Sie sind auf Seite 1von 40

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


65. Jahrgang · 11–12/2015 · 9. März 2015

Big Data
Evgeny Morozov
„Ich habe doch nichts zu verbergen“

Christian Stöcker
Politikfeld Big Data

Viktor Mayer-Schönberger
Zur Beschleunigung menschlicher Erkenntnis

Rolf Kreibich
Von Big zu Smart – zu Sustainable?

Peter Langkafel
Dr. Algorithmus? Big Data in der Medizin

Yvonne Hofstetter
Big Data und die Macht des Marktes
Editorial
Die enormen technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre
haben ganz neue Möglichkeiten der digitalen Datensammlung,
-speicherung und -auswertung eröffnet. Die Produktion digita-
ler Daten ist exorbitant angestiegen – jeder Klick, jeder Schritt,
jeder Pulsschlag lässt sich heute dokumentieren und durch Ver-
knüpfung mit anderen Daten zu neuer Information verarbeiten.
Die schiere Menge der Daten und der damit verbundenen Opti-
onen, diese für verschiedenste Zwecke zu nutzen, beschreibt das
Schlagwort „Big Data“. Mit ihm verbinden sich gleichermaßen
Hoffnungen und Befürchtungen.

Zum einen lassen sich Datensammlungen nutzen, um in der


„Industrie 4.0“ Maschinen, Prozesse, Produkte und vieles an-
dere optimal zu steuern. Gleiches gilt für die Planung von Ener-
gie- und Verkehrsströmen, sodass Ressourcen geschont und In-
frastrukturen bestmöglich genutzt werden. Das „Internet der
Dinge“ – also die intelligente Vernetzung von Haushaltsgerä-
ten, Fahrzeugen und anderen Gegenständen – und die durch Big
Data ermöglichten Services verheißen in vielerlei Hinsicht sinn-
volle Erleichterungen unseres Lebens. Nicht zuletzt wird in Big
Data großes wirtschaftliches Potenzial gesehen; Daten gelten
vielen als wichtigster „Rohstoff“ des 21. Jahrhunderts.

Zum anderen wird es schwierig, sobald der Mensch und per-


sonenbezogene Daten ins Spiel kommen. Inwiefern lassen auch
anonymisierte Daten Rückschlüsse auf ihre Urheber zu? Wem
gehören die Daten? Welche Begehrlichkeiten staatlicher Stellen
werden geweckt? Sensibilität ist nicht nur im Gesundheitsbe-
reich gefragt, denn intime Details lassen sich auch durch ver-
meintlich belanglose Bewegungsdaten ermitteln. Politisch und
ethisch wird es heikel, wenn Menschen aufgrund bestimmter
Datenkorrelationen künftige Verhaltensweisen unterstellt wer-
den. Problematisch erscheint auch die Anhäufung informatio-
neller Macht auf wenige Konzerne, die allein durch nationale
Gesetzgebung kaum mehr zu regulieren sind. Hier gilt es, genau
hinzuschauen und darauf zu bestehen, dass demokratisch ver-
abschiedete Gesetze die maßgeblichen Regeln darstellen – und
nicht die AGB einzelner Unternehmen.

Johannes Piepenbrink
Evgeny Morozov Vorstellung von zukünftigen, dynamischen
Schutzgütern zu entwickeln. Doch was ist,

„Ich habe doch wenn das wahre Ziel von Datenschutz darin
besteht – statt einen gut ausgestalteten Daten-

nichts zu verbergen“
bestand an Geheimnissen vor ständigen An-
griffen zu schützen –, gute Bedingungen für
die Herausbildung einer neuen, zukunftsori-

Essay entierten Identität zu schaffen, die unabhän-


gig ist von den zahlreichen Beschränkungen
durch Staat und Großunternehmen? Mit ande-
ren Worten: Was ist, wenn Datenschutz nicht

E in Großteil der Debatte über die Zu-


kunft von Datenschutz und Big Data
kreist um die verbreitete, jedoch selten hin-
primär das Ziel hat, sicherzustellen, dass wir
verbergen können, was wir verbergen wollen,
sondern uns allen zu erlauben, das zu sein, was
terfragte Annahme, wir sein könnten – sogar in einer Zeit, in der
Evgeny Morozov dass es sich beim Da- die Räume zum Experimentieren schrumpfen,
Geb. 1984; Internet­forscher, tenschutz lediglich weil die Bedürfnisse der Geheimdienste stetig
Kolumnist und Autor; um ein Schutzschild wachsen und sich die Geschäftsmodelle von
derzeit Bosch Fellow in gegen Eingriffe des Konzernen laufend weiterentwickeln?
­Public Policy an der American Staates, der Medien
Academy in Berlin. oder Großunterneh- Wenn dies tatsächlich der Fall ist, wenn
evgeny.morozov@gmail.com men handele. Daher es also nicht so sehr um die Wahrung unse-
wird oft davon ausge- rer Geheimnisse geht, sondern um die Wah-
gangen, dass Verletzungen der Privatsphäre rung ausgedehnter offener Räume, in denen
einmalige Vorkommnisse aufgrund irgendei- wir weiterhin mit verschiedenen Ideen, Le-
nes Lecks seien: Vertrauliche persönliche In- bensstilen und Identitäten experimentieren
formationen werden plötzlich mit einem viel können, dann funktioniert das „Ich-habe-
größeren Personenkreis geteilt; was einst ein doch-nichts-zu-verbergen-Argument“ nicht
Geheimnis war, wird auf einmal allgemein mehr, denn es erfasst nicht den eigentlichen
bekannt – und lässt sich nicht wieder geheim Gegenstand, um den es bei der Aufgabe von
machen; und so weiter. Privatsphäre geht. Stattdessen müsste die Pa-
role aktualisiert werden in „Ich habe doch
In dieser Logik gelten Verletzungen der nichts zu tun“ oder „Ich habe doch nichts zu
Privatsphäre merkwürdigerweise als eher wollen“, was eine passende Beschreibung der
flüchtige Ereignisse, die eigentlich auf die von Byung-Chul Han analysierten „Müdig-
Enthüllung eines größeren Geheimnisses keitsgesellschaft“ sein könnte: Die Aufgabe
zielen – eines entwickelten, statischen Guts, des eigenen Raums zum Experimentieren be-
das durch verschiedene Datenschutzmaß- deutet die Aufgabe jeder Ambition, das eige-
nahmen gesichert werden soll. Wer also an- ne Leben selbst zu bestimmen – also die still-
nimmt, dass hinter der schützenden Schicht schweigende Akzeptanz des Status quo.
aus Recht oder Konvention kein solches Gut
existiert, hat auch kein Problem damit, wenn Sollte es gelingen, uns von diesem theore-
sich die flüchtigen Verletzungen der Privat- tischen Vorurteil freizumachen, dass es beim
sphäre häufen: Gibt es im „Tresor unserer Datenschutz um den Schutz eines Gutes aus
Privatsphäre“ nichts zu holen, ist es egal, wie der Vergangenheit geht, und würden wir Da-
oft die Bank überfallen wird. Dies ist das the- tenschutz stattdessen als Möglichkeit be-
oretische Gerüst, auf das sich die nichtssa- trachten, eine alternative Zukunft zu leben
gende, dennoch überall anzutreffende Phrase – eine, die uns von niemandem aufgezwun-
stützt: „Ich habe doch nichts zu verbergen.“ gen wird, sondern die wir uns selbst teilau-
tonom wählen – dann würden wir erkennen,
Ein Problem dieser Argumentation ist, dass dass die gegenwärtigen Prozesse, die alles
sie sich vor allem auf die Vergangenheit, nicht quantifizieren und datafizieren, diese Mög-
aber auf die Zukunft bezieht. Sie ist hilfreich,
um „statische“ Güter vor einmaligen Angrif-
fen zu schützen, nicht aber, um im Einklang Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: San-
mit den eigenen Prinzipien und Werten eine dra H. Lustig, Hamburg.

APuZ 11–12/2015 3
lichkeit stark einschränken. Ich möchte zwei setzen können. Diese sind nicht unbedingt
aktuelle Prozesse skizzieren, von denen einer leicht auf jene Firmen zurückzuführen, füh-
mit Unternehmen und einer mit dem Staat zu ren jedoch dazu, dass mehr Produkte konsu-
tun hat. Meiner Meinung nach stellen sie die miert werden. Natürlich ist dieser Trend äl-
größte Herausforderung für den Schutz jener ter als die digitalen Medien, aber die digitalen
privaten Räume dar. Gewiss: Diese Zweitei- Medien liefern den Datenrohstoff, der sol-
lung ist etwas künstlich, denn – und ich hof- ches emotional engineering ­ermöglicht.
fe, dies wird deutlich – die größte Herausfor-
derung ist die wirkmächtige Verschmelzung Das Albtraumszenario sieht folgenderma-
kommerzieller Interessen heutiger Unter- ßen aus: Durch eine Google-Suche, einen
nehmen mit den Sicherheitsinteressen heuti- Tweet oder indem Sie etwas auf Facebook
ger ­Regierungen. posten, zeigen Sie an, dass Sie irgendetwas
vorhaben. Sie brauchen sich noch nicht ein-
mal Ihrer Absichten bewusst zu sein: Genau
Lautlose Schlacht um unsere Optionen wie unsere Körpersprache gibt auch unse-
re verbale Kommunikation Emotionen und
Unternehmen wissen inzwischen, dass detail- Absichten preis, die uns noch unbekannt
lierteste Kenntnisse über ihre Kundinnen und sind. Technologieunternehmen können so-
Kunden größere Profite ergeben. Sie sammeln wohl verbale als auch nonverbale Äußerun-
daher so viele Daten wie möglich und rich- gen analysieren und zur Vorhersage unseres
ten sich nach denjenigen, die die besten Platt- Verhaltens einsetzen. Da Sie also eine Ab-
formen zur Beobachtung unseres Verhaltens sicht kundgetan haben, etwas zu tun oder zu
bieten – derzeit sind das Facebook und Goo- kaufen – oder eventuell Ihr bisheriges Ver-
gle. Was machen sie jedoch mit all den Daten? halten radikal zu ändern – beginnt im Hin-
Nun, sie analysieren sie, um zu gewährleisten, tergrund plötzlich eine unsichtbare Aukti-
dass wir noch mehr ihrer Produkte konsu- on um Ihr Leben. Manche Firmen würden es
mieren, indem sie uns auf eine gezielte, schwer gern sehen, wenn Sie X täten (etwa Vegetari-
zu widerstehende Art und Weise ansprechen: erin oder Vegetarier werden), während ande-
Streamingdienste versuchen, unseren Mu- ren Y lieber wäre (dass Sie weiterhin Fleisch
sik- oder Filmgeschmack zu analysieren und essen) – die lautlose mathematische Schlacht
empfehlen uns immer wieder Produkte, die zwischen den Firmen (und ihren Algorith-
uns wahrscheinlich gefallen. In diesem Fall men) gestaltet den sozioökonomischen Hin-
ist die Manipulation minimal und nicht be- tergrund, vor dem Sie entscheiden.
sonders besorgniserregend (natürlich nur, so-
fern Sie nicht der Ansicht sind, dass hier eine Natürlich muss man diesen postmodernen
Abwärtsspirale wirkt, die uns zu Gefange- Weg nicht vollständig mitgehen und kann da-
nen unseres eigenen Geschmacks zu machen rauf verweisen, dass die Entscheidung letzt-
droht, weil wir nichts mehr erfahren, das auch lich in unserer Hand liegt; das ist zwar sicher-
nur leicht davon abweicht). lich der Fall, aber es scheint mir unbestreitbar,
dass die Faktoren, die unsere Entscheidun-
Will man jedoch verstehen, welche Art so- gen heute mitbestimmen, weitaus komplexer
cial engineering diese enormen Datensamm- – und weitaus stärker marktgesteuert – sind
lungen tatsächlich leisten können, muss man als beispielsweise vor dreißig Jahren. Damals
sich andere Wirtschaftszweige ansehen. Neh- wurden unsere Einstellungen und Entschei-
men wir zum Beispiel die Glücksspielbranche dungen viel stärker von anderen Faktoren
in den USA. Dort haben Casinos herausge- beeinflusst; die Wahrscheinlichkeit war viel
funden, wie sie durch detaillierte Datenana- größer, dass wir unser Handeln an irgendei-
lysen und sorgfältig zugeschnittene Angebote ner Art religiösem oder spirituellem Paradig-
Kunden wieder nach Las Vegas locken kön- ma ausrichteten, ähnlich wie unsere Eltern
nen – etwa, indem Konzerttickets der Lieb- oder nächsten Verwandten entschieden oder
lingsband in Aussicht gestellt werden oder uns einfach so verhielten, dass wir in einer
kostenlose Dinners und Hotelübernachtun- kleineren Gemeinschaft nicht auffielen. Man
gen zu bestimmten Terminen, die den Kun- kann sicherlich froh darüber sein, dass uns
den etwas bedeuten. Die Grundidee dabei ist, die Moderne von einigen dieser Einschrän-
dass Firmen durch die Dauerbeobachtung ih- kungen befreit hat. Doch man müsste schon
rer Kunden verborgene emotionale Anreize recht naiv sein, um zu glauben, dass das Va-

4 APuZ 11–12/2015
kuum, das durch die Auflösung von Traditio- zu ändern, also das Verhalten der einzelnen
nen entstanden ist, nicht vom heutigen kyber- Bürger. Der Eingriff ist hier ähnlich wie im
netischen Kapitalismus gefüllt worden sei; er Fall des Casinos: Es werden so viele Daten wie
ersetzt das herkömmliche dogmatische Den- möglich über unser Verhalten gesammelt, um
ken mit einer intransparenten, verdeckten uns Angebote zu machen, die wir nicht ableh-
Manipulation der uns verfügbaren Optionen. nen können (etwa indem unsere Ängste, Be-
Uns wird glauben gemacht, wir wären „free fürchtungen oder heimlichen Wünsche an-
to choose“, wie eine berühmte Wendung der gesprochen werden), präsentiert in Echtzeit
Ökonomen Milton und Rose Friedman lautet, über eines der nie schlafenden Geräte, die wir
doch die Optionen, die uns offen stehen, sind ständig mit uns herumtragen. Auf diese Weise
im Voraus bestimmt. könnten wir beispielsweise dazu „angereizt“
werden, weniger zu konsumieren, mehr Sport
zu treiben, „achtsamer“ zu sein oder uns sonst
Wohlgemeinte Schubse irgendwie erwünscht zu verhalten.

Eine ganz ähnliche Rolle spielen Regierungen. Hier knüpfen zwei Kritikpunkte an. Einer
Warum hat der Wirbel um die NSA weniger entspricht der Klage über verborgene Mani-
Resonanz gefunden als manche Cyberaktivis- pulation, die oben in Bezug auf Unternehmen
tinnen und -aktivisten hofften? Meiner Mei- formuliert wurde. Die zweite ist jedoch mög-
nung deshalb, weil die NSA nicht daran inte- licherweise wichtiger: Dieser datenintensi-
ressiert ist, unser Verhalten zu ändern. Sie ist ve Ansatz zur Lösung politischer und sozi-
nicht wie ein Casino, dem es darum geht, dass aler Probleme verdrängt andere Ansätze, die
Sie wiederkommen; sie hegt auch nicht wie der das Problem vielleicht auf höherer Ebene lö-
Streamingdienst Netflix die Absicht, dass Sie sen könnten (etwa indem nicht Bürger, son-
einen weiteren Film anschauen. Vielmehr ist dern Lobbyisten oder Unternehmen ins Vi-
das „Geschäftsmodell“ der NSA recht simpel: sier genommen werden). Daher sind wir als
Daten sammeln, sie für Vorhersagen nutzen Bürger „eingeladen“, uns eine Logik zu eigen
und proaktiv gegen mögliche Straftäter vor- zu machen, die ich als solutionism bezeich-
gehen – worunter Maßnahmen wie Drohnen- ne. Es handelt sich dabei um eine Art naiver
angriffe und Verhaftungen fallen, nicht aber Technikgläubigkeit, die unter anderem davon
Manipulationen unseres Verhaltens. Verglei- ausgeht, dass a) Großunternehmen, die über
chen Sie die Aktivitäten der NSA mit der Ar- unser Verhalten Daten sammeln, quasi natür-
beit von Bürokraten, die sich mit Problemen liche Verbündete beim Anpacken großer ge-
wie Fettleibigkeit oder Klimawandel ausein- sellschaftlicher Herausforderungen sind und
andersetzen, wird der Unterschied deutlich: b) die einfachste Möglichkeit zur Lösung vie-
Deren Aufgabe ist es ja gerade, unser Verhal- ler dieser Probleme die Veränderung unseres
ten zu ändern, zum Vorteil von uns selbst und individuellen Verhaltens ist, weshalb wir dies
der Gesellschaft insgesamt. für den Standardmodus der Problemlösung
halten sollten.
Dies erklärt, warum verschiedene Modelle
des „dritten Wegs“ (zwischen Eingriffs- und Das Etikett „einfachste“ ist in diesem Zu-
Laissez-faire-Staat) – etwa nudging – auf so sammenhang heikel: Denn dieser Ansatz
starkes Interesse stoßen, insbesondere in den ist nur deswegen so einfach, weil Daten so
USA und im Vereinigten Königreich. ❙1 Da breit verfügbar und so leicht zu bekommen
andere Ansätze zur Lösung politischer Pro- sind. Wenn Daten teuer wären oder nicht in
bleme – die etwa die Macht der Großunter- Echtzeit gesammelt oder überwacht werden
nehmen oder den Einfluss von Lobbyisten be- könnten (oder zumindest nicht zu den Perso-
schränken könnten – offenbar vom Tisch sind, nen, die sie erzeugen, zurückverfolgt werden
bleibt als einzig wirkungsvoller Weg, das Ver- könnten), dann würde dieser Governance-
halten an der Basis der politischen Pyramide Ansatz plötzlich seinen praktischen (wenn
auch nicht seinen ideologischen) Reiz verlie-
ren. In einer hypothetischen Situation, in der
❙1  „Nudging meint, jemandem in seinem eigenen
Interesse einen kleinen Schubs zu geben.“ Hans-
wir alle vollkommen sichere, verschlüsselte
Michael Heinig, Gibt es eine Ethik des Nudging? Kommunikationswege nutzten, wären vie-
15. 12. 2014, www.verfassungsblog.de/gibt-es-eine- le solcher Interventionen nicht möglich, und
ethik-des-nudging (24. 2. 2015) (Anm. d. Red.). sie wären mit Sicherheit nicht so wirksam.

APuZ 11–12/2015 5
Die Entscheidung, Transparenz als Stan- vorstellen, wie eine von Google unabhängige
dardmodus unserer sämtlichen Datenflüsse Suche oder E-Mail aussehen könnte – und es
zu wählen, ermöglicht daher – unabhängig ist eine noch viel größere Herausforderung,
davon, ob man etwas zu verbergen hat oder sich den Weg dorthin vorzustellen.
nicht – eine Art neoliberaler Gouvernemen-
talität: Diese präsentiert die Ursache sozialer Letzten Endes erfordern weder Internetsu-
Probleme großenteils als Versagen von Indi- chen, noch Online-Networking, noch Ver-
viduen – und nicht als Resultat bestimmter mittlungsdienste für Autofahrten wie Uber,
struktureller Bedingungen ihrer sozioöko- dass wir Einzelheiten unserer Identität preis-
nomischen Milieus. geben. Zunächst einmal ist ein enormer Anteil
von Googles Dienstleistungen unpersönlich:
Die Flut der neoliberalen Eigenverantwor- Um den Autor von „Krieg und Frieden“ zu er-
tungsrhetorik – durch die wir zunehmend ak- mitteln oder die Wettervorhersage für Berlin zu
zeptieren, soziale Probleme durch eine „in- sehen, brauche ich der Suchmaschine eigentlich
dividuelle Linse“ zu betrachten – könnte nicht mitzuteilen, wer ich bin und wo ich woh-
erklären, warum es nur so wenige Bedenken ne. Tatsächlich geben wir diese Informationen
hinsichtlich der politischen Auswirkungen weiter – was aber an Googles Geschäftsmodell
gibt, wenn unsere persönlichen Daten un- liegt, nicht an irgendeiner vorherbestimmten
kontrolliert im Umlauf sind. Es könnte aber Eigenschaft der Suche per se, die technologisch
auch sein, dass die politische Dimension (ge- notwendig und uns deshalb aufgezwungen
schweige denn ihre spezifische neoliberale wäre. Aber auch bei stärker personalisierten
Ausrichtung) dieses Governance-durch-Da- Suchen, für die eine Verortung nötig ist, steht
ten-Ansatzes noch gar nicht vollständig be- dies nicht eindeutig fest: Wir können manche
griffen wurde. Es ist daher notwendig, dass Attribute teilen (wo wir uns geografisch befin-
die letztendlichen Folgen dieser Entwicklung den), ohne zu enthüllen, wer wir sind und was
aufgezeigt werden – zum Beispiel, dass Unter- wir gestern zu Mittag gegessen haben.
nehmen ihre Aktivitäten laufend ausweiten,
während die mit immer raffinierteren Gerä- Worum es mir hier geht: Sind solche Dienste
ten ausgestatteten Bürger einen immer größe- erst einmal abgekoppelt von der Werbung, ih-
ren Teil der Verantwortung übernehmen sol- rem Hauptgeschäftsmodell, verschwindet die
len –, um allgemein ein Bewusstsein dafür zu Notwendigkeit ausgiebiger Überwachung –
schaffen, was der Niedergang des Datenschut- und wir können jegliche erweiterte Funkti-
zes für uns alle in der Praxis bedeuten würde. onen haben, die wir wollen, von bedarfsge-
steuerten Verkehrsdienstleistungen bis hin zu
stark personalisierten Suchen. Nichts davon
Mangel an Vorstellungskraft würde die extreme Transparenz erfordern, die
Google und Facebook uns heute abverlangen.
Lassen Sie mich folgende These wagen: Es Doch dieser Schritt weg von der Werbung –
könnte gut sein, dass die verbreitete Haltung und ich glaube nicht, dass Abonnements hier
gegenüber dem Datenschutz nicht deshalb so eine nachhaltige Lösung wären – würde be-
nachlässig ist, weil wir uns verkalkulieren – deuten, dass wir außerdem fragen müssten, ob
weil also die Kosten der Informationstech- es eine kluge Idee war, all dies überhaupt dem
nologien unter- und die Vorteile überschätzt privaten Sektor zu überlassen.
werden –, sondern weil unsere Fragen nicht
die richtigen Variablen enthalten. Technolo- Das heißt, es ist durchaus möglich, sich ein
gie an sich spielt hier eher eine banale Rol- alternatives Datenregime vorzustellen, in dem
le. Es geht vielmehr um unsere Unfähigkeit, Google die von uns erzeugten Daten nicht be-
uns ein Szenario vor Augen zu führen, wie sitzt, aber dennoch, wie andere Unternehmen
die Dienste, auf die wir mittlerweile ange- auch, auf ihrer Grundlage Dienstleistungen
wiesen sind – von Suchmaschinen zu sozialen anbieten kann. Der Grund, warum wir die-
Netzwerken – außerhalb werbeabhängiger se Vorstellung nicht wagen, ist einfach: Dazu
Silicon-Valley-Geschäftsmodelle funktio- müssten wir das vorherrschende neolibera-
nieren könnten. In diesem Sinne ist die Ge- le Paradigma infrage stellen, das uns von den
schichte tatsächlich zu ihrem Ende gelangt: Vorzügen der Privatisierung zu überzeugen
Die meisten von uns, die wir in entwickelten sucht. Solange jedoch eine nicht-neoliberale
westlichen Ländern leben, können sich kaum Vision fehlt, an der wir unsere Kommunika-

6 APuZ 11–12/2015
tion (und, so meine ich, die Gesellschaft über- rokratie des neoliberalen Staats wieder, oder
haupt) ausrichten können, bleibt uns nur, „der sie müssen sich der Welt verschließen, Face-
Technologie“ oder „dem Internet“ die Schuld book meiden und können nicht die Vorteile
zu geben – als wären die gegenwärtigen, auf größeren Zugangs zu Musik, Filmen und Bü-
Überwachung bauenden Online-Dienste die chern genießen. Deswegen wäre es auch nicht
einzig möglichen, um die Bedürfnisse nach weiterführend, auf Argumente wie „Ich habe
Suchmaschinen, sozialen Netzwerken und doch nichts zu verbergen“ zu antworten mit:
anderen Services zu befriedigen. „Doch! Also verbergen Sie es bitte.“ Übersetzt
in eine praktische Alternative hieße dies, die
Infolgedessen stecken wir fest: Statt eine Bürger zu bitten, auf einen Großteil dessen zu
Debatte darüber zu führen, wer – Konzer- verzichten, was als intellektuelle Infrastruktur
ne, Staaten, Bürger – was besitzt und welche des modernen Lebens gilt. Es geht hier nicht
Auswirkungen diese Eigentumsverteilung darum, dass wir nicht versuchen sollten, Din-
auf das öffentliche Leben hat, diskutieren wir ge zu verbergen – das sollten wir selbstver-
darüber, ob die Nutzung von Gmail mora- ständlich – sondern dass allein der Akt des
lisch vertretbar ist, und unterhalten uns über Verbergens das Problem nicht lösen wird.
Möglichkeiten, hilfreiche Anonymisierungs-
tools wie Tor zu verbreiten. Diese Werkzeu- Die gute alte Ideologiekritik (totale Trans-
ge sind zwar wunderbar, sie wirken aber auch parenz versus perfekte Geheimhaltung) ge-
wie Ohrenstöpsel gegen die stets anschwel- nügt hier nicht. Information ist der Schlüssel
lende Geräuschkulisse der Moderne: Offen- zur wirksamen sozialen Kooperation und zur
sichtlich ist eine andere Art von tief greifen- effektiven Nutzung von Ressourcen; dies gilt
den, strukturellen und explizit politischen unabhängig vom politischen Regime – ob nun
Interventionen gefordert. neoliberal, kommunistisch oder irgendetwas
dazwischen. Wir werden nicht in eine Welt
zurückkehren, in der Busse einen festgelegten
Teilen, aber sicher Fahrplan einhalten, unabhängig davon, wie
viele Fahrgäste auf sie warten: Das ist Ener-
Um auf die eingangs zitierte Phrase zurück- gieverschwendung, verschmutzt die Umwelt
zukommen: Leute, die behaupten, sie hätten und verstopft die Straßen. Die Zukunft liegt
nichts zu verbergen, haben in keiner offen- ganz offensichtlich in dynamischer Planung,
sichtlichen oder unmittelbaren Weise un- wobei ebenso klar ist, dass Informationen –
recht. Tatsächlich aber sollten wir uns vor al- und davon eher mehr, nicht weniger – hierbei
lem um die Art von Mensch sorgen, die sie eine Schlüsselrolle einnehmen werden.
als Folge all des Datenteilens wahrscheinlich
nicht mehr werden. Direkter ausgedrückt: Je Unter diesen Bedingungen geht es nicht
mehr Daten über Sie im Umlauf sind, desto darum, sicherzustellen, dass Bürger Daten
weniger „Potenzialität“ können Sie in Zu- über sich nicht teilen, sondern vielmehr da-
kunft erwarten – wobei sich „Potenzialität“ rum, ein rechtliches und sozioökonomisches
auf all das bezieht, was wir werden könn- Umfeld zu schaffen, in dem solche Akte des
ten, jenseits der sozialen, politischen und ge- Teilens nicht zu den beschriebenen manipu-
schäftlichen Erwartungen, die uns von den lativen Auswirkungen führen. Wenn es an
Institutionen, mit denen wir zu tun haben, dieser Stelle Raum für Ideologiekritik gibt,
auferlegt werden. Da aber Kommunikation so zielt sie nicht auf die Ideologie des „Digi-
für das moderne Leben unerlässlich ist, ist talen“, sondern eher auf die neoliberale Ideo-
ebenso wahr, dass die Weigerung, moderne logie, die jede Einschränkung der Rolle von
Technologien zu nutzen, ebenso eine wir- Märkten im Alltagsleben rundheraus ab-
kungsvolle Möglichkeit ist, das eigene Stre- lehnt. Letztendlich können wir nur dann eine
ben nach Potenzialität aufzugeben. alternative Vision für die Nutzung von Kom-
munikationstechnologien artikulieren, wenn
Kurz gesagt: Ohne ein Programm aus- wir hinterfragen, ob es angemessen ist, dass
drücklicher politischer Transformation laufen es die großen Unternehmen wie Google und
die Bürger Gefahr, in jedem Fall zu verlieren. Facebook sind, die letztgültig vermitteln, wie
Denn entweder finden sie sich in den Fängen wir leben, heilen, studieren oder reisen.
der vorhersagenden Datenapparate des kyber-
netischen Kapitalismus und der Nudging-Bü-

APuZ 11–12/2015 7
Christian Stöcker können nun Hochrisikopatienten identifi-
zieren helfen, die zusätzliche Unterstützung

Politikfeld Big Data: benötigen. ❙2

Das US-Start-up Practice Fusion bekommt


Hoffnungen, derartige Daten direkt von Patienten und
Ärzten. Das Unternehmen, das Geld von den

Vorhaben und viele


bedeutendsten Wagniskapitalgebern des Sili-
con Valley bekommen hat, bietet eine elek-
tronische Krankenakte an, die Ärzten und

offene Fragen Patienten schnellen und direkten Zugang


zu Gesundheitsdaten bieten soll, etwa über
Apps für Tablet und Smartphone. Einige der
Daten, die dabei anfallen, stellt Practice Fu-

F ür Hugo Campos ist es eine Frage der Frei-


heit. Der US-Bürger, der in San Francisco
lebt, leidet an einem Herzfehler. Zur Überwa-
sion der Allgemeinheit zur Verfügung – wer
sich registriert, kann beispielsweise auf In-
formationen darüber zugreifen, welche Me-
chung seines Gesund- dikamente bei laut Practice Fusion über
Christian Stöcker heitszustandes ist ihm 110 000 Ärzten, Schwestern und Pflegern,
Dr. phil., geb. 1973; Journalist ein sogenannter Kar- die das System nutzen, wie häufig zum Ein-
und Buchautor; Ressortleiter dioverter-Defibrilla- satz kommen, oder welche Erkrankungen in
Netzwelt bei „Spiegel Online“, tor eingepflanzt wor- welchen Altersgruppen besonders häufig di-
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg. den, ein etwa handtel- agnostiziert werden. Das aber funktioniert
christian_stoecker@spiegel.de lergroßes Gerät, das nur, weil Gesundheitsdaten Hunderttausen-
seinen Herzrhythmus der Patienten auf den Rechnern des Unter-
überwacht, bei Bedarf Campos’ Arzt alar- nehmens gespeichert und ausgewertet wer-
mieren und das Herz im Notfall mit Hilfe ei- den. ❙3 Geld verdient Practice Fusion derzeit
nes elektrischen Schocks wieder zum rhyth- vor allem mit Werbung – etwa für ein großes
mischen Schlagen bringen kann. Permanent Pharmaunternehmen. ❙4
erzeugt das Gerät Daten über Funktion und
Zustand von Campos’ Herz. Er selbst aber Die Beispiele rund um Gesundheitsdaten ❙5
bekommt diese Daten nicht zu Gesicht. Sie illustrieren die Chancen und Herausforde-
werden über Funk abgeleitet und landen di- rungen, die das Phänomen Big Data auch für
rekt beim Hersteller des Implantats. Seit Jah- den Gesetzgeber mit sich bringt. Wem gehö-
ren kämpft Campos gemeinsam mit ande- ren eigentlich persönliche Daten – auch die
ren darum, Zugriff auf die Daten zu bekom- aus dem eigenen Körper? Wer darf solche Da-
men, die doch immerhin sein eigener Körper ten erfassen, speichern, zusammenführen und
­produziert. ❙1 auswerten? Welches Mitspracherecht haben
jene Menschen, die all die Daten erst erzeu-
Wertvoll sind derartige Daten nicht nur gen? Und wer darf die Daten zu Geld ­machen?
für den einzelnen Patienten und dessen Ärz-
te. Sie könnten auch anderen Herzpatientin- ❙1  Vgl. Amy Dockser Marcus/Christopher Weaver,
nen und -patienten nutzen. Drei Forscher Heart Gadgets Test Privacy-Law Limits, 28. 11. 2012,
vom Massachusetts Institute of Technolo- www.wsj.com/articles/SB10001424052970203937004
gy (MIT) und der University of Michigan 578078820874744076 (24. 2. 2015).
konnten vor einigen Jahren beispielswei- ❙2  Vgl. Zeeshan Syed et al., Computationally Gene-
rated Cardiac Biomarkers for Risk Stratification Af-
se zeigen, dass gewaltige Mengen von Elek-
ter Acute Coronary Syndrome, 28. 9. 2011, http://stm.
trokardiogramm-Daten (EKG), die bislang sciencemag.org/content/​3/​102/​102ra95 (24. 2. 2015).
häufig einfach weggeworfen werden, wert- ❙3  Vgl. die Practise-Fusion-Seite: https://insight.prac-
volle Informationen für die weitere Gesund- ticefusion.com (24. 2. 2015).
heitsprognose von Infarktpatienten enthal- ❙4  Vgl. Christina Farr, Practice Fusion Owes Its
ten. Drei Anomalien in den EKG-Daten, die Success – and Its Culture – to a Motorcycle Crash,
29. 1. 2013, http://venturebeat.com/​2013/​01/​29/prac-
mittels eines speziellen Computermodells tice-fusion-owes-its-success-and-its-culture-to-a-
ausfindig gemacht wurden, wiesen auf eine motorcycle-crash (24. 2. 2015).
zwei- bis dreifach erhöhte Gefahr eines wei- ❙5  Siehe hierzu auch den Beitrag von Peter Langkafel
teren Infarkts binnen eines Jahres hin. Sie in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

8 APuZ 11–12/2015
Große Erwartungen, Auftrag gegebene Studie, in der Innovations-
potenziale „für die neuen Technologien für
große Förderprogramme das Verwalten und Analysieren von großen
Datenmengen (Big Data Management)“ aus-
Über den Wert der Datenberge herrscht auch gelotet werden. „Die Analyse dieser Daten
in der Politik längst Einigkeit. „Analysten wird wirtschaftliche, wissenschaftliche und
prognostizieren einen rasanten Anstieg des gesellschaftliche Prozesse revolutionieren“,
weltweiten Umsatzvolumens für Big-Data- heißt es darin. Die Autoren identifizieren je-
Technologien auf über 15 Milliarden Euro im doch auch eine Vielzahl von politisch-recht-
Jahr 2016“, lässt das Bundeswirtschaftsmi- lichen Problemfeldern. Fragen ergäben sich
nisterium (BMWi) auf Anfrage wissen. Rund insbesondere mit Blick auf das Datenschutz-,
1,6 Milliarden Euro könnten auf Deutsch- das Urheber- und das Vertragsrecht. In der
land entfallen. Das Ministerium warnt aber Rechtswissenschaft sei eine Diskussion im
auch: „Europa und Deutschland hinken Gange, deren Ergebnis „gravierende Folgen“
den USA bei der Anwendung von Big-Da- für die Big-Data-Branche haben dürfte: Es
ta-Technologien hinterher.“ Auch Bundes- geht um die Frage, „ob Daten eigentumsfähig
kanzlerin Angela Merkel hat sich schon zum sind und, falls dies so ist, wem das Eigentum
Thema geäußert: „Wir müssen die Stelle fin- daran zusteht“. ❙6
den, wo die Daten in anonymer Form mit Big
Data neue sinnvolle Produkte möglich ma- 2014 hat das BMWi ein eigenes Förderpro-
chen“, sagte sie im Oktober 2014 auf dem na- gramm aufgelegt. Unter dem Titel „Smart
tionalen IT-Gipfel in Hamburg. Sonst drohe Data – Innovationen aus Daten“ werden 13
die Gefahr, dass „Innovationen, die wir noch Projekte deutscher Unternehmen und For-
nicht kennen“, durch zu viel Regulierung schungseinrichtungen in Branchen geför-
verhindert würden. dert, „in denen unsere Wirtschaft komparati-
ve Vorteile besitzt und wo wir Potenziale für
Die politische Gestaltung dieses Themen- Forschung und Entwicklung in den nächsten
bereichs spielt sich derzeit allerdings weni- 3–5 Jahren sehen“, teilt das Ministerium auf
ger in Berlin als in Brüssel und Straßburg Anfrage mit. Es gehe dabei auch um die Ent-
ab. Die europäische Datenschutz-Grundver- wicklung von Standards, und zwar „sowohl
ordnung, die noch 2015 in Kraft treten soll, technologisch als auch bei den ebenso wichti-
wird die Weichen für die Zukunft des The- gen Aspekten des Datenschutzes und der Da-
mas Big Data in Europa stellen. Einige Berei- tensicherheit“. Gerade bei personenbezoge-
che der Verordnung sind nach wie vor höchst nen Daten sei „der Datenschutz unbedingt zu
umstritten – etwa die von Merkel angerisse- beachten, auch um das notwendige Vertrau-
ne Frage, wie sich Daten so anonymisieren en und die Akzeptanz bei Anwendern und
lassen, dass Auswertungen möglich, Rück- Bevölkerung zu gewährleisten“. Von 2014
schlüsse auf einzelne Betroffene aber unmög- bis 2017 sollen insgesamt circa 30 Millionen
lich werden. Was wirklich anonym oder auch Euro in die Förderung gesteckt werden. ❙7
nur pseudonym ist, ist selbst unter Fachleu-
ten umstritten. Die politische Debatte dreht Die Projekte zeigen, wie breit das Themen-
sich deshalb nicht zuletzt um Definitionen: feld Big Data tatsächlich ist: Sie sind grob in
Wann erlaubt ein Datensatz keine Rück- die Bereiche Industrie, Mobilität, Energie und
schlüsse auf Einzelne? Große Datenmengen Gesundheit unterteilt; die Themen reichen
ermöglichen nämlich nicht nur sinnvolle An-
wendungen, sie stellen auch die Prinzipien
❙6  Volker Markl et al., Innovationspotenzialanaly-
dessen auf den Kopf, was bislang als ausrei- se für die neuen Technologien für das Verwalten und
chender Datenschutz galt. Je größer der Heu- Analysieren von großen Datenmengen (Big Data Ma-
haufen, so scheint es, desto einfacher wird es, nagement), November 2013, S. 8, S. 165, www.dima.
darin versteckte Nadeln zu finden. tu-berlin.de/fileadmin/fg131/Publikation/BDM_
Studie/StudieBiDaMa-online-v2.pdf (24. 2. 2015).
Das BMWi sucht derzeit vor allem nach ❙7  Vgl. BMWi (Hrsg.), Smart Data – Innovationen aus
Daten, November 2013, www.bmwi.de/BMWi/Re-
Möglichkeiten, deutsche Unternehmen in daktion/PDF/Publikationen/smart-data-innovatio-
den Wachstumsbereichen Informations- und nen-aus-daten-ein-technologiewettbewerb,property=​
Kommunikationstechnologie zu fördern. Im pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf
November 2013 erschien eine vom BMWi in (24. 2. 2015).

APuZ 11–12/2015 9
von der Entwicklung von Verfahren für „die Langer Weg zur Datenschutznovelle
intelligente und datengetriebene Vernetzung
von Logistikprozessen im Krankenhaus mit Auch das Verbraucherschutz- und das In-
klarer Zentrierung auf den Operationssaal“ nenministerium beschäftigen sich mit dem
über Plattformen für Energie-, Verkehrs- und Thema Big Data, beide allerdings stärker
Katastrophenmanagement bis hin zur Ent- mit Blick auf künftige Regulierung, auf Fra-
wicklung von Methoden, mit denen „industri- gen der informationellen Selbstbestimmung
elle Massendaten in Echtzeit analysiert und zu und des Datenschutzes. Beide verweisen auf
entscheidungsrelevanten Informationen auf- Anfrage zum Thema auf die erwähnte neue
bereitet werden können“. Die Bandbreite führt Datenschutz-Grundverordnung der Euro­
vor Augen, was Big Data eigentlich bedeutet: pä­ischen Union. Wenn diese wie geplant
Grundsätzliche Veränderung in nahezu allen 2015 in Kraft tritt, wird sie – anders als eine
Bereichen, in denen in irgendeiner Form Tech- EU-Richtlinie – in allen Mitgliedsstaaten
nologie zum Einsatz kommt. Dies schlägt sich wie ein direkt anzuwendendes Gesetz Gül-
auch in der Anzahl der damit befassten Res- tigkeit erlangen und bis dahin geltende na-
sorts nieder. Neben dem Wirtschaftsminis- tionale Datenschutzgesetze ersetzen. Ent-
terium sind auch das Bildungs- und For- sprechend groß ist der politische Kampf um
schungs-, das Verbraucherschutz- sowie das den Text. Nicht nur europäische Unterneh-
Innenministerium damit befasst. men und Verbände, sondern auch und insbe-
sondere Unternehmen aus den USA versu-
Das Bildungs- und Forschungsministerium chen zu beeinflussen, wer in der EU künftig
betreibt schon seit 2013 ein Förderprojekt mit in welcher Form Daten erheben, auswer-
dem Ziel, „die Forschung zum Umgang mit ten und verwenden darf. „Die Verordnung
großen Datenmengen in Deutschland gezielt wird das zentrale Instrument zum Schutz
zu unterstützen und auszubauen“. Konkret persönlicher Daten in der digitalen Welt
geht es dabei um die Förderung von Kompe- sein“, heißt es aus dem Verbraucherschutz­
tenzzentren. Bislang profitieren davon zwei ministerium.
neue Forschungseinrichtungen: Das Berlin
Big Data Center (BBDC) unter der Leitung Einige Hürden hat die neue Grundverord-
der TU Berlin und das Competence Center for nung bereits passiert. Einen ersten Entwurf
Scalable Data Services and Solutions (ScaDS) hatte die damalige EU-Justizkommissarin
unter der Leitung der TU Dresden. Beide sol- Viviane Reding schon im Januar 2012 vor-
len forschen, an Lösungen für die Industrie gestellt. ❙9 Ein knappes Jahr später legte der
mitarbeiten, aber durch die Ausbildung von Berichterstatter des EU-Parlaments im Aus-
„Data Scientists“ auch dabei helfen, die nöti- schuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und
gen Fachkräfte für das Wachstumsgebiet he- Inneres, der Grünen-Abgeordnete Jan Phi-
ranzuziehen. Dieses neue Berufsbild, irgend- lipp Albrecht, einen bearbeiteten Entwurf
wo zwischen Statistiker, Softwareentwickler, vor, in den unter anderem die Anregun-
Ingenieur und Datenanalyst, hat der „Har- gen von Datenschützern, Bürgerrechtlern,
vard Business Review“ einmal als „sexiest job Unternehmen und Verbänden eingeflossen
of the 21st century“ bezeichnet, in Anleh- ­sind. ❙10
nung an ein berühmt gewordenes Zitat von
Googles Chefökonom Hal Varian über den
künftigen Sex-Appeal von Statistikern und ❙9  Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für Ver-
Statistikerinnen. ❙8 Tatsächlich gibt es weltweit ordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates
einen wachsenden Bedarf an Fachkräften, die zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung
personenbezogener Daten und zum freien Datenver-
sowohl die mathematischen Grundlagen als
kehr (Datenschutz-Grundverordnung), 25. 1. 2012
auch die programmiertechnische Kompetenz http://ec.europa.eu/justice/data-protection/docu-
und das betriebswirtschaftliche Know-how ment/review2012/com_2012_11_de.pdf (24. 2. 2015).
mitbringen, um mit den neuen Datenmassen ❙10  Vgl. Jan Philipp Albrecht (Berichterstatter), Ent-
nutzbringend umzugehen. wurf eines Berichts über den Vorschlag für eine Ver-
ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung
❙8  Thomas H. Davenport/​D. J. Patil, Data Scientist: personenbezogener Daten und zum freien Datenver-
The Sexiest Job of the 21st Century, Oktober 2012, kehr (Datenschutz-Grundverordnung), 17. 12. 2012,
https://hbr.org/​2 012/​10/data-scientist-the-sexiest- www.europarl.europa.eu/meetdocs/​2009_ ​2014/docu-
job-of-the-21st-century/ (24. 2. 2015). ments/libe/pr/​922/​922​387/​92​2​387de.pdf (24. 2. 2015).

10 APuZ 11–12/2015
Nach Redings Vorstellungen soll die Ver- diesen Hinweis auf möglicherweise unglei-
ordnung eine europaweit einheitliche Lö- che Machtverhältnisse zwischen datenverar-
sung und damit auch Rechtssicherheit für beitenden Unternehmen und Verbrauchern
Unternehmen schaffen. Ist eine Form der aus dem Entwurf zu entfernen, findet sich
Datenverarbeitung von einer EU-Daten- auch in einem detaillierten Lobbypapier mit
schutzbehörde einmal genehmigt worden, Änderungsvorschlägen. Es stammt vom On-
soll diese Genehmigung beispielsweise auch linehändler Amazon. ❙11
in allen anderen EU-Staaten gelten. Gleich-
zeitig soll jeder, der Daten europäischer Bür- Trotz der Lobbyschlacht gab es im Okto-
gerinnen und Bürger verarbeitet, auch eu- ber 2013 schließlich einen Entwurf, dem die
ropäischem Datenschutzrecht unterliegen. Abgeordneten im Innenausschuss des EU-
Beim Transfer von Daten in Drittstaaten sol- Parlaments zustimmen konnten. Im März
len zusätzliche Schutzmechanismen greifen. 2014 stimmte auch das Plenum des Euro-
Generell soll die Verordnung die Rechte der paparlaments mit einer überwältigenden
Nutzer stärken: Sie sollen, analog zum deut- Mehrheit von 621 Ja-Stimmen von 653 abge-
schen Datenschutzrecht, ihre Einwilligung gebenen Stimmen dem von Albrecht ausge-
geben müssen, bevor ihre Daten verarbei- handelten Entwurf zu. ❙12 Zwei Monate spä-
tet werden; von Unternehmen gespeicher- ter wurde das Parlament neu gewählt – und
te Daten sollen für die Betroffenen leichter die europäischen Regierungen, die dem Ent-
zugänglich gemacht und auf ihren Wunsch wurf hätten zustimmen müssen, verzögerten
hin auch wieder gelöscht werden können. das Verfahren mit weiteren Änderungswün-
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Recht, schen so lange, dass die Verordnung in der
persönliche Daten von einem Anbieter zum zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht
anderen ohne größeren Aufwand mitneh- mehr verabschiedet werden konnte. Anfang
men zu können. Vor allem aber sollen stren- 2015 ist die Verordnung noch immer nicht in
ge Auflagen dafür gelten, was Unternehmen Kraft getreten. Es sei nicht zuletzt die Bun-
mit den Daten ihrer Kunden anstellen dürfen desregierung, die immer wieder versuche,
und wofür explizite Einwilligungen einge- den vom Parlament abgesegneten Text zu
holt werden müssen. Die Bildung von Nut- verwässern, klagt Albrecht. Insbesondere bei
zerprofilen auf Basis zusammengeführter den Rechten von Unternehmen im Zusam-
Daten soll verhindert werden. Die nationa- menhang mit personenbezogenen aber pseu-
len Datenschutzbehörden sollen bei Verstö- donymisierten Daten sieht er diese Gefahr.
ßen empfindliche Strafen gegen Unterneh- Die Frage sei, „inwieweit auch bei der Ver-
men verhängen können. wendung pseudonymisierter Daten Schutz-
rechte gelten“, erklärt Albrecht via E-Mail.
Brüsseler Insider berichten von einem bis Er warnt: „Mit weiteren Verwässerungen bei
dahin unbekannten Lobbydruck auf die an der Datenschutzreform machen die Regie-
dem Prozess Beteiligten: Für viele Unter- rungen eine baldige Einigung mit dem Eu-
nehmen und Verbände steht mit dem Ge- ropäischen Parlament unmöglich. Das wäre
setz, das auf einen Schlag EU-weit gelten das Aus für einen starken und vertrauens-
wird, eine Menge auf dem Spiel. Auf der von würdigen EU-Standard.“
Journalisten und Aktivisten eingerichteten
Internetplattform „Lobbyplag“ ist im Detail Im Bundesinnenministerium, das bei den
nachzulesen, welche Änderungswünsche Verhandlungen über die neue Grundverord-
welcher Organisationen und Unternehmen nung in Brüssel die Federführung innehat,
in den bearbeiteten Text der Verordnung sieht man das anders: „Die Pseudonymisie-
eingegangen sind. So ist dort zum Beispiel
auch nachvollziehbar, welche drei Abge- ❙11  Siehe http://lobbyplag.eu (24. 2. 2015).
ordneten sich dafür einsetzten, eine Passa- ❙12  Vgl. Europäisches Parlament, Legislative Ent-
ge aus dem Entwurf zu streichen, die eine schließung zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
einfache Zustimmung der betroffenen Per- Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz
son zu einer bestimmten Datenverarbeitung natürlicher Personen bei der Verarbeitung personen-
bezogener Daten und zum freien Datenverkehr (all-
für nicht ausreichend erklärt hätte, „wenn gemeine Datenschutzverordnung), 12. 6. 2014, www.
ein bedeutsames Ungleichgewicht zwischen europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//
der Position des Datensubjekts und der des EP//TEXT+TA+P7-TA-2014-0212+​0+​DOC+​X ML+​
Datenverarbeiters besteht“. Der Wunsch, V0//DE (24. 2. 2015).

APuZ 11–12/2015 11
rung von personenbezogenen Daten ist für Dass Pseudonymisierung – also das Aus-
den rechtsgutadäquaten Umgang mit Big tauschen identifizierender Daten wie Name
Data eine besonders wichtige Möglichkeit. oder Telefonnummer durch Platzhalter – sich
Da die Verarbeitung von pseudonymisierten unter Umständen aushebeln lässt, ist schon
Daten für die Rechte und die Interessen des vielfach gezeigt worden. Ein typisches Bei-
Betroffenen weniger risikobehaftet ist, ist es spiel sind Standortdaten, wie sie beispiels-
gerechtfertigt, ihre Verarbeitung zu erleich- weise Mobilfunkbetreibern vorliegen. Sol-
tern, ohne sie aus dem Anwendungsbereich che Daten lassen sich vielfältig anderweitig
der Verordnung zu entlassen“, teilt das Mi- nutzen, etwa um Verkehrsstaus vorherzusa-
nisterium auf Anfrage mit. Mit pseudonymi- gen, schließlich hat heute nahezu jeder Au-
sierten Daten sollen Unternehmen also mehr tofahrer ein Handy dabei. Doch ist es zuläs-
tun dürfen als mit eindeutig personenbezo- sig, Standortdaten von Mobiltelefonen – ohne
genen Daten – auch ohne die explizite Ein- personenbezogene Daten – an entsprechende
willigung der Betroffenen. Und das soll auch Dienstleister weiterzureichen, ohne die Ein-
innerhalb eines einzigen Unternehmens willigung der Betroffenen einzuholen? Sol-
möglich sein, wenn es nach dem Innenmi- che Standortdaten lassen sogar völlig losge-
nisterium geht: „Bei Vornahme von geeig- löst von Name und Adresse des jeweiligen
neten technisch-organisatorischen Maß- Handynutzers sehr rasch Rückschlüsse auf
nahmen sollte die Pseudonymisierung auch die Person dahinter zu: Etwa weil das Han-
innerhalb eines Datenverarbeiters möglich dy eines Bürgers, der ein Einfamilienhaus be-
sein. Diese Differenzierung erlaubt dem Da- wohnt, verlässlich jeden Abend am gleichen
tenverarbeiter, der über die Zuordnungsregel Ort landet und dort bleibt. Um herauszufin-
verfügt, unter Einhaltung erhöhter Voraus- den, zu wem die Daten gehören, reicht dann
setzungen, den Personenbezug wiederher- ein Blick ins Telefon­buch.
zustellen.“
Ein anderes Beispiel von wohl noch grö-
ßerer Tragweite publizierten Wissenschaftler
Pseudo-Pseudonymisierung? Ende Januar 2014 im Wissenschaftsmagazin
„Science“: Das Team um Yves-Alexandre de
Erleichterungen für die Unternehmen im Montjoye vom MIT zeigte, dass sich auch um
Zusammenhang mit Pseudonymisierung alle Personenbezüge bereinigte Kreditkarten-
wünscht sich beispielsweise auch der IT- daten eindeutige Rückschlüsse auf einzelne
Branchenverband Bitkom. Susanne Dehmel, Nutzer zulassen, wenn man nur einige weni-
Mitglied der Bitkom-Geschäftsleitung, er- ge Zusatzinformationen hat. Weiß man zum
klärt auf Anfrage via E-Mail, die Verarbei- Beispiel, dass eine bestimmte Person an einem
tung von pseudonymisierten Daten sei „ein Tag bei einem bestimmten Bäcker und an drei
bewährtes Mittel, um Analysen zu nütz- weiteren Tagen in anderen Geschäften einge-
lichen Zwecken wie der Optimierung von kauft hat, lässt sich die Kreditkarte dieser Per-
Diensten zuzulassen und gleichzeitig uner- son mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit
wünschte Rückschlüsse auf einzelne Perso- aus einem gigantischen Datensatz mit Infor-
nen zu vermeiden“. Entsprechend befürwor- mationen über 1,1 Millionen Kartennutzern
te der Verband eine vereinfachte Nutzung herausfiltern. Die Pseudonymisierung ist da-
solcher Daten. Laut deutschem Telemedien- mit aufgehoben, für den Auswerter läge die
gesetz ist es Diensteanbietern schon heu- gesamte Einkaufshistorie der betroffenen Per-
te gestattet, „für Zwecke der Werbung, der son offen zutage. „Dass ein Datensatz keine
Marktforschung oder zur bedarfsgerechten Namen, Adressen, Telefonnummern oder an-
Gestaltung der Telemedien Nutzungsprofile“ dere offensichtlich identifizierende Informa-
zu erstellen, solange Pseudonyme verwendet tion enthält, macht ihn weder anonym, noch
werden. Der Nutzer kann dem widerspre- kann es als sicher betrachtet werden, ihn der
chen, explizit und vorab einwilligen muss er Öffentlichkeit oder Drittparteien zur Verfü-
dafür aber nicht, solange die Nutzungsprofi- gung zu stellen“, so die Forscher. ❙14
le „nicht mit Daten über den Träger des Pseu-
donyms zusammengeführt werden“. ❙13 ❙14  Yves-Alexandre de Montjoye, et al., Unique in
the Shopping Mall: On the Reidentifiability of Cre-
❙13  Telemediengesetz, Paragraf 15, Absatz 3: www. dit Card Metadata, 30. 1. 2015, www.sciencemag.org/
gesetze-im-internet.de/tmg/__15.html (24. 2. 2015). content/​347/​6221/​536.full (24. 2. 2015).

12 APuZ 11–12/2015
In der erwähnten, vom BMWi in Auftrag Bestandsdaten; die Rechte der Verbraucher
gegebenen Studie heißt es zum gleichen The- und Unternehmen werden vom Bundesda-
ma: „Vielfach erfolgt bei Big Data-Anwen- tenschutzgesetz (BDSG) und dem Teleme-
dungen ein Umgang mit anonymisierten Da- diengesetz geregelt. Als Beispiel für die Kom-
ten, so dass vermeintlich kein Personenbezug plexität der Materie sei eine Passage aus einer
vorliegt. Dabei steigt mit der Menge an vor- 33-seitigen „Orientierungshilfe zu den Da-
handenen Daten auch die Wahrscheinlich- tenschutzanforderungen an App-Entwickler
keit der Identifizierbarkeit einer bestimmten und App-Anbieter“ des sogenannten Düssel-
­Person.“ ❙15 dorfer Kreises zitiert, dem Beratungsgremi-
um der deutschen Datenschützer. Es geht um
das Bestellen einer Pizza mittels einer Smart-
Weiterer Regelungsbedarf phone-App: Ob die bei der Bestellung an-
gegebenen Daten durch den Pizzadienst er-
Die Autoren der BMWi-Studie führen eine hoben und ausgewertet werden dürfen, „ist
ganze Reihe weiterer bislang ungeklärter nach dem BDSG zu bewerten, da die Umset-
Rechtsfragen auf. Etwa ob Daten jemandem zung der Bestellung offline ausgeführt wird“,
gehören können, ob sie also „eigentumsfä- doch „Daten über z. B. den Zeitpunkt des
hig“ sind. Lars Klingbeil, der netzpolitische Aufrufs der App oder das Klickverhalten in
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, ist der App“ sind Nutzungsdaten im Sinne des
beispielsweise der Meinung, dass man mittel- Telemediengesetzes. ❙17
fristig auch „über Eigentumsrechte an Daten“
diskutieren müsse, wie es am Beispiel von so- Die gesamte Bandbreite rechtlicher Pro-
genannten Smart Cars – also Autos, die dank bleme und Fragestellungen abzubilden,
einer Netzverbindung ständig ortbar sind – die sich aus der Big-Data-Thematik erge-
in Ansätzen bereits geschehe. Diskutiert wer- ben, würde den Rahmen dieses Artikels
de hier etwa die Frage, „wem die Daten ei- sprengen. ❙18 Fest steht jedoch: Die politische
gentlich gehören, dem Hersteller oder dem und juristische Bearbeitung der gewaltigen
Autofahrer, und ob es beispielsweise einer Umwälzungen, die die allgegenwärtige Da-
Art ‚Zeugnisverweigerungsrecht‘ für Autos tenerfassung, -speicherung und -auswertung
bedarf, damit ein Autofahrer sich nicht selbst mit sich bringen, wird mit der Verabschie-
belasten muss“, so Klingbeil via E-Mail. dung der EU-Datenschutzverordnung nicht
beendet sein. Das Big-Data-Zeitalter hat ge-
Eine weitere zentrale Frage im Zusammen- rade erst begonnen.
hang mit der Verarbeitung personenbezoge-
ner Daten betrifft die laut deutschem Recht
und auch laut Entwurf der EU-Verordnung
notwendige Einwilligung des Betroffenen.
Solche Einwilligungen, die etwa Nutzer von
Smartphone-Apps derzeit mit einem ein-
fachen Fingertippen abgeben, entwickelten
sich zu einer Art „Handelsgut“, heißt es in
der BMWi-Studie. Die meisten Dienste sei-
en keineswegs kostenlos, sondern würden
„im Rahmen eines Tauschgeschäfts (Einwil-
ligung gegen Dienstleistung) abgewickelt“.
Zukünftige Forschung werde klären müssen,
„inwieweit ein solches Tauschgeschäft mit
❙17  Düsseldorfer Kreis, Orientierungshilfe zu den
der Idee der Freiwilligkeit der Einwilligung Datenschutzanforderungen für App-Anbieter und
vereinbar ist“. ❙16 App-Entwickler, Ansbach 2014, www.lda.bayern.de/
lda/datenschutzaufsicht/lda_daten/Orientierungs-
Die derzeitige deutsche Rechtslage ist kom- hilfe_Apps_2014.pdf (24. 2. 2015).
pliziert. Der Gesetzgeber unterscheidet zum ❙18  Interessierte Leserinnen und Leser seien daher
verwiesen auf die zitierte BMWi-Studie von Vol-
Beispiel zwischen Inhalts-, Nutzungs- und
ker Markl et al. (Anm. 6) sowie auf Thomas Hoeren
(Hrsg.), Big Data und Recht, München 2014.
❙15  V. Markl et al. (Anm. 6), S. 179.
❙16  Ebd, S. 180.

APuZ 11–12/2015 13
Viktor Mayer-Schönberger die Datenvermehrung Big Data als Phäno-
men, das unsere Wirtschaft und unsere Ge-

Was ist Big Data? sellschaft tief greifend verändern soll, ausrei-
chend beschreibt, erscheint zweifelhaft. Der

Zur Beschleunigung
alleinige Fokus auf das absolute Mehr an Da-
ten wird dem Phänomen nicht gerecht.

des menschlichen Um Big Data zu charakterisieren, wurden


von vielen Medien häufig die drei „Vs“ he-
rangezogen: Diese stehen für die englischen
Erkenntnisprozesses Begriffe volume, velocity und variety. Auch
dabei wird auf die absolute Menge abgestellt,
aber dazu noch auf die Geschwindigkeit und
die Vielfalt verwiesen. Einsichten schnell

A us Suchanfragen im Internet auf die Ver-


breitung der Grippe schließen; Schäden
an Bauteilen eines Flugzeugtriebwerks vorher-
aus Daten gewinnen zu können, ist sicher-
lich von großem Vorteil. Was nützt etwa eine
auf großen Datenmengen basierende Vorher-
sagen; die Inflations- sage, wenn die Auswertung so lange dauert,
Viktor Mayer-Schönberger rate nahezu in Echt- dass sie zu spät kommt? Auch dass die Da-
Dr. iur., LL. M., M. Sc., geb. zeit ermitteln; poten- tenvielfalt zunimmt und im Kontext von Big
1966; Professor am Internet zielle Verbrecher fas- Data immer öfter unterschiedliche Daten
Institute der Universität Oxford; sen, noch bevor sie das verknüpft werden, steht außer Zweifel. Aber
Autor des Buches „Big Data“ Verbrechen begangen so sehr Geschwindigkeit und Datenvielfalt
(2013, mit Kenneth Cukier); haben: Die Verspre- bei Big Data regelmäßig auftreten, so schwer
Oxford Internet Institute, chen von Big Data sind ist vorstellbar, dass diese beiden Eigenschaf-
1 St Giles, OX1 3JS Oxford/ so atemberaubend wie ten auch konstitutiv sind. Viel wahrscheinli-
Vereinigtes Königreich. vielschichtig. Schon cher sind die drei Vs nur Hinweise auf dahin-
vms@acm.org hat sich ein Heer von ter liegende, fundamentalere Eigenschaften.
Dienstleistern darauf
spezialisiert, uns die „Wohltaten“ von Big Was diese grundlegenden Eigenschaften
Data zukommen zu lassen – oder uns kompe- sind, erhellt sich vielleicht, wenn wir verste-
tent davor zu schützen. Viel Geld wird mit die- hen, dass Big Data uns neue Einsichten in die
sen Ratschlägen verdient, aber was Big Data Wirklichkeit eröffnet. Big Data ist also we-
genau ist, bleibt weitgehend unklar. niger eine neue Technologie denn eine neue
oder jedenfalls signifikant verbesserte Me-
Viele mögen den Begriff „Big Data“ intu- thode der Erkenntnisgewinnung. Mit Big
itiv gleichsetzen mit riesigen Datenmengen, Data verbindet sich die Hoffnung, dass wir
die analysiert werden. Es ist zweifellos rich- die Welt besser verstehen – und abgeleitet von
tig, dass die absolute Menge an Daten in der diesem Verständnis bessere Entscheidungen
Welt in den zurückliegenden Jahrzehnten treffen. Als Extrapolation der Vergangen-
dramatisch zugenommen hat. Die beste ver- heit und der Gegenwart erwarten wir, bes-
fügbare Einschätzung geht davon aus, dass sere Vorhersagen über die Zukunft machen
sich die gesamte Datenmenge in den zwei zu können. Wieso aber verbessert Big Data
Jahrzehnten von 1987 bis 2007 verhundert- menschliche Erkenntnis?
facht hat. ❙1 Zum Vergleich: Die Historikerin
Elisabeth Eisenstein schreibt, dass sich in den
ersten fünf Jahrzehnten nach Erfindung des
❙1  Vgl. Martin Hilbert/Priscilla López, The World’s
Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Technological Capacity to Store, Communicate, and
Johannes Gutenberg die Menge der Bücher Compute Information, in: Science, 332 (2011) 6025,
in der Welt in etwa verdoppelte. ❙2 Und die S. 60–65.
Zunahme an Daten lässt nicht nach; derzeit ❙2  Vgl. Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Revo-
soll sich die Datenmenge in der Welt spätes- lution in Early Modern Europe, Cambridge 1993,
S.  13 f.
tens alle zwei Jahre jeweils verdoppeln. ❙3 Eine
❙3  Vgl. John Gantz/David Reinsel, Extracting Va-
verbreitete Vorstellung ist, dass die Zunah- lue from Chaos, 2011, www.emc.com/collateral/ana-
me der Quantität an Daten irgendwann zu lyst-reports/idc-extracting-value-from-chaos-ar.pdf
einer neuen Qualität führt. Dass aber allein (24. 2. 2015).

14 APuZ 11–12/2015
Relatives Mehr an Daten Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Google
leitet aus Anfragen, die in seine Suchmaschine
In Zukunft werden wir relativ zum Phäno- eingegeben werden, die Verbreitung von Grip-
men, das wir verstehen wollen, oder der Fra- pe ab. Die Idee dahinter ist, dass Menschen sich
ge, die wir beantworten wollen, deutlich zumeist dann über die Grippe informieren,
mehr Daten sammeln und auswerten. Es geht wenn sie selbst oder ihnen nahestehende Per-
also nicht um die absolute Zahl an Daten, sonen davon betroffen sind. Eine entsprechen-
sondern um ihre relative Größe. Menschen de Analyse von Suchanfragen und historischen
haben seit jeher versucht, die Welt zu erklä- Grippedaten über fünf Jahre fand in der Tat
ren, indem sie diese beobachteten. Das Sam- eine Korrelation. ❙4 Dabei wurden 50 Millionen
meln und Auswerten von Daten ist also ganz unterschiedliche Suchbegriffe und 450 Mil-
ursprünglich mit menschlicher Erkenntnis lionen Begriffskombinationen automatisiert
verbunden. Aber diese Arbeit der Datener- evaluiert; es wurden, mit anderen Worten,
fassung und -analyse war stets auch mit ho- fast eine halbe Milliarde konkreter Hypothe-
hem Zeit- und Kostenaufwand verbunden. sen generiert und anhand der Daten bewertet,
Als Folge entwickelten wir Methoden und um daraus nicht bloß eine, sondern die optimal
Verfahren, Strukturen und Institutionen, die passende Hypothese auszuwählen. Und weil
darauf ausgelegt waren, mit möglichst weni- Google neben den Suchanfragen und deren
gen Daten auszukommen. Datum auch noch speicherte, von wo die An-
frage kam, konnten am Ende auch geografisch
Das ist grundsätzlich sinnvoll, wenn we- differenzierte Aussagen über die wahrscheinli-
nige Daten zur Verfügung stehen. Aber es che Verbreitung der Grippe abgeleitet werden. ❙5
führte in der Vergangenheit auch dazu, dass
wir schon aus einem oder wenigen Fällen In einem viel diskutierten Beitrag argu-
auf das Ganze schlossen und uns schreck- mentierte der damalige „Wired“-Chefredak-
lich irrten. Erst seit nicht einmal einem teur Chris Anderson vor einigen Jahren, das
Jahrhundert steht uns mit Zufallsstichpro- automatisierte Entwickeln von Hypothesen
ben ein probates Verfahren zur Verfügung, mache menschliche Theoriebildung überflüs-
aus relativ wenigen Daten auf das Ganze zu sig. ❙6 Schon bald revidierte er seine Meinung,
schließen. Das hat große Fortschritte mit denn so sehr Big Data in der parametrischen
sich gebracht, von der Qualitätskontrolle in Generierung von Hypothesen den Erkennt-
der industriellen Fertigung bis zu robusten nisprozess zu beschleunigen vermag, so we-
Meinungsumfragen zu gesellschaftlich re- nig gelingen damit abstrakte Theorien. Das
levanten Themen. Aber Zufallsstichproben bleibt auch künftig den Menschen vorbehal-
bleiben im Kern eine Krücke. Ihnen fehlt ten; der Mensch bleibt also weiterhin im Mit-
die Detaildichte, um das zugrunde liegende telpunkt der Erkenntnisschöpfung. Das hat
Phänomen umfassend abzubilden. Unsere aber auch zur Folge, dass die Ergebnisse je-
aus den Stichproben gewonnene Erkenntnis der Big-Data-Analyse durchwoben sind von
bleibt damit zwangsläufig detailarm. In der menschlichen Theorien – und damit auch von
Regel können wir aus den Stichproben nur deren Schwächen und Unzulänglichkeiten.
jene Fragen beantworten, die uns schon von Auch durch die beste Big-Data-Analyse kön-
Anfang an bekannt waren. Die auf Stich- nen wir uns also nicht aus den daraus resul-
proben basierende Erkenntnis ist also bes- tierenden möglichen Verzerrungen befreien. ❙7
tenfalls eine Bestätigung oder Widerlegung
einer vorab formulierten Hypothese. Wird
der Umgang mit Daten aber drastisch leich- ❙4  Vgl. Jeremy Ginsburg et  al., Detecting Influenza
Epidemics Using Search Engine Query Data, in: Na-
ter, dann können wir in einer zunehmen- ture, 457 (2009), S. 1012 ff.
den Zahl von Fällen nahezu alle Daten eines ❙5  Vgl. Andrea Freyer Dugas et al., Google Flu
bestimmten Phänomens, das wir studieren Trends: Correlation With Emergency Department
wollen, sammeln und auswerten. Weil wir Influenza Rates and Crowding Metrics, in: Clinical
nahezu alle Daten haben, können wir auch Infectious Diseases, 54 (2012) 4, S. 463–469.
nahezu beliebig Details analysieren. Vor al- ❙6  Vgl. Chris Anderson, The End of Theory, in: Wi-
red, 16 (2008) 7, www.wired.com/science/discove-
lem aber können wir die Daten als Inspira- ries/magazine/​16-07/pb_theory (24. 2. 2015).
tion für neue Hypothesen einsetzen, die sich ❙7  Vgl. danah boyd/Kate Crawford, Six Provocations
in Zukunft öfter ohne erneute Datensamm- for Big Data, Research Paper, 21. 9. 2011, ssrn.com/ab-
lung evaluieren lassen. stract=1926431 (24. 2. 2015).

APuZ 11–12/2015 15
In Summe lassen sich also mit Hilfe von Big sierten maschinellen Übersetzung von Tex-
Data nicht bloß bereits vorgefasste Hypothe- ten einer Sprache in eine andere. Die Idee
sen bestätigen, sondern automatisiert neue war, statistisch zu ermitteln, welches Wort
Hypothesen generieren und evaluieren. Dies einer Sprache in ein bestimmtes Wort einer
beschleunigt den Erkenntnisprozess. anderen Sprache übersetzt wird. Dafür be-
durfte es eines Trainingstextes, der den For-
schern in Form der offiziellen Protokolle des
Von Quantität und Qualität kanadischen Parlaments in den zwei Amts-
sprachen Englisch und Französisch zur Ver-
Stehen lediglich wenige Daten zur Verfügung, fügung stand. Das Ergebnis war verblüffend
muss besonders darauf geachtet werden, dass gut, konnte in der Folge aber kaum verbessert
die gesammelten Daten die Wirklichkeit genau werden. Ein Jahrzehnt später nahm Google
widerspiegeln – denn jeder Messfehler kann alles an mehrsprachigen Texten aus dem In-
das Ergebnis verfälschen. Besonders schlimm ternet, das sich finden ließ, unabhängig von
ist dies etwa, wenn alle diese Daten von ei- der Qualität dieser Übersetzungen. Die um
nem einzigen verfälschenden Messinstrument Größenordnungen größere Datenmenge lie-
stammen. Mit Big Data hingegen liegen große ferte trotz sehr unterschiedlicher – und in
Datensammlungen vor, die sich technisch rela- Summe durchschnittlich wohl geringerer –
tiv einfach auch kombinieren lassen. Bei einem Qualität der Übersetzungen ein sehr viel bes-
so viel Mehr an Daten fallen Messfehler bei ei- seres Ergebnis, als es IBM mit weniger, aber
nem oder einer Handvoll Datenpunkten deut- besseren Daten erzielt hatte.
lich weniger ins Gewicht. Und wenn die Da-
ten aus unterschiedlichen Quellen stammen,
ist auch die Wahrscheinlichkeit eines systema- Ende des Ursachen-Monopols
tischen Fehlers geringer.
Die gängigen Big-Data-Analysen identifizie-
Gleichzeitig bedeutet ein Mehr an Daten ren statistische Korrelationen in den Daten-
aus sehr unterschiedlichen Quellen aber auch beständen, die auf Zusammenhänge hindeu-
neue mögliche Problemfelder. So können un- ten. Sie erklären damit im besten Fall, was
terschiedliche Datenbestände die Wirklich- passiert, nicht aber warum. Das ist für uns
keit mit unterschiedlichen Fehlerraten gemes- Menschen oftmals unbefriedigend, weil wir
sen haben oder gar unterschiedliche Aspekte die Welt in der Regel als Verkettungen von
der Wirklichkeit abbilden – wodurch sie nicht Ursachen und Wirkungen verstehen.
unmittelbar vergleichbar sind. Würden wir sie
trotzdem einer gemeinsamen Analyse unter- Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswis-
ziehen, hieße das, Äpfel mit Birnen zu verglei- senschaften Daniel Kahneman hat eindrück-
chen. Damit ist klar, dass weder eine kleine, lich nachgewiesen, dass schnelle Ursachen-
mit hoher Genauigkeit gesammelte Daten- schlüsse von Menschen oftmals fehlerhaft
menge einer sehr großen, aus unterschied- sind. ❙8 Sie mögen uns das Gefühl geben, die
lichen Quellen stammenden Datenmenge Welt zu verstehen, aber sie reflektieren die
überlegen ist, noch umgekehrt. Stattdessen Wirklichkeit und ihre Ursachen nur unzu-
sehen wir uns im Kontext von Big Data bei reichend. Die echte Ursachensuche hingegen
der Auswahl der Daten viel häufiger einem ist zumeist außergewöhnlich schwierig und
Zielkonflikt gegenüber, bei dem es auf den je- aufwendig und gelingt vollständig gerade bei
weiligen Kontext ankommt, ob wir uns für komplexen Zusammenhängen nur in ausge-
das Eine oder Andere entscheiden. Bisher trat wählten Fällen. Diese Schwierigkeit der Ur-
dieser Zielkonflikt selten auf, weil wir auf- sachenforschung führte bisher dazu, dass wir
grund der hohen Kosten des Sammelns und trotz mitunter erheblichen Einsatzes an Res-
Auswertens von Daten in der Regel nur weni- sourcen die Kausalitäten nur relativ weniger
ge davon sammelten. Daraus hat sich mit der komplexer Phänomene ausreichend verstan-
Zeit der generelle Fokus auf die Qualität der den haben. Auch schleichen sich beträchtli-
Daten ­ent­wickelt. che Fehler schon deshalb ein, weil sich die be-
teiligten Forscherinnen und Forscher mit der
Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Ende der
1980er Jahre experimentierten Forscher bei ❙8  Vgl. Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsa-
IBM mit einem neuen Ansatz der automati- mes Denken, München 2012.

16 APuZ 11–12/2015
eigenen Ursachenhypothese identifizieren abbricht. Aber die nahezu monopolartige
und nur diese erfolgreich beweisen wollen. Stellung der Ursachenforschung im Erkennt-
Dieses Risiko lässt sich allenfalls durch auf- nisprozess weicht sich auf, indem öfter das
wendige Methoden – etwa dem Doppelblind- Was vor dem Warum ermittelt werden wird.
verfahren – mindern. In manchen Fällen mag das schon reichen,
jedenfalls fürs Erste. Und in vielen anderen
Die auf Korrelationen beruhende Big-Da- Fällen wird die nachfolgende Suche nach dem
ta-Analyse könnte hier Vorteile bieten – etwa, Warum vom Verständnis über das Was deut-
indem wir schon die daraus resultierende Ant- lich profitieren. In Summe wird damit der
wort auf das „Was“ mitunter als werthaltige menschliche Erkenntnisprozess verbessert.
Erkenntnis wahrnehmen und daraus pragma-
tische Konsequenzen ziehen. Zum Beispiel
haben die Gesundheitsinformatikerin Caro- Annäherung an die Wirklichkeit
lyn McGregor und ihr Team an der Universi-
tät Toronto in den Daten der Vitalfunktionen 2014 berichteten Wissenschaftsmagazine in
von Frühgeborenen Muster erkannt, die eine aller Welt von einem Fehler in Googles Grip-
wahrscheinliche zukünftige Infektion an- pevorhersage: Vor allem im Dezember 2012
zeigen, viele Stunden bevor erste Symptome habe sich das Unternehmen in der Vorhersa-
auftreten. McGregor kennt damit zwar nicht ge der Wintergrippe in den USA massiv ver-
die Ursache der Infektion, aber die auf Wahr- schätzt, und viel zu viele Fälle seien prog-
scheinlichkeiten beruhende Erkenntnis reicht nostiziert worden. ❙9 Was war passiert? Nach
aus, um den betroffenen Frühchen entspre- eingehender Fehleranalyse gestand Google
chende Medikamente zu verabreichen. Das ein, dass man das für die Grippevorhersage
mag in Einzelfällen gar nicht nötig gewesen verwendete statistische Modell seit der Ein-
sein, aber in der Mehrzahl der Fälle rettet es führung im Jahr 2009 unverändert gelassen
das Leben des Frühgeborenen und ist daher, habe. Weil sich aber die Suchgewohnheiten
gerade auch wegen der relativ geringen Ne- der Menschen im Internet über die Jahre ver-
benwirkungen, die pragmatisch richtige Kon- ändert hätten, sei die Vorhersage so deutlich
sequenz aus der Datenanalyse. daneben gegangen.

Im Gegenzug müssen wir freilich auf der Google hätte das eigentlich wissen müssen.
Hut sein, nicht jeder statistischen Korrelation Denn viele andere Big-Data-Analysen seiner
auch einen tieferen Zusammenhang zu unter- verschiedenen Dienste aktualisiert der Inter-
stellen. Denn mittels Korrelationen werden netkonzern regelmäßig anhand neuer Daten.
auch bloß zufällige Übereinstimmungen er- Eine aktualisierte Fassung der Vorhersage,
fasst, die keinen tieferen inneren Zusammen- basierend auf Daten bis 2011, ergab denn auch
hang widerspiegeln. eine wesentlich genauere „Vorhersage“ für
Dezember 2012 und die folgenden Monate.
Erkenntnisse über das Was der Wirklich-
keit können darüber hinaus auch für die Ur- Dieser etwas peinliche Fehler von G ­ oogle
sachenforschung von bedeutendem Nutzen streicht eine weitere Besonderheit von Big
sein. Denn anstatt lediglich auf der Basis ei- Data heraus. Bisher versuchten wir, verall-
ner Intuition einen bestimmten Zusammen- gemeinerungsfähige Erkenntnisse der Wirk-
hang aufwendig zu erforschen, erlaubt eine lichkeit zu gewinnen, die dem Anspruch ge-
auf Korrelationen basierende Big-Data-Ana- nügen sollten, einfach und stets gültig zu sein.
lyse die Bewertung einer großen Vielzahl Dabei mussten wir aber oft die Wirklichkeit
leicht unterschiedlicher Hypothesen. Die Er- idealisieren. In den meisten Fällen reichte das
folg versprechendsten Hypothesen können auch aus. Indem wir nun aber antreten, die
dann für die Ursachenforschung herangezo- Wirklichkeit in all ihrer Detailreiche verste-
gen werden. Mit anderen Worten: Big Data hen zu wollen, stoßen wir mit idealisierten
kann helfen, die Stecknadel der Erkenntnis Vorstellungen der Welt an Grenzen. Mit Big
im Heuhaufen der Daten für die Ursachen- Data wird klar, dass wir mit idealisierten Ver-
forschung zu finden.
❙9  Vgl. David Lazer/Ryan Kennedy/Gary King, The
Schon daraus wird klar, dass mit Big Data Parable of Google Flu: Traps in Big Data Analysis, in:
die Suche der Menschen nach Ursachen nicht Science, 343 (2014) 6176, S. 1203 ff.

APuZ 11–12/2015 17
einfachungen die Wirklichkeit nicht mehr in dung ab. Sinken die Kosten des Auswertens
ihrer ganzen Vielfalt und Komplexität fassen und Speicherns jedoch, dann ist es plötzlich
können, sondern jedes Ergebnis einer Analy- sinnvoll, einmal gesammelte Daten vorrä-
se nur als vorläufiges begreifen müssen. tig zu halten und zukünftig für neue Zwecke
wiederzuverwenden. Das führt dazu, dass
So nehmen wir jeden neuen Datenpunkt auch aus wirtschaftlicher Sicht massive An-
dankbar an, in der Hoffnung, dass wir uns reize bestehen, möglichst viele Daten schein-
mit seiner Hilfe der Wirklichkeit ein kleines bar grundlos zu sammeln, zu speichern und
Stückchen weiter annähern. Und wir werden so oft wie möglich einzusetzen. Denn die-
akzeptieren, dass uns abschließende Erkennt- ses Datenrecycling erhöht die Effizienz der
nis verborgen bleibt, nicht zuletzt, weil die Daten­w irtschaft.
Daten eben stets nur ein Abbild der Wirklich-
keit und damit im Letzten unvollständig sind. Big Data ist ein mächtiges Werkzeug, die
Wirklichkeit, in der wir leben, zu verstehen.
Jene, die dieses Werkzeug effektiv einsetzen,
(Wirtschaftliches) Primat der Daten ziehen daraus nachhaltige Vorteile. Dies be-
deutet freilich auch Umverteilungen nicht
Die Prämisse von Big Data ist, dass sich aus nur informationeller Macht in unserer Ge-
Daten Erkenntnisse über die Wirklichkeit ge- sellschaft – womit wir bei den Schattenseiten
winnen lassen. Konstitutiv für den Erkennt- von Big Data angekommen sind.
nisgewinn sind daher primär die Daten,
nicht der Algorithmus. Auch das ist ein Un-
terschied zur „datenarmen“ Vergangenheit. Permanenz der Vergangenheit,
Denn bei wenigen Daten kommt dem Mo- vorhergesagte Zukunft
dell, dem Algorithmus, größeres Gewicht zu.
Dieses muss die geringe Menge an Daten aus- Seit den Enthüllungen von Edward Snowden
gleichen. Das hat Konsequenzen auch für die über die Machenschaften der NSA wurde viel
Verteilung informationeller Macht im Kon- über die Gefahren von Big Data geschrieben.
text von Big Data. In Zukunft werden weni- Dabei wird in der Regel als erstes die umfas-
ger jene, die Daten bloß analysieren, Macht sende Überwachung und Datensammlung
haben, als jene, die auch den Zugang zu Da- genannt. Aber das Bedrohungsszenario geht
ten haben. Damit erhält auch das Unbehagen über die NSA hinaus.
vieler Menschen gegenüber Organisationen
und Unternehmen, die scheinbar immer grö- Wenn einfache Verfügbarkeit und günsti-
ßere Datenmengen sammeln und auswerten, ges Speichern zum grenzenlosen Datensam-
ein sachliches Fundament. meln anregen, dann besteht damit vor allem
die Gefahr, dass uns die eigene Vergangenheit
Weil sich aus Daten Erkenntnisse schöp- immer wieder aufs Neue einholt. ❙10 Zum ei-
fen lassen, bestehen massive Anreize, immer nen bemächtigt dies jene, die mehr über un-
mehr Aspekte unserer Wirklichkeit in Daten ser vergangenes Handeln wissen, als wir viel-
zu fassen, also – um einen Begriff zu prägen – leicht selbst erinnern können. Würde uns
die Wirklichkeit immer stärker zu „datafizie- dann regelmäßig vorgehalten, was wir in frü-
ren“. Immer kleinere, günstigere und genauere heren Jahren gesagt oder getan haben, könn-
Sensoren helfen hier genauso wie eine immer ten wir versucht sein, uns selbst zu zensieren,
noch zunehmende Rechenleistung der digita- in der Hoffnung, damit in Zukunft nicht Ge-
len Werkzeuge, mit denen wir uns umgeben. fahr zu laufen, mit einer dann unangenehmen
In der Vergangenheit war nicht nur das Sam- Vergangenheit konfrontiert zu werden. Schü-
meln und Auswerten von Daten kostspielig, lerinnen und Studenten, Gewerkschafter und
sondern auch das fortgesetzte Speichern der Aktivistinnen könnten sich so veranlasst se-
Daten. Aus diesem Grund wurde in der Re- hen, zu schweigen, weil sie fürchten müssten,
gel nur so wenig wie nötig gesammelt, zudem in Zukunft für ihr Handeln bestraft oder je-
wurden die Daten nach der Verwendung auch denfalls schlechter behandelt zu werden.
wieder gelöscht oder in Archiven vergessen.
Diese Nutzung der Daten für ein bestimm- ❙10  Dazu umfassender: Viktor Mayer-Schönberger,
tes Ziel bilden auch die bestehenden Daten- Delete – Die Tugend des Vergessens in digitalen Zei-
schutznormen in der sogenannten Zweckbin- ten, Berlin 2010.

18 APuZ 11–12/2015
Das Festhalten an Vergangenem verhindert tofahrer wird, noch bevor dieser jemand die
auch, so meinen Psychologen, dass wir in der Führerscheinprüfung ablegt hat? Würden
Gegenwart leben und handeln. So wird in der wir dann prognostiziert schlechten Fahrern
Literatur der Fall einer Frau beschrieben, die den Führerschein versagen, auch wenn sie die
nicht vergessen kann, und deren Erinnerung Prüfung bestehen? Und würden Versiche-
an jeden Tag der zurückliegenden Jahrzehnte rungen diesen Personen bei vorhergesagt er-
sie in ihren Entscheidungen in der Gegenwart höhtem Risiko immer noch eine Police anbie-
blockiert. ❙11 ten? Zu welchen Konditionen?

Im Kontext von Big Data lassen sich auch Alle diese Fälle stellen uns als Gesellschaft
aus Analysen vergangenen oder gegenwärti- im Kern vor die Frage, zwischen Sicherheit
gen Verhaltens Prognosen für die Zukunft er- und Vorhersehbarkeit einerseits und Freiheit
stellen. Das kann für die gesellschaftliche Pla- und Risiko andererseits zu wählen. Diese
nung durchaus von positiver Bedeutung sein, Fälle sind aber auch das Ergebnis eines Miss-
etwa wenn es darum geht, zukünftige Strö- brauchs von Big-Data-Korrelationen für kau-
me des öffentlichen Verkehrs vorherzusagen. sale Zwecke – die Zuteilung von individueller
Es wird aber höchst problematisch, wenn Verantwortung. Genau diese dafür notwen-
wir beginnen, Menschen schon lediglich auf- dige Antwort auf das Warum kann die Ana-
grund eines durch eine Big-Data-Vorhersage lyse des Was aber nicht geben. Das trotzdem
prognostizierten zukünftigen Verhaltens zur zu unternehmen, heißt nichts weniger, als
Verantwortung zu ziehen. Das wäre dann so sich der Diktatur der Daten auszuliefern und
wie im Hollywood-Film „Minority Report“ der Big-Data-Analyse mehr an Einsicht zu-
und würde unsere bisherigen Vorstellungen zuschreiben als ihr tatsächlich innewohnt.
von Gerechtigkeit infrage stellen. Mehr noch:
Wenn Strafe nicht mehr mit tatsächlichem,
sondern schon mit bloß vorhergesagtem Ver- Notwendigkeit eines Rechtsrahmens
halten verknüpft wird, dann ist das im Kern
auch das Ende des gesellschaftlichen Res- Die permanente Vergangenheit und die vor-
pekts gegenüber dem freien Willen. hergesagte Zukunft sind – auf die einzel-
nen Menschen bezogen – die beiden großen
Dieses Schreckensszenario ist noch keine Schattenseiten von Big Data. Hinzu kommen
Realität, aber zahlreiche Versuche in aller Welt noch weitere, gesamtgesellschaftliche Pro-
zeigen schon in diese Richtung. So wird etwa blemfelder, die sich etwa aus der zunehmen-
in dreißig US-Bundesstaaten für die Entschei- den Konzentration der Datenbestände auf
dung, ob jemand auf Bewährung freikommt wenige Unternehmen und Organisationen
oder nicht, eine Big-Data-Vorhersage heran- (und die damit verbundene Verschiebung in-
gezogen, die prognostizieren soll, wie wahr- formationeller Macht) ergeben.
scheinlich die Person künftig in einen Mord
verwickelt sein wird. Und in vielen Städten Daraus folgt die Notwendigkeit, den Ein-
der westlichen Welt wird die Entscheidung, satz von Big Data rechtlich verbindlichen Re-
welche Polizeistreife wann und wo patrouil- geln und Schranken zu unterwerfen, gerade
liert, von einer Big-Data-Vorhersage des wahr- um die potenziellen individuellen und ge-
scheinlich nächsten Verbrechens abhängig samtgesellschaftlichen negativen Folgen zu
gemacht. Letzteres ist keine unmittelbare indi- vermeiden. Das bedarf möglicherweise neu-
viduelle Strafe, aber für die Betroffenen in ver- er Grundrechte, neuer Verantwortlichkeiten
brechensstarken Straßen kann es durchaus so für jene, die Big Data einsetzen, aber auch
empfunden werden, wenn jeden Abend die Po- neuer Institutionen, die die Regulierung und
lizei an die Tür klopft, selbst wenn nur freund- Kontrolle von Big Data übernehmen. Dazu
lich nachgefragt wird, ob alles in Ordnung ist. fehlt freilich bis jetzt in der Politik noch das
dafür notwendige Problemverständnis – und
Was wäre, wenn die Big-Data-Analyse vor- in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion
hersagen könnte, ob jemand ein guter Au- über Nutzen, Schattenseiten und mögliche
Grenzen dieser mächtigen neuen Sicht auf die
❙11  Vgl. Elizabeth S. Parker/Larry Cahill/James L. Wirklichkeit.
McGaugh, A Case of Unusual Autobiographical Re-
membering, in: Neurocase, 12 (2006), S. 35–49.

APuZ 11–12/2015 19
Rolf Kreibich Fortschritt angesehen werden können. Wenn
heute noch immer fast zwei Milliarden Men-

Von Big zu Smart – schen kein sauberes Trinkwasser haben, über


1,3 Milliarden unter Hunger und Mangel­
ernährung leiden, es aus politischen, ökono-

zu Sustainable? mischen, sozialen und ökologischen Grün-


den enorme Migrationsbewegungen gibt und
die Bedrohungen durch überbordende Kon-
flikte und Terrorismus so groß sind wie lange

D ie Denk- und Handlungsprinzipien der


modernen Wissenschaft und Technik
bilden die wichtigste Produktivkraft heutiger
nicht mehr – dann müssen vor allem auch die
Fortschrittseuphorien in den Wissen­schafts­
gesell­schaften hinterfragt werden.
Gesellschaften. In den
Rolf Kreibich vergangenen Jahrzehn-
Dr. phil., Dipl.-Phys., geb. 1938; ten haben insbesonde- Welcher Fortschritt?
Professor für Soziologie der re die Entwicklungen
Technik, Technikfolgenabschät- der Informations- und Selbstverständlich sind die durch die Produk-
zung und Zukunftsforschung; Kommunikationstech- tivkraft „Wissenschaft und Technologie“ in
wissenschaftlicher Direktor und nologien (IKT) die den vergangenen hundert Jahren erreichten
Geschäftsführer des Sekretari- Herausbildung einer Veränderungen in den Industriegesellschaften
ats für Zukunftsforschung (SFZ) neuen Gesellschafts- faszinierend: Steigerung der Arbeitsprodukti-
an der Freien Universität Berlin, form beschleunigt: der vität in der Landwirtschaft um 4000 Prozent,
Arnimallee 22, 14195 Berlin. Wissenschaftsgesell- im Produktionsbereich um 4500 Prozent, im
rolf.kreibich@gmx.de schaft. ❙1 Dienstleistungsbereich um 4000 Prozent, des
Realeinkommens um 3500 Prozent. Auch die
Dieser Prozess ist in der Zivilisationsge- Verlängerung der Lebenszeit um etwa 38 Jah-
schichte insofern beispiellos, als all die Grö- re (eine Verdoppelung), die enorme Steige-
ßen, die diese Gesellschaft charakterisieren, rung der Mobilität sowie die Möglichkeit, in
seit der Herausbildung der neuen Wissen- Nanosekunden über den gesamten Erdball zu
schaftsmethoden vor etwa dreihundert Jah- kommunizieren, begreifen wir zu Recht als
ren eine sprunghafte Entwicklung genom- große Fortschritte.
men haben: Das gilt für die Erzeugung von
Produkten, für technikbasierte Dienstleis- Wie aber sieht es aus mit anderen Verän-
tungen und Infrastrukturen, für die Verände- derungen: der täglichen Vernichtung von
rungen und Belastungen der natürlichen Um- zahlreichen Tier- und Pflanzenarten, von
welt, für die Nahrungsmittelproduktion, für Tausenden Quadratkilometern tropischen
die Herstellung von Waffen und deren Ver- Regenwalds, der massenhaften Versteppung
nichtungswirkungen, für den Ressourcen- und Verseuchung von Böden, der Vergiftung
verbrauch und den globalisierten Handel so- großer Trinkwasserreservoire, der Verpes-
wie für die Zunahme ökonomischer, sozialer tung der Atmosphäre? Was ist mit dem fort-
und ökologischer Konflikte. gesetzten Raubbau an den fossilen Energie-
trägern und anderen natürlichen Ressourcen?
Seit der Entdeckung der Grundgröße „In- Wie verhält es sich also mit den jüngsten „Er-
formation“, der Entwicklung der Informati- rungenschaften“ des digitalen Zeitalters – mit
onstheorie, der Erfindung des Computers und der Ausbreitung von immer größeren Daten-
der Gesetze der Kybernetik hat sich die In- wolken und immer intelligenteren digitalen
formationsverarbeitung ebenso exponentiell Diensten, sowie, damit verbunden, mit den
vollzogen. Seriöse Schätzungen gehen davon zunehmenden Verunsicherungen und Ängs-
aus, dass 2012 etwa 1,8 Zettabyte an Daten
produziert wurden und die Datenmengen sich ❙1  Vgl. Rolf Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft.
etwa alle zwei Jahre weiter verdoppeln werden Von Galilei zur High-Tech-Revolution, Frank­f urt/M.
(Ein Zettabyte ist eine Eins mit 21 Nullen). ❙2 1986.
❙2  Vgl. Fraunhofer-Institut für Intelligente Analy-
se- und Informationssysteme (IAIS) (Hrsg.), Big
Erst mit Verzögerung sind auch Zweifel Data – Vorsprung durch Wissen. Innovationspoten-
größer und Stimmen lauter geworden, ob alle zialanalyse, Sankt Augustin 2012, S. 6, www.bigdata-
Segnungen der Wissenschaftsgesellschaft als studie.de (24. 2. 2015).

20 APuZ 11–12/2015
ten vor außer Kontrolle geratenen Geheim- zung von IKT-Systemen interagiert wird,
diensten und mächtigen Konzernen der di- produzieren Daten, Datenspuren und gespei-
gitalen Industrie, die unsere persönlichen cherte Daten, die zusammen den Begriff „Big
Daten abgreifen und für ihre Zwecke nut- Data“ geprägt haben. Seit einigen Jahren ist
zen? Wollen wir diesen Fortschritt? Wollen Big Data allerdings nicht mehr nur ein Be-
wir ihn so? griff, sondern ein neues und zunehmend auch
zentrales Themenfeld der IKT-Branche: „Big
Wir brauchen dringend eine Neubestim- Data bezeichnet einen aktuellen Trend der
mung von Fortschritt, und wir müssen un- Informations- und Kommunikationstech-
ser Denken und Handeln gerade auch auf nologien, große, inhomogene Datenmengen
die zukunftsbeschränkenden Wirkungen zeitnah zu verarbeiten und aus der Analy-
und Folgen der primär auf wissenschaftlich- se der Daten wirtschaftliche Vorteile zu zie-
technologischen Innovationen beruhenden hen. Treiber der Technologie-Entwicklung
Gesellschaft konzentrieren. Es gilt, Antwor- ist das weltweit exponentiell wachsende Da-
ten zu finden, wie wir auf die existenziellen tenvolumen.“ ❙3 Big Data gilt mehr und mehr
Fragen der vielen Menschen weltweit reagie- als wichtigster Rohstoff des 21. Jahrhunderts.
ren, die an diesem Fortschritt nicht beteiligt Aus ihm lassen sich planungs- und entschei-
sind. Das bedeutet, dass wir nicht mehr nur dungsrelevante Informationen extrahieren,
Techniken erfinden, weiterentwickeln und Wettbewerbsvorteile und Effizienzsteige-
weitgehend unkontrolliert auf die Mensch- rungen erzielen und Innovationen, neue Pro-
heit loslassen dürfen. Wir müssen frühzeitig dukte, Dienstleistungen und Geschäftsfelder
ihre Wirkungen und Folgen erforschen und entwickeln.
neue Perspektiven eröffnen. Nur so können
wissenschaftliche Erkenntnisse im Zusam- So war es nur eine Frage der Zeit, dass die
menwirken mit Lebens- und Alltagserfah- sich immer weiter füllenden Datenseen einer
rungen betroffener Bürgerinnen und Bür- kommerziellen Nutzung zugeführt würden.
ger zukunftsfähige Lebensgrundlagen für Google hat als erster Konzern sowohl die Pro-
alle Menschen ermöglichen. Das klingt ver- duktion als auch die Speicherung und Nut-
messen und hypertroph. Aber aus Sicht der zung von Big Data systematisch umgesetzt.
Zukunftsforschung gibt es keinen Grund Mittlerweile hat sich ein umfangreicher Wirt-
anzunehmen, dass eine solche Vision nicht schaftssektor herausgebildet, der auf der Nut-
realisierbar sei. zung riesiger Datenmengen beruht. Darüber
hinaus gibt es weltweit eine rasch wachsende
wissenschaftliche Community, die sich der
Big Data, Big Science Erforschung und Anwendung sowie der Ent-
wicklung von Methoden und Verfahren zur
In allen Bereichen des menschlichen Lebens effizienten Nutzung von Big Data widmet.
und Handelns fallen täglich große Daten-
mengen an. Viele Unternehmen, Administra-
tionen, Organisationen, Netzwerke und In- Nutzungsmöglichkeiten
frastruktureinrichtungen produzieren und
speichern laufend Daten, die vor allem im Auch wenn das digitale Universum von Big
Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Data eine unerschöpfliche Rohstoffquelle zu
Technologien anfallen. Das gigantische Da- sein scheint, so muss doch vor der Annahme
tenmeer wird jeden Tag größer: durch Mess- gewarnt werden, diese Quelle könne leicht
und Kontrollsysteme, Informations- und für alle möglichen Wunderleistungen genutzt
Kommunikationseinrichtungen, Überwei- werden. Denn schließlich handelt es sich hier
sungsdaten im Bank- und Versicherungsge- nicht um geordnete klassische Datenbanken,
schäft, Diagnosen und Therapiepläne in der die mit den herkömmlichen Methoden der Da-
Medizin, Statusmeldungen in sozialen Netz- tenanalytik, -synthetik und Statistik erschlos-
werken, Forschung und Bildung sowie durch sen werden können. Vielmehr breitet sich hier
alle möglichen Informationen, die milliar- ein weitgehend ungeordnetes, fast chaotisches
denfach ins Internet gestellt werden.
❙3  Bundesministerium für Wirtschaft und Technolo-
Alle Wirtschaftsbranchen, aber auch alle gie (BMWi), Smart Data – Innovationen aus Daten,
anderen Bereiche, in denen mit Unterstüt- Berlin 2013, S. 5.

APuZ 11–12/2015 21
Datenreservoir aus, dessen Erschließung vor Handel. Bei Banken und Versicherungen ist
zahlreichen Herausforderungen steht. ❙4 die Erkennung von Compliance-Problemen,
vornehmlich in Zusammenhang mit Betrugs-
Vereinfacht lässt sich die Suche nach inter- versuchen, das wichtigste Ziel. Im Dienstleis-
essanten Daten und Datenverknüpfungen mit tungssektor, und hier besonders durch die
der Suche nach einem Edelstein in einem rie- evidenzbasierte Medizin, steht die datenba-
sigen Meer aus Sand und Geröll vergleichen. sierte Planung im Fokus. Im Industriesektor
Vor diesem Hintergrund ist es höchst plau- sind die Ziele sehr vielfältig.“ ❙6
sibel, dass die derzeitige Forschung und Ent-
wicklung nach ganz neuen Methoden, Ver- Die Aufgabengebiete für Big-Data-Anwen-
fahrensweisen und Technologien fahndet, um dungen wurden dabei wie folgt herausgearbei-
zu einer Komplexitätsreduktion und zu sinn- tet, wobei die vielfältigen Aufgaben zu Grup-
vollen und nützlichen Ergebnissen zu kom- pen mit ähnlichen Eigenschaften gebündelt
men. Da die Zahl der Unternehmen, die die wurden: „Marktmonitoring für Verkaufschan-
Erschließung von Big Data als wichtig und cen, Personalisierte Produktempfehlungen,
nützlich ansehen, sprunghaft gestiegen ist, Kündigerfrüherkennung, Mitarbeitergewin-
ist davon auszugehen, dass wir vor einer wis- nung, Absatzprognose für Planung und Steu-
senschaftlichen, technologischen und ökono- erung, Vorausschauende Instandhaltung,
mischen Boomphase stehen: „Dass hier echte Umsichtige Steuerung, Betrugserkennung, Fi-
Schätze zu heben sind, davon sind die meisten nanzielle Risikoabschätzung, Erkennung von
Experten überzeugt. Eine globale Umfrage Attacken, Produktverbesserungen, Innovative
der Universität Oxford ergab: Fast zwei Drit- Produkte“. ❙7
tel der Befragten aller Branchen sind über-
zeugt davon, dass die Nutzung von Daten und Allgemein lässt sich feststellen, dass Big
Analyseverfahren für ihr Unternehmen einen Data schon heute die Möglichkeit bietet,
Wettbewerbsvorteil darstellt – zwei Jahre zu- große Datenmengen sowie neue Formen
vor meinten dies erst 37 Prozent.“ ❙5 der Verknüpfung und Analyse ganz unter-
schiedlicher Quellen zu erschließen. Da-
In einer im Auftrag des Bundeswirt- raus erwachsen neue Wissensbestände und
schaftsministeriums erstellten Innovations- technologische Anwendungen. Hieraus las-
potenzialanalyse identifizierte das Fraun- sen sich für Unternehmen vor allem Wettbe-
hofer-Institut für intelligente Analyse- und werbsvorteile durch Informationsvorsprung
Informationssysteme (IAIS) zahlreiche An- und Effizienzsteigerungen, Innovations-
wendungsmöglichkeiten für Big-Data-Nut- schübe für neue Produkte, Verfahren und
zungen, die es wie folgt zusammenfasste: Dienstleistungen sowie Grundlagen für neue
„Die Anwendungsfälle decken verschiedene Ausbildungs- und Qualifikationsprogramme
Branchen und Unternehmensbereiche ab. Je- gewinnen.
doch gibt es Schwerpunkte, und zwar in den
Unternehmensbereichen, die für die jewei-
lige Branche am charakteristischsten sind: Neue Verheißung Smart Data
‚Marketing, Vertrieb und Kundenbetreuung‘
im Handel, ‚Produktion, technische und IT- Neuere Studien und die Debatten in For-
Services‘ in der Industrie, ‚Finanz- und Ri- schung und Wirtschaft legen nahe, dass die
siko-Controlling‘ in Banken und Finanzen, zukünftige Durchdringung von Big Data
‚Dienstleistung und Support‘ im Dienstleis- eine wissenschaftliche, technische und wirt-
tungssektor. (…) Die Steigerung der Umsät- schaftliche Revolution einleiten könnte – vor
ze und Einsparung von Kosten zählen zu den allem, wenn „Big“ um „Smart“ ergänzt wird:
häufigsten Zielen, und zwar maßgeblich im „Nur wer die Daten versteht, kann Mehrwert
schaffen. Denn um solche Datenmengen (…)
❙4  Vgl. ebd. richtig auswerten zu können, muss man sie
❙5  So der Leiter der Konzernforschung der Siemens verstehen – das heißt, man muss über das
AG: Wolfgang Heuring, Warum Big Data zu Smart Wissen verfügen, wie die Geräte und Anlagen
Data werden muss!, 1. 10. 2014, www.siemens.com/
funktionieren und mit welcher Sensorik und
innovation/de/home/pictures-of-the-future/digita-
lisierung-und-software/von-big-data-zu-smart-da-
ta-warum-big-data-smart-data-werden-muss.html ❙6  IAIS (Anm. 2), S. 7.
(24. 2. 2015). ❙7  Ebd., S. 8.

22 APuZ 11–12/2015
Messtechnik man an die wirklich nützlichen intelligenten Netzen (smart grids). In diesen
Daten herankommt. Hier ist nicht unbedingt komplexen Systemen sind zahlreiche Pro-
die ‚Masse‘ (Big), sondern der ‚wertvolle In- bleme zu lösen, etwa der Ausgleich von Span-
halt‘ (Smart) das entscheidende Kriterium.“ ❙8 nungsschwankungen oder die Verhinderung
von Stromausfällen oder Messfehlern – ohne
Eine Initiative aus der Trusted Cloud For- dabei die Anforderungen einer hohen Daten-
schung definiert Smart Data wie folgt: „Smart sicherheit, des Datenschutzes, der Wahrung
Data = Big Data + Nutzen + Semantik + Da- der Privatsphäre und der Erhaltung und Ver-
tenqualität + Sicherheit + Datenschutz = besserung der Kostenstruktur zu vernachläs-
nutzbringende, hochwertige und abgesicherte sigen. Hinzu kommen weitere Forderungen,
Daten“. ❙9 Smart Data geht also erheblich über etwa nach zeitlich und örtlich differenzierten
Big Data hinaus, wobei Mehrwerte vor allem oder den Verbrauchergruppen angepassten
durch die Speicherung und Verarbeitung der Tarifstrukturen als Grundlage für Kunden-
Semantik der Daten und Metadaten während segmentierungen und als Voraussetzung für
der Verarbeitung und durch definierte Qua- individuelle Steuerungsmöglichkeiten ein-
litätsmerkmale von Daten entstehen. Dazu zelner Geräte.
gehören auch die Einhaltung von Daten-
schutz- und Sicherheitsregelungen sowie der Mobilität und Verkehr. Dieser Bereich bil-
Einbezug rechtlicher Voraussetzungen wie det ein äußerst weites und komplexes An-
der Rolle des Urheberrechts und des Daten- wendungsfeld mit gigantischem Datenanfall.
besitzes. „Smart Data ist kein Selbstzweck, Hier geht es um das Zusammenspiel mehrerer
sondern Voraussetzung zur Lösung weiter- Subsysteme, also des motorisierten Straßen-
gehender gesellschaftlicher und wirtschaft- verkehrs, des öffentlichen Personennahver-
licher Herausforderungen, wie ein modernes kehrs, des schienengebundenen Nah-, Regi-
Energiemanagement unserer Stromnetze, die onal- und Fernverkehrs der Eisenbahnen, des
Einführung von Industrie 4.0-Szenarien, so- Radverkehrs, des Fußverkehrs, der Binnen-
wie ein modernes, leistungsstarkes und den- schifffahrt und des Flugverkehrs. Hier fallen
noch kosteneffizientes Gesundheitswesen“. ❙10 Daten ganz unterschiedlicher Herkunft an,
etwa Fahrzeug-, Nutzer-, und Infrastruk-
Die heute primär avisierten Nutzungs- turdaten (Straßen, Trassen, Brücken, Radwe-
möglichkeiten von Smart Data sprechen da- ge, Gehwege, Wasserwege). Hinzu kommen
für, dass tatsächlich vor allem lebenswichtige klassische Vernetzungsbereiche wie Halte-
Daseinsbereiche davon profitieren könnten stellen, Bahnhöfe, Ampelsysteme, Kreisver-
beziehungsweise werden. Folgende wirt- kehre, Tank- und Ladestellen sowie neue wie
schaftliche Anwendungsfelder stehen auf der Informations- und Kommunikationssyste-
Agenda ganz oben: me, Car2Car- und Car2X-Kommunikatio-
nen (Kommunikation zwischen Fahrzeugen
Energie. Mehrere Entwicklungen sprechen sowie zwischen Fahrzeugen und Infrastruk-
für ein wachsendes Datenaufkommen im tur), Mautsysteme, Stauanzeigen, Verkehrs-
Energiesektor: die stark steigende Zahl de- lenkungssysteme, Carsharing und anderes
zentraler Energieversorger, die Forderungen mehr. Zum einen geht es dabei um eine mög-
nach größerer Energieeffizienz, der zuneh- lichst optimale Steuerung und Kontrolle, die
mende dezentrale Einsatz von Energiespei- Vermeidung von Unfällen, Staus und Kolli-
chern für Strom und Wärme, ein rationelleres sionen, zum anderen aber auch um die Ein-
Energieverhalten sowie die verstärkte Ein- haltung des Datenschutzes und die Wahrung
bindung der Verbraucher. Hinzu kommt die von Persönlichkeitsrechten. Hinzu kommen
Notwendigkeit der besseren Kopplung und mehr und mehr auch personalisierte und ziel-
Verwendung der Anlagen. Das wiederum be- gruppenspezifische Verkehrsangebote, das
dingt den Einsatz von intelligenten Strom- heißt neue Datenstrukturen für eine indivi-
und Wärmezählern (smart meter) sowie von dualisierte Verkehrsplanung und kontextab-
hängige Verkehrssteuerungen.
❙8  W. Heuring (Anm. 5).
Industrie. In der Industrie fallen unter an-
❙9  Ralf Reussner et al., Smart Data. A Big Data Me-
morandum, Berlin 2014, http://smart-data.fzi.de/ derem im Zusammenhang mit der Automa-
(24. 2. 2015). tisierungstechnik und durch den Einsatz
❙10  Ebd. intelligenter autonomer Systeme (Robotik)

APuZ 11–12/2015 23
sowie durch die Vernetzung von eingebet- Nachhaltige Entwicklung?
teten Systemen, Sensoren und Funktech-
niken riesige Datenmengen an. Integrierte Es ist bezeichnend, dass sich in der gesamten
Produktplanungs-, Monitoring- und Ent- Debatte um Big Data und Smart Data kein
scheidungssysteme sind schon heute zen- einziger Hinweis auf das Leitbild der Nach-
trale Bereiche von Smart Data. Ergänzt haltigen Entwicklung findet. Auch wenn die
werden diese Systeme durch die Integra- wissenschaftlichen und ökonomischen Dis-
tion individualisierter Kundenanforderun- kurse um einige der wichtigsten Bereiche des
gen aus Befragungen und durch das Zusam- gesellschaftlichen Wandels kreisen – Indus-
menwirken mit sozialen Netzwerken. Die trie, Energie, Mobilität, Gesundheit  –, fin-
Analyse und die Nutzung der Daten ermög- det eine Auseinandersetzung mit dem globa-
lichen Qualitätsverbesserungen und Effizi- len Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung ❙12
enzsteigerungen von Produkten, Verfahren nicht statt. Hier setzen die zentrale Frage-
und Wertschöpfungsketten. „In den mit cy- stellung und der Erkenntnishorizont der mo-
berphysikalischen Systemen ausgerüsteten dernen Zukunftsforschung an. Vor dem Hin-
smarten Fabriken, wie sie im Rahmen von tergrund der eingangs dargelegten globalen
‚Industrie 4.0‘ entwickelt werden, sind Ob- Kernprobleme des sozialen und ökologischen
jekte und Produkte eindeutig identifizierbar, Wandels müsste sich die Debatte um die
jederzeit lokalisierbar und liefern Zustands- hochinnovative Entwicklung von Big Data
informationen. Dies ermöglicht in Echtzeit und Smart Data auch den Grundfragen unse-
steuerbare Wertschöpfungsnetzwerke, er- rer Zeit zuwenden: Wie bleiben wir langfris-
fordert aber ein durchgängiges Engineering tig zukunftsfähig in einer Welt, die in zahl-
über den gesamten Lebens­zy­k lus eines Pro- reichen Bereichen deutliche Anzeichen einer
dukts einschließlich seines Produktionssys- selbstvernichtenden Tendenz der Menschheit
tems ­h inweg.“ ❙11 zeigt? Welchen Beitrag können so starke in-
novative Konzepte wie Big Data und Smart
Gesundheit. Im Gesundheitsbereich fal- Data dafür leisten?
len große Mengen an komplexen Daten an,
die über alle Arbeitsfelder hinweg gespei- Nach heutigen Erkenntnissen werden so-
chert werden. Das gilt für alle Bereiche der wohl entwickelte als auch in Entwicklung
Diagnostik und Therapie ebenso wie für den befindliche Gesellschaften gegenwärtig und
enormen Datenanfall im Gesundheitsma- zukünftig von zwei Leitbildern geprägt: der
nagement, in der Krankenhausverwaltung, bereits erwähnten Wissenschaftsgesellschaft
Forschung, Bildung, Ausbildung, Medizin- (science society) und der Nachhaltigen Ge-
technik und durch das weitgefächerte Rech- sellschaft (sustainable society). Diese Einsicht
nungs- und Abrechnungswesen. Vor die- gehört zu den zentralen Ergebnissen der Zu-
sem Hintergrund eines breiten Spektrums kunftsforschung. ❙13 Die science ­society wird
äußerst komplexer und heterogener Daten in erster Linie durch den Megatrend „wis-
werden Methoden und Techniken zur intel- senschaftliche und technologische Innova-
ligenten Nutzung von Big Data im Gesund- tionen, Bildung, Wissensvermittlung und
heitsbereich immer vielversprechender. Die Qualifizierung“ bestimmt. Sie erhält ihre
Nutzung der Daten im Sinne von Smart Data stärksten Impulse aus der wissenschaftli-
wird vor allem auch durch den Megatrend ei- chen Wissensproduktion, der Hochtechno-
ner sich individualisierenden und fallspezi- logieentwicklung und der wissenschaftsbe-
fischen Medizinentwicklung immer plausib- zogenen Ausbildung und Qualifizierung.
ler. Das gilt auch für die Medizintechnik und Den deutlichsten ökonomischen Ausdruck
-forschung, für die individuelle Patientenver- finden die wissenschaftsbasierten Grundla-
sorgung und den Kampf gegen Zivilisations- gen in den hocheffizienten neuen Technolo-
krankheiten. Für den Gesundheitsbereich gien. Intelligente Maschinen dringen immer
wird Smart Data einen besonderen Schwer-
punkt in puncto Datenschutz, Datensicher-
heit sowie Einhaltung zahlreicher Rechts- ❙12  Vgl. Rolf Kreibich (Hrsg.), Nachhaltige Entwick-
lung – Leitbild für die Zukunft von Wirtschaft und
normen zu legen haben, die vor allem den Gesellschaft, Weinheim–Basel 1996.
Patienten dienen. ❙13  Vgl. ders., Zukunftsforschung zur Nachhaltig-
keit – Forschungsfelder, Forschungsförderung, For-
❙11  BMWi (Anm. 3), S. 7. schungspolitik, IZT-Arbeitsbericht 34/2009.

24 APuZ 11–12/2015
tiefer in alle Lebensbereiche – von Produk- auch zahlreiche Entwicklungsländer erfasst –
tionsstraßen (smart production) über Bü- der Trend heißt wissenschaftsbasierter digi-
ros (smart office) bis in Küchen und Wohn- taler Kapitalismus.
zimmer (smart home). Das liegt vor allem an
der ökonomischen und sozialen Mächtig- Eine Schätzung des Massachusetts Institute
keit dieser Technologien, menschliche Fähig- of Technology and Management ergab, dass
keiten und technische Leistungen zu erwei- rund 70 Prozent des Preises von Mikro­chips
tern, zu effektivieren und zu ersetzen. Dabei und Solarzellen, etwa 80 Prozent der Preise
stellt sich – wie die Debatte um Big Data und von Pharmaprodukten und 70 bis 80 Prozent
Smart Data zeigt – vordergründig zunächst der gesamten Wirtschaftsleistung auf wis-
nicht die Frage, ob uns das gefällt oder nicht. senschaftlichem Wissen und wissenschafts-
basierten Techniken beruhen. Diese Ent-
Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhundert wicklung, die auf dem gleichen Paradigma
wandelte sich in den entwickelten Staaten die wie die Industriegesellschaft fußt – nämlich
Agrar- in eine Produktions- beziehungswei- dem „WTI-Paradigma“ (Wissenschaft–Tech-
se Industriegesellschaft. Danach bildete sich nik–Industrie) – ist somit in ihrem Kern die
sehr rasch die Dienstleistungsgesellschaft he- Fortsetzung der Industriegesellschaft mit an-
raus. Schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- deren Mitteln. ❙15 Fragen nach der Wünschbar-
hunderts nahmen die IK-Technologien als keit und Zukunftsfähigkeit werden in diesem
neue Schlüsseltechnologien eine herausragen- Leitbild jedoch nicht gestellt, denn der wis-
de Stellung in allen Bereichen von Wirtschaft senschaftlich-technische Fortschritt ist im
und Gesellschaft ein. Zu Recht sprechen wir Rahmen dieses Leitkonzeptes zum allgemei-
bei dieser Epoche von der Entwicklung zur nen gesellschaftlichen Fortschritt avanciert.
Informationsgesellschaft (Tertiarisierung).
Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert wird Spätestens 1992 – mit der Verabschiedung
der Strukturwandel gemäß dem Leitbild der der Rio-Deklaration und der sogenannten
science society fast ausnahmslos durch wissen- Agenda 21 auf der UN-Konferenz über Um-
schaftsbasierte ökonomische und soziale In- welt und Entwicklung – hat die internationa-
novationen geprägt, zu denen zweifellos auch le Staatengemeinschaft die Nachhaltige Ent-
Big Data und Smart Data gehören (Quarta- wicklung beziehungsweise die Nachhaltige
risierung). Dem ist allerdings hinzuzufügen, Gesellschaft als Leitvision und Handlungs-
dass der Strukturwandel zur Wissenschafts- programm für das 21. Jahrhundert dagegen-
gesellschaft noch von einer Reihe weiterer setzt. Dahinter stand die Erkenntnis, dass
wissenschaftsbasierter Schlüsseltechnologien das Fortschreiten auf dem Pfad des WTI-Pa-
gekennzeichnet ist – etwa mit Blick auf Ener- radigmas nicht zukunftsfähig ist, weil damit
giespeichertechniken, Mikro- und Optoelekt- unlösbare ökologische, soziale und kulturel-
ronik, Bio- und Gentechnologien, Nanotech- le Verwerfungen verbunden sind. Demgegen-
niken oder Hochleistungswerkstoffe. über bestand weitgehend Konsens darüber,
dass das Leitbild der Nachhaltigkeit die zen-
Diese Techniken ermöglichen eine unge- tralen Forderungen nach inter- und intrage-
ahnte Innovationsoffensive und Effizienz- nerativer Gerechtigkeit und Zukunftsfähig-
steigerung in allen Wirtschaftsbereichen und keit weltweit erfüllen kann.
führen zu weltweit vernetzten Produktions-
prozessen, neuen Produkten und Dienstleis- Vor diesem Hintergrund haben sich die fol-
tungen sowie neuen Organisationsformen genden Leitperspektiven als Zielhorizont für
von Unternehmen. ❙14 Die Entwicklungen eine zukunftsfähige Entwicklung herauskris-
spiegeln sich auch in neuen Formen der Ar- tallisiert: Erhaltung der natürlichen Lebens-
beitsteilung sowie in den globalen Finanz- grundlagen und Schonung der Naturressour-
transaktionen wider. Die Quartarisierung cen; Verbesserung der Lebensqualität und
hat mittlerweile alle Industrie- und Schwel- Sicherung von wirtschaftlicher Entwicklung
lenländer und in den vergangenen Jahren und Beschäftigung; Sicherung von sozialer
Gerechtigkeit und Chancengleichheit; Wah-
rung und Förderung der kulturellen Eigenent-
❙14  Vgl. Michael Heinze/Christian Trapp/Michaela
Wölk et al., Virtuelle Unternehmen: Trendentwick- wicklung und Vielfalt von Gruppen, Völkern
lungen, Unternehmensfallstudien, Erfolgsfaktoren,
Zukunftsszenarien, Frank­f urt/M. u. a. 2007. ❙15  Vgl. R. Kreibich (Anm. 1).

APuZ 11–12/2015 25
und Lebensgemeinschaften; Förderung men- Fazit
schendienlicher Technologien und Verhinde-
rung superriskanter Techniken und irrever- Die weit in die Zukunft weisenden Konzep-
sibler Umfeldzerstörungen; Aufnahme eines te von Big Data und Smart Data sollten sich
Konsultationsprozesses auf lokaler, nationaler sowohl hinsichtlich ihrer wissenschaftlich-
und internationaler Ebene zwischen Politik, technischen als auch hinsichtlich ihrer wirt-
Wirtschaft, Wissenschaft, den gesellschaftli- schaftlichen Anwendungen prinzipiell den
chen Organisationen und den Bürgern sowie Zielen der Nachhaltigen Entwicklung unter-
zwischen den Staaten und Völkern weltweit. ❙16 ordnen. Das ist bisher jedoch noch nicht er-
kennbar. ❙19
In den Jahren nach Rio wurden sowohl in
der Wissenschaft als auch in der Praxis in Die größte Herausforderung im 21. Jahr-
zahlreichen Staaten, Kommunen und Un- hundert besteht darin, die beiden globalen
ternehmen Strategien und Maßnahmen zur Leitkonzepte der Wissenschaftsgesellschaft
Nachhaltigen Entwicklung für alle Hand- und der Nachhaltigen Entwicklung so zu-
lungsbereiche erarbeitet (unter anderem für sammenzuführen, dass die Menschheit über-
die Bereiche Energie, Bauen und Wohnen, lebens- und zukunftsfähig bleibt. Das ver-
Stadtentwicklung, Mobilität, Gesundheit, langt nach heutigen Erkenntnissen, dass in
Technologie, Wirtschaft, Bildung, Unterneh- allen gesellschaftlichen und wirtschaftli-
men, Produktion und Dienstleistungen). Das chen Handlungsbereichen die Leitziele der
auf der Agenda 21 aufbauende Konzept einer Nachhaltigkeit unter Nutzung der effizien-
sustainable society ist auch deshalb zukunfts- ten wissensbasierten Technologien und In-
weisend, weil es im Gegensatz zu einer neoli- novationen in einem Optimierungsprozess
beralen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrate- zusammengeführt werden sollten. Das kann
gie viele Gewinner und nur wenige Verlierer aber nur gelingen, wenn sich alle relevan-
hat. Zudem kann das Leitkonzept der Nach- ten gesellschaftlichen Kräfte – Wissenschaft,
haltigkeit weltweit auf einer breiten werteba- Wissenschaftsförderung, Politik, Wirtschaft,
sierten Grundlage und gesellschaftlichen Zu- Bildung, Kultur und Zivilgesellschaft – in
stimmung aufbauen. Es ermöglicht sowohl einem partizipativen, demokratischen Pro-
ökonomische als auch ökologische, soziale zess auf diese Leitziele zubewegen und ihre
und kulturelle Gewinne gleichzeitig. ❙17 grundlegenden Strategien, Entscheidungen
und Maßnahmen daran ausrichten.
Heute sind fast alle Handlungsbereiche be-
reits soweit in Richtung einer umsetzbaren Eine zentrale Aufgabe fällt dabei der Wis-
Nachhaltigkeitsstrategie konkretisiert, dass senschafts-, Bildungs- und Forschungspoli-
der Weg in eine sustainable society nicht nur tik zu. Nur wenn die Förderprogramme der
konzeptionell, sondern auch ganz praktisch EU, des Bundes, der Länder und der Wirt-
als möglich und gangbar erscheint. In den schaft auf die Leitperspektiven der Nachhal-
vergangenen Jahren wurden vor allem auf lo- tigkeit fokussiert werden, kann es mittel- und
kaler Ebene und in zahlreichen Unternehmen langfristig gelingen, hinreichend wirksame
viele Projekte, Initiativen, Prozesse und Pro- soziale, ökologische, ökonomische und kul-
dukte entwickelt, die beweisen, dass Nach- turelle Innovationen in Richtung einer le-
haltigkeitsstrategien realisierbar sind. ❙18 benswerten Zukunft auszulösen.

❙16  Vgl. ders., All Tomorrow’s Crises, in: Internatio-


nale Politik – Global Edition, (2007) Spring, S. 10–15.
❙17  Vgl. ders., Die Rolle wissenschaftlicher Zukunfts-
forschung für Nachhaltigkeitsstrategien in Unter-
nehmen, IZT-Arbeitsbericht 36/2010. ❙19  Davon zeugen etwa die „Handlungsempfehlun-
❙18  Vgl. Siegfried Behrendt/Lorenz Erdmann, Inte- gen an die politischen Akteure“, die im November
griertes Technologie-Roadmapping zur Unterstüt- 2013 von der Gesellschaft für Informatik und dem
zung nachhaltigkeitsorientierter Innovationspro- Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie auf den Big
zesse, IZT-Werkstattbericht 84/2006; Tobias Hahn/ Data Days in Berlin vorgestellt wurden: www.gi.de/
Mandy Scheermesser, Approaches to Corporate Sus- fileadmin/redaktion/Hauptstadtbuero/Handlungs-
tainability Among German Companies, in: Corpo- empfehlungen.pdf (24. 2. 2015).
rate Social Responsibility and Environmental Ma-
nagement, 13 (2006) 3, S. 150–165.

26 APuZ 11–12/2015
Peter Langkafel Alter Wein in neuen Schläuchen?

Auf dem Weg zum Die Wissenschaftlichen Dienste des Deut-


schen Bundestags erläutern im „Aktuel-
len Begriff“ zu Big Data: „Nach Schätzun-
Dr. Algorithmus? gen des McKinsey Global Institute wären
durch den Einsatz von Big Data allein im

Potenziale von Big


US-amerikanischen Gesundheitswesen Ef-
fizienz- und Qualitätssteigerungen im Wert
von ca. 222 Mrd. € und für den gesamten öf-

Data in der Medizin fentlichen Sektor in Europa von jährlich 250


Mrd. € möglich. Das Besondere bei Big-Data-
Analysen ist vor allem die neue Qualität der
Ergebnisse aus der Kombination bisher nicht

D er erste Flug mit Hilfe eines Autopilo-


ten wurde auf der Pariser Weltausstel-
lung 1914 gezeigt; was damals ein faszinie-
aufeinander bezogener Daten.“ ❙3

Unser Gesundheitssystem besteht derzeit


rendes Novum war, allerdings noch zu einem großen Teil aus
Peter Langkafel ist heute selbstver- Papier. Der Digitalisierungsgrad und damit
Dr. med., MBA, geb. 1968; ständlich. Inzwischen die Menge an digitalen Daten in der Medi-
Mediziner und Politikwissen- steuert ein Pilot bei zin wachsen jedoch enorm. Dafür gibt es drei
schaftler; General Manager einem durchschnitt- wesentliche Gründe: Erstens gibt es eine Viel-
Public Services & Healthcare lichen Flug die Ma- zahl neuer diagnostischer Instrumente, nicht
bei der SAP AG; Landesvorsit- schine nur noch rund nur in der Genetik, auch in bildgebenden
zender Berlin/Brandenburg des drei Minuten selbst. ❙1 Verfahren – hier entstehen riesige Mengen
Bundesverbandes Medizininfor- „Big Data“ nimmt neuer digitaler Daten. Zweitens bringen Pa-
matik; Herausgeber des Buches inzwischen auch in tientinnen und Patienten heute immer mehr
„Big Data in der Medizin. Autos immer grö- Daten selbst mit. Alltagsdaten, die es früher
Diagnose, Therapie, Neben­ ßeren Platz ein: Ge­ so gar nicht gab, werden nun mittels Smart-
wirkungen“ (2014). schwindigkeit, Ab- phone oder einfacher Sensoren gesammelt
peter_langkafel@web.de stand, Bremsen, Spur- und ­gespeichert. Drittens ist die Digitalisie-
treue – die ­ Palette rung an sich Treiber für Innovationen.
der Hilfsfunktionen wird immer größer
und akzeptierter. In einem Pkw ist heu- Im Krankenhauskontext – dieser Bereich
te mehr Informationstechnologie verbaut steht beispielhaft für die gesamte Gesund-
als in der Apollo-Rakete, die 1969 auf dem heitswirtschaft – werden jedoch schon seit
Mond landete. Genauso hat sich die Medizin Langem Daten erzeugt, gesammelt und aus-
weiterentwickelt; den medizinischen Au- gewertet. Handelt es sich bei der großen Di-
topiloten gibt es jedoch (noch) nicht – oder gitalisierung also im Grunde nur um alten
doch? Wein in neuen Schläuchen? Was ist neu und
erklärt die Aufregung um Big Data? Folgende
Wenn wir Big Data in der Medizin ver- drei Faktoren könnten eine Erklärung bieten:
stehen wollen, ist ein weiter Blick notwen-
dig, schließlich geht es um die Automati- 1. Technologisch gibt es heute die Möglich-
sierung des (medizinischen) Alltags. Und keit, riesige Datenmengen in kürzester Zeit
Automatisierung, so der Psychologe Raja zu verarbeiten. Das war bis vor wenigen Jah-
Parasuraman, „ersetzt menschliche Tätig- ren unvorstellbar. Das bedeutet, dass (fehlen-
keiten nicht einfach, sondern verändert sie, de) Technologien praktisch kein Hindernis
und dies oft in einer Art und Weise, die ihre mehr darstellen.
Entwickler weder beabsichtigten noch vor-
hersahen“. ❙2 Auf dem Weg dorthin geht es
also um weit mehr als um technische Mach- ❙1  Vgl. Nicholas Carr, Die Herrschaft der Maschi-
nen, in: Blätter für deutsche und internationale Poli-
barkeit. Big Data – auch in der Medizin –
tik, (2014) 2, S. 45–55.
verändert die Welt vielleicht stärker, als wir ❙2  Zit. nach: ebd., S. 49.
bisher verstehen, uns wünschen oder wahr- ❙3  Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundes-
haben wollen. tags, Big Data, Aktueller Begriff 37/2013, S. 2.

APuZ 11–12/2015 27
Abbildung: Big-Data-Framework in der Medizin

Zusammenführen der Daten: Analyse, Visualisierung, Entscheidungsunterstützung

Datenmanagement

Datensammlung und Archivierung

Infrastruktur

Medizinische Public Health Versicherungs- Forschungs- Durch Daten von


Daten Data daten daten Patienten non-traditional
generierte players
z.B. von Daten
Krankenkassen, z.B. aus z.B. aus
z.B. z.B. von Ämtern, Versicherungen, Biobanken, z.B. über sozialen
Laborbefunde, Gemeinden, öffentlichen klinischen Wellness, Netzwerken,
Bilddaten WHO Einrichtungen Versuchen Ernährung Handel
Governance (Datenschutz, IT-Sicherheit, Informationelle Selbstbestimmung)

Quelle: Eigene Darstellung.

2. Dazu kommt in jedem Krankenhaus etwas, Big-Data-Framework


das „Siloerfahrung“ genannt werden kann. Da-
ten sind in so vielen einzelnen und separaten Um einen Überblick zu erhalten, welche Sze-
Systemen verteilt und verborgen, dass es sowohl narien im Kontext von Big Data in der Medi-
bei Ärzten und Forschern als auch bei Control- zin möglich sind, habe ich die verschiedenen
lern und im Managemant den Wunsch gibt, die- Dimensionen in einem Framework zusam-
sen zersplitterten „Datenschatz“ zu heben und mengestellt. Im Folgenden werden die Berei-
mit den neuen Daten ­zusammenzuführen. che (in der Abbildung von unten nach oben)
kurz erklärt:
3. Durch die neuen Technologien ergeben
sich neue Anwendungsmöglichkeiten. Ein Unter Governance sind vor allem organi-
Beispiel dafür könnten wissensbasierte Pro- satorische und rechtliche Rahmenbedingun-
gramme sein, die durch das Zusammenführen gen zu verstehen. Diese können sich auf die
großer Informationsmengen einen Behand- einzelne Institution beziehen, aber auch auf
lungsprozess wirklich „coachen“ könnten. nationale oder internationale Rahmenbedin-
gungen. Dazu zählen insbesondere der Daten-
Der Begriff „Big Data“ führt alle diese Fakto- schutz, die IT-Sicherheit sowie die Möglich-
ren zusammen. Big Data ist damit zentral mit keiten informationeller Selbstbestimmung.
der Integration von verschiedenen Perspektiven Dies umfasst technische, rechtliche, aber auch
verbunden: Medizincontrolling sollte auch un- soziale und organisatorische Elemente.
ter Qualitätsgesichtspunkten gesehen werden –
nicht nur unter monetären. Qualitätssicherung Die Datenquellen im medizinischen Kon-
und evidence-based medicine müssen sich um- text sind vielfältig: Zum einen gibt es die me-
gekehrt auch ökonomischen Dimensionen stel- dizinischen Daten, wie sie primär in Kran-
len. Die traditionelle Trennung zwischen Ma- kenhäusern vorliegen. Dazu lassen sich Daten
nagement (Finanzen), Medizin (Klinik) und von öffentlichen Einrichtungen ergänzen
potenziell auch Forschung gilt es aufzuhe- oder korrelieren – zum Beispiel von Gemein-
ben. Diese Forderung ist vielleicht nicht neu – den, Gesundheitsämtern, Ministerien oder
aber unter den neuen Voraussetzungen von Big auch internationalen Organisationen. Weite-
Data ist es vielleicht das erste Mal realistisch, re Quellen sind natürlich die Krankenkassen
dass sie umgesetzt wird. Um im Bild vom al- (etwa was die Inanspruchnahme von Leis-
ten Wein zu bleiben: Wir haben heute nicht nur tungen angeht) oder andere Versicherungen.
neue Schläuche, sondern – zumindest potenzi- Eine weitere Rubrik stellen Forschungsdaten
ell – eine hochmoderne Abfüllstation. Und die dar, die oft sehr spezielle Ausprägungen ha-
ermöglicht nicht nur „alten Wein“ für alle, son- ben und in der Regel unter besonderen ethi-
dern viele verschiedene, auf individuelle Ge- schen und datenschutzrechtlichen Anforde-
schmäcker abgestimmte Getränke. rungen erhoben wurden. Individuelle, durch

28 APuZ 11–12/2015
Patienten generierte Daten (zum Beispiel aus heute vielfältig, und künftig werden weitere
Schmerztagebüchern oder über Sensoren er- Szenarien möglich sein, die noch vor Kurzem
fasste Daten) sind heute größtenteils noch geradezu unvorstellbar waren. Die wichtigsten
nicht Teil des Gesundheitssystems, werden möglichen Handlungsfelder sollen im Folgen-
aber deutlich an Bedeutung zunehmen. Keine den skizziert werden.
Rolle spielen bislang die sogenannten nicht-
traditionellen Marktteilnehmer (non-traditi- Unter Health Education und Informati-
onal players), also soziale Netzwerke, Mobil- on fallen alle Bereiche, die Daten für unter-
funkanbieter oder auch Einzelhändler. ❙4 schiedliche Akteure (neu) zusammenstellen
oder erweitern. Beispiele hierfür sind das Re-
Unter Infrastruktur sind primär physikali- Design von Disease-management-Program-
sche Voraussetzungen für Datentransport und men oder auch die Quantified-self-Ansätze
-speicherung zu verstehen, etwa Datenleitun- (Daten, die von Patienten oder Bürgern pri-
gen oder Endgeräte wie PCs oder Smartpho- mär selbst erhoben werden, teilweise mit ei-
nes. Die Dimension Datensammlung und Ar- genen Sensoren oder Apps).
chivierung hat in der Medizin eine besondere
Bedeutung – zum einem unter dem Aspekt Die datengestützte Analyse des Inputs (Res-
der Datensicherheit, aber auch hinsichtlich sourcen) ermöglicht zudem neue Formen der
der rechtlichen Anforderungen der Lang- finanziellen Ressourcensteuerung und damit
zeitarchivierung. ❙5 Datenmanagement bedeu- auch des Outputs (medizinische Qualität, Ef-
tet unter anderem die Integration von Da- fektivität). Dies erleichtert zum Beispiel organi-
ten, damit sie bestimmten Standards genügen sationsbezogene Ansätze wie pay-per-perfor-
und kompatibel ausgetauscht werden können. mance, bei dem die Qualität der medizinischen
Aber auch die Rollenzuweisung und Zugriffs- Behandlung stärker mit der Bezahlung gekop-
kontrolle, um festzulegen, wer welche Daten pelt wird, oder das Design von neuen, integ-
wie nutzen darf, gehört in diesen Bereich. rierteren Versorgungsformen zum Beispiel im
Rahmen einer stärkeren Verzahnung von am-
Die letzte Dimension im Framework ist bulanten und stationären Leistungen.
das eigentliche Zusammenführen der Da-
ten, um sie den verschiedenen Nutzergrup- Im Rahmen von Public Health Monitoring
pen präsentieren und analysieren zu können. könnten zum Beispiel im Falle von Epidemien
Sie bildet damit die „Oberfläche“. Daten kön- bestimmte kollektive oder individuelle Ge-
nen hier „nur“ angezeigt werden, bestimm- sundheitsmaßnahmen schneller und gezielter
te Konstellationen können aber auch als Ent- in die Wege geleitet werden. Ein bekanntes
scheidungsunterstützung dienen. Künftig Beispiel ist „Google Flu Trends“, dessen Ziel
ist denkbar, dass Algorithmen Handlungen es ist, die Verbreitungen von Erkältungen
nicht nur empfehlen, sondern selbst veranlas- durch die Analyse bestimmter Suchbegriffe
sen (etwa in der Intensivmedizin). besser vorherzusagen. Ein anderes Beispiel
ist der Versuch, die Verbreitung des Ebola-
Fiebers anhand der Diskussionen in sozialen
Handlungsfelder Netzwerken besser nachvollziehen und auch
hier gezielter intervenieren zu können.
Aus den Dimensionen des Frameworks erge-
ben sich die Handlungsfelder für Big-Data- Das unmittelbare Feedback durch subjekti-
Anwendungen in der Medizin. Sie sind schon ve und objektive Daten von Geräten und Pa-
tienten könnte auch zur Produktentwicklung
beitragen – etwa in Form neuer Services im
❙4  Vgl. Die Sprechstunde findet bald im Supermarkt
statt, in: Trendletter 12/2006, www.trendmonitor.biz/ Betreuungsbereich, aber auch mit Blick auf
kategorie/zukunftsmaerkte/artikel/die-sprechstun- besseres medizinisches Gerät. Für Unterneh-
de-findet-bald-im-supermarkt-statt.html (24. 2. 2015). men, die bisher nicht zu den „traditionellen
❙5  Medizinische Daten müssen in Deutschland teil- Playern“ gehören, könnten sich ganz neue
weise länger als zwanzig Jahre gespeichert werden. In Geschäftsfelder ergeben: etwa für die Post,
anderen Ländern gelten zum Teil „lebenslange“ Ar-
chivierungsvorschriften. Vgl. Paul Schmücker et al.
die Pflegeservices übernimmt, für den Super-
(Hrsg.), GMDS-Praxisleitfaden. Dokumentenmana- markt, der Teil eines Diätprogramms wird,
gement, digitale Archivierung und elektronische Si- oder für den Telekommunikationskonzern,
gnaturen im Gesundheitswesen, Dietzenbach 2012. der telemedizinische Services anbietet.

APuZ 11–12/2015 29
Ein Beispiel für den Versuch verbesserter tig ausschließen, interagieren können oder ob
Prognosen von Krankheiten ist der Individu- etwa die Dosierung angepasst werden müsste.
al-health-analytics-Ansatz, bei dem alltägli-
che Daten aus der Lebenswelt der jeweiligen Neue Möglichkeiten würden sich auch auf
Person integriert werden. Hierdurch könnte dem Feld der Adhärenz ergeben. Adherence
auch ein besseres Verständnis von bestimm- (engl. für Einhaltung, Befolgung) bedeutet,
ten Krankheiten erzielt werden. Diese Ana- dass Patienten sich (besser) an die mit dem The-
lyse von Daten – zum Beispiel im Zusam- rapeuten vereinbarten Empfehlungen halten –
menspiel mit anderen Informationen aus dem etwa, was die Einnahme von verschriebenen
sozialen oder beruflichen Umfeld – ermög- Medikamenten oder ein Diätregime betrifft.
licht perspektivisch eventuell raschere und
zielgerichtetere Formen der Prävention von Durch die Integration von Kennzahlen sind
Krankheiten und Epidemien. schließlich bessere Coaching- oder Kon­troll­
szena­rien denkbar, die stärker auf individu-
Disease-management-Programme, worun- elle oder geografische Komponenten einge-
ter insbesondere Programme für chronisch hen können. Beispiele sind hier Apps, die die
Kranke zu verstehen sind (etwa an Asthma Luftbelastung (Stickstoff, Pollenflug) messen
oder Diabetes Erkrankte), könnten durch den und einzelnen Orten zuordnen – für Allergi-
Einsatz von Big Data zukünftig individuali- ker oder Asthmatiker schon heute ein nützli-
sierter angeboten werden. Die Rekrutierung ches Werkzeug, ebenso wie potenziell für Ge-
für klinische Studien sowie die „Simulati- sundheitsbehörden, die hier kurzfristig auf
on“ von Daten würde zudem neue, schnelle- Veränderungen reagieren könnten.
re Studienformen ermöglichen und bed and
bench (Klinik und Forschungslabor) besser Noch ein Handlungsfeld ist schließlich der
miteinander vernetzen. Die schnellere Imple- Informationsaustausch zwischen Arzt und
mentierung von Evidenz könnte ebenfalls ein Patient (sowie zwischen Krankhaus- und
wichtiger Fokus von Big-Data-Anwendun- niedergelassenen Ärzten). Hier ist zum Bei-
gen sein. Ein wichtiges Problem in der Medi- spiel an telemedizinische Services oder Echt-
zin ist die Umsetzung von aktuellem Wissen zeit-Datenanalysen über Sensoren zu den-
aus der Forschung oder aus Leitlinien. Bisher ken. Hier sind sowohl Szenarien möglich,
dauert es oft viele Jahre, bis das Wissen, das die stärker prozessual ansetzen (zum Beispiel
in modernen Forschungseinrichtungen eta- Diabetes-Monitoring), als auch Anwendun-
bliert ist, „in die Breite“ getragen wird. gen, die die schon existierenden Daten ku-
mulieren und analysieren. Für den digitalen
Ein weiteres Handlungsfeld ist die medi- Informationsaustausch von Patient zu Patient
zinische Performance-Optimierung. Hier gibt es bereits zahlreiche Beispiele. Eines der
könnte Big Data zum Beispiel die bessere bekanntesten ist die Internetplattform „Pati-
Umsetzung von aktuellen Leitlinien ermög- entslikeme“, auf der Patienten andere Patien-
lichen (coach the doctor/medical decision sup- ten mit ähnlichen Symptomen und Erfahrun-
port). Big Data kann Patienten möglichweise gen finden und sich mit ihnen austauschen
die richtige Leitlinie oder die passende klini- können (peer to peer). ❙6
sche Studie zuordnen und anbieten – und da-
mit eine umfangreiche Suche abkürzen. Wie können die zahlreichen skizzierten
Handlungsfelder von Big Data in der Medi-
Die neuen Formen digitaler Entschei- zin nun strukturiert und systematisiert wer-
dungsunterstützung würden nicht nur neu- den? Es bietet sich hierfür die folgende Ein-
artige Visualisierungen umfassen, sondern teilung in eine horizontale, eine vertikale und
beispielsweise auch die bessere Integration eine temporäre Dimension an:
genetischer und klinischer Daten sowie neu-
ester Forschungsdaten. Nicht zuletzt könn-
ten Big-Data-Szenarien auch einen besseren ❙6  Siehe www.patientslikeme.com (24. 2. 2015). Der
Schutz vor Behandlungsfehlern ermöglichen. Gründer der Plattform rief kürzlich dazu auf, alle
persönlichen Gesundheitsdaten „zu spenden“. Die
Ein Beispiel sind Lösungen aus dem Bereich
Partner des US-amerikanischen Unternehmens sind
Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) – hier neben akademischen Institutionen große Pharmaun-
überprüfen Programme unter anderem, ob ternehmen, bei denen es sicher auch ein gewisses In-
eingenommene Medikamente sich gegensei- teresse an den Patientendaten gibt.

30 APuZ 11–12/2015
1. Horizontale Dimension: Hierunter „Personalisierte“ Medizin?
könnte man die bessere Integration von Da-
ten entlang der Behandlungskette sehen. Da- Als ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld
mit ist nicht nur die Verbindung von am- von Big Data in der Medizin wird die soge-
bulanter, stationärer und rehabilitativer nannte personalisierte oder auch individuali-
Therapie gemeint, sondern möglicherweise sierte Medizin gesehen. Hierunter wird häufig
auch die Kombination mit Informationen aus das individuelle „Zuschneiden“ einer Thera-
dem Alltag. pie verstanden, basierend auf dem genetischen
Code eines Patienten, was bis heute nur in sehr
2. Vertikale Dimension: Damit ist die „tie- wenigen, häufig onkologischen Fällen gelingt.
fere“ Verzahnung von Datenbeständen ge- Da jedoch die Dimension der Genetik sehr be-
meint – etwa die bessere Verbindung von tont wird und andere Bereiche (Soziales, Psy-
administrativen, klinischen und forschungs- chologisches) vernachlässigt werden, lehnen
nahen Daten. Ein Beispiel hierfür ist die Organisationen wie der Deutsche Ethikrat
„Open Data Initiative“ des British Medical oder die Bundeszentrale für gesundheitliche
Journal (BMJ). Die renommierte Fachzeit- Aufklärung den Begriff „personalisierte Me-
schrift wird künftig nur noch Artikel pu- dizin“ ab. Grundsätzlich sollen sich alle dia-
blizieren, die vorab registriert wurden und gnostischen und therapeutischen Maßnahmen
transparent mit ihren Ergebnissen und Daten ja nicht erst seit heute oder seit Aufkommen
umgehen. Dies ist keinesfalls belanglos: Laut der Genetik an der besten verfügbaren Evi-
BMJ wurde die Hälfte aller klinischen Stu- denz, sondern auch an individuellen Merkma-
dien nie registriert oder publiziert. Zahlrei- len des Patienten und, unter dem Aspekt der
che Daten, die zu Forschungszwecken erho- Angemessenheit, dessen Wünschen im Sinne
ben wurden (mit erheblichem Aufwand und einer Patientenautonomie orientieren. Medizi-
Engagement und möglicherweise mit Risi- nisch-kritischer Sachverstand ist hier dringend
ken für Patienten) stehen nach der Publika- vonnöten, um das ein oder andere Mal ein we-
tion nicht mehr zur Verfügung. Wenn wir all nig Luft aus dem Hype zu nehmen. „Compu-
diese Daten hätten – was wüssten wir mehr? ter heilt Krebs“ – so einfach ist das nicht.

3. Temporäre Dimension: Big-Data-Ana- Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte


lysen sind nicht nur retrospektiv, sondern Medizin ❙7 ist in diesem Kontext eine relevante
erlauben das Echtzeit-Monitoring von Ge- Organisation, die hilft, medizinisches Wis-
schäftsprozessen. Der nächste Schritt ist sen einzuordnen. Da immer schneller und
nun von „was passiert“ zu „warum passiert immer mehr Wissen generiert wird, stehen
etwas“. Vertiefende Analysen könnten hier wir vor der Herausforderung, dieses und das
neue Einsichten ermöglichen. Ein besonders bekannte Wissen – welches sich konsequen-
spannender Bereich ist die Simulation oder terweise ebenso mehrt – rascher und direkter
gar „Vorhersage“ zukünftiger Szenarien: Ei- in den Alltag medizinischer Behandlung zu
nen (potenziell) komplizierten Therapiever- integrieren (von bed to bench and from bench
lauf schon früh überwachen und gegebenen- to bed). Innovative Modelle zu entwickeln,
falls gar geeignete Maßnahmen ergreifen zu das Expertenwissen und die neuen Publikati-
können, könnte zur Königsdisziplin von Big onen in das tägliche Handeln zu integrieren,
Data in der Medizin werden. ist ein zentrales Potenzial von Big Data.

Der faszinierendste Bereich ist also der Blick Ein größtenteils unterentwickeltes Poten-
in die Zukunft – und hier treffen sich Sehn- zial ist im Bereich Public Health zu sehen:
süchte, Visionen und Wunschvorstellungen: Wenn wir wissen, dass bis zu 80 Prozent der
Was wird passieren, welche Risikoprofile Gesundheit von psychosozialen Faktoren ab-
gibt es – und wie können wir dadurch früher hängig ist – warum konzentrieren wir uns
präventiv eingreifen, Diagnostik verändern so sehr auf das Genom? Sind Fahrradwege
oder erweitern und Therapien anpassen? Ge- (Organisation) und der Kauf eines Fahrra-
sundheit findet ja nicht nur im Krankenhaus des (persönliches Handeln) bessere Ansatz-
statt – sondern „draußen“ im „echten Le- punkte, um Gesundheit nachhaltig zu för-
ben“. Ob sich dieser Bereich durch Big-Data- dern? Kann Big Data helfen, hier auch neue
Anwendungen tatsächlich besser integrieren
lässt, wird die weitere Entwicklung zeigen. ❙7  Siehe www.ebm-netzwerk.de (24. 2. 2015).

APuZ 11–12/2015 31
Zusammenhänge zu erkennen – sowohl auf lamentes für eine Datenschutz-Grundverord-
individueller als auch auf epidemiologischer nung vorgeschlagen, wird notwendig sein. ❙8
Ebene? Welche Faktoren sind entscheidend
für das Vermeiden, Entstehen und den Ver- Der Schutz der Privatsphäre und der per-
lauf von Krankheiten? Was macht und hält sönlichen Daten von Bürgern ist ein gesamt-
gesund? All dies sind große Fragen – für de- gesellschaftliches Anliegen. Dies gilt für alle
ren Beantwortung einige Hoffnung auf Big Lebensbereiche – die Anwendungen rund um
Data liegt. das Thema Big Data unterliegen hier einer
besonderen Sensibilität. Auch die Themen
informationelle Selbstbestimmung und das
Big Data – Big Grauzone? „Recht auf Nichtwissen“ oder das „Recht auf
Vergessenwerden“ spielen hier eine R ­ olle –
Wie bei allen Prozessen – ob mit IT oder womit wir uns mitten in einer ethischen Dis-
ohne – müssen Datenschutz und die Per- kussion befinden, der sich die Akteure im
sönlichkeitsrechte gewahrt bleiben. Wenn Gesundheitswesen, die Politik und die Ge-
Datenschutz allerdings zu einem Vorwand sellschaft insgesamt stellen müssen.
wird und wichtige Einsichten verhindert,
um Patienten besser zu behandeln, dann
steht er selbst auf dem Prüfstand. Wer heu- Ausblick
te in Deutschland wissen möchte, welcher
niedergelassene Arzt wirklich gute Medizin Wir verstehen Gesundheit nur, wenn wir über
macht, kommt praktisch nicht an valide In- die Silogrenzen von Krankenhaus, Kranken-
formationen, obwohl sie zum großen Teil di- kasse und niedergelassenem Bereich hinaus
gital vorliegen – aber nicht ausgewertet oder denken. Das heißt, es gibt immer mehr Daten,
publiziert werden. Wohl zu Recht klingt die wir noch miteinander vernetzen müssen,
in dem Wort „Big Data“ ja aber auch „Big um Gesundheit und Krankheit besser nach-
Brother“ an – unter dem Aspekt der lau- vollziehen zu können. Dazu kommen die Da-
fenden Diskussion um geheimdienstlichen ten aus der Forschung und die entsprechen-
Missbrauch von Daten ist das Sammeln von den Publikationen: Dieses Wissen besser und
Daten im Gesundheitsbereich ein besonders schneller in den Behandlungsprozess einzu-
sensibles Thema. beziehen – etwa als digitaler Coach oder auch
als „Dr. Algorithmus“ – würde die Gesund-
Wir sind erst am Anfang einer wohlge- heitsversorgung dramatisch verändern.
merkt politischen und nicht technischen
Diskussion um Big Data – und damit um ei- Natürlich müssen wir hier über Daten-
nen der wichtigsten Rohstoffe globalisier- schutz sprechen. Aber auch darüber, wer
ter Ökonomie. Der Vergleich mit der Dis- denn die Daten davor schützt, dass sie nicht
kussion um den Nutzen der Atomenergie in nicht benutzt werden – also zur Verfügung
den 1940er und 1950er Jahren ist hier durch- stehen, aber nicht ausgewertet werden. Das
aus hilfreich: Heute sind Nuklearwaffen Potenzial von Big Data in der Medizin liegt
geächtet, Atomkraftwerke umstritten und damit vor allem in der Transparenz. Die Dis-
nuklear­medi­zini­sche Abteilungen willkom- kussion darüber, dass dies nicht der „gläserne
men – aber wir sprechen im Kern über die Patient“ sein kann, aber auch nicht der in Sa-
gleiche Technologie. chen Gesundheitsdaten digital ausgeschlos-
sene Bürger, hat gerade erst begonnen.
Wo, wann und wem stelle ich wie meine
Daten und damit „mein Innerstes“ zur Ver-
fügung, welche Organisationen und Unter- ❙8  Vgl. Technologie- und Methodenplattform für
nehmen dürfen was nutzen? Hier brauchen die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF),
wir klare Regeln und Gesetze und keine un- Die Daten der Bürger schützen, biomedizinische
geklärten „Big Grauzonen“. Heute haben wir Forschung ermöglichen: Medizinische Forscher
in Deutschland nicht nur ein Bundesdaten- kommentieren den Entwurf einer europäischen
Datenschutz-Grundverordnung, 27. 7. 2014, www.
schutzgesetz, sondern zudem lokale Ausprä-
tmf-ev.de/News/articleType/ArticleView/articleId/​
gungen von Landesdatenschutz. Eine Rege- 1582.aspx (24. 2. 2015).
lung von Datenschutz auf der europäischen
Ebene, wie im Entwurf des Europäischen Par-

32 APuZ 11–12/2015
Yvonne Hofstetter alität schon viel weiter fortgeschritten, als die
Nutzer „smarter“ Elektronik ahnen.
Verkannte Revolution: Nach der Debatte in den Feuilletons deut-

Big Data und die scher Blätter ist die Diagnose, was Big Data
und die damit verbundene Dauerüberwa-
chung unseres Lebens für unsere Zukunft be-
Macht des Marktes deuten kann, recht vollständig und zugleich
wenig optimistisch. Big Data ist viel mehr

Essay als die infrastrukturelle Erweiterung unseres


Alltags oder die Ausdehnung unserer Person
in einen virtuellen Raum hinein. Sie ist auch
mehr, als die Debatte um die IT-Sicherheit na-

I mmer schicksalhafter durchdringt Big Data


die Zivilgesellschaft. Nutzer mobiler Klein-
computer erzeugen zahllose Fotos, Texte, Au-
helegt. Das Internet der Dinge verbreitet sich
so rasch, dass wir nicht mehr in der Lage sein
werden, die Sicherheit der Zivilgesellschaft zu
dio- und Videodateien. gewährleisten. Wir nehmen uns keine Zeit für
Yvonne Hofstetter Sensoren, getarnt als eine Bedrohungs- und Gefährdungsanalyse,
Geb. 1966; Juristin; Geschäfts- modische Armband- die nichts weniger ist als die Reflexion über
führerin des Technologieunter- uhren, vermessen ihre die (Grund-)Rechtskonformität neuer Tech-
nehmens Teramark Technolo- Träger vom Herzschlag nologien. Stattdessen werden Mahner schnell
gies, Dreiseithof Hofbauer Unit E, bis zur chemischen Zu- als Kulturpessimisten etikettiert. Dabei ist die
Marchenbacher Straße 12, sammensetzung ihrer Analyse der Systemsicherheit nichts weniger
85406 Zolling/Freising. Schweißsekretion beim als good practice jeden Ingenieurs und wird
yvonne.hofstetter@ Sport. Alltagsgegen- ausdrücklich von staatlichen Systementwick-
teramarktechnologies.com ständen wie T-Shirts lungsprozessen gefordert. ❙1
oder auch Bäumen hef-
ten wir die Fähigkeit zur digitalen Partizipati-
on am „Internet der Dinge“ sprichwörtlich an, Angriff auf Grundwerte
indem wir sie mit Bluetooth-Stickern bekleben,
damit sie kabellos und unterbrechungsfrei an Es ist ein Mythos, dass die Big-Data-Dauer-
die Cloud melden können, wann und wie oft sie überwachung allgemein für mehr Sicherheit
bewegt werden – vom Kunden, der Verkäuferin sorgt. Das Gegenteil ist der Fall: Die digita-
oder einfach nur einem Windhauch. Sinnvoll le Partizipation steigert die Anfälligkeit aller
oder nicht: Mit dem Ziel der Optimierung in und des Einzelnen gewaltig. Wir müssen da-
Echtzeit wird alles überwachbar, quantifizier- mit rechnen, dass hacks, „Anschläge“ auf un-
bar, kontrollierbar gemacht. sere Infrastrukturen, immer gravierender wer-
den. Sie haben nicht mehr nur Netzwerke und
Weil die schiere Menge der Daten schlech- Computer, sondern Ölpipelines und Indust-
terdings die Fertigkeit des Menschen zu rieanlagen im Visier. ❙2 Deshalb sollten uns zum
Überblick und Auswertung übersteigt, be- Beispiel Drohnen unbekannter Herkunft, die
deutet Big Data auch den Aufstieg der künstli- systematisch über französischen Kernkraft-
chen Intelligenz. Nur intelligente Maschinen werken kreisen, ernsthafte Sorgen bereiten. ❙3
können in den Massen unstrukturierter Da-
ten Korrelationen erkennen, die dem mensch-
lichen Auge verborgen bleiben. Intelligente ❙1  Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Informa-
tionstechnik, Das V-Modell XT 1.4, Dokumentation,
Maschinen greifen Daten ab, fusionieren oder Vorgehensbaustein Sicherheit, 2012, http://ftp.tu-
aggregieren sie zu neuen, relevanten Informa- clausthal.de/pub/institute/informatik/v-modell-xt/
tionen über das Objekt der Begierde und be- Releases/​1.4/Dokumentation/ ​V-Modell%20XT%20
rechnen daraus optimale Kontrollstrategien HTML/​61a1fb6026cb74.html#toc574 (24. 2. 2015).
zur Verhaltenssteuerung des Einzelnen. Sie ❙2  Vgl. Jordan Robertson et al., The Year of Hacking
beobachten die Wirkung ihrer eigenen Akti- Dangerously, 10. 12. 2014, www.bloomberg.com/sli-
deshow/​2014-12-10/the-year-of-hacking-dangerous-
on oder Empfehlung und steuern nötigenfalls ly.html (24. 2. 2015).
nach. Da ist er, der „Regelkreis“, die Closed- ❙3  Vgl. Michaela Wiegel, Unbekannte Drohnen über-
loop-control-feedback-Schleife. Hinter dem fliegen Kernkraftwerke, 31. 10. 2014, www.faz.net/​
Glas des Touchscreens sind Technik und Re- -13241023.html (24. 2. 2015).

APuZ 11–12/2015 33
Doch auch ohne das Eingreifen Cyber- heute Google. Die Macht verschiebt sich weg
krimineller ist die digitale Transformation vom demokratisch legitimierten Staat, dessen
sprichwörtlich das, was im Silicon Valley als Repräsentanten durch den Souverän wählbar
„schöpferische Zerstörung“ beschworen wird. und kontrollierbar sind, hin zu Wirtschafts-
Tatsächlich geht es um Zerstörung – um die betrieben, die über unsere Daten verfügen –
Destruktion prinzipiell bewährter Zustände, und die Schlüsseltechnologien, um sie auszu-
Prozesse, Systeme und Werte. Die Treiber hin- werten. Anders als ein demokratischer Staat
ter der Zerstörung sind: Wirtschaftswachs- sind sie hochgradig intransparent; durch ihre
tum, Umsatz und Profit. Mit „alten“ Techni- Geschäftsstrategie, stets ein Monopol anzu-
ken und Werkzeugen sind wir „ausoptimiert“. streben, wird Nutzern jede Alternative ge-
Die digitalen Technologien versprechen den nommen. Ihre globale Präsenz und Lobby-
nächsten wirtschaftlichen Leistungssprung, ismus schützen sie zudem vor konzertierten
aber nur, wenn wir radikal Neues zu denken Maßnahmen staatlicher Regulierung.
bereit sind. Die digitale Transformation for-
dert Paradigmenwechsel und wird historisch Befinden wir uns schon jenseits des point
erfolgreiche Modelle von Staat und Unterneh- of no return? Nein, es gibt noch Hoffnung.
men zum Einsturz bringen. Tatsächlich rich- Denn wer der Weltanschauung hinter Big
ten sich zumindest die Verbalattacken aus dem Data auf die Spur kommt, erkennt Chancen
Silicon Valley bereits gegen Demokratie und für die politische Gestaltung der digitalen
Gewaltenteilung: „Demokratie ist eine veral- Zukunft. Nur wo wir keinen Gestaltungs-
tete Technologie (…); sie hat Reichtum, Ge- willen zeigen, wird es aussichtslos.
sundheit und Glück für Milliarden Menschen
auf der ganzen Welt gebracht. Aber jetzt wol- Zuerst stellen wir nüchtern fest: Die von
len wir etwas Neues ausprobieren“, hören wir uns genutzten Smartphones, Tablets, tragba-
etwa vom Geschäftsführer von The Seastea- ren Datenlogger, die Betriebssysteme Win-
ding Institute, Randolph Hencken. ❙4 Diese dows, Apple OS oder Android und auch die
und ähnliche Äußerungen ignorieren die be- Telekommunikationsausrüstungen, denen wir
sondere Qualität der Demokratie als soziales unsere Daten übergeben, sind – mit wenigen
System, das mehr ist als eine Maschine. Ausnahmen – US-amerikanische Marken. Zu
ihrer Produktpalette gibt es kaum deutsche
Und so ächzt nicht nur die Wirtschaft unter oder europäische Alternativen. Der Elektro-
den Forderungen der digitalen Transformati- nikkonzern Siemens steht exemplarisch für
on. Auch im alltäglichen Leben jeder Bürge- den Verlust von Schlüsseltechnologien der
rin und jedes Bürgers findet Zerstörung statt: Digitalisierung seit der Jahrtausendwende:
Die millionenfachen Grundrechtsverletzun- 2005, kurz vor dem Smartphoneboom, ver-
gen durch die digitale Big-Data-Dauerüber- kaufte Siemens die Mobiltelefonsparte; 2009
wachung sind ein eindeutiges Indiz dafür, stellte das Unternehmen die letzte deutsche
dass unsere verfassungsrechtlich garantier- und gleichzeitig letzte europäische Compu-
ten Freiheiten bröckeln. Neu daran ist, dass terherstellung ein; mit der Ausgliederung des
die Gefährdung bestehender Rechtsordnun- Speicherchipgeschäfts (über Infineon Tech-
gen nicht primär von staatlicher Gewalt aus- nologies in Qimonda) ging die deutsche Chip-
geht. Die modernen Usurpatoren sind kom- herstellung 2009 in die Insolvenz. Selbst der
merzielle Internetorganisationen, deren finnische Mobiltelefonhersteller Nokia ist seit
Lenker von unseren Regierungen wie Staats- 2014 Teil der US-Firma Microsoft.
chefs empfangen werden, während die Me-
dien Liveübertragungen von Interviews und Mit Geräten amerikanischer Provenienz
Pressekonferenzen arrangieren (So gesche- handeln wir uns mehr ein als nur gefälliges
hen beim Deutschlandbesuch des Google- Design und raffinierte Funktionalität. „Die
Chefs Eric Schmidt im Herbst 2014). Nie Entscheidung für bestimmte Formen von (…)
zuvor war ein Unternehmen so mächtig wie Produktion und Konsum bringt immer auch
eine bestimmte Kultur als Gesamtauffassung
des Lebens zum Ausdruck.“ ❙5 Jeder Klick
❙4  Zit. nach: Joachim Gaertner, Hat die Demokra-
auf „Search“ oder „1-Click-Buy“ ist auch
tie ausgedient?, 12. 5. 2014, www.br.de/fernsehen/
bayerisches-fernsehen/sendungen/capriccio/gesell-
schaft/silicon-valley-mikrogesellschaften-100.html ❙5  Johannes Paul II, Centesimus Annus, Stein am
(24. 2. 2015). Rhein 1991, S. 42, Anm. 36.

34 APuZ 11–12/2015
ein kulturelles Bekenntnis. Wer der Weltan- Entwicklungsprojekte der Fusion zum Op-
schauung hinter Big Data „Made in USA“ auf fer fallen. Zugleich sollen amerikanische und
den Grund gehen will, sollte sich deshalb die europäische Technologen entlassen und ihre
Letztbegründung für das Handeln dieser Fir- Arbeiten – samt Know-how – nach Fernost
men vergegenwärtigen. Sie lautet: free trade. transferiert werden; das Management wird
ausgetauscht. Nur Bestandskunden mit wie-
derkehrenden Umsätzen, die cash cows, sol-
Cash is King? len unter neuer Marke weitergeführt werden.
Mayhoff öffnet die E-Mail. Kurz und prä-
Stellen wir einige rechtsphilosophische Über­ gnant springt ihn das erste Gebot des neuen
legungen an, um ansatzweise die ideologi- Managements an: „Cash is king.“ Christkönig
sche Auseinandersetzung mit dem Phänomen versus König Dollar? Hier prallt mehr aufein-
Big Data aufzunehmen. Jeden letzten Sonn- ander als die persönlichen Wertvorstellungen
tag vor dem Advent, dem Christkönigstag, eines Mitarbeiters und der durch seinen Ar-
beendet die katholische Kirche das Kirchen- beitgeber verordnete Verhaltenskodex. Ange-
jahr mit Blick auf den „letzten Menschen“ in sichts dieses Imperativs drängen sich Zweifel
apokalyptischen Zeiten. Daran schließt sich, auf: Wie viel Unternehmensethos ist durch-
alle Jahre wieder, die Erwartung auf neu- setzbar angesichts des Umstands, dass nur der
es Leben an: Mit der Weihnacht wird Gott Einzelne, nicht eine kommerzielle Einrich-
Mensch, glauben die Christen. Das wunder- tung, zu moralischem Handeln fähig ist – und
same Ereignis ist die Nobilitation des Men- hierzu nach seinem Gewissen frei sein sollte?
schen. Es muss etwas ganz Besonderes sein, Die Konsequenz folgt auf dem Fuße: Noch
wenn Gott Person wird und nicht Ding, nicht am selben Vormittag kündigt Mayhoff seinen
Baum oder Maschine. „Das Ding ist etwas, gut bezahlten Arbeitsplatz mit der Aussicht
das sich schlechterdings nicht zum Ich ma- auf nichts als eine ungewisse Zukunft. Ist das
chen lässt“, bringt der Medientheoretiker nun dumm und verrückt – oder eventuell Aus-
H. Gerd Würzberg die Philosophie Friedrich druck eines transatlantischen Kulturkampfs
Wilhelm Schellings auf den Punkt. ❙6 jenseits persönlicher Befindlichkeiten?

Dies spielt auch eine Rolle in der folgenden


Anekdote, in der lediglich der Name des Pro- Dignity versus Liberty
tagonisten ausgedacht ist: Als Florian May-
hoff, langjähriger Entwicklungschef einer Als die Mütter und Väter des deutschen
US-amerikanischen Softwareschmiede, an Grundgesetzes Artikel 1 formulierten und
einem Montagmorgen nach dem Christkö- die Unverletzlichkeit der Menschenwürde mit
nigstag seine elektronische Post durchsieht, Ewigkeitsgarantie festschrieben, stand ihnen
verlangt eine Nachricht seines Arbeitgebers das europäische Menschenbild vor Augen, so
besondere Aufmerksamkeit. „Die zehn Ge- wie es sich historisch entwickelt hatte. Wem
bote unseres Unternehmens“, heißt es provo- die „christliche Vorprägung der Gesellschaft“
kant in der Betreffzeile. Erst vor wenigen Jah- als eine „soziokulturelle Voraussetzung für
ren hatte die Firma durch ihren Börsengang den Verfassungsstaat“ in säkularen Zeiten wie
viel Geld von amerikanischen Anlegern ein- eine Zumutung erscheint, ❙7 kann sich gleicher-
geworben – und durch eigenartige Vorstands- maßen auf das Erbe der Aufklärung Kant’scher
entscheidungen rasch verbrannt. Jetzt wird Prägung zurückziehen: Sie stellt die Wissen-
der Hauptinvestor nervös und verlangt nach schaft über den Glauben. Trotzdem definiert
einem Exit. Dafür bietet es sich an, zwei Un- auch sie den Menschen als (Rechts-)Subjekt,
ternehmen, die sich in Schieflage befinden, zu das „mehr ist als eine Maschine“. ❙8 Das Indi-
verschmelzen. „Leichenfledderei“, so kom-
mentieren die beiden betroffenen Betriebe ❙7  Josef Isensee, Das verfassungsstaatliche Erbe der
die geplante Transaktion mit der offiziellen Aufklärung in Europa, Humboldt Forum Recht
Bezeichnung trade sale. Weil sie als zu kost- 5/1996, S. 26–34, hier: S. 26, www.humboldt-forum-
spielig gelten, werden neue Forschungs- und recht.de/deutsch/​5 -1996/index.html (24. 2. 2015).
❙8  Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was
ist Aufklärung (1748), in: Elektronische Edition der
❙6  H. Gerd Würzberg, Moralisch oder cool? Die pre- Gesammelten Werke Immanuel Kants, AA VIII,
käre Rückkehr der Subjekte in die Ökonomie, Nor- S. 33–42, hier: S. 42, www.korpora.org/Kant/aa08/​
derstedt 2013, S. 66. 042.html (24. 2. 2015).

APuZ 11–12/2015 35
viduum, eben die Person, macht die Dicho- Redefreiheit und das Recht der Öffentlich-
tomie von Subjekt/Objekt vollständig, auf keit auf Information seien höher zu bewerten
der unsere europäischen Rechtsordnungen als das Recht des Einzelnen auf ­Diskretion. ❙10
­aufbauen.
Uns kommt dabei sofort der ehemalige
Das Verständnis vom Menschen als Subjekt NSA-Mitarbeiter Edward Snowden in den
mit einer unantastbaren Würde ist das zentrale Sinn – könnte er sich nicht genauso auf die
„Supergrundrecht“ unserer Verfassung, das Redefreiheit berufen wie die amerikani-
sämtlichen Freiheiten des Menschen – Recht sche Presse beim Sony-Datenklau? Tatsäch-
auf Privatsphäre, informationelle Selbstbe- lich scheint die Rechtslage nicht völlig klar
stimmung und Kontrolle über persönliche Da- zu sein. Zwar schränken die USA den ersten
ten, Recht auf negative, diskriminierungslose Zusatzartikel 1917 mit dem Espionage Act
Freiheit von der digitalen Partizipation – zu- ein, der Auslegungen erlaubt, die selbst nach
grunde liegt. Dabei ist das Menschenbild, das Ansicht amerikanischer Experten sehr weit
die europäischen Verfassungsstaaten voraus- gehen. ❙11 Gleichzeitig regt sich Widerstand,
setzen, nicht notwendigerweise identisch mit eine Art Intuition: Kann es richtig sein, „ge-
dem Verfassungsverständnis anderer Länder. stohlene“ personenbezogene Daten zu ver-
So folgen die USA diesem gerade nicht: In ih- öffentlichen? Von Intuition spreche ich des-
rem Fokus stehen nicht primär die Menschen- halb, weil sich der Begriff der Privatsphäre
würde und sein subjekthafter Rechtsinhaber, nicht nur im Laufe der Zeit, sondern auch
sondern die Freiheit – Freiheit jedoch im Sinne in verschiedenen Ländern und Kulturen un-
von liberty als Bürgerrecht des Individuums, terschiedlich entwickelt hat. Während in
das „frei ist von gesetzlicher Regulierung“, den USA unter Privatsphäre vielfach vor al-
nicht freedom als „Unabhängigkeit“. lem die Unverletzlichkeit des eigenen Heims
und des persönlichen Eigentums verstanden
Welche Konsequenzen dieser relative Un- wird, geht es auf dem europäischen Konti-
terschied nach sich zieht, zeigte jüngst die nent in der Regel vielmehr um Geistiges: um
Debatte um den hack von Sony Pictures. Ge- die Würde, die allen gleichermaßen zuge-
nötigt durch unbekannte Kriminelle, sah das standen werden müsse, und um das Recht auf
Unternehmen im Dezember 2014 zunächst ungehinderte Selbstverwirklichung. Gerade
davon ab, die Komödie „The Interview“ – Letztere wurzelt ganz in der Idee des christ-
eine Satire über den nordkoreanischen Staats- lichen Humanismus. Zur Selbstverwirkli-
chef Kim Jong-un – an den Kinostart zu brin- chung gehört die Kontrolle über das eigene
gen. Hacker, die sich selbst als „Guardians Bild, den Namen und den eigenen guten Ruf,
of Peace“ bezeichnen, hatten der Presse ge- wie er im Grundrecht der informationellen
stohlenes Datenmaterial zugespielt. Auf diese Selbstbestimmung zum Ausdruck kommt. ❙12
Weise waren nicht nur Details des Films, son- Gemeint ist die Kontrolle über den eigenen
dern auch E-Mails von Sony-Mitarbeitern mit öffentlichen Menschen, so wie ihn jeder von
brisanten, spöttischen und beleidigenden In- uns zu kommunizieren wünscht. Die uner-
halten sowie Auszüge aus Personalakten mit laubte Veröffentlichung von E-Mail-Inhal-
Gehaltsdetails oder Einzelheiten über die Fa- ten wäre deshalb nach europäischem Ver-
milien und Krankheiten von Angestellten öf- ständnis undenkbar.
fentlich geworden. Als Sony Pictures schließ-
lich begann, sich gegen die Veröffentlichung Dass die Freiheit der Berichterstattung in
sensibler Personaldaten juristisch zur Wehr einem Spannungsfeld mit dem „unantastba-
zu setzen, kam in der US-Presse die Frage auf,
ob die Publikation gestohlener Daten von der ❙10  Vgl. Noah Feldman, Is Hacking Sony Free
Redefreiheit, der im ersten Zusatzartikel der Speech?, 16. 12. 2014, www.bloombergview.com/
US-Verfassung garantierten free speech, ge- articles/ ​ 2 014-12-16/is-hacking-sony-free-speech
schützt sei. Übereinstimmend lautete die Ant- (24. 2. 2015).
wort meist: Ja. „E-Mail is not private.“ ❙9 Die ❙11  Vgl. Christina Wells, Edward Snowden, the Es-
pionage Act and First Amendment Concerns,
25. 7. 2013, http://jurist.org/forum/​2013/​07/christina-
❙9  Sarah Perez, Why It’s Right to Report on the wells-snowden-espionage.php (24. 2. 2015).
Sony Hack, 15. 12. 2014, http://techcrunch.com/​2014/​ ❙12  Vgl. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesver-
12/​ 15/why-its-right-to-report-on-the-sony-hack fassungsgerichts) 27, 1 (Mikrozensus) vom 16. 7. 1969,
(24. 2. 2015). www.servat.unibe.ch/dfr/bv027001.html (24. 2. 2015).

36 APuZ 11–12/2015
ren innersten Lebensbereich“ steht, ❙13 ist den- delsbeschränkung aufgefasst wird. Deshalb
noch auch in Europa zweifelsfrei, weshalb handelte man in den USA schon lange vor
man schon bei der Festschreibung der Pres- Big Data unbekümmert mit Daten zur Kre-
sefreiheit in Frankreich 1868 um die Güter- ditwürdigkeit jedes US-Konsumenten. Der
abwägung gerungen hat. Grundsätzlich war Zugang zu den Daten erleichtere den Kon-
die Presse frei, doch die Darstellung eines fait sumenten die Teilnahme am Markt, so die Be-
de la vie privée, einer „privaten Angelegen- gründung, schließlich erhalte man schneller
heit“, war ein strafbarer Akt. ❙14 Die Presse Kredit. Free trade als Letztbegründung für
war gerade nicht völlig frei von jedweder Re- die Erfassung, die Speicherung und den Han-
gulierung – ein Umstand, der mit dem US- del mit Big Data hebt die Rechte des Men-
amerikanischen Verständnis von liberty un- schen auf eine selbstbestimmte Zukunft auf,
vereinbar ist. indem sie ihn zum Gegenstand des Wirtschaf-
tens verkürzt. Entsprechend der Theorie des
Pragmatismus ❙16 gilt: Gut ist alles, was nützt;
Free Trade am besten ist, was finanziell nützt. Der Er-
folg rechtfertigt alles, und maximaler Profit
Auch der „freie Markt“, free trade, gilt nach ist Ausdruck von Erfolg. Bemerkenswert ist
kontinentalem Verständnis als Einschrän- allerdings, dass auch die amerikanische Hal-
kung der Selbstbestimmung des Subjekts. Die tung auf ein bestimmtes Religionsverständnis
Selbstbestimmung, so die deutschen Philoso- zurückgeht: Es ist die calvinistische Idee, dass
phen seit 1880, sei durch die Idee des ökono- derjenige von Gott besonders gesegnet sei, der
mischen Liberalismus eines Adam Smith be- Reichtum erlangt habe. Reichtum gilt als be-
droht, weil der Laissez-faire-Markt zu Armut sondere Gnade „von oben“. Auch deshalb ist
und Unterdrückung führe. Entfaltungsmög- die Profitmaximierung erstrebenswert. Und
lichkeiten stelle er nicht bereit, vielmehr führe Regulierung beschränkt eben die Möglich-
die Erzeugung künstlicher Bedarfe dazu, dass keit, Profit zu machen. Bei Big Data treten die
der Mensch verlerne, seine wahren Bedürfnis- unterschiedlichen transatlantischen Auffas-
se zu benennen, was die Heranbildung einer sungen vom Markt besonders deutlich hervor.
reifen Persönlichkeit verhindere. ❙15 Deshalb Hier prallen US-amerikanische Profitmaxi-
auch hier der deutsche Sonderweg der staatli- mierung und die „Lebensdienlichkeit“ des eu-
chen Rahmenbedingungen: Ab 1880 wurden ropäischen Marktgeschehens aufeinander.
Vorschriften zur Sozialversicherung und zum
Kartellrecht eingeführt. Mit seinem Ordoli-
beralismus, der sozialen Marktwirtschaft, hat Primat der Technik,
Ludwig Erhard diese philosophische Tradition Illusion von Freiheit
weitergeführt und das Selbstentfaltungsrecht
des Subjekts geschützt – und nebenbei mit der Der Mensch ist Quelle und Ziel von Big Data
Einbringung des Subjekts in die Ökonomie „Made in USA“, der Optimierung vollzo-
auch Ethik und Moral in der Wirtschaft veran- gen durch Algorithmen am Algorithmus
kert. Der EU-Vertrag von Lissabon von 2007 „Mensch“. Ja, das bringt Profit. Tatsächlich
legte die soziale Marktwirtschaft als wirt- sind unsere persönlichen Daten, erhoben für
schaftliches Leitbild auch für Europa fest. geringe Gegenleistung, die Wirkursache sa-
genhafter Umsätze und Gewinne global agie-
Dem Marktgeschehen Grenzen setzen? Un- render Internetgiganten. Doch die algorith-
denkbar für das in den USA vorherrschende mische Behandlung des Menschen verstößt
Verständnis vom free trade, demzufolge jede gegen die Menschenwürde. Im Zusammen-
staatliche Regulierung als illegitime Han- hang mit der datenmäßigen Analyse des Men-
schen hielt das Bundesverfassungsgericht

❙13  BVerfGE 35, 202 (Lebach) vom 5. 6. 1973, www.


servat.unibe.ch/dfr/bv035202.html (24. 2. 2015). ❙16  Den theoretischen Rahmen des Pragmatismus lie-
❙14  Vgl. James Q. Whitman, The Two Western Cul- ferten Charles S. Peirce und William James um 1900.
tures of Privacy. Dignity versus Liberty, in: The Yale Für eine kritische Rezeptionsgeschichte vgl. F. Tho-
Law Journal, 113 (2004) 6, S. 1178, www.yalelawjour- mas Burke, What Pragmatism Was, Bloomington
nal.org/article/the-two-western-cultures-of-priva- 2013. Als bekannter Neopragmatiker galt Richard
cy-dignity-versus-liberty (24. 2. 2015). Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis: Eine Einführung
❙15  Vgl. Johannes Paul II. (Anm. 5). in die pragmatische Philosophie, Wien 20132.

APuZ 11–12/2015 37
schon 1969 fest: „Mit der Menschenwürde zu wollen, in Kauf. Der Sinn für Menschen-
wäre es nicht zu vereinbaren, (…) den Men- würde und Freiheit, er ist im Verfall begrif-
schen (…) in seiner ganzen Persönlichkeit zu fen. Tragisch ist, wie leicht uns der klassische
registrieren und zu katalogisieren, sei es auch Denkfehler des Kapitalismus, den Menschen
in der Anonymität einer statistischen Erhe- zum Objekt der Wirtschaft zu machen, auch
bung, und ihn damit wie eine Sache zu behan- heute noch zu täuschen vermag und so die
deln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Be- gewünschte zerstörerische Kraft des Silicon
ziehung zugänglich ist.“ ❙17 Genau darum und Valley freisetzt: Mit Big Data marginalisie-
um noch viel mehr geht es aber bei Big Data. ren wir unsere soziale Marktwirtschaft, die
Big Data spricht dem Menschen die Subjektei- „soziale Demokratie“, wie der Netztheore-
genschaft ab und ordnet ihn der Technik un- tiker Evgeny Morozov unser kontinentales
ter – mit allen Konsequenzen für den Einzel- Gesellschaftssystem bezeichnet. ❙19 Statt die
nen und seine Rechte, für Wirtschaft, Politik soziale Marktwirtschaft des digitalen Zeit-
und Gesellschaft. Big Data objektiviert den alters als vernunftbegabte Wirtschaftssub-
Menschen und zieht ihn in dieselbe Sphäre hi- jekte und „zur Kooperation und zum Wett-
nein, in der sich auch die intelligenten Maschi- bewerb fähiger Menschen“ zu gestalten, ❙20
nen der Analysen und Kontrollstrategien be- macht uns die Ideologie des globalen Kapi-
finden. Das Subjekt und seine Freiheitsrechte talismus zu konsumorientierten Hedonisten,
erodieren, mit ihm die soziale Marktwirt- zu „­passiven Nihilisten“, die für nichts mehr
schaft und, wie nebenbei, auch Ethik und Mo- ihr Leben riskieren, so der Psychoanalytiker
ral ökonomischen Handelns. Slavoj Žižek. ❙21

Der Mensch ist Schöpfung, mahnt des- Doch der Sonderweg der sozialen Markt-
halb auch der Silicon-Valley-Internetpionier wirtschaft ist so wertvoll, dass wir ihn mit
und Träger des Friedenspreises des deutschen aller Risikobereitschaft verteidigen sollten.
Buchhandels, Jaron Lanier. ❙18 Nur: Main- Und hier schließt sich der Kreis zu Florian
stream ist das nicht. Wieso, fragen sich die Mayhoff, unserem Helden der Unsicherheit.
Konsumenten, debattieren wir in einer Ära, Spontan einen gut bezahlten Arbeitsplatz
in der die weltweite Vernetzung der Märk- zu kündigen, nur weil man dem US-ameri-
te zur maximalen Auswahl an Waren führt, kanischen Pragmatismus nicht zustimmte,
über schwindende Freiheit? Nie schien un- war riskant und naiv. Doch nur Naivität lässt
sere Freiheit größer als heute, zwischen Pro- Wunder zu. Auch nach seiner Kündigung
dukten und Dienstleistungen zu wählen. Die war Florian Mayhoff keinen Tag ohne Ar-
langen Schlangen vor den Apple-Shops bei beit. Das Mirakel: Ausländisches Risikoka-
jeder Neuausgabe des schicken iPhones, die pital verhalf ihm zur Realisierung einer gro-
Verkaufserfolge der Gesundheitsarmbänder ßen Idee – Big Data für die Industrie, heute
zur Selbstoptimierung und zahlreiche neue mit dem Begriff der „Industrie 4.0“ versehen.
Geschäftsmodelle rund um die Überwa- Statt Menschen werden dabei Industrieanla-
chung sprechen für eine Güterabwägung ge- gen algorithmisch überwacht, vorausschau-
gen das Subjekt und für den free trade. Doch end gepflegt und automatisch gesteuert. Das
er ist nichts weiter als die Illusion von Frei- war vor zwölf Jahren, und es zeigt: Man muss
heit: die „Freiheit“ des Konsumenten. nicht Menschen überwachen und steuern, um
profitable Geschäftsmodelle für die Künst-
„Wenn es mir nützt, sollen sie doch alle liche Intelligenz zu finden. Aber wenn man
meine Daten haben.“ Der Satz fällt immer das will, dann muss man den Menschen weit-
häufiger in Europa. Wir begrüßen die Konsu- gehend schützen.
morientierung und nehmen dafür die Dauer-
überwachung, den zunehmenden Zwang zu
Wohlverhalten, die Pflicht zur digitalen Par- ❙19  Vgl. ders., Der Mensch ist mehr als ein Daten-
tizipation und den Druck, immer mehr und lieferant, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
immer Neues mitzumachen und stets mehr 29. 9. 2014, S.  13.
❙20  H. G. Würzberg (Anm. 6), S. 18.
❙21  Vgl. 3sat-Kulturzeit, Traumatischer Jahresrück-
❙17  BVerfGE 27, 1 (Anm. 12). blick. Der Philosoph Slavoj Žižek über das Jahr 2014
❙18  Vgl. Michael Hanfeld, Wir sind die Schöpfer der (Video), 15. 12. 2014.
Kultur, 12. 10. 2014, www.faz.net/-13203761.html
(24. 2. ​2015).

38 APuZ 11–12/2015
Herausgegeben von
der Bundeszentrale
für politische Bildung
„APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86
53113 Bonn
Aus Politik und Zeitgeschichte
Redaktion
Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail Anne-Sophie Friedel (Volontärin)
über die neuen Ausgaben. Barbara Kamutzki
Johannes Piepenbrink
Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell (verantwortlich für diese Ausgabe)
Anne Seibring
An dieser Ausgabe wirkte Valentin Persau
als Praktikant mit.
Telefon: (02 28) 9 95 15-0
www.bpb.de/apuz
apuz@bpb.de
Redaktionsschluss dieses Heftes:
27. Februar 2015

Druck
Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Kurhessenstraße 4–6
64546 Mörfelden-Walldorf

Satz

APuZ
le-tex publishing services GmbH
Weißenfelser Straße 84
04229 Leipzig

Nächste Ausgabe 13/2015 · 23. März 2015 Abonnementservice


Aus Politik und Zeitgeschichte wird
mit der Wochenzeitung Das Parlament
­ausgeliefert.

Bismarck Jahresabonnement 25,80 Euro; für Schüle-


rinnen und Schüler, Studierende, Auszubil-
dende (Nachweis erforderlich) 13,80 Euro.
Im Ausland zzgl. Versandkosten.
Andrea Hopp
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Warum Bismarck? Vertriebsabteilung Das Parlament
Frankenallee 71–81
Andreas Wirsching 60327 Frankfurt am Main
Bismarck und das Problem eines deutschen „Sonderwegs“ Telefon (069) 7501 4253
Telefax (069) 7501 4502
parlament@fs-medien.de
Volker Ullrich
Der Mythos Bismarck und die Deutschen Nachbestellungen
Publikationsversand der Bundeszentrale
Sandrine Kott für politische Bildung/bpb
Bismarck-Bilder in Frankreich und Europa Postfach 501055
18155 Rostock
Fax.: (038204) 66273
Tilman Mayer bestellungen@shop.bpb.de
Was bleibt von Bismarck? Nachbestellungen ab 1 kg (bis 20 kg)
­werden mit 4,60 Euro berechnet.
Jürgen Zimmerer  

Bismarck postkolonial Die Veröffentlichungen


in Aus Politik und Zeitgeschichte
stellen keine Meinungsäußerung
Die Texte dieser Ausgabe stehen unter einer Creative Commons der Herausgeberin dar; sie dienen
Lizenz vom Typ Namensnennung-NichtKommerziell-Keine- der Unterrichtung und Urteilsbildung.
Bearbeitung 3.0 Deutschland.
ISSN 0479-611 X
Big Data APuZ 11–12/2015

Evgeny Morozov
3–7 „Ich habe doch nichts zu verbergen“
Die Phrase „Ich habe doch nichts zu verbergen“ könnte genauso gut lauten „Ich
habe doch nichts zu wollen“. Die Aufgabe des eigenen Raums zum Experimentie-
ren bedeutet die Aufgabe jeder Ambition, das eigene Leben selbst zu bestimmen.

Christian Stöcker
8–13 Politikfeld Big Data
Die Politik verspricht sich vom Thema Big Data viel – nicht zuletzt Wachstums-
chancen für Unternehmen. Gleichzeitig ist der Umgang mit personenbezogenen
Daten umstritten, wie die Diskussion um die EU-Datenschutzverordnung zeigt.

Viktor Mayer-Schönberger
14–19 Zur Beschleunigung menschlicher Erkenntnis
Big Data ist weniger eine neue Technologie denn eine Perspektive auf die Wirk-
lichkeit. Richtig angewandt kann sie den menschlichen Erkenntnisprozess nach-
haltig beschleunigen. Doch sind damit auch Schattenseiten verbunden.

Rolf Kreibich
20–26 Von Big zu Smart – zu Sustainable?
Die in die Zukunft weisenden Konzepte von Big und Smart Data sollten sich hin-
sichtlich ihrer technischen und wirtschaftlichen Anwendungen den Zielen der
Nachhaltigen Entwicklung unterordnen. Das ist bisher jedoch nicht erkennbar.

Peter Langkafel
27–32 Dr. Algorithmus? Big Data in der Medizin
In der Medizin fallen immer mehr digitale Daten an, zugleich sammeln auch Bür-
ger immer mehr Gesundheitsdaten. In ihrer systematischen Vernetzung und Aus-
wertung liegen große Chancen. Doch auch Big Data ist kein Allheilmittel.

Yvonne Hofstetter
33–38 Big Data und die Macht des Marktes
Big Data erobert die westliche Welt; der Auftrag: mehr Effizienz durch Optimie-
rung. Dass Big Data mehr ist als nur Technologie, zeigt der Versuch einer ideolo-
gischen Auseinandersetzung mit dem digitalen Phänomen.

Das könnte Ihnen auch gefallen