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1 Drei Wünsche (Textverständnis)

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3 Ein junges Ehepaar lebte vergnügt und glücklich beisammen und hatte den
4 einzigen Fehler, der in jeder menschlichen Brust daheim ist: Wenn man es gut
5 hat, dann hätte man es gerne noch besser. Aus diesem Fehler entstehen so
6 viele törichte Wünsche, und daran fehlte es unserem Hans und seiner Liese
7 nicht. Bald wünschten sie sich die Äcker der Familie Schulz, bald des
8 Löwenwirts Geld, bald des Meyers Haus und Hof und Vieh, bald einmal
9 hunderttausend Millionen Taler kurzweg.
10 Eines Abends aber, als sie friedlich am Ofen sassen und Nüsse aufklopften und
11 schon ein tiefes Loch in den Stein hinein geklopft hatten, kam durch die
12 Kammertür ein weisses Weiblein herein, nicht mehr als eine Elle lang, aber
13 wunderschön, und die ganze Stube war voll Rosenduft. Das Licht löschte aus,
14 aber ein Schimmer wie zartes Morgenrot strahlte von dem Weiblein aus und
15 überzog alle Wände. Zuerst erschrak unser gutes Ehepaar, es erholte sich doch
16 bald wieder, als das kleine Fräulein mit wundersüsser, silberreiner Stimme
17 sprach: „Ich bin eure Freundin, die Bergfee Gundula, die im kristallenen Schloss
18 mitten in den Bergen wohnt. Ich streue mit unsichtbarer Hand Gold in den
19 Rheinsand und über siebenhundert Geister gehorchen meinen Befehlen. Drei
20 Wünsche dürft ihr tun; drei Wünsche werden euch daraufhin erfüllt.“ Hans
21 drückte den Ellenbogen an den Arm seiner Frau, als ob er sagen wollte: Das
22 lautet nicht übel. Seine Frau hingegen war schon im Begriff, ihren Mund zu
23 öffnen und etwas von ein paar Dutzend goldbestickten Kappen, seidenen
24 Halstüchern und dergleichen zur Sprache zu bringen, als die Bergfee sie mit
25 erhobenem Zeigefinger warnte: „Acht Tage lang“, sagte sie, „habt ihr Zeit.
26 Überlegt euch eure Wünsche gut und übereilt ja nichts.“ Das ist eine gute Idee,
27 dachte der Mann und legte seiner Frau die Hand auf den Mund. Das
28 Bergfräulein aber verschwand. Die Lampe brannte wie vorher, aber statt des
29 Rosendufts zog eine Rauchwolke von der Öllampe in der Ecke durch die ganze
30 Stube.
31 So glücklich unser Paar nun auch war, so übel waren sie doch dran. Vor lauter
32 Ideen wussten sie nicht, was sie sich wünschen sollten, sie hatten kaum den
33 Mut, richtig über ihre Wünsche nachzudenken geschweige denn, davon zu
34 sprechen, aus Furcht, es möchte sofort für gewünscht passieren, ehe sie es sich
35 genug überlegt hätten. „Nun“, sagte die Frau, „wir haben ja noch Zeit bis am
36 Freitag.“
37 Am andern Abend, während die Röschti zum Nachtessen in der Pfanne
38 brutzelte, standen beide, Mann und Frau, vergnügt am Feuer und sahen zu, wie
39 kleine Flammen an der russigen Pfanne hin und her züngelten. Beide träumten
40 von ihrem künftigen Glück. Als sie in ihren Tellern die wunderbar goldbraune
41 Röschti anrichteten, und ihnen der Geruch lieblich in die Nase stieg, sagte die
42 Frau in aller Unschuld und ohne an etwas anderes zu denken: „Wenn wir jetzt
43 ein gebratenes Würstlein dazu hätten ...“. Oh weh, da war der erste Wunsch
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44 getan. - Schnell wie ein Blitz erhellten sich die Wände wieder wie im Morgenrot,
45 Rosenduft machte sich breit, und auf der Röschti lag die schönste Brat-
46 wurst. Wie gewünscht, so war es geschehen. Wer sollte sich über einen solchen
47 Wunsch und seine Erfüllung nicht ärgern? Welcher Mann würde da nicht böse
48 über eine solche Unvorsichtigkeit seiner Frau? „Wenn dir doch nur die Wurst an
49 der Nase angewachsen wäre“, sprach auch er in aller Unschuld und ohne lange
50 darüber nachzudenken. Und wie gewünscht, so war’s geschehen. Kaum war
51 das letzte Wort gesprochen, so sass die Wurst auf der Nase des guten Weibes
52 fest, wie angewachsen im Mutterleib, und hing zu beiden Seiten hinab wie ein
53 Husarenschnauzbart.
54 Nun war die Not der armen Eheleute gross. Zwei Wünsche waren bereits getan
55 und vorüber, und noch waren sie um keinen Taler und um kein Weizenkorn,
56 sondern nur um eine böse Bratwurst reicher. Noch war ein Wunsch übrig, aber
57 was half nun aller Reichtum und alles Glück, wenn die arme Frau nun fortan so
58 herumlaufen musste? Wohl oder übel mussten sie die Bergfee bitten, mit
59 unsichtbarer Hand der Frau Liese die vermaledeite Wurst wieder von der Nase
60 zu zaubern. Die armen Eheleute sahen sich gegenseitig an, sie waren immer
61 noch derselbe Hans und dieselbe Liese, nichts hatten sie gewonnen, und die
62 schöne Bergfee kam niemals wieder.
63 Nun merke: Wenn dir einmal die Bergfee erscheinen sollte, so sei nicht geizig,
64 sondern wünsche dir:
65 Erstens: Verstand, damit du weisst, was du
66 Zweitens: dir wünschen sollst, um glücklich zu werden,
67 und solltest du trotzdem etwas wählen, was sehr unklug wäre, so wünsche
68 dirDrittens: Zufriedenheit und keine Reue über etwas, was Du falsch gemacht
69 hast. Merke dir auch:
70 Es hilft nichts, einen Haufen Gelegenheiten zu haben, glücklich zu werden,
71 wenn man nicht genügend Grips hat, etwas Kluges daraus zu machen.

Frei nach Johann Peter Hebel

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