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Sola Scriptura – Schriftprinzip


und Schriftgebrauch
Christoph Schwöbel

1. Die Krise des Schriftprinzips als Krise des


Schriftgebrauchs

In der evangelischen Kirche hört man auch im Reformationsjahr


immer wieder die Klage, dass die Orientierung an der Schrift,
die von Luther so machtvoll mit dem Programmruf »Allein die
Schrift!« gegen alle geistlichen und weltlichen Autoritäten ins
Feld geführt worden sei, in der Kirche wie in der Gesellschaft,
und erst recht in der Theologie verloren gegangen sei. Was so
als Krise des Schriftprinzips diagnostiziert wird, ist im Kern ein
Ruf nach Eindeutigkeit in den Uneindeutigkeiten der Debatten
in Kirche und Gesellschaft, vor allem in Fragen der ethischen
Orientierung. Umgekehrt hat der amerikanische Historiker Brad
S. Gregory gerade das sola scriptura Prinzip als einen der Fak-
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toren interpretiert, der die Krise des gegenwärtigen »Hyper-


pluralism« heraufgeführt habe. »Protestant appeals to scripture
alone produced an unwelcome pluralism of competing Christian
truth claims; supplementary appeals to the Holy Spirit reinforced
it.«1 Ist das Schriftprinzip in der Krise oder ist es einer der Aus-
löser der vielfach als Krise interpretierten pluralistischen Situation
der Spätmoderne?
In der evangelischen Theologie ist die Klage über eine Krise
des Schriftprinzips nicht neu. Schon 1962 hat Wolfhart Pannen-
berg in dem Aufsatz gleichen Titels die These vertreten: »Die
Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise

1
 Brad S. Gregory, The Unintended Reformation. How a Religious Rev-
olution Secularized Society, Cambridge, MA / ​London, 2012, 100.
2  Christoph Schwöbel
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der modernen evangelischen Theologie.«2 Pannenberg verortet die


Krise vor allem in zwei Bereichen. Erstens betreffe die Krise das
Auseinandertreten von historisch rekonstruierbaren Fakten über
die biblischen Geschichten von Israel und Jesus von Nazareth
und ihrer theologischen Bedeutung, von Historie und Kerygma,
die für die Reformatoren noch eine Einheit gewesen seien. Die
erkannte Differenz mache es notwendig, die »Sache« der Schrift
»hinter« den Texten zu erschließen.3 Zweitens dürfe die Wahr-
heit der Schrift nicht gegen das Wahrheitsbewusstsein der neu-
zeitlichen Wissenschaft gewendet werden, ohne den im Gottes-
verständnis verankerten Wahrheitsanspruch der biblischen Texte
zu negieren und ohne die Theologie im Hause der Wissenschaften
zu isolieren. Vielmehr gelte es, »das neuzeitliche Denken in den
Zusammenhang der christlichen Überlieferungsgeschichte ein-
zuholen«.4 Das erfordere eine grundsätzliche Verabschiedung der
Unterscheidung von natürlichem Denken und einem übernatür-
lichen Erkenntnisbereich und die Entfaltung des offenbarungs-
theologischen Ansatzes der Schrifttheologie – hier ist Pannenberg
bei seinem eigenen theologischen Programm – im Rahmen einer
Theologie der Universalgeschichte.5
Pannenbergs rebellischer, aber in diesem Punkt in der Problem-
sicht seinem Lehrer treuer Schüler Falk Wagner hat die Diagnose
verschärft und gefordert, eine »Unterscheidung zwischen his-
torischem Anfang und systematischen Grund des Christentums«6
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einzuführen. Nach Wagner wird durch den Rückbezug auf die


geschichtlichen Anfänge des Christentums die Einsicht verstellt:
»Das christologische Subjekt ist allein als nichtsinnlich-gedank-
licher Gehalt zugänglich.«7 Das Verfahren der Theologie ist nach

2 Wolfhart Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips (1962), in: ders.,

Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze 1, Göttingen


3
1979, 11–21.
3  A. a. O., 16.
4
  A. a. O., 18.
5
 Vgl. a. a. O., 20.
6 Falk Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprin-

zips, in: ders., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995,
68–88, 81.
7  A. a. O., 84.
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  3
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Wagners Auffassung von einem Vorbegriff der Sache des Chris-


tentums bestimmt, und faktisch bestimmt dieser Vorbegriff auch
das Vorgehen in der Exegese der biblischen Schriften, was sich für
Wagner an der Vielfalt der Verständnisse von »Evangelium« zeigen
lässt. Konsequent kommt Wagner so auch zu der Infragestellung
der kanonischen Geltung des Alten Testaments, weil durch das
Festhalten am Alten Testament »die Revolutionierung des Gottes-
gedankens in eine halbherzige Reform umgebogen« worden sei.8
Vielleicht noch deutlicher als in diesen beiden systematischen
Vorschlägen, der Krise des Schriftprinzips therapeutisch zu be-
gegnen, tritt die Krise für viele im faktischen Nebeneinander der
unterschiedlichen Zugangsweisen zu den biblischen Schriften
hervor, die zwischen den einzelnen theologischen Disziplinen,
aber auch in ihnen geübt wird. Historische, literaturtheoretische
oder rhetorische Zugänge stehen oft unvermittelt nebeneinander
und so scheint es, als verdanke sich der jeweilige Zugang Vorent-
scheidungen, die – anders als etwa bei Pannenberg oder Wagner –
weitgehend implizit bleiben. Beispiele aus den unterschiedlichen
Bereichen kirchlicher und gesellschaftlicher Praxis können das
Bild vervollständigen. Hier stehen in den evangelischen Kirchen
unterschiedliche engagierte Lesarten der Schrift  – befreiungs-
theologische, feministische, unterschiedliche psychotherapeuti-
sche Zugangsweisen, Bibliodrama, godly play  – in der Liturgie,
der Verkündigung, der Seelsorge nebeneinander, die oftmals gar
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nicht, oder jedenfalls nicht konstitutiv, auf die Exegese als wis-
senschaftliche Disziplin bezogen sind. Die intensive Beziehung
zwischen Schriftauslegung und Predigtpraxis z. B., wie sie in der
dialektischen und kerygmatischen Theologie des 20. Jahrhunderts
programmatisch gepflegt wurde, ist längst Theologiegeschichte.
Durch diese Situation ist sehr grundsätzlich die Frage gestellt, was
in der Diskussion des reformatorischen Schriftprinzips eigentlich
Schrift und was Prinzip heißen kann.
Muss man sich nicht auch fragen, ob die Krise des Schriftprin-
zips sich nicht auch an den Bewegungen ablesen lässt, wo die
Rolle der Schrift als Prinzip gar nicht in Frage zu stehen scheint,
Bewegungen die, obwohl die Bezeichnung zunächst eine pro-

8  A. a. O., 87.
4  Christoph Schwöbel
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grammatische Selbstbezeichnung christlicher Gruppierungen war,


heute meist aus der Außenperspektive als »fundamentalistisch«
bezeichnet werden? Man kann diese Bewegungen, im Protestan-
tismus der USA im Gegenzug gegen den Einfluss des »Higher Cri-
ticism« um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert
entstanden, als Phänomen der »deplatzierten Fundamentalität«
interpretieren, insofern in der »Hierarchie der Wahrheiten« an
die Stelle des Glaubens an den dreieinigen Gott der Glaube an
die Irrtumslosigkeit der Schrift tritt, die als axiomatische Struktur
behandelt wird, aus der alle wahren Aussagen abgeleitet werden
können.9 Ähnliches lässt sich m. E. auch am islamischen und am
jüdischen Fundamentalismus zeigen. In Antwort auf eine emp-
fundene Krise des Schriftprinzips wird das »Schriftprinzip« zum
ersten und wichtigsten Artikel des Glaubensbekenntnisses. Die
Folge ist, dass der Gesamtzusammenhang der Schrift aufgehoben
wird und aus kontextlosen Einzelsätzen weitgehende applikative
Forderungen abgeleitet werden. Hier wie in den anderen Beispie-
len der Krise des Schriftprinzips zeigt sich hinter der Feststellung
dieser Krise und den Vorschlägen zu ihrer Behebung eine tiefere
Problemschicht, in der es um das Fundament des Glaubens, das
fundamentum fidei und seine Beziehung zur Schrift geht.
Schaut man etwas genauer hin, hat man allerdings den Ein-
druck, dass sich hinter der viel beschworenen Krise des Schrift-
prinzips eine Krise des Schriftgebrauchs verbirgt.10 Religions-
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wissenschaftlich empfiehlt es sich ohnehin zwischen der Bibel,


der pluralistischen Bibliothek der biblischen Zeugnisse, und der
Schrift, der »Bibel im Gebrauch« zu unterscheiden. Die Rolle
der Heiligen Schriften in den Religionen variiert in erstaunli-
chem Maße, von der Rolle der Veden im Hinduismus, die mit
Anweisungen für Rituale, die niemand mehr praktiziert, eine
Verbindung zum Ursprung darstellen, bis hin zur der Debatten-
kultur über die Bedeutung des Tanach im orthodoxen Judentum

 9
 Vgl. die ausführlichen Analysen in Christoph Schwöbel, Gott im Ge-
spräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 39–68.
10
 Vgl. Christoph Schwöbel, Eigensinn gegen Eigensinnigkeit: warum
die Suche nach der Klarheit der Schrift schwierig ist, aber unerlässlich bleibt,
in: Zeitzeichen 15 (2014) H. 7, 20–22.
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oder den exegetischen Diskussionen im Christentum. Redet man


christlich-theologisch von der Schrift im Unterschied zum Bibel-
buch, steht immer die Praxis des Schriftgebrauchs im Vorder-
grund: in der gottesdienstlichen Liturgie, in der Predigt‑ und Sa-
kramentspraxis, sowie in der katechetischen Unterweisung. Redet
man von der Schrift, geht es auch um den Bibelgebrauch in Fragen
der dogmatischen Urteilsbildung und der ethischen Orientierung.
In weiten Teilen des nicht-protestantischen Christentums, ebenso
wie im Judentum und im Islam, spielt die Schrift für die rechtliche
Regelung des Lebens der Glaubensgemeinschaft eine bedeutende
Rolle. Der Gebrauch der Bibel als Schrift in diesen unterschied-
lichen Dimensionen ist das Medium der Überlieferung der Bibel
von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Der Gebrauch der
Bibel als Schrift gehört insofern zu den Voraussetzungen einer
kritischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel. Vor
diesem Hintergrund erscheint die Krise des Schriftprinzips in der
evangelischen Kirche und Theologie in ihrem Kern als Krise des
Schriftgebrauchs.
Schaut man von hier aus zurück zu Luther, ist man mit der Fra-
ge konfrontiert, ob das, was Luther als Schriftprinzip formuliert,
in seiner Zeit nicht ebenso eine Antwort auf eine Krise des Schrift-
gebrauchs ist, in der  – jedenfalls nach Luthers Auffassung  – die
Rolle der Schrift im Verhältnis zu anderen Autoritäten undeutlich
geworden war. Wenn sich diese Vermutung bestätigen sollte, dann
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wäre es naheliegend zu fragen, welche Inspirationen die Beschäf-


tigung mit Luther heute zur Orientierung des Schriftgebrauchs in
den christlichen Kirchen bieten könnte.

2. Luthers Theologie der Autorität der Schrift

Wenn wir im Folgenden einige Aspekte von Luthers Theologie


der Autorität der Schrift zusammenstellen, kann es nicht darum
gehen, immer noch gängige Parolen zu wiederholen, die darauf
hinauslaufen, Luther habe die Bibel wiederentdeckt und dies sei
im Prinzip »sola scriptura« auf den Punkt gebracht worden. Die
Bibel war entgegen der vulgärprotestantischen Gründungslegende
durchaus in Gebrauch in der mittelalterlichen Kirche, auch Lai-
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enbibeln waren schon vorreformatorisch verbreitet.11 Im obser-


vanten Orden der Augustiner-Eremiten wurde das Bibelstudium
gefordert und gefördert. Mit dem Grundsatz »sola scriptura«
konnte sich Luther mit dem im Zuge der Auseinandersetzung mit
der Reformation zum Klassiker erhobenen Thomas von Aquin
eins wissen.12 Im Streit um die Autorität in der Kirche hatten
sowohl Marsilius von Padua als auch Wilhelm von Ockham die
Bibel in wissenschaftlicher Schriftauslegung über die Autorität des
Papstes gestellt. Luthers Verteidigung des traditionellen Schrift-
prinzips kann nur als Theologie der Autorität der Schrift richtig
erfasst werden und führt so weitreichende Distinktionen und
Beziehungen in die Theologie der Schriftauslegung ein, die sich in
der Umbruchssituation von Spätmittelalter und Früher Neuzeit
als wirkmächtig erwiesen haben. Die genetische Frage nach der
Herkunft von Luthers Einsichten im spätmittelalterlichen Kon-
text der Theologie muss insofern mit der teleologischen Frage
verbunden werden, in welchen theologischen und historischen
Konstellationen seine Überlegungen zur Schrift wirksam werden
konnten.
Die Übergänge in der Akzentuierung des Schriftverständnisses
sind graduell und die Privilegierung des Literalsinns schält sich im
Rahmen der ersten großen Psalmenvorlesung langsam heraus. Lu-
ther, der als Lector in Biblia in Wittenberg ab 1512 tätig war, hatte
eine allgemeine theologische Professur. Dass er sie so wahrnahm,
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dass er bei der Wahrnehmung seiner Lehraufgaben nicht die Aus-


arbeitung eines Sentenzenkommentars in den Mittelpunkt stellte,
sondern sich in seinen Vorlesungen ausschließlich der Schriftaus-
legung widmete, ist insofern relevant für Luthers Verständnis der
gesamten theologischen Aufgabe: Alle Theologie ist Schriftaus-
legung. Für Luthers Schriftverständnis lassen sich folgende sechs
zusammenhängende Charakteristika benennen.

11
 Vgl. Thomas Kaufmann, Vorreformatorische Laienbibel und reforma-
torisches Evangelium, in: ZThK 101, 2004, 138–174.
12
 Vgl. Stephan H. Pfürtner, Das reformatorische ›Sola Scriptura‹  –
theologischer Auslegungsgrund des Thomas von Aquin?, in: Carl Heinz
Ratschow (Hg.), Sola Scriptura?, Marburg 1977, 48–80.
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  7
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2.1. Die heilige Schrift und die Menschensatzung


In seiner Bekräftigung der durch die Bannandrohungsbulle Leos X.
verurteilten Sätze, die er auf Bitten von Kurfürst Friedrich dem
Weisen verfasste, der Assertio omnium articulorum, gibt L ­ uther
einleitend darüber Auskunft, warum die Aussagen des Lehramtes
und die Aussagen der Kirchenväter den Aussagen der Schrift un-
terzuordnen sind und von diesen her kritisch interpretiert werden
müssen. Er bedient sich dabei eines Grundsatzes der Rechtstradi-
tion, der den Inhalt hat, dass die Heiligen Schriften nicht nach dem
eigenen Sinn (propriu sensu) auszulegen seien.13 Intendiert war
dieser Satz so, dass die Aussagen der Lehrtradition bei der Aus-
legung die Richtung weisen sollten und nicht die Auslegung des
einzelnen Auslegers – das war ja der Vorwurf, der Luther gemacht
wurde. In seiner Entgegnung macht Luther deutlich, dass wenn
dieser Satz so gelte, auch die Auslegung eines Kirchenvaters (er
nennt als Beispiel Augustin) durch einen anderen Kirchenvater
ausgelegt werden müsse und so fort in einem infiniten Regress.
Luther entwirft hier faktisch ein kumulatives Traditionsmodell,
das in der Tat ein Magisterium zur Entscheidung der richtigen
Lehrmeinung erfordern würde. Gegen diese (unterstellte) Inter-
pretation vertritt er nun mit aller Deutlichkeit, dass Interpretation
»sensu proprio« nur heißen könne, dass die Schriften nur durch
denjenigen Geist zu verstehen sind, in dem sie geschrieben wor-
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den sind.14 Und dieser Geist kann nirgendwo gegenwärtiger und


lebendiger gefunden werden als in den Heiligen Schriften selbst.
Luther baut hier einen Gegensatz auf zwischen den menschlichen
Schriften der Väter und den Heiligen Schriften. Nur mit dem Geist
des Glaubens, den die Kirche am Anfang erhalten hat, könne mit
der Schrift als Richterin ein Urteil gefällt werden auch über die
13
 Martin Luther, Assertio omnium articulorum, WA 7, 96, 11. Vgl. zur
Interpretation: Reinhard Schwarz, Martin Luther als Lehrer der christlichen
Religion, Tübingen 22016, 34–44. Schwarz merkt zu diesem Satz an: »Luthers
Quelle konnte bisher noch nicht nachgewiesen werden.« (a. a. O., 34).
14
 »Oportet enim scriptura iudice hic sententiam ferre, quod fieri non potest,
nisi scripturae dederimus principem locum in omnibus quae tribuuntur pa-
tribus, hoc est, ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius
interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans.« Assertio, 1520,
WA 7 97, 20–24.
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Autorität der Väter, die doch selbst die Schrift als Kriterium ihrer
Lehre beanspruchten. Gegenüber dem kumulativen Traditions-
modell wird ein kritisches Traditionsmodell etabliert, dass die
Schrift zum Maßstab der Tradition erhebt.15 Das aber heißt, »dass
sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz
verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allen prüfend, richtend
und erleuchtend«. Nach dieser Aussage, die Schrift sei sui ipsius
interpres, folgt nun im Anschluss an Ps 119 (Vg 118), 30 die For-
mulierung des Schriftprinzips:
»Hier verleiht der Geist ganz klar Erleuchtung und lehrt, dass Erkenntnis
allein durch die Worte Gottes verliehen wird gleichwie durch eine Tür
oder eine Öffnung oder ein erstes Prinzip (wie man sagt), von dem aus
der anfangen muss, der zum Licht und zur Erkenntnis gelangen will.
Wiederum [heißt es in Ps 119 / Vg. 118, 160]: ›Das Prinzip oder das Haupt
deiner Worte ist Wahrheit.‹ Du siehst, dass auch hier die Wahrheit nur
dem Haupt der Worte Gottes zugesprochen wird. Das heißt, wenn du die
Worte Gottes an erster Stelle gelernt hast, so wirst du von ihnen auch wie
von einem ersten Prinzip zum Urteil über alle Wörter gebracht werden«16.

In der Interpretation dieser Passagen wird deren Sinn häufig


durch die Ausdrücke der »Selbstbeglaubigung« und »Selbstaus-
legung«17 der Schrift wiedergegeben und darauf hingewiesen, dass
Luther hier den Begriff principium »vor dem Hintergrund der
damaligen Wissenschaftstheorie«18 verwende. Demgegenüber ist
es wichtig zu betonen, dass der Geist die Schrift erleuchtet und
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15
 Zum Vergleich von »kumulativem« und »kritischem« Traditionsmodell
vgl. Christoph Schwöbel, Rationality, Tradition and Theology. Six Theses,
in: Marcel Sarot / ​Gijsbert van den Brink (Hg.), Identity and Change in
the Christian Tradition, Frankfurt / ​Berlin / ​Wien 1999, 159–186.
16
 Martin Luther, Assertio omnium articulorum, WA 7, 97, 26–32;
LDStA 1, 81, 5–17.
17
 Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers (1962) 71994, 74. Althaus
betont dann eine Seite später: »Selbstauslegung der Schrift und Auslegung
durch den Heiligen Geist – das sind bei Luther zusammengehörige Ausdrücke
für die gleiche Sache.« (75).
18
 Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestan-
tischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur
Gegenwart, Tübingen 2004, 12. Die Interpretation des Schriftprinzips im Sinne
der aristotelischen Prinzipienlehre beginnt, wie Lauster überzeugend nach-
weist, bei Melanchthon und wird bei Johann Gerhard systematisch entfaltet.
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die Erkenntnis allein durch die Worte Gottes verliehen wird. Lu-
ther bezieht sich mit den Worten »Tür« oder »Öffnung« auf das
Evidenzerlebnis, das mit dem Offenbarungsbegriff beschrieben
wird.19 Mit dem Zitat von Ps 119, 160 »Dein Wort ist nichts als
Wahrheit« wird die Selbstauslegung der Schrift im Evidentmachen
des Schriftwortes auf das Wort Gottes bezogen. Der Kontrast
liegt nicht zwischen den Worten der Tradition und dem Wort der
Schrift, sondern zwischen den Menschensatzungen und dem Wort
Gottes.20 Darum hat die Schrift als geistgewirkte Selbstbezeugung
Gottes den ersten Rang in Fragen der Lehrautorität. Dennoch
können die in dieser Weise evident gewordenen Prinzipien, die
»non nisi verba divina«21 als Maßstab aller menschlichen Konklu-
sionen gelten, weil die göttlichen Worte klarer und gewisser sind
als die der Menschen. Darum ist für das Verfahren der Schriftaus-
legung klar, dass wir die heiligen Schriften »per seipsas et illarum
proprium spiritum« betrachten sollten.22 Luthers hier zusammen
mit dem Schriftprinzip eingeführtes kritisches Traditionsver-
ständnis ermöglicht auch eine positive Würdigung der Tradition.
Zwar insistiert Luther darauf, dass die Freiheit des Geistes und
die Majestät des Wortes Gottes den Kirchenvätern vorangestellt
wird, sie werden aber als Vorbild angeführt, »wie sie zu ihrer Zeit
am Worte Gottes gearbeitet haben«.23 Sie sind den Aposteln und
Propheten untergeordnet, aber das  – so zeigt Luther durch den
Traditionsbeweis des Väterzitates – entspricht gerade ihrem Selbst-
Dokuments ist nicht zulässig.

verständnis. Und selbst die Schlusspointe, »eher aus der Quelle

19
 Vgl. Luthers Beschreibung der Entdeckung der Bedeutung des Ausdrucks
»Gerechtigkeit Gottes« in der Vorrede zum 1. Band der Opera latina (1545)
WA 54, 179–187, 186, 3–10: »Donec miserente Deo meditabundus dies et noc-
tes connexionem verborum attenderem, nempe: Iustitia Dei revelatur in illo,
sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit, ibi iustitiam Dei coepi intelligere eam,
qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide, et esse hanc sententiam, revelari per
euangelium iustitiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat
per fidem, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit. Hic me prorsus renatum esse
sensi, et apertis portis in ipsam paradisum intrasse. Ibi continuo alia mihi facies
totius scripturae apparuit.«
20 Vgl. die Schrift: Von Menschenlehre zu meiden, 1522, WA 10/2, 72–92.
21
 WA 7, 98, 4, LDStA 1, 80, 23.
22
 WA 7, 98, 18, LDStA 1, 82, 7.
23 WA 7, 100, 17–19, LDStA 1, 82, 40–41.
10  Christoph Schwöbel
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selbst als aus den Bächen [zu] trinken«,24 wird mit einem Zitat des
hl. Bernhard belegt.

2.2. Äußere und innere Klarheit


Nun ist aber die sich selbst auslegende Schrift ein Buch und so
bedarf sie der menschlichen Ausleger. Wie kann eine solche Aus-
legung vor sich gehen? Darüber gibt die ausführliche hermeneu-
tische Diskussion in der Auseinandersetzung mit Erasmus von
Rotterdam in De servo arbitrio Auskunft. Auch hier ist Luther
klar in der Relativierung der Schrift auf die Wahrheit Gottes. Gott
selbst soll »der Lehrer in unserer Mitte [sein], der in uns spricht
und hört«.25 Dieses theologische Verstehensprinzip schärft Luther
gleich am Anfang seiner Argumentation ein. Es geht nicht darum,
von der Kreatur aus zu verstehen, sondern alles zu verstehen »in
Gott. Wer den nicht versteht, versteht niemals auch nur einen
Teil des Geschöpfs.«26 Deswegen kann man sich auch nicht wie
Erasmus einer vornehmen Skepsis rühmen und die Ungewiss-
heit der Gewissheit vorziehen: »Was ist denn erbärmlicher als
Ungewissheit?«27 Alles in Gott zu erkennen, der die Wahrheit
ist, gewährt Gewissheit: »Der Heilige Geist ist kein Skeptiker! Er
hat uns keine Zweifel oder bloße Meinungen in unsere Herzen
geschrieben, sondern Wahrheitsgewissheiten, gewisser und fester
als das Leben selbst und alle Erfahrung.«28 Die Gewissheit, die der
Dokuments ist nicht zulässig.

Heilige Geist schenkt, hat das Evangelium zum Inhalt, das aller
Kreatur gepredigt ist. »Christus nämlich hat uns den Sinn eröffnet,
dass wir die Schriften verstehen.«29
Wie sind diese theologischen Einsichten nun in der Schrift-
auslegung im Einzelnen zu bewähren? Luther führt zunächst
eine Unterscheidung ein zwischen Gott und der Schrift Gottes,
die nicht weniger als Schöpfer und Geschöpf zwei Dinge sind.
Während in Gott vieles verborgen ist, es sei denn er offenbart

24
 WA 7, 100, 25–26, LDStA 1, 89 10–11.
25
 WA 18, 602, 31, LDStA 1, 225, 40–41.
26 WA 18, 605, 13–14, LDStA 1, 233, 11–12.
27
 WA 18, 604, 33, LDStA 1, 230, 19: »Quid enim incertitudine miserius?«
28
 WA 18, 605, 32–34, LDStA 1, 232, 28–30.
29 WA 18, 607, 4, LDStA 1, 237, 20–21.
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es, ist diese prinzipielle Dunkelheit nicht von der Schrift aus-
zusagen. Natürlich gesteht Luther exegetische Schwierigkeiten
aus Unkenntnis des Vokabulars und der Grammatik zu. Aber aus
dieser Undeutlichkeit zu schließen, die Sache sei unklar, wenn die
Worte mal klar, mal unklar sind, ist ein Fehlschluss. Wie wird dann
die Sache der Schrift klar? Auf diese Frage antwortet die Lehre von
der doppelten Klarheit der Schrift. Die äußere Klarheit der Schrift
ist das, was die Schrift klar und deutlich sagt, wenn sie nach dem
Literalsinn ausgelegt wird. Die Schrift meint, was sie sagt, und das
macht die Schriftauslegung dem öffentlichen Diskurs zugänglich.
Mit der Zurückstellung des vierfachen Schriftsinnes gibt es hier
keine Einschränkung der öffentlichen Verständigung. Die innere
Klarheit ist Gabe des Geistes Gottes. Wo diese Gabe nicht gegeben
wird, haben Menschen ein »verdunkeltes Herz«, das darin besteht,
dass sie für das, was sie von der äußeren Klarheit verstehen, nichts
fühlen und wahrhaft erkennen.30 Damit ist gemeint, dass die innere
Klarheit, die durch das Wirken des Geistes Gottes geschenkt wird,
genau die Anwendung des in der äußeren Klarheit Verstandenen
auf den Hörer der Schriftverkündigung selbst erschließt, so dass
ihm die Wahrheit des äußerlich klar Gesagten innerlich, im Her-
zen, einleuchtet und er sie als Gewissheit fühlt.
Wichtig ist zu bemerken, dass das allgemeine Priestertum der
Gläubigen an der äußeren Klarheit der Schrift hängt. Hieronymus
Emser hatte 1 Pt 1, 9 »Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht,
Dokuments ist nicht zulässig.

die königliche Priesterschaft« im Literalsinn auf die ganze Kirche


bezogen, im geistlichen Sinn aber auf eine geweihte Priesterschaft
und dies mit der Unterscheidung von Buchstabe und Gesetz
nach 2 Kor 3, 6 begründet.31 Luther wehrt diese Interpretation
ab, weil durch den differenzierten Schriftsinn kirchliche Amts-
strukturen als institutiones humanae in die Schrift eingetragen
werden können. Die Kirche wird als ganze als Priesterschaft zur
Auslegungsgemeinschaft der Schrift. Allerdings steht es nicht in

30
 WA 18, 609, 5–10 »Si de interna claritate dixeris, nullus homo unum iota
in scripturis videt, nisi spiritum Dei habet, omnes habent obscuratum cor,
ita, ut si etiam dicant et norint proferre omnia scripturae, nihil tamen horum
sentiant aut vere cognoscant, neque credunt Deum, nec sese creaturas Dei,
necque quicquam aliud …«. LDStA 1, 238.
31 Vgl. Schwarz, Martin Luther (wie Anm. 13), 39 f.
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ihrer Macht, dass das so Ausgelegte auch innerlich einleuchtet.


Das liegt allein in der Macht des Geistes Gottes. Hier greifen die
beiden Unterscheidungen, die Luther im Folgenden entfaltet: die
Unterscheidung zwischen dem Werk Gottes und dem Werk der
Menschen und die Einsicht, dass Gott nichts zufällig vorherweiß
und wir alles mit Notwendigkeit tun.32

2.3. »Nimm Christus aus den Schriften …«


Im gleichen Werk stellt Luther die rhetorische Frage: »Nimm
Christus aus den Schriften – was wirst du in ihnen finden?«33 Für
Luther war es trotz der Vielfalt der literarischen Formen und the-
matischen Schwerpunkte »ungetzweyfflet, das die ganze schrifft
auff Christum allein ist gericht«.34 Darum ist auch das Evangelium
der Fluchtpunkt, in dem sich alle durchaus verschiedenen Über-
lieferungslinien der biblischen Zeugnisse schneiden. Von diesem
Fluchtpunkt her ist die Vielfalt der Christuszeugnisse in der
Schrift verstehbar und ertragbar.
»Drumb ist es alles ein Evangelion, was man predigt von Christo, wie wol
eyner eyn andere weiß furet, […] das Christus unßer heyland ist, und wyr
durch den glawben an yhn on unßere Werck rechtfertig und selig werden,
so ist es eynerley wortt und eyn Evangelion«35.

Aussagen wie diese machen rasch den Zusammenhang zwischen


dem sola scriptura und den anderen sog. particulae exclusivae der
Dokuments ist nicht zulässig.

reformatorischen Theologie klar, der in vielen Zusammenhängen


nachweisbar ist. Das Evangelium von Christus zielt auf den Glau-
ben, also auf jene an der äußeren Klarheit der Schrift gewonnene
innere Klarheit, die dem Glaubenden die kategoriale Unterschei-
dung von Gottes Werk und menschlichem Werk in der Rechtfer-
tigung deutlich macht.
Diese Beziehung zwischen dem Christuszeugnis der Schrift in
der Vielfalt seiner Ausprägungen, der Ausrichtung auf den Glau-
32
 Vgl. WA 18, 614, LDStA 1, 247, 39–249, 42.
33
 LDStA 1, 237, 1–2. WA 18, 606, 29: »Tolle Christum e scripturis, quid
amplius in illis invenies?«
34
 WA 10/2, 73, 16.
35
 Epistel S. Petri gepredigt und ausgelegt. Erste Bearbeitung 1523, WA 12,
260, 1–6.
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  13
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ben, die Christus als die Gnadenzusage Gottes in Person erfasst,


hat Luther als Fluchtpunkt der ganzen Schrift gesehen. Sie be-
ginnt für ihn – wie Reinhard Schwarz kürzlich betont hat36 – mit
dem sog. Protevangelium in der Erzählung vom sog. Sündenfall.
Luthers Auslegung ist zugleich ein Beispiel für das Zusammen-
spiel von philologisch genauer Exegese und theologischer Schrift-
auslegung. Die Vulgata bezieht das Fluchwort über die Schlange
in Gen 3, 15b »wird dir den Kopf zertreten und du wirst an der
Ferse treffen« auf die Frau (mulier) und übersetzt so »ipsa conteret
caput tuum et tu insidiaberis calcaneo eius«, das maskuline Rela-
tivpronomen und die ebenso maskuline Verbform als Femininum
auffassend. Das bot an dieser Stelle Anlass für eine mariologische
Deutung, die Luther bis 1520 mitvollzogen hat. 1521 vollzieht er
stillschweigend die sprachliche Korrektur. Erst später, etwa in der
großen Genesis-Vorlesung, kritisiert er scharf die Überdeckung
der für ihn entscheidenden christologischen Deutung durch eine
mariologische Interpretation.37 Was gewinnt Luther durch die In-
terpretation von Gen 3, 15 als die messianische Verheißung, die
den Rahmen für alle weiteren messianischen Verheißungen ab-
gibt? Luther hat damit im Text der Schrift den Hinweis gefunden,
dass die gesamte Heilsökonomie von Anfang an in Christus ihren
Fluchtpunkt hat und somit auch von Anfang an Gott als der Gott
des Evangeliums, der promissio, in der Geschichte wirkt und so-
mit auch diese Verheißung Glauben gefunden hat. Schwarz macht
Dokuments ist nicht zulässig.

auf eine Randglosse auf Gen 3, 15 seit 1523 aufmerksam, die dies
auf den Punkt bringt:
»Dis ist das erst Euangelium und Verheissung von Christo geschehen
auff Erden, Das er solt, Sünd, Tod und Helle uberwinden und uns von
der Schlangen gewalt selig machen. Dar an Adam gleubet mit allen seinen
Nachkomen, Dauon er Christen und selig worden ist von seinem Fall«38.

36 Vgl. Schwarz, Martin Luther (wie Anm. 13), 48–52.


37
 »Quis non miretur, imo non ececretur Satanae malignum concilium, qui
hunc locum, plenissimum consolationis de Filio Dei, per ineptos Interpretes
transtulit ad Mariam virginem? Nam in omnibus latinis Bibliis ponitur pro-
nomen in feminino genere.« (WA 42, 143, 8–12).
38
 Luther bezieht sich in der Randglosse auf das »Der selb«, was die Vulgata
mit »illa« übersetzt und auf Maria bezogen hatte, WA.DB 8, 45.
14  Christoph Schwöbel
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Programmatisch und in Thesenform zusammengefasst ist das in


einer Promotionsdisputation aus dem Jahr 1542:
»1. Ein und derselbe Gott ist von Anbeginn der Welt auf ver-
schiedene Weise durch den Glauben an denselben Christus
verehrt worden.
  2. Es ist gewiss, dass Adam und Eva auf den verheißenen Nach-
kommen der Frau [Gen 3, 15], d. h. auf Gott, der die Ver-
heißung gegeben hat, vertraut haben.
Nachdem Thesen 3 und 4 auf Abel und Abraham verwiesen haben,
fasst Luther in These 5 zusammen:
  5. Der Glaube an dieselbe Verheißung wurde durch andere Per-
sonen und zu anderen Zeiten erneuert.
Thesen 9 bis 11 stellen dann den Gesamtzusammenhang dar:
  9. Im Laufe der Zeiten haben jene verschiedenen Weisen, auf den
verheißenen Nachkommen oder auf den einen Christus zu
vertrauen ein Ende genommen,
10. wie auch der christliche Glaube selbst, der in der letzten Zeit
des Evangeliums erneuert worden ist, am Ende der Zeiten auf-
hören wird,
11. so dass in voller Wahrheit jenes Wort feststeht: Christus Jesus
gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit, Hebr. 13
[V.8]«39
Dokuments ist nicht zulässig.

Die Bibel, die für Luther wie für die ganze vormoderne Tradition
das Weltbuch ist, das von Alpha bis Omega den ganzen Verlauf
der Geschichte umfasst, ist durch das Protevangelium nicht nur in
seiner Ganzheit Christusbuch, sondern auch das Buch von Ver-

39
 Schwarz, Martin Luther (wie Anm. 13), 54 stellt den lateinischen Text
nach und seine Übersetzung, die wir hier zitieren nebeneinander. Der latei-
nische Text lautet: »1. Unus et idem Deus ab initio mundi variis modis per
fidem in eundem Christum cultus est. 2. Certum est, Adam et Hevam in
semen mulieris promissum [Gen 3, 15], id est, in Deum promissorem credidis-
se. … 5. Aliis quidem personis aliisque temporibus eiusdem promissionis fides
renovata est … 9. Desierunt per tempora varii illi modi credendi in semen
promissum seu in eundem Christum. 10. Sicut et ipsa christiana fides novissimo
tempore Evangelii innovata desinet in fine mundi, 11. Ut stet illud verissime
dictum: Christus Iesus heri et hodie, ipse et in saecula, [Hebr 13 [V. 8]]« Dis-
putation über Hebr 13, 8, 7. 7. 1542, WA 39/2, 187, 4–188, 6.
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  15
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heißung und Glaube. Alle weiteren Distinktionen wie die von


Gesetz und Evangelium, Altem und Neuem Testament fügen sich
in diesen Rahmen.
Die Beziehung der Schrift auf Christus als Fluchtpunkt hat eine
Reihe von wichtigen Konsequenzen. Auf der einen Seite kann
Luther von hier aus sehr deutlich die einzelnen Bücher der Schrift
nach ihrem Christusbezug bewerten.
Auch ist das der rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man
sihet, ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum
zeyget Ro. 3. vnnd Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor. 2.
Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus
odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch,
wens gleych Judas, Annas, Pilatus vnd Herodes thett.40

In diesem Kriterium sind Luthers z. T. recht harte Urteile über den
Jakobusbrief oder auch den 1. Petrusbrief begründet. Ja, Luther
geht so weit, dass sich an diesem Kriterium zeigt, dass der Kanon
nicht formell abgeschlossen sein kann, sondern das als Kanon
akzeptiert wird, was sich in der Kirche im Schriftgebrauch, vor
allem im Gottesdienst, bewährt hat. Daran zeigt sich, dass Ernst
Käsemanns Rede vom »Kanon im Kanon« zumindest missver-
ständlich ist, denn es ist Christus als Fluchtpunkt, der die Wertung
der Grenzen des Kanons bestimmt. Ebenso ist die Rede von der
»Mitte der Schrift« hier durchaus problematisch, denn auf Chris-
tus als Fluchtpunkt können für Luther auch Texte verweisen, die
Dokuments ist nicht zulässig.

andernfalls als peripher gelten müssten. Christus als Fluchtpunkt –


das bedeutet, dass es nicht ein Theologoumenon in der Schrift
ist, das Kanonizität oder Zentralität beansprucht, sondern nach
Luther der Referenzpunkt aller Theologoumena, der »außerhalb«
der Schriften ist, sofern Christus nicht mit einem Schriftelement
identisch ist und »innerhalb« der Schrift, wenn Christus die Schrift
als Kommunikationsmedium seiner selbst gebraucht.
Wenn für Luther Christus der Fluchtpunkt der Schrift ist, so ist
weiter zu bedenken, dass kein anderer Christus ist als der, den er in
seiner radikalen Christologie der Personeinheit lehrmäßig entfaltet
und zum Zentrum seiner Sakramentstheologie macht. Dass das
Wort Gottes im Menschenwort zur Sprache kommt, ist insofern
40
 WA. DB 7, 384, 26.
16  Christoph Schwöbel
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immer von der Einheit der Gottheit und Menschheit in der Per-
son Christi her zu verstehen. Die Inkarnation als die Heiligung
der menschlichen Kommunikationsmittel, die Luther vor allem in
seiner Theologie des Abendmahls entfaltet, ist auch die Grundlage
für den Christusbezug der Schrift.41

2.4. »Du musst scripturam sacram nicht stückweise


ansehen, sed integram«42
Durch diesen gemeinsamen Fluchtpunkt, der die gesamte Heils-
geschichte auf Christus bezieht, ergibt sich für Luther, dass die
Schrift nicht fragmentiert werden darf. Sie ist immer eine inter-
textuelle Einheit und diese Einheit ist durch den Bezug auf Chris-
tus konstituiert. Die Beziehung auf Christus als Fluchtpunkt
erhält also die Pluralität der Zeugnisse, ihrer unterschiedlichen
Stimmen in ihren Texten und ihren jeweiligen Kontexten.

2.5. viva vox evangelii


Beginnt die Schrift in dieser Weise vor der Schrift und weist über
sich hinaus, hat sie auch ihren Zielpunkt nicht in sich selbst. Lu-
ther hat dem in der Beziehung der Schrift auf die mündliche Ver-
kündigung markanten Ausdruck verliehen. Die Schrift kommt in
dieser Weise aus der Verkündigung und geht in die Verkündigung
über. Sie ist Medium des Evangeliums als der Christuspräsenz,
Dokuments ist nicht zulässig.

aber in ihrer schriftlichen Form nicht dessen eigentlicher Ort.


[D]arumb ists gar nicht new testamentisch, bucher schreyben von Christ-
licher lere, ßondern es solten on bucher an allen orttern seyn gutte, geler-
te, geystliche, vleyssige prediger, die das lebendige wortt auß der allten
schrifft tzogen und on unterlaß dem volck furbleweten, wie die Apos-
teln than haben. Denn ehe sie schrieben, hatten sie tzuuor die leutt mitt
leyplicher stymme bepredigt und bekeret.43
41
 Vgl. Christoph Schwöbel, Tamquam visibile verbum. Kommunikative
Sakramentalität und leibhaftes Personsein, in: Elisabeth Gräb-Schmidt  / ​
Matthias Heesch / ​Friedrich Lohmann / ​Dorothee Schlenke / ​Chris-
toph Seibert (Hg.), Leibhaftes Personsein. Theologische und interdiszipli-
näre Perspektiven. FS Eilert Herms, Leipzig 2015 (Marburger Theologische
Studien 123), 197–210.
42
 Predigten des Jahres 1539, WA 47, 681, 1–2.
43 WA 10/I/1, 626, 15–20.
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  17
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Diese Privilegierung der mündlichen Kommunikationssituation


deutet auf den engen Zusammenhang zwischen der Schrift und
ihrem Gebrauch in mündlicher Auslegung und Zusage hin. Die
mündliche Kommunikationssituation ist eine Situation leibli-
cher Kopräsenz. Sie entspricht insofern der Situation der gottes-
dienstlichen Feier in Wort und Sakrament. Zwar ist es richtig,
dass Luther das Alte Testament, dem Sprachgebrauch des Neuen
Testaments folgend, primär als Schrift gesehen hat. Jedoch ist es
auffällig, dass er auch hier eine mündliche personale Kommunika-
tionssituation immer dann hervorhebt, wenn der Christusbezug
in den Vordergrund tritt. Das wird besonders dort deutlich, wo
Luther zu dem Mittel prosopographischer Exegese44 greift, also
eine personbezogene Kommunikationssituation als Muster der
Auslegung entfaltet.

2.6. »… das in Gott ein Gesprech oder Wort sey«45


Die Schrift setzt bei Luther theologisch betrachtet einen Kom-
munikationszusammenhang voraus und zielt auf ihn ab, der die
Schriftlichkeit überschreitet. Die Einfassung der Schrift in diesen
Kommunikationszusammenhang ist daher der Schlüssel zu ihrem
Verständnis als »principium« und zu ihrem Gebrauch.
Der Ankerpunkt dieses Kommunikationszusammenhangs ist
das kommunikative Wesen Gottes selbst. Luthers Insistieren da-
Dokuments ist nicht zulässig.

rauf, dass Gott nicht abgesehen von seinem Wort in seiner nackten
Majestät erkannt werden will, hat nichts anderes zum Hinter-
grund, als dass Gott in Ewigkeit ein Gespräch ist. Das Johannes-
evangelium ist ihm dafür der wichtigste Zeuge.
»Denn allhie sagt er von einem gesprech, so gehalten wird in der Gottheit
(ausser allen Creaturn) und setzet einen Predig stul, da beide ist, der da
redet, und der da zuhoret, Machet den Vater zum Prediger, den Heiligen
Geist aber zum Zuhörer«46.

44 Vgl. Christine Helmer, Luther’s Trinitarian Hermeneutic of the Old

Testament, in: Modern Theology 18 (2002) 49–73.


45
 WA 46, 546, 23.
46 WA 46, 59, 17–20.
18  Christoph Schwöbel
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Für Luther ist dies keine Metapher. Die Einheit des Wesens Gottes
mit dem Gespräch, das Gott ist, wird darum nachdrücklich fest-
gehalten:
»Aber dieses alles, sprechen, gesprochen werden und zu hören geschicht
alles jnnerthalb der Göttlichen natur und bleibet auch allein jnn derselben,
da gar kein Creatur nicht ist noch sein kan, sondern beide, sprecher und
Wort und Hörer, mus Gott selbs sein. Alle drey gleich ewig und jnn
ungesonderter einiger Maiestet, Denn jnn dem Göttlichen wesen ist kein
enderung noch ungleichheit und weder anfang noch ende, Das man nicht
sagen kan, das der Hörer etwas ausser Gott sey oder angefangen habe ein
Hörer zu werden, Sondern gleich wie der Vater ein ewiger Sprecher ist, der
Son jnn ewigkeit gesprochen wird, ist, also der heilige Geist von ewigkeit
der Zuhörer«47.
Ist Christus das in Ewigkeit gesprochene Wort, das als inkarnier-
tes Wort in der Geschichte wirksam ist als leibliche Gestalt des
ewigen Wortes, so ist der Geist der ewige Zuhörer, der das, was er
im ewigen Gespräch der Trinität hört, den Menschen verkündigt
und damit das hörbare und in den Sakramenten sichtbar erfahr-
bare Wort Christi im Herzen zur Gewissheit werden lässt.48 Diese
aufeinander bezogene doppelte Vermittlung von Gottes ewigem
Gespräch in die Zeit ist der Ankerpunkt des Zusammenhangs
von Wort und Geist, den Luther gegenüber dem spiritualistischen
Flügel der Reformation immer wieder einprägt.
»Sihe, das ists, so er gesagt, das der heilige Geist sol reden und verkündigen
Dokuments ist nicht zulässig.

nicht anders, denn was er höret, nemlich jnn der ewigen Gottheit bey
Christo und dem Vater, da ers allein sihet und weis, wie es zu gehet, Euch
aber (spricht er) sol ers verkündigen, erstlich jns hertz und darnach durch
ewern mund, das es also gegleubet werde, Bis so lang das wir auch dahin
kommen, da wirs werden offenbarlich anschawen«49.
Albrecht Beutel hat bei Luther vier Gestalten des Wortes Gottes
unterschieden: das innertrinitarische verbum aeternum, das ver-
bum creatum, dem zufolge Gott, der durch das Wort schafft, die
47
 WA 46, 59, 35–60, 6.
48
 Zu Luthers Trinitätslehre vgl. Christoph Schwöbel, The Triune God
of Grace. The Doctrine of the Trinity in the Theology of the Reformers, in:
James M. Byrne (Hg.), The Christian Understanding of God Today, Dublin
1993, 49–64.
49 WA 46, 68, 3–8.
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  19
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Dinge (res) als vocabula oder dictiones Dei schafft, als Bedeu-
tungsträger in ihrem geschöpflichen Sein, das verbum scriptum
der Schrift und das verbum praedicatum des menschlichen Zeug-
nisses. In dieser Weise ist das kommunikative Beziehungsgesche-
hen zwischen dem deus loquens und dem homo audiens intern
gegliedert.50 Luthers Charakterisierung dieses »Wortgeschehens«
als »Gespräch« weist darüber hinaus noch auf einen anderen Zu-
sammenhang hin. Das Gespräch, das Gott ist und in das er durch
Christus und den Geist seine Geschöpfe hineinzieht, indem er
das Hören und das Antworten ermöglicht, hat grundsätzlich dia-
logischen Charakter. Diese Abkehr von der Monologizität ist auch
für das Schriftprinzip und die Schriftauslegung in der Theologie
Luthers von höchster Bedeutung. Luther ersetzt nicht eine mono-
logische Kommunikationsstruktur durch eine andere, die Lehr-
autorität der Kirche durch die Autorität der Schrift, sondern deckt
den Charakter der Autorität der Schrift als einen dialogischen auf.
Das ist nirgends klarer formuliert als in der sog. »Torgauer Kirch-
weihpredigt«51: »auff das dis newe Haus dahin gericht werde, das
nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit
uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden
durch Gebet und Lobgesang«.

2.7. Sola Scriptura?


Dokuments ist nicht zulässig.

Wir haben mit diesen sechs Punkten versucht, das Schriftprinzip


in seinen theologischen Bedeutungsdimensionen bei Luther zu
skizzieren. Dabei ist deutlich geworden, dass das Schriftprinzip
nur im Zusammenhang einer Theologie der Heiligen Schrift voll-

50
 Vgl. Albrecht Beutel, Wort Gottes, in: ders. (Hg.), Luther Handbuch,
Tübingen 22010, 362–371. Grundlegend ist die Monographie: Albrecht Beutel,
In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh
27), 1991.
51 WA 49, 588–615, hier: 588, 12–18. Vgl. Christopher Spehr, Luthers

Theologie des Gottesdienstes, in: Hans-Joachim Eckstein / ​Ulrich He-


ckel / ​Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Gottesdienst. Der evangelische
Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2011, 85–103. Zum Ver-
such einer systematischen Entfaltung dieses Gottesdienstverständnisses vgl. im
selben Band: Christoph Schwöbel, Was ist ein Gottesdienst? Theologische
Kriterien zur gottesdienstlichen Feier, a. a. O., 145–165.
20  Christoph Schwöbel
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ständig charakterisiert werden kann. Die Schrift ist für Luther


in ihrem Gebrauch in der christlichen Kirche ein notwendiges
Mittel der Selbstvergegenwärtigung Gottes durch Christus und
im Geist. Wird damit einerseits die Fundamentalität der Schrift be-
gründet, so erscheint sie doch andererseits auch in ihrer Relativität.
Nur in ihren Beziehungen auf Christus als den Fluchtpunkt der
Zeugnisse der Schrift und der Heilsgeschichte, der die Einheit in
der Pluralität der Schriftzeugnisse verstehbar macht, nur in der
Beziehung auf die mündliche Verkündigung des Evangeliums und
seine Annahme in der durch den Geist gewirkten Gewissheit über
die Wahrheit des Christuszeugnisses hat die Schrift die heraus-
ragende Bedeutung, die Luther ihr zuschreibt. Nur wenn sie als
Medium der Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes im
Gebrauch ist, ist die Schrift von der Menschensatzung klar zu
unterscheiden und verweist sie auf einen Modus des Gehorsams,
der von äußerem Autoritätsgehorsam dadurch unterschieden ist,
dass er auf der Wahrheit des sich selbstvergegenwärtigenden Got-
tes ruht, die durch die äußere Klarheit der Schrift in ihrer vom
Geist gewirkten inneren Klarheit Gewissheit schafft. Nur in dieser
Relativierung, in der In-Beziehung-Setzung zur Selbstmitteilung
des dreieinigen Gottes, der die Wahrheit ist, kann auch gezeigt
werden, dass das Schriftprinzip auf den Grund der Freiheit hin-
weist, das geschenkte Gewisswerden der Wahrheit Gottes, die von
allen anderen Autoritätsansprüchen befreit und den Menschen in
Dokuments ist nicht zulässig.

die Situation der Verantwortung gegenüber dem ihn anredenden


und in Verantwortung nehmenden Gott versetzt. In dieser in der
Gewissheit der Wahrheit begründeten Freiheit hat evangelischer
Glaube sein Profil.
Dabei ist zugleich klar geworden, dass für Luther, die Sache der
Schrift nicht einfach von den Worten der Schrift zu trennen ist, so
dass – wie bei Pannenberg – die Sache als etwas hinter den Worten
zu suchendes zu begreifen ist. Vielmehr impliziert der Christus-
bezug der Schrift, der Bezug der Schrift auf das verbum incarna-
tum, dass die »Sache« nur durch die »Worte«, die auf Christus,
das Mensch gewordene Wort Gottes verweisen, erfasst werden
kann. Luthers Schöpfungslehre, die die Sachen der Schöpfung als
»vocabula« Gottes erklärt, die ihren letzten Grund im innertrini-
tarischen Gespräch haben, macht deutlich, dass ohne die verba die
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  21
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res nicht erfasst werden kann, denn die res sind ja selbst die verba
des Schöpfers. Ebenso wird man Falk Wagners Vorschlag, zwi-
schen dem historischen Anfang und dem systematischen Grund
des Christentums zu unterscheiden, aus der Sicht der Theologie
Luthers nicht zustimmen können, denn der systematische Grund
des Christentums erschließt sich ja gerade in seiner erfahrenen
und erzählten Geschichte  – und nicht abgesehen von ihr. Nicht
ein Begriff des Christentums erschließt also den Zugang zu den
Texten, sondern das trinitarische christliche Gottesverständnis,
das es nicht ermöglicht, dass »das christologische Subjekt allein
als nicht-sinnlicher gedanklicher Gehalt« (Falk Wagners Version
des sola) erfasst werden könnte, abgesehen von der leiblichen und
darum sinnlichen Selbstvergegenwärtigung des Schöpferlogos im
Medium menschlicher Erfahrung, wie sie in der Schrift bezeugt
ist. Dafür, dass es die Offenbarung des trinitarischen Gottes ist,
die den Begriff des Christentums, gerade in seiner geschichtlichen
Vermittlung als der »offenbaren Religion« konstituiert, könnte
man sich übrigens auch auf Wagners Kronzeugen Hegel berufen.
Wird die Bedeutung der Schrift so erfasst, muss sofort auch
betont werden, dass das Schriftprinzip seinen primären Kontext
in der Heilskommunikation hat. Das ist es, was bei Luther den
Christusbezug, den Bezug auf den Glauben und die kommunizier-
te Gnade mit dem sola scriptura verbindet. Die Rolle der Schrift
in der Beschreibung des fundamentum fidei, ihre theologische
Dokuments ist nicht zulässig.

Begründung und ihre soteriologische Pointe steht bei Luther


im Vordergrund. Dieses Verständnis der Schrift verweist auf die
Unterscheidung zwischen dem opus Dei und den opera homi-
num, die Luther als erstes Kennzeichen des frommen christlichen
Lebens anführt. Man kann an den Diskussionen der lutherischen
Orthodoxie nachvollziehen, wie dieser soteriologisch pointierte
Schriftbezug, der durch die Verankerung der Schriftlehre in der
Gotteslehre begründet wird, schrittweise durch den Verweis auf
die Schrift als »die einige Regel und Richtschnur, nach welcher
alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen«52
ersetzt wird. Besteht aber diese Funktion der Schrift als norma
normans nicht gerade darin zu überprüfen, ob die Lehren und

52 Konkordienbuch, Epitome 1, 1. BSELK 767, 14.


22  Christoph Schwöbel
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Lehrer die Kommunikation des Heils vermittelt durch das Zeug-


nis der Schrift und ihren gottesdienstlichen Gebrauch lehrmäßig
richtig entfalten? Findet diese theologische Relativierung, die wir
zum Leitfaden unserer Überlegung gemacht haben, nicht auch da-
durch ihren Ausdruck, dass die lutherischen Bekenntnisschriften
mit dem dreieinigen Gott beginnen und nicht wie die refomierten
Bekenntnisse, ob nun die Confessio Helvetica prior (1536) und
posterior (1564), die Confessio Scotica (1560), Belgica oder die
Westminster Confession (1647) mit einem Artikel über die Schrift?
Wenn die Autorität der Schrift in ihrer theologischen Relati-
vierung liegt, was bedeutet dann noch das »sola scriptura«? Solche
Exklusivitätsformulierungen werden in der Reformation – poin-
tiert in Melanchthons Apologie – verwendet, um darauf hinzuwei-
sen, dass die als exklusiv bezeichnete Größe nicht durch andere
gleichrangige, auf derselben Ebene und in demselben Sinn, ergänzt
werden kann, weil sie als Werk Gottes suffizient ist und keiner
Ergänzung fähig und bedürftig ist, ja gänzlich falsch verstanden
würde, wenn das göttliche Werk mit einem menschlichen Werk
vermischt würde.53 In diesem Sinn gilt, dass wir allein durch Chris-
tus gerechtfertigt sind und nicht durch hinzukommende mensch-
liche Kräfte, allein durch Gnade und nicht durch unterstützende
Verdienste, allein aus Glaube und nicht durch aus dem Glauben
folgende menschliche Werke der Liebe. In diesem Sinne kann
gelten, dass allein die Schrift und nicht eine Form der »Menschen-
Dokuments ist nicht zulässig.

satzung« das Fundament des Glaubens ursprünglich bezeugt. Nur


in ihrem streng theologischen Verständnis als das von Gott be-
stimmte und immer wieder neu zur Wirkung gebrachte Werkzeug
seiner Selbstvergegenwärtigung durch Christus im Heiligen Geist
kann für die Schrift Exklusivität behauptet werden. Gleichzeitig
ist aber auch deutlich, dass das sola in Bezug auf die scriptura
an ihrem Zusammenhang mit den anderen particulae exclusivae

53 Vgl. Eberhard Jüngel, Der gerechtfertigte Sünder. Zur Bedeutung der

(reformatorischen) Exklusivpartikel, in: ders., Das Evangelium von der Recht-


fertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998,
126–219. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Entwicklung in Luthers
Theologie vgl. Volker Leppin, Art. Ausschließlichkeitsformeln, in: Volker
Leppin / ​Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regens-
burg 22015, 90–94.
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hängt. Nur in ihrem Zusammenhang können sie das fundamentum


fidei angemessen zur Sprache bringen.
Während so verständlich gemacht werden kann, warum kein
»und« eine Größe gleichrangig, auf derselben Ebene und in dem-
selben Sinn, neben die Schrift stellen kann und sich insofern die
Ablehnung der tridentinischen Formel (»in libris scriptis et sine
scripto traditionibus«, die »pari pietatis affectu ac reverentia«54)
begründen lässt, ist in Luthers Theologie immer klar, dass er sich
sowohl bewusst ist, dass die Schrift sich Traditionsprozessen ver-
dankt, als auch von den Traditionen der Kirche reichlich Gebrauch
machen konnte, sofern sie als der Schrift untergeordnete und sie
auslegende Traditionen verstanden wurden. In seinem konkre-
ten Schriftgebrauch kann er sich darum die reichen Traditionen
altkirchlicher und mittelalterlicher Schriftauslegung zunutze
machen.55 Dabei liegt ihm besonders an dem – oft mit Augustin
oder Hilarius – geführten Traditionsbeweis, dass die Kirchenväter
selbst die Tradition der Schrift unterstellten.56 Paul R. Hinlicki hat
kürzlich vorgeschlagen, in diesem Sinne nicht von sola, sondern
von prima scriptura zu sprechen.57 Stellt man die Frage, wo die
besondere Stellung der Schrift im Sinne von Luthers theologischer
Begründung besonders klar hervortritt, ist man wiederum auf Lu-
thers Theologie des Gottesdienstes gewiesen, insofern hier die
Schrift in den Dienst von Gottes Dienst an uns in Wort und Gabe
genommen wird.58
Dokuments ist nicht zulässig.

54 DH 1501. Die Interpretation des tridentinischen Textes wirft die Frage

auf, ob hier wirklich über dasselbe gesprochen wird wie im reformatorischen


Schriftprinzip, eine Frage, die in der neueren ökumenischen Diskussion aus-
führlich kontrovers diskutiert worden ist. Vgl. z. B. Peter Knauer, Schrift
und Überlieferung, in: Ökumenisches Forum  – Grazer Hefte für konkrete
Ökumene 3 (1980) 21–32.
55 Eine instruktive Übersicht gibt: Erik Herrmann, Luther’s Absorption

of Medieval Biblical Interpretation and His Use of the Church Fathers, in:
Robert Kolb / ​Irene Dingel / ​Lubomir Batka (Hg.), The Oxford Hand-
book of Martin Luther’s Theology, Oxford 2014, 71–90.
56
 Vgl. exemplarisch für viele andere Stellen die Assertio omnium articulo-
rum, WA 7, 99; LDStA 1, 84/85.
57 Vgl. Paul R. Hinlicky, Beloved Community. Critical Dogmatics after

Christendom, Grand Rapids MI / ​Cambridge 2015, 171–190.


58
 Vgl. die klassische Studie von Vilmos Vajta, Theologie des Gottes-
dienstes bei Martin Luther (FKDG 1), Göttingen 21954.
24  Christoph Schwöbel
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3. Inspirationen von Luthers Theologie der Schrift

Fragen wir abschließend, welche Inspirationen Luthers Theologie


der Schrift und die von ihm praktizierten Formen des Schrift-
gebrauchs für die gegenwärtige theologische Praxis des Schrift-
gebrauchs geben kann, fallen drei Aspekte sofort ins Auge: Inter-
textualität, Dialogizität und Performativität. Von Inspirationen
ist hier zu sprechen, insofern es nicht möglich ist, über einen Zeit-
raum von 500 Jahren der Schrifttheologie Luthers eine normative
Bedeutung zuzusprechen. Sehr wohl aber können Luthers Ein-
sichten aus der Zeit des Anfangs evangelischer Schriftauslegung
Anregungen für die theologische Reflexion des gegenwärtigen
Schriftgebrauchs in seinen unterschiedlichen Kontexten bieten.

3.1. Intertextualität: Schrifttexte im Gespräch


mit anderen Schrifttexten
Luthers Prinzip, dass die Schrift sui ipsius interpres sei, hat zur
Folge, dass er in vielen Kontexten der Schriftauslegung nicht
zunächst das Gespräch mit den anderen Schriftauslegern der Tra-
dition sucht, sondern die biblischen Texte mit anderen Texten ins
Gespräch bringt. Die Schrift wird insofern als ein Gesprächsraum
verstanden, indem die unterschiedlichen Texte aufeinander Bezug
nehmen. Dabei war er sich durchaus bewusst, dass er mit der inter-
Dokuments ist nicht zulässig.

textuellen Schriftauslegung an Formen des paulinischen Schrift-


gebrauchs anknüpfte. Das Gespräch mit der Schrift versucht
insofern an die Gespräche anzuknüpfen, die sich in der Schrift
finden. Der locus classicus dieser Form der Auslegung der Schrift
durch die Schrift ist Luthers Auslegung von Joh 1 im Gespräch
mit Gen 1. Für Luther war klar, dass er damit an einen wichtigen
Aspekt des Johannes-Prologs selbst anknüpft. Der Akzent auf
Luthers christozentrischem Schriftgebrauch verdeckt häufig, wie
vielfältig und in sich differenziert diese Bezugnahmen bei Luther
sind. Die Bibel in dieser Weise als Konversationsraum zu ver-
stehen, die durch ihren Gebrauch als Schrift in unterschiedlichen
Kontexten des Gottesdienstes, der Predigt, der Unterweisung
und der akademischen Disputation ins Gespräch gebracht wird,
deckt in der Schrift einen den Lesenden und Hörenden ins Ge-
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  25
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spräch ziehenden Duktus auf, der sich deutlich unterscheidet


von dem Gebrauch der Bibel als Geschichtsbuch, Lehrbuch oder
Rechtsbuch, wie er sich in späteren Phasen der Geschichte des
Protestantismus etabliert hat. An Luthers Schriftauslegungen ist
darum besonders anregend, wie er den gegenwärtig Hörenden
und Lesenden gleichsam eine Stimme im Gespräch der biblischen
Texte mit anderen biblischen Texten gibt. Dieses Gespräch erhält
seine klarste Struktur wiederum im Gottesdienst, weil hier die
Hörenden zu Redenden, Predigenden, Betenden und Singenden
werden.

3.2. Dialogizität: Die Einbeziehung der Lesenden


und Hörenden
Luthers theologische Verankerung der Schrift in der Selbstmit-
teilung des Gottes, der selbst ein Gespräch ist, mit seinem ge-
schöpflichen Ebenbild, führt dazu, dass er im Gesprächsraum der
Schrift dialogischen Gesprächssituationen besonderes Gewicht
gibt. Die Redevielfalt der biblischen Figuren ist Ausdruck der Art
und Weise, wie Gott durch Christus und den Geist, vermittels
des Gebrauchs der Schrift Menschen anspricht. Die biblische Fi-
gurenrede fungiert als impliziter oder expliziter Dialog mit Gott,
der durch direkte oder indirekte Erzählerrede die Figurenrede
bestimmt.59 Für die Erzählerrede, die in der Figurenrede durch
Dokuments ist nicht zulässig.

indirekte Kommunikation zum Ausdruck kommt, sind Luthers


Psalmenauslegungen besonders aufschlussreich, die z. T. genau das
erfüllen, was mit der treffenden Formulierung Bernd Janowskis
als »Konfliktgespräche mit Gott« charakterisiert worden ist.60 Für
die direkte Erzählerrede ist z. B. der große Genesiskommentar das
herausragende Beispiel. Das hermeneutische Modell, das hier zur
Anwendung kommt, ist nicht das der Applikation eines Textes auf

59 Zum Stichwort Dialogizität vgl. die bahnbrechende Arbeit Mikhail

Bakhtin, The Dialogic Imagination, trans. C. Emerson / ​M.  Holquist, Aus-


tin TX 1998. Vgl. zu den theologischen Aspekten: Alexandar Mihailovic,
Coporeal Words: Mikhail Bakhtin’s Theology of Discourse, Evanston, Ill.
1997.
60
 Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott: eine Anthropologie der
Psalmen, Neukirchen 32009.
26  Christoph Schwöbel
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die Situation der Lesenden und Hörenden, das durch die geist-
liche, moralische oder anagogische Übertragung erreicht wird,
vielmehr vollzieht sich die »Horizontverschmelzung« durch die
Einbeziehung der Lesenden und Hörenden in die Situation des
Schrifttextes. Die Auslegung vollzieht sich durch die Praxis des
Textes.

3.3. Performativität: Der Schriftauslegung als wirksame


Handlung und Passionalität
Die dialogische Einbeziehung der Lesenden und Hörenden in
das Gespräch, das die Schrift schon ist, enthält die Einladung zur
Handlung. Diese Handlung vollzieht sich in Identifikation oder
Distanzierung in Bezug auf die Figuren des Textes, durch die die
Lesenden und Hörenden in den Gesprächsraum des Textes ein-
treten  – und damit zugleich in das Gespräch mit anderen Aus-
legern. Wiederum erweist sich hier der Gottesdienst als das he-
rausragende Beispiel. Die gleichsam zitierten Sprachhandlungen
der Texte werden im Psalmgebet zur eigenen Sprechhandlung.
Gebet und Gesang antworten auf die unterschiedlichen Formen
der Anrede, in denen die Anrede Gottes an den Menschen be-
zeugend weitergegeben wird. Die Wirkung des Evangeliums ist
von Luther dabei oft so beschrieben, dass die Performativität des
Menschen gleichsam von aktiv auf passiv gewendet wird, wenn
Dokuments ist nicht zulässig.

das Evangelium den Menschen verwandelt. Performativität des


Evangeliums vollzieht am Menschen den Wandel, der nicht sein
eigenes Werk sein kann. Man könnte darin geradezu ein Beispiel
dafür sehen, wie der Schriftgebrauch des Menschen umschlägt in
den Gebrauch, den Gott von der Schrift macht. Luther hatte für
den Positionswechsel, der am Menschen vollzogen wird, wenn er
in das Wort des Evangeliums hineinkriecht, drastische Beispiele.
So wie eine Schlange, wenn sie sich häutet, ihre alte Haut vor
ihrem Schlangenloch abstreift, so wird auch der Mensch seiner
alten Existenzweise entkleidet.
»Alßo der mensch auch ynn das Euangelium und gottis wort sich begeben
muß, getrost folgen seyner tzusagung, er wirt nit liegen, ßo tzeucht er ab
seyn allte heutt, lest haussen seyn liecht, seyn dunckel, seyn willen, seyn
liebe, seyn lust, seyn reden, seyn wircken, und wirt alßo gantz eyn ander
Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch  27
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new mensch, der alle dinck anderß ansihet denn vorhynn, anderß richtet,
anderß urteylt, anderß dunckt, anderß will, anderß redt, anderß liebt,
anderß lust, anderß wirckt unnd feret denn vorhynn …«61
Dokuments ist nicht zulässig.

61 Kirchenpostille 1522, WA 10/1,1, 233,15–234, 1.


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Luthers Lehre vom unfreien Willen.


Ein Plädoyer
Friedrich Hermanni

Die Lehre vom unfreien Willen, die Luther in seiner gegen Erasmus
gerichteten systematisch-theologischen Hauptschrift De servo
arbitrio (1525)1 entwickelt hat, scheint die evangelische Theologie
in eine äußerst prekäre Lage zu bringen. Einerseits ist diese Lehre
untrennbar mit der Rechtfertigungslehre verknüpft. Denn wenn
der Sünder allein durch die Gnade Gottes gerechtfertigt werden
kann, besitzt er keine Freiheit an seiner Rechtfertigung auch nur
mitzuwirken. Wenn die Befreiung aus Sünde und Verlorenheit
ausschließlich vom barmherzigen Willen Gottes abhängt, muss
der Mensch ganz und gar unfähig sein, sich selbst zu befreien oder
zu seiner Befreiung beizutragen. Die Lehre von der Unfreiheit des
menschlichen Willens ist für Luther unverzichtbar, weil sie die
anthropologische Entsprechung des »sola gratia« ist. Ihr zu wider-
sprechen heißt deshalb nichts Geringeres, als die Rechtfertigungs-
lehre und damit die protestantische Identität zu untergraben.
Dokuments ist nicht zulässig.

Nun scheint die Lehre vom unfreien Willen aber andererseits zu


Konsequenzen zu führen, die auch für die evangelische Theologie
nur schwer annehmbar sind. Wenn der Mensch nichts tun kann,
um die göttliche Gnade zu erlangen, und wenn er ohne diese Gna-
de der Sünde nicht entrinnen kann, dann scheint er für seine Sünde
nicht verantwortlich zu sein. Zudem scheint Gott ungerecht zu
sein, wenn man wie Luther annimmt, dass er die nicht begnadeten
Menschen für Sünden, die sie nicht vermeiden können, mit ewiger
Verdammnis bestraft. Um diesen Konsequenzen zu entgehen, hat

1
 Luthers De servo arbitrio wird zitiert nach WA 18. Bei der Übersetzung
ins Deutsche folge ich in der Regel dem Band Martin Luther, Dass der freie
Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam, über-
setzt von Bruno Jordahn, München 31975.

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