi Amora
oder Amoraj, was aber in den alten Quellen nie ein Personennamen ist.
'Amoraïm, d. h. Sprecher, heißen im Unterschied von den Tannaïten
in der Überlieferung die talmudischen Lehrer nach dem Abschluß der
Mischna. R. Amora heißt also weiter nichts als „Rabbi Sprecher". Der
zweite Redner heißt R. Rachmaj oder Rechumaj (die älteste Über-
lieferung hat die erste Form des Namens), womit vielleicht auf den
Namen des Amoräers Rechumi, eines babylonischen Lehrers des
4. Jahrhunderts, angespielt werden soll5. Diese beiden Hauptredner
entsprechen hier dem Akiba und Ismaël der Hekhaloth. Daneben treten
Namen auf, die uns aus den aggadischen Midraschim bekannt sind, wie
R. Berachja, R. Bun, R. Eliezer, R. Jannai, R. Jochanan, R. Meür,
R..Papias6. Akibaund Ismaël selber, diewir am ehesten erwarten würden,
treten nur ganz gelegentlich auf. In § 22 führen sie einen Dialog, der
wirklich im Midrasch Bereschith Rabba zu Gen. Ii steht. Nur selten sind
aber solche Aussprüche echte Zitate; meistens sind sie ebenfalls pseud-
epigraphischer Natur. Größere Abschnitte des Buches sind aber noch
jetzt anonym ; die Paragraphen folgen aufeinander, ohne daß irgend-
ein Name genannt würde, obwohl Diskussionen zwischen den unge-
nannten Sprechern öfters vorkommen. Ob diese Dialogform, ja auch
die Zuschreibung an bestimmte Personen, stets ursprünglich ist, läßt
sich bezweifeln, öfters scheint es, als ob sie erst einer späteren Re-
daktion entstammt, die auch Namen zugefügt oder geändert hat7. Bei
all diesem wird aber die literarische Form des Midrasch, Fragen nach
der Bedeutung schwieriger oder einander widersprechender Bibelverse,
5
Der historische Rechumi hat sich aber, soweit die Quellen reichen, nicht mit der
Geheimlehre besehäftigt.
6
Papias und Akiba, die in der alten Aggada auch sonst zusammen genannt werden,
(Bacher, Agada der Tannaïten I, S. 324—327) treten in § 86 zusammen auf. Die über-
lieferten Schriftdeutungen des Papias sind durch ihre mythischen Akzente und „agga-
dischen Kühnheiten" (Bacher) bekannt. Unbekannt ist auch R. 'Ahilai, der in § 80
einen Satz aus den Hymnen der Merkaba-Mystiker magisch ausdeutet (auf den 12-
buchstabigen Gottesnamen). Statt des im Bereschith Rabba genannten Lulliani bar
Tabri, d. h. Julianus, Sohn des Tiberius, wird der selbe Ausspruch in § 14 von R. Lewitas
ben Tiburia angeführt. In § 18 diskutieren Rabbi Amora und Mar Rachmai bar Kibhi,
der sonst nicht bekannt ist, miteinander. Soll dies der volle Name des sonst genannten
R. Rachmai sein ? Statt ist wohl 1313 zu lesen, der im jüdisch-Aramäischen öfters
vorkommende Name Bebai.
7
In den Ausführungen über die Beziehungen zwischen Bahir und der Schrift Raza
Rabba werden wir Beispiele für die Änderung solcher Namen kennlernen. Während der
Anfang der noch zu besprechenden Tafel der 10 Logoi durchaus anonym und ohne
dialogische Form vorgetragen ist. ist ihr letzter Teil, von § 114 an, unvermittelt zum
Dialog umgearbeitet, ohne daß Namen der Sprecher genannt werden. Auch
andere Stücke im zweiten Teil des Buches machen den Eindruck, als ob zusammen-
hängende Lehrsätze ziemlich künstlich in Dialoge umgearbeitet worden seien.
8 So erklärt sich ζ. B. der Riß zwischen § 43 und § 44, sowie zwischen § 66 und
§ 67. §§ 67—70 bilden eine Einschaltung, deren Anfang fehlt, die aber auf § 64 zurück-
greift, während § 71 seinerseits wieder, wenn auch keineswegs syntaktisch anschließend,
den § 66 fortsetzt.
» Den hebräischen Text habe ich im Sepher Bialik, Tel Aviv 1934, S. 149 gedruckt.
Ich möchte annehmen, daß diese getilgte Stelle über den Demiurgen Joçer Bereschith,
handelte, dem dieser Vers am ehesten in den Mund gelegt werden konnte. Wie im alten
Schi 'ur Qoma, mit dem dieses Zitat wohl zusammenhängen könnte, hat der Schöpfergott
Anfang und Ende — im Unterschied zu der darüber stehenden Gottheit, dem später
als Έη-soph bezeichneten deus absconditus. Der Autor unterschied zwischen dem in
den Logoi oder Sephiroth erscheinenden Schöpfer, und dem Gott, der über den Sephi-
roth steht ?
mehrfach deutlich zeigen10. So auch ist die wichtige Tafel der zehn
kosmogonischen Urkategorien oder Logoi, auf die wir noch ausführ-
lich zu sprechen kommen, und die ursprünglich sicher ein einheitliches
Stück war, in ihrem zweiten Teil sowohl durch nachträgliche Dialogi-
sierung wie auch durch verschiedene Einschiebungen und Parallel-
Recensionen, sehr verstümmelt.
Die Sprache des Buches ist oft ganz verwildert, und zwar mehr, als
sich durch Verderbnis der handschriftlichen Überlieferung erklären
läßt. Die Syntax ist in manchen Stücken ziemlich unverständlich, und
die Beschwerden des Meïr ben Simon über den schlechten Stil des
Buches, die wir kennengelernt haben, sind wohlbegründet. Manche
Stellen zeichnen sich durch gehobenen Stil und feierliche Sprache aus,
die Bilder entbehren nicht der Großartigkeit — wir werden einige
Beispiele hierfür kennenlernen —, dann aber wieder lesen wir ein ganz
unbeholfenes Hebräisch, das lange nicht mehr die starke Modulations-
fähigkeit des Midrasch-Hebräisch hat. Die Sprache ist nicht die des
Talmud, obwohl die Terminologie bei Diskussionen die talmudische
nachahmt11, sondern viel eher die der späteren Aggada. Der größere
10
So stehen nebeneinander Stücke, die ganz verschiedene Auffassungen desselben
Gegenstandes voraussetzen und Erklärungen vortragen, zwischen denen nur mit Gewalt
eine ausgleichende und vereinheitlichende Erklärung möglich ist. Charakteristisch ist
etwa § 77—78, ein Zusatz, der die direkte Folge von § 76 und § 79 unterbricht und eine
Interpretation von § 76 darstellt, die gar nicht dessen ursprünglichem Sinn entspricht.
Der Begriff der „heiligen Formen" in § 77, wo sie Engel bedeuten, widerspricht dem-
selben Begriff, wie er in § 67, 69 und 116 gebraucht wird, wo er sich auf die Mani-
festationen Gottes selber in den Gliedern des Urmenschen bezieht. Daß der Ausdruck
„heilige F o r m e n " auch bei Maimonides in dem um 1180 beendeten Mischneh Tora
vorkommt, braucht bei einem so leicht sich numinoser Nuancierung anbietenden Be-
griff nicht auf quellenmäßige Zusammenhänge zurückgeführt werden. In den Hilkhoth
Jessode ha-Tora VII, 1 spricht M. davon, daß der Prophet, dessen von allem Irdischen
entleerter Sinn in der oberen Welt weilt und mit dem Bereich unter dem Thron ver-
bunden ist, dort „jene heiligen und reinen Formen", von der ersten Form bis zum
Nabel der Erde verstehen lernt. I m Bahir wird der Ausdruck wohl anderen, älteren
Quellen entstammen. Ebenso setzt § 88 den Gedanken von § 76 fort, während die
davorstehenden Stücke, besonders aber § 84 bis 87 vollkommen anderen Charakter
haben. Man sieht hier deutlich, daß Stücke über Gottesnamen und Merkabamystisches
von kabbalistischen Symboliken ganz anderer Art unterbrochen werden. Auch in
die Aufzählung der Tafel der 10 Logoi sind nach § 96 verschiedene Stücke, die gar
nichts damit zu tun haben, eingeschaltet, während erst § 101 die Aufzählung wieder
aufnimmt.
11
Solche Floskeln aus der Diskussions-Terminologie des Talmud sind z. B. la qaschja,
„das ist nicht schwer", mna' lan, „woher wissen wir", 'i ba'ith 'ema, „wenn du willst,
sage ich", la tibb'i lahh, „es sollte dir nicht fraglich sein", qajma lan, „es steht bei uns
fest" u. dgl. Sie durchziehen das ganze Buch, soweit es dialogisch aufgespalten ist.
Kema de-'at 'amer, „wie du sagst", das im allgemeinen zur Einführung von Bibelzitaten
angewandt wird, wird auch hier mitunter in erweiterter Bedeutung gebraucht; nicht
Teil des Buches ist hebräisch geschrieben, einige Stücke auch ara-
mäisch (das auch nicht viel taugt) und manche in einem Gemisch
beider Sprachen, wobei freilich die Proportion des Hebräischen und
des Aramäischen in den einzelnen Handschriften fluktuiert. Der
Sprachgebrauch erinnert hier und da an die in Südfrankreich verfaßten
späten Midraschim, so in der Vorliebe für den Gebrauch des Verbums
0% sim, „setzen" statt nathan „geben" (besonders in den Gleich-
nissen). Nur an wenigen Stellen, die aber zu denken geben, finden sich
klare Arabismen12. In der Provence verstand man damals kein arabisch
und gewiß nicht in Schichten, die die Sprachkunde offensichtlich so
wenig pflegten wie die Autoren oder Redaktoren des Buches Bahir.
Die hier und da vorkommenden philosophischen Floskeln erlauben
keine eindeutige Lokalisierung, ganz abgesehen davon, daß sie wahr-
scheinlich der spätesten Schicht angehören.
Denn daß sich in dem Buch verschiedene Schichten niedergeschlagen
haben, die vielleicht auch auf verschiedene Quellen zurückgehen,
scheint mit zweifellos. Ein einheitliches System des Buches, wie es vor
allem Neumark in der hebräischen Ausgabe seines Buches aufzustellen
versucht hat, gibt es meines Erachtens nicht. Es scheint, daß eine
Endredaktion so etwas wie eine ganz allgemeine Einheitlichkeit der
hier benutzten kabbalistischen Symbolik herzustellen versucht hat,
ohne doch damit die manifesten Widersprüche, die sich jetzt noch oft
genug finden, zu beseitigen. Es sieht daher eher so aus, als ob wir hier
noch Zeugnisse eines allmählichen Entwicklungsprozesses vor uns
haben, den die kabbalistische Symbolik durchgemacht hat. Wir werden
der Wortlaut, sondern eine sich daraus ergebende These oder Paraphrase werden so
zitiert, vgl. W. Bacher, Exegetische Terminologie der Jüdischen Traditionsliteratur II
(1905), S. 11, und hier §§ 37 und 39.
12
Von solchen Arabismen kommen in den vielleicht (in §§ 24—28 sicher) zusammen-
hängenden §§ 24—38 mindestens vier vor. In § 25 in einer Erklärung der Form des
Konsonnanten Daleth: u-bha'a 'abha, „es wurde dick", wobei das Verbum ba', wörtlich
„es k a m " , wie das arabische ga'a für „werden" benutzt wird; in § 27, wo be-roschah,
von der Seele gesagt, nur als „sie selber" Sinn gibt, wie das Arabische rasiha; in § 28,
wo übersetzt werden m u ß : „und was bedeutet der Vokalname Hireq ? Einen Ausdruck
für verbrennen." In der Tat heißt verbrennen im Arabischen, aber nicht im Hebräischen
und Aramäischen, haraqa; in § 38, wo ein Wortspiel zwischen Zahabh, Gold, und einem
im Hebräischen nicht existierenden Verbum nizhabh im Sinne von „weggehen" vorliegt,
welche Bedeutung aber nur die entsprechende arabische Radix dahaba h a t ; sowie in
§ 122, wo das Verbum messabbebh im Sinne von „verursachen" diese Bedeutung erst
unter arabischem Einfluß im mittelalterlichen Hebräisch angenommen hat. Dabei
kommt das Wort gerade in einem als Mischna-Satz eingeführten Epigramm über das
Verhältnis der 10 Sphären der Astronomen zu den 10 Logoi vor. Ein Arabismus dürfte
auch die Phrase halo' tir'eh, „du siehst doch", im § 48 sein, die im alten Midrasch nicht
vorkommt. Man darf hiernach wohl mit Sicherheit folgern, daß die vokalmystischen
Paragraphen des Buches aus dem arabisch-sprechenden Orient stammen.
Scholen!, Kabbala 4
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50 Das Buch Bahir
14
Vgl. dazu Imanuel Loew, die Flora der Juden, Bd. II, S. 348.
15
Pathah qatan ist der älteste Name des Vokals Segol. Die Stelle bezieht sich auf
die Vokale ä und ë im Konsonantennamen Daleth. In § 24 wird dieser Vokal Pathah
qatan als Hinweis auf die Nordseite der Welt gedeutet, die zum Guten wie zum Bösen
offen ist.
" So vor allem in den §§ 33, 46, 48, 60, 88 und 100. Darüber hinaus wird öfters der
Bereich der Merkaba beschrieben, vor allem im § 96, ohne daß der Begriff genannt wird.
17
Das Wort mequbbal bedeutet in § 46 nur, wie im rabbinischen Sprachgebrauch,
vor Gott günstig angenommen sein. In § 134 wird mit qibbalti, „ich habe empfangen",
wirklich eine talmudische Tradition, Berakhoth 7 a, zitiert, und es liegt keine mystische
Nuance vor.
18
Vgl. Hagiga 14a, Schabbath 120a, wo zwar die Merkaba-Lehre nicht ausdrücklich
genannt ist, dem Zusammenhang nach aber gemeint sein muß. Im Bahir heißt es in
§ 100: „R. Rachmai sagte: was bedeutet [Prov. 623: "Und der Weg des Lebens sind
Züchtigungen und Belehrung' ? Das bedeutet, daß für den, der sich mit Merkabalehre
und Schöpfungslehre beschäftigt, der Irrtum unvermeidlich ist, wie es heißt [Jes. 3 : 6] :
'Diese Irrsal liegt in deiner Hand', [d. h. :] Dinge, die nur begreift, wer in ihnen geirrt
hat".
1 8 Die hierbei gebrauchte Wendung hith'annagti li-maqom peloni im Sinn von „ich
geriet in der Verzückung bis zu einem gewissen Ort" ist ganz ungewöhnlich. Sollte
dahinter etwa fremder Sprachgebrauch stehen ? Solche unerklärte Neologismen gibt es
im Bahir auch sonst, z. B. im § 37 das auffällige 'Alpajjim be-ekad für 2000 mal.
2 0 Abraham bar Chija, Hegjon ha-Nephesch, Leipzig 1860, Bl. 2b in längeren Aus-
führungen zu Gen. 1 2 : „Alles, was man von der Hyle gesagt hat, kannst du vom
[biblischen] Tohu aussagen. Von der Form aber haben sie [die Philosophen] gesagt,
daß sie etwas ist, was die Kraft hat, die Hyle mit Gestalt und Form zu umkleiden. Und
in diesem Sinne läßt sich das Wort Bohu in zwei Bedeutungen aufteilen, da es nach
23
Vgl. Baudissin, Studien I, S. 247—250; Dornseiff, das Alphabet, S. 52, aus
Nikomachus von Gerasa, sowie meinen Kommentar zum Bahir, S. 87—89, 168.
Stücke kosmogonischen Charakters stehen, §§ 2—18, die sich aber von § 11 an mit
Sprachmystik verweben. Solche Sprachmystik über Konsonanten, Vokale, Akzente und
Stimmen Gottes beherrscht im wesentlichen §§ 11—61. (Die §§ 12—23, 24—28, 29—32,
33—41 bilden dabei ζ. B. Untereinheiten, die aufeinander Bezug nehmen.) Hierbei zeigt
sich aber schon ein wachsendes Interesse an Spekulationen, die Motive des „Buches
von der Schöpfung" aufnehmen und weiter entwickeln. Solche Jesira-Mystik wird
besonders von § 53 an bis § 76 deutlich. Sie geht in Stücke über, welche großenteils
magische Gottesnamen behandeln und wieder in Sprachmystik einmünden, bis § 83.
Von § 84 beginnt eine Folge Sephiroth-mystischer Schriftdeutungen von besonders
hervorstechendem symbolischen Charakter. Dabei werden gerade frühere Paragraphen
zum Teil ausdrücklich zitiert, so etwas § 78 in § 87, wie es auch sonst an Rückbeziehun-
gen auf frühere Stücke nicht fehlt, ohne daß sie als Zitate auftreten. Diese Folge leitet
mit § 96 nun zu einer, mit allen möglichen Unterbrechungen bis § 115 reichenden
Erklärung der zehn Sephiroth als der zehn Logoi Gottes über. Darin ist, §§ 107—113,
ein zusammenhängendes Stück über den Satan und das böse Prinzip eingefügt, das
aber auf früher entwickelte Symboliken wie die in §§ 81—83 zurückgreift. Vielleicht
sind auch die weiteren Paragraphen bis § 124 als Fortsetzung des Vorangehenden
fallen, von denen es gänzlich unerklärlich wäre, wie sie etwa erst im
12. Jahrhundert geschrieben sein sollten. Über die Natur solcher Stücke
werden einige eingehendere Analysen im Folgenden hoffentlich einiges
Licht verbreiten können. Gerade die Existenz solcher Fragmente
führt uns in das eigentliche Problem ein, das dieses Buch uns stellt.
Bahir ist weder einem anderen Buch der midraschischen Literatur
noch einem der kabbalistischen Werke zu vergleichen, die nach ihm
abgefaßt wurden. Es steht sozusagen an einem Scheidewege, und es
fragt sich: welcher Art ist diese Wegscheide; woher kommt sie und
wohin führt sie? Worin besteht das neue und spezifische Element,
das dem Bahir seine Bedeutung verleiht?
Die Antwort scheint mir klar: dies neue Element läßt sich in zwei
Aspekten darlegen, die miteinander verbunden sind und doch eigent-
lich zusammen gehören. Hier liegt eine neue Auffassung von der Gott-
heit vor und hier treten gnostische Elemente ans Licht, die an allen
möglichen Stellen in das Buch hineinverwoben sind und seine besondere
religiöse Physiognomie bedingen. Der Gott des Buches Bahir ist uns
aus keiner anderen Quelle jüdischen Denkens vor dem 12. Jahrhundert
bekannt. Er ist nicht mehr der heilige König der Merkaba-Gnosis und
der Hekhaloth-Schriften, der in den innersten Gemächern der Tempel
des Schweigens thront und ganz transzendent gedacht ist. Er ist auch
nicht etwa der ferne und doch so unendlich nahe Gott der deutschen
Chassidim, der alles Sein erfüllt und alles durchdringt. Er ist aber
auch nicht das verborgene Eine der Neuplatoniker, das von der Welt
der Vielheit ganz geschieden und nur durch Mittelstufen der Emana-
tionen mit ihr verbunden ist. Am allerwenigsten ist er der Gott der
jüdischen Rationalisten in der mittelalterlichen Philosophie. Hier
haben wir es mit einem theosophisch gesehenen Gottesbegriff zu tun,
mit einem Gott, der der Träger der kosmischen Potenzen ist, die Quelle
der inneren Bewegung in seinen Eigenschaften, die als Äonen hyposta-
siert werden. Dies ist der Gott, der seine Kräfte in den kosmischen
gedacht. Zuletzt verschlingen sich mit der Halakha-Mystik, die in den verschiedenen
Teilen des Buches verstreut und dann von § 117 an sehr dominierend ist, nun die
letzten Stücke, in denen die Seelenwanderung besonders nachdrücklich, aber in ein-
heitlicher Motivführung behandelt und zu verschiedenen Sephiroth-Symboliken in
Beziehung gesetzt wird, §§ 124—135. Die letzten Paragraphen des Buches §§ 136—140
nehmen noch einmal verschiedene Motive des Vorhergehenden auf und in § 141 ist,
wie schon oben bemerkt, ein künstlicher Schluß aus dem Midrasch herangeklebt. Bei
der hier gezeichneten allgemeinen Linie der Komposition ist zugleich ersichtlich, daß
Ausführungen, die den spezifischen Ort bestimmter Sephiroth oder Attribute in der
Stellung und Struktur der göttlichen Welt betreffen, und besonders sie zahlenmäßig
festlegen, sich überwiegend im späteren Teil des Buches befinden. Durch die Auf-
zählung in der „Tafel" von § 96 ff an hat der Redaktor sozusagen einen festen Rückhalt,
der ihm ermöglicht, auch Parallelversionen oft widersprechenden Charakters irgendwo
in dem fester bestimmten Schema der göttlichen Potenzen unterzubringen.
11 9), andererseits aber die höchste Weisheit und die Quelle, die ein
Ergötzen für alle Wesen ist, ja für Gott selber, wie die Fortsetzung
von § 4 mit einem aus dem alten Midrasch genommenen Wort über
Prov. 830 belegt. Es scheint, daß eine alte gnostische Terminologie
hier schon, in unbekannten Quellen oder Zusammenhängen über-
liefert, undurchsichtbar geworden und einer Umdeutung auf die Tora
selber unterzogen worden ist.
Von solcher Urfülle, an der alle Wesen und Gott selbst sich ergötzen,
wird aber in § 14 in einem weiteren Bild mythischen Charakters ge-
sprochen, das ebenfalls überraschende Beziehungen zur gnostischen
Terminologie des Pleroma bewahrt hat. Die Tatsache, daß dieses Bild
schon im nächsten § 15 einer völligen Umdeutung ausgesetzt ist, zeigt,
daß § 14 ein besonders altes Material enthält, einen Mythos, der hier
„mit einem milden Zwang in das System, in dem er ursprünglich nicht
erwachsen ist, hereingebracht wird"31. In § 14 lesen wir anfangs in
einem Zitat (aus Bereschith Rabba), daß die Engel nicht vor dem
zweiten Tag geschaffen wurden, damit keiner sagen könne, Michael
habe die Welt im Süden der Himmelswölbung ausgespannt, Gabriel
im Norden, und Gott selber habe in der Mitte ausgemessen. Dagegen
wird Jes. 44 24 angeführt, wo Gott von sich sagt: „Ich JHWH mache
das All, spanne den Himmel aus allein, wölbe die Erde, ich selbst
[me itti] — wer wäre bei mir gewesen, mi 'itti steht im Text". Zu dieser
alten Aggada fährt nun das Buch Bahir fort, gleich als ob es die Quelle
des Midrasch vollständiger wiedergäbe: „Ich bin es, der diesen „Baum"
gepflanzt hat, daß alle Welt sich an ihm ergötze, und habe mit ihm
das All gewölbt und seinen Namen „All" genannt, denn an ihm hängt
das All und aus ihm geht das All hervor; alle bedürfen seiner und
auf ihn schauen sie und nach ihm bangen sie, und von dort fliegen
die Seelen aus. Allein war ich, als ich ihn machte, und kein Engel
kann sich über ihn erheben und sagen: ich war vor dir da. Auch als
ich meine Erde wölbte, als ich diesen Baum pflanzte und einwurzelte,
und sie aneinander Freude haben ließ [den Baum und die Erde] und
mich selbst ihrer freute — 'wer wäre bei mir gewesen', dem ich dieses
Geheimnis offenbart hätte32?"
Daß eine Deutung dieser Stelle auf die Tora als Baum des Lebens
unmöglich ist, folgt aus dem kosmischen Bild von diesem Baum als
81
Vgl. meinen Kommentar zum Bahir, S. 19, wo ich aber die gnostische Natur des
Bildes noch nicht, betont habe.
82
Vgl. unten dieselbe Phrase im slawischen Henoch. Diese Stelle und § 99 sind die
einzigen, an denen im Bahir das Wort Sod, „Geheimnis", benutzt wird, das später in
der kabbalistischen Literatur überwuchert. Diese Zurückhaltung im Sprachgebrauch
ist recht bemerkenswert. Auch die alte Merkaba-Literatur benutzt das Wort selten,
freilich relativ häufiger den Ausdruck Raz oder aramäisch Raza, der im Bahir über-
haupt nicht vorkommt. Vgl. dazu weiterhin S. 94 ff über Raza rabba.
Ursprung der Seelen. Es ist ein Weltenbaum, den Gott vor allem
anderen gepflanzt hat und in „seine Erde", die vielleicht selber hier
ein Symbolwort für eine Sphäre darstellt, in der der Weltenbaum
Wurzel schlägt, eingepflanzt hat. In § 15 wird aber das Gleichnis
vom Baum schon auf einen ganzen Garten übertragen, in dem der
König den Baum pflanzen wollte, zu welchem Zweck er vorher nach
Wasser graben ließ und eine Quelle ans Licht brachte, um ihn zu er-
halten. „Dann erst pflanzte er den Baum, und er blieb bestehen und
trug Frucht und seine Wurzeln gediehen, denn man bewässerte ihn
ständig mit dem, was man aus der Quelle schöpfte." Die Quelle hier
ist anscheinend dieselbe wie in § 4, wo die „Fülle" von Gottes Segen
und die Tora zusammengebracht werden. Es kann auch sein, daß hier
schon eine bestimmte Beziehung auf eine einzelne Schöpfungspotenz,
nämlich die Sophia oder Hokhma vorliegt. In § 14 haben wir es aber
nicht mit einem Gleichnis zu tun, das künstlich verengt ist und in
dem der Baum nun einer Quelle bedarf, sondern mit einem gnostischen
Bild für das Pleroma. In der Tat ist bei den Valentinianern das „All",
τό πδν, TÒ όλον usw., eine der gebräuchlichsten Bezeichnungen für
das Pleroma und das Reich der Äonen33. Ja, wie eine Parallele zu dem
Satz des Bahir liest sich die Stelle in dem neu entdeckten gnostischen
„Evangelium der Wahrheit": „Sie fanden . . . den vollkommenen
Vater, welcher das All hervorgebracht hat, in dem das All ist und
dessen das All bedarf", und weiterhin dort: „denn wessen bedurfte
das All, es sei denn der Gnosis über den Vater" 34. Auch in dem neuen
Thomas-Evangelium sagt Jesus von sich: „Ich bin das All und das
All ist von mir ausgegangen"35. Die Vorstellung, daß die Seelen von
diesem Weltenbaum ausgehen und geradezu, wie später auch bei deu
spanischen Kabbalisten, seine Frucht sind, ist jedenfalls schon in der
Gnosis der Simonianer belegt, die ja im Grunde, wie schon mehrfach
von Forschern betont worden ist, eine häretische Form jüdisch-
synkretistischer Gnosis darstellt3®. Ein Rest solcher Vorstellung vom
sï Vgl. Karl Müller, Beiträge zum Verständnis der valentinianischen Gnosis, Nach-
richten d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, phil. hist. Kl. 1920, S. 179—180.
M Vgl. Evangelium Veritatis, ed. Malinine, Puech, Quispel usw., Zürich 1966,
S. 64—66.
16 Evangelium nach Thomas, ed. Guillaumont, Puech usw., Leiden 1969, S. 43
(§ 77) ; Jean Doresse, l'Évangile selon Thomas, Paris 1959, S. 189.
' · Hippolytos, Elenchos V I , 9. Das dort erhaltene umfangreiche Fragment aus der
„Großen Verkündigung" enthält auch viele andere Begriffe und Bilder, die im Buch
Bahir wiederkehren, ohne daß wir von einer direkten Berührung reden könnten. Es ist
schon von mehreren Autoren darauf hingewiesen worden, daß dieses Fragment im
Grunde einen rein jüdisch-häretischen Charakter hat und sich als ein gnostischer
Midrasch zur Schöpfungsgeschichte der Genesis erweist. Dieser gemeinsame exegetische
Rahmen erklärt manche Parallelen, wie ζ. B. die Auffassung der 6 Tage und der
„siebenten Kraft", aber keineswegs alle.
verwandt ist, erklärt sich sehr gut, daß die Gerechten sich mit ihm „vereinigen" —
sind doch ihre Seelen eben von ihm ausgegangen oder „ausgeflogen". Ich habe im
Eranus-Jahrbuch a. a. O. die Vermutung geäußert, daß vielleicht der Aeon selber
ursprünglich Saddiq, „Gerechter", hieß, und Adoül aus [S]ado[q]il korrumpiert sein
könnte, ähnlich wie der „Gerechte" im Buch Bahir § 105 als solcher Baum geschildert
wird.
41 Auch hier muß an die Parallele des slawischen Henoch zum Jesjira-Buch II, 6
erinnert werden, wo es heißt: „ E r schuf aus dem Tohu Wirkliches und machte das
Nichtsein zu einem Seienden und haute aus dem unsichtbaren [oder: unstofflichen]
Äther große Säulen aus". Nicht nur das Bild vom Übergang des Nichtseienden zum
Seienden, sondern auch des Unsichtbaren zum Sichtbaren kehrt beide Mal im selben
Satz wieder.
Scholcm, Kabbala 5
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66 Das Buch Bahir
bringt Gott neue Seelen von Gerechten am Baum hervor. Das ist doch
wohl der Sinn der Bemerkung „er läßt sie fruchtbar sein und sich
mehren". Diese Vorstellung hängt dann ausgezeichnet mit anderen
Parallelstellen zusammen. Vor allem in § 67 und § 104 entspricht dem
Stamm des Baumes von § 85, der aus der Wurzel herauswächst, das
Bild von der Wirbelsäule im Menschen. Ist Israel gut, so bringt Gott
aus dem Ort des Samens, der dem großen Kanal in § 85 entspricht,
neue Seelen. Die Art wie der Baum-Mythos hier (und in den §§ 104
und 121) variiert wird, entspricht schon der Interpretation, die § 15
von der ältesten Gestalt, wie wir sie in § 14 kennengelernt haben, gibt.
Wann diese Umdeutungen des ältesten Materials erfolgt sind, läßt
sich nicht mit Gewißheit sagen. Daß die Baum-Symbolik auch noch
in der spätesten Schicht des Bahir eine weitere Entwicklung durch-
gemacht hat, zeigt sich in den §§ 64—67, die bei aller Verschiedenheit
eng zusammenhängen44. Der Weltenbaum von § 14 ist hier nicht mehr,
wie in § 85, das Pleroma von Gottes Kräften, sondern ist, wie am An-
fang, ins Zentrum des Universums als dessen Inneres eingepflanzt.
Der Struktur dieses Inneren entsprechen in den Bereichen des Kosmos,
die hier aus dem „Buche der Schöpfung" aufgenommen werden,
niedere Potenzen, „Aufseher" und „Archonten", Ssarim. § 64 greift
direkt auf Jesira V, 1 zurück, wo von den zwölf Weltrichtungen die
Rede ist, die der Bahir-Autor sich auf seine Weise mythisch zurecht-
tlegt: „Einen Baum hat Gott und an ihm sind zwölf Radien46: Nord-
Ost, Süd-Ost, Ost-Oben, Ost-Unten, Nord-West, Süd-West, West-
Oben, West-Unten, Nord-Oben, Nord-Unten, Süd-Oben, Süd-Unten,
und sie dehnen sich aus und gehen ins Unermeßliche fort, und sie sind
die Arme der Welt. Und in ihrem Innern ist der Baum." Diesen zwölf
Ästen des Weltenbaumes entsprechen in den drei Weltregionen des
Buches Jesira, dem „Drachen", Teli*β, als Vertreter der Welt, der
sichtbaren Himmelssphäre als Vertreter der Zeit, und dem „Herzen"
als Vertreter des menschlichen Organismus, je zwölf „Aufseher" und
je zwölf „Archonten", womit wir zweimal 36 Potenzen oder Kräfte
44
Vgl. meinen Kommentar zum Bahir, S. 67.
45
Hebräisch Gebhule 'alakhson, was hier jedenfalls als „Radien" und Zweige des
Weltenbaumes aufgefaßt wird, die mit der Wurzel der 12 Stämme Iraels zusammen-
hängen.
4
· Teli, im frühen Mittelalter als das Sternbild des Drachens aufgefaßt, ist das
syrische 'athalia, „Stella quae solem tegens eclipsim efficit", nach Payne-Smith I, 423.
In diesem Sinn kommt es schon in dem manichäischen Psalmenbuch, ed. Allberry,
fase. II, S. 196 vor. Dieser Sprachgebrauch entspricht genau dem in der zweifellos sehr
alten astronomischen „Baraitha des Samuel", und geht auf assyrisches atalû zurück,
wie schon A. E. Harkavy in Ben 'Ammi, Bd. I (1887), S. 27—36 nachgewiesen hat.
Wenn der Teli als „Himmelsschlange" oder Drache Kopf und Schwanz bewegt, ver-
ursacht er dadurch die Finsternisse.
5·
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68 Das Buch Bahir
begriffes mit sich brachte, treten schon hier hervor, um sich in den
später verfaßten Schriften der Kabbalisten nur noch zu steigern.
Zwischen den Schöpfergott und den Menschen tritt ein Zwischen-
bereich, der nicht einfach auf die Seite der Kreatur gehört, dessen
Verhältnis zu dem Gott, der schließlich ja diesen Baum „gepflanzt"
hat, aber nicht präzise definiert wird. In Symbolen und Bildern, die
ihrem theologischen Sinn nach unpräzis bleiben, wird hier einGedanke
zum Ausdruck gebracht, der auch in der alten aggadischen Literatur
nicht fehlt und auch dort schon einigermaßen theologisch „bedenk-
lich" ist, nämlich die Vorstellung, daß „die Gerechten der Allmacht
[Gebhura, die göttliche Dynamis] Kraft zufügen"60. Neu ist in den
Quellen der Kabbala dabei das mythische Bild, unter dem dieser Ein-
fluß vorgestellt wird. Im Vollzug des Rituals, dessen Bestandteile zu
den Äonen oder Sephiroth am Baum der Kräfte Gottes in mystische
Beziehung gesetzt werden, drückt sich diese Einflußnahme des „hei-
ligen Israel" auf jene höheren Sphären aus. Dies ist der offensicht-
liche Grund für die verschiedenen, im Bahir vorgebrachten Ritual-
symboliken und Erklärungen einzelner Vorschriften der Tora.
Es gibt also im Grunde schon hier einen Influxus von oben und einen
von unten, wie die spanische Kabbala es dann, besonders im Zohar,
ausgedrückt hat. Der obere Influxus steht hier, soweit ich sehen kann,
durchweg mit der Symbolik der Sophia als der Quelle des Welten-
baums in Zusammenhang. Viele Stellen, an denen von solcher Quell-
symbolik die Rede ist — charakteristischerweise fast durchweg nur
in Gleichnissen — lassen sich ohne Zwang auf sie beziehen51. Nur in
dem letzten Drittel des Buches ist die Symbolik der Quelle, die die
Sophia ist, auf den „Kanal" übertragen worden, durch den dies Quell-
wasser anderen Bereichen zugeleitet wird, worunter dann schon ein
späterer Äon in der Struktur dieser Kräfte zu verstehen ist, der mit
der Sophia in besonderer Beziehung steht62.
Es wäre aber ein großer Irrtum, wenn wir aus diesem Beinamen allein
theoretische Folgerungen über das Verhältnis dieser Kräfte und
Middoth zur Gottheit ziehen wollten. Neben Aussprüchen, die eine
klare personalistische Auffassung dieses Gottes und eine Unterschei-
dung zwischen ihm und jenen Königen, Schätzen, Stimmen, Worten
usw. vorauszusetzen scheinen, finden wir auch Äußerungen ganz
anderer Art, in denen dieses Verhältnis durchaus unklar bleibt. Ins-
besondere das Verhältnis zwischen der Gottheit und der ersten dieser
Kräfte ist keineswegs eindeutig klar. Man fragt sich, ob nicht etwa
in einigen Teilen des Buches die erste Sephira selber die Gottheit ist,
über der kein anderer Träger, Schöpfer oder Emanierer steht. Alles
ist hier noch im Fluß, und aus den bildkräftigen Symbolen haben sich
noch keine klaren Begriffe kristallisiert. Freilich darf dabei nicht ver-
gessen werden, daß von einem Herrn oder Träger der Sephiroth hier
überhaupt kaum außerhalb von Gleichnissen gesprochen wird, und
gerade diese Gleichnisse scheinen den Träger dieser Kräfte als ihre
Urquelle oder sonstigen Ursprung mit einer der in diesem Kräfte-
verband zusammengefaßten Wesenheiten zu identifizieren, ohne daß
daraus doch strikte Schlüsse auf die „Theologie" solcher Gleichnisse
gezogen werden können. Das Hauptinteresse des Buches ist eben auf
die Äonen gerichtet, sowie auf die mystische Symbolik, die mit ihnen
verbunden ist. An den vielen Stellen, wo das Buch im allgemeinen
von „Gott" spricht, bleibt die Rede ganz unbestimmt, und es kann
ebenso gut der Herr der Äonen gemeint sein wie der, der sich in ihnen
oder einer von ihnen darstellt. Immerhin scheiden nicht nur viele
Aussprüche deutlich zwischen der Sophia und ihrem Ursprung in
Gott oder in der über ihr liegenden Ennoia, dem Gedanken Gottes,
sondern in § 53 wird in dem Ausdruck „Gottes Gedanke" voraus-
gesetzt, daß eine Scheidung zwischen den beiden besteht, und der
Gedanke nicht selber das höchste ist, obwohl die Symbolik des Buches
an keiner Stelle über diesen Bereich des Gedankens, von dem noch
die Rede sein wird, hinausführt.
Der entscheidende Schritt, der hier über andere gnostische Systeme
hinaus gemacht wird, liegt in der Fixierung der Zahl dieser Kräfte
oder Äonen auf zehn, entsprechend den zehn Sephiroth des „Buches
von der Schöpfung" und den zehn Schöpfungsworten, durch die Gott
nach der alten Aggada die Welt hervorgerufen hat. Nachdem einmal
die Zahl dieser „Eigenschaften" oder Middoth Gottes festgelegt war,
mußte zwangsläufig jeder Beiname, unter dem Gott vorgestellt oder
benannt werden kann, auf eine dieser Middoth sich beziehen, welche
auf diese Weise viele symbolische Namen erhielten. Im Bahir erkennen
wir noch deutlich die Bemühungen, eine mehr oder weniger feste
Terminologie im Gebrauch dieser Symbole in Verbindung mit be-
stimmten Sephiroth einzuführen, ohne daß doch dieser Kristallisations-
hat damit einen Fund getan, wie es heißt [Prov. 817] : die mich suchen,
werden mich finden62." Durch den Proverbienvers wird hier die
Tochter also eindeutig als die Hokhma oder Sophia identifiziert, was
mit der Schekhina-Symbolik des Bahir, die ja ebenfalls in Zusammen-
hang mit der So/>/wa-Mystik steht (darüber weiter unten) zusammen-
stimmen könnte. Es ist durchaus möglich, daß der Autor jenes Satzes,
der sich nur in dem jemenitischen Midrasch erhalten hat, von einer
Deutung wußte, wie wir sie im Bahir lesen, die also schon im Orient
bekannt war. Es ist aber genau so möglich, daß er unabhängig davon
und aus dem gleichen Wunsch nach Allegorisierung eines seltsamen
Satzes eine Erklärung in der gleichen Richtung produziert hat. Auch
in der Tradition der deutschen Chassidim gab es um 1250 Bekannt-
schaft mit älterem Material, das mit der Umdeutung des Bakol in
Gen. 241 sich in etwas anderer Richtung als im Bahir befaßt. Ephraim
ben Simson führt (um 1240) zu diesem Vers eine Äußerung der Eso-
teriker, Ba'ale ha-Sod an, wonach diese Segnung darin bestand, daß
Gott dem „Fürsten der göttlichen Gegenwart" aufgetragen habe,
jeden Wunsch Abrahams zu erfüllen63. Was im Buch Bahir die Sche-
khina ist, ist hier der Engel Jahoel, der älteste Name des Engelfürsten
Metatron, dessen Verbindung mit dem Patriarchen nicht nur aus der
Abraham-Apokalypse aus dem frühen 2. Jahrhundert bekannt ist,
sondern auch noch den deutschen Chassidim im 12. Jahrhundert ge-
läufig war64. Die spezielle Exegese des Wortes Bakol auf Jahoel
ist aber wahrscheinlich erst in Deutschland entstanden, da sie auf
der dort üblichen Anwendung zahlenmystischer Deutung beruht65.
Ob die Deutung des Bahir auf die Schekhina etwa mit der besonders
bei den deutschen Chassidim geläufigen Vorstellung von der Allgegen-
wart der Schekhina zusammenhängt, wage ich nicht zu entscheiden.
Sie würde dann auf einem Wortspiel beruhen, indem der talmudische
Satz: „Die Schekhina ist an jedem Orte" (Baba Bathra 25a) zu
Schekhina bakol, „die Schekhina ist in Allem" verkürzt und dadurch
die Assoziation mit dem bakol in Gen. 241 nahe gelegt wurde : die
Schekhina ist bakol.
Ein weiteres Beispiel für solche Umdeutung haben wir in § 126. Im
Talmud wird ein Ausspruch des babylonischen Amoräers R. Assi an-
geführt: „Der Sohn Davids kommt nicht, bis alle Seelen im 'Körper'
62 Vgl. den Text bei D. S. Sassoon, Alte Aggadoth aus Jemen, Jahrbuch der jüdisch-
Version dieses Kommentars gedruckt, von der ein größeres Stück als „Tora-Kommentar
des Rabbenu Ephraim" ohne Titelblatt in Smyrna um 1850 erschien, Bl. 15a.
M Vgl. J. M., S. 74.
85 Das Wort *733 hat denselben Zahlenwert wie der Engelname VnIìV.
66
Am Anfang von § 126 heißt es: „In seiner Macht ist das Schatzhaus der Seelen".
" Den Zusammenhang dieser beiden Stellen hat schon ein alter Kritiker des kata-
lanischen Kabbalisten Schescheth des Mercadell (um 1270) erkannt, vgl. Tarbiz, Bd. 16
(1946), S. 148. Hieraach ist meine Bemerkung in meinem Kommentar zum Bahir,
S. 169 zu berichtigen.
Wir können heute nicht mehr (oder noch nicht ?) sagen, welcher Art
diese Quellen waren, und ob hier vielleicht einmal ein ganzes, seinem
Charakter nach jüdisches System vorlag, das in Parallele zu den
klassischen gnostischen Systemen oder zu späteren gnostischen Ver-
zweigungen stand, wie sie sich im aramäisch-syrischen Sprachgebiet
lebendig erhielten, wie etwa die mandäische Gnosis. Den Redaktoren
des Bahir sind nur dunkle Überreste solcher Quellen zugekommen,
kein System, sondern Bruchstücke eines Systems, kein fester Rahmen
von Symbolen, sondern Symbol-Fragmente, deren Anziehungskraft
aber noch genügte, um die Phantasie und das Denken anzuregen,
das alte Material mit neuen Assoziationen zu verbinden und ihm so
einen neuen Inhalt zu geben.
Ein solches überraschendes Detail ist vor allem die Lehre von der
doppelten Sophia oder Hokhma, die bei den ersten Kabbalisten und
schon im Buch Bahir das Vorbild für ähnliche Symbole bildete, die
im Rahmen der göttlichen Welt, des Pleroma, einen doppelten Ort
besetzen. So haben wir hier eine doppelte „Gottesfurcht" (§§ 97,
129, 131), eine doppelte „Gerechtigkeit" (Sedeq, §§50, 133), ein
doppeltes He im Tetragrammaton J H W H (§ 20) und wohl auch eine
doppelte Schekhina (§ 116). Dabei ist dann der Bezirk und Ort des
unteren dieser Symbole („das untere He; die untere Gerechtigkeit")
stets am Rand und Abschluß der Äonenwelt und hängt mit der Sym-
bolik der Schekhina zusammen. Am genauesten sind diese Erörte-
rungen im Bahir aber gerade, wo sie sich auf die doppelte Hokhma
beziehen, und das gibt zu denken. Die Gnostiker, und besonders die
Schule Valentins, entwickelten die Vorstellung von den zwei Äonen,
die beide Sophia heißen. Die eine, die „Obere Sophia", steht hoch
oben in der Welt des Pleroma, die andere aber, die auch mit der Sym-
bolik der „Lichtjungfrau" zusammenhängt, steht an dessen Ende.
Der gnostische Mythos vom kosmischen Drama betrifft gerade jenen
Fall der unteren Sophia, die der Verführung der Hyle unterliegt und
aus dem Pleroma in die unteren Welten hinabstürzt, dort ganz oder
doch in gewissen Teilen ihres Lichtwesens exiliert ist, und die in
irgendeinem, in den verschiedenen Systemen unter verschiedenen
Symbolen beschriebenen Zusammenhang mit dem obersten Wesens-
teil der menschlichen Seele, dem Pneuma steht. Dieser Gottesfunke
im Menschen hängt mit dem Drama vom Exil der „unteren Sophia"
zusammen 68 . Genau an entsprechenden Stellen in der Struktur der
göttlichen Middoth finden wir in verschiedenen Stücken des Bahir
68
Vgl. dazu ζ. B. F. Chr. Baur, Die christliche Gnosis, Tübingen 1835, S. 124—158,
wo S. 146 die valentinianischen Symbole der unteren Sophia aufgezählt werden, die
ziemlich genau den Symbolen entsprechen, die in der Kabbala dann der letzten Sephira
beigelegt werden; F. Sagnard, la Gnose Valentinienne, Paris 1947, S. 148—176.
die beiden Hokhma genannten Hypostasen oder Äonen als zweite und
zehnte Sephira. Die Weisheit schlechthin ist, wie in § 96, die obere
Weisheit, der „Anfang von Gottes Wegen" in der Schöpfung. Als
Gott diese Weisheit dem Salomo ins Herz gab, glich er die höhere
der Form der für ihn faßbaren unteren Weisheit an. In der Form der
unteren Weisheit, welche die „Tochter" ist, die Gott dem Salomo
gleichsam anvermählt hat, sind die „32 Wege der Sophia", alle Kräfte
und Wege des Pleroma, zusammengefaßt (§§ 43, 62, 67).
Während aber die Kabbala nach Bahir stets zwischen der oberen
Sophia als „Weisheit Gottes" und der unteren Sophia als „Weisheit
Salomos" unterschied, ist der Sprachgebrauch im Bahir selber, wie
aus §§ 3 und 44 hervorgeht, noch anders. Von einer „Weisheit Salo-
mos" als fixiertem Symbol weiß das Buch noch nichts, vielmehr heißt
die letzte Sephira selber hier Hokhmath 'Elohim. Sie selbst ist jene
„Tochter", in der die 32 Wege der oberen Hokhma zusammengefaßt
sind und die dem Salomo — und zwar hier dem historischen, nicht
einem symbolischen Salomo — sei es „vermählt", sei es „zum Ge-
schenk gegeben" wurde. Diese mystische Hokhma wird an drei Stellen
in Gleichnissen beschrieben, in denen sie als Prinzessin einem anderen
Prinzen, also einem der anderen Äonen oder Kräfte, anvermählt und
„zum Geschenk gegeben" wird. Ursprünglich, wie im § 3, ist diese
Hokhma einfach die Tora. Von der Tora zitiert Jehuda ben Barzilai
(S. 268) aus alten Quellen: „Gott spricht zur Tora: Komm, meine
Tochter, und wir wollen dich meinem Freund Abraham anvermählen".
In § 3 tritt aber Salomo an die Stellé Abrahams. Er ist der Prinz, dem
nach I Reg. 5 26 der König seine Tochter verheiratet und zum Ge-
schenk gibt. Im § 36 ist der Prinz aber einer der Äonen selber, ohne
daß gesagt wird, welcher. In § 44 ist es der mit dem Gottesnamen
Elohim benannte, dem die Hokhma auf solche Weise anvermählt
und geschenkt wurde. Der biblische Ausdruck Hokhmath 'Elohim
heißt hier so viel wie „die Hokhma, die an Elohim gegeben wurde und
mit ihm in einem Gemach ist", nach der sehr bemerkenswerten Les-
art der ältesten Bahir-Handschrift, die später (ob aus Bedenken?)
korrigiert wurde. Da sie bereits in den oberen Sphären „vermählt"
ist, wurde sie, nach §44, dem Salomo in der irdischen Welt nur „zum
Geschenk gegeben", und sie waltet in ihm als Middath ha-Din, und
verhilft ihm dazu, Recht zu schaffen. Dies ist nach § 44 der Sinn der
beiden Verse: „JHWH schenkte dem Salomo Weisheit" und „Sie
sahen, daß Weisheit von Elohim in ihm war, Recht zu schaffen". Die
Auffassung der Tora als Tochter und Braut vermischt sich also mit
der gnostischen Auffassung der Sophia, die die Eigenschaften der
letzten Sephira hat und nicht nur Salomo sondern allen Menschen
hilft: „Solange der Mensch Recht tut, hilft ihm diese Hokhma von
Elohim und bringt ihn [Gott] nahe, tut er es aber nicht, entfernt sie
Scholem, Kabbala 6
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82 Das Buch Bahir
ihn [von Gott] und straft ihn". Es ist auch darauf hinzuweisen, daß
Jehuda ben Barzilai zu Jesira (S. 57) die Verse I Reg. 3 28 und 5 26
ebenfalls von der Sophia als dem Anfang aller Geschöpfe erklärt, die
er für seine Freunde und sein Volk reserviert habe, ohne daß dabei
jedoch die Symbolik der Tochter und der Hochzeit eine Rolle spielt.
Diese Symbolik ist offenbar das Element, das aus älteren Quellen
und gnostischer Tradition zu dem Traditionsbestand über die Hokhma,
wie ihn dieser Autor uns darbietet, hinzugetreten ist.
In wichtigen Details stimmen gnostische Ausführungen über die
„Tochter des Lichtes" und über die göttliche Seele, die mit ihr ver-
bunden ist, mit den Stellen des Bahir überein, an denen in allen mög-
lichen Formulierungen über die mystische Bedeutimg der Schekhina
gesprochen wird. Wir werden weiter unten diese Symbolik näher zu
analysieren haben. Hier ist es wichtig zu bemerken, daß die Identi-
fizierung der Schekhina als einer göttlichen Hypostase mit der gno-
stischen Sophia als wichtigstes tertium comparationis die Vorstellung
vom Exil in die untere Welt benützen konnte, nachdem einmal, wie
wir sehen werden, eine Trennung zwischen Gott und der Schekhina
vorgenommen war. Das talmudische Wort: „An jedem Ort, wohin
sie [Israel] exiliert wurden, ist die Schekhina mit ihnen" [Megilla 29a),
meinte ja nur, im alten Verstand des Begriffes Schekhina, daß Gottes
Gegenwart auch im Exil unter ihnen war. Vom Exil der Schekhina
im Sinne des Exils eines der Äonen, eben der „Tochter", in die untere
Welt hinein konnte erst bei solcher späteren Entwicklung des Begriffes
die Rede sein. Dann aber setzte sich das gnostische Motiv, das auf
irgendwelchen Wegen sich in jüdischen Kreisen des Orients erhalten
hat, mit doppeltem Nachdruck durch. So wie der letzte Äon des Ple-
roma für die Gnostiker von zentralem Interesse war, weil sich in ihm
das Mysterium des Kosmos und das Mysterium unserer eigenen
Existenz verflechten, so war das Hauptinteresse des Buches Bahir,
und auf seinen Spuren das der spanischen Kabbalisten, auf die zehnte
Sephira mehr als auf alle anderen gerichtet. In diesem großen Symbol,
dessen Verständnis für die religiöse Welt der Kabbalisten von zen-
traler Bedeutung ist 69 , treffen sich die verschiedensten Gedanken und
Motivreihen und vereinigen sich in einer aspekt- und nuancenreichen
Konzeption.
Am erstaunlichsten ist in diesem Zusammenhang gnostischer Motive
wohl § 90, wo wir lesen: „Was bedeutet [Jes. 6 3] : die ganze Erde ist
voll seiner Glorie ? Das ist jene 'Erde', die am ersten Tag geschaffen
wurde, und sie entspricht im Oberen dem Lande Israel, voll von der
Glorie Gottes. Und was ist sie [diese Erde oder Glorie] ? Die 'Weis-
heit', von der es heißt [Prov. 3 35] : Glorie besitzen die Weisen. Und
· · Vgl. meine Studie über die Schekhina im Eranos-J ahrbuch Bd. 21 (1953), S. 46—107.
so heißt es auch [Ez. 3 12] : Gepriesen sei die Glorie Gottes von ihrem
Orte aus. Was ist aber Gottes Glorie ? Ein Gleichnis. Die Sache gleicht
einem König, in dessen Gemach die Königin war, an der alle seine
Heerscharen sich entzückten, und sie hatten Söhne. Die kamen täg-
lich, den König zu sehen und ihn zu preisen [wörtlich auch: zu grüßen].
Sie sagten zu ihm: wo ist unsere Mutter? Er erwiderte ihnen: ihr
könnt sie jetzt nicht sehen. Da sagten sie: Gepriesen [gegrüßt] sei sie,
wo immer sie ist ! Und was bedeutet 'von ihrem Orte aus' ? Hieraus
folgt, daß keiner da ist, der ihren Ort kennt70! Ein Gleichnis von einer
Königstochter, die von fernher kam und niemand wußte, woher sie
gekommen war, bis sie sahen, daß sie tüchtig, schön und ausgezeichnet
war in allem, was sie tat. Da sagten sie : wahrlich, diese ist gewiß aus
der Form des Lichtes genommen [andere Lesart: stammt gewiß von
der Seite des Lichtes], denn durch ihre Taten wird die Welt licht. Sie
fragten sie : woher bist Du ? Sie sagte : aus meinem Orte. Da sagten
sie: dann sind die Leute an ihrem Orte groß. Gepriesen sei sie und
gerühmt an ihrem Orte!"
Diese Stelle, in der die untere Sophia, die zu den „Weisen" gelangt,
mit der „Erde" des Pleroma und der Glorie, dem Kabhod Gottes,
zugleich aber, mit der Königstochter, einem wahren „Mädchen aus
der Fremde" identifiziert wird, spricht die Bildersprache der syrischen
Gnosis auf eine ganz unverstellte Weise. Die Königstochter erleuchtet
die Welt, in der niemand weiß, woher sie kam; aber die sie wahr-
nehmen, schließen von ihr auf die Größe jenes Ortes des Lichtes, aus
dem sie stammt. Sie entspricht überraschend der „Tochter des Lichtes"
in dem gnostischen Braut-Hymnus der Thomasakten und ähnlichen
berühmten Dokumenten der Gnosis, über deren genauen Sinn zwischen
den modernen Erforschern der Gnosis viel verhandelt worden ist71.
Deutungen auf die untere Sophia, auf den gnostischen Erlöser oder
auf die Seele sind für diese Hymnen angeboten worden. Gerade dieses
Schwanken der modernen Forscher über den Sinn der in den gnostischen
Hymnen benutzten Symbole vermag dem Forscher, der den Ur-
sprüngen der kabbalistischen Symbolik nachgeht, viel zu sagen. Denn
was der ursprüngliche Sinn dieser Symbole gewesen sein mag, ist für
unsere Betrachtung nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist viel-
mehr, daß diese verschiedenen Interpretationen zeigen, wie ent-
70 Dies ist ein Zitat der Erklärung des Jesaja-Verses in Hagiga 13b.
71 Vgl. ζ. B. A. Bevan, The Hymn of the Soul, Cambridge 1897; G. Hoffmann,
Zwei Hymnen der Thomasakten, Zeitschrift f. d. neutest. Wiss. I V (1903), S. 273—309;
Erwin Preuschen, Zwei gnostische Hymnen, Gießen 1904; Alfred Adam, Die Psalmen
des Thomas und das Perlenlied als Zeugnisse vorchristlicher Gnosis, Berlin 1969;
Günther Bornkamm, Mythos und Legende in den apokryphen Thomas-Akten, Göt-
tingen 1933; A. F. Klijn, The so-called Hymn of the Pearl, in Vigiliae Christianae
Bd. 14 (1960), S. 164—164.
6·
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84 Das Buch Bahir
72
F. Chr. Baur, Das manichäische Religionssystem, Tübingen 1831, S. 225.
73
Die Lesart „Form des Lichtes" kann auch mittelalterliches Hebräisch sein, vgl.
das Zitat aus Abraham bar Chija in Anmerkung 22 zu diesem Kapitel.
auf den Ort hinzuweisen, an den sie eigentlich, ihrer Stellung unter
den Äonen nach, gehört. So ist denn die gnostische Tochter des Lichtes
in der jüdischen Terminologie des Bahir auch das „vom Guten Ge-
nommene", das was aus dem guten und verborgenen Licht Gottes
genommen wurde und dieser unteren Welt als deren Midda gegeben
wurde. So versteht § 97 den Vers Prov. 4 2 in wörtlicher Auffassimg
der Worte Leqah tobh: „Denn vom Guten Genommenes habe ich euch
gegeben". Diese Tochter ist aber auch „der Abglanz, der vom Ur-
licht genommen wurde" (§ 98), ganz wie es im Brautlied der Sophia
am Anfang heißt, daß „der Abglanz des Königs in ihr ist". Und ähn-
lich wie es an derselben Stelle des Bahir von dieser Midda heißt, daß
die 32 Wege der Weisheit aus dem Anfang des „Buches der Schöpfung"
in ihr zusammengefaßt seien, haben wir im griechischen Text dieses
Liedes noch den unerklärten Lobpreis der Zweiunddreißig an die
Tochter des Lichtes. Die Ubereinstimmung dieser drei Motive gibt
zu denken. Freilich ist das gnostische Material hier gründlich judaisiert.
Das vom Guten Genommene ist nicht mehr oben weggenommen
worden, um zur Erlösung in die Welt geschickt zu werden, sondern
es ist das Licht der Tora und das Walten der Schekhina, die das „Herz"
der unteren Welten bildet. Aber die Judaisierung dieser Vorstellungen
kann doch über den hier so handgreiflichen Zusammenhang mit
gnostischen Bildern und Symbolen nicht hinwegtäuschen. So werden
wir durch diese Betrachtung zu der Annahme gedrängt, das auf die
Ausbildung der Symbolik des Buches Bahir orientalische Quellen
aus der Welt der Gnosis eingewirkt haben, beziehungsweise, daß die
Schekhina-Fragmente des Bahir selber einer solchen Quellenschicht
angehören.
Orient zu suchen.
7 5 Handschrift Oxford, Neubauer 1568, Bl. 24b, im Sepher ha-Hokhma. Vgl. dazu
unten S. 163-164.
7 8 Vgl. auch im folgenden die Darlegungen über Kether 'Eljon, Anm. 120 und vor
allem S. 110-111.
Stücke in dem Buch, wie wir es besitzen, weisen noch auf einen deut-
lichen Zusammenhang mit Interessen der deutschen Chassidim sowie
auf Traditionen hin, die soweit wir wissen, nur dort bekannt waren
und gepflegt wurden. Die innere Analyse solcher Teile stützt das in
Kapitel 1 zitierte Zeugnis des Isaak Kohen über den Ursprung des
Bahir, das aus Deutschland nach der Provence gelangt sei. Wichtig
ist in dieser Hinsicht die Verbindung, die hier zwischen Spekulationen
über das Buch Jesira und der Magie besteht, und besonders die Aus-
führungen und Deutungen über geheime Gottesnamen mystischen
und magischen Charakters, die im Buche Bahir von §§ 63—81 einen
wichtigen Platz einnehmen. Solcher Zusammenhang und solche Inter-
essen sind für die deutschen Chassidim charakteristisch, die das
Material ihrerseits freilich schon großenteils aus Italien und dem Orient
übernahmen.
Unter diesen magischen Stücken sind drei (§§ 79—81), in denen
das Material ganz im Stile alter theurgischer Traktate abgeschrieben
wird; ohne einer spekulativen oder symbolisierenden Ausdeutung
unterworfen zu werden wie die meisten anderen dieser Stücke. Die
streng formale Haltung und Stilisierung trägt das deutliche Gepräge
der unveränderten Hinübernahme aus einer älteren Quelle. In § 79
wird der große Gottesname von 72 Namen vorgetragen, der aus den
drei Versen Ex. 1419-21 herausgeholt wurde, wo jeder Vers 72 Buch-
staben zählt. Dieser Name ist schon in der Hekhaloth-Literatur be-
kannt und wird, wenn auch kurz, im Midrasch mehrfach in einer Weise
erwähnt, die keinen Zweifel darüber läßt, daß ihm dieselbe Tradition
vor Augen stand78. Hier ist sie jedoch unvermittelt mit dem Schluß
des Buches Jesira kombiniert, als ob ein Zusammenhang zwischen
den zwei Traditionen bestünde. Auch die 72 magischen Namen sind
hiernach mit dem Namen JHWH versiegelt, ähnlich wie die sechs
Himmelsrichtungen in Jesira mit dem Namen JHW. § 80 spricht
von dem 12 buchstabigen Gottesnamen, der aus der talmudischen
Tradition, Qidduschin 71a, bekannt ist. Jedoch wird hier seine Vokali-
78 Über die Konstruktion der 72 Namen Gottes, von denen jeder 3 Konsonanten
zählt, vgl. ζ. Β. M. Schwab, Vocabulaire de l'Angélologie, Paris 1897, S. 30—32. Der
Name erscheint in dieser Form schon in theurgischen Stücken der Hekhaloth-Über-
lieferung. In den Midraschim selber wird nur das W o r t eines Lehrers aus dem 4. Jh.
erwähnt, wonach Gott Israel mit seinem Namen aus Ägypten erlöst habe, „denn der
Name Gottes besteht aus 72 Buchstaben", vgl. dazu die Nachweise bei Ludwig Blau,
Das altjüdische Zauberwesen, Budapest 1898, S. 139—140. Blau folgert aus den er-
haltenen Angaben mit Recht, daß dieser Name schon in der ersten Hälfte des 3. Jhs.
bekannt war. In einem Responsum des Hai Gaon ist der Name schon in derselben
Form wie im Bahir überliefert und stand so ζ. B. in dem magischen Sepher ha-Jaschar,
wo ihn Tobia ben Eliezer (ca. 1100) im Leqah Tobh zu E x . 14 21 gelesen zu haben
bezeugt.
78
Der 12-buchstabige Gottesname hängt nach der talmudischen Überlieferung mit
dem dreimaligen Tetragrammaton im Priestersegen Num. 24 24 zusammen. Nach
dem Bahir ist seine Vokalisierung, Jahäwä Jahöwe Jihwö, zweifellos mit Anspielung
auf Gottes Sein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstruiert. Das sieht
mehr nach einer spekulativen, als nach alter magischer Tradition aus. Aus der Tradition
der deutschen Chassidim zitiert Elchanan ben Jaqar aus London in seinem Jessod ha-
Jessodoth, Handschr. New York, Jew. Theol. Sem. Manuskr. 838 des vorläufigen
Kataloges, Bl. 99 a die Vokalisation Jahwäh Jahöweh und Jahweh, die bemerkenswert
ist, gerade weil sie keiner grammatischen Form angepaßt ist.
80
In seinem Sode Razajja, München Hebr. 81, Bl. 63a.
81
Hs. Hebr. 47, Bl. l b — 2 a der Wiener Nationalbibliothek (A. Z. Schwarz, Nr. 152).
Hier heißt es, die Namen seien dazu gut: „Verhängnisse aufzuheben und den Toten
angesichts der ganzen Gemeinde wieder heraufzubringen".
82
Cod. British Museum, Margoliouth 752, Bl. 95 a. Manches spricht dafür, daß
dieses Stück noch zu dem vorher teilweise erhaltenen Sepher ha-Jaschar gehört, welches
vielleicht mit dem gleichnamigen, vom 9. Jh. an erwähnten magischen Werk identisch
ist. Im Bahir heißt es, dies sei der Schern ha-mepkorasch, der auf der Stirn Arons (nach
Ex. 28 36 ff.) geschrieben war. Der erste der dann folgenden Namen entspricht in der
T a t dieser Einleitung, da er sich ungezwungen als „Stirndiadem Arons" erklären läßt:
A H S J S J R O N , was wie ein Kompositum aus Ahron und Si§ aussieht. In der erwähnten
Hs. t r i t t diese Namenfolge aber als magisches Mittel, Regen herbeizuführen, auf, wäh-
rend in derselben Sammlung Bl. 94b als der „Gottesname, der auf der Stim Arons des
Hohenpriesters eingegraben war", ein völlig anderer Name angegeben wird. Die Tradi-
tion muß sich also schon früh gespalten haben.
89
Hs. New York J . T. S. 828, Bl. 27b (in der Parallel-Hs. Oxford, Neubauer 1531
ist dies Stück nicht erhalten). Während das Buch Bahir oder seine Quelle von einem
„Namen von 12 Worten" gewußt haben muß, den ein Engel dem Elias am Karmel
überliefert habe, weiß die Tradition des Zohar an zwei Stellen, I, 16a und I I , 201b, daß
unter solchen Bedingungen dem Elias ein „Gottesname von 12 Buchstaben" überliefert
worden und Elias durch diesen Namen zum Himmel aufgestiegen sei. Der Autor des
Zohar scheint die Bahir-Stelle benutzt und variiert zu haben, wenn nicht etwa beide
Traditionen auf ein gleiches Motiv eines „Namens von Zwölf" zurückgehen, das dann
in verschiedenen magischen Traktaten verschieden entwickelt worden ist. In späteren
Handschriften über „praktische Kabbala" kommen die 12 Namen des Bahir, zum Teil
stark korrumpiert, noch oft vor, was aber für unsere Betrachtung hier nicht mehr von
Wichtigkeit ist. Höhnisch werden gerade die ersten beiden dieser Namen von Josef
Salomo Delmedigo um 1630 in seiner Polemik gegen die theoretische und praktische
Kabbala zitiert: „Sei kein Pferd und Esel, alles zu glauben, was sie von Henoch ben
Jared und Metatron, und von Elias und Ahasifjharon erzählen", vgl. 'Iggereth 'Ahuz,
in Geigers Melo Chofnajim, Breslau 1840, S. 6. Delmedigo h a t seine Kenntnis wohl aus
Cordoveros Fardes Rimmonim, Krakau 1692, Bl. 123 a bezogen, wo dieses Stück aus
Bahir zitiert wird.
Diese Verbindung der Magie mit Jesira- Studien führte bei den
deutschen Chassidim zur Entwicklung der Vorstellung vom Golem
als der durch Anwendung des Buches Jesira ausführbaren Herstellung
eines magischen Menschen. Ich habe diese Vorstellungen eingehend
an anderer Stelle untersucht84. Für uns ist aber wichtig, daß gerade
diese Vorstellung, die im Mittelalter sonst nur in diesen Kreisen leben-
dig war, auch im Buch Bahir (§ 136) zum Gegenstand von Erörterungen
gemacht wird, die über die talmudische Quelle der Idee, die dort zitiert
wird, durchaus hinausgeht, aber mit den Gedanken des Eleazar von
Worms zur Frage der Golem-Schöpfung sich nahe berührt85. Wenn
eine Schicht des Bahir aus Deutschland stammt, so läßt sich all dies
unschwer verstehen. Auch das Begriffspaar „Welt der Finsternis"
und „Welt des Lichtes", das freilich der Anschauung des Mittelalters
über diese Welt und das Jenseits überhaupt entspricht, findet sich
in der hebräischen Literatur, soweit ich sehe, zuerst in Deutschland
am Anfang des 12. Jahrhunderts. Das würde auch zu dem Auftreten
dieser Begriffe in § 127 passen86.
Wir können aber noch weitergehen. Bei einem dieser Chassidim,
dem schon erwähnten Ephraim ben Simson, hat sich ein ganzer Passus
erhalten, den er um 1240 aus Bahir zitiert87. Dieser Passus ist aber
nichts anderes als eine völlig verschiedene Version eines Stückes, das
wir in den Bahir-Texten, die aus der Provence und Spanien stammen,
wiederfinden. In dem gewöhnlichen Text wird hier (§ 18) der Vers
Ex. 15 3 „Gott ist ein Mann ['/scA] des Krieges" durch ein Gleichnis
erklärt, das besagt, es seien in den drei Konsonanten des Wortes 'Isch
die drei obersten Kräfte Gottes angedeutet. Nach dem Text bei
Ephraim ben Simson aber war hier überhaupt nicht die Rede von
Sephiroth, sondern von den drei Gottesnamen Elohitn, JHWH,
Schaddaj und ihrem Rang. Das Stück ist ganz im Geist der Chassidim
gehalten. Es verlohnt sich, hier die beiden Texte einander gegenüber-
zustellen :
81
Vgf. mein Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik, (1960), Kap. 5.
85
Vgl. a. a. O., S. 246—247.
88
Vgl. meinen Kommentar zum Bahir, S. 138. In einer alten Lesart, am Rande des
Münchener Cod. 209, heißt es: „Denn in der Welt der Finsternis lebt der Mensch vom
Brot, aber in der Welt des Lichtes lebt er nicht vom Brot allein, sondern von allem,
was aus Gottes Mund hervorgeht", d. h. von der Tora. Vgl. das Vorkommen dieses
Begriffspaars in dem Text bei Neubauer-Stern, Hebräische Berichte über die Juden-
verfolgungen während der Kreuzzüge, Berlin 1892, S. 54.
87
Hs. München, Hebr. 15, Bl. 74b.
8 8 Hs. München 209 liest vorher noch: „Auch jene ist schön, die Jod heißt", was
aber in alten Zitaten fehlt. Ein alter Kommentator erklärt sogar ausdrücklich, warum
es nicht im Text stände, wo es gewiß hingehört.
Die beiden Versionen des Zitates sind für uns aufschlußreich. Der
gewöhnliche Text spricht, wie andere Stellen des Bahir-Textes nahe-
legen, von den genannten drei Konsonanten als Symbolen der obersten
drei Sephiroth91. Die zweite Version dagegen weiß nichts von solchen
Spekulationen und sieht hier nur Hinweise auf die Namen Gottes,
die den Patriarchen offenbart wurden und in dem Stichwort 'Isch
zusammengefaßt sind. Der Bahir-Text ist also auf verschiedene Weise
bearbeitet worden : entweder lag zuerst die noch im Sinne der chassi-
dischen Spekulationen über die Namen Gottes gehaltene Version vor,
die dann im Sinne der sich entwickelnden Symbolik variiert wurde,
oder aber der rezipierte Text kam schon den Chassidim in dieser Form
zu und wurde dort im Sinne ihrer viel einfacheren Gedankengänge
umgearbeitet. Der Text war also noch im Fluß, und in der Tat haben
wir in alten kabbalistischen Collektaneen Ubergänge zwischen beiden
Versionen92. Ich habe schon in meinem Kommentar zum Bahir darauf
hingewiesen, daß offenbar Ephraim ben Simson, oder wer immer der
Autor des nur anonym überlieferten Kommentars in der Münchener
Handschrift Hebr. 15 war, den Bahir nicht selbst gesehen hat,
gewiß aber nicht in der uns überlieferten Form. Er zitiert nur noch
einmal daraus, und zwar gerade den Schluß, dagegen erwähnt er nichts
davon an Stellen, an denen nach dem sehr ausgeprägten Charakter
seines Kommentars Bahir-Zitate zu erwarten wären, falls er unseren
Text gesehen hätte93. Das gilt nicht nur von dem Passus zu Gen. 24 ι,
über den ich schon S. 78 gesprochen habe, sondern auch von der Lehre
von der Seelenwanderung, die bei ihm erwähnt wird, und zwar un-
8 9 Im Buch Jesira heißen die Konsonanten „Steine", die Wörter „Häuser", was
„Man fragte den R. Simlaj" zitiert, welcher Name nur in dem anderen Text vorkommt.
Das Zitat hängt dort auf merkwürdige Weise mit der Stelle im Tora-Kommentar des
Menachem Sijoni zusammen, wo zu E x . 15 3 das Gleichnis von den Wohnungen zitiert,
aber ebenfalls wie hier auf die drei Gottesnamen bezogen wird.
93 Die Handschrift München 15 und die anderen Versionen des sogenannten Tora-
Kommentars des Rabbenu Ephraim verdienen eine besondere Untersuchung. Die (sehr
seltene) Smyrnaer Teilausgabe weicht nicht nur von den Handschriften, sondern auch
von der durch Chajim Joseph Gad in Johannesburg 1950, ohne Kenntnis des ersten
Drucks, aus einer unidentifizierten Handschrift publizierten Ausgabe, und alle zu-
sammen wiederum von den vielen Zitaten in den Schriften Ch. J . D. Azuláis wesentlich ab.
1,1 Jacob Mann, Texts and Studies in Jewish History and Literature, vol. II, Phila-
Frau in Liebe bringen willst oder wenn du Haß zwischen ihnen stiften
willst und noch viele derartige Greuel, von denen uns Gott fernhalten
möge"95. Ein anderer, arabisch schreibender qaräischer Autor in Jeru-
salem berichtet im 10. Jahrhundert in größerer Detaillierung des In-
haltes gerade des Raza Rabba : „Sie [die Rabbaniten] schreiben dem
Adam ein Buch zu . . . und haben auch das Buch Raza Rabba von der
Erzählung der sieben Himmel [sab* samäwät] und der Engel und der
Parurim und Dewim und Latabhin und Jarorin und der Amulette
[gegen diese Dämonenklassen], sowie das Buch über 'Όza und 'Uziel,
[oder Ά ziel], die nach ihren Lügenworten vom Himmel herabgestiegen
sind, sowie Bartalja und Qansarin, [mit Rezepten] für Liebe und Haß,
Siebenmeilenstiefel und Traumanfragen"9®. Hier erhalten wir also
einen deutlicheren Begriff vom Inhalt des Buches. Er entsprach zum
Teil offensichtlich dem, was wir über andere Texte der Merkaba-
Gnosis wissen. Hier stand ein Bericht über die sieben Himmel und die
Engel, die in ihnen ministrieren, wie in den Hekhaloth und der „Ba-
rattila über die Schöpfungsgeschichte". Dazu traten hier aber zauber-
papyrusartige Elemente theurgischen, magischen und dämonologischen
Charakters. Dies letzte Element findet in der alten Merkaba-Literatur
keine Entsprechung, wohl aber in den jüdisch-aramäischen magischen
Inschriften auf der Innenseite von Tonschalen, wie sie vor allem von
Montgomery und Cyrus Gordon veröffentlicht worden sind97. Die vier ara-
mäischen Namen für Dämonenklassen, die der Autor nennt, sind uns
aus dieser Art Literatur vertraut98. Diese Verbindimg verschiedener
Elemente würde darauf führen, daß das Buch Raza Rabba etwa aus
derselben Periode stammt wie diese Inschriftentexte, das heißt dem
5.—8. Jahrhundert, und ein späteres Stadium der esoterischen Lite-
ratur darstellt als die wichtigsten Merkaba-Texte99. Diese und andere
Texte ganz oder teilweise magischen Charakters waren auch noch am
85
Mann, a. a. O., S. 80—81.
»· Mann, a. a. O., S. 82.
• 7 James Montgomery, Aramaic Incantation Texts from Nippur, Philadelphia 1913;
William Rossell, A Handbook of Aramaic Magical Texts, Skylands 1953; Cyrus Gordon,
Aramaic and Mandaic Magical Bowls, Archiv Orientálni vol. 6 (1934), S. 319—334;
vol. 9 (1937), S. 84—106; sowie seinen Aufsatz in Orientalia, vo. 20 (1961), S. 306—315.
98
Statt Parurim, das von Mann fälschlich mit den persischen Fravashis zusammen-
gebracht wird, ist aber zu lesen Parukhin, von assyrisch parakku, welches zusammen
mit Dewtn und Latabhajja (Unholde, genau so wie das deutsche Wort gebildet: die
Nicht-Guten) in dem mandäischen Geisterkatalog des Gima vorkommen (vgl. Peter-
mann, Rechtes Ginza S. 279, Z. 3ff.), der bei M. Lidzbarski, Uthra, Festschrift Nöldeke
zum 60. Geb., Gießen 1906, S. 641—646 besprochen ist. Zu den Jarorin vgl. Genaueres
bei Montgomery, S. 81.
· · Über das Alter der Merkaba-Texte vgl. jetzt in meinem Buch Jewish Gnosticism
und oben in Kap. 1, S. 16 ff.
Hs. hat sich in dem großen magischen Codex 290 der Sammlung Sassoon in London
erhalten.
101 Ygi <jen hebräischen Text in Osar ha-Geonim zum Traktat Hagiga, Jerusalem
1931, S. 21.
vater Moses ha-Darschan, „der Prediger", war der Ehemann der Golde,
einer direkten Enkelin des berühmten R. Jehuda Chassid, der Zentral-
figur des deutschen Chassidismus102. Der Text ist offenbar sehr früh
auseinandergerissen worden, und die zwei Teile stehen in ganz ver-
schiedenen Handschriften unter verschiedenen Titeln. Sie schließen
aber ausgezeichnet aneinander an, und in beiden Teilen (aber in keiner
mir sonst bekannten Schrift aus diesen Kreisen) finden sich Zitate
aus dem „großen Mysterium"103. Diese Schrift ist bei ihm eindeutig
vom Buch Bahir unterschieden, das ihm — um 1270—1300 gewiß
kein Wunder, selbst wenn es sich um eine Rückwanderung der Schluß-
redaktion des Bahir aus der Provence nach Deutschland handelt —
ebenfalls vorlag und mehrfach zitiert wird.
Die uns erhaltenen Zitate aus dieser neu erschlossenen Quelle lassen
sich nicht durchweg eindeutig ihrem Anfang und Ende nach abgrenzen.
Manchmal heißt es: „bis hierher Wortlaut des großen Mysteriums"
ohne daß der Anfang des Zitats gekennzeichnet ist, der sich nur aus
der Struktur des Zitates selber erschließen läßt, und es ist durchaus
möglich, daß auch Stücke, die gar nicht als von dorther stammend
gekennzeichnet sind, die aber ihrer Art nach dazu passen, ihren Ur-
sprung in derselben Quelle haben. Diese Zitate beweisen, daß das
„große Mysterium" eine Mischung aus einem mystischen Midrasch,
in dem verschiedene alte Lehrer auftreten und Bibelverse deuten,
und einer Art Hekhalot-Schrift war, besonders nach der Art der
„Kleinen Hekhaloth"104. Während aber in den Hekhaloth-Schriften
Exegese keine Rolle spielt und nur gelegentlich vorkommt, unter-
halten sich hier mehrere der Heroen der Merkaba-Tradition oder ihre
Schüler nicht nur über die Merkaba-Schau, sondern auch über ver-
verschiedene Bibelverse, die mit angelologischen und kosmologischen
Vorstellungen in Zusammenhang gebracht werden. Der pseudepi-
graphische Charakter der Aussprüche des Nechunja ben Haqqana,
des R. Akiba, R. Ismael und R. Meïr ist evident. Einige dieser Stücke
sind ohne literarischen Zusammenhang mit uns sonst bekannten
Quellen, obwohl sie sich als eine Art gnostischer Midrasch darstellen
und Diskussionen der Merkaba-Autoritäten enthalten, die ebenfalls
wie eine Vorstufe des Bahir klingen. Dabei ist zwar klar, daß es sich
um Zitate handelt, ohne daß stets klar ist, wo sie enden. Andere Stellen
stehen aber in eindeutiger und klarer Verbindung mit verschiedenen
1 0 2 Ich gehe auf diese Nachweise, die ich in Reschith ha-Qabbala (1948), S. 203—210,
gegeben habe, hier nicht näher ein und begnüge mich mit der Feststellung der Resultate,
soweit sie in diesem Zusammenhange von Wichtigkeit sind.
1 0 3 Über die Handschriften der beiden Fragmente a. a. O., S. 196—199, 210—212.
Den Text selbst habe ich, soweit er für die Untersuchung des Raza Rabba von Be-
deutung ist, dort S. 212—237 in extenso publiziert.
1 0 4 Über die „Kleinen Hekhaloth" vgl. J . G., sect. X , S. 76—83.
Scholem, KabbaU 7
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98 Das Buch Bahir
einem Fragment des Schi'ur Qoma, der Name Metatrons sei „auf die
sechs ihrer Namen [wie in Ex. 2811] gegeben und auf die zwölf Steine
[von Jos. 4 s] eingegraben"105. Man wird vermuten dürfen, daß die
betreffende magische Schicht im Bahir, also vor allem die §§ 63—84
ganz oder teilweise von dorther genommen worden sind, resp. aus
Sätzen, die dort standen, bearbeitet worden sind.
Am merkwürdigsten ist aber, daß gleich hinter dieser Stelle, die
§ 63 des Bahir entspricht, eine Fortsetzung folgt, die § 86 entspricht,
d. h. dem Paragraphen, der im Bahir fast unmittelbar auf den ma-
gischen Teil folgt. Ich stelle die beiden Passus nebeneinander:
Bahir § 86 Sod ha-Gadol
R. Meïr sagte: was bedeutet R. Meïr sagte: Was bedeutet
[Ps. 146 10]: der Herr ist König [Ps. 14610] : Der Herr ist König
für ewig, dein Gott, Zion, von für ewig, dein Gott, Zion, von
Geschlecht zu Geschlecht ? Was Geschlecht zu Geschlecht? Das
bedeutet: von Geschlecht zu Ge- lehrt, daß jene Engel den Herrn
schlecht ? R. Papias sagte : So der Welt preisen. Was sind jene ?
steht geschrieben [Eccl. 1 4] : Ein Die aus dem Namen des Menschen
Geschlecht geht und ein Ge- hervorgehen, die loben ihn zwan-
schlecht kommt. Und [auch] R. zig Jahre bis zu einem anderen
Akiba hat gesagt : Was bedeutet : Geschlecht. Und wenn ein anderes
ein Geschlecht geht und ein Ge- Geschlecht kommt, gehen jene
schlecht kommt ? Ein Geschlecht, [Engel] dahin und es kommen
das schon [einmal] gekommen ist. andere. Und wenn es kein anderes
Geschlecht gibt, loben sie bis zu
zwanzig Jahren und nicht weiter.
Und darüber hat der Herr der
Welt gesagt : Verdorren mögen
die Gebeine dessen, der die Prei-
sung des Herrn der Welt aufgibt.
Und jene Engel [die dem Namen
des Menschen zugeordnet sind]
verwandeln sich zu einem Stern
und dies ist der Glücksstern des
Menschen10e.
Der Unterschied der zwei Versionen springt in die Augen. Die ältere
(aramäische) Version hängt mit der auch sonst aus der Merkaba-
105
Vgl. Merhaba Schelema, Jerusalem 1921, Bl. 39b, nach von mir aus Hss.
verbesserter Lesung.
108
Vgl. den Urtext a. a. O., S. 232. Das Zitat schließt mit dem Vermerk H'^DS,
d. h. abbreviiert für 'ad kan Leschon ha-Sepher oder ha-Sod. Vielleicht ist auch zu
lesen «V'O^D», d. h. : „bis hierher das Zitat aus dem Sod ha-Gadol", vgl. meine Anm.
zum hebräischen Text.
7·
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100 Das Buch Bahir
107
Der persönliche Engel des Menschen wird mit seinem Glücksstern, Kokhabh
mozzalo, gleichgesetzt. Schon in der Merkaba-Literatur ist die Rede von dem himm-
lischen Vorhang vor dem Thron, in dem alle Wesen eingewirkt sind, wie z. B. im
3. Henoch-Buch, Kap. 46. In dem aus demselben Merkaba-Material redigierten „Alpha-
bet des R. Akiba" sieht Moses aber schon „den Stern [Mazzal] des R. Akiba im himm-
lischen Vorhang", vgl. ed. Wertheimer, Jerusalem 1914, S. 50. Dieselbe Vorstellung
beherrscht auch die Psychologie des Eleazar von Worms, der in seinem Hohkmath
ha-Nephesch, Lemberg 1876, Bl. 18, 23 und 28 ausführlich darüber handelt. Nach ihm
ist der Archetypus, Demuth, des Menschen sein „Engel" sowie sein „Stern". Diese Ver-
bindung von Engel und Stern findet sich schon in einem bekannten Wort im Midrasch
Bereschith Rabba, Sekt. 10: „Es gibt kein Gras, das nicht seinen Stern im Himmel hätte,
der es schlägt und zu ihm spricht: wachse". Ähnliches findet sich auch oft im Sepher
Chassidim, z. B. Ed. Wistinezky, § 1614.
die schon auf die Welt gekommen waren, und andere hatten sie vor
ihnen angezogen." Auch hier wird dafür derselbe Vers aus Eccl. 12 7
angeführt. Es ist also klar, daß erst bei der Umarbeitung der alten
Quelle des Raza Rabba der neue Gedanke der Seelenwanderung, von
dem auch dieser. Text noch nichts wußte, hineingearbeitet worden ist.
In der chassidischen Quelle wird aber aus dem „Großen Mysterium"
kurz hinter der vorigen Stelle eine andere angeführt, die den ersten
Gedanken weiter ausführt und dabei dann zu anderem überleitet,
das sich zu unserer Überraschung ebenfalls als Quelle eines weiteren
Stückes im Bahir herausstellt : „Und so hat R. Mei'r gesagt : Ein Ge-
schlechtgeht und ein Geschlecht kommt, die Erde aber besteht ewig. Das
ist doch einfach ! Was wollte also Salomo damit betonen ? Vielmehr deu-
tete er es so : weil ein Geschlecht geht und ein Geschlecht kommt, steht
die Erde eben ewig. Denn wäre dem nicht so, hätte die Welt kein Funda-
ment an Gerechten [die zu ihrem Bestände nötig sind]. Wo aber ein Ge-
schlecht geht und ein Geschlecht kommt, singen die [himmlischen]
Sänger und preisen Gott, ohne daß ihre Stimme gehört würde. Und
R. Akiba hat gesagt : Was bedeutet der Vers [Hab. 3 2] : Im Zorn
erinnere dich der Liebe? Diesen Vers hat der Engelfürst [Archont]
der Welt gesprochen jedes Mal, wenn er Seelen der Gerechten vor dir
darbringt. Erinnere dich der Eigenschaft deines Erbarmens und nimm
meine Opfer an . . . Einige erklären den Vers: im Zorn erinnere dich
der Liebe : sogar in der Stunde deines Zornes erinnere dich108." Während
der Anfang des Zitates also den früheren Gedankengang über die
Gerechten, die Gott in jedem Geschlecht preisen, fortführt und damit
die Deutung eines Verses aufnimmt, der dann auch in § 86 des Bahir
wiederkehrt, steht die Fortsetzung, aber nicht mehr im Namen R. Aki-
bas, am Ende von § 51 des Bahir. Dort ist sie dann mit einer neuen
Wendimg ins Sephirothsymbolische versehen. Das heißt also : bei der
Bearbeitung der alten Stücke ist gerade im Bahir immer ein neues
Element hinzugetreten das über die Quelle weit hinausführt. Gerade
die Endzeilen von § 51, deren Quelle wir solcher Art noch nachweisen
können, leiten dann zu jener Spekulation über die Tochter Abrahams
über, deren gnostische Symbolik wir oben kennengelernt haben.
Daß aber im „Großen Mysterium" auch schon Dinge zu lesen waren,
die in irgendeiner direkten Beziehung mit der Äonen-Spekulation
des Bahir standen, läßt sich aus diesen Zitaten ebenfalls nachweisen.
Im Bahir findet sich eine Liste der zehn Ma'amaroth oder Logoi Gottes,
die keineswegs mit der Liste der zehn Sephiroth des „Buches der
Schöpfung" identisch sind, aber zum Teil auf sie Bezug nehmen. Sie
sind hier schon mit einer Reihe von symbolischen Synonymen be-
zeichnet, die aufs engste mit der Symbolik der zehn kabbalistischen
Sinn gibt. Die Lesart des Bahir scheint besser, und die graphische Korruption in
den Handschriften ist leicht erklärbar.
110 Direkt hinter dieser Stelle fährt die Quelle dann mit dem oben besprochenen
zweiten Zitat des R. Meür fort, das ja ebenfalls am Ende, in R. Akibas Satz, vom Opfer
im Tempel des himmlischen Jerusalem spricht. Dieser Opferdienst ist in Hagiga 12b,
dem Fragment des Schi'ur Qoma, den „Visionen Ezechiels", dem 3. Henoch und
anderen Merkabatexten beschrieben. Vgl. zu der ganzen Vorstellung H. Bietenhard,
Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum, Tübingen 1961, S. 123 bis
Der Satz, daß das himmlische Heiligtum im Zentrum der Welt steht,
und alle sechs Richtungen trägt, welche zugleich den letzten sechs
Sephiroth entsprechen, steht im 4. Kapitel des Buches der Schöpfung,
das aber nichts von einer Beziehimg des Tempels zur siebenten Se-
phira weiß. Diese Zuordnung würde zu einer Bearbeitung der zehn
Sephiroth des Jesira im Sinne der Merkaba-Lehre und der ihr ent-
sprechenden Kosmologie passen. Die Fortsetzung des Satzes im Bahir
dagegen führt ein neues Element mystisch-gnostischer Spekulation
ein. Vom Denken oder dem Gedanken Gottes als einem Äon oder
einer Sephira wissen weder Jesira noch Raza Rabba. Im Bahir dagegen
liegt ein Schwanken zwischen zwei Vorstellungen vor: die eine sah,
ganz wie die Spekulation der alten Gnostiker über die Ennoia, in der
Mahschabha die höchste aller Sephiroth oder Äonen. Die andere brachte
sie, wie hier, mit der siebenten zusammen, was ziemlich rätselhaft
bleibt. An anderen Stellen des Bahir, §§ 48 und 84, ist der heilige
Tempel des himmlischen Jerusalem gerade als Symbol der höchsten
Sephira, die sich im Aleph als Anfang aller Buchstaben darstellt,
aufgefaßt. Die Logik der Jesira-Stelle, die als Ausgangspunkt diente,
weist in der Tat auf eine Zählung an siebenter Stelle; die Logik der
mystischen Symbolik der Ennoia, die offenbar aus anderer Quelle
hereingekommen ist, weist auf die erste. Man sieht deutlich, daß hier
zwei dem Ursprung nach verschiedene Motive miteinander ringen,
und das Buch Bahir hat beide Traditionen aufgenommen.
Zu einer Bearbeitung der Liste der zehn Sephiroth des Buches
Jesira im Sinne der Merkaba-Spekulation paßt auch das weitere Zitat
aus dieser Tafel im „Großen Mysterium". „Im .Großen Mysterium'
und im Buch Bahir gibt es etwas darüber, daß es zwei 'Ophannim,
Raeder [der Merkaba] gibt111, die unter Gottes Füßen hervorgehen,
wovon eines nach Norden geht und eines nach Westen, und diese
Ophannim gehen an jedem Orte [erstrecken sich überall?], und es
ist hier nicht der Ort für Erklärungen. Und er folgert dies dort [in
den angeführten Quellen] aus dem Vers Jes. 661 : ,Der Himmel ist
mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße', was heißt, daß
diese Ophannim ein Thron für das Obere sind und unter den sieben
Erden sind sie der Schemel meiner Füße." Fast all dies, mit Aus-
nahme der Bemerkung über die Ophannim als Thron, steht in § 115
des Bahir, wo diese beiden Kräfte als der neunte und zehnte Logos
bezeichnet werden. Unser Kommentator hat also in seiner Quelle des
137, und die (von B. nicht berücksichtigte) ausgezeichnete Arbeit von A. Aptowitzer,
„Das himmlische Heiligtum nach der Aggada" (hebräisch), Tarbiz, Bd. II, 1931,
S. 137—153, 257—287.
111
Die Ophannim waren schon in den Hekhaloth-Schviiten zu Engelwesen geworden,
sind aber nun noch mehr als das, und zu kosmischen Potenzen geworden. Das Hebräisch
des Textes ist, wie auch das von Bahir § 116, besonders armselig.
Mysterium" : „Denn Gott hat einen Sitz [Moschab] des Erbarmens", a. a. O. S. 237,
könnte eine Verbindung der Thron-Mystik mit den Hypostasen der Middoth anzeigen.
nach jener Stelle aufstieg, ihm mit seinem eigenen Antlitz entgegen-
getreten wäre. Dahinter könnten auch wohl weitergehende Annahmen
über das Wesen Moses' und Metatrons stehen.
Die Sprache der Zitate ist, ähnlich wie im Bahir, ein Gemisch von
Aramäisch und Hebräisch. Bei manchen Wechselreden hat man den
Eindruck, daß das Buch Raza Rabba ausgeschrieben, aber mit Zu-
sätzen in späterem Stil vermengt wurde115. Auf die Golem-Schöpfimg
115 Dies läßt sich für die lange Stelle vermuten, die ich hebräisch a. a. O., S. 227—230
gebracht habe, und deren Fortsetzung dann deutlich als aus dem Sod ha-Gadol stam-
mend bezeichnet wird (S. 232). Hier werden Worte eines Dankgebets im Text des
Schi'ur Qoma durch Gematria mit Engelnamen gleichgesetzt, was freilich eher späterer
italienisch-deutscher Tradition der Chassidim entspricht als den alten Merkaba-Texten,
für die diese Art der Beziehung aller Worte in Gebeten auf Engelnamen sonst noch
nicht nachgewiesen ist. Das Zitat, das übrigens nicht aramäisch, sondern fast rein
hebräisch ist, hat freilich nur die loseste Verbindung mit dem hier gedeuteten Engel-
namen Mi Jad'el (in zwei Worten ! wörtlich : wer ist die Hand Gottes ?). Hier lesen wir :
„Und das ist die Erklärung. Mi Jad'el ? Jener singt: wer verkündet die Machterwei-
sungen des Namens ? Und El [in den Engelnamen] ist ein Ausdruck für Kraft, wie es
an vielen Orten heißt. [Von hier beginnt scheinbar das Zitat der älteren Quelle], Und
mit jener Preisung ist Gott gelobt [nämlich in dem Gebet aus Schi'ur Qoma], denn
kein Geschöpf kann ihn gebührend preisen und auch nur ein wenig von seinem Lob
zum Ausdruck bringen. Dies sind die Worte des R. Akiba. [In den Pirqe R. Eliezer Kap. 3
steht grade dieser Satz fast wörtlich im Namen des R. Eliezer!] R. Ismael sagt: Mi
Jad'el, d. h. wer wäre etwa Gottes Ratgeber ? Gott bedarf ja [Rat] von nichts, anders
als ein irdischer König, der seine Herrschaft mit seinen Räten teilt, damit sie ihm
angemessenen Rat erteilen. Gott aber ist nicht so. R. Akiba sagte zu ihm: Es heißt
doch aber: wir wollen einen Menschen schaffen, was darauf weist, daß er die himmlische
Akademie um Rat fragte ? R. Ismael sagte : das tat er nur ihrer Ehre halber und um sie
zu erhöhen. Und wisse, daß wenn er sie um Rat gefragt hat, er nicht nach ihm ge-
handelt hat, denn sie haben gesagt [Ps. 8 5] Was ist der Mensch, daß du an ihn denken
solltest usw. R. Akiba sagte: es heißt doch aber, daß an jedem Ort, wo die Tora den
Ausdruck 'und Gott' gebraucht, damit er und seine Akademie gemeint sind ? R. Ismael
antwortete ihm: in der Tat ist es so, aber auf jeden Fall kommt der eigentliche Rat
von Gott und er bedarf keines Rates, sondern der Rat [d. h. hier wohl seine himmlische
Akademie] bedarf seiner, um von ihm Zufluß [ S c h e p h a Ü b e r f l u ß oder Influxus]
zu erhalten, anders wie beim irdischen König, der des Rates bedarf. R. Nechunja ben
Haqqana sagte zu ihnen: wie lange werdet ihr die Hauptsache beiseite lassen und
euch mit Nebensächlichem beschäftigen ? Mijad [im Engelnamen Mijad'el] bedeutet
wirklich Hand, Jad, und jener Engel lobt Gott und sagt: wer ist die Hand Gottes ?
Das heißt: wer könnte von sich sagen: ich bin die Hand Gottes?, womit gesagt ist,
daß Gott keine Hand hat. Und es gibt keinen größeren Preis als diesen, denn alles,
was eine Hand hat, braucht auch eine Hand, Gott aber, der keine Hand hat, braucht
keine Hand [d. h. Hilfe und Unterstützung von andern]. Sie sagten zu ihm: es heißt
doch aber [Hiob 12 10] : in seiner Hand ist die Seele alles Lebendigen ? Er antwortete
ihnen: um es dem Ohr auf eine Weise zu erklären, die es verstehen kann. Und so wie
er keine Hand hat, so hat er auch keinerlei anderes Glied, denn alles, was ein Glied hat,
bedarf eines Gliedes, und dies läßt sich nicht von Gott sagen, daß er irgendeiner Sache
wird hier in einer Weise Bezug genommen, die eng mit § 136 zu-
sammenhängt, ohne daß klar wäre, ob der Passus dem Kommentator
angehört oder seiner Quelle. Es heißt hier: „Wenn ein Mensch eine
Kreatur durch das Buch Jesira erschafft, so hat er die Kraft, alles
zu schaffen außer einer Sache"11β. Welches diese Sache ist, wird nicht
bedarf . . . Und in der Stunde, wo sie die Preisung sagen, erheben sie [die Engel] sich
vor den himmlischen Vorhang, aber nicht ganz vor ihn. [Hiernach erklärt er weitere
Engelnamen, die Worten des Gebetes im Schi'ur Qotna zugeordnet sind:] Raphael, der
in seiner Preisung Gott Prunk gibt [P'er, Prunk h a t dieselben Konsonanten wie Rpha'
in Raphael], der ihn zum Boten gemacht hat, um Israel zu heilen, so daß kein anderer
Engel in seinen Grenzbereich [Befugnis] einbricht. Dies sind die Worte R. Nechunjas.
R. Akiba und R. Ismael sagten zu ihm: du hast uns doch öfters gesagt, daß er singt:
wer ist es, der sagen kann, er habe Heilung erlangt, und nicht von Gott ? [Er ant-
wortete] : meine Kinder, dies und jenes sind Worte des lebendigen Gottes. Sie sagten
zu ihm: man kann doch aber unmöglich zwei [entgegengesetzte] Worte zusammen
sagen. Er antwortete ihnen: all dies ist ein einziger Sachverhalt. Sie sagten zu ihm:
erlaube uns, ein Wort vor dir zu sagen [eine Wendung wie in den Merkaba-Stiicken in
Hagiga 14b], E r sagte: sprecht. Sie sagten zu ihm: er heißt so, weil er das Lied des
Königs [das dem König gesungen wird] heilt. Er antwortete ihnen : das ist das Werk
eines anderen [Engels], und keiner h a t oben [im Himmel] die Macht, in den Bereich
seines Gefährten einzubrechen . . . Gabardael kündet den Preis seines Schöpfers und
sagt: wer könnte kommen, dessen lirait, Gebura, so ist, daß er eine einzige von Gottes
Handlungen aufheben könnte ? Dies die Worte des R. Nechunja ben Haqqana. R. Akiba
und R. Ismael sagten zu ihm : du hast uns doch öfters gesagt, daß er Gibbor, Kraftvoller,
heißt, weil seine K r a f t größer ist als die Sammaels [des Satans], Wenn z. B. Sammael
kommt und den König oder Fürsten aufreizt, den Juden Böses anzutun, so h e b t er
[dieser Engel] seinen Plan auf, wie es heißt [Reg. I, 8 50] : ich errege Erbarmen bei
ihren Fängern, so daß sie sich ihrer erbarmen. Und so ist der Zahlenwert von Gabardael
[nämlich 248] so viel wie von rahem, was ein Ausdruck für Erbarmen ist. E r sagte zu
ihnen: labt mich mit Erquickungen, denn an meinen Worten war nichts. In jener
Stunde erscholl ein Lachen in der Merkaba und man sagte: die Schüler haben ihren
Lehrer besiegt. Da erging eine himmlische Stimme und sagte : auf alle ist der Mensch
eifersüchtig außer auf seinen Sohn und seinen Schüler [Sanhédrin 105 b]. Sie begannen
zu lachen. Er sagte zu ihnen: geht und ißt am Morgen euer Brot und trinkt guten
Mutes euren Wein, denn wir alle sind für das Leben der künftigen Welt vorgemerkt.
Sogleich stiegen sie zur Merkaba herab, und alle Bewohner der Höhe machten ihnen
Bahn, bis sie zum Fürsten des Antlitzes [Metatron] kamen, und fragten alle ihre Zweifel
und kehrten in Frieden zurück, und verdoppelten an jenem Tage das Gut [der Text
ist vielleicht zu verbessern — 1S73¡? s t a t t 1*7BD —: und sie bestimmten jenen Tag zu
einem Festtag]. Und fürder stieg R. Nechunja ben Haqqana nicht mehr mit ihnen
herab, sondern er allein und sie allein." Diese merkwürdige Angelologie bestätigt
vielleicht das alte Zeugnis über den Inhalt des Raza Rabba, das dann jedenfalls ein
späteres Stadium der Angelologie darstellt als die anderen Merkaba-Schriften.
Ii« Ygi a - a o . , S. 231. Der in diesem Zusammenhang zitierte Vers Ps. 8 β wird
ebenfalls im Bahir § 136 angeführt. Die Formulierung der Stelle in dem Schi'ur Qoma-
Kommentar ist für das Milieu der deutschen Chassidim charakteristisch, die ebenfalls
gern von der Schöpfung einer „ K r e a t u r " durch das Buch Jeçira sprechen, s t a t t den
gesagt, es dürfte aber wohl die Sprache sein, wie in manchen Parallel-
texten und im Bahir. Dieser Satz kann natürlich, gerade da er sich
ausdrücklich auf das Buch Jesira beruft, dem Kommentator angehören.
Die unmittelbare Fortsetzung freilich, die auf Quellen im „Großen
Mysterium" zurückgreift, setzt die angelologischen Zitate, die voran-
gingen, mit der Bemerkung fort: „es gibt Handschriften, in denen
es heißt . . . " , als ob auch das Vorhergehende in allen Handschriften
stünde, das jetzt folgende aber nur in einigen. Es ist aber wohl mög-
lich, daß gerade der Satz über die Golem-Schöpfimg eine Zwischen-
bemerkung des Autors ist. Wenn nicht, wäre das noch bedeutsamer.
Das Ergebnis bleibt klar: das Buch Bahir ist nicht unter völlig
neuer Inspiration gnostischer Art verfaßt, sondern konnte auf Quellen
zurückgreifen, die uns teilweise in diesen Analysen bekannt wurden,
teilweise erschlossen werden konnten. Diese Quellen, die nicht ein-
heitlicher Art sind, waren aus dem Orient gekommen, wo ihre Ent-
stehung im Zusammenhang sei es mit der Merkaba-Literatur, sei es
mit anderer rein gnostischer Überlieferung, verständlich ist, während
sie im Abendland rätselhaft wäre. Es bleibt aber durchaus fraglich,
ob die Überlieferung dieser Fragmente von mündlicher Tradition
begleitet war, die schon in der Richtung gelegen hätte, die dann die
Kreise einschlugen, die über diese Fragmente meditierten. Es würde
durchaus zu allem oben Gesagten passen, diese Kreise irgendwo in
Frankreich in Verbindung mit der esoterischen Tradition der deut-
schen Chassidim zu suchen. Irgendwann zwischen 1130 und 1170
gelangten die Blätter dieses Ur-Bahir nach der Provence und wurden
dort jener letzten Umarbeitung und Redaktion unterzogen, in der
das Buch uns zugekommen ist. Von der eigentlichen Entwicklung
des deutschen Chassidismus selber ist das Buch in seiner Vorstellungs-
welt nur schwach berührt.
In den Schriften des Eleazar aus Worms wird das Epitheton „höchste
Krone" einige Male deutlich von einem der Namen Gottes gebraucht,
aber nicht als Beiname der ersten Sephira120. In § 96 erhält sie aber
einen geradezu göttlichen Stand, der die Frage aufkommen läßt,
ob überhaupt etwas darüber zu denken ist. „Welches sind die zehn
Logoi? Erstens: Kether *Eljon, gelobt sei und hochgepriesen sein
Name und sein Volk. Und wer ist sein Volk ? Israel, wie es heißt [Ps.
100 3] : .Wisset, daß JHWH Gott ist, er hat uns gemacht und nicht
wir' — den Einen unter allen Einen zu erkennen und zu wissen, der
Einer ist in allen seinen Namen." Die Ambiguität dieses Satzes ist
auffällig. Die höchste Krone ist dem Sinn des Bildes nach eine Krone
des Königs selber, der sich durch sie, wenn auch noch so verborgen,
als König manifestiert. Die Lobpreisungsformel, die doch eigentlich
Gott, dem Träger der Krone, gilt, ist auf die Krone selbst übertragen121.
Daß der Autor dieser Tafel im Bahir dabei deutlich an die Sephiroth
des „Buches der Schöpfung" dachte, wird gerade durch diese Formel
bewiesen. Von der ersten Sephira heißt es dort nämlich (I, 9), sie sei
„der Geist des lebendigen Gottes, gelobt und gepriesen sei der Name
des ewig Lebendigen". Die Eulogie, die sich hier klar auf den leben-
digen Gott selber bezieht und nicht auf seine Sephira, ist in leichter
Variierung im Bahir, mindestens der grammatischen Konstruktion
nach, auf die Sephira selber übertragen worden. Andererseits weist
der philosophische Ausdruck „der Eine unter allen Einen", den wir
schon S. 59 als neuplatonisch charakterisiert haben, eher auf den
Träger der Krone als auf sie selber hin. Daß Gott „in allen seinen
Namen Einer ist", lesen wir auch im Kommentar des Jehuda ben
Barzilai zu Jesira122; das ist aber wohl eine Wendung, die sich auch
in anderen Schriften finden dürfte. Jedenfalls scheint es, als ob diese
spekulativen Zusätze der letzten Redaktion in der Provence ange-
hören. Die Tafel, deren älteste Form im Raza Rabba stand, ist in
einem Milieu redigiert worden, das schon von Formeln und Begriffen
anderer Herkunft durchtränkt war.
1!!
° So in Eleazars Erklärung des Pijut T 3 ΪΓΠΧΠ, Hs. München 92, Bl. 26b, der
über die Gottes-Prädikation „der Allmächtige" sagt: „So auch heißt sein Name
höchste Krone." In seinem Sepher ha-Hokhma Hs. Oxford 1668, Bl. 6b heißt es, Gott
habe dem Moses einen klaren Spiegel gezeigt, „und das ist die höchste Krone, die auch
die zehnte Königsherrschaft heißt." Hier wird also die zehnte Sephira, die die „Königs-
heiTschaft" schlechthin ist, mit dem Namen „höchste Krone" ausgezeichnet,
eine Symbolik, die der im Buche Bahir widerspricht. In den bisher bekannten
Merkabatexten selber habe ich den Begriff einer „höchsten Krone" nicht ge-
funden.
m
Kether, die Krone, ist im Hebräischen maskulin, so daß die Apposition „gelobt
sei er" ebenso wohl auf Kether gehen kann als auf den Träger der Krone.
122
Ed. 1885, S. 13, letzte Zeüe.
Damit stellt sich auch die Frage der Herkunft der anderen Benen-
nung der ersten Sephira, die nicht nur in sonderbar veränderter Form
in der weiteren Aufzählung dieser Tafel in § 103 auftritt, sondern noch
an einer ganzen Reihe von Stellen, in §§ 48, 53, 59, 60, 94, 134. An
ihnen wird vom Denken oder Gedanken Gottes, Mahschabha, als der
verborgensten Sphäre, aber auch als dem innersten Zentrum der sechs
ersten Logoi gesprochen. Nicht der göttliche Wille des Salomo ibn
Gabirol und seiner neuplatonischen Quellen, von dem Bahir über-
haupt nichts weiß, sondern gerade der Gedanke oder die Ur-Idee ist
die innerste Stufe, zu der alle Meditation und alles Verständnis Gottes
vordringen kann. Stammt diese Terminologie nun aus gnostischer
Tradition, wo ja in mehreren Systemen der „Gedanke", die Ennoia,
ebenfalls als oberster Äon im Pleroma aufgefaßt wird 123 ? So auch
steht in §134 geradezu der „Gedanke" den anderen „Kräften", in
denen sich Gott manifestiert, gegenüber. Oder haben wir den Ur-
sprung dieser Terminologie bei jüdischen Neuplatonikern zu suchen,
von denen sie dann erst im 12. Jahrhundert ins Bahir übernommen
und hereingearbeitet worden wäre? Für die Frage des Charakters
der aus dem Orient gekommenen Quellenschicht des Bahir wäre die
Entscheidung dieser Frage zweifellos wichtig, und dennoch wage ich
keine Antwort und muß sie offen lassen. Jedenfalls können wir
statuieren, daß bei Abraham bar Chija, dem jüdischen Neuplatoniker,
den wir schon in Abschnitt 1 dieses Kapitels als eine Quelle der letzten,
provençalischen Schicht des Bahir kennengelernt haben, das „reine
Denken", Mahschabha tehora, als Bezeichnung für die göttliche Ur-
Idee auftritt, die allem vorangeht und alles in sich umfaßt. In ihr be-
standen, der Potenz nach, und waren verborgen die beiden „höchsten
Prinzipien" oder „obersten Wurzeln", welche die Ur-Materie und
Ur-Form sind, bis sie der göttliche Wille miteinander verband124.
Diese reine Mahschabha wird nun auch im Buch Bahir zum höchsten
Rang und noch über die Sophia Gottes hinaus erhoben.
Dabei wird nun an allen diesen Stellen eine einzige Eigenschaft
dieses Denkens hervorgehoben, welche im Sinne des Bahir das mensch-
liche Denken mit dem göttlichen verbindet, nämlich seine Grenzen-
losigkeit. Beide Arten der Mahschabha werden zueinander in Parallele
gesetzt, ohne daß klar gesagt würde, daß die eine zur anderen führt,
123 Über die Ennoia in der Gnosis vgl. z. B. die Nachweise bei F. Sagnard, la Gnose
Valentinienne, Paris 1947, S. 640, im Register s. v. ivvoia, und bei W. Bousset,
Die Hauptprobleme der Gnosis, Göttingen 1907, S. 160—162 (bei den Simonianern
und Barbelognostikern).
124 Abraham bar Chija, Hegjon ha-Nephesch, Bl. 2a. Viele Kabbalisten des 13. Jhs.
benutzten diesen Ausdruck „das reine Denken" als festen mystischen terminus techni-
cus. Vgl. dazu unten Kap. III, Abschnitt 5. Nach Gabirol, Fons Vitae V, 10 sind
Materie und Form potenziell in Gottes sapientia separat vorhanden.
wie etwa in der Kabbala der auf Bahir folgenden Generationen. Man
darf aber vermuten, weil nur so die Parallele einen vollen Sinn erhält,
daß auch hier das reine Denken des Menschen, das jeden konkreten
Inhalt von sich fernhält, und nicht über einen bestimmten Gegenstand,
sondern über sich selber meditiert, in solcher reinen Meditation auf
das göttliche Denken hinführt und mit ihm in Kommunion tritt.
Damit zeichnet sich hier, wenn ich die Andeutungen von § 60 richtig
verstehe, der Beginn einer mystischen Meditationsmethode ab, die
eigentlich gar nicht mehr des Apparates der Äonenlehre bedarf, sondern
geradenwegs auf ihr mystisches Ziel losgeht. Wenn die Äonen-Speku-
lation sich mit ihr verbindet, wie in der jüdischen Form, in der sie
sich in der Schlußredaktion des Bahir repräsentiert, so nicht, weil
dieser Weg für sie notwendig wäre, sondern aus historischen Gründen,
weil nämlich jenen, die die Mystik der Mahschabha entwickelt haben,
diese anderen Vorstellungen schon geläufig waren. Es ist für das Ver-
ständnis dieser ältesten Kabbala wichtig, die einschlägigen Haupt-
stellen zu analysieren.
Ein gewisser Übergang von der menschlichen zur göttlichen Mah-
schabha läßt sich in einer Stelle über das Gebet vermuten, wo davon
die Rede ist, daß der Betende — der Prophet Habakuk in seinem
Psalm — an einen mystischen „Ort" gelangt, von dem aus er die
Mahschabha Gottes versteht. Diese Mahschabha wird in drei wich-
tigen Symbolen repräsentiert gefunden: im Konsonanten 'Aleph,
dem Anfang aller Sprache und allen Ausdrucks, der „Wurzel der zehn
Gebote" (die mit 'Aleph beginnen); das Ohr des Menschen, 'Ozen,
das ein Abbild des Aleph ist, durch das der Mensch das Wort Gottes
vernimmt (§§ 48, 53, 95) ; der Tempel des Heiligtums. Die letztere
Symbolik ist besonders auffällig, denn während sie an den meisten
erwähnten Stellen deutlich auf die höchste Potenz Gottes bezogen
wird, wird sie in § 103 als der siebente Logos bezeichnet, der als der
heilige Tempel alle anderen — offenbar die vorangehenden sechs —
trägt. „Und was ist er [dieser Logos] ? Das Denken, das kein Ende
und Abschluß, Takhlith, hat. So hat auch dieser Ort kein Ende und
Abschluß." In § 48 heißt es aber: „das Ohr ist das Abbild des Aleph
und das Aleph der Anfang aller Buchstaben, und nicht nur dies,
sondern Aleph bedingt den Bestand aller Buchstaben, und Aleph
ist ein Abbild des Gehirns [des Sitzes des Denkens]: wie man beim
Aleph, spricht man es aus, nur den Mund öffnet [und keinen hörbaren
Laut hervorbringt, der schon etwas Bestimmtes wäre], so geht auch
das Denken ohne Ende und Abschluß". Selbst das Tetragrammaton
ist, wie hier aus Micha 2 13 herausgelesen wird, „in ihrem [das heißt
aller Dinge oder aller Buchstaben] Anfang beschlossen", welcher
Anfang eben die Mahschabha ist. Der Name JHWH selbst erhält
seine Heiligkeit, wie es dort weiter heißt, in dem Tempel des Heilig-
Scholem, Kabbala 8
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114 Das Buch Bahir
turns, dessen Ort „in der Mahschabha ist, und dies [der Tempel] ist
das Aleph"125. Der Tempel im himmlischen Jerusalem, das kosmo-
logische Symbol, das der Bahir-Autor, wie wir sahen, aus dem „Buch
der Schöpfung" und dem „Großen Mysterium" entliehen hat, ist
bei ihm ein mystisches Symbol geworden. Das unendliche göttliche
Denken, das allem vorangeht und alles in sich schließt, ist der mystische
„Tempel", in dem alle geistigen Wesen ihren Ort haben. Als Habakuk
in der „Wonne" oder „Verzückung" seines Gebetes an einen gewissen
„Ort" kam, verstand er von dort aus Gottes Mahschabha und Gottes
Schema*, was in diesem Zusammenhang soviel heißt wie die durch
das Ohr bezeichnete höchste Sphäre der Audition oder das, was von
Gott vernommen wird, das „Gerücht" oder „Gehör" von Gott. Wer
dies versteht, wird von Gottesfurcht erfüllt, und daher betete Habakuk
(3 2): „Gott, ich habe dein Vernehmen vernommen und fürchte".
Da im Hebräischen das Verbum hoeren sowohl diese eigentliche Be-
deutung als auch die des denkenden Verstehens hat, ist der Zusammen-
hang zwischen den Sphären des Denkens und der Audition, der im
Bahir hergestellt wird, nicht überraschend. Von diesem Denken als
der höchsten und verborgenen Potenz wird im Gleichnis von dem
König gesprochen, „einem zurückgezogenen, wunderbaren, verbor-
genen König, der in sein Haus ging und befahl, daß keiner nach ihm
verlange. So hat jeder, der [ihn] verlangt, Furcht, der König möchte
erfahren, daß er sein Gebot übertritt" (§ 48). Die Epitheta des Königs
hier sind genau die, die im § 32 von dem höchsten Logos, nach dem zu
fragen verboten ist, gebraucht werden. Als „König, dessen alles Er-
schaffene bedarf", wird das Denken, aus dem „Ohr und Auge schöpfen"
in § 59 bezeichnet.
Diese Symbolik des Tempels für das tiefste göttliche Denken könnte
sehr wohl aus einer ganz ähnlichen Symbolik des „Tempels" ver-
standen werden, unter der 150 Jahre später Meister Eckhart neben
so vielen anderen Metaphern den höchsten Bereich der Seele, ihr „ver-
nünftiges Erkennen" umschreibt. Die „Vernünftlichkeit" der Seele,
wie Eckhart die Vernunft in ihrem höchsten Stande nennt, ist ihr
reines Denken, in dem sie sich mit Gottes intelligere berührt, ja in
dem sie diese Vernunft Gottes selber ist. „Wo ist Gott denn in seinem
Tempel, in dem er sich in seiner Heiligkeit offenbart? Vernunft ist
der .Tempel Gottes'. Nirgends wohnt Gott eigentlicher, als in seinem
Tempel, der Vernunft, wie jener andere Meister [Aristoteles] sagte:
Gott sei eine Vernunft, die im Erkennen ihrer selbst lebt . . . denn
dort allein ist er in seiner Stille126." Die Symbolik ist dieselbe, obwohl
im Bahir wohl ein anderer Ausgangspunkt vorliegt als bei Eckhart,
125
So auch in § 84, wo zwar das Aleph und der Tempel, aber nicht die Mahschabha
erscheinen.
128
Meister Eckhart, die deutschen Werke, 1. Bd., 1957, S. 150 und 464.
schaphel le-Sopheh de-'Alma, „steigt bis ans Ende der Welt hinab", anscheinend, um
das hebräische Wort für hinabsteigen zu vermeiden, das er in § 60 gerade im Zusammen-
hang mit dem „Denken" verbietet.
8*
über das oder an das man denkt, ist hier sicher noch nicht die
Rede128.
Zwischen dieser höchsten Mahschabha und den Kräften und Po-
tenzen Gottes, in denen sie sich „ausbreitet", was ein technischer
Ausdruck für Emanation sein kann oder auch nicht129, besteht eine
Beziehung, die nach § 134 den Gegenstand von Moses Bitte (Ex.
3318) : „Laß mich deine Herrlichkeit erkennen" bildete. „Moses sagte:
Die Wege der Kräfte weiß ich, aber ich weiß nicht, wie die Mahschabha
sich in ihnen verbreitet; ich weiß, daß in der Mahschabha die Wahr-
heit ist [ein anderer dieser Äonen, der nach § 94 'durch die Mahschabha
wirkt*], aber ich weiß ihre [der Wahrheit] Teile nicht130 und möchte
es wissen — aber man ließ es ihn nicht wissen". Dieses Nichtwissen
zeigt einen älteren Zustand der kabbalistischen Spekulation an, die
im 13. Jahrhundert, was Moses hier noch nicht weiß, sehr wohl zu
wissen glaubte, und es sogar den Moses selbst ausdrücklich wissen
ließ131.
Die zweite und dritte Sephira werden in §§ 13, 18, 32, 95 mit der
ersten, im Aleph symbolisierten zusammengedacht. Nach § 13 geht
der mystische Ort des Aleph sogar dem Ursprung der Tora voran,
die daher erst mit Beth, im Worte Bereschith beginnt. Nicht nur in
der Logoi-Tafel von § 96, sondern auch in den übrigen Teilen des
Buches fehlen Bezeichnungen der zweiten und dritten Sephira aus
dem Umkreis der Merkaba-Mystik, was ich nicht für zufällig halte.
Die Begriffe, unter denen sie dann durchweg in der Kabbala bekannt
sind, Hokhma und Bina, finden sich auch schon hier, Hokhma an
vielen Stellen, Bina nur in §§ 32 und 74.
Daß die zweite Sephira gerade als „Anfang" bezeichnet wird, ist
gewiß aus Prov. 822 verständlich, wo die Weisheit sagt: „Gott er-
schuf mich als Anfang seines Weges", enthält aber doch auch eine
weitere Implikation, die schon den Autoren des Bahir nicht fern-
gelegen haben wird. Die erste Sephira ist noch gar kein eigentlicher
„Anfang", sie ist noch ganz verborgen und vielleicht sogar anfanglos,
128
Graetz erklärt, der Ausdruck 'En-soph sei im Bahir nur „hingehaucht", vgl.
Bd. VII 4 , S. 402. Das trifft aber die Sache nicht, wie oben dargelegt. Ehrenpreis, die
Entwicklung der Emanationslehre in der Kabbala, Berlin 1896, S. 22 leugnet das Vor-
kommen des Terminus mit Recht. Zur Frage des Terminus Έη-soph vgl. dann in Kap. 3
p. 233-237.
128
Hithpaschet hat in der philosophischen Literatur der jüdischen Neuplatoniker
diese technische Bedeutung.
130
Das maskuline Suffix in halaqaw muß auf 'Emeth gehen, das im mittelalterlichen
Hebräisch stets männlich gebraucht wird, nicht (wie ich zuerst in meiner Übersetzung
und im Kommentar dazu annahm) auf das feminine Mahschabha.
1S1
Vgl. dazu Moses de Leon, Mischkan ha-'Eduth, Hs. Berlin Or. Q. 833, Bl. 41b.
Daß Moses nur die Kräfte Gottes, nicht sein Wesen erfaßte, sagt übrigens schon Philo,
de spec. leg. I. § 44ff.
unerschaffen und nicht von Gott selbst, dessen höchste Krone sie
darstellt, zu trennen. Dies freilich wird hier nie gesagt, aber die Kon-
sistenz, mit der das Bild der Quelle für die Weisheit an den verschie-
densten Stellen gebraucht wird (§§ 3, 4, 15, 82, 85, 121), weist in diese
Richtung. In § 4 beginnt, wie wir in einer früheren Analyse gesehen
haben, das Pleroma selber erst mit dem mystischen Beth, das nicht
nur der Segen Gottes ist, sondern auch der Teich, aus dem alles ge-
tränkt wird, besonders aber der Garten, der die Welt der Logoi oder
aber den letzten unter ihnen, umfaßt. Es ist schwer zu sagen, ob die
mystischen Gleichnisse, die in diesem Zusammenhang an mehreren
Stellen angeführt werden, gepreßt werden dürfen. In diesem Fall
würde der Quell aus den starken Felsen, dem Urgestein der ersten
Sephira, die der König gesprengt hat, entspringen. Jede Aktion inner-
halb des Pieromas beginnt jedenfalls, sowohl in den Gleichnissen als
auch in direkten exegetischen Ausführungen, stets erst von diesem
Ort. Der Weltenbaum selber wird, wie wir sahen, von hierher be-
wässert (§§ 15, 85, wobei § 15, wie wir S. 62-63 sahen, Umdeutimg
des älteren Mythos über den Weltenbaum in § 14 ist). Diese Sophia
ist natürlich auch die Ur-Tora, was der aggadischen Gleichsetzung
der beiden Begriffe, aber auch der aggadischen Identifikation von
Quellwasser, frischem Wasser und Wasser überhaupt mit der Tora
entspricht132. Der kosmische Baum, von dem die Seelen ausgehen,
konnte, auch wenn das nicht seine ursprüngliche Bedeutung war,
mit einigem Mut auch auf die Tora selbst gedeutet werden, wie das
zum Beispiel § 8 und § 15 tun. Interessant ist § 8, wo die Tora der
verborgene Anfang der Welt ist. Schon der Midrasch133 deutet die
Wortfolge in Gen. 11 : „Erst als er das, wessen seine Welt bedarf,
Sorkhe Olamo [also die Tora, die auch Anfang heißt], erschaffen hatte,
erwähnte er [als drittes Wort des Verses] seinen Namen ['Elohim]".
So heißt es auch im Bahir: „Am Anfang schuf er, und was schuf er?
Was das All bedarf, Sorkhe ha-Kol, und dann erst heißt es 'Elohim".
Das, was das All nötig hat, ist im mythischen Bild von § 14 der Welten-
baum, in der harmloseren aggadischen Umdeutung von § 8 und § 15
aber die Tora, die auch Gottes Sophia ist. Nachdem er diese Quelle
„ausgegraben" hat, wie in § 4, pflanzt er den Weltenbaum, dessen
Wurzel,- die dritte Sephira, von hier aus bewässert wird. Dies dürfte
die harmonistische Exegese sein, die den Redaktoren des Bahir bei
der Nebeneinanderstellung dieser ursprünglich so verschiedenen
Stellen vorgeschwebt hat 134 .
1,2
Nachweise über die Gleichsetzung von Weisheit und Tora ζ. B. bei Strack-
Billerbeck, Bd. I I , S. 353; über die von Wasser und Tora ibid. I I , S. 436.
M» Bereschith Rabba, P. 1, § 12, ed. Theodor, S. 11.
184
Es ist auch möglich, daß auf die Weisheit sich die nicht durchsichtige Stelle in
§ 65 bezieht, wo Eccl. 5 8 mystisch gedeutet wird. Die drei Worte des Verses Jithron
Kreis. Weiterhin heißt es im Buch Jesira (1,10) gerade von der zweiten
Sephira, der Luft, die aus dem Pneuma Gottes hervorgegangen ist,
daß er die 22 Buchstaben dort „eingegraben und ausgehauen" hat.
Beide Angaben sind im Bahir also vereinigt und auf die dritte Sephira
übertragen worden. Diese enthält damit in einem gewissen Sinn Form
und Materie zugleich. Freilich ist dies keine Materie im Sinne der
Vorstellung von der Hyle als Ort des Bösen, wie sie Bahir für das
Tohu kennt, sondern eine durchaus positiv gewertete Materie des
Pneuma, in dem Gott seine „ F o r m e n " herstellt. Daß damit ein ge-
wisser Widerspruch zwischen dem Pneuma und der Urtora geschaffen
wird, die beide zugleich als Medium dieser Formung und „Behauung"
dienen, ist unverkennbar. Man könnte sagen, der dritte Logos sei
überdeterminiert: die Symbolik der Sophia und ihres Schatzhauses
ist mit der aus dem Jesira-Buch genommenen des Pneuma Gottes
und der in die daraus hervorgegangene Luft eingegrabenen Buch-
staben weniger vereinigt worden als durcheinander geraten.
Während die eben besprochenen Symbole der Bina aus historisch
faßbaren Spekulationen stammen, sind andere im Bahir schon ohne
solche Zusammenhänge, aus mystischen Exegesen über Bibelverse
entwickelt worden. Dazu gehört zum Beispiel ihre Auffassung als
„Gottesfurcht", Jir'a, in §§ 72 und 130, als „obere Gerechtigkeit"
in §§ 50 und 133, oder die Deutung von Hab. 3 4 als Beschreibung
dieser Sephira in §§ 98, 129, 130. Mit dem Urlicht der Schöpfung,
dessen Erfassung die höchste Seligkeit, das „verborgene G u t " ist,
wird diese Potenz in §§ 98 und 131 zusammengestellt, was aus den
übrigen Symbolen folgt, mit denen dort dies Urlicht bezeichnet wird.
E s ist selber zugleich das Licht der kommenden Welt, welcher Aus-
druck in § 106 auf die ewige Gegenwart dieses verborgenen Urlichts
gedeutet wird : „Was bedeutet es, daß wir jeden Tag von der .kommen-
den Welt', 'Olam ha-ba', sprechen, und wissen nicht, was wir sprechen ?
Die .kommende Welt' übersetzt der Targum [als Präsens] mit ,die
Welt, welche kommt'. Und was bedeutet d a s ? Das lehrt, daß vor
der Weltschöpfung es im Plan [wörtlich : in der Mahschabha] aufstieg,
ein großes Licht zum Leuchten zu schaffen. D a wurde ein großes Licht
erschaffen, das keine Kreatur hätte ertragen können. Gott sah voraus,
daß sie es nicht würden ertragen können; da nahm er ein Siebentel
davon und gab es ihnen stattdessen. Das Übrige aber verbarg er für
die kommende Welt. E r sagte : werden sie sich dieses Siebentels würdig
zeigen und es bewahren, so werde ich ihnen das Übrige in der anderen
Welt geben, und das meint ,die Welt, die kommt' — die schon von
den sechs Tagen der Schöpfung her kommt." Diese mystische Deutung
der „kommenden Welt" als ein Symbol der dritten Sephira spielt in
der weiteren Entwicklung der Kabbala, die sich dafür stets auf Bahir
beruft, eine große Rolle. Der Äon, aus dem als Mutter alles kam, ist
auch der Äon, zu dem alles heimkehrt. Warum dieser Welt gerade
ein Siebentel des Urlichtes gegeben wurde, läßt sich rein exegetisch
aus Jes. 30 22 verstehen, wo es heißt, daß dereinst „das Licht der
Sonne siebenfach sein wird wie das Licht der sieben Tage", das heißt
wie das Urlicht der Schöpfung (§§ 37, 39). Zugleich freilich weist es
wohl auch auf die siebente Sephira hin, die aus diesem Urlicht von
Bina, das sich in den sieben Urtagen der Schöpfimg verteilt und aus-
breitet, stammt. Dieses Siebentel ist dann also die letzte der zehn
Potenzen Gottes und ist das Licht, das in der „mündlichen Tora"
scheint, das heißt in der im Leben anwendbaren Halakha, an der sich
Israel zu bewähren hat. Wenn sie das tun, so „wird der Abglanz der
vom Urlicht genommen wurde, dereinst wie das Licht selber sein"
(§ 98). Während hier das Licht, das aus dem Urlicht genommen wurde,
„mündliche Tora" heißt, wird es in § 116 als die untere Schekhina
bezeichnet. Dieses tertium comparationis hat die Verbindung her-
gestellt, die dann in der Kabbala zwischen diesen beiden Symbolen
der Schekhina und der mündlichen Tora besteht.
Eine Folge der ersten Sephiroth, vor allem der ersten drei, scheint
auch in § 34 vorzuliegen, der wie viele andere Stücke in diesem Teil
wie eine Umarbeitung älterer kosmogonischer Fragmente ins Sym-
bolische hin wirkt. Hier scheinen hintereinander aufgezählt der „An-
fang", das Pneuma oder die Stufe, aus der die Seelen kommen, der
„Bach Gottes", das Silber und das Gold. Der Übergang von kos-
mogonischer Exegese zu mystischer ist hier handgreiflich. Die Idee,
daß Gott von den Urwassern der Schöpfung nahm, und die eine Hälfte
davon ans Firmament, die andere in den Ozean tat, ist gute alte
Aggada13®. Aber hier sind diese „Wasser" im „Bach Gottes" vom
Ps. 65 io schon etwas anderes, eine pneumatische Kraft, „durch die
der Mensch zum Torastudium gelangt, wie der Herr gelehrt hat [ein
mir unbekanntes Zitat, das hier dem Rabbi Berachja zugeschrieben
wird] : Durch das Verdienst der guten Werke gelangt der Mensch zum
Torastudium". Hier sind also zwei Motive, die sich eigentlich wider-
sprechen: Einmal ist das Wasser das der Tora, zum anderen das der
guten Werke, und beide Exegesen werden nebeneinander aufgezählt.
Wahrscheinlicher ist freilich, daß in diesem Stück überhaupt nicht
von der ersten Sephira die Rede ist, sondern die Aufzählung sich auf
die zweite bis vierte bezieht, wobei die „Wassser" mit anderen Stellen
die von der Symbolik der vierten Sephira sprechen, ausgezeichnet
zusammenstimmen würden. Der Ort, aus dem die Seelen kommen,
wäre dann, wie in der Tat in dem direkt davorstehenden § 32, die
Bina. Im übernächsten Paragraphen, § 36, ist diese Symbolik dann
134 Vgl. z. B. in der, aus alten Quellen über Ma'asseh Bereschith stammenden
Kosmologie des Buches Raziel, Amsterdam 1701, Bl. 22b.
den Formen die Rede ist, die die 32 Wege der Sophia, aber auch den
„Weg zum Baum des Lebens" bewachen. Ob das Engelkräfte sind
oder präexistente Formen der Hokhma, bleibt unklar. Zuerst, heißt
es in § 69, war eine Potenz jener Formen präexistent, die dem my-
stischen Garten Eden (dessen Stellung nicht präzisiert wird) zuge-
ordnet sind oder ihm vielleicht inhärieren. Erst dann erhielten die
„heiligen Formen" selber Sein. Diese Formen könnten dann schon
dieselben sein, die durch die mystische Kraft des Opfers, nach § 78,
einander nahegebracht und zu „einem Baum" werden.
Im Zusammenhang dieser sieben Formen ist nun, am deutlichsten
in § 116, unverkennbar auch in §§ 55 und 114, stets von den sieben
Gliedern die Rede, die in der Hauptsache den Menschen ausmachen.
Zweifellos entsprechen hier also den Gliedern des irdischen Menschen
solche des Urmenschen, welche diese „heiligen Formen" sind. Der Be-
griff eines Adam qadmon oder Makroanthropos (philonisch gesprochen),
der die Gesamtheit dieses kabbalistischen Pleroma aller Äonen und
Potenzen in sich faßt, ist im Bahir noch nicht als solcher vorhanden ;
sicher aber ist es die Sache selbst. Denn auch die drei höchsten Logoi
lassen sich ja, wie wir gesehen haben, wenn auch nicht als anatomische
Glieder des Urmenschen, so doch als die höchsten intellektuellen
Kräfte charakterisieren, Denken, Weisheit und Einsicht, die in ihm
wirken. Damit ist ohne Zweifel eine Beziehimg zwischen der alten
Schi'ur Qoma- Spekulation und deren frühkabbalistischer Umdeutung
im Bahir geschaffen, auch wenn in unserem fragmentarischen Text
dieser Ausdruck nicht vorkommt. Mit Recht haben alle folgenden
Kabbalisten die Ausführungen des Bahir über die Sephiroth oder die
Formen Gottes als eine solche mystische Interpretation der alten
Vorstellung verstanden. Dort wurden ja die Glieder des Urmenschen
beschrieben, wie ihn Ez. 126 auf dem Thron der Merkaba sah, oder
wie ihn das Hohelied in den Schilderungen des Geliebten beschrieb.
Dort war von einer Verbindung dieser Vorstellung mit den Sephiroth
des Buches der Schöpfung oder den Logoi, durch die die Welt ge-
schaffen wurde, noch keine Rede. Den Redaktoren des Bahir muß
sie schon selbstverständlich gewesen sein. Schon im alten Schi'ur
Qoma selbst war das, was auf dem Thron erschien, nicht Gott selbst,
sondern seine Glorie, die dort auch „der Körper der Schekhina"
heißt, Guph ha-Schekhina, das heißt die Darstellung der Gegenwart
Gottes unter körperlichen Symbolen, wie der Ekstatiker ihrer vor
Gottes Thron inne wird.
Entsprechend allem, was wir in der irdischen Welt finden, gibt es
Urbilder, Demujoth, davon oder Kräfte, aus denen es schöpft, im
Himmel. Die Zahl dieser Kräfte ist auf die der Sephiroth oder Logoi
beschränkt, während die der Urbilder nicht zahlenmäßig festgelegt
scheint. Jedoch ist ein gewisses Schwanken hier unverkennbar. Die
Kräfte, die den sieben Gliedern im Menschen entsprechen (§§ 55, 116),
sind mit leichten Variationen fest umschrieben. Gott hat aber nicht
nur diese sieben Formen, sondern auch „siebzig Gestalten", Qomoth,
die wohl solche Urbilder sind, wie wir in § 107 in einer Deutung der
siebzig Palmen, die nach Ex. 15 27 Israel in Elim fand, lesen: sie
wurden dort mit den Urbildern dieser Palmen „begnadet", das heißt
doch wohl: sie erlangten einen geistigen Rang, an dem sie diese Ge-
stalten erfassen konnten. Die in diesem Zusammenhang in § 112 vor-
gebrachte Begründung der Gleichsetzung dieser mystischen Gestalten
mit den Palmen aus Hohelied 7 8: „Deine Gestalt gleicht der Palme"
ist die nächste Annäherung, die sich im Bahir an die Terminologie
des Schiur Qoma findet. Vielleicht sind diese Gestalten auch mit
den siebzig Namen Gottes zusammenzubringen, die in mehreren
Midraschim erwähnt werden138. Diese Gestalten selber schöpfen schon
aus den im selben Exodusvers erwähnten „zwölf Wasser quellen",
die aber (§§ 111 und 112) auch den „zwölf einfachen Konsonanten"
der Sprachtheorie des Buches der Schöpfung zugeordnet werden.
Über den Ort dieser Gestalten und Quellen im Verband des Äonen-
schema im Bahir erhalten wir keinen präzisen Aufschluß. Immerhin
liegt es nahe anzunehmen, daß sie alle nur verschiedene Manifestations-
weisen der letzten Sephira sind. Der Anfang des Verses: „Sie kamen
nach Elim", 'Elimah, wird in § 111 durch ein mystisches Wortspiel
erklärt: 'Elimah sei soviel wie 'Eli mah, was entweder heißt „zum
Was" oder „Mein Gott ist [das] Was". Und in dieser Sphäre des Was
fanden sie die zwölf Wasserquellen, die wohl auch die zwölf „Quellen
der Weisheit" sind, die in Verbindung mit den zwölf magischen Namen
und in Verbindung mit einem anderen Symbol der letzten Sephira
am Ende von § 81 erwähnt werden. In der Tat wird dieses mystische
Was, wie die Kabbalisten es dann stets gebrauchen, ein Symbol der
unteren Sophia sein, als ein höchster dem Menschen noch erfaßbarer
Gegenstand, ein Was seines Forschens oder seiner Betrachtung. Im
Bahir kommt diese später sehr beliebte Symbolik sonst nicht mehr vor.
Die Darstellung dieser sieben Kräfte oder Sephiroth erfolgt nun in
einer Kombination oder einem Nebeneinander von anthropologischer,
kosmologischer, moralischer und der Merkaba entlehnter Symbolik.
Diese Verbindung ist ein Charakteristikum der kabbalistischen Gnosis
des Bahir und eine der wichtigsten Erbschaften, die sie den darauf-
folgenden Generationen der Kabbalisten hinterlassen hat. Die Vor-
bindung mindestens der ersten drei Elemente ist auch für die antike
Gnosis oft bezeugt und hat ihre Wurzeln vielleicht schon in den
ältesten Quellen, die Bahir zugrunde lagen. Es ist klar, daß, sobald
das Buch Jesira mit seiner kosmologischen Symbolik mit der Mer-
139
Bahir spricht hier von acht Qesawoth am Menschen, ein Begriff, den es aus dem
Buch der Schöpfung übernommen hat, wo es die „Begrenzungen" des Raumes, d. h.
die Himmelsrichtungen, bedeutet.
4 und 5 : Gottes Rechte und Linke, aus deren Kraft die Hajjoth
und Seraphim stammen, die „zur Rechten und Linken
stehen". Sie werden dann in einem langen Satz beschrieben,
der dem feierlichen Stil nach offenbar aus einer Merkaba-
schrift genommen ist.
6: Der Thron der Glorie.
7: Der 'Arabhoth-Himmel, in der Merkaba-Gnosis stets der
höchste der sieben Himmel.
8: Hier fehlt offenbar die ursprüngliche Entsprechung zur
Merkaba, und stattdessen ist ein Satz über den „Ge-
rechten" als Äon angeführt, dessen Fortsetzung aber
wiederum der formelartigen Sprache nach aus einer äl-
teren Quelle stammen muß, die etwas in der Thronwelt
Gottes beschrieb, was jetzt durch das mystische Symbol
des „Gerechten" ersetzt worden ist. Vergleiche dazu
weiter unten.
9undl0: Die Räder der Merkaba, 'Ophannim.
Hierzu treten aber, wie gesagt, Symbole ganz anderen Charakters,
zum Teil in der erwähnten Tafel selber, mehr noch an vielen anderen
Stellen des Bahir. Hierbei sind die Symbol-Zuordnungen für den
4.—6. dieser Logoi ziemlich konsistent, während hinsichtlich der
letzten Sephiroth so eklatante Widersprüche bestehen, daß sie sich
nur mit der Annahme befriedigend erklären lassen, daß hier Frag-
mente aus verschiedenen Quellen nebeneinandergestellt sind. Die
4.—6. Stelle wird vor allem durch folgende Dreiheiten ausgefüllt:
die Middoth, Eigenschaften oder Attribute, der Gnade, der Strenge
oder des Gerichts, Hessed und Din oder Pahad (z. T. schon als
Stärke Gebhura bezeichnet), zwischen denen die Wahrheit, 'Emeth,
ausgleicht (§§24, 77, 92, 94, 129, 131).
Links, Rechts, Mitte (§§35, 77, 96, 102).
Wasser, Feuer, Vereinigung beider Elemente im „Himmel", ent-
sprechend der talmudischen Kosmologie und Etymologie des
Wortes Schamajim als Zusammensetzung aus 'Esch und Majirn
(§§ 9, 29, 30, 40, 68, 96, 102).
Die drei Patriarchen, Abraham als Repräsentant der Liebeserweisung
oder Gnade, Hessed·, Isaak als Repräsentant der Strenge oder
Furcht, Pahad; Jakob als Repräsentant der Wahrheit und des
Friedens (§§ 92, 94, 131, 132, was mit der Symbolik von „Wahr-
heit und Friede" in § 50 zusammenhängt).
Zu dieser Reihe gehören auch die „Urbilder" von Wein und Milch in
§ 93 sowie die Symbolik von Silber und Gold in §§ 34 und 38, die der
Rechten und Linken Gottes, seiner Gnade und Strenge entsprechen.
Mit den Vorstellungen des Buches Jesira über die Sephiroth haben
nur als Übergang zu den Paragraphen über das Urlicht in §§ 97 ff. zu verstehen ?
143 Bereschith Rabba, ed. Theodor, S. 476 (Abraham), 793 (Isaak), 983 (Jakob).
Scholem, Kabbala 9
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130 Das Buch Bahir
Feuer und Himmel gleichzusetzen ist. In § 102 wird der Himmel als
weitere Ausführung des Satzes über 'Arabhoth als siebenter Logos
angeführt, aber alles, was darüber gesagt wird, paßt nicht zum sieben-
ten, sondern zum sechsten Logos. Die Lösung des Widerspruchs
dürfte sein : die Quelle der zehn Logoi, in der auf den Thron der Himmel
'Arabhoth folgte, war eine Merkaba- Quelle, wie wir sie zum Beispiel
in den Resten der Liste aus dem Raza Rabba noch vor uns haben.
Diese Quelle wußte noch nichts von einer kosmologischen Symbolik,
die Wasser, Feuer und Himmel diesen Logoi zuordnete. Da in der
Merkaba der Thron sich über 'Arabhoth erhebt, lag die Überordnung
in dieser Folge nahe. Als aber die Zuordnung der ursprünglichen Logoi
zu weiteren Symbolen begann, mit der Entwicklung des eigentlich
kabbalistischen Schemas, und die drei ersten Triaden, die ich oben
aufgezählt habe, hinzutraten, erforderte die immanente Logik die
Einführung jener Triaden die Placierung von Schamajim, Himmel,
an die sechste Stelle, was aus Jes. 661 : „Schamajim ist mein Thron"
leicht begründet werden konnte. In der Tat wird in § 65 der Thron
ausdrücklich mit dem Himmel gleichgesetzt. Der Jesaja-Vers, den
man hier erwarten würde, wird freilich erst für die Fortsetzung über
die Erde als Schemel seiner Füße in § 115 angeführt. Auch in § 40
wird „Himmel" in diesem prägnanten Sinn mit der „Wahrheit", also
einer schon fixierten Bezeichnung des sechsten Logos identifiziert;
ebenso findet sich hier die Verbindung mit dem Kopf, Rosch, die in
einem undurchsichtigen Satz auch in § 102 vorkommt („Warum heißt
er Himmel? Weil er rund wie ein Kopf ist"). Ich nehme daher an, daß
der Hauptteil von § 102 in Wirklichkeit eine Erklärung des sechsten
Logos ist, aus dem dargelegten Grunde aber mit dem siebenten ver-
bunden wurde, über den ursprünglich nur die Anfangsworte der be-
treffenden Aufzählung in § 102 sprachen.
Daß wir es im Bahir mit einer Redaktion zum Teil widersprechender
Quellen zu tun haben, erweist sich nicht weniger drastisch an einer
Analyse der Aussagen über Gottes Linke und über die Natur des
Bösen. Die Tafel in § 96 weiß von einer Verbindung des „großen
Feuers" Gottes und seiner Linken mit dem Prinzip des Bösen noch
nichts. Im Gegenteil, zu Gottes Linken stehen die „heiligen Seraphim",
zu denen wohl auch Gabriel zu rechnen ist. Eine andere Ausführung
über die Linke und Rechte Gottes haben wir in § 77, wo die 72 Namen
Gottes aus der magischen Tradition, die in §§ 76 und 79 besprochen
waren, mit dem kabbalistischen Äonen-Schema in Zusammenhang
gebracht werden144. Die 72 Namen teilen sich in 3x24, und über
je 24 ist ein Archont, Sar, gesetzt. „Und wer sind diese Archonten ?
144
§ 77 gehört zweifellos nach § 79, den er fortsetzt oder erklärt. §§ 77—78 sind
bei der Redaktion ungeschickt in das einheitliche Stück 76/79 eingeschoben worden.
Es sind drei. Das lehrt, daß die 'Stärke', Gebhura, Archont aller hei-
ligen Formen von der linken Seite Gottes ist, und das ist Gabriel,
und von seiner Rechten ist Archont über alle heiligen Formen Michael,
und in der Mitte, die die .Wahrheit' ist, ist Uriel der Archont über
alle heiligen Formen. Und jeder Archont [herrscht über] 24 Formen,
aber seine Scharen sind zahllos, nach Hi. 25 3." Hier herrscht eine
gewisse Vermischung der abstrakten Sephirothnamen wie Gebhura,
Dynamis oder Stärke, und 'Emeth, Wahrheit, mit den Namen der
Archonten, die Engelwesen sind. Diese Vermischung, die später in
der Kabbala ganz undenkbar wäre, kehrt, wie wir sahen, auch in
§ 96 wieder, wo die Rechte und Linke überhaupt nicht durch abstrakte
Äonennamen bezeichnet werden, sondern in konkreterer Form als
Gottes Gnadenerweise und Gottes großes Feuer sowie durch Engel-
ordnungen, die unter ihrem Einfluß stehen. Diese Engelordnungen
sind aber verschieden von denen in § 77.
Ganz anders sieht diese Lehre von der „Linken Gottes" aber in
den Stücken über den Satan aus, die von §§ 107—113 einen einheit-
lichen Zusammenhang bilden und in die Liste der zehn Logoi offenbar
später hineinredigiert worden sind. Was erfahren wir hier über den
Satan ? In § 107 ist er auch der „Nordwind", eine Kraft, die aus dem
Norden her wirkt, wofür in §§ 109 und 110 Jer. 114 angeführt wird.
Der Bericht in Ex. 15 23 über Mara „dort hielt er ein Gericht und dort
versuchte er es", wird — vielleicht auf Grund einer alten aggadischen
Quelle, die verloren ist ? — dahin gedeutet, daß Gott dort Gericht
über den Satan gehalten habe, der Israel versuchte. Die Versuchung
wird hier in aggadischer Sprache ausführlich geschildert. Um das
Wasser von Mara stand der Baum des Lebens, ein sehr merkwürdiges
Motiv, das gerade in der ältesten Aggada sich findet und nachher
nicht mehr auftritt 145 . Diesen Baum des Lebens habe der Satan dort
weggenommen, um Israel dadurch zur Sünde gegen ihren himm-
lischen Vater zu verleiten. Als Moses aber den Satan sah, „da schrie
er zu Gott, und Gott zeigte ihm einen Baum [Ex. 15 25], jenen Baum
des Lebens, den der Satan fortgenommen hatte, und er warf ihn in
das Wasser". Dies Werfen wird hier aber zugleich als ein Niederwerfen
des Satans und Verminderung seiner Macht gedeutet. Man wird
Ruah Sephonith hier vielleicht besser mit „Geist aus Norden" als
mit Nordwind übersetzen. In diesem Stück werden zwar schon die
siebzig „Urbilder" erwähnt, die sie in Elim im Bild der siebzig Palmen
145 vgl. L. Ginzberg, Legends of the Jews, Bd. 6, S. 14, der diese Aggada schon in
den pseudo-philonischen „Altertümern" nachweist, einem der ältesten Midraschim, den
wir überhaupt besitzen. Eine ähnliche Erklärung wie Bahir hat auch der Tora-Kommen-
tar des Rabbenu Ephraim zur Stelle, [Smyrna ca. 1847], Bl. 36a. Die Verbindung
dürfte eine in unseren Texten der Mekkilta nicht mehr erhaltene, von einem mittel-
alterlichen Autor dort aber noch gelesene Stelle bilden.
9·
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132 Das Buch Bahir
erfaßten, der Satan aber gehört nicht dazu, sondern tritt unabhängig
davon auf. In § 113 hören wir dann, daß der Widerspruch zwischen
diesen siebzig Urbildern oder Gestalten, Qomoth, und den 72 Formen
von §§ 76 und 77 sich dadurch auflöst, daß die zwei überschüssigen
Formen oder Archonten Israel und der „Fürst Satan" sind, die also
wohl die 70 Archonten der Völker zur Zahl 72 ergänzen. Was in § 77
die Formen waren, denen Gabriel vorstand, sind hier die Gestalten,
über die, soweit sie zur Linken Gottes sind, der Satan als Archont
gesetzt ist. Er ist hier zugleich der „Archont des Tohu". Noch weiter
geht darin aber § 109, wo er als eine Midda Gottes selber, die im
„Norden Gottes" liegt, bezeichnet wird. Die Stelle geht in der my-
thischen Formulierung weiter als das ihr zugrunde liegende aggadische
Motiv. „Und was ist dies [Prinzip der Verführung zum Bösen, das in
einem Gleichnis direkt vorher erwähnt war] ? Der Satan. Das lehrt,
daß es bei Gott eine Midda gibt, welche ,böse' heißt, und sie liegt im
Norden Gottes, denn es heißt [Jer. 114] : Von Norden her öffnet sich
das Böse; das heißt: alles Böse, das über alle Bewohner der Erde
kommt, kommt von Norden. Und welches ist diese Midda ? Es ist
die ,Form der Hand', und sie hat viele Boten, und der Name von
allen ist ,Böse, Böse', jedoch gibt es unter ihnen kleine und große.
Und sie sind es, die die Welt in Schuld stürzen, denn Tohu gehört zur
Seite des Nordens, und Tohu ist nichts anderes als das Böse, das die
Menschen in Verwirrung bringt, bis sie sündigen, und jeder böse Trieb
im Menschen stammt von dort her." In §§114 und 116 wird aber die
linke Hand als eine der heiligen sieben Formen Gottes bezeichnet,
was gut zu der Bestimmimg des Bösen als Form der Hand in diesem
Zitat paßt. Da nach der Anschauung des Midrasch, auf Grund des
Parallelismus von „Hand" und „Rechte" an mehreren Bibelstellen,
Hand schlechthin die Linke bedeutet, ist klar, was unter der „Form
der Hand" zu verstehen ist. Offenbar schwankte der Redaktor des
Bahir zwischen zwei möglichen Auffassungen, die er in seinen Quellen
fand: in der einen ist der Satan eine der sieben Formen und damit
eine der heiligen Formen selber, in der anderen ist er, mit § 113, die
71. über den dort erwähnten 70 Gestalten.
Der Satz: „Der Heilige, gelobt sei er, hat eine Midda, die böse heißt"
klingt besonders gewagt. Freilich ist das nur eine Überhöhung alter
aggadischer Anschauung. Auch dort ist die „Eigenschaft der Strenge",
Middath ha-Din, personifiziert gedacht und tritt vor Gott redend auf.
In Parallelversionen steht stattdessen „der Satan" oder sogar die
„Engel des Dienstes"14®. Im Bahir ist das Böse eine der Mächte oder
146 Das beste Beispiel bildet die Aggada über die Versuchung Abrahams im Anschluß
an Gen. 22 l. In Sanhédrin 89b spricht der Satan; in Beresckitk Rabba Par. 65, § 4,
ed. Theodor, S. 687, sprechen die Engel, die den himmlischen „Gerichtshof" bilden;
Kräfte, durch die Gott wirkt und sich manifestiert. Von einer pri-
vativen Auffassung des Bösen, wie sie den Philosophen geläufig war,
ist hier keine Rede. Dabei ist aber bemerkenswert, daß die Etymologie,
die § 110 für das Wort Satan anbietet, dieselbe ist, wie sie Maimonides
im „Führer der Verirrten" III, 22 gibt. Dies braucht keine Entlehnung
zu sein, da solche Etymologie homiletisch nahe genug lag. Das Nun
in Satan wird nicht als Stammkonsonant betrachtet, sondern als
Bildungsaffix der nomina agentes. So ergibt sich aus der Wurzel ΠΒΟ
für Satan die Bedeutung: „Der hinunter Neigende, denn er ist es,
der die Welt nach der Seite der Schuld zu neigen sucht" 147 . Diese
Identifizierung des Bösen mit einer Midda Gottes und dem Tohu
dürfte zu den neuàrtigen kühnen Formulierungen des Bahir gehören,
die bei frommen liesern wie Meïr ben Simon aus Narbonne das Buch
in den Verdacht der Häresie brachten. In § 93 wird tatsächlich „das
Tohu, aus welchem das Böse stammt", mit dem „Feuer Gottes"
identifiziert, und im Zurückgriff auf § 92, mit der „Furcht", Pahad,
der Eigenschaft Isaaks, die wir schon als identisch mit der Middath
ha-Din und der Gebhura Gottes kennengelernt haben. Diese Erklärung
von Tohu, die es mit dem fünften Logos der Tafel in § 96 zusammen-
bringt, ist vielleicht schon eine kabbalistische Variante der Auffassung
des Tohu als Prinzip der Materie in § 2, deren philosophische Quelle
in Abraham bar Chija wir oben S. 54 kennengelernt haben. Auch in
§ 9 sind Tohu und Bohu als das Böse und der Friede erklärt, aber die
Fortsetzung bringt auch hier nicht etwa den Satan, sondern wie in
§ 77 Gabriel als Archonten der Linken, der Feuer ist. Eine rein harmo-
nistische Deutung des Bahir würde zu der Folgerung zwingen, für
die Anschauungsweise des Buches eine Identifikation von Gabriel
und dem Satan anzunehmen. In Wirklichkeit verhält es sich aber
eben so, daß über die Linke zwei verschiedene Traditionen vorlagen,
die bei der Redaktion vereinigt oder nebeneinander gestellt wurden,
wie es dem Charakter des Bahir als einem Midrasch entspricht. „Kon-
sequenzmacherei" war dabei nicht beabsichtigt. Die Einschaltungen
in §§ 106—113, die im Sinne der kabbalistischen Symbolik, die den
Redaktoren vorschwebte, sich auf den 3. und 5. Logos beziehen,
stehen aber zwischen zwei Paragraphen, die beide den 8. Logos dieser
Reihe erklären, wo sie offensichtlich nichts zu suchen haben. Freilich
sind diese §§ 105 und 114 selber sonderbar genug, da sie ihrem Inhalt
nach gar nicht den 8., sondern den 7. Logos betreffen. „Er heißt der
achte nur in bezug auf die Zählung, seiner Tätigkeit nach aber ist er
der siebente" (§ 114).
im Jalquf zur Stelle aber (I, § 96) spricht die Middath ha-Din, die dort als einer der
ministrierenden Engel gedacht ist.
147
Dem entspricht auch die auffällige Wortverbindung Sar ha-Satan in § 113.
Es wurde schon oben betont, daß die Aufzählung der zehn Logoi
in der ältesten im Bahir erhaltenen Tafel für die 7.—10. von der rezi-
pierten Ordnung der Kabbalisten abweicht. Dies gilt nicht nur für
ihre zum Teil ganz deutliche Identifikation mit Regionen der Merkaba,
es gilt vor allem auch von den spezifischen Aussagen über die 7. (resp. 8.)
und die 10. dieser Kräfte. Diese beiden sind von besonderer Bedeutung
für das Verständnis der sich bildenden Sephiroth-Lehre. Sie bilden,
wie ihre Symbolik zeigt, die Syzygie des Männlichen und Weiblichen,
deren Hineinnahme in die Welt der Äonen die Kabbala in besonders
nachdrücklicher Weise in die gnostische Tradition hineinstellt. In
die alte Tafel von §§ 96 und 102 sind diese neuen Auffassungen über
die 7. Sephira nur als Variante der älteren Angaben hineingearbeitet,
in §§ 104, 105, 114, während die entsprechenden über die 10. Sephira
in dieser Tafel überhaupt nicht auftreten, für die übrigen Teile des
Bahir aber schon eine überragende Bedeutung haben. Auch hier
scheint mir klar, daß mindestens zwei verschiedene gnostische Tradi-
tionen sich im Buch Bahir oder seinen Quellen getroffen haben: die
des Raza Rabba, das heißt einer spekulativen Fortentwicklung der
Merkaba-Gnosis, und eine andere, bisher nicht literarisch identifizier-
bare, von deren Verbindung mit der Symbolik der letzten Sephira
wir schon oben bei der Analyse gnostischer Elemente im Bahir wich-
tige Proben kennengelernt haben. Eine genauere Betrachtung des
Materials über diese beiden Sephiroth im Bahir wird uns über die
älteste Form, die die Kabbala bei ihrem historischen Auftreten in der
Provence hatte, wichtige Aufschlüsse vermitteln.
Der siebente Logos des Bahir entspricht genau dem, was in der
späteren, kanonisch gewordenen Folge der Sephiroth die neunte ist.
Schon hier treten in der Symbolik dieser Region vier Motive zusammen,
die auch weiterhin, selbst bei veränderter Lokalisation innerhalb des
„Sephiroth-Baumes", für sie charakteristisch bleiben: das des Ge-
rechten, das des Welten- und Seelengrundes, das des Sabbath und
das der Phallus-Symbolik. Die in § 103 in einer der drei Variationen
über den siebenten Logos in unserer Tafel (§§ 102—104) gebrachte
Beziehung auf den himmlischen Tempel, der das Denken sei oder im
Denken stehe, fällt aus diesen Motivketten ganz heraus, wie wir oben
bei der Besprechung der ersten Sephira sahen. Sie übernimmt nur
die Idee des „Buches der Schöpfung" von den sechs Dimensionen,
mit denen die Welt, der Raum, versiegelt ist — hier auch in § 21 in
buchstaben-mystischem Zusammenhang benutzt — und in deren
Zentrum in der irdischen Welt der Tempel von Jerusalem, in der Welt
der Logoi der himmlische Tempel steht. Das Neue und für die Kabbala
sehr Folgenreiche liegt aber gerade in dem Zusammenschluß jener
anderen Motive.
Das Symbol des Gerechten geht auf die bekannte Aggada in Hagiga
12b zurück: „Auf einer Säule steht die Welt, und ihr Name ist Ge-
rechter, denn es heißt [Prov. 10 2β], der Gerechte ist das Fundament
der Welt." Diese eine Säule kennt der Talmud als Kontrast zu der
anderen Meinung, wonach die Welt auf den sieben Säulen ruht, die
die Weisheit (nach Prov. 9 l) ausgehauen hat. Bei einer Vereinigung
kosmologischer und ethischer Symbolik und Übertragung auf die
Äonenlehre konnte hier also ebenfalls der Gerechte als die Vereinigung
jener anderen Säulen, die in ihm zusammengefaßt sind und welche
die sieben Logoi sind, erscheinen. In der neuen Wendimg ist der Ge-
rechte natürlich nicht mehr jener irdische moralische Idealtypus,
sondern eine kosmische Potenz, die, was die irdischen Gerechten auf
dieser Welt erfüllen, nun für den ganzen Kosmos oben und unten
realisiert. Diese gnostische Überhöhung des talmudischen Begriffs
wird in § 71 deutlich, wo es heißt : „Eine Säule geht von der Erde
bis zum Himmel, und Gerechter ist ihr Name, nach den [irdischen]
Gerechten. Und sind Gerechte auf Erden, so wird sie stark, wenn aber
nicht, so erschlafft sie, und sie trägt die ganze Welt, denn es heißt:
der Gerechte ist das Fundament der Welt. Ist sie aber schlaff, so kann
die Welt nicht bestehen. Darum [heißt es im Talmud, Joma 38 b]:
Ist auch nur ein einziger Gerechter auf Erden, so erhält er die Welt."
Hier ist wohl klar, daß für die Redaktoren des Bahir das tertium
comparationis, das den himmlischen Tempel und den Gerechten als
siebente Sephira gleicherweise empfahl, der Umstand war, daß beide
die Welt oder die sechs Richtungen des Raumes „tragen" und „er-
halten". Daß diese „Säule" von der Erde bis zum Himmel reicht,
kann zwei Bedeutungen haben. Sie kann den kosmischen Lebens-
baum darstellen, der von der Erde bis zum Himmel wächst und der
hier, wie wir schon bei der Besprechung der Baumsymbolik sahen,
in §§ 14 und 64 zum Weltenbaum geworden ist. An ihm steigen die
Seelen der Gerechten auf und nieder. Und so wie der Weltenbaum
auch der Seelenbaum war, von dem die Seelen ausfliegen oder als
dessen Früchte sie erscheinen, so wird nun hier, bei der Umdeutung
des Motivs auf eine einzelne Sephira, diese selber zum Fundament der
Seelen. Es kann aber auch sein, daß Erde und Himmel selber hier
schon als mystische Symbole verstanden werden: Die „Säule" ver-
bindet die „Erde" genannte letzte Sephira mit der „Himmel" ge-
nannten sechsten. Dies würde noch deutlicher im Bild des Hieros
Gamos des Himmels mit der Erde die phallische Symbolik hervor-
treten lassen, die im Bild von der erschlaffenden und erstarkenden
Säule angedeutet ist. Hier darf auf eine gnostische Parallelsymbolik
kombiniert mit II, 1) entnommen. Auch der Gerechte stiftet ja, tal-
mudischen Angaben gemäß, Frieden in der Welt und schafft Aus-
gleich zwischen den widerstrebenden Gewalten. Diese Verbindung
zwischen der sexuellen Sphäre und den Gerechten ist nun aber keines-
wegs eine besondere Laune des Buches Bahir und der Kabbalisten,
die freilich auf diese Verbindung besonderen Wert gelegt haben151,
sondern sie beruht darauf, daß der Talmud mit besonderer Vorliebe
Männer, die ihren sexuellen Trieb, ihre Natur bezwungen haben, als
„Gerechte" qualifiziert. Besonders die Verbindung „Joseph der
Gerechte" wurde in der frühmittelalterlichen Literatur fast ein stän-
diger Beiname für Joseph. Bahir, das den Patriarchen göttliche Mid-
doth zuordnet, die sie realisieren, weiß zwar noch nichts von einer
Rolle Josephs als Repräsentanten des „Gerechten", diese Zuordnung
trat aber sofort nach dem Bekanntwerden des Bahir auf, so daß die
mystische „Stufe Josephs" ein fester Bestandteil der kabbalistischen
Terminologie wurde.
Die Symbolik des Sabbaths bildet die Verbindung zwischen den
beiden Motiven des Ausgleichs — in dem sich „alle Wirkungen er-
füllen" und zur Ruhe kommen (§ 105) — und der Seelenheimat. Aus
der Region des Sabbath „fliegen alle Seelen aus" (§ 39), ein Bild, das
uns wieder auf das Motiv des kosmischen Baumes zurückführt. Das
Fundament der Welt ist zugleich das Fundament der Seelen. Als die
älteren mythischen Fragmente über den Weltenbaum, der das Pleroma
und das All ist, von den Autoren des Bahir auf diese siebente Sephira
bezogen wurden, wurde auf sie auch jene Prädikation als „All" über-
tragen (§ 126). In dieser Region liegt das „Schatzhaus der Seelen".
Hiermit tritt in §§ 123—126 eine andere Symbolik zusammen. Es
gab offenbar verschiedene Traditionen über die Zuordnung der letzten
Logoi zu den Himmelsrichtungen, und die Stellen darüber, vor allem
§§ 119 und 123, sind in dieser Hinsicht ganz undurchsichtig. Während
in §§ 104—105 der Gerechte der mystische Osten war, ist er hier,
aus vorläufig nicht erklärbaren Gründen, der Südwesten. Er steht,
auch als „Weltengrund" bezeichnet, in der Mitte über den darunter
liegenden „Kräften", die den beiden Beinen im Menschen und dem
Nordwesten und dem Westen in der Welt entsprechen. Obwohl selbst
im Südwesten, geht er aus dem Süden der Welt hervor, wo im Gegen-
satz zum bösen Norden offenbar die Midda von Gottes Güte und
Gnade, Hessed, ihren Ort hat. „Auch ist in seiner [des .Gerechten']
Hand die Seele alles Lebendigen, denn er ist das .Leben der Welten'.
Und alle Schöpfung, von der [in der Schrift] die Rede ist, geschieht
durch ihn. Und von ihm heißt es : es war Sabbath und Beseelung, denn
161 Ich habe diese Vorstellung genauer im Eranos-Jahrbuch 1968, Bd. 27, S. 236 bis
297 verfolgt.
er ist die Midda des Sabbathtages, und von ihm heißt es [Ex. 20 8] :
zakhor 'eth Jom ha-Schabbath [was hier mit mystischer Etymologie
übersetzt werden muß:] ordne das Männliche dem Sabbathtag zu
. . . und all dies ist von der siebenten Midda [dem siebenten Logos]
gesagt." Der Ausdruck, den ich hier im Sinne des Bahir mit „Leben
der Welten" übersetze, ist aus Dan. 12 7 gebildet und bedeutet ur-
sprünglich „der ewig Lebende". In diesem Sinn wird Haj Olamim
als Gottesname in der talmudischen Literatur gebraucht, und eine
berühmte Hymne der alten Merkaba-Mystiker ruft Gott unter diesem
Namen an 152 . Im Bahir hat sich die Bedeutung verschoben. Der
Gerechte, der dem Phallus entspricht, ist das Leben Spendende, und
vielleicht spielt hier die Vorstellung von der Weltseele als einem Äon
hinein. Das Leben der Welten und die Seele der Welt, die ihr Funda-
ment ist, konnten sehr wohl zusammengedacht werden. Die Welt-
seele als Ursprung aller Einzelseelen würde ebenfalls zu dem Bild
vom „Schatzhaus der Seelen", das in dieser Region liegt, passen153.
Das Lebendige und das Beseelte hängen ja jedenfalls hier zusammen.
Das Leben der Welten ist die produktive und erhaltende Kraft, die
den Welten aus diesem Orte zugeleitet wird. Daher heißt es selber das
„All" oder „Alles". Wie der Gerechte auf Erden die Tora vollzieht
und gleichsam die Verkörperung jener Gebote darstellt, die er erfüllt,
so ist der mystische Ort aller Gebote eben in jener Sephira des Ge-
rechten zu suchen, der das Leben der Welten ist. So heißt es in § 125:
„Warum sagen wir [in der Benediktion nach einem Imbiß von Obst,
Berakhoth 37 a und vor allem in der Parallele im palästinensischen
Talmud] : Für alles, was er erschaffen hat, [sei gepriesen, der] das
Leben der Welten [ist], und sagen nicht : was du erschaffen hast ?
Weil wir Gott preisen, der seine Weisheit, Hokhma, in das .Leben der
Welten* einströmen läßt, und dieses gibt alles . . . Das lehrt, daß im
.Leben der Welten' alle Gebote enthalten sind . . . Denn in der Stunde,
wo wir in dieser Welt der kommenden würdig sind, wird es [das Leben
der Welten] groß." Dieses Großwerden meint dasselbe wie das Wachs-
tum des Gerechten in § 105 und das Starkwerden der Säule durch die
Taten der Gerechten in § 71.
seinerseits noch drei unter sich hat (§ 123), andererseits werden sie
bei den Zusammenstellungen der Siebenheiten, wie schon oben gesagt,
den drei oberen Sephiroth gegenübergestellt. Im Bahir selbst gibt es
aber keine Stelle, die in der Einzelinterpretation des Sabbath ihn
etwa als die letzte aller Sephiroth bezeichnet. Solche mystische
Sabbathsymbolik findet sich erst später. Begreiflich ist auch die Über-
tragung des Quellenmotivs von der Hokhma auf den Gerechten,
sobald er als der phallische Sitz des Lebens angesehen wurde. Wir
sahen schon, daß nach § 125 Gott seine Hokhma „in das Leben der
Welten einströmen läßt, welches dann alles [was es empfangen hat]
weitergibt." Hier ist der Gerechte ein Kanal, oder eine Röhre, Sinnor, der
das Wasser der Quelle weiterleitet. Wahrscheinlich ist dies der „große
Kanal" in § 85 ; sicher ist dies die Bedeutung des Kanals in § 121, wo alle
sechs „Bäche Gottes" auf dem Wege des „Ausgleichs in der Mitte",
der der Kanal ist, ins Meer der letzten Sephira fließen. Dieser Kanal
wird hier mit Cant. 415 ein „Quell der Gärten, ein Brunnen lebendiger
Wasser, die vom Libanon fließen" genannt. Der Libanon wird dabei
dann ausdrücklich als die Sphäre der Hokhma definiert. Genauso
wird das Bild in der Symbolik des Sabbathtages und des Gerechten
in § 105 verwandt. Jeder Tag „hat einen Logos, der sein Herrscher
ist, nicht weil er mit ihm geschaffen wurde, sondern weil er mit ihm
jene Wirkung vollbringt, die in seine Macht gegeben ist. Haben sie
alle ihre Wirkung vollbracht und ihr Werk erfüllt, so kommt der
siebente Tag und vollbringt seine Wirkung, und alle freuen sich,
selbst Gott [mit ihnen], und nicht nur dies, sondern sie [die Wirkung]
macht ihre Seelen groß, wie es heißt: am siebenten Tag war Ruhe
und Beseelung . . . Das gleicht einem König, der sieben Gärten hatte,
und in dem mittleren Garten bewässert ein sprudelnder Quell aus
einem Brunnen fließender Wasser die drei zu seiner Rechten und
die drei zu seiner Linken. Sobald er dies Werk vollbringt, füllt er sich ;
da freuen sich alle und sagen : für uns füllt er sich. Und er bewässert
sie und macht sie wachsen, sie aber warten und ruhen. Und er tränkt
die sieben . . . Ist er denn [selber] einer von jenen [sieben] und tränkt
ihn? Sage vielmehr: er tränkt das ,Herz', und das ,Herz' tränkt dann
sie alle." Der Gerechte ist also ein Kanal, durch den alle Bäche und
Ströme der oberen Kräfte in das Meer der Schekhina oder das my-
stische „Herz" strömen. Für die Lokalisation der Sephiroth in drei
rechte und drei linke läßt sich das Gleichnis für den Sabbathtag wohl
nicht pressen. Die sechs anderen Tage haben eben, wie in dem er-
wähnten Midraschgleichnis, Partner, während der siebente, der ihre
„Ruhe" und ihren „Ausgleich" bildet, seinen Partner im Weiblichen
findet, das all diese Kräfte wie das Meer aufnimmt. Dieser Syzygie
entspricht auch die Buchstabensymbolik in § 42. Jeder Buchstabe
hat einen „Partner", wenn man das Alphabet je von vorn und von
hinten zählt. Die fünfte Stelle nehmen dabei dann He und Sade ein.
Sade ist der Gerechte, Saddiq; He, der letzte Konsonant im Tetra-
grammaton, weist auf die letzte Sephira hin (§ 20).
Die Zählung der letzten Sephiroth geht durcheinander. In § 114
wird der siebente Logos auch als achter bezeichnet, „weil mit ihm die
acht begonnen und mit ihm die acht hinsichtlich der Zählung be-
schlossen sind, aber nach seiner Funktion ist er der siebente". Ihm
entsprechen dort die acht Tage der Beschneidung und die acht „Be-
grenzungen", Qesawoth, das heißt hier Hauptglieder des Menschen,
die, weil „der Rumpf und der Phallus als eines gerechnet werden",
in Wirklichkeit doch nur sieben sind. Danach ergeben sich dann als
der neunte und zehnte die beiden 'Ofhannim der Merkaba, die im
Bahir (§§ 115 und 123) mit einem aus Jes. 34 io genommenen Bild
als Nesahim bezeichnet werden. Nesah heißt im Hebräischen Dauer,
Bestand. Auch die unterste aller dieser Kräfte wird im § 115 als Nis-
hono schei *Olam, die Dauer der Welt, bezeichnet, eine Kraft, „die nach
Westen neigt". Von dieser Kraft erfahren wir nur hier, daß sie auch „das
Ende der Schekhina" sei, das noch unter den zwei Rädern der Merkaba
liege. Hier herrscht offensichtlich Verwirrung, denn es werden in
Exegese von Jes. 34 io drei Nesah genannte Kräfte oder Äonen auf-
geführt. Wenn aber die letzte Kraft das „Ende der Schekhina unter
Gottes Füßen" und die „letzte der sieben Erden" der alten Ma'asseh
BemcMA-Spekulation ist 154 , wie es hier heißt, so paßt das gar nicht
mehr zu der Zählung des Gerechten als achtem Logos, wohl aber sehr
gut zu der, wie schon betont wurde, dabei im Grunde intendierten
Zählung als siebentem. Überhaupt sind die wenigen Ausführungen
über diese zwei Nesahim im Bahir, die mit einer Symbolik des Fest-
straußes am Laubhüttenfest verbunden sind, undurchsichtig. Statt
der beiden Nesahim wurden später, als I.Chr. 29 n als eine Aufzählung
der Sephirothnamen verstanden und zu einem Grundstein kabba-
listischer Typologie wurde, für diese beiden Sephiroth die Namen
Nesah und Hod eingeführt. Davon weiß unser Bahirtext noch nichts,
und der Name Hod kommt als Sephiraname nur in einem Bahirzitat
bei Todros Abulafia vor, dessen Echtheit zweifelhaft ist 165 . Da diese
zwei Kräfte hier unterhalb des Gerechten oder Weltengrundes gedacht
154
In der Baraitha de-Ma'asse Bereschith, im Buch Raziel, Bl. 36 a, wird die unterste
Erde ebenfalls als eine Region in der Merkaba verstanden, die mit den Rädern der
Merkaba, den Ophannim, zusammenhängt und auf die Jes. 66 : 1 bezogen wird. Ein
besserer Text dieses Zitates im Tora-Kommentar des Bahja ben Ascher zu Lev. 1 : 1.
Diese Baraitha enthält auch eine Beschreibung der sieben Erden, die aber dort als
Regionen des Gehinnom aufgefaßt werden.
155 Vgl m e i n Buch Bahir, S. 169—160. Gerade Jehuda ben Barzilai spricht in
seinem Jeçira-Kommentar sehr oft vom Hod, der majestas, der Schekhina, während
Bahir das Wort sonst nie benutzt.
in der diese Bilder nur noch Metaphern waren, oder als historischen
Wiederanschluß an eine gnostische Tradition, die sich von jeher solcher
Bilder bedient hatte, ist schwer zu sagen. Der Zustand der ältesten
Texte erlaubt keine Entscheidung zwischen diesen Alternativen, und
man kann vielleicht argumentieren, daß es gar keine echten Alter-
nativen sind, sondern beides miteinander wohl vereinbar war.
Eine nähere Betrachtung dieser Symbolik wird zeigen, wie tief-
greifend die Metamorphosen waren, die sich mit der Ausbildung der
Vorstellung von der letzten Sephira in der Bilderwelt der Aggada
vollzogen.
Drei oder vier Begriffe sind es vor allem, die, über alle ältere Aggada
weit hinausgehend, im Bahir identifiziert werden: die Braut, die
Königstochter oder Tochter schlechthin, die Schekhina und die Ec-
clesia Israels. Dazu treten die Symbolik der (empfangenden) Erde,
des (lichtlosen und sein Licht von der Sonne empfangenden) Mondes
und des als weiblich gedachten Ethrog, „der Frucht des Prachtbaumes"
im Feststrauß, (Lev. 23 4o), und der Dattel, die ein Abbild der Vagina
ist. Die vier ersten Begriffe werden im Bahir unterschiedslos gebraucht,
und das ist das ganz Neue. In der talmudischen Literatur ist die
Schekhina niemals ein Symbol des Weiblichen, und noch weniger
ist sie je mit der dort gern personifiziert gedachten Ecclesia Israels
identisch. Die Schekhina ist dort stets einfach Gott selber, das heißt
Gott, insofern er an einem bestimmten Ort oder bei einem bestimmten
Vorgang anwesend ist. Diese „Anwesenheit", dieses „Wohnen" Gottes
gibt der hebräische Ausdruck Schekhina präzis wieder. Dieses Sub-
stantiv wird nur von Gottes „Wohnen", von seiner Präsenz, gebraucht,
nie von der irgendeines anderen kreatürlichen Wesens. Nirgends ist
sie von Gott selber so geschieden wie das etwa die Middoth des Er-
barmens oder der Strenge sind, die schon in der Aggada wie Engel
vor Gott argumentierend und ihm gegenüberstehend auftreten. Das
Wort läßt sich an vielen Stellen mit Ausdrücken wie Gott, Herr der
Welt, der Heilige, gelobt sei er, und ähnlichen ohne jeden Unterschied
auswechseln. Im Gegensatz zu dem, was manche Forscher in ihrem
Suchen nach Hypostasen und Mittelbegriffen zwischen Gott und der
Welt angenommen haben, ist die Schekhina nie eine Qualität Gottes,
es sei denn die seiner ungeteilten, in keiner spezifischen Hinsicht
differenzierten Präsenz 156 . Daß der Begriff schon in talmudischer Zeit
freilich einer gnostischen Hypostasierung fähig war, ist sicher. Im
Talmud zwar wird nur einmal, und zwar negativ und ironisch, eine
156
Ich betone dies gegen Aufstellungen wie die in den Monographien von J. Abelson,
The Immanence of God in Rabbinical Literature, London 1912, S. 77—149, oder bei
O. S. Rankin, Israel's Wisdom Literature, Edinburgh 1936, S. 269. Diese und viele
andere älteren Autoren haben ohne Grund die kabbalistische Konzeption zum Teil
in die alten Texte hineingelesen.
Scholen, Kabbala 10
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146 Das Buch Bahir
alle, die hier zu Gaste sind, sollen mein Angesicht nicht eher sehen,
als bis sie zuvor das Angesicht der Matrona [der Königin] gesehen
haben. So spricht auch Gott : Bringt vor mir das Opfer nicht eher dar,
als bis an ihm ein Sabbath vorübergegangen ist170." In § 43 des Bahir
wird in einem Wortspiel die Braut des Hohenliedes als das „Feld",
Sadeh, sowie als das „Gefäß", Schiddah, gedeutet, in das die höheren
Kräfte einströmen. Beide Bilder kehren auch an anderen Stellen wieder.
In § 90 wird der Kabhod Gottes einem Stück Feld verglichen, das
nahe an einem schönen Garten liegt und aus einem mystischen„Ort"
gesondert bewässert wird, „obwohl alles eins ist". Das Bild des Ge-
fäßes haben wir schon bei der Besprechung von § 52 über Abrahams
Tochter kennengelernt. In § 43 ist die Braut nun auch das „Herz"
Gottes, wobei der Zahlenwert von aV, Herz, der 32 beträgt, auf die
32 verborgenen Wege der Sophia führt, mit denen die Welt geschaffen
worden ist. „Und was sind diese 32 ? Das gleicht einem König, der sich
im innersten der Gemächer befand und die Zahl der Gemächer war 32,
und zu jedem Gemach gab es einen Weg. Ziemte es sich nun für den
König, daß jedermann auf diesen seinen Wegen beliebig seine Ge-
mächer betreten konnte? Nein! Ziemte es sich aber für ihn, seine
Perlen und Schätze, Juwelen und Edelsteine überhaupt nicht offen
zu zeigen ? Nein ! Was tat er ? Er nahm die ,'Tochter'171 und faßte in
ihr und in ihren ,Kleidern' [d. h. Erscheinungsformen] alle Wege zu-
sammen, und wer das Innere betreten will, muß hierherschauen.
Und in seiner großen Liebe zu ihr nennt er sie manchmal 'meine
Schwester', denn sie stammen aus einem ,Orte', manchmal nennt er
sie .meine Tochter', denn sie ist ja seine Tochter, und manchmal
nennt er sie .meine Mutter'." Die Schlußworte dieses Stückes, in dem
also die Funktion der mystischen Tochter deutlich bezeichnet ist,
stammen aber wiederum aus einem älteren Gleichnis des Midrasch
über die Ecclesia Israels172. Diese Ecclesia tritt im Buch Bahir selber
in § 45 in Fortsetzung dieser Ausführungen auf. Sie ist dort die Re-
präsentantin einer Potenz, die zugleich Strafgerechtigkeit und Er-
barmen übt. Wenn Israel Buße tut, wird sie zusammen mit ihnen
„zurückkehren", was sich wohl auf das Exil der Schekhina bezieht,
die jetzt von ihrem König getrennt ist. Die Tochter also ist eigentlich
nur reines Gefäß und hat nicht viel aus sich selber. Sie ist die Zu-
sammenfassung aller in sie mündenden Wege, und an ihren Kleidern
erst werden die Juwelen des Königs sichtbar. Aber eben dadurch wird
sie das Medium, durch das der Zugang zum König selber geht.
l'O Wajiqra Rabba, Par. 27, § 10 und Pesiqta de-Rab Kahana, ed. Buber, Bl. 78a.
171
Der Ausdruck im Hebräischen ist sehr sonderbar: naga' ba-Bath, „er rührte die
Tochter an".
172
Schir ha-Schirim Rabba 3,i.
Diese Verbindung des Königs mit der Tochter wird an einer anderen
Stelle (§ 36) in einer Weise entwickelt, die wiederum für die Verbindung
zur Gnosis aufschlußreich ist. Wir sahen oben, daß der siebente Logos
der Ort der Seele alles Lebendigen und des Männlichen ist. Hier aber,
und hier allein, tritt die Seele als Symbol des Weiblichen auf, welches
jene Tochter und Prinzessin ist, die wir in § 90 als die Tochter des
Lichtes kennengelernt haben, die in die Ferne gesandt wurde, die
brath nuhra der syrischen gnostischen Texte. Das paßt zu den Aus-
sagen der Gnostiker über die Seele, aber nicht zu der sonst im Bahir
zur Herrschaft gelangten Symbolik. § 36 gibt eine mystische Ety-
mologie des Wortes Zahab, Gold, in dessen Konsonanten „drei Middoth
zusammengefaßt" seien, „das Männliche, Zakhar, und das ist das Z,
die Seele und das ist das H . . d a s ein Thron für das Ζ ist, und Β
verbürgt ihren Bestand", weil die beiden Prinzipien des Männlichen
und Weiblichen sich im Medium des Beth am Anfang des ersten Wortes
der Tora vereinigen. Diese Vereinigung ist es offenbar, in der dieses
Stück den Urakt der Schöpfung findet. Das Weibliche, das hier voraus-
gesetzt ist, wird zwar in dem nun folgenden Gleichnis, keineswegs
aber in der Erklärung selber, als solches, nämlich als Tochter, be-
zeichnet. „Und was ist die Funktion [des Beth] ? Das gleicht einem
König, der eine Tochter hatte, gut und schön, anmutig und voll-
kommen, und er verheiratete sie an einen Königssohn und gab ihr
Kleider, Krone und Schmuck, und gab sie ihm mit vielem Vermögen.
Kann der König nun ohne seine Tochter [wörtlich: außerhalb von
seiner Tochter] leben ? Nein ! Kann er immer den ganzen Tag bei ihr
sein ? Nein ! Wie machte er es ? Er machte ein Fenster zwischen sich
und ihr, und sooft die Tochter den Vater braucht und der Vater die
Tochter, kommen sie durch das Fenster zusammen. Das ist, was ge-
schrieben steht [Ps. 4514] : Alle Herrlichkeit der Königstochter ist
innen, ihr Kleid von Gold [den drei in Zahab zusammengefaßten
Middoth] durchwirkt." Auch hier ist ein Midrasch-Gleichnis über
einen König und seine Tochter, die Ecclesia, das sich im Midrasch
zum Cant. 3 9 befindet, ins Mystische variiert.
In anderen solchen Gleichnissen ist die Tochter des Königs die Tora,
von der er, obwohl er sie Israel gegeben, ja „anverlobt" hat, sich doch
nicht trennen will, und daher ein Gemach (das Heiligtum) zugerüstet
hat, in dem er bei ihnen wohnen kann, wie in Schemoth Rabba am
Anfang von Par. 33. Auch von der Tora spricht das midraschische
Gleichnis des Königs, der für seine Tochter einen Palast baute und
sie ins Innerste von sieben Gemächern setzte und verkündete: „Jeder,
der bei meiner Tochter eintritt, ist wie einer, der bei mir eintritt 173 ."
Im Bahir fallen alle diese Begriffe in ein Symbol zusammen. Die
178
Midrasch Tanhuma, gewöhnliche Rezension, Piqqude § 4.
Tochter des Königs ist unten, in dieser Welt, deren mystisches Prinzip
oder Midda sie darstellt (so ausdrücklich in § 98), aber sie bleibt durch
ein „Fenster" mit ihrem Vater verbunden. Sie ist das schöne Stück
Feld außerhalb des eigentlichen Gartens, das, obwohl es abgetrennt
scheint, doch mit allem in diesem mystischen Garten eines ist (§90).
Was sie hat, kommt, wie der Psalmenvers sagt, „von innen" her,
kommt aus der Welt jener Logoi und Kräfte und bleibt im Grunde
doch auch in ihr. Die Stellung der Tochter bezeichnet den Übergang
der Schekhina von der Transzendenz zur Immanenz. Als das in der
Welt Wirkende ist sie die „mündliche Tora", durch die die schriftliche
enträtselt und der Anwendung fähig wird. Daher wird auch von der
mündlichen Tora in § 97 gesagt, daß Gott in ihr die 32 Wege der So-
phia zusammengefaßt und sie dieser Welt gegeben habe. Weil in ihr
diese 32 Wege enthalten sind oder erscheinen, ist sie auch das „Herz"
(§§ 43, 67, 75, 105). „R. Rachmaj sagte: .Glorie', Kabhod, und ,Herz',
Lebh, sind [dem Zahlenwert nach] dasselbe, nur daß Glorie nach der
Wirkung im Oberen genannt wird und Herz nach der Wirkung im
Unteren, und das meinen [die biblischen Ausdrücke] von der , Glorie
Gottes' und vom ,Herz des Himmels' [Deut. 4 n ] " (§91). Der Sinn
des Terminus Herz, wie er im Buch der Schöpfung VI, 1 für die Sphäre
des Menschen überhaupt gebraucht wird, ist hier also völlig verändert.
In der Ritualsymbolik von § 62 werden die 32 Fäden in den Schau-
fäden 174 mit den 32 Wächtern verglichen, die über die Wege im Garten
des Königs, die nach § 67 auch die Wege zum Baum des Lebens sind,
wachen. Der Wächter, der über sie alle gesetzt ist, ist in einem
anderen Gleichnis desselben § 62 mit der Tochter des Königs
gleichgesetzt. Hier zeigt sich, daß schon dem Bahir die Symbolik der
letzten Sephira als „Wächter Israels", Schomer Israel (Ps. 121 4),
bekannt ist.
Die Königstochter, die aus der Form des Lichtes stammt, ist, wie
wir schon früher gesehen haben, die untere Sophia (vgl. oben S. 83).
Wie die „Weisheit" der Bibel und die Schekhina des Talmud läßt
sie sich auf die Irdischen herab. Sie ist nicht mehr die Gegenwart
Gottes allein, sondern ein spezifisches Moment in der Entfaltung seiner
Kräfte. In § 44 wird der talmudische Satz, daß der Name Salomos
im Hohenlied ein Name Gottes sei („der König, bei dem der Friede
ist")175, folgendermaßen mystisch weitergeführt: „Gott sagte: weil
dein Name wie der Name meiner Glorie lautet, will ich dir meine
.Tochter' vermählen. Aber sie ist doch bereits vermählt? Er sagte,
sie wurde ihm zum Geschenk gegeben, wie es heißt [I Reg 5 25] : Gott
174
Die Zahl der von der Tora vorgeschriebenen Schau! äden am Gewand (Num. 16 :
37 ff.) ist nach talmudischer Vorschrift 32.
176
Traktat Schebhu'oth 35b.
kostbare Kleinod. Als solches wird sie direkt in §§ 61, 65, 131 be-
zeichnet, indirekt in Gleichnissen über sie in §§ 16, 17, 49 und 61.
Der Edelstein, der die Tochter oder Braut schmückt, wird zu einem
Symbol ihrer selbst, in dessen Strahlen „alle Gebote verfaßt sind"
(§ 131). Der schöne schmuckreiche Edelstein dieser Stelle ist dann
in § 137 die Tora als die geschmückte und gekrönte Braut, die Gott
anverlobt ist. Diese Edelsteinsymbolik kann ebenso gut aus der
aggadischen Symbolik verstanden werden, wo die Tora (im Talmud,
Zebahim 116 a) als Kleinod in Gottes Schatz erscheint, und die Seele
mit einer Perle verglichen wird180, als auch aus einem Rückgriff auf
die gnostische Sprache, wo ja die Sophia oder die Seelè ebenfalls als
Edelstein oder Perle beschrieben werden. Dieser Edelstein, in dem die
„Kleinode aller Könige und Länder" (so in § 61, aus Eccl. 2 8) zu-
sammengefaßt sind, ist deutlich von den Königen, die die aktiven
Kräfte des Pleroma sind, unterschieden. Dieser Edelstein bringt die
Jahre, das heißt die Zeit, hervor. § 49 deutet Hab. 3 2 : „Ein König
hatte einen kostbaren Edelstein . . . und wenn er sich freute, umarmte
und küßte er ihn, setzte ihn auf sein Haupt und liebte ihn. Habakuk
sagte zu ihm: Obwohl doch die .Könige' bei dir sind, ist jener Edel-
stein die Zierde deiner Welt ; darum ,in den Jahren' — in jenem Edel-
stein, der die Jahre hervorbringt —: schaffe ihm Leben."
Diese Perle, Krone oder Tochter hat aber nicht nur eine Mission
in diese Welt, als die untere Weisheit und das Mädchen aus der Fremde,
wie wir sahen, sondern ihr wohnt auch eine entgegengesetzte Dynamik
des Aufstiegs nach oben zu Gott selber inne. Es gibt also eine Be-
wegimg der Schekhina nicht nur nach außen, sondern auch nach
innen, zu jenen Kräften, die in ihre Gewänder eingewoben sind. Dies
zeigt sich besonders in einer mystischen Umdeutung einer talmu-
dischen Stelle über das Gebet. Hagiga 13 b heißt es, der Engel Sandal-
phon, der die Gebete Israels empfängt und aus ihnen eine Krone
flicht, spreche den Namen Gottes über diese Krone aus, worauf sie
(von selber) auf das Haupt ihres Herrn hinaufsteigt und ihn damit
krönt. In § 61 wird dies umgedeutet. Dieser Krone, die beim Gebet
„sehr hoch emporsteigt", ist selber „der gekrönte Edelstein, in dem
alles zusammengefaßt ist, und ist der verworfene Eckstein. Und er steigt
empor bis zu dem Ort, aus dem er herausgebrochen wurde". Dieser
Ort, der „dort" heißt, ist in § 129 klar mit Symbolen des dritten Logos
bezeichnet. Dies paßt zu den Zusammenhängen zwischen Bina als
dem Urlicht und dem Ort, an dem die Tora behauen wird, und dieser
letzten Region, die auch das „Schatzhaus der mündlichen Tora"
180 Bereschith Rabba, Par. 7, § 5, Theodor S. 64. Auf diese und ähnliche Stellen im
paläst. Talmud hat schon I. Scheftelowitz, Die mandäische Religion und das Judentum,
M. G. W. J. 69 (1929), S. 218 hingewiesen.
(§§ 97 und 137) heißt. Auch §§ 131, 133 stellen dieselbe Beziehung
her. Das Urlicht und das Licht dieser Welt sind zwei Potenzen, die
beide als Edelstein symbolisiert werden. Ein höchster Edelstein, der
hier Sohereth heißt — in einem Wortspiel im Sinne von „höchstes
Gut" aufgefaßt181 —, steht dem anderen Edelstein gegenüber, der ein
Tausendstel des Glanzes jenes anderen enthält, und mit den Epitheta
der Braut und Tora als der „schöne und geschmückte Edelstein"
benannt wird, in dem Gott alle Gebote zusammenfaßte. Der untere
Edelstein ist also sozusagen aus dem oberen als ein kleines Stück
davon herausgebrochen, aber noch immer ist dort seine Heimat, und er
kehrt dorthin, zu seinem „Dort", in der Stunde des Gebets und in der
messianischen Zeit zurück. Diese Vorstellung von einer geheimen
Bewegung im Bereich der Sephiroth, nach oben nicht weniger als
nach unten, deren Trägerin gerade die Schekhina ist, ist für die Kab-
bala von zentraler Bedeutung geworden.
Daß die Tochtersymbolik gegenüber der eigentlich sexuellen Sym-
bolik des Weiblichen im Bahir stärker betont wird, ist offensichtlich182.
Andererseits ist die Syzygie des Männlichen und Weiblichen an vielen
Stellen nachdrücklich unterstrichen, wofür wir einige Beispiele schon
kennengelernt haben. Das geschlossene Mem ist das Männliche, das
offene Mem das Weibliche (§§ 57-58). Dem entspricht die Verbindung
von Osten und Westen, die einem tiefgnostischen Stück über die
Seelenwanderung zugrunde liegt. Wir haben schon oben gesehen,
daß der siebente Logos, von dem der Same Israels stammt, auch der
.Osten der Welt" heißt. Darauf wird in §104 Jes. 53s gedeutet:
„Von Osten bringe ich deinen Samen, und von Westen sammle ich
dich ein. Ist Israel gut vor Gott, so bringe ich deinen Samen von diesem
Ort, und neuer Same ersteht dir. Ist Israel aber schlecht, so nehme
ich von dem Samen, der schon in der Welt war und von dem es heißt :
,Ein Geschlecht geht und ein Geschlecht kommt', das heißt, daß es
schon einmal gekommen ist. Und was bedeutet ,νοη Westen sammle
ich dich ein?' Aus jener Midda, die stets nach Westen neigt. Warum
heißt der Westen Ma'arabh, Vermischung ? Weil dort sich aller Same
vermischt. Das gleicht einem Königssohn, der in seinen Gemächern
eine schöne und züchtige Braut hatte, und er pflegte aus dem Hause
seines Vaters Reichtümer zu nehmen und stets zu ihr zu bringen, und
sie nahm alles, legte es beiseite und mischte aller durcheinander. Nach
Ablauf der Tage wollte er sehen, was er vereinigt und gesammelt
hatte, und davon heißt es : Aus der Vermischung sammle ich dich ein.
Das Haus des Vaters bedeutet aber den Osten, aus dem er den Samen
bringt und im Westen aussät; und am Ende sammelt er wieder ein,
was er ausgesät hat."
Dies Stück ist sehr bemerkenswert. Es gibt neue Seelen, die über-
haupt noch nicht in der Welt waren, sondern erst hinabsteigen, wenn
Israel „gut vor Gott" ist. Im allgemeinen zirkulieren die Seelen von
Geschlecht zu Geschlecht. Die Aussaat ist die der Seelen in die Welt,
in den von der Schekhina verwalteten Kosmos, die Sphäre des Westens,
wo nach dem Talmud die Schekhina weilt. Das Heimholen aus dem
Westen oder der Vermischung und Zerstörung kann nichts anderes
bedeuten als die Erlösung. Bis dahin gibt es als Strafe der sündigen
Seelen Israels die Seelenwanderung. Die Schekhina ist zugleich die
Braut des Königssohnes und die Ecclesia Israels. Aus ihrem Bereich,
der sowohl diese irdische Welt als auch eine mystische Region ist,
werden „nach Ablauf der Tage", d . h . eschatologisch verstanden:
am Ende der Zeit, alle Seelen wieder eingesammelt und kehren in das
Haus des Vaters zurück, den mystischen Osten. Dieselbe eschatolo-
gische Bedeutung wird am Ende von § 50 dem Gebet Hiskias bei-
gelegt: „Wenn nur Frieden und Wahrheit in meinen Tagen walten"
(II Reg. 20 19). Hiskia habe darum gebetet, daß die Midda Davids,
welche Abend ist — Abend und Westen haben im Hebräischen die
gleiche Wurzel — und die von „Friede und Wahrheit", welche Morgen
ist, in seinen Tagen „einen Tag" bilden mögen, daß „alles eines werde".
Dieser eine Tag ist zugleich die Urzeit von Gen. I5 und die Endzeit
der Erlösung, die ja eben in der Vereinigung des Männlichen und Weib-
lichen besteht, wie wir oben schon aus § 58 erfahren haben.
Dennoch bleibt, wie vorhin betont wurde, das sexuelle Moment
dieser Symbolik mehr im Hintergrund. Das Buch spricht vom
Schmuck, der der Braut oder Tochter verliehen wird, mehr als von
anderen ihrer Attribute. Besonders die Gleichnisse heben diese Auf-
fassung der Rezeptivität stark hervor. Im Bild des Gefäßes verbinden
sich die beiden Tendenzen. Das Weibliche ist das schöne Gefäß, in
dem alle Juwelen aufbewahrt werden, es ist aber zugleich das Gefäß
für die Kraft des Männlichen. Freilich ist diese letzte Midda nicht
ausschließlich rezeptiv. Sie ist zwar die ärmste unter allen, hat aber
doch auch Reichtum, eine positive Kraft in sich selber. Dies wird mit
Hinblick auf den Buchstaben Daleth, wörtlich hier als Armut ver-
standen, begründet: „Zehn Könige waren einst an einem Ort und
alle reich. Einer davon war zwar reich, aber doch nichl; wie irgendeiner
von diesen183. Da wurde er, wenn auch sein Reichtum groß war, im
Verhältnis zu den anderen arm, dal, genannt (§ 19)."
188
Ich habe das besonders schlechte und unbeholfene Hebräisch absichtlich nicht
in der Übersetzung verschönert.
bekannt und wird von ihnen zitiert. Freilich ist der Kabhod des Cha-
nanel ganz wie bei Saadia und bei Jehuda ben Barzilai ein erschaffener
Kabhod, während für das Buch Bahir und die älteste Kabbala die
Kreatürlichkeit dieser Logoi doch fraglich bleibt. Immerhin ist gerade
bei der Übertragung der Vorstellung vom verborgenen Urlicht auf
einen der Äonen, wie wir sie in §§ 97 und 106 haben, von der „Schöp-
fung" dieses Urlichtes die Rede, während es von der unteren Sche-
khina in § 116 heißt, daß sie aus dem Urlicht „emaniert" sei. Es ist
mir fraglich, wie weit man Verben wie schaffen und emanieren hier
in einem technischen Sinne nehmen darf. Wir werden dies Schwanken
der Ausdrücke noch bei den provençalischen Kabbalisten und ihren
Schülern, trotz ihrer klaren Hinneigimg zur Emanationslehre, kennen-
lernen. Ob die Äonen oder Logoi des Bahir von Gott geschaffen oder
aus ihm emaniert sind, wird, mindestens für den Großteil des Bahir,
unklar bleiben, und die Autoren haben sich eine solche Frage viel-
leicht überhaupt nicht vorgelegt.
Wir sind am Ende unserer Betrachtungen über die zehn Logoi oder
Sephiroth des Buches Bahir. Hebräische Fragmente von gnostischem
Charakter, die wir entweder in der Analyse nachweisen konnten oder
als Quellen vorauszusetzen uns genötigt fanden, haben in Kreisen,
die wir noch nicht eindeutig bestimmen können, als Anregungskeim
für weitere Spekulationen in dieser Richtung gewirkt. Manches in
diesen Quellen weist nachdrücklich auf den Orient hin, manches
könnte sich gut auch bei den deutschen Chassidim entwickelt haben.
Das Buch Raza Rabba war nicht die einzige orientalische Quelle, aus
der Bahir komponiert oder redigiert wurde. Die Einzelanalyse hat
das Vorhandensein von Motiven und Symbolen aufgewiesen, die
einer bestimmten Tradition, vielleicht nur literarischer, vielleicht
aber auch lebendiger Überlieferung, entstammen. Jenes „Lehrhaus"
der Urkabbalisten hat seine Quellen einer intensiven Bearbeitung
unterzogen, hat manches stehenlassen und manchem ganz neue
jüdische Formen gegeben, hat auch manches im Sinne des gemein-
samen Rahmens, der hier zu schaffen gesucht wurde, neu zugefügt.
So dürfen wir wohl mit einer religiösen Gärung rechnen, die sich als
lische Rede von einem „Ort der oberen Schekhina" schon im Midrasch Bamidbar Rabba
Par. 4, § 14 finden zu wollen, wie Wunsches Übersetzung dieses Midrasch, Leipzig 1886,
S. 64 hat. Dort ist nur davon die Rede, daß die Schekhina im irdischen Tempel wohnt,
„entsprechend der Stätte seiner Schekhina [d. h. entsprechend dem Thron der Glorie,
der dort vorher, Par. 4 § 13, genannt war] oben". Die Begriffe Kisse ha-Kabhod schei
ma'ala und Meqom Schekhinatho schei magala sind synonym.
Jene bilden den .ersten Kabhod', und sie sind in den Universalien ent-
halten187." Hier sind also die Universalien, Kelalim, eine Ideenwelt
über den Engeln, die die höchste oder „erste Glorie" bildet. Die Ver-
wandtschaft zu den kabbalistischen Sephiroth liegt auf der Hand.
In einer längeren Version dieses Buches, aus der sich Fragmente er-
halten haben, lesen wir noch schärfer formuliert folgendes über die
göttlichen Middoth als „Orte" in der Welt des Pleroma und als Ur-
quellen, aus denen die Engel und niederen Kräfte geschaffen sind oder
entstammen: „In der oberen Welt gibt es zahllose Orte, von denen
einer höheren Rang hat als der andere, ohne Zahl und ohne Ende.
Und für jedes Ding gibt es andere Orte: Quellen der Weisheit für sich
selbst, der Einsicht gesondert, des Wissens gesondert, der Anmut
gesondert, der Liebe, Hessed, gesondert, der Gerechtigkeit gesondert,
des Erbarmens gesondert, der Rache gesondert, des Zornes gesondert.
Und nach der Quelle richtet sich der Rang der Engel, die von dort
durch Gottes Wort geschaffen werden. Denn aus der Quelle des Er-
barmens werden die Engel des Erbarmens geschaffen . . . Und so für
jede erschaffene Engelgruppe. Dem Licht der Potenz entsprechend,
von dem sie empfängt, heißt ihr Name, denn was aus dem Licht der
Potenz des Erbarmens geschaffen wird, heißt barmherziges Licht . .
[wie hier noch für die Engel dargelegt wird, die aus dem Licht der
Quelle der Weisheit, der Langmut, aus dem Licht der Stärke, aus dem
Ort von Hessed, aus dem Licht der Wahrheit und dem Ort der Sünden-
vergebung geschaffen sind, eine Folge, die zum Teil an mehrere kab-
balistische Sephiroth erinnert]. Und so verhält es sich mit allen Mid-
doth, und alles, was in der niederen Welt geschieht, kommt durch sie
zustande, und dies ist das Geheimnis der ganzen Tora und der ganzen
Schrift188." Diese Zitate zeigen, daß der Begriff von Middoth als Äonen
auch innerhalb des deutschen Chassidismus möglich war. Es wird sich
schwer sagen lassen, ob die ältesten Quellen des Bahir vielleicht auch
auf diese Anschauungen eingewirkt haben. Die Differenz besteht darin,
daß alles, was uns im Bahir als bizarr oder als spezifisch gnostisch
anmutet, hier fehlt.
Es wäre aber irrig zu übersehen, daß Möglichkeiten solcher eso-
terischen Auffassung der Merkaba- Symbole in der Richtung des
Buches Bahir in den Schriften Eleazars von Worms angedeutet sind.
Er weist auf mündliche Überlieferung über den mystischen Sinn von
solchen Symbolen hin. „Wenn es im Buch der Merkaba heißt, daß
die Engel, die über die Tore der sieben Hekhaloth gesetzt sind, auf
feurigen Pferden reiten-, die feurige Kohlen fressen188 . . ., so ist es ja
187
Sepher ha-Hajim, Handschrift München hebr. 207, Bl. 9a.
188
Handschrift München hebr. 357, B. 51b. Der hebräische Text ist in meinem
Reschith ha-Qabbala, S. 48, gedruckt.
le
» Das Zitat bezieht sich auf Kap. 16 der „Großen Hekhaloth".
Scholem, Kabball 11
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162 Das Buch Bahir
bekannt, daß oben kein Essen und Trinken stattfindet. Wollte ich
aber die Deutung niederschreiben, so würde es jemand sehen können,
der nicht würdig ist, und würde zu korrupten Auffassungen darüber
gelangen . . . Daher [kann solche Deutung] nur auf dem Wege der
Tradition, Kabbala [geschehen]", das heißt durch mündliche Über-
lieferung190. Als Symbole tiefgeistiger Sachverhalte erklärten auch
die ersten Kabbalisten die Schilderungen der Merkaba bei den Pro-
pheten und die Revelationen der Autoren der Hekhaloth-IAteiaXur.
Nicht ohne Grund wird der anonyme kabbalistische Merkaba-Kom-
mentar, als dessen wahrer Autor sich Jakob ben Kohen aus Soria
identifizieren läßt, in manchen Handschriften als „aus der Kabbala
des Chassid R. Eliezer aus Worms" stammend bezeichnet. Jakob
Kohen und sein Bruder Isaak trafen um 1250 in Narbonne einen
„Chassid und Kabbalisten", der ein Schüler des Eleazar war und offen-
bar die chassidische Tradition mit der kabbalistischen der proven-
çalischen Gruppe zu verbinden wußte191. Vielleicht war dieser namen-
lose Schüler der mündlichen Uberlieferung seines Lehrers in höherem
Maße treu, als wir aus der bloßen Vergleichung von dessen Schriften
mit denen der ältesten Kabbalisten würden entnehmen können.
Ich habe an anderer Stelle die Vorstellungen der deutschen Chas-
sidim über den Kabhod dargestellt19a. Bei ihnen verbindet sich Saadias
Lehre über die ersterschaffene Glorie, „den großen Glanz, der Sche-
khina heißt", mit einer Umdeutung im Sinne einer wiederherauf-
kommenden Logos-Lehre, die vielleicht durch unterirdisches Fort-
leben philonischer Ideen erklärbar ist. Noch im 12. Jahrhundert wurde
hier zwischen zwei Formen oder Arten des Kabhod unterschieden,
einem inneren und einem äußeren Kabhod. Dabei ist die Schekhina meis-
tens mit der inneren Glorie, ja sogar mit dem göttlichen Willen identifi-
ziert. An anderen Stellen tritt aber bei Eleazar aus Worms selber eine
Auffassung hervor, die die Schekhina schon als zehntes „Königtum"
oder Bereich von Gottes Königsherrschaft, also ganz im Sinne der
Äonen-Spekulation des Bahir, auffaßt. Am wichtigsten ist dafür eine
Stelle aus seinem Sepher ha-Hokhma, einer Erklärung des mystischen
Gottesnamens von 42 Buchstaben. In einem Stück über die Tephillin
Gottes, die aus Israels Gebeten, Tephilloth, bestehen, heißt es von
der Krone, die dadurch von unten auf Gottes Haupt hinaufsteigt,
190 Zitat aus Eleazar von Worms in 'Aruggath ha-Bossem des Abraham ben Azriel«
ed. Urbach Bd. I, Jerusalem 1939, S. 204.
1 M Dieser Mystiker in Narbonne wird von Isaak ben Jakob Kohen an drei Stellen
seines Traktates über die Emanation (§ 2, 10, 23) erwähnt, vgl. Madda'e ha-Jahaduth
II, S. 245, 254, 263. Diese historische Persönlichkeit war offensichtlich einer der Ver-
mittler zwischen den deutschen Chassidim und dem Kreis der provençalischen Kabba-
listen.
1 9 2 Vgl. J. M., S. 120—124.
beide Welten und wird vom Gericht des Gehinnom errettet und ist
oben beliebt und unten begehrt 198 ." Ebenso heißt es an anderer Stelle
desselben Buches: „Die Schekhina des Schöpfers heißt Tochter, wie
es heißt [Prov. 8 30] : Und ich war Schekhina bei ihm, und dies 'bei
ihm' wird im Targum ΓΡ3~ina übersetzt 199 , das dieselben Buchstaben
hat wie m a Γα, die Tochter ihresHerrn,undsieheißtzehnteSephiraund
Malkhuth, weil die Krone der Königsherrschaft auf ihrem Haupteist".
Das Buch, in dem dieses merkwürdige Zitat steht, wurde 1217
kurz nach dem Tod des Jehuda Chassid verfaßt. Es beweist, daß die
Symbolik der Schekhina als Tochter, als Gottes Malkhuth und als
Weltenleitung und zehnte Sephira hier schon durchaus bekannt ist.
Auch die Einheit mit ihrem Ursprung, von dem sie trotz ihrer Mission
zu den Unteren doch nicht getrennt ist, wird hier ganz im Sinne von
Bahir § 90 (im Gleichnis über das schöne Stück Feld) betont. Die
gedeuteten Bibelverse sind andere als im Bahir, und auch die Auf-
fassung der Schekhina als „Engel Gottes" ist dort nicht nachweisbar,
ist aber durchaus im Sinne der deutschen Chassidim. Da eine Be-
kanntschaft Eleazars mit dem Buch Bahir nirgends erweisbar ist,
müssen wir diese ebenso wie andere Übereinstimmungen, die wir
schon früher kennengelernt haben, auf mindestens teilweise Bekannt-
schaft mit den gleichen Quellen zurückführen, die im Bahir benutzt
sind. Und in diesem Fall ist das besonders bedeutsam. Hier haben
wir die Symbolik der Braut und der Königstochter, von der Ecclesia
auf die Schekhina übertragen, ganz wie in den ältesten Fragmenten
dieser Symbolik im Bahir, in denen wir den deutlichen Nachhall
gnostischer Sprache fanden. Der historische Sinn dieses wichtigen
Schrittes zur kabbalistischen Symbolik hin bestand ja gerade in der
Vereinigung des nationalen Moments einer mystisch aufgefaßten
Ecclesia Israels mit einer neuen religiösen Konzeption der Schekhina.
Die mystische Ecclesia erhielt einen überhistorischen Ort im inneren
Prozeß der göttlichen Welt und trat in dieser neuen Gestalt an die
Stelle geistiger Wesenheiten, von denen die alten gnostischen Symbole
sprachen. Sie ist die lebendige Trägerin des göttlichen Abglanzes in
dieser Welt. Man fragt sich, wo diese Vereinigung der beiden Grund-
motive zu dem neuen Symbol vor sich gegangen ist: ob im Orient
oder in einer der Gruppen der deutschen Chassidim. Unsere Kennt-
nisse reichen für eine Entscheidung nicht aus. Für das erstere spricht
188
Ms. Oxford, Neubauer 1568, Bl. 6a. Vgl. auch die anderen Zitate dorther,
Anm. 75 und 120. Der Text ist an ein oder zwei Stellen korrupt und die Handschrift
überhaupt recht schlecht.
199
Das Verbum TlVSNl in Num. 11 : 17 wird im Targum in der Tat mit '•SUO
wiedergegeben. Ein Targum, wie er hier im Text verwähnt wird, ist nicht bekannt.
Targumzitate mit ganz abweichenden Versionen sind in der mittelalterlichen Literatur
sehr häufig.
der deutlichere Rückgriff auf die Sprache der Gnosis, für das letztere
vielleicht der sehr lebendige Sinn, den solche Verbindung im Zu-
sammenhang der historischen Erfahrung einer tiefbedrängten Ge-
meinschaft hatte, wie sie das Judentum der Kreuzzugszeit in West-
europa darstellte. Die uns bekannten Schriften der deutschen Chas-
sidim betonen die Lehre von der Schekhina und dem Kabhoi ohne
diese spezifisch historischen Züge. Als sie sich aber mit der Vorstellung
von der Ecclesia Israels vereinigte, gab das einen neuen und sehr
spezifischen Sinn. Jedes Glied an dem mystischen Corpus der Ge-
meinde Israel war dazu aufgerufen, das Geheimnis der Schekhina,
wie es in der Geschichte der Gemeinschaft zum Ausdruck kam, auch
im Leben jedes einzelnen zu manifestieren. Dies erklärt wohl die
besondere Verbindung der meisten Gebote mit dem so verstandenen
Mysterium der Schekhina, eine Verbindung, von der wir schon am
Ende von Abschnitt 8 gesprochen haben. Im Vollzug eines Gebotes
bringt der Mensch etwas von dem verborgenen Abglanz zum Vor-
schein, der auf der ganzen Welt und auf allem einzelnen in ihr und
auf jedem Tun liegt, und verbindet sich so mit dem historischen Ganzen
der Ecclesia Israels und mit der Schekhina, die deren Innerstes, ihre
mystische Realität ist. Die Sephiroth erschienen dann als die innere
Seite dieser Schekhina, als Kräfte, die nur in ihr und durch ihre Ver-
mittlung nach außen traten. Wenn sich aber auch die Beziehung der
ältesten Kabbalisten zu der Welt ihrer Symbole solcherart verstehen
läßt, so läßt sich doch die historische Entstehimg dieser Symbole
selber zulänglich nur durch die Verbindung mit den Überresten
gnostischer Äonenlehre begreifen.
Das Zitat aus Eleazar von Worms zeigt übrigens, daß hier die, sei
es gnostische, sei es aggadische „Tochter" leicht auch mit der Gestalt
des Metatron als des Engels Gottes oder Gesandten, den er nach
E x 23 20 vor Israel herschickt, identifiziert werden konnte. Solche
Identifikation ist in chassidischen Schriften öfters vorgenommen
worden und findet sich dann auch in alten kabbalistischen Doku-
menten200. Dies ist eine deutliche Überhöhung des Metatron, der in
der Merkaba-Gnosis auch den Namen Jahoel trägt. Der Engel wird
selber zu einer Gestalt des Kabhoi. Ganz Entsprechendes findet sich
übrigens bei den Manichäern, bei denen, nach Theodoret, die Licht-
jungfrau den Namen Ίωηλ führt201, der ja nichts ist als das hebräische
Jahoel, ohne daß ich darin übrigens mehr als eine Koinzidenz sehen
200 Zuerst unter Traditionen von Joseph ben Samuel aus Katalonien, die in alten
Kollektaneen der Hs. Christ Church College 198, Bl. 7 a angeführt werden: „ E r sagte
auch, daß nach ihrer Überlieferung Metatron die Schekhina sei." Andere Nachweise
habe ich Tarbiz V (1934). S. 1 8 6 — 1 8 7 , gegeben.
201 v g l ρ Chr. Baur, Das Manichäische Religionssystem, S. 161. Die Zweifel von
E . Peterson, Engel- und Dämonennamen, Rhein. Mus. f. Philol., N. F . Bd. 75 (1926),
möchte. Das Buch Bahir selbst hat, wie schon betont, keinerlei Ma-
terial zur Metatron-Spekulation bewahrt.
Wenn wir uns über die möglichen Beziehungen des Bahir zu seinen
Quellen und zur Überlieferung der deutschen Chassidim, wie sie sich
schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ausgebildet haben
muß, klar werden wollen, müssen wir noch zwei Punkte ins Auge
fassen, die bisher nur flüchtig berührt wurden. Dies iind die Lehre
von der Seelenwanderung und die Gebetsmystik.
Von der Seelenwanderung haben wir schon gelegentlich der Analyse
von §§ 86 und 104 gehandelt, wobei wir feststellen konnten, daß in
der Quelle von § 86, die uns im Raza Rabba erhalten ist, gerade davon
nichts stand. Sie ist also bei der Redaktion des Bahir aus einer anderen
Quelle hineingekommen. Welcher Art solche Quelle sein konnte,
läßt sich vielleicht aus den Details rekonstruieren, die Bahir vorbringt.
Dabei ist vor allem bemerkenswert, daß zwar die Sache dem Bahir
geläufig ist, aber noch kein Wort dafür geprägt ist. Von dem, erst
zwei bis drei Generationen nach Bahir ganz gebräuchlich werdenden
Ausdruck Gilgul, der dem lateinischen revolutio animarum in Augustine
Bericht über die Manichäer genau entspricht, sich aber dennoch wohl
anders erklärt202, findet sich hier nichts. Wichtig ist, daß die Lehre
zwar als ein Geheimnis vorgetragen wird, das nur Eingeweihten zu-
gänglich ist, dabei aber auch als etwas dem Autor durchaus Selbst-
verständliches, keiner besonderen Rechtfertigung Bedürftiges. Als
solches Geheimnis wurde sie auch von den Katharern gelehrt, was
wenig überraschen kann, da die Kirche diese Lehre ja formell und dog-
matisch verworfen hatte und jeder, dersie vertrat, damit eo ipso zumHäre-
tikergestempeltwurde. Die Details der Lehre sind auch bei den Katharern
ganzverschieden203. Vor allem weiß Bahir nichts von einer Wanderung in
Tierleiber oder überhaupt in andere als menschliche Daseinsformen.
Die Seelenwanderung tritt als Antwort auf die Frage nach der
Theodizee auf: „Warum geht es einem Frevler gut und einem Ge-
rechten schlecht ? Weil der Gerechte schon [einmal] in der Vergangen-
S. 404—405 über die Identität der Namen Joël und Jaoël sind sicher unbegründet.
Peterson war die jüdisch-esoterische Überlieferung über Jahoël nicht bekannt.
202
Zu Augustin vgl. die Stellennachweise bei Söderberg, la Religion des Cathares,
S. 153. Der hebr. Ausdruck Gilgul ist eine der Übersetzungen des arab. Terminus tanäsuh
und hat die gleiche Bedeutung des sich von Ort zu Ort Bewegens. Über die Geschichte
des hebr. Terminus habe ich hebr. in Tarbiz, Bd. 16 (1945), S. 135—139 gehandelt.
208
Zur katharischen Lehre über die Seelenwanderung vgl. die in Kap. 1, Anm. 12 u.
15 zitierten Werke von Guiraud, S. 59—60, Söderberg, S. 162—154, Borst, S. 168 bis 171.
heit ein Frevler war und nun bestraft wird. Aber bestraft man denn
für [Vergehen der] Jugendtage ? . . . Ich spreche ja nicht vom [selben]
Leben ; ich spreche davon, daß er schon in der Vergangenheit da war.
Seine Genossen sagten zu ihm: Wie lange wirst du noch dunkle Worte
reden?" Als Antwort trägt R. Rachmaj ihnen im Anschluß an Jes.
5 2 das Gleichnis vom Weinbergbesitzer vor, der seinen Weinberg
immer wieder umpflanzte und säuberte, weil ihm die Trauben nicht
gut gelangen. „Wie oft? Er sagte: bis zu tausend Generationen, denn
es heißt [Ps. 105 8]: er befahl ein Wort für tausend Generationen.
Und das bedeutet der Ausspruch [in Hagiga 13b] : 974 Generationen
fehlten; da stand Gott auf und pflanzte sie in jede Generation ein
(§ 135)." Die Einwände zeigen hier, daß die Fragesteller mit der eso-
terischen Lehre, auf die sich der apokryphe R. Rachmaj bezieht,
ganz unbekannt sind. Seine Sätze sind ihnen unverständlich. Der Ge-
danke selbst wird nicht in einem theoretischen Zusammenhang, sondern
wie auch an anderen Stellen des Bahir, wo von dieser Lehre die Rede ist,
nur in einem Gleichnis entwickelt. Das Gleichnis erwähnt ausdrück-
lich nur drei mißglückte Versuche mit dem Weinberg. Unklar bleibt,
ob darin schon die spätere Vorstellung von dreimaliger Wanderung
angedeutet werden soll. Auch die talmudische Stelle, die hier auf die
Seelenwanderung gedeutet wird, weiß nichts von ihr. Der Aggada
zufolge ist die Tora 26 Generationen nach der Weltschöpfimg gegeben
worden. Ps. 105 wurde aber dahin erklärt, daß Gott „sein Wort"
(d. h. die Tora) nach Verlauf von 1000 Generationen gegeben habe.
Den Widerspruch löst dort die Antwort, 974 Generationen lästerlicher
Menschen habe Gott in alle künftigen Generationen als die Frevler
dieser Geschlechter verstreut. Im Bahir sind diese Bösen also die
schlechten Weinstöcke, denen aber die Chance, aus einer neuen Prü-
fung als Gerechte hervorzugehen, nicht verwehrt bleibt. Dasselbe
sagt § 39, wo aus der mystischen Region des Sabbath alle Seelen „bis
zu 1000 Generationen" ausfliegen. Die Vorstellung, daß die Generation,
die geht, dem Bestand an Seelen nach im Grunde dieselbe ist, die
wiederkommt (§86), deutet in die gleiche Richtung. Auch hier ist
die Begründung, wie wir gesehen haben, aus der Umarbeitung eines
aggadischen Gleichnisses im Talmud erfolgt. Nur wenn Israel würdig
ist, erhalten sie nach § 104 neue Seelen aus dem Sabbath oder Osten,
dem siebenten Logos. Die meisten Seelen müssen bis zur Erlösung
und der Heimbringung aus der Vermischung wandern. Das Ein-
sammeln des Samens, der in den Kosmos, den Bereich der Vermischung,
ausgesät ist, ist ein altes gnostisches Symbol, das in den Mysterien-
Riten gewisser antinomistischer gnostischer Sekten zu großer Be-
deutung gelangt ist 204 . Im Bahir haben wir die gleiche Symbolik, aber
2M vgl dazu L. Fendt, Gnostische Mysterien, München 1922, S. 5—14, der den
Bericht des Epiphanius über die Phibioniten ausführlich untersucht hat.
205 Vgl. dazu Bousset, Hauptprobleme derGnosis, S. 172—176, und vor allem H. J .
Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949, S. 98—116,
334—342.
2 0 6 Vgl. vor allem die Hauptstellen in den Homilien 3,20 und Rekognitionen
II, 22.
funden wird. Das Gebet wird hierbei, ganz im Sinne der alten talmu-
dischen Auffassung, als Substitut des Opfers verstanden. Sein Sinn
ist der gleiche: die Einheit der „Kräfte" in Gott zu verkünden oder
sie meditativ zu vollziehen.
Vor allem wird in diesem Sinn das Erheben der Hände im Segen
Arons (Lev. 9 22) und beim Kampf gegen Amalek (Ex. 17 11) erklärt
(§ 87, 94, 95). Das Erheben der Hände beim Priestersegen am Ende
des Gebetes entspricht dem Erheben der Hände nach dem Opfer
(§ 87) : es ist eine Geste der Vereinigung, die die zehn Sephiroth, die
hier ausdrücklich genannt sind, als ineinander enthalten begreift.
Der Sieg Israels über Amalek, wenn Moses seine Hand aufhob, liegt
auf dergleichen Ebene.Moses richtete die,, Konzentration des Herzens",
Kawwanath ha-Lebh, auf jene Midda, die Israel heißt und die die Tora
der Wahrheit in sich faßt. „Er deutete mit den zehn Fingern seiner
Hände an, daß [diese Midda] den zehn [Logoi] Bestand verleiht, so
daß, wenn sie Israel nicht beistünde, die zehn Logoi nicht mehr
täglich als heilig gepriesen würden — dann siegte Israel." Der
Ausdruck Kawwanath ha-Lebh, der dem Targum und Midrasch
entstammt215, bedeutet Sammlung des Sinnes und ist seit dem Buch
Bahir von den Kabbalisten im Sinne von „mystischer Meditation"
über die Sephiroth gebraucht worden. Es ist der Grundbegriff ihrer
Gebetsmystik. Schon im Midrasch heißt es, Israels Gebet werde jetzt
nicht erhört, da sie den ausdrücklichen Namen Gottes Schern ha-me-
phorasch, nicht wissen216. Wer also dies Geheimnis kennt, dessen
Gebet wird erhört. Eben dies wird in einer Deutung von Hab. 3 10
in § 95 sehr kühn erweitert: „Sind in Israel Einsichtige217 und solche,
die das Geheimnis des ehrwürdigen Namens wissen und ihre Hand
erheben, so werden sie sofort erhört, denn es heißt [Jes. 58 9] : dann
rufst du und Gott antwortet. [Dies ist so aufzufassen :] Wenn du [das]
anrufst, [was mit dem Worte] 'az [angedeutet wird], so antwortet
Gott. Und was bedeutet dieses [aus Aleph und Zajin zusammengesetze]
'az ? Das lehrt, daß es nicht erlaubt ist, zu dem Aleph allein zu rufen
oder zu beten, sondern nur mit den zwei mit ihm zusammenhängenden
216
Vgl. Pseudo-Jonathan zu Num. 35 20; Pesiqta Rabbati, ed. Friedmann, Bl.
198b; Midrasch Tanhuma, Par. nassa §18, ed. Buber IV, S. 34; Bamidbar Rabba,
Par. 11 § 4. Das entsprechende Verbum kawwen libbo beim Gebet z. B. in Midrasch
Tehillim zu Ps. 108, ed. Buber, S. 464.
21
· Midrasch Tehillim, Ende von Ps. 91, S. 400.
217
Maskilim wird als Terminus für die, die das Geheimnis der Vokalisation des
Gottesnamens wissen, von Abraham ibn Ezra in der von Fleischer edierten Rezension
seines Exodus-Kommentars zu Kap. 24 gebraucht. Nach A. Parnés, Kennesseth, Bd. 7,
Jerus. 1942, S. 286 wäre Maskil in diesem Sinn schon in einem Gedicht des Salomo ibn
Gabirol gebraucht, vgl. Pijjutim, ed. Bialik-Rawnitzki, Bd. II, S. 58, Z. 8. Diese
Interpretation ist mir nicht sicher.
Bisher haben wir uns die Analyse des ältesten literarischen Denk-
mals der Kabbala, das in der Provence zur Veröffentlichung gelangte,
angelegen sein lassen. Es ist nun angebracht, uns auch der zweiten
Seite des Problems zuzuwenden und zu fragen: was wissen wir über
die ersten Persönlichkeiten, in denen Kabbalisten ihre ältesten Lehrer
erblickten? Auch hier sind die Wege der Forschung verwickelt und
nicht mit Rosen bestreut. Vollständige Schriften und andere Doku-
mente, die sicher über die Zeit vor 1200 hinausführen, sind uns nicht
erhalten. Andererseits haben wir auch nicht ein solches Vakuum vor
uns, wie es in bezug auf die Familie des Rabbi Abraham ben David
(im folgenden, nach der in der hebräischen Literatur üblichen Ab-
breviatur seines Namens als Rabed bezeichnet), seine Kollegen und
Schüler, bisher in der Kabbala-Forschung herrschte. Hier und dort
sind verstreute Fragmente erhalten, an deren Authentizität kein be-
gründeter Zweifel bestehen kann. Durch sie vermögen wir einen Blick
in die Welt jener Mystiker zu werfen, die nicht, wie die Redaktoren
des Bahir, aus anonymen und vielleicht ein wenig suspekten Kreisen
der jüdischen Gesellschaft kamen, sondern die „zu den Vornehmen
des Landes und den Verbreitern des Torastudiums in der Gemeinde"
gehörten, nach den stolzen Worten Isaaks des Blinden in einem wich-
tigen Brief, der sich erhalten hat 1 .
Das erste Glied in dieser Kette der provençalischen Kabbala war
Abraham ben Isaak aus Narbonne, der in der hebräischen Literatur
als „R. Abraham der Gerichtspräsident" bekannt ist und einer der
bedeutendsten Talmudisten seiner Zeit war. Sein Zusammenhang mit
der Kabbala wird nicht nur durch spätere Legenden begründet, wie
manche Forscher angenommen haben, sondern durch das ausdrück-
liche Zeugnis seines Enkels Isaaks des Blinden. Dieser spricht im Plural
1
Ich habe diesen Brief, über den ich unten S. 349 ff. ausführlicher handele, im
Sepher Bialik, Tel Aviv 1934, veröffentlicht und kommentiert. Der oben zitierte
Passus, sowie das weitere Zitat daraus, vgl. dort, S. 143.
davon, daß „seine Väter" — nicht nur sein Vater Abraham ben David
— unter den Meistern esoterischen Wissens waren. Vor allem betont
er aber, daß „kein Wort darüber aus ihrem Munde kam und sie sich
zu ihnen [d. h. zu solchen, die nicht in die Geheimlehre eingeweiht
waren] verhielten wie zu Menschen, die nicht in der [mystischen]
Wissenschaft bewandert sind, und ich habe [dies Verhalten] bei ihnen
gesehen und daraus eine Moral gezogen". Natürlich können wir, diesem
authentischen Zeugnis zufolge, keine kabbalistischen Ausführungen
im Sefiher ha-'Eschkol erwarten, dem großen Halakha-Werk des
Abraham ben Isaak, das für Talmudgelehrte bestimmt war. Die Frage
bleibt: Woher stammt der mystische Einfluß, der diesen bedeuten-
den Gelehrten zur Esoterik brachte ? Auf dem Hintergrund welcher
Neigungen oder Forschungen erhielt er die „Offenbarung des Pro-
pheten Elias", die ihm, wie wir sahen, alte kabbalistische Überlieferung
zuschreibt ?
Hier treffen wir auf einen paradoxen, aber wichtigen Sachverhalt,
der uns einiges Licht über die verschiedenen Quellen gibt, aus denen
die ältesten Kabbalisten schöpfen konnten. Abraham ben Isaak war,
wie bewiesen worden ist, ein direkter Schüler des Jehuda ben Barzilai
in Barcelona2, dem Autor des ausführlichen Kommentars zum „Buch
der Schöpfung", der hier schon mehrfach erwähnt wurde. Hiernach
dürfen wir annehmen, daß er dessen Kommentar kannte, obwohl er
ihn nirgends ausdrücklich erwähnt. Es ist natürlich wohl möglich,
daß er hier die Anregung zu weiteren Beschäftigungen mit dem Buch
Jesira und der Merkaba-Gnosis erhielt. An einer Stelle in seinem
'Eschkol deutet er auf dunkle Weise einen mystischen Kommentar
über die Aggada an, nach der Gott dem Moses den Knoten der Te-
phittin gezeigt habe: „Er zeigte ihm etwas wie Formen der [göttlichen]
Majestät und Pracht, um damit anzukündigen, daß dieses Gebot bei
ihm besonders behebt sei"3. Welcher Art diese Formen in dem himm-
lichen Licht waren, die Moses erschaute, wird hier. nicht gesagt.
In dem Jesira-Kommentar seines Lehrers finden wir dieselbe
Redeweise von „Formen der Majestät", welche die Schekhina ist,
und deren Wahrnehmung durch Moses oder die Propheten an nicht
wenigen Stellen4. Hier ist klar, daß Abraham ben Isaak die saadia-
nische Richtung seines Lehrers in der Auffassung der Schekhina und
der Lehre vom Kabhod fortsetzt. Historisch hätten wir also hier eine
2 Vgl. S. Assaph, Siphran schei Rischonim, Jerusalem 1936, S. 2—3.
8
Sepher 'Eschkol, ed. Albeck, Band I, S. 33.
4
Ibid. I, S. 223. Jehuda ben Barzilai benutzt die Ausdrücke „Majestät und Glanz"
öfters als feste Termini für das Licht des Kabhod. So spricht er von den Formen, die
den Sehern in diesem höchsten Lichte erscheinen, vgl. seinen Kommentar zu Jeçira,
S. 22, 32, 35 („Formen der Majestät, Suroth ha-Hod"), sowie seinen Kommentar über
die talmudische Aggada von dem Knoten der Tephillin, S. 33.
bole, die im Bahir gar nicht vorkommen, wohl aber nachher in den
Schriften von Abraham ben Isaaks Enkel. Hier findet sich außerdem
eine Andeutung, zu der wir aus der Kabbala der ersten Generationen
überhaupt keinen Schlüssel haben. Wenn wir wirklich annehmen
dürfen, daß schon Abraham ben Isaak sich angeregt fand, den my-
stischen Symbolismus der göttlichen Middoth in den Spuren der Tra-
dition des Bahir weiterzuentwickeln, würde uns nichts hindern, das
Zeugnis des Schemtob ibn Gaon anzunehmen. Es ist aber ebenso
möglich, daß diese Liste von einem Schüler des Gerichtspräsidenten in
der Provence gegen Ende des 12. Jahrhunderts verfaßt wurde. Eineend-
gültige Entscheidung über die Echtheit läßt sich heute nicht mehrfällen.
Auch an einer anderen Stelle hat sich bei einem Autor des 13. Jahr-
hunderts ein esoterisches Fragment des Abraham ben Isaak über die
Erlösung erhalten. Sollte es echt sein — ich sehe keinen Grund, es
für unecht zu erklären — so würde R. Abraham der Gerichtspräsident
hier auch seinerseits schon als Glied einer mystischen Familientradi-
tionskette erscheinen. „So habe ich von meinen Vätern empfangen:
wenn Sedeq [was im Hebräischen sowohl Gerechtigkeit als auch den
Planeten Jupiter bedeuten kann] zur Hälfte des Thrones der Glorie
gelangt, kommt sofort die Erlösung Israels usw.7." Das Bild von
Sedeq in der halben Höhe des Thrones ist sehr sonderbar. Ist Sedeq
hier der Planet Jupiter, so ist schwer verständlich, auf welche astrolo-
' Das Stück ist von Alexander Marx i m H a - S o p h e tne-'Eres HagarV, S. 198 ver-
öffentlicht worden. Seine Fortsetzung beweist Bekanntschaft mit der früh-mittelalter-
lichen Apokalypse des Sepher Zerubabel. Daß Abraham ben Isak Jesira und Merkaba-
Schriften kannte, also das esoterische Schrifttum der vorkabbalistischen Zeit benutzte,
läßt sich mit Sicherheit aus dem ihm (und nicht seinem Schwiegersohn) zugehörigen
Kommentar zum Traktat Baba Bathra beweisen, wie schon Raphael Rabbinovicz,
Diqduqe Sophrim X I (1881), S.9—10 der Vorrede, gezeigt hat (gegen H. Gross, M.G.W. J .
1873, S. 456). Gross hielt das Zitat aus Hilhhoth Jesira über die 12 Gegensatzpaare in
der Welt für einen Kopistenzusatz, der aus dem späteren kabbalistischen Kommentar
eines Pseudo-Rabed zu Jeçira I, 2 genommen sei. In Wirklichkeit stammt die Stelle
aber aus dem Text des Buches Jesira selber, wie er in dem echten arabischen Kommen-
tar Saadias zu Jesira (Kapitel V I I I seiner Einteilung) vorliegt. Unbegründet ist auch
Gross' Verdacht gegen die Stelle, an der Abraham ben Isak aus „Büchern der Merkaba"
des längeren verschiedene magische Schutzmittel (Qibhla, hat nichts mit Kabbala zu
tun) anführt, um Gunst bei den Behörden zu finden. Feinde zu bezwingen, im Kriege
zu siegen und dergleichen, wofür die Namen der Mütter biblischer Personen angerufen
werden sollen, wie sie an der von ihm glossierten Talmudstelle Baba Bathra 91a er-
wähnt werden. Diese Überlieferungen haben sich unter Abraham ben Isaks Namen
durchaus richtig auch in sehr alten, noch ins 13. Jahrhundert reichenden Sammlungen
jüdischer Magie erhalten, wie zum Beispiel in der Hs. Casanatense 179, Bl. 119a. In
manchen Handschriften wird auch das bekannte Amulett der sieben Siegel, über das
H. A. Winkler, Siegel und Charaktere in der Muhammedanischen Zauberei, Berlin 1930,
S. 55—149 gehandelt hat, dem Abraham 'Abh Beth Din zugeschrieben, so in der Hs.
Schocken Institute, Kabb. 101, Bl. 3 a.
12·
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180 Die ersten Kabbalisten in der Provence
gische Anordnung der Autor mit dem Ausdruck „Thron der Glorie"
hinweisen wollte. Hat er doch in einem solchen Rahmen, soweit ich
sehe, gar nichts zu suchen 8 . Oder sollen wir etwa annehmen, daß
sowohl „Gerechtigkeit" wie „Thron der Glorie" hier schon mystische
Symbole sind, wie in der Tat im Buch Bahir? Verhielte sich das so,
so würde in diesen zwei Symbolen auf die Konjunktion zweier Äonen,
die sich miteinander verbinden, hingedeutet werden. Das würde recht
gut der Symbolik der Erlösung im Bahir entsprechen, wo in § 50 unter
anderem eben diese zwei Begriffe in solchem Zusammenhang benutzt
werden. Dabei bleibt aber schwierig, was mit dem sonderbaren Aus-
druck „bis zur Hälfte des Thrones der Glorie" gemeint sein soll.
Jedenfalls läßt uns dies, so ganz zufällig überlieferte Zitat, aufhorchen.
Er würde sich seinerseits schon auf Tradition seiner eigenen Vor-
fahren über mystische Symbolik berufen, was den kabbalistischen
Überlieferungen in Narbonne eventuell ein noch höheres Alter gäbe.
Wenn wir also auch vorsichtigerweise sagen müssen, daß wirkeine Ge-
wißheit haben, welche spezifischen mystischen Überlieferungen dieser
Gelehrte schon besaß und im Kreise seiner Kollegen vortrug, so scheint
es mir doch nicht zweifelhaft, daß er schon irgend etwas von der kab-
balistischen Tradition besaß. Vielleicht waren diese Dinge noch sehr
verschieden von den Vorstellungen, wie wir sie nachher in der Kabbala
Isaaks des Blinden ausgebildet finden. Vielleicht auch dürfen wir der
Angabe über Familientradition hier nicht weniger Glauben schenken
als ähnlichen Angaben über esoterische Tradition in der Familie der
Kalonymiden in Deutschland, wo niemand ernstlich die Meinung
vertreten würde, daß sie etwa von Jehuda Chassid oder seinem Vater
erfunden worden sind. In beiden Fällen erscheinen am Ende der famili-
ären Uberlieferungskette bedeutende Persönlichkeiten, die zweifellos aus
Eigenem dazu getan haben, Dingen eine neue Form gegeben und Vorstell-
ungen in mehr oder weniger geordneter Weise zusammengefaßt haben.
hier öffnet sich uns ein Blick in die seelische Verfassung des Mystikers.
„Vor allem anderen muß ich jedem Leser dieses Buches, das ich hier
beginne, mitteilen, daß ich in bezug auf die hier behandelten Gegen-
stände keine Tradition aus dem Mund eines Lehrers oder Meisters
besitze, sondern unter dem Beistand Gottes allein, der den Menschen
Wissen lehrt, [diese Dinge behandle]. Und sollte sich dabei ein Irrtum
im Schreiben der Hand oder ein Irrtum im Sinne finden, so möge der
Leser wissen, daß die Verschuldung bei mir liegt und nicht bei meinen
Lehrern. Von dem aber, was sich an Gutem und Richtigem hier findet,
möge er wissen, daß es aus dem Mysterium kommt, wie der Psalmist
sagt [Ps. 2514] : Das Mysterium Gottes ist bei denen, die ihn fürchten."
Das hebräische Wort Sod kann ebenso wohl den Ratschluß Gottes
als im Sinne des späteren Sprachgebrauchs das Geheimnis Gottes
bedeuten, und die betonte Formulierung weist auf die letztere Nuance.
Es scheint mir ein Irrtum, wenn manche modernen Erklärer sagen,
mit solchen in halakhischer Diskussion höchst ungewöhnlichen Wen-
dungen „habe er nur den Gedanken aussprechen wollen, daß er die
Wahrheit getroffen habe" 1 1 . Von hier war dann ein weiterer Schritt
zu dem durchaus verfehlten Gedanken, auch die wichtigsten und
klarsten Äußerungen als Fälschungen oder spätere Zusätze entwerten
zu wollen, wenn sie im Widerspruch zu vorgefaßten Meinungen
standen.
In Wirklichkeit läßt sich aber sehr viel aus den Überresten der Äuße-
rungen der hier genannten provençalischen Gelehrten lernen, von
denen manche durchaus den Test der literarischen Kritik bestehen.
Hierbei ist besonders interessant, daß Sätze mystischer Richtung,
die sich in den eigenen Schriften dieser Gelehrten finden, entweder
in der Tat im Stil von Andeutungen geschrieben sind oder das hinter
ihnen stehende Mysterium durch exoterischen Ausdruck zu verwischen
suchen, so daß nur Traditionen, die sich bei den ältesten spanischen
Kabbalisten erhalten haben, uns auch hier den esoterischen, wirklich
kabbalistischen Aspekt ihrer Sätze enthüllen. Wir haben keinen Grund,
die eben erwähnten kabbalistischen Traditionen als unecht zu ver-
dächtigen, in denen wir zum Teil genau dieselben Wendungen und
besonders in die Augen springenden Ausdrücke wiederfinden, deren
11
Dies ist ζ. B. die Meinung von Heinrich Gross, M. G. W. J. Bd. 23 (1874), S. 169.
Die Ausführungen von Gross in diesem Aufsatz: „die Mystik des Rabed" (ib. S. 164—
182) scheinen mir völlig verfehlt. Sie laufen darauf hinaus, die in die Augen springenden
Fakten in Abrede zu stellen und auch die offensichtlichsten mystischen Elemente in
seinen Werken durch geeignete „Erklärungen" wegzuinterpretieren. Sein Aufsatz ist
ein Musterbeispiel für unangebrachte Hyperkritik. Tieferes Verständnis für diese Ele-
mente hat N. Weinstein in seinem Buch "Zur Genesis der Aggada" II (1901), S. 261 ff.
bekundet, ungeachtet der vielen phantastischen Ausführungen, an denen sein Buch
in anderen Beziehungen reich ist.
drei und die letzten drei Benediktionen sich auf die Ursache der Ur-
sachen richten, die mittleren aber auf den Joser Bereschith". Dieses
Begriffspaar, causa causarum und Demiurg, ist den spanischen Kab-
balisten nachher nicht mehr geläufig, ist aber gerade darum von be-
trächtlichem Interesse. Hier erscheint, am Anfang der provençalischen
Kabbala, die Differenz zwischen der ersten Ursache, die ganz verborgen
ist, und dem gnostischen Schöpfergott, der in dieser jüdischen Konzep-
tion natürlich nicht, wie bei den Gnostikern, auf eine niedrigere und
minderwertige Wesenheit in der Hierarchie des Seins hinweist, sondern
die Manifestation des verborgenen Gottes, der ersten Ursache selber ist.
Man könnte in dieser Terminologie des Demiurgen auch ein philo-
nisches Element finden. Er hat etwas vom Logos Philos an sich. Es
ist nicht sicher, ob dieser kabbalistische Demiurg mit einer einzelnen
Sephira zu identifizieren ist. Immerhin findet sich im Kommentar
Isaaks des Bünden zum Buch der Schöpfung die Erklärung des Be-
griffes Joser, Schöpfer, auf die sechste Sephira Tifh'ereth, die auch
der Thron heiße18. Es ist wahrscheinlich, daß dieselbe Idee auch hier
schon vorliegt. Was aber sicher ist, ist, daß der Ausdruck Joser Bere-
schith hier nicht etwa, wie manchmal bei spanischen Kabbalisten
(z. B. im Kether Schern Tobh des Abraham Axelrad), auf die Sephira
Bina bezogen wird, da es ausdrücklich heißt: „Der Joser Bereschith
wird ,der große Gott' genannt, und die Sephira Bina ist wie eine Seele
für ihn, er selber aber wie ein Körper jener Seele. Und er heißt auch
.Thron der Glorie', weil er ein Thron für die Bina ist".
Drei Dinge fallen uns in Verbindung mit diesen, anscheinend so
paradoxen Anschauungen auf. Erstens : auf einer neuen Ebene haben
wir hier eine Fortsetzung der alten Anschauung des Schi'ur Qoma
und der Merkaba-Mystik, die von einem „Körper der Schekhina"
und von einem „Schöpfer des Anfangs", Joser Bereschith sprechen,
der auf dem Throne sitzt und in dieser Erscheinung gleichsam Zahl
und Maß hat. In dem kabbalistischen Fragment ist dieser Demiurg
eine mehr äußerliche Manifestation einer ihm innewohnenden inneren
Seele, die selbst keineswegs mit der ersten Ursache identisch ist,
sondern (wie im Buch Bahir) die dritte Sephira Bina darstellt. Daß
die Bina in der Tat eine Art mystischer Seele darstellt, oder ihr jeden-
falls zugeordnet wird, lesen wir ja in § 32 des Bahir. Vielleicht kam
Jakob Nazir der ursprünglichen Intention der schwierigen Stelle im
Bahir näher als die Kabbalisten der nächsten Generation, die darin
vor allem die Meinung angedeutet fanden, daß die Seele des Menschen
ihren Ursprung in der Sephira Bina habe. Zweitens: Wir haben hier
eine genaue Parallele zu der Lehre vom „besonderen Cherub", der
auf dem Throne sitzt, eine Lehre, die bei den deutschen und fran-
18
Vgl. seinen handschriftlichen Kommentar zu Jesira I, 4.
S. 74 und 399, sowie H. Odeberg, 3 Enoch, S. 188—192 der Einleitung und S. 33—34
des Kommentars.
wenn schon Moses all seine Kawwana im Gebet nur auf den Cherub
richten sollte, damit sein Gebet durch dessen Medium angenommen werde
und nicht auf die Ursache der Ursachen — um wieviel mehr gilt das für
uns. Und damit ist für den, der Gottes Namen fürchtet, genug gesagt28."
Nachdem wir so den Inhalt einer fundamentalen kabbalistischen
Anschauimg des Rabed genauer kennengelernt haben, können wir
auch anderen Fragmenten, die die Kabbalisten aus seinen Schriften
bringen und in denen wir Hinweise auf eine entfaltete theosophische
Lehre haben, mehr Vertrauen in ihre Echtheit schenken. Der Talmud-
Kommentar des Rabed, von dem Schemtob ibn Gaon bezeugt, daß
er hier und da kabbalistische Dinge behandelte, kann ohne Schwierig-
keit auch seinem Zeitgenossen und Mitschüler im Lehrhaus des Salomo
ben Adreth, dem Meir abi Sahula bekannt gewesen sein. Dort dürfte
er die Begründung des Rabed für die Aggada in *Erubkin 18 a gelesen
haben, nach der der Mensch ursprünglich zweigeschlechtlich ge-
schaffen wurde. Er erwähnt dieses Stück in einer seiner Schriften,
ohne es im Wortlaut mitzuteilen29. Dieser Wortlaut hat sich aber in
einigen kabbalistischen Kollektaneen-Sammlungen, die auf altes
Material zurückgreifen konnten, erhalten. Auch hier spricht die Unter-
suchung für die Echtheit des Zitates. Obwohl er nämlich eine kabba-
listische Erklärung für den Begriff Du-Parsuphin, der im Mittelpunkt
dieser Aggada steht, gibt, so ist sie doch gerade durchaus von der-
jenigen verschieden, die in der spanischen Kabbalistenschule über-
einstimmend bis zum Zohar einschließlich gegeben wurde. Fälscher
dieser Periode hätten dem Rabed natürlich ihre eigene Ansicht zu-
geschrieben, wie sie das in so vielen kabbalistischen Pseudepigraphen
in bezug auf andere Autoren praktiziert haben. Die beiden Gesichter
sind hier noch nicht die Sephiroth Tiph'ereth und Malkhuth, wie in
der spanischen Kabbala, sondern die beiden Middoth der reinen Strenge
und des reinen Erbarmens in Gott. Die Stelle lautet: „Der Grund
für die Erschaffung [Adams und Evas] als ,Doppelgesicht', Du-
Parsuphin, besteht darin, daß das Weib ihrem Manne gehorsam sein
soll und daß ihr Leben von seinem abhängt und sie nicht jeder seinen
eigenen Weg verfolgen sollen, vielmehr unzertrennliche Nähe und
Brüderlichkeit zwischen ihnen herrschen solle. Dann würde Frieden
zwischen ihnen und Harmonie in ihrer Wohnstatt sein. Und dies gilt
auch von den [göttlichen Middoth, die] .Wirker der Wahrheit, deren
Wirken Wahrheit ist'30 [heißen]. Der Grund der zwei Gesichter weist
28
Vgl. den hebräischen Text des Stückes in Reschith ha-Kabbala, S. 78.
29
In seiner Erklärung zu den kabbalistischen Stellen im Torakommentar des Nach-
manides, Be'ur le-Perusch ha-Ramban, Warschau 1876, Bl. 4c, im Folgenden als
Sahula zitiert.
Dies ist eine Wendung aus dem Gebet zur Heiligung des Neumonds, wo darunter
Sonne und Mond verstanden werden. Hier ist sie schon mystisch umgedeutet.
auf zwei Dinge hin. Erstens ist es bekannt, daß zwei Gegensätze,
einer reine Strenge und der andere reines Erbarmen, emanierten.
Wenn sie nicht als ,Doppelgesicht' emaniert wären, würde jeder ein-
zelne davon seinem eigenen Prinzip gemäß wirken. Es würde aus-
sehen, als ob es zwei [unabhängige] Prinzipien gäbe, und jedes einzelne
würde ohne Verbindung mit dem anderen wirken und ohne seine Hilfe.
Nun aber, wo sie als .Doppelgesicht' erschaffen sind, findet all ihr
Wirken auf gleichmäßige Weise und in vollständiger Einheit und ohne
Trennung zwischen ihnen statt. Ferner könnte, wären sie nicht als
.Doppelgesicht' erschaffen, aus ihnen keine vollständige Einheit ent-
stehen, und die Eigenschaft der Strenge nicht in die des Erbarmens
aufsteigen, sowie [umgekehrt] die des Erbarmens in die der Strenge.
Jetzt aber, wo sie als ,Doppelgesicht' erschaffen sind, ist jedes von
ihnen dem anderen nahe und vereinigt sich mit ihm und sehnt sich
danach, sich mit ihm zu verbinden, damit alles ein Gebäude sei. Ein
Beweis dafür ist, daß die Gottesnamen aufeinander [in ihrer Bedeu-
tung] hinweisen, denn du findest, daß das Tetragrammaton [das auf
das göttliche Erbarmen bezogen wird] mitunter auch auf die Eigen-
schaft der Strenge hinweist und [der Name] Elohim, [der auf die
Strenge weist], auf die Eigenschaft des Erbarmens, wie in Gen. 19 24,
und die [Funktionen der] Eigenschaften gehen ineinander über.
Dies ist in Kürze der Grund [für die Erschaffung des Menschen als
,Doppelgesicht']. Denke darüber nach und du wirst ihn finden31."
Die beiden Middoth Gottes wirken also nicht als selbständige Prin-
zipien, die von einander unabhängig sind, sondern müssen bei aller
Gegensätzlichkeit als eine untrennbare Einheit in Gott angesehen
werden. Nur weil sie so miteinander verbunden sind, kann auch die
eine in die andere übergehen, weil jede auch etwas von der anderen
hat. Die Verwischung des Unterschieds zwischen den hier gebrauchten
Begriffen „erschaffen" und „emaniert", wobei der letztere nur den
Inhalt des ersteren näher umschreibt, weist auf die Verbindung mit
der Tradition des Bahir hin. Auch dort heißt es ja vom Licht der
Schekhina einmal, es sei erschaffen, ein anderes Mal aber, es sei ema-
niert. Aus der Verwendimg von Worten wie „Schöpfimg" läßt sich
a priori nichts über die prägnante theologische oder mystische Be-
deutung folgern, in der solche Ausdrücke benutzt werden. Der Inhalt
der Schöpfung kann eben in der Emanation bestehen. Auf jeden Fall
ist dies der Sinn der Schöpfung der göttlichen Middoth, welche die
Sephiroth sind.
Aber nicht nur gelegentlich dieser Aggada über die Natur des Men-
schen bezieht sich Rabed auf Esoterisches, das deutlich in die Richtung
31 Ich habe den Text des Stückes nach Hs. Brit. Mus. 768, Bl. 14a, und Oxford
32
Rabeds Bemerkung zu Hilkhoth Jessode ha-Tora 1,10, die im Kommentar Kesseph
Mischne erhalten ist.
33
Isaak von Akko, Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, BI. 42a.
Scholcm, Kabbala 13
phira Kether verborgen sind. „Der Rabed nennt diese Sephira auch
,das Begreifen, das kein Ende hat', nicht daß man in bezug auf sie
von irgendeinem Begreifen ihrer selbst sprechen könnte"84. Da in
der Kabbala des 13. Jahrhunderts später oft von dreizehn Quellen
die Rede ist, die aus der ersten Sephira hervorbrechen, und nicht von
zwölf, könnte auch dies auf eine ältere Anschauung hinweisen. Das
Schwurwort Ό wird in der Tat auch von den Schülern Isaaks des
Blinden als ein Symbol der ersten Sephira benutzt 35 . Eine weitere
Äußerung über die erste Sephira Kether 'Eljon wird gleich dahinter,
„im Namen des Rabed" angeführt, wonach ihm ihre Bezeichnung
als „das sich verbergende Licht", Or ha-mith'allem bekannt gewesen
wäre: „Und er erklärte dazu: [sie heiße so], weil sie sich von allem
entzieht und verborgen ist" 36 . Sofern diese Zitate nicht etwa aus
seinen Erklärungen zum Talmud genommen sind, beruhen sie auf
Aufzeichnungen von Schülern, die diese Dinge in seinem Namen
bringen. Sind sie echt, so zeigen sie, daß er in seinen mündlichen
Äußerungen vor Adepten der Mystik sich deutlicher über die Sephiroth-
Lehre aussprach als in seinen, für einen weiteren rabbinisch gebildeten
Leserkreis bestimmten Schriften. Die Terminologie scheint mir mit
der seines Sohnes eng zusammenzuhängen, was für die Echtheit der
Überlieferung spricht. Vom „sich verbergenden Licht" spricht auch
Isaak der Blinde in seinem Kommentar zum Buch der Schöpfung.
Daß er die Unbegreiflichkeit der ersten Sephira geradezu zu einer
symbolischen Bezeichnung ihrer selbst erhebt, ist ebenfalls bemerkens-
wert. Genau dasselbe findet sich, wenn auch in anderer Formulierung,
bei seinem Sohn. Die Sephira, die in ihrer Unerkennbarkeit aller
positiven Bestimmung entzogen ist, wird eben nach dieser negativen
Bestimmung genannt. Der Ausdruck En-Soph kommt in diesen Zi-
taten noch nicht vor, obwohl die Umschreibung Hassaga sehe-en Iah
Soph, wörtlich „das Begreifen, bei dem kein Ende stattfindet", nahe
an ihn heranführt 37 . Wenn wir diese Ausführungen über die höchste
34 Aus Hs. Brit. Mus. 771, Bl. 138a, in Reschith ha-Kabbala, S. 80—81 mitgeteilt.
85 Vgl. ζ. B. Ezra, Perusch ha-'Aggadoth, Hs. Vatic. 441 Bl. 6 9 a (sowie Zohar III,
66 a, 130 a). Isaak selbst benutzt Gen. 22 16 als Stichvers für die Sephirothlehre,
Sepher Bialik, S. 144.
»« Hs. Brit. Mus. 771, Bl. 139b.
8 7 Ein weiteres Stück mystischer Symbolik des Rabed, von dessen Echtheit ich
aber nicht überzeugt bin, habe ich 1932 in einer aus der Sammlung Carmoly stammen-
den Hs. der Stadtbibliothek in Frankfurt a. M. Nr. 218—21, Bl. 21 a gefunden. Ob die Hs.
noch existiert, ist mir fraglich. Das Stück lautet: „Man fragte den Rabed s. A. : W a r u m
stehen in dem [im Morgengebet auf das Schma' folgenden Gebet] 'Emeth we-jaçibh
1 5 Wörter, die mit dem Konsonanten Waw beginnen ? Er antwortete: Weil Gott seine
W e l t mit 22 Buchstaben erschuf, die den Gottesnamen Jah bilden [wie, wird hier nicht
gesagt], der den Zahlenwert 1 5 hat, wie es heißt [Jes. 26 4: 4]: denn durch Jah hat
Anteilnahme. Zugleich aber öffnete sich dieser Kreis dem Einfluß der
ganz oder halb neuplatonischen Literatur, die damals aus dem Ara-
bischen ins Hebräische übersetzt wurde und vorher bei den Gelehrten
der Provence nicht bekannt war. Daß das Buch von den Herzens-
pflichten, das verbreiteteste und wichtigste ethische Werk der mittel-
alterlichen jüdischen Literatur, im Grunde eine mystische Tendenz
hat und jedenfalls im Vorhof der Mystik sich bewegt, ist unumstritten.
Sein Autor predigte im 11. Jahrhundert, unter dem starken und in
die Augen springenden Einfluß der mystischen Literatur des Islam,
eine durchaus asketische Moral. Seine Anschauungen konnten sich
leicht mit den Tendenzen der neuen Kabbalisten und der deutschen
Chassidim verbinden. Ebensowenig wird es erstaunen, daß die neuen
Anschauungen Jehuda Halewis vom Wesen des jüdischen Volkes und
dem Mysterium seiner Bestimmung, seine Lehre von Israel als dem
Herz der Völker und von der spezifischen prophetischen Gabe, die
vom ersten Menschen her sich in der Nation erblich verpflanzt habe,
unschwer eine Verbindung mit der gnostischen Tradition und Mystik
über den geheimen Sinn der „Ecclesia Israel" eingehen konnten. In
Lunel und Posquières ist die Verbindung zwischen diesen Strömungen
geschaffen worden, die ihrem Charakter nach zwar verschieden waren,
sich aber in ihren asketischen Neigungen some in dem Versuch be-
gegneten, eine mystische oder halbmystische Lehre von dem beson-
deren Status des Volkes Israel in der Welt aufzustellen. Auch die
anti-aristotelische Tendenz der neuen Gnostiker konnte in diesen
beiden Werken, die gewiß nicht dem aristotelischen Flügel des jü-
dischen Denkens zuzuzählen sind, Unterstützung finden. Wir dürfen
also feststellen, daß die Verbindung zwischen den Elementen der
jüdischen Philosophie, die am meisten geeignet waren, den Mystikern
Hilfestellung zu leisten, und zwischen der „prähistorischen" Kabbala
sich sehr wohl in jenem Kreis vollziehen konnte, in welchem die Kab-
bala zuerst auf dem Schauplatz der Geschichte erschienen ist.
In der Tat finden wir, daß Rabed, wo er in einem seiner halachischen
Werke über die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf spricht39,
einerseits zwar saadianische Gedanken verwendet, andererseits aber
leicht variiert Formulierungen wiederholt, die von Bach ja geprägt
sind40. Der Schöpfergott, sagt er, steht jenseits von Transzendenz
und Immanenz, eine Auffassung, die für Mystiker sehr charakteristisch
ist und dem Kritiker des Maimonides wohl ansteht: „Alles Erschaffene
soll wissen, daß es von dem Schöpfer nicht getrennt ist", obwohl der
Schöpfer seinerseits nicht „mit ihm verbunden ist". Das Sein und
39
I m Sepher Ba'ale ha-Nephesch, ed. Berlin, Bl. 32b.
40
Er benutzt an der angegebenen Stelle Bachjas Syllogismus in den „Herzens-
pflichten", I, 7. Diesen Hinweis verdanke ich meinem verstorbenen Kollegen, Prof.
Julius Guttmann.
die Existenz der Dinge bilden keine trennende Scheidewand vor dem
Schöpfer. „Es verhält sich dabei wie mit der Welt, die voll der Luft
ist und alles tritt in die Luft ein, wird von ihr affiziert, und doch bleibt
sie ihnen unsichtbar" — genau so steht es mit dem Verhältnis des
Schöpfers zum Geschöpf. Diese Analogie zwischen der alles durch-
dringenden Luft und dem Schöpfer stammt in der jüdischen Tradition
von Saadia (der dafür wohl auf ältere Quellen zurückgreifen konnte),
und gelangte bei den ersten Kabbalisten, vor allem in der auf Rabed
folgenden Generation, zu großer Beliebtheit. Die Kabbalisten nahmen
es freilich mit Saadias Worten besonders genau: der subtile Äther,
der zuerst von Gott erschaffen wurde und den heiligen Geist darstellt,
verwandelt sich bei ihnen zum „Uräther", 'Awir qadmon, der nichts
anderes als die erste Sephira ist, aus der alles emanierte. Es verdient
vielleicht auch angemerkt zu werden, daß in dem Begriffspaar „Ur-
sache der Ursachen" und „Demiurg", das ich oben analysiert
habe, der Rabed denselben hebräischen Terminus für „Ursache
der Ursachen", gebraucht wie Jehuda ibn Tibbon in seinen Über-
setzungen.
Zweifelhafter ist der Ursprung des kabbalistischen Beinamens der
zehnten Sephira, die im Buch Bahir noch nie als Malkhuth, „Königs-
herrschaft', bezeichnet wird, während dieser Terminus sich zuerst
bei Jakob Nazir aus Lunel in seinen Gebetskawwanoth findet. Von da
an ist er bei den Kabbalisten neben der Bezeichnung als 'Atara die
häufigste aller Appellativa der zehnten Sephira. Der Ursprung kann
entweder bei Jehuda ben Barzilai liegen, der Gottes Kabhod und
Malkhuth gleichsetzt41, oder in Jehuda Halewis Kuzari, wo die drei
Begriffe Kabhod, Schekhina und Malkhuth ausdrücklich identifiziert
werden42. Derselbe Sprachgebrauch findet sich aber auch in den
Schriften des Eleazar aus Worms43. Es ist also durchaus möglich,
daß der Einfluß des Kuzari sich nicht erst bei den Kabbalisten von
Gerona am Anfang des 13. Jahrhunderts geltend machte. Diese Kab-
balisten beziehen sich mehrfach auf den Kuzari als Quelle, und manche
von ihnen, wie Ezra ben Salomo, sahen in dem Autor einen der Mas-
kilim, ein Begriff, der in den Kreisen der Philosophen für Anhänger
der philosophischen Bildung, in den Kreisen der Mystiker aber für
die Esoteriker und Illuminaten gebraucht wird. So zitiert Ezra den
Satz des Kuzari I, 109 über den Rang des Moses beifällig : „Wie einer der
Maskilim in seinem Buch gesagt hat : auf seinem Antlitz ließ sich das
materielle Licht nieder, mit seinem Herzen aber war das intelligible
41 Vgl. seinen Kommentar zu Jesira, S. 16 unten.
12 Vgl. Kuzari II, 7 und vor allem IV, 3, wo noch einige andere Begriffe aus der
Bibel damit gleichgesetzt werden, die alle, mit Ausnahme des Feuers, in der kabba-
listischen Literatur nach 1200 als Symbole der zehnten Sephira erscheinen.
« Vgl. die Zitate in Kapitel 2, S. 163 — 164.
44
Vgl. Tishbys Edition von Azriel, Perusch ha-'Aggadoth, S. 34, Anm. 15.
45
Vgl. meinen Aufsatz über diese Frage in Kirjath Sepher IV (1927), S. 286—302.
46
Der richtige Autor wird noch in der Pergament-Handschrift Or. 11791 des
British Museum genannt, Bl. 42a, vgl. British Museum Quarterly XVI, January 1952.
47
Zitiert in der Hs. Gaster 720, Bl. 52b, jetzt im British Museum.
„Ich habe über Aie Bücher des ,Führers' [des Maimonides] meditiert
und habe gefunden, daß seine Worte mit der Kabbala des verstorbenen
R. Abraham ha-Nazir übereinstimmen und nur in Kleinigkeiten von
ihnen abweichen. Ich teile die Wahrheit in Kürze mit. Sie haben zehn
Sephiroth tradiert erhalten, wobei die erste Sephira die Hokhma ist,
und sie ist auch die erste Intelligenz, welche 'lebendiger Gott' heißt, und
von ihr heißt es: Gott hat mich am Anfang seines Weges geschaffen. Mit
der Hokhma ist alles gebaut worden, und aus ihr sind die separaten
Intelligenzen emaniert. Und über die zehnte Sephira haben sie die Tra-
dition empfangen, daß sie dasselbe sei, was unsere Lehrer an einem Ort
Fürst des göttlichen Antlitzes und an anderen Orten Fürst der Welt
nennen, und er ist es, der den Propheten erschienen ist und der die Pro-
phetien aussendet . . . und daher ist an manchen Stellen der Schrift, wo
dieser Engel spricht, die Rede von Gott, wie in [Gen. 31 3] : Gott sprach
zu Jakob ... Und dieses ist das im Hohen Lied gemeinte Geheimnis
und es ist ganz und gar ein Gleichnis für diesen Sachverhalt [der Be-
ziehung zwischen dem Menschen und der höchsten Intelligenz, dem
Nous oder der Sophia]. Und so hat der Gelehrte R. Jehuda [in Hs. Vati-
kan : R. J . Halewi] vom Hohen Lied, wörtlich dem Lied der Lieder ge-
schrieben: ein Lied, das das erlesenste aller Lieder ist, das sich an den
Engel der Glorie und an den heiligen Geist richtet. Und es heißt dort am
Ende: fliehe mein Liebster — als Gleichnis für den Engel der Glorie, der
sich einmal am Dornstrauch und einmal am Sinai offenbart hat. Und
wenn es im Buch Jesira heißt, daß der Anfang der Sephiroth mit ihrem
Ende verschlungen ist, so meint er damit, daß aus der ersten Sephira die
zweite und so alle anderen emaniert sind. Und der Meister hat im,Führer'
geschrieben, daß die obere Welt ganz aus stofflosen Formen besteht, die
von aller Materie separiert sind und Engel heißen . . . [Hier zitiert der
Briefschreiber auch Maimonides' Anschauung über die zehn Stufen
der Engel, von denen die letzte 'Ischim heiße] . . . Und ich habe aus
dem Munde des Gelehrten R. Samuel, dem Sohne des Gelehrten [Lücke !
Es fehlt offenbar: R. J . ibn Tibbon] gehört, als ich in Marseille war, daß
jedes Mal, wo im Hohen Lied der Geliebte erwähnt wird, dieser Engel,
der 'Ischim heißt, gemeint ist. So wisse denn und verstehe, daß sie
alle auf dem gleichen Wege gehen. Aber die Gelehrten des Landes wie
R.Abraham der Gerichtspräsident und R.A.B.D. [Abraham ben
David] sei. And. und der Gelehrte R. Abraham, der Chassid R. Jehuda
der Fromme aus Deutschland und der Chassid R. Eliezer [so oft statt
Eleazar] aus Garmiza [Worms] und der Chassid R. Jehuda ibn Ziza
aus Toledo, das Andenken aller sei zum Segen, von denen R. Abraham
der Nazir empfangen hat — sie alle haben auf dem Wege der Über-
48
Ich habe den Text dieses wichtigen Dokumentes, wie er sich aus den Hss. Oxford
1816, Bl. 63 a, und Vatikan 236, Bl. 81a, wiederherstellen läßt, in meiner hebräischen
Arbeit „Die Spuren Gabirols in der Kabbala" veröffentlicht, vgl. Me'asseph Sophre
Eref Israel 1940, S. 175—176.
Was können wir aus all diesem lernen ? Doch wohl, daß im Kreis
des Rabed, des Jakob Nazir, ihrer Kollegen und Schüler sich ver-
schiedene Traditionen trafen und vermischten. Wir haben keinen
schlüssigen Beweis dafür, daß hier schon ein geordnetes oder gar voll-
ständiges Lehrsystem aufgestellt wurde, wohl aber dürfen wir sagen,
daß dieser Kreis als der Vermittler und Sprecher verschiedener Ten-
denzen auftrat, die sich hier in dieser oder der darauf folgenden Ge-
neration kristallisierten. Die wenigen Fragmente lassen eine tiefe
Gärung erkennen. Hier war die Lehre vom Kabhod wirksam, wie sie
bei den französischen und deutschen Chassidim im Schwange war.
Zugleich finden wir aber auch diese Lehre in der rein saadianischen
Version, wie sie durch die alten, vortibbonidischen Übersetzungen
an den Kommentar des Jehuda ben Barzilai zum Buch der Schöpfung
vermittelt wurde. Dem gegenüber dringt hier zweifellos eine neue
Doktrin vor, eben die des Buches Bahir oder der verschiedenen Frag-
mente, aus denen Bahir bearbeitet und redigiert wurde. Das gilt vor
allem von der Lehre von den Äonen, die innerhalb des Kabhod sind,
und von denen Saadias Kabhod nunmehr die letzte Stufe darstellt.
Gegenüber der bei den französischen Gelehrten üblichen Version der
Lehre vom Kabhod tritt diese neue Lehre nun als ein großes Mysterium
auf, und es ist offenkundig, daß den Männern dieses Kreises die Diffe-
renz zwischen dieser neuen Äonenlehre und der saadianischen Doktrin,
die ja öffentlich vertreten werden konnte, durchaus gegenwärtig und
klar war. Das zeigt sich z. B., wenn Ascher ben Saul aus Lunel über
den Kabhod ohne besondere Geheimnistuerei spricht, gleich dahinter
aber auf eine Erklärung, die auf der Sephirothlehre im präzisen kab-
balistischen Sinne beruht, als auf ein „großes Mysterium" hinweist49.
Logoslehre und Äonenlehre verschmelzen hier in eins. Zu Meditationen
und Forschungen über die Tiefen der Gottheit tritt weiter eine my-
stische Lehre von der Kawwana im Gebet, die nur Eingeweihten über-
liefert wurde.
Zugleich sind aber in diesem provençalischem Kreise noch andere
Kräfte und Einflüsse wirksam. Eine Flut von Übersetzungen aus der
jüdisch-arabischen und besonders aus der neuplatonischen Literatur,
sowohl in Originaltexten wie in jüdischen Bearbeitungen, kommt in
ihrer nächsten Umgebung hoch. Damit erhielten die Kabbalisten
Kenntnis von einem Gedankenerbe, das angetan war, ihre Anschau-
49
Sepher ha-Minhagoth, S . 133.
In diesem Milieu haben wir auch Jakob Nazir zu sehen. Unter den
wenigen Fragmenten, die von ihm auf uns gekommen sind, hat Ezra
von Gerona ein ausgesprochen asketisches Stück erhalten, das auch
im „Buch der Gebräuche" seines jüngeren Bruders Ascher ben Saul
steht. Die zusätzliche Seele, die nach talmudischer Aggada der Mensch
am Sabbath erhält, ist nach ihm mit der anima rationalis, dem höchsten
Seelenvermögen im Menschen identisch, die den Menschen zur Gottes-
erkenntnis anhält. „Zugleich aber regt sie ihn an, den Sabbath mit
Genuß zu feiern. Dadurch steigt seine Begierde an. Am Ausgang des
Sabbath aber spricht sie zu ihm : Schränke Deine Speise ein, und weil
seine Begierde so vermindert wird, verursacht sie dem Menschen
Schwäche. Darum haben die Weisen bestimmt, am Sabbathausgang
an Gewürzkräutern zu riechen, [um diese Schwäche, ebenso wie die
Begierde, in Schranken zu halten]57". Ezra, der in der Nachbarschaft
von Lunel, in Posquières, bei Isaak dem Blinden seine kabbalistische
Ausbildung erhielt, wird dort, falls er Jakob Nazir nicht mehr persön-
lich kennen gelernt hat, jedenfalls gute Überlieferung über ihn er-
halten haben. Dadurch tritt seine Angabe, Jakob sei in Jerusalem
gewesen und habe dort mystisch-angelelogische Traditionen erhalten,
in den Bereich des historisch Zuverlässigen. Ezra ben Salomo ist
außerordentlich spärlich mit Zitaten kabbalistischer Autoritäten, die,
so weit ich sehe, durchweg zuverlässig sind. Auch der relativ einfache
Inhalt jener Überlieferung entspricht dem anderer angelologischer
Angaben Jakobs, wie wir sie schon oben kennengelernt haben. Jakob
soll von einem R. Nehorai in Jerusalem als Grund für das im Tempel
von Jerusalem geübte Ritual des Ausschüttens von Wasser und Wein
am Laubhüttenfest die Tradition empfangen haben, daß „bei diesem
Ritual zwei Engel gegenwärtig waren, deren Funktion darin bestand,
die Früchte zur Reife zu bringen und ihnen Geschmack zu verleihen".
Das Wasser und der Wein scheinen hier, ähnlich wie im Buch Bahir,
die Qualitäten der Gnade (Wasser) und der Strenge (Wein) zu sym-
bolisieren. Ob diese Symbolik aber, zugleich mit der angelologischen
Tradition, schon aus dem Orient stammt und nicht viel mehr der
provençalischen Schicht der Bahir-Tradition allein zugehört, ist nicht
mit Sicherheit auszumachen. Anderes über diesen R. Nehorai wissen
wir nicht, und in keinem anderen, mit Sicherheit im Orient verfaßten
57
Sepher ha-Minhagoth, S. 176, sowie das Zitat Ezras in seinem Perusch 'Aggadoth
Hs. Vatikan 294, Bl. 36a. Vgl. die weitere asketische Ausdeutung dieses Zitats in
Moses de Leon, ha-Nephesch ha-Hakhama, Basel 1608, Bogen H, Bl. Id. Es wäre auch
möglich, daß die weitere Ausführung dort ebenfalls aus Jakob Nazir genommen ist.
Die drei Seelen im Menschen werden von Jakob ganz in der Art der platonisierenden
Psychologie definiert, wobei zwischen Nephesch Kaja, der vitalen Seele mit Sitz im
Herzen, und Nephesch behemith, der tierischen Seele mit Sitz in der Leber, unter-
schieden wird.
Text des 12. Jahrhunderts wird die Sephirothlehre des Bahir voraus-
gesetzt. Diese Pilgerfahrt des „Rabbenu Jakob Chassid", an der zu
zweifeln ich keinen Grund sehe, dürfte am ehesten nicht lange nach
der Eroberung Jerusalems durch Saladdin stattgefunden haben, d. h.
nach 1187, da vorher den Juden unter der Herrschaft der Kreuzfahrer
im allgemeinen das Betreten Jerusalems verboten war. Sie wird nicht
vor der Aufnahme esoterischer Studien durch Jakob Nazir anzu-
setzen, sondern eher von ihnen veranlaßt sein. Nach dem Voran-
gegangenen haben wir in der Tat jeden Grund anzunehmen, daß
solche Studien in diesem Kreise in Posquières und Lunel schon vor
1187 im Schwange waren. Spätere Legende der spanischen Kabbalisten
verband dann den Besuch des alten Kabbalisten aus Lunel im Orient
mit der angeblichen Hinwendung des Maimonides zur Kabbala kurz
vor seinem Lebensende. Unser R. Jakob soll nach Ägypten gegangen
sein und Maimonides dort eingeweiht haben. Historischen Wert hat
diese Legende nicht, deren Aufkommen um 1300 ich an anderer Stelle
untersucht habe 58 . Noch die Schriften Abrahams, des Sohnes des
Maimonides, dessen Neigung zur mystischen Religiosität ganz offen-
sichtlich ist, beziehen ihre Inspiration aus sufischen Quellen und
verraten nicht die geringste Bekanntschaft mit kabbalistischen Ideen,
wie schon oben (S. 9) erwähnt wurde.
Angesichts der obigen Ausführungen über die Schicht der jüdischen
Asketen in Frankreich, die dem kontemplativen Leben oblagen, er-
hält die Frage nach dem möglichen Zusammenhängen zwischen dem
Aufkommen der Kabbala und des Katharismus in der Mitte des
12. Jahrhunderts vermehrte Dringlichkeit. Es ist aber zweifelhaft,
ob aus der Analyse der ältesten kabbalistischen Überlieferungen
sichere Folgerungen auf solche Zusammenhänge möglich sind. In den
Angaben der katharischen Quellen oder der Inquisitionsakten über
den Glauben katliarischer Gruppen oder Individuen läßt sich nur
selten eine Parallele zu kabbalistischen Lehrelementen feststellen.
Gewiß finden wir eine Art allgemeiner Verwandtschaft in der Grund-
voraussetzung, die in beiden Gruppen die Wirklichkeit einer beson-
deren höheren Welt annimmt, die ganz und gar Gott selbst zugehört
und in der sich gewisse dramatische Vorgänge abspielen, die ihr Gegen-
stück in der unteren Welt haben. Diese höchste Welt läßt sich im
Falle der Kabbalisten mit dem gnostischen Pleroma zusammenbringen.
Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß verschiedene gnostische
Details in innerjüdischer Überlieferung ins Buch Bahir geraten sind,
wie ja auch eine Zahl gnostischer Details hier und da in katharischen
Lehren auftauchen 59 . Die Katharer sprechen ζ. B. von den vier Ele-
se
Vgl. meine Untersuchung in Tarbiz VI (1935), Heft 3, S. 90—98.
58
Vgl. die Darstellung und Diskussion der katharischen Lehren bei C. Schmidt,
Histoire et Doctrine de la Secte des Cathares ou Albigeois, Paris 1849, Bd. II, S. 1—78;
Quellen der jüdischen Magie kennen eine solche Ehe nicht, und wissen
überhaupt nichts von einer Braut oder Gattin des Satan62.
Die Paarung männlicher und weiblicher Potenzen in der oberen
Welt, die nachher in den Lehren der spanischen Kabbalisten einen
bedeutenden Platz einnahm, war anscheinend ebenfalls in katha-
rischen Kreisen bekannt63. Aber auch hier dürfen wir eher eine ge-
meinsame Grundlage solcher Vorstellungen in der alten Gnosis an-
nehmen. Es gibt aber auch Details, von denen es plausibel ist anzu-
nehmen, daß die Katharer sie von jüdischen Mystiker gehört haben,
wie etwa die Vorstellung, daß Israel der Name eines Engels im Himmel
sei64, die uns aus der Literatur der Hekhaloth gut bekannt ist. Solche
Vorstellungen können auch durch Juden, die sich den Katharern an-
geschlossen haben, in die Bewegung hineingetragen worden sein. So
hören wir ζ. B., daß am Ende des 12. Jahrhunderts an der Spitze der
italienischen Katharer als Bischof der Weber Johannes Judäus stand,
ohne daß wir freilich sicheres Zeugnis darüber besitzen, ob er wirk-
lich jüdischen Ursprungs war, wie anzunehmen naheliegt. Der Bei-
name Judäus bezeichnet im Mittelalter nicht immer jüdischen Ur-
sprung65. Eine weitere angelologische Angabe, die ich nur bei den
Katharern und in der kabbalistischen Tradition bei Moses de Leon
und im Zohar finde, hält den Propheten Elias für einen Engel, der vom
Himmel herabgekommen sei66. Berührungen zwischen den beiden
Lagern bestehen auch hier und da in den Anschauungen über das
Schicksal der Seele im irdischen Paradies, über ihren Eintritt in das
himmlische Paradies nach dem jüngsten Gericht, und über die Ge-
wänder der Seelen vor ihrer Geburt, die während ihres irdischen
Daseins im Himmel aufbewahrt werden67. Dies sind aber immer nur
lose Details und betreffen nebensächliche Punkte. In der Grund-
auffassung konnte ja zwischen den beiden Bewegungen keine sach-
liche Berührung bestehen, da die Katharer in ihrer Verwerfung der
Welt als der Schöpfung des Satans, und der Tora als des Gesetzes des
62 I m allgemeinen scheinen arabische Quellen zur Dämonologie nichts von einer Frau
des Satans zu wissen. Ich habe aber in hebräischen Texten des 14. Jhs., die sicher ζ. T.
auf arabische Quellen zurückgehen, eine „Gattin des Iblis", 'Escheth 'Iblis, erwähnt
gefunden, die jede Nacht mit Pharao geschlafen haben soll. Als des Teufels Großmutter
tritt Lilith in dem deutschen weltlichen Spiel von der Päpstin Johanna auf, das 1480
verfaßt wurde, vgl. Maximilian Rudwin, The devil in legend and literature, London
1931, S. 98. (Das Kapitel über Lilith dort ist sonst wertlos).
65 Döllinger I , S. 168.
M Ibid. I , S. 140.
65 Vgl. Borst, S. 99.
66 Vgl. Zohar I I , 197a, sowie Midrasch Ruth im Zohar Hadasch, Warschau 1885,
Bl. 84c; Moses de Leon in seinen kabbalistischen Responsen, ed. Tishby, im Qobes 'al
Jad V (1951), S. 38. Zu den katharischen Angaben vgl. Döllinger I , S. 164 u. 169.
" Döllinger I, S. 138, 156, 178.
6 8 Vgl. Sepher ha-Minhagoth S. 133. Über Joseph ibn Plat vgl. H. Gross, Gallia
Judaica, S. 284—285. Auch der Kabbaiist Azriel aus Gerona erwähnt in seinem Kom-
mentar zu den Gebeten, Hs. Oxford 1938, Bl. 202a: „Menschen, die sagen, daß die Welt
böse und mangelhaft ist und keinen Segen in sich h a t " ; ähnliches auch in seinem
„Kapitel über die Häresien", das ich im Gedenkbuch für A. Gullak und S. Klein,
Jerusalem 1942, gedruckt habe, S. 209. Daß damit die Katharer gemeint sind, scheint
mir klar. Ausdrücklich wird diese Meinung „der bei Euch [den Katholiken] Häretiker
genannten Gruppen" auch bei Meir ben Simon aus Narbonne in seinem antichristlichen
Werk zitiert, wo also ebenfalls die katharische Häresie seiner provençalischen Um-
gebung visiert ist, vgl. die Stelle in meinem Aufsatz im Sepher Bialik, S. 152.
•9 Zur katharischen Lehre von der Seelenwanderung vgl. Söderberg, S. 152—154;
Borst, S. 168—171. Vgl. auch unten S. 405 und 414.
Scholcm, Kabbala 14
72 Das Folgende beruht auf den Texten, die ich in Tarbiz X V I (1945), S. 196—209,
veröffentlicht und analysiert habe. Der wichtigste dieser Texte wurde in sehr ver-
dorbener Gestalt zuerst von Jellinek, Beth ha-Midrasch V I , (1877), S. 109—111, ver-
öffentlicht. Er hielt ihn für ein Stück orientalischer Theurgie aus dem 11. Jh., als was
er sich selbst ausgibt; in Wirklichkeit ist er ein in den Orient verlegtes Phantasie-
produkt früher provençalischer Kabbalisten, die aber damit Anschauungen und
Praktiken widerspiegeln, die in ihrem eigenen Kreis in Schwang gewesen sein mögen.
73 Vgl. a. a. O., S. 205. Spätere Autoren wie Abraham Herrera haben diese, aus
den Schriften Isaak Kohens aus Soria stammende Angabe auf Isaak den Blinden
selbst bezogen. Eine Erscheinung des Astralleibes der Verstorbenen, bei der implicite
auch an Elias gedacht sein könnte, von einem Versöhnungstag zum anderen, erwähnt
Bachja bell Ascher (1291) zu Gen. 49 33
und sie mit der inneren Intention des Betenden verbindet. Bei den
deutschen Chassidim scheinen die ersten Anfänge solchen Verfahrens
beim Gebet selber vorzuliegen, bei den provençalischen Kabbalisten
aber ist aus diesen Anfängen eine ganze Disziplin geworden, eine
kontemplative Disziplin, die die Verbindung des Menschen mit Gott
im Gebet betrifft.
Es ist schwierig, eine Entscheidung darüber zu treffen, inwiefern diese
Kawwana von vorneherein auch ein magisches Element enthielt, d. h.
ein Element der Aktion, die darauf hinausging, die göttlichen Middoth,
auf die sich die Intention des Gedankens richtet, zu zwingen, etwas
von ihrer Kraft auf den Betenden zu emanieren. Die ältesten solcher
Kawwanoth, die sich erhalten haben, also die des Jakob Nazir und
des Rabed, sind zweifellos Anweisungen zu mystischen Meditationen
in dem hier dargelegten Sinn und kein Anzeichen spricht bei ihnen
dafür, daß sie noch eine andere magische Absicht verfolgen. Aber
täuschen wir uns nicht darüber: die Differenzen zwischen diesen
Bereichen sind mitunter überaus subtil, und der Übergang vom Be-
reich der reinen Kontemplation zu dem der Magie konnte sich ganz
unversehens vollziehen. Mitunter hängt er einfach von den Ausdrucks-
formen des Gebetes ab. Wir können uns in abstracto leicht vorstellen,
daß der Betende, der Art und Weise zufolge, in der er sich über den
Sinn seines Gebetes ausspricht, eine Kraft von oben auf sich herab-
ziehen wollte, oder um es anders auszudrücken, sich eine Stellung
erobern wollte, in der sein Gebet erhört werden würde. Solches Gebet
dürfen wir wohl magisch nennen. Ihm können wir eine andere reine
Form des Gebets entgegenstellen, in der der Betende sich spirituell
von Stufe zu Stufe erhebt und kontemplativ in den Bereich der
höchsten Middoth oder des göttlichen Denkens selber einbezogen zu
werden strebt, und solches Gebet können wir eines mit mystischer
Kawwana nennen. Im Sinne solcher abstrakten Definitionen neigen
die Kawwanoth der ältesten Kabbalisten gewiß nach der Seite der
Mystik hin; ich bezweifle aber sehr, ob im lebendigen Vollzug des
mit Kawwana Betenden sich jene klare Scheidung zwischen den zwei
Richtungen des Gebetes vornehmen läßt. Das lebendige Gebet ist ja,
wie Jehuda Halewi es in einem seiner Gedichte formuliert hat, ein
Vorgang der Begegnung — „Als ich zu Dir ging, fand ich Dich auf
dem Weg zu mir"76 —, und es kann durchaus sein, daß sich hier auch
diese beiden Elemente begegnen. Nur in extremen Fällen wird die
Begegnung des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen im
Gebet eine ganz eindeutige Form annehmen, und sei es ganz magisch,
sei es ganz vom magischen Element frei werden. Die Geschichte der
78 Befethi liqrathkha, liqrathi meçathikha ; vgl. Diwan des Jehuda Halewi, ed. Brody,
Lehre von der Kawwana bei den Kabbalisten kann als Musterbeispiel
für diese verschiedenen Möglichkeiten dienen, die in jeder mystischen
Lehre vom Gebet latent sind. Schon bei den ersten spanischen Kab-
balisten unter den Schülern Isaaks des Blinden treten, wie wir sehen
werden, hier und da die magischen Elemente in ihrer Lehre über die
Kawwana hervor, wie ja solche Elemente auch schon, wie wir gesehen
haben, in den „Mysterien des Gebets" bei den deutschen Chassidim
erkennbar sind, wenn der Betende ζ. B. an alle mögliche Engelnamen
denken soll, die wort- oder zahlenmystisch mit den Worten des
überlieferten Gebets zusammenhängen. Im ältesten Kreis der Kab-
balisten fehlt aber, soweit unsere Nachrichten reichen, dieses magische
Element, zum mindesten in manifester Gestalt.
Die Lehre von der mystischen Kawwana im Gebet entspricht voll-
kommen, scheint mir, den objektiven und psychologischen Bedin-
gungen einer Doktrin, die in einem exklusiven Zirkel von meditativ
begabten Männern entstanden ist. Mit ihr fügten sie den alten gno-
stischen Elementen, die in der Tradition des Bahir enthalten waren
und von ihnen in größerem Detail weiter entwickelt wurden, eine neue
Schicht hinzu. Die Schöpfung dieser Lehre trägt das Siegel der vita
contemplativa an sich. Kein Element der alten Kabbala entspricht
besser der Überlieferung von einer Offenbarung des El'as, und wir
dürfen diese Überlieferung als ein Zeugnis dafür ansehen, daß in diesem
Kreis wirklich etwas Neues aus der Tiefe hervorgebrochen ist. Wenn
auch kein direkter Beweis, so läßt sich doch ein Hinweis auf diesen
Zusammenhang noch entdecken: die Bemerkungen über die Offen-
barung des Elias, die Isaak dem Blinden oder seinen Lehrern zuge-
kommen sei, finden sich gerade in Texten, in denen spanische Kab-
balisten am Ende des 13. Jahrhunderts die Gebets-Kawwanoth zu-
sammengestellt haben". Keine andere spezifische Lehre der Kabba-
listen bezieht sich ausdrücklich auf diese Offenbarung, und vielleicht
gibt uns das einen Schlüssel.
In ihrem ursprünglichen Entwicklungsstadium im Kreis des Rabed
ist die Lehre von der Kawwana mindestens in einem wichtigen und
aufschlußreichen Punkt von der Gestalt verschieden, in der sie bei
seinen Nachfolgern geläufig war. Sobald die Kabbalisten sich über
den fundamentalen Unterschied zwischen dem Emanierenden und
der Emanation, zwischen dem verborgenen Gott, der bei ihnen 'En-
77
Im Zusammenhang der Gebetsmystik wird von Gilluj Elijahu gesprochen von
Schemtob ibn Gaon, Kether Schern Tobh, gedruckt in Ma'or wa-Schemesch (1839),
Bl. 3öb; Menachem Recanati, Torakommentar, Venedig 1545, Bl. 173d; Isaak von
Akko, Me'irath 'Enajjim, Hs. München 17, Bl. 48b. Ebenso findet sich eine Tradition
über die Offenbarung des Elias an die ältesten Kabbalisten gerade vor einem Stück
aus dem Kommentar des Azriel zu den Gebeten in der Hs. Halberstam 388, Bl. 19b,
vgl. seinen Katalog Hebräischer Handschriften, Wien 1890, S. 109.
soph heißen sollte, und den Attributen oder Sephiroth, Tinter denen
er sich manifestiert und durch die er wirkt, klar wurden, legten sie
sofort Nachdruck auf die These, daß es keine unmittelbaren Kawwanoth
auf 'En-soph geben könne. Solche Möglichkeit wird durch das Wesen
des verborgenen Gottes ausgeschlossen. Könnten wir ihm in der
Kawwana begegnen, so wäre er schon nicht mehr jener verborgene
Gott, dessen Verborgenheit und Transzendenz sie nicht genug unter-
streichen konnten. Es war daher nur logisch, wenn die Kabbalisten
argumentierten, daß die Kawwana sich nur auf seine Middoth be-
ziehen könne, die zu uns hin wirken, und eine Kawwana auf 'En-soph
unmöglich sei. Als die Propaganda der Kabbalisten für das mystische
Gebet in weiteren Kreisen bekannt wurde, mußte eine solche These,
die etwas Verfängliches an sich hatte, viele empören. Im Kreis des
Rabed finden wir aber noch ohne jedes Bedenken Kawwanoth auf
die „Ursache der Ursachen", was ja nur ein philosophischer Ausdruck
für den Herrn der Attribute und anderen Ursachen ist, die von ihm
abhängen. Hier finden wir gewisse Gebete, bei denen der Weltschöpfer,
Joser Bereschith, anvisiert wird, und andere, bei denen die Kawwana
sich direkt auf die Ursache der Ursachen richtet, über deren Differenz
vom Weltschöpfer ich oben gehandelt habe. Kawwanoth dieser letzteren
Art sind schon beim Sohn des Rabed völlig verschwunden. Gerade
diese Differenz in der Auffassimg der Kawwana beweist die Zuver-
lässigkeit dieser Überlieferungen, die ja mindestens teilweise der
communis opinio der späteren Generationen widersprechen. Man
könnte annehmen, daß die Lehre von der Kawwana anfänglich eine
Art Kompromiß zwischen verschiedenen Tendenzen darstellte. Einige
unter den ältesten Kabbalisten hielten die unmittelbare Hinwendung
zur Ursache der Ursachen noch für möglich, obwohl jenes Pleroma
der Middoth, Potenzen oder Formen, dessen Wesen noch nicht speku-
lativ definiert war, schon ihr Interesse auf sich zog. Ihre gnostische
Anschauungsweise drang auch in ihre Gebetsmystik ein, ohne sie
doch ganz erobern zu können.
Zusammenfassend können wir von dieser ältesten Kabbala also
in der Tat sagen, daß sie sich aus zwei Quellen nährte : aus der Bear-
beitung alten literarischen Traditionsstoffes, der als Rohmaterial
diente, und aus der Illumination Einzelner, denen „am Anfang ein
Tor in die Wissenschaft der Kabbala geöffnet wurde"78. Diese Illu-
mination geschah nicht mehr, wie in der Zeit der Merkaba-Mystiker,
durch einen ekstatischen Aufstieg vor den göttlichen Thron. Auch
die Überlieferung der himmlischen Mysterien über die Kosmogonie
und die Merkaba erfolgte nicht mehr auf den in der Hekhaloth-lAte-
ratur angegebenen Wegen. Der Unterschied ist beträchtlich. An Stelle
78
So in der eben erwähnten Hs. Halberstam.
der Entrückung und Ekstase steht nun die Meditation, die Vertiefung
in sich selbst und die fromme, innige Verbindung, Debhequth, mit dem
Göttlichen. Die Lehre von der mystischen Kawwana im Gebet ist
bestimmt, die Lehre vom Aufstieg der Seele zu verdrängen. Die sozu-
sagen objektiven Elemente der Hekhaloth-LiteiatuT, d. h. die Be-
schreibungen der Merkabawelt, dienen einer Umdeutung als Grund-
lage, die alles dort Existierende als mystische Symbole auffaßte. Ich
habe schon im vorigen Kapitel gezeigt, wie viel Nachdruck die Kab-
balisten darauf verwandten, um ihre Aufstellungen aus den alten
Quellen zu belegen oder zu entwickeln. Aber gerade das subjektive
Element, die Schilderung vom Aufstieg der Seele und deren Methoden,
der persönliche Aspekt und alles, was mit der Technik der „Merkaba-
schau" zusammenhängt, spielt im Kreis dieser ältesten Kabbalisten
und ihrer Schüler keine Rolle mehr79. Freilich liegt hier ein Problem
vor. Wie sich zeigen läßt, hatten für manche der oben genannten
Propheten, wie Ezra von Moncontour und Tröstlin aus Erfurt, aber
auch für Samuel aus Speyer, den Vater Jehudas des Chassid, diese
alten Anweisungen und Beschreibungen noch eminent praktische
Bedeutung. Sie vollzogen noch die Himmelfahrten der Merkaba-
mystiker und zeichneten auf, was sie dort vernahmen80. Ähnliches
gilt, wie wir sahen, von den Merkabamystischen Stücken des Bahir,
in denen unter anderem auch der Prophet Habakuk als Prototyp
solcher Mystik und der ihr entsprechenden Entrückungen figurierte.
Diese Differenz zwischen dem Charakter der Kabbala im Buch Bahir
und der Kabbala im Kreis des Rabed ist auch in anderer Hinsicht
bemerkenswert. Die Lehre von der Kawwana ist das Produkt der
kontemplativen Stimmimg und Ideale des Mittelalters, so wie die
Lehre vom Aufstieg zur Merkaba antiken Charakter trägt. Beide
spiegeln ziemlich getreu die mystischen Möglichkeiten verschiedener
Zeitalter wieder. Dennoch leben Reste der Antike in verschiedenen
Formen und verschiedenen Graden von Lebendigkeit auch in der
Welt des Mittelalters fort, ohne daß der prinzipielle Unterschied
zwischen den verschiedenen Erscheinungen davon berührt würde.
Denn auch das Alte, das seine Renaissance erlebt, hat sich, wie das
Buch Bahir zeigt, tief verwandelt und neue Formen angenommen.
" Auf diesem Punkt hat für den Kabbalistenkreis von Gerona schon I. Tishby in
seiner Einleitung zur Edition von Azriels Perusch ha-'Aggadoth, S. 24 hingewiesen.
Dasselbe gilt aber auch schon von den ältesten Kabbalisten der Provence.
80 Vgl. die Nachrichten über die Himmelfahrt des Ezra von Moncontour oben An-
merkung 70, und die über Samuel aus Speyer, den Vater des Jehuda Chassid, der
übrigens in manchen alten Quellen auch als R. Samuel der Prophet bezeichnet wurde.
In der Hs. Jerusalem 8° 1070 stehen Bl. 58 b in einer Sammlung, die viel altes Material
der deutschen Chassidim enthält, auch „die Verse, die R. Samuel aus Speyer hörte,
als er durch den gewaltigen Gottesnamen in den Himmel aufstieg".
wird aber in keiner nicht-kabbalistischen Quelle nach Corbeil versetzt. Moses von
Burgos führt in seiner Schrift über die linke Emanation, die „dämonischen" Sephiroth,
die „Überlieferung des alten Gaon, des Märtyrers Rabbenu Elchanan" an, vgl. Tar-
biz I V (1933), S. 224. Als Zeitgenosse des Eleazar von Worms wird der Kabbaiist in
einer alten Apologie der Kabbala angeführt, Hs. Berlin Or. Qu. 833, Bl. 90a. Dieselbe
Stelle, die aus dem oben erwähnten Sendschreiben stammt, wird auch von Todros
Abulafia im Schaar ha-Razim, Hs. München 209, Bl. 56b zitiert.
84 Über Jehuschiel oder Jechuschiel Aschkenazi vgl. meine Ausführungen in Tar-
biz I I I , S. 278 und IV, S. 68—70. Vom Zentrum in Corbeil soll, nach dem Text der
Hs. Casanatense 180, Bl. 59 b, das Schreiben des Jechuschiel sowohl nach Corbeil,
wie nach Marseille zu R. Jedidia gelangt sein, aber auch nach Worms „und von dort
zu der großen Akademie in Lunel", die aber hier nicht in die Zeit des 12. Jhs. verlegt
wird, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern in die „Tage der alten Gelehrten", Jeme
ha-Zeqenim ha-Qadmonim, Tarbiz a. a. O., S. 70.
85 Vgl. meine jüdische Mystik, S. 92—93, 403. Isaaks Schüler Elchanan ben Jaqar
aus London, von dem wir außerdem einen anderen Jesirakommentar und weitere
mystische Abhandlungen im Sinne der Theosophie der deutschen Chassidim besitzen,
scheint nicht mit dem oben erwähnten Elchanan aus Corbeil identifiziert worden zu sein.
Erlösung angeführt, ohne daß wir über ihre Echtheit oder Unechtheit
eine Entscheidung treffen können86. Auf denselben Kreis des um 1195
gestorbenen Isaak von Dampierre kommen wir auch von ganz anderen
Angaben her. An der Spitze seines Lehrhauses in Dampierre ètand
nämlich nach seinem Tode sein Schüler Isaak ben Abraham, der ältere
Bruder des bedeutenden Tossaphisten Simson aus Sens87. Dieser
Isaak gehörte aber zu den Esoterikern und wird von Jehuda ben
Jaqar und in alten kabbalistischen Collektaneen, wo Mystisches von
ihm angeführt wird, als Isaak ben Abraham Sarphathi (d. h. der
Franzose) erwähnt88. Es wird eine Äußerung von ihm zur Symbolik des
ungesäuerten Brotes angeführt, wonach es weder süß noch bitter sei,
sondern die Mitte halte und damit auf die Sephira Tiph'ereth hin-
weise, die zwischen den Gegensätzen (von süß und bitter, Gnade und
Gericht) vermittle89. Dieser Isaak ist unter den Adressaten des ersten
Briefes des Meir Abulafia aus Toledo gegen Maimonides (um 1203—
1204)90. Da er schon vor 1210 gestorben ist, haben wir hier also einen
frühen historischen Beleg für die Verbindung der ältesten Kabbalisten
mit nordfranzösischen Esoterikern um die Wende des 12. Jahrhunderts.
Ein kabbalistischer Autor der nächstfolgenden Generation kennt
um 1240 die „Esoteriker Frankreichs", Maskile Sarphath, als Gruppe,
was ebenso gut auf Nordfrankreich wie die Provence weisen könnte,
eher freilich aufs erstere91. Neben Isaak, dem Sohn des Rabed, wird
von diesem Autor auch ein Isaak Sarphathi angeführt, von dem der
Autor halb- oder ganz-kabbalistische Äußerungen über das Buch
Jesira gehört hat. Es scheint sich dabei aber nicht um Isaak ben
Abraham zu handeln, sondern um einen sonst unbekannten Isaak ben
Menachem Sarphathi, der in der Provence gelebt haben dürfte92.
Solche Angaben, die auch leicht ins Legendäre und Pseudepigra-
phische hinüberspielen konnten, zeigen, daß den provençalischen
M
Vgl. Alexander Marx, Ma amar Schnath ha-Ge'ulla, in Ha-Zophe (Budapest)
V (1921), S. 195.
87
Vgl. über ihn als Talmudisten Ephr. Urbach, Ba'ale ha-Tossaphoth, Jerusalem
1955, S. 219—226. Nachmanides erwähnt ihn in seinem Toledoth 'Adam, Venedig
1598, Bl. 32c, und in seiner Predigt zum Neujahrsfest, S. 22.
88
Vgl. J. Q. R. IV (1892), S. 250, und hier Kap. 4, Anm. 6. Schechter konnte sich
über das Ursprungsland Jehudas nicht schlüssig werden : Nordfrankreich oder Provence.
89
Hs. Christ Church College 198, Bl. 129. Es wäre freilich möglich, daß der zweite
Teil des Satzes dem kabbalistischen Sammler angehört und nur der erste, die Sephi-
roth-Symbolik von Tiph'ereth nicht benutzende Teil von Isaak ben Abraham stammt.
80
Vgl. Kitab al-Rasa'il, Paris 1871, S. 4.
91
Vgl. Sepher ha-'Emuna weha-Bittahon Kap. 18, sowie Jakob ben Schescheth,
Meschibh Debharim, Hs. Oxford 1585, Bl. 71b, wo ebenfalls von den „Rabbinen von
Frankreich und ihren Maskilim" die Rede ist.
92
a. a. O. Kap. 9 und 18. Der Autor hat diesen Isaak Sarphathi nach Kap. 9 selber
gehört. In der Hs. München 357 des 'Emuna u-Bittahon steht nach Steinschneiders
hätte sich sein Vater Rabed damit begnügt, die kabbalistischen Lehren
an manchen Stellen seiner Talmudkommentare anzudeuten, weil er
sich auf das mystische Wissen seines Sohnes, der bei ihm studierte,
ganz verließ. Diese Behauptung scheint Ursache und Folgen zu ver-
wechseln. Die Zurückhaltung des Rabed läßt sich sehr wohl auch
anders erklären. Es ist auch zweifelhaft, ob die Schriften Isaaks, in
denen er nach Schemtob ibn Gaon in allen möglichen kleinen Wörtern
große Geheimnisse angedeutet habe, schon vor dem Tod seines Vaters
als Repositorien kabbalistischen Wissens verfaßt wurden. Wir ver-
fügen über keine näheren Daten, die seinen Lebensweg und die Ab-
fassung seiner Schriften betreffen. Wir müssen aber annehmen, daß
er ein hohes Alter erreicht hat, da sein Brief nach Gerona, auf den
ich im nächsten Kapitel zu sprechen komme, um 1235 geschrieben
worden sein muß. Zitate seiner Schriften befinden sich aber schon in
früher verfaßten Werken, so z. B. Ezra ben Salomos Kommentar zu
den talmudischen Aggadoth. Er hat also etwa von 1165—1235 gelebt.
Zweifellos gehörte auch er zu der Gruppe der Pruschim, von der
schon die Rede war, wird aber nicht als Parusch oder Nazir bezeichnet,
sondern stets als „der Chassid". In den Schriften der spanischen
Kabbalisten ist er gemeint, wenn ohne Hinzufügung des Namens
schlechthin von „dem Chassid" gesprochen wird, ähnlich wie in
Schriften der deutschen Chassidim dieser Ehrentitel schlechthin stets
den Jehuda Chassid bezeichnet. Seine Schüler nennen seinen Namen
überhaupt nur selten und begnügen sich meistens mit „unser Meister
der Chassid" oder „der Chassid". Sein Neffe Ascher ben David spricht
von ihm als „mein Herr Onkel, der heilige Chassid R. Isaak der Sohn
des Rabh", und auch andere führen ihn als den „Chassid, den Sohn
des Rabh" ein. Der „Meister", Rabh, schlechthin war für sie der Rabed.
Nach der Überschrift mehrerer Handschriften von Isaaks Kommentar
zum Buch der Schöpfung scheint er seinen Wohnsitz in Posquières ge-
habt zu haben, mindestens zeitweise.
Die kabbalistische Überlieferung am Ende des 13. Jahrhunderts
weiß übereinstimmend zu berichten, daß er blind war. Ob aber die
vereinzelte Angabe bei Isaak von Akko, daß „dieser Chassid sein Leben
lang mit seinen irdischen Augen nichts gesehen habe"98, zuverlässig
ist, scheint mir recht zweifelhaft. Seine immittelbaren Schüler sprechen
von dieser Blindheit nie. Gegen Geburtsblindheit sprechen nicht nur
die elaboraten Ausführungen über Lichtmystik in einer ganzen An-
98
Isaak von Akko, Me'irat 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 140b. Er sagt dort, er
habe das von einem Schüler Isaaks des Blinden gehört, der seinen Lehrer als Adlatus
begleitet hätte. Dies ist chronologisch unmöglich, da Isaak von Akko erst gegen 1305,
also etwa 70 Jahre nach dem Tode Isaaks des Blinden nach Spanien kam. Vielleicht
ist statt „Ich habe aus dem Munde eines Gelehrten, der den Chassid . . . gesehen hat,
der vor ihm famulierte" zu lesen: „der einen Schüler des Chassid gesehen hat" usw.
Scholem, Kabbala 15
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226 Die ersten Kabbalisten in der Provence
anonymes Gut, das auf ihn zurückzuführen ist. So wird bei allen
seinen Schülern eine ziemlich identische Deutung des Kapitels über
die Sophia in Hi. 28 auf die Sephirothlehre vorgetragen108. Hi. 28 ia:
„Die Weisheit aber, woher stammt sie?" wird hier stets gedeutet,
als ob der Vers zu verstehen wäre: „Die Weisheit aber stammt aus
dem Nichts", welches das „Nichts des Gedankens", der Ort, wo alles
Denken aufhört, oder vielmehr der göttliche Gedanke selber ist, der
als höchste Sephira nun als das Nichts bezeichnet wird. Daß diese
Deutung von Hi. 28 in der Provence entstanden ist, scheint mir evi-
dent. Sie stellt nämlich eine Umdeutung im Sinne der Kabbala einer
von Saadia bezeugten Erklärung jüdischer Platoniker oder Atomisten
des 9. Jahrhunderts dar, die diese selben Verse auf die Lehre von den
„geistigen Punkten" bezogen, unter denen man die Ideen, vielleicht
aber auch die Atome zu verstehen hat. Auch in der alten, vortibboni-
dischen paraphrastischen Übersetzung Saadias, die von den ältesten
Kabbalisten benutzt wurde, bevor noch die tibbonidische Ubersetzung
sich durchsetzte, wird für die Atome der hebräische, dem arabischen
nachgebildete Ausdruck ruchanijjim gebraucht. In der Provence ver-
stand man diesen Ausdruck nicht mehr und wußte nichts Rechtes
von der Lehre der Atomisten, und so kam diese Identifizierung der
„geistigen Elemente" und „subtilen Punkte" bei Saadia mit den
Sephiroth zustande109. Sie sind nun die „mystischen Atome", und
Hi. 28 gilt als ein locus classicus dafür.
108 In der T a t erklärt Isaak auch im Jesirakommentar Hi. 28 23 auf die Sephiroth-
Lehre. Ezra ben Salomo sagt in einem Brief, den ich im Sepher Bialik, S. 156, gedruckt
habe, daß der Chassid Hi. 28 iff. „auf die zehn Sephiroth" gedeutet habe. Die durchge-
führte Deutung selber ist aber nur bei seinen Schülern Ezra und Nachmanides erhalten.
io» vgl. Saadias 'Emunoth we-De'otk, Leipzig 1864, S. 22, über diese Deutung.
Daß die alte Paraphrase von Saadias Werk am Anfang des 13. Jh.s von einer kabba-
listischen Gruppe, deren Schriften wir noch besitzen, benutzt wurde, läßt sich durch
die Untersuchung der Literatur dieses Kreises, den ich weiter unten (vgl. S. 283ff.)
als den "///««-Kreis oder die Gruppe des Sepher ha-'Ijjwn bezeichne, erweisen. In
einem diesem Kreis zugehörigen „Gebet des R . Nechunja ben Haqqana" werden die
Sephiroth direkt mit der aus Saadia übernommenen Definition der Atome als die
„unteilbaren Teile", Halaqim sche-'enam mithhalqim, bezeichnet, welches die wört-
liche Wiedergabe der Paraphrase ist, Hs. München 42, Bl. 323a, b. Über die Frage,
welche griechische Vorstellung bei Saadia gemeint ist, ob atomistische, platonische
oder pythagoreische, herrschen verschiedene Ansichten, vgl. J a k o b Guttmann, die
Religionsphilosophie des Saadia, Göttingen 1882, S. 47—48; Israel Efros, Louis Ginz-
berg Jubilee Volume, vol. I, New York 1945, S. 133—142. Für unsere Untersuchung
ist diese Frage nicht relevant, ich möchte jedoch annehmen, daß die ausdrückliche
Erwähnung jüdischer Anhänger dieser Vorstellung im frühen 10. J h . eher darauf hinweist,
daß Saadia in der T a t von einer besonderen Gruppe jüdischer Atomisten spricht. Der
von Guttmann nicht berücksichtigte T e x t der alten Paraphrase legte eine Umdeutung
im Sinne der Sephiroth-Lehre viel näher als der T e x t der Übersetzung ibn Tibbons.
Chassid „Vater der Weisheit". Über den Ursprung der Kabbala ist
aus solcher Phraseologie nichts zu lernen.
bala" oder „in der Sprache der Kabbala" schon ganz präzis und' nicht in dem älteren
Sinn von Tradition überhaupt. Dasselbe gilt von allen Geronaer Kabbalisten. Die
Mystiker heißen dort schon gern Ba'ale ha-Kabbala und Hakhme ha-Kabbala. Immer-
hin ist merkwürdig, daß Ascher ben Saul und Meir ben Simon, die Anfang des 13. Jh.
in der Provence schreiben, den Ausdruck Kabbalisten für diese Gruppe nicht benutzen.
Dabei war die Bezeichnung in den Schriften Ezras, die Meir ben Simon sicher kannte,
durchaus geläufig.
117 Ein Zitat der Mischna Hagiga II, 1, die das verbietet.
118 Jehuda ben Barzilai, Kommentar zu Jesira, S. 189. Der Schluß des Zitats lautet
Tradition qualifiziert, und das eben ist Kabbala im Sinn der proven-
gilischen Schule. Aber auch Eleazar aus Worms führt solche Tradi-
tionen, ζ. B. über Engelnamen als „Kabbala" an 119 . Übrigens werden
daneben im Kreise Isaaks auch andere Ausdrücke verwandt. Isaak
selbst spricht in einem Brief nach Gerona in diesem Sinn von Hokhma,
Weisheit oder Wissenschaft, ohne dabei das Adjektiv penimith „eso-
terisch" hinzuzusetzen, obwohl das sonst oft geschieht120. Im 12. Jahr-
hundert kommt in Frankreich der Ausdruck Se-pharim -penimijjim für
Schriften auf, die dort der esoterischen Literatur zugerechnet wurden,
wie das Seder Elijahu Zutta121. In dem 1204 verfaßten liturgischen
Handbuch Sepher ha-Manhig des Abraham ben Nathan ha-Jarchi
aus Lunel, der in seiner Jugend bei Rabed studiert hat, werden damit
an zwei Stellen die „Großen Hekhaloth" bezeichnet 122 .
Die Sephirothvorstellung des Bahir tritt bei Isaak schon in kristalli-
sierter Form auf. Der Vers I Chr. 29 n erscheint in seinem Jesira-
kommentar (zu IV, 3) zum ersten Mal als Stichvers für die Namen
und die Folge der sieben unteren Sephiroth, besonders der fünf ersten
unter ihnen: „Bei dir, Gott, ist die Größe Geiulla, die Allmacht
Gebhura, die Pracht Tiph'ereth, die Dauer Nesach und die Majestät
Hod, denn Alles Kol im Himmel und auf Erden ist dein, die Herrschaft
Memlakha und das über-alles Erhabensein". Hierher stammen die im
Bahir noch nicht benutzten Bezeichnungen Gedulla für Chessed,
Tiph'ereth für 'Emeth, und Hod. Isaak selbst benutzt aber meistens
die Namen Hessed und Pahad (wie im Bahir) statt Gedulla und
Gebhura. Der Name Tiph'ereth ist ihm aber schon ganz geläufig.
Während in dem eben genannten Vers der Chronik der Name Kol
ein schon im Bahir für den Gerechten verwandtes Epitheton dar-
stellen soll, benutzt Isaak für diese Sephira die Bezeichnungen .Ge-
rechter' und .Weltengrund'. Für die letzte Sephira benutzt er dagegen
fast durchweg den im Bahir noch nicht geläufigen, wenn auch wohl
angedeuteten Beinamen 'Atara, der als Synonym von Kether die
unterste der zehn .Kronen' bezeichnet. Die drei ersten Sephiroth
115
So z. B. in seinen Hilkhoth ha-Kisse', gedruckt in Merkaba Schelema, 1921,
Bl. 28a.
120
Vgl. den Text des Briefes in Sepher Bialik, S. 143. Die Benutzung von penimi
im Sinne von esoterisch entspricht dem arabischen batin, und ist auch in der philo-
sophischen Literatur geläufig. Die Kabbalisten des 13. Jh.s nennen ihre Gnosis oft
Hokhma penimith.
121
Vgl. Machzor Vitry, S. 112, worauf schon Friedmann zu Psendo-'Elijahu Zutta,
S. 23— 24, aufmerksam gemacht hat.
122 Vgl. Manhig, Berlin 1855, Bl. 15 b, 16 b. Der genau entgegengesetzte Sprach-
gebrauch findet sich um dieselbe Zeit in Deutschland bei Eliezer ben Joel Halewi,
Rabi'ah, ed. Aptowitzer, Band II, S. 196. Bei ihm heißen die Merkababücher Siphre
ha-Hisonim. wohl zur Hervorhebung ihres unkanonischen Charakters.
nennt er, wie Bahir, Kether oder Mahschabha, Hokhma und Bina.
Er erwähnt viele dieser Sephiroth in seinem Jesirakommentar im
Rahmen fester Schemata, wobei uns aber die Abfolge der Sephiroth
in ihnen keineswegs immer verständlich ist123. Das merkwürdige ist,
daß eigentlich die Details des Aufbaus der Sephiroth jenseits der
obersten drei ihn nur dort interessieren, wo es um Gebetmystik oder
Ausdeutung bestimmter Ritualgebote geht. Als Stufen des kontem-
plativen Aufstiegs, oder des eschatologischen Aufstiegs der Seele
nach dem Tode in immer höhere Sphären, haben sie ihre Bedeutung.
Nie aber werden zusammenhängende Gedanken über ihre Funktion
und Struktur vorgetragen. Besonders gilt das von den in der Entwick-
lung der Sephirothlehre besonders wichtigen Potenzen von Tiph'ereth,
Jessod und 'Atara. Dem Detail gegenüber wird bei ihm ein deutlicheres
Interesse an dem Ganzen der geistigen Potenzen, die sich in der
Sprache und in geistigen Wesenheiten überhaupt ausdrücken, er-
kennbar. Dabei sind die Unterschiede im Sprachgebrauch von Be-
griffen wie Sephiroth, Middoth, Buchstaben und Wesenheiten, Hawwa-
joth (wörtlich Essenzen) durchaus nicht immer klar, und die Inter-
pretation sieht sich oft vor große Schwierigkeiten gestellt.
Diese Schwierigkeiten hängen aber mit dem eigentlich Neuen in
Isaaks Kabbala zusammen. Deren Interesse liegt nämlich für den
historischen Blick in der Verbindung der Vorstellungswelt des Bahir
mit ganz neuen Elementen, die in die älteste, vom Bahir repräsentierte
und unter gnostischer Inspiration stehende Form der Kabbala ein-
brechen. Wir haben es hier mit spekulativen Interessen zu tun, die
nicht mehr entscheidend von der Gnosis, sondern vom Neuplatonis-
mus und einer von ihm bestimmten Sprachmystik herkommen.
Isaak ringt offensichtlich mit neuen Gedanken, die bei ihm noch
nicht zu sprachlich klaren, unmißverständlichen Ausdruck gelangen.
Die Unbeholfenheit seiner neuen Terminologie spricht eher gegen die
Annahme, daß diese Unklarheit, die es oft so schwer macht, zum Ver-
ständnis des Gemeinten vorzudringen, gewollt ist. Seine neue Ter-
minologie kommt von der Philosophie her, ohne daß doch deren philo-
sophische Quellen uns in der hebräischen Uberlieferung faßbar sind.
Die besondere Bedeutung von Isaaks Kommentar zu Jesira liegt in
dem Versuch, neue spekulative Gedanken eines kontemplativen
Mystikers in den alten Text hineinzutragen. Genau so überrascht
uns auch die Kühnheit, mit der in seinen anderen kosmogonischen Frag-
menten und in seinen Ausführungen über die mystische Theorie des
Opfers weitreichende Ideen vorgetragen werden. Auch die besondere
Anwendung, die Isaak von diesen Gedanken auf die Aufgabe des
123 Bei der Aufführung der sechs Richtungen des Raumes, Qesawoth, wird nicht
Hessed, sondern die erste Sephira als die der Höhe, Rom, erwähnt. Die Zuordnungen
der beiden Schin in den Tephillin zu den Sephiroth sind ganz rätselhaft, und dergleichen.
Schiroth le-en soph]"13". Wie leicht war hier der Übergang von den
zahllosen Hymnen der Namen und Engel128 zu einer Hypostasierung,
die diese Hymnen, wie ein mystischer Leser es vielleicht auffassen
konnte, „an Έη-Soph singen". Der Terminus Έη-soph entstand, als
einer der provençalischen Kabbalisten die Wortverbindung, die eigent-
lich einen Satz darstellt, in Adverbial-Verbindungen nach Art der
oben genannten (und vielleicht der Sätze im Bahir) als Substantiv
las und solche Sätze dahin verstand, daß sie von einer Erhebung des
Gedankens oder einer Hinwendung zu einem höchsten Grad des Seins,
der nun Έη-soph heißt, sprechen. Gehört es doch zu den Grundsätzen
der mystischen Exegese, möglichst alle Worte als Substantiva zu ver-
stehen. Man darf sagen, daß in dieser Betonimg des substantivischen
Elements, des Namens in der Sprache, ein Hinweis auf die Verbindung
der Mystiker mit einer primitiveren Haltung in ihrer Sprachauffassung
enthalten ist. Letzten Endes beruht ja, ihrer Meinung nach, die Sprache
auf einer Reihe von Substantiven,die nichts anderes sind als dieNamen der
Gottheit selber, d.h. die Spracheselberist eine Texturmystischer Namen.
Wir vermögen nicht mit Gewißheit zu sagen, aus welchen genauen
Wortverbindungen und Zusammenhängen, 'en-soph zum Rang eines
Begriffes oder Kunstwortes erhoben wurde, mit dem die absolute
Wesenheit Gottes an sich bezeichnet wurde. In den Schriften der
deutschen Chassidim dient die Betonung von Gottes Unendlichkeit
als Ergänzung zur Lehre vom Kabhod, der in seiner Manifestation
gerade endliche Formen annimmt. Ein ähnliches Verhältnis konnte
auch zwischen den Middoth und Sephiroth, von denen jede einen be-
sonderen Aspekt der Gottheit wirksam oder manifest macht, und
deren unendlicher Quelle angenommen werden. Danach könnte man
vermuten, daß der Begriff unter dem Einfluß der saadianischen Theo-
logie entstanden ist, wobei die Kabbalisten dem neuen Wort einen
spezifischen Sinn beilegten. Nicht so sehr als negatives Attribut der
Gottheit im Rahmen einer intellektuellen Gotteserkenntnis tritt es
auf, sondern vielmehr als Symbol der absoluten Unmöglichkeit einer
solchen. Dies Motiv läßt sich recht deutlich aus dem ältesten Auf-
treten von Έη-soph in den Schriften der Kabbalisten heraushören.
Ist doch die Verwandlung rationaler Begriffe zu mystischen Symbolen
beim Übergang von der Philosophie zu der Kabbala ein durchaus
gewöhnlicher Vorgang. Andererseits dürfen wir nicht übersehen, daß
trotz der Fäden, die sich zwischen den deutschen Chassidim und den
Kabbalisten in der Provence spönnen, saadianischen Gedanken kein
bedeutender Einfluß auf Isaak den Blinden zugesprochen werden
127
Eleazar, Hilkhoth ha-Kabhod, gedruckt unter dem Titel Sode Razajja, Bilgoraja
1936, S. 40 sowie Hs. München 43, Bl. 217 a
128
Nathan Spira zitiert in Megalle 'amuqoth § 194 eine Stelle aus Eleazars Sode
Umana, wonach die Seraphim 'otiirim Schiroth le-'en-so-bh.
ha-Haskel 'ad 'en-soph und als Soph Hassagath Mahschabha le-'en-soph. Zu I, 6 er-
wähnt er das Vermögen der Seele lehithpaschet bi-Pratim be-'en-soph. Andere Stücke
aus dem Kommentar werden in ihrer Verwendung von Έη-soph oben im Text be-
sprochen. Auch in den Zitaten Sahulas findet sich 4c die Rede von der Kette der Ur-
sachen bis „zur unendlichen Ursache". In den Kawwanoth Isaaks zu den Gebeten
heißt es, beim Worte Barukh, mit dem die Benediktionen anfangen, „zieht er [den
Segen] aus Έη-soph hervor, mamschikh me- en-soph, Hs. Christ Church College 198,
Bl. 4a.
130 vgl. den Zusammenhang der Stelle in dem unten S. 241 — 242 übersetzten
längerem Zitat.
131 vgl. über diesen Begriff auf Seite 240.
ls
* Hebräisch: we-ramaz bah hol ma sche-Hassagath ha-Mahschabha massegeth 'ad
'en-soph.
133
So bei Abraham bar Chijja, Hegjon ha-Nephesch, Bl. 2a und in dem pseudo-
platonischen Zitat, das Azriel, Perusch ha-'Aggadoth, S. 82, benutzt hat. Die Existenz
von Materie und Form im „reinen Gedanken" Gottes entspricht ihrem Sein in der
sapienlia Gottes bei Gabirol, Fons Vitae V, 10. Jedoch ist keineswegs sicher, daß —
wie Neumark, Geschichte der Jüdischen Philosophie I, S. 607 annahm — deswegen
Gabirol die Quelle dieser Vorstellung sein muß, die sehr wohl älteren neuplatonischen
Quellen entstammen kann.
134
Vgl. de Divisione Naturae III, 19. Bei Scotus Erigena und auch in Philos An-
gabe, Gott sei ahataleptos, ist der Begriff nicht neutral gebraucht wie bei Isaak, sondern
persönlich. So auch bei den Gnostikern, zum Beispiel in den Excerpta ex Theodoto
§ 29 und bei den Ismailiten, zum Beispiel mehrfach in Strothmann, Ismailitische
Gnosistexte, Göttingen 1943.
w* Hs. Halberstam 444, Bl. 29b; Paris 363, Bl. 31a.
Ascher ben David, der ihm am nächsten stand, dies Unerfaßbare teils
ausdrücklich, teils implicite mit der ersten Sephira identifizieren 136 .
Daraus ließe sich also methodisch sauber folgern, daß Isaak die ge-
meinsame Quelle dieser Identifikation ist. Das göttliche Denken wäre
dann das, das allem menschlichen Denken unerfaßbar ist ; Isaak würde
also das Wort Mahschabha in verschiedenen Bedeutungen gebrauchen :
im ersten Begriff bezeichnete es das Denken Gottes, in der Wendung
von ,dem vom Denken Unerfaßbaren' aber das menschliche Denken.
In dem Genesisfragment spricht er jedoch, wie wir sahen, sogar von
dem, was über dem „reinen Denken", also dem göttlichen Denken
steht. Ich kann den Widerspruch nicht auflösen, ohne den Texten
Gewalt anzutun. Das .Unerfaßbare' an Gott ist bei dem christlichen
Neuplatoniker Scotus Erigen a gerade mit dem Nichts identifiziert,
aus dem alle Schöpfung stammt. Bei Isaak selbst und seinen Schülern
ist dies Nichts aber wiederum die erste Sephira, aus der die göttliche
Sophia stammt. Das würde zu der zweiten Auffassung des Begriffes
durchaus passen. Isaaks Schüler scheinen sich der Problematik be-
wußt gewesen zu sein, da einige von ihnen unter dem .Unerfaßbaren'
die erste Sephira in ihrem Aufstieg bis zu Έη-soph hin und in ihrer Ver-
einigung mit ihm verstehen, am deutlichsten Jakob ben Schescheth 137 .
134
Ezra spricht in seinem Kommentar zu den Aggadoth, Hs. Vatikan 185, Bl. 8a,
davon, Gott sei über alles Lob erhaben jother mima sehe-en ha-Mahschabha massegeth.
Ascher ben David spricht Hs. Paris 823, Bl. 180a von Kether 'Eljon, „von dem das
[menschliche] Denken nichts erfassen kann". Besonders bemerkenswert ist der Sprach-
gebrauch bei Jakob ben Schescheth in Meschibh Debkarim nekhohim, Hs. Oxford 1685.
Dort heißt es Bl. 28b vom Erstemanierten: „und dies nennen wir das Unerfaßbare
bis zum Unendlichen hin". Das Nichts der ersten Sephira ist, nach Bl. 52 b, „ein sub-
tiles Sein, das das Denken nicht erfassen kann". Der intellectus agens ist seiner Auf-
fassung nach, Bl. 20b, die Sophia, eine der höchsten Stufen, „über der nichts ist als
eine Stufe, die sich vereinigt und aufsteigt bis zum Έη-soph [und die ist], was das
Denken nicht erfassen kann". Nach Bl. 67a ist der Ursprung aller Benediktionen, der
Intention nach, „die Höhe bis zum Unendlichen hin [hebräisch ha-Rom 'ad 'en-soph],
die in der Sprache der Philosophen das ,was weder Körper ist noch einem Körper in-
haeriert' heißt, in der Sprache der Meister des wahren Glaubens [der Kabbalisten]
aber ,das Unerfaßbare'." Diese Identifikation ist besonders bemerkenswert. Sie zeigt
recht klar, daß für diese Gruppe nicht so sehr die Qualität des Unpersönlichen de-
finiert wird, wenn sie vom Unerfaßbaren sprechen, sondern die der Transzendenz.
Gott ist alles, was die Höhe bis zum Unendlichen hin enthält, also beides, das Uner-
faßbare als erste Sephira und das darüberstehende Έη-soph, mit dem es vereinigt
gedacht wird. Auch f ü r den Autor des Buches ha-'Emuna weha-Bittahon, Kap. 3,
ist das 'Aleph im Worte 'Ehad des Glaubensbekenntnisses ein „Symbol des Unerfaß-
baren". Noch Bachja ben Ascher, der meistens Geronaer Quellen ausschreibt, benutzt
das Unerfaßbare als Bezeichnung der obersten Sephira, ed. 1544, Bl. 211 d.
137
Vgl. die beiden in der vorigen Anmerkung aus Bl. 20b und 67a angeführten
Stellen.
selber annahm, die sich dann in der des Dibbur, der Rede fortsetzt.
Isaaks Sätze sind so undurchsichtig, daß sie öfters ganz verschieden
konstruiert und dementsprechend übersetzt werden können. Jeden-
falls scheint die Mahschabha hier den anderen Sephiroth im Rahmen
eines Problems gegenübergestellt zu werden, das dem Autor durch
die Formulierung des kommentierten Satzes in Jesira : „Zehn Sephiroth
der Verschlossenheit, zehn und nicht neun, zehn und nicht elf, ver-
stehe mit Weisheit und wisse mit Verstand usw." gegeben ist. Ich
übersetze den ganzen Paragraphen hier, so gut ich kann, der zugleich
keinen Zweifel an der Uberordnung eines höchsten transzendenten
Prinzips über die Mahschabha läßt und den Nachdruck sichtbar macht,
den der Autor auf meditative Prozesse legt, durch die die menschliche
Mahschabha etwas von der göttlichen zu erfassen strebt. Während
andere kabbalistische Erklärer nach Isaak die Warnung des Jesira-
satzes dahin verstanden, die höchste Sephira nicht auszuschließen
(zehn und nicht neun !), und 'En-sofh nicht in sie einzuschließen (zehn
und nicht elf!), richtet sich bei ihm die Warnung sowohl auf die Hokh-
ma als auf die darüber stehende Mahschabha. Es ist möglich, daß,
wie die Wiederaufnahme des Jesirasatzes im Verfolg seiner Erklärung
beweisen könnte, wir es hier mit zwei verschiedenen von Isaak oder
seinem redigierenden Schüler zusammengestellten Erklärungen des
Warnungssatzes zu tun haben, die jetzt einen so problematischen
Paragraphen bilden. Er sagt:
„Zehn und nicht neun: Obwohl sie [die direkt vorher genannte
Hokhma] mit allen [anderen Sephiroth] gerechnet wird, sage nicht:
wie soll ich sagen, daß sie eine [besondere] Sephira ist ? Zehn und nicht
elf: Und wenn du sagen wolltest: nachdem die Hokhma der Anfang
des Denkens der Rede [Dibbur] ist139, wie soll ich nicht sagen elf? 140
So darfst du diese Aussage doch nicht machen, und darfst nicht die
Hokhma von Kether trennen, welches der Gedanke des Anfangs der
Rede ist, obwohl du die Mahschabha des [die Sephiroth] Zählenden
und Verbindenden [d. h. des höchsten Emanierenden] nicht erfassen
kannst [und nicht im Stande bist] darüber zu meditieren und dich
zu versenken141 in die Ursache des Gedankens des Anfangs der Rede,
13
· So lautet der Text in allen Hss., vielleicht aber ist Mahschebheth hier zu streichen,
da sonst die Hokhma bei ihm als Tehillaih ha-Dibbur bezeichnet ist.
140
Direkt vorher werden zu Jesira I, 3 die zehn Sephiroth als zwei einander ent-
sprechende Fünferreihen aufgeführt, wobei jede der Reihen die Hokhma enthält, von
der es heißt, sie sei makhra'ath ba-kol, d. h. sie gebe bei allem den Ausschlag. Diese
zwei Reihen sind sonderbar genug Ne§ah, Hod, Tiph'ereth, Hessed, Hokhma und anderer-
seits 'Atara, Sadiq, Pahad, Bina, Hokhma. Die höchste Sephira kommt dabei also
überhaupt nicht vor.
141
Das hier gebrauchte Verbum le-hithpaschet, „sich ausbreiten", wird von der
Ausbreitung der Mahschabha schon im Bahir gebraucht, aber in einem anderen Sinn.
Scholcm, Kabbala 16
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242 Die ersten Kabbalisten in der Provence
die [in ihrer Gesamtheit als Sephiroth] nichts sind als zehn. Und sage
nicht neun: nachdem die Ursache des Gedankens des Anfangs der
Rede unendlich [oder : im Unendlichen, be-En-soph] ist, wie kann ich
sie in eine Zählung einbeziehen [oder: wie kann ich sie zu einer Sephira
machen] ?142 Sage also weder, daß sie elf sind noch neun. Obwohl die
Rede [die göttliche Sprache, die sich in den Debharim den Worten
oder Dingen äußert] unendlich ist, so gibt es doch jedenfalls eine sub-
tile Ursache oder ein subtiles Sein, von dem das Denken in der Medi-
tation [Hithbonenuth] eine Andeutung erfaßt. Daher ist sie143 eine
Sephira in der Mahschabha, die ein subtiles Sein ist, in dem die Zehn-
zahl ist [d. h. in dem die Dekas schon verborgen steckt]. Und die
,Debharim' haben Middoth, Ausmessungen, und Schi'ur, Maß, die
Mahschabha aber hat kein Maß, und daher gehen sie [die Worte ?]144
in Dekaden, von den subtilen zu den geformten [Essenzen], denn zehn
aus zehn [entwickeln sie sich], die subtilen aus dem, was in der Inner-
lichkeit der subtilen [Essenzen] ist. Und aus der Kraft der Hindeutung
der Mahschabha [aus dem, worauf die Mahschabha hindeuten kann]
erkennen wir, was wir zu erfassen vermögen und was wir [als un-
faßbar] lassen sollen, weil es von dort an kein Erfassen der hindeu-
tenden Mahschabha mehr gibt. Denn das Geschöplliche hat keine
Kraft, [selbst] wo es das Innere, auf das die Mahschabha [als in ihr
enthalten] hindeutet, zu erfassen sucht, [damit auch] 'En-soph zu
erfassen145. Denn jede Meditation der Hokhma aus dem intelligere
heraus [oder: von der Haskel genannten Stufe her] betrifft die Sub-
tilität seines unendlichen Gedankens [oder: seiner in 'En-soph (grün-
denden) Mahschabha]14e. Und so sagt er ,zehn und nicht neun', denn
der [menschliche] Gedanke vermag über der Hokhma und in der
Hokhma [selbst] ein Maß nur durch Meditation [und nicht durch
diskursives Denken] zu setzen, wie es [im Text von Jesira] heißt : ver-
Dort ist davon die Rede, wie sich die göttliche Mahschabha in den Potenzen ausbreitet,
d. h. emaniert, hier aber davon, daß die Ursache der Mahschabha der Meditation un-
zugänglich ist.
142 Der Satz ist schwierig: logischerweise würden wir erwarten, daß der Fragende
damit die Mahschabha aus der Dekas der Sephiroth eigentlich ausschließen möchte,
nicht aber die Ursache der Mahschabha, die über ihr steht I
143 Der Konstruktion des Satzes nach ist das Subjekt des Satzes wohl die Ursache,
die, wo sie sich in der Mahschabha auswirkt, zu einer Sephira wird ?
144 Das Wort holhhoth, die feminine Pluralform des Partizips, das in den Hss. steht,
hat kein Subjekt im Satze. Debharim müßte eine maskuline Form mit sich führen.
Vielleicht ist aber holekheth zu lesen, mit Bezug auf die Mahschabha selber, in der die
Dekaden stecken?
146 Die Einschaltung „selbst wo es . . . zu erfassen sucht", fehlt in allen Hss. außer
der relativ besten, der Hs. des Fondo Antico Orientale 46 der Angelica in Rom.
148 Dieser schwierige Satz fehlt gerade in der Hs. Angelica. Hebräisch: sche-kol
Hitbonenuth be-Hokhma min ha-Haskel hi' Daqquth Remez Mahschabhto be-en-soph.
stehe mit Weisheit [von Isaak aufgefaßt als: erfasse die Hokhma in
der Meditation, die ihren Ort in Bina hat]."
Dies Zitat, das einen Begriff von den Schwierigkeiten gibt, mit
denen die Interpretation von Isaaks Texten zu kämpfen hat, zeigt
jedenfalls deutlich, daß Έη-soph als Gegenstand der Spekulation des
Mystikers hier ausscheidet, und die höchste Stufe für das Interesse
des Mystikers, zu der er vorzudringen oder aus der er, wie Isaak sagt,
zu „saugen" sucht, behauptet die Mahschabha. In ihr manifestiert
sich die über ihr stehende verborgene Ursache. Seine kontemplative
Mystik dreht sich um diesen Angelpunkt der „reinen Mahschabha".
Wie wir aber schon sahen, ist aus einer anderen Linie der Symbolik
heraus diese erste Sephira auch das Nichts. Isaak hat sich über den
Zusammenhang dieser zwei Symbole für die höchste Sephira, soweit
ich sehe, nicht geäußert. Wir dürfen aber wohl annehmen, gerade
nach dem angeführten Zitat, daß der reine Gedanke Gottes auch
Nichts heißen kann, nicht nur weil sie durch keine bestimmten Ge-
hegte determiniert ist, sondern weil in ihr das menschliche Denken,
das in der Meditation zu ihr vorzustoßen strebt, aufhört oder, wie
Isaaks Schüler es ausdrücken, „zunichte wird". In seinen Jesira-
kommentar hat Isaak aber diese Rede vom göttlichen Nichts nicht
eingelassen.
Im Kommentar zu Jesira findet sich keine klare Äußerung darüber,
ob die höchste Sephira, das dem Denken Unerfaßbare, mit ihrer
darüberstehenden Ursache, dem Έη-soph, durch einen anfangslosen
Emanationsprozeß von Ewigkeit her verbunden ist, also mit ihr
koexistent. Demgegenüber haben wir ein wichtiges Theorem dazu in
einer bei Sahula zitierten Erklärung Isaaks zu Gen. I i . Er ist der
erste Kabbaiist, der sich auf den palästinensischen Targum „mit
Hokhma schuf Gott" bezieht, um im ersten Wort der Tora die zweite
Sephira Hokhma wiederzufinden. Der Konsonant Beth in Bereschith
„deutet an und enthält aber die Hokhma und ihre [über ihr stehende]
Krone [die Sephira Kether] in dem einen Worte [Bereschith], um so
darauf hinzudeuten, daß beide [Sephiroth] miteinander verbunden,
ohne jedes Verweilen zwischen ihnen, emaniert sind, so daß die eine
nicht ohne die andere existierte"147. Dies ist eine These, die sehr auf-
fällig ist und, so weit ich sehe, bei Isaaks Schülern nicht mehr er-
scheint : Kether wird klar als in einem Akt mit der Sophia zusammen
emaniert gedacht, woraus wir auch folgern dürfen, daß es nicht an-
fangslos wie Έη-soph selber ist. Eine Formulierung wie bei seinem
Schüler Azriel, wonach die erste Sephira potenziell in Έη-soph war,
bevor sie in der Emanation aktualisiert wurde, fehlt bei Isaak. Wenn
Sahula 3d, wo die entscheidenden Worte im Druck ganz korrupt sind und der
Text nach der alten Hs. Parma, de Rossi 68, Bl. 4a wieder hergestellt werden muß :
ne'eflu be-ssamukh bli schehuth klal benathajim.
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244 Die ersten Kabbalisten in der Provence
das erwähnte Zitat stimmt, so haben wir hier den klaren theistischen
Begriff eines Gottes, der über allen Sephiroth steht. Dazu würde
passen, daß es in Isaaks Kommentar zum Midrasch Konen heißt,
die Bina sei aus ,,den beiden innersten Stufen, der Hokhma und der
Mahschabha" emaniert, die also beide zusammen gedacht sind. Es
gibt aber einen Stand, in dem diese beiden noch nicht existierten.
Man fragt sich in diesem Zusammenhang, ob die „unendliche Ursache",
die Isaak im Jesirakommentar erwähnt, etwa von der unendlichen
Midda des „einzigen Herrn", die er zu I, 5 kennt, zu unterscheiden
ist, so daß diese letztere als entstanden zu denken wäre.
Was es immer mit der höchsten Sephira auf sich hat, so ist jeden-
falls die Hokhma der „Beginn des Seins", wie sie auch „Beginn des
Dibbur" ist. Von ihr an sind alle Sephiroth in einer klaren Kette der
Emanationen hervorgegangen. Die göttlichen Dinge sind im Sinne
seiner Sprachmystik zugleich die göttlichen Worte. Die Ideen sind
Namen. War dies Motiv schon im Báhir angelegt, wo die Sephiroth
mit den zehn Logoi zusammenfielen, so tritt es jetzt in sehr vertiefter
Weise auf. Freilich ist für den Kabbalisten die Sprachmystik zugleich
eine Mystik der Schrift und der Buchstaben. Das Verhältnis von
Schrift und Sprache ist für die Kabbala konstitutiv. Jedes Sprechen
ist in der geistigen Welt zugleich ein Schreiben, und jede Schrift ist
potentielle Rede, die bestimmt ist lautbar zu werden. Der Sprechende
gräbt gleichsam den dreidimensionalen Wortraum in die Ätherfläche
ein. Die Schrift, dem Philologen nur ein sekundäres und zudem höchst
unbrauchbares Abbild der wirklichen Sprache, ist dem Kabbalisten
der wahre Hort ihrer Geheimnisse. Das phonographische Prinzip einer
natürlichen Umsetzung von Sprache in Schrift und vice versa wirkt
in der Kabbala in der Vorstellung, daß die heiligen Buchstaben selber
jene Lineamente und Signaturen sind, die der moderne Phonetiker
auf seiner Platte suchen würde. Das schaffende Wort Gottes prägt
sich legitim eben in jenen heiligen Linien aus. Jenseits der Sprache
liegt die sprachlose Reflexion, die das reine Denken ist, man möchte
sagen, der stumme Tiefsinn, in dem das Namenlose nistet. Von Hokhma
an eröffnet sich, mit der Sephiroth-Welt identisch, die Welt des reinen
Namens als Urelement der Sprache. So verstand Isaak den Satz des
Buches Jesira II, 5, daß alle Sprache aus einem Namen hervorgeht.
Der Baum der Kräfte Gottes, der im Bahir die Sephiroth bildete, ist
hier auf die Verzweigung der Buchstaben in diesem großen Namen
übertragen. Mehr als das Baumgleichnis liebt Isaak noch das, von
einer anderen Jesirastelle (I, 7) eingegebene von der Kohle und den
aus ihr sich nährenden Flammen, Schalhabhijoth, auf das er öfters
zurückgreift. „Ihre [nämlich der Sprache und der Dinge] Wurzel ist
in einem Namen, denn die Buchstaben sind wie Zweige, die erscheinen
wie die Flammen, die sich flackernd bewegen, bei denen Bewegung
stattfindet, und die doch mit der Kohle verbunden sind, und wie die
Blätter des Baumes, und seine Äste und Zweige, deren Wurzel immer
im Baum ist . . . und alle Debharim werden zu Form, und alle Formen
gehen nur aus dem einen Namen hervor wie der Zweig, der aus der
Wurzel hervorkommt. So folgt denn, daß Alles in der Wurzel, welches
der eine Name ist, drin ist" (zu II, 5). Die Welt der Sprache ist also
eigentlich die „geistige Welt". Nur was in einem Ding an Sprache
lebt, ist sein wesentliches Leben. Dies wird ins Kabbalistische über-
steigert: die ,Worte', Dibburim machen die Welt der Sephiroth aus,
welche in ihren Konfigurationen zu den Buchstaben zusammentreten,
ebenso wie auch umgekehrt die Worte selber die Konfigurationen der
Buchstaben sind. Beides findet sich bei Isaak. Diese kaleidoskopartigen
Verhältnisse sind bei Isaak nicht völlig durchsichtig. Der Buchstabe
ist ihm jedenfalls das Element der Weltschrift. Er erklärt das hebrä-
ische Wort für Buchstaben, 'Othijoth, vom Verbum 'atha, kommen,
als „Dinge, die aus ihrer Ursache kommen", also das aus der Wurzel
„Hervorkommende". In jedem solcher Elemente sind aber, in immer
neuen Konfigurationen, alle Sephiroth enthalten: „In jedem Buch-
staben sind die zehn Sephiroth". Zu IV, 1 hören wir, daß die zehn
Sephiroth „innerliche [oder: verborgene] Wesenheiten" sind, deren
innerliches [verborgenes] Sein in der Hokhma enthalten ist, und die
zugleich Wurzeln oder Prinzipien sind, in denen sich gut und böse
noch vereint finden. „Sie [die Sephiroth] beginnen hervorzuwachsen
wie ein Baum, dessen Anfänge unerkennbar sind, bis aus ihnen eine
Pflanze wird." Die Verben, die das Buch Jesira von der Entstehung
der Buchstaben gebraucht, die Gott in das Pneuma „eingehauen hat",
legen Isaak das Bild vom Berge nahe, aus dem die rohen Steine ge-
brochen werden, die dann zu Steinen behauen und gemeißelt werden,
aus denen die wohlgeordneten Gebäude entstehen. Dies „Gebäude" ist
die Welt, aber auch die Welt der Sephiroth als solche stellt einen
solchen Bau dar, der aus seinen Elementen, und letzten Endes aus der
Hokhma, hervorgeht. Die Sphäre, in der dieses Behauen der innersten
Elemente stattfindet, ist nicht die verborgene Sophia, in der Alles
noch ungeformt vereinigt gedacht wird, sondern die ihr folgende
Sephira Bina oder Teschubha („das wohin alles zurückkehrt"), die
selber eine mystische Hyle ist, aus der die Formen herausgemeißelt
werden148.
148
Zu II, 6 erklärt Isaak das Tohu, die Urmaterie, als ein „formloses Sein, das
aus der Kraft der Bina, me-Hazmanath ha-Teschubha, emaniert ist", und aus dem die
Finsternis als ein reales Prinzip hervorgeht. Während man hier geneigt sein würde,
Tohu nicht für die Bina selbst, sondern für eine Emanation aus ihr zu halten, wird
es in Isaaks kurzem Kommentar zu Gen. 1 direkt als „die Tiefe der Teschubha" be-
zeichnet, die im Talmud (Hagiga 12b) sich hinter der Definition des Tohu als „grüner
Strich, der das All umgibt" verstecke, Hs. Halberstam 444, Bl. 29a.
Bei all diesen Ausführungen benutzt Isaak immer wieder den Be-
griff der Hawwajoth, der Essenzen oder Wesenheiten aller Dinge, der
bei ihm ebenso für die Sephiroth wie für die Buchstaben steht, aber
über sie hinausreicht. Denn nirgends ist bei ihm davon die Rede, daß
diese Essenzen entstanden oder geschaffen seien. Sie haben vielmehr
ein ursprüngliches Sein in Gott und vor allem in der Mahschabha,
und wie schon gesagt, äußert sich gerade der Jesirakommentar nirgends
über ein Entstandensein dieses Bereiches. Auf Isaak muß dem Sinn
nach die Formel zurückgehen, die sich bei seinen Schülern in Gerona
findet und die ganz der Position des Kommentars entspricht: „Die
Essenzen waren, die Emanation aber ist entstanden"149. Sie werden
vorausgesetzt, und nur über die Art und die Grade ihres Hervortretens
in der Emanation sowie auch über ihre Erfassung in der Meditation
hat Isaak in seinem Kommentar Betrachtungen angestellt. Man
könnte aus seinen Erklärungen zu I, 1 vielleicht sogar entnehmen,
daß es Essenzen gibt, die der Sophia und dem Prozeß des Denkens
gar nicht mehr gegeben sind, also Seinsweisen darstellen, die zwar
bei Gott vorhanden sind, aber nicht Gegenstände des Denkens werden
können. Dies könnte von Isaaks Bemerkung zu den Worten Peli'oth
Hokhma in I, 1 impliziert sein, welche als „der Anfang der Essenzen,
die dem Denken gegeben sind" erklärt werden. Die „wunderbaren
Pfade der Hokhma" sind nach ihm „innerliche und subtile Essenzen",
die in der Hokhma als Wurzel des Baumes sind und von ihr ausgehen
wie die Säfte, die den Stamm durchziehen. Die geheimen Adern, auf
denen diese Säfte sich im Baum verbreiten, sind selber diese Wege.
„Keine Kreatur vermag sie meditierend zu erkennen [hebr. lehith-
bonen], außer wer aus ihr [nämlich der Hokhma selber] saugt, auf dem
Weg der Meditation durch sein Saugen [sie !], und nicht durch Wissen."
Diese rätselhaften Worte scheinen darauf hinzudeuten, daß Isaak eine
Beziehung zu diesen verborgenen Wesenheiten kennt, die nicht durch
Wissen erlangt wird, sondern durch ein anderes Verfahren, eine sprach-
lose Betrachtung, die er .Saugen', Jeniqa, nennt. So hat Isaak von
Akko ihn verstanden, der die „lernende Aneignung" der Erkenntnis
von der unmittelbaren „Meditation des Intellekts" unterscheidet150.
Freilich könnte hier auch ein anderer Gedanke gemeint sein, nämlich
daß die Kreatur überhaupt nicht dieser Meditation fähig ist, sondern
nur die aus der Hokhma emanierten Sphären selber dies vermögen,
die keine Kreaturen im eigentlichen Sinn des Wortes sind. Dem würde
es entsprechen, daß Isaak an einer anderen Stelle seines Kommentars
(zu I, 3) von den in der Hokhma verborgenen Essenzen spricht, bei
149
Mehrfach bei Ezra, vgl. Sepher Bialik, S. 158, sowie im Namen des Nachmanides,
vgl. meine Nachweise in Kirjath Sepher I X (1932), S. 126.
150
Vgl. Kirjath Sepher Band 31 (1956), S. 383.
denen noch keinerlei Formung statthat, und von ihnen sagt, daß „nur
das aus ihnen emanierte Ding die Kraft hat, sie meditierend zu er-
kennen". Aber auch hier fügt Isaak höchst bezeichnend hinzu „oder
aber der Mystiker [hat diese Kraft], der es [worauf sich dieses ,es'
bezieht, ist im Zusammenhang der Konstruktion des Satzes nicht
klar] meditiert, denn aus den geformten Essenzen heraus [gelangt
er bis an] eine Meditation über die ungeformten, und aus der Inner-
lichkeit des Erfassens ihres [diesen Essenzen zugrunde liegenden]
Denkens gelangt er zur Meditation ihrer Ursache in Έη-soph [oder:
ihrer unendlichen Ursache]." Ob freilich der Mystiker, Maskil, von dem
hier die Rede ist und der im kontemplativen Fortschreiten seiner
Meditation von Stufe zu Stufe bis zu einer Meditation über die un-
endliche Ursache gelangt, auch dieses „saugenden" Verhältnisses zu
den Ursprüngen allen Seins fähig ist, hängt davon ab, wie weit man
in der Interpretation des einschlägigen oben zitierten Satzes gehen will.
Jedenfalls ist evident, daß in der Tat diese Essenzen „dem Herzen
sichtbar sind", also ein Gegenstand kontemplativer Erfassung werden
können. Denn zu Ende von Kap. I sagt Isaak von der Emanation
der körperlichen aus den geistigen Wesenheiten: „Aus den inner-
lichen geistigen Essenzen, die [den Sinnen] nicht faßbar sind, aber dem
Herzen sichtbar, hat er ausgemeißelt und sind aus ihnen emaniert
körperliche, die faßbar sind". Der Ausdruck „dem Herzen sichtbar"
ist freilich noch weit entfernt von der Terminologie des Saugens, die
sich vielleicht nur auf die Erkenntnisart der Sephiroth untereinander
bezieht. Daß diese Definition der Sephiroth und Sprachelemente als
innere Essenzen in der Sophia Gottes, die zugleich aber auch der
Meditation des Mystikers faßbar werden, eine philosophische Ter-
minologie und Tradition impliziert, scheint mir klar. Das hebräische
Wort scheint dem lateinischen essentiae nachgebildet, wie vielleicht
auch der Infinitiv Haskel dem lateinischen Terminus intelligere. Diese
subtilen Essenzen, die der geistige Ursprung der geformten Buch-
staben sind, bilden in ihrer ungeschiedenen und noch ungeformten
Einheit in der göttüchen Sophia die Urtora. Isaak erklärte den be-
kannten platonisierenden Ausspruch des Midrasch Bereschith rabba,
daß Gott die Welt schuf, in dem er auf die Tora (die dabei also die
Ideenwelt vertritt) hingeblickt habe (wie der Gott des Timaios auf
die Ideen) : Gott habe „diese Essenzen, die sich bei der Weltschöpfung
manifestieren würden, in sich selber gesehen, wie sie aus der Hokhma
ihr Sein hatten"I61. Diese eigentliche Urtora, Tora qedutna, steht ihren
Erscheinungsformen als schriftliche und mündliche Tora in den
Sephiroth von Tiph'ereth und *Atara gegenüber, und in seiner Er-
161
Zitiert in Sepher ha-'Emuna weha-Bittahon, Kap. 18, und in etwas besserem
Text, in den alten Kollektaneen der Hs. Christ Church College 198, Bl. 26b.
klärung zum Midrasch Konen hat Isaak dieser Mystik der Tora in
ihren drei Erscheinungsstufen tiefsinnige Betrachtungen gewidmet,
auf die ich noch (S. 253ff.) zurückkomme.
Solche Essenzen gibt es auch von den äußeren und wahrnehmbaren
Dingen. In der Sephirothwelt unter Hokhma sind sie bei aller geistigen
Natur doch determiniert, in ihrer Seinsart bestimmt und begrenzt
(qebhu'oth und haquqoth), und durch sie vermag der Mystiker „zur
Meditation über die bestimmten, subtilen, aber unbegrenzten [sehe-m
lahem Gebhul] Essenzen" zu gelangen. Dieser Fortschritt in der Er-
fassung des Innerlichen aus dem Äußerlichen heraus wird immer wieder
betont. Gleich am Anfang heißt es: „Die Pfade [der Sophia] sind wie
die Fäden der Flammen, welche Pfade für die Kohlen sind, und durch
die Flammen sieht der Mensch die [zugrunde liegende] Kohle, nach
der Art eines Knäuels, denn dadurch, daß der Mensch dem Faden
nachgeht, gelangt er zum Ort des Knäuels. So auch findet der Mensch
durch die Blätter, Zweige und Äste und die vielen Stämme die Lei-
tungen [wörtlich: Höhlungen, nämlich der Säfte], die zum Eigent-
lichen \flqqar] und zur subtilen Wirklichkeit der ihrer Subtilität und
Innerlichkeit wegen unsichtbaren Wurzel hinführt".
Von der Hokhma an führt ein ungebrochener Strom der Emanation
auch über die Sephiroth hinaus zu allem unteren Sein. Alles ist mit-
einander kettenhaft verbunden und verschlungen: „Eines aus dem
anderen, das Innerliche aus dem noch Innerlicheren" und „Alle Dinge
sind Esseñzen aus Essenzen, Gesicht aus Gesicht [oder: Inneres aus
Innerem]"162 (III, 1). Was aber in der „oberen Welt" der Sephiroth
und Middoth Gottes, wenn sie auch von Ursache zu Ursache fort-
schreiten, eine Einheit war, wird bei dem Heraustreten aus dieser
Welt zu der des Vielfältigen, die bei Isaak die „Welt der Trennung"
oder „Welt der getrennten [Dinge]", *Olam ha-Niphradim, heißt153.
Diese Terminologie beruht offenbar auf einer Transformation des
philosophischen Begriffes der separaten Intelligenzen, die bei den
Philosophen separat heißen, weil sie von der Materie separierte und
reine Formen sind. Die Mystiker drehten den Sprachgebrauch um und
bezogen ihn auf die Trennung dieses Bereiches von dem der göttlichen
Einheit. Hierauf bezogen sie dann, offenbar schon in Isaaks Kreis,
152
Richtig ist aber wohl die Lesung Panim, Gesicht, da er (zum Ende von Kap. I)
von den „Gesichtern oben" spricht, die der Schöpfer gemacht habe und die der Mensch
in jeder Richtung vorfindet, wenn er sich in die oberen Dinge versenkt. Der Gegensatz
ist hier klar ahor und nicht, wie es sonst sein müßte, hison.
158
Der Terminus kommt schon im Jeçira-Kommentar vor, sowie am Ende des
Stücks über Gen. I, Hs. Halberstam 444, Bl. 29b, und kehrt dann bei seinen Schülern
wieder, so bei seinem Neffen Ascher ben David zu Gen. I in Hs. Paris 823, Bl. 180 a.
und bei Ezra in dem in Sepher Bialik, S. 166, gedrucktem Brief. Vgl. dazu auch Tarbiz
II (1931), S. 419.
den Vers Gen. 2 10. Der Strom, der aus Eden herausgeht, ist der der
Emanation der Sephiroth, der aber, wo er aus dem Garten, der unter-
sten Sephira, heraustritt, sich trennt und zur Vielheit der kreatür-
lichen Welt der Trennung wird. Aber auch in dieser Welt findet eine
Vereinigung statt, die aus den getrennten Kräften ein organisches
wirkungsfähiges Ganzes macht, „nach Art der Verbindimg der Flammen
mit der Kohle". Isaak deutet die Verben, die das „Buch der Schöp-
fung" von Gottes Aktion mit den Buchstaben als kosmischen Ele-
menten gebraucht, „Er wog sie, vertauschte sie und kombinierte sie",
auf die verschiedenen Akte, die innerhalb der Ur-Hyle geschehen.
Das Wägen findet noch innerhalb der Sephirothwelt statt und stellt
eine Harmonie zwischen den Kräften her, dergestalt, daß eine aus der
anderen emaniert, „denn ohne Gleichgewicht [wörtlich: Auswägung]
zwischen den Potenzen kann keine aus der anderen emanieren" (zu
II, 1). Hier haben wir offensichtlich denselben Gedanken vor uns, den
wir oben bei Isaaks Vater kennen gelernt haben, wonach die Gegen-
sätze nur dadurch wirken, daß zwischen ihnen eine gewisse Harmonie
besteht und in dem einen schon etwas vom anderen steckt. Das Ver-
tauschen bezieht sich nach ihm auf Veränderungen in der Zeit: hat
eine Midda ihre Funktion erfüllt, so beginnt eine andere zu wirken
und ihre Kräfte wirken nicht alle zusammen (II, 1 und III, 1). Die
Kombination, Seruph, ist nach ihm im Bezug auf die Welt der Niph-
radim derselbe Prozeß der Verbindung und des fruchtbaren Wirkens,
den das Wägen in der Welt der Sephiroth bezeichnet. Isaak findet in
der Aktion des Seruph eine Rückverbindung zur einheitlichen Wurzel
der getrennten Dinge. Ohne diese Rückbeziehung auf die eine Kohle
können die Flammen nicht wirken; ohne ihr Zusammenwirken im
Ganzen des Baumes können auch die Äste nicht ihre Stärke behalten.
In diesem Prozeß schreiten alle Dinge in konstantem Fortgang von
Ursache zu Ursache fort, „bis sie zu den getrennten Dingen kommen,
die unterhalb der zehn Sephiroth liegen, aus denen das Getrennte
saugt wie die Früchte des Baumes, bis sie zur vollkommenen Reife
gelangen, und mit der Vollendung ihrer Reifung fallen sie vom Ort,
an dem sie ihre Kraft gesaugt haben, ab, und andere entstehen neu
an ihrer Stelle" (zu II, 1). Dieser Prozeß gilt von allen Dingen der
geschöpflichen Welt, „von jedem nach dem Rang des Ortes, an dem
er seine Kraft saugte", und auch für die Seelen, „welches subtile
Wesenheiten sind, die an einem Ort zusammengebunden [seruroth]
sind und alle von Anfang her bestehen, deren Vitalität aber aus einer
innerlichen Kraft stammt, aus etwas, das das Herz nicht zu denken
vermag" (zu II, 2).
Alles ist also miteinander verbunden und alles ist ineinander ent-
halten, wie formelhaft mehrfach betont wird. Wie weit hierbei ein
pantheistisches Element, das durch die gebrauchten Bilder nahe-
gelegt wird, auch in der Sache mitspielt, ist nicht leicht zu sagen. Jeden-
falls ist die Kontinuität dieser kosmischen Kette dem Autor evident,
und auch von einem abgetrennten und gesonderten Sein läßt sich
nur relativ sprechen: „Bei allen Dingen und Middoth, die als getrennt
erscheinen, findet doch keine [wirkliche] Trennung statt, denn alles
ist eines wie der Uranfang [a. Lesart : in dem Uranfang oder Prinzip],
der alles [in sich] vereint"154. Von diesem Einen heißt es bei ihm: „Er
ist in allem geeint und alles ist in ihm geeint", eigentlich eine klare
Fassung des göttlichen Immanenzprinzips. Auch die Welt des Ge-
trennten, die eine sozusagen außergöttliche Welt darstellt, ist ja in
diese Kette einbezogen, und dem entspricht eben die Möglichkeit der
Erkenntnis durch Hithbonenuth, Betrachtung oder Meditation, in
stufenweisem Aufsteigen und durch das Ineinanderschauen aller
Dinge. Vom Anschauen und Meditieren des Geformten schreitet der
Mystiker zur Anschauung des Formlosen und Innerlichen fort, und
von dort zu der der Mahschabha und der „unendlichen Ursache"
aller Wesenheiten oder, wie ja auch übersetzt werden kann, zur Ur-
sache aller Wesenheiten in 'En-soph.
Bei diesem Übergang von der Einheit der göttlichen Emanation
zur Vielheit des Getrennten spielt bei Isaak offenbar der Begriff der
Midda in einem neuen Sinn eine beträchtliche Rolle. Das Wort wird
bei ihm nicht mehr in dem älteren Sinn verwandt, den es noch im
Buch Bahir hatte, sondern hat eine, wenn auch durchaus nicht durch-
sichtige, besondere spekulative Bedeutung erhalten. Die Middoth
sind auch nicht die Attribute, die Gottes Handeln beschreiben. Sie
sind Prinzipien, Hathhaloth, von allem was sich außerhalb der gött-
lichen Einheit befindet. Um pantheistische Konsequenzen aus ihren
Voraussetzungen zu vermeiden, mußten die Kabbalisten versuchen,
einen Unterschied zwischen dem Wirken der göttlichen Middoth in
der Sephirothwelt und dem Wirken der aus ihnen schon emanierten
Middoth zu statuieren, die in der kreatiirlichen Welt aktiv sind. Das
ist in der Tat, was Isaaks Neffe, wohl im Sinn der Lehre seines Onkels,
unternommen hat. Nach ihm ist die Rede von Middoth im Bezug auf
Gott überhaupt nur hyperbolisch zu verstehen. Denn „es ist undenk-
bar, daß in Ihm ein begrenztes und entschiedenes [absolutes] Maß
stattfindet, da Er einer ist, mit allen [Middoth] vereint und in allen
auf einmal wirkt oder aber in einer von ihnen, indem er alle anderen
in ihr zusammenfaßt, und auch in einer allein wirkt er zugleich etwas
und auch dessen Gegenteil, denn die Kraft der einen ist in der anderen,
da jede Midda in der anderen enthalten ist155". Die Sephiroth heißen
also Middoth (Maasse) nur von uns aus, indem sie uns von Seiten
Tetragrammaton, der Name Ehjeh oder etwa ein anderer diesen beiden
Namen zugrunde liegender mystischer Name ist. In allen Buchstaben
bleibt doch der ganze Emanationsprozeß kondensiert, und „in jedem
einzelnen Buchstaben sind alle zehn Sephiroth" (III, 2). Der Buch-
stabe wird also schon eine ganze Welt für sich, die alles künftige als
etwas, das schon in ihm angelegt ist, enthält. „ I n jedem einzelnen
Buchstaben sind subtile, innerliche und verborgene Wesenheiten,
,ohne etwas' [die noch nicht zu etwas Bestimmtem geworden sind].
Alles was aus ihnen herausgemeißelt werden würde, war schon in ihnen,
so wie im Menschen alle seine Nachkommen sind". Diese geheimen
Wesenheiten in den Buchstaben, die sich in der Schöpfung auswirken,
sind „nach Art der in der Sophia gegebenen Essenzen" gedacht. Es ist
sehr wohl möglich, daß das „Was-lose" Sein, das Sein ohne Quiddität,
auf das hier Bezug genommen wird und das in den Buchstaben steckt,
etwas mit der Definition der Sophia zu tun hat, die bei Isaaks Schülern
mit einem Wortspiel als die „Potenz des Was" erklärt wird 158 . Zu dem
Zitat aus dem Jesirakommentar paßt diese Auffassung ausgezeichnet.
Ähnliche Gedanken über die Entfaltung der Welt der Sephiroth
und der darunter stehenden finden sich, wenn auch in rätselhafter
Kürze, in Isaaks Kommentar zu Gen. I (von dem schon Sahula be-
kennt, daß er ihm teilweise unverständlich sei). Dort freilich hören
wir von einem Fortschritt vom „Glanz der Sophia" zum „Licht des
Intellekts" als Inhalt der Schöpfung des ersten Tages, der als my-
stischer Urtag alle Essenzen „im Geist, wenn auch noch nicht in der
Form" in sich enthielt. Erst bei der Ausbreitung des Lichts des In-
tellekts strahlt aus ihm das Licht aller anderen Dinge auf, und es
scheint, daß die Urschöpfung des ersten Tages für Isaak alle zehn
Sephiroth umfaßt. Die Vorgänge am zweiten Schöpfungstag werden
von ihm auf den Übergang, die „Ausbreitung des Geistes in der Form"
gedeutet. Auch die Seelen „breiten sich in die Form hin" erst am
zweiten Tage aus. Worin diese spezifische formende Kraft des Geistes,
der die Ruah 'Elohim von Gen. 1 2 ist, besteht, erfahren wir nicht. E r
ist ein Pneuma, das aus den Sephiroth Hokhma und Bina kommt,
„und heißt bei den Weisen die Kraft, die die Form ausformt". Die
hier genannten „Weisen" müssen, der benutzten Terminologie zu-
folge, Philosophen sein ; im Midrasch findet sich eine solche Wendung
nicht. Aus diesem höchsten Pneuma kommen offenbar alle Seelen,
die von den in den Geist eingegrabenen Buchstaben geprägt werden.
Die Details dieser Ausführung sind undurchsichtig. Nachdem er
zwischen Geist und Form geschieden hat, sagt Isaak unmittelbar
dahinter, daß „der Geist in den Worten der Philosophen Form heißt",
und daß eine unendliche Kette besteht, in der sich „Geist in Geist
156
So bei Azriel, Perusch 'Aggadoth, S. 84, und Tishbys Anmerkung dort.
formt bis zum Έη-soph hin". Isaaks Erklärung springt von der Er-
klärung des zweiten Tages gleich zu der des sechsten und der Er-
schaffung des Menschen. Wie er sich die Funktionen der anderen Ur-
tage vorstellte, erfahren wir nicht.
Eine weitere sehr merkwürdige Ausführung zur Kosmogonie ent-
hält Isaaks schon erwähntes Fragment eines Kommentars zum An-
fang des Midrasch Konen. Besonders wichtig ist hier seine Erklärung
des aggadischen Satzes, daß die Tora vor der Weltschöpfimg mit
schwarzem auf weißes Feuer geschrieben gewesen sei. Isaak bringt
dies mit seinen Spekulationen über die drei Manifestationsstufen der
Tora zusammen, welches die Ur-Tora, die schriftliche und die münd-
liche Tora, sind. Die Ur-Tora war nach dem Midrasch in der Rechten
Gottes. Hierzu sagt Isaak: „In Gottes Rechte waren alle Eingra-
bungen [d. h. die innersten Signaturen, die noch keine wirklichen
Formen sind] eingegraben, die bestimmt waren, dereinst aus der
Potentialität zur Aktualität hervorzugehen. Aus der Emanation
aller Kronen [Sephiroth] wurden sie eingegraben, eingeritzt und ein-
geformt in die Stufe der Gnade [die Sephira Hessed, die auch Gottes
Rechte heißt] und zwar in einer innerlichen unvorstellbar subtilen
Formimg. Und dies heißt vom Anbeginn der Mahschabhah an die
.zusammengefaltete', noch unentfaltete Tora oder Tora der Gnade.
Mit allen anderen Eingrabungen sind in sie [vornehmlich] zwei Ein-
grabungen vorgenommen worden. Die eine hat die Form der schrift-
lichen Tora und die andere die Form der mündlichen Tora. Die Form
der schriftlichen Tora ist die der Farben des weißen Feuers, die Form
der mündlichen Tora die von Farbgestalten wie von schwarzem Feuer.
All diese Eingrabungen und die noch unentfaltete Tora selbst be-
standen potentiell [in der Idee oder der Sophia ?], und konnten weder
von einem geistigen noch von einem sinnlichen Auge wahrgenommen
werden, bis der Wille [Gottes] den Gedanken anregte, sie vermittels
der Urweisheit [Hokhma qeduma] und der verborgenen Erkenntnis
[Da'ath genuza] zur Aktualität zu bringen. So bestand denn am An-
fang des ganzen [Schöpfungs]Werkes präexistenziell die unentfaltete
Tora, welche Gottes Rechte ist, mit all jenen Einritzungen der in ihr
verborgenen Eingrabungen, und darauf zielt der Midrasch hin, indem
er sagen will, daß Gott die Ur-Tora [Tora qeduma], die aus dem
Bruchort der Bina [hier als Teschubha, Rückkehr bezeichnet] und
aus der Quelle der Ur-Hokhma stammt, nahm und in einem geistigen
Akt die unentfaltete Tora emanierte, um durch sie den Fundamenten
der Welten Dauer zu verleihen". Der Autor beschreibt dann in wieder-
um sehr undurchsichtiger Weise den Fortschritt der Emanation aus
dem Lichttropfen von Hessed, von denen seine Quelle spricht, wobei
er in Lichtmystik schwelgt. Zuerst nahm Gott zwei Namen, von denen
der erste das große Feuer oder die Sephira Gebhura wird, der andere
sich zur „Form der schriftlichen Tora, welches die Farbe des weißen
Feuers ist" entfaltet. Sie entspricht der Sephira des göttlichen Er-
barmens, oder Tifh'ereth. Die unterste Sephira dagegen enthält,
da sie dem Walten des göttlichen Gerichtes in der Welt entspricht,
die mündliche Tora, die das schwarze Feuer ist, das auf dem Unter-
grund des weißen brennt. „Die Form der Buchstaben ist aber ohne
Vokale und nur potentiell in dies schwarze Feuer eingegraben, das
wie die Tinte [auf dem weißen Pergamente] ist". Im weißen Feuer
selber treten also die Formen der Buchstaben noch gar nicht aktuell
hervor, und wo sie es tun, sind wir schon, im Symbol des schwarzen
Feuers, im Bereich der mündlichen Tora. „Und so kann die schrift-
liche Tora keine körperliche Form annehmen, es sei denn durch die
Kraft der mündlichen Tora, das heißt: sie kann ohne diese nicht
wahrhaft verstanden werden, so wie die Weise des göttlichen Er-
barmens nur vermittels der Weise des Gerichtes erfaßt und wahr-
genommen werden kann. Und die Farbgestalten, Gawwanim, des
Schwarzen, welche die des Gerichtes sind, steigen auf und breiten
sich aus über die Gestaltungen des Weißen, die die des Erbarmens
sind, wie das Licht der Kohle. Denn die Kraft der Farbgestaltungen
der Flammen nimmt überhand, bis das Licht der Kohle wegen des
Übermaßes der Flammen, die sie bedecken, gar nicht mehr wahr-
genommen werden kann". Wir haben hier dasselbe Gleichnis von der
Kohle und ihren Flammen, das Isaak auch im Kommentar zu Jesira
so oft verwendet. Die mystische schriftliche Tora ist also in der un-
sichtbaren Form des weißen Lichtes, das vom Pergament der Tora-
rolle dargestellt wird, eigentlich noch verborgen und kann vom ge-
wöhnlichen Auge überhaupt nicht wahrgenommen werden. Nur wo
in den Flammenspielen der mystischen Lichter sie zuzeiten ausein-
treten, geben sie einen momentanten Blick auf das weiße Licht oder
die Sphäre des göttlichen Erbarmens frei. In solcher Stunde vermögen
„manche der Propheten vermittels der [ihrer Kontemplation zu-
gänglichen] ,Krone der Herrschaft' [der letzten Sephira] etwas von
diesem mystischen Glanz zu erhäschen, ein jeder nach der ihm ge-
bührenden geistigen Stufe". Aber dies kann nicht mehr sein als eine
momentane Intuition, und eine wirkliche dauernde Anschauung jener
verborgenen Form des weißen Lichtes ist ebenso unmöglich wie die
der Sonne durch ein irdisches Auge. Nur Moses, der Meister aller Pro-
pheten, vermochte eine beständige Anschauung von diesem „leuch-
tenden Spiegel" zu erlangen und in seinem prophetischen Rang mit
ihr in geistige Kommunikation zu treten.
Die Sprache dieser Symbolik ist ganz die der anderen Fragmente
Isaaks. Hier haben wir, hinter mystischen Symbolen versteckt, die
Auffassung, daß es für die Erkenntnis des gewöhnlichen Sterblichen
überhaupt so etwas wie schriftliche Tora gar nicht gibt. Alles, was
wir so nennen, ist selber schon durch das Medium der mündlichen
gegangen. Die dem Menschen erfaßbare Tora ist nicht die im weißen
Licht verborgene Form, sondern eben das dunkle Licht, das schon
bestimmte Formen und Determinationen angenommen hat und damit
die Eigenschaft der göttlichen Strenge, des Gerichts, bezeichnet. Die
Torarolle selber symbolisiert das. Die Tinte und das Pergament sind
eine Einheit. Aber das durch die Tinte sichtbar werdende Element
ist schon die Schwärze, der ,dunkle Spiegel', der mündlichen Tora,
und das wahre Geheimnis der allumfassenden schriftlichen ist in den
noch nicht sichtbaren Signaturen des weißen Pergaments enthalten.
Mit einem Wort: es gibt nur mündliche Tora, und der Begriff einer
schriftlichen Tora ist letzten Endes nur in einem mystischen Bereich
vollziehbar. Er erfüllt sich nur in einer Sphäre, die allein Propheten
zugänglich ist. Wir haben hier also, am Anfang der historischen Er-
scheinung der Kabbala im Abendland, eine These, deren mystische
Radikalität kaum übertroffen werden konnte und in der Geschichte
der Kabbala in der Tat nicht übertroffen worden ist 187 . Sie weist
Isaak mehr als alles andere, was wir von ihm wissen, als echten Eso-
teriker aus. Isaaks Fragment verfiel völliger Vergessenheit, seine These
aber ist im Verlauf der Geschichte der Kabbala mehrfach, zum Teil
in noch unverhüllterer Sprache, wieder erarbeitet worden158.
Jene göttliche Kraft, die sich von den Sephiroth aus in der Schöpfung
verbreitet, von der Welt des Thrones und der Engel an, reicht auch
unterhalb des menschlichen Bereiches bis zu den niederen Lebewesen,
ja auch den Pflanzen hinab. Auch die Bäume haben eine mystische
Wurzel in denen des Paradieses, wo sie noch Urbilder aller späteren
Bäume darstellen. Alles Untere ist mit dem Oberen verbunden und
besteht dadurch, bis es sich in solcher Kette dem Unendlichen an-
schließt. „Alle Geschöpfe auf Erden hängen von den höheren Kräften
ab, und diese von noch höheren, bis zur unendlichen Ursache hin. 169 "
Diese kosmische Kette ist mindestens im Bereich der Sephiroth eine
magnetische. Die Sephiroth und Logoi „erheben sich über sich selbst
wie etwas, das sich unter dem Einfluß eines Magneten erhebt, und
so ist [in den Worten des Buches Jesira] ihr Ende in ihrem Anfang
[beschlossen]" (zu I, 7). Es gibt aber nicht nur eine Verbindung der
157
Ich habe hierauf schon in meinem Kapitel über den Sinn der Tora in „Zur Kab-
bala und ihrer Symbolik", Zürich (1960), S. 71, hingewiesen.
168
Vgl. dort, S. 1 0 1 - 1 0 4 .
" · Zitat bei Sahula, Bl. 4c.
Emanation der Kraft, sondern auch eine der Schau, Sefhija. Zu Je-
sira I, 6 erfahren wir, daß diese Schau selber wohl der magnetische
Akt der Kommunikation ist, in dem alles zu seinen Ursprüngen auf-
steigt. Das Buch der Schöpfung sagt von den Sephiroth, ihr Schauen
sei wie der Blitz, und Isaak erklärt : „Das Schauen ist die Meditation
des einen aus dem anderen . . . und es besteht darin, daß jede Ursache
aufgenommen wird und sich erhebt und aus einer Ursache, die höher
ist als es selber, her abschaut . . ., alles ist eines im andern und eines
mit dem anderen verbunden". Also nicht nur Gott schaut in die Tiefen
seiner eigenen Weisheit, wenn er die Welt produziert, sondern eine
solche schauende Verbindung findet auch zwischen den Sephiroth
statt. Die Kontemplation des Mystikers in der Kawwana ist also nicht
ohne Parallele zu dem, was in den geistigen Wesenheiten selber vor-
geht. In der Schöpfung wirken nicht direkt die göttlichen Middoth,
die „Väter", sondern abgeleitete Middoth, Toladoth, die aus ihnen
hervorgingen. In der Isolierung, ohne Verbindung mit ihren „Vätern"
oder „Müttern", vermögen sie nichts zu produzieren.
Auch der Mensch ist in diesen Prozeß einbezogen. Er ist „aus Ver-
bindungen der Buchstaben gebaut" (Kap. III). „Und jenes obere
Gebäude von Geist [Ruah] das ihn leitet, leitet [auch] das All, und
so ist denn das All mit den Oberen und den Unteren verbunden und
besteht aus der Welt, dem Jahr und der Seele . . . Und die Seele ist
im All ausschlaggebend" (ebenda). Der Mensch ist, wie es hier weiter
heißt, der „Inbegriff aller Kreaturen, ein großes Siegel, in dem An-
fang und Ende" aller Kreaturen beschlossen sind. Die Seele des Men-
schen ist also der kostbarste Faktor, der in der Welt wirkt. Dieser
Rang gilt sogar von seinem Körper: „Der Gerechte ist ein heiliger
Körper, der von Engeln gewebt ist, und das bedeutet ,Wir wollen einen
Menschen in unserem Bilde machen' und über jedes einzelne Glied
ist ein Engel gesetzt, der ihm hilft, ein Gebot [der Tora] damit zu er-
füllen. Der Frevler hat einen Körper, der von den Engeln der Zer-
störung gewebt ist, und über jedes Glied ist ein Archont gesetzt, so
daß er mit ihm [dem Glied] eine Sünde begeht. Der Frevler hat einen
Intellekt, leicht wie Streu, der Gerechte aber schwer wie Gold160".
Hier fällt der strenge Determinismus zwischen Gerechten und Frevlern
auf. Die Seele ist unmittelbar göttlicher Art. „Der Mensch zieht auf
sich eine obere Kraft, die innerlicher ist als alles Andere, und seine
vernünftige Seele ist besonders lauter, denn sie kommt nicht durch
Vermittlung in der Verkettung der anderen Dinge zustande, sondern ist.
aus einem Etwas emaniert, dasvornehmeristalssie" (Sahula4c). Der hier
gebrauchte hebräische Ausdruck 'Injan me'ulleh könnte daran denken
160 Fragment Isaaks in der alten Hs. Vatikan 202, Bl. 116 b, einer sehr alten Samm-
lassen, daß Isaak hier von Jehuda Halewis Lehre vom 'Injan 'elohi im
Kuzari I, 95 beeinflußt ist161. Enthielt doch nach ihm Adams Seele ein
solches göttliches Etwas, das freilich dort ganz anders gesehen wird als in
der Lehre der Kabbalisten. Isaak erklärte Gen. 2 i: „Er blies in seine
Nase lebendigem Odem" mit dem Gleichnis:,, Wer in einen Schlauch hin-
ein bläst, tut seinen eigenen Odem in ihn162". Hiernach müssen wir an-
nehmen, daß er das Pneuma des Menschen als direkt aus der Welt
der Emanationen stammend betrachtete, als das Göttliche im Men-
schen, das nur aktualisiert werden muß. Dem entsprechen seine Aus-
führungen über die Seele im 2. und 3. Kapitel von Jesira, die schon
oben zitiert wurden.
Wie Isaak die verschiedenen Stufen oder Vermögen der Seele unter-
scheidet, ist nicht klar. Er spricht von Nephesch im allgemeinen Sinn
als dem Träger der Sinneswahrnehmung und von den innerlicheren
Rängen der Ruhoth und Neschamoth, ohne sich über deren Verhältnis
zueinander deutlich zu erklären. Der Emanationscharakter scheint
gerade der Neschamah zuzukommen. An einer Stelle erwähnt er auch
„innerliche und [mit ihrem Ursprung] vereinigte Seelen", die offen-
bar aus Binah entspringen. Sie wirken durch Organe, Kelim, die erst
den Übergang zu den „wahrnehmbaren Formen" bilden, die ihrer-
seits aus der Kraft dieser mittleren Ursachen kommen (zu II, 2).
Dieser Begriff „innerlichster Seelen" für gewisse Wesenheiten in der
Welt der Emanation kehrt dann auch in anderen Quellen wieder183.
Zur Welt der höchsten Emanationen gehört seiner Natur nach das
Gute. Isaak hat die besondere Lichtnatur des Guten gern betont.
Das Gute ist das, was „an seinem Ursprung entzündet" war, wie Kerzen
voneinander entzündet werden. So erklärt Isaak Gen. 1 4 : „Er sah
das Licht, das entzündet war". Diese mystische Etymblogie des Guten
leitet er aus einer, bei uns in keinem Targum erhaltenen aramäischen
Übersetzimg von Ex. 30 7 her184.
m Vgl. über diese Lehre, hinter der, wenn auch verwandelt, der Begriff des Logos
steht, I. Goldziher, Le Amr ilahi (ha-'inyan ha-elohi) chez Juda Halévi, R. E. J. Bd. 50
(1905), S. 32—41; Isidore Epstein, J. Q. R. Bd. 25 (1935), S. 215—219; Israel Efros,
Proceedings of the American Academy of Jewish Research X I (1941), S. 31—33.
192
Zitat bei Sahula 5 b.
íes Vgl. ζ. Β. das als „Geheimnis der inneren Seelen, Geister und Nephaschoth"
bezeichnete Stück, das ich in Maddae ha-Jahaduth, II, S. 285 gedruckt habe. Sein
Autor, wahrscheinlich Isaak Hohen, führt es auf die Tradition zurück, die er von dem
„Chassid und vollkommenen Kabbalisten" erhalten habe, der mit dem unter gleichen
Formeln sonst von ihm eingeführten anonymen Kabbalisten in Narbonne identisch
sein dürfte, auf den er sich öfters bezieht. Das Stück hängt auch engstens mit dem
am Ende dieses Kapitels, S. 318 — 320, mitgeteilten zusammen.
161
Vgl. dieses Targum-Zitat bei Ezra zum Hohenlied, Altona (1764), Bl. l a , wo
vielleicht ursprünglich Isaak genannt war : we-ken perasch \he-Chassid] ; Azriel, Perusch
Scholem, Kabbala 17
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258 Die ersten Kabbalisten in der Provence
Aber nicht nur das Gute hat seinen Ursprung in dem Aufstrahlen
der Lichter in der Emanation, sondern es gibt auch ein positiv
Böses, das mit der Wurzel des Todes zusammenhängt. Damit
nimmt Isaak die entsprechende Vorstellung des Bahir von der
Natur des Bösen in einer verwandelten Form auf. Die Gegen-
sätze, von denen Kap. 4 des Buches Jesira in Verbindung mit den
sieben, einer doppelten Aussprache fähigen Konsonanten des hebrä-
ischen Alphabets spricht, enthalten auch den von Leben und Tod,
und Isaak erklärt dazu, daß „nach der Ursache des Lebens die Ur-
sache des Todes emaniert wurde", und auch am Anfang von Kap. 2
betont er, daß die Pole der Gegensätze jeweilig „aus einem selbstän-
digen Prinzip" herkommen. Der Tod ist also mehr und etwas anderes
als das Aufhören des Lebens. Es gibt eine positive Wurzel davon.
Freilich betont Isaak zugleich, daß in der Sephiroth-Welt, in den
„inneren Wesenheiten", Gut und Böse noch nicht auseinandergetreten,
sondern harmonisch, be-Ahduth ube-Schalom, vereinigt sind. Erst
wo die „Wurzeln" sich weiter zum Baum entwickeln und in der ab-
geleiteten späteren Emanation, der die Doppelbuchstaben entsprechen,
gibt es das Böse auch als Isoliertes. Auch bleibt der Gedanke Isaaks
vom Bild des Organischen bestimmt (zu Kap. 4). Die Buchstaben
sind wie die Äste am Baum, und in ihnen entfaltet sich die Ver-
schlungenheit von Gut und Böse, die sich noch in allen Dingen durch-
dringen, so daß jede gute Midda auch ihr Böses hat und umgekehrt.
Diese Frage nach der Natur des Bösen spielt auch in andere Fragmente
Isaaks hinein. So weiß ein Fragment (bei Sahula 24b): „Alle Dinge,
die von der Linken herkommen, werden von der Unreinheit beherrscht,
wie es heißt [Jer. l u ] : Von Norden her öffnet sich das Böse". Es
gibt also eine Emanation von Dingen, die aus der Kraft der Linken
herkommen, die die Sephira Pahad oder Gebhura ist. Diese spezielle
Emanation der Linken ist keine, auf Dualismus aufgebaute selb-
ständige Parallele zu der der Sephiroth, sondern eine aus der Welt
der Sephiroth selber, wenn sie im Unteren wirkt, aus Pahad ent-
springende.
An diese und ähnliche Gedanken, die den Ursprung dieser unhei-
ligen oder zerstörerischen Kräfte sogar bis auf Bina zurückführen,
Schloß sich dann wohl noch bei provençalischen Kabbalisten des frühen
13. Jh.s eine stärker ausgearbeitete Theorie der linken Emanation
und ihrer Kräfte an, die eine ganze Metaphysik der Dämonologie ent-
'Aggadoth, S. 89; Joseph ben Samuel zu Gen. 1, in Kap. 31 von Jakob ben Schescheth,
Meschibh Debharim nekhohim sowie Jakob ben Schescheth selbst dort, Hs. Oxford,
Bl. 61a. Auch der Zoharhat der Sache nach diese Erklärung übernommen, vgl. I, 230a.
Auch hier ist die Vermittlung klar: Moses de Leon führt die Stelle aus Ezra (ungenannt)
mit dem Targum-Zitat zusammen im Sepher ha-Rimmon an, Hs. British Museum,
Margoliouth 769, Bl. 51a.
hielt. Die Abhandlung, in der Isaak Kohen aus Soria um 1270 diese
Lehre vortrug, stützte sich unter anderem auf alte Papiere, die er in
Arles bei den dortigen Kabbalisten gefunden habe und die sich als
aus dem Orient gekommen ausgaben165. Die betreffenden Stücke
stehen aber viel eher in der Tradition der Gedankenentwicklung, wie
sie sich in der Provence anbahnte, und haben jedenfalls mit den orien-
talischen Quellen der Kabbala, wie wir sie teilweise im Bahir noch
fassen konnten, nichts gemeinsam. Wohl aber könnten orientalischen
Ursprungs die rein mythischen Ausführungen über das Reich der
Dämonen sein, in denen kabbalistische Gedankengänge wie die Lehre
von den Sephiroth oder überhaupt Emanationsvorstellungen gar
keine Rolle spielen. Solche Ausführungen werden von Isaak Kohen
aus theurgischen Quellen vorgebracht, die er mit den „Kleinen
Hekhaloth" und einem Sepher Malbusch in Verbindung bringt, die
aber mit den alten theurgischen Texten dieses Namens nichts zu tun
haben166. In diesen Quellen treten zuerst Sammael und Lilith als
dämonisches Ehepaar an der Spitze der finsteren Hierarchien auf.
Die Rückbeziehung dieser seltsamen Mythologeme auf eigentlich
kabbalistische Theorien ist erst von den Bearbeitern, den Brüdern Isaak
und Jakob Kohen oder deren Lehrern, hinzugefügt worden. Das Alter
dieser Vorstellungen, auf die ich hier nicht im Detail eingehen will167,
les
M adda e ha-Jakadutk II, S. 248. Die alte Schrift der Blätter, die ihm die Kab-
balisten von Arles zeigten, sollte von einem großen Gelehrten namens Maçliach ben
Pelatia aus Jerusalem stammen und von einem ,,R. Gerschom aus Damaskus" ge-
bracht worden sein, der zwei Jahre in Arles gewohnt habe und von dessen Gelehrsam-
keit und Reichtum man sich dort Wunderdinge erzählte. Am legendären Charakter
der ganzen Angaben kann nach dem Zusammenhang dort kaum ein Zweifel sein.
ue Vgl. über die „Kleinen Hekhaloth" in meinem Buch Jewish Gnosticism usw.,
S. 76—83; über das Sepher ha-Malbusch, das „Buch vom Anziehen des göttlichen
Namens", in meinem Buch „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", S. 182—183.
1β7
Die Verhältnisse der verschiedenen Quellen und Systeme, die in Isaak Kohens
Schriften benutzt sind oder vorgetragen werden, sind kompliziert. Ich habe darüber
in Tarbiz I I (1931), S. 4 3 6 - 4 4 2 ; I I I , S. 3 3 - 3 6 ; IV, S. 2 8 5 - 2 8 6 , gehandelt. Isaak
und seinem Bruder, die um 1260—1260 in der Provence nach Resten der alten Über-
lieferungen der dortigen Kabbalisten forschten, kamen alle möglichen Dinge zur Hand.
Neben seinem eigenen System, das neuplatonisch-spekulativen Charakter hat, steht
das der angeblichen Abhandlung aus Damaskus, das seinerseits schon eine Bearbeitung
älterer quasi-gnostischer Quellen ziemlich dramatischen Charakters im Sinn der Se-
phiroth-Lehre bildet, und das noch ältere System, das er im Namen der oben genannten
beiden Quellen vorträgt. In diesem fehlt die Beziehung auf die Sephiroth-Lehre gänz-
lich. Wir haben mit dämonologischen Mythen konkreter Art zu tun, die nicht mit
abstrakten Vorstellungen arbeiten. Überall besteht hier eine enge Verbindung zur
Magie und der Lehre von den wirksamen „ N a m e n " und deren Operationen. Die soge-
nannte „praktische Kabbala" ist in den Kreisen entstanden, die diese Traditionen
besonders gepflegt und entwickelt haben, die von Isaak Kohen selber ausdrücklich
17·
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260 Die ersten Kabbalisten in der Provence
zeigt sich auch darin, daß hier noch die sehr alte, von den Gno-
stikern des 2. Jh.s aus jüdischen Kreisen übernommene Etymo-
logie des Namens des Teufels Sammael, der in Konkurrenz mit
dem Namen Beliar aufkam, als „blinder Archont", Sar summa, er-
halten ist 168 . In der Provence sind aramäische Texte aufgetaucht,
die teilweise in der Tat wohl im 12. Jh. aus dem Orient direkt in die
Provence gelangt sein können, wenn auch nicht gerade in den Kreis
des Rabed und seiner Familie. Zum Teil freilich scheinen dann dort
in den ältesten Kabbalistenkreisen weitere, in offensichtlich künst-
lichem Aramäisch verfaßte Variationen der in diesen Stücken be-
handelten Themata der dämonologischen Hierarchien verfaßt
worden zu sein, von denen wir Reste besitzen, wie jenes pseudo-
gaonäische Responsum über die Beschwörung des Fürsten der Dä-
monen, die auch von der Offenbarung des Propheten Elias in der
Nacht des Versöhnungstages spricht. Die älteste Schicht dieser Quellen
unterschied schon zwischen einer alten und einer jungen Lilith und
als die Kabbala der Meister der Theurgie von der spekulativen Kabbala, d. h. der
mystischen Theologie unterschieden werden.
,ββ Die (sethianischen ?) gnostischen Texte von Nag Hammadi kennen diese Ety-
mologie von Sammael als le dieu aveugle, vgl. Jean Doresse, „Les Livres Secrets des
Gnostiques d'Egypte" (1958), S. 188, 195 und die (ihm von mir gegebenen) Nachweise
dazu in der englischen Ausgabe „The Secret Books of the Egyptian Gnostics", S. 175,
Anm. 49. Theodor bar Konai wußte noch um 900, daß die Ophiten Samiel (d. h. Sam-
mael) als einen „blinden Engel" im ersten Himmel kennen, der böse und satanisch
sei, vgl. H. Pognon, Inscriptions Mandaïtes, Paris 1898, S. 145, und die Übersetzung
des syrischen Textes dort, S. 213. (Auch nach der Ascensio Jesajae 7 9 befindet sich
Sammael unter dem ersten Himmel). Isaak Kohen kannte sogar Traditionen, die
vom Leviathan — der bei den Ophiten ja mit Sammael identisch ist — als dem „blinden
Drachen" sprechen, hebr. Tannin 'iwwer oder auch Tanninsam, was ja einem Tannin
summa entspricht, vgl. Madda'e ha-Jahaduth II, S. 262 und 264. In der mandäischen
Literatur ist Samjael als ein Dämon der Blindheit bekannt, vgl. jetzt E. S. Drower,
The Canonical Prayerbook of the Mandaeans, Leiden 1959, S. 248. Bei den Sabiern
von Harran hieß Mars „der blinde Herr", vgl. im arabischen Text des Picatrix, ed.
Ritter, Berlin (1933), S. 226, wo der aramäische Terminus Mara samja erhalten ist,
sowie Chwolson, Die Ssabier, Bd. I I (1858), S. 188, der sich dieses Beiwort nicht er-
klären konnte, das aber daher kommt, daß der Planetenengel des Mars in der sehr
alten jüdischen Engelreihe eben Sammael ist. Der Name Sammael selber ist in den
bisher bekannten sabischen Texten in Vergessenheit geraten, seine aramäische und
arabische Übersetzung dagegen nicht! Sammael als Engel des Mars z. B. bei Jehuda
ben Barzilai zu Jesira, S. 247; Raziel Bl. 17b und 34b (in dem alten Sepher ha-Razim) ;
Gaster, Studies and Texts Bd. I (1925), S. 350. Noch spätbyzantinische Zaubergebete
kennen die „blinde Schlange", vgl. A. Barb, Der Heilige und die Schlangen, S. A.
aus Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft, Wien (1952), S. 6, was offen-
bar in den gleichen Zusammenhang gehört. An diesem Detail zeigt sich also, daß in
der Tat die Quellen Isaaks alte Vorstellungen, die sich in der orientalischen Gnosis
verzweigt haben, auch im Judentum, aus dem sie stammten, bewahrt haben.
Anhänger der Lehre von der „Wiederbringung des Satan", der Apo-
katastasis, war. Im Judentum, das keine formelle dogmatische Auto-
rität für die Bestimmung des Glaubensinhaltes anerkannte, war diese
Frage, die in der Geschichte der christlichen Kirchen eine so große
Rolle gespielt hat, offen und wurde ohne Leidenschaft behandelt.
Die Meinungen waren auch dort geteilt und die Mystiker hingen oft
dieser Lehre an. Spätere kabbalistische Theorien in dieser Richtung,
wie zum Beispiel Joseph Gikatillas „Mysterium der Schlange173",
haben ihre Inspiration wohl von Isaak dem Blinden. Das Merkwürdige
bei Isaak ist, daß der Sturz Sammaels von seinem Rang nicht, wie zu
erwarten wäre, beim Fall Adams erfolgt, für den er nach der Aggada
ja verantwortlich ist, sondern erst beim Amaleq-Kampf. Darin sind
ihm die späteren Kabbalisten nicht gefolgt, die auch wo sie die Lehre
von der Apokatastasis vertreten, sie mit der Wiederherstellung der
von der Ursünde gestörten Harmonie aller Dinge in Verbindung
bringen. Aber auch bei Gikatilla bezog die Schlange ursprünglich,
wie bei Isaak, ihre Kraft unmittelbar aus dem heiligen Bereich der
Emanationen, außerhalb deren „Mauern" sie stand und als ein Genius
der ganzen sublunarischen Welt wirkte. Auch dort bringt erst ihr Auf-
stand Unordnung im harmonischen Verband der Welten hervor und
isoliert Sammael als Genius des Bösen.
Diese Anschauung Isaaks, daß die höchsten angelischen Kräfte
ihren Influxus direkt von der zehnten Sephira beziehen, kehrt auch
in Ezras Zeugnis wieder, wonach er „aus dem Munde des Sohnes des
Meisters", d. h. von Isaak dem Blinden, die Lehre empfangen habe,
„daß Metatron nur ein Bote sei, und nicht ein spezifisches Ding, das
so heißt, sondern vielmehr heißt jeder Bote im Griechischen Metator,
und vielleicht empfangen die Boten den Influxus von der 'Atara ge-
nannten [zehnten Sephira], um ihre Sendung zu erfüllen174". Me-
tatron wäre also kein Eigenname, sondern bezeichnete die ganze
Kategorie der eine Sendung ausführenden himmlischen Kräfte. Dies
ist eine wesentlich nüchternere Auffassung als die, die wir (oben S. 186f.)
na Vgl. die teilweise Übersetzung dieses Stückes in meiner Jüdischen Mystik,
S. 437.
»« In Ezras Perusch 'Aggadoth, Hs. Vatikan 294, Bl. 48b. Die Abkürzung '»HD
[für m D S i l D ] wurde fälschlich ''VHO geschrieben und als Π^'ΓΠΒ aufgelöst. Derselbe
Fehler kehrt dort direkt vorher auch in einem anderen Zitat wieder: „Ich habe im
Namen unseres Meisters [wohl ebenfalls Isaaks des Blinden, zu dessen Ansicht das
paßt] gehört, daß der Ort der Seelen, Neschamolh, in der Teschubha genannten Sephira
Bina ist. Sie gehen von dort aus und gelangen von Stufe zu Stufe bis zur 'Atara [so
statt "»»HO zu lesen] und gehen von dort aus und schließen sich an den menschlichen
Körper an. Und nach ihrer Trennung vom Körper kehrt sie, falls würdig, zurück [in
die Sephiroth-Welt] und wird in Tiph'ereth eingebunden, das der .Bund des Lebens'
ist."
bei seinem Vater, dem Rabed, in seinem Stück aus dem Talmud-
Kommentar kennengelernt haben. Man fragt sich, ob hier die ganze
Wahrheit über Isaaks Anschauung steckt oder nicht nur eine gelegent-
liche Bemerkung. Kein Kabbaiist sonst hat, auch wo Isaaks Erklärung
der Etymologie übernommen wurde, deswegen die Existenz eines
spezifischen Engelwesens Metatron geleugnet175. Die Etymologie
selbst ist offenbar aus dem alten talmudischen Wörterbuch 'Arukh
des Nathan ben Jechiel aus Rom entnommen, das in der Provence
wohlbekannt war (sub voce Metator). Eine Identifikation des Metatron
mit der letzten Sephira, der Schekhina, liegt Isaak offenbar ganz fern,
obwohl sie sich dann bei katalonischen Kabbalisten der ersten Gene-
ration findet17®.
Das Weltbild Isaaks beruht also darauf, daß die verschiedenen Be-
reiche der Schöpfung, jeder nach seinem Rang in der Hierarchie der
Dinge, in Verbindung mit den in der Sephiroth-Welt gegebenen
Wurzeln allen Seins stehen. Die begrenzten Kräfte kommen aus den
unbegrenzten, und in Allem wirkt die geheime Signatur der Buch-
staben, nirgends freilich deutlicher faßbar als im Menschen. Dem
Strom, der von oben nach unter fließt, entspricht aber auch eine Be-
wegung von unten nach oben. Wenn Isaak im Jesira-Kommentar
(Ende von Kap. III) sagt: „Alle Dinge beziehen sich auf die Wurzel
ihres eigentlichen Seins zurück177", so ist das dort in dem Sinne ge-
meint, daß jedes Ding nur in dem wirken kann, was in seinem Prinzip
angelegt ist. Aber schon seine Schüler haben Wendungen dieser Art
im Sinne einer Rückkehrbewegung aller Dinge zu Gott verstanden.
„Alles ist aus der ersten Ursache entstanden, und Alles kehrt zur ersten
Ursache zurück178". Solche Rückkehr kann eine ontologische und eine
17« Vgl. z. B. Nachmanides im Tora-Kommentar zu Ex. 12 12, der sagt, er habe
diese Etymologie „vernommen".
17« Vgl. Kap. 2, Anm. 200. Der „Wächter Israels" der Psalmen und Gebete ist aber
für Isaak nicht etwa Metatron, sondern die als Matrona gedachte zehnte Sephira, die
Schekhina. Er leitet das Wort Matrona vom aramäischen Matara ab, das Wacht be-
deutet, vgl. das Zitat bei Sahula Bl. 23d, wie auch dort 29b. Ezra und Azriel sagen
in ihrem Aggada-Kommentar, der im Teil zum Traklat Berakhotk fast identisch ist
(ed. Tishby, S. 10, mit der Introduktion: „Wir haben empfangen"), dieser Wächter
Israels sei es, der in Berakhotk 7 a mit dem mystischen Namen Aktariel benannt sei,
welcher nichts anderes als die Schekhina und der Cherub sei und „Engel der Glorie"
heiße. Vgl. dazu oben S. 151 sowie Ma'arekheth ha-'Elohuth, Mantua 1558, Bl. 72b.
177
Hebräisch: Kol ha-Debharim hozrim le-Schoresch 'Iqqaram.
178
Ezra zitiert diesen Satz in eschatologischem Zusammenhang in seinem Kommen-
tar zum Hohenlied, Altona 1764, Bl. 16a, von einem „Weisen", der wohl kein anderer
eschatologische Seite haben. Auch vor dem Ende alle Dinger strebt
alles Sein, seiner Natur nach, zu seinem Ausgang zurück, im Sinne
der antiken philosophischen These vom appetitus naturalis, wie sie im
Mittelalter vor allem von den Neuplatonikern populär gemacht wurde.
Aber auch die eschatologische Nuance von der „Rückführung aller
Dinge zu ihrem ursprünglichen Sein", Haschabhath kol ha-Debharim
le-Hawajatham, fehlt bei seinen Schülern nicht und geht wohl auf ihn
zurück179. Diese Rückkehr des Menschen, der seinen besonderen Rang
durch den Besitz des göttlichen Elements in der Seele behauptet, zur
Verbindung mit seiner Wurzel wird aber, jenseits dieser eschatologischen
Perspektiven, durch den Weg der kontemplativen Mystik befördert oder
erleichtert, der Isaaks Vorstellungen von den Werten der Tora und
ihrer Gebote sowie vom religiösen Leben des Juden überhaupt zu-
grunde liegt.
Die Begriffe der Kawwana und der Debhequth sind für diese seine
Auffassung grundlegend. Beide sind offenbar eng miteinander ver-
bunden. Die theoretische Grundlegung seiner Lehre von der Kawwana,
die aus seinen konkreten Angaben über bei bestimmten Gebeten zu
vollziehende Kawwanoth nicht unmittelbar zu entnehmen ist, findet
sich in seinem Kommentar zu Jesira (I, 8). Aus dem Erfaßbaren heraus
öffnet sich ein Weg zum Unerfaßbaren, „und dazu sind die Middoth
gemacht", nämlich als Vermittlung zwischen dem Begrenzten und Un-
begrenzten. Aus der Betrachtung der unteren Middoth steigt er zu der
der oberen auf, „denn jede Midda erfüllt sich aus der, die über ihr
steht, und sie sind Israel übergeben [vielleicht auch zu verstehen im
Sinne von: ihre Folge ist Israel überliefert], um aus der Midda, die
im Herzen sichtbar wird, zu meditieren, bis zum Unendlichen hin zu
meditieren. Denn es ist kein anderer Weg zum [wahren] Beten als
der, daß der Mensch durch die begrenzten Worte [in deren Inneres]
hineingenommen wird und sich im Denken zum Unendlichen erhebt180".
Dieser letzte Satz besagt nach dem, was wir hier über Isaaks Begriff
von der Mahschabha und den Worten erarbeitet haben, nicht nur,
daß die begrenzten menschlichen Worte und das menschliche Denken
den Betenden zum Unendlichen, dem Έη-soph, erheben, sondern
bezeichnet auch den inneren Weg dieses Gebetes in der Kawwana.
Dieser Weg führt durch die Sephiroth, die relativ begrenzten „Worte"
ist als der „Philosoph" am Anfang des Kuzari I, 1. In der Literatur der '///««-Gruppe
(vgl. unten S. 283) finden wir den bekannten neuplatonischen Satz: „Alles ist aus
dem Einen und alles kehrt zum Einen zurück" als Zitat angeführt, ζ. B. im „Buch
von der wahrhaften Einheit", Hs. Jerusalem 8° 488, Bl. 16a.
" · Vgl. Nachmanides zu Jesira, in Kirjath Sepher VI (1930), S. 401, und meine
Nachweise S. 397 Anm. 183. Der hebräische Ausdruck wirkt wie eine genaue Wieder-
gabe des lateinischen restitutio omnium rerum ad integrum.
180
Vgl. den Text der Stelle M. G. W. J., Bd. 78 (1934), S. 32.
zum unbegrenzten reinen Gedanken und von da aus in die Tiefe des
Έη-soph selber. Die göttlichen Middoth sind also der Gegenstand der
Meditation, in der der Betende sich auf die in den einzelnen Gebets-
teilen sich ankündenden, den Mystikern „überlieferten" Middoth
richtet und in der er in der gesammelten Besinnung aufs Wort das
„Urwort" findet, und in ihm den Anschluß an die unendliche Bewe-
gung der göttlichen Mahschabha selbst, in der er sich bis zum Έη-soph
erhebt Die mystische Kawwana zeigt also einen geistigen Innenraum im
Worte auf, in dem das Wort sich ins Göttliche aufschwingt. In Isaaks
Satz ist der Schluß sicher bewußt doppeldeutig formuliert, wobei ein-
mal Mahschabha im Sinne des göttlichen Denkens, zum anderen aber im
Sinne des menschlichen Denkens genommen werden kann. Man kann
vielleicht diesen Aufstieg des reinen Denkens in der Kawwana zum
Unendlichen hin mit der katholischen Formel vom Gebet als elevatio
mentís ad deum zusammenstellen, in der Friedrich Heiler „die Eigen-
art des mystischen Gebets treffend bestimmt" findet181. Der Kabbaiist
fügt hier freilich ein neues Element hinzu: er sucht sich aus seinem
Denken heraus der unendlichen Bewegung des göttlichen Denkens
selbst anzuschließen oder einzufügen, und dies eben ist sein eigent-
liches Ziel. Die Kawwana im Gebet sowie bei der Vollziehung der
religiösen Gebote dient zur Realisierung des Anschlusses an Gott,
der das letzte Ziel des Weges des Menschen zu Gott ist.
Dieser Anschluß, diese Verbindung oder communio mit Gott ist
es, die der hebräische Terminus Debhequth bezeichnet. Der Begriff
der Kabbalisten hat seinen Ursprung im Sprachgebrauch der mittel-
alterlichen jüdischen Theologen, besonders Bachja ibn Paqudas und
Abraham ibn Ezras, die das biblische Verbum dabhaq, das die Be-
deutung von „anhängen, sich anschließen" hat, vom Anschluß der
Seele an Gott oder das göttliche Licht gebrauchten. Das Torawort
Deut. 13 5 wird als Isaaks Stichwort für diese Lehre von seinen
Schülern angeführt: „Unser Meister der Chassid hat gesagt: Das
Wesentliche des Gottesdienstes der Mystiker [Maskilim] und derer,
die über Seinen Namen meditieren, liegt in diesem [Vers]: ,An Ihn
sollt ihr euch anschließen'. Und dies ist ein großes Prinzip für Tora
und Gebet, daß man sein Denken mit seinem Glauben ausgleiche 182t
als ob es ans Obere angeschlossen sei, um so den Namen [Gottes] in
seinen Buchstaben zu verbinden und in ihm die zehn Sephiroth zu
181
Vgl. Friedrich Heiler, Das Gebet, 2. Aufl., S. 291.
182
Eine vieldeutige Wendung, hinter der vielleicht mehr steht als das in Überein-
stimmung-Bringen von Denken und Glauben. 'Emuna, Glauben, wird bei Isaak mehr-
fach als Symbolwort für die zweite und zehnte Sephira gebraucht, während Mah-
schabha die erste repräsentiert. Vielleicht besagt dies „große Prinzip" also, daß der
Mystiker bei der Meditation über den Namen Gottes die zehn Sephiroth von der ersten
bis zur letzten in Harmonie bringt.
umfassen wie eine Flamme, die mit der Kohle verbunden ist. Mit
seinem Munde soll er ihn nach seiner Paraphrase aussprechen, in
seinem Herzen aber soll er ihn nach seinem wirklichen Bau ver-
binden183". Debhequth ist also nicht unio, sondern communio. Es hat
im Sinne des kabbalistischen Sprachgebrauchs stets bei aller Intimität
ein Element der Distanz in sich. Debhequth ist nicht Einswerden mit
Gott, sondern unendlich enge Verbindung mit ihm, entsprechend etwa
dem, was christliche Mystiker des Mittelalters adhaeresis nennen.
Debhequth kann im Hebräischen sowohl den Prozeß bezeichnen als
den durch ihn erlangten Zustand. Das Instrument dieses Prozesses
ist die Kawwana. Isaak und seine Schüler sprechen nicht von Ek-
stase, von einem einmaligen Akt des aus sich selbst Heraustretens,
in dem sich das menschliche Bewußtsein aufhebt. Die Debhequth ist
kein stürmisches Vordringen und Aufgehen in Gott, sondern ein be-
ständiger Zustand, der sich durch die Meditation ernährt und erneuert.
Weiter ist diese Schule der alten Kabbalisten im Unterschied zu
manchen späteren nicht gegangen und verleugnet darin ihren jüdisch-
theistischen Charakter keineswegs. Für sie ist nicht, wie für manche
nichtjüdischen Mystiker, die Debhequth oder mystische communio
ein Durchgangsstadium zu noch höheren Bereichen. Eine pantheistische
Überschreitung der Grenzen, die sie sich in dieser Interpretation des
mystischen Weges gesetzt haben, liegt ihnen fern184.
Wir dürfen vermuten, daß die ausführlichen Darlegungen über den
Sinn der Debhequth, die sich vor allem bei seinen Schülern Ezra und
Azriel finden (vgl. im nächsten Kapitel) und deren Bilder mit auch
sonst von Isaak gebrauchten Gleichnissen zusammenhängen, auf die
Lehre ihres Meisters zurückgehen, wie sie ja auch höchstwahrschein-
lich noch zu seinen Lebzeiten geschrieben sind. Auch Isaaks Neffe
Ascher spricht ganz in der gleichen Art von diesem Weg als dem der
echten Umkehr zu Gott, bei dem „der Mensch Taten ausgleicht und
seine Seele läutert und seine Gedanken reinigt . . . und seinen Geist
und seine Neschama-Seele an seinen Schöpfer anschließt und seinet-
wegen von den Übertretungen abläßt. Von ihm haben die Weisen
gesagt: am Ort, wo die [zu Gott] Umkehrenden stehen, vermögen
die vollkommenen Gerechten nicht zu stehen185". Nicht auf die Buß-
183
Zitiert von Ezra zum Hohenlied, Bl. 8d, und ohne Quellenangabe in seinem
Perusch 'Aggadoth. S. 16.
1M
Unannehmbar scheint mir die Interpretation Tishbys, der versucht hat, den
Stücken über Debhequth bei Ezra und Nachmanides eine viel weiter gehende Deutung
im Sinne einer völligen Vereinigung in der Ekstase mit der Gottheit selber zu geben.
Soweit die Debhequth überhaupt ekstatische Momente hat, bleibt dennoch die Indi-
vidualität des Mystikers in ihr erhalten, was T. gegenüber festzuhalten ist, vgl. seine
Ausführungen in Molad X I X (1961), Nr. 1 5 1 - 1 6 2 , S. 4 8 - 6 5 .
185
Ascher ben David, Perusch Schern ha-Mephorasch, ed. Chassida, S. 7.
Kirjath Sepher, B d . 3 1 , S. 3 8 1 .
schwer verständlichen Satz sagt, darin, daß sie durch ihre Aufnahme
der göttlichen Sophia ihr Denken mehr als alle anderen Menschen zu
„erweitern" vermochten194 und dadurch eine „Weite der Seele er-
hielten, sich auf unendliche Weise in den einzelnen Dingen auszu-
breiten" (zu I, 6). Was diese Ausbreitung der Seele oder des Denkens
in den Einzeldingen bedeuten soll, weiß ich nicht. Von solcher Aus-
breitung und Ausweitung spricht Isaak auch, wenn er an derselben
Stelle den kontemplativen Sinn der Gebote der Tora zu erklären
sucht, durch die der Mensch „wenigstens die Anfänge der Middoth
erfaßt". Zu Ps. 119 96: „Von allem Zweck habe ich ein Ende gesehen,
aber weitreichend ist dein Gebot" sagt Isaak dort: „Dein Gebot,
obwohl es am Anfang zweckhaft scheint, erweitert sich immer mehr
bis zum Unendlichen hin. Und wenn alles, was vergänglich ist, ein
Ende hat, kann doch kein Mensch ins [Innere] deines Gebotes ein-
dringen, das am Ende alles Erfassens steht, denn der Mensch erfaßt
gerade nur die Anfänge der Middoth". Der Mensch vermag also die
Tiefe des Gebotes der Tora, das einen bestimmten Umfang und Ende
zu haben scheint — das meint wohl das hebräische Wort Tikhla —,
nicht auszuschöpfen, denn je mehr er seinen Sinn auf dessen Betrach-
tung richtet, erweitert es sich, wie das kontemplative Denken des
Menschen selbst. Im Vollzug des Gebotes, das scheint die Meinung
Isaaks zu sein, schreitet der Mensch vom Begrenzten ins Unbegrenzte
und Unendliche fort. Die Aktivität des Mensch'en im Vollzug der Tora
konvergiert also für das Gefühl des Mystikers mit dem Aufstieg und
der Erweiterung seines kontemplativen Denkens. Die beiden Sphären
sind nicht getrennt, und offenbar ist es auch hier der Begriff der
Kawwana, der Gebot und Gebet verbindet.
Gegenüber dem Gottesdienst im Tempel, der im wesentlichen Opfer-
dienst ist, bezeichnet der Talmud das Gebet als „Gottesdienst im
Herzen" (Ta'anith 2 a). Beide Formen des Gottesdienstes, die der
äußeren Handlung und die der inneren Konzentration, sind also zwei
Seiten derselben Sache. Es ist daher nur logisch, daß schon Isaak
selber in einem uns erhaltenen längeren Stück über das „Geheimnis
des Opfers" das Ritual der Darbringung des Emporopfers, Ola, in
seinen verschiedenen Stadien im Sinne solcher mystischen Auffassung
erklärt195. Im Opfer bringt der Mensch sich selber dar; alles andere
ist nur symbolische Verkleidung. Genau so lesen wir in einem alten
Stück über das Gebet als solchen Opferdienst: „Seit der Zerstörung
191
Die Verbindung der Begriffe Hokhma und Mahschabha ist hier dieselbe wie in
dem in Anm. 192 angeführten Zitat aus Ezra, das also wohl Isaaks Anschauungen
widerspiegelt.
i»s Vgl bei Sahula, Bl. 23b, c. Wir haben in verschiedenen Handschriften speku-
lative und sehr interessante Ausarbeitungen dieses Stückes durch Azriel und Ezra,
vgl. Hs. Vat. 211, Bl. 8 b - 1 2 a .
des Tempels ist Israel nur der große Name [Gottes] geblieben. Und
die Gerechten und die Chassidim und Männer der Tat ziehen sich in
die Einsamkeit zurück und schüren das Feuer in den Tiefen der Brand-
stätte des Altars in ihrem eigenen Herzen; und dann vereinigen sich
aus dem reinen Denken [der Meditation] heraus alle Sephiroth und
verbinden sich miteinander, bis sie zum Quell der unendlich erhabenen
Flamme hinangezogen werden19®". Das letztere Bild scheint auf
Quellen des 'Ijjun-Kreises hinzuweisen, wo auch sonst vom Quell
der unendlich erhabenen Flamme die Rede ist, und der ganze Passus
könnte wohl aus einer provençalischen Schrift stammen. Daß diese
kontemplative Haltung bei Isaak mit asketischer Einstellung ver-
bunden ist, erfahren wir deutlich aus seinem Kommentar zu Jesira
I, 6. Er spricht dort in positiver Wertung von dem, „der seine [an-
deren] Eigenschaften aufgibt [wörtlich: läßt] und sich nur allein mit
dem Gedanken beschäftigt und alles im Gedanken verbindet und den
Gedanken erhöht und den Körper erniedrigt, um so seine Seele zum
Übergewicht zu bringen". In diesem Sinne spricht seine Schüler Ezra
davon, daß „wo die Kraft der Seele, die ihrem Schöpfer [in der De-
bhequth] angeschlossen ist, zunimmt, die Sinne, die nach den Ver-
gnügungen der niederen Welt dürsten, hinfällig werden197". An dieser
Stelle verbindet sich das asketische Moment mit dem ekstatischen.
Steht dies Zitat doch in einer Erklärung des Essens und Trinkens der
Ältesten Israels vor Gott (Ex. 24 n), das der Midrasch dahin erklärt,
sie hätten „ihre Augen vom Glanz der Schekhina genährt". Dies Essen
war also ein höchster geistiger Vorgang, bei dem sie auf alles Körper-
liche Verzicht leisten konnten und auch mußten.
Dem Rang entsprechend, den der Mensch sich in seinem Anschluß
an die göttlichen Middoth im leiblichen Leben erworben hat, wird bei
Isaak auch sein Rang in der eschatologischen Hierarchie nach der
Auferstehung, an deren körperlichem Charakter er festhält, bestimmt.
Sein Neffe erklärt unter Berufung auf ihn, was es mit der Rede vom
Einschluß der Gerechten in den „Bund des Lebens" auf sich habe.
„Jene, die in ihrem Leben sich so geführt haben, daß sie die Gebote
zu halten und in den Wegen Israels zu wandeln suchten", heißen bei
ihm (im Sinne von Jes. 45 25) Same Israels, „sogar wenn sie während
ihres Lebens nicht genügende Vollkommenheit erlangt haben, um zu
jenem hohen Rang aufzusteigen. Denn niemand kann zu diesem Rang
aufsteigen, bis er nicht aller sieben Middoth würdig geworden ist,
1M
Vgl. den Text der Stelle in M. G. W. J. Bd. 78 (1934), S. 506. Schon Meir ben
Gabbai hat sie in 'Abhodath ha-Qodesch II, 6 in seinen Ausführungen über Debhequth
herangezogen.
187
Vgl. die in Anm. 191 angeführte Stelle aus Recanati, sowie Liqqufe Schikhha
Bl. 4a.
die .Bund ¿es Lebens' heißen. Und dies ist nur möglich, wenn er eine
Midda erlangt hat, an die er sich angeschlossen und in deren Fülle er
gestanden hat [andere Lesart: sich an sie anzuschließen und (indem
er ihr nachlebt) den Willen seines Schöpfers zu tun], und dort wird
seine Seele eingebunden, wenn sie aus dem Körper kommt, bis auch
ihre Ablösung kommt und sie zu ihrer Ursache zurückkehrt . . . Und
selbst, wer in der Läuterung seiner sämtlichen sieben Middoth, sei es
einiger, sei es der meisten von ihnen bestanden hat, wenn er nicht alle
oder fast alle [in seinem Leben] bewährt hat, wendet er ihre Middam[ ?].
Von ihm heißt es : denn siebenmal fällt der Gerechte und steht wieder
auf 1 ", und wenn Gott ihn auferstehen läßt, wird er ihre Wege voll-
ständig durchlaufen. Dann wird er in jenem Rang [dem Bund des
Lebens] von Stufe zu Stufe sich bis ins Unendliche erheben". Gerechte
und Mittelmäßige werden nach der Auferstehung einen weiteren Fort-
schritt ihrer seelischen und moralischen Vervollkommnung durch-
machen, der sie über alles hinausführen wird, was sie in ihrem Leben
erlangt haben, und in diesem Anschluß an die sieben göttlichen Mid-
doth werden alle in stetiger Weise der Prophetie teilhaftig werden.
Aus einem kurzen Hinweis bei Sahula (Bl. 34 a) läßt sich entnehmen,
daß Isaak sich auch an anderen Stellen über Gegenstände der Escha-
tologie geäußert hat, wobei vielleicht auch auf die Vorbereitung der
Erlösung durch die Reinigung der Seelen in der Seelenwanderung
Bezug genommen wurde. In den erhaltenen Stücken Isaaks findet
sich keine klare Äußerung über diesen Gegenstand, wenn er auch
einmal einen einschlägigen Satz aus Bahir § 105 zitiert. Worauf sich
das Zeugnis Isaak von Akkos bezieht, er habe eine verborgene An-
deutung auf den Unterschied zwischen Seelenwanderung, Gilgul, und
Seelenschwängerung, 'Ibbur, als zwei verschiedene Dinge in seinem
Jesira-Kommentar angebracht, vermag ich nicht zu sagen200.
Nach all diesem ist klar, daß Isaak der Blinde schon ein vollstän-
diges System kabbalistischer Symbolik teils traditionell überkommen,
teils selber ausgearbeitet hatte und daß er diesen Symbolismus auf
die verschiedensten biblischen und rabbinischen Gegenstände, auf
198 Der Text ist hier offenbar korrupt. Ich zitiere nach dem Stück bei Isaak von
Akko, Hs. München 17, Bl. 148b—149a. Der Text ließe sich auch als Andeutung auf
die Seelenwanderung verstehen: die Seele muß nach dem Aufstieg noch einmal ins
Leben zurückkehren und in die Läuterung, Masreph, durch alle sieben Middoth ein-
treten, falls der Mensch sie nicht zur Richtschnur seines moralischen Verhaltens im
irdischen Leben genommen hat. So dürfte es der etwas anders lautende Text der Hs.
Enelow Mem. Coll. im J . T. S., New York, Bl. 15a verstanden haben.
199 Im Hebräischen ein Wortspiel: „ E r steht wieder auf" ist dasselbe Verbum wie
„er bewährt". E r muß jedenfalls alle sieben Middoth als eigene und als göttliche virtutes
durchlaufen, in diesem Leben oder nach der Auferstehung.
200 Vgl Jsaaks Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 100a.
die ich hier nur zum Teil eingegangen bin, anwandte201. In seinem
Brief nach Gerona, den wir besitzen, gibt er, offenbar in Beantwortung
einer Anfrage, eine kurze Erklärung des letzten Psalms, hinter dessen
zehnfacher Wiederholung der Aufforderung zum Preis Gottes er eine
Andeutung auf die zehn Sephiroth von oben nach unten findet, wobei
er ebenfalls erst mit der Hokhma beginnt und die erste Sephira mit
Schweigen übergeht. Seine Andeutungen202 unterscheiden sich kaum
von seinen Anweisungen für mystische Kawwanoth in den Gebeten,
wo er ebenfalls mit ganz kurzen Worten etwa den Prozeß beschreibt,
in dem der Betende beim Bekenntnis der göttlichen Einheit, dem
Schma' Israel, die Welt der Sephiroth von unten bis nach oben durch-
läuft und dann, in der Meditation über das Wort 'ehad, ,eins', den
Kreislauf seiner Kawwana von oben nach unten vollendet und be-
schließt203. Isaak benutzt schon, in dem erwähnten Brief, den Aus-
druck „die Pflanzungen beschädigen (oder: abhauen)", den der Talmud
für die Häresie des Elischa ben Abuja gebraucht, für jede Haltung,
die die Einheit der zehn Sephiroth in Gott nicht wahrt und dadurch
den reinen Gottesglauben gefährdet. Aus seinem Kreis ist er dann
ins Erbe aller Kabbalisten übergegangen. Auch andere Bestandteile
der kabbalistischen technischen Sprache dürften, über das Nachweis-
bare hinaus, auf ihn zurückgehen, besonders in den Schriften der
Kabbalisten von Gerona. Für unsere Darlegungen genügt es, daß wir
den Nachweis erbringen konnten, daß hier, in Isaaks Fragmenten,
eine spezifische und durchaus selbständige Form der Kabbala sich
in der Provence lokalisieren und begreifen läßt, die von der Welt des
Bahir, wie wir sie kennengelemt haben, ganz wesentlich verschieden
ist. Der Same des Bahir ist, als er in die Provence fiel, in eigenartiger
Weise aufgegangen.
209 Vgl. die Zitate in seinem Namen bei Sahula, Bl. 32d; Recanati zu Deut. 64,
ed. 1645, Bl. 194d; Hs. Christ Church College 198, Bl. 16a.
Scholem, Kabbala 18
204
M adda e ha-Jahaduth II, S. 245. Schon Steinschneider hat — Hebräische Bi-
bliographie Bd. 18 (1877), S. 20 — auf diese Stelle hingewiesen.
205
Aus einigen Zitaten bei Moses von Burgos und Isaak von Akko ließe sich frei-
lich auch eventuell schließen, daß dieses „Buch des Rab Chammai" eine erweiterte
Rezension des unten besprochenen Sepher ha-'Ijjun war, jedenfalls zum Teil dieselben
Dinge enthielt. Das Zitat, das ich in Tarbiz V, S. 181 gedruckt habe, steht in der Tat
in letzterem Buch. Ein anderes bei Moses von Burgos, Tarbiz V, S. 54, wird auch bei
Isaak von Akko angeführt, Hs. München 17, Bl. 26a, wo alles außer einer Zeile auch
im Sepher 'Ijjun steht. Aber gerade diese Zeile muß dem Zusammenhang nach dort
gestanden haben, da der Text dort sonst unvollständig ist. Hiernach ist meine Be-
merkung in Tarbiz IV, S. 69, zu berichtigen. Moses von Burgos, Tarbiz V, S. 187,
zitiert aus Chammais Buch etwas über die 32 Wege, von denen nur 30 erfaßbar seien,
worüber in unseren Texten des Buches *Ijjun überhaupt nichts vorkommt.
tion zu tun haben, läßt sich nicht mehr ausmachen206. In dem wich-
tigsten uns erhaltenen Text tritt Chammai als ein spekulativer Autor
des 11. oder 12. Jahrhunderts auf, der sich schon auf pseudepigra-
phisches kabbalistisches Material im Namen des Haj Gaon (gest.
1040) bezieht207. Außer einem „Buch der Einheit", Sepher ha-Jihud,
aus dem wir nur Zitate haben208, besitzen wir ein Schriftchen unter
204
Reuchlin nennt den Autor in der T a t Hamai ben Hanina, vgl. de Arte Cabba-
listica, Hagenau 1517, Bl. 14a. Er muß das in seiner Vorlage gefunden haben. Auch
zitieren spätere Quellen ein „Großes Buch 'Ijjun" des R. Chamma bar Chanina, so
David Halewi (um 1500) im Sepher ha-Malkhuth, das in Ma'or wa-Schemesch, Livorno
1839, Bl. 24a gedruckt ist. Es gibt alte Bahir-Zitate, wo s t a t t Rachmai R. Chamai
steht, so z. B. im Zitat von § 74 bei Todros Abulafia, Osar ha-Kabhod, Hs. München
103. Schon Zunz, Die Gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 2. Aufl., S. 420 h a t auf
eine solche Stelle bei diesem Autor hingewiesen. Auch in der Wilnaer Edition des Bahir
und der ihr folgenden von R. Margalioth, Jerusalem 1951, steht an einer Stelle, § 29
der Wilnaer Einteilung, der Name des R. Chamma. Ahron Marcus h a t in seinem
anonym erschienenen Kommentar Qesset ha-Sopher zu den „Responsen vom Himmel"
des Jakob aus Marvège, Krakau 1895, S. 19, behauptet, Chammai sei kein Name,
sondern bedeute „mein Schwiegervater" und bezeichne den Abraham ben Isaak aus
Narbonne, den Schwiegervater des Rabed, als Autor. Diese Erklärung kann nicht
emst genommen werden. In Bearbeitungen des Buches 'Ijjun, wie sie in einer Reihe
von Hss. vorliegen, so schon in einer in Florenz befindlichen aus dem Jahre 1328,
wird sogar zwischen diesem Chammai und einem „ R a b Chammai dem Großen", seinem
Lehrer, unterschieden. Spätere Werke führen von ihm sogar ein „Buch über das Innere"
der Wirklichkeit an, Sepher ha-Penimijuth, vgl. Kirjath Sepher IV (1930), S. 275.
207
Das dem H a j Gaon in der T a t schon außerhalb des eigentlichen Kabbalisten-
kreises Dinge untergeschoben wurden, scheint durch ein Zitat erwiesen zu sein, das
sich gerade bei dem Kabbalistengegner Meir ben Simon aus Narbonne findet. In seinem
Werk Mühemet Mifwa führt er (Hs. Parma, de Rossi 155, Bl. 243a) aus H a j an, man
müsse beim Schma'-Gebet sich mit dem Kopf nach allen vier Himmelsrichtungen be-
wegen, „ u m damit auszusagen, daß Er in allem sei und über alles herrsche und Vor-
sehung übe". Hierzu macht vielleicht nicht H a j selber, sondern Meir ben Simon
die ganz kabbalistisch klingende Bemerkung: „Und ich habe von meinem Vater emp-
fangen, daß man sein Herz auf jede der sechs Richtungen, Qeçawoth des Raumes [nach
der Terminologie des Buches Jesira!] bis ins End- und Grenzenlose hin, 'ad 'en Soph
we-Tikhla, richten soll". Mein verstorbener Kollege S. Assaf, ein Spezialist f ü r die
Schriften des H a j Gaon, erklärte mir beide Teile dieser Äußerung als nach Stil und
Denkart im Munde H a j s undenkbar, und daher unecht. Jedenfalls konnte also ein
Mann wie Meir ben Simon solche Äußerung schon als echt annehmen. Wenn er hier,
ohne es zu ahnen, eine unerkannte, frühe kabbalistische Fälschung auf H a j s Namen
benutzte, wäre auch durchaus denkbar, daß der zweite Teil mit seinem ganz kabba-
listischen Kawwana-Begriff, der doch kaum dem Vater des Meir ben Simon zugetraut
werden könnte, schon einen Teil eines solchen Pseudo-Haj, wahrscheinlich eines Re-
sponsums, bildete. Der Vater H a j s war der ebenso berühmte Scherira Gaon.
208
Vgl. Jellinek, Auswahl kabbalistischer Mystik, Leipzig 1853, S. 9 des deutschen
Teils. Jellinek konnte nicht wissen, daß die von ihm angeführten Kabbalisten ihre
Zitate aus David Messer Leon haben, der in seinem Magen David, Hs. Halberstam 465
18*
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276 Die ersten Kabbalisten in der Provence
(jetzt im Jews' College, London), Bl. 7b, um 1500 bezeugt, dieses Buch ,,vor kurzer
Zeit gesehen" zu haben. Bl. 9a sagt er, es sei eines der merkwürdigsten Bücher dieser
Disziplin, aber nur zum kleineren Teil erhalten.
209
Jellineks Edition, Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 9—10, enthält nur gerade
den Anfang. Die Fortsetzung S. 11 und 12 gehört einem anderen Text der gleichen
Gruppe an. Ein vollständiger Text, aber z. T. mit schlechten Lesarten, ist von Chas-
sida in ha-Segulla, Heft 27—28, mimeographiert veröffentlicht worden. Aus Hss.
läßt sich ein relativ guter Text herstellen. Ich benutzte vor allem Hs. München 408.
Auf die durch die im Folgenden gegebenen Analysen gegenstandslos gewordenen Be-
hauptungen bei früheren Gelehrten wie Ehrenpreis, Emanationslehre in der Kabbala,
S. 44, brauche ich nicht einzugehen.
Einheit wie das Augenlicht, das aus der Schwärze des Auges hervor-
geht210, und alle sind aus einander emaniert wie Duft aus Duft und
Licht aus Licht, denn das eine emaniert aus dem anderen und die
Kraft des Emanierenden ist im Emanierten, ohne daß der Emanie-
rende Einbuße erleidet". Vor aller Schöpfung ruhte er transzendent
in sich selber, in der Kraft seiner eigenen Wirklichkeit verborgen.
Am Anfang der Schöpfung aber „wurde sein Kabhod offenbar, und die
Erklärung seiner Erkenntnis besteht in fünf Dingen". Diese fünf
Dinge, die zur Gnosis führen, nennt er zwar, erklärt sie aber nicht.
Sie gehören offensichtlich in den Bereich der Sprachmystik. Sie
heißen Tiqqun, Ma'amar, Seruph, Mikhlal, Heschbon. Es scheinen
dies Verfahrensweisen zu sein, durch die die Buchstaben ihre Har-
monie erhalten {Tiqqun), zum Wort zusammentreten (Ma'amar),
permutiert werden (Seruph), in all ihren Kombinationen zusammen-
gefaßt (Mikhlal), und nach ihrem Zahlenwert berechnet werden
(Heschbon). Der Prozeß der Emanation tritt auch hier mit dem Sprach-
prozeß zusammen, ohne daß die Einzelheiten deutlich werden. Diese
fünf Vorgänge sind, wie der Autor in einem merkwürdigen Bilde sagt,
„in den Verzweigungen der Wurzel der Bewegung [offenbar der Sprach-
bewegung] vereinigt, die sich in der Wurzel der dreizehn Gegensatz-
paare verstärkt", und aus einem dünnen Hauch, dem Laut des Aleph,
sich zum Gottesnamen entfaltet, wenn ich den schwierigen Text recht
verstehe. Diese dreizehn Paare von Gegensätzen sind zugleich die
dreizehn Middoth, die als Wirkungsweisen Gottes, nach Ex. 34 6,
in der jüdischen Theologie eine große Rolle spielen. Gott wirkt in
diesen Middoth sowohl positiv wie negativ, und wir spüren hier einen
Zusammenhang mit der kabbalistischen Auffassung des Begriffs der
Midda, wie wir sie zuletzt bei Isaak kennengelernt haben. Aber hier
sind es nicht die Sephiroth, sondern Kräfte oder Wirkungsweisen, die
in der ersten Sephira beschlossen sind und aus ihr hervorbrechen. In
jenen fünf Weisen der Sprachbewegung kommt nun alles zustande,
„wie ein Quell für die Flamme und eine Flamme für den Quell, der
sich bis zu dem unergründlichen und unendlichen Lichte" hinzieht,
„das im Übermaß der verborgenen Finsternis versteckt ist. Und die Er-
kenntnis der Einheit und ihres Prinzips bezieht sich auf diese Finsternis ' '.
210 Dies entspricht der galenischen Anschauung, daß das Licht aus dem Gehirn
durch das Auge nach außen dringt. Salomo Gabirol vergleicht in der „Königskrone"
betitelten Dichtung die Schöpfung mit diesem Vorgang: „ E r zog den Ausfluß des Seins
aus dem Nichts, wie aus dem Auge dringt der Strahl des Lichts", worauf schon Jellinek
hingewiesen hat, vgl. Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 9, sowie Beiträge zur Ge-
schichte der Kabbala I, S. 36—37; II S. 29. Der Ausdruck Meschekh im Sinne von
Emanation ist auch von Isaak dem Blinden und Ascher ben David übernommen
worden. David Kaufmann, Geschichte der Atributenlehre (1877), S. 113, hat das Wort
richtig erklärt (gegen seine eigene Hypothese auf S. 1).
Schrift: „Gott verbirgt seinen Namen den Eingeweihten im Namen Ehjeh und im
Namen J H W H , und dies ist der eigentliche Name "ΊΠΚ. Die Namen aber, in denen
Konsonanten verdoppelt vorkommen, sind nur für die Menge gegeben". Cordovero
lehnt diese kühne Ansicht entrüstet ab. Eine mystische Begründung für diesen Gottes-
namen hat ein dem gleichen Kreis angehöriges Stück der Handschrift München 408,
Bl. 124b—125b.
2 1 · Vgl. Hs. British Museum, Margoliouth 752, Bl. 93 b (direkt hinter einer Notiz
über astrologische Magie, in der auf das Jahr 988 exemplifiziert wird). Hier wird der
Name ΧΠΉΙΝ geschrieben, im Buch * I j j u n und den anderen Schriften dieser Gruppe
aber stets XIYHN1X. (So auch als Name des „von jeher Wirklichen" in einem Zitat
aus dem Buch Bittahon, in Kirjath Sepher I, S. 167.
2 " Dies Gebet ist ζ. B . in der Hs. British Museum 737, Bl. 298bff„ im Sepher ka-
dieser Richtung erkannt, aus deren bunter Reihe ihm freilich nur drei Texte bekannt
waren, vgl. Auswahl kabbalistischer Mystik, S. 11—12 des deutschen Teils.
Moses, unseren Lehrer und er hat es offenbart, damit die Generationen daran weise
werden", wie es in der Überschrift heißt. Die Schrift ist mehrfach mit sehr korruptem
Text, zuerst Amsterdam 1651, gedruckt worden, läßt sich aber aus guten Hand-
schriften wie München 341, Mussajof 210 weitgehend restituieren. Ich lege bei Zitaten
einen solchen verbesserten T e x t zugrunde. Einige Paragraphen sind offensichtlich
bewußt unverständlich formuliert. Moses von Burgos las in einem anderen Text des
gleichen Titels Ausführungen übei; die personifizierten Emanationen unterhalb der
zehnten Sephira Malkhuth, die er ebenfalls mit der Kabbala des angeblichen Chammai
zusammenbringt, vgl. Maddae ha-Jahaduth I I , S. 289. Törichtes über dies Buch als
eine „Satyre auf die Lehren der Kabbalisten" bei M. H. Landauer, Literaturblatt des
Orients V I (1845), Sp. 228.
2 2 1 Dieser Midrasch hat aber nichts mit einem Schriftwerk im Sinne dieser Gattung
zu tun. Ein korrupter T e x t der Abhandlung ist im Kommentar des Moses Botarel zu
Jesira I I , 3 gedruckt, Mantua 1562, Bl. 6 2 a — 6 3 b . Hss. wie München 215 haben einen
ausgezeichneten Text.
2 2 5 Das Gebet des R . Nechunja ist am besten am Eingang von Mordechai Eljaschow,
Haqdamot u-Sche'arim, Pjotrkow 1909, gedruckt. E s ist eines der verbreitetsten Doku-
mente der Kabbala. Der Betende preist Gott aus jeder Sephira heraus, die er in schwung-
vollem Stil charakterisiert. Das Gebet des Rabban Gamliel ist in der Hs. Vat. 185,
Bl. 185—188, sowie der Hs. Jellinek 60 in Wien (jetzt im Warschauer Jüd. Hist. In-
stitut) erhalten. Das bei Jellinek als Fortsetzung des Buches ' I j j u n gedruckte Stück,
Auswahl S. 10—12, gehört diesem Gebet an.
2 2 8 Ein Fragment daraus ist in meinem (hebr.) Katalog der Kabbai. Hss. der Uni-
Das zentrale Thema ist überall die Beschreibung der oberen Welt.
Dabei hat die elaborate Lichtmystik ein großes Ubergewicht, daneben
tritt wie bei Isaak die Sprachmystik und vor allem ein Interesse an
der theoretischen Spekulation über die Namen Gottes. Die mystischen
Namen, die in der Merkaba-Gnosis als technische Hilfsmittel zur
Konzentration und zur Sicherung des Wegs der Seele bei ihrem Auf-
stieg dienten, werden hier zu Repositorien spekulativer Mysterien,
die die Autoren in ihnen zu entdecken suchen. Auch hier sind die
mystischen Lichter und Potenzen selber Namen. In diesem Sinn sagt
Jakob Kohen, dem viele dieser Schriften bekannt gewesen sein müssen,
daß „die Namen in der oberen Welt selber Substanz sind und gött-
liche Potenzen, und ihre Substanz ist die des Lichtes des Lebens, aber
sogar die Namen der irdischen Menschen erweisen sich, wenn man
es mit ihnen genau nimmt, als mit den Substanzen identisch"237.
Schon in einer Merkaba-Schrift wie dem Alphabet des Rabbi Akiba
werden die mystischen Namen als Feuersäulen angesehen, die vor
Gottes Thron lodern, und diese Anschauung, die die Lichter und die
Namen identifiziert, wird vor allem aus der Erbschaft der ' I j j u n -
Gruppe Gemeinbesitz der spanischen Kabbala.
Sind diese Schriften älter als die der Schule von Gerona, über die
im nächsten Kapitel gehandelt werden wird, oder mit ihr gleichzeitig ?
Eine Entscheidung dieser Frage hängt von der Untersuchung des
Verhältnisses der '///«»-Schriften zu denen des Azriel ab, welches
nämlich die einzigen sind, die in dieser Schule überhaupt deutliche
von provençalischen Kabbalisten dann umgearbeitet, und mehrere solcher Erklärungen
sind ausführlich bei Moses von Burgos zitiert, dessen Schrift anonym in der Sammlung
Liqqutim me-Rabh Haj Ga'on, Warschau 1798, Bl. la—12b gedruckt ist. Ich habe
diesen Text in Tarbiz IV (1933), S. 54—61, ànalysiert und dort V, S. 61—58, die im
Druck fehlenden Einleitung und Schluß ediert. Eine dieser Quellen enthielt eine Er-
klärung dieses magischen Namens „von Seiten der Kawwana im Gebet". Ihr Autor
beschreibt den Aufstieg des Gebets durch die dreizehn Tore in den sieben Himmeln,
die Schlüssel, die diese Tore öffnen und die Engel, die an ihnen stehen und die Kaw-
wana des wahren Beters. Dieser Teil hat schon ganz die Färbung, die die Kawwana-
Lehre bei Isaak dem Blinden angenommen hat, wenn auch in den uns erhaltenen
Zitaten nur in geringem Maße von der Sephiroth-Lehre Gebrauch gemacht wird. Ich
halte für sehr wahrscheinlich, daß diese Quelle ebenfalls aus der Provence stammt,
wo sich die Elemente der chassidischen Zahlenmystik mit den neuen kabbalistischen
Lehren zuerst verschmolzen. Der Autor könnte ein Mystiker gewesen sein, der mit
beiden Kreisen in Berührung stand, wie etwa jener mehrfach genannte anonyme Chassid
in Narbonne.
2S7 Vgi die lange Ausführung über das Wesen der Namen in meinem Katalog der
kabbalistischen Hss. in Jerusalem, S. 209—210. Ich wußte damals noch nicht, wie ich
seitdem durch Zitate bei Moses von Burgos beweisen konnte, daß dieser anonyme
(weitverbreitete) Kommentar zur Merkaba Ezechiels eben Jakob Kohen zum Ver-
fasser hat.
Scholen], Kabbala 19
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290 Die ersten Kabbalisten in der Provence
das Buch von den fünf Substanzen, das dem Empedokles beigelegt
wurde, verrät in seinen erhaltenen Teilen dieselbe Neigung zu einer
theosophischen Beschreibung der oberen Welt wie die 'Ijjun- Schrif-
ten239. Die Sephiroth werden in den Schriften des 'Ijjun-Kreises ver-
wandelt: jede einzelne, ja auch jeder der 32 Wege der Sophia, wird
eine selbständige Welt, in die sich der Theosoph versenkt240. Ja, sogar
die mystische Schreibung des Gottesnamens mit 24 Punkten, die
Pseudo-Haj hier überliefert und die wohl wirklich aus orientalischen
Quellen jüdischer Magie stammt241, wird so ausgedeutet. Die Schrei-
bung imitiert offenbar die magischen Alphabete und Charaktere, wie
sie in Amuletten häufig sind und in der jüdischen Magie zum Beispiel
in alten „Engelalphabeten" vorkommen242. Sie sieht folgendermaßen
aus:
239
Vgl. die Stücke bei D. Kaufmann, Studien über Salomon ibn Gabirol, Budapest
1899, S. 16—51. Nach M. Asin Palacios, Obras Escogidas Bd. I, Madrid 1946, S. 57,
stellen diese Fragmente schon eine abgeschwächte, späte und indirekte Form des ur-
sprünglichen Pseudo-empedokleischen Systems des Ibn Masarra dar, das er dort aus-
führlich analysiert hat. Das würde also zwingen, diesen Text eher ins 12. als ins 10. J h .
anzusetzen, so daß wir damit nahe an die kabbalistischen Anfänge kommen, wo die
eschatologischen Stücke der '///««-Gruppe über die Seligkeit der Seelen in der oberen
Welt auffällig mit diesem Pseudo-Empedokles koinzidieren.
240
Der angebliche Qeschischa schreibt an seinen Schüler Jehuda, der aus Corbeil
gekommen ist, über die zehn Emanationen (ohne das Wort Sephiroth zu benutzen),
und schließt: „ D a s ist der Inbegriff der zehn .Kronen', die die Häupter der Akademien
tradiert erhielten, aber die Details der Pfade sind mehr als je aufgezählt werden
könnten, und jeder einzelne von den Pfaden ist eine besondere Welt für sich selbst".
Der oben erwähnte Pseudo-Jequthiel belehrt seinen angeblichen Schüler darüber,
daß jede einzelne Sephira eine neue Welt für sich selbst darstelle, wenn auch alle
miteinander verschlungen und aneinander hängend seien. Aus diesen Quellen haben
dann Moses von Burgos, Liqqutim, Bl. 7 a, Todros Abulafia, 'Osar ha-Kabhod (1879),
Bl. 5c und der Autor der Tiqqune Zohar geschöpft, der in einem im Hauptteil des
Zohar I, 24b eingeschalteten Stück dieselbe Anschauung vorträgt, nach der jede Midda
eine besondere Welt heißt. Vgl. auch Ma'arekheth ha-'Elohuth, Mantua 1558, Bl. 89 a,
der die These in derselben Formulierung enthält wie die Tiqqune Zohar.
241
Angeblich soll diese Schreibung von einem Chanina oder Chanunja stammen
(die Hss. variieren), der lange vor H a j Gaon in Jerusalem gelebt und die Geheimnisse
der Tora empfangen habe, mequbbal be-Sithre Tora. Auf diese Schreibung wird übrigens
in dem anderen Responsum H a j s über die zehn Sephiroth Bezug genommen, vgl.
Jellinek, Beiträge II, S. 13, der den Passus falsch erklärt hat. Beide Responsen stammen
aus demselben Kabbalistenkreis.
242
Am ältesten ist das in vielen Hss. erhaltene „Alphabet des Metatron, des himm-
lischen Schreibers", das mit dem babylonischen Merkaba-Material zu den deutschen
Chassidim gelangt ist und zu dem wir eine längere Erklärung, vielleicht aus der Feder
des Eleazar aus Worms besitzen, vgl. z. B. Hs. British Museum 752, Bl. 81b—84a.
Viele Hss. jüdischer Magie enthalten solche „Alphabete der Engel", in deren Formen
teilweise wohl Elemente der althebräischen Schrift stilisiert fortleben. Ich habe dazu
8
cf
reiches Material aus Hss. gesammelt. Bei den Arabern erhielten sich solche Alphabete
zum Teil durch die Tradition der Sabier, vgl. Ancient Alphabets and Hieroglyphic
Characters, ed. Joseph Hammer, London 1806, das aus den angeblichen „Büchern
der Nabatäer" des Ibn Wahschijja stammt. Vgl. übrigens Steinschneiders Bemer-
kung, Zur Pseudepigraphischen Literatur, Berlin 1862, S. 30, der diese Schreibung
bei Pseudo-Haj im Auge hat.
*** Diese Folgerung ist freilich erst 60 Jahre später bei Joseph Gikatilla belegt,
vgl. mein Buch, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 61—63.
Bessere Lesart (ζ. B. Hs. Jerusalem 8° 404, Bl. 34b: „bis der Wille usw. kam".
Die Phrase entspricht dem voluntas factoris primi in Gabirols Fons Vitae III, 32. Die
von den Muttaziliten stammende Bezeichnung Gottes als factor primus, Po'el
qadmon, findet sich noch mehrfach im *///««-Kreis, wo aber die Willensmetaphysik
keine bedeutende Rolle spielt. Manche dieser Schriften, wie z. B. die „Quelle der
Weisheit", erwähnen den Willen überhaupt nicht und kennen, wie Isaak der Blinde,
nur die Maifschabha. Die Terminologie muß also nicht gerade durch Gabirol vermittelt
sein.
19*
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292 Die ersten Kabbalisten in der Provence
Namen, und damit in allen Elementen der Sprache, bleibt das Aleph
der innerste Grund, der als das „ausgleichende Zünglein an der Waage"
(nach Jesira II, 1) im Grunde ein Indifferenzpunkt ist. Aus dem „Ur-
Prinzip", das unentstanden in seiner Bewegung verharrt, entspringen
die Lichter der Flammen, die sich dann von ihrem Ursprung trennen
und in ihrer Differenzierung immer mehr entfernen, und die im Grunde
jene dreizehn Middoth, die in Gegensätzen wirken, sind. In einem
kühnen Symbol, das von der Schreibung des hebräischen Buchstaben
Jod ausgebt \ wird aus den Schwingen des Jod, die sich aus seinem
Ursprung entfalten, also aus der Bewegung des Ur-Jod, die Sprach-
welt geboren. Es wird als „der sprudelnde Quell" der Sprachbewegung
dargestellt, die, nachdem sie sich ins Unendliche differenziert und
verzweigt hat, wieder in ihr Zentrum und zu ihrem Ursprung zurück-
kehrt. Wer sich an die Wurzel dieser Sprachbewegung zu versetzen
imstande ist, der umfaßt alle Sprache und Wesensäußerung und ist
der Meister aller wunderbaren Wirkungen, die im besten magischen
Stil hier geschildert werden. Dabei steht der Mensch aber „in voll-
endeter Klarheit und nüchterner Besinnung, Jischubh ha-Da'ath"
am Ende seines Weges da und „wohnt im höchsten Denken, das
[seinerseits] im Ur-Äther wohnt, über dem es keine höhere Stufe gibt".
Hier haben wir also den Gedanken, daß aus der Auflösung des my-
stischen Denkens in die Mahschabha Gottes hinein, in der göttliches
Wissen erlangt wird, nun in umgekehrter Bewegung die Beharrung
des besonnenen, sich also keineswegs verlierenden Meisters der Namen
wird, der sein Denken an seine Wurzel führt und dort einpflanzt.
Bei all dem wird der Ur-Äther als die „indifferente Identität" ge-
schildert, in der sich alle Dinge verwandeln und Gegensätze werden.
Er wird offenbar als das Substrat der Welt betrachtet, in dem alle
Kräfte sich „runden"249. Wie bei den alten Naturphilosophen wird
er als geistiges Feuer gedacht, in welchem alles verschmolzen wird
— der Autor stellt die Einheitsfunktion des Ur-Äthers im Bild der
Metallausschmelzung dar. Die Kräfte des Äthers erwärmen sich und
alle werden in diesen wärmenden Kreisen zur Einheit zusammen-
geschmolzen. Aus dem Ur-Äther zieht sich, wie die Flammen aus der
Kohle, die Kette der Wege, von denen das Buch Jesira spricht. Es
steigen aus ihm Gestaltungen auf, die zyklisch in ihren Urgrund
zurückkehren und in Symbolen beschrieben werden, die offenbar mit
dem Anfang von Isaaks des Blinden Jesira-Kommentar zusammen-
hängen 250 . Vor allem aber brechen hintereinander — in anderen
249
Hierher stammt das Bild des Ur-Äthers als eines Ringes am Anfang des Zohar
I, 16a.
260
Das Bild vom Knäuel und dessen Fäden ist Isaak und der ,, Quelle der Weisheit"
gemeinsam, ebenso die Erklärung des Unterschiedes von Nathibh und Derehh am
Anfang des Je^ira-Kommentars.
und damit zweifellos von der Hokhma, die von diesem Buchstaben symbolisiert wird.
Im Zusammenhang der „Quelle der Weisheit" aber ist damit die Verwandlung der
vertikalen geraden Linie zur gebogenen Kreisform gemeint, in der alle Dinge auch
wieder zu ihrem Ursprung zurückkehren.
zurück, die für ihn offenbar die Einheit der beiden vorgenannten
Quellen ist und „Licht der Quelle" heißt, Or ha-Mabbua'. Diese
Quelle heißt auch „das Licht, das zu dunkel ist, um zu leuchten" —
wiederum ein Bild, das die hebräische Vorlage für einen an der er-
wähnten Eingangsstelle des Zohar benutzten Terminus abgibt253.
Dieses Licht heißt zwar Finsternis, aber nicht, weil es wirklich dunkel
sei, sondern weil keine Kreatur, weder Engel noch Propheten, es er-
tragen oder erfassen können. Es ist die Lichtfülle, die das Auge blendet.
Daß diese Bestimmungen des „finsteren Lichtes" mit denen des Nichts
bei den Kabbalisten übereinstimmen, die wir schon kennengelernt
haben, ist evident. Dabei bleibt der offenbare Widerspruch zur Se-
phiroth-Lehre bestehen, denn was dort von der höchsten Sephira Kether
als dem Nichts ausgesagt wird, bezieht sich ja hier auf die Quelle, die
aus der Ur-Finsternis kommt, die der Äther ist. Das paßt zu dem offen-
bar von dieser Schrift beeinflußten Anfang des Zohar I, 15 a, aber
nicht zu den sonst üblichen Erklärungen der Sephiroth. In unserem
Text tritt der Autor dann noch in eine Erklärung des wunderbaren
Lichtes ein, das er überraschenderweise von dem „sich entziehenden"
Licht, 'Or mith'allem, jener „blendenden Finsternis" trennt. In anderen
Texten dieses Kreises sind beide identisch. Dies Licht wird als der
Spiegel, der alle Formen oder Farben aufnimmt, aber selber keine
hat, geschildert — ein Gleichnis der Hyle, das dann in Stücken, die
die Bilder dieses Kreises für die Sephiroth-Lehre verwenden, zur
Charakteristik einer ganz im Sinne der Lehre Gabirols als Ur-Hyle
aufgefaßten ersten Sephira angeführt wird254. Dabei zeigt sich nun,
daß die in dieser Schrift vorliegende Spekulation auf einer Auflösung
der zugrundeliegenden philosophischen Konzeption beruht. In dieser
Konzeption war natürlich die Hyle selber als das Substrat aller
Differenzierung und Empfänger aller Formen aufgefaßt, und so er-
scheint sie zum Beispiel in der Erklärung der ersten Sephira in einem
dem '/¿/«»-Kreis zugehörigen oder doch unmittelbar von ihm beein-
flußten alten Kommentar über die zehn Sephiroth. In der „Quelle
der Weisheit" dagegen sind diese Bestimmungen auseinandergerissen.
Der Spiegel, der alle Formen aufnimmt, soll das 'Or muphla sein,
nimmt aber die Unterschiede von dem über ihm stehenden „blenden-
den Licht" auf, statt daß er selber als über diesen Differentiationen
stehend gedacht würde, was dem ursprünglichen Sinn der Vorstellung
entsprechen würde. Die Bestimmungen, die eigentlich einer einzigen
Sphäre zugehören, nämlich der Hyle, sind hier auf zwei Sphären ver-
253
Im Zohar Bucina de-Qardinutha, von vielen Kabbalisten als „finsteres Licht"
erklärt, soviel wie Bucina de-Qadrinutka.
254
So im Sod ha-Sephiroth, wo diese Bestimmungen der Hyle zur Charakteristik
der als Or mith'allem bezeichneten ersten Sephira verwandt werden.
teilt. Offenbar besaß der Autor keinen klaren Begriff der von ihm
für seine Meditationen über die himmlischen Lichter benutzten philo-
sophischen Formeln.
Am Ende der Schrift werden weitere Variationen dieses selben Ur-
vorganges vorgetragen, als ob der Autor sich nicht genug tun könne
im Versuch, eine ursprüngliche Intuition in immer erneuten Ansätzen,
die sich in ihrem Detail widersprechen, klarzumachen. Hier ist dann
die erste Quelle der Finsternis mit dem Ur-Äther selber direkt identi-
fiziert. Er war ein reines Feuer, „Feuer, das Feuer verzehrt", — man
wird an die Bestimmung Jakob Böhmes von Gott als „Zentralfeuer"
erinnert — und bestand aus sechzehn Augen, die in Bewegung waren
und ineinander übergingen. Erst in weiteren Prozessen brechen, indem
sich der Ur-Äther spaltet, zwei andere Quellen aus ihm hervor, und
hier erfahren wir dann, daß die zweite dieser Quellen dem Haschmal
der Merkaba entspricht. Die Lichter dieser Quelle überfluten nun die
Welt und aus ihrer Bewegung kommt ein Ton hervor, ein Motiv, das
in allen Schriften dieses Kreises wiederkehrt. Das Aufeinandertreffen
dieser Lichter bringt gleichsam ein „Geschrei der Lichter" hervor,
von dem alle zu berichten wissen. Hier ist nun die sonst nicht ohne
weiteres erkennbare Beziehung zu der in anderen Schriften des ' I j j u n -
Kreises deutlich vorgetragenen Schöpfungstheorie der vier Ur-Ele-
mente hergestellt, von der gleich die Rede sein wird. Das Buch schließt
mit einer überraschenden Pointe aus dem Gebiet der mystischen
Gottesnamen: die erste der beiden Quellen wird mit dem Ur-Namen
"ΊΠΝ identifiziert, die zweite mit dem aus den Konsonanten des
Tetragrammatons gebildeten dreibuchstabigen Namen "ΊΠ.
Ich habe die Hauptideen dieser Schrift hier nach dem Text der
Handschriften resümiert, ohne auf die oft ganz undurchsichtigen Details
der Einzelausführungen, besonders wo sie sich mit der Buchstaben-
mystik verquicken, einzugehen. Die Widersprüche innerhalb desselben
Textes ersparen uns die Verwunderung über die Widersprüche zwischen
der Auffassung dieses Buches und der anderer Schriften, die offenbar
in der nächsten geistigen Umgebung des Autors dieselben Ansätze
in anderer Weise entwickeln. Da auf die Sephiroth als solche nie re-
kurriert wird, wird kein direkter Widerspruch zwischen den zehn
Lichtern und den, hier offenbar über ihnen stehenden, dreizehn Mid-
doth des göttlichen Waltens sichtbar. Die Lehre von den zwei Quellen
wird in anderen Texten weniger unklar und widerspruchsvoll vor-
getragen. Im „Mysterium des Wissens um die Realität" haben wir
zum Beispiel ein deutliches System von vier Ur-Potenzen, die schlecht
zur klassischen Folge der Sephiroth passen, als der vier Grundmächte
bei der Kosmogonie. Alle haben ihren Ur-Grund in einer, hier die
Stelle des Έη-soph selber vertretenden Mahschabha. Sie, und nicht
mehr irgend etwas über ihr Stehendes ist die Wirklichkeit Gottes
selber. Von der ersten Sephira des Buches der Schöpfung heißt es
hier, sie sei das Letzte, was von Gottes Existenz erkannt werden könnte,
die „in den Wurzeln der Mahschabha verhaftet" ist 265 . Aus dieser
Mahschabha emanierte der Ur-Äther, der selber das Ur-Pneuma ist.
Dieser Äther spaltete sich und es gingen aus ihm zwei Lichter hervor,
die hier und in anderen Texten 'Araphel und Haschmal heißen. Dabei
vertritt 'Araphel die Dämmerung des Dunkels im ersten Quell der
„ Quelle der Weisheit" 25e , aber auch die göttliche Allmacht und Stärke,
der Haschmal dagegen in seiner übersprudelnden Lichtfülle die zweite
dieser Quellen, aber auch die göttliche Gnade. Diese erste Triade wird
aber zu einer Tetrade, indem aus dem Ur-Pneuma ein zweites Pneuma
emaniert, das bei ihm mit der zweiten Sephira identifiziert wird.
Daß dies System der Sephiroth-Lehre in ihren rezipierten Formen
widerspricht, liegt auf der Hand. Die zwei Pneumata sind hier die
zwei ersten Sephiroth des Buches der Schöpfung, das „Pneuma Gottes"
und „Pneuma aus Pneuma" oder „Luft aus Luft". Zwischen ihnen
hätten also 'Araphel und Haschmal gar keinen Platz, die aber dennoch
irgendwie mit den Sephiroth Hessed und Din im Schema des Bahir
zusammenhängen. Jedenfalls sind das hier die vier höchsten Potenzen.
Der Ur-Äther ist dabei als die „aktive Potenz" definiert, das zweite
Pneuma als die „passive Potenz". Die Vierheit zusammen erst bildet
die „Wirklichkeit des Intellekts", Mammaschuth ha-Sekhel, die nach
ihm der eigentliche Urmensch, 'Adam Qadmon, ist. Der Ausdruck
'Adam Qadmon kommt hier zum erstenmal in der kabbalistischen
Literatur vor und ist aus diesem Kreis zu den Gnostikern in Kastilien
und dem Buch Zohar gelangt. Diese rein mystische Theorie des In-
tellekts als einer zusammengesetzten Potenz, die offenbar auf ältere
neuplatonische Theorien zurückgeht (nicht notwendigerweise auf
Gabirol selbst), ist in diesem Kreis noch öfters vertreten worden. Der
Ur-Mensch ist hier also nicht die Gesamtheit aller Potenzen des Pleroma
oder der Sephiroth-Welt, sondern nur eine Konfiguration der höchsten
Potenzen. Sie bilden, mindestens im ersten Teil der Schrift, auch die
Hajoth, die „Lebewesen" der Merkaba, die zugleich auch mit einem
Wortspiel als die Hijjuth, die Vitalität oder das eigentliche Leben
definiert werden. Von hier an treten dann, in den Einzelheiten wieder
sehr undurchsichtig, die Merkaba-Potenzen wie der Thron, der Cherub
255 Hebr. *ahuza be-Schorsche ha-Mahschabha.
258 Die Namen dieser beiden Lichter treten mit solcher Konsistenz nebeneinander
in den meisten dieser Schriften auf, daß es sich hier um eine der Grundvorstellungen
des Kreises handeln muß. Ihr Ursprung bleibt noch aufzuklären. In der Merkaba-
Literatur spielt der 'Araphel keine Rolle. Zu der Licht-Mystik, die hier damit ver-
bunden wird, ist Bach ja ben Äschers Erklärung von 'Araphel als ein besonders klares
und lauteres Licht zu stellen, was er mit einem etymologischen Wortspiel zu begründen
sucht, vgl. seinen Kommentar zu Ex. 20 21.
usw. hervor. Die Wurzeln aller Dinge bleiben aber in dieser Ur-Vier-
heit verankert. In einer anderen Wendung derselben Lehre wird in
diesem Text aber zugleich auch die These vorgetragen, daß die Hajoth
erst aus dem Haschmal selber emanierte Potenzen darstellen, so daß
also die eigentliche Merkaba — was logischer scheint — erst unter-
halb des Bereiches des Ur-Menschen, der über ihr thront, in allen ihren
Komponenten hervortritt. Der Autor erklärt den Namen Merkaba,
der wörtlich sich auch als „Zusammensetzung" verstehen läßt, als
den des Ortes, an dem die Synthese aller jener weiteren Lichter statt-
findet. Die vier Säulen des Thrones der Merkaba sind identisch mit
den vier Lagern der Schekhina, die dann im Detail beschrieben werden,
aber in ganz anderer Art als im Buche 'Ijjun. In die Erklärung des
ersten dieser Lager ist eine vollständige Auseinandersetzung über die Se-
phiroth-Liste in Kap. I von Jesira eingeschaltet, die im Sinn seiner
Merkaba-Mystik, keineswegs in dem der rezipierten Sephiroth-Lehre
verläuft. Nur in der Identifikation des Ur-Äthers mit dem göttlichen
Gedanken sind sie verbunden. Aus der Verbindung der aktiven und
der passiven Potenz entsteht nach dieser Schrift die Hyle, die hier
mit der Ur-Feuchtigkeit, Lihluah, identifiziert wird. Warum der Autor
die von ihm in Wirklichkeit geteilte Meinung der von ihm zitierten
„Forscher" ablehnt, wonach die Hyle aus dem Schöpfer emaniert
sei, bleibt ganz unklar. Er äußert sich darüber in rätselhaften Sätzen,
deren Relevanz für das Problem unverständlich bleibt.
Wieder anders ist das in der Erklärung des Pseudo-Haj zum 42-
buchstabigen Gottesnamen vorgetragene System der Kosmogonie,
in dem dieselben Begriffe in anderer Anordnung auftreten. Hier steht
am Anfang das Ur-Pneuma, aus dem zwei Potenzen fließen, zwischen
denen es ruht: der Lihluah, die Ur-Wasser oder Bohu, und der Ur-
Äther oder Tohu. Diese Unterordnung des Tohu unter Bohu und des
Äthers unter das Wasser ist sehr auffällig. Zu diesen Potenzen tritt
der Haschmal, der (wie vorher das zweite Pneuma) direkt aus dem
Ur-Pneuma stammt und seinerseits die sieben Erzengel oder höchsten
Archonten sowie die intelligente Seele aus sich entläßt. Damit erfüllt
der Haschmal hier die Doppelfunktion von Hajoth und Hijjuth. Erst
unter dem Haschmal treten der 'Araphel und der Vorhang Pargod
auf. Aus dem Vorhang fließen Merkaba-Kräfte, deren höchste der
„Feuerstrom" heißt (nach Dan. 7 io), aus dem als Funken die Seelen
der Gerechten hervorgehen. Dabei ist der neuplatonische Bereich
der Natur zum paradiesischen Ort der Seelen, die „in den Äther der
Natur eingepflanzt sind", verwandelt worden. Das Tetragrammaton
symbolisiert die Zusammenfassung aller dieser Kräfte. Die Sephiroth-
Lehre kommt dabei nicht einmal in symbolischen Andeutungen vor.
In den zwei verschiedenen „Buch der Einheit" titulierten Texten
treten die beiden möglichen Tendenzen dieser Gruppe deutlich aus-
einander. Der eine Text, das „Buch von der wahrhaften Einheit",
erwähnt die Sephiroth nur ganz oben hin, interessiert sich dagegen
für die Aufzählung der Kräfte der Merkaba, bei der die neuplatonische
Spekulation in völlig verwilderter und undurchsichtiger Rückbildung
erscheint. Der andere Text aber versucht, die Begriffe und Bilder
dieser Schriften eindeutig auf das kabbalistische System der Sephiroth
zu beziehen, wobei die Symbolik der Sephiroth, wie wir sie bisher
kennengelernt haben, mit diesen neuartigen Symbolen zusammen-
gebracht wird. Die Formeln der beiden Kreise fließen dabei inein-
ander über. So heißt es hier von der ersten Sephira: „Sie wird .höchste
Krone' genannt, weil sie die Stärke der Wahrheit und des Wesens
und etwas Geheimes und Verborgenes ist. Und in ihr sind geheime
und verborgene und kostbare Dinge, und sie sind die 620 Lichtsäulen
nach dem Zahlenwert von Kether257. Und alle vereinigen sich in einer
Verbindung268, ohne daß irgend etwas dabei mangelhaft wäre. Und sie
[diese Säulen] sind das Fundament von Gottes Einheit ; eine jede hat
einen eigenen Namen, der auf die göttlichen Dinge hinweist, d. h.
jeder einzelne wird mit Seinem Namen benannt. Sie umarmen ein-
ander und verbinden sich miteinander in der Emanation des Intellekts.
Und daher nennen die Meister dieses Wissens jene Sephira den uner-
faßbaren Ur-Äther, und andere nennen ihn den , Quell der Redlich-
keit', weil er die Form einer Krone, die auf dem Kopfe ruht, hat. Er
heißt auch .klares Licht', denn es entsteht in ihm etwas wie eine Spalte,
die ihre Erscheinung verändert, bis [der Äther] sich spaltet und in
dieser Spaltung die Kraft aller Sephiroth aus dem Ausfluß, dec aus
ihm fließt, entsteht. Und im Impuls der Bewegung wird die Einheit
vollkommen." In diesem Tonfall geht es hier noch weiter und werden
alle Sephiroth abgehandelt, wobei Jessod 'Olam, das Fundament der
Welt, von der siebenten an die neunte Stelle gelangt ist. Es ist klar,
daß solche Äußerungen ebenso dem Bahir wie den uns bekannten
Fragmenten Isaaks des Blinden fremd sind.
Im Vorhergehenden trat mehrfach das Bild von der Spaltung des
Ur-Äthers auf. Es ist wahrscheinlich, daß dies Bild einem ähnlichen
in Salomo Gabirols „Königskrone" seine Entstehung verdankt.
Gabirol spricht in poetischer Metapher von der Spaltung des Nichts,
aus der Gott das Sein hervorgerufen habe. Dies Bild ist dann im
'/¿/««-Kreis, dem die „Königskrone" wohlvertraut war, auf den Ur-
257
Kaph hat den Zahlenwert 20, Taw 400 und Resch 200. Diese „Lichtsäulen"
kehren in der Mehrzahl dieser Schriften wieder. Sie werden in einem hier zitierten
Vers Schesch Me'oth we-'Essrim hem Rosch Millulakh, dessen Quelle unbekannt ist,
anscheinend in einem Zusammenhang mit den 620 Buchstaben des Textes der zehn
Gebote gebracht, die doch wohl mit dem ,,Anfang deines Wortes" gemeint sind.
258
Der Autor gebraucht das Wort 'Adiquth mehrfach im spezifischen Sinn von
Emanation. So spricht er von der Emanation des Intellekts als 'Adiquth ha-Sekhel.
wieder, Gott sei 'ehad jahid u-mejuhad, deren Ursprung mir nicht klar ist. Im 14. Jh.
findet sich eine ganz entsprechende arabische Formel (die wohl viel älter ist), bei einem su -
fischenMystiker, vgl. R. Nicholson, S tudies in Islamic Mysticism, Cambridge 1921, S. 104.
wand', denn er ist in allem seinem weil er allen Ur-Wesen, die aus
Licht und Glanz einer wie die seiner wunderbaren Einheit ema-
Flamme, die in allen ihren Farben nieren, vorangeht. Und diese
eine ist und sich bis ins Unend- Hokhma ist die höchste der zehn
liche erhebt. Er heißt auch Einer, Sephiroth.
Während in Gabirols Fons Vitae die sapientia meistens als Synonym
für den göttlichen Willen gebraucht wird260, steht sie hier offensicht-
lich unterhalb von jenem Ur-Äther, der zugleich der göttliche Wille
und das Nichts ist. Hier tritt der Wille deutlich als eine höchste Potenz
in Gott hervor, die sozusagen noch über den erst mit der Ότ-Hokhma
einsetzenden Sephiroth steht. Die Identität dieser beiden, aus so ganz
verschiedenen Quellen herkommenden Symbole — denn als das
werden sie von den Kabbalisten aufgefaßt — setzt sich dann, vor
allem durch Azriel vermittelt, in der spanischen Kabbala nach 1250
ziemlich allgemein durch. Unaufgeklärt ist noch der Widerspruch bei
Gabirol selbst, der in der „Königskrone" die sapientia über den Willen
stellte, eine Auffassung, die die Kabbalisten niemals übernommen
haben2β1. Sonst aber ist die Parallele zwischen Gabirols Dichtung
und den soeben zitierten Stellen schlagend. Die Ur-Hokhma ist das
erste Sein, wie sie auch Isaak der Blinde schon als solches konzipiert
hatte. Aus den Bildern der „Quelle der Weisheit" und des „Midrasch
Simons des Gerechten" erklärt sich der feierliche Anfang des Zohar,
worauf oben schon mehrfach hingewiesen wurde. Der Quell des Lichts,
der aus der dunklen Flamme brach, „spaltete den ihn umgebenden
Ur-Äther, und infolge der Wucht dieser Spaltung leuchtete dabei ein
verborgener höchster Punkt auf", der erste Logos, der nichts anderes
ist als die \Jv-Hokhma262. Nur der schon fixierte Gebrauch des Aus-
drucks 'En-soph stammt hier nicht aus dem 'Ijjun-Kreis, alles andere
ist eine Paraphrase seiner bildkräftigsten Vorstellungen2®3.
2 . 0 Dies geht aus Baumkers ausführlichem Index zur Ausgabe des Fons Vitae,
S. 611 hervor.
2 . 1 Der einschlägige Vers der „Königskrone" ist von S. Münk, Mélanges de Philo-
sophie Juive et Arabe, S. 164, und seinen Nachfolgern dahin erklärt worden, daß er
von einem Hepb.es mezumman, einem bestimmten, begrenzten Willen spricht. Wäre
dies richtig, so würde der „unbegrenzte Wille" des Pseudo-Simon als beabsichtigter
Kontrast dazu erklärt werden können. In Wahrheit hat aber mezumman niemals diese
einschränkende Bedeutung, sondern gehört zum übernächsten Vers mezumman . . .
limschokh usw., und man muß übersetzen: „Ein Wille, dessen Bestimmung es war,
den Ausfluß des Seins aus dem Nichts zu produzieren".
2 . 2 Vgl. die genaue Übersetzung des Zohar-Anfangs in meinem Buch „Die Geheim-
nisse der Schöpfung, ein Kapitel aus dem Zohar", Berlin 1935, S. 46.
*·* Noch andere Entwicklungen über den Willen in der '///««-Gruppe habe ich in
meiner Arbeit über die Spuren Gabirols in der Kabbala in Me'asseph Sophre 'Ere}
Jisrael, Tel-Aviv 194C, S. 168—170 untersucht.
zitiert, der kaum nach 1260 verfaßt sein dürfte, Hs. Parma, Perreau II, 105, Bl. 37 a. In
einem anderen längeren Zitat aus 'Ijjun, in der wichtigen Hs. Enelow Memorial Coli.
712, Bl. 49a, wird eine ganz entsprechende Anschauung vorgetragen, nur werden
diese Bestimmungen dort nicht auf 'Anaphiel bezogen, sondern auf den Haschmal
selber.
287 Vgl. Hekhaloth Rabbathi K a p . 22 und Odeberg zu 3 Enoch, S. 59.
Scholen}, Kabbala 20
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306 Die ersten Kabbalisten in der Provence
Ganz im Sinn dieser Vorstellung erklärt das „Buch von der wahr-
haften Einheit" 'Anaphiel als den Seraph und den Engel, der über
die Einheit gesetzt ist und dessen Kraft sich in sieben Lichter ver-
zweigt, die „vor dem Ort der Einheit wie ein brennendes Feuer stehen"
und mit den sieben Seraphim identisch sind, die der „Traktat von den
Hekhaloth" in Kap. VII aufzählt268. Diese Zerlegung der höchsten
Lichtkraft in die sieben Seraphim oder Lichter ist vielleicht mit der
Vorstellung der Katharer zusammenzustellen, die den Parakleten als
siebenfältig erklärten und von den sieben animae -principales sprechen269
Ich habe oben die Hyle-Spekulationen dieser Schriften erwähnt, die
sehr auffällig sind. Bei aller Verschiedenheit haben die 'Ijjun- Schriften
das gemeinsam, daß sie die Hyle als ein positives Prinzip aufzählen,
das als Hypostase unter den kosmischen Potenzen seinen Platz hat.
Nirgends wird sie hier als die Wurzel des Bösen aufgefaßt. Wir haben
hier dieselben zwei Momente, die wir auch bei Gabirol finden. Die
neuplatonische Abwertung der Hyle ist verschwunden und ihr Rang
wird vielmehr immer höher hinaufgeschoben. Im Buch * I j j u n selber
war die Emanation als hylefrei aufgefaßt. Erst hinter der Emanation der
Sephiroth wurde die Hyle geschaffen, über der sie erglänzen. Inder Liste
der 32 Wege aber ist die Hyle — nicht als Hijuli, sondern als Golem
bezeichnet — eine der 32 Potenzen oder Wege, aber weder die unterste
noch die oberste unter ihnen. Anders ist die Auffassung im Midrasch
des Pseudo-Simon. Hier steht die Hyle an der Grenze der Emanation
und bildet, nach außen gewandt, deren Rückseite. Diese Potenz des
Rückens, hinter der sich hier die Konzeption der Hyle versteckt, ist
das principium individuationis, das erst alle Formen differenziert.
Allem Natürlichen, das aus Materie und Form zusammengesetzt ist,
strömt die Kraft dieser Potenz zu. Wieder anders erklärt das „Buch
von der wahren Einheit" die Schekhina selber als das principium
individuationis. Der Thron — der in Gabirols Fons Vitae die Hyle
ist! — ist identisch mit der Potenz der Schekhina, in die alle Dinge
2ββ v g l Beth ha-Midrasch IX, S. 47. Nur der Name des ersten dieser sieben Seraphim
hat eine klare Bedeutung. Orpaniel (Orphaniel) heißt offensichtlich „der Engel, der
das Licht von Gottes Antlitz empfängt". Diese Vorstellung von den sieben Erzengeln
findet sich auch in den Pirqe Rabbi Eliezer, Kap. 4, wo aber die Namen nicht genannt
werden. Dort ministrieren sie vor dem Vorhang und gelten als die Ersterschaffenen
unter den Engeln. Diese Tradition setzt wohl die von den sieben Engeln vor Gottes
Thron aus dem Buche Thobith Kap. 12 und aus Henoch, Kap. 20 fort. Vgl. dazu
W. Lueken, Michael, Göttingen 1898, S. 36—37. Dieselben Namen wie die Hekhaloth
nennt auch das Buch 'Ijjun. Für Jakob Kohen bilden diese sieben Engel dann die
mystische Menora, die man ihm im Himmel zeigte und deren Zeichnung sich in seinem
Sepher ha-Ora, Hs. Milano, Bernheimer 62, Bl. 107 a, erhalten hat, vgl. Bernheimers
Katalog (1933) ' S. 78.
288
Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte I, S. 155, vgl. R. Reitzenstein, Die
Vorgeschichte der christlichen Taufe. Berlin 1929, S. 136—140.
Es bleibt ein letzter Punkt zu besprechen, der für die spätere Kab-
bala von nicht geringer Wichtigkeit geworden ist. Wir sahen, daß diese
Schriften sich im allgemeinen keine Sorgen über das Verhältnis der
traditionellen Vorstellung von den dreizehn Middoth des göttlichen
Waltens zu der sich nun kristallisierenden Lehre von den zehn Se-
phiroth machen. Das ist um so weniger erstaunlich als in diesem Kreise
im Großen und Ganzen eine rein theistische Gottesauffassung durch-
aus gewahrt bleibt. Die intelligiblen Lichter und Potenzen, von denen
hier die Rede ist, und auch die Sephiroth selber, soweit sie auftreten,
können kaum als Aspekte einer innergöttlichen Welt angesehen
werden. Noch weniger natürlich die Beschreibungen kosmogonischer
Prozesse, die sich im Ur-Äther und unter ihm abspielen. Ein Autor
beschreibt den Ur-Äther: „Warum heißt er Ur-Äther? Weil er ein
Licht ist, das unter allen Arten der Lichter in der Höhe des 'Arabhoth-
Himmels nicht seinesgleichen hat, und er ist wie ein Strahlengewand,
das aus dem Licht der Herrlichkeit Gottes des Weltenschöpfers
stammt, und über dem ganzen Kabhod ringsum ausgebreitet ist. Seine
Klarheit ist übermäßig und leuchtet und deswegen heißt er unerfaß-
barer Äther, und nicht etwa, weil dort keine anderen Potenzen wären,
die ihm vorangingen270." Wer so schreibt, für den ist der Ur-Äther
und alles Andere kein Bestandteil oder Aspekt einer Welt der Gott-
heit selber, die vielmehr klar darübersteht. Nicht Vorgänge innerhalb
270
So im Vorwort zum „Mysterium des Wissens um die Realität" in der Hs. Schok-
ken Kabb. 6. Der hebr. Text der Stelle in Reschith ha-Kabbaia, S. 169.
20·
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308 Die ersten Kabbalisten in der Provence
der Welt der Gottheit selber werden hier beschrieben, sondern davon
unterschiedene Vorgänge am Anfang der Schöpfung der Merkaba-
Welt, wie verwandelt diese Merkaba-Welt sich auch immer dem
platonisierenden Denken hier darstellt.
Es muß aber in der Provence Kabbalisten gegeben haben, die die
Sephiroth schon in Fortsetzung des Bahir und der Tradition des Rabed-
Kreises deutlich als Aspekte der Gottheit auffaßten, und sich daher
die Frage vorlegten, wie die Annahme solcher zehn göttlichen Middoth
in der Sephiroth-Lehre mit der älteren talmudischen Vorstellung von
den dreizehn Middoth des göttlichen Erbarmens und Waltens in Ein-
klang zu bringen sei. Wir besitzen ein Zitat, in dem Isaak der Bünde
mit einer solchen Erklärung kreditiert wird, die trotz der späten Be-
zeugung wohl alt ist271. Es ist freilich kaum anzunehmen, daß sie wirk-
lich von Isaak stammt, da dessen Neffe Ascher eine eingehende Ab-
handlung über diese dreizehn Middoth geschrieben hat, ohne darin
irgendeinen Bezug auf die in diesem späteren Zitat seinem Onkel zu-
geschriebene Überlieferung zu nehmen. Diese Überlieferung setzt die
dreizehn Middoth mit den Gliedern des Menschen in Korrespondenz,
vom Gehirn bis zu den Schultern und den Armen, aber nicht darunter.
Die Einteilung führt nur zum Teil Entsprechungen zu den Sephiroth
auf, von denen keineswegs alle zehn, sondern nur die ersten sieben in
der Anordnung des Bahir auftreten. Die dreizehn Middoth sind also
Modifikationen dieser sieben sephirothischen Kräfte selber in einer
Schi'ur Qoma- Symbolik.
Ganz anders stellt sich das Problem dem Responsum, das wohl um
1230 ein provençalischer Anonymus dem Haj Gaon unterschob.
Während die eben erwähnte Überlieferung keine weitere Bedeutung
in der kabbalistischen Literatur gehabt hat, nahm dieses Responsum
vom Ende des 13. Jahrhunderts an einen bedeutenden Platz ein und
hat die Ausbildung vieler späterer Spekulationen der Kabbalisten
noch im 16. Jahrhundert beeinflußt272. Es hat sich auch in vielen alten
271
Diese Erklärung „im Namen des heiligen R. Isaak des Blinden" finde ich bei
zwei kurz nach 1500 schreibenden Autoren, Abraham Adrutiel, 'Abhne Zikkaron Hs.
Jerusalem 8° 404, Bl. 108b, und Joseph Alaschqar, Sophnath Pa'neah, Hs. Jerusalem
4° 154, Bl. 125b. Die Terminologie besonders des ersten Zitates spricht für höheres
Alter. Sie erwähnt die Stufen des Haskel und der Hokhma nebeneinander. Diese Ter-
minologie gehört in der T a t der Schule Isaaks des Blinden an.
272
Das Responsum wurde zuerst in Moses Cordoveros Pardess Rimmonim, Krakau
1592, Bl. 74a, gedruckt. Yael Nadav, An Epistle of the Qabbalist Isaac Mar Hayyim
concerning the Doctrine of 'supernal Lights', ΠΊΠΧΠΪί, h a t den Text und eine Abhand-
lung darüber veröffentlicht, die ein spanischer Kabbaiist 1491 in Neapel schrieb, vgl.
Tarbiz, Bd. 26 (1957), S. 440—458. Das Responsum wird im 13. Jh. bei Todros Abu-
lafia, 'Osar ha-Kabhod (1879), Bl. 16c, und bei Bachja ben Ascher zu Ex. 34 β zitiert.
Der erstere bemerkt, dieses Responsum sei dem Ascher ben David entgangen. David
Messer Leon h a t um 1500 den Text ebenfalls ausführlich in seinem handschriftlichen
275 Der Autor liest in einem Wortspiel *Olamoth, Welten, statt 'Alamoth, junge
Frauen.
27$ vgl. zu dieser Terminologie, in der M adda und Sekhel künstlich geschieden
werden, unten S. 316.
roth-] Grade ist, in der Form von subtilen Punkten erfolgt, die bei
den Mystikern bekannt ist277. Dies deutet auf das wunderbare Ge-
heimnis hin, daß sie [die Grade der Sephiroth, die im Tetragrammaton
symbolisiert sind] geistige Materie und Form aus der Kraft der drei
Grade angenommen haben, welche Namen und Substanz und Wurzel
sind. Der erste Buchstabe [Jod] stieg aus der verborgenen Wurzel
hervor und verbreitete sich als ein gedankliches Licht, und sie [?]
breiten sich aus in der Substanz der Wurzel, in ihr und nicht außer-
halb von ihr. Aus ihnen [den drei Lichtern] haben Materie und Form
angenommen die Kraft des Wissens [Hokhma] und die Kraft des
Intellekts [Bina], und sie sind der Anfang der verborgenen geistigen
Schöpfung. Und jener erste Punkt empfing [aus seinem Ursprung
in dem Urlicht] eine starke und wunderbare Kraft der Formung,
so daß sich in ihm zehn Grade auf die subtilste Weise formten. Daher
stieg ihre Zahl bis auf zehn an. Und aus der Kraft dieses Punktes
materialisierten auch zehn Grade in der Form des Buchstaben He,
der ihm folgt, und sie sind in den Punkten der richtigen Schreibung
angedeutet, die wir von unseren uralten Lehrern empfangen haben.
Und alle Kräfte waren in ihm [dem He] wie in einem geistigen Schatz-
haus verborgen. Aus der Kraft dieser zweiten Form haben Materie
und Form angenommen die sechs ,Richtungen der Welt' [die den
sechs Sephiroth und der Bina entsprechen]. In diesem Buchstaben
Waw [dessen Zahlenwert sechs ist] sind die Kräfte, die im zweiten
Buchstaben verborgen waren, nun auf manifestere Weise hervor-
getreten, und sie sind der Anfang des Offenbarwerdens der verborgenen
Welten. Daher nannten die Weisen der Sephiroth diese Sephira den
Anblick [Mar'eh, wörtlich : das Sichtbarwerden] der verborgenen Welt.
Das letzte He [im Gottesnamen] ist die Zurichtung [Tiqqun] der Wir-
kung, und sie bringt alle verborgenen Kräfte zur vollständigen Wirkung
und ist die Vollkommenheit aller Kräfte."
In einer Antwort auf eine angebliche weitere Frage über den Sinn
dieser drei Lichter führt Pseudo-Haj aus dem „Text des R. Chammai"
dieselbe Überlieferung an. Dieser „Text" ist identisch mit dem Frag-
ment aus dem „Buch der Einheit" des Chammai, das schon oben
erwähnt wurde278. Hier heißt es, daß die drei Lichter279 eine Sache
und eine Substanz seien, die „ohne Trennung und ohne Verbindung
in innigstem Zusammenhang mit der Wurzel aller Wurzeln stehen",
wofür er als materielles Beispiel den Zusammenhang von Herz, Lunge
und Milz anführt, die mit allen anderen Gliedern des Organismus
zusammen eine Wurzel haben. Auch hier fließen aus diesen drei Ur-
277
Vgl. die Figur oben S. 291, sowie Anm. 228.
278
Dies Responsum ist in Kobaks Jeschurun, III, S. 66 gedruckt. Vgl. auch Schem-
tob, 'Emunotk, Ferrara 1656, Bl. 35a und 47a.
2,i
Im Druck heißt es irrig sieben Lichter, Τ statt 1.
Die verschiedenen Lösungen, die für das Verhältnis der zehn Se-
phiroth zu den dreizehn Middoth in diesem Kreis gegeben wurden,
zeigen, daß es sich dabei nicht um ein spezifisches Interesse an der
Trinitäts-Lehre handelte. Die zweite Antwort Hajs oder Chammais
kompliziert ja auch die Lösung wieder dadurch, daß sie zwar eine
innige Verbindung zwischen der „Wurzel aller Wurzeln" und den
drei Lichtern annimmt, sie aber keineswegs mit ihnen identifiziert.
Die einzige Funktion, die diese drei Lichter haben, ist, als Quelle und
Ursprung für die obersten Sephiroth zu dienen, die dann alles Weitere
aus sich entfalten. Sie sind keine Personen und keine „Hypostasen"
in Gott. Können sie also einerseits als das vorläufige Endstadium
eines Prozesses angesehen werden, in dem von der Merkaba-Welt
ausgehend die Mystiker zu immer höheren Sphären vorzudringen
suchten, so ist doch keineswegs die Möglichkeit von der Hand zu
weisen, daß diese spezifische Lösung der Frage nach dem Charakter
der dreizehn Middoth in Kenntnis der christlichen Trinitätslehre ent-
wickelt worden ist, unter Herausnahme alles dessen, was ihren eigent-
lich christlichen Charakter ausmacht. Was bleibt, ist eine höchste
intelligible Trias, die eher an solche Triaden in der Vorstellungswelt
des Proklus erinnert als an die christliche Dogmatik. Man könnte
sagen, daß es sich um eine Rückbildung des christlichen Begriffs in
eine rein neuplatonisch gedachte Lichtmystik handelt. Die Sephiroth
selber sind hier nun eindeutig als entstanden gedacht, während die
Trias der Lichter unentstanden, anfangslos in der verborgenen Wurzel
ineinander leuchtet.
Daß den Kabbalisten eine mögliche Verbindung dieser Vorstellung
mit der christlichen Trinität nicht verborgen war, beweist das Zeugnis
des spanischen Gelehrten Profet Duran. Er erzählt in seinem 1397
verfaßten antichristlichen Werk „Schmach der Christen", er habe in
seiner Jugend von mehreren Anhängern der Kabbala die Meinung
vertreten hören, daß die christlichen Dogmen der Trinität und In-
karnation aus einer falschen Deutung an sich wahrer kabbalistischer
Thesen entstanden sei. Jesus und seine Schüler seien nicht nur große
Magier gewesen — welche Meinung ja im mittelalterlichen Judentum
allgemein verbreitet war — sondern wirkliche Kabbalisten, „nur sei
eben ihre Kabbala voller Fehler gewesen". „Die Lehre von der Trini-
tät, die sie irrigerweise in der Gottheit annehmen, ist bei ihnen aus
ihrem Fehlgehen in dieser Wissenschaft [der Kabbala] entstanden,
die das Urlicht, das strahlende Licht und das durchsichtige Licht
statuierte280." Im Kontrast dazu fehlte es übrigens schon in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht an philosophischen Gegnern
380
Kelimmaih ha-Gojim, in Ha-Sophe le-Hokhmath Jisrael III, S. 143; vgl. dazu
meine Bemerkungen in Tribute to Leo Baeck, London 1964, S. 177—178.
der Kabbala, die zwar nichts von dieser These über die drei Lichter
wußten, wohl aber behaupteten, daß die Lehre von den zehn Sephiroth
von den Christen herkäme281. Diese These ist, wie die wirkliche Ge-
schichte der Sephiroth-Vorstellung zeigt, mit der wir uns hier befaßt
haben, genau so falsch wie die unhistorischen Annahmen der Kabba-
listen über die Entstehung der christlichen Dogmen. Es ist übrigens
auffällig, daß die Lehre des Pseudo-Haj den sogenannten „christlichen
Kabbalisten" anfangs gar nicht bekannt war und erst vom Anfang
des 17. Jahrhunderts an, nachdem der Text des Pseudo-Haj in Cor-
doveros Werk gedruckt vorlag, von ihnen aufgegriffen und für ihre
eigenen Zwecke wieder ins Christliche zurückgedeutet wurde282.
„Alle Kronen bilden eine Welt von Triaden, die miteinander verbunden
sind, aber die höchste Krone ist eine Welt für sich selbst, die verborgen
ist und aus deren Emanation alle anderen empfangen. Sie allein ist
verborgen und verbunden mit der Wurzel aller Wurzeln, welche kein
Gedanke fassen kann, und sie empfängt stets ohne Unterlaß und
schweigend [bi-Demama daqqa] aus der Wurzel und entleert ihre
Segensfülle auf die übrigen Kronen, aber nicht ohne Unterlaß, sondern
jeweilig nach Maßgabe des Willens, der die Wurzel aller Wurzeln ist284.
Und je drei Sephiroth empfangen zusammen, ergießen sich und
schöpfen den Fluß [der Emanation] aus, bis zum , Schatzhaus der
Mysterien' hin, das die Krone der Herrschaft des Weltenschöpfers
ist." Alle Triaden „umgeben einander und sind ineinander ver-
schlungen; jede umgibt die andere, wird aber zugleich von ihr um-
geben; jede steht über der anderen, und doch steht zugleich die andere
über ihr; jede ist zugleich Anfang, Mitte und Ende; alles nach Maß-
gabe der Manifestation des höchsten Willens, aus dem sie geschaffen
sind, in ihnen".
Kether ist also keineswegs mit der Gottheit identisch, die sich viel-
mehr in ihm als die „verborgene Kraft und das Allem entrückte Wesen
offenbart". Statt Έη-sofh, das auch hier und bei Pseudo-Haj nie
vorkommt, lieben diese Pseudepigraphen das Bild von der „Wurzel
aller Wurzeln", das im Hebräischen des Mittelalters zugleich oft die
Bedeutung von höchstem Prinzip hat. Zwischen der Schöpfung der
Sephiroth und ihrer Emanation wird kein Unterschied gemacht. Der
Bereich von Kether wird hier, noch über der Welt des Intellekts, als
'Olatn ha-Mithboded bezeichnet, also als eine Welt, die für sich alleine,
abgesondert in der „Einsamkeit" besteht. Dieser Terminus dürfte
aus einem arabischen 'alim mustabidd übersetzt sein, und in neu-
platonischen Quellen, die nachzuweisen bleiben, die transzendente
Welt der Gottheit, die dem Intellekt vorangeht, bezeichnet haben.
In alten Übersetzungen neuplatonischer Quellen ins Hebräische
scheint diese Terminologie aus Spanien in die Provence gelangt zu
sein, wo ihr Sinn verändert wurde, wie ja auch die beiden in alten
Ubersetzungen geläufigen Wiedergaben des arabischen Wortes 'aql,
Intellekt, durch hebräisches Madda' und Sekhel bei den ältesten Kab-
balisten zu zwei verschiedenen Begriffen wurden, die nun den Sephiroth
Hokhma und Bina zugeordnet wurden. Übrigens sind ähnliche Um-
deutungen neuplatonischer Weltenschemata in der Tat aus Abraham
bar Chijja, der sie im Namen der „Weisen der Forschung" zitiert,
zu den deutschen Chassidim gelangt 285 .
284
Diese Identifikation ist auffällig und widerspricht der sonstigen Auffassung,
die den Urwillen von der Urwurzel trennt.
¡¡«s Ygi meinen Aufsatz, Reste neuplatonischer Spekulation bei den deutschen
Chassidim, M. G . W . J„ Bd. 75 (1932), S. 172—191.
kommen seien. Weiter hören wir dann, daß einige Zeit später der Brief-
schreiber in seinem eigenen Land (Spanien) einen großen Gelehrten
Nathanael aus Montpellier getroffen habe, mit dem er sich sehr an-
gefreundet hätte. „Ich kopierte aus einer Aufzeichnung seines Onkels
Sacharía aus Montpellier, welcher viele Jahre in den byzantinischen
Ländern verbracht und dort von einem fast 120 Jahre alten Greis
[Aufzeichnungen über die Stufen der Emanation] empfangen hatte.
Dieser Chassid, der in Philosophie und Astrologie gleichmäßig be-
wandert war, dann aber all seine Wissenschaften verschmäht und
seine Beschäftigung damit bereut hatte, war daran gegangen Gott
zu suchen, bis er endlich von einem Nachkommen des Königs David,
mit Namen R. Chisdai ha-Nassi, drei Jahre lang in die geheime Wissen-
schaft eingeweiht wurde." Die Pseudepigraphie springt bei all diesen
Angaben in die Augen, und da die Analyse von Isaak Kohens Schriften
zeigt, daß er in der Tat ältere Traditionen sammelte und verarbeitete,
sind wir zu dem Schluß gezwungen, diese literarischen Erfindungen
dem Kreis der provençalischen Gruppe zuzuschreiben, zu der sie ihrem
kabbalistischen Habitus nach so gut passen.
Jellinek nahm an, daß mit diesem Chisdai der berühmte spanische
Gelehrte und Ministers dieses Namens gemeint sei und das Stück
wirklich aus dem 10. Jahrhundert stamme286. Die Sprache ist aber,
wie auch die Vorstellungswelt, die der hier besprochenen provença-
lischen Gruppe. Vielleicht meinte der Autor einen alten Dichter, der
unter diesem Namen als Autor eines bekannten Pijjut erwähnt wird287.
Diesem Chisdai wird nun als Abschluß des großen Sendschreibens eine
Erklärung über die Seligkeit der Geister in den höheren Welten der
Sephiroth beigelegt, die ihre Nähe zur Eschatologie der Neuplatoniker
nicht verleugnet. Dort lesen wir unter anderem:
„Die Ursache aller Ursachen hat keinen Anfang und keinen Ort
noch Grenze. Als es in seinem Willen aufstieg, Welten neu zu schaffen,
da waren sie nicht faßbar und sichtbar, bis der Wille kam288 und aus
seinem großen Licht zehn innere Punkte emanierten, die wie ein Licht
sind, das die Sonne überstrahlt. Das Licht des innersten Punktes ist
nicht von seiner Substanz getrennt, und er ist ein intelligibler Punkt,
Nequda Mahschabhith, aus dessen Licht ein zweiter intelligibler
Punkt 289 aufstrahlte. Und er stellt den Anfang der Wege der ersten
284
Jellinek, Beiträge II, S. III, wo S. III—VI die ganze Stelle aus Schemtobhs
'Emunoth abgedruckt ist. Ich übersetze im folgenden nach einem aus Hss. verbesserten
Text, vgl. Tarbiz II, S. 425.
287
So in einer Liste alter synagogaler Dichter, die ich in einem Exemplar der Erstaus-
gabe von Salomo Lurias Responsen im Jew. Theol. Sem. in New York gefunden habe.
288
Vgl. oben Anm. 244.
28e
Er nennt sie hier Nequda madda'ith. Von hier stammt der Sprachgebrauch Isaak
Kohens in seinem Merkaba-Kommentar, Tarbiz II, S. 196, sowie meine Anmerkungen
Ursache dar. Aus seinem Licht strahlte ein dritter Punkt auf, der die
Mutter der inneren Seelen ist, und unsere Weisen nennen diesen Punkt
'Arabhoth-Yimaaei. . . Und aus seinem Licht strahlte ein großer Glanz,
ein geistiger Punkt auf, der der Anfang der Welt der heiligen Geister
ist, und bei den Weisen der Mischna [in Hagiga 12 a] Zebhul-Himmel
heißt. Und dieser Punkt ist das Fundament der Welten, und als Sa-
lomo beim Tempelbau das Allerheiligste baute, zielte er darauf ab,
wie aus seinen Worten I. Reg. 8 13, hervorgeht. Und am Anfang der
Welt, die als Welt der Barmherzigkeit bezeichnet wird, sind mit ihr
zusammen zwei weitere Punkte aufgestrahlt, die Welten der Gnade
und des Gerichts. Hier liegt der Anfang der Schöpfung der niederen
Seelen, Nephaschoth, die neu entstehen, wenn die Körper gegründet
werden, und darum heißt [diese Welt] bei den Weisen der Makhon-
Himmel, denn er ist die Grundlage, Makhon, für den Sitz aller Welten,
die von dort emanieren, und in ihr besteht und erhält sich die Herr-
schaft der Welt des jüngsten Gerichtes . . . Und dies ist die Gestalt
des Thrones, wovon es heißt: Und mit Gnade wird sein Thron ge-
gründet. Und nach all diesen Emanationen strahlte ein Licht der
Welt auf [im Hebräischen zugleich: ein ewiges Licht], aus dem eine
Säule gebaut wurde, die in der Sprache der Weisen [im Bahir § 105]
der Gerechte der Welt heißt, von dem die Seelen ausfliegen. Diese
stammen aus dem Licht der Welt, die ,Welt der Seelen' heißt, und
formen sich in die Körper der Propheten ein. Und diese Säule ist das
Formprinzip der pneumatischen subtilen Körper, aus dem auch die
Körper der Propheten geformt werden, welche Formen von Körpern
und doch keine Körper sind. Denn wenn auch das Siegel eines ist, sind
darin doch die verschiedensten Formen eingezeichnet. Nach dieser
Emanation strahlten zwei Lichter auf, ein pneumatischer und ein
psychischer Punkt. Aus dem pneumatischen Punkt fliegen die Seelen
aus, die aus dem Licht der Barmherzigkeit aufgestrahlt sind, und
formen sich in die Körper der Besitzer des heiligen Geistes oder Pneu-
ma ein, und das ist die Formung der pneumatischen Körper, die den
Körpern ähnlich und doch keine [materiellen] Körper sind . . . Aus
dem psychischen Punkt fliegen die niederen Seelen aus, die aus dem
Glanz der Welt des Gerichts aufstrahlen und sich in die Körper der
vollkommenen und scharfsinnigen Gelehrten einformen, bei denen
Funken des heiligen Geistes aufleuchten, der über die Welt der nie-
deren Seelen erstrahlt. Und das ist die Einformung der reinen Körper,
die Attribute von Körpern haben und doch keine sind, wenn sie auch
nicht so lauter sind wie die ersten und zweiten [Arten der höheren
Körper]. Und nach dieser Emanation strahlte aus jedem einzelnen
dort, S. 206—207. Moses de Leon gebraucht Nequda mahschabhith als Symbol für die
Sephira Hokhma, vgl. sein Sepher Rimmon, Hs. Brit. Mus. 769, Bl. 26 a.
Teil dieser punktuellen Lichter ein Licht auf, das die Emanation des
letzten Punktes ist, auf den jeder einzelne der Punkte sein Licht nach
Maßgabe des göttlichen Willens emaniert. Manchmal empfängt [dieser
letzte Punkt] von allen, manchmal nur von einigen, je nach dem Be-
fehl des höchsten Königs. Alle tragen Sehnsucht nach ihm [dem letzten
Punkt], und er trägt Sehnsucht nach ihnen, und in ihm ist die Selig-
keit aller sieben Welten, die in den sieben Tagen der Schöpfung ein-
begriffen sind . . . Von diesem Punkt an strahlt die Welt der separaten
[Intelligenzen] auf."
Die systematische Absicht dieser Äußerung ist klar. Die zehn Se-
phiroth werden als zehn Urpunkte intelligibler Art dargestellt, deren
Beziehung auf die Psychologie, Eschatologie und Prophetologie zu-
gleich entwickelt wird. Dabei fällt auf, daß die erste Sephira, der
innerste Punkt, ausdrücklich als „nicht von der Substanz getrennt"
bezeichnet wird, welche dem Zusammenhang nach jenes große Licht
ist, das noch vor der Wirkung des Willens da war, sei es mit der ersten
Ursache von jeher verbunden, sei es mit ihr identisch. Die drei pneu-
matischen Grade der Seelen entsprechen zugleich den Stufen der
Propheten, der Männer des heiligen Geistes und der Weisen und
Schriftgelehrten, über denen doch Funken des heiligen Geistes auf-
leuchten. Die Sephiroth werden irgendwie mit den sieben Himmeln
zusammengebracht, jede ist eine Welt für sich, aber auch Anfangsort
und Desiderium der ihr entspringenden Seelen. Pseudo-Chisdai hängt
aufs engste mit dem Stück des Chassid [in Narbonne] über die inneren
Seelen zusammen, das uns wohl ebenfalls durch Isaak Kohen erhalten
ist (siehe Anm. 163 zu diesem Kapitel) und sich von ihm vor allem
durch die Beistellung von Geheimnamen dieser verschiedenen Grade
der Seelen, von denen Chisdai nichts weiß, unterscheidet. Die Theorie
der intelligiblen Punkte hängt mit der S. 228 besprochenen Umdeutung
der Ideen als geistige Atome auf die Sephiroth zusammen. Aus dieser
und ähnlichen provençalischen Quellen ist sie dann zu den kastilischen
Kabbalisten gelangt, wie vor allem zu Isaak Kohen und Todros Abu-
lafia, und von da zum Autor des Zohar.
Dieselbe Rangordnung für den Ursprung und noch mehr den
Ort der höchsten Seligkeit der Propheten, Hagiographen und mysti-
schen Schriftgelehrten wird in der Schilderung der sieben Paläste
des untersten Himmels vorgetragen, die hinter der oben erwähn-
ten Schilderung des Rituals der Beschwörung des Fürsten der
Tora steht. Hier wird Sephiroth-Symbolik als selbstverständlich
vorausgesetzt. Die Paläste beginnen mit dem untersten und stei-
gen, wie auch die über sie gesetzten Archonten, im Range an. Den
höchsten Rang hat hier nicht Metatron, der über den sechsten
Palast regiert, sondern Sandalphon inne, dessen Name mit dem Ge-
heimnis der Bewältigung der Materie durch die Form zusammenge-
bracht wird290. Es ist die älteste Quelle dieser nachher bei vielen
spanischen Kabbalisten benutzten mystischen Etymologie von San-
dalphon.
Wir haben damit den echten Beitrag der provençalischen Kabba-
listen zur Ausbildung der Konzeptionen, die ihnen im Buch Bahir
und zum Teil auch aus anderen orientalischen Quellen zugekommen
waren, in seinen wesentlichen Stücken analysiert291. Wir haben uns
auf die wichtigsten Elemente dieser originellen Entwicklung be-
schränkt und sind in viele Details, die aus den neuen Quellen noch
zu lernen sind, sowohl bei Isaak dem Blinden als im '/y/ww-Kreise,
nicht eingegangen. Die entscheidenden Instanzen zur Beurteilung
des Durchbruchs, der hier erfolgt ist, dürften aber voll zur Sprache
gekommen sein. Für die bisherige Forschung über die Anfänge der
Kabbala, die sich so ganz im luftleeren Raum bewegte und höchstens
290
Vgl. Tarbiz Bd. XVI, 1945, S. 2 0 2 - 2 0 3 . In der gleichen Richtung erklärt den
Namen Sandalphon dann auch Moses von Burgos, der diese Quelle kannte, vgl. den
Text Tarbiz Bd. V (1934), S. 184—185. Simon ben Zemach Duran, Magen Abhoth,
Livorno 1785, Bl. 14b, der dort klar Bücher der "///ww-Gruppe benutzt, erklärt eben-
falls Sandalphon, der bei ihm auf den intellectus agens gedeutet wird, als die Kraft,
die Materie und Form verbindet, auf Grund derselben Etymologie, der ein talmudisches
Wort Sandal im Sinne von noch formlosen Foetus zugrunde liegt. Die Wortkomponente
phon wird von Panim, Antlitz, als der innerlichen Form erklärt.
281
Damit scheiden also Schriftwerke aus, die in der Literatur zwar unter provença-
lischer Flagge segeln, sei es durch irrtümliche Zuschreibung, sei es durch pseudepi-
graphische Maskerade verursacht. Zur ersten Gattung gehört der umfangreiche Kom-
mentar zu Jesira, der in den Drucken unter dem Namen des Abraham ben David, des
Rabad, geht, als dessen wahren Autor ich aber den spanischen Kabbalisten Joseph ben
Schalom, auch Joseph der Lange genannt, nachgewiesen habe, vgl. Kirjath SepherlV,
S. 286—302, der kurz nach 1300 schrieb. Zur zweiten Gattung gehört das merkwürdige
Buch Sod Darkhe ha-'Othijoth, „Mysterium der Wege der Konsonanten", das unter
wechselnden Titeln, meistens nur fragmentarisch, in verschiedenen Hss. erhalten ist,
zum Beispiel in Vatikan 441, Bl. 183a—209a; Paris 770, Bl. 2 0 9 - 2 1 4 ; Mussajoff
(Jerusalem) 92, Bl. 14b—27a; New York 844, früher Kat. Schwager und Frankel 35,
Nr. 96, Bl. 169a—173a; New York Enelow Memorial Collection 704, Bl. 1 — 7. Dieses
Buch gibt sich in seiner Einleitung als ein Sendschreiben des Abraham ben David,
der im Einvernehmen mit einer ganzen Kabbalistenversammlung „nach Art des großen
Synhedrions' ' die Mysterien der Konsonanten, Vokale und der Wirkungen der heiligen
Namen aus alten Überlieferungen (sämtlich pseudepigraphischer Natur) gesammelt
haben will. Zu seinem Kreis werden hier gerechnet ein Jakob ben Meschullam aus
Damaskus, ein Ezra ben Salomo Kohen aus Deutschland, ein Jakob aus Spanien. In
der Hs. Enelow wird die ganze Schrift auf die „Gelehrten Lunels" zurückgeführt und
außer den vorgenannten noch ein großer Meister Isaak ha-Parusch genannt. Die nier
vorgetragene Kabbala gehört aber nach Kastilien ans Ende des 13. Jhs. und bezweckt
eine theoretische Grundlegung der Magie. Ihr Stil ist manchmal merkwürdig eng mit
dem des Moses de Leon verwandt. Die Schrift verdient in anderen Zusammenhängen
übrigens durchaus Beachtung.
Scholcm, Kabbala 21
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322 Die ersten Kabbalisten in der Provence
21·
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IV
worin ihm Graetz und andere gefolgt sind13. Dies Vorwort mit seinen
Erzählungen über die Debatten des Autors mit philosophischen Geg-
nern der Kabbala und über seine Wanderungen gehört einem um
mehrere Generationen späteren Autor an, der zwar eine kleine Schrift
Azriels aufnahm und plagiierte, jedoch deutlich von ihm zu unter-
scheiden ist 14 .
Von Ezra ben Salomo, der gegen 1235 gestorben ist, besitzen wir
seinen Kommentar zum Hohen Lied, der 1764 in sehr mangelhaftem
Text in Altona unter dem Namen des Nachmanides gedruckt ist, sich
aber in vielen ausgezeichneten Handschriften erhalten hat 1 5 . Ferner
haben wir seinen Kommentar zu den talmudischen Aggadoth. Beide
Bücher oder Exzerpte aus ihnen waren weit verbreitet. Zwei kabba-
listische Briefe von ihm habe ich aus einer vatikanischen Handschrift
veröffentlicht16. Abraham Abulafia sah von ihm einen jetzt verlorenen
Kommentar zum Buch Jesira, dessen Traditionen er als „kurz und
richtig" bezeichnet 17 ; einzelne kabbalistische Stücke, so ein wichtiges
über den Baum der Erkenntnis, sind handschriftlich erhalten18.
Der Name von Azriels Vater ist uns nicht bekannt. Moses Botarel,
der in seinem Kommentar zu Jesira (III, 1) einen Azriel ben Menachem
nennt, ist so erfindungsreich in Zitaten, daß seine Angaben ohne andere
Stütze keinerlei Vertrauen verdienen. Wir besitzen von Azriel eine
ganze Anzahl von Schriften, sämtlich kabbalistischen Charakters. In
Ascher beginnt die Verwirrung in der Zuschreibung an Azriel, die sich bei Menachem
Recanati und Isaak aus Akko fortsetzt. Unerklärt ist, warum Recanati in seinem Tora-
Kommentar den Autor richtig als den Hakham R . Ezra bezeichnet, in seinem späteren
Buch über die Gründe der Verbote dagegen stets als den Chassid R . Azriel. In der
Hs. Parma, de Rossi 1072 wird das Buch schon 1387 fälschlich dem Nachmanides zu-
geschrieben.
16 Vgl. Sepher Bialik (1934), S. 155—162. Die besonders inhaltsreichen Briefe sind
an einen R . Abraham gerichtet und erwähnen (S. 159) ebenfalls die „Gruppe der Ge-
nossen". In einer defekten und öfters abgekürzten Fassung stehen diese Briefe aber
(der erste mit anderer Einleitung) unter Azriels Namen in der Hs. Enelow Mem. Coll.
2271), Bl. 5 b — 6 b . Hat Azriel vielleicht wirklich Briefe Ezras überarbeitet ?
« Vgl. Beth ha-Midrasch I I I , S. X L I I I von Jellineks Einleitung.
18 In den meisten Hss. ist dies Stück unter dem Titel Sod 'Es ha-Daath anonym
erhalten. In Christ Church College 198, Bl. 8 b wird es ausdrücklich dem Ezra zuge-
schrieben, zu dem es stilistisch und sachlich in der T a t ausgezeichnet paßt. Ich habe
es im Eranos-Jahrbuch 30 (1962), S. 11 — 19, übersetzt und besprochen.
Kopf, der sich das Recht nimmt, Mysterien und Gründe für die Gebote
aus seinem eigenen Sinn neu zu produzieren, und sich dabei nicht nur
auf die Überlieferung seiner Lehrer, unter denen er Isaak den Blinden
nennt, zu verlassen. Er rühmt sich dessen offen: „Hätte ich dies
nicht aus meinem eigenen Sinn neu gesagt, würde ich behaupten, daß
es eine Überlieferung an Moses vom Sinai her sei"28. Darin liegt sein
Hauptunterschied von Ezra, dessen Erklärungen er oft auch direkt
widerspricht. Andererseits liegt ihm die spekulative Tiefe Azriels fern.
Demgegenüber zeichnet er sich durch eine Eigenschaft aus, die in
diesem Kreis neu ist und unsere Aufmerksamkeit besonders erregt.
Alle bisher genannten Kabbalisten seit Isaak dem Bünden erscheinen
in ihren Schriften niemals als Kämpfer. Bestenfalls suchen sie
ihre Meinungen darzulegen, vielleicht unter Verhüllungen und
Glättungen, aber ohne polemische Note. Mit Jakob ben Schescheth
escheinen die Kabbalisten zum erstenmal mit offenem Visier
auf dem Schlachtfeld. Der Feind ist klar: die philosophische
radikale Aufklärung der Anhänger des Maimonides. Wir besitzen
handschriftlich Jakobs polemisches Werk Meschibh Debharim nekhohim,
„Das Buch, das richtige Antwort erwidert"29. Es ist eine ausführliche
Polemik gegen ein philosophisches Werk über die Schöpfung von
Samuel ibn Tibbon, dem hebräischen Übersetzer von Maimonides
„Führer der Verwirrten"30. Neben die Polemik tritt in eigenen Ka-
piteln die Darlegung der echt jüdischen Anschauung der Traditiona-
listen, welche hier nun ganz offen mit den Kabbalisten identifiziert
werden. Zwischen den kabbalistischen Erklärungen des Autors über
die Weltschöpfung und andere bedeutende Themen und seinen pole-
mischen Ergüssen besteht eine innere Verbindung nur insofern, als
die Polemik sich von den kabbalistischen Grundüberzeugungen nährt.
Im Unterschied zu Azriel begründet er diese aber nirgends und be-
gnügt sich mit ihrer Darlegung. In der Polemik geht sein Buch sehr
weit. Dabei ist merkwürdig, daß Samuel ibn Tibbon, den Jakob so
erbittert bekämpft, bei Ezra ben Salomo eher ehrend zitiert wird. Ich
glaube nämlich, daß Ezra Samuels Kommentar zum Hohen Lied im
Sinne hatte, als er in seinem eigenen Kommentar zu 11 sagte: „[Der
Autor des Hohen Liedes] verglich die Debhequth der Seele mit einem
Kuß, und da der Kuß durch den Mund geschieht, mußte er in Fort-
setzung seines Gleichnisses sagen [obwohl er in Wahrheit die Vereini-
gung der Seele mit dem aktiven Intellekt meinte] : er küsse mich mit
den Küssen seines Mundes, wie dies schon vor mir einer von den zeit-
28
Vgl. 'Emuna u-Bittahon, Kap. 5.
28
Hs. Oxford, Neubauer 1585 und 1586. Eine Ausgabe des Buches ist ein wichtiges
Desiderat.
80
Samuel ibn Tibbons Buch Ma'amar jiqqawu ha-Majim, Preßburg 1837. Nach-
manides zitiert dieses Werk ohne Ressentiment in seiner Predigt über Qoheleth, S. 13.
der eigenen freien Produktion der Kabbalisten die Bahn und haben
dabei mehr Nachfolger gefunden als ihre ängstlicheren und konser-
vativeren Mitstreiter.
Ein nicht minder bedeutendes Dokument ist Jakobs in Reimprosa
abgefaßte Schrift Scha'ar ha-Schamajim, „Die Himmelspforte", die
erste kabbalistische Schrift, die in diesem Stil geschrieben ist se . Nach
der präzisen Angabe über die Verzögerung der Ankunft des Messias
ist das Buch 1243 oder 1246 verfaßt worden — die Lesarten variieren.
Der Traktat stellt im Wesentlichen eine Aufzählung der zehn Sephiroth
dar, wobei in einer durch den Musivstil nur dem Kenner der kabba-
listischen Symbolik dieses Kreises deutlichen Weise alle Hauptmotive
der einzelnen Sephiroth, ihre Bedeutung, ihre Symbole und die mit
ihr in besonders engem Zusammenhang stehenden Gebote und Ver-
bote in großer Kürze abgehandelt werden39. Dabei sind von beson-
derem Interesse seine relativ langen Ausführungen über die erste
Sephira, die selber als die erste Ursache, der Wille und die innerste
Wesenheit bezeichnet wird, Bestimmungen, die auch in den zwei
anderen Büchern wiederholt werden40. An die Stelle der Mahschabha
oder vielmehr über sie ist auch bei ihm schon der Wiüe getreten, über
den er sich ähnlich wie der von ihm übrigens nicht genannte Azriel
ausläßt. Am Ende der Erklärung über die Sephiroth kommen relativ
klare Andeutungen über die Seelenwanderung, über Lohn und Strafe,
um dann mit einer fulminanten Invektive gegen die Thesen der Auf-
klärer zu schließen. Ihre Argumente, die er hier anführt, sind die der
reinen Aristoteliker im „Führer der Verwirrten" (II, 14), woher er
sie offenbar genommen hat. Bemerkenswert ist dabei seine Auslassung
über ihre spiritualistische Gebetsauffassung, gegen die der Kabbaiist
hier im Interesse der Orthodoxie vom Leder zieht. Er wirft ihnen vor,
sie behaupteten, man brauche die Gebete nicht zu sprechen, sondern
sie nur zu denken, ja, wer sich mit dem aktiven Intellekt vereinigt
habe, brauche sich an die Pflichtgebete nicht gebunden zu halten.
Nicht die „Erhörung" durch Gott, sondern die Reinigung des eigenen
Gedankens und Sinnens sei der eigentliche Sinn des Gebets41. Hier
38
Von M. Mortara in Osar nehmad III (1860), S. 153—165 veröffentücht, dem die
frühere Ausgabe nach einer anderen Hs. in den Liqqutim me-Rabh Haj Gaon, Warschau
1798, Bl. 15a—25a, unbekannt geblieben war.
38
Während spätere Kabbalisten sich bemühen, alle Gebote der Tora den sieben
unteren Sephiroth zuzuordnen, kennen die ältesten Kabbalisten noch ganze Klassen
von Geboten, die sie den drei obersten zuordnen.
40
Vgl. Scha'ar ha-Schamajim, S. 155, mit 'Emuna u-Bittahon, Kap. 5 und 12,
und Meschibh, Hs. Oxford, Bl. 66a. Auffällig ist die Vermeidung des Begriffes Kether
'Eljon in seinen Schriften.
41
Die von Jakob bekämpfte Auffassung wird in der Tat in der bisher nicht nach-
gewiesenen Quelle der pseudo-maimonidischen „Kapitel über die Einheit", Peraqim
haben wir also, bemerkenswert genug, eine von den Kabbalisten ver-
worfene Form der Debhequth vor uns, die im Kontrast zu der von
ihnen selbst gepflegten Mystik des Gebets steht. Wirkt doch die kabba-
listische Lehre von der Kawwana einer reinen Spiritualisierung des
Symbolischen im Gebet entgegen. Man fragt sich, ob etwa diese hier
angegriffene Theorie von dem von ihm früher bekämpften Samuel ibn
Tibbon in seinem Kommentar zum Hohen Lied entwickelt worden
ist 42 ?
Jakob ben Schescheth war älter als die berühmteste Persönlichkeit
dieses Kreises, Moses ben Nachman, der sich, wie aus Traditionen
seiner Schüler hervorgeht, in mündlichen Äußerungen über Kabba-
listisches auf ihn berief43. Nachmanides (etwa 1194—1270) nahm die
zentrale Stellung in diesem Kreise kraft seiner überragenden Autorität
auf talmudischem Gebiet ein. Wir haben uns hier nicht mit dieser
Seite seiner Tätigkeit zu befassen, in der er schnell zur größten hala-
chischen Autorität seiner Generation in Spanien wurde. Er begann
schon in sehr jungen Jahren zu schreiben, von etwa 1211 an, und als
1232 in Frankreich und Spanien der große Konflikt über die Schriften
des Maimonides ausbrach, genoß er schon weithin reichendes An-
sehen und alle Parteien wandten sich an ihn. In dem darauffolgenden
Menschenalter ist er der unbestrittene Sprecher des aragonischen
Judentums auch vor den staatüchen Behörden, bei denen er unter
dem spanischen Namen Bonastruc de Porta (oder katalanisch Saporta,
wie die weitverzweigte Familie oft in den Urkunden heißt), bekannt
war. Als 1263 ein früherer Jude aus der Provence, Paulus Christiani,
vom Dominikaner-Orden unterstützt, Religionsdisputationen mit den
jüdischen Gemeinden erzwang, wurde Nachmanides vom König zum
mi-Jihud Kap. 6, vertreten, vgl. in G. Vajdas Edition dieses aus Kabbala und Philo-
sophie merkwürdig gemischten Traktats, Qobeç 'al Jad, Bd. V (1961), S. 123—125,
sowie Tarbiz 28 (1969), S. 214. Das dort von mir gedruckte Stück aus einem Sepher
ha-Jihud ist eben das von Vajda edierte. Interessant ist, daß im 16. Jh. Joseph Asch-
kenasi in Safed, dessen Denunziationen des Unglaubens ich in Tarbiz a. a. O. besprochen
habe, sich über diese Theorie genau so entrüstet wie mehr als 300 Jahre vor ihm der
Kabbaiist in Gerona.
42
Die oben gegebene Charakteristik zeigt, wie irrig Steinschneiders Urteil war:
„Jakob ben Schescheth ist selbst weniger Mystiker als orthodoxer Theolog; allein
seine polemische Stellung zu den Philosophen genügte der bald auf ihn folgenden
kabbalistischen Schule, um ihn als Gewährsmann aufzuführen", vgl. Gesammelte
Schriften I, Berlin 1925, S. 35. Die von Steinschneider dort erwähnte Epistel Jakobs,
die Isaak von Akko zitiert, ist nichts als die oben erwähnte Invektive am Ende des
Scha'ar ha-Schamajim.
41
Ich habe solche Angaben des Nachmanides z. B. im Namen des Isaak ben Todros,
seines Schülers, im Kether Schern Tobh des Schemtob ibn Gaon gefunden, Hs. Parma,
de Rossi 1221, Bl. 236 a, sowie in einer Äußerung des Schescheth auf einem Pergament-
schnitzel, den ich im Einband der Hs. Vatikan 202 fand.
22*
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340 Das kabbalistische Zentrum in Gerona
44
Vgl. die Literatur über die Disputation von Barcelona bei Graetz VII, S. 120
bis 126; Cecil Roth, Harvard Theol. Rev. Bd. 43 (1950), S. 1 1 7 - 1 4 4 . Wichtig für die
Frage der Ausbreitung der Kabbala in Aragonien ist die Tatsache, daß, als 1263 die
Juden auf königlichen Befehl ihre Bücher einer Zensorenkommission zur Prüfung
abliefern mußten, kein einziges Buch kabbalistischen Inhalts abgeliefert wurde. Da
aus diesem Material dann das Werk Pugio Fidei des Raimundus Martini gearbeitet
wurde, erklärt sich, daß dieser Autor nichts von der ganzen kabbalistischen Literatur,
die doch im Lehrhaus von Gerona ihr Zentrum hatte, wußte. Man hat diese Schriften
offensichtlich zurückgehalten. Auch Paulus Christiani beruft sich dem Nachmanides
gegenüber niemals auf dessen Eigenschaft als Kabbaiist, von der er offenbar nichts weiß.
45
Die beste Ausgabe ist, nach einer vollständigen Hs., Jellineks 2. Edition unter
dem Titel Torath 'Adonaj temima, Wien 1873.
4e
Von mir in Kirjath Sepher VI, S. 415—417 ediert. Ich habe dort, S. 410—414,
auch eine kleine Abhandlung über den esoterischen Sinn der Tora ediert, die dem
Nachmanides zugeschrieben wird und die jedenfalls, falls sie nicht in der Tat echt ist,
aus dem Kreis von Gerona stammt. Sie ist von beträchtlichem Interesse.
ranken47. Isaak von Akko erzählt: „Ich habe einen Schüler gesehen,
der von den unmittelbaren Schülern des Nachmanides empfangen hat,
der diesen Weg [der radikalen Ausdeutung] bis zum äußersten Ende
verfolgt hat, die Worte des Meisters, einschließlich derer, wo er nach
dem Wortsinn erklärt, ganz genau zu nehmen und sie auf kabbalistische
Weise zu erklären. Dadurch irrte er in vielen Dingen, die der Meister
niemals auch nur mit der geringsten Andeutung zu sagen beabsichtigte,
sondern wo er beim reinen Wortsinn stehen blieb48." Für die schon früh
einsetzende Tendenz zur fortschreitenden Komplikation der kabba-
listischen Ideen ist dies Zeugnis sehr wertvoll. Es ist jedoch sicher,
daß Nachmanides in weitem Umfang über kabbalistische Traditionen,
die ihm in seiner Jugend durch mehrere Kanäle zugekommen sein
dürften, verfügte, sie sich auf seine eigene Weise zurecht legte und
miteinander verband. Er ließ sich in vielen seiner Schriften, sogar
in Halachischem49, gern auf mehr oder weniger ausführliche Andeu-
tungen kabbalistischer Gedankengänge ein, die vor allem, mehr als
sie enthüllten, angetan waren, den Appetit des Lesers nach weiterer
Einweihung in diese Mysterien anzuregen. In diesem Sinn kann der
propagandistische Einschlag und Wert von Nachmanides Schriften
nicht hoch genug veranschlagt werden.
Die unbezweifelte Autorität des Autors als eines Kämpfers und
Vertreters des überlieferten Judentums mußte in seinem Kreise jedem
möglichen Einwand gegen die Orthodoxie der von ihm als das eigent-
liche Mysterium im Judentum gepriesenen Gedanken die Spitze ab-
brechen. Der Prozeß der Rezeption des alten kabbalistischen Gutes
in die sozusagen offiziellen rabbinischen Kreise, den wir in der Familie
des Rabed zum erstenmal verfolgen konnten, wird durch Nachmanides
vollends besiegelt. Außer seinem Kommentar zur Tora und zum Buche
Hiob, dessen eigentlicher Schlüssel nach ihm in der kabbalistischen
47
Zwischen 1290 und 1330 bilden solche Superkommentare eine ganze Gattung
der kabbalistischen Literatur, die für die Erforschung der Kabbala vor allem in der
Zeit nach 1250 von großem Wert ist. Außer Bachja ben Ascher, dessen Tora-Kommen-
t a r in seinen kabbalistischen Stücken oft den Charakter eines solchen Superkommentars
hat, gehören hierher u. a. die speziellen Schriften des Schemtob ibn Gaon, Kether
Schern tobh ; des Isaak aus Akko, Me'irath 'Enajim ; des Josua ibn Schu'eib und dessen
Überarbeitung durch Meir ben Sahula, der anonyme Kommentar Kabbalath Saporta
(wohl nach dem Familiennamen des Nachmanides so genannt ?).
48
Me'irath 'Enajim, Hs. München 17, Bl. 162b.
4
· An den Anfang seiner Schrift über die halachischen Bestimmungen über Ge-
lübde, Hilkhoth Nedarim, setzte er ein längeres kabbalistisches Gedicht in aramäischer
Sprache, das J . Reifmann in der Monatsschrift ha-Karmel, II (Wilna 1874), S. 375
bis 384, abgedruckt und kommentiert hat. Die Schrift gehört zu seinen Jugendwerken.
Ferner bringt N. in seinen Novellen zum T r a k t a t Schabhu'oth 29a ein in Reimprosa
und strikt kabbalistischer Symbolik verfaßtes Stück über den Unterschied von Ge-
lübden und Schwüren.
die talmudische Deutung, den Midrasch hinaus noch eine neue Schicht
des Mystischen oder Symbolischen eröffnet, die der jüdischen Öffent-
lichkeit in weitem Maße erst durch Nachmanides Schriften bekannt
wurde. Dabei fällt die völlige Abwesenheit der Allegorie auf, die bei
Nachmanides als ganz individueller Zug zu betrachten ist. Die kabba-
listischen Mysterien der Tora sind von ganz anderer Art als die, die die
Philosophen besprechen. Die Philosophen verstehen unter „Geheim-
nis", besonders in der Literatur des Maimonides und seiner Schüler,
das was durch Anwendung der rationalen Grundsätze aufs Schrift-
wort oder auf die Aggada spekulativ erschlossen wird. Sod ist eine
Leistung des Denkens, das eine Schicht des Sinnes aufdeckt, welche
rationale Wahrheit im Schriftwort enthüllt. Es ist nicht etwas, das
Bestandteil einer Erleuchtung oder einer Tradition sein müßte. Kurz,
es liegt hier ein, von der Allegorie bestimmter rationaler Begriff von
Sod vor. Ganz anders ist der Sprachgebrauch von Ezra oder Nach-
manides, die unter Sod nur das verstehen, was schon in ihrem Kreis
Gegenstand eines kabbalistischen Traditionsstoffes geworden ist. So
hält zum Beispiel Nachmanides die vielberufenen „Geheimnisse" in
den Kommentaren des Abraham ibn Ezra nicht für solche im Sinne
seines kabbalistischen Sprachgebrauchs, und darf sie daher anzweifeln.
Übrigens ist er der Meinung, die freilich historisch unbegründet ist,
daß ibn Ezra einige der kabbalistischen Lehren zu Ohren gekommen
seien, und er billigt denn auch diese einschlägigen, oder die von ihm
so verstandenen, Andeutungen. Da nicht Nachmanides selbst erst,
sondern schon ibn . Ezra diese Sodoth als solche bezeichnet und Nach-
manides sie als solche zitiert, läßt sich für seinen eigenen Sprach-
gebrauch daraus nichts folgern. Manche Kabbalisten, wie Jakob ben
Schescheth, sind freilich durchaus nicht abgeneigt, solche Allegorien,
wo es ihnen paßt, aufzunehmen und solcherart philosophische und
kabbalistische „Geheimnisse" nebeneinander zu stellen oder auch zu
verbinden. Anders Nachmanides: er polemisiert gegen viele Positionen
des Maimonides, gegen seine Stellung zu der Frage des Wunders, der
Vergänglichkeit der Welt, der Angelologie und Eschatologie, über
den Sinn der Opfer, die Natur der Schekhina und anderes, aber nie-
mals läßt er sich in eine Polemik über die Allegorese, in der philoso-
phische Gedankengänge aus Metaphysik, Psychologie und Ethik in
religiöse Begriffe eingekleidet werden sollen, ein. Er nimmt diese Art
der Allegorie einfach nicht zur Kenntnis. Um 1240, als Nachmanides
auf der Höhe seiner Wirksamkeit stand, war das etwas durchaus
Einzigartiges im kulturellen Klima des spanischen Judentums.
Fünfzig Jahre später behandeln Salomo ben Adreth und Bachja ben
Ascher die Allegorie als gleichberechtigte Kategorie neben der eigent-
lichen kabbalistischen Schriftdeutung. Derselbe Salomo ben Adreth,
der später in dem großen Bannstrahl von 1305 sich gegen die Aus-
57 Ich habe mich nicht davon überzeugen können, daß Ramon Lull in seiner Lehre
von den dignitates der Gottheit auch historisch von der Kabbala beeinflußt sei, wie
Jose Millás, Algunas relaciones entre la doctrina luliana y la cabala, in Sefarad X V I I I
(1958), S. 241—253 wahrscheinlich zu machen gesucht hat. Die gemeinsame struk-
turelle Verwandtschaft mit Scotus Erigenas Lehre in den hier in Betracht kommenden
Punkten erklärt die Parallelen zur Genüge, vgl. Frances Yates, Ramon Lull and John
Scotus Erigena, Journal of the Warburg and Courtauld Institute X X I I I (1960),
S. 1—44. Gerade in den Namen und der Struktur der Sephiroth und der dignitates
ist die Übereinstimmung nur ganz äußerlich und flüchtig, wie sie sich aus der Auf-
zählung der göttlichen Attribute zum Teil von selber ergeben mußte, und gerade die
Zehnzahl der Attribute ist Lull unbekannt.
Wilna 1883, Bl. 20a. Als Lehrer des Nachmanides in der Kabbala wird er auch in Sa-
hulas Superkommentaren zu N., Warschau 1875, Bl. 32 d, und in Schemtob ibn Gaons
Kether Schern tobh, Bl. 47 b, bezeichnet, vgl. die Stelle in Kirjath Sepher VI,
S. 390.
5 9 Hs. De Rossi 68, Bl. 6 b : „Ich habe gehört, daß der Meister und ben Belima
eine Diskussion hierüber hatten und daß ben Belima ihm die Sache aus der Schrift
bewies". Vgl. den Text dieser und weiterer Überlieferungen über ben Belima in Re-
schith ha-Kabbala, S. 241—243.
Ghirondi 62, Casanatense 181, Oxford 1945, Christ Church College 198,
Vatican Ebr. 202.
M Vgl. Barzilais Abhandlung Hs. Christ Church College 198, Bl. 73b—74a, sowie
Günzburg 131, Nr. 9. Das zweite Stück dort ist ein wörtlicher Auszug aus Jakob ben
Schescheths Werk gegen ibn Tibbon unter Auslassung aller Exkurse, die nicht direkt
auf die hier gegebene Exegese von Ps. 144 Bezug haben. Jakob erwähnt dort, Hs.
Oxford BI. 38a, Barzilais Erklärung zu Gen. 1 3. Ob er wirklich dessen Abhandlung
über den Psalm in sein Buch aufgenommen und erweitert hat, scheint mir nicht sicher;
eher scheint es umgekehrt zu sein.
e s Aschers Perusch Schern ha-mephorasch ist von Chassida in ha-Segulla, Heft 2—10
ediert worden. In Hs. Paris 680 folgt auf Nachmanides' echten Jesira-Kommentar
Aschers Abhandlung ebenfalls unter N.s Namen als „Inbegriff des Buches Jesira von
dem großen Meister Moses bar Nachman". Hieraus erklärt sich, daß Abraham ibn
Migasch, Kebhod 'Elohim, Konstantinopel 1585, Bl. 110a/b, ein langes Zitat aus dieser
Schrift als aus dem Jesira-Kommentar des Rambam (lies: Ramban) anführt. Aus
Aschers Schriften stammen Bilder, die die Literatur der alten Kabbala in unendlichen
Varianten durchziehen, wie die Auffassung der sieben unteren Sephiroth als Menora
und als Traube, und die aller zehn Sephiroth als Kleider, die den Glanz der Gottheit
verhüllen, obwohl sie zugleich in ihnen wirkt und sich in ihnen darstellt.
ββ In einigen Hss. eines Textes von Ascher, wo aber sein Name nicht als Autor
genannt wird, heißt er in der Unterschrift „ein gelehrter Kabbaiist, der von unseren
heiligen Lehrern empfangen hat, aus der Stadt Béziers", vgl. Enelow Mem. Coll. 655,
Bl. 15a und Gaster 199, Ende von Nr. 2.
Nachmanides war, ist wohl aus dieser entstanden. Die Angaben über Ezras Todesjahr
stehen bei Ad. Neubauer, Mediaeval Jewish Chronicles I, S. 95 und 103.
Isaaks des Blinden selber ist, die wir in den Überlieferungen über seine
gebetsmystischen Meditationen und in seinem Kommentar zu Jesira
finden. Sogar die radikale Meinung, daß wer in seinem Gebet über die
„unendliche Ursache" statt über die Middoth sinnt, in Gefahr steht,
„verstoßen zu werden", also die Seeligkeit einzubüßen, ist auf vor-
sichtige Weise in seinem Jesirakommentar angedeutet (zu I, 7). Na-
türlich überspitzt der Briefschreiber die Anschauungen der Kabba-
listen und läßt sie zu vielen Göttern, die erschaffen seien, beten,
während die Kabbalisten der Schule Isaaks diese Annahme selbst-
verständlich aufs entschiedenste bestritten hätten. Besteht doch für sie
zwischen dem Kreatürlichen im eigentlichen Verstand, das heißt dem
Außergöttlichen, und dem Emanierten, das in Gott verbleibt und nur
eine Station seines eigenen Lebensprozesses darstellt oder um auch
dieses Bild zu vermeiden, einen Aspekt seiner Manifestation, ein durch-
aus prinzipieller Unterschied, den der Polemiker verwischt. Daß aber
die mystische Gottesauffassung, die in dieser Lehre von der Kawwana
zum Ausdruck kam, wirklich zu einem statisch verstandenen Mono-
theismus, wie er außerhalb der Kabbala im mittelalterlichen Judentum
gelehrt wurde, in starker Spannung stand, ist sicher. Es ist diese
Spannung, die wohl das Hauptmotiv dafür bildete, diese Ideen als
esoterisch zu behandeln. Isaaks Brief mit seiner Beschwerde über die
„Verwüstung der Pflanzungen", das heißt die Verletzung der Einheit
Gottes in seinen Sephiroth, durch unreife Geister beweist jedenfalls,
daß die Polemik des Meir aus Narbonne auch eine echte Adresse hatte
und nicht nur auf Mißverständnis aufgebaut war. Beide Dokumente
ergänzen sich und bestätigen, daß das Hervortreten der Kabbala und
ihre Propagierung in den Gemeinden sich keineswegs reibungslos voll-
zogen hat. Um so höher ist die nachhaltige Wirkung von Persönlich-
keiten wie Nachmanides einzuschätzen, deren Autorität in der Öffent-
lichkeit so groß war, daß sie Einwände wie die hier dokumentarisch be-
legten zum Verstummen bringen konnten. Isaak der Blinde, so hoch sein
Ansehen bei den Kabbaüsten selber stand, hatte in der jüdischen Öffent-
lichkeit nicht den Status, um solcher Polemik wirksam zu begegnen.
Ascher ben David selbst, der sich um die Glättung dieser Spannungen
bemühte, hat uns ebenfalls, in sehr konzilianter Sprache, die gleichen
Verhältnisse und Schwierigkeiten geschildert. Offenbar schrieb er, wie
er selber bezeugt, seine längeren Darlegungen über die Sephirothlehre
erst, als durch diese Spannungen und Skandale die Notwendigkeit sich
ergab, den Mißverständnissen entgegen zu treten. Dadurch erklärt sich
sein Abweichen von der durch die Verhältnisse hinfällig gewordenen
Reserve seines Onkels. Ascher schreibt:
Verächter, die den Mut aufgebracht haben und des Längeren unberechtigte
Anschuldigungen gegen die liebenswerten Schüler erhoben haben, die von
den Mystikern Israels [Maskile Israel] empfangen haben, die Gott
suchen, von den Frommen des Höchsten, die zu Gott schreien und erhört
werden, die alle Nöte ihrer Mitmenschen mitleiden und für sie vor ihrem
Schöpfer im Gebet eintreten, . . . durch die viele Wunder an Einzelnen
und der Gemeinde geschehen sind. Und über die Schüler, die bei ihnen
studiert und aus ihrem Munde empfangen haben, haben sie [die Gegner]
viele üblen Nachreden, denen nichts entsprach, in Umlauf gesetzt, und
es hätte wenig gefehlt, daß sie ihre Hand auch gegen ihre Lehrer erhoben
hätten. Vielleicht haben aber auch die Schüler selbst dazu beigetragen, weil
sie ihre Worte nicht genau wählten, sei es in ihren schriftlichen Äuße-
rungen, sei es in Reden vor jedermann. Obwohl ihre Absicht wohlgefällig
war, war doch ihre Sprache unzulänglich und ihre Wissenschaft dadurch
hinfällig, daß sie nicht den richtigen Weg zwischen genügender Mitteilung
an den Einsichtigen [Maskil] und Reserve vor dem Toren in ihren
Reden und Schriften einzuschlagen wußten, wodurch sie sowohl den einen
wie den andern vor Irrtum behütet hätten. So haben sie durch Dunkelheit
geirrt, indem sie ihre Worte nicht am geeigneten Platz deutlich gemacht
haben, und durch übermäßige Ausführlichkeit, wo sie ihre Mysterien
hätten geheim halten sollen. Ihre Leser oder Hörer verstanden ihre Meinung
nicht und haben ihren Gedankengang mißverstanden. So bildete sich bei
ihnen die Vorstellung, daß sie [die Schüler] an zwei höchste Prinzipien
glauben und wie Leugner der wahren Religion dastehen und daß sie die
Ursache der Ursachen ins Körperliche hinabziehen, als ob sie sich ver-
ändere. Und alles, was sie von ihnen dachten, sprachen sie aus und sagten,
daß sie einen Mittler zwischen sich und ihrem Schöpfer annehmen. Und
obwohl jene Schüler voll ausgebildet waren, so haben sie sich das doch
selbst als Folge ihres Hochmuts zuzuschreiben, daß sie nicht mit ihren
Worten zurückhielten und sich sogar zu Vorträgen in der Öffentlichkeit
verstiegen. Und es gibt auch manche unter ihnen, die nur halbgebacken
und unreif und nicht genügend eingedrungen waren. Sie gingen hin und
suchten die höchsten Sprossen der Leiter zu erstürmen, obwohl sie doch
nicht einmal zu den untersten aufgestiegen waren, und gaben dadurch
Anlaß zu Polemik und Gespött19."
Diese Äußerungen Aschers lesen sich wie eine Antwort auf das
erwähnte Rundschreiben des Meir aus Narbonne und sind vielleicht
wirklich als solche gedacht. Auch hier finden wir dieselbe Unter-
scheidung zwischen wirklichen Adepten, die nur nicht das richtige
Maß zu halten gewußt hätten, und Reden unreifer Geister, wie sie
auch Isaak der Blinde in seinem Briefe macht. Auch Aschers Kritik
bezieht sich wohl vor allem auf Ezras und Azriels Schriften, und hier
'» Vgl. a. a. O., S. 161.
wickelt waren, sich einige befanden, die der Kabbala zuneigten. Von
dem Rufer in diesem Streit, Meir ben Todros Abulafia in Toledo (aus
einer Familie aus Burgos), bezeugt sein Neffe, selber einer der be-
deutendsten Kabbalisten Kastiliens nach 1260, daß er „verborgene
innere Weisheit erlangt" habe, was bei ihm sicher Einweihung in die
Kabbala bedeutet84. Freilich wird diese, an sich zuverlässige Uber-
lieferung durch den erhaltenen Kommentar dieses Autors zum Traktat
Sanhédrin nicht bestätigt. Jedenfalls geht er auch an Stellen, die
später von allen Kabbalisten mystisch gedeutet werden, nicht auf der-
artige Spekulationen ein86. Sein Bruder aber, Joseph Abulafia, der
Vater des Kabbalisten, der in Burgos wohnte, spricht in einem seiner
Briefe in dem Streit von 1232 von den „Gelehrten der Kabbala" schon
ganz doppelsinnig. Es können darunter die talmudischen Traditiona-
listen selber verstanden sein, aber auch schon die Kabbalisten als deren
Kommentatoren, auf die wir uns, wo wir diese Gelehrten nicht mehr
verstehen, zu stützen haben. Sein Satz ist nicht eindeutig, scheint aber
bewußt so formuliert zu sein, daß er auch auf die Kabbalisten im
neuen Sinne Anwendung finden konnte. Da wir wissen, daß gerade um
diese Zeit Burgos ein wichtiges Zentrum der Kabbalisten wurde, liegt
es nahe, ihn so zu verstehen: „Es liegt euch nicht ob, die Grundlagen
der Religion auf der Wage der Vernunft zu wägen. . . . Vielmehr
solltet Ihr den Spuren der Visionen der Propheten und ihrer Mysterien
nachgehen und an die Worte und Rätselreden [Allegorien] der Ge-
lehrten glauben. Und selbst wo ihre Worte verschlossen und versiegelt
sind, sind sie doch mit der Schrift der Wahrheit aufgezeichnet [d. h.
etwa: kabbalistisch zu verstehen] . . . Denn alle ihre Wege sind Wege
der Anmut und ihre Reden haben einen tiefen Sinn, und was können
wir anderes tun, als uns auf die Gelehrten der Kabbala in allem, wo
wir die Deutung ihrer Worte nicht verstehen, zu verlassen, wie sich
M
Vgl. Todros Abulafia, Osar ha-Kabhod (1879), Bl. 16d.
86
Er hätte hier, besonders zu Bl. 38 und im ganzen X. Abschnitt des Traktates
überreichlich Gelegenheit zu Andeutungen — wenigstens auf seine Bekanntschaft
mit mystischer Terminologie — gehabt. Sein Gebrauch des Wortes Kabbala ist dem
esoterischen Sprachgebrauch schnurstracks entgegengesetzt. Er sagt öfters, er wolle
alle Fragen der Eschatologie nur „nach der Kabbala, die in ganz Israel verbreitet ist",
erklären, also der exoterischen rabbinischen Tradition folgend, was ja der Gegensatz
zu der Kabbala ist, um die es sich bei den Mystikern handelt. Seine Bemerkung über
das himmlische Jerusalem (Bl. 98a) ist im Munde eines Besitzers esoterischer Weis-
heit schwer zu verstehen. Er sagt, er wüßte nichts darüber, wo sich dies Jerusalem
befände und ob es wirklich der Name einer Stufe in der himmlischen Welt sei ,,und
vielleicht wird Gott unsere Augen erleuchten, den Wortsinn dieser Lehre zu erklären".
Andererseits spricht er von der Unkörperlichkeit Gottes, die durch seine Unendlich-
keit bedingt sei, in Formeln, die auch die Kabbalisten hätten gebrauchen können
(Bl. 99b/c). Der Kommentar zu Sanhédrin ist unter dem Titel Jad Rama, Saloniki
1798, ediert worden.
ein Blinder auf seinen Führer, der ihn den richtigen Weg führt, stützt.
Denn alle Pflanzungen der Gelehrten der Kabbala sind eine Aussaat
der Wahrheit und keine leeren Worte 86 ." Daß Jona Gerondi, der
schärfste Kämpfer gegen die Maimonisten, auch wenn er selbst (wie
die beiden Abulafias) nichts Kabbalistisches hinterlassen hat, doch
dem kabbalistischen Zirkel angehört hat, haben wir schon oben ge-
sehen.
Dasselbe gilt für den anderen Chef der antimaimunistischen Partei
Salomo ben Abraham aus Montpellier. Nachmanides benutzt in seinem
Briefwechsel mit ihm eine Wendung, die er an anderen Stellen spe-
zifisch für mystisches Wissen verwendet, konnte also darauf rechnen,
daß sein Korrespondent solche Wendung verstand 87 . Das wichtigste
Beweismaterial hat sich aber wenigstens in Bruchstücken noch in der
Gegenschrift des Abraham, des Sohnes des Maimonides, erhalten, dem
noch zwei theologische Schriften von Salomo aus Montpellier und
seinem Schüler David ben Saul vorlagen. Abrahams Polemik gegen
diese, von ihm leider nur unvollständig zitierten Dokumente zeigt bei
all ihrer Bitterkeit ganz deutlich, daß die beiden esoterische und
mystische Lehren vertraten, wie wir sie im Kreis des Rabed und vor
allem in derselben Art und Aufmachung bei den deutschen und fran-
zösischen Chassidim finden. Alles, was über ihren angeblichen Anthro-
pomorphismus gesagt wird, trifft genauestens auch die Mystik des
Eleazar aus Worms und die Kabbalisten! Man hat also diese Anti-
Maimunisten nicht richtig eingeschätzt, wenn man sie als sture Tal-
mudisten charakterisierte. Soweit Abraham spezifische Lehren und
Zitate von diesen beiden anführt, weisen sie eindeutig in diese Richtung.
Es scheint, daß diese Mystik des Kabhod sich auch bei ihnen schon
mit der älteren Form der provençalischen Kabbala verbunden hat.
Die Stellen sind ganz eindeutig, und erstaunlich ist nur, daß man sie
so beharrlich übersehen hat. Sie verteidigen keineswegs den Wortsinn
der anthropomorphistischen Aggadoth, sondern deuten auf ihren
„wahren" esoterischen Sinn hin 88 .
86
Qebufath Mikhtabhim, S. 16.
87
a. a. O., S. 64, wo aus dem Sprachgebrauch hervorgeht, daß Nachmanides, der
es ja wissen mußte, den Salomo aus Montpellier zu den JocTe Hen rechnet, was bei ihm
öfters als Bezeichnung der Mystiker benutzt wird. Die anthropomorphistischen Ag-
gadoth sind, wie er in seinem Hauptsendschreiben in diesem Streit sagt, eben nur den
Jod'e Hen verständlich, vgl. Qobes Teschubhoth ha-Rambam, Leipzig 1859, Bl. 9d.
Ähnlich auch zu Gen. 461 und in seiner Ausführung über die Seele in seiner halakhischen
Schrift Milhamoth Ά donai.
88
Vgl. die Zitate in Abraham ben Maimonides, Milhamoth Ά donai, Hannover
1867, S. 16, 20—21, und vor allem S. 29—35. Er wirft ihnen vor, daß sie über Eso-
terisches sprechen, ohne es zu verstehen. Die von ihm zitierten Anschauungen über
den Kabhod, dessen Erscheinung im Westen, über den Thron und den Vorhang davor,
Die Esoteriker und Gnostiker kämpfen — und das ist das Paradoxe
bei der Sache — gegen eine Spiritualisierung, in der sie eine Gefahr
für den lebendigen Glauben finden. Die gnostische Theosophie erfüllt
die Funktion, eine mystische Auffassung von Gott mit einem unge-
brochenen Glauben an die Werte und Wege der Tradition und deren
konkrete Gestaltungen zu verbinden. Die Polemik Jakob ben Sche-
scheths gegen die Spiritualisierung des Gebets, auf die oben hinge-
wiesen wurde, gehört in diesen Zusammenhang. Wenn wir fragen,
worum dann eigentlich der Streit ging, läßt sich antworten : die Philo-
sophen wollten Begriffe, die Mystiker aber Symbole. Die Maimonisten
entwarfen ein kontemplatives Weltbild, das allegorisch-rationaler
Natur ist. Alle Dinge bedeuten etwas, aber etwas, was sich im Grunde
aussprechen läßt. Die Kabbalisten in der Provence und in Gerona ent-
wickelten demgegenüber ebenfalls ein kontemplatives Weltbild, aber
eines, das symbolisch-irrationaler Natur ist. Die Allegorie, das radikale
Denkmittel der Philosophen, wird auf einen zweiten Platz verwiesen.
Die großen Symbole des göttlichen Lebens nehmen den ersten ein.
Alle Dinge bedeuten etwas, aber etwas Unaussprechliches. Ein Leben
ohne Worte und ohne Begriffe, ein Leben, das sich ihnen verschüeßt,
findet seinen Ausdruck in der neuen Symbolik. Der Kampf, den die
Geronaer Kabbalisten in verschiedenen Tonarten gegen die Maimu-
nisten führen, bezweckt im Grunde die Zerstörung eines Weltbildes
der allegorischen Immanenz. Gerettet werden sollten die Gebote und
Rituale der Tora als Symbole der Transzendenz, die in unsere Welt an
gewissen Stellen einbricht, nicht als Allegorien innerweltlicher Ideen
oder gar als innerweltliche „Erziehungsmethoden". Gerona ist kein
Zentrum der „Schwärmerei", wie sie sich dann in Abraham Abulafias
Lehren von der „prophetischen Kabbala", paradox genug, gerade auf
Maimonides selber berufen hat 89 . Es sind weniger ekstatisch auf-
flammende als in sich gekehrte, kontemplative Naturen, die hier zu
uns sprechen.
Das Symbol ist schließlich aus der Erinnerung an ekstatische Mo-
mente unaussprechlichen Gehalts geboren. Es hat etwas Aufreißendes
und Erschütterndes an sich. Die Kabbalisten von Gerona unternehmen
es, das Symbol in die Kontemplation zu bannen, ohne es zur reinen
Allegorie werden zu lassen. Das entwickelte Interesse für den sym-
bolischen Charakter des religiösen Lebens führt hier zur ersten großen
Welle der mystischen Kommentarliteratur. Die Bibel, die talmudi-
schen Aggadoth, die Vorschriften der Tora und die Gebete werden zu
entsprechen genau denen der esoterischen Schriften des Eleazar von Worms. Daß
dessen Schriften in der Provence und in Gerona bekannt waren, unterliegt keinem
Zweifel. Nachmanides bezieht sich in seinem großen Sendschreiben ausdrücklich
auf sie.
88 Vgl. dazu Kap. IV meiner Jüdischen Mystik.
Gründe solcher Gebote, die gerade bei den Geronaer Kabbalisten her-
vorgehoben werden, und deutet die Sephirothlehre an92. Ganz wie
Jakob ben Schescheth, wirft er den Rationalisten vor, daß sie nicht
mehr zu beten wissen, und verteidigt den mystischen Charakter gerade
derjenigen Aggadoth, die die Rationalisten am meisten in Verlegenheit
setzten :
Ihr, die an den Aggadoth Makel findet — sachte!
Vielleicht Mysterien sind's, nicht zu bereden93.
Er verteidigt den mystischen Anthropromorphismus der Kabbalisten
und sieht in ihnen die rechten Interpreten der Eschatologie, und be-
sonders des Begriffs der „Welt der Seelen94". Diese Gedichte sind un-
gefähr in den 40er Jahren geschrieben und bilden in ihrer betont kon-
servativen Haltung einen merkwürdigen Kontrast zu den zeitgenössi-
schen Angriffen des Meir ben Simon. Aber auch die angegriffenen
Rationalisten zahlten später in gleicher poetischer Münze heim und
machten sich über die Mysterien lustig, die Nachmanides in seinen
Kommentar zur Tora hineingeheimnist habe. Sie warfen ihm Mangel
an wissenschaftlicher Bildung und pfäffischen Hochmut vor95. Er
habe seine Blöße durch die Flucht in die Kabbala zugedeckt, wo es ihm
dann leicht gefallen sei, alles mit einem Schleier des Esoterischen zu
umgeben96. Diese und ähnliche Äußerungen sind aber erst nach seinem
Tod entstanden. Zu seinen Lebzeiten war die Autorität des Nach-
manides viel zu überragend, als daß sich solche Kritik hätte hervor-
wagen können.
Wir haben das Klima umschrieben, in dem die Kabbala in Gerona
zu einem wichtigen Faktor im Judentum heranwuchs. In diesem Kreis
sah man sich auch nach Bundesgenossen und möglichen Autoritäten
um, auf die die esoterische Tradition sich berufen konnte, ohne zur
Pseudepigraphie zu greifen. So kam Jehuda Halewi, dessen Kuzari
in diesem Kreis viel zitiert wird97, zum Rang eines Adepten, und auch
92
a. a. O. S. 55, 66, 81, 109.
»3 a. a. O. S. 109, 17.
M
a. a. O. S. 18, 34, 41, 91.
»5 Vgl. das Gedicht in he-Chaluz II (1853), S. 162.
94
Schiller-Szinessy, Catal. of the Hebrew Manuscripts in Cambridge (1876), S. 182.
Beide Stellen stammen aus der Polemik des Sacharía ben Moses Kohen. Um 1290
richtet andere heftige Äußerungen gegen Nachmanides Serachja ben Isaak aus Barce-
lona, vgl. Ozar Nechmad II (1857), S. 124—126. Er wirft ihm vor, die Ansichten der
Philosophen mit denen der Gelehrten des Talmud vermengt und dadurch Verwirrung
gestiftet zu haben, während in Wirklichkeit nicht einmal ein Anfänger in der Philo-
sophie in den Problemen, mit denen Nachmanides sich ohne Ausweg abgeplagt habe,
irgend eine Schwierigkeit gefunden hätte.
· ' Nachmanides zu Hiob in der Vorrede und zu 32 2 sowie Azriel in Schaar ha-Scho'el
benutzen eine Formel aus dem Kuzari I, 77. Ezra zitiert, ohne den Kuzari zu nennen.
I, 109, und IV, 25, im Kommentar zum Hohen Lied, Bl. 4a und dem Perusch 'Ag-
gadoth, in seinem Brief an R. Abraham dagegen nennt er ihn ausdrücklich und zitiert,
von ihm selber mystisch ungedeutet, die Erklärung des Opfers aus II, 26. Jakob ben
Schescheth zitiert in Meschibh, Hs. Oxford, Bl. 17 b den Kuzari I, 103. Die häufige
Benutzung in Nachmanides' Torakommentar hat schon Joseph Perles, Über den Geist
des Commentare des R. Moses ben Nachman zum Pentateuch, M. G. W. J. VII (1858),
S. 153, nachgewiesen.
98
Er tadelt die „Geheimnisse" ibn Ezras z. B. zu Gen. 241, lobt sie aber zu Exodus
29 48, im Scha'ar ha-Gemul, Ferrara 1556, Bl. 18a, und vor allem in seiner Predigt
über die Tora, S. 28, wo er über ibn Ezras Bemerkung zu Lev. 25z sagt: „In allen
seinen Büchern steht nichts, was mehr auf seine gute Kabbala hinweist, als diese
Stelle". Da er hier von einer entschieden kabbalistischen Lehre, über das Welten-
Jobel spricht, die er bei ibn Ezra angedeutet findet, benutzt er Kabbala hier zweifel-
los in der neuen technischen Bedeutung des Wortes, und nicht einfach im Sinne von
Überlieferung.
98
In der Vorrede zum Torakommentar zitiert er zwei Stücke aus der Sapientia
Salomonis, Kap. VII. Ferner erwähnt er das Buch in seiner Predigt über die Tora,
S. 22, und in der über Qoheleth, S. 9. Die letztere Stelle ist am interessantesten, weil
sie zu beweisen scheint, daß ihm das Buch vollständig vorgelegen hat.
10
« D. Neumark, Geschichte der Jüdischen Phüosophie II, 1. Hälfte (Berlin 1910),
S. 372.
Wir können in diesem Zusammenhang, wenn wir uns nun den An-
schauungen der Kabbalisten von Gerona zuwenden, nur einige be-
sonders wichtige Punkte hervorheben, an denen der Beitrag dieser
102 Vgl diesen Pseudo-Maimonides bei Moses Taku, Kethabh Tamim, in Oçar Neh-
tnad III, S. 66.
Element inne, das der Mensch ergreifen kann und soll und durch das er
mit der Sphäre des Göttlichen verbunden wird. Denn die Gebote selber
sind, in ihrem spirituellen Element, selbst Bestandteil des göttlichen
Kabhod104. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie die Mystik des
Opfers und die des Gebets schon bei den provençalischen Kabbalisten
in genaue Parallele gesetzt wurden. „Erhörung" des Gebets oder „An-
nahme" des Opfers weisen daraufhin, daß das Göttliche in den Bezirk
des menschlichen Willens, wo er sich dem göttlichen anschließt, ein-
bricht. Die beiden Motive der Aufhebung des eigenen Willens und
seiner Stärkung gerade in dieser Aufhebung und Selbsthingabe, die
sich zu widersprechen scheinen, bestehen in der Idee der Debhequth
nebeneinander und ineinander. Azriel hat diesen Gedanken zum deut-
lichsten Ausdruck gebracht. „Der Betende soll alles Hemmende und
Störende von sich abstoßen und das Wort zu seinem Ursprung —
wörtlich: zu seinem Nichts — zurückführen"105. Bringt er aber die
Worte an die Grenze des „Nichts", erleidet doch ihr Sein dabei keine
absolute Unterbrechung. Vielmehr erneuert es sich und schöpft aus
dieser Berührung mit seinem Ursprung „Kraft zum eigenen Bestand".
Die Debhequth des Menschen an Gott verwischt also nicht die Grenzen
zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern wahrt sie in dieser beson-
deren Form von Kommunion.
Wie weit diese Auffassung von der pantheistischen Identifizierung
des menschlichen und göttlichen Wesens entfernt war, lehrt aufs ein-
drucksvollste ein Stück, das sich anonym unter dem Titel,, Kapitel über
die Kawwana, von den alten Kabbalisten" in vielen Handschriften
findet, dessen Autor aber im engsten Kreis Azriels zu suchen ist. Nach
meiner Uberzeugung ist dem Stil und Gedanken nach Azriel selbst der
Autor. Dieser kurze Text gibt eine sehr genaue und kostbare Beschrei-
bung dessen, was in der Kawwana vorgeht. Die Ausführlichkeit und
Genauigkeit des Ausdrucks, die in der Literatur der Kabbala kein Ge-
genstück hat, haben wir zweifellos dem Umstand zu verdanken, daß
der Autor die Magie der Kawwana beschreiben wollte — dabei aber zu-
gleich ihr mystisches Wesen bis zu einem hohen Grad mitbeschrieb.
Tritt doch das Verhältnis dieser beiden Gebetshaltungen hier in sel-
tener Eindringlichkeit und Klarheit hervor. Die mystische Konformi-
tät des Willens wechselt sichtbar zu einer magischen hinüber, deren
Wurzeln, wie nicht vergessen werden darf, keineswegs erst kabba-
listisch sind. Ist es doch schon jene magische Nuance in der Konformi-
tät des Willens, die in einem berühmten Worte der „Sprüche der
104
Azriel zu den 'Aggadoth, S. 38. Ezra sagt (Hoheliedkomm. Bl. I I a ) : „Der
Vollzug des Gebotes ist selber Licht des Lebens", d. h. Manifestation des ihm inne-
wohnenden Kabhod.
106
In Azriels Thesen über das Gebet, § 9, Gedenkbuch Gullak-Klein, S. 215.
1W1
Mischna, Tr. Abhoth II, 4.
107 'or Nogah, nach Prov. 4 18. Wie aus der Fortsetzung folgt, meint er damit aber
den „Lichtglanz", der in der Merkaba-Vision Ez. 1 4 erwähnt ist, und zwar vielleicht
schon in der Nuance, wie ihn die kabbalistischen Kommentare zu diesem Vers ver-
stehen. In Nogah mischen sich Gnade und Gericht. Einen „Thron des Nogah" kennt
das '/j;'w»-Schrifttum als eine der Potenzen in der Merkabawelt.
108
Jenes absolut gute Licht, von dem Gen. 1 4 spricht.
109 Or bahir, nach Hi. 37 21. Die Unterschiede dieser Grade, wie sie dem Autor
vorschweben, sind uns nicht mehr bekannt. In der alten Literatur, vor allem bei
Saadia Gaon ist das Urlicht von Gen. 1 4 selber jenes 'Or bahir.
110 Or mazhir ist in der Literatur des '///MM-Kreises eine Art Astrallicht, in welchem
die prophetischen Visionen erscheinen, vgl. hier im übernächsten Satz das Licht, das
„den Glanz der Visionen beglänzt". Vgl. das von mir im Katalog der Jerusalemer
Kabbala-Hss., S. 209, gedruckte Stück über dieses Licht aus dem Merkaba-Kommentar
des Jakob ben Jakob Kohen.
111
Ich verstehe Joscher hier im Sinne von Hajschara, der Weg zur Seligkeit, im
Gegensatz zu Tokhahoth Mussar, den Heimsuchungen dessen, der von dieser rechten
Bahn abweicht.
Scholcm, Kabbala 24
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370 Das kabbalistische Zentrum in Gerona
112
Hier sind also gerade die beiden Begriffe der „vollkommenen Herrlichkeit" und
des „sich entziehenden Lichtes", die oben in gewissem Kontrast zueinander auftreten,
in einem einzigen verbunden.
113 v g l . über diesen Begriff der Haschma'a unten S. 388.
Geheimnisse der Dinge114 und Wesenheiten auf dem Wege der Hokhma und
mit dem Geist der Bina und mit der Festigkeit der Da'ath krönt115. Und in
dem Maß, wie er sich mit dem Geist bekleidet und seine Kawwana durch
seine Worte erläutert und ihr durch seine Handlungen ein sichtbares Zei-
chen setzt, zieht er den Ausfluß von Kraft zu Kraft und von Ursache zu Ur-
sache, bis seine Handlungen im Sinne seines Willens beendet werden. Und
solcherart pflegten die Alten eine Weile vor dem Gebet in Betrachtung zu-
zubringen116 und alle übrigen Gedanken abzulenken und die Wege ihrer
Kawwana [während des folgenden Gebets] und die Kraft, die auf deren
Lenkung zu verwenden wäre, zu bestimmen. Und ebenso [auch] eine Weile
während des Gebetes, um die Kawwana in der artikulierten Rede zu reali-
sieren. Und ebenso eine Weile nach dem Gebet, um darüber zu meditieren,
wie sie die Kraft der Kawwana, die in der Rede zum Abschluß gekommen
war, auch in die Wege der sichtbaren Handlungen lenken könnten. Und da
sie wahrhaft Fromme, Chassidim, waren, wurde ihre Tora Tat und ihr Werk
gesegnet117. Und dies ist der Weg von den Wegen der Prophetie, auf dem,
wer sich mit ihm vertraut macht, zum Rang der Prophetie aufzusteigen
vermag"118.
Die wahre Kawwana, die hier beschrieben wird, ist also identisch
mit dem Weg zur Prophetie, der über die Verwirklichung der voll-
kommenen Debhequth an Gott, des Anschlusses des menschlichen
Denkens und Willens an Gottes Gedanken und Willen geht. Dem
entspricht Azriels Analyse des Gebets in seinem Kommentar zu den
Aggadoth, wo das Wort der Mischna über die Gepflogenheiten der
alten Chassidim im Gebet ähnlich gedeutet und die Parallele zur Pro-
phetie gezogen wird119. Die Illumination, die durch die Debhequth
zu erlangen ist, kann also nur dem Grad, nicht aber ihrem Wesen
nach, von der Prophetie unterschieden sein. Der Prophet ist hier nur,
wie so oft im mittelalterlichen Denken, der vollkommene Mystiker.
Auch die Thesen Azriels über das Gebet, die durch ihre Prägnanz
bemerkenswert sind, gehen auf solche Theorie des mystischen Ge-
betes aus, die sie für die Stammgebete, das Achtzehn-Gebet (die
114
Hebr. Hephes wird hier durcheinander in den drei Bedeutungen: Anliegen,
Willensantrieb und Gegenstand gebraucht.
116
Diese drei Sephiroth bezeichnen die Stufen des Hervorgehens der Wesenheiten
edler Dinge aus dem mystischen Nichts, das noch vor der „Weisheit" liegt. In Gottes
Weisheit sind sie verborgen, in Gottes Nachdenken treten sie hervor, und in Gottes
Erkenntnis gewinnen sie Gestalt.
119
So in der Mischna, Berakhoth V, 1 über die „alten Chassidim**.
117 ygi. a u s demselben Zusammenhang in Berakhoth 32 b.
118
Ich habe den hebräischen Text zuerst in M. G. W. J. 78 (1934), S. 511—512,
veröffentlicht, habe aber damals die Zugehörigkeit zu Azriel, dessen Sprachgebrauch
hier fast in jeder Zeile wiederkehrt, noch nicht erkannt, und das Stück daher zu spät
angesetzt. Der bombastische Stil des Hebräischen weist auf den engen Zusammen-
hang mit der Sprache der '///««-Schriften hin.
"» Vgl. Perusch 'Aggadoth, ed. Tishby, S. 40.
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372 Das kabbalistische Zentrum in Gerona
finierte Gebet, in dem die Lebendigkeit der Quelle mit großer Kraft
sprudelt. Dies ist das Gebet der Form. Am höchsten aber steht das
Gebet dessen, der alles Hemmende von sich abwirft und das Wort
zu seinem Nichts zurückführt, das sein Ursprung im Nichts ist. Man
•wird hier unschwer die Verwandlung des Begriffes des Nichts zu einer
mystischen Kategorie bemerken. Dieses Gebet heißt im eigentlichen
Sinne des hebräischen Wortes Tephilla, was der Autor von dem Worte
Pillul, Gericht, ableitet. So soll auch das Gebet von der Bitte um die
Erfüllung körperlicher Bedürfnisse zu denen der Seele und dann in
die reine Spiritualität des Lebens der künftigen Welt aufsteigen.
Hier ist deutlich sichtbar, wie philosophische Gedanken von den
Mystikern aufgegriffen und in ihrem Sinne verwandelt werden. Schon
Ezra deutete das „sehr gut" in Gen. 1 31 auf die communio aller Dinge
mit dem Nichts, 'Ajin, die gerade das eigentliche Prinzip des Guten
sei und zugleich die „Ursache für die Erneuerung der Geschlechter"121.
Die Quelle dieser Vorstellung liegt offenbar in Jehuda Charizis Über-
setzung von Maimonides „Führer", die auch sonst von den Geronaer
Kabbalisten viel benutzt wurde. Dort heißt es III, 10: „Alles Gute
und Böse hat nur die Realität von Privationen [wörtlich : Nichtsen]
. . . und so hat er auch die Materie nach dieser ihrer Natur zur Wirk-
lichkeit gerufen, welche Natur auf ihrer [der Materie] dauernden Ver-
bundenheit mit dem Nichts beruht. Und darum sagt die Tora [Gen.
1 31] : ,Er sah, und siehe: sehr gut'; sogar die Realität dieser niedrigen
Materie ihrer Natur nach, die aus ihrer Verbindung mit dem Nichts
kommt, welche den Tod und alles Böse bedingt — all dieses ist gut
für den Bestand und die Dauer des Wirklichen, trotz der Veränderung,
die in den Akzidentien vorfällt." Von Charizis und Maimonides' philo-
sophischer Bibelerklärung war nur ein Schritt zum mystischen Miß-
verständnis der von ihm gebrauchten Terminologie, und so entstand
die kabbalistische Deutung von der ständigen Erneuerung der Welt
durch Gottes Güte, die sich in der beständigen Berührung alles Wirk-
lichen mit dem Nichts, das hier als höchste Potenz gedacht ist, reali-
siert. Dies Mißverständnis war aber nur möglich, weil die Kabbalisten
ihre Texte schon mit den Augen der neuplatonischen Mystiker lasen,
für die die Schöpfung aus Nichts schon selbst zu einem mystischen
Paradoxon geworden war. Dies führt uns auf die symbolische Aus-
drucksweise, mit der Azriel, mehr als jeder andere seiner Gruppe, die
Frage nach dem Ursprung der Schöpfung behandelt.
Die Geschichte der Umdeutung der Formel der Theologen von der
Schöpfung aus Nichts im Sinne der neuplatonischen Emanationslehre
121 Vgl Ezras Hoheliedkommentar, Bl. 27 a, nach der besseren Lesart der Hss.
Der Begriff der Generationen, Dorath, wird in Azriels Gebetskommentar, Hs. Oxford
1938, Bl. 223 a, mit Berufung auf die romanische Ubersetzung generaciones, auf die
Urgründe des Werdens, „die höchsten Ursachen alles Zeitlichen", gedeutet.
Im selben Sinn auch Jithron a. a. O., S. 208, und in § 8 des Schifar ha-Scho'el.
127 Vgl. den hebräischen Text im Gedenkbuch Gullak und Klein, S. 207.
Sein und Nichts sind also nur verschiedene Aspekte der eigentlich
überseienden göttlichen Realität. Es gibt ein Nichts Gottes, das das
Sein gebiert, und es gibt ein Sein Gottes, das das Nichts darstellt.
Die Art, auf die die Dinge im Nichts Gottes existieren, ist eine; die
Art, wie sie im Sein existieren ist eine andere. Beides aber sindModa-
litäten von 'En-sofh selbst, das die ungeschiedene Einheit des Etwas
und des Nichts darstellt.
Azriel benutzt dieselbe Stelle in Jesira II, 6, die von der Schöpfung
aus Nichts im wörtlichen Verstände handelt, um seine eigene mystische
Auffassung in den Text hineinzulesen. Dort heißt es wörtlich: „Er
gestaltete aus dem Tohu das Wirkliche und machte Was-Nicht-Ist
zum Was-Ist". Diese Worte, 'assa 'eno jeschno, können ebensogut
heißen: er machte das Nichtseiende zu einem Seienden, ohne daß
damit etwas über die Natur dieses Nichtseienden präjudiziert wäre
— diese Bestimmung könnte ja auf die platonische Urmaterie zu-
treffen —, wie auch : er machte das Nichts zu einem Etwas. Azriel nutzt
aber die besondere Struktur des hebräischen Satzes aus, wo 'eno „es
ist nicht" auch als Possessivpronomen verstanden werden kann: „sein
Nichts". Hierdurch erhält er die Aussage, daß Gott sein Nichts zu
seinem Sein gemacht habe, womit also Sein und Nichts als zwei ver-
schiedene Aspekte des Göttlichen selber bestimmt werden. Das Nichts
ist nicht DAS Nichts, welches von Gott unabhängig ist, sondern
SEIN Nichts. Die Verwandlung des Nichts ins Sein ist ein Ereignis
in Gott selbst, nämlich im Sinne Azriels jener Akt, in dem die gött-
liche Weisheit sich manifestiert, und beide, Nichts und Sein, sind nur
Aspekte des einen ungeschiedenen „Überseins"128.
Nachmanides hat dieselbe Idee in seinem Torakommentar so ge-
schickt verhüllt und offensichtlich bewußt das Exoterische mit dem
Esoterischen vermengt, daß man gar nicht bemerkt hat, wie sehr seine
Darstellung im Einklang mit der Lehre von der Herkunft der Hokhma
aus dem mystischen Nichts steht. Er bringt nämlich seine Lehre, auf
die er auch an anderen Stellen hinweist, nur in dem exoterischen Teil
seiner Erklärung vor, ohne das Kabbalistische deutlich abzusondern
oder den kabbalistischen Sinn, der hinter den gewöhnlichen Worten
steht, zu definieren. Dies führte manche Autoren zu dem phantastischen
Irrtum, Nachmanides vertrete in bezug auf die Schöpfung eine der
kabbalistischen geradezu entgegengesetzte Ansicht 129 . Natürlich klingt
128 Im selben Sinn gebraucht die Rede vom Nichts auch Jakob ben Schescheth,
Meschibh Kap. 19, Bl. 52b, sowie 'Emuna u-Bittahon, Kap. 12.
129 So z. B. M. Ehrenpreis, Emanationslehre, S. 32, und M. Grajwer, Die kabbalisti-
schen Lehren des Moses ben Nachman in seinem Kommentar zum Pentateuch, Breslau
1933, S. 31—36. Die letztere Schrift ist durchaus ungenügend und in entscheidenden
Punkten verfehlt. Die kabbalistischen Stellen bei Nachmanides bedürfen einer ganz
anderen, die gesamte Literatur dieses Kreises berücksichtigenden, Interpretation.
im v g i Jakob ben Schescheth, Meschibh Bl. 28a/b, der die Hokhma als Nosse Koah
Sche'ar ha-Debkarim bestimmt. Ähnlich Azriel, Perusch Aggadoth, S. 84.
131 Vgl. Jakob ben Schescheth a. a. O., Bl. 28 und 53a.
132 a. a. O., Bl. 30a—32b. Hier wird, Bl. 32a, die Deutung des Abraham bar Chija
in Hegjon ha-Nephesch 2a/b ausdrücklich als Quelle für die weitere Teilung von Hyle
und Form in je zwei Unterteilungen angeführt. Der Passus ist für die Art der Über-
nahme platonischer Exegese in der Kabbala sehr aufschlußreich. Vielleicht ist Jakobs
Paraphrase die unmittelbare Quelle für Nachmanides gewesen. Daß die Hokhma das
Fundament der Schöpfung sei, die „durch jene allem vorangehende und alles um-
gebende Wesenheit \die materia universalis] erfolgte", sagt auch Jakob, Bl. 35a.
133 J . Q. R . I V (1892), S. 249: Die Hokhma ist kemo Golem bit Sura.
13t Vgl. Perusch 'Aggadoth, S. 89, 92, 103, 105. S. 103 erklärt er das Tohu und Bohu
als in einem Orte gründend, der selber Tehom, Abgrund, heißt, „der unendliche,
grenzenlose und unerfoschliche Abgrund, der bis ins reine Nichts reicht". Der Abgrund
ist also nicht etwas wirklich Finsteres und Ungöttliches, sondern Symbol eines Mo-
mentes an Gott selbst. Genau so erklärt Scotus Erigena in de divisione naturae I I , 17
den finsteren Abgrund von Gen. l a als die unerkennbare Welt der ungeschiedenen,
ungestalteten und einfachen causae primordiales. Für Azriel ist der Abgrund auch
das Belima im Ausdruck Sefiroth belima in Jeçira I, 1, als das ,,WAS-lose", Unbe-
stimmbare, wo Frage und Antwort verlöschen, der Ort, „an dem der Fragende und
der Gefragte innehalten" (S. 103). Anders erklärt Ezra, Hs. Vatic. 185, Bl. 1 3 b :
„Alles, was die Tora bis zum Ende von Gen. 1 2 erklärt, bezieht sich auf die Essenzen,
die in der Sophia waren, und als Gott sich in jenes Urlicht hüllte, strahlte das Urlicht,
'Or Bahir, aus und es waren in ihm alle jene Essenzen, so wie sie in der Sophia waren
. . . und Tohu ist der Inbegriff aller Essenzen ohne Begrenzung, Form und Stoff, und
Bohu ist eingeprägt und verborgen im Tohu wie die Seele im Körper". Auch hier ist
also das Bohu, das Formelement, dem Tohu inhärent. Wenn auch die Beschreibung
des Tohu es über die gewöhnliche Materie hinwegheben soll, wird doch eine Beschrei-
bung der immateriellen Urhyle gegeben. Ezra benutzt, wig seine weiteren Ausführungen
dort zeigen, deutlich Abraham bar Chijas Begriff des doppelten Tohu in Hegjon ha-
Nephesch. Die Zuordnung der Hyle zu Bina geht wohl auf eine Symbolik zurück, in
der — aus ganz anderen, philosophischen Erwägungen fernliegenden Gründen — eine
Konzeption durchgedrungen war, die mit der oben erwähnten Fassung des Form-
begriffs unvereinbar war, nämlich die Auffassung der Hokhma als des Männlichen,
Samenhaften, und der Bina als des Weiblichen, des samenentfaltenden und gebärenden
Prinzips. Diese Auffassung Piatos im Timaios, der die Hyle Mutter und die Form
Vater nennt, entspricht genau der bei den Kabbalisten für Hokhma und Bina gebräuch-
lichen Symbolik. Bina als Mutter zog die Symbolik nach der Seite der Hyle, und dazu
trat die neuplatonische Abwertung der Materie im Verhältnis zur Form, die sich
mit ihrer Überordnung im Bereich der Sephiroth nicht vertrug. Maimonides schreibt
im More I, 17 dem Plato freilich die unbestimmtere Bezeichnung des Männlichen und
Weiblichen für Materie und Form zu, vgl. Münk zur Stelle.
zu Lev. 12 l ; Predigt über die Tora, 1873, S. 16—17, 26. Auch in einer Schrift über
die 32 Wege aus dem 'Ijjun-Kreis wird die Hyle, Golem, als eine Kraft erklärt „die
des Hyle-Begriffes vor, oder ein Rückgriff auf die Lehre von der In-
härenz der Formen ? Die Auffassung der Hokhma als Urtora ließ sich
mit solcher Vorstellung zur Not vereinigen. Aber man wird annehmen
müssen, daß hier verschiedene Motive sich kreuzten und nicht mit
einem einheitlichen Ursprung der verschiedenen Bestimmungen zu
rechnen ist. Azriels Zitate aus einem Pseudo-Plato und Aristoteles
über die Urmaterie, die der materia universalis des Gabirol nahesteht,
und die substanzielle Form, die sich beide in der göttlichen Idee be-
finden und im Intellekt zusammentreten, zeigen, daß seine Speku-
lation sich aus sehr verschiedenen Quellen nähren konnte139.
Wir gingen oben von der Gebetsmystik des Azriel aus, die natürlich
schon seine Gottesauffassung wiederspiegelt. Um den Fortschritt
der Entwicklung der Kabbala in Gerona genauer zu bezeichnen,
verdient diese Gottesauffassung nähere Analyse. Die Formulierungen
dieser Schule zeichnen den Weg ab, auf dem sich die frühe Kabbala
dann weiter entwickelt hat und machen vor allem auch die möglichen
Gegensätze in der Auffassung kabbalistischer Grundpositionen ver-
ständlich, die von da an hervorgetreten sind. Bei den Kabbalisten
von 1250 an bestand Unsicherheit über so wichtige Fragen wie die,
ob die erste Sephira selber nicht etwa als die transzendente Gottheit
anzusehen sei, und wie die, ob die Sephiroth als identisch mit der
Substanz der Gottheit anzusehen seien oder nur als Organe seiner
Wirkung. Die Geschichte dieser Fragestellungen liegt außerhalb des
Rahmens dieses Buches; daß sie aber durch die Bearbeitung des
kabbalistischen Materials in diesem Kreise erst deutlich werden
konnten, wird sich hier zeigen lassen.
Der Unsicherheit des Sprachgebrauchs von 'En-soph, über die im
vorigen Kapitel gehandelt wurde, steht in Gerona ein eindeutiger
Sprachgebrauch gegenüber. Hier ist *En-soph ein Kunstwort, das aus
den adverbialen Verbindungen herausgelöst worden ist und Gott
alle Dinge in ihre richtige Ordnung stellt und von Kraft zu Kraft emaniert, um alle
Dinge hervorzubringen". Nachmanides scheint diese Schrift gekannt zu haben, da seine
Lehre über den Simsum dort herstammt vgl. S. 397. N.s Erklärung über die Entstehung
des Embryo aus der Kraft der Hyle hat Entsprechungen bei Alfarabi und in der Pica-
trix des Pseudo-Magriti; vgl. H. Ritters und M. Pleßners deutsche Übersetzung (1962),
S. 354 (arabischer Text S. 338).
139 Perusch 'Aggadoth, S. 82—83. Der pseudo-Aristoteles ist Isaak Israeli, wie in-
zwischen Alexander Altmann, Journal of Jewish Studies, VII (1956), S. 31—57, nach-
gewiesen hat. Die Quellen des pseudo-Plato bleiben nachzuweisen.
Meschekh, zu sprechen, der aus Έη-soph fließt und sich in die Hokhma
und alle anderen Sephiroth ausbreitet. Dieser Ausfluß selber ist aber
die erste Sephira, die er im Symbol des 'Aleph darstellt. Sie ist ihm
die „Quelle des Lebens", denn das „Leben" selber ist ihm mit der
Hokhma identisch. Was aber aus dem 'Aleph kommt, kommt auch
aus Έη-soph, und in dem Nebeneinander solcher Wendungen konnten
die Grenzen zwischen dem Έη-soph und dem Nichts leicht verwischt
werden. Die verschiedenen Lesarten der Handschriften von Aschers
Traktaten an diesen Stellen beweisen, wie leicht der Übergang hier
war. Έη-soph steht noch über der Eins und der Quelle des Lebens,
es bleibt ganz bestimmungslos und alle persönlichen Momente seiner
Wirkung sind eben in seinen Willen hereingenommen, der als Aus-
fluß seines Wesens wirkt. Unabhängig davon, etwa als Subjekt eines
Aussagesatzes über es, erscheint Έη-soph bei ihm nie. So gibt es also
eigentlich zwei verschiedene erste Sephiroth; eine, die nur als „Höhe",
„höchste Stufe" oder „Aleph" bekannt ist, deren Wille wie der Quell
sich überall im „Garten" der Sephiroth ausbreitet, und die daher
gar nicht mit den anderen Sephiroth zusammengezählt wird142; und
eine, die wirklich als Sophia am Anfang der Zählung steht. Daß bei
solcher Betrachtung aber auch eine unpersönliche Auffassung gerade
von Έη-soph statthaben konnte, zeigt überraschenderweise Nach-
manides in seiner Erklärung zu Jesira I, 4: „Zehn und nicht elf [Se-
phiroth]: damit soll aus der Zählung das verborgene Ding, das am
Anfang von Kether steht, ausgeschlossen werden. Denn indem wir ein
Ende [von Kether] am Anfang der Wege der Hokhma sehen, wird der
Mensch bedenken, daß Kether auch einen Anfang hat. Also ist über
ihm ein verborgenes Ding, das über alles Denken und Sprechen er-
haben ist, und in keine Zählung eintritt". Hier zeigt sich die Ambi-
valenz der kabbalistischen Terminologie. Die höchste Wesenheit in
Gott ist „ein verborgenes Ding" — fürwahr eine sonderbare Bestim-
mung der unendlichen Person der Gottheit, wenn anders sie hier
wirklich als solche gedacht sein soll. Nachmanides konnte in seinen
Werken, so viel er von Gott sprach, ohne Έη-soph auskommen und
sich einer ganz orthodoxen Sprache bedienen, obwohl doch alles,
was er von Gottes Wirken zu sagen weiß, in Wahrheit nur seine se-
phirothischen Manifestationen betraf. Azriel dagegen konnte es gerade
umgekehrt machen, von Έη-soph als dem Gott, den die Philosophen
meinen, sprechen, dessen Sephiroth nur die Aspekte seiner Offen-
barung und seines Wirkens, die „kategoriale Ordnung alles Wirk-
lichen" sind. Gerade das verborgenste Moment in Gott, worauf die
Mystiker mit ihrer Rede von Έη-soph hinzielten, macht er zum öffent-
148
Am deutlichsten a. a. O., S. 4—5 (nach der Pagination der Seiten in der Edition
in ha-Segulla).
lichsten und bereitet damit schon die Personalisierung vor, mit der
Έη-soph hier als Eigenname und nicht als die Bezeichnung eines Ab-
straktums zu erscheinen beginnt. Während sonst Έη-soph, auch bei
Azriel selbst, viel vom deus absconditus hat, der erst im theosophischen
Gottesbegriff und der Sephiroth-Vorstellung zu faßbarem Leben
gelangt, ist er in dem Kommentar über die zehn Sephiroth der Lenker
der Welt, was ja ein ganz anderes Bild vom Weltregiment nahelegt
als die Theosophie des Unendlichen und seiner Sephiroth. Für Azriel
ist offensichtlich die höchste Sephira, das Unergründliche oder Un-
erfaßbare, vor allem der göttliche Wille, der in diesem Kreis ganz
entschieden über die Uridee hinausgerückt wird. Sie ist von Έη-soph
selber zwar in abstracto unterscheidbar, in concreto aber mit ihm zu
einer realen Einheit verbunden. Der verborgene Gott wirkt durch
seinen Willen, er kleidet sich gleichsam in ihn ein und ist mit ihm eins.
Dies drückt sich bei den Kabbalisten von Gerona darin aus, daß sie
gern vom „Willen bis ins Unendliche hin", „der Höhe bis ins Unend-
liche hin", dem „Unerfaßbaren bis ins Unendliche hin" sprechen,
womit die Einheit gemeint ist, in der die unter dem jeweiligen Symbol
vorgestellte höchste Sephira sich bis zu Έη-soph hin erstreckt und mit
ihm eine Wirkungseinheit bildet 143 . Dadurch erklärt sich auch, wie
ich annehme, der merkwürdige Sprachgebrauch Azriels in seinem
tief-spekulativen Kommentar zu den Aggadoth. Hier nämlich schweigt
er fast völlig über Έη-soph, das nur einmal in selbständiger Konstruk-
tion und zweimal in adverbialen Verbindungen der bekannten Art auf-
tritt 1 4 4 , die ihrerseits wiederum im Kommentar zu den Sephiroth
ganz fehlen. Stattdessen spricht er hier nur noch vom Willen in den-
selben Wendungen (wie „außerhalb dessen nichts ist" und dergleichen),
die sonst zu Έη-soph gehören. Manchmal ließen sich die beiden Be-
griffe bei ihm unschwer austauschen145, was zu einer Vermischung
der Termini führen konnte und in der Tat schon um 1250 geführt hat.
In Wirklichkeit steht aber hinter solcher Rede vom Willen die vom
„Willen bis ins Unendliche hin", die wir gerade besprochen haben
und die Έη-soph als die letzte transzendente Wirklichkeit im Willen
mitgegeben sein läßt, ohne doch beide geradezu zu identifizieren. Die
Schwierigkeiten solcher Auffassung waren gering, so lange die Ko-
existenz und Koëternitât des Willens mit Gott als Έη-soph voraus-
gesetzt oder ausdrücklich gelehrt wurde. Sie begannen aber in dem
Moment, wo die erste Sephira selbst einen Anfang in der Emanation
zugewiesen erhielt. Von da an wurden solche Wendungen wie die oben
erwähnten problematisch und konnten, in ihrer Verbindung des Ur-
143 Vgl diese Ausdrücke bei Jakob ben Schescheth, Meschibh, Bl. 28b und 57a;
'Emuna u-Biitahon, Kap. 12.
144
Perusch 'Aggadoth, S. 24, 90, 116.
146 Besonders charakteristisch ist dafür a. a. O., S. 107.
wird, daß Έη-soph in der absoluten Ungeschiedenheit .Einer" heiße, besagtdie Parallel-
stelle in seinem Brief nach Burgos, er heiße .Einer', weil es nichts auß er ihm gäbe.
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388 Das kabbalistische Zentrum in Gerona
nach keiner Seite hin teilbar, und er ist ein Einfach-Eines, in dem
keine Zusammensetzung statt hat. In seiner Einheit waren alle Willens-
akte und er ist der Wille, der allem voran ging . . . Und das heißt [Hi.
23 13] : Und er ist im Einen — Er ist in der Einheit des Willens, außer-
halb von dem nichts ist 155 ." Der Wille umfaßte noch die ungeschiedene
Einheit aller Gegensätze und möglichen Willensakte. „Die Ordnung
alles Wirklichen war in der Potenz des Willens gegeben, trat aber
nicht zur sichtbaren Offenbarung hervor, bis die Zeit für ihre sichtbare
Existenz gekommen war. Die Sephiroth aber . . . hatten ihre Essenz
[.Hawwaja] im Willen ohne erkennbare Unterscheidung, die in die
Betrachtung des Denkens eingehen könnte, und aus ihnen stammt
die Emanation der Logoi, durch die die Welt geschaffen ist, [Logoi]
die mit dem Willen, außerhalb dessen nichts ist, verbunden sind158."
Weder in Έη-soph noch im Willen findet Differenzierung statt ; beide
werden als die ungeschiedene Wurzel der Gegensätze bezeichnet.
Für diese Ungeschiedenheit, die ein lateinisches indistinctio wieder-
gibt, wird im 'Ijjun-Kreis und bei Azriel der Begriff der Haschwa'a
benutzt, und ungeschieden oder indifferent heißt dort schaweh, wört-
lich „gleich", ein in diesem Sinne in der hebräischen Literatur sonst
nie gebrauchtes Wort. Sowohl Έη-soph wie der Wille sind „in bezug
auf die Gegensätze indifferent". Sie verbinden nicht die Gegensätze,
wie zum Beispiel die res divina des Jehuda Halewi157, sondern es finden
in bezug auf sie keine Unterscheidungen hier statt. Indem die Gegen-
sätze in diesen höchsten Prinzipien „gleich", d. h. ungeschieden sind,
koinzidieren sie in ihnen. In diesem Sinn wird hier oft von der „un-
geschiedenen Einheit" oder „Indifferenz der Einheit" gesprochen,
in der das uns gegensätzlich erscheinende zusammenfällt. Während
im Kommentar zu den zehn Sephiroth diese mystische Indifferenz
dem Έη-soph zugeschrieben wird, wird sie im Aggadoth-Kommentar
vom Willen, der dort, wie wir sahen, fast die Stelle des Έη-soph ein-
nimmt, ausgesagtl5s. Im Unendlichen sind die Gegensätze aufgehoben.
Ähnlich zu Jesira II, 6: „Das Eine ist der Grund der Vielheit, und die [vielfältigen]
Dinge [oder aber Sephiroth, die in dem Worte Debharim gemeint sein können], haben
kein Sein außerhalb des Einen". Dieselbe Formel im Setta*ar ha-Scho'el §§ 1, 2, 7, 12;
im Kommentar zu den Gebeten, Hs. Parma, Bl. 86a, und in dem Text, den ich im
Gedenkbuch für Gullak und Klein, S. 218, ediert habe. Die Formel ist auch bei Scotus
Erigena häufig, vgl. Huber, Johannes Scotus, S. 169: praeter eum nihil est.
166
Perusch 'Aggadoth, S. 107.
166
a. a. O., S. 110, wie auch in einer Paraphrase desselben Gedankens, S. 116.
» ' Vgl. Kuzari IV, 25, ed. Hirschfeld, S. 274—75.
168 Vgl über diesen Sprachgebrauch von 'Ahduth schawa und Haschwa'ath ha-
'Ahduth meine Bemerkungen in Sepher Zikkaron für Gullak und Klein, S. 204, und
Tishbys Nachweise in seinem Aufsatz über die Schriften Ezras und Azriels, S. 8 des
Sonderdrucks. Jakob ben Schescheth spricht davon, daß die Gegensätze im gött-
lichen Willen „geebnet" sind, jescharim, statt schawim.
Bl. X X I a. Reuchlins Bestimmung trifft durchaus den Kern der Auffassung Azriels.
160 Vgl. G. Théry, David de Dinant; Étude sur son pantheisme matérialiste, 1925.
Es zeigt sich also, daß die Übereinstimmung wichtiger Gedanken und Begriffe Azriels
und Scotus Erigenas so auffallend und stark ist, daß die von mir hier mehrfach er-
wogene Hypothese einer historischen Verbindung zwischen diesen beiden ernstlich
ins Auge gefaßt werden muß. Natürlich sind auf diesem Wege auch Abschwächungen,
Erweichungen, Ent-Christianisierungen und vielleicht auch Mißverständnisse vor-
gekommen, aber dennoch bleibt der christliche Neuplatoniker das nächstliegende
mögliche Vorbild zu vieler Detailpunkte bei Azriel, als daß wir hier noch mit Zufall
zu rechnen haben. Auch in der Wortwahl zeigt sich manchmal deutlich die Verbindung
mit dem Lateinischen. Haschlama als Variante für Schelemuth gibt die beiden Nuancen
des lateinischen perfectio wieder. Die Angaben des Scotus über die Welt des Logos
und Sohnes, der ja nach ihm mit seiner Weisheit identisch ist, treffen sich aufs über-
raschendste mit den Bestimmungen der ältesten Kabbalisten über die Hokhma, vgl.
Huber, S. 201—206, und gehen weit über Einzeldeutungen biblischer Worte und Be-
griffe hinaus, die auch von der Logik mystischer Bibeldeutung erzwungen werden
konnten (wie etwa die Auffassung der Schöpfungstage als intellegible Urtage, die
Scotus III, 24 und den Kabbalisten gemeinsam ist), ohne daß das viel bewiese. Der
Übergang von der Welt der Sapientia und des Wortes zu der des Geistes entspricht
bei den Geronaer Kabbalisten dem von der zweiten zur dritten Sephira, der ganz ähn-
lich, unter Ausschaltung des christologischen Elements gesehen wird. Der bei Azriel
mehrfach beliebte Begriff Haje ha-Ruah, für Bina, der in älterer jüdischer Terminologie
keinen Grund hat, erklärt sich ebenfalls zwanglos aus Erigenas Lehre vom spiritus
und dessen Beziehung zur Weisheit. Es würde ein wichtiger und weitreichender Fort-
schritt der Kabbala-Forschung sein, wenn sich diese Zusammenhänge aus dem Rang
einer Hypothese zur Gewißheit erheben lassen sollten.
161
Vgl. Sepher Zikkaron für Gullak und Klein, S. 208.
1,2
Scha'ar ha-Scho'el, § 2. Das Bild von Gott als der Wurzel des Glaubens und des
Unglaubens stammt aus Jehuda Halewi, Kuzari I, 77.
gleich doch persönlichen Rede von Gott als dem Lenker und Schöpfer
steht, ist unbezweifelbar, und die Kabbalisten scheinen sich damit
abgefunden zu haben. Denn nicht nur, wie an sich logisch wäre, in
seiner Wirkung und Manifestation in den Sephiroth erscheint Gott
als Schöpfer, sondern auch im Zusammenhang der Rede vom Über-
sein des Schöpfers, der über Sein und Nichtsein steht und in dem beide
koinzidieren. Wie weit darin eine Akkomodation an die gewöhnliche
Redeweise der biblischen Bestimmungen zu sehen ist, die an Stellen,
wo die Autoren sich exakt auszudrücken suchen, vermieden wird, ist
schwer zu entscheiden. Gerade in verschiedenen Schriften Azriels
wechselt die Färbung des Sprachgebrauchs vom Persönlichen zum
Unpersönlichen und Neutralen, und der Leser gewinnt den Eindruck,
daß das den Autor wenig schert. So ist die Stimmung seiner Fragen
und Antworten über die Sephiroth und seines Kommentars zu Jesira
recht verschieden von der des Kommentars zu den Aggadoth und des
Briefes nach Burgos. Kein Wunder, daß in den ersten beiden Schriften
viel und hemmungslos von Έη-soph als Schöpfergott, trotz aller neu-
platonischen Bestimmungen, gesprochen wird und er als der Gott er-
scheint, von dem die Theologie handelt163, während in den anderen
Schriften Έη-soph so gut wie gar nicht vorkommt, sondern nur als
Urgrund des Willens gerade noch absehbar ist. Am weitesten von neu-
platonischer Schulsprache scheint sich Nachmanides zu halten, bei
dem daher die Spannung zwischen der gnostischen Erbschaft des
Bahir und der neuen Spekulation am geringsten ist. Er kann ver-
meiden, von Έη-soph in seinem Torakommentar auch nur zu sprechen,
weil es eben nur der dunkle Grund ist, aus dem der offenbarende Gott,
der die Einheit der zehn Sephiroth ist, emporsteigt. Das heißt also,
Έη-soph spielt in der Religion gar keine aktive Rolle, es ist nur der
geahnte verborgene Ungrund noch im absoluten Nichts. Von hier
war ein grader Weg zu der Position des anonymen Kabbalisten, der
um 1300 sagen konnte: ,,Έη-soph ist weder in der Tora noch den
Propheten noch in den Hagiographen und Worten der Weisen auch
nur angedeutet ; nur die Mystiker haben eine kleine Andeutung darüber
empfangen", dem dann die Aussage entspricht, daß die Gottheit,
nämlich die der Religion, die dynamische Einheit der Emanation der
zehn Sephiroth selber sei164.
les Damit hängt zusammen, daß im Jesira-Kommentar Azriels Έη-soph mit anderen
Begriffen positiver Natur identifiziert wird. E r ist das Wesen, Mahuth, schlechthin,
er ist der „Herr", der in Jesira I, 5 symbolisch gemeint sei, welche sonst ganz ungewöhn-
liche Identifikation nur aus dem Zusammenhang der Exegese des Textes erklärt werden
kann.
1 M Vgl. in dem anonymen Werk Ma'arehheth ha-'Elohuth, Mantua 1568, Bl. 2 8 a
flusses heißt bei ihm Da'ath, Erkenntnis oder Gnosis Gottes. Was von
Gottes intuitio, Histakluth, her gesehen Anfang wäre, das ist vom Men-
schen aus das Ende dessen, was das Denken erfassen kann, besser ge-
sagt wohl, das Ziel und der Endzweck aller Erkenntnis. In diesem Satz
könnten sich die beiden Bestimmungen treffen, die Azriel für Haskel
gibt. Einmal nämlich definiert er es als Anfang der Histakluth, ein an-
deres Mal als die Essenz der Hokhma, welche der Endzweck alles Er-
fassens des Denkens sei174. Erst in der Vereinigung dieser beiden Akte
von Haskel und Histakluth entsteht der Intellekt selber, Sekhel, als die
Mannigfaltigkeit aller ideellen Gegenstände und Essenzen im gött-
lichen Intellekt, der für Azriel. mit der Sephira5¿wa identisch ist. Sicher
kann es kein Zufall sein, daß Azriel die Hokhma sowohl als Beginn des
Seins, Hathhalath Jeschuth, als auch als Beginn der intuitio Gottes,
Tehillath Histakluth, bezeichnet. Daß dieses Haskel genau den Über-
gang aus dem Willen zum Denken der Sophia bezeichnet und damit an
dem selben Punkte steht, wo in anderer theosophischer Terminologie
aus dem Nichts das Sein hervortritt, wird ausdrücklich gesagt 175 .
Steht hinter all dem die Meinung, daß die Gottheit die Dinge hervor-
bringt, indem sie sie denkt ? Auch wenn das der Fall ist, bleiben die
Details dieser Spekulation problematisch. Die Sophia selber, in der
Gott sich doch am ehesten selber denkt und betrachtet, wird zwar
vom Haskel ausdrücklich geschieden, mit dem Beginn der Histakluth
aber dem Rang nach zusammengestellt, ohne doch damit ausdrücklich
identifiziert zu werden. Es ist, als ob diese ganze Vorstellungsreihe zur
Mystik der Sophia, die älter ist, hinzugetreten ist. In seiner Sephiroth-
Reihe bilden die Potenzen des Haskel und der Hokhma, obwohl unter-
schieden, jedenfalls nur eine Sephira176. Merkwürdig ist dabei, daß die
Trias des Intellekts, die wir hier kennengelernt haben, bei ihm
nie mit der traditionellen Trias des Erkennenden, des Erkennens
und des Erkannten in Zusammenhang gebracht wird, obwohl sie
im Gebet des Nechunja ben Haqqana den drei ersten Sephiroth
zugeordnet ist.
Uber den Sinn des Prozesses der Emanation, 'Asiluth, haben wir in
Gerona verschiedene Äußerungen. Der gnostische Charakter der Äonen
des Bahir wird, vor allem bei Ascher ben David und Azriel, durch die
neuplatonische Bestimmung der Sephiroth als Mittelwesen ersetzt.
Azriel geht darin am weitesten, da er, mindestens im Kommentar zu
den Sephiroth, alle zehn Stufen darin einbezieht. Die Emanation ist
ihm das Wirken der unendlichen Kraft im Endlichen, der Übergang
von der reinen Transzendenz des Einen zur Manifestation seiner viel-
174 Hs. Oxford 1938, Bl. 2 2 6 b und Perusch 'Aggadoth, S. 107.
175 v g l . Perusch 'Aggadoth, S. 84, sowie dort S. 81 und 107 über den Willen als Ur-
sprung der Mahschabha und der Hokhma.
17e So ausdrücklich in Maddae ha-Jahaduth II, S. 231.
fältigen Aspekte in der Schöpfung. Dazu tritt der ebenso gut plato-
nische wie dem Buch Jesira entsprechende Gedanke vom Zahlencha-
rakter der Sephiroth, die zugleich die ideale Ordnung alles Wirklichen
darstellen. Dieser Übergang zu einer Definition der Sephiroth als „In-
begriff alles Wirklichen, was in Zahlen bestimmt werden kann" und als
„Ordnung alles Erschaffenen" wurde dadurch vorbereitet, daß schon
vor Azriel arabisch schreibende Neuplatoniker wie Moses ibn Ezra die
zehn Kategorien als Ursache alles Seiende gefaßt hatten. Ob Scotus Eri-
gena eine ähnliche Auffassung vertrat, ist aus seiner Diskussion nicht
klar zu entnehmen. Man fragt sich auch, ob nicht eine bildliche Dar-
stellung des sogenannten „Baum des Porphyrius" über die Beziehung
von Genus und Spezies, wie sie — unklar von wann an — im frühen
Mittelalter Verbreitung gewann, das Mittelglied zwischen solcher Auf-
einanderbeziehung der Kategorien und der Sephiroth gebildet haben
könnte. In der Tat haben wir solche Darstellung der zehn Kategorien
1295 bei Ramon Lull im „Arbor Elementalis", dessen Stamm die
Substanz oder Hyle, dessen Blätter die neun Akzidenzien bilden177.
Solche Darstellung könnte auch schon sehr viel älter sein.
In mystischer Umdeutung sind die Sephiroth, vor allem bei Azriel,
nun zum „reinen Medium" geworden, zu etwas, was in sich selbst nicht
Gegenstand ist, sondern seiner Bestimmung nach ausschließlich Mittel
sein soll, nämlich das Mittel, in dem sich das Maßlose im Maß der Mid-
doth, das Unendliche im Endlichen auswirkt. Gott selber wirkt in den
und durch die Sephiroth wie die Seele in dem und durch den Körper.
Gott ist „in ihnen und außerhalb von ihnen und umgibt alles von innen
und von außen her wie die Seele, die sowohl im Inneren wie außerhalb
des Körpers ist", wie es Jakob ben Schescheth bestimmt178. Damit
werden natürlich auch Auffassungen wie die der Middoth als Akzi-
denzen der höchsten Kategorie, der Substanz, möglich, die zu der all-
gemeinen Tendenz dieser Schule passen179, für die die Sephiroth ja
nicht einfach die Substanz der Gottheit selber darstellen, sondern nur
deren Organe, Aspekte oder Bestimmungen, wie immer die verschie-
denen Formulierungen lauten mögen.
in Vgl. die Auszüge aus Moses ibn Ezra, 'Aruggath ha-Bossem, in Creizenachs Zion
II (1842), S. 118. Diese hebräische Übersetzung eines arabischen Originals konnte
möglicherweise dem Azriel bekannt sein. Zu Scotus Erigena vgl. vor allem De divisione
naturae I, 34. Zum Baum des Porphyrius und den Darstellungen bei Ramon Lull vgl.
Walter Ong, [Petrus] Ramus, Cambridge 1958, S. 7 8 - 8 3 , 2 3 4 - 2 3 5 ; E . W. Platzek,
in Estudios Lulianos II (1958), S. 20—24; Frances Yates, Journal of the Warburg
and Courtauld Institutes X X I I I (1960), S. 22, sowie die Abbildungen auf Taf. 15
ihres früheren Aufsatzes dort X V I I (1954), zu S. 146. Schon J . C. Schramm, Intro-
duciti3 in Dialecticam Cabbaleorum (1703), S. 53, hat auf den Baum des P. verwiesen.
"« Meschibh Debharim, Bl. 60b.
l n So zuerst, soweit ich sehe, in 'Emuna u-Bittahon, Kap. 3.
Die 'Asiluth ist zwar Emanation, aber nicht im Sinne einer Vermin-
derung im Emanierenden. Die Idee, daß das Licht bei der Emanation
nicht abnimmt, ist, wie die sprachliche Formulierung beweist, aus
einem Gleichnis des Midrasch Tanhuma zu Num. 1117 übernommen,
wo das Verbum 'asal gebraucht wird. Zugleich ist diese Vorstellung
auch gut plotinisch, bei dem ja auch die Quelle der Emanation durch
die Weitergabe ihrer Kraft an das Produkt keinerlei Einbuße ihrer
Kraft erleidet. Im Sinne der Geronaer Kabbalisten aber bleibt die Ema-
nation noch immer bei Gott und tritt nicht aus ihm heraus. Diese eso-
terische Auffassung könnte hinter der Erklärung des Nachmanides zu
dem erwähnten Vers stehen, wo er über den Begriff der 'Asiluth
spricht, ihre Erklärung als Ausfluß geradezu ablehnt und den Begriff
vielmehr vom hebräischen 'esel, „bei", als das „was bei Gott bleibt"
erklärt. Möglicherweise ist seine Polemik gegen den Sprachgebrauch
der Übersetzer, die 'Asiluth im Sinne von Ausfluß benutzen, in diesem
Sinne zu verstehen. Hinter seinem Protest steht ein esoterischer
Sprachgebrauch, wie sich in seinem Kommentar zu Jesira zeigt, wo er
selber jenen Begriff des Ausflusses, Hamschakha, für die Entstehung
der Sephiroth benutzt, den er an der erwähnten Stelle des Tora-Kom-
mentars abgelehnt hat 1 8 0 . Hier zeigt sich der Widerspruch zwischen
der theosophischen und neuplatonischen Bestimmung der Emanation.
Azriels Bestimmung der Sephiroth als Vermittlung zwischen dem
Einen und dem Vielen sucht doch zugleich der Folgerung zu entgehen,
die diese Mittelwesen außerhalb des Bezirks der Gottheit setzen müßte,
was der theosophischen Gottesanschauung, die hier entscheidend ist,
natürlich widerspricht. Die Sephiroth sind „der Gottheit lebendiges
Kleid", um mit Faust zu sprechen, aber diese „Kleider" — und das
Bild ist in diesem Kreise sehr behebt •— sind nichts von ihr Abzieh-
bares, sondern stellen ihre Erscheinungsformen dar. In einem mysti-
scheren Sinne freilich ist die Asiluth der Name oder die Namen Gottes,
wie wir schon im vorigen Kapitel gesehen haben. Diese theosophische
Auffassung bleibt in Gerona erhalten. Nur insofern als der Name Gottes
der Schöpfung eingeprägt ist, hat sie Bestand 181 . Die Offenbarung des
Namens ist die eigentliche Offenbarung, und die Tora selber ist nicht
nur ein Konglomerat von Namen Gottes, sondern ihrem Wesen nach
nichts als dieser eine Name selber. Diese Tradition, die eine ursprüng-
lich magische Überlieferung zu einer streng mystischen verwandelt, hat
ihren klaren Ausdruck zuerst in Gerona gefunden, und ist von hier aus
180
Vgl. Kirjath Sepher VI, S. 403, 406. Daß die zehn Sephiroth selber die Asiluth
sind, sagt Nachmanides zu Exod. 3 13. Danach ist Grajwers Aufstellung in dem Kapitel
„über den Begriff der Aziluth bei Nachmanides" zu berichtigen, vgl. Die kabbalistischen
Lehren des Moses ben Nachman, S. 45—56. Bachja ben Ascher vereinigt dann zu
Num. 111? Nachmanides' Erklärung mit dem von ihm abgelehnten Sinn als Emanation.
181
Perusch 'Aggadoth, S. 99.
dann zum Autor des Zohar gelangt 182 . Die Lichtmystik der Emana-
tion und die Sprachmystik des Gottesnamens bleiben auch hier die
zwei hauptsächlichsten Medien, in denen diese Welt der Sephiroth
beschrieben werden konnte.
Die zehn Sephiroth sind für Nachmanides die „Innerlichkeit" der
Buchstaben. Der Anfang und das Ende der Tora schließen sich, nach
einem mystischen Wortspiel, zum „Herzen", 3*? der Schöpfung zu-
sammen, das seiner zahlenmystischen Bedeutung nach auch auf die 32
Wege der Weisheit hinweist, die in ihr wirken. Dies „Herz" ist aber nichts
als der „Wille" Gottes selber, der die Schöpfung erhält, solange er in
ihr wirkt. Denn sie wird zum Nichts, bn, sobald der Wille seine Rich-
tung umkehrt und alle Dinge zu ihrer ursprünglichen Wesenheit zu-
rückführt, „wie jemand, der seinen Atem einzieht". Diese Rückkehr
aller Dinge zu ihrem Eigentümer ist aber ihre Heimkehr ins mystische
reine Nichts 183 . Der Uranfang der Schöpfung bestand im Hervorgang
der Hokhma aus der unendlichen Fülle der „höchsten Krone" oder des
Willens, in einem Akt der Beschränkung, Simsum, in dem der alles um-
fassende göttliche Kabhod eingeschränkt wurde. Diese Einschränkung
des Lichtes brachte erst eine Finsternis hervor, in die das klare Licht
der Hokhma ausfloß. So haben wir hier bei Nachmanides die älteste
Form der Lehre von einer Selbstbeschränkung Gottes bei der Schöp-
fung, die freilich keine des Έη-soph selber ist, wie bei viel späteren
Kabbalisten, sondern eine der ersten Sephira184.
182
Ausführlicheres hierüber in meinem Buch „Zur Kabbala und ihrer Symbolik",
S. 57—61, und die Quellennachweise dazu auf S. 266.
183
Dies ist die Apokatastasis aller Dinge im Sinne des Nachmanides, vgl. Kirjath
Sepher VI, S. 401—402, sowie auch in seiner Hymne über das Schicksal der Seele in
der Schlußstrophe und in einem Nachmanides-Zitat, das Bachja ben Ascher, Schulhan
'Arba', sub voce Se'udath Saddiqim anführt, dessen Quelle ich nicht auffinden konnte.
Auch Nachmanides Schüler sprechen von Apokatastasis im selben Sinne, so Isaak ben
Todros in seinem Kommentar zum Mahzor, Hs. Paris 839, Bl. 209 b, und das Zitat
aus einem ungenannten Schüler N's bei Sahula, Bl. 28a. Daß die Terminologie christ-
lichen Ursprungs ist, scheint mir wahrscheinlich. N. h a t auch sonst christliche Quellen
benutzt, so bei seiner Parallelisierung der Schöpfungswoche mit der Weltenwoche
(aus Isidor von Sevilla) und in seiner Lehre von der reinigenden Natur des Fegefeuers
(in Scha'ar ha-Gemul). Zu Deut. 17 14 zitiert N. einen Spruch des Neuen Testaments;
er ist also durchaus plausibel, daß er auch Acta Apóstol. 3 21 für die Heimführung
aller Dinge zu Gott benutzt haben kann.
184 vgl. N's Jesirakommentar, Kirjath Sepher VI, S. 402 — 403, wozu auch sein
Kommentar zu Hi. 28 13 zu stellen ist. Die älteste Quelle der Idee des Simfum im
kabbalistischen Sinn findet sich in einer Schrift der 'Ijjun-Gruppe, in der Vorrede
zu einer der Erklärungen über die 32 Wege der Hokhma, Hs. Florenz, Plut. II, Cod. 18,
Bl. 101a, sowie in der näheren Ausführung dieser selben Stelle, die Schemtob ben
Schemtob in seinem titellosen Buch in Hs. Brit. Mus., Margoliouth 771, Bl. 140b aus
„den Schriften der Kabbalisten" anführt. Dort heißt es: „Wie brachte er hervor und
borgen gewesen waren, hervor und brachte sie durch seine Bina [unter-
scheidende Einsicht] ans Licht 187 ".
Im Kreis von Gerona gibt es schon keinerlei Schwanken mehr zwi-
schen der Welt der Sephiroth, die nur im symbolischen Sinn als Mer-
kaba bezeichnet werden kann, und der unter ihr stehenden Welt der
wirklichen Merkaba. Die erste oder mystische Merkaba betrifft die
Gnosis des Schöpfers, und sie allein ist, nach Nachmanides, in der
Tora angedeutet. Die Merkaba der prophetischen und mystischen
Schau dagegen, von der Ezechiel und die Hekhaloth sprechen, war
höchstens Gegenstand mündlicher Überüeferung, bis Jesaja und Eze-
chiel von ihr sprachen. Sie betrifft die Ontologie, das Wissen vom
wahren Wesen der geschöpflichen Dinge, und ist ein Schauen, das
gleichsam im Urlicht Adams erfolgt 188 . Die Propheten können nur
diese letztere Merkaba schauen, die ihre eigenen zehn Rangstufen oder
Sephiroth hat. Die prophetische Schau steigt von unten nach oben em-
por und schaut durch die Schleier dieser unteren Dekas den Abglanz
der Schekhina als der letzten Sephira der Gottheit selber189. Nur Moses
ist, allein unter allen Propheten, noch tiefer ins Geheimnis der Gott-
heit eingedrungen. Andere, wie Ascher ben David, hielten im allge-
meinen eine prophetische Schau der unteren fünf Sephiroth, dem je-
weiligen Rang der Propheten entsprechend, für möglich 190 .
Beim Ubergang von den Sephiroth zur Merkaba findet hier keinerlei
neuer Akt einer Schöpfung aus Nichts im eigentlichen Verstände statt.
Der Strom der Emanation hält zwar bei der letzten Sephira gleichsam
inne, und was sich von dort aus als kreatürliches Sein entfaltet, ist nicht
mehr „bei" Gott im Sinne der theosophischen Asiluth, die in der Welt
der Gottheit selber verbleibt. Aber nach dieser Zäsur fließt die schöp-
ferische Kraft weiter in den Bereich des Geschaffenen und von der
Einheit Gottes Abgetrennten 191 . Die schöpferische Kraft Gottes stellt
sich aber nicht nur in der einen Welt dar, die wir erkennen, sondern
alle neun Sephiroth — außer der ersten, in der als Nichts keine Gegen-
sätze bestehen—entfalten sich in ihrer doppelten Wirkung nach der Seite
der Strenge und des Erbarmens, und jede bringt nach jeder Seite tausend
Welten hervor. So wäre also das Universum eine Totalität von acht-
zehntausend Welten, eine Ziffer, in der eine alte talmudische Aggada
187
So in Hs. Brit. Mus., Margoliouth 752, Bl. 36a. Sehr ähnlich auch im Kether
Schern Tobh, bei Jellinek, Auswahl Kabbalistischer Mystik, S. 41.
188
Nachmanides in Torath Adonaj Temima, S. 23 und Schaar ha-Gemul, Bl. 23a.
Die beiden Stellen ergänzen sich ausgezeichnet.
189
Nachmanides zu Jesira, Kirjath Sepher VI, S. 407—408.
lt0
Ascher ben David in seiner Erklärung des Schern ha-Mephorasch, Hs. Casanatense,
Sacerdoti 179, Bl. 91b.
191
Am deutlichsten wird dieser Übergang, außer in den Exegesen zu Gen. 2 10, von
denen im vorigen Kapitel S. 248 f. die Rede war, in 'Emuna u-Bittahon, Kap. 24.
existieren. Daraus sind im 13. Jh. 18000 aufeinander folgende Áonen geworden, sowohl
bei den Kabbalisten, vgl. Bachja ben Ascher zu Num. 10 85, wie auch bei den Ismai-
liten, vgl. W. Ivanow, Journal of the Royal Asiatic Society 1931, S. 548, der diese
Ziffer für die Zahl der Welten aus einer dem Nasr ud-Din Tusi zugeschriebenen Schrift
anführt.
183 Nachmanides zu Gen. 17 l, 46 15; E x . 6 3, 13 16; Vorrede zum Hiob-Kommentar
In seinem Brief nach Burgos hat Azriel zugleich mit seiner spe-
zifischen Form der Theosophie auch seine Anthroprologie entwickelt,
1M
Maimonides, Qobef Teschubhoth ha-Rambam, Leipzig 1869, II, Bl. 10b.
i»6 vgl. dazu J. Kramer, Das Problem des Wunders bei den jüdischen Religions-
philosophen, Straßburg 1903, S. 29. Besonders Nachmanides' Kommentar zu Ex. 6 3
Scholen!, Kabbala 26
und seine Konzeption der Natur und Bestimmung des Menschen ist
mit seiner Theosophie eng verflochten. Die menschliche Möglichkeit
war die einer vollendeten Analogie des Geschöpfes zum Schöpfer. So
wie der Schöpfer in der organischen Einheit eines ist, so sollte auch
die Kreatur sein. Der obere Wille hätte sich, wäre nicht der Fall
Adams dazwischen getreten, in Adam, Eva und allen ihren Nach-
kommen als einziger Gesamtwille ausgewirkt, wenn auch unter drei
verschiedenen Aspekten. Auch der Mensch ist durch dieselbe Formel
definiert wie die Gottheit : er ist das Eine, in dem die Kraft des Vielen
angelegt ist. Aber vom Menschen aus gesagt, enthält diese Formel
seine Freiheit zur Entscheidung zum Guten und zum Bösen, zur
Einheit und zur Vielheit, die die Natur der Sünde ist. Der Fall Adams
war sein Heraustreten aus dem Kontakt mit dem oberen Willen.
Ohne die Ursünde hätte es keine Individualität gegeben, die erst in
der Trennung und Verselbständigung der Vielheit entsteht. Es hätte
auch keine Dialektik der extremen Gegensätze, die sich am Menschen
auswirken, gegeben, sondern nur relative Unterschiede in der Inten-
sität, mit der die verschiedenen Middoth sich ausgewirkt hätten. Der
paradiesische Stand wäre also ein nichtindividueller und undialektischer
geblieben. Nicht in Gegensätzen hätte sich der Rhythmus des Lebens
entwickelt, sondern in leichten Schwankungen. Es gab einen höchsten
Stand des Verhaltens, Hanhaga, in dem der Mensch in völliger Kon-
formität mit dem oberen Willen sich verhalten hätte. Gegen diesen
höchsten Stand, der auch eine lebendige Einheit der Gegensätze
dargestellt hätte, verstieß Adam und hat seitdem die Möglichkeit zu
solchem wahrhaft mystischen Verhalten verloren. Erst in eschato-
logischer Perspektive wird der Stand wieder deutlich werden, den
jetzt nur die Mystiker in der Kawwana antizipieren. Das ist der
höchste Aspekt Gottes, in dem er 'Elohe 'Amen, Gott der Treue oder
der Bestätigung heißt. Unter diesem Aspekt seiner Wirkung erneuert
Gott beständig die Schöpfung der Natur. Erst wenn er wieder sichtbar
werden wird, kann der vom Fall unterbrochene Zusammenhang aller
Dinge, besonders der in Gegensätzen stehenden, wieder restituiert
werden. Alles, was mangelhaft war, muß aus der in seinem Gegensatz
angelegten Möglichkeit der Vollendung schöpfen und mit ihm eines
werden. Dieser höchsten Möglichkeit im Menschen, die über das
Intellektuelle hinaus im ganz Verborgenen gründet, entspricht die
seiner Teilhabe an Gottes Einheit, Heiligkeit und Segensfülle. Was
jetzt nur im mystischen Gebet und in der Kawwana erreicht werden
kann, dieses Teilhaben des Menschen am göttlichen Bereich, wird
erst im messianischen Reich sich voll darstellen und realisieren196.
ist für seine Benutzung des ibn Ezra in dieser Frage wichtig. Er sagt, ibn Ezra habe
unbewußt das Richtige getroffen.
1M
AU dies nach Madda'e ha-Jahaduth II, S. 234—237.
Die Seele des Menschen ist nur im exoterischen Sinne aus dem Nichts
erschaffen. Im mystischen Verstände entstammt sie der A siluth und
ist von göttlicher Art. Sie entstammt nicht, wie die Seele der Tiere, aus
den Elementen und auch nicht aus den separaten Intelligenzen allein.
Die letztere Meinung, die Nachmanides zweifellos durch eine Schrift
des Israeli bekannt war, lehnt er als „Ansicht der Griechen" ab 197 .
Die menschliche Seele ist von der Tierseele wesensverschieden198,
und Nachmanides nimmt mit den anderen ältesten Kabbalisten die
platonische Meinung von der Seele an, wonach im Menschen ver-
schiedene Seelen, nicht nur verschiedene Vermögen einer einheitlichen
Seele, existieren. Die anima rationalis vereinigt für Nachmanides das
rationale und das mystisch-intuitive Element, ohne daß er darin
Scheidungen vornimmt. Jedoch verschiebt sich das Gewicht für ihn
unversehens nach der zweiten Seite, und die höchste Seele, die als
Neschama aus Bina und Jessod kommt, ist die Mittlerin der Prophetie,
und sie ist es, durch die der Mensch in der Debhequth sich mit der
Gottheit in Kommunion setzt, und zwar infolge des ihr eingepflanzten
Verlangens nach ihrem Ursprung199. Henoch und die drei Patriarchen,
Moses und Elias sind schon auf Erden zu diesem höchsten Stand
gelangt200, der aber keine völlige Unio mystica mit der Gottheit ist,
sondern eine communio, wie wir sie auch in den Ausführungen über
die Kawwana kennengelernt haben. In der prophetischen Schau, in
der sich die Seele mit den Gegenständen ihrer Anschauung vereinigt,
befindet sich die Seele in diesem Stand der Debhequth, in dem sie
„Erkenntnis Gottes von Angesicht zu Angesicht" erlangt201. In diesem
Verlangen nach ihrem Ursprung vermag die höchste Seele im Menschen
alle mittleren Sphären zu durchstoßen und durch ihre Taten, die sich
hier sonderbar mit der Kontemplation vereinigen, bis zu Gott zu
erheben202.
1,7 Nachmanides zu Lev. 17 11. Was dort vom Ursprung der Tierseele gesagt wird,
las er in dem pseudo-aristotelischen „Kapitel von den Elementen", das in Wirklich-
keit eine Schrift des jüdischen Neuplatonikers Isaak Israeli ist, vgl. den Text bei
A. Altmann, Journal of Jewish Studies VII (1966), S. 42.
las Vgl. Nachmanides zu Gen. 2 7.
im Vgl. zu Num. 22 23. Über den sephirotischen Ursprung von Neschama vgl. z. B.
Ex. 3113 und N.s Predigt über Qoheleth, S. 16.
200 Vgl. zu Deut. 6 28, II22, 2118, sowie im Scha'ar ha-Gemul, Bl. 21b.
201 Vgl. zu Num. 2 2 « und vor allem Deut. 3410. Eine Definition dieses Status der
Debhequth gibt N. zu Deut. 26 19. Vgl. auch oben S. 267 und Anm. 184.
202 So vor allem in der psychologischen Stelle von N.s halachischem Buch Sepher
ha-Ma'or, die schon Isaak aus Akko, Hs. München 17, Bl. 143a zur Erklärung der
Psychologie des Nachmanides mit Recht heranzieht. In seinem Responsum an seinen
Vetter Jona Gerundi über die Erschaffung der Seelen trägt N. die Lehre vor, daß die
Seele zugleich mit der sephirotischen Welt der Urtage entstanden ist, wofür er sich
auf einen von ihm mystisch gedeuteten Vers Jehuda Halewis beruft. Dies bekannte
26*
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404 Das kabbalistische Zentrum in Gerona
2ie Vgl. Megillath ha-Megalleh, Berlin 1924, S. 10. Verwandte Ideen erwähnen
auch Saadja in seinem Kommentar zu Jesira, in der französischen Übersetzung von
Lambert, S. 19, sowie Jehuda ben Barzilai, S. 174.
an Vgl. die französische Übersetzung des kitäb al-bad'i wa'1-ta'rïhi von Cl. Huart,
Bd. 2, S. 44.
mir, jene gefallen mir nicht." Hier tritt also zum Motiv der auf unsere
Schöpfung folgenden Welten noch das der Vorwelten, das auch in der
Schemittalehre eine Rolle spielt. Die Zerstörung der Welt wird bei den
Kabbalisten von Gerona als die Unterbrechung des Stromes der
Emanation erklärt, die nicht mehr zu den unteren Welten, zu Himmel
und Erde sich ergießt, sondern in sich selber verschlossen bleibt. Die
Schöpfung bleibt dann in einem chaotischen Zustand und erst wenn
sich der Strom wieder erneuert, bildet sich neues Leben.
Im Buch Temuna erscheint die Lehre von den Schemittoth in de-
taillierter Ausführung, vor allem in enger Verbindung mit der mysti-
schen Auffassung vom Wesen der Tora. Es gibt eine höchste Tora, die
wir schon S. 253 als Tora qeduma kennengelernt haben. Diese Ur-Tora
ist nichts anderes als die göttliche Sophia, die in sich die Spuren allen
Seins und allen Werdens in reiner Spiritualität enthält. Ihre Buch-
staben sind „sehr subtil und verborgen, ohne Gestalt, Form und
Grenze". Wenn aber die unteren Sephiroth emanieren, so wirken sie
in jeder Schemitta in verschiedener Weise, nach dem besonderen Gesetz
einer jeden. Keine einzelne Schemitta vermag die ganze Kraft Gottes,
die sich in der Sophia und Ur-Tora ausdrückt, zu offenbaren. Vielmehr
teilt sich der zeitlose und in sich zusammengefaltete Inhalt dieser Ur-
Tora in der Zeit der kosmischen und historischen Schöpfung so ein,
daß jede Schemitta einen besonderen Aspekt der göttlichen Offenbarung
und damit auch der Absicht Gottes in dieser Schöpfungseinheit ent-
hüllt. Das läuft darauf hinaus, daß die besondere Gesetzlichkeit einer
jeden Schemitta sich in einer ihr entsprechenden Offenbarung der Tora
ausdrückt. Zwar verändern sich jene geistigen Engramme, die in der
Ur-Tora verborgen liegen, ihrem Wesen nach nicht, aber sie mani-
festieren sich unter verschiedenen Kombinationen und Formen, welche
die Buchstaben der Tora bilden und jeweilig in verschiedener Art, die
mit den Schemittoth wechselt, zusammentreten. Die Voraussetzung,
von der einen Tora, die zugleich eine höchste und allumfassende
mystische Essenz ist, dient hier also zur Rechtfertigung der Existenz
verschiedener Ausprägungen in den wechselnden Schemittoth. Das
Fundamentalprinzip des absoluten göttlichen Charakters der Tora
bleibt dabei gewahrt, erhält aber eine Interpretation, die eine völlig
neue Auffassung ermöglicht. Dabei muß betont werden, daß eine solche
Säule des orthodoxen Judentums seiner Zeit wie Nachmanides in
diesen Gedanken keinerlei Abweichung von der Lehre der einen gött-
lichen Offenbarung sah. Im Vorwort zu seinem Tora-Kommentar
deutet er auf den prinzipiellen Unterschied zwischen dem absoluten
Wesen der Tora und ihrer Erscheinungsweise für uns hin. Die Tora
besteht in sich selber als ein einheitlicher Organismus göttlicher Namen,
das heißt von Manifestationen seiner Kräfte oder Energien, ohne daß
eine Teilung in „verständliche" Worte dabei erfolgt, und in diesem
Stande ist die Tora für Menschen nicht „lesbar". Bei der Offenbarung
am Sinai aber lehrte Gott den Moses, die Tora mit Teilung der Buch-
staben und Worte so zu lesen, daß sie innerhalb der hebräischen Sprache
einen Sinn ergeben. Diese Ausführungen öffnen das Tor auch für die
Möglichkeit einer anderen mystischen Lesung, und das ist der Gedanke,
den das Buch Temuna in großer Radikalität repräsentiert.
Die Welt, in der wir leben, die Schöpfung, die vor so und so viel
tausend Jahren begonnen hat, ist nämlich diesem Buch zufolge nicht
die erste. Es ist ihr eine andere Schemitta vorausgegangen, der Äon
der Gnade, in dem alle Sephiroth unter der bestimmenden Herrschaft
dieser Hauptsephira wirkten. Die Welt, die damals „durch Gnade
erbaut" wurde — so wurde Ps 89 3 bei den Kabbalisten gedeutet —,
hat etwas vom goldenen Zeitalter des griechischen Mythos an sich.
Diese Schemitta war ganz in Licht getaucht. Die Sphären der Himmel
waren einfach und nicht aus den vier Elementen zusammengesetzt,
die Menschen standen auf höchstem geistigem Rang und besaßen einen
reinen Körper. Sogar das Vieh und die Tiere standen damals so hoch
wie in unserer Schemitta die Tiere, die die Merkaba tragen. Der Kultus
der Geschöpfe ähnelte der Gottesverehrung der Engel im jetzigen
Äon. Es gab kein Exil der Körper, wie das Israels, und kein Exil der
Seelen, welches die Seelenwanderung ist 220 . Der Mensch sah aus wie
der himmlische Mensch, den Ezechiel auf dem Throne sah. Die Mani-
festation der Ur-Tora, die den Geschöpfen dieser Schemitta zukam,
stammte ganz von Seiten der Gnade. Da es keinen bösen Trieb und
keine versuchende Schlange gab, enthielt ihre Tora, das heißt die Art,
wie die mystischen Buchstaben zu Kombinationen zusammentraten,
nichts über Unreinheit und Verbotenes. Auch die Buchstaben selber
waren damals von einfacher Form und nicht großenteils zusammen-
gesetzt wie jetzt 221 .
Ganz anders verhält es sich mit unserer Schemitta, die der Äon des
strengen Gerichts ist. Alle Kräfte des Gerichts sind hier konzentriert,
und wie jeder organische Prozeß Rückstände übrig läßt, Abfälle und
Bodensatz — bei den Kabbalisten seit dem Buch Temuna gern als
Hefe bezeichnet —, so ist diese Schemitta ein „Aufnahmeort aller
Rückstände222". Kein Wunder, daß das Gold in diesem Äon das am
gierigsten verlangte Metall ist, denn es symbolisiert in seiner roten
220
Das Buch Temuna ist der älteste Text, der das Wort Gtlgul für Seelenwanderung
benutzt, das ebenso gut als Übersetzung des arabischen tanäsuh wie eines lateinischen
revolutio erklärlich ist. Vgl. zum Ursprung der Terminologie meine Ausführungen in
Tarbiz 16 (1945), S. 1 3 6 - 1 3 9 .
221
Vgl. die Schilderung dieser Schemitta in Temuna, Bl. 37 b, in besserem Text
bei David ben Zimra, Magen David, Amsterdam 1713, Bl. 10a.
222
Vgl. a. a. O., Bl. 40a. Außer der Beschreibung hier, Bl. 38b—40a gibt der Autor
auch eine parallele, Bl. 29a.
Farbe die Gewalt des Gerichts, im Gegensatz zum weißen Silber, das
die Gnade repräsentiert. Aus der Herrschaft dieser Sephira stammen
die Exile und die Wanderungen der Seele. Von hier aus erklärt sich
auch der besondere Charakter der Tora, die den Geschöpfen den Weg
zur Gottesverehrung unter den besonderen Bedingungen dieses Äons
zu zeigen bestimmt ist. Herrscht doch jetzt der böse Trieb, der eben-
falls aus der Kraft der Strenge stammt, und verführt die Menschen
zum Götzendienst, für den in der vergangenen Periode kein Platz war.
Die Tora zielt jetzt auf Überwindung der Kraft des Bösen hin, und
deswegen gibt es in ihr Gebote und Verbote, Erlaubtes und Verbotenes,
Reines und Unreines. Nur vereinzelte Seelen, die noch aus dem vorigen
Äon stammen, sind auch in diesen zurückgekehrt, um die Welt durch
die Kraft der Gnade zu erhalten und die zerstörende Strenge des
Gerichts zu mildern. Dazu gehörten Henoch, Abraham und Moses.
Jetzt müssen sogar vollkommene Gerechte in Tierleiber wandern, und
das ist der geheime Grund für die besonderen Vorschriften über das
rituelle Schlachten. Die hier zuerst bei den Kabbalisten nachweisbare
Lehre von der Wanderung der Seelen in Tierleiber stellt, wie wir S. 209
gesehen haben, vielleicht eine direkte Berührung mit den Anschau-
ungen der Katharer dar und könnte für proven çalischen Ursprung des
Buches sprechen. Immerhin führte bei den Katharern diese Lehre,
wie in Indien, zum Vegetarianismus, während sie hier umgekehrt zu
einer sorgfältigeren Beachtung der Vorschriften über Fleischgenuß
führt: das Schlachten und die Verzehrung des Tieres hängt mit der
Heraufhebung der dort eingeschlossenen Seele aus der tierischen in
die menschliche Existenz zusammen. Von einer besonderen Hölle, die
mit der Seelenwanderung in Konkurrenz tritt, scheint der Autor nichts
zu halten. Im übrigen bespricht das Buch diese Lehre, die bei ihm
ziemlich unbeschränkte Geltung zu haben scheint, nur mit großer
Zurückhaltung, während erst der alte, in den Ausgaben mitgedruckte
Kommentar sehr aus sich herausgeht223.
Der Autor weiß sogar, daß die Buchstaben der Tora sich in diesem
Äon weigerten, zu der besonderen Verbindung zusammenzutreten,
unter der sie Israel am Sinai gegeben werden sollte, denn sie sahen das
Gesetz der Härte und Verwicklungen und Verstrickungen ins Böse,
unter dem diese Schernitici steht und wollten nicht in den Unrat hinab-
steigen, über dem der Palast dieses Äons errichtet ist, bis „Gott mit
ihnen übereinkam, daß der große und verherrlichte Name sich mit
ihnen verbinden und in der Tora enthalten sein werde"224, womit
offenbar mehr gemeint ist als die direkte Erwähnung des Gottesnamens
in der Tora. Der Name Gottes ist eben auf mystische Weise überall
223
Vgl. dazu a.a.O., Bl. 16b, 29a, 39b.
124
Vgl. a. a. O., Bl. 29b.
in der Tora enthalten und, wie später zum Beispiel Gikatilla sagt, in
sie eingewoben. In diese Tora, die alle zehn Sephiroth umfaßt, sind
alle Gesetze und Mysterien dieses Äon in geheimer Sprache einge-
schrieben und die besonderen Formen der Buchstaben deuten all dieses
an. „Kein Engel kann sie verstehen, sondern nur Gott allein, der sie
dem Moses erklärt und ihm ihr ganzes Mysterium mitgeteilt h a t "
(Bl. 30 a). Auf Grund dieser Unterweisung schrieb Moses die Tora in
seiner eigenen Sprache nieder, wenn auch in einer mystischen Anordnung,
die dieser geheimen Gesetzlichkeit entspricht. Der Äon muß diesem Ge-
setz der Strenge und der ihm entsprechenden Tora folgen, und erst an
seinem Ende kehren alle Dinge zu ihrem ursprünglichen Stand zurück.
Der Autor geht von der Voraussetzung aus, daß es auch innerhalb der
Schemitta eine innere Zyklik gibt. Das menschliche Geschlecht ist aus
dem einen Adam hervorgegangen und hat sich zu Millionen entfaltet.
Nach der Erlösung, die ins 6. Jahrtausend fällt — das Buch Temuna
ist ziemlich genau um das J a h r 5000 der jüdischen Ära (1240) abge-
faßt — stirbt die Menschheit im selben Rhythmus aus, in dem sie be-
gonnen hat. „Wie alles gekommen ist, in derselben Weise vergeht es".
„Die Türen auf dem Markte werden verschlossen" (Eccl 12 4), und
alles kehrt zu seinem Ursprung heim, auch die Engel der diesem Äon
entsprechenden Merkaba, die Himmelssphären und die Sterne. Alles
kehrt in seinen „Behälter" zurück, und die Welt bleibt wüst, bis Gott
aus der K r a f t der nächsten Sephira eine neue Schemitta hervorruft 2 2 5 .
Diese nächste Schemitta erscheint der unseren gegenüber wie eine
Rückkehr nach Utopia. Statt der Klassenunterschiede, die jetzt
herrschen, wird alles gleich sein. Die Tora wird nur von Dingen der
Heiligkeit und Lauterkeit handeln, und die Opfer werden nicht Tier-
opfer, sondern solche des Dankes und der Liebe sein. E s gibt keine
Seelenwanderung und keine Verunreinigung, weder des Körpers noch
der Seele. Die ganze Welt ist wie das Paradies. E s gibt keinen bösen
Trieb und keine Sünde; die Seelen wandeln wie die Engel, und Gott
in ihrer Mitte. D a s Antlitz der Menschen wird von großer Schönheit
sein und das göttliche Licht „ohne jede Hülle" reflektieren, wie sie
Moses in unserem Äon über seinem Antlitz tragen mußte, weil die
Menschen diesen Glanz nicht zu ertragen vermocht hätten. Die Schil-
derungen dieser drei Schemittoth regten die Phantasie besonders an,
und die kabbalistische Literatur der folgenden Generationen ist voll
von Spekulationen über die in ihnen herrschenden Zustände, während
die anderen Schemittoth nur schemenhaft gezeichnet werden. Über das
Weltenjobeljahr, zu dem unsere Schemitta gehört, geht das Buch
Temuna nirgends hinaus. Was danach kommt, bleibt unklar. Nach
Joseph ben Samuel aus Katalanien kehren alle Dinge in die Ver-
226 Meschibh Debharim, Hs. Oxford, Bl. 63 a; Joseph ben Samuels Ansicht bei
Isaak von Akko, Me'irath 'Enajirn Hs. München 17. Bl. 18b.
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420 Das kabbalistische Zentrum in Gerona
Borst, Arno 12f., 166, 207, 209 Da'ath 110, 160, 183, 371, 394
das Böse 55, 57, 59, 120, 130—133, 255 DaUth 156
bis 263, 419 D'Alvemy, M.-Th. 278
Botarel, Moses 284, 329 Damaskus 258, 317, 321
Bousset, Wilhelm 112, 168 Dämonologie 95, 207, 213, 258—262, 286f.
Brautmystik 22, 81, 144, 148—156, 163 f. Daniel Al-Kumisi 94
Buch der Schöpfung siehe: Jeçira Daniélou, J . 64
Buchstaben 22—27, 55, 56, 119f., 141f., David 153, 406
245, 252, 264, 278, 321, 407, 412—415, David ben Abraham ha-Labhan 323
417 f. David, Bruder Isaaks des Blinden 203,
Bun, Rabbi 46 222
Bund des Lebens 271f. David Halewi 275
Burgos 262, 269, 283, 289, 324, 330, 347, David Hohen 340
350, 359, 386, 401 David Messer Leon 275, 308
David ben Saul 360
David ben Zimra 413, 418
Carcassonne 14
Debequth 218, 265—271, 287, 334, 339,
Causa causarum 185, 187, 190f., 197, 217,
318, 338, 353f., 356, 382, 392 365, 368, 370, 403, 419
R. Chammai 274—276, 284, 291, 311 Deinard, E. 331
Chananel ben Abraham 285, 322 Dekane 68
Chananel aus Kairawan 158 Delmedigo, J . S. 90, 188
Chanania ben Teradion 284f. Demiurg, siehe Jofer Bereschith
R. Chanina 26 Demuth, siehe Urbilder
R. Chanina ben Dossa 226 Denken, siehe Mahschabha
Chanina (Chanunja) aus Jerusalem 290 Dibbur 233, 241, 244
Charizi, Jehuda 372 f. Dionysius Areopagita 278, 282, 374
Chassid (als Ehrentitel Isaaks des Blin- Döllinger, J . 207f., 306
den) 224 Doresse, Jean 260
Chassida, M. 223, 276, 348 Dornseiff, Franz 25, 56
Chassidim, deutsche 35—36, 42, 55, 58, Dorsche Reschumoth 35
78, 85—93, 159—165, 168, 173f., 189, Drower, Lady E. St. 136, 152, 260
198, 203, 213, 216, 218, 234f., 279, Du-Parfuphin 191 f.
285, 287, 327, 360, 392 Dunkel der Ureinheit 386, 390
Cherub, der besondere 86, 185—190, 264, Duran, Profet 313
305
Cherub. Cherubim 163, 280, 282, 299 Ecclesia Israels 140,144, 148—150,155f.,
Chessed, siehe Hessed 164 f., 196
Chisdai ha-Nassi 318 Eckhart, Meister 114
Christentum und Kabbala 313—314 Edelstein 153—155
Chwolson, D. 260 Edom 261
Ciantes, Joseph 314 Efros, Israel 228, 257
Cohn, Jonas 382 Ehad, jahid u-mejuhad 302
coincidentia oppositorum 276, 388—390, Ehjeh 163, 173, 195, 252, 279
402 Ehrenpreis, M. 116, 229, 276, 328, 344,
communio, siehe Debequth 376
Corbeil 219f., 287, 290 EHWJ (als Gottesname) 278f., 298
Cordovero, M. 90, 279, 308 f., 314 Einheit, unterschiedslose 190, 247, 276,
294, 302, 370, 387—390
Eisler, Robert 26, 152, 234 197, 203, 205, 224, 228—230, 238 f.,
Ekstase 17, 267, 269 246, 248, 257f., 263f., 267—271, 273,
Elchanan aus Corbeil 219f., 317 326, 328—337,342,344,347,349,351f.,
Elchanan ben Jaqar aus London 30, 89, 356f., 362—365, 368, 373, 379, 392f.,
220 398, 405
Eleazar aus Worms 30, 36, 41, 86, 89, Ezra ben Salomo Kohen aus Deutschland
100, 109, 111, 168, 162—165, 168, 190, 321
197f., 211 f., 220, 229, 231, 234f., 261,
279, 286, 290, 314—317, 360f., 392 factor primus 291
Elias (Prophet) 89 f., 110, 208, 403 Farbenmystik 254, 276, 295 f.
— Gebet des Elias 225 Feld 149, 151, 164
Elias, Offenbarung des Propheten 9, 30 Fendt, L. 167
bis 33, 176, 181, 210—214, 216, 260, Fenster 150f.
289 Feuchtigkeit (LiUuah) 295, 300
R. Elias aus Paris 89, 211 Feuer 127—129, 197, 294, 298
Eliezer ben Joel Halewi 231 Finsternis 45, 55, 277—280, 292f., 295
Elischa ben Abuja 273 bis 298, 397
'Elohim 91, 117, 192 Flavius Mithridates 43
Emanationslehre 58, 116, 159, 243, 246, Franck, Adolphe 4
248f., 277, 316—320, 381—399 Friede 127, 129, 156
emanieren und schaffen 158, 192, 281, Friedländer, M. 16
316, 354f., 374
'Emeth 116, 127, 130 f., 231 Gabarda'el 108
Empedokles 290, 292 Gabirol 32, 59, 112, 172, 200, 204, 238,
'Emunah 266, 375 277, 281 f., 286, 291, 297, 299, 301, 3Ô3,
'En-soph 47, 115f., 194, 216f., 230—239, 306f., 312, 380f.
247, 250f., 253, 265f., 292, 303, 316, Gabriel 62, 65, 130—133
354, 370, 375f., 381—392, 397, 416 Galenus 136, 277
Engel 48, 61 f., 69. 98—100, 131, 160f., R. Gamliel 369
163, 183f., 198—200, 205, 209, 234f., R. Gamliel, Gebet der Einheit 284, 292
256, 264, 281, 305f., 343, 413, 415 Garten 117, 122f., 141, 151, 383
Ennoia, siehe Mahschabha 53 Gaster, Moses 15, 39, 96, 260
Ephraim ben Simson 78, 91—93, 131 Gebet des Elias (magischer Text) 225
Epstein, Abraham 14, 41 Gebet des Rab Hamnuna 279
Epstein, Isidore 257 Gebete der Einheit 284
Erbarmen, siehe Rahamim Gebhura 70, 72, 108, 127, 131—133, 143,
Erde (Symbol) 82f., 118, 134, 144, 378 160,161, 231, 253, 258, 299
Erigena, siehe Johannes Scotus Erigena Gebetsmystik 44, 46, 57, 113f., 154, 162,
Erlösung 156, 167, 179, 272, 416 f. 171—173, 183—185, 194f., 223, 225f.;
Eschatologie 271f., 290, 292, 315, 318 bis 237, 265—270, 287, 327, 331, 338f.,
320, 342f., 358f., 363, 402 352—356, 365, 368—373, siehe auch
Ethrog 144, 152 f., 157 Kawwana
Evangelium 410 Gebote 113, 122, 139, 154, 157, 165, 270,
Evangelium der Wahrheit 63 337f„ 344, 363, 365, 367
Exil der Schekhina 82—84, 149 Gedulla 231
Exil, Ursprung des E. 414 Gefäß 77, 149, 156
Ezra aus Moncontour 210f., 218 Gehirn 136, 296, 308, 409
Ezra ben Salomo aus Gerona 35, 194, Gematria 107, 219, 281, 288
Gerechte 66f., 101, 135, 138f„ 256 Guiraud, Jean 13, 87, 166, 207
Gerechter (als Symbol) 65,127,134—139, Günzburg, David 285, 322
230, 310, 315, 317, 319 Günzig, J . 33
Gerechtigkeit 80, 120, 161 Gut und Böse 257—263
Gericht, siehe: Middath ha-Din Guttmann, Jakob 228
Gerichtshof, himmlischer 132 Guttmann, Julius 196
Gerona 31, 222, 224, 226f., 231, 262, 273,
324—327, 332, 336, 346—348, 352,
Habakuk als Merkabamystiker 54, 113,
362—366, 381, 405, 407 f., 412
218
Gerschom aus Damaskus 259
Habermann, A. M. 21
Geschwisterehe 152
Haj Gaon 88, 96, 203, 275, 281, 285,
Gikatilla, Joseph 263, 291, 344, 415
289—291, 300, 308—315
Gilgul 166, 272, 404, 413
Hajoth 23, 105, 127, 299 f.
Gilluj Elijahu 30, 216
Halberstam, S. J . 40, 216
Gimmel 118 f.
Hamai ben Hanina 275
Ginsburg, Chr. D. 233
Hatha de-Mosche 96
Ginzberg, Louis 21, 24, 131, 139, 261
Harkavy, A. E. 67, 110, 234
Glaubensbekenntnis, siehe: Schmu' Israel
Hartig, O. 43
Gleichnisse im Bahir 52f.. 61, 63, 66, 74,
Haschmal 279—282, 298—300, 305
76, 77, 79, 81, 83f., 91f., 100,114,129,
Haschwa'a (Ungeschiedenheit) 388
140f., 148—155, 167, 169
Haskel 237, 240, 242, 247, 308, 393
Glieder des Urmenschen 48, 123—125,
Hawwajoth, Essenzen 232, 245—247f.,
137, 142 f. 251, 280, 378, 388
Glorie Gottes, siehe: Kabhod He im Gottesnamen 80, 173, 311
Gnade, siehe: Hessed Hefe 413
Gnosis 5, 12, 16—19, 58—85, 87, 103f., Heilige Formen 48, 69, 122f., 131f., 143,
112, 124f., 134, 136, 143, 145, 148, 150, 152, 158
152, 154, 157, 160, 164, 167, 168, 170, Heiligtum, himmlisches 102, 105, 113,
185, 206, 208, 236, 238, 260, 283, 321 135
Gnostiker {Ba'ale Jedi'a) 286, 309 (vgl. Hekhaloth 16—20, 46, 51, 54, 58, 60, 73,
auch 35) 88, 95, 97, 115f., 129, 161—163, 188,
Gold-Symbolik 121, 127, 150, 413 208, 213, 217, 231, 259, 278, 320, 399
Goldschmidt, Lazarus 21 Henaden 59, 111
Goldziher, I. 257 Henoch 188, 403, 414
Golem-Schöpfung 27, 91, 107—109, 284f. Henochbuch (slawisch) 62 — 65
Golem (Hyle) 379, 380 Herrera, Abraham 212
Gordon, Cyrus 95, 189 Herz (als Symbol) 68, 141, 149, 151, 397
Gottesfurcht 80, 114, 120 Hessed 127—129, 138, 161, 231, 241, 253,
Gottesnamen, magische 56, 88f., 98f., 281, 299, 304, 319, 413
105, 124, 162, 259, 278f., 285f. Hieros Gamos 135
Graetz, Heinrich 4—8, 16, 116, 187 f., Himmel 129f., 135, 157, 378
204, 328f., 340 Himmelsreise der Seele 19, 210, 218, 220
Grajwer, M. 376, 396 Hiob 405
Grant, Robert 18 Hippolytus 63, 76
Groß, Heinrich 36f., 179, 182, 187, 219f. Histakluth 115, 393f.
Grundmann, H. 411 Hod 142, 231, 241
Grunsky, H. 386 Hohelied (mystische Deutung) 17, 152f.,
Güdemann, M. 202 f. 199, 331 f., 334f.
Leben 54, 106, 383, 398 Malkhuth 86, 162—164, 191, 197, 254,
Leben der Welten (Symbol) 138f., 141 261, 281
Lebensbaum 64, 131, 135 f. Malkiel 90
Leisegang, Hans 76 Malter, H. 286
Lewin, Benjamin M. 21 Mandäer 80, 95, 106, 136, 145, 152, 170,
Lewitas ben Tiburia 46 260, 274
Libanon 141 Manichäer 136, 145
Liber de causis 375 Mann, Jakob 94
Licht des vollkommenen Lebens 106 Männliches und Weibliches 125 f., 134 bis
620 Lichtsäulen 301, 304 158, 208, 379
Lichtsymbolik 120, 194, 229, 277, 280, Marcion 13
282, 287 f., 295, 309—314, 318—320, Marcus, A. 275
360 Margalioth, Eliezer 31
Lidzbarski, M. 95 Margalioth, R. 44, 275
Lilith 207f., 259—261 Margulies, R. 211
Linke Gottes 130—133, 163, 258 Marmorstein, A. 137, 261
Links und Rechts 127—133 Mars 260
Logoi 48, 57, 71, 101, 104f., 110—119, Marseille 14, 1981, 203, 220, 274, 287
122f., 126—128, 134r-158, 172f., 233, Marx, Alexander 179, 221, 331, 358, 365
244, 251, 385 Maskilim (Mystiker) 172, 197, 221, 226,
Logoslehre 185, 187, 201, 257 247, 266, 356
London 30, 89, 220, 289 Masliah ben Pelatia 259
Loewenstamm, S. E. 29 Masmariah (Engel) 89 f.
Lulabh 69, 153, 157 Massekheth Ά ¡iluth 8
Lueken, W. 306 Materie und Form 54, 59, 112, 120, 198
Lull, Ramon 345, 395 bis 200, 252, 283, 306f., 311f., 320f.,
Lunel 10, 14, 183, 195—197, 213, 220,
372Í., 377—381, 409
230f., 287, 317, 321, 324, 330, 358
Matha Mechassja 315, 317
Matrona, Matronitha 84, 148, 155, 264
Ma'amaroth, siehe Logoi Mazach, Joseph ibn 347
Ma'arekheth ha-'Elohuth 264, 290, 391 Meditation 113, 171—173, 242, 246f.,
Ma'assek Bereschith 6 250, 256, 266—269, 327, 330, 355, 371
Magie 26—28, 88—91, 98f., 179, 214f., Meer 141, 153
225, 259, 279, 286, 290, 294, 310f., 321, R. Meïr 46, 99—101
368—373 Meïr ben Gabbai 271, 330
Magnet 255 Meïr ben Salomo Abi-Sahula 33, 44, 191,
Mahschabha 53, 74, 102 f., 112—116, 128, 227, 237, 252, 255, 262, 264, 270, 272f.,
134, 200, 226, 232, 237—244, 246, 250, 322f., 341, 346, 397, 411
253, 265f., 268, 291, 294, 298—300, Meïr ben Simon aus Narbonne 36 f., 47 f.,
338, 385f., 393f. 173, 230, 275, 331, 335, 352—356. 363
Mahschabha tehora 112, 238, 243, 282, Mekhilta 131
310, 312, 317, 372 Mem 155
Maimonides 5, 40, 48, 147 f., 181, 186, Menachem ha-Parusch 203
188f., 193, 198—200, 206, 221, 251, Menachem Recanati, siehe Recanati
269, 282, 287, 326, 334—339, 343f., Menachem Sioni, siehe Sioni
358,360—362,366,373—374,379f„ 400 Menora 348
Ma 'jan ha-Hokhtna 284f., 287, 291, 293 Mensch, Wesen des M. 356, 367, 401
bis 299, 312 Mequbbalim 33, 38, 53
* Die Übersetzung des Nachwortes wurde von Ulrike Hirschfelder (Berlin) angefer-
tigt.
1
Bialik spielte eine wichtige Rolle für Scholems berufliche Laufbahn in Jerusalem.
In den frühen zwanziger Jahren rief Bialik eine Publikationsreihe ins Leben, deren Ziel
es war, die klassischen Texte aus allen Gebieten der jüdischen Tradition einer modern-
hebräischen Leserschaft nahezubringen. Er bat Scholem, ein Programm zu erstellen, das
alle Bücher und Studien zur kabbalistischen Literatur auflistete, die in dieser Reihe
erscheinen sollten. Der detaillierte Entwurf, den Scholem in seinem Antwortschreiben
darlegte, bildete das Gerüst seiner wissenschaftlichen Arbeit in den nachfolgenden Jahr-
zehnten. Scholems Brief aus dem Jahr 1925 wurde in Devarim Bego von Abraham
Shapira, Tel Aviv (Am Oved) 1976, S. 5 9 - 6 3 , veröffentlicht [deutsche Übersetzung in:
Gershom Scholem, Die Wissenschaft vom Judentum. Judaica 6, herausgegeben, aus dem
Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von P. Schäfer in Zusammen-
arbeit mit G. Necker und U. Hirschfelder, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main
1997, S. 53-67]. Bialik bedankte sich bei Scholem mit einem Brief (20. Juli 1925), in
dem er sich sehr anerkennend über das Programm äußerte [deutsche Übersetzung: ebd.,
S. 75-76]. Er versprach, Scholems Vorschläge dem Universitätsrat der im selben Jahr
gegründeten Hebräischen Universität sowie ihrem damaligen Kanzler, Dr. J. L. Magnes,
vorzulegen. Dies war offenbar von großer Bedeutung für Scholems universitäre Lauf-
bahn, er wurde als einer der ersten Dozenten an die Hebräische Universität berufen.
2
Die deutsche Fassung von „Erlösung durch Sünde" erschien in: Gershom Scholem,
Judaica 5, aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von M.
Brocke, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992.
3
Scholem verwendete zwei unterschiedliche hebräische Begriffe für „Anfange" bzw.
„Anfang". Für den 1946 erschienenen Aufsatz wählte er den im modernen Hebräisch
üblichen Begriff hathalot. Der Ausdruck reshit, auf den er für den Titel seiner 1948
erschienenen Monographie zurückgriff, ist der klassische Terminus für den kosmischen
Urbeginn, in Anlehnung an das erste Wort der Bibel bereshit (Genesis 1,1).
4
Der hebräischen Fassung sind drei Anhänge beigegeben; das dort enthaltene Ma-
terial (zum Buch Raza Rabba, zu den Schülern von Nachmanides und eine Liste der
dem Iyyuti-Kiús zugeschriebenen Werke) wurde in der deutschen Version größtenteils
eingearbeitet.
5
Das erste Buch dieser Reihe, das 1938 herauskam, war Scholems Edition der Traum-
bilder des sabbatianischen Visionärs Mordechai Aschkenasi. In den folgenden Jahren
erschienen in dieser Reihe unter anderem I. Tishbys Dissertation zur lurianischen Kab-
bala (1942) sowie Moshe Perlmutters Studie zu den sabbatianischen Schriften von Rabbi
Jonathan Eibeschütz (1953).
6
Der Verlag lief zunächst unter dem Namen Mif'al ha-Shikhpul.
7
Heft 1: Die Anfänge der Kabbala und Sefer ha-Bahir, herausgegeben von R.
Schatz, 1962 [hebräisch],
Heft 2: Die Kabbala in der Provence, herausgegeben von R. Schatz, 1963 [hebräisch];
Scholem fügte diesem Band den aus einer Handschrift kopierten Text des Sefer Yetzira-
Kommentars von Rabbi Isaak dem Blinden bei.
Heft 3: Die Kabbala in Gerona, herausgegeben von J. Ben Shlomo, 1964 [hebräisch].
Heft 4: Abraham Abulafia und Sefer ha-Temunah, herausgegeben von J. Ben
Shlomo, 1965 [hebräisch].
8
Die englische Übersetzung von Ursprung und Anfänge wurde auf Grundlage der
deutschen Fassung von Allan Arkush angefertigt und erschien 1987 bei Princeton Uni-
versity Press (Princeton, N.J.) und bei der Jewish Publication Society (Philadelphia)
unter dem Titel The Origins of the Kabbalah. Diese Fassung wurde von R. J. Zwi Wer-
blowski redigiert, der auch die Anmerkungen, die Scholem am Seitenrand seines deut-
schen Exemplars sowie in anderen Quellentexten vermerkt hatte, berücksichtigte, um
die englische Version auf den neuesten Forschungsstand zu bringen. In gewisser Weise
stellt The Origins of the Kabbalah die fünfte und letzte Fassung der Untersuchungen
Scholems zu diesem Thema dar.
9
New York (Schocken) 1941 (eigentlich vom Schocken-Verlag in Tel Aviv publi-
ziert); Neuauflagen 1946 und 1954.
10
1960 hatte Scholem unter dem Titel Zur Kabbala und ihrer Symbolik auf Deutsch
den ersten Sammelband seiner Eranos-Vorträge publiziert (Rhein-Verlag in Zürich).
1962 erschien der zweite Sammelband Von der mystischen Gestalt der Gottheit (ebenfalls
im Rhein-Verlag). Bei diesen Bänden handelte es sich nicht um „deutsche", sondern um
„schweizerische" Bücher. Die Eranos-Tagungen gaben Scholem die Möglichkeit, auf
Deutsch vorzutragen und zu schreiben, ohne sich tatsächlich in Deutschland aufzu-
halten.
II
Vierzig Jahre sind seit dem Erscheinen von Ursprung und Anfänge
vergangen, beinahe sechzig Jahre seit Scholems erster Fassung dieses
Werkes.12 Im Hinblick auf die Forschungsgeschichte ist es bezeich-
nend, daß die früheste Fassung bereits alle wichtigen Texte und Analy-
sen enthält, die wir auch in der endgültigen Fassung vorfinden. Dar-
über hinaus fügte Scholem während der zwanzig Jahre, die er nach
der Publikation von Ursprung und Anfänge arbeitete und schrieb, keine
wesentlichen Fakten hinzu, die er nicht schon in der ersten Fassung
angesprochen hätte. Das heißt, daß die grundlegenden Daten und
Texte, die Scholem in den dreißiger und frühen vierziger Jahren zusam-
menstellte, das Gerüst für die Geschichte der Kabbala bildeten. 1934
veröffentlichte Scholem mehrere, zum damaligen Zeitpunkt noch un-
bekannte Dokumente zu den Anfangen der Kabbala in der Provence
" New York (The Jewish Theological Seminary) 1960; eine zweite Auflage im Ta-
schenbuchformat, mit einigen Verbesserungen und Hinzufügungen, erschien 1965.
12
Es ist auffällig, daß die Anfänge der Kabbala in Scholems Major Trends in Jewish
Mysticism nicht behandelt werden. Major Trends geht auf eine Vorlesungsreihe zurück,
die Scholem 1938 in New York hielt. Die Anfänge der Kabbala hat Scholem zweifellos
deswegen nicht berücksichtigt, weil er zu diesem Zeitpunkt an einer umfassenden Unter-
suchung arbeitete und es für unmöglich hielt, dieses Thema in einer knappen, kompri-
mierten Vorlesung wiederzugeben. Daß die Grundzüge seiner Ausführungen zu diesem
Thema in den frühen 40er Jahren Gestalt annahmen, ist offensichtlich. Zu dieser Zeit
war Scholem Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Hebräischen Universität.
Der Krieg in Europa und die Gefahren, denen die jüdische Gemeinschaft in Palästina
ausgesetzt war, beschäftigten Scholem damals ohne Zweifel ebenso sehr wie alle an-
deren.
13
Te'uda Hadasha le-Toledot Reshit ha-Kabbala, in: Sefer Bialik, Tel Aviv 1934,
S. 1 4 1 - 1 6 2 .
14
Perush ha-Aggadot le-Rabbi Azriel, Jerusalem (Magnes Press) 1946, basierend auf
der Dissertation Tishbys, die von Scholem betreut wurde.
Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, gelang es Scholem und
anderen Wissenschaftlern, den ersten Premierminister, David Ben
Gurion, dazu zu bewegen, seinen Namen und seinen Einfluß geltend
zu machen, um in der Nationalbibliothek eine spezielle Abteilung ein-
zurichten, in der Mikrofilmkopien von allen Judaica-Handschriften in
der Welt gesammelt werden sollten. Zahlreiche Mitarbeiter der Jeru-
salemer Nationalbibliothek trugen zur erfolgreichen Durchführung
dieses Unternehmens bei. Heute befinden sich dort Abertausende von
Kopien aller weltweit existierenden Handschriften aus privaten und
öffentlichen Sammlungen. Scholem war einer der Direktoren dieses
„Institute for Microfilmed Hebrew Manuscripts" und verfolgte stets
dessen Neuanschaffungen; er bemühte sich auch sehr um die Vergröße-
rung der Sammlung von Originalhandschriften der Nationalbiblio-
thek, die schnell zur bedeutendsten der Welt anwuchs.
Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß Scholem, als Resultat
dieser Unternehmungen, im letzten Jahrzehnt seines Lebens und Schaf-
fens Zugang zu Sammlungen von hebräischen Handschriften hatte, die
mindestens fünfmal oder vielleicht sogar zehnmal so groß waren wie
diejenigen, die ihm in den vierziger Jahren zur Verfügung standen, als
seine Arbeit zur frühen Kabbala Gestalt annahm. Wie ist es möglich,
daß ein so dramatischer Anstieg im Umfang der Quellen keine bedeu-
tende Neuentdeckung hervorbrachte, die sich auf die von Scholem
schon Jahrzehnte zuvor herausgearbeiteten Grundeinsichten auswirkte?
Selbst wenn wir annehmen, daß Scholem und Tishby in ihren späte-
ren Jahren ausschließlich mit anderen Themen beschäftigt waren, stellt
sich doch dieselbe Frage in bezug auf die nachfolgenden Generationen
von Wissenschaftlern. Nahezu ein Dutzend Forscher der jüngeren
Generation, eine Gruppe, zu der ich ebenfalls gehöre, haben in den
letzten fünfzig Jahren Arbeiten zur frühen Kabbala publiziert. Zahl-
reiche Bücher und Hunderte von Artikeln sind in diesem Zeitraum
erschienen, viele von ihnen widersprechen Scholem in kleineren oder
größeren Punkten. An Vorschlägen, die frühen Entwicklungsstufen der
Kabbala durch neue Aspekte und Interpretationen zu erhellen, hat es
nicht gefehlt. Dennoch findet sich in keiner dieser Arbeiten wesentlich
neues Material, das aus den Tausenden von erst seit kurzem verfüg-
baren Handschriften gewonnen wurde und aufgrund dessen die grund-
legenden Fakten, wie sie Scholem in seinem Werk dargestellt hat, wi-
derlegt werden konnten. Im vergangenen halben Jahrhundert blieben
die Textbasis und die historischen Grundzüge, die Scholem in den vor-
angehenden Jahrzehnten nachgezeichnet hat, unverändert. Die Funda-
mente, auf denen Scholem seine Geschichte der Kabbala aufbaute,
gerieten trotz des explosionsartig angewachsenen Materials und trotz
der Vielzahl der Publikationen, in denen der Versuch einer Neuinter-
pretation unternommen wurde, nicht ins Wanken.
III
der Kabbala. Scholem beschrieb das Buch Bahir sehr detailliert als
eine Kompilation von Quellen, die aus verschiedenen Epochen und
kulturellen Kontexten stammen, beispielsweise dem arabisch-spani-
schen, und vertrat die Ansicht, daß viele dieser Ideen und Texte antike
jüdische Traditionen widerspiegeln, die sich über Jahrhunderte hinweg
weiterentwickelt und herausgebildet hatten. Er betonte die gnostische
Natur vieler, wenn nicht sogar aller dieser Ideen und nahm an, daß
bereits die Quellen des Bahir stark gnostisch beeinflußt waren. Scho-
lems Ausführungen lassen offen, ob es sich bei diesen gnostischen
Quellen um christliche oder jüdische handelte: Zu dieser Zeit war die
Vorstellung (an der einige Autoren immer noch festhalten) vorherr-
schend, daß der christliche Gnostizismus im Judentum entstanden war
und dort in verborgenen Quellen Verbreitung fand. Scholem legte sich
nicht fest, ob die gnostischen Elemente im Bahir auf den Einfluß von
antiken christlichen Sekten zurückgehen oder ob es eine immanent
jüdische Gnosis gab, die mündlich von Generation zu Generation wei-
tergegeben wurde und die Ende des zwölften Jahrhunderts im Buch
Bahir ihren schriftlichen Ausdruck fand. Diese Position konnte meiner
Meinung nach nur auf dem Hintergrund der allgemeinen, aufgrund
der Neuentdeckungen zu Judentum und antiker Gnosis vorherrschen-
den Stimmung eingenommen werden.
In den vergangenen Jahrzehnten hat dieser Optimismus nachgelas-
sen, und die Hoffnung, daß von Zeit zu Zeit eine dramatische Ent-
deckung unseren Kenntnissen über das antike Judentum, das frühe
Christentum oder die Gnosis Bedeutendes hinzufügen könnte, scheint
nicht mehr gerechtfertigt. Die Schriften vom Toten Meer warfen viel
mehr Fragen auf, als sie beantworteten, und die Beziehung zwischen
der Qumran-Sekte oder den Qumran-Sekten zum Judentum einerseits
und zum Christentum andererseits scheint komplexer denn je. Zweifel
wurden angemeldet am gnostischen Charakter vieler Traktate aus Nag
Hammadi, und die Idee von der Gnosis als „dritter Religion", wie sie
Hans Jonas, ein Kollege Scholems, formulierte, wird inzwischen von
vielen Forschern abgelehnt.15 Das Konzept einer „jüdischen Gnosis"
stellt sich zunehmend als problematisch dar. 16 Die Untersuchung spät-
antiker jüdischer Quellen profitierte in keiner Weise von der Suche
nach „gnostischen Elementen", und die Forschung ist heute immer
weniger bereit, sich darauf einzulassen. Gegenwärtige Untersuchungen
zu Talmud und Midrasch tendieren dazu, diese Terminologie zu ver-
15
Eine Zusammenfassung zum Problem der Gnosis bietet neuerdings Michael Allen
Williams, Rethinking „Gnosticism": An Argument for Dismantling a Dubious Category,
Princeton, N.J. (Princeton University Press) 1996.
16
Siehe zum Beispiel J. Dan, Jewish Gnosticism?, in: Jewish Studies Quarterly 2
(1995), S. 309-328.
17
Siehe P. Schäfer, Der verborgene und offenbare Gott. Hauptthemen der frühen
jüdischen Mystik, Tübingen (J. C. B. Mohr [Paul Siebeck]) 1991; J. Dan, The Ancient
Jewish Mysticism, Tel Aviv ( M O D ) 1991; ders., Jewish Mysticism, Band I: Late Anti-
quity, Northvale, N.J. (Aronsons) 1998.
18
Siehe dazu ausführlicher J. Dan, Jewish Mysticism, Band II: The Middle Ages,
Northvale, N.J. (Aronson) 1998, S. X I V - L V I I .
die die neuen Konzepte und Sichtweisen kreierte, die für dieses Werk
charakteristisch sind.
Das Buch Bahir stützt sich durchaus auf antike Quellen, allerdings
auf Quellen, die uns wohlbekannt sind: Sefer Yetzira, das antike „Buch
der Schöpfung" 19 , von dem der Autor des Bahir häufig Gebrauch
machte, das er jedoch auf neue, radikale Weise interpretierte; einige
Elemente der Hekhalot-Mystik, ebenfalls auf neue Art dargestellt,
sowie verwandte antike und frühmittelalterliche jüdisch-esoterische
Traditionen, die wir nachweisen können. 20 Wenn wir die Beziehung
zwischen dem Bahir und den uns bekannten Quellen untersuchen, wird
deutlich, daß wir einen radikalen Mystiker vor uns haben. Er griff
zwar auf einige Quellen als „Bausteine" zurück, aber der generelle Ein-
druck des Buches Bahir ist der eines originären Werkes. Das Buch
Bahir sollte als Produkt eines religiösen Erneuerers betrachtet werden,
eines kenntnisreichen mittelalterlichen jüdischen Mystikers, der ver-
schiedene Quellen benutzte, sie aber umformte, so daß sie seinen
neuen, revolutionären Konzepten der göttlichen Welt entsprachen. Die
mythische Vorstellung einer bisexuellen Gottheit, die aus einem Ple-
roma von männlichen und weiblichen göttlichen Hypostasen besteht
und als kosmischer Baum versinnbildlicht wird, entsprang dem Geist
eines großen jüdischen Mystikers, der seine Ideen in den kryptischen
Passagen des Buches Bahir im Stile eines Pseudo-Midrasch zum Aus-
druck brachte.
IV
19
Zum Sefer Yetzira siehe J. Dan, The Language of Creation and Its Grammar, in:
Tradition und Translation. Festschrift für Carsten Colpe, herausgegeben von R. HafTke,
H. M. Haussig und anderen, Berlin - New York (Walter de Gruyter) 1994, S. 4 2 - 6 3 .
20
Der interessanten Frage nach der Beziehung zwischen einem beträchtlichen Teil
des Bahir (fast die gesamte erste Hälfte), der sich mit den Buchstaben des Alphabets
befaßt, und den antiken hebräischen Schriften, die sich mit der Interpretation der For-
men der hebräischen Buchstaben beschäftigen, wie beispielsweise das Alphabet des Rabbi
Aqiva und einige verwandte Texte, ging Scholem nicht nach. Es liegt auf der Hand, daß
der Autor des Bahir zwar von diesen Texten beeinflußt war, den alten Vorstellungen
jedoch nicht folgte. Er entwickelte eine eigene, neue Sprachtheorie, die in keinem direk-
ten Bezug zu den alten Traditionen steht.
21
Scholems wichtigster Beitrag zur Sprachtheorie ist sein Eranos-Vortrag „Der
Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala" (Eranos-Jahrbücher 39 [1970], S.
243-299; siehe auch Scholems Judaica 3, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main
1970, S. 7 - 7 0 ) . Die englische Übersetzung (Diogenes, Bd. 7 9 - 8 0 , 1972) ist ungenau
und enthält viele Fehler; eine neue englische Fassung wird von Dr. Eric Jacobson vorbe-
reitet. Eine sorgfaltige Lektüre dieses umfangreichen Aufsatzes läßt erkennen, daß die
meisten Quellen und Analysen eher Scholems Arbeiten der dreißiger denn der sechziger
Jahre widerspiegeln. Vermutlich griff Scholem auf Notizen zurück, die er bereits Jahr-
zehnte zuvor erstellt hatte und die er in seinem Vortrag fast unverändert übernahm.
Das von Scholem in diesem Vortrag beschriebene Sprachkonzept der Kabbala gleicht
in vielerlei Hinsicht den Anschauungen, die in der deutschen Philosophie der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorherrschten. Siehe dazu auch J. Dan, The Name
of God, the Name of the Rose and the Concept of Language in Jewish Mysticism, in:
Medieval Encounters 2 (1996), S. 228-248.
22
Siehe dazu ausführlicher J. Dan, Gershom Scholem and the Mystical Dimension
of Jewish History, New York (New York University Press) 1987, S. 157-173.
23
Scholem verfaßte zu diesem Thema einen knappen, sehr persönlich gehaltenen
Aufsatz mit dem Titel „Zehn unhistorische Sätze über Kabbala", zuerst erschienen in:
Geist und Werk. Zum 75. Geburtstag von Dr. Daniel Brody, Zürich 1958, S. 209-215
[wiederabgedruckt in Scholems Judaica 3, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main
1970, S. 264-271]. Von allen seinen Schriften kommt Scholem in diesem Aufsatz einer
Definition seiner eigenen Haltung zur kabbalistischen Weltsicht am nächsten. Scholems
hebräische Version, zusammen mit einer ausführlichen Untersuchung, habe ich ver-
öiTentlicht in: Jerusalem Studies in Jewish Thought 5 (1986), S. 363-385.
24
Siehe J. Dan, In Quest for a Historical Definition of Mysticism: The Contingentai
Approach, in: Pharos - Studies in Spirituality 3 (1993), S. 5 8 - 9 0 .
xität des Themas und Scholems dichter Stil bewältigt sind, durchaus
den Eindruck erhalten, daß die Thematik des Buches leichter zu ver-
stehen sei, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Er wird nicht mit den
Fragen konfrontiert, die Scholem selbst für offen und verwirrend hielt.
Für diejenigen, die keinen Zugang zu den Quellentexten selbst haben
und sich bei ihrer Suche nach einem Verständnis der Geschichte der
Kabbala nur auf Ursprung und Anfänge verlassen, mag es so aussehen,
als ob die einzige Schwierigkeit, die sie noch von ihrem Ziel abhält,
darin besteht, daß sie Scholem verstehen müssen. Es gibt in der Tat
einen bestimmten Forschertyp auf dem Gebiet der Mystik, der die jüdi-
sche Mystik mit den Schriften von Gershom Scholem gleichsetzt und
sich ganz darauf beschränkt, Scholem zu verstehen. Es ist bedauerlich,
daß Scholem nicht deutlich genug darauf hinwies, wie komplex und
oft auch obskur dieses Thema bleibt, sogar wenn man seine Darstel-
lung der Dinge nachvollziehen kann. 25
In meinen eigenen Arbeiten habe ich versucht, statt der Haltung,
die sich in Scholems Schriften widerspiegelt, gerade die andere, die er
in seinen Seminaren zeigte, zu übernehmen. Ich habe mein Möglichstes
getan, die Probleme in all ihrer Vielschichtigkeit zu präsentieren, auch
dort, wo es keine definitive Antwort gibt. Eines dieser Probleme ist die
Frage nach der Beziehung zwischen den beiden „Helden", wenn man
sie so nennen darf, von Ursprung und Anfänge: dem Autor des Bahir
und Rabbi Isaak dem Blinden, dem wichtigsten Lehrer der Kabbala
in der Provence.
Scholem stellte die Geschichte der Kabbala als lineare Entwicklung
dar: Zuerst entstand das Buch Bahir, dann kamen die Kabbalisten der
Provence, die kabbalistische Schule von Gerona, die kastilischen
Kabbalisten und der Zohar-Kseis, und so fort, bis hin zur lurianischen
Kabbala im sechzehnten Jahrhundert, auf die der häretische Messia-
nismus der Sabbatianer und später der Chassidismus folgten. Dem
Leser zeigt sich die jüdische Mystik in Scholems Arbeiten als linearer
Entwicklungsprozeß vom späten zwölften Jahrhundert bis zur Gegen-
wart. Überraschenderweise entspricht diese Darstellung der Wirklich-
25
Scholems erster Schüler, Isaiah Tishby, nahm diesbezüglich eine noch radikalere
Haltung ein. In Unterrichtsstunden, in Seminaren stellte er Probleme dar, zu denen er
noch keine Lösung gefunden hatte. In seinen Schriften hingegen formulierte er seine
SchluBfolgerungen noch emphatischer und betonte noch stärker ihre letztendliche Gül-
tigkeit, als dies bei Scholem der Fall war. Am deutlichsten tritt dies in der Einleitung
zu Mishnat ha-Zohar sowie in den Kommentaren zu den in Tishbys ZoAar-Anthologie
enthaltenen Passagen zu Tage (Jerusalem [Mossad Bialik] 1949-1961; englische Über-
setzung: The Wisdom of the Zohar, 3 Bände, Oxford [Oxford University Press] 1989).
Tishbys kommentierte Anthologie ist bis heute das wichtigste und instruktivste Werk
zum Zohar. Auch hier erhält der Leser den Eindruck, daß dieser schwierige Text ver-
ständlicher scheint, als er es tatsächlich ist.
keit, und auch jeder noch so kritische Forscher auf diesem Gebiet muß
zugeben, daß die Kabbalisten, die sich selbst als Traditionalisten sahen
(Kabbala bedeutet „Tradition"), in der Regel umsichtig die Schriften
ihrer Vorgänger studierten und ihren Anschauungen folgten, wobei sie
ihre eigenen Vorstellungen und Visionen der bereits existierenden kab-
balistischen Bibliothek hinzufügten. In dieser Hinsicht ist die sich über
acht Jahrhunderte erstreckende immense literarische Produktion der
Kabbalisten ziemlich genau in Schichten zu unterteilen, da jede Gene-
ration und Schule ihren eigenen, unverwechselbaren Beitrag zum an-
wachsenden Ganzen hinzufügte. Von diesem Prozeß sind lediglich die
Anfange ausgenommen, also genau der Zeitabschnitt, der in Ursprung
und Anfänge beschrieben wird.
In der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts erreichte die jüdi-
sche Philosophie ihren Höhepunkt. Gegen Ende dieses Jahrhunderts
schrieb Maimonides seinen Führer der Verwirrten, das grundlegende und
einflußreichste philosophische Werk, das er zwar auf Arabisch verfaßt
hatte, das aber schon zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ins He-
bräische übersetzt wurde. Die rationalistische Philosophie, besonders
nach der Übersetzung ihrer Hauptwerke aus dem Arabischen, wurde
zur dominanten religiösen Strömung im Judentum, die ihre Vormacht-
stellung bis ins fünfzehnte Jahrhundert beibehielt. Die wichtigste Vor-
stellung der philosophischen Richtung war die komplette und voll-
kommene Einheit Gottes, die als logische Notwendigkeit galt und den
Grundpfeiler des jüdischen Glaubens bildete. Bezeichnenderweise pro-
pagierten die Kreise der jüdischen Esoteriker und Mystiker genau zu
dem Zeitpunkt, als die philosophische Schule auf dem Höhepunkt
ihres kreativen und dynamischen Schaffens stand, eine ganz unter-
schiedliche Anschauung, indem sie die Gottheit als komplex und aus
mehreren Kräften bestehend schilderten, denen unterschiedliche Ei-
genschaften und Funktionen zukommen. Wären Maimonides diese
Lehren bekannt gewesen, er hätte sie als Häresien der schlimmsten
Sorte angesehen. Der Bahir ebenso wie Rabbi Isaak der Blinde sind
besonders herausragende Vertreter dieser neuen Entwicklung. Beide
beschreiben die göttliche Welt als ein Pleroma von zehn göttlichen
Kräften, und beide bedienen sich einer Terminologie, die sie dem aus
der Antike stammenden Sefer Yetzira, dem „Buch der Schöpfung",
entnahmen. Die Einzelheiten ihrer mystischen Vorstellung erhalten in
Ursprung und Anfänge eine ausführliche Untersuchung. Der Bahir und
Isaak der Blinde waren keine Ausnahmeerscheinungen: Wir wissen
von mindestens vier anderen Kreisen, von denen einer, der sogenannte
Iyyun-Kieis, auf den das „Buch der Kontemplation" (Sefer ha-Iyyun)
zurückgeht, wahrscheinlich in der Provence agierte (vgl. Scholems
Ausführungen oben S. 273-313). Drei andere Zirkel hatten ihre Zen-
tren in Deutschland, vor allem im Rheinland. In Ursprung und An-
fange faßt Scholem sie unter der Bezeichnung Haside Ashkenaz bzw.
„deutsche Chassidim", die Frommen des mittelalterlichen Deutsch-
land, zusammen. Heute wissen wir, daß es sich um verschiedene,
voneinander unabhängige Schulen handelte, die die Schriften der je-
weils anderen Zirkel nicht kannten. In einer Vortragsreihe, die 1977
gedruckt wurde, habe ich versucht, diese insgesamt sechs Schulen un-
ter Hervorhebung ihrer jeweils unabhängigen Entwicklung zu charak-
terisieren.26
Das weitaus schwierigste Problem in diesem Zusammenhang ist eine
ganz einfache Frage: Kannte Rabbi Isaak der Blinde das Buch Bahir,
und sind seine Lehren, bis in die Formulierungen hinein, unter dem
Einfluß dieses Werkes entstanden? Davon ging Scholem in seiner Dar-
stellung eines linearen Entwicklungsprozesses der Kabbala offenbar
aus. Die Abhängigkeit Rabbi Isaaks vom Bahir liegt einerseits klar auf
der Hand: Bei ihm findet sich ein System von zehn göttlichen Hypo-
stasen, die zusammen das göttliche Pleroma ergeben, was den zehn
„Aussprüchen", aus denen sich der Gottesbaum im Bahir zusammen-
setzt, entspricht. Andererseits gibt es aber überraschend viele Unter-
schiede, insbesondere im Hinblick auf die zur Beschreibung des Plero-
mas verwendete Terminologie. Beide nehmen in starkem Ausmaß auf
das Sefer Yetzira Bezug, so daß ihnen eine bestimmte Gruppe von
Begriffen gemein ist. Die zentrale Bedeutung des antiken „Buches der
Schöpfung" ist aber nicht ausschließlich für diese beiden frühen kabba-
listischen Quellen charakteristisch, sondern auch für die anderen eso-
terischen und mystischen Kreise des späten zwölften und frühen drei-
zehnten Jahrhunderts. Sieht man von dieser gemeinsamen Quelle ab,
bestehen signifikante Unterschiede zwischen der Terminologie im Ba-
hir und der Rabbi Isaaks des Blinden. Ob diese Unterschiede auf ver-
schiedene Strömungen innerhalb einer Tradition zurückzuführen sind
oder ob sie vielmehr darauf verweisen, daß beide Autoren ihre Ideen
und Bilder aus ganz unterschiedlichen Quellen übernahmen, kann
letztendlich nicht geklärt werden. Wichtig ist in diesem Zusammen-
hang, daß Scholem diese Frage weder stellte noch beantwortete. Ver-
mutlich war er von einem linearen Entwicklungsprozeß der Kabbala
so überzeugt, daß er dieser Frage in seiner historischen Untersuchung
der Entstehungsgeschichte der Kabbala nicht weiter nachging. Daß
diese Frage entscheidend für die Datierung und das Verständnis der
Ursprünge der Kabbala ist, muß nicht eigens betont werden. Wenn
der Bahir und Rabbi Isaak der Blinde auf voneinander unabhängige
26
Siehe J. Dan, Early Kabbalistic Circles, Jerusalem (Akademon) 1977 [hebräisch];
siehe auch ders., Gershom Scholem and the Mystical Dimension of Jewish History, New
York (New York University Press) 1987, S. 1 8 6 - 1 8 7 .
Quellen zurückgriffen, müssen wir die Anfänge der Kabbala ein oder
zwei Generationen vor dem Buch Bahir ansetzen und davon ausgehen,
daß es ältere Traditionen gibt, die bereits die Vorstellung von zehn
göttlichen Hypostasen kannten; einen direkten Beweis dafür gibt es
nicht.
Trotz dieser und anderer Fragen steht eines genauso fest wie vor
vierzig Jahren: Scholems einzigartiges Verdienst in der Zusammen-
stellung von Texten, Traditionen und Zitaten sowie von verstreuten
historischen und bibliographischen Belegen, aus denen er ein zusam-
menhängendes historisches Bild entwarf. In seiner kurzen Dankesrede,
die er anläßlich der Verleihung des Rothschild-Preises hielt und die
er mit der Überschrift „Der Stein, den die Bauleute verwarfen" 27 ver-
sah, sagte Scholem nicht ohne Stolz, er hätte Manuskripte, für die
sich niemand interessierte, zusammengetragen und daraus Geschichte
rekonstruiert. Das ist ihm in der Tat gelungen. Seit Scholem seine Ge-
schichte der Kabbala veröffentlichte, wächst mit der Zahl der ver-
gangenen Jahre auch die Ehrfurcht vor seiner außergewöhnlichen Lei-
stung.
27
Die Wendung spielt auf den Psalmvers „Der Stein, den die Bauleute verwarfen,
ist zum Eckstein geworden" an (Psalm 118,23). Scholems Rede wurde erstmals ver-
öffentlicht in: Molad 20 (1962), S. 135-137; englische Übersetzung in: Jerusalem Post
vom 27. 4. 1962. Zur selben Zeit, als Scholem seine Rede anläßlich der Preisverleihung
hielt, erschien Ursprung und Anfänge der Kabbala.