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Johannes Paul II.

Auf,
lasst uns
gehen!

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Lebenserinnerungen und Gedanken des Heiligen Vaters


Das Vermächtnis von Papst Johannes Paul II. an die Welt – seine
Erinnerungen an die Zeit von seiner Bischofsweihe über sein Wirken
als Erzbischof von Krakau bis zu seiner Ernennung zum Papst. Wir
erleben seinen Weg in die Verantwortung, seine Nähe zu den
Menschen, die Bürde des Amtes … Bewegende Zeilen voller
Warmherzigkeit und Güte, die zeigen, dass der Pontifex ein
väterlicher Mensch mit großem Herzen ist.
ISBN: 3-89897-045-0
Original: WSTANCIE, CHODZMY!
Deutsch von Ingrid Stampa
Verlag: Weltbild
Erscheinungsjahr: 2004
Umschlaggestaltung: X-Design, München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!


Buch

»Auf, lasst uns gehen!« Dieses Jesus-Wort stellt Johannes


Paul II. als Motto über seine Erinnerungen aus den
zwanzig Jahren seines Lebens als Bischof von Krakau –
eine Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs. Er berichtet
von den Schwierigkeiten, die die polnische Kirche nach
der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten unter der
kommunistischen Herrschaft zu bestehen hatte, gibt Ein-
blicke in die Arbeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils,
an dem er vom ersten bis zum letzten Tag teilnehmen
konnte, berichtet von vielen menschlichen Begegnungen
und lässt dabei immer wieder allgemeine Reflexionen
einfließen, die den Leser in die spirituellen Hintergründe
des Geschilderten einführen und ihm eine unmittelbare
Freude am gelebten Glauben vermitteln. Wir erleben einen
dynamischen, jungen Bischof, der als Vater und Hirte der
Gläubigen immer bemüht ist, ganz nah bei den Menschen
zu sein, einen weltoffenen Förderer der Wissenschaft und
der Künste, einen Freund der Literatur und des Theaters,
vor allem aber einen Menschen, der aus der Kraft des
Gebetes lebt. Und wir dürfen ihn begleiten auf einem Teil
seines Weges, der ihn schließlich auf den Stuhl Petri nach
Rom führen sollte.
Autor

Johannes Paul II. wurde am 18. Mai 1920 als Karol


Wojtyta im polnischen Wadowice geboren. Er studierte
zunächst Literaturwissenschaften und war Schauspieler in
einer Krakauer Theatergruppe. Nach seinem Theologie-
studium, das wegen der deutschen Besatzung in Polen
weitgehend im Untergrund stattfinden musste, wurde er
1946 zum Priester und knapp zwölf Jahre später, im Jahre
1958, bereits zum Bischof geweiht. Ab 1964 Erzbischof
von Krakau, wurde er 1967 zum Kardinal ernannt und
1978 als Nachfolger Johannes’ Pauls I. zum Papst ge-
wählt. Johannes Paul II. ist der erste polnische und seit
1522/23 der erste nicht italienische Papst. 1981 wurde er
bei einem Attentat auf dem Petersplatz schwer verletzt.
Inhalt

Einleitung ...........................................................................6

TEIL I DIE BERUFUNG ..................................................8


Die Quelle der Berufung .................................................9
Die Berufung.................................................................12
Nachfolger der Apostel .................................................17
Wawel – der Burgberg ..................................................21
Die weihenden Bischöfe ...............................................29
Die liturgischen Handlungen der Weihe .......................31
Der heilige Chrisam ......................................................34
Die Mitra und das Pastorale ..........................................40
Die Pilgerfahrt zum Marien-Wallfahrtsort....................46

TEIL II DIE TÄTIGKEIT DES BISCHOFS...................51


Die Aufgaben des Bischofs...........................................52
Hirt ................................................................................55
»Ich kenne meine Schafe« ............................................57
Die Ausspendung der Sakramente ................................60
Der Kampf für die Kirche .............................................66

TEIL III WISSENSCHAFTLICHER UND


PASTORALER EINSATZ ..............................................70
Der Bischof und die Welt der Kultur ............................72
Die Bücher und das Studium.........................................74
Die Kinder und die Jugendlichen..................................78
Die Katechese................................................................83
Caritas – die Nächstenliebe...........................................85

TEIL IV DIE VATERSCHAFT DES BISCHOFS..........88


Die Zusammenarbeit mit den Laien..............................89
Die Zusammenarbeit mit
den Ordensgemeinschaften ...........................................93
Die Priester....................................................................97
Das Haus des Bischofs ................................................102
Bei den eigenen Leuten sein .......................................111

TEIL V BISCHÖFLICHE KOLLEGIALITÄT.............114


Der Bischof in der Diözese .........................................115
Das Pallium .................................................................117
Der Bischof in seiner Lokalkirche ..............................118
Die Kollegialität ..........................................................121
Die Konzilsväter..........................................................125
Das Kardinals-Kollegium............................................128
Die Synoden ................................................................130
Die Verwirklichung des Konzils.................................135
Die polnischen Bischöfe .............................................139

TEIL VI GOTT UND DER MUT..................................143


Stark im Glauben.........................................................144
Die Heiligen von Krakau ............................................147
Martyres – die Märtyrer ..............................................150
Das Heilige Land.........................................................156
Abraham und Christus: ...............................................158
EINLEITUNG

Nach der Veröffentlichung des Buches »Geschenk und


Geheimnis«, das Erinnerungen und Betrachtungen enthält,
welche die Anfangszeit meines Priestertums betreffen,
erhielt ich, vor allem von Jugendlichen, zahlreiche Zeug-
nisse herzlicher Dankbarkeit dafür. Wie mir berichtet
wurde, hat sich für nicht wenige von ihnen diese persön-
liche Ergänzung des Apostolischen Schreibens Pastores
dabo vobis als eine wertvolle Hilfe erwiesen, um die
eigene Berufung in rechter Weise zu erkennen. Das hat
mir Freude bereitet. Möge Christus sich auch in Zukunft
dieser Betrachtungen bedienen, um weitere Jugendliche
dahin zu führen, auf seine Einladung zu hören: »Folgt mir
nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen«
(Mk 1,17). Anlässlich des 45. Jahrestags meiner Bischofs-
weihe und des 25. Jahres meines Pontifikats wurde ich
gebeten, die Fortsetzung dieser Erinnerungen von 1958 an
– dem Jahr also, als ich Bischof wurde – nieder-
zuschreiben. Ich hatte den Eindruck, dieser Aufforderung
ebenso nachkommen zu müssen wie der Anregung zu dem
vorhergehenden Buch. Ein weiteres Motiv, diese
Erinnerungen und Überlegungen zu sammeln und neu zu
ordnen, war die fortschreitende Ausarbeitung eines
Dokumentes, das dem bischöflichen Dienst gewidmet ist:
das Apostolische Schreiben Pastores gregis. Darin habe
ich die Gedanken und Vorstellungen zusammenfassend
dargelegt, die im Laufe der 10. Ordentlichen General-
versammlung der Bischofssynode im Großen Jubiläums-
jahr 2000 zum Ausdruck gebracht worden waren. Als ich
im Auditorium die Beiträge der Bischöfe hörte und später

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die Texte mit den Vorschlägen zur Hand nahm, die sie mir
unterbreitet hatten, spürte ich, wie in mir viele Erinne-
rungen erwachten – sowohl aus den Jahren, in denen es
meine Aufgabe war, der Kirche in Krakau zu dienen, als
auch aus diesen Jahren in Rom, wo ich als Nachfolger
Petri neue Erfahrungen sammelte. So habe ich den
Versuch gemacht, diese Gedanken zu Papier zu bringen,
denn es ist mein Wunsch, auch anderen das Zeugnis der
Liebe Christi mitzuteilen, der durch die Jahrhunderte
hindurch immer neue Nachfolger der Apostel beruft, um
seine Gnade mit Hilfe von »zerbrechlichen Gefäßen« in
die Herzen der Menschen auszugießen. In diesen
Erinnerungen begleiteten mich ständig die Worte, die
Paulus an den jungen Bischof Timotheus richtet: »Er hat
uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen,
nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem
Entschluss und aus Gnade, die uns schon vor ewigen
Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde« (2 Tim 1,9).
Dieses Schreiben biete ich an als ein Zeichen der Liebe
zu meinen Mitbrüdern im Bischofsamt und zum ganzen
Volk Gottes. Möge es denen hilfreich sein, die die Größe
des bischöflichen Dienstes kennen lernen möchten und die
Mühe, die er mit sich bringt, aber auch die Freude, die ihn
in seiner täglichen Erfüllung begleitet. Alle lade ich ein,
mit mir in das Te Deum des Lobes und des Dankes
einzustimmen. Mit dem Blick auf Christus gerichtet und
gestützt auf die Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt,
wollen wir gemeinsam auf den Wegen des neuen
Jahrtausends voranschreiten: »Auf, lasst uns gehen!«
(Mk 14,42).

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TEIL I
DIE BERUFUNG

»Nicht ihr habt mich erwählt,


sondern ich habe euch erwählt«
(Joh 15,16).

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Die Quelle der Berufung

Ich suche die Quelle meiner Berufung. Sie pulsiert dort,


im Abendmahlssaal von Jerusalem. Und ich danke Gott,
dass es mir während des Großen Jubiläums des Jahres
2000 vergönnt war, gerade dort, in jenem Raum im
Obergeschoss (vgl. Mk 14,15) zu beten, in dem das Letzte
Abendmahl stattfand. Auch jetzt versetze ich mich im
Geist an jenen denkwürdigen Donnerstag, als Christus,
nachdem er den Seinen seine Liebe bis zur Vollendung
erwiesen hatte (vgl. Job 13,1), die Apostel als Priester des
Neuen Bundes einsetzte. Ich sehe ihn, wie er sich auch vor
jedem von uns Nachfolgern der Apostel niederbeugt, um
uns die Füße zu waschen. Und ich höre seine Worte:
»Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir
Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn
ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die
Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die
Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit
auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe«
(Job 13,12–15). Ich höre diese Worte, als seien sie an
mich, an uns, gerichtet. Hören wir, gemeinsam mit Petrus,
Andreas, Jakobus, Johannes …, hören wir weiter: »Wie
mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt.
Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet,
werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote
meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.
Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist
und damit eure Freude vollkommen wird. Das ist mein
Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es
gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für

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seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr
tut, was ich euch auftrage« (Joh 15,9–14). Ist in diesen
Worten nicht das ganze mysterium caritatis unserer
Berufung enthalten? In den Worten, die Christus in
»seiner« Stunde sprach, für die er gekommen war (vgl.
Joh 12,27), liegt die Wurzel jeder Berufung in der Kirche.
Aus diesen Worten fließt der Lebenssaft, der jede
Berufung nährt – die der Apostel und ihrer Nachfolger,
wie auch die eines jeden Menschen, denn der Sohn Gottes
will »Freund« eines jeden sein: hat er doch für alle sein
Leben hingegeben. In diesen Worten begegnet man dem
Wichtigsten, Kostbarsten und Heiligsten: der Liebe des
Vaters und der Liebe Christi zu uns, seiner und unserer
Freude, sowie auch unserer Freundschaft und unserer
Treue, die in der Erfüllung der Gebote ihren Ausdruck
finden. In diesen Worten ist auch das Ziel, der Sinn
unserer Berufung angesprochen: Wir sollen uns nämlich
aufmachen und Frucht bringen, und unsere Frucht soll
bleiben (vgl. Joh 15,16). Die Liebe ist schließlich das
Band, das alles zusammenhält: Sie eint wesensmäßig die
göttlichen Personen, und sie eint ebenfalls – wenn auch
auf ganz anderer Ebene – die Menschen und ihre
verschiedenen Berufungen untereinander. Wir haben unser
Leben Christus anvertraut, ihm, der uns zuerst geliebt und
als guter Hirt sein Leben für uns hingegeben hat. Die
Apostel Christi hörten jene Worte, fühlten sich durch sie
unmittelbar angesprochen und erkannten in ihnen ihre
persönliche Berufung. In gleicher Weise müssen zwangs-
läufig auch wir, ihre Nachfolger und Hirten der Kirche
Christi, uns verpflichtet fühlen, als Erste auf diese Liebe
zu antworten, und zwar in der Treue, in der Erfüllung der
Gebote und darin, täglich unser Leben für die Freunde
unseres Herrn hinzugeben. »Der gute Hirt gibt sein Leben
hin für die Schafe« (Joh 10,11). In der Homilie, die ich

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anlässlich meines 25-jährigen Pontifikats am 16. Oktober
2003 auf dem Petersplatz hielt, sagte ich in diesem Zu-
sammenhang: »Als Jesus diese Worte sprach, wussten die
Apostel nicht, dass er von sich selber redete. Nicht einmal
der Lieblingsjünger Johannes wusste es. Er begriff es erst
auf dem Kalvarienberg unter dem Kreuz, als er sah, wie er
still sein Leben hingab ›für seine Schafe‹. Als dann für ihn
und die anderen Apostel die Zeit kam, dieselbe Sendung
zu übernehmen, da erinnerten sie sich gemeinsam an seine
Worte. Und es wurde ihnen bewusst, dass sie nur deshalb
imstande sein würden, die Sendung zu erfüllen, weil Jesus
ihnen versichert hatte, er selbst werde es sein, der durch
sie handelt.«
»Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch
erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und
Frucht bringt, und dass eure Frucht bleibt« (Joh 15,16).
Nicht ihr, sondern Ich, sagt Christus – Das ist der Grund,
auf dem die Wirksamkeit der pastoralen Sendung des
Bischofs beruht.

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Die Berufung

Es war im Jahre 1958. Mit einer Gruppe begeisterter


Paddelboot-Fahrer befand ich mich im Zug nach Olsztyn
(Allenstein). Wir waren im Begriff, unsere Ferien nach
dem seit 1953 praktizierten Programm zu beginnen: Einen
Teil der Ferien verbrachten wir in den Bergen, meist auf
den Bieszczady, und einen Teil an den Masurschen Seen.
Unser Ziel war der Fluss Lyna. Und genau deshalb waren
wir im Zug nach Olsztyn; es war im Juli. Ich wandte mich
an den, der bei uns als »Admiral« fungierte – wenn ich
mich recht erinnere, war das damals Zdzislaw Heydel –
und sagte zu ihm: »Zdzislaw, bald werde ich das Boot
verlassen müssen, denn der Primas (nach dem Tod von
Kardinal August Hlond im Jahr 1948 war das Kardinal
Stefan Wyszynski) hat mich zu sich bestellt und ich muss
mich bei ihm vorstellen.« Der »Admiral« antwortete mir:
»Einverstanden, ich nehme das in die Hand.«
So verließen wir also am festgesetzten Tag die Gruppe,
um nach Olsztynek (Hohenstein), zur nächstgelegenen
Bahnstation zu kommen. Da ich wusste, dass ich mich
während unserer Flussreise beim Kardinal Primas vor-
stellen musste, hatte ich in weiser Voraussicht bereits
meinen Festtags-Talar in Warschau bei Freunden gelassen.
Es wäre nämlich kaum angebracht gewesen, in dem Talar
zum Primas zu gehen, den ich während der Bootsfahrten
mitnahm. (Tatsächlich hatte ich auf unseren Ausflügen
immer einen Talar und die Paramente für die Messfeier
bei mir.) So machte ich mich also auf den Weg nach
Olsztynek, zuerst auf den Wellen des Flusses im Paddel-
boot und dann auf einem Lastwagen, der mit Mehlsäcken

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beladen war. Der Zug nach Warschau fuhr spät in der
Nacht ab. Deshalb hatte ich meinen Schlafsack mit-
genommen, weil ich während der Wartezeit auf dem
Bahnhof ein kleines Schläfchen zu halten gedachte:
Irgendjemand, den ich darum bitten würde, könnte mich
dann rechtzeitig wecken. Das war jedoch nicht nötig, denn
ich schlief überhaupt nicht.
In Warschau meldete ich mich zur festgesetzten Zeit im
Bischofshaus in der Miodowa-Straße. Dort stellte ich fest,
dass zusammen mit mir noch drei andere Priester bestellt
waren: Wilhelm Pluta aus Schlesien, der Pfarrer von
Bochnia in der Diözese Tarnów, Michal Blecharczyk, und
Józef Drzazga aus Lublin. Im ersten Moment maß ich dem
Zusammentreffen keine Bedeutung bei; erst später begriff
ich, dass wir alle aus demselben Grund dorthin bestellt
worden waren. Im Arbeitszimmer des Primas vernahm ich
dann aus seinem Munde, dass der Heilige Vater mich zum
Weihbischof des Erzbischofs von Krakau ernannt hatte.
Im Februar desselben Jahres (1958) war nämlich Bischof
Stanislaw Rospond verstorben, der unter dem damaligen
Ordinarius der Erzdiözese, dem Metropoliten Kardinal
Fürst Adam Sapieha, viele Jahre lang Weihbischof in
Krakau gewesen war.
Als ich die Worte hörte, mit denen der Primas mir die
Entscheidung des Apostolischen Stuhls verkündete, sagte
ich: »Eminenz, ich bin zu jung, kaum 38 Jahre alt.«
Doch der Primas antwortete: »Das ist ein Fehler, den Sie
bald überwinden werden. Ich bitte Sie, sich dem Willen
des Heiligen Vaters nicht zu widersetzen.«
Darauf sagte ich nur noch: »Ich akzeptiere.« »Dann
gehen wir zum Mittagessen«, schloss der Primas.
Er hatte uns alle vier zum Mittagessen eingeladen. So
erfuhr ich, dass Wilhelm Pluta zum Bischof von Gorzów

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Wielkopolski (Landsberg), der damals größten Aposto-
lischen Administration Polens, ernannt worden war. Sie
umfasste Szczecin (Stettin) und Kolobrzeg (Kolberg), eine
der ältesten Diözesen: Kolobrzeg war nämlich im Jahr
1000 gleichzeitig mit der Metropolie Gniezno (Gnesen)
errichtet worden, zu der außer Kolobrzeg noch Krakau
und Breslau gehörten. Józef Drzazga war zum Weih-
bischof von Lublin ernannt worden (später kam er nach
Olsztyn), und Michal Blecharczyk zum Weihbischof von
Tarnów. Nach dieser für mein Leben so bedeutenden
Audienz wurde mit klar, dass ich nicht sofort zu den
Freunden und meinem Boot zurückkehren konnte; zuerst
musste ich mich nach Krakau begeben, um meinen
Ordinarius, den Erzbischof Eugeniusz Baziak, zu infor-
mieren. Während ich auf den Nachtzug wartete, der mich
nach Krakau bringen sollte, betete ich stundenlang in der
Kapelle der Warschauer Ursulmen in der Wislana-Straße.
Erzbischof Eugeniusz Baziak hatte als lateinischer
Metropolit von Lemberg das Schicksal aller so genannten
Evakuierten geteilt und die Stadt verlassen müssen. Er
hatte sich in Lubaczów niedergelassen, jenem Zipfel der
Erzdiözese Lemberg, der sich nach den Entscheidungen
von Jalta innerhalb der Grenzen der Volksrepublik Polen
befand. Der Erzbischof von Krakau, Fürst Sapieha, hatte
im letzten Jahr vor seinem Tod darum gebeten, dass
Erzbischof Baziak, der gezwungenermaßen seine eigene
Erzdiözese hatte verlassen müssen, nun sein Koadjutor
würde. So ist also mein Episkopat chronologisch mit der
Person dieses so sehr geprüften Bischofs verbunden.
Am folgenden Tag ging ich zu Erzbischof Eugeniusz
Baziak in die Franciszkanska-Straße 3 und übergab ihm
den Brief des Kardinal Primas. Ich erinnere mich, als sei
es heute, wie der Erzbischof mich unter den Arm nahm
und in den Warteraum führte, wo einige Priester saßen,

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und sagte: »Habemus papam!« Im Licht der späteren
Ereignisse könnte man sagen, dass dies prophetische
Worte waren.
Als ich am Schluss dem Erzbischof sagte, dass ich nun
gern in die Masuren zur Gruppe meiner Freunde
zurückkehren würde, die sich mit dem Boot auf der Lyna
befanden, antwortete er: »Das ist jetzt wohl nicht mehr
angemessen!« Ziemlich traurig über diese Antwort, begab
ich mich in die Kirche der Franziskaner und ging dort
betend den Kreuzweg nach, wobei ich die von Józef
Mehoffer gemalten Stationen betrachtete. Ich ging gern
zum Kreuzweg in diese Kirche, weil mir diese originellen,
modernen Darstellungen der Stationen gefielen. Danach
kehrte ich noch einmal zum Erzbischof Baziak zurück und
legte ihm erneut meine Bitte vor. Ich sagte: »Ich verstehe
Ihre Besorgnis, Exzellenz. Trotzdem bitte ich Sie, mir zu
gestatten, in die Masuren zurückzukehren.« Diesmal
antwortete er: »Ja, ja, gehen Sie nur. Ich bitte Sie aber«,
fügte er lächelnd hinzu, »für die Weihe zurückzukehren.«
Noch am gleichen Abend stieg ich darum erneut in den
Zug nach Olsztyn. Ich hatte das Buch von Hemingway,
»Der alte Mann und das Meer« bei mir. Das las ich fast
die ganze Nacht hindurch, denn nur für ganz kurze Zeit
gelang es mir, ein wenig einzuschlafen. Ich fühlte mich
ziemlich seltsam … Als ich in Olsztyn ankam, traf ich die
Freunde aus meiner Gruppe, die mit ihren Booten den
Fluss Lyna entlang dorthin gepaddelt waren. Der
»Admiral« kam mir auf dem Bahnhof entgegen und sagte:
»Nun, Onkel, hat man Sie zum Bischof gemacht?«
Ich bejahte. Und er: »Genau so …, in meinem Herzen
habe ich mir genau das vorgestellt und Ihnen gewünscht.«
In der Tat war dies gar nicht allzu lange vorher
anlässlich der Feier des zehnten Jahrestags meiner
Priesterweihe sein Glückwunsch gewesen. Am Tag meiner
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Ernennung zum Bischof hatte ich erst knapp zwölf Jahre
Priestertum hinter mir. Ich hatte wenig geschlafen, und
darum war ich bei meiner Ankunft müde. Trotzdem ging
ich noch vor dem Ausruhen in die Kirche, um die heilige
Messe zu zelebrieren. Die Kirche wurde vom damaligen
Universitäts-Seelsorger Ignacy Tokarczuk geführt, der
später Bischof wurde. Dann endlich konnte ich mich dem
Schlaf überlassen. Als ich bald darauf wieder erwachte,
merkte ich, dass die Nachricht sich bereits verbreitet hatte,
denn Ignacy Tokarczuk sprach mich an und sagte: »Nun,
neuer Bischof, herzlichen Glückwunsch!« Ich lächelte und
ging davon, um zur Gruppe meiner Freunde zu stoßen, wo
ich mein Boot wiederbekam. Als ich aber zu paddeln
begann, fühlte ich mich erneut ein wenig seltsam. Das
Zusammenfallen der Daten hatte mich beeindruckt: Die
Ernennung war mir am 4. Juli bekannt gegeben worden,
und das war der Weihetag der Kathedrale auf dem Wawel
– eine Jahresfeier, die in meinem Innern immer eine starke
Resonanz gefunden hat. Es schien mir, als habe dieses
Zusammenfallen der beiden Ereignisse etwas zu bedeuten.
Gleichzeitig dachte ich, es werde wohl dieses das letzte
Mal sein, dass ich mein Boot benutzen könne. In
Wirklichkeit – das muss ich sofort anmerken – konnte ich
noch viele Male paddeln gehen und auf den masurschen
Flüssen und Seen im Boot meine Kräfte stärken. Das
dauerte praktisch fort bis 1978.

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Nachfolger der Apostel

Nach der Sommerpause kehrte ich nach Krakau zurück,


und es begannen die Vorbereitungen für die Weihe, die
auf den 28. September, das Fest des hl. Wenzel
(Wenzeslaus), des Patrons der Kathedrale des Wawel,
festgesetzt war. Dass dieses historische Gotteshaus dem
hl. Wenzel gewidmet ist, lässt die alten Verbindungen
zwischen dem polnischen Land und Böhmen deutlich
werden. Der hl. Wenzel war nämlich ein böhmischer Her-
zog, der durch die Hand seines Bruders zum Märtyrer
wurde. Auch Böhmen verehrt ihn als seinen Patron.
Eine grundlegende Etappe in meiner Vorbereitung auf
die Bischofsweihe waren die geistlichen Exerzitien. Ich
machte sie in Tyniec. Oft hatte ich mich in diese histo-
rische Abtei begeben. Diesmal war es für mich ein Aufent-
halt von besonderer Bedeutung. Ich sollte Bischof werden,
war bereits ernannt. Aber bis zur Weihe war noch ziemlich
viel Zeit, über zwei Monate. Die musste ich so gut wie
möglich ausnutzen.
Die Exerzitien dauerten sechs Tage – sechs Tage der
Meditation. Mein Gott, wie viele und was für Inhalte!
»Nachfolger der Apostel« – genau diese Worte hatte ich
während jener Tage aus dem Munde eines meiner
Bekannten, eines Physikers, gehört. Offensichtlich messen
diejenigen, welche glauben, dieser apostolischen Sukzes-
sion eine besondere Bedeutung bei. Ich – ein »Nach-
folger« – dachte mit großer Demut an die Apostel Christi
und an die lange, ununterbrochene Kette von Bischöfen,
die durch Handauflegung ihren jeweiligen Nachfolgern die
Teilhabe am Apostelamt übertragen hatten. Und nun

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sollten sie sie auch mir übertragen. Ich fühlte mich mit
jedem von ihnen persönlich verbunden. Einige von denen,
die uns in der Kette der Nachfolge vorausgegangen sind,
Bischöfe von heute, kennen wir namentlich. In zahlreichen
Fällen sind ihrer Denkwürdigkeit wegen sogar ihre pasto-
ralen Werke bekannt. Doch auch im Fall der Bischöfe aus
der Frühzeit der Kirche, die uns heute nicht mehr bekannt
sind, kann man sagen, dass ihre bischöfliche Berufung und
ihr Werk fortdauern – und dass eure Frucht bleibt (vgl.
Joh 15,16). Und das geschieht auch durch uns, ihre Nach-
folger, die wir eben gerade durch ihre Hände kraft der
Wirksamkeit des Sakramentes dahin gelangen, uns mit
Christus zu verbinden, der sie und uns »vor der Er-
schaffung der Welt« (Eph 1,4) erwählt hat. Wunderbare
Gabe, wunderbares Mysterium!
»Ecce sacerdos magnus, qui in diebus suis placuit
Deo … Ideo iureiurando fecit ilium Dominus crescere in
plebem suam« – so wird es in der Liturgie gesungen.
Dieser einzige Hohepriester des neuen und ewigen Bundes
ist Jesus Christus selbst. Er brachte das Opfer des eigenen
Priestertums dar, indem er am Kreuz starb und sein Leben
hingab für seine Herde, für die ganze Menschheit. Er
selbst war es, der am Tag vor seinem blutigen Kreuzes-
opfer während des Letzten Abendmahls das Sakrament
des Priestertums einsetzte. Er selbst war es, der das Brot in
seine Hände nahm und darüber die Worte sprach: »Das ist
mein Leib, der für euch hingegeben wird.« Er selbst war
es, der dann den Kelch mit Wein in seine Hände nahm und
darüber die Worte sprach: »Das ist der Kelch des neuen
und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle
vergossen wird zur Vergebung der Sünden.« Und am Ende
fügte er hinzu: »Tut dies zu meinem Gedächtnis.« Das
sagte er vor den Aposteln, vor jenen Zwölf, deren Erster
Petrus war. Zu ihnen sagte er: »Tut dies zu meinem

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Gedächtnis.« Auf diese Weise setzte er sie ein als Priester
nach seinem Bild, als Abbild des einzigen Hohenpriesters
des Neuen Bundes.
Vielleicht verstanden die Apostel, die am Letzten
Abendmahl teilnahmen, nicht sofort die volle Bedeutung
jener Worte, die sich am nächsten Tag erfüllen sollten, als
der Leib Christi tatsächlich dem Tod übergeben und sein
Blut am Kreuz tatsächlich vergossen wurde. Vielleicht
begriffen sie im ersten Augenblick nur, dass sie den Ritus
des Abendmahls mit dem Brot und dem Wein wiederholen
sollten. Tatsächlich berichtet die Apostelgeschichte, dass
nach den österlichen Ereignissen die ersten Christen am
Brechen des Brotes und an den Gebeten festhielten (vgl.
Apg 2,42). Zu diesem Zeitpunkt war allerdings bereits
allen die Bedeutung des Ritus ganz klar.
Nach der Liturgie der Kirche ist der Gründonnerstag der
Gedenktag des Letzten Abendmahls, der Einsetzung der
Eucharistie. Vom Abendmahlssaal in Jerusalem aus
breitete sich die Feier der Eucharistie nach und nach über
die ganze damalige Welt aus. Zunächst waren es die
Apostel, die in Jerusalem dieser Feier vorstanden. Später,
mit der allmählichen Verbreitung des Evangeliums, zele-
brierten sie selbst und diejenigen, denen sie »die Hände
aufgelegt« hatten, sie an immer neuen Orten, angefangen
in Kleinasien. Schließlich gelangte die Eucharistie mit den
Heiligen Petrus und Paulus nach Rom, der Hauptstadt der
damaligen Welt. Jahrhunderte später kam sie über die
Weichsel. Ich erinnere mich, dass ich während der Exer-
zitien vor der Bischofsweihe Gott in besonderer Weise
gerade dafür dankte, dass das Evangelium und die
Eucharistie über die Weichsel gekommen waren, dass sie
auch nach Tyniec gekommen waren. Die Abtei Tyniec bei
Krakau, deren Anfänge bis ins 11. Jahrhundert zurück-
reichen, war wirklich der passende Ort, um mich darauf

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vorzubereiten, in der Kathedrale des Wawel die Weihe zu
empfangen. Während meines Besuches in Krakau im Jahre
2002 gelang es mir, vor dem Rückflug nach Rom noch
einen – wenn auch sehr kurzen – Besuch in Tyniec zu
machen. Es war wie die Abzahlung persönlicher »Schul-
den« an Dankbarkeit. Tyniec verdanke ich sehr viel.
Vielleicht nicht nur ich, sondern auch ganz Polen.
Langsam rückte der 28. September näher. Noch bevor
ich geweiht war, trat ich anlässlich des silbernen Bischofs-
jubiläums von Erzbischof Baziak in Lubaczów offiziell als
nominierter Bischof auf. Es war am Gedenktag der
»Schmerzen Mariens« – ein Fest, das in Lemberg am
22. September gefeiert wurde. Ich war dort zusammen mit
zwei Bischöfen von Przemysl: Mons. Franciszek Barda
und Mons. Wojciech Tomaka, beide bereits in sehr
fortgeschrittenem Alter, und ich zwischen ihnen –
38 Jahre jung. Ich empfand eine gewisse Verlegenheit.
Genau dort fanden die ersten »Proben« für mein Bischofs-
amt statt. Eine Woche später war die Weihe auf dem
Wawel.

20
Wawel – der Burgberg

Von Kind an habe ich eine ganz spezielle Liebe zur


Kathedrale auf dem Wawel. Ich erinnere mich nicht, wann
ich das erste Mal dort war, aber seit ich begann, sie zu
besuchen, fühlte ich mich in besonderer Weise von ihr
angezogen und mit ihr verbunden. Irgendwie enthält der
Wawel die ganze Geschichte Polens. Ich habe eine
tragische Zeit erlebt, als die Nazis den Sitz ihres
Gouverneurs Frank in das Schloss des Wawel legten und
über ihm die Hakenkreuz-Fahne hissten. Das war für mich
eine besonders schmerzliche Erfahrung. Aber am Ende
kam der Tag, an dem die Fahne mit der Swastika
verschwand und die polnischen Embleme zurückkehrten.
Die heutige Kathedrale existiert seit der Zeit Kasimirs
des Großen. Ich habe die verschiedenen Teile des
Gotteshauses mit den jeweiligen Monumenten lebendig
vor Augen. Ein Gang durch das Hauptschiff und die
Seitenschiffe genügt, um die Sarkophage der polnischen
Könige zu sehen. Und wenn man dann in die Krypta der
Dichter hinabsteigt, findet man die Grabstätten von
Mickiewicz, Slowacki und als letzte die von Norwid. Wie
ich in meinem Buch »Geschenk und Geheimnis«
erwähnte, hatte ich mir so sehr gewünscht, meine erste
heilige Messe auf dem Wawel, in der Krypta des hl.
Leonhard in den unterirdischen Gewölben der Kathedrale
feiern zu können; und so geschah es. Sicher war dieser
Wunsch aus der tiefen Liebe entsprungen, die ich für alles
empfand, was eine Spur meiner Heimat in sich trug.
Dieser Ort, an dem jeder Stein von Polen, von der
polnischen Größe spricht, ist mir lieb. Lieb ist mir der

21
gesamte Komplex des Wawel: die Kathedrale, das Schloss
und der Arkadenhof. Als ich letztlich in Krakau war, bin
ich auch zum Wawel gegangen, und dort habe ich am
Grab des hl. Stanislaus gebetet. Ein Besuch dieser
Kathedrale, deren Gast ich zwanzig Jahre lang war, konnte
unmöglich ausbleiben. Mein Lieblingsort in der Kathe-
drale des Wawel ist die Krypta des hl. Leonhard. Es ist der
Teil des alten Domes, der auf die Zeit des Königs
Boleslaw III. Krzywousty (»Schiefmaul«) zurückgeht. Die
Krypta selbst ist Zeuge noch älterer Zeiten. Sie erinnert
nämlich noch an die ersten Bischöfe zu Beginn des
11. Jahrhunderts: damals beginnt die Genealogie des
Episkopats von Krakau. Die ersten Bischöfe tragen
geheimnisvolle Namen: Prokop und Prokulf, als seien sie
griechischer Herkunft. Allmählich erscheinen dann immer
häufiger slawische Namen wie Stanislaus von
Szczepanów, der 1072 Bischof von Krakau wurde. 1079
wurde er ermordet von Männern, die König Boleslaw II.
Smialy (»der Kühne«) beauftragt hatte. Später musste
dieser König außer Landes fliehen; wahrscheinlich ver-
brachte er seinen letzten Lebensabschnitt als Büßer in
Ossiach (Osjak).
Als ich Metropolit von Krakau wurde, zelebrierte ich auf
dem Heimweg von Rom nach Krakau in Ossiach die
heilige Messe. Dort entstand die dichterische Beschrei-
bung jenes Ereignisses, das so viele Jahrhunderte zurück-
lag: Ich schrieb das Gedicht mit dem Titel »Stanislaus«.
Sankt Stanislaus, »Vater der Heimat«: Am Sonntag nach
dem 8. Mai gibt es eine große Prozession vom Wawel
nach Skalka. Während des ganzen Weges singen die
Teilnehmer Hymnen im Wechsel mit der Antiphon:
»Heiliger Stanislaus, unser Patron, bitte für uns!« Der Zug
kommt vom Wawel herab, zieht durch die Stradom- und
die Krakowska-Straße und geht weiter bis nach Skalka,

22
wo die heilige Messe zelebriert wird, gewöhnlich unter
dem Vorsitz eines Bischofs, der eigens dazu eingeladen
wird. Nach der Messfeier kehrt die Prozession auf
demselben Weg zur Kathedrale zurück. Dort werden dann
die Schädel-Reliquien des hl. Stanislaus, die in dem
herrlichen Reliquiar in der Prozession mitgetragen
wurden, auf dem Altar niedergelegt. Die Polen waren von
Anfang an überzeugt von der Heiligkeit dieses Bischofs,
und mit großem Eifer setzten sie sich für seine
Heiligsprechung ein, die im 13. Jahrhundert in Assisi
stattfand. Bis heute sind in der umbrischen Stadt die
Fresken erhalten, die den hl. Stanislaus darstellen. Neben
der Confessio des hl. Stanislaus – einem Schatz von
ungeheurem Wert, der in der Kathedrale des Wawel
gehütet wird – befindet sich das Grabmal der heiligen
Königin Hedwig (Jadwiga). Ihre Reliquien wurden
anlässlich meiner dritten Pilgerfahrt in die Heimat im
Jahre 1987 unter dem berühmten Kruzifix von Wawel
beigesetzt. Zu Füßen dieses Kruzifixes fällte Hedwig im
Alter von 12 Jahren die Entscheidung, den litauischen
Großfürsten Wladislaw Jagiello zu heiraten. Diese
Entscheidung – sie fiel im Jahre 1386 – reihte Litauen in
die Familie der christlichen Nationen ein. Mit Ergriffen-
heit erinnere ich mich an den 8. Juni 1997, als ich während
der Heiligsprechung auf den Blonia in Krakau die Homilie
begann mit den Worten: »Hedwig, lange hast du auf
diesen Tag gewartet (…) beinahe sechshundert Jahre.« Zu
dieser Verspätung hatten verschiedene Umstände bei-
getragen, die jetzt schwerlich zu erläutern sind. Seit langer
Zeit hatte ich den Wunsch gehegt, die »Herrin vom
Wawel« möge auch im kanonischen Sinn offiziell als
Heilige anerkannt werden, und an jenem Tag wurde es nun
wahr. Ich dankte Gott, dass es mir vergönnt war, nach so
vielen Jahrhunderten nun die Bestrebungen zu erfüllen, die

23
das polnische Volk viele Generationen lang im Herzen
getragen hatte. Alle diese Erinnerungen verbinden sich in
irgendeiner Weise mit dem Tag meiner Weihe, der in
gewissem Sinne ein historisches Ereignis war. Die letzte
Bischofsweihe hatte nämlich vor langer Zeit, im Jahr 1926
stattgefunden. Damals war Bischof Stanislaw Rospond
geweiht worden. Nun sollte ich es sein.

Der Tag der Weihe: im Mittelpunkt der


Kirche

Und so kam der 28. September, der Gedenktag des hl.


Wenzel. Auf diesen Tag war meine Bischofsweihe
festgelegt. Dieses große Ereignis steht mir noch immer vor
Augen. Ich möchte wohl sagen, dass die Liturgie damals
noch reicher war als die heutige. Ich erinnere mich an die
einzelnen Personen, die daran teilnahmen. Es existierte der
Brauch, dem weihenden Bischof symbolische Geschenke
mitzubringen. Einige meiner Kameraden brachten ein
Fässchen Wein und einen Laib Brot: allen voran Zbyszek
Silkowski, ein Schulkamerad, und Jurek Ciesielski, heute
»Diener Gottes«; dann als zweites Paar Marian Wójtowicz
und Zdzislaw Heydel. Mir scheint, dass auch Stanislaw
Rybicki dabei war. Der aktivste war sicher Kazimierz
Figlewicz. Es war ein wolkenverhangener Tag, aber am
Ende erschien die Sonne. Als ein Zeichen von guter
Vorbedeutung fiel ein Strahl auf den armen Neu-
geweihten.
Nach der Lesung des Evangeliums sang der Chor: »Veni
Creator Spiritus, / mentes tuorum visita: / imple superna
gratia, / quae tu creasti pectora …« Ich hörte den Gesang,
und in mir erwachte von neuem das Bewusstsein, das ich
schon während der Priesterweihe hatte und diesmal

24
vielleicht mit noch größerer Klarheit empfand, dass
nämlich der eigentliche Urheber der Weihe der Heilige
Geist ist. Das war für mich ein Trost und eine Ermutigung
angesichts all der menschlichen Furcht und Besorgnis, die
mit der Übernahme einer so großen Verantwortung
verbunden ist. Dieser Gedanke erzeugte in meinem Innern
eine große Zuversicht: Der Heilige Geist wird mich
erleuchten, mich stärken, mich trösten und mich lehren …
War es nicht genau das, was Christus selbst seinen
Aposteln versprochen hatte?
In der Liturgie folgen verschiedene symbolische Hand-
lungen aufeinander; jede hat ihre eigene besondere
Bedeutung. Der weihende Bischof stellt Fragen, die den
Glauben und das Leben betreffen. Die letzte lautet: »Bist
du bereit, für das Heil des Volkes unablässig zum
allmächtigen Gott zu beten und das hohepriesterliche Amt
untadelig auszuüben?« Der Kandidat antwortet darauf:
»Mit Gottes Hilfe bin ich bereit.« Und dann ergänzt der
weihende Bischof: »Gott selbst vollende das gute Werk,
das er in dir begonnen hat.« Und wiederum tauchte in
meinem Innern ein Gedanke auf, der es mit gelassener
Zuversicht erfüllte: Der Herr beginnt jetzt sein Werk in
dir; keine Angst, vertraue ihm deinen Weg an – er selbst
wird handeln und vollenden, was er eingeleitet hat (vgl.
Ps 36 [37],5). Bei jedem der drei Weihe-Typen (zum
Diakon, zum Priester wie auch zum Bischof) legt sich der
Erwählte flach auf den Boden. Das ist das Zeichen seiner
völligen Hingabe an Christus, an den, der zur Erfüllung
seiner priesterlichen Sendung »sich entäußerte und wie ein
Sklave wurde, den Menschen gleich, und der als Mensch
sich erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod, bis zum
Tod am Kreuz« (vgl. Phil 2,7–8). Etwas Ähnliches ge-
schieht an jedem Karfreitag, wenn der Priester, der der
liturgischen Versammlung vorsteht, sich schweigend zu

25
Boden wirft. An diesem Tag des heiligen Triduums wird
keine heilige Messe zelebriert: Die Kirche sammelt sich,
um die Passion Christi zu meditieren, angefangen bei
seiner Agonie in Getsemani, wo auch er sich zu Boden
warf und betete. In der Seele des Zelebranten hallt mit
Nachdruck Jesu Bitte wider: »Bleibt hier und wacht mit
mir …« (Mt 26,38).
Ich erinnere mich an jenen Moment, als ich ausgestreckt
auf der Erde lag und die Anwesenden die Aller-
heiligenlitanei sangen. Der weihende Bischof hatte die
Gemeinde aufgefordert: »Lasst uns beten zu Gott, dem
allmächtigen Vater: Er wache in seiner Güte über das
Wohl seiner Kirche und schenke diesem Erwählten Gnade
und Segen in Fülle.« Dann setzte der Litanei-Gesang ein:
»Kyrie, eleison. Christe, eleison … Heilige Maria,
Mutter Gottes, Heiliger Michael, Heilige Engel Gottes …
bittet für uns!«
Meine besondere Verehrung gilt dem Schutzengel. Von
Kind an habe ich, wie wahrscheinlich alle Kinder, ihn
immer und immer wieder angerufen: »Engel Gottes, mein
Beschützer, erleuchte, beschütze, regiere und leite
mich …« Mein Schutzengel weiß, was ich tue. Mein
Vertrauen auf ihn, auf seine schützende Gegenwart, wird
ständig tiefer. Michael, Gabriel und Raffael sind die
Erzengel, die ich im Gebet oft anrufe. Ich denke auch an
den wunderschönen Traktat des hl. Thomas über die
Engel, die reinen Geister.

»Heiliger Johannes der Täufer, Heiliger Josef, Heilige


Petrus und Paulus, Heiliger Andreas, Heiliger Karl …
betet für uns!«

26
Bekanntlich fand meine Priesterweihe am Hochfest
Allerheiligen statt. Für mich war dieser Tag immer ein
großes Fest. Und durch Gottes Güte habe ich das Glück,
den Jahrestag meiner Priesterweihe an dem Tag feiern zu
können, wo die ganze Kirche der Bewohner des Himmels
gedenkt. Diese treten dort oben fürbittend für die
kirchliche Gemeinschaft ein, damit sie unter dem Wirken
des Heiligen Geistes, der sie zu praktizierter Nächstenliebe
drängt, in ihrem Zusammenhalt gestärkt werde: »Denn wie
die christliche Gemeinschaft unter den Erdenpilgern uns
näher zu Christus bringt, so verbindet auch die
Gemeinschaft mit den Heiligen uns mit Christus, von dem
als Quelle und Haupt jegliche Gnade und das Leben des
Gottesvolkes selbst ausgehen« (Lumen gentium, 50). Nach
der Litanei erhebt sich der Weihekandidat und geht zum
Hauptzelebranten, und dieser legt ihm die Hände auf –
eine Geste, die nach der Überlieferung, welche auf die
Apostel zurückgeht, die Übertragung des Heiligen Geistes
bedeutet. Auch die beiden Mitkonsekratoren legen, einer
nach dem anderen, ihre Hände auf das Haupt des
Erwählten und sprechen dann gemeinsam mit dem Haupt-
zelebranten das Weihegebet. Das ist der Höhepunkt der
Bischofsweihe. Hier soll an die Worte aus der Konzils-
Konstitution Lumen gentium erinnert werden: »Um solche
Aufgaben zu erfüllen, sind die Apostel mit einer be-
sonderen Ausgießung des herabkommenden Heiligen
Geistes von Christus beschenkt worden (vgl. Apg 1,8; 2,4;
Job 20,22–23). Sie hinwiederum übertrugen ihren Helfern
durch die Auflegung der Hände die geistliche Gabe (vgl.
1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6–7), die in der Bischofsweihe bis auf
uns gekommen ist. (…) Aufgrund der Überlieferung
nämlich, die vorzüglich in den liturgischen Riten und in
der Übung der Kirche des Ostens wie des Westens
deutlich wird, ist es klar, dass durch die Handauflegung

27
und die Worte der Weihe die Gnade des Heiligen Geistes
so übertragen und das heilige Prägemal so verliehen wird,
dass die Bischöfe in hervorragender und sichtbarer Weise
die Aufgabe Christi selbst, des Lehrers, Hirten und
Priesters, innehaben und in seiner Person handeln«
(Nr. 21).

28
Die weihenden Bischöfe

An dieser Stelle möchte ich unbedingt die Person des


Haupkonsekrators, Erzbischof Eugeniusz Baziak, er-
wähnen. Über die komplizierte Geschichte seines Lebens
und seines bischöflichen Dienstes habe ich bereits be-
richtet. Eine nicht geringe Bedeutung hat in meinen Augen
seine »Abstammung« als Bischof, denn er ist für mich das
Verbindungsglied in der Kette der apostolischen Sukzes-
sion. Er war von Erzbischof Boleslaw Twardowski ge-
weiht worden und dieser wiederum von Bischof Józef
Bilczewski, den ich zu meiner Freude kürzlich in Lemberg
in der Ukraine selig sprechen konnte. Bilczewski nun
wurde von Kardinal Jan Puzyna, dem damaligen Erz-
bischof von Krakau geweiht, und die beiden Mit-
konsekratoren waren der sel. Józef Sebastian Pelczar,
Bischof von Przemysl, und der »Diener Gottes« Andrzej
Szeptycki, griechisch-katholischer Erzbischof. Ist das alles
etwa nicht verpflichtend? Musste ich mir nicht die
Tradition an Heiligkeit dieser großen Hirten der Kirche
deutlich vor Augen halten? Bei meiner Weihe waren die
beiden mitkonsekrierenden Bischöfe Mons. Franciszek
Jop von Opole (Oppeln) und Mons. Boleslaw Kominek
von Wroclaw (Breslau). Ich erinnere mich an sie mit
großer Ehrfurcht und Achtung. Während der Zeit des
Stalinismus war Bischof Jop für Krakau ein wie von der
Vorsehung bestimmter Mann. Erzbischof Baziak wurde
isoliert, und Mons. Jop in Krakau als Kapitelsvikar ein-
gesetzt. Ihm ist es zu verdanken, dass die Kirche dieser
Stadt die harte Prüfung jener Zeit ohne größere Schäden
überlebte. Auch Bischof Boleslaw Kominek hatte Ver-

29
bindungen zu Krakau. In der Stalinzeit, als er bereits
Bischof von Breslau war, untersagten ihm die kommunis-
tischen Behörden den Einzug in seine Diözese. So ließ er
sich in Krakau als fulierter Prälat nieder. Erst später wurde
es ihm möglich, kanonisch von seiner Diözese Besitz zu
ergreifen; 1965 wurde er zum Kardinal ernannt. Beide
waren große Männer der Kirche, die in schwierigen Zeiten
durch ihr Zeugnis der Treue zu Christus und zum
Evangelium ein Beispiel persönlicher Größe gaben. Diese
mutigen geistigen »Vorfahren« – wie könnte man eine
solche geistige »Aszendenz« außer Acht lassen?

30
Die liturgischen Handlungen
der Weihe

Weitere bedeutungsvolle liturgische Handlungen steigen


in meiner Erinnerung auf. Unter ihnen vor allem die
Auflegung des Evangelienbuches auf die Schultern,
während ein eigens dazu bestimmtes Weihegebet
gesungen wird. Hier ist die Verbindung des Zeichens mit
den Worten besonders aussagekräftig. Der erste Eindruck
lenkt die Gedanken dahin, zu erwägen, welche Last der
Verantwortung gegenüber dem Evangelium der Bischof
auf sich nimmt: die Tragweite der Aufforderung Christi,
es bis an die Enden der Erde zu verkünden und mit dem
eigenen Leben zu bezeugen. Wenn man jedoch der
Bedeutsamkeit dieses Zeichens noch tiefer auf den Grund
geht, bemerkt man, dass gerade das, was dort vollzogen
wird, im Evangelium seinen Ursprung, seine Wurzeln hat.
Derjenige, welcher die Bischofsweihe empfängt, kann
deshalb aus dieser Kenntnis Trost und Inspiration
gewinnen. Im Licht der Frohen Botschaft von der Auf-
erstehung Christi werden die Worte des Gebetes nämlich
verständlich und wirksam: »Effunde super hunc Electum
eam virtutem, quae a te est, Spiritum principalem, quem
dedisti dilecto Filio tuo lesu Christo, quern ipse donavit
sanctis Apostolis … Gieße jetzt aus über deinen Diener,
den du erwählt hast, die Kraft, die von dir ausgeht, den
Geist der Leitung. Ihn hast du deinem geliebten Sohn
Jesus Christus gegeben, und er hat ihn den Aposteln
verliehen …« (Römisches Pontifikale, Weihegebet).
In der Liturgie der Bischofsweihe folgt dann die Salbung
mit dem heiligen Öl. Diese Handlung ist tief verwurzelt in

31
den vorangegangenen Sakramenten, angefangen bei der
Taufe und der Firmung. Bei der Priesterweihe werden die
Hände gesalbt, bei der Bischofsweihe das Haupt. Auch das
ist eine Geste, die von der Übertragung des Heiligen
Geistes spricht, der in den Menschen, der gesalbt wird,
eindringt, von ihm Besitz ergreift und ihn zu seinem
Werkzeug macht. Die Salbung des Hauptes bedeutet eine
Berufung zu neuen Aufgaben: Der Bischof wird nämlich
in der Kirche leitende Aufgaben haben, die ihn ganz und
gar in Anspruch nehmen. Auch diese Salbung durch den
Heiligen Geist entspringt wieder der gleichen Quelle:
Jesus Christus – dem Messias.
Der Name Christus ist die griechische Übersetzung des
hebräischen Wortes »masiah« – »Messias«, das heißt
»Gesalbter«. In Israel wurden diejenigen im Namen Gottes
gesalbt, die von ihm erwählt waren, eine besondere
Sendung zu erfüllen. Das konnte eine prophetische, eine
priesterliche oder eine königliche Sendung sein. Die
Bezeichnung »Messias« bezog sich jedoch vor allem auf
den, der kommen sollte, um endgültig das Reich Gottes
einzusetzen, in dem alle Heilsverheißungen ihre Erfüllung
finden würden. Und eben dieser musste durch den Geist
des Herrn zum Propheten, zum Priester und zum König
»gesalbt« werden.
Das Wort Gesalbter – Christus wurde der Eigenname
Jesu, denn in ihm erfüllte sich die göttliche Sendung, die
mit diesem Begriff ausgedrückt wird, in vollkommener
Weise. Das Evangelium berichtet nichts von einer
äußerlichen Salbung Jesu, wie sie im Alten Testament
David gespendet wurde und Aaron, auf dessen Bart
»köstliches Salböl« herabfloss (vgl. Ps 132 [133],2).
Wenn wir bei ihm von »Salbung« sprechen, denken wir an
jene direkte Salbung durch den Heiligen Geist, deren
Anzeichen und Zeugnis darin bestand, dass Jesus die ihm

32
vom Vater übertragene Aufgabe in vollkommener Weise
erfüllte. Der heilige Bischof Irenäus hat das sehr gut
beschrieben: »Im Namen ›Christus‹ verbirgt sich
derjenige, der gesalbt hat, derjenige, der gesalbt wurde,
und die Salbung selbst, mit der er gesalbt worden ist. Der
Salbende war der Vater, der Gesalbte der Sohn, und dieser
wurde gesalbt im Geist, der die Salbung ist« (vgl.
Adversus haereses, III, 18,3: PG 7,934).
Bei der Geburt Jesu verkünden die Engel den Hirten:
»Heute ist euch in der Stadt Davids ein Retter geboren,
welcher ist Christus, der Herr« (vgl. Lk 2,11). Christus,
das heißt: der Gesalbte. Mit ihm wird sowohl die
allgemeine, messianische und rettende Salbung »ge-
boren«, an der alle Getauften teilhaben, als auch jene
spezifische, an der er, der Messias, den Bischöfen und
Priestern Anteil gewähren wollte, die zur apostolischen
Verantwortung für die Kirche ausersehen sind. Das heilige
Chrisam-Öl, ein Zeichen der Kraft des Geistes Gottes, ist
auf unser Haupt herabgekommen und hat uns in das
messianische Heilswerk eingefügt. Und zusammen mit
dieser Salbung haben wir in qualitativ spezifischer Weise
die dreifache Aufgabe des Propheten, des Priesters und
des Königs erhalten.

33
Der heilige Chrisam

Ich danke dem Herrn für die erste Salbung mit dem
heiligen Chrisam, die ich in meinem Geburtsort
Wadowice erhielt. Das geschah bei der Taufe. Durch jenes
sakramentale Bad sind wir alle gerecht gemacht und in
Christus eingegliedert. Wir empfangen zum ersten Mal
auch die Gabe des Heiligen Geistes. Gerade die Salbung
mit dem heiligen Chrisam ist ein Zeichen für die
Ausgießung des Geistes, der das neue Leben in Christus
schenkt und uns fähig macht, in der göttlichen
Gerechtigkeit zu leben. Diese erste Salbung wird im
Sakrament der Firmung durch das Siegel des Heiligen
Geistes vervollständigt. Der tiefe, direkte innere
Zusammenhang der beiden Sakramente kommt in der
Liturgie der Erwachsenen-Taufe besonders deutlich zum
Ausdruck. Die Ostkirchen ihrerseits haben diesen un-
mittelbaren Zusammenhang auch in der Kindtaufe be-
wahrt, wo die Täuflinge mit dem ersten Sakrament
zugleich auch das der Firmung erhalten. Die Verbindung
dieser ersten beiden Sakramente und des allerheiligsten
Mysteriums der Eucharistie mit der Priester- und
Bischofsberufung ist so stark und tief, dass wir den darin
enthaltenen Reichtum mit dankbarem Herzen immer
wieder neu entdecken können. Wir Bischöfe haben diese
Sakramente nicht nur erhalten, sondern wir sind aus-
gesandt, um zu taufen, die Kirche um den Tisch des Herrn
zu versammeln und die Jünger Christi im Sakrament der
Firmung mit dem Siegel des Heiligen Geistes zu festigen
und zu stärken. Immer wieder hat der Bischof in seinem
Dienst die Gelegenheit, die Firmung zu spenden und den

34
Menschen bei der Salbung mit dem heiligen Chrisam die
Gabe des Heiligen Geistes, der Quelle des Lebens in
Christus ist, zu übertragen.
An vielen Orten kann man während der Weihen die
Gläubigen singen hören: »Priesterliches Volk, königliches
Volk, heilige Versammlung, Volk Gottes, singe deinem
Herrn!« Dieser inhaltlich tiefe Gesang gefällt mir:
»Dir singen wir, du geliebter Sohn des Vaters! Dich
verherrlichen wir, du ewige Weisheit, lebendiges Wort
Gottes. Dir singen wir, einziger Sohn der Jungfrau Maria,
Dich beten wir an, Christus, unser Bruder, Du bist
gekommen, uns zu retten. Dir singen wir, du Messias, den
die Armen ›empfangen‹, Dich beten wir an, du unser
milder und demütiger König (…)
Dir singen wir, o Weinstock, der das Leben gibt uns,
deinen Reben.«
Jede Berufung hat in Christus ihren Ursprung, und genau
das wird jedes Mal in der Salbung mit dem Chrisam zum
Ausdruck gebracht – von der Taufe an bis zur Salbung des
Hauptes des Bischofs. Gerade daraus geht die gemeinsame
Würde aller christlichen Berufungen hervor; unter diesem
Gesichtspunkt sind sie alle gleich. Die Unterschiede
beruhen dagegen auf der Rolle, die Christus jedem
Berufenen in der Gemeinschaft der Kirche zuweist, und
auf der Verantwortung, die sich daraus ergibt. Mit großer
Aufmerksamkeit muss darauf geachtet werden, dass nichts
verloren geht (vgl. Joh 6,12): Keine Berufung darf
vernachlässigt bzw. beeinträchtigt werden, denn jede ist
wertvoll und nötig. Für jedes Leben hat der gute Hirt sein
eigenes Leben hingegeben (vgl. Joh 10,11). Gerade dafür
trägt der Bischof die Verantwortung. Er muss sich darüber
im Klaren sein, dass es seine Aufgabe ist, dafür zu sorgen,
dass in der Kirche jede Berufung aufkeimen und sich
entfalten kann, jede Erwählung des Menschen durch
35
Christus, auch die kleinste. Darum ruft der Bischof wie
Christus selbst die Menschen um den Tisch des Herrn zum
Mahl seines Leibes und Blutes zusammen und lehrt sie. Er
leitet und dient zugleich. Er muss der Kirche treu sein,
also jedem einzelnen ihrer Glieder – auch dem kleinsten –,
das Christus berufen hat und mit dem er sich identifiziert
(vgl. Mt 25,45). Als Zeichen dieser Treue empfängt der
Bischof den Ring.

Der Ring und das Rationale

Der Ring, der dem Bischof an den Finger gesteckt wird,


bedeutet, dass er eine heilige Vermählung mit der Kirche
eingegangen ist. »Accipe anulum, fidei signaculum –
Empfange diesen Ring als Zeichen deiner Treue. Und in
der Unversehrtheit des Glaubens und der Reinheit des
Lebens sollst du die heilige Kirche, die Braut Christi,
hüten und bewahren.« »Esto fidelis usque ad mortem …«,
lautet die Ermahnung aus dem Buch der Apokalypse: »Sei
treu bis in den Tod; dann werde ich dir den Kranz des
Lebens geben« (Offb 2,10). Dieser Ring, ein hoch-
zeitliches Symbol, ist ein besonderer Ausdruck der
Verbindung des Bischofs mit der Kirche. Für mich ist er
eine tägliche Mahnung zur Treue, eine Art lautlose Frage,
die sich im Gewissen vernehmen lässt: Schenke ich mich
meiner Braut, der Kirche, ganz und gar? Bin ich in
ausreichendem Maße da »für« die Gemeinschaften, die
Familien, die Jugendlichen und die Alten, und auch »für«
jene, die noch geboren werden müssen? Der Ring erinnert
mich auch an die Notwendigkeit, ein starkes, robustes
»Glied« in der Kette der Sukzession zu sein, die mich mit
den Aposteln verbindet – die Haltbarkeit einer Kette wird
nämlich an ihrem schwächsten Glied gemessen. Ein

36
starker Ring muss ich sein, stark aus der Kraft Gottes:
»Der Herr ist meine Kraft und mein Schild«
(Ps 27 [28],7). »Muss ich auch wandern in finsterer
Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir,
dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht«
(Ps 22 [23],4).
Die Bischöfe von Krakau haben ein besonderes Privileg,
das – so viel ich weiß – nur vier Diözesen in der Welt
besitzen: Sie haben das Recht, das so genannte
»Rationale« zu tragen. In seiner äußeren Form ist es ein
Zeichen, das an das Pallium erinnert. In Krakau befindet
sich im Schatz von Wawel das Rationale, das ein
Geschenk der Königin Jadwiga war. Für sich allein
genommen, hat dieses Zeichen gar nichts zu sagen. Es ist
nur bedeutsam, wenn der Erzbischof es trägt: Dann ist es
ein Anzeichen für seine Autorität und für seinen Dienst –
gerade weil er Autorität besitzt, muss er dienen. In
gewissem Sinne kann man darin ein Symbol der Passion
Christi und aller Märtyrer sehen. Wenn ich es anlegte,
kamen mir mehr als einmal die Worte des Apostels Paulus
in den Sinn, die er in schon fortgeschrittenem Alter an den
noch jungen Bischof Timotheus richtete: »Schäme dich
also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme
dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis
bin, sondern leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt
dazu die Kraft« (2 Tim 1,8).
»Bewahre, was dir anvertraut ist« (1 Tim 6,20)
Nach dem Weihegebet sieht das Ritual die Übergabe des
Evangelienbuches an den geweihten Bischof vor. Diese
Geste zeigt, dass der Bischof die Frohe Botschaft
annehmen und verkünden muss. Es ist ein Zeichen der
Gegenwart Jesu in der Kirche als Lehrer. Das bedeutet,
dass die Unterweisung zum Wesen der Berufung des
Bischofs gehört, dass er also ein Lehrender sein muss.

37
Und wir wissen, wie viele herausragende Bischöfe vom
Altertum bis in unsere Zeit hinein diese Berufung in
beispielhafter Weise verwirklichten. Sie beherzigten die
kluge Ermahnung des Apostels Paulus, durch die sie sich
persönlich angesprochen fühlten: »Timotheus, bewahre
[das Glaubensgut], was dir anvertraut ist. Halte dich fern
von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der
so genannten ›Erkenntnis‹!« (1 Tim 6,20). Sie waren
wirkungsvolle Lehrer, weil sie ihr geistliches Leben auf
das Hören und die Verkündigung des Wortes Gottes
ausrichteten. Oder, um es mit anderen Worten aus-
zudrücken: Sie verstanden es, überflüssige Worte zu
vermeiden, um sich mit ihrer ganzen Energie dem einzig
Notwendigen (vgl. Lk 10,42) zu widmen.
In der Tat ist es Aufgabe des Bischofs, sich zum Diener
des Wortes Gottes zu machen. Und gerade in seiner
Funktion als Lehrer sitzt er auf der »Kathedra« – auf
jenem nur ihm vorbehaltenen Sitz, der sinnbildlich im
Chorraum der eben danach benannten »Kathedrale«
aufgestellt ist –, um zu predigen, das Wort Gottes zu ver-
künden und es auszulegen. Unsere Zeit stellt an die
Bischöfe als Lehrer neue Anforderungen, bietet ihnen aber
auch neue, großartige Mittel, die ihnen bei der
Verkündigung des Evangeliums hilfreich sind. Die
unkomplizierten Reisemöglichkeiten erlauben ihnen, die
verschiedenen Kirchen und Gemeinden der eigenen
Diözese oft zu besuchen. Radio, Fernsehen, Internet und
das gedruckte Wort stehen ihnen zur Verfügung. Bei der
Verkündigung des Wortes Gottes stehen ihnen außerdem
die Priester und Diakone, die Katecheten und Lehrer, die
Theologie-Professoren und in zunehmendem Maße auch
gebildete und dem Evangelium treue Laien hilfreich zur
Seite.

38
Trotzdem kann die Anwesenheit des Bischofs, der auf
der Kathedra Platz nimmt oder an den Ambo seiner
Bischofskirche tritt und denen, die er um sich versammelt
hat, persönlich das Wort Gottes auslegt, durch nichts
ersetzt werden. Wie der Schriftgelehrte, der ein Jünger des
Himmelreichs geworden ist, gleicht auch er einem
Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und
Altes hervorholt (vgl. Mt 13,52). An dieser Stelle möchte
ich gern den ehemaligen Erzbischof von Mailand,
Kardinal Carlo Maria Martini, erwähnen, dessen Kate-
chesen im Mailänder Dom Scharen von Menschen
anzogen, denen er den Schatz des Wortes Gottes enthüllte.
Das ist nur eines von vielen Beispielen, die beweisen, wie
groß bei den Leuten der Hunger nach dem Wort Gottes ist.
Wie wichtig ist es, dass dieser Hunger gestillt wird!
Immer hat mich die Überzeugung begleitet, dass ich,
wenn ich diesen inneren Hunger der anderen stillen will,
zuerst einmal nach dem Beispiel Marias dieses Wort
Gottes selbst hören und in meinem Herzen bewahren und
darüber nachdenken muss (vgl. Lk 2,19). Zugleich habe
ich immer deutlicher begriffen, dass der Bischof es
ebenfalls verstehen muss, den Leuten, denen er die Frohe
Botschaft verkündet, auch selbst zuzuhören. Angesichts
der heutigen Flut von Worten, Bildern und Geräuschen ist
es wichtig, dass der Bischof sich nicht ablenken und
zerstreuen lässt. Aus der Überzeugung heraus, dass wir
alle vereint sind in demselben Geheimnis des Wortes
Gottes vom Heil, muss er ein Hörender sein, offen für Gott
und seine Gesprächspartner.

39
Die Mitra und das Pastorale

Die Berufung zum Bischof ist sicherlich eine Ehre. Das


bedeutet jedoch nicht, dass der Kandidat gewählt worden
ist, weil er sich unter vielen anderen als hervorragender
Mensch und Christ ausgezeichnet hat. Die Ehre, die man
ihm erweist, hat ihren Grund in seinem Auftrag, sich
inmitten der Kirche als der Erste im Glauben, der Erste in
der Liebe, der Erste in der Treue und der Erste im Dienen
zu zeigen. Wenn einer im Bischofsamt nur die Ehre für
sich selbst sucht, wird es ihm nie gelingen, die besondere
bischöfliche Sendung gut zu erfüllen. Das erste und
wichtigste Merkmal der dem Bischof zukommenden Ehre
liegt in der Verantwortung, die mit seinem Amt verbunden
ist. »Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht
verborgen bleiben« (Mt 5,14). Der Bischof befindet sich
immer »auf dem Berg«, »auf dem Leuchter«, sichtbar für
alle. Er muss sich darüber im Klaren sein, dass alles, was
in seinem Leben geschieht, in Bezug auf die Gemeinschaft
von Bedeutung ist: Die Augen aller sind auf ihn gerichtet
(vgl. Lk 4,20). Wie ein Familienvater seine Kinder in
erster Linie durch das Beispiel seiner Religiosität und
seines Betens zum Glauben erzieht, so erzieht auch der
Bischof seine Gläubigen durch sein gesamtes Verhalten.
Darum fordert der Verfasser des Ersten Petrusbriefs mit
solchem Nachdruck, dass die Bischöfe »Vorbilder für die
Herde« sein sollen (5,3). Gerade unter diesem
Gesichtspunkt besitzt in der Weiheliturgie das Zeichen des
Aufsetzens der Mitra eine besondere Aussagekraft. Der
neu gewählte Bischof empfängt sie als Mahnung, sich
darum zu bemühen, dass in ihm »der Glanz der Heiligkeit

40
leuchte«, um würdig zu sein, »den nie verwelkenden
Kranz der Herrlichkeit« zu empfangen, wenn Christus, der
»Hirt aller Hirten« erscheint (vgl. Römisches Pontifikale).
In besonderer Weise ist der Bischof zu persönlicher
Heiligkeit aufgefordert, um so die Heiligkeit der ihm
anvertrauten kirchlichen Gemeinschaft zu mehren. Er ist
verantwortlich für die Verwirklichung der allgemeinen
Berufung zur Heiligkeit, von der im 5. Kapitel der
Konzils-Konstitution Lumen gentium die Rede ist. Wie ich
am Ende des Großen Jubiläumsjahres schrieb, liegt in
dieser Berufung die »innere Dynamik« der Ekklesiologie
(vgl. Novo millennio ineunte, 30). »Das von der Einheit
des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her
geeinte Volk« (Lumen gentium, 4) ist ein Volk, das dem
gehört, der dreimal heilig ist (vgl. Jes 6,3). »Das
Bekenntnis zur ›heiligen‹ Kirche bedeutet auf ihr Antlitz
als Braut Christi zu verweisen, für die er sich gerade
deshalb hingegeben hat, um sie zu heiligen« (Novo
millennio ineunte, 30). Es ist Heiligkeit als eine Gabe, die
zur Aufgabe wird. Man muss sich ständig neu ins
Bewusstsein rufen, dass das ganze Leben des Christen auf
diese Aufgabe hin ausgerichtet sein sollte: »Das ist es, was
Gott will: eure Heiligung« (1 Thess 4,3). Zu Beginn der
siebziger Jahre schrieb ich in Anlehnung an die Konstitu-
tion Lumen gentium: »Die Heilsgeschichte ist die Ge-
schichte des ganzen Gottesvolkes, und diese Geschichte
verläuft auch über das Leben der einzelnen Personen und
konkretisiert sich in jeder von ihnen aufs Neue. Die
wesentliche Bedeutung der Heiligkeit besteht darin, dass
sie stets Heiligkeit der Person ist. Dies wird von der
allgemeinen Berufung zur Heiligkeit bestätigt. Sämtliche
Glieder des Gottesvolkes sind berufen, doch jedes von
ihnen auf einzigartige, unwiederholbare Weise« (Quellen
der Erneuerung. Zur Verwirklichung des Zweiten

41
Vatikanischen Konzils, Freiburg 1981, S. 166f.; Original-
ausgabe: U podstaw odnowy. Studium o realizacji
Vaticanum II, Krakau 1972, S. 165). Die Heiligkeit jedes
Einzelnen trägt allerdings dazu bei, das Gesicht der
Kirche, der Braut Christi, immer schöner werden zu
lassen, und fördert so die Annahme ihrer Botschaft in der
Welt von heute.
Im Ritus der Bischofsweihe folgt die Übergabe des
Hirtenstabs. Er ist Zeichen der Autorität, die dem Bischof
zukommt, damit er seine Pflicht, sich um die Herde zu
kümmern, erfüllen kann. Auch dieses Zeichen steht unter
dem Aspekt der Sorge für die Heiligkeit des Gottesvolkes.
Der Hirt muss nämlich wachen und schützen, er muss
jedes Schaf »auf grüne Auen« führen (vgl. Ps 22 [23],2),
auf jene Weiden, wo es entdeckt, dass die Heiligkeit nicht
»eine Art außerordentlichen Lebens [ist], das nur von
einigen ›Genies‹ der Heiligkeit geführt werden könnte.
Die Wege der Heiligkeit sind vielfältig und der Berufung
eines jeden angepasst« (Novo millennio ineunte, 31).
Welch ein Potential an Heiligkeit schlummert in der
zahllosen Schar der Getauften! Ich bete unaufhörlich, der
Heilige Geist möge mit seinem Feuer die Herzen von uns
Bischöfen entzünden, so dass wir Lehrmeister der
Heiligkeit werden, fähig, die Gläubigen durch unser
Beispiel mitzureißen.
Es kommt mir der ergreifende Abschied des hl. Paulus
von den Ältesten der Gemeinde von Ephesus in den Sinn:
»Gebt acht auf euch und auf die ganze Herde, in der euch
der Heilige Geist zu Bischöfen bestellt hat, damit ihr als
Hirten für die Kirche Gottes sorgt, die er sich durch das
Blut seines eigenen Sohnes erworben hat« (Apg 20,28).
Der Befehl Christi drängt jeden Hirten: »Geht zu allen
Völkern (…) und lehrt sie« (Mt 28,19f.). Geht, macht
niemals halt! Die Erwartung des göttlichen Meisters ist

42
uns wohl bekannt: »Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr
euch aufmacht und Frucht bringt, und dass eure Frucht
bleibt« (Joh 15,16).
Der Hirtenstab mit dem Gekreuzigten, den ich zur Zeit
benutze, ist eine Kopie des Hirtenstabs von Paul VI. In
ihm sehe ich drei Aufgaben symbolisiert: Fürsorge,
Führung und Verantwortung. Er ist nicht ein Zeichen der
Autorität im üblichen Sinne dieses Wortes: nicht ein
Zeichen des Vorrechtes oder der Vorherrschaft über die
anderen. Er ist ein Zeichen des Dienens. Und als solches
ist er ein Zeichen der pflichtgemäßen Sorge für die
Bedürfnisse der Schafe: »damit sie das Leben haben und
es in Fülle haben!« (Joh 10,10). Der Bischof muss leiten,
er muss die Rolle des Wegweisenden übernehmen. Seine
Gläubigen werden in dem Maße auf ihn hören und ihn
lieben, in dem er Christus, den guten Hirten nachahmt,
»der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen,
sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als
Lösegeld für viele« (Mt 20,28). »Dienen!« – Wie sehr ich
dieses Wort schätze! Was im Deutschen mit »Amts-
priestertum« bezeichnet wird, müsste wörtlich übersetzt
eigentlich »Dienst«-Priestertum heißen (sacerdozio
ministeriale) – eine erstaunliche Bezeichnung … Gele-
gentlich kommt es vor, dass die als Vorrecht verstandene
bischöfliche Macht mit dem Argument verteidigt wird:
»Die Schafe müssen dem Hirten folgen, nicht der Hirt den
Schafen.« Dem kann man zustimmen, jedoch in dem Sinn,
dass der Hirt vorangehen muss, indem er sein Leben
hingibt für seine Schafe: Im Opfer und in der Hingabe
muss er der Erste sein. »Der Gute Hirt ist auferstanden,
der sein Leben gab für seine Schafe: Er starb für seine
Herde« (Stundenbuch, Lesehore, 2. Responsorium des
4. Sonntags der Osterzeit). Der Bischof hat den Vorrang in
der großherzigen, selbstlosen Liebe zu den Gläubigen und

43
zur Kirche nach dem Vorbild des hl. Paulus: »Jetzt freue
ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den
Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen
Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt«
(Kol 1,24). Sicher gehört zur Rolle des Hirten auch das
Ermahnen. Ich denke, unter diesem Aspekt habe ich
vielleicht zu wenig getan. Es besteht immer die Frage der
Beziehung zwischen Autorität und Dienst. Vielleicht muss
ich mir vorwerfen, dass ich mich nicht genügend bemüht
habe, zu befehlen. Bis zum gewissen Grad hängt das von
meinem Temperament ab. Irgendwie kann es aber auch
auf den Willen Christi zurückgeführt werden, der von
seinen Aposteln nicht so sehr verlangte, zu befehlen, als
vielmehr, zu dienen. Natürlich kommt die Autorität dem
Bischof zu, aber viel hängt von der Art und Weise ab, in
der sie ausgeübt wird. Wenn der Bischof sich ein bisschen
zu sehr auf die Autorität stützt, meinen die Leute sofort,
dass er nur zu befehlen versteht. Wenn er sich dagegen in
eine Grundhaltung des Dienens begibt, fühlen sich die
Gläubigen spontan veranlasst, auf ihn zu hören, und
unterwerfen sich gern seiner Autorität. Es scheint, dass
hier ein gewisses Gleichgewicht eingehalten werden muss.
Wenn der Bischof sagt: »Hier befehle nur ich«, oder aber:
»Ich bin hier nur, um zu dienen«, dann fehlt jeweils etwas.
Er muss dienen, indem er regiert, und regieren, indem er
dient. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür finden wir in
Christus selbst: Er diente unaufhörlich, jedoch im Geist
des göttlichen Dienens konnte er auch die Händler aus
dem Tempel jagen, wenn es nötig war. Ich glaube jedoch,
dass ich trotz der inneren Widerstände, die ich spürte,
wenn ich Vorwürfe machen musste, alle notwendigen
Entscheidungen getroffen habe. Als Metropolit von
Krakau tat ich alles, um auf kollegiale Weise zu solchen
Entscheidungen zu gelangen, das heißt, indem ich mich

44
mit den Weihbischöfen und den anderen Mitarbeitern
beriet. Jede Woche hatten wir unsere Kurien-Sitzungen, in
denen alle Fragen unter dem Gesichtspunkt des größeren
Nutzens für die Erzdiözese diskutiert wurden. Gern stellte
ich meinen Mitarbeitern zwei Fragen. Erstens: »Welche
Glaubenswahrheit gibt es, die dieses Problem erhellen
kann?« Und zweitens: »Wen können wir zu Hilfe nehmen
oder auf eine solche Hilfe vorbereiten?« Die religiöse
Motivation zum Handeln zu finden und die richtige Person
für eine bestimmte Aufgabe, war immer ein guter Anfang,
der bezüglich des Erfolgs pastoraler Initiativen hoffnungs-
voll stimmte.
Die Übergabe des Hirtenstabs beschließt den Weiheritus.
Danach beginnt die heilige Messe, die der neue Bischof
gemeinsam mit den weihenden Bischöfen zelebriert. All
das hat einen so tiefen Inhalt und ist so intensiv durch-
drungen von Gedanken und persönlichem Bewusstsein,
dass man es unmöglich vollständig ausdrücken, ge-
schweige denn etwas hinzufügen könnte.

45
Die Pilgerfahrt
zum Marien-Wallfahrtsort

Nach der heiligen Messe begab ich mich vom Wawel aus
direkt zum Priesterseminar, denn dort war der Empfang
für die geladenen Gäste. Doch noch am selben Abend
brach ich mit dem »Kreis« der engsten Freunde nach
Czestochowa (Tschenstochau) auf, wo ich am Morgen des
folgenden Tages in der Kapelle des Gnadenbildes der
»Schwarzen Madonna« die heilige Messe zelebrierte. Für
die Polen ist Czestochowa ein besonderer Ort. In
gewissem Sinne wird er mit Polen und seiner Geschichte
identifiziert, vor allem mit der Geschichte der Kämpfe um
die nationale Unabhängigkeit. Hier befindet sich das
National-Heiligtum »Jasna Gora« (Mons clarus – Heller
Berg). Dieser Name, der sich auf das Licht bezieht, das die
Finsternis vertreibt, gewann für die Polen, die in dunklen
Zeiten der Kriege, Teilungen und Besatzungen lebten, eine
besondere Bedeutung. Alle wussten, dass die Quelle
dieses Lichtes der Hoffnung die Gegenwart Marias in
ihrem Gnadenbild war. Wohl zum ersten Mal wurde das
deutlich während der schwedischen Invasion, die unter der
Bezeichnung »Sintflut« in die Geschichte einging. In
dieser Situation – und das ist bedeutungsvoll – wurde das
Heiligtum zu einer Festung, die der eindringende Feind
nicht zu bezwingen vermochte. Die Nation verstand diese
Tatsache damals als eine Sieges-Verheißung. Das
Vertrauen auf den Schutz Marias verlieh den Polen die
Kraft, den Invasor zu schlagen. Seit dieser Zeit ist das
Heiligtum von Jasna Góra in gewissem Sinne zu einem
Bollwerk des Glaubens, des Geistes, der Kultur und all

46
dessen geworden, was die nationale Identität ausmacht.
Das galt in besonderer Weise für die lange Zeit der
Teilungen und des Verlustes der staatlichen Souveränität.
Darauf bezog sich Papst Pius XII., als er während des
Zweiten Weltkrieges betonte: »Polen ist nicht
verschwunden, und es wird nicht verschwinden, denn
Polen glaubt, Polen betet, Polen hat Jasna Góra.« Gott sei
Dank haben sich diese Worte bewahrheitet.
Später jedoch gab es eine weitere dunkle Zeit in unserer
Geschichte: die der kommunistischen Herrschaft. Die
Machthaber der Partei wussten sehr wohl, was Jasna Góra,
das Gnadenbild und die von Anfang an damit verbundene
glühende Marien-Verehrung für die Polen bedeutete. Und
als auf Initiative des Episkopats, und speziell von Kardinal
Wyszynski, von Czestochowa aus die Pilgerreise des
Gnadenbildes der »Schwarzen Madonna« startete, die alle
Pfarreien und Gemeinden Polens besuchen sollte, unter-
nahmen darum die kommunistischen Behörden alles, um
einen solchen »Besuch« zu verhindern. Als das Gnaden-
bild von der Polizei »festgenommen« wurde, setzte die
Wallfahrt ihren Weg mit dem leeren Rahmen fort, und ihre
Botschaft wurde so noch beredter. In diesem Rahmen
ohne Bild konnte man ein stummes Zeichen der fehlenden
Religionsfreiheit sehen. Die Nation wusste, dass sie ein
Recht darauf hatte, und betete noch inständiger um sie.
Diese Pilgerreise dauerte ungefähr fünfundzwanzig Jahre
und bewirkte unter den Polen eine außergewöhnliche
Festigung im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe.
Alle gläubigen Polen wallfahren nach Czestochowa.
Auch ich habe mich von Kind an dort hinaufbegeben,
indem ich an der einen oder anderen Wallfahrt teilnahm.
1936 gab es eine große Wallfahrt der Universitätsjugend
aus ganz Polen, die mit einem feierlichen Eid vor dem

47
Gnadenbild schloss. Das wurde in der Folge alljährlich
wiederholt.
Während der nationalsozialistischen Besatzung machte
ich diese Wallfahrt, als ich schon Student polnischer
Literatur an der philosophischen Fakultät der Jagiello-
nischen Universität war. Daran erinnere ich mich in
besonderer Weise, denn um die Tradition nicht abreißen
zu lassen, gingen wir – Tadeusz Ulewicz und ich
zusammen mit einem Dritten – als Delegierte nach
Czestochowa. Jasna Góra war umzingelt vom hitlerschen
Heer. Die Eremiten-Patres des hl. Paulus gewährten uns
Gastfreundschaft. Sie wussten, dass wir eine Delegation
waren. Alles blieb geheim. So hatten wir die Befriedigung,
dass es uns trotz allem gelungen war, diese Tradition
aufrechtzuerhalten. Auch danach begab ich mich mehr-
mals zum Heiligtum, indem ich an verschiedenen
Wallfahrten teilnahm – besonders an der aus Wadowice.
In jedem Jahr – gewöhnlich Anfang September – fanden
in Jasna Góra die geistlichen Exerzitien der Bischöfe statt.
Als ich zum ersten Mal daran teilnahm, war ich erst
nominierter Bischof. Erzbischof Baziak nahm mich mit.
Ich erinnere mich, dass der Prediger damals Jan Zieja war,
ein Priester von herausragender Persönlichkeit. Den ersten
Platz nahm natürlich der Primas, Kardinal Stefan
Wyszynski ein – ein Mann, der für die Zeiten, die wir
durchmachten, von wahrhaft schicksalhafter Bedeutung
war.
Vielleicht lag in diesen Wallfahrten nach Jasna Góra der
Grund für meinen Wunsch, die ersten Schritte meiner
Pilgerreisen als Papst zu einem marianischen Heiligtum zu
lenken. Dieser Wunsch war es, der mich auf meiner ersten
apostolischen Reise nach Mexiko zu Füßen der Jungfrau
von Guadalupe führte. In der Liebe, die die Mexikaner
und allgemein die Bewohner Mittel- und Süd-Amerikas

48
zur Jungfrau von Guadalupe haben – eine spontan und
emotiv geäußerte, aber sehr intensive und tiefe Liebe –
gibt es viele Analogien zur polnischen Marien-Verehrung,
die auch meine Spiritualität prägte. Liebevoll nennen sie
Maria La Virgen Morenita – ein Name, der frei übersetzt
»Schwarze Madonna« lautet. Es gibt dort ein sehr be-
kanntes Volkslied, das von der Liebe eines jungen Mannes
zu einem Mädchen spricht; die Mexikaner beziehen dieses
Lied auf die Madonna: Noch immer habe ich diese wohl-
klingenden Worte im Ohr:
»Conocí a una linda Morenita … y la quise mucho.
Por las tardes iba yo enamorado y carinoso a verla. Al
contemplar sus ojos, mi pasion crecia. Ay Morena,
Morenita mia, no te olvidare. Hay un Amor muy grande
que existe entre los dos, Entre los dos …«
Ich besuchte das Heiligtum von Guadalupe, wie gesagt,
im Januar 1979 während meiner ersten apostolischen
Reise. Die Reise wurde entschieden als Antwort auf die
Einladung, an der Versammlung der Bischofskonferenz
von Lateinamerika (CELAM) in Puebla de los Angeles
teilzunehmen. Diese Reise war in gewissem Sinne
inspirierend und richtungweisend für alle folgenden Jahre
des Pontifikats.
Zuerst machte ich in Santo Domingo Station, und von da
aus ging ich dann nach Mexiko. Es war außerordentlich
bewegend, als wir auf dem Weg zu unserem Nachtquartier
durch die von Menschen überfüllten Straßen fuhren. Man
konnte die Verehrung dieser unzähligen Menschen so-
zusagen mit Händen greifen. Als wir endlich den Ort
erreichten, wo wir übernachten sollten, sangen die Leute
unentwegt weiter, und dabei war es schon Mitternacht. So
sah Stanislaw (Stanislaw Dziwisz) sich schließlich ge-
nötigt, hinauszugehen und sie zum Schweigen zu bringen,

49
indem er ihnen erklärte, der Papst müsse jetzt schlafen.
Daraufhin beruhigten sie sich.
Ich erinnere mich, dass ich jene Reise nach Mexiko wie
eine Art »Passierschein« ansah, der mir den Weg frei-
machen konnte zu einer Pilgerreise nach Polen. Tat-
sächlich dachte ich mir, die Kommunisten Polens könnten
mir die Erlaubnis zur Wiedereinreise in die Heimat nicht
verweigern, nachdem ich in einem Land wie dem dama-
ligen Mexiko, das eine völlig laikale Verfassung besaß,
empfangen worden war. Ich wollte nach Polen, und das
wurde noch im Juni desselben Jahres Wirklichkeit.
Guadalupe, der größte Wallfahrtsort von ganz Amerika, ist
für jenen Kontinent das, was Czestochowa für Polen ist.
Es sind zwei etwas unterschiedliche Welten: In Guadalupe
ist es die lateinamerikanische, in Czestochowa die sla-
wische Welt, ist es Ost-Europa. Das wurde besonders
deutlich während des Weltjugendtreffens 1991, als in
Czestochowa erstmalig Jugendliche eintrafen, die aus
Ländern jenseits der polnischen Ostgrenzen kamen:
Ukrainer, Letten, Weißrussen, Russen … Alle Territorien
Ost-Europas waren vertreten.
Kehren wir noch einmal nach Guadalupe zurück. Im Jahr
2002 war es mir vergönnt, in diesem Wallfahrtsort die
Heiligsprechung von Juan Diego zu zelebrieren. Das war
eine wunderbare Gelegenheit, Gott Dank zu sagen. Nach-
dem er die christliche Botschaft empfangen hatte, ent-
deckte Juan Diego, ohne auf seine Identität als Ein-
geborener zu verzichten, die tiefe Wahrheit der neuen
Menschheit, in der alle dazu berufen sind, in Christus
Kinder Gottes zu sein. »Ich preise dich, Vater (…), weil du
all das den Weisen und Klugen verborgen, den Un-
mündigen aber offenbart hast …« (Mt 11,25). Und in
diesem Geheimnis kam Maria eine einzigartige Rolle zu.

50
TEIL II
DIE TÄTIGKEIT DES
BISCHOFS

»Erfülle treu deinen Dienst«

51
Die Aufgaben des Bischofs

Als ich von meiner ersten Wallfahrt nach Jasna Góra, die
ich als Bischof unternommen hatte, nach Krakau
zurückgekehrt war, begann ich, die Kurie zu besuchen.
Sofort wurde ich zum Generalvikar ernannt. Ich kann
freimütig sagen, dass ich mit allen Angestellten der
Krakauer Kurie Freundschaft geschlossen habe. Stefan
Marszowski, Mieczyslaw Satora, Mikolaj Kuczkowski,
Bohdan Niemczewski, fulierter Probst. Letzterer war
später als Dekan des Kapitels der entschiedenste Be-
fürworter meiner Ernennung zum Erzbischof, obwohl ihr
eigentlich die aristokratische Tradition im Wege stand. In
Krakau wurden nämlich die Erzbischöfe gewöhnlich aus
der Aristokratie gewählt. Deshalb war es eine Über-
raschung, als nach dieser langen Reihe von Aristokraten
ich, ein »Proletarier«, ernannt wurde. Das geschah jedoch
erst einige Jahre danach, nämlich 1964. Ich werde später
darauf zurückkommen.
In der Kurie fühlte ich mich wohl, und ich erinnere mich
an die in Krakau verbrachten Jahre mit großer Sympathie
und Dankbarkeit. Nach und nach kamen die Priester mit
ihren verschiedenen Problemen zu mir. Mit Begeisterung
machte ich mich an die Arbeit. Im Frühjahr begannen die
Pastoralbesuche.
Zunehmend fand ich mich in meine neue kirchliche
Rolle ein. Mit der Berufung zum Bischof und der Weihe
hatte ich neue Aufgaben übernommen. Diese waren
andeutungsweise bereits in der Liturgie der Bischofsweihe
zum Ausdruck gekommen. Wie gesagt, hatte der Weihe-
Ritus bereits zur Zeit meiner Weihe im Jahre 1958 einige

52
Wandlungen erfahren, im Wesentlichen war er aber
unverändert geblieben. Der alte, von den Kirchenvätern
festgesetzte Brauch sieht vor, den zukünftigen Bischof in
Gegenwart des Volkes zu fragen, ob er sich verpflichtet,
den Glauben unversehrt zu bewahren und den ihm
anvertrauten Dienst zu erfüllen. In ihrer jetzigen Form
lauten die Fragen:
»Lieber Mitbruder, bist du bereit, in dem Amt, das von
den Aposteln auf uns gekommen ist und das wir dir heute
durch Handauflegung übertragen, mit der Gnade des
Heiligen Geistes bis zum Tod zu dienen?
Bist du bereit, das Evangelium Christi treu und
unermüdlich zu verkünden?
Bist du bereit, das von den Aposteln überlieferte
Glaubensgut, das immer und überall in der Kirche
bewahrt wurde, rein und unverkürzt weiterzugeben?
Bist du bereit, am Aufbau der Kirche, des Leibes Christi,
mitzuwirken und zusammen mit dem Bischofskollegium
unter dem Nachfolger des heiligen Petrus stets ihre
Einheit zu wahren? Bist du bereit, dem Nachfolger des
Apostels Petrus treuen Gehorsam zu erweisen?
Bist du bereit, zusammen mit deinen Mitarbeitern, den
Presbytern und Diakonen, für das Volk Gottes wie ein
Vater zu sorgen und es auf dem Weg des Heiles zu führen?
Bist du bereit, um des Herrn willen den Armen und den
Heimatlosen und allen Notleidenden gütig zu begegnen
und zu ihnen barmherzig zu sein?
Bist du bereit, den Verirrten als guter Hirte nach-
zugehen und sie zur Herde Christi zurückzuführen?
Bist du bereit, für das Heil des Volkes unablässig zum
allmächtigen Gott zu beten und das hohepriesterliche Amt
untadelig auszuüben?« (Römisches Pontifikale, Bischofs-
weihe)
53
Diese Worte haben sich sicher tief ins Herz eines jeden
Bischofs eingegraben. In ihnen klingen die Fragen an, die
Jesus dem Petrus am See von Galiläa stellte: »Simon, Sohn
des Johannes, liebst du mich mehr als diese? (…) Weide
meine Lämmer.« Zum zweiten Mal fragte er ihn: »Simon,
Sohn des Johannes, liebst du mich? (…) Weide meine
Schafe!« Zum dritten Mal fragte er ihn: »Simon, Sohn des
Johannes, liebst du mich?« Da wurde Petrus traurig, weil
Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: »Hast du mich
lieb?« Er gab ihm zur Antwort: »Herr, du weißt alles; du
weißt, dass ich dich lieb habe.« Jesus sagte zu ihm:
»Weide meine Schafe!« (Joh 21,15–17), Nicht deine
Schafe, nicht eure, sondern meine! Er war es nämlich, der
den Menschen erschaffen hat. Er war es, der ihn erlöst hat.
Er war es, der alle freigekauft hat – alle bis zum Letzten –
und mit seinem Blut für sie bezahlt hat!

54
Hirt

Die christliche Tradition hat das biblische Bild des Hirten


auf dreierlei Weise dargestellt: Er ist derjenige, der das
verlorene Schaf auf seinen Schultern trägt, der seine Herde
auf grüne Auen führt und der seine Schafe mit dem
Hirtenstab sammelt und sie vor Gefahren schützt.
In allen drei Darstellungen kehrt dieselbe Botschaft
wieder: Der Hirt ist für die Schafe da und nicht die Schafe
für den Hirten. Wenn er ein wirklicher Hirt ist, dann fühlt
er sich ihnen so verbunden, dass er bereit ist, sein Leben
hinzugeben für die Schafe (vgl. Joh 10,11). Jedes Jahr
bringt das Römische Brevier als Lektüre für die Lesehore
während der 24. und der 25. Woche im Jahreskreis die
lange Predigt des hl. Augustinus über die Hirten,
»Depastoribus« (vgl. Ad Officium lectionis). Ausgehend
vom Buch Ezechiel macht der Bischof von Hippo den
schlechten Hirten, denen es nicht um die Schafe, sondern
um sich selbst geht, harte Vorwürfe: »Schauen wir, was
das Wort Gottes, das niemandem schmeichelt, zu den
Hirten sagt, die sich selbst nähren und nicht die Herde:
›Ihr trinkt die Milch, nehmt die Wolle für eure Kleidung
und schlachtet die fetten Tiere; aber die Herde führt ihr
nicht auf die Weide. Die schwachen Tiere stärkt ihr nicht,
die kranken heilt ihr nicht, die verletzten verbindet ihr
nicht, die verscheuchten holt ihr nicht zurück, die verirrten
sucht ihr nicht, und die starken misshandelt ihr. Und weil
sie keinen Hirten hatten, zerstreuten sich meine Schafe‹«
(Lesehore, Montag der 24. Woche). Trotzdem kommt er
zu einem Schluss voller Optimismus: »Es fehlt nämlich
nicht an guten Hirten, sondern sie alle befinden sich in

55
einem einzigen. (…) Alle guten Hirten identifizieren sich
mit der Person eines einzigen, sie sind alle eins. Christus
ist es, der in ihnen [die Herde] weidet (…) in ihnen ist
seine Stimme, in ihnen ist seine Liebe« (Lesehore, Freitag
der 25. Woche). Eindrucksvoll sind in diesem Zusammen-
hang auch die Bemerkungen des hl. Gregors des Großen:
»Die Welt ist voller Priester, aber Arbeiter in der Ernte
sind selten. Wir haben das priesterliche Amt übernommen,
doch die Arbeit des Amtes tun wir nicht. (…) Wir ver-
nachlässigen den Dienst der Predigt und werden Bischöfe
genannt – ein Ehrentitel, der uns zur Verurteilung gereicht,
da wir seine Tugenden nicht besitzen. Die uns anvertraut
sind, verlassen Gott, und wir schweigen. (Römisches
Brevier, Lesehore, Samstag der 27. Woche). Das ist die
alljährliche Mahnung, welche die Liturgie an unser
Gewissen richtet, indem sie unser Verantwortungsgefühl
für die Kirche wachruft!«

56
»Ich kenne meine Schafe«

(vgl. Joh 10,14)

Der gute Hirt kennt seine Schafe und die Schafe kennen
ihn (vgl. Joh 10,14). Natürlich ist es Pflicht des Bischofs,
mit Umsicht dafür zu sorgen, dass möglichst viele von
denen, die mit ihm zusammen die Lokalkirche bilden, ihn
direkt kennen lernen können. Er wird von sich aus
versuchen, ihnen nahe zu sein, um zu erfahren, wie sie
leben, was ihr Herz erfreut und was sie betrübt. Die Basis
für solch gegenseitiges Kennen sind weniger die
zufälligen Begegnungen als vielmehr ein echtes Interesse
für das, was in den Herzen der Menschen vorgeht,
unabhängig vom Alter, von der sozialen Stellung oder von
der Nationalität eines jeden. Es ist ein Interesse, das die
Nahen wie auch die Fernen einbezieht (vgl. Dekret über
das Hirtenamt der Bischöfe, 16). Es ist schwierig, eine
systematische Theorie über die Art und Weise des
Umgangs mit den Menschen zu formulieren. Für mich war
jedoch der Personalismus eine große Hilfe, mit dem ich
mich in meinen philosophischen Studien eingehend
beschäftigt habe. Jeder Mensch ist in seiner Persönlichkeit
eine Einmaligkeit, und darum kann ich nicht a priori eine
bestimmte Art der Beziehung planen, die für alle gilt,
sondern muss diese Beziehung sozusagen jedes Mal
wieder neu lernen. Das kommt eindrucksvoll zum
Ausdruck in dem Gedicht von Jerzy Liebert:
»Mensch, ich erlerne dich, ich erlerne dich ganz
allmählich. An diesem schwierigen Lernen freut sich und
leidet das Herz« (Poezje, Warschau 1983, S. 144).

57
Für einen Bischof ist es sehr wichtig, Zugang zu den
Menschen zu finden und die Fähigkeit zu erwerben, in
angemessener Weise auf sie zuzugehen. Was mich betrifft,
ist es bezeichnend, dass ich nie den Eindruck hatte,
übertrieben viele Kontakte zu haben. Wie dem auch sei,
ich war stets darum besorgt, in jedem Fall den
persönlichen Charakter der Beziehung zu wahren. Jeder ist
ein Kapitel für sich. Diese Überzeugung hat mein
Vorgehen immer bestimmt. Ich bin mir jedoch bewusst,
dass man diesen Stil nicht erlernen kann. Es ist etwas, das
einfach da ist, weil es aus dem Innern kommt. Das
Interesse für den Anderen beginnt beim Gebet des
Bischofs, bei seinem Gespräch mit Christus, der ihm »die
Seinen« anvertraut. Das Gebet bereitet ihn auf diese
Begegnungen mit den anderen vor. Es sind Begegnungen,
in denen es – wenn man innerlich offen ist – trotz zeitlich
knapper Begrenzung möglich ist, sich gegenseitig kennen
zu lernen und zu verstehen. Ich bete Tag für Tag einfach
für alle. Wenn ich einen Menschen treffe, bete ich bereits
für ihn, und das erleichtert den Kontakt immer. Ich kann
kaum sagen, wie die Leute das wahrnehmen, man müsste
sie selbst danach fragen. Mein Grundsatz ist es jedoch,
jeden als einen Menschen zu empfangen, den der Herr mir
schickt und zugleich mir anvertraut.
Das Wort »Masse« gefällt mir nicht, es klingt zu sehr
nach Anonymität; mir ist der Begriff »viele Menschen«
bzw. »Scharen von Menschen« (griechisch: plethos; vgl.
Mk 3,7; Lk 6,17; Apg 2,6; 14,1 u.a.m.) lieber. Christus
wanderte auf den Straßen Palästinas, und »Scharen von
Menschen« folgten ihm; Ähnliches geschah dann auch bei
den Aposteln. Natürlich bringt es das Amt, das ich
bekleide, mit sich, dass ich vielen Leuten begegne,
manchmal wirklich großen Scharen von Menschen. So
zum Beispiel in Manila, wo Millionen von Jugendlichen

58
zusammengekommen waren. Und doch wäre es auch in
diesem Fall nicht recht, von anonymer Masse zu sprechen.
Es handelte sich um eine von einem gemeinsamen Ideal
beseelte Gemeinschaft. Darum war es leicht, einen
Kontakt herzustellen. Und das ist es, was mehr oder
weniger überall geschieht.
In Manila hatte ich ganz Asien vor Augen. Wie viele
Christen auf jenem Kontinent, und wie viele Millionen
von Menschen, die Christus noch nicht kennen! Ich setze
eine sehr große Hoffnung auf die dynamische Kirche der
Philippinen und Koreas. Asien – das ist unsere
gemeinsame Aufgabe für das dritte Jahrtausend!

59
Die Ausspendung der
Sakramente

Die Sakramente sind der größte Schatz, der größte


Reichtum, über den der Bischof verfügt. Die von ihm
geweihten Priester helfen ihm bei deren Ausspendung.
Diesen Schatz hat Christus durch sein »Testament« – im
tiefsten theologischen Sinn dieses Wortes wie auch in
seiner rein menschlichen Bedeutung – in die Hände der
Apostel und ihrer Nachfolger gelegt. Als er wusste, »dass
seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum
Vater hinüberzugehen« (Joh 13,1), »gab in Brot und Wein
zur Speise sich der Herr den Seinen dar« (Hymnus Pange
lingua) und befahl ihnen, den Ritus des Abendmahls »zu
seinem Gedächtnis« zu wiederholen: das Brot zu brechen
und den Kelch mit Wein darzubringen – sakramentale
Zeichen seines für uns hingegebenen Leibes und seines
vergossenen Blutes. In der Folge, nach seinem Tod und
seiner Auferstehung, vertraute er ihnen den Dienst der
Vergebung der Sünden an und die Ausspendung der
anderen Sakramente, angefangen mit der Taufe. Die
Apostel gaben diesen Schatz an ihre Nachfolger weiter.
Neben der Verkündigung des Wortes ist also die
Ausspendung der Sakramente die erste Aufgabe der
Bischöfe – ihr müssen alle anderen Verpflichtungen unter-
geordnet werden. Alles im Leben des Bischofs muss
diesem Zweck dienen.
Wir wissen, dass wir dazu der Hilfe bedürfen: »Darum
bitten wir dich, Herr, gib auch uns solche Helfer; denn
mehr noch als die Apostel bedürfen wir der Hilfe in
unserer Schwachheit (…) Uns Bischöfen seien sie

60
treffliche Helfer.« (Römisches Pontifikale, Priesterweihe).
Das ist der Grund, warum wir geeignete Kandidaten
auswählen und vorbereiten und sie dann zu Priestern und
Diakonen weihen. Gemeinsam mit uns haben sie die
Aufgabe, das Wort Gottes zu verkünden und die heiligen
Sakramente auszuspenden.
Aus dieser Perspektive müssen die täglichen Aufgaben
und all die Verpflichtungen, die unseren Terminkalender
füllen, beleuchtet und geordnet werden. Selbstverständlich
geht es nicht nur darum, im Zentrum der kirchlichen
Versammlung die Eucharistie zu feiern oder die Firmung
zu spenden, sondern auch darum, Kinder zu taufen und
vor allem den Erwachsenen, die durch die Gemeinde der
Lokalkirche darauf vorbereitet werden, Jünger Christi zu
sein, dieses heilige Sakrament zu spenden. Ebenso wenig
sollte das persönliche Hören der Beichte unterschätzt
werden, wie auch Krankenbesuche mit der Spendung der
eigens für sie eingesetzten Krankensalbung. Zu den
Aufgaben des Bischofs gehört es außerdem, für die
Heiligkeit der Ehe Sorge zu tragen, und zwar nicht nur
indirekt über den Einsatz der Pfarrer, sondern auch
persönlich, indem er, soweit möglich, auch selbst die
Eheschließung segnet. Natürlich übernehmen die Priester
als Mitarbeiter des Bischofs den größten Teil dieser
Verpflichtungen. Jedoch gibt der Hirt der Diözese durch
seinen persönlichen Einsatz bei der Zelebration der
Sakramente dem ihm anvertrauten Gottesvolk – sowohl
den Laien als auch den Priestern – ein gutes Beispiel. Für
alle ist dies das deutlichste Zeichen seiner Verbundenheit
mit Christus, der in allen sakramentalen Mysterien
handelnd gegenwärtig ist. Christus selbst möchte, dass wir
Werkzeuge des Heilswerkes sind, das er durch die
Sakramente der Kirche verwirklicht. Gerade in diesen
wirksamen Zeichen der Gnade steht vor den Augen der

61
Seele das Angesicht Christi, des barmherzigen Erlösers
und guten Hirten. Ein Bischof, der persönlich die
Sakramente ausspendet, erscheint vor allen deutlich als
Zeichen des in seiner Kirche lebendigen und handelnden
Christus.

Die Pastoralbesuche

Wie schon erwähnt, begab ich mich regelmäßig zur Arbeit


in die Kurie; ganz besonders aber schätzte ich die
Pastoralbesuche. Sie gefielen mir so sehr, weil sie mir die
Möglichkeit gaben, in direkten, lebendigen Kontakt mit
den Menschen zu kommen. Dann vermittelten sie mir das
Gefühl, sie zu »formen«. Es kamen zu mir Laien und
Priester, ganze Familien, Jugendliche und Alte, Gesunde
und Kranke, Eltern mit ihren Kindern und ihren
Problemen … es kamen einfach alle mit allem. Das war
das Leben.
Gut erinnere ich mich noch an meinen ersten
Pastoralbesuch. Es war in Mucharz bei Wadowice. Der
Pfarrer dort, ein alter Prälat, war ein besonders guter
Priester. Er hieß Józef Motyka. Er wusste, dass es mein
erster Pastoralbesuch war, und er war innerlich bewegt. Er
sagte, für ihn werde es wohl der letzte sein. Er meinte,
mich irgendwie anleiten zu müssen. Der Besuch umfasste
die gesamte Präfektur und dauerte zwei Monate: Mai und
Juni. Nach den Ferien besuchte ich dann meine Heimat-
Präfektur Wadowice.
Die Pastoralbesuche fanden im Frühling und im Herbst
statt. Es ist mir nicht gelungen, in meiner Zeit alle
Pfarreien – über dreihundert an der Zahl – zu besuchen.
Obwohl ich zwanzig Jahre lang Bischof von Krakau war,
konnte ich die Pastoralbesuche nicht rechtzeitig zu Ende

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führen. Ich erinnere mich, dass die letzte Pfarrei der
Erzdiözese Krakau, die ich besuchte, Sankt Josef in Zlote
Lany, einem neuen Wohngebiet von Bielsko-Biala war. In
jener Stadt war der Pfarrer der Pfarrei der »Göttlichen
Vorsehung« Józef Sanak; bei ihm übernachtete ich. Nach
der Rückkehr von diesem Pastoralbesuch zelebrierte ich
die heilige Messe für den eben verstorbenen Papst
Johannes Paul I. und begab mich nach Warschau, um an
den Arbeiten der Bischofskonferenz teilzunehmen. Dann
reiste ich ab nach Rom … ohne zu wissen, dass ich für die
Zukunft dort bleiben sollte.
Meine Pastoralbesuche dauerten immer ziemlich lange;
vielleicht war das auch der Grund, warum ich nicht
rechtzeitig alle Pfarreien besuchen konnte. Ich hatte für die
Abwicklung dieser pastoralen Aufgabe ein eigenes Modell
entwickelt. Tatsächlich gab es schon ein überkommenes
Modell, und mit ihm hatte ich – wie bereits erwähnt – in
Mucharz begonnen. Der alte Prälat, den ich dort traf, war
mir diesbezüglich ein guter Führer. Aufgrund der
allmählich gesammelten Erfahrungen hielt ich es jedoch für
nützlich, einige Neuerungen einzuführen. Der eher
juridische Ansatz, den der Besuch vorher hatte, befriedigte
mich nicht; ich wollte ihm mehr pastoralen Gehalt geben.
So erarbeitete ich ein gewisses Schema. Der Besuch begann
immer mit einer Begrüßungs-Zeremonie, an der
verschiedene Personen und Gruppen teilnahmen:
Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Danach wurde ich in
die Kirche geführt, wo ich eine Ansprache hielt mit der
Absicht, einen ersten Kontakt mit den Leuten herzustellen.
Am folgenden Tag ging ich zuerst einmal in den
Beichtstuhl, wo ich mich je nach den Umständen eine oder
zwei Stunden aufhielt, um Beichtende zu empfangen. Dann
folgten die heilige Messe und anschließend die
Hausbesuche, vor allem bei den Kranken, aber nicht nur

63
dort. Leider gestatteten die Kommunisten nicht den Zutritt
zu den Krankenhäusern. Die Kranken wurden auch in die
Kirche gebracht, um eine Begegnung zu ermöglichen. Um
diesen Aspekt des Besuches kümmerte sich in der Diözese
die »Dienerin Gottes« Hanna Chrzanowska. Immer war mir
deutlich bewusst, welch fundamentalen Beitrag die
Leidenden zum Leben der Kirche leisten. Ich erinnere mich,
dass die Kranken mich während der ersten Kontakte
irgendwie einschüchterten. Es brauchte einigen Mut, vor
dem zu erscheinen, der litt, und sich, ohne in Verlegenheit
zu geraten, in gewissem Sinne in seinen körperlichen oder
seelischen Schmerz einzufühlen und es fertig zu bringen,
wenigstens ein klein bisschen liebevolles Mitleid zu zeigen.
Der tiefe Sinn des Geheimnisses menschlichen Leidens
enthüllte sich mir erst später. In der Schwäche der Kranken
trat für mich immer deutlicher sichtbar die Kraft hervor, die
Kraft der Barmherzigkeit. In gewissem Sinne
»provozieren« sie die Barmherzigkeit. Durch ihr Gebet und
ihr Opfer erflehen sie nicht nur Barmherzigkeit, sondern
bilden den »Raum der Barmherzigkeit«, oder besser:
»geben« der Barmherzigkeit »Raum«. Mit ihrer
Gebrechlichkeit und ihrem Leiden provozieren sie nämlich
Taten der Barmherzigkeit und schaffen die Möglichkeit, sie
zu vollbringen. Ich hatte die Gewohnheit, dem Gebet der
Kranken die Probleme der Kirche anzuvertrauen, und das
Ergebnis war immer sehr positiv. Während der
Pastoralbesuche spendete ich auch die Sakramente: Ich
firmte die Jugendlichen und segnete die Eheschließungen.
Dann traf ich mich separat mit verschiedenen Gruppen,
zum Beispiel mit den Lehrern, mit denen, die in der Pfarrei
arbeiteten, mit den Jugendlichen. Es gab auch ein eigenes
Treffen in der Kirche mit allen Ehepaaren; das war mit der
heiligen Messe verbunden und schloss mit einem besonde-
ren Segen, der jedem Paar einzeln gegeben wurde. Bei

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dieser Art von Treffen gab es natürlich eine speziell für die
Ehepaare bestimmte Predigt. Ich war immer besonders
gerührt, wenn ich kinderreiche Familien traf sowie auch
Frauen, die ein Kind erwarteten. Dann hatte ich den
Wunsch, meine besondere Wertschätzung für die Mutter-
schaft und die Vaterschaft auszudrücken. Den pastoralen
Einsatz für die Ehepaare und die Familien habe ich vom
Beginn meines Priestertums an immer gepflegt. Als
Universitäts-Seelsorger organisierte ich gewöhnlich Ehe-
Vorbereitungs-Kurse, und später als Bischof förderte ich
die Familienpastoral. Aus diesen Erfahrungen, aus diesen
Begegnungen mit den Verlobten, den Eheleuten und den
Familien gingen mein poetisches Drama Der Laden des
Goldschmieds und das Buch Liebe und Verantwortung her-
vor, und dann, in neuester Zeit, der Brief an die Familien.
Es gab auch getrennte Begegnungen mit den Priestern.
Jedem wollte ich die Gelegenheit geben, sich aus-
zusprechen und die Freuden und Sorgen des eigenen
Dienstes mitzuteilen. Für mich erwiesen sich diese
Begegnungen als wertvolle Gelegenheiten, von ihnen
einen wahren Schatz an Weisheit zu erfahren, den sie in
Jahren seelsorglicher Mühen gesammelt hatten.
Der Ablauf des Pastoralbesuches hing von den Be-
dingungen der jeweiligen Pfarrei ab. Tatsächlich gab es
sehr unterschiedliche Situationen. So dauerte der Besuch
der Pfarrgemeinde der Basilika der »Assumpta« in Krakau
zwei Monate; es gab dort nämlich zahlreiche Kirchen und
Oratorien. Völlig anders war der Fall von Nowa Huta: Dort
gab es trotz mehrerer zehntausend Einwohner keine Kirche.
Nur eine kleine, an die Schule angebaute Kapelle existierte.
Man muss sich vor Augen halten, dass es in der ersten Zeit
nach Stalin war und der Kampf gegen die Religion noch
andauerte. Die Regierung in einer »sozialistischen Stadt«
wie Nowa Huta gestattete nicht den Bau neuer Kirchen.

65
Der Kampf für die Kirche

Gerade in Krakau-Nowa Huta wurde ein harter Kampf für


den Bau der Kirche ausgefochten. In diesem Stadtteil mit
vielen Tausend Einwohnern lebten zum größten Teil
Arbeiter einer großen Metall-Industrie, die aus allen
Teilen Polens dorthin gekommen waren. Nach dem Plan
der Machthaber sollte Nowa Huta ein Musterbeispiel eines
»sozialistischen« Bezirks sein, das heißt frei von jeglicher
Verbindung mit der Kirche. Man konnte jedoch unmöglich
außer Acht lassen, dass diese Leute, die auf der Suche
nach Arbeit dorthin gelangt waren, nicht beabsichtigten,
auf ihre katholische Verwurzelung zu verzichten. Der
Kampf ging aus von einem großen Wohnbezirk in
Bienczyce. Anfangs erteilten die kommunistischen
Behörden auf das erste beharrliche Drängen hin die
Genehmigung zum Bau einer Kirche und wiesen sogar das
Grundstück aus. Sofort setzten die Leute ein Kreuz darauf.
In der Folge wurde jedoch die noch zur Zeit von
Erzbischof Baziak gewährte Genehmigung zurück-
gezogen, und die Behörden ordneten die Entfernung des
Kreuzes an. Dem leisteten die Leute entschiedenen
Widerstand. Darauf folgte sogar eine Auseinandersetzung
mit der Polizei; es gab Opfer und Verletzte. Der Bürger-
meister der Stadt forderte uns auf, die Leute zu beruhigen.
Das war einer der ersten Akte des langen Kampfes für die
Freiheit und Würde dieser Bevölkerung, die das Schicksal
in den neuen Teil Krakaus verschlagen hatte. Am Ende
wurde die Schlacht gewonnen, jedoch zum Preis eines
aufreibenden »Nervenkriegs«. Ich führte die Verhand-
lungen mit den Behörden, hauptsächlich mit dem Leiter

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des Provinzialbüros für die Angelegenheiten der Reli-
gionen. Dieser Mann hatte in den Gesprächen ein
liebenswürdiges Auftreten, war jedoch besonders hart und
unnachgiebig in den nachfolgenden Entscheidungen, die
einen übel gesinnten und voreingenommenen Geist
verrieten.
Der Pfarrer Józef Gorzelany übernahm die Aufgabe der
Errichtung der Kirche und führte sie zum guten Ende. Ein
weiser pastoraler Schritt war die Einladung an die Pfarrei-
mitglieder, ein jeder möge einen Stein zum Bau des
Fundamentes und der Mauern mitbringen. Auf diese
Weise fühlte sich jeder an der Errichtung der Mauern des
Gotteshauses persönlich beteiligt.
Eine ähnliche Situation erlebten wir im Seelsorgzentrum
von Mistrzejowice. Die Hauptfigur in jener Angelegenheit
war der heldenhafte Priester Józef Kurzeja, der zu mir kam
und sich spontan zur Verfügung stellte, seinen Dienst in
jenem Bezirk zu tun. Es gab dort ein kleines Kapellchen,
und er hatte sich vorgenommen, darin mit der Katechese
zu beginnen, in der Hoffnung, dann ganz allmählich eine
neue Pfarrei bilden zu können. Und so geschah es. Doch
Józef bezahlte die Kämpfe für die Kirche in Mistrzejowice
mit dem Leben. Von den kommunistischen Behörden
schikaniert, erlitt er einen Infarkt und starb im Alter von
neununddreißig Jahren.
In dem Kampf für die Kirche von Mistrzejowice half
ihm der Priester Mikolaj Kuczkowski. Er stammte wie ich
aus Wadowice. Ich erinnere mich an ihn aus jenen Zeiten,
als er noch Advokat war und eine Verlobte hatte, ein
schönes Mädchen namens Nastka, Präsidentin der Jugend
der Katholischen Aktion. Als sie starb, entschloss er sich,
Priester zu werden. 1939 trat er ins Seminar ein und
begann die philosophischen und theologischen Studien. Er
schloss sie 1945 ab. Ich hatte sehr engen Kontakt zu ihm,

67
und auch er hatte mich gern. Seine Absicht war es, »etwas
aus mir zu machen«, wie man so sagt. Nach meiner
Bischofsweihe kümmerte er sich persönlich um meinen
Umzug in den bischöflichen Palast von Krakau in der
Franciszkariska-Straße 3. Viele Male konnte ich
feststellen, wie sehr er Józef Kurzeja, dem ersten Pfarrer
von Mistrzejowice, zugetan war. Was Józef selbst angeht,
so kann ich sagen, dass er ein einfacher und guter Mensch
war. (Eine seiner Schwestern ist Ordensschwester bei den
Mägden vom Heiligen Herzen.) Wie gesagt, Mikolaj
Kuczkowski half ihm sehr in seiner pastoralen Tätigkeit,
und als Józef starb, legte er sein Amt als Kanzler der Kurie
nieder, um seine Nachfolge in der Pfarrei von
Mistrzejowice anzutreten. Beide sind dort begraben, in der
Krypta unter der Kirche, die sie erbaut haben. Vieles
könnte ich von ihnen erzählen. Sie bleiben für mich ein
beredtes Beispiel priesterlicher Brüderlichkeit, die ich als
Bischof beobachtet und mit Bewunderung unterstützt
habe: »Ein treuer Freund ist wie ein festes Zelt; wer einen
solchen findet, hat einen Schatz gefunden« (Sir 6,14). Die
echte Freundschaft hat in Christus ihren Ursprung: »Ich
habe euch Freunde genannt …« (vgl. Joh 15,15). Wirklich
vorangetrieben wurde die Angelegenheit des Kirchenbaus
in der Volksrepublik Polen von Bischof Ignacy
Tokarczuk, dem Hirten der Nachbardiözese Przemysl. Er
trotzte dem Gesetz und baute die Kirchen, wenn auch
unter großen Opfern und vielen Schikanen durch die
lokalen kommunistischen Behörden, die er dafür
einstecken musste. In seinem Fall bot die Situation jedoch
einen gewissen Vorteil, denn die Gemeinden seiner
Diözese bestanden mehrheitlich aus ländlichen Dörfern,
und das war eine weniger schwierige Umgebung. Die
ländliche Bevölkerung ist nämlich nicht nur empfänglicher

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für das Religiöse, sondern unterliegt auch weniger der
Kontrolle der Polizei, als das in der Stadt der Fall ist.
Mit Dankbarkeit und Bewunderung denke ich an die
Pfarrer, die in jener Zeit Kirchen bauten. Meine Bewun-
derung erstreckt sich darüber hinaus auf alle Kirchenbauer
in der ganzen Welt. Immer habe ich mich bemüht, sie zu
unterstützen. Eine Manifestation dieser Unterstützung
waren in Nowa Huta die Zelebrationen der Mitternachts-
messe zu Weihnachten unter freiem Himmel trotz des
Frostes. Schon vorher hatte ich sie in Biericzyce und
später auch in Mistrzejowice und auf den Hügeln von
Krzeslawice gefeiert. Das stellte ein zusätzliches Argu-
ment dar in den Verhandlungen mit den Behörden, da ich
mich auf das Recht der Gläubigen auf menschliche
Bedingungen für ihre öffentlichen Glaubenskundgebungen
berufen konnte.
Ich habe das alles erwähnt, weil unsere damaligen
Erfahrungen zeigen, wie verschiedenartig die pastoralen
Aufgaben eines Bischofs sein können. In diesen Begeben-
heiten klingt nach, was ein Hirt im Kontakt mit der ihm
anvertrauten Herde alles erlebt. Ich habe persönlich fest-
stellen können, wie wahr es ist, was im Evangelium über
die Schafe gesagt wird, die ihrem Hirten folgen: Einem
Fremden folgen sie nicht, denn sie kennen die Stimme
ihres Hirten. Er weiß jedoch, dass er noch andere Schafe
hat, die nicht aus seinem Stall sind. Auch sie muss er
führen (vgl. Joh 10,4–5; 16).

69
TEIL III
WISSENSCHAFTLICHER UND
PASTORALER EINSATZ

»… voller Güte und reich an Erkenntnis«


(Röm 15,14)

Die Fakultät für Theologie im Umfeld


der anderen Universitäts-Fakultäten

Als Bischof von Krakau sah ich mich genötigt, mich für
die theologische Fakultät an der Jagiellonischen Universi-
tät einzusetzen. Ich hielt das einfach für meine Pflicht. Die
staatlichen Behörden behaupteten, diese Fakultät sei nach
Warschau verlegt worden. Der Vorwand, den sie ergriffen,
war die dortige Einrichtung der Akademie für katholische
Theologie im Jahr 1953, die der staatlichen Verwaltung
unterstellt wurde. Dieser Kampf wurde dank der Tatsache
gewonnen, dass später in Krakau die autonome Päpstliche
theologische Fakultät entstand und dann die Päpstliche
Akademie für Theologie gegründet wurde.
In diesem Kampf bestärkte mich die Überzeugung, dass
die Wissenschaft in ihren vielgestaltigen Ausprägungen
ein unschätzbares Erbe für eine Nation ist. Natürlich war
in den Gesprächen mit den kommunistischen Behörden
das Objekt meiner Verteidigung in erster Linie die Theolo-
gie, denn sie war ganz besonders in Gefahr. Nie vergaß ich

70
jedoch die anderen Wissenschafts-Zweige, auch wenn sie
anscheinend nicht mit der Theologie verbunden sind.
Kontakte mit den anderen Bereichen der Wissenschaft
pflegte ich hauptsächlich auf dem Weg über die Physiker.
Mit ihnen traf ich mich oft, und wir sprachen über die
neuesten Entdeckungen der Kosmologie. Das war
faszinierend und bestätigte die Behauptung des hl. Paulus,
nach der eine gewisse Erkenntnis Gottes auch auf dem
Weg über die Erkenntnis der geschaffenen Welt erreicht
werden kann. (vgl. Röm 1,20–23). Diese Treffen von
Krakau finden ab und zu ihre Fortsetzung in Rom und in
Castel Gandolfo. Ihr Organisator ist Prof. Jerzy Janik.
Ich war immer darum bemüht, für eine angemessene
Seelsorge der Wissenschaftler zu sorgen. In Krakau war
dafür eine Zeit lang Prof. Stanislaw Nagy zuständig, den
ich kürzlich zur Kardinalswürde erhoben habe, weil ich
damit auch meine Dankbarkeit gegenüber der polnischen
Wissenschaft zum Ausdruck bringen wollte.

71
Der Bischof und die Welt der
Kultur

Bekanntlich zeigen nicht alle Bischöfe ein besonderes


Interesse am Dialog mit den Forschern. Nicht wenige von
ihnen ziehen die pastoralen Aufgaben – im weitesten
Sinne dieses Wortes – dem Kontakt mit den Männern der
Wissenschaft vor. Meiner Meinung nach lohnt es sich
jedoch, dass Mitglieder des Klerus – Priester und
Bischöfe – eine persönliche Beziehung zur Welt der
Wissenschaft und ihren Protagonisten pflegen. Besonders
um seine katholischen Hochschulen müsste der Bischof
sich kümmern. Aber nicht nur um sie. Er müsste auch
einen engen Kontakt mit dem gesamten Universitätsleben
unterhalten: lesen, sich treffen, diskutieren, sich
informieren über alles, was in jenem Bereich geschieht.
Selbstverständlich ist der Bischof nicht dazu berufen,
Wissenschaftler zu sein, sondern Hirt. Als Hirt jedoch darf
er an dieser Komponente seiner Herde nicht uninteressiert
vorübergehen, da es ihm obliegt, die Forscher an ihre
Pflicht zu erinnern, der Wahrheit zu dienen und so das
Allgemeinwohl zu fördern.
In Krakau bemühte ich mich auch um den Kontakt mit
den Philosophen: mit Roman Ingarden, Wladyslaw
Strózewski, Andrzej Póltawski, und auch mit den Philo-
sophen im priesterlichen Dienst: mit Kazimierz Klósak,
Józef Tischner und Józef Zycinski. Mein persönlicher
philosophischer Standort bewegt sich sozusagen zwischen
zwei Polen: zwischen dem aristotelischen Thomismus und
der Phänomenologie.

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In besonderer Weise interessierte mich das Gedankengut
Edith Steins, einer außergewöhnlichen Persönlichkeit,
auch wegen ihres Lebensweges: Als in Breslau geborene
Jüdin begegnete sie Christus, ließ sich taufen, trat in den
Karmel ein und lebte für einige Zeit in Holland, von wo
aus sie die Nazis nach Auschwitz deportierten. Dort erlitt
sie den Tod in der Gaskammer, und ihr Leib wurde im
Krematorium verbrannt. Sie hatte bei Husserl studiert und
war Kollegin unseres Philosophen Ingarden gewesen. Ich
hatte die Freude, sie in Köln selig und dann in Rom heilig
zu sprechen. Ich habe Edith Stein, Schwester Theresia
Benedicta a Cruce, zusammen mit der hl. Brigitta von
Schweden und der hl. Katharina von Siena zur Mit-
patronin Europas erklärt. Drei Frauen neben den drei
Patronen Cyrill, Methodius und Benedikt. Ihre Philosophie
interessierte mich, und ich las ihre Schriften, besonders
Endliches und Ewiges Sein, vor allem aber faszinierte
mich ihr außergewöhnliches Leben und ihr tragisches
Schicksal, das mit dem von Millionen anderer wehrloser
Opfer unserer Zeit verflochten ist. Eine Schülerin von
Edmund Husserl, eine leidenschaftliche Sucherin nach der
Wahrheit, eine Klausur-Nonne, ein Opfer des hitlerschen
Systems: wirklich ein nicht nur seltener, sondern wohl
eher einzigartiger »menschlicher Fall«.

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Die Bücher und das Studium

Die Verpflichtungen, die auf den Schultern eines Bischofs


lasten, sind sehr zahlreich. Das habe ich selbst erfahren,
und ich habe bemerkt, wie sehr es an der nötigen Zeit
fehlen kann. Dieselbe Erfahrung hat mich aber auch
gelehrt, wie nötig für den Bischof Sammlung und Studium
sind. Er braucht eine vertiefte, ständig auf dem Laufenden
gehaltene theologische Bildung und darüber hinaus auch
ein weites Interesse für Geist und Sprache – Schätze, die
denkende Menschen miteinander teilen. Und darum
möchte ich hier einiges über die Rolle der Literatur in
meinem Leben als Bischof sagen. Ich stand immer vor
dem Dilemma: Was soll ich lesen? Ich versuchte, das zu
wählen, was am wesentlichsten war. Die Buchproduktion
ist so umfangreich! Nicht alles ist wertvoll und nützlich.
Man muss es verstehen, auszuwählen, und sich bezüglich
der Lektüre beraten lassen. Von Kind an hatte ich Gefallen
an Büchern. Mein Vater hatte mich in das Bücherlesen
eingeführt. Gewöhnlich setzte er sich neben mich und las
mir vor, zum Beispiel etwas von Sienkiewicz oder von
anderen polnischen Schriftstellern. Als meine Mutter
starb, blieben wir beide übrig: er und ich. Und er ließ nicht
nach, mich zur Lektüre wertvoller Literatur zu ermuntern.
Er hat auch nie mein Interesse für das Theater behindert.
Wäre nicht der Krieg ausgebrochen und hätte sich nicht
die Situation radikal verändert, dann hätten wohl die
Perspektiven, die das Philologie-Studium mir eröffnete,
mich völlig vereinnahmt. Als ich Mieczystaw Kotlarczyk
meinen Entschluss, Priester zu werden, mitteilte, sagte er:

74
»Was hast du nur vor? Willst du etwa dein Talent
vergeuden?« Nur Erzbischof Sapieha hatte keine Zweifel.
Noch als Philologie-Student las ich verschiedene
Autoren. Zuerst wendete ich mich der großen Literatur zu,
besonders den Dramen. Ich las Shakespeare, Molière, ich
las die polnischen Dichter Norwid und Wyspianski.
Selbstverständlich Aleksander Fredro. Ich hatte eine
Leidenschaft fürs Theaterspielen, als Darsteller auf die
Bühne zu steigen. Viele Male kam es vor, dass ich mir
überlegte, welche Rollen ich wohl gern dargestellt hätte.
Als Kotlarczyk noch lebte, teilten wir uns oft rein
theoretisch die möglichen Rollen zu: wer eine bestimmte
Gestalt hätte darstellen können. Alles längst vorbei …
Später hat mir jemand gesagt: »Du bist begabt …; du
wärest ein großer Darsteller geworden, wenn du beim
Theater geblieben wärest.« Die Liturgie ist auch eine Art
dargestelltes, in Szene gesetztes Mysterium. Ich erinnere
mich an den tiefen Eindruck, den ich davontrug, als der
Priester Figlewicz mich als fünfzehnjährigen Jungen zum
Triduum Sacrum auf den Wawel einlud und ich am auf
Mittwochnachmittag vorgezogenen Offizium, der Lese-
hore, teilnahm. Es war eine tiefe, geistliche Erschütterung.
Bis heute ist für mich das österliche Triduum ein auf-
rüttelndes Erlebnis. Es kam der Moment der philo-
sophischen und der theologischen Literatur. Als Semina-
rist im Untergrund erhielt ich das Handbuch der Meta-
physik von Prof. Kazimierz Wais aus Lemberg, und
Kazimierz Klósak sagte mir: »Studiere es. Wenn du es
gelernt hast, machst du die Prüfung.« Für einige Monate
vertiefte ich mich in den Text. Dann meldete ich mich zur
Prüfung und bestand sie. Das kennzeichnete eine Wende
in meinem Leben. Es öffnete sich mir eine neue Welt. Ich
begann, mich an theologische Werke heranzuwagen.
Später, während meiner Studien in Rom, beschäftigte ich

75
mich dann eingehend mit der Summa Theologiae des hl.
Thomas.
Es gab also zwei Etappen in meinem intellektuellen
Werdegang: Die erste bestand in dem Übergang von der
literarischen Denkweise zur Metaphysik; die zweite führte
mich von der Metaphysik zur Phänomenologie. Das war
meine wissenschaftliche »Werkbank«. Die erste Etappe
fiel – zumindest anfänglich – mit der Zeit der
nationalsozialistischen Besatzung zusammen, als ich in
der Fabrik »Solvay« arbeitete und heimlich im Seminar
Theologie studierte. Ich erinnere mich, dass der Rektor des
Seminars, Jan Piwowarczyk, bei meiner Vorstellung zu
mir sagte: »Ich nehme Sie an, aber nicht einmal Ihre
Mutter darf wissen, dass Sie hier studieren.« Das war
damals die Situation. Trotzdem gelang es mir, weiter-
zukommen. Später empfing ich große Hilfe von Ignacy
Rózycki, der mir die Möglichkeit bot, in seinem Hause zu
wohnen, und mir die Basis für die wissenschaftliche
Arbeit schaffte.
Geraume Zeit später schlug mir dann Prof. Rózycki das
Thema der These für die Privatdozentur vor, die auf dem
Werk von M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und
materiale Wertethik, basierte. Während ich den Text der
These redigierte, übersetzte ich für mich selbst das Buch
ins Polnische. Das war wiederum eine Wende. Ich
beendete die These und verteidigte sie im November 1953.
Die Koreferenten der Dissertation waren Aleksander
Usowicz, Stefan Swiezawski und der Theologe
Wladyslaw Wicher. Es war die letzte Habilitation für
Privatdozentur an der theologischen Fakultät der Jagiello-
nischen Universität vor deren Auflösung durch die
Kommunisten. Die Fakultät wurde, wie bereits erwähnt,
an die Akademie für katholische Theologie in Warschau
verlegt, und ich begann im Herbst 1954 meine Lehr-

76
tätigkeit an der katholischen Universität von Lublin – eine
Arbeit, die mir Prof. Swiezawski ermöglichte, mit dem ich
bis heute freundschaftlich verbunden bin. Prof. Rózycki
nannte ich Ignac. Ich hatte ihn gern, und er erwiderte diese
Zuneigung mit ebensolcher Freundschaft. Er war es, der
mich ermutigte, die Habilitations-Prüfung für die
Privatdozentur zu machen. In gewisser Weise war er der
Referent.
Einige Jahre lang wohnten und aßen wir zusammen.
Frau Maria Gromek kochte für uns. Ich hatte dort ein
Zimmer, an das ich mich noch genauestens erinnere. Es
befand sich im Kanonikat des Wawel in der Kanonicza-
Straße 19 und war sechs Jahre lang mein »Haus«.
Anschließend richtete ich mich in der Nummer 21 ein, und
schließlich zog ich mit Hilfe des Kanzlers Mikolaj
Kuczkowski in den bischöflichen Palast in der Francisz-
kanska-Straße 3.
In meinem Lesen und Studieren habe ich mich immer
bemüht, die Fragen des Glaubens, des Geistes und des
Herzens harmonisch miteinander zu vereinen. Es sind
nämlich keine getrennten Gebiete. Jedes von ihnen
durchdringt und belebt die anderen. In dieser gegen-
seitigen Durchdringung von Glaube, Geist und Herz
kommt ein besonderer Einfluss dem Staunen zu – einem
Staunen über das Wunder der Person, über die Eben-
bildlichkeit des Menschen mit dem einen und dreifaltigen
Gott, einem Staunen über die so tiefe Beziehung zwischen
Liebe und Wahrheit, über das Geheimnis der gegen-
seitigen Hingabe und das Leben, das daraus entspringt,
einem Staunen bei der Betrachtung des Vergehens der
menschlichen Generationen.

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Die Kinder und die Jugendlichen

In diesen Überlegungen soll sich ein gesonderter


Abschnitt mit den Kindern und Jugendlichen beschäftigen.
Außer den Begegnungen mit ihnen während der
Pastoralbesuche gab es noch weitere Treffen. Besonders
der Welt der Studenten habe ich immer große Aufmerk-
samkeit gewidmet, und aus dem Bereich der Universitäts-
seelsorge sind mir sehr schöne Erinnerungen geblieben –
ein Bereich, auf den meine Aufmerksamkeit schon durch
den Charakter der Stadt Krakau gelenkt wurde, die eine
lange Tradition als Zentrum akademischer Studien
aufweist. Es gab verschiedenste Gelegenheiten zu Begeg-
nungen, von Vorträgen und Diskussionen bis zu
Einkehrtagen und geistlichen Exerzitien. Selbstverständ-
lich pflegte ich enge Kontakte zu den Priestern, die mit der
Seelsorge in diesem Sektor beauftragt waren.
Die Kommunisten hatten alle katholischen Jugend-
verbände aufgelöst. Also musste eine Möglichkeit gefun-
den werden, diesen Verlust auszugleichen. Und hier trat
Franciszek Blachnicki, heute »Diener Gottes«, auf den
Plan. Er war der Initiator der so genannten »Oase-
Bewegung«. Ich verband mich dieser Bewegung sehr und
suchte ihr auf vielfältige Weise zu helfen. Ich verteidigte
die »Oasen« gegen die kommunistischen Behörden, bot
ihnen materielle Unterstützung und nahm selbstverständ-
lich an ihren Treffen teil. Wenn die Ferien kamen, begab
ich mich oft in die »Oasen«, das heißt in die Sommer-
Jugendlager, die der Bewegung gehörten. Ich predigte,
unterhielt mich mit ihnen, schloss mich ihren Gesängen
rund ums Lagerfeuer an und nahm an ihren Berg-

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besteigungen teil. Nicht selten zelebrierte ich die heilige
Messe für sie im Freien. All das war die Verwirklichung
eines recht intensiven Pastoral-Programms.
Während meiner Pilgerreise im Jahre 2002 in mein
Krakau sangen die Mitglieder der Oasen:
»Einst kam der Herr an das Ufer, suchte Menschen,
bereit, ihm zu folgen und die Herzen mit ihm zu fangen.
Du, Herr, blicktest mir tief in die Augen, lächelnd nanntest
du heut’ meinen Namen; und mein Boot lass’ ich am
Strande zurück, zu beginnen neuen Fischfang mit Dir.«
Ich sagte zu ihnen, dass in gewissem Sinne dieses Lied
der Oasen mich aus der Heimat heraus nach Rom geführt
hatte. Sein tiefer Inhalt hatte mich auch dann gestützt, als
ich mit der vom Konklave gefällten Entscheidung kon-
frontiert wurde. Und danach habe ich mich mein ganzes
Pontifikat hindurch niemals von diesem Lied getrennt.
Außerdem wurde es mir ständig in Erinnerung gerufen,
nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern der
Welt. Wenn ich es hörte, fühlte ich mich immer innerlich
zurückversetzt in meine Begegnungen als Bischof mit den
Jugendlichen. Diese große Erfahrung bewerte ich sehr
positiv. Ich habe sie mit nach Rom genommen. Auch hier
habe ich versucht, Nutzen daraus zu ziehen, indem ich die
Gelegenheiten zur Begegnung mit den Jugendlichen ver-
vielfachte. In gewissem Sinne sind die Weltjugendtage aus
dieser Erfahrung hervorgegangen.
Eine zweite Bewegung der Jugend traf ich auf meinem
Weg als Bischof: den »Sacrosong«. Das war eine Art
Festspiel der Musik und des religiösen Liedes, das von
Gebet und Betrachtung begleitet war. Die Treffen fanden
an verschiedenen Orten in Polen statt und zogen viele
Jugendliche an. Mehrmals nahm auch ich daran teil und
unterstützte ihre Organisation auch unter finanziellen
Gesichtspunkten. Diese Treffen habe ich in guter Erinne-
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rung. Ich hatte immer Freude am Singen. Ehrlich gesagt
habe ich jede Gelegenheit zum Singen wahrgenommen.
Vor allem aber mit den Jugendlichen habe ich gern
gesungen. Die Texte waren unterschiedlich, das hing von
den Umständen ab: Am Lagerfeuer waren es die
Volkslieder der Pfadfinder; anlässlich der National-
feiertage, des Jahrestages des Kriegsausbruchs oder des
Warschauer Aufstands wurden Soldatenlieder gesungen
und patriotische Gesänge. Unter ihnen gefallen mir
besonders Der rote Mohn auf Monte Cassino, Die erste
Brigade und allgemein die Lieder des Aufstands und die
der Partisanen. Der Rhythmus des liturgischen Jahres
orientiert in seiner eigenen Weise die Wahl der Lieder. Zu
Weihnachten werden in Polen immer viele Weihnachts-
lieder gesungen, während man vor Ostern eher solche
wählt, die sich auf die Passion beziehen. Diese alten
Lieder enthalten die ganze christliche Theologie. Sie
stellen einen Schatz der lebendigen Überlieferung dar, der
die Herzen jeder Generation anspricht und ihren Glauben
formt. Im Mai und im Oktober singen wir in Polen außer
den Marienliedern auch die Litaneien und die Hören des
Offiziums der seligen Jungfrau Maria. Es ist unmöglich,
alles aufzuzählen. Welch ein Reichtum an Poesie liegt in
diesen bis heute gebräuchlichen Volksliedern! Als Bischof
bemühte ich mich, dieses Brauchtum zu pflegen, und die
Jugendlichen hatten den besonderen Wunsch, die Tradi-
tion fortzusetzen. Ich denke, wir zogen gemeinsam Ge-
winn aus diesem Schatz einfachen und tiefen Glaubens,
den unsere Vorfahren in die Lieder eingebracht haben.
Am 18. Mai 2003 habe ich Mutter Urszula Ledóchowska
heilig gesprochen, eine große Erzieher-Gestalt. Sie wurde
in Österreich geboren, doch gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts übersiedelte die ganze Familie nach Lipnica
Murowana in der Diözese Tarnów. Einige Jahre lang lebte

80
sie auch in Krakau. Ihre Schwester Maria Theresa,
»Mutter Afrikas« genannt, ist selig gesprochen worden.
Ihr Bruder Wlodzimierz war General der Jesuiten. Das
Beispiel dieser Geschwister zeigt, wie sich der Wunsch
nach Heiligkeit mit besonderer Kraft entwickelt, wenn er
in das günstige Klima einer guten Familie eingebettet ist.
Wie wichtig ist doch die familiäre Umgebung! Die
Heiligen zeugen und formen weitere Heilige.
Wenn ich an derartige Erzieher denke, kommen mir
instinktiv die Kinder in den Sinn. Auf den Pastoral-
besuchen – auch auf denen, die ich hier in Rom mache –
war und bin ich immer darum bemüht, die Zeit für eine
Begegnung mit den Kindern zu finden. Nie habe ich es
aufgegeben, die Priester zu ermahnen, ihnen im Beicht-
stuhl großzügig ihre Zeit zu widmen. Eine gründliche
Gewissenbildung der Kinder und Jugendlichen ist
außerordentlich wichtig. Kürzlich habe ich von der Pflicht
gesprochen, die Kommunion würdig zu empfangen (vgl.
Ecclesia de Eucharistia, 37); die Erziehung zu einer
solchen Grundhaltung beginnt bereits mit der Beichte, die
der ersten heiligen Kommunion vorangeht. Wahrschein-
lich kann jeder von uns sich mit Rührung an seine erste
Beichte in seiner Kindheit erinnern.
Ein bewegendes Zeugnis der pastoralen Liebe zu den
Kindern gab mein Vorgänger, der heilige Papst Pius X.,
mit seiner Entscheidung bezüglich der Erstkommunion. Es
setzte nicht nur das notwendige Mindestalter für den
Empfang der Kommunion herab – eine Entscheidung, die
im Mai 1929 auch mir selbst zugute kam –, sondern gab
die Möglichkeit zum Kommunionempfang sogar vor
Vollendung des siebenten Lebensjahres, wenn das Kind
das nötige Unterscheidungsvermögen zeigt. Die vor-
gezogene heilige Kommunion war eine pastorale Ent-
scheidung, die es verdient, würdigend erwähnt zu werden.

81
Sie hat sehr viele Früchte an Heiligkeit und an Apostolat
unter den Kindern gebracht und auch das Aufkeimen von
Priesterberufungen gefördert.
Ich war immer der Überzeugung, dass wir ohne das
Gebet die Kinder nicht gut erziehen können. Als Bischof
habe ich versucht, die Familien und die Pfarrgemeinden zu
ermuntern, in den Kindern den Wunsch nach der
Begegnung mit Gott im persönlichen Gebet heran-
zubilden. In diesem Geist habe ich kürzlich geschrieben:
»Das Rosenkranzgebet für die Kinder, und noch wichtiger
mit den Kindern (…) ist eine geistliche Hilfe, die nicht
unterschätzt werden darf« (Apostolisches Schreiben
Rosarium Virginis Mariae, 42). Die Seelsorge der Kinder
muss selbstverständlich bei den heranwachsenden
Jugendlichen fortgeführt werden. Die häufige Beichte und
eine geistliche Führung helfen den jungen Leuten beim
Erkennen der eigenen Berufung und schützen sie beim
Eintritt in das Leben der Erwachsenen vor Irrwegen. Ich
erinnere mich, dass Papst Paul VI. mir im November 1964
in einer Privataudienz sagte: »Heute, lieber Bruder,
müssen wir sehr besorgt um die studierende Jugend sein.
Die Hauptaufgabe unserer bischöflichen Pastoral sind die
Priester, die Arbeiter und die Studenten.« Ich denke, es
war die persönliche Erfahrung, die diese Worte geprägt
hat. Während seiner Zeit im Staatssekretariat war
Giovanni Battista Montini nämlich viele Jahre lang als
General-Assistent der »Federazione Universitaria
Cattolica Italiana« (FUCI) in der Jugendseelsorge tätig.

82
Die Katechese

Es ist uns die Sendung aufgetragen, zu allen Völkern zu


gehen und sie zu lehren (vgl. Mt 28,19f.). Im heutigen
sozialen Kontext können wir diese Aufgabe vor allem
durch die Katechese erfüllen. Sie muss sowohl aus dem
Nachdenken über das Evangelium als auch aus dem Ver-
stehen der Dinge dieser Welt hervorgehen. Man muss die
Erfahrungen der Menschen nachempfinden und den
Sprachgebrauch ihres Alltags kennen. Das ist eine große
Aufgabe für die Kirche. Ganz besonders die Hirten
müssen großzügig sein im Aussäen, auch wenn dann
andere es sein werden, die die Früchte ihrer Mühen ernten.
»Ich sage euch: Blickt umher und seht, dass die Felder
weiß sind und reif zur Ernte. Schon empfängt der Schnitter
seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, so
dass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam
freuen. Denn hier hat das Sprichwort recht: Einer sät und
ein anderer erntet. Ich habe euch gesandt, zu ernten,
wofür ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet,
und ihr erntet die Frucht ihrer Arbeit« (Joh 4,35–38).
Wir wissen sehr wohl, dass die Katechese sich nicht nur
abstrakter Begriffe bedienen kann. Sie sind selbst-
verständlich nötig, denn wenn wir von übernatürlichen
Wirklichkeiten sprechen, ist es nicht möglich, philoso-
phische Begriffe zu vermeiden. An die erste Stelle setzt
die Katechese jedoch den Menschen und die Begegnung
mit ihm in den Zeichen und Symbolen des Glaubens. Die
Katechese ist immer Liebe und Verantwortung, eine Ver-
antwortung, die aus der Liebe zu denen hervorgeht, die
man unterwegs trifft.

83
Der neue Katechismus der katholischen Kirche, der mir
1992 zur Approbation vorgelegt wurde, ist aus dem Willen
geboren, den Menschen von heute die Sprache des Glaubens
zugänglicher zu machen. Sehr bedeutungsvoll ist das Bild
des guten Hirten, das als »Logo« (Bildsymbol) auf dem
Buchdeckel aller Ausgaben des Katechismus erscheint. Es
stammt von dem Grabstein eines christlichen Grabes aus
dem 3. Jahrhundert, der in den Domitilla-Katakomben aufge-
funden wurde. Wie in der Anmerkung hervorgehoben, ruft
das Bild »den gesamten Sinn des Katechismus« ins Bewusst-
sein: »Christus, der Gute Hirt, leitet und beschützt seine
Gläubigen (Schaf) durch seine Autorität (Stab), er ruft die
Gläubigen durch die Melodie der Wahrheit (Flöte) und lässt
sie im Schatten des ›Lebensbaumes‹ ruhen, des rettenden
Kreuzes, das das Paradies öffnet« (Kommentar zum »Logo«
auf Umschlag und Titelseite des Katechismus). Aus dem
Bild kann man die Fürsorge des Hirten für jedes Schaf ab-
lesen. Es ist eine Fürsorge voller Geduld, so viel auch immer
erforderlich ist, um den einzelnen Menschen in der ihm
angemessenen Weise zu erreichen. Auch darin besteht die
Gabe der Sprachen, das heißt: die Gabe, in einer für unsere
Gläubigen verständlichen Sprache zu sprechen. Um diese
Gabe zu erhalten, können wir den Heiligen Geist anrufen.
Manchmal erreicht der Bischof die Erwachsenen leichter,
indem er ihre Kinder segnet und ihnen etwas Zeit widmet.
Das wiegt mehr als eine lange Predigt über die Achtung der
Schwachen. Heute ist viel Phantasie und Einfühlungs-
vermögen nötig, um zu lernen, über den Glauben und die
grundlegendsten Fragen des Menschen ins Gespräch zu
kommen. Das bedeutet, dass Menschen gebraucht werden,
die lieben und denken, denn das phantasievolle Einfüh-
lungsvermögen lebt von Liebe und Geist, und umgekehrt ist
es auch dieses Einfühlungsvermögen, das unser Denken
nährt und unsere Liebe entzündet.

84
Caritas – die Nächstenliebe

Zu den Pflichten des Bischofs gehört auch die Sorge für


die Kleinsten im Wortsinn des Evangeliums. Schon in der
Apostelgeschichte und in den Briefen des hl. Paulus lesen
wir von den Kollekten, welche die Apostel organisierten,
um der Not der Armen abzuhelfen. Hier möchte ich an das
Beispiel des hl. Nikolaus erinnern, der im 4. Jahrhundert
Bischof von Myra in Kleinasien war. In der Verehrung
dieses Heiligen, dessen Episkopat in eine Zeit fällt, in der
die Christen des Westens und des Ostens noch nicht
getrennt waren, begegnen sich beide Traditionen: die
östliche und die westliche. Er wird nämlich auf der einen
wie auf der anderen Seite gleichermaßen verehrt. Seine
Gestalt, obschon legendenumwoben, übt nach wie vor eine
bemerkenswerte Faszination aus, vor allem wegen der
Güte dieses Bischofs. Besonders die Kinder wenden sich
in zuversichtlichem Vertrauen an ihn. Wie viele materielle
Fragen lassen sich lösen, wenn man mit einem
zuversichtlichen Gebet beginnt! Als Kinder erwarteten wir
alle den hl. Nikolaus wegen der Geschenke, die er brachte.
Die Kommunisten wollten ihn der Heiligkeit berauben,
und zu diesem Zweck erfanden sie »Väterchen Frost«.
Leider ist in letzter Zeit der hl. Nikolaus auch im Westen
in konsumorientiertem Zusammenhang populär geworden.
Anscheinend hat man heute vergessen, dass seine Güte
und Großzügigkeit an erster Stelle das Maß seiner
Heiligkeit waren. Er tat sich nämlich als ein für die Armen
und Notleidenden aufmerksam besorgter Bischof hervor.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind eine persönliche
Beziehung zu ihm hatte. Natürlich erwartete ich wie alle

85
Kinder die Geschenke, die er mir am 6. Dezember bringen
würde. Dennoch hatte diese Erwartung auch eine religiöse
Dimension. Wie meine Altersgenossen verehrte ich diesen
Heiligen, der in selbstloser Weise Geschenke an die Leute
verteilte und ihnen damit seine liebevolle Fürsorge zeigte.
In der Realität der Kirche wird die Rolle des hl. Nikolaus,
also dessen, der sich der Not der Kleinsten annimmt, von
der qualifizierten Institution der Caritas übernommen. Die
Kommunisten schafften in Polen auch diese Organisation
ab, deren Protektor nach dem Krieg Kardinal Sapieha
gewesen war. Als sein Nachfolger versuchte ich, sie erneut
ins Leben zu rufen und ihre Tätigkeit zu unterstützen. Auf
diesem Gebiet war mir Mons. Ferdynand Machay,
Erzpriester der Basilika »Maria Assumpta« in Krakau,
eine große Hilfe. Über ihn lernte ich die bereits erwähnte
»Dienerin Gottes«, Hanna Chrzanowska kennen, eine
Tochter des großen Professors Ignacy Chrzanowski, der zu
Beginn des Krieges verhaftet wurde. Ich erinnere mich gut
an ihn, auch wenn ich ihn nicht näher kennen lernen
konnte. Dank dem Einsatz von Hanna Chrzanowska
entstand und entwickelte sich die Krankenseelsorge im
Erzbistum. Vielfältig waren ihre Initiativen: unter anderem
die geistlichen Exerzitien für die Kranken in Trzebinia.
Das war eine Initiative, die sich als sehr bedeutend
herausstellte: Viele Menschen wurden daran beteiligt,
einschließlich zahlreicher Jugendlicher, die bereit waren
zu helfen.
In dem apostolischen Schreiben aus Anlass des Beginns
des neuen Jahrtausends habe ich alle an die Notwendigkeit
erinnert, eine kreative Liebe zu pflegen: »Es ist Zeit für
eine neue Phantasie der Liebe« (Novo millennio ineunte,
50). Wie könnte man in diesem Zusammenhang nicht
diejenige erwähnen, die wir als eine wahre »Missionarin
der Nächstenliebe« kennen, Mutter Theresa? Bereits in

86
den ersten Tagen nach meiner Wahl auf den Stuhl Petri
begegnete ich dieser kleinen, großen Schwester, die
seitdem häufig zu mir kam, um mir zu erzählen, wo und
wann es ihr gelungen war, neue Häuser zu eröffnen,
Heimstätten der aufmerksamen Fürsorge für die Ärmsten.
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Partei in
Albanien hatte ich die Möglichkeit, das Land zu besuchen.
Auch Mutter Theresa war da. Albanien war nämlich ihr
Heimatland. Ich traf sie noch andere Male und bekam
immer neue Zeugnisse ihrer leidenschaftlichen Hingabe an
die Sache der Ärmsten der Armen. Mutter Theresa starb in
Kalkutta und hinterließ eine bewegende Erinnerung und
das Werk einer weit ausgedehnten Schar von geistlichen
Töchtern. Bereits zu Lebzeiten wurde sie von vielen für
eine Heilige gehalten. Als solche wurde sie allgemein
anerkannt, als sie starb. Ich danke Gott, weil es mir
vergönnt war, sie im Oktober 2003, in unmittelbarer Nähe
zum 25. Jahrestag meines Pontifikats, selig zu sprechen.
Damals sagte ich: »Mit ihrem Lebenszeugnis erinnert
Mutter Theresa alle daran, dass die Evangelisierungs-
mission der Kirche über die Nächstenliebe geht, die im
Gebet und im Hören des Wortes Gottes ihre Nahrung
findet. Typisch für diesen missionarischen Stil ist das Bild,
das die neue Selige zeigt, während sie mit der einen Hand
die eines Kindes festhält, während sie durch die andere die
Perlen des Rosenkranzes laufen lässt. Kontemplation und
Aktion, Evangelisierung und menschliche Entwicklungs-
förderung: Mutter Theresa verkündet das Evangelium mit
ihrem Leben – hingegeben für die Armen, aber zugleich
eingehüllt in das Gebet« (19.10.2003).
Das ist das Geheimnis der Evangelisierung durch die
Liebe zum Menschen, die aus der Liebe zu Gott ent-
springt. Darin besteht jene caritas, die den Bischof immer
in all seinem Tun inspirieren müsste.

87
TEIL IV
DIE VATERSCHAFT DES
BISCHOFS

»Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dem jede
Vaterschaft im Himmel und auf der Erde benannt wird«
(Eph 3,14–15)

88
Die Zusammenarbeit mit den
Laien

Die Laien können die eigene Berufung in der Welt


verwirklichen und zur Heiligkeit gelangen, nicht nur,
indem sie sich aktiv zugunsten der Armen und Not-
leidenden einsetzen, sondern auch, indem sie durch die
Erfüllung ihrer beruflichen Pflichten und das Zeugnis
eines beispielhaften Familienlebens die Gesellschaft mit
christlichem Geist beleben. Ich denke nicht nur an
diejenigen, die im Leben der Gesellschaft Posten ersten
Ranges bekleiden, sondern an alle, die es verstehen, ihre
Alltäglichkeit in Gebet zu verwandeln, indem sie Christus
ins Zentrum ihrer Tätigkeit stellen. Er selbst wird alle an
sich ziehen und ihren Hunger und Durst nach Gerechtig-
keit stillen (vgl. Mt 5,6). Ist nicht das die Lehre, die sich
aus dem Schlussteil des Gleichnisses vom barmherzigen
Samariter ergibt (vgl. Lk 10,34–35)? Nach der ersten
Heilbehandlung wendet sich der barmherzige Samariter
für die weitere Pflege an den Herbergsvater. Was hätte
man ohne ihn tun können? Tatsächlich führte der Her-
bergsvater, der im Verborgenen blieb, den größeren Teil
der Arbeit aus. Alle können handeln wie er und die
eigenen Aufgaben im Geist des Dienens erfüllen. Jede
Arbeit bietet die mehr oder weniger direkte Gelegenheit,
den Notleidenden zu helfen. Natürlich bewahrheitet sich
das im Besonderen in der Arbeit eines Arztes, eines
Lehrers, eines Unternehmers, vorausgesetzt, es handelt
sich um Menschen, die vor den Nöten der anderen nicht
die Augen verschließen. Doch auch ein Angestellter, ein
Arbeiter, ein Bauer kann viele Möglichkeiten finden, dem

89
Nächsten zu helfen, selbst wenn er sich inmitten
persönlicher, manchmal drückender Schwierigkeiten be-
findet. Die treue Erfüllung der eigenen beruflichen
Pflichten ist bereits Verwirklichung der Liebe zu den
Einzelnen und zur Gesellschaft.
Der Bischof ist seinerseits berufen, nicht nur selbst
christliche soziale Initiativen dieser Art zu fördern,
sondern auch zuzulassen, dass in seiner Kirche Werke
entstehen und sich entwickeln, die von anderen ins Leben
gerufen wurden. Er muss nur darüber wachen, dass alles in
der Liebe und Treue zu Christus, dem »Urheber und Voll-
ender des Glaubens« (Hebr 12,2) geschieht. Man muss die
Personen auswählen, aber auch jedem, der guten Willen
zeigt, erlauben, sich im gemeinsamen Haus, der Kirche,
wohl zu fühlen.
Als Bischof habe ich zahlreiche Laien-Initiativen
unterstützt. Sie waren sehr verschieden: so zum Beispiel
das Büro für die Familienpastoral, die Fortbildungstreffen
für Seminaristen und Medizinstudenten, Klermed genannt,
das Institut für die Familie. Vor dem Krieg war die
Katholische Aktion mit ihren vier Zweigen – Männer,
Frauen, männliche und weibliche Jugend – sehr lebendig.
Zur Zeit beginnt sie in Polen wieder aufzuleben. Ich war
auch Präsident der Kommission für das Laien-Apostolat in
der polnischen Bischofskonferenz. Ich unterstützte die
katholische Zeitschrift »Tygodnik Powszechny« und
versuchte, der Personengruppe, die sich um sie scharte,
Mut zu machen. Das war in jener Zeit sehr notwendig. Es
kamen zu mir Redakteure, Wissenschaftler, Mediziner,
Künstler … Manchmal kamen sie heimlich herein, denn es
waren die Zeiten der kommunistischen Diktatur. Es
wurden auch Symposien organisiert: Das Haus war fast
immer besetzt, voller Leben. Und die Schwestern, »Mägde
des Heiligen Herzens«, mussten allen zu essen geben …

90
Ich stand auch einigen neuen Initiativen zur Seite, in
denen ich den Atem des Geistes Gottes spürte. Dem
Neukatechumenalen Weg bin ich hingegen erst in Rom
begegnet. Ebenso war es mit dem Opus Dei, das ich 1982
als persönliche Prälatur errichtete. Es handelt sich um
zwei kirchliche Realitäten, die großen Einsatz seitens der
Laien bewirken. Beide Initiativen sind von Spanien aus-
gegangen, einem Land, das der geistlichen Erneuerung
viele Male in der Geschichte providenzielle Impulse
gegeben hat. Im Oktober 2002 hatte ich die Freude,
Josemariá Escrivá de Balaguer, den Gründer des Opus
Dei, einen eifrigen Priester und Apostel der Laien für die
neuen Zeiten, ins Register der Heiligen einzuschreiben. In
den Jahren meines Dienstes in Krakau habe ich immer die
geistliche Nähe der Mitglieder des Werkes Marias, der
Focolare-Bewegung, empfunden. Ich bewunderte ihre
intensive apostolische Tätigkeit, deren Ziel es ist, dafür zu
sorgen, dass die Kirche immer mehr »Haus und Schule der
Gemeinsamkeit« wird. Seit ich auf den Bischofssitz von
Rom berufen wurde, habe ich mehrmals Chiara Lubich
gemeinsam mit Vertretern der vielen Zweige der Foco-
lare-Bewegung empfangen. Eine weitere, aus der
Lebendigkeit der Kirche in Italien hervorgegangene
Bewegung ist Comunione e Liberazione; ihr Initiator ist
Mons. Luigi Giussani. Zahlreich sind die Initiativen in der
Welt der Laien, mit denen ich in diesen Jahren in Kontakt
getreten bin. Für den französischen Bereich denke ich zum
Beispiel an L’Arche und an Foi et lumière von Jean
Vanire. Es gibt noch andere, aber es ist unmöglich, sie hier
alle aufzuführen. Ich beschränke mich darauf, zu erklären,
dass ich sie unterstütze und dass sie mir in meinem Gebet
gegenwärtig sind. Ich setze große Hoffnungen auf sie und
wünsche mir, dass sich auf diese Weise der Aufruf erfüllt:
»Geht auch ihr in meinen Weinberg!« (Mt 20,4). Im

91
Hinblick auf sie habe ich in dem Apostolischen Schreiben
Christifideles laici gesagt: »Der Ruf ergeht nicht nur an
die Hirten, an die Priester, an die Ordensleute. Er umfasst
alle. Auch die Laien sind persönlich vom Herrn berufen,
und sie empfangen von ihm eine Sendung für die Kirche
und für die Welt.« (Nr. 2).

92
Die Zusammenarbeit mit
den Ordensgemeinschaften

Ich habe immer gute Beziehungen zu den Ordens-


gemeinschaften gehabt und mit ihnen zusammen-
gearbeitet. Krakau ist in Polen wohl die Erzdiözese mit der
größten Konzentration männlicher und weiblicher Ordens-
gemeinschaften. Viele von ihnen sind dort entstanden,
andere haben dort Zuflucht gefunden, wie zum Beispiel
die Felicianerinnen, die aus den Gebieten des ehemaligen
Polnischen Reichs kamen. In dem Zusammenhang denke
ich an den sel. Honorat Kozminski, der zahlreiche Frauen-
orden in Zivilkleidung gründete – ein Ergebnis seines
eifrigen Einsatzes im Beichtstuhl. Unter diesem Gesichts-
punkt war er ein Genie. Auch die sel. Angela Truszkow-
ska, die Gründerin der Felicianerinnen, stand unter seiner
Führung. Sie ist in der Kirche der Schwestern in Krakau
beigesetzt. Es lohnt sich, die Tatsache hervorzuheben, dass
die Ordensfamilien mit der höchsten Mitgliederzahl in
Krakau die alten, mittelalterlichen sind, wie Franziskaner
und Dominikaner, oder die aus der Renaissance wie
Jesuiten und Kapuziner. Die Patres dieser Orden stehen
allgemein im Ruf, gute Beichtväter zu sein, auch bei den
Priestern. (In Krakau gehen die Priester gern zu den
Kapuzinern beichten.) Viele Orden befanden sich zur Zeit
der Teilungen Polens in der Erzdiözese, denn da sie sich
im Polnischen Reich nicht entwickeln konnten, strömten
sie auf dem Gebiet der ehemaligen Republik Krakau
zusammen, wo sie eine relative Freiheit genossen. Der
beste Beweis für meine guten Kontakte zu den Orden ist
Bischof Albin Malysiak von der Missions-Kongregation.

93
Vor seiner Ernennung zum Bischof war er eifriger Pfarrer
in Krakau-Nowa Wies. Ich war es, der ihn als Kandidaten
vorschlug, zusammen mit Stanislaw Smolenski, und ich
weihte sie alle beide. Die Orden haben mir nie das Leben
schwer gemacht. Zu allen hatte ich gute Beziehungen und
erkannte in ihnen eine große Hilfe für die Sendung des
Bischofs. Ich denke auch an jene großen Reserven an
geistlicher Energie, die die kontemplativen Orden dar-
stellen. In Krakau gibt es zwei Karmelitinnen-Klöster (in
der Kopernika-Straße und in der Lobzowska-Straße), es
gibt die Klarissen, die Dominikanerinnen, die Heim-
suchungsschwestern und die Benediktinerinnen in
Staniatki. Das sind große Zentren des Gebetes – des Ge-
bets und der Buße – und auch der Katechese. Ich erinnere
mich, einmal zu Nonnen in der Klausur gesagt zu haben:
»Möge dieses Gitter euch mit der Welt vereinen, nicht von
ihr trennen. Bedeckt die Erdkugel mit dem Mantel des
Gebetes!« Ich bin überzeugt, dass diese lieben
Schwestern, die über den ganzen Erdkreis verteilt sind,
unablässig in dem Bewusstsein leben, für die Welt da zu
sein, und dass sie nicht aufhören, der Weltkirche zu dienen
durch ihre Hingabe, ihr Schweigen und ihr tiefes Gebet.
Jeder Bischof kann in ihnen eine große Unterstützung
finden. Das habe ich oftmals erfahren, wenn ich mich vor
schwierigen Problemen befand und die einzelnen kon-
templativen Orden um Gebetsunterstützung bat. Ich spürte
die Kraft dieser Fürbitte, und viele Male dankte ich den
Menschen, die in diesen Abendmahlssälen des Gebetes
vereint sind, dass sie mir geholfen hatten, Situationen zu
bewältigen, die nach menschlichem Ermessen hoffnungs-
los waren.
Die Ursulinen hatten in Krakau ein Pensionat. Mutter
Angela Kurpisz lud mich immer ein für die Exerzitien der
Studentinnen. Oft besuchte ich auch die grauen Ursulinen

94
in Jaszczurówka (Zakopane). Jedes Jahr genoss ich ihre
Gastfreundschaft. Es bildete sich eine Tradition: Zu Sil-
vester zelebrierte ich um Mitternacht die heilige Messe bei
den Franziskanern in Krakau, und am nächsten Morgen
begab ich mich zu den Ursulinen nach Zakopane zum
Skifahren. In dieser Zeit lag dort normalerweise Schnee.
So blieb ich gewöhnlich bis zum 6. Januar bei ihnen. Am
Nachmittag dieses Tages reiste ich dann ab, um rechtzeitig
in Krakau zu sein und dort um 18 Uhr in der Kathedrale
die heilige Messe zu feiern. Danach gab es das Treffen auf
dem Wawel, wo Weihnachtslieder gesungen wurden.
Einmal – wenn ich mich recht erinnere, war ich zusammen
mit Józef Rozwadowski (dem späteren Bischof von Łódź)
– verirrten wir uns in der Nähe des Chochołowska-Tals.
Dann mussten wir – wie man so sagt – »wie verrückt«
rasen, um noch rechtzeitig anzukommen.
Häufig ging ich zu den Albertinen-Schwestern in
Prędnik Czerwony, auch für die Einkehrtage. Bei ihnen
fühlte ich mich sehr wohl. Ich besuchte auch Rzęska in der
Nähe von Krakau. Mit den Kleinen Schwestern von
Charles de Foucauld war ich befreundet; ich kannte sie
und arbeitete mit ihnen zusammen.
Viel Zeit verbrachte ich in der Benediktiner-Abtei von
Tyniec. Dort machte ich meine geistlichen Exerzitien.
Pater Piotr Rostworowski kannte ich gut; mehrmals
beichtete ich bei ihm. Auch den Bibelwissenschaftler Pater
Augustyn Jankowski kannte ich, weil er ein Unterrichts-
kollege von mir war. Er schickt mir stets seine neuen
Bücher. Nach Tyniec und auch zu den Kamaldolenser-
Patres in Bielany ging ich für die Einkehrtage. Als junger
Priester leitete ich in Bielany die Exerzitien-Kurse für die
Studenten der Pfarrei Sankt Florian, und ich erinnere
mich, dass ich eines Nachts in die Kirche hinabstieg. Zu
meiner Überraschung fand ich dort die Studenten im

95
Gebet und erfuhr, dass sie sich abwechselten, um eine
ununterbrochene Präsenz während der ganzen Nacht
sicherzustellen. Die Orden dienen der Kirche und auch
dem Bischof. Ihr auf die Gelübde der Armut, der
Keuschheit und des Gehorsams gegründetes Glaubens-
zeugnis und ihren von der Regel des Gründers oder der
Gründerin inspirierten Lebensstil muss man hoch
schätzen: Dank dieser Treue können die verschiedenen
Ordensfamilien im Aufeinanderfolgen der Generationen
das ursprüngliche Charisma fruchtbringend bewahren.
Auch das Beispiel der brüderlichen und schwesterlichen
Liebe, das an der Basis jeder religiösen Gemeinschaft
steht, ist nicht zu vergessen. Es ist menschlich, dass ab
und zu auch einmal Probleme auftreten können, jedoch
lässt sich immer eine Lösung finden, wenn der Bischof
versteht, die Religionsgemeinschaft anzuhören und ihre
legitime Autonomie zu respektieren, und wenn die Reli-
gionsgemeinschaft ihrerseits den Bischof als den letztlich
Verantwortlichen für die Pastoral im Gebiet der Diözese
anzuerkennen vermag.

96
Die Priester

In der Erzdiözese Krakau waren die Berufungen ziemlich


zahlreich, in einigen Jahren besonders reichlich. So erfuhr
das Seminar zum Beispiel nach dem Oktober 1956 einen
bedeutenden Anstieg der Aufnahme-Gesuche. Dasselbe
geschah während des tausendjährigen Jubiläums der
»Taufe Polens«. Vielleicht ist es eine Regel, dass im
Anschluss an die großen Ereignisse die Berufungen
ansteigen. Sie keimen nämlich im Erdreich des konkreten
Lebens des Gottesvolkes auf. Kardinal Sapieha sagte, das
Seminar sei für den Bischof wie die pupilla oculi – wie die
Pupille seines Auges, und genauso verhalte es sich mit
dem Noviziat für den Ordensoberen. Und das ist leicht
verständlich: Die Berufungen sind die Zukunft der
Diözese oder des Ordens und schließlich auch die Zukunft
der Kirche. Ich persönlich trug eine besondere Sorge für
die Seminarien. Auch jetzt bete ich täglich für das
Seminario Romano und allgemein für alle Seminarien in
Rom, wie auch in ganz Italien, in Polen und in der Welt.
Ganz besonders bete ich für das Seminar in Krakau. Aus
ihm bin ich hervorgegangen, und wenigstens auf diese
Weise möchte ich meine Schuld an Dankbarkeit bezahlen.
Als ich Bischof von Krakau war, verfolgte ich die
Berufungen mit spezieller Sorgfalt. Gegen Ende des
Monats Juni informierte ich mich immer, wie viele um
Zulassung zum Seminar für das folgende Jahr gebeten
hatten. Danach, wenn sie bereits im Seminar waren, traf
ich sie einzeln und sprach mit jedem, erkundigte mich
nach seiner Familie und prüfte gemeinsam mit ihm seine
Berufung. Ich lud die Seminaristen auch zur morgend-

97
lichen heiligen Messe in meine Kapelle ein und an-
schließend zum Frühstück. Das war eine sehr gute Ge-
legenheit, um sie kennen zu lernen. Das Abendessen am
Vorabend von Weihnachten nahm ich im Seminar ein oder
lud die Seminaristen zu mir in die Franciszkanska-Straße
ein. Sie kehrten für die Feste nicht in ihre Familien nach
Hause zurück, und ich wollte ihnen für diesen Verzicht
irgendwie einen Ausgleich bieten. All das war durch-
führbar, als ich in Krakau war. In Rom ist es schwieriger,
denn der Seminare sind viele. Dennoch habe ich sie alle
persönlich besucht und, wenn sich die Gelegenheit ergab,
ihre Rektoren in den Vatikan eingeladen.
Der Bischof darf es nicht vernachlässigen, den Jugend-
lichen das große Ideal des Priestertums vor Augen zu
stellen. Ein junges Herz ist imstande, die »verrückte
Liebe« zu verstehen, die für eine totale Hingabe erforder-
lich ist. Es gibt keine größere Liebe als die LIEBE!
Während meiner letzten Pilgerreise nach Spanien habe ich
den Jugendlichen gestanden: »Ich bin zum Priester ge-
weiht worden, als ich 26 Jahre alt war. Seitdem sind
56 Jahre vergangen. Wenn ich zurückblicke und mich an
diese Jahre meines Lebens erinnere, kann ich euch
versichern, dass es sich lohnt, sich der Sache Christi zu
widmen, sich aus Liebe zu ihm dem Dienst am Menschen
zu weihen. Es lohnt sich, das Leben für das Evangelium
und für die Brüder und Schwestern hinzugeben!« (Madrid,
3.5.2003). Die Jugendlichen verstanden die Botschaft und
ließen meine Worte widerhallen, indem sie im Chor wie
ein Ritornell skandierten: »Es lohnt sich! Es lohnt sich!«
Der Eifer für die Berufungen findet seinen Ausdruck
auch in der sorgfältigen Auswahl der geeigneten Kandi-
daten für das Priestertum. Der Bischof überträgt seinen
Mitarbeitern, die im Seminar für die Ausbildung zuständig
sind, viele mit diesem Amt verbundene Aufgaben, die

98
Hauptverantwortung für die Formung der Priester bleibt
jedoch bei ihm. Der Bischof ist es, der im Namen Christi
endgültig wählt und beruft, wenn er während des Weihe-
Ritus sagt: »Mit dem Beistand Gottes und der Gnade
unseres Erlösers Jesus Christus erwählen wir diese Mit-
brüder zu Priestern« (Römisches Pontifikale, Priester-
weihe). Das ist eine große Verantwortung. Der hl. Paulus
ermahnt Timotheus: »Lege keinem vorschnell die Hände
auf!« (1 Tim 5,22). Es handelt sich nicht um eine beson-
dere Strenge, sondern einfach um Verantwortungsgefühl
angesichts einer Realität von höchstem Wert, die unseren
Händen anvertraut ist. Im Namen der Gabe und des
Mysteriums des Heils werden diese anspruchsvollen
Anforderungen mit dem Priestertum verbunden.
Ich möchte hier den hl. Józef Sebastian Pelczar (1842–
1924), Bischof der Diözese Przemysl erwähnen, den ich –
gemeinsam mit der schon genannten hl. Orsola
Ledóchowska – an meinem 83. Geburtstag heilig sprechen
durfte. Der hl. Bischof Pelczar war in Polen auch wegen
seiner Schriften bekannt. Eines seiner Bücher möchte ich
hier gern erwähnen: Rozmyslania o zyciu kaplanskim czyli
ascetyka kaplanska (Meditationen über das priesterliche
Leben. Die priesterliche Askese). Das Werk wurde in
Krakau veröffentlicht, als er noch Professor an der
Jagiellonischen Universität war (vor einigen Monaten ist
eine neue Ausgabe erschienen). Das Buch ist die Frucht
seines reichen geistlichen Lebens und hat auf ganze
Generationen polnischer Priester, besonders zu meinen
Zeiten, einen tiefen Einfluss ausgeübt. Auch mein
Priestertum ist in gewisser Weise von diesem asketischen
Werk geprägt worden.
Tarnów und das nahe gelegene Przemysl gehören zu den
Diözesen, die weltweit die höchsten Berufungszahlen
haben. Der Ordinarius der Diözese Tarnów, Erzbischof

99
Jerzy Ablewicz, war mein Freund. Er kam aus Przemysl,
aus dem geistlichen Erbe des hl. Józef Pelczar. Das waren
Hirten, die sehr hohe Anforderung stellten, zuerst an sich
selbst und dann an ihre Priester und Seminaristen. Ich
denke, dass darin das Geheimnis der hohen Berufungs-
zahlen in diesen Diözesen liegt. Die hohen und anspruchs-
vollen Ideale ziehen die jungen Leute an.
Immer lag mir die Einheit der Priesterschaft am Herzen.
Um den Kontakt unter den Priestern zu fördern, habe ich
sofort nach dem Konzil (1968) dafür gesorgt, den
Priesterrat ins Leben zu rufen, in dem die Seelsorg-
Programme der Priester diskutiert wurden. Im Laufe des
Jahres wurden periodisch Treffen in den verschiedenen
Teilen der Erzdiözese organisiert, in denen die konkreten
Fragen der Priester behandelt wurden. Mit seinem eigenen
Lebensstil zeigt der Bischof, dass »das Vorbild Christus«
nicht überholt ist; auch unter den gegenwärtigen
Bedingungen bleibt es stets aktuell. Man kann sagen, dass
eine Diözese die Seinsweise seines Bischofs wider-
spiegelt. Seine Tugenden – seine Keuschheit, die Verwirk-
lichung der Armut, der Geist des Gebetes, die Einfachheit,
das feine Gewissen – schreiben sich in gewissem Sinne in
die Herzen der Priester ein, die dann ihrerseits diese Werte
auf die ihnen anvertrauten Gläubigen übertragen: Auf
diese Weise werden die Jugendlichen angezogen, auf den
Ruf Christi eine großherzige Antwort zu geben.
Wenn von diesem Thema die Rede ist, kann man
unmöglich diejenigen unerwähnt lassen, die das Priester-
tum verlassen haben. Der Bischof darf auch sie nicht
vergessen; auch sie haben das Anrecht auf einen Platz in
seinem Vaterherzen. Ihre Dramen offenbaren bisweilen
die Nachlässigkeiten in der Priesterausbildung. Zu ihr
gehört auch die mutige brüderliche Ermahnung, wenn es
nötig ist, und ebenso die Bereitschaft auf Seiten des

100
Priesters, eine solche Ermahnung anzunehmen. Christus
hat zu seinen Jüngern gesagt: »Wenn dein Bruder sündigt,
dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht.
Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurück-
gewonnen« (Mt 18,15).

101
Das Haus des Bischofs

Gelegenheiten zur Begegnung mit den Menschen boten


sich nicht nur durch die Pastoralbesuche und andere
öffentliche Auftritte. Im Haus in der Franciszkanska-
Straße 3 war die Tür für alle offen. Der Bischof ist Hirte;
genau deshalb muss er mit den Leuten und für die Leute
da sein und ihnen dienen. Die Menschen hatten immer
direkten Zugang zu mir, allen war der Eintritt gewährt.
Der bischöfliche Palast war der Ort verschiedener Treffen
und wissenschaftlicher Sitzungen. Es war auch der Ort, wo
sich das »Studium für die Familie« entwickelte. In einem
der Räume wurde eine Familien-Beratungsstelle ein-
gerichtet. Es waren damals die Zeiten, wo jede An-
sammlung von Laien eines gewissen Ansehens von den
Behörden als Aktivität gegen den Staat behandelt wurde.
So wurde das Haus des Bischofs ein Zufluchtsort. Ich lud
verschiedene Personen ein – Forscher, Philosophen,
Humanisten. Hier fanden auch regelmäßige Treffen mit
den Priestern statt. Mehrmals diente das Wohnzimmer als
Aula für die Vorlesungen. Man versammelte sich dort zum
Beispiel zu den bereits erwähnten Treffen des Institutes
für die Familie und der Universitäts-Seminare »Klermed«.
Dieses Haus – so kann man wohl sagen – »pulsierte vor
Leben«.
Mit dem Wohnsitz des Erzbischofs von Krakau ver-
binden sich viele Erinnerungen bezüglich der Gestalt
meines großen Vorgängers, der Generationen von
krakauer Priestern als unvergleichlicher Zeuge des Ge-
heimnisses der Väterlichkeit in Erinnerung geblieben ist.
Der »unerschrockene Fürst«, so wurde Erzbischof Adam

102
Stefan Sapieha allgemein bezeichnet. Mit diesem Titel
durchlebte er Krieg und Besatzungszeit. Er hat in der
Geschichte meiner Berufung unzweifelhaft einen be-
sonderen Platz. Er war es, der ihr erstes Aufkeimen an-
genommen hat. Darüber habe ich in meinem Buch
»Geschenk und Geheimnis« gesprochen. Kardinal Fürst
Sapieha war ein polnischer Aristokrat im Vollsinn dieses
Wortes. Er war in Krasiczyn in der Nähe von Przemysl
geboren. Einmal ging ich dorthin, eigens um das Schloss
zu sehen, wo er geboren war. Er wurde Priester in der
Diözese Lemberg. Zur Zeit Pius’ X. leistete er als
Cameriere segreto partecipante Dienst im Vatikan. In
jener Zeit tat er sehr viel für die Sache Polens. 1912 wurde
er zum Bischof von Krakau ernannt und von Pius X.
persönlich geweiht. Der Einzug in die Diözese fand im
selben Jahr statt, also kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Nach Ausbruch des Krieges gründete er das Bischöfliche
Komitee von Krakau zur Hilfe für Kriegsgeschädigte, das
allgemein »Komitee des Fürstbischofs« genannt wurde. Im
Laufe der Zeit weitete das Komitee seine Tätigkeit aus, bis
es das ganze Land umfasste. Sapieha war außerordentlich
aktiv während der Kriegsjahre und erwarb sich auf diese
Weise große Achtung in ganz Polen. Erst nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde er Kardinal. Seit der Zeit von
Olesnicki waren vor ihm die Erzbischöfe Dunajewski und
Puzyna Kardinale von Krakau. Sapieha jedoch verdiente
in besonderer Weise den Titel »unerschrockener Fürst«.
Ja, Sapieha war für mich ein wirkliches Vorbild, denn vor
allem war er ein Hirt. Noch vor dem Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges sagte er zum Papst, er wolle sein
Amt in Krakau niederlegen, um in Pension zu gehen.
Pius XII. gab jedoch nicht seine Zustimmung. Er sagte zu
ihm: »Jetzt droht der Krieg, man wird dich brauchen.« Er
starb als Kardinal von Krakau im Alter von 82 Jahren. In

103
der Homilie während der Trauerfeier stellte der Primas
Wyszynski einige bezeichnende Fragen: Er sagte: »Wenn
wir, eure Gäste und Freunde, auf euch sehen, liebe
Priesterbrüder, wie ihr diesen Sarg mit einem dichten
Kranz der Herzen umgebt, diesen Sarg, der die sterbliche
Hülle seiner kleinen Erscheinung birgt, die euch weder
durch ihre Statur noch durch physische Kraft faszinieren
konnte, dann möchte ich euch, ihr Priester von Krakau,
fragen, um meine Erfahrung zu erweitern und die für einen
Hirten notwendige Weisheit zu vertiefen: Was liebtet ihr
an ihm? Was hatte er an sich, das eure Herzen fesselte?
Was saht ihr in ihm? Warum habt ihr euch wie ganz Polen
diesem Menschen ergeben? Hier kann man wahrhaftig von
einer Liebe der Diözesan-Priesterschaft zum eigenen
Erzbischof sprechen« (Wolny, Jerzy (Hrsg.), Ksiega
Sapiezynska, Krakau 1986, S. 776). Wirklich, diese
Beisetzungsfeier im Juli 1951 war ein außerordentliches
Ereignis zu Stalins Zeiten: Ein großer Trauerzug schritt in
dichten Reihen von Priestern, Ordensleuten und Laien von
der Franciszkanska-Straße zum Wawel hinauf. Sie gingen
voran, und die Behörden wagten nicht, den Zug zu stören.
Sie fühlten sich machtlos vor dem, was da geschah.
Möglicherweise wurde aus diesem Grund später, nach
dem Prozess gegen die Kurie von Krakau, der Prozess post
mortem gegen Sapieha eingeleitet. Die Kommunisten
wagten zu seinen Lebzeiten nicht, ihn anzurühren, obwohl
er das für möglich hielt, besonders als sie Kardinal
Mindszenty verhafteten. Aber sie hatten nicht den Mut
dazu. Unter ihm absolvierte ich das Seminar: Zuerst war
ich Seminarist, dann wurde ich Priester. Ich hatte zu ihm
eine Beziehung festen Vertrauens, und ich kann sagen,
dass ich ihn liebte, wie die anderen Priester ihn liebten.
Oft wird in den Büchern die Meinung geäußert, dass
Sapieha mich irgendwie vorbereitete – vielleicht stimmt

104
das. Auch das ist eine Aufgabe des Bischofs: den
vorzubereiten, der ihn eventuell ersetzen kann.
Die Priester schätzten ihn vielleicht, weil er ein Fürst
war, aber sie liebten ihn vor allem, weil er ein Vater war;
er kümmerte sich um den Menschen. Und das ist es,
worauf es in erster Linie ankommt: Ein Bischof muss ein
Vater sein. Sicher, kein Mensch bringt die Vaterschaft in
vollendeter Weise zum Ausdruck, denn diese verwirklicht
sich in ihrer ganzen Fülle allein in Gottvater. Wir haben
jedoch in gewisser Weise Anteil an der Vaterschaft
Gottes. Diese Wahrheit habe ich in der Meditation über
das Geheimnis »Vater« unter dem Titel »Strahlen der
Vaterschaft« ausgedrückt: »Ich will noch mehr sagen: Ich
habe beschlossen, aus der Liste der Worte, die ich
gebrauche, das Wort ›mein‹ zu streichen. Wie kann ich
mich dieses Wortes bedienen, wenn weiß, dass alles Dein
ist? Auch wenn nicht Du es bist, der in jeder menschlichen
Zeugung der Zeugende ist, so ist doch der, welcher zeugt,
bereits Dein. Ich selbst bin mehr Dein als ›mein‹. Deshalb
bin ich mir bewusst geworden, dass es mir nicht erlaubt
ist, ›mein‹ zu nennen, was Dein ist. Ich darf so nicht
reden, denken und empfinden. Ich muss mich davon
befreien, mich dessen entäußern – nichts haben, nichts zu
eigen haben wollen (›mein‹ bedeutet ›mein eigen‹).«

Eine Vaterschaft nach


dem Beispiel des hl. Josef

Die Bischofswürde beinhaltet zweifellos ein Amt, jedoch


muss der Bischof mit aller Energie dagegen ankämpfen,
ein »Angestellter« zu werden. Niemals darf er vergessen,
dass er ein Vater ist. Wie ich schon sagte, wurde Fürst
Sapieha so geliebt, weil er für seine Priester ein Vater war.

105
Wenn ich überlege, wer als Hilfe und Vorbild betrachtet
werden könnte für alle, die zur Vaterschaft berufen sind –
in der Familie oder im Priestertum und noch mehr im
bischöflichen Dienst –, dann kommt mir der hl. Josef in
den Sinn.
Auch die Verehrung für den hl. Josef verbindet sich für
mich mit der Erfahrung, die ich in Krakau gemacht habe.
In der Poselska-Straße, in der Nähe des bischöflichen
Palastes, sind die Schwestern des hl. Bernhard. In ihrer
Kirche, die dem hl. Josef geweiht ist, haben sie die
ständige Aussetzung des Allerheiligsten Sakramentes. In
freien Momenten ging ich dorthin, um zu beten, und
häufig fiel mein Blick auf das schöne Bild des Putativ-
Vaters Jesu, das in jener Kirche sehr verehrt wird. Dort
predigte ich einmal auch die geistlichen Exerzitien für die
Juristen. Ich habe immer gern an den hl. Josef im
Zusammenhang mit der Heiligen Familie gedacht: Jesus,
Maria, Josef. Bei verschiedenen Problemen rief ich die
Hilfe aller drei an. Ich verstehe die Einheit und die Liebe
gut, die in der Heiligen Familie gelebt wurde: drei Herzen,
eine Liebe. In besonderer Weise vertraute ich dem hl.
Josef die Familien-Pastoral an.
In Krakau gibt es noch eine weitere Kirche, die dem hl.
Josef geweiht ist; sie liegt in Podgórze. Ich suchte sie
während der Pastoralbesuche auf. Eine außergewöhnliche
Bedeutung kommt dann dem Wallfahrtsort des hl. Josef in
Kalisz zu. Dort kommen die Danksagungs-Wallfahrten der
einst in Dachau internierten Priester zusammen. Eine
Gruppe von Priestern in jenem nationalsozialistischen
Lager hatte sich dem hl. Josef anvertraut – und sie wurden
gerettet. Als sie nach Polen zurückgekehrt waren, be-
gannen sie, sich jedes Jahr in einer Danksagungs-Wall-
fahrt zum Heiligtum von Kalisz zu begeben, und immer
luden sie mich zu diesen Treffen ein. Unter ihnen sind

106
Erzbischof Kazimierz Majdanski, Bischof Ignacy Jez und
auch Kardinal Adam Kozlowiecki, Missionar in Afrika.
Die Vorsehung bereitete den hl. Josef darauf vor, die
Rolle des Vaters Jesu Christi zu übernehmen. In dem ihm
gewidmeten Apostolischen Schreiben Redemptoris Custos
habe ich gesagt: »Wie man aus der Heiligen Schrift
ableitet, bildet die Ehe mit Maria die Rechtsgrundlage der
Vaterschaft Josefs. Um Josefs väterlichen Schutz für Jesus
sicherzustellen, hat Gott ihn als Mann Mariens auserwählt.
Daraus folgt, dass Josefs Vaterschaft – eine Beziehung,
die ihn in größtmögliche Nähe zu Christus, dem Ziel jeder
Erwählung und Vorherbestimmung, stellt – über die Ehe
mit Maria (…) führt« (Nr. 7). Josef wurde eigens dazu
berufen, der enthaltsame Bräutigam Marias zu sein, um für
Jesus die Vaterfigur zu werden. Die Vaterschaft des hl.
Josef hat wie die Mutterschaft der hl. Jungfrau Maria
einen ursprünglich christologischen Charakter. Alle
Privilegien Marias leiten sich aus der Tatsache ab, dass sie
die Mutter Christi ist. Analog leiten sich alle Privilegien
des hl. Josef aus der Tatsache ab, dass er die Aufgabe
hatte, für Christus ein Vater zu sein. Wir wissen, dass
Christus sich mit dem Wort Abba an Gott wandte – ein
liebevoller Begriff der Vertrautheit, mit dem die Kinder
seiner Nation ihre Väter anredeten. Möglicherweise hat er
wie die anderen Kinder mit demselben Wort auch den hl.
Josef angeredet. Kann man noch mehr aussagen über das
Geheimnis der menschlichen Vaterschaft? Als Mensch
erfuhr Christus selbst die Vaterschaft Gottes über seine
Kind-Vater-Beziehung zum hl. Josef. Die Begegnung mit
Josef als Vater hat sich eingeschrieben in die späteren
offenbarenden Aussagen Christi über den väterlichen
Namen Gottes. Das ist ein tiefes Geheimnis!
Als Gott hatte Christus die persönliche Erfahrung der
göttlichen Vaterschaft und des Sohnseins inmitten der

107
Heiligsten Dreifaltigkeit. Als Mensch erfuhr er das Sohn-
sein dank dem hl. Josef. Dieser bot seinerseits dem
heranwachsenden Kind an seiner Seite die Unterstützung
durch die männliche Ausgeglichenheit, die Klarheit im
Erkennen der Probleme und den Mut. Er erfüllte seine
Aufgabe mit den Eigenschaften des besten aller Väter,
denn er schöpfte aus der erhabensten Quelle, nach der
»jede Vaterschaft im Himmel und auf der Erde benannt
wird« (Eph 3,15). Zugleich lehrte er den Sohn Gottes, dem
er auf Erden das »zu Hause« baute und bot, vieles, was
den menschlichen Bereich betrifft.
Das Leben mit Jesus war für den hl. Josef ein ständiges
Entdecken der eigenen Berufung, Vater zu sein. Er war es
geworden auf außergewöhnliche Weise, ohne dem Sohn
den Leib zu geben. Ist das nicht genau die Verwirklichung
der Vaterschaft, wie sie uns Priestern und Bischöfen als
Vorbild vor Augen gestellt wird? Tatsächlich erlebte ich
alles, was ich in meinem Dienst tat, als eine Äußerung
dieser Vaterschaft: taufen, Beichte hören, die Eucharistie
feiern, predigen, zurechtweisen, ermutigen – all das war
für mich immer eine Verwirklichung derselben Vater-
schaft. An das »zu Hause«, das der hl. Josef für den Sohn
Gottes schuf, muss man besonders dann denken, wenn das
Thema des priesterlichen und bischöflichen Zölibats
angesprochen wird. Das Zölibat gibt nämlich die un-
eingeschränkte Möglichkeit, diesen Typ der Vaterschaft
zu verwirklichen: Eine Vaterschaft in Enthaltsamkeit, die
ganz Christus und seiner jungfräulichen Mutter geweiht
ist. Der Priester, der frei ist von der persönlichen Sorge um
die Familie, kann sich mit ganzem Herzen der pastoralen
Sendung widmen. Von daher versteht sich auch die Un-
nachgiebigkeit, mit der die Kirche des lateinischen Ritus
die Tradition des Zölibats für ihre Priester verteidigt und
dem Druck widersteht, der im Laufe der Geschichte von

108
Zeit zu Zeit dagegen aufkommt. Sicher ist es eine
anspruchsvolle Tradition, sie hat sich aber als spirituell
äußerst fruchtbar erwiesen. Dennoch ist es ein Grund zur
Freude, festzustellen, dass auch die verheiratete Priester-
schaft der katholischen Ostkirche hervorragende Beweise
pastoralen Eifers geliefert hat. Besonders im Kampf gegen
den Kommunismus waren die orientalischen verheirateten
Priester nicht weniger heldenhaft als die zölibatären. Wie
Kardinal Josyf Slipyj einmal bemerkte, zeigten sie
gegenüber den Kommunisten den gleichen Mut wie ihre
unverheirateten Kollegen. An dieser Stelle muss deutlich
darauf hingewiesen werden, dass es tiefe theologische
Gründe gibt, die für das Zölibat sprechen. Die Enzyklika
Sacerdotalis caelibatus, die 1967 von meinem verehrten
Vorgänger, Paul VI., publiziert wurde, fasst sie
folgendermaßen zusammen (vgl. 19–34):
• Vor allem gibt es eine christologische Begründung:
Da Christus als Mittler zwischen Gottvater und der
Menschheit eingesetzt war, blieb er unverheiratet, um
sich uneingeschränkt in den Dienst Gottes und der
Menschen zu stellen. Wem das Schicksal vergönnt, an
der Würde und der Sendung Christi teilzuhaben, der
ist berufen, auch diese völlige Hingabe zu teilen.
• Dann gibt es eine ekklesiologische Begründung:
Christus hat die Kirche geliebt und sich selbst ganz
und gar für sie hingegeben, mit dem Ziel, sie zu seiner
herrlichen, heiligen, makellosen Braut zu machen. Mit
seiner zölibatären Wahl macht sich der priesterliche
Diener diese jungfräuliche Liebe Christi zu seiner
Kirche zu eigen und zieht daraus übernatürliche Kraft
geistlicher Fruchtbarkeit.
• Schließlich gibt es eine eschatologische Begründung:
Nach der Auferstehung von den Toten – hat Christus
gesagt – »werden die Menschen nicht mehr heiraten,
109
sondern sein wie die Engel im Himmel« (Mt 22,30).
Das Zölibat des Priesters kündigt das Kommen der
letzten Zeiten des Heils an und antizipiert in gewisser
Weise den Anbruch des Himmelreiches, indem es
seine höchsten Werte bestätigt, die eines Tages in
allen Kindern Gottes erstrahlen werden.
In der Absicht, den Sinn des Zölibats zu bestreiten, wird
gelegentlich mit der Einsamkeit des Priesters und des
Bischofs argumentiert. Dieses Argument muss ich auf-
grund meiner Erfahrung entschieden zurückweisen. Ich
persönlich habe mich niemals einsam gefühlt. Abgesehen
von dem Bewusstsein der Nähe des Herrn war ich auch
rein menschlich immer umgeben von vielen Personen und
pflegte zahlreiche herzliche Kontakte zu den Priestern –
Präfekten, Pfarrern, Pfarreivikaren – und zu Laien jeden
Standes.

110
Bei den eigenen Leuten sein

An das »zu Hause«, das der hl. Josef für den Sohn Gottes
schuf, muss man auch denken, wenn von der väterlichen
Pflicht des Bischofs die Rede ist, bei denen zu sein, die
ihm anvertraut sind. Das Haus des Bischofs ist nämlich die
Diözese. Nicht nur, weil er in ihr wohnt und arbeitet,
sondern in einem viel tieferen Sinn: Das Haus des
Bischofs ist die Diözese, weil sie der Ort ist, wo er jeden
Tag seine Treue zur Kirche, seiner Braut, bekunden muss.
Als das Konzil von Trient angesichts der dauernden Nach-
lässigkeiten auf diesem Gebiet die Pflicht des Bischofs, in
seiner Diözese zu wohnen, unterstrich und festsetzte,
brachte es damit zugleich eine tiefe Intuition zum Aus-
druck: Der Bischof muss in allen wichtigen Momenten bei
seiner Kirche sein. Ohne fundierten Grund darf er sie nicht
für länger als einen Monat verlassen – ebenso wie ein
guter Familienvater, der stets bei den Seinen ist und, wenn
er sich von ihnen trennen muss, Sehnsucht nach ihnen hat
und so bald wie möglich zu ihnen zurückkehren möchte.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an den treuen
Bischof von Tarnów, Jerzy Ablewicz. Die Priester seiner
Diözese wussten, dass er freitags keine Besuche empfing.
An diesem Tag begab er sich nämlich zu Fuß auf
Pilgerschaft nach Tuchów, zum Marien-Wallfahrtsort der
Diözese. Unterwegs bereitete er betend die Sonntags-
predigt vor. Es war bekannt, dass er sehr ungern die
Diözese verließ. Immer war er bei den Seinen, zuerst im
Gebet, dann im Tun. Zuerst jedoch im Gebet. Das Ge-
heimnis unserer Vaterschaft keimt auf und entwickelt sich
aus dem Gebet. Als Männer des Glaubens erscheinen wir

111
im Gebet vor Maria und Josef, um ihre Hilfe zu erbitten
und so gemeinsam mit ihnen und all denen, die Gott uns
anvertraut, das Haus für den Sohn Gottes aufzubauen:
seine heilige Kirche.

Die Kapelle in der Franciszkanska-


Straße 3

Die Kapelle im Palast der Erzbischöfe von Krakau hat für


mich eine ganz besondere Bedeutung. In ihr wurde ich am
1. November 1946 von Kardinal Sapieha zum Priester
geweiht, obwohl der gewöhnliche Ort für die Weihen die
Kathedrale war. Ort und Zeit meiner Priesterweihe waren
beeinflusst von der Entscheidung des Ordinarius, mich
zum Studium nach Rom zu schicken. Der hl. Paulus
schreibt als bereits erfahrener Apostel gegen Ende seines
Lebens an Timotheus: »Übe dich in der Frömmigkeit!
Denn körperliche Übung nützt nur wenig, die Frömmigkeit
aber ist nützlich zu allem: Ihr ist das gegenwärtige und
das zukünftige Leben verheißen« (1 Tim 4,7–8). Die
Kapelle im Haus, so nah, dass man nur die Hand
auszustrecken braucht, um sie zu erreichen – das ist das
Privileg jedes Bischofs, aber zugleich ist es auch eine
große Verpflichtung für ihn. Die Kapelle ist so nah, damit
im Leben des Bischofs alles – die Predigt, die Ent-
scheidungen, die Pastoral – zu Füßen Christi beginnt, der
im Allerheiligsten Sakrament verborgen ist. Ich habe
persönlich gesehen, welches die diesbezüglichen Gewohn-
heiten des Erzbischofs von Krakau, Fürst Adam Sapieha,
waren. Der Primas, Kardinal Wyszynski, sprach darüber in
der Homilie während der Trauerfeier auf dem Wawel mit
folgenden Worten: »Eine der vielen Besonderheiten dieses
Lebens hat mich zum Nachdenken gebracht. Wenn

112
während der Versammlungen der Bischofskonferenz am
Ende eines langen, manchmal sehr mühevollen Arbeits-
tages alle ziemlich erschöpft waren und sich beeilten, nach
Hause zu kommen, begab sich dieser unermüdliche Mann
stattdessen in seine kalte Kapelle und blieb dort im Dunkel
der Nacht vor Gott. Wie lange? Ich weiß es nicht. Niemals
habe ich in den späten Arbeitsstunden im erzbischöflichen
Haus die Schritte des Kardinals gehört, der aus der
Kapelle zurückkam. Eines weiß ich: dass sein fort-
geschrittenes Alter ihm eigentlich ein Anrecht auf Ruhe
gewährte. Der Kardinal jedoch musste die Mühen der
Arbeit des ganzen Tages mit einer Fibel aus Gold
schließen, und er schloss sie mit dem Diamanten des
Gebetes. Er war wirklich ein Mann des Gebets!« (Wolny,
Jerzy (Hrsg.), Ksiega Sapiezynska, Krakau 1986, S. 776).
Ich habe mich bemüht, dieses unvergleichliche Beispiel
nachzuahmen. In der Privatkapelle betete ich nicht nur,
sondern ich blieb auch sitzen und schrieb. Dort schrieb ich
meine Bücher, darunter auch die Monographie »Person und
Akt«. Ich bin überzeugt, dass die Kapelle ein Ort ist, von
der eine besondere Inspiration ausgeht. Es ist ein enormes
Privileg, im Umfeld dieser GEGENWART leben und
arbeiten zu können. Eine GEGENWART, die anzieht,
gleichsam ein großer Magnet. Mein lieber Freund André
Frossard, der schon verstorben ist, hat in seinem Buch
»Gott existiert, ich bin ihm begegnet« die Kraft und die
Schönheit dieser GEGENWART tief greifend beschrieben.
Um geistig in den Raum des Allerheiligsten Sakramentes
einzutreten, ist es nicht immer nötig, physisch in die
Kapelle zu gehen. Ich habe stets die innere Wahrnehmung
gehabt, dass er, Christus, der Eigentümer meines bischöfl-
ichen Hauses ist und dass wir, die Bischöfe, nur die zeitwei-
ligen Mieter sind. So war es in der Franciszkanska-Straße
fast zwanzig Jahre lang, und so ist es hier im Vatikan.

113
TEIL V
BISCHÖFLICHE
KOLLEGIALITÄT

»Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben


und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten«
(Mk 3,14)

114
Der Bischof in der Diözese

Das Zweite Vatikanische Konzil war für mich ein sehr


starker Ansporn, die pastorale Tätigkeit zu intensivieren.
Alles müsste nun von da aus seinen Anfang nehmen. Am
3. Juni 1963 starb Papst Johannes XXIII. Er war es
gewesen, der das Konzil einberufen hatte, das am
11. Oktober 1962 eröffnet wurde. Es war mir vergönnt, von
Anfang an daran teilzunehmen. Die erste Sitzungsperiode
begann im Oktober und endete am 8. Dezember. Ich nahm
an den Sitzungen mit den Konzilsvätern als Kapitular-Vikar
der Erzdiözese Krakau teil. Nach dem Tod
Johannes’ XXIII. wählte das Konklave am 21. Juni 1963
den Erzbischof von Mailand, Kardinal Giovanni Battista
Montini, zum Papst, der den Namen Paul VI. annahm. Im
Herbst desselben Jahres begann das Konzil mit seiner
zweiten Sitzungsperiode, an der auch ich in derselben
Eigenschaft teilnahm. Am 13. Januar 1964 wurde ich zum
Erzbischof Metropolit von Krakau ernannt. Die Ernennung
wurde im Januar 1964 bekannt gegeben, und am 8. März,
dem Sonntag Laetare, fand mein feierlicher Einzug in die
Kathedrale auf dem Wawel statt. Ich erinnere mich, dass
Prof. Franciszek Bielak und Mons. Bohdan Niemczewski,
fulierter Propst, mich auf der Schwelle der Kathedrale
willkommen hießen. Sie führten mich in die Kathedrale
hinein, wo ich den bischöflichen Thronsitz einnehmen
musste, der nach dem Tode von Kardinal Sapieha und
Erzbischof Baziak leer geblieben war. Ich erinnere mich
nicht mehr an Einzelheiten meiner Rede, die ich damals
hielt, aber ich erinnere mich noch gut, dass es sehr bewegte
Worte waren wegen des Bezugs zur Kathedrale des Wawel

115
und seinem kulturellen Erbe, dem ich »seit jeher«
verbunden war, wie ich früher bereits betont habe.

116
Das Pallium

Ich denke auch an das tiefe und bewegende Zeichen des


Palliums, das ich im selben Jahr 1964 erhielt. In der
ganzen Welt tragen die Metropoliten zum Zeichen der
Einheit mit Christus, dem guten Hirten, und mit seinem
Vikarius, der die Aufgabe des Petrus übernimmt, auf den
Schultern dieses Zeichen, das aus der Wolle der Lämmer
gewebt wird, die am Gedenktag der hl. Agnes geweiht
werden. Viele Male habe ich es als Papst am Fest der
heiligen Apostel Petrus und Paulus den neuen Metro-
politen übergeben können. Welch schöne Symbolik! In der
Form des Palliums können wir das Bild eines Schafes
erblicken, das der gute Hirt auf seine Schultern hebt und
mitnimmt, um es zu retten und zu nähren. In diesem
Symbol wird sichtbar, was uns alle als Bischöfe in erster
Linie eint: die Fürsorge und die Verantwortung für die uns
anvertraute Herde. Gerade aufgrund dieser Fürsorge und
dieser Verantwortung müssen wir die Einheit pflegen und
wahren. Seit dem 8. März 1964, dem Tag meines Einzugs,
nahm ich dann am Konzil bereits als Erzbischof und
Metropolit von Krakau teil, und so blieb es bis zu seinem
Ende, am 8. Dezember 1965. Die Erfahrung des Konzils,
die Begegnungen im Glauben mit den Bischöfen der
Weltkirche und zugleich die neue Verantwortung gegen-
über der mir anvertrauten Kirche von Krakau ermög-
lichten mir, die Position des Bischofs in der Kirche gründ-
licher zu verstehen.

117
Der Bischof in seiner
Lokalkirche

Welches ist die Position, die die Güte Gottes dem Bischof
innerhalb der Kirche zuweist? Von Anbeginn hat er kraft der
Eingliederung in die apostolische Sukzession vor sich die
Weltkirche. Er ist in alle Welt gesandt, und eben deshalb
wird er zum Zeichen der Katholizität der Kirche. Diese
universale Dimension der Kirche habe ich von früher
Kindheit an begriffen, das heißt, seit ich gelernt habe, das
Glaubensbekenntnis zu sprechen: »Ich glaube an die eine,
heilige, katholische und apostolische Kirche.« Genau diese
allumfassende Gemeinschaft ist es, die in sich die Zeugnisse
so vieler Orte, Zeiten und Menschen vereint, die von Gott
erwählt und zusammengeführt sind, »von Adam an, von dem
gerechten Abel bis zum letzten Erwählten« (Lumen gentium,
2). Diese Zeugnisse und Bindungen werden in beredter
Weise in der Liturgie der Bischofsweihe spürbar, so dass sie
die gesamte Heilsgeschichte mit ihrem Ziel, der Einheit aller
Menschen in Gott, ins Bewusstsein rufen. Während jeder
Bischof die Verantwortung für die Weltkirche in sich trägt,
sieht er sich ins Zentrum einer Teilkirche gestellt, in die
Gemeinschaft also, die Christus eigens ihm anvertraut hat,
damit sich durch seinen bischöflichen Dienst das Geheimnis
der Kirche Christi als Zeichen des Heiles für alle immer
vollständiger verwirklicht. In der dogmatischen Konstitution
Lumen gentium steht: »Diese Kirche Christi ist wahrhaft in
allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen
anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im
Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen (…) In
jedweder Altargemeinschaft erscheint unter dem heiligen

118
Dienstamt des Bischofs das Symbol jener Liebe und jener
›Einheit des mystischen Leibes, ohne die es kein Heil geben
kann‹. In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm
sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig,
durch dessen Kraft die eine, heilige und apostolische Kirche
geeint wird« (Nr. 26).
Das Geheimnis der Berufung des Bischofs besteht gerade
in der Tatsache, dass er sich in dieser einzelnen, sichtbaren
Gemeinde befindet, für die er eingesetzt ist, und zugleich
ebenso in der Weltkirche steht. Man muss diese einzigartige
Bindung sehr genau verstehen. Zweifellos wäre es eine
Simplifizierung und im Endeffekt ein grundlegendes
Missverstehen des Geheimnisses, wenn man der Meinung
wäre, der Bischof vertrete die Weltkirche in der eigenen
Diözesangemeinschaft – die für mich Krakau war – und
zugleich diese seine Diözesangemeinschaft vor der
Weltkirche in der Weise, wie zum Beispiel die Botschafter
ihre jeweiligen Staaten und internationalen Organismen
vertreten. Der Bischof ist Zeichen der Gegenwart Christi in
der Welt. Und das ist eine Gegenwart, die den Menschen
dort entgegenkommt, wo sie sich befinden. Er ruft sie beim
Namen, richtet sie auf, tröstet sie mit der Frohen Botschaft
und versammelt sie alle zu dem einen Mahl. Deshalb lebt der
Bischof, der der ganzen Welt und der Weltkirche gehört,
seine Berufung entfernt von den anderen Mitgliedern des
Bischofskollegiums, um in enger Verbindung zu den
Menschen zu stehen, die er im Namen Christi in seiner
Teilkirche versammelt. Zugleich wird er gerade für jene, die
er versammelt, zum Zeichen der Überwindung ihrer Isoliert-
heit, denn er bringt sie in Verbindung mit Christus und in
ihm sowohl mit allen, die Gott vor ihnen von Anbeginn der
Welt erwählt hat, als auch mit denen, die er heute in der
ganzen Welt versammelt, wie auch mit jenen, die er nach
ihnen noch in seiner Kirche versammeln wird, bis zu den

119
Berufenen der letzten Stunde. Alle sind durch den Dienst und
durch das Zeichen des Bischofs in der Lokalkirche
gegenwärtig. Der Bischof übt seinen Dienst in wirklich
verantwortungsvoller Weise aus, wenn er es versteht, in
seinen Gläubigen ein lebendiges Empfinden der Einheit mit
sich selbst und über seine Person mit allen Gläubigen der
Kirche in der ganzen Welt zu erwecken. Ich habe diese
herzliche Verbundenheit in meinem Krakau persönlich
erfahren durch Priester, Orden und Laien. Gott möge es
ihnen lohnen! Wenn der hl. Augustinus um Hilfe oder
Verständnis bat, pflegte er zu seinen Gläubigen zu sagen:
»Vielleicht gelangen viele einfache Christen auf einem
leichteren Weg als dem unseren zu Gott: Sie gehen um so
viel schneller voran, als das Gewicht der Verantwortung, die
sie auf ihren Schultern tragen, geringer ist als das unsere. Wir
hingegen werden Gott vor allem für unser Leben als Christen
Rechenschaft ablegen müssen, dann aber werden wir im
Besonderen Rede und Antwort stehen müssen für die
Ausübung unseres Dienstes als Hirten« (Serm. 46,1–2:
PL 38,271). Das ist das Geheimnis der mystischen
Begegnung von Menschen »aus allen Nationen und
Stämmen, Sprachen und Völkern« (Offb 7,9) mit Christus,
der im Diözesanbischof gegenwärtig ist, um den sich in
einem präzisen geschichtlichen Moment die Lokalkirche
versammelt. Wie stark ist doch diese Verbindung! Mit welch
erhabenen Banden vereint er uns und fügt uns zusammen!
Das war für mich eine Erfahrung während des Konzils. In
besonderer Weise spürte ich die Kollegialität: der gesamte
Episkopat mit Petrus! Diese Erfahrung wiederholte sich für
mich in besonderer Weise während der geistlichen
Exerzitien, die ich 1976 für die um Papst Paul VI.
versammelte Römische Kurie leitete. Aber darauf werde ich
später noch zurückkommen.

120
Die Kollegialität

Gehen wir gedanklich an die Anfänge zurück. Durch den


Willen unseres Herrn und Meisters wurde das apostolische
Amt eingesetzt. Die Gemeinde derer, die er erwählt hatte
(vgl. Mk 3,13), wuchs in seiner Umgebung. Innerhalb
dieser Gemeinde bildeten und vertieften sich die Persön-
lichkeiten der einzelnen Mitglieder, angefangen mit Simon
Petrus. In dieses Kollegium von Jüngern und Freunden
Christi wird jeder neue Bischof durch die Berufung und
die Weihe eingegliedert. Das Kollegium! Die Teilhabe an
dieser Gemeinschaft des Glaubens, des Zeugnisses, der
Liebe und der Verantwortung ist eine Gabe, die wir
zusammen mit der Berufung und der Weihe empfangen.
Welch große Gabe!
Für jeden von uns Bischöfen bedeutet die Gegenwart der
anderen eine Unterstützung, die in der Verbundenheit in
Gebet und Amt und durch das Zeugnis und das
Miteinander-Teilen der Ergebnisse der pastoralen Arbeit
zum Ausdruck kommt. Unter diesem Gesichtspunkt sind
heute für mich besonders trostreich die Begegnungen und
Relationen der Bischöfe während der Besuche ad limina
Apostolorum. Ich wünsche mir sehr, dass das, was die
Gnade Gottes durch das Herz, den Geist und die Hände
jedes Einzelnen von ihnen wirkt, allen bekannt werde und
lieb und teuer sei. Die heutige Leichtigkeit der Kommuni-
kation ermöglicht häufigere und fruchtbringende Begeg-
nungen. Das versetzt uns Bischöfe der katholischen Kirche
alle in die Lage, nach Wegen zu suchen, um die bischöf-
liche Kollegialität zu stärken – auch über eine eifrige
Zusammenarbeit in den Bischofskonferenzen und einen

121
weltweiten Erfahrungsaustausch in der großen Familie der
Kirche. Wenn die Bischöfe sich untereinander treffen und
sich gegenseitig ihre Freuden und ihre Sorgen anvertrauen,
wird ihnen das sicherlich helfen, jene »Spiritualität der
Gemeinschaft« zu wahren, von der ich im Apostolischen
Schreiben Novo millennio ineunte gesprochen habe (vgl.
Nr. 43–45).
Schon bevor ich auf den Stuhl Petri berufen wurde, traf
ich mich mit zahlreichen Bischöfen aus aller Welt,
häufiger natürlich mit denen der näher gelegenen
europäischen Länder. Das waren Begegnungen gegen-
seitiger Ermutigung. Einige von ihnen, besonders mit
Bischöfen aus Ländern unter kommunistischer Diktatur,
waren manchmal geradezu dramatisch. Ich denke zum
Beispiel an die Beisetzung von Kardinal Stefan Trochta in
der damaligen Tschechoslowakei, als die Kontakte mit der
Lokalkirche von den kommunistischen Behörden be-
hindert oder sogar unmöglich gemacht wurden. Das letzte
pastorale Treffen mit den Bischöfen eines Nachbarlandes,
bevor die Kardinale beschlossen, dass ich es sein sollte,
der den Stuhl Petri innehat, war im September 1978 in
Deutschland, wohin ich gemeinsam mit dem Primas
Wyszynski zu einem Pastoralbesuch kam. Dieses Treffen
war außerdem ein bedeutendes Zeichen der Versöhnung
zwischen den beiden Nationen. Alle diese Begegnungen
finden eine außergewöhnliche und intensive Weiter-
führung in den täglichen Begegnungen mit den Bischöfen
aus den verschiedenen Teilen der Welt, die ich seit der
Wahl auf den Stuhl Petri durchführen kann.
Die Besuche ad limina Apostolorum sind ein besonderer
Ausdruck der Kollegialität. Im Prinzip kommen im Turnus
von fünf Jahren (manchmal gibt es allerdings Verzöge-
rungen) die Bischöfe der ganzen Welt in den Vatikan. Es
sind über zweitausend Diözesen. Jetzt bin ich es, der sie

122
empfängt; vorher, zur Zeit Pauls VI., wurde ich vom Papst
empfangen. Ich schätzte die Begegnungen mit Paul VI.
sehr. Von ihm habe ich auch über den Ablauf dieser Be-
gegnungen viel gelernt. Dennoch habe ich dann ein
eigenes Schema ausgearbeitet: Zuerst empfange ich jeden
Bischof persönlich, dann lade ich die ganze Gruppe zum
Mittagessen ein, und am Ende zelebrieren wir gemeinsam
die heilige Messe mit einem anschließenden kollektiven
Treffen. Ich ziehe großen Gewinn aus den Begegnungen
mit den Bischöfen. In aller Einfachheit könnte ich sagen,
dass ich von ihnen »die Kirche lerne«. Und das muss ich
unaufhörlich tun, denn von den Bischöfen lerne ich immer
wieder Neues. Aus den Gesprächen mit ihnen erfahre ich
die Situation der Kirche in den verschiedenen Teilen der
Welt: in Europa, in Asien, in Amerika, in Afrika und in
Ozeanien.
Der Herr hat mir die nötigen Kräfte verliehen, um viele
dieser Länder – ich möchte wohl sagen: den größten Teil –
besuchen zu können. Das ist von großer Bedeutung, denn
der persönliche Aufenthalt in einem Land gestattet, auch
wenn er nur kurz ist, vieles zu sehen. Darüber hinaus
ermöglichen diese Begegnungen einen direkten Kontakt
mit den Menschen, was sowohl auf zwischenmenschlicher
als auch auf ekklesialer Ebene besonders wichtig ist. So
war es auch für den hl. Paulus; er war unaufhörlich
unterwegs. Gerade darum spürt man, wenn man liest, was
er an die verschiedenen Gemeinden geschrieben hat, dass
er bei ihnen gewesen war, dass er die Leute dieses Ortes
und ihre Probleme kennen gelernt hatte.
Ich bin immer gern gereist. Für mich ist klar, dass diese
Aufgabe dem Papst in gewissem Sinne von Christus selbst
gegeben worden ist. Schon als Diözesanbischof machten
die Pastoralreisen mir Freude, und ich hielt es für sehr
wichtig, zu wissen, was in den Pfarreien geschieht, die

123
Menschen zu kennen und ihnen direkt zu begegnen. Das,
was eine rechtliche Norm darstellt, eben der Pastoral-
besuch, ist in Wirklichkeit von der Erfahrung des Lebens
aufgegeben. Das Vorbild ist hier der hl. Paulus. Auch
Petrus, an erster Stelle jedoch Paulus.

124
Die Konzilsväter

Während der ersten Sitzungsperiode des Konzils hatte ich


– noch als Weihbischof der Erzdiözese Krakau – die
Gelegenheit, Kardinal Giovanni Battista Montini für das
großzügige und wertvolle Geschenk zu danken, das die
Erzdiözese Mailand der Kollegiats-Kirche Sankt Florian in
Krakau gemacht hatte: drei neue Glocken (ein
symbolisches und sehr aussagekräftiges Geschenk, auch
wegen der Namen, die den Glocken gegeben waren:
»Jungfrau Maria«, »Ambrosius – Karl Borromäus« und
»Florian«). Tadeusz Kurowski, der Propst des Kollegiats
von Sankt Florian, hatte um diese Gabe gebeten.
Erzbischof Montini, der den Polen immer viel Wohlwollen
entgegenbrachte, zeigte sich großherzig angesichts dieses
Planes und hatte auch viel Verständnis für mich, der ich
damals ein noch sehr junger Bischof war.
Die italienischen Kollegen, die im Konzil und im
Vatikan sozusagen als Hausherren fungierten, setzten
mich immer in Erstaunen wegen ihrer Herzlichkeit und
ihres Universalismus. Außerordentlich beeindruckt war
ich während der ersten Sitzungsperiode des Konzils von
der zahlenmäßig starken Präsenz afrikanischer Bischöfe.
Sie saßen an verschiedenen Stellen in der Basilika von
Sankt Peter, wo sich bekanntlich die Konzilsarbeiten
abspielten. Unter ihnen befanden sich herausragende
Theologen und eifrige Seelsorger. Sie hatten vieles zu
sagen. Mehr als alle anderen hat Erzbischof Raymond-
Marie Tchidimbo von Conakry in meiner Erinnerung
einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er hatte viel zu leiden
unter dem kommunistischen Präsidenten seines Landes,

125
und schließlich musste er ins Exil gehen. Mit Kardinal
Hyacinthe Thiandoun, einem Mann von außer-
gewöhnlicher Persönlichkeit, hatte ich häufigen und herz-
lichen Kontakt. Eine weitere herausragende Gestalt war
Kardinal Paul Zoungrana. Beide waren von französischer
Bildung und Kultur und beherrschten die Sprache, als sei
es ihre Muttersprache. Mit diesen Bischöfen hatte ich
Freundschaft geschlossen, als ich im polnischen Kolleg
wohnte. Sehr verbunden fühlte ich mich dem franzö-
sischen Kardinal Gabriel Marie Garonne. Er war zwanzig
Jahre älter als ich und behandelte mich mit großer
Herzlichkeit, ich würde sogar sagen freundschaftlich. Er
wurde zusammen mit mir zum Kardinal erhoben und war
nach dem Konzil Präfekt der Erziehungskongregation. Mir
scheint, er habe auch am Konklave teilgenommen. Ein
weiterer Franzose, mit dem ich freundschaftliche Bin-
dungen einging, war der Theologe Henri de Lubac SJ, den
ich selbst Jahre später zum Kardinal erhob. Das Konzil
war eine bevorzugte Periode, um Bekanntschaft mit
Bischöfen und Theologen zu machen, besonders in den
einzelnen Kommissionen. Als das Schema 13 behandelt
wurde (das man in der Folge zur Pastoral-Konstitution
über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes,
ausarbeitete) und ich über Personalismus sprach, kam
Pater de Lubac zu mir und sagte: »Genauso, genauso, ganz
genau so, in dieser Richtung!« Auf diese Weise machte er
mir Mut, und das war für mich von besonderer Bedeutung,
denn ich war ja noch relativ jung. Auch mit den Deutschen
schloss ich Freundschaft. Mit Kardinal Alfred Bengsch,
der ein Jahr jünger war als ich. Mit Joseph Höffner aus
Köln und Joseph Ratzinger – alles Kirchenmänner von
außergewöhnlicher theologischer Bildung. Besonders an
den damals sehr jungen Prof. Ratzinger erinnere ich mich.
Er begleitete als theologischer Experte den Erzbischof von

126
Köln, Kardinal Joseph Frings. Später wurde er von Papst
Paul VI. zum Erzbischof von München ernannt und zum
Kardinal erhoben. Er war in dem Konklave dabei, das mir
das Petrus-Amt übertrug. Als Kardinal Franjo Seper starb,
bat ich ihn, dessen Nachfolge als Präfekt der Glaubens-
kongregation anzutreten. Ich danke Gott für die Gegen-
wart und die Hilfe von Kardinal Ratzinger – er ist ein
zuverlässiger Freund. Leider gibt es mittlerweile nur noch
wenige lebende Bischöfe und Kardinale, die am Konzil
(11.10.1962–8.12.1965) teilgenommen haben. Das Konzil
war ein außerordentliches kirchliches Ereignis, und ich
danke Gott, dass ich vom ersten bis zum letzten Tag daran
teilnehmen konnte.

127
Das Kardinals-Kollegium

Das Herz des Bischofs-Kollegiums ist in gewissem Sinne


das Kollegium der Kardinale, die den Nachfolger Petri
umgeben und ihn in seinem Glaubenszeugnis vor der
ganzen Kirche unterstützen. In dieses Kollegium bin ich
im Juni 1967 eingegliedert worden.
Die Versammlung der Kardinale lässt den Grundsatz der
Zusammenarbeit und der gegenseitigen Stärkung im
Glauben, auf dem das gesamte missionarische Werk der
Kirche aufgebaut ist, in besonderer Weise sichtbar
werden. Die Aufgabe des Petrus ist die, welche Jesus ihm
zugewiesen hat: »Und wenn du dich wieder bekehrt hast,
dann stärke deine Brüder« (Lk 22,32). Die Nachfolger
Petri stützten sich von den ersten Jahrhunderten an auf die
Mitarbeit des Kollegiums der Bischöfe, Priester und
Diakone, die gemeinsam mit ihnen für die Stadt Rom und
die nächstgelegenen (»suburbikaren«) Diözesen ver-
antwortlich waren. Man begann, sie als »viri cardinales«
zu bezeichnen. Natürlich nahm im Laufe der Jahrhunderte
diese Mitarbeit andere Formen an. Aber die wesentliche
Bedeutung, die ein Zeichen für die Kirche und für die
Welt ist, bleibt unverändert.
Da die pastorale Verantwortlichkeit des Nachfolgers
Petri sich auf die ganze Welt erstreckt, schien es in
zunehmendem Maße angebracht, dass in der ganzen
christlichen Welt solche »viri cardinales« vorhanden
seien, die ihm besonders nahe stünden im Sinne der
Verantwortung und in der absoluten Bereitschaft, den
Glauben zu bezeugen, falls nötig bis zum Blutvergießen
(deshalb ist die Farbe ihrer Talare purpurrot wie das Blut

128
der Märtyrer). Ich bin Gott dankbar für diese Unter-
stützung und dafür, dass die Kardinäle der Römischen
Kurie und der ganzen Welt die Verantwortung für die
Leitung der Kirche gemeinsam mit mir tragen. Je mehr sie
bereit sind, den anderen Stütze zu sein, um so mehr
bestätigen sie sie im Glauben und sind folglich ent-
sprechend geeigneter, die enorme Verantwortung der unter
dem Wirken des Heiligen Geistes durchgeführten Wahl
dessen auf sich zu nehmen, der das Amt Petri bekleiden
wird.

129
Die Synoden

Mein Leben als Bischof begann praktisch mit der


Ankündigung des Konzils. Ein Ergebnis des Konzils war
bekanntlich die Einsetzung der Bischofssynode durch
Papst Paul VI. am 15. September 1965. Seither sind zahl-
reiche Synoden abgehalten worden. Eine große Rolle
kommt darin dem General-Sekretär zu. Zuerst hatte diese
Aufgabe Kardinal Wladyslaw Rubin, dessen wechsel-
volles Schicksal während des Krieges ihn schließlich nach
Rom führte, wohin er über den Libanon gekommen war.
Paul VI. beauftragte ihn mit der Bildung des Synoden-
Sekretariats. Das war keine leichte Aufgabe. Ich ver-
suchte, ihn zu unterstützen, soweit es mir möglich war,
hauptsächlich mit guten Ratschlägen. Später wurde diese
Aufgabe von Kardinal Josef Tomko und in dessen Nach-
folge von Kardinal Jan Pieter Schotte übernommen. Wie
gesagt, gab es zahlreiche Synoden. Außer denen, die
bereits unter Papst Paul VI. veranstaltet wurden, waren es
die Synoden über die Familie, über das Sakrament der
Versöhnung und der Buße, über die Rolle der Laien im
Leben der Kirche, über die Priesterausbildung, über das
gottgeweihte Leben und über das Bischofsamt. Darüber
hinaus wurden einige Synoden unter speziellen Gesichts-
punkten abgehalten, wie jene für die Niederlande, die
Synode zum zwanzigsten Jahrestag des Abschlusses des
Zweiten Vatikanischen Konzils und die Sonder-
versammlung für den Libanon. Und dann gab es auch
Kontinental-Synoden: für Afrika, für Amerika, für Asien,
für Ozeanien und die beiden Synoden für Europa. Die Idee
war die, vor dem Jahrtausendwechsel alle Kontinente

130
einmal durchzugehen, sie zu kennen und in Vorbereitung
auf das Große Jubiläum ihre Probleme zur Kenntnis zu
nehmen. Nachdem dieses Programm realisiert worden ist,
muss jetzt an die neue Synode gedacht werden, deren
Thema das Sakrament der Eucharistie sein wird.
In meinem Leben als Bischof hatte ich bereits
Gelegenheit gehabt, mich mit der synodalen Erfahrung
vertraut zu machen: Es hatte nämlich die sehr wichtige
Synode der Erzdiözese Krakau gegeben, die anlässlich des
900-jährigen Jubiläums des hl. Stanislaus organisiert
wurde. Natürlich handelte es sich nur um eine Diözesan-
synode. Sie entfaltete sich nicht in der Perspektive der
Weltkirche, sondern in der bescheideneren der Lokal-
kirche. Dennoch hat auch die Diözesansynode ein
bedeutsames Gewicht für eine Gemeinschaft von Gläu-
bigen, die Tag für Tag die gleichen Probleme erlebt, die
mit der Ausübung des Glaubens in ganz bestimmten
sozialen und politischen Umständen verbunden sind. Die
Synode von Krakau hatte die Aufgabe, in das Leben jener
Lokalgemeinde das einzuführen, was das Konzil bestimmt
hatte. Ich setzte diese Synode für die Jahre von 1972 bis
1979 auf das Programm, denn der hl. Stanislaus war – wie
ich schon sagte – genau in den Jahren 1072 bis 1079
Bischof. Ich wollte, dass diese Daten nach neunhundert
Jahren noch einmal neu nachgelebt würden. Die wichtigste
Erfahrung war die Arbeit von sehr zahlreichen und
engagierten synodalen Gruppen. Eine echt pastorale
Synode: Bischöfe, Priester und Laien, alle arbeiteten
zusammen. Ich beschloss diese Synode bereits als Papst
während meiner ersten Polen-Reise.

131
Die geistlichen Exerzitien für die Kurie
während des Pontifikats Pauls VI.

Nie werde ich diese wirklich besonderen geistlichen


Exerzitien vergessen. Geistliche Exerzitien sind eine
Übung, die sich für jeden, der sie vollzieht, als großes
Geschenk Gottes erweist: eine Zeit, in der man alles
andere hinter sich lässt, um Gott zu begegnen und ihn
allein zu hören. Das bietet natürlich eine außergewöhnlich
günstige Gelegenheit für den »Übenden«. Und gerade
deshalb darf man ihn in keiner Weise drängen, sondern
muss vielmehr in ihm das innere Bedürfnis nach einer
solchen Erfahrung erwecken. Nun gut, bisweilen kann
man auch einmal zu jemandem sagen: »Geh zu den
Kamaldulensern oder nach Tyniec, um wieder zu dir selbst
zu finden!«, grundsätzlich jedoch sollte es eher ein inneres
Bedürfnis sein. Die Kirche als Institution empfiehlt die
Exerzitien besonders den Priestern (vgl. CIC can. 276, §2,
4), aber die rechtliche Norm ist nur ein Element, das zum
Impuls aus dem Herzen hinzukommt. Ich erwähnte
bereits, dass ich selbst meine Exerzitien meist in der
Benediktiner-Abtei Tyniec machte. Jedoch war ich auch
bei den Kamaldulensern in Bielany, im Seminar von
Krakau und in Zakopane.
Seit ich nach Rom gekommen bin, mache ich die
geistlichen Exerzitien zusammen mit der Kurie in der
ersten Fastenwoche. Sie wurden in diesen Jahren von
immer wieder anderen Predigern geleitet. Einige waren
großartig in ihrer gekonnten Redeweise, in Bezug auf den
Inhalt ihrer Predigten und manchmal sogar wegen ihres
Humors. Das war zum Beispiel bei dem tschechischen
Jesuiten P. Tomás Spidlik der Fall. Während seiner
Vorträge haben wir viel gelacht, und auch das ist nützlich.

132
Er verstand es, tiefe Wahrheiten in geistreicher Weise zu
präsentieren, und darin bewies er ein großes Talent. Diese
Exerzitien stiegen in meiner Erinnerung auf, als ich
P. Spidlik während des letzten Konsistoriums das
Kardinals-Birett überreichte. Die Prediger waren ganz
unterschiedlich und im Allgemeinen hervorragend. Ich
selbst lud Bischof Ablewicz ein, und er war außer mir der
einzige Pole, der die geistlichen Exerzitien im Vatikan
geleitet hat. Ich hielt die Exerzitien im Vatikan vor
Paul VI. und seinen Mitarbeitern. In der Vorbereitungs-
Phase hatte es ein Problem gegeben. Anfang Februar 1976
rief mich Mons. Wladislaw Rubin an mit der Nachricht,
dass Papst Paul VI. mich bat, im März die geistlichen
Exerzitien zu predigen. So hatte ich knapp zwanzig Tage
Zeit, um die Texte vorzubereiten und übersetzen zu lassen.
Der Titel, den ich jenen Meditationen gab, lautete:
»Zeichen des Widerspruchs«. Er war nicht vorgeschlagen
worden, sondern ergab sich am Schluss, gleichsam als
Synthese dessen, was ich zu sagen beabsichtigte.
In Wirklichkeit war es nicht ein Thema, sondern in
gewissem Sinne ein Schlüsselwort, in das alles ein-
mündete, was ich in den verschiedenen Vorträgen aus-
geführt hatte. Ich erinnere mich an die Tage, die der
Vorbereitung gewidmet waren. Zwanzig Meditationen
waren zu erarbeiten. Ich musste sie allein bestimmen und
ausarbeiten. Um die nötige Ruhe zu finden, ging ich nach
Zakopane zu den grauen Ursulinen von Jaszczurówka. Bis
zum Mittag schrieb ich die Meditationen, am Nachmittag
ging ich Skifahren, und später, am Abend, schrieb ich
wieder.
Diese Begegnung mit Paul VI. im Zusammenhang mit
den Exerzitien war für mich besonders wichtig, denn es
führte mir zu Bewusstsein, wie notwendig für den Bischof
eine unverzügliche Bereitschaft ist, über seinen Glauben

133
zu sprechen, wo auch immer der Herr ihm das gebietet.
Diese Promptheit braucht jeder Bischof, auch der Nach-
folger Petri selbst, so wie Paul VI. damals meine Bereit-
schaft nötig hatte.

134
Die Verwirklichung des Konzils

Das Konzil war ein großes Ereignis und für mich eine
unvergessliche Erfahrung. Ich ging sehr bereichert daraus
hervor. Nach Polen zurückgekehrt, schrieb ich ein Buch,
in dem ich die Richtlinien darstellte, die im Laufe der
Konzilssitzungen herangereift waren. Ich versuchte, darin
sozusagen den Kern der Lehren des Konzils zusammen-
zufassen, und gab ihm den Titel: Quellen der Erneuerung.
Zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es
wurde 1972 in Krakau von der Polnischen Theologischen
Gesellschaft (PTT) veröffentlicht. Das Buch wollte auch
eine Art ex voto der Dankbarkeit sein für das, was die
göttliche Gnade durch die Konzilsversammlung in mir
persönlich als Bischof gewirkt hatte. Das Zweite
Vatikanische Konzil spricht nämlich in besonderer Weise
über die Aufgaben des Bischofs. Das Erste Vatikanische
Konzil hatte den Primat des Papstes behandelt; das
Vatikanum II beschäftigte sich speziell mit den Bischöfen.
Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die Dokumente
zur Hand zu nehmen, vor allem die dogmatische Konstitu-
tion Lumen gentium. Die tiefe Lehre des Konzils über das
Bischofsamt fußt auf der Bezugnahme auf die dreifache
Aufgabe (munus) Christi: die prophetische, die priester-
liche und die königliche. Die Konstitution Lumen gentium
spricht davon in den Nummern 24 bis 27. Aber auch
andere Konzilstexte erwähnen diese drei Aufgaben (tria
munera). Unter ihnen gebührt dem Dekret Christus
Dominus besondere Aufmerksamkeit, das gerade vom
pastoralen Amt der Bischöfe handelt.

135
Als ich aus Rom nach Polen zurückkehrte, erregte
gerade der Fall der bekannten Botschaft der polnischen
Bischöfe an ihre deutschen Amtskollegen großes Auf-
sehen. In ihrem Schreiben erklärten die Bischöfe Polens,
im Namen ihrer Landsleute das Unrecht zu verzeihen, das
sie während des Zweiten Weltkriegs durch die Deutschen
erfahren hatten. Zugleich baten sie um Verzeihung für das
Unrecht, an dem sich die Polen gegenüber den Deutschen
schuldig gemacht haben konnten. Leider provozierte
besagte Botschaft viele Polemiken, Unterstellungen und
Verleumdungen. Dieser Akt der Versöhnung, der – wie
sich später herausstellte – entscheidend war für die
Normalisierung der polnisch-deutschen Beziehungen, ge-
fiel den kommunistischen Behörden überhaupt nicht. Die
Folge war eine Verhärtung gegenüber der Kirche. Das bot
natürlich nicht den besten Hintergrund für die
Tausendjahr-Feiern der Taufe Polens, die im April 1966
von Gniezno (Gnesen) aus beginnen sollten. In Krakau
fanden die Zelebrationen am 8. Mai, dem Fest des hl.
Stanislaus, statt. Noch heute ist mir das Bild lebendig vor
Augen von diesen Scharen von Menschen, die in der
Prozession vom Wawel nach Skatka zogen. Die Behörden
sahen sich außerstande, diesen massiven und geordneten
Zustrom von Menschen zu stören. In den Tausendjahr-
Feiern schwächten sich die durch die Botschaft der
Bischöfe ausgelösten Spannungen ab und verschwanden
fast völlig, so dass es möglich war, eine angemessene
Katechese über die Bedeutung des Jubiläums für das
Leben der Nation fortzusetzen.
Gewöhnlich bot auch die jährliche Fronleichnams-
Prozession eine gute Gelegenheit zur Predigt. Vor dem
Krieg zog die große Prozession zu Ehren des Leibes und
Blutes Christi von der Kathedrale auf dem Wawel aus
durch die Straßen und Plätze der Stadt bis nach Rynek

136
Glowny. Während der Besatzung verbot der deutsche
Gouverneur Hans Frank die Prozession. Später, zur Zeit
des Kommunismus, willigten die Behörden in eine
kleinere Form der Prozession ein: von der Kathedrale des
Wawel aus rund um den Hof des königlichen Schlosses.
Erst 1971 konnte die Prozession wieder über den Hügel
des Wawel hinausgehen. Daraufhin versuchte ich, die
Themen der Reden, die an den einzelnen Altären zu halten
waren, so zu gliedern, dass sie mir ermöglichten, im
Rahmen der Katechese über die Eucharistie auch die
verschiedenen Aspekte des großen Themas der Religions-
freiheit anzuschneiden, das zu der Zeit außerordentlich
aktuell war.
Ich denke, dass sich in diesen vielgestaltigen Formen der
Volksfrömmigkeit die Antwort verbirgt auf eine Frage, die
gelegentlich erhoben wird: die Frage nach der Bedeutung
der Tradition in ihren lokalen Manifestationen. Die
Antwort ist im Grunde einfach: Die Übereinstimmung der
Herzen stellt eine große Kraft dar. Sich in dem
verwurzeln, was alt, stark, tief und zugleich dem Herzen
lieb ist, vermittelt eine außergewöhnliche innere Energie.
Wenn diese Verwurzelung dann mit einer kühnen Ge-
dankenkraft verbunden ist, gibt es keinen Grund mehr, um
die Zukunft des Glaubens und der menschlichen Be-
ziehungen innerhalb der Nation zu fürchten. Im reichen
humus der Tradition findet nämlich die cultura ihre
Nahrung, die das Zusammenleben der Bürger festigt und
ihnen das Gefühl vermittelt, eine große Familie zu sein,
indem sie ihren Überzeugungen Stütze und Kraft verleiht.
Unsere große Aufgabe besteht gerade heute, im Zeitalter
der so genannten Globalisierung, darin, die gesunden
Traditionen zu pflegen, indem man in gleicher Weise den
Mut der Phantasie und des Denkens, einen offenen Blick
in die Zukunft und einen liebevollen Respekt vor der

137
Vergangenheit fördert. Es ist eine Vergangenheit, die in
den Herzen der Menschen in der Form alter Worte, alter
Zeichen, Erinnerungen und Bräuche fortlebt, die sie von
den vorangegangenen Generationen ererbt haben.

138
Die polnischen Bischöfe

Zur Zeit meines Dienstes in Krakau war ich den Bischöfen


von Gorzów durch eine besondere Freundschaft
verbunden. Es waren drei: Wilhelm Pluta, heute bereits
»Diener Gottes«, Jerzy Stroba und Ignacy Jez. Ich
empfand sie als wahre Freunde. Und deshalb besuchte ich
sie auch unabhängig von dienstlichen Gründen. Die
Bekanntschaft mit Stroba ging auf Krakau zurück, wo er
Rektor des Schlesischen Seminars gewesen war. In
demselben Seminar war auch ich Professor gewesen; ich
unterrichtete dort Ethik, fundamentale Moraltheologie und
Sozialethik. Von dem oben erwähnten Trio lebt noch der
Bischof Ignacy Jez. Er ist mit einem lebendigen Sinn für
Humor begabt, den er zum Beispiel auch darin zum
Ausdruck bringt, dass er versteht, über seinen Nachnamen
Jez zu scherzen (der auf polnisch »Igel« bedeutet). Als
residierender Bischof hatte ich in meiner Erzdiözese
einige Weihbischöfe: Julian Groblicki, Jan Pietraszko,
Stanislaw Smolenski und Albin Malysiak – die letzten
beiden wurden von mir persönlich geweiht. Ich schätzte
Mons. Malysiak wegen seiner Dynamik. Ich erinnere mich
noch an ihn als Pfarrer in Nowa Wies, einem Krakauer
Stadtteil. Bisweilen gefiel es mir, ihn mit dem charakteri-
sierenden Beinamen »Albin, der Eifrige« zu benennen.
Bischof Jan Pietraszko war ein großartiger Prediger, ein
Mann, der seine Hörer begeisterte. Kardinal Franciszek
Macharski, mein Nachfolger in Krakau, konnte 1994
seinen Seligsprechungs-Prozess eröffnen. Inzwischen liegt
dieser Prozess bereits in Rom. Auch die anderen beiden
Weihbischöfe sind mir in guter Erinnerung: Jahrelang

139
haben wir uns bemüht, gemeinsam im Geist brüderlichen
Miteinanders der geliebten Kirche von Krakau zu dienen.
Im nahe gelegenen Tarnów war Bischof Jerzy Ablewicz,
den ich schon erwähnte. Ich begab mich ziemlich oft zu
ihm; wir waren im Übrigen nahezu gleichaltrig – er war
nur ein Jahr älter als ich. Der Bischof von Czestochowa,
Stefan Barela, behandelte mich mit großer Herzlichkeit.
Während seines 25-jährigen Priester-Jubiläums sagte ich
in der Predigt: »Das Bischofsamt ist gleichsam eine
zusätzliche und – unter einem gewissen Aspekt – neue
Entdeckung des Priestertums. Auch diese verwirklicht sich
jedoch auf der Basis desselben Kriteriums: Man muss sich
vor allem Christus, dem einzigen Hirten und Bischof
unserer Seelen, zuwenden. Und es ist ein noch tieferes,
glühenderes, anspruchsvolleres Sich-Zuwenden. Es voll-
zieht sich durch die Zuwendung, die man den Seelen, den
unsterblichen, von Christi Blut erlösten Seelen, schenkt.
Dieses sich den Seelen Zuwenden geschieht vielleicht
nicht mehr so unmittelbar wie in der täglichen Arbeit eines
Priesters, der als Pfarrer oder Pfarrvikar in der Pfarrei lebt.
Zum Ausgleich dafür hat es einen weiteren Blick, denn
vor dem Bischof tut sich die gesamte Gemeinschaft der
Kirche auf. In unserem Bewusstsein als Bischöfe des
Vatikanum II ist die Kirche der Ort der Begegnung der
gesamten menschlichen Familie, der Ort der Versöhnung,
der Annäherung trotz allem, der Annäherung durch den
Dialog, der Annäherung zum Preis des Leidens. Mag sein,
für uns polnische Bischöfe der Epoche des Vatikanum II
mehr zum Preis des Leidens als des Dialogs« (Adam
Boniecki, Kalendarium zycia Karola Wojtyty, Krakau
2000, SS. 286–287).
In Schlesien entfaltete Bischof Herbert Bednorz seinen
pastoralen Dienst, und noch vor ihm Bischof Stanislaw
Adamski. Mons. Bednorz war zu seinem Koadjutor

140
ernannt worden. Als ich Metropolit geworden war, begab
ich mich zu allen Bischöfen der Metropolie und also auch
nach Katowice (Kattowitz), wo ich mich Mons. Adamski
vorstellte. Bei ihm waren Bischof Julian Bieniek und
Bischof Józef Kurpas. Ich verstand mich gut mit den
Bischöfen Schlesiens. Regelmäßig am letzten Sonntag im
Mai traf ich sie im Marien-Wallfahrtsort Piekary, wo sich
an diesem Tag der große Pilgerstrom der Grubenarbeiter
versammelte. Bischof Bednorz lud mich stets für die
Homilie ein. Der letzte Sonntag im Mai war ein Ereignis:
Diese Pilgerfahrt hatte die Gestalt eines besonderen
Zeugnisses in der Volksrepublik Polen. Die Anwesenden
erwarteten die Predigt und unterstrichen mit Applaus jede
Äußerung, in der sie eine Beanstandung irgendeiner frag-
würdigen Linie der von der Regierung verfolgten Politik
in Sachen Religion oder Moral wahrnahmen, wie zum
Beispiel in der Frage der sonntäglichen Ruhe. In diesem
Zusammenhang ist in Schlesien der Ausspruch von
Bischof Bednorz: »Der Sonntag gehört Gott und uns« zu
einem Sprichwort geworden. Am Ende der Feiern wendete
sich Bischof Bednorz gewöhnlich an mich mit den
Worten: »Nun, wir erwarten Sie im nächsten Jahr zu einer
weiteren Predigt dieser Art.« Die Grubenarbeiter von
Piekary mit ihrer grandiosen Wallfahrt bleiben für mich
ein wunderbares Zeugnis, das etwas Außerordentliches an
sich hat.
Einen besonderen Platz in meinem Herzen hat Andrzej
Maria Deskur, heute emeritierter Präsident des Päpstlichen
Medienrates. Ich habe ihn am 25. Mai 1985 in das
Kardinals-Kollegium berufen. Seit Beginn meines
Pontifikats war er mir viele Male eine Stütze, besonders
durch sein Leiden, aber auch durch seinen weisen Rat.
Während ich die Bischöfe erwähne, kann ich es nicht
unterlassen, auch auf meinen Patron, den hl. Karl

141
Borromäus, zu sprechen zu kommen. Beim Gedanken an
diese Gestalt beeindruckt mich die Übereinstimmung der
Fakten und der Aufgaben. Er war im 16. Jahrhundert zur
Zeit des Konzils von Trient Bischof von Mailand. Mir hat
es der Herr vergönnt, im 20. Jahrhundert Bischof zu sein,
und zwar genau während der Zeit des Zweiten Vatika-
nischen Konzils, gegenüber dem er mir die gleiche
Aufgabe übertragen hat, nämlich seine praktische Um-
setzung. Ich muss sagen, dass in diesen Jahren meines
Pontifikats die Verwirklichung des Konzils in meinen
Gedanken stets an erster Stelle stand. Diese Überein-
stimmung hat mich immer in Erstaunen versetzt, und an
diesem heiligen Bischof hat mich insbesondere sein
enormer pastoraler Einsatz fasziniert: Nach dem Konzil
widmete sich der hl. Karl den Pastoralbesuchen in der
Diözese, die damals 800 Pfarreien umfasste. Die Erz-
diözese Krakau war kleiner, und dennoch ist es mir nicht
gelungen, die Besuchsreihe, die ich begonnen hatte, zu
vollenden. Auch die Diözese Rom, die mir jetzt anvertraut
ist, ist groß: Sie zählt 333 Pfarreien. Bis jetzt habe ich 317
davon besucht; es bleiben also noch sechzehn.

142
TEIL VI
GOTT UND DER MUT

»Ja, ich komme!«


(Hebr 10,7)

143
Stark im Glauben

In meiner Erinnerung klingen noch die Worte nach, die


Kardinal Stefan Wyszynski am 11. Mai 1946, dem Tag
vor seiner Bischofsweihe in Jasna Góra sagte: »Bischof zu
sein, hat etwas vom Kreuz in sich, darum setzt die Kirche
das Kreuz auf die Brust des Bischofs. Am Kreuz muss
man sich selber sterben; ohne das gibt es keine Fülle des
Priestertums. Das Kreuz auf sich zu nehmen, ist nicht
einfach, auch wenn es aus Gold und mit Edelsteinen
besetzt ist.« Zehn Jahre später, am 16. März 1956, sagte
der Kardinal: »Der Bischof hat die Pflicht, nicht nur durch
das Wort und den liturgischen Dienst zu wirken, sondern
auch durch das Opfer des Leidens.« Und bei einer anderen
Gelegenheit kam Kardinal Wyszynski noch einmal auf
diese Gedanken zurück, als er sagte: »Für einen Bischof
bedeutet der Mangel an Stärke den Anfang der Niederlage.
Kann er weiter Apostel sein? Für einen Apostel ist
nämlich wesentlich, dass er für die Wahrheit Zeugnis
ablegt! Und das erfordert immer Stärke« (Stefan
Wyszynski, Zapiski wiezienne, Paris 1982, S. 251). Und
auch dies sind seine Worte: »Der größte Fehler des
Apostels ist die Angst. Die Angst wird erweckt durch
einen Mangel an Vertrauen auf die Macht des Meisters;
das ist es, was das Herz bedrückt und die Kehle
verschnürt. Dann hört der Apostel auf, zu bekennen.
Bleibt er Apostel? Die Jünger, die ihren Meister verließen,
steigerten den Mut der Folterknechte. Wer über eine
Rechtssache angesichts der Feinde schweigt, macht diese
übermütig. Die Furcht des Apostels ist der erste Ver-
bündete der Feinde der Sache. ›Durch Angst zum

144
Schweigen bringen‹ ist die erste Aufgabe in der Strategie
der Gottlosen. Der in jeder Diktatur angewendete Terror
rechnet mit der Angst der Apostel. Das Schweigen besitzt
seine apostolische Aussagekraft nur dann, wenn es das
Gesicht nicht verbirgt vor dem, der es schlägt. So verhielt
sich Christus in seinem Schweigen. In diesem Zeichen
bewies er jedoch seine Stärke. Christus ließ sich von den
Menschen nicht in Schrecken versetzen. Als er hinausging
und sich der Kohorte stellte [vgl. Joh 18,4–5], sagte er
mutig: ›Ich bin es‹« (ebd., S. 94). Wirklich, man darf der
Wahrheit nicht den Rücken kehren, aufhören, sie zu
verkündigen, und sie verbergen, selbst wenn es sich um
eine schwierige Wahrheit handelt, deren Offenbarung
großen Schmerz mit sich bringt. »Ihr werdet die Wahrheit
erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien«
(Joh 8,32) – das ist unsere Aufgabe und zugleich unsere
Unterstützung! Es gibt darin keinen Raum für Kompro-
misse, noch für einen opportunistischen Rückgriff auf die
menschliche Diplomatie. Man muss für die Wahrheit
Zeugnis ablegen, auch wenn das Verfolgungen kostet,
sogar zum Preis des eigenen Blutes, wie Christus selbst es
getan hat, und wie es seinerzeit auch mein heiliger Vor-
gänger in Krakau, der Bischof Stanislaus von Szczepanów
tat.
Mit Sicherheit werden wir auf Prüfungen stoßen. Darin
liegt nichts Außergewöhnliches. Es gehört zum Glaubens-
leben. Manchmal sind die Prüfungen leicht, manchmal
sehr schwer oder sogar dramatisch. In der Prüfung können
wir uns allein fühlen, jedoch die göttliche Gnade, die
Gnade eines siegreichen Glaubens verlässt uns nie. Des-
halb können wir damit rechnen, aus jeder Prüfung sieg-
reich hervorzugehen, auch aus der schwierigsten. Als ich
1987 auf der Westerplatte in Danzig zur polnischen
Jugend darüber sprach, berief ich mich auf diesen Ort als

145
ein aussagekräftiges Symbol der Treue in einem drama-
tischen Moment. Dort stellte sich 1939 eine Gruppe junger
polnischer Soldaten im Kampf gegen den militärisch
eindeutig überlegenen deutschen Invasor der äußersten
Prüfung und legte ein siegreiches Zeugnis des Mutes, der
Ausdauer und der Treue ab. Ich berief mich auf dieses
Ereignis, um die Jugendlichen vor allem zum Nachdenken
zu bringen über das Verhältnis von »mehr sein und mehr
haben«, und ich ermahnte sie: »Niemals darf das nur mehr
Haben Oberhand gewinnen. Denn dann kann der Mensch
das Wertvollste verlieren: seine Menschlichkeit, sein
Gewissen und seine Würde.« In dieser Hinsicht rief ich sie
auf: »Ihr müsst euch selbst fordern, auch wenn die anderen
nichts von euch fordern sollten.« Und ich erklärte: »Auch
ein jeder von euch, ihr Jugendlichen, begegnet in seinem
Leben seiner ›Westerplatte‹. Eine Dimension der Auf-
gaben, die er annehmen und erfüllen muss. Eine gerechte
Sache, für die man kämpfen muss. Eine Aufgabe, eine
Pflicht, der man sich nicht entziehen, vor der man
unmöglich ›fahnenflüchtig werden‹ kann. Schließlich: eine
gewisse Wahrheits- und Werteordnung, die man ›wahren‹
und ›verteidigen‹ muss – in sich selbst und in seiner
Umgebung. Ja: verteidigen für sich selbst und für die
anderen« (12. Juni 1987). Die Menschen brauchten immer
Vorbilder, denen sie nacheifern konnten. Die brauchen sie
vor allem heute, in dieser unserer Zeit, die veränderlichen
und in sich widersprüchlichen Beeinflussungen so stark
ausgesetzt ist.

146
Die Heiligen von Krakau

Da von Vorbildern die Rede ist, denen man nacheifern


muss, kann man unmöglich die Heiligen vergessen. Welch
großes Geschenk sind für jede Diözese die eigenen
Heiligen und Seligen! Ich denke, dass es für jeden Bischof
besonders bewegend ist, wenn er ganz bestimmte Männer
und Frauen als Vorbilder vorschlagen kann, die sich durch
außergewöhnliche, vom Glauben getragene Tugenden aus-
gezeichnet haben. Die innere Anteilnahme wächst, wenn
es sich um Menschen handelt, die zu Zeiten gelebt haben,
die uns noch nahe sind. Ich hatte die Freude, Heiligkeits-
Prozesse großer Christen zu eröffnen, die in Verbindung
mit der Erzdiözese Krakau standen. Später, als Bischof
von Rom, konnte ich ihren »heroischen Tugendgrad«
deklarieren und sie nach Abschluss der jeweiligen
Prozesse ins Buch der Seligen und Heiligen eintragen.
Ich erinnere mich, dass ich, als ich während des Krieges
als Arbeiter in der Fabrik »Solvay« tätig war, die in der
Nähe des Klosters Lagiewniki liegt, oftmals am Grab von
Schwester Faustina verweilte, die damals noch nicht selig
gesprochen war. Alles an ihr war außerordentlich, weil
unvorhersehbar bei einem so einfachen Mädchen. Wie
hätte ich mir damals vorstellen können, dass es mir einst
vergönnt sein würde, sie zuerst selig und dann heilig zu
sprechen? Sie war in einen Konvent in Warschau ein-
getreten, wurde dann nach Vilna und schließlich nach
Krakau versetzt. Gerade sie war es, die wenige Jahre vor
dem Krieg die große Vision von Jesus, dem Barm-
herzigen, hatte, der sie bat, sich zur Verfechterin der Ver-
ehrung der Göttlichen Barmherzigkeit zu machen, die in

147
der Kirche eine große Verbreitung finden sollte. Schwester
Faustina starb 1938. Von da an zog diese Verehrung von
Krakau aus immer größere Kreise und breitete sich über
die ganze Welt aus. Als ich Erzbischof geworden war,
beauftragte ich Prof. Ignacy Rózycki mit der Prüfung ihrer
Schriften. Zuerst wich er aus. Dann nahm er schließlich an
und studierte die verfügbaren Dokumente gründlich. Am
Ende sagte er: »Sie ist eine wunderbare Mystikerin.«
Einen besonderen Platz in meiner Erinnerung und – mehr
noch – in meinem Herzen hat Bruder Albert (Adam
Chmielowski). Er kämpfte während des Januar-Aufstands,
und dabei zertrümmerte ihm ein Geschoss ein Bein.
Seitdem war er Invalide; er trug eine Prothese. Für mich
war er eine wunderbare Gestalt. Ich war ihm geistlich sehr
verbunden und schrieb über ihn ein Drama mit dem Titel
»Bruder unseres Gottes«. Seine Persönlichkeit faszinierte
mich. Ich sah in ihm ein Vorbild, das auf mich zu-
geschnitten war: Er hatte die Kunst aufgegeben, um
Diener der Armen – der »Angeschwollenen«, wie die
Landstreicher genannt wurden – zu werden. Seine Ge-
schichte half mir sehr, die Kunst und das Theater hinter
mir zu lassen, um ins Seminar einzutreten.
Jeden Tag bete ich die Litaneien der polnischen Nation,
in denen auch der hl. Albert aufgeführt ist. Unter den
Heiligen Krakaus erinnere ich mich auch an den hl. Jacek
Odrowaz: ein großer Heiliger dieser Stadt. Seine Reliquien
ruhen in der Dominikaner-Kirche. Viele Male bin ich in
dieses Heiligtum gegangen. Sankt Jacek war ein großer
Missionar: Von Danzig aus drang er in den Osten vor bis
nach Kiew.
In der Kirche der Franziskaner ist auch das Grab der sel.
Aniela Salawa, eines einfachen Dienstmädchens. Ich
sprach sie am 13. August 1991 in Krakau selig. Ihr Leben
ist der Beweis, dass die Arbeit eines Dienstmädchens,

148
wenn sie im Geist des Glaubens und der Opferbereitschaft
verrichtet wird, zur Heiligkeit führen kann. Oft habe ich
ihr Grab besucht.
Diese Krakauer Heiligen betrachte ich als meine
Beschützer. Ich könnte eine lange Reihe von ihnen auf-
zählen: den hl. Stanislaus, die hl. Königin Jadwiga, den hl.
Johannes von Kety, den hl. Kasimir, den Sohn des Königs,
und viele mehr. Ich denke an sie und bete zu ihnen für
meine Nation.

149
Martyres – die Märtyrer

»Kreuz Christi, dich lobe ich , /du seist


immer gelobt! / Aus dir kommen Macht und
Stärke, / in dir liegt unser Sieg.«

Nie ist es mir passiert, mein bischöfliches Brustkreuz mit


Gleichgültigkeit anzulegen. Es ist eine Handlung, die ich
immer mit einem Gebet begleite. Seit über 45 Jahren liegt
das Kreuz auf meiner Brust, nahe an meinem Herzen. Das
Kreuz lieben heißt: das Opfer lieben. Vorbilder dieser
Liebe sind die Märtyrer, wie zum Beispiel Michal Kozal,
der am 15. August 1939, zwei Wochen vor Ausbruch des
Krieges, zum Bischof geweiht wurde. Er verließ seine
Herde während des Konfliktes nicht, auch wenn der Preis,
den er dafür zahlen musste, vorhersehbar war. Er verlor
sein Leben im Konzentrationslager Dachau, wo er für die
mitgefangenen Priester Vorbild und Stütze war.
Im Jahre 1999 war es mir vergönnt, 108 Märtyrer, Opfer
der Nationalsozialisten, selig zu sprechen, darunter drei
Bischöfe: Erzbischof Antoni Julian Nowowiejski, Ordina-
rius von Plock, sein Weihbischof, Mons. Leon
Wetmanski, und Mons. Wladyslaw Goral von Lublin.
Zusammen mit ihnen sind Priester, Ordensleute und auch
Laien zur Ehre der Altäre gelangt. Diese Einheit im
Glauben, in der Liebe und im Martyrium von Hirten und
Herde, die um das Kreuz Christi versammelt sind, ist
bedeutsam.
Ein weit bekanntes Modell eines Opfers der Liebe im
Martyrium ist der polnische Franziskaner Maximilian
Kolbe. Er gab sein Leben im Konzentrationslager Ausch-
150
witz hin im Tausch für einen anderen Gefangenen, einen
Familienvater, den er nicht kannte.
Es gibt auch andere Märtyrer, die unseren Tagen noch
näher sind. Mit Ergriffenheit erinnere ich mich an die
Begegnungen mit Kardinal Francois-Xavier Nguyen Van
Thuân. Im denkwürdigen Jubiläumsjahr 2000 predigte er
die geistlichen Exerzitien für uns im Vatikan.
In meinem Dank für die von ihm vorgetragenen
Meditationen sagte ich: »Als persönlicher Zeuge des
Kreuzes in den langen Jahren der Haft in Vietnam hat er
uns häufig Fakten und Episoden aus seiner erlittenen
Gefangenschaft erzählt und uns so in der tröstlichen
Sicherheit bestärkt, dass dann, wenn alles um uns und
vielleicht auch in uns zusammenbricht, Christus unser
zuverlässiger Rückhalt bleibt« (18.03.2000).
Ich könnte noch viele andere unerschrockene Bischöfe
erwähnen, die mit ihrem Beispiel anderen den Weg
wiesen … Welches ist ihr gemeinsames Geheimnis? Ich
denke, es ist die Kraft im Glauben. Der Vorrang, der im
ganzen Leben und in allem Tun dem Glauben eingeräumt
wird, einem mutigen, furchtlosen Glauben, einem in der
Prüfung gefestigten Glauben, der bereit ist, jeglichem Ruf
Gottes in großherziger Zustimmung zu folgen: fortes in
fide …

Sankt Stanislaus

Mit den Augen des Herzens sehe ich, wie sich vor dem
Hintergrund so vieler leuchtender Gestalten polnischer
Heiliger das überragende Profil des Bischofs und
Märtyrers Sankt Stanislaus abzeichnet. Wie ich schon
erwähnte, habe ich ihm eine Dichtung gewidmet, in der
ich das Schicksal seines Martyriums wachgerufen habe, in
151
dem ich gleichsam ein Spiegelbild der Geschichte der
Kirche in Polen sehe. Hier einige Ausschnitte dieses
Gesanges:

1.

Ich möchte die Kirche besingen – meine Kirche, die


gemeinsam mit mir geboren wird, nicht aber mit mir stirbt
– und ich sterbe nicht mit ihr, die mich immer überragt –
Kirche: Grund und Gipfel meines Seins. Kirche: Wurzel,
die ich ausstrecke in die Vergangenheit und in die Zukunft,
Sakrament meines Seins in Gott, der Vater ist.
Ich möchte die Kirche besingen – meine Kirche,
gebunden an mein Land mein Land auf dieser Erde
(»was du auf Erden binden wirst – wurde ihr gesagt –
wird auch im Himmel gebunden sein«) und an mein Land
hat sich meine Kirche gebunden.
Das Land liegt im Becken der Weichsel, mit über-
strömenden Zuflüssen im Frühjahr, wenn die
Schneemassen schmelzen in den Karpaten.
Die Kirche hat sich gebunden an mein Land, damit, was
dort gebunden ist, gebunden bleibe im Himmel.

2.

Es gab einen Mann, in dem mein Land sich an den


Himmel gebunden wusste. Es gab diesen Mann, diese
Männer … Zu allen Zeiten gibt es sie … Dank ihnen sieht
sich die Erde im Sakrament einer neuen Existenz. Sie ist
ein Vaterland: denn dort wird empfangen das Haus des
VATERS, dort wird es geboren. Ich möchte meine Kirche
besingen in einem Mann namens Stanislaus, der Name,
152
eingeschrieben in die ältesten Chroniken durch das
Schwert von König Boleslaw. Er zeichnete diesen Namen
auf den Boden der Kathedrale, als Bäche von Blut sich
ergossen.

3.

Ich möchte meine Kirche besingen in dem Namen, in dem


das Volk eine zweite Taufe erhielt, eine Bluttaufe; um
dann, und nicht nur einmal, ausgesetzt zu sein der Taufe
unterschiedlicher Prüfungen – der Taufe des Sehnens, in
der man entdeckt den verborgenen Atemhauch des
GEISTES – in einem NAMEN, eingepflanzt in die Erd-
scholle der menschlichen Freiheit noch vor dem Namen
Stanislaus.

4.

Schon wurden auf der Erdscholle der menschlichen


Freiheit geboren der LEIB und das BLUT, durchschnitten
vom königlichen Schwert im zentralen Kern des priester-
lichen Wortes, durchschnitten an der Basis des Schädels,
durchschnitten im lebendigen Rumpf … hatten LEIB und
BLUT nicht die Zeit, geboren zu werden – das Schwert
zerschlug das Metall des Kelches und das Brot aus Korn.

5.

Der König dachte wohl: am dir wird heute die Kirche


noch nicht geboren werden – nicht geboren werden wird
das Volk aus dem Wort, das ein Vorwurf ist für Fleisch

153
und Blut; geboren werden wird es aus dem Schwert, aus
meinem Schwert, das in der Mitte durchschneiden wird
deine Worte, geboren werden wird es aus dem
vergossenen Blut … so dachte wohl der König. Der ver-
borgene Atemhauch des GEISTES jedoch wird zusammen-
fügen das durchschlagene Wort und das Schwert: den
durchschlagenen Nacken, die blutbesudelten Hände … Er
sagt: zusammen werdet ihr gehen in Zukunft, nichts wird
euch trennen können! Ich möchte meine Kirche besingen,
in der durch die Zeiten Wort und Blut gemeinsam voran-
gehn, vereint durch den verborgenen Atemhauch des
GEISTES.

6.

Vielleicht dachte Stanislaus: mein Wort wird dich


verwunden und dich bekehren, an die Pforten der Kathe-
drale wirst du kommen als Büßer, erschöpft vom Fasten
wirst du kommen, durchbohrt vom Strahl einer inneren
Stimme … zum Tisch des Herrn wirst du treten wie der
verlorene Sohn.
Das Wort hat nicht bekehrt, das Blut wird bekehren –
vielleicht fehlte dem Bischof die Zeit, zu denken: nimm
diesen Kelch von mir.

7.

Auf die Erdscholle unserer Freiheit fällt das Schwert.


Auf die Erdscholle unserer Freiheit fällt das Blut.
Welches der beiden wird obsiegen?

154
Das erste Zeitalter wendet sich seinem Ende zu und es
beginnt das zweite. Nehmen wir den Entwurf in die Hand,
den Entwurf einer Zeit, die untrüglich kommen wird.

Karol Woityla, Stanislow, I, 1–7, in: Poezje i dramaty,


Krakau 1979, S. 103–105

155
Das Heilige Land

Seit langer Zeit bewegte ich im Herzen den Gedanken,


eine Pilgerreise auf den Spuren Abrahams zu machen, da
ich ja schon zahlreiche andere Pilgerreisen in alle Teile
der Welt unternommen hatte … Paul VI. hatte sich auf
seiner ersten Reise gerade an diese Heiligen Stätten
begeben. Ich wünschte mir, dass diese meine Reise im
Jubiläumsjahr stattfände. Sie hätte in Ur in Chaldäa
beginnen sollen, das im Territorium des heutigen Irak liegt
und von wo aus vor vielen Jahrhunderten Abraham
aufbrach, als er dem Ruf Gottes folgte (vgl. Gen 12,1–4).
Anschließend hätte ich mich nach Ägypten und auf die
Spuren Moses begeben, der die Israeliten dort herausführte
und am Fuße des Berges Sinai die Zehn Gebote als Funda-
ment des Bundes mit Gott empfing. Und dann wollte ich
meine Pilgerreise im Heiligen Land vollenden, angefangen
mit dem Ort der Verkündigung. Anschließend hätte ich
mich dann nach Betlehem begeben, wo Jesus geboren
wurde, und an die anderen Orte, die mit seinem Leben und
Wirken verbunden sind. Meine Reise verlief dann nicht
genau so, wie ich sie geplant hatte. Es war mir nicht
möglich, ihren ersten Teil, den auf den Spuren Abrahams,
zu verwirklichen. Es war der einzige Ort, den ich nicht
erreichen konnte, weil die irakischen Behörden es nicht
gestatteten. Nach Ur in Chaldäa versetzte ich mich im
Geist während einer eigens dafür organisierten Zeremonie
in der Aula Pauls VI. Hingegen konnte ich mich per-
sönlich nach Ägypten begeben, an den Fuß des Berges
Sinai, wo der Herr dem Mose seinen Namen offenbarte.

156
Dort wurde ich von den orthodoxen Mönchen empfangen.
Sie waren sehr gastfreundlich.
Anschließend ging ich nach Betlehem, nach Nazaret und
nach Jerusalem. Ich begab mich zum Ölberg, in den
Abendmahlssaal und natürlich auf den Kalvarienberg,
nach Golgatha. Es war das zweite Mal, dass ich an diese
Heiligen Stätten kam. Das erste Mal war ich dort als
Erzbischof von Krakau während des Konzils gewesen. Am
letzten Tag dieser Jubiläums-Pilgerreise ins Heilige Land
konzelebrierte ich mit dem Kardinal Staatssekretär Angelo
Sodano und anderen Vertretern der Kurie die heilige
Messe am Grab Christi. Was kann man nach all dem
sagen? Diese Reise war ein großes, riesengroßes Erlebnis.
Der bedeutendste Augenblick der ganzen Pilgerreise war
zweifellos der Aufenthalt auf dem Kalvarienberg, auf dem
Berg der Kreuzigung, und am Grab, an jenem Grab, das
zugleich der Ort der Auferstehung war. Und in meinen
Gedanken erinnerte ich mich an die Empfindungen, die
mich während meiner ersten Pilgerreise ins Heilige Land
bewegten. Damals hatte ich geschrieben:
»O Ort, du Ort des Heiligen Landes – welchen Raum
nimmst du ein in mir! Darum kann ich dich nicht mit
meinen Schritten zertrampeln, ich muss mich niederknien.
Und so heute bezeugen, dass du ein Ort der Begegnung
gewesen bist. Ich knie nieder – und drücke so mein Siegel
ein. Du wirst hier bleiben mit meinem Siegel – du wirst
bleiben, wirst bleiben – und ich werde dich mitnehmen,
dich in mir umformen in einen Ort neuen Zeugnisses. Ich
scheide als ein Zeuge, der sein Zeugnis ablegen wird über
die Jahrhunderte hin«
Der Ort der Erlösung! Zu sagen: »Ich bin froh, dort gewesen
zu sein«, ist zu wenig. Es handelt sich um etwas Größeres: um
das Zeichen des großen Leidens, um das Zeichen des
heilbringenden Todes, um das Zeichen der Auferstehung.

157
Abraham und Christus:

»Ja, ich komme (…) um deinen Willen, Gott, zu tun«


(Hebr 10,7)

Der Vorrang des Glaubens und der Mut, der aus ihm
entspringt, haben dazu geführt, dass jeder von uns dem
Ruf Gottes folgte und weg zog, ohne zu wissen, wohin er
kommen würde (vgl. Hebr 11,8). Der Verfasser des
Hebräerbriefes schreibt diese Worte im Zusammenhang
mit der Berufung Abrahams, doch sie betreffen jede
menschliche Berufung, auch jene besondere Berufung, die
sich im bischöflichen Dienst verwirklicht: die Berufung,
im Glauben und in der Liebe die Ersten zu sein. Wir sind
erwählt und berufen, weg zu ziehen, und nicht wir
bestimmen das Ziel dieses Weges. Das wird Derjenige tun,
der uns befohlen hat, aufzubrechen: der treue Gott, der
Gott des Bundes. Auf Abraham bin ich vor kurzem
zurückgekommen mit einer dichterischen Meditation, aus
der ich hier einen Abschnitt wiedergebe:
»O Abraham, ER, der in die Geschichte des Menschen
eingetreten ist, will durch dich das Mysterium, das seit
Anbeginn der Welt verborgen war, nur offenbar werden
lassen, jenes Mysterium, das schon bestand vor
Erschaffung der Welt!
Wenn wir heute zu jenen Orten pilgern, von denen
Abraham einst auszog, wo er die Stimme vernahm, wo sich
die Verheißung erfüllte, so deshalb, um an der Schwelle zu
stehen – und zum Ursprung des Bundes zu gelangen«

158
(Komisches Triptychon: Der Berg im Lande Morija,
Herder, Freiburg im Breisgau 2003, S. 47).
Auch in der vorliegenden Meditation über die bischöf-
liche Berufung möchte ich mich Abraham zuwenden,
unserem Vater im Glauben, und insbesondere dem
Geheimnis seiner Begegnung mit Christus, dem Retter,
der dem Fleische nach Sohn Abrahams ist (vgl. Mt 1,1),
zugleich jedoch existiert, noch ehe Abraham wurde, weil
er seit Ewigkeit ist (vgl. Joh 8,58). Diese Begegnung wirft
ein Licht auf das Geheimnis unserer Berufung im Glauben
und vor allem unserer Verantwortung und des nötigen
Mutes, um ihr zu entsprechen. Man kann sagen, dass es
ein zweifaches Geheimnis ist. Da ist zunächst das
Geheimnis dessen, was dank der Liebe Gottes bereits in
der menschlichen Geschichte geschehen ist. Und dann ist
da das Geheimnis der Zukunft, das heißt der Hoffnung: Es
ist das Geheimnis der Schwelle, die jeder von uns kraft
eben dieser Berufung überschreiten muss, gestützt auf
einen Glauben, der vor nichts zurückweicht, weil er weiß,
wem er sich anvertraut hat (vgl. 2 Tim 1,12). In diesem
Geheimnis vereint sich darum all das, was seit Anbeginn
war, was vor der Erschaffung der Welt war, und das, was
noch kommen wird. So wird der Glaube, die Ver-
antwortung und der Mut eines jeden von uns einbezogen
in das Geheimnis der Erfüllung des göttlichen Planes. Der
Glaube, die Verantwortung und der Mut eines jeden von
uns erweisen sich als notwendig, damit das Geschenk
Christi an die Welt sich in seinem ganzen Reichtum
offenbaren kann. Nicht nur ein Glaube, der den un-
versehrten Schatz der Mysterien Gottes im Gedächtnis
hütet, sondern ein Glaube, der den Mut besitzt, diesen
Schatz wieder zu öffnen und in immer neuer Weise vor
den Menschen, zu denen Christus seine Apostel sendet,
auszubreiten. Das ist eine Verantwortlichkeit, die sich

159
nicht nur darauf beschränkt, zu schützen und zu bewahren,
was ihr anvertraut ist, sondern die den Mut hat, mit den
Talenten zu wirtschaften, um sie zu vervielfältigen (vgl.
Mt 25,14–30). Angefangen bei Abraham, verlangt der
Glaube von jedem seiner Nachkommen die ständige
Überwindung dessen, was lieb, eigen und wohl bekannt
ist, um sich dem unbekannten Raum zu öffnen, indem man
sich auf die gemeinsame Wahrheit und die gemeinsame
Zukunft unser aller in Gott stützt. Alle sind wir
aufgefordert, an diesem Prozess der Überwindung des
bekannten, nächstliegenden Kreises teilzunehmen; wir
sind aufgefordert, uns jenem Gott zuzuwenden, der in
Jesus Christus sich selbst überwunden hat, indem er die
trennende Wand der Feindschaft niederriss (vgl.
Eph 2,14), um uns durch das Kreuz zu sich zurück-
zuführen. Jesus Christus – das will heißen: Treue zur
Berufung durch den Vater, offenes Herz gegenüber jedem
Menschen, dem man begegnet, Weg, auf dem man
vielleicht nicht einmal einen Ort hat, wo man »sein Haupt
hinlegen kann« (vgl. Mt 8,20), und schließlich Kreuz,
durch das man zum Sieg der Auferstehung gelangt. Das ist
Christus, derjenige, der unerschrocken voranschreitet und
sich nicht aufhalten lässt, bevor er nicht alles vollbracht
hat, bevor er nicht zu seinem Vater und zu unserem Vater
hinaufgegangen ist (vgl. Joh 20,17), er, der derselbe
gestern, heute und in Ewigkeit ist (vgl. Hebr 13,8).
Der Glaube an ihn ist also das unaufhörliche Sich-
Öffnen des Menschen für das unaufhörliche Eintreten
Gottes in die Welt der Menschen, ist das Sich-Bewegen
des Menschen auf Gott zu, auf einen Gott, der seinerseits
die Menschen zueinander führt. So geschieht es, dass
alles, was dem Einzelnen gehört, Eigentum aller wird, und
alles, was dem Anderen gehört, zugleich auch mein wird.
Genau das ist der Gehalt der Worte, die der Vater an den

160
älteren Bruder des »verlorenen Sohnes« richtet: »Alles,
was mein ist, ist auch dein« (Lk 15,31). Es ist be-
zeichnend, dass diese Worte im Hohepriesterlichen Gebet
Jesu als an den Vater gerichtete Worte des Sohnes wieder
erscheinen: »Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist,
ist mein« (Job 17,10).
Während er sich dem nähert, was er als »seine Stunde«
ansieht (vgl. Joh 7,30; 8,20; 13,1), spricht Christus selbst
von Abraham, und zwar mit einem Ausdruck, der bei
seinen Hörern Überraschung und Staunen verursacht:
»Euer Vater Abraham jubelte, weil er meinen Tag sehen
sollte. Er sah ihn und freute sich« (Joh 8,56). Welches ist
die Quelle der Freude Abrahams? Ist es nicht die
Voraussicht der Liebe und des Mutes, mit denen sein Sohn
dem Fleische nach, unser Herr und Retter Jesus, bis zum
Letzten gehen würde, um den Willen des Vaters zu tun
(vgl. Hebr 10,7)? Ausgerechnet in den Ereignissen der
Passion des Herrn begegnen wir der erschütterndsten
Bezugnahme auf das Geheimnis Abrahams, der, vom
Glauben getragen, seine Stadt und sein Vaterland verlässt
und wegzieht, dem Unbekannten entgegen, und vor allem
des Abrahams, der mit angstvollem Herzen seinen so sehr
erwarteten und so sehr geliebten Sohn zum Berg Morija
führt, um ihn zu opfern.
Als »seine Stunde« gekommen war, sagte Jesus zu
denen, die mit ihm im Garten von Getsemani waren, zu
Petrus, Jakobus und Johannes, den besonders geliebten
Jüngern: »Auf, lasst uns geben!« (Mk 14,42). Nicht er
allein musste »gehen«, auf die Erfüllung des Willens des
Vaters zugehen, sondern auch sie mit ihm.
Diese Aufforderung – »Auf, lasst uns geben!« – ist in
besonderer Weise an uns Bischöfe, seine auserwählten
Freunde, gerichtet. Auch wenn diese Worte eine Zeit der
Prüfung bedeuten, eine große Anstrengung und ein

161
schmerzvolles Kreuz, dürfen wir uns nicht von der Angst
packen lassen. Es sind Worte, die auch jene Freude und
jenen Frieden mit sich bringen, die Frucht des Glaubens
sind. Bei einer anderen Gelegenheit drückte Jesus gegen-
über denselben drei Jüngern die Aufforderung genauer
aus: »Steht auf, habt keine Angst!« (Mt 17,7). Die Liebe
Gottes lädt uns keine Lasten auf, die wir nicht tragen
können, noch stellt sie Anforderungen, die zu erfüllen
unmöglich ist. Während er fordert, bietet Gott auch die
nötige Hilfe. Ich spreche über diese Dinge von einem
Posten aus, an den mich die Liebe Christi, des Retters,
geführt hat, indem sie mich aufforderte, wegzuziehen aus
meinem Heimatland, um mit seiner Gnade woanders
Frucht zu bringen, eine Frucht, die dazu bestimmt ist, zu
bleiben (vgl. Joh 15,16). Als Nachhall der Worte unseres
Meisters und Herrn wiederhole deshalb auch ich einem
jeden von euch, liebe Brüder im Bischofsamt: »Auf, lasst
uns gehen!« Gehen wir im Vertrauen auf Christus. Er wird
uns begleiten auf unserem Weg bis zu dem Ziel, das nur er
kennt.

162

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