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Alexander Arenz

Herakleides Kritikos
»Über die Städte in Hellas«
Eine Periegese Griechenlands
am Vorabend des Chremonideischen Krieges

Herbert Utz Verlag · München


Quellen und Forschungen zur Antiken Welt

herausgegeben von

Prof. Dr. Peter Funke, Universität Münster


Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke, Universität Freiburg
Prof. Dr. Gustav Adolf Lehmann, Universität Göttingen
Prof. Dr. Carola Reinsberg, Universität des Saarlandes

Band 49

Zugl.: Diss., Freiburg, Univ., 2005

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Copyright © Herbert Utz Verlag GmbH · 2006

ISBN-10 3-8316-0596-3
ISBN-13 978-3-8316-0596-5

Printed in Germany

Herbert Utz Verlag GmbH, München


089-277791-00 · www.utz.de
Vorwort
Zwei Jahre lang unterrichtete mich im Gymnasium ein bereits betagter
Mathematiklehrer in Geographie. Der Studienrat stand damals schon weit
jenseits der Pensionierung und mag hoffentlich noch glücklich leben. Ob-
gleich ich vor seinem schulmeisterlichen Geschick im Umgang mit Zahlen-
brüchen und Multiplikatoren gehörigen Respekt hatte, eröffnete er mir
doch einen etwas sonderlichen Zugang zur Geographie, denn das Fach be-
grenzte ein vom Zirkel eng gezogener Horizont. Die Geographiestunden
rochen nach erhitzten Radierern, und das Klassenzimmer erfüllte das ge-
langweilte Plätschern von Plastiklinealen auf aufgeschlagenen Atlanten.
Mich konnte die Welt der von Bleistiften durchlöcherten Karten nicht rich-
tig begeistern, und alle Linien, Punkte und Striche ließen in mir aller
Aufklärung zum Trotz die Befürchtung erwachsen, dass die Erde doch eine
Scheibe sein könnte. In meinen Gedanken war ich daher meist in extrater-
restrischen Regionen, wo jeder Zirkel ins Leere treffen sollte; zurück auf
der Erde machte ich mich ebenso gern auf die verspielte Suche eines
ausgeklügelten Weltenplans, wenn ich zum Beispiel beobachtete, wie mein
Lineal über die Atlasfalz hinweg eine postgelbe, 16,3 cm lange, uner-
schrocken kühne Brücke von Brigham City am Great Salt Lake nach
Tapolca an den Ufern des Balaton zu schlagen vermochte. Die Träumereien
wusste besagter Lehrer geschickt zu unterbrechen, indem er mit einem
überdimensionierten Holzkreidezirkel an der Tafel hysterisch quietschende
Rondelle fabrizierte. Ja, er war durch und durch Mathematiker, und in die-
ser Haltung betrieben wir Geographie: Mehrmals ließ er uns die Zahl der
Rinder Indiens relativ zur Landesfläche berechnen. Indien hatte zu meiner
Schulzeit vier dreiachtel Rinder pro Quadratmeter, und wenn ich heute
beim Einkaufen an der Fleischauslage stehe, kommen mir allzuoft jene
bedauernswerten Achtelrinder in den Sinn.

Natürlich gibt es auch in der antiken Geographie mathematisch ausge-


richtete Schriften, und es mag gewiss spannender sein, andere Texte zu
lesen als etwa stadiasmoí, die durchaus den Charme von Telefonbüchern
besitzen. Doch selbst diese Aufzeichnungen knöcherner Entfernungsanga-
ben erhalten in der Altertumswissenschaft Fleisch und Blut und können uns
die Welt der Antike plastisch vor Augen führen. Dass Messungen und Kar-
ten tatsächlich aber nur einen Teil geographischen Erkundens bestimmen,
hat mich letztlich auch diese Dissertation über Herakleides Kritikos schrei-

5
Vorwort

ben lassen, denn in ihm lernte ich einen Autor kennen, der ebenso wie ich
über die Kanten jenes postgelben Lineals geblickt und ein Dorf am Balaton
in den buntesten Farben beschrieben hätte.

Der Abschluss der vorliegenden Untersuchung verdankt sich der wert-


vollen Unterstützung meiner Betreuer Prof. Dr. Bernhard Zimmermann und
Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke. Prof. Dr. Bernhard Zimmermann eröffnete
mir schon während des Studiums im Seminar für Klassische Philologie der
Universität Freiburg den kritischen Zugang zum antiken Drama und seiner
historischen Vernetzung, die letztlich auch bei der Interpretation des komö-
dophilen Herakleides Kritikos zum Tragen kommen sollte. Die interdis-
ziplinäre Ausrichtung seiner Lehre ermöglichte mir schließlich auch die
Mitarbeit an den FGrHist V am Seminar für Alte Geschichte. In den Kollo-
quien Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrkes hatte ich mehrmals Gelegenheit,
meine Ideen ebenso freundlichen wie geduldigen Kollegen vorzustellen.
Die Kritik in diesen Runden hat mir sehr geholfen. Vor allem bereicherte
mich hierbei der schier unerschöpfliche Kenntnisschatz des Leiters, der mir
ein lebenswirkliches Bild vom künstlichen Begriff des Hellenismus vermit-
telte.

Die Mitarbeit an FGrHist V brachte mich in Kontakt mit liebenswürdigen


Kollegen, die über die wissenschaftliche Arbeit zu Freunden wurden. So
durfte ich während eines Aufenthalts im Jahr 2003 in Perugia im Seminar
Prof. Dr. Francesco Pronteras meine Interpretation präsentieren. Ich konnte
dort unter besten Bedingungen an der Periegese des Herakleides arbeiten,
gewann aber dennoch schon damals eine erste leise Ahnung, dass Italien
Fußballweltmeister 2006 werden könnte. Gleichermaßen durfte ich mich in
Reims mit Prof. Dr. Didier Marcotte über Herakleides austauschen. Er war
mir aufgrund seiner großen Erfahrung in den geographischen Handschrif-
ten in Fragen der Textüberlieferung ein geschätzter Ratgeber. Die Genann-
ten bestimmten meine Recherchen entscheidend mit und machten meine
Vorstellung von Wissenschaft als bereichernden persönlichen Dialog le-
bendig.

Ich möchte an dieser Stelle auch zurückblicken: Bevor ich nach Freiburg
kam, studierte ich in Würzburg bei Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Timpe. Ihm
verdanke ich das Fundament meines wissenschaftlichen Arbeitens. Er
lehrte mich zwei im ersten Anschein vielleicht widersprüchlich erscheinen-
de Prinzipien: erstens den konzentrierten, beinahe ausschließlich wirkenden

6
Vorwort

respektvollen Umgang mit den antiken Quellen und zweitens die Fähigkeit,
unser Fach in einem weiten Horizont, gleichsam wie in einem Blick von
außen wahrzunehmen. Beides ist nicht nur bis dato gültig, vielmehr scheint
es für unsere Wissenschaft heute wichtiger denn je.

Da ich mich ausgesprochen leicht vertppe, möchte ich mich herzlich bei
Dr. Ann-Cathrin Harders, Marike Igel, Damian Dietrich, Dr. Matthias
Haake, Fabian Goldbeck, Korbinian Golla, Christoph Grill, Christian Orth,
Elmar Schumacher und vor allem bei Olaf Schlunke für ihre unermüd-
lichen Korrekturen bedanken. Mit Herausstellung des letzteren soll der
Dank für die Hilfe der anderen nicht geschmälert werden, doch sei dieser
Platz nur eine kleine Gelegenheit, seine freundliche, verlässliche, gewissen-
hafte und stets kompetente Unterstützung selbst in persönlich dunklen
Stunden hervorzuheben. Ebenso möchte ich mich bei Dr. Matthias Haake
besonders bedanken, da er mir nicht nur das Manuskript seiner erstklas-
sigen Dissertation vor Drucklegung aus Münster zur Verfügung stellte,
sondern auch ein wichtiger, da interessierter und kritischer Gesprächpartner
war. Alle Aufgeführten hatten mit meiner chaotischen Art der Datenver-
arbeitung keine leichte Aufgabe, und mancher wird sich dabei wie Sisy-
phos gefühlt haben, da schon nach einigen Tagen erneut dieselben, ver-
meintlich bereits korrigierten Fehler auftauchten. Sollten sich daher noch
Verstöße im Text finden, so liegt das ganz an mir, da ich die Manuskripte
fatalerweise noch einmal in die Hände bekommen hatte. Gerade hier sei
auch Dr. Reiner Fuest für seine fachmännische und klaviaturbegabte Hilfe
bei der Formatierung des Textes gedankt.

Für die Aufnahme in die Reihe Quellen und Forschungen zur Antiken Welt
danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Peter Funke, Prof. Dr. Hans-Joachim
Gehrke, Prof. Dr. Gustav Adolf Lehmann und Prof. Dr. Carola Reinsberg.
Zudem sei Herrn Franz Keim vom Herbert Utz Verlag für seine zuvor-
kommende Beratung und unterstützende Bearbeitung gedankt.

Die Arbeit ist meinem wertvollen, viel zu früh verstorbenen Freund Oke
Lafrenz und meinen lieben Eltern gewidmet. In einer Phase, die mich am
Sinn des Studiums zweifeln ließ, traf ich in Freiburg auf Oke Lafrenz,
einen ganz wunderbaren und einzigartigen Menschen. Wir forschten ge-
meinsam an Texten, philosophierten, reparierten, rochen ebenso oft nach
Bücherstaub wie nach Motorenöl und hatten bei all unseren Ausflügen
durch die Geisteswelt immer Boden unter den Füßen behalten. Ihm verdan-

7
Vorwort

ke ich, dass ich diese Dissertation schrieb, vor allem aber die grundlegende
Erkenntnis, dass Einfachheit, vor der sich viele Wissenschaftler fürchten,
das wahre Ziel ehrlichen Forschens sein sollte.

Meinen lieben Eltern, Margarete Arenz und Friedrich Arenz, gebührt der
größte Dank: Sie beschenkten mich mit den kostbarsten, den wichtigen
Dingen, die sich mit unseren schwachen, fußnotengestützten Worten nicht
beschreiben lassen. Ihnen sei dieses Buch daher ein bescheidener Versuch,
mein tiefes, dankbares Bewusstsein hierüber auszudrücken.

Freiburg, am 17.August 2006 Alexander Arenz

8
Inhalt

1 Einleitung 13
1.1 Forschungsstand 15
1.2 Forschungsschwerpunkte 19
1.2.1 Herakleides 19
1.2.2 Die geschichtliche Einordnung der Schrift 21
1.2.3 Der Perieget 22
1.3 Herakleides Kritikos als Quelle 24
1.4 Ziel der vorliegenden Interpretation 27

2 Der Autor und sein Hintergrund 29


2.1 Dikaiarchos 31
2.2 Herakleides Kritikos 34
2.3 Der Peripatos 38
2.3.1 Herakleides Lembos 38
2.3.2 Das Lykeion 41
2.3.3 Thessalien 46
2.4 Ergebnis 48

3 Die geschichtliche Einordnung 49


3.1 Einführung 49
3.1.1 Die Datierungsansätze der früheren Forschung 51
3.1.2 Die termini 54
3.2 Die Beschreibung Athens 56
3.2.1 Das Stadtbild 56
3.2.2 Das Leben in Athen 57
3.2.3 Die wirtschaftliche Situation 61
3.3 Athen während der Besetzungszeit des Piräus 65
3.3.1 Die Kontinuität der Piräusbesetzung von 287-229 v. Chr. 65
3.3.2 Die 90er Jahre 67
3.3.3 Die 80er und 70er Jahre 70
3.3.4 Plataiai 75
3.3.5 Oropos 77
3.4 Die Situation nach der Niederlage 261 80
3.5 Ergebnis 83

4 Textüberlieferung 84
4.1 Die Überlieferungszweige 85
4.2 Fragment I und III 87
4.2.1 Paris Suppl. 443 D 87
4.2.2 Monac. 566 d1 90

9
Inhalt

4.2.3 Vat. Pal. 142 d2 92


4.3 Fragment II 95
4.3.1 Paris 571 E 95
4.3.2 Cod. Gudianus e8 97
4.4 Ergebnis 99
4.5 Stemma 100

5 peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn 101


5.1 Testimonien 101
5.2 Fragmente I bis III 103
5.2.1 Fragment I 103
5.2.2 Fragment II 111
5.2.3 Fragment III 114
5.3 Zweifelhaftes 116
5.4 Übersetzung 117
5.4.1 Testimonien 117
5.5 Fragmente I bis III 119
5.5.1 Fragment I 119
5.5.2 Fragment II 125
5.5.3 Fragment III 127
5.6 Zweifelhaftes 129

6 Interpretation 130
6.1 Einführung 130
6.1.1 Der Bios Hellados 130
6.1.2 Die Gattungsfrage 131
6.1.3 Die Periegese 133
6.2 Die Periegese des Herakleides Kritikos 137
6.2.1 Erzählstruktur 137
6.2.2 Topographie 138
6.2.3 Klima 142
6.2.4 Kult und Mythos 143
6.3 Durch Boiotien nach Euboia 145
6.3.1 Oropos 145
6.3.2 Tanagra 147
6.3.3 Theben 148
6.3.4 Anthedon 151
6.3.5 Chalkis 152
6.4 ‚Politik’ im ersten Fragment 155
6.4.1 Oropos 156
6.4.2 Plataiai 157
6.4.3 Theben 158
6.4.4 Chalkis 159
6.5 Hellas und Thessalien 162

10
Inhalt

6.5.1 Einführung 162


6.5.2 Hellas Stadt und Ursprungsland 163
6.5.3 Genealogie der Hellenen 165
6.5.4 Die Sprache der Hellenen 166
6.5.5 Die Geographie von Hellas 169
6.5.6 Hellenische Identitäten 171
6.6 Ergebnis 174

7 Kommentar 177
7.1 Fragment I 177
7.2 Fragment II 216
7.3 Fragment III 223

8 Quellenregister 231
8.1 Literarische Quellen 231
8.2 Inschriften 237

9 Kartenanhang 239
9.1 Attika, Boiotien, Euboia, Thessalien bis zum Peneios 239
9.2 Phthiotis, Thessalien, Athos 240

10 Literatur 241
10.1 Textausgaben in chronologischer Ordnung 241
10.2 Teileditionen und Übersetzungen in alphabetischer Ordnung 244
10.3 Sekundärliteratur 246
10.4 Abkürzungen der verwendeten Fragmentsammlungen 276
10.5 Anmerkungen zur Zitierweise und Gestaltung 276

11
1 Einleitung

„To become a homeland, a place requires topo-


graphy. To understand how a place becomes a
homeland, one must know its topography. […]
Topography is a process: it requires the per-
sistent return to history, the systematic un-
earthing of ruins, the conscientious recovery of
traditions, and generally, the reactivation of an
inherited past.“*

Geographie ist keine Inseldisziplin. Diese einfache Aussage bedürfte ei-


gentlich keiner sonderlichen Erörterung, da selbstverständlich auch die
geographische Wissenschaft wie jede andere im Austausch mit fachnaher
wie entfernter Forschung stehen muss. Dennoch mag es gerade zu Beginn
dieser Abhandlung sinnvoll sein, sich diesem Satz kurz zuzuwenden. Denn
obgleich die geographischen Texte der Antike Erkundungsleistungen illu-
strieren, die heterogene Einflüsse und Motive kennzeichnen, wird Geogra-
phie heute überwiegend als technische, sogenannte naturwissenschaftliche
Disziplin begriffen, die in erster Linie praxisnahe Ziele verfolgt. Alle an-
deren Bereiche aber, die neben dieser physikalischen Ausrichtung liegen,
sind einem als Kulturgeographie bezeichneten Untersuchungsgebiet zuge-
wiesen. Eine Einteilung in dieser Form gab es in der antiken Geographie
allerdings nicht. Vielmehr finden sich in diesen Texten unterschiedliche,
unserem heutigen Verständnis vielleicht unverträglich erscheinende Ele-
mente miteinander vereint. So begegnen dem Leser dort individueller
Forschungstrieb, literarisch niveauvoller Gestaltungswille, zeit-, kultur-
und geistesgeschichtliche Feinsinnigkeit, phantasievoll und fleißig be-
schriebene Darstellungen eigener und entlegener Kulturen wie eben auch
eifrige naturwissenschaftliche Grundlagenarbeiten.

Die unter dem Titel Über die Städte in Griechenland überlieferte Periegese
eines ansonsten unbekannten Herakleides Kritikos ist ein vortreffliches
Zeugnis für diese inhaltliche Vielfalt, denn ihr Autor beschränkt sich
während seiner Reise von Athen nach Demetrias keineswegs auf eine rein
topographische Berichterstattung. Vielmehr eröffnet er dem Leser eine fa-
cettenreiche und detaillierte Beschreibung Zentralgriechenlands in einer

*
A. LEONTIES, Topographies of Hellenism, Ithaka, London 1995, S. 3.

13
1 Einleitung

äußerst bewegten Phase der Geschichte. Nicht zuletzt auch, weil die
Reisebeschreibung eines der wenigen Prosazeugnisse aus hellenistischer
Zeit ist, wurde ihr seit dem 16. Jahrhundert bis heute immer wieder das
Interesse der Forschung zuteil. Unerfreulicherweise sind aber nur drei
Fragmente erhalten, die in fünf Auszügen überliefert wurden.1 Das erste
Fragment beinhaltet die Wanderbeschreibungen von Athen über Oropos,
Tanagra, Plataiai, Theben und Anthedon bis Chalkis. Das zweite gibt eine
ausführliche Schilderung des Peliongebirges, und im dritten hält der
vermutlich aus Thessalien stammende Herakleides Kritikos ein persön-
liches Plädoyer für seine Heimat als Herkunftsort aller Hellenen.

Die letzte Edition von F. PFISTER (1951)2 brachte die seit J. HUDSON
(1703)3 und D. ALEXANDRIDES (1807)4 im 18. und 19. Jahrhundert einset-
zende Forschung über Herakleides Kritikos zu einem vorläufigen Ab-
schluss. Da die Periegese historisch bislang jedoch nur unbefriedigend
eingeordnet werden konnte, blieb ihr Quellenwert unbestimmt. Trotzdem
besprach F. PFISTER Herakleides Kritikos als politischen Autor, der in
seinem Reisebericht ein neues hellenisches Bündnissystem habe vorschla-
gen wollen.5 Die vorliegende Interpretation wird diese Deutung in Frage
stellen und nachweisen, dass der Reisebericht kein politisches Programm
beinhaltet. Die Periegese des Herakleides Kritikos entfaltet vielmehr eine
Momentaufnahme, die zwei unterschiedliche Modelle hellenischer Selbst-
empfindung abbildet.

1
D, d1, d2, E, e8. Zu den Derivaten aus E siehe Kap.4.3.2.
2
F. PFISTER, Die Reisebilder des Herakleides. Einleitung, Text, Übersetzung und Kom-
mentar mit einer Übersicht über die Geschichte der griechischen Volkskunde, Wien
1951.
3
J. HUDSON, Geographiae veteris scriptores Graeci minores. Cum interpretatione
Latina, dissertationibus ac annotationibus, Bd.2, Oxford 1703.
4
D. ALEXANDRIDES, Sullogh=j tw=n e)n e)pitom$= toi=j pa/lai gewgrafhqe/ntwn,
e)kdoqe/ntwn filoti/m% dapa/n$ tw=n e)c )Iwanni/nwn filogenesta/twn a)delfw=n
Zwsimadw=n, Bd.1, Wien 1807.
5
F. PFISTER, S. 24ff., 28ff., 99f., 222ff.

14
1.1 Forschungsstand

1.1 Forschungsstand

Die Forschung über die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts6 Dikaiarchos
von Messene zugeschriebenen Fragmente der Schrift peri\ tw=n e)n t$=
(Ella/di po/lewn setzte im 16. Jahrhundert ein. Jene Interpretationen blie-
ben philologischen Untersuchungen verpflichtet und widmeten sich
ausschließlich der kritischen Textedition. Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts wurden schließlich auch althistorische Fragestellungen ent-
wickelt, die sich vornehmlich auf die prosopographische Verortung des
Autors konzentrierten und hierbei wiederholt Herakleides Kritikos mit den
besser bekannten Autoren Herakleides Pontikos oder Herakleides Lembos
zu identifizieren versuchten.7 Die letzte Textausgabe F. PFISTERs schloss
diese Strömung vorerst ab. Erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts
erschienen erneut kleinere Arbeiten, die jedoch weniger das Werkganze, als
vielmehr die Athenkapitel des ersten Fragments (I.1-5) zum Untersu-
chungsgegenstand wählten, um sie nach soziokulturellen und gesell-
schaftshistorischen Aspekten zu analysieren.8

Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es der Klassischen Philologie, wichtige


Erkenntnisse über das erhaltene Material und die Autorität der Texte zu

6
C. MÜLLER, GGM I 97-110, zitierte die Schrift noch unter Dikaiarchos mit der
Alternative, sie einem in D isoliert notierten Athenaios zuzuschreiben: Dicaearchi ut
fertur, potius vero Athenaei descriptionis Graecae fragmenta tria. Die erste Ausgabe,
die Herakleides Kritikos als Autor der Periegese berücksichtigt ist W.H. DUKEs, Three
fragments of the peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn of Heracleides the Critic, in: Essays
and Studies presented to William Ridgeway , Cambridge 1913, S. 228-248.
7
So etwa durch die Arbeiten von G.F. UNGER, Herakleides Pontikos der Kritiker, in:
RhM 38 (1883), S. 481-506; H. SCHRADER, Heraclidea. Ein Beitrag zur Beurtheilung
der schriftstellerischen Thätigkeit des (älteren) Pontikers Herakleides und des Heraklei-
des Lembos, in: Philologus 44 (1885), S. 236-261; E. FABRICIUS, Über die Abfassungs-
zeit der griechischen Städtebilder des Herakleides, in: Bonner Studien Reinhard Kekulé
gewidmet, Berlin 1890, S. 58-66. G. PASQUALI, Die schriftstellerische Form des
Pausanias, in: Hermes 48 (1913), S. 161-223.
8
K. FITTSCHEN, Eine Stadt für Schaulustige und Müßiggänger: Athen im 3. und 2. Jh. v.
Chr., in: M. WÖRRLE, P. ZANKER (Hrsgg.), Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus,
Kolloquium, München, 24. bis 26. Juni 1993, München 1995, S. 55-77; É. PERRIN,
Héracleidès Le Crétois à Athènes: Les plaisirs du tourisme, in: REG 104 (1994), S.
192-202. Ch. HABICHT, Athen. Die Geschichte der Stadt in hellenistischer Zeit, Mün-
chen 1995, bes. S. 173-175; P. SCHOLZ, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung
der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philoso-
phie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr., Stuttgart 1998. Jetzt auch M. HAAKE, Der
Philosoph in der Stadt. Untersuchungen zur öffentlichen Rede über Philosophen und
Philosophie in den hellenistischen Poleis, Diss. Münster 2004 (i.D.).

15
1 Einleitung

gewinnen. Grund hierfür war erstens die Wiederentdeckung des seit dem
16. Jahrhundert der Forschung nicht mehr zugänglichen Codex Parisinus
Suppl. 443 [D] im Jahr 1837 und zweitens die Berücksichtigung von Codex
Parisinus 571 [E]. F. OSANN wurde nämlich während der Untersuchung
dieser Handschrift im Jahr 1831 auf ein Testimonium in den mirabilia des
Paradoxographen Apollonios aufmerksam, welches Herakleides Kritikos9
als Autor der Schrift peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn zu erkennen
gibt.10 Das Zitat beschreibt eine Heilpflanze auf dem Pelion und kann der
herakleidischen Ausführung im zweiten Fragment zugeordnet werden
(II.5), die direkt in die Anfangszeilen des dritten Fragments übergeht. Die-
ser Befund stellte somit die Autorschaft des Dikaiarchos in Frage.11 Die
Zusammengehörigkeit der drei Textstücke konnte außerdem durch die von
A.J. LETRONNE analysierten Abhängigkeitsverhältnisse der Codices sowie
in den weiterführenden Untersuchungen A. DILLERs bestätigt werden.12 Das
Arrangement der Auszüge erklärte W.H. DUKE m.E. korrekt, wonach sie
aus der vollständigen, heute nicht mehr erhaltenen Periegese des Heraklei-
des herausgelöst worden seien, um eine thematische Lücke innerhalb der
Trimeter des Dionysiosgedichtes zu schließen.13 Ob Herakleides Kritikos
außerdem eine in vier kleineren Stücken tradierte Schrift mit dem Titel
14
peri\ nh/swn geschrieben hat, ist bislang allerdings nicht nachweisbar.

Die philologische Beschäftigung mit Herakleides Kritikos nimmt ihren


Anfang mit H. STEPHANUS, der die Reisebeschreibung 1589 erstmals

9
Zur Konjektur Krhtiko/j in Kritiko/j durch Olearius siehe O. KELLER, Naturalium
rerum scriptores graeci, Bd.1, Leipzig 1877, S. 49 und jetzt Apollonios Parad. 19
(Parad. Gr. IX, S. 130 GIANNINI = S. 109 WESTERMANN).
10
Vgl. dazu Kap.2.2.
11
F. OSANN, Rezension zu J.F. Gails Edition, in: Allgemeine Lit. Ztg., Halle 1831,
Ergänzungsblätter, 26.März 1838, S. 205f.
12
A. J. LETRONNE, Fragments des poèmes géographiques de Scymnous de Chio et du
faux Dicéarque, Paris 1840; A. DILLER, The Tradition of the Minor Greek Geographers,
Oxford 1952, S. 30f.
13
W. H. DUKE, Three fragments, S. 240ff., bes. S. 243.
14
FHG II 197f. und in der Praefatio GGM I LII. Die vier Fragmente sind bei Olearius,
Harpokrat. Stru/mh, Plin. nat. 4, 70. und Suid. Na/coj überliefert. Bei Stephanus findet
sich die Zuschreibung auf Herakleides Pontikus; bei Harpokrates steht der Zusatz h)\
Filoste/fanoj. Die übrigen Fragmente verzeichnen lediglich einen unbestimmten
Herakleides als Autor. G.F. UNGER, Herakleides Pontikus der Kritiker, S. 491ff., be-
stimmt den Pontikos als Autor; vgl. dazu F. SUSEMIHL, Geschichte der Griechischen
Literatur in der Alexandrinerzeit, Bd.2, Leipzig 1892, S. 4, Anm. 8.

16
1.1 Forschungsstand

edierte15 und das erste und dritte Fragment samt der Trimeterverse des
Dionysios Kalliphontis16 einem Exzerpt des bi/oj (Ella/doj des Dikaiar-
15
H. STEPHANUS, Dicaearchi Geographica quaedam, sive de Vita Graeciae. Eiusdem
Descriptio Graeciae, versibus iambicis ad Theophrastum. Cum latina interpretatione
atque annotationibus Henrici Stephani et eius dialogo qui inscriptus est Dicaearchi
Sympractor, Genf 1589; D. HOESCHEL, Geographica Marciani Heracleotae, Scylaris
Caryandensis, Artemidori Ephesii, Dicaearchi Messenii, Isidori Characeni. Omnia
nunc primum, praeter Dicaearchi illa, a Davide Hoeschelio Aug. ex. manuscript. codd.
edita, Augsburg 1600; J. GRONOVIUS, Thesaurus antiquitatum Graecarum, Vol. XI,
1699, S. 1-96; J. HUDSON, Geographiae veteris scriptores Graeci minores. Cum
interpretatione Latina, dissertationobus ac annotationibus, Bd.2, Oxford 1703; D.
ALEXANDRIDES, Sullogh=j tw=n e)n e)pitom$= toi=j pa/lai gewgrafhqe/ntwn,
e)kdoqe/ntwn filoti/m% dapa/n$ tw=n e)c )Iwanni/nwn filogenesta/twn a)delfw=n
Zwsimadw=n, Bd.1, Wien 1807; M. MARX, Dicaearchi Peripatetici Bi/oj (Ella/doj
aliaque fragmenta Geographica emendata atque illustrata, in: F. CREUZER, Meletemata
e disciplina antiquitatis, Bd.3, 1819, S.171-210; G. MANZI, Dikaia/rxou tou=
Messhni/ou a)nagrafh\ kai\ bi/oj (Ella/doj cum Lucae Holstenii lucubrationibus ad
priora duo opuscula, Rom 1819; C. ERRANTE, I frammenti di Dicearco da Messina
raccolti e illustrati, 2 Bde, Palermo 1822; J. F. GAIL, Geographi Graeci minores, Bd.2,
Paris 1828; A. BUTTMANN, Quaestiones de Dicaearcho, Programm von Schulpforta,
Nürnberg 1832; A.J. LETRONNE, Fragments des poèmes géographiques de Scymnus de
Chio et du faux Dicéarque, Paris 1840; M. FUHR, Dicaearchi quae supersunt composita,
edita et illustrata, Darmstadt 1841. A. MEINEKE, Scymni Chii periegesis et Dionysii
descriptio Graeciae, Berlin 1846; C. MÜLLER, Fragmenta Historicorum Graecorum,
Bd.2 (1848), S. 254-264; DERS., Geographi Graeci minores, Bd.1 (1882), S. 97-110;
W.H. DUKE, Three Fragments of the peri\ tw=n e)n t%= (Ella/di po/lewn of Heracleides
the Critic, in: Essays and Studies presented to William Ridgeway, Cambridge 1913, S.
228-248; A. KAIBEL, „Heraclidae descriptio Athenarum“, Strena Helbigiana, Stuttgart
1910, 143-145; F. PFISTER, Die Reisebilder des Herakleides. Einleitung, Text, Über-
setzung und Kommentar mit einer Übersicht über die Geschichte der griechischen
Volkskunde, Wien 1951. Übersetzungen: E. MEYER, Botanische Erläuterungen zu
Strabons Geographie und einem Fragment des Dikäarchos, Königsberg 1852; F.K.
SEELIGER, Bruchstück eines Reiseführers durch Griechenland um 100 v., Zittau 1900, S.
1-15;. W.S. FERGUSON, Hellenistic Athens, London 1911, S. 261ff. (Übersetzung von
I.1-6); H. HITZIG, Die griechischen Städtebilder des Herakleides, in: DERS., Festgabe für
H. Blümner, Zürich 1914; B. LAVAGNINI, L’Attica e la Beozia ellenistiche in una
periegesi del secolo III, in: Atene e Roma 3 (1922), S. 126-133; M. NINCK, Die Ent-
deckung von Europa durch die Griechen, Basel 1945, S. 142ff. (mit kurzer Einführung);
M.M. AUSTIN, The Hellenistic world from Alexander to the Roman conquest. A
selection of ancient sources in translation, Cambridge 21984, S151-154; S.C.
BAKHUIZEN, Studies in the Topography of Chalkis on Euboea (A Discussion of the
Sources). Chalcidian Studies, Bd.1, Leiden 1985, S. 14ff; É. PERRIN, Heracleidès le
Crétois à Athènes: Les Plaisirs du tourisme culturel, in: REG 107 (1994), S. 192-202;
K. FITTSCHEN, Eine Stadt für Schaulustige und Müßiggänger, in: M. WÖRRLE, P.
ZANKER (Hrsgg.), Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus, München 1995, S. 55-77.
J.D. MIKALSON, Religion in Hellenistic Athens, Berkeley, Los Angeles, London 1998,
S. 166ff. Die Angaben sind im Literaturverzeichnis näher erläutert.
16
Einen weiteren Fortschritt, der auch die Forschung über Herakleides Kritikos
befruchtet, leistete D. MARCOTTE, Le poème géographique de Dionysios, fils de Calli-
phon. Édition, traduction et commentaire, Lüttich 1990, der die innerhalb der heraklei-
dischen Prosa stehenden Trimeterverse des Dionysios Kalliphontis analysierte und

17
1 Einleitung

chos zuschrieb, da dies die Untertitel in den Handschriften zu bestätigen


schienen.17 Trotz dieses folgenschweren Irrtums war die Erstausgabe den-
noch von großem Wert, da sie Cod. Parisinus Suppl. 443 [D]18 in Abschrift
des M. BUDAEUS (1550) verarbeitete, den erst C. MÜLLER 1848 wieder im
Original einsehen konnte.19 Obgleich aber die Auswertung der Pariser
Handschrift E erwies, dass die drei Fragmente zusammengehören, die J.
HUDSON 1703 auch erstmals komplett edierte, wurde die Pelionbeschrei-
bung und der Schlussteil der Periegese im Folgenden kaum beachtet.

kritisch edierte. Vgl. dazu jetzt auch D.C. MIRHADI, Dicaearchus of Messana: The
Sources, Text and Translation, in: WW. FORTENBAUCH, E. SCHÜTRUMPF (Hrsgg.),
Dicaearchus of Messana, Text, Translation, and Discussion, New Brunswick, New
Jersey 2001, S. 17 und eo ipso loco P.T. KEYSER, The Geographical Work of Dikai-
archos, S. 371.
17
Siehe dazu Kap.2.1.
18
Die Handschriften werden nicht nach F. PFISTERs Bezeichnung, sondern nach A.
DILLER, The Tradition of the Minor Greek Geographers, Oxford 1952, zitiert.
19
C. MÜLLER, FHG II 234-264: dort sind alle drei Fragmente kritisch bearbeitet und
Dikaiarchos zugeschrieben.

18
1.2 Forschungsschwerpunkte

1.2 Forschungsschwerpunkte
1.2.1 Herakleides

Die seit F. OSANNs Entdeckung beginnende Diskussion um die Autorschaft


des Reiseberichtes motivierte auch eine Debatte um die geschichtliche
Einordnung des Textes, deren Argumentation sich vor allem auf eine
literarische Auswertung des ersten Fragments beschränkte. So beheimatete
man Herakleides aufgrund seiner Vorliebe, die Charaktere der griechischen
Landsleute zu beschreiben, im geistigen Umfeld des Peripatos.20 Die An-
sätze hierfür waren bereits durch H. STEPHANUS vorgegeben und be-
stimmten die Forschung bis zu F. PFISTER grundlegend. So erwähnte U.v.
WILAMOWITZ-MOELLENDORFF den Periegeten lediglich, um dessen schrift-
stellerische Fähigkeit hervorzuheben: „Die wenigen Blätter aus den helle-
nischen Städtebildern des Herakleides, der durch das Distinktiv kritiko/j
sich als der ‚kritischen Schule’ angehörig ausweist, sind an unmittelbarer
Lebensfülle in der griechischen Literatur fast unerreicht.“21 Die von H.
STEPHANUS getroffene Zuweisung der Fragmente an Dikaiarchos von
Messene hatte folglich die Deutung der Städtebeschreibungen als Bild vom
Leben der Griechen geradezu vorgezeichnet.22 Gleichermaßen versammelte
F. PFISTER in seinem Kommentar hauptsächlich stilistische Merkmale, um
hiermit den Autor im Schülerkreis des Peripatetikers Lykon zu verorten.23

Die peripatetische Ausrichtung des Reiseberichtes wurde nicht zuletzt von


H. SCHRADER und G.F. UNGER als Argument herangezogen, Herakleides
Kritikos mit Herakleides Pontikos beziehungsweise Herakleides Lembos zu
identifizieren.24 Letzteres berücksichtigte auch F. PFISTER, der zwar wider-
20
Vgl. G. PASQUALI, Die schriftstellerische Form, S. 198ff: „Ein Schönschreiber erster
Klasse ist Herakleides der Kritiker.“ Siehe auch G. SCHNAYDER, De Heraclidis
Descriptione Urbium Graeciae, Krakau 1939, S. 2: Atque profecto non pauca admi-
rationem nostram movent: praeter descriptionis formam nitidam et rhetorum arte
quaesitam itinerarii dispositionem offendimus molestissimam et prorsus morosam [...].
21
U.V. WILLAMOWITZ-MOELLENDORFF, Antigonos von Karystos, Berlin 1881, S. 165.
22
H. STEPHANUS, Dicaearchi, S. 3: [...] quod ex eo multa discentur de Graecorum
moribus, quae lectorum auribus nova futura sint. Vgl. F. PFISTER, S. 32: „Leben und
Kultur ist es neben der fu/sij th=j xw/raj, was ihn im ersten Fragment am meisten in-
teressiert. So kommt auch das Wort bi/oj nicht weniger als sieben mal im ersten Teil
vor.“
23
F. PFISTER, S.47ff. und 99ff.
24
H. SCHRADER, Heraclidea, S. 236ff. setzt einen vermischten Ursprung der
Politienexzerpte voraus. Hierzu wurde er insbesondere von F. RÜHL, Der Staat der

19
1 Einleitung

sprüchlicherweise Herakleides Lembos als Autor ausschloss, Herakleides


Kritikos aber mit dem Verfasser gleichsetzte, der Auszüge aus den Politien
des Aristoteles verfasst hätte.25 Die Person des Herakleides Kritikos blieb
aber weiterhin undeutlich, und bis in jüngster Zeit wurde Dikaiarch immer
wieder als Verfasser diskutiert.26 Erst A. DIHLE sollte 1991 mit einer
eingehenden Untersuchung des Beinamens den Autor als individuellen
Universalgelehrten ermitteln, da kritikós im dritten Jahrhundert eine berufs-
mäßige Geisteshaltung repräsentierte.27 Diese Deutung gilt heute allgemein
als angenommen, wobei die Einordnung in das geistige Umfeld des Peri-
patos keinen Bruch erfuhr. Zudem konnte H. BLOCH Herakleides Lembos
eindeutig als Exzerptor der aristotelischen Politien ermitteln.28 Bis heute ist
mit der letzten Edition des Herakleides Lembos durch M. POLITO dieses
Ergebnis akzeptiert.29

Athener und kein Ende, in: Jbb. für class. Philologie, Suppl. 18 (1892), S. 701-705
motiviert; vgl. dazu auch H. BLOCH, Herakleides Lembos and his Epitome of Aristotle’s
Politeiai, in: TAPA 71 (1940), S. 32, Anm.17; G.F. UNGER, Herakleides Pontikos der
Kritiker, S. 481-509: Herakleides Kritikos wird dort mit dem Lembier identifiziert. Zu-
gleich werden ihm Werke des Pontikos zugeschrieben.
25
F. PFISTER, S. 47ff: „Man kann vielleicht sogar soweit gehen und unsern H. mit jenem
Herakleides identifizieren, der die Politien der peripatetischen Schule exzerpiert hat.
Daß der Stil dieser Exzerpte ein anderer ist, als der unseres Textes des H., besagt
natürlich nichts, da es sich ja um ein ganz andersartiges Werk handelt und der
Exzerptor sich an den Text der Vorlage angeschlossen hat.“
26
Vgl. A. BONNAFE, Regard d’un touriste sur l’Attique et sur la Béotie d’après le
premier fragment du Pseudo-Dicéarque, in: Le regard des ancients sur l’étranger:
actes du colloque organize par la Mapfen et l’Areald, Dijon 1988, S. 19ff.; vgl. auch P.
CECCARELLI, I Nesiotika, in: ASNP 19 (1989), S. 903-935.
27
A. DIHLE, Eraclide e la Periegesi ellenistica, in: F. PRONTERA, Geografia storica
della Grecia antica, Roma, Bari 1991, S. 67ff. Siehe auch W. DITTENBERGER, Ethnika
und Verwandtes, in: Hermes 42 (1907), S. 1-34 u. S. 161-234; dazu auch D. MARCOTTE,
Le poème, S. 13.
28
H. BLOCH, Herakleides Lembos and his Epitome, S. 27-39; vgl. auch H.H. LUCAS, Zu
Herakleides Lembos, in: Hermes 75 (1940), S. 236f.
29
M. POLITO, Dagli scritti di Eraclide sulle costituzioni. Un commento storico, Napoli
2001, S. 9.

20
1.2 Forschungsschwerpunkte

1.2.2 Die geschichtliche Einordnung

In der Einleitung zu J. HUDSONs Ausgabe im Jahr 1703 setzte sich erstmals


H. DODWELL mit der Datierung der Schrift auseinander und verortete ihre
Entstehung ins Jahr 308 v. Chr.30 Ab dem 19. Jahrhundert wurde dann
allerdings gemutmaßt, dass die Periegese im zweiten Jahrhundert v. Chr.
abgefasst worden sei. Die Forschungskontroverse spiegelt sich vor allem in
den Interpretationen von G.F. UNGER und E. FABRICIUS wider. Ersterer
vermutete aufgrund der für Theben von Herakleides geschilderten Rechts-
zustände die Schrift in römischer Zeit.31 Dieser Annahme folgte anfangs
ebenso F. SUSEMIHL, revidierte sie jedoch, da E. FABRICIUS überzeugend
auf die makedonische Piräusbesetzung verwies und hiermit eine Ab-
fassungszeit in der Mitte des dritten Jahrhunderts begründen konnte.32 F.
PFISTER akzeptierte zwar die Verortung ins dritte Jahrhundert, unterließ es
aber, die Periegese dahingehend historisch einzuordnen. Selbst H.
TREIDLER, der die Pfisteredition rezensierte, schienen E. FABRICIUS’ Argu-
mente nicht mehr präsent gewesen zu sein, da er zwar eine Datierung in die
erste Hälfte des dritten Jahrhunderts vorschlug, sie aber mit der „Behag-
lichkeit der Beschreibung […]“ begründete, „als im Zeichen des achä-
ischen und ätolischen Bundes Mittelgriechenland vom Drucke
Makedoniens befreit und von Rom noch nicht erobert, wohl eine größere
Freiheit und Ruhe genossen haben dürfte.“33 Obgleich F. PFISTER also den
Text nur unbefriedigend historisch einordnen konnte, vertrat er die Mei-
nung, dass Herakleides einen neuen Hellenenbund vorstellen wollte, da der

30
J. HUDSON, Geographiae veteris scriptores Graeci minores. Cum interpretatione
Latina, dissertationibus ac annotationibus, Bd.2, Oxford 1703.
31
G.F. UNGER, Herakleides Pontikos der Kritiker, S. 481ff. definierte den von
Herakleides für Athen mit dem Begriff doulei/a (I.2) beschriebenen Zustand mit der
achaischen Besetzung des Piräus durch Flamininus 192 v. Chr. Dies belegte er mit Liv.
35, 50, 3; die rechtlosen Zustände in Theben sollen mit Pol. 20, 6; 22, 4 bestätigt
werden, obgleich die Interpretation an Herakleides’ Darlegung der mangelhaften Pro-
zessordnung in Theben vorbeigeht: G.F. UNGER ist der Ansicht, dass Herakleides die
Rechtlosigkeit beschreibt, die – nach Polybios – von 216 bis 187 andauerte; siehe hierzu
auch F. SUSEMIHL, Geschichte der Griechischen Literatur, Bd.2, S. 3, Anm. 7;
Herakleides bewertet hingegen die Prozesse der Oligarchen.
32
F. SUSEMIHL, Geschichte der Griechischen Literatur, Bd.2, S. 683; siehe auch U.v.
WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Oropos und die Graier, in: Hermes 21 (1886), S. 103
und E. FABRICIUS, Über die Abfassungszeit, S. 61f.; vgl. dazu Kap.3.
33
H. TREIDLER, Rezension zu F. PFISTER (1951), in: Gnomon 26 (1954), S. 351.

21
1 Einleitung

Peripatos „die Vorhalle der Staatswissenschaften“ repräsentiere.34 Erst K.


FITTSCHEN und É. PERRIN stellten dann 1994 und 1995 in kleineren Bei-
trägen die Beschreibung des Athenkapitels erneut in einen Zusammenhang
mit der von E. FABRICIUS bereits analysierten makedonischen Hafenbe-
setzung.35

1.2.3 Der Perieget

G. PASQUALI konnte Herakleides Kritikos überzeugend innerhalb der


literarischen Entwicklung der Periegese bis auf Pausanias hin einreihen.
Herakleides habe demnach altionischen Forschergeist mit den wissen-
schaftlichen Strömungen seiner Zeit verbunden, sich allerdings im Gegen-
satz zu Pausanias weniger für Geschichte und klassische Kunstdenkmäler
interessiert.36 Auf die Vielseitigkeit des Verfassers verwies ebenso G.
SCHNAYDER, da er Topographie, Klima und städtebauliche Charakteristika
berücksichtigt habe, begründete die stoffliche Vielfalt jedoch nicht mit
einer speziellen literarischen Formgebung, sondern mit dem Zeitgeist der
aetas hellenistica, als der „griechische Stadtmensch“ begonnen habe, die
„Natur zu lieben“.37

In den Handbüchern zur griechischen Literatur W.v. CHRISTs und A.


LESKYs wurde Herakleides Kritikos unter den sogenannten beschreibenden
geographischen Literaten besprochen, die sich aus der ionischen Form der
Historiographie entwickelt habe.38 Jene Geographen hätten eine ambitio-
34
F. PFISTER, S. 24ff., S. 28 ff., S. 99f., S. 222ff.
35
É. PERRIN, Heracleidès le Crétois, S. 192-202. K. FITTSCHEN, Eine Stadt für
Schaulustige, S. 55-77. W.S. FERGUSON, Hellenistic Athens, S. 264f., setzt die doulei/a
in Bezug auf die Befindlichkeit der Fremden in der Stadt, nicht aber auf die Hafen-
besetzung; ebenso sei die Nichterwähnung des Ptolemaions, wie E. FABRICIUS argu-
mentierte, keine Voraussetzung dafür, dass es, nur weil es nicht genannt wurde, nicht
auch schon gebaut gewesen sei.
36
G. PASQUALI, Die schriftstellerische Form, S. 199ff.
37
G. SCHNAYDER, De Heraclidis, S. 6f. und DERS., De Periegetarum Graecorum Reli-
quiis, LódĨ 1950, S. 28f. mit Verweis auf A. BIESE, Die Entwicklung des Naturgefühls
bei den Griechen, Kiel 1882.
38
A. LESKY, Geschichte der Griechischen Literatur, München 31957, S. 887f: „[...] die
nach Art eines Touristenführers verfassten Reisebilder eines Herakleides Kritikos, die
am ehesten die Verhältnisse des späteren dritten Jahrhunderts wiedergeben.“ Siehe
auch W.v. CHRIST, bearb. von W. SCHMID, Geschichte der Griechischen Literatur,
zweiter Teil: Die Nachklassische Periode der Griechischen Literatur, Erste Hälfte: Von
320 vor Christus bis 100 nach Christus, München 61959, S. 241ff.

22
1.2 Forschungsschwerpunkte

nierte literarische Gestaltung mit der Motivation verbunden, die Beschrei-


bung autoptisch darzulegen. Demgemäß sei Herakleides kein Stuben-
gelehrter gewesen, sondern Berichterstatter einer selbsterlebten Reise, zu-
mindest jedoch ein Autor, der auf die Hervorrufung eines solchen Ein-
druckes Wert gelegt habe.39 Den praktischen Nutzwert der Periegese ver-
deutlichte H. BISCHOFF gerade mit Verweis auf die herakleidische Wander-
beschreibung, da man sie sogar mit der modernen Reiseliteratur verglei-
chen könne: „Wenn irgendeine Schrift mit einem Reisehandbuch unserer
Zeit verglichen werden könnte, so wäre es diese.“40 Anhand dieser Mi-
schung aus Bibliotheksgelehrsamkeit und dem Ehrgeiz, Selbstgesehenes zu
vermitteln, qualifizierte auch A. DIHLE Herakleides als Periegeten und ver-
glich ihn mit Pausanias, für den auch Ch. HABICHT jene Mischform als
kennzeichnendes Element herausarbeitete.41

39
G. PASQUALI, Die schriftstellerische Form, S. 199f; A. DIHLE, Eraclide e la periegesi
ellenistca, S. 69ff.
40
H. BISCHOFF, Perieget, RE 37 (1937), 725ff.
41
Ch. HABICHT, Pausanias und seine Beschreibung Griechenlands, München 1985,
S.14ff.

23
1 Einleitung

1.3 Herakleides Kritikos als Quelle

Da die Periegese geschichtlich nicht eingeordnet werden konnte, um etwa


auch die Gegebenheiten außerhalb Athens befriedigend zu beleuchten,
besprach die althistorische und archäologische Forschung vornehmlich die
Athenbeschreibung unter gesellschaftskulturellen Aspekten. W.S. FERGU-
SON etwa übersetzte die Paragraphen I.1 bis I.5, um sie in einen Zusammen-
hang mit sich in Athen etablierenden Gesellschaftsclubs zu setzen.42 Auch
Ch. HABICHT beschränkte sich auf die ersten Abschnitte und bedauerte
hierbei den Umstand der undeutlichen Datierung:43 „Ob sie (sc. die Stadt
Athen) frei war oder vom makedonischen König beherrscht, lässt er (sc.
Herakleides) nicht erkennen, und auch von politischer Betätigung ihrer
Bürger ist mit keiner Silbe die Rede.“ B. DREYER zitierte hingegen den
Kritikos, um eine entpolitisierte Stimmung der Stadt mit der beinahe 30
Jahre dauernden makedonischen Besatzung zu begründen.44 Diese Aus-
deutung findet sich schon bei C. SCHNEIDER, der anhand von Herakleides’
Athenbeschreibung zum Ergebnis kam, dass Athen im dritten Jahrhundert
in eine zunehmende Stagnation geraten sei.45

É. PERRIN interpretierte das herakleidische Athen in einem rein stadt-


kulturellen Zusammenhang und deutete die Stadt als Tourismuszentrum,
das sich in den Strahlen des fünften und vierten Jahrhunderts sonnte.46
Auch K. FITTSCHEN untersuchte vornehmlich das von Herakleides darge-
stellte kulturelle Leben in der Stadt.47 Gleichfalls beschieden sich J.-M.
ANDRÉ und M.-F. BASLEZ und beleuchteten den Bericht wie É. PERRIN
42
S.W. FERGUSON, Hellenistic Athens, S. 161ff.; 218ff; 264f.
43
Ch. HABICHT, Athen. Die Geschichte der Stadt in hellenistischer Zeit, München 1995,
S. 173ff.
44
B. DREYER, Untersuchungen zur Geschichte des spätklassischen Athen (322 – ca. 230
v. Chr.), Stuttgart 1994, S. 146ff., 174ff. Anm. 241; dazu auch Ch. HABICHT, Athens
from Alexander to Antony, Cambridge, London 1997, S. 170ff.; vgl. auch P.J. RHODES,
The Decrees of the Greek States, Oxford 1997, S. 30ff.
45
C. SCHNEIDER, Kulturgeschichte des Hellenismus, Bd.1, München 1967, S. 179.
46
É. PERRIN, Héracleidès Le Crétois a Athènes, S.202: „Même dans ses aspects les plus
anecdotiques, la description d’Athènes que fait Héracleidès rappelle ce que toute une
tradition littéraire athénienne présentait comme caractéristique de la cité aux V e et IVe
siècles.“
47
K. FITTSCHEN, Eine Stadt für Schaulustige, S. 59ff. und zuvor S. 57, Anm. 18 mit der
zurückhaltenden Kritik an F. PFISTER (S. 113); vgl. auch die gleiche Tendenz bei J.E.
STAMBAUGH, The idea of the city. Three views of Athens, in: CJ 69 (1973-1974), S.
309ff.

24
1.3 Herakleides Kritikos als Quelle

ausschließlich hinsichtlich eines Kulturtourismus in hellenistischer Zeit.48


Auf ähnlicher Ebene bewegte sich R.v.d. HOFF, der mit der Periegese des
Herakleides die Bedeutung der Akropolis als religiöses und kulturelles,
identitätsstiftendes „national symbol“ nach 323 belegen wollte,49 und R.
PARKER bezeichnete die Athenkapitel mit den Festen und Theatern als
„encomium of the city.“50 J.D. MIKALSON präzisierte diese Deutung mit der
Feststellung, dass die städtische Lebenswirklichkeit wohl aus Sicht eines
Fremden dargestellt worden sei,51 und P. SCHOLZ und M. HAAKE zogen
zuletzt die Athenparagraphen heran, um den gesellschaftlichen Stellenwert
der Philosophen in der Stadt zu bestimmen.52

Entgegen jener auf Athen fokussierten Entwürfe nutzten kultur-, wirt-


schafts-, und landschaftsgeschichtliche Gesamtdarstellungen die Periegese
auch über die Athenkapitel hinaus. So zitierte C. SCHNEIDER sämtliche
Städtebeschreibungen des ersten Fragments,53 und M. ROSTOVTZEFF folgte
den dortigen ökonomischen Ausführungen,54 wobei beide den historischen

48
L. CASSON, Travel in the Ancient World, London 1974, S. 229, 338, 362f; vgl. auch
J.-M. ANDRÉ, M.–F. BASLEZ, Voyager dans l’Antiquité, Paris 1993, S. 297ff., bes. S.
299: „Dès la fin de ce IIe siècle, Athènes passait pour «le séjour des études», selon
l’expression de Cicéron. La ville possédait cinq gymnases dont l’Académie, le Lycée, le
Cynosarges. Tous étaient plantés d’ abres et de gazon, et dans ces jardins variés
fleurissaient des écoles philosophiques diverses. Il y régnait une mode du dilettantisme
et du plaisir. Les loisirs et les plaisirs, les spectacles d’un théâtre «en tout point digne
d’éloge, immense et admirable», constituaient un attrait de plus.“
49
R.v.d. HOFF, Tradition and innovation: portraits and dedications on the early
Hellenistic Akropolis, in: O. PALAGIA, S.V. TRACY (Hrsgg.), The Macedonians in
Athens, 322-229 B.C., Proceedings of an International Conference held at the
University of Athens, May 24-26, 2001, Oxford 2003, S.173ff.
50
R. PARKER, Athenian Religion. A History, Oxford 1996, S.267f.
51
J.D. MIKALSON, Religion in Hellenistic Athens, Berkeley, Los Angeles, London 1998.
52
P. SCHOLZ, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen
Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4.
und 3. Jh. v. Chr., Stuttgart 1998, S. 372 versuchte anhand der Athenbeschreibung die
abgeschlossene Etablierung der Philosophen als akzeptierte Außenseiter in der Stadt zu
belegen. Im Gegensatz dazu aber M. HAAKE, Der Philosoph in der Stadt. Unter-
suchungen zur öffentlichen Rede über Philosophen und Philosophie in den hellenis-
tischen Poleis. Diss. Münster 2004 (i.D.), der aufgrund des inschriftlichen Befunds
nachweisen konnte, dass die Philosophen in Athen nicht nur integriert, sondern auch
angesehen waren.
53
C. SCHNEIDER, Kulturgeschichte des Hellenismus, Bd.1, S. 179; 201; 258ff.
54
M. ROSTOVTZEFF, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der Hellenistischen Welt,
Bd.1, Darmstadt 1955, S.162f.

25
1 Einleitung

Hintergrund nicht eigens hinterfragten.55 In topographischen und archäo-


logischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts wurde dagegen gerne die Sach-
lichkeit des Pausanias mit der Erzählfreude des Herakleides ergänzt.56 C.
WACHSMUTH etwa berücksichtigte ihn, da er einsichtig die landschaft-
lichen und klimatischen Gegebenheiten sowie die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Zustände der hellenistischen Städte beschrieben habe.57
Auch W. JUDEICH hob den Gesamteindruck der Periegese hervor: „Sie
liefert weniger Einzelheiten als ein scharf beobachtetes, ungeschmeicheltes
Gesamtbild des damaligen Athen.“58 J.M. FOSSEY griff schließlich an
mehreren Stellen auf Herakleides zurück, um räumliche Definitionen oder
Entfernungsangaben zu ermitteln.59 Eine erschreckend punktuelle Berück-
sichtigung fand die Periegese hingegen in Forschungsarbeiten zu Thessa-
lien. F. STÄHLIN etwa zitierte Herakleides, um für Demetrias ein „reiches
und geschlossenes Kulturleben“ zu belegen.60

Die Forschungsgeschichte zu Herakleides Kritikos offenbart insgesamt das


Defizit der historischen Erschließung, da die von E. FABRICIUS überzeu-
gend dargelegten Ansätze nie ernsthaft weiterentwickelt wurden. Dieses
ernüchternde Urteil bestätigt auch der im Jahr 2005 zu Herakleides Kritikos
erschienene Aufsatz von M. C. HERRERO INGELMO, in welchem erneut aus-
schließlich stilistische Besonderheiten behandelt wurden.61

55
Zur generellen Kritik an M. ROSTOVTZEFF vgl. J.K. DAVIES, Hellenistic economies in
the Post-Finley era, in: Z.H. ARCHIBALD, J. DAVIES u.a. (Hrsgg.), Hellenistic
Economies, London New York 2001, S. 11 – 62; G. OLIVER, Regions and Microre-
gions. Grain for Rhamnous, ibidem, S. 137ff.
56
W.M. LEAKE, Travels in Northern Greece, Bd.2, Amsterdam 1967 [ND]; siehe auch
H.N. ULRICHS, Reisen und Forschungen in Griechenland, Berlin 1840 und C. BURSIAN,
Geographie von Griechenland, Bd.1, Das nördliche Griechenland mit 7 lithographisch-
en Tafeln, Leipzig 1862.
57
C. WACHSMUTH, Die Stadt Athen im Altertum, Bd.1, Leipzig 1874, S. 43ff.
58
W. JUDEICH, Topographie von Athen. Mit 48 Abbildungen im Text und 3 Plänen in
der Mappe, München 1905, S. 10.
59
J.M. FOSSEY, Topography and Population of Ancient Boiotia, Bd.1, Chicago 1980,
bes. S. 42, 98ff., 256, 263.
60
F. STÄHLIN, Das hellenistische Thessalien. Landeskundliche und geschichtliche
Beschreibung Thessaliens in der hellenistischen und römischen Zeit, Stuttgart 1924, S.
46.
61
M. C. HERRERO INGELMO, Algunas observaciones sobre Heraclides Crítico, in: Actas
del XI Congreso Español de Estudios Clásicos, Bd. 2, Madrid 2005, S. 321-328.

26
1.4 Ziel der vorliegenden Interpretation

1.4 Ziel der vorliegenden Interpretation

Die durch E. FABRICIUS getroffene Einordnung der Fragmente in das dritte


vorchristliche Jahrhundert soll bestätigt, aber innerhalb des Zeitraums ab
der Konsolidierung Makedoniens unter Antigonos Gonatas bis zum Aus-
bruch des Chremonideischen Krieges (279 bis 267 v. Chr.) präzisiert
werden. Diese Verortung wird eine differenzierte Ausdeutung der Athenbe-
schreibung ermöglichen und die bisherigen Interpretationen dieses Kapitels
in Frage stellen. Die dort meistenteils vertretene These, bei Herakleides das
Bild einer entpolitisierten Stadt zu erblicken,62 wird sich als haltlos erwei-
sen. Ebenso wird der Ansicht widersprochen, dass die Stadt zu einem
Touristenziel degeneriert sei. Es wird vielmehr gezeigt, dass Athen zur Zeit
der Reisebeschreibung eine demokratisch geordnete und diplomatisch agile
wie gesuchte Stadt war, die im Bündnis mit Ptolemaios II. den Krieg gegen
Antigonos Gonatas in Griechenland vorbereitete.

Die Interpretation des zweiten und dritten Fragments wird die bereits für
die Plataiaibeschreibung getroffene Vermutung erhärten, dass Herakleides
aus Thessalien stammte, vermutlich sogar Bürger der Stadt Demetrias war.
Da Athen und Alexandria für den Freiheitskampf gegen Antigonos mit der
panhellenischen Identität warben, die auf die Perserabwehr rekurrierte,
trifft bei Herakleides dieses Griechenbild auf Ablehnung und wird im
dritten Fragment einem genealogischen Entwurf gegenübergestellt, wonach
alle Griechen vom thessalischen Hellen abstammten. Dennoch beinhaltet
die Periegese keine bündnispolitische Programmatik. Die vorliegende
Interpretation erkennt Herakleides vielmehr als vielseitig interessierten
Reiseführer, der allerdings über eine reine Reisberichterstattung hinaus ein
Stimmungsbild seiner Zeit festhält, das zwei Auffassungen hellenischer
Identität beschreibt. Bei allem erfüllen aber weniger politische Themati-
sierungen die Erzählung, als weit mehr oftmals detailliert dargestellte Be-

62
Vgl. dazu C. SCHNEIDER, Kulturgeschichte des Hellenismus, Bd.1, S. 179: „Äußerlich
war das Athen des dritten Jahrhunderts stehen geblieben und geriet in eine zunehmende
Stagnation.“ Ebenso Ch. HABICHT, Athen. Die Geschichte der Stadt in hellenistischer
Zeit, München 1995, S. 174f.: „Herakleides schildert Athen als eine Stadt in tiefem
Frieden, in der sich gut leben läßt. Ob sie frei war oder vom makedonischen König
beherrscht, läßt er nicht erkennen, und auch von politischer Betätigung ihrer Bürger ist
mit keiner Silbe die Rede.“ Vgl. auch J. M. CAMP, The archeology of Athens, New
Haven, London 2000, S. 167; B. DREYER, Das spätklassische Athen, S. 147, Anm. 142
und 144; vgl. auch É. PERRIN, Les plaisirs, bes. S. 197ff.; K. FITTSCHEN, Eine Stadt für
Schaulustige, S. 58ff.

27
1 Einleitung

obachtungen zu ökonomischen, topographischen, kulturellen, stadtplaneri-


schen und vereinzelt auch historischen Besonderheiten.

Die Interpretationsergebnisse gestatten, den von der Forschung unter-


schätzten Quellenwert der herakleidischen Periegese neu zu bemessen, da
sie über Athen hinaus, unter dem Eindruck der Machtpolitik des Antigonos
Gonatas, den zentralgriechischen Raum beleuchtet. So lässt die sensible
Beschreibung der griechischen Gemütslage im dritten Fragment sogar
einen Bogen bis auf das korinthische Koinon Philipps II. spannen. Denn
Herakleides Kritikos zeigt, dass es während dieser bewegten Phase der
griechischen Geschichte nicht selbstverständlich war, Grieche zu sein.

28
2 Der Autor und sein Hintergrund
Die Überlieferungsgeschichte der Periegese ist mit Lücken behaftet, die es
erschweren, Herakleides Kritikos zweifelsfrei als ihren Autor zu bestim-
men. Denn der Reisebericht wurde nur in Auszügen innerhalb einer ver-
mutlich von Constantin Porphyrogennetos organisierten Geographensamm-
lung überliefert und scheint bereits dort Dikaiarchos von Messene zuge-
schrieben worden zu sein.1 Außerdem zwingen zwei Randnotizen, die
einen ansonsten unbekannten Athenaios als Autor nennen, zur Vermutung,
dass die Reisebeschreibung schon in Byzanz nicht mehr literaturge-
schichtlich eingeordnet werden konnte2 und die Prosa des Herakleides
vermutlich als topographischer Lückenfüller mitten in die Trimeter des
Kalliphonsohnes Dionysios eingefügt wurde.3 Das Gedicht endet in D
zumindest samt der Prosa mit dem nachgetragenen Titel Dikaia/rxou
a)nagrafh\ th=j (Ella/doj (fol.123v.) und in d2 mit der redaktionellen
Bemerkung: te/loj Diakaia/rxou a)nagrafh=j (fol.245v.). Die Athenbe-
schreibung ist somit direkt an die Periegese des Dionysios mit der
Darstellung des nördlichen Ambrakia bis Megara (v.107) angeknüpft.4 Das
erste Fragment geht dann nahtlos in das dritte über, welches mit kata-
pau/omen to\n lo/gon endet; hierauf reiht sich wiederum ohne Überleitung
das Dionysiosgedicht mit der Beschreibung Kretas (vv.110ff.) an.5

Obgleich die Texttradition also offenbar mehr Fragen aufwirft, als Antwor-
ten anbietet, kann die Person des Herakleides Kritikos dennoch nur aus den
drei überlieferten Fragmenten erfasst werden, da er als Autor an anderer
Stelle nicht in Erscheinung tritt. Lediglich im einzigen Testimonium zu den

1
Siehe dazu W.H. DUKE, Three fragments of the peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn of
Heracleides the critic, in: Essays and Studies presented to William Ridgeway,
Cambridge 1913, S. 241, der die 50 Bände starke Sammlung Collectanea et Excerpta
Historici-Politica et Moralia des Porphyrogennetos vermutet; vgl. auch A. DILLER, The
Tradition of the Minor Greek Geographers, Oxford 1952, S. 4f. u. S. 46.
2
Die Randnotiz findet sich in den Handschriften D (Cod. Parisinus Suppl.443,
fol.106r.) und d2 (Cod. Vaticanus Pal. 142, fol.236r.); vgl. C. MÜLLER in der Einleitung
zu GMM I LIff.; dazu auch A. DILLER, The Tradition, S. 20.
3
So W. H. DUKE, Three fragments, S. 240ff. bes. S. 243.
4
Vgl. D. MARCOTTE, Le poème géographique de Dionysios, fils de Calliphon. Édition,
traduction et commentaire, Lüttich 1990, S. 61.
5
F. PFISTER, S. 21.

29
2 Der Autor und sein Hintergrund

6
peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn des Paradoxographen Apollonios ist
er uns heute auf dem Papier bekannt. Dieser zitiert ihn aus dem zweiten
Fragment als Verfasser dieser Schrift.7

6
130 (GIANNINI) = 109 (WESTERMANN)
7
Zur Frage der Autorschaft der Schrift peri\ nh/swn siehe Kap.1.1, Anm. 14; vgl auch
P. CECCARELLI, Nesiotika I, in: ASNP 19 (1989), S. 903ff.

30
3 Die geschichtliche Einordnung
3.1 Einführung

Der geschichtliche Hintergrund der Periegese des Herakleides Kritikos


konnte bislang nicht näher bestimmt werden. Auch die letzte, im Jahr 1951
erschienene Ausgabe F. PFISTERs entwickelte lediglich in Ansätzen einen
historischen Zugang zum Text.1 Dennoch wird dort aus einer vornehmlich
philologischen Beweisführung heraus die These aufgestellt, dass Heraklei-
des mit seiner Reisebeschreibung die Organisation eines neuen Hellenen-
bundes im dritten vorchristlichen Jahrhundert vorgeschlagen hätte.2

1
Vgl. H. TREIDLERs Rezension, Gnomon 26 (1954), S. 351, wo aufgrund der
„Behaglichkeit der Beschreibung“ eine Datierung in die erste Hälfte des dritten Jahr-
hunderts erwogen wird.
2
F. PFISTER, Die Reisebilder des Herakleides. Einleitung, Text, Übersetzung und Kom-
mentar mit einer Übersicht über die Geschichte der griechischen Volkskunde, Wien
1951, S. 28f.: „Und so zeigt auch die Schrift des Herakleides, wie die peripatetischen
Politien [...], noch in einem Abglanz, dass die Volkskunde eine Vorhalle der Staats-
wissenschaft ist.“ F. PFISTERs Deutung basiert auf der Deutung des Peripatos, die auf
Plat. rep. 473c-e fußte, dass die Herrscher Philosophen oder die Philosophen Herrscher
werden müssten. Die Untersuchungsergebnisse der jüngeren Forschung zum Verhältnis
der Philosophie zur Politik widersprechen dieser Einschätzung: Philosophische Konzep-
te wurden in der politischen Praxis nicht realisiert; eine praktische Umsetzung philoso-
phischer Lehrinhalte in die praktische Lebenswelt städtischer Politik ist nicht nachweis-
bar. Vgl. etwa die Arbeiten von H.-J. GEHRKE, Phokion, Studien zur Erfassung seiner
historischen Gestalt, München 1976; und DERS., Das Verhältnis von Politik und Philo-
sophie im Wirken des Demetrios von Phaleron, in: Chiron 8 (1978), S. 149ff., DERS.,
Theorie und politische Praxis der Philosophen, in: W. SCHULLER (Hrsg.), Politische
Theorie und Praxis im Altertum, Darmstadt 1998, S. 100ff.; vgl. bes. S. 101 mit Anm.1,
wo für Demetrios von Phaleron die Mischverfassungslehre des Aristoteles nicht gänz-
lich abgelehnt wird. Zur hellenistischen Philosophie vgl. F. UEBERWEG, Grundriss der
Geschichte der Philosophie, 1. Teil: Die Philosophie des Altertums, hrsg. von K.
PRAECHTER, Berlin 121926; G.J.D. AALDERS, Political Thought in Hellenistic Times,
Amsterdam 1975. Zu Platon siehe K. TRAMPEDACH, Platon, die Akademie und die
zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994; zur sozialen Stellung des Philosophen in der
polis jetzt M. HAAKE, Der Philosoph in der Stadt. Untersuchungen zur öffentlichen
Rede über Philosophen und Philosophie in den hellenistischen Poleis, Diss. Münster
2004 (i.D.); vgl. auch Kap.2.3.2.

49
3 Die geschichtliche Einordnung

Die vorliegende Untersuchung unternimmt es daher, den Text auch alt-


historischen Fragestellungen zum dritten Jahrhundert gegenüberzustellen.3
Im Gegensatz zu den bisherigen Besprechungen sollen hierbei alle drei
Fragmente berücksichtigt werden, wobei der im ersten Fragment beschrie-
benen innerstädtischen Situation Athens (I.1-4) und den zwischenpo-
litischen Bezügen im mittelgriechischen Raum (I.7, 11, III passim)
besondere Aufmerksamkeit zukommen wird.4 Hierdurch kann belegt wer-
den, dass die Periegese in die Zeit nach der Keltenabwehr im Jahr 279 bis
zum Ausbruch des Chremonideischen Krieges im Jahr 267 einzuordnen
ist.5 Ein bündnispolitischer Entwurf lässt sich für den Reisebericht jedoch
nicht nachweisen. Die Periegese vermittelt vielmehr eine Momentauf-
nahme griechischer Selbstempfindung in einer Phase, als Athen mit Pto-

3
In erster Linie sind hier folgende Arbeiten zu nennen: G. DE SANCTIS, Contributi della
storia della guerra lamia alla guerra cremonide, in: K.J. BELOCH (Hrsg.), Sudi di storia
antica, Bd.2, Rom 1893, S. 1ff.; H. HEINEN, Untersuchungen zur hellenistischen Ge-
schichte des 3. Jahrh. v. Chr., Wiesbaden 1972; Ch. HABICHT, Untersuchungen zur po-
litischen Geschichte Athens im 3. Jahrhundert v. Chr., München 1979; DERS., Studien
zur Geschichte Athens in hellenistischer Zeit, Göttingen 1982; DERS., Athen in helle-
nistischer Zeit. Gesammelte Aufsätze, München 1994; DERS., Athen. Die Geschichte der
Stadt in hellenistischer Zeit, München 1995; B. DREYER, Untersuchungen zur Ge-
schichte des spätklassischen Athen (322-ca. 230 v. Chr.), Stuttgart 1997; und S.V.
TRACY, Athens and Macedon, Berkeley, Los Angeles, London 2003; O. PALAGIA, S.V.
TRACY (Hrsgg.), The Macedonians in Athens, 322-229 B.C., Proceedings of an Inter-
national Conference held at the University of Athens, May 24-26, 2001, Oxford 2003;
allgemein: H.-J. GEHRKE, Geschichte des Hellenismus, München 32003; die bisher die
Forschung zur zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts bestimmenden Resultate von
W.S. FERGUSON, Hellenistic Athens, London 1911 und W.W. TARN, Antigonos Gona-
tas, Oxford 1969 [ND] konnten an entscheidenden Punkten revidiert werden.
4
Der Begriff politisch meint in der vorliegenden Auseinandersetzung den Sammelbe-
griff intra- wie interpolitischer öffentlicher Organisationsformen der beschriebenen
poleis. Vgl. zu den Begriffen auch Kap.6.4.
5
Zur Datierung des Chremonideischen Krieges vgl. H. HEINEN, Untersuchungen, S.
122f., der das Dekret des Chremonides (StVA III 476 = Syll3 434/5; IG II2 686/687) als
casus belli für das Jahr 267 interpretiert; B. DREYER, Das spätklassische Athen, S. 331
argumentiert hingegen für eine Abfassung des Beschlusses im Herbst des Jahres 265 als
Reaktion auf Antigonos’ Gonatas Angriff gegen Athen nach seinem Sieg über die
Kelten 266; vgl. dort auch die Zusammenstellung auf S. 423; siehe knapp: M.J.
OSBORNE, Naturalization in Athens II, Brüssel 1982, S. 165-167; S.V. TRACY, Two
Attic Letter Cutters of the Third century: 286/5-235/4 B.C., in: Hesperia 57 (1988), S.
304 und 309, 85-87; einleuchtend ist m.E. Ch. HABICHTs, Untersuchungen, S. 108ff.
Erklärung der Kriegsursache mit der athenischen Motivation zur Rückgewinnung des
Piräus. Siehe auch den weiten Datierungsansatz (276-262) bei É. WILL, Histoire
Politique du Monde Héllenistique (323-30 av. J.-C.), Bd.1, Nancy 1979, S. 219ff.

50
3.1 Einführung

lemaios II. diplomatisch eng verbunden war und gemeinsam mit dem
ägyptischen König den Krieg gegen Antigonos Gonatas vorbereitete. Da
Herakleides aber darauf verzichtet, politische und historische Phänomene
als solche zu thematisieren, sind alle mittelbaren Anzeichen im Text, die
auf die Abfassungszeit hindeuten, für die Datierung herauszulösen. Die in
Kap.6 dargelegte Auswertung des dritten Fragments wird schließlich die im
Anschluss ausgeführten Überlegungen bestätigen und den hier getroffenen
Zeitraum von 12 Jahren absichern.

3.1.1 Die Datierungsansätze der früheren Forschung

Mit dem Zweifel an Dikaiarchos als Verfasser der Periegese entwickelten


sich neue Datierungsansätze. Zunächst vermutete man die Abfassung in
römischer Zeit, innerhalb derer F.K. SEELIGER die späteste Terminierung
vertrat, indem er das Traktat nach 164 und vor 85 v. Chr. datierte.6 G.F.
UNGER,7 dem F. SUSEMIHL zunächst nachkam,8 schlug dagegen die Jahre
192 bis 191 vor, da die herakleidische Beschreibung der Rechtszustände
Thebens (I.16) anscheinend durch Polybios entsprechend bestätigt werden
konnte.9 C. WACHSMUTH vermutete hingegen, dass der Reisebericht erst
nach 175 entstanden sei, da Herakleides das Olympion als halbvollendet
bezeichnet (I.1), und daher nur der peisistrateische Fortsetzungsbau unter
Antiochos Epiphanes gemeint sein könne.10 Aus gleichem Grund zog auch
J.G. FRAZER eine Datierung innerhalb der Jahre 164 bis 86 in Betracht.11 H.
DODWELL meinte dagegen in der Einleitung zu J. HUDSONs Kommentar,
die Abfassungszeit speziell für das Jahr 308 beweisen zu können.12 Auch
6
F.K. SEELIGER, Bruchstück eines Reiseführers durch Griechenland um 100 v. Chr.,
Zittau 1900; vgl. ebenso K. WACHSMUTH, Agonaltempeltheorie, in: AZ. 18 (1860), Sp.
110; auch W. GURLITT, Über Pausanias, Graz 1890, S. 186. – Alle Jahreszahlen im Fol-
genden sind vorchristlich.
7
G.F. UNGER, Herakleides Pontikos der Kritiker, in: RhM (1883), S. 481ff.
8
F. SUSEMIHL, Geschichte der Griechischen Literatur in der Alexandrinerzeit, Bd.2,
Leipzig 1892, S. 3 mit Anm. 7.
9
Pol. 20, 6 und 22, 4.
10
C. WACHSMUTH, Die Stadt Athen, Bd.1, S. 44. Vgl. dazu Kommentar Kap.7.1 zur
Stelle.
11
J.G. FRAZER, Pausanias’ description of Greece, translated with a commentary, Bd.1,
London 1898, S. 42-49.
12
J. HUDSON, Geographiae veteris scriptores minores. Cum interpretatione Latina,
dissertationibus et annotationibus, Bd.2, Oxford 1703; siehe die vernichtende Kritik A.
DILLERs, The Tradition of the Minor Greek Geographers, Oxford 1952, S. 66: „In spite

51
4 Textüberlieferung
Die vorliegende Textausgabe berücksichtigt fünf Handschriften,1 die in
zwei Gruppen überliefert wurden. Das erste und dritte Fragment basieren
auf drei Manuskripten der ersten Abteilung, deren ältestes auf Pergament
(Cod. Paris. Suppl 443) aus dem späten 13. Jahrhundert stammt: D.2 Die
zweite Handschrift auf Papier (Cod. Monacensis 566) hängt direkt von D
ab und wurde ungefähr 1505 erstellt: d1. Sowohl von dieser als auch von D
wurde etwa zeitgleich eine dritte auf Papier (Cod. Vaticanus Pal. 142
graecus) niedergeschrieben: d2.3 L. HOLSTEN berichtete außerdem von
einem Codex Altempsianus, der das erste und dritte Fragment beinhaltet
haben könnte, da er wie D, d1 und d2 Isidors Mansiones Parthicae ver-
zeichnet habe.4 Diese Schrift ist allerdings nicht mehr auffindbar.

Das zweite Fragment, welches J. HUDSON erstmals 1703 edierte, ist aus
mindestens zwei Handschriften rekonstruierbar, von denen allerdings der
sogenannte Codex Gudianus, der hier mit e8 bezeichnet ist, nur dem Erst-
herausgeber als Abschrift vorgelegen hatte und bis heute verloren ist. Die
zweite wurde wie D im späten 13. Jahrhundert produziert (Cod. Paris,
graecus 571); sie beinhaltet den Text des zweiten Fragments und den
Beginn des dritten: E.

1
Die Fünfzahl beinhaltet den verlorenen Codex e8, da er durch J. HUDSON,
Geographiae veteris scriptores Graeci minores. Cum interpretatione Latina,
dissertationibus ac annotationibus, Bd.2, Oxford 1703 als Abschrift zumindest indirekt
vorliegt. Die bei A. DILLER, The Tradition of the Minor Greek Geographers, Oxford
1952, S. 31f. aufgelisteten Derivate e6 und e7 aus E blieben für die Edition von
Fragment II allerdings unberücksichtigt und wurden nicht persönlich eingesehen. E, D,
d1 und d2 wurden von mir vor Ort geprüft und E mit J. HUDSONs Abschrift e8
abgeglichen.
2
Um die Überlieferungsgeschichte des kompilierten Geographenbandes seit dem
sechsten Jahrhundert besser zu verdeutlichen, wurden die Bezeichnungen von A.
DILLER, The Tradition übernommen; sie entsprechen nicht F. PFISTERs, S. 3ff. Siglen.
3
Vgl. dazu A. DILLER, The Tradition, S. 22ff.; F. PFISTER, S. 6 setzt d1 hingegen später
an als d2.
4
M.G. DRAUDIUS, Bibliotheca Classica, Frankfurt 1611, S. 788 erwähnt zudem eine
Handschrift, die das erste und dritte Fragment enthalten haben könnte, aber nicht mehr
einsehbar ist. Dass der Codex Gudianus und der Altempsianus ein und dieselbe Hand-
schrift darstellen, erlaubt L. HOLSTENs Bemerkung; vgl. dazu G.G. BREDOW, Epistolae
Parisienses, Leipzig 1812, S. 18; siehe auch W.H. DUKE, Three Fragments of the peri\
tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn of Heracleides the Critic, in: Essays and Studies
presented to William Ridgeway, Cambridge 1913, S. 239 und F. PFISTER, S. 9f.

84
4.1 Die Überlieferungszweige

4.1 Die Überlieferungszweige

D weist mit dem Ptolemaioskompilator Markian aus Heraklea auf die


älteste Stufe der geographischen Sammlung hin.5 Stephanus von Byzanz
bearbeitete dessen geographischen Schriften.6 Vermutlich waren beide
sogar Kollegen.7 Es ist daher wahrscheinlich, dass D bereits innerhalb eines
von Stephanus und Markian im sechsten Jahrhundert zusammengestellten
Kompendiums überliefert wurde. Die ursprüngliche geographische Sam-
mlung ist aber nicht mehr erhalten und wird daher als hypothetischer
Archetypus mit w betitelt.

D hängt von A, einer in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbe-


wahrten Pergamentbindung aus dem neunten Jahrhundert ab (Cod.
Palatinus Graecus 398). Obwohl sie unvollständig und ihre Herkunft
problematisch rekonstruierbar ist, sprechen texttraditionelle Gründe für
diese Abhängigkeit. Die Kollektion beinhaltet nämlich die strabonischen
Chrestomathien (fol.60r-156r), die auch in E (fol.418v-430r) Eingang
gefunden haben.8 E zeigt mit Isidors Stathmi Partici (fol.417r-418r) zudem
den gleichen Text wie D (fol. 106-111).9 Im Anschluss an die Chresto-
mathien folgt dort mit o(/ti to\ kalou/menon Ph/lion o)/roj [...] toiau/thn
ei)=nai das Pelionfragment auf fol.430v, 35-38, welches wiederum mit einem
Exzerpt aus D korrespondiert (fol.121). Die mit D übereinstimmende Hand-
schrift E kann daher einem Überlieferungsweg zugeordnet werden, der
vermutlich von der byzantinischen Geographensammlung des Constantin
Porphyrogennetos im zehnten Jahrhundert seinen Ausgang genommen
hatte.10 Zu dieser Zeit existierten also schon mindestens zwei geogra-
phische Zusammenstellungen. Diese Vermutung legt zumindest die An-
ordnung der Chrestomathien in A nahe.11 Aus den byzantinischen Ab-
schriften resultierten folglich Codex D, dessen byzantinischer Ursprung im
5
A. DILLER, The Tradition, S. 45f; zu Markian vgl. GGM I 129; F. GISINGER,
Marcianus, RE Suppl. 6 (1935), 271-281.
6
Vgl. F. ATENSTÄDT, Zu Stephanus von Byzanz, in: RhM 72 (1919), S. 479f.; E.
HONIGMANN, Stephanus von Byzanz, RE 6A (1929) 2369-2374.
7
E. FABRICIUS, Über Markianos aus Heraklea, in: RhM 2 (1843), S. 374.
8
Vgl. GGM II 529-636.
9
A. DILLER, The Tradition, S. 30.
10
Zur Datierung der Kompilation unter Porphyrogennetos vgl. A. DILLER, The Tra-
dition, S. 4ff. mit Anmerkungen; gegen eine Datierung in das 10. Jahrhundert spricht
der vergleichbare Schreibstil des Platoncodex Paris.1807, der ins 9. Jahrhundert datiert;
dazu auch D. MARCOTTE, Le poème géographique de Dionysios, fils de Calliphon.
Édition, traduction et commentaire, Leuven 1990, S. 12f.
11
A. DILLER, The Tradition, S. 46.

85
4 Textüberlieferung

sechsten Jahrhundert durch die Texte Markians und Isidors wahrscheinlich


ist, und Codex E, der durch die Chrestomathien in A aus dem neunten
Jahrhundert überlieferungsgeschichtlich verknüpft ist.

Die zwei in D und E feststellbaren Überlieferungszweige gehen somit


ursprünglich auf das sechste Jahrhundert zurück. Sie trennten sich im 9.
Jahrhundert, als ein neues Arrangement der geographischen Texte vorge-
nommen wurde. Auch die Periegese des Herakleides Kritikos wurde dort in
zwei Traditionsgruppen geschieden, die ursprünglich aber einmal zusam-
mengehört haben mussten. Diesen Verdacht, der bereits von L. HOLSTEN
und I. VOSSIUS geäußert wurde, bestätigen die Anfangszeilen des zweiten
Fragments in D und E sowie das im Codex E einortbare Testimonium aus
Apollonios.12 D trug folglich das erste und dritte, E hingegen das zweite
Fragment weiter. Eventuell lag der Reisebericht des Herakleides im
sechsten Jahrhundert noch zusammenhängend vor, denn die Auswahl der
Chrestomathien in Codex E ist sonderbar eigenwillig und unterliegt im
Unterschied zu der zusammenhängenden Darstellung in A einem anderen
Ordnungsprinzip.13 Mit Sicherheit lässt sich zwar nicht beweisen, dass mit
Herakleides ähnlich verfahren wurde, doch ist zumindest anzunehmen, dass
spätestens im neunten Jahrhundert nur Auszüge der Periegese Eingang in
die kollationierte Überlieferung gefunden haben, die sich schließlich weiter
ausdifferenzierten. Der heutige Bestand drängt jedenfalls die Vermutung
auf, dass die Reisebeschreibung schon in exzerpierter Vorauswahl ihren
Weg in unsere Bibliotheken nehmen musste.14

12
Vgl. L. HOLSTEN, in J. F. BOISSONADE (Hrsg.), Lucae Holstenii epistolae ad diversos,
Paris 1817, 10ff.; G. MANZI, Dikaia/rxou tou= Messhni/ou a)nagrafh\ kai\ bi/oj
( lla/doj. Cum Lucae Holstenii lucubrationibus ad priora duo opuscula. Accesserunt
E
ad coetros Geographiae auctores Holstenii item notulae non antea editae. Haec omnia
cura ac studio G. Manzi, bibliothecae Barberinae praefecti, in lucem diemque
proferuntur, Rom 1819, S. 103ff.; A. DILLER, The Tradition, S. 101. − Zu Apollonios:
130 GIANNINI; 109 WESTERMANN.
13
A. DILLER, The Tradition, S. 30.
14
Vgl. W.H. DUKE, Three Fragments bezeichnete die Periegese als Lückenfüller, S.
240: „It is probable that the originator of the tradition represented by P [D] had a gap
in his metrical a)nagrafh\ − which he believed to be by Dicaearchus − and filled it up
by two handy excerpts of Heracleides.“ H. SCHRADER, Heraclidea. Ein Beitrag zur
Beurtheilung der schriftstellerischen Thätigkeit des (älteren) Pontikers Herakleides und
des Herakleides Lembos, in: Philologus 44 (1885), S. 236ff. beurteilte die Schrift als
Exzerptsammlung, die Herakleides Lembos verfasste, da er Herakleides als Autor für
das Pelionfragment bestritt.

86
5 peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn∗

5.1 Testimonien
a) APOLLONIOS Hist mir. 19 (GIANNINI 130/WESTERMANN 109): H
( ra-
klei/dhj de\ o( Kritiko\j e)n t%= peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn
3 kata\ to\ Ph/lion o)/roj fu/esqai/ fhsin a)/kanqan karpofo/ron, h(=j to\n
karpo\n e)a/n tij tri/yaj met' e)lai/ou kai\ u(/datoj xri/s$ to\ au(tou= h)\
a)/llou sw=ma xeimw=noj o)/ntoj, ou)k e)paisqh/setai tou= yu/xouj.

_____________________
2 krhtiko/j cod.; kritiko/j corr. OLEARIUS.

b) HOLSTEN 1628 (G.G. BREDOW (Hrsg.), Epistolae Parisiensis, Leipzig


1812, S. 15): in Christianissimi Regis bibliotheca elegantissimum adhuc
fragmentum reperi, quo Pelion montem Thessaliae et in eo Chironium an-
trum, et herbas quasdam proprias earumque virtutes mira elegantia descri-
bit. Cuius ultima verba haec sunt: to\ me\n ou)=n Ph/lion kai\ th\n Dhmh-
tria/da sumbe/bhke toiau/thn ei)=nai.

c) SALMASIUS, ex. hom. (1689): Item Dicaearchus in fragmento a)nekdo/t%


de Pelio monte polufa/rmakon eum nuncupat: to\ de\ o)/roj polufa/r-
mako/n te e)sti\ kai\ polla\j e)/xon kai\ pantodapa\j duna/meij.

d) SALMASIUS, ex. hom. (1689): [...] idem Dicaearchus de quadam in Pelio


monte nascente: tau/thn de\ th\n du/namin e(/n tw=n politw=n oi)=de ge/noj,
o(\ dh\ le/getai Xei/rwnoj a)po/gonon ei)=nai. paradi/dwsi de\ kai\ dei/k-
nusi path\r ui(%= kai\ ou(/twj h( du/namij fula/ttetai, w(j ou)dei\j a)/lloj
oi)=den tw=n politw=n.

e) SALMASIUS, ex hom. (1689): Dicaearchus in fragmento a)nekdo/t% de


monte Pelio radicem arboris ibi nascentem praedicat, quae non solum
medetur serpentium morsibus, sed etiam odore solo abigit et si qui adpro-
pinquaverint sopore alligat; qui vero eam attigerint, occidit. Eam ita
describit: Gi/netai d' e)n au)t%= kai\ bota/nh e)n toi=j xersw/desi ma/lista
xwri/oij kai\ r(i/za de/ndrou h(/tij tw=n o)/fewn dh/gmata i)a=tai dokei=n


Siehe auch FGrHist 2022 (i.D.).

101
5 peri\ tw=n e)n t$= (Ella/di po/lewn

e)/xein e)piki/nduna! tou\j me\n e)k th=j xw/raj, e)n $(= pe/fuke, t$= o)sm$=
makra\n a)pelau/nei, tou\j d' e)ggi/santaj a)xrei=on ka/ron kataxe/assa,
tou\j d' a(yame/nouj au)th=j a)nairei= t$= o)sm$=. Toiau/thn th\n du/namin
toi=j d' a)nqrw/poij h(dei=a katafai/netai! t$= tou= qu/mou ga/r a)nqou=ntoj
o)sm$= paraplhsi/a! tou\j de\ dhxqe/ntaj u(f' ou(potou=n o)/fewj e)n oi)/n%
doqei=sa u(gia/zei.

f) SALMASIUS ex. hom. (1689): Dicaearchus in fragmento inedito de vita


Graeciae de stirpibus Pelii montis agens de/ndron non veretur appellare,
quae cubito altior a terra non surgeret: Fu/etai de\ to\ de/ndron t%=
mege/qei me\n ou) ple/on h)\ ph/xeoj tou= u(pe\r gh=j fainome/nou, t$= de\
xro/# me/lan. h( de\ r(i/za e(/teron tosou=to/n e)sti kata\ gh=j pefukui=a.

102
5.2 Fragmente I bis III

5.2 Fragmente I bis III


5.2.1 Fragment I

1) 'Enteu=qen ei)j to\ )Aqhnai/wn e)/peisin a)/stu. o(do\j de\ h(dei=a, gewr-
goume/nh pa=sa, e)/xousa/ ti t$= o)/yei fila/nqrwpon. h( de\ po/lij chra\
3 pa=sa, ou)k eu)/udroj, kakw=j e)rrumotomhme/nh dia\ th\n a)rxaio/thta. ai(
me\n pollai\ tw=n oi)kiw=n eu)telei=j, o)li/gai de\ xrh/simai, a)pisthqei/h d'
a)\n e)cai/fnhj u(po\ tw=n ce/nwn qewroume/nh, ei) au)th\ e)sti\n h( pros-
6 agoreuome/nh tw=n 'Aqhnai/wn po/lij! met' ou) polu\ de\ pisteu/seien a)/n
tij. + w=(de h)=n + tw=n e)n t$= oi)koume/n$ ka/lliston! qe/atron a)cio/logon,
me/ga kai\ qaumasto/n, 'Aqhna=j i(ero\n polutele/j, a)po/yion, a)/cion
9 qe/aj, o( kalou/menoj Parqenw/n, u(perkei/menon tou= qea/trou, mega/lhn
kata/plhcin poiei= toi=j qewrou=sin. 'Olu/mpion h(mitele\j me\n kata/-
plhcin d' e)/xon th\n th=j oi)kodomi/aj u(pografh/n, geno/menon d' a)\n
12 be/ltiston ei)/per sunetele/sqh. gumna/sia tri/a, 'Akadhmi/a, Lu/keion,
Kuno/sargej: pa/nta kata/dendra/ te kai\ toi=j e)da/fesi pow/dh. e(ortai\
pantodapai/! filoso/fwn pantodapw=n yuxh=j a)pa/tai kai\ a)na/pausij!
15 sxolai\ pollai/, qe/ai sunexei=j.

2) Ta\ gino/mena e)k th=j gh=j pa/nta a)ti/mhta kai\ prw=ta t$= geu/sei,
mikr%= de\ spaniw/tera. a)ll' h( tw=n ce/nwn e(ka/stoij sunoikoume/nh
18 tai=j e)piqumi/aij eu)a/rmostoj diatribh\ perispw=sa th\n dia/noian e)pi\

_____________________
1 'Aqhnai/wn e)p / eis a)/stu D, e)/peisin d1, d2, 'Enteu=qen ei)j toÜ 'Aqhnai/wn... a)/stu
PFISTER, e)pi/asin GAIL, e)ph?/ein KAIBEL, e)/peisin DUKE, MÜLLER, MARX, e)/pestin a)/stu
o(do/j OSANN, e)sti\n a)s / tu sta/dia m´ vel n´ prop. STEPHANUS : 2 th\n o)/yin prop. MARX
: 4 a)posthqei/h D, d2, corr. STEPHANUS : 5 au(/th MARX, PFISTER : 7 w=d) e h)n= D, d2, w(d/ e
= d1, %)dei=on HEMESTERHUS, w(d
h)n = PFISTER; qea/trwn a)ciolo/gwn [...] qaumastw=n,
= e h)n
ka/lliston sequ. prop. HOLSTEN : 8 meta\\ D, d2, me/ga d1, corr. STEPHANUS; a)po/bion d1,
d2, difficile lectu D, a)po/yion MÜLLER, PERRIN, a)po/bion PFISTER : 9 qea/j D, qe/aj d2, d1:
11 ei)j th\n mavult STEPHANUS, kataplh/cimon vel kataplhkth\n prop. SALMASIUS
(exercit., S. 141) : 12 )Akadami/a D,'Akadhmi/a d1, d2, PFISTER : 13 Kuno\j a)/rgoj D,
Kunosa/rgej d1, d2 : 15 qeai\ D, qe/ai d2, d1 : 17 ceinw=n D, d1, d2, sunoikoume/nh D, d1, d2,
oi)keioume/nh HOLSTEN, sunoikoume/nh, h( tai=j tw=n ce/nwn e(ka/stoij sunoikoume/naij
e)piqumi/aij prop. MARX, sunoik<ei>oume/nh PFISTER : 18 eu)a/rmwstoj D, eu)a/rmostoj
d2.

103
6 Interpretation
6.1 Einführung

6.1.1 Der Bios Hellados

„Er ist ganz andern Geistes Kind als Pausanias; von der Trockenheit,
Nüchternheit, ruhigen Objektivität, oft peinlichen Genauigkeit und gelegent-
lichen Langweiligkeit der Darstellung dieses späten Periegeten findet sich
bei Herakleides keine Spur. Er schildert vielmehr höchst anschaulich; was
er sagt, hat Leben, Wärme und Farbe; nicht Mythos und Geschichte ver-
gangener Zeiten, nicht Tempel und Götterbilder und was damit zusammen-
hängt, sondern die Menschen der Gegenwart, ihr Charakter, ihr Leben und
Treiben, ihre Daseinsbedingungen sind es, die ihn in erster Linie interes-
sieren.“

Mit diesen Worten fasste H. HITZIG einen Gesamteindruck von der Perie-
gese des Herakleides zusammen.1 Seine Deutung entspricht der schon in
der Erstausgabe des H. STEPHANUS angelegten Ansicht, wonach der Reise-
bericht eine res inaudita verkörpere, da man dort bislang Unbekanntes über
die Sitten der Griechen erfahren könne: [...] quod ex eo multa discentur de
Graecorum moribus, quae lectorum auribus nova futura sint.2 Auch die
Kritik U.v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFFs spiegelt diese Tendenz wider,
wenn er schreibt, dass die „wenigen Blätter aus den hellenistischen Städte-
bildern an unmittelbarer Lebensfülle fast unerreicht“ seien.3

Herakleides’ stilistisch elaborierte und lebensnahe Beschreibungen der


Städte und ihrer Bewohner stießen offenkundig auf großes Interesse,4 und

1
H. HITZIG, Die griechischen Städtebilder des Herakleides, in: DERS. (Hrsg.), Festgabe
Hugo Blümner, überreicht zum 9. August 1914, Zürich 1914, S. 1-15, S. 2.
2
H. STEPHANUS, Dicaearchi Geographica quaedam, sive de Vita Graeciae. Eiusdem
Descriptio Graeciae, versibus iambicis ad Theophrastum. Cum Latine Interpretatione
atque annotationibus Henrici Stephani et eius dialogo qui inscriptus est Dicaearci
Sympractor, Paris 1589.
3
U.v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Antigonos von Karystos, Berlin 1881, S. 165.
4
Vgl. etwa auch E. MEYER, Pausanias. Beschreibung Griechenlands, Zürich 1954, S.
10f.: „Aus dem 3. Jahrhundert besitzen wir größere Teile einer Beschreibung
Griechenlands [...] eine köstliche, lebensnahe, temperamentvolle Schilderung von Land
und Leuten, aber auch mit sehr subjektiven und kühn vereinfachenden Urteilen [...].
Herakleides’ Schrift [...] ist durch ihre lebendigen Schilderungen von hohem Wert und
Interesse [...]. Sie will geistreich und eindrucksvoll charakterisieren, aber nicht

130
6.1 Einführung

das Lob hierauf durchzieht die Forschungsliteratur wie ein roter Faden. Bei
aller Begeisterung über die literarische Gefälligkeit des Textes versäumte
man jedoch, die Periegese über diesen Bereich hinaus vertiefend zu ana-
lysieren. Außerdem konzentrierten sich die Interpreten beinahe ausschließ-
lich auf das erste Fragmentstück und dort vor allem auf die Beschreibung
Athens (I.1-5). Das zweite Fragment hingegen, welches die Pelionbe-
schreibung enthält, sowie das dritte mit dem Plädoyer für Thessalien als
Ursprungsregion griechischer Selbstempfindung wurden nur stiefmütterlich
behandelt.5

6.1.2 Die Gattungsfrage

Die byzantinischen Philologen ordneten den Reisebericht des Herakleides


Kritikos als anagraphé ein.6 In der Moderne argumentierte dann G.
PASQUALI für einen der ionischen Autopsie verpflichteten periegetischen
Stil, indem er Herakleides dem zeitnahen anonymen Periegeten des Hawara-
papyrus und Pausanias gegenüberstellte.7 Dieser Einordnung folgten auch G.

aufzählen und beschreiben, was an Denkmälern und Sehenswürdigkeiten in den


einzelnen Städten und Landschaften vorhanden war.“
5
Das dritte Fragment stieß lediglich auf philologisches Interesse; vgl. hierzu K. LATTE,
Kleine Schriften zur Religion, Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer,
hrsgg. von O. GIGON, W. BUCHWALD, W. KUNKEL, München 1968, S. 623, Anm. 28;
zuvor schon U.v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Hellenistische Dichtung in der Zeit
des Kallimachos, Bd.1, Berlin 1924, S. 93, Anm. 1. Auch J.M. HALL, Ethnic identity in
Greek antiquity, Cambridge 1997, S. 174f. Die Interpretation des zweiten Fragments
bestimmte vornehmlich eine naturwissenschaftliche Auseinandersetzung: E. MEYER,
Botanische Erläuterungen zu Strabons Geographie und einem Fragment des Dikä-
archos, Königsberg 1852; A. MÉZIÈRES, Mémoire sur le Pélion et l’Ossa, Paris 1853;
C. BURSIAN, Geographie von Griechenland, Bd.1, Leipzig 1862, S. 43ff.; J. DEPRAT,
Note sur la Géologie du Massif du Pélion, in: Bulletin de la Société Géologique de
France IV, Paris 1904, S. 299-338.; F. STÄHLIN, Das Hellenische Thessalien,
Landeskundliche und Geschichtliche Beschreibung Thessaliens in der Hellenischen und
Römischen Zeit, Stuttgart 1924, S. 41ff.
6
Vgl. dazu auch Kap.4.
7
G. PASQUALI, Die schriftstellerische Form des Pausanias, in: Hermes 48 (1913), S.
199: „Herakleides [...] vertritt uns eine andere Spielart derselben Gattung, der die
Periegese von Hawara angehört: diese war, wenn man den Eindruck, den man aus den
spärlichen Resten im Papyrus gewinnt, trauen darf, mehr antiquarisch; jenes Werk war
der alten ionischen Periegese und Historiographie ähnlicher. Hier ist die i(stori/h –
Form, die Form des persönlichen Erlebnisses, des Reiseberichts mit dem Inhalt eins,
noch keine Formel.“ − U. WILCKEN, Die attische Periegese von Hawara, in:
Geniathlikon Carl Robert zum 8. März überreicht von der Graeca Halensis, Berlin

131
6 Interpretation

SCHNAYDER und A. DIHLE.8 F. PFISTER bestimmte die Reisebeschreinung


dagegen als einen „volks- und landeskundlichen“ Bericht mit bündnispo-
litischer Ausrichtung.9 Herakleides sei demnach, von der Sophistik beein-
flusst, wie ein attischer Ethnograph verfahren und habe die Menschen in
ihren gegenwärtigen Lebenswirklichkeiten in den Mittelpunkt seines Reise-
berichtes gestellt, da er kein Interesse für fremde Völker, antiquarische Be-
gebenheiten oder geschichtliche Zusammenhänge gehegt hätte.10

In der Tat wirft schon die Überlieferungsgeschichte der Reisebeschreibung


Probleme auf, die es erschweren, Herakleides einwandfrei als Periegeten
einzuordnen, da – vom Testimonium bei Apollonios abgesehen – in den
Handschriften kein Titel verzeichnet ist, der auf eine periegetische Form
hindeutet.11 Herakleides bezeichnet seine Schrift selbst als lógos (III.9), und
in den Manuskripten trifft man auf die byzantinische Zuschrift, dass es sich
um die a)nagrafh\ th=j (Ella/doj des Dikaiarchos handle, von welcher
man schließlich annahm, sie stelle einen Ausschnitt seines bi/oj (Ella/doj
dar.12 Befreit man sich aber dieses Eindrucks, lassen sich weitere Erzähl-
punkte in der herakleidischen Prosa ausmachen, die verdeutlichen, dass der
Reisebericht mehr als nur ethnische Bilder entwirft: Herakleides interssiert
sich für wirtschaftliche, topographische und städtebauliche Belange; er beo-
bachtet die Wasser- und Nahrungsmittelversorgung seiner Aufenthaltsorte
und geht auf klimatische Bedingungen ein. Bei allem erweckt er den Ein-

1910, S. 191ff. Die äußerst dürftig überlieferten Papyrusfragmente beinhalten eine


Beschreibung des Piräus. Der anonyme Autor berichtet dort von einer Sonnenuhr im
Hafen und scheint auch die Sagengeschichte Athens berührt zu haben.
8
G. SCHNAYDER, De Heraclidis descriptione urbium Graeciae, Krakau 1939; DERS., De
Periegetarum Graecorum Reliquiis, Lódź 1950. − A. DIHLE, Eraclide e la Periegesi
ellenistica, in: F. PRONTERA (Hrsg.), Geografia storica della Grecia antica, Roma, Bari
1991, S. 71: „Se si confrontano i due autori (sc. Herakleides und Pausanias) con
Erodoto, risulta evidente che tutti questi elementi compaiono nelle sezioni etno-
geografiche della sua opera, e lo stesso siamo autorizzati a supporre per Ecateo.“
9
F. PFISTER, Die Reisebilder des Herakleides. Einleitung, Text, Übersetzung und
Kommentar mit einer Übersicht über die Geschichte der griechischen Volkskunde,
Wien 1951, S. 49.
10
F. PFISTER, S. 50ff.; DERS., Die Anfänge der Griechischen Volkskunde im alten
Griechenland, in: E. BARGHEER (Hrsg.), Festschrift für O. Lauffer „Volkskunde-
Arbeit“, Zielsetzung und Gehalte, Berlin 1934, S. 37ff. – G. PASQUALIs, Die
schriftstellerische Form, S. 212ff. Interpretation fand allgemeine Akzeptanz.
11
Vgl. dazu Kap. 2.1f.
12
siehe hierzu ausführlich Kap.4 und Kap.2.

132
6.1 Einführung

druck, Selbstgesehenes zu vermitteln,13 und wird auch deshalb die Erzählung


topographisch strukturiert haben, wie es später Pausanias in Vollendung
tat.14

6.1.3 Die Periegese

Die Periegese bildete sich als Gattung erst ab Mitte des dritten vorchrist-
lichen Jahrhunderts aus.15 Zumindest sind Autoren, die sich selbst Peri-
egeten nannten oder von anderen als solche bezeichnet wurden, erst ab
dieser Zeit greifbar. Nach F. JACOBY habe sich die Periegese als eigen-
ständige literarische Form aus der Periodos entwickelt, ihren habitus über-
nommen und hierbei sowohl Elemente des Epos als auch der Erkundung im
Sinne eines Hekataios rezipiert.16 Tatsächlich sind vor Pausanias lediglich
Diodor, Heliodor, Polemon von Ilion und Dionysios Periegetes als Peri-
egeten bekannt, deren erhaltenes Textmaterial dem prosaischen Wortsinn
der Periegese gerecht wird, da man ihre Aufzeichnungen durchaus als Frem-
denführerliteratur titulieren kann.17 Sie verarbeiteten nämlich selbsterlebte
Eindrücke und beschrieben Denkmäler und religiöse Monumente, und glei-
chermaßen sind ihre Erzählungen topographisch strukturiert: Diodor kon-
zentrierte sich etwa in seinen Schriften peri\ mnhma/twn und peri\ tw=n
dh/mwn auf Attika und bestach mit weitreichenden Ortsangaben,18 und Heli-
odor beschränkte sich in seinem Werk peri\ th=j a)kropo/lewj auf Athen.19
Ebenso darf für acht Werke des Polemon von Ilion eine periegetische Inten-
tion vermutet werden.20 Er beschäftigte sich beispielsweise in der Schrift
peri\ tw=n a)nathma/twn tw=n e)n t$= a)kropo/lei ausschließlich mit den
Heiligtümern auf der Akropolis.

13
Vgl. dazu A. DIHLE, Eraclide e la periegesi, S. 71: „Un elemento commune ai due
autri è la commistione di dati topografici che si basano su autopsía […].“
14
Vgl. dazu Ch. HABICHT, Pausanias und seine Beschreibung Griechenlands, München
1985, S. 30f.
15
Vgl. Ch. HABICHT, Pausanias, S. 14f.
16
F. JACOBY, Über die Entwicklung der Griechischen Historiographie und den Plan
einer neuen Sammlung der griechischen Historikerfragmente, in: Klio 9 (1909), S. 84f.
17
H. BISCHOFF, Perieget, RE 19,1 (1937), 725-742.
18
FGrHist 372; vgl. Kap.2, Anm. 47.
19
FGrHist 373; vgl. Kap.2, Anm. 47.
20
FHG III 108-148; L. PRELLER, Polemonis Periegetae Fragmenta, Amsterdam 1964
[ND], S. 4ff.; FGrHist IV (i.D).

133
6 Interpretation

Fragt man nach den Motiven dieser Literaten, so scheinen einige Verse aus
der Weltrundreise eines ansonsten unbekannten, als Ps.-Skymnos bezeichne-
ten Autors aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert ausgesprochen
aufschlussreich. Obgleich dieser mit der oben festgestellten topographischen
Begrenzung bricht, wenn er zu Fuß und per Schiff die ganze bewohnte Welt
erkunden möchte (vv. 45ff.),21 formuliert er eine Zielsetzung, die auch in den
Periegesen erkannt werden kann. Denn seine Reisebeschreibung ist als un-
terhaltsames Lehrgedicht konzipiert, das dem Leser ermöglichen soll, sich
ohne die Beschwerlichkeiten des Odysseus auf vergnügliche Art und Weise
ein Bild von der eigenen Heimat, ihrer Geschichte und von anderen Städten,
deren Gründungen, Sitten und Gebräuchen zu machen (vv. 91-102):

h(=j o( katakou/saj ou) mo/non terfqh/setai,


a(/ma d' w)feli/an a)poiset' eu)/xrhston maqw/n,
ei) mhqe\n e(/teron, fasi/, pou= pot' e)sti\ gh=j
ka)n ti/si to/poij th\n patri/da kaime/nhn e)/xei
ti/nwn te pro/teron genome/nhn oi)khto/rwn
po/lesi te poi/aj sugge/neian a)nafe/rei
sunelo/nti d' ei)pei=n, ou)xi\ th\n )Odusse/wj
a)nadeca/menoj, w(/j fasin oi( mu=qoi, pla/nhn,
e)pi\ th=j i)di/aj de\ katame/nwn eu)daimo/nwj,
ou)xi\ mo/non e(tero/fulon a)nqrw/pwn bi/on,
e)qnw=n o(/lwn de\ gnw/set' a)/sth kai\ no/mouj. 22

Einen mit Ps.-Skymnos vergleichbaren Anspruch verfolgte auch Pausanias,


obwohl er sich auf Griechenland konzentrierte: Auch er will sein Publikum
belehrend unterhalten und scheut dabei keinerlei Ausführlichkeiten.23 Dabei

21 Vgl. M. KORENJAK, Die Welt-Rundreise eines anonymen griechischen Autors

("Pseudo-Skymnos"). Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar, Hildesheim,


Zürich, New York 2003; vv. 45ff.: ge/grafa ta\j a)poiki/aj … kti/seij te po/lewn, th=j
o(/lhj te gh=j sxedo\n … o(/s' e)sti\ plwta\ kai\ poreuta\ tw=n to/pwn.
22
„Wer dies (sc. den Durchgang durch alle Länder) gehört hat, wird sich nicht nur
daran freuen, sondern zugleich Nutzen und Vorteil davontragen, da er gelernt hat –
wenn schon, wie man sagt, nichts anderes  , wo auf Erde er sich eigentlich befindet
und in welcher Gegend seine Heimat liegt, welche Bewohner sie früher hatte und zu
welchen Städten er ihre Verwandschaftsbeziehungen zuschreiben kann. Um es zusam-
menfassend zu sagen: Ohne die Irrfahrt des Odysseus, wie sie die Mythen berichten, auf
sich zu nehmen, sondern während er zufrieden bei sich zu Hause bleibt, wird er nicht
nur fremdartiges Menschenleben, sondern überhaupt die Städte und Gesetzte aller
Völker kennenlernen.“ (Übersetzung: M. KORENJAK)
23
Zur doppelten Intention des Pausanias vgl. Ch. HABICHT, Pausanias, S. 31f.

134
7 Kommentar

7.1 Fragment I
1
)E
/ sti te e)nteu=qen a)rxh\
xh\ th=j Peloponnh/sou
Vermutlich Prosaeinschub eines byzantinischen Redaktors innerhalb der vv. 107-109
(MARCOTTE) der iambischen Trimeter des Dionysios Kalliphontis. Siehe dagegen aber
A.J. LETRONNE, Fragments des poëmes géographiques de Scymnus de Chio et du faux
Dicaearque, Paris 1840, S. 431, der die Prosa in Trimeter umgestaltete: e)nteu=qen a)rxh\
th=j Peloponnh/sou limh/n. Dieser Konjektur folgte C. MÜLLER, GGM I 238f. Das
erste Fragment schließt in direkter Folge des dritten an die zuvor in vv. 1-109
(MARCOTTE) geschilderte Griechenlandbeschreibung des Dionysios von Ambrakia bis
Megara und der Stadt Lechaion an (vgl. Kap.4). F. PFISTER, S. 22 und 99 vermutet, dass
der Satz aufgrund der stilistischen Form des e)nteu=qen von Herakleides stamme und
dieser bewusst die Peloponnes nicht geschildert habe, da er bei einer zuvor erfolgten
Beschreibung der Halbinsel auf den Anfang Attikas hätte hinweisen müssen. Der
Ausschluss der Peloponnes hätte nach F. PFISTER politische Motive. Es sind jedoch
texttraditionelle und gattungstheoretische Gründe hierfür verantwortlich zu machen: Der
mit Herakleides im Geographenkompendium überlieferte Dion. Kall., in dessen
Trimeter die Prosa des Herakleides gerückt ist, wandte sich wahrscheinlich nach der
Beschreibung Lechaions der Peloponnes zu. Die Passage ist jedoch nicht mehr erhalten.
Für diese Hypothese spricht allerdings die gleiche Vorgehensweise des [Skymnos]; dort
setzt ab v. 488 die Beschreibung Boiotiens und der Megaris ein; ab v. 511 folgt die
Peloponnes, dann ab v. 535 Kreta; erst ab v. 559 wird nach einer Inselperiegese über
Salamis Athen beschrieben; vgl. dazu M. KORENJAK, Die Welt-Rundreise eines
anonymen griechischen Autors ("Pseudo-Skymnos"). Einleitung, Text, Übersetzung und
Kommentar, Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. 9ff.; jetzt FGrHist V 2048 (i.D.).
[Skymnos] ließ also nach der Peloponnes die Beschreibung Kretas folgen (vv. 535), die
auch bei Dionysios ab v. 110 zu finden ist. Die Eingliederung der Prosafragmente I und
III ist somit redaktionell motiviert und entspricht dem um Übersicht bemühten
kompilatorischen Charakter des byzantinischen Geographenkompendiums, welches
direkt nach Abschluss des nördlichen Griechenlands den Erzählanschluss nach Osten
mit Athen gesucht hat. Vgl. zur Komposition auch D. MARCOTTE, Le poème
géographique de Dionysios, fils de Calliphon. Édition, traduction et commentaire,
Leuven 1990, S. 13ff. und S. 169ff.; GGM I 242; jetzt FGrHist V 2018 (i.D.). −
Herakleides’ topographische Einteilung Griechenlands ist konventionell: [Skylax], der
sich auf Ephoros berufende Strabon sowie Phileas aus dem fünften Jahrhundert, den
Dion. Kall. vv. 33f. (MARCOTTE) zitiert, arbeiteten mit der gleichen Einteilung; vgl.
dazu ausführlich die Kommentierung zu III.1 unter a)po\ Peloponnh/sou.

177
7 Kommentar

'Enteu=qen ei)j
Stereotyper Beginn einer neuen Stadtbeschreibung. Bis auf I.26 verwendet Herakleides
diesen Ausdruck immer. F. PFISTER, S. 100 vermutet m.E. richtig, dass die Strecke von
Anthedon nach Chalkis die Boiotienbeschreibung beendet und einen Wechsel in ein
neues Land kennzeichnet. Daher wählt Herakleides wohl die Formulierung 'Ec 'Anqh-
do/noj ei)j Xalki/da. Dies könnte zugleich den Schluss erlauben, dass Herakleides vor
der Skizzierung Athens eine Stadt in Attika, vermutlich Eleusis, beschrieben hat.
Dagegen aber C. WACHSMUTH, Die Stadt Athen im Altertum, Bd.2, S. 183, der
vermutet, dass Herakleides vom Piräus nach Athen gekommen sei. Vgl. auch K.
FITTSCHEN, Eine Stadt für Schaulustige und Müßiggänger: Athen im 3. und 2. Jh. v.
Chr., in: M. WÖRRLE, P. ZANKER (Hrsgg.), Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus,
München 1995, S. 58, der einen Reiseweg von der Peloponnes her annimmt. − Der
Anfang des ersten Fragments ist verderbt. D gibt e)/pei mit supraskribiertem s; in d1 und
d2 steht e)p / eisin. A. KAIBELs Vorschlag, e)p$/ein zu setzen, ist inhaltlich nicht
problematisch, da Herakleides auch an anderen Stellen in die erste Person wechselt
(I.10, III passim). Die Lesart ist jedoch textkritisch schwer haltbar. G. PASQUALI, Die
schriftstellerische Form des Pausanias, in: Hermes 48 (1913), S. 199 hat diese Variante
übernommen. Der Plural kann hingegen unpersönlich aufgefasst werden und sich auf
die Reisenden allgemein beziehen. H. STEPHANUS vermutete hingegen die Angabe der
Stadienzahl, die bis auf I.6 immer genannt wird, und setzte für das in den codd.
überlieferte e)p/ eis e)sti\n: )Aqhnai/wn e)sti\n a)s
/ tu sta/dia [...]; vgl. auch D. MARCOTTE,
Le poème, S. 169ff.

a)s
/ tu
Die Bezeichnung bezieht sich wohl auf die Unterstadt um die Akropolis. Das im
Anschluss von Herakleides gewählte Wort po/lij steht in keinem begrifflichen
Gegensatz zu a)/stu. Dagegen aber Strab. 9, 396, der mit a)/stu die Akropolis bezeichnet;
vgl. hierzu W. JUDEICH, Topographie von Athen, S. 61. Die unterschiedlichen Begriffe
könnten ebenso auf den verderbten Zustand des Satzes Rückschlüsse erlauben, die H.
STEPHANUS’ Konjektur zu e)nteu=qen ei)j (s.o.) bekräftigten. Im übrigen lässt Herakleides
immer nach ei)j den Städtenamen folgen (vgl. I.6; 8; 11; 12; 23). Lediglich in I.26 macht
er eine Ausnahme (s.o. zu e)nteu=qen ei)j). Dennoch ist nicht auszuschließen, dass
Herakleides im Sinn der bei Strabon zu findenden Differenzierung zuerst die bereits aus
der Ferne sichtbare Akropolis nennt, ehe er den Blick auf die Unterstadt lenkt. Siehe
auch U. KAHRSTEDT, Die Landgrenzen Athens, in: AM 46 (1932), S. 20 ff; vgl. hierzu
auch unten zu a)po/yion.

o(do\
oj
\ de\
de\ h(dei=a, gewrgoume/nh pa=sa, e)/xousa/ ti t$= o)/yei fila/nqrwpon
Herakleides näherte sich vermutlich von Eleusis kommend Athen auf der sogenannten
Heiligen Straße, auf welcher an den Eleusinien der Weg der Prozession verlief (s.o zu
e)nteu=qen ei)j). Er musste zunächst den schmalen Höhenzug des Aigáleos überwinden,
doch bezieht sich die Wegbeschreibung ausschließlich auf die attische Ebene, die mit
der eleusinischen topographisch verbunden ist: A. PHILPPSON, E. KIRSTEN, Die
Griechischen Landschaften, Bd. 3: Der Nordosten der griechischen Halbinsel. Attika
und Megaris, Frankfurt a. M. 1952, S. 854ff; zur Fruchtbarkeit der Ebene S. 860ff. Die

178
Quellen und Forschungen zur Antiken Welt

herausgegeben von

Prof. Dr. Peter Funke, Universität Münster


Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke, Universität Freiburg
Prof. Dr. Gustav Adolf Lehmann, Universität Göttingen
Prof. Dr. Carola Reinsberg, Universität des Saarlandes

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Band 40: Mustafa Adak: Metöken als Wohltäter Athens · Untersuchungen zum sozialen
Austausch zwischen ortsanssässigen Fremden und der Bürgergemeinde in klassischer und
hellenistischer Zeit (ca. 500-150 v. Chr.)
2003 · 270 Seiten
Band 39: Jens Nitschke: Dignitas und auctoritas · Der römische Senat und Augustus.
Prosopographische Überlegungen zur Karriere der Konsuln und Statthalter 30 v. Chr. bis
14 n. Chr. · 2., durchgesehene Auflage
2006 · 160 Seiten
Band 38: Eberhard Ruschenbusch: Ein altgriechisches Gesetzbuch · Aus dem Kontext von
Platons Gesetzen herausgehoben und in das Deutsche übersetzt
2001 · 62 Seiten
Band 35: Michael Lesky: Untersuchungen zur Ikonographie und Bedeutung antiker Waffentänze
in Griechenland und Etrurien
2000 · 260 Seiten
Band 34: Klaus Freitag: Der Golf von Korinth · Historisch-topographische Untersuchungen von
der Archaik bis in das erste Jh. v. Chr. · 2., unveränderte Auflage
2005 · 520 Seiten
Band 33: Martina Edelmann: Menschen auf griechischen Weihreliefs
1999 · 270 Seiten
Band 32: Michaela Hoffmann: Griechische Bäder
1999 · 402 Seiten
Band 31: Michael Munzinger: Vincula deterrimae condicionis · Die rechtliche Stellung der
spätantiken Kolonen im Spannungsfeld zwischen Sklaverei und Freiheit
1998 · 165 Seiten
Band 29: Martin Krön: Das Mönchtum und die kulturelle Tradition des lateinischen Westens ·
Formen der Askese, Autorität und Organisation im frühen westlichen Zönobitentum
1997 · 259 Seiten
Band 28: Marion Roehmer: Der Bogen als Staatsmonument · Zur politischen Bedeutung der
römischen Ehrenbögen des 1. Jhs. n.Chr.
1997 · 314 Seiten
Band 27: Thomas Schäfer: Andres Agathoi · Studien zum Realitätsgehalt der Bewaffnung
attischer Krieger auf Denkmälern klassischer Zeit
1997 · 210 Seiten
Band 26: Matthäus Heil: Die orientalische Außenpolitik des Kaisers Nero
1997 · 282 Seiten
Band 25: Alexander von Normann: Architekturtoreutik in der Antike
1996 · 368 Seiten
Band 24: Kleopatra Ferla: Von Homers Achill zur Hekabe des Euripides: Das Phänomen der
Transgression in der griechischen Kultur
1996 · 324 Seiten
Band 23: Chrissula Ioakimidou: Die Statuenreihen griechischer Poleis und Bünde aus
spätarchaischer und klassischer Zeit
1997 · 460 Seiten

Erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag:


Herbert Utz Verlag GmbH, München
089-277791-00 · info@utz.de
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