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ERSTER WELTKRIEG 1914–1918

Hunger und Mangel in der Heimat


Wegen der schlechten Versorgungslage mussten vor allem die Menschen in den
Städten hungern. Der allgemeine Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide.

Wolfgang U. Eckart

ie dramatische Ernährungs- sommer 1916 definitiv Hunger. 1 000 Kalorien pro Tag – zum Ster-
D lage der deutschen Zivilbe-
völkerung, aber auch der kämpfen-
Einen neuen Höhepunkt erreichte
die Ernährungskrise im Winter
ben zu viel und zum Leben und Ar-
beiten zu wenig. Schleichhandel
den Soldaten in den Jahren 1914 bis 1916/17: Die Kartoffelernte des und Wuchergeschäfte blühten.
1918 und darüber hinaus ist in den Jahres 1916 lag aufgrund schlech-
Nachkriegsjahren fast ausschließ- ter Witterung und einer Kartoffel- Große Not in den Anstalten
lich als Folge der „Hungerblocka- fäulnis nur bei etwa 50 Prozent Besonders hart waren die Insassen
de“ der Mittelmächte durch die des Friedensertrags. Was genießbar geschlossener Anstalten von der
Kriegsgegner der Entente beschrie- war, ging entweder an die Front permanenten Hungersnot betroffen.
ben worden. Tatsächlich wurden oder blieb bei den Bauern. An die Die Patienten der Heil- und Pflege-
das Kaiserreich und die Donaumo- Bevölkerung wurden als Ersatz anstalten der Länder wiesen im
narchie auf vielen Gebieten des Roh- Kohl- und Steckrüben ausgege- Winter 1916/17 Übersterblichkeiten
stoff- und Nahrungsmittelbedarfs ben, die kaum Nährwert haben von bis zu 20 Prozent auf. Vom Lei-
mit der erfolgreichen Durchsetzung und deren Verteilung auch nur ter der Oberfränkischen Heil- und
weitgehender Embargomaßnahmen schlecht klappte. Der „Hungerwinter“ Pflegeanstalt Bayreuth stammt ein
ihrer Kriegsgegner geschwächt. Die 1916/17 kam für die Bevölkerung vertraulicher Bericht an das König-
so entstandene Hungerlage in der unerwartet und zehrte an ihrer phy- lich Bayerische Staatsministerium
deutschen Bevölkerung war aller- sischen Widerstandskraft. Da es des Inneren vom September 1917.
dings auch das Ergebnis drama- kriegsbedingt an menschlicher und Er lässt erahnen, welche Zustände
tischer Fehlentscheidungen einer tierischer Arbeitskraft für die Feld- herrschten: „Das ständige Geschrei
zentralistischen bis diktatorischen arbeit mangelte und Düngemittel der Kranken bzw. ihre unaufhörli-
Ernährungspolitik; deren Regelun- nahezu fehlten, fiel auch die Ge- chen Klagen über Hunger, ihre beim
gen in der Preis- und Verteilungspo- treideernte des Jahres 1917 extrem Gartenbesuch zutage tretende Gier
litik blieben bis Kriegsende weitge- schlecht aus. So folgte auf den nach unreifem Obst, ja selbst nach
hend unzureichend. „Hungerwinter“ ein „Hungersom- Gras, Blumen, Laub, Eicheln, Kas-
Unter der ärmeren Bevölkerung mer“. Die Grundversorgung der tanien etc. angesichts der Unmög-
der Großstädte herrschte ab Früh- Stadtbevölkerung lag nur noch bei lichkeit der Abhilfe“ seien ein „die

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THEMEN DER ZEIT

Nerven stark ergreifendes Mo- Schulkinder während der Kriegszeit war aber 1917 mit 307 390 Verschi-
ment“. In anderen Anstalten traten gehört zu der am besten bekannten ckungen gesundheitlich bereits ge-
ähnlich dramatische Angst- und in allen Altersgruppen, weil regel- schädigter Kinder erreicht. Danach
Agitationszustände der Patienten mäßige Schulgesundheitsuntersu- sanken die Zahlen, denn nahezu alle
angesichts des drohenden Hunger- chungen bereits seit der Vorkriegs- Transportkapazitäten der Eisenbahn
todes auf. So berichtete der Direktor zeit praktiziert wurden. Auch nach wurden nun für Truppenverschie-
der Kgl. Heil- und Pflegeanstalt Re- August 1914 hielt man daran fest. bungen, Munitionslieferungen und
gensburg im September 1917, dass Erfahrene Schulhygieniker und Kin- den Verwundetenabschub benötigt.
die Kranken „in ihrem Hungerge- derärzte hatten die möglichen Ge- Die Kinder hungerten nun zu Hause.
fühl Kartoffeln mit der Schale, Ab- sundheitsschäden der Kriegs-Schul- Schuluntersuchungen wiesen bereits
fälle und Ersatzstoffe, wo sie solche kinder unter Mangelernährung be- 1916/17 auf Gewichtsabnahmen von
erhaschen konnten, zum Beispiel reits vorhergesehen, als sich im Feb- etwa zwei Kilogramm bei Vierzehn-
Gras, Blumenzwiebeln, verzehrten, ruar 1915 erste leichte Lebensmittel- jährigen hin und daneben auf ein im
in unruhigen Abteilungen um die verknappungen bemerkbar machten. Durchschnitt um etwa zwei Zenti-
Nahrungsmittel mit Mitkranken „In wirklich eingeweihten Kreisen“, meter vermindertes Längenwachs-
förmlich rauften“. In einem Brief so der Berliner Pädiater Adolf Ba- tum bei Volks- und Mittelschülern.
des Gesundheitsamtes Lübeck vom ginsky, habe man die „Schäden der Im Folgejahr belief sich der Wachs-
August 1918 hieß es, dass die „be- mangelhaften Ernährung schon of- tumsrückstand bereits auf drei Zenti-
trübende Tatsache“ der deutlichen fensichtlich werden“ sehen, als sich meter, und 1918/19 waren bei Schul-
Übersterblichkeit in Irrenhäusern bereits in den Kindergärten „der anfängern dreimal soviel „ausge-
dadurch „etwas gemildert“ werde, sprochen kleine Kinder als zu Frie-
„daß es [doch] vorzugsweise die denszeiten“ registriert worden.
geistig tiefstehenden, dem Blödsinn
nahe befindlichen Kranken“ gewe- Der „allmähliche Verderber“
sen seien, die dem Hunger erlegen Obwohl die ersten Hungerschäden
waren. Solche Äußerungen lassen insbesondere bei Großstadtkindern
Entnommen aus: Unter dem Roten Kreuz im Weltkriege, Berlin 1934

vermuten, dass es sich beim Hun- bereits zum Jahreswechsel 1915/16


gersterben in den Anstalten wohl jedem sachkundigen Beobachter
um schulterzuckend hingenommene klar vor Augen standen, verhinder-
Vorgänge handelte. ten Militär- und Zivilbehörden jede
Eine Rotkreuz- öffentliche Verlautbarung oder Dis-
schwester füttert
Deutlich mehr Sterbefälle kussion darüber. So scheiterte unter
einen Verwundeten
Zweifellos gab es während des (um 1914/15).
anderem auch der Versuch, den
Krieges eine Hungerkatastrophe in Berliner Stadtkindern sehr viel frü-
allen geschlossenen Psychiatri- her und in sehr viel größerem Um-
schen Heil- und Pflegeanstalten des fang Landerholungsaufenthalte zu
Reichs. Bereits der Steckrüben- ermöglichen. Die Benachteiligung
winter 1916/17 ließ dies sehr deut- Hunger in langsam geübter Form“ der Kinder in den Hungerjahren des
lich werden. So schnellten etwa eingestellt habe. Für den Mannhei- Krieges lag auch darin begründet,
die Sterbezahlen in den Badischen mer Schularzt und Kriegsteilnehmer so ein Berliner Schulmediziner,
Heil- und Pflegeanstalten schon En- Paul Stephani war auch die steigen- dass „Kinder aber erfahrungsgemäß
de 1916 deutlich in die Höhe. In de Inanspruchnahme der Schulspei- den Hunger [seelisch] nicht lange“
Wiesloch stieg die Anzahl der An- sungen ein sicherer Indikator für aushielten und ihre Körper zunächst
staltstoten von 123 im Jahre 1915 schleichenden Nahrungsmangel in mit „Blutarmut“, dann aber schnell
auf 177; in Emmendingen erhöhte den Haushalten der Kinder. In Berlin mit Tuberkulose darauf reagierten.
sich die Zahl von 137 Gestorbenen nahm deren Zahl von August bis En- Drastisch habe sich dieser Zusam-
1915 auf 167 im Folgejahr. Dabei de September 1914 von 21 497 auf menhang in Berlin gezeigt, wobei
ging die Übersterblichkeit mit an- 26 700 zu, also um mehr als 5 000, der Tod dort nicht als der „plötzli-
deren Phänomenen einher: Das um Ende 1916 die Zahl von 35 000 che Würger“, sondern sehr viel häu-
Sterben in den Anstalten begann Schulspeisungen zu erreichen. figer als der „allmähliche Verder-
früher, weil keine krankheitsange- Die Kompensationsbemühungen ber“ in Erscheinung getreten sei,
messenen Diäten verordnet werden der Schulträger, die Kinder in den denn der Hunger münde nahezu im-
konnten, hinzu kam, dass aufgrund Städten durch Frühstücks-Schul- mer in „schleichende Krankheiten“
der allgemeinen Schwächung der speisungen und Schul-Kriegsküchen und „Siechtum“. An den Schulkin-
Kranken die Tuberkuloseanfällig- aufzupäppeln, wurden in den ersten dern habe man mit der Verschär-
keit schnell zunahm. Zudem kam es Kriegsjahren noch durch eine Stei- fung der Ernährungskrise auch
zu Hungerödemen. gerung der Land- und sogar Aus- deutliche Leistungsabfälle und ei-
Besonders dramatisch war das landsverschickungen in die Nieder- nen klaren Zusammenhang zwi-
Hungerelend unter den Kindern. lande, nach Dänemark und in die schen „Unterernährung und Nach-
Die gesundheitliche Lage der Schweiz bereichert. Ein Höhepunkt lassen der geistigen Kräfte“ be-

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THEMEN DER ZEIT

merkt. Mit diesem Verfall einherge- bis 1917. Der „Kohlrübenwinter“ tionsleistungen erreicht werden.
gangen seien „geistige Minderwer- 1916/17, in dem die Versorgungsla- Detaillierte Analysen des vom Sta-
tigkeit und sittliche Verwahrlo- ge auf ein Kalorienminimum gesun- tistischen Reichsamt ermittelten
sung“, wie man sie insbesondere an ken war, bedeutete für alle Alters- Zahlenmaterials unter umfassender
der hungerbedingten Zunahme der stufen bis auf die Gruppe der Säug- Berücksichtigung der verfügbaren
Jugendkriminalität erkennen könne. linge ein sprunghaftes Ansteigen der demografischen Daten der Zivil-
Übersterblichkeit, verglichen mit bevölkerung, der Gesamtmorbidität
Große Belastung der Frauen dem letzten Friedensjahr 1913. und -mortalitäten lassen nach Ab-
Auch der körperliche Preis, den Eine der am häufigsten diagnos- zug der influenzabedingten („Spa-
Frauen, insbesondere erwerbstätige tizierten geschlechtsspezifischen nische Grippe“) Übersterblichkeit
Frauen, Arbeiterfrauen oder Krie- Reaktionsweisen des weiblichen des letzten Kriegsjahres den
gerwitwen, durch ihre Doppelbelas- Körpers in der Heimat war während Schluss zu, dass die Gesamtzahl der
tung als Alleinernährerin in Familie der Kriegsjahre das Ausbleiben der zivilen Hungertoten „nur“ bei etwa
und Beruf und im gesellschaftli- monatlichen Regelblutung. Man 424 000 lag. Katastrophal war die
chen Engagement während der schrieb und sprach von „Kriegs- Situation gleichwohl. Der nüchter-
Kriegshungerjahre zu zahlen hat- amenorrhoe“, wobei das Wort auf ne Bericht der „Freien wissen-
ten, war hoch. Gesundheitsschädi- schaftliche Kommission zum Studi-
gend waren insbesondere die unge- um der jetzigen Ernährungsverhält-
wohnt anstrengenden und häufig DÄ-SERIE ZUM WELTKRIEG nisse in Deutschland“ vom 27. De-
auch gefährlichen Tätigkeiten in zember 1918 sprach eine klare
der Industrie, namentlich in der Anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor Sprache und erkannte unmissver-
Rüstungsindustrie. Die Probleme 100 Jahren sind für dieses Jahr die folgenden Beiträge ständlich als Hauptfolgen der Hun-
nahmen ihren Ausgang bereits bei im Deutschen Ärzteblatt vorgesehen: gerblockade die „Vermehrung der
der nicht vorhandenen Arbeits- und Sterblichkeit besonders im Kindes-
Arbeitsschutzbekleidung. Hinzu
● Die deutsche Ärzteschaft im Furor teutonicus (Heft 17) alter und den höheren Altersstufen,
kam, dass typisch männliche Arbei-
● Der ärztliche Pazifist Georg Friedrich Nicolai (Heft 20) verursacht vor allem durch die ge-
ten Frauen angesichts der Hunger-
● Konzepte von Angst in der deutschen und französi- ringe Widerstandsfähigkeit gegen
schen Kriegspsychiatrie (Heft 33–34)
lage körperlich oft überforderten. Infektionskrankheiten“ sowie die
Extremen Umweltbelastungen und
● Medizinische Versorgung von Kriegsversehrten (Heft 42) durch Darmkrankheiten und „Fett-
Intoxikationen waren die Frauen
● Die Gesundheitssituation der Zivilbevölkerung schwund“ hervorgerufene Zunahme
vor allem in Munitionsfabriken aus-
● Probleme der Militärmedizin tödlicher Krankheiten. Dieser Be-
gesetzt. Schwere Hautschädigun- Die Serie im Internet: www.aerzteblatt.de/ersterweltkrieg fund war sicher korrekt und er warf
gen, aber auch Sehstörungen bis zu seine langen Schatten in die soziale
permanenter Erblindung wurden Zukunft der frühen Weimarer Re-
häufig bei Arbeiterinnen festge- ursächliche, aber bislang medizin- publik.
stellt, die in der Granatenprodukti- historisch nur schwierig festzuma-
on arbeiteten und dabei der prekä- chende mittelbare oder unmittelba- █ Zitierweise dieses Beitrags:
ren Stoffgruppe der Nitrokörper re Zusammenhänge zwischen Krieg Dtsch Arztebl 2015; 112(6): A 230–2
ausgesetzt waren. Eine Hauptrolle und hormoneller Konstitution der
spielten dabei Trinitrotoluol, Trini- Frau hinweist. Dabei konnte die LITERATUR
troanisol, Dinitrobenzol, Pikrinsäu- Häufung von Regelblutungsstörun- 1. Eckart WU: Medizin und Krieg – Deutsch-
re sowie eine Reihe von Naphtha- gen im Zeitraum 1914 bis 1918 land 1914–1924. Paderborn: Schöningh
lin- und Phenolverbindungen. Die durchaus verschiedene Ursachen 2014.
Krankheitsziffern in solchen Betrie- haben. Am naheliegendsten indes 2. Eckart WU: „Schweinemord“ und „Kohl-
ben mit ihrer überwiegend weibli- scheint die Beziehung zwischen rübenwinter“ – Hungererfahrungen und Le-
bensmitteldiktatur, 1914–1918. In: Medi-
chen Belegschaft waren exorbitant. Unterernährung und Menstruation,
zin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG)
Betrachtet man die Sterblich- wenngleich weder damals noch 2013; 31: 9–31.
keitszunahme der weiblichen Be- heute ein präzise vorhersagbarer 3. Umehara H: Gesunde Schule und gesunde
völkerung allein, so zeigen sich be- Zusammenhang zwischen dem Er- Kinder – Schulhygiene in Düsseldorf
eindruckende Steigerungen in allen reichen eines kritischen Unterge- 1880–1933. Essen: Klartext 2013.
Altersgruppen insbesondere nach wichts und dem Ausbleibenden der 4. Henriques C: Die Lage der arbeitenden
1916. Bei Frauen im mittleren er- Regelblutung besteht. Frauen in den kriegswichtigen Arbeitszwei-
gen Württembergs – Eine vom Württember-
werbsfähigen Alter zwischen 25 und In der Nachkriegspropaganda gischen Kriegsministerium 1917/18 veran-
45 Jahren stieg die Sterblichkeit von wurde die Höhe der deutschen Zi- staltete Erhebung. Staatswiss Diss Tübin-
1913 bis 1916 auf 7,5 Prozent und vilverluste aufgrund der Hunger- gen, Masch-Man, Tübingen 1920.
bis 1917 auf 33,7 Prozent. Im glei- blockade der Entente-Mächte stark
chen Zeitraum stieg die Sterblich- übertrieben und überschritt die Mil- Anschrift des Verfassers
keit der Alterskohorte der 75- bis lionengrenze. Der Hintergrund war Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
90-jährigen Frauen um 115 Pro- klar: Auf diese Weise sollte eine Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg
zent (1916) und um 162 Prozent Minderung der agrarischen Repara- Direktor@histmed.uni-heidelberg.de

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