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2019

Vom Jordan an den Tiber


Wie die Jesusbewegung in den Städten des Römischen Reiches ankam

von

Benjamin Schliesser

Das Christentum verbreitete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit.1 Da-


bei begann die Jesusbewegung ganz unscheinbar als ländliche Bewegung, in Na-
zaret, in Kapernaum und den anderen Bauern- und Fischerdörfern am Nord-
ufer des Sees Genezareth.2 Städte hat Jesus gemieden: Sepphoris, ein Steinwurf
von Nazareth entfernt, oder Tiberias, die Residenz des Herodes Antipas. Die
Städte und ihre Mächtigen brachten den Anhängern des Nazareners Verderben.
Von Tiberias aus organisierte Herodes die Ermordung Johannes des Täufers,
und Jesu einziger gesicherter Aufenthalt in einer Stadt führte in den Tod. »Da-
ran lässt sich nicht rütteln: Die Wiege der Jesusbewegung ist das ländliche Mi-
lieu in Galiläa.«3
Doch dann wendete sich das Blatt. Die Städte des Römischen Reiches, die
Verkehrs- und Handelsknotenpunkte wurden bald – nämlich kaum 10 Jahre
nach der Kreuzigung Jesu – zum Hotspot der Jesusbewegung.4 Die Zahl der
Städte, in denen es nachweislich oder mit an Sicherheit grenzender Wahr-

1
Erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung meiner Antrittsvorlesung
vom 3. Oktober 2017. – Dem Charakter einer Antrittsvorlesung folgend verstehen sich
die Ausführungen als unabgeschlossene Skizze, die Spuren legt für weitere Forschungen.
2
Vgl. M. Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum
in seiner Umwelt I (GNT 1/1), 2012, 15–17.
3
AaO 17.
4
Vgl. W. A. Meeks, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle
Paul, 1983, 11. Unterdessen hat sich das urbane Setting des frühen Christentums auch zu
einem Hotspot der Forschung entwickelt. Vgl. neben dem genannten Klassiker von
W. Meeks u. a. R. von Bendemann / M. Tiwald, Das frühe Christentum und die Stadt,
2012; S. Walton / P. R. Trebilco / D. W. Gill (Hg.), The Urban World and the First
Christians, 2017. Wichtig freilich der Einwurf in E. W. Stegemann / W. Stegemann,
Urchristliche Sozialgeschichte, 21997, 231 (u. a. gegen Meeks): »Allerdings wird man die
Abgrenzung gegenüber dem Land nicht zu scharf betonen dürfen. Tatsächlich waren
die antiken Städte von vielen kleineren und größeren Dörfern umgeben [. . .]. Auch die
neuere archäologische Erforschung der Antike kritisiert die generalisierende und verein-
fachende Unterscheidung zwischen Stadt und Land.« Kritisch auch T. A. Robinson,
Who Were the First Christians? Dismantling the Urban Thesis, 2017.

ZThK 116, 1–45 – DOI: 10.1628/zthk-2019-0002


ISSN 0044-3549 – © Mohr Siebeck 2019
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2 Benjamin Schliesser ZThK

scheinlichkeit um die erste Jahrhundertwende christliche Gemeinden gab, ist


beachtlich. Nach Jerusalem sind dies Damaskus, Cäsarea Maritima, Tyrus,
Antiochia am Orontes, dann Tarsus, Antiochia in Pisidien, Ephesus, Kolossä,
Laodicea, Hierapolis, Smyrna, Pergamum, Sardes, Philadelphia, Magnesia, Tral-
les, Thyatira, Troas, Philippi, Thessalonich, Beröa, Athen, Korinth, Rom und
Alexandria.5 Die Zahl der Christinnen und Christen im gesamten Römischen
Reich beläuft sich im Jahr 100 nach der Schätzung des Soziologen Rodney Stark
auf ca. 7.500, etwa 0,01% der Bevölkerung.6 Die Zahlengrößen scheinen ver-
nachlässigbar, doch fügen sie sich ein in ein exponentielles Wachstum, das un-
ter Konstantin zu einer Privilegierung des Christentums führen sollte.
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die ersten hundert Jah-
re der frühen Jesusbewegung, ohne allerdings die weitere Entwicklung aus dem
Blick zu verlieren. Im ersten Teil »Meilensteine der Forschung« kommen drei
Autoren zu Wort, die zugleich drei wissenschaftliche Disziplinen und drei
Forschungszeitalter repräsentieren: Der britische Historiker Edward Gibbon
(1737–1794), der deutsche Kirchengeschichtlicher Adolf von Harnack (1851–
1930) und der US-amerikanische Soziologe Rodney Stark (*1934).7 Der zweite
Teil fragt nach der Dynamik der Ausbreitung des Christentums in den urbanen
Zentren des Imperium Romanum. Ich greife ohne Anspruch auf Vollständigkeit
zwölf Momente heraus, die m. E. für die anfängliche Ausbreitungsdynamik
maßgeblich waren. Die innere Logik der Reihe orientiert sich an der Erkennt-
nis Adolf von Harnacks, dass sich das Christentum schon in seinen frühesten
Anfängen in der Lage zeigte, Gegensätze zu umgreifen (complexio opposito-
rum).8

5
Vgl. die Tabelle bei A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christen-
tums, 41924 (neu aufgelegt 2018), 622–624 (mit neutestamentlichen Belegen), aber auch
die erheblich kürzere Liste bei R. Stark, The Rise of Christianity. A Sociologist Recon-
siders History, 1996 (als Paperback unter dem Titel: The Rise of Christianity. How the
Obscure, Marginal Jesus Movement Became the Dominant Religious Force in the Wes-
tern World in a Few Centuries, 1997, 134).
6
Stark, Rise (s. Anm. 5), 7. B. Ehrman, The Triumph of Christianity. How a For-
bidden Religion Swept the World, 2018, 294, rechnet für die Jahrhundertwende mit einer
tendenziell höheren Zahl, ca. 7.000 bis 10.000. Vermerkt sei hier aber auch die grundle-
gende Skepsis Harnacks gegenüber absoluter Statistik (Harnack, Mission [s. Anm. 5],
V. 946).
7
Nicht zufällig stimmen die hier gewählten Gesprächspartner mit denen der Studie
von Jan Bremmer überein (J. Bremmer, The Rise of Christianity through the Eyes of
Gibbon, Harnack and Rodney Stark, 22010), handelt es sich bei ihnen doch um »three
iconic figures« (aaO 1f).
8
Vgl. Harnack, Mission (s. Anm. 5), 243 u. ö.
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I. Meilensteine der Forschung

Die großen altkirchlichen Historiographen und Theologen staunten angesichts


des sich in rasender Eile ausbreitenden Christentums. Euseb sieht eine göttliche
Kraft am Werke, wenn er auf die Myriaden Kirchen blickt, die »nicht an ver-
borgenen und unbekannten Plätzen, sondern besonders in den großen Städten
gebaut sind.«9 Auch Augustin bemüht die Kategorie des Wunders: Selbst wenn
einer die Wunder der Apostel leugnen sollte, so bliebe dennoch »dieses eine
gewaltige Wunder (unum grande miraculum), dass dann der Erdkreis den Ver-
kündern ihre Botschaft ohne jegliches Wunder geglaubt hätte.«10 Der Eindruck
der Kirchenväter gründet nicht in einer naiven Leichtgläubigkeit, sondern »be-
steht zu Recht« – so Harnack –,11 doch verlangt der Sachverhalt dem histori-
schen Bewusstsein gemäß eine historische Erklärung. Neben die Figur des
wunderbaren göttlichen Eingreifens in den Lauf der Geschichte wurden bis in
jüngere Zeit Verfallstheorien gestellt. Der politische, religiöse, soziale und ethi-
sche Niedergang des Römischen Reiches habe dem Christentum den Boden
bereitet und die Herzen der Menschen geöffnet.12 Der Altphilologe Eric Ro-
bertson Dodds sprach gar von einem »Zeitalter der Angst« im 2. und 3. Jahr-
hundert,13 in dem die Menschen intellektuell verarmt, materiell verunsichert,
emotional verwirrt und religiös überfordert waren. Das zugrundeliegende Ge-
schichtsbild ist historisch wie methodisch angreifbar,14 da es in einer Art »mir-
ror reading« von der Annahme ausgeht, dass das, was das Christentum (mut-
maßlich) zu bieten hat, in der Mehrheitsgesellschaft gefehlt haben musste.

I.1. Edward Gibbon

Eine ausgeprägte Verfallstheorie findet sich auch im monumentalen Entwurf


von Edward Gibbon, der die Reihe der »Meilensteine« eröffnet. Gibbon war
eine Lichtgestalt der europäischen Geistesgeschichte, zeitweise auch Abgeord-

9
Euseb, Theophanie 5,49 (GCS Eusebius III, 2, H. Gressmann). Vgl. auch Har-
nack, Mission (s. Anm. 5), 542.
10
Augustin, De civitate Dei 22,5 (BKV).
11
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 956.
12
Vgl. K. S. Latourette, A History of the Expansion of Christianity, Bd. 1: The
First Five Centuries, 1937, 11; K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, 161981,
92.
13
E. R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Some aspects of religious
experience from Marcus Aurelius to Constantine, 1965.
14
Vgl. die scharfe Replik bei P. Brown, Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte
der Spätantike, 1986, 19f.
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neter des britischen Unterhauses.15 Standesgemäß studierte er am Magdalen


College in Oxford. Im Alter von 16 Jahren konvertierte er zum Katholizismus
und musste das College umgehend verlassen. Im Bemühen, den Sohn wieder auf
die richtige, reformierte Bahn zu bringen, schickte ihn sein Vater nach Lausan-
ne – mit Erfolg: Gibbon wurde wieder protestantisch. Von 1763 bis 1765 unter-
nahm er eine große Bildungsreise durch Europa. Auf dem Kapitol in Rom kam
ihm der Gedanke, ein monumentales Werk zum »Verfall und Untergang des
Römischen Imperiums« zu verfassen, das zwischen 1776 und 1789 in sechs
Bänden erschien.16 Ein Klassiker der Geschichtsschreibung, gelehrt, gewandt,
gewitzt. Nach Theodor Mommsen »das bedeutendste Werk, das je über die rö-
mische Geschichte geschrieben wurde.« Unterdessen war Gibbons protestanti-
sche Gesinnung einem Skeptizismus gewichen, der sich schon im ersten Band
zeigt. Mommsen ergänzte daher seine Einschätzung: »In gelehrter Beziehung
wird es überschätzt, auch ist es parteiisch [. . .], da Gibbon Atheist ist.«17 Gib-
bons Kritiker spuckten Gift und Galle, forderten ihn zu einem Glaubensbe-
kenntnis auf und verunglimpften ihn durch Plagiatsvorwürfe und den Verweis
auf angeblich schlampige Recherche.18
Gibbon war überzeugt, dass das aufkommende Christentum für den Nieder-
gang des Römischen Reiches verantwortlich zu machen sei. Während die Theo-
logen ihre Religion so beschreiben können, »wie sie einst in ihrem ursprünglichen
Gewand der Reinheit vom Himmel herniederstieg«, sei es die »schmerzliche
Pflicht« der Historiker, »die unvermeidliche Mixtur von Irrtum und Verfäl-
schung auf[zu]zeigen, von der sie während eines langen Aufenthaltes auf Erden
unter einem so schwachen und degenerierten Menschengeschlecht befleckt wur-
de« (440). Nicht nur die subtile Stichelei gegen die Theologen springt ins Auge,
sondern die programmatische Einordnung der Kirchengeschichte in die Profan-
geschichte, ein Quantensprung in der Forschung.19 Es sind fünf Faktoren, die
nach Gibbon das rasche Wachstum des Christentums begünstigten. Ich zitiere die
Thesen im Wortlaut, um ihre Konturen nicht zu verwischen und um den glän-
zenden Stilisten im Originalton zu Wort kommen zu lassen:

15
Zu seinem Hauptwerk vgl. W. Nippel, Edward Gibbon – The History of the Decli-
ne and Fall of the Roman Empire (in: E. Stein-Hölkeskamp / K.-J. Joachim Hölkes-
kamp [Hg.], Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, 2006, 644–659. 777–779).
16
E. Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums, Bd. 1, 2016 (Seiten-
angaben in Klammern beziehen sich auf dieses Werk).
17
Th. Mommsen, Römische Kaisergeschichte. Nach den Vorlesungs-Mitschriften
von Sebastian und Paul Hensel, hg. von B. und A. Demandt, 1992, 430.
18
Vgl. Nippel, Edward Gibbon – History (s. Anm. 15), 652f.
19
Vgl. W. Nippel, Edward Gibbon (1737–1794) (in: L. Raphael [Hg.], Klassiker
der Geschichtswissenschaft, Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch, 2006, 20–37),
31.
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»I. The inflexible, and if we may use the expression, the intolerant zeal of the Christians,
derived, it is true, from the Jewish religion, but purified from the narrow and unsocial
spirit, which, instead of inviting, had deterred the Gentiles from embracing the law of
Moses. II. The doctrine of a future life, improved by every additional circumstance which
could give weight and efficacy to that important truth. III. The miraculous powers as-
cribed to the primitive church. IV. The pure and austere morals of the Christians. V. The
union and discipline of the Christian republic, which gradually formed an independent
and increasing state in the heart of the Roman empire.«20

Wer die Ausführungen zu den einzelnen Punkten liest, wird vom Desinteresse
an der Frühzeit des Christentums überrascht. Die apostolische Zeit und die
Mission des Paulus stehen ganz am Rande, ihre Spuren verlieren sich im »dun-
kle[n] Gewölk« des Anfangs (439).21 Am Ende war es jedoch nicht das spezi-
fisch Christliche, das die neue Religion attraktiv machte, sondern der »Verfall
althergebrachter Überzeugungen«, und es hätte den einfachen Menschen auch
»ein weitaus weniger würdiger Gegenstand [als das Christentum] ausgereicht,
um den leeren Platz in ihrem Herzen auszufüllen und das unbestimmte Verlan-
gen ihrer Leidenschaften zu stillen« (487f). Wundern sollte man sich daher nicht
über die rasche Ausbreitung des Christentums, sondern darüber, dass es nicht
noch rascher und umfassender Erfolg hatte (488).

I.2. Adolf von Harnack

Adolf von Harnack war der bedeutendste Theologe der Wilhelminischen Zeit
und glänzender Wissenschaftsorganisator. Bewundert wurden schon zu seinen
Lebzeiten sein effizientes Arbeiten, seine beeindruckende Auffassungsgabe und
seine stupende Gelehrsamkeit. Noch immer vermögen seine Werke zu beein-
drucken: das »Lehrbuch der Dogmengeschichte« (drei Bände, 1886–1890), die
»Geschichte der altchristlichen Literatur« (zwei Bände, 1893–1904) und »Die
Mission und Ausbreitung des Christentums« (1902).22 Letzteres ist »unter Har-
nacks wissenschaftlichen Werken das am leichtesten lesbare und für jeden Ge-
bildeten zugängliche.«23 Von der ersten Auflage bis zur vierten Auflage (1924)
wuchs es um fast das Doppelte an. Immer mehr Zitate aus Primärquellen und
geschichtliche Teilaspekte trug Harnack zusammen, um den Aufstieg des Chris-

20
E. Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Bd. 1,
(1776) 1994, 449 (= Gibbon, Verfall [s. Anm. 16], 440).
21
Allerdings beteiligt sich Gibbon mit scharfzüngigen Bemerkungen an der Debatte
um die Historizität und Vernünftigkeit von Wundern.
22
Harnack, Mission (s. Anm. 5). (Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die
zweibändige vierte Auflage aus dem Jahr 1924).
23
A. von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, (1936) 21951, 277.
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tentums zu veranschaulichen und zu plausibilisieren. Dabei war es ihm nicht


um die Frage gelegen, »[w]ie [. . .] das Christentum so viele Griechen und Rö-
mer gewonnen [hat], daß es zuletzt die auch numerisch stärkste Religion ge-
worden ist?« – eine solche Fragestellung wäre aus seiner Sicht unsachgemäß,
denn »so muß die Frage lauten: ›Wie hat sich das Christentum selbst so ausge-
staltet, daß es die Weltreligion werden mußte, die übrigen Religionen durch
Aussaugung mehr und mehr zum Absterben brachte und wie ein Magnet die
Menschen an sich zog?‹« (527).24 Die Figur der Überlegenheit der christlichen
Religion gegenüber den anderen Religionen im Reich durchzieht das gesamte
Werk. Letztlich »mußte sie siegen« (528), denn sie erscheint »auf allen Linien
als der zusammenfassende Abschluß der bisherigen Religionsgeschichte« (526).
Nach fast 1000 Seiten zu drei Jahrhunderten Christentumsgeschichte prä-
sentiert Harnack sein Resümee. Im Kern sind diese Faktoren für die Verbrei-
tung der christlichen Religion ausschlaggebend: die Verehrung des einen Got-
tes, das »doppelte Evangelium« vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus
Christus und von der »strengsten Moral« (im Gegensatz zur »dürre[n] Moral«
der Zeit [131]), schließlich die Anpassungsfähigkeit des Christentums, sein
»Synkretismus« (957). Attraktiv ist das Christentum durch seine Fähigkeit,
gegensätzliche Pole zu umgreifen: Seine Botschaft ist zugleich »so einfach« und
»so mannigfaltig und reich« (111), es ist »die synkretistische Religion par excel-
lence, und dabei doch exklusiv« (327), »göttliche Offenbarung« und »reine Ver-
nunft, wahre Philosophie« (245), »im Tiefsten individualistisch und im Tiefsten
sozialistisch zugleich« (174). Die christliche Religion ist »erhaben über allen
Gegensätzen und Spannungen« und vereint Diesseits und Jenseits. Sie adelt den
Menschen, schließt ihn mit Gott zusammen und verkündet – so der berühmt
gewordene Gedanke Harnacks aus seinen Vorlesungen zum Wesen des Chris-
tentums – den »unendlichen Wert der Menschenseele«.25

24
Rudolf Bultmann nahm diese Fragerichtung in seiner Besprechung der dritten Auf-
lage des Harnack’schen Werks (1915) zustimmend auf (R. Bultmann, Von der Mission des
alten Christentums [ChW 30, 1916, 523–528; abgedruckt in: M. Dreher / K. W. Müller,
Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, 2002, 75–81]).
25
A. von Harnack, Das Wesen des Christentums, 31900, 43 (auch Ders., Mission
[s. Anm. 5], 121: »Wert des Individuums«; aaO 230: »Kraft und Wert« des Schwachen).
Vgl. K. Nowak, Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jah-
ren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Teil 1: Der Theologe und Historiker,
1996, 26, Anm. 54. Kaum gesehen wird in der Rezeption der Harnack’schen Formel, dass
der Gedanke vom »unendlichen Wert« des Menschen in thematisch verwandtem Zu-
sammenhang auch bei Hegel zu finden ist (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philo-
sophie der Weltgeschichte, Bd. 3: Die griechische und die römische Welt, hg. von G. Las-
son, [1919] 1988, 745).
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Man kann mit Christoph Markschies fragen, ob Harnack in seinem Werk


einen »Kurzabriß seiner eigenen Theologie« vorführt und dabei eine Sichtweise
einnimmt, »die sich einer sehr spezifischen Synthese von herzensfrommem
baltischem Luthertum und vermittlungsorientierter liberaler Kulturtheologie
verdankt.«26 Doch auch wenn wir meinen, Harnacks Denken biographisch
dingfest gemacht zu haben, ist seine grundlegende Einsicht nicht obsolet: Die
Anlage einer complexio oppositorum setzte eine kraftvolle Dynamik aus sich
heraus, die sich gerade in der religiös-kulturellen Gemengelage des urbanen
Milieus entfalten konnte. Auch auf den städtischen Charakter des frühen Chris-
tentums verwies Harnack übrigens mehrfach: »Das Christentum war Städte-
religion: je größer die Stadt, desto stärker – wahrscheinlich auch relativ – die
Zahl der Christen« (948).27

I.3. Rodney Stark

Der Religionssoziologe Rodney Stark, der mit seinem Buch »The Rise of Chris-
tianity«28 Furore machte, nennt das Christentum ebenfalls ein »urban movement«
(147) und unterfüttert diese These mit soziologischen Theorien. Während Har-
nack seinem Werk »nachrühm[t], daß es so gut wie keine Hypothesen enthält,
sondern Tatsachen zusammenstellt«,29 sprüht Stark vor Thesenfreude und sieht
seine Aufgabe darin, der Theologie »echte Sozialwissenschaft« zu vermitteln.30

26
Ch. Markschies, Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institu-
tionen, 32016, 239. In Markschies’ Gesamtdarstellung wurde auf den Seiten 215–264 fol-
gender Essay aufgenommen: Ders., Warum hat das Christentum in der Antike überlebt?
Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Kirchengeschichte und Systematischer Theologie
(ThLZ.F 13), 32006.
27
Vgl. Harnack, Mission (s. Anm. 5), 19, zum Judentum als »Städtereligion«. Da-
rüber hinaus auch M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften
(MWS I/22,2), hg. von H. G. Kippenberg, 2001, 225f.
28
Stark, Rise (s. Anm. 5) (Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die Paper-
back-Ausgabe).
29
Harnack, Mission (s. Anm. 5), III. Der Verzicht auf die Berücksichtigung neuerer
sozialwissenschaftlicher, ideengeschichtlicher oder anthropologischer Konzepte eint Har-
nack mit der »überwiegende[n] Mehrheit der Althistoriker seiner Generation« (S. Rebe-
nich, Orbis Romanus. Deutungen der römischen Geschichte im Zeitalter des Histo-
rismus [in: K. Nowak u. a. (Hg.), Adolf von Harnack, Christentum, Wissenschaft und
Gesellschaft (VMPIG 204), 2003, 29–49], 43). Bei aller Bewunderung für Harnacks histo-
rische Gelehrsamkeit hielt schon Ernst Troeltsch seine methodologische Verortung für
eine Selbsttäuschung (vgl. E. Troeltsch, Was heißt »Wesen des Christentums« [1903;
überarbeitet in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilo-
sophie und Ethik, (1922), 1962, 386–451], 394).
30
Vgl. Stark, Rise (s. Anm. 5), XII (»real social science«).
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Mit journalistischer Leichtfüßigkeit durchschreitet Stark die ersten Jahrhunderte


des Christentums und entwirft eine kühne Gesamtschau des Aufstiegs der christ-
lichen Religion. Die vier m. E. produktivsten Theoriemodelle richten sich auf die
Dynamik urbaner Subkulturen, die soziale Prägekraft von Netzwerken, das »Ra-
tional Choice«-Paradigma und die Spannung von »Schuld und Stigma«. Stark ist
davon überzeugt, dass zeitgenössische sozialwissenschaftliche Modelle mühelos
den garstigen Graben der Geschichte überspringen und antike Phänomene erhel-
len können.31
Nach Claude Fishers »Subcultural Theory of Urbanism« fördert ein städti-
sches Milieu mit seiner hohen Bevölkerungsdichte »unkonventionelle« Ent-
wicklungen.32 Subkulturen sind in der Lage, eine kritische Masse an Menschen
zu versammeln, die sich mit einer neuen Bewegung identifiziert und sich zu-
nehmend verselbständigt. Im Rückgriff auf Netzwerktheorien erläutert Stark,
wie sich das Christentum allmählich durch einzelne Bekehrungen innerhalb der
sozialen Netzwerke von Familie, Freunden und anderen sozialen Verbindungen
verbreitete. Man müsse nicht die Kategorie der Massenbekehrung oder gar des
»Wunders« bemühen (12). Arithmetik und Sozialwissenschaft seien völlig aus-
reichend. Pro Jahrzehnt wuchs die Christenheit durchschnittlich um 40 %, von
1000 Gläubigen im Jahr 40 n. Chr. bis weit über 30 Millionen im Jahr 350 n. Chr.
Stark verweist auf das Mormonentum, das seit dem 19. Jahrhundert mit einer
vergleichbaren Wachstumsrate florierte (7). Mit dem handlungstheoretischen
Ansatz der »Rational Choice Theory« analysiert Stark die frühchristliche Be-
reitschaft zum Martyrium (163–190). Christinnen und Christen gingen ins Mar-
tyrium nicht weil sie verwirrt oder masochistisch veranlagt waren, sondern weil
sie Kosten und Nutzen rational abwägten. Die Logik des (wahrlich nicht un-
umstrittenen) Gedankens verläuft nach Stark so: Die frühchristlichen Gemein-
den verlangten von ihren Mitgliedern viel ab: Geld, Zeit, Hingabe, Fürsorge; eine
kostspielige Religion aber ist kostbar, sie schafft ihren Wert durch »Opfer und
Stigma« (»sacrifice and stigma«) (176–179).33 Wenn schon die Zugehörigkeit zu
einer christlichen Gemeinde an sich ein guter Deal ist, um wieviel mehr im Fall

31
Vgl. Stark, Rise (s. Anm. 5), 23; Ders., The Cities of God. The Real Story of How
Christianity Became an Urban Movement and Conquered Rome, 2006, 17–22: »Objec-
tive Methodology: The Scientific Method and Historical Study«.
32
C. S. Fischer, Toward a Subcultural Theory of Urbanism (AJS 80, 1975, 1319–
1341), 1328: »The more urban the place, the higher the rates of unconventionality.«
33
Das Konzept stammt von L. R. Iannaccone, Sacrifice and Stigma. Reducing Free-
riding in Cults, Communes, and Other Collectives (Journal of Political Economy 100,
1992, 271–291). Stark, Rise (s. Anm. 5), 167: »[S]acrifice and stigma were the dynamo
behind the rise of Christianity [. . .]. For the fact is that Christianity was by far the best
religious ›bargain‹ around.«
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des Märtyrertodes die Teilhabe an der kommenden Welt. Stark beschließt seine
Studie mit dem bemerkenswerten Satz: »[W]hat Christianity gave to its converts
was nothing less than their humanity« (215).
Starks Expertise in den Neuen Religiösen Bewegungen und insbesondere
dem Mormonentum lassen ihn Aspekte sehen, die in der Bibelwissenschaft und
Kirchengeschichte gemeinhin übersehen werden. Anderes entgeht ihm, manche
Fakten, aber auch der Sinn für Bescheidenheit. Kirchengeschichtler und Bibel-
wissenschaftlerinnen mieden die Auseinandersetzung mit ihm; manche gaben
sich verschnupft, weil sich seine Studie liest wie ein Plädoyer dafür, statt bei
den Theologen lieber bei den Religionssoziologen in die Lehre zu gehen. Seine
etwas reißerischen Buchtitel tun ihr Übriges, darunter derjenige eines weniger
beachteten Werks »The Cities of God. The Real Story of How Christianity Be-
came an Urban Movement and Conquered Rome«,34 das davon ausgeht, dass
die Christianisierung des Römischen Reiches als Christianisierung der Städte zu
begreifen ist.

I.4. Weitere Gesamtdarstellungen

In dem illustren Dreiergestirn versammeln sich einer der glänzendsten Histori-


ker, einer der einflussreichsten Kirchengeschichtler und einer der streitbarsten
Soziologen der Wissenschaftsgeschichte. Auf ihren Schultern steht die For-
schung nach wie vor, auch wenn sie in Detailfragen erhebliche Fortschritte zu
verzeichnen hat. Namhafte Forscher (m. W. noch keine Forscherin!) aus man-
cherlei Disziplinen haben es unternommen, das Phänomen der raschen Aus-
breitung des Christentums in Form einer Gesamtdarstellung zu erfassen. Nach
Ramsay MacMullen führten Wundererfahrungen und erhoffte materielle Vor-
teile zu Massenbekehrungen,35 während Bart Ehrman jüngst mit Nachdruck
das Modell von Einzel- und Netzwerkkonversionen verfocht, die freilich einer
Lawine gleich über das Römische Reich fegten.36 Mit etwas anderem Akzent er-
kennt Wolfgang Reinbold in der frühchristlichen Propaganda (nicht also in der
Mission) innerhalb der sozialen und familialen Netzwerke den entscheidenden
Katalysator für den frühchristlichen Erfolg: Die Gemeindeversammlungen er-
zeugten Aufmerksamkeit, die Gerüchteküche brodelte aufgrund der distanzier-
ten Lebensweise der Christinnen und Christen. »All diese Gerüchte, Geschich-

34
Stark, Cities (s. Anm. 31).
35
Vgl. R. MacMullen, Christianizing the Roman Empire (A. D. 100–400), 1984, 29
(»successes en masse«).
36
Ehrman (s. Anm. 6), 292.
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10 Benjamin Schliesser ZThK

ten und Sensationen sind – Werbung.«37 Christoph Markschies bemüht ein


modernes Interpretament, um den Aufstieg des Christentums zu erklären und
spricht von »Komplexitätsreduktion« und »seelischer Entlastung«: Die Welt ist
Gottes gute Schöpfung, das an Gottes Geboten ausgerichtete Leben erhält Sinn,
und »die Perspektive einer himmlischen Fortexistenz entlasteten die Glauben-
den seelisch«.38 In neueren englischsprachigen Veröffentlichungen bemühen
Autoren verschiedenster Couleur – von Larry W. Hurtado bis Bart Ehrman –
militaristische Rhetorik und verweisen auf die zerstörerische Kraft und den
Siegeszug des Christentums.39 Wie Ehrman tritt auch Manfred Clauss mit auf-
klärerischem Pathos an die Frühgeschichte des Christentums heran und rückt
das Gewaltpotential einer Religion in den Fokus, die von Rechthaberei und
Irrationalität gekennzeichnet sei: »Recht zu haben war seit den Anfängen das
konstituierende Element der neuen Religion.«40 Ins gleiche Horn stößt mit
noch stärkerem antichristlichem Affekt Catherine Nixey, die die Jesusbewe-
gung als gewalttätig, skrupellos, intolerant und töricht karikiert.41 Kaum gegen-
sätzlicher könnte die Einschätzung von Paul Veyne sein, nach dem das Chris-
tentum seine Anfangserfolge »seiner großen Originalität [verdankt], die darin
bestand, eine Religion der Liebe zu sein, und es verdankt sie der übermensch-
lichen Autorität, die von seinem Meister ausging, Jesus Christus, dem Herrn.
Wer sich zum Glauben bekehrt hatte, dessen Leben gewann an Intensität,
Spannkraft und Disziplin.«42
Die Mehrzahl der Studien spannt einen weiten Bogen von den Anfängen der
Jesusbewegung bis zur Konstantinischen Wende und konzentriert sich dabei
aufgrund der spärlichen und schwer datierbaren Quellen der Frühzeit auf die
Zeit ab dem 2. Jahrhundert. Demgegenüber stehen im Folgenden die ersten

37
W. Reinbold, Propaganda und Mission im ältesten Christentum. Eine Untersu-
chung zu den Modalitäten der Ausbreitung der frühen Kirche, 2000, 300. »Werbenden«
Effekt haben nach Reinbold Gerüchte um obskure Lehren, sittenwidrige Riten, brutale
Verbrechen (Belege v.a. aus Minucius Felix). Weitere Aspekte der Anziehungskraft des
Christentums werden aaO 284–341 ausführlich diskutiert.
38
Markschies (s. Anm. 26), 263f.
39
Vgl. allein die in den verschiedensten Zusammenhängen fallenden Begriffe »des-
troy« und »destruction« in Ehrman (s. Anm. 6), 4. 6. 45. 81. 104. 120. 126. 177. 242. 284;
vgl. aaO 126: »Christianity thrived by killing off its opposition.« Bemerkenswert ist, dass
mit Larry Hurtado ein erklärter Kritiker Ehrmans zu derselben Figur greift: L. Hurta-
do, Destroyer of the Gods. Early Christian Distinctiveness in the Roman World, 2016.
40
M. Clauss, Ein neuer Gott für die alte Welt. Die Geschichte des frühen Christen-
tums, 2015, 69.
41
C. Nixey, The Darkening Age. The Christian Destruction of the Classical World,
2017.
42
P. Veyne, Als unsere Welt christlich wurde (312–394). Aufstieg einer Sekte zur
Weltmacht, 2008, 27.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 11

100 Jahre der urbanen Christusgruppen im Fokus, die Anziehungskraft einer


complexio oppositorum, die das Christentum von Beginn an auszeichnete und
die Emergenz des Christentums begünstigte.43

II. Zur Dynamik der Ausbreitung der frühen Jesusbewegung

Wenn hier nun die inneren Faktoren diskutiert werden, die die Verbreitung des
Christentums in den Städten begünstigten, so ist wenigstens einleitend darauf
hinzuweisen, dass auch die äußeren Faktoren kaum überbewertet werden
können: die Sprache, das Straßennetz und der Briefverkehr sowie die Einheit
des Römischen Reichs.44 »Einem Jesusmissionar in Syrien oder in Kleinasien
ging es nicht viel anders als einem Orientreisenden heute. Mit Englisch kommt
man heutzutage meistens durch [. . .]. Im 1. Jh. n. Chr. ist das nicht viel anders.
Auch da gab es eine Art ›Weltsprache‹, mit der man sich in weiten Teilen des
Römischen Reiches verständlich machen konnte: Griechisch.«45 Die Menschen
im Römischen Reich reisten so ausgiebig und so komfortabel wie kein Mensch
zuvor; auf der Grabinschrift (um 100 n. Chr.) des phrygischen Kaufmanns Ti-
tus Flavius Zeuxis aus Hierapolis im Lykostal ist vermerkt, dass er ȟber das
Kap Malea nach Italien 72 Mal segelte«, eine Reise von immerhin gut 1500 km.46
Die Mobilität der Jesusbewegung, ihr überregionales Beziehungsnetzwerk und
ihre missionarischen Aktivitäten wären ohne die herausragende Infrastruktur
der frühen Kaiserzeit nicht denkbar.47 Briefe erreichten zügig ihr Ziel, voraus-
gesetzt man fand einen zuverlässigen Briefträger. Der städtische Kontext bot
beides: günstige Verkehrsanbindungen und Durchgangsverkehr.48 Schließlich

43
Zum Emergenzbegriff, der hier nicht weiter entfaltet werden kann, vgl. G. Woolf,
Empires, Diasporas and the Emergence of Religions (in: J. Carleton Paget / J. Lieu
[Hg.], Christianity in the Second Century. Themes and Developments, 2017, 25–38).
44
Vgl. die Ausführungen bei Harnack, Mission (s. Anm. 5), 23–27.
45
Ebner, Stadt (s. Anm. 2), 18.
46
Auf die Inschrift des monumentalen Mausoleums (SIG 1229; IG 4,841; CIG 3920;
IvHierapolis 51) wird häufig verwiesen, z. B. bei Harnack, Mission (s. Anm. 5), 25,
Anm. 2; aaO 379, Anm. 2; Meeks (s. Anm. 4), 17; Stark, Rise (s. Anm. 5), 135. Freilich
hatten nicht alle Seereisenden so viel Glück wie Zeuxis.
47
Vgl. zur Reisetätigkeit des Paulus sowie zu seiner geographischen Vorstellungs-
gabe U. Huttner, Unterwegs im Mäandertal. Überlegungen zur Mobilität des Paulus
(in: S. Alkier / M. Rydryck [Hg.], Paulus – Das Kapital eines Reisenden. Die Apostel-
geschichte als sozialhistorische Quelle [SBS 241], 2017, 118–148); J. Rüggemeier, Die
innere Landkarte des Paulus. Zur Raumkonzeption und deren Begrenzung in den pauli-
nischen Schriften (BiKi 73, 2018, 94–101).
48
Vgl. H.-J. Klauck, Ancient Letters and the New Testament. A Guide to Context
and Exegesis, 2006, 65.
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12 Benjamin Schliesser ZThK

sollte die Einheit des Römischen Reiches mit Kaiser und Reichsrecht zur Matrix
werden für die Einheit der christlichen Religion mit Papst und Kirchengesetz.
»Hätte man zu Paulus gesagt, Claudius sei sein wirksamster Mitarbeiter, und
hätte man zu Claudius gesagt, dieser von Antiochia aufbrechende Jude schicke
sich an, den Grund zu dem dauerhaftesten Teil des kaiserlichen Gebäudes zu
legen, der eine wie der andere würde im höchsten Grade erstaunt gewesen sein.«
So der berühmt gewordene Satz von Ernest Renan.49

II.1. Zwischen radikaler Schlichtheit und Bildungsaffinität

Die christliche Religion war – so Adolf von Harnack – »auf ihren Kern gese-
hen, etwas Einfaches [. . .], was sich mit den verschiedensten Koeffizienten ver-
binden konnte, ja sie alle aufsuchte: Gott als der Vater, der Richter und Erlöser,
durch und an Christus kund geworden.«50 Am Monotheismus und der Ver-
ehrung des einen Gottes rüttelte auch die Jesusbewegung der Anfangsphase
nicht. Sie koppelte nun aber die Verehrung des einen Gottes an die Verehrung
seines Sohnes. Die Sprengkraft des Vorgangs und seine Wirkungen sind nach
wie vor Gegenstand der Forschung. Die Jesusbewegung freilich zersprang
nicht, sondern entwickelte erstaunlich früh eine »binitarische« Jesusverehrung.
Larry Hurtado vergleicht das Aufkommen der Jesusverehrung mit einem Vul-
kanausbruch.51 Die neue Botschaft ist denkbar schlicht: »Glaube an den Herrn
Jesus, so wirst du und dein Haus selig!« (Apg 16,31). Das ist für alle und jeden
begreiflich. Die volle Zugehörigkeit zur Gemeinde und zum endzeitlichen Heil
ist nicht abhängig von philosophischer Bildung, ethischer Vollkommenheit,
esoterischem Geheimwissen, einer Mysterien-Initiation oder der Zugehörigkeit
zu einer sozialen Schicht oder religiös-ethnischen Gruppierung.52

49
E. Renan, Die Apostel, 1866, 296f (zitiert auch bei Harnack, Mission [s. Anm. 5],
25, Anm. 3).
50
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 528.
51
L. W. Hurtado, Resurrection-Faith and the »Historical« Jesus (JSHJ 11, 2013,
35–52), 35f: »Jesus-devotion appeared quickly and very early, more like a volcanic erup-
tion than an incremental process«. Plinius der Jüngere weiß (ep. 10,96) Anfang des 2. Jahr-
hunderts, dass der im christlichen Kult verehrte Christus eine Gestalt ist, der die Chris-
ten »wie einem Gott« (quasi deo) Hymnen singen.
52
Vgl. Markschies (s. Anm. 26), 244, mit Verweis auf Weber, Religiöse Gemein-
schaften (s. Anm. 27), 281–283. Jüdische Konvertiten gelten ebenfalls »voll als Juden,
auch wenn die Rabbinen für die erste Generation noch gewisse halakhische Einschrän-
kungen [. . .] festlegen« (G. Stemberger, Jüdische Identität. Was ändert die Zerstörung
Jerusalems im Jahr 70? [in: E. Bons / K. Finsterbusch (Hg.), Konstruktionen indivi-
dueller und kollektiver Identität II. Alter Orient, hellenistisches Judentum, römische An-
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 13

Der einfachen Lehre entspricht Konsequenz in der Lebensführung – »pure


and austere morals« (Gibbon), »strengste Moral« (Harnack). Besonders ein-
drücklich wirkte im frühen Christentum das Ethos der Märtyrer. Wer bereit ist,
sein Leben für seinen Glauben zu opfern, verleiht diesem Glauben Wert. In den
60er Jahren des 1. Jahrhunderts ereigneten sich drei Martyrien, deren Bedeutung
für die frühe Christenheit nicht zu überschätzen ist. Es sind die drei »Stadt-
martyrien« des Jakobus in Jerusalem und des Paulus und Petrus in Rom (vgl.
Tacitus, Ann 15,44). Martyrien entfalteten eine »unmittelbare persönliche Wir-
kung« und – später – eine gesamtkirchliche Wirkung.53 Nach Ignatius ist es das
Ziel des Martyriums – wie des Christseins überhaupt – »Gottes teilhaftig zu
werden« (θεοῦ ἐπιτυχεῖν).54 Wer seinen Glauben mit Blut bezeugt, kann ewige
Gemeinschaft mit Gott erwarten. Wir können hier die strittigen Fragen außer
Acht lassen, wie ausgeprägt die Christenverfolgungen in den ersten Jahrzehn-
ten waren55 und ob die Martyrien primär nach innen oder nach außen wirkten.
Fraglos waren sie ein eindrucksvolles Sinnbild für die kompromisslose Konse-
quenz, die in der schlichten Botschaft des frühen Christentums angelegt war.
Die Schlichtheit und Kompromisslosigkeit des christlichen Ethos äußerte
sich nicht nur im binitarischen Gottesglauben und in der Entschlossenheit zum
Martyrium, sondern auch in weiteren Aspekten der Lehre und des Lebens:
Frühchristliche Schriften paarten Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29–31 //
Mt 22,37–40 // Lk 10,27), propagierten eine Wechselbeziehung von göttlichem
und menschlichem Verhalten (Lk 6,36: Barmherzigkeit; Mt 6,12: Vergebung)
und sprachen von einem liebenden Gott, der sich seinen Geschöpfen personal
zuwendet (Joh 3,16) und ihnen Schuld erlässt (Mt 6,12 // Lk 11,4),56 sie forder-
ten die Bereitschaft zum Statusverzicht in Nachahmung ihrer Gründergestalt
(Phil 2,5–11), sie vertraten den »paradoxen« Gedanken, dass der göttliche Ret-

tike, Alte Kirche (BThSt 168), 2017, 177–194], 180). Insbesondere der Verzicht auf die
Beschneidung und auf die Speisegebote in der frühen Jesusbewegung ermöglichte Be-
kehrungswilligen vollumfängliche Teilhabe, ohne aus ihrem sozialen Umfeld herauszu-
fallen (vgl. Apg 15,1f; Gal 2,4).
53
Markschies (s. Anm. 26), 242.
54
Ignatius, Magn. 14; Trall. 12,2; 13,3; Rom. 1,2; 2,1; 4,1; 9,2; Smyrn. 11,1; Pol. 2,3; 7,1.
Vgl. P. Gemeinhardt, Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Ha-
giographie in der Spätantike (STAC 90), 2014, 208 mit Anm. 68. Vgl. noch 1Clem 5,4–7;
M. Polyc. 14,2.
55
Die Zahl der verfolgten und getöteten Christinnen und Christen in den ersten Jahr-
zehnten war geringer, als es die Berichte vermuten lassen. So schon Voltaire, Historie
de l’établissement du Christianisme (1777; in: Ders., Oeuvres complètes, hg. von L. Mo-
land, Band 31, 1880, 43–116), 82; Gibbon, Verfall (s. Anm. 16), 502. Neuerdings C. Moss,
The Myth of Persecution. How Early Christians Invented a Story of Martyrdom, 2013;
Clauss (s. Anm. 40), 75.
56
Vgl. hierzu Stark, Rise (s. Anm. 5), 211.
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14 Benjamin Schliesser ZThK

ter mit dem Richter identisch ist,57 sie propagierten die Erlösungsbedürftigkeit
der gesamten Schöpfung,58 sie forderten unbedingte Vergebungsbereitschaft
(Mt 6,12)59 und schrankenlose Solidarität und Nächstenliebe (Lk 6,36; Mt 25,35–
36) und behaupteten dabei, dass menschliche Affekte und Handlungen einem
Gott imponierten (Mt 25,35–36).
So sehr solche Spitzenaussagen heute kirchlich kultiviert und unspektakulär
daherkommen – einem nachdenklichen antiken Menschen konnten sie kaum un-
mittelbar einleuchten. Gerade der paganen Bildungselite mussten sie skrupellos
verkürzend und skrupellos verführerisch erscheinen. Am Ende des 2. Jahrhun-
derts legt der römische Apologet Minucius Felix dem Christentumskritiker Cae-
cilius folgende Worte in den Mund:
»Aus dem untersten Abschaum der Gesellschaft sammeln sich da die Ungebildeten und die
leichtgläubigen Frauen, die wegen der Schwäche ihres Geschlechtes leicht zu beeinflussen
sind; sie bilden eine gemeine Verschwörerbande, die sich in nächtlichen Zusammenkünf-
ten, bei regelmäßigem Fasten und unmenschlicher Speise nicht im Kult, sondern im Ver-
brechen verbrüdert; eine obskure, lichtscheue Brut, stumm in der Öffentlichkeit, nur in den
Winkeln geschwätzig [. . .]. Welch unfassliche Dummheit, welch unglaubliche Frechheit«
(Oct. 8,4–5).60

Die Bildungselite begegnete etwa der Bereitschaft zum Märtyrertod mit nach-
haltigem Unverständnis. Insbesondere die Stoiker sehen in der Duldung des
Martyriums Unvernunft, Starrsinn, ja Wahnsinn am Werk.61
Die antichristliche Polemik hat das Bild der ersten Generationen von Chris-
tinnen und Christen bis in die Neuzeit geprägt. Adolf Deißmann noch hielt es für
erwiesen, dass das frühe Christentum keine »wirksame Verbindung mit der klei-
nen Oberschicht der Macht und der Bildung« aufbaute, und er verband dies mit
der romantisierenden Sicht, dass die schöpferische Kraft des frühen Christentums
jenseits von Bildung, Macht und Literarizität ihren Ort hat.62 In jüngerer Zeit

57
»Paradox« nennt diesen Gedanken Harnack, Mission (s. Anm. 5), 119, Anm. 1,
um sogleich anzufügen, dass das Christentum damit »einen seiner charakteristischen Ge-
danken [besaß], durch den es anderen Religionen besonders überlegen war.«
58
Markschies (s. Anm. 26), 244.
59
Trotz des Einwands von D. Konstan, Before Forgiveness. The Origins of a Mo-
ral Idea, 2010, 123, dass das Konzept der zwischenmenschlichen Vergebung in seinem
Vollsinn erst in der Moderne Einzug halte.
60
Zitiert nach M. Fiedrowicz, Christen und Heiden. Quellentexte zu ihrer Ausein-
andersetzung in der Antike, 2004, 260.
61
Vgl. Seneca, Ad Lucilium 30,12; Epiktet, Diss. 4,7. Auch der Verweis auf pagane
Vorbilder wie Sokrates bei Tertullian, Clemens, Origenes und in den Märtyrerakten
konnte die paganen Kritiker wenig überzeugen. Dazu S.-P. Bergjan / B. Näf, Märtyrer-
verehrung im frühen Christentum. Zeugnisse und kulturelle Wirkungsweisen (Wege zur
Geschichtswissenschaft), 2014, 43–45.
62
A. Deissmann, Licht vom Osten, 41923, 209.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 15

kommt wieder Bewegung in diese Diskussion: So bildungs- und kulturfern


waren die ersten Christen gar nicht.63 Ganz im Gegenteil! Gegenüber Deißmann
schlägt das Pendel nun auf die Seite aus – zu weit freilich, wenn das Christentum
nun als »Bildungsreligion« apostrophiert wird. Das Beispiel des Monotheismus
bzw. Henotheismus ist erhellend. Er war durchaus ideologisch anschlussfähig
und in der paganen intellektuellen Elite geradezu en vogue.64 Walter Burkert wies
in dem Zusammenhang (mit Niklas Luhmann) auf die intellektuelle Attraktivität
von Religionsformen hin, die Komplexität reduzieren. Es sei nicht zufällig, dass
spekulative Theologie – ob nun christliche oder pagane – »immer wieder auf all-
gemeinste und zugleich einfachste Begriffe zielt: Die eine Ursache, das Sein über-
haupt, das Eine.«65 Die frühe Kaiserzeit entwickelte angesichts eines unüber-
sichtlichen, instabilen Pluralismus eine Offenheit für das Schlichte, ›Einfältige‹ –
in religiös-philosophischen wie in ethischen Fragen.66 Die »Komplexitätsreduk-
tion« wirkte orientierend, auch und gerade in Bildungsmilieus.67
Die »upper-class bias«68 der älteren Forschung, die im frühen Christentum
ein bildungsfernes Unterschichtenphänomen erblickte, wird auch durch die ar-

63
Vgl. zum Folgenden insbesondere U. Schnelle, Das frühe Christentum und die
Bildung (NTS 61), 2015, 113–143; Th. Söding, Das Christentum als Bildungsreligion.
Der Impuls des Neuen Testaments, 2016; S. Vollenweider, Bildungsfreunde oder Bil-
dungsverächter? Überlegungen zum Stellenwert der Bildung im frühen Christentum (er-
scheint in: P. Gemeinhardt [Hg.], Bildung und Religion. Was ist Bildung in der Vor-
moderne? [SERAPHIM], 2019).
64
Zu monotheistischen Tendenzen in paganer Philosophie und Frömmigkeit vgl.
exemplarisch den Sammelband S. Mitchell / P. van Nuffelen (Hg.), One God. Pagan
Monotheism in the Roman Empire, 2010; daneben F. E. Brenk, Plutarch and »Pagan
Monotheism« (in: L. Roig Lanzillotta / I. Muños Gallarte [Hg.], Plutarch in the
Religious and Philosophical Discourse of Late Antiquity, 2012, 73–84), der die teils frap-
pierende Nähe des mittelplatonischen Gottesbildes Plutarchs zum christlichen Gottes-
bild verhandelt. Vgl. schon Harnack, Mission (s. Anm. 5), 28, und seine Feststellung
einer »inneren Entwicklung des Polytheismus zum Monotheismus in diesem Zeitalter«.
65
W. Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, 1998, 41.
66
Zur Unübersichtlichkeit des religiösen Lebens vgl. (etwas übertreibend) Dodds
(s. Anm. 13), 133: »The religious tolerance which was the normal Greek and Roman prac-
tice had resulted by accumulation in a bewildering mass of alternatives. There were too
many cults, too many mysteries, too many philosophies of life to choose from: you could
pile one religious insurance on another, yet not feel safe. Christianity made a clean sweep.«
67
Zum Stichwort »Komplexitätsreduktion« vgl. Markschies (s. Anm. 26), 263. Frei-
lich verkürzt der Begriff »Komplexitätsreduktion« die Wahrnehmung und unterliegt sei-
nerseits einer reduktionistischen Tendenz – zumal angesichts des ›theologischen‹ Diffe-
renzierungsgrads und Reflexionsniveaus der kaiserzeitlichen Philosophie.
68
J. R. Harrison, The First Urban Churches. Introduction (in: Ders. / L. L. Wel-
born [Hg.], The First Urban Churches, Bd. 1: Methodological Foundations [Writings
from the Greco-Roman World. Supplement Series 7], 2015, 1–40), 1.
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16 Benjamin Schliesser ZThK

chäologischen Funde aufgebrochen, die in den letzten Jahrzehnten in die Ge-


lehrtenstuben sprudeln: Urkunden, Quittungen, Notizen, Graffiti, Programme
für öffentliche Veranstaltungen, Inschriften, Bekanntmachungen. Sie belegen:
»Ohne rudimentäre Lese- und Schreibkenntnisse konnte man sich in einer an-
tiken Stadt eigentlich nicht bewegen.«69 In den Städten des Römischen Reiches
waren 30–50% der Bevölkerung in elementarer Form alphabetisiert.70 Paulus
beschäftigte einen Sekretär, Tertius (Röm 16,22), und rechnet damit, dass seine
Briefe nicht nur vorgelesen wurden, sondern auch durch die Hände der Ge-
meindeglieder gingen (Gal 6,11; vgl. Mk 13,14); frühchristliche Lehrer waren in
den Gemeinden aktiv, und im Unterschied zu griechisch-römischen Religions-
formen etablierte sich bald ein organisierter religiöser Unterricht.71 Während
sich »das ›Märchen von einem unintellektuellen Paulus‹« bis vor einigen Jahr-
zehnten mit großer Zähigkeit hielt,72 spricht ihm heute kaum noch jemand den-
kerische Kraft und Systemfähigkeit ab. Sein Brief an die römischen Christus-
gruppen ist intellektuell keine leichte Kost (vgl. 2Petr 3,15–16), setzt eine
beachtliche Vertrautheit mit der Schrift voraus und schließt an popularphiloso-
phische Bildungsdiskurse an.73 Auch der Hebräerbriefautor zieht theologisch
und rhetorisch alle Register, um eine (wohl römische) Stadtgemeinde mit intel-
lektuellem Niveau für seine Position zu gewinnen.74 Johannes lässt am Beginn
seines Evangeliums mit dem Logos-Prolog einen »metaphysischen Lockvogel«

69
Schnelle, Bildung (s. Anm. 63), 118.
70
Unter den christlichen Stadtgemeinden war es nach Schnelle, Bildung (s. Anm. 63),
119 (mit Belegen und Sekundärliteratur) wohl mindestens die Hälfte, wenn man bedenkt,
dass »[e]in erheblicher Teil der Gemeindeglieder [. . .] aus dem Einflussbereich des Juden-
tums [kam], das eine höhere Alphabetisierungsrate als der Durchschnitt des römischen
Reiches aufwies.«
71
Vgl. Bremmer, Rise (s. Anm. 7), 43. Ob und inwiefern die frühchristlichen Ge-
meinden als »scholastic communities« anzusprechen sind, ist Gegenstand intensiver Aus-
einandersetzungen (vgl. die Pionierarbeit von E. A. Judge, The Early Christians as a
Scholastic Community [1960/61; in: Ders. / J. R. Harrison, The First Christians in the
Roman World. Augustan and New Testament Essays (WUNT 229), 2008, 526–552]).
72
M. Theobald, Glaube und Vernunft. Zur Argumentation des Paulus im Römer-
brief (1989; in: Ders., Studien zum Römerbrief [WUNT 136], 2001, 417–431), 417 (mit
einem Zitat von Hans Dieter Betz).
73
Vgl. S. Vollenweider, »Mitten auf dem Areopag«. Überlegungen zu den Schnitt-
stellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament (EC 3, 2012, 296–320).
74
Vgl. B. Schliesser, Glauben und Denken im Hebräerbrief und bei Paulus. Zwei
frühchristliche Perspektiven auf die Rationalität des Glaubens (in: J. Frey / B. Schlies-
ser / N. Ueberschaer [Hg.], Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Chris-
tentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt [WUNT 373], 2017,
503–560). R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 91984, 483, kommentierte
süffisant, dass der Verfasser des Hebräerbriefs »sichtlich stolz [ist] auf das, was er seinen
Lesern an Erkenntnis bieten kann.«
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fliegen, der die gebildete Leserschaft für die Jesusgeschichte gewinnen und ihre
»Logik« und Wahrheit erweisen sollte.75 Paulus, Johannes und der Hebräer-
briefautor schufen eine je eigenständige Sprache und Theologie des Glaubens,
sie bildeten neue Begriffe oder prägten Begriffe um, entwickelten nach und nach
einen eigenen Idiolekt, um Identität zu schaffen und zu stärken. Die Autoren
des Neuen Testaments waren zum Teil mehrsprachig. Mit beachtlicher Kreati-
vität lasen sie das Alte Testament unter christologischem Vorzeichen. Sie schu-
fen mit dem »Evangelium« eine neue Literaturgattung.76 Andere Gattungen wie
den Brief gestalteten sie um. Das frühe Christentum wurde schon bald zu einer
»›bookish‹ religion«.77 Auf der anderen Seite des Kommunikationsprozesses
stehen die Rezipienten: »Wer solche Texte gehört, gelesen oder diskutiert hat,
kann kaum als ›ungebildet‹ gelten.«78 Gegenüber Deißmann ist dies ein Para-
digmenwechsel! Im frühen Christentum oszillieren Einfalt und Bildung, geisti-
ge Armut und Intellektualität.

II.2. Zwischen Elend und Elite

In der frühen Kaiserzeit ist das Bildungsniveau eines Menschen nun kein ein-
deutiges Kriterium seiner Schichtzugehörigkeit.79 Daher muss die schichten-
übergreifende Dynamik des frühen Christentums in einem weiteren Schritt

75
Vgl. M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des
Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1Joh (NTA.NF 20), 1988, 26–33.
76
Zur Innovativität der Evangelienliteratur vgl. E.-M. Becker, The Birth of Chris-
tian History. Memory and Time from Mark to Luke-Acts, 2017, freilich mit dem Hin-
weis, dass die zeitgenössische römische Kultur gegenüber literarischen Neuerungen of-
fen war und sie sogar einforderte (mit Verweis auf den Historiker Velleius Paterculus).
77
So Hurtado, Destroyer (s. Anm. 39), 105–141. Geradezu überschwänglich der
Gräzist C. C. Caragounis, New Testament Language and Exegesis. A Diachronic Ap-
proach (WUNT 323), 2014, 311: »[The New Testament is] not only [. . .] a group of wri-
tings by coarse and uneducated persons – kleine literatur – but [. . .] a powerful collective
work, that with its towering thoughts, superb expressions, and profound meaning arro-
gates to itself the right to a proud place in Greek literature.«
78
Schnelle, Bildung (s. Anm. 63), 142. Vgl. Vollenweider, Bildungsfreunde
(s. Anm. 63): »Innerhalb ihres partialkulturellen Raums zeichnet sich die urchristliche
Literatur durch Kunst, Raffinesse und Eigenwilligkeit aus; sie erfordert erhebliche Lese-
kompetenzen.«
79
Zu Titel und Thematik des Abschnitts vgl. M. Öhler, Zwischen Elend und Elite.
Paulinische Gemeinden in ökonomischer Perspektive (in: J. Schröter / S. Butticaz /
A. Dettwiler [Hg.], Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and
His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters [BZNW 234], 2018, 249–286).
Dort wird auch die komplexe wie kontroverse Forschungsgeschichte zur ökonomischen
Situation des Römischen Reiches und des frühen Christentums nachgezeichnet.
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bedacht werden. Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass sich die frühen christ-
lichen Gemeinden aus sozial Randständigen, Rechtlosen, Armen und Versklav-
ten zusammensetzten. Nietzsches Satz klingt im kollektiven Gedächtnis nach:
»Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missratenen ge-
nommen«, in ihm »kommen die Instinkte Unterworfener und Unterdrückter in
den Vordergrund: es sind die niedersten Stände, die in ihm ihr Heil suchen.«80
Das Christentum galt vielen als ein Unterschichtenphänomen, eine Proletarier-
bewegung, eine Sklavenreligion. Für diese Ansicht stehen so bedeutende For-
scher wie Friedrich Engels, Karl Kautsky, Adolf Deißmann, Max Weber und
Ernst Troeltsch.81 Auch wenn diese These nicht prinzipiell zu verwerfen ist,82
bricht sich seit den 1970er Jahren jedoch ein »New Consensus« Bahn, der mit
den Namen Edwin Judge, Gerd Theißen, Wayne Meeks, Abraham Malherbe
und Luise Schottroff verbunden ist: Unter den frühen Christinnen und Chris-
ten gab es nicht nur sozial Benachteiligte, sondern auch einen beträchtlichen
Anteil an Personen aus der Mittelschicht und aus höheren gesellschaftlichen
Schichten.83 Der »New Consensus« würde gar nicht so neu anmuten, hätte man
Adolf von Harnack intensiver studiert. Harnack widmet ein ganzes Kapitel der
Verbreitung des Christentums »unter den Vornehmen, Reichen, Gebildeten
und Beamten« und zählt zu diesen aus neutestamentlicher Zeit den Prokonsul
Sergius Paulus, Dionysios den Areopagiten und Erastus, den Stadtkämmerer
von Korinth.84 Unser Wissen über die Zusammensetzung der ersten Gemein-

80
F. Nietzsche, Der Antichrist, hg. von I. Frenzel (Werke in zwei Bänden, Bd. 2),
1967, 488.
81
Schon Gibbon, Verfall (s. Anm. 16), 498, wusste, »dass die mit Unglück und der
Verachtung der Menschen geschlagenen Herzen der göttlichen Verheißung künftiger
Wonnen freudig lauschen [. . .].« Allerdings weist auch Gibbon (aaO 457) darauf hin, dass
die christliche Heilsbotschaft, die »Verheißung ewiger Glückseligkeit« »eine große An-
zahl Menschen aus jeder Religion, jedem Stand und jeder Provinz des Römischen Rei-
ches« anzog, die »dieses günstige Angebot« wahrnahmen.
82
Dass sich von Anfang an auch Sklaven den christlichen Gemeinden anschlossen,
zeigt u. a. vom Standpunkt eines externen Beobachters der Brief des Plinius an Trajan
(ep. 10,96): »Umso mehr hielt ich es für notwendig, zwei Sklavinnen [ancillae], welche
Dienerinnen [ministrae] genannt wurden, auch durch Folter zu befragen. Ich fand nichts
anderes als verkehrten und maßlosen Aberglauben.« Vgl. hierzu H. Löhr, Einige Beob-
achtungen zur Rolle von Sklaven in christlichen Gemeinden in der zweiten Hälfte des
ersten und in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. (in: M. Lang [Hg.], Ein
neues Geschlecht? Entwicklung des frühchristlichen Selbstbewusstseins [NTOA 105],
2014, 11–29).
83
Vgl. zu Letzterem A. Weiss, Soziale Elite und Christentum. Studien zu ordo-An-
gehörigen unter den frühen Christen (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des
ersten Jahrtausends n. Chr. 52), 2015, 18.
84
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 559–568.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 19

den, über die soziale Lage und den Status ihrer Mitglieder, ist überaus schmal.
Am wenigsten nebulös stellt sich die Situation der Christen noch in Rom und
in Korinth dar.
In Korinth gab es nach Auskunft des Paulus nur wenige Gebildete und An-
gesehene unter den Christusgläubigen (1Kor 1,26; vgl. 3,18; 6,5).85 Dass es sie
gab, lässt sich nicht nur aus den knappen Bemerkungen zu den einzelnen Per-
sonen erschließen, sondern auch aus den sozialen Spannungen, die in der Ge-
meinde v.a. im Umkreis des Herrenmahls existierten (1Kor 11,17–22), aus dem
Streben nach Redekunst und Weisheit (1Kor 2,1), aus dem zivilrechtlichen Pro-
zessieren unter Gemeindegliedern (1Kor 6,1–8) und aus den Einladungen, die
einzelne Gemeindeglieder in Tempel erhalten haben (1Kor 8,10).86 Die schil-
lerndste Gestalt in der korinthischen Gemeindeszene ist zweifellos Erastus, der
im Römerbrief seine Grüße aus Korinth an die römische Gemeinde entbietet –
Erastus, ὁ οἰκονόµος τῆς πόλεως (Röm 16,23; vgl. Apg 19,22; 2Tim 4,20).
Röm 16,23 ist die einzige Stelle im corpus Paulinum, in dem ein politisches Amt
einer Person genannt wird. In den vergangenen Jahren entfachte sich – erneut –
ein Gelehrtenstreit über die Frage, welches Amt Erastus innehatte und welcher
Status damit verknüpft war. Angereichert wird der Streit durch eine neu aufge-
rollte Debatte um die korinthische Pflasterinschrift (»Erastusinschrift«), die im
Jahr 1929 nordöstlich des Theaters gefunden wurde und die besagt, dass ein ge-
wisser Erastus für die ihm verliehene Ädilenwürde auf eigene Kosten einen
Platz pflastern ließ.87
Vieles spricht dafür, dass die Bezeichnung οἰκονόµος nicht wie häufig ange-
nommen das Amt des Quästors, sondern das höhere Amt des Ädils meint.88
»Als Ädil war Erastos qua Amt Mitglied des korinthischen ordo decurionum,«
d. h. der städtischen Munizipalaristokratie. Eine Identifizierung mit dem Eras-
tus der Pflasterinschrift ist durchaus plausibel, aber natürlich nicht beweis-
bar. Jedenfalls war in Korinth mindestens ein Mitglied der Gemeinde Teil der
obersten sozialen Elite. Die dem ordo decurionum zugehörigen Vollbürger be-
stimmten das Leben in der Stadt, besaßen in aller Regel Land, genossen ein aus-
nehmend hohes Sozialprestige und eine Reihe von Privilegien (z. B. Purpurstreif
an der Toga), rivalisierten um Ämter und hielten »mit ihrer Munifizenz (Spen-

85
Vgl. ausführlich B. Schliesser, Neues zu den Sozialstrukturen der Jesusbewegung
in Korinth (in: J. Thiessen / Ch. Stettler [Hg.], Paulus und die Gemeinde in Korinth
in ihrem historisch-kulturellen Kontext [BThSt], 2019 [im Erscheinen]).
86
Vgl. D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), 2010, 39.
87
J. H. Kent (Hg.), The Inscriptions 1926–1950, Corinth. Results of Excavations
Conducted by the American School of Classical Studies at Athens 8/3, 1966, Nr. 232 =
S. 99f.
88
A. Weiss, Keine Quästoren in Korinth. Zu Goodrichs (und Theißens) These über
das Amt des Erastos (Röm 16.23) (NTS 56, 2010, 576–581).
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20 Benjamin Schliesser ZThK

den, Stiftungen, Bauten, Übernahme von Gesandtschaften) das öffentliche Le-


ben in Schwung.«89 Eine Hinwendung zum Christentum wird auch eine Revi-
sion des politischen Strebens und eine Umorientierung des finanziellen Enga-
gements zur Folge gehabt haben. Die frei gewordenen Mittel wurden nun
vielleicht nicht mehr für eine Pflasterung, sondern für die Belange der Gemein-
de und die Versorgung ihrer Armen,90 für die Unterstützung der Missionare
und Lehrer (1Kor 9,14; Phil 4,10–20) oder die »Sammlung für die Heiligen« in
Jerusalem (1Kor 16,1) eingesetzt.
Die korinthische Gemeinde ist ein Spiegelbild der urbanen Gesellschaft, in
die sie eingebettet ist.91 Das Christentum kam in seiner Frühzeit wohl nicht
nur bei den niedrigsten Ständen an, sondern auch in der Mittelschicht92 und –
wenngleich nur punktuell – in der obersten städtischen Elite. Die singuläre Rol-
le von Frauen der Oberschicht in den frühchristlichen Zusammenkünften und
Gemeindestrukturen verdient besondere Beachtung und wurde jüngst wieder
von Jan Bremmer hervorgehoben. »I would not know any parallel in the pagan
world of such an active female presence in a religious meeting or temple.«93
Innerhalb des Sozialgefüges der Gemeinden konnten Frauen grundsätzlich alle
Positionen besetzen. Auch für dieses Kapitel der Forschung kann übrigens
Adolf von Harnack als Vordenker gelten, denn er betonte mit Nachdruck, dass

89
H. Botermann, Paulus und das Urchristentum in der antiken Welt (ThR 56, 1991,
296–305), 300.
90
Siehe unten. Vgl. auch Justin, Apol. 1,67 (dazu Harnack, Mission [s. Anm. 5],
200).
91
Vgl. L. L. Welborn, Inequality in Roman Corinth. Evidence from Diverse Sour-
ces Evaluated by a Neo-Ricardian Model (in: Ders. / J. R. Harrison [Hg.], The First
Urban Churches, Bd. 2: Roman Corinth [Writings from the Greco-Roman World Suppl.
Series 8], 2016, 47–84), 73.
92
Nach Öhler, Elend (s. Anm. 79), 285, gehörten die Christusgläubigen in den pauli-
nischen Gemeinden der ersten Generation zur Mittelschicht (»middling groups«: ca. 20%
der Stadtbevölkerung), während es erst in der zweiten und dritten Generation zu einer
sozioökonomischen Spreizung kam: Der Anteil der vermögenden Mitglieder stieg (vgl.
1Tim 2,9; 1Petr 3,3; Hebr 10,34), »zugleich wurden nun aber auch Bedürftige bewusst in
den Blick genommen«. Ob der Befund angesichts von Aussagen wie 1Kor 1,26.28; 11,22
u. a. standhält, mag hier offenbleiben. Zur Bedeutung der »middling groups« in der urba-
nen Gesellschaft vgl. A. Zuiderhoek, The Ancient City. Key Themes in Ancient Histo-
ry, 2017, 108.
93
J. N. Bremmer, Early Christians in Corinth. Religious Insiders or Outsiders? (er-
scheint in: C. Breytenbach [Hg.], The Rise of Early Christianity in Greece and the
Southern Balkans, 2019). Zur aktiven und partizipativen Rolle von Frauen in den jüdi-
schen Versammlungen vgl. – wohl etwas einseitig – K. Ehrensperger, The Question(s)
of Gender: Relocating Paul in Relation to Judaism (in: M. D. Nanos / M. Zetterholm
[Hg.], Paul within Judaism. Restoring the First-Century Context to the Apostle, 2015,
245–276).
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Frauen eine bedeutende Rolle bei der Ausbreitung des Christentums gespielt
haben und widmete dem Thema ein ganzes Kapitel.94 Die Weitsicht Harnacks
ist beachtlich, hatte sich die Fachwelt, d. h. die Männerwelt, nur am Rande
dafür interessiert. Harnack konnte lediglich auf drei Studien verweisen, darun-
ter die fast vergessene Arbeit der Reformpädagogin Lydia Stöcker (1877–
1942).95 Ungleich beachtlicher als Harnacks Weitsicht ist aber der Sachverhalt
selbst. Wohlhabende und gebildete Frauen hatten in einer christlichen Gemein-
de die Möglichkeit, sich mit der intellektuellen männlichen Elite auszutau-
schen96 und das Patronat einer christlichen Versammlung zu übernehmen.
Phoebe (Röm 16,1–2), Maria (Apg 12,12), Lydia (Apg 16,14), Tavia (Ignatius,
Smyrn. 13,2) und wohl auch Nympha (Kol 4,15) waren Gastgeberinnen christ-
licher Versammlungen. Ob Chloe (1Kor 1,11) Mitglied der Gemeinde war oder
lediglich ihr Haus zur Verfügung stellte, ist umstritten.97 Auf Frauen aus den
unteren Schichten mag der starke sozialdiakonische Impuls Wirkung gezeigt
haben, der nun im nächsten Abschnitt in den Fokus rückt und dort in die Span-
nung von »Individualismus« und »Sozialismus« eingestellt wird.

II.3. Zwischen »Individualismus« und »Sozialismus«

Harnack hatte die christliche Religion als »im Tiefsten individualistisch und im
Tiefsten sozialistisch zugleich« bezeichnet.98 Das individuelle Moment tritt her-
vor im Gedanken von der Rechtfertigung aus Glauben, der Sündenvergebung
und in der Hoffnung auf die leibliche Auferweckung.99 Der Individualität der
Heilsbotschaft entspricht auch die frühchristliche Erfahrung von Einzelbekeh-

94
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 589–611 (»Die Verbreitung unter den Frauen«).
95
AaO 589, Anm. 1; E. A. von der Goltz, Der Dienst der Frau in der christlichen
Kirche. Geschichtlicher Überblick mit einer Sammlung von Urkunden, 21914; L. Stö-
cker, Die Frau in der alten Kirche, 1907; J. Donaldson, Woman. Her Position and In-
fluence in Ancient Greece and Rome, and among the Early Christians, 1907.
96
Vgl. J. N. Bremmer, Why Did Early Christianity Attract Upper-class Women
(1989; in: Ders., Maidens, Magic and Martyrs in Early Christianity. Collected Essays I
[WUNT 379], 2017, 33–41).
97
Die Identifizierung der »auserwählten Herrin« (2Joh 1) und der »Frau des Epitro-
pos« (Ignatius, Pol. 8.2) ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Vgl. zum Ganzen
K.-M. Pihlava, Forgotten Women Leaders. The Authority of Women Hosts of Early
Christian Gatherings in the First and Second Centuries C. E. (Publications of the Finnish
Exegetical Society 113), 2017; Ch. Trevett, Christian Women and the Time of the Apos-
tolic Fathers (AD c. 80–160). Corinth, Rome, and Asia Minor, 2006.
98
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 174.
99
AaO 120f. Vgl. die oben bereits zitierte Wendung vom »unendlichen Wert der
Menschenseele«.
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22 Benjamin Schliesser ZThK

rungen, die auf persönliche Gespräche und Begegnungen im familiären, beruf-


lichen oder religiösen Umfeld zurückzuführen sind.100 Gerade Paulus hebt
auf die Individualität des christlichen Glaubens ab, doch wäre es völlig verfehlt,
von einer »radikale[n] Individualisierung«, »Isolation« und »Vereinzelung« des
Glaubenden zu sprechen, wie es etwa Hans Conzelmann in den 1960er Jahren
tat.101 Vielmehr sieht Paulus den Glauben nie ohne seinen Gemeinschafts- und
Öffentlichkeitscharakter.102 Von den christlichen Kerninhalten wie dem Glau-
ben, der Taufe oder dem »Sein in Christus« spricht er in »totalisierender« Weise.
Diejenigen, die glauben, getauft sind oder »in Christus« sind, werden in ihrer
ganzen Existenz in Beschlag genommen.103 In der Wechselseitigkeit von indivi-
dueller und sozialer Dimension, von der Zustimmung zu zentralen Lehrinhal-
ten und deren »Fleischwerdung« im konkreten Zusammenleben entfaltete der
christliche Glaube eine attraktionale Wirkung.104
Die Kehrseite des individuellen Heils ist der aktive, persönliche Einsatz für
das gemeinschaftliche Wohl. Harnack sprach vom »Evangelium der Liebe und
Hilfeleistung« und füllte damit über 50 Seiten.105 »Die Predigt, welche das
innerste Wesen des Menschen ergriff, ihn aus der Welt herauszog und ihn mit
seinem Gott zusammenschloß, war auch die Predigt von der Solidarität und
Brüderlichkeit.«106 Schon in frühester Zeit wandten sich die Christusgruppen
Armen, Kranken, Waisen, Witwen, Ausgestoßenen, Unterprivilegierten zu, und
nicht nur das: sie haben diese benachteiligten Gruppen überhaupt erst ins Blick-
feld der Gesellschaft gerückt. Der stärkste Impuls ging von den Worten und
Gleichnissen Jesu aus. Besonders nachhaltig wirkte Mt 25,35–36: »Denn ich
war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt
mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich
war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch mei-

100
Vgl. Ehrman (s. Anm. 6), 126 (gegen MacMullen [s. Anm. 35]); Reinbold
(s. Anm. 37), 301; Clauss (s. Anm. 40), 70. Daneben wiederum Harnack, Mission
(s. Anm. 5), 377f.
101
H. Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Testamentes, 1967, 193.
243 (im Anschluss an Rudolf Bultmann).
102
Vgl. B. Schliesser, Was ist Glaube? Paulinische Perspektiven (ThSt N.F. 3), 2011,
34.
103
Vgl. die Rede vom »totalizing discourse« bei Ehrman (s. Anm. 6), 127 mit Ver-
weis auf J. B. Rives.
104
Vgl. die These bei Stark, Rise (s. Anm. 5), 211: »Central doctrines of Christianity
prompted and sustained attractive, liberating, and effective social relations and organiza-
tions. [. . .] And it was the way these doctrines took on actual flesh, the way they directed
organizational actions and individual behavior, that led to the rise of Christianity.«
105
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 170–220.
106
AaO 174.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 23

ner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.« Die-
se Sätze werden von Harnack wie von Stark an prominenter Stelle zitiert,107 und
sie scheinen an Aktualität nichts eingebüßt zu haben – ganz unabhängig davon,
auf wen sie in ihrer ursprünglichen Aussageabsicht zielten.108 In solchen Sätzen
lag ein revolutionärer Impetus des frühen Christentums, und sie sind ohne Pa-
rallele in der zeitgenössischen griechisch-römischen Literatur.
In seinem großen, vor knapp 80 Jahren veröffentlichten Werk »Wohltätigkeit
und Armenpflege im vorchristlichen Altertum« schreibt Hendrik Bolkestein:
»Niemals wird [in der griechisch-römischen Antike] als wichtige Pflicht der
Reichen dargestellt, die Hungernden zu speisen, die Dürstenden zu laben, die
Nackten zu kleiden oder auch Witwen und Waisen zu helfen.«109 Pieter W. van
der Horst hat jüngst bekräftigt, dass Wohltäterschaft zwar eine bedeutende
Rolle im sozialen System spielte, sich aber nicht auf die prekären Milieus, die
Armen erstreckte; die höchste Tugend, »Gerechtigkeit« (δικαιοσύνη), orientiert
sich am suum cuique, die »Menschenfreundlichkeit« (φιλανθρωπία) richtet sich
auf die Familie und den sozialen Nahbereich sowie auf Gäste und Fremde, nicht
aber auf die Armen; analoges gilt für das »Erbarmen« (ἐλεηµοσύνη) im Sinne
einer empathischen Zuwendung an den Anderen – von den Stoikern als ver-
nunft- und naturwidrige Bewegung der Seele (πάθος) verunglimpft, im jüdisch-
christlichen Sprachgebrauch in der Bedeutung »Almosen« (abgeleitet von ἐλε-
ηµοσύνη) eine ungeheure Wirkung entfaltend.110 Damit ist nicht gesagt, dass
Griechen und Römer keine Philanthropie kannten,111 aber die Intensität der
christlichen Nächstenliebe hat selbst auf die pagane Welt Eindruck gemacht.
Christoph Markschies verweist auf die »einfache Ethik des Lebensschut-
zes«112 und ruft die christliche Kritik an den umfassenden Rechten eines pater

107
AaO 170f; Stark, Rise (s. Anm. 5), 87.
108
Vgl. die von W. D. Davies / D. C. Allision, The Gospel According to Saint
Matthew, Bd. 3: Commentary on Matthew XIX–XXVIII (ICC), 1997, 428f, zu Mt 25,40
angeführten Interpretationstypen von der Alten Kirche bis in die Neuzeit.
109
H. Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum.
Ein Beitrag zum Problem »Moral und Gesellschaft«, 1939.
110
P. W. van der Horst, Organized Charity in the Ancient World. Pagan, Jewish,
Christian (in: Y. Furstenberg [Hg.], Jewish and Christian Communal Identities in the
Roman World [AJEC 94], 2016, 116–133), 116. Zur Philanthropie im Judentum vgl.
K. Berthelot, Philanthrôpia Judaica. Le débat autour de la ›misanthropie‹ des lois
juives dans l’Antiquité (JSJ.S 76, 2003, 17–78).
111
So auch Harnack, Mission (s. Anm. 5), 170f, Anm. 3, in Kritik der Arbeit von
G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche, 21882. Vgl. P. Lampe,
Social Welfare in the Greco-Roman World as a Background for Early Christian Practice
(in: D. F. Tolmie [Hg.], Perspectives on the Socially Disadvantaged in Early Christiani-
ty [Acta Theologica Supplementum 23], 2016, 1–28).
112
Markschies (s. Anm. 26), 246.
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familias in Erinnerung. Ein Hausvater hatte das Recht, ein neugeborenes Kind,
das er nicht als Teil der Familie akzeptierte, zur Adoption freizugeben, zu ver-
kaufen, zu töten oder auszusetzen. Betroffen waren insbesondere behinderte
Kinder, uneheliche Kinder oder Mädchen. Es ist umstritten, ob sich in der frü-
hen Kaiserzeit Hausväter auf das ius vitae necisque beriefen und ihr Kind töte-
ten.113 Häufiger wurde vom Recht zur Kindsaussetzung (expositio) Gebrauch
gemacht, demzufolge Säuglinge an öffentliche Plätze gebracht wurden und dort
Zuhältern und Zuhälterinnen oder Sklavenhändlern in die Hände fallen konn-
ten.114 Aussetzungen dienten wie Empfängnisverhütung und Abtreibung der Fa-
milienplanung und wurden erst unter christlichem Einfluss im Jahr 374 n. Chr.
untersagt. Die christliche Kritik an dieser Praxis schloss an das Frühjudentum
und seine Wertschätzung des menschlichen Lebens als Schöpfungsgabe an (vgl.
Philo, Spec. 3,114f).115 Aus dem Gebot »Du sollst nicht töten« leitet die Didache
das Verbot der Kindstötung und Abtreibung ab. Es ist dies der aller Wahr-
scheinlichkeit nach älteste christliche Beleg für das Abtreibungsverbot.116 »Du
sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht Knaben schänden, nicht Unzucht
treiben, nicht stehlen, nicht Zauberei treiben, nicht Gift mischen, du sollst ein
Kind nicht abtreiben und das Geborene nicht töten, nicht den Besitz deines
Nächsten begehren« (Did 2,2; vgl. 5,2; Barn 19,5). Im 2. Jahrhundert vermehren
sich die Attacken der christlichen Apologeten gegen die gängige Abtreibungs-
praxis (z. B. Athenagoras 35; Minucius Felix 30,2).117
Zur Ablehnung der Abtreibung, des Infantizids und der Kindsaussetzung
treten schon in frühester Zeit weitere sozialethische Konkretisierungen des
christlichen Bekenntnisses: Die Jesusbewegung war darauf bedacht, die prekä-
re Situation von Witwen und Waisen zu lindern,118 pflegte Gastfreundschaft

113
Vgl. zum Ganzen knapp H. Honsell, Römisches Recht, 82015, 182: »Das ius
vitae necisque wurde erst unter christlichem Einfluß abgeschafft, hatte aber schon in der
hohen Republik keine Bedeutung mehr.«
114
B. E. Stumpp, Prostitution in der römischen Antike (Antike in der Moderne),
1998, 29.
115
Vgl. D. Schwartz, Did the Jews Practice Infant Exposure and Infanticide in Anti-
quity (Studia Philonica Annual 16), 2004, 61–95; Ch. Tuor-Kurth, Kindesaussetzung
und Moral in der Antike. Jüdische und christliche Kritik am Nichtaufziehen und Töten
neugeborener Kinder, 2010.
116
Vgl. Didache. Zwölf-Apostel-Lehre, hg. von G. Schöllgen (FC 1), 1991, 103,
Anm. 29 (daraus auch die Übersetzung).
117
Stark, Rise (s. Anm. 5), 124f; Clauss (s. Anm. 40), 272.
118
J. T. Fitzgerald, Orphans in Mediterranean Antiquity and Early Christianity
(Acta Theologica Supplementum 23), 2016, 29–48, mit einer Auflistung aller Belege aus
dem 1. und 2. Jahrhundert zur Verpflichtung der christlichen Gemeinden gegenüber Wai-
sen.
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zunächst gegenüber anderen Christusgläubigen, später zunehmend gegenüber


Fremden (Xenodocheia),119 praktizierte Krankenbesuche, -fürsorge und -hei-
lungen,120 besuchte Gefangene,121 kümmerte sich um Bestattungen, bot seelsor-
gerliche und spirituelle Ressourcen in der Bewältigung von Krisenerfahrun-
gen,122 propagierte alternative moralische Werte (u. a. in der Sexualethik)123 und
forderte Geschwisterliebe wie »Feindesliebe« (Mt 10,42).124 Nicht verborgen
blieb der paganen Mitwelt also die complexio von Individualität und sozialer
Transformation in der Jesusbewegung, ihre »Ideologie der Liebe und des Diens-
tes«,125 die sich auch in Kritik und Kontrast gegenüber der zeitgenössischen
Kultur und ihren Werten äußerte. In dieser Hinsicht partizipierte das frühe
Christentum an der Attraktivität des Judentums, senkte aber die Hürden der
vollen Zugehörigkeit.126 Der finanzielle und persönliche Einsatz für den Glau-
ben steigerte dessen ideellen Wert, aus der Sicht außenstehender Betrachter, vor
allem aber für die Mitglieder der Gemeinschaft selbst. Wer einer »Ideologie der

119
Zu den Modalitäten antiker Gastfreundschaft vgl. A. E. Arterbury, Entertaining
Angels. Early Christian Hospitality in Its Mediterranean Setting (New Testament Mono-
graphs), 2005; O. Hiltbrunner, Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Chris-
tentum, 2005.
120
G. B. Ferngren, Medicine and Health Care in Early Christianity, 2009. Spätes-
tens ab dem 2. Jahrhundert auch jenseits der Gemeindegrenzen (vgl. Irenaeus, Haer.
2,31,3; 2,32,4; Tertullian, Apol. 37,9).
121
Vgl. T. Nicklas, Ancient Christian Care for Prisoners. First and Second Centu-
ries (Acta Theologica 36. Supplementum 23), 2016, 49–65. Eindrücklich ist die Satire des
Lukian zur rührigen Pflege des Gefangenen Peregrinus (Peregr. 12), die nur dann zündet,
wenn sie nicht völlig an der Realität vorbeigeht (vgl. Nicklas, aaO 61f).
122
Dies nicht zuletzt aufgrund der eschatologischen Ausrichtung des Glaubens, die
wiederum Lukian nicht verborgen blieb: »Die Unglückseligen sind ja überzeugt, daß sie
überhaupt unsterblich sein und ewig leben werden« (Peregr. 13). Harnack, Mission
(s. Anm. 5), 139, kommentiert: Lukian »hätte gewiß einen Witz dazu gemacht, wenn ihm
einer eingefallen wäre; aber dem beweglichen Spötter ist bei der Schilderung des Glau-
bens der Christen der Witz in bemerkenswerter Weise abhanden gekommen.«
123
Vgl. Hurtado, Destroyer (s. Anm. 39), 154–168; K. Harper, From Shame to
Sin. The Christian Transformation of Sexual Morality in Late Antiquity (Revealing Anti-
quity 20), 2013.
124
Zur Geschwisterliebe in den christlichen Gemeinden vgl. die Frotzeleien, die Mi-
nucius Felix notiert (Oct. 9,2 [BKV]): »Sie erkennen sich an geheimen Merkmalen und
Zeichen und lieben sich gegenseitig fast, bevor sie sich kennen. Allenthalben üben sie auch
unter sich sozusagen eine Art von Sinnlichkeitskult (libidinum religio); unterschiedslos
nennen sie sich Brüder und Schwestern.« Vielsagend ist der Stoßseufzer Kaiser Julians aus
dem 4. Jahrhundert zur verführerischen Philanthropie der »gottlosen Galiläer« (Julian,
ep. 48).
125
Ehrman (s. Anm. 6), 6 (»ideology [. . .] of love and service«).
126
Vgl. klassisch die drei Kapitel über die »Attractions of the Jews« in L. H. Feld-
man, Jew and Gentile in the Ancient World, 1993, 177–287.
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26 Benjamin Schliesser ZThK

Liebe und des Dienstes« anhängt, wird irgendwann auch Nutznießer. In einer
Gesellschaft, in der fast die Hälfte der nicht-volljährigen Jugendlichen ihren
Vater verloren und der Anteil der Witwen an der weiblichen Gesamtbevölke-
rung mindestens ein Viertel betrug,127 in der etwa ein Drittel der Säuglinge im
ersten Lebensjahr starben, nur die Hälfte der Kinder das zehnte Lebensjahr er-
reichten, in der von 1000 Frauen ca. 17–24 durch Schwangerschaft oder Geburt
starben und gerade junge Männer und Frauen durch Infektionskrankheiten
(v. a. Tuberkulose, Malaria, »Pest« / Pocken) dahingerafft wurden, ist ein solcher
Gemeinschaftssinn attraktiv.128 In den Städten werden aufgrund der verheeren-
den hygienischen Bedingungen die Säuglings- und Kindersterblichkeit noch
höher und die durchschnittliche Lebenserwartung noch niedriger gewesen sein.
Wie Kyle Harper jüngst eindrücklich nachgewiesen hat, waren die überregio-
nalen Strukturen des Imperiums mitverantwortlich für große Epidemien.129 Der
Erreger der ab 165 n. Chr. im gesamten Reich wütenden »Antoninischen Pest«
wurde wohl aus dem Osten des Reiches eingeschleppt.130 Schon Rodney Stark
mutmaßte, dass die Christinnen und Christen aufgrund ihres diakonischen En-
gagements eine höhere Überlebenschance hatten.131 Kyle Harper bestätigt die
Einschätzung und ergänzt: »The Christian ethic was a blaring advertisement for
the faith.«132

127
Als Waise galt bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. ein vaterloses Kind (vgl. den häufigen
Dual »Witwen und Waisen«). Die statistischen Angaben sind notorisch unsicher und fol-
gen hier J.-U. Krause, Witwen und Waisen im Römischen Reich, Bd. 1: Verwitwung und
Wiederverheiratung (HABES 16), 1994, 67; Bd. 3: Rechtliche und soziale Stellung von
Waisen (HABES 18), 1995, 9. 106.
128
Die Zahlen zur Säuglings- und Kindersterblichkeit sind entnommen aus T. G.
Parkin, Demography and Roman Society. Ancient Society and History, 1992, 92–98.
Die Schätzung zu den schwangerschafts- und geburtsbezogenen Todesfällen stammt aus
S. Hin, The Demography of Roman Italy. Population Dynamics in an Ancient Conquest
Society (201 BCE – 14 CE), 2013, 130. Zum Mortalitätseffekt der Tuberkulose vgl.
W. Scheidel, Roman Age Structure. Evidence and Models (JRS 91, 2001, 1–26), 8. Sehr
umsichtig werden verschiedene Modelle zusammengestellt bei I. Broer, Bevölkerungs-
zahlen und Lebenserwartung in der Antike (in: Ders., Hermeneutik in Geschichte. Fall-
studien [BBB 171], 2014, 293–310).
129
Vgl. K. Harper, The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire
(The Princeton History of the Ancient World), 2017, 17: »The Roman disease environ-
ment was also formed by the connectivity of the empire.«
130
AaO 94–99. Den Erreger der »Antoninischen Pest« identifiziert Harper mit den
Pocken (aaO 68. 98–115), was nicht unumstritten ist. Nach Harper (aaO 115) betrug die
reichsweite Mortalitätsrate der »Antoninischen Pest« fast ein Viertel.
131
Stark, Rise (s. Anm. 5), 82f. Vehement widerspricht allerdings Markschies
(s. Anm. 26), 307, Anm. 148.
132
Harper, Fate (s. Anm. 129), 156.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 27

II.4. Zwischen Charisma und Amt

Den nüchternen makedonischen Christen in Thessaloniki schrieb Paulus noch


aufmunternd: »Den Geist bringt nicht zum Erlöschen! Prophetische Rede ver-
achtet nicht!« (1Thess 5,19–20). Im griechischen Schmelztiegel Korinth waren
solche Worte nicht nötig. Dort loderte das Feuer des Geistes und der Geister
und dort war die »Unterscheidung der Geister« vonnöten (1Kor 12,10).133 Die
Stadt war wegen oder trotz ihres überschäumenden Wesens für die Ausbreitung
des Christentums von unschätzbarer Bedeutung. Paulus benennt Missstände
und geht mit ihnen hart ins Gericht: »die Unordnung in den Gottesdiensten, die
ethische Laxheit und die sakramentale Heilssicherheit.«134 Hatten sie das Chris-
tentum in enthusiastischem Überschwang mit einer »neuen jüdisch-universalen
und zugleich apokalyptischen ›Mysterienreligion‹« verwechselt?135 Vergleichs-
punkte gibt es etliche136 – die Vorstellungen von Tod und Auferstehung, sakra-
mentale Motive, Initiationsrituale, die Rede vom (geistigen) Vater – und insbe-
sondere spirituelle Erfahrungen.137
Ohne Frage: Die Jesusbewegung erfuhr sich als eine Bewegung »des Geistes
und der Kraft« (1Kor 2,6).138 Am Ende des 1. Jahrhunderts hält der Hebräer-
brief rückblickend fest: Das Heil »nahm seinen Anfang mit der Verkündigung
durch den Herrn und wurde uns von denen, die sie hörten, verlässlich weiter-
gegeben und zugleich von Gott bestätigt durch Zeichen und Wunder und vie-
lerlei machtvolle Taten und Gaben, die der heilige Geist nach seinem Willen aus-
teilt« (Hebr 2,3–4). Wer sich zur christlichen Gemeinde zählte, beobachtete
und erlebte Manifestationen des endzeitlichen Geistes, an anderen und an sich.
Das Außergewöhnliche war normal. James Dunn hält fest: »[I]t should always
be recalled that in the earliest days of the new movement, reception of the Spi-
rit was seen as a significant, transformative and sometimes eye-catching expe-

133
V. Rabens, Begeisternde Spiritualität. Geisterfahrungen im Leben der paulini-
schen Gemeinden (GuL 26, 2011, 133–147), 141, Anm. 28: »Die korinthische Überbe-
wertung ekstatischer Erfahrungen könnte ihren Hintergrund in populären Inspirations-
vorstellungen (z. B. bezüglich der Orakel in Delphi und Dodona) gehabt haben.«
134
M. Hengel, Paulus und die Frage einer vorchristlichen Gnosis (in: Ders., Paulus
und Jakobus. Kleine Schriften III [WUNT 141], 2002, 473–510), 490.
135
Ebd.
136
Auf sie verwies mit Nachdruck die Religionsgeschichtliche Schule. Unterdessen
herrscht ein höherer Differenzierungsgrad und größere Nüchternheit vor. Vgl. knapp
B. Heininger, Die religiöse Umwelt des Paulus (in: O. Wischmeyer [Hg.], Paulus. Le-
ben – Umwelt – Werk – Briefe, 2012, 66–104), 79.
137
Vgl. zu Definitionsfragen G. Theissen, Erleben und Verhalten der ersten Chris-
ten. Eine Psychologie des Urchristentums, 2007, 114.
138
So die treffende Überschrift bei Harnack, Mission (s. Anm. 5), 220.
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28 Benjamin Schliesser ZThK

rience on the part of the recipient.«139 Das Neue Testament kennt eine beein-
druckende Fülle an individuellen und kollektiven Erfahrungen, die mit dem
Geist in Verbindung gebracht werden:140 Epiphanien des Auferstandenen, Vi-
sionen, prophetische Phänomene, Exorzismen, Krankenheilungen, ekstatische
Verzückungen und glossolale Erfahrungen. Zu den Geistwirkungen zählen
nach Paulus auch Schöpfungsgaben, d. h. natürliche Fähigkeiten: Weisheit und
Erkenntnis (1Kor 12,8), Dienst, Lehre und Ermahnung (Röm 12,7–8). Wer
glaubt, empfängt die »Frucht des Geistes«: »Liebe, Freude, Frieden, Geduld,
Güte, Rechtschaffenheit, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung« (Gal 5,22–23).
Schließlich vermag keiner »zu sagen: Herr ist Jesus!, es sei denn im heiligen
Geist« (1Kor 12,3).141 Das frühe Christentum bewahrte sich dabei eine bemer-
kenswerte Resistenz gegenüber den Verlockungen, Geld für seine »Dienstleis-
tungen« zu verlangen und in magische Praktiken und Scharlatanerie zu verfal-
len.142
Die im Forschungsüberblick genannten Autoren fremdeln mit dem Geist, je
auf ihre eigene Weise. Gibbon notiert, dass die christliche Kirche »von der Zeit
der Apostel und ihrer ersten Schüler« »eine lückenlose Reihe wundertätiger
Kräfte« für sich in Anspruch nahm.143 Er kann sich aber eine ironische Bemer-
kung nicht verkneifen: »Die Kenntnis fremder Sprachen wurde den Zeitgenos-
sen des Irenaeus häufig zuteil, obwohl Irenaeus selbst mit den Schwierigkeiten
einer barbarischen Sprache zu kämpfen hatte, als er Galliens Ureinwohnern das
Evangelium predigte.«144 Nach Harnack war die frühe Christenheit dadurch
charakterisiert, »daß jeder einzelne in ihr, auch die Knechte und Mägde, Gott
erleben«.145 Sogleich relativiert er: Der geistige Inhalt triumphiert über alle Ek-

139
J. D. G. Dunn, Christianity in the Making, Bd. 2: Beginning from Jerusalem,
2009, 283.
140
Vgl. das Summarium bei V. Gäckle, Die (Un-)Attraktivität der frühen Christen-
heit (KuD 63, 2017, 239–262), 257f, mit Stellennachweisen und Literatur.
141
Paulus hatte »[d]en Geist [. . .] nicht mitgebracht, sondern er war über ihn und die
Hörer seiner Predigt gekommen. Und das war offenbar kein Einzelfall, sondern ist die
Regel immer dort, wo das Evangelium Kreuz und Auferweckung Jesu im Licht der Heils-
botschaft von Gottes Handeln an seinem Volk Israel und an allen Menschen verkündigt
wird« (K.-W. Niebuhr, Evangelisches Amtsverständnis im Anschluss an Paulus und
Luther [in: M. R. Hoffmann / F. John / E. E. Popkes (Hg.), Paulusperspektiven (BThSt
145), 2014, 218–247], 244).
142
Vgl. Bremmer, Rise (s. Anm. 7), 35. Anders freilich die antichristliche Polemik,
z. B. die des Celsos. Vgl. G. Schöllgen, Magier, Gaukler, Scharlatane. Das Christentum
als Unterschichtenreligion bei Kelsos (in: H. Grieser / A. Merkt [Hg.], Volksglaube im
antiken Christentum, 2009, 28–37).
143
Gibbon, Verfall (s. Anm. 16), 462.
144
Ebd.
145
Harnack, Wesen (s. Anm. 25), 103; vgl. Ders., Mission (s. Anm. 5), 221–223.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 29

stasen, alle Erfahrung mündet in die »Kräftigung des sittlichen Sinns«.146 Rod-
ney Stark kann mit dem »Reich des Geistes« überhaupt nichts anfangen147 und
gibt seinen knappen Ausführungen zu diesem Begriff einen ironischen Unter-
ton bei. Aus den Studierstuben der theologischen Fakultäten wurde der Heili-
ge Geist für lange Zeit ausgebürgert. Erst in den vergangenen Jahrzehnten weht
ein frischer Wind: Die weltweiten, wachsenden charismatischen und pentekos-
talen Bewegungen nötigten die sogenannten etablierten Kirchen und Theolo-
gien zu einer Neuorientierung, und in der Exegese kam es zu einer kritischen
Rückbesinnung auf die Einsichten der Religionsgeschichtlichen Schule.148
Geisterfahrungen und spirituelle Phänomene der Jesusnachfolger ereignen sich
nicht in einem luftleeren Raum, abgeschlossen von der jüdischen und hellenis-
tisch-römischen Umwelt.149 Kaum ein anderes Phänomen des frühen Christen-
tums lässt in einem Maße die Osmose zwischen den Kulturen erahnen wie reli-
giöse Erfahrungen. Die Exegese ist gefragt, einen Mittelweg zu finden zwischen
dem parallelomanen Enthusiasmus der Religionsgeschichtlichen Schule und
einer geist-losen Voreingenommenheit, die auf dem Argwohn gegenüber einer
»Ehe von Pietismus und Psychologie« gründet.150
Zugleich – und hier kommt die Gegenseite der charismatischen Orientierung
ins Spiel – bedurfte es angesichts teils überbordender und konkurrierender
Geisterfahrungen, ethischer Konflikte und später auch aufgrund des numeri-
schen Wachstums der christlichen Gruppen gewisser Strukturen. Die Verun-
glimpfung dieser Entwicklung mit dem Begriff »Frühkatholizismus« verkennt
die geschichtliche Notwendigkeit von Ordnungen. Schon in neutestamentlicher
Zeit setzte ein Wandel ein, bei dem sich das frühe Christentum von einer »Be-
kehrungsreligion« zu einer »Traditionsreligion« umformte. Wäre dieser Wandel
ausgeblieben, »gäbe es heute keine Christen mehr«, wie Michael Wolter an-

146
Vgl. Harnack, Wesen (s. Anm. 25), 105; Ders., Mission (s. Anm. 5), 227.
147
Vgl. Stark, Rise (s. Anm. 5), 188, wo der Begriff »realm of the spirit« fällt.
148
Vgl. J. Frey / J. R. Levison, The Origins of Early Christian Pneumatology. On
the Rediscovery and Reshaping of the History of Religions Quest (in: Dies. [Hg.], The
Holy Spirit, Inspiration, and the Cultures of Antiquity. Multidisciplinary Perspectives
[Ekstasis 5], 2014, 1–38), 1f. Dort auch der Verweis auf die bahnbrechende Dissertation
von H. Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geistes. Nach der populären Anschauung
der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus, 1888. Gunkel formulier-
te (aaO 86) scharf zum paulinischen Erfahrungsbegriff: »Paulus glaubt an den göttlichen
Geist, weil er ihn erfahren hat.« Seine Theologie »ist Ausdruck seiner Erfahrung, nicht
seiner Lektüre.«
149
Vgl. den programmatischen Titel des Buchs von L. T. Johnson, Religious Expe-
rience in Earliest Christianity. A Missing Dimension in New Testament Studies, 1998.
150
K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146/147), 1991,
158. Vgl. Frey / Levison (s. Anm. 148), 3.
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30 Benjamin Schliesser ZThK

merkt.151 Max Weber prägte für diesen Prozess die Wendung »Veralltäglichung
des Charisma«152 und meint damit, dass eine Bewegung, die ihre Anfangsphase
überdauern will, das Überkommene traditionalisieren, habitualisieren und ra-
tionalisieren muss. Dieser entwicklungsgeschichtlich und religionssoziologisch
unausweichliche Vorgang begründet und bekräftigt den Ursprungsbezug einer
Bewegung.153 Doch nur eine romantisierende Sicht auf die Geschichte des frü-
hen Christentums kann eine Entwicklung behaupten von einer charismatisch-
formlosen Urgestalt christlicher Gemeinden hin zu einer starren ekklesialen
Verfassung mit monarchischem Episkopat. Immerhin war Paulus, der am An-
fang der Entwicklung steht, einer der »wohl autoritärsten Figuren im ganzen
Neuen Testament«,154 der v. a. mit seinen Briefen Leitungsfunktionen ausübte
und in aller Schärfe regulativ in das Gemeindeleben eingriff. Umgekehrt inter-
essieren sich manche der sogenannten Spätschriften des Neuen Testament wie
der Jakobusbrief offensichtlich kaum für Strukturen und Ämter.155
Mit solchen Überlegungen öffnet sich ein weites Feld, das gemeinhin mit
dem Begriffspaar »Charisma und Amt« umrissen wird – wieder im Sinne einer
complexio oppositorum. Dieser charakteristischen Spannung ist es zu verdan-
ken, dass organisatorische Vielfalt ein »intrinsisches Merkmal« der urbanen
Jesusbewegung war.156 Bis weit ins 2. Jahrhundert existierte sie dezentral und
fraktioniert und war imstande, flexible und pragmatische Gemeindeformen
einzurichten. Es bildeten sich Ämter und Funktionen heraus, die sich an lokal
vorfindliche Leitungsstrukturen und Funktionsbezeichnungen anschlossen, an

151
M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, 2011, 151. Vgl. Ders., Die
Entwicklung des paulinischen Christentums von einer Bekehrungsreligion zu einer Tra-
ditionsreligion (EC 1, 2010, 15–40).
152
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie
(1922), 51980, 146.
153
Vgl. W. Gebhard, Einleitung – Grundlinien der Entwicklung des Charisma-Kon-
zeptes in den Sozialwissenschaften (in: Ders. / A. Zingerle / M. N. Ebertz [Hg.], Cha-
risma. Theorie – Religion – Politik, Materiale Soziologie 3, 1993, 1–12), 6. Gleichzeitig
bleibt es nicht aus, dass Impulse des Anfangs zurückgedrängt werden. Vgl. J. Frey, Neu-
testamentliche Perspektiven und Impulse zur Entwicklung christlicher Gemeinden (in:
Ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II, 2016, 779–798),
780; mit Verweis auf das egalitäre Moment der Gemeindestruktur (vgl. Gal 3,28) und die
Beteiligung von Frauen.
154
Niebuhr (s. Anm. 141), 230f.
155
AaO 231.
156
Zum Phänomen der frühchristlichen Pluralität in Struktur- und Ämterfragen vgl.
P. Lampe, Vielfalt als intrinsisches Merkmal frühen Christentums (1./2. Jh.) (in: K. Viert-
bauer / F. Wegscheider [Hg.], Christliches Europa? Religiöser Pluralismus als theologi-
sche Herausforderung, 2017, 47–65 [s. u.]). Daneben D.-A. Koch, Geschichte des Ur-
christentums. Ein Lehrbuch, 2013, 490–494.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 31

politische Ämter, Philosophenschulen, Vereine, die Synagoge oder das Haus


(z. B. ἐπίσκοπος, διάκονος, πρεσβύτερος, διδάσκαλος, ἀπόστολος). Dabei han-
delt es sich also – anders als in der älteren Forschung angenommen – keinesfalls
um spezifisch christliche Ordnungsstrukturen. Vielmehr variierten Ämter und
Funktionen von Stadt zu Stadt, von Christusgruppe zu Christusgruppe. Die
Gemeinden orientierten sich an den politisch-kulturellen Gegebenheiten vor
Ort sowie an ihren eigenen Bedürfnissen und an den Fähigkeiten und Mitteln
der Mitglieder.157 Nicht einmal so zentrale Ämter wie διάκονος und ἀπόστολος
verbanden sich mit »eindeutig festgelegte[n] Amtsvorstellungen«,158 sondern
wurden flexibel und gemäß der individuell gegebenen »Gnade« eingesetzt
(Röm 12,6: κατὰ τὴν χάριν). »Amt« und »Charisma« standen in einer produk-
tiven Spannung, die im Blick auf die frühchristliche Gemeinschaftsbildung ihr
Pendant findet in einem charakteristischen Ineinander von Anpassungsfähigkeit
und Innovation.

II.5. Zwischen Mimesis und Alternativ-Ekklesia

Die Jesusbewegung pflegte einen pragmatischen Umgang nicht nur im Blick auf
Ämter und Funktionen in ihren Gruppen, sondern auch im Blick auf die For-
men der Vergemeinschaftung. Sie richteten sich zwanglos an den sozialen Struk-
turen der hellenistisch-römischen Stadtkultur aus und waren verwurzelt in
ihrem kulturellen und politischen Habitat. Im Umfeld des Paulus (und wohl
schon zuvor) etablierte sich der Begriff ἐκκλησία als Selbstbezeichnung grie-
chisch sprechender jüdischer Christusgruppen159 und setzte damit einen nicht
zu unterschätzenden, öffentlichen Anspruch: In den Städten seiner Mission,

157
Vgl. stellvertretend für ein ungeheuer produktives Forschungsfeld M. Tiwald,
Die vielfältigen Entwicklungslinien kirchlichen Amtes im Corpus Paulinum und ihre
Relevanz für heutige Theologie (in: Th. Schmeller / M. Ebner / R. Hoppe [Hg.], Neu-
testamentliche Ämtermodelle im Kontext [QD 239], 2010, 101–128); A. Hentschel,
Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie (BThSt
136), 2013.
158
AaO 83.
159
Die Auskunft des Paulus, er habe »die ἐκκλησία Gottes verfolgt« (1Kor 15,9),
setzt wohl voraus, dass schon die »Hellenisten« in Jerusalem und Damaskus den Begriff
gebrauchten. Neuere Forschungen zum Thema heben den situativen Gebrauch des Be-
griffs hervor, der nicht eine überregional normative Gestalt von »Kirche« vor Augen hat,
sondern ortsspezifische organisatorische Strukturen bezeichnet. Vgl. Y.-H. Park, Paul’s
Ekklesia as Civic Assembly. Understanding the People of God in their Politico-Social
World (WUNT II/393), 2015; R. J. Korner, The Origin and Meaning of Ekklēsia in the
Early Jesus Movement (AJEC 98), 2017.
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32 Benjamin Schliesser ZThK

inmitten der politischen Bürgerversammlungen kommt ein »honorable body


of citizens« zusammen,160 eine ›demokratische‹ Bürgerversammlung, die sich
von der hierarchischen, männerdominierten Struktur der Mehrheitsgesellschaft
unterscheidet, alternative Zugangsbedingungen festsetzt (Glaube und Taufe),
eine distinkte Identität entwickelt161 und für sich in Anspruch nimmt, die Ge-
schicke einer Gemeinschaft zu lenken. Selbstbezeichnung und Selbstbewusst-
sein tragen einen öffentlich-politischen Akzent und verweisen provokativ auf
eine »Alternativ-Ekklesia« mit attraktiven Teilhabemöglichkeiten.162 Zugleich
tragen sie einen religiösen Akzent, insofern sie die Christusgruppen als end-
zeitliche Versammlungen Gottes bestimmen, deren bürgerschaftliche Existenz
»in den Himmeln« (Phil 3,20) anzusiedeln ist.163
Dem politischen wie religiösen Anspruch der frühen Christenheit steht die
Unscheinbarkeit, ja geradezu Unsichtbarkeit ihres bevorzugten Versamm-
lungsortes entgegen. Die Hausgemeinde war – nach dem vielzitierten Satz von
Hans-Josef Klauck – »Gründungszentrum und Baustein der Ortsgemeinde,
Stützpunkt der Mission, Versammlungsstätte für das Herrenmahl, Raum des
Gebetes, Ort der katechetischen Unterweisung, Ernstfall der christlichen Brü-
derlichkeit.«164 Das »Hausmodell« hatte im städtischen Kontext gewisse Vor-
züge: Es bewahrte die Jesusanhänger vor den administrativen und gesellschaft-
lichen Problemen von Kultgründern, die ein geeignetes Grundstück für ein
Heiligtum finden und erwerben müssen.165 Versammlungen in Häusern konn-
ten flexibel terminiert und gestaltet, hierarchische gesellschaftliche Strukturen
und Wertvorstellungen im Sinne des Christusglaubens durchbrochen werden.
Es konnte »eine relativ ungestörte Praxis religiösen Lebens« etabliert werden.166

160
Park (s. Anm. 159), 218.
Vgl. in diesem Sinne schon 1Thess 1,1: ἡ ἐκκλησία Θεσσαλονικέων ἐν θεῷ πατρὶ
161

καὶ κυρίῳ Ἰησοῦ Χριστῷ; 2,14: ἐκκλησίαι τοῦ θεοῦ [. . .] ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ.
162
M. Ebner, Der Brief an Philemon (EKK 18), 2017, 48.
163
Vgl. Hurtado, Destroyer (s. Anm. 39), 98. Hier ist an die Verwendung des ἐκκλη-
σία-Begriffs in der Septuaginta und bei hellenistisch-jüdischen Autoren, allen voran Philo
von Alexandrien zu erinnern, der hier – häufig in der Genitivverbindung ἐκκλησία κυρί-
ου – das ganze Gottesvolk meint.
164
H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103),
1981, 102. Natürlich ist hier nicht an das häusliche Ideal des 19. Jahrhunderts zu denken,
das die Forschung bis in die letzten Jahrzehnte beeinflusste. Zur Kritik an diesem Modell
R. Last, The Neighborhood (vicus) of the Corinthian ekklēsia. Beyond Family-Based
Descriptions of the First Urban Christ-Believers (JSNT 38, 2016, 399–425), 404–406.
165
Vgl. J. N. Bremmer, Urban Religion, Neighborhoods and the Early Christian
Meeting Places (erscheint in: RRE, 2019), mit Verweis auf die Mühsal des Sarapis-An-
hängers Apollonius, der auf Delos auf Befehl der Gottheit einen Sarapis-Kult etablierte
(IG XI,4 1299).
166
U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr., 2015, 255.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 33

In den Privathäusern formierte sich die »Alternativ-Ekklesia« als neue Familie


aus Schwestern und Brüdern.167
Hier wäre nun der Ort, auf neue Ansätze in der Forschung einzugehen, nach
denen sich die Jesusbewegung nicht nur in Häusern traf, sondern auch in Ge-
werberäumen, Warenlagern, Werkstätten, Gästehäuser oder Friedhöfen.168 Doch
stattdessen stoßen wir die Tür auf zu einer sozialgeschichtlichen Frage, die wie
kaum eine andere derzeit die Erforschung des frühen Christentums in Atem hält:
In welcher Beziehung stehen frühchristliche Gemeinden zu den paganen Ver-
einen? »Der Grieche [. . .] ist ein Vereinsmeyer erster Güte«, schrieb Max Strack
Anfang des letzten Jahrhunderts.169 Ist auch der Christ ein »Vereinsmeyer«?
Marktwirtschaftlich gesprochen waren jedenfalls Christusgruppen und Vereine
direkte Konkurrenten. Die Gegenüberstellung von »Christengemeinden« und
»Genossenschaften« ist keineswegs neu, sondern erlebte bereits in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts eine erste Blüte.170 Während man in dieser Phase ins-
besondere über strukturelle Parallelen zwischen Vereinen und Gemeinden nach-
dachte, richtet sich das gegenwärtige Forschungsinteresse auf das dynamische
Nebeneinander der Gemeinschaften in einer Stadt. Die Distinktionsgrenzen
zwischen Christengemeinde, Synagoge und Verein waren durchlässig, sie alle
fügen sich ein in eine Taxonomie urbaner Gruppen.171 Christliche Gemeinden
werden dabei »in den Markt der religiös-geselligen Möglichkeiten der Antike«
hineingestellt, um ihr spezifisches ›Angebotsprofil‹ herauszuarbeiten.172

167
Der Ort der Zusammenkunft korrespondiert mit der familialen Beziehungsmeta-
phorik. Paulus bezeichnet Glaubende als »Söhne« bzw. »Kinder Gottes« (Röm 8,14.16.
19.21. 9,8; Gal 3,26; Phil 2,15), nennt sich »Vater« der von ihm gegründeten Gemein-
de (1Thess 2,11; 1Kor 4,15;) und die Gemeindeglieder seine »Kinder« (1Kor 4,14;
2Kor 6,13. 12,14; Gal 4,19). Noch bemerkenswerter ist die Rede von »Bruder« bzw.
»Brüder«: Über 120 Male wählt Paulus (in seinen als echt anerkannten Briefen) diese An-
rede für Mitglieder der von ihm adressierten Gemeinden (vgl. E. Adams, The Earliest
Christian Meeting Places. Almost Exclusively Houses?, 2013, 24). Meeks (s. Anm. 4), 85,
spricht von einer »language of belonging«, deren Kehrseite notwendigerweise Exklusi-
vität und Trennung ist (aaO 94: »language of separation«).
168
Ebd. Zur Würdigung vgl. Bremmer, Urban Religion (s. Anm. 165).
169
M. L. Strack, Die Müllerinnung in Alexandrien (ZNW 4, 1903, 213–234), 223.
170
Vgl. v.a. C. F. G. Heinrici, Die Christengemeinden Korinths und die religiösen
Genossenschaften der Griechen (ZWTh 19, 1876, 465–526); E. Hatch, The Organiza-
tion of the Early Christian Churches. Eight Lectures (Bampton lectures 1880), 1881. Zur
älteren Forschung Th. Schmeller, Zum exegetischen Interesse an antiken Vereinen im
19. und 20. Jahrhundert (in: A. Gutsfeld / D.-A. Koch [Hg.], Vereine, Synagogen und
Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien [STAC 25], 2006, 1–19).
171
Vgl. zum Stand der Forschung R. S. Ascough, What Are They Now Saying
about Christ Groups and Association (CBR 13), 2014, 207–244.
172
E. Ebel, Mit vereinten Kräften Profil gewinnen. Antike Vereine und frühe christ-
liche Gemeinden – ein lohnender Vergleich (VF, 2010, 71–79), 72.
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34 Benjamin Schliesser ZThK

Welche Konvergenzen lassen sich zwischen paganem Verein und christlicher


Vereinigung ausmachen?173 Das soziale Leben ereignete sich in den regelmäßi-
gen Zusammenkünften. Im Mittelpunkt steht das gemeinschaftliche Essen, in
dem man des Stifters gedenkt und/oder eine Gottheit verehrt. Vereinstreffen
fanden in Privathäusern statt wie etwa die Versammlungen im Haus des Stifters
Dionysios in Philadelphia,174 häufiger jedoch in eigenen Vereinshäusern, Tem-
pelhallen oder Tavernen. Familienmetaphorik, v. a. die Anrede als »Bruder«, wie
Freundschaftsrhetorik prägen sowohl den Idiolekt etlicher Vereine als auch
die Sprache der ersten Christen. Die Terminologie, mit der die Leitungsstruk-
tur einer Gemeinde beschrieben wird, ist unmittelbar an das Vereinsdenken an-
schlussfähig, und die Organisation des Vorsitzes bei den Gemeinschaftsmählern
(1Kor 11,19) kann mit administrativen Regelungen im Vereinsleben verglichen
werden. Vereine waren darauf angewiesen, Mitglieder zu gewinnen und sie auf
das »Vereinsethos« und auf ethische Standards zu verpflichten. Nicht zuletzt
mussten die christlichen Gemeinschaften – wie auch die Vereine – als subalter-
ne, randständige Gruppen ihren Platz im städtischen Leben finden, und sie ta-
ten dies u. a. durch Nachahmung von urbanen Institutionen und dem gleich-
zeitigen Anspruch, eine alternative Bürgerschaft zu bieten.
Was machte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Gemeinde vor dem
Hintergrund des Vereinswesens attraktiv?175 Das Hauptaugenmerk richtet sich
nun nicht auf organisatorische und terminologische Differenzen, sondern auf
die formative Kraft des christlichen Ethos. Anders als in den meisten Vereinen
war die Zugehörigkeit nicht aufgrund von Geschlecht, sozialer Herkunft oder
gesellschaftlicher Schicht beschränkt – das »ganze Haus«, einschließlich der
Frauen und der Sklaven, ist Teil der Gemeinschaft. Status- und Geschlechter-
grenzen wurden programmatisch in Frage gestellt und zumindest im Ansatz
überwunden. Es waren keine festgelegten Eintrittsgelder oder Mitgliedsbeiträ-
ge zu entrichten.176 Wer Mitglied der Gemeinde war, brachte auch finanziellen

173
Vgl. stellvertretend für die Flut an Literatur J. S. Kloppenborg, Associations,
Christ Groups, and Their Place in the Polis (ZNW 108, 2017, 1–56); Ders., Pauline
Assemblies and Graeco-Roman Associations (in: Schröter / Butticaz / Dettwiler
[s. Anm. 79], 215–248).
174
Vgl. M. Öhler, Gründer und ihre Gründung. Antike Vereinigungen und die pau-
linische Gemeinde in Philippi (in: J. Frey / B. Schliesser [Hg.], Der Philipperbrief des
Paulus in der hellenistisch-römischen Welt [WUNT 353], 2015, 121–151), 125.
175
Vgl. zusammenfassend E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden.
Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine (WUNT 2/178),
2004, 215–218.
176
Anders jetzt allerdings R. Last, The Pauline Church and the Corinthian Ekklesia.
Greco-Roman Associations in Comparative Context (SNTS.MS 164), 2016, 137–147.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 35

Einsatz, aber dieser war nicht Voraussetzung für die Mitgliedschaft. Bedeutsam
ist die Häufigkeit der christlichen Zusammenkünfte. Sie fanden wöchentlich
statt, boten damit häufig ein Sättigungsmahl und stärkten das Gemeinschafts-
gefühl. Die Sozialbeziehungen in den Gemeinden erreichten eine außerordent-
liche Intensität und Verbindlichkeit und schlossen die Mitglieder »in eine um-
fassende und exklusive Lebensgemeinschaft« ein.177 Auch Nichtmitglieder (vgl.
1Kor 14,23–25: ἰδιῶται, ἄπιστοι) konnten probehalber eine Versammlung be-
suchen und sich ein Bild von ihren Aktivitäten machen. Schließlich steht die
überregionale Vernetzung der christlichen Gemeinden im Kontrast zu Verei-
nen.178 Wer im Athener Kultverein der Iobakchen seine Mitgliedsbeiträge ent-
richtete, war nicht »automatisch« Teil des Dionysosvereins in Korinth. Die
überregionale Ausrichtung der christlichen Gemeinden geht im Kern zurück
auf die »bewusst transnationale, transkulturelle und schichtenübergreifende
mitgliederwerbende Mission des frühen Christentums«179 und wurde gepflegt
durch gegenseitige Besuche und den brieflichen Austausch. Martin Ebner ver-
deutlicht das Ineinander von kultureller Resonanz und Neuorientierung: »So-
wohl von ihren Sozialformen und -strukturen als auch von ihrer Selbststilisie-
rung her ähneln christliche Gemeinden den antiken Vereinen außerordentlich –
und wollen doch anders sein.«180
In den genannten Wesenszügen der christlichen Gemeinden äußern sich dif-
ferentia specifica, markante Überstände, die nicht einfach abgetrennt oder in
einen idealtypischen Rahmen eingepasst werden können.181 Die Jesusbewegung
schuf neuartige Sozialformen, nicht aus dem Nichts, aber mit singulären We-
sensmerkmalen. Sie flochten neue soziale Netzwerke, formierte sich als »ein
konfessioneller Verband der gläubigen Einzelnen, nicht [als] ein ritueller Ver-
band von Sippen,« wie dies schon Max Weber scharfsinnig notierte.182 Die frü-

Nach J. Kloppenborg, Fiscal Aspects of Paul’s Collection for Jerusalem (EC 8, 2017,
153–198), handelt es sich bei der Jerusalem-Kollekte um einen Vereinsbeitrag (ἐπίδοσις).
177
Schmeller, Hierarchie (s. Anm. 170), 17.
178
Trotz R. S. Ascough, Translocal Relationships among Voluntary Associations and
Early Christianity (JECS 5, 1997, 223–241). Zur Kritik an Ascough vgl. Th. Schmeller,
Neutestamentliches Gruppenethos (in: J. Beutler [Hg.], Der neue Mensch in Christus.
Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament [QD 190], 2001, 120–134),
133.
179
U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, 2007, 333.
180
Ebner, Stadt (s. Anm. 2), 228.
181
Eine sehr grundsätzliche Kritik am Vereinswesen als einem geeigneten Vergleichs-
paradigma bietet aus altertumswissenschaftlicher Sicht B. Eckhardt, The Eighteen As-
sociations of Corinth, Greek, Roman and Byzantine Studies 56, 2016, 646–662. Skeptisch
war übrigens schon Harnack, Mission (s. Anm. 5), 191, Anm. 4; vgl. aaO 26, Anm. 3.
182
M. Weber, Die Stadt, hg. von W. Nippel (MWS I/22-5), 2000, 24.
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36 Benjamin Schliesser ZThK

he Christenheit besaß ein beträchtliches soziales Kapital, indem sie soziale Grä-
ben überbrückte und neue Verbindungen förderte (»bridging and bonding«).183
Die Städte bildeten mit ihrer Bevölkerungsdichte einen idealen Nährboden für
unkonventionelle Abweichungen von der kulturellen Norm und für die Aus-
bildung von dynamischen Subkulturen.

II.6. Zwischen Exklusivität und Anpassungsfähigkeit

Max Weber kommt in seinem Werk wiederholt auf den »Tag von Antiochien«
zu sprechen und verweist mit dieser Kurzformel auf ein ›Schlüsseldatum der
Weltgeschichte‹: die Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen,
wie sie in Gal 2,11–14 über die antiochenische Gemeinde berichtet wird. Das
gemeinsame Essen erwies, so Weber, die »internationale und inter-ständische
Universalität« des Christentums.184 Mit der revolutionären »Abstreifung aller
rituellen Geburts-Schranken für die Gemeinschaft der Eucharistie«185 in Anti-
ochia ist die Geschichte freilich noch nicht zu Ende, denn unter dem Druck der
Jakobusleute aus Jerusalem macht Petrus einen Rückzieher und sondert sich ab
»aus Furcht vor den Beschnittenen« (Gal 2,12). Paulus reagiert heftig und stellt
Petrus vor den Anwesenden zur Rede: »Wenn du, der du ein Jude bist, wie die
Heiden und nicht wie ein Jude lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen,
wie die Juden zu leben?« Es folgt im Bericht des Galaterbriefs der Basissatz
der Rechtfertigungslehre: »Weil wir aber wissen, dass ein Mensch nicht dadurch
gerecht wird, dass er tut, was im Gesetz geschrieben steht, sondern durch
den Christusglauben, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekom-
men [. . .]« (Gal 2,16).
So einfach, wie es Webers Wendung vermuten lässt, ist es also nicht. Der »Tag
von Antiochien« brachte noch keinen Durchbruch, sondern verfestigte vielmehr
die »inneren Bruchlinien«, die er als aufgehoben betrachtet.186 Die zentralen Fra-
gen sind aber gestellt: Wie entsteht christliche Identität? Was ist Glaube (πίστις)?
Wann wurde die Jesusbewegung als eigenständige Bewegung wahrgenommen?

183
Vgl. Bremmer, Rise (s. Anm. 7), 44.
184
M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Hinduismus und Buddhis-
mus: 1916–1920, hg. von H. Schmidt-Glintzer (MWS I/20), 1996, 96. Vgl. dazu
Th. Schmeller, Das paulinische Christentum und die Sozialstruktur der antiken Stadt.
Überlegungen zu Webers ›Tag von Antiochien‹ (in: H. Bruhns / W. Nippel [Hg.], Max
Weber und die Stadt im Kulturvergleich, 2000, 107–118).
185
Weber, Wirtschaftsethik (s. Anm 184), 96.
186
M. Sommer, Die »entzauberte« Antike. Max Webers Fragment Die Stadt als Ent-
wurf einer verstehenden Altertumswissenschaft (Oldenburger Universitätsreden 207),
2015, 28.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 37

Wie verhielt sie sich zum Judentum? Harnack verstieg sich zur These, die christ-
liche Religion sei, belastet »mit dem ganzen Erbe des Spätjudentums«, »um ihre
Jugend gekommen.«187 Eine solche Sicht ist heute keine Option mehr. V. a. die
»New Perspective on Paul« und der jüdische Blick auf die Christentumsge-
schichte haben zu einem Paradigmenwechsel in der Forschung geführt. Die An-
fänge und die Ausbreitung des frühen Christentums sind unauflöslich mit dem
Judentum verflochten. Und doch gibt es ein distinktes Identitätsmerkmal des
entstehenden Christentums: der Glaube (πίστις), der mit seinen charakteristi-
schen christologischen Formatierungen in nahezu allen Schichten des Neuen
Testaments zum zentralen Begriff avancierte.188 Die singuläre Stellung des Glau-
bens im frühen Christentum, die geradezu explosionsartige Steigerung der Rede
vom Glauben, kann religionswissenschaftlich wie theologisch kaum überbe-
wertet werden.189 Mit der Totalität der christlichen Kerninhalte – neben dem
Glauben sind dies auch die Taufe und das »Sein in Christus« – verbindet sich
ein exklusiver Anspruch. Es war nicht vorgesehen, dass ein Jesusanhänger zu-
gleich an einem anderen Kult partizipierte.190 So jedenfalls das beherrschende
Selbstverständnis des frühen Christentums, das anders als im Judentum nicht
ethnisch legitimiert wurde. Auf völliges Unverständnis in der Gesellschaft wird
der Bruch mit den althergebrachten religiösen Überlieferungen und Praktiken
sowie mit den Verpflichtungen innerhalb der Familie gestoßen sein.191 Umso
stärker wirkte nach innen die gemeinsame Identität im Glauben, der im Hier
und Jetzt Zugang zu einer neuen Familie und zu einer »Alternativ-Ekklesia«
verschaffte und zugleich die Gewissheit eines endzeitlichen Heils verbürgte.

187
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 113 (vgl. aaO 18). Vgl. dazu den jüdischen Judais-
ten S. J. D. Cohen, Adolf Harnack’s »The Mission and Expansion of Judaism«. Christi-
anity Succeeds where Judaism Fails (in: B. A. Pearson [Hg.], The Future of Early Chris-
tianity [FS Helmut Koester], 1991, 163–169).
188
Vgl. J. D. G. Dunn, Boundary Markers in Early Christianity (in: J. Rüpke [Hg.],
Gruppenreligion im römischen Reich. Sozialformen, Grenzziehungen und Leistungen
[STAC 43], 2007, 49–68), 61f.
189
Zum Eindruck einer explosionsartigen bzw. inflationären Steigerung der Glau-
bensterminologie vgl. K. Haacker, Art. Glaube. II. Altes und Neues Testament (TRE
13, 1984, 277–304), 292. 297. Warum allerdings gerade der »Glaube« diese Zentralstellung
erlangte, ist noch nicht abschließend geklärt. Vgl. T. Morgan, Roman Faith and Chris-
tian Faith. Pistis and Fides in the Early Roman Empire and Early Churches, 2015, 6 (Fra-
gilität der πίστις/fides im Römischen Reich); zum Ganzen B. Schliesser, Faith in Early
Christianity. An Encyclopedic and Bibliographical Overview (in: Frey / Schliesser /
Ueberschaer, Glaube [s. Anm. 74], 3–50), 45–50.
190
Vgl. Ehrman (s. Anm. 6), 81. Anders Clauss (s. Anm. 40), 154: »Wenn man Mith-
ras dienen konnte und Sarapis, weshalb dann nicht auch Mithras und Christus [. . .]?« Be-
lege für die Antwort auf seine Suggestivfrage kann Clauss nicht beibringen.
191
Vgl. J. Barclay, Conflict in Thessalonica (CBQ 55, 1993, 512–530), 515.
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38 Benjamin Schliesser ZThK

Harnack hatte den exklusiv-universalen Charakter des Christentums scharf er-


kannt und direkt mit seinem Erfolg verknüpft: »Die christliche Religion ist von
Anfang an mit einer Universalität aufgetreten, kraft deren sie das ganze Leben
in allen seinen Funktionen mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Gefühlen, Ge-
danken und Taten mit Beschlag belegte. Diese Universalität sicherte ihr den
Sieg.«192 Der aus Sicht der religiösen Umwelt prätentiöse und aus Sicht des so-
zialen Umfelds desaströse Exklusivitätsanspruch äußert sich auch in den teils
schon erwähnten Selbstbezeichnungen: (Christus-)Versammlung (ἐκκλησία),
»Erwählte«, »Geliebte Gottes« oder »Heilige«.193
Nun könnte leicht der Schluss gezogen werden, dass mit der Exklusivität
und Universalität des christlichen Glaubens eine starke Tendenz zu sozialer und
religiöser Homogenität einhergeht, dass also Anpassungsstrategien eher selten
sind und sich nur auf Nebensächlichkeiten beziehen.194 Dies wäre ein Fehl-
schluss. Ein eindrückliches Beispiel frühchristlicher Heterogenität und Plura-
lität ist der »melting pot« Ephesus.195 Zahlreiche Personen und Traditionen sind
eng mit Ephesus verbunden: Jünger Johannes’ des Täufers (Apg 19,2–6), Apol-
los (Apg 18,24), die paulinische Mission sowie Prisca und Aquila (1Kor 16,19;
Apg 18,19.26; 19,1), der Epheserbrief, das lukanische Doppelwerk, die johan-
neischen Schriften einschließlich der Johannesoffenbarung, die Pastoralbriefe
und schließlich der Brief des Ignatius an die Epheser.196 Eine ungeheure Plura-
lität allein im 1. Jahrhundert n. Chr., die in den vergangenen Jahren die Auf-
merksamkeit der neutestamentlichen Wissenschaft auf sich zog und zu einer
wahren Flut an neuen Publikationen geführt hat. Die Forschung interessiert
sich für die Frage, ob und wie es möglich war, dass in einer Stadt auf so engem
Raum so vielfältig ausgeprägte »Christentümer« nebeneinander existieren konn-
ten197 – vom prophetisch-apokalyptischen Christentum der Johannesapokalyp-

192
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 527f. Vgl. Ehrman (s. Anm. 6), 127: »One other
feature of Christianity that made it different from all the pagan religions throughout the
empire is that it encompassed numerous aspects of life that had always been kept dis-
tinct.«
193
Vgl. monographisch P. R. Trebilco, Self-designations and Group Identity in the
New Testament, 2012.
194
So m. E. missverständlich W. Stegemann, Zur Deutung des Urchristentums in
den »Soziallehren« (1993; in: Ders., Streitbare Exegesen. Sozialgeschichtliche, kultur-
anthropologische und ideologiekritische Lektüren neutestamentlicher Texte, 2015, 41–
64), 64.
195
Zur religiös-kulturellen Vielfalt in der Stadt vgl. T. Georges (Hg.), Ephesos. Die
antike Metropole im Spannungsfeld von Religion und Bildung (COMES 2), 2017.
196
Vgl. M. Tiwald, Frühchristliche Pluralität in Ephesus (in: Bendemann / Tiwald,
Christentum [s. Anm. 4], 128–145), 129 (auch zum Folgenden).
197
Vgl. J. Frey, Von Paulus zu Johannes. Die Diversität »christlicher« Gemeinde-
kreise und die »Trennungsprozesse« zwischen der Synagoge und den Gemeinden der Je-
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 39

se über die sakramentale Bischofskirche eines Ignatius bis hin zu den weltoffe-
nen Nikolaiten (Apk 2,6.15), wohl einem »ultrapaulinischen« Flügel der Ge-
meinde, der (wie Paulus in 1Kor 8) das Essen von Götzenopferfleisch nicht in
Bausch und Bogen verdammte. Es leuchtet nicht ein, dass das »aufs Ganze ge-
sehen relativ unkompliziert[e] Verhältnis« zwischen den heterogenen Christen-
gruppen darauf beruht, dass sie »schlicht oft nicht vom Anderssein der Ande-
ren wussten«.198 Dieser Einschätzung steht die Mobilität einzelner Christinnen
und Christen, der intensive briefliche wie persönliche Austausch und das über-
örtliche Denken der Jesusbewegung entgegen.
Das Nebeneinander, teilweise auch Gegeneinander, forderte die Jesusgrup-
pen zu einem aufwändigen »Identitätsmanagement« heraus, von dessen Stra-
pazen die frühchristlichen Schriften zeugen. Der Christusglaube stiftete eine
gemeinsame Identität. Um die adäquate Haltung zur »Welt«, zum Römischen
Reich und seiner Kultur musste je neu gerungen werden – Weltbejahung oder
Weltablehnung, Widerstand oder Anpassung.199 Theologische Konzepte und
strukturelle Fragen standen im Wissen um eine gemeinsame Identität stets neu
zur Disposition.200 Die soziale Bedeutung von Status und Bildung, die Veror-
tung in der Polis und in der Familie wurden immer wieder neu verhandelt. Gut
vorstellbar ist, dass es in Ephesus Übertritte von einer paulinischen Christus-
gruppe zu einer johanneischen gab oder dass sich Christen beiden Gruppierun-
gen zugehörig wussten.
Die christlichen Gemeinden mussten nicht nur zusehen, wie sie sich unter-
einander arrangierten. Das »Identitätsmanagement« erstreckt sich auch auf die
Auseinandersetzung mit dem Judentum, das sich ebenso divers zeigte wie das
Christentum. Als Paulus nach Ephesus kam, existierte bereits eine mit Apollos
und der Synagoge verbundene Gemeinde. Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus

susnachfolger in Ephesus im ersten Jahrhundert (in: C. K. Rothschild / J. Schröter


[Hg.], The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Com-
mon Era, 2013, 235–278).
198
Lampe, Vielfalt (s. Anm. 156), 53.
199
Vgl. S. Vollenweider, Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum (in:
H.-G. Nesselrath / M. Rühl [Hg.], Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverant-
wortung. Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike, 2014, 127–
145), 127: »Das Christentum hat wie kaum eine andere Religion der Menschheit das ge-
samte Spektrum zwischen Weltflucht und Weltverantwortung artikuliert.«
200
Vgl. Tiwald, Pluralität (s. Anm. 196), 131; mit Verweis auf P. R. Trebilco, The
Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), 2004, 716: »We cannot
call this ›unity‹ – they clearly retained the distinct identity of their separate groups. We
can perhaps speak of commonality – that, whilst preserving their distinctive identity, we
can suggest that they would have been willing to acknowledge the validity of each other’s
claim to be part of the wider movement that we call early Christianity.«
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40 Benjamin Schliesser ZThK

auf ›neutralen‹ Boden auswich, in die »Schule des Tyrannos«, wo er Juden wie
Heiden erreichen konnte. Offensichtlich mit Erfolg: Nach dem Bericht der
Apostelgeschichte gefährdete die neue Bewegung den wirtschaftlichen Erfolg
der Devotionalienhändler. Es kam zum Aufstand des Silberschmieds Deme-
trios. Der heftige Konflikt darf jedoch nicht zum Missverständnis führen, dass
sich die ephesinischen Christen radikal von der urbanen Kultur distanzierten,
wohl aber stellt er die Frage, wie die neue »symbolische Sinnwelt« des Chris-
tentums den bestehenden »Sinnwelten« begegnete.201 Zu kurz jedenfalls greift
das Pauschalurteil, dass in der Jesusbewegung »synkretistische Neigungen sehr
ausgeprägt waren«, wie dies jüngst Manfred Clauss mit etwas abschätzigem
Zungenschlag formulierte.202 Auch Harnack hatte ja das Christentum als »syn-
kretistische Religion par excellence« bezeichnet und sich sogleich die berech-
tigte Frage eines Rezensenten eingehandelt: »Comment une religion syncrétis-
te peut-elle rester exclusive?« Harnacks lapidare Antwort: Wenn eine Religion
»alles, was sie übernommen und sich angeeignet hat, stets als ihr Eigentum und
ihr Eigentümliches ausgibt, ja zu ihrem Eigentum macht – warum soll sie da
nicht exklusiv sein können?«203 Richtig ist, dass insbesondere die Sinnwelt des
Paulus, die er als »eine eigene neue religiöse Welt« konstruiert, in hohem Maße
anschlussfähig war an andere, bereits bestehende Sinnwelten – an die Jesusge-
schichte, das Judentum und den Hellenismus – und deshalb auch so wirkmäch-
tig war.204 In der Dynamik des Anfangs handelte es sich weniger um eine
synkretistische Vereinnahmung als vielmehr um eine Kontextualisierung der
christlichen Inhalte im umgebenden Wirklichkeitsbereich. Das frühe Christen-
tum suchte (und fand) seinen Platz im antiken »Ökosystem« der Städte, inmit-
ten der verschiedensten kulturellen, intellektuellen und sozialen Traditionen. Es
teilte mit ihnen dieselben Existenzbedingungen und interagierte mit ihnen auf
vielfache Weise.205 In den ersten Jahrzehnten seiner Verbreitung gedieh es – je-
denfalls aus der Außenperspektive – unscheinbar in den Gärten der frühjüdi-
schen Stadtkulturen.

201
Zur Rede von der frühchristlichen »Sinnwelt« im Anschluss an Peter Berger und
Thomas Luckmann vgl. u. a. Schnelle, Theologie (s. Anm. 179), 23–25.
202
Clauss (s. Anm. 40), 154; vgl. auch Harnack, Mission (s. Anm. 5), 28.
203
AaO 325, Anm. 1; 327. Der Einwand kommt von L. de Grandmaison, L’expan-
sion du christianisme d’après M. Harnack, Études, Revue par des Pères de la Compagnie
de Jésus 96, 1903, 300–329, hier 317.
204
U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, 22014, 8 (mit Blick auf Paulus, aber
durchaus zu verallgemeinern).
205
Vgl. B. Schliesser, Paulus und »seine« Philipper. Geschäftspartner, Wohltäter,
Vereinsgründer? Sozialgeschichtliche Perspektiven auf den Philipperbrief (in: Frey /
Schliesser, Philipperbrief [s. Anm. 174], 33–119), 108f (der Begriff »ecosystem« wird
in diesem Zusammenhang von Abraham J. Malherbe verwendet).
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 41

Gleichzeitig brachte es von Beginn an neue, teils wunderliche Blüten hervor.


Dass Gott Mensch wird, ein Gekreuzigter angebetet wird, Gottlose gerechtfer-
tigt werden und eine leibliche Auferstehung erhofft wird – das ist nicht so ein-
fach assimilierbar und kontextualisierbar.206 Andererseits konnten solche Leh-
ren aber als theologische Innovation Interesse hervorrufen.207 Rituelle Vollzüge
wie etwa die Taufe weisen deutliche Unterscheidungsmerkmale zu Ritualen in
anderen Kulten bzw. der jüdischen Mutterreligion auf und wecken dadurch
Aufmerksamkeit von Außenstehenden und steigern die Gruppenidentifikation
nach innen.208 Auf die literarische und publizistische Innovationskraft der Je-
susbewegung wurde bereits verwiesen. Sie reicht von der Aneignung und Adap-
tion der Briefform (Gemeinde-/Lehrbrief) über die ›Erfindung‹ und kreative
Weiterentwicklung literarischer Genres (Markusevangelium, lukanisches Dop-
pelwerk) bis hin zur Zusammenstellung verstreuter Schriften in – freilich noch
vorkanonischen – Sammlungen (vgl. schon 2Petr 3,15–16). Auch die Versamm-
lungen der Jesusbewegung sind, wie bereits gesehen, nicht einfach eine Mimi-
kry kulturell vorfindlicher Sozialgestalten (Synagoge, Philosophenschule, Mys-
terienkult, Verein), sondern formten diese je nach lokalem Kontext und Bedarf
um. Ziel der Neukonfiguration ist es – jedenfalls idealiter –, eine auf das Evan-
gelium ausgerichtete Gemeinschaft zu schaffen (vgl. Phil 1,5: κοινωνία εἰς τὸ
εὐαγγέλιον), die alle Lebensvollzüge umgreift. Schließlich: In emergenten reli-
giösen Bewegungen entwickelt sich ein neues Idiom mit charakteristischen lin-
guistischen Innovationen.209 Gerade um die Kerninhalte des Christentums
gruppieren sich neue Begrifflichkeiten, oder es werden geläufige Begriffe mit ei-
nem besonderen Akzent versehen oder gar mit einem anderem Inhalt gefüllt –
dies alles in der Absicht, die als »neu« wahrgenommene Wirklichkeit zu deuten
und zu artikulieren. Auch hier durchlaufen die einzelnen Christusgruppen ihre
je eigene Entwicklung. Die frühchristlichen Autoren setzen bestimmte Begrif-

206
Vgl. R. Feldmeier, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der an-
tiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, 1992, 119, Anm. 97: »Von der Ver-
ehrung eines Gekreuzigten bis zur Rechtfertigung des Sünders wird im Christentum al-
les mit Füßen getreten, was dem antiken Menschen heilig und göttlich war.« Schnelle,
Bildung (s. Anm. 63), 126: Die Sprache des Kreuzes, wie sie sich v. a. bei Paulus und im
Markusevangelium findet, stellt »etwas völlig Neues und Singuläres dar«. »Von hieraus
eine positive Theologie zu entwickeln, muss als provokanter und zugleich äußerst krea-
tiver Akt des frühen Christentums gesehen werden.«
207
Frey, Entwicklung (s. Anm. 153), 795 mit Verweis auf I. Czachesz, Theologische
Innovation und Sozialstruktur im Urchristentum. Eine kognitive Analyse seiner Aus-
breitungsdynamik (EvTh 71, 2011, 259–272).
208
Vgl. R. Uro, Ritual and Christian Beginnings. A socio-cognitive Analysis, 2016,
71–98.
209
Meeks (s. Anm. 4), 93: »Every close-knit group develops its own argot, and the
use of that argot in speech among members knits them more closely still.«
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42 Benjamin Schliesser ZThK

fe adressatenspezifisch ein – etwa πνευµατικός in der Korintherkorrespondenz


des Paulus oder πίστις im Römerbrief und im Hebräerbrief.210 Die theologische,
rituelle, soziale, literarische und sprachliche Innovationskraft ist nicht zu unter-
schätzen. Es versteht sich dabei von selbst, dass neue, emporsteigende Bewe-
gungen flexibler, kreativer und toleranter sind als welche, deren Fortbestand ge-
fährdet ist.

III. Epilog

Im Rückblick auf die »Meilensteine der Forschung« wäre es nun durchaus


lehrreich, nach dem subjektiv-religiösen Anteil der einzelnen Forscher in ihrer
historischen Rekonstruktionsarbeit zu fragen.211 Sehr schnell würde deutlich,
wieviel die zahllosen, über Jahrhunderte zusammengetragenen Erklärungen für
den Aufstieg des Christentums über eben diese Forscher und ihre Zeit verra-
ten.212 Dass man mit solchen Fragen vermintes Terrain betritt, versteht sich von
selbst. Nicht zuletzt offenbaren sie auch die eigene Subjektivität und Zeitgenos-
senschaft. Wer sich heute in einem westeuropäischen Forschungskontext für das
urbane Setting der Jesusbewegung interessiert, tut dies in Zeiten eines dramati-
schen Umbruchs der religiösen Landschaft – gerade in den Städten.213 Die sub-
jektive Dimension des Religiösen und der lebensgeschichtliche Kontext lassen
sich nicht neutralisieren: Welche Bücher zur Geschichte des Christentums hiel-
ten wir in Händen, wenn Rodney Stark nicht im akademischen und ideologi-
schen Milieu Berkeleys der 1960er Jahren studiert hätte und ihm der religiöse
Glaube ›von innen‹ nicht verschlossen geblieben wäre?214 Wenn Adolf von Har-
nack nicht zutiefst vom baltischen Luthertum geprägt gewesen wäre und nicht
in einer der am meisten säkularisierten Städte Europas gewirkt hätte? Wenn
Edward Gibbon nicht nach wechselvollen Wanderjahren vom Kapitol in Rom

210
Vgl. J. Barclay, Πνευµατικός in the Social Dialect of Pauline Christianity (in:
Ders., Pauline Churches and Diaspora Jews, 2016, 205–216); Ch. Strecker, Fides –
Pistis – Glaube. Kontexte und Konturen einer Theologie der »Annahme« bei Paulus
(in: M. Bachmann / J. Woyke [Hg.], Lutherische und Neue Paulusperspektive [WUNT
182], 2005, 223–250); Morgan (s. Anm. 189).
211
Vgl. Markschies (s. Anm. 26), 240.
212
Vgl. aaO 239.
213
Vgl. meinen Beitrag B. Schliesser, Reformation als Resonanz. Kontinuität und
Wandel in neutestamentlicher Perspektive (erscheint in: K. Koeniger / J. Monsees
[Hg.], Kirche[n]gestalten. Re-Formationen von Kirche und Gemeinde in Zeiten des Um-
bruchs [BEG 26], 2019).
214
W. Sims Bainbridge / R. Stark, A Theory of Religion, 1987, 23 (»personally in-
capable of religious faith«).
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 43

herabgeblickt hätte und den Sturz der großen Meta-Erzählung des kirchlichen
Christentums in der französischen Revolution nicht erlebt hätte? Schon die For-
mulierung und Nuancierung der erkenntnisleitenden Fragen gibt die Richtung
ihrer Beantwortung vor. Wie errang »der christliche Glaube diesen bemerkens-
werten Sieg über die anderen herrschenden Religionen der Erde« (Edward Gib-
bon)?215 »Wie hat sich das Christentum selbst so ausgestaltet, daß es die Welt-
religion werden mußte, die übrigen Religionen durch Aussaugung mehr und
mehr zum Absterben brachte und wie ein Magnet die Menschen an sich zog«
(Adolf von Harnack)?216 Wie hob eine winzige messianische Bewegung vom
Rand des Römischen Reiches das Heidentum aus den Angeln, um sich zum do-
minanten Glauben der westlichen Zivilisation zu entwickeln (Rodney Stark)?217
Ebenso aufschlussreich wie die Fragen sind auch die Andeutungen zum letz-
ten, tiefsten, übergreifenden Grund für die Verbreitung des Christentums. In der
intellektuellen Atmosphäre der Aufklärung verschwand Augustins Eindruck
eines »großen Wunders« hinter dem Vorhang des Historismus. Eine Vielzahl
alternativer Erklärungsansätze zeigte sich in der Folge auf den Bühnen der
Geschichtsschreibung und Religionsphilosophie, von denen eine repräsentative
Auswahl abschließend genannt sei: Ausschlaggebend für den Aufstieg des
Christentums waren demnach so verschiedene Faktoren wie die Universalisie-
rung der Religion durch die Abschaffung des Opferkultes (Voltaire),218 das
Einsickern einer Religion der Demut in die Herzen der Menschen (Edward
Gibbon),219 das Bewusstwerden der »absoluten[n] Idee Gottes in ihrer Wahr-
heit« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel),220 die Stellung des Christentums als
»Abschluß der bisherigen Religionsgeschichte« (Adolf von Harnack),221 Wun-
dererfahrungen und Massenbekehrungen (Ramsay MacMullen),222 Netzwerk-
propaganda und ein Prozess »stetiger ›Gärung‹« (Wolfgang Reinbold),223 der

215
Gibbon, Verfall (s. Anm. 16), 440.
216
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 527.
217
Stark, Rise (s. Anm. 5), 3. Vgl. aus jüngeren Publikationen: Ehrman (s. Anm. 6),
7: »How did a small handful of the followers of Jesus come to convert an unwilling em-
pire?« Hurtado, Destroyer (s. Anm. 39), 5f: Was sind »major features of early Christi-
anity that made it distinctive, noteworthy, and even peculiar in the ancient Greek and Ro-
man setting«? Markschies (s. Anm. 26), 215: »Warum hat das Christentum in der Antike
überlebt?«
218
Voltaire (s. Anm. 55), 83f.
219
Gibbon, Verfall (s. Anm. 16), 439.
220
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 3: Die
griechische und die römische Welt, hg. von G. Lasson, 1988, 745.
221
Harnack, Mission (s. Anm. 5), 526.
222
MacMullen (s. Anm. 35), 29.
223
Reinbold (s. Anm. 37), 298. Zum Motiv der »Gärung« – mit anabaptistischer Poi-
nte – vgl. A. Kreider, The Patient Ferment of the Early Church. The Improbable Rise of
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44 Benjamin Schliesser ZThK

Zugewinn an Menschlichkeit (»humanity«) (Rodney Stark),224 »seelische Ent-


lastung« und »Komplexitätsreduktion« (Christoph Markschies),225 eine wirk-
same Antwort auf ein »gesteigertes Schuldbewußtsein« (Heinrich August
Winkler),226 die Originalität des Christentums als »Religion der Liebe« (Paul
Veyne),227 sein beharrliches Eindringen in die sozialen Netzwerke (Werner
Dahlheim),228 seine notorische Rechthaberei (Manfred Clauss),229 sein evange-
listisches, exklusives und totalisierendes Wesen (Bart Ehrman)230 oder seine kul-
turellen und religiösen Alleinstellungsmerkmale (Larry Hurtado).231
Die Aufzählung könnte mühelos fortgesetzt werden. Es verschmelzen in den
Forschungsfragen und Antwortversuchen historische, theologische, religions-
wissenschaftliche und soziologische Perspektiven, und zugleich schillert darin
der lebensweltliche Kontext der Fragenden. Das gilt auch für die hier gestellte
doppelsinnige Frage, wie die Jesusbewegung in den Städten des Römischen
Reiches ankam. Als ein entscheidender Schlüssel für die Emergenz und die in-
nere Dynamik der urbanen Christusgruppen erweist sich m. E. ihre Fähigkeit,
Gegensätze zu umgreifen. Sechs charakteristische Gegensatzpaare wurden iden-
tifiziert, die ursächlich mit dem raschen und zugleich beständigen Wachstum zu-
sammenhängen. Freilich: Wer als Bibelwissenschaftler das frühe Christentum als
»urban religion« untersucht, tut dies nicht nur mit historiographischem, son-
dern auch mit theologischem Interesse. Wenn eine theologische Wissenschaft
sich davon verabschiedete, wäre sie »eine zutiefst langweilige Wissenschaft« (so
nach einem Bonmot von Christoph Markschies).232 Die Frage richtet sich nicht
nur auf vergangene Ereignisse, sondern erwartet auch Impulse für die Theolo-
gie und Kirche der Gegenwart. Die post-christlich gewordene westeuropäische
Gesellschaft entspricht in mancherlei Hinsicht der prä-christlichen Gesellschaft
des antiken Mittelmeerraums – heute jedenfalls mehr als in der vergangenen
Phase religiöser Homogenität und institutioneller Stabilität. Die Kirchen sind
Teil einer vielgestaltigen religiösen Landschaft, traditionelle Bindungen lösen
sich auf, unzählige Anbieter werben um spirituell interessierte Laufkundschaft.

Christianity in the Roman Empire, 2016; aber auch schon Harnack, Mission (s. Anm. 5),
226 (»ein stätiger Gärungsprozeß«).
224
Stark, Rise (s. Anm. 5), 215.
225
Markschies (s. Anm. 26), 263f.
226
H. A. Winkler, Geschichte des Westens, Bd. 1: Von den Anfängen in der Antike
bis zum 20. Jahrhundert, 2009, 32.
227
Veyne (s. Anm. 42) 27.
228
W. Dahlheim, Die Welt zur Zeit Jesu, 2013, 380.
229
Clauss (s. Anm. 40), 69.
230
Ehrman (s. Anm. 6), 126.
231
Hurtado, Destroyer (s. Anm. 39), 5f.
232
Markschies (s. Anm. 26), 263.
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116 (2019) Vom Jordan an den Tiber 45

Kirchliche Reformdiskussionen und Leitbildprozesse können nur gewinnen,


wenn sie sich – nicht naiv und romantisierend, aber sachgemäß – von der frühen
Jesusbewegung anregen lassen.233 Denn evangelische Theologie muss – so Jörg
Frey – »ihr Bild von Kirche und Gemeinde vor dem Neuen Testament verant-
worten, will sie ihre Grundlage und Identität nicht preisgeben.«234

Summary

What enabled the Jesus movement to expand so rapidly? Ever since its emergence, there
has been much deliberation about what the decisive factors for its spread were and still
are. Questions and research interest have come from all directions and have been as di-
verse as their answers and corollaries. The groundbreaking works of Edward Gibbon
(1737–1794), Adolf von Harnack (1851–1930), and Rodney Stark (*1934) are retraced in
this essay to find out how the Jesus movement reached the Roman Empire’s towns and
cities. Taking the most recent research, the author then identifies six pairs of opposites
that were essential to the movement’s appeal and the spread of groups of believers. This
also serves to reinforce Harnack’s foundational insight that from its earliest beginnings,
Christianity was able to embrace and integrate opposites (complexio oppositorum).
Schlagworte: Ausbreitung des frühen Christentums, Urbanität, soziale Netzwerke,
Sozialstrukturen, Vereinswesen, Bildung, Exklusivität, Inkulturation, Wesen des Chris-
tentums
Prof. Dr. Benjamin Schliesser
Ao. Professor für Neues Testament
an der Universität Bern
orcid.org/0000-0002-3725-8350

233
Vgl. mit dem Stichwort der »Resonanzsensibilität« Schliesser, Reformation
(s. Anm. 213).
234
Frey, Entwicklung (s. Anm. 153), 780.

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