Sie sind auf Seite 1von 21

Nur um sicherzugehen: Das Ausdrucken ist nur für den persönlichen Gebrauch erlaubt.

Es ist nicht supernett, diesen Artikel zu


verbreiten. Es ist sogar illegal. Anderen einen Blendle-Link zu schicken ist aber kinderleicht.
17.12.2021

letzten Freitag · 24 Minuten Lesedauer


Für immer verbunden
Keine Beziehung ist so dauerhaft wie die zwischen Geschwistern – und
gleichzeitig so komplex. Sie sind für​einander Freunde und Rivalen, ihr
Verhältnis prägt Identität, Selbstwertgefühl und Verhalten. Noch als
Erwachsene geraten sie oft aneinander. Geht das nicht anders? Von
Katja Thimm

Werner Jünemann nimmt Anlauf. Er sucht nach Worten, hält inne, sortiert Gedan‐
ken, beginnt von vorn. Jünemann ist gelernter Drucker und an schwierige Gespräche
gewöhnt, er war lange Vorsitzender eines Betriebsrats. Doch dieses Thema ist auch für
ihn nicht leicht. Es geht um eine Frau. Jutta.

»Meine ältere Schwester. Sie ist am 8. Februar 2019 gestorben. Bis zum Schluss hat
sie nicht verstanden, warum ich ihr aus dem Weg gegangen bin.«

Dreimal hätten sie sich in den vergangenen vier Jahren vor ihrem Tod gesehen, sagt
der 63-Jährige. Bei zwei Beerdigungen und der goldenen Hochzeit einer Tante. »Jutta
konnte mich innerhalb von Sekunden auf 180 bringen. Sie meinte immer, sie müsse al‐
les regeln, managen, organisieren. Ich habe ihr 100-mal gesagt, dass es so nicht
weitergeht.«

Jutta, der Sonnenschein. Ein niedliches Mädchen, hübsch, selbst die Kellner im Re‐
staurant hätten den Eltern früher zu der wohlgeratenen Tochter gratuliert. Und der Bru‐
der, drei Jahre jünger, schaffte es gerade mal, die Nachbarn zu grüßen.

Der Kleine zurückhaltend, die Große nach außen gewandt – damit sei er lange ganz
zufrieden gewesen, sagt Jünemann. »Meine Schwester hatte tolle Seiten. Sie war groß‐
zügig, zutraulich, Anteil nehmend.« Als er als junger Mann bei einem Wettbewerb in
einer Diskothek dauertanzte, 60 Stunden lang, fuhr sie jeden Abend 40 Kilometer, um
ihn anzufeuern. Trainierte er seine Jugendmannschaft, saß sie am Spielfeldrand. Sie ließ
sich von ihm trösten, wenn Männer ihr Kummer bereiteten, und als beide Kinder hat‐
ten, unternahmen sie gemeinsam Ausflüge oder fuhren zu den Fußballspielen von Bay‐
ern München.

Doch je älter er wurde, desto öfter fühlte sich Werner Jünemann als ewig kleiner
Bruder. Zu seinem 50. Geburtstag plante er ein Fest, da wollte die Schwester bei der
Catering-Firma nachfragen, ob er denn auch an hübsche Tischdekoration gedacht habe.
Später wollten beide zusammen das gemeinsam ererbte Elternhaus verkaufen, da habe
sie, ohne ihn zu informieren, Preise verhandelt. Schon vorher, als die Mutter an Krebs
erkrankt war, hatten sie gestritten. »Meine Schwester hat eine alternative Misteltherapie
organisiert und meine Einwände ignoriert«, sagt er. »So war es immer: Jutta hatte ihre
Rolle, und die fand sie richtig.«

Irgendwann hielt er die ewig ältere Schwester nicht mehr aus. Er rief nicht mehr zu‐
rück, er gratulierte nicht mehr zu den Geburtstagen, er lebte seinen Göttinger Alltag
und fand nicht, dass sie ihm fehlte. Selbst ihr Ende, als sie nach einem Herzinfarkt be‐
wusstlos zwischen Schläuchen und Kabeln im Krankenhaus lag, habe ihn nicht sonder‐
lich bewegt, sagt er. Aber ein Gedanke ließ ihn nach diesem letzten Besuch nicht los:
»Es störte mich, dass ich so ungerührt geblieben war. Wir waren immerhin
Geschwister.«

Zweimal im Jahr, an ihrem Geburtstag und an ihrem Todestag, besucht Werner Jüne‐
mann nun das Grab seiner Schwester. Und hört er sich heute dabei zu, wie er über die
gemeinsame Zeit spricht, kommt ihm das manchmal ziemlich streng vor.

Drei von vier Kindern in Deutschland wachsen mit Geschwistern auf. Die Zahl wird
voraussichtlich steigen, in jüngeren Statistiken zeichnet sich ab, dass Familien wieder
kinderreicher werden. Die Brüder und Schwestern erwartet eine einzigartige Bezie‐
hung: Sie beginnt in der Kindheit und reicht in der Regel bis ins hohe Alter. Geschwis‐
ter kann man sich nicht aussuchen, und man wird sie nicht los. Selbst wenn der Kontakt
abbricht, sind sie nicht weg. Es bleibt eine Leerstelle.

Mythen, Märchen und Bibeltexte erzählen seit mehr als 2000 Jahren von dem beson‐
deren Verhältnis: Kain und Abel, Hänsel und Gretel – Neid und Rivalität bis hin zum
Mord, genauso wie Zusammenhalt und Liebe. Es sind Urerfahrungen, die Geschwister
aneinander binden.
»Schon sehr früh geht es um Konkurrenz und Gemeinsamkeit, Nähe und Distanz,
Streit und Versöhnung«, sagt der Zürcher Psychologieprofessor Jürg Frick. »Beziehun‐
gen zwischen Geschwistern sind meist so ambivalent wie keine anderen sonst.«

Was Schwestern und Brüder miteinander erleben, prägt nicht nur ihr Verhältnis. Es
beeinflusst, wie sie über die Welt denken, wie sie in Partnerschaften oder im Beruf zu‐
rechtkommen, wie sich ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität entwickeln. Und manch‐
mal machen diese Erfahrungen auch krank.

»Wir nehmen Geschwister noch viel zu wenig in den Blick«, sagt die Direktorin des
Deutschen Jugendinstituts, Sabine Walper. »Wir konzentrieren uns auf die Eltern, die
das Familienleben arrangieren. Aber angesichts der lebenslangen Folgen, die sich aus
guten wie schlechten Geschwisterbeziehungen ergeben, müssten wir viel mehr wissen.«

Seit Jahren erreichen den Markt der bunten Meldungen ständig neue Einsichten:
Sandwichkinder gäben vor allem für Erstgeborene großartige Eheleute ab und würden
von Eltern oft als besonders frech angesehen. Jüngere Geschwister entwickelten sich zu
eher lustigen Menschen. Schönheitssalons würden meist von Zweitgeborenen geführt.

Doch all das sei größtenteils Nonsens-​Science, urteilen Geschwisterforscher wie Jürg
Frick. Seine Wissenschaft hat ein grundsätzliches Problem: Selbst in aufwendigen Un‐
tersuchungen, bei denen das Verhalten von Brüdern und Schwestern im Labor beob‐
achtet wird, sind selten alle Söhne und Töchter einer Familie dabei. In vielen Studien
wird ohnehin nur eines der Kinder befragt. »Die Ergebnisse sind zwar oft auf den ers‐
ten Blick interessant, aber kaum allgemeingültig«, sagt Frick.

Eine Ausnahme ist die Zwillingsforschung, die als Sonderfall der Geschwisterwissen‐
schaft so komplex ist, dass ihre Erkenntnisse einen eigenen Text erfordern würden.
Grundsätzlich aber fehlen vor allem Überblicksarbeiten, oder sie sind oft veraltet, glei‐
ches gilt für Umfragen. 2010 stufte die Mehrheit der über 18-Jährigen in Deutschland
die Beziehung zu ihren Brüdern oder Schwestern als »eher gut bis sehr gut« ein. Wie es
heute aussieht in den Kinderzimmern, nach Lockdowns und kontroversen Diskussionen
über Coronaregeln? »Um solche Fragen zu beantworten, müssen wir Einzelfälle analy‐
sieren«, sagt Frick. Oft führen Geschwisterforscher lange Interviews, um herauszufin‐
den, wie Brüder und Schwestern miteinander umgehen, welche Rolle ihre Eltern dabei
spielen und was es heißt, als erstes, zweites oder drittes Kind seinen Platz zu finden.
Mithilfe dieser Methode, sagt Frick, lasse sich beispielhaft zeigen, was Beziehungen
zwischen Brüdern und Schwestern bedeuten.

So wird es auch in diesem Text sein. Neben Wissenschaftlern und einer Anwältin
kommen zu Wort: der jüngste Bruder von sieben Geschwistern und die älteste Schwes‐
ter von neun. Die mittlere Schwester von drei Halbbrüdern und eine Frau, die berich‐
tet, ihre Schwester habe sie jahrelang misshandelt. Eine Frau, die sieben Jahre lang kei‐
nen Kontakt zu ihren Geschwistern hatte, und zwei Schwestern, die im Doppelgespräch
über sich nachdenken. Der älteste ist 74, die jüngste 22 Jahre alt.

Was sie erzählen, hilft zu verstehen, warum es bei Familienfesten wie zu Weihnach‐
ten oft leise zwischen Geschwistern brodelt und manchmal explodiert. Warum sie sich
wegen eines Impftermins aus dem Weg gehen und auch, warum manche ihre Kollegen
oder Ehepartner ständig missverstehen. Warum sie wie die Kinder streiten, wenn ihre
Eltern längst verstorben sind. Und wie sich das alles ändern ließe, vielleicht.

Rivalität

Ein Arbeitszimmer in einem Altbau nahe der Kölner Universität. An den Wänden
hängt Kunst, durch das geöffnete Fenster dringt ab und an das Rattern der Straßen‐
bahnlinie 9. Sonst herrscht an diesem Vormittag Ruhe bei Dorothée Linden.

An anderen Tagen geht es hart her. Dann werden am runden Besprechungstisch die
Dramen ausgetragen, deren Schriftsätze in den Schränken und Computern lagern. Lin‐
den ist Anwältin für Familien- und Erbrecht – und damit auch spezialisiert auf die Ab‐
gründe zwischen Brüdern und Schwestern.

Die Anwältin vertritt zerstrittene Geschwister nicht nur vor Gericht, sie bietet Media‐
tionen an, bei denen sich die Entzweiten in die Rolle des Gegenübers versetzen sollen.
Manchmal helfe der Perspektivwechsel, einander besser zu verstehen, sagt Linden.
»Wenn man mit dem Blick des anderen auf festgefahrene Konflikte und Verhaltensmus‐
ter schaut, entstehen Freiräume für Lösungen, auf die vorher keiner gekommen wäre.«

Häufig aber sitze die Rivalität so tief, dass sie unüberwindbar scheine. Die Anwältin
kennt viele Geschichten wie diese: Ein Mandant hatte sein Eigenheim mit einem Zwi‐
schenkredit finanziert, weil er damit rechnete, dass seine Mutter bald sterben würde.
Dann vermachte ihm die Dame nur den Pflichtteil und seinen Geschwistern umso mehr.
»Die Folge: Gezeter, Anschuldigungen, eine einzige Eskalation – keine Chance auf Ver‐
ständigung oder gar Versöhnung.«

Die Kämpfe in Lindens Büro sind oft auch deshalb unerbittlich, weil es um mehr geht
als um den Wortlaut im Testament. Das Erbe ist die letzte Botschaft der Eltern, das end‐
gültige Zeichen ihrer Wertschätzung und Liebe – und alles, was nach ihrem Tod noch
da ist, taugt als Symbol und Stoff für Auseinandersetzungen.

Die Lieblingsvase der Mutter, die nun die Schwester für sich beansprucht, die sich in
den Augen der anderen so selten gekümmert hat. Die Konten, die der älteste Bruder
auflöst, obwohl der jüngste meint, es genauso gut erledigen zu können. Bei jedem Ge‐
mälde, jeder Kette scheint Rivalität durch – als könnte der Erbgang beantworten, wer
den Eltern das liebste Kind war.

In solchen Momenten breitet sich ein uraltes menschheitsgeschichtliches Muster in


dem Anwaltsbüro aus, eine Neuauflage des frühen Kampfes um das Überleben: Jedem
Kind einer Sippe muss es gelingen, sich so gegen die anderen durchzusetzen, dass es
ausreichend Aufmerksamkeit und Fürsorge erhält – und so buhlt und kämpft es mit al‐
len Mitteln. Wie alles, was Menschen früh erlernen und ständig wiederholen, ist das
Verhalten tief verankert und läuft wie automatisch ab. Zugleich – und auch das Bedürf‐
nis sitzt tief – muss ein Kind mit den anderen zurechtkommen. Es braucht die Nähe und
einen sicheren Platz in der Gruppe.

»Die meisten Geschwister möchten nicht vor Gericht ziehen, sie suchen einen Kom‐
promiss«, sagt die Juristin. »Häufig sind Brüder und Schwestern ja in diese Sackgassen
geraten, weil ihre Eltern den Nachlass nicht geregelt oder mit ihren Kindern nicht dar‐
über gesprochen haben.« Aber genauso wahr sei, dass bei erstaunlich vielen intelligen‐
ten, erfolgreichen, höflichen und empathischen Menschen nichts mehr von all ihren gu‐
ten Eigenschaften zu merken sei, wenn sie als Geschwister in einer Erbengemeinschaft
aufträten.

So ist es auch bei jener Geschwistergruppe, die mittlerweile so zerstritten ist, dass ein
Bruder und eine Schwester nun mehrere ​Gutachten einholen und den ehemaligen
Hausmeister, die Physiotherapeutin und die früheren Nachbarn der verstorbenen Mut‐
ter befragen lassen. Ihr Ziel: Die Tote soll im Nachhinein für unzurechnungsfähig er‐
klärt werden.

Es handle sich um eine kinderreiche und wohlhabende bürgerliche Familie, sagt Lin‐
den. Schon zu ihren Lebzeiten hätten die Eltern viel an die Kinder weitergegeben, Im‐
mobilien und anderes Vermögen. Doch die Mutter hatte einen Schlaganfall erlitten und
in ihrem Testament jene Töchter besonders bedacht, die sich liebevoll um sie geküm‐
mert hatten.

Die Häuser, die den fürsorglichen Schwestern zusätzlich zugefallen seien, lägen mit‐
ten im Immobilien-Eldorado einer deutschen Großstadt, sagt Linden. »Das ertragen die
anderen nicht, weil sie sich benachteiligt fühlen.« Zwei Schwestern wollten den Wert
der Häuser zwischenzeitlich an alle aufteilen, auch um den eigenen Kindern kein ab‐
schreckendes Vorbild zu sein. Doch dieser Vorschlag sei in der Geschwisterschar nicht
mehrheitsfähig.

»Sie sind alle in ihren Mustern gefangen«, sagt die Anwältin. »Wie zementiert.«

Rollen

Die jüngeren Geschwister fühlen sich von den älteren bevormundet. Die älteren fin‐
den, die jüngeren könnten mehr Verantwortung übernehmen. In der Mitte lavieren
Sandwich​kinder, die nicht wissen, ob sie sich besser an den großen oder den kleinen
orientieren sollen. ​Lauter beliebte Annahmen, lauter Halbwahrheiten.

Vielfach haben Forscher die Frage aufgeworfen, ob sich Charakter​eigenschaften ab‐


hängig von der Geschwisterabfolge entwickeln. Der amerikanische Psychologe Frank ​‐
Sulloway hatte 1996 in einem viel ​beachteten Buch mit dem deutschen Titel »Der Rebell
der Familie« berichtet, er habe die Lebensläufe von 10 000 Männern und Frauen unter‐
sucht. Zusammengefasst lauten seine Aussagen: Erstgeborene verhalten sich eher ange‐
passt und orientieren sich am erfolgreichen Modell des ​Vaters. Mittlere verhalten sich
besonders sozial. Jüngste entwickeln sich zu Rebellen und triumphieren dank unge‐
wöhnlicher Ideen oft als Wissenschaftler.

Sulloways Thesen werden inzwischen kritisch gesehen. Die Position in der Geschwis‐
terreihe beeinflusst zwar, wie sich Kinder entwickeln, doch genauso wichtig sind Zahl
und Geschlecht der Geschwister, Altersabstand, kulturelle Werte, die finanziellen Mög‐
lichkeiten der Familie und das Verhältnis zu den Eltern, Großeltern oder Freunden.

Aber, sagen die Forscher, manches lasse sich aus der Reihenfolge eben doch ableiten.
Nicht als Gesetzmäßigkeit, aber als Tendenz: Erstgeborene sind für jüngere Geschwister
eher Vorbild als die anderen. Sie tragen häufiger Verantwortung, sie haben mehr Pflich‐
ten, sie bestimmen öfter als die anderen und sind noch als ​Erwachsene eher dominant.
Zweitgeborene eifern oft dem oder der Älteren nach. Mittlere lernen in ihrer Doppel‐
rolle besonders, sich diplomatisch zu verhalten und anzupassen. Jüngste Kinder fühlen
sich zumindest in den ersten Jahren wie in der Froschperspektive. Das kann dazu füh‐
ren, dass sie sich schnell unterlegen vorkommen. Andererseits erleben sie häufiger als
die älteren, dass immer jemand da ist, der ihnen helfen kann.

Jeder spielt seine eigene Rolle im Familiengefüge. Sie hilft den Kindern, sichtbar zu
bleiben und im Wettkampf um die Liebe der Eltern nicht unterzugehen.

Einer verbreiteten Lehre zufolge besetzen Geschwister dabei wie in einem Ökosys‐
tem unterschiedliche Nischen. Brilliert der Älteste in der Schule, sticht der Jüngere eher
mit seinen Hobbys heraus. Manchmal allerdings zieht es Geschwister in dieselbe Ni‐
sche, und beide spielen hervorragend Tennis oder werden Hochschullehrer.

Und es gibt weitere Tendenzen: Wenn Eltern eines ihrer Kinder deutlich bevorzugen,
verstehen sich die Geschwister häufig noch im Erwachsenenalter eher schlecht. Sind El‐
tern gewalttätig, tritt ein ähnlicher Effekt ein, manchmal stützen sich Brüder und
Schwestern dann aber gegenseitig. Geschwister von behinderten oder kranken Kindern
entwickeln oft einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Verantwortung. Verste‐
hen sich Geschwister gut, ahmen die jüngeren eher auch riskantes Verhalten der älteren
nach. Schwestern kümmern sich häufig mehr um jüngere Geschwister und fühlen sich
einander enger verbunden als Brüder, die sich eher als Konkurrenten empfinden. Für
beide Geschlechter gilt: je geringer der Altersabstand, desto mehr Nähe – und Rivalität.

Verlassen Geschwister das Elternhaus, nehmen sie ihr Kindheitsmuster mit. Sich von
den Rollen zu lösen, bleibt eine Lebensaufgabe. Selbst Menschen, die sich nicht ständig
mit anderen vergleichen und mit ihrem Leben eigentlich zufrieden sind, beginnen oft
wie ferngesteuert den alten Wettbewerb, wenn sie auf ihre Geschwister treffen.

Vor allem in Krisen brechen die Muster durch, oft in dem Augenblick, in dem die El‐
tern hinfällig werden und sich die Frage stellt, wer sich nun um sie kümmert.

Auch die Pandemie habe unterschwellige Spannungen auflodern lassen, meint Sarah
Pohl, die in Freiburg als Pädagogin in einer Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen
arbeitet. »Viele, die sich derzeit bei uns ​melden, sind Geschwister mit unterschied​lichen
Ansichten zum Impfen oder zu den Corona-Schutzmaßnahmen«, sagt sie. »Doch ei‐
gentlich arbeiten sie sich an alten Konflik​-ten ab.«

Gemeinschaft

Auf dem Küchentisch liegen Fotos auf einem Stapel. Die Älteste hat sie bereitgelegt,
eine 44-jährige Bibliothekarin. Sie greift nach dem ersten Bild.

»Das ist 1996, kurz bevor ich zum Studium weggezogen bin«, sagt sie. »Vater, Mutter,
Kinder.« Es sind neun Geschwister – vier Jungen, fünf Mädchen. »Wie man sieht, ist es
nicht nur meine Geschichte, die ich erzähle«, sagt sie. »Und jedes Wort mit allen abzu‐
stimmen wird zu kompliziert. Deshalb möchte ich nicht mit Namen auftauchen.«

Die Mischung aus Pragmatismus und Verantwortung hat ihre Rolle als älteste
Schwester von Anfang an bestimmt. 14 Jahre liegen zwischen ihr und dem jüngsten
Bruder. Die Eltern seien sehr katholisch, sagt sie, »natürlich fielen wir auf«. Manchmal
hätten Gemeindemitglieder säckeweise abgelegte Kinderkleidung vorbeigebracht. Die
Älteste hatte dann die Aufgabe, Hosen, Sweatshirts und Jacken, nach Größe sortiert, an
ihre Geschwister zu verteilen und Unbrauchbares für die Altkleidertonne bereitzulegen.
Die Mutter habe ihr vertraut, »es war wie ein Familienbetrieb«.

Fast jeden Tag habe sie die kleinen Geschwister beaufsichtigt, ihnen vorgelesen, mit
ihnen gebastelt. Als der Vater den Job verlor und die Zukunft in düsteren Farben aus‐
malte, tröstete sie ihre Brüder und Schwestern, weil die Mutter zwischen großen Koch‐
töpfen und laufenden Waschmaschinen selten Zeit für Gefühle fand. Manchmal, wenn
ein Buch so spannend war, dass die Älteste nicht auf die Rufe reagieren wollte, ver‐
steckte sie sich und las noch ein paar Seiten.

»Ich habe das nie hinterfragt und finde es rückblickend nicht so schlecht«, sagt sie
und zeigt auf das Familienfoto. »Ich kann Verantwortung übernehmen und mich auf
unterschiedlichste Menschen einstellen. Das habe ich durch meine Geschwister
gelernt.«

Mit Brüdern und Schwestern zusammenzuleben gleicht einem Camp für soziales Ler‐
nen. Alle üben fortwährend, sich zusammenzuraufen, verglichen zu werden, Niederla‐
gen einzustecken, Allianzen einzugehen, Interessen durchzusetzen und einander auszu‐
halten. Einzelkindern gelingt all das genauso gut, solange sie genügend Zeit mit Gleich‐
altrigen verbringen. Aber Geschwister sind im Dauertraining.

»Wir alle brachten unsere Themen mit nach Hause«, sagt die Älteste. Essstörung,
Lese-Rechtschreib-Schwäche, exzessive Piercings, Kirchenaustritte, Scheidung, eine un‐
gewollte Vaterschaft. Inzwischen arbeiten die Brüder und Schwestern als Physiothera‐
peut, Heizungsbauer, Mechatroniker, Lüftungsbauer, Eventmanagerin, Unternehmens‐
sprecherin, Yogalehrerin und Betriebswirtin. »Wie vielfältig das Leben sein kann, habe
ich ebenfalls durch meine Geschwister erfahren, und dafür bin ich dankbar.« Doch
wenn die Älteste auf ihr eigenes Familienleben blickt, auf den Mann, die beiden Kinder
und das liebevoll renovierte Haus am Niederrhein, sieht sie auch Schattenseiten ihrer
alten Rolle. »Ich achte zu wenig auf meine Bedürfnisse, und alle verlassen sich auf
mich. Das werde ich nicht los.«

Ortswechsel. Bernt Armbruster ist der Jüngste aus einer Schar von sechs Brüdern
und einer Schwester, ein jugendlich wirkender 74-Jähriger. Er lebt schon länger in Pots‐
dam, doch noch immer spricht er mit dem weichen süddeutschen Tonfall seiner Kind‐
heit. Sein Vater war Pfarrer in einem baden-württembergischen Dorf, ein vergeistigter
Mann, der sich oft in sein Arbeitszimmer zurückzog. »Meine Mutter hat stundenlang
das gekocht, was wir in zehn Minuten gegessen haben, und auch sonst alles geregelt,
was im Haus anfiel.« Um den Jüngsten kümmerten sich vor allem die Geschwister, be‐
sonders der älteste Bruder. »Ich habe ihn bewundert. Heute regt mich sein besserwisse‐
rischer Tonfall auf.«

So frei die Kinder sich bewegen konnten, so eng steckten die Eltern den Rahmen ab:
Ein Studium sollte für alle dazugehören. »Das führte bei aller Gemeinsamkeit unter‐
schwellig zu heftiger Konkurrenz zwischen uns Brüdern«, erinnert sich Bernt Armbrus‐
ter. Sie wurden Richter, Notar, Arzt, Künstler, jeder in seiner Nische, nur einer ging
keinen akademischen Weg und wurde Koch. Armbruster ist promovierter Soziologe, er
denkt viel über die Rollen in seinem Elternhaus nach.
Vor allem in Gruppen verhalte er sich bis heute wie das jüngste Kind, sagt er. »Ich
passe mich eher an, als eine Außenseiterposition zu vertreten. Ich gehörte immer zu ei‐
ner ​Gemeinschaft, deren Regeln eher andere bestimmten. Ich wollte mitmachen, also
musste ich mich fügen.« Und er beobachtet sich dabei, trotz seines fortgeschrittenen Al‐
ters auf den Nesthäkchenbonus zu vertrauen. »Ich rechne unbewusst damit, dass mir
im Zweifel jemand hilft, wenn ich etwas ausprobiere und nicht weiterkomme. Ich habe
auch den Eindruck, unbekümmerter zu leben als meine Geschwister. Aber das mag an
der Zäsur liegen, die sich durch unsere Kindheit zieht.«

Auch Zeitgeschichte kann ein Geschwisterverhältnis prägen: Bernt Armbruster und


die jüngeren seiner Brüder sind Nachkriegskinder. Der älteste hatte noch erlebt, wie
der Vater in den Krieg zog, und mit zehn Jahren galt er plötzlich als Mann im Haus. Als
der jüngste dasselbe Alter erreichte, jubelten die Deutschen über das Wirtschaftswun‐
der. »Mein Studium fiel mit dem Beginn der 68er-Bewegung zusammen«, sagt Arm‐
bruster. »Bei mir ging es immer um Freiheit und Aufbruch.«

Wie einschneidend die Brüder diese Erfahrung trennt, spüren sie bis heute. Wann
immer sie sich treffen, wird es politisch. Dann streiten die Konservativen mit den Frei‐
heitlichen, sagt Armbruster, je nach Lage des Landes über den Nato-Doppelbeschluss,
antiautoritäre Erziehung, Geflüchtete oder die CSU. Mehrmals sprengten die Wort‐
wechsel Familienfeiern, und die Festgesellschaft reiste wütend oder gekränkt ab. »Doch
beim nächsten Geburtstag stehen alle, die noch leben, wieder da«, sagt Armbruster.
Zwei Brüder sind verstorben. Als einem von ihnen Obdachlosigkeit drohte, weil er auf‐
grund einer Krankheit nicht mehr arbeiten konnte, kauften die anderen ihm eine Woh‐
nung. »Da ist bei allen Gegensätzen eine unzerstörbare Gemeinschaftlichkeit.«

Armbrusterei nennt das seine ehemalige Frau Janny. Sie hat die Treffen mit der gro‐
ßen streitbaren schwäbischen Familie nicht immer gut ertragen. Sie selbst hatte nur eine
ältere Schwester, die mit 39 Jahren an einer Krebserkrankung verstarb. Und Janny
Armbruster hätte gern noch vieles mit ihr besprochen.

»Ich hatte damals vermeintlich Wichtigeres im Kopf als meine Geschwisterbezie‐


hung«, sagt die 58-Jährige, die als Beauftragte der brandenburgischen Landesregierung
für die Belange von Menschen mit Behinderungen arbeitet und für die Grünen in der
Potsdamer Stadtverordnetenversammlung sitzt. »Ich war jung, ich wollte durchstarten.
Ich hätte nie damit gerechnet, dass meine Schwester so schnell sterben wird.«
Ein Vierteljahrhundert liegt das zurück. Bis heute verstört Janny Armbruster nicht
nur der Verlust.

Die beiden Schwestern wuchsen in der DDR auf. Die Mutter habe die ältere bald
nach der Geburt in eine Wochenkrippe gegeben, um – wie im Sozialismus vorgesehen –
erwerbstätig zu sein, erzählt Janny Armbruster. Die Schwester habe immer nur das Wo‐
chenende mit der Familie verbracht. Als aber Janny auf die Welt kam, konnte die Mut‐
ter erst einmal zu Hause bleiben. Ihre Schwester habe sie dafür gehasst, meint Janny
Armbruster. Als später die Ehe der Eltern zerbrach und der Vater als Ansprechpartner
fehlte, zügelte niemand mehr die Rivalität zwischen den beiden.

Die Streitigkeiten entzündeten sich an Kleinigkeiten: Wer ist mit dem Abwasch an
der Reihe, wer hängt Wäsche auf? Wehrte die jüngere Schwester ab, schlug die ältere
zu, eine Leistungsschwimmerin mit breitem Kreuz. Jeden Tag sei das so gewesen, sagt
Janny Armbruster.

Die Mutter versuchte sich in Normalität und führte die Töchter in Rock und Bluse
zum Spazierengehen aus. Einmal Alexanderplatz und zurück. Ein Freund riet Janny
schließlich, ihren Schmerz nicht zu zeigen. »Damals war ich 14. Ich habe meine Schwes‐
ter dann angefeuert, stärker zuzuschlagen. Da hat sie aufgehört.«

Fachleute wie Sabine Walper, die Direktorin des Deutschen Jugendinstituts, gehen
davon aus, dass in Deutschland derzeit zwischen 10 und 15 Prozent der Kinder leiden,
weil sie von ihren Geschwistern gemobbt oder misshandelt werden. Walper zählt dazu
jede Form anhaltender kindlicher Schikane: verprügeln, verpetzen, beleidigen, verla‐
chen, beschimpfen, demütigen und ausgrenzen.

Ihre Schwester, sagt Janny Armbruster, habe sie gelehrt, sich von allem, was mit Fa‐
milie und Nähe zusammenhänge, eher fernzuhalten. »Das ist meine Last, mein vergifte‐
tes Erbe. Es ist bis heute so, dass manche Leute mich für stark und cool halten, wäh‐
rend ich am liebsten heulen würde.«

Missverständnisse

Am Arbeitsplatz, in Liebesbeziehungen oder Sportmannschaften verhalten sich Men‐


schen oft unbewusst so, wie sie es im Zusammenspiel mit ihren Geschwistern erlernt
haben. So landen alte, unerledigte Konflikte, aber auch Wünsche und Sehnsüchte im
Büro, in einer Ehe oder beim Tennistraining, ohne dass jemand mit ihnen rechnen wür‐
de. Und dann? Überall Missverständnisse.

Wieder sind es nur Tendenzen. Doch sie seien weitverbreitet, meint der Kinder- und
Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch, der in München und Salzburg an Universitäten un‐
tersucht, wie sich Kleinkinder binden und was sich daraus entwickelt.

Heiratet eine kleine Schwester, die ihren großen Bruder als Macher bewundert, ei‐
nen Mann gleichen Typs, stehen die Chancen für eine zufriedene Ehe gut, lautet so eine
Tendenz. »Die Rollen sind erprobt: Im Zweifel übernimmt der Mann«, sagt Brisch.
»Verbinden sich hingegen zwei Kümmerer, drohen Querelen, weil sich beide gleicher‐
maßen für alles zuständig fühlen.«

Auch die Methode »weinen oder verweigern« setze sich im späteren Leben häufig
fort, sagt der Zürcher Geschwisterforscher Frick. Die kleine Schwester lernt, dass Hilfe
naht, sobald sie in Tränen ausbricht. Der ältere Bruder verweigert sich Gesprächen, die
ihn nerven. »Beides sind wirkungsvolle Strategien, um die eigene Geschwisterposition
zu stärken. In einer Partnerschaft oder am Arbeitsplatz sind sie eher hinderlich.«

Müsste er Einstellungsgespräche moderieren, sagt Bindungsforscher Brisch, würde er


die Bewerber und Bewerberinnen grund​sätzlich nach Brüdern und Schwestern fragen.
»Wenn ich jemanden suche, der zuarbeiten soll, zu Hause aber als ältester Bruder den
Ton angegeben hat, wäre ich eher skeptisch.«

Vor allem anfangs würden Menschen in Gruppen, die ihnen fremd seien, häufig in
ihre alten Rollen zurückfallen. Brisch stößt bei seiner Arbeit auf zahlreiche Beispiele:
Eine neue Mitarbeiterin richtet ihre Fragen ständig an einen zwar älteren, aber nicht
sonderlich erfahrenen Kollegen. An die wesentlich ältere Teamleiterin, die ebenfalls
ihre Hilfe angeboten hat, wendet sie sich nicht. »Sie benimmt sich, als hätte sie ihren
älteren Bruder mit an Bord, an dem sie sich schon immer ein Beispiel genommen hat.«
Oder die neu ernannte Chefin ist zwar fachlich tadellos, gab aber als Jüngste zu Hause
selten die großen Linien vor. »So jemand wird im Team immer Mitarbeiter finden, die
schon als Kinder alles geregelt haben und ihr unter die Arme greifen«, sagt Brisch.
»Das mag die Vorgesetzte praktisch finden, aber letztlich ist es ein Hinweis darauf, dass
ihre Autorität nicht anerkannt wird.«

Manchmal helfe es, Vorgesetzten, Eheleuten oder Sporttrainern einen Coach zur Sei‐
te zu stellen, der solche Geschwisterdynamiken verstehe. Doch je größer der Arbeits‐
druck, je angespannter die Stimmung zu Hause, je ​härter der Abstiegskampf, desto
schneller rutsche man in die vertraute Rolle.

Wenn man die Reaktionen seiner Mit​menschen so gar nicht nachvollziehen kön​- ne,
stehe oft ein unerledigtes Geschwisterthema dahinter, sagt Brisch. »Es kann das Leben
sehr erleichtern, sich dessen bewusst zu werden.«

Nähe

Im Wohnraum sitzen die Schwestern noch beim Abendessen mit Kartoffelquiche und
Salat. Die Männer haben die beiden kleinen Kinder ins Badezimmer getragen: Zähne
putzen und dann ins Bett.

Es sei ein echtes Experiment, finden die Schwestern. »Wir lernen uns hier noch ein‐
mal völlig neu kennen – in unseren Rollen als Mutter, Partnerin, Mitbewohnerin und
Schwägerin«, erzählt Lisa Strähle, 33, die jüngere. Bislang, sagt Laura Strähle, knapp
zwei Jahre älter, laufe es gut.

Seit Silvester bewohnen sie mit den Männern und Kindern die untere Etage eines
umgebauten Industriegebäudes im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Jede Familie hat einen
Raum für sich; gemeinsam teilen sie sich zwei Bäder, das Gästezimmer und den Wohn‐
raum. Dort stehen nicht nur Sessel, Bücherregale, Stühle, Sofa und der Esstisch, son‐
dern auch ein Konzertflügel und ein Klavier.

Viel Fläche, aber wenig Platz für Rück​zug. Zu Silvester saßen sie alle zum ersten Mal
gemeinsam hier am Tisch, inmitten von 160 unausgepackten Umzugskartons, vor ihnen
ein Raclettegerät und Zutaten zum Bleigießen. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen,
waren gerade ein paar Monate alt, und die beiden Paare hatten jede Menge Diskussio‐
nen hinter sich.

Ob sie es wirklich wagen sollten? Und wenn ja: doch erst mal nur zur Probe? Sie hat‐
ten ein altes Gebäude kaufen und umbauen wollen, Laura und ihr Partner sind Archi‐
tekten. Aber was, wenn man dann jeden Tag streitet? »Wir kennen uns so gut, dass ich
mir nicht vorstellen kann, mit Lauri böse Überraschungen zu erleben«, sagt Lisa. »Aber
es geht ja nicht nur um uns zwei.« Am Ende mieteten sie die Wohnung, erst einmal für
drei Jahre, und verabredeten, das Projekt aufzulösen, wenn es zu oft Ärger geben soll‐
te. Einen Bruch wollen sie nicht riskieren. Das haben die Schwestern auch ihrer Mutter
versprochen.

Viele Geschwister rücken erst im Alter wieder zusammen. Als junge Eltern oder in
der Hochphase ihres Berufslebens fehlt ihnen oft Zeit, häufig auch Interesse für ihre
Brüder und Schwestern. »Wir sind froh, dass wir uns gerade jetzt haben«, sagt Laura.
»Während der Lockdowns war es ein Riesenglück. Wir waren mit uns und unseren Kin‐
dern in der Elternzeit nicht allein.«

Lisa und Laura erzählen, dass sie in den vergangenen 15 Jahren oft telefoniert und
sich besucht hätten, wann immer es möglich war. Laura lebte in Heidelberg, Delft und
Ostafrika, Lisa in Konstanz und Essen. Beide erinnern sich an idyllische, aber auch ​‐
schwierige Kindheitstage. Zwei Schwestern, die eine blond, die andere dunkelhaarig ge‐
lockt, die im Herbst so viele Kastanien wie möglich sammelten und in ihrem Zimmer
auskippten, um wie in einem Bällebad zu schwimmen. Die mit den Nachbarskindern
herumtobten. Und die miteinander Familie spielten, während sich die echte nach und
nach auflöste.

Die Trennung der Eltern habe sie noch enger aneinandergebunden, sagen beide. In
traurigen Momenten tröstete Laura die jüngere Schwester, sie hatten ein Geheimzei‐
chen verabredet. Tippte Lisa sich mit dem Zeigefinger unters Auge, wusste Laura, dass
sie sich etwas einfallen lassen musste.

Vor ein paar Tagen haben die Schwestern zum ersten Mal in der gemeinsamen Woh‐
nung so gestritten, dass es ihnen nachhing. »Es ging um die Kinder«, sagt Lisa, sie
schaut Laura fragend an.

»Erzähl ruhig.«

Die Kinder hätten sich in der Wolle gehabt, alles nicht schlimm, sagt Lisa. Aber ihr
kam es so vor, als hätte Laura das besonders unge​stüme Verhalten des eigenen Sohnes
heruntergespielt. Lisa sah sich an früher erinnert, an das Gefühl, dass die ältere Schwes‐
ter im Vergleich meistens besser ​dastand.

»Ich war froh, dass du mir das gesagt hast«, sagt Laura. »Mir war das nicht klar.«

Lisa hat nach dem Soziologiestudium für Bildungsprojekte gearbeitet, Menschen in


Gruppen zu beobachten gehört zu ihrem Beruf. »Wir sind da unterschiedlich«, entgeg‐
net sie. »Du warst zu Hause diejenige, die mit ihren Themen alle beschäftigte: Du warst
häufiger krank als ich, du hattest tolle, aber komplizierte Architekturideen, alles war
schwierig, aber am Ende hast du es gemeistert. Meine Rolle war es, kein Problem zu ha‐
ben. Möglichst wenig sichtbar zu sein, um dir den Raum zu überlassen. Weißt du, was
ich meine?«

Laura nickt langsam.

»Ich will dich mit meinen Theorien jetzt aber nicht überfahren.«

»Nee, mach mal weiter.«

»Wir sind so groß geworden, dass es uns wichtig war, mit unseren Leistungen aner‐
kannt zu werden. Und je schwieriger etwas wirkt, desto größer erscheint die Leistung.
Ich glaube, dass du bis heute mehr als ich dazu neigst, glänzen zu wollen, um gut
dazustehen.«

Laura hält die Luft an. Als sie antwortet, klingt sie nachdenklich. »Kann sein«, sagt
sie. »Ich dachte als Kind immer, ich dürfe unseren Eltern nicht noch zusätzliche Sorgen
bereiten. Und ich denke irgendwie immer noch, ich müsse alles besonders gut erledi‐
gen, damit alle zufrieden sind und sich freuen. Aber ich finde das nicht schön. Ich habe
das in Wahrheit manchmal als ziemlichen Druck erlebt.«

Wo sie gelernt haben, so miteinander zu reden? »Auf dem Sofa unserer Mutter«, sagt
Laura, dann prusten beide los. »Mama ist eine krasse ​Pädagogin«, setzt Lisa nach. »Bei
jedem Streit musste die eine links und die andere rechts von ihr Platz nehmen. Einmal
durften wir uns noch hinter ihrem Rücken knuffen. Aber dann mussten wir sprechen.«

Gerechtigkeit
In vielen Studien finden sich Hinweise darauf, dass es in hohem Maß von den Vätern
und Müttern abhängt, wie sich ihre Kinder verstehen. ​»Eltern sind Architekten der Ge‐
schwisterbeziehung«, sagt die Direktorin des Deutschen Jugendinstituts Sabine Walper.
Das ist keine leichte Aufgabe: Eltern sollen die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Kin‐
der beachten und sie trotzdem so behandeln, dass es alle als fair er​leben. Sie sollen
überlegt reagieren, wenn ihre Söhne und Töchter mit Drogen experimentieren oder die
Schule verweigern. Sie sollen gelassen bleiben, wenn sich die Kinder gegen sie verbün‐
den, sie müssen es aushalten, wenn sich Geschwister in manchen Zeiten nicht leiden
können. Sie sollen gerecht sein.

Und das, obwohl es nicht gerecht zugehen kann.

»Jedes Geschwisterkind wächst gewissermaßen mit anderen Eltern auf, weil die Le‐
bensumstände der Familie sich mit jeder Geburt verändern«, sagt Bindungsforscher
Brisch. »Auch Mütter und Väter entwickeln sich, mal sind sie mehr, mal weniger belas‐
tet.« Häufig sehen sie in ihren Kindern außerdem die eigene Geschwisterrolle und er‐
greifen unbewusst Partei. Eltern hören es nicht gern, aber ein Kind zu bevorzugen ist
eher eine Regel als die Ausnahme. Das verschärft den Grundkonflikt, den Wettkampf
um Liebe und Zuneigung.

Geht es fair zu, bringt er die Kinder weiter. »Eifersucht ist zunächst ein Entwick‐
lungsanreiz«, sagt der Psychologe Jürg Frick, »ein Motor, der hilft, das Leben zu gestal‐
ten.« Auch Erstgeborene fühlen sich, anders als lange angenommen, nicht grundsätzlich
vom Familienthron gestoßen, wenn ein Bruder oder eine Schwester nachkommt. Im
Gegenteil, die meisten freuen sich.

Nimmt die Eifersucht aber überhand, kann sie krankhaften, lang anhaltenden
Schmerz auslösen. Die Berliner Psychotherapeutin und Analytikerin Dorothee Adam-
Lauterbach, die bei ihren Patientinnen und Patienten oft auf un​gelöste Geschwisterpro‐
bleme stößt, berichtet, dass Arbeitsstörungen oder Selbstwertprobleme bei Erwachse‐
nen häufig mit alten Rivalitäten zu tun haben. Vor knapp 20 Jahren schon untersuchten
Wissenschaftler, wie sich Geschwisterpaare über einen längeren Zeitraum entwickelten:
Jene, die sich als Kinder weniger geliebt fühlten als ihre Schwestern und Brüder, litten
als Erwachsene eher unter Ängsten, Depressionen und einem geringeren
Selbstwertgefühl.
Eltern in Patchworkfamilien seien bei diesem Thema besonders herausgefordert, sagt
die Pädagogikpro​fessorin Walper. Plötzlich hat der bislang Jüngste einen jüngeren Halb‐
bruder oder es mit einer Stiefschwester zu tun.

»Das verschiebt das Familien​gefüge und kann weitere Rivalität mit sich bringen«,
sagt Walper. »Alles muss neu verhandelt werden, alles wird komplexer.« Wenn das
neue Paar dann noch gemeinsamen Nachwuchs bekomme, werde es zusätzlich
schwierig.

»Eltern ordnen ihre Zuständigkeit meist nach der leiblichen Abstammung der Kin‐
der. Entsprechend fühlt sich für die Kinder aus der früheren Partnerschaft meist nur ei‐
ner verantwortlich. Um das gemeinsame Kind aber kümmern sich beide. Dann hat die
Ungleichbehandlung System, was auf Dauer zusätzliche Konflikte schüren kann.«

Doch all das lässt sich, wie meist in der Geschwisterforschung, kaum verallgemei‐
nern: Ob sich Patchworkschwestern oder Stiefbrüder bekämpfen, hinnehmen oder lie‐
ben, hängt auch davon ab, ob sie gemeinsam in einem Haushalt aufwachsen oder sich
nur an Wochenenden, in den Ferien und zu Familienfeiern sehen. Tendenziell ist der
Kontakt enger, wenn sie über die Mutter verwandt sind. Dass sich Halbgeschwister
grundsätzlich weniger verbunden fühlen als Vollgeschwister, hat sich als falsch
herausgestellt.

Noch eine Küche, noch ein Esstisch, auf dem Fotos als Anschauungsmaterial bereit‐
liegen, dieses Mal in einer Wohngemeinschaft in Münster. Die 22-jährige Mascha Köhler
blättert durch das Album und zeigt die Schnappschüsse auf ihrem Smartphone: Ge‐
burtstagsfeste, Weihnachts​feiern. Babyfotos. Bilder von drei Jungs. Und Mascha – als
strahlende Schwester.

»Wir sind ein Patchwork«, sagt die 22-jährige Studentin. Mit dem älteren Bruder,
mittlerweile 30, teile sie sich die Mutter. Mit den beiden jüngeren, 16 und 18, den Vater.
Als Mascha ein Jahr alt war, sei er ausgezogen. Anfangs sei manches ziemlich kom​pli‐
ziert gewesen – und die Kinderübergaben freitags eher furchtbar. Trotzdem habe sie je‐
des zweite ​Wochenende beim Vater verbracht und wie selbstverständlich die Rolle der
älteren Schwester eingenommen, als die beiden jüngeren Brüder geboren wurden. Sie
schlief bei dem kleinsten mit im Zimmer, so wie sie sich zu Hause bei der Mutter ein
Bad mit dem älteren teilte, sie besuchte dieselbe Schule wie die jüngeren und hörte die
gleiche Musik wie der ältere.

»Ich würde niemals von Halbgeschwistern reden«, sagt Mascha Köhler. »Es sind mei‐
ne Geschwister, und sie geben mir das Gefühl, ein Zuhause, eine Heimat zu haben.«

Ihre Mutter habe immer darauf geachtet, dass sie auch zu den neuen Kindern des Va‐
ters ein gutes Verhältnis aufbauen konnte. Und die Stiefmutter habe das unterstützt.
Mittlerweile sind die beiden Frauen be​freundet. Im vergangenen Jahr haben alle mitein‐
ander Weihnachten ge​feiert.

Geschwisterliche Nähe, sagt Bindungsforscher Brisch, entstehe durch gute Erfahrun‐


gen, nicht durch genetische Verwandtschaft.

Abbrüche

Manchmal treiben Eltern einen Keil zwischen Geschwister. Und die haben dann fort‐
an damit zu tun. Die Schweizerin Karin Unkrig erzählt davon, möglicherweise würden
ihre Eltern es anders schildern, wenn sie noch lebten. Doch hier soll es um Unkrigs
Sicht gehen, weil die ihr Leben geprägt hat.

»Ich habe mich immer nach einer Gemeinschaft zwischen uns Geschwistern ge‐
sehnt«, sagt die 57-jährige freie Journalistin, die früher Parlamentarierin im Kanton
Aargau war. »Aber mein Vater und meine Mutter haben es mit allen Mitteln
verhindert.«

Die Mutter, eine psychisch labile Alleinerbin eines Familienunternehmens, habe kei‐
ne Kinder gewollt, aber für die Firma einen Nach​- folger gebraucht. Der Vater, ein
Mann aus bescheidenen Verhältnissen, habe die Heirat als Karrierechance an​gesehen.
Nach zwei Mädchen kam dann der erhoffte Sohn auf die Welt.

Vor allem die Mutter habe die Schwestern und den Bruder gegeneinander aufgehetzt,
erzählt Unkrig. Sie habe die Kinder belohnt, wenn sie sich verpetzten, und sie einzeln
verhört, wenn etwas zu Bruch gegangen war. Hielten sie doch einmal zusammen, droh‐
te allen eine Strafe. Arrest im verschlossenen Zimmer, Prügel mit dem Teppichklopfer,
manchmal habe die Mutter den Vater angetrieben zuzuschlagen. Sonntags nahm er die
Kinder dann mit in den Zoo, ab und zu fuhr er allein mit ihnen in den Urlaub. Es sind
in Unkrigs Erinnerung die einzigen entspannten Kindheitsmomente.

Als Karin Unkrig zum Studium in eine andere Stadt entfloh, verboten die Eltern Bru‐
der und Schwester jeden Kontakt mit der Abtrünnigen. Später habe sie ein paarmal
versucht, alle zusammenzubringen, »ich wollte ja eine Familie«. Doch häufig endeten
die Treffen mit dem nächsten Kontaktabbruch. »Nach dem Tod unseres Vaters stritten
wir auch noch über sein Testament. Wir haben uns gegenseitig das Schlechteste
zugetraut.«

Karin Unkrig zog sich zurück, sieben Jahre lang. Sie lebt mittlerweile in München.
Auch als die Mutter im Sterben lag, kam sie nicht.

Auswege

Sich endgültig von Geschwistern loszusagen sei nicht ratsam, meint die Psychothera‐
peutin Dorothee Adam-Lauterbach. »Nach Missbrauch oder Gewalt geht es oft nicht
anders. Doch grundsätzlich entsteht eine Lücke, die niemand füllen kann.« Ihr Rat:
»Geschwister sollten auf Augenhöhe kommen, es hilft ihrer seelischen Gesundheit.
Sonst werden sie noch als 70-Jährige von kindlicher Rivalität angetrieben.«

Nur, wie kann das gelingen?

»Zunächst einmal können Eltern vorbeugen«, meint die Pädagogik​professorin Sabine


Walper. Sie sollten Kritik fair verteilen, selbst wenn ihnen ein Kind gerade besonders
anstrengend vorkomme. Und sie sollten genau dieses Kind in Hörweite der anderen für
alles loben, was gut laufe, damit es nicht zum Sündenbock der Familie werde.

Meckern, meint Walpert, bewirke ohnehin selten Gutes. Und in Zeiten, in denen
mehrere Geschwister gleich viel Aufmerksamkeit brauchten, ​entlaste es alle, wenn sich
der Vater eher um das eine Kind und die Mutter um das andere kümmere. »Dann mer‐
ken Geschwister, dass sie auch ohne Rivalitätskämpfe nicht zu kurz kommen.«

Eltern, meint Geschwisterforscher Frick, sollten sich Vergleiche verkneifen. »Nie‐


mand mag hören, dass die ältere Schwester schon so toll vernünftig sei.« Spätestens
nach der Pubertät gleiche sich die Entwicklung nicht selten an, das sollten Eltern ihren
Kindern widerspiegeln. Und schon gar nicht dürften sie die Lebenswege erwachsener
Geschwister ständig gegenüberstellen. »Das macht man bei anderen Menschen ja auch
nicht.«

Aber die Geschwister müssen genauso ran: Mehr Einsicht, mehr Anerkennung, mehr
Verständnis, so lautet die kurze Formel für ein besseres Verhältnis. Wer sich bemüht,
den anderen ihre Eigenheiten zuzugestehen, kann schwierigen Momenten die Schärfe
nehmen. Wer es dann noch schafft auszusprechen, was sonst nicht über die Lippen
kommt, rückt dem Frieden näher: Anerkennen, dass der gemeine große Bruder so ​ge‐
mein nun doch nicht ist. Zugeben, dass seine Rolle in der Kindheit schwieriger war als
die eigene. Sich in seine Lage hineinversetzen. All das lässt sich üben, in Wochenend-
Work​shops, Mediationen und Coachings, aber auch in Gedanken beim Spazierengehen.

»Man muss das eigene Verhalten ändern, um Beziehungen zu ändern«, sagt Adam-
Lauterbach. »Manche Konflikte lassen sich nicht lösen. Aber sie müssen erträglich blei‐
ben, und dafür kann man sorgen.«

Wahrscheinlich hätte es geholfen, wenn seine Schwester ihm nicht ständig reingere‐
det hätte, sagt Werner Jünemann. »Und wenn ich manchmal entspannter reagiert
hätte.«

Sie habe sich angewöhnt, Ärger herunterzuschlucken, meint die Älteste von neun.
»Ich kritisiere meine Geschwister nur noch, wenn ich eine echte Chance sehe, dass sich
beim nächsten Mal etwas ändert.«

Bernt Armbruster, dem Jüngsten von sieben, hilft das Alter. Es re​la​tiviere die alten
Kämpfe. Beneh​- me sich einer der Brüder unmöglich, sehe er die Buben vor sich, mit
denen er morgens im Pulk zur Schule aufbrach.

Man könne es ja so betrachten, dass Geschwister der letzte Rest Familie seien, der
einem bleibe, meint Janny Armbruster. »Menschen, die einem in schlimmen Momenten
die Tür öffnen, selbst wenn man sich nicht gut versteht.«

Karin Unkrig half der Tod der Mutter. Die Verstorbene hatte ein Vermögen hinterlas‐
sen, das die Geschwister persönlich aufteilen mussten. Es waren, nach sieben Jahren
Schweigen, befangene Treffen, aber es gelang den beiden Schwestern und dem Bruder,
den Notartermin ein​vernehmlich hinter sich zu bringen. Sie fanden sogar einen Kom​‐
promiss, der für alle mit Verzicht einherging.

Wenn Karin Unkrig nun nach Zürich fährt, meldet sie sich. Ein gemein​samer Kaffee,
ein Mittagessen, mehr geht noch nicht, »aber immerhin«, sagt sie.

»Ich denke, wir schämen uns ein bisschen dafür, was war. Und wir hätten es sicher‐
lich alle gern anders gehabt.«

Katja Thimm Katja Thimm

Das könnte Ihnen auch gefallen