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Wie steht es aber mit dem eigentlichen Lapis philosophorum, der dadurch widerlegen, dass man sich genau an die chemischen Vorschrif­
Medizin dritter Ordnung? ten hält - so man sie denn verstanden hat - und dennoch keinen Erfolg
Wie Geber durchblicken lässt, besteht kein grundsätzlicher Unterschied hat. Weim wir uns aber einer Entscheidung von chemischer Seite her
zwischen den Medizinen der zweiten Ordnung und der Medizin dritter nicht nähern können, bleibt uns nur das Zeugnis dessen, der den Stein
Ordnung, die in einer Version als Transmutationsmittel zum Silber und in hergestellt zu haben glaubt, und vor allem das Vertrauen in seine Glaub­
einer anderen Version als Transmutationsmittel zum Gold vorkommt: würdigkeit und das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit seines Tuns. War
«Es ist nämlich so, dass du den jetzt fixierten Stein flüchtig machst Geber ein ernst zu nehmender Mensch? Und: Hat Geber gelogen - thats
mit den Techniken der Sublimation, dann das Rüchtige fest, das Feste here the question zum Sein oder Nichtsein seiner Alchemie.
löslich und wieder flüchtig, und das Rüchtige wieder fest, bis es fließt
und sich wieder ändert, mit einer gewissen Ergänzung in Hinblick auf
Gold oder Silber. Von der Wiederholung der Zubereitung in der Medi­ 18. Flamel
zin dieses dritten Grades ergibt sich eine Vervielfältigung der Güte die­
ser Veränderung. Deshalb ergibt sich aus der Vielfalt der Wiederholung Während wir über Geber so gut wie nichts wissen, wissen wir über
der Arbeit am Stein in seinen Ordnungen eine Vervielfältigung der Güte Nicolas Ramel so gut wie alles - sofern wir seinen eigenen Worten
seiner Veränderung, sodass eine Medizin zweimal soviel, wie sie selbst glauben. Die Geschichte seiner Alchemie ist die Geschichte seines Le­
ist, in eine wahre Gold- oder Silbersubstanz in Vollendung transmutiert, bens.
eine andere zehnmal soviel, eine andere tausend, eine andere bis zur Dass ein Mann namens Nicolas Ramel wirklich gelebt hat, ist sehr
Unendlichkeit.» (Newm. 629 f., 784 f.) wahrscheinlich, denn es existieren Angaben über ihn, nach denen er um
Der Schluss der <Summa> zeigt dann, dass Geber die Alchemie nicht 1330 geboren und 1417 gestorben ist. Man weiß auch, dass ein gewisser
als Goldmacherei, sondern als eine Art Gottesdienst begriff. Für ihn Ramel in Paris eine Schreibstube unterhielt, zuerst beim <Beinhaus der
scheint der alchemische Prozess, wenn er erfolgreich ist, in fast calvinis- unschuldigen Kindlein>, später in der Nähe der Kirche Saint-Jacques de
tischer Denkweise eine Art Bestätigung der Gnade Gottes, die in der la Boucherie, wo er auch begraben liegt. Das ist durch ein Grabmal
Natur des Menschen wirkt, zu sein. Und so endet das Werk wie ein bezeugt, das sich heute im Museum von Cluny befindet. A uf diesem
Gebet: Grabmal behauptet Ramel, allein in Paris 14 Spitäler, sieben Kirchen
«Und wir, die wir geschrieben haben, was wir in Art einer Abhandlung und drei Kapellen gestiftet zu haben.
niedergelegt haben, sind einbegriffen, wie es so geschieht, in den Geist Man könnte meinen, er wäre damit ein Art Rockefeiler des Spätmit­
Gottes, des Einzigen, des Höchsten, des Gesegneten, des Erhabenen und telalters gewesen, die Frage ist aber: Konnte wirklich ein Schreiber oder
Ruhmreichen, oder in der Gnade seiner göttlich eingegebenen Güte, die Notar olme ererbtes Vermögen zu so viel Geld kommen? Damals zu­
von ihm [stammtl, der sie dem, den er will, gewährt und entzieht. Lass mindest war das sehr unwahrscheinlich, und Ramel behauptet denn
den Sohn der Lehre [der Alchemie] darum nicht verzweifeln, denn, auch, durch etwas ganz anderes als durch seine Schreibtätigkeit zu
wenn er sucht, wird er finden, nicht indem er die Lehre, sondern indem Reichtum gelangt zu sein. All sein Reichtum, so sagt er in einem als
er die Bewegungen seiner eigenen Natur befragt. Denn der, der Wissen Autobiographie gehaltenen Bericht, sei ihm durch ein Buch zugekom­
sucht durch die Güte seines eigenen Reißes, wird sie finden. ... Finit men, das er im Jahre 1357 für ganze zwei Gulden von einem ihm völlig
Über Yeber [Geber] perfectionis deo gratias amen.» (Newm. 63 if., 785) unbekannten Händler gekauft habe. Dieses Buch nun war ein alchemi-
Natürhch könnte der Hinweis auf die göttliche Gnade ein bloßer To- sches Werk, und Ramel hat es, obwohl er sich für die Alchemie nicht
pos sein, der Geistlichen gut ansteht. Doch, wenn ich als Alchemist das besonders interessierte, nicht ganz von ungefähr gekauft. Irgendwann
Gefühl habe, den Stein zu besitzen - fast, aber ich brauche doch nur vor 1357 hatte er nämfich einen Traum, in dem ihm ein Engel erschien,
noch tausendmal zu destillieren, zu solvieren und coaguheren -, dann der in seinen Händen ein wunderbares Buch ehrwürdigen Alters hielt.
bin ich gewiss subjektiv im Besitz der Gnade und habe den Stein be­ «Ramel», sagte der Engel, «schau dieses Buch. Du wirst nichts davon
schrieben, der ja ein Gnadenakt ist. Andererseits kann man als Außen­ verstehen, nur irgendjemand anderer; aber ein Tag wird kommen, an
stehender gerade wegen dieses Tertium, wegen der Gnade, die ja als dem du etwas sehen wirst, was sonst niemand je zu Gesicht bekommt.»
Gnadenakt ein inneres Erlebnis ist und von einen Außenstehenden nicht (Holm. 234)
ad libitum nachvollzogen werden kann, die Existenz des Steines nicht — Diesen Traum hatte Flamel schon fast vergessen, als er das Buch zu
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kaufen beschloss. Was dann geschah, sollten wir ihn selbst berichten heimnisvoll in die Hände gefallen war, zu studieren. Er hatte aber be­
lassen. Es ist farbig genug. sondere Schwierigkeiten mit dem vierten und fünften Blatt, die beide
«Zu jener Zeit», schreibt Flamel, «fiel für den Preis von zwei Gulden keinerlei Text enthielten.
ein Buch in meine Hände, das vergoldet war, sehr alt und sehr groß. Es «Das erste Bild auf dem vierten Blatt stellte einen jungen Mann dar
glich nicht den anderen Büchern, denn es war weder aus Papier noch mit Hügeln an den Füßen, der einen Stab mit zwei Schlangen darum in
aus Pergament, sondern aus feiner Rinde von jungen Bäumen. Es war der Hand hielt, mit dem er an den Helm auf seinem Kopf schlug. Auf
in gehänunertes Kupfer gebunden, und der Einband war voll von ihn mm stürzte sich mit ausgebreiteten Schwingen ein großer alter
fremdartigen Buchstaben und Figuren. Es dürften griechische Buchsta­ Mann mit einem Stundenglas auf seinem Haupte und in seinen Händen
ben oder die einer anderen alten Sprache gewesen sein; ich konnte sie eine Sense wie der Tod. In furchtbarer Wut versuchte er, die Füße des
jedenfalls nicht lesen und bin darum sicher, dass es keine lateini­ jimgen Mannes abzuschneiden. Ein zweites Bild auf demselben Blatt
schen Buchstaben waren, denn die kenne ich. Die Rindenblätter im zeigte einen Berg, auf dessen Gipfel ein blütenbesäter Busch stand, der
Inneren waren kunstreich graviert und mit farbig bemalten, gut le­ vom Nordwind geschüttelt wurde. Das Geäst des Busches war blau,
serlichen, schönen lateinischen Buchstaben beschrieben. Das Buch seine Blüten weiß und rot, und seine Blätter schimmerten wie Gold. Um
war aus dreimal sieben Blättern zusammengeheftet; das siebente ihn herum bauten sich die Drachen und Greifen des Nordens ihre Ne­
Blatt war jeweils ohne Schriftzeichen. Stattdessen war auf das erste ster und Höhlen. Das erste Bild auf dem fünften Blatt zeigte einen wun­
der sieben Blätter ein Stab gemalt mit zw ei Schlangen, die einander derschönen Garten, in dessen Mitte ein Rosenbaum sich um eine hohle
auffraßen, auf das zweite ein Kreuz mit einer gekreuzigten Schlange, Eiche wand. An der Wurzel der Eiche brodelte eine (Quelle aus ganz
und auf das letzte Blatt waren Wüsten gemalt, in deren Mitte wun­ weißem Wasser, das Wasser fiel über eine Klippe in einen Abgrund.
derschöne Quellen sprangen, es kamen aber Schlangen aus diesen her­ Bevor es jedoch verschwand, lief es durch die Hände vieler Menschen,
vor, die nach allen Seiten dahinkrochen. A u f dem Titelblatt des Buches die die Erde durchwühlten auf der Suche nach der Quelle, die sie nicht
war in großen goldenen Lettern zu sehen: Der Jude Abraham, Fürst, finden konnten, weil sie blind waren. Ein einziger unter ihnen schien
Priester, Levit, Astrolog und Philosoph. Dem Volk der Juden, das sehen zu können, und dieser w og das Gewicht des Wassers mit einer
durch Gottes Zorn unter die Ungläubigen - unter die Gallier - zer­ Waage. A uf der anderen Seite des fünften Blattes erblickte man einen
streut worden ist, Gruß und Segen. - Des weiteren war die Seite König nüt einem Krummschwert, der seine Soldaten dazu anhielt, viele
gefüllt mit schrecklichen Verwünschungen und Flüchen - mit diesem kleine Kinder zu erschlagen, während die Mütter zu ihren Füßen wein­
Wort Maranatha, das dort oft wiederholt wurde - gegen jeden, der ten. Das Blut der Kinder wurde von anderen Soldaten in einem großen
sich unterfange, dieses Buch zu lesen, er sei denn ein Priester oder Gefäß gesammelt, wohin Sonne und Mond kamen, um in dem Blut zu
Schriftgelehrter. Der Mann, der mir dieses Buch verkaufte, hat nicht baden. Weil diese Darstellung an den Hauptteil der Geschichte von den
gewusst, was es wert war, und auch ich habe dies nicht gewusst, als Unschuldigen, die von Herodes getötet wurden, erinnerte, und weil ich
ich es kaufte. Vielleicht wurde es armen Juden weggenommen oder aus diesem Buch den größten Teil des Kunst erlernt hatte, war dies einer
in einem ihrer verlassenen Häuser gefunden. A u f dem zweiten Blatt der Gründe, weshalb ich im Friedhof zu den unschuldigen Kindlein die
spendete der Verfasser seinem Volk Trost und gab ihm den Rat, Laster hieroglyphischen Sirmbilder dieser geheimen Wissenschaft malen ließ.»
und Abgötterei zu meiden, still und geduldig zu warten, bis der Messias (Taylor 165 f.)
kommen werde. ... Vom dritten Blatt an lehrte er in einfachen Worten, Was er übrigens wirklich tat, denn dort sind sie über dem Tor noch
wie die Metalle zu verwandeln seien. Wahrscheinlich wollte er seinem bis zur französischen Revolution zu sehen gewesen, und es gibt Abbil-
gefangenen Volk helfen, die Steuern an die römischen Kaiser zu zahlen dimgen davon in den Buchausgaben seines Berichts.
und noch anderes zu tun, aber davon werde ich hier nicht sprechen. Es ist nicht etwa so, dass die Bilder ganz unverständlich wären. Be­
Neben der Schrift waren die Gefäße abgemalt, die Farben angegeben denkt man zudem die merkwürdigen Umstände des Buchkaufs, bedenkt
und alles Übrige, nur nicht das erste Agens, das dafür aber abgemalt man, dass der Buchtext und die Bilder trotz ihrer Geheimnistuerei doch
war mit großer Kunst und so, dass es das vierte und fünfte Blatt ganz irgendwie deutbar erscheinen, ist es wohl kein Wunder, dass Hamei von
bedeckte.» (Taylor 163 ff.) der alchemischen Leidenschaft, einem Furor alchimicus, ergriffen wurde,
Da Opferpriester und Schriftgelehrte vom Fluch des Juden Abraham die ihn seither nicht mehr losließ. Dabei konnte er, wie er selbst sagt,
ausgenommen waren, fühlte Flamel sich frei, das Werk, das ihm so ge­ trotz eifrigen Studiums mit den Bildern nichts anfangen. Schließlich ver-
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traute er sich seiner Ehefrau Perrenelle an, die fortan seine treue Mitar­ ander das große Werk durchzuführen. A uf einer Seereise von Spanien
beiterin auf seiner Suche nach dem Lapis philosophorum wurde. nach Frankreich jedoch wurde der Arzt gefährlich seekrank, die Krank­
Die Hauptschwierigkeit bei dieser Suche schien nicht im eigentlichen heit schlug anscheinend in einen Darminfekt um, an dem Meister
alchemischen Prozess mit seinen diversen Operationen zu liegen, son­ Canches schließlich starb. Er wurde in Orleans beigesetzt, von Hamei
dern in der Bereitung der Ausgangssubstanz für diesen Prozess, denn aus dankbarem Herzen beweint, hatte Meister Canches doch seinen
das Ausgangsprodukt, das man hier wohl mit der Prima materia gleich­ Reisegefährten kurz vor seinem Tode noch in einige Geheimnisse des
setzen kann, ist ja, zumindest potentiell, schon das Endprodukt, eben Buches eingeweiht.
der Stein der Weisen. Bei der Neigung esoterischer alchemischer Texte, Allein kehrt Hamei zu seiner Frau nach Paris zurück, und hier gelingt
vor allem das Zentrum ihrer Weisheiten zu verschleiern, ist es nicht ihm nach weiteren drei Jahren des Laborierens der große Wurf, er findet
überraschend, dass gerade der Teil des Buches, der vermutlich von den das Elixier, das er «sogleich an seinem Geruch erkennt». Zuerst proji­
Ausgangssubstanzen handelte, völlig unverständlich war. ziert er es auf eineinhalb Pfund Quecksilber und erhält davon ebenso
Nach einer Zeit vergeblicher Interpretationssversuche kam Flamel zu viel Silber, «reines Silber, das besser war als das der Bergwerke, was ich
dem Schluss, dass er Hilfe von außen suchen müsse. Er zeigte verschie­ selbst mehrmals prüfen konnte und auch prüfen ließ. Dies geschah an
denen gelehrten Schreibern Kopien seiner Bilder und deutete an, dass einem Montag, dem 17. Januar, gegen Mittag, wobei nur meine Frau
in ihnen vielleicht das Geheimnis der Alchemie verborgen sei. Meist Perrenelle anwesend war, im Jahre des Heils 1382.» (Taylor 170)
erntete er Lächeln und Schlimmeres. Aber er geriet auch an einen Li- «Später», so sagt er weiter, «projizierte ich, wobei ich immer auf jedes
centiaten der Medizin namens Anselm, der sich wohl selbst für einen Wort in meinem Buch achtete, den roten Stein auf eine etwa gleich große
Adepten hielt und auf alle Probleme eine Antwort wusste. Unter dem Menge Quecksilber, wieder nur in Gegenwart von Perrenelle, in dem­
Einfluss dieses Anselm begann Hamei zu laborieren, d. h., wie er selbst selben Haus, am 25. April desselben Jahres, gegen fünf Uhr abends; ich
sagt, er stellte <tausend Pfuschereien> an. 21 Jahre lang arbeitete er am wandelte das Quecksilber wahrhaftig in fast ebenso viel reines Gold um,
großen Werk, das entspricht im Schnitt der Interpretation eines Blattes das sicher besser, nämlich weicher und geschmeidiger war als gewöhn­
pro Jahr. Schließlich, als die beiden Hamels schon auf geben wollten, liches Gold. Das kann ich wahrheitsgemäß sagen. Dreimal habe ich das
kam Nicolas der rettende Gedanke: Das geheimnisvolle Buch war doch Werk mit Hilfe von Perrenelle vollbracht; sie verstand es ebenso gut wie
von Abraham dem Juden für seine jüdischen Landsleute geschrieben ich, da sie mir bei meiner Arbeit geholfen hatte. Gewiss wäre auch sie,
worden. Und deshalb sollte eigentlich nur ein Jude in der Lage sein, es hätte sie das Werk ganz allein vollenden wollen, zuletzt ans Ziel gekom­
richtig zu lesen. So unternahm Hamei im Jahre 1378 eine Wallfahrt zum men. Ich hatte mehr als genug geleistet, nachdem ich das Werk einmal
Schutzheiligen auch der Alchemisten, zu St. Jago - dem Apostel Jacobus vollbracht hatte, doch fand ich gar großes Vergnügen daran, die wun­
- nach Compostela, das damals der wohl beliebteste europäische Wall­ derbaren Werke der Natur in den Gefäßen zu betrachten und darüber
fahrtsort war.^^ In Compostela waren ständig Menschen aus aller Her­ nachzudenken. Lange Zeit hatte ich Angst, Perrenelle würde ihre über­
ren Länder versammelt, und in Spanien gab es damals noch viele be­ schwängliche Freude nicht für sich behalten können und ihren Ver­
deutende Synagogen. Hamei konnte also hoffen, auch jüdische Gelehrte wandten von unseren großen Schätzen erzählen, denn überschwängli­
dort zu treffen. Seine fromme Pilgerfahrt, die so nützlich das Seelenheil che Freude raubt einem den Verstand ebenso wie allzu großer Kummer.
mit dem Wissensdurst zu verbinden schien, hatte allerdings anfangs, Aber die Gnade Gottes schenkte mir nicht nur Segen in meinem Werk,
zumindest was den Wissensdurst anging, keinerlei Erfolg. Doch nach sie hat mir auch ein verständiges Weib gegeben. Perrenelle war ver­
einem Jahr der Suche und bereits auf dem Rückweg nach Frankreich schwiegener, als es sonst die Frauen zu sein pflegen, und da sie außer­
traf Hamei jemanden, der ihm helfen konnte. Es war der Meister Can- ordentlich fromm war imd wegen ihres Alters keine Kinder mehr zu
ches, ein Arzt jüdischer Herkunft und christlichen Glaubens, der in der erhoffen hatte, fing sie gleich mir an, über Gott nachzudenken und sich
Geheimlehre der Kabbala bewandert war. Meister Canches erkannte, den Werken der Barmherzigkeit zu widmen.» (Federm. 167!.)
dass es sich bei dem Buch in Hamels Besitz um das verloren geglaubte, Übrigens scheint Hamei auch das Elixier des Lebens besessen zu ha­
kabbalistische Werk <Asch Mazareph> des Rabbi Abraham handeln ben, das vielleicht identisch war mit dem Elixier zur Metallumwand­
müsse. Allerdings hatte Hamei sein geheimnisvolles Buch nicht bei sich, lung, von dem er in seinen Erinnerungen berichtet. Jedenfalls wurde er
sondern nur einige Miniaturen daraus in Kopie. Canches und Hamei noch Anfang des 18. Jahrhunderts in Begleitung seiner Frau in Ostin-
beschlossen deshalb, gemeinsam nach Paris zu reisen, um dort mitein­ dien gesichtet
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Skeptiker meinen natürlich zu wissen, dass Perrenelle bereits am Chemisten. Schon Altmeister Zosimos hatte ja einen alchemischen
II. September 1397 gestorben ist und Flamel selbst am 22. März 1417. Traum. Im archaischen Denken gibt der Traum die Wirklichkeit wieder,
Es gibt auch Leute wie der Historiker Eric Holmyard, die glauben, dass und zwar nicht die Wirklichkeit unbewusster Seeleninhalte im Sinne
ein Notar, wenn er Verbindung zu hoch gestellten Kreisen hatte, sehr der modernen Psychologie, sondern die Wirklichkeit als das So-Sein der
wohl wohlhabend genug werden konnte, um im großen Stil als Mäzen Welt, ist doch das die Empirie des Tages Überschreitende, das Transzen­
auftreten zu können. Doch wie dem auch sei: Uns sollte hier und jetzt dente, die eigentliche Wirklichkeit, das eigentlich Wirkende. Der Plato­
mehr interessieren, was wir aus Hamels Text, der doch nicht nur aus nismus, in dem ja auch die Alchemie wurzelt, hat, indem er von der
völligem Unsinn zu bestehen scheint, heute noch machen können. Denn eigentlichen Wirklichkeit der Ideen redet, diese uralte Weitsicht auf eine
nicht nur hat Flamel eine reizvolle Geschichte von Geheimnissen, Irr­ philosophische Ebene gehoben.
fahrten und Reichtümern zu bieten, er hat sie auch in einen angenehm Was aber erfuhr Flamel denn nun über die Wirklichkeit, als ihm der
realistischen Stil gefasst, und sie ist gerade in der Fülle ihrer Details Engel der Verkündigimg - und das können wir ruhig so biblisch neh­
glaubhaft. men - im Traum erschien?
Aber obwohl sie als Autobiographie ausgegeben wird, enthält sie ver­ Nichts! Aber ihm wurde verheißen, dass er, Flamel, Träger der Wahr­
dächtig viele Elemente, die wie Versatzstücke aus anderen Berichten heit sein werde. Und das wiederum sagt nichts anderes als: Der Adept,
wirken. Auffallend ist ferner, dass in Flamels Bericht zwar verschiedene der wahre Alchemist, ist ein im wahrsten Sinne des Wortes begnadeter
alchemische Allegorien wiedergegeben, aber keine detaillierten chemi­ Mensch, wenn er auch um diese Gnade ringen muss. Und wir, wir ar­
schen Angaben gemacht werden. men Leser, die wir nicht im Zustand der Gnade sind, wir sind auf das
Man kann Berichte oder Geschichten dieser Art als <alchemische Er- Zeugnis der Begnadeten angewiesen. Das ist ohne Ironie gesagt und im
zählung> bezeichnen, als Erzählungen vom Schicksal alchemischer Ge­ Gedanken daran, dass das griechische Wort Martyros zu Deutsch <Zeu-
heimnisse und vom Schicksal ihrer Träger. Solche Erzählungen finden ge> heißt.
sich in der gesamten Geschichte der Alchemie, z. B. schon in den Schrif­ Aber weiter in der Reihe der charakteristischen Merkmale der alche­
ten des Demokritos, wo die Erzählung allerdings nur als Einleitung zu mischen Erzählung, in der wir als nächstes den <unbekannten Überbrin-
einer chemisch-alchemische Abhandlung dient. In der Frühen Neuzeit ger> bzw. <Verkäufer> einer geheimnisvollen Botschaft finden. Wie alle
dagegen werden die alchemischen Erzählungen immer reicher, immer Motive alchemischer Erzählungen kann man auch dieses von zwei Sei­
detaillierter und treten immer mehr in den Vordergrund. Dabei gibt es ten betrachten. Zum einen macht die Tatsache, dass er unbekannt bleibt,
zwei Versionen. Die eine möchte ich <geheimnisvolles Buch>, die andere den Verkäufer selbst zu einer geheimnisvollen Figur und nimmt ihn
<geheimnisvoller Mensch> nennen. Beide Versionen sind, und das ist gleichzeitig gewissermaßen aus dem Spiel, enthebt den Erzähler also
eigentlich untypisch, in Flamels Bericht verknüpft. Dazu kommt, dass dem Zwang, einen unabhängigen Zeugen benennen zu müssen. Zum
Flamel nicht nur in den Besitz des Geheimnisses gelangt, er kann das Zweiten lässt gerade die Tatsache, dass er geheimnisvoll ist, den Ver­
Geheimnis, das gewöhnlich identisch ist mit dem Stein selber oder mit käufer in die Rolle des Trägers einer transzendenten Wahrheit, sozusa­
einem Rezept zu seiner Herstellimg, auch entschlüsseln. Anders gesagt, gen in die Rolle eines Engels - Angelus als <Bote> - schlüpfen imd macht
er beherrscht den alchemischen Prozess, den er jederzeit wiederholen ihn gerade deshalb glaubwürdig.
kann und dessen Kenntnis er eigentlich schriftlich oder mündlich hätte Der indirekte, aber ziemlich deutliche Hinweis darauf, dass es die
weitergeben können. Genau das tut er nicht, und dennoch erfüllte seine Wahrheit gibt, dass aber nur Begnadete der alchemischen Weisheit teil­
Erzählung ihren Zweck, was sie übrigens auch zu einem Bestseller der haftig werden können, dass also nur in ihren Händen der Stein der
Zeit machte. Sie regte die Fantasie der Leser an, nährte ihre Hoffnung Weisen wahrhaftig ein Stein der Weisen ist, wird durch zwei weitere
und gab ihnen eine Gewissheit, die ihre Sehnsüchte und ihr Weltbild Motive verstärkt: Das Buch, das Flamel gekauft hat, ist in teilweise un­
zu bestätigen schienen. verständlicher, aber immerhin in Prinzip entzifferbarer Sprache ge­
Gehen wir nun die charakteristischen Merkmale der alchemischen schrieben, und es enthält gleichzeitig und in sehr verständlicher Form
Erzählung von Flamel der Reihe nach durch, so finden wir als Erstes eine feierliche Verfluchung all derer, die der Weisheit nicht würdig sind.
das Motiv des prophetischen Traums. Träume gehören bekanntlich in Interessant ist hier nicht, dass Flamel mit Selbstverständlichkeit an die
den Zuständigkeitsbereich der Schamanen, Magier, Wahrsager und - Wirksamkeit feierlicher Verfluchimg glaubt, interessant ist das durchaus
dies bereits seit ihren Anfängen - in den Zuständigkeitsbereich der Al- rationale, ja geradezu schlitzohrige und taktisch verständliche Vorge­
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hen, mit dem sich Flamel dennoch einen Zugang zu dem Geheimnis in tigte, sich im tiefsten Innersten als außergewöhnlich empfand, was
seinen Händen sucht. Wer, so fragt er sich, wird vom Juden Abraham leicht dazu führte, sich über kurz oder lang auch für begnadet zu halten.
mit Fluch bedroht? Antwort: Alle nur möglichen Menschen mit Aus­ Wenn sich der Erfolg nun dennoch nicht einstellen wollte, dann konnte
nahme von Opferpriestem und Schriftgelehrten. Mit <Schriftgelehrten> man sich in den Glauben retten, Schwierigkeiten seien das Normale und
sind natürlich ausschließlich die jüdischen Theologen gemeint. Aber man brauche - neben einem reinen Herzen - nur Geduld, um schließlich
Flamel hilft sich mit advokatenhafter Spitzfindigkeit: Ein Notar, und sei doch zum Ziel zu gelangen.
er noch so weltlich und stehe er dem Judentum noch so fern, ist schließ­ Bei seinen schier unendlichen und verzweifelten Bemühungen hatte
lich gelehrt im Lesen und Schreiben und damit ein Schriftgelehrter. Flamel eine Vertraute und Mitarbeiterin: seine Frau Perrenelle. Wenn
Übrigens verleihen gerade dieses kleine Hindernis und die praktische wir Flamels Bericht nicht als Autobiographie, sondern als alchemische
Vernunft, sprich: die Pfiffigkeit, mit der Flamel es umgeht, seinem Be­ Erzählung nehmen, dann repräsentiert Perrenelle nicht nur die liebende
richt auch heute noch ein Aroma von Glaubwürdigkeit. Ehefrau, die alle Geheimnisse ihres Mannes teilt, sondern sie steht auch
Auch Hamels Bemühen, sein eben gekauftes Buch zu verstehen, zeigt für die Soror mystica, die mystische Schwester des Adepten. Wenn wir
nüchternen Realitätsinn und suggeriert Glaubwürdigkeit. Er glaubt Perrenelle unter diesem allgemeinen Aspekt sehen, dann ist sie sowohl
nicht etwa an heilige Zeichen, wenn das bedeutet, dass sie prinzipiell die Verkörperung des weiblichen Teils im Wesen des männlichen Alche­
unverständlich sind, sondern er nimmt an, dass die für ihn nicht les­ misten als auch die Verkörperung der weiblichen Hälfte der Alchemie,
baren Partien des Buches in einer fremden Schrift mit fremdem Schrift­ in der die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips der
typ geschrieben sind. Materie ja zu Vollendung, zum Stein der Weisen führen sollte.
Mit dem gleichen Realitätssinn, der ihn schon bei der Beurteilung des Perrenelle unterstützt ihren Mann auch in seinem Plan, eine Wallfahrt
von ihm gekauften Buches geleitet hat, stellt er sich den schier über­ nach Compostela zu unternehmen. Diese Wallfahrt bindet gewisser­
menschlichen Schwierigkeiten, denen er auf dem Wege zum ersehnten maßen die alchemische Erzählung an ihre christliche Umwelt, und das
Ziel begegnet. Nun sind langwierige Berichte über viele vergebliche musste so sein, durften die religiösen Implikationen der Alchemie doch
Versuche, das Geheimnis, das man doch in gewisser Weise schon be­ in keinem alchemischen Traktat oder Buch fehlen. Der wahre Alchemist
sitzt, zu entschleiern, ein weiteres Charakteristikum alchemischer Er­ muss fromm sein, das war zumindest noch bis weit in die Frühe Neuzeit
zählungen. In unserem Falle sind die Irrwege und Fehlschläge, die sehr hinein imabdingbar für das Gelingen des alchemischen Werkes. Und in
an die Gefahren und Schwierigkeiten einer Initiation oder an das christlicher Umgebung ist unter wahrer Frömmigkeit natürlich christli­
Schicksal des Helden im Märchen erinnern, personifiziert in der Gestalt che Frönunigkeit zu verstehen, dies ganz unabhängig davon, ob sich
des Studenten Anselm, der sein Opfer zu immer neuen Anstrengungen, der Alcheirüst als Mitarbeiter am Schöpfungswerk und sogar als Erlöser
immer neuen Versuchen, immer neuem Laborieren anstachelt. Aber An­ der Materie begriff oder nicht. Sicher deshalb wird von Flamel beson­
selm ist jung und unerfahren, er kann gar nicht Lehrer in einem Lehrer- ders hervorgehoben, dass der um das Geheimnis der Alchenüe Wissen­
Schüler-Verhältnis sein. Seinem <Schüler> Flamel steht noch ein langer de, nämlich der Meister Canches, Christ ist.
Kampf bevor, er mühte sich ja im Ganzen 25 Jahre lang, aber ein langer Andererseits ist er Jude und personifiziert damit ein weiteres Charak­
Kampf deutet auf einen hohen Preis, er veredelt den Wert dessen, um teristikum alchemischer Erzählungen, den Hinweis nämlich auf die
das man kämpft, und wenn man endlich von einem Erfolg berichten Fremdheit und auf die uralten Quellen der Alchemie. Galten nicht Mo­
kann, stärkt das die Zuversicht, die Hoffnung des Lesers: Man braucht ses und Maria Prophetissa als Vater und Mutter der Alchemie?
eben nur Geduld und Treue zur Sache, um schheßhch zum Erfolg zu Das Geheimnis der Alchemie ist, hier sei es noch einmal betont,
kommen. wesentlich auch ein Geheimnis ihrer Herkunft. Sie ist die Prisca scientia,
Man könnte meinen, dies widerspräche der Behauptung, dass nur die uralte Weisheit schlechthin, und uralt meint hier geschichtslos, aus
begnadete Personen zum Ziel gelangen können. Unter dem Aspekt des mythischer Vorzeit stammend. Der Prisca scientia haftet die Unschuld
<Prinzips Hoffnung) ist die eine Aussage aber nicht unbedingt das Ge­ und Weisheit des Ursprungs an, und dafür hatte man im Spätmittelal­
genteil der anderen. Die Tatsache, dass nur Begnadete zum Stein der ter durchaus noch einen Sinn. Bis weit ins 18. Jahrhundert lebte, um
Weisen gelangen können, erklärt dem Leser, warum er nicht an allen es sehr verkürzt zu sagen, die europäische Menschheit bekanntlich von
Ecken und Enden erfolgreichen Goldmachern begegnet. Nun kann man zweierlei Mythen, dem Mythos von der paradiesischen Vergangenheit
voraussetzen, dass fast jeder, der sich ernsthaft mit Alchemie beschäf­ — und dem Mythos von der paradiesischen Zukunft. Beide Mythen ha­
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ben religiöse - in unserem Fall christlich-jüdische - Wurzeln. Sie er­ Unterwegs allerdings kommen uns schon gewisse Bedenken, und wir
scheinen dort als die Erzählung vom Garten Eden und als die Erzäh­ sind - seien wir ehrlich - ziemlich erleichtert darüber, dass wir das
lung vom paradiesischen Zustand nach dem Untergang der alten Welt Ehepaar nicht mehr antreffen. Sonst hätten wir uns doch gewiss ge-
mit der Heraufkunft eines Reiches des Friedens, als paradiesischer Zu­ zwimgen gefühlt, genau die Fragen zu stellen, die ein Oberinspektor
stand nach dem jüngsten Gericht bzw. beim Auftreten des wahren von Scotland Yard auch stellen würde, nämlich: ««Was ist wirklich pas­
Messias. Beide sind also angesiedelt in einer außerhistorischen Zeit. siert am Montag, dem 17. Januar 1382?» Und: ««Was hat sich am 25. April
Erst mit der zunehmenden Verweltlichung der europäischen Kultur desselben Jahres zugetragen?»
verschob sich der Akzent immer mehr auf paradiesische Endzeiten, die Genau das aber werden wir wohl nie erfahren, genau wie wir wahr­
historisch begriffen wurden, etwa das unselige «Tausendjährige Reich> scheinlich nicht mehr historisch einwandfrei ermitteln können, ob die
oder die klassenlose Gesellschaft. Dabei wurden zuweilen die Urzeiten Autobiographie des Flamel wirklich von Flamel geschrieben worden ist.
weiterhin glorifiziert, man denke nur an den glücklichen Wilden in Aber sie ist geschrieben worden und zwar tatsächlich irgendwann um
einer nicht arbeitsteiligen Gesellschaft. In unseren postmodemen Zei­ die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert. Und mit ihm, dem «eigentli­
ten hängt unser nüchterner und träger gewordenes Herz aber nicht chen) Autor der Biographie, wer immer das ist, sollten wir uns unterhal­
mehr an diesen Erzählungen von der beneidenswerten, fernen Vergan­ ten, irgendwo in einem Paris, wie Victor Hugo es in «Nötre Dame de
genheit oder Zukunft, der Traum ist aus, wir haben Mühe, den Reiz Paris», beschrieben hat. Bei einem Becher Wein wird uns der Unbekannte
der Prisca scientia zu begreifen, die ja auch die Weisheit einer uralten gern versichern, dass ein Schreiber imd Notar namens Nicolas Flamel
Zeit herübertmg, in der die Götter den Menschen noch nahe waren, tatsächlich in der Stadt lebt oder vor kurzem noch gelebt hat. Wir glauben
in der die Götter noch redeten. Die Stammväter und -mütter der A l­ ihm das, und wir finden ihn auch sonst vertrauenswürdig, obwohl wir
chemie, Hermes, Isis, Moses, sind Götter oder begnadete Gestalten, die natürlich wissen, dass er im Grunde unsere eigene Erfindung ist und sich
mit Gott reden konnten. nur durch die Wahrscheinlichkeit dessen, was er sagt, rechtfertigen kann.
Gerade in ihrer Berufung auf göttliche oder göttlich begnadete Ge­ So nehmen wir auch die Behauptung des Unbekannten als unbestreitbar
stalten erweisen sich die Urspmngsmythen der Alchemie als echte M y­ hin, dass dieser Notar namens Hamei geheimnisvolle Bücher besaß, dass
then: Sie brauchen keine Rechtfertigung. Zur Erklärung der Tatsache, er sich mit Alchemie befasst hat imd dass er wohlhabend genug gewor­
dass es die Alchemie gibt, antworten sie weder auf die Frage <Wamm?> den ist, um imponierende Summen für mildtätige Zwecke auszugeben.
noch auf die Frage <Wie?>, sie antworten auf die Frage <Woher?>. Und Skeptiker, die wir sind, wenden wir allerdings ein, dass das Geld nicht
da dieses «Woher? >als Drama der Götter dargestellt wird, das sich au­ unbedingt ein Beweis für erfolgreiche alchenüsche latigkeit sei und auch
ßerhalb der Geschichte abgespielt hat, steht es auch außerhalb begrün­ aus anderen Quellen hätte stammen können. Schließhch wurden Flamel
deter Zweifel. Nur in einem kulturellen Khma, in dem das außerhisto­ sogar Verbindungen zu Kreisen bei Hofe zugesagt. Aber unser Unbe­
rische Alter von Aussagen über die Welt Wahrheit bedeutete, ist der kannter wischt diesen Einwand zusammen mit einem halb vollen Becher
Drang zu begreifen, in unbestimmt alten Texten und unbestimmt altem Wein einfach vom Tisch. Für ihn sind die am Portal zum Friedhof der
Wissen, nur weil sie alt sind, Wahrheit zu vermuten. Heute, im Jahrhun­ Unschuldigen Kinder angebrachten Skulpturen und Gemälde aus dem
dert der Psychoanalyse, w o wir geneigt sind, das Außerhistorische nach Buch des Abraham Beweise genug, stammen sie doch aus den tiefsten
innen, in ein ungeschichtliches Unbewusstes zu legen, kann das Uralte Quellen wahrer Weisheit. Dennoch: Wir lassen nicht locker. Und da wir
auch als das Uralte der menschlichen Seele gedeutet werden, das seine n\m mal, ob wir wollen oder nicht und ob wir uns noch so echt mit Wams
eigene Logik und seine eigene Weisheit besitzt. imd Degen und Schnabelschuhen verkleiden, direkt aus dem 20. Jahr­
Unsere Analyse der alchemische Erzählung Nicolas Flamels hat aber hundert stammen, rücken wir nun doch mit unserer Scotland-Yard-Frage
zwei Fragen noch nicht beantwortet, die man an alle alchemischen Er­ raus: ««Warum behauptet Ihr, Herr Poeta, dass Meister Flamel an dem
zählungen stellen kann. Erstens: Wamm sind sie überhaupt geschrieben und dem Tag Blei in Silber oder in gutes Gold transmutiert hat, wenn Ihr
worden? Und zweitens: Wamm interessieren wir uns für sie? Man könn­ es doch unmöglich selbst erlebt haben könnt?»
te meinen, der beste Weg, eine Antwort auf zumindest die erste Frage ««Quid est veritas?», sagt der Unbekannte da, und, was uns besonders
zu finden, bestünde darin, Flamel selber zu befragen, und wir sollten irritiert, er sagt es ohne jede Ironie.
es m hig einmal versuchen. Wandern wir also zur Rue de Saint-Jacques- ««Quid est veritas?» - ««Was ist Wahrheit?», das ist für uns das eigent-
la-Boucherie, wo das Ehepaar Flamel wohnt. liche Problem alchemischer Erzählungen. Verwirrter denn zuvor starren
34« III. In Klöstern und andernorts Symbole in der Alchemie 349

wir unseren Unbekannten an, der still vor sich hin trinkt und sich wei­
gert, weiterhin auf irgendwelche Fragen zu antworten. Wir zahlen und 19. Symbole in der Alchemie
verlassen die Taverne mit dem sicheren Gefühl, dass er und wir im
Grunde aneinander vorbeigeredet haben. Was wir völlig aus der chemischen Erzählung des Nicolas Flamel aus­
Was halten wir eigentlich für wahr? Doch das, was mit den zu irgend­ gespart haben, das ist das Kapitel der Symbole, die doch für Elend und
einem Fall vorgelegten Fakten übereinstimmt, und auch irgendwelche Glanz seiner Laufbahn als Alchemist verantwortlich waren. Denn, wie
Seminare über den Wahrheitsbegriff in der Philosophie lassen uns nicht ein alchemischer Traktat sagt; «Habentibus symbolum facilis est transi-
davon abgehen. Wenn wir die Frage auf Flamels Autobiographie bezie­ tus.» - «Jenen, die das Symbol haben, fällt der Übergang leicht.» (Jung
hen, halten wir also das für wahr, was den historischen Geschehnissen (5) 268) Und dann ist alles ein Kinderspiel, ein Ludus puerorum.
entspricht, und zwar genauso, wie sie sich aus den ihnen vorhergehen­ In Flamels Erzählung ist deuthch genug, dass es sich bei den Schlan­
den Ursachen entwickelt haben. gen, den Quellen, den Blüten und Göttern tatsächlich nicht um bloße
Und was hielten mittelalterliche Menschen für geschichtlich wahr? Sie Metaphern, sondern um Symbole handelt. Bevor wir uns an eine Deu­
hielten das für wahr, was eine höhere Wahrheit, eine höhere Absicht tung machen, sollten wir uns noch einmal darüber klar werden, wie es
enthüllte. Denken wir an Legenden, dann können wir, sicher etwas ver­ im Raum der alchemischen Symbole überhaupt aussieht.
gröbernd, behaupten, dass die mittelalterlichen Gelehrten und Theolo­ Dieser Raum ist wie ein Spiegelkabinett; Deutlich auszumachende
gen stillschweigend eine <faktische Geschichte> von einer ihr übergeord­ Symbole, aber auch ineinander verkettete Symbolgruppen, Allegorien,
neten <wahren>, man kann auch sagen: didaktisch richtigen, Geschichte chemische Grundbegriffe und Fachbeschreibungen spiegeln sich inein­
unterschieden. Und die brachten sie ans Licht, indem sie das <innen ander. Und immer ist es ein <Symballein>, ein Zusammenwerfen. Wenn
Leben> der Geschichte einfach nach außen kehrten. Ist das eine Verge­ der Alchemist von Sol, Luna, Saturnus, Jupiter, Venus und Mars redet,
waltigung der Wahrheit? Kann man dem Dichter einer alchemischen nüt denen er chemische Umsätze durchführt, dann sind das chemische
Erzählung genau wie dem anonymen Alchemisten, der sein Herz und Grundbegriffe. Aber es sind damit noch nicht chenüsche Symbole, denn
seinen Verstand hinter dem Namen eines Größeren, als er es ist, ver­ chemische Symbole sollen doch in einer Umkehrung des alten, echten
steckt, nicht die gleiche - subjektive - Sündlosigkeit unterstellen, die Symbolbegriffs jede Mehrdeutigkeit ausschließen. In der Alchemie weiß
sich doch auch die frommen Diener Gottes damals ohne weiteres selbst man nie, ob nicht doch der zugehörige Planet oder ein kosmischer Ein­
zubilligten? Vielleicht sind, wenn nicht alle, so doch manche alchemi­ fluss oder sonst irgendetwas mitgemeint ist. Das setzt sich auch in Fach­
schen Erzählungen um einer Wahrheit willen geschrieben worden, die beschreibungen von Reaktionsverläufen fort, die oft allegorisierend ge­
sich in bloßen Fakten nicht erschöpft. fasst sind. So gibt es eine alchemische Bilderserie, in der wir einen Wolf
Wenn wir das als Antwort auf unsere Frage «Wie hältst Du's mit der sehen, der einen alten König verschlingt. In einem nächsten Bild wird
Wahrheit?» akzeptieren, dann können wir sie auch als Antwort nehmen der Wolf verbrannt, und aus den Flammen seines Todes entsteigt ein
auf die uns doch auf der Zunge liegende Frage nach dem Interesse, das Jüngling mit der Königskrone auf dem Haupte. Wenn wir wissen, dass
wir für alchemische Erzählungen aufbringen. Die alchemischen Ge­ Wolf für Antimon imd König für Gold steht, dann wissen wir auch, dass
schichten interessieren uns nicht, weil sie uns verraten, wie man den hier die Reinigung kontanünierten Goldes über eine Antimon-Legie­
Stein der Weisen herstellt, sie interessieren uns auch nicht, weil wir in rung beschrieben wird, bei der das Antimon schließlich nach Art eines
ihnen faktische Wahrheiten hinzulemen könnten, sie interessieren uns Kupellationsprozesses oxidativ abgetrieben wird. Der Alchemist aber
letztendlich deshalb, weil sie so schön exotisch sind und weil das Frem­ erlebt die Bilderserie, die wir als eine Reaktionsbeschreibung erkannt
de, Exotische alchemischer Erzählungen uns etwas über den Menschen haben, zugleich als ein Drama von Tod und Auferstehung und vielleicht
schlechthin lehrt, uns lehrt, dass der Mensch mit seinem Denken und sogar zugleich als eine deckungsgleiche Parallelgeschichte, die sich nun
Fühlen einerseits kulturabhängig ist, andererseits aber in jeder Kultur aber nicht auf die Chemie, sondern auf die medizinische Signaturenleh­
ein Wesen ist, das von Hoffnung lebt, von Hoffnung auf Erlösung, auf re bezieht. Von Paracelsus wohl stammt die Idee, dass, wenn Antimon
Befreiung, sei es Befreiung von materieller Not, Befreiung von körper­ krankes Gold heilen kann, es auch kranke Menschen heilen kann. Hier
lichen Leiden und vom Tode, sei es Befreiung von der bedrückenden ist also nicht die äußere Form oder Farbe das Merkmal einer Signatur,
Entfremdung von einer Natur, die unser Geist nicht wirklich fassen einer sich gegenseitig beeinflussenden Zeichenhaftigkeit, wie dies etwa
kann. Das ist die Weisheit des Steins der Weisen. bei der Abaunewurzel ist, deren äußere Gestalt als altes Menschlein
35° III. In Klöstern und andernorts Symbole in der Alchemie 351

langes Leben verspricht, hier ist der ganze chemische Prozess Signatur. Schwärzung, die Weißfärbung sowie die Rotfärbung, die Siebenzahl der
Vielleicht schwang dabei auch noch die Vorstellung mit, dass das Blätter eriimert an die Siebenzahl der Metalle und der Planeten. Hier
schwarze Antimon Urmaterie sei - Pseudo-Thomas z. B. bezeichnet es schimmert eine Zahlenmystik durch, die das alchemische Werk im Sin­
als solche - und dass es deshalb als heimlicher Stein angesehen werden ne der Makrokomos-Mi^okosmos-Theorie an kosmisches Geschehen
könnte. anbindet und damit auch legitimiert, also in die Vorstellimgswelt der
Gewiss galt der Wolf nicht als ein großes, als ein kosmisches Symbol, damaligen Menschen einpaßt. Neben der Zahl vier - Himmelsrichtim-
wie es der Ouroboros ist, dessen Kreisform uns andeutet, dass man gen, Elemente etc. - sind in dieser Vorstellungswelt die Zahlen drei und
unzählige Tangenten an ihn anlegen kann, die alle das Richtige berüh­ sieben besonders wichtig. Das zeigt sich auch in der Biographie Hamels,
ren. Und all die schier unzähligen Bezeichnungen und Decknamen für die sich als ein Spiegel der Zahlenmystik erweist. Unser alchemischer
den Lapis philosophorum und die Prima materia kann man ebenfalls Held hat 21 Jahre lang vergeblich laboriert, und nach einem Jahr der
als kosmische Symbole bezeichnen, weisen sie doch hin auf etwas, das Pilgerfahrt musste er noch einmal drei Jahre um das Geheimnis ringen.
nicht nur für sich steht, sondern auch Zeichen ist für den geheimen Bau Die jeweils siebten Bilder der drei Gruppen sind einem speziellen
des Kosmos. Ansonsten ist die Zahl der Symbole, Querbezeichnungen, Thema gewidmet: der Schlange. A uf dem ersten dieser Bilder erscheint
Decknamen, Bilder vor allem in den esoterisch-hermetischen Texten Le­ der Schlangenstab, das Wahrzeichen des Gottes und Urvaters der A l­
gion, eine Armee, die rekrutiert ist aus allen drei Reichen dieser Welt, chemie Hermes. Sein Stab, der Caduceus, kann für das philosophische
dem Reich der Minerale, der Pflanzen und der Lebewesen, und aus dem Quecksilber stehen. Die beiden Schlangen sind wohl anzusehen als die
Fabelreich dazu. Häufig beruhen die Symbole auf funktionalen Analo­ beiden seit arabischen Zeiten klassischen Erscheinungsformen der Ma­
gien wie im Falle des Wolfes. So können wir von einer funktionellen terie, nämlich als Schwefel imd Quecksilber. Man kann das Bild der
Analogie reden, wenn volatile Substanzen mit dem Symbol des Vogels Schlangen, die einander auffressen, als einen Hinweis dafür nehmen,
belegt werden, das nicht nur die Dampfphase, sondern auch den Geist, dass Schwefel und Quecksilber sich bei der Bildung eines Metalls in
das Pneuma der Materie, bezeichnet. Symbole aus dem Fabelreich, auch ihren Erscheinungsformen gewissermaßen vernichten. Deutet man aber
wenn sie ebenfalls auf Analogien zu bestimmten Funktionen oder auch den ganzen Caduceus über die Assoziation <Hermes gleich Mercurius
zu bestimmten Eigenschaften beruhen, sollen häufig das Paradoxon der gleich Quecksilber> als das so genannte philosophische, also das ideale
komplementären Vereinigung von Gegensätzen darstellen. So ist der Quecksilber, so würde dies ein Hinweis sein auf die reine Quecksilber­
geflügelte Drache die Vereinigung von Erde und Feuer, die Vereinigung theorie.
des Kriechens und seines genauen Gegenteils, des Hiegens. Sollte der Im zweiten der drei Bilder symbolisiert das Kreuz, an das eine
Drache zudem noch in bestimmten Farben gehalten sein, zeigen diese, Schlange genagelt ist, wahrscheinlich die Verfestigimg, also Fbderung
in welchem Punkt, in welchem Zustand des Prozesses sich diese Verei­ des Quecksilbers und damit auch die Körperwerdung des Geistes. «Es
nigung ereignet. Das höchste Paradoxon der Vereinigung wird ausge­ ist», schreibt Titus Burckhardt, ein moderner Anhänger der spirituellen
drückt im mäimlich-weiblichen Hermaphroditen, der - und hier sei eine Alchemie, dazu, «die Unterwerfung der beständig fließenden, in Wün­
längere Geschichte nur kurz angedeutet - Symbol des Kosmos und der schen imd Vorstellungen zerrinnenden Lebenskraft und zugleich die
Erlösung ist, aber auch Symbol des zu erwartenden Steines, denn Sym­ Verwandlimg des der Zeit ausgelieferten Denkens in ein ruhendes,
bole können sich sehr wohl auch auf andere Symbole beziehen. zeitloses Bewusstsein. Das Kreuz, an das die Schlange genagelt ist,
Aber zurück zu Hamei, können wir an ihm doch sehen, wie Symbole bedeutet den Leib, nicht als Heisch und Sinnlichkeit, sondern als Ab­
vom Alchemisten aufgenommen und verarbeitet wurden. bild des kosmischen Gesetzes, der unbeweglichen Weltachse.» (Burck.
Die größten Schwierigkeiten hatte Hamei ja mit den bildlichen Dar­ 188)
stellungen seines Buches, denn hier gab es keine Hoffnung auf schlichte Die Brunnen im dritten Bild schließlich, die inmitten von Wüsten
Ubersetzungshilfe oder erläuternde Umschreibung, waren die Darstel­ oder Wildnissen entspringen, und aus denen Schlangen hervorkriechen,
lungen doch von keinerlei Text begleitet. bedeuten, wenn man die Schlange als lebendige Natur schlechthin an­
Zur Erinnerung: Das Buch besteht aus dreimal sieben Blättern, die sieht, vielleicht die Wiedergeburt der geistigen, kosmischen Allnatur.
beidseitig beschrieben oder bemalt sind. Die Dreizahl und die Sieben­ Auch die Bilder auf dem vierten und fünften Blatt der ersten Gruppe
zahl besitzen ihrerseits schon symbolische Bedeutung. Die Zahl Drei sind durchaus nicht ganz imverständlich - so scheint es zumindest. Es
erinnert an die drei Hauptphasen des alchemischen Prozesses, die ^ in d vier Bilder, so w ie es im Weltbild der Alchemie vier Elemente gibt.
III. In Klöstern und andernorts Symbole in der Alchemie 353

Der junge Mann mit dem Caduceus auf dem ersten dieser Bilder ist
natürlich wieder der Gott Hermes bzw. Merkur. Der alte Mann mit den
Symbolen der Zeit und Vergänglichkeit, dem Stundenglas und der Sense,
der versucht, dem Gott die Füße abzutrennen, stellt Saturn oder das Blei
dar, das ja in Legierung mit Quecksilber dieses fixiert, also fest, bewe-
gimgsunfähig macht. Die weißen imd roten Blüten auf dem zweiten Bild
sind wohl Symbole des weißen und roten Elixiers. Man kann die Farben
dieses Bildes aber auch anders deuten. Seit Anbeginn der Alchemie in hel­
lenistisch-ägyptischer Zeit war, wie wir ja wissen, die Farbe ein Kriterium
für den Zustand der Materie, und der alchemische Prozess bestand ur­
sprünglich darin, eine bestimmte, feststehende Reihenfolge von Farben in
der Materie zu erzeugen. Die naturphilosophische Begründimg dafür war
mit den Jahrhunderten unsicher geworden, aber dass Farben im Prozess eine
entscheidende Rolle spielen, war fest in der alchemischen Tradition ver­
ankert. So mag das Blau des Busches für Schwarz stehen, der Natur einer
Pflanze entsprechend; als Dunkelstes, aber auch symbolisch Reinstes,
können Blumen ja nur blaue Blüten oder Früchte aber keine schwarzen
hervorbringen. Wie das Schwarz stünde das Blau hier als ein Symbol für
Dunkelheit, Nacht, Urmaterie, Chaos - und Hoffnung. Folgt man dieser
Auffassung, dann könnte man das Weiß der Blüten deuten als die Stufe
der Weißfärbung der Urmaterie zu einer Art Ursilber oder auch zum
weißen Elixier. Das Rot der Blüten müsste dann angesehen werden als
die Stufe der Rotfärbung, die zum Stein der Weisen, anders gesagt, zum
roten Elixier führt. Und die goldenen Blätter würden natürlich das Pro­
dukt der eigentlichen Transmutation bezeichnen, nämlich das Alchemi­
stengold. Die Drachen, die um den Berg herum hausen, der auf seinem
Gipfel den Busch trägt und gedeutet werden kann als Achse einer neuen
Ordnung, diese Drachen wären das noch Ungeformte und wären zu­
gleich die Drohung eines Scheitems im Werk. Natürlich erinnern sie
deutlich an den Ouroboros mit all seinen Implikationen.
Aber weiter zum nächsten, zum dritten Bild, das mir einige Kopfzer­
brechen bereitet. Dass die Quelle mit dem weißen Wasser einmal mehr
dem Quecksilber entspricht, ist bei der zentralen Rolle des Mecurius im
alchenüschen Werk wohl anzunehmen. Aber was bedeuten der Rosen­
strauch, was der hohle Baum und was all die Dinge, die auf dem Bild
geschehen? Burckhardt sieht die Wurzel des blühenden Rosenstrauches
als Seele, den hohlen Baum als Leib, aus dem das Wasser des Lebens
fließt, das die Menschen nicht zu halten wissen - außer dem Weisen,
Der Hermaphrodit als Symbol des «Steins der Weisen» und der Vereinigung der vier der seinen Wert erkermt. Einen chemischen Sinn aus dem Bild zu ma­
Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer, aus denen die Welt besteht. Sie sind dargestellt chen, ist wohl noch schwieriger. Vielleicht ist wieder gemeint, dass man
im Schild und im Ei - meist entspricht Erde der Eierschale, Luft dem Eihäutchen und den Wert des Quecksilbers erkennen soll und im Quecksilber das genau
den Lußbläschen, Wasser dem Eiweiß und Feuer dem Eigelb. (Salomon Trismosin: richtige Gewicht seines Idealzustandes in Form seiner Mediocris sub-
Splendor Solis, i6 . Jh„ The British Library, London) _stantia^ Der Kördg mit dem Krummschwert bietet ein noch kniffligeres
354 III. In Klöstern und andernorts Der Stein 355

Problem. Natürlich stehen er und seine Soldaten für den biblischen und vor allem mit simultanen Deutungen auf all den verschiedenen Ebe­
Kindsmord, Flamel sagt es ja auch. Aber welchen Sinn hat das vergos­ nen, die sich gewissermaßen zwischen Immanenz und Transzendenz
sene Blut in Hinblick darauf, dass Sonne und Mond in dem Blut der stapeln, nicht zurechtkommen. Wir glauben zu wissen, dass wir keine
Kinder baden? Am besten, wir halten uns hier an das, was Flamel selbst (Geister beschwören können, die uns dienstbar sind und uns vielleicht
dazu schreibt, der ja gerade dieses Bild für eminent wichtig hielt: auch sagen, was das alles um uns herum eigentlich bedeutet. Als Dienst­
«[Der Licentiat Anselm gab mir zu Antwort] das erste, dessen Bild da magd haben wir die Technik, und die kommt nicht aus der Rasche mit
stehe, sei zweifellos nichts anderes als das weiße und schwere Wasser, Salomons Siegel darauf, sie kommt aus der äußeren Natur, so wie wir
nämlich das Quecksilber, das man nicht festhalten und dessen Füße sie sehen. Unsere bewusst auf das technisch-experimentell Nachprüfba­
man nicht abschneiden, d. h. dem man die Rüchtigkeit nicht nehmen re eingeschränkte Deutung der äußeren Natur gelingt uns aber einiger­
könne außer durch jenes lange Kochen im sehr reinen Blute kleiner maßen zuverlässig nur da, wo diese Natur keinen eigenen Willen zeigt,
Kinder. In diesem Blut würde sich das Quecksilber, indem es sich mit also da, wo sie keine lebendigen und damit unberechenbaren Geister
dem Golde und dem Silber verbinde, zuerst samt diesen in ein Kraut hervorbringt. Im 17. Jahrhundert sollte Galilei, der Herold einer neuen
verwandeln, gleich jenem, das abgebildet war; danach würde es sich Naturdeutung, sagen:
durch Fäulnis in Schlangen verwandeln, die dann, nachdem sie völlig «Die Philosophie ist in jenem großen Buch niedergeschrieben, das
getrocknet und im Feuer gekocht worden seien, zu goldenem Pulver stets offen vor unseren Augen liegt, dem Universum. Aber wir können
zerfielen, das der Stein der Weisen sei. es erst lesen, weim wir die Sprache erlernt und uns die Zeichen vertraut
Das war Schuld daran, dass ich während der langen Zeit von 21 gemacht haben, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der
Jahren 1000 Pfuschereien anstellte, ohne jedoch Blut zu gebrauchen, was Mathematik geschrieben, deren Buchstaben Dreiecke, JCreise und ande­
bös und gemein wäre. Denn ich hatte in meinem Buch gefunden, dass re geometrische Figuren sind; ohne diese Mittel ist es dem Menschen
das, was die Philosophen Blut nannten, nichts anderes sei als der mine­ unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen; ohne sie irrt er in
ralische Geist, der in den Metallen enthalten ist, hauptsächlich in der einem dunklen Labjnrinth umher.» (Blum. 51)
Sonne, im Mond und im Merkur, die ich fortwährend zu verbinden Die geometrischen Figuren in Galileis Physik verweisen genau wie
trachtete. Die erwähnten Deutungen aber waren zum größten Teil mehr später die Symbole der Chemiker nur auf sich selber im Zusammen­
spitzfindig als wahr.» (Burk. 194) hang mit anderen Figuren oder Symbolen derselben Erkenntnisebene.
Die Deutung des Licentiaten Anselm war also ohne Zweifel falsch, Sie sind Mittel der Abstraktion und auch Mittel der Abstraktion vom
was sich aber erst ex post und im Grunde auch nicht durch den Misser­ Gewusel der inneren Natur des Menschen. Kein Wimder, dass Galilei
folg, sondern durch den Erfolg einer anderen Deutung herausgestellt keinerlei Neigung zu Alchemie hatte.
hat. Es boten sich also verschiedene Deutungsmöglichkeiten an, und
genau das ist unser Problem und nicht etwa, dass keine Deutung mög­
lich wäre. Ram el verrät nicht, w ie die richtige Deutung ausgesehen hat 20. Der Stein
und lässt uns auf dem Feld verschiedener möglicher und gleichberech­
tigter Deutungen allein. In denen, die sein oder ähnliche Bücher heißen Wenn wir in die Alchemie zurückkehren, öffnen wir ein anderes Buch
Herzens studieren, aber hinterlässt er eine Verlockung, einen Zwang zu der Natur als dasjenige, das Galilei gemeint hat. Hier ist fast jedes Wort
assoziativen Interpretationen, der sie immer weiter trägt wie in den mehrdeutig, und das mehrdeutigste unter ihnen ist das Wort <Stein>.
Galoschen des Glücks; ein Zwang, der schließlich zu Sucht werden \^elleicht gerade deshalb haben sich viele, vor allem die chemischen
kann, zu einer in immer anderen Kreisen um eine leere Mitte laufenden unter den Alchemisten, in ihrer Beschreibimg des Steins zurückgehal­
Leidenschaft. ten. Nur eines war sicher: Unabhängig davon, unter welchem Deck­
Wenn wir der Natur gegenübertreten, geht es natürlich auch um Deu­ namen der Stein der Weisen auch immer auftrat, ob als Basilisk - weil
tung. Allerdings fragen wir nicht mehr nach den Motiven, nicht mehr CT Quecksilber fixiert -, ob als Chamäleon - weil er über viele Farb­
nach dem Warum des Naturgeschehens, und wenn wir nach dem Wie wechsel entsteht -, ob als Salamander - weil er wie der sagenhafte
fragen, dann versuchen wir, eine Deutung des Naturgeschehens auf nur Salamander dem Feuer widersteht -, ob als Hermaphrodit oder gar als
einer Ebene, der Ebene der direkt oder indirekt sinnlich wahrnehmbaren Christus, er war immer materiell. Die Ablösung von der Welt, die er
Erscheinungen, zu geben. Wir tun das bewusst, weil wir mit Deutungen >^räsentierte, war ja zugleich eine Ablösung in der Welt. Und diese.
356 III. In Klöstern und andernorts Der Stein 357

die Welt des Alchemisten, war sinnlich, wie unsinnlich auch immer leicht in unterschwelliger Erinnemng an die Diplosis und Triplosis gin­
über die Seele und den Lieben Gott spekuliert werden mochte. Des­ gen andere weit über Geber hinaus und meinten, die Kraft des Steines
halb, so glaube ich, haben die Adepten getan, was ein mittelalterlicher durch Multiplicatio ins nachgerade Astronomische erhöhen zu köimen,
Gentleman oder gar eine mittelalterliche Lady gefälligst nicht tun soll­ was besonders deutlich zum Ausdm ck kommt in einem Satz von Ar-
te, deshalb haben sie sich die Hände schmutzig gemacht. Alles sirmlich naldus von Villanova, der ganz ähnlich wie Raimundus Lullus be­
Vorstellbare, alle Bilder deuten, wann immer sie eine Verwandlung, hauptet: «Wenn alles Meerwasser warmes Quecksilber wäre oder ge­
eine grundlegende innere Entwicklung durchmachen, auf die Ver­ schmolzenes unedles Metall, und wenn ein wenig dieser Medizin dar­
wandlung von Materie: Der Frosch im Märchen wird zum König, das auf geworfen würde, würde alles Wasser zu Gold oder Silber werden.»
Häufchen Asche wird zum Phoenix, die schwarze Brühe der Alchemie (Ganz. 179)'^°
wird zum edlen Metall. Jede Phantastik, wenn sie irgend vorstellbar Das Meer aus Gold übersteigt natürlich jede chemisch-technische
ist, ist Phantastik der Materie. Das Märchenhafte, das Phantastische, Glaubwürdigkeit, und so bietet ein Adept, der im Geiste des Joharmes
das Halluzinatorische, alles ist Verwandlung von Materie - von leben­ von Rupescissa und dessen (^uintessenzen-Lehre schrieb, eine natur­
der oder belebter, weil wandlungsfähiger Materie. Darum wohl ist der philosophische Erklärung für die völlig unproportionale Wirkung des
Stein auch im Mittelalter meist rot wie das Leben, ein rotes Pulver, Steines. Der Adept behauptet, der Stein sei in seiner Substanz in eine
seltener eine Flüssigkeit, und er besitzt das Vermögen der Verwand­ geistige Materie verwandelt worden, die bei den Philosophen Quintes­
lung. Und zugleich ist in den Begriff <Stein> als selbstverständliche senz heiße. Die Quintessenz habe die Eigenschaft, die Forma, also die
Behauptung eingeschlossen, dass er selbst stets unverändert bleibt: Er Summe aller Eigenschaften des Goldes, zu bilden und zu vollenden,
rostet nicht, er fault nicht, und er widersteht dem Feuer. und zwar bis ins Unendliche. Ein Teil verändere nämlich den anderen
«Nicht, weil er wie ein Stein ist, wird er Stein genannt», schreibt der und so fort bis ins Unendliche. Die Quintessenz ist also - so w ill er
Alchemist Thomas Vaughan im 17. Jahrhundert, «sondern nur, weil er hier sagen - nicht mehr etwas Materielles. Sie wirkt auf geistige
wegen seiner fixen [fixierten] Natur dem Angriff des Feuers so erfolg­ Weise und zwar ganz so wie die Form auf die Materie wirkt, schließ­
reich widersteht wie jeder Stein. Als Spezies ist er Gold, reiner als das lich kann man da ja auch nicht von Mengenverhältnissen reden.'^^ Und
reinste... Weim wir sagen, dass seine Natur spirituell ist, wäre das nicht so bleibt es für mich bei dieser Inkonsistenz: Das Verhalten der Sub­
mehr als die Wahrheit; wenn wir ihn als körperlich beschreiben, wäre stanzen im Prozess, der zum Stein der Weisen führt, ist ein grundsätz­
diese Bezeichnungsweise gleichfalls korrekt.» (Kauff. 71) lich anderes als das Verhalten der Substanz, die das Ziel aller Opera­
Er ist also Materie, aber Materie, die anders ist als alle andere. Sie ist, tionen ist. Bei ihr, dem Stein, ist gewissermaßen der existentielle
wie es in Traktat <Rosarium> heißt, ein «corpus per se subsistens, diffe- Sprung gelungen, er befindet sich auf einer anderen Seinsebene. Die
rens ab omnibus elementis et elementatis», «ein durch sich existierender Problematik bleibt uns auch dann, wenn nicht von der Forma, sondern
Körper, verschieden von allen Elementen und allen aus diesen Geschaf­ vom Stein als Goldsamen, vom Sauerteig oder ganz allgemein vom
fenen». (Jung (5) 260) Heil- und Erlösungsmittel die Rede ist.
Mit dem Lapis philosophorum als etwas Unverderblichem ist immer Während der genannte Adept, wenn Geber und einige andere noch
eine Ahnung von imsterblich und unsterblich machen verbunden: Der naturphilosophisch argumentierten und den Stein weiterhin im Bereich
Stein, wenn er als Elixier eingenommen wird, verjüngt in kürzester des E)enkbaren und vielleicht auch Plausiblen hielten, kann man das
Zeit oder er verleiht gar, sozusagen ohne weitere Umstände, die Un­ wahrhaftig nicht von allen ihren Kollegen sagen. Es geht fast iimner
sterblichkeit. Aber nicht immer in der mittelalterlichen Literatur findet genau spiegelbildlich zu: Je unbestimmter die Alchemisten in ihren Vor­
sich ein Hinweis auf das Arcanum, auf das Elixier, auf das nachgerade schriften zur Herstellung des Steins der Weisen sind, desto phantasierei­
ins Phantastische reichende Wundermittel, das vor Altem und Tod cher sind dieselben Alchemisten bei der Beschreibung ihres Produktes,
schützt. Meist steckt der ins Phantastische reichende Superlativ, mit und mit fortschreitender Zeit werden die Behauptungen über den Stein
dem diese Alchemisten den Stein über alle sonstigen Wunder der Che­ und seine Kräfte immer phantastischer. Es ist, als wenn die Alchemie
mie hinausheben, in den Angaben über die Mengen unedlen Metalls, in dem Maße, in dem sie ihre naturphilosophische Glaubwürdigkeit
die der Stein transmutieren kaim. Selbst Geber redet vom Tausendfa­ verlor, archaische Sehnsüchte an sich zog.
chen. Ansonsten bleibt er wohl bewusst undeutlich, werm er vom Weim wir versuchen, empirisch fundierte Aussagen aus dem Wust
«kostbarsten Arcanum», vom «unvergleichlichen Schatz» redet. Viel­ ^erJBehauptungen herauszuklauben, und uns also zunächst nicht zu
358 III. In Klöstern und andernorts Der Stein 359

weit in den Bereich der Phantastik vorwagen, dann stoßen w ir häufig Dieser Satz war sinngemäß auch den lateinischen Alchemisten be­
auf den Vergleich des Steins mit dem Karfunkel, der wie auch manch kannt. Er findet sich in dieser oder abgewandelter Form in vielen Wer­
anderer Edelstein selbst schon etwas Phantastisches an sich hat. Der ken der Alchemie. Übrigens wird seine Aussage auch heute noch durch
Sage nach leuchten Karfunkelsteine in der Dunkelheit, und vor allem die Praxis der Chemie bestätigt. Es hat sich nämlich gezeigt, worauf
besitzen sie die Eigenschaft, den, der sie bei sich trägt, unsichtbar zu Ganzenmüller hinweist, dass die Nachahmung der Goldfärbung der
machen. Der Carbunculus und das ist schlicht die kleine Kohle - von Metalle durch Verwendung einer geringen Menge Gold erleichtert wird.
Carbo - ist ohne Farbe, d. h. schwarz wie Prima materia, und zugleich (Ganz. 178)
glühend rot wie es der Stein zu sein hat. Pseudo-Lullus soll den Stein Im Mittelalter nun gab es eine Schule der Alchemie, die von der nahe­
u. a. Carbunculus genannt haben, was nach dem, was wir über die Be­ liegenden Vorstellung ausging, der wahre, der philosophische Mercuri-
deutung von Wortähnlichkeiten wissen, ja nicht erstaunlich ist. Für uns us bzw. der Sulfur oder die harmonische Einheit beider müsse doch
haben Karfunkel und erst recht Kohlen natürlich nichts Magisches an wohl im Gold und Silber enthalten sein, zu deren künstlicher Herstel­
sich, für uns handelt es sich bei den Karfunkeln um dunkelrote Granate lung sie ja dienten. Man müsse dieses Eigentliche aus den Edelmetallen
oder um Rubine. Granate sind Silikate der allgemeinen chemischen Formel ausziehen und multiplizieren, und das sei dann der Lapis philosopho-
Me^MejCSiO^jj. Der rote Pyrop, der auch als Karfunkel gilt, besitzt die rum. Anfang des 14. Jahrhunderts vertrat z. B. der Engländer John Da-
Formel Mg^Aj2(SiO^)3. Rubine sind eigentlich etwas ganz anderes, näm­ stin genau diese Vorstellung, und zwar als eine Variante sowohl der
lich rot gefärbte Aluminiumoxide, fielen im Mittelalter aber in dieselbe hellenistischen bzw. stoischen Samenvorstellung als auch der reinen
Kategorie. Das sei erwähnt, weil der Karfunkel auch imter technischen Quecksilbertheorie, ging er doch davon aus, dass das Eigentliche, das
Gesichtspunkten dem Stein der Weisen nahe stand. Bereits Ar-Razi hebt man ausziehen müsse, der Mercurius sei.
die Ähnlichkeit des Elixiers nüt dem Karfunkel hervor, und sicher dach­ Die Metapher des Sauerteigs bei Zosimos, die doch auf Organisches
te er dabei an künstliche Rubine. Zur Herstellung künstlicher Edelsteine deutet, und die Metapher der Medizin bei Geber erinnern uns daran,
verwandte man nämlich bereits im alten Ägypten gewisse Metalloxide, dass der Stein der Weisen ja häufig auch als Allheilmittel galt. Eine gute
die man in das Glas einschmolz. Z. B. wurde ein künstlicher Smaragd Zusammenfassung aller genannten Aspekte bietet im 14. Jahrhundert
mit Kupferhammerschlag, d. h. mit Kupferoxid hergestellt, und für ei­ Hortulanus (Martinus Ortulanus) in einem sehr beliebten Kommentar
nen künstlichen Topas verwandte man Bleiweiß, also Bleicarbonat. Zur zur <Tabula smaragdina>:
Herstellung des Rubins oder Karfunkels aber wurde zuweilen schon in «Es wird ein roter, klarer, fließender, schmelzender und im Feuer be­
diesen alten Zeiten Gold vorgeschrieben. Anders gesagt, bereits die ara­ ständiger, färbender imd verwandelnder Stein entstehen, der den Mer­
bischen und mittelalterlichen Alchemisten hatten wohl eine Ahnung kur imd jeden festen und weichen Körper durchdringt und zu wahrer
davon, dass es möglich sein müsse, mit Hilfe von Gold eine Glasmasse goldmachender Substanz färbt, der jeden menschlichen Körper von al­
rot zu färben und damit Rubine herzustellen. Und es ist auffallend, dass ler Schwachheit reinigt und in der Gesundheit erhält, das Glas hämmer­
Raimundus Lullus in seinem <Lapidarius> für die Herstellung des Steins bar macht und die Edelsteine tiefrot färbt wie ein Karfunkel.» (Ganz.
der Weisen ganz dieselben Vorschriften macht wie für die Herstellung 178)
des künstlichen Rubins. Natürlich ist hier die zu färbende Grundmasse Da haben wir also einige Eigenschaften des Lapis philosophorum, die
nicht etwa Glas, sondern sie ist eine aus der Prima materia durch die noch weniger zu beweisen, d. h. plausibel zu machen sind als seine
alchemistische Arbeit gewonnene Substanz. Erst Johann Kunckel, der Fähigkeit zu transmutieren. So sollte wie gesagt der Stein Glas hämmer­
Ende des 17. Jahrhunderts Goldrubinglas herstellte, glaubte nicht mehr bar, d. h. duktil machen, übrigens in der gleichen Art, wie auch Bocks­
daran, danüt den Lapis in Händen haben. blut Glas erweicht. Vielmehr steht im Hintergrund dieser Behauptung
In den Bereich der Überlegungen, die zum Goldrubinglas führten, lediglich die allgemeine Aussage, dass der Stein weiche Metalle zu Gold
fällt auch der uralte Gedanke, das Gold selbst als Ausgangssubstanz zur erhärte und harte Metalle zu Gold erweiche.
Herstellung des Stein der Weisen zu verwenden. Erinnert sei in diesem Die Funktions-Analogie des Lapis mit dem Bocksblut sollte uns zu
Zusammenhang an den Samen des Goldes bzw. des Silbers und an den denken geben. Hätte nicht jedermann die Sache nüt dem Bocksblut
Satz von Zosimos: «Wie eine kleine Menge Sauerteig eine große Menge nachprüfen können? Das möchte ich bezweifeln und will uns damit auf
Teig zum Aufgehen bringt, so bringt auch eine kleine Goldmenge das die Gedankenwelt der lateinischen Alchemisten zurückführen. Wo alles
Ganze zur Gärung.» (Hopk. (2) 65) komplex, d. h. nicht zwingend definiert war, konnte man keinen unum­
360 III. In Klöstern und andernorts Der Stein 361

stößlichen Beweis gegen eine nur scheinbar leicht zu widerlegende Be­ Monat lang gedauert, so heilt er an einem Tag, eine einjährige Krankheit
hauptung Beibringen. Vielleicht wirkt nur das Blut von bestimmten in zw ölf Tagen, eine noch längere in einem Monat. Den Greis macht er
Böcken, vielleicht wirkt das Blut nur zu bestiimnten, astrologisch fest­ wieder zum Jüngling. Der Stein ist also das Leben schlechthin. Und hat
gesetzten Zeiten, vielleicht ist nur dieses Glas ein Glas und jenes nicht, nicht auch der lateinische Lullus davon gesprochen, dass eine Winzig­
vielleicht spielte die Selbstüberzeugung für den Erfolg eine Rolle, viel­ keit des Steins die Trauben schon im Frühling reifen lässt?
leicht die Reinheit des Herzens dessen, der mit dem Bocksblut hantiert Als Prinzip des Lebens wird der Stein vom 14. Jahrhundert an zum
..., vielleicht, vielleicht, vielleicht. Und so konnte man immer sagen, die Wundermittel schlechthin: Wer ihn bei sich trägt, dem kann niemand
Prüfung sei nicht am rechten Ort zur rechten Zeit mit dem rechten Ma­ widerstehen. Nicht nur, dass eine Rüstung aus Gold, das durch Pro-
terial durch den rechten, den richtig Laborierenden erfolgt. iectio hergestellt worden ist, unverwundbar macht, eine Drachme, d. h.
A uf die Gefahr hin, dass Wiederholungen schließlich eintördg wer­ rund 5g des Steins, auf ein Pferd gelegt, lässt auch alle Pferde im wei­
den, kann man das auch allgemeiner ausdrücken. Man kann sagen: Un­ ten Umkreis wiehern. Während einer Gerichtsverhandlung unter der
sere heutige Wissenschaft lebt davon, dass sie Prognosen über isolier­ Ztmge gehalten, bringt er den Prozessgegner zum Schweigen - ohne
bare Ereignisse unter kalkuherbaren und kontrollierbaren Bedingungen dabei gleich so unhöflich weit zu gehen wie der Basilisk. Salomon
macht, wobei nicht kalkulierbare Bedingungen als irrelevant ausge­ Trismosin zufolge kann der Stein nicht nur Glas erweichen, mit seiner
grenzt werden. Basis der harten Wissenschaften, zu denen auch die Che- Hilfe kann man auch jeden Menschen entdecken, wo immer er sich
nüe gehört, ist dabei ihre Reproduzierbarkeit, unabhängig von Zeit und verstecken mag, und die Sprache der Tiere versteht man auch. Das
Raum. Damit aber sind große Bereiche des Lebens aus der Wissenschaft eriimert an die Schamamen und auch an die Helden der Märchen, die
ausgeschlossen, auch wenn Disziplinen w ie die Chaos-Forschung und durch irgendeine - in dem Märchen meist vorausgesetzte - Gnade
Elementarteilchenphysik an den Randgebieten der klassischen Wissen­ oder Initiation wie Odin mit seinen Raben die Sprache der Vögel deu­
schaften versuchen, in das Neuland der Komplexität vorzustoßen. Ge­ ten können. Im <Buch der Heiligen Dreifaltigkeit» macht der Stein, in
rade aber weil die Alchemie die Komplexität der Natur und des Lebens der Hand gehalten, unsichtbar, was ihn deutlich in die Nähe des Kar­
in eben dieser Komplexität belässt, kennt sie der Natur und deren Äuße­ funkels rückt. Wird er in ein dünnes Tuch gelegt um den Leib getragen
rungen gegenüber zwar keinerlei Beschränkungen, keine Enge, kein und fest an den Körper gedrückt, sodass er warm wird, so trägt er den
Ausblenden, aber auch keine Sicherheit. Menschen hoch in die Luft, wohin er will. Möchte der aber nieder­
Und wenn man schon solche Behauptungen wie die Geschichte mit schweben, so braucht er nur den Stein vom Körper wegzuziehen. Das
dem Bocksblut nicht widerlegen konnte, wie sollte man dann widerle­ klingt natürlich nicht nur nach einer Beinahe-Erfindung des Heißluft­
gen, dass der Stein der Weisen auch medizinische Wirkungen haben ballons, sondern auch sehr nach schamanistischen Levitationserlebnis­
konnte? Der Gedanke, dem Stein der Weisen auch übermächtige Heil­ sen und nach Hexerei.
kraft zuzuschreiben, lag ja, wie schon oft betont, nahe. Erstaunlicher als Der Stein ist höchste Geistigkeit und höchste Materialität zugleich.
die Tatsache schlechthin ist es, dass der Gedanke vom Elixier nüt allen Der Unterschied zwischen beiden bleibt offen und gleichzeitig ge­
Konsequenzen erst in der arabischen Alchemie auftauchte, und dass im schlossen und macht die Erscheinungen, in der wir ihn erspüren, un­
lateinischen Abendland erst Roger Bacon deutlicher von der lebensver- bestimmt, wenn auch nicht beliebig ausdeutbar, und gleichberechtigt,
längemden Wirkung der alchemischen Medizin spricht, sagt er doch in wenn auch nicht gleichwertig ausdeutbar. Wir sind im Bereich einer
seinem <Opus maius>: Unio mystica des menschlichen Geistes mit der materiellen Außenwelt,
«Die Medizin, die alle Unreinigkeiten und Verderbnisse des geringe­ die historisch auch darin begründet ist, dass häufig in der medizini­
ren Metalls wegnähme, kann nach der Meimmg der Weisen die Verderb­ schen Mystik der Mensch nicht nur als Mikrokosmos, sondern auch
nisse des menschlichen Körpers soweit beseitigen, dass sie das Leben als Quinta essentia des Kosmos dargestellt wird. Glanz und Elend al-
auf viele Jahrhunderte verlängern würde.» (Ganz. 181) chemischen Denkens, so scheint mir, liegen darin, dass es genau das,
Bei Bacon ist dieser Gedanke noch vage und wird durchaus vorsich­ diese höchste Geistigkeit und zugleich höchste Materialität, dingfest
tig geäußert. Der alchenüsche Am aldus im 14. Jahrhundert ist da viel niachen will. Derlei Dinge aber, die man da <festmacht>, derlei <Tatsa-
konkreter: Der Stein heilt alle Krankheiten, führt das Gift vom Herzen chen> köimen nur monströs sein. Daher die geflügelten Drachen, die
weg, befeuchtet die Luftröhre, löst das in der Lunge Enthaltene, besei­ Moormänner, die Hermaphroditen, daher auch die Luftfahrten und
tigt Geschwüre. Hat die Krankheit - die nicht definiert wird - einen das alberne Gewieher der Pferde.
362 III. In Klöstern und andernorts und sein Unterbau 363

Bei all den Phantastereien, die den Stein umgeben, ist es nicht so, dass fengenheit in Raum und Zeit. Enger gefasst kann Erlösung Befreiung
er etwas völlig Unsagbares wäre, handelt es sich doch bei ihm immer sein von Krankheit und Tod, ja auch nur Befreiung sein vom schieren
um etwas Materielles. Aber er ist zugleich ein Hinweis, ein Hinzeigen Gewicht des Leibes, das uns immer wieder zur Erde zieht, und das doch
auf etwas, das nicht zu definieren, nicht einzugrenzen ist. Im Grunde auch den Olympiasieger letztlich schwerfällig macht. Erlösung kann
kann man nur über das Hin-Zeigen reden. Dabei zog der Stein in dem Befreiung sein von imserer Vereinzelung, von unserer Geschlechtlich­
Maße, in dem sich die Alchemie im Laufe ihrer Geschichte von ihren keit, genauer: unserer Halbgeschlechtlichkeit, die uns in Leid und Lust
historischen Anfängen entfernte, archaische, tief unten im Menschen zu einem Mängelwesen macht. Erlösung kann Befreiung auch von Ar­
liegende Wünsche an sich, die ja durchaus nicht intellektuell sind, son­ mut sein, wenn die Gesellschaft, in der wir leben, uns keine Möglichkeit
dern prälogisch, man kann auch sagen kindlich, und die das nicht lo­ bietet, ihr zu entfliehen. Und auch die Befreiung von Süchten, denen
gisch in eine Ebene Gezwungene, das Paradoxe, sehr wohl ertragen wir auf der Suche nach Erlösung unterliegen, kann eine Erlösung sein,
können. Die ebenfalls aus der Tiefe der Geschichte stammenden Volks­ ebenso wie die Befreiung von Sehnsüchten, die sich in Vorurteile flüch­
märchen können uns das lehren. Auch sie machen ja das Unmögliche ten. Schließlich, aber die Liste ist unendlich, kann die Befreiung von
zum Selbstverständlichen. unserer eingeborenen Unwissenheit, die uns nicht einmal Sicherheit
Und die psychologischen Implikationen solcher Erlebnisse sollten wir über die nächste Minute unserer Existenz bietet, und allgemein von der
ebenfalls nicht vergessen, verbarg sich doch unter den kindlichsten Ma­ Unsicherheit über imser Sein in der Welt eine Erlösung sein. Es geht um
nifestationen des Steines auch ein Urphänomen des Menschen, ja das, Befreiung, um eine völlige, bedingungslose Befreiung vom Unfertigen,
was den Menschen zum Menschen macht: das Wissen um Grenze und ohne dass wir immer wissen, was <unfertig> eigentlich ist. So braucht
Tod und die Sehnsucht nach Erlösung. A u f den psychologischen Hin­ wohl ein jeder Erlösung von seinen jeweils anderen Dämonen, es sei
tergrund des Lapis philosophorum sei später noch eingegangen, hier denn, er hieße Herr Karlsson vom Dach, stamme aus einem BCinderbuch
aber ist der Ort, das Wort Erlösung als den zentralen, wenn auch nie von Astrid Lindgren und sei ein schöner und grundgescheiter und ge­
direkt ausgesprochenen, den immer im Dunkeln gehaltenen Zentralbe­ rade richtig dicker Mann in seinen besten Jahren. Aber wer heißt schon
griff der Alchemie ins Licht zu stellen. Karlsson vom Dach?
Warum aber haben die Adepten von dem, was sie meinten, nicht
geredet, auch da, wo sie wohl nicht in Verlegenheit gewesen wären, das
rechte Wort zu finden. Warum blieb das Wort <Erlösung> meist im Dun­ 21. und sein Unterbau
keln?
Nun gibt es Kulturen, in denen die Erlösung im religiösen Zentrum Doch auch wenn man auf dem Dach lebt, und sei es noch so hoch:
steht, etwa im Christentum und im Islam, und es gibt Kulturen, von Immer ist man mit der Erde imter sich verbunden.
denen behauptet wird, dass in ihren Religionen die Erlösung keine Rolle Und so bleibt uns noch, vom Fundament des Lapis zu reden, das in
spiele. Im Bereich der beiden klassischen Erlösungsreligionen ist das gewisser Weise bereits er selber ist. Gemeint ist die Prima materia.
Schweigen der Alchemisten natürlich verständlich, denn die beiden Re­ Aber ist sie nicht etwas ganz anderes? Ist sie nicht schwarz und der
ligionen bieten ja jede einen Erlösungsweg in Gehorsam gegenüber ih­ Stein rot? Ist sie nicht der Anfang des Großen Werkes und der Stein das
ren Lehren an, zu dem die Alchemisten in gefährliche Konkurrenz tra­ Ende? Ist sie nicht das, auf das eingewirkt wird, während der Stein
ten. Aber unabhängig davon, und das betrifft Kulturgebiete, die diese einwirkt?
Probleme nicht haben, scheint kaum ein Adept sich bemüßigt gefühlt Natürlich müssen wir <Ja> sagen, aber zugleich sollten wir nüt unse­
zu haben, über die Erlösung philosophieren, und zwar deshalb, weil es rem Ja vorsichtig sein. Wir bewegen uns im Bereich der alles durchzie­
doch so offensichtlich immer um die Befreiimg nicht von partikulären, henden Polaritäten und damit im alchemischen Bereich der Opposita
sondern von allgemeinen, von grundsätzlichen Zwängen, und es also samt ihrer Conversiones, Coniunctiones, Coincidentiae. Denn: Was ist
immer um Erlösung ging. Wer philosophiert über das Atmen, wenn er die Urmaterie? Und wo ist sie? Urmaterie ist überall, wo überhaupt
atmet? Materie ist, schon deshalb, weil sie im aristotelischen Sinne der Träger,
Aber was im weitesten Sinne heißt Erlösung? Es heißt doch wohl: die Substanz, das <Daruntergestellte aller irgendwie sinnlich wahr­
Befreiung von existentiellem Zwang. Und das kann Befreiung von den nehmbaren, aller materiellen Eigenschaften ist. Das Überallsein, die
Bedingungen unserer Körperlichkeit schlechthin sein, von unserer Ge- Ubiquität der Prima materia ist aber zugleich ein Nirgendwosein: Was
364 III. In Klöstern und andernorts Das Charakterbild des Alchemisten 365

eigenschaftslos ist, das ist auch nirgends feststellbar. Das betrifft genau­ Schwärze erinnert, aber auch an Samen, Zeugung und dergleichen. Sa­
so auch die Zwitterstellung des Steins; wertlos, immer da, und kann men und Zeugung aber sind der Anfang eines Prozesses, der Anfang
doch der höchste, niemals schwankende, unveränderliche und zugleich eines Weges, so wie Tod und Fäulnis sein Ende sind. Es ist ein Weg des
unerkannte Wert sein, den es gibt: «Zu Ihm [Christus] kommt als zu Zu-sich-selbst-Kommens, ein Suchen mit der Ahnung, schon gefunden
dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei zu haben. Und zugleich ist es ein bereits Da-Sein, ein Angekommen-
Gott ist er auserwählt und köstlich.» (i. Petr. 2, 4) Sein. In diesem <zugleich» liegt im Übrigen auch das Geheimnis des
Doch zurück ins Profane. Die Sünde wider Aristoteles, also zu be­ religiösen Ritus.
haupten, man könne die Prima materia rein darstellen, ist zugleich das Ähnlich verwirrend steht es, zumindest in Hinblick auf die Bezeich­
Geheimnis der Alchemisten. Einerseits haben sie die Urmaterie nicht, nungen, mit dem zweiten Produkt des alchemischen Prozesses, dem
andererseits aber doch. Einerseits ist die Materia schwarz, eigenschafts­ materiellen Ergebnis der Leukosis, dem <Alchemistensilber». Man mag
los und tot, andererseits enthält sie potentiell alle Farben und alle Ei­ es aber auch, so versichert uns Pernety, Mercurius nennen, doch dieses
genschaften, weshalb man aus eben dieser Materia den alles seienden, <unser Quecksilber» kann genauso gut für die Prima materia stehen.
alles könnenden Stein der Weisen machen kann. Sie ist wie der Uran­ Für Quecksilber allein gibt es nach Pemety mindestens fünfzig Namen,
fang, w ie das Chaos, und aus dem Chaos kann alles entstehen. Alles in und für <Weiß» oder <das Weiße» gibt es noch eine ganze Kompanie
einem, Hen to pan, das wäre dann die ja einheitliche Prima materia. mehr.
Und das wäre auch der ja einheitliche Lapis philosophorum. Die <Erste Man kann das ganze Argumentengewebe, das sich auf die Prima ma­
Materie», das <Erste Agens», wie Flamel sagt, ist also in gewisser Weise teria oder das gesamte Magnum magisterium bezieht, nun auf den La­
schon der Stein der Weisen. Für viele Alchemisten wie für Flamel be­ pis philosophomm übertragen. Was Wunder, dass Pemety für den Stein
stand die eigentliche Mühe darin, das Erste Agens zu finden; der Rest Zigdutzende von Namen aufführt, die alle - oder fast alle? - irgendet­
ist vergleichsweise ein Ludus puerorum. was bedeuten, irgendetwas symbolisieren. Pikanterweise sind unter den
Was aber symbolisiert die Prima materia? Und durch was wird sie Namen etliche, die von den Adepten auch in Zusammenhang mit Vor­
s)nnbolisiert? stufen des Steins verwandt wurden.
Antwort: Da sie genau wie der Lapis philosophorum alles in einem Eines allein ist sicher: Stein imd Prima materia sind überall und nir­
ist, symbolisiert sie den Lapis und überhaupt alles, was es in dieser Welt gends, sind ubiquitär, so wie das Zentmm und der Ausgang ein Laby­
gibt, und wird ihrerseits von allem symbolisiert, vielleicht vom einen rinths, in dem man herumirrt, überall sind und nirgends.
deutlicher, vom anderen weniger deutlich, aber im Prinzip von allem.
Das erklärt sicher auch, warum es unübersehbar viele Namen für die
alchemische Urmaterie gibt. Antoine Pemety, der als Mann der Aufklä­ 22 . Das Charakterbild des Alchemisten
rung versucht, die Dinge sine ira et studio zu beschreiben, drückt es so
aus; Was waren das nun für Menschen, die sich auf ein Labyrinth der Welt
«Die Philosophen, stets darauf bedacht, ihre Materie und ihr Verfah­ einließen, in dem der Stein wie der Sand der Wüste war, und in dem
ren geheim zu halten, bezeichnen unterschiedslos als <ihre Materie» die sie dennoch eine Oase suchten?
Materie selbst in allen ihren Zuständen. Sie geben ihr zu diesem Zweck Vergessen wir zunächst einmal, dass es ja - irüt stufenlosen Übergän­
viele besondere Namen, die ihr nur im Allgemeinen zustehen, weshalb gen - zwei Typen des Alchemisten gab, den protochemischen und den
noch nie irgendein Gemisch so viele Namen gehabt hat [ wie diese hermetischen, und fragen wir den lateinischen Geber, was er denn von
einfache Substanz]. Sie ist eines und alles, sagen sie, weil sie das Grund­ einem Alchemisten fordert, der im Labor an Herd und Lesepult seinen
prinzip aller Gemische ist. Sie ist in allem, sie ist allem ähnlich, weil sie Mann steht.'^^ - Kurz gesagt ist es: Mens sana in corpore sano. Der Alche­
alle Formen [d. h. Eigenschaften] annehmen kann, aber sie ist nur das, mist muss gesunde Glieder haben, er darf nicht blind oder verstümmelt
solange sie noch nicht irgendeiner Spezies von Individuen der drei Rei­ sein imd auch nicht krank, er darf kein Fieber haben und keinen Aus­
che der Natur zugewiesen wurde.» (Eco i ii ) satz. Und altersschwach und dem Tod nahe sollte er natürlich auch
Die Prima materia ist also alles, aber nichts im Konkreten. Man kann nicht sein.
sie benennen und symbolisieren, wie man will, wenn es nur an einen Der Hinweis auf eine robuste Konstitution hatte schon seinen Sinn,
Anfang, einen Urzustand, also irgendwie ein Tod oder Fäulrüs oder wenn man daran denkt, dass der laborierende Alchemist seine Zeit an
366 III. In Klöstern und andernorts Das Charakterbild des Alchemisten 367

heißen Öfen in oft von giftigen Gasen und Dämpfen erfüllter Luft zu­ Naturwissenschaften. Umso wichtiger wird es sein, später unter den
brachte. Die Gefährlichkeit etwa von Quecksilberdämpfen war bekannt, Stichwörtern <Erfahnmg> und <Experiment> näher nachzufragen, was
aber das Wissen brachte nicht etwa gut funktionierende Abzüge mit die Entdecker der Doppelhelix von den Entdeckern des Steins unter­
sich. Quecksilbervergiftungen konnten zu nervöser Unruhe, Zittern, scheidet.
Reizbarkeit, Gedankenflucht und Schlaflosigkeit führen. Andere Vergif­ Einen wesentlichen Unterschied zwischen dem typischen Alchemi­
tungen kamen sicher auch vor, unter ihnen solche, die zu Halluzinatio­ sten und dem typischen Naturwissenschaftler können wir aber hier
nen führten, aber von einer bewussten Einnahme von Drogen, die ja schon festhalten, die Berufung auf Gott. «Unsere Kunst wird gegeben
auch nur Demiurgen künstlicher Paradiese wären, ist nichts bekannt. von der göttlichen Macht», schreibt Geber, «imd Er, der der glorreichste
Ein Alchemist mit gesunder Seele hat dergleichen nicht nötig. und erhabenste ist, voll aller Gerechtigkeit und Güte, Er gibt sie und
Aber der Seele wird noch anderes abverlangt: entzieht sie, wem immer Er will.» (Newm. 266, 640)
«Wer ... keinen natürlichen Scharfsinn und keine differenzierte Seele Man hat sich also in Demut zu üben. Aber mit der Demut ist das so
besitzt, wenn er die Prinzipien und Grundlagen der Natur erforscht eine Sache, wenn sie mit dem Gefühl der Gnade, des Begnadetseins
und die Techniken, mit denen er die Natur in den Eigenschaften ihrer verbunden ist. Wer von dem schwärmt, was er tut, und dann noch
Handlungen verfolgen kann, der wird die wahre Wurzel dieser so behauptet, nur er könne es tun, der spiegelt sich im eigenen Glanz. Und
kostbaren Wissenschaft (Scientia) wie so viele lücht finden, die einen so wird die sanfte Überheblichkeit der Adepten so manchem Normal­
harten Kopf haben, leer von jeder scharfsinnigen Vorstellungskraft, die bürger auch vergangener Zeiten ziemlich unerträglich gewesen sein. Es
kaum einen normalen Diskurs verstehen ... Wir finden viele unter ih­ war ein für das Gleichgewicht der Seele gefährliches Spiel, das der A l­
nen, die eine simple Seele haben und jeder nur möglichen phantasti­ chemist spielte, und dies nicht nur in den Augen derer, die nicht nüt-
schen Vorstellung anheim fallen; aber das, was sie selbst entdeckt zu spielen wollten oder konnten oder die einmal mitgespielt hatten, und
haben glauben, ist alles phantastisch und stimmt mit der Vernunft sei's nur als Bankhalter, und dabei reingefallen waren. Erst recht ge­
nicht überein, voll von Irrtümem und fern von den Prinzipien der fährlich war es in den Augen derer, die ahnten, was geschehen konnte,
Natur. Denn ihr Kopf, erfüllt von viel Rauch, kann die wahre Absicht wenn sich die Göttliche Kunst und die Gnade und die Hoffnung und
der Dinge der Natur nicht erfahren. Und ferner gibt es viele, die eine das <Fast> all der halben Erfolge zu einer unauflöslich Einheit verban­
bewegliche Seele haben, die von einer Meinung zur anderen springt, den, wie es z. B. mit dem zugleich lächerlichen und tragischen Kanoni­
von einem Wunsch zum anderen; das sind z. B. jene, die nur eine Sache kus in Geoffrey Chaucers <Canterbury Tales> geschah: Er ahnt sich im
glauben und sie haben wollen ohne irgendeine Basis in der Vernunft, Besitz des letzten Geheimnisses, so vieles, das er in den Büchern der
aber die ein bisschen später etwas anderes glauben und es stattdessen Alten Weisen gelesen hat, deutet es ihm doch an. Da gibt es innere
haben wollen. Diese Männer sind so beweglich (mobilis), dass sie Beziehungen, die nur noch aufgedeckt zu werden brauchen, da gibt es
kaum die kleinste Sache, die sie beabsichtigen, durchführen können gewisse Effekt im Labor, die alle auf dasselbe hinweisen. Da ist das
und sie stattdessen unvollkommen lassen.» (Newm. 257^, 636f.) Aufsteigen der Quinta essentia im Alembik, da ist der Wechsel der Far­
Eine Neigung aber ist besonders gefährlich für den ernsten Sucher ben, da ist die endlich gelungene Fixierung des Quecksilbers, all das
nach dem Alchemistengold, imd das ist die Neigung zum Geiz: deutet ihm doch an, dass der Kanonikus auf dem richtigen Weg ist, dass
«Und es gibt andere, die Sklaven des Geldes (Servi pecuniae) sind, er von der Suche erlöst sein wird, alles, aber auch alles deutet ihm an,
während sie diese wundervolle Wissenschaft ersehnen und sie auch dass er im Nachhinein Bestätigung finden wird für alle seine Mühen,
bejahen, aber die sich scheuen, die notwendigen Auslagen zu machen.» eine herrliche, eine geradezu übermenschliche Bestätigung. Und dass
(Newm. 258, 637) er's bisher nicht geschafft hat, das lag nicht an der fehlenden Gnade,
Was seine Geistesverfassung angeht, so ist es wichtig, dass der Alche­ die sich doch auch jetzt schon, wenn auch verhüllt, gezeigt hat, das lag
mist «ein gutes Temperament hat und sich wenig von Ärger hinreißen daran, dass er nicht lange genug destilliert hat, das lag daran, dass Tag
lässt, damit er nicht in einem Wutanfall sein gerade angefangenes Werk und Stunde nicht die richtigen waren, das lag daran, dass ihm im letz­
beschädigt und zerstört». (Newm. 264, 639) ten, im entscheidenden AugenbUck dieser Kolben da zerbrochen i s t ...
Ist das, was Geber uns hier als Idealbild vorstellt, unser verrückter bn Übrigen hat er das Gold, das Rot doch schon einmal aufschimmem
oder romantischer oder romantisch-verrückter Mönch? Das ist eher ein sehen, er hat es gesehen ...
Francis Crick oder James Watson oder ein ähnlicher Held der modernen In diesem Wechseltanz der Hoffnung konnte so manch einer sein
368 III. In Klöstern und andernorts Das Charakterbild des Alchemisten 369

Leben minieren - und das seines Schülers dazu, denn zum Image des Aber es gab noch andere Gründe, warum Edelmetallbedarf im
Alchemisten gehört es, einen Schüler zu haben, auch wenn dies de facto Abendland gegen Ende des Mittelalters wuchs und zwischen 1390 und
gewiss nicht immer der Fall war. Die Anrede an den Schüler ist schließ­ 1415 zu einer gewaltigen Liquiditätskrise führte. Einer davon ist der
lich eine Haltung, die dem Lehrer ansteht, und die Traktate zur Alche­ Orienthandel, der im Wesentlichen nicht als Tauschhandel, sondern als
mie waren ja gedacht als Lehrbücher, aber als Lehrbücher, die von der Handel gegen Bargeld verlief. Für die Gewürze, die Seide und die
Natur der Sache her nicht alles sagen konnten. Nur der <liebe Sohn> Perlen, welche die Großhändler aus den arabischen Ländern bezogen,
würde verstehen. Vor den Nichtverstehenden aber muss gewarnt wer­ mussten sie in Gold und Silber bezahlen. Anfang des 15. Jahrhunderts
den, und das sind nicht nur die Schreiberlinge, die behaupten, Adepten war die Krise schließlich so groß, dass mancherorts Bleimünzen aus­
zu sein, das sind im Gmnde alle. «Ich hasse das gemeine Volk und halte gegeben werden mussten. War da die Suche nach dem Seeweg nach
es mir vom Leibe» - «Odi profanum vulgus et arceo», sagt schon Horaz, Indien - und zwar <falschherum> - etwas wesentlich anderes als die
und die Warnungen nicht nur vor dem Sophista sind ein Standard-Muss Suche nach dem Gold, das nicht aus fernen Bergwerken, sondern aus
mittelalterlich-alchemischer Werke. Die Gründe sind uns ja bekannt, un­ der Retorte des Alchemisten kommt? Das eine wie das andere Aben­
ter ihnen als wichtigster und geradezu ritueller: Ein Geheimnis zerstört teuer war gefährlich - für beide Seiten, weniger allerdings für die Kö­
sich selber, wenn es aufgedeckt wird: nige, die das Geld ausgaben, als für die Admiräle oder Alchemisten,
«Die erste Vorschrift ist, dass der Arbeiter in dieser Kunst schweig­ die es verbrauchten.
sam und verschlossen sein muss und sein Geheimnis niemandem eröff­ «Man sollte sich vor allem in Acht nehmen», beschwört Pseudo-Al­
nen darf, weiß er doch sehr gut, dass, wenn viele dämm wissen, das bert seine Leser, «sich in irgendeiner seiner [alchemischen] Operationen
Geheimnis keinesfalls bewahrt wird, und wenn es ausgeplaudert ist, mit Fürsten oder Potentaten einzulassen, wegen zweier Übel: Wenn du
wird es mit Irrtum behaftet wiederholt. So wird es verloren gehen, und dich verpflichtet hast, werden sie dich von Zeit zu Zeit fragen, <Meister,
das Werk wird unvollkommen bleiben.» (Hein. 12) wie gelingt es dir? Wann werden wir etwas Gutes sehen?>, und sie wer­
Das Geheimnis wird also auch für den zerstört, der es einmal besaß. den, weil sie nicht in der Lage sind, auf das Ende des Werkes zu warten,
Im Spätmittelalter und zunehmend in der Neuzeit kommt noch ein sagen, es ist nichts, es ist Betrug und dergleichen, und du wirst die
Weiteres hinzu. Alchemisten verdingten sich an Auftraggeber, der Hof­ größten Unannehmlichkeit haben. Und wenn du nicht zu gutem Ende
alchemist des Fürsten entstand. Und da war ein selbst gestrickter Pa­ kommst, wirst du deshalb ewigen Unwillen erregen. Wenn du jedoch
tentschutz sehr wohl angebracht. zu gutem Ende kommst, werden sie daran denken, dich auf immer bei
Übrigens verdient diese Entwicklung auch auf Seiten der Auftragge­ sich zu haben, und dir nicht erlauben fortzugehen, und so wirst du
ber unser Interesse. Wamm ließen sie, die ja nicht lernen, die ja den durch deine eigenen Wort verstrickt und gefangen von deinen eigenen
mühseligen Weg des Alchemisten nicht selbst gehen wollten, sich auf Ausführungen.» (Goltz 62 f.; Heines 13 f.)'^^
das Spiel mit dem künstlichen Golde - und ihrem echten Golde - ein? Kein Wunder, dass die Alchemisten - die wahren Alchemisten - nicht
Das könnte Zusammenhängen mit dem Aufkommen der Städte einer­ gerade zum geselligen Teil der Menschheit gehörten. Die meisten ernst­
seits und andererseits mit dem Niedergang des Rittertums zugunsten haften Alchemisten waren wohl Einzelgänger, grüblerisch und viel mit
der Territorialfürsten, die sich mehr und mehr auf Landsknechtshaufen sich selbst beschäftigt, was sie gewiss schon damals für ein geübtes
stützten. Diese rechneten nicht etwa Vasallentreue gegen Land, sondern Auge von den flinken Betrügern imd Goldmachern unterschied. Der
Vertragstreue gegen Geld. Nur Fürsten, die reich genug waren, konnten Volksmund sagt es ja heute noch: Wer den Muffelofen bedient, ist ein
sich solche Truppen leisten, genau wie einige reiche Städte, die sich Muffel. Weder in theologicis noch in politicis waren die Alchemisten ge­
ganze Mannschaften irgendwo einkauften - samt ihren Trainern. Der sellig, und sie haben, soviel wir wissen, auch nie irgendwelche geheime
Condottiere Bartolomeo CoUeoni z. B., der im 15. Jahrhundert im Solde oder offene Bünde im Stile der Initiations-Sekten der Spätantike gegrün­
Venedigs stand und dessen wunderbares Reiterstandbild heute den det. Kurz, wie potentiell brisant ihre Gedanken auch waren, so theolo­
Campo Santi Giovanni e Paolo schmückt, war solch ein Star des Sports gisch und politisch ungefährlich waren sie auch. Die Alchemisten waren
von damals - samt entsprechendem Einkommen. Seit aus Rittern Land­ eben eine Randerscheinung, u. a. deshalb, weil sie das, was sie erstreb­
sknechte wurden und aus Landsknechten Söldner, werden eben, wie ten, ohne äußere Hilfe und bestenfalls noch für den <geliebten Sohn>,
Napoleon gesagt haben soll, Kriege vor allem mit drei Dingen gewon­ nicht aber für irgendein Kollektiv erreichen wollten. Die berühmte Gol­
nen: Geld, Geld, Geld. Kurz, der Bedarf an Edelmetall stieg und stieg. dene Gasse oder Zlatä ulicka in Prag ist kein Gegenbeweis fröhlicher
37° III. In Klöstern und andernorts Die heilige Dreifaltigkeit 371

Cliquenbildung, wenn dort auch unter Kammerdienern und kleinen Wir wissen nicht viel über Ulmannus, aber wir wissen, wo und wann
Hofleuten einige Alchemisten hausten. Die Anziehungskraft des Kaisers wir ihm begegnen können. Reisen wir also in die Reichsstadt Konstanz
Rudolf II. hatte sie an diesen Ort in der Nähe des Hradschin verschla­ und wählen dazu die Zeit zwischen 1414 und 1418, in der im heute noch
gen, wohl in der Hoffnung, den Sprung in die höheren Hofkreise zu existierenden Kaufhaus ein allgemeines, auf Initiative des Königs und
schaffen - wie etwa Michael Maier, der uns nicht nur deshalb noch späteren Kaisers Sigismund einberufenes Konzil tagte. Man kann als
beschäftigen wird. Auch Kongresse ä la <Turba> in der Hauptmoschee Prophet im Nachhinein das Konzil zu Konstanz als den letzten - und
in Fes sind kein Beweis dafür, dass die Alchemisten permanente Grup­ gescheiterten - Versuch auffassen, das Mittelalter zu retten. Es ging um
pen gebildet hätten, etwa in der Art von Zünften. Die Alchemie war ein die administrative Einheit der Kirche - drei Päpste wurden zugunsten
<freier Beruf>, nicht gebunden an irgendwelche Zunftsatzungen und da­ eines vierten abgesetzt -, es ging um die Einheit des Glaubens - der
rum auch nicht gebunden an irgendwelche <Qualitätskontrollen>. Was Reformator Johannes Hus wurde um dieser Einheit willen auf dem
ja so mancher Scharlatan ausnutzte. Scheiterhaufen geopfert - und es ging um den Kreuzzug gegen die in
Das Stichwort Scharlatan sollte uns daran erinnern, dass es neben Europa vordringenden Türken. Grund genug, alles, was Kirche und
dem wahren Alchemisten auch immer den alchemischen Gauner gab, Reich an wichtigen und mächtigen Männern zu bieten hatte, nach Kon­
der übrigens oft die Züge des Protochemikers trug. Je nach Gutgläubig­ stanz zu rufen.
keit oder Skepsis, Hoffnung oder Enttäuschung erscheinen die Variatio­ Unter den vielen Geistlichen, die mit ihren roten, schwarzen und
nen des Adepten und des Scharlatans oft isomorph und in lückenloser braunen Soutanen das Stadtbild beherrschten, werden wir auch einen
Mischkristallreihe miteinander kombinierbar. Viele Alchemisten, die sicher etwas finster dreinblickenden Mann in der braunen Kutte der
wir für Betrüger, bestenfalls für sich selbst betrügende Betrüger halten Franziskaner entdecken, von dem wir wissen, dass er an einem Buch
würden, zeigen genau die gleiche Melange von Demut und Überheb- mit alchemisch-theologischem Inhalt schreibt. Im Jahre 1419 wurde das
hchkeit wie die wahren Alchemisten. Ihnen aber diente sie als Mimikry. <Buch der Heiligen Dreifaltigkeit> dem Burggrafen Friedrich von Bran­
Die Behauptung oder das einfach von beiden Seiten vorausgesetzte Wis­ denburg, einem der mächtigsten Fürsten des Reiches, übergeben, nach­
sen darum, dass der Nicht-Begnadete alchemischem Tun überhaupt dem König Sigismund bereits während des Konzils eine Kurzfassung
hilflos gegenüberstünde, konnten misstrauische Auftraggeber vom La­ erhalten hatte. Die Wahl der Adressaten für sein Buch kam nicht von
bor fern halten. Außerdem konnte der Gauner die geheuchelte Demut ungefähr, denn Ulmannus ging es darum, die Fürsten für den Kampf
vor dem schier Übermächtigen, mit dem er rang, ausnutzen, um Zeit um den Glauben zu begeistern. Vielleicht, weil er sich an Nicht-Theo­
zu schinden, Irrwege und Fehlschläge zu begründen. logen wandte, hat Ulmannus sein Werk deutsch geschrieben.
Heute natürhch wären wir bedeutend schlauer als die dummen Für­ Worum ging es darin? Zunächst um die Befestigung des Glaubens,
sten und Prälaten psychologisch ungebildeter Zeiten. Wir würden wobei sich Ulmannus selbst am Rande der Häresie bewegte. Für ihn
stracks erkennen, dass sich der Adept von seinem Affen im Charakter­ nämlich bilden Maria und die menschliche Seite Christi eine Einheit,
typ grundlegend unterscheidet: Der wahre Adept ist introvertiert, sein wodurch sie zum «die gancze herlikeit heilige driualdikeit spigel in
Affe dagegen extravertiert. Bloß, w ie so oft, steckt der Teufel auch hier seiner mensscheit» (Junk. 140) werden, was aber auch bedeuten kann,
im Detail. dass aus der Trinität eine heimliche Quatemität wird."^^ Mit der Einheit
von Jesus und Maria habe Gottvater, so meint Ulmannus, einen göttli­
chen Menschentypus geschaffen, der allein gewissermaßen im Verhält­
2 j. Die heilige Dreifaltigkeit nis Mensch zu Mensch in der Lage sei, den Menschen von seiner Sün­
denlast zu befreien.'^ 5 Symbol dieser Befreiungstat ist das alchemische
Es gab aber auch Alchemisten, genauer gesagt: Männer im Mantel der Werk mit seinen sieben Operationen: «Mortificiren ist töten, sublimiren
Alchemie, die keine Betrüger waren und dennoch genau den Anschluss ist auff dreyben, distiUiren ist wasser zuempfaen, calciniren ist brennen,
an Fürsten gesucht haben, vor dem Pseudo-Albert so nachdrücklich dissoluiren ist zuflisen, tingiren ist zuferben, coaguliren ist zudrucken.»
gewarnt hat. Ein Beispiel dafür, w ie man das Magn\im opus geradezu (Junk. 187)
als politisch-religiöses Propagandamittel einsetzen konnte, bietet der Die sieben Operationen werden dabei in Beziehung gesetzt zu den
FraiYziskanermönch Ulmannus mit seinem <Buch der Heiligen Dreifal- sieben Metallen, den sieben Grundtugenden, den sieben Planeten und
tigkeit>, das in mehrerer Beziehung unser Interesse verdient. den sieben Wunden Christi,'^^ sodass eine dichte Verquickung, um nicht
37i III. In Klöstern und andernorts Die heilige Dreifaltigkeit 373

zu sagen Verfilzung, von Alchemie und Theologie entsteht. Auch die Heitere Stimmung ist wohl kaum mit einem prinzipiellen Hass auf
Astrologie wird einbezogen, indem jede von sieben Doppelstunden ei­ die Unkeuschen und Ungläubigen zu verbinden, zu dem sich Ulman­
nem Planeten bzw. einem Metall zugeordnet ist, worauf der Zyklus der nus vor allem gegen Ende seines Buches hinreißen lässt, nachdem er
Zuordnung von neuem beginnt. Im Laufe der Woche steht also jede Stun­ anfangs noch verkündet hat, dass Gut und Böse in jeder Menschenbrust
de des Tages sukzessive unter jedem der sieben Planeten. Im Siebener­ beisammenwohnen. Die Weisheit der Alchemie, die nur dem Begnade­
schema läuft auch der Herstellungsprozess des Steins ab, wenn auch der ten zuteil wird, beweist den rechten Glauben, beweist die rechte Weit­
etwas wirre Text wenig Hinweise darauf gibt, wie das vor sich gehen soll. sicht, und wer den Lehren der Begnadeten nicht folgen will - aus
Immerhin kannte Ulmannus einige chemische Substanzen wie Zinnchlo­ Schwäche wie die Unkeuschen oder aus Verblendung wie die Häretiker
ridöl (SnCl^), von dem man lange geglaubt hatte, es sei erst im i6. Jahr­ und Ungläubigen -, der ist mit Feuer und Schwert zu bekämpfen. In
hundert von Andreas Libavius (Spiritus fumans Libavii) gefunden wor­ einer Version von 1472 ist es der König und spätere Kaiser Friedrich,
den, außerdem Salpetersäure, die er durch trockene Destillation von Sal­ der dieses Schwert führen soll, wonüt sich Ulmannus oder der Bearbei­
peter mit Alaun und Vitriolen gewann und die als Scheidewasser zur ter seines Werkes aber einen falschen Adressaten ausgesucht hatten.
Trennung von Gold und Silber diente, ferner Eisen-, Kupfer- und Zink­ Bekanntlich galt Friedrich III. als die Reichsschlafmütze und hat nüt
vitriol und andere Stoffe mehr, wie etwa Weinstein und Antimon. Er wohldosierter Trägheit sicher so manches Unglück verhindert.
wusste, modern gesprochen, dass Chloride Silber fällen und dass sie, Dem Fanatismus des Ulmannus stand ein inneres Streben entgegen,
wenn sie in Salpetersäure enthalten sind, deren Scheidewirkung aufhe- das gerade in der Alchenüe seinen Ausdruck finden konnte. Es ging
ben. Auch in anderen Beziehimgen beweist er chemische Kenntnisse, ihm vor allem um die Vereinigung, und unter Vereinigung ist hier stets
obwohl nicht klar wird, ob er selbst je laboriert hat. Jedenfalls hat auch eine Vereinigung von Polaritäten gemeint. Im Bereich der Mystiker, zu
er es nie zum Stein der Weisen gebracht, obwohl doch in seinem Buch denen wir Ulmannus vor jeder psychologischen Deutung seines Verhal­
der Lapis eines der drei großen Themen neben dem des Kampfes zw i­ tens einmal zählen wollen, ist das höchste Ziel die erfahrbare Verbin­
schen Gut und Böse und dem der Vereinigung der Gegensätze ist. Wie dung mit der Gottheit, die Urüo mystica. Der Partner dieser Unio kann
man den Stein herstellt, sagt Ulmannus jedenfalls nicht. Wir müssen uns aber nicht das ganz Andere sein, sondern er ist der andere Pol des
nüt dem Hinweis auf chemische Substanzen und dem Hinweis darauf Menschlichen. Und hier gewinnt die Gestalt Marias eine besondere Be­
begnügen, dass Sol und Luna und als vereinigendes Medium Mercurius deutung. Sie repräsentiert nicht nur das Weibliche als Partner des
eine entscheidene Rolle spielen. Aber Ulmannus kennt den Stein genau; Männlichen, sie repräsentiert auch das Menschliche als Partner des
denn er, der arme Franziskanermönch, eines Knechtes Knecht, gehört bei Göttlichen. Darum muss sie keusch und sündlos sein. Da sie aber nur
aller lauthals verkündeten Demut zu den Auserwählten, die ihn kennen Mensch ist, kann sich in ihr der Gegensatz zum Göttlichen nicht aufhe-
dürfen. Der Stein ist Gott gleich, und da er durch den Tod gegangen ist ben. In ihrem Sohn aber geschieht genau das. Die menschliche Seite
- Mortificatio -, um schließlich Vollkommenheit zu erreichen, ist er auch Christi ist Maria, die göttliche Seite ist Gottvater. Nun bedeutet <aufhe-
wie Jesus. Weil der Stein alle Tugenden in sich umfasst, kann er alles ben> nicht gegenseitige Schwächung und Angleichung zu einer andro-
verwandeln, alles erlösen. Also ist er auch ein Elixier, eine Panacea, ein gynen Masse, in der das Individuum seine Identität verliert, weil es kein
Universalheilmittel. Dabei unterscheidet Ulmannus wie schon andere Gegenüber findet. Im Gegenteil, die Aufhebung bedeutet die höchste
vor ihm zwischen einem weißen und einem roten Stein. Beide heilen alle Entfaltung des Männlichen und des Weiblichen in Einem, sie bedeutet
Krankheiten, das rote Elixier aber vertreibt die Kälte, das weiße die Hitze, die paradoxe Vereinigung, die nichts nimmt imd nur gibt, wie ja auch
was ja mit den traditionellen Beziehungen von männlich und weiblich die geschlechtliche Vereinigung etwas Paradoxes an sich hat, bringt sie
zusammenhängt. Zu den physikalischen Kunststücken, die dem Stein doch das Ich zu sich selbst, indem es sich dem Nicht-Ich hingibt: Der
von Ulmannus zugeschrieben wurden, sei nur ergänzt, dass er seinen Gegensatz löscht sich aus, ohne es doch zu tun - im Augenblick, der
Besitzer nicht nur unsichtbar machen kann, sondern ihm auch die Fähig­ sich der Ewigkeit zu öffnen scheint. Ausdruck dieser paradoxen Verei­
keit verleiht, den Zeitpunkt seiner Offenbarung selbst zu entscheiden - nigung ist der Stein der Weisen in seiner Erscheinungsform als Herm­
wie Gott. Wenn man da nicht die Schlange des Paradieses zischeln hört! aphrodit.
Der Stein besitzt aber auch eine so harmlose wie wichtige Eigenschaft, Das Symbol des Hermaphroditen hat zwar nur in bestimmten Epo­
die der gequälten Seele des Ulmannus sicher gut getan hätte: Er versetzt chen der Alchenüe Pronünenz besessen, aber es scheint doch der beste
in ständig heitere Stimmung. Ausdruck für die dunklen Sehnsüchte vieler Alchemisten gewesen zu
374 III. In Klöstern und andernorts Die heilige Dreifaltigkeit 375

sein, dies vor allem in der Frühen Neuzeit, als das Weltbild des Mittel­ wenden kann. Ähnliches würde dann auch für einen Vergleich mit Pro­
alters, in dem Symbol und Faktum noch in eins gesehen wurden, zer­ blemen der Religion gelten, insbesondere in Hinblick auf die Frage nach
bröckelte. In dieser Situation nämlich wurde die Alchemie zu einem der dem Sosein Christi. Im Bereich der Alchemie bietet ims der Hermaphro­
letzten Bollwerke der <Beweisbarkeit> des Transzendenten, und dies dit das Paradoxon einer nichtidentischen Identität in vollständiger Dis­
ganz handfest in der Materie. Bei Beweisen dieser Art geht es um etwas, junktion, vorausgesetzt, wir sehen den Hermaphroditen nicht in unse­
das das Faktische übersteigt, also transzendiert, und das geschieht bei rem Weltverständnis als ein fiktives, im Geiste des Alchemisten aus zwei
der Intergration von Grundbefindlichkeiten, die polar einander aus­ Entitäten zusammengefügtes Gebüde an. Für die abendländischen A l­
schließen, sich aber nicht dialaktisch vernichten können, weil jede für chemisten offenbarte sich die Natur als Selbstidentität, die zugleich Dif­
sich selbst allumfassend ist. Der Hermaphrodit als Bild eines materiellen ferenz ist. A m deutlichsten, weil von jedermann täglich erfahrbar, ma­
Vorgangs verkörperte das Wissen darum, dass die Überwindung der nifestierte sich diese Selbstidehtität, die zugleich Differenz ist, im Spie­
die Welt durchziehenden Polarität in einer Vereinigung zu Höherem gel der beiden alltäglichen Grundbefindlichkeiten des Menschen. Wir
bestehen muss, einer Vereinigung, die beide Pole umschließt, einer Ver­ sind Mann oder Frau und zugleich etwas, das diese beiden Grundbe­
einigung, die man als eine Dreieinigkeit sehen kann, weil der Herm­ findlichkeiten transzendiert, nämlich Mensch.'^^ Um das darzustellen,
aphrodit ja ein Drittes zum nur Männlichen und nur Weiblichen ist.^^ mussten die Alchemisten, die ja immer im Sinnlichen, im Materiellen
Gerade als ein Kosmos von Polaritäten ist die Natur, auch die des Men­ zu bleiben versuchten, zw ei Erfahrungen zu einem Bild vereinen. Und
schen, eine Einheit. Taiji sagen die chinesischen Adepten, Hen to pan die das führte notwendig zum Paradoxon des Ungleichen am selben Ort
ägyptischen. Die Physiker reden im Zusammenhang ihres physikali­ zur selben Zeit, zu einem Monstrum der Wahrheit, «geheimnisvoll am
schen Weltverständnisses von Komplementarität. Die Quantenmecha­ lichten Tage» dargestellt in der Naivität aspektivisch zusammengekleb­
nik «hat entdeckt, dass dasselbe physikalische Objekt zwei verschiede­ ter Bildteüe, die kein Zentrum der Beobachtung und keinen Flucht­
ne, einander scheinbar ausschließende Erscheinungsformen besitzt; punkt widergeben, weil jeder Aspekt ein allumfassendes Symbolon ist.
Teilchen und Feld (oder Welle). Diese beiden Formen, imter denen alle Die Figur des Hermaphroditen ist ganz allumfassend weiblich und ganz
atomaren Objekte im Experiment erscheinen, sind nicht aus einer größe­ allumfassend männlich. Sie hat weder etwas von demokratisch gleich­
ren Anzahl gleichwertiger Möglichkeiten herausgegriffen; sie bilden berechtigtem Halbe-Halbe an sich, noch etwas von der androgynen Süß­
vielmehr eine vollständige Disjunktion. Ein Teilchen ist ein physikali­ lichkeit hellinistischer Marmorfiguren des Hermaphroditos. Sie ist Zwei
sches Gebilde, das sich, wenn es sich an einem Ort befindet, nicht gleich­ in Eins, die paradoxe Vielheit in der Einheit, und tatsächlich wurde der
zeitig an einem davon entfernten Ort befinden kann; ein Feld ist ein Hermaphrodit auch als Res bina, das Zwiefache, bezeichnet, aber in
durch den Raum verbreitetes Gebilde. Die Teilchen-Natur eines Gebil­ einem Wort, nämlich Rebis. Der Hermaphrodit als Dasselbe-als-ein-an-
des folgt aus allen Experimenten, die eine Lokalisation seiner Wirkung deres-als-dasselbe lässt unbegrenzt viele Deutungen zu, und er wird
beweisen (z. B. Nebelkammeraufnahmen); die Feld-Natur eines Gebil­ deshalb fast immer auch bildlich wiedergegeben. Gut alchemisch oszil­
des folgt aus allen Experminenten, die ein Zusammenwirken mehrerer lieren diese Deutungen zwischen den Bereichen des Spirituellen und
voneinander entfernter Orte beweisen (Interferenz).» (Weizs. 86) des Praktischen.
Das eine - zur selben Zeit, am selben Ort - ist zugleich das andere, In der Praxis des Alchemisten sah man den Hermaphroditen als Sul­
und zw ar ganz. Die beiden Bilder, die das beschreiben, bieten beide rich­ fur und Mercurius bzw. als Zinnober, der deshalb oft Hermaphrodit
tige Antworten auf die Frage nach dem Sosein des Elementarteilchens, genannt wurde, weil er beim Vermischen schwarz ist imd erst beim
und damit nach dem Sosein der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit un­ Erhitzen rot wird. Und zugleich sah man ihn als Sol und Luna im Ge­
seres Alltages. Auch diese höhere oder tiefere Wirklichkeit ist ja nur zu wände von König und Königin, imd wiederum zugleich sah man ihn
erfassen, wenn wir sie irgendwie mit den Sinnen begreifen können, und unter theologischem Aspekt als Christus. Im Hermaphroditen - auch
die bekommen eben nicht mehr geboten als diese beiden Bilder. wenn er gewöhnlich als Vorform der vollendeten Harmonie des Lapis
Nun seien hier nicht Aussagen der Physik leichtfertig als Geraune gedeutet wurde - sind der Stein der Weisen und Christus gewisserma­
höherer Weisheit dahergemurmelt, aber im Blick auf die Komplemen­ ßen strukturgleich, und wie Christus den Mikrokosmos, so erlöst der
tarität glaube ich doch, dass zwischen der Erkenntniswelt der modernen Lapis den Makrokosmos, nicht den der Sterne, sondern den der irdi­
Physiker und der Welt der Alchemisten soviel Ähnlichkeit besteht, dass schen Materie. Und wie Gott den Makrokosmos zerstören könnte, so
man die eine, wenn auch vorsichtig, als Illustration der anderen ver­ könnte es auch der Lapis. Das hat Ulmannus gespürt, und weil er auch
Die heilige Dreifaltigkeit
376 III. In Klöstern und andernorts

in Bildern dachte, finden sich in der <Heiligen Dreifaltigkeit> zwei Bilder


eines Hermaphroditen.
A u f dem ersten Bild sehen wir eine gekrönte, janusköpfige Gestalt,
deren eine Seite deutlich männlich und deren andere Seite deutlich
weiblich ist. Die weibliche Seite, die Frau, trägt in ihrer Hand einen
Kelch mit drei Schlangen, die wohl auf Sublimationen hindeuten soll­
ten, aber auch auf Quecksilber, wurde Mercurius doch oft mit der Drei­
heit Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, aber auch mit Unterwelt,
Menschenwelt, Götterwelt, aber auch mit Männlichkeit, Weiblichkeit,
Göttlichkeit in Verbindung gebracht. Die maskuline Seite, der Mann
dagegen hält eine aufgerollte Schlange in der Hand, was die Koagula­
tion zum Stein anzeigt und zugleich den Sulfur symbolisiert. Die Flügel
sind sowohl Hinweis auf das Feuer im alchemischen Ofen als auch
Hinweis auf die Überschreitung des Seins im Hermaphroditen. Die Kro­
ne mag Sinnbild des Steins der Weisen sein, der in der Form von gold-
bzw. silberschaffenden Essenzen, die im Silber- und Goldbaum symbo­
lisiert sind, die Materie zu sättigen und damit zu erlösen vermag. Der
geistbegabte, also geflügelte Drache der Materie nährt sich von den
Wurzeln der Bäume und verbindet sie zugleich mit der materiellen
Grundlage des Hermaphroditen, die er ja auch selbst repräsentiert.
Da es sich auf dem Bild um eine Gestalt handelt, hat die Figur not­
wendig etwas Inzestuöses an sich. Im weiten Feld der Psychologie mag
sie auf eine Mutter-Sohn-Beziehung hindeuten - die Stellung der Maria
in der <Heiligen Dreifaltigkeit> legt ja eine inzestuöse Verbindung
nahe -, sie mag aber auch in allgemeinerer Sicht die Beziehung des
menschlichen Bewusstseins zum andersgeschlechtlichen Unbewussten
andeuten. Und Dichter wie Herman Melville oder Maurice Maeterlinck,
aber auch Richard Wagner im Ring reden von einer unheilbaren Sehn­
sucht nach dem so Anderen und so Gleichen, dem man vor seiner
Geburt zugehört hat. In Wagners im Ring übernimmt das magische
Vergessen, das die kosmische Zuhörigkeit des Menschen zum anderen
auslöscht, die Rolle der Geburt. Im Kapitel über <Psychologie und A l­ Janusköpßge Gestalt - die alchemistische Dreieinigkeit. (Buch der Heiligen Dreifaltig­
chemie) werden wir dem Hermaphroditen als Form oder Vorform der keit, Kadolzburg, 14 }})
Einheit und danüt des Steins der Weisen noch einmal begegnen.
Bei allem sei nicht vergessen, dass der Hermaphrodit ein ziemlich
die weibliche statt des Kelches eine Krone. Schwert und Krone sollen
prekäres Gebilde ist, das leicht in falsche Gesellschaft geraten kann. So
hier Macht- und Geldgier symbolisieren, die in der Alchenüe ihren Aus­
stellt Ulmannus denn auch seinem <hellen Hermaphroditen) einen -
druck im Streben nach der reinen Goldmacherei finden. Die über den
was allerdings in der alchemischen Literatur ganz ungewöhnlich ist -
Leib des Hermaphroditen verteilten sieben Kronen bezeichnen wohl die
<dunklen Hermaphroditen) gegenüber. Der <dunkle Hermaphrodit)
sieben Hauptlaster Hochmut, Geiz, Unmäßigkeit, Wollust, Zorn, Hass
steht nicht vor allem für den missglückten Versuch, den Stein zu erlan­
und Neid, die Ulmannus den sieben Tugenden und den sieben Wunden
gen, er steht für den Antichristen. Folgerichtig ist Luzifer zugleich seine
Christi gegenüberstellt. Die von dem doppelköpfigen Drachen zu Füßen
Mutter, was Ulmannus auch ohne Umschweife sagt. Die männliche Sei­
te dieses <dunklen Hermaphroditen) hält statt der Schlange ein Schwert, des Hermaphroditen ausgespienen, sich an seinen Beinen emporwin-
III. In Klöstern und andernorts Ars oder Scientia? 379
37»

denden Schlangen mit Frauenköpfen verdeutlichen die Wollust und Un­


keuschheit Luzifers - und die Verklemmtheit des armen Mönchleins,
dem es zwar gelingt, Polaritäten aufzuheben, der aber stattdessen einen
neuen, unüberbrückbaren Gegensatz aufreißt: den zwischen Gut und
Böse, den er ja anscheinend nicht im rein Abstrakten belassen will. Und
das heißt nichts anderes als: Ulmannus kann aus der gnostischen Falle
nicht entfliehen.

24. Ars oder Scientia?

Mit einem Außenseiter wie Ulmannus haben wir das Thema <Berufsbild
des Alchemisten> keineswegs erschöpft. Unser verrückter Mönch konn­
te uns nur bestätigen, dass die Alchemie ein schillerndes, weder zünf­
tiges noch einträgliches Unternehmen war. Aber wenn schon kein zünf­
tiger, war sie dann wenigstens ein akademischer Beruf, immerhin nannten
die Adepten sich doch Philosophen?
Wir können sagen <Nein> und sind dennoch in die Frage verstrickt,
ob die Alchenüe nun eine Scientia, eine Wissenschaft, oder eine Ars, eine
handwerkliche Kunst war. Das Nein bezieht sich nur darauf, dass die
Alchemie nie an einer Universität gelehrt wurde, obwohl anzunehmen
ist, dass sie häufig in der Nähe der Hohen Schulen angesiedelt war.
Die Frage <Scientia oder Ars?> hätte man auch an die mittelalterliche
Medizin stellen können, die eindeutig eine Universitätsdisziplin und
dennoch grosso modo kaum erfolgreicher war als die Alchemie. Und früh
schon taucht diese Frage auch in der mittelalterlichen Literatur auf. In
den <Eruditionis didascalicae libri septem>, seiner Schrift über das Un­
terrichtswesen, zählte z. B. Hugo von St. Victor um 1100 n. Chr. die Me­
dizin im einträchtigem Verein mit der Schauspielkimst zu den Artes
mechanicae, den handwerklichen Künsten. Er meint dabei nicht die Ba­
der- oder Feldschermedizin sondern die Gelehrtenmedizin, die zwar
eine theoretische, jedoch auch eine praktische, handwerkliche Seite be­
sitzt. Unbestreitbar aber hat die Medizin im nüttelalterlichen Universi­
tätssystem trotz ihrer in diesem System eigentlich unerwünschten hand­
werklichen Ausrichtung und ihrer aus unserer Sicht zweifelhaften Er­
folge stets den Rang einer Scientia, einer Wissenschaft, behauptet und
bildete neben Theologie und Jurisprudenz sogar eine der drei höheren
Fakultäten, die alle auf einer Fakultät der Artes liberales aufbauten. Diese
Fakultät ist für uns deshalb wichtig, weil sie die Grundlagen auch der
alchemischen Bildung legte, und zwar in den <Sieben freien Künsten> -
Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie luziferische Dreifaltigkeit, auf einem Drachen stehend, aus dem Schlangen mit Frauen­
(Berechnung des Osterdatums u. a.) und Musik (Harmonielehre) -, die köpfen hervorgehen. (Buch der Heiligen Dreifaltigkeit, Kadolzburg, 1433)

deshalb frei sind, weil ihnen einerseits nicht das Odium des profanen
380 Ars oder Scientia? 381
III. In Klöstern und andernorts

Broterwerbs anhängt und sie andererseits, gerade weil sie keinen spezi­ Sdentia ist. Scientia besitzt nun allerdings nicht mehr die alte Bedeu­
fischen Nutzen haben, als Grundlage von Wissenschaft im Sinne einer tungen als Episteme im Sinne von Erkenntnistheorie oder von Natur­
Erkenntnis nach Prinzipien dienen können, allerdings auf recht niedri­ philosophie, die nach evidenten Grundprinzipien erklärt, «was die
gem Niveau. Das Wort Artes zeigt, dass es - von Ausnahmen abgesehen Welt/ im Innersten zusammenhält», wobei das, was den Naturphiloso­
- nicht um Vermehrung von Wissen, sondern um systematischen Wis­ phen damals evident war, uns heute häufig alles andere als offensicht­
sensgebrauch ging. Die eigentliche Initiation in die akademische Gefilde lich vorkommt. Wenn wir Techne definieren als «auf Herstellung gerich­
konnte erst beginnen, wenn man die <Artistenfakultät> hinter sich ge­ tetes Wissen», durch dessen Anwendung «ein ganz bestimmter Prozess
lassen hatte. des Entstehens, Werdens, Gestaltens, Schaffens in Gang gebracht wird»
Aber anders als die Medizin, der sie in Glanz und Elend doch so (Schad. 71), dann sind in unserem Jahrhundert die Naturwissenschaften
ähnlich war, schaffte es die Alchemie nie hinauf in solche Höhen. Auf genau wie die Technikwissenschaften Technai."^^ Besonders bemerkens-
einem Universitätscampus durfte sie sich offiziell nicht einmal sehen und bedenkenswert in diesem Zusanunenhang ist doch wohl die histo­
lassen. Dabei besaß sie genau wie ihre erfolgreichere Schwester einen risch verbürgte Tatsache, dass die konservative, ja reaktionäre, die der
theoretischen und einen praktischen Teil, worauf Roger Bacon ja schon Prisca ars zugewandte Alchenüe zugleich Träger der Ideologie des
im 13. Jahrhundert hingewiesen hatte. Homo faber war, die zur Ideologie der modernen Technik werden sollte.
Im Opus tertium schreibt er: «Es gibt eine andere Wissenschaft, die So haben außer Bacon wohl auch andere mittelalterliche Autoren ge­
von der Bildung der Dinge aus den Elementen handelt, und von allen spürt, dass der Versuch, die Alchemie in den Kanon der Wissenschaften
unbeseelten Dingen. ... Und da diese Wissenschaft von der Masse der und Künste einzupassen, ein besonderes Problem darstellte. Daniel von
Studenten ignoriert wird, sind sie notwendigerweise ohne jede Kenntnis Morley z. B. sieht die Alchemie als eine Art Kuckucksei der Astronomie,
der natürlichen Phänomene, die daraus folgen, z. B. der Bildung beseel­ imd Donünicus Gundissalinus, der sich auf arabisches Wissenschafts­
ter Dinge__Wegen der Unkenntnis dieser Wissenschaft kann es grund­ verständnis stützt, macht die Alchemie ohne wenn und aber zu einer
legende Kenntnisse weder in allgemeiner Naturphilosophie noch in Scientia im Rahmen der Scientia naturalis.
theoretischer Medizin noch folglich in praktischer Medizin geben, nicht Mit alledem zeigt sich der Ort der Alchemie im Gewusel menschli­
nur weil Naturphilosophie [hier verstanden als so etwas wie die physi­ cher Bestrebungen als nur unklar bestimmt. Genauso war es auch mit
kalischen Grundlagen der Naturwissenschaften] und theoretische Me­ ihrem Geltungsbereich. Albertus Magnus hielt die Alchenüe für eine
dizin notwendig sind für die Praxis, sondern weil alle einfachen Medi­ Abteilung der Gesteinskunde, andere bezogen die Metallurgie in die
zinen aus unbeseelten Dingen von dieser Wissenschaft stanunen. ... Alchenüe mit ein, und auch die technologische Chemie in Gestalt der
Und eine Wissenschaft dieser Art ist größer als alle vorher beschriebe­ Färbetechnik und der Glasmacherei wurde bisweilen zur Alchenüe ge­
nen, weil sie größere Nützlichkeit hervorbringt. Nicht nur kann sie die rechnet. Bacon redet von Medizinbereitung und meint im eben zitierten
Ausgaben und unzählige andere Bedürfnisse des Staates begleichen, Text sicher nicht die Bereitung des Elixiers, sondern etwas, das wir zur
sondern sie lehrt auch solche Dinge zu entdecken, die das menschliche Pharmazie rechnen würden. Während aber die Pharmazie des Mittelal­
Leben sehr verlängern können, was von der Natur allein nicht zuwege ters im Wesentlichen in der Bereitung nicht-mineralischer Arzneien be­
gebracht wird.» (Newm. 21 (47)) stand, ist es nach Bacon in der Alchenüe genau umgekehrt, geht sie
600 Jahre später sollte der große Chemiker Liebig in seinen Chemi­ doch von den unbeseelten Dingen aus. Auch in der <Theorica et practi­
schen Briefen dem Sinne nach genau das Gleiche schreiben, hier natür­ ca» des Paul von Tarent bzw. Geber wird dieser Punkt angesprochen. Er
lich in Verteidigung seiner geliebten Chemie. Auch Liebig kam sich vor argumentiert, dass in den Grundstoffen der Alchenüsten, nämlich
wie eine Vox clamans, wenn sie auch gewiss nicht mehr wie Bacon in Schwefel und Quecksilber, die ja beide flüchtig, also innerhch nicht fest
deserto gerufen hat. Bacon nämlich stand mit seiner Meinung wohl ziem­ zusammengeklebt seien, die Kräfte der vier Elemente, nämlich Wärme,
lich allein da. Gewiss war er mit seinem Konzept einer Verbindung von Kälte, Trockenheit imd Feuchtigkeit, weitgehend erhalten blieben, wäh­
Ars speculativa und Ars practica <seiner Zeit voraus», wie man so schön rend sie in allen anderen Verbindungen abgestumpft seien. Und des­
wie unpassend sagt, wenn man etwas für richtig und historisch un­ halb, schließt Paul nun messerscharf, arbeiten die Adepten anders als
fruchtbar zugleich hält. Mit seiner Auffassung von Alchemie hat Bacon die Apotheker direkt mit den «Händen der Natur» (Newm. 129) und
einer empirischen Wissenschaft, die von ihren Anhängern horrihile dictu körmten so direkte Transmutationen bewerkstelligen. Genau das, die
sogar Handarbeit forderte, das Wort geredet, einer Ars, die zugleich Fordenmg, mit den Händen der Natur zu arbeiten, führt Geber in der
382 III. In Klöstern und andernorts Alchemisten und andere Feinde der Gesellschaft 383

<Summa> dazu, den Gebrauch pflanzlicher oder tierischer Substanzen Neigungen nachgesagt, und er wollte sich gewiss nicht selbst verdam­
in der Alchemie überhaupt abzulehnen. Die Alchemie imitiere die Na­ men. Einen finsteren Dämon in seine Dienste zu nehmen, wird er da­
tur, und die Natur verwende solche Substanzen nicht, wenn sie Metalle gegen kaum riskiert haben, und so konnte er sich die Entrüstung des
wachsen und transmutieren lasse. Diese Bemerkung schießt übrigens Gerechten sehr wohl leisten.
die Behauptung ein, dass es in der Alchemie nicht um Magie im Sinne Wie aber sind die Alchemisten zu ihrem üblen Ruf als Fälscher mit
unnatürlicher Gewalt über die Natur geht.^° oder ohne dämonische Beihilfe gekonunen, der ihnen in der genannten
Bulle übrigens nur relativ mäßige Strafandrohungen wie Schadenser­
satz, Gefängnis und Entzug von Benefizien eintrug? Gewiss: Nicht alle
2 j. Alchemisten und andere Feinde der Gesellschaß Philosophoi hielten sich an die Vatikanischen Regeln, die da besagen:
Denk nicht! Falls du doch denkst, sprich nicht! Falls du doch denkst
Alle Hinweise auf die vielfältigen Erscheinungsformen der Alchemie, und sprichst, schreib nicht! Falls du doch denkst und sprichst und
alle Hinweise auf die Diskussionen, die sich um ihren naturphilosophi­ schreibst, sei nicht überrascht über die Folgen! Dermoch: Uneingelöste
schen Sinn und Zweck entspannen, beantworten natürlich noch nicht Behauptungen seitens so mancher großmäuliger Adepten können nicht
die Frage, warum die Alchemie, anders als die in der Erfüllung ihrer der Hauptgrund für deren schlechten Leumund gewesen sein; auch die
Aufgaben doch kaum erfolgreichere Medizin, es weder zu einer zünfti­ Ärzte hatten ja ihre Quacksalber. Ein wichtigerer Grund dafür, dass die
gen Wissenschaft noch zu einem zünftigen Handwerk gebracht hat. Ihr Alchemie in so üblem Gerüche stand, und zwar im doppelten Sinne des
Standort innerhalb der fest gefügten mittelalterlichen Ordnung war und Wortes, ist wohl darin zu suchen, dass sie doch immer ein bisschen nach
blieb unsicher. dem Schwefel der Teufelei roch. Und die Teufelei, die hier gemeint ist,
Nun stimmt gewiss, dass sich die Alchemisten damals, genau wie die das war die Gnosis mit ihrer gauklerischen Selbstüberschätzung des
Parapsychologen heute, des Gegenstands ihrer Bemühungen, sei's der doch sündigen und auf die kirchlichen Gnadengaben angewiesenen
Psi-Effekt, sei's der Stein der Weisen, nicht sicher sein konnten. Aber Menschen - und sei der noch so <wissend).
das kann man nicht verantwortlich machen für das latent vorhandene Der Duft exorzistischen Weihrauchs durchzog denn auch alle natur­
Misstrauen der mittelalterhchen Universitätsgelehrten, zumindest nicht philosophischen Überlegungen zur Alchemie. Bezeichnenderweise
in erster Linie, denn diese diskutierten ja auch mit Selbstverständlich­ spielte in der Diskussion um die Alchemie auch ein Dokument eine
keit etwa über Engel und deren Verhalten. Dennoch geriet Ende des Rolle, das sich auf Hexen und Ketzer bezog, der <Canon episcopi>. Hier
13. Jahrhunderts die Ars nova, die nun schon gar nicht mehr so neu war, wurde scheinbar nur eine allgemein naturphilosophische Frage theolo­
ganz offiziell in Turbulenzen. Ab 1287 verbot das Generalkapitel der gisch entschieden: Wer behauptet, ein von Gott geschaffenes Ding kön­
Dominikaner in mehrfachen Beschlüssen die Ausübung der Alchemie, ne künstlich aus seiner Spezies in eine andere verwandelt werden, ist
und 1317 erließ der Avignon-Papst Johannes XXII. seine Bulle <Spondent ein Ungläubiger und schlimmer als ein Heide.
quas non exhibent> wider die Rotten der Alchemisten. Johannes XXII. Nun konnte man auch diese Behauptung so verdrehen, dass schließ­
hatte allerdings kaum Interesse an den spirituellen oder naturphiloso­ lich aus dem Ungläubigen ein treuer Sohn der Kirche wird. Einem Kir­
phischen, umso mehr dagegen an den ökonomischen Aspekten der A l­ chenjuristen namens Oldrado da Ponte gelang das. Den Alchemisten,
chemie. Ganz wie Kaiser Diocletian 1000 Jahre zuvor wollte er gegen so schreibt er, wird vorgeworfen, sie versuchten, Metallarten willkürhch
Betrüger und Geldfälscher vergehen. Dabei vermutete er wohl, dass ineinander umzuwandeln, was nur Gott selber kann. Sie behaupten
alle Alchemisten zu dieser Bande gehörten, wenn er verkündete: «Mit aber auch gar nicht, «dass eine Spezies in die andere transmutiert wird,
Hilfe sophistischer Transmutation fälschen [siel, was in der Natur der denn es ist nicht möglich. Sie sagen jedoch, dass eine Metallspezies [so
Dinge nicht erlaubt ist, echtes Gold und Silber.» (Newm. 36) wie Goldl von einer anderen Spezies [so wie Zinnl hervorgebracht wer­
Genauere Begründungen gibt er nicht. Da in der Bulle aber von bösen den kann.» (Newm. 37) Eine solche Umwandlung, aus der das Unedle
Geistern die Rede ist, konnte man sich darauf zurückziehen, es seien zum Edlen wird, so meint er wohl, ist ein natürlicher Vorgang, und
nur die Alchemisten gemeint, die sich der Hilfe von Dämonen bedien­ deshalb könnten die Alchemisten sie im Labor nachvollziehen.
ten. Die Bulle behauptet dagegen nicht ausdrücklich, dass die Magie Dennoch, sie waren Außenseiter imd hatten einen zweifelhaften Ruf.
konstitutiv sei für die Alchemie. Ihrem Autor, dem großen Abenteurer Die Frage ist, warum sie nicht das Schicksal anderer missliebiger Rand­
und Gauner auf dem Stuhle Petri, wurden ja auch selbst alchemische gruppen der Gesellschaft erUtten haben. Und eine zweite Frage ist, ob
384 III. In Klöstern und andernorts Alchemisten und andere Feinde der Gesellschaß 385

im üblen Ruf ein Salzkömchen Wahrheit steckte, dass zwar gespürt, zweifelhaft hielten, sie aber hauptsächlich aus dem Blickwinkel der Mo­
aber nicht erkannt wurde. ral beurteilten. Magie gab den Magiern Macht und zudem noch un­
Warum also hat man die schwefelduftenden Adepten nicht zurück durchschaubare Macht, das machte sie verdächtig, aber wenn es sich
zur Hölle geschickt, aus der sie doch zu kommen schienen? Warum um Weiße Magie, um Magia naturalis, handelte, die weder Natürliches
stand für Hexen, Ketzer und Juden das brennende Höllentor weit offen, verletzte noch Böses wollte, dann konnte man das noch durchgehen
für die Alchemisten aber nicht? Die Antwort kann nur darin bestehen, lassen. Im 15. Jahrhundert wurde die Magia naturalis im Zeichen des
dass die Randposition der Alchemisten eine andere war als die anderer aufflammenden Hermetismus sogar zu einer mächtig anschwellenden
Randgruppen. Quelle neuzeitlicher Naturwissenschaft, die sich insbesondere der Er­
Bevor wir uns einem der dunkelsten Kapitel der abendländischen kenntnis und Nutzung okkulter Phänomene zuwandte. Ein gutes Bei­
Geschichte zuwenden, der Hexenverfolgung, gilt es, die drei Begriffe spiel ist hier Giambattista della Portas <Magia naturalis> von 1558, in
<magisch>, <religiös> und <okkult> zu klären, denen w ir im Dunstkreis der neben technischen Spielereien vor allem optische Beobachtungen
von Hexen und Alchemisten immer wieder begegnen, und die in engem beschrieben sind. Anders war es mit der schwarzen Magie, die als eine
Verhältnis zueinander stehen. Um uns nicht im Nebel von Behauptun­ Praktik, die Gottes Gebote und damit auch die Gebote der Natur über­
gen und Gegenbehauptungen zu verlieren, ist es wichtig, dass wir die schritt, grundsätzlich abzulehnen und verdammenswert war, vor allem,
drei Begriffe auseinander halten. wenn sie mit ihrer unnatürlichen Manipulation Böses erreichen wollte.
Was ist nun eigentlich Magie? Sie ist, kurz gesagt, der Versuch, die Sicher gab es da Grenzfälle, nicht nur im Bereich der Liebeszauber, wo
menschliche Umgebung mit Hilfe bestimmter Handlungen zu beein­ sich der Verliebte allerdings wohl lieber vom Ziel seiner Liebe als von
flussen. Aber ein solcher Versuch hat ja meist durchaus nichts Magi­ Magiern und Hexen verzaubert sehen wollte. Einen Grenzbereich bil­
sches an sich, und so muss noch etwas anderes hinzukommen. Dieses deten auch die so beliebten mantischen Künste, gemeint sind Zukunfts­
andere, glaube ich, steckt in den eigentlichen Objekten magischer Be­ deutungen aus Feuer, Wasser, Erde, Luft, aber auch die Totenbeschwö­
einflussung, und das sind die Kräfte, die zu den Dingen gehören. Diese rung, die Handlesekunst und die Wahrsagung aus dem Schulterblatt.
Kräfte werden nicht empfunden als rein physikalische Größen, abstra­ Das Wissen um die Zukunft durch Anrufen bestimmter Kräfte berührte
hiert vom Verhalten materieller Körper, sondern sie werden empfunden genau wie die von der Kirche ebenfalls mit Misstrauen betrachtete
als quasi-lebendig und deshalb als ansprechbar. Deshalb spielt der Zau­ Astrologie die von Gott gegebene Willensfreiheit des Menschen, also
berspruch, ja überhaupt Wort und Name in der Magie eine so große gehörten die mantischen Künste zu den Artes prohibita.
Rolle. Aber das Objekt der Magie hat keine eigene Entscheidungsmög­ Mit der schwarzen, der widergöttlichen Magie sind wir in einem Be­
lichkeit, keinen freien Willen: Wie der Geist in der Flasche dient es je­ reich, der der Magie benachbart ist, dem religiösen. Es gibt aber zumin­
dem, der das Zauberwort kennt. Die magische Praxis ruft eine zwang­ dest einen deutlichen Unterschied. Die im Gebet angerufene Gottheit
hafte Wirkung in ihren Objekten, also den Kräften, hervor, genau wie, besitzt einen freien, einen überlegenen Willen: «Dein Wille geschehe,
so würden wir heute sagen, sich auch die technische Praxis Kräfte zu­ wie im Himmel, so auf Erden.» Das Gebet fleht um gnädige Aufmerk­
nutze macht. Allerdings wirkt die magische Praxis nicht immer, nicht samkeit, mehr kann es nicht.
überall und auch nicht jedem Gegenstand oder jeder Person gegenüber. Was nun die beiden Sphären, die der Religion und die der Magie,
Das zu erklären, gab es je nach Einzelfall zwei Möglichkeiten. Entweder, verbindet, ist die Tatsache, dass beide Okkultes in sich einschließen.
die magische Kraft war aus unbekannten Gründen selektiv, wie etwa Und das hatte im Mittelalter zwei Bedeutungen. Es konnte heißen, dass
bestinunte Medizinen, oder die Kraft war eigentlich eine Person. Tho­ Okkultes keine aristotelische Qualität besaß, also sinnlich nicht erfahr­
mas von Aquin erklärt die Tatsache, dass heilsame Reliquien nicht in bar war, und es konnte heißen, dass Okkultes folglich auch nicht kausal
jedem Fall wirken, damit, dass nicht die Reliquie selbst Agens der Wir­ zu erklären war, und zwar deshalb, weil die aristotelischen Ursachen so
kung ist, sondern ein ihr zugeordneter Engel. etwas wie Rahmenbedingungen für das Auftreten von Qualitäten
Und wenn der Engel einen etwas zweifelhaften Charakter hat, dann sind .^3 Okkulte Ursachen waren geradezu undenkbar, denn denken
ist er eben ein Dämon. Wenn wir das bedenken und uns in die Welt des heißt für Aristoteles, sich ein Bild im Intellekt machen. Nun redeten die
Mittelalters versetzen, deren Objekte durchaus nicht so objektiv waren christlich aristotelischen Scholastiker ja auch von Okkultem, von Engeln
wie die unseren, dann erscheint es nicht überraschend, dass auch viele und Dämonen, sogar von Planeteneinflüssen, vom Magnetismus oder
damaligen Intellektuellen die Magie zwar für erkenntnistheoretisch von der Transsubstantiation in der Messe. Doch das stand außerhalb
}86 III. In Klöstern und andernorts Alchemisten und andere Feinde der Gesellschaß 3 8 7

der Scientia naturalis, denn es war im wahrsten Sinne des Wortes über­ Bösen. Die Prozesse waren so ordentlich wie die Ordnung der Welt, die
sinnlich. sie schützen sollten, sie waren in den Fragen und damit auch in den
Erst in der Renaissance und im Barock sollte das Okkulte das Odium Antworten so formalisiert, dass sie ein immer gleiches Bild einer bösen
des Übersinnlichen verlieren, während zugleich und weiterhin das Gegenwelt aufzeichneten. Die Idee einer Hexensekte trat neben die des
Übersinnliche, das Magische, das Verhexen im Mittelpunkt des Hexen­ magisch bewirkten, individuellen Verbrechens. Tatsächlich war die so
wahns stand, dieses Kollektivwahnsinns, der sinnigerweise am Beginn begriffene Hexerei, ohne dass die armen Hexen das wussten, der Häre­
der doch so fortschrittsbestimmten Neuzeit im 17. Jahrhundert seinen sie näher als der Volksmagie mit ihren heidnischen Relikten. Diese Hä­
Höhepunkt fand, und zwar einträchtig bei den sonst einander spinne­ resie erkannte wie die Gnosis das Böse als Herrn der Welt an. Der He­
feindlichen Katholiken und Protestanten. Im Frühmittelalter meinte xenwahn brach nüt voller Gewalt erst nach den Katharerkriegen aus,
man, dass diejenigen, die an die Wirksamkeit heidnischer Bräuche wie die ihrerseits Zeichen einer tiefen Verunsicherung des Abendlandes wa­
nächthches Riegen und Verwandlungen glaubten, selber Heiden seien. ren. In einer unbewussten Widerspiegelung katharisch-gnostischer
Der schon erwähnte <Canon Episcopi>, der in das Kirchenrecht Eingang Weltauffassung unterstellten ausgerechnet die Leute, die oft <ehrlichen
fand, ließ hier keinen Zweifel. Das sagt nicht, dass man die Magie nicht Herzens» die Hexen <unnachsichtig> verfolgten, ihren Opfern ihren ei­
für möghch hielt, sie wurde sogar mit größter Selbstverständlichkeit, genen Glauben an die überwältigende Macht und an eine Weltver­
um nicht zu sagen Unbefangenheit, ausgeübt, und es gab auch verein­ schwörung des Bösen, wenn sie in armen Frauen, seien sie nun Kräu­
zelt Prozesse wegen Schadenzaubers, der meist relativ nülde geahndet terweiblein oder Bürgersfrauen, die dem Tratsch oder den Folterqualen
wurde. anderer zum Opfer gefallen waren, eine Gefahr für den Bestand der
Wenn es aber um Satan persönlich geht, verlassen wir den Bereich Welt sahen. Die Massenverfolgungen in manchen Städten bezogen ihre
der Magie, obwohl die Denunziationen aus der Bevölkerung gewöhn­ Wucht aus eben dieser paranoiden Weltverschwörungsstimmung, in de­
lich zunächst magische Delikte betrafen. Den Teufel kann man nicht in ren Dunstkreis freilich auch Gier, Geiz, Machtgelüste und Eitelkeiten
seinen Dienst zwingen; er dient nur, weil er daran interessiert ist, die gedeihen konnten.
Welt zu verderben und auf diese Weise zu beherrschen, und das tat er Um aber theologisch diskutierbare Häretiker zu sein, waren Hexen,
anscheinend verstärkt seit Beginn des 14. Jahrhunderts, also mit Beginn die gewöhnlich nicht lesen und schreiben konnten, zu ungebildet. An­
des Zusammenbruchs der mittelalterlichen Lebensordmmg. Dabei be­ ders war das bei manchen Männern, denen man theologische Einsichten
diente er, der übrigens stets männlich gedacht wurde, sich gewöhnlich abverlangen konnte. Die verbrannte man dann eben nicht als Hexer
des moralisch ohnehin ambivalenten Teils der Magie. Und dieser Teil oder Kryptoketzer, sondern als Ketzer. Das Feuer war sicher gleich heiß
stand übücherweise den Frauen zu. Während nämlich die Männer für und die Qual gleich groß, aber das Böse hatte einen anderen Namen.
die auch magische Sicherung von Haus, Hof und Familie zuständig Der Historiker Hugh Trevor Roper weist in diesem Zusammenhang
waren, fielen Hebammendienste (Kindesmord, Abtreibung), Kochen darauf hin, dass dort, wo man sich mehr den Häretikern widmete, die
und Heilmittelbereitung (Giftmischerei) sowie Pflege des Viehs (Milch­ Zahl der verbrannten Hexen relativ geringer war. Auch zu Judenpogro­
zauberei, aber auch Wetterzauberei) in den Aufgabenbereich der Frau­ men, die verstärkt während und nach der Pestzeit von 1342-52 n. Chr.
en. Besonders gefährdet waren hier Frauen, die zu sozial ungeschützten auftraten, lässt sich eine demoskopische Beziehung aufweisen. Natür­
Randgruppen der Gesellschaft gehörten wie die Witwen, die es bei der lich waren die von der Quasi-Erbsünde des Gottesmordes befallenen
deutlich höheren Lebenserwartung der Frauen reichlich gab, und ande­ Juden an der Pest schuld, denn sie vergifteten die Brunnen, genau wie
re schlecht integrierte Gruppen wie Unverheiratete. Außerdem waren in unserem aufgeklärten Jahrhundert die rassisch Minderwertigen an
die Frauen dem Dunklen, dem Kalten und Feuchten und der Schlange Inflation imd Arbeitslosigkeit schuld waren, unterminierten sie doch in
nah und daher besonders anfällig für die Verführungskünste des Teu­ internationalen Komplotten wie dem der Weisen von Zion Staat und
fels, wenn auch etwa 20 Prozent der Opfer des Hexenwahns Männer Gesellschaft.
waren, imter ihnen oft Geistliche. Und da es im spätmittelalterlichen Ihre Nähe zur Schrift brachte es schon im Mittelalter mit sich, dass
Rechtsleben bald ein ausgeklügeltes System von durch Folter erzwun­ viele Juden hochgebildet waren, man denke nur an Maimonides. Ihnen
genen Aussagen und Denunziationen gab - das Geständnis galt als ein­ musste man also anders beikommen als den Hexen. Und das tat man,
ziges Beweismittel, weil Indizienbeweise unbekannt waren -, ließen indem man sie einfach von jeder Diskussion ausschloss, weil sie der
sich auch immer mehr Beweise finden für ein allgemeines Komplott des Religion der Gottesmörder anhingen. Wenn sie bekehrt waren, dienten
388 HL In Klöstern und andernorts Alchemisten und andere Feinde der Gesellschaß 389

sie der wahren Religion nur heuchlerisch, wenn sie nicht bekehrt waren, durchschauten. Und was konnte als besserer Schutz für jedweden
zeigte sich ihre Bosheit darin, dass sie offen an einer fluchwürdigen Adepten dienen, als die von ihm selbst und auch von allen, die als
Verschwörung gegen die christliche Umwelt beteiligt waren. Egal was Richter über ihn hätten bestellt werden können, getragene Überzeu-
sie taten, sie fütterten den Fanatismus ihrer Verfolger. gimg, dass er nichts anderes sei als jeder andere brave, rechtgläubige
Allen drei Gruppen, den Hexen, den Häretikern und den Juden, war kathohsche oder evangelische Christ auch?
offensichtlich gemeinsam, dass sie in einer verunsicherten, ja paranoi­ Mit dem Verhältnis der christlichen Alchemisten zum mosaischen
den Gesellschaft lebten, deren Verfolgungswahn in typischer Projektion Glauben war es ähnlich. Die Alchemie hatte sehr wohl Beziehung zum
innerer Störungen ein Opfer suchte. Der Wahn selbst hat natürlich gute jüdischen Denken, die ja in der verehrten Gestalt der Maria Prophetissa
Gründe. Das könnte im Einzelfall etwa so aussehen: Meine Kinder sind geradezu verkörpert war. Aber verehrte der wildeste orthodox-christli­
an der Pest gestorben, ich bin im Elend, aber ich bin nicht so böse, dass che Fanatiker nicht ebenfalls den König Salomon und die Propheten des
ich an diesem allen schuld sein könnte, und in meiner Verbitterung weiß Alten Testaments? Auch die Kabbala, die in manche alchemische Werke
ich, es sind die anderen ..., die anderen ..., die anderen ... Und wenn Eingang finden sollte, konnte dem Erscheinungsbild der Alchemie nicht
es keine anderen gibt, dann muss man sich welche suchen, die man zu schaden. Diese besondere Art der Mystik, die in den Buchstabenfolgen
anderen machen kann. «Die Hölle, das sind die anderen», wie Jean-Paul der Bibel Zeichen einer höheren Einsicht erblickt, paßte in gewisser Wei­
Sartre sagte. Die anderen sind aber nicht die Hölle, sie sind die Sünden­ se zu einer Übung, die auch den Christen vertraut war. Auch deren
böcke, die man in die Hölle hineintreibt. Theologen glaubten, dass es in der Bibel jenseits des vordergründigen
Konnten nicht, so müssen wir uns doch fragen, all die Anwürfe, de­ Textes noch weitere Bedeutungsebenen gibt, nämlich die heilsgeschicht­
nen die genannten Randgruppen der Gesellschaft ausgesetzt waren, liche Bedeutungsebene des allegorischen Sinns, die moralische des tro-
auch gegen die Alchemisten geltend gemacht werden? Konnte man sie pologischen und schließlich die eschatologische, die auf die letzten Din­
mit ihrer Nähe zu Goldpanscherei nicht ebenfalls zu Sündenböcken ma­ ge bezogene des anagogischen Sinns. Fasste man mm die Kabbala,
chen? Waren nicht auch sie der Magie und dem Okkultismus verhaftet? wenn auch mit einiger Anstrengung, als eine im Grunde christliche
Standen nicht auch sie häretischen Denkrichtungen zumindest nahe? Deutungskunst auf, dann konnte man sehr gut in Bewunderung jüdi­
Waren nicht auch sie von jüdischem Denken, insbesondere der Kabbala, scher Gelehrsamkeit leben, ohne gleich den Brandgeruch eines Ketzer­
inspiriert? A uf alle drei Fragen kann man mit einem bedingten Ja ant­ prozesses in der Nase zu spüren. Genau diese Christianisierung aber
worten. hat u. a. der berühmte Humanist, Hermetiker und Apostel der mensch­
In einer Welt, die der Magie und dem Okkultismus mit Selbstver­ lichen Freiheit Giovanni Pico della Mirandola geleistet, als er im Alten
ständlichkeit anhing, können auch die Alchemisten davon nicht frei ge­ Testament kabbalistisch verschlüsselte allegorische Hinweise auf das
wesen sein. Das gilt ganz gewiss für Einflüsse der Astrologie, und auch Neue Testament entdeckte. So brauchte sich auch kein Adept in seinem
der Stein der Weisen hat ja durchaus magisch-okkulte Wirkung, wie Seelenheil gefährdet zu fühlen, wenn er in den geheimnisvollen Wör­
überhaupt die spirituellen Komponenten der Alchemie von hermetisch­ tern alchemischer Tradition besondere Weisheiten und Hinweise suchte.
okkulten Sympathie-Antipathie-Beziehungen und zugleich von einem Zu all den Selbstschutzmechanismen, zu all den Missverständnissen
allerdings undeutlichen Pantheismus geradezu leben. Die Ars nova aber auf beiden Seiten kommt jedoch noch etwas außerordentlich Wichtiges
zusammen mit Magic und Witchcraß unter der Rubrik Occultism abzu­ hinzu. Die Alchemisten, zumindest ihre Elite, waren gebildet, und zwar
handeln, wie meine <Encyclopaedia Britannica> (15. Aufl, 1990) es tut, im orthodoxen Kanon christlicher Tradition; sie und ihre möglichen An­
halte ich für überzogen. Jedenfalls kann ich im Werk etwa eines Geber kläger schworen auf die gleichen christUchen und weltlichen Bibeln,
nichts Magisches entdecken. nämhch auf das Alte und das Neue Testament und auf die Schriften des
Was die häretischen Denkrichtungen betrifft, so haben wir die Nähe Aristoteles. Anders als die Juden waren die Alchemisten nicht gewis­
der Alchemisten zum Pantheismus und zugleich zur Gnosis ja schon sermaßen ex cathedra vom innerchristlichen Diskurs ausgeschlossen.
erörtert. Tatsächlich war die religiöse Haltung vieler Adepten, vorsich­ Wenn man einen jüdischen Adepten verbrannte, dann nicht, weil er
tig gesagt, unklar, wie sich vor allem in der Frühen Neuzeit zeigen Alchemist war. Freilich gab es auch einen - ja nicht ganz unbegründeten
sollte. Aber, um das hier schon vorwegzunehmen, die unklare Stelle im - Häresieverdacht gegen die Lehren der Alchemie, den Männer wie der
religiösen Bild der Alchemisten war so undeutlich, dass die Anhänger spanische Inquisitor Nicolas Eyrinc mit seinem Werk <Contra alchymis-
der Alchemie die Konsequenzen dessen, was sie glaubten, selbst nicht tas> (1396) auch geäußert haben. Doch in der iimerchristiichen Welt
390 III. In Klöstern und andernorts Das Bild in der Alchemie 391

konnte ein solcher Verdacht schon deshalb keine furchtbaren Konse­


quenzen haben, weil er nicht zu konkretisieren war; die Adepten hielten
ihn ehrlichen Herzens für unberechtigt, und ihrer ganzen Natur nach
zeigten sie ja ohnehin keinen missionarischen oder gar revolutionären
Eifer. Die Kirchenbehörden konnten sie also weder neben die Juden
noch neben die Häretiker stellen - und auch neben die Hexen nicht.
Deren Schicksal nämlich war schon besiegelt, bevor es überhaupt zum k^ T A L A N TA
Prozess kam, und zwar dadurch, dass sie die Sprache ihrer Verfolger V V G i n ' S S,
nicht sprachen. Die Frauen, die der Hexerei angeklagt waren, standen hu0,
einer intellektuellen, theologisch, naturphilosophisch und juristisch ge­
bildeten Clique von Fanatikern gegenüber. Wenn sie etwa als armselige Iemblemata
Kräuterfrauen einen Heilberuf ausübten, dann konnten sie weder ihr N O V A
Unwissen noch ihr Wissen hinter lateinischen Phrasen verstecken. Was D E SECRETIS N A T U R E
Virtutes, was Qualitates manifestae, was Qmlitates occultae sind, wussten C H Y MI C A ,
sie nicht zu sagen. Und sicher glaubten ihre bedrückten, verbitterten, Accommodata partim ocuHs&intdkaui.Sguris
cupro incifis, adjcais^juc fententus, Epjgram-
armen Seelen genauso an Dämonen wie ihre Richter. Die Alchemisten miüs & notis, panim auribus 6c recreauont
dagegen wussten sehr wohl, was eine Scientia naturalis und was eine animl plus minus 50 Fugis Muhcalvbus mum
Vocuni,quarum ciux ad unam fimplicem melo-
Ars prohibita ist. Und den Sudlern, den Quacksalbern der Alchemie, hing diam diftichis cancndis perapram .correlpon. -
man ebenfalls im Allgemeinen weder Hexerei noch Ketzerei an, handel­
ten und redeten sie doch wie die gebildeten Alchemisten. Gewiss, sie cancnda & audienda:
stammelten in beidem, im Tun und im Reden, aber sie schadeten ja AuthertJ
niemandem, weder im Materiellen noch in der Ideologie - außer sich M i c b a b l e M aj ero Imperial.Con-
(iftorii Comitc, Med.D. Eq ex. 6cc.
selbst. Gemeinsam mit der Bildungselite aus den Kirchen und Univer­
sitäten saßen die Adepten im Käfig einer Sprache, die zur Stabilisierung OP P n S HEI MU
ExtypograpbiaHiaRONyMi GAttERi,
des mittelalterlichen Wertesystems und zugleich zu ihrer Selbstdefini­ 5mPtilM}oH. THtODO%i de B rt ,
tion als Gerechte diente. Der Käfig hielt sie gefangen und schützte sie ‘T T 'D C X VI lU
zugleich.

26. Das Bild in der Alchemie

Was immer die Alchemisten in ihrem Käfig sagten und dachten: Ihre
Göttliche Kunst war mehr als nur Gedanke, und so kam es schon früh
zur Begegnung von Alchemie und Kunst, etwa in den Zeichnungen im
Werk der Kleopatra. Schon hier benutzte die Alchemie die Kunst als
Instrument ihrer Botschaft. Titelblatt des Werkes <Atalanta fugiens> von Michael Maier, Oppenheim, 1618,
In der Literatur gilt das z. B. für die lehrhaften Vers-Traktate, wie mit Stichen von Matthaeus Merian d. Ä.
wir sie etwa von Theophrast und Hierotheos kennen, imd die mit Leu­
ten wie George Ripley und Thomas Norton (beide 15. Jahrhundert)
und anderen bis weit in die Neuzeit beliebt waren. Es gibt auch Epi­
gramme alchemischen Inhalts, vor allem aus der Neuzeit, die aber kei­
ne hohe künstlerische Bedeutung besitzen. Aus der Malerei dagegen i
liegt uns reicheres und oft künstlerisch überlegenes Material vor. Hier
392 III. In Klöstern und andernorts Das Bild in der Alchemie

finden wir technische Skizzen von Apparaten und Gefäßen, hier finden
wir Darstellungen bildlicher Symbole, hier finden wir vielgliedrige
Zeichnungen und Malereien, die ganze Vorgänge oder komplexe Zu­
stände wiedergeben, und all das reicht vom primitiven künstlerischen
Niveau zur malerischen Vollendung. Hohen Wert als Partner des Tex­
tes, wenn auch keine besondere Kunstfertigkeit, zeigen die Anfang des
15. Jahrhunderts entstandenen Bilder des Buches der <Heiligen Dreifal­
tigkeit). Die Bilder des alchemischen Werkes <Splendor Solis> aus dem
16. /17. Jahrhundert dagegen sind wie gesagt Zeugnisse einer Meister­
hand.^'^ Auch die kurz nach 1600 entstandenen Stiche aus einigen Em­
blemsammlungen und Bildserien haben hohen künstlerischen Wert.
Genannt seien hier zwei Sammlungen aus den Werkstätten der im
17. Jahrhundert am Rhein ansässigen Kupferstecherfamilie de Bry, zum
einen die Sammlung der Lambspringschen Figuren aus einem alche­
mischen Vers-Trakat: <Carmen de lapide philosophico> (gedr. 1625) aus
der Feder eines Hermetikers des 15. Jahrhunderts namens Abraham
von Lambspring, zum anderen das berühmte Werk des Michael Maier,
<Atalanta fugiens>.
Emblembücher waren übrigens eine typisch neuzeitliche Erschei­
nung, nachdem der Humanist Andrea Alciato 1531 ein erstes dieser
Bücher herausgegeben hatte. Und doch reichten ihre Wurzeln genau
wie die Wurzeln der Alchemie zurück in die ägyptische Spätantike. Das
Interesse der Renaissancegelehrten an der uralten Weisheit Ägyptens -
ein Interesse aus dem Blickwinkeln derer, die sich ihrer Sache nicht so Der Wolf verschlingt den König - indem der Wolf verbrennt, gibt er das Leben zurück.
(Emblema X X IV aus <Atalanta fugiens> von Michael Maier, Oppenheim, 1618,
sicher sind - führte nämlich zur Entdeckung dessen, was man brauchte.
Stich von Matthaeus Merian d. Ä.)
Und das war ein irgendwann zwischen 100 und 400 n. Chr. griechisch
geschriebenes, 1419 wiederentdecktes und 1505 gedrucktes Buch aus
der Feder eines gewissen Horapollo (Horus-Apollon) Nileacus, die dosa Margarita) des Janus Lacinius (1546) mit seiner eindmcksvollen
<Hieroglyphica>, in der es um die - übrigens meist unzutreffende - In­ Bildserie, ferner das in der Samnüung <Artis Auriferae) enthaltene ano­
terpretation geheimnisvoller kleiner Bilder, eben der Hieroglyphen, nyme <Rosarium philosophomm) (1550), das von Carl Gustav Jung
ging. Gelehrte wie Willibald Pirckheimer und Nostradamus (Michel de ausführlich kommentiert worden ist^^, Hieronymus Reusners <Pando­
Notredame) und Künstler wie Albrecht Dürer und andere interessierten ra), Giovanni Battista Nazaris <Della tramutatione metallica) (1599) und
sich lebhaft für das Werk des Horapollon. Wie dort gehörten später auch das <Chymische Lustgärtlein) des Daniel Stoltzius von Stoltzenberg
in den Emblembüchem die geheimnisvollen Bilder und ihre Interpreta­ (1624). Das <Lustgärtlein) enthält mehrere Bildserien aus der Werkstatt
tionen - meist in epigrammatischer Versform, manchmal auch mit Pro­ der Familie de Bry, die vom Autor mit etwas holperigen deutschen Ver­
satext - zusammen. Ich finde es nicht überraschend, dass gerade die sen kommentiert worden sind.
neue Literaturgattung der Emblembücher mit ihrer sinnlich unfassbar­ Um einen Eindmck aus dem Kreis dieser Literatur zu vermitteln,
fassbaren Vieldeutigkeit, als deren natürliche Träger sich Bilder gerade­ möge ein Beispiel genügen; die <Philosophia reformata) (gedr. 1622) des
zu anbieten, verbunden mit der Behauptung, die wahre, die eindeutige Johann Daniel Mylius, aus der eine Serie von 20 Bildern von Stoltzius
Deutung gefunden zu haben, zum idealen Vorbild und zur Vorlage al- nachgedruckt worden ist. Die Bilder stellen den gesamten alchemischen
chemischer Veröffentlichungen wurde. Prozess bildlich dar.
Unter vielen anderen illustrierten Texten, ob sie nun zu den Emblem­ - Im Bild I dreht es sich um den Mercurius, der hier als Gmndlage das
büchem zu rechnen sind oder nicht, sind daneben zu nennen die <Pre- Magnum opus bzw. als das Gesamtwerk selber gesehen wird, weshalb
In Klöstern und andernorts

Der Stein wurde auf die Erde geschleudert und zu Bergen erhoben, er existiert in der
Luft, und er nährt sich in den Flüssen. (Emblema X X X VI aus <Atalanta fugiens> von
Michael Maier, Oppenheim, i6 i8 , Stich von Matthaeus Merian d. Ä.)

von den sieben Wandelsternen auch nur Sonne und Mond sowie nur
vier Planeten in den vier Ecken des Bildes abgebildet sind. Die Dämpfe,
die an den Bildrändem aufsteigen, sind die beiden metallbildenden Va-
pores. Die drei Statuen stellen die Mercurii der drei Naturreiche dar.
- In Bild 2 sieht man Sol und Lima als König und Königin und über ihnen
den himmlischen Mercurius, während der grüne, doppelte Löwe zu ihren
Füßen das ihnen gemeinsame Lösungsnüttel - gewiss eine Säure oder Säu-
renmischimg - darstellt. Grün ist der Löwe nicht nur deshalb, weil er gegen
jeden Anschein ein Lebensbringer ist, sondern weil in fast allen Silber- imd
Goldproben etwas Kupfer enthalten ist, das natürlich die Säure färbt.
- Bild 3 und 4 stellen beide das Bad dar, in dem Sol und Luna in Feuer
und Wasser gelöst werden sollen - Solutio.
- Im Bild 5 hat das Bad die beiden vereinigt. Stoltzius weist hier auf
III. In Klöstern und andernorts Das Bild in der Alchemie

Der alchemistische Prozess in Bildern (Johann Daniel Mylius, Philosophia reformata,


1622, The British Library, London; Nachdruck der Bilder in: Daniel Stoltzius von Stolt-
zenberg, Chymisches Lustgärtlein, 1624, Nachdr. Darmstadt 1964.)

das mythische Pärchen Gabricus und Beya hin, das ineinander aufgeht,
indem Gabricus sich in Beya auflöst. Das bedeutet zugleich den Tod der
beiden - Mortificatio. Die beginnende Nigredo und Putrefactio wird
durch die schwarzen Vögel auf der rechten Bildseite symbolisiert. Bei
Mylius bzw. Stoltzius kommt die Putrefactio also nach der Coniunctio.
- A uf Bild 6 sehen wir, wie das Königspaar im gläsernen Sarg, dem Vas
hermeticum, fault.
- Ganz bildlich verlassen in Bild 7 die Seelen der beiden Toten ihre
Körper - Sublimatio. Eine schwarze Materie bleibt zurück.
- Bild 8 zeigt, dass die Körper von Sol imd Luna, von König und Kö­
nigin, von Gabricus und Beya sich zum noch unbelebten Hermaphro­
diten vereinigt haben, der nun - sicher bei mehrfacher Destillatio oder
Sublimatio - vom Himmelstau, d, h. vom hinunlischen Spiritus bewäs­
sert und aufgehellt wird.
- Bild 9 lässt eine schwarze Krähe erscheinen - nicht am Grab, sondern
vor dem Schlafgemach, in dem das vereinte Paar auf einem Bett ruht.
Ehe Seelen-Krähe errettet die ihr korrespondierende Krähe aus dena
39« III. In Klöstern und andernorts Das Bild in der Alchemie 399

Wasser der Auflösung. Der Doppelkörper des alchemistischen Pärchens - Bild 18 bestätigt wiederum, dass der grüne Löwe als Mercurius no-
wird sich also wieder beleben - Vivificatio. ster, unser Quecksilber, alle sieben Metalle fressen kann, auch die
- Die erste Stufe der Belebung, sie wird in Bild lo dargestellt, wird Sonne, die er damit in sich zu tragen vermag.
symbolisiert durch den Hermaphroditen des weißen Steins, der Leben - Bild 19 zeigt, dass der Lapis philosophorum das Kind von Sol und
geben und zu Silber transmutieren kann, worauf der Halbmond als Luna ist.
Symbol des Weiblichen und der Silberbaum als Symbol des Fruchtbrin­ - Im Bild 20 endlich erhebt sich der König in der Proiectio bzw. in der
genden und damit - per Destillation - auch des Geistbringenden hin- Reintegration seiner Bestandteile aus dem Grab einer niederen Existenz.
weisen. Die <Seelenkrähe> des männlichen Teils des Hermphroditen da­ Ist uns damit der alchemische Prozess klarer geworden, vorausge­
gegen scheint noch nicht in den Körper eingedrungen zu sein. Mylius setzt, wir wüssten noch nichts über ihn?
und Stoltzius unterscheiden also deutlich ein Opus minus, das zum Ich glaube, das können wir mit einem schüchternen <Ja> beantworten,
weißen Stein führen soll, und ein Opus maius, dessen Ziel der höchste, auch wenn die Klarheit, die uns geboten wird, die unbestimmte Klarheit
der rote Stein ist. einer Dämmerung ist. So ist es mit allen alchemischen Bildern, auch
- Bild II zeigt <Die Vermählung oder Säwerung>. Gemeint ist wohl eine wenn das oft missverstanden wurde. Als Andre Breton im zweiten Ma­
Wiederauflösung, worauf das Wasser rechts im Bild und die teilweise nifest des Surrealismus behauptete, das Bild des Kindermordes in Fla-
Trennung des nun geistbegabten, geflügelten Hermaphroditen hinwei- mels Buch sei ein Meisterwerk des Surrealismus, le tableau surrealiste,
sen, und seine Vereinigung mit männlichem Schwefel, der ausgesät ist das vielleicht einem Dali zustatten gekommen, hatte aber, was die
wird, um, wie der Text sagt, dem Doppelköprer in der Flamme seine Alchemie angeht, keinerlei Wahrheit für sich. Der Flamelsche Kinder­
Kraft zu geben. mord erzählt eine im Rahmen der Alchemie wirkliche und in die Wirk­
- In Bild 12 steigt Sol aus dem Brunnen der Materie bzw. des Queck­ lichkeit des Labors umsetzbare Geschichte, es ist, als lese das Bild die
silbers, dabei aber wird er vom Pfeil der Luna durchbohrt, und kann Geschichte vor, ganz wie in einer Armenbibel. Ähnlich ist es mit den
so, vom Weiblichen berührt, den Brunnen, sprich die Materie, zu Gold Bildern der <Philosophia reformata>. Die Werke der Surrealismus dage­
verwandeln. gen verweisen nur durch sich selbst auf die Welt, sie beschreiben sich
- Bild 13 bedeutet wahrscheinlich, dass der neu geschaffene Herm­ selbst, als Gegenwelt, die Welt ist. Wenn jedoch Kunsthistoriker wie
aphrodit weiterhin mit Quecksilber genährt wird. Christopher Braider im Blick auf den Unterschied zwischen erzählender
- Der Vogel in Bild 14, der deutlich im Landeanflug ist, symbolisiert und beschreibender Malerei die Meinung vertreten, im Übergang vom
das <Gmuet>, d. h. die Seele, während der gefügelte Engel den <Geist> Mittelalter zur Neuzeit habe die Malerei einen Übergang von der bild­
darstellt. Im Text wird dazu indirekt auf das Oben und Unten der Cir- lichen Illustration eines Textes - vor allem der Bibel - zur realistischen
culatio verwiesen. Wiedergabe einer sinnlichen Wirklichkeit - der Natur - vollzogen, dann
- Mehr Circulatio, mehr Himmelstau oder mehr Mercurius verstärken, trifft das in plattester Allgemeinheit wohl nicht zu,^^ und für alchemi­
wie Bild 15 zeigt, die Kraft und die Menge des potentiellen Goldes und sche Bilder egal welcher künstlerischen Qualität gilt es ganz gewiss
Silbers an der Hand der Mutter Materie - Multiplicatio. nicht. Iimer-alchemische Bilder, auch die des Barock, sind Allegorien,
- In Bild 16 entsteigen vergeistigtes Gold und Silber dem Brunnen der die auf das Opus alchemicum verweisen; wenn nicht, sind es keine
Verwandlung. Der Pelikan weist hin auf die kreisförmige Selbstemeue- alchemischen Bilder. Wir müssen feststellen, dass in der Alchemie seit
rung, aber er, der seine Jungen mit seinem Blut nährt, ist auch ein Sym­ dem 14. Jahrhundert das Bild, und das bedeutet: das allegorisierende
bol des Steines, weil er bei der Proiectio gleichsam stirbt, um niedere Bild, immer mehr in den Vordergrund rückt. Im <Buch der Heiligen
Materie in Gold zu verwandeln. Dreifaltigkeit> finden wir ein gleichgewichtiges Verhältnis von Bild und
- Als Folge dessen erscheint in Bild 17 der rote Stein in seiner ganzen, Wort, wobei das eine wechselwirkend das andere erläutert. Die geistige
Löwe und Schlange beherrschenden Majestät. Der Löwe repräsentiert Vieldeutigkeit des Bildes, das doch gleichzeitig optisch eindeutig ist, ist
dabei das Prinzip der Auflösung, und als Ouroboros steht die Schlange dabei gleichsam die Brücke, über die Ulmannus seine theologischen
für Prinzip des uranfänglichen Chaos. Der Früchte des Sonnenbaums und alchemischen Vorstellungen miteinander verbindet, um sie so vor­
sind wohl die Früchte einer Projektion mit dem roten Elixier. stellbar und damit wirklich zu machen und um zugleich ihre Wirklich­
Die letzten drei Bilder geben den Prozess noch einmal in stenogra­ keit gefühlsmäßig zu bewältigen. In der erwähnten alchemischen Em-
phischer K ürze wieder. blem-T iteratur sind Bild und kurze Verserläuterung zu einer Einheit
400 III. In Klöstern und andernorts Das Bild in der Alchemie 401

verschmolzen, die nicht etwa dem Bild, das ja schließlich der Anlass der bekannten traditionellen Vorstellungen. Beides stellte so etwas wie eine
Erläuterung ist, nur Hilfsfunktionen überlässt. Die Verse des Stoltzius Erstbedeutung bereit.
zur <Philosophia reformata> sind meist so naiv, dass sie nicht wert sind, Das ermöglichte den Alchenüsten, ihre Vorstellungen, auch ihre un­
zitiert zu werden. Die Entwicklung findet schließlich ihren Höhepunkt bewussten, kontemplativ in die Bilder zu legen und Bild und Vorstel­
im 1677 erschienenen <Liber Mutus>, dem <Stummen Buch>, herausge­ lung zu einer erspürten Einheit zu verschmelzen, wie wir dies heute
geben von einem Adepten mit dem bezeichnenden Pseudonym Altus, kaum nachvollziehen können. So gesehen ist, historisch betrachtet, das
was bekanntlich mit <hoch> und <tief> zugleich übersetzt werden kann Vordringen der Bildlichkeit in der Alchemie sicher auch ein Indiz für
und so die psychologische Stellung des Alchemisten bestens charakte­ das Eindringen, ja für das Überhandnehmen von hermetischen oder
risiert. p)0]- <Liber Mutus> enthält inmitten einer Hut von Abbildungen neo-hermetischen Vorstellungen, die sich ja letztlich dem Wort entzie­
eines laborierenden Paares - des Adepten und seiner Soror mystica - hen. Wenn wir uns die Prominenz ansehen, welche das Bild des Herm­
nur zwei schriftliche Zusätze, nämlich auf dem vorletzten Blatt den aphroditen in der beginnenden Neuzeit gewinnt, in der die modernen
Sinnspruch: «Ora, lege, lege, lege, relege, labora et invenies» - «Bete, Naturwissenschaften im Vormarsch sind, so ist es, als wolle die Alche­
lies, lies, lies, lies wieder und du wirst finden», und auf dem letzten mie uns sagen: «Ich kann mit den oberflächlichen Erklärungskünsten
Blatt: «Oculatus abis» - «Als Sehender gehst du von hinnen». (Cans. der neumodischen Chemiker und Materietheoretiker nicht mehr mithal­
127, 129, Tafel 14, 15) Weder das eine noch das andere ist ironisch ten, aber kontemplier mich, und du wirst im wahrsten Sinne des Wortes
gemeint; denn auch Bilder kann man lesen, und die Kontemplation der hinter das kommen, was ich meine. Du wirst sehen lernen.»
Bilder soll den Betrachter dazu bringen, ein wahrer <Sehender> zu Und wenn wir zurückdenken an das Problem der Komplementarität
werden. und ihrer Ausdrucksformen in der Elementarteilchenphysik und in der
Das führt direkt zu einer Frage, die uns schon auf der Zunge gelegen Alchemie können wir hier noch einige Bemerkungen zur Partizipation,
haben mag: Warum gab es diese Entwicklung hin zum Bild? Ein Grund zur Teilhabe des Menschen an seiner Umwelt einschieben.
liegt sicher im Verhältnis des Bildes zu Zeit. Bilder sagen mehr als alle Wir leben in einer W elt, in der die Phänomene, seien es nun chemi­
Worte, die ja nur im Nacheinander, also in der Zeit gehört und gelesen sche Reaktionen oder Substanzen, auf sich selber hiirzuweisen scheinen,
werden können, während Bilder ein Nacheinander zu einem in einem mehr nicht. Meist vergessen wir dabei, dass die Phänomene gar nicht
Blick zu erfassenden Neben- oder Ineinander machen können. Mit ei­ autonom sind, sondern dass sie von vornherein in einem Interpreta­
nem Bild kann man also besser als in Worten eine Mehrdeutigkeit im tionsverhältnis zwischen uns und ihnen stehen. Das heißt, wir selbst
Sinngehalt bei Eindeutigkeit im Objekt vermitteln, etwa wenn der stecken in allem drin, das unsere Siime xmd unser Erinnerungs- und
Künstler auf eine geheime Bedeutungs-Gleichzeitigkeit zweier zeitlich Assoziationsvermögen uns anbieten. Menschliche Wahrnehmung aber
getrennter Ereignisse hinweisen will. Allgemein kann ein Bild durch kann mehr, menschliche Wahrnehmung kann etwas umfassen, das un­
<unausgesprochene Beziehungen> vieles bringen, das dem rationalen sere Sinne und unsere auf Sinneseindrücke gestützte Erinnerung über­
Diskurs entzogen ist, dem ratiomorphen Verständnis aber offen steht. steigt, anders gesagt transzendiert. Im Laufe der Menschheitsgeschichte
Dazu paßt durchaus, dass Bilder, wenn sie nur auf ihre Schönheit und hat es ganz verschiedenen Einstellungen zu dem gegeben, was eigent­
auf keine sonstige Botschaft setzen, lediglich auf sich selbst zurückwei­ lich die Phänomene transzendiert, aber das sei hier nicht das Thema.
sen und damit auch aus sich selbst gedeutet werden müssen. Gleiches Die Einstellung der Alchemie kennen wir ja bereits: Sie war latent pan-
gilt ja auch für L'art-pour-l'art-Texte. Alchemische Bilder und alchemi- theistisch, d. h. die Adepten erkannten in allen Dingen den Widerschein
sche Texte aber sind wie die Bibel und deren Illustrationen, so wie sie des Göttlichen, aber nicht im Spiegel der Materie, sondern in der Mate­
im Mittelalter aufgefasst wurden. Beide lebten von Bedeutung, ja von rie, besser gesagt durch die Materie hindurch, die eben deshalb das sie
Bedeutungen auf verschiedenen Ebenen. Alchemische Bilder erschöpfen selbst Übersteigende demonstrieren kann.^^
sich nicht in bloßen Darstellungen von chemischen Umsätzen; sie for­ Auch die Elementarteilchenphysik erkennt eine Welt hinter der Welt
dern heraus zu ungezählten, assoziativ verknüpften und oft unsagbaren unserer Sinne, die wie die Welt des Göttlichen in keinem Abbildverhält­
Metaphern; Bilder können etwas Unendhches an sich haben und schon nis zu der Welt unserer Sinne steht, sie also transzendiert. Auch hier ist
deshalb über sich selbst hinausweisen. Besser gesagt: Man kann Unend­ das die Gegenstände Transzendierende nicht sinnlich fassbar, obwohl
liches assoziativ in sie hineinlegen, wobei die Assoziationsreihen ge­ wir behaupten, es sei das die Gegenstände überhaupt erst Konstituie-
wöhnlich ausgingen von den die Bilder begleitenden Texten oder verr rende.---------------------------------------------------------------------------------
402 III. In Klöstern und andernorts Kunst und Alchemie 403

Warum dann sitzen Alchemisten und Physiker nicht gerade heute thematischen Gleichung hinausginge, also neue und sei es auch nur
wieder in einem Boot? didaktische Erkenntnis brächte. Es steigt in uns also kein feierlicher
Ein Antwort darauf ist vielleicht die folgende; Die Alchemisten parti­ Schauer auf angesichts der Paradoxa der Natur bzw. der Paradoxa
zipierten an der Transzendenz, und das konnten sie, weil sie die ganze unseres Denkens.
Komplexität ihres Menschseins und damit nicht oder nicht nur ihren Genauso wenig allerdings fühlen wir in uns so etwas wie eine from­
diskursiven Verstand, sondern vor allem ihre Sinnlichkeit in diese Parti­ me Erregtmg, wenn wir uns ein Bild des Hermaphroditen als Aus­
zipation hineingaben. Die Denkweise der Alchemisten war komplex, sie druck eines Komplementaritätsphänomens anschauen. Es ist wie mit
suchte die Komplexität in ihrer Komplexität zu erhalten, und sie war den altägyptischen Götterbildern, die uns Kindern des 20. Jahrhunderts
zugleich subjektiv. Die modernen Phyiker dagegen und wir mit ihnen ja auch nicht mehr das vermitteln, was sie vermitteln sollen; Transzen­
partizipieren nicht, denn wir denken, wenn wir die Natur als Natur zum denz. Ganz ähnlich ist es mit dem Bild des Hermaphroditen; Wir kön­
Gegenstand machen, analytisch und objektbezogen. Wir in der Welt der nen sein Geheimnis zwar erahnen, aber es tritt nicht in imser Gefühls­
Moderne haben das Symbol vom Gegenstand, wir haben den Gegen­ leben über. Es bleibt im Bereich des alchemischen Denkens der Frühen
stand vom Gegenstand getrennt, um ihn an und für sich zu betrachten. Neuzeit.
Wir isolieren analytisch Gegenstand von Gegenstand, der dadurch und Und doch stehen wir dem Bild des Hermaphroditen anders gegen­
damit die Transzendenz verliert, die ja im Hen to pan, im Hen kai pan über als der Welle-Korpuskel-Darstellung. Wir flüchten aus dem An­
liegt, im Eines in Allem, im Alles in Einem. spruch, Transzendenz zu berühren, in die Ästhetik, wie wir es ja auch
Der Verzicht darauf, alle Dinge, alle Eindrücke, alles Erleben im Prin­ vor Kunstwerken in Kirchen machen, denen wir damit genauso unrecht
zip in allen anderen Dingen, Eindrücken und Erlebnissen wiederfinden tun. Unsere ästhetische Betrachtung zieht sich damit, so meine ich, aus
zu wollen, hat durchaus Vorteile. Er bringt uns aus dem Gemauschel dem Bereich alchemischen Denkens zurück, aber nicht bis in den Be­
von Gedankengefühlen zu präzisen, sine ira et studio vermittelbaren reich naturwissenschaftlicher Objektivierung, sondern bis in einen Be­
Aussagen. Und das bezieht sich auch auf die Komplementarität, die reich, in dem wir noch werten können, weil in diesem Bereich die Dinge
dann allerdings keine Öffnung durch das Objekt hindurch hin zum in ihrer Komplexität als be-deutend erhalten geblieben sind, also immer
Transzendenten mehr gestattet. Wenn wir Präzision verlangen, dann noch auf anderes hindeuten, wenn es auch nicht das ist, was die Alche­
müssen wir isolieren, denn nur auf eine genau umgrenzte Frage können misten darstellen wollten. Das Bild des Hermaphroditen im Traktat
wir eine genau umgrenzte Antwort verlangen. Die Heisenbergsche Un­ <Splendor Solis> rührt uns mehr an als das aus dem <Buch der Heiligen
schärferelation etwa antwortet auf eine präzise, von Messergebnissen Dreifaltigkeit>. Der Hermaphrodit aus dem <Splendor Solis> aus dem
nahe gelegte Frage. Und was das Elementarteilchen angeht, so antwor­ 16. Jahrhundert ist ein künstlerisches Meisterwerk, auch wenn wir den
tet die Materie als Korpuskel auf eine präzise Frage und die Materie als Meister nicht kennen, ein Meisterwerk, das als künstlerisches Gebilde
Welle antwortet ebenfalls auf eine präzise Frage. Dabei geht es um Ein­ über sich hinausweist. Aber dieser merkwürdige Doppelmensch rührt
fachheit und nicht um Komplexität, es geht um eine präzise Aussage unsere Leidenschaft hin zum Transzendenten, das doch durch seinen
und nicht um eine komplexe Mehrschichtigkeit, die nur in einer mehr­ Leib hindurchschinunem soll, nicht mehr an. Leider Gottes, so mag man
schichtigen Bedeutungsvielfalt wiedergeben werden könnte. sagen, haben wir jeden Sinn dafür verloren. Der alchemische Herm­
Unsere Haltung dem naturwissenschaftlichen Denken und dem al- aphrodit und der Stein der Weisen sind ims auf immer abhanden ge­
chemischen Denken gegenüber können wir uns am besten klarmachen, kommen.
wenn wir Abbildimgen aus beiden Bereichen auf uns wirken lassen.
Stellen wir uns zimächst eine Darstellimg vor, auf der eine halbierte
Kugel an ihrer Schnittstelle mit einem diffusen Wellenpaket zusam­ 27. Kunst und Alchemie
mengeklebt ist. Eine solche Darstellung lässt uns gewiss nicht die
Wirklichkeit elementarmateriellen Seins als etwas Transzendentes be­ Die Betrachtimg des Verhältnisses von Bild und Alchemie ist natürlich
greifen. Aber warum nicht? Warum sagt das Bild uns nichts? Weil die noch nicht damit erschöpft, dass wir bekennen, dass wir keinen Zugang
auf das einfachst Mögliche reduzierte physikalische Antwort auf eine mehr zum alchemischen Hermaphroditen als alchemischem Geheimnis
physikalische Frage jeden ästhetischen Reiz vermissen lässt, und weil mehr finden können. Es bleibt interessant, den Blick auf die Alchemie
die optische Aussage nichts vennittelt, das über die Aussage der ma­ und die Alchemisten in den Werken derjeniger Maler zu richten, die
Kunst und Alchemie 405
404 III. In Klöstern und andernorts

sich ihrem Thema von außen genähert haben, können wir doch im Spie­
gel der Kunst die <öffentliche> und dennoch weder bewusst veröffent­
lichte, noch überhaupt eine durchdachte Meinung über die Alchemie
am besten erkennen. Und es bleibt interessant, zu sehen, wie andere
Künste in den Bereich der Alchemie hineingezogen wurden.
Zunächst zum Alchemisten bzw. der Alchemie im Spiegel der Maler,
die wir nicht zu den Adepten zählen können. Diese Spiegel zeigt uns
im Grunde immer die gleichen Bilder. Vor unseren Augen erscheint
der von hohen Zielen Besessene, erscheint der, der durch die Besessen­
heit hindurch zur Weisheit gefunden hat, wir sehen aber auch den
tragischen oder tragikomischen oder bloß noch lächerlichen Besesse­
nen, der Illusionen anhängt, die er nicht durchschauen kann. Dieser
Besessene in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ist die eine Ver­
sion des Alchemisten. In Übergängen vom selbstbetrogenen Betrüger
ohne oder mit Absicht erscheint daneben als andere Version der Gauner,
der Betrüger, der uns als gerissen und boshaft oder als bloß lächerlich,
meist aber als ziemlich komische Gestalt vorgeführt wird. Das gilt glei­
chermaßen für die Malerei und die Belletristik. Es wäre so langweilig
wie langwierig, diese beiden uns ja sattsam bekannten Versionen in
immer neuen Ausgaben Revue passieren zu lassen. So soll uns eine in
engsten Grenzen gehaltene Übersicht genügen.
Als eine Grenzfigur ist hier im 15./16. Jahrhundert Hieronymus
Bosch zu nennen, in dessen Triptychon <Garten der Lüste>, das im Pra-
do-Museum hängt, alchenüsche Motive verarbeitet sind. Alchemische
Motive ist allerdings zu blass gesagt: Wie die Kunsthistorikerin Laurin-
da Dixon nachgewiesen hat, ist auf drei Tafeln das ganze alchemische
und durchaus nicht abstruse Weltbild des Hieronymus Bosch ausgebrei­
tet, der offenbar auf der Höhe der Bildung seiner Zeit war und durchaus
wusste, was er malte.
Bei Bosch, der uns eine Innensicht bietet, fehlt der laborierende Al­
chemist. Das ist bei den meisten anderen Malern, pars pro toto sei hier
David Teniers d. J. im 17. Jahrhundert genannt, anders. In seinen vielen
Bildern von Alchemistenküchen zeigt uns Teniers den Adepten -
manchmal als Selbstportrait - als Zentralfigur des Bildes umgeben von <Der Alchemist> von David Teniers d. J. (1610-1690);
seinen Symbolen, von Geräten, Öfen und Büchern, und auch, wobei er Schloß Schleißheim, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
in barocker Manier das Fantastische ins Handfeste hineinzieht, von selt­
samen Tieren wie einem ausgestopften Iguan als Inkarnation des Ouro-
boros, aber auch als Ingredienz von Medizin und als Symbol der Tor­ niers wird der Alchemist kontemplierend im Sessel sitzend dargestellt.
heit. Vergeblichkeit ist ja auch das Thema in Albrecht Dürers berühm­ Jetzt findet man keine Besessenheit in seinen Zügen, denn auf der Suche
tem Kupferstich <Melencolia I> von 1514, der sehr wohl den Beinamen nach Weisheit ist er ein Weiser geworden. Und da man einem Weisen,
<alchemica> tragen könnte. Melancholie und Weisheit scheinen - hof­ selbst wenn er seinen Tatendurst behalten hat, keine schmutzigen Fin­
fentlich entfernte - Verwandte zu sein, vielleicht weil sie oft ein lähmen­ ger zutraut, erscheint auf Teniers Gemälden häufig auch ein Gehilfe, der
des Gefühl der Machtlosigkeit mit sich bringen. Oft und auch bei Te- i in Gang hält.
4 o6 III. In Klöstern und andernorts

Andere Künstler stellten den Augenblick der Verzückung dar, so im


i8. Jahrhundert Joseph Wright in seinem Bild <The Alchemist>, das den
Entdecker des Phosphors Henning Brand zeigt, wie er in geradezu re­
ligiöser Ekstase vor einem wie überirdisch leuchtenden Destillierkolben
kniet. Wieder andere Künstler schildern Alchemist und Auftraggeber
im Augenblick der Wahrheit. So gibt es ein von Jan Matejko nach 1850
gemaltes Bild, auf dem der Adept Michael Sendigovius vor Kaiser Ru­
dolph II. eine - natürlich gelungene! - Transmutation demonstriert. Da­
vor schon, am romantischen Wechsel von 18. zum 19. Jahrhundert, fin­
den wir im Werk William Blakes geradezu eine Fimdgrube alchemischer
oder der Alchemie naher Themen und Motive.
Die andere, die missratene Seite der Alchemie fand aber auch ihre
Künstler. A u f einem Anfang des 16. Jahrhunderts gefertigten Holz­
schnitt von Hans Weiditz d. J. sehen wir einen schon ziemlich herun­
tergekommenen Alchemisten inmitten eines Wirrwarrs zerbrochener
Töpfe und Retorten am Kanünfeuer hantieren, während sein neben ihm
stehender Laborant sich wohl nicht nur Flöhe, sondern verzweifelte Ge­
danken aus dem Kopf zu kratzen versucht. Ein berühmter, etwa gleich­
zeitig entstandener Stich von Pieter Brueghel d. Ä. zeigt auf einem ein­
<Die Alchemisten>, Kupferstich um 1^60 nach einer Zeichnung von Pieter Brueghel
zigen Tableau nicht nur die tragikomische Besessenheit eines Alchemie d. Ä. (1^20-1^69); Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin - Kupferstichkabinett
treibenden Bauern, sondern auch die Folgen mit der Vertreibimg der
ganzen Familie von Haus und Hof. Man möchte lachen, aber das Lä­
cheln, zu dem man vielleicht angesetzt hat, geht doch in Mitgefühl und nen, und auch sein Schüler Eugene Canseliet weisen darauf hin, dass
Nachdenklichkeit unter. Hat der Bauer sein Schicksal verdient, weil er etwa an der frühgotischen Kathedrale Nötre Dame de Laon eine Ar-
Alchemist ist, oder hat er es verdient, weil er ungebildet ist und sich in chivolte aus dem 13. Jahrhundert zu sehen ist, in deren Bänderwerk
seinem Wahn in die Gelehrtenkreise höherer Weisheit eingeschlichen die Personifikation der Alchemie mit Zepter, Leiter imd Büchern er­
hat? scheint. Da diese Figur an die Spitze von anscheinend symbolischen
Die Kunst sieht scharf, auch wo sie Mitleid fühlt. Allerdings scheinen Darstellungen der Freien Künste gesetzt ist, könnte sie wohl auch die
die anderen Künste - nimmt man die Belletristik teilweise aus - nicht Artes liberales schlechthin symbolisieren, und das mag als Hinweis
ganz so rüde mit den Adepten und Möchtegern-Adepten umgegangen darauf dienen, dass man, wenn man die Grundwahrheiten der Alche-
zu sein wie Brueghel, wenn man ihnen, soviel ich weiß, auch nirgends nüe veriimerlicht und damit als Erlebnisse angenommen hat, in allem,
Denkmäler gesetzt hat. A u f einen Sockel gestellt zu werden, blieb öffent­ das irgendwie symbolträchtig zu sein scheint, auch im Hergeholten,
lichen Persönlichkeiten mehr oder weniger zweifelhafter Provenienz Alchemisches entdecken karm. Der Trank der Alchemie im Leibe lässt
Vorbehalten, und wenn dieser oder jener Alchemist einmal öffentlich einen eben so manche Helena sehen. Die Figur im Bänderwerk ist aber
erhoben wurde, geschah dies weder auf einem Steinpodest noch ge­ auch Hinweis darauf, dass die mittelalterliche Kathedrale gerade in der
schah es auf Dauer. Das Schicksal der Alchemisten Honauer Ende des meisterhaften Ordnung ihrer Architektur ganz wie die Bibel und ganz
16. und Cajetan im 18. Jahrhunderts, die beide mit vergoldetem Flitter­ wie ein alchemischer Text vielfältigen Sinn- und Deutungsmöglichkei­
werk behängt aufgeknüpft wurden, beweist es. ten offen steht. In die gotische Baukunst ist manch Wissen um Bezie-
Das soll aber nicht heißen, dass Steinmetzen und auch Architekten himgen von Immanentem und Transzendentem eingegangen. Die Tra­
sich nicht an der Alchemie versucht hätten. Tatsächlich finden sich dition der handwerklichen Geheimhaltung hat offenbar dieses Wissen
alchemische oder alchemisch zu deutende Motive an Kirchenwänden. in sich bewahrt und es schließlich auf dunklen Wegen zur Grundlage
Adepten des 20. Jahrhunderts wie der Autor des Buches <Le mystere der Freimaurerei gemacht. Und hat nicht auch die Alchemie einen ähn-
des cathedrales>, den wir mur unter seinem Decknamen Fulcanelh ken­ /icklungsweg von der Pflege handwerklichen, geheimen
4 o8 III. In Klöstern und andernorts Kunst und Alchemie 409

Wissens hin zu einer ausgefeilten esoterischen Lehre durchgemacht? Feder, Tintenfass und Waage Notenbücher sowie zwei Lauten, eine Vio­
Die innere, suchende und deutende jBeziehung manches Adepten zu la und eine Harfe ausgebreitet liegen. A uf dem über dem Tisch hängen­
seiner Kathedrale ist so gesehen ganz verständlich; denken wir nur an den Tuch im zentralen Vordergrund des Bildes können wir die Worte
Victor Hugos Erzdechanten Claude Frollo und sein Verhältnis zu Kir­ lesen: «Musica sancta, tristitiae spirituumque malignorum fuga, quia
che von Notre Dame. Eine Kathedrale ist nicht nur eine erstarrte und Spiritus Jehova libenter psallit in corde gaudio pio perfuso», was wohl
doch wie lebendige Flamme, sie ist auch ein Kosmos, ein Abbild des in etwa heißen soll: «Heilige Musik, Vertreiberin der Traurigkeit und
Makro- und Mikrokosmos in einem, und damit auch ein steinernes der bösen Geister, da ja der Geist Gottes im von frommer Freude erfüll­
Beziehungsgeflecht von allem zu allem. Das wusste später, in einem ten Herzen gern aufspielt.» Es ist die Musik, die den Alchemisten vor
Tal der Neuzeit, die Romantik wieder zu schätzen. der ihn bedrohenden psychologischen Melanosis, vor der Melancholie
Aber die Kathedrale ist auch steinere Musik, sichtbar gewordene Har­ bewahren soll. Heute würden wir das Musiktherapie nennen.
monie, so wie die Choräle, die sie erfüllten, hörbare Harmonie waren. Die Instrumente auf dem Tisch in Khunraths Kupferstich könnten
Ja, die utopisch-hermetische Ideal-Architektur eines Juan Baptista Vil- auch als Hinweis dienen auf die pythagoreische Vorstellung, dass die
lalpando zu Ende des 16. Jahrhunderts war geradezu darauf angelegt, Welt von Harmonie erfüllt, ja dass sie Harmonie ist, und dass der Adept
über die bekannten Moduln hinaus musikalische Harmonieverhältnis­ diese Harmonie, die aus wenigen Elementen - oder gar nur einem, der
se, d. h. pythagoreische Zahlenverhältnisse zu verkörpern, in denen sich Zahl - alles schafft, in seinen Manipulationen nachvollziehen soll: Hen
Welt und Himmel treffen sollten. Wie also steht es um das Verhältnis to pan.
der Musik zur Alchemie? Eine allerdings meist im Metaphorischen bleibende Verbindung von
Wir könnten hier auf das Hochmittelalter und den Anfang des Musik und Alchemie lag nahe, was auch dadurch symbolisiert wird, dass
14. Jahrhunderts und Walter von Odington verweisen, der sowohl ein Hermes, der Schutzgott aller Alchemisten, als Erfinder des ersten Musik­
Buch über Musik, als auch eines über Alchemie verfasst hat. Beide ha­ instruments, der Leier, galt. Auch die Panflöte mit sieben Rohren paßte
ben aber inhaltlich nichts miteinander zu tun. Hieronymus Bosch dage­ gut ins Metapher- und Symbolgewebe, in das die Alchenüe eingespon­
gen setzt den Musiker, oder besser: einen bestimmten Typ des Musikers, nen war. Ob allerdings die Autoren, die etwa die vier Elemente mit dem
und den Alchemisten in voller Absicht nebeneinander, will er doch das Tetrachord, der viersaitigen Laute, verglichen haben, viel von Musik und
vergebliche Werkeln des falschen Alchemisten anprangem, der wie ein Musiktheorie verstanden, sei dahingestellt. Ein formalisierter, ritualisier­
falscher, d. h. ein profaner Musiker auf falschem Instrument, nämlich ter Einsatz von Musik im Opus alchemicum ist mir zumindest nicht be­
nicht auf der Orgel, sondern auf einem Saiteninstrument spielt, zudem kannt. Die auf Musik bezogenen Allegorien und Metaphern sind Hin­
noch auf einem falsch gebauten, wie es die abgebildete einundzwanzig- weis auf die allgemeine Stellung des Werkes im Mikrokosmos, sie haben
saitige Harfe ist.^° Aber: In jedem Saiteninstrument steckt doch auch aber keinesfalls die Bedeutimg von Handlungsanweisungen, wie das
eine Ahnung der Lyra des Orpheus, dessen Spiel der Liebessehnsucht etwa bei Angaben von Farben und Färbungen der Fall ist. Und was die
selbst die Götter bezwingt. Harmonielehren platonisch-pythagoreischer Tradition betrifft, die in vie­
Eine gerade durch Saiteninstrumente geknüpfte, enge und positive len Kosmologien der Frühen Neuzeit von Robert Hudd und Johannes
Beziehung der beiden Künste finden wir denn auch in einem Bild, das Kepler bis Athanasius Kircher einen bedeutenden Platz einnahmen, so
aus dem 1595 erschienenen Werk <Amphitheatrum Sapientiae Aetemae> sind keinerlei spielbare und damit in irgendeinem Labor verwendbare
des Alchemisten Heinrich Khunrath stammt. Es zeigt einen weit in die Musikwerke aus ihnen entstanden.
Tiefe gestreckten Raum, der im Hintergrund von einem Torbogen ein­ Andererseits wird es musikalische Äußerungen im Labor auch ohne
gerahmt wird, über dem der Merkspruch steht: «Dormiens vigila» - therapeutische Absichten gegeben haben. Warum sollen Alchemisten
«Wache, während du schläfst». Und zugleich wird in knappen Worten, beim Laborieren lücht murmeln, psalmodieren, singen dürfen? Die Mu­
eingeschnitten in einen der Querbalken an der Decke, versichert, dass sik, der rhythmische Ton, kennt den Abstand des Gesehenen zum Se­
ohne das «Anwehen des Göttlichen Geistes» nichts gelingt. Wenn wir henden. Der Ton, als Wort oder Gesang, kann also dem Verborgenen
den Vordergrund des Raumes betreten, erblicken wir an seiner rechten näher sein. So etwas wie magisches Gemurmel kommt ja sogar im heu­
Längswand ein vollständiges alchemisches Laboratorium und an seiner tigen Labor vor, von Gebeten oder besser Stoßgebeten ganz abgesehen,
linken ein offenes Zelt mit einem Altar, vor dem der Adept kniet. In der die allerdings meist in schamhafter Stille durch den Kopf des Chemikers
Mitte des Raumes aber befindet sich ein langer Tisch, auf dem neben ziehen.
410 III. In Klöstern und andernorts Kunst und Alchemie 411

Doch es gibt auch, und das ist schon bemerkenswert genug, echte Auch Mythen haben übrigens etwas unendlich Ausdeutbares an sich,
Kompositionen, in denen eine Synthese alchemischer und musikali­ und so kann man unsere kleine Geschichte mit Maiers Zeitgenossen
scher Aussagen angestrebt wurde, die also nicht bloß ganz allgemein Francis Bacon auch so interpretieren, dass Hippomenes die Natur, Ata­
Alchemie und Alchemisten, sondern alchemische Handlungen und lanta aber die Kunst vertritt, die durch ihr Streben nach Gewinn und
Symbole zum Thema haben. Hier sind vor allem zwei Geistliche zu Vorteil - immerhin sind die Äpfel golden - von ihrer eigentlichen Be-
nennen, nämlich der wohl aus dem 14. Jahrhundert und aus Böhmen stimmimg abgehalten wird. Maier selbst deutet den Mythos etwas vage
stammende Johannes von Teschen sow ie N icolaus M elchior aus alchemisch. Atalanta ist hier der Mercurius philosophicus, der vom Sul­
Siebenbürgen, der trotz seines schwarzen Rocks 1531 anscheinend we­ fur, das ist hier Hippomenes, in seiner Bewegung fixiert und zurückge-
gen Falschmünzerei hingerichtet worden ist. Hochwürden Johannes hcdten wird. Der Tempel der Göttermutter ist das hermetische Gefäß,
hat eine Antiphon, einen liturgischen Wechselgesang, <Pulcher lapis und man redet von Löwen, wenn die Flüssigkeit im Gefäß rot wird.
noster>, zum Lobpreis des alchemischen Werkes und des Lapis kom­ Die im Mythos erscheinenden Formen der Bewegung hat Maier in
poniert, der darin als Resultat einer vierfachen (Destillier-)Bewegung 50, den Epigrammen entsprechende zweistimmige Kanons übertragen,
dargestellt wird. Hochwürden Nicolaus ging da noch einen erhebli­ in denen die Stimme der Atalanta vorauseilt, die des Hippomenes nach­
chen Schritt weiter, indem er in seinem <Processus sub forma missae> folgt und erst gegen Ende des Zyklus einige Male mit ihr zugleich ein­
die katholische Messe derart alchemisierte, dass sein Processus uns setzt. Als dritte Stimme kommt der Cantus firmus der goldenen Äpfel
heute bei aller musikalischer Feierlichkeit fast wie eine Parodie vor­ hinzu. Nach Meinung des Wissenschaftshistorikers Christoph Meinel,
kommt. der sich eingehend mit dem Thema befasst hat, war Maier aber seiner
Wenn aber von alchemischen Kompositionen die Rede ist, fällt im­ selbstgesetzten, komplizierten Aufgabe ästhetisch nicht gewachsen.
mer der Name Michael Maiers, aus dessen Feder die schon genannte Vielleicht deshalb hat er keine bedeutenden Nachfolger gefunden, ob­
<Atalanta fugiens> von 1617 mit ihren fünfzig Emblemen stammt. Die­ wohl es noch einige Beispiele des Zusammengehens von Musik und
ses Werk sollte in einem Gesamtkunstwerk gewissermaßen die Natur Alchemie gibt. Von bedeutenden Alchemie treibenden Komponisten
der Natur darstellen. Und was ist mehr in die Natur der Natur ver­ oder komponierenden Alchemisten aber ist nicht zu berichten. Vielleicht
wickelt als die Alchemie? So geht es in der <Atalanta fugiens> um die braucht der, der Musik erschaffen kann, die Kunst der Erlösung durch
Metamorphosen, die Transmutationen, aber auch um die Erkenntnis das Goldmachen nicht.^^
der Natur. Der Mythos der Nymphe Atalanta, wie ihn Ovid in seinen Allerdings war die Göttliche Kunst mehrmals auch Thema komposi­
Metamorphosen erzählt, ist der Mythos der vom Menschen überwun­ torischer Bemühungen ohne irgendwelche alchemie-didaktischen Ab­
denen Natur. Die schöne Atalanta nämlich folgt einer wenig empfeh­ sichten. Immerhin ein alchemisches Motiv, das der Pilgerfahrt durch alle
lenswerten Methode, um lästige Freier loszuwerden. Sie fordert sie Elemente hin zum Mysterium, ist z. B. von Wolfgang Amadeus Mozart
zum Wettlauf auf, setzt sich selbst als Siegespreis, besiegt sie in schnell­ in seiner Zauberflöte vertont worden, und zwar im Gesang der gehar­
füßigem Laufe und tötet sie. Der sicher ebenfalls schöne, aber dazu nischten Männer, womit wir genau an der Grenze zwischen einer mu­
noch kluge Hippomenes jedoch setzt dem Spiel um die Liebe mit Hilfe sikalischen Selbstdarstellung der Alchemie und einer Selbstdarstellung
der Liebe ein Ende. Auch er läuft um der Schönen Gunst, als gälte es der Musik unter dem Vorwand der Alchemie angekommen sind. In
sein Leben. Aber von Aphrodite selbst hat er sich zuvor drei goldene jüngster Zeit hat sich übrigens herausgestellt, dass Mozart beteiligt war
Apfel aus den himmlischen Gärten der Hesperiden erbeten, und die an einem Singspiel <Der Stein der Weisen oder die Zauberinseh nach
lässt er jetzt einen nach dem anderen faUen. Auch griechische Mädchen einem Libretto von Emanuel Schikaneder. Erwähnenswert ist auch, dass
heben das Schöne, oder sie sind schlicht neugierig oder auch hstiger die Bühnenmusik zu Ben Jonsons Komödie <The Alchymist> von Georg
als ihre Freier, und so bückt sich Atalanta dreimal nieder, bleibt zurück, Friedrich Händel stammt, wenn er sie auch nicht eigens zu diesem
und Hippomenes trägt den Sieg davon. In einem abgelegenen Tempel Zweck geschrieben hatte. Fast 20 - komische - Opern mit dem Thema
der Göttermutter Kybele vollzieht er mit Atalanta die Hochzeit. Die Alchemie kann man fürs 18. und 19. Jahrhundert auf zählen, unter ihnen
empörte Göttin aber bestraft das lockere Pärchen für die Schändung eine von Louis Spohr. Was das 20. Jahrhundert angeht, so weiß ich nur,
ihres Heihgtums, indem sie beide in Löwen verwandelt: Zu all dem dass Leo§ Janäcek mit <Die Sache Makropolus> eine Oper geschreiben
Schönen eine schöne Bescherung, die ein wenig an Ptah und seine hat, in der das Elixier ein zentrale Rolle spielt, und dass Giacomo Puc-
löwenköpfige Sachmet erinnert. cini mit dem Gedanken gespielt hat, eine Vorkge von Gabriele d'An-
412 III. In Klöstern und andernorts Kunst und Alchemie: Belletristik 413

nunzio zu einer Oper umzuarbeiten, er fand das Werk aber «zu rausch­ benden, die von reichem und langem Entzücken träumen, und es doch
haft und betörend - ich möchte auf den Beinen bleiben», weshalb er das nicht weiter als zur Sommernacht bringen, die kühl ist wie die Nacht
Projekt zugunsten von Madame Butterfly aufgab. im Winter. Derselbe Donne aber vergleicht in einem anderen Gedicht
Mit Libretti als Trägem von Opern sind wir bereits auf dem Gebiet Christi Auferstehung, an die er ja fest glaubt, mit der Gewinnung des
der Belletristik. Hier gibt es schon relativ früh Romane, die alchemische Elixiers aus dem Golde.
Motive enthalten wie Wolfram von Eschenbachs Verserzählung <Parzi- Auch die Bühne hat auf die Alchemie nicht verzichtet. Das zeigt sich
val> aus dem frühen 13. Jahrhundert. Wolfram beweist hier nicht nur schon im Titel von Ben Jonson Gaunerkomödie <The Alchymist> aus
allgemein alchemische Kenntnisse, er schafft auch eine unübersehbare dem Jahre 1610, in der ein gewisser Herr mit dem bezeichnenden Na­
Parallele oder gar Realanalogie zwischen dem Lapis philosophomm men Subtle im Verein mit einer zweifelhaften Dame namens Dol Com­
und dem rot aufleuchtenden Gral, den er in alchemischer Sprechweise mon den ehrenwerten Sir Epicur Mammon dazu bringt, sein ganzes
als «wurzeln unde ris», Wurzel und Spross aller Dinge, bezeichnet. Der Vermögen dem Großen Werk zu opfern, das sich dann im geeigneten
Gral kann den verbrannten Phoenix wiederauferstehen lassen, und sein Augenblick per Explosion verflüchtigt.
Dasein hält den kranken Gralskönig am Leben. Im Umkreis der mittel­ Dass die Alchemie nicht nur ein guter Stoff für Komödien war, zeigt
alterlichen Romanliteratur ist ferner besonders der ebenfalls in Verse Goethes Tragödie vom Sohne eines dunklen Ehrenmannes. Wie der
gefasste <Roman de la Rose> zu nennen, der um 1230 von Guillaume de Dichter, der ihn beschrieben hat, besaß auch Doktor Faustus beachtliche
Lorris begonnen und in einem zweiten Teil um 1280 später von Jean de alchemische Kenntnisse, wenn auch eher Mephisto als die Alchemie für
Meung vollendet wurde. De Meung zeigt hier genaue Kenntnisse alche­ die Untaten des Herrn Faust verantwortlich war. Im 19. Jahrhundert gab
mischer Theorie und Praxis. Die Alchemie sei eine wahrhafte Kunst, es noch etliche andere, heute weitgehend unbekannte Schauspiele, die
wenn auch wie jede Kunst unvollkonunen. In aufmerksamer Nachfolge dem Thema Alchemie gewidmet waren. Wer weiß z. B., dass Alexandre
der Natur könne sie sogar Transmutationen zustande bringen. So posi­ Ehimas in Zusammenarbeit mit Gerard de Nerval ein fünfaktiges Drama
tiv urteilt im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit kein anderer Dich­ mit dem Titel <L'alchimiste> auf die Bühne gebracht hat?
ter. Dante Alighieri lässt gleich zw ei Alchemisten in der Hölle schmo­ Das neunzehnte Jahrhundert aber war das Jahrhundert des Romans,
ren, und Francesco Petrarca lässt Vernunft und Hoffnung über die A l­ auch in Hinblick auf die Alchemie. Und da kommt uns zuerst - wer hat
chemie streiten, wobei die Hoffnung im Verein mit Geldgier und das Buch nicht gelesen oder wenigstens den Film gesehen? - Victor
Dummheit in der Brust des Alchemisten über die Vernunft siegt. We­ Hugos Roman <N6tre Dame de Paris> in den Blick und damit die große
sentlich anders sieht es ja auch in den <Chanterbury Tales> von Geoffrey Kathedrale zu Paris, die als steinernes alchemisches Geheimnis darge­
Chaucer nicht aus. Ähnlich alchemiefeindlich geht es Ende des 15. Jahr­ stellt wird, das der böse Erzdechant zu entschlüsseln trachtet. Tatsäch­
hunderts in Sebastian Brants moralisierendem Lehrgedicht, dem <Nar- lich hat schon im 17. Jahrhundert ein gewisser Gobineau de Montluisant
renschiff>, zu, das den «großen beschiss der Alchemy» anprangert. Brant ein Buch über das alchemische Geheiirmis der Kathedralen geschrieben,
ist der Einzige unter den hier genannten Schriftstellern, der nicht nur so wie in unserem Jahrhundert der mysteriöse Adept Fulcanelli. Aber
auf die praktische Vergeblichkeit der Alchemie abzielt, sondern - aller­ auch Honore de Balzac hat einen Roman <L'Alchimiste, La recherche de
dings sehr en passant - auch eine theoretische Begründung seiner Ab­ l'absolu> verfasst, dessen Protagonist, Balthazar Claes, sich in seinem
lehnung anbietet; «Dann Aristoteles der gycht / Die gstalt der Ding Bemühen, Stickstoff zu zerlegen, mit dem zeitgenössischen Stand der
wandelt sich nicht.» (Federm. 388 ff.) Chemie bestens vertraut zeigt, andererseits aber den typisch alchemi­
Übrigens hieß über die Alchemie zu schreiben nicht unbedingt, über schen Drang besitzt, auf der Suche nach dem Absoluten alle Grenzen
sie zu urteilen. Wenn Gedichte mit alchemischen Vergleichen unterlegt zu überschreiten, und zugleich getrieben ist von der so typisch alche­
wurden, ja geradezu von ihnen lebten, dann brauchte das im Gesamt­ mischen Gewalt der Hoffnung, die ihn mit einem Heureka, einem <Ich
oeuvre des Dichters überhaupt nicht wertend gemeint sein. Ein gutes hab's>, auf den Lippen dem Ruin und dem Tod entgegentaumeln lässt.
Beispiel ist John Donne im 16./17. Jahrhundert. In einem resignierten Fast eine Karikatur dieses Balthazar Claes war übrigens der große Dich­
Liebesgedicht nämlich gibt er uns zu verstehen, dass das Glück der ter August Strindberg, der sich während einer psychischen Krise in Pa­
Liebe ebenso wenig zu finden sei w ie das Elixier. Wie dem Alchemisten, ris, wo es am Fin de siede übrigens von Alchemisten und Okkultisten
der schon seinen Topf preise, wenn bei seiner Suche wenigstens eine wimmelte, auch praktisch mit Alchemie beschäftigt hat, und zwar auf
wohlriechende Substanz oder eine Arznei abfiele^_scLfflh& es den Ue- der Suche nach dem Urgrund aller Dinge, die ihm wahrscheinlich in
414 III. In Klöstern und andernorts Kunst und Alchemie: Belletristik 4U

einer Participatio mystica Anschluss an das erlösende Weltgeheimnis fruchtbares Chaos der Sprache zu schaffen, um von hier aus - «Goldfun­
bringen sollte. In seinem Werk <Antibarbarus>, das naturwissenschaftli­ ke vom Licht Natur»^^ - zum Stein der Weisen einer neuen, von vernunft­
che Einsichten zeigt und zugleich der Entmystifizierung der Natur ent­ gemäßem Gebrauch befreiten, universalen Empfindungs- und Sprach-
gegenzuwirken sucht, begriff er sich als <Poetchemiker>, propagierte welt vorzudringen. Aber: «Cela c'est passe.» (Rim. 310)
eine allgemeine Entwicklungslehre, welche eine Transmutation der Ele­ An die Spitze derer aber, die unsere Alchemie zum Thema gemacht
mente, die als solche keine sind, voraussetzt, dies im Geiste, allerdings haben, sei Rainer Maria Rilke gestellt, dem es gelungen ist, die Ambi­
nicht im Buchstaben der wenig später aufkommenden Kernphysik: valenz allen alchemischen Tuns ins richtige Wort zu bringen:
Schwefel besteht seiner Ansicht nach wie eine organische Verbindung
aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, Jod lässt sich synthetisieren Seltsam verlächelnd schob der Laborant
und Quecksilber zu Gold transmutieren. den Kolben fort, der halbberuhigt rauchte.
Die deutsche Romantik als Zeit einer besonderen Neigung zur Alche­ Er wusste jetzt, was er noch brauchte,
mie hat natürlich auch Romane und Novellen hervorgebracht, in denen damit der sehr erlauchte Gegenstand
die Alchemie zumindest metaphorisch oder motivisch verwandt wurde, da drin entstände. Zeiten brauchte er,
ich denke da - aber die Romantik sollten wir uns noch Vorbehalten - Jahrtausende für sich und diese Birne
an Novalis' <Heinrich von Ofterdingen> und dort vor allem an das sehr in der es brodelt; im Hirn Gestirne
merkwürdige Märchen, außerdem an Ludwig Tiecks Novelle <Der Ru- und im Bewusstsein mindestens das Meer.
nenberg>. Das Ungeheuere, das er gewollt,
In unserem Jahrhundert stehen Alchemisten oder Besitzer des Lapis er ließ es los in dieser Nacht. Es kehrte
philosophorum u. a. in Zentrum von Romanen von Werner Bergengruen zurück zu Gott und in sein altes Maß;
(<Das große Alkahest>), Marguerite Yourcenar (<Die schwarze Flam- er aber, lallend wie ein Trunkenbold,
me>), Franz Spunda (<Baphomet>), Maria Szepes (<Der rote Löwe>), Fre- lag über dem Geheimfach und begehrte
derick Tristan (<Im Gefolge des Alchemisten>), Paulo Coelho (<Der Alche- den Brocken Gold, den er besaß. (Rilke I, 530)
mist>), William Gaddis (<Die Fälschung>), Lindsay Clarke (<The Chymical
Wedding>) und sicher noch etUchen anderen. Die neueren - bei Yourcenar
und Gaddis durchaus geglückten - Versuche, die Alchemie literarisch in
unsere Welt zu holen, vermeiden gewöhnlich jeden Hinweis auf das Ver­
hältnis zwischen Chemie und Alchemie. Stattdessen - man will die Leser
schließlich nicht ermüden - wiederholen manche von ihnen bloß die
etwas hausbackene Weisheit, dass die wahren Schätze im Inneren der
eigenen Brust zu suchen sind, oder schwelgen gar in Weltbeglückungs­
nostalgien. Allerdings haben auch große Schriftsteller und Kenner eso­
terischer Literatur zumindest am Rande versucht, den Geist alchemi-
schen Denkens zu vermitteln, so Jorge Luis Borges in seiner Geschichte
<Paracelsus> und Umberto Eco in dem Roman <Das Foucaultsche Pendeh.
Last but not least sei erwähnt, dass auch die Lyriker unseres und des
zumindest in Hinblick auf die Alchemie ebenfalls <ungläubigen> vorigen
Jahrhunderts sich vereinzelt des Themas annahmen, im französischen
S)mbolismus sogar als eine Art Programm, als <Alchimie du verbe>, wie
Arthur Rimbaud es ausdrückte. Rimbaud hat sich mit Alchemie und
Kabbala beschäftigt, wenn auch nur per Lektüre. In einer Phase seiner
poetischen Entwicklung ging es ihm darum, Buchstaben, Wörter, Anbli­
cke halluzinatorisch von ihrer Bindung an die Wirklichkeit des Erschei-
zu^ trennen, so als eine A r t Prima materia «in
Neuzeit und Hermetismus 417

Mischmasch getragenen Erwartungen der Neuplatoniker hochzuspan­


nen.
Von welcher Hoffnung, welchem Wollen aber wurde diese Erwartung
IV. In der neuen Welt Europas getragen?
So paradox es klingen mag: Die Humanisten wollten Befreiung von
Tradition durch Rückgriff auf Tradition. Durch Rückkehr zu den Quel­
/. Neuzeit und Hermetismus len der Tradition wollten sie den Fundus eben dieser Tradition rein,
d. h., von jedem Zusatz, jeder Verfälschung befreit, ausschöpfen. Wie
Wann eigentlich ging das Mittelalter in die Neuzeit über? Darüber lässt jede echte Renaissance war auch die des Quattrocento, des 15. Jahrhun­
sich trefflich streiten, zumal es auch eine Definition dessen einschließen derts, nicht ein Bestreben, längst Vergangenes sklavisch nachzuahmen,
müsste, was <neuzeitlich> sein soll. sondern ein Versuch, sich von den Fesseln der etablierten Tradition zu
Ist es neuzeitlich, dass der Mensch sich auf sich selbst besinnt? Doch lösen. Selbstbesinnung, Selbstbestimmung, Neuorientierung, kurz: Be­
was heißt das? freiung von den Zwängen der Zeit, das waren nach den Katastrophen
Ist es neuzeitlich, dass neue Wirtschaftsformen das Zusammenleben des 14. Jahrhunderts die Leitmotive der Renaissance, die Leitmotive ei­
der Menschen bestinunen? Doch hat es diese Wirtschaftsformen - etwa nes Pico della Mirandola und anderer.
in Gestalt der Handelsbeziehungen oberitalienischer Städte - nicht Vehikel zu dieser Befreiung war u. a. der Hermetismus. Sein mythi­
schon im Mittelalter der Kreuzzüge gegeben? sches Alter, seine esoterischen, inspirierten Weisheiten schienen Gottes­
Ist es neuzeitlich, dass die Zeit ihren zyklischen Charakter weitge­ und Weltwissen, ja, ein Ur-, ein Vor-Christentum jenseits der immer
hend verloren hat und in einem blinden Fortschritt nach vorne stürzt? stärker werdenden Spannungen im Bereich der Römischen Kirche zu
Doch kann man das in dieser Schärfe überhaupt sagen? vermitteln. Sogar in gewissem Sinne beweisbar, demonstrierbar schie­
Ist es neuzeitlich, dass der Mensch die Übersicht über die Folgen nen die Weisheiten dieses Hermes zu sein, legten doch, so konnte man
seiner Handlungen zu verlieren droht? Doch war er davon nicht immer aimehmen, Astrologie, Zahlenmagie sowie nicht zuletzt die Alchemie
schon bedroht? die Probe auf das Exempel des Hermetismus ab.
Ist es neuzeitlich, dass der Mensch von einem geschlossenen, dichten Der Neuplatonismus Ficinos, Pico della Mirandolas und ihrer Geis­
Kosmos in ein offenes, gewissermaßen verdünntes Universum überge­ tesverwandten und sein Ableger, der Hermetismus, antworteten auf
wechselt ist? Doch ist das Gefühl dafür nicht erst relativ spät entstan­ eine Legitimitätskrise. Nun, im Rahmen einer neuen Ordnung, war
den? plötzlich erlaubt, ja gefordert, was jahrhundertelang verdrängt worden
Am besten, wir drücken uns um eine Antwort und definieren - zu­ war, nämlich das Wissen um Phänomene, die im mittelalterlichen Kos­
gegebenermaßen etwas gewagt - die Neuzeit als Folgeerscheinung ei­ mos geradezu als illegitim gegolten, die außerhalb der Ordnung des
ner kleinen Unterhaltung, die zwei Herren, sicher bei einem guten Glas Kosmos gestanden hatten. Am Beginn der Entdeckungsreisen entdeckte
toskanischen Weins, irgendwann im Jahre 1460 in einem florentinischen der Hermetismus die fernen Dunkelheiten, und er versicherte sich in
Palazzo geführt haben. Der eine der Herren war der Großherzog Cosi- geradezu finanzieller Bedeutung des Wortes gegen den Einbruch dieses
mo de' Medici, der andere der Humanist Marcilio Ficino. Cosimo bat gesuchten imd zugleich gefürchteten Dunkels durch die Unbedingtheit,
seinen Freund und Vertrauten, eine Serie von griechischen Papyri zu die absolute Zuverlässigkeit uralter Weisheit. Die Medici in Florenz wa­
übersetzen, die er, Cosimo, soeben für teures Geld gekauft hatte. Es ren eine Kaufmannsfamilie, vielleicht deshalb hatten sie einen besonde­
handelte sich um 14 Texte aus dem <Corpus Hermeticum>, von denen ren Sinn für das geistige Abenteuer des Hermetismus, das sich ja auch
die beiden Herren und mit ihnen das halbe gelehrte Europa ungeahnte im Leben der Großkaufleute widerspiegelte; Ausdehnung, Risiko, Vor­
und uralte Weisheiten erwarteten. Obwohl Hermetica auch im Mittel- dringen in Fremdes auf der einen Seite, Streben nach Kalkulierbarkeit
alter in Teilen bekannt waren - Petrus Abaelard und Albertus Magnus geschäftlicher Transaktionen imd nach Sicherheit im Gewinn auf der
erwähnen sie -, wurden die beiden Herren anscheinend nicht ent­ anderen.
täuscht, und das halbe Europa auch nicht; Die Übersetzung passte bes­ Im Licht des Hermetismus ist uns der Beginn der Neuzeit gleichzeitig
tens in die anwachsende Welle des Neuplatonismus, und der ehrwür­ merkwürdig fremd und geradezu erschreckend nah. Dringen nicht auch
dige Name des Hermes^tat ein Übriges, ü ie von einem synkretistischen JWiiLjiviniiner Fremderes vor und suchen doch Sicherheit, vor allem
4 i8 TV. In der neuen Welt Europas Neuzeit und Hermetismus 419

innere Sicherheit? Ein wesentUcher Unterschied der Zeit und der Ge­ nur zweifelhafter Berechtigung christlich vorkam, nach der Reformation
dankenwelt eines Ficino zu der unseren liegt aber sicher auch darin, mit Leichtigkeit Konfessionsgrenzen übersprang, während doch sonst
dass uns der Rückweg zur Prisca scientia, zur selbstverständlichen der kleinste theologische Graben für den Andersgläubigen so tödlich
Weisheit, abgeschnitten ist, zu einer Weisheit, die gerade in ihrer Viel­ sein konnte wie die legendäre Ackerfurche für Remus, den Bruder des
deutigkeit die Vielschichtigkeit des Daseins abzubilden und zu bewäl­ mörderischen Romulus. Wir müssen festhalten, dass die Christlichkeit
tigen vermochte.* Für uns ist das durch Tradition Selbstverständliche der Hermetismus offensichtlich konfessionslos war. Sie war eine intel­
bestenfalls ersetzt durch das wissenschaftlich Gesicherte, und das Ur­ lektuelle Angelegenheit, die dem konfessionellen Streit über die Bedeu-
alte mythischer Zeiten ist bestenfalls ersetzt durch das Uralte des Pri­ timg von Personen - Maria, Christus, die Heiligen - auswich und sich
mitiven, des Unterrationalen. Sicher erklärt das unser Interesse für die ansonsten im Bereich der von allen christlichen Parteien propagierten
Ethologie der Tiere: <Wie's die Schimpansen tun, die doch offensichtlich Dogmen aufhielt.^ Und so hat der Hermetismus gewiss zur intellektu­
so prima nüt ihrer Umwelt zurechtkommen .. .>, sicher auch erklärt das ellen Einheit Europas im Zeitalter der Glaubensspaltungen beigetragen.
unser Interesse für die Verhaltensforschung an <primitiven> Gesellschaf­ Wenn wir unter dem Aspekt der Alchemie den Renaissance-Herme­
ten: <Wie die's tun, die doch irgendetwas haben, das uns abhanden ge­ tismus betonen, soll das allerdings nicht bedeuten, dass er die frühneu­
kommen i s t .. .>, und sicher erklärt das unser Interesse für Psychologie: zeitliche Philosophie gewesen sei. Befreiung bedeutet allemal Befreiung
<Wie w ir's als Kinder gefühlt haben mit der Reinheit derer, die noch zu verschiedenen Möglichkeiten. Schon ein kurzer Überblick über die
nicht lesen und schreiben konnten, imd dann, ja und dann ist da auch Naturphilosophie der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert zeigt ims,
noch das Unterbewusste, das doch irgendwie wie ein Kind und ein dass immer mehrere Geistesbewegungen miteinander konkurrierten,
Primitiver in einem ist .. .> Last but not least erklärt gerade der Verlust unter ihnen last not least der durchaus noch lebenskräftige orthodoxe
des selbstverständlichen Glaubens an überlieferte Welterkenntnis unser Aristotelismus, der weiterhin die Universitäten beherrschte.
Interesse an Esoterischem wie etwa der Alchemie: <Gerade weil wir's Es ist aber der Hermetismus, der dem Bild der Frühen Neuzeit eine
nicht so recht verstehen, muss doch etwas dahinterstecken .. .> besondere Färbung gab. Z. B. waren Praktiken, die wir heute zum fin­
Und da haben wir natürlich recht! Denn würde es sich sonst lohnen, stersten Aberglauben zählen würden, intellektuelle Mode. Alle Welt be­
dicke Bücher zu schreiben? Und zu lesen? saß Talismane für alle möglichen und sicher nicht immer frommen
Aber, um auf das Nahe und doch so Fremde zurückzukommen: Zwecke. Auch die Klügsten wagten es nicht, über Katzenpfoten, Saphir­
Wenn wir uns die auf Gott und die christliche Lehre bezogene Seite des staub und dergleichen auch nur zu lächeln, denn die stolzen Besitzer
Renaissance-Hermetismus anschauen, dann werden wir bald feststellen, dieser wundermächtigen Dinge besaßen eine Theorie, nüt der die Wun­
dass er mit seinen gnostisch-neuplatonischen Neigungen nicht gerade dermacht jedem Einsichtigen erklärt werden konnte: die der Korrespon­
zur Orthodoxie gehörte. Aber die Prisca scientia, die der Hermetismus denz.
anzubieten hatte, schien so selbstverständlich von christlichem Geiste Mit den Talismanen sind wir wieder ganz in der neuplatonisch-
getragen zu sein, dass anscheinend niemand, vor allem die Hermetiker stoisch-pythagoreischen Welt der Sympathien und Antipathien, die den
selbst nicht, auf die Idee kam, dass irgendetwas Ketzerisches in der Makro- und Mikrokosmos durchziehen, dies sozusagen auf den Hügeln
uralten Weisheit verborgen sein könnte. So bildeten sich auch, so viel der Anima mundi, der platonischen Weltenseele, deren Selbstbewegung
ich weiß, keine bedeutenden hermetischen Zirkel, die sich bewusst die Harmonie des Kosmos garantiert. Alles ist beseelt oder vergeistigt,
außerhalb der etablierten Kirchenstrukturen stellten. Heute dagegen er­ reden wir nun von Pneuma, Spiritus oder Anima, die als Anima metal-
leben wir jenseits einer auch imter dem Druck der Naturwissenschaften lorum den sieben Metallen zugehört. Beseelt, vergeistigt oder wie immer
schwächer und schwächer werdenden Orthodoxie eine Wucherung es heißt: In den Augen der Hermetiker bedeutet es beeinflussbar. Und so
religiöser Sekten mit allen möglichen Angeboten transzendenter Ord­ kann der, der die geheimen Analogie-Beziehungen zwischen scheinbar
nungen, Sekten, die im Übrigen gewöhnlich mit antiwissenschaftlichen disparaten Dingen kennt, dieses Wissen zu seinem Vorteil nutzen.
Affekten belastet sind. Die Wissenschaften samt ihren technischen Ko­ Die Anima metallorum erlaubt uns, zu den Problemen speziell der
horten haben hier einen Pyrrhus-Sieg erlebt, wie er bis in unser Jahr- Alchemie zurückzukehren. Wenn Roger Bacon davon spricht, die
himdert hinein imdenkbar gewesen wäre. <Kunst> könne aus unbelebten Substanzen Medizinen und also belebte
Bei aller Berufung auf gemeinsame Wurzeln ist dennoch bemerkens­ Substanzen machen, meint er dann wirklich, dass etwa Metalle <tot<
wert, dass mit dem Hermetismus eine geistige Bewegung, die sich mit sind? Aber wa& heißt 4 ebend>, w as heißt <tot>? Heißt <unbeseelt> <tQt>,^
420 IV. In der neuen Vielt Europas Neuzeit und Hermetismus 421

wenn man unter <unbeseelt> nur versteht, dass etwas weder pflanzlich sache-Wirkungs-Verhältnissen auch komplexe Fälle, wie sie etwa die
noch tierisch ist? Selbst heute steckt ja in dieser Frage ein Problem der Astrologie bietet, in denen das zu Beweisende die Einwirkung des Be­
Erkenntnis bzw. der genauen Definition. Hält man, wie heute üblich, weisenden <begreifen> muss, um irgendeine adäquate Wirkung zu zei-
Selbstreproduktivität, Metabolismus und Mutabilität für Charakteristi­ gen.
ka der Lebewesen, dann hat man Schwierigkeiten mit den Kristallen, Nun könnte man meinen, der im 15. Jahrhundert verstärkt einsetzen­
die aus der Mutterlauge die Struktur ihrer Keimkristalle formen, sich de Trend zur Spiritualisierung der Alchemie, der ja seine Kraft aus ei­
also in gewisser Weise selbst reproduzieren, dabei einen Energieum­ nem schon im griechischen <Corpus hermeticum> zusammengedachten
satz, also einen energetischen Metabolismus, erleiden, und bei Fehlem imd zusammengeschriebenen, synkretistischen Durcheinander bezog,
im Gitteraufbau auch mutieren können. Und wenn man in aristoteli­ brächte nichts eigentlich Neues. Das stimmt nur bedingt, denn die Spi­
scher Tradition einen anderen Seelen- und Lebensbegriff verwendet, ritualisierung trat nun mit erneuter Authentizität auf die Bühne der
als wir es tun, dann kann man Minerale immer noch als seelenbegabt Zeit. Und diese Bühne war eine andere als die der Spätantike. Aristote­
bezeichnen, auch wenn ihnen die pflanzliche, die tierische und die les, der ja auch eine überragende Gestalt der ersten nachchristlichen
intellektuelle Seele fehlen, ln einem Weltbild lebendiger Kräfte sind Jahrhunderte gewesen war, beherrschte zwar das Feld, aber seine A u ­
auch die Gegenstände der Alchemie lebendig, irgendwie lebendig, wes­ torität verbannte viele Dinge aus diesem Feld, die im Quattrocento, in
halb man sie auch in die Metaphorik des Lebendigen einbinden kann. Zeiten eines allgemeinen, auch wirtschaftlichen Aufbruchs ihre Rechte
Das Problem des Steins der Weisen als des Lebendigen, als des Wirk­ anmeldeten. Die Welt war komplizierter oder besser: Sie war anders kom­
samsten schlechthin ist damit noch gar nicht angesprochen. pliziert geworden.
So gesehen kann man den Alchemisten nicht schon wegen ihrer Ani­ Im 15. wie schon im 14. Jahrhundert erleben wir, um wieder auf das
ma metallomm den Vorwurf des Pantheismus in einer entschieden mo­ Erscheinungsbild der Renaissance zurückzukommen, eine Epoche all­
notheistischen Kultur und damit den Vorwurf einer unterschwelligen gemeiner Verunsicherung und innerer Spannungen, die gleich zu An­
Häresie machen, obwohl doch ihr ganzes Weltgefühl pantheistisch war. fang des folgenden Jahrhunderts in der großen Reformation aufbrechen
Wenn man aber das Verhältnis des Schöpfergottes zur Schöpfung als sollten. Der Mensch fühlte sich, um es sehr pauschal zu sagen, von den
Verhältnis des Vaters zum Kind sieht, auch wenn er damit seine A ll­ etablierten Mächten allein gelassen und - ob er's nun positiv wendete
macht, und sei es freiwillig, einschränkt, dann kann man, auch wenn oder negativ - auf sich selbst zurückgeworfen. Die wohlhabenderen
man kein Pantheist ist, sehr wohl von einer irgendwie beseelten Natur Bürger der Städte vor allem Italiens <entschieden> sich gewissermaßen
reden. Diese Beseelung konnte man platonisch oder neuplatonisch bzw. nolens volens und gewiss auch nicht aufgrund klarer Einsicht und be­
stoisch auch als Ausfluss einer Anima mundi oder eines Nous bzw. wusstem Willensakt dazu, Dennoch-Menschen zu werden. Giovanrü
eines kosmischen Logos sehen. Schon Wilhelm von Conches hatte im Boccaccios frivole Decamerone-Geschichten vor dem Hintergrund einer
12. Jahrhundert die Anima mundi gleichgesetzt mit dem Heiligen Geist Pestepidemie sind ein frühes Indiz dafür. Bereits ein Jahrhundert zuvor
und in ihr die Kraft der Natur in allen Dingen erblickt. Die Anima hatten Denker wie Thomas von Aquin den Menschen einen schöp­
mundi sei gleich der göttlichen Liebe, die alles bewege, alles zum Wach­ ferischen Freiraum neben der Schöp^ng Gottes zugebilligt - womit er
sen befähige, den Menschen darüber hinaus aber auch zum Fühlen und sicher nur das Zeitgefühl interpretierte -, und im frühen 14. Jahrhundert
zur verstandesmäßigen Unterscheidung der Dinge, d. h. zur Erkenntnis. kam dann in einem zunehmend an Einfluss gewiimenden Nominalis­
Wir können also keinesfalls behaupten, dass die Alchemisten, nur weil mus eine skeptische Haltung gegenüber der Erkenntnis aus sicherem
sie von Spiritus oder Animae sprachen, sich selbst freiwilhg zu einem Wissen über die substantiellen Eigenschaften der Dinge und damit auch
Randdasein verurteilt hätten. eine skeptische Haltung gegenüber der aristotelischen Orthodoxie hin­
Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften in der zu. Als orthodoxer Aristotehker nämlich müsste man sagen: Was so und
Neuzeit ändert sich zwar die mittelalterliche Auffassung von Natur imd nicht anders ist, ist so, weil es entweder in seinen wesenthchen, in sei­
Naturerkenntnis und drängt die Alchemie in eine Verteidigungsposi­ nen substantiellen Eigenschaften evident ist oder weil es aus Evidentem
tion. Aber die Veränderungen gehen unterschiedlich schnell, oft auf hergeleitet werden kann. Und evident sind sinnlich erfahrbare Qualitäten.
Umwegen und häufig auch unbemerkt vor sich. Im frühen 17. Jahrhun­ Damit sind wir wieder beim Problem des Okkulten, also beim Problem
dert redete z. B. Johannes Kepler noch von einer Seele, die die Welt des nicht so ohne weiteres als sinnhche Qualität Erkennbaren. So etwas
durchwebt. Es gibt nämlich, so Kepleiv neben rein merhanisrhen Ur­ gibt es docJt offenbar, man denke wieder an den Magnetismus, und
422 TV. In der neuen Welt Europas Die Kabbala 423

dafür muss es doch auch irgendeine Ursache oder - aristotelischer ge­ ken. Und als im 17. Jahrhundert sich mechanistische Anschauungen in
sagt - irgendeine Bedingung seines In-Erscheinung-Tretens geben, egal der Naturphilosophie durchsetzten, da verfügten die Alchenüsten bzw.
ob diese nun kausal oder teleologisch zu erfassen ist. Wie wäre es da ihre Brüder, die latrochemiker, immer noch über schwerwiegende em­
mit verborgenen Kraftströmen, anders gesagt, mit den Sympathiebezie­ pirische Argumente gegen die Relevanz mechanistischer Auffassungen,
hungen der Hermetiker, die man vielleicht über Analogien <dingfest> wenn es um chemische Umsätze ging. Die mechanistischen Korpusku­
machen könnte? lartheoretiker egal welcher Provenienz konnten nämlich, bevor es ir­
Ganz so, wie der Optimismus der Aufbruchstimmung es wollte, ist gendwelche Ansätze zu einer Theorie der Reaktionskinetik gab, nicht
die Entwicklung aber dann doch nicht gelaufen. Im 17. Jahrhundert ent­ erklären, warum einige Reaktionen so erstaunlich langsam verlaufen,
brannte auf dem Gebiet des Okkulten ein Verdrängungskampf der her­ andere dagegen nicht, und warum der Umsatz oft nicht vollständig ist.
metischen Auffassung mit anderen Vorstellungen, die hinter dem Ok­ Warum also sollte man sich dann von den anderen Behauptungen die­
kulten und überhaupt hinter allen Phänomenen Ursachen sahen, die ses neumodischen Getöses überzeugen lassen, der Behauptung z. B., die
zwar nicht sinnlich fassbar, aber materiell sind und in ihrer Erscheinung Natur folge nicht innerer Neigung, sondern nur äußerem Zwang?^
Gesetzen, also zwingendem Verhalten folgen.^ Wie fließend hier aber Übrigens verkündete der Genfer Philologe Isaac Casaubon im Jahre
die Übergänge imd auch die Bezeichnungen waren, zeigt der Begriff der 1614, die Schriften des <Corpus hermeticum> seien unmöglich uralt, son­
<natürlichen Magie>, die, denken wir nur an della Porta, okkulte Kräfte dern sie seien nach Platon geschrieben, von dessen Grundgedanken sie
durchaus technisch zu nutzen sucht. abhingen. ^ Philologengezänk hat aber noch nie eine Geistesströmung
Der zu Anfang der Neuzeit mit Macht einsetzende Hermetismus be­ von ihrem Weg angebracht, und der Hermetismus Heß sich von so etwas
saß offensichtliche und wechselwirkende Beziehungen zur Alchemie. mitnichten erschüttern. Was ist Ursache, so konnte der Hermetiker den
Diese hatte ja immer schon eine Neigung zum Okkulten, zum Verbor­ Philologen fragen, was ist Wirkung? Bin z. B. ich die Ursache meiner
genen, wenn man darunter versteht, dass die Adepten das Potentielle Charaktereigenschaften, wo ich es doch bin, der sie zeigt und damit aus
stets als eigenständige <Kraft> unter dem Aktuellen sahen. Wenn etwa sich hervorhringt? Wenn ja - und es spricht eigentlich nichts dagegen,
ein Metall äußerlich kalt war, so gab es in ihm dennoch eine innere so zu antworten - bin ich dann nicht auch die Ursache der Erschei­
Wärme, die selbständig wirkte, und es war eine dauernde Aufgabe des nungsformen meiner Vorfahren, etwa die Ursache der Art und Weise,
laborierenden Alchemisten, das Verborgene, das oft ganz naiv als räum­ wie meine Urgroßmutter sich am Ohrläppchen gezupft hat? Und habe
lich Verborgenes betrachtet wurde, hervorzukehren. A ll das vertrug sich ich damit nicht in gewisser Weise meine Urgroßmutter aus mir heraus
mit den scholastischen Diskussionen über ein Schwächerwerden, eine geboren? Oder ist anderenfalls meine Urgroßmutter, die, tot wie sie ist,
Remissio der substantiellen Eigenschaften der Reaktionspartner bei Ver­ doch höchstwahrscheinlich nicht mehr handeln kann, die Ursache da­
bindungsbildung, die dabei gewissermaßen ins Okkulte abgedrängt für, dass ich das linke vor dem rechten Ohrläppchen bevorzuge? Kaum
werden, ohne doch zu verschwinden. Und es vertrug sich auch sehr gut eine Ursache liegt der Wirkung dicht auf, auch zeitlich nicht. Daran
mit hermetischen Sympathievorstellungen. Unabhängig davon, ob sich kann übrigens auch das Konzept der Gene nichts ändern. Ist also Platon
die Adepten als Aristoteliker oder als Anti-Aristoteliker vorkamen - die Ursache von Hermes oder Hermes die Ursache von Platon?
beides gab es -, schien gerade die Alchemie, die ja über den Namen des
Hermes Trismegistos geradezu programmatisch mit dem Hermetismus
verbunden war, die Probe aufs Exempel hermetischer Vorstellungen lie­ 2. Die Kabbala
fern zu können. Umgekehrt stärkte der frühneuzeitliche Hermetismus
die ohnehin vorhandenen hermetischen Aspekte der Alchemie, die sich Die Alchemie der Neuzeit ist aber nicht nur von einem erstarkten Her­
nun, dem Geist der Zeit angepasst, zunehmend <hermetisierte>. Das heißt, metismus geprägt, sie geriet teilweise auch unter den Einfluss der Kab­
dass ein Teil der Alchemie mehr denn je in Sympathien und Antipa­ bala, die sehr gut in eine christliche Gedankenwelt hineingezogen wer­
thien, in geheimen Beziehungen und ganz allgemein im Nichtevidenten den konnte. In Deutschland war es der Begründer der hebräischen
schwelgte, was vom Protochemischen her nicht nötig gewesen wäre. Sprachforschung Johannes Reuchlin, der 1517 mit seinem Werk <De arte
Dass die prima facie doch so mittelalterliche Alchemie mit Beginn der cabbalistica> der Kabbala Eingang ins Denken seiner Zeit verschaffte.
Neuzeit nicht eilends untergegangen ist, hat sie also nicht zuletzt der Die Kabbala, wörtlich; Überlieferung, ist so umfangreich und verwir-
Tragkraft und dem Schwung des Renaissance-Hermetismus zu verdan­ rend wie ihre Geschichte, die wie die der Alchenrde in der Spätantike
424 IV. In der neuen Welt Europas Die Kabbala 425

begann, ihren ersten Höhepunkt aber im Mittelalter erlebte, ln ihrem listischen Rabbiner sind diese <Kunststoffe> auch und gerade auch von
Bestreben, die Bibel zu interpretieren, beschritt die Kabbala ähnliche Gott geschaffen, und die Kabbala gerät so zu einer Meditationstechnik,
Wege wie die christliche Exegese, denn auch sie kennt Bedeutungsebe­ einer Meditationstechnik nicht der Retorten, sondern der Sprache. Das
nen, wenn sie auch einen Schritt weitergeht und auf einer dieser Ebenen ekstatische Gemurmel von Kabbalisten wie Abulafia, der Ende des
die Wörter selbst in ihre Bestandteile zerpflückt. Die Bestandteile, sprich 13. Jahrhunderts in Spanien lebte, gleicht dem Gemurmel, mit dem Gott
die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets - die alle konsonantisch die Welt geschaffen hat; die Ekstase ist der Stein der Weisen einer von
sind und ursprünglich jeweils einem realen Gegenstand zugehörten -, leidenschaftlicher Liebe erfüllten Sehnsucht. In Hinblick auf die Alche­
werden von ihr in ihren Beziehungen im Heiligen Text untersucht und mie sei hier noch hinzugefügt, dass der Weg zu einer solchen Ekstase,
sogar rekombiniert, um so das Wollen Gottes in seiner Schöpfung zu der doch ohne Buchstaben und Bücher nicht denkbar ist, dennoch ohne
erfassen.^ Dies nun geschieht mit Hilfe dreier <Sprachlabortechniken>: die Hilfe eines Lehrers, eines Adepten, nicht bewältigt werden kann,
Da ist zum einen die Technik des Notarikon, d. h. die Untersuchung tritt doch auch in der Kabbala zum geschriebenen Wort das gesprochene
von Buchstabenfolgen aus den Anfangs- und Endbuchstaben einer Rei­ und zum gesprochenen Wort das stunune, die Geste, als Komplement
he von Wörtern, die vielleicht ein neues Wort nach Art eines schon in hinzu.
der Spätantike und dem Mittelalter beliebten Akrostichon liefern; da ist Den Hintergrund der Meditationsübung der Kabbala bildete ge­
zum Zweiten die Technik der Gematria, d. h. das Bemühen, aufgrund wöhnlich eine aus den heiligen Texten gezogene Überlieferung von den
der Tatsache, dass jeder hebräische Buchstabe für eine Zahl steht, Zah­ zehn Sephirot, eine Überheferung, die um 1290 von Moses von Leon im
lenwerte in sinnstiftende Beziehung zu setzen; und da ist zum Dritten wichtigsten Werk der Kabbala, dem <Buch des Glanzes>, <Sefer Ha-Uo-
die Technik der Temurah, d. h. die Kunst der Permutation, also der Um­ har>, systematisch ausgeformt wurde. Die Sephirot sind zehn Namen
stellung der Buchstaben zum Anagramm, das dann einen tieferen Sinn der Gottheit, wobei gewitzte Kenner der Antike gleich an die Tetraktys
bloßlegen soll. (1 + 2 + 3+4) Pythagoräer denken. Die Namen Gottes können als
Gott transzendiert alle Dinge, aber nicht Sein Wort, weshalb es das zehn Hypostasen, als Verdinglichungen der Gottheit im Prozess einer
einzige verlässliche Kommunikationsmittel zwischen Gott und den Emanation vom <Unfassbar Einen> abwärts zum Materiellen aufgefasst
Menschen ist. Und das Wort schafft, wenn es Gottes Wort ist, die durch werden - imd schon sind wir in der Geisteswelt einer Art hoffnungs-
das Wort bezeichnete Sache. Wenn aber Wort und Sache zusammenge­ voUer neuplatonischer Gnosis als der Erkenntnis Gottes durch Wissen,
hören und man das geheime, für die Sache stehende Wort kennt, dann die schließlich - in der mystischen Vereinigung - zur Erlösung durch
hat man natürlich auch Gewalt über die Sache, und das erklärt die Nähe Wissen führen soll. Dieser jüdischen Theosophie, der Gottesweisheit,
des Kabbala zur Magie. Die enge Verbindung von Buchstabenkombina­ allerdings fehlte die Bosheit <reiner> Gnosis, die oft allein schon in der
tion und dinglicher Erscheinung erinnert jedoch auch an Gabir. Die Entdeckung des Bösen schlechthin steckt. Die Kabbala ist pantheistisch,
Kabbala untersucht Buchstaben und Wörter in Hinblick auf ein be­ denn letztendlich ist für sie alles bis hin zur Materie eine Ausfaltung
stimmtes, das Heilige Buch, um ihm - im Text des Redens von Gottes des Guten-Einen, alles eine Ausfaltung Gottes: Hen to pan.
Handlungen - die Natur der Natur abzulauschen; Gabir untersucht Die jüdischen Gelehrten kamen aber auch in Berührung mit den süd­
Buchstaben und Wörter in Hinblick auf eine bestimmte, die Heilige französischen Katharern, und sie erlebten am Ende des 15. Jahrhunderts
Sprache, um ihr - im Text des Naturgeschehens - die Natur der Natur ihre Vertreibung von der iberischen Halbinsel. Die Kabbala nahm
abzulauschen; die Genetik, um noch ein Drittes zu neimen, untersucht messianische und deutlicher gnostische Züge an. Das Bösewerden als
umgekehrt biochemische Gegebenheiten in Hinblick auf eine in Kenntnis Ausgangspunkt gnostischer Mythen ist allerdings in der Kabbala, etwa
dieser Gegebenheiten konstruierbare Sprache, die, weil sich die Genetik im Buch <Bahir>, ein ziemlich intellektuelles Unternehmen, indem das
ausschließlich im Bereich der empirischen Wissenschaften bewegt, von der Schlange offerierte Wissen um Gut und Böse dazu führt, dass
nichts aussagen kann, das über diesen Bereich hinausreicht.^ Die Kab­ sich in Adam die Eigenschaft der Strenge und Beschränkung, die früher
bala dagegen, so weit sie anders als Gabir ohne experimentellen Bezug durch die Ströme des Lebens und der Liebe aufgewogen worden war,
zur Natur arbeitet, präsentiert sich als eine Art Chemie der Heiligen isoliert und trennt. Diese Trennung ist die Natur des Bösen, weil sie
Sprache, die allerdings, wenn sie sich in immer neuen Permutationen uneigentliche, unechte Zusammenhänge der Wirklichkeit schafft.
immer weiter vom vorgegebenen Text entfernt, eine Gegenwelt von Es ging aber nicht nur um das Böse: Unter dem Eindruck der Vertrei-
<Kunststoffen>hervorzubringen scheint Doch in den Augen der kabba­ bung ging es auch mehr denn je um Erlösung, in deren Brennpunkt die
426 TV. In der neuen Welt Europas Die Kabbala 427

Gestalt des erwarteten Messias stand. Gott selbst, verkündete im mie sieht bekanntlich das Gold als das Männliche und als das letzte Ziel
16. Jahrhundert der Exponent dieser Richtung, Isaak Luria, ist aus sei­ der Metalltransmutation an, in der Kabbala aber spielt das Silber genau
nem Kosmos vertrieben, weil göttliches Licht sich mit dem, was nicht diese Rolle. Es steht für männlich, weiß, Milch - d. h. den Samen? -, für
göttlich ist, vermischte und die <Schalen des Außergöttlichen> es nun die rechte Seite, für Gnade imd für Liebe. Gold dagegen steht für weib­
umfangen. Die Menschen aber sind aufgerufen, die Materie von sich lich, für Rot, für Wein - d. h. für das Menstruationsblut? -, für die linke
selbst zu erlösen, - ein Gedanke, der der Alchenüe sehr nahe lag. Seite, für die Strenge und das Gerichts-, das Bluturteil. A uf dem mysti­
In einigen der Versionen der Kabbala finden sich noch andere Berüh­ schen Weg der Kabbala aber sollten Strenge und richtendes Urteil gera­
rungspunkte, von denen vor allem einer in dem wohl aus dem 17. Jahr­ de überwunden werden, können also kein letztes Ziel sein. Knorr von
hundert stanunenden Werk <Kabbala mineralis> eines Pseudo-Simeon Rosenroth und seine Leser, wenn sie überhaupt etwas verstanden ha­
ben Cantara ausführlich erörtert wird, nämlich die kabbalistische und ben, haben das sicher nicht bemerkt. Als Hauptthema des Textes er­
zugleich alchemistische Interpretation des Schöpfungsprozesses auf­ scheint auch etwas anderes, nämlich die Gematria, die so gehandhabt
grund der biblischen Schöpfungsgeschichte, der Genesis. In Hinblick wird, dass Bibelstellen als Stütze von Zahlenspekulationen verwandt
auf die neuzeitliche Ausformung der hermetischen Alchemie mit ihren werden, die dann wiederum auf Bibelstellen zurückweisen. Eine zen­
Basissymbolen der <Chymischen Hochzeit> und des <Hermaphroditen> trale Rolle spielen dabei magische Quadrate. Das Quadrat für Aurum
sei noch erwähnt, dass in der kabbalistischen Mystik ein aus Gott ent­ potabile z. B. ergibt über die Diagonalen und über die Seiten die Zahl
standenes transzendentes Urpaar eine weltschaffende Rolle spielt.^ 260, deren Quersumme 8 der Zahl der Reinigungen entspricht, die vor­
Zwei Beispiele aus dem Bereich Kabbala-Alchemie mögen zeigen, genommen werden müssen, um flüssiges Gold zu erreichen. Und das
wie die beiden Leitmotive dieses Bereichs mal getrennt nebeneinander wiederum hat zu tun mit anderen Zahlen, die wiederum mit anderen
herliefen, mal sich deutlicher vermengten. Wo es um Protochemie ging, Wörtern und Bedeutungen zu tun haben und die wiederum mit ande­
konnten kabbalistische Überlegungen bestenfalls den Hintergrund der ren Zahlen und so - zumindest potentiell - ad inßnitum.
Alchemie bilden. Ein gutes Beispiel ist hier der Meisterschüler des Isaak Wenn wir unter diesem Blickwinkel die Welt von Kabbala und A l­
Luria, der große Gelehrte Hayyim Vital aus dem Ende des 16. Jahrhun­ chemie unserer Welt gegenüberstellen, dann wird uns wohl deutlich,
derts, der im mohammedanisch beherrschten Palästina lebte und lehrte. dass im Erfahrungsraum von Kabbalisten und Alchemisten alles irgend­
Vitals alchemische Rezepte könnten von Ar-Razi geschrieben worden wie mit allem verknüpft ist, und also auch alle Seinsebenen mit allen
sein, so sehr sind sie in nüchternem <Man-nehme>-Stil gehalten. So emp­ Seinsebenen. Alles deutet auf alles hin, und damit scheint alles alles zu
fiehlt Vital, blassem Gold mit Hilfe einer besonders bereiteten <acht- be-deuten, womit die um Weisheit ringenden Menschen in einem
fachen Mischung> aus Salpeter, Schwefel, Mennige oder Zinnober, Raumnetz dichter Beziehungen von allem zu allem - und das bedeutet
Grünspan, Vitriol, rotem Lehm, Salmiak und Alaun einen deutlicheren letztlich in Beliebigkeit - zu ersticken drohen. Nur die Sehnsucht nach
Goldton zu verleihen und es zugleich - etwas - zu vermehren. Nichts Gott als richtunggebendem Ziel hat wohl diese letzte Konsequenz al-
deutet hier an, dass Vital tatsächlich zu den größten Mystikern der jü­ chemisch-kabbalistischen Denkens verhindert. In unserem Erfahrungs­
dischen Geschichte zählt. raum dagegen gibt es kaum mehr Verknüpfungen zwischen den Seins­
Ganz anders nimmt sich der Tenor der Alchemie in einem ebenfalls ebenen, nichts scheint auf irgendetwas auf einer anderen Seinsebene
im 16. Jahrhundert entstandenen anonymen Werk mit dem Titel <Esh hinzudeuten, nichts scheint etwas über sich selbst Hinausweisendes zu
M's.aref> bzw. <Ignis purgantis>, also <Das Feuer des Läuternden>, aus, be-deuten, wonüt der so merkwürdig unerfüllte Raum unserer Erfah­
das von dem bekannten christlichen Popularisierer der Alchemie, Chris­ rung droht, uns in einem mauerlosen Gefängnis vollkonunener Belie­
tian Knorr von Rosenroth, 1677-1684 in großen Abschnitten in sein bigkeit zu isolierter Existenz zu verdammen. Nur die Sehnsucht nach
dreibändiges Werk <Kabbala denudata> übemonunen wurde. Hier ist Liebe, auf was immer sie gerichtet ist, kann wohl diese letzte Konse­
wenig vom wirklichen Laborieren die Rede, wenn auch u. a. von einer quenz existentialistischen Denkens verhindern.
weißen Prima materia berichtet wird, die, leicht verändert, verwandt Mit ihrem von der Alchemie ganz verschiedenen <Arbeitsgebiet>
werden kann, um zu Silber zu tingieren, und die anscheinend aus re­ konnte und wollte die Kabbala dieser zwar keine Handlungsanleitun­
duziertem Silberoxid bestand. Im Text der <Entschleierten Kabbala>, die gen geben, sie heh ihr aber ihr Prestige. Das können wir auf den ersten
doch alchemisch aufgezogen ist, steht auch kein Wort vom wesentlichen Blick feststellen, wenn wir alchemische Werke des 15. und späterer Jahr-
<chemischen> Unterschied zwischen Alchemie imd Kabbala. Die Alche­ hunderte wie etwa Heinrich Khumaths <Amphitheatrum sapientiae
428 rv. In der neuen Welt Europas Die Heilsgeschichte 429

aeternae> von 1608 zur Hand nehmen.^ A uf den Titelblättern dieses und
anderer Traktate haben sich - oft inmitten christlicher Symbole - reich­ j . Die Heilsgeschichte
lich hebräische Schriftzeichen niedergelassen. Ich glaube, das Geheim­
nis dieser <Kabbalisierung> lag ganz einfach darin, dass sie so geheim­ So imterschiedlich die Auffassungen der Kabbalisten und der Alchemi­
nisvoll war. Die hebräische Schrift und das hebräische Wort, die außer­ sten in Hinblick auf die Zentralgestalt der Schöpfung und der Heilsge­
halb jüdischer Gelehrsamkeit fast nur in Theologenkreisen bekaimt schichte, in Hinblick auf den Messias auch sein mochten, in einem wa­
waren, übten auf die christlichen Weisheitssucher denselben Reiz aus, ren sie sich einig: Das letzte Geheimnis aller Wandlungen der Materie
den in der Spätantike das ägyptische Wort und die ägyptische Schrift - ist das Geheimnis ihrer Schöpfung durch Gott. Dieses Geheimnis, so
vor allem die schon nicht mehr eindeutig entzifferbaren Hieroglyphen'® schien es, konnte in den zielgerichteten Wandlungen des alchemischen
- auf die Griechen ausübten. Das Ägyptische war zwar unverstanden Prozesses eine bestätigende Wiederholung finden, ist doch das Vas her-
und eben deshalb <barbarisch>, aus genau dem gleichen Gunde aber war meticum des Adepten ein Mikrokosmos.
es auch geheimnisträchtig. Und so unauflöslich verschlüsselt, wie es Die Vorstellung, dass der alchemische Prozess etwas mit dem Pro­
selber war, so unauflöslich verschlüsselt, und das heißt auch: so kom­ zess der Schöpfung zu tun hat, ist alt und kann mit einiger Berechti­
plex, so tief, musste die Weisheit sein, die von dieser Sprache getragen gung zurückverfolgt werden in die Mythen des archaischen Bergbaus
wurde. Einen ähnlichen Reiz des Geheimnisvollen werden wohl auch und natürlich in die Vorstellungen vom Mikrokosmos als realanalogem
1000 Jahre später Leser hebräischer Wörter im hermetisch-alchemischen Abbild des Makrokosmos. Ganz allgemein wurden Werke und Ereig­
Kontext verspürt haben, natürlich ohne sich dessen bewusst zu sein. nisse, die nur im Zuge eines völligen Neubegirms durchgeführt wer­
Und für die Autoren alchemischer Werke war es ein Leichtes, in diesem den konnten - Grundsteinlegung eines Tempels, Aussaat, Hochzeit
Sinne <reizvoll> zu sein, stand einer Anbindung kabbalistischer Bezüge und eben auch die Erz-Schmelze -, in den archaischen Hochkulturen
an den alchemischen Hermetismus und die Tradition der Alchemie als eine Schöpfung begriffen, und zwar durchaus in kosmischen Di­
doch scheinbar auch historisch nichts im Wege. Gerhard Dorn z. B. be­ mensionen, und auch die spätantiken Alchemisten haben ihr Werk
hauptet schlicht, Hermes Trismegistos habe seine Weisheit aus der <Ge- als solch eine Schöpfung in kosmischen Dimensionen begriffen.
nesis der Hebräer> bezogen. Schon in der griechisch-hellenistschen Literatur taucht der Gedanke
Das verspricht uns vielleicht auch Antwort auf die so wichtige Frage: der Schöpfung als alchemischer Prozess explizit auf, so bei Olym-
Warum wurden alchemische Werke - vor allem die der vorherrschen­ piodoros und in dem nicht eigentlich chemischen Traktat <Kore Kos-
den hermetischen Richtung - überhaupt gelesen bzw. betrachtet? Sie mou>, d. h. <Pupille der Welt> oder auch <Jungfrau oder Tochter der
geben doch weder eine genaue Anleitung zum Laborieren noch eine Welt>, in dem die Schöpfung der Seelen als alchemistische Handlung
genaue Anleitung zum Meditieren. Ich glaube, den Lesern damals ging beschrieben wird. Die Schöpfung als chemischer Prozess hat aber zu
es ähnlich wie den Lesern heute, die in die Flut esoterischer Literatur Beginn der christlichen Ära noch längst nicht die Bedeutung, die er in
tauchen, die den Büchermarkt überschwemmt. Sie wollen gar nicht et­ der Neuzeit gewinnen sollte. Im späten Mittelalter und in der Renais­
was systematisch erlernen oder in einer plötzlichen Offenbarung in sich sance wurde es zunehmend Mode, alchemische Kommentare zu den
aufnehmen, sie wollen sich erbauen. Mag das herablassend klingen, ersten Versen der Genesis zu schreiben. Wir begegnen da Namen wie
gemeint ist es nicht so. <Er-bauen> heißt <iimerhch aufbauen>, und das Michael Maier, Gerhard Dom, Aegidius Guthmann, und im bedeu­
braucht nichts Leichtgewichtiges zu sein. Es geht und ging um die tendsten alchemischen Sammelwerk des 17. Jahrhunderts, dem <Thea-
Selbstversicherung, dass es <mehr Dinge gibt im Hiimnel und auf Erden, trum alchemicum>, finden wir zwei anonyme Traktate über die beiden
als unsere Schulweisheit sich träumen lässt>, sei die Schulweisheit nun ersten Kapitel der Schöpfungsgeschichte mit den bezeichnenden Titeln
aristotelisch oder mechanistisch. Um sich dessen zu versichern, braucht <Creatio mundi ex narratione Moysis in Genesis> und <Explicatio duo-
man nicht den Geist von Hamlets Vater in vivo gesehen zu haben. rum primomm capitum Geneseos juxta physicam>. Das sind keine
Randerscheinungen. Es war inzwischen beliebte Tradition geworden,
zumindest zu behaupten, das Magisterium, also der alchemische Pro­
zess verlaufe genau analog der Weltenschöpfung, wie sie in der Gene­
sis beschrieben ist. Gott als Chemiker anzusprechen, w iude zum gän­
g ig e n Topos.
430 IV. In der neuen Welt Europas Die Heilsgeschichte 431

A uf alchemischer Seite konnte man sagen, dass u. a. in der alchemi- Aber nicht nur den Zustand des uranfänglichen Chaos, auch die an­
schen Miniatur-Bibel, der <Tabula smaragdina», die weltschöpfende Rol­ deren Schöpfungstaten Gottes, etwa die Schöpfung des Lichtes, die
le der Chemie implizit, aber deutlich genug herausgestellt war. Der Treimimg von Licht und Finsternis, die Trennung von Wasser und Erde
Stein der Weisen wurde auf diese Weise zum Mikrokosmos schlechthin, sowie die Scheidimg der Wasserarten konnte man zwanglos im alche­
zur Welt im Kleinen, zum Mundus minutus, und damit auch zum Ana­ mischen Tun wieder erkeimen. Außer dem Schöpfungsbericht konnte
logon des Menschen als Mikrokomos, der ja auch als Quinta essentia man dafür auch andere Bibelstellen wie den Psalm 19, Jesaja i, 25, oder
gesehen werden konnte. Die Makrokosmos-Mikrokosmos-Lehre hatte ja den Römerbrief i, Vers 20, beibringen. Gott ist ein Scheidekünstler, und
schon immer behauptet, dass das, was oben ist, auch unten ist. Deshalb die Chemie heißt ja heute noch auf niederländisch <Scheidekunst>. Mehr
haben sich ja auch Astronomen wie Tycho Brahe im i6. und - nach der noch: Gott ist ein alchemischer Scheidekünstler, denn mittels der <Anima
Erfindung von Fernrohr und Mikroskop - Isaac Newton im 17. Jahrhun­ mundi< erleuchtet imd belebt er seine Schöpfung in ganz der gleichen
dert <nebenbei> intensiv mit Alchemie beschäftigt. Mit der Verbreitung Art, in der auch der Alchemist die Materie in seiner Retorte mit Geist,
immer besser werdender Mikroskope im 17. Jahrhundert richtete sich mit Pneuma, mit Spiritus belebt.
der Blick der Zeit ganz allgemein auf das Kleine, auf die Welt der Käfer, In der Renaissance nun rückte eine weitere Parallele zwischen den
aber auch auf die Welt im Wassertropfen, auf die Welt im Glas, auf das Taten der Adepten und den Taten Gottes in den Vordergrund, und zwar
Wirken Gottes in den Komplexitäten des ganz, ganz Kleinen. Und so in einer Analogie, die den alchemischen Prozess mit der christlichen
war es naheliegend, Gott den Schöpfer auch in der Phiole zu suchen. Heilsgeschichte verknüpfte: Die Heilsgeschichte, also der Weg der
Die alchemische Praxis kam der Vorstellung einer im Labor zustande Menschheit zur Erlösung, spiegelt Geschichte und Ordnung der ge­
zu bringenden Schöpfung aus dem Uranfang entgegen, weil jeder A l­ schaffenen Welt in gleicher Art wider wie der alchemische Prozeß die
chemist mit der schwarzen, eigenschaftslosen Prima materia, dem Aus­ Heilsgeschichte widerspiegelt. Diese Auffassung unterstellt natürlich,
gangsstoff der Prozesses, die aus der Schmelze entstand oder selbst eine dass Schöpfungsgeschichte und Heilsgeschichte kongruente Strukturen
<Brühe> war, ein uranfängliches <philosophisches Chaos> herstellte oder aufweisen. Aber es war legitim, das zu glauben. Sowohl jüdische als
herzustellen versuchte. Und wie heißt es in der Genesis, i. Mose i, 2: auch christliche Theologen glaubten es, und wenige Jahrzehnte, nach­
«Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Hefe; und dem Cosimo de' Medici und Marcilio Ficino ihr Gläschen Wein mitein­
der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.» ander getrunken hatten, bekräftigte ihr Geistesfreimd Pico della Miran-
Was davor war, kann so, kann diese Zweiteilung Wasser-Geist nicht dola 1489 diese ursprünglich wohl vor allem augustinische Interpreta­
gewesen sein, und das hat jüdische wie auch christliche Mystiker dazu tion der Bibel gegen andere, ebenfalls auf die Bibel gestützte Ansichten.
veranlasst, die erste Schöpfung als eine Selbstentäußerung Gottes zu Die Geschichte der Menschheit ist bei ihm nicht etwa gegliedert in die
verstehen. Die Bildung des uranfänglichen Chaos ist zugleich ein Fall Epochen der vier Reiche, von denen der Prophet Daniel gesprochen
und ein schöpferischer Augenblick. Vielleicht ist es nicht allzu spekula­ hatte, sondern geordnet entsprechend dem Sechstagewerk Gottes: Dem
tiv, zu meinen, dass diese Sicht der Erstschöpfung auch in der Alchemie, ersten Tag der Heilsgeschichte entsprechen eben diese sechs Tage der
wo sie zur Prima materia führt, den Sinn der Alchenüsten für die - wir Schöpfung, dem zweiten Tag das Paradies, dem dritten der Sündenfall,
würden sagen, psychologisch begründeten - Gefahren am Anfang des dem vierten die Fleischwerdimg Christi, dem fünften die Wiederaufer­
alchemischen Werkes geschärft und andererseits auch ihr Augenmerk stehung und dem sechsten die Erlösung. Danach kommt die <sonntäg-
auf die Zusammensetzung des Chaos gerichtet hat. Die Reinigimg der liche Ruhe> der Seligkeit. Die Erschaffung der Sonne am vierten Schöp­
Ausgangssubstanzen, aus denen man die Prima materia herstellen woll­ fungstag ist für Pico parallel zu setzen zur Geburt Christi in der Mitte
te, nahm an Bedeutung zu, und es wurde vereinzelt auch über die ei­ der der Heilsgeschichte zugemessenen Zeitspanne. Und ebenso klar ist,
gentliche, die verborgene Zusammensetzung der Urmaterie diskutiert. dass die Heilsgeschichte der Menschheit in der Heilsgeschichte des Ein­
So beschreibt Georg von Welling - Pseudonym; Georgius Angelus Sall- zelnen, und das heißt in der Geschichte seiner Erlösung, widergespie­
wigt -, dessen Hauptwerk <Opus mago-cabahsticum et theosophicum> gelt ist. Wie kaim es auch anders sein?
von 1735 auch Goethe kannte, die Prima materia als <schleimichtes, Übrigens ging es nicht immer um eine Widerspiegelung der Historie
schweflichtes Saltz-Wasser>, und so als Gemenge der drei noch nicht im Ganzen. Wie im Auge eines Insekts konnte auch eine einzige Facette
ausgesonderten Prinzipien Sal, Sulphur und Mercurius, die er von Pa­ des alchemischen Werkes eine Facette des makrokosmischen bzw.
racelsus übernommen hatte. heilsgeschichtlichen Gegenbildes widerspiegeln und gleichzeitig nach-
432 IV. In der neuen Welt Europas Die Heilsgeschichte 433

vollziehen, wobei die Facetten wechselseitig nicht nur als bloßer Teil geradezu sein wichtigstes Charakteristikum. Der Stein ist das <Hen> im
des Ganzen, sondern auch als das Ganze in nuce begriffen werden Hen to pan und damit die eine Grundessenz aller Dinge, und darum
konnten. So wurde die Oxidation und Reduktion von Metallen etwa kann er auch alle Dinge ineinander umwandeln, und das tut er vorzugs­
bei Jean Chambon noch Anfang des i8. Jahrhunderts als eine im Nach­ weise so, dass er sie sich selbst anverwandelt. Quod erat demonstrandum
vollzug erlebbare Widerspiegelung von Tod und Auferstehung Christi in der Verwandlung von Blei zu Gold.
angesehen. Tod-und-Auferstehung Christi aber ist der Archetyp der Bei allem bleibt eine Frage: Angenommen, die Adepten wollten Gold
Heilsgeschichte. nicht um des Goldes willen machen, was ja erstens nicht der feinen
Analogiebeziehungen wie diese dienten als Leitgedanken einer be­ alchemistischen Art entsprochen und sie zweitens auch in bedrohliche
stimmten Interpretations-Art in der Theologie, nach der gewisse alttes­ Nähe zum Schafott gebracht hätte, was wollten sie dann? Welchen Sinn
tamentarische Ereignisse, aber auch Personen, Einrichtimgen, Aussprü­ konnte es für sie haben, die Taten Gottes mit den schwachen Kräften
che in vorbildhafter Beziehung zu entsprechenden Gegenbildem im des Menschen nachzuäffen?
Christentum stehen sollen. Die Typik oder Typologie, hier eben nur auf Hier verzweigen sich die Gründe. Ein überzeugter Adept, glaube ich,
etwas Alchemisches bezogen, war also nichts Ungewöhnliches; eine würde wenig Schwierigkeiten haben, uns zu antworten. Kenntnis der
Widerspiegelung von Typ im biblischen und Antityp im alchemischen Schöpfung Gottes, da brauchen wir nicht nur Johannes Kepler zu fra­
Zusammenhang galt durchaus nicht als abwegig, ist doch, um das gen, trägt zur Demut und damit zur wahren Weisheit bei, und der A l­
noch einmal zu betonen, das alchemische Werk ganz wie die Schöp- chemist, der so zur Weisheit gekommen ist, hat diese seine Weisheit,
fungs- und die Heilsgeschichte ein irreversibel zielgerichteter Stufen­ diese seine innere Entwicklung der Arbeit im Labor zu verdanken. Und
prozess. was die Heilsgeschichte anbelangt, so liegen die Dinge in den Augen
Und hier auch findet eine Parallelsetzung ihre Rechtfertigung, die uns des Alchemisten ähnlich. Die Heilsgeschichte ist Geschichte, Historie,
heute doch wohl ziemlich dicht am Rande der Blasphemie zu stehen vor allem in dem Sinne, dass Gottes Plan im Laufe der Zeit mehr und
scheint. Adepten wie ein gewisser Dominikaner Vincentius Koffskhi, mehr enthüllt wird und wir ihn so als Gottes Plan begreifen lernen. Auf
außerdem der uns ja schon bekannte Nicolaus Melchior, beide 15. Jahr­ die Alchemie bezogen bedeutet dies, dass, wenn wir das Drama der
hundert, Heinrich Khunrath, Gerhard Dorn und etliche andere brachten Heilsgeschichte im Reagenzkolben nachvoUziehen, mit unserem Ver­
es fertig, Christus mit dem Stein der Weisen gleichzusetzen. Wenn näm­ ständnis notwendig auch unser Glaube wachsen wird. So weit unser
lich <Erlösung> auch heißt: <zur Perfektion, zum gottgewollten Ziel brin- Alchemist.
gen>, dann ist der Stein der Weisen ein Erlöser. Und der Erlöser schlecht­ Wenn wir das Gleiche aber nun mit anderen Worten sagen, daim
hin, der am Ende aller Tage alles zum guten Ende bringt, ist Christus. verschiebt sich der Sichtpunkt. Wir können sagen, der alchemische Pro­
Zugleich war der Stein, was angesichts des Dreieinigkeits-Dogmas gar zess diente der Selbstversicherung des Alchemisten in einer beunruhi­
nicht besonders betont zu werden brauchte, Gott oder, sagen wir vor­ genden Umwelt, diente also dazu, Ängste zu bannen, wenn auch nicht
sichtig, <wie Gott> oder <wie eine Epiphanie, eine Erscheinungsform nach Art der Naturwissenschaften, die ja meinen, die Dämonen der
Gottes>, enthielt er doch die Lebenskraft, die Vitalität der gesamten Angst töten zu können, indem sie diese nüt furchtlos-scharfem Blick
Schöpfung. Womit wir beim Heiligen Geist wären, denken wir nur an einfach durchbohren. Wir können auch sagen, der alchemische Prozess
die so beliebte Lichtmetaphorik des Mittelalters und an die Beziehung, diente der Selbstbelehrung des Alchemisten zu einer esoterischen Weis­
die manche Theologen zwischen dem Begriff der Anima mundi und heit, die den Adepten von der Mühe und Enge der menschlichen Exis­
dem des Hagion pneuma gezogen hatten. Es scheint ein steiler, ein zu tenz erlösen sollte.
steiler Weg zu sein von den albernen <Taten> des Steins, wie Pferde zum Aber was ist das für eine Weisheit? Wenn wir von <esoterisch>, von
Wiehern zu bringen, hinauf zur Höhe geistiger Ansprüche, denen er in <Selbst-Versicherung», <Selbst-Belehrung> reden, dann nehmen wir von
den Augen neuzeitlicher Adepten genügen sollte. Aber im Bereich der vornherein an, dass es sich nicht um eine öffentliche Weisheit dreht,
Sowohl-als-auch-Paradoxa konnte alles alles sein und gerade auch das sondern um die Weisheit der Begnadeten.
Niedrigste das Höchste, wie ja auch Christus, der verworfene Stein, zum Und was ist das für ein Wissen, auf das sich diese Weisheit stützt? Es
Eckstein geworden ist. Der Stein, so wird immer wieder betont und so ist ein All-Wissen, denn wer, und sei es nur durch Nachvollzug, weiß,
zeigt es unter vielen anderen ein Bild in Maiers <Atalanta fugiens>, ist wie die Schöpfung der Welt, wie das Schicksal der Menschheit ge-schaf-
im Niedrigsten und im Höchsten, er ist überall, ja, diese Ubiquität ist fen imd be-schaffen sind, imd wer zudem das Agens des erlösenden
434 IV. In der neuen Welt Europas Die Heilsgeschichte 435

Welten-Wandels in Form des Lapis philosophorum im wahrsten Sinne irgendwelche Dämonen, stattdessen aber den harmloseren Teil der
des Wortes in Händen hält, der weiß und kann im Prinzip alles. Menschheit von den mitternächtlichen Straßen vertreibt.
Muss man da noch hinzufügen, dass manche Alchemisten einer Art Das Jahrtausend des Friedens begirmt damit, dass der Engel Gottes
demütigem Größenwahn unterlagen? Den Grund für diesen Wahn, das Tier der Apokalypse, die alte Schlange, besiegt und fesselt. Vor ih­
nämlich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sollten rem Sturz aber, und das ist hier die Pointe, regiert die Schlange die Welt.
wir hier nicht wieder thematisieren. Eines jedoch sollten wir festhalten, Die endgültige Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse kommt je­
etwas scheinbar Triviales, das aber zu den größten Problemen der Al­ doch nicht ohne Vorwarnung, nicht ohne einen letzten Aufruf zur per­
chemie-Geschichtsschreibung gehört. Trotz aller Beteuerungen in alche- sönlichen Entscheidung. Der nun, der die Warnung verkündet, der kann
nüscher Literatur: Den allwissenden Adepten, den Alchemisten im Be­ nur ein Wissender, ein allumfassend Wissender sein, jemand, der - zu­
sitz des letzten, unnennbaren, esoterischen Geheimnisses, den gab es mindest im Prinzip - die gesamte Schöpfungs- und Heilsgeschichte in
nicht. ihrer Totalität zu überblicken vermag. Dieser Herold der neuen Zeit war
Die Antwort auf unser Problem liegt mal wieder im Wort <fast>, die in den Augen vor allem mancher Protestanten präformiert in dem alt­
Antwort liegt in der <Hoffmmg>, und die Antwort liegt in der <allgemei- testamentarischen Propheten Elias, ja, einige hoffnungsvolle Zeitgenos­
nen geistigen Atmosphäre», in der dieses Fast und diese Hoffnung sich sen meinten, in der Person Martin Luthers die <Zweitausgabe>“ des
ausbreiten konnten. Die alchemische Literatur und der praktische alche- Elias erkannt zu haben. Hatte er nicht bereits allen, die Sehen wollten,
mische Prozess lieferten immer ein Fast. Und immer,, wenn man in al- das Böse als Regenten der Welt sichtbar gemacht, und zwar in Gestalt
chemischen Texten kluge, ja weise Bemerkungen fand, durfte man an der Schlange zu Rom?
dieses Fast glauben; immer, wenn man im Labor-Prozess Hinweise auf Luthers Verhältnis zur Alchemie war übrigens durchaus positiv, und
die Möglichkeit einer Veredlung der Materie fand, durfte man an dieses zwar sowohl wegen ihrer praktischen als auch wegen ihrer moralisch­
Fast glauben. Darüber, über dieses hoffnungsvolle Fast hinaus, gab es metaphorischen Seite. Er bezog sich allerdings hier nicht auf die Heils­
noch andere Gründe für Hoffnung, vor allem chemische Erzählungen geschichte, sondern auf das Jüngste Gericht: «dann gleichwie in einem
wie die von Flamel. Brennofen das Feuer aus der Materie zeucht und scheidet, was am be­
Aber das Fast allein reicht nicht, zu begründen, warum die Alchemie sten ist, ja den Spiritum, Geist, Leben, den Saft und Kraft, führet's in
ausgerechnet in der Frühen Neuzeit einen Aufschwung erlebte und zu­ die Höhe, dass es das Oberste am Helm einnimmt, dran haftet und dann
dem noch besonders deutlich im <fortschrittlichen> Teil Europas, näm­ herab fleusst, während unreine Materie, Schlacken, auf dem Boden blei­
lich in den Gebieten, in denen der Protestantismus vorherrschte. Etwas ben, wie ein toter und wertloser Kadaver, eben dergleichen wird Gott
kam hinzu, eine bestimmte Konsequenz alchemischen Selbstverständ­ auch thun durch den jüngsten Tag und das letzte Gericht, darmit wird
nisses, die man mit dem Stichwort <Millenarismus> kennzeichnen kann. er als durch ein Feuer abscheiden, absondem und abtheilen die Gerech­
Nun war der Millenarismus, also der auf die Apokalypse des Johan­ ten von den Gottlosen.» (Hartl. 8)
nes gestützte Glaube an ein im Plan der Heilsgeschichte vorgesehenes, Dass die Alchemie vor allem in evangelischen Kreisen so viel An­
tausendjähriges Friedensreich Christi, nicht gerade neu. ln Picos heils­ klang fand, mag noch ein ganzes Bündel weiterer Ursachen haben. Ge­
geschichtlichem Schema entspricht das Millennium, die Zeit der Selig­ rade der Protestantismus, vor allem seine calvinistische Version, war
keit nach der Erlösung, dem Tag der Ruhe am siebten Tag der Schöp­ auch Ausdruck einer Tendenz zur Verbürgerlichung. Bürger sein heißt
fung. Der Millenarismus oder Chiliasmus ist in der Apokalyse 20, i - i o Städter sein, und Freibürger sein heißt - im Idealfall - über sich selbst
bereits angedeutet, und Ende des 12. Jahrhunderts trat als sein bekann­ bestimmen, und sei es in der Gemeinschaft einer Zunft, und das wie­
tester Vertreter Joachim von Fiore auf.“ Aber in der durch Verunsiche­ derum heißt, frei sein von der Last, aber auch vom Schutz einer Hier­
rung und gleichzeitig durch oft überzogene Hoffnungen gekennzeich­ archie. <Die Freiheit eines Christenmenschen», wie Luther sich aus­
neten Epoche vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges gewann er neu­ drückte, bedeutete auch, dass der Christ nun Gott und seiner Schöpfung
en Impetus, nicht zuletzt in protestantischen Kreisen. unvermittelt gegenüberstand, und zwar frei. Das aber bedeutet: eben­
Vor Heraufkunft des Millenniums gibt es eine letzte große Krise, wie falls als Schöpfer. Der selbstbewusst gewordene und vielleicht gerade
denn schon im archaischen Denken die Zeitwechsel, selbst die regel­ deshalb antirömisch gesonnene Mensch tritt der gefallenen, unvollkom­
mäßig wiederkehrenden Wenden, immer Krisen waren. Daran erinnert menen Welt als Schöpfer entgegen. Oeo adiuvante, natürlich mit Hilfe
ja noch unsere Sylvesterknallerei, wenn diese auch heutzutage kaum Gottes, versuchte er sich als sein eigener Baron Münchhausen selbst aus
436 IV. In der neuen Welt Europas Zeit und Alchemie 437

dem Sumpf zu ziehen, und das heißt nichts anderes, als zu versuchen, Immer wieder sogar die Behauptung, die Enthüllung - auf natürlich nur
sich selbst von Not und Elend zu befreien. Der Herold bürgerlicher für Eingeweihte verständliche Weise - bereits gesagt zu haben.
Fortschrittsideologie, der Engländer Francis Bacon, behauptete in die­ Dieses <Sagen-und-doch-nicht-Sagen>, das, je häufiger es öffentlich
sem Zusammenhang, die Befreiung vom Existenzkampf sei eine Er­ auftrat, den unbefangen-modernen Leser umso mehr an des Kaisers
neuerung des Paradieses, des idealen Ortes, der ein Garten, aber auch neue Kleider erinnert, führte zu verschiedenen Verschlüsselungstechni­
ein Tempel und eine Heilige Stadt sein konnte: Und diese Befreiung ken: Namen und Bezeichnungen, scheinbar harmlose Wörter imd auch
biete die Chance zu einer erneuten, freien Hinwendung zu Gott. Ob die Buchstaben und Zahlen wurden gegen andere ausgetauscht, im Stil der
Bankiers, Handelsherren, Handwerker und Freibeuter, die immer neuen <Bibliotheken der Ptolemäer> wurden zusammenhängende Darstellun­
Ufern einer größer werdenden, aber zur Unterwerfung bereitliegenden gen über ganz verschiedene Texte verteilt, und natürlich badete man
Welt entgegensegelten, alle im Innersten wirklich an das glaubten, was auch fröhlich in der Flut der traditionellen Decknamen. Doch fröhlich
Leute wie Bacon sie glauben machen wollten, das sei dahingestellt. oder nicht, im Kern ging es um Ernstes, um die Mitteilung eines Ge­
Sicher aber ist, dass die Alchemisten, wenn es um Befreiung ging, um heimnisses, das durch die Mitteilung nicht zerstört werden sollte. Und
Befreiung von Nöten des Leibes und der Seele, genauso dachten wie so versuchte der Adept, das Geheimnis davor zu schützen, dadurch zur
sie. In ihrem Pathos der Selbsthilfe waren die Adepten frappierend mo­ Gefahr zu werden, dass es sich anstrengungslos allen Lesern und so
dern. Im Grunde waren sie weniger umständlich als die anderen Eliten auch den unwürdigen öffnete. Was in den Spielchen alchemischer Lite­
der Zeit. Ihre Arbeit am Althanor, am Alembik sollte ihnen doch - Deo ratur aber war Clownerie, was Gaunerei, was wahrer Ernst?
adiuvante - die direkte, die unvermittelte Erfüllung des Traums von der Der Emst, das Ernst-Nehmen ist auch eine Funktion der geistigen
Erlösung von allen menschlichen Bedingtheiten bringen. Diese Ein­ Atmosphäre. Und hier zeigt die schiere Masse alchemischer Literatur:
schätzung gilt unabhängig davon, dass das alchemische Programm der Die Zeit größter naturwissenschaftlicher Leistungen, die Zeit eines er­
Selbst-Erlösung gerade auch von Propagandisten der neuen Zeit wie sten Triumphes des europäischen Rationalismus, wie wir ihn verstehen,
Bacon, Rene Descartes oder Pierre Gassendi, dem Erneuerer des Ato­ war auch die Zeit einer ganz anderen Stimmung, die dazu scheinbar
mismus, oder Galilei schlicht für Spinnerei gehalten wurde. gcir nicht paßte, einer Stimmung, die die Alchemie zu einem äußeren
Den Erfolg der alten Nova ars im Bereich frühbürgerlicher Ideologie Höhepunkt ihrer Geschichte führte.
mag man an den Auflagenhöhen alchemischer Werke ablesen. Für die
untersuchten Jahrhunderte, das i6., 17. und 18., können wir feststellen,
dass die Produktion alchemischer Bücher nach 1580 sprunghaft zu­ 4. Zeit und Alchemie
nahm, kurz nach 1610 mit etwa 130 Neuerscheinungen und etwa 40
Neuauflagen jährlich einen ersten Höhepunkt erreichte, dann etwas ab­ Wer von geistiger Atmosphäre, von kollektiven Stimmungen redet, re­
fiel, was sicher mit dem Dreißigjährigen Krieg und dem englischen Bür­ det von Geschichte, und wer von Geschichte redet, redet von Zeit und
gerkrieg zusammenhing, nach 1660 aber einen zweiten Höhepunkt er­ dem Verhältnis der Menschen zur Zeit. Damm ist hier wohl der Ort,
lebte und gegen Ende des Jahrhunderts kontinuierlich abfiel, obwohl einige Bemerkungen über das Verhältnis der Alchemisten zur Zeit ein­
noch um 1800 pro Jahr etwa 30 Werke neu erschienen und etwa 10 zuschieben.
wieder aufgelegt wurden. Was verstanden die Alchemisten unter Zeit - philosophisch betrach­
Man kann das 17. Jahrhundert gleichzeitig als Blüte und als Anfang tet? Wenn sie sich je mit dem Thema beschäftigt haben, dann werden
vom Ende der Alchemie bezeichnen, und zwar nach der Devise <publish sie nicht weiter gekommen sein als der größte Philosoph der christli­
and perish - by püblishing>. chen Antike, Aurelius Augustinus.
Was aber wurde veröffentlicht? Immer wieder die Versicherung, dass «Was ist also Zeit?», fragt er um 400 n. Chr. in seinen <Confessiones>. Er
es ein endgültiges Geheimnis gäbe, und dass es sich beweise entweder meint dabei die Zeit der Christen, das ist eine Zeit, die die Zeit des
durch jemanden, der es kenne, oder durch jemanden, der es materiell Menschen ist und also nicht die Dauergegenwart mythischen Gesche­
in Form des Lapis besäße. Immer wieder auch die Beteuerung, dass man hens widerspiegeln soll. Er meint damit auch eine Zeit, die nicht zy­
das Geheimnis natürlich nicht vor der profanen Welt verbreiten könne. klisch, sondern als Heilsgeschichte einsinnig verläuft. Es ist eine Zeit,
Immer wieder aber auch das Versprechen, eben dies zu tun, das end­ die sich noch im Mittelalter der zyklischen Zeit, wie sie im Wechsel der
gültige Geheimnis zu enthüllen, wenn auch nur dem begnadeten Leser. Jahreszeiten symbolisiert ist, nur überlagerte, ohne sie verdrängen zu
43« IV. In der neuen Welt Europas Zeit und Alchemie 439

können. «Was ist also Zeit?», schreibt Augustin. «Solange mich niemand analoge Beziehimgen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos eigent­
fragt, weiß ich es; wenn ich es einem auf seine Frage hin erklären will, lich eine Verbindung zur Astrologie nahe legt. Über die Magie, die sich
weiß ich es nicht.» ((Confess. ii. Buch, 14; Aug. 629) astraler Einflüsse bedienen könnte, haben wir ja schon gesprochen, und
Dieses Unfassbare, dieses Ubiquitäre, das alles und zugleich nichts hier sei mu- noch einmal betont, dass die Alchemie den Bereich einer
ist, die Zeit also, ist in einem ganz besonderen Maße Thema der Alche­ Imitatio naturae nicht verlassen wollte, selbst da, wo sie über die fakti­
mie. Denn was bedeutet - in den Augen der Adepten - die Bereitung sche Natur hinauszugehen versuchte. Und was die Zukunftsdeutung
künstlichen Goldes anderes als eine Verkürzung der Zeit, in der die angeht, so sehen wir die Astrologen nicht nüt den Alchemisten, sondern
Natur selbst Gold erzeugen würde? Was bedeutet die Anwendung des eher noch mit den modernen Naturwissenschaftlern zwieträchtig im
Elixiers anderes als eine Verlängerung der Zeit, die die Natur den Sterb­ selben Boot sitzen, und zwar immer dann, wenn sie sich in Vorhersagen
lichen eigentlich zubemessen hat? Und was ist der Stein der Weisen üben, ob man die nun <Divination> oder noch vornehmer <Prognostizie-
anderes als ein Mittel, der Enge des Daseins zu entgehen, und damit rung> nennt. Der entscheidende Unterschied ist, dass die Astrologen,
ein Mittel zur Erlösimg von der Zeit? wenn die Zukunft wie Fm Isebill im Märchen vom <Fischer und sine
Um genau diese drei Aspekte des Verhältnisses von Alchemie und Frau> nicht so will, «as ick wohl will», immer ein paar Ausreden, sprich
Zeit zusammenzufassen, hat der Alchemiehistoriker Henry Sheppard imüberschaubare, meist spirituelle Einflüsse ins Feld führen können,
folgende Definition der Prisca ars vorgeschlagen: «Alchemie ist die während ihre Kollegen aus den chemischen und physikalischen Labors
Kunst, Teile des Kosmos von zeitlicher Existenz zu befreien und Voll­ es da schwerer haben. Vielleicht sind deshalb die Astrologen den Alche­
endung zu erreichen, die für Metalle Gold ist, für den Menschen Lang­ misten immer sympathisch geblieben. Schließlich wimmelte es auch in
lebigkeit, dann Unsterblichkeit und schließlich Erlösung.» (Mein. 16) der göttlichen Kunst von <Einflüssen>, die aber auch verhindert haben,
Das klingt gut, nur bleibt uns weiterhin die Frage: «Was also ist dass die Alchemie je wissenschaftlich widerlegt wurde. Astrologisches
Zeit?», diesmal etwas bescheidener gefragt als: «Um welche Zeitform als Zukunftsschau jedoch brauchten die Adepten nicht, war ihnen doch
handelt es sich in der Alchemie?» Ziel und Weg ihrer Bemühungen im Prinzip immer bekannt.
Für Sheppard scheint es da kein Problem zu geben, denn er weist nir­ Dabei haben die Alchemisten durchaus nicht auf eine Zusammenar­
gends auf die Problematik seiner eigenen Aussage hin. Mit <zeitlicher beit mit den Sternen verzichtet, nur eben auf anderem Gebiet, auf ka­
Existenz> bzw. <Zeit> meint er offensichtlich <die Zeit als gradlinige Zeit- lendarischem. Wenn Olympiodoros von einem bestimmten Monat re­
spanne>. Er meint unsere Zeit, die wir haben oder nicht haben körmen, det, in dem das Große Werk durchgeführt werden solle, meint er den
die Geld wert ist - time is money -, und die wir deshalb kaufen und Monat Pharmuthi, das waren damals die Monate März-April. In diesem
verkaufen körmen. Was aber meinten die Adepten? Monat nämlich solle man die Arbeit beginnen mit der Herstellung der
Nun narmten die Alchemisten sich zwar im Gegensatz zu Augustin schwarzen Brühe oder des schwarzen Körpers, imd fortsetzen solle man
Philosophoi, aber sie waren keine Philosophen, sofern man darunter sie mit der Weiterbehandlung oder Weiterentwicklung der so genannten
Metaphysiker versteht. Sie waren, was das Wort sagt: Liebhaber der <etesischen>, der <jahreszeitlichen> Schwärze oder <etesischen Wolke>
Weisheit, nicht mehr und nicht weniger. Um das zu sein, Liebhaber der bzw. des <etesischen Steins> im Frühsommer. Das alles deutet aber we­
Weisheit, braucht man nicht unbedingt tief schürfende Räsonnements niger auf die Astrologie hin als vielmehr darauf, dass Ägypten einen
über die Zeit anzustellen. Und tatsächlich kommt bei ihnen das Wort Rhythmus der Natur besitzt, der sich im Osiris-Mythos widerspiegelt
<Zeit> in egal welcher Sprache nur selten und dann nicht in philosophi­ und dem sich der Alchenüst anzupassen sucht. Der Februar-März ist
scher Absicht vor. Und doch ist die göttliche Kunst untrennbar mit dem der unfruchtbare Monat nüt dem geringsten Wasserstand des Nils, und
Problem der Zeit verbunden, und dies unter mindestens drei Aspekten, er ist der Monat, in dem Osiris als Gott der Toten regiert, weil er in eben
einem astrologischen, einem metallurgischen und einem soteriologischen, diesem Monat ermordet, zerstückelt und über ganz Ägypten verteilt
also die Erlösung betreffenden. wird. Die Zeit der Etesien, der kühlenden Nordostwinde, im Juni oder
Zunächst einige Worte zum astrologischen Aspekt, und es kann tat­ Juli aber ist die Zeit des Beginns der Nilschwelle und der neuen Frucht­
sächlich bei einigen Worten bleiben, da die Alchemisten diesen Aspekt barkeit, die Zeit, in der Isis den Leib ihres toten Gemahls wieder zu­
nicht besonders beachtet haben, obwohl ja die sieben Planetennamen sammenfügt und mit dem Hauch ihrer Flügel zu neuem Leben erweckt.
Metalle bezeichnen, was der Göttlichen Kunst auch die Bezeichnung 200 Jahre später ist es der Monat Mechir, d. h. der Februar-März, der
<Untere Astronomie> eingebracht hat, und obwohl ihr Glaube an real­ von Stephanos von Alexandria in den Mittelpunkt der alchemischen^
440 TV. In der neuen Vielt Europas Zeit und Alchemie 441

Operationen gestellt wird. In genau diesem Monat nämlich muss man sie sich zwar dienstbar machte, nicht aber versuchte, sie sich zu unter­
geröstetes Kupfer mit göttlichem oder schwefligem Wasser löschen, wo­ werfen. Dass die Hüttenleute bei der Verhüttung der Erze ganz be­
bei es, dies nur zur Erinnerung, innerhalb von 40 bzw. 41 Tagen bei stimmte, auch sonst in der Natur vorkommende Zeitperioden, d. h. na­
schwachem Feuer einen Stoff ausbildet, der Grundlage des Steins der türliche Rhythmen einhielten, ist zu vermuten. Und was die Alchemisten
Weisen ist. angeht, so können wir sogar sicher sein, dass sie sich ihrerseits den
Die interessantere Zeitangabe ist hier nicht der Zeitpunkt des Be­ natürlichen Zyklen der Zeit anzupassen versuchten. Ihre Texte, auch
ginns, sondern die Dauer der Operation. Auch Olympiodoros redet von wenn sie es nicht eigens zur Sprache bringen, sagen es uns. Wenn die
40 Tagen, was in etwa der Zeitspanne entspricht, die der etesische Wind Adepten den Rhythmus der Natur beschleunigten, dann taten sie es,
über Ägypten weht. - Die Zahl 40 hat aber noch andere Bezüge, auf die indem sie ihr einen anderen, einen schnelleren, aber ebenso natürlichen
Lippmann bereits 1919 hingewiesen hat: Rhythmus auferlegten.
«Die Zahl 40 ist aber eine der ältesten <großen> Zahlen, die schon bei Nim ist aber jeder JÜiythmus eine besondere Form der Zeit. Jeder
den Babyloniern einem der Hauptgötter, Ea, heilig war und auch wäh­ Rhythmus hat etwas Kreisförmiges, wie man ja auch aus einer Kreisbe-
rend der hellenistischen Zeit nie an ihrer Wichtigkeit einbüßte, die in wegimg eine Sinuskurve konstruieren kann. Rückkehr zum Ausgangs­
erster Linie daher rührt, dass der Fötus im Mutterleibe nach 40 Tagen punkt bedeutet Aufhebung der Zeit, ohne sie zu zerstören. Andererseits
menschliche Gestalt erhalten und binnen 7 Abschnitten zu 40 Tagen = haben der Hüttenprozess und auch der alchemische Prozess etwas Te­
280 = 10 (Mond-) Monaten seine Entwicklung vollenden soll, weshalb leologisches an sich, sie gehen zweckorientiert auf ein bestimmtes Ziel
denn 40 Tage für die allgemeine Frist der Reife und Vollendung gelten, zu. Und wenn man in den Kategorien einer kreisförmigen Zeit denkt,
umgekehrt auch für die der Auflösung und Verwesung.» (Lipp. I, 306) kann das Ziel nur heißen: <Dasselbe wie der Anfang, aber in einem
Im Laufe der Alchemiegeschichte werden noch andere Zeitspannen höheren Zustand.»
für das Magnum magisterium angegeben - ein Tag, drei Tage, sieben Das führt zum soteriologischen Aspekt der Alchemie. Unter diesem
Tage, neun Monate, ein Jahr -, immer aber beziehen sich die Angaben Aspekt ist nicht die Erdgöttin, sondern ist die Materie schlechthin erlö­
auf etwas, das für einen Natur-Rhythmus gehalten wurde. Nun kann sungsbedürftig, und der Alchemist ist ihr Erlöser, auch wenn er es nicht
und konnte niemand behaupten, dass die Natur, so wie sie für Jahrtau­ deutlich sagt. Aber er sagt ja auch nicht, dass er mit seinen Mühen, die
sende begriffen wurde, anders als in unübersehbar großen Zeiten die Materie zu veredeln und sie schließlich gewissermaßen über sich selbst
Metalle aus sich hervorbringt. Wir wissen, was der archaische Hütten­ zu erheben, eine Art Initiationsritus durchläuft, ähnlich den Initiations­
mann in dieser Situation tat. Und wir wissen, was geschehen würde, riten, die einen Auferstehungsmythos nachvollziehen. Und diese Riten
wenn man nicht in die Natur eingriffe, wenn man also die Erdgöttin haben ganz wesentlich mit Zeit bzw. mit Zeitlichkeit zu tun. Der s)m\-
ihre Geschöpfe in der Ruhe von Äonen austragen ließe: Alles, zumin­ bolische Tod des Mysten am Anfang des Prozesses stellt die Regression
dest alles Erz, würde zu Gold werden. ins Amorphe, stellt die Wiederherstellung des Chaos dar, auch im Kos-
Der Hüttenmann, dies nur zur Erinnerung, war sich mehr oder we­ nüschen. Der Tod - auch in der Alchenüe - ist dabei keine Vernichtung
niger vage bewusst, dass er mit seinem Tun eine Art Erlöserrolle gegen­ der Existenz; im psychologischen wie im materiellen Tode sollen die
über der Natur übernahm. Um aber diese Rolle spielen zu können, Eigenschaften des Getöteten nicht ins Nichts fallen. Aber sie sollen ihre
musste er voraussetzen, dass die Göttin es sich zumindest gefallen ließ, Individualität aufgeben, um in diesem Sinne aus dem Tod Leben ma­
wenn er ihre Schwangerschaft verkürzte. Anders gesagt: sie musste ge­ chen zu können. Das Getötete, die Prima materia, ist Leben, genau wie
statten, dass er ihr gegenüber die Rolle der Zeit übernahm, einer Zeit, der Lapis philosophorum Leben ist, und zwar in seiner ganzen Fülle,
die eigentlich ihr, der Natur, allein gehörte. Dabei fühlte der Berg- und und genau wie der Same einer Pflanze in gewisser Weise ihr Ende, ihre
Hüttenmann, dass er ja keine Möglichkeit besaß, das eigentliche Wollen Vollendung und ihr Anfang ist. Im Tod des Mysten geht es also darum,
der Göttin in Erfahrung zu bringen. Materie ist immer heilig, und wer eine Lebensphase zu beenden, es geht darum, sich durch den Tod aus
mit Heiligem umgeht, muss vorsichtig sein, das erklärt zumindest teil­ der strukturierten Zeitlichkeit zu lösen imd in die Umacht, in das Ur-
weise die so auffallend konservative Haltung des archaischen Hand­ chaos zurückzukehren, um von dort genau wie der <sterbliche» Gott -
werkers. Das erklärt auch, warum der Berg- und Hüttenmann sich mit denken wir an Dionysos oder Osiris - wieder geboren zu werden, dessen
strengen Ritualen vor dem Zorn der Gottheit zu schützen suchte. Und Schicksal man in der Initiation nachahmt. Da mm die Wiedergeburt in
es erklärt, warum er, indem er die Rolle der natürlichen Zeit übernahm. derSelbstidentifizierung des Mysten mit dem Gott des Mythos endet, wird
442 rV. In der neuen Welt Europas Zeit und Alchemie 443

der Myste damit zu einem Gott, der den Tod überwunden hat imd an tiv gehalten werden. Die Erlebnisse sind nach außen gewendet, sie sind
der Überzeitlichkeit, an der Ewigkeit teilnimmt. als Obiectivum dargestellt. Wenn in der spätesten Phase der Alchemie
Wir hätten uns nicht ausführlich mit den <kämpfenden Göttem> be­ im 17. und 18. Jahrhundert auch von persönlichen Erlebnissen die Rede
schäftigt, wenn der alchemische Prozess nicht in seinem Ziel und seiner ist, könnte man dies als Symptom für den Anfang ihres Endes ansehen.
Durchführung eine Struktur zeigte, die der des Initiationsprozesses Was aber bedeutet das für uns, wenn wir versuchen, das alchemische
gleicht. So ist es kein Wunder, dass wir vor allem im Umkreis der Me- Denken und Fühlen zu verstehen? Es bedeutet, dass der Alchemist in
lanosis immer wieder Vergleichen mit Tod und Geburt begegnen. Die einer Welt, die die strikte cartesische Trennung von Geist und Materie
frühneuzeitlichen Alchemisten mit ihrem reichen Gebrauch von Bildern noch nicht kannte, seine eigenen Gefühle, Sehnsüchte und Hoffnungen
und Metaphern waren da besonders explizit. Gestützt auf Aussprüche und vielleicht auch sein unbewusstes höheres Wissen in den dunklen
seines Lehrers Paracelsus zum Leib der Mutter, in den man eingehen Spiegel der ihm eigentlich unbegreiflichen Materie projizierte und von
müsse, um in das Reich Gottes einzugehen, erläutert z. B. Gerhard Dom dort objektiviert zurückbekam. Die psychologischen Verflechtimgen die­
die Analogie Utems-Reaktionsgefäß in religiös-kosmologischer Wen­ ser Geisteshaltung sind so wichtig, dass wir sie uns später gesondert
dung: «Das Gefäß gleicht dem Werke Gottes im Gefäß des göttlichen vornehmen müssen. Hier sei nur schon gesagt, dass die Alchemisten,
Keimes.» (Jung (i) 442f.) Und bei Georg von Welling ist die Überset­ auch psychologisch gesehen, an der Grenze zwischen einer passiven
zung von Versen des englischen Adepten George Ripley aus dem und einer aktiven Haltung standen. Obwohl sie sich auf die Tradition
15. Jahrhimdert zu lesen: «Doch dünckt mich, es steh die Thür der Ver­ einer uralten Kunst beriefen, und obwohl sie im Prinzip ihrem eigenen
heißung auch mir offen, / Dass man kommen muss aufs neu aus der Ritus immer wieder folgten, erschöpfte sich ihre Tätigkeit doch nicht in
Mutter Leib geschloffen. / Denn ich kan sonst anderst nicht in das Him­ einer passiven Nachahmung. Sie schrieben bekanntlich Bücher, und vor
melreich gelangen, / Wo ich nicht zum andern mal werde zur Geburt allem: Sie manipulierten die Materie. Besonders deutlich wird das, finde
empfangen, / Damm thut mich wiedemm nach der Mutter Schos ver­ ich, in der Frühen Neuzeit mit ihrer Aufbruchstimmung, mit ihrer be­
langen, / Um regenerirt zu seyn, das will ich nur bald anfangen.» (Gray wussten Nachschöpfung der Schöpfung.
32, 268) Um die Stellung des Adepten als <Manipulator der Zeit> so recht deut­
In der Melanosis sterben und wieder geboren werden heißt hier, aus lich zu machen, sollten wir noch einmal auf die allgemeine Haltung und
einer Zeitlichkeit ausgesetzt zu werden und in einer neuen Zeitlichkeit das Selbstverständnis des Alchemisten eingehen. Was bedeutete es, dass
wiederzuerstehen. Dabei ist der Endpunkt der Wiedergeburt, sei es als der Alchemist die Schöpfung und zugleich auch die wahre, die eigent­
Gold im Schmelzofen, sei es als Stein der Weisen in der Retorte der liche Geschichte der Menschheit nachzuahmen glaubte, die übrigens
Alchemisten, wiedemm ein Tod, nämlich ein neues Ausgesetzt-Werden ebenfalls als ein, wenn auch äonenlanger Kreisprozess vom Paradies
aus der Zeitlichkeit. Nur ist es diesmal die Unsterblichkeit, eine leben­ zum Paradies gedacht werden koimte? Es bedeutete, etwas überspitzt
dige Unsterblichkeit, die der Alchemist im letzten Hauptschritt seines gesagt, dass der Alchemist sich vorkam wie der Liebe Gott en miniature,
Prozesses erreicht, und die er ja immer wieder ebenso wort- und blu­ der auch die Zeiten, über die Gott verfügt, in seine kleine Lebenszeit
menreich wie unklar beschrieben hat. Das Unsterbliche ist göttlich, und hineinzuziehen vermochte.
das Göttliche kann alles: Das ist, es sei hier wiederholt, meiner Ansicht Natürlich hütete sich der Alchemist, sich wirkhch so vorzukommen.
nach der nüchterne Hintergrund der Tatsache, dass der Stein der Weisen Dennoch lauerten hinter aller Demut überzogene Hoffnungen, Größen­
im Laufe seiner 1500-jährigen Geschichte schließlich alle im Untergmnd wahn imd Verzweiflung, die Melancholia alchemica, die schon damals so
weiterlebenden archaischen Hoffnungen an sich zog. Und wie diese genaimt wurde, jene Krankheit, in der die Sehnsucht nach Erlösung
Hoffnungen, die aus der Zeitlosigkeit stammen, rostet er nicht, fault er schließhch zu genau der Fessel wird, von der sie sich befreien will,
nicht, vergeht er nicht. Er wird erlebt als Herrscher über die Zeit. und die wir sicher heute als schwere Depression diagnostizieren wür­
Jedes Erlebnis aber ist sinnlich wahrgenommen und damit Tatsache. den. Gleichzeitig aber war die Hingabe an die Heilsgeschichte ein
Wenn der Adept vom Stein und vom Weg zum Stein redet, geht es um Trost, und per analogiam garantierte sie eine gewisse Sicherheit. Insbe­
Tatsachen-Behauptungen, auch wenn er sich unermüdhch in Symbolen sondere fühlte sich der Alchemist ganz wie der Heilige in der Nachfolge
und Paradoxa ergeht. Was die Alchemisten schildern, sind aber nicht Christi stehend. Durch Christi Tod war die gefährliche Melanosis gehei­
objektive, d. h. vom Subjekt des Beobachters getrennte Beobachtungen, ligt und von Hoffnung erfüllt; Christi Auferstehung versicherte dem
sondern es sind in Wirklichkeit Berichte von Erlebnissen, die für objek­ Alchemisten, dass es gelingen müsste, von der Prima materia zum Lapis
444 IV. In der neuen Welt Europas Zeit und Alchemie 445

philosophomm zu gelangen, der ja tatsächlich zuweilen mit Christus, als gegeben hin, dass - zumindest in den hoch industrialisierten Natio­
dem «Sohn des Makrokosmos», wie Khunrath ihn nennt, gleichgesetzt nen - der Mensch den Rhythmus natürlicher Zeitabläufe weitgehend
wurde. Die Schaffung des Steins der Weisen würde dem Alchemisten überwimden hat, indem er ihn so verkürzte, dass er verschwand. Danüt
die echte Natur des Makrokosmos entschleiern und zugleich die Mög­ ist auch gegeben, dass der Mensch in vielen Fällen heute schneller ist
lichkeit an die Hand geben, die Materie zu erlösen, genau wie Christus als die Zeit und so über sie gesiegt zu haben scheint.
dem Mikrokosmos, d. h. dem Menschen, die Erkenntnis von dessen Na­ In Hinblick auf das Ziel der Alchemie muss oder müsste dieser Be­
tur und zugleich die Möglichkeit zur Erlösung gegeben hat. Der alche- fund positiv gewertet werden; Wenn nämlich der Alchemist versucht
nüsche Prozess würde damit zu einem Programm, das eines Gottes oder hat, sich an die Stelle der Zeit zu setzen, so scheint sein Traum heute
eines Größenwahnsinnigen würdig wäre, wenn nicht der Alchemist erfüllt. Nur erinnert die Traumerfüllung an das Märchen vom Hasen
gleichzeitig annähme, dass der Stein ubiquitär wäre, d. h. überall, im und dem Igel. Wir sind zwar schneller, kommen aber nicht zur Ruhe.
Höchsten und im Niedrigsten, schon vorhanden sei, und nur gefunden Die unstrukturierte Zeit hetzt xms, z. B. in einförmiger Arbeit, mit der
zu werden brauchte. Das Heil muss nicht erzwungen werden; es ist wir zugleich vielleicht Dinge - oder meist Bruchstücke davon - herstei­
schon da, wenn man es in Demut hinnimmt. len, die die Natur nur über Äonen oder gar nicht zustande gebracht
Zudem kam es dem Alchemisten gar nicht in den Sinn, aus dem hätte.
Rhythmus der Zeit zu fallen, wenn er sich daranmachte, die Zeit des Selbstverständlich haben wir der Zeit, in der wir leben, nicht alle
Kosmos und mit ihr die Zeit der menschlichen Geschichte in nuce zu Rhythmen genommen. Wir haben noch den Tag und die Nacht; wir
wiederholen. Auch in der neuzeitlichen Alchemie wurde der alchemi- hal^n noch die Arbeits- und jene andere Zeit, die wir bezeichnender­
sche Prozess schonend, mit viel, viel Geduld und bei gelinden Tempe­ weise Freizeit nennen. Aber innerhalb dieser Rhythmen drohen wir die
raturen durchgeführt, wie wir es bezeichnenderweise heute nur noch in Zeit von allen feineren Rhythmen zu entleeren, also im genauen Sinne
der Biochemie kennen. des Wortes leer zu machen. Das kann bis zu einem Paradoxon führen,
Wie schonend aber sind - diese Frage sollten wir uns doch nicht das wir im Unterschied zu den Alchemisten meist nicht als solches er­
entgehen lassen - die modernen Natur- und Technikwissenschaften in kennen: Wir verlieren oft Zeit, indem wir Zeit gewinnen, und zwar über
Hinblick auf die Zeit? Dazu ist zunächst zu sagen, dass es den moder­ hnmer größere Geschwindigkeiten, in denen wir oft Zeit ersatzlos in
nen Wissenschaften wohl ebenfalls nicht in den Sinn kam, das psycho­ Raum Umsetzen. Es gehört zu den modernen Wundem, dass Geschwin­
logische Verhältnis des Menschen zur Zeit radikal zu ändern, will sagen, digkeit auch ohne Chende zu Rauschzuständen führen kann. Auto und
den natürlichen Rhythmus der verschiedenen Zeitabläufe zu verlassen. Hektik gehören oft genug zusammen, auf der Autobahn im Kilometer­
Aber während die Alchenüsten vom Fluss der trivialen Zeit, vom Alltag, fressen, in der Stadt im allgemeinen leeren Hin und Her. Und auch das
nichts erwarteten, setzen die Naturwissenschaftler ihre Hoffnung gera­ Vergnügimgsfieber - <Genieße und vergiss es!> -, das von den größten
de auf diesen Fluss, auf die All-Tage, die ja jeder für sich etwa Neues Industrien unserer Volkswirtschaften angeheizt wird, ist sicher ein
bringen könnten, nicht die Große Schau, das Große Allwissen des Elias, Symptom dafür, dass die leere Zeit uns zu überwältigen droht.
sondern vielleicht nur ein einziges Messergebnis, eine einzige, unver­ Genau das, die Überwältigimg durch die Zeit, fürchten wir insge­
mutete Beobachtung, eine kleine Erkenntnis, vielleicht in Widerlegung heim. Das ist wohl auch mit ein Gnm d für die Neigung vieler Menschen
einer anderen Erkenntnis, aber doch etwas Neues. Die Naturwissen­ zu Esoterik und zu verschiedenen Meditationsübungen. Die Überwäl­
schaften sind das Feld des Fortschritts, eines Fortschritts hinweg über tigung durch die Zeit fürchteten auch die Alchemisten, was nicht heißt,
die Trittsteine der vielen, der nie abgeschlossenen Einzelerkenntnisse. dass sie ihre eigene Furcht durchschaut hätten. Der Alchenüst hielt sich,
Aber dieser Fortschritt als technische Umsetzung wissenschaftlicher Er­ meine ich, unbeirrt an die Rhythmen der Zeit, um sich in ihr von ihr
kenntnisse verbunden mit der Eigendynamik neuzeitlicher Technik erlösen zu können, wobei er wechselwirkend auch die Materie in der
führten zu genau dem, das nicht gewollt und meist auch nicht beachtet Materie von den Bedingung der Materie und sich selbst in sich von sich
wurde, nämlich zu einer drastischen Veränderung des Verhältnisses des selbst zu erlösen versuchte. Dabei spielt sicher die uralte archaische
Menschen zur Zeit und ihren Rhythmen. Weil es uns hier nur um die Vorstellung von der Kreisförmigkeit der Zeit eine Rolle. Aber, wie schon
Geschichte der Alchemie geht, brauchen wir - glücklicherweise - die angedeutet; Nur von außen war der Kreis ein Kreis. Von innen, und der
psychologischen Voraussetzungen und die Begleiterscheinungen der Alchenüst wollte ja nach innen in das innere Wirken der Materie und
angedeuteten Entwicklung nicht zu erörtern. Nehmen wir also einfach damit zugleich in das innere Wirken des Geheimiüsses des Kosmos ein-
446 IV. In der neuen Vielt Europas Paracelsus 447

dringen, von innen war der Kreis eine Spirale, die zugleich in sich und eines kleinadeligen Arztes in Einsiedeln im Kanton Schwyz geboren
zu Höherem zurückkehrte. Wer in die Geheimnisse des Kosmos einge­ wurde, im Laufe seines unsteten Lebens überall gewesen ist. Wir wissen
drungen war, war im Besitz des Lapis philosophorum. Der Besitz des es ohnehin nicht mit Sicherheit. Wichtig ist nur, dass er auf steter Wan­
Lapis aber bedeutete Erlösung von der Last der Zeitlichkeit. derschaft war. Als Arzt nämlich setzte er nicht auf die Tradition, er
setzte auf die Er-Fahrung, sein Wissen suchte er auf den Straßen, aber
die Luft, die er auf den Straßen und in den Häusern, die er besuchte,
j . Paracelsus einatmete, war die Luft des Hermetismus, imd das war zu jener Zeit
die Luft der Erneuerung. Geatmet hat er sie in den Tälern und den
Bei allen Exkursen über Zeitformen und die Zeit an sich sollten wir aber Bergwerken Kärntens. Geatmet hat er sie im Kloster Spanheim bei dem
nicht vergessen, dass die Zeit der Geschichte, die Zeit unwiederholbarer Experten für Magie, Talismane, Schriftverschlüsselungen und Okkultis­
Taten wie ein Förderband ist, das uns Menschen eine Basis gibt und mus Joharmes Trithemius. Geatmet hat er sie in den Werken des Hein­
zugleich unbeirrbar vorwärts zieht. Wenn wir nun als illegitime Ge­ rich Cornelius Agrippa von Nettesheim, der samt Pudel einmal Urbild
spenster auf dieses Band aufspringen, dann sollten wir uns als Zeitab­ des Goethischen Faust werden sollte. Geatmet hat er sie in Ferrara, wo
schnitt die Jahre um 1520 und als Ort irgendeine Stadt zwischen Straß­ es eine Stimmung sowohl gegen die Medizin des Avicenna und der
burg, Basel und Salzburg aussuchen. Dort werden wir den aus späterer Araber als auch gegen den mittlerweile direkt aus seinen griechischen
Sicht berühmtesten Arzt seiner Zeit antreffen: Theophrast Bombast von Schriften erschlossenen Galen, den großen Arzt der römischen Antike,
Hohenheim, genannt Paracelsus. gab .'7 Geatmet hat er sie auch in den Auseinandersetzungen mit der
Dabei ist nicht sicher, ob sich unsere Historiker-Mühe überhaupt medizinischen Fakultät in Basel, die allerdings Grund hatte, ihm, der
lohnt. In der Geschichte der Alchemie ist Paracelsus nämlich ein beson­ durch die Protektion eines einflussreichen Patienten dort Stadtarzt und
deres Problem. War er überhaupt ein Alchemist? War er kein Alchemist? Dozent geworden war, zu misstrauen. Paracelsus las auf Deutsch, und
Sic et non. Sicher ist nur, dass er eine farbige Gestalt in einer ziemlich zu Johannis 1527 warf er ein medizinisches Lehrwerk öffentlich ins Feu­
bunten Zeit war. Das bezieht sich nicht auf körperliche Schönheit, denn er. Als Paracelsus 1541 auf einer Ofenbank in einem Salzburger Gasthof
Paracelsus war von gedrungenem Körperbau und wohl auch buckelig. starb, wird er bei all seiner gequälten Selbstüberzogenheit kaum geahnt
Wohlhabend und besonders einflussreich war er auch nicht, aber all das haben, dass Jahrhunderte später an manch einer Apotheke sein Name
machte er wett durch seine intellektuelle Brillanz, die leicht in Streit­ in Messing an der Tür prangen würde: «Der sehne meines ellents ist
sucht ausartete, und durch sein gesundes - oder gar ungesundes? - zum end gangen.» (Eng. 18)
Selbstbewusstsein. Bezeichnenderweise war sein Wahlspruch: «Alterius Die Apotheken führen seinen Namen zu Recht, hat er ihren Arznei­
non sit qui suus esse potest» - «Der sei kein anderer, der er selbst sein schatz doch um etliche Chemikalien erweitert. So propagierte er die
kann». Dieser kämpferische Wahlspruch paßte zu dem großen Richt­ orale Therapie mit anorganischen Substanzen, die zuvor nur in seltenen
schwert, das er ständig bei sich führte und in dessen Knauf er, so wurde Fällen angewandt worden war und immer von Ärzten, die wie Raimun-
gemunkelt, Gift verborgen hatte. A uf Paracelsus trifft zu, was Arthur dus Lullus, Am aldus von Villanova oder Johannes von Rupescissa zu­
Koestler einmal über Galilei geschrieben hat: gleich Alchemisten waren. Allgemein bevorzugte man organische Kom­
«lErl besaß ein seltenes Talent, Feindschaft zu erregen; nicht letwa posita, die das Gleichgewicht der vier Säfte im Körper wiederherstellen
eine] mit Empörung abwechselnde Zuneigung, ... sondern die kalte, sollten. Paracelsus hatte ein grundsätzlich anderes Krankheitskonzept.
erbarmimgslose Feindseligkeit, die das Genie plus Überheblichkeit nü- Für ihn wirkte Spezifisches auf Spezifisches, etwa ein Salz oder ein at­
nus Bescheidenheit im Kreis der Mittelmäßigkeiten schafft.» (Koest. 374) mosphärisches Gift auf ein bestimmtes Organ, das dann an einer spezi­
Alles hätte Paracelsus wohl sein wollen, nur nicht mittelmäßig. Und fischen Krankheit leidet, die nicht bloß eine Gleichgewichtsstörung im
das war dieser wirre Feuerkopf auch nicht. Bei allem war er zutiefst Körperhaushalt, sondern ein <Ding>, ein Ens, ist. Und das Specifioun
menschlich, er war ein leidender, irrender, ringender Mensch, der als muss mit einem Specificum bekämpft werden, wobei die Specifica im­
Arzt den Menschen suchte, der ihm im Alltag versagt blieb: «Wie kön­ mer innere Beziehungen zueinander haben. Das steht an der Basis seiner
nen die frauen einem holt sein, dem sein eigen natur nicht holt ist, und Signaturenlehre, die er bei Agrippa bestätigt findet. Und das steht auch
hat ihm verderbt im muter leib?» (Eng. 16). an der Basis seiner für die analytische Chenüe später so wichtigen For­
Es sollte uns weniger interessieren, w o Paracelsus, der 1493 als Sohn derung, statt Komposita zu verabreichen, den wirksamen Bestandteil
44« IV. In der neuen Welt Europas Paracelsus 449

einer Droge, also ihre Quinta essentia, als spezifisches Heilmittel, als kimg auf und Wirkung in den irdischen Dingen. Jedes bestimmte
Arcanum aus ihr auszuziehen. Frater Rupescissa hätte sich gefreut. Astrum kann auf ganz verschiedene Erfolgsobjekte einwirken, auf ein
Paracelsus mühte sich auch, Metalle als reine Substanzen trinkbar und Mineral, eine Pflanze, ein Organ etc., die danüt in innerer Beziehung
damit applizierbar zu machen. Hier findet das Aurum potabile als eine zueinander stehen. Diese inneren Beziehungen nun geben sich dem wei­
Art Elixier seinen Platz. Dabei sind Transmutationen für ihn Verbesse­ sen Beobachter durch äußere Ähnlichkeit und durch Analogien, und
rungen der Metalle, sie sind Ausdruck eines allgemeinen Prozesses der das heißt nichts anderes als durch Signaturen, zu erkennen. Die auch
«Reifigung» hin zur «Goldenen Welt» und nicht Stationen auf dem Weg volksmedizinisch so bedeutsame Signaturenlehre, die bei Paracelsus -
zum Goldmachen. Stichwort Antimontherapie - in die latrochemie überging, ist übrigens,
Wenn es auch Unsicherheiten in den jeweiligen Definitionen gibt, so naiv sie uns aufgeklärten Geistern zu sein scheint, empirisch nicht
kann man doch sagen, dass die Alchemie im weiteren Sinn, der auch so leicht zu widerlegen, wie es scheinen mag. Nicht nur Placebowirkun­
die Therapie und die gezielte Heilmittelbereitung einschließt, bei Para­ gen spielen hier eine Rolle, sondern auch Grenzfälle, in denen konkur­
celsus und anderen zur latrochemie - von latros, der Arzt - wird. Und rierende Ursachen dieselbe Wirkung beweisen könnten. In der Ginseng­
im pharmazeutischen Sinne gezielter Heilmittelbereitung wird sie zur wurzel scheint die Signatur, d. h. die äußere Gestalt, und der pharma­
Chemiatrie oder auch zur Spagyrik - von spaein gleich herausziehen, kologisch zu deutende Effekt in der Wirksamkeit zusammenzutreffen,
trennen, zerreißen und ageirein gleich sammeln, vereinigen, verbinden. in der Roten Bete mit ihrer blutroten Farbe ebenfalls, denn der Eisen­
Selbst diese umgedeutete und ja auch erweiterte Alchimei ist nur eine gehalt dieses Rübenart hilft tatsächlich gegen Eisenmangelanämie.
der vier Säulen, auf denen die paracelsische Medizin ruht, und das sind Der Beobachter, der die Signatur deuten kann, das ist auch der, in
«die philosophei, die astronomei, die alchimei und die tugend». (Benz. dem das <Licht der Natur>, das Lumen naturae, aufgegangen ist. Und
(2) 80) Tugend ist für jeden Arzt unabdingbar, weil für Paracelsus jeder damit ist der Beobachter auch ein Handelnder, denn nur durch das
Arzt zu sich und seiner Umwelt in einem Verhältnis steht wie der Chris­ Lichtwerden im Menschen vermag die unvernünftige Kreatur, also alle
tus des Leidensweges zu Christus medicus, zu Christus als Heiland. Die außermenschliche Natur mit ihrem ängstlichen Harren auf die Offenba­
Philosophei ist das denkende Durchdringen der irdischen Sphäre des rung der Kinder Gottes (Paulus: Röm. 8, 19), aus ihrem latenten, be­
Kosmos; die Astronomei dagegen durchdenkt die oberen Sphären, wobei wusstlosen, unvollkommenen Zustand herauszutreten. Und das ist, so
der Mensch teilhat an Irdischem und an Außerirdischem. Beide sind mit kann man wohl sagen, alchemisch.^^ Paracelsus betont zudem deutli­
einem bestimmten Begriff der Experientia, der Erfahrung verbunden. cher, als dies je zuvor geschehen ist, dass der Mensch über die Werke
Diese Erfahrung soll uns einen geistigen Zugang bahnen zu den vitalen der Natur hinausgelangen kann, ja, dass Gott die Natur bewusst als
Prinzipien, die das Verhalten der Dinge bestimmen. Paracelsus glaubte, unfertige geschaffen hat: Er hat Erz gemacht, aber kein Eisen; er hat
dass diese vitalen Prinzipien, von ihm <Steme> oder Astra genannt, über Getreide gemacht, aber kein Mehl; die Natur trägt in sich selbst einen
Sympathiebeziehungen wirken und dafür verantwortlich sind, dass die Drang nach Vollendung und nach Offenbarung, dem der Mensch be­
Naturdinge <wissen>, was sie <von Natur aus> tun sollen. Damit löste er gegnen muss.
das knifflige Problem, woher etwa eine Eichel weiß, dass sie Eiche wer­ Im Übrigen sind die astralen Verhältnisse nicht als ein starres So-Sein
den soll. Das Wissen, die Erkenntnis steckt im Ding selbst, und der zu sehen. Die Sterne bewegen sich; Einflüsse, Erkenntnisse brauchen
Mensch kann diese Erkenntnis nur erlangen, indem er sich in das Ding Zeit, und so hat auch die Krankheit eine Verlaufsgestalt, wie auch che-
hineinversetzt. Es geht also um eine Gleichsetzung des erkennenden nüsche Umsätze Zeit brauchen, was ja manchen Vätern der modernen
Subjektes mit dem Objekt der Natur. Cheiiüe ein Rätsel blieb.
Bevor wir uns weiter in die phantastische Welt des Paracelsus vor­ Damit sind wir bei der Alchimei als der vierten Säule des paracelsi-
wagen, sollten wir uns bewusst halten, dass auch wir oft keine andere schen Lehrgebäudes. Dieses wiederum beruht auf einer Art chemischer
Handhabe zur Erkenntnis besitzen als das Hineinversetzen, und zwar Weltentstehungstheorie, in der eine wässrige Prima materia die ent­
auf all den Gebieten, die sich der Analyse verweigern. «Versuch, mich scheidende Rolle spielt.^° Ohne auf Komplikationen und Widersprüche
doch zu verstehen!» heißt nichts anderes als: «Mach's wie der alte Pa­ einzugehen, kann man sagen, dass <informierte Materie> aus einer pas­
racelsus!». Kein Wunder, dass wir in so vielem keine guten Ärzte sind. siven Basis und aktiven Arcana besteht, die, so meine ich, den Logoi
Umfassende Erkenntnis ist für Paracelsus die Erkenntnis der von ihm spermaticoi der Stoiker sehr nahe sind. Nun aber wird es genuin para-
irgendwie ätherisch vorgestellten Kräfte des Himmels in ihrer Einwir- celsisch, deim jedes Arcanum enthält eine Art geistigen Steuermann,
450 IV. In der neuen Welt Europas Die Rosenkreuzer 451

einen Archeus oder Vulcanus, oder auch einen <inneren Alchemisten>, der Und noch etwas kam hinzu. Paracelsus und seine Nachfolger gaben
sein Verhalten bestinamt/^ In den Organen trennt der jeweilige Archeus der alchemischen Propaganda eine besondere Wendimg, durch die die
das Verdauliche und Assimilierbare von Rückständen, und wenn er Ars divina zu einer Haupttriebkraft der Frühen Neuzeit werden konn­
nicht richtig arbeitet, dann setzen sich z. B. schädliche Salze ab. Um sie te: Das Pathos des Elias artista, der durch sein in das Herz der Dinge,
zu beseitigen, wurde gerade von den Paracelsisten eifrig nach einem d. h. in die Erschaffung und Beschaffenheit der Dinge zielendes Wis­
Universallösungsmittel, einem Alkahest, gesucht. Paracelsus selbst be­ sen die allgemeine Reformation des Weltbildes und des Verhältnis­
mühte sich, es durch Destillation von Alkohol auf Ätzkali zu bereiten, ses der Menschen untereinander, also die Revolution, einleiten w ür­
wobei wohl Ethylether herauskam. Der Alkahest wurde, nebenbei ge­ de. «Denn die Künste haben genauso ihren Elias w ie die Religion»
sagt, manchmal als identisch mit dem Stein oder dem Elixier betrachtet: (Sudh. II, 16), schrieb Paracelsus allen Suchenden und Hoffenden ins
Er macht Glas hämmerbar, löst alle anderen Feststoffe etc.^^ Was die Stammbuch. Und er selbst war wie ein alttestamentarischer Prophet
angeht, so hat Paracelsus die grundsätzlichen Erscheinungsformen der eines gelobten Landes. Gewiss, er hat es mit Fabeltieren bevölkert, die
Materie von zwei auf drei erhöht: Mercurius, Sulfur und zusätzlich Sal. alle inzwischen ausgestorben sind. Aber das Land gibt es, wie anders
Die Tria prima principia oder kurz Tria prima sind hypostatisierte, d. h. es heute auch aussieht. Es ist ein Land, dessen chemische und medi­
verdinglichte Erscheinungsformen der Materie. Also sollten wir eigent­ zinische Früchte uns eine Verdopplung der Lebenserwartung beschert
lich von dem Schwefelartigen, dem Quecksilberartigen, dem Salzartigen haben.
reden. Es gibt so viele Sulfures etc. wie es überhaupt diskrete Substan­
zen gibt. Als Faex, als Bodensatz, getrennt von Schwefel und Quecksil­
ber, existierte das Salz früher auch schon, ja genau dieses, diese Verun- 6. Die Rosenkreuzer
reinigimg sollte die Natur der Metalle entscheidend mitbestimmen, wie
z. B. Michael Scotus betont. Aber Paracelsus gab dem Salz eine für die Das Pathos der Veränderung in Hoffmmg und Ironie erfasste auch -
Materie konstitutive Bedeutimg. Während Mercurius - der Geist - für jetzt unterschlagen w ir zw ei Generationen nach Paracelsus - einen jun­
Metallglanz, Hüssigkeit oder Rauchartigkeit steht, vertritt Sulfur - die Seele gen Theologiekandidaten in der protestantischen Kaderschmiede Tü­
- Entflammbarkeit, Farbe und Geruch, und Sal - der Körper - bedeutet bingen: Valentin Andreae. Von ihm oder aus seinem Freundeskreis
Festigkeit und äußere Form. Das heißt doch nichts anderes, als dass man stammen wahrscheinlich drei Schriften, die Geschichte machen sollten:
jede überhaupt vorkommende Substanz darstellen kann als Prima ma- 1614 <Allgemeine und General Reformation, der gantzen weiten
teria mit einer Kombination von Eigenschaften der Tria principia. Welt. Beneben der Fama Fratemitatis, deß Löblichen Ordens des Rosen-
War Paracelsus nun ein Alchemist, wenigstens in einem Winkel creutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europae geschrieben ...>, 1615
seines Medizinerherzens? Auch jetzt muss die Antwort lauten: Sic et die <Confessio Fratemitatis R. C __ A d Emditos Europae> (dt. im selben
non. Jahr: <Confession oder Bekandnuß der Societet und Brüderschafft R. C.
In Paracelsus finden wir das genaue Gegenteil des Glaubens an eine An die Gelehrten Europae>) und 1619 die allegorische Dichtung <Chy-
Prisca ars imd an die Weisheit alter Folianten. Die Alchimei war für ihn mische H ochzeit.. .>. Allerdings wurden die Schriften anonym heraus­
nicht das A bis O aller Dinge, sondern umfasste nur einige Buchstaben gebracht, und das war sicher ein Teil ihres Erfolges.
dieses Alphabets. Für einen alchemischen Prozess, der zum Stein der Zumindest anfangs hat Andreae seine eigenen Reformvorschläge -
Weisen, zur echten Panacee oder auch nur zum Gold führen sollte, in­ wenn er denn ihr Autor war - in ein seltsam ironisches Licht getaucht,
teressierte sich Paracelsus anscheinend nicht. Es ging ihm nicht mehr das allerdings auch das Licht der Einsicht sein sollte, dass es letztlich
um Una res, unum vas, una via, es ging ihm - trotz weitergehender immer um Gnade geht: Der Gott Apollon befiehlt den Weisen, die Welt
Spekulationen - um den partikulären medizinischen Erfolg in der Be­ von Grund auf zu reformieren. Alle Vorschläge in der Versammlung der
kämpfung spezifischer Krankheiten. Weisesten der Weisen entpuppen sich aber als Hirngespinste, und so
Andererseits propagierte Paracelsus ein Weltbild, in das Hermetis­ beschließen die Weisen, um ihr Gesicht nicht zu verlieren. Kraut, Rüben
mus und Alchemie sich einfügen und so zu einer Art neuer Orthodoxie und Petersilie zu besteuem.^^ Wenn das nicht an die sporadischen Jahr­
werden konnten. Die Alchemie konnte sich gewissermaßen neu spiri- hundertreformen unserer Politiker erinnert! Sine deo adiuvante geht eben
tualisieren. Sie konnte noch einmal die Kraft aufbringen, die Läuterung nichts, und mit diesem Deus ist bei Andreae nicht Apollon, sondern der
der Materie und die Läuterung des Menschen in eins zu setzen. Gott der Dreieinigkeit gemeint.
452 IV. In der neuen Welt Europas Die Rosenkreuzer 453

Mit Gottes Hilfe und im Zeichen eines mystischen Helden sollte das Zum Stichwort <Aureum vellus> sei hier noch eingefügt, dass die
Große Werk aber doch gelingen. Der Held ist Christian Rosenkreuz oder Argonautensage in der Alchemie eine bedeutende Rolle spielte, und
auch Christianus Rosencreutz, dessen Name die Rose alchemischer Voll­ zwar wurde sie euhemeristisch gedeutet, d. h. der Mythos wurde ratio­
endung und das Kreuz des Christentums vereint/^ und dessen Wander­ nalisiert, indem die Erzählung von Göttern und Helden als Gebrauchs­
leben als Weisheitssuchender und Gründung einer geheimen Bruder­ anweisung für den alchemischen Prozess interpretiert, will sagen, auf
schaft in dem Teil der Schrift von 1614 beschrieben wird, die den Titel eine gedanklich bewältigte Naturauffassung zurückgeführt wiu-de.^7
<Fama fratemitatis> trägt. In der <Fama> und der <Confessio fratemitatis> Und nicht nur die Sage von den Abenteuern Jasons ließ sich alchemisch
von 1616 sowie in der Programmschrift für eine christlich-aufgeklärte betrachten: Für Antoine Pemety und andere waren überhaupt alle alten
Gesellschaft in der Stadt Christianopolis von 1619,^^die sicher auch Fran­ Mythen alchemische Dokumente. Auch die Bibel oder zumindest gewis­
cis Bacons Wissenschaftsutopie <Nova Atlantis> von 1624/27 beeinflusst se Stellen der Bibel kormte man als alchemische Dokumente auffassen.
hat, können wir manches wieder erkennen, das in den Umkreis des Her­ Dabei aber wollten weder die Rosenkeuzer noch die Alchemisten die
metismus gehört. Da gibt es pythagoreisch-kabbalistische Anklänge und Mythen entmythisieren, d. h. die alchemisch gedeuteten Texte stellten
-—5-
Verschlüsselungen, da wird Paracelsus, der im Licht der Natur, Lumen sich auch für sie als unbefragte Erstantworten dar. Die neue Sicht auf
naturae, das Buch der Natur mit seinen «Buchstaben der Geheimnisse» den Mythos bedeutete kein Verlassen der Sichtweise, der Mythos bleibt
(Edig. 22)^^ zu lesen verstanden habe, auf den Schild höheren Wissens Mythos. Das Suchen nach alchemisch Mythischem im Mythos, oft im
gehoben, und da wird schließlich die Alchemie gepriesen, allerdings Verein mit dem Bemühen, alchenüsch Mythisches aus verschiedenen
nicht als Goldmacherkimst, sondern als die Aufgabe, den in die Natur Dokumenten zusammenzutragen, ist ein Ringen um Klarheit und nicht
gelegten Willen Gottes zu seiner Vollendung zu führen. Die Alchemie etwa ein Versuch, Verwirrung zu stiften, wo es an Wirrnis ohnehin kei­
begreift die Natur als das, was ihr Name sagt, als etwas, das ständig nen Mangel gab. So gesehen haben die Autoren schon recht, wenn sie
hervorbringt, ständig gebiert: Natus heißt ja <geboren>. Die allgemeine immer wieder versichern, dass sie sagen wollten, was alle anderen ver­
Wandlungssubstanz in der Natur nun ist das philosophische cjiecksil- heimlichten. Denken wir an Pseudo-Thomas und viele andere.
ber, ein alchemischer Proteus ähnlich dem griechischen Meergott, der Zentralthema der <Chymischen Hochzeit> ist natürlich die Hochzeit
sich in vielerlei Gestalt verwandeln kann und eben deshalb Erkenntnis selbst, die an eine Heilsgeschichte gebunden wird, in der das Volk Got­
und Seherkraft besitzt. Mercurius ist zugleich Geist und Seele, männlich tes gewissermaßen den weiblichen Teil und Christus den männlichen
und weiblich, vielseitig und ubiquitär. Mercurius, der große Verwandler, Teil des Dramas bildet, dies als ein Spiel im Spiel, das auch noch andere
konnte so als Aqua permanens und damit als verwandelndes Taufwasser, körügliche Paare kennt, die sterben müssen, um wiederauferstehen zu
aber auch als Filius macrocosmi aufgefasst werden und, wenn man den können. An Ende einer von Andeutungen und Symbolen geradezu
häretischen Sprung wagen wollte, auch als <innerer Christus>. als Deus überbordenden, wahrhaft barocken Geschichte hilft Christian, aus der
in homine. Als Trismegistos, als Divinus temarius konnte man ihn sogar Asche dreier hingerichteter Königspaare ein neues entstehen zu lassen,
zum Spiegel oder Widerpart der Dreieinigkeit machen. unter dessen Herrschaft er zum Türhüter des Reiches der Seligkeit be­
Ein wenig anders stellt sich die Schrift dar, die uns am meisten inter­ stellt wird.
essieren sollte, die <Chymische Hochzeit> (1616). Sie beschreibt den In­ Es fällt mir schwer, in der <Chymischen Hochzeit> überhaupt noch
itiationsweg des Christian Rosenkreuz. Der Bericht wimmelt von Sym­ etwas echt Chymisches zu erblicken. Wie in Jakob Böhmes, des evange­
bolen und Anspielungen, in denen Mercurius wie sein altgriechischer lischen Mystikers Werken, ist nicht mehr die Theologie Vehikel der A l­
göttlicher Namensvetter als eine Art Psychopompos, als Seelengeleiter, chemie, sondern die Alchemie Vehikel der Theologie. Sie ist ein Karren,
eine wesentliche Rolle spielt. Auch die Alchemie selbst, hier zur reinen bemalt mit alchemischen Metaphern, die dazu da sind, die wahre Be-
Allegorie auf- oder abgestiegen, erscheint als Jungfrau und Wächterin deutimg der Dame <Theologia>, die auf ihm Platz genommen hat, deut­
nicht etwa des Laborbetriebs, sondern der Tugendordnung und als Mei­ lich zu machen. Das ginge nicht, wenn die von den Rosenkreuzem und
sterin des Ordens vom <Goldenen Vlies>, vom Aureum vellus, das seiner­ den Anhängern Böhmes propagierte christliche Weltauffassung und die
seits als Symbol der Göttlichen Kunst einigen alchemischen Traktaten alchemische Metaphorik keinerlei innere Beziehung zueinander gehabt
seinen Namen gegeben hat. Der Jungfrau Alchimia wird die Königin Fi­ hätten. So sind die Rosenkreuzer auch sub specie alchemiae interessant,
des, der Glaube, gegenübergestellt, dem <Buch der Natur> das <Buch der haben sie doch mit ihrem paracelsischen Pathos, ihrem christlichen Re­
Offenbarung>, womit die Rangfolge wohl klar ist. formdrang verbunden mit einer Verinnerlichung, die vorausweist auf
454 IV. In der neuen Vielt Europas Die Rosenkreuzer 455

den Pietismus, und ihrer Geheimnistuerei die Jünger der königlichen bunden waren, wobei immer mal wieder das Interesse an praktiziemder
Kunst kräftig beflügelt/^ Alchemie hervortrat. Ein laborierender Rosenkreuzer war z. B. Her­
«Der Erfolg der Rosenkreuzer-Literatur hatte zur Folge, dass manche mann Fictuld (Joh. H. Schmidt, frühes 18. Jahrhundert). Im Zusammen­
Leser im Laufe des 17. Jahrhunderts von der Vielfältigkeit der rosen­ hang mit Goethe werden wir noch anderen begegnen. Im Zeichen der
kreuzerischen Botschaft nur das Wunderbare und die damit verbunde­ beiden Jahrhundertwenden, der Romantik und des Ein de Siede, hat
ne Alchemie behielten» (Edig. 100), schreibt ein Experte für die Ge­ das Rosenkreuzertum auch jeweils einen Aufschwung erlebt; und na­
schichte der Rosenkreuzer, Roland Edighofer. türlich hat sich die Anthroposophie Rudolf Steiners intensiv mit dem
Auch die Rosenkreuzer schwärmten vom Ehas, dem Allwissenden geistigen Phänomen des Rosenkreuzes beschäftigt. Wie wird es rückbli­
geheimer Weisheit, der da kommen sollte, und ich habe den Verdacht, ckend nach Ende des Jahrtauswds sein, an dem so manch einer, verunsi­
dass manche Zeitgenossen glaubten, in der <Fratemitas> selbst eine Art chert von der doch als etwas dünn empfundenen naturwissenschaftlich­
Gruppen-Elias vor sich zu haben. Durch den merkwürdigen Umstand, technischen Welterklärung, die die Last der Weltbeherrschung vielleicht
dass niemand wusste, wer die Rosenkreuzer eigentHch waren, mag die­ gar nicht zu tragen imstande ist, zwischen Furcht und Hoffnung auf
ser Glaube bestärkt worden sein. Es gab aber Verteidiger der Bruder­ das - astronomisch ja zufällige - neue Zeitalter blickt, das einem der
schaft. Zu ihnen gehörten der uns schon bekannte Michael Maier, der fürchterlichsten Jahrhunderte der menschlichen Geschichte folgen soll?
Hermetiker Robert Fludd, mit dem sich übrigens Kepler höchstpersön­ Wie aber fügte im 17. Jahrhundert die Geisteshaltung des Rosenkreu­
lich über die Weltenharmonien stritt,^^ und der mathematisch versierte zes sich ein zwischen der Alchemie imd der aufkommenden Chemie,
Okkultist John Dee. In seinem Buch <Monas hierogylphica> übrigens hat wie fügte sie sich ein zwischen Alchemisten und Chemikern? In Hin­
Dee eine ganz hermetische Welt aus einem einzigen graphischen Sym­ blick auf die Alchemie und die Alchemisten kann man wohl sagen, dass
bol aufgebaut. Dieses Symbol, eben die Monas, hat Ähnhchkeit mit dem die Behauptung, die Alchemie könne nur als Geheimnis, als überragen­
alchemischen Zeichen für Mercurius und auch mit einer Kombination de Weisheit in den Händen weniger Begnadeter begriffen werden, bes­
der Zeichen für Kupfer, Silber und Gold. Durch Rotationen, Inversionen tens zum Bild des traditionellen Alchemisten passte, nicht aber zum
und Permutationen der Monas glaubte Dee ihr jedes kosmische Ge­ Bild des modernen Naturwissenschaftlers. Und andererseits passt das
heimnis entlocken zu können - Hen to pan. Uns erscheint das als eine Pathos der allgemeinen Reform, die ja einen radikalen Traditionsbruch
banale Spielerei, die über vage Hinweise auf eine Weltordnung, wie der bedeutet, nicht zum Bild des traditionellen Adepten. Das soll allerdings
Hermetismus sie sich vorstellte, nicht hinauskam. Die <Entschleierte nicht sagen, dass nicht in verschiedenen rosenkreuzerischen Schriften
Weisheit>, die <Sapientia denudata> ist leer, wie auch das enthüllte Ro- schon bald an der Tradition einer Prisca sapientia gebastelt wurde, die
senkreuzertum als wirkliche Vereinigung weiser Männer leer ist, so leer bis Adam und Moses zurückreichte und natürlich in bekannter Weise
wie der Briefkasten eine Liechtensteinschen Briefkastenfirma. Denn wen die mythische Unbezweifelbarkeit ihrer Aussagen belegen sollte. A u ­
verteidigten die Verteidiger der Rosenkreuzer eigentlich? Wer gehörte ßerdem verband man das Rosenkreuzertum - rote Rose, rotes Andreas­
zur Bruderschaft? Gewiss nicht Andreae selbst, der immer wieder ver­ kreuz - mit dem so geheimnisvollen, weil reichen, dem weitverstreuten
suchte, den ganzen Spuk von sich zu weisen. Im schönsten alchemi­ und nach 1307 in einer Flut phantastischer Beschuldigungen unterge­
schen Paradox kann man sagen: «Weil es die Rosenkreuzer nicht gab, gangenen Templerorden, w ol^i sicher hilfreich war - Analogien sind
gab es sie.» Untrennbar zu den Rosenkreuzem gehörte die Verborgen­ immer Brücken - dass der Mantel der Ordensritter weiß war mit einem
heit ihrer Existenz. Und Verborgenheit war von Andreae ja auch gefor­ aufgenähten roten Kreuz.
dert worden. Wenn also jemand sagt: «Ich bin Rosenkreuzer», dann sind Die wichtigsten Träger der Alchemie im 17. und 18. Jahrhundert sind
er und das ganze Unternehmen nicht mehr verborgen. Also muss dieser also Dritte, die eigentlich einen neuen Namen verdienten, rückt doch
jemand seine Zugehörigkeit zu den Rosenkreuzem leugnen, und also der Name <Iatrochemiker> die Alchenüe zu nahe an die Medizin, wäh­
ist jeder, der sie für sich leugnet, ein potentieller Rosenkreuzer. Dum rend die Bezeichnung <Paracelsist> eine unbedingte Gefolgschaft des
tacent clamant.^° großen Arztes suggeriert. Im 17. Jahrhundert ist das Berufsbild des A l­
Im Übrigen hat das anhaltende Gerücht über die Rosenkreuzer sehr chemisten diffus geworden, und so sollten wir bescheiden bleiben imd
wohl zur Bildung rosenkreuzerischer Vereinigungen geführt. Im nicht etwa der Leidenschaft des alten Meisters von Hohenheim für
18. Jahrhundert war das jüngere Rosenkreuzertum Symptom ansonsten Wortschöpfungen folgen. Belassen wir es bei <Paracelsist mit Vorbehalt».
verschiedener Erscheinungsformen, die meist mit der Freimaurerei ver­ Das eben verwandte Wort <diffus> soll andeuten, dass in der Frühen
456 IV. In der neuen Welt Europas Die Rosenkreuzer 457

Neuzeit die Alchemie mehr denn je zentrifugalen Tendenzen unterlag, oder wolle das eigentliche Geheimnis nicht oder nicht direkt sagen. Um
zum einen hin zum Esoterischen, zum anderen hin zu Protochemischen. freimütig sein zu können und sich imter dem Schutz des Staates von
Vielleicht können wir uns das dadurch erklären, dass, wie dies auch in Bevormundung frei zu halten, zogen die Akademien sich bewusst aus
anderen Bereichen der nachmittelalerlichen Kultur festzustellen ist, das weltanschaulichen Auseinandersetzungen zurück, was sicher den Be­
Individuelle in den Vordergrund rückte, und damit auch die Selbstzu­ ginn der bis in unser Jahrhundert weitgehend <unpolitischen> Wissen­
wendung, die Verinnerlichung. Im sprituellen Bereich der Alchemie schaft bezeichnet. Gleichlaufend mit dieser Entwicklung hin zum Öf­
drückte sie sich aus in einer besonderen Liebe zur Symbolik, die den fentlichen verlor sich in Elias artista die ursprüngliche Aufgabe des
inneren Zustand des Menschen fassbar machen sollte. Aber auch die millennarischen Propheten, dies wohl auch deshalb, weil die Endzeit­
protochemische Seite der Alchemie wandte sich dem Individuum zu. katastrophen, der Dreißigjährige Religionskrieg und auch der englische
Paracelsus hatte ja von spezifischen, individuellen Krankheiten geredet, Bürgerkrieg, weder eine Lösung der religiösen Konflikte noch das er­
die spezifisch bekämpft werden müssten, und er hatte auch davon ge­ hoffte tausendjährige Reich des Glücks gebracht hatten.
redet, dass seine Grundbausteine der Materie, Sulfur, Mercurius und Hier sei aber auch erwähnt, dass die Esoterik, die hinter dem Elias-
Sal, in jedem individuellen Organismus individuell anders beschaffen Motiv stand, einem exoterischen Reformeifer durchaus nicht im Wege
seien. Also wandte man sich im praktischen, im protochemischen Teil stand. Paracelsische Reformer wie Fludd oder John Webster forderten
der Alchemie mehr und mehr vom alchemischen Prozess als ganzem einen Umbau des Erziehungssystems nach dem Motto; <Weg von den
ab und suchte sein Heil im so genannten <Particulare>, im isoherten alten Urdversitäten!> Und auch hier wie schon bei Roger Bacon stand
Produkt und damit auch im isoherten und isolierenden Verfahren. die christliche Alchemie als eine umfassende, kosmische Wissenschaft
Man kann die zentrifugale Tendenz auch als Spannung und als Kraft­ im Mittelpunkt.
quelle deuten, wobei hier auch das Spannungsverhältnis zwischen dem Aber so, wie die beiden es gefordert hatten, ist die Entwicklimg nicht
Esoteriker auf der einen Seite und dem Reformator auf der anderen gelaufen. Das Motiv des Elias und seine Verbindung mit hermetischer
gemeint ist, die in der Person des <modemen> Alchemisten verbunden Alchemie verblasste im Licht der beginnenden Aufklärung. Fortan
waren. Dieses Spannungsverhältnis, das es so schwer macht, die neu- nimmt Elias artista, nun als bloßes Leitbild, als Leitmetapher der Kreise,
zeithche Alchemie über einen Leisten zu schlagen, lässt sich am besten, die sich in den Akademien zusammengefunden haben, teil an der all­
so glaube ich, an der Gestalt des Elias aufweisen, der ja utopisch ist wie gemeinen Sozialutopie der Zeit - Verbesserung der Lebensumstände
die Rosenkreuzer selber. Ehas artista, der ein Bannerträger der Naturer­ der Menschen - und damit an einer Art von profanisiertem, <fortschritt-
kenntnis sein sollte, durchüef bis Ende des 17. Jahrhunderts eine Ent­ lichem> Milleniarismus, der nichts von der Alchemie forderte, von einer
wicklung, die ihn aus einer Einzelperson verwandelte in eine esoteri­ in Verbindung von Praxis und Theorie gerade erst entstehenden Chemie
sche Geheimgesellschaft, um sich schließlich in den neugegründeten aber eine ganze Menge, ja weit mehr, als diese vor Entdeckung der
Akademien wie der Royal Society (gegr. 1660)^^ oder der Academie des chemischen Grundgesetze in den Jahren um 1800 überhaupt zu leisten
Sciences (gegr. 1666) gewissermaßen zu verflüchtigen. Die Akademien imstande war. Bezeichnenderweise löste sich der Prophet des Millenia­
waren nämlich beileibe nicht so etwas wie ein vielköpfiger Elias, hatten rismus, löste sich der alte Ehas unter den Händen des typischen Barock-
sie sich doch nicht dem Suchen nach Geheimnissen, sondern dem Lösen Chemikers Rudolf Glauber dabei im wahrsten Sinne des Wortes auf, bis
von Rätseln verschrieben. Wie Männer wie Francis Bacon es gefordert nur ein Häufchen von Salzen übrig blieb. Elias artista war für Glauber
hatten, waren die Akademien Foren kollektiver Arbeit mit dem Ziel, die nichts als ein Anagramm für <Et Artis Saha>, weil Salze die Basis des
Wissenschaft kollektiv der Wahrheit näher zu bringen, die nicht nur für n\edizinischen imd ökononüschen Fortschritts seien und dieser Fort­
einen oder einige Weise bestimmt sein konnte. Und deshalb gehören schritt - so optimistisch waren damals die Menschen - mit dem Wohl­
<Unvollständigkeit> und <Kollektivität> gemeinsam zu den Herzstücken stand, den er bringe, notwendig auch zur Tugend führen müsse. Mag
einer im 17. Jahrhundert mehr und mehr säkularisierten Fortschritts- nun der innere Fortschritt zur Tugend eine Privatsache sein, der äußere
ideologie.^^ Fortschritt zu Wohlstand und Gesundheit ist es allemal nicht. Er bleibt
Unter der Hand verkehrten die Akademien das alte Ehas-Motiv und grundsätzhch an Öffentlichkeit und kollektives Handeln gebunden, wie
das Ethos des wahren Adepten auch dadurch in ihr Gegenteil, dass sie denn auch sein Nutzen - Utilitas - ein kollektiver ist.
sich Vornahmen, alles Wissen nicht nur zu sammeln, sondern vor allem Hier nun beginnen die Probleme mit dem modernen Alchemisten,
-
zu veröffentlichen, und zwar ohne immerfort zu behaupten, man könne <modem> ex post gesehen.
458 TV. In der neuen Welt Europas Alchemisten und latrochemiker 459

<Litharge> nennt - heute wäre das PbO - und das zu einem weißen
7. Alchemisten und latrochemiker Ihilver verwandelt werden muss, sowie ein durchsichtiges Mineral na­
mens <Magnetia>. Wenn die beiden Substanzen mit Salmiak und Schwe­
Zu den <modemen> Alchemisten gehören nun nicht nur Ärzte wie Pa­ fel erhitzt werden, und zw ar in einem Spezialofen mit Ofenschiebem,
racelsus und seine Nachfolger, und wenn wir uns entschlossen haben, den Norton erfunden hatte, dann geben sie das weiße Elixier.
die Neuzeit und damit die <modemen> Alchemisten mit dem 15. Jahr­ Der Dritte im Bimde der vorparacelsischen Adepten, Basilius Valen­
hundert beginnen zu lassen, dann verpflichtet uns das, einige vorpara- tinus, gehört eigentlich nicht dazu. Meine Rechtfertigung, ihn hier zu
celsische und dennoch nicht mittelalterliche Adepten nachzutragen. Ich bringen, besteht nur darin, dass er alchemischer Tradition zufolge im
denke da unter manch anderen an George Ripley und Thomas Norton, frühen 15. Jahrhundert am Peterskloster zu Erfurt gelebt haben soll. Als
beide aus dem 15. Jahrhundert, und mit einigem Zögern an Basilius Kind jener Zeit hätte er aber prophetische Kräfte besitzen müssen, wuss­
Valentinus. te er doch von der Entdeckung Amerikas (1492). Dieses Wissen kann
Zunächst zu Ripley, der sich, so sagen die Quellen, nach alchemi- man jedoch einem gewissen Johann Thölde, einem Salinenmeister und
schen Wanderjahren 1471 als Augustiner-Kanonikus in einem Konvent Ratskämmerer in Jena, der Anfang des 17. Jahrhunderts die Haupt­
seines Ordens niederließ und sich dort der praktischen Alchemie w id­ schriften des Basilius herausgab, sehr wohl Zutrauen.^ ^Die Hauptschrif­
mete. Doch verbreitete sein Labor so viel Gestank, dass man ihn an ein ten des Basilius Valentinus (Basilius = König, valens = mächtig) sind:
Kloster der Karmeliter abschob, wo man anscheinend keine so feinen <Von dem großen Stein der Uralten>, hrsg. 1602, das einen allegorischen,
Nasen hatte und wo Ripley in Frieden den Rest seines Lebens verbrin­ bebilderten Traktat über <Zwölf Schlüsseh zur Reinigung von Gold
gen konnte. durch Antimon enthält, ferner der <Triumphwagen Antimonii>, hrsg.
Wie der große Zosimos vor ihm hatte auch Ripley eine Vision, in der 1604, und das <Letzte Testament>, das 1626 ohne Nennung Thöldes her­
«alchemical secrets were made clear to him, if not to us» (Holm. 183), auskam, in das aber lange Abschnitte aus seinem eigenen Werk über
dies, obwohl 1678 ein gewisser Irenäus Philalethes unter dem Titel <Ri- Salze, <Haligraphia> (1619), eingefügt sind.
pley Revived> einen Kommentar dazu veröffentlicht hat.^^^ Sicher ist, Thölde-Basilius verstand eine Menge von Labor- und Bergwerkstech­
dass Ripley sich in der Nachfolge von Raimundus Lullus fühlte, und niken. So hat er eine gewissermaßen <empirische Ahnung> davon, dass
dass er dass Farbenspiel als wichtigsten Indikator für den Fortschritt Gase, die bei Fermentation entstehen, und Grubengas etwas anderes als
des Großen Werkes sah. Im Übrigen war er Anhänger der reinen Queck­ gewöhnliche Luft sind. Aldehyde <kannte> er vielleicht auch. Zudem
silbertheorie: Philosophischer Merkur macht das Wesen aller Metalle zeigt er ein genaue Kenntnis von Metallen, einschließlich des Wismut,
aus. das er Bastard-Zinn nennt, und des Kobalt, und glaubt an die Transmu­
Schüler Ripleys soll Thomas Norton gewesen sein, von dem er binnen tation des Eisens zu Kupfer, wenn eine Kupferlösung mit Eisen versetzt
40 Tagen das Geheimnis der Alchemie erlernte. Dieser Norton hat ein wird. Wie schon der Titel <Triumphwagen> zeigt, hat er sich besonders
<Ordinall of Alchimy>, eine <Ordnung der Alchemie> in Versen geschrie­ mit Antimon beschäftigt, dessen Chemie er recht genau kennt.^^ Inter­
ben, das erst im 17. Jahrhundert, u. a. von Michael Maier, publiziert essant ist dabei seine Beschreibung eines besonderen Phänomens: Gibt
wurde. In schönster Naivität behauptet Norton, das große rote Ehxier man dem Antimon etwas Eisen hinzu, so zeigt sich beim Kristallisieren
bereitet zu haben, das ihm aber von einem Diener gestohlen worden sei. <ein wunderbarer Stem> auf seiner Oberfläche, der <Philosophische Si-
Daraufhin habe er zunächst die Lust an der Alchemie verloren, es dann gnat-Stem>. Da nichts <Wunderbares» in der Alchemie ohne Bedeutung
aber von neuem nüt ihr versucht und diesmal das Elixier des Lebens ist, wurde der Stern im Sinne der Signaturenlehre als Zeichen besonde­
hergestellt. Das sei ihm aber ebenfalls entwendet worden, und zwar zur ren astralen Einflusses auf das Antimon gesehen und hat sicher zur
Abwechslung von einer Frau. Norton tröstet sich und uns mit der Ge­ alchemischen Popularität des Antimon erheblich beigetragen. Genau
schichte von eines anderen Adepten Unglück, wobei er uns wissen lässt, deshalb, wegen des Wunderbaren, das Basilius in dieser Erscheinung
dass auch ein bereits erfolgreicher Alchemist nicht auf weitere Erfolge findet, sollen seine Werke hier auch nicht im Stile <Der hat schon» ab­
bauen kann. Das soll uns wohl auch zum Trost gereichen, nämlich dar­ gehandelt werden, obwohl da noch manches zu sagen wäre. Wichtiger
über, dass Norton es ablehnt, uns zu verraten, wie er selbst eigentlich ist, dass die Ausführungen des Basilius - bis hin zu manchmal etwas
zu seinen ersten Erfolgen gekommen ist. Er sagt uns nur, dass zwei wirren Exkursen - wie die des Paracelsus klingen. Und noch wichtiger
Ingredienzien nötig sind: ein selbst gemachtes braunes Pulver, das er ist die Feststellung, dass auch Basilius' Streben dahin ging, ein Gesamt-
460 rv. In der neuen Welt Europas Alchemisten und latrochemiker 461

mysterium der Natur und, wie es im längeren Titel des <Letzten Testa- ma> gut, glaubte an eine mögliche Transmutation und verschrieb u. a.
ments> heißt, eine <Offenbahrung der himmlischen und irdischen Ge- auch anorgarüsche Medikamente. Die Ausfälle des Paracelsus gegen die
heinmüss> zu empfangen und zu verkünden. Und genau das macht ihn Tradition allerdings bereiteten ihm offensichtlich Missbehagen, und er
bei allen chemischen Kenntnissen eben doch nicht zum Chemiker. war auch durchaus nicht bereit, ganz auf Aristoteles und Galen zu ver­
Werm wir Thölde für Basilius nehmen, dann ist er ein guter Indikator zichten. Der unter den Arzt-Alchemisten des 16. Jahrhunderts verbrei­
dafür, dass es um die Mitte des 15. Jahrhunderts eine gewisse Zäsur in tete Eklektizismus, der geistiges Gut nahm, w o er es herkriegen konnte,
der Geschichte der Alchemie gegeben hat. Etwa eine Generation nach wurde bei Sennert zu einem soliden Ausgangspunkt weiterer Entwick­
seinem Tode nämlich war der Neuerer, der Bücher- und Traditionsver­ lung und führte ihn in einer Kombination der Auffassungen antiker
ächter Paracelsus so recht en vogue gekommen. Nachdem zuvor schon Philosophen nahe heran an den Molekülbegriff als einer durch eine
einzelne seiner Werke herausgegeben und kommentiert worden waren, Quinta natura spezifisch geprägten chemischen Einheit, die aus kleine­
erschien 1589-1591 eine erste Sanunelausgabe seiner Bücher. Ein ren, anderen Einheiten gewissermaßen zusanunengeschmolzen ist.
Schwarm von Alchemisten und Alchemisten-Ärzten, die auf den Geist, Ähnlich und zugleich etwas anders liegen die Dinge bei Andreas
wenn auch nicht immer auf den Buchstaben des großen Arztes schwo­ Libavius. Dieser Arzt und Schulmann ist vor allem deshalb interessant,
ren, folgte ihm. weil er zwar den Paracelsus und auch die Rosenkreuzerbewegung kri­
Aber früh schon fand der in jeder Beziehung etwas schwierige Mei­ tisierte, dabei aber die Alchemie nicht ablehnte, das von Paracelsus pro-
ster auch seine Kritiker: Einer der schärfsten unter ihnen ist einer der gagierte Aurum potabile als Heilnüttel empfahl und Transmutationen
frühesten: Thomas Lieber, genarmt Erastus. Bereits 1572 gibt er zu be­ für möglich hielt. Was Libavius vor allem missfiel, war das paracelsi-
denken, dass man die <Tria prima> keinesfalls aus allen Substanzen aus- sche Sprachwirrwarr aus uneindeutigen Begriffen und kaum nachvoll­
ziehen könne. Das ist ein Argument, das später auch Robert Boyle in ziehbaren Vorschriften, die man schwerlich als präzise Handlungsanlei­
seinem <Sceptical Chymist> von 1661 Vorbringen wird. Dieses Argument tungen nehmen konnte. Dagegen setzte er sein Hauptwerk <Alchemia>
unterschlägt jedoch, dass Paracelsus nicht von dem Schwefel usf. geredet (1597) als eines der ersten systematischen Lehrbücher der Chemie - und
hatte, nicht jeder Sulfur, jeder Mercurius und jedes Sal sind bei ihm nicht etwa der Alchemie. Erastus hat es impliziert, Libavius führt es aus:
dasselbe. Nur aus der Sicht der heutigen Naturwissenschaften ist Lie- Es ist die Eindeutigkeit, die die Chemie zur Wissenschaft Chemie macht,
bers Einwand legitim. Ihr Erfolg beruht nämlich darauf, dass alle ihre während die Alchemie von der Uneindeutigkeit geradezu lebt. Paracel­
Aussagen, auch wenn sie logisch einwandfrei sind, widerlegbar sein sus nun kam dieser Uneindeutigkeit entgegen, indem er Mengen von
müssen, und zwar immer dann, wenn neue Beobachtungen - die natür­ merkwürdig klingenden Wörtern, die sich tieferem Verständnis bewusst
lich selbst wieder der Widerlegung offen stehen - den alten Beobach­ zu widersetzen scheinen, in die Sprache seiner mediziiüschen Alchenüe
tungen widersprechen. In der Chemie funktioniert das aber nur, wenn einführte. Wenn nun Männer wie Gerhard Dom, Martin Ruland und
man ihre Objekte materiell definiert, und genau das hat Erastus getan.^7 Leonhard Thumeysser ganz wie einige Alchemisten der Spätantike
In der Alchemie dagegen wimmelt es von nicht recht Definierbarem, Wörterbücher zum Verständnis unverständlicher Ausdrücke schrieben,
und so ist es kein Wunder, dass Erastus die in seinen Augen reichlich dann hatten sie anderes im Sinn als Libavius. Es ging ihnen letztlich
wolkige Kunst in Bausch und Bogen bekämpft. nicht darum, das Feld des Geheiimüsvollen zu verkleinern, es ging ih­
Ähnlich gegen die <Tria prima> und ihren Schöpfer argumentiert Mit­ nen dämm, das Geheimnisvolle als Geheimiüsvolles greifbarer zu ma­
te des 17. Jahrhunderts auch Hermann Coming, der außerdem die A l­ chen. Und damit stehen ihre Bücher in der Tradition all der alchemi-
chemie als Prisca ars auf die Hörner nahm. Wenn die großen klassischen schen Traktate, die behaupten, klarer zu sein als ihre Vorgänger, selbst
Philosophen sie nicht erwähnen, könne sie wohl kaum aus vorplatoni­ aber der Dunkelheit nur Dunkelheit entgegensetzen: Obscurus per obs-
schen Urzeiten stammen. Doch dass derlei Argumente nichts gegen curius. Und die <Bibliotheken der Ptolemäer> sind hier auch nicht weit.
Glaubensgewissheiten ausrichten können, das haben wir ja schon bei Arzt-Alchemisten in der Nachfolge des Paracelsus, die ja mit der un­
Casaubon erlebt. geheuren Komplexität des Menschen, der als Mikrokosmos und zu­
Als Dritter im Bunde der Kritiker sei nun der etwas ältere Wittenber­ gleich als Quintessenz des Kosmos begriffen wurde, fertig werden
ger Professor Daniel Sennert genannt, der sich allerdings, was Paracel­ mussten, waren gewöhnlich der Paracelsischen Sprachverwirrung nä­
sus anging, in einer Zwischenstellung präsentierte, die wir jedoch nicht her als der Libaviusschen Eindeutigkeit. Einige von diesen seien jetzt
als halbherzig werten sollten. Sennert hieß die Lehre von den <Tria pri­ vorgestellt.
462 rv. In der neuen Welt Europas Alchemisten und latrochemiker 463

Wenden wir uns dazu zunächst nach Prag mit dem Hradschin, dem das Elixier zu erlangen, ist bei Groll nicht mehr die Rede. Er hat auch
Hof des melancholischen und den okkulten Künsten zugeneigten Kai­ nie behauptet, selbst den Stein zu besitzen, doch kannte er einige erfolg­
sers Rudolf II. In den Gassen, Palästen und Kellern der Stadt können reiche Adepten persönlich, unter ihnen den berühmten polnisch-mäh­
wir nicht nur den Rabbi Jehuda Löw antreffen, der durch kabbalistische rischen Landedelmann Michael Sendigovius, mit dem w ir in die Halb­
Magie angeblich den Golem erschaffen hat, sondern auch den Herrn welt der <gelungenen Transmutationen» eintreten. Sendigovius hat vor
Michael Maier, der es als Autor der <Atalanta fugiens> und als Leibme- dem Kaiser eine solche Transmutation durchgeführt. Das Projektions­
dicus des Kaisers - obwohl einer von den abtrünnigen Evangelischen - pulver dazu hatte er allerdings nicht selbst hergestellt, sondern von
bis zum <Grafen am Kaiserhof>, (<Comes palatinus>) gebracht hat. Den einem gewissen Alexander Seton zum Dank dafür erhalten, das er ihn
ebenfalls evangelischen Fürstlich Arüialtschen <Medicus Ordinarius» Os­ aus dem Gefängnis befreit hatte. Seton war eine ziemlich seltsame Er­
wald Groll, dessen Hauptwerk, die <Basilica chymica», posthum 1609 I scheinung in der an seltsamen Erscheinungen nicht eben armen Welt
erschien und ein ganzes Jahrhundert großen Einfluss ausüben sollte, der Alchemisten, wanderte er doch durch Europa als eine Art Reisender
werden wir gewiss auch irgendwo finden. Mit ihm sollten wir uns kurz in benevolenten Transmutationensvorführungen, die denn auch reihen­
unterhalten, ist er doch einer der bekanntesten Paracelsisten seiner Zeit weise die Skeptiker der Göttlichen Kunst bekehrten.
und vereint dabei - im Nachhinein gesehen - die beiden Richtimgen Wenn aber Mildtätigkeit der Geldgier begegnet, ist diese immer Sie­
des Paracelsismus in seiner Person. Cum gram salis kann man nämlich ger. Die Geldgier war personifiziert in Kurfürst Ghristian II. von Sach­
sagen, dass er zum einen mit der Vorstellung, man könne den Leiden sen, der den armen Adepten foltern ließ, um ihm das Geheimnis des
des Körpers mit chemischen Präparaten beikommen, den Körper zu Steines zu entreißen, und ihn, als er sich weigerte, ins Gefängnis warf.
einer Art chemischer Fabrik gemacht hat, in der z. B. die Warme durch Aus dem wurde Seton dann in Krimi-Manier entführt, starb allerdings
eine Vermischung saurer und basischer Bestandteile zustande kommt, bald darauf. Übrigens wird behauptet, Sendigovius habe, als sein Pulver
dass er aber zum anderen mit der Einbindung des Menschen in kosmi­ zur Neige ging, zu kleinen Tricks greifen müssen, um seinen Ruf als
sche Zusammenhänge zu einer verstärkten Spiritualisierung der Alche­ Adeptus zu retten. So habe er eine oberflächlich amalganüerte Gold­
mie beigetragen hat. Groll glaubte an das Sein, w ie es sich dem Arzt münze von Silber zu Gold transmutiert.
präsentiert, er glaubte aber auch an das <Sein über dem Sein» und war Zu Grolls Bekannten gehörte auch der ziemlich windige Alchenüst
fest davon überzeugt, dass Paracelsus das Elixier besessen habe, und Edward Kelley, den man nur deshalb nicht einmal ein Schlitzohr nennen
nur deshalb sein Leben nicht habe auf Dauer erhalten können, weil er kann, weil er beide Ohren schon in England nach einer Verurteilung
vergiftet worden sei. Und was sein allgemeines Weltbild betraf, so wegen Betrugs verloren hatte. In Prag tauchte Kelly in Begleitung John
glaubte Groll nach kabbalistischem Vorbild, der Kosmos bestünde aus Dees auf, dessen okkulte Fähigkeiten aber nicht ausreichten zu erken­
drei Sphären, der der Elemente, der der Engel und der der Archetypen, nen, was für ein Gauner sein Kompagnon war. Allerdings konnte auch
die wir ims als platonische, also reale Ideen in Gott vorstellen können. eine <gelungene Tansmutation» vor einem böhmischen Grafen nicht ver­
Ansonsten geht es in der <Basilica» so dcnvn to earth zu wie häufig in den hindern, dass Kelly später in Prag eingekerkert wurde und bei einem
Schriften des Basilius: Einzeluntersuchungen und Einzelrezepte, Parti- Fluchtversuch umkam.
culare, werden nüchtern und mit empirisch fundierter Genauigkeit ge­ Natürlich gab es auch Alchemisten, die niemals in Prag vor den Augen
schildert. U. a. beschreibt Groll Knallgold (Au^Oj (NHj)^), Homsilber, irgendeiner Kaiserlichen Majestät erschienen oder gar in deren Kerkern
also geschmolzenes Silberchlorid (AgGl), das oft bei alcheiiüschen Be- gelandet sind. Dazu gehört u. a. ein weiterer Anhänger des Paracelsus
trugsmanövem eingesetzt wurde, und rotes Quecksilberoxid (HgO). und der Signaturenlehre, den wir ja schon als möglichen Autor des
Daneben aber, das sollten wir nicht vergessen, empfiehlt er zu medizi­ <Liber mutus» kennen: Quercetanus, vulgo Joseph Duchesne de la Vio­
nischem Gebrauch u. a. Leichenteile rothaariger Menschen sowie Mi­ lette. Quercetanus war Leibarzt des Königs Heinrich IV. von Frankreich,
schungen aus getrockneten Krötenteilen, Arsenik, Perlen, Moschus dem Paris zwar bekanntlich eine Messe wert war, der aber, was das
usw. Den Hintergrund dieser Auswahl von Medikamenten bildete eine Leibliche anging, seinen ehemaligen Glaubensbrüdem mehr vertraute
verfeinerte Signaturen-Lehre, in der es um die Verwirklichung einer als den neuen. Hugenottische Ärzte, die anscheinend sämtlich Paracel­
gleichen Idee in realanalogen Partnern geht. Signatur der Signaturen, sisten waren, beherrschten das Medizinalwesen bei Hofe und ließen die
um es aus heutiger Sicht zu sagen, wäre das Elixier oder das Multipli­ rechtgläubigen Galerüker an der Sorbonne in ihren eigenen Humores
kationspulver. Aber von einem einsinnigen Transmutationsprozess, um kochen. Auch Quercetanus kommt uns seltsam vielschichtig vor. So hat
464 IV. In der neuen Welt Europas Alchemisten und latrochemiker 465

er einerseits eine Luft mit erstickender Wirkung so beschrieben, dass sie der Tria-prima-Theorie anhingen. Die beiden behaupteten u. a., es
man annehmen kann, es handle sich um Stickstoff, andererseits hat er gäbe einen vegetabilischen, einen animalischen und einen minerali­
als belegbare Tatsache hingestellt, man könne im Prinzip Pflanzen aus schen Stein sowie einen zusammengesetzten. Im Übrigen vertraten auch
ihrer Asche Wiedererstehen lassen, was er - wie auch seinen Glauben sie die bekannte Ansicht, wenn man die Prima materia besäße, sei alles
an die Signaturenlehre - durch die Behauptung belegte, das Eis, das ein Ludus pueromm.
entstünde, wenn man die schwache Lauge von Nesselnasche einfriere, In Zedlers <Universal-Lexicon> (64 + 4 Bde., 1732-1754), dem deutschen
zeige die Umrisse eben dieser Nesseln. Quercetanus hat auch Dutzende Nachschlagewerk des 18. Jahrhunderts, steht im Zusammenhang mit
von Rezepten für Particulare im Sinne von spezifischen Heilmitteln an­ Hollandus: «Man soll einen gereinigten Vitriol oder die Crystallen mit
gegeben, die u. a. am Landgrafenhof in Kassel, den er im Jahre 1604 sehr gelinder Wärme calcinieren, bis sie roth werden, und zwar müsse
auch selbst besucht hat, eifrig nachgekocht wurden. Wie Quercetanus dieses in einem verschlossenen Gefässe geschehen; aus dem calcinierten
selbst, so lebte und dachte man hier in Kassel und Marburg in einer Vitriol soll man mit einer guten Quantität destillirtem Essig eine Solu­
Welt, die wir, gewohnt, in disziplinären Grenzen zu denken, für eine tion machen, und hernach den destülirten Essig wieder herabziehen; die
heterogene Mischwelt aus Moraltheologie, ganzheitlicher Mikrokos- zurücke bleibende Materie wieder mit frischem destülirten Eßige auflö-
mos-Makrokomos-Philosophie, paracelsischer Pharmakologie und nüch­ sen, wieder abziehen; und dieses soll man so offt wiederholen, bis auch
terner, praxisgestützter Erkenntnissuche zu halten geneigt sind.^^ Wir bei dieser Solution keine Unreinigkeiten mehr fallen. Das Coagulum,
vergessen, dass diese Welt eine Perspektive und einen Fluchtpunkt hatte; wenn man zuletzt den destülirten Essig gantz abgezogen hat, soll man
das Hen to pan, das aus Gott kommt und in Gott ruht. Was speziell die in einer Retorte destilliren; so würden gelbe Spiritus, ein rothes Oel und
Alchemie nicht nur in der Landgrafschaft Hessen-Kassel angeht, so ist endlich weisse Spiritus hervorkoiiunen, in der Retorte aber werde ein
auch hier die Verschiebung deutlich, die sie durch Ärzte wie Paracelsus schneeweisses fixes Saltz zurücke bleiben, daß soll dann in seinem ei­
erfahren hat. Eine Verbindung von innerem - moralischem - Streben genen Oele eingetränckt, in gelinder Wärme coaguliert, und diese Ein-
und äußerem - zielgerichtetem - Laborieren blieb zwar erhalten, die tränckung, Digestion, Solution und Coagulation soll so offte wiederho­
Idee des alchemischen Tuns als eines Initiationsprozesses, der wie ein let werden, bis endlich das ganzte Compositum fix, aber höchst flüßig
Prozessionsweg über bestimmte Stufen durchlaufen werden muss, aber wie Wachs und durchdringend als ein Oel geworden ist. Dieses soll, wie
verlor ihre Kraft. Sie wurde zersetzt von der Hoffnung auf Therapie-Er­ er [Hollandus] verspricht, der Stein der Weisen, die Tinctur der Metal­
folge, die nicht gesucht wurden in Hinblick auf die harmonische Ge­ len, und eine allgemeine Medicin aller in denen Feuchtigkeiten liegen­
samtheit des Menschen im Gleichgewicht der hippokratischen Humo- den Kranckheiten seyn.» (Zedl. Sp. 1556)
res, sondern in Hinblick auf das Spezifische der krankhaften Störung. Als Adepten von jenseits der Alpen seien genannt die beiden italie­
Sie wurde aber auch, glaube ich, zersetzt von der für die Neuzeit typi­ nischen Geistlichen Johannes Augustinus Pantheus, der eine Kabbala
schen Gier auf Neues, von der Neugier, die das Neue hier und jetzt, der Metalle von der seelerüosen Goldmacherei absetzte, und Giovanni
und d. h. im <Particularen>, wissen will. Battista Nazari, der in seinem Buch <Della Trasmutatione metallica>
Ebenfalls im 16. Jahrhundert, und wir gehen jetzt vom Kontinent (1572) den Ouroboros in Worten beschrieb, die jeden Liebhaber von
nach England, lebte ein gewisser Thomas Chamock, der nach den üb­ Paradoxien nur entzücken können: «Indem ich mich vom Tode erhebe,
lichen romantischen Abenteuern - die Begegnung mit dem weisen töte ich den Tod, der mich tötet. Ich erwecke die Toten wieder, die ich
Greis, der Fund der Elixiers im Mauerwerk eines Klosters, w o es gefun­ geschaffen habe. Im Tode liegend, zerstöre ich nüch zu deiner Freude.
den, aber nicht beachtet wurde und erst auf dem Misthaufen seine Kraft Ohne mich und mein Leben aber kannst du keine Freude haben. Wenn
dadurch bewies, dass es Pflanzen zu nie gesehener Pracht reifen ließ - ich das Gift in meinem Kopfe trage, ist das Heilmittel in meinem
das Rezept zu besitzen schien, den Stein herzustellen. Aber im richtigen Schwanz, den ich wütend beiße.» (Bied. 317)
- oder falschen - Augenblick ging das Feuer imter dem Herd aus. Später In blumenreichen Paradoxa ergeht sich auch der Adept Johannes
allerdings soll Chamock das ersehnte Pulver doch noch erlangt haben. Grassaeus, wenn er die Prima materia, die unter einem Stein verborgen
In die Denkungsart Chamocks gehörten sicher auch die als Personen liege, beschreibt. Im Übrigen soll er im Besitz des Lapis gewesen sein.
zwar nicht mehr fassbaren, aber wohl, wie der Name sagt, aus den Außer der Verbindung von Alchemie und Medizin gab es noch eine
Niederlanden stammenden Adepten Isaac und Johannes Isaac Hollan- ganz andere Verbindung, die selbst in den überraschenden Jahrhunder­
dus, die nicht früher als im 16. Jahrhimdert gelebt haben dürften, weil ten der Frühen Neuzeit einigermaßen erstaunt: die Verbindung von See-
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räuberei und Alchemie. Und doch scheint eine gewisse Verwandtschaft toph Schmieder: <Geschichte der Alchemie> (1832), gehört Wagnereck
zu bestehen zwischen dem Traum aller Alchemisten vom Stein und dem neben Seton und einem gewissen Friedrich Sehfeld zu den ganz weni­
Traum aller Konquistadoren vom El Dorado, vom König, dessen golde­ gen, die wirkliche Adepten waren.
nes Fleisch ihn unsterblich macht. Von dem berühmten Freibeuter Sir An der Wende zum 18. Jahrhundert begegnen wir auch einer Frau,
Walter Raleigh wird behauptet, er habe mit gleicher Leidenschaft nach Dorothea Juliana Walchin, die kurz nach 1700 vielleicht gemeinsam mit
dem sagenhaften Goldland des El Dorado und nach dem Elixier ge­ ihrem Vater etliche Traktate veröffentHchte, darunter eines über das
sucht, das er übrigens - wohl in unvollkommener Form - bereits zu <Mineralische Gluten>. Dieses <Glutina Aquila>, <Adler-Leim>, ist eine
besitzen geglaubt habe. Selbst im Tower, wo er schließlich hingerichtet wohl gelartige Masse, die dem Symbol des Adlers zugeordnet wurde
wurde, hat er zusammen mit Henry Percy, dem <Wizard Earl> of und sich entweder mit dem <Blut des Löwen> verbindet oder als <Sal
Northumberland, alchemische Versuche angestellt. Erwähnt sei auch Sir artis> Mann und Weib bzw. Sulfur und Mercurius kopuliert und koa­
Kenelm Digby, der ebenfalls zumindest sein weltliches Heil mehr in der guliert zum hermaphroditischen Lapis. Ein gewisser Konrad Dippel sei
Seeräuberei als in der Alchemie gesucht und doch ein Buch über <Chy- hier auch nicht vergessen, war er doch nicht nur Erfinder des Dippel-
mical Secrets> geschrieben hat. Öls, eines Pyridin enthaltenden Destillats aus Blut und Knochen als
Mit Digby sind wir im 17. Jahrhundert angekommen. Blicken wir nun probates Mittel gegen Würmer, Typhus und Ausschlag, sowie Mit-Ent-
wieder zurück zum Festland, w o die Räubereien sich eher im Trockenen decker des Berliner Blaus [Fe(CN)6]FeK, sondern darüber hinaus ein
abspielten, dann sehen wir dort den Hermetiker und Präsidenten des pietistischer Reformator und Aufklärer und zugleich ein überzeugter
Parlaments von Bordeaux, d. h. des dortigen Appellationsgerichtes, Jean Alchemist.
d'Espagnet, der vorschrieb, den Stein, eine rote Erde, nüt Luft und Was­ Im Bereich der jüdischen Alchemie finden wir den Rabbiner Abraham
ser zu mischen und verschiedenen Hitzemengen auszusetzen, bis ein Eleazar, über den nichts bekannt ist, außer dass ein gewisser Julius Ger­
glänzender roter Stein daraus würde; das eigentliche Elixier. Ferner fin­ vasius im Jahre 1735 unter des Rabbi Namen ein Buch mit dem Titel
den w ir dort Pierre-Jean Fahre, der den Alkahest für einen mit seinem <Uraltes Chymisches Werck> herausgab, das 1760 neu aufgelegt wurde.
eigenen Körper verbundenen Quecksilbergeist hielt, und der Salz (Luft­ Im Vorwort behauptet Gervasius, dies Buch sei inhaltlich identisch mit
salz, vielleicht Ammoniumnitrat, NH^N03> aus Tau auszog, und David dem Werk des Abraham, das Nicolas Flamel Vorgelegen habe, und es
Lagneus (Laigneau), der einen psychologisch interessanten Decknamen gibt tatsächlich Gründe, die zumindest Teile des Buches in das 14. Jahr­
für den Stein anführt, nämlich <Basilisk>. hundert zurückverweisen. Aber selbst wenn wir die Abfassung des
Das Italien des 17. Jahrhunderts sei hier vertreten durch Giuseppe <Wercks> in die Zeit kurz vor seiner Herausgabe legen, hat der Text auch
Francisco Borri, der eine ähnliche abenteuernde Gestalt war wie später chemisch gesehen Erstaunliches zu bieten. Ich glaube nänüich, in Elea­
die <Grafen> Cagliostro und St. Germain. Es wird berichtet, er habe ein­ zar einen der frühen Entdecker des Sauerstoffs gefimden zu haben, hat
mal seinen ketzerischen Hals vor der Inquisition gerettet, indem er dem er doch dieses erstaunÜche Gas vor Carl Wilhelm Scheele (1771/72, ver­
Kaiser Leopold I. bei einer Audienz in Wien eröffrtete, die Wachskerzen öffentlicht 1777) und Joseph Priestley (1774), denen diese epochema­
im Audienzsaal seien vergiftet. chende Entdeckung üblicherweise zugeschrieben wird, isoliert und vor
In Deutschland finden wir Hadrian von Mynsicht, den Entdecker des allem: Er hat es als etwas Besonderes charakterisiert. Eleazar beschreibt
kristallisierten Brechweinsteins (KIC^H^OgSbCOHlj] ViH^O), der als Pa- ein Salz, bei dem es sich eindeutig um Salpeter handelt:
racelsist das Konzept eines Lapis philosophorum verteidigte, außerdem «Sal -ri [nitri] nostrum in mari mundi versans. -aeris [spiritus aeris]
Johannes Helvetius (Schweitzer), der, wie er selbst bekundet, 1666 durch invisibilem, congelatum coelum nostrum». (Patai 245) Zu Deutsch:
seine Anwesenheit bei einer gelungenen Projektion zum eifrigen A po­ «Nimm imser <Sal nitri>, das sich in das Meer der Welt wendet. Der
logeten der Alchemie wurde, und wir finden auch eine so imdurchsich­ unsichtbare Geist der Luft, unser festgewordener Himmel.»
tige Gestalt wie den angeblichen Araber A li Puli, dessen <Tractat von Dass Salpeter, NaNOj, gemeint ist, der bekanntÜch beim Erhitzen
dem Wiedergebohmen Saltz> 1685 auf Deutsch erschien. Um das Jahr­ Sauerstoff freisetzt, zeigt sich an seiner Beschreibung. Er ist nämlich
hundert zu beschließen, sei noch ein obskurer Baron Heinrich von Wag­ Geist und Materie zugleich und wird durch den Doppel-Ouroboros aus
nereck erwähnt, der zwischen 1680 und 1683 mehrere Transmutationen dem geflügelten Drachen (Luft) und dem ungeflügelten (Erde) symbo­
durchgeführt haben soll. In dem immer wieder herangezogenen Buch lisiert.^® Wer die physiologische und psychologische Wirkung reinen
eines alchemiegläubigen Philologen aus dem 19. Jahrhundert, Karl Chris­ Sauerstoffs bedenkt, wird es nicht verwunderlich finden, dass Eleazar
468 IV. In der neuen Welt Europas Adept und Nichtadept: Van Helmont 469

seinen Ouroboros für die wahre «Jungfräuliche und adamitische Erde», einer der Ersten oder der Erste, der den Satz von der Erhaltung der
will sagen für Prima materia hielt. Materie bei chemischen Umsätze nüt aller wünschenswerten Klarheit
Vertraut man den vielen von Malern und Kupferstechern wie Hans formulierte.
Weiditz, Pieter Brueghel oder Pseudo-Brueghel, Cornelius Bega und Da­ Und was ist, zumindest auf den ersten Blick, typisch für den Alche­
vid Teniers geschaffenen Bildern von Alchemisten, die nicht gerade wie misten? Typisch ist doch wohl, dass der Alchemist den aktiven Prakti­
Leib-Medici irgendwelcher Fürsten aussehen, dann muss es unterhalb ker und den kontemplativen Mystiker in einer Person vereinigt, d. h.
vornehmerer Paracelsisten und Antiparacelsisten eine ganze Schicht dass er letztlich ünmer über das Experiment hinausgeht, wenn man
von Sudlern oder Sudelköchen, also wild laborierenden Alchemisten unter Experiment etwas intersubjektiv Prüfbares versteht. Van Helmont
gegeben haben, angefangen von einfachen Bürgern, von denen vor al­ entspricht diesem Typ, suchte er doch, wie er selbst bekannte, Erleuch­
lem zu Köln eine Menge laboriert haben soll, bis zu den Bauernalche­ tung bei der Arbeit am Athanor. Dabei erfuhr er an sich Visionen, und
misten, die, wenn sie überhaupt lesen konnten, sicher kein Latein be­ in einer von ihnen sah er seine eigene Seele als einen leuchtenden Kris­
herrschten. Wie viel Hoffnung, Lächerlichkeit, Verzweiflung, Gier und tall. Er, der sich selbst Philosophus per ignem, Philosoph durch das Feuer
Glaube in ihrer Brust zusammengewohnt hat, niemand vermag das nannte, war Hermetiker in der Nachfolge des Paracelsus. Auch wenn
mehr zu sagen. Ihnen allen geht es wie dem armen, von Chaucer be­ er den alten Meister oft kritisierte und in manchem über ihn hinausging,
schriebenen Kanonikus: Man macht sich über sie lustig, ohne Erbarmen, wurzelte seine verwickelte Auffassung von Natur und Erkenntnis doch
das aus dem Verständnis käme. in ähnlichen Gedankengängen, und auch er lebte in Sehnsucht nach
Selbst von den Sudlern abgesehen, könnte die Liste neuzeitlicher A l­ dem Elias artista.
chemisten, deren Namen und Werke wir kennen, erheblich länger sein, Für uns Nachgeborene scheint van Helmont tatsächlich zwei Seiten
sie würde dann aber noch langweiliger ausfallen als diese Auswahl, die zu haben. Die eine manifestiert sich in seiner Entdeckung der Gase als
ja in aller Anspruchslosigkeit vor allem dazu dienen sollte, eine Tür zu diskreter Substanzen, die andere manifestiert sich in seinem Verhältnis
künftiger Neugier zu öffnen und offen zu halten. zum Stein der Weisen.
Wenn wir zunächst auf die chemische Seite eingehen, sei vorausge­
schickt, dass es für van Helmont nur zwei Elemente gab, nämlich Was­
8. Adept und Nichtadept: Van Helmont ser, in dem sich alles Chemische abspielt, und Luft, die sich an keinem
Umsatz beteiligt. Die Tria prima sind nur eine fagon de parier für Erschei­
Einen ganz Großen der Chemiegeschichte am Übergang vom i6. zum nungsformen des Wassers. Feuer ist nichts Materielles, Erde ist trans-
17. Jahrhundert habe ich bisher ausgespart; Johan Baptista van Hel­ mutiertes Wasser, was van Helmont durch eine quantitative Untersu­
mont, der - obwohl wohlhabend - im unruhigen Gebiet der spanischen chung mit genauen Gewichtsangaben, will sagen durch das Experi­
Niederlande als Armenarzt praktizierte, und es nebenbei fertig brachte, ment, beweist, das wir ja schon unter den Beweisen für gelungene
sich - obwohl guter Katholik - mit den Jesuiten anzulegen. Van Hel­ Transmutationen kennen gelernt haben: Ein Schössling wird mit Wasser
mont verdient mehr als zw ei Sätze, und dies nicht nur seiner alchemi- <emährt>, und nach einigen Jahren ergibt er ein größeres Gewicht an
schen Neigungen oder seiner ärztlichen Leistungen wegen, sondern Asche, sprich Erde, als er zuvor gewogen hat."^* Außer der Asche ent­
auch deshalb, weil man an ihm einen klassischen Grenzfall zwischen steht aber auch etwas Luftartiges, das jedoch nicht das Element Luft sein
Chemiker und Alchemisten beobachten kann. kann, weil Luft ja chemisch passiv ist. Die Luft muss aus besonders
Denn was ist, zumindest auf den ersten Blick, typisch für den moder­ <informiertem> Wasser stammen. Van Helmont unterschied mehrere
nen Chemiker? Typisch ist doch wohl, dass der Chemiker sich auf das luftartige Materien voneinander, u. a. CO^, CO, NO, unreines CH^, und
quantitative Experiment stützt, ohne das er seine praktischen wie seine gab ihnen, wahrscheinlich nach dem Wort <Chaos>, den Sammelnamen
theoretischen Ergebnisse nicht für gesichert hält, Ergebnisse, die im Be­ <Gase>. Im Übrigen konnte er auch zeigen, dass Erde zurück zu Wasser
reich des experimentell Prüfbaren bleiben. Van Helmont entspricht transmutiert werden kann, indem man <typische Erde>, nämlich Sand,
diesem Typ, war er doch ein Meister quantitativer Experimente, der in Alkali löst und dieses an der Luft stehen lässt, worauf es zu Wasser
nicht nur die Waage als Mittel der Forschung verwandte, sondern auch zerfließt.'^^
schon ein Thermometer benutzte, das, und das war zu seiner Zeit ganz Das aber ist nicht der ganze van Helmont. Der Entdecker der Gase
außergewöhnlich, in 15 Temperaturgrade kalibriert war. Zudem war er glaubte auch an die Existenz des Alkahest, dessen Zusammensetzung -
470 IV. In der neuen Welt Europas Adept und Nichtadept: Van Helmont 471

wie gewohnt - unklar ist. Vielleicht war es salpetrige Säure (HNO2), ma ist, das mich am meisten berührt -, aber ich denke hier zunächst an
weil diese beim Kochen Holzkohle aufzulösen vermag. Das Alkahest die Weltvorstellungen von Menschen mit intuitiv-mystischer Veranla­
diente nämlich dazu, Zedemholz zu verflüssigen, weil Zedern beim Bau gung bzw. mit der Einbildung, eine solche zu haben. Intuitive Mystiker
des salomonischen Tempels und bei der Behandlung Lepröser eine Rol­ - ich glaube, es gibt auch intellektuelle Mystiker - unterliegen, meine
le spielen und außerdem eine Zeder im Libanon die Sintflut überlebt ich, zwei Gefahren. Zum einen verführt das Bewusstsein, mit ver­
hat. Aus dem Zedemholzextrakt lässt sich nun nach monatelangem vor­ schränkten Beinen und nach innen gewendetem Blick dem gesamten
sichtigem Erhitzen ein lösliches Salz ausziehen, das als Arcanum, als Kosmos gegenüberzusitzen, zuweilen zu einer Ichbezogenheit, die von
Elixier dazu dienen kann, die äußeren Grenzen des Lebens zu erweitern, dümmlicher Überheblichkeit nur sehr schwer zu unterscheiden ist. Van
wenn auch nicht bis ins Unendliche, weil Gott keinem Menschen vor Helmont, der Armenarzt, ist dieser Gefahr sicher entgangen, obwohl er
dem Jüngsten Tag Unsterblichkeit gewährt. genauso sicher ein extrem introvertierter Mensch war, dem es, er klagt
A n den Lapis philosophorum glaubte van Helmont ebenfalls, hat er nie darüber, offensichtlich nichts ausgemacht hat, sein Haus jahrelang
doch selbst eine schlagartige Transmutation von einer fast zweitausend­ nicht zu verlassen, ob nun freiwillig oder gezwungen von kirchlichen
fachen Menge Quecksilber in Gold durchgeführt, und zwar mit einer Behörden, die ihn ja der Ketzerei verdächtigten. Zum anderen kann die
winzigen Menge eines schweren, rötlich gelben Pulvers, das wie gemah­ im tiefsten Inneren erlebte, intuitive Erfahrung zu einer Gutgläubigkeit
lenes Glas glitzerte und nach Safran roch. Van Helmont ist übrigens führen, die zu einer überschießenden Ausdeutung eben dieser inneren
einer der wenigen Autoren, die überhaupt von einem Geruch sprechen, Erfahrung verleitet. Hier nun mag man sich fragen, ob nicht die Hoff-
der ja eine primitive, eine urtümliche Empfindung ist, nur schwer w il­ nimg, eine Hoffnung, die lücht nur aus der Büchse der Pandora, son­
lentlich ins Gedächtnis zu rufen und so gesehen nur schwer manipu­ dern auch aus der Dreieinigkeit <Glaube, Hoffnung, Liebe> stammt, in
lierbar. Vielleicht spielte er deshalb in der Alchenüe eine relativ geringe van Helmont die Erfahrung einer Möglichkeit zu der Erfahrung einer
Rolle. Gewissheit hat werden lassen. Auch wenn wir nie Antwort finden, müs­
Wie dem auch sei: Van Helmonts Pulver roch und glitzerte geheim­ sen wir uns das immer wieder und vor allem bei jedem echten Alche­
nisvoll, und natürlich hatte er es unter den üblichen mysteriösen Um­ misten fragen, um nicht der Tatsache, dass <Abstrusitäten> offensichtlich
ständen von einem Fremden erhalten, den er nur einmal zu sehen be­ geglaubt wurden, sprachlos gegenüberzustehen. Der Glaube an den
kam. Die Rechtfertigung für die <phantastische> Wirkung des Steins Stein war nichts Unmögliches, er war kein Fremdkörper in van Hel­
fand van Helmont in der ja ebenfalls <phantastischen> Wirkung des monts Auffassung von der wahren Erkenntnis in der Natur.
Abendmahl-Brotes. War das nun die Phantasterei eines verbitterten al­ Um ihr nachzuspüren, sollten wir uns nach Marburg wenden. Dort
ten Mannes, wie sein Biograph Walter Pagel vermutet? War es eine an der Universität schrieb im Jahre 1609 der hermetisch-paracelsisch
Grenzüberschreihmg im Kopf? Wir wissen es nicht, aber Geschichten orientierte Professor Rudolph Goclenius ein Buch über die so genannte
wie diese sollten uns vor uns selber warnen. Ist Don Quijotes Wind­ Waffensalbe, welche, wenn sie auf eine Waffe aufgetragen wird, die eine
mühle ein Riese? Cervantes lässt den traurigen Ritter das glauben, uns Wunde geschlagen hatte, diese Wunde zu schließen hilft. Ehe Salbe
aber hindert er daran, das zu glauben. Ist der Riese eine Windmühle, wirkt also per Sympathiebeziehung über eine Distanz hinweg. Dieses
ist es der, den der Roman wirklich meint, der wahre Riese, den wir nicht Buch aus dem ketzerischen Marburg nahm ein Jesuit namens Jean Ro-
sehen, weil wir alle Riesen für Windmühlen halten? Ein bisschen von berti zum Anlass, seinen Autor in eine jahrelang dauernde Auseinan­
beidem? Wenn im 16./17. Jahrhimdert auch Realisten, vertreten durch dersetzung zu verwickeln. Da die angenommene Wirkung, wenn es sie
den kleinen fetten Sancho Pansa, so halb und halb geglaubt haben, dass denn gäbe, nur durch okkulte, d. h. mit normaler, aristotelischer Natur­
die Mühle doch wirklich etwas <Riesenhaftes> an sich habe, und also philosophie nicht zu erklärende Einflüsse zustande käme, könne sie als
vielleicht doch ...? Wie sollte man damals und heute entscheiden, warm Heilwirkung nicht funktionieren: Sie sei vom Teufel. Van Helmont nun
und warum eine Mühle eine Mühle zu sein hat? Ich glaube, und das fühlte sich bemüßigt, in diesen Streit einzugreifen. Er kritisierte Roberti,
zieht mich hinüber von der Alchemie zur Chemie, die Mühle muss eine weil dieser die Fakten nicht richtig dargestellt habe, und wandte sich
Mühle bleiben, solange der Riese als Projektion eines - oft kollektiven zugleich gegen Goclenius, aber mit Argumenten, die uns heute doch
- Wahns erkannt werden kann, und das heißt auch, solange der Riese erstaunen. Er warf nämlich dem Marburger Hermetiker vor, er habe
sozusagen mehr sein will als bloß ein Riese. Ich denke dabei natürlich nicht bedacht, dass die Salbe Blut aus der Wunde enthalten müsse, um
auch an die Wahnvorstellungen imseres Jahrhunderts - weil es das The­ S)onpathetisch wirken zu können. Außerdem sei es Unsirm, dass das
472 IV. In der neuen Welt Europas Erfahrung und Experiment 473

der Salbe zugemischte Moos vom Schädel eines gehängten Kriminellen Erfahrung, eine Erfahrung, die au fond aus der Intuition und dem Ex­
stammen müsse: Moos von jedem Schädel sei dafür geeignet. periment erwächst.
Die Denkweise, die in diesen Ansichten steckt, lässt sich unter einen
für den großen Empiriker van Helmont auf den ersten Blick merkwür­
digen Titel stellen: <Logik als Feind der Naturerkenntnis>. Wie Paracel­ 9. Erfahrung und Experiment
sus war van Helmont der festen Auffassung, dass Erkenntnis nur
durch ein meditatives Einfühlen in die verwickelten Verborgenheiten Wie aber steht es eigentlich mit Erfahrung und Experiment?
der Natur zustande käme, anders gesagt, durch Intuition, aber durch Das Wort Kants in der <Kritik der reinen Vernunft>: «Dass unsere
eine Intuition, die nur durch dauernden Umgang mit der Materie zu­ Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel»
stande käme, durch ein Einfühlen, das im Übrigen erst dann zum Ziel (K.r.V. B i ), war Gemeingut auch schon der Alchemisten. Wie die Che­
führen könne, wenn die Komplexität der Materie zuvor - in einer Art miker haben auch sie immer wieder die Wichtigkeit der Erfahrung und
nicht zerstörenden Analyse - auf ihre einfachen Komponenten zurück­ des Experiments betont. So heißt es, um nur ein Beispiel zu nennen, in
geführt worden sei. Logik und Mathematik dagegen, wie sie von Pe­ der mittelalterlichen Schrift <De perfecto magisterio> des Pseudo-Aristo­
trus Ramus (1574) und Rene Descartes (1628) als die Erkenntnisiiüttel teles:
propagiert wurden, ordnen nur das Äußere, die Oberfläche der Dinge, «Tatsächlich dient die Meditation (meditatio) ohne Erfahrung (sine
und schaffen damit, so glaubte van Helmont unbeirrt, aus einer leeren, experientia) zu nichts, aber die Erfahrung ohne Meditation ist nützlich.
leblosen und letztlich selbst gemachten Hülle eine Gegenwelt, die Darum ist es besser, die Erfahrung zu suchen als die Meditation.»
nichts mit der eigentlichen Natur gemein habe. Die eigentliche Natur (Mang. I, 638-659, 641)
ist die verborgene, die okkulte. Und diese, die eigentliche Natur ist Die entscheidende Frage ist hier, was eigentlich im Verständnis der
nicht mit einem cartesischen Personalcomputer samt Elias artista am Alchemisten - und auch vieler Chemiker der Frühen Neuzeit - die
Keyboard zu bewältigen, sondern mit den einfühlenden Händen eines Grundlage dieser Erfahrung, was also das Experiment war. Welchen
Suchenden. Aber allein schon der Geruch des Okkulten, der von van Stellenwert hatte das Experiment, das zugleich stets Beobachtung, Ob-
Helmont ausging, genügte, dem braven Aristoteliker Roberti Entset­ servatio, war, in Hinblick auf die Wahrheit einer Behauptung?'^^ In einer
zensschauer über den Rücken zu jagen. Der Kampf um den Okkultis­ Untersuchung zu diesem Thema hat Robert Halleux gezeigt, dass ein
mus sollte, wie uns das Beispiel Newtons noch zeigen wird, das ganze Experimentum im eben genannten Sinne ein praktischer Versuch ist, der
17. Jahrhundert erschüttern, hier genügt es, wiederum zu betonen, dass gelingt oder zu gelingen scheint, und für dessen Gelingen man als
der Okkultismus sich bestens mit der Alchemie vertrug, glaubten doch Begründung und als Garant entweder eine in der Tradition der Autori­
viele Alchemisten an die Existenz von Qualitäten, die man als zugleich täten gesicherte Theorie oder nur eine Autorität heranzieht, letzteres
potentiell und aktiv und in diesem Sinne sehr wohl als okkult bezeich­ immer dann, wenn und gerade wenn man die Grundprinzipien des Ge­
nen konnte. lingens nicht durchschaut. Die Versuchung lag hier natürlich nahe, sich
Das alles sollte uns, wenn wir uns die Geschichte der Frühen Moder­ mehr oder weniger willentlich zu täuschen und alles auf den Garanten,
ne ansehen, zu denken geben. Wen eigentlich können wir als Träger des d. h. alles auf die gesicherte Meinung oder die Autorität zu stellen. Das
Fortschritts bezeichnen, der uns doch so herrlich weit gebracht hat? War in der Practica eingesetzte alchemische Experimentum hatte immer ei­
es Jean Roberti mit seinem No-nonsense-Derdaen und seiner Abneigung nen Vorlauf, der nicht bloße Arbeitshypothese war und als solche durch
gegen das Geraune des Okkulten, das doch nur vom Teufel sein kann? das Experiment in der Praxis jederzeit hätte widerlegt werden können.
War es Rene Descartes, der Mathematiker und Physiker, mit seinen in Die Practica nämlich war eingebunden in einen sich wechselseitig be­
den Augen van Helmonts fühllosen Formalismen, die der Natur doch stärkenden Zusammenhang, der dadurch gekennzeichnet war, dass
nur ihre Seele rauben? Oder war es der große Chemiker selber mit sei­ 1. in einer anderen, bis in die Neuzeit hinein wirkenden gesellschaft­
ner Suche nach den verborgenen Eigenschaften der Dinge, die dem gro­ lichen Umgebung mit anderem Geschichtsbewusstsein die Rolle der
ben sinnlichen Zugriff menschlicher Überhebhchkeit allemal verborgen Autorität eine andere war als heute,
bleiben werden? 2. gewisse theoretische Grundannahmen wie etwa die einer Zielgerich­
Wie aber sind die verborgenen Eigenschaften an die Oberfläche un­ tetheit in der Natur überzeugend waren, und zw ar so überzeugend,
seres BeAvusstseins zu heben? Van Helmont würde sagen, durch die dass sie nicht als theoretische Annahmen empfunden wurden, und
474 IV. In der neuen Welt Europas Erfahrung und Experiment 475

3. einerseits die zur Verfügung oder auch gerade nicht zur Verfügung sie auf der Suche nach einer diesem Wissen entsprechenden Erfahrung
stehenden Messinstrumente etwa zur Temperaturmessung nicht in im Kreis herumführte. Natürlich können wir das Wissen spekulativ
der Lage waren, wirklich entscheidende Aussagen zu ermöglichen nennen, und in einer gewissen Bandbreite war es das ja auch. Man
und so zum Bau neuer Messinstrumente herauszufordem, während konnte behaupten, dass der Lapis in der Natur schon vorhanden sei,
man andererseits oder das leugnen, man konnte behaupten, dass die Sterne Einfluss auf
4. ohnehin nicht bestrebt war, zu atomaren Entitäten vorzudringen, son­ das Opus maius haben, oder das leugnen, man konnte über die Art der
dern sich bemühte, die Komplexität der Naturzustände und ihrer Än­ Beseeltheit der Prima materia spekulieren, über den Mehrstufenprozess
derungen als solche zu erkennen und in der Erkenntnis selber auf und, und ... Aber das alles sind nicht etwa haltlose Spekulationen. Sie
einen umfassenderen, einen höheren Sinn zu beziehen. Und was den alle mussten bestimmten alchemischen, meist eher gefühlten als ausge­
Erfolg eines Experimentes angeht, so ist im axiologischen Denken das sprochenen Grundwahrheiten genügen, vor allem der, dass man es mit
erreichte Bessere allemal das Richtigere. einer zielgerichteten Natur zu tun hat, deren Materieformen axiologisch
Unter diesen Gesichtspunkten ist klar, dass ein Experimentum kein in einer Werteskala geordnet sind, und dass der innere Zustand der
Mittel sein konnte, irgendetwas prinzipiell zu widerlegen. Und so gab Natur während der Labortätigkeit wechselwirkend den inneren Zu­
es nur die Möglichkeit, auf ein Buch, auf eine Autorität und/oder auf stand des Laboranten beeinflusst.
einen Lehrer zu vertrauen. Wenn ein Experimentum nicht das Erwartete Die gefühlte Grundwahrheit, sie ist auch Erfahrung. Und so treffen
brachte, dann war das Buch, dann war die Autorität falsch interpretiert sich auf Goethes dürrer Heide der Alchemie drei Erfahrungen wie die
worden und musste im Lichte anderer Bücher, anderer Autoritäten an­ drei Hexen des Macbeth. Die eine ist innerlich und betrifft das persön­
ders interpretiert werden. Und wenn man im Falle eines Fehlschlags liche Gefühl, wie etwa die Erfahrung der Liebe, und sie ist deshalb
auch auf die mangelnde Gnade oder die zurzeit mangelnde Gnade ver­ imbezweifelbar; die andere ist innerlich und betrifft sowohl das innere
weisen konnte, dann war das keine billige Ausrede, das war eine selbst­ Weltbild als auch das traditionelle Vorwissen, und sie ist deshalb unbe-
verständliche Voraussetzung etwa auch der Medizin. Nicht die Arznei, zweifelbar; die dritte ist äußerlich, wie etwa die Erfahrung, die mir sagt,
Gottes Hilfe gewährt die Heilung, was sich daran beweist, dass bei glei­ dass bei Temperaturerhöhung der Druck eines Gases in einem geschlos­
cher Krankheit und gleicher Medizin die einen sterben und die anderen senen Gefäß zunimmt, und sie sollte im Prinzip bezweifelbar sein. Nur
nicht. Im Licht dessen ist das Experiment nicht eine Befragung der Natur, r-?l die äußere Erfahrung ist den Naturwissenschaften geblieben - im Ideal­
sondern eine Erfahrung der Natur, um jetzt auf die zweite Übersetzungs­ fall, weil auch die modernen Naturwissenschaften auf Tradition, auf
möglichkeit des Wortes Experimentum zu kommen, das dann S)monym «schon Gewußtes> bauen. Jede dieser Erfahrungen nun ist verbunden
mit experientia verwandt wurde. mit einem ihr eigenen Typ <Experiment>, von der inneren Liebesprü-
Speziell in der Alchemie nun hat Experientia, auch wenn scheinbar fung, die zur Enttäuschung, aber nicht zur Widerlegung der Tatsache
nur von Umsätzen chemischer Substanzen die Rede ist, gerade an wich­ führen kann, dass es das Phänomen <Liebe> gibt, bis hin zur Druckmes­
tigen Textstellen eine sehr weite Bedeutung. Experientia meint dann sung bei extremen Temperaturen, die doch zu Zweifeln führen könnte.
eine Erfahrung, die Materielles und Spirituelles übergreift, meint eine Wenn van Helmont mit dem traditionellen Wissen darum, dass es eine
umfassende menschliche Erfahrung, die aus eben diesem Grunde, wenn Urzeugung gibt, meint, festgestellt zu haben, dass Getreide, das in eine
sie weitergetragen werden soll, nach dem uns so bekannten persön­ Flasche gefüllt und mit schmutzigen Tüchern bedeckt wird, nach eini­
lichen Lehrer-Schüler-Verhältnis verlangt. Die Alchemisten brauchten ger Zeit Mäuse hervorbringt, dann kann er das zu Recht als Ergebnis
genau diese Erfahrung; sie war das Ziel ihrer Sehnsucht. Und sie brauch­ eines Experiments betrachten. Aber dieses Recht stellt ihn in diesem
ten diese Erfahrung nicht nur als gewissermaßen passive Bestätigung Augenblick auf die Seite der Alchemisten, während seine Beobachtung,
ihrer Vorweg-Annahmen. Die Erfahrung der Alchemisten war vor allem dass Salze durch die Wände von Ochsenblasen hindurchtreten können,
aktiv, veränderte sie doch im Akt ihrer Entstehung sowohl den Men­ womit er die Funktion der Darmwände erklärte, ihn auf die Seite der
schen als auch die Materie. Das, glaube ich, begründet, warum die Chemiker und Physiologen stellt.
Adepten und auch van Helmont nicht bloß meditiert, sondern vor allem Als van Helmont an einer alchemischen Projektion mitgewirkt hat,
auch laboriert haben. Wenn sie dabei aber <wie ein Ochs auf dürrer ob als Ausführender oder Zuschauer, hat er ebenfalls ein Experimentum
Weide von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt> wurden, dann durchgeführt, obwohl es sich ja nur um das so glänzende wie eigentlich
nicht, weil sie spekuliert haben. Im Gegenteil, es war das Wissen, das kümmerliche End-Experiment einer ganzen Kette von Experimenta
476 rV. In der neuen Welt Europas Erfahrung und Experiment 477

handelte. Aber weil dieses Endstück gewissermaßen aus der Kette her­ ja die Gewissheit, einem Umfassendem zumindest nah zu sein. Wenn
ausgebrochen war und nun für sich selber stand, hatte es auch seinen man aber sich selbst in seiner ganzen Komplexität in das Geschehen der
Charakter verändert, es hatte etwas an sich gezogen, das vorher noch Materieumwandlung im Labor einbringt, dann verhindert das eine zer­
nicht da war. Zum End-Experiment gehören der Unbekannte, der die gliedernde und unzweideutige Objektivierung der Substanzen und ih­
Transmutation durchführt und alsbald verschwindet oder gar nur dem rer Umwandlungen. A ll die Mühen der Alchemisten dienten denn auch
Erzähler der jeweiligen alchemischen Geschichte den Stein ausliefert,'^^ nicht etwa, um es etwas hochtrabend zu sagen, naturphilosophischen
ferner der skeptische Zeuge oder die Zeugen, deren Glaubwürdigkeit Erwägungen in erkenntnistheoretischer Absicht. Stattdessen waren die­
als unbezweifelbar geschildert wird und die sich gewöhnlich nicht se Mühen untrennbar verbunden nüt menschlichen Werten, die zu­
durch die Tradition alchemischen Wissens, sondern erst durch das Ex- gleich als kosmische Werte begriffen wurden. Wenn er in seinem Labor
perimentum überzeugen lassen, und schließlich oft auch ein versierter arbeitete, sah sich der Adept als auserwählter Mitarbeiter, ja Partner
Münzprüfer, der seine kritische Kompetenz zur Unterstützung des Gottes und der Natur. So war es durchaus vernünftig für ihn, anzuneh­
Wahrheitsanspruchs mitbringt. Nicht allein das Aufstreuen des Pulvers men, dass das Magnum opus ohne Gottes Hilfe nicht zu einem guten
auf Blei ist nun das Experimentum: Der ganze geschilderte Vorgang ist Ende kommen würde.
es. Nun ist es aber nicht mehr die Theorie bzw. die Autorität, die das Für van Helmont, und das lässt ihn immer wieder auf die Seite des
<experimentum> als wahr bestätigt, also verifiziert, nun ist es das Expe­ Zauns wechseln, die zur Alchemie gehört, war selbstverständlich, dass
rimentum, das der Lehre und der Autorität den Glanz der Wahrheit die Erkermtnis ohne Gottes Hilfe nicht zustande kommen könnte, dies
verleiht. Sie selbst, die Autorität, kann sich ja nicht selbst bestätigen, schon deshalb, weil Gottes Wort der Erkenntnis den Weg gewiesen hat.
denn der Erzähler lässt sie schweigen und nach dem gelungenen Expe­ Im Schöpfungsbericht wird ja vom Geist Gottes über dem Wasser gere­
rimentum wieder verschwinden. Man kann das alles als Symptom da­ det, ferner von Gottes Worten: «Es werde eine Feste zwischen den Was­
für werten, dass ab dem 14. /15. Jahrhundert die Theorie der Alchemie sern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern.» (Gen. I, 6)
sich der veränderten Zeit immer weniger gewachsen fühlte und keine Und so ist dann alles aus den Wassern entstanden, die ihrerseits aus
überzeugenden Argumente gegen neue Sichtweisen mehr beibringen einer Urschöpfung stammen;'^^ von der Luft als Medium der Schöpfung
konnte. Man könnte den Vorrang des Experimentums auch als einen aber ist nirgends die Rede; nach van Helmont diente sie dazu, die Was­
Schritt hin zur empirischen Wissenschaft sehen, wäre da nicht die Tat­ ser zu trennen, und ich kann mir denken, dass van Helmont sie eben­
sache, dass dieses Experimentum niemals etwas widerlegte. Und zu falls zur Urschöpfung rechnete. Die <Erde> als <das Andere des Him­
einer anständigen Naturwissenschaft gehört ja, in ihren Aussagen jeder­ mels» - «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde» (Gen. I, i) - hielt
zeit widerlegt werden zu können. van Helmont nicht für ein Element im chemischen Sinne, genau wie das
Und hier sehen wir van Helmont wie auch Paracelsus, Newton und Feuer, das bei ihm als eine Art dynamisches Prinzip auftritt. Die Schöp­
andere in einer merkwürdigen Zwischenposition. Es sind nämlich nicht fungen aus dem Wasser geschehen durch den Geist Gottes, der das
so sehr die Experimenta und die Observationes als solche, die Chemiker Wasser samenhaft mit spezifischer Schöpfungskraft begabt. Es ist in die­
wie Boyle von neuzeitlichen Alchemisten von Norton bis Sendigovius sem Zusammenhang auch von Fermenta und wirkenden Archei die
und dergleichen trennen, es sind die Ziele, die im Übrigen in derselben Rede.'^^ Wie bei Paracelsus erinnert das alles doch sehr an die stoischen
Person wechseln können. Und genau hier stehen, so meine ich, van <Logoi spermatikoi».'^^ Wasser und Geist sind auch die schöpferische
Helmont und seine Genossen im Geiste auf der Seite des Zauns, die zur Hoffnung des Menschen, die ihn in der - intuitiven - Erkenntnis eins
Chemie gehört. Die <Alchenüsten alter Schule» wollten nichts wider­ macht mit der Natiu*. So sagt Jesus zu dem zweifelnden und suchenden
legen, imd d. h. auch, sie waren auf keine grundsätzlich neuen Erkennt­ Nikodemos: «Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand
nisse und neuen Theorien aus. Das ist auch mit ein Grund dafür, dass geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich
die alchemische Sprache in sich so unklar ist: Klarheit würde die Ver­ Gottes kommen.» 0oh. 3,5)
teidigung eines aussschließenden Standpunktes, einer ausschließenden War van Helmont nun unwissenschaftlich, oder war er gar deshalb
Wahrheit gegenüber anderen Standpunkten, anderen Wahrheiten be­ unwissenschaftlich, weil er die Bibel zur Grundlage seines Weltbildes
deuten, und gerade das wollten die Alchemisten, die sich alle im mehr machte? - Ich meine, gerade van Helmont zeigt, dass ein anderes Welt­
oder weniger deutlichen Besitz einer allumfassenden Wahrheit wähnten, bild zu haben nicht bedeuten muss, methodisch unwissenschaftlich zu
nicht. Sie nahmen teil an dem, was sie sahen, und gerade das gab ihnen sein. Aber sein Weltbild ist gebunden an die Gedankenwelt der Alche-
4 /8 IV. In der neuen Welt Europas . . . und ein Himmmelsphysiker: Newton 479

mie, und zw ar durch etwas, das in den Geisteswissenschaften durchaus Alchemie in der Tradition, und zwar nicht nur in der Tradition des
legitim ist: durch seinen Rückgriff auf die Exegese, auf die Ausdeutung Schöpfungsberichtes und seiner Deutungen, sondern auch in der Tradi­
von Texten. Allerdings, und hier liegt der Unterschied zu den Geistes­ tion einer schriftlich überkommenen, immer wieder von neuem ange­
wissenschaften, er griff zurück auf eine Exegese, die den Heiligen Text lernten Tradition einer Prisca ars, die nicht nur aus der Bibel schöpft.
zwar auslegt, aber nicht kritisiert. Wie die Alchemisten unbezweifelbare Aber es geht nicht nur um Tradition, es geht auch um Wahrheit, die
Texte besaßen, etwa die <Tabula smaragdina>, so besaß auch van Hel­ sich in den vielen neuen Erkenntnissen ausdrückte, mit denen das
mont seinen naturphilosophisch unbezweifelbaren Text: die Bibel. Abendland seit Beginn der Entdeckungsreisen überschwemmt wurde.
So gesehen sind zw ei Männer, die w ir gewöhnlich unter ganz anderen
Aspekten betrachten, auch für die Alchemie nicht untypisch. Gemeint
IO. Ein Astronom: Brahe sind die Astronomen Tycho Brahe und Sir Isaac Newton.
Brahe, der Dienstherr des jungen Kepler, dazu der beste astronomi­
Mit van Helmont sollten wir aber den weiteren Umkreis der Alcherrüe sche Beobachter vor Entdeckung des Fernrohrs und Schöpfer eines gan­
noch nicht verlassen. Drei Gruppen verdienen noch eine Erwähnung, zen astrononüschen Weltsystems, war daneben auch Alchenüst. Nicht
die erste, die der Astronomen, weil sie vielleicht überraschend ist, die nur, dass er sich für paracelsische Rezepturen interessierte, in seinem
zweite, die der Hochstapler, weil sie amüsant ist, und die dritte, die der großen Observatorium <Uraniborg>, das er von 1580 bis 1597 auf der
Chemiker, weil sie uns einige Vorüberlegungen erlaubt über das Ver­ Insel Hven im Öresund unterhielt, besaß er auch ein alchemisches La­
hältnis von Alchemie, Chemie und Betrug. Zuvor aber sollten wir uns bor. Es existiert ein Bild von ihm, auf dem er nüt der einen Hand nach
der Frage stellen, was w ir denn nun in dem weiten Feld der zwischen oben auf den Himmel weist, während auf Höhe seiner Knie ein offener
Labor, Buch und Gebetsschemel ausgebreiteten neuzeitlichen Alchemie Keller zu sehen ist, in dem ein Laborant Destillationen durchführt. So
als zentral, als zeittypisch ansehen dürfen. historisch, so überholt uns dieses <umfassende> Bild erscheinen mag,
Zumindest bis in die Zeit der großen Konfessionskriege des 17. Jahr­ erinnert es nicht doch ein wenig an die Verbindung von Kernphysik
hunderts kann man, glaube ich, darauf eine halbwegs befriedigende imd Astrophysik, die im Kleinsten und im Größten nach grundlegender
Antwort geben, eine Antwort, die wir schon kennen. Ein Ausdruck, den Wahrheit sucht?
Oswald Groll in der Vorrede zu seiner <Basilica> benutzt hat und den
auch van Helmont hätte verwendet können, führt uns zu ihr: Im Lichte
der Natur und im Lichte der Gnade, heißt es nämlich bei Groll, soll der II. . . . und ein Himmelsphysiker: Newton
Arzt seinem Patienten «mit sehenden Händen» begegnen. (Croll 3)
Unsere Hände sehen nichts mehr, unsere Instrumente sehen. Und Ein Jahrhundert später ging es auch dem anderen Großen, ging es
deren Facettenaugen können nichts fühlen. Bei den hermetischen Alche­ Newton um die Wahrheit, die ihn zur Alchemie trieb. Über Newton den
misten waren die Verhältnisse anders. Die christliche Alchemie am Vor­ Alchemisten ist viel gerätselt worden, vor allem, nachdem der letzte
abend des Dreißigjährigen Kriegs, ob nun im Labor entstanden, am Käufer seiner Alchemischen Papiere, der für seine Deßcit-Spending-
Krankenbett, bei der Lektüre oder bei allem zugleich: Immer erweist sie Theorie bekannte Nationalökonom John Maynard Keynes ihn 1936 «the
sich als intellektuelle Kontemplation auf der Suche nach Offenbarung. last magician» genannt hat. Andererseits war Newton ein Exponent der
Allerdings suchte diese Kontemplation die Offenbarung nicht immer im Aufklärung, wie denn auch schon im frühen 18. Jahrhundert Alexander
Inneren des <Buches der Worte>, im Inneren der <Großen Erzählung> von Pope über ihn schrieb: «Newton came and all was light.» Im 19. Jahr­
Christi Leiden und Auferstehung, deren Interpretation ja die christliche hundert wand man sich aus dem Dilemma, indem man den verehr­
Welt in Konfessionen hatte zerfallen lassen. Die Kontemplation der A l­ ten Newton entweder für zw ar an Alchemie interessiert, aber doch
chemisten war aus auf die Offenbarung im Inneren des <Buches der für stets kritisch erklärte oder für bedauerlich verirrt, wenn nicht gar
Natur>, die es hinter der Schale des Fühl- und Sichtbaren zu erspüren, für zeitweise verrückt,'^^ was man übrigens immer tun kann, wenn
zu ertasten galt. Doch nur die tastende Hand, die weiß, sieht auch, oder n\an darauf verzichtet, den Terminus <verrückt> zu definieren. Wenn
wie Justus von Liebig in seiner Experimentalvorlesung von 1853/58 vor wir aber, w ie es eine Unart jeder Aufklärung ist, das <Rationale> für
anderem geistigen Hintergrund sagte: «Nur was man denken kann, geistig gesund und das <Irrationale> für geistig krank erklären, dann
kann man sehen.» (Krä. 23) Und so steht auch die modem-hermetische verurteilen w ir fast alle wirklichen Geistesgrößen zur Zwangsjacke, zu­
480 IV. In der neuen Welt Europas . . . und ein Himmmelsphysiker: Newton 481

mindest aber einen Newton, einen Kepler, einen van Helmont. Sie alle Descartes - nicht mehr überall den naiven Kredit genoss, auf den sie
für schizophren zu erklären, würde nur die Geisteshaltung unserer Zeit noch zu Zeiten des Paracelsus bauen konnte. Newton hat seine jahre­
widerspiegeln. lange sowohl labor-praktische^® als auch literarische und theoretische
Newton ging es, wie gesagt, um die Wahrheit. Aber es gibt verschie­ Beschäftigung mit der Alchemie nach Möglichkeit im Ehmkeln gehalten,
dene Wege, sich der - in Newtons Verständnis - letztlich einheitlichen ohne sie jedoch zu verheimlichen. Und er hat sich wahrhaftig mit Al-
Wahrheit zu nähern. A u f dem einen Weg geht es darum, einen strengen, chenüe beschäftigt, und zwar mit richtiger. Anders als Boyle, der vor
am besten einen mathematisierbaren Ursache-Wirkungs-Nexus zu fin­ allem versuchte, die Geheimnisse der zu seiner Zeit praktizierenden
den, um so irgendein Verhalten in der Natur erkennen und die Zwangs­ Adepten zu ergründen, aber im Einklang mit so vielen Alchemisten
läufigkeit dieses Verhaltens beweisen zu können. Dabei kann die Frage glaubte Newton, dass die wahre Alchemie als eine Prisca ars uralte,
nach dem dem Sosein der Ursache - zumindest seit Newton - außen auch theologische Weisheiten berge, die einigen Auserwählten vor un­
vor bleiben. Weil Newton nicht sagen konnte, was die Gravitation ei­ vordenklichen Zeiten offenbart worden seien und verschlüsselt tradiert
gentlich ist, wurde ihm ja Okkultismus vorgeworfen; heute aber haben würden.
wir ganiz gut gelernt, mit diesem Nichtwissen zu leben .^9 A u f dem an­ «Man kann es für ein bewundernswürdiges und neues Paradoxon
deren Weg geht es nicht um Verstehen im Sinne von <Beweisen können>, halten», schrieb er 1675, «dass die Alchemie sowohl mit der Frühzeit als
es geht um verstehende Ordnung in der Welt der Phänomene, eine Ord­ auch mit der Theologie übereinstimmen soll, da die eine doch völlig
nung, die sich durch ihre Harmonie und innere Folgerichtigkeit selbst menschlich und die andere göttlich erscheint... Diese durch das Wirken
<beweist>. Dabei, das dürfen wir nicht vergessen, sind <Harmonie> und des Geistes göttliche Alchemie war der Anbeginn der Zeit ... und der
<Folgerichtigkeit> seltsam gerrüschte Ausflüsse eines A-Priori-Vermö- irdischen Existenz, durch die sich alle Dinge bewegen und ihr Sein ha­
gens des Menschen. Was die Harmonie angeht, so kann man wohl be­ ben ... Dies gilt umso mehr, da der allmächtige Gott am Anfang seiner
haupten, dass wir ein uns iimewohnendes Gefühl für Harmonie besit­ göttlichen Weisheit die Dinge des Himmels und der Erde in Gewicht,
zen, dass aber dieses Gefühl zugleich immer geformt ist von den Sicht- Zahl und Maß - von den schönsten Proportionen und Harmonien ab­
und Gefühlsweisen der jeweiligen Zeit und Kultur, in denen wir leben. hängig - geschaffen hat, damit sie während der Zeit, die ihnen zuge­
Und was die Folgerichtigkeit angeht, so müssen wir zugeben, dass sie messen ist, ihren Dienst tun ... So hast du ein Paradoxon und eine
oft schwer zu definieren ist, selbst dann, wenn unser Gefühl uns etwa Hieroglyphe einfach zu entziffern. Denn die Alchemie beschäftigt sich
angesichts von Kunstwerken sagt: «Dies ist folgerichtig und jenes nicht [nur] mit Metallen, wie die unwissenden einfachen Leute fälsch­
nicht.» Doch auch das Gefühl für Folgerichtigkeit ist von der Kultur lich denken, wodurch sie dann dieser edlen Wissenschaft misstrauen,
geprägt. Im 17. Jahrhundert, das scheint mir sicher, konnte sich Folge­ sondern sie hat [auch] stofflich materielle Anlagen, von deren Natur
richtigkeit immer noch durch etwas beweisen, das ich <Dichte> nennen Gott Mägde schuf, damit sie seine Geschöpfe empfangen und gebären
möchte. Wenn die Geschichte, die in den Symbolen der Alchemie von ... Diese Philosophie ist nicht so beschaffen, dass sie zur Hohlheit und
der Manipulation und von der Erlösung der Metalle im Labor erzählte, Falschheit führt, sondern sie führt eher zu Nutzen und zur Erbauung,
zwanglos verklammert werden konnte mit anderen Geschichten - indem sie erstens die Erkenntnis Gottes und zweitens den Weg zur A uf­
Heilsgeschichte, Tod und Auferstehung Christi, Mysterium der Trinität, findung der wahren Arzneien in den Geschöpfen bewirkt. Platon sagt,
Geschichte des menschlichen Strebens und Erlösungshungers, Ge­ dass diese Philosophie die Nachahmung Gottes sei, insoweit der
schichte von Tod und Leben im Pflanzen- Tier- und sogar Mineralreich Mensch dazu fähig i s t ... Diese sowohl theoretische als auch praktische
- wenn also das eine auf das andere hindeutete, be-deutete, dann war Philosophie lässt sich nicht nur im Buch der Natur erkennen, sondern
diese alchemische Geschichte folgerichtig. auch in der Heiligen Schrift, wie etwa in der Genesis, bei Hiob, in den
Hinzu kam ein Unterschied zwischen den beiden Wegen, auf den hier Psalmen, bei Jesajah und anderen.» (Fig. 103)
noch einmal hingewiesen werden muss, weil Newton ihn, sein Verhal­ Ist das der Newton der Infinitesimalrechnung und der Himmelsme­
ten beweist es, deutlich genug fühlte. Der Unterschied besteht darin, chanik? Er ist es.
dass der eine Weg, der der Akademien, Universitäten und Forschungs­ Doch auch im Bereich der Alchemie badete Newton nicht etwa in der
labors, im Prinzip öffentlich, der andere aber, der des Elias artista, im Eselsmilch frommer Gefühle, auch hier hatte er bewusst gesetzte Er­
Prinzip nicht öffentlich ist, wobei im Falle der Alchemie sicher eine kenntnisziele, die im zitierten Text schon anklingen. Vor dem Hinter­
Rolle spielte, dass sie im späteren 17. Jahrhundert - nach Galilei, nach grund einer unter den Gelehrten seiner Zeit weitgehend akzeptierten
482 IV. In der neuen Welt Europas . . . und ein Himmmelsphysiker: Newton 483

mechanistischen Philosophie, die in verschiedenen Ausprägungen alle Das ist eine der alcherrüschen Spekulationen Newtons, wie man sie
Phänomene der Welt auf - passive - Körperlichkeit und Bewegung zu­ aus den Exzerpten alchemischer Literatur und kommentierenden Be­
rückführte, rang er mit der Frage, wie aus bloßer Materie organisierte merkungen dazu deduzieren kann. Newton glaubte also wohl, dass
Gestaltungen und, vor allem, wie in ihr Leben entstehen kann. Es ging Ordnung und Leben über einen Geist in die Materie hineinwirken, den
also sowohl um die Fage, w ie <Leben> im Verhältnis zum <Unlebendi- er in Anlehnung an van Helmont Ferment, Vegetable spirit oder auch
gen> zu denken ist, als auch darum, wie Materie aufgebaut sein muss, Mercurial spirit nannte, einen Geist, der universal ist, sich aber «jeder
damit sie Leben aufnehmen kann. Hier nun spekulierte Newton mit Natur anpaßt». (Dobbs 17) Es mutet schon recht alchemistisch an, wie
Schalen- oder Verdünnungsmodellen. Wenn man nämlich annimmt, Newton diesen Spirit im Laufe seines Lebens nüt immer neuen Bezeich­
dass es nur grobe Materie schlechthin und Nichtmaterie schlechthin nungen - weit über zehn - gewissermaßen umkreiste. Die Alchemisten,
gibt, dann kann man alle bekaimten Substanzen hierarchisch ordnen, so meinte er, der ihre Bücher in Hunderttausenden von Wörtern exzer­
und zwar mit Hilfe einer Verdünnungsformel. pierte, sind dem Geheimnis nah, wenn es ihnen gelingt, den Metallsa­
«Wir stellen ims .., Körperpartikel untereinander so angeordnet vor,» men in die Prima materia zu übertragen und dort aufgehen zu lassen.
schreibt er, «dass die Abstände oder Leerräume zwischen ihnen in der Dass erst eine Mortificatio, erst ein Tod hin zum Philosophical chaos, hin
Größe ihnen allen gleichkommen und dass diese Partikel aus anderen, zur Urmaterie erfolgen müsse, die bereit wäre zu neuem Leben, davon
viel kleineren Partikeln zusammengesetzt sind, die so viel Leerraiun war Newton überzeugt. Im alchemischen Prozess ist alles enthalten, das
zwischen sich haben, dass er der Größe aller dieser kleineren Partikel auch einen natürlichen Lebensprozess ausmacht: Putrefactio, Digestio,
gleichkommt. Und [wir stellen uns vor], dass in derselben Weise diese Fermentatio, Generatio. Wer aber das Geheimnis der inneren Pläne und
kleineren Partikel wiederum aus anderen, viel kleineren zusammenge­ Veränderungen in der Materie entschlüsselt, die der Adept für seine
setzt sind, deren Summe den Poren oder Leerräumen zwischen ihnen Zwecke ausnutzt, wer den aktiven Geist, dieses göttliche, weil planend
gleicht, und so immer weiter, bis man zu festen Teilchen kommt, die schaffende und Schöpfung hervorbringende Pneuma aufspürt, der ist
keine Poren oder leeren Raum in sich haben. Sind z. B. in irgendeinem der wahre Elias artista, ein Artista, der die uralte, verstreute und des­
großen Körper drei solcher Ordnungsstufen von Partikeln vorhanden, halb zugleich verborgene und offenbare Weisheit sammelt und aus ihr
von denen die letzten dicht sind, so hat dieser Körper siebenmal mehr die Erkenntnis aller Erkenntnisse macht. Und wenn ein Mythos, wenn
Poren als dichte Teile.» ((Opticks, Buch 2, Teil 3) Newt. 268) eine ehrwürdige Erzählung nicht alles sagt, dann muss sie durch andere
Das Volumenverhältnis der leeren Poren (L) zu Materieteilen (M) ehrwürdige Erzählungen ergänzt und auch korrigiert werden. Hierin
folgt der Beziehung L :M = 2^-1, wobei n die Ordnung bezeichnet. unterschied sich Newton in nichts von anderen Besuchern der <Biblio-
Damit ist für Newton die Symhola aurea oder Catena aurea, die goldene theken der Ptolemäer >.
Kette, die das Geheimnis der Aufsplitterung der ursprünglichen Einheit Anfangs - und immer gestützt auf die Bibel - bewegte sich Newton in
in eine Seinshierarchie darstellen soll, in eine Formel gefasst. Die Mate­ ähnlichen Gedankengängen wie die Stoiker. Später vermutete er in der
rie entspricht dabei der sulfurischen männlichen Erde, die Nichtmaterie Tradition des Neuplatonismus, dass der Spirit ein Art Urlicht sei, und
dem merkurialen, weiblichen Himmel. Der Sulfur, den sich Newton an­ mit Licht und seiner Zerlegung hat er sich ja auch in seinem mehrfach
scheinend in verschiedenen Formen gedacht hat, enthält in sich schlum­ revidierten Werk <Opticks> intensiv beschäftigt. Es ist das Licht Gottes,
mernd eine Kraft, die man Samen nennen kann und die, so vermutet das jeden Schöpfungsakt, auch den sexuellen, in-spiriert, es ist das Licht
die Alchemiehistorikerin Karin Figala, der Vis inertia seiner Kosmologie Gottes, das Leben gibt. Wem das wie bloße Poesie vorkommt, die zu
entsprechen könnte. Und auch die Nichtmaterie enthält etwas, nämlich Recht nüchterneren Erkenntnissen habe weichen müsse, der sei daran
eine beschänkt aktiv wirkende Kraft, einen Spirit, der den von Gott erinnert, dass auch im Zeitalter der Genetik ein Arrangement von Mate­
geschaffenen Samen zwar ernähren und zur Reife bringen, aber nicht rie zwar vielleicht Leben hervorbringen, aber Leben nicht erklären kann.
informieren, also in seinem Wesen verändern kaim. Die Vereinigung der Und darauf war Newton ja aus. Eine <wissenschaftliche Poesie> hätte
beiden Bestandteile aller Substanzen geschieht durch einen dreifach auch heute durchaus das Recht, in den Arrangements der Materie ledig­
wirkenden, hermaphroditischen Mercurius, der den Samen oder Cor­ lich Matrizes sehen, die im Augenblick ihrer Entstehung der Schöpfer­
pus mit dem Geist oder Spiritus verbindet und zugleich am Wesen bei­ kraft des Newtonschen Spirit unterliegen. Was immer dieser Spirit ist.
der Grundformen des Seins teilnimmt. Transmutation ist möglich, wenn Newton hat ihn nicht gefunden, obwohl er auch elektrische Erschei­
es gelingt, den inneresten Sulfur der Materie freizusetzen. nungen, so weit sie damals bekannt waren, und die ja den gesamten
4«4 IV. In der neuen Welt Europas und ein Himmmelsphysiker: Newton 485

Raum durchziehende geheinmisvolle Gravitation in seine Spekulatio­ nomene, diese Ereignisse? Antwort - zuiründest in der aristotelischen
nen einbezog. Es war ihm zuletzt auch nicht so wichtig, was genau es Tradition: Weil sie sich einpassen in eine kosmische Ordnung, die hinter
ist, das er mit Spirit bezeichnete, und auch nicht entscheidend wichtig, den Dingen steht. Eine solche Antwort ist befriedigend, wenn sich der
ob dieses Etwas körperlicher oder unkörperlicher Natur ist, wichtig war Mensch der kosmischen Ordnung versichern kann, auf die hin alles ist.
ihm, dass der Spirit eine echte Quinta essentia darstellt, etwas, das nicht Warum z. B. gibt es eine Eichel? Die Antwort, welche die Eichel in die
zu der von ihm übrigens immer als letztlich einheitlich gedachten Ma­ Ordnung der Dinge einpaßt, lautet: Weil sie eine Eiche werden will oder
terie gehörte, mit der sich die Vulgär chemistry beschäftigt. Dieser First muss. Die Welt, die doch, wie wir täglich erfahren, lebt und sich bewegt,
agent ist es, der z. B. die männlichen und weiblichen Aspekte organisier­ hat eine Ordnung, weil die Dinge der Welt jedes für sich ein Ziel haben,
ter Materie zusammenführt, er ist es, der Leben und Kohäsion bringt. ob sie es nun erreichen oder nicht, und das Ziel ist die ideale Ordnung
Den First agent setzte Newton mit dem göttlichen Logos gleich und des Erreichten. Das Christentum nun übernahm das <Warum> und
damit mit Christus, der so gesehen, ganz wie das Wort sagt, Agent meinte, es umstandslos statt dem ewigen So-Sein des Kosmos nun der
Gottes in der Schöpfung ist. Der Logos ist es, der die Zweckhaftigkeit göttlichen Schöpfung anhängen zu können. Es waren weiterhin die Din­
in die Welt bringt. ge selbst, die in sich selber den Ausweis einer als harmonisch empfun­
Der Hinweis auf den Logos war für Newton eine Antwort, und sei's denen, weil göttlichen Ordnung erbrachten. Das aber machte im Laufe
eine vorläufige und unklare, auf die für ihn wichtigste Frage an die Welt der Jahrhunderte Probleme, aus Gründen, die hier nicht erörtert werden
der Materien und Kräfte. Er glaubte, dass es etwas gibt, das mehr ist können und die mit dem Verhältnis von Natur und menschlicher Schöp­
als die wahrnehmbaren Dinge der Welt und ihr gesetzesgebundenes fung wie auch mit dem vertrackten Dreieck Naturphilosophie (Natur­
Verhalten, etwas, das durch die Dinge hindurchschimmert, und an dem wissenschaft) - Natur (Gott) - und Technik (als Natur oder als Unnatur)
der Mensch teilhaben kann, obwohl es seinen Sinnen nicht zugänglich zu tun haben. Wer an Problemen kaut, hat Hunger, und der größte
ist. Diese Teilhabe führt zu einer tieferen Erkenntnis der Dinge, einer Hunger war der nach Gotteserkenntnis, nach der Erkenntnis des unend­
Erkenntnis, die nicht charakteristisch ist für die klassische Physik, als lichen und damit unendlich entfernten Gottes. Und so fragten die christ­
deren Mitbegründer Newton ja doch zu Recht gilt. Die Antwort, die lichen Denker in einer Art optimistischen Verzweiflung immer weiter:
Newton auf seine Fragen an das letzte Geheimnis der Natur suchte, Warum? Warum? Warum?: Warum gibt es Eichen? Warum gibt es das
weist ihn zurück in den Bereich vormodemen Denkens, in dem auch Leben? Warum gibt es die Welt? Aber die unendliche Strecke im Koor­
die Alchemie angesiedelt ist. Antwort ist hier zu verstehen als eine Art dinatensystem Gott-Mensch ist mit Fragepunkten nicht zu überbrücken.
geistiger Sättigung; antworten heißt, Sinn aufweisen, und sich gesättigt Die moderne Naturwissenschaft, und bei Newton die Himmelsmecha­
fühlen heißt, den Sinn angenommen zu haben. nik, ist dazu nicht in der Lage. Newton hat - und seine theologischen
Der Blick in die Geschichte macht uns klar, dass es sich bei derlei Spekulationen zeigen, dass er darunter gelitten hat - den einen kleinen
letzten Fragen um solche handelt, die mit <woher>, <warum> und <wie> Schritt weitergetan, der vom erfüllbaren, vom Sättigung versprechen­
beginnen und mit mythischer, mit naturphilosophischer und mit natur­ den Warum zum unerfüllbaren Warum führte. Er konnte die Antwort
wissenschaftlicher Weltauffassung verbunden sind. auf seine Frage nach dem Warum nicht mehr an einem Allgemeinen
Der Mensch mythischen Weltverständnisses fragte, wenn es um Exis­ spiegeln. Für Kepler war es noch die Gesamtheit aller Bahnen, die eine
tentielles ging, nicht oder nicht vor allem <warum>, und er fragte auch über das Einzelverhalten der Planeten hinausgehende Harmonie ent­
nicht <womit> oder <was> oder <wie> - was er natürlich in seiner hand­ hüllt, die er in bestimmten Ordnungsprinzipien widergespiegelt sah
werklichen Praxis auch tun musste - er fragte <woher>, ein <Woher>, in und die er deshalb als Manifestation des göttlichen Geheimnisses be­
dem auch ein <Wer> steckte: Woher stanamen die Phänomene und Er­ greifen konnte. Dem ebenso gläubigen Newton war das nicht mehr
eignisse des Hier und Heute und von wem? Antwort: Sie stammen - möglich, er fand das Ordnungsprinzip nicht und nicht einmal einen
erinnert sei an die sinnstiftenden Mythen der Alchemie - von diesen sinnlich vorstellbaren Mechanismus, der es ihm erlaubt hätte, die allge­
oder jenen Göttern und ihren sinnstiftenden Taten, die in jener außer­ meine Gravitation auf die vom Menschen erfahrbare Welt zurückzufüh­
zeitlichen Zeit - in illo tempore - geschehen sind. Aus welchen Gründen ren. Die Himmelsmechanik ist deshalb <wahr>, weil ihre Konsequenzen
auch immer haben dann die griechischen Naturphilosophen die Frage sich in einer Kombination aus dem technisch bestimmten Experiment -
nach dem Woher durch die Frage nach dem Warum ersetzt: Warum - dem modernen, dem voraussetzungslosen Experiment - und mathema­
und das heißt bei ihnen auch: woraus und wohin - gibt es diese Phä­ tischer, d. h. logischer, in unserem Denken zwingender Deduktion be-

I
486 IV. In der neuen Welt Europas . . . und ein Himmmelsphysiker: Newton 487

weisen lassen. Sie antwortet nicht auf ein die Sättigung unserer Sehn­ die Verheißung ist, wenn überhaupt, nur verstreut, unklar, unerkannt
süchte versprechendes Warum, so sehr Newton das auch gehofft hat. zu erkennen wie der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet, Aleph,
Die Himmelsmechanik antwortet nicht auf existentielle Fragen, wie sie der selber kein Buchstabe im eigentlichen Sinne ist, sondern nur als
immer am Ende einer Warum-Kette lauem: <Gibt es Gott oder nicht?> Stimmeinsatz am Anfang eines Wortes oder einer Silbe gesprochen
Oder auch: <Was hat das Ganze eigentlich für einen Sinn?» Bei Newton wird, und von dem der Kabbalist und Rabbi Mendel von Rymanow
und seinen Nachfolgern veränderte das dauernde Fragen die Frage bemerkt, dass in ihm die ganze Fülle der Verheißung konzentriert ist,
selbst, oder besser: Die Antwort ist Antwort auf eine andere Frage als dies deshalb, weil er «in seinem Wesenskem das ganze Alphabet und
die, die gestellt wurde. Die Frage fragt nach einem Wamm, die Antwort damit alle Elemente menschlicher Rede umfasst». (Schol. (i) 47) Dieses
antwortet auf ein Wie. Es ist, als sei jede Antwort, und sei sie noch so fast Nichts des Aleph, das zugleich alles ist, meine ich, wenn ich von
vielgestaltig, noch so riesenhaft, ein Atom in einem unendlichen Mole­ einem Molekül spreche. Das Geheimnis der Alchemie als das Geheimnis
kül, von dem man nicht wissen kaim, ob es überhaupt existiert und ob des Lebens schien Newton die richtige, die wirkliche Frage <Warum?»
wir es Gott oder auch nur Sinn nennen können. Die Frage aller Fragen und die wirkliche Antwort auf dieses <Warum?» zu verheißen. Es ging
ist also: Gibt es das Molekül? Oder bescheidener: Gibt es Moleküle, gibt um den Gott des Lebens und des Bewusstseins und nicht um den Gott
es die Seinsform des Sinns? In den Atomen selbst können wir uns ein­ der Verhaltensforschung unbelebter Dinge, denn nichts anderes ist die
richten, wir können auch Nachbaratome entdecken und uns in ihnen moderne Physik. Es ging um ein allgemeines Principium als Beweg­
einrichten, vorausgesetzt, wir gehen nicht über die Stufe des Atoms, grund aller Dinge. Wem diese Offenbarung zuteil wird, der ahnt die
sprich über die Immanenz hinaus auf die Stufe der Transzendenz. An innersten Gedanken Gottes. Dabei <weiß» er im diskursiven Sinne nicht:
das Atom, oder besser: im Atom, auch wenn wir es nicht genau kennen, Er fühlt. Elias artista ist der, der ahnt, wenn er auch nicht präzise sagen
können wir Fragen stellen. Doch die Fragen, die so <von innen» gestellt kann, was er ahnt.
sind, können nur Antworten auf das Fragewort <wie> erwarten. Die Fra­ Aber allein schon die Art seiner Fragestellung, die jede Naivität ver­
ge <Wamm?> wäre demgegenüber eine Frage an das Molekül, das wir missen lässt, die Art seiner Fragen, die auf so etwas wie eine Theorie
nicht kennen, eine Frage von außen. Unser Atom können wir nicht mit aus waren, machten Newton zu einen Alchemisten sui generis, und so
<Wamm?>, d. h. mit <Welchen Platz hat es im Unendlichen?» befragen, wäre ganz interssant zu wissen, was Newton und der von ihm stets
aber wir können <Wie» fragen: <Wie nutze ich meine Kenntnisse aus?», hoch geschätzte Hermes Trismegistos sich wohl im Himmel - nehmen
<Wie kann ich die Stmktur des Nachbaratoms ermitteln?» usw., wobei wir mal an, dass dort die intelligenteren Gespräche stattfinden - zu
die Antwort auf das Wie das Wie rechtfertigt. Was nämlich von der sagen haben.
Natur wie auch immer beantwortet wird, das ist dem Menschen zu­ Hier sollten wir uns auch einen kleinen Seitenblick auf Newtons Aka­
gänglich. Und zugleich ist das, womit sie antwortet, natürlich, weil demie-Kollegen Robert Boyle erlauben, schon deshalb, weil Boyle oft
nämlich alles für uns Natur ist, das unseren Sinnen und unserer Logik als der erste moderne Chemiker hingestellt wird. Dabei war Boyle - wie
zugänglich ist und also antworten kann - wenn auch nichts darüber Newton auch - dringend an Berichten über den Lapis philosophorum
hinaus. <Beantwortet», d. h. in Übereinstimmung gebracht mit unseren interessiert, war er sich doch, nachdem er 1678 Zeuge einer gelungenen
Sinnen und unserer Logik, heißt aber auch <machbar», getreu dem Transmutation gewesen war, ganz sicher, dass es Transmutationsmittel
Axiom des Giovanni Battista Vico von 1710: «Verum et factum conver- gibt. Allerdings fürchtete er, mit dem Besitz des Steines und dessen ja
tuntur», d. h. das Wahre und das Hergestellte gehen ineinander über: geradezu übermächtiger Macht könne man in den Bereich der Hybris,
das kann erkannt werden, was der Mensch selbst hergestellt hat bzw. der Unmoral, der schwarzen Magie und, Schrecken aller Schrecken, in
herstellen könnte. Im Jahre 1740 hat Denis Diderot das deutlich gesagt: den Bereich des Papismus geraten, weshalb das Wissen um seine Her­
Der moderne Naturwissenschaftler fragt, was immer er sich in diesem stellung nicht verbreitet werden dürfe. Aber wie Newton so brauchte
Zusammenhang einbildet, in Wirkhchkeit nicht nach dem Warum, er auch Boyle, der dabei eher auf das Laborieren als auf das Studium alter
fragt nach dem Wie. Texte vertraute, so etwas wie einen Stein, mit und in dem die Welt als
Es bleibt eine Sehnsucht - und Newton muss sie gespürt haben -, die eine von der Vorsehung, vom Newtonschen Logos geleitete Welt zu
Sehnsucht, dass das Geheimnis sich als Geheimnis manifestieren möge. begreifen wäre. Für Boyle war die Kardinalfrage aller Naturphilosophie:
Diese Sehnsucht will einen Blick von außen, einen Blick, der uns sagt, Ist die Welt nur kausal-mechanistisch zu erklären oder gibt es in ihr
dass es das Geheimnis gibt, eine Offenbarung, eine Verheißung. Aber iw)ch eine unverzichtbare teleologische, zweckgerichtete Komponente?
488 IV. In der neuen Welt Europas Betrüger 489

Boyles klare Antwort ist: Ja, es gibt diese Komponente. Und für ihn dreifach wirkenden, hermaphroditischen Mercurius, der die <körperli-
bedeutete das auch, dass es eine Welt der immateriellen Geister gibt. che> und die <nicht körperliche> Kraft verbindet und zugleich am Wesen
Die hochkomplexe Materie von Lebewesen z. B. ist auf bestimmte Funk­ beider Grundformen des Seins teilnimmt.
tionen und auf zweckmäßige Anpassung an äußere Umstände, und da­ Aus all dem sollte uns klar geworden sein, dass die Alchemie für
mit auf Vorplanung, auf eine Zielgerichtetheit angelegt. Lebewesen sind Newton kein Ziel in sich war, was sich schon daran zeigt, dass sich,
keine Uhren, und sie sind auch nicht durch Zufall entstanden. Gott ist verglichen mit den Bemühimgen etwa mittelalterlicher Adepten, bei
kein bloßer, nach vollbrachtem Werk untätiger Uhrmacher, seine dau­ ihm die Reihenfolge der erhofften Ergebnisse umgekehrt hat. Die Adep­
ernde Aktivität manifestiert sich in der Welt, ln einer Wissenschaft von ten wollten erst den Stein, der ihnen dann Erkenntnis über alles durch
den Lebewesen müssen deshalb kausal-mechanische und teleologische Tradition vermitteltes Wissen hinaus gewähren würde, falls es über­
Hypothesen zusammenspielen. Kurz gesagt: Es gibt das Aleph im A l­ haupt um Erkeimtnis und nicht ausschließlich um die Erlösung von den
phabet der Welt. Bedingungen des Menschseins ging. Newton dagegen wollte erst oder
Was wir heute aus diesem Problem und diesen Argumenten lernen zugleich mit seinen Bemühungen Erkenntnis, und der Stein wäre wohl
können, ist, dass wir, wo immer wir die Gültigkeitsgrenzen unseres nur der Beweis der Erkeimtnis gewesen. Und eben dieser Haltung we­
Arguments pro oder contra auch ansetzen, immer noch genauso unwis­ gen, die ihn die Wahrheit suchen ließ, und zwar die ungeteilte, die ein­
send sind wie die Menschen Hunderte von Jahren vor uns. Das ist schon zige Wahrheit, unter welchem Mantel auch immer sie sich verbarg, die­
mal etwas. Und sehr viel. ser Haltung wegen konnte Newton anscheinend mühelos von einem
Aber woher kommt das, was sozusagen die Rettung früherer Denk­ Wege zur Erkeimtnis, der ihn bekanntlich auf alle nicht streng definier­
systeme war, woher kommt teleologisches Verhalten? Bei Newton ist es bare Voraussetzungen verzichten ließ - «Hypotheses non fingo», «Ich
der Spirit, der die Materie zwingt, bestimmte Zwecke zu erfüllen und erfinde keine Hypothesen»-, zu dem anderen Weg überwechseln, der
bestimmte Phänomene zu bewirken, ganz so wie der Lapis philosopho- mit eben diesen nicht streng definierbaren Voraussetzungen geradezu
rum das Blei zwingt, Gold zu werden. gepflastert war. Man kann hier der Alchemie ein neues, ein historisches
Warum gerade Blei zu Gold und nicht Gold zu Blei? Es gibt noch ein Paradoxon anhängen: Wenn es Newton - oder anderen - gelungen
anderes Geheimnis in der Welt, mit dem mechanistisches Denken nichts wäre, die Alchemie beweisbar zu machen, indem es ihnen gelungen
anfangen kann: den Wert oder, hässlicher gesagt, die Werthaltigkeit. wäre, den Vegetable spirit wissenschaftlich zu definieren, dann hätte er
Vielleicht hat Newton diesem Problem begegnen wollen, indem er sein sie zugleich widerlegt, wäre doch eine beweisbare, sprich eine eindeu­
Verdünnungsgesetz der Materie vorschlug. Das Gesetz nämlich begrün­ tige Alchemie keine Alchemie mehr. Der Blick des Wissenschaftlers hät­
det eine Hierarchie der Materie, in der Gold ziemlich oben steht. te die Alchemie zerstört.
Newton äußerte sich nicht über die weltanschaulichen Möglichkeiten Newton als Basilisk?
seiner Vermutung, man könnte sie aber, wie die Alchemiehistorikerin
Karin Figala, gestützt auf einen Wust von Exzerpten und kommentie­
renden Bemerkungen Newtons, vorgeschlagen hat, ohne große Schwie­ 12. Betrüger
rigkeiten ins Alchemische bzw. aus dem Alchemischen übersetzen, und
zwar mit Hilfe der alten Schwefel-Quecksilber-Theorie, deren verborge­ So wenig, wie Newton der Emst abzusprechen ist, mit dem er sich um
ne Aussage dann darin besteht, dass Schwefel für Materia und Queck­ die Alchemie mühte, so wenig kann man diesen Emst auch einigen
silber für Vacuum steht. Die Materie entspricht in dieser Spekulation anderen Herren absprechen. Schließlich ging es auch bei ihnen um Le­
dem sulfurisch Männlichen, die Nichtmaterie dem merkurialen Weib­ ben und Tod, allerdings um ein gut betuchtes Leben und einen schmäh­
lichen. Das Sulfurische, das sich Newton anscheinend in verschiedenen lichen Tod. Für uns geht es außerdem um die Frage, ob und auf welche
Formen gedacht hat, von denen nur eine für eine mögliche Transmuta­ Weise sich bei diesen Herren, die man in einem Extrem Scharlatane, im
tion verantwortlich ist, enthält in sich schlummernd eine Kraft, einen anderen Extrem vormodeme Chemiker nennen mag, bewusster und un­
Samen. Und auch das Merkuriale enthält etwas, nämlich eine be­ bewusster Betmg, Wahrheitssuche und Nützlichkeitsstreben miteinan­
schränkt aktiv wirkende Kraft, die den Samen zwar zu Reife bringen, der vermengen.
nicht aber formen, also in seinem Wesen verändern kann. Die Vereini­ Wenn wir die Versammlung imserer zweifelhaften Alchemisten ohne
gung der beiden Bestandteile aller Substanzen geschieht durch einen Rücksicht auf Feinheiten in zwei Gmppen trennen und zunächst das 16.
490 IV. In der neuen Welt Europas Betrüger 491

und 17. Jahrhundert betrachten, dann haben w ir in der ersten Gruppe Goldproduzent von eigenen Gnaden am Schafott zu Küstrin endete;
Leute wie Edward Kelley und Georg Honauer, der in der württembergi- denken wir, nicht ganz mehr so adelig, aber nicht minder phantastisch,
schen Residenzstadt Stuttgart an einem mit Goldfarbe angestrichen Ge­ an den <Goldmacher von Rodaun> Friedrich Sehfeld, der, wie Schmieder
rüst aufgeknüpft wurde. Übrigens bewährte sich der Honauersche Gal­ schreibt, der letzte große Adept war und die Gunst des Kaisers Franz I.,
gen ganz ausgezeichnet auch bei einigen anderen Alchemisten, die mit des selber gar gern laborierenden Gemahls der Kaiserin Maria Theresia,
dem Herzog in zu nahe Berührung gekommen waren. In der bayerischen genossen hat. Nicht vergessen sollten wir auch Johann Friedrich Böttger,
Residenz München beendete zur gleichen Zeit ein ähnlicher Galgen, der sich unter dem Zwang der Verhältnisse und mit der Hilfe des säch­
diesmal aus Messing, aber mit gleichem Symbolwert, das Leben des fal­ sischen Edelmanns Walther Ehrenfried von Tschirnhaus vom Adepten
schen Adepten und falschen Grafen Marco Bragadino und zweier Kom­ des gelben zu dem des weißen Goldes entwickelte, des Porzellans. Das
plizen. Als Märtyrer einer edlen, aber zweifelhaften Sache endete auch allerdings nicht recht wirksame Geheimnis der Herstellung gewöhn­
ein gewisser Philipp Soemmering, ein Ex-Pfarrer, der samt seiner fünf­ lich-gelben Goldes soll er übrigens von einem der vielen <Großen Un-
köpfigen Bande im Jahre 1575 in Wolfenbüttel gevierteilt wurde. Seele bekannten> der Kunst, will sagen dem in der alchemischen Literatur der
des Vereins war übrigens eine Adeptin namens Anne Marie Zieglerin, Neuzeit recht beliebten Archimandriten Lascaris, erhalten haben.
die außer in der Alchemie auch noch in der Giftmischerei ziemlich ver­ Zwar juckt es in der Bleistiftspitze oder im Computer, Dichtung und
siert war. Wohl weil das Vierteilen für eine Dame denn doch etwas un­ Wahrheit all der Helden auszufabulieren, die ihr Leben zwischen Ofen,
schicklich gewesen wäre, wurde sie in einem eisernen Stuhl verbrannt. Bett und Galgen an den Fürstenhöfen des 16.-18. Jahrhunderts zuge­
Um unsere Aufzählung aus dem 16. und 17. Jahrhundert weniger blut­ bracht haben. Allein, das wäre nicht die Geschichte der Jungfer Alche-
rünstig, wenn auch mit dem leichten Zweifel zu beenden, der uns immer mia, das wären die Geschichten derer, die sie mit mehr oder weniger
überfällt, wenn es ausschließlich um praktische Alchemie geht, sei zum Erfolg zu bestehlen versuchten.
Schluss Leonhard Thumeysser erwähnt, dem man einige Tendenz zur Dennoch sollte einiges zu den - so weit bekannt - eher simplen
<echten> Alchemie-Chemie unterstellen kann. 1570-15 84 unterhielt Thur- Schwindelpraktiken der Goldmacher gesagt werden.
neysser in Berlin eine Art pharmazeutische Manufaktur, die Magisterien Einen Schwindel, den wir bereits von den Arabern kennen, hat sich
bzw. Arcana und Amulette verkaufte, wobei, um es vorsichtig zu sagen, auch der Pseudo-Adept Daniel von Siebenbürgen in Florenz geleistet;
der Herr Thumeysser seine Fähigkeiten als Scheidekünstler wohl etwas Er ließ goldhaltige Pillen, die er zuvor den Apothekern angedreht hatte,
überschätzte, ohne das hochverehrte Publikum an etwaigen Selbster­ von diesen kaufen und verwandte sie zur Projektion. Georg Honauers
kenntnissen in dieser Richtung teilhaben zu lassen. Thumeysser wurde Trcinsmutations-Trick bestand aus zwei Schritten. Im ersten Schritt mix­
zwar nicht gehenkt; Nemesis, die Göttin des gerechten Ausgleichs, bäng­ te der Meister selber sein Reaktionsgemisch mit einigem Hin und Her
te ihm aber eine Scheidungsaffäre an, die ihn wirtschaftlich minierte. vor Publikum zusammen und erhitzte es, wobei er darauf bestand, dass
Das adelig-aufgeklärte und gerade deshalb in seiner spielerischen es zum langsamen Abkühlen stehen gelassen werden müsse. Der zweite
Selbstüberschätzung so leicht zu täuschende 18. Jahrhundert bringt Schritt oblag einem Jungen, der in einer Kiste, in der sich angeblich
dann geradezu eine Schwemme falscher Grafen, Scharlatane und Alche­ Laborgeräte befanden, eingeschmuggelt worden war. Des Nachts klet­
misten hervor, denken wir nur an den Grafen von Saint Germain, der terte der hoffnungsvolle Knabe aus seinem Versteck und tauschte das
angeblich aus Portugal staimnte, angeblich das Elixier des Lebens besaß, Gebräu gegen Gold um. Andere Methoden der Täuschung und Fäl­
angeblich 2000 Jahre alt war und dank dieses Vorzugs die Höfe Europas schung - sie waren damals schon fast so traditionsgeheiligt wie die
mit der Pikanterie ehrwürdiger Geheimnisse beglücken konnte; denken Alchemie selber - bestanden darin, das Gold in präparierten Kohlen
wir an Giuseppe Baisamo, alias Graf Alessandro Cagliostro, der sich, oder im hohlen Rührstab zu verbergen oder mit Wachs an den Deckel
bis er in einem päpstlichen Gefängnis zugrunde ging, durch eine be­ des Ofens zu kleben, um es dann in die zu transmutierende Masse zu
neidenswerte, wenn auch alchemistischem Erlösungshunger kaum praktizieren. Ein beliebtes Verfahren war es auch, Goldstücke oberfläch­
dienliche Eigenschaft auszeichnete, nämlich Unverfrorenheit; denken lich zu amalgamieren und das Quecksilber dann abzudampfen oder
wir auch an Giacomo Casanova, den wir später noch einmal zu einem anders zu entfernen. Sendigovius soll sich, wie schon gesagt, dieser
seiner vielen Worte kommen lassen müssen, denken wir an Don Dome­ Methode bedient haben. Der eiserne Nagel mit der Goldspitze, den
nico Manuel Caetano (Cajetan), Conte de Ruggiero, der seine Karriere Thumeysser vor dem brandenburgischen Kurfürsten produziert hat,
als italienischer Bauernsohn begann und als selbst gemachter Graf und war wohl ganz ähnlich dadurch zustande gekommen, dass der Meister
492 rV. In der neuen Welt Europas Betrüger 493

die Goldspitze zuvor mit Eisenstaub oberflächlich präpariert hatte. Man Wenn wir nun ins 18. Jahrhundert weiterwandem, finden wir zwei
konnte auch Quecksilber statt Eisen veredeln, indem man das Papier, Rezepte, die von berühmten Autoren niedergeschrieben wurden.
in das man das Transmutationspulver gefaltet hatte, mit Goldsalzen Der eine ist der große Chemiker Jöns Jacob Berzelius, der im zehnten
tränkte; Den Rest der Veredelung besorgte dann das Feuer, mit dem Band seines <Lehrbuchs der Chemie> von 1841 folgende Transmutation
man das Goldamalgam nach der Projektion <verfestigte>. Dass wohl all beschrieb:
diese Methoden kulturübergreifend waren, beweisen ja u. a. auch die «Die Kunst geht da hinaus, auf vielen, theils sehr unsinnigen Umwe­
Geschichten des Li Yu-chen. gen Schwefelantimon in zusammengeschmolzener Form zu erhalten.
Wenn es nicht nur darum ging, vorhandenes Gold hervorzuzaubern, Dann ist noch das eigentliche Mittel übrig, welches nicht in einer
sondern wie der Handwerkergott Platons neues Gold zu erschaffen, Tinctur, sondern in zwei Pulvers besteht, wovon das eine Zinnober ist,
dann war die Lage etwa anders, denn es gab ja ziemlich zuverlässige welcher 3mal mit Spiritus, bis zu Verdimstung desselben, gekocht wird,
Methoden zur Goldprüfung. Rezepte zur Darstellung von Gold auf di­ und das andere Eisenoxyd, das er Crocus martis nennt, und dessen
rektem Weg, also ohne Umweg über ein Transmutationspulver, sind so Bereitung er ebenfalls angibt, imd zwar auf eine höchst unvortheilhafte
alt w ie die Alchemie selber. Sie fallen alle in den Bereich der Metallfär­ Weise mit Eisenspähnen imd Salpetersäure. Diese Pulver werden mit
bung und - damit verbunden - in den Bereich der Diplosis. Von einem dem zuvor erhaltenen Schwefelantimon gemengt, in einem verschlos­
mühsamen Läuterungsprozess der Materie und der Seele ist natürlich senen Gefässe in, wie er es nennt, vierzigtätige Digestion gestellt, und
nicht die Rede. Wir brauchen da lücht nur an die Ägypter oder an Ar- darauf Loth von diesem Gemenge mit i Pfund Antimonium crudum
Razi zu denken, auch Konstantin von Pisa im 14. Jahrhundert liefert ein und 2 Loth geläutertem Salpeter geschmolzen. Die geschmolzene Masse
gutes Beispiel: wird in einen Giessbuckel gegossen, und setzt zu unterst einen weissen
«Nimm einen Teil pulverisierten Goldes, einen von Eisen, einen von strahligen Metallklumpen ab, der in einem offenen Tiegel so lange ge­
calciniertem Kupfer, einen von Grünspan und eine Quantität Salmiak, brannt wird, als er noch raucht, worauf das Gold zurückbleibt. Jeder
die der Menge des ganzen Restes entspricht. Löse den Salmiak auf und der nur eingermaassen in der Chemie zu Hause ist, ahnet schon, worauf
sättige die Pulver, während du ununterbrochen reibst. Stelle es danach hierbei der Betrug beruht. Crocus martis oder rothes Eisenoxyd und
beiseite und lass es sich auflösen. Wenn es sich aufgelöst hat, verfestige Zinnober können nämlich beide mit grossen Mengen Goldpurpur ge­
es in einem Glasgefäß mit Hilfe von Aschen. Ein Teil davon färbt dreißig mengt werden, ohne dass dies, wenigstens von ungeübten Augen, zu
Teile Silber wie gutes Gold.» (Obr. 284) entdecken wäre. Wird Goldpurpur, der sehr viel Zinn enthält, mit
Aus dem 17. Jahrhundert haben wir - unter vielen - ein Rezept, das Schwefelantimon zusammengeschmolzen, so wird das Gold vom Zinn
wir nur deshalb moralisch unverdächtig finden, weil wir den Autor ganz auf dieselbe Weise geschieden, wie ich es beim Abtreiben des Gol­
keimen: Robert Boyle, den wahrhaft frommen, großzügigen und reichen des mit Antimon ... erwähnt habe, und nach dem Wegrauchen des A n­
Edelmann aus England, der wahrscheinlich nur deshalb nicht anstelle timons bleibt das Gold zurück, aber von bedeutend geringerem Ge­
des Erbauers der St. Paul's Cathedral, Sir Christopher Wren, Präsident wicht, als das angewendete rothe Pulver betrug.» (Berz. X, 25)
der Royal Society geworden ist, weil er, der Royalist, als überzeugter Der <Er> war der sächsische, aber in Schwedisch-Livland geborene
Christ keinen Eid auf einen weltlichen Herrscher leisten wollte. A uf Diplomat Johann Reinhold von Patkul, den Karl XII., der oft unange­
einem von Boyle hinterlassenem Papier steht Folgendes: nehm moralinsaure <Heldenkönig> Schwedens, als Verräter töten lassen
«Löse reine Goldblättchen und das Gewicht des Goldes in gutem wollte. Patkul suchte seinen Hals zu retten, indem er vor Zeugen eine
Salm iak... [daraus kann! eine rote Tinktur ausgezogen werden, die, mit Transmutation durchführte. Anscheinend hat die Moral bzw. die Staats-
Silber umgesetzt, das in Scheidewasser [Salpetersäurel aufgelöst und raison aber über die Interessen der Kriegskasse gesiegt: Patkul wurde
mit Kupfer niedergeschlagen ist, nach dem Zusammenschmelzen eine 1707 hingerichtet.
Goldfarbe ergibt, die aber nicht permanent ist, und das Metall, das in Der andere Autor wurde aus guten Gründen bereits erwähnt. Es ist
der Retorte bleibt, wird zu zwei Teilen reines Silber und der dritte Teil Giacomo Casanova. In seinem Fall nun hat nicht die Raison über die
weißes Gold.» (Prin. 64) Gier gesiegt, sondern wohl der Charme, vertreten durch Signore Casa­
Interessant ist die Verschlüsselung, die von Boyle selbst durch kleine nova, über die Leichtgläubigkeit, vertreten durch die Marquise d'Urfe.
Korrekturen enträtselt worden ist: Für Gold stand Kupfer imd für Silber Dieser Dame drehte der bewährte Held diverser Boudoirs ein Rezept
Zinn. folgenden Inhalts an:
494 TV. In der neuen Welt Europas Betrüger 495

«Man muss vier Unzen guten Silbers nehmen und es in Scheidewas­ oder nicht: Es ging immer noch um die Übertragung bestimmter Eigen­
ser [HNO3] auflösen, es dann kunstgerecht mit einer Silberplatte aus- schaften, von w o immer sie auch stammten. Ohne dass man jetzt noch
fällen. Dann muss man ein Pfund ungarischen Spießglanz [Sb2S3l, vier theoretische Begründungen dafür bemühte, war die wichtigste Eigen­
Unzen Grünspan [CuCOH)^ • (CH3COO)2Cu], vier Unzen Zinnober schaft immer noch die Farbe, es ging ums Tingieren. Dass ein Münz­
[HgSl und zwei Unzen Schwefelblüte [S] nehmen, pulverisieren, gut prüfer andere Eigenschaften des Goldes erwarten würde, wurde an­
vermischen und in einen Destillierkolben tun. Dieses muss auf einen scheinend mehr oder weniger gelassen übersehen.
Ofen gesetzt werden, dann muss man die Glut bis zum vierten Grad Und auch ich habe das übersehen, als ich mich an gewisse Betrüge­
steigern. Wenn die Dämpfe zu erscheinen beginnen, muss man sie in reien gewagt habe. Bei meinen Untaten war ich mir übrigens bewusst,
den Tiegel mit dem Silber leiten ... Wenn man das alles getan hat, wird dass unter allen Betrügern derjenige natürlich der Schlimmste ist, der
man in dem Gefäß Gold finden.» (Krätz 22) sich dessen bewusst ist, und der weiß, dass kein Glaube an höhere Ein­
Ob sie ihm verziehen hat? Wahrscheinlich. sichten ihm wird aushelfen können. Aber auch ihm können wir heut­
Berzelius, um auf ihn als einen modernen Chemiker zurückzukom­ zutage eine Ausrede bereitstellen, eine Ablutio, die die schwarze Seele
men, gibt noch ein <Standardverfahren> der Goldherstellung an: des falschen Adepten reinwäscht: die wissenschafthche Neugierde.
«Man digerirt Quecksilber mit Grünspahn, Vitriol, Salz und starkem Dass Vorsicht geboten ist, war eigentlich selbstverständlich. Wer weiß
Essig in einem eisernen Topf, und rührt mit einem Eisenspatel so lange schon angesichts selbst der besten alchemischen Beschreibungen, wel­
um, bis das Quecksilber so dick wie Butter geworden ist, worauf man che Verunreinigungen zu eigenständigen Verbindungen geführt haben
es herausnimmt und abwäscht. Das noch flüssige Quecksilber wird könnten, die das Bild verfälschen, wer weiß schon, welche katalytischen
durch sämisches Leder ausgepresst und die ausgepresste Masse, die ein Effekte aufgetreten sein könnten? Ein gutes Beispiel gibt uns der Che-
Amalgam von Kupfer ist, in kleine Kuchen geformt, die man in einem nüker und Historiker Lawrence Prinpice, der ein Rezept aus dem <Tri-
Tiegel mit einem Gemenge von gleichen Theilen gepulverten Curcuma umph-Wagen antimonii> geprüft hat. Es handelte sich dabei um die
und Tutia cementirt; den Tiegel erhitzt man darauf vor einem Gebläse. Herstellung einer wunderbar roten <Antimon-Tinktur>, die Basilius Va-
Nach beendigtem Versuch findet man auf dem Boden des Tiegels einen lentinus aus Crocus antimoni oder Spießglanzglas, einer glasartigen
gelben Regulus, welcher das gewünschte Gold ist. Die Curcuma redu- Schmelze von Sb203 • Sb^Oj irüt etwas SbjS3 und SiO^, hergestellt hatte,
cirt die Tutia, welche ein unreines Zinkoxyd ist, imd das Kupfer im um sie daim trickreich mit diuch Salmiak <stark gemachtem> Essig in
Amalgam vereinigt sich mit dem Zink zu Messing.» (Berz. X, 25 f.) Antimonacetat zu verwandeln und durch Destillation mit Wasser zu
Das Verfahren funktioniert, sogar das Durchpressen des Quecksilbers reiiügen, worauf er den Rückstand mit Weingeist versetzte. Die alkoho­
durch Geschirrtuchleder, ich habe es ausprobiert. lische Lösung war die gesuchte, für unseren Blick ganz unwahrschein­
Wir könnten die Rezeptreihe nach dem Motto <Tema con variazioni> lich rote Tinktur; den <schmutzigen Rückstand> verwarf Basilius. Prin­
noch durch viele Beispiele bereichern, die aber nichts grundlegend an­ cipe stellte fest, dass die Tinktur so gut wie kein Antimon, dagegen
deres bringen. Doch selbst die wenigen hier angegebenen Rezepte ge­ Eisen enthielt. Des Rätsels Lösung war eine frühere Bemerkung des
ben uns zu denken und nicht nur zu lächeln. Wenn wir sie vor unserem Basihus: Man müsse mit einem eisernen Stäbchen umruhren. Nicht im­
Bhck vorüberziehen lassen, und zwar versuchsweise mit dem geistigen mer hinterlässt der Mörder ein so sauberes Indiz.
Auge eines Menschen, dem der moderne Elementbegriff, dem der mo­ Wenn ich nach alledem schon vorher mea culpa sagen darf, dann bin
derne Materie- und Atombegriff, dem moderne, bis in winzigste Men­ ich bereit, mein trauriges Schicksal als ganz moderner, um nicht zu
gen gehende quantitative Analysemethoden unbekannt sind, dann sagen postmodemer Betrüger zu vermelden. Ort der zweifelhaften
müssen wir zugeben, dass die Grenze zwischen Betrug, Selbsttäuschung Handlung war ein Labor in der chemischen Abteilung des Deutschen
und erfüllter Erwartung fließend ist, ja dass sie genau genommen gar Museums, das mir freundhcherweise zur Verfügung gestellt wurde, das
nicht oder nur in der Brust des jeweiligen <Goldproduzenten> existiert. aber nicht eben großartig ausgestattet war. Selbst der Gasanschluss war
Wenn man noch hinzu nimmt, dass wie schon bei Ar-Razi verschiedene <aus sicherheitstechnischen Gründen> totgelegt. Aber schließlich hatten
Rezepte nüt demselben Ergebnis vom selben Autor stammen, müssen die alten Alchenüsten auch kein Gas, und Campingkocher mussten es
wir außerdem zugeben, dass auch die Gedankenwelt hinter all den Ope­ unter diesen Umständen halt auch tun. In dieser Umgebung habe ich
rationen, ob nun vom bösen oder vom guten Geist beseelt, eine andere zusanunen mit Privatdozent Dr. Claus Priesner am 25. und 26. März
war als die, in der Berzelius lebte - und in der wir leben. Ob durchdacht 1997 einige Versuche unternommen, und zwar rein qualitative Versu-
496 IV. In der neuen Welt Europas Betrüger 497

che, dies zum einen aus Zeitmangel, zum anderen, weil quantitative bereitet und meine Pastille darin eingetaucht. Nach wenigen Minuten
Analysen angesichts der Tatsache, dass die verwendeten Reagenzien war das Wunder geschehen. Die Pastille zeigte rundum eine wunder­
gewiss reiner und damit anders waren als die der Alchemisten, eine Art bare, glänzende, helle Goldfarbe.
<Overkill> bedeutet hätten. Auch die Waage besaß so höchstens die Be­ Solches geschah am Mittwoch, dem 26. März 1997, weder in Gegenwart
deutung einer Küchenwaage.^^ Bei unseren Bemühungen stellte sich von Dr. Priesner, der dienstlich verhindert war, noch in der einer treuen
heraus, dass es relativ leicht ist, Tetrasoma, also eine Legierung von Fe, Perrenelle, weil meine Frau den chemischen Werten der Alchemie eher
Sn, Cu und Pb herzustellen, die, wenn man es nicht zu genau nimmt, skeptisch gegenübersteht. Leider war das Ganze natürlich nicht welter-
allen Anforderungen gerecht wurde: Sie war schwarz und als Bleilegie­ schüttemd, aber diese plötzlich Freude, mitten hinein in eine eher müde
rung hatte sie allen Metallcharakter verloren, d. h. sie wirkte wie ein Halberwartung, war schon ein besonderes Erlebnis, die mich spüren
spezifisch ziemlich schwerer Gruß. Die Mogelei wurde erst bei ganz ließ, wie so manchem Alchemisten im Kampf nüt dem Fast-Erfolg zu­
genauem Zusehen offenbar: Das unlegierte Eisen war in winzigen Ku­ mute gewesen sein mag. Leider war mein Erlebnis vom Wissen des
geln in der schwarzen Masse verteilt. Durchaus nicht überrascht hat uns Chemikers getrübt, wusste ich doch selbstverständlich, dass da mitnich­
dann die Tatsache, dass man mit Quecksilber aus allen möglichen Me­ ten Gold, sondern eine dünne Sulfidschicht entstanden war. Und ich
tallen und auch aus Tetrasoma silbrig-glänzende Legierungen hersteilen wusste auch, dass sich derlei Sulfide nicht lange halten und dass ich
kann. Auch gelang es uns, durch Antupfen von Silberplättchen mit Sal­ keinen Fotoapparat mit Stativ zur Hand hatte. Wissen kann ein Fehler
petersäure eine Andeutung von Anlauffarben zustande zu bringen und sein, und dieses mein Wissen hat mich dazu verleitet, die Goldpastille
so den Effekt der Cauda pavonis, des Pfauenschwanzes, zumindest zu lackieren, um sie beständig zu halten, mit der Folge, dass schon mein
plausibel zu machen. Auch nur in die Nähe von etwas Elixierähnlichem sanfter Pinselstrich das meiste Gold verschwinden ließ. Die traurigen
sind wir allerdings, wir müssen es gestehen, nie gelangt. Nun hätte es Reste sind auf der Tage später aufgenommenen Abbildungen zu sehen,
ja auch schon gereicht, Alchemistengold zu produzieren. Aber das die ich unter http://www.tu-berlin.de/fbi /alchemie ins Internet einge­
schien sich unserer Neugier zu verweigern. A uf die heute üblichen Me­ stellt habe, weil es aus ökonomischen Gründen nicht möglich war, sie
thoden der Herstellung von Goldersatz, der Bereitung von Tombak, von im Text selbst zu veröffentlichen. Auch einige weitere Farbbilder alche-
Messing in verschiedenen Variationen, von Gold-Kupfer-Legierungen nüschen Inhalts werden hier gezeigt.
mit verschiedenen Zusätzen und gar noch mit einer anschließenden At­ Ich glaube, ich kann nur selbst verzeihen, dass ich nach dieser erleb­
zung der Oberfläche mit Scheidewasser, haben wir verzichtet und ha­ nisreichen Enttäuschung an diesem, meinem letzten Nachmittag im La­
ben stattdessen den Weg über das Theion hydor einzuschlagen ver­ bor darauf verzichtet habe, den ganzen Vorgang zu wiederholen. Mein
sucht, von dem wir voraussetzten, dass es sich um saures oder basisches Verhalten beim Bemühen, Gold zu machen, hatte mir schon eine Lektion
Calciumpolysulfid handelte, das natürlich in Wasser H^S entwickelt. Bei erteilt. Bei all unseren Mühen im Labor konnte es beim besten Willen
der Bereitung von Theion hydor durch Zusammenschmelzen von nicht um mehr gehen als um das Nachkochen von Rezepten und Par­
Schwefel und Kalk erhielten wir übrigens tatsächlich die von den alten tikularen in einer Umgebung, die keinerlei Beziehungen mehr zu der
Papyri - z. B. P. Leid., Rez. 89 - geforderte blutrote Farbe, allerdings nur geistigen Atmosphäre der Alchemie hatte. Die Laborluft unserer Labors
- und das nicht überraschend -, solange der Schwefel kochte. Ohne ist eine andere. Ich glaube, die Wucherung von Partikularen und Gold­
Zweifel: Mit Theion hydor ließen sich Kupferplättchen oberflächlich zu rezepten, die wir schon für die Frühe Neuzeit konstatieren müssen, war
Gold färben, und der Effekt ließ sich auch fixieren, als wir die Plättchen damals schon Symptom einer allgemeinen Lockerung des inneren Zu-
lackierten, was wohl auch schon zu den Tricks der antiken Alchemisten sammenhangs in der Alchemie. Tendenziell zumindest trennte sich der
gehört hatte. Als Krönung unserer Bemühungen habe ich versucht, ei­ alchemisierende Arzt vom alchemisierenden Metallurgen, der Mystiker
nen Standardprozess ä la Demokrit wenigstens qualitativ zu simulieren. vom Praktiker, entfernte sich die Praxis von der Theorie, löste sich der
Dazu habe ich, wissend, dass ein echtes Goldamalgam gar nicht leicht geistige Überbau vom materiellen Unterbau. Die Einheit ging verloren,
zustande zu bringen ist, Quecksilber mit etwas Tetrasoma und etwas bis dahin, dass der Wahlspruch <Una vas .. .> nicht einmal mehr propa­
Gold (Zahngold mit 58,0% Au, 23,3 % Ag, 12% Cu, 5,5 % Pd, i % Zn, gandistisch eine Rolle spielen sollte. Die Partikulare lösten sich ab von
Rest Pt u. Ir) - als Same des Goldes - vermischt und leicht erhitzt, bis der alchemischen Erzählung von Leid, Tod und Erlösung.
eine noch etwas duktile, matt silberglänzende Pastille von etwa i cm
Durchmesser dabei herauskaim. Parallel dazu habe ich Theion hydor
498 rV. In der neuen Welt Europas und Chemiker 499

standteile aller <subterranen>, also mineralischen Verbindungen sein


i j . ... und Chemiker sollten, war er Vorläufer der von Georg Ernst Stahl entwickelten Phlo-
gistontheorie der Verbrennung. Übrigens ging auch Becher wie van Hel­
Bei allem bleibt uns die Erkenntnis, dass der Weg vom Betrüger zum mont von der Genesis aus, nur bestand für ihn das Urmateriel der
Chemiker kurz ist, oder sagen wir vorsichtiger: Damals, in der Frühen Schöpfung aus Wasser und Erde. Das <Element> Erde aber tritt bei Be­
Neuzeit, war der Weg vom Betrüger, wie immer man ihn definieren cher in drei verschiedenen Versionen auf, einer glasartigen. Terra vitre-
mag, hin zu einer Persönlichkeit, die man als <vormodemen Chemiker> scibilis, einer merkurialen. Terra fluida, und einer fetten. Terra pinguis. Die
bezeichnen könnte, nicht besonders lang. Auch der vormoderne Che­ dritte, die Terra pinguis, sei, so glaubte er, in allen brennbaren Substan­
miker stand an der Grenze zwischen Wollen und Können, ohne sie je­ zen enthalten, und zw ar so, dass eine Verbrennung eine Selbstentfer-
doch genau wahrzunehmen oder wahmehmen zu wollen. Aber er stand nimg dieser Erde aus dem brennenden Körper bedeute. Die Terra pin­
dort als Gefangener des Wollen-Müssens. Seine Auftraggeber waren guis, auch Phlogiston genannt, ist übrigens nicht der paracelsische Sul­
nicht <Veritas> oder <Religio>, sondern die <Utilitas>, die ökonomische fur, weil Schwefel außer Phlogiston noch ein <SäuresaLz> (Schwefelsäure
Nützlichkeit, meist in Gestalt des Landesfürsten. Die Alchemisten, die als <Luftsalz>) enthält, das bei Verbrenmmg nachbleibt, w ie man ja
wir hier ansprechen müssen, waren Mitglieder des noch nicht recht eta­ merkt, wenn man die <Säure> mit Wasser in Berührung bringt, was be­
blierten Bürgertums, die aufsteigen wollten. reits auf der Zunge geschieht.
Der, wie er auch genannt wurde, <erste technische Chemiker>, Johann Zu Bechers Projekten gehört u. a. die Errichtung eines Kunst- und
Rudolf Glauber, ist einer derer, die unter eben diesem Zwang bürger­ Werkhauses in Wien, das eine Art Erfinderpark werden sollte, wie sie
lichen Strebens standen. Glauber hat viele chemisch-technische Neue­ sich heute in Silicon Valley oder an Technischen Hochschulen ansiedeln.
rungen eingeführt und 1653 das Natriumsulfat, <Glaubersalz>, entdeckt, Auch die Errichtung von Auswandererkolonien in Südamerika hat er
das er für ein Unversalheilmittel hielt, während er mit Metalltransmu­ geplant und diesen Plan mit Hilfe des Grafen Friedrich Casimir von Ha­
tationen, die er in seinen Tiegeln zu erzwingen suchte, seine Schwierig­ nau auch eifrig verfolgt. Zu nennen ist außerdem Bechers Vorschlag zur
keiten hatte; «Auch bekenne ich wahrhafftig, dass ich noch zur Zeit manufakturmäßigen Produktion Phosphor aus Urin. Allerdings schnapp­
nicht den geringsten Nutzen in Verbesserung der Metallen damit nicht te ihm Gottfried Wilhelm Leibniz, der ja nicht nur Philosoph und Mathe­
geh ab t....» (Bied. 182) matiker, sondern auch technisch versierter Hofmann war, und der im­
Als pars pro toto der technisch orientierten vormodemen Chemiker sei merhin ganze Regimenter strammer hannoveraiüscher Soldaten für sich
auch Johann Kunckel erwähnt, der Ende des 17. Jahrhunderts als Diener pinkeln lassen konnte, die Idee zur Phosphorgewinnung vor der Nase
vieler Fürsten und Entdecker oder Neuentdecker des der Alchemie doch weg. Und da wir schon beim Pecunia non ölet, <Geld stinkt nicht>, des
irgendwie noch nahen Goldrubinglases es immerhin zu einem kgl. Kaisers Vespasian und seiner Besteuerung öffentlicher Bedürfnisanstal­
schwedischen Baron von Löwenstem gebracht hat. Im Laufe seines Le­ ten sind, sei auch Bechers etwas zweifelhafte Methode zur Gewinnung
bens entwickelte er dabei eine Haltung, die typisch sein sollte für viele von Gold aus dem Sand der holländischen Küsten erwähnt, die er den
der <neuen> Chemiker: Anfangs der Alchemie zugeneigt, verdammte er Generalstaaten der Niederlande verkaufte, woraufhin er verdächtig
später die Alchemisten wegen ihres Mystizismus, während er ihre Ziele, schnell nach England verschwand. Warum allerdings sollte er nicht ver­
sprich das Goldmachen, als durchaus vernünftig ansah. suchen, Gold aus Sand zu gewinnen, ganz so wie der Nobelpreisträger
Beide, Glauber und Kunckel, brachten das chemische Manufakturwe­ Fritz Haber versucht hat, Gold aus Meerwasser zu gewinnen?
sen voran, und auch andere wären hier zu nennen. Wer aber unbedingt Das aus unserer Sicht merkwürdigste Produkt Becherscher Ingeniosi­
genannt werden muss, ist Johann Joachim Becher. tät aber fällt in die wichtigste Periode in seinem Leben, in die Zeit zw i­
Bechers Leben kann man nur als barock bezeichnen: unruhig, erfüllt schen 1670 und 1676 am Kaiserhof in Wien - die Habsburger waren in­
von Projekten auf allen möglichen Gebieten und schließhch im bürger­ zwischen dorthin umgezogen -, wo er als Commerden- und nach 1675
lichen Sinne gescheitert. Und inmitten all des Hin und Hers, das sein sls Hofkammerrath im Dienst Leopolds I. stand. Es handelt sich um eine
Leben kennzeichnete, schrieb er 20 Bücher: Über das Glück, über The­ silberne Medaille, die heute noch im Kunsthistorischen Museum Wien
men der Volkswirtschaft, über Theologisches, über eine Universalspra­ zu besichtigen ist imd die Aufschrift trägt: «Anno 1675 mense Julio Ego
che, über Geschichte, Mathematik, Philosophie und anderes mehr und J- J- Becher Doctor Hane unicam argenti finissimi ex plumbo arte alchy-
last but not least über Chenüe. Mit seiner Theorie der <Erden>, die Be­ odea transmutavi» - «Im Jahre 1675 habe ich, der Doktor J. J. Becher,
500 IV. In der neuen Welt Europas . . . und Chemiker 501

dieses Stück aus feinstem Silber durch die Kunst der Alchemie aus Blei nau das versprachen Leute zu liefern, die - sagen w ir einmal vorsichtig
transmutiert». - auch mit Alchemie zu tun hatten.
«Mir ist das mancherlei nicht k la r...», wie Joachim Ringelnatz sagt.^^ Becher war solch ein Mensch. Der Staat bot ihm Aufstiegschancen im
Als nachgeborene Weltkinder in der Mitten zwischen Kaiser und Alche­ Rahmen von Unternehmungen, aus denen sich der Adel fern hielt, und
mist drängen sich ims da doch gewisse Fragen auf. Entweder die Me­ die er trotzdem brauchte. Das seinem Kaiser klarzumachen, nämlich
daille war keine Fälschung. Hätte dann Becher nicht ganz gut auf Pro­ dass der Staat ihn, Becher, und seine Art, mit der Welt umzugehen,
tektion und Hilfe verzichten und seinen Reichtum im eigenen Kämmer­ brauchte, war Bechers wichtigstes propagandistisches Ziel. Für diese
lein schmieden können? Oder die Medaille war wirklich eine Fälschung. Propaganda mm bot sich die Alchemie an, die umgekehrt von ihr ge­
Warum hat der Kaiser seinen Commercienrath dann nicht an den für stützt wurde. Mit Hilfe der Alchemie und ihres Prinzips des <Stirb und
Alchemisten reservierten vergoldeten Galgen gehängt? Und warum hat Werde» - erst Putrefactio und Mortificatio zur Prima materia, dann der
er im selben Jahr 1675 Augustinermönch Wenzel Seyler (Wenceslas Aufstieg zur Transmutatio des wertlosen Bleis in wertvollstes Gold -
Seiler), der eine goldene Medaille aus Kupfer und Zinn mit der selbst- versuchte Becher klarzumachen, dass auch im Wirtschaftskreislauf
bewusst-imverfrorenen Aufschrift: «Aus Wenzel Seylers Pulvers Macht scheinbar ä fonds perdu investiert werden muss, um gerade durch den
Bin Ich Von Zinn Zu Gold Gemacht», und einem spezifischen Gewicht Verlust Gewinne zu erzielen. Das heißt doch nichts anderes als: Der­
von 12,67 statt 19,3 g/qcm zustande gebracht hatte, zum Ritter von jenige, der die Geheimnisse der Alchemie durchschaut, durchschaut
Reinberg und Münzaufseher in Böhmen gemacht? auch die Geheinmisse von Bergbau und Manufakturwesen. Dass Becher
Das sind Fragen an einen Kaiser, und wir sollten sie auch aus der nicht umgekehrt argumentierte, also per Ökonomie auf die Alchemie
Sicht der Fürsten zu beantworten suchen, seien es nun Rudolf II., Joa­ abzielte, hat seinen guten Grund. Die Alchemie galt noch immer als
chim von Brandenburg, Wolfgang von Hohenlohe, Friedrich von Würt­ etwas Natürliches und etwas Umfassendes, während die Kapitalwirt­
temberg, Christian von Anhalt, Moritz von Hessen-Kassel, Anne von schaft die Welt des Künstlichen war und ihr genau deshalb die kosmi­
Dänemark, die Gemahlin des Kurfürsten von Sachsen, die ein eigenes sche, die umfassende Dimension fehlte. Nun will aber auch die Natur
Labor besaß, und last but not least Kaiser Franz I. einen Mehrwert, und sie will, wie schon Paulus im Römerbrief 8,18-25,
Um es verkürzt zu sagen: In der Sicht der Fürsten waren ihre Alche­ sagt, Erlösung. Ist es da so schwer, von der Erlösung von den Bedin­
misten eine Mehrzweckwaffe, die man nicht leichtfertig aus der Hand gungen menschlicher und natürlicher Existenz auf die Erlösung vom
legte. Dabei hatte die Waffe vor und nach der Katastrophe des Dreißig­ Staatsbankrott zu schließen, wenn man's vielleicht auch nicht so krass
jährigen Krieges eine etwas andere Funktion. Vor 1618 schien die Alche­ sagte? Vielleicht spielte zusätzlich der Reformoptimismus des Rosen-
mie, vor allem die paracelsisch-hermetischer Prägung, der Garant eines kreuzertums eine Rolle, wenn man an den Fürstenhöfen häufig die Be­
Weltbildes zu sein, das modern wirkte und das zugleich die unter der griffe <Alchemist» imd <Untemehmer» zusammendachte. Gemeint war
Decke rasch vor sich gehenden Veränderungen auffangen und harmo­ dabei ein von außen kommender, ein <freier Unternehmer», dessen Tun
nisieren konnte. Die Alchemie garantierte die innere Einheit aller geisti­ die Bürokratie nicht recht durchschauen konnte. Und so war wohl oft
gen Disziplinen, und die Alchemie garantiert die innere Einheit des nicht der betrogene Fürst, sondern die Hofkammer Feind des Hof-
Christentums jenseits allen theologischen Gezänks. Für Rudolf II. war Alchemisten. Dazu kam Opposition von Seiten derjenigen, die in der
die Alchemie sicher u. a. so etwas wie eine ideologische Klammer, die S)nnbiose Adept-Fürst den tieferen Sinn der Alchemie zugrunde gehen
mithalf, sein auch konfessionell gespaltenes Reich zusammenzuhalten. sahen. Der Alchemist Gabriel Clauder kleidete das Ende des 17. Jahr­
Fünfzig Jahre später, unter Leopold I., lagen die Dinge etwas anders. hunderts in die Erzählung vom Unbekannten, der dem Leibarzt eines
Das Prinzip <Cuius regio, eius religio», <Wes Herrschaft, des Rehgion», Fürsten versprochen hatte, ihn in das Transmutationsgeheimnis einzu­
hatte die konfessionellen Verhältnisse in den einzelnen Staaten stabili­ weihen. Dieser habe seinem Fürsten die Anwesenheit des Unbekannten
siert. Und nun traten gewisse Erwartungen an die Alchemie, die es ipitgeteilt, woraufhin der ins übliche Land des Schweigens verschwand.
allerdings zuvor auch schon gegeben hatte, in den Vordergrund. Der Übrig aber blieb der <Beweis» seines Könnens, etwas Pulver, das wurde
barocke Hof, der sein eigenes Dasein als pathetisches Theater auf der allerdings dem Leibarzt von Soldaten, d. h. von dummen und ungläu­
Bühne des Lebens begriff, und der barocke Staat, der sich auf stehende bigen Vertretern der Staatsmacht, geraubt und verstreut - auch das ein
Armeen, auf ausgedehnte Bürokratien und einen beamteten oder land­ typisches Alchemistenschicksal.
sitzenden Adel stützte, brauchten drei Dinge: Geld, Geld und Geld. Ge­ Nicht Agrippa von Nettesheim, dem das gewöhnlich zugeschrieben
502 IV. In der neuen Welt Europas . . . und Chemiker 503

wird, sondern Becher könnte das Urbild des Dr. Faustus sein. Der Na­ gewesenen «Oberbergdirektor aller Silber-, Quecksilber-, Steinkohle-,
tionalökonom Hans Christoph Binswanger hat gezeigt, w ie sehr die Vitriol- und Alaunbergwerke des Herzogtums» (Lab. auf Druck
Ziele, Pläne und Taten des Faust - vor allem in der Tragödie zweitem der Bergbehörden der Prozess gemacht, und nach mehrjährigem Hin
Teil - den Zielen, Plänen und Taten des Alchemisten und diese wie­ und Her wurde er des Landes verwiesen.
derum denen des modernen Kapitalwirtschaftlers gleichen. Ihnen allen Um aber von der Geschichte des Herrn Stahl auf die Medaille des
geht es «um die Möglichkeit eines kontinuierlichen Wachstums der Herrn Becher zurückzukommen: Beide scheinen sie mit unbegreiflicher
Produktion ohne eine entsprechende Erhöhung des Leistungsaufwan­ fürstlicher Langmut zu tun gehabt zu haben. Die Medaille, die Becher
des». (Bins. 22) Voraussetzung dafür, für eine Schöpfung quasi aus seinem Kaiser verehrt hatte, erfüllte allerdings eine besondere Funktion.
dem Nichts, ist das Papiergeld. Wertloses Papier wird bedruckt, mit Ihr Besitz sollte die <Fama>, den Ruhm des Fürsten, stützen, und da kam
einem durch des Staates Unterschrift garantiertem Vertrauen auf die es wahrscheinlich nicht auf den Münzwert, sondern mehr darauf an, dass
Zukunft bedacht, und schon wirkt es wie alchemisches Quecksilber ein die Transmutation im Prinzip gelungen war. Es war wie im Maskenball
auf die Welt der Rohstoffe, der Arbeit und der Produktion, und zwar oder im Barocktheater, wenn die Götter auftreten. Man glaubte nicht und
so, dass der eigentliche Lapis der Volkswirtschaft aus ihm entsteht; das glaubte doch. Dieses <Doch und doch nicht> lag ja auch allem barocken
Kapital, das in seinen sinnlichen Erscheinungsformen - Aktie, Schatz­ fürstlichen Aufwand zugrunde. Alles war Repräsentation, auch Reprä­
brief, Computerausdruck etc. - Materie oberhalb der gewöhnlichen, sentation von etwas, das sonst nicht zu fassen war, alles war Illusion wie
aus der materiellen Natur in ihrer Wandlungsfähigkeit bestehenden im Theater, das Kaiser Leopold so liebte, alles war Anspielung. Die Mün­
Materie ist, und das letztlich alles, was es berührt, verwandelt: Erze ze hatte einen Symbolwert, sie spielte auf die alte, von der Alchemie
werden zu Metallen, Metalle werden zu Flugzeugen, Rohöl wird zu suggerierte Einheit des Geistigen und des Materiellen, und auch auf die
Kerosin und all das wird zu dem ja materiell gestützten Erlebnis einer Einheit der Fürstenmacht und des Kosmos an. Warum also mit Scheide­
Flugreise. Kurz: Wie der Stein der Weisen alles zu Gold macht, so wasser und Feuer auf ein Symbol losgehen? Man geht ja auch rücht nüt
macht das Kapital alles, was es berührt, zu Besitz. Die moderne Alche­ Scheidewasser imd Feuer auf Papiergeld mit der Unterschrift des Kaisers
mie nutzt so den Wandlungsdrang und die iimewohnenden Gesetze los. Ich glaube, beide Seiten verzichteten darauf, ganz genau zu wissen,
der Natur, um sie zu einer Vollendung zu bringen, die sie selbst nicht ob es sich nun eigentlich um eine Fälschimg handelte oder nicht oder um
erreichen kann. Allerdings ist diese Vollendung eine vom Menschen irgendetwas dazwischen. Und so haben auch beide Seiten nicht die ei­
gesetzte Vollendung, die in der Zerstörung der Umwelt zum Fluch gentlich zu erwartenden Konsequenzen gezogen.
werden kann. Im Schicksal des Goetheschen Faust fühlt man sich an Übrigens, um den Kaiserlichen Oberbergdirektor nicht mit dem Her­
König Midas eriimert, der zugrunde geht, weil er schließlich alles zu zoglichen Oberbergdirektor in denselben technisch-chemischen Topf zu
Gold machen muss. Nicht von ungefähr ist Faust, als er sich dem Ziel werfen, sei noch gesagt, dass zumindest Becher ein überzeugter Alche­
aller Wünsche, der bedingungslosen Herrschaft über die Natur, nahe mist war, wenn man darunter den Glauben versteht, dass es möglich
wähnt, erblindet. sein könne, <niedere> Metalle zu Edelmetallen <reifen zu lassen>, und
Die Hoffnung auf unbegrenzte Verwandlung der Natur stand auch zwar durch eine «zeitigmachende Krafft» (Smith 174), die mich an
hinter einem weniger bekannten Beispiel für die <Zusammenarbeit> ei­ Newtons Vegetable spirit erinnert. Auch Bechers Weltbild war alche-
nes Alchemisten mit einem absolutistischen Fürsten. Gemeint ist Her­ misch, was sich schon daran zeigt, dass er wie fast alle latrochenüker
zog Christian von Pfalz-Zweibrücken (reg. 1740-1775), der einem ge­ am alten Geozentrismus irüt Mutter Erde als Zentrum allen chemischen
wissen Joseph Michael Stahl aufgesessen ist. Gemeinsam haben sie ihr Geschehens glaubte, habe Gott der Chemiker doch als erstes die Erde
Ländchen ruiniert, der eine, indem er gab, der andere, indem er nahm. geschaffen - sozusagen als Labortisch, auf dem dann alle anderen
Wir wissen, dass Stahl, während er in einem weit abgelegenen Schloss Schöpfungstaten stattfanden. Weim man imter <Alchemie» allerdings die
an Transmutationen arbeitete, mehr oder weniger ernsthaft versuchte, Erlösung der Natur als Erlösung des Menschen versteht, hegen die Din­
eine Porzellanmanufaktur, ferner eine Tiegelfabrik und Ziegelei sowie ge etwas anders. Bechers Ideologie war die eines technisch orientierten
eine Glashütte aufzuziehen und außerdem ein neuartiges Verfahren zur Neuerers, und auch sie bedeutete eine Lockerung des iimeren Zusam­
Eisenschmelze mit Steinkohle zu entwickeln. Dieses Verfahren hätte menhalts der Alchemie, indem sie die geistig-rehgiöse Perfektion, die
Epoche machen können, wäre es Stahl gelungen, die Kohle zuvor zu geistig-religiöse Erlösung zu einem indirekten Ziel machte. Becher
v e r k o k e n .E r s t nach dem plötzliche Tode des Herzogs wurde dem glaubte, dass die technischen Neuenmgen zur Befreiung von techni-
504 IV. In der neuen Vielt Europas Goethe und das Fräulein von Klettenberg 505

sehen Zwängen führen und dass die Befreiung den Menschen frei mache - mehr blühte als dessen relativ glimpfliches Schicksal: A u f Befehl A u ­
zu Verfolgung seiner geistigen Ziele. Genauso hat auch der Propagan­ gusts des Starken wurde er enthauptet. Familie hin, Familie her, Susan­
dist der Moderne Francis Bacon gedacht. Dabei konnte man ganz wie ne von Klettenberg nahm die Alchemie bitter ernst, und diesen Emst
Becher im alchemischen Prozess eine Möglichkeit sehen, die Natur als konnte sie dem um ein Vierteljahrhundert jüngeren, damals neunzehn­
Schöpferin zu begreifen und die kreativen Prinzipien der Natur zu ent­ jährigen Goethe vermitteln.
decken und nachzuahmen, also, um es in der Wiederholung zu betonen: «Meine Freundin», schrieb er viel später mit dem zwischen Ironie
Erst das praktische Ziel der Naturbeherrschung, dann, wenn die Last und erinnernder Anteilnahme schwebenden Ton, mit dem er auch an­
der materiellen Not gewichen ist, das geistige Ziel der moralisch-reli­ dernorts zu verstehen gab, dass er die chemisierende Naivität der A l­
giösen Selbstverwirklichung. Ob er es nun wollte oder nicht, unter der chemisten ablehnte, ohne doch einige ihrer Gmndgedanken aufzuge­
Hand, und zwar unter Bechers Hand, wurde aus dem alten Imitations­ ben, die ihn selbst geleitet hatten: «Meine Freundin, welche eltem-
prozess im Bereich der Erlösung von Materie und Mensch nun vollends und geschwisterlos in einem großen, wohlgelegenen Hause wohnte,
ein Inventionsprozess im Bereich der Technik, der wiederum, und hier hatte schon früher angefangen, sich einen kleinen Windofen, Kolben
verklammert sich die Alchemie des Labors mit der Alchemie des Kon­ und Retorten von mäßiger Größe anzuschaffen, und operierte nach Wel-
tors, abhängig war von einem allgemeinen wirtschaftlichen Invigora­ lingschen Fingerzeigen und nach bedeutenden Winken des Arztes und
tionsprozess durch Kapitaleinsatz. Meisters IDr. Metz, der Goethe von einer Geschwulst am Hals geheilt
hattel besonders auf Eisen, in welchem die heilsamen Kräfte verborgen
sein sollten, wenn man es aufzuschließen wisse, und weil in allen uns
14. Goethe und das Fräulein von Klettenberg bekannten Schriften das Luftsalz, welches herbeigezogen werden muss­
te, eine große Rolle spielte, so wurden zu diesen Operationen Alkalien
Nachdem wir eben - unter einem bestimmten Blickwinkel - Johann erfordert, welche, indem sie an der Luft zerfließen, sich mit jenen über­
Joachim Becher zur alchemischen Leitfigur des 17. Jahrhunderts ge­ irdischen Dingen verbinden und zuletzt ein geheimnisvoll treffliches
macht haben, soll uns - nun unter einem anderen Blickwinkel - Johann Mittelsalz per se hervorbringen sollten.» ((Dichtung u. Wahrheit, Teil 2,
Wolfgang Goethe als Leitfigur des folgenden Jahrhunderts dienen. Bei­ Buch 8) Goe. XII, 379)
des ist etwas willkürlich, zumal wir unter Goethe hier zwangsläufig den Die <uns bekannten Schriften» sind vor allem alchemische Traktate
jungen Goethe verstehen müssen. Aber Leitfiguren ersparen uns, zu von Joseph Kirchweger (1723) und Georg von Welling (1735), sowie eine
viele Namen und Detailkenntnisse ausstreuen zu müssen. Außerdem Geschichte häretischer Bewegungen aus der Feder Gottfried Arnolds
haben wir mit Goethe nicht nur einen illustren Namen parat, wir haben (1700-1715), die gemeinsam einen guten Einblick in die Alchemie eso­
zudem einen Aspekt in Goethes Leben und Denken vor uns, der in terischer Kreise im 18. Jahrhundert geben. Ob Goethe das <Mutus liber>
seinem Werk meist nur am Rande beachtet und mit ein paar Zitaten aus gekannt hat, weiß ich nicht. Immerhin spielt dort der Tau als Quelle des
dem <Faust> abgetan wird. Es geht um Goethes Verhältnis zu Susanne Luftsalzes die materielle Hauptrolle, und deshalb sei an dieser Stelle
Katharina von Klettenberg und zur Alchemie, w ie sie ihm durch ihren kiwz darauf eingegangen. Im <Mutus Über» und anderen Werken wird
Kreis nahe gebracht worden ist. nämlich offenbar versucht, Luftsalz aus Tau auszuziehen: Man sieht auf
Zuvor kann man schon sagen, dass, so wie Becher an dem einen, einem Bild, wie der himmlische Morgentau vom Alchemistenpaar in
Fräulein von Klettenberg am anderen Ende des Alchemiker-Spektrums Tüchern eingefangen und ausgewrungen wird.^^ Himmelstau, Ros coe-
angesiedelt war. Man mag sich eine Projektmacherin ä la Becher auch lestis, ist zuweilen auch Deckname für das merkuriale Prinzip und da-
kaum als eine Freundin der Mutter Goethes vorstellen. Sie war Mitglied nüt für das Prinzip der Fruchtbarkeit. Und damit sind w ir bei einem
der Herrnhuter Brüdergemeinde, zeichnete sich aus durch eine Lebens­ Tau, von dem wir heute wissen, dass er nicht etwa vom Himmel gefal­
haltung pietistischer Verinnerlichung - und wie gesagt auch dadurch, len, sondern auf der Erde entstanden ist, den Stemputzen bzw. Stern­
dass sie Alchemistin war, sogar eine praktizierende. Nun könnte man schnuppen, die als Materia astralis und - wegen ihrer an Sperma erin­
mit einigem Augenzwinkern behaupten, dass das Fräulein von Kletten­ nernden schleimig-weißUchen Erscheinungsform - als Sperma astrale,
berg darin erblich belastet war, war doch ihr Onkel Johann Hektor von aber auch als Himmelstau galten. Es handelt sich dabei um gallertartige
Klettenberg zwar ein echter Freiherr aber ein falscher Adept, dem denn Klumpen der Zitteralge Nostoc, die an feuchten Tagen an Wegrändern
auch - seine Schulden waren wohl noch größer als die des Herrn Stahl und Felsen zu finden sind. - Außer der Assoziation mit dem Himmel
5o6 IV. In der neuen Welt Europas Goethe und das Fräulein von Klettenberg 507

spielte bei der Wertschätzung des Taus noch etwas anderes eine Rolle, terie.^° Das Rad ist damit das Symbol der Polarität und zugleich der
nämlich der in alchenüscher und rosenkreuzerischer Sicht durchaus sich in sich selbst aufhebenden Einheit. Dies schließt auch die morali­
nicht zufällige, etymologische Zufall, dass <Ros> das männliche Gegen­ sche Einheit-in-Polarität ein, wenn man Bewegung als Spannung, als
stück zu <Rosa>, der weiblichen Rose ist. A uf noch eine Verknüpfung Uneins-Sein, als Konflikt, kurz als Böses betrachtet. In Gott sind Gut
verschiedener Dinge, auf die so interessante mythologische Verbindung und Böse aufgehoben, die Bereitung des <Steins> treibt, wie BasiUus Va-
von Tau, Flut und Perle, sei ebenfalls hingeweisen, ist sie doch schon lentinus schreibt «das böse aus ... das das böse zugleich mit dem guten
deshalb der Erwähnung wert, weil Goethe sie kannte und im <West-Öst- werden muss». (Gray 268).
lichen Divan> verwandt hat. Das, und dies sei hier ohne die Hilfe Goethes gesagt, ist natürlich
Bei Goethes Hauptgewährsmännem, Kirchweger, Welling und wie alles andere als Gnosis, wie ich sie definiert habe. Zumindest die mys­
sie alle hießen, drehte es sich allerdings nicht vor allem um Materielles, tisch ausgerichteten Adepten, und gerade auch die protestantischen,
sondern um die alten Themen der spirituellen Alchemie. So sollte das integrierten das Böse: Es ist sozusagen uneigentlich. Und tatsächlich:
Werk Kirchwegers, das den bezeichnenden Titel <Aurea Catena>, also Nur wenn man das Böse so begreift, hat die Gnade, von der Luther so
<Goldene Kette>, trägt, mit chemischen Beispielen den Zusammenhang viel sprach, Sinn. So gesehen gibt es im Grunde auch nur eine christliche
aller kosmischen Phänomene demonstrieren. Dieser Zusammenhang Sünde: die Ablehnung der Gnade. Und wer die Gnade ablehnt, lehnt es
wird demonstriert nicht etwa durch die einzelnen Erscheinungsformen auch ab, die eigene Schwäche anzunehmen - genau das aber tun die
der Polarität, sondern durch die Polarität schlechthin, es geht immer um Fanatiker. Anderseits: Wer meint, das Böse sei an sich nicht selbst-exis­
ein Agens und ein Patiens universale in unendlichen Variationsmöglich­ tent, sei bloß uneigentlich, weil es ein Produkt der Gesellschaft, sprich
keiten. So findet Kirchweger nichts dabei, dass das Paar <Säure> imd der Verhältnisse sei, der verwechselt den Misthaufen mit dem Samen,
<Alkali> auf derselben Liste erscheint wie das Paar <Vater< und <Mutter>, der in ihm aufgeht.
obwohl er doch hoffentlich nicht suggerieren will, dass der Vater stets Aber zurück zu Goethe, der, ich weiß nicht woher, noch eine weiteres
sauer und die Mutter stets basisch reagiert. Die Verkettung der Polari­ zutiefst alchemisches Bild in sein Denken übernommen hat, das des
täten bedeutet im Übrigen nicht ihre Auflösung, es gibt keine vernich­ Mercurius als Vermittler, als Dritten zwischen den Zweien. In dem Ro­
tende Dialektik. Stattdessen kann man in einem solve et coagula, in Auf­ man <Die Wahlverwandtschaften), der nicht chemisch, sondern alche-
lösung und Zusammenfügung, die Pole der Polarität ineinander U m ­ misch zu deuten ist, heißt er geradezu Mittler. Aber was Goethe als
schlagen lassen, und kann sie - in paradoxer Weise - auch so vereinigen, Nicht-Alchemiker aus seiner Alchemie gemacht hat - in den <Wahlver-
dass sie ihre Polarität beibehalten, Stichworte: Coniunctio, Conversio wandtschaften>, im <Märchen>, im <Faust>, in seinen anatomischen A r­
und Hermaphrodit. beiten, in seinen Ansichten zur Metamorphose der Pflanzen, in seiner
Ein weiteres, bedeutsames Bild konnte Goethe aus seiner alche- Farbenlehre -, das ist hier nicht Thema.
mischen Lektüre ziehen: das des Rades mit Zentrum, Speichen und Zwei praktische Interessen, die er als <Halb-Adept>, wie er selbst
Peripherie. Für die Pietisten des Frankfurter Kreises und für die Alche­ schreibt, verfolgte, seien aber doch erwähnt. Das eine bezieht sich auf
misten erscheint Gott als Unendliches im Zentrum ihrer eigenen, den Liquor Silicium, das andere auf den Arbor mortis.
menschlichen Seele, ln ihm ist Stille, während die Peripherie sich dreht, Über seine Alchemistenzeit in Frankfurt schreibt Goethe in diesem Zu-
und so haben auch Adepten wie Irenäus Philalethes, den Goethe ebenso sanunenhang: «Was mich aber eine ganze Weile am meisten beschäftig­
gelesen hat wie den Paracelsus, die Bewegung der Substanzen im Glas te, war der so genannte Liquor Silicium (Kieselsaft) [d. h. Wasserglasl,
als eine zirkulare beschrieben, die, von Leidenschaft getrieben, endlich welcher entsteht, wenn man reine Quarzkiesel mit einem zugehörigen
zur Ruhe kommt in der permanenten Coniunctio. Zirkulation kann aber Antheil Alkali schmilzt, waraus ein durchsichtiges Glas entspringt, wel­
auch als Putrefactio, als Rückkehr zur Prima materia angesehen werden, ches an der Luft zerschmilzt und eine schöne klare Flüssigkeit darstellt.
woran der Ouroboros erinnert. Auch das mystisch-alchemische Werk ist Wer dieses einmal selbst verfertigt und nüt eigenen Augen gesehen hat,
ein ständiges Kreisen um ein Zentrum, das nicht sagbar und auch nicht, der wird diejenigen nicht tadeln, welche an eine jungfräuliche Erde und
etwa im Stein, ding-fest zu machen ist, das aber doch erlebt und bezeugt an die Möglichkeit glauben, auf und durch dieselbe weiter zu wirken.»
werden kann. Und da Gott in dieser Bezeugung das nach allen Seiten ((Dichtung u. Wahrheit, Teil 2, Buch 8) Goe. XII, 379!.)
austrahlende Zentrum des Rades ist, ist er als Unendliches auch seine Offensichtlich war der Liquor silicium für den jungen Goethe so et­
Peripherie und also auch eine Erscheinungsform der dynamischen Ma­ was wie eine Prima materia, die hier in ihrer Eigenschaftslosigkeit färb­
5o8 IV. In der neuen Welt Europas Ein verwirrter Student 5°9

los erscheint, deshalb Licht und Kosmisches anzieht und zugleich po­
tentiell lebendig ist. Allerdings musste er dann doch erkennen, dass sein / j. Ein verwirrter Student
Liquor «keineswegs irgendetwas Productives in der Natur spüren ließ,
woran man hätte hoffen können, diese jungfräuliche Erde in den Mut­ Was immer Goethe in der Alchemie gesucht und was er später aus ihr
terstand übergehen zu sehen.» (Krä. 9) gemacht hat: Bei seiner Magistra, bei Susanne von Klettenberg wissen
Dennoch hat ihn der Liquor über 15 Jahre später wieder beschäftigt. wir es genau. Mit Hilfe der <Uralten Kunst> hat sie aus ihrem sicher
Er war nämlich Bestandteil eines von dem Chenüker Johann Christian einsamen Leben etwas Großes gemacht, nämlich einen Kampf um
Wiegleb beschriebenen, verbesserten Verfahrens zur Darstellung <chy- Selbstfindung, der sie bis zum Äußersten ihrer Existenz getrieben hat.
mischer Bäume>, die entstehen, wenn man Metallsalze in Liquor silici- 1757 erfuhr sie eine Vision Christi. Und kurz vor ihrem Tod schreibt sie
um auskristallisieren lässt: an Johann Kaspar Lavater: «Ich habe ein aurum potabile empfangen,
«So gibt ein jegliches Metall ein Gewächs von seiner Art, als Gold einen Unverwesslichen Tropfen genossen, der bildet alles um, der Ge­
lichtgelb, Silber blau, Kupfer grün, Zinn und Bley weiß. Das Gold dazu staltet mich, - so wie mein Haubt zur rechten der Mäjestet Gestaltet ist.»
wird in Königswasser aufgelöst, und, wie beym Eisen gesagt, damit (Gray 266)
verfahren; die andern Metalle aber in Scheidwasser besagter Maßen ver­ Kein Zweifel: Die mystische Alchemie war religiös motiviert. Dabei
kalkt, und stückchenweis in beschriebenen Liquor eingelegt.» (Krä. 15) zeigt sich ihre Nähe zum Pietismus. Im Pietismus nämlich wie auch
Dass Goethe mit «metallischer Vegetation» experimentierte, hat sei­ im vorpietistischen Rosenkreuzertum ist die Wahrnehmung, die Obser-
nen Grund darin, dass er immer Brücken suchte zwischen den Reichen vatio, abhängig von der individuellen Gemütsverfassung. Wie alle mys­
der Natur, hier dem mineralischen und dem vegetativen, so wie wir tischen Bewegungen versuchten sowohl die mystische Alchemie als
heute in der Virenforschung die Brücke suchen zwischen lebender und auch der Pietismus etwas aufzufangen, das keine öffentliche, dogma-
toter Materie. Die Hoffnung, irgendwo auf diesen Brücken doch noch tisierte Form der Religiosität festzuhalten vermag. Dieses Spannungs­
den Schlüssel zu einem naturumspannenden Geheinmis zu finden, hat verhältnis von Öffentlichem und Mystischem betrifft natürlich das Ver­
er nie aufgegeben, heißt es doch in seinen <Epirrhema> hältnis des Menschen zum religiösen Erlebnis, und wenn wir von hier
Müsset im Naturbetrachten aus in den Bereich der Religion bzw. Theologie eintreten, dann betreten
Immer eins wie alles Achte; wir auch den Bereich der Psychologie, ist doch die Wahrnehmung des
Äußersten, des Göttlichen, zugleich die Wahrnehmung des Innersten,
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
die hinabreicht in das, das wir gewohnt sind, das Unbewusste zu nen­
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis nen. Bevor wir aber Ausschau halten nach einem Führer durch die
Heilig öffentlich Geheimnis. verwirrende Landschaft der - christlichen - Alchemistenseele, sollten
wir uns <einfach so> vorzustellen versuchen, was, wenn nicht die üb­
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles: liche Gier nach Geld, Ruhm und Macht, einen Menschen dazu getrie­
Kein Lebendiges ist Eins, ben haben mag, sich der Alchemie in die ja rücht ungefährlichen Arme
Immer ist's ein Vieles. (Goe. II, 133 f.) zu werfen.
Kindliche Gemüter, die von irgendeinem Adepten damals ebenso be­
Hen to pan, wie in der Zahl 8, die auch ein 00, ein Unendlich ist. Und eindruckt worden sind wie heute manche Jünger esoterischer Sekten
das sagt auch, dass in Goethe noch die Sehnsucht eines Elias artista von ihrem Guru, seien hier außen vor gelassen. Rufen wir stattdessen
lebendig war. Aber der ältere Goethe, der doch vom chemischen Expe­ einen ernsthaften jungen Mann, sagen wir einen Studenten, vor unser
riment ausging, wofür auch seine Freundschaft nüt dem Jenaer Chemie- geistiges Auge, wobei es keine Rolle spielen soll, ob er die eng anlie­
Professor Johann Wolfgang Döbereiner zeugt, der ältere Goethe erkann­ gende Tracht des 14. Jahrhunderts mit Wams und Strumpfhose trägt
te als wahren Ort der Alchemie schließlich doch nicht die Alchemie oder die Zatteltracht des 14. / 15. Jahrhunderts mit Schulterwülsten und
selber, sondern die Poesie. lang herabfallenden, ausgezackten Ärmeln, ob geschlitzte Rollhosen
und einen Landknechtshut mit Federn wie im 16. Jahrhundert üblich
oder eine breite Halskause und Stulpenstiefel, w ie man sie im 17. Jahr­
hundert kannte. Es soll uns auch gleichgültig sein, ob er in Paris, Bo­
510 IV. In der neuen Vielt Europas Ein verwirrter Student 511

logna, Prag oder sonst wo studiert, denn die europäische Alchemie menschlichen Seele nicht zu erreichen. Das galt nicht nur für das My­
kannte ja kein einzelnes Jahrhundert und keinen einzelnen Ort. sterium in der so undurchschaubaren Dunkelheit katholischer Kirchen,
Dieser junge Student, das sagt uns sein Blick, spürt eine diffuse Un­ das galt auch für die blendende, dogmatisch zwischen gekalkte Wände
ruhe, spürt ein Missbehagen, ja einen Ekel am Leben, ohne recht zu gepresste Helle in diesem grässlichen Vis-ä-Vis Gott-Mensch, das die
wissen, warum. Er hat irüt Schwierigkeiten zu kämpfen, die er nicht Puritaner für ein Liebesfest halten, während es doch nur von dem
benennen kann imd die anscheinend auch rüchts oder zunächst nichts finsteren Verdacht lebt, dass irgendwo in der Welt irgendwer glücklich
mit <Wein, Weib und Gesang> zu tun haben. Die tief liegende, die exis­ sein könnte.
tentielle Unruhe, die ihn ergriffen hat, wird durch die Angebote der Die <Mauerkirchen>, wie Paracelsus sie verachtungsvoll genannt hat­
Kirche nicht in der Weise gestillt, wie er es ersehnen mochte. Und te, können unserem Studenten vor allem dann keine Hilfe bringen,
daran ist die Kirche sicher nicht unschuldig. Wegen ihrer Zwitterstel­ wenn es um Erlösung von Zwängen geht, die von innen kommen, und
lung zwischen öffentlich und geheim hatte - und hat - sie auch im die er vielleicht nicht einmal mit Namen zu nennen weiß. Die Alchemie
öffentlichen Leben mit den Paradoxien des Glaubens zu kämpfen. Das aber scheint Hilfe bieten zu können, und zwar im Rahmen des Chris­
Religiöse als Grenzüberschreitung des Seins ist aber immer paradox, tentums, ja als Verbündete des Christentums, ist doch die Erlösungs­
da brauchen wir nicht nur an die bekannte Gleichung <Drei gleich eins> gestalt als Erlösungsmacht nicht nur Mittelpunkt des kirchlichen, son­
zu denken. dern auch Zentrum des alchemischen oder zunündest des christlich-al-
Aber so denken und reden wir, nicht dagegen unser Mitmensch aus chemischen Denkens und Fühlens. Die Erlösung geschieht in der
vergangenen Jahrhunderten. Wahrscheinlich bildet sich der junge Mann Begegnung des Göttlichen und des Menschlichen, wobei im Christen­
ein, an die Dogmen der Kirche wirklich zu glauben, d. h. sie innerlich tum sich das Göttliche in der Dreieinigkeit manifestiert. Christus, der
zu erleben. Vielleicht auch bildet er sich ein, in den Geheimnissen des Erlöser, steht dabei in einer doppelten Dreierbeziehung. Er ist einer der
Buches der Offenbarung, in der Bibel, bindende Hinweise und damit Aspekte der Trinität, die ihrerseits ja ein paradoxes Geheimnis ist, und
Trost zu finden, vielleicht bildet er sich ein, ihre Symbole wirklich zu er hat, in einem zweiten Paradoxon, gleichzeitig teil am Menschlichen
verstehen. Aber es bleibt ein Defizit. Die Mysterien sind ihm irgendwie in Gestalt seiner Mutter Maria. Hier ist der Heilige Geist die Brücke
zu hoch angesetzt. Sie reichen zwar auch tief in die Seele, aber von zwischen dem Vatergott und der Menschenmutter. Aber wird das alles
oben. Christi Geistigkeit erscheint ihm zu wenig handfest, zu wenig ma­ irgendwo so gesagt, dass es wirklich fassbar ist, und sei es in symbolisch
teriell, und die Natürlichkeit des Menschen erscheint ihm zu niedrig, verschlüsselter Form? Wird es so in die Verkündigung eingeschlossen,
zu schwer, zu dumpf, eben zu materiell. dass es im tiefsten Inneren, w o es keine Worte mehr gibt, begriffen wer­
Aber wenn die Erlösung im Handfesten, im Leben, im Hier und Jetzt, den kann? Wir fühlen uns lebhaft an die Probleme erinnert, die im <Buch
in der Materie selbst steckte? Wir haben ja gar nicht den Himmel, wir der Heiligen Dreifaltigkeit) ihren Ausdruck finden.
haben doch nur uns und die Welt um uns herum. Aus ihr muss die Nehmen wir nun an, dass unserem Studenten unter all seinen Verun­
Erlösung kommen. Und sie muss doch greifbar sein, irgendwie. Und sicherungen vor allem das Mysterium der Menschwerdung Gottes Pro­
man muss sich ihrer doch versichern können. Und dennoch ein Mensch bleme macht. Und er <weiß> im tiefsten Innersten, dass erlebte Myste­
bleiben. Mit den irdischen Träumen eines Menschen. Von denen man rien weder eindeutig sind noch lösbar, dass sie also keine Rätsel sind,
doch so oft nicht weiß, ob sie eigentlich gut oder böse sind. Oder ir­ deren Lösungswort man finden und die man damit als Rätsel zerstören
gendwo dazwischen. könnte. Was unser Student vermutlich möchte, ist, zu erreichen, dass
Das Einzige, das er weiß, unser armer Student, das ist, dass er aus das Geheimnis schlechthin sich irgendwie den Sinnen offenbart und da-
seinem dunklen Wirrsal erlöst werden will. Und wenn man wenigstens nüt quasi-empirisch glaubwürdig wird. Und ist es nicht die Alchemie,
reich wäre wie Hamei, dann hätte man's doch leicht, gut zu sein; und die im Magisterium demonstriert, dass die materielle Natur erlösungs­
wenn das zu kleinkrämerisch sein sollte, dann mag unser Studiosus sich fähig ist und erlöst werden kann? Dabei kann das tiefe erschütternde
immer noch gesagt haben: Wenn man das könnte, was Hamei konnte, Erlebnis dieser Erlösung doch nur ein Symbol dafür sein, dass auch die
dann hätte man's doch leicht, gut zu sein. menschliche Natur erlösungsfähig ist und erlöst werden kann.
Kurz, so offiziell und so dogmatisch festgelegt, w ie sie waren, Aber aU das, wir vermuteten es schon, ist unserem Studenten nicht
schienen die Mysterien der Kirche die reichlich peinlichen, die eben recht bewusst. Er denkt daran, wie erfüllter doch sein Dasein wäre.
deshalb nicht recht <eingesehenen>, die wirklich bedrohlichen Tiefen der Wenn er wirkliche Geheimnisse aufspüren und wirklich erleben könnte.
512 IV. In der neuen Welt Europas Die Suche nach dem <Selbst> 513

Und vielleicht denkt er auch daran, dass, selbst wenn er nicht ganz und Wenn wir - als Laien - Jungs Psychologie in Hinblick auf die Alchemie
gar von seiner elend-grauen geistigen Existenz hinauf auf die Ebene der skizzieren wollen, stoßen wir zunächst auf die zentrale Rolle des <Arche­
Weisheit und glücklichen Gelassenheit gehoben und damit erlöst wer­ typs) - nicht im Siime einer platonischen Idee, sondern im Sinne einer
den würde, er sich doch wenigstens von der Armut oder von der Ob­ <ursprünghchen Einprägung) im Unbewussten.^^ Im Hinblick auf die
skurität seines Daseins befreien könnte, womit er allerdings Erlösung Alchemie ist hier der Archetyp des <Schattens), der die dunkle Seite der
mit Befreiung verwechselt hätte. Aber schließlich stehen damals wie menschlichen Persönlichkeit repräsentiert, bsonders wichtig. In Träumen
heute hinter wohl allen grundlegenden Entschlüssen im Leben die viel­ - vor allem am Anfang einer Traumserie - erscheint er in den unter­
fältigsten Motive. schiedlichsten Gestalten, mal als bedrohliches Tier, mal als Bulldozer
Wie immer auch die Motive unseres jungen Mannes gewesen sein oder als Panzer, mal als eine schwarze Gestalt, die dem Moor entsteigt -
mögen, jedenfalls schließt er sich einem Adepten an, und dieser alte also als Moormann wie ihn ein Bild im <Splendor Solis) wiedergibt -, mal
Meister vermittelt seinem bei aller Unruhe doch so gläubigen Gemüte auch als der gute alte hinkefüßige Teufel, A ll diese Gestalten drücken die
eine zwar vage, aber doch tief empfundene Hoffnimg, die stark genug ist, Bedrohung schlechthin aus, oft dabei die Bedrohung durch die eigene
ihm ein ganzes Leben lang zu erfüllen - im Guten wie im Schlimmen. Persönlichkeit. Als solche sind sie Erscheinungsformen des Schattens,
Was aber erlebte unser Student nach dem ersten Mal, an dem er sich des Bösen oder Bedrohlichen im individuellen Menschen und damit
klopfenden Herzens in ein Alchemielabor gewagt hatte? Um das her­ sind sie auch Erscheinungsformen der Angst vor der Zerstörung der
auszufinden, wollen w ir nicht noch einmal in einen Adeptenkeller Einzelpersönlichkeit in einer Massa confusa. Der Schatten ist Symptom
hineinsteigen, und w ir wollen auch nicht noch einmal in alchemischen einer Krise, die den Menschen, imd gerade auch den Alchemisten, in den
Traktaten blättern. Stattdessen wollen wir die moderne Psychologie zu Wahnsinn, in die Melancholia alchemica treiben karm. Ja, wir können
Hilfe rufen. sogar sagen, unser Student beschäftigt sich mit Alchemie, um eben dieser
Melancholia zu entgehen. Er will das wie in einem dunklen Brunnen
lockende Durcheinander seiner Seele nach <außen) verlegen, er will, um
16. Die Suche nach dem <Selbst> an den Traum des Zosimos zu eriimem, die Qualen der Initiation ver­
meiden und doch - irgendwie und in irgendetwas - initiiert werden. Das
Allerdings hat sich bisher unter den bedeutendsten Psychologen des weist auf etwas Prozesshaftes hin, und wirklich hat Jung geglaubt, in
20. Jahrhunderts nur einer intensiv genug mit der Alchemie beschäftigt, manchen seiner Patienten spiele sich ein solcher Prozess ab oder zumin­
und deshalb müssen wir ihm nolens volens folgen wie Dante seinem dest der Versuch, einen solchen <Individuationsprozess), wie er ihn nann­
Vergib Gemeint ist Carl Gustav Jung, der bedeutendste Schüler und te, zu durchlaufen.
Gegner Sigmund Freuds und Gründer der Schule der analytischen Psy­ Ein solcher Prozess, schreibt Jung, «hat zw ei prinzipielle Aspekte:
chologie, der uns ja schon im Zusammenhang mit dem Traum des einerseits ist er ein interner, subjektiver Integrationsvorgang, anderer­
Zosimos begegnet ist. <Intensiv genug beschäftigt) soll übrigens nicht seits aber ein ebenso unerlässlicher, objektiver Beziehungsvorgang. Das
heißen, dass nicht auch andere als Jung, und sogar manche vor ihm, eine kann ohne das andere nicht sein, wennschon bald das eine, bald
versucht haben, die Alcheirüe von außen zu erfassen. Während bis zur das andere mehr im Vordergrund stehen. Diesem Doppelaspekt ent­
Veröffentlichung der Arbeiten Jungs die chemisch orientierten Chenrüe- sprechen zwei typische Gefahren; die eine besteht darin, dass das Sub­
historiker die Alchemie als bloße von Aberglauben geschüttelte Pseu­ jekt die durch die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten gebotenen
dowissenschaft betrachtet haben, betonten u. a. Mary Anne Atwood geistigen Entwicklimgsmöglichkeiten dazu benützt, sich gewissen tie­
schon 1850 und sieben Jahre darauf der amerikanische General Ethan feren menschhchen Verpflichtungen zu entziehen und eine <Geistigkeit)
Allan Hitchcock die geistigen, auf die Entwicklung des Menschen ab­ zu affektieren, welche der moralischen Kritik nicht standhält; die andere
zielenden Dimensionen der Alchemie. Nicht zu vergessen sei auch das besteht darin, dass die atavistischen Neigungen zu sehr überwiegen
1914 erschienene, sehr lesenswerte Buch <Probleme der Mystik und ih­ und die Beziehung [zum anderen Menschen, etwa im der Übertragung
rer SymboHk) von Herbert Silberer, der allerdings als Psychiater und eigener Gefühlsverwirrung auf den Psychiater] auf ein primitives Ni­
Anhänger Freuds die Rolle der sexuellen Repression im alchemischen veau hinunterdrücken. Zwischen dieser Skylla und Charybdis führt der
Denken für meinen Blick zu einseitig betonte. Außerdem ist es bei dieser schmale Weg, zu dessen Kenntnis die christliche Mystik des Mittelalters
Einzeluntersuchung geblieben.^' wie die Alchemie so Großes beigetragen haben.)) (Jung (5) 249)
5H IV. In der neuen Welt Europas Die Suche nach dem <Selbst> 515

Der Versuch, einen Individuationsprozess zu durchlaufen, ist also Das Selbst ist kein Archetyp als ein eigenständiger Komplex in der
nicht ungefährhch, dies besonders an seinem Anfang. Der Alltags­ Seele, denn es umgreift alles. Es ist eine Konstellation im Immanenten,
mensch nämlich, der, im Rettungsring kleiner Eitelkeiten, Süchteleien d. h. im menschlichen Erleben, die in der Gleichzeitigkeit, im Zugleich
und Selbstbetrügereien hängend, sich im kleinlichen Hin und Her des komplementärer Erscheinungen Transzendenz aufleuchten lässt. Kon­
Lebens über Wasser gehalten hat, er sinkt zunächst <rettungslos> auf stellationen dieser Art entstehen, wenn Grundbefindlichkeiten des Men­
einen Nullpunkt, auf einen Urzustand ab, der zu einem Urbeginn, zum schen, die sich, wenn man die Logik und die Alltagserfahrung befragt,
Anfang eines Weges werden soll, der weit über das Niveau des <alten gegenseitig ausschließen, dennoch und dabei in ihrer ganzen Fülle er­
Menschen> hinausführt. Das Absinken bedeutet eine Konfrontation mit halten bleiben, und zw ar zeitlich und räumlich zugleich. Wir fühlen uns
dem Unbewussten des Menschen, und die Gefahr dieses Absinkens an den Hermaphroditen erinnert. Das Selbst ist das Eine des Menschen
liegt vor allem darin, dass der chaotische, dunkle Urzustand unaufheb­ im Alles aller menschlichen Empfindungen, es ist das Zentrum kosmi­
bar werden kann, indem er zu einer dauernden Dissoziation der Seele schen Sinns, und es ist zugleich sein eigener Widerpart im Gefühl einer
in autonome Vorstellungswelten führt. Der Mensch kann dabei von allumfassenden Absurdität. Die Integration von Grundbefindlichkeiten,
Symbolen überschwemmt werden, die er als solche nicht mehr erkennt die polar einander ausschließen, sich aber auch nicht dialektisch ver­
und also nicht von sich abhalten und als Hinweis auf noch Anderes nichten können, weil jede für sich selbst allumfassend ist, diese Integra­
begreifen kann. Das Ende ist dann Verzweiflung, Lähmung, Melancho- tion gegen alle Logik und gegen alle Empirie ist das Feld und zugleich
lia. Alchemisch gewendet ist das Ende, das kein Ende sein soll, die ein Art Beweis des Transzendenten. Das Erlebnis des Selbst ist ein Er­
Melanosis, und der Alchemist nimmt teil an der Melanosis im Gefühl lebnis des Numinosum. Das Selbst erscheint als unbewusste oder be­
der Melancholie. Wer aber auf Weisheit angelegt ist, muss eintauchen wusst nicht steuerbare Manifestation des Heiligen oder Göttlichen, und
in die Melancholie. Und muss durch sie hindurch. zwar unabhängig davon, ob der Träumer überhaupt an Göttliches
Es schließen sich also noch weitere Schritte im Prozess der Individua­ glaubt oder nicht. Dabei entsprechen die Erscheinungsformen seines
tion an, von denen der zweite gewöhnlich die Begegnung mit der <Ani- Erlebens seinen religiösen Kenntnissen. In den Träumen des Ostens er­
ma> ist, einer engelgleichen Gestalt in allen möglichen Verkleidungen, scheinen die Götter des Ostens, in denen des Westens die des Westens.
die aus dem Dunkeln heraushilft und im Verständnis des - mäimlichen «Anima naturaliter religiosa», wie Jung in Anlehnung an den Kirchen­
- Alchemisten der Soror mystica entspricht. Bei Jung gibt es - gewisser­ vater Tertullian sagt .^3 Im Erlebnis des Selbst fühlt sich der Mensch aber
maßen spiegelbildlich - auch einen männlichen Archetyp, den <Ani- auch in Harmonie mit sich selbst, er nimmt sich ganz und gar an. Des­
mus>, der entsprechend als weiser Mann, als Sankt Georg oder Ähnli­ halb auch spricht Jung in diesem Zusammenhang von einem Ganzheits­
ches auftritt und den Jung dem weiblichen Unbewussten zuordnet. Ich erlebnis. Und so etwas überschreitet genau genommen das Erlebnis ei­
bin mir allerdings nicht sicher, ob nicht auch bei Jung beide Gestalten, nes Archetyps als Erscheinungsform eines Teils, eines autonomen Kom­
gütige Fee imd weiser Zauberer bzw. alchemische Königin und alche- plexes der Psyche, denn hier dreht es sich um die Gesamtseele, um
mischer König, wenn auch gewiss mit imterschiedlicher Betonung, zur Bewusstes und Unbewusstes in Harmonie, in hermaphroditischer Ge­
seelischen Standardausstattimg des Menschen gezählt werden müssen, samtheit.
so wie beide gemeinsam zur Standardausstattimg der Märchenwelt ge­ Immer wieder wird von visionären Erlebnissen berichtet, denken wir
hören, die ja im Übrigen ihr <Selbstverständnis> mit der Welt des an Paulus, Plotin, Blaise Pascal, wer aber unter uns Normalsterblichen
menschlichen Unbewussten und der der Alchemie teilt: ob <möglich kann schon von sich sagen, dass er ein Erlebnis des Selbst je gehabt hat?
oder nicht) wird grundsätzlich nicht gefragt. Eines allerdings gilt auch für uns: «Inquietum est cor nostrum», «Unru­
Während natürlich die Erscheinung des Schattens der Melanosis ent­ hig ist unser Herz», wie Augustin es ausdrückt, und gewiss ist auch,
spricht, können wir die der Anima der Leukosis zuordnen. Ich halte dass es den Menschen, vor allem in einer Krise, hindrängt zu einem
übrigens nichts davon, die Stationen des alchemischen Prozesses an Ar­ Erlebnis des Selbst als einem Erlebnis der Ganzheit. Im Prinzip ist dieser
chetypen gewissermaßen anzuklammem: Es geht um einen allgemeinen Prozess immer gleich, sei er nun ein Vorgang, der sich ohne unser be-
Drang, der zum Lapis philosophorum bzw. zur Selbstbefreiung des vvusstes Zutun in Träumen anspielt, sei er eine Ritualhandlung, die sich
Menschen im <Selbst> führen soll. - Dieses Selbst nun bereitet uns haar­ im Rahmen eines Mysterienkultes vollzieht, sei er endlich eine Proze­
genau die gleichen Schwierigkeiten w ie der Stein der Weisen, und d. h., dur, die der Alchemist über lange Tage und Nächte in seinem Labor
mit ihm bewegen w ir uns im Bereich der Paradoxa. durchzuführen versucht. Immer entspricht er einer Initiation.
5i 6 IV. In der neuen Welt Europas Drei Fragen an die analytische Psychologie 517

i j . Drei Fragen an die analytische Psychologie Projektionen können ansteckend wirken, wobei die Ratten, die den
Bazillus übertragen, oft <Elend> und <gekränktes Selbstbewusstsein>
Wenn wir das so hinnehmen, dann müssen wir uns drei grundsätzliche heißen. Die Krankheit, die sie verbreiten, kann blanker, allgemeiner
Fragen stellen, i. Warum konnten die Alchemisten mit einem <lndivi- Hass auf <die anderen>, Hass auf ganze Teile der Menschheit sein. Die
duationshilfsmitteh arbeiten, das dem modernen Menschen und seinem Projektion legt das nach außen, was Folge einer Disposition oder Infek­
Psychiater heute nicht mehr zur Verfügung steht? 2. Unterscheiden sich tion des tiefen Inneren, des Unbewussten ist. Dabei ist uns das tiefste
die Hoffnungen der Alchemisten und die moderner Träumer und wo* Unbewusste, das, was unaufhebbar unbewusst ist, genauso unerreich­
rin? Und schließlich 3. Sind irgendwelche Hoffnungen der Alchemisten bar fern wie das tiefste Äußere, das Transzendente. Der Mensch ist sich
je erfüllt worden? selbst immer äußerlich, und der Welt um ihn herum ist er auch immer
Das Individuationshilfsmittel ist natürlich die Materie und vor allem äußerlich. Und so ist nicht entscheidend, w as sich eigentlich w o ab­
das Verhältnis des Adepten zur Materie. Für einen Menschen alchemi- spielt. Bin ich vom Teufel besessen, oder ist der Teufel eine Projektion
scher Denkungsart ist die Materie nicht nur ein theoretisches Problem, meines Unbewussten? Haben wir, wenn wir von <unbewusst> und von
dem man mit Materietheorien begegnen konnte. Er ahnt, ohne das je so <transzendent> reden, nicht bloß ein Wort, von dem wir nicht wissen,
nüchtern in Worte fassen zu können, dass ihm die Materie zugleich ver­ was es bedeutet, durch ein anderes ersetzt, von dem wir ebenfalls nicht
traut und fremd ist - ganz wie uns unser Nächster, den wir bekanntlich wissen, was es bedeutet? Genau genonunen sind es empirisch und lo­
lieben sollen wie uns selbst, uns zugleich vertraut und fremd ist, ganz gisch gleichwertige Aussagen, von einem Menschen mit bestimmtem
wie wir selbst uns ja auch zugleich vertraut und fremd sind. Eine Mate­ Verhalten zu behaupten, er sei von einem Zwangskomplex besessen oder
rietheorie mag hinreichen, wenn es um Instrumentelles und um techni­ er sei besessen von einem Teufel. Wir wissen genauso wenig, was ei­
sche Umsetzungen geht, um Atombomben oder auch um ferngesteuerte gentlich ein zwangsneurotischer Komplex ist, wie wir wissen, was ei­
chemische Reaktionsverläufe; eine Materietheorie allein reicht nicht hin, gentlich ein Teufel ist. Fest steht nur das Verhalten des Menschen und
wenn sie mehr sein soll als ein technisches Instrument zum Eingriff in die Tatsache, dass sein Ich diesem Verhalten offenbar ausgeliefert ist.
die Materie. Anders gesagt; Eine Materietheorie allein reicht nicht hin, Man erhält keine tiefere und richtigere Einsicht, wenn man einer unbe­
wenn die Gleichungen <Naturbeherrschung ist Naturerkenntnis> und kannten Ursache diesen oder jenen Namen gibt. Und doch ändert sich
<erkannte und durchschaute Natur ist Natur ohne Dämonen> nicht grei­ in gewisser Hinsicht viel und trennt die beiden Namen so weit, wie der
fen. Dem Alchemisten aber ist die Materie wie ein Spiegel und wohl wie Psychiater von Exorzisten und der Chemiker von Alchemisten getrennt
ein schwarzer Spiegel, dies, weil bei ihm die Materie noch nicht in tech­ sind. Die beiden Namen bedingen bestimmte Verhaltensweisen, dies
nisch-wissenschaftlichem Zugriff aufgelöst und gewissermaßen zerkrü­ sowohl beim Therapeuten als auch beim Patienten. Der Psychiater
melt ist zu manipulierbaren und dabei submikroskopischen, den Sinnen kennt gewisse prinzipiell interobjektiv nachprüfbare Regelmäßigkeiten
und damit dem lebendigen Erlebnis entzogenen Kleinstteilchen. Gerade in den Erscheinungen und Interaktionen einer imbekannten Ursache und
weil sie dunkel und undurchschaubar erscheint, ist das Bild, das die richtet seine Therapie danach aus, der Exorzist stützt sich auf gewisse Tra­
Materie dem Alchemisten zeigt, dessen eigenes Antlitz als Ahnung eines ditionen und Glaubensgewissheiten in Hinblick auf das Verhalten einer
inneren Antlitzes, eines Antlitzes, dessen Züge geprägt werden von un­ unbekannten Ursache und richtet seine Therapie danach aus. Und wenn
bewussten Ahnungen, Ängsten und Strebungen, aber auch von einer der Patient dem Exorzisten mehr glaubt, mag der mehr Erfolg haben
schhchten und oft wirren Phantasie, die sich von den Gerüchten, den als sein ungeliebter Kollege. Aber ist der Exorzist mit all seiner charis­
Ängsten und Sehnsüchten, vom Halbwissen und den Vorurteilen der matischen Überzeugungskraft nicht vielleicht Opfer seiner eigenen Pro­
Zeit nährt, in der der Alchenüst gelebt hat. Jung redet in diesem Zusam­ jektionen mit allen gefährlichen Konsequenzen? A u f die Konsequenzen
menhang von einer Projektion, von einem <Hinausverlegen> von Emp­ kommt es an. Im 16. Jahrhundert gab der Gegner des Hexenwahns Jo­
findungen, Wünschen und Erwartungen in die Außenwelt. hannes Weyer (Wierus) zu bedenken, dass vielleicht «alle diejenigen,
Die Fähigkeit zur Projektion macht den Menschen zu einem Wesen, denen man dergleichen Schuld gäbe. Melancholische Personen wären,
das sich auf Kosten dessen, was der oder das Andere eigentlich ist, und dahero sich einbildeten, dass sie einen Pact mit dem Teufel hätten,
entlastet. Der Mensch ist geradezu dazu geboren, nicht richtig zu se­ so, dass sie in der That mehr Erbarmens- als Strafwürdig wären». (Bied.
hen. Projektion, das ist Glanz und Elend der an anderen und anderem 458) Damit unterstellte er den Hexen, Opfer einer inneren, durch den
festgemachten Selbsteinschätzung, im Guten wie im Bösen. Arzt zu heilenden, und nicht Opfer einer äußeren, durch den Hexen-
ji8 IV. In der neuen Welt Europas Drei Fragen an die analytische Psychologie 519

jäger zu bekämpfenden Gefahr zu sein. Auch heute noch ringt ja die Durch Laborarbeit und Studien wurde die aktive Imagination nicht
Juristerei selbst bei tatsächlich begangenen kriminellen Handlungen mit nur gefördert, sie wurde auch gesteuert, sie wurde in bestinunte, von
dem Problem der Strafmündig- und Zurechnungsfähigkeit einschließ­ der Tradition gewissermaßen für zuverlässig erklärte Bahnen gelenkt.
lich der Frage, ob eine <tiefinnere Krankheit> den <Kranken> seiner Stellen wir uns vor, unser ehemaliger Student und nun nicht mehr ganz
selbstbestimmten Freiheit und damit der Verantwortung entzieht. Und so junge Alchemist habe Tag und Nacht bei schlechter Luft am Labor­
was das Problem des Transzendenten angeht, das ja in Gefahr ist, restlos feuer gewacht, geduldig, ob er nun wollte oder nicht, weil der alchemi-
<wegpsychiatriert> zu werden, so können wir ihm u. a. nüt der Frage sche Prozess wie ja auch biologische Prozesse gewöhnlich Wochen und
begegnen, ob es nicht Dinge gibt - und ist hier nicht vielleicht das tief­ Monate dauerte, immer aber auch in Angst, er könne die entscheiden­
ste, unbekannte Innere das höchste, unbekannte Äußere? -, die aus dem den Phänomene verpassen: Wie oft muss er sich vorgekommen sein, als
Menschen allein nicht zu erklären sind? Sind das nicht gerade die Dinge, taste er sich immer tiefer hinein in eine Höhle! Ihm ist unheimlich zu­
die uns klein machen, ohne uns ins Nichts verschwinden zu lassen? mute, gleichzeitig aber spürt er, dass er unwiderstehlich angezogen
Doch zurück zum engeren Thema der Projektion und speziell der al- wird von der geheimnisvollen Tiefe. Wie erdrückt fühlt er sich von all
chemischen Projektionen: Bei seelischen <Nach-außen-Würfen> handelt dem Bedrohlichen, das er um sich herum ahnt, gleichzeitig aber fühlt
es sich nicht nur um so etwas wie Zwangshandlungen, denen wir nolens er sich irgendwie geborgen, weil er weiß, dass andere vor ihm die Höhle
volens unterworfen sind. Wir können uns in Situationen bringen, die uns auf gleichem Wege durchwandert haben und nüt dem verborgenen
Projektionen erwarten - und danüt auch bewältigen - lassen; davon le­ Schatz heimgekehrt sind; alle Warnungen vor den Gefahren der Höhle
ben alle Gmselkabinette auf den Jahrmärkten. Wir können aber auch im klingen ihm im Ohr, gleichzeitig aber treibt ihn die von der Gewissheit
Helldunkel unserer Seele Projektionen regelrecht einüben, wobei es uns eines immer wieder beglaubigten Erfolges angestachelte Sehnsucht vo­
hilft, einen realen Gegen-Stand imserer Projektion zu haben, um uns ran, eine Sehnsucht nach dem Schatz, der alles übertrifft, alles über­
nicht in vage Tagträume zu verlieren. Jung neimt diese Einübung in Pro­ schreitet, Sehnsucht nach dem Schatz, der Erlösung von aller Begren­
jektionen <aktive lmagination>, eine Einbildungskraft, die den Spiegel zung bringt. Seine eigene unruhig flackernde Fackel ist seine einzige
systematisch verändert, um so das im Spiegelbild Abgebildete systema­ Lichtquelle, und sie lässt ihn nichts erkennen als das, was sie selbst an
tisch zu verändern. Die systematische Veränderung sollte zum Besseren, die Höhlenwände wirft, mal eine Kathedrale im Fels, in dem die Geister
zum Höchsten führen. Dabei aber nahm der Alchemist mit seiner ganzen der Gläubigen herumhuschen, mal Ungeheuer, die aus den steinernen
Gefühlskraft teU an dem <Objekt>, das er manipulierte, ob ihm das nun Wanden hervortreten, mal Elfen imd Feen in den Lichtreflexen über den
klar bewusst war oder nicht. Und so war es innerhalb des alchemischen dunklen Wassern der Höhlenseen.
Weltbildes durchaus vernünftig anzunehmen, dass der Prozess der Erlö­ Ein Ar-Razi, ein Geber haben vielleicht solche Augenblicke nie erlebt,
sung der Materie auf denjenigen, der diese Erlösung zustande bringt, andere Alchemisten gewiss. Und gerade in der Spätzeit, auf die sich
sozusagen zurückstrahlt. Jung gewöhnlich bezieht, wird immer wieder von <freien Im-
Kinder wissen, was da gemeint ist, denken wir nur an Puppen, die ja aginationen> berichtet, «wie wir in Wolken oder im Feuer seltsame Ge­
eine gewußte, gewollte, halbwirkliche Wirklichkeit als Lebewesen besit­ stalten von Tieren, Reptilien oder Bäumen imaginieren». (Jung (2) 289)
zen und die diese Wirklichkeit, die ja aus dem Kind stammt, auf das Kind Bei dem Weg imseres Alchemisten durch die Höhle, das sei noch
sozusagen zurückwerfen. Das Kind, das mit Puppen spielt, ist im Stand einmal betont, wirkte nicht nur die schriftliche Tradition als Hoffnungs­
einer Gnade, die auch die Gnade war, der sich der wahre Adept im an­ geber und zugleich als ein Mittel zur Stabilisierung seines Strebens. Die
deren, im religiösen Kontext rühmen konnte. In beiden Fällen ist die Natur selbst gab Hoffnung und disziplinierte zugleich. Wenn der A l­
aktive Imagination nichts anderes als ein gewolltes Spiel mit der eigenen chemist die Natur vor sich <sah>, war sie ihm wie ein reflektierender,
Vorstellung, die dabei von außen an uns herantritt. In der Alchemie mm ein spiegelnder Kristall vor einem Reflexionsgoniometer, wie ein Kri­
wurde diese Imaginationskraft im Zusammenleben des Jüngers mit dem stall, der zw ar seelische Bilder wiedergab, aber nicht wahllos, da er ja
Meister durch intensives, ja meditatives Buchstudium und natürlich wie alle Kristalle eine bestimmte Struktur besaß und außerdem vom
durch das Laborieren gefördert. «Deshalb», so sagt Richardus Anglicus, Adepten nicht wahllos, sondern in einer traditionsgebundenen Reihen­
«rate ich wegen eurer selbst, zu studieren und zu laborieren unter stän­ folge vor den Augen gedreht wurde. Nur so konnte der Alchemist -
diger Überlegung der Worte der Philosophen, aus denen die Wahrheit unbewusst wohlgemerkt - hoflen, vor unbeherrschbaren psychischen
hervorgelockt werden karm». Oung (2) 302) Erlebnissen, vor Überschwemmungen durch sein eigenes Unbewusstes
520 IV. In der neuen Welt Europas Drei Fragen an die analytische Psychologie 521

geschützt zu sein. In der Traktatensammlung <Museum hermetic i«n nicht nur die beiden Muster sich in der semipermeablen Scheibe
steht in diesem Zusammenhang: R egeln , sondern dass diese Scheibe selbst auch rückspiegelt, sodass
«Die im Schatten verborgenen Dinge erscheinen zu lassen und d< aUe drei Elemente unserer Versuchsanordnung sich ineinander spiegeln
Schatten von ihnen wegzunehmen, ist den einsichtigen Philosophe«^ zu einer Art Spielfilm, die er wie ein Kind im Puppenspiel innerlich
von Gott auf dem Weg der Natur gestattet... Alle diese Dinge gesehen miterlebt als innere Bereicherung, Beglückung und Annäherung an ein
hen, und die Augen der gewöhnlichen Menschen sehen sie nicht, abeü letztendliches Geheimnis. Beglückend oder zumindest befreiend ist die­
die Augen des Verstandes und der Einbildungskraft erfassen sie in ih-f ses Erlebnis wohl schon deshalb, weil der Alchemist, ohne sich zu ihnen
rem wahren Sein.» Oung (2) 290) bekennen zu müssen, seine eigenen seelischen Rückspiegelungen als
Um dabei das Verhältnis zwischen Buch und Retorte deutlich z u ’ Fremdphänomene erkennen und außerdem ordnen, d. h. aus dem Cha­
machen, wollen wir noch einmal ein Bild aus dem Physiklabor bemw os seiner Ängste und Sehnsüchte heben und damit anerkennen und
hen. Stellen wir uns eine optische Bank vor, auf der rechts und link» ausleben kann.
zwei irgendwie geformte, spiegelnde Lichtquellen befestigt sind und Das alles sagt nichts anderes, als dass der Adept in einer lebendigen
in der Mitte eine semipermeable, also ebenfalls spiegelnde Scheibe. Die' und zugleich dichten Welt lebt, wie ja überhaupt die Welt der Projek­
eine der beiden Quellen repräsentiert das Gebiet der chenüschen Er^ tionen, auch der guten und der bösen, eine dichte Welt ist. Aber seine
eignisse, die andere das Gebiet der sprachlichen Ereignisse, sprich der Welt ist auch eine dichte Welt aus Immanenz und Transzendenz. Die
Texte, und die Scheibe in der Mitte repräsentiert den Alchemisten, und transzendente Welt liegt der immanenten auf und ist zugleich in ihr,
zwar den lesenden imd laborierenden, der sich in das System ein­ ganz wie die von den Adepten so hoch geschätzte bunte Farbe der
bringt. Was spielt sich nun in dieser Scheibe ab? Zw ei Informations­ Grauheit der Dinge aufliegt. Wer Farben sieht, meint, sie gehörten zu
muster treffen in ihr aufeinander: Das eine stammt aus dem chemi­ den Gegenständen, die er sieht. Die Welt, so bunt wie sie ist, erscheint
schen Bereich, dem Bereich des Fassbaren, das aber zunächst ohne ihm selbstverständlich, und er spürt gar nicht, dass er in Hinblick auf
menschliche Aussage, d. h. ohne Bedeutung ist, das andere stammt aus seine optischen Fähigkeiten in einer dichten Welt lebt, während der, der
dem Bereich der bedeutungsvollen Aussage, die aber gerade in ihrer farbenblind geboren ist, zwar Sehnsucht haben mag nach dem Unbe­
<eigentlichen> Bedeutung nicht zu fassen ist. Im Idealfall kann also greiflichen, aber seine <dünnere Welt> so erkennt und begreift <wie sie
unser Alchemist hoffen, auf der Scheibe eine fassbare, wenn auch oft ihm ist>, und das heißt für ihn: <wie sie ist>.
nicht sagbare Bedeutung, ein bedeutungsvolles Bild erkennen zu kön­ Der Hinweis auf die dichte Welt der Alchemie und auch ihres kultu­
nen. Die Lichtstrahlen, die die optische Bank beleuchten, sind dabei rellen Umfeldes sagt noch nichts über die Initiations-Mühen, denen sich
Fäden von Analogiebeziehungen, von denen sich der Alchenüst gehal­ Ttäumer im Individuationsprozess und Alchemisten im Metallverede­
ten fühlt und die von ihm nicht als bloße Strukturgleichheiten, sondern lungsprozess unterwerfen. Und so sollten wir auf unsere zweite Frage
als bedeutungsvolle Phänomenentsprechungen erlebt werden. Diese zurückkommen: Unterscheiden sich die Hoffnungen der Alchemisten
Analogiebeziehungen hinüber imd herüber sind es, die den Geist des und die Hoffnungen moderner Träumer? Antwort: Jein!
Alchemisten w ie an aufgespannten Fäden an einem verlässlichen Ort Zunächst zum <Ja> im <Jein>. Das Erlebnis des Selbst, die Ekstasis, ist
zwischen den beiden Informationsquellen Chenüe xmd Sprache halten, auch bei denen, die sie erfahren haben, selten und stets von begrenzter
und darum auch braucht der wahre Alchemist das chemischen Ge­ Dauer. Das <Erlebnis des Steins>, also seine Verwendung, soll dagegen
schehen vis-ä-vis dem Textgeschehen. Der Bezug zum chemischen Ge­ zu jeder Zeit möglich sein. Außerdem ist der Stein materiell, sozusagen
schehen versichert dem Alchenüsten, dass sein Raumnetz von Analo­ die Erlösung als Reiseproviant, was ja gerade zu seinen naiven Beschrei­
giebeziehungen, das er nicht als hermetische Verstrickung, nicht als bungen geführt hat.
Zwangsjacke, sondern anscheinend als einen seine Hoffnungen imd Dem aber sei ein <Nein> gegenübergestellt, denn es scheint doch eine
damit ihn selbst bestätigenden Halt begreift, dass dieses Netz sich Brücke zwischen den Gegensätzen zu geben. In alchemischen Texten
nicht in Behebigkeit auflöst. wird ja immer wieder die Ubiquität des Lapis, also sein <Überallsein>
Die alchemische Hoffnung, die wir doch als historisches Faktum neh­ behauptet. Er ist schon da, im Höchsten und im Niedrigsten, im Gold
men dürfen, wird uns plausibler, wenn wir unseren Gedankenversuch und im Schmutz der Straße, ja sogar in der Luft und im Wasser. Der
erweitern und annehmen, dass zum einen die Informationsmuster nicht Alchemist muss ihn finden nicht er-finden. Genauso ist es mit dem
starr, sondern zeitlich wechselnd zu denken sind, und dass zum ande- Selbst, man muss es finden, nicht er-finden, und potentiell ist es überall.
522 IV. In der neuen Welt Europas Drei Fragen an die analytische Psychologie 523

denn es ist das Eine in Allem, ist Hen to pan der Gesamtseele. Und schreiten fort vom Schatten, oder besser; über den Schatten hinaus, also
genauso wie der Stein ist das Selbst eine mögliche Unmöglichkeit, ein jeder Teilerfolg bedeutete eine innere Befriedigung, dies übrigens auch,
erlebtes Paradoxon, sind doch wie schon angedeutet im Selbst alle Po­ weil er zu zeigen schien, dass der Weg zum Selbst im Prinzip möglich
laritäten der Seele - männlich und weiblich, gut und böse, bewusst und und gangbar ist. Wenn w ir das Ganze mm in die Alchemie übersetzen,
unbewusst, Gott und Mensch und so ad infinitum - integriert, ohne in köimen w ir auch hier von einem Teilerfolg reden. Auch hier konnte es
der Verschmelzung zu verschwinden. Das ist der Stein in der Seele, der Heilimg bedeuten, sich der Melanosis überhaupt ausgesetzt zu haben.
durchaus auch eine Substanz, ein Gegenstand ist, oder wie Gerhard Und auch dem Alchemisten bedeutete der alchemische Prozess, allge­
Dom sagt; «Im menschlichen Körper ist eine gewisse Substanz von meiner gesagt, der Umgang mit der janusköpfigen Natur des Menschen
hhnmlischer Natur verborgen, den wenigsten bekannt, welche zuin­ und der Materie, eine stetige Selbstversicherung, dass der Weg zum
nerst keines Medikamentes bedarf, sondern sie ist selber unverdorbenes Stein im Prinzip möglich und gangbar, und dass das letzte Ziel trotz
Medikament.» (Jung (2) 311) aller Schwierigkeiten zu erreichen ist. Ob wir nun an eine Alchemisten­
Dass es den Stein - unabhängig davon, ob er naiv oder in intellektu­ küche oder an das physikalische Praktikum mit der optischen Bank
eller Verwirmng erlebt wird - wirklich gibt, und zwar als ein alles mit­ denken: Das Laborerlebnis wird vom mystisch veranlagten Adepten als
reißendes Gesamterlebnis, das köimen wir uns mit einem Gedanken-. Sirmsuche erlebt, wobei ihm eine Art Erfüllung nicht erst in der Sinn­
oder besser Gefühlsexperiment klarmachen. Stellen wir uns vor, wir findung, sondern bereits in der Suche selbst zuteil wird, einer Suche,
wären blind und würden plötzlich sehend. Ob schmerzgepeinigt im die ihn gerade in dem unablässig-vergeblichen Streben, das Über-
unerträglichen Glanz, ob begnadet mit plötzlichem weichem Erkermen: Menschliche, das Über-Natürliche zu erreichen, in steter Berührung mit
Das Sehen wäre eine Verzauberung, eine Überwältigimg durch das ganz dem wahrhaft Transzendenten hält. So wird der Weg zum Ziel das Ziel
Andere. Die Hoffnung auf Überwältigung steckt, glaube ich, auch in der selber.
sonst unbegreiflichen Suche nach Gefahr, und handle es sich auch nur Solange aber der alchemische Prozess prinzipiell möglich war, war
um die albernsten Neckermann-Abenteuer im touristisch erschlossenen seine Erfolglosigkeit, wenn es denn wirklich Erfolglosigkeit war, kein
Urwald. Argument gegen ihn. Jung betont, dass ja auch in Hinblick auf die Er­
Der Stein ist da, wir scheinen uns nur bücken, nur <unsere Rücken fahrungen der <Gnade> oder des <Schönen> oder des <Guten> «keine
krümmen> zu brauchen. In der Materie zu unseren Füßen, sprich in den ernstliche Quest aussichtslos [ist]». (Jung (3) 120) A u f Leute, die sich auf
banalen Ereignisses des Alltags, liegt er als die Erfahmng, als der A u­ die Alchemie einließen, muss sie eine besondere Faszination ausgeübt
genblick. Das dauernde Bemühen, aufzuheben, was wir doch haben, haben. Einerseits war die Bewältigimg von Archetypen wie Schatten
begründet, glaube ich, wam m die Alchemisten mit geradezu frappie­ und Anima bereits ein die ganze Persönlichkeit des Alchenüsten ergrei­
render Sturheit immer wieder dasselbe getan haben: Den Stein hatten fender Erfolg, andererseits ist der Alchemist seinen Archetypen ja nicht
sie - in gewisser Weise -, aber sie konnten ihn nicht festhalten. «Alle wirklich, d. h. in seinem Inneren begegnet, er ist, wir sahen es schon,
Lust w ill Ewigkeit», w ie Nietzsche sagt, und gerade das kann der Stein den Abstiegsqualen des wahren Mysten ausgewichen auf das Feld des
nicht leisten. Objektiven, der Psychologe würde vielleicht sagen, auf ein Feld wie das
Und wie steht es mit der dritten Frage: Sind irgendwelche Hoffnun­ des recovered memory, wenn es die Erinnerung <objektiviert>. Der Adept
gen der Alchemisten je erfüllt worden? Die Antwort ist wiederum; Jein! hat die Geister, die er rief, in die Materie projiziert und eben deshalb
Als ungläubige Thomasse glauben wir natürlich nicht, dass - sehen wir bewältigt. Eine Überflutung durch das Unbewusste blieb dabei so lange
von ein paar Kernphysikern ab - irgendjemand Gold aus Nichtgold vermieden, wie der Alchenüst sich im Laboratorium mit seinem Werk
gemacht, geschweige denn den Stein der Weisen besessen hat. abmühte.
Dem steht aber - zumindest für die mystisch orientierten Adepten - Glanz und Elend seines Tuns war eben, dass der Alchemist versuchte,
ein <Ja> gegenüber. Und dieses <Ja> stützt sich auf die prinzipielle Pa­ Archetypen als chemische Körper darzustellen. Nachdem er sich aber
rallelität zwischen dem psychischen Individuationsprozess und dem al- mit Archetypen eingelassen hatte, wird er häufig nicht davon losgekom­
chenüschen Magnum magisterium. Von Jungs Patienten hat wohl kaum men sein, und nun war er verdammt deizu, sie immer wieder im halb­
jemand das Erlebnis des Selbst erreicht. Und dennoch konnte es schon wegs Ungefährlichen, in der Materie, entstehen zu lassen. Und wieder
Fortschritt, Befreiung aus einer Krise oder Heilung bedeuten, sich dem und wieder ging es um ein Paradoxon, denn der Lapis, der ja der Stein
Individuationsprozess überhaupt gestellt zu haben. Und jedes Fort­ der allumfassenden Weisheit sein sollte, bedeutete einerseits ein Eins-
5^4 IV. In der neuen Vielt Europas Drei Fragen an die analytische Psychologie 525

Sein mit allen Dingen, eine Participio mystica, anderseits eine Befreiung 1 lieh toleranteren Menschen geformt als jenen seine Überzeugungen fa­
von der Verfallenheit an die Welt, die den Menschen nicht nur unwis­ natisch und mit dem Anspruch auf ausschließlich Richtigkeit verfech­
send und sterblich macht, sondern auch zum Opfer seiner eigenen Vor­ tenden Franziskanermönch Ulmannus.» (Junk. 68)
stellungen. So bedeutet der Stein All-Wirken und All-Wissen, aber das Und auch die Kritik von noch anderer Seite hat durchaus ihre Berech­
Wirken-Können musste stets a k moralisch gebunden verstanden imd tigung. Wenn der Geisteshistoriker Titus Burckhardt dem Psychiater
das Wissen-Können - wenn auch unausgesprochen - als Fähigkeit be­ Jung vorwirft, er unterschlage die kosmische Dimension der Alchemie
griffen werden, über den Dingen zu stehen, d. h. sie sich vom Leibe zu zugunsten einer ausschließlich psychologischen, dann lässt er den
halten. Damit übergreift der Stein sowohl den Begriff des Symbols als Adepten schon deshalb mehr Gerechtigkeit angedeihen, weil er die Welt
auch den des projizierten Komplexes. Wie die echten Symbole und die bewusst mit deren Augen zu sehen versucht. Und in deren Sicht ist
projizierten inneren Vorstellungen steht auch der Stein für mehr und manches auch außerhalb allen Psychologisierens durchaus vernünftig,
anderes als das dinglich Wahrgenommene. Aber als Symbol ist er Part­ das uns gelinde gesagt merkwürdig vorkommt. Denken wir nur an die
ner des äußeren Objektes, des Symbolisierten, als projizierter Komplex RoUe der Erfahrung in der Alchemie.
dagegen ist er Partner des inneren Objekts: In einer Coincidentia opposi- Trotz allem hat der Jungsche Vorschlag, ims das Phänomen der A l­
torum, einem Zusammenfall der Gegensätze, ist er beides zugleich. Es chemie zu erklären, etwas Bestechendes, schon weil er uns einen Zu­
ging, wenn man die Alchemie ernst nahm, um eine betörend gefährli­ gang zu einer vernünftigen Diskussion eröffnet, auch über Dinge, die
che, eine gefährlich betörende Sache, und auch diejenigen Alchemien, Jung nicht thematisiert hat, w ie etwa die Frage, w ie im Unbewussten
in denen wir nicht diesen allerhöchsten Emst entdecken können, lebten, der menschlichen Gesellschaft, zu der ja auch die Alchemisten gehörten.
so meine ich, von einem mehr oder weniger diffusen Widerschein eben Kosmisches widergespiegelt oder gar geschaffen wird. Das soll aller­
dieses Ernstes. Das Spiel der Alchemie mit dem Schimmerlicht dieses dings kein Urteil darüber sein, ob Jungs Traumdeutungstheorie über­
Ernstes, mit dem Spiegel, mit dem Erahnten, mit dem halb schon Be­ haupt zutrifft, ob die Erzählung vom unbewussten Individuationsweg
griffenen, Erfühlten, konnte so zur Zwangshandlung, zu einer Droge angesichts des wirren Durcheinanders unserer nächtlichen Traumerleb­
werden, wie die fast nicht mehr materiellen, weil in winzigsten Mengen nisse nicht ein Mythos ist, eine Erzählung, die unbeweisbar wahr er­
wirksamen Morphine. scheint und als Mythos einen anderen Mythos stützt. «Obscurum per
Der Vergleich mit Rauschgiften soll auch andeuten, dass ich nicht obscurius, ignotum per ignotius» - «Das Dunkle durch das Dunklere,
sicher bin, dass der alchemische Prozess unter psychologischen Aspek­ das Unbekannte durch das Unbekanntere»? (Jung (2) 284) Ich kann das
ten immer eine Weg <ins Positive> war. Selbst wenn die Phase der Me- nicht beantworten und setze einfach voraus, dass, selbst wenn persön­
lanosis nicht zu einer psychischen Dissoziation geführt hat, wenn also liche Vorwegurteile eine Rolle spielten, die Traumdeutungstheorie em­
die Bedrohung durch die Melancholia alchemica überstanden wurde, pirisch genügend gestützt ist, um sie als induktiv gesichert gelten zu
konnte der ganze alchemische Prozess in einen Selbstbestätigungsstm- lassen.
del führen, der nicht die innere Befreiung brachte, sondern eine in Nun sollte aus Jungs psychiatrischer Sicht die Alchemie die Träume
labilen Gemütern sicher schon angelegte Verklemmung nur verstärkte. seiner Patienten deuten helfen und nicht umgekehrt. So hat er sich aus
Ein Beispiel ist hier Ulmannus, der gerade deshalb für uns so interes­ der Alchemie genommen, was er brauchen konnte, ohne Rücksicht auf
sant ist. Seine Vorstellung von der untrennbaren Einheit Marias mit ihre historische Tiefe, auf ihre verscheidenen kulturellen Hintergründe
Jesus passt gut zu der männlich-weiblichen Vereinigung in der chymi- und die Vielfalt ihrer Bestrebungen und Ziele. Kann er uns damit, außer
schen Hochzeit.^4 Und Ulmannus behauptet ja auch, dass jeder Mensch mit Erklärungen dafür, dass Alchemie überhaupt möglich ist, bei genuin
zugleich über gute und böse Eigenschaften verfüge und sich eben des­ historischen Fragestellungen helfen?
halb läutern könne und müsse, ganz so, wie auch das Metall sich läu­ Eine der wichtigsten war doch folgende: «Warum wurde ein mensch­
tere. Im Laufe seines Traktats geht er dann aber dennoch mit solchem liches Unternehmen, das grundsätzlich im Fehlschlag endete, über Jahr­
Fanatismus auf die Unkeuschen und Ungläubigen los, die ohne Um­ hunderte und in ganz unterschiedlichen Kulturen wieder und wieder
stand getötet werden sollen, dass sogar einem braven Durchschnitts­ wiederholt?»
gnostiker unheimlich werden könnte. Ist das eine Quest nach dem Ein Teilantwort darauf wird durch die Aussagen der analytischen
Selbst? Psychologie gestützt. Anscheinend haben die Alchemisten ganz wie die
«Ein Individuationsprozeß im Sinne Jungs h ätte... wohl einen erheb­ Menschen, die einen Individuationsprozess durchlaufen, ihre Misserfol­
526 IV. In der neuen Vielt Europas Chemie und Alchemie 527

ge nicht als prinzipielle Misserfolge empfunden, sondern eher als Sta­ ebenfalls nicht aus, dass es geheime Bünde z. B. im Bereich der Rosen­
chel ihrer Hoffnungen. Das gilt wohl auch für die chinesischen und kreuzer und geheimnisvolle Adepten gab und gibt wie Eugene Canse-
indischen Adepten. liet und sein Lehrer Fulcanelli. Genauso wenig schließt es aus, dass in
bestimmten Kreisen eine Art paracelsischer Medizin weiterverfolgt
wird, wofür die Person eines Alexander von Bemus ein treffendes Bei­
j 8. Chemie und Alchemie spiel ist. Und schließlich schließt die Behauptung auch nicht aus, dass
es immer wieder so sehnsuchtsvolle wie unkritische Menschen gibt, die
Nachdem wir hoffen können, mit Hilfe von Jung eine halbwegs befrie­ Unverstandenes sowohl von Seiten der Alchemie als auch von Seiten
digende Antwort auf unsere Frage nach der Lebenskraft der Alchemie der Naturwissenschaften zu höherer Weisheit zusammenkleben wollen.
gefunden zu haben, bleiben uns die beiden übrigen Fragen, die wir uns Als Beispiel nenne ich ein aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts
schon in Ägypten gestellt hatten. stammendes, esoterisches Pamphlet eines gewissen Dr. Musallam, das
Zum einen; Warum ist die Alchemie nicht so alt, w ie sie selbst be­ dem Gläubigen so gut wie alles verspricht.
hauptet, warum also stammt sie idcht aus <vorzeitlichen Zeiten>, son­ Dennoch: Als historisch lebenskräftiges Phänomen ist die Alchemie
dern ist erst in relativ späten Zeiten der Menschheitsentwicklung ent­ zugrunde gegangen, und das gilt auch für die Alchemien der nichteu­
standen und dazu noch in ganz verschiedenen Kulturen? ropäischen Kulturkreise, ln China, in Indien und in der arabischen Welt
Zum anderen: Wenn sie denn so zäh war, dass sie verschiedene Kul­ scheint die klassische, die <zweikomponentige< Alchemie in den Jahr­
turen und verschiedene Epochen überlebt hat, warum ist sie dann doch hunderten nach dem ersten nachchristlichen Jahrtausend langsam ver­
zugrunde gegangen? fallen zu sein, doch erst der Kontakt mit den westlichen Kolonialimpe­
Letzteres schließt die Behauptung ein, dass sie zugrunde gegangen rien hat sie, bis auf Reste, die möglicherweise in Indien bis heute über­
ist, zumindest als eine für unsere heutige Kultur relevante und von lebt haben, vollends zerstört. Wie uns die Geschichte vom alchemischen
unserer heutigen Kultur anerkannte Bewegung. Für mich ist die Alche­ Betrüger in der Novelle des Li Yu-chen zeigt, war der Glaube an den
mie, wie ich sie definiert habe, als kulturell bedeutsames Unternehmen Erfolg der Alchemie noch im 19. Jahrhundert stark genug, gebildete,
mit dem Ende des 18. Jahrhunderts im europäischen Kulturkreis ver­ wenn auch naive Menschen zu ruinieren. Und ganz im Westen, in Ma­
dorrt. Der ganz unverdächtige, weil an die Alchemie glaubende Karl rokko, hat der Sultan M ulay al-Hasan ibn Muhammad Ende des
Christoph Schmieder meinte schon 1832 seufzend; «Man dürfte glau­ 19. Jahrhimderts Hunderte von alchemischen Traktaten sanuneln lassen,
ben, dass die produktive Alchemie seit 1800 zu den Arabern zurückge­ in der Hoffnung, mit dem Gold der Alchemisten seine Herrschaft zu
kehrt sey, von welchen sie ausging.» (Schmie. 598) festigen und die Unabhängigkeit seines Landes gegen Frankreich wah­
Es geht um die Gründe ihres Dahinsiechens in Europa. Das Wort von ren zu können. Die Schriften dürften sich heute noch in der königlichen
einer Verkümmerung, einem Dahinsiechen schließt nicht aus, dass nicht Bibliothek zu Rabat befinden: ein ungehobener Schatz, wenn auch nicht
auch im 19. und 20. Jahrhundert Menschen versucht haben, Transmuta­ für die Alchemisten, sondern für die Alchemiehistoriker.
tionen durchzuführen. Theodore Tifferau, der um 1850 mit Hilfe von Warum aber wurde die Alchemie weltweit ins Siechtum abgedrängt,
Chlor- und Stickstoffverbindungen Kupfer und Silber zur <Goldreife> warum mag man an eine ernsthafte Alchemie nicht mehr recht glauben?
bringen wollte, ist hier eines unter mehreren Beispielen und deshalb Wenn w ir erst einmal ganz naiv voraussetzen, dass die Chemie daran
interessant, weil die Academie des Sciences es ablehnte, seine alchemi- Schuld ist, dann kann ims vielleicht ein Vergleich zwischen Chemie und
schen Rezepte überhaupt zu prüfen, wie sie ja auch keine Vorschläge Alchemie weiterhelfen. Nur müsste ein solcher Vergleich eine genauere
zum Bau eines Perpetuum mobile mehr annahm. Ein anderes, viel ernster Charakterisierung der Chemie in all ihren epistemologischen, methodo­
zu nehmendes Beispiel bietet A dolf Miethe, der, ohne alchemischen logischen, soziologischen und historischen Zusammenhängen voraus­
Träumen nachzuhängen, 1924 meinte, im elektrischen Lichtbogen Gold setzen, die auf wenigen Seiten einfach nicht zu leisten ist. Es geht nur
aus Quecksilber synthetisiert zu haben. Wenn es um Transmutation geht darum, auf einige Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Che-
und man, wie es oft fälschlich getan wird, Transmutationen für etwas nüe und Alchemie hinzuweisen.
genuin Alchemisches hält, könnte man auch Emest Rutherford und sei­ Zunächst zu den Gemeinsamkeiten. Vor einigen Jahren wurden in
ne Kollegen, die Kernphysiker, in die Liste moderner Adepten aufneh­ Österreich die Reste eines Labors ausgegraben, das wahrscheinlich aus
men. Und was ich über das Ende der Alchemie behauptet habe, schließt dem 16. Jahrhimdert stammt. Ohne weiteres Hin und Her wurde dieses

li
528 IV. In der neuen Welt Europas Chemie und Alchemie 5^9

Labor als <alcheinisch> bezeichnet, und tatsächlich hatten wohl einiget Auch die Biographien von bedeutenden Chemikern der Frühen Neu­
der damaligen Besitzer des zugehörigen Schlosses Neigungen zur ho^ zeit bieten uns keine einfach zu handhabende Möglichkeit, die Chemie
hen Kunst des Goldmachens. Es ist aber durchaus nicht klar, ob das von der Alchemie zu unterscheiden. Ein skeptischer Chemiker wie Ro­
Labor nicht ausschließlich für Mineralanalysen im Bergbau verweindt bert Boyle hatte sein Leben lang alchenüsche Interessen, und umgekehrt
wurde. Tatsächlich gibt es nicht den geringsten Unterschied zwischen kann die <chemische Seite» von Leuten, die wir als Alchemisten bezeich­
einem alchemischen und einem chemischen Labor dieser Zeit. Beide, nen, sehr stark gewesen sein. Ein Beispiel ist hier George Starkey alias
der Alchemist und der Scheidekünstler, benutzten die gleichen Öfen Irenaeus Philalethes.
und die gleichen Apparate für die gleichen Grundoperationen Filtrie­ Aber warum folgen wir dann überhaupt einem Sprachgebrauch, der
ren, Destillieren, Sublimieren usw. ja erst aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammt und erst seit dieser
Nicht einmal die laborpraktischen Grundannahmen und Methoden Zeit die Chemie deutlich von der Alchemie unterscheidet? Und wo ist
der Alchenüsten und der Chemiker waren fundamental unterschiedlich. die Grenzlinie? Gibt es überhaupt eine solche, wenn sie anscheinend
Wir können auch nicht behaupten, die Alchemie sei keine Wissenschaft, dauernd überschritten wurde? Die Polemik des 18. Jahrhunderts unter­
falls wir Wissenschaft definieren als ein Feld systematisch geordneter schied die Goldmacher von den Chemikern. Das war parteilich und
Erkenntnisse über einen bestimmten Erkenntnisgegenstand. Und da sie gestattete durchaus nicht immer einer saubere Zuordnung ins Töpfchen
sich mit Natur beschäftigte und dies sogar experimentell, kann man sie hier und ins Kröpfchen da. Und parteiüch ist auch unser Bild des A l­
als Naturwissenschaft ansprechen, sogar als die älteste überhaupt, denn chemisten und des Chemikers, wenn wir den Adepten im Spiegel einer
die der Wissenschaft eigene Verbindung von Praxis und Theorie, von Definition sehen, die ja fordert, dass der <wahre Alchemist» danach stre­
Hand- und Kopfarbeit, hat es in der Naturphilosophie nicht gegeben. be, die Materie und zugleich sich selbst von den Fesseln normaler Exis­
Dass sie nicht dem Prinzip des <Fortschritts durch Widerlegung» gefolgt tenz zu lösen. Trotz aller Parteilichkeit aber ist diese Definition histo­
ist, mag zwar gegen sie als Naturwissenschaft sprechen, allerdings nur risch begründbar und lässt zugleich eine gewisse Variationsbreite in Typ
dann, wenn man die modernen Naturwissenschaften im Augen hat. Und des Alchenüsten zu. Der jeweilige Adept kann näher am einen, dem
unter den exegetischen, den ausdeutenden Wissenschaften könnte sie chemischen, oder näher am anderen, dem spirituellen Rand unseres
auch heute noch ihren, wenn auch im wahrsten Sinne <eigenartigen> Definitions-Spiegels zu sehen sein, er kann sich auch mit Teilen seines
Platz behaupten. Dass sie, wenn man den Stein der Weisen als Gegen­ Seins bereits jenseits der Spiegelgrenzen befinden: Wenn er irgendwo
stand ihrer Bemühungen bezeichnet, vielleicht keinen Gegenstand hatte, im Spiegel erscheint, gehört er zur Alchenüe. Diese, die Alchenüe des
ist ebenfalls kein Argument gegen ihren Status als Wissenschaft. Auch wahren Alchemisten, unterscheidet sich in dreifacher Hinsicht von der
heute gibt es dergleichen: das Psi-Phänomen der Parapsychologie, ge­ Chemie: i. Zwar ist sie wie die Chenüe in wesentlichen Teilen Labortä­
wisse Krankheiten wie CFS, Chronic-Fatigue-Syndrom, oder GWS, Golf- tigkeit, aber die alchenüsche Tätigkeit besitzt moralische Implikationen,
War-Syndrom, die in Mode sind und ein ganzes Heer von Fachleuten während die Chemie diese nicht besitzt, unabhängig davon, in welchem
beschäftigen, während andere, furchtbare Krankheiten wie die Hysterie Geiste man die Ergebnisse chemischer Tätigkeit nutzt. 2. Der suchende
<aus gesellschaftlichen Gründen» für gegenstandslos erklärt werden. Zu- Blick auf ihr Gegenüber, also auf die Natur, ist ein anderer, er ist kom­
nündest für den Adepten selbst war die Existenz seines Gegenstandes plex und subjektiv, während der Blick der Chenüe analytisch und ob­
kein Problem, denn seine iimere Überzeugung trieb ihn zu einer logi­ jektiv ist. 3. Im Rahmen ihres axiologischen Weltbildes lebt die Alchemie
schen Umkehr: Nicht weil der Stein existiert, strebt der Alchemist nach von dem Glauben, dass es Materie <oberhalb» aller bekannten Materie
ihm, sondern weil er nach ihm strebt, existiert der Stein. gibt.
Und wenn wir von den Erkenntniszielen zu den Erkenntnismitteln Nun kann ein und dieselbe Person sich mal der <Moral von der Ge­
übergehen und konstatieren, dass der Glaube an die Möglichkeit einer schieht'» sehr deutlich bewusst sein, mal aber die ethische und spiritu­
Transmutation im Zentrum aller alchemischen Operationen stand, elle Seite ihres Tuns so in den Hintergrund gedrängt haben, dass sie
dann sollte uns das natürlich nicht zu dem Schluss verführen, dass alle diese nicht einmal erwähnenswert findet, mal kann sie mehr synthetisch
Chemiker mit der Alchemie auch die Transmutationshypothese ablehn­ denken, mal mehr analytisch, mal kann sie vom Glauben an Höheres
ten, dafür ist nicht nur Adolf Miethe ein Beispiel. Diese Hypothese, die getrieben sein, mal von der schlichteren Hoffnung, ein näherliegendes
sich ja auf <Fakten» stützen konnte, ist genauso wissenschaftlich akzep­ Problem der Praxis oder der Theorie lösen zu können. Kurz, statt von
tabel w ie die Hypothese schwarzer Löcher im Universum. Alchemie sollte man eigentheh von <mehr oder weniger alchemisch».
530 IV. In der neuen Welt Europas Chemie und Alchemie 531

statt von Chemie von <mehr oder weniger chemisch> reden. Dennoch zustande kam, es ging also nicht um die Frage der Materieumwandlung
ist die Unterscheidung von Alchemie und Chemie fassbar genug, dass während des Prozesses. Es ging für den Alchenüsten nicht hauptsäch­
wir mit Recht sagen können: Die Alchemie ist untergegangen, während lich um die Erlebnisse auf dem Weg zum Großen Geheimnis, es ging
die Chemie noch heute existiert. um das Erlebnis des Großen Geheinmisses selber. Die Erlebnisse auf
Die drei genannten Unterscheidungsmerkmale kommen zusammen, dem Weg spulten sich ab in einer Folge von Realanalogien, deren jeweils
wenn wir die Transmutation als einer alchemischen Idee mit der Trans­ <unterer>, materieller Partner vergleichsweise unwichtig war: Der Alche­
mutation als einer chemischen Annahme vergleichen. Hinter der alche- mist <sah> z. B. vor allem den grünen Löwen und nicht vor allem die
nüschen Transmutation stand, w ie wir ja wissen, ein axiologisches Welt­ grüne Flüssigkeit, die ihm dessen Erscheinen anzeigte. Es ging um Far­
bild, ein Weltbild, das von Wertungen bestimmt war: Es ging darum, ben, gewiss, aber nicht um Farbtöne: Ob diese oder jene Lösung etwas
die Materie von unten nach oben, von schlechter zu besser zu transmu- grünlicher oder etwas bläulicher war als beim letzten Mal, das erschien
tieren. So war der alchemische Prozess eine Einbahnstraße, die grund­ dem Adepten relativ unwichtig, genau wie er nicht beachtete, dass Säu­
sätzlich von weniger <informierter> Materie zu höher <informierter> Ma­ ren, wenn sie Metalle fressen, Luftperlen, d. h. Wasserstoff, abgeben.
terie führte, während sich parallel dazu der Mensch zu Höherem zu Wie der Drache faucht und beißt und frisst, imd ob er stinkt oder nicht,
<infornüeren> versuchte. Der Chemie ist diese Axiologie fremd. Robert das ist relativ unwichtig, auch wenn man es dramatisch schildern kann,
Boyle z. B., wir wissen es ja schon, glaubte sehr wohl an die Möglichkeit was er ist, das ist wichtig. Zwar - denken wir an Geber - sind die
einer Transmutation, und er konnte sie sogar - w ie andere Chemiker Substanzproben individuell, aber ihre Individualität ist nur insoweit
der Zeit auch - mechanistisch erklären, nämlich durch Annahme einer interessant, wie man an ihr gewisse Gebrechen ablesen kann, und nur
<Metasynkrisis>, einer inneren Umlagerung der Teilchen. Aber er, der dann interessant, wenn man diese zu Höherem beseitigen kann. Es ging
sich fast sicher war, dass es einen Lapis philosophorum gibt, er versuch­ den Adepten - nehmen wir die Vertreter des historischen Grenzbereichs
te doch auch, eine Transmutation zustande zu bringen, die vom Gold protochemischer Bemühungen der Frühen Neuzeit aus - ja auch nicht
abwärts zum Zinn führen sollte. Hätte er hier alchemisch und nicht oder nicht hauptsächlich darum, mehr Kenntnisse und gar poetische
chemisch gedacht, hätte er sein Tun verdammenswert finden müssen. Kenntnisse über die Natur zu gewinnen. Der Labor-Alchemie, und das
Aber hätte Ar-Razi moralische Bauchschmerzen gehabt, wenn er Silber ist die Alchemie, von der wir reden, die sentimentale Dünnblütigkeit
zu Blei gemacht hätte? Zumindest hat er es nicht versucht. eines <Zurück zu Natur> anzuhängen, ist postmodemer Unsinn. Allein
Boyle's Degradation of gold trennt die Hoffnungen der Alchemie von der Stein war den Adepten wahrhaft interessant, und hier kommt es -
den Zielen einer Chemie als Wissenschaft. Im Dienste dieser Hoffnung wie bei van Helmont - schon mal vor, dass sogar sein Geruch beschrie­
stand auch die alchenüsche Naturbeobachtung, die deshalb zwangsläu­ ben wird, der ja genau wie das Hörbare eine nähere Beziehung zw i­
fig eine .andere war, als w ir sie in der Chemie gewohnt sind. Eiinnem schen Subjekt und Objekt schaffen kann als das Sichtbare.
wir uns an den doch so nüchternen Geber. Die Chemiker sahen das alles im wahrsten Siime des Wortes ganz
Ähnlich gibt es ja auch deutliche Unterschiede in der alchemischen anders. Und die neue Sichtweise schlug sich in ihrer Fragestellung nie­
und der cherrüschen Auffassung von Beobachtung, Experiment und Er­ der, denn die Frage: «Was passiert?», wurde bei Leuten wie Boyle und
fahrung, wobei nicht etwa die Vemimft oder die Unvernunft, sondern all seinen Nachfolgern bis heute mehr und mehr überlagert von der
die Interessenlage die Unterschiede bestimmte. Die Alchemisten hatten Frage: «Wie passiert es?» Diese letzte Frage wurde einerseits zu einem
nicht nur kein Interesse daran, ihre eigenen Annahmen, um es hochtra­ Kriterium der Chemie als Wissenschaft, andererseits zur Krux der Che­
bend zu sagen, <experimentell zu falsifizieren>, d. h. zu widerlegen, um mie, denn die Antwort auf die Frage lag gewissermaßen außerhalb der
so zu einer neuen Erkenntnis oder Entdeckung im Alltag zu gelangen. Sichtmöglichkeiten der Chemiker, d. h. im submikroskopischen Bereich
Und, fixiert wie sie waren auf den einen Weg, auf Unam viam, konnten der Materienportionen, der Korpuskeln, Atome usw. Die Chemie konn­
sie das ja auch gar nicht. Genauso hatten sie keinerlei Interesse an der te aber ihren Anspruch als Wissenschaft mit der durchaus einlösbaren
Reaktion an sich oder auch nur an der Beschreibung chemischer Zu­ Forderung bewahren, dass die Annahmen über das Wie von Reaktionen
stände, die nicht in direktem Zusammenhang mit ihrem zielorientierten sich gegenüber den Folgerungen über das Was bewähren müssen. Im
Stufenprozess standen. Darauf hat Sherwood Taylor schon 1930 hinge­ diesem Zusammenhang wird auch verständlich, dass die Sprache der
wiesen. Es ging den Alchemisten um die Produkte des Prozesses, nicht modernen Chemie selbst schon in der Weise Theorie ist, dass sie das
aber um die Frage, w ie denn das Produkt eigenthch chemisch gesehen Was imd das Wie vermischt. Um ein Beispiel zu nennen: Wir erhitzen
532 IV. In der neuen Welt Europas Rätsel und Geheimnis 533

ein Stück Blei und verwandeln es in ein gelbes Pulver. Das gelbe Pulver wenn die Teilchen genau begrenzt zueinander passen, d. h., wenn auch
nennen wir Bleioxid, PbO. Das aber heißt nichts anderes als: Ich glaube die Wörter unserer Sprache präzise eingegrenzt und eindeutig sind,
an eine Theorie, derzufolge das Element Blei bei Temperaturerhöhung dann ist das Rätsel gelöst. Zugegeben: Das ist reichlich verkürzt gesagt
das Element Sauerstoff aus der Luft aufnimmt und sich so zu einer und mag so manchen Wissenschaftstheoretiker, der gern etwas von
Verbindung aus genau zw ei Elementen umwandelt, wobei eine Verbin­ <Disziplinären Matrizes> usw. gehört hätte, erschaudern lassen - und
dungseinheit aus einer stöchiometrischen Einheit Blei und einer stöchio­ manchen Wissenschaftshistoriker auch, der doch immer wieder fest­
metrischen Einheit Sauerstoff entsteht. Angefangen mit der Behaup­ stellt, wie <schmuddelig>, wie unlogisch der so genannte <Entdeckungs-
tung, dass Blei und Sauerstoff Elemente sind, ist - oder war - keine von zusammenhang> im Gegensatz zum <Rechtfertigungszusammenhang>
diesen Aussagen sinnlich nachprüfbar, und doch sind sie alle wahr in oft ist. Aber das Bild vom Kreuzworträtsel bzw. Puzzlespiel soll unseren
dem Sinne, dass ihre Folgerungen nachprüfbar sind. Eine Folgerung Blick auf drei wesentUche Bestandteile des naturwissenschaftlichen Er­
etwa ist die, dass es gleichartige Typen von Reaktionen gibt, zu denen kenntnisprozesses richten:
auch der Typ <Oxidation> gehört. - auf die Zergliederung komplexer Phänomene, die aber schon aus der
Komplexität aller, die Welt konstituierenden Phänomene gewisser­
maßen herausgeschnitten sind, bis hinunter zum Unzergliederbaren,
19. Rätsel und Geheimnis zum Atomaren im klassischen Sinne,
- auf das Spiel mit vorliegendem Material, was bedeutet, dass der Na-
Den Adepten aber ging es ja nicht um die Theorie chemischer Reaktio­ hirwissenschaftler in nur einer Ebene, der der Empirie, denkt und
nen, sondern um eine wechselseitige Erlösung, und zwar im Rahmen handelt,
dessen, was man die drei, der Chemie fremden großen <I>der göttlichen - und auf die selbstverständliche Voraussetzung, dass ein Problem, das
Kunst nennen mag: <Imitation>, <Initiation>, <Individuation>. Dabei spiel­ als genuin naturwissenschaftliches erkannt ist, auch lösbar ist oder sein
te sich die Erlösung ab in einem Bereich, der uns heute nahezu unver- wird.
ständhch ist, im Bereich nicht des Naturrätsels, sondern im Bereich des Im Umgang mit Geheimnissen ist es ganz anders. Ich meine ein tiefes
Naturgeheimnisses. Geheimnis, nicht die unzähligen flachen Geheimnisse, denen die Ge­
Um klarer zu machen, was damit gemeint ist, sei zunächst gesagt, wohnheit ihren Geist rmd ihren Reiz genommen hat. Ein tiefes Geheim­
dass es offenbar zw ei Erscheinungsformen der unbekannten Existenz nis kann man nicht lösen, denn es ist kein Ausschnitt, und es ist nach
gibt: Sie erscheint als Rätsel oder sie erscheint als Geheimnis.^^ Wenn innen und nach außen ungeheuer komplex. Nach innen verweigert sich
wir Jungs Argumenten folgen, muss das, was das Bewusstsein erobert, das Geheimnis dem Bemühen, in kleine Geheimnisse oder gar in
Rätsel sein. Puzzleteile zerlegt zu werden, nach außen ist es nicht von seinen Bezie-
Nun gibt es verschiedene Typen von Rätseln, die sich jedoch alle himgen zu allem, das um es herum ist, zu trennen. Jedes wirkliche
dadurch auszeichnen, dass sie ihrer Lösung Widerstand entgegenset­ Geheinmis ist grenzenlos und ist so das Geheimnis des gesamten Kos­
zen. Die Rätsel der Naturwissenschaften ähneln Kreuzworträtseln; Im mos: Hen to pan. Und die Tatsache, dass es verschiedene Geheinmisse
Rahmen einer bestimmten Grammatik werden die Lösungen aus klein­ gibt, führt ims in die <weise Verwirrung> der Paradoxa. Man kann über
sten Teilchen zusammengesetzt. Allerdings geht es hier auch darum, Geheinmisse reden, und zwar unendlich, wie man imendÜch über die
das Rätsel selbst samt seiner Lösung zu erfinden, wozu die Natur uns Liebe oder den Tod reden kann. Man kann sie vielleicht begreifen, aber
das Material in Form von Beobachtungen, Experimenten, Analogien lie­ man kann sie nicht fassen und w ie den Geist aus Tausend-und-einer-
fert. Das Material, das wir aus verschiedenen Bereichen und oft auch Nacht in eine Flasche zwingen, und das heißt begrenzen, und das heißt
unter verschiedenen Bedingungen zusammengetragen haben, ohne im­ ausschneiden. Das sagt auch, dass alle Geheimnisse ein Geheimnis sind.
mer seine Einordnung in ein theoretisches Gesamtbild erkennen zu kön­ Gerade wegen der Endlosigkeit nach innen - alles hängt mit allem in
nen, dieses Material zerlegen w ir durch den zergliedernden Verstand dichtem Gewebe zusammen - und nach außen - nichts ist von außen
bzw. das zergliedernde Experiment in kleine Ausschnitte, ganz wie wir zu sehen und mit anderem kritisch zu vergleichen - findet der Mensch
ein Puzzle zerlegen, das ja selbst ein Ausschnitt aus der Umgebung, ein keinen unabhängigen Standpunkt. Er ist gefangen, und diese Gefangen­
abgeschlossenes System ist. Und wenn wir das Ganze nach den Regeln schaft verhindert, dass er ausbricht aus der Tradition, die ihn in illo
unseres Verstandes wieder zusammensetzen, was wir nur können. tempore gelehrt hat, wie man in diesem Gewebe überlebt, wie man sich
534 IV. In der neuen Welt Europas Rätsel und Geheimnis 535

in ihm gehalten fühlt, ohne in seinen Verstrickungen, in den Ängsten nicht weiter unterklassifiziert wurden. Dabei beachteten die Adepten
der Welt erwürgt zu werden. sehr wohl den Unterschied zwischen rein und unrein, ja die Reinigimg
Zu behaupten, «es gibt kein Geheimnis oder in ihm steckt ein Rätsel spielte, liest man alchemische Texte, im Laufe der Jahrhunderte eine
und w ir werden noch herausbekommen, was es ist», zerstört das Ge­ immer herausgehobenere Rolle, und dies sicher aus sehr alchemischen
heimnis in uns und begrenzt das Erfassbare auf das Feld unseres ana­ Gründen: Der Mensch und die Substanz haben <reinen Herzens> zu sein,
lytischen Verstandes - und sei dieses Feld das gesamte Universum. Es um der Gnade teilhaftig zu werden, imd so kann fehlende Reinheit des
gibt hier tatsächlich ein <Als-ob>. Man kann wie eben gesagt Geheim­ Herzens genau wie fehlende Sorgfalt bei der Ofenfeuerung oder der Sub­
nisse behandeln, als ob sie Rätsel seien, und vielleicht auf diese Weise stanzmischung etwaige Misserfolge gewissermaßen wegerklären. Doch
zerstören und technisch nutzbar machen. Der Siegeslauf des Fortschritts ob rein oder nicht, das Herz, auch das eigene, ist etwas sehr Vielfältiges,
hat auf diese Weise schon viele Geheimnisse zerstört, und nicht nur zum etwas sehr Komplexes. Und niemand verlangt, dass das eine Herz wie
Schaden des Menschen. Umgekehrt kann man Rätsel auch als Geheim­ das andere ist. Das galt, so glaube ich, auch für die Substanzen. Es geht
nisse behandeln und sich ihnen damit unkritisch unterwerfen oder gar bei ihnen um die Vollendung der Erscheinungsform, denken wir an die
ein Allwissen von ihnen erwarten. Das alles zeigt, dass die Grenze flie­ <Soziologie der Chemie> des Geber. Bei den Chemikern war das anders.
ßend ist, und es erklärt vielleicht auch, zumindest teilweise, warum es Sie klassifizierten die Materie hauptsächlich auf der Basis von analy­
so viele Mischformen zwischen Alchemist und Chemiker gegeben hat. tisch reinen, d. h. genau reproduzierbaren Substanzen. Genau dieses
Und tatsächlich können ja Geheimnisse und Rätsel auch in der Alche­ <Reinheitsgebot> übrigens kam auch den chemischen Handwerkern, den
mie selbst sehr wohl koexistieren. Alle technischen Probleme - der Bau Gewerbetreibenden der Chemie und den Händlern chemischer Produk­
geeigneter Öfen, die Verbesserung der Destillation, die optimale Vorrei­ te entgegen, die sich seit Beginn der Neuzeit auf den nun weit größeren
nigung der einzusetzenden Substanzen -, sie alle können Rätsel in sich und kritischeren Handelsmärkten des aufstrebenden Bürgertums be­
bergen. Auch die Texte, die dem Alchenüsten Vorlagen, waren ihm ein haupten mussten. Und nur diese chemische Vorstellung von Reinheit
Feld der Rätsel - in geradezu tragischer Verstrickung mit dem Geheim­ erlaubte später eine stringente Unterscheidimg zwischen elementaren
nis, Wenn der Alchemist ein Buch nach dem anderen studierte, versuch­ Substanzen und chemischen Verbindungen.
te er sie eins nach dem anderen zu enträtseln, denn nur Rätsel kann Per definitionem ist es die Aufgabe der Chemie, elementare Substanzen
man lösen. Aber er hoffte zugleich, dass aus all seiner Lektüre irgendwie in chemische Verbindungen, chemische Verbindimgen in andere chemi­
das Wissen um das Geheinmis erwachsen würde - ein unauflösliches sche Substanzen oder wieder in elementare Substanzen zu verwandeln
Paradox, und wenn schon Zosimos behauptet, man müsse das Geheim­ usw. ad infinitum. Die Aufgabe der Alchemie war eine andere. Sie kann
nis schon keimen, um der Rätsel Lösung zu finden, dann zeigt das, dass in einem hier so oft wiederholten Wort ausgedrückt werden: Erlösung,
zumindest einige Alchemisten sich ihrer Lage bewusst waren. Erlösung in und von den Komplexitäten einer Welt, die zugleich spiri­
Dem wahren Alchemisten ging es eben nicht um eindeutig zu beant­ tuell und materiell ist.
wortenden Fragen, seien sie noch so raffiniert verkleidet, es ging ihm Wenn wir nun aber wissen, dass sich die Alchemie im WesentUchen
darum, Tod, Wiedergeburt und Erlösung innerlich zu bewältigen. Der als eine Exegese von Geheimnissen, die Chemie dagegen als ein Rätsel­
Adept hat das Geheimnis gepachtet, der Chemiker das Rätsel. lösungsprozess abspielt und dass Alchemisten und Chemiker grund­
Der Unterschied zwischen Geheimnissen auf Seiten der Alchemie sätzlich anders an die Natur herangehen, haben wir auch einen ^ hlüs-
und Rätseln auf Seiten der Chemie steht in enger Beziehung zu zwei sel zum unterschiedlichen Verhalten von Alchemist und Chemiker, wo­
Denkhaltungen gegenüber der Natur. Man kann sie - und das ist uns bei beide eine Person sein können.
ja seit der Überlegung zum Bild in der Alchemie schon vertraut - kom­ Wer mit Geheimnissen umgeht, ist zur Unklarheit verdammt: Klar­
plexes imd subjektives Denken vis-ä-vis analytischem und objektivem heit würde die Verteidigung eines ausschließenden Standpunktes, einer
Denken nennen. Die beiden damit gemeinten Typen des Denkens um­ ausschließenden Wahrheit gegenüber anderen Standpunkten, anderen
fassen auch zwei verschiedene Ansichten darüber, was <rein> genannt Wahrheiten bedeuten, und gerade das wollten die Adepten, die sich alle
werden konnte. mehr oder weniger im Besitz einer umfassenden Weisheits-Wahrheit
Die Alchemisten klassifizierten die Materie hauptsächlich auf der Ba­ wähnten, nicht. Klarheit in den Naturwissenschaften bedeutet aber auch
sis der Farben, die ja vor der Entdeckung der elektromagnetischen Wel­ Reproduzierbarkeit, denn im Bereich äußerer Objekte güt, dass man nur
len komplexe und subjektive Phänomene waren und zudem von ihnen beweisen kann, was man zu reproduzieren vermag. Diese Forderung
536 IV. In der neuen Welt Europas Rätsel und Geheimnis 537

übrigens führte dazu, dass die Gemeinschaft der Naturforscher ab Ende Texte zu begreifen. Aber die unvordenklichen Alten, Hermes, Moses,
des i8. Jahrhunderts alles aus der ernsthaften Auseinandersetzung mit Maria Prophetissa, haben den Elefanten gesehen, sonst wären wir nicht
der Natur ausstieß, das sich nicht reproduzieren ließ, es sei denn, man sicher, dass es überhaupt einen Elefanten gibt. Wir ahnen nur, w ir tasten
konnte es, wie bei geologischen und kosmologischen Theorien, auf Re­ nur, für die Alten dagegen war das Ganze nichts als ein Kinderspiel: sie
produzierbares abbilden. Die Alchemie wurde damit aus der Welt der haben gesehen. Der Augenblick der Wahrheit, das wäre der Augenblick
Naturwissenschaften regelrecht ausgewiesen. der Aletheria, der <Unverborgenheit>. Doch das Tuch wird sich nie ent­
Etwas kommt noch hinzu: Alle alchemischen Texte bis hin zu denen fernen lassen. Tatsächlich ist das Geheimnis des Unauflöslichen und
der Neuzeit bewegen sich in einer menschengestaltigen, anthropomor- Unendlichen nicht <technisch verborgen» und darum auch nicht <tech-
phen Welt, in einer Welt der Partizipation, der Teilhabe des Menschen nisch entbergbar».
am Gegenüber der Natur, und das bedeutet, dass die Alchemisten die­ Mit alledem haben wir zwai: eine Erklärung für die inhärenten
se Welt begriffen haben mit dem Gefühl einer Tatsächlichkeit, das wir Schwierigkeiten der Alchemie, die sie prinzipiell nicht überwinden
eigentlich nur uns selbst gegenüber haben: Die Welt ist wie der konnte, nicht aber eine ausreichende Erklärung dafür, dass und warum
Mensch, wie der archaische Mensch, der genau aus diesem Grunde die Alchemie untergegangen ist.
nicht wie wir anthropozentrisch denkt, sich selbst also nicht in den In einem erstem Versuch, eine solche Erklärung zu liefern, sollten wir
Mittelpunkt stellt und die Welt als Objekt sich gegenüber. Die Welt, noch einmal die Psychologie bemühen, und zw ar in einem kleinen
die so erlebt wird, ist nicht bloß faktisch, sie ist wahr; imd die Wahrheit Nachtrag zu Jungs Thesen. Die Vertreibung des Alchemisten aus seiner
müsste sich doch manifestieren. Aber sie manifestiert sich wie ein Le­ eigenen, inneren Mitte fand, psychologisch gesehen, in zwei Stufen
bewesen, das wir ja auch nie völlig durchschauen, sie verschleiert sich, statt. Durch die in der Neuzeit rasch fortschreitende <technische Entber-
sie verdeckt sich, sie trägt Mimikry, w ie die Tiere es auch tun. Sie ist gung» der Natur aus ihrer geheimnisvollen Verborgenheit zog sich das
ungeheuer komplex, und diese Komplexität, die nicht bloß als hoch­ Unbewusste des Menschen aus der Identifikation mit ihrem Urgrund,
differenzierte Struktur auftritt, sondern als etwas Unauflösliches, Un­ der Materie, zurück. Das heißt, dem Unbewussten gingen bestinunte
analysierbares imd Grenzenloses, diese Komplexität erleben wir als Bereiche irreversibel verloren. Und in der zweiten Stufe der Vertreibung
Geheimnis. nimmt ims gerade die Kenntnis des psychologischen Sinns der Alche­
Wie eine sicher ungewollte Parodie dieses Geheimnisses wirken die mie, gerade die Kenntnis des Mechanismus alchemischer Projektionen
Verschlüsselungstechniken, deren sich ja auch Boyle bediente, wenn er jede Möglichkeit, Projektionen als Darstellungsformen der Materie und
meinte, ein Geheimnis zu wahren zu haben. Nicht von ungefähr waren nicht als Darstellungsformen der eigenen Seele zu interpretieren.^^
Kryptologien, also Verschlüsselungstechniken, gerade in der Frühen Aber auch wenn w ir diese Vorschläge Jungs nicht bloß als Beschrei­
Neuzeit Mode: Man konnte so Dinge, die man sehr wohl gedanklich im bung eines Vorgangs, sondern als Beschreibung einer Ursache nehmen,
Griff hatte, derart verrätseln, dass sie wie Geheimnisse wirkten. Eine bieten sie uns höchstens eine Teilerklärung. Für eine weiter gespannte
besonders eindrucksvolle Verschlüsselungstechnik gab es übrigens Erklärung müssen w ir die Chemie als Hauptkonkurrentin und Haupt­
auch in der Malerei, die Anamorphose, deren Meister u. a. Hans Hol­ erbin der Alchemie noch einmal näher anschauen.
bein war. Die Anamorphose, die <umgestaltende Darstellung», lässt den Wie alle Naturwissenschaften ist und war die Chemie immer mehr
Inhalt eines Bildteils nur dann erkennen, wenn man das Bild unter ei­ als <bloße C h e m ie » .S ie ist auch Trägerin eines allgemeinen Weltver­
nem ganz bestimmten Winkel betrachtet: Schau dort den Fleck, das un­ ständnisses. Und dieses Weltverständnis hat sich seit Beginn der Neu­
klare Farbfeld, das scheinbar unerklärlich ins Bild gesetzt ist. Und du zeit dramatisch gewandelt, was wir wohl am besten am Stichwort <Wer-
suchst, gehst vor dem Bilde auf und ab, ohne Wissen, um das, was dich tehierarchie» festmachen können.
erwartet - und plötzlich stehst du überwältigt. Eine Wertehierarchie, in der es ein Oben und Unten gibt, kennt auch
Mir scheint, die Alchemisten hofften auf ein Erlebnis, w ie es die Ana­ eine feste Ordnung, mit Betonung auf fest: Oben bleibt immer oben, und
morphose bringen kann. Aber es ging ihnen, die sich ja immer auf eine unten bleibt immer unten, übrigens unabhängig davon, wer oder was
Prisca sapientia, eine uralte Weisheit beriefen, mit der Wahrheit ihres diese Positionen besetzt. Im gesellschaftlichen Bereich rechtfertigt sich
Geheinrmisses genau wie den Menschen in dem Buddha-Gleichnis vom diese Ordnung mit dem Hinweis, das sei <immer schon so gewesen»,
Elefanten, der unter einem Tuch verborgen ist. Die Texte sind wie der was im vorzeitlichen Mythos seinen Ausdruck findet. A us welchen
Elefant unter dem Tuch, das Tuch ist unser mangelndes Vermögen, die Gründen immer - wir dürfen nicht vom Hundersten ins Tausendste
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kommen - wurde dieses Werte- und Ordnungsverständnis seit Beginn in den Spalt gefallen, der sich seit der Neuzeit zwischen den beiden
der Neuzeit zunehmend unterminiert. Es wurde ersetzt durch ein Welt­ Bezirken menschlichen Erlebens auftut, und dort ist sie zerbrochen.
verständnis, das von den Elementen bürgerlicher Fortschrittsideologie Vielleicht, aber das soll nicht mehr sein als eine Vermutung, ist der
geprägt ist: Streben nach Veränderung, Streben auf in die Zukunft ge­ zeitweise Aufschwimg der Alchemie vor dem i8. Jahrhundert u. a. auf
richtete Ziele hin, damit auch eine kontinuierliche Umwertung nicht nur genau diesen Spalt zurückzuführen, dessen Opfer sie wurde. Wenn die
von Dingen, sondern auch von geistigen und gesellschaftlichen Verhält­ moderne Naturwissenschaft angetreten war, sozusagen durch kaltblü­
nissen, was wiederum zu einer Tendenz zur Offenheit, zur kollektiven tiges Hinsehen die Dämonen abergläubischer Angst zu vertreiben, in­
Offenheit auch des Erkenntnisstrebens fü h rt..., und so könnte man die dem sie die Dinge von der Uneindeutigkeit zur Eindeutigkeit brachte,
Liste noch fortsetzen. um so die Angst zur Furcht zu machen und die Furcht dann durch
Aber steckt im Streben der Naturwissenschaften nach Verbesserung technische Bewältigung loszuwerden, so erweiterte sie doch nur diesen
nicht seinerseits eine Wertung? Ganz gewiss. Doch es ist eine austausch­ Spalt, weil sie mit ihrem kaltblütigen Hinsehen die Natur nicht nur
bare Wertung, eine anthropozentrische Wertung, will sagen, nicht die genauer sah, sondern sie auch in Sichtabstand hielt. Sollten die Men­
Natur scheint diese Wertung vorzugeben, sondern der Mensch setzt sie schen, ohne es sagen und wissen zu können, gehofft haben, dass es der
willkürlich. Im Fall der neuzeitlichen Naturwissenschaften ist es eine Alchemie gelänge, eine Brücke zu bauen zwischen zw ei Welten, die sich
Wertung, die in der Kapitalwirtschaft ihren Ausdruck findet. Einer an zu trennen drohten? Vielleicht kam in dieser Umbmchsphase die Alche­
der Kapitalwirtschaft orientierten Ideologie durße keine gewissermaßen mie u. a. auch einer Sehnsucht nach umfassender Weisheit entgegen,
in Werthierarchien erstarrte Natur gegenüberstehen: Der Mensch erklär­ schien sie doch eine Art Rückbindung, eine <ReUgio> in die Wärme ur­
te sie für überall gleich-wertig bzw. für <wertig> nur im Sinne eines alter Zeiten, anbieten zu körmen.
Nutzen- und Kapitalaustausches. Das ist sicher einer der Gründe für Das hat sie überfordert. Ich w age aber nicht, zu sagen, das Aussterben
die - vom Erfolg her durchaus gerechtfertigte - Subjekt-Objekt-Spal- der Alchemie sei ein Sieg der Chemie im evolutionären Wettkampf, Das
tung, die der moderne Naturwissenschaftler zwischen sich und seinem köimte ich nur, wenn ich einer positiven Evolution von Weltbildern das
Gegen-Stand vomimmt. Aber alles hat seinen Preis, selbst die Ideologie Wort reden wollte. Wir haben aber keine Theorie, die uns sagt, es ist
des Preises und des Geldes: Der Fortschritt scheint sich heute in einem besser, 8o Jahre alt zu werden und nicht an Gott zu glauben, als 40 Jahre
Verzicht auf jede wertenden Bindung heißzulaufen, dessen Folgen der alt zu werden imd an Gott zu glauben. Ich mag und kann mich da nicht
oder die Vereinzelte durch Selbstfindungsaktionen, <die Werte in mei­ entscheiden, weil ich keinen neutralen Standpunkt außerhalb beider
nem Inneren), und durch materielle Rückversicherungen, die uns der Standpunkte habe. Das heißt nicht, dass ich, wenn ich etwas festhalte -
Erfolg eben dieses Fortschritts beschert hat, aufzufangen trachtet. Ist es Frieden, Fanatismus, Hunger, Kermtnis fremder Kulturen, Gesundheit
auch nur denkbar, dass die Alchemie in einer Welt überleben konnte, in oder anderes -, dies nicht als Maßstab eines Vergleichs nehmen könnte.
der sich herausgestellt hatte, dass die materielle Natur keine spirituellen Aber eben nur dies.
Werte besitzt - Gold ist nicht geistig wertvoller als Natrium -, und dass Der Untergang der Alchemie in der Neuzeit spiegelt das Dilemma
diese Werte, als die Materie sie noch zu haben schien, nie aus ihr selbst einer Zeit wider, die ja trotz aller Postmodemität noch die unsere ist.
kamen, sondern stets aus dem Wertesystem des Menschen? Dieses Dilemma wurde schon erwähnt, als wir von dem teleologisch
Dazu kommt der Zusammenbruch des teleologischen Naturverständ­ bestimmten Weltbild des Aristoteles gesprochen haben. Im Laufe der
nisses. Ist es auch nur denkbar, dass die Alchemie in einer Welt überleben Neuzeit hat sich die Teleologie immer mehr in den Menschen selbst
konnte, in der niemand mehr in irgendeiner Wirkung in der Natur, in zurückgezogen. Und damit ist die Verbindung des Mikrokosmos
irgendeinem Verhalten der Natur irgendein Wollen oder gar einen Mensch mit dem Makrokosmos Natur verloren gegangen. Natürlich ist
Drang zur Selbsterlösimg entdecken kann? Unter Chinesen, Arabern der Mensch immer noch ein Spiegel des Makrokosmos, denn wenn der
und Indem überlebte die Alchemie bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Kosmos seinen Siimen und seinem Verstand nicht zugänglich wäre,
westlichen Eroberer ihnen beigebracht hatten, dass die Antwort auf bei­ würde er ihn gar nicht wahmehmen. Aber er empfindet den Makrokos­
de Fragen <Nein> lautet. mos als Fremdes, als Nicht-Ich, weil in seinem inneren Spiegel, der auf­
Die Alchemie hat das Pech, dass sie sich sowohl mit der Natur imd gehängt ist zwischen Bewusstem und Unbewusstem, nur der ins Be­
ihren Ursache-Wirkimgs-Mechanismen als auch mit dem Menschen wusstsein reichende Teil des Spiegels das Außen aufnimmt. Wenn Wer­
imd seinen Sehnsüchten eingelassen hat, und so ist sie gewissermaßen ner Heisenberg behauptet, der Mensch begegne in der Natur nur sich
540 TV. In der neuen Welt Europas Alchemie als Romantik, Romantik und Alchemie 541

selbst, meint er natürlich nicht die Selbstbegegnung des Alchemisten auffällig, dass alle uns bekannten Alcheimen Spuren des Schamardsmus
mit seinem Unbewussten und der von ihm gespiegelten Natur, sondern und der Riten archaischer Metallurgie zeigen, jeweils vermischt mit be­
er meint wohl, dass die Rationalität des Menschen auf ihn selbst zu^ stimmten kosmologischen Weltvorstellungen, die alle ihrerseits archai­
rückfällt: Der Mensch begegnet sich, indem er den Grenzen seiner Ra­ sierende Tendenzen aufweisen.
tionalität begegnet. Die Geschichtslosigkeit der Alchemie in den Augen ihrer Adepten ist
durch eben diese Spuren archaischer Überlieferung am besten zu erklä­
ren. Die Zehntausende von Jahren währende Zeit des Schamanismus ist
20. Alchemie als Romantik, Romantik als Alchemie ja die Zeit vor jeder Geschichte. Das ist illud tempus und damit genau
die Zeit, auf die sich die Alcherrüsten in ihren Gründungsmythen beru­
Das Spannungsverhältnis zwischen komplexem, subjektivem Denken fen, egal ob sie von Adam oder Maria Prophetissa reden, es ist eine Zeit,
auf der einen Seite und analytischem, objektivem Denken auf der an­ auf die Begriffe wie Vorher und Nachher nicht angewendet werden kön­
deren Seite begegnet uns auch, wenn wir uns jetzt noch einmal an die nen. Nun besitzt der Schamanismus ja tatsächlich gewisse Ähnlichkei­
Frage machen, warum die Alchemie, die sich doch über Jahrhunderte ten mit der Alchemie. Auch der archaische Magier und Schamane han­
als so resistent gegen gewaltige Entwicklungen in ganz verschiedenen tierte mit etwas Materiellem, mit magischen Trärrken, Salben, Steinen,
Kulturen erwiesen hat, dennoch nicht geschichtslos ist, warum sie also imd seine oder ihre Tätigkeiten diente, um es pathetisch zu sagen, dem
einen Anfang hatte und warum die Tatsache eines Anfangs von ihren geistigen Wohlergehen der Menschen. Der Unterschied ist, dass der A l­
Jüngern nicht wahrgenommen wurde. chemist, von - man kann schon sagen: intellektuellen - Sehnsüchten
Dabei fällt zunächst auf, dass alle frühen Alchemien, stanunten sie getrieben, der Materie geistig aktiver gegenübertritt als der archaische
mm aus China, Indien oder dem Nahen Osten, bestimmte Merkmale Schamane oder Berg- und Hüttenmann. Außerdem gehörte er selbst zu
zeigen: Sie sind mit hoch entwickelter Schriftkultur verbunden - Stich­ den Leuten, gegen die er sich behaupten musste, Leuten nämlich, die
wort: die Bibliotheken der Ptolemäer -, sie berufen sich auf früheste Lesen und Schreiben konnten und das Schreiben nicht nur als Fixierung
Vorzeit - Stichwort: Prisca ars - und sie versuchen, manuelle Manipu­ von Unbezweifelbarem betrachteten. Und das schließt schon ein, dass
lationen mit geistigen Konstruktionen zu verbinden - Stichwort: Ora, der Rückgriff auf, ja, die Sehnsucht nach archaischen Zeiten nicht durch
lege, lege, lege, et inverües. eine kontinuierliche Tradition gesichert waren. Egal was die Adepten
Alle Alchemien sind nach einer Zeit entstanden, die Karl Jaspers glaubten: Ihre Prisca ars beruhte auf der Sehnsucht nach einem verlo­
<Achsenzeit> genannt hat. In dieser Zeit - zwischen dem 6. und dem renen Paradies, zu dem es keinen unvermittelten Zugang gab.
4. Jahrhundert v. Chr. - treten bestimmte Einzelpersönlichkeiten - Alle Alchemien, wenigstens da, wo sie geistige Tiefe haben, leben von
Buddha, Konfuzius, Moses, Anaximander - auf, die den Lauf der Ge­ dieser Sehnsucht nach dem Paradies, das die Erlösung von Mangel, Not
schichte entscheidend bestimmen, ja die Geschichte erst zur Geschichte und Tod bedeutet.^^ Das Paradies ist der Garten der Götter, aus dem
des Menschen machen, und zwar dadurch, dass sie dem Menschen zu der Mensch vertrieben ist. Und so wird in den Epochen vor der Erfin­
Selbständigkeit verhelfen.^® Sie lehren ihn, sich einem entscheidenden dung des Technik-gestützten Fortschrittspathos die eigene Zeit immer
kleinen Schritt zu entfernen von einer Natur, deren gefährlichen Dim- als Zeit eines Verlustes gesehen. Erst ein Ende der Zeit, wie es der Chi-
kelheiten er derart unterworfen ist, dass er sich nicht einmal weit genug liasmus bzw. der Millenarismus erwartet, könnte den Urzustand wie­
von ihnen lösen kaim, um den Begriff <Natur> als ein Gegenüber über­ der zurückbringen. In einer Welt, die die Selbstentdeckung des Men­
haupt zu kennen. Und sie lehren den Menschen, diese Trennung durch schen bereits vollzogen hat, <wussten> die Alchemisten in existentieller
Denken zu bewerkstelligen. Die Lehren vom Menschen und nur vom Weise, dass sie weder Gott noch Natur sind, sondern etwas auf sich
Menschen, von den Bedingungen seiner Existenz, konnten aber nur ge­ selbst Zurückgeworfenes. So versuchten sie, zumindest in einem Teil
schichtsmächtig werden durch das geschriebene Wort. ihres Wesens zurückzukehren in Zeiten, in denen Mensch und Götter
Vor diesem Hintergrund einer ersten Aufklärung spielte sich die Al- sich noch begegneten, d. h. in Zeiten, in denen die Trennung des Men­
chenüe in all ihren Versionen ab, wobei wir, wenn wir uns auf den schen vom transzendenten Du des Göttlichen noch nicht stattgefunden
Westen des eurasischen Kontinents beschränken, einen zweiten Schub hatte. Und das sind die Zeiten der archaischen Mythen, und es sind
aufklärerischer Weltbewältigung in der klassisch-griechischen Antike zugleich die Zeiten, die geprägt waren vom Schamanismus. Auch die
hinzurechnen müssen. Und gerade vor einem solchen Hintergrund ist Alchemisten suchten das mythische In-eins-Sein von Immanenz und
542 rV. In der neuen Welt Europas Alchemie als Romantik, Romantik und Alchemie 543

Transzendenz, weshalb sie die Geburt ihrer Göttlichen Kunst im Nebel tion war von den Motiven und Symbolen der Alchemie fasziniert. Nicht
einer geschichtslosen Zeit des Mythos zu finden glaubten, in der Her­ nur Novalis mit dem Roman der Blauen Blume <Heinrich von Ofterdin­
mes Trismegistos, Isis und Osiris, Moses und Adam auf Erden wandel­ gen», in dem es von alchemischen Anspielungen wimmelt, und auch
ten. u. a. mit seinem Gedicht über die Alchemie ist hier ein Beispiel, sondern
Zum Pathos der Transzendenz und Immanenz umfassenden Grün­ auch etwa sein Freund Ludwig Tieck mit seinem <Runenberg>, dieser
dungsmythen der Alchemisten gehörte, gewissermaßen als Spiegelbild, Erzählimg, in der in der Steinernen Tafel mit den geheimnisvollen Zei­
das ständige Mühen, die Grenzen der Immanenz zu überschreiten, ohne chen, in der Suche nach den unmöglichen Schätzen des Berges und im
dabei aus der Immanenz herauszufallen. Die Alchemisten waren Gnos­ Wahn des scheinbaren Gelingens Alchemistisches indirekt, aber deut­
tiker, die an eine ersehnte Welt jenseits dieser Welt glaubten, aber sie lich genug anklingt.
waren Gnostiker, die zugleich diese Welt gar nicht verlassen wollten. Die Affinität zwischen Romantik und Alchemie hängt, so können wir
Vielleicht ist die für Gebildete ja ungewöhnliche manuelle Betätigung vermuten, zusammen mit ähnlichen Sehnsüchten imd ähnlichen Ziel­
ein Symbol dafür. Das gilt für die Hermetiker unter ihnen, aber auch richtungen vor einem ähnlichen geistigen Hintergrund.
oder gerade auch für die Protochemiker, deren Paradiessehnsüchte doch Es ist auffällig, dass auch die Romantiker w ie die meisten Alchemi­
eher handfest auf das Jetzt bezogen waren. Es ging um Erlösung, aber. sten zu den gebildeten Schichten ihrer Zeit gehörten und dass sie sich
um Erlösung von der Welt in der Welt. Diese im Grunde paradoxe Er­ zugleich aus ihrer Zeit fortsehnten, und zw ar genau wie die Adepten
lösung fand statt und konnte nur stattfinden in einer Welt, in der sich sich fortsehnten über die Epoche hinweg, deren direkte Erben sie waren.
femmateriell gedachter Geist und grobe Materie verschränkten. Die Al­ Ganz holzschnittartig und indem ich dem Ganzen eine Pragmatik un­
chemisten, und auch, wie wir ja wissen, die Protochemiker, waren mehr terlege, die so bewusst gar nicht gewesen ist, behaupte ich; Was den
oder weniger deutlich Pantheisten oder zumindest Panvitalisten bzw. Adepten eine für ihre Zwecke umgebaute Archaik, das war den Roman­
Hylozoisten, auch in Kulturen, die wie das Christentum und der Islam tikern ein für ihre Zwecke umgebautes Mittelalter.
deutlich monotheistisch waren. In beiden Fällen ging es darum, dem analytisch-rationalen ein syn­
Mit all dem wurden die Alchemisten, so meine ich, zu Bürgern zweier thetisch-komplexes Denken gegenüberzustellen. In beiden Fällen ging
Welten, natürlich ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie waren so etwas es darum, eine Einheit von Kosmos und Mensch zu stiften, und zwar
wie Intellektuelle mit einer Sehnsucht danach, aus dem Intellektualis­ als Geheimnis, das nicht Rätsel und so auch nicht rational lösbar ist,
mus auszubrechen. Sie griffen zurück auf eine Zeit, die jeweils vor einer und das damit nur dem Begnadeten, dem Adepten, dem Dichter zuteil
Zeit lag, in der sich der Mensch im Denken von seiner Umwelt trennte. wird. In beiden, im Adepten und im Dichter, wirkt die Gnade in einer
Aber natürlich blieben die Alchemisten Erben dieser, der ihnen nahe besonderen Weise, sie wirkt als Kraft der aktiven Imagination. Im Banne
stehenden Zeit. Diese Erbschaft aus einer jeweils <aufgeklärteren> Epo­ dieser Einbildimgskraft wandten sich manche Romantiker wie eben No­
che zeigt sich an der Neigung der Alchenüe zum Euhemerismus, zur valis der Natur zu, in deren Geheimnis sie das Geheimnis des Menschen
Umdeutung alter, echter Mythen in neue, quasi rationale Mythen, die suchten, wobei sie genau wie die Adepten nicht auf etwas aus waren,
die Wandlungen der Materie erklären sollten. Die Auffassimgen der das man zweckfreie wissenschaftliche Erkenntnis neimen köimte, son­
Rosenkreuzer und Pemetys sind hier nur Beispiele.^^ Man kaim anneh­ dern auf Erlösung in einem Wissen, das den Menschen existentiell er­
men, dass in den Jahrhunderten, in denen die Alchemie in China, in greift. Grundlegend auch für die Romantiker war dabei die Vorstellung,
Indien und in Ägypten entstand, ein kulturelles Klima herrschte, das dass die Natur - wie auch die menschliche Natur - sich quasi-lebendig
dieses <euhemeristische Wollen und Denken>, wie es für die Alchemis­ in Polaritäten entfaltet, was ja auch gewaltigen Einfluss auf den Fort­
ten charakteristisch ist, geradezu zwangsläufig herausforderte. Hätten gang der Naturwissenschaften gehabt hat, denken wir nur an die ro­
technisch hoch entwickelte Staaten Europas nicht alle Kulturen vor al­ mantischen Naturwissenschaftler Johaim Wilhelm Ritter mit seiner
lem in Amerika und Afrika, die gerade die Schwelle der Archaik über­ Elektro-Chemie, an Hans Christian Örsted mit seinem Elektro-Magne-
schritten hatten, auch innerlich vernichtet, vielleicht könnten wir auch tismus, an Thomas Johann Seebeck nüt seiner Thermo-Elektrizität. Da­
von einer aztekischen oder malischen Alchemie reden. mit haben wir schon ein Stichwort; Galvanismus. In einem Märchen,
Wenn wir die Geisteshaltung fassen wollen, in der die verschiedenen das Klingsohr an zentraler Stelle im <Heinrich von Ofterdingen» vor­
Alchemien entstanden, so stoßen wir, meine ich, auf ein Wort; Roman­ trägt, spielt der Galvanismus die Rolle eines Mittlers zwischen den per­
tik. Die Romantik als Gegenbewegung gegen Aufklärung und Revolu­ sonifizierten Kräften. Der Galvanismus ist für mich - imd ich weiß, wie
544 TV. In der neuen Welt Europas Alchemie als Romantik, Romantik und Alchemie 545

unvorsichtig ich bin, das zu sagen - so etwas wie der Stein der Weisen Schichtsforschung und erweitertes Geschichtsbewusstsein bedeuten
romantischen Naturgefühls, von Novalis in das Gewand des Märchens würde.
gekleidet. Tatsächlich finden die Mythenerzählungen und Träume der Mit dem Geschichtsbewusstsein nimmt die Selbständigkeit, aber da­
Alchemisten, wie wir sie etwa im Traum des Zosimos oder in den My­ mit auch die Gebrochenheit des Menschen gegenüber der Natur und
then von der Perle oder vom Goldenen Vlies nachlesen können, ein übrigens auch die Selbstbezogenheit des Menschen zu, der sich selbst
Gegenstück in den Märchen und Träumen der Romantiker. In allen Fäl­ immer verwirrender wird. Und so kann man, glaube ich, sagen, dass
len geht es darum, ein Vieldimensionales in Einem begreiflich zu ma­ die Romantiker von der verlorenen Unschuld des Paradieses noch einen
chen. Dabei steht das Vieldimensionale als Ausdruck einer Weitsicht, in Schritt weiter entfernt waren als die Alchemisten, die ja auch weder ein
der sich Alchemie und Romantik gleichen: Hen to pan. Novalis redet Gefühl hatten für Ironie noch für Wehmut.
vom «Unum des Universums». (Schulz 143) Die Schritte w eg vom Paradies der Archaik, das gewiss kein Paradies
Aber gerade weil wir von einem ähnlichen Lebensgefühl der Alche­ war, zeigen sich auch im Begriff der Mythen und Märchen. Bei den
mie und der Romantik reden können, sind die Unterschiede nicht zu Alchemisten - Stichwort Euhemerismus - sollten die Mythen trotz ihrer
übersehen. Die Gründungsmythen der Alchemisten entzogen ihr Un­ Umdeutung zu einer verständlichen, Sprich rationalen Anleitung zu La­
ternehmen der menschlichen Geschichte, und damit hoben sie es auch borarbeit als Mythen, d. h. als unbefragte Erstantworten erhalten blei­
fort aus dem Bewusstsein, dass jede Epoche relativ zu anderen Epo­ ben. Das heißt, die Umdeutung blieb als Umdeutung im Sinne einer
chen ist; die Romantiker dagegen sehnten sich nach einem Mittelalter, Verfälschimg unbewusst. Wie anders bei den Romantikern! Der Vorden­
das zugleich eine Utopie und eine Geschichtsepoche war. Dabei waren ker der Frühromantik Friedrich von Schlegel vermisste ja gerade diese
sie sich sehr wohl dessen bewusst, dass jede Epoche in dem Bemühen, Selbstverständlichkeit des Mythos, die dem Dichter einen Halt, einen
sich zur ganzen Wahrheit, gewissermaßen zum Stein der Weisen ihrer mütterhchen Boden hätte liefern können, und forderte eine neue M y­
geschichtlichen Existenz durchzukämpfen, die gesamte ihr vorange­ thologie, deren Ausformungen aber, und das ist bezeichnend, «als
hende Geschichte mit ihren jeweiligen Annäherungen an kosmische künstlichste aller Kunstwerke» (Schulz 147) erst noch geschaffen wer­
Wahrheiten in sich aufzunehmen versucht. Darüber hinaus waren sie den müssten. Gerade die künstlichsten aller Kunstwerke sollten die er­
sich dessen bewusst, dass Geschichte auch ein Entwurf in die Zukunft neute Einheit von Mensch und Kosmos stiften.
ist. Dabei ging es den Romantikern ganz wesentlich um die Aufarbei­ Damit sind wir beim inneren Verhältnis der Alchemisten einerseits
tung Kantscher Philosophie. Mit der Kraft des Wissens und des Ge­ und der Romantiker andererseits zur Natur. Am auffälUgsten ist hier,
fühls wollten sie ein Menstruum universale schaffen, um in ihm das dass die Romantiker keine laborierende Alchemie getrieben haben. In
Ideal einer Einheit von Religion, Wissenschaft, Moral und Kunst zu erster Annäherung kann man wohl sagen, dass die Erfolge der Chemie
verwirklichen. Gold und all die anderen alchemischen Namen stehen als einer Wissenschaft ohne Wertehierarchie und ohne psychische Wech­
dabei auch für regulative Ideen der Vemunftdeutung, in denen die selwirkung zwischen Subjekt und Objekt das verhindert haben. Es ist
Empirie überschritten werden soll. Und ich meine, die Emphase man­ bezeichnend, dass die Romantiker in ihren <Tagleben> die Naturwissen­
cher romantischer Dichtungen, die uns heute stellenweise kaum mehr schaften ihrer Zeit, vor allem die Sauerstofftheorie von Antoine Lavoi-
erträglich ist, speist sich nicht aus einem Pathos des Wissens um das sier nüt all ihren Folgen, sehr wohl rezipierten. In diesem Tagleben ist
Allumfassende, sondern aus einem Pathos der Suche. Was dabei gefun­ z. B. das Wasser nicht etwa eine elementare Muttersubstanz, sondern
den wurde, paßte häufig nicht zusammen, ganz w ie heute in der Scien­ ein Reaktionsprodukt zweier Elemente. Ja die Naturwissenschaften
ce Fiction mit ihrer merkwürdigen Mischung aus - in zweifachem Sin­ wurden in bester Science-Fiction-Manier zu einem Teil der Gruselro­
ne unvermeidlicher - Technik und blaublunüg besticktem Lenden­ mantik. Das Moiföter in Mary Shelleys <Frankenstein> wird nach den
schurz: <Oh Held des Laserstrahlenschwertes, oh rette uns aus aller damals neuesten Erkenntnissen der Chemie zusammengebastelt. Der
Gefahr >. geheimnisvolle Signore Spalanzani in E. T. A. Hoffmanns Erzählung
Den Alchemisten ist so etwas vollkommen fremd. Ihre Utopie ist die <Der Sandmann) trägt den Namen eines Naturforschers aus dem
Utopie der stets nahen Zukunft, ist die Utopie des Steins der Weisen 18. Jahrhundert, der u. a. über die Fortpflanzung von Säugetieren gear­
hier und jetzt im Alchemistenlabor, wobei, es sei noch einmal gesagt, sie beitet hat. Und auch aus vielen der Erzählungen Edgar Allan Poes ist
nicht aus waren auf die kleine, früheren Erkenntnissen ein Kleines hin­ das Naturwissenschaftüche, vor allem das Magnetische und Elektrische,
zufügende Erkenntnis, die recht eigentlich Forschung und auch Ge- nicht wegzudenken. Während man aber in der Alchemie noch von ei­
546 IV. In der neuen Welt Europas

nem interagierenden Parallelismus Mensch-Natur reden konnte, der in


hermetischen Sympathiebeziehungen eine gegenseitige Beeinflusstmg
der beiden Kosmoi ermöglichte, ist daraus bei den Romantikern aller
Couleurs eine bloße Widerspiegelung geworden. In Novalis' Gedicht Notwendiges Nachwort
über die Alchemie ist nicht mehr vom Elixier als materieller Schöpfung
die Rede, das Elixier ist ganz in den Menschen zurückgenommen, ist
zu einem Gnoti seauton, einem <Erkenne dich selbst> nach langer Suche Jetzt erst, am Schluss dieses Buches, ist ein Blick auf das Ganze mög­
in der Natur geworden, die sich gerade in dieser Suche als bloßer Spie­ lich. Es ist ein Blick auf die Ziele, die ich mit meinem Text verfolgt
gel erweist. Zudem geht es hier nicht um die Erkenntnis eines empiri­ habe.
schen Ich, das dann in plattester Selbstdeutung zu irgendwelchen <hö- Ziel des Buches ist es nicht gewesen, eine umfassende Geschichte der
heren Weisheiten> führen soll, es geht um das transzendentale Selbst Alchemie vorzulegen. Ziel war es auch nicht, bisher unbekaimte histo­
Kants, das zwar nach Erkenntnis zu schreien scheint, das aber prinzi­ rische Fakten aufzudecken und in diesem Siime etwas hinzuzulemen:
piell unerkennbar ist. Ziel war es, begreiflicher zu machen, was es mit der Alchemie eigentlich
Was verbindet dann aber die Romantik, die sich doch außerhalb der . auf sich hat, und das heißt, begreiflicher zu machen, in welchem Geiste
Mauern des Heiligen Bezirks angesiedelt hat, mit der alten, der göttli­ Menschen Alchemie getrieben haben. Dabei ging es mir nicht darum zu
chen Kunst, nüt der Theia Techne? Ich glaube, Romantik und Alchemie zeigen, wie <es wirklich gewesen ist», das können wir auch gar nicht,
sind verknüpft durch ihre Sehnsucht und die Richtung ihrer Sehnsucht, wissen wir doch weniger und, was die Folgen angeht, auch mehr über
nicht aber durch ihr jeweiliges Verhältnis zu eben dieser Sehnsucht, die geschichtliche Phänomene als die jeweiligen Zeitgenossen. Es ging mir
eine Sehnsucht ist nach Erlösung. Wenn man das gewaltsam auf einen auch nicht darum, alle oder auch nur die wichtigsten Adepten vorzu­
Nenner bringen will, könnte man sagen: Die Romantiker waren senti- stellen und in sämtlichen Winkeln ihres Werkes zu beleuchten, wenn
mentalische Alchemisten und die Alchemisten waren naive Romanti­ uns das keine neue Erkenntnis über <das Eigentliche» der Alchemie ge­
ker. bracht hätte. Stattdessen habe ich mich bemüht, möglichst viel von dem
Und wenn wir mm auch zu wissen meinen, w as die Alchemisten zu sammeln, das uns die Alchemie nahe bringt, einschließlich dessen,
waren, haben wir immer noch nicht die Antwort auf die Frage, von der das zwar zum großen Tempelbezirk der Göttlichen Kunst, nicht aber zu
wir ausgegangen sind: «Quid est alchymia?» Anders gesagt: «Können den Tempeln selbst gehört. Darum habe auch Anekdotisches, Philoso­
wir alchemische Texte verstehen?» phisches, Psychologisches, Politisches usw. nicht gescheut. Kurz: Ich
Nein, wir können sie nicht verstehen, weim <verstehen> bis in den habe versucht, das, wie Golo Mann sagt, <ungemein Unterhaltende der
Glauben hinein <innerlich nachvollziehen» meint. Da helfen weder die Geschichte» aufzurufen, und zugleich versucht, zwischen der Skylla
Bibliotheken der Ptolemäer noch das Internet. Und es muss uns reichen, professoraler Unverständlichkeit, die meist mit dem Anspruch auf Voll­
verstehen zu können, warum Menschen anderer Denkungsart meinten, ständigkeit einhergeht, und der Charybdis effekthaschender Popularität
diese Texte so weit verstehen zu körmen, dass sie aus diesem Verständ­ einigermaßen unbeschadet hindurchzusegeln.
nis, ob eingebildet oder nicht, genug Gewiim, genug Kraft ziehen koim- Das hat Folgen auch für die Art, in der ich die von mir verwendete
ten, um das Unternehmen Alchemie über eine so lange Zeit am Leben Literatur präsentiere. Im Literaturverzeichnis ist nur Literatur angege­
zu erhalten. ben, die sich auf Zitate bezieht. Das bedeutet, dass wichtige Bücher
wie etwa die Werke von Hermann Kopp in der Literaturliste nicht
erscheinen, während andere von weit geringerer Wichtigkeit aufge­
führt sind. Allerdings habe ich eine vollständigere, etwa fünfzig Seiten
lange Liste der von mir verwendeten Literatur - nicht etwa aller Lite­
ratur zur Alchemie - wie auch einige Farbabbildungen unter http://
www.tu-berlin.de/fbi/alchemie ins Internet eingestellt. Sicher wird es
manchmal nötig sein, die Liste zu konsultieren, weil ich meine Zitate
bewusst - übrigens ohne besondere philologische Kritik und häufig in
eigener Übersetzung - Sekundärquellen entnommen habe, um interes-
548 Notwendiges Nachwort

sierten Lesern den Einstieg in ein weiteres Studium der Alchemiege­


schichte zu erleichtern und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ohne
Spezialbibliotheken und schwer zugängliche Primärquellen selbst zu­
rechtzufinden. Anmerkungen

I. Im Schatten der Pyramiden

I Etwa hundert Jahre nach unserem Besuch wird es von <den Christen> - was
immer man damals darunter verstehen konnte - zerstört werden. Aber zur Zeit
unseres Besuches werden die Christen selbst ja gerade mal wieder verfolgt und
halten sich folglich im Hintergrund.
z Als <Spätantike> bezeichne ich aus für mich praktischen Gründen die Epoche
zwischen den Regierungszeiten der beiden Reichsreformer Diocletian (284-305
n. Chr., Tetrarchische Reichsverfassung) und Heraklios (610-641 n. Chr., The­
menverfassung).
3 Die geringen <offiziellen> Keimtnisse in Anatomie und Chirurgie deuten darauf
hin, dass das Ansehen der möglichen Fachleute auf diesem Gebiet, der Einbal-
samierer, äußerst gering war.
4 Allerdings verwandte man bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. im oberen Tigris-Tal
ein Destillationsverfahren, bei dem Töpfe mit einer Rille am oberen Rand Ver­
wendung fanden. In den chemisch-techiüschen Papyri des 3. Jahrhunderts, die
uns noch beschäftigen werden, sind Destillationsprozesse erwähnt, ohne näher
beschrieben zu werden.
5 Zur Erklärung der Fachausdrücke sei es bei einigen Bemerkungen belassen: Bikos
oder Bikion ist ein asiatisches Lehnwort imd bezeichnet ursprünglich ein bauchi­
ges Gefäß mit engem Hals; Lopas besitzt die Bedeutung <Schale>, <Rinde>; das
Wort Chalkeion weist auf Kupfer als Material des Helmes hin, Ambix hängt mit
ana = aufwärts, hinauf zusammen und bezeichnet damit die Funktion des Hel­
mes, Ambikos ist daneben auch eine Bezeichnung für eine Schale mit aufgeboge­
nem Rand; der Begriff Rhogion hängt vielleicht mit rhoibdeein = schlürfen zusam­
men.
Im Arabischen wurde aus Ambix bzw. Ambikos das Wort Alembik. Während
dabei die Bezeichnung Ambix immer nur für den Destillierhelm verwandt w ur­
de, wurde die gesamte Apparatur oft pars pro toto als Alembik - Al-anbiq - be­
zeichnet.
6 Im alchemischen Kodex 299 der Markus-Bibliothek zu Venedig (Ende des
IO. Jahrhunderts) gibt es eine Abbildung (f. 193 v.), die im Zusammenhang mit
einer etwas missverständlichen Textstelle von 2k)simos darauf hindeuten könnte.
Bei Sublimationen wurde der Phanos verwandt, der wahrscheinlich - w ir besit­
zen keine Zeichnung - einen Schlangenkühler darstellte.
7 Im engeren Sinne wird heute nur noch H g C h als Sublimat bezeichnet.
8 Als <Ei der Philosophen> galten aber auch das Tetrasoma bzw. die Prima materia
bzw. deis Ensemble der vier Elemente.
9 Andere Autoren stellten andere Listen auf. Bei Origines (Kirchenvater, 3. Jahr­
hundert) finden wir: Blei-Satum, Zirm-Venus, Bronze-Jupiter, Eisen-Merkur,
Kupfer-Mars, Silber-Mond, Gold-Sorme; bei Olympiodoros (Alchemist, 6. Jahr­
hundert): Blei-Satum, Zinn-Merkvir, Elektron-Jupiter, Eisen-Mars, Kupfer-Venus,
Silber-Mond, Gold-Sorme; bei Stephanos (Alchemist, 7. Jahrhundert) schließlich:
55° Anmerkungen 7. Im Schatten der Pyramiden 551

Blei-Sahim, Zinn-Jupiter, Quecksilber-Merkur, Eisen-Mars, Kupfer-Venus, Silber- berrezepte «sans enthousiasme» (S. 56) niedergeschrieben, und dies in philoso­
Mond, Gold-Sonne. Diese letztgenannte Liste entspricht der dann folgenden Tra­ phischer Absicht, die er für neupythagoreisch hält. Den Hauptbeweis für diese
dition. Annahme sieht er darin, dass die Rezeptschreiber mit manchen ihrer Färbever­
10 Unter Sandarach verstand aber schon Dioskorides nicht nur das Schwefelarsen, suche mittelmäßigen Färbemitteln einen zu hohen Stellenwert gegeben und mit
sondern auch ein gelbliches Harz, das als Firnis und auch zum Räuchern benutzt ihren Färbungen chemisch kritiklos den Dreierschritt der Leinenfärberei (Entfet­
wurde. tung, Beizung, Färbung) auf wenig geeignete Materien, eben die Metalle, über­
11 Aristoteles (<Metereologica>) teilt die charakterisierbaren, reinen Substanzen des tragen hätten. - Dass die Intellektuellen, die Schreiber und Besitzer der Papyri,
Erdinneren ein in Fossilien, d. h. Steine, und Mineralerden, sowie Metalle. Der wohl wenig Beziehung zum praktischen Handwerk hatten und sich in ihren
Freund und Nachfolger von Aristoteles, Theophrast (<De lapidibus>, <Peri ton chemischen Spkulationen oft übernommen haben, und dass sie fasziniert waren
lithon>), spricht von Metallen, Steinen und Erden. von der Möglichkeit willkürlicher Änderung essentieller Eigenschaften, sei un­
12 Vielleicht ist es interessant zu wissen, dass in der Umgebung von Alexandria benommen; dennoch kann ich hinter dem völligen Fehlen metaphysischer und
Blumen regelrecht angebaut wurden. religiöser Spekulationen in P. Holm, und P. Leid, keinen spezifisch philosophi­
13 Ein <Lexikon kata stoicheion tes chrysopoieas», d. h. ein alphabetisches Lexikon schen Hintergrund entdecken.
zur Goldmacherkunst, findet sich bei Berth. (2) n, 4-17, IE, 4-18. - Auch Auflis­ 22 Für 1,4 g Purpur, womit man weniger als 100 g Leinenfasem färben konnte,
tungen von Kürzeln im Sinne chemisch-technischer Symbole gab es. (Berth. (2) mussten 12000 Muscheln verwandt werden.
1, 92-126) 23 Der Alchemist Synesios im 5. Jahrhundert macht das mit einem handfesten phy­
14 Etymologisch leitet sich das Wort <Vitriol» ab von dem Wort vitreus = gläsern. siologisch-psychologischen Beispiel klar: «Wir sagen von einem Menschen, der
15 Das Zitat lautet eigentlich - in Übersetzung von Johann Heinrich Voß; erbleicht ist, dass er grün geworden ist; es ist offensichtlich, dass er wie Ocker
«Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus. seine spezifische Qualität ändert, wenn er [von dort] zu einer goldenen Färbung
Lieber möcht' ich fürwahr dem unbegüterten Meier, übergeht.» (Berth. (2) III, 69) Die Gesichter gesunder Menschen wurden in gel­
Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun. bem Ocker gemalt.
Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.» 24 Das Wörtchen <krass» sei hier betont, denn w ir sollten nicht vergessen, dass die
((Odyssee, XI. Gesang, Vers 488-491) Hom. I I 150!.) genaue physikalische Bedeutung des spezifischen Gewichtes damals trotz der
16 Unter <archaisch>, d. h. <uranfänglich>, imd <Archaik> verstehe ich hier weder schönen Geschichte von Archimedes und der Krone des Königs Hieron durchaus
eine historische Epoche noch unmittelbar einen Kunststil, sondern eine auch im noch nicht klar war.
Tranzendenten sinnlich gebimdene Weitsicht, wie sie sich z. B. im Bergwesen 25 Schon Theophrast im 3. Jahrhundert v. Chr. erwähnt den Probierstein und
stellenweise bis weit in die Neuzeit hinein gehalten hat und in Mythen ihren schreibt seine Wirkung dem Vermögen zu, eine essentielle (Qualität aus dem
Ausdruck findet. Diese Ad-hoc-Definition des Archaischen bringt natürlich Pro­ Golde an sich zu ziehen, was impliziert, dass bereits er die Farbe des Goldes für
bleme mit sich, den Versuch einer rein zeitlich bestimmten Definition halte ich essentiell hielt. Silber übrigens wurde durch Besichtigung der erkalteten Schmel­
aber für noch problematischer, obwohl es in der Geschichtsschreibung gewöhn­ ze, die rein weiß und ziemlich weich sein musste, geprüft; Zusatz von Blei verrät
lich zumindest ein Fixdatum gibt: A uf Griechenland bezogen spricht man bis ins sich durch schwarze Färbung, Zusatz von Kupfer durch gelbliche sowie durch
6.75. Jahrhundert (490 Beginn der Perserkriege) von einer archaischen Epoche. größere Härte. Zur Reinheitsprüfung von Zinn wurde es geschmolzen und auf
17 <Fruchtbarer Boden» heißt nicht, dass es nicht noch andere fruchtbare Böden ein Papyrusblatt getropft, das veraschte, wenn das Metall rein war. Enthält das
gegeben hat, so die Taler des Hoang Ho und des Gemges. Doch im Niltal fand Zinn Blei, verbrennt der Papjmis nicht, weil der Schmelzpunkt der Legierung
die Alchemie geradezu ideale Verhältnisse für eine bestimmte Ausprägung an niedriger liegt.
sich transkultureller Grundgedanken. 26 Interessanterweise weist Bolos in seinen Schriften seinerseits auf Ostanes hin,
18 Es existieren einige Bruchstücke von Tontafeln aus Mesopotamien, u. a. aus der unter dem man - es gibt mehrere Kandidaten - hier wohl den Magier und Be­
Bibliothek des Assurbanipal, auf denen ähnliche Rezepte verzeichnet sind wie gleiter Alexanders d. Gr. verstehen kann. Für die Gleichsetzung von Bolos und
auf den ägyptischen Papyri. Es sei aber darauf hingewiesen, dass es sich auch Demokrit v. Abdera ist aber vielleicht u. a. auch ein Bericht mitverantwortlich,
bei ihnen nicht um alchemische Texte handelt. demzufolge ein weiterer Ostanes als Begleiter des Großkönigs Xerxes auf dessen
19 Der Altphilologe M. Wellmaim sieht eine neupythagoreische Tradition von Wer­ Zug gegen Griechenland den Vater des späteren Philosophen in Abdera besucht
ken magischer Physikaliteratur, die sich vor allem auf Bolos (3. Jahrhundert und ihm Magier zur Erziehung seines Sohnes zurückgelassen haben soll. Außer
V. Chr.), Anaxilaos (i. Jahrhimdert v. Chr.) imd den jüdischen Gelehrten Afrika­ zu Ostanes bekennt sich Bolos zu einem anderen weisen Lehrer, einem jüdischen
nos (Sextus Julius Africanus, 2.73. Jahrhimdert n. Clu-.) stützt. Alle drei Autoren Magier imd Zeitgenossen des Königs Salomon namens Deirdanos, dessen Schrif­
sind im P. Holm, erwähnt. ten er in dessen Grab gefunden haben will.
20 Das Dekret betraf wohl nicht speziell <die Alchemisten», sondern die Münzgie­ 27 Die Standard method ist in ihren Grundzügen zuerst von dem Alchemiehistoriker
ßer, die minderwertiges Metall, das sich nicht prägen ließ, gossen. A. Hopkins aufgewiesen worden. Hopkins hat allerdings die Weiterungen und
21 In einer eingehenen Analyse der in den Papyri geschilderten Färbetechniken Komplikationen seines Stcmdardverfahrens nicht recht zu sehen vermocht.
kommt R. Pfister zu dem Schluss, dass die Papyri weder Handbücher für ernst­ 28 Übrigens war die bewusste Herstellung schwarzer Körper nicht nur Sache der
hafte Handwerker noch für Fälscher seien. Die Autoren der Papyri hätten Fär­ Alchemisten. Auch die antiken Technitai haben sich damit beschäftigt. Sie stellten
W f
552 Anmerkungen I. Im Schatten der Pyramiden 553

ein schwarzes Asem her, und zwar durch vorsichtiges Erhitzen von Asem, Blei cher der Gedanke an ein Zusammenspiel von zw ei Elixieren bzw. Steinen: des
und natürlichem Schwefel ((P. Leid., Rez. 35) Hall. 93). Das tiefschwarze bzw. weißen, das normalerweise zum Silber tingiert, und des roten, das zum Gold
schwarzgraue und harte Produkt diente aber nicht als Ausgangspunkt weiterer tingiert.
chemischer oder gar alchemischer Entwicklungswege. Es wurde lediglich zu Me­ 37 Nach Stephanos im 7. Jahrhundert birgt der Stein sogar alle sieben Farben aller
tallintarsien verwandt, ganz wie im Mittelalter das Niello, das dem Tetrasoma sieben Planeten in sich.
recht ähnlich ist, wurde es doch hergestellt aus Silber, Kupfer, Blei, Schwefel und 38 Zuweilen bezogen sich die Rezepte nicht einmal auf <kem-alchemische> Ziele.
Borax. Man streute pulverisiertes Niello auf gravierte Edelmetallplatten, die man Gerade in den ältesten alchemischen Werken finden sich auch Hinweise etwa
erhitzte und abkühlen ließ, wobei die schwarze Masse in den Rillen des Metalls zum Färben von Perlen.
haften blieb. 39 Mein Ziel ist nicht die Küche und auch nicht der Kaffee, sondern das Kaffeetrin­
29 Die elektrische Entladimg erzeugt allerdings nicht Schwefel, sondern Ozon. ken, und das wiederum ist ein recht merkwürdiges Gebilde, das sich aus dem
30 Große Teile der griechischen Philosophie lassen sich lesen als ein Diskurs über Kaffee, einem Gegenstand, imd dem Trinken, einer Handlung, zusammensetzt
das - sinnvolle - Wort. Wie verhält sich das bloße Wort, <Epos>, zum sinnvollen und eben deshalb etwas Drittes, ein Erlebnis, ist.
Wort, <Logos>? Ist das Wort vom Menschen, und ist es damit durch <Techne> und 40 Ein Denken, das die Welt nach Werten ordnet, braucht nicht allein auf der Un­
also willkürhch gesetzt, oder ist es von Natur und damit unwillkürlich gesetzt? terscheidung <edel-unedel> zu beruhen, es kann auch in einem komplexen Ge­
NatürHch kann man nur dann, wenn man annimmt, dass Worte von Natur aus flecht verbunden sein mit anderen Unterscheidungen wie <gefährlich-ungefähr-
das Gemeinte sind oder das Gemeinte in sich aufnehmen körmen, die Natur oder lich>, <sympathisch-antipathisch>.
gar Gott durch Worte magisch beeinflussen. Darum auch sind, wie Dionysos 41 Es ist nicht sicher, ob dieser Olympiodoros (wahrsch. 6. Jahrhundert) identisch
Areopagita uns in seinem einflußreichen Werk über die <Namen Gottes> versi­ ist mit dem Alchendsten gleichen Namens.
chert, diese Namen und auch die Eigenschaften Gottes allesamt nicht die wahren 42 Auch Aristoteles' Lehrer Platon, der die vier Elemente als letztlich aus Dreiecken
und können nur negativ bestimmt werden (allwissend heißt nicht bloß alles wis­ aufgebaute stereometrische Körper ansah, setzte etwas einheitlich Materielles,
send). Um 600 n. Chr. machte der Bischof Isidor v. Sevilla die Bedeutung der d. h. eine Urmaterie voraus, und so auch die Möglichkeit einer Transmutation
Wörter zur Grundlage seiner Etymologie, indem er z. B. die Wörter mos (Sitte), zumindest der Elemente Wasser, Feuer, Luft, die aus <passenden> Dreiecken zu­
morsus (Biß), malum (Apfel), malum (Übel), mors (Tod) im Rahmen der Geschichte sammengesetzt sein sollten. Auch ein Platoniker hatte also keine Schwierigkeiten
vom Sündenfall aufeinander bezog. Erinnert sei auch an das Märchen vom Rum­ mit der Vorstellung einer Prima materia und einer Transmutation. - Übrigens
pelstilzchen. haben sowohl die platonischen Elementardreiecke als auch die aristotelische Pri­
31 Im <Lexikon der Äg)^tologie> heißt es unter dem Stichwort «Ätiologie» (Ursa­ ma materia mit den Atomen der antiken Atomisten gemeinsam, dass auch diese
chenlehre): «Häufigste imd älteste Form der Ä. im Alten Äg. ist das sog. <Wort- aller sinnlichen Erscheinung bar sind. Auch die moderne Elementarteilchenphy­
spieb, d. h. eine Verknüpfung von Begebenheiten mit mythischen Vorstellungen sik hat sich ja völlig vom <sinnlich Fassbaren) verabschiedet.
aufgrund eines phonetischen Anklangs zwischen Worten und Wortgruppen an 43 Hyle ist dabei immer nur Hyle in Hinblick auf etwas: Der Marmor z. B. ist die
sich verschiedener Bedeutimg.» Hyle der Statue, was deutlich zeigt, dass für Aristoteles die Hyle von ihrer Mor-
32 Ein Beispiel für die Wirkung, welche die Namensmagie noch heute ausüben phe untrennbar abhängig, ja durch sie definiert ist.
kann, bietet der marxistische Philosoph Louis Althusser, der in seinem Vornamen 44 Nun ist ein chemischer Umsatz ebenfalls nur bei immittelbarem Kontakt der
- Louis gleich lui - den ständigen <Beweis> seiner Nichtauthentizität sah, war Reaktionspartner vorstellbar, d. h. die gleiche Eigenschaft, die zur chemischen
Louis doch auch der Name seines gefallenen, von seiner Mutter vor allen gelieb­ Veränderung der Körper führt, lässt den Menschen überhaupt erst Körperlich­
ten Onkels. keit wahmehmen. Dabei vermittelt uns allerdings der Druck auf die Haut, der ja
33 Als neuzeitlich denkende Menschen können w ir behaupten, dass sich die Real­ auch den Tastsinn betrifft, kein Gefühl für die Spezifizität der Materie. Zw ar ver­
analogie im menschlichen Geist abspielt. Näher wird vms die Frage des <archai- mittelt er uns ein Gefühl der Materialität schlechthin, doch gibt es für Aristoteles
schen> und des <modemen> Denkens bei der Diskussion des Hermaphroditen auch Materien, die keinen <Druck> ausüben, d. h. dem tastenden Finger keinen
beschäftigen. Widerstand leisten. Denken w ir etwa an die ruhende Luft. Tastsinn und Wirk­
34 Es sei noch erwähnt, dass Zosimos zu glauben scheint, dass ein anscheinend weib­ lichkeitsgefühl hängen also eng miteinander zusammen. Wenn man feststellen
liches Theion hydor Leukosis bewirken kann. Wie andere Gnmdsubstanzen tritt will, ob ein visueller oder akustischer Eindruck durch ein materiell, also <wirk-
nämlich der Schwefel in männlicher, aber auch in weiblicher Form auf. (Berth. lich> vorhandenes Objekt hervorgerufen wird, versucht man sich gewöhnlich
(2) in, 163f.) Sollte das weibliche Theion hydor in diesem Falle Quecksilber sein? durch Tasten von der Wirklichkeit zu überzeugen. Gespenster wären demnach,
33 Dass es diese sinnesphysiologisch imd sinnesp)sychologisch paradoxe Vereini- wenn nicht Sinnestäuschungen, dann doch nur so etwas wie Halbwirklichkeiten.
gim g von Eigenschaften tatsächlich gibt, vmd zwar in der <Farbe Weiß>, war den 45 (Met. II 6, 378, a i6 -b 4 ) Steine und Mineralerden dagegen entstehen aus tro­
Alchemisten natürlich imbekannt. Erinnert sei an den geradezu messianischen ckenen Dünsten. Im Gegensatz zu vielen Bergleuten glaubte der nüchterne
Eifer, mit dem noch Goethe die Zumutimg Newtons, <Weiß> sei die Summe aller Aristoteles übrigens nicht, dass Erze in der Erde wachsen: Ihnen fehlt, wie
Farben, ablehnte. Erinnert sei aber auch an die Bemerkungen des Olympiodoros. allem Leblosen, <das nährende Prinzip). Allerdings können in riesigen Zeit­
36 Für den mittelalterlichen Alchemisten Geber ist Gelb das Gleiche wie Rot und räumen aus Dünsten neue Erze entstehen. So fern von unseren Vorstellungen
Weiß in bestimmten Proportionen. Im Hintergrund seiner Behauptung stand si­ ist das nicht, denn Erze können auch nach unserer Auffassung in Rissen der
554 Anmerkungen I. Im Schatten der Pyramiden 555

Erdkruste entstehen, w enn überhitztes Wasser - bis 400°C - gelöste Bestandteile schiedenartige Phänomene und Wirkungen wie Wärme, Wucht, Beschleunigung,
absetzt. Licht usf. gesetzmäßig miteinander verknüpfen - und technisch ausnutzen -,
46 Dabei blieben viele mögliche Fragen nach dem Verhältnis der haptischen Quali­ was uns die Richtigkeit unserer Verknüpfung bestätigt. Die pneumatische Ener­
täten zu allen anderen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften bereits bei Aristo­ gie dagegen besitzt keine rechnerische Beziehung zu Materiemengen.
teles und auch in den Jahrhunderten danach unbeantwortet. Das gilt auch für 53 «Das [die totale Durchmischung] besagt nicht, dass zwei Körper denselben
das Problem der Verbindungsbildung, das den Alchemisten allerdings keinerlei Raum einnehmen. Aber da infolge der unendlichen Teilbarkeit es keine undurch­
Kommentar wert war. dringlichen Atome gibt, können in der Krasis die Bestandteile zweier Körper so
47 Man kann auch, und viele Alchemisten taten es, gewisse Transmutationen deu­ ineinanderdringen, dass einen neue Einheit entsteht, die die Eigenschaften beider
ten als Ändenmgen der relativen Gewichtsanteile der verschiedenen Elemente vereint. Damit wird freilich die Vorstellung von der Undurchdringlichkeit der
innerhalb einfacher Substanzen, wie es Metalle sind. Da aber die Änderung eines Körper praktisch aufgehoben.» (Pohl. 73) Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass
Gewichtsanteils schließlich und endlich auch nur durch Änderungen von Qua­ hier unter <Materie> nicht die uns gewohnte träge Masse Newtons oder gar die
litäten zu erklären ist, gehen die beiden Erklärungen bruchlos ineinander über. relativistische Masse Einsteins zu verstehen ist. Die stoische Materie <ist>, weil
In jedem Fall übrigens müsste, folgt man der aristotelischen Physik, eine Ände­ sie - irgendwie - einen Raum besetzt und weil sie zu leiden vermag. Als Körper
rung der <chemischen Erscheimmgsform> eine Änderung der Bewegungsten­ vermag sie passiv zu leiden und aktiv zu wirken, und ausschließlich als solcher,
denz der Substanz (relative Leichtigkeit, relative Schwere) mit sich bringen, doch als Körper, tritt Materie auf. Allerdings: «Da nun aber die Luft [Pneuma] nichts
ist, soviel ich weiß, diese Frage in der alchemischen Literatur nie zur Sprache anderes ist als ein besonders geeigenschafteter Stoff, so bleiben sie [die Stoiker]
gekommen. in dem V\^derspruch stecken, dass der Stoff zwar qualitätslos, die Qualitäten aber
48 Als Gedankenversuch stammt das Baumexperiment von Nikolaus von Kues im stofflich seien.» (Baeumk. 353)
15. Jahrhundert, der es möglicherweise den <Pseudo-Klementinen> bzw. den <Re- 54 In Hinblick auf das ja noch heute problematische Verhältnis von Geist (Pneuma,
cognitiones» (3.74. Jahrhundert n. Chr.) entnommen hat. Im 17. Jahrhimdert hat Spiritus) und Seele (Psyche, Anima) sei noch einmal betont, dass die verschiede­
Joan Baptista van Hehnont, dies sei vorweg verraten, das Experiment wirklich nen Pneuma-Arten - Weltvemunft, Same, Pneumata von Menschen, Tieren,
durchgeführt. Pflanzen und Mineralien - keine prinzipiellen Unterschiede aufweisen. Allerdings
49 Dieses Abrücken von der Alltagserfahrung ist ja gerade ein Kriterium der mo­ treten die Pneumata in verschiedener Reinheit und Stärke auf, und so kaim man
dernen Naturwissenschaft, worauf vor allem Gaston Bachelard eindrücklich hin­ sehr wohl von einer Hierarchie der Pneuma-Arten reden. In dieser Hierarchie
gewiesen hat. findet sich auch die menschliche Seele, die ebenfalls Pneuma ist und nicht etwa
50 Wegen dieser Lebenshalttmg wurde die Stoa auch bei den Römern sehr beliebt, etwas, das einem Pneuma gegenübergestellt werden köimte. Die wohl unbeirrt
denn die <stoische Haltung) angesichts eines unausweichlichen Schicksals, die ja auf die geistige Munterkeit des Menschen setzenden Stoiker hielten unser See-
sprichwörtlich geworden ist, entsprach dem Geist des römischen Beamtentums, len-Pneuma für ziemlich feurig, ist es doch begabt mit der Fähigkeit, die Welt­
das sich darin ganz anders darstellt, als w ir das aus unseren <WQd-Antike>-Fil- vemunft und damit sich selbst als ein pneumatisch-materielles Gebilde zu er­
men gewohnt sind. Die sanft pessimistische und doch lebensbejahende stoische kennen und zudem zu erkennen, dass letztlich alles, was ist, war und sein wird,
Welterfahrung ließ sich später zwanglos hinüberleiten in eine christliche Bereit­ pneumatisch durchzogene Materie in verschiedenen Zuständen ist. Dass die ver­
schaft, die Welt in Demut hinzunehmen, was - im Zeichen einer durch das Zeug­ schiedenen Zustände, dynamisch, <spannungsreich> wie sie sind, einem <gesetz-
nis der Weltüberwindung bestätigten Erlösungshoffnung - umso leichter fiel, als mäßigen>, d. h. vernünftigen Prozess unterliegen, offenbart sich im Wechsel der
nun nicht mehr das ganze Gewicht stoischer Schicksalsresignation auf den Schul­ Weltperioden, von denen in zyklischer Folge aus dem Urfeuer die Welt und aus
tern des Menschen ruhte. - Übrigens gibt es unter den Stoikern nicht die über­ dieser wieder Urfeuer wird, wobei die Einheit von Stoff und Kraft, Göttlichem
ragende Gestalt. Zu nennen sind u. a. Zenon v. Kition, Chrysipp, Poseidonios und Materiellem stets unversehrt erhalten bleibt. Wir haben es also nicht etwa
imd Cato, sowie Epiktet und Marc Aurel. nur nüt einem Hylozoismus, d. h. der Vorstellung, dass alle Materie belebt ist,
51 Der Logos als Feuer weist zurück auf Heraklit imd wohl auch auf die Welten­ zu tun, nein, es handelt sich hier um einen materialistischen Pantheismus: In der
seele, die Anima mundi Platons. - Ich möchte die Schwierigkeiten nicht unter­ <voUständigen Mischung) von Pneuma imd Hyle ist die Beschaffenheit der Dinge
schlagen, die ich mit dem stoischen Konzept des Feuers als eines Elements habe, nicht etwa gottgemacht, sie ist Gott, und dies, obwohl Gott als der Geist der
das als Bestandteil grober Materie in jedes der drei anderen Elemente übergehen Vernunft gedanklich sehr wohl von seinem Substrat getrennt werden kann.
kann und zugleich stofflicher Träger des Logos sowie <Mischungsbestandteü> des 5 5 Ganz grob kann man drei Sichtweisen unterscheiden: die anthropohomoiotische,
Pneuma ist. Was die Luft angeht, so sei nur der Satz des Anaximenes zitiert: «Wie in der Natur, Götter, Menschen, Here in-eins und aspektivisch gesehen werden,
uns unsere Seele, die Luft ist, beherrscht und zusammenhält, so umfasst auch die anthropomorphe, die die Natur auffasst nach Art eines Lebewesens oder
den ganzen Kosmos Hauch (Pneuma) imd Luft.» ((Anaximenes Fr. Bz) Diels- eines Ensembles von Lebewesen, was bedeutet, dass das, was der Mensch an
Kranz 1, 95) technischen Werken schafft, zwar an der Natur orientiert ist, aber außematürlich
52 Der Unterschied besteht nicht darin, dass w ir von der einen wüssten, was sie ist, bleibt, weil es - beispielsweise im Flaschenzug - natürliche Bewegungen der
und von der «mderen nicht, der Unterschied besteht in dem, was w ir mit unserer Natur umkehrt, und schließlich die anthropozentrische, die die Natur als unbe­
jeweiligen hypothetischen Annahme anfangen köimen. Nur mit der physikali­ lebte sich gegenüberstellt.
schen Energie E, die ja nichts als ein Umrechnungsfaktor ist, können w ir ver­ 56 Die korrespondierenden Verhältnisse des Makro- und des Mikrokosmos sind
556 Anmerkungen I. Im Schatten der Pyramiden 557

p s y c h o l o g i s c h tie f v e r a n k e r t, sie s p ie g e ln s ic h in d e n S c h ö p f u n g e n d e s M e n s c h e n von einer Löwin zu einem Kätzchen, von einem Dämon des Verderbens zu einer
w id e r , d ie w e d e r a lle d u r c h re in te c h n is c h e N o t w e n d i g k e i t b e g r ü n d e t, n o c h in Heilerin werden. Übrigens hat Ptah selbst auch einen weiblichen Aspekt.
re in e W illk ü r e n tla ss e n w e r d e n k ö n n e n . D a s w ir d u n s a m b e s te n v e r s tä n d lic h , 64 Das <Anders-sein> betrifft vielleicht sogar die Funktionsweise des Gehirns, w or­
w e n n w ir d ie A r c h it e k t u r b e tra ch te n , in d ie ja s e lb st h e u t e n o c h B e z ie h u n g e n auf aus verschiedenen Blickwinkeln der Psychiater J. Jaynes und die Ägyptolo-
z u m K o s m o s u n d z u r N a t u r <eingebaut> w e r d e n : A u c h e in n o c h s o p o s tm o d e r ­ gin E. Brunner-Traut hingewiesen haben. Brunner-Traut vermutet nicht nur,
n e r A r c h it e k t w ir d tu n b e s tim m te < gefü hlsm äßige> P r o p o rtio n e n , e t w a d e n G o l­ Hass bei den Altägyptem die rechte, die <emotionale> Himhälfte stärker bean­
d e n e n S c h n itt, n ic h t h e r u m k o m m e n , a u c h w e i m e r sie g r o ß m ü t ig a ls <Zitate> sprucht wurde als bei uns, sie weist auch auf die aspektivische Weitsicht der
b e z e ic h n e n m a g . A b e r e r z itie r t d a irü t n ic h t n u r e in e n A n d r e a P a lla d io o d e r e in e n Ägypter hin, die wichtige Aspekte des So-Seins der Dinge - in der Malerei und
L e o n B a ttista A lb e r ti, e r z itie r t d ie Natvur selber, d ie ja d e n G o ld e n e n S c h iü tt bildenen Kunst, in der Dichtung, in der Wissenschaft etc. - zwar künstlerisch
g e r a d e z u z u m B a u p r in z ip e rh o b e n h a t - w a r u m e ig e n tlic h ? - , e r z itie r t e in e s d e r gelungen, aber kaum vermittelt und ohne Perspektive nebeneinander setzt. Das
S tr u k tu r m e r k m a le d e s K o s m o s , d a s v o n den g r o ß e n R e n a is sa n c e a r ch ite k te n heißt nicht, dass es keine Absicht und kein Ziel gibt, es heißt, dass die Teile, die
lü c h t n u r re in g e f ü h ls m ä ß ig , s o n d e r n g a n z b e w u s s t e in g e s e tz t w o r d e n ist. In gemeinsam die Absicht hervortreten lassen, bzw. die Stationen, die auf dem
ih re n A u g e n n ä m lic h is t e in G e b ä u d e n u r d a n n k ü n s tle r is c h b e fr ie d ig e n d , b e fin ­ Wege zum Ziel durchlaufen werden, unvermittelt aufeinander folgen. Beispiele
d e t sic h a ls o im E in k la n g m it u n s e r e m iim e r e n L e b e n s g e fü h l, w e n n e s d ie G e ­ dafür sind der alchemische Prozess und das Märchen, das den Helden nach
s ta lt u n g s m a ß e u n d G e s t a lt u n g s p r in z ip ie n d e s K o s m o s in S te in v e r w a n d e lt w i e ­ etlichen w ie im Rosenkranz aufgereihten Abenteuern wenn nicht den Lapis,
d e r g ib t - xm d d a m it d ie M a ß e u n s e r e s K ö r p e r s u n d d ie P r in z ip ie n u n s e r e r S eele. doch immerhin die Prinzessin erringen läßt. Ein Höhepunkt und zugleich eine
W o llte d a s r e v o lu tio n ä r e F ra n k re ich d a s le u g n e n , als e s d ie a u s d e n K ö r p e r m a ­ Aufhebung perspektivischer Sichtweise sind für mich die späten Werke Piet
ß e n g e n o m m e n e n M a ß g r ö ß e n w i e Z o ll, F u ß , E lle z u g i m s t e n e in e s a u s d e m Z u fa ll Mondrians, die sich nicht um Übergänge zu kümmern brauchen, weil es kein
g e b o r e n e n , <rein o b je k tiv e n ) M a ß e s , d e s z e h n m illio n s te l T e ils d e s E r d m e r id ia n ­ perspektivisches Zentrum, w eil es keinen Aspekt mehr gibt, der vor dem Hin­
q u a d r a n te n , a u fg a b ? tergrund anderer Aspekte existieren könnte.
57 E rst d a s C h r is te n t u m h a t m it d e m e in m a lig e n , h is to r is c h e n E re ig n is d e s K re u ­ 65 Im Ich-Du- und Ich-Ich-Verhältnis spielt die Teilhabe, die Participatio, die uns im
z e s to d e s b e k a im tlic h d ie H e i lig e Z e i t a ls B ü h n e d e s im m e r g le ic h w ie d e r k e h r e n ­ Zusammenhang mit dem Thema <Psychologie und Alchemie> noch beschäftigen
d e n m y t h is c h e n G e s c h e h e n s b e s e itig t: D i e H e ilig e N a c h t is t n u r n o c h e in E re ig n is wird, eine wichtige Rolle.
d es G ed en k en s. 66 So heißt es in einem mittelalterlichen, anonymen Gedicht: «Dü bist min, ich bin
5 8 Im L a n d d e r G e s c h w is t e r e h e k o n n te d a s W o rt <Schwester> a u c h G e lie b te m e in e n . din. / des solt du gewis sin. / dü bist beslozzen / in minem herzen, / verlom
Z u d e m r e d e te n d ie M it g li e d e r v e r s c h ie d e n e r s p ä ta n tik e r G la u b e n s g e m e in s c h a f­ ist daz sluzzelin: / dü muost ouch immer darinne sin.» (Hede. 24) - Das Ver­
te n e in a n d e r m it B r u d e r im d S c h w e s te r a n , im d e s k a n n s e h r w o h l s o s ein , d a s s hältnis des Ich zu anderen in der ersten Person Singular oder Plural ist nicht
Z o s im o s xm d T h e o s e b e ia d e m s e lb e n e so te risc h e n Z ir k e l a n g e h ö rte n . ohne Gefahren, denn die Selbstaufgabe des Ich, das nur als Teil einer Gruppe -
59 F ü r P la to n is t d a s D e n k e n e in « G e s p r ä c h d e r S e e le m it sic h selb st». (So p h . i6 }e, die häufig in einer Person inkarniert ist - existieren kann und in der Angst lebt,
3 - 5 , T h e a it. i 8 9 e - i 9 o a ) aus dem Wir ausgestoßen zu werden, ist einer der Gründe für kollektive, maß­
60 D e r N a c h -H e lle n is m u s is t d a m it fü r m ic h in v ie le m ty p is c h e r a ls d e r H e lle n im u s lose Verbrechen, w ie sie die Menschheitsgeschichte immer wieder diuchleben
selber, d e n m a n ü b lic h e r w e is e v o n 323 v . C h r . b is 31 n. C h r. re ch n e t, d . h. v o m muß, ist einer der Gründe für Krieg, für Demütigungen und Massenvemichtun-
F ie b e r to d e A le x a n d e r s b is z u r N ie d e r l a g e d e r K le o p a tr a xm d d e s A n to n iu s in d e r gen, die ein Einze/mensch kaum jemals begehen würde.
S e e s c h la c h t b e i A ctiv u n . 67 Übrigens treffen sich in unserem Verhältnis zu höheren Lebewesen - und auch
61 D e r b e i m a n c h e n P s y c h o lo g e n w i e N a t h a n S c h w a r tz - S a v a n t s o b e lie b te A t t i s - zu uns selber - die beiden Welten der bewirkenden Ursachen und der finalen
u n d K y b e le -K u lt , d e r s a m t K a s tr a tio n s k o m p le x e tw a s M u tte r g ö ttlic h e s im d d ie Ursachen in einem einander ergänzenden Wechselspiel, werm wir mal die phy­
B e fr e iu n g d e r W e ib lic h k e it in d e r A lc h e m i e b e w e is e n s o ll, k o m m t m e in e s W is ­ siologischen, mal die psychologischen Handlungsursachen im Blick haben. - Un­
s e n s in a lc h e m is c h e n T e x te n n ir g e n d s vor. abhängig davon sei betont, daß die Grundeinstellungen idealtypisch und also
62 W ie b e i s o v ie le n G ö tte r n h a n d e lt e s sic h u m einen d e r ü b e r ih n b e ric h te te n wohl nie rein und unvermischt anzutreffen sind.
M y t h e n , d ie z u d e m n o c h o ft e in a n d e r w id e r s p r e c h e n . S o s o ll D io n y s o s a u c h 68 Im I. Jahrhundert n. Chr. lebte ein Schriftsteller, der im Namen des Hermes Tris-
S o h n d e r U n te r w e lt s g ö tt in P e r s e p h o n e g e w e s e n s ein , w a s s e in e E p ip h a n ie in megistos ein Bestiarium mit dem Titel <Koirarüdes> (<Fürst>) geschrieben hat, das
v e r s c h ie d e n e n S e in sb e r e ich e n <erklärt>. U n d <erklärt> n ic h t g e r a d e a u c h d ie V ie l­ sich auf die Bücher des Bolos stützte.
d e u t i g k e i t d e r D i o n y s o s - M y t h e n d ie \ ^ e ld e u t ig k e it d e r T r a n s z e n d e n z , in d e m sie 69 In seiner schillernden Unbestimmtheit ist Hermes nicht zufällig Vater des ubi­
n ic h t - w i e d ie N a t u r p h ilo s o p h ie - a u f d ie F r a g e n a c h d e m <Warum> u n d a u c h quitären Gottes Pan und auch des Hermaphroditos. Plutarch zufolge (<Isis und
n ic h t - w i e d ie N a t u r w is s e n s c h a ft - a u f d ie F r a g e n a c h d e m <Wie> a n tw o rte t, Osiris>) wurde er sogar zuweilen für den Vater der Isis - in ihrer Eigenschaft als
s o n d e r n a u f d ie F r a g e n a c h d e m <Woher>, n a c h d e m m y t h is c h e n O r t d e s D ra m a s , Trägerin der Weisheit - gehalten.
d a s w ir h ie r a u f E r d e n in ve rsch le ie rte r, u n d u r c h s c h a u te r F o r m n a c h v o llz ie h e n 70 Unter dem Namen Theuth bezeichnet ihn auch Platon (Phaidros 273 ff.) als my­
m ü s se n ? thischen Erfinder der Zahl und Rechnung, der Messkunst und Sternkunde, des
63 S a c h m e t ist n ic h t n u r d ie G ö t t in d e s ze rs tö re ris c h e n F e u e r s u n d d e r S e u ch e n , Brett- und Würfelspiels sowie der Buchstaben.
d . h. v o n H e im s u c h u n g e n , d e n e n d ie K u ltu r n ic h t g e w a c h s e n ist, s ie k a n n a u c h 71 Kormte man als gebildeter Mensch, wie es die Alchemisten waren, an derglei-
558 Anmerkungen I. Im Schatten der Pyramiden 559

chen Götter <glauben>, über die der Voltaire der Antike, Lxikian, schon im 2. Jahr­ 78 Der «Philosophos christianos> genannte Alchemist spricht von «Schwärze aus
hundert lästerte, indem er Momos, den Tadel, im Kreise der Götter mit folgenen Stimirü> und meint damit das durch Reduktion von Grauspießglanz gewormene,
Worten auftreten läßt?: «Du dort, du hundsgesichtiger und in Leinen gekleideter dem Schwarzblei sehr ähnliche Roh-Antimon.
Ägypter, wer bist du eigentlich, mein Bester? Wie kommst du Wauwau dazu, 79 Zosimos schreibt dazu: «Allein die Juden erreichten es, die Praxis [der Göttlichen
ein Gott sein zu wollen? Und was denkt sich erst dieser gescheckte Stier aus Kunst] kennenzulemen, wie auch diese Dinge im Verborgenen zu beschreiben
Memphis, der sich göttlich verehren läßt, Orakel erteilt und Propheten hat? ... und veröffentlichen.» Andererseits gelangten die alchemischen Bücher in die
Oder du, Zeus, wie erträgst du es, wenn sie dir Widderhömer wachsen lassen?» Biliotheken der Ptolemäer, «weil Asenan, einer der Hohepriester von Jerusalem,
(Luki. V 431) - Sicher ist hier der Begriff <Glauben> weder als <Für-wahr-Halten> den Hermes ausschickte, der die ganze hebräische Bibel in Griechisch und in
noch als <Sich-im-Vertrauen-geborgen-Fühlen> angebracht, wird doch bereits in Ägyptisch auslegte». (Berth.(2) III, 98, 223)
einigen hermetisch-neuplatonischen Schriften der Spätantike die Ansicht vertre­ 80 Vorausgesetzt, sie gehörte nicht zu einer Gruppe von Rückwanderern oder es
ten, die Götter, die w ir anbeten imd deren tatsächliche Wirklichkeit wir nicht hätte andere Möglichkeiten def Diffusion alchemischen Geheimwissens gegeben,
bezweifeln dürfen, seien gewissermaßen Konkretisierungen unserer kollektiven z. B. über die jüdische Sekte der Essener, die von den Neupythagoreem zutiefst
Phantasie. Die Projektionen der Alchemisten passen in dieses Bild. beeinflusst waren, w ie diese in einer ordensähnlichen Gemeinschaft lebten, wie
72 Schon antike Philosophen haben in Hermes den <Logios>, die Personifikation des diese chemische Werkstätten unterhielten, aber im Gegensatz zu diesen nicht den
Denkens gesehen. Vor allem in der vorsokratischen Seelenkunde wird die Ver­ P)dhagoras, sondern den Moses als den Stifter ihres Ordens und Ursprung aller
nunft durch Hermes repräsentiert. geheimen Weisheit verehrten.
73 Die Starrköpfigkeit der Christen imd übrigens auch der orthodoxen Juden war 81 Man kann das Verhältnis von Stoa, Alchemie und Gnosis aber auch etwas anders
wohl nicht nur den römischen Beamten, die einen Staatskult für staatserhaltend sehen, als es das simple Bild vom «stoischen Unterbau> imd «nichtstoischen Über-
hielten, sondern auch der allgemein toleranten, polytheistischen Bevölkerung bau> andeutet. Gestützt vor allem auf die alchemische Konzeption des Metallsa­
unheimlich. Die Intoleranz der Christen war ja auch von nachgerade imponie­ mens als einer Art Pneuma vermutete z. B. der Alchemiehistoriker H. J. Sheppard,
render Umfassenheit, erstreckte sie sich doch nicht nur auf alle nichtchristlichen dass die Stoa «a dominant role» in vielen gnostischen Schulen gespielt habe, und
Religionen tmd Werthaltungen, sondern auf die antike Lebenswelt schlechthin. dass sie, da doch die Grundeinstellung der Alchemie gnostisch sei, auf derart ver­
Dass z. B. Benedicts Mönche die Berufskleidung der verachteten Fuhrleute tru­ mittelte Weise in diese eingedrungen sei: also erst die Mischung, dann der Einbau
gen, ist Zeichen einer bewussten Abkehr von der damaligen Lebensauffassung. als Überbau. In diesem besonderen Fall bleibt aber doch das Problem des grund­
Dabei waren die Christen für viele <Heiden> bloß moralinsaure Atheisten, deren sätzlich anderen ideologischen Hintergrunds aller gnostischen Pneuma-Vorstel­
Gerede eher zu einer mißgelaunten Philosophie als zu Götterkulten paßte. Aber lungen. - Ob im Frühchristentum das Pneuma hagion, der Heilige Geist, materiell
sie hatten ja auch keinen richtigen Gott, also einen, der irgendwie sinnfällig in oder immateriell zu sehen ist, war übrigens kein besonderes Problem. Der pneu­
Erscheinung tritt; folglich bauten sie keine richtigen Tempel, wie sie auch nichts matische Leib, wie der Apostel Paulus ihn sieht, ist kein gänzlich immaterieller
vorweisen konnten, was nach einer irgendwie verständlichen Opferhandlung Leib, sondern er ist von anderer als der üblichen materiellen Qualität, denn
aussah. Dass das Abendmahl ein sublimiertes Opfer darstellt, wird dem durch- Gottes Geist kann auch nach der Bibel materiell gedacht werden. Außerdem
schmttlichen Römer wohl so wenig klar gewesen sein wie dem eben bekehrten kaimten die Christen eine gleichwertige (homotimon) Durchdringung von Siimli-
Heiden, von dem noch David Humes ironisch-gehässige Feder berichtet, er habe chem und Geistigem.
nach der ersten Kommunion auf die Frage des Missionars, wieviele Götter es 82 Der Sinnspruch «Hen kai pan> wird Heraklit, aber auch seinem Gegenspieler
denn mm gäbe, geantwortet, «keinen», habe er den einen, der von allen Göttern Parmenides zugeschrieben, der ihn von seinem Lehrer Xenophanes übernom­
übrig gebleiben war, doch eben aufgefressen. men haben soll. U. a. verwendeten Lessing und später der Tübinger Freundes­
74 Genau deshalb konnten sie auch - bei allem Gefühl für die Komplementarität in kreis um Hegel, Hölderlin und Schelling ihn als Losung.
den Marüfestationen des Göttlichen - das «Ganze des Göttlichen> nicht abdecken, 83 Im Altertum wurden Dattelpalmen wegen ihrer deutlichen Zweigeschlechtlich­
imd auch deshalb wohl standen ihnen seit klassischen Zeiten die blassen, schick­ keit für Here gehalten.
sallosen «monotheistischen Götter> der Philosophen gegenüber. 84 Wäre es nicht so, müsste es Inseln der Sprachlosigkeit geben. Selbst Werke großer
75 Die wiederum häufig mit der Lilith rabbinischer Tradition identifiziert wurde. Kunst würden eindeutig zuzuordnen sein und gerade darin ein Gefühl des Un-
76 Einer der ältesten Kodizes, eine wohl auf das Ende des 10. Jahrhunderts zu da­ genügens hinterlassen, wie es etwa Beschreibungen von gewissen tierischen Ei­
tierende Prachtausgabe, die unter der Nummer 299 in der Markus-Bibliothek genschaften - dem Buttersäuresinn der Zecken, dem Gleichgewichtssinn der
aufbewahrt wird, wurde im 15. Jahrhundert nach dem Fall von Konstantinopel Kraken usf. - immer anhaftet. Keine diese Beschreibungen bringt es fertig, die
der Republik Venedig von dem berühmten, aus dem byzantischen Kaiserreich beschriebenen Eigenschaften in sinnliche Erfahrung zu übersetzen.
stammenden Kardinal Bessarion geschenkt. Unser heutiges Wissen über die grie­ 85 Im archaischen Denken zieht sich das die Polaritäten schaffende Sein aus seinen
chisch-ägyptische Alchemie stützt sich wesentlich auf die im Kodex gesammel­ «polaren Produkten) zurück - der Schöpfergott stirbt oder löst sich von seiner
ten Abhandlungen, nicht aber auf arabische Texte, die doch die einzigen Quellen & höpfung; bei den ersten Naturphilosophen der Griechen, den Milesiern, bleibt
der lateinischen Alchemie gewesen sind. das ^ in als Urstoff, als Arche in der Polarität erhalten.
77 Das Schwere zieht an; Anscheinend ist das Prinzip der Massenanziehung den 86 Nach Lippmann könnte sie auch mit einer Gestalt aus den gnostischen E van ge
Menschen gefühlsmäßig vertraut lien, Maria Kleophas, identifiziert worden sein. (Lipp. (3) 1, 51)
560 Anmerkungen 7. Im Schatten der Pyramiden 561

87 Es ist auch möglich, dass Kleopatra an eine Vereinigung, d. h. gemeinsame Des­ which w e call a rose / by any other name would smell as sweet. (Romeo u. Julia,
tillation von Arsenikon und — weiblichem — Quecksilber oder Auripigment, 2. Akt, 2. Szene, Vers 43 f.)
denkt. Allerdings müßte Auripigment dann weiblich gedacht werden. 97 Im Blick auf die <Kultvereine der ältesten Christen) weist H. Silberer darauf hin,
88 Hermopolis, die Stadt des Hermes, ist übrigens auch der Ort einer Urgötterlehre, dass diese staatlich vmterdrückten Gemeinden imter der Form und Sprache «von
die eine präexistierende Vierheit von Urmächten des Nichtseins, und zwar des erlaubten Genossenschaften, d. h. Gilden, Begräbnisvereinen und Körperschaften
Urozeans, der Endlosigkeit, der Dunkelheit, und der Verborgenheit oder Weglo­ aller Art, eine Daseinsmöglichkeit vor den Gesetzen gefunden» hätten. (Silb. 116)
sigkeit, annimmt. 98 Die Wucherung von Synonyma mag eine Ursache im aspektivischen Denken
89 Über Parmenides und den Drachen, den er sicher nicht gemocht hätte, wäre viel zumindest der alten Ägypter haben. Im Bereich der Medizin beispielsweise gab
zu sagen, doch sei hier nur angemerkt, dass Parmenides sowohl das Nichtsein es mehr als 200 Namen für die vergleichsweise geringe Zahl an damals bekann­
als auch die Wandelbarkeit des Seins ausschließt, hätte doch beides zur Voraus­ ten Organen. Doch, so Brunner-Traut: «Das Kopfzerbrechen der Ägyptologen
setzung, dass etwas mal sein und mal nicht sein könne. Gestützt auf den Satz über die <Synonyme> oder den sprachlichen Wechsel der Bezeichnungen der
vom ausgeschlossenen Dritten - etwas ist oder ist nicht, etwas Drittes gibt es Organe vereinfacht sich häufig zu der schlichten Erkermtnis, dass das gleiche
nicht, und auch kein <mal mehr, mal werdger>, <mal so, mal anders> - lehnt unser Organ je nach medizinischer Fragestellung verschieden bezeichnet wird.»
Philosoph diese Voraussetzimg aber ab. Mit Parmenides treten wir in das kühle (Brunn. 72)
Reich der Logik ein, das uns aber bald fantastischer vorkommt als Alice's Won- 99 Wobei nicht vergessen sei, dass wir ohnehin, auch wenn wir uns kolletiv einig
derland; denn in Konsequenz seiner Logik lehrt Parmenides, dass <To pan>, dass darüber sind, was w ir <ganz unbeeinflusst» sehen, doch nur eine Wirklichkeit vor
die Welt der Phänomene, die ja allesamt auf Unterscheidung und ständiger Ver- der mikrophysikalischen Wirklichkeit der Atome und Affinitäten sehen.
ändenmg beruhen, bloßer Schein ist. Der unmögliche, endlose und in seiner 100 A l s le tz te B a s tio n a ltä g y p tis c h e r K u lte w u r d e u n te r K a ise r Ju stia n 5 3 5 - 5 3 7
Vielfalt dennoch emheitliche Drache der Alchemie dagegen keimt weder Logik n. C h r. d e r In s e lte m p e l v o n P h ilä erobert. A u c h s in d d ie J a h r ta u s e n d e a lte n ä g y p ­
noch das Nichtsein des Nichtseins. tis c h e n G ö tte r sic h e r n ic h t s o z u s a g e n a u f B e fe h l g e sto r b e n . Z u m in d e s t d a s so
90 Ich kann mich nur darüber wxmdem, dass im Unterbewußtsein der Menschheit t y p is c h a r c h a is ch e L e b e n s g e fü h l, d a s sie v e r m itte lt h a b e n , h a t - z . B. in F o r m v o n
die Schlangen (Hoi dräkonai) und die doch eher possierlichen Eidechsen (Hoi B ild e rn u n d A n s p i e l u n g e n - S p u r e n in d e r A lc h e m i e h in te rla sse n , d ie b is a n ih r
sauroi) ins Riesenhafte zu Lindwürmern oder Drachen angewachsen sind, ob­ E n d e s ic h tb a r b lie b e n .
wohl die wirklichen Drachen, die Dinosaurier (Hoi dinoi sauroi, die gewaltigen 101 Im 3. Jahrhundert schon unterschied der Kirchenvater Ongines einen somati­
Echsen) in die Epoche des Jura gehören, in der es keinen, auch nicht den primi­ schen oder buchstäblichen, einen psychischen oder moralischen und einen pneu­
tivsten Menschen gab. Niemand hätte einen dieser Drachen bestaimen können, matischen oder allegorisch-mystischen Sinn der biblischen Schriften. Die ganze
niemand hätte den Sohn eines dieser Drachen auf den chinesischen Kaiserthron Sinndeutung ließ sich im Laufe der Zeit noch prächtig verkomplizieren, wobei
setzen können, niemand hätte gar als Heiliger Georg einen dieser Drachen auf­ der wörtliche und der allegorische Sinn eines Textes auseinanderzufallen droh­
spießen können. ten. Kern Wunder, dass Luther, dem ja im Sinne seines <Priestertums aller Gläu­
91 Übrigens spielt Isis als Mutter des von einer Gottheit gezeugten Gottessohnes bigen» daran gelegen war, die Bibel nicht nur ordinierten Fachleuten zu überlas­
Horus im altägytischen Königsmythos eine entscheidene Rolle: Der zukünftige sen, gegen die Allegorisierung der Bibel wetterte, die doch «se ipse scribsit»,
Pharao ist nicht von einem menschlichen Vater sondern von der Gottheit Osiris «sich selbst geschrieben hat».
selber mit der Königin gezeugt worden. Man kann annehmen, dass auch die 102 Das geschieht gewöhnlich durch die Personifizierung eines abstrakten Begriffes.
Erinnerung an den Köngsmythos in die Gestalt der Gottesmutter Maria einging. Ein Chinese wird vermutlich nicht begreifen, was die Dame mit dem Tuch über
92 Es gibt verschiedene, dem Agathodaimon zugeschriebene Schriften, die aus ver­ den Augen vmd der Waage in der Hand über den Portalen bestimmter Gebäude
schiedenen Jahrhunderten und auch nicht alle aus Ägypten zu stammen schei­ in unseren Städten bedeuten soll. Man muss ihm erzählen, dass ausgerechnet
nen. Aber das spielt für die Einordnung des Agathodaimon als eine Symbolfigur diese Dame, die so eindrucksvoll auf ihren Mangel an Sehvermögen hinweist,
der Alchemie keine Rolle. Justitia, die Gerechtigkeit, sein soll.
93 Da Dioskoros als Oberpriester des Serapis-Tempels zu Alexandria bezeichnet 103 Dies mystische Sprechen und Betrachten scheint in eine gnostische Bilderwelt
wird, dieser Tempel aber 390 n. Chr. zerstört wurde, und der Bischof 379 geboren eingebettet, die allerdings nie ganz deutlich wird. <Die Perle» etwa, die in der
wurde, wird unser Synesios wohl kaum dieser Bischof gewesen sein. Bibel für das Himmelreich steht (Matth. 13, 45) wird bei Stephanos zu einem
94 So wurde der Gott Hermes zuweüen nicht nur als Vater des Hermaphroditos, Zeichen für das verlorene, verborgene und endlich wiedergefundene Mysterium,
sondern selbst als Hermaphrodit angesehen. ganz wie sie im gnostischen Lied von der Perle - etwa in den sog. Thomasakten
95 Auch die christliche Reliquienverehrung scheint eine ihrer Wurzeln im Osiris- - Zeichen des verborgenen erlösenden Pneumas bzw. des Wissens um dieses
Kult mit der Anbetung göttlicher Körperteile zu haben. Pneuma ist. In diesem Lied kommt ein Prinz aus dem Osten nach Ägypten, um
96 Im mittelaterlichen Universalienstreit, der letztlich auf den Neuplatonisten Por- «eine Perle [zu suchen], die in der Mitte des Meeres ist, das der zischende Drache
phynos (3. Jahrhimdert n. Chr.) zurückging, wurde z. B. eifrig über die Frage [d. h. ein Ouroboros] umschließt». Im fremden Land aber bekommt er eine Spei­
diskutiert, ob <die Rose> Bezeichnung einer Idee in Gott, also ante rem, ob sie in se zu essen, deren Schwere ihn in Schlaf fallen und die Perle vergessen lässt. Ein
re, oder ob sie gar als bloßer Gattungsbegriff post rem, d. h. erst im Hirn des Brief aus seinem Vaterhaus erinnert ihn an die Perle, die er rettet, um mit ihr
Menschen entstanden sei. - Und was sagt Shakespeare: «WhaPs in a name? That zum Vater und zu seiner strahlenden Pracht zurückzukehren.
562 Anmerkungen II. In fremden Welten 563

104 Wenn <Farbstoff> von Stephanos als ein zwar selbständig nicht existierender, aber haben w ir ims in den modernen, empirischen Wissenschaften angewöhnt, nicht
doch stofflicher Bestandteil des Färbemittels angesehen wurde, würde das der alles nachzuprüfen. Und das hat die Reibungsverluste in der Entwicklung dieser
stoischen Materietheorie nicht widersprechen. Wissenschaften gewaltig vermindert. Letzteres ist nicht nur der eigentliche wis­
105 41 Tage bedeutet hier 40 Tage, denn nach dem Stil griechischer Zeitangaben gilt senschaftliche Gewinn des Nichtstuns, sondern erklärt auch u. a., warum etwa
der letzte Tag als der Tag des Erfolges: Die homerischen Helden belagerten Troja die Chemie sich nach einem langsamen Fortschreiten seit Ende des 18. Jahrhun­
neun Jahre lang, imd im zehnten eroberten sie es. - Der Monat Mechir, koptisch: derts so explosionsartig entwickelt hat.
Amchir, steht heute für Februar, aber es ist w ohl zu bedenken, dass im altägyp­ 8 <Arabische Gelehrte> heißt hier: <Gelehrte im Bannkreis des lslam>, unabhängig
tischen Kalender die Monate in einem Zyklus von 1460 Jahren (Sotis-Periode) davon, ob sie nun aus Ägypten, Spanien oder Persien stammten, und auch un­
durch das Jahr wanderten. abhängig davon, ob sie wirklich Mohammedaner waren.
106 Unter den vielen Alcheirdebeflissenen, die man sonst noch neimen könnte, sind 9 Schwefel wird hier übrigens als weiblich und (Quecksilber als männlich bezeich­
übrigens Träger so illustrer Namen wie Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert, der net, aber das kann an einem Abschreibefehler liegen.
in der alchemischen Tradition als eifriger Adept gilt, der Philosoph und Miiüster 10 Von dem Eroberer Ägyptens, Omars Feldherr Amr, wird fälschlich behauptet, er
Michael Psellos im ii. Jahrhundert und Nikophoros Blemmydes im 13. Jahrhun­ habe Mitte des 7. Jahrhunderts wieder einmal die Bibliotheken in Alexandria
dert. niederbrennen lassen nach der frappierend einfachen Logik: Wenn etwas Wich­
tiges in all den Kodizes stünde, stünde es auch im Koran, wenn nicht, sei es
überflüssig. A u f der anderen Seite des religiösen Zauns übrigens behauptet der
II. In frem den Welten Kirchenvater Johannes Damascenus, ebenfalls 7. Jahrhundert, im Vorwort eines
dickleibigen Kommentars zur Bibel, er sei stolz darauf, nicht einen wirklich eige­
1 Die Sabier werden auch Ssabier oder Sabäer genannt, letztere sind aber rücht zu nen Gedanken vorgebracht zu haben. Im Zeitalter der Modeschöpfer ist uns
verwechseln mit den gnostischen Gemeinden der Sabäern (Mandäer) die Mo­ derlei Mut - über den noch viel zu sagen wäre - wohl abhanden gekommen.
hammed gemeint haben könnte, als er in einigen missverständlichen Bemerkim- 11 Die <Gedächtniskulturen>, wie Jan Assmann sie nennt, deren Schriftlichkeit,
gen von Anhängern einer weiteren Buchreligion neben Juden- und Christentum wenn es sie gab, überwiegend als Stütze des Gedächtnisses, nicht aber als Vehikel
sprach. Die Sabier verschwanden zwischen dem ii. imd 13. Jahrhundert wohl neuer Sinngebung diente, erneuerten sich durch die mündliche Aufführung des
im Mongolensturm aus der Geschichte. Sinnvollen in den großen gemeinschaftsstiftenden Festen. Bei jedem Fest wurde
2 Harran hieß in rönrüscher Zeit Carrhae. Andere Zentren der Gelehrsamkeit lagen der alte Text ein neues Mal sinnvoll gemacht, und zwar auch durch die Gegen­
bezeichnenderweise ebenfalls alle im Grenzgebiet des Reiches, nämlich in Edessa wart heiliger, am Gesamtsinn der Welt teilnehmender Dinge und heiliger, am
für die nestoriaiüschen Gelehrten, in Resaina für die Monophysisten und im Gesamtsinn der Welt teilnehmender Personen, seien es Priester, sei es der König,
persischen Nisibis für die Juden, aber auch für die Nestorianer. sei es das Volk als Ganzes. Das ist uns nicht so fremd, wenn wir uns erinnern,
3 Der Satz: «Wer seine eigene Natur kennt, wird Gott», der an eine Stelle im pla­ dass ja auch etwa ein Shakespeare-Text durch die Aufführung neu wird, sonst
tonischen Dialog <Alkibiades> erinnert, soll im Türgriff einer ihrer Versamm­ würde kein Feuilleton ihn erwähnen. Im Bereich der alten Hochkulturen aber
lungsstätten eingraviert gewesen sein. hütete man sich, irgendein Neues, irgendetwas außerhalb des akzeptierten Sinn­
4 Die Manuskriptsammlungen enthalten Texte, die in arabischer Sprache, aber in kanons Stehendes in den einmal festgelegten Text einzuschmuggeln. Man ließ
s)oischen Schriftzeichen geschrieben wurden, während andere in Wort und die Aufführungen im Korsett eines streng festgelegten Ritus zur Unbeweglich­
Schrift syrisch sind. Wahrscheinlich handelt es sich bei wohl allen Texten um keit erstarren. Der Ritus und seine Wiederaufführung sind anonym. Archaische
Abschriften aus dem 16. Jahrhundert von Originalen w ohl aus dem 9./10. Jahr­ Feste haben keinen künstlerisch selbständigen Regisseur.
hundert, die jedoch auf älteres Gedankengut zurückgreifen. Em Teil der Kompi­ 12 Das hat nichts mit irgendeinem auf- oder abbauenden Konstruktivismus zu tun,
lation aus Cambridge enthält Texte des Zosimos, die es im griechischen Original der dem Sinnsuchenden andient, seinen eigenen Sinn in den - sinnlosen - Text
nicht mehr gibt. zu legen. Der Adept ist nie auf etwas solcherart Neues aus, im Gegenteil, der
5 Die Zahl sieben spielte besonders bei der schon genannten, der Alchemie nahe­ Sinn ist immer schon da, und er ist unwandelbar.
stehenden, gnostischen Sekte der Mandäer (Sabäer) eine große Rolle. Übrigens 13 So ähnelte das Verhältnis von Lehrer und Schüler sicher oft dem Verhältnis eines
gehen die meisten Angaben unseres Textes auf das pseudoepigraphische sog. Psychiaters zu seinem Patienten, in dem sich - häufig in gegenseitigen Übertra­
<Steinbuch des Aristoteles) zurück. gungen - auch mehr abspielt, als in nüchternen Worten zu fassen ist.
6 Allerdings haben wohl auch Chinesen - chinesische Alchemisten? - das Pulver 14 Erst 1663 verbannte der Chemiker Christophle Glaser die Alchemie eindeutig in
erfunden. den Bereich der Chrysopoia, Geoidmacherkunst, doch selbst er ist nicht geneigt,
7 Um es in ernsthafte Wissenschaftstheorie zu übersetzen: Wir vertrauen darauf, die Chrysopoia aus einer umfassenden Chymie auszuschließen.
dass die Behauptung des syrischen Autors im Prinzip jederzeit nachprüfbar ist 15 Der Corpus wird üblicherweise in verschiedene Sammlungen unterteilt, von de­
imd widerlegt werden kann. Wenn die Verhältnisse lücht zu komplex sind, kön­ nen folgende die für die Alchemie wichtigen sind: i. die 112 Bücher, eine unsys­
nen wir tatsächlich unserem Vertrauen vertrauen und hoffen, dass Schwindelei­ tematische Sammlung von Essais zur alchemischen Paxis, in denen viele Hin­
en oder grobe Beobachtungsirrtümer doch irgendwann herauskommen und dass weise auf eilten Autoren wie Zosimos, Demokrit, Hermes, Agathodaimon etc.
sich schon deshalb jedermann hütet, sie zu begehen. A us genau diesem Grunde Vorkommen, 2. die 70 Bücher oder <Das Buch der Siebzig», eine systematische
564 Anmerkungen II. In fremden Welten 565

Darstellung der alchemischen Ansichten Gabirs, 3. die 144 Bücher, auch «Bücher den Ideen zu beobachten. Im Seienden ist es die Zahl, mit der die seienden Dinge
der Waage> (<Kitab al-mawazin>) genannt, die eine theoretische Erörterung der erzeugt werden. - Im Übrigen haben Neuplatoniker wie Porph)oios, lamblichos
Alchemie und okkulter Wissenschaften wiedergeben, 4. Die D-Bücher, d. h. Es­ und Komachos für eine gründliche Vermischung von Neuplatonismus und Neu-
says, die sich auf Themen aus dem 144 Büchern beziehen. 5. Daneben gibt es pythagorismus gesorgt.
noch kleinere Sammlungen.
23 Mizam, die Waage oder das Gleichgewicht, hat bei Gabir verschiedene Bedeu­
16 So deutet Gabir in seiner «Schrift von der Überführung dessen, w as in der Potenz tungen. Es steht: a. für das spezifische Gewicht, b. für das Gewicht eines Stoffes
ist, in den Akt> («Kitab al-Ihrag>) die 2. Sure, Vers 260, so um, dass es nicht etwa, in einer Mischung, c. für die Gewichtung der Buchstaben im Wort, d. für das
w ie der Koran zu sagen scheint, unmöglich ist, die Sonne von Westen nach Osten metaphysische Prinzip der allgemeinen Harmonie, e. für die Gewichtung der
wandern zu lassen, sondern sie entgegen den offensichtlichen Worten des Koran Hinweise im Koran, die sich auf den Tag des Gerichtes beziehen.
in Wirklichkeit schon immer von Westen nach Osten gewandert ist, und zwar in 24 Das erinnert entfernt an die sogenannte Phiogistontheorie, nach der ein speziel­
ihrem Jahreslauf durch die Zeichen des Tierkreises. Das weiß nur der Initiierte; ler, für die Verbrennung und die Brennbarkeit verantwortlicher Stoff in Metallen
wahres Wissen ist also, ganz wie die Ismailiya es predigt, Geheimwissen. relativ gering vertreten ist und in den Edelmetallen am wenigsten, weil diese
17 Allerdings gehörte zur Ismailiya auch der Geheimbund der Assassinen, der «Ha- nicht nur nicht selber brennen, sondern auch nicht verbrannt werden können.
schischgenießer>, dessen mörderische Anhänger auf Befehl ihres jeweiligen geist­ 25 Bismarck bemerkt irgendwo zum Konjunktiv irrealis im Zusammenhang mit
lichen Oberhauptes, des heute vor allem aus Abenteuerbüchem bekarmten «Al­ staatsmännischem Denken, dass, wer nicht darüber nachgegrübelt habe, was
ten vom Berge> oder «von den Bergen> (Scheich A Dschibal), im ii. bis 13. Jahr­ passiert wäre, wenn die Eröffnungsschlacht des Dreißigjährigen Krieges, die
hundert so eindrucksvoll gewütet haben, dass ihr Tun auf immer in der Schlacht am Weißen Berge, von den Protestanten gewonnen worden wäre, kein
Wortschatz der fränkischen Ritter eingegangen ist: to assassinate, assassiner, aseni- Politiker in Deutschland werden solle.
ar. - Die heutigen, durchaus friedlichen Ismailiten, die vor allem in Ostafrika 16 Chemisch passiert Folgendes:
imd Indien leben, erkermen den Aga Khan als ihr geistliches Oberhaupt an. a. PbO (Bleiglätte) +2 CH3COOH (Essigsäure) -> Pb(CH3COO)2 (Bleiacetat) +
18 Und zwar als erste aristotelische Kategorie in dem Sinne, dass die Substanz eines H2O (Wasser). Es entsteht eine Bleiacetatlösung, der eine Sodalösung zugegeben
Dinges das ist, auf das hingewiesen werden kann, und das dann irdt Hilfe der wird:
anderen Kategorien charakterisiert wird.
b. 3 Pb(CH3COO)2 + 2 Na2C03 (Soda) + 2 NaOH (Natronlauge) Pb(OH)2
19 Ähnliche Überlegungen imd auch eine Gradschätzung der Eigenschaften der 2PbC03 (Bleiweiß) + 6 NaCH3COO (Natriumacetait)
vier Elemente finden sich Anfang des 14. Jahrhunderts auch bei Walter von 27 Erst Ende des 18. Jahrhunderts stellte Lavoisier bei der Rückflussdestillation von
Odington.
Wasser fest, dass dabei tatsächlich die Wand des Reaktionskolbens angegriffen
20 «Natup und Rang der Buchstaben;
wurde. Er nahm das als Beweis gegen die Behauptung, dass Wasser in Erde
Wärme Kälte Trockenh. Feuchtigk. transmutiert sei.
I. Rang = Stufe alif ba' jrm dal 28 ««Was die Substanz angeht, möge Allah dich schützen, sie ist das, womit die
2. Rang = Grad ha' w aw za' .ha' Zwischenräume gefüllt sind. Sie ist in der Lage, jede Qualität anzunehmen. Alles
3. Rang = Minute .ta' ya' kaf lam ist in ihr, alles ist aus ihr gemacht, alles löst sich wieder in sie auf. Wenn diese
4. Rang = Sekunde mim nun sin 'a)m Angaben dir nicht genügen, zu verstehen, was Substanz ist, [lass mich erklären],
5. Rang = Terz fa' .sad qaf ra' dass sie Staub ist und ihre Farbe weißlich. Und wenn die Sonne auf sie scheint,
6. Rang = Quarte shin ta' tha' kha' wird sie wie entflammt und sichtbar. So solltest du wissen (begreifen), dass sie
7. Rang = Quinte dhal .dad .za' ghayn das Material der Obersten Leuchtenden Sphäre ist, gepriesen sei der Schöpfer
und Sein Name geheiligt. Das ist der Körper (die Grundsubstanz), der in allen
«Gewichtswert> der Buchstaben im Wort:
drei Naturreichen ist, nämlich in den Heren (Lebewesen), den Pflanzen und den
(umgerechnet auf danaq)
Steinen.» (Haage 55)
I n III IV 29 In der Schrift «Pros tus Gnostikus» wehrt sich Plotin vor allem gegen die Annah­
i: 3: 5: 8: me eines nicht-ursprünglichen, eines bösen oder dummen Weltenschöpfers und
1. Rang = Stufe 7 21 35 56 damit einer missratenen Welt: ««Es kann aber auch nicht zugegeben werden, dass
2. Rang = Grad 3 9 15 24 der Kosmos schlecht geraten sei, weil es in ihm viel Widriges gibt. Denn es hieße
3. Rang = Minute 2'/i 7V2 12V. 20 ihm einen zu hohen Anspruch aufbürden, wollte man verlangen, dass er mit der
4. Rang = Sekunde 2 6 IO 16 geistigen Welt gleich sei und nicht bloß ein Abbild von ihr. Denn ein Abbild der
5. Rang = Terz i'A 4 Ä 7'A oberen Welt, welches schöner wäre als der Kosmos, kann man sich nicht vorstel­
6. Rang = Quarte I 3 5 len.» ((Enneaden II, 9, 4) Plot. lüa, 115)
7. Rang = Quinte V2 i'A -2V' 2- t 30 Demokrit von Abdera redet davon, dass die Gestalt, Lage und Anordnung der
21 Dieses magische Quadrat wurde Satumsiegel genannt. Möglicherweise stammt Atome Eigenschaften hervorbringen, so wie das Arrangement von Buchstaben
es nicht, oder nicht nur, von den Pythagoreem, sondern von den Chinesen. Wörter hervorbringt. In der Neuzeit haben kluge Köpfe wie Robert Boyle schon
22 Für den Gründer der neuplatonischen Schule, Plotin, ist die seinshafte Zahl in früh die sprachlichen Möglichkeiten des Atomismus erkannt. i66i schrieb er in
566 A n m erku ngen II. In frem den W elten 567

seinem <Sceptical Chymist>; «that all elemented bodies be compoimded of the körperlichen Unsterblichkeit in Ägypten keine oder kaum eine Rolle gespielt hat.
same number of Elements, [cis] for a language; that all this words should consist Im Übrigen ist der Weg von Ost nach West genauso weit wie der Weg von West
of the same number of Letters». (Boyle 346) nach Ost, will sagen, es spricht einiges dafür, dass nicht nur die westliche von
31 Immerhin wird Gabir bei einigen Autoren Al-Sufi genannt, xmd der mystischen der östlichen, sondern auch die östliche Alchemie von der westlichen beeiiülusst
Bewegung der Sufis wurden in ihrer Gleichsetzung von Gott und Welt panthei- worden ist. Man vermutet das vor allem für die indische Alchemie.
stische Neigungen nachgesagt. 39 Lian könnte <läutem>, aber auch <seine Essenz reduzieren) bedeuten; der Wort­
32 Der Text der <Tabula smaragdina> ist höchstwahrscheinlich auf eine griechische bestandteil D a n steht für <Droge>, <Medizin>, aber auch für <Zinnober>.
Vorlage zurückzuführen und lag wohl auch in einer syrisch geschriebenen Ver­ 40 Wir können den Tao nie richtig beschreiben, denn er ist nicht definierbar, hat er
sion vor. doch keinen Namen, Ming, der ihm einen Platz irgendwo in der Hierarchie des
33 Die Dreiheit spielt überhaupt in der Geschichte der Psychologie eine große Rolle. Kosmos zuweisen wurde. So besitzt Tao keine nennbaren Qualitäten. Dabei ist
Aristoteles imterschied eine vegetabilische, eine animalische und eine intelligible Tao allumfassend, ist in allem und ist zugleich außerhalb. Er wird manchmal nüt
Seele; der Kirchenlehrer Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert redete von drei <Weg> oder - im Rahmen des Konfuzianismus - auch mit <mustergültige Hand­
Seelenteilen, Psyche, Pneuma und Logos, in mikrokosmischer Entsprechung der lung) wiedergegeben, ist also im menschlichen Bereich eine Art «Königsweg zur
Dreieinigkeit. Tugend und zur Übereinstimmung mit der Natur), die sich ihrerseits durch Tao
34 Von den vier Elementen abgesehen gibt es u. a. noch vier Himmelsrichtungen, vier auszeichnet.
Jahreszeiten, vier Winde, vier Temperamente, vier Körpersäfte, vier Hauptsaiten der 41 Ge Hong hat ein Standardwerk, <Pao-p'u-tzu) («Baopuzi Naipian)), d. h. «Der, der
Musikinstrumente tmd vier Hauptferben, die im Regenbogen sichtbar sind. sich an das Einfache hält), veröffentlicht.
35 Im Mittelalter wxirde das arabische Wort für <Chinesisch-Eisen> übersetzt als 42 Diese Geschichte wird in einer wichtigen Quelle, den «Historischen Aufzeich­
<Glas> (V itru m ), wohl weil man sich vmter dem merkwürdigen Eisen nichts vor­ nungen), «Shiji>, des Sima (3ian (ca. 190-110 v. Chr.) berichtet, der den Behaup­
stellen konnte. tungen des Li Shaojun sehr kritisch gegenüberstand. Übrigens wird schon 80
36 «Steine gibt es dreizehn: den M arqa sit, die M a g n isia , den D a u s, die T ü tia , den V. Chr. in den «Gesprächen über Salz und Eisen), «Yantie Lun), vom «Aurum
Lasurstein, den Malachit, den Türkis, den Konmd, den Alaun, den Spießglanz, potabile), trinkbarem Gold, ßnye, als einem wirksamen Elixier berichtet.
den Glimmer, den Gips und das Glas. \Ttriole gibt es fünf: den schwarzen Vitriol, 43 Kosmische Riten koimten niir von dazu berufenen Personen, etwa dem Pharao
den Q alq adis, den Q alqat.är, den S ü r i und den Q alq an t. Boraqe gibt es sechs [die oder dem Kaiser, durchgeführt werden, und ihre I>urchführung war bis ins De­
sicher alle im Umkreis der Soda und des Borax zu suchen sind, letzteres, weil tail geregelt, könnte doch der kleinste Fehler während des Ablaufs der Ritual­
Borax, Na2B40; • 10 H^O, leicht zu einer glasartigen Masse zerschmilzt]: den handlung zum Zusammenbruch der Welt führen.
Boraq des Brotes, das N a tro n , den Boraq der Goldschmiede, den Tinkär, den 44 Zu etwa der gleichen Zeit - 4. Jahrhundert v. Chr. - lebten der schon genannte
Boraq von Zaräwand und den Boraq der Weide. Salze gibt es elf: das gute Salz, Magier-Alchemist Li Shaojun und der Prinz Liu An oder Huai Nan Tse, der eine
das bittere Salz, das Salz T . abarzad, das A n d a rä n i-Sa h ., das N a ß - S a lz , das indi­ erste alchemische Abhandlung mit dem Titel «Zehntausend vollendete Künste
sche Salz, das Q a li-S a lz , das Hamsalz, das Asche-Salz, das Ätzkalk-Salz imd das von Huai Nan Tse) geschrieben haben soll, die aber verloren gegangen ist.
Ei-Salz.» (Garb. 8, 10) Ar-Razi redet auch von sechs <Atramenten>, nämlich 45 Das Taiji wurde auch Yang genannt xmd repräsentiert dann gewissermaßen ein
schwarzes, weißes, grünes, gelbes, rotes Atrament und Alumen (Alaim). Aus Ur-Yang. - Das bekannte Taiji-Zeichen vereinigt Hn und Yang in einem Kreis. Es
unseres Sicht sind «<Atramenta> Salzgemische, hauptsächlich aus Sulfaten, die ist übrigens das Haupts)mxbol in der Flagge der Republik Korea.
sich aus sulfidischen Mineralien (Glanze, Blenden) durch Luftoxidation gebildet 46 Nicht von ungefähr wurde schon in der Antike dem Pythagoras nachgesagt, er
haben». (Haage 206) sei «im Osten) gewesen, imd nicht von ungefähr ist er auf Bildern wie Raffaels
37 Was die Zoologie und Botanik betrifft, so ist die Annahme einer Konstanz der «Schule von Athen) mit einem Txmban dargestellt. Wie erwähnt, kannten auch
Arten bekaimtlich von Charles Darwin u. a. aufgegeben worden. Und was das die Chinesen das magische Quadrat, und für sie war es überhaupt nicht von
andere Naturreich angeht, so wird heute die Spezies in der Mineralogie viel ungefähr, dass die Zahl Fünf, die sich nicht nur auf die Elemente, sondern auch
pragmatischer gefasst, cds es der Aristotelismus zulassen würde, mit Übergangs- auf die Himmelsrichtungen (Osten, Westen, Norden, Süden und Mitte), die
möglichkeiten zwischen den einzelnen Spezies; und in der Chemie ist der Begriff Hauptfarben (Gelb, Blau, Rot, Weiß und Schwarz) imd auf die fünf Metalle
so aufgeweicht, dass er zugunsten etwa von <Substanzklasse> oder <homologer (Gold, Silber, Blei, Kupfer und Eisen) bezog, im Zentrum des magischen Qua­
Reihe> ganz aufgegeben wurde, während parallel dazu der Elementbegriff ge­ drats stand. Das (Quadrat und seine Interpretation ist nur ein Beispiel dafür, dass
wissermaßen definitorisch erstarrte, sodass er heute nicht mehr elastisch genug für die Chinesen eine «Erklärung der Welt) ganz wie für die Pythagoreer ein
ist, den Elementen chemische Übergänge von einem zum anderen zu erlauben. «Sich-gedanklich-Einfügen-in-die-Hcirmoiüe-der-Welt) war. Harmonie aber be­
Die Physik hat dem Elementbegriff bekanntlich wieder etwas Elastizität zurück­ deutet, dass die Dinge sich in stetiger Wandlung aufeinander beziehen.
gegeben. 47 Die Wandlungsphasen kann man auch als «Bildimgs-Zustände in Hinblick auf
38 Handelsverbindungen mit dem Ziel Syrien haben sogar schon seit rönüschen etwas) bezeichnen. So schafft Erde Metall bzw. ist dessen Entstehungsvorausset-
Zeiten bestanden, was zu Spekulationen darüber geführt hat, ob gar die Ägypter zimg (Metalle reifen in der Erde); Metall schafft Wasser (Metalle können verflüs­
die Alchemie von den Chinesen gelernt hätten. Als Gegenargument kann man sigt werden); Wasser schafft Holz (Keime sprießen durch Kontakt mit Wasser);
hier allerdings anführen, dass die für die Chinesen so zentrale Suche nach der Holz schafft Feuer (Holz ist Nahrung und Ort der Feuers); Feuer schafft Erde
568 A n m erku n g en III. In K löstern u n d andernorts 569

(Asche ist Erde). Die Wandlungsphasen sind aber zugleich Zerstörungs- bzw. 59 Wie üblich projiziert Li Yu-chen seine Erzählung in die Vergangenheit, hier die
Hinderungs-Zustände in Hinblick auf etwas: Erde dämmt Wasser ein; Wasser Mingzeit, doch zeigt er selbst erstaunliche Kenntnisse der klassischen Alchemie.
löscht Feuer; Feuer schmilzt Metall, Metall spaltet Holz; Holz gräbt Erde um.
48 Es ist lücht sicher, ob, wann und wie es einige Generationen später revidiert
worden ist zu der Form, die wir heute kennen. Außerdem ist es schwer, das Werk III. In Klöstern und andernorts
zwischen Waidan- und Neidan-Alchemie einzuordnen.
49 Ich folge hier Ge Hong, der u. a. auch empfiehlt, sich zur Abwehr der Dämonen 1 ««Coniugesi posses fidem rationemque)) - ««Verbinde, soweit du kannst denGlau­
einen Spiegel auf dem Rücken zu befestigen und außerdem den Gottheiten des ben mit der Vernunft)), schrieb schon um 520n. Chr. Boethius an den damaligen
Himmels, der Erde, des Ofens, des Brunnens usw. zu opfern. Ort des alchemi- Bischof von Rom, wohl Papst Hormisdas.
schen Wandlungsprozesses kann nur einer der 28 heiligen Berge sein. 2 Auf gewichtige Komplikationen in Hinblick auf die metaphysischen Vorausset­
50 Sollten dieser Kitt und vor allem seine Bezeichnung Zeichen dafür sein, dass es zungen aristotelischer Naturphilosophie - Stichworte: Averroisten, Siger von
tatsächlich eine Verbindung östlicher imd westlicher Alchemie gegeben hat? Brabant - sei hier nur hingewiesen.
51 Taiji wurde auch mit Ch'i, der Grundsubstanz, bzw. Li, dem Grundprinzip bzw. 3 Dermoch gab es in den islamischen Reichen auch Judenverfolgungen, so in Spa­
der Grundvemunft, gleichgesetzt. nien unter den Almohaden.
52 Ausgedrückt wird das in den Hexagrammen des <Buchs der Wandlungen), des 4 Allein schon anden Namender Übersetzer kamt man ablesen, wie weltoffen das
berühmten <Yi-Jing> (<I-Ching>) aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., das Grundlage angeblich so engeMittelalter in mancher Beziehung gewesenist. Die Kirche und
des altchinesischen Denkens, auch des naturphilosophischen, geworden ist, dies damit auch die Wissenschaft waren international, ja das Wort selbst ist für diese
aber nicht, weil es eine Erklärung der Welt böte, sondern weil es eine Einübung Zeit ein Anachronismus. Ein Mönch von den britischen Inseln (Michael Scotus)
in das menschliche Erlebnis der Vielt bietet. konnte sich in Sizilien wiederfinden, ein Flame (Wilhelm von Moerbeke) in Grie­
53 Die Kühlung der Destülationsgeräte scheint allerdings genau wie bei den west­ chenland, ein Italiener (Gerhard von Cremona) in Spanien, eine Franzose (Ger-
lichen Apparaten lücht so gut gewesen zu sein, dass die chinesischen Alchemi­ bert von Aurillac) in Romauf demPapstthron, ein anderer Italiener (Anselmvon
sten hochprozentigen Alkohol entdeckt hätten. Canterbury aus dem Aosta-Tal) in der Kathedrale von Canterbury.
54 Andere Ausdrücke waren ]inye, d. h. <trinkbares Gold>, und auch Shendan, d. h. 5 Nicht zu verwechseln mit der Ars nova in der Musik (Philippe de Vitry, um
«göttliche Medizin) bzw. «göttliches Zinnober). 1320).
5 5 In dem verwirrenden hinduistischen Pantheon erscheinen Schiwa und Parwati 6 ««Quellaltro, che ne fianchi e cos poco
in allen möglichen Erscheinungsformen, die allesamt Vergöttlichungen des Michele Scotto fu, che veramente
Männlichen und des Weiblichen in all ihren positiven und negativen Aspekten delle magiche frode seppe il gioco.))
darstellen sollen. Den mit der Materie befaßten Alchemisten treten die beiden ««Derhagre, hüftenschlanke Maim daneben
Götter in den Erscheinungsformen Bhairava und Bhairavi gegenüber. Im Übri­ Ist Michel Scotus: der verstand's, die Schauer
gen ist im indischen Denken das Ich stets in die Welt involviert: Wir erleben die Des Gauklertruges der Magie zu weben.))
Welt gemäß unserer geistigen Struktur. (Divina Commedia, Canto XX, 115-117, Laaths 138)
56 In zumindest einem Text der Neidan-Alchemie scheinen die Rollen ebenfalls ver­ 7 Die Katharergemeinden wurden in den 20Jahren nach 1209piolitisch vernichtet,
tauscht zu sein, wenn Su-Tung-p'o im 12. Jahrhundert n. Chr. sagt: ««Der Drache ihre Lehre hielt sich aber unterschwellig noch bis weit ins 14. Jahrhundert.
ist Quecksilber. Es besteht aus Samen und Blut. Es kommt aus der Niere und 8 Jede Wahrnehmung, auch die simpelste, ist, wie Owen Barfield in einer Studie
wird in der Leber aufbewahrt.... Der Tiger ist das Blei. Es ist Atem und Körper­ über die erkeimtnistheoretischen Grundlagen der Idolatrie schreibt, ««plainly the
kraft. Es kommt aus dem Geiste und wird in den Lxmgen aufbewahrt.)) (Elia.(i) result of an activity of some sort in me, however little I may recoUect any such
129) - Der Drache ist Yang, der Tiger ist Yin. Nun ist aber im chinesischen Den­ activity)). (Bcirf. 23)
ken stets das eine «außen), aber das andere «iimen), in unendlichem Regress imd 9 ««Ichbin kein ausgeklügelt Buch / Ichbin ein Mensch mit seinemWiderspruch»,
immerwährender Wandlung. schreibt Conrad Ferdinand Meyer in: «Huttens letzte Tage). (Mey. VIII, 55)
57 Nägärjuna ist ein Beispiel dafür, wie schwierig angesichts unsicherer Daten eine 10 Zur gleichen Zeit waren auch Alexander von Haies und Wilhelm von Auvergne
historische Klassifizierung der indischen Alchemie ist. Sollte er, wie Sheppard in Paris; Thomas von Aquin kam erst um die Zeit nach Paris, als Bacon ging.
armimmt, im 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. gelebt haben, wäre seine als klassisch 11 Kolportiert u. a. in einer Komödie von Robert Greene: «Friar Bacon and Friar
gepriesene Alchemie lücht tantrisch, obwohl sie auf Quecksilber basierte. Bungay) von 1589.
58 Wenn, wie Lippmann, Stapleton vmd Ruska vermuten, die Alchemie durch die 12 In einer «Epistola de secretis operibus artis et naturae). Dieser Brief ist vielleicht
Araber i\ach Indien eingeführt wurde, muss entweder die arabische Alchemie unter dem Eindruck einer Epistel von Petrus Peregrinus über den Magneten
früher oder die indische später entstanden sein, als bisher angenonunen wurde, geschrieben. Übrigens sollte man nicht viel auf derartige Prophezeiungengeben.
und sie müssen zudem Kultiuen beeiidlusst haben, mit denen sie viel weiüger Wenn ich Voraussage, dass es einmal technische Geräte gibt, um Gedanken zu
Kontakt hatten als mit der nord- tmd zentralindischen, nämlich die Kulturen der lesen - Gott bewahre! -, und diese Voraussage trifft ein, habe ich mich damit
Tamilen im Süden und der Nepalesen imd Tibeter im Norden. Außerdem muss, noch längst nicht als Genie erwiesen.
wie schon gesagt, das Quecksilber sein Geschlecht gewandelt haben. 13 Die Schädelbohrung erinnert natürlich an gleichartige Operationen in der Stein­
57° A n m erku n gen III. In K löstern u n d andernorts 571

zeit und der Blütezeit Altägyptens, nirr dass man damals wohl Dämonen ent­ 25 In Vers 17001 weist er auf die Umwandlimg von Pflanzen, nänüich Sodapflan­
weichen lassen wollte, während Amald - moderner und im Einklang mit medi­ zen, in Glas als Beispiel einer - doch immerhin vom Menschen vorgenonunenen
zinischer Theorie - nur schädliche Dämpfe austreiben wollte. - Transmutation hin, doch behauptet er zugleich, dem Alchemisten könne sein
14 Mich erinnert das an den Roman <Cats Cradle> von Kurt Vonnegut, in dem das Werk der Transmutation zum Gold bzw. zum Stein der Weisen nie gelingen, imd
Ende der Welt dadurch kommt, dass ein besonderer KeimkristaU mit ß-Tridymith-, zwar deshalb, weil die Natur selbst ihm verwehre, die Prima materia zu finden.
also Eisstruktur, ins Meer gelangt und alles Wasser der Erde zu Eis erstarren lässt. 26 Imitari, nachahmen, hängt etymologisch mit aemulari, nacheifem, gleichzukom­
15 Die phantasielose Wirklichkeit der Geschichte gibt allerdings zu bedenken, dass men suchen, und auch mit itnago, Abbild, zusammen.
Rosenobel nicht vor 1465 geschlagen wurden. 27 Es mag erstavmen, dass nüt dem <Liber de septuaginta> ein fast unverständlich
16 Ursprünglich hieß es Kadmia. In arabischer Zeit erst wurde es nach dem arabi­ übersetztes - und übrigens rücht vollständiges - Werk Eingang in eine so klare
schen Wort Düd für Rauch (Hüttenrauch, ZnO) als Tutia bezeichnet. Abhandlung wie die <Summa> gefunden hat. Aber der Textvergleich belegt es.
17 Der Kürbis vmrde auch als Cucumis gleich Gurke bezeichnet, was an <Qara> So sagt der <Liber de septuaginta> genau wie später die <Summa>, dass es drei
erinnert, das ja auch <Gurke> heißt. Rangstufen von Medizinen gäbe. Außerdem war der <Liber de septuaginta> im
18 Die Aufzählung steht bei Antoine Pemety im <Dictionaire Mytho-Herm^que>. 13./14. Jahrhundert Bestseller. Gerade weil er kaum verständlich war?
Dass sie im Grunde willkürlich ist, zeigen andere Listen, so ein Zwölferschema von 28 <Liber de investigatione perfectionis>; <Liber de inventione veritatis>; <Liber for-
George Ripley in seinem <Compoimd of Alchymie>: Caldnatio, Solutio, Separatio, nacum>; <Testamentum>.
Coniunctio, Putrefactio, Congelatio, Cibatio (<Fütterung>, von cibus), Sublimatio, 29 Das ist das bekannte Zirmgeschrei, das vom Aneinanderreiben von Mikrokristal­
Fermentatio, Exaltatio (<Übersteigerung>, von saltus), Multiplicatio, Proiectio. len des Zinns herrührt.
19 Übrigens erklärt sich die merkwürdige Bezeichnung <Dame> aus einer französi­ 30 E. Darmstädter behauptet, dass das zumindest bei Blei möglich sei und an Bei­
schen Verballhornung des Wortes für Wesir, <le vizir>, aus dem <la vierge> wurde. mengungen kleiner BleidD-Oxidmengen läge.
20 U. a. weil die Sammlimg <Mappae clavicula> sich auf griechisch-antike Quellen 31 Bei Darmstädter, der sich auf eine gedruckte Ausgabe von 1541 stützt, steht an
stützt, vermutete der große Altphilologe Hermann Diels, dass bereits in der Zeit dieser Stelle: «Er (Arseiük) besteht aus subtibler Materie und ist in seiner Natur
der frühen alexandrinischen Alchemie eine imvollkommene Form der Alkohol­ dem Schwefel verwandt, weshalb man ihn nicht anders als wie den Schwefel definieren
destillation bekaimt gewesen sei. kann.» (Darm. 36)
21 So hat Al-Hazini in der i. Hälfte des 12. Jahrhunderts mit seinem <Kitab mizan 32 Salze, die in ihren Eigenschaften schlecht auseinander zu halten sind, werden
al-hikma>, dem <Buch der Waage der Weisheit) , eine ausführliche Schrift über nach ihrer Herstellungsweise geordnet.
die Anwendung und Theorie der Waage vorgelegt. In diesem Buch wird auch 33 Bei Geber gibt es eine Affinität in Hinblick auf die <Forma>, gemeint sind hier
ausführlich die hydrostatische Waage behandelt. wohl die akzidentiellen Eigenschaften, und in Hinblick auf die <Materia> mit
22 Tatsächlich redet etwa der Korpuskulartheoretiker Joachim Jungius im 17. Jahr­ ihren substantiellen Eigenschaften.
hundert im Rahmen seiner Diasynkrisis-Theorie davon, dass bei Transmutatio­ 34 W. Newman vermutet, dass die alchemische <Theorie der Färbung) bis zum
nen, bei denen ja nichts Messbares hinzukomme oder fortginge, die kleinsten, 13. Jahrhimdert aufgegeben worden sei, obwohl die Fachnomenklatur sich ge­
die entsprechende Substanz konstituierenden Teilchen eine innere Umwandlung halten habe: «This is likewise the case with the late medieval Latin authors, who
erlitten. Als Beispiel bringt er die Verwandlung von Essig in Wein. also employ the noun tinctura,<dye>, for an agent of tr<msmutation. It is important
23 Der interessante Satz dazu lautet: «Es gibt einige substantielle Eigenschaften, die to note that although the theoretical justification for these dying techniques had
durch kein Mittel hervorgerufen werden können, weil sie keine geeigneten akti­ been lost by the thirteenth Century, or rather before, the recipes themselves were
ven und piassiven Agentien finden können. Aber darin kann man [dennoch] often faithfully transmitted.» (Newm. 127)
etwas Ähnliches zustande bringen, so wie die Alchemisten etwas dem Gold 3 5 Trotz der Geschichte mit Archimedes und der Krone des Königs Hieron war der
Ähnliches hersteilen, was die akzidentiellen Eigenschaften angeht. Aber dennoch Begriff des spezifischen Gewichts im Mittelalter und der Frühen Neuzeit durch­
machen sie kein wirkliches Gold, da ja die substantielle Form des Goldes nicht aus nicht klar. Wir können Geber nicht anlasten, dass er wohl nicht wusste, dass
aus der Hitze des Feuers stammt, das die Alchemisten anwenden, sondern aus das spezifische Gewicht von Blei höher ist als das von Gold.
der Wärme der Sorme am geeigneten Ort, wo die mineralische Kraft sich regt. 36 Unter Humiditas ist wohl der Anteil des Elements Wasser zu verstehen, aber ob
Daher verhält sich solches [alchemisches] Gold nicht wie die [echte] Spezies, und Huirüditas einen Überschuss dieses Elements im S- bzw. Hg-Teilchen anzeigt
dasselbe ist wahr für andere Dinge, die durch ihr Tun hergestellt werden.» Tho­ oder irgendwie attachiert ist, ist mir unklar. Geber argumentiert ja auch immer
mas Aquinas: <In quatuor libros sententiarum>. (Newm. 45) vom praktischen Standpunkt aus und treibt keine Theorie um der Theorie willen.
24 Das ist ein Problem, das heute die alternative Medizin betrifft. Übrigens wurde 37 Geber war anscheinend nicht der Meinung, dass alle Minerale letztlich aus
noch im 19. Jahrhundert, etwa in der Kontroverse zwischen dem Mineralogen Schwefel und Quecksilber bestehen, aber glaubte auch nicht, nur die Metalle
Rene Just Haüy und dem Chemiker Eilhard Mitscherlich, heftig darüber gestrit­ seien so zusammengesetzt. Zu den S-Hg-Verbindungen rechnete er auch die
ten, ob natürliche Minerale wie Glimmer mit künstlichen überhaupt nur ver­ <Machasite) (wahrscheinlich Pyrite), <Magnesia) in seiner männlichen und weib­
gleichbar seien. Erinnert sei auch an die bekanntere Kontroverse zwischen Joseph lichen Form (vielleicht Manganspat) und eben <Tutia), d. h. unreines Zinkcarbo­
Proust und Claude Louis Berthollet über konstante Proportionen in natürlichen nat bzw. Zinkoxid, als ein Metallprodukt. (Newm. 113, 139)
und künstlich hergestellten Verbindimgen. 38 Dass der Hl. Jakob von Compostela als Schutzherr der Alchemisten galt, ist
572 A n m erku n g en U l. ln K löstern u n d andernorts 573

vielleicht eine Erinnerung daran, dass die Nova ars von südlich der Pyrenäen 48 Hier sei noch einmal betont, dass die Alchemisten weder Metaphysiker noch gar
gekommen war. Vielleicht auch haben die Alchemisten ihn deshalb als Patron Psychologen waren. Die psychologischen Probleme im Unakreis des Hermaphro­
gewählt, weil er mit einem Pilgerstab daigestellt wurde, der von zwei Bändern diten seien später erörtert.
kreuzweise umwunden war, was doch sehr an den Caduceus des Hermes erin­ 49 Und auch vom Untersuchungsgegenstand her gibt es heute keinen prinzipiellen
nert. Übrigens war Compostela unter anderemdeshalb ein sobeliebter Pilgerort, Unterschied zwischen Natur- und Technikwissenschaften. Mit dem Beginn der
weil häufig Missetäter zu einer zu beglaubigenden Wallfahrt dorthin verurteilt Technikwissenschaft im vorigen Jahrhundert begannen die Naturwissenschaften
wurden: eine fromme Art des Freigangs, aber bitteschön möglichst weit weg. denn auch, sich ihnen zu nähern. Symptomatisch ist hier die Chemie, machte sie
39 Eine eigenartige Rolle sollte der Ouroboros noch 1850 in einem Prozess um den doch bereits seit Beginn der Jahrhunderts auch künstlich Hergestelltes zur
Tod einer Gräfin Görlitz spielen, und zwar in Form eines Fingerrings aus zwei Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen, vor allem im Zusammenhang
Schlangen, eine aus Gold und eine aus Platin, der als Hauptbeweisstück diente. mit Substitutionsreaktionen, die ab etwa 1830 intensiv erforscht wurden.
Zeuge in diesem Indizienprozess, in dem auch Justus Liebig als Gutachter auf­ 50 Das heißt nicht, dass man die Natur nicht zu Dingen bringen kann, die sie nor­
trat, war der junge August Kekule. Nun hat Kekule bekaimtlich im Zusanunen- malerweise nicht tut, wenn sie nur gewissermaßen <einwilligt>. Ein Beispiel ist
hang mit seiner epochemachenden Entdeckung der Ringstruktur des Benzols das Pfropfen von Pflanzen.
von einem Wachtraum gesprochen, in dem er sich selbst in Schwanz beißende 51 Der Kaiser hatte ganz ähnliche Ziele wie der Papst, wenn er gegen Leute vorzu­
Schlangen, also Uroboroi, gesehen hatte, dies zur Freude mancher Tiefenpsycho­ gehen befahl, die Metallgüsse durchführten, «um sich durch die Kirnst zu berei­
logen. Aber könnte es nicht sein, dass Kekule seine Schlangen, die er sicher als chern und daraus einen Reichtum zu sichern, der ihnen erlauben würde, gegen
alchemistische Symbole karmte, nicht aus den tiefsten Hefen seines kollektiven die Römer zu revoltieren». (Berth. (1)4)
Unbewussten, sondern aus den etwas flacheren Hefen seiner ganz persönlichen 52 Im allgemeinen Verständnis des Mittelalters ist auch die mechanische Technik
Erinnerung genommen hat? etwas Unnatürliches, zumindest etwas, deren Ziele vom Menschen, also nicht
40 Der Satz könnte auf die <Turba> zurückgehen und dort auf einem Missverständnis aus dem Gegenstand selbst gesetzt sind, etwa wenn sie einen Stein gegen seinen
oder Übersetzungsfehler beruhen. Er findet sich auch in dem Werk <De secretis Drang nach unten am Flaschenzug nach oben zerrt. Nun mag die Technik als
naturae seu de quinta essentia>, das unter dem Namen Rupesdssas umlief, aber Überlistung der Natur etwas Schlitzohriges an sich haben, unmoralisch im Sinne
eine Mischung aus seiner <Consideratio> und pseudo-luUischen Schriften war. Gan­ von «Übles wollen> ist sie damit noch nicht. Außerdem befasst sie sich nicht mit
zenmüller schreibt den Satz ohne weitere Angabe Amaldus von Villanova zu. okkulten Kräften.
41 Das erinnert natürÜch an die M u ltip lic a tio species, mit der Robert Grosseteste und 33 Die aristotelischen Rahmenbedingungen, etwa für das Dasein eines Hauses,
Roger Bacon im 13. Jahrhundert die Ausbreitung des Lichtes erklärten. sind: Die Causa form alis, die dem Bauplem eines Hauses entspricht, die Causa
42 Geber stützt sich in seinen Ansichten auf die pseudoaristotelische Schrift <De m aterialis, die dem Baumaterial entspricht, die C a u sa m oven s, die der Tätigkeit
perfecto magisterio>. der Bauarbeiter entspricht und nüt unserer heutigen, naturwissenschaftlich be­
43 Zu allen Meinungen gibt es irgendwo eine gegenteihge. In einer Schrift <Decla- griffenen Ursache gleichgesetzt werden kann, und die so wichtige C a u sa ß n a lis ,
ratio lapidis physici Avicennae filio suo Aboali> (Theatrum Chemicum IV (1659), die zielgerichtete Absicht, die da sein muss, damit man überhaupt mit dem Bau
875) wird gesagt, man solle sich von allen femhalten au ßer Königen imd hoch- eines Hauses anfängt.
gestellten Persörüichkeiten, weil nur sie die Mittel zur Durchführung des Werkes 34 Das in der BerUner Staatsbibliothek befindliche Exemplar (codex germ. fol. 42)
vorstrecken könnten. deutet mit seiner ursprüngüch aus dem niederländischen Bereich stammenden
44 Das ist für die analytische Psychologie C. G. Jungs, in der Zahlenwertungen - Blumenomamentik darauf hin, dass das Werk Ende des 16. Jahrhunderts in
drei als ungerade Zahl gleich männlich, vier als gerade Zahl gleich weiblich - Augsburg entstanden ist.
eine große Rolle spielen, von besonderer Bedeutung. Angeblich strebt das Unbe­ 33 Im Bd. 16 seiner «Gesammelten Werke> («Die Psychologie der Übertragung>).
wusste nach der Zahl vier. Ich muss gestehen, dass ich nicht viel von derlei 36 Im «Herbst des Mittelalters» schreibt Johan Huizinga über diese Zeit: «Der ganze
Symboliken halte, vor allem, nachdem ich gehört habe, dass in Korea die Un­ Inhalt des Gedankenlebens will sich durch Verbildlichung zum Ausdruck brin­
glückszahl <vier> ist, weshalb in dortigen Hotels oft kein viertes Stockwerk exi­ gen: alles Gold wird in kleine dünne Scheiben ausgemünzt.» (Huiz. 209)
stiert. Und was die <männliche> Drei betrifft, so gibt es Göttertriaden, z. B. in 37 Zwei mögliche Autoren werden genannt: Josephus Quercetanus (Joseph Duchesne)
Ägypten, in denen ein Partner weiblich ist. aus dem 16. Jahrhundert und Jacobus ToUius aus dem 17. Jahrhundert.
45 In anderen alchemischen Traktaten war Christus zugleich <Pater> (Mercurius) 38 Das Wort «ratiomorph» stammt, soviel ich weiß, von dem Verhaltensforscher Kon-
und <Filius> (Lapis). rad Lorenz. Es soll darauf hinweisen, dass wir viel mehr Informationen aufnehmen
46 Gemeint sind die Male an den Händen, den Füßen, ferner die Spuren des Lan­ und auch vernünftig verarbeiten können, als uns bewusst ist. Deshalb auch körmen
zenstichs, der Krönung mit der Dornenkrone imd der Geißelung. wir oft unsere Erkeimtiüsse und unsere Gedankengänge nicht rational, d. h. in einer
47 Im alchemischen Traktat «Rosarium philosophorum> von i j jo allerdings wird vollständigen, logischen Wortfolge, wiedergeben. Der geübte Zoologe mag ein Her
der Hermaphrodit in der Trichotomie Corpus - als WeibÜches -, Spiritus - als sehen, das er sofort als Hybrid etwa zwischen Gans und Ente erkennt, aber er
Männhches, Anima - als Seelisches, das beseelende Band, das Vinculvun zwi­ wird nicht in der Lage sein, in Worten anzugeben, was in diesem Her derm nun
schen Corpus und Spriritus gedeutet: «Anima vocatur rebis [Hermaphroditus].» alles als Charakteristikum der Gans, was als das der Ente zu gelten hat und was
(Jung (5) 259) als Tertium zu beiden oder gar nur zum Hybrid gehört.
574 A n m erku n g en TV. In der neuen W elt Europas 575

59 Die Alchemie war insofern kompatibel mit scholastisch-mittelalterlichem Den­ «Cabala chymica», 1 6 1 ^ / 1 6 in Franz Michelspachers «Cabala sive speculum artis
ken, als für beiden die Pa rtizip a tio n Grundlage ihres Weltverständnisses war. et naturae in alchymia», 1680 in der anonymen «Cabala chymica ab anonyme
Wenn aber etwa Thomas von Aquin - auf Aristoteles gestützt - behauptet: «Ani­ quodam compilata», 1753 in Johann Grasshofs «Cabala chymica».
ma est quodammodo omnia», «In gewisser Weise ist alles Seele» (Garf. 86), dann 10 Übrigens versuchte die autochthone, die einheimische Priesterschaft noch Jahr­
meint er lücht, daß die Materie beseelt ist, sondern er meint, daß Erkenntnis hunderte nach der Eroberung ihres Heiligen Landes durch die Griechen, die
überhaupt nur durch das Zusammeixspiel des zu erkennenenden Gegenstandes eigene Sprache und Schrift möglichst rätselhaft und unverständlich zu halten,
mit dem Erkenntnisvermögen des Menschen zustande kommt. Für Thomas von um so der religösen Überfremdung zu entgehen. - Erinnert sei auch noch einmal
Aquin ist dieses Erkermtnisvermögen gleich der Seele, die ihrerseits Organ der an Horapollon.
Erkenntnis Gottes ist. Und so erkennen wir Gott in allem, was wir überhaupt 11 Joachim zufolge gibt es drei Weltzeitalter, deren erstes von Adam begonnen wur­
erkennen können. de und die alttestamentarische Periode umfasst, während das zweite im Zeichen
60 Noch im 17. Jahrhundert unterschied man die M u sic a m u n d an a, die M u sic a hu - Jesu Christi steht. Die dritte Periode wird durch die Rückkunft des Elias einge­
m ana und die M u s ic a in strum en ta lis, welch letztere profan und im wahrsten Sinne läutet und ist die Zeit der Hochzeit der Kirche mit ihrem Himmlischen Gemahl,
des Wortes nichtswürdig war. Sie ist hier gemeint. und das bedeutet wohl, dass nach dem Reich Gottvater und dem Reich Christi
61 Meinel nennt zwei Doppelbegabimgen, die auf der einen Seite protochemisch jetzt das Reich des Heiligen Geistes errichtet wird. Joachim redet aber auch von
tätig waren, auf der anderen Seite sich an Kompositionen versuchten, nämlich sieben kosmischen Tagen zu je tausend Jahren, wobei die erste Periode fünf, die
Johann Daniel Mylius und Moritz von Hessen-Kassel. Beide aber hätten die bei­ zweite und die dritte je ein Jahrtausend umfassen.
den Bereiche nicht miteinander verbunden. 12 Oder auch die Drittausgabe, wenn man Johannes den Täufer dazwischenschaltet.
62 «Enfin, 6 bonheur, 6 raison, j'^artai de ciel l'azur, qui est du noir, et je v^cus, - Elias der Prophet eiferte gegen die Sündhaftigkeit der Welt in Gestalt der Baals­
etincelle d'or de la lumi^re nature.» (Rimb. 306) priester, womit er eine Revolution gegen deren Herrschaft in Gang setzte. Er galt
als großer Wundertäter, und am Schlüsse seines Lebens fuhr er auf einem feuri­
gen Wagen gen Himmel, von wo er zu seiner Zeit wiederkehren wird, um das
IV. In der neuen Welt Europas Weltgericht zu verkünden, das dem tausendjährigen Friedensreich vorangeht.
Weil nun Jesus selbst den Verkünder seines Erscheinens auf Erden, nämlich Jo­
1 Die «Beliebigkeit» der Postmodeme rührt ja auch zum Teil daher, dass sie sich hannes den Täufer, als Elias bezeichnet hat, konnte man hoffen, dass Elias in
weder an die Mythen des Ursprungs, etwa an den des Paradieses, das in den Gestalt einer weiteren historischen Persönlichkeit auftreten und das Ende der
Rousseauschen «glücklichen Wilden auf den glücklichen Inseln» gesucht werden bisherigen Welt verkünden würde.
konnte, anbinden kann, noch an die Mythen der Endzeit, etwa an den der wis­ 13 Wie das Beispiel der norditalienischen Städte zeigt, braucht antirömisch nicht
senschaftlich gesteuerten Idealgesellschaft, die in der Durchsetzung des Kommu­ unbedingt antikatholisch zu bedeuten. Allerdings war im Großen und Ganzen
nismus gesucht werden konnten. der Kampf der Gegenreformation gegen die Reformation ein Kampf von Staaten
2 Es ist auffallend, daß Fürsten, die zur Nichtbeachtung oder gar zur Überwin­ bürokratisch-absolutistischer Prägung (Spanien, Frankreich) gegen Staaten mit
dung konfessioneller Schranken neigten, den Hermetismus als eine Art Staats­ liberal-bürgerlicher Prägimg (Niederlande, England).
ideologie favorisierten, genannt seine Kaiser Rudolf II. im katholischen Prag, 14 Dass Bacon zugleich politisch konservativ-royalistisch für die Prärogative der
Landgraf Moritz I. von Hessen im lutherischen Kassel und Kurfürst Friedrich V., Krone gegen die Interessen des bürgerlichen Parlaments focht, zeigt nur, daß die
der Winterkönig, im kalvinistischen Heidelberg. Geschichte keiner Eins-zu-eins-Logik unterliegt.
3 In dieser bis zum Äußersten verkürzten Darstellung müssen Probleme wie das 15 Die wissenschaftliche Prognostizierung allerdings setzt einen wieder anderen,
der Graviation als «okkulte Kraft» unerörtert bleiben. einen besonderen Zeitbegriff voraus, der in der Zeit alle Merkmale der Zeit aus­
4 Boyles Druck-Volumen-Gesetz, pV = const., von 1661, das ja als Beleg dafür schließt: Das prognostizierte Ereignis ist nur zu erzielen, wenn alle Bedingungen
gelten sollte, daß Gase g esetzm ä ßig auf äußeren Zwang reagieren, war auch gegen des Experiments die gleichen sind wie in dem Experiment, das zur Prognose
den Pantheismus gerichtet. geführt hat.
5 Nicht von ungefähr trägt die Hauptperson in Umberto Ecos Esoterik-Roman 16 Der hochbegabte, manieristisch malende Francesco Mazzuoli, der nach seiner
«Das Foucaultsche Pendel» den Namen Casaubon. Heimatstadt Parma Parmeggianino oder Parmigianino genannt wurde, verfiel
6 Möglicherweise ist das Tarockkartenspiel, das auch heute noch für Devinationen der Alchenüe so sehr, dass er in einen fast tierischen Zustand herabsank, der ihn
verwandt wird, mit der Kabbala verbunden: Die alten Tarockkarten, zweiund­ schließlich ruinierte. Mir ist nicht bekannt, ob er seine Melancholia alchemica in
zwanzig an der Zahl, waren mit hebräischen Buchstaben gekennzeichnet. Kunstwerke umzusetzen versucht hat.
7 Auf die problematische Frage, wieweit sich die Sprache der Genetik im Sprechen 17 Ob Paracelsus auch die Luft Konstantinopels geatmet hat, wo ihm angeblich vom
selber verändert, sei hier nur hingewiesen. weisen Salomon Trismosin eine Probe vom Stein der Weisen überlassen wurde,
8 Gewiss gab es nicht nur wechselwirkende Beziehungen zwischen Kabbala, Gno­ ist mehr als zweifelhaft. Der historisch kaum fassbare Trismosin gilt u. a. als
sis imd der Häresie der Katharer, sondern auch zum Marienkult des Hoch- und Autor des Traktats «Splendor Solls».
Spätmittelalters und zum ritterlichen Minnekult. 18 Arcana sind konzentrierte Qintessentiae. Als dritte Substanzgruppe nennt Para­
9 In anderen Werken erscheint die Kabbala schon im Titel, so 1606 in Franz Kiesers celsus die Magisteria, die durch einfache Mischung oder Extraktion erhalten

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