Sie sind auf Seite 1von 132

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Sterbehilfe, Nigeria, KulturSPIEGEL

D arf jeder selbst entschei-


den über die Stunde sei-
nes Todes? Das ist eine der
großen Fragen unserer Zeit.
Die Niederländerin Annie Bus
hatte sich entschlossen, Ster-
behilfe in Anspruch zu neh-
men, und sie erlaubte der
SPIEGEL-Redakteurin Laura
Höflinger, sie in den letzten
Monaten ihres Lebens zu be-
gleiten. Die 75-jährige Bus war Höflinger, de Vries
nicht sterbenskrank, sondern
erschöpft von einem äußerst
schmerzhaften Leiden und einem Dasein, das sie als unwürdig empfand. Das
macht ihren Fall moralisch besonders schwierig. Mehrfach sprach Höflinger auch
mit Bus’ Ehemann, mit den Töchtern und mit der Ärztin Constance de Vries,
die schließlich die Euthanasie durchführte. Bus lud die Journalistin am Tag ihres
Todes zu sich und ihrer Familie ein. War es richtig, dass Annie Bus starb?
„Manchmal plauderte sie derart vergnügt“, sagt Höflinger, „ich hätte sie am
liebsten zum Weiterleben überredet.“ Seite 112

N igeria, mit 175 Millionen


Einwohnern die größte
„schwarze Demokratie“ der
Welt, wählt Mitte Februar
einen neuen Präsidenten.
Gleichzeitig mordet die isla-
mistische Terrorbrigade Boko
Haram im Land. Recherchen
in der Krisenregion sind
gefährlich. Im Norden Nige-
rias, im größten Stadion der
Stadt Kano, wäre SPIEGEL- Grill in Kano
Korrespondent Bartholomäus
Grill beim Wahlkampfauftritt
des früheren Militärherrschers Muhammadu Buhari beinahe in einen Massen-
aufruhr geraten. Schließlich eskortierte ihn eine Gruppe jugendlicher Schlä-
FOTOS: KEMI AKIN-NIBOSUM / DER SPIEGEL (M.); SELINA PFRUENER / DER SPIEGEL (O.)

ger aus der total überfüllten Arena. „Alle Präsidentschaftskandidaten ver-


sprechen, die Islamisten zu vernichten“, sagt Grill, „überzeugende Rezepte
hat keiner.“ Seite 74

W as macht der Mensch am Wochenende? Lesen,


neben allem anderen, was er sonst noch tut.
Die Redaktion des KulturSPIEGEL hat den Schrift-
steller Moritz Rinke gebeten, darüber nachzudenken,
was für den deutschen Alltag zwischen Freitag und
Montag charakteristisch ist. Rinke, einer der erfolg-
reichsten deutschen Theaterautoren, hat 20 kurze
Szenen entworfen – ein kleines Katastrophenpano-
rama zwischen Radwanderweg, Schuhgeschäft und
Notaufnahme. Zu lesen ist es in der neuen Ausgabe
des KulturSPIEGEL, die der Inlandsauflage des
SPIEGEL beiliegt.

DER SPIEGEL 6 / 2015 5


Die Provokation
Europa Mit seinem Wahlsieg
hat sich Alexis Tsipras zum
Gegenspieler von Kanzlerin
Angela Merkel aufgeschwun-
gen. Der Triumph des Grie-
chen rüttelt am Fundament
der EU. Tsipras will nicht nur
die Europolitik radikal ver-
ändern, seine Regierung sym-
pathisiert auch mit Russlands
Präsident Putin. Populisten von
links und rechts applaudieren
ihm. Seiten 18 bis 27

Aufstand

FOTOS V.L.N.R.: YANNIS KOLESIDIS / DPA; BÄRBEL SCHMIDT / DER SPIEGEL; DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL; GETTY
der Unternehmer
Arbeitsmarkt Wirtschafts-
lobbyisten und Unionspolitiker

IMAGES (2); ANGERER / IMAGO / HOCH ZWEI / STOCK; MIGUEL VIDAL / REUTERS / CORBIS
haben eine Kampagne gegen
das Mindestlohngesetz von
Arbeitsministerin Nahles los-
getreten. Die Mär vom „Büro-
kratiemonster“ hält sich
hartnäckig, doch bei näherer
Betrachtung des neuen Regel-
werks zeigt sich: Allenfalls
Kirmesbetriebe haben ernste
Schwierigkeiten. Seite 60

Abercrombie &
futsch
Mode Hollister und Aber-
crombie & Fitch, zeitweise die
begehrtesten Jugendmarken
der Welt, sind out. Die Kids
lassen die überteuerten Swea-
Plündern für den Terror
ter mit den riesigen Firmen- Raubkunst Der Basler Archäologe Christoph Leon hat jahrzehn-
logos liegen und greifen zu telang mit antiken Kunstobjekten gehandelt. In einem SPIEGEL-
modischer und günstigerer Gespräch erklärt er die Praktiken des Geschäfts: wie Fälschungen
Kleidung. So wurde Zara zur den Markt überschwemmen, wie der „Islamische Staat“ mit
stärksten Marke unter den Plünderungen antiker Stätten den Terror finanziert und wie zwei-
Modeketten. Seite 68 felhaft die Gepflogenheiten der Auktionshäuser sind. Seite 98

6 Titelbild: Foto Andrea Frazzetta / Luzphoto / fotogloria


In diesem Heft

Titel Ausland
18 Europa Alexis Tsipras stellt alles infrage, 72 Der libysche Bürgerrechtler Salah Ngab
was der Kanzlerin heilig ist berichtet vom Alltag in Tripolis /
Pakistanische Extremisten bilden
22 Parteien Die Doppelmoral der Linken chinesische Uiguren aus
24 Interview Griechenlands Wirtschafts- 74 Nigeria Der mörderische Feldzug von
minister Georgios Stathakis fordert eine Boko Haram im Nordosten des Landes
neue Wachstumspolitik für sein Land 78 Ukraine Wiktor Pintschuk ist Oligarch,
und ganz Europa Kunstsammler und ein
27 EU Parlamentschef Martin Schulz permanenter Grenzgänger zwischen
erklärt im SPIEGEL-Gespräch, Ost und West
wie die Europäische Union auf Tsipras 80 Ostukraine-Konflikt Der Angriff auf
reagieren soll Mariupol
83 Ägypten Drei Anführer vom Tahrir-Platz –
vier Jahre nach der Revolution
Deutschland
86 Global Village Ein vietnamesischer Schuster
Wiktor Pintschuk,
12 Leitartikel Suche nach einem Kompromiss macht die Sandalen von zweitreichster Mann der
mit Griechenland Ho Chi Minh zum Exportschlager Ukraine, liebt moderne
14 Hackerangriff gegen das Kanzleramt / Kunst und französische Wei-
Pegida-Draht ins Ministerium / Sport ne. Seit Jahrzehnten führt
De Maizière kritisiert Kirchenasyl / 87 DFL plante Fastenverbot für Profis /
Kolumne: Im Zweifel links der Oligarch ein Leben zwi-
Die alpine Ski-WM in den USA soll ein
TV-Spektakel werden
schen den Welten, zwischen
30 Koalition Die Generalsekretäre von Union
und SPD können sich nicht riechen 88 Fußball Spielerberater in der Ost und West – ein riskantes
Bundesliga – unterwegs mit Männern Spiel. Seite 78
32 Essay Richard David Precht über
die Ähnlichkeiten zwischen Pegida im Goldrausch
und dem Islam
34 Außenpolitik Das Auswärtige Amt
Kultur
hadert mit dem Bundespräsidenten 92 Der muslimische Agitprop-Künstler
Abdul Abdullah / Bob Dylans
36 Finanzen Durch Betrug an Ladenkassen Coverversionen von Sinatra-Songs /
entgehen dem Fiskus Milliarden – Kolumne: Zur Lage der Welt
Minister Schäuble tut wenig dagegen
94 Dresden Stadt der Opfer
40 Jugendhilfe Der grausame Tod eines 98 Raubkunst Der Basler Archäologe
Dreijährigen Christoph Leon berichtet im SPIEGEL-
42 Gastronomie Wie Koch-Azubis leiden Gespräch vom illegalen Handel
45 Verteidigung Die Zahl der Selbstmorde
mit antiken Objekten
von Soldaten steigt 102 Diven Verschollene Marlene-Dietrich-
Biografie von der Kritikerlegende
Alfred Polgar
Gesellschaft 104 Religion Die Islamkunde-Lehrerin Lamya Kaddor,
46 Sechserpack: Die Burka als Müllsack Lamya Kaddor über ehemalige Schüler,
die zu Dschihadisten wurden
Islamkunde-Lehrerin, musste
und andere Tollheiten / Der Düsseldorfer erleben, wie fünf ihrer ehe-
Bildhauer Jacques Tilly über Gott 108 Literaturkritik Arno Geigers Junge-Männer-
Roman „Selbstporträt mit Flusspferd“ maligen Schüler in den Dschi-
und Satire
had zogen. In ihrem Buch
47 Ein Post und seine Geschichte Frau Teschner sucht sie Erklärungen dafür,
aus Lage löst auf Facebook Wissenschaft
einen Sturm der Nächstenliebe aus 110 Münchner Biologen simulieren die dass sich die Jungen radikali-
Entstehung des Lebens / Wie leicht sich siert haben. Seite 104
48 Katastrophen Nach dem Tsunami 2011 eilte
der US-Flugzeugträger „Reagan“ den Erinnerungen fälschen lassen
Japanern zu Hilfe – wurden beim Einsatz 112 Euthanasie Die letzten Monate von
Seeleute verstrahlt? Annie Bus – Protokoll einer Sterbehilfe
117 Modernes Leben Die abenteuerliche
55 Ortstermin Was eine Moschee Erfindung der Selfie-Sticks
in Bretten mit Melanchthon und 118 Archäologie Deutschland war schon in
Möpsen zu tun hat der Steinzeit ein Einwanderungsland
120 Tiermedizin Hightech-Medikamente für
Wirtschaft Hunde und Katzen
58 Ukraine will mit russischen Geldgebern
sprechen / Uber ködert Taxifahrer / Medien
Gegendarstellung / Frankreich muss 121 Neue TV-Show von Kretschmer /
Subventionen zurückzahlen Ministerpräsidentin Dreyer gegen
60 Arbeitsmarkt Die verlogene Mindestlohn- Schäuble-Beirat
kampagne der Union 122 Internet Google und Springer ringen um
die Gunst der EU-Kommission Eric Schmidt,
64 Ernährung Bio-Restaurants laufen
124 Gründer Ein Unternehmer aus Sachsen erfolgsverwöhnter Google-
McDonald’s den Rang ab will den Markt für Dating-Apps aufrollen
66 Exporte Ostmanager Eckhard Cordes warnt Verwaltungsratschef,
vor neuen Russland-Sanktionen 8 Briefe muss in Brüssel Niederlagen
67 Lobbyismus Der TÜV macht Geschäfte mit 97 Bestseller einstecken. Im EU-Ver-
der Angst vorm Fahrstuhlfahren 126 Impressum / Leserservice Wegweiser für
fahren gegen den Konzern
68 Mode Der Sieg der spanischen Textil- 127 Nachrufe Informanten: verspüren Google-Gegner,
marke Zara über den US-Konkurrenten 128 Personalien www.spiegel.de/ etwa aus Deutschland,
Abercrombie & Fitch 130 Hohlspiegel / Rückspiegel briefkasten Aufwind. Seite 122

Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 6 / 2015 7
Briefe
„Der Titel ist großartig. Die verschiedenen Cover, die
Erzählungen der Überlebenden, tief berührend und schrecklich
wahr. Ein außergewöhnliches Dokument.“
Michael Becker, Kassel

Das Undenkbare begreifen Wie konnte es so weit kommen, dass tra- finde ich, wie Sie interne Mails des AfD-
dierte zivilisatorische Werte mit der millio- Vorstands ausspähen und veröffentlichen.
Nr. 5/2015 Die letzten Zeugen – 19 Auschwitz- nenfachen Ermordung unschuldiger Men- Wo ist da der methodische Unterschied
Überlebende berichten
schen geopfert wurden? Wie konnte ein zur NSA-Bespitzelung? Ist das nicht ein
Gut, dass Sie einen Bericht über die letzten Deutschland sich seines moralischen Kom- Versuch, ohne Achtung der Privatsphäre
Zeugen machen, solange diese noch le- passes zugunsten diabolischer Vernichtung AfD-Politiker mieszumachen?
ben – am meisten berührt, gefesselt und und Zerstörung entledigen? Das Unvorstell- Cornelia Wagner, Hamburg
erschüttert hat mich das Titelfoto von Je- bare verstehen, das Undenkbare begrei-
huda Bacon. Es ist schwer zu erklären: fen – unmöglich. Angesichts der Tatsache, Welch hündische Angst muss der SPIEGEL
einer, der – so scheint es – das gesamte Le- dass die ewig Geschundenen und Entwür- vor der AfD haben, wenn er sich auf acht
ben bis in alle seine Tiefen des Leides er- digten bald nicht mehr unter uns sein wer- Seiten an ihr abarbeitet. Da scheint wohl
fahren hat und uns mit einer freien, reinen den, sind wir umso mehr gefordert, das Ge- jedes Mittel der Diffamierung recht, wenn
Kinderseele offen, fast träumend anschaut. denken an dieses Verbrechen zu erhalten. man seine Deutungshoheit bedroht sieht.
Gerd Kraus, Bad Berneck (Bayern) Eylem Yilmaz, Lübeck Aaron Deppisch, Würzburg

Vielen Dank. Wir brauchen diese Erinne- Ich habe unzählige Bücher zu dem Thema Dass Lucke formuliert, der Staat sei „auf
rungen als weltweite Pflichtlektüre. gelesen, und dennoch war ich beim Lesen dem linken Auge blind“ und „untersuche
Dr. Manfred Ehrhardt, Homburg der Protokolle so ergriffen, als hätte ich alles akribisch auf Rechtsverdacht“, ist ein
zum ersten Mal davon gehört. Schlag ins Gesicht der unnötig zahlreichen
Ich habe im Rahmen des Geschichtsunter- Gabriele Gerber, Dietzenbach (Hessen) Opfer von rechtsgerichteter Gewalt.
richts mit meiner 9. Klasse die Auschwitz- Simon Topp-Manske, Lohfelden (Hessen)
Berichte gelesen und besprochen. Die Bevor über einen Entschädigungsanspruch
Schüler waren sehr ergriffen, sie finden es entschieden wurde, musste von den Be- Nach der Veröffentlichung der Belege, dass
wichtig, dass die Überlebenden uns heute troffenen ein Nachweis erbracht werden, Lucke auch der rechtsradikale Pöbel als
von ihrem Schicksal erzählen. dass ihnen ein „Schaden“ entstanden war. Stimmvieh willkommen ist, kann niemand
Leonie van der Post, Freiburg Ist es denn überhaupt möglich, unbeschä- mehr sagen, das habe man ja nicht gewusst.
digt weiterzuleben, nachdem man der Höl- Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)
In Pegida- und „Charlie Hebdo“-bewegten le entronnen ist?
Zeiten widmen Sie 20 wertvolle SPIEGEL- Christian Reineck, Berlin
Wie vor 50 Jahren
Seiten nicht der Information, sondern der
Erinnerung an furchtbarste Zeiten. Damit Nie darf dieser Holocaust vergessen wer- Nr. 4/2015 Interne Dokumente offenbaren gravierende
Mängel deutscher Hightech-U-Boote
haben Sie unserem Land einen unschätz- den, und ich bin sehr betroffen, wenn
baren Dienst getan. Danke. ich von einer Umfrage erfahre, nach der Als ehemaliger U-Boot-Offizier und -Kom-
Dr. Bernd Warkentin, Lörrach (Bad.-Württ.) eine Mehrheit der Deutschen für einen mandant fühle ich mich in die Sechziger-
„Schlussstrich“ plädiert. und Siebzigerjahre zurückversetzt, in de-
Es bedarf Überwindung, die Berichte der Detlef Stoll, München nen die ersten U-Boote der Typen 205 und
Holocaust-Überlebenden ganz zu lesen, 206 gebaut wurden. Auch vor 50 Jahren
weil das Grauen das Begreifen zu ersticken Als großer Hasardeur entlarvt funktionierte vieles nicht, war von min-
droht. Soll man sich nicht schämen, einer derer Qualität und erfüllte weder die tech-
Spezies anzugehören, die, einmalig unter Nr. 4/2015 Interne Mails belegen, nischen noch die operativen Anforderun-
wie AfD-Chef Bernd Lucke am rechten Rand fischte
allen Lebewesen, zu solchem Grauen fähig gen. Es ist kaum zu verstehen, dass man
ist, die sich auch noch zynisch und selbst- Es ist spannend zu lesen, wie Politik durch es so viele Jahre später nicht geschafft hat,
gefällig „die Krone der Schöpfung“ nennt? die AfD-Führung „gestaltet“ wurde. Was ausgereifte Einzelsysteme zu einem funk-
Hans Scholz, Bad Neuenahr-Ahrweiler (Rhld.-Pf.) ich als Nichtwähler der AfD dieser Partei tionierenden Gesamtsystem zusammenzu-
zugutehalten möchte, ist, dass die etablier- fügen. Solange nicht die Systemverantwor-
Als einer der wenigen, die noch über ein ten Parteien nun genauer sagen müssen, tung des Hauptauftragnehmers eingefor-
KZ erzählen können, spreche ich Ihnen wofür sie inhaltlich eigentlich (noch) stehen. dert und umgesetzt wird, werden unsere
meinen tiefen Dank für Ihre Ausgabe aus. Andrés Martin-Birner, Dresden U-Boote weiterhin die meisten ihrer Ein-
Siegfried Buchwalter, Baltimore (USA) sätze in der Werft verbringen.
Auf mich wirkt es immer noch unheimlich, Thomas Kunze, Bremen
Die industrielle Vernichtung der Juden wenn ein Kaiser plötzlich nackt vor uns
durch das NS-Regime mit seinen überwie- steht und – im konkreten Fall der kleine All die Mängel gehen immer zulasten der
gend christlich geprägten Schergen ist das Herr Lucke – als großer Hasardeur und Soldaten, die mit diesem miesen Material
größte Verbrechen, dessen der Mensch bis- Rosstäuscher entlarvt ist: Klar doch, auch arbeiten müssen. Wann endlich wird mit
her fähig war. Dieses Verbrechen tangiert er steht in einer deutschen Tradition. Und eisernem Besen bei der Beschaffung auf-
jedoch auch die Religiosität: Der Glaube die macht mir Angst! geräumt, wann werden Verträge geschlos-
an einen gütigen, dem Menschen zuge- Michael Westerholz, Deggendorf (Bayern) sen, die keine Hintertüren für Schlampe-
wandten Gott ist durch diesen Massen- reien zulassen, wann die Lobbyisten aus
mord aufs Schärfste herausgefordert. So lobenswert die Recherche des SPIEGEL dem Dunstkreis der Politiker entfernt?
Hans-Jürgen Ferdinand, Aachen zur NSA-Bespitzelung ist, so erstaunlich Friedhelm Beier, Duisburg

8 DER SPIEGEL 6 / 2015


Briefe

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 1. 2., 22.15 – 23.20 UHR | RTL
Fern jeglicher Denkverbote noch mehr Kellner und Köche die Bitten
Gefährliche Liebschaften – Raubkatzen um glutenfreie Speisen als Ernährungs-
als Haustiere; Das große Saufen – Nr. 4/2015 Ahmad Mansour macke abtun.
über den Islam und den Terror
Der Kampf gegen die Sucht; Unter Dipl. oec. troph. Beatrix Sanow, Jena
Beschuss – Die Not der Menschen Dieser Artikel gehört in seiner kritischen
in der Ukraine. Deutlichkeit beim Aufzeigen der Ursachen Die hohe Umweltbelastung, das wässrige
für die Ängste gegenüber dem Islam mit Fleisch, die Tierseuchen – und da fragt sich
zum Besten, was ich dazu gelesen habe. der Autor, warum wir ein gestörtes Verhält-
SPIEGEL GESCHICHTE Wolfgang Röhler, Frankfurt (Oder) nis zum Essen haben?
MITTWOCH, 4. 2., 22.15 – 23.00 UHR | SKY Alexander Frank, Frankfurt am Main
Wie gut tut eine solche souveräne, enga-
Der unsichtbare Feind – gierte Stimme der Vernunft. Die sehr viel- Es ist mittlerweile Allgemeinwissen, dass
Viren als Waffe fältigen Gründe der Probleme kenntnis- fast alle Zivilisationskrankheiten durch fal-
Die Dokumentation erzählt die Ge- reich, mit Überblick und angemessener sche Ernährung entstehen. Ihr Artikel trägt
schichte der biologischen Waffen – Bewertung aufzuzeigen und darüber hi- dem in keiner Weise Rechnung, sondern
einer Gefahr, die die Menschheit bis naus mit konkreten Vorschlägen der Ent- bezeichnet ein von diesem krank machen-
heute bedroht. Während des Zwei- wicklung gegenzusteuern – das ist das den Essverhalten abweichendes Verhalten
ten Weltkriegs warfen die Japaner dringende Gebot der Stunde. absurderweise als Ersatzreligion.
Bomben mit Pest-Erregern und Mal- Gustav-Adolf Mohrlüder, Bad Griesbach (Bayern) Klaus Mägerlein, Oberursel
leus-Bakterien über chinesischen
Dörfern ab und töteten viele Zivi- Wir brauchen Tausende Privatinitiativen, Ich finde es einfach traurig, wenn Men-
listen. Im Kalten Krieg testeten die aber vor allem eine informiertere Debatte schen, die an einer Krankheit leiden, als
USA lebensgefährliche Pathogene seitens der Politiker, die über „Der Islam „Besseresser, die in Schuldgefühlen versin-
an ihren eigenen Bürgern, während gehört zu Deutschland“ weit hinausführt. ken, wenn sie Zucker essen“ bezeichnet
die Sowjetunion Milliarden ausgab, Dr. Sieglinde Eva Tömmel, Planegg (Bayern) werden. Essen außerhalb des Hauses ist
um tödliche Viren und Bakterien zu für mich fast unmöglich. So freue ich mich
züchten. Während des ersten Irak- Fern jeglicher Denkverbote kommt Man- über jedes Restaurant, das auf meine Un-
kriegs war Saddam Hussein in der sour durch die kritische Benennung der verträglichkeiten Rücksicht nimmt.
Lage, Raketen mit biologischen dunklen Seiten des Islam zu Schlussfolge- Lea Feulner, Berlin
Waffen abzufeuern. Teile des Pro- rungen, die eine friedliche Perspektive zu-
gramms wurden damals nach Syrien mindest als Vision aufscheinen lassen. Eine undifferenzierte Abhandlung, die Al-
gebracht. Dipl.-Psych. Norbert Hartmann, Lübeck lergiker und Orthorektiker mit Veganern
verrührt und dabei doch nur Vorurteile,
Herzlichen Dank an Mansour, der aus- Häme und Diskriminierung erzeugt, Salz-
SPIEGEL TV REPORTAGE spricht, was sich wohl die meisten Bürger meider gar als Querulanten darstellt.
MITTWOCH, 4. 2., 0.15 – 0.40 UHR | SAT.1 in westlichen Ländern nicht zu sagen ge- Selbst wenn es einige mit dem Essen sehr
trauen, aus Angst davor, gleich in die natio- genau nehmen, ist dieses Verhalten dann
Sündhaft, teuer und sexy – nale, ausländer- oder zumindest islamfeind- so verwerflich, dass man es anprangert
das neue Bahnhofsviertel liche Ecke gestellt zu werden. Selbstver- und dabei kranke Menschen diskriminiert?
Die Gegend rund um den Frankfur- ständlich haben all die Anschläge, Morde, Dr. Hans-Werner Bertelsen, Bremen
ter Bahnhof verändert sich radikal. Gräueltaten et cetera mit dem Islam zu tun,
Vor einigen Jahren galt sie noch als in dessen Namen sie verübt werden: näm- Überrascht und entzückt!
eines der gefährlichsten Pflaster lich dem traditionellen, autoritären und mit-
Deutschlands, bekannt für ihre Dro- hin demokratiefeindlichen Islam. Und er Nr. 4/2015 Das „Abendlied“ für alle Ewigkeit
genszene und ihre Bordelle. Heute hat auch genau die Köpfe benannt, in denen Besonders gefreut habe ich mich über die
buhlen Gastronomen um die Loca- eine Änderung stattfinden muss: bei den Lyrik-Seite. Wer interessiert sich heute
tions, und Besserverdienende inves- Imamen und den Vorständen der Islamver- schon für Gedichte oder kann Lyrik über-
tieren in Immobilien. Selbst für eine. Die einen geben diese Autoritätshörig- haupt noch verstehen? Wie aber vom SPIE-
die „New York Times“ ist das Bahn- keit vor, und die anderen trauen sich nicht, GEL richtig bemerkt wird – dieses „Abend-
hofsviertel ein „place to be“. Die daran etwas zu ändern. lied“ kommt durch, es ist auch heute noch
SPIEGEL-TV-Reportage sucht nach Jürgen Beiler, Freudenburg (Rhld.-Pf.) anrührend, schön und aktuell. Weiter so,
den Gründen des Wandels. gerade in unserer Zeit können schöne Lie-
Gestörtes Verhältnis? der und Gedichte die „flächendeckende
Destruktion“ ein wenig eindämmen.
Nr. 4/2015 Wie überengagierte Politiker den Bürgern Andreas Zehden, Bad Kissingen
Gesundheitsprobleme einreden
Nachdem Sie mit Artikeln wie „Droge Zu- Überrascht und entzückt! Alter SPIEGEL-
cker“, „Natürlich künstlich“, „Die Sucht- Leser freut sich über alle Maßen über den
macher“ die Ernährungshysterie gefördert „Nebel, der aus dem SPIEGEL steiget“.
haben, erklären Sie nun Ihren Lesern ihr Vielen Dank für diesen Beitrag und Aner-
gestörtes Verhältnis zum Essen – Chapeau! kennung für den Mut, den es gebraucht
Leider ist gut gemeint nicht gut gemacht, hat, ihn zu veröffentlichen.
und so haben Sie es versäumt, die Grenze Fred Hagger, Ausserberg (Schweiz)
zwischen freiwilligem, unnötigem bis sinn-
freiem Verzicht und einem solchen, den Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ge-
eine Erkrankung mit sich bringt, deutlich kürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen:
Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main zu ziehen. Dank Ihres Beitrags werden nun leserbriefe@spiegel.de

10 DER SPIEGEL 6 / 2015


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Mit den Griechen leben


Rechthaberei hilft nicht weiter, Angela Merkel und Alexis Tsipras müssen Kompromisse finden.

A
ngela Merkel, heißt es, habe ein sagenhaftes Gespür hängig macht, könnte bald der Handlanger eines autoritären
für das Volk. Deshalb sei sie beliebt, deshalb gewinne Staates sein. Auch wenn Griechenland aus der Eurozone aus-
sie Wahlen. Für Deutschland gilt das, für Griechen- schiede, würde es in der EU bleiben, und dann hätten Putin
land nicht. Der Sieg von Alexis Tsipras war auch eine Nie- oder Xi Jinping eine Stimme in Europa und der Nato. Dass
derlage von Angela Merkel. Die Griechen haben eine radi- Tsipras da keine Skrupel kennt, zeigt sich bereits an seinem
kale Regierung gewählt, um sich von deutschem Druck zu Widerstand gegen weitere Sanktionen gegen Russland.
befreien. Die andere Gefahr liegt darin, dass sich Europa in der Welt
Merkel könnte sagen, dass sie für das griechische Volk nicht lächerlich macht. In Teilen Asiens und den USA ist die wirt-
zuständig ist. Deutsche Interessen stehen für sie obenan, eine schaftliche Dynamik größer als auf dem alten Kontinent. Re-
starke Währung, größtmögliche Schonung der Kassen. Aber spekt kann Europa nur durch Einheit erwerben. Die anderen
das ist altes Denken, nationales Denken. Auch Merkel hat Staaten beäugen den Kampf um den Euro als nicht besonders
eine Renationalisierung der Politik in Europa betrieben. Sie wohlmeinende Zuschauer. Würde Griechenland ausscheiden,
meinte, ohne größere Rücksicht auf griechische Stimmungen würde das als Versagen gewertet, vor allem der Bundeskanz-
auskommen zu können. Das rächt sich jetzt. lerin. Einen Kontinent, der schlecht geführt wird, müssten
Denn es gibt eine politische andere Staaten nicht besonders
Union, auch wenn ihr starke In- ernst nehmen.
stitutionen fehlen. Diese Union Deshalb muss es zwei Ziele
schafft das Volk. Seitdem sich das geben: Griechenland bleibt in
griechische Volk Tsipras an die der Eurozone, bei einem stabi-
Spitze gewählt hat, gibt es ein Pro- len Euro. Das ist nicht leicht zu
blem für alle, vor allem für Mer- vereinbaren. Die Lage ist also
kel, die nun in erster Linie gefragt schwierig, und solche Lagen sind
ist, dieses Problem zu lösen. in der Politik nichts für Rechtha-
Es nützt nichts, die Griechen ber. Es ist die Zeit für Realpolitik,
für diese Wahl zu schelten. Tsi- für die kleinen Schritte.
pras mag ein Wüterich sein, und Für die Deutschen heißt das:
natürlich sind die Fremdenfeind- Nachsicht üben. Ihnen ist so viel
lichkeit und der Antisemitismus verziehen worden in ihrer Ge-
seines Koalitionspartners Panos schichte, dass sie verzeihen kön-
Kammenos abstoßend. Aber die nen sollten. Solidarität bleibt
beiden bilden nun einmal die le- weiterhin richtig, trotz der Feh-
gitime Regierung Griechenlands. ler der Griechen. Das heißt nicht,
Die anderen Staaten müssen mit dass die Regierung Tsipras die
ihnen umgehen. Verträge mit der EU ignorieren
Es nützt auch nichts, den Grie- kann. Einen Schuldenschnitt soll-
chen weiterhin vorzuhalten, dass te es nicht geben, weil dann Spa-
sie ökonomisch nie reif waren für nier oder Portugiesen Gleichbe-
den Euro, dass die Deutschen Wahlsieger Tsipras handlung verlangen würden, und
über Hilfspakete solidarisch ge- das würde die Eurozone überfor-
wesen sind, dass die Griechen sich mehr hätten anstrengen dern. Aber Stundungen und kleine Zinsrabatte sind möglich.
müssen, um die Finanzkrise ihres Landes zu überwinden. Das Und niemand sollte zu stolz für eine Rhetorik des Entgegen-
ist alles richtig, nützt aber nichts, solange die Griechen das kommens sein.
mehrheitlich anders sehen, und das tun sie. Stimmungen wir- Wenn Tsipras einen Funken politischen Verstandes hat,
ken auf dem politischen Feld manchmal stärker als Fakten. dann weiß er, dass er Merkel nicht zu viel zumuten darf, denn
Eine Politik, die zunächst richtig wirkt, erweist sich als selbstverständlich ist sie weiterhin den deutschen Wählern
falsch, wenn sie die Lage nicht besser macht, sondern schlech- verpflichtet, und die AfD lauert. Nichts wäre schlimmer als
ter. Und durch die Wahl von Tsipras hat sich die Lage in ein gegenseitiges Aufschaukeln der Populisten. Sollte Tsipras
Europa dramatisch verschlechtert. Jetzt muss die Politik dafür genau das wollen, hat Europa keine Chance.
sorgen, dass die Lage wieder besser wird. Dafür sollte sie Vor genau 200 Jahren gelang es den europäischen Herr-
ihre Ziele und Strategien definieren. schern auf dem Wiener Kongress, ihre Interessen auszuglei-
Wenn die Lage eskaliert und Griechenland aus der Euro- chen und für Jahrzehnte eine halbwegs stabile Lage zu schaf-
zone ausscheidet, drohen zwei große Gefahren. Die eine ist, fen, obwohl damals die Versuchung groß war, Probleme mit
FOTO: NIKOS PILOS/LAIF

dass sich Tsipras das Geld, das sein Land braucht, aus Russland Waffen zu lösen. Da haben es die europäischen Demokraten
oder China holt. Er winkt bereits in diese Richtung. Soll er dieser Tage leichter. Nun müssen sie zeigen, dass sie sich auf
doch? Nein, wer sich von Russland oder China finanziell ab- Diplomatie und Kompromiss verstehen. Dirk Kurbjuweit

12 DER SPIEGEL 6 / 2015


Justiz
„Quälende Frage“
Claudia Brügge,
47, Diplom-Psy-
chologin und
Vorsitzende des
Vereins DI-Netz
e. V. – Familien-
gründung mit Bundeskanzleramt
Spendersamen, über das Urteil
des Bundesgerichtshofs (BGH)
zu Samenspenden Geheimdienste

SPIEGEL: Der BGH hat jetzt Unbemerkter Eindringling


bestätigt, dass Kinder, die mit
Spendersamen gezeugt wur- Der Spionageangriff auf eine damalige Re- belgische Telekommunikationsfirma Belga-
den, von der Klinik im Regel- feratsleiterin in der Abteilung Europapoli- com sowie gegen Ziele in mindestens 14
fall Auskunft über die Iden- tik des Bundeskanzleramts war offenbar weiteren Ländern im Einsatz – vorwiegend
tität des Spenders verlangen gravierender als bislang angenommen. gegen Regierungen, Energieversorger und
können. Sind Sie über dieses Untersuchungen des privaten Laptops der Airlines. Das russische Unternehmen
Urteil erleichtert? Frau ergaben, dass das Computerpro- Kaspersky hatte vorige Woche einen vom
Brügge: Auf jeden Fall! Seit gramm „Regin“ spätestens im Februar 2012 SPIEGEL veröffentlichten Schadcode aus
2007 müssen die Reproduk- eingeschleust wurde. Die hochkomplexe dem Snowden-Archiv als Bestandteil von
tionskliniken die Dokumente Schadsoftware blieb demnach mehr als Regin identifiziert. Damit handelt es sich
30 Jahre lang aufbewahren. zwei Jahre lang unbemerkt. Erst der ver- offenbar bei dem Angriff um eine Attacke
Aber einen solchen Aus- trauliche Hinweis einer IT-Sicherheitsfirma der Five-Eyes-Nachrichtendienste auf deut-
kunftswunsch konnte man in an das Bundesamt für Sicherheit in der sche Ziele. Eine Überprüfung des Dienst-
der Praxis bisher allenfalls Informationstechnologie im März 2014 hat- rechners der Mitarbeiterin ergab allerdings
über Umwege durchsetzen. te die Ermittler zu der privaten IP-Adresse keine Hinweise auf eine Verbreitung im
SPIEGEL: Weil viele Kliniken der Mitarbeiterin geführt. Die ausgefeilte Bundeskanzleramt. Die Frau hatte E-Mails
einen solchen Anspruch bis- Cyberwaffe war auch bei Attacken gegen zwischen ihrem privaten und ihrem dienst-
her nicht anerkannten? die EU-Kommission (SPIEGEL 1/2015), die lichen Account verschickt. gud, rom
Brügge: Ja, oder weil sie sich
mit allen Mitteln wehren,
etwa indem sie behaupten,
die Akten wären plötzlich Kind Informationen über den Islam
verschwunden oder im Keller Spender braucht. Ablehnung im Osten deutlich höher
einer Überschwemmung zum SPIEGEL: Was ist mit mögli-
Opfer gefallen. Wir wün- chen juristischen Folgen, von Die Ansichten der Menschen deutsche die Aussage von
schen uns dafür ein zentrales Unterhaltsansprüchen bis hin über den Islam und über die Kanzlerin Angela Merkel ab,
Register, etwa beim Gesund- zum Erbrecht? Notwendigkeit, Flüchtlinge zu der Islam gehöre zu Deutsch-
heitsministerium, ähnlich wie Brügge: Ein Kind müsste ja unterstützen, unterscheiden land (siehe Grafik); es sind
in Großbritannien; dazu eine zunächst einmal die Vater- sich stark zwischen alten und auch nur 61 Prozent der Bür-
Aufbewahrungspflicht für schaft des rechtlichen Vaters neuen Bundesländern. Das er- ger im Osten der Meinung,
deutlich mehr als 30 Jahre – anfechten, bevor es den Spen- gibt sich aus einer repräsen- dass Flüchtlinge aus Syrien,
und ein Verbot, Akten aus der als rechtlichen Vater fest- tativen Umfrage von Advan- dem Irak oder Afrika aktive
Altfällen zu vernichten, die stellen ließe. Mir ist kein Fall ced Market Research für den Hilfe in Deutschland benöti-
Ärzte lange Zeit maximal bekannt, in dem so etwas pas- SPIEGEL. Demnach lehnen gen. Im Westen sind 72 Pro-
10 Jahre aufbewahrt haben. siert wäre. Aber tatsächlich nicht nur deutlich mehr Ost- zent dafür. Eine persönliche
SPIEGEL: Laut BGH haben würden wir uns wünschen, Bedrohung durch islamisti-
Kinder jedes Alters ein Aus- dass der Gesetzgeber Rechts- „Bundeskanzlerin Merkel hat schen Terror wird dagegen
FOTOS: EVA Z. GENTHE/DER SPIEGEL (L.); PAUL LANGROCK / ZENIT (R.)

kunftsrecht. Ist das sinnvoll? sicherheit schafft, indem er gesagt, der Islam gehöre zu ähnlich wahrgenommen. 96
Brügge: Ja. Das kann eine gro- ausschließt, dass der Samen- Deutschland. Inwieweit Prozent der Bevölkerung im
ße Bedeutung für die Identi- spender rechtlicher Vater wer- stimmen Sie der Aussage zu?“ Osten und 95 Prozent im Wes-
tätsentwicklung haben. Hier den kann. ten fühlen sich laut der Um-
Zustimmung
im Ungewissen zu sein wird SPIEGEL: Auch Ihr Kind wurde frage bedroht. „Sehr bedroht“
für manche zu einer quälen- mit Spendersamen gezeugt. insgesamt 38 % fühlen sich sogar 29 Prozent
den Frage. Umgekehrt wird Weiß es davon? aller Befragten. Fast zwei
Ablehnung
jemand, der weiß, dass er Brügge: Ja, von Anfang an, Drittel der Deutschen sind zu-
jederzeit Auskunft bekäme, und wenn es will, soll es den insgesamt 43 % dem der Ansicht, dass die
vielleicht sogar eher darauf Namen des Spenders eines Westdeutsche 40 % muslimischen Gemeinden in
verzichten. Solange das Kind Tages erfahren dürfen. Des- Ostdeutsche 55 % Europa eine stärkere Mit-
minderjährig ist, müssen sen Personalien sind dafür verantwortung im Kampf ge-
AMR für den SPIEGEL vom 19. bis 21. Januar;
eben die Eltern verantwor- bei einem Notar hinterlegt. 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: gen den islamistischen Terror
tungsvoll entscheiden, ob das Interview: Dietmar Hipp „weder zustimmend noch ablehnend“ übernehmen sollten. mif

14 DER SPIEGEL 6 / 2015 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Gentechnik desinstitut für Risikobewer- Jakob Augstein Im Zweifel links
Lobbyisten als
Kontrolleure
tung (BfR) und im Bundesfor-
schungsinstitut für Ernäh-
rung und Lebensmittel. Wis-
Unsere Schurken
Leitende Mitarbeiter von Be- senschaftler der Deutschen Der „Islamische Staat“ wird
hörden, die im Auftrag des Forschungsgemeinschaft, die IS genannt. Nennen wir das
Bundeslandwirtschaftsminis- Parlamente und Behörden in Königreich Saudi-Arabien
teriums unter anderem gen- Lebensmittelfragen beraten, also S-A. IS und S-A unter-
manipulierte Agrarprodukte seien zugleich für Industrie- scheiden sich in einer wesent-
überprüfen, pflegen enge verbände tätig. Die Verwal- lichen Hinsicht: Wenn der IS
Kontakte zur Ernährungs- tungsratsvorsitzende der jemanden köpft, landet das
wirtschaft. Das ergibt eine Europäischen Lebensmittel- Video gleich im Netz. Wenn
Studie des Instituts Testbio- behörde musste 2012 ihren in S-A einer den Kopf ver-
tech e. V. Die Münchner Wis- Posten wegen ihrer Tätigkeit liert oder ein Blogger ausge-
senschaftler bemängeln „In- in der Industrievereinigung peitscht wird, sind Kameras
teressenkonflikte“ der Kon- Ilsi aufgeben. Im selben nicht erwünscht. Ansonsten
trolleure und sprechen von Jahr hatte auch in Deutsch- ähneln sich IS und S-A wie
einer „organisierten und zum land die grüne Bundestags- ein islamischer Staat dem an-
Teil verdeckten Einflussnah- fraktion Lobby-Verstrickun- deren: Beide verfügen über Sand und Öl, hacken Dieben
me“ durch Lobbyverbände, gen von BfR-Mitarbeitern die Hand und Räubern zusätzlich den Fuß ab, Frauen dür-
die dem Ministerium schon kritisiert. Dennoch zeigt die fen nicht Auto fahren, und Schwule sind des Teufels.
lange bekannt sei. So besetz- Studie, dass die Bundesre- Allahu akbar! Eine Kleinigkeit noch: Den „Islamischen
ten etwa Vertreter der Indus- gierung eine Unabhängigkeit Staat“ nennen wir monströs und führen Krieg gegen
trievereinigung International der von ihr beauftragten ihn, Saudi-Arabien dagegen ist seit 70 Jahren ein Verbün-
Life Sciences Institute (Ilsi) Institute nicht hergestellt deter des Westens.
hochrangige Posten im Bun- hat. klu In der vergangenen Woche starb König Abdullah, und
der amerikanische Präsident reiste mit einer beeindru-
ckenden Delegation von Außenpolitikern, Geheimdienst-
Pegida tauscht, um die gegenseitige chefs und Generälen an, um dem Nachfolger seine Auf-
Direkter Draht ins „Gesprächsbereitschaft“ und wartung zu machen. Bei der Trauerfeier für die Terror-
das „Gesprächsformat“ des Toten von „Charlie Hebdo“ hatte Barack Obama dagegen
Ministerium Ministertermins zu sondieren. gefehlt.
Das umstrittene Treffen von Ursprünglich sollte neben Gegen den IS, den wir zu Recht ideologisch dem Mittel-
Sachsens Innenminister Mar- Oertel wohl auch der umstrit- alter zurechnen, fliegen Amerika und seine Verbündeten,
kus Ulbig (CDU) mit Füh- tene Gründer der Protest- darunter Saudi-Arabien, Bombenangriffe. Mit den Saudis
rungsfiguren der Anti-Islam- bewegung, Lutz Bachmann, haben wir bis vor Kurzem die tollsten Waffengeschäfte
Bewegung Pegida wirft neue teilnehmen. Nach Bekannt- gemacht. Vielleicht gilt ja das geflügelte Wort vom Schur-
Fragen auf. Offenbar war das werden rassistischer Face- ken, der eben unser Schurke sei? Der amerikanische
Gespräch, das am vorigen book-Einträge und eines Bach- Präsident Franklin D. Roosevelt hat das 1939 über Anasta-
Montag an einem geheimen mann-Fotos in Hitler-Pose soll- sio Somoza gesagt, den Diktator von Nicaragua.
Ort außerhalb Dresdens statt- te Pegida dem Ministerium Öl? Jede Wette, dass die Islamisten des IS sich eines Ta-
fand, von Spitzenleuten des dann zusichern, dass Bach- ges als ebenso zuverlässige Öllieferanten erweisen wür-
Ministeriums seit Längerem mann nicht an dem Gespräch den wie die Saudis. Israel? Die offizielle Unterstützung
FOTO: MEHMET KAMAN/AA/ABACAPRESS.COM; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

vorbereitet worden. Wie ein teilnehme. Am Ende wurde der Hamas haben die Saudis eingestellt. Aber privates
Sprecher Ulbigs auf Anfrage Oertel von einem anderen Geld dürfte weiterhin an die Israel-Feinde fließen. Terro-
erklärte, ging die Initiative für Mitstreiter, dem AfD-Funktio- rismus? Die IS-Kämpfer sind für uns eine Terrormiliz.
das Gespräch vom sächsischen när Achim Exner, begleitet. Und zugleich wissen wir genau: Wenn die deutschen Li-
Innenministerium aus. Bereits Bei dem Spitzentreffen soll es, mousinen und die ungarischen Mädchen wieder mal
um den 15. Januar herum anders als zunächst behauptet, schwer auf wahhabitischem Gewissen lasten, verschaffen
habe der Leiter von Ulbigs nicht nur vorrangig um Sicher- sich die Saudi-Araber Linderung durch fromme Finanzie-
Leitungsstab Kontakt mit der heitsfragen der wöchentlichen rung des internationalen Terrorismus.
damaligen Pegida-Sprecherin Pegida-Demonstrationen ge- Um die westliche Politik gegenüber dem IS und S-A zu
Kathrin Oertel aufgenommen gangen sein. Unter anderem verstehen, muss man entweder Waffenhändler oder ame-
und danach mehrmals mit habe Minister Ulbig gegen- rikanischer Präsident sein oder in der Außenpolitikredak-
ihr telefoniert und SMS ausge- über Pegida die Dialog- tion einer deutschen Zeitung den großen Realpolitik-
bereitschaft der Landesregie- schein gemacht haben. So wollte uns die „Bild“-Zeitung
rung bekräftigt. Einen Tag das neulich erklären, als sie einen ungenannten Politiker
nach dem Geheimtreffen aus Tel Aviv mit den Worten zitierte: „Manchmal muss
brach die Führungsspitze von man die Augen vor etwas verschließen, um das Gesamt-
Pegida auseinander: Fünf Mit- bild zu sehen.“ In der Tat: Berechtigung und Sinn der
glieder des sogenannten Orga- westlichen Politik gegenüber Saudi-Arabien können nur
Teams, unter ihnen Oertel noch die Blinden sehen.
und Exner, verließen das Denn die Saudis sind fraglos Schurken, aber sie sind
Gremium und kündigten die nun mal unsere.
Pegida-Demonstration Gründung einer neuen
Protestbewegung an. srö, was An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein und Jan Fleischhauer im Wechsel.

DER SPIEGEL 6 / 2015 15


Stadtwerke
Verzögerter Entwurf
Das SPD-geführte Bundes-
wirtschaftsministerium tut
sich schwer dabei, Städten
und Kreisen Rechtssicherheit
bei der Rekommunalisierung
von Strom- und Gasnetzen
zu verschaffen. Noch im No-
vember hatte Staatssekretä- De Maizière
rin Brigitte Zypries den Ent-
wurf für eine entsprechende
Neufassung des Energiewirt- Kirchenasyl
schaftsgesetzes für Anfang
des Jahres angekündigt. Jetzt De Maizière kritisiert Bischöfe
räumte eine Ministeriums-
sprecherin ein, dass mit ei- In der Flüchtlingsdebatte verschärft sich zelfällen“ unter dem Gesichtspunkt des
nem kabinettsreifen Entwurf der Ton zwischen Union und katholischer Erbarmens Flüchtlinge aufnähmen. Den-
frühestens im Sommer zu Kirche. Bei einem Treffen des CDU-Prä- noch gehe es nicht, dass sie sich eigen-
rechnen sei. Derzeit führen sidiums mit 19 deutschen Bischöfen am mächtig über bestehende Gesetze hinweg-
die Vergaben von Strom- und Dienstag in Berlin rügte Bundesinnen- setzten. Der in der deutschen Bischofs-
Gasnetzen an Stadtwerke minister Thomas de Maizière die Kirchen- konferenz für Migration zuständige
wegen widersprüchlicher For- leute dafür, dass sie einzelnen Flüchtlin- Hildesheimer Bischof Norbert Trelle hatte
mulierungen im Gesetz gen, die von der Abschiebung bedroht das Kirchenasyl bei dem Treffen mit CDU-
reihenweise zu Rechtsstreitig- sind, Unterschlupf gewähren. „Als Verfas- Politikern und Kanzlerin Angela Merkel
keiten mit den Energiekon- sungsminister lehne ich das Kirchenasyl zuvor als „Ultima Ratio“ bezeichnet.
zernen (SPIEGEL 43/2014). prinzipiell und fundamental ab“, sagte de Derzeit finden in bundesweit 200 Kirchen
Dabei hatten bereits im Maizière. Zwar habe er als Christ Ver- mindestens 359 Menschen Zuflucht, da-
Herbst 2013 CDU/CSU und ständnis dafür, dass die Kirchen „in Ein- runter 109 Kinder. mp
SPD im Koalitionsvertrag ver-
einbart, die Bewertungsver-
fahren „bei Neuvergabe (z. B.
Rekommunalisierung) der Bildung der Großen Koali- Stromtrassen für die vier bis zum Jahr
Verteilernetze eindeutig und tion“, sagt der Vorsitzende Seehofer droht 2022 abzuschaltenden Atom-
rechtssicher“ zu regeln. Dass der SPD-Bundestagsfraktion reaktoren. „Wenn wir einen
über ein Jahr später immer Thomas Oppermann. „Jetzt Niederlage solchen Kompromiss einge-
noch kein Novellierungsvor- muss die gesamte Bundesre- Dem bayerischen Minister- hen würden, kämen auch an-
schlag vorliegt, kritisiert die gierung und allen voran die präsidenten Horst Seehofer dere Bundesländer mit sol-
Bundestagsfraktion der Lin- Bundeskanzlerin das ganze droht eine Niederlage im chen Forderungen“, heißt es
ken. „Die Kommunen brau- Gewicht Deutschlands in die Streit um neue Hochspan- im Ministerium von Sigmar
chen endlich Rechtssicherheit Waagschale werfen.“ Ähnlich nungsleitungen. Ein Kompro- Gabriel (SPD). Gegen Reser-
für die Rekommunalisierung. äußert sich SPD-Fraktions- miss, den seine Wirtschafts- ve-Gaskraftwerke spreche,
Da drängt sich der Verdacht vize Carsten Schneider: „Ich ministerin Ilse Aigner plant, dass die Kosten dafür von al-
auf, dass es eigentlich darum begrüße die neue Initiative stößt im Bundeswirtschafts- len deutschen Stromkunden
geht, die Interessen der aus Frankreich und Öster- ministerium auf Ablehnung. getragen werden müssten. In
privaten Anbieter zu bevor- reich, ich hätte mir allerdings Die CSU-Frau will statt zwei der Bundesnetzagentur be-
zugen“, sagt Fraktionsvize auch einen aktiveren Beitrag Leitungen nur eine bauen, fürchten die Beamten zudem,
Caren Lay. was des deutschen Finanzminis- dafür aber Gaskraftwerke in dass das Gasnetz im Süden FOTOS: ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES (U.); MAURIZIO GAMBARINI / DPA (O.)
ters gewünscht.“ Deutschland Bayern errichten als Ersatz nicht stabil genug für die Ver-
müsse endlich offensiver wer- sorgung neuer Kraft-
Finanztransaktionsteuer den, so Schneider. Anfang werke sei. Folge: Es
Besser der Woche hatten sich die müsste eine neue Gas-
Finanzminister von elf EU- leitung gen Süden ge-
koordinieren Staaten auf Initiative Frank- legt werden. In der
Die SPD erhöht den Druck reichs und Österreichs ver- nächsten Woche legt
auf Bundeskanzlerin Angela ständigt, die Arbeit an der ge- Aigner die Ergebnisse
Merkel und Bundesfinanz- planten Börsensteuer besser des sogenannten Ener-
minister Wolfgang Schäuble zu koordinieren. Geplant ist giedialogs in Bayern
(beide CDU), sich stärker als nun, möglichst viele Börsen- vor. Auf dessen Basis
bislang für die sogenannte geschäfte zu belasten, den möchte Ministerprä-
Finanztransaktionsteuer zu Steuersatz dafür aber niedrig sident Seehofer ent-
engagieren. „Die Einführung zu halten. Die Einführung ei- scheiden, wie er stabile
der Börsensteuer war eine ner Finanztransaktionsteuer Versorgung und güns-
zentrale Bedingung für die hatten die Länder bereits vor Arbeiter an Hochspannungsleitungen tige Energiepreise si-
Sondierungsgespräche zur drei Jahren vereinbart. böl, kn cherstellen will. cnm, gt

16 DER SPIEGEL 6 / 2015


Deutschland

Datenschutz datenspeicherung ist Voßhoff


Voßhoff gegen nun doch ins Lager der Geg-
ner einer anlasslosen Daten-
Massenspeicherung sammlung gewechselt: „Ich
Die Bundesdatenschutz- sehe nicht, dass eine Vorrats-
beauftragte, Andrea Voßhoff datenspeicherung mit den
(CDU), hat ihre Haltung zur strengen Auflagen des EuGH
umstrittenen Vorratsdaten- noch den Effekt erzielt, den
speicherung geändert. Lange die Sicherheitsbehörden mit
hatte die frühere CDU-Ab- diesem Instrument erreichen
geordnete die massenhafte wollen“, so Voßhoff. „Wenn
Aufbewahrung etwa von ich den massiven Eingriff
Telefonverbindungsdaten als durch eine Vorratsspeiche-
„wirksames Instrument der rung in die Persönlichkeits-
Kriminalitätsbekämpfung“ rechte aller Bürger abwäge ge-
verteidigt. Nach dem vernich- gen den zu erwartenden Nut-
tenden Urteil des Europäi- zen für die Sicherheit, kann
schen Gerichtshofs über die ich eine solche Maßnahme
EU-Richtlinie zur Vorrats- nicht mehr befürworten.“ ama

Rüstung defekt. Ersatz ist aber noch Hoffmann (l.)


Wasserschaden am nicht produziert worden,
weshalb das Flugzeug derzeit
Pannenflieger nicht starten kann. Airbus Der Augenzeuge
Die Pannenserie des neuen musste vergangene Woche
Transportflugzeugs A400M
reißt nicht ab. Jetzt stießen
einräumen, die versproche-
nen fünf neuen Maschinen in
Verliebt in Elli
Mechaniker der Bundeswehr diesem Jahr nicht ausliefern Daniel-Philipp Hoffmann, 36, arbeitet im Online-Marketing für
auf Wasser im Rumpf der ein- zu können. Nach einem SPIE- die Deutsche Knochenmarkspenderdatei und verbringt einen
zigen bislang vom Hersteller GEL-Bericht über Qualitäts- großen Teil seiner Freizeit als ehrenamtlicher Katzenstreichler
Airbus an die Luftwaffe aus- mängel an der deutschen im Tierheim von Köln-Dellbrück.
gelieferten Maschine, die im A400M und Problemen im
niedersächsischen Wunstorf Endmontagewerk in Sevilla „Eigentlich suchte ich nur eine Katze als Spielkameradin
steht. Die Prüfer sind alar- räumte Airbus-Chef Tom für unseren Kater Janosch. Im Tierheim von Dellbrück
miert über den Fund, weil Enders diese Woche in Lon- habe ich dann Elli gesehen. Eine kleine getigerte Katze,
weite Teile des Rumpfs aus don vor britischen Politikern blind und taub. Sie war so einsam, aber Janosch ist viel
Verbundwerkstoffen beste- ein, man habe „nicht die zu wild für sie, das wäre nicht gut gegangen. Das meinte
hen, die sich mit Wasser voll- Leistung abgeliefert, die wir auch die Katzenpsychologin, mit der ich mich beraten
saugen könnten. Das würde uns gewünscht haben“. Am hatte. Trotzdem ging mir Elli nicht mehr aus dem Kopf.
zu einer schwer kontrollier- Donnerstag ist daraufhin ein Darum bin ich immer wieder ins Tierheim zu ihr gefah-
baren Gewichtszunahme des Vorstand der Sparte Militär- ren, um sie zu streicheln und ihr ein bisschen Freude zu
Fliegers führen. Außerdem flugzeuge von seinem Posten bereiten. Irgendwann habe ich angefangen, mich auch um
sind die Landescheinwerfer zurückgetreten. gt die anderen Katzen zu kümmern. Und damit bin ich
nicht allein. Drei Damen kommen schon seit Jahren an
den Wochenenden zu ‚ihren‘ Katzen. Die Mitarbeiter des
Verfassungsschutz Geheimdienst sei von anderen Tierheims freuen sich über die Unterstützung. Inzwischen
Avanti Dilettanti Behörden als „Abladeplatz für gehören mein Freund und ich mit zum festen Team der
abgehalfterte Mitarbeiter und Dellbrücker Katzenstreichler. Wir sprechen uns ab, damit
Das Bundesamt für Verfas- Querulanten“ genutzt worden, jede der Katzen ihre Zuwendung bekommt. Dann spielen
sungsschutz (BfV) war in den urteilt Kommissionsmitglied wir mit ihnen und verteilen kleine Leckerbissen. Die
Gründerjahren zeitweise eine Michael Wala. Den späteren Frauen gaben uns anfangs gerne etwas von ihrem Puten-
unproduktive Chaostruppe. BfV-Chef Günther Nollau be- fleisch und Schinken für die Katzen ab. Mein Freund und
Erfolge erzielte vor allem die zeichnet Wala als „ambitio- ich sind Veganer. Inzwischen kaufen wir auch Fleisch für
Spionageabwehr – und die war nierten Dilettanten“. Immer- sie, und Janosch bekommt etwas ab. Im Tierheim leben
durchsetzt von Altnazis. Das hin fanden die Historiker zurzeit gut hundert Katzen, viele traurige Fälle darunter,
ist das Ergebnis einer Histori- überraschend wenige NS-Be- die halb verhungert und misshandelt abgegeben wurden.
kerkommission, die im Auftrag lastete. Bei der Spionageab- Manche Menschen behandeln Tiere wie Wegwerfartikel.
des Inlandsgeheimdienstes des- wehr stießen sie allerdings auf Meine derzeitigen Sorgenkinder heißen Nelli und Mimi.
FOTO: MAURIZIO GAMBARINI / DPA

sen NS-Belastung in den Jah- knapp zwei Dutzend ehema- Sie sind schwarz. Und schwarze Katzen haben es beson-
ren bis 1975 untersucht. Den lige SS-, SD- und Gestapo-An- ders schwer, noch mal ein Zuhause zu finden. Dabei sind
Wissenschaftlern zufolge hatte gehörige, die als „freie Mit- das ganz wunderbare Tiere. Aber manchmal passiert
das 1950 gegründete BfV keine arbeiter“ angestellt waren. eben doch ein kleines Wunder: Vor einiger Zeit hat Elli
klare Aufgabenbeschreibung, Ausgerechnet diese Abteilung ein neues Frauchen gefunden. Jetzt muss sie nicht mehr
eine schwache Leitung und galt in der Öffentlichkeit als auf uns Katzenstreichler warten und hat einen Menschen,
inkompetentes Personal. Der besonders erfolgreich. klw der ganz für sie da ist.“ Aufgezeichnet von Barbara Schmid

DER SPIEGEL 6 / 2015 17


Populist Tsipras

Der Wutgrieche
Europa Der Athener Wahlsieger Alexis Tsipras will ein ganz anderes
Europa als das von Angela Merkel. Sein Erfolg stachelt den Zorn
gegen die deutsche Dominanz neu an. Auch die Regierungen in Frankreich
und Italien hoffen nun auf ein Ende der Sparpolitik.

18 DER SPIEGEL 6 / 2015


Titel

A
lexis Tsipras hätte keinen symbol-
trächtigeren Ort wählen können,
um seinen Wählern zu zeigen, dass
er ein Premierminister ist, wie es noch kei-
nen gab in Griechenland. Und dass er es
wirklich ernst damit meint, den Deutschen
die Stirn bieten zu wollen.
Am Montag, direkt nach seiner Vereidi-
gung, fuhr er mit seiner Limousine vor
dem Schießstand von Kesariani vor, einem
Mahnmal für griechische Widerstands-
kämpfer, das von den Einheimischen als
„Altar der Freiheit“ verehrt wird.
Auf dem Gelände am Ortsrand von
Athen hatten deutsche Besatzungstruppen
rund 600 Widerstandskämpfer erschossen,
zuletzt am 1. Mai 1944 rund 200 Kommu-
nisten aus dem KZ Chaidari, der jüngste
war 14 Jahre alt.
Mehrere Hundert Leute drängelten sich
nun um Tsipras, als er zu Fuß durch den
Park zum Gedenkstein ging. Die Men-
schen fassten ihn an, sie gratulierten ihm,
sie umarmten und küssten ihn. Die weni- Syriza-Anhänger in Athen: Jubel über „Sexy Alexi“
gen Leibwächter schirmten ihn kaum ab,
das wollte er offenbar so. Alexis Tsipras, nen Extremisten, Tsipras ist Europas Alb- Wahlkampfsprüche langsam einsammeln
40, der jüngste Premierminister, den die traum und Geisterfahrer, er ist der Anti- muss?
Republik je hatte, will auch der ungewöhn- Merkel, ohne sie wäre er nicht groß ge- Wie weit Europa inzwischen auseinan-
lichste sein. Der nahbare. Und der, der worden. Und nun sind die beiden Antipo- derliegt, zeigt sich schon im Gebrauch von
sein Land von Grund auf verändert. den in einem Europa, in dem man sich ge- Begriffen. Wenn Merkel und Tsipras von
Als er ein paar Blumensträuße am genseitig immer weniger versteht. Solidarität sprechen, dann meinen sie zwei
schmucklosen Gedenkstein niederlegte, Wie konnte es so weit kommen? Der verschiedene Dinge. Das Wort „Austeri-
applaudierten seine Fans. Und sie skan- Euro war von Anfang an mehr als eine tät“, das in halb Europa als Synonym für
dierten: „Widerstand, das ist der Weg, den Währung, er war das Versprechen, die Grä- Merkels angeblich so hartherzige Sparauf-
die Völker nehmen müssen.“ Es sei „end- ben zuzuschütten, die Kriege und blinder lagen benutzt wird, benutzt die Kanzlerin
lich Schluss mit der neuen deutschen Be- Nationalismus in Europa aufgerissen hat- selbst gar nicht. Sie spricht lieber von
satzung“, frohlockte eine Rentnerin. Eine ten. Mit der gemeinsamen Währung werde Strukturreformen.
Minute lang stand Alexis Tsipras danach die Einigung des Kontinents unumkehrbar, Die beiden, Merkel und Tsipras, bilden
schweigend vor dem Mahnmal. hoffte Helmut Kohl vor der Unterzeich- nun die Pole in der EU. Natürlich will dem
Es war eine Geste des Widerstands, in nung des Maastrichter Vertrags am 7. Fe- neuen Premier in Athen kaum jemand öf-
ihr lag kaum verhohlen eine Ankündigung. bruar 1992. fentlich beispringen, dafür sind seine Worte
Das Gedenken an die Leiden unter der deut- Nun scheint der Euro jene Ressenti- zu schrill und ist sein Koalitionspartner zu
schen Besatzung verband sich darin mit ei- ments zu schüren, die er doch gerade aus- unappetitlich. Panos Kammenos, der neue
ner Anklage: dass die Deutschen auch jetzt löschen sollte. In Griechenland hat die Kri- Verteidigungsminister, hat sich früher schon
wieder Griechenland unterjochen. se eine Regierung an die Macht gebracht, mit der Meinung hervorgetan, dass Juden
Er wolle den Griechen „die Würde wie- die neu ist in ihrer Mixtur aus Linksradi- in Griechenland keine Steuern zahlen.
dergeben“, das sagte Tsipras immer wieder. kalen und Rechtspopulisten und deren ein- Heimlich aber hoffen viele in Europa,
Würde ist ein wichtiges Wort, wenn man zige gemeinsame Basis der Kampf gegen dass der Schock der Griechenlandwahl die
FOTOS: ANDREA FRAZZETTA / LUZPHOTO / FOTOGLORIA (L.); ORESTIS PANAGIOUTOU / DPA (R.)

erklären möchte, was in Griechenland ge- Merkels sogenanntes Spardiktat ist. Kräfteverhältnisse ins Wanken bringen
schehen ist. Würden sich nicht so viele Zugleich ist Tsipras Merkels ungewolltes werde. Frankreichs Präsident François
Griechen erniedrigt fühlen, von der eige- Geschöpf. Sein Aufstieg ist nicht zu erklä- Hollande drängt schon seit seinem Amts-
nen korrupten politischen Klasse, von ih- ren ohne den Frust, den die europäische antritt darauf, die Schuldengrenze etwas
rem sinkenden Wohlstand, aber auch von Sparpolitik in Griechenland hervorgebracht lockerer zu handhaben. Er hat dabei nicht
den Deutschen und den anderen Europä- hat. Das mag irrational sein, denn es waren nur Italiens Ministerpräsidenten Matteo
ern – Alexis Tsipras wäre nie gewählt wor- die Griechen ja selbst, die sich so verschul- Renzi auf seiner Seite, sondern auch Jean-
den. deten, dass ihr Land im April 2010 die Last Claude Juncker, den Chef der EU-
Tsipras ist ein Mann, den die Krise des nicht mehr tragen konnte. Aber mit der Kommission.
Euro hervorgebracht hat. Die Währung, Spardomina Merkel hatte Tsipras eine Es geht aber auch um verletzte Gefühle,
die Europa einen sollte, hat die Europäer Kunstfigur geschaffen, auf die er alle nega- das macht die Sache so kompliziert. Zu
gespalten, und in einer Wirtschaftsgemein- tiven Gefühle der Griechen lenken konnte. Zeiten der Mark gehörte zum deutschen
schaft, in der sich die einen über den Tisch Europa blickt mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein auch der etwas ab-
gezogen fühlen und die anderen unter- Faszination und Entsetzen auf den neuen schätzige Blick in den Süden, wo Lira und
drückt, ist Tsipras für seine Fans eine Re- starken Mann in Athen. Hat es die Ge- Drachme immer weiter an Wert verloren.
bellenfigur. Viele Griechen sehen in ihm meinschaft mit einem Hasardeur zu tun, Die Italiener und Griechen wiederum
einen Mann, der sie von der Unterdrü- der sein Land mit Vollgas in den Abgrund schauten amüsiert auf die Deutschen und
ckung befreien soll. Viele Deutsche sehen fährt? Oder hat er in der Euphorie des Sie- ihren etwas zwanghaften Mark-Feti-
in ihm aber auch ein Schreckgespenst, ei- ges nur noch nicht begriffen, dass er seine schismus. Nun, da alle mit einer Währung
DER SPIEGEL 6 / 2015 19
Titel

verbunden sind, wird überall geklagt. Die So ist Alexis Tsipras die bisher extremste man die Vertreter der Troika damals in
Deutschen fühlen sich genötigt, die ver- Konsequenz des in weiten Teilen Europas Hintergrundgesprächen fragte, ob sie sich
schwenderischen Hallodris in Griechen- wachsenden Widerstands gegen den Spar- auch mit Tsipras treffen würden, ob sie ihn
land durchzufüttern, und die Griechen füh- kurs der deutschen Kanzlerin. einbinden würden in den Prozess, winkten
len sich als Kolonie des merkelschen Spar- Er gehört einer Bewegung an, die mitt- sie ab.
imperiums. Jeder hat sich daran gewöhnt, lerweile vom Süden Europas bis in die IWF-Chefin Christine Lagarde betätigte
den anderen als Karikatur zu zeichnen. amerikanischen Universitäten reicht und sich gar als Wahlkämpferin und sprach den
Eigentlich schien die Eurokrise schon für die als ausgemacht gilt, dass sich beiden großen Parteien ihr Vertrauen aus.
überwunden, seit mehr als zwei Jahren ist Europa auf einem Irrweg befindet: Sparen Nur die ND oder ihr sozialistisches Pen-
sie aus den Schlagzeilen fast verschwun- in der Rezession führe nicht zu Wachstum, dant Pasok garantierten den Verbleib des
den. Doch nun, mit der Wahl von Tsipras, sondern zu ewiger Stagnation. Je länger Landes in der Eurozone. Doch je mehr die
rückt sie radikal zurück auf die politische die konjunkturelle Schwäche Europas an- Europäer Tsipras zum Outlaw stilisierten,
Agenda. Es geht ja nicht nur um die Spar- dauert, desto größer wird die Zahl ihrer desto mehr wuchs dessen Popularität in
auflagen, die er aufkündigen will. Tsipras Anhänger. Es könnte deshalb sein, dass Griechenland.
hat mit der Wahl seines Koalitionspartners Tsipras nicht nur ein Betriebsunfall ist, son- Und Tsipras ist das Ergebnis einer Rea-
einen Kurs eingeschlagen, der ganz grund- dern Vorreiter einer neuen Generation eu- litätsverweigerung, wie sie so wohl nur in
sätzlich die Frage stellt, ob er noch die ropäischer Populisten, die sich gegen den Griechenland möglich ist. Die Einführung
Werte der Europäischen Union teilt. Es ist Mainstream stellen – und damit Wahlen des Euro bescherte dem Land einen bis
ein Kulturbruch. gewinnen könnten. dahin nicht gekannten Wohlstand. Er ba-
„Wir planen keinen Zusammenstoß, der Der Erfolg von Tsipras ist auch die Ge- sierte in erster Linie auf den Krediten, die
für beide Seiten gleichermaßen katastro- schichte eines teilweise hilflosen Umgangs das Land plötzlich viel billiger als zuvor
phal wäre“, sagte Tsipras am Mittwoch bei der Europäer mit den populistischen Kräf- an den Finanzmärkten bekam. Selbst nach
seiner ersten Kabinettssitzung. „Aber wir ten in Griechenland. Spätestens seit Früh- Krise und beispielloser Rezession liegt
werden nicht die desaströse Politik der Un- jahr 2012 war klar, dass Tsipras eine zen- Griechenlands Wirtschaftsleistung noch
terwerfung fortsetzen.“ trale Rolle in der Politik spielen würde. auf dem Niveau zu Zeiten des Eurobei-
Vergangene Woche verschreckte seine Das zeigten alle Umfragen. Doch wenn tritts. Die Schuld dafür nun allein Merkel
Regierung den Rest der EU mit russland- in die Schuhe zu schieben ist mindestens
freundlichen Tönen. Erhofft er sich wirk- eine einseitige Sicht der Dinge.
lich mehr Würde an der Seite Russlands? Klare Mehrheit Aber Tsipras macht es sich gern einfach.
Die Nähe von Syriza zu Russland ist „Sind Sie für eine Europäische Kaum im Amt, verkündete seine Regie-
zwar nicht neu, sie hat auch viel mit den rung, 9500 entlassene Staatsdiener wieder
Wirtschafts- und Währungsunion
traditionell engen Kontakten zwischen einstellen zu wollen. Dazu gehören das Si-
Griechenland und Russland zu tun. Aber mit einer gemeinsamen Währung, cherheitspersonal an den Schulen und die
wieder ist Merkel sein Antipode. Ihr nämlich dem Euro?“ legendären Putzfrauen, die seit Wochen
oberstes Ziel ist, die 28 EU-Staaten ge- Zustimmung in den Ländern der Eurozone, den Wahlkampf von Syriza in Putzkittel
schlossen beisammenzuhalten, es ist in Prozent und Gummihandschuhen begleiten. Wie
ihr fast einziger Trumpf im Ringen mit er das alles bezahlen will? Niemand weiß,
Putin. Estland 83 wie das funktionieren soll0. Doch im Mo-
Tsipras und Syriza haben bei ihrem Sieg Luxemburg 80 ment genießt Syriza den Rausch des Wahl-
von den Auswirkungen der Sparmaßnah- siegs. Der „Präsident“, wie Tsipras’ An-
men profitiert, die Griechenland in den Slowakei 79 hänger ihn rufen, hat es geschafft, den zer-
vergangenen Jahren umsetzen musste: Ein- strittenen Haufen aus ehemaligen Kommu-
kommensverluste von 30 Prozent, eine Ar- Malta 77 nisten, Grünen, Trotzkisten, Maoisten,
beitslosigkeit von offiziell 26 Prozent, bei Belgien 76 Ökosozialisten und versprengten Radika-
15- bis 25-Jährigen von 51 Prozent, lange len zu einen.
Schlangen an den Suppen- und Armenkü- Irland 76 Syriza ist mehr als nur eine Protestpar-
chen, geschlossene Geschäfte in den No- Niederlande 76 tei. Sie ist durch die Krise „zu einer Volks-
belvierteln, auffallend viele Bettler in den partei geworden“, sagt der Wirtschafts-
Straßen. Viele der Strukturreformen, die Finnland 75 experte Jens Bastian, der zwei Jahre lang
neues Wachstum und Jobs bringen sollten, in der EU-Taskforce Griechenland als Ban-
blieben Tsipras Vorgänger schuldig. Slowenien 75 kenexperte tätig war. Sie hat es geschafft,
Mit einem Mix aus beidem schafften an- Deutschland 74 außer ihren Anhängern in der linken Sze-
dere Länder, die nach 2010 in der Schul- ne und Protestwählern auch die Mittel-
denkrise versunken waren, die Wende Lettland 74 schicht und viele Rentner für sich zu ge-
zum Besseren. Irland, Portugal, Spanien, Österreich 69
winnen. Das hat auch mit Tsipras’ Auftritt
alle drei Länder mussten die Rettungsschir- zu tun.
me auch in Anspruch nehmen, haben sie Frankreich 67 Tsipras wirkt nicht wie ein eifernder
inzwischen aber, anders als Griechenland, Ideologe, nicht wie ein Bürgerschreck. „Es
wieder hinter sich gelassen. Spanien 65 gibt keinen Grund ihn nicht zu mögen,
Gewonnen hat Tsipras aber auch, weil Griechenland 63 wenn man ihn trifft“, sagt der Schriftstel-
er den Bruch mit dem System versprach, ler Petros Tatsopoulos, der Syriza im
mit der Vetternwirtschaft der Altparteien Litauen 63 Streit verlassen hat. Auch in Berliner Re-
Pasok und Nea Dimokratia (ND). Sein Sieg Portugal
gierungskreisen wird ihm „Charisma“ und
58
gründet aber auch darauf, dass ihm im ein smarter Auftritt attestiert. Sein Privat-
Wahlkampf Merkel als Feindbild diente, Italien 54 leben schottet der studierte Bauingenieur
Quelle: Standard-
zum Teil auch mit sehr unfeinen Metho- Eurobarometer,
und Stadtplaner Tsipras, Vater zweier
den. Zypern 51 Herbst 2014 Kinder, konsequent ab. Nicht einmal an
20 DER SPIEGEL 6 / 2015
der Wahlurne war er mit seiner Partne-
rin Peristera Baziana zu sehen, einer IT-
Ingenieurin, von der es nur wenige Bilder
gibt.
Aber ist Tsipras mehr als ein Populist?
Hat er das Zeug, Griechenland aus der Kri-
se zu führen? „Tsipras hat sich sehr ver-
ändert“, sagt der Parteienexperte und Ge-
schichtsprofessor Antonis Liakos, 68: „Er
ist politisch reif geworden und standfest
in seinen Überzeugungen. Und er hat kei-
ne der großen Familien hinter sich.“ Liakos
meint jene Politikdynastien, die seit Jahr-
zehnten das Land unter sich aufgeteilt ha-
ben.
Viele, auch im restlichen Europa, haben
mit Tsipras die Hoffnung verbunden, er
werde das korrupte System der alten Par-
teien in Griechenland beenden. „Die Men-
schen haben Bilanz gezogen, was ihnen
Samaras und Papandreou gebracht haben,
und einen Strich gezogen“, sagt Bastian.
Doch dann hat er mit den rechtspopu-
listischen Unabhängigen Griechen (Anel)
einen Koalitionspartner gewählt, dessen
Chef, Panos Kammenos, jahrzehntelang
von der Vetternwirtschaft der Nea Dimo-
kratia profitiert hatte. Erst als Kammenos
sich im Jahr 2012 gegen die Politik der Troi-
ka stellte, wurde er mit 20 anderen aus der
Kanzlerin Merkel: Tsipras ist eine Variable in ihrem Rechenspiel Partei geworfen.
Seitdem pöbelt Kammenos gegen die
EU und vor allem gegen Angela Merkel.
„Griechenland ist ein besetztes Land, und
der Regierungschef erhält seine Befehle
von Angela Merkel“, schimpfte er . Er ver-
glich die EU mit einem „vierten Reich“,
das Deutschland durchsetzen wolle, und
kündigte an, er werde gegenüber der deut-
schen Kanzlerin „nicht auf Knien rut-
schen“. Stattdessen fordert er – wie auch
Syriza – nachträgliche Entschädigungszah-
lungen für die Besatzung im Zweiten Welt-
krieg, insbesondere für die NS-Zwangsan-
leihe.
Syrizas Spitzenpolitiker sind sich der ge-
ringen politischen Schnittmenge mit den
Rechtspopulisten bewusst. Doch Anel gilt
in Griechenland ebenfalls als Anti-System-
Partei. Es gibt aber auch ein gemeinsames
Feindbild: Angela Merkel.
Zu den Paradoxien der Eurokrise ge-
hört, dass Merkel, die so viele Emotionen
in Griechenland auslöst, meistens gänzlich
unemotional handelt. Im Gegensatz zu
Tsipras wirkt sie wie eine Vernunftmaschi-
FOTOS: DOMINIQUE FAGET / AFP (U.); IPON / IMAGO (O.)

ne. Wenn sie im kleinen Kreis über die


Eurokrise spricht, dann geht es um Lohn-
stückkosten, Zinssätze und Schulden-
stände. Merkel ist da von unerbittlicher
Sachlichkeit. Ihre Krisenlogik hat ihr engs-
ter Europaberater einmal auf ein Blatt Pa-
pier gezeichnet: Weil die Probleme, die
in die Krise führten, in den einzelnen Staa-
ten hausgemacht seien, müssten sie auch
dort gelöst werden, mit Sparen und Re-
Verbündete Renzi, Hollande: Wunsch nach weicherem Stabilitätspakt formen.
DER SPIEGEL 6 / 2015 21
Titel

Sicherlich, sie hat schon dramatische pras so aggressiv. Seine schrillen Töne sol- Merkel kennt Tsipras vor allem aus den
Worte gesprochen. „Scheitert der Euro, len auch überdecken, dass er zu einer be- Beschreibungen des deutschen Botschaf-
dann scheitert Europa“, sagte sie in einer rechenbaren Variablen in Merkels großem ters in Athen, der beinahe täglich vertrau-
Regierungserklärung am 19. Mai 2010. Und Kalkül geworden ist, auch wenn sie ihm liche „Drahtberichte“ nach Berlin schickt.
im kleinen Kreis hat sie auch schon einmal bisher noch nie persönlich begegnet ist. Darin wird Tsipras als smarter, gut ausse-
gesagt, dass Deutschland zum Euro und Merkel war bis kurz vor der Wahl der hender Volkstribun beschrieben, der seine
zu Europa stehen müsse – nach zwei Welt- Überzeugung, ihr Parteifreund Antonis Sa- Wirkung auf weibliche Wähler nicht ver-
kriegen, für die Deutschland Verantwor- maras von der konservativen Nea Dimo- fehle. „Sexy Alexi“ ist einer seiner Spitz-
tung trage. Deshalb entschied sie im Som- kratia könne sich als Premierminister hal- namen in Griechenland.
mer 2012, Griechenland im Euro zu hal- ten. Deshalb ging sie im Dezember auch Aus dem Regierungslager kennt Jörg As-
ten. auf dessen Wunsch ein, das laufende Hilfs- mussen den neuen Premier persönlich. As-
Nun, zweieinhalb Jahre später, steht der programm nur um zwei statt um sechs oder mussen war bis zum Herbst 2013 als EZB-
Kontinent vielerorts deutlich besser da. neun Monate zu verlängern. Ein Fehler, Direktor zuständig für die Außenkontakte
Der Euro könnte eine Staatspleite der Grie- wie sich jetzt herausstellt. Nun stehen alle der Europäischen Zentralbank. Diese Ka-
chen wohl ohne größere Verwerfungen unter großem Zeitdruck, weil das Pro- näle nutzt er informell weiterhin, auch
überstehen. Das aber wiederum macht Tsi- gramm Ende Februar ausläuft. wenn der Staatssekretär im Arbeitsminis-

Im Wiege- Linken-Chefs Kipping, Tsipras


Das Problem kleinreden

schritt was dran. Aber schwierig wird es,


wenn die Linken den rechten Rand mit
eigenen Parolen noch anheizen.
Das hatte sogar schon Oskar Lafon-
Parteien Im Verhältnis taine miteinkalkuliert, als er im Wahl-
zu den ganz Rechten kampf 2005 gezielt den Begriff der
„Fremdarbeiter“ instrumentalisierte.
messen die Linken gern Die Linke wollte um jeden Preis wach-
mit zweierlei Maß. sen, egal mit welchen Stimmen.
Die Uneindeutigkeit gegenüber

E
s sollte ein Abend der Freude Doch die Linke hat nicht nur in ihrer rechts wird für die Partei, die vom Mit-
werden im Berliner Cafe Moskau. Wählerschaft, sondern auch in ihren regieren träumt, nun zum Risiko. Als
Zum Neujahrsempfang der Bun- Positionen Überschneidungen mit dem Bundeskanzlerin Angela Merkel kürz-
destagsfraktion von Gregor Gysi am rechten Rand. lich klarstellte, der Islam gehöre zu
vergangenen Montag wurde der erste Das beginnt beim offensichtlich un- Deutschland, lehnten 58 Prozent der
Ministerpräsident der Linken, Bodo ausrottbaren Antisemitismus, der die Linken-Anhänger laut Politbarometer
Ramelow, ebenso bejubelt wie die Ver- Partei durch Aktionen Einzelner immer diesen Satz ab. Das war der höchste
teidigung der linken Regierungsbeteili- wieder in Bedrängnis bringt. Das ist Wert aller im Bundestag vertretenen
gung in Brandenburg. Und am Tag sehr deutlich in der EU-Kritik und of- Parteien. Entsprechend eiern die Lin-
zuvor hatten noch dazu die Genossen fenbart sich ebenso im unsicheren Um- ken herum in ihrem Verhältnis zu den
im Geiste in Griechenland einen Wahl- gang mit Phänomenen wie Pegida und Islamkritikern von Pegida und Co.
sieg errungen, den die deutschen der AfD. Einig sind sich Rechtsaußen Gysi meint, man müsse mit den Pegida-
Linken gern zum Katalysator und Auf- und Teile der Linken auch in der Ver- Mitläufern reden, und kassierte dafür
bruchssignal für eigene Regierungsträu- achtung des politischen Systems, der eine Schelte vom Vorsitzenden Bernd
me hochjazzen wollten. „herrschenden Politik“ und deren ver- Riexinger: „Die Linke redet nicht mit
Doch Fraktionschef Gysi, sonst eher meintlicher Vasallen in den Medien: Bewegungen, die einen rassistischen,
ein Freund längerer Wortbeiträge, war Für die einen ist es „die Lügenpresse“, fremdenfeindlichen Charakter haben.“
ungewohnt einsilbig, als er auf das für die anderen die von Geheimdiens- Der Wiegeschritt, mal rechts, mal
Linksbündnis Syriza und seinen Anfüh- ten gesteuerte „bürgerliche Presse“. links, zieht sich durch die Partei: Sahra
rer Alexis Tsipras zu sprechen kam. Vor allem im Osten hat die Linke Wagenknecht will dem Volk auf der
„Tsipras hat einen Koalitionspartner ge- viele Wähler an die Eurogegner von Straße zuhören und findet auch nichts
funden, der uns nicht besonders gefällt. der AfD verloren. Und auch bei den Anstößiges an der griechischen Rechts-
Aber er hatte keine andere Wahl“, sag- selbst ernannten Patrioten von Pegida links-Variante. Dietmar Bartsch lehnt
te Gysi und wechselte flugs das Thema. tummeln sich viele, die linke Stamm- jeden Dialog mit Pegida ab. Aber man
Dass die linken Griechen mit rech- wähler waren oder aus dem für die koaliert mit Rechtsaußen, zumindest in
FOTO: HANNIBAL HANSCHKE / PICTURE ALLIANCE / DPA

ten Populisten gemeinsame Sache ma- Roten wichtigen Pool der Nicht- und Griechenland? Die Vorsitzende Katja
chen, bringt ihre deutschen Freunde Protestwähler stammen. Kipping aus Dresden, gut informiert
in Erklärungsnot. Am liebsten würden In stilleren Stunden gibt Gysi es zu, über die Zusammensetzung der Pegida-
es viele halten wie das Hausblatt dass die Linke durchaus Anhänger hat Bewegung, redet das Problem klein,
„Neues Deutschland“, das die homo- von rechts. Er lobt dann die Integra- indem sie die rechten Griechen zu ei-
phobe, fremdenfeindliche und mit- tionsleistung der alten PDS im Osten. ner Art CSU umdefiniert. Ein ziemlich
unter antisemitische Anel-Partei, Soll heißen: Ohne die PDS wäre das seltsamer Gedanke für eine Partei, die
Tsipras’ Koalitionspartner, kurzerhand Phänomen Rechtsextremismus im Os- gern betont, dass ihr eigentlich schon
als „notwendiges Übel“ darstellte. ten noch stärker gewesen. Da ist sogar die SPD zu rechts sei. Markus Deggerich

22 DER SPIEGEL 6 / 2015


terium kein offizielles Mandat der Bundes-
regierung hat.
Ein wichtiger Ansprechpartner in Athen
ist Notenbankchef Yannis Stournaras, bis
vor gut einem Jahr Finanzminister des Lan-
des. Auf ihn setzen die EZB und die Brüs-
seler EU-Kommission. Er soll der neuen
Regierung klarmachen, in welcher prekä-
ren Lage sich das Land befindet und wel-
che Folgen ein Aufkündigen der Hilfspro-
gramme mit der EU hätte.
Merkel hatte bisher eine klare Linie bei
der Eurorettung: Solidarität gegen Solidi-
tät. Man kann der Kanzlerin nicht vorwer-
fen, dass sie kleinlich gewesen wäre,
Deutschland haftet inzwischen mit rund
hundert Milliarden Euro für die Eurokri-
senländer. Würde sich Tsipras mit seiner
Forderung nach einem Schuldenschnitt
durchsetzen, drohte dem Bundeshaushalt
ein Loch in Milliardenhöhe.
Erst einmal wird Tsipras der Kanzlerin
nicht gefährlich, denn er fordert zu viel,
einen Schuldenschnitt. Frankreich und Ita-
lien verspüren ebenso wie die Bundesre-
gierung nicht die geringste Lust, Griechen-
land diesen Punkt zu gewähren.
Außerdem gibt es in der Eurozone ge-
nügend Länder, die ein hartes Sanierungs-
programm hinter sich haben, Spanien zum
Beispiel, aber auch Portugal und Irland.
Die Regierungen dieser Länder sehen es
nicht ein, warum ausgerechnet Tsipras eine
Ausnahme gewährt werden soll, nur weil
er am lautesten schreit. Als sich am ver-
gangenen Montag die Eurofinanzminister
trafen, stand die Front gegen Tsipras wie
ein Mann, der deutsche Minister Wolfgang
Schäuble konnte sich zurückhalten.
Schon sprechen Politiker der Union of-
fen über ein Ausscheiden der Griechen aus
der Eurozone: „Die Auswirkungen eines
Austritts des Landes sind für den Euro
wahrscheinlich weniger problematisch als
eine Aufweichung der Kriterien für alle“,
sagt Bayerns Finanzminister Markus Söder.
Auch der deutsche EU-Kommissar Gün-
ther Oettinger hält das Undenkbare plötz-
lich für möglich: „Natürlich spielen wir
Worst-Case-Szenarien durch“, sagt er.
„Aber niemand strebt einen Austritt Grie-
chenlands aus der Eurozone an.“
Im Berliner Kanzleramt lehnt man sich
deshalb entspannt zurück. „Die Griechen
sollen uns jetzt sagen, was sie konkret wol-
len“, heißt es dort. Über die Zinsen der
europäischen Hilfskredite in Höhe von
insgesamt 240 Milliarden Euro und eine
Streckung der Tilgungsfristen könne man
reden.
Die Kanzlerin hat deutlich akutere Sor-
gen. Sie hält nicht allzu viel vom politi-
schen Geschick des neuen Premierminis-
ters, der von der Uni bald in die Politik ge-
wechselt ist und dessen demagogisches Ta-
lent in umgekehrt proportionalem Verhält-
nis zu seiner Regierungserfahrung steht.
DER SPIEGEL 6 / 2015 23
Titel

„Sie müssen keine Angst haben“


Griechenland Der neue Wirtschaftsminister Georgios Stathakis will den Euro behalten, aber die
Troika loswerden – und über ein neues Rettungspaket verhandeln.
Der Ökonom Stathakis, 61, ist Super- das Wachstum höher, zahlen wir mehr,
minister für Wirtschaft, Infrastruktur, ist es geringer, zahlen wir weniger.
Schifffahrt und Tourismus im Kabinett von Gleichzeitig muss die strikte Sparpoli-
Regierungschef Alexis Tsipras. Zusammen tik durch eine neue Vereinbarung er-
mit Vizepremier Giannis Dragasakis und setzt werden, deren Grundlage ist: Wir
Finanzminister Giannis Varoufakis wird wollen einen ausgeglichenen Haushalt,
er die Verhandlungen mit Brüssel führen. wir wollen uns an fiskalische Regeln
Stathakis ist Sohn eines Reeders, war halten, aber wir brauchen auch Wachs-
Kommunist und lehrte bislang „Marxisti- tumsimpulse für die Wirtschaft.
sche Analyse“ an der Universität von Kreta. SPIEGEL: Soll der von Syriza verlangte
Er ist ein Politiker der moderaten Töne Schuldenschnitt am Anfang der Ver-
und tritt eloquent auf. Das Interview findet handlungen stehen – oder am Ende?
kurz vor seiner Vereidigung statt, er Stathakis: Es ist zu früh, das zu sagen.
kommt mit abgewetzter Lederjacke und Aber alles steht zur Verhandlung.
T-Shirt in sein Abgeordnetenbüro. SPIEGEL: Und wenn die Europäer dem
Schuldenschnitt nicht zustimmen?
SPIEGEL: Herr Stathakis, muss Europa Stathakis: Definitiv ja. Stathakis: Wir sollten abwarten, was
jetzt Angst haben vor einem selbst- SPIEGEL: Was werden die ersten Maß- die Gespräche ergeben und wie reali-
bewussten Griechenland, das seine nahmen Ihrer Regierung sein? sierbar neue Vorschläge im Kampf ge-
Schulden nicht mehr zahlt? Stathakis: Schritt Nummer eins ist, eine gen die Schulden sind. Nicht nur wir
Stathakis: Angst wovor? Nein, Sie müs- Antwort auf die humanitäre Krise in haben da Ideen, es gibt auch Überle-
sen keine Angst haben. Syriza hat im- unserem Land zu finden. Wir müssen gungen in Deutschland und beim IWF.
mer gesagt, dass die Auflagen der Troi- die extreme Not der Menschen lindern, Das ist eine total offene Agenda.
ka sehr negative Auswirkungen auf die sich noch nicht mal mehr Strom SPIEGEL: Bis Ende Februar muss Athen
unsere Wirtschaft und unsere Bevölke- leisten können. Danach werden wir, 2,3 Milliarden Euro Schulden tilgen …
rung haben und dass sich das ändern Woche für Woche, Schritt für Schritt, Stathakis: Wir werden die bedienen.
muss. Gleiches gilt auch für Europa. weitere Probleme angehen, um die SPIEGEL: Wie?
SPIEGEL: Wie denn? soziale Lage strukturell zu verbessern Stathakis: Wir werden die bedienen.
Stathakis: Durch einen Wandel der und die Wirtschaft zu stärken. SPIEGEL: Wie soll eine Regierung erfolg-
Finanzpolitik hin zu einer expansive- SPIEGEL: Dafür brauchen Sie Geld, rund reich arbeiten, die aus Radikallinken
ren öffentlichen Geldpolitik. Unsere 13 Milliarden Euro sollen die Gesund- und Rechtspopulisten besteht – die au-
Bürger sind müde von fünf Jahren des heitsversorgung, Lebensmittel für Be- ßer ihrer Ablehnung der Sparauflagen
strengen Sparens, sie fühlen sich von dürftige, die Erhöhung von Mindestlohn aus Brüssel nichts gemein haben?
Europa bestraft. Wir brauchen eine und Pensionen kosten. Und Ende Stathakis: Syriza ist die wichtigste Par-
neue Agenda für eine gesunde wirt- Februar läuft das Hilfsprogramm der tei in der Regierung, und wir haben ei-
schaftliche Entwicklung und ein belast- EU aus. nen kleinen Partner, mit dem es große
bares fiskalisches Gerüst, das die nega- Stathakis: Das stimmt, deshalb werden Differenzen in vielen Punkten gibt.
tiven sozialen Effekte der Krise mildert. wir so schnell wie möglich Verhandlun- Dessen sind sich beide Seiten bewusst.
Deshalb kann der Wahlsieg von Syriza gen aufnehmen, allerdings nicht mit Aber es war die einzige Option für
helfen, in Europa eine neue Art des der Troika. Wir werden die Initiative eine stabile Regierung – und das wird
Krisenmanagements durchzusetzen. ergreifen und die europäischen Staats- für einige Zeit reichen. Wichtig ist: Wir
SPIEGEL: Mit seinen Forderungen nach und Regierungschefs treffen. Wir wol- werden unser Sozialprogramm, die
einem Schuldenschnitt und neuen Mil- len mit ihnen den Rahmen für eine Verwaltungsreform und die Erneue-
liardengeschenken hat Alexis Tsipras neue Vereinbarung finden – mit Zu- rung unserer Beziehungen mit Europa
die europäischen Partner verschreckt. stimmung der europäischen Partner. umsetzen. Das ist hundert Prozent Sy-
Das klingt eher nach Konfrontation. SPIEGEL: Was meinen Sie konkret, riza. Bei anderen Punkten werden wir
Stathakis: Wir haben immer gesagt, dass wenn Sie davon reden, das Rettungs- Kompromisse finden.
die Lösungen unserer Probleme euro- paket neu verhandeln zu wollen? SPIEGEL: Müssen sich die Griechen we-
päisch sein müssen: mit Zustimmung der Stathakis: Wir brauchen eine machbare gen der knappen Mehrheit auf eine
Europäer, basierend auf einem Funda- Lösung, um die öffentlichen Schulden baldige Neuwahl wie 2012 einstellen?
FOTO: ORESTIS PANAGIOTOU / DPA

ment gegenseitiger Interessen, dafür ha- Griechenlands in den Griff zu bekom- Stathakis: Nein, unsere Regierung wird
ben wir Partner. Auf der anderen Seite men. Zurzeit wenden wir rund fünf sich mit einigen unabhängigen Mitglie-
muss es große Veränderungen in Grie- Prozent des Bruttoinlandsprodukts da- dern auf eine breitere politische Basis
chenland geben, das ist unabdingbar. für auf, unsere Schulden zu bedienen. stützen können. Wir sind die beste und
SPIEGEL: Wird Griechenland Mitglied Es wäre besser, wir würden die Rück- stabilste Regierung seit Jahrzehnten.
der Eurozone bleiben? zahlung an das Wachstum koppeln: Ist Interview: Manfred Ertel

24 DER SPIEGEL 6 / 2015


Merkels Leute schließen nicht aus, dass men müsste. Mit 10 Milliarden Euro, wie da BE den Wahlsieg von Syriza gefeiert.
Tsipras in einen Euro-Austritt hineinstol- noch vor Wochen gedacht, ist es längst Das werde den Diskurs in Europa verän-
pert, obwohl er das gar nicht will. „Exit nicht mehr getan. Experten der Bundes- dern, hoffen dort viele: Über eine Schuld-
by accident“ heißt dafür die Formel in Ber- regierung gehen davon aus, dass Griechen- nerkonferenz der Südländer und Wieder-
liner Regierungskreisen. land bis zu 20 Milliarden Euro an Hilfen aufbaupläne für die Krisenstaaten werde
Schon jetzt steht fest, dass sich die Grie- braucht, weil die Steuereinnahmen ein- nun in Brüssel debattiert werden.
chen am freien Markt nicht mit Geld ver- brechen und Privatisierungen ausbleiben. Zugleich verschafft Tsipras’ Erfolg aber
sorgen können: „Griechenland konnte Das Geld müsste vom ESM kommen, nie- auch jenen Regierungschefs Rückenwind,
noch keinen vollständigen und regelmäßi- mand sonst wolle dem Land Geld leihen. die Forderungen nach einem Schulden-
gen Zugang zu den internationalen Kapi- Voraussetzung für die neuen Hilfen: Tsi- schnitt zwar nicht erfüllen wollen – aber
talmärkten zu angemessenen Bedingungen pras muss Reformauflagen akzeptieren gern die Gelegenheit nutzen möchten, die
etablieren“, heißt es in einer internen Ein- und sich der Aufsicht der in Griechenland bisherige Europolitik zu verändern.
schätzung des Bundesfinanzministeriums. so verhassten Troika aus EZB, IWF und Zu denen zählen vor allem der franzö-
„Das Land reagiert nach wie vor empfind- EU-Kommission unterwerfen. Kann Ale- sische Präsident Hollande und der italieni-
lich auf geänderte Marktbedingungen und xis Tsipras darauf eingehen? Das Pokern sche Premierminister Renzi. Als Hollande
Anlegerstimmungen.“ hat begonnen. 2011 Wahlkampf machte, klang er manch-
Genau darauf nimmt Tsipras keine Rück- „Das waren keine guten zwei Wochen mal ganz ähnlich wie Alexis Tsipras. Er
sicht. Formal läuft das Hilfsprogramm der für uns“, räumt ein hoher Regierungsbe- wolle „Europa neu orientieren“, sagte er
EU am 28. Februar aus. 1,8 Milliarden Euro amter in Berlin ein. In Griechenland ist damals. Er wolle die Völker Europas von
liegen derzeit auf Eis. Tsipras selbst müsste eine unerfahrene, aber sehr selbstbewuss- der „Austerität“ befreien.
Verlängerung beantragen, es wäre eine te Anti-Merkel-Regierung am Ruder. Ge- Der Streit zwischen Berlin und Paris war
neuerliche Demütigung. Kann sich der gen den deutschen Willen beschloss die grundsätzlicher Natur, es war der Streit
neue griechische Regierungschef dazu Europäische Zentralbank, für über tau- zwischen zwei verschiedenen Mentalitä-
nicht durchringen, droht seinem Land send Milliarden Euro Staatsanleihen und ten, aber auch zwischen zwei Schulen der
schon bald die ungeordnete Pleite, Aus- andere Vermögenswerte zu kaufen. Und Volkswirtschaft. Während die Deutschen
stieg aus der Währungsunion inklusive. ebenso gegen den Willen der Deutschen der Ansicht waren, man müsse die Ange-
Die Partnerländer dürften ihm auch kein ist EU-Kommissionspräsident Jean-Claude botsseite stärken und durch Reformen die
Geld mehr aus dem Rettungsschirm geben, Juncker dabei, den Eurostabilitätspakt zu Bedingungen für Investitionen verbessern,
weil er einseitig aus dem Rettungsschirm entkernen. Frankreich und Italien assis- verlangten die Franzosen eine Stärkung
ausgestiegen ist. Als Folge geht Tsipras das tieren ihm dabei. „Kann es sein, dass wir der Nachfrageseite: In Zeiten der Rezessi-
Geld aus, er kann seine Verpflichtungen gerade die Kontrolle verlieren?“, fragt on müsse der Staat investieren.
wie die Zahlung von Renten oder Beam- ein Spitzenmann aus dem Regierungs- Was die Deutschen Sparen nennen, ein
tengehältern nicht mehr erfüllen. Auch die lager. Begriff, der positiv besetzt ist, gilt im Rest
20 Milliarden Euro Staatsschulden, die der- Der Wahlsieg von Syriza hat eine Sig- Europas für viele als Schreckgespenst:
zeit bei der EZB liegen, wird er nicht mehr nalwirkung auf den Rest Europas: Er „Austerität“, eine kaltherzige und wachs-
bedienen können. Die Frankfurter Noten- weckt die Hoffnungen von Bewegungen tumsfeindliche Politik. „The Body Econo-
banker sind daraufhin gezwungen, den mit ähnlichem Programm in vielen euro- mic: Why Austerity Kills“ lautet der Titel
Geldhahn zuzudrehen. Der „Grexit“ wäre päischen Ländern – dazu zählt der Front eines Buches des Oxford-Professors David
perfekt. national in Frankreich oder Podemos in Stuckler, das für Austeritätsgegner zu einer
Merkel will es nicht so weit kommen Spanien. Art Bibel geworden ist. Es ist ein Denken,
lassen. Sie ist bereit, den Griechen ein In Portugal haben die linken Parteien, das in Deutschland nie wirklich angekom-
weiteres Hilfsprogramm zu gewähren, die sozialistische PS, die kommunistische men ist – in weiten Teilen Europa domi-
auch wenn der Bundestag erneut zustim- PC und der marxistische Bloco de Esquer- niert es die Öffentlichkeit. Das zeigt, wie

3. QUARTAL 2014
+42% Irland

Zurück auf Anfang


Die Wirtschaftsentwicklung Griechenlands
und anderer Euroländer
seit dem Jahr 2000
Quelle: OECD, Quartalsangaben
+24% Spanien
Veränderung der realen Wirtschafts-
leistung gegenüber dem 1. Quartal 2000 +18 % Frankreich
+16% Deutschland

Griechenland, Italien und Portugal sind


wirtschaftlich auf das Niveau des Jahres
2000 zurückgefallen – 15 verlorene Jahre.
+2 % Portugal
0 % Griechenland
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 0 % Italien

DER SPIEGEL 6 / 2015 25


weit die Europäer, die über eine gemein- auch eine Verantwortung für die wirt-
same Währung verbunden sind, in Wahr- schaftliche Lage in der gesamten Euro-
heit auseinanderliegen. zone mit sich bringt. Frankreich, Italien
Hollande und Renzi versuchen schon und Griechenland müssen anerkennen,
seit einiger Zeit und neuerdings auch mit dass nachhaltiges Wachstum nur mit Re-
der Unterstützung von EU-Kommissions- formen zu erreichen ist, nicht mit immer
präsident Juncker und EZB-Chef Mario neuen Schulden.
Draghi, die bisherige Politik zu verändern. Es gibt für die Zukunft der Währung
Sie verweisen darauf, dass sich die Wirt- nicht viele Möglichkeiten. Die erste lautete:
schaft in der Eurozone seit der Krise 2009 Die Deutschen schaffen es, gegen alle Wi-
kaum erholt hat, und verlangen eine Poli- derstände einen Euro zu bewahren, der
tik nach dem Vorbild der USA, wo die ein originalgetreuer Nachbau der Mark ist.
Wirtschaft nach der Finanzkrise nun wie- Dafür ist es in Wahrheit schon zu spät. Die
der stark wächst. Wenn Juncker mit neuer EZB verhält sich schon seit 2010 kaum
Machtfülle im Frühjahr über das Etatdefi- mehr wie die Bundesbank, und spätestens
zit Frankreichs richtet, wird der Kurswech- seit der Entscheidung für den billionen-
sel sichtbar werden. schweren Ankauf von Staatsanleihen tut
Die Lehre aus der griechischen Wahl sei, sie es gar nicht mehr.
so sehen es Merkels Kritiker in Paris und Tsipras’ Faust Die zweite Möglichkeit wäre ein Alb-
Rom, dass man einer Bevölkerung in einer „Das wird sich über den Kontinent ausbreiten“ traum für die Deutschen: Der Euro als
Demokratie nicht auf Dauer einen Spar- Weichwährung, die weiter abwertet und
kurs im Namen eines übergeordneten Ziels zent, und das Pro-Kopf-Einkommen liegt dessen Mitgliedsländer sich um Reformen
verordnen könne. So wie die griechischen immer noch weit unter dem Niveau von drücken und stattdessen ihr Wachstum mit
Politiker einer nach dem anderen hinweg- 2007. Auch deshalb könnte die regierende Schulden finanzieren, für die in letzter In-
gefegt wurden, so fürchten sich auch die Volkspartei von Mariano Rajoy die Parla- stanz Deutschland zu haften hätte. Das
Regierenden in Frankreich oder Italien vor mentswahl im Herbst verlieren. würde keine deutsche Regierung mittragen,
Protestparteien. In Spanien wird die Protestpartei Pode- das Bundesverfassungsgericht nicht und
Die Regierung von Hollande hat zwar mos („Wir können“) den Erfolg von Syriza die Wähler erst recht nicht. Es wäre wohl
seit ihrem Amtsantritt weder nennenswert bei der Parlamentswahl wiederholen. „Die das Ende des Euro.
gespart noch massiv reformiert, dennoch Hoffnung kommt, die Angst ist zu Ende, Die dritte Möglichkeit ist ein Kompro-
beklagen die Vertreter des linken Sozialis- Syriza, Podemos, wir werden siegen“, miss. Eine Eurozone, in der sich nicht
tenflügels fortwährend die „Austerität“, kommentierte Parteiführer Pablo Iglesias. jeder nach Belieben verschulden darf, in
die Berlin Paris aufgezwungen habe. Ins Für die regierende Volkspartei und die So- der die Schuldenregeln aber in Zeiten
gleiche Horn stoßen das linkspopulistische zialisten, sagte er, mache die Uhr laut „tick- der Rezession nicht so strikt angewendet
Parteienbündnis Front de gauche und vor tack“. Vor knapp einem Jahr erst hatte der werden, wie die Deutschen es gern hätten.
allem der Front national von Marine Le Politologieprofessor „Podemos“ gegrün- In der aber alle Mitgliedstaaten harte Re-
Pen. Er will, im Gegensatz zu Syriza, den det. Bei der letzten Umfrage des Meinungs- formen vorantreiben, um wettbewerbs-
Euro abschaffen und damit „die Unterwer- forschungsinstituts Metroscopia Anfang Ja- fähig zu sein. Der Euro wäre dann nicht
fung“ Frankreichs beenden. nuar landete sie auf dem ersten Platz mit deutsch, nicht französisch oder gar grie-
Es ist die Stunde der Anti-Establishment- 28,2 Prozent. chisch – er wäre etwas Neues, ein Kom-
Kräfte. Weil sich alle Mitte-Parteien in Für Angela Merkel hingegen sind es ge- promiss, in dem sich alle wiederfinden
Europa auf eine Politik verpflichtet haben, rade Bewegungen wie Podemos, die sie könnten.
die im Wesentlichen von Angela Merkel davon abhalten können, Griechenland vie- Die Frage ist nun, ob Tsipras überhaupt
und ihren Verbündeten vorgegeben wor- le Zugeständnisse zu machen: Damit wür- dazugehören will. Oder ob er sich mit sei-
den ist, bilden sich nun an den Rändern de sie den Wählern im Süden signalisieren, nen schrillen Forderungen aus der Gemein-
neue Parteien. dass Parteien mit extremen Forderungen schaftswährung hinausschießt. Vergange-
Die neuen Kräfte sind oft nicht mehr in sich durchsetzen können. nen Donnerstag traf er sich in Athen mit
das traditionelle Parteienschema einzuord- Der Sieg von Tsipras lenkt damit ein dem EU-Parlamentspräsidenten Martin
nen: Der Front national betreibt eine aus- Schlaglicht auf die grundsätzlichen Proble- Schulz. Hinter verschlossenen Türen ge-
länderfeindliche Politik, doch sein Wirt- me der Eurozone. Seit Ausbruch der Krise wann Schulz den Eindruck, dass Tsipras
schaftsprogramm liest sich radikal links. haben sich die Staats- und Regierungschefs erst langsam begreift, wie gefährlich nahe
Die politischen Konfliktlinien verlaufen in in zahllosen Gipfeln auf immer neue Kon- Griechenland an den Euroaustritt heran-
Europa nicht mehr zwischen links und strukte und Rettungspakete geeinigt. Es gerückt ist. Das Wort Schuldenschnitt
rechts, sondern zwischen Mainstream und war eine Politik der quälenden kleinen nahm er nicht mehr in den Mund. Er er-
Anti-Mainstream. Und in vielen Ländern Schritte, aber sie hat den Euro bisher zu- lebte aber auch einen Regierungschef, der
heißt das: entweder zähneknirschend für sammengehalten, aller voreiliger Todes- sich als Speerspitze einer Bewegung gegen
oder gegen Angela Merkel. meldungen zum Trotz. Merkels Sparpolitik sieht: „Das wird sich
In Berlin wird Spanien mit seiner kon- Aber der Konflikt zwischen Nordlän- über den ganzen Kontinent ausbreiten“,
servativen Regierung gern als gutes Bei- dern und Südländern bleibt bestehen. Der sagte er.
spiel zitiert: Nach harten Reformen wachse Euro basiert auf zwei Lebenslügen: Den Nikolaus Blome, Manfred Ertel, Julia Amalia Heyer,
die Wirtschaft wieder. Tatsächlich ist sie Deutschen wurde versprochen, er sei Horand Knaup, Walter Mayr, Peter Müller,
FOTO: MICHAEL KAPPELER / DPA

im vergangenen Jahr wohl um 1,4 Prozent nichts anderes als eine XL-Version der René Pfister, Christian Reiermann, Mathieu von Rohr,
gewachsen, die Prognosen für 2015 liegen Mark. Die Südländer glaubten, er sei der Helene Zuber
bei zwei Prozent Wachstum. Die Spanier Fahrstuhl zu bequemem Wohlstand. Videoreportage:
kaufen wieder mehr ein, weil die Löhne Soll der Euro gelingen, müssen beide Albtraum und Geisterfahrer
etwas gestiegen sind. Die Arbeitslosenquo- Seiten zurückstecken. Deutschland muss spiegel.de/sp062015griechenland
te sinkt, aber sie dümpelt noch bei 24 Pro- akzeptieren, dass die Währungsunion oder in der App DER SPIEGEL

26 DER SPIEGEL 6 / 2015


Titel

„Merkel hat akzeptiert“


SPIEGEL-Gespräch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, 59, über den Wahlsieg des Linksaußen
Alexis Tsipras in Griechenland und das Ende der deutschen Vormacht in Europa

SPIEGEL: Herr Schulz, wenn man sich die


Wahlversprechen anschaut, denen der
neue Athener Regierungschef Alexis Tsi-
pras seinen Sieg zu verdanken hat, dann
hat man das Gefühl, die Griechen wün-
schen sich einen rosa Elefanten, der Trom-
pete spielen kann.
Schulz: Die griechischen Wähler sollten rea-
listisch sein. Wahlwünsche gehen selten
alle in Erfüllung, und rosa Elefanten, die
Trompete spielen können, gibt es nicht.
SPIEGEL: Was kann Tsipras tun, damit er am
Ende nicht als Wahllügner dasteht, weil er
seine Versprechen nicht einlösen kann?
Schulz: Tsipras hat den Griechen verspro-
chen, dass er ihre Lebenssituation verbes-
sert, indem er mit der EU Veränderungen
aushandeln will. Er wäre gut beraten, den
Griechen zu sagen: „Ich kann das versu-
chen, aber ich kann es euch nicht garan-
tieren.“ Das wäre dann die Wahrheit.
SPIEGEL: Er hat gesagt, dass er die mit den
europäischen Geldgebern vereinbarten Be-
dingungen nicht akzeptiert, dass er sie
„zerreißen“ will.
Schulz: Die entscheidende Frage ist: Wie
behandeln wir Alexis Tsipras? Als den
Gottseibeiuns oder als einen Regierungs-
chef wie jeden anderen auch? Als ich vor
drei Jahren das erste Mal mit ihm sprach,
hatte er wenige Vorstellungen davon, wie
die EU funktioniert. Er sagte mir: Wenn
die Griechen uns wählen, dann ist das de-
ren souveräne Entscheidung, die müsst ihr
EU-Partner akzeptieren. Daraufhin fragte
ich: Und wenn die Deutschen eine Regie-
rung wählen, die jede Unterstützung für
Griechenland verweigert, dann ist das de-
ren souveräne Entscheidung, oder? Darauf
sagte er: Nein, denn ihr müsst solidarisch Europapolitiker Schulz: „Griechenland hat enorme Hilfen bekommen“
sein, ihr habt euch dazu verpflichtet. Jetzt
muss er akzeptieren, dass auch Griechen- nationale Ebene übertragen. Leider haben rung stützen, aber er kommt nach Brüssel
land die unterschriebenen Verträge einhal- wir die notwendigen politischen Instru- und merkt, das nützt ihm nichts?
ten muss. Griechenland hat enorme Hilfen mente, damit umzugehen, nicht gleich mit- Schulz: 36,3 Prozent haben für Syriza ge-
der anderen Eurostaaten bekommen. Wer übertragen. stimmt. Zwei Drittel der Griechen teilen
deren Bedingungen aufkündigt, bringt sein SPIEGEL: Wie frei ist eine Wahl, wenn ein also nicht die Auffassung von Herrn Tsi-
eigenes Land in Gefahr. Land nicht mehr Alternativen wählen pras.
SPIEGEL: Ist das die „marktkonforme De- kann, weil sie nicht finanzierbar sind? SPIEGEL: Sie sind Sozialdemokrat, und die
mokratie“, von der Angela Merkel spricht? Schulz: So ist das ja nicht. Natürlich könnte SPD würde feiern, wenn sie wieder 36 Pro-
Schulz: So etwas gibt es nicht. Griechenland auch andere Schritte in vol- zent bekäme. Oder würden Sie dann auch
FOTO: EZEQUIEL SCAGNETTI / DER SPIEGEL

SPIEGEL: In Griechenland schon, denn dort ler Souveränität ergreifen. Was wird da sagen, zwei Drittel haben gegen uns ge-
kann die neu gewählte Regierung nicht nicht alles geplappert: aus dem Euro aus- stimmt?
machen, was sie versprochen hat; nicht zu- treten zum Beispiel oder aus der EU. Aber Schulz: Wenn Sie im SPIEGEL schreiben,
letzt, weil die Finanzmärkte und die Anle- Politiker haben auch die Verantwortung, dass 36 Prozent für die SPD ein machtvol-
ger dafür keinen Kredit geben würden. ihrem Volk zu sagen, was dann passieren les Mandat zum Regieren wären, dann
Schulz: Es geht um etwas anderes. In einer würde. würde ich Ihnen nicht widersprechen.
Währungsunion, wie wir sie haben, haben SPIEGEL: Stoßen wir da nicht auf ein demo- SPIEGEL: Danke.
die Mitgliedstaaten in einem Kernbereich, kratisches Dilemma? Tsipras kann sich auf Schulz: Das heißt aber nicht, dass man in-
der Währung, Souveränität auf eine trans- ein machtvolles Mandat seiner Bevölke- ternationale Verpflichtungen hopplahopp
DER SPIEGEL 6 / 2015 27
Titel

über Bord werfen kann. Als EU-Mitglied- sünder durch das bloße Ankündigen von
staat verfügt man nur über eine begrenzte Strukturreformen mehr Zeit beim Abbau
Souveränität. Die EU ist zwar kein Bun- der jährlichen Neuverschuldung kaufen.
desstaat, aber wir sind ein Staatenverbund Schulz: Mit der Flexibilität, die Juncker vor-
mit einer gemeinsamen Währung. In ei- gelegt hat, wird der Richtungswechsel jetzt
nem solchen System müssen Kompromisse in Formen gegossen, auch mit Unterstüt-
geschlossen werden – von Alexis Tsipras, zung von Angela Merkel. Sie hat akzep-
aber auch mit Alexis Tsipras. tiert, wenn auch erst nach einigem Zögern,
SPIEGEL: Worin könnte dieser Kompromiss dass Investitionen in die Infrastruktur da-
liegen? Schulz, SPIEGEL-Redakteure* zugehören, wenn wir endlich mehr Wachs-
Schulz: Ich habe Tsipras gesagt, es werde „Wahlwünsche gehen selten in Erfüllung“ tum und Jobs in der EU haben wollen.
Griechenland nicht helfen, wenn er Re- SPIEGEL: Tsipras’ Wahlsieg in Griechenland,
formprogramme oder Rückzahlungen in- dieser Form läuft mit Ablauf des Pro- die neue Milde der EU-Kommission gegen-
frage stellt. Aber wir können darüber re- gramms Ende Februar ohnehin aus. Es über Italien und Frankreich – ist das deut-
den, wie wir aus dem neuen 315-Milliar- wäre besser, Griechenland hätte sich Re- sche Modell von Europa, wonach es Re-
den-Programm der EU-Kommission Inves- formen frühzeitig zu eigen gemacht. Wenn geln gibt, die strikter als früher eingehalten
titionen nach Griechenland schaffen. wir das mit Tsipras leichter erreichen kön- werden sollen, bald gescheitert?
SPIEGEL: Bislang hat Griechenland zwar ei- nen als mit vorherigen Regierungen, kann Schulz: Der große Druck, der auf dem
sern gespart, aber kaum Strukturreformen ich das nur begrüßen. Höhepunkt der Eurokrise von den Netto-
auf den Weg gebracht. SPIEGEL: Die Idee der Troika war es aber zahlern gekommen ist, hat seine Wirkung
Schulz: Deshalb dürfen wir die Debatte mit auch, eine Art technokratischen Puffer zu entfaltet, und zwar durchaus auch positiv.
Tsipras auch nicht auf einen Schulden- schaffen zwischen der Brüsseler Politik Ohne diesen Druck hätten Länder nicht
schnitt verkürzen. Ein Schuldenschnitt und den Auswirkungen, die diese Politik eingesehen, dass sie ihre Haushalte in Ord-
würde die aktuellen Probleme des Landes hat. Wenn die Troika wegfällt, werden Sie nung bringen müssen. Nur genügt die Ver-
nicht lösen, weil Zins und Tilgung derzeit direkt für die Auswirkungen verantwort- engung der Europapolitik auf die Haus-
ja weitgehend ausgesetzt sind. Griechen- lich gemacht. haltskonsolidierung nicht.
land hat riesiges Potenzial, aber es wird Schulz: So sollte es auch sein. Wenn wir SPIEGEL: Der Druck hat sich nur so lange
durch Vetternwirtschaft, Bürokratie und eine EU schaffen, die auch eine politische entfaltet, wie es auf Deutschland und an-
Steuerflucht gelähmt. Wenn Tsipras das Union ist, dann müssen die Entscheider dere Zahlerländer ankam. Inzwischen
alles aufbrechen will, hat er ganz Europa zu ihrer Verantwortung stehen. Ich gehöre macht die EZB unter ihrem Präsidenten
hinter sich. nicht zu denen, die den IWF unbedingt da- Mario Draghi eine Politik des billigen Gel-
SPIEGEL: Tsipras hat seiner Bevölkerung ei- beihaben wollten. des. Das lässt doch den Druck aus dem
nen Schuldenschnitt versprochen. SPIEGEL: Die Bundesregierung wollte den Kessel und macht den Weg frei für eine
Schulz: Noch einmal: Für einen Schulden- IWF unbedingt dabeihaben, weil sie der Aufweichung des Stabilitätspakts.
schnitt gibt es derzeit keine Mehrheit. EU-Kommission nicht zutraute, hart genug Schulz: Es war die einseitige Verkürzung
SPIEGEL: Und ein sogenannter „weicher gegenüber Griechenland und anderen hilfs- auf die Haushaltskonsolidierung, die Mario
Schuldenschnitt“? Indem man die Zinsen bedürftigen Ländern aufzutreten. Draghi zum Handeln gezwungen hat. Ich
noch weiter senkt und die Tilgung noch Schulz: Meines Wissens war es genau um- glaube, dass die Maßnahmen der EZB
weiter streckt? gekehrt: Nicht der IWF plädierte für einen Wachstum schaffen können. Das ist aber
Schulz: Der griechische Staat nimmt derzeit härteren Kurs, sondern die EU-Kommis- keine Aufforderung zum haushaltspoliti-
mehr Geld ein, als er ausgibt – Zins und sion unter dem damaligen Vorsitzenden schen Schlendrian. Der neue griechische
Tilgung der Staatsschulden nicht gerechnet. José Manuel Barroso. Ich glaube nicht, Ministerpräsident wird gerade aus den Län-
Wir sollten darüber nachdenken, wie wir dass man der Barroso-Kommission den dern, die sich mit drakonischem Sparen
und Reformen aus der Krise gezogen ha-
„Spanien, Portugal und Irland haben kein Interesse, ben, den energischsten Widerspruch hören.
Länder wie Spanien, Portugal und Irland
Griechenland Rabatt zu gewähren.“ haben kein Interesse, Griechenland einen
Rabatt auf seine Verpflichtungen zu ge-
diesen sogenannten Primärüberschuss für Vorwurf machen kann, zu milde gegen- währen.
Investitionen, gegebenenfalls auch für so- über Defizitländern agiert zu haben. SPIEGEL: Es geht aber auch um die großen
ziale Verbesserungen verwenden. SPIEGEL: Wird durch Tsipras’ Wahlsieg die Länder. Frankreich hat bereits zweimal
SPIEGEL: Also sind Sie für eine Streckung gesamte Eurorettungspolitik der vergange- mehr Zeit bekommen, um sein Defizit in
der Kredite? nen Jahre infrage gestellt? den Griff zu kriegen, jetzt benötigt die Re-
Schulz: Derzeit soll die letzte Tilgung 2057 Schulz: Es ist ja nicht so, dass mit Alexis gierung in Paris erneut mehr Zeit. Ist es
erfolgen. Das um zehn Jahre hinauszu- Tsipras Feuerzungen vom Himmel fallen da das richtige Signal, wenn die EU-Kom-
schieben, macht in Wahrheit auch keinen und wir plötzlich alle erleuchtet werden. mission den Stabilitätspakt aufweicht?
großen Unterschied mehr. Hauptsache, Fakt ist: Wir haben schon mit der neuen Schulz: Die Zügel werden ja nicht locker
Griechenland kommt in die Lage, über- EU-Kommission einen Richtungswechsel gelassen, zwischen Paris und Brüssel tobt
FOTO: EZEQUIEL SCAGNETTI / DER SPIEGEL

haupt zurückzahlen zu können. eingeleitet mit dem Ziel, Haushaltskonso- gerade eine heftige Diskussion. Natürlich
SPIEGEL: Tsipras will die Troika aus EU- lidierung zu kombinieren mit Struktur- kann man versuchen, die Pariser Regie-
Kommission, Europäischer Zentralbank reformen und nachhaltigen Investitionen rung in die Knie zu zwingen, und sagen:
und Internationalem Währungsfonds ab- in Wachstum und Beschäftigung. Ihr müsst noch mehr tun, noch eine Ren-
schaffen, die den Fortschritt des grie- SPIEGEL: Juncker hat eine Neuinterpretation tenkürzung hier, noch eine Steuererhö-
chischen Spar- und Reformprogramms des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor- hung da, damit 2015 das Defizit wieder un-
überwacht. gelegt. Demnach kann sich ein Defizit- ter die Drei-Prozent-Grenze rutscht. Aber
Schulz: Das habe ich unter Wahlkampfrhe- wenn Frankreich das erst 2017 hinkriegt,
torik verbucht. Das Mandat der Troika in * Nikolaus Blome und Christoph Schult in Brüssel. ist es kein Beinbruch. Es geht nicht um
28 DER SPIEGEL 6 / 2015
den Zeitpunkt, es geht um die Frage, ob
Frankreich seine Ankündigungen ernst
meint.
SPIEGEL: Nach den neuen Regeln können
bestimmte Investitionen auf das Staats-
defizit angerechnet werden und es damit
vermindern.
Schulz: Das ist überfällig und müsste mei-
ner Meinung nach noch viel weiter gehen.
Frankreich ist ein G-7-Staat, der zum
Beispiel die Milliarden, die er für die
Sicherheit Europas aufwendet, nicht von
seinem Defizit abziehen kann. Die fran-
zösische Operation „Serval“ zur Unter-
stützung der malischen Armee im Kampf
gegen Islamisten dient unser aller Sicher-
heit. Das sollten wir im Stabilitätspakt
berücksichtigen.
SPIEGEL: Der Stabilitätspakt scheint das weit
und breit einzige Instrument, die Eurostaa-
ten bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik
halbwegs auf eine Linie zu bringen. Und
das braucht der Euro doch, wenn er nicht
auseinanderfallen soll.
Schulz: Das ist die Krux dieser Währungs-
union: dass wir die meisten Entscheidun-
gen unter den Nationalstaaten allein tref-
fen, also mit einem Vorbehalt für jedes ein-
zelne Land. Wir bräuchten stattdessen eine
europäische Wirtschaftsregierung, die für
alle Formen der Wirtschafts- und Wäh-
rungspolitik zuständig ist.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dass die Bürger
dagegen aufbegehren würden, weil ihnen
Brüssel zu weit weg ist und sie dem Europa-
parlament keine wirksame Kontrolle zu-
trauen?
Schulz: Es wäre ja gar kein großer Souverä-
nitätsverzicht der Nationalstaaten mehr.
Wir würden nur das in politische Struktu-
ren gießen, was de facto bereits Realität
ist. Aber natürlich wird das schwierig. Ich
habe nicht die Illusion, dass wir kurzfristig
Vertragsänderungen hinkriegen.
SPIEGEL: Die neue Kommission ist bald
100 Tage im Amt. Wie bewerten Sie Jean-
Claude Junckers Start?
Schulz: Jean-Claude Juncker ist mein poli-
tischer Partner. Er hatte es nicht leicht am
Anfang …
SPIEGEL: … wegen der Enthüllungen über
die Steueroase Luxemburg, deren Regie-
rungschef er mehr als ein Jahrzehnt lang
war.
Schulz: Wir arbeiten zusammen, um Europa
nach vorn zu bringen Er hat wichtige und
richtige Weichenstellungen vorgenommen.
Das gilt sowohl für die Wirtschaftspolitik
als auch für den Kampf gegen Steuerver-
meidung. Juncker hat kürzlich einen sehr
bedeutenden Satz gesagt: „Das Land des
Gewinns muss das Land der Steuern sein.“
Das ist der O-Ton meines Wahlkampf-
programms. Wenn Juncker das jetzt über-
nimmt, dann freut mich das.
SPIEGEL: Herr Schulz, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 6 / 2015 29
Deutschland

Generalsekretäre Scheuer, Fahimi, Tauber: Minijobberin im Supermarkt

weil sie im Streit um den Mindestlohn eine Totalausfall. Manchmal klappt nicht ein-

Trio fatal andere Meinung vertritt als CDU und CSU.


„Wir finden keine informelle Ebene“, sa-
gen die Unionsmänner über Fahimi. Für die
mal eine simple Verabredung zum Mittag-
essen. Zuletzt wollten sie sich im Herbst
in der Parlamentarischen Gesellschaft am
Koalition Die Generalsekretäre beiden Konservativen, sieben Jahre jünger Reichstag treffen, wo livrierte Kellner un-
als Fahimi, ist die ehemalige Gewerkschafts- ter Kronleuchtern das Tagesmenü servie-
von Union und SPD arbeiten sekretärin eine spaßbefreite Linke. Fahimi ren. Doch Tauber und Scheuer warteten
mehr gegen- als miteinander. wiederum graust es bei den krachledernen vergebens auf die Kollegin. „Wir waren
Das wird zum Problem für die Ideen der CSU. Und Taubers konservative schon beim Hauptgang, als sie sich melde-
Anwandlungen sowie sein ständiger Bezug te“, beklagte sich Scheuer später. Natürlich
Große Koalition. zum „Vaterland“ sind ihr suspekt. könne man mal eine Verabredung verges-
Aus ihrer Sicht war die Stimmung schon sen. Aber Fahimi unterstellten sie Absicht.

D
ie E-Mail war knappgehalten. „Da früh belastet. Frau, selbstbewusst, mit ira- Denn die SPD-Frau macht bei jeder Ge-
ein kurzfristiges gemeinsames Früh- nischem Vater und nicht im politischen Be- legenheit deutlich, mit wem sie lieber koa-
stück morgen früh“ nicht stattfin- trieb Berlins sozialisiert – „ich bin anders“, lieren würde. Als sich die drei im Spät-
den könne, „lädt Frau Fahimi Sie stattdes- sagt Fahimi, „Berlin ist keine Kuschel- sommer nach mehreren Landtagswahlen
sen für 8 Uhr zu einer Telefon-Schaltkon- Krabbelgruppe. Aber die beiden Herren zu den obligatorischen Fernsehrunden tra-
ferenz ein“, schrieb eine Mitarbeiterin der fassen mich auch nicht mit Samthandschu- fen, hatte Fahimi vorher im Aufwärm-
SPD-Generalsekretärin Anfang Januar an hen an.“ Die Unionskollegen lassen solche bereich viel mit den Geschäftsführern von
Fahimis Kollegen von CDU und CSU, Peter Kritik abperlen. „Wir sind schon sehr char- Grünen und Linkspartei zu besprechen, nur
Tauber und Andreas Scheuer. Damit das mant“, sagt Scheuer gönnerhaft. wenig mit dem Duo des Koalitionspartners.
Ganze klappt, ließ Yasmin Fahimi gleich Tatsächlich könnten die beiden Unions- Den beiden anderen Generalsekretären
den Code mitteilen, mit dem sie sich zur männer und die SPD-Frau kaum unter- riss der Geduldsfaden endgültig, als Fahimi
Telefonschalte einwählen sollten. schiedlicher sein. Scheuer und Tauber sind in der nachrichtenarmen Zeit kurz nach
So viel Schneid irritierte die Generäle Gewächse ihrer Parteien. Tauber war Jun- Weihnachten ausführlich ihre Überlegun-
der Union. Schlimm genug, dass Fahimi ge-Union-Chef in Hessen, Scheuer bereits gen für eine Strategie gegen die sinkende
sie nicht vorgewarnt hatte, als SPD-Chef mit 24 Jahren Praktikant bei Edmund Stoi- Wahlbeteiligung präsentierte. Eigentlich

FOTOS: DANIEL KARMANN / DPA (L.); SOEREN STACHE / DPA (M.); PETER FRISCHMUTH / ARGUS (R.)
Sigmar Gabriel unmittelbar nach den An- ber in der CSU-Zentrale. Fahimi engagier- hatten die drei vereinbart, erst einmal ge-
schlägen von Paris zu einer Großkundge- te sich in diesem Alter für Nicaragua. meinsam über das Problem nachzudenken.
bung von Parteien und Verbänden aufrief – Auch in Stilfragen liegen die drei weit Doch nach Fahimis Aufschlag war diese
und das nicht nur per Brief, sondern auch auseinander. Scheuer liebt den Auftritt im Chance dahin. „Wählen zwischen Aldi-
per „Bild“-Zeitung. Jetzt hielt sie es nicht Bierzelt, den derben Akzent. „Lampedusa Regalen ist der falsche Weg“, schimpfte
einmal für nötig, sie persönlich einzuladen. darf kein Vorort von Kiefersfelden wer- Scheuer über Fahimis Idee, künftig nicht
Fahimis Mail war nur ein weiterer Af- den“ – mit solchen Sprüchen wie diesem nur in Wahllokalen wählen zu lassen.
front in einer Serie von Grobheiten, mit über die italienische Flüchtlingsinsel macht Hinzu kommt, dass Fahimi aus Sicht der
denen sich die Generalsekretäre der sonst er Politik. Tauber setzt auf Foren und mo- Unionsmänner ohnehin kaum Prokura hat.
so friedfertigen Großen Koalition seit ei- deriert Diskussionsabende, Fahimi zieht Mit gewisser Häme betrachten sie den of-
nem Jahr beharken. Während Kanzlerin die Theoriendebatte in den Denkerzirkeln fen ausgetragenen Konflikt zwischen Fa-
Angela Merkel, SPD-Chef Sigmar Gabriel von Rot-Rot-Grün vor. „Der Andi“ und himi und Parteichef Gabriel über den rich-
und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer „der Peter“ duzen sich, gegenüber „Frau tigen Umgang mit Pegida-Anhängern.
darauf achten, ein Bild großkoalitionärer Fahimi“ bleibt es beim distanzierten „Sie“. Das Projekt einer gemeinsamen Groß-
Einigkeit abzugeben, geht es zwischen ih- Zunehmend droht die Missstimmung demonstration für die Opfer von Paris be-
ren Generalsekretären frostig zu. „Viel- zwischen den Generälen das Gesamtgefü- schloss das Unionsduo jedenfalls zu torpe-
leicht wäre es ganz gut, sie macht mal ein ge der Koalition zu belasten. Als Feuer- dieren. Bei der so uncharmant angesetzten
Praktikum im Supermarkt als Minijobbe- wehrleute, die kleine Brände austreten, Telefonschalte ließen sie Fahimi auflaufen.
rin, um sich damit zu beschäftigen“, ätzte Konflikte frühzeitig erkennen oder sich Die Idee wurde kurzerhand beerdigt.
Tauber am Montag offen gegen Fahimi, informell kurzschließen, ist das Trio ein Horand Knaup, Peter Müller

30 DER SPIEGEL 6 / 2015


Deutschland

Wer ist konservativer?


Essay Rechte Populisten und der Islam sind sich näher, als sie glauben.
Von Richard David Precht

W
er steht für Heimat, traditionelle Werte, religiöse Bin- trierte nur eine kleine Minderheit der DDR-Bürger auf der Straße.
dung, kulturelle Identität und Autoritätsglauben und Drittens kann man sich auch dann in seiner Meinung politisch
misstraut dem Fremden? Wer glaubt, zu den tapferen nicht repräsentiert fühlen, wenn es freie Wahlen gibt. Und vier-
Aufrechten in feindlicher Umgebung zu gehören, und fühlt sich tens hat in einem freien Land jeder das Recht, sich für das Volk
vom libertinären Mainstream überrollt, nicht wertgeschätzt und zu halten. Selbst ein Einzelner darf brüllen: „Ich bin das Volk!“
missverstanden? Wer hat, nicht ohne Grund, Angst vor der heu- Man könnte das Schauspiel auch von der heiteren Seite neh-
tigen Zeit und der Zukunft? men. „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abend-
All das trifft weitgehend auf Pegida zu. Aber eben auch auf landes“, allein der Name der Bewegung verführt zum Schmun-
jene Muslime in der Welt, die ihre Religion wörtlich nehmen zeln. Monty Python lässt grüßen. Patriotische Europäer – was ist
und streng danach leben. Gemeinsam geben sie dem Konserva- das? Jemand, dessen Vaterland Europa ist, oder jemand, der sein
tiven in unserer Zeit ein Gesicht, begleitet von der Sehnsucht Vaterland innerhalb Europas verteidigt? Was ist der Unterschied
nach einer seligeren Zeit in der Vergangenheit. Denn wahrschein- zwischen einem patriotischen Europäer und einem europäischen
lich war früher alles besser – Patrioten? Ein Klamaukstück,
wenn nicht bereits früher alles weil beide sich eigentlich aufs
Frühere besser gewesen wäre. Heftigste bekämpfen müssten. Zu-
Doch es geht hier nicht um den mal schon allerorten „Patriotische
infiniten Regress des Konservati- Islamisten gegen die Europäi-
ven. Es geht darum, dass man den sierung des Morgenlandes“ unter-
konservativen Abwehrreflex in wegs sind, sei es als IS, als al-Qai-
unserer Zeit ernst nehmen muss. da oder sonst wer. Mörderbanden,
Ja, die Terroristen in Paris, die im die sich untereinander auch nicht
Namen ihrer Religion und ihrer grün sind.
Werte töteten, sind Mörder und Der Begriff Abendland, wel-
Verbrecher. Und ja, es gibt alte cher Oswald-Spengler-Fan hat ihn
und neue Nazis, die in Dresden in Dresden ausgegraben und sieht
mitskandieren. Gerade an Letzte- vor seinem geistigen Auge längst
ren erfreuen sich zurzeit die frei- ein Aller-Tage-Abendland? Wa-
heitlichen Massenmedien in unse- rum taucht in der Debatte immer
rem Land. Schade für sie, dass das jüdisch-christliche Abendland
sich die Organisatoren von Pegida auf mit seinen Werten, zu denen
gerade selbst auflösen. Wie gern wir uns nicht nur nach Meinung
demonstrierten auch all die auf- der CSU wieder stärker bekennen
rechten Parteien im Bundestag Anti-Pegida-Demo in Dresden: „Die gehören nicht zu uns“ sollten? Welche Werte sind hier
größtmögliche Selbstzufrieden- gemeint? Jene, die wir mit dem
heit. Die braunen Spinner unter den verängstigten Konservativen Islam teilen? Oder die, die uns unterscheiden, wie der Wert der
verschaffen der klaren Haltung unserer Politiker die Absolution. Freiheit? Aber diese Freiheit ist ja gerade kein jüdisch-christlicher
Endlich dürfen die Parteien einmal jemanden ausgrenzen: mehr Wert, sondern ein griechischer – neuerdings wieder arg präsent
als zehntausend konservative Wutbürger in Sachsen, die nicht in der ihm eigenen Freiheit, seine Schulden nicht zurückzuzahlen.
„zu uns“ gehören. Und wenn unser Christentum die Freiheit inzwischen goutiert,
Da zieht Norbert Klein vom Saarländischen Rundfunk in den dann nur, weil die Philosophen der Aufklärung es bei Androhung
„Tagesthemen“ eine eilige Linie vom Holocaust nach Dresden, seiner völligen Auflösung dazu gezwungen haben.
indem er dort „Ursachen“ lokalisiert, „die nach Auschwitz geführt

D
haben“, wie etwa „weinerlich vorgetragenen“ Fremdenhass. Doch ie hilflose Zuflucht in Leitbegriffe und der Karneval ihres
ist das, was Klein in der Maske von Besorgnis und Wachsamkeit Gebrauchs verdecken freilich, dass hinter allem ein echter
vorträgt, nicht eine unfreiwillige Verharmlosung der NS-Verbre- Epochen-Umbruch steckt, eine gewaltige Revolution und
chen? Jeder ein Nazi, der sich vor fremden Kulturen fürchtet? Da ein ernsthaftes Problem. Das Konservative passt nicht mehr in
möchte Wolfgang Thierse, wenn schon ein Denkverbot nicht mög- unsere Zeit, egal in welche Gewänder es sich kleidet. Was soll in
lich ist, zumindest die Wortwahl der Demonstranten sanktionieren. der globalisierten Welt an Heimat bleiben? Auf der Schwäbischen
Den Satz „Wir sind das Volk!“, erklärte er mehrfach in Talkshows, Alb und in Dresden isst man den gleichen Burger wie in Chicago,
dürften die Verirrten von Pegida nicht sagen. Denn das gelte nur, hört die gleiche Musik und trägt die gleichen Klamotten. Was
wenn es, wie in der DDR, keine freien Wahlen gäbe. Nur dann „in“ ist und was „out“, wird nicht in Chemnitz entschieden. Die
könnten sich die Demonstranten berechtigterweise nicht reprä- Anzahl der Bundesbürger, die noch in die Kirche gehen, schwindet
sentiert und somit als „das Volk“ fühlen. Das sei eine Anmaßung. unaufhaltsam. Die Muster unserer Liebesromantik und die Algo-
Man wird Thierse seine Selbstgewissheit nicht nehmen. Aber rithmen unserer Ehen stammen aus amerikanischen Vorabend-
der Satz „Wir sind das Volk!“ hat kein Copyright, niemand weiß serien. Über unsere Arbeitsplätze der Zukunft entscheidet der
FOTO: IMAGO

wirklich, wer ihn erfunden hat. Zweitens muss man nicht in der Silicon-Valley-Kapitalismus oder die Herrscherfamilie von Katar.
Mehrheit sein, um sich als Volk zu fühlen. Auch 1989 demons- Und die schöne neue Welt, die Daten-Cloud, die Google uns ver-
32 DER SPIEGEL 6 / 2015
Dahinter steckt
heißt, wird über Hoyerswerda hinwegfegen wie über Kapstadt Inhalt und Ziel dieser sozialen
und Hanoi. Jeder bekommt sein Recht auf eine individuelle Wohl-
fühl-Matrix im universellen Design, solange er mit Daten bezahlt.
ein Epochen- und wirtschaftlichen Neuord-
nung kann nicht mehr das kapi-
Viel Platz für Werte, die keine Geldwerte sind, bleibt da nicht.
Aber Werte braucht die Gesellschaft gleichwohl, darüber be-
umbruch, eine talistische Gewinn- und Macht-
streben, sondern nur das Wohl-
steht zu Recht Einigkeit. Toleranz ist ein feiner Wert, aber nicht
durch und durch. Pluralismus ist wünschenswert, aber vielleicht
gewaltige ergehen unseres Volkes sein.“
Der Erfolg der sozialen
nicht immer und in allem. Freiheit ist gut, aber nur gepaart mit
sozialer Sicherheit. Das Fremde ist anregend und bereichernd,
Revolution. Marktwirtschaft schien den Wi-
derspruch zwischen konservativ
verunsichert aber trotzdem leicht. Die Angst vor dem Verlust und kapitalistisch lange zu wi-
von Werten ist ein großes und wichtiges Thema. Denn aus dieser derlegen. Obwohl Wilhelm Röpke, einer ihrer geistigen Väter,
Sicht ist das krakeelende Unbehagen in der Kultur, das sich bereits auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders im Jahr 1958
Pegida nennt, nur eines: ein Vorbeben, dem viele größere Er- vor dem bitteren Ende warnte. Schon damals verzweifelte Röpke
schütterungen folgen werden. darüber, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik eines Tages
Der Islam kennt den Angriff des global-liberalen Kapitalismus jenseits von Angebot und Nachfrage keine Werte mehr haben
auf seine kulturelle Identität schon seit vielen Jahrzehnten. Außer könnte außer dem schnöden Kosten-Nutzen-Kalkül.
Tyrannen, Trittbrettfahrern, Trotz und Terror ist ihm dazu bislang Das Dilemma der heutigen CDU ist, dass dieser Riss bis heute
wenig eingefallen. Kaum anzunehmen, dass deutschen Demons- gut kaschiert noch immer da ist. Friedrich Merz und Norbert
tranten, die sich als Schutzgemeinschaft deutscher Werte miss- Blüm sprachen nicht die gleiche Sprache. Irritierend nur, dass
verstehen, Besseres einfallen wird. Wären sie sonst damit be- ein neoliberaler Politiker wie Merz als konservativ gelten konnte,
schäftigt, als kleinstes gemeinsames Vielfaches ausgerechnet den während der zutiefst konservative Blüm stets den Linken gab.
Islam zu fürchten, der doch in ähnlicher Weise in seiner dauer- Die heutigen Konservativen in den Unionsparteien, die Kauders,
haften Existenz bedroht ist wie sie? Und dass, wo in Sachsen ge- Friedrichs und Seehofers spüren diesen Riss tief in ihrem Be-
rade mal jeder Tausendste Muslim ist? An diesem Ort Angst vor wusstsein. Ihre ökonomische Vernunft, die den zeitgenössischen
der Islamisierung zu haben, ist das nicht so, wie im Ötztal gegen Globalkapitalismus bejaht, widerspricht zutiefst ihren konserva-
die Fischfangquoten in der Ostsee aufzubegehren? tiven Gefühlen. Solange dieser Widerspruch bleibt, droht Angela
Merkel in ihrer Partei keine Gefahr. Gefährlich ist für sie nur

E
rfahrungsgesättigte Wut kann es bei Pegida nicht sein. Doch jener Konservativismus, der die Spielregeln der neoliberalen
die Wut, das Misstrauen und das Unbehagen sind real. Weltökonomie infrage stellt. Konservatives Fühlen allein dagegen
„Wenn jemand eine Situation für real hält, dann ist dies in verpufft derzeit noch an den Stammtischen und auf Pegida-De-
seinen Folgen real“, lautet eine wichtige Erkenntnis der Sozial- monstrationen. Welche realistische Alternative hätte man auch
psychologie. Doch kann es nicht sein, dass hinter der diffusen anzubieten?
Panik gegenüber einem im Grunde unbekannten Islam eine an- Das Problem ist leicht benannt: So wichtig es für die Mehrheit
dere völlig berechtigte Angst steht? Dass nämlich zu Beginn des der selbst erklärten Konservativen noch immer sein mag, sich
21. Jahrhunderts gerade eine alte Welt untergeht und durch eine rechts von der Mitte zu fühlen – tatsächlich ist konservatives
ganz andere neue ersetzt wird? Denken schon lange kein Identitätsmerkmal von „rechts“. Ge-
Dass Konservativismus und Kapitalismus nicht gut zusammen- werkschaften, die Besitzstandswahrung betreiben, Linke, die den
passen, stand eigentlich schon von Anfang an fest. Nicht ohne Neoliberalismus verdammen und der letzte kleine Rest Ökofun-
Grund bekämpfte die konservative Hofpartei, die Tories, im früh- damentalisten bei den Grünen – sie alle sind Gegner des global
industrialisierten England des 18. Jahrhunderts die liberalen entfesselten Liberalismus und damit konservativ. Doch so wie
Whigs mit ihrer Forderung nach freien Märkten und freiem Han- der fundamentalistische Islam wohl kaum eine dauerhafte Zu-
del. Der Kapitalismus ebnet alle traditionellen und emotionalen kunft haben kann, so auch nicht der Konservativismus. Richtet
Werte ein, indem er alles an einem einzigen rationalen Wert be- er seinen Blick nicht auf die Zukunft und formuliert eine realis-
misst: dem Geld. Aus „Richtig“ und „Falsch“ wird ein Mehr oder tische Version, wird er von Generation zu Generation schwinden.
Weniger. Wo die instrumentelle Vernunft des Geldes herrscht, Unsere Kinder haben gelernt, sich statt einer Zwangsheimat aus
haben Traditionen keinen Platz mehr. Auf diese Weise hat das Glaube, Treue, Tradition und Milieu neue Wahlheimaten zu su-
Geld die Welt demokratisiert und planiert in eins. Wo das Effi- chen: in einer Weltanschauung ihrer Wahl, in wechselnden Part-
zienzdenken waltet, steigt der Wohlstand (wenn auch nicht aller) nerschaften ihrer Wahl und in dauerhaften Freundschaften über
und stirbt das Althergebrachte. Die Erde sättigt heute viele Mil- alle Grenzen hinweg. Ihr Sicherheits- und Geborgenheitsbedürf-
liarden Menschen. In Europa verhungerten noch im 19. Jahrhun- nis ist gewiss nicht geringer geworden, aber es sucht sich flexiblere
dert Millionen. Als Preis dafür verlieren wir in immer schnellerem Wege.
Tempo das Traditionelle, konserviert allenfalls als kommerziali-

A
sierte Würstchen-Folklore. Wo der Kapitalismus mit sich selbst ll das setzt eine große Geschmeidigkeit und Lebensklug-
allein ist, an den Finanzmärkten der City of London, in New heit voraus, um erfolgreich zu sein und sich nicht zu ängs-
York, Tokio und Singapur, spottet er jeder Ordnung, verachtet tigen. Und auch unsere Kinder werden sich in Auseinan-
die Sparsamkeit und übernimmt keinerlei Verantwortung. dersetzung mit der global-kapitalistischen Herausforderung die
„Wohlstand für alle“ – den Slogan hatte Ludwig Erhard (ohne ganz neue alte Frage stellen: Wie wollen wir leben? Wer schützt
Berücksichtigung des Copyrights) dem deutschen Titel eines Er- unsere Seelenheimaten vor dem Ausverkauf? Die Antwort wird
folgswerkes des russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin entrissen. der Zukunft zugewandt sein müssen. Denn in der Geschichte
Die anarchistische Formel im gutbürgerlichen Anzug verdeckte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück, nur eine Bewe-
lange, wie schlecht konservatives und kapitalistisches Denken gung nach vorn. Vielleicht möchte man das den Pegida-Demons-
tatsächlich zusammenpassen. Die Zentrumspartei, die Vorgän- tranten ganz freundlich sagen. Und mit Aristoteles ergänzen:
gerin der CDU, war eine dem Liberalismus unversöhnlich gegen- „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf
überstehende konservative Kraft. Und noch das Ahlener Pro- den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum
gramm der CDU von 1947 legte unmissverständlich fest: „Das richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“
kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen
Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Precht, 50, ist Philosoph und Publizist. Er lebt in Köln.
DER SPIEGEL 6 / 2015 33
Deutschland

maten häufig allein gelassen. In Regie-


rungskreisen heißt es, für die Beziehungen
mit Saudi-Arabien wäre es „hilfreich“ ge-
wesen, wenn er nach Riad gereist wäre.
Sonst stört er. Hier hätten sie sich ihn
gewünscht.
Gauck ist für Teile der außenpolitischen
Elite zum Ärgernis geworden. Selten hat
sich ein Bundespräsident so prominent und
wortgewaltig in die Außenpolitik einge-
mischt. Es ist ein heikles Feld. Nach dem
Grundgesetz hat das Staatsoberhaupt für
die Außenpolitik kein eigenständiges Man-
dat. In der Verfassung heißt es knapp, der
Bundespräsident vertrete den Bund völ-
kerrechtlich, er schließe „im Namen des
Bundes die Verträge mit auswärtigen Staa-
ten“. Geht Gauck darüber hinaus?
Niemand will offen über den Unmut
sprechen, der sich in Regierungskreisen
angestaut hat, weil sich Verfassungsorgane
öffentlich nicht kritisieren. Auf seinen Aus-
landsreisen begleitet den Bundespräsiden-
ten immer ein Staatsminister aus dem Aus-
wärtigen Amt, offene Kritik wird bei die-
sen Gelegenheiten vermieden. Aber unter
vorgehaltener Hand wird gestänkert. Der
Ärger des Auswärtigen Amts über den Stö-
renfried ist längst im Bundespräsidialamt
angekommen. Unter Beamten wird kol-
portiert, dass auch Minister Frank-Walter
Steinmeier sich missvergnügt über die au-
ßenpolitischen Aktivitäten des Herrn im
Schloss Bellevue geäußert habe.
Es geht dabei nicht nur um hochtraben-
de Grundsätze, sondern um allzu mensch-
liche Rivalitäten. Auf der einen Seite der
Staatsoberhaupt Gauck auf der Westerplatte bei Danzig: Zwist um die Hoheit in der Außenpolitik ehemalige Pastor Joachim Gauck, Zufalls-
politiker und diplomatischer Laie, beraten
von einer außenpolitischen Miniabteilung,
ein Geburtstagsständchen. „Happy Birth- die gerade einmal 13 Mitarbeiter umfasst.

Pastor day, Mr. President“, singen sie. Und die


Boulevardpresse druckt ein Bild, auf dem
Gauck zu einem Schokokuss greift. Wer
Auf der anderen Seite ein Amt von über
11 000 Mitarbeitern, ausgestattet mit der
gesammelten Expertise aus abertausenden

Störenfried wollte ihm, dem Jubilar, übel nehmen, dass


er einen Tag Pause von der Politik macht?
Doch was selbstverständlich scheint, ist
Dienstjahren in Botschaften rund um
den Globus. Es ist ein eigener Kosmos, in
dem Legationsräte in langen Jahren das
Außenpolitik Joachim Gauck es nicht. Es gibt Menschen, die hätten Komponieren diplomatischer Noten ge-
Gauck an diesem Tag gern als Bundesprä- lernt haben. Wer hier beschäftigt ist, ge-
mischt in außenpolitischen Debat- sidenten erlebt, als Vertreter Deutschlands hört zur Elite der deutschen Diplomatie
ten mit wie kaum ein Bundes- in Riad. Die Großen der Weltpolitik mach- oder zählt sich dazu. Die Welt ist ihr
ten sich auf: Barack Obama, François Hol- Monopol.
präsident vor ihm. Das ärgert die lande, David Cameron und der russische Ein Jahr ist es her, dass Gauck unver-
Diplomaten im Auswärtigen Amt. Premier Dmitrij Medwedew. Aber weil mittelt in diese Welt einbrach und die Au-
Gauck Geburtstag feierte, reiste Ex-Bun- ßenpolitik als ein wichtiges Thema seiner

A
m Tag, an dem die Welt dem ver- despräsident Christian Wulff als Ersatz für Präsidentschaft erkannte. Auf der Münch-
storbenen saudischen König in ihn nach Saudi-Arabien. ner Sicherheitskonferenz mahnte er im
Riad die letzte Ehre erweist, be- Gaucks Weigerung, nach Riad zu reisen, Januar 2014, Deutschland müsse mehr Ver-
sucht Joachim Gauck die Konfiserie „Das reiht sich ein in eine Folge von Irritationen, antwortung in der Welt übernehmen. Im
süße Leben“. Es ist der vergangene Sams- die der Bundespräsident im Auswärtigen Zweifel auch mit Militäreinsätzen. Er sagte
FOTO: PIOTR PEDZISZEWSKI / DPA

tag, sein 75. Geburtstag. Gauck will an die- Amt ausgelöst hat: etwa in der Russland- „Deutschland darf weder aus Prinzip ,nein‘
sem Tag ein ganz normaler Bürger sein politik oder im Umgang mit der Türkei. noch reflexhaft ,ja‘ sagen“ und gab der
und in seinem Lieblingsschokoladen- Gauck redet über Freiheit, über Menschen- außenpolitischen Diskussion in Deutsch-
geschäft in Berlin Pralinen und hausge- rechte, seine Lieblingsthemen, nicht im- land einen neuen Impuls. Steinmeier, der
machte Schokoküsse kaufen, als Privatier. mer zur Freude und zum Vorteil der deut- auf der Konferenz einen Tag später sprach,
Er wird gefeiert dafür. Die Inhaberin der schen Diplomatie. Mit den Folgen seiner sagte Ähnliches, aber zitiert wurde vor
Konfiserie singt zusammen mit Kunden Worte und Gesten fühlen sich die Diplo- allem Gauck. Es konnte der Eindruck ent-
34 DER SPIEGEL 6 / 2015
stehen, der Präsident gäbe den Takt in der Die Klagen häufen sich, dass es an der des Bundestags in Auftrag gegeben. Die
Außenpolitik vor. Die Beamten fühlten Kommunikation zwischen Bundesregie- Expertise zeigt, wie sensibel die Angele-
sich provoziert. Sie hatten schon vorher, rung und Präsidialamt mangelt. Mal wur- genheit ist, aber auch wie viel Spielraum
Anfang Dezember 2013, als Guido Wester- den Termine nicht ordentlich abgestimmt, für Interpretationen bleibt. Grundsätzlich
welle noch Außenminister war, schlechte mal soll eine Rede erst zu spät von einem dürfe ein Bundespräsident keine „eigen-
Erfahrungen mit Gauck gemacht. Haus ins andere gefaxt worden sein, mal ständige ,Nebenaußenpolitik‘ betreiben.
Da ging es um Russland. Die deutschen überhaupt nicht und mal nicht der Rang- Sein Mandat sei beschränkt durch „das
Diplomaten, zu diesem Zeitpunkt noch ordnung entsprechend. Und immer wieder Rechtsprinzip der Verfassungsorgantreue
auf Entspannungskurs, warben für einen steht am Ende die Frage: Hat die eine Seite sowie das Mäßigungsgebot“, heißt es in
Dialog im Ukrainekonflikt. Zugleich be- von der anderen gewusst? Und wer wusste dem Dossier. Es bestehe keine Pflicht des
mühte sich die Bundesregierung um die wann was? Bundespräsidenten, seine Reden vorab der
Freilassung des Ex-Oligarchen Michail Wie groß das Klima des Misstrauens ist, Regierung vorzulegen. Zugleich schreiben
Chodorkowski. Da ließ Gauck das Bun- zeigte sich im vergangenen September, als die Autoren: „Eine solche Praxis mag al-
despräsidialamt erklären, er werde nicht Gauck seine Rede zum Gedenken an den lerdings insbesondere bei Grundsatzreden
zu den Olympischen Winterspielen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf der der politischen Klugheit entsprechen.“
Sotschi fahren, Wladimir Putins Prestige- Westerplatte in Polen hielt. Er attackierte Ein pädagogischer Rat.
und Propaganda-Projekt. Sowohl das von dort aus Russlands Ukrainepolitik, Das Gedenkjahr 2015 stellt das ungleiche
Kanzleramt als auch das Auswärtige Amt sprach von Aggressionen und warnte vor Paar Gauck und Steinmeier vor neue Her-

hielten die Entscheidung für einen Fehler, „territorialen Zugeständnissen“. War das ausforderungen. Gauck wird zum 70. Jah-
die Bundesregierung hätte ihm von diesem der richtige Platz dafür? Gauck bedauert restag des Kriegsendes am 8. Mai sowjetische
Schritt abgeraten, hieß es. inzwischen Teile seiner Rede. Beratung Kriegsgräber besuchen. Auch da wird es wie-
Wenige Monate später, im April 2014, hätte in diesem Fall nicht geschadet. der um den richtigen Ton in der Russland-
reiste Gauck in die Türkei. Vor Studenten Unter Beamten halten sich bis heute re- politik gehen. Und er wird sich zur deutsch-
in Ankara prangerte der Bundespräsident gelrechte Verschwörungstheorien, wie die israelischen Freundschaft äußern, deren 50-
Demokratiedefizite seines Gastlandes an. Rede zustande gekommen sein soll. An- jähriges Jubiläum im Mai begangen wird.
Er machte seiner ehrlichen Empörung da- geblich soll sie noch auf dem Flug Gaucks Zunächst aber wird der Bundespräsident in
rüber Luft, dass die Regierung des dama- nach Danzig um die strittigen Passagen der kommenden Woche zu einem Staatsbe-
ligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip ergänzt worden sein, damit es Steinmeiers such nach Tansania reisen. Er wird politische
Erdogan YouTube und Twitter blockierte Aufpasser ja nicht erführen. Tatsächlich Gespräche mit Staatspräsident Jakaya Kik-
und unliebsame Staatsanwälte und Poli- war die Rede schon vor Gaucks Abflug an wete führen und auch mit Vertretern der
zisten versetzte. „Diese Entwicklung er- Journalisten verteilt worden und wurde Oppositionsparteien und der Zivilgesell-
schreckt mich“, sagte Gauck in Ankara. danach nicht mehr geändert. Aber so ist schaft sprechen. Er wird die Insel Sansibar
Der Streit eskalierte. Erdogan verbat sich das, wenn es erst einmal Misstrauen gibt. bereisen, an einem interreligiösen Dialogfo-
die „Einmischung in die inneren Angele- Der Zwist um die Hoheit in der Außen- rum teilnehmen und das von der Deutschen
genheiten unseres Landes“. Und fügte hin- politik beschäftigt nun auch den Auswär- Zoologischen Gesellschaft errichtete „Opera-
zu: „Der deutsche Staatspräsident denkt tigen Ausschuss. Der bayerische Abgeord- tions Command Center“ zur Bekämpfung
wohl, er sei immer noch ein Pastor.“ Wo- nete Peter Gauweiler, den früh das Gefühl der Wilderei in der Serengeti einweihen.
rauf sich Gauck eine Replik nicht verknei- beschlichen hatte, Gauck überziehe sein Das Auswärtige Amt kann sich entspan-
fen konnte: Seine Kritik sei doch „eher Mandat, hat dazu ein juristisches Gutach- nen. Eine Woche lang.
noch zurückhaltend“ gewesen. ten bei den Wissenschaftlichen Diensten Stefan Berg, Marc Hujer

DER SPIEGEL 6 / 2015 35


Deutschland

Alles gebongt
Finanzen Niedrigere Steuern? Könnte sich Deutschland locker leisten. Die Regierung müsste nur den
alltäglichen Betrug an Tausenden Ladenkassen stoppen. Technisch wäre das kein Problem.

D
er grauhaarige Herr ist überaus be- Umsatz- und Gewerbesteuer könnte er so als Käufer von Steuer-CDs aus der Schweiz
müht, wie er da hinter der Laden- hinterziehen, auch seine Einkommensteu- und Luxemburg einen Namen gemacht.
theke in seiner Reinigung steht. er und die Sozialabgaben mindern. Nun kündigte er an, den „massenhaften
Vorsichtig bugsiert er frisch gebügelte Schwarzgeldgeschäfte gibt es, seit Steu- Betrug“ an manipulierten Kassen „nicht
Hemden in eine große Tüte. Es soll ja keine ern erfunden wurden. Doch die Chancen länger hinzunehmen“.
Falten geben. der Finanzermittler, den Tricksern hinterm Im Mai sahen auch die Finanzminister
Dann tippt er Zahlen in die Registrier- Tresen auf die Schliche zu kommen, neh- der anderen 15 Länder bei einer Konferenz
kasse, auf dem Display erscheint eine Sum- men ständig ab. Das liegt an modernen „dringenden Handlungsbedarf“. Bis zum
me. Der Mann nimmt das Geld entgegen, Kassen, mit denen sich nicht nur Verkaufs- Ende des Jahres, beschlossen sie, solle eine
reicht Wechselgeld und die Tüte herüber. vorgänge in Sekundenbruchteilen ohne Arbeitsgruppe ein „geeignetes Maßnah-
Beiläufig fragt er: „Benötigen menpaket“ gegen den Betrug
Sie den Bon?“ vorlegen.
Was soll ein Kunde mit dem Doch der schon fertige Be-
Bon für seine Hemdenreini- richt der Arbeitsgruppe landete
gung? Die Hände sind voll, der kurz vor der Dezemberkonfe-
Papierschnipsel ist lästig. „Nein renz der Minister in der Schub-
danke“, murmelt der Hemden- lade. Der Grund: Ausgerechnet
besitzer schon im Rausgehen. im Bundesfinanzministerium
Der Inhaber des kleinen Ladens von Wolfgang Schäuble stießen
nickt verständnisvoll. Er reißt die Länder mit ihrem Vorhaben
den Beleg mit Schwung von der auf Ablehnung. Jetzt wollen sie
Kasse – und steckt ihn in eine das Thema im Juni beraten.
kleine Pappschachtel, die direkt Heftigen Widerstand erfuhr
neben der Kasse steht. die Länderinitiative auch aus
Das ist merkwürdig. Wieso dem Haus von Wirtschaftsminis-
landet der Bon nicht im Papier- ter und SPD-Chef Sigmar Ga-
korb? Sammelt der Ladenbesit- briel. Ein entsprechendes Kon-
zer etwa unnütze Quittungen? trollsystem sei zu bürokratisch
Will er auch die kleinste Menge und würde, heißt es in einer in-
Altpapier zum Recycling ge- ternen Stellungnahme, „im all-
ben? Oder ist der freundliche täglichen Geschäftsablauf von
Geschäftsmann mit seinem La- Betrieben zu massiven Verwer-
den am Stadtrand von Hamburg fungen führen“.
vielleicht ein mieser Steuerbe- Dabei ist das Ausmaß der
trüger? Steuerausfälle für den Staat ge-
Glaubt man Fahndern der Fi- waltig. Walter-Borjans und die
nanzbehörde, ist die dritte Va- anderen Länderhaushälter sol-
riante die wahrscheinlichste. len durch den Ankauf von Steu-
Täglich werde an Zigtausenden er-CDs mehr als drei Milliarden
Ladenkassen in Deutschland ge- Euro eingenommen haben. Den
trickst und geschummelt, was Schaden, der dem Fiskus durch
die Tasten hergäben – beim Fri- NRW-Minister Walter-Borjans: Zehn Milliarden Euro Schaden die Tricks an den Kassen ent-
seur, beim Bäcker, in der Knei- steht, schätzt der Düsseldorfer
pe, von Taxifahrern und Spielhallenbetrei- jede Spur tilgen lassen – sie frisieren auch Minister dreimal so hoch ein – pro Jahr.
bern. Denn der Steuerbetrug ist in vielen gleich Wareneinkauf und Lagerbestände In manchen Branchen sollen die Betriebs-
Branchen so einfach wie verlockend. Und passend. einnahmen fast zur Hälfte beiseite-
er schadet nicht den Kunden, er hilft viel- Das Phänomen ist nicht neu. Der Bun- geschafft werden.
leicht sogar, die Preise niedrig zu halten. desrechnungshof warnte die Politik schon Mit zehn Milliarden Euro ließe sich eini-
FOTO: ROLF VENNENBERND / PICTURE ALLIANCE / DPA

Den Staat und seine Ermittler stellt er vor elf Jahren, die Finanzbehörden könn- ges machen. Der Wegfall der kalten Pro-
allerdings vor ein Problem. Sie wissen, ten „falsche Angaben über eingenomme- gression, der mehrere Milliarden Euro aus-
dass betrogen wird, können es aber nur ne Bargelder nicht mehr aufdecken“. Die machen kann, wäre locker zu finanzieren.
schwer nachweisen: ein kleiner Dreh am Analyse blieb aber ohne Konsequenzen. Selbst die Streichung des Solidarbeitrags
Kassenschlüssel, ein kurzer Tastendruck Erst im vergangenen April nahm sich von im vergangenen Jahr 15 Milliarden Euro
am Taxameter – schon verschwindet die ein Politiker öffentlich des Themas an, der wäre womöglich zu verschmerzen. Schließ-
gerade verbuchte Einnahme. als hartnäckiger Kämpfer für Steuergerech- lich entgehen dem Staat durch den Kassen-
Im Fall der Reinigung könnte deren tigkeit gilt: Norbert Walter-Borjans, Fi- betrug nicht nur Mehrwertsteuer, sondern
Besitzer das Geschäft stornieren, sobald nanzminister von Nordrhein-Westfalen auch Sozialabgaben und Lohnsteuer.
er allein im Laden ist; schließlich hält er und damals Vorsitzender der Finanzminis- Schäuble und Gabriel aber, so scheint
den einzigen Beleg in Händen. Nicht nur terkonferenz. Der SPD-Mann hatte sich es, schützen lieber die Unehrlichen. Wol-
36 DER SPIEGEL 6 / 2015
len sie damit vor allem jene Branchen be- Finanzbehörde bei Prüfungen aufgespürt mehr verkaufen lassen. Reckendorfs Sys-
sänftigen, die zurzeit wegen der Einfüh- werden. Insika lässt sich vielfach einsetzen, teme galten früher als besonders komfor-
rung des Mindestlohns stöhnen? Die Gastro- bei Taxametern, in Imbissbuden, sogar bei tabel – was sie nicht nur bei den Kunden
nomie und das Taxigewerbe? Glücksspielgeräten. begehrt machte, sondern auch das Miss-
Wie der Betrug mit elektronischen Kas- „Wir haben ein System entwickelt, das trauen der Behörden hervorrief. Inzwi-
sen funktioniert, kann Markus Novozin weltweit keine ernsthafte Konkurrenz schen hat sich der Saulus zum Paulus ge-
am besten erklären. Er hat sein Büro in hat“, sagte PTB-Datenspezialist Norbert wandelt.
der Oberfinanzdirektion Nordrhein-West- Zisky zum Abschluss des Projekts 2012 „Wir brauchen endlich ein faires System,
falen in Münster – und schult die Betriebs- stolz. In der Tat hat Insika viele Vorteile: und das liefert Insika“, sagt Reckendorf.
prüfer des Landes. Es müssen nicht mehr Daten gespeichert In den vergangenen Monaten hat der Ge-
Zu den simplen Tricks der Bargeld- werden als ohnehin gesetzlich vorgeschrie- schäftsmann mit etlichen anderen Kassen-
branche zählt für Novozin der „Trainings- ben. Die marktgängigen Kassen können produzenten gesprochen und für den Ein-
Kellner“, eine Einstellung in Gastronomie- ohne großen Aufwand nachgerüstet wer- bau der Kartenleser geworben. „Die Bran-
kassen, bei der die Bedienung zwar Order den. Selbst die Kosten halten sich in Gren- che würde mitziehen, aber nur, wenn für
eingeben und Bons drucken kann – die zen – Experten gehen von 30 bis 70 Euro alle Kassen eine Smartcard vorgeschrieben
Beträge werden aber nicht im Tagesum- pro Kasse aus. wäre“, sagt Reckendorf. Könnten Betriebe
satz gespeichert. Oder die Funktion „Ma- Das Bundeswirtschaftsministerium, wel- hingegen wählen, „bleiben Insika-Kassen
nager-Storno“, mit der Umsätze schon vor ches das Projekt mit 225 000 Euro förderte, unverkäuflich“.
der Buchung frisiert werden Bereit für eine neue Geräte-
können. generation ist auch der japani-
Für die besonders bequemen sche Kassenhersteller Casio. In
Betrüger gibt es „Zapper“, Ma- Gläserne Kasse der Europazentrale bei Ham-
nipulationsprogramme, die meist Wie Registrierkassen steuerehrlich gemacht werden können burg liegt schon seit dem vergan-
auf einem USB-Stick gespeichert genen Jahr ein Insika-Modul,
sind. Bei einem der Programme das eingebaut werden könnte.
tippt Novozin erst einen be- Eine komplette steuerehrliche
stimmten Code, dann erscheint Kasse würde dann weniger als
eine Maske. Dort gibt er den Pro- 500 Euro kosten. Die Produktion
zentsatz ein, um den der Umsatz hat Casio aber erst einmal ver-
reduziert werden soll. Ein blin- Vertrauens- gibt eine Smartcard schoben – bis die Politik über
kender Geldsack erinnert den würdige Stelle mit Zertifikat und den weiteren Weg entschieden
(etwa D-Trust, Prüfschlüssel aus.
Benutzer daran, den Minderbe- eine Tochter der Das Finanzamt habe, sagt der Vertriebschef. Im
trag aus der Kasse zu nehmen. Bundesdruckerei) speichert Zertifikat und Mai schrieb der Konzern einen
Manchmal stammt die Schum- Schlüssel und prüft Brandbrief an Finanzminister
melsoftware sogar aus dem Um- damit die Kassendaten. Schäuble. Jede Waage in
feld der Kassenprogrammierer, Deutschland müsse einen Zulas-
wie bei einer 2012 aufgeflogenen sungsprozess durchlaufen und
Steuerbetrugsserie in Apothe- geeicht werden. Der Einsatz ei-
ken. Vor drei Wochen verpflich- ner nicht geeichten Waage sei
tete das Finanzgericht Rhein- kaum vorstellbar: „Analog hält
land-Pfalz einen Kassensystem- 1ad3477… Casio auch für Kassensysteme
hersteller zur Zahlung von 1,6 Die Smartcard wird in Prüfschlüssel und strenge Regelungen für erforder-
Millionen Euro wegen Beihilfe die Kasse integriert Signatur zeigen, ob lich, weil das Betrugspotenzial
zur Steuerhinterziehung. Die Fir- oder über einen Karten- die Daten echt und wesentlich größer als bei Waa-
ma hatte dem Betreiber eines leser angeschlossen. komplett sind. gen einzuschätzen ist“, heißt es
1ad3477…
Eiscafés beim Kauf einer Kasse dort.
den Zapper gleich als Zubehör Kassenbons und digitale Dass Insika in der Praxis funk-
mitgeliefert. Buchungen werden mit einer tioniert, lässt sich in Hamburg
Das Programm war offenbar Signatur versehen. beobachten. Dort findet sich die
so gut getarnt, dass der Italiener Speicherkarte inzwischen in
selbst bei Betriebsprüfungen zunächst feiert Insika auf seiner Website als „viel- 2000 Taxen. Dabei werden die Daten nicht
nicht aufgefallen war. Dabei gäbe es durch- versprechende Innovation marktreifer Pro- nur digital signiert, sondern auch noch
aus Mittel, dem Betrug auf die Schliche zu dukte und Dienstleistungen“. Die PTB gleich per Funk an externe Dienstleister
kommen. Eines hat die Physikalisch-Tech- habe ein „cleveres System entwickelt, das übertragen.
nische Bundesanstalt (PTB) gemeinsam Bargeldgeschäfte lückenlos und manipu- 2005 hatte die Wirtschaftsbehörde er-
mit mehreren Kassenherstellern entwi- lationssicher“ aufzeichne. Insika, rühmen kannt, dass die Umsatzangaben vieler
ckelt: ein kleines Lesegerät, mit dem jede die Ministerialen, sorge für „mehr Steuer- Taxifirmen unrealistisch niedrig waren. Zu-
Kasse ausgestattet werden könnte. „Inte- gerechtigkeit und mehr Fairness“. dem fielen immer wieder Schwarzarbeiter
grierte Sicherheitslösung für messwertver- Einer, der mit PTB-Entwickler Zisky am Steuer auf. Hamburg entschied darauf-
arbeitende Kassensysteme“, kurz Insika, zusammengearbeitet hat, ist Jens Recken- hin, Konzessionen nur noch den Taxi-
heißt das System, dessen Herzstück eine dorf, Vorstand der Firma Vectron. Das unternehmen zu erteilen, die ihre Zuver-
Smartcard ist, wie sie auch für Handys ver- münstersche Unternehmen stellt spezielle lässigkeit durch den Einbau sogenannter
wendet wird. Mit dieser Karte wird eine Kassensysteme für Gaststätten und Bäcke- Fiskaltaxameter nachgewiesen hatten. Die
digitale Signatur erzeugt, die jeden Kas- reiketten her. Bei Vectron und den Mitbe- Verwaltung unterstützte das mit Zuschüs-
senbon kennzeichnet und nummeriert. werbern gilt seit Langem als ausgemacht, sen. „Die neuen Taxameter schrecken
Stornos oder Manipulationen könnten mit dass sich Kassen ohne Manipulationsfunk- schwarze Schafe ab“, hat Dirk Ritter, Chef
dieser Art digitalem Gedächtnis von der tion im deutschen Markt so gut wie nicht der Taxenaufsicht festgestellt, „die großen
DER SPIEGEL 6 / 2015 37
Deutschland

Standards als innovationsfeindlich gelten


würde, kosten- und bürokratieaufwendig
und gegebenenfalls europarechtswidrig
wäre“.
Sein mit NRW abgesprochener Kompro-
missvorschlag: Insika könne freiwillig ein-
geführt werden. Jeder Steuerpflichtige
habe dann die Möglichkeit, von sich aus
zu beweisen, dass er ehrlich ist. In vielen
Landeshauptstädten kam die Idee nicht
gut an. „Wir stellen Lkw-Fahrern doch
auch nicht frei, ob sie Fahrtenschreiber
nutzen wollen, um zu beweisen, dass sie
nicht zu schnell gefahren sind“, heißt es
in einem Landesministerium. Gabriel und
Schäuble wollten wohl lieber für die vom
Mindestlohn gebeutelten Branchen „Wirt-
schaftsförderung durch die Hintertür be-
treiben“.
Trotzig beschlossen die Länderfinanz-
minister im Dezember, Schäuble zu bitten,
„die derzeit bestehenden Bedenken zeitnah
zu verifizieren“. Denn klar ist: Der bürokra-
tische Aufwand für das System ist gering.
Einmal in die Kasse eingebaut, braucht der
Chip nicht gewartet zu werden. Und Erfah-
rungen in Hamburg zeigen, dass Betriebs-
prüfungen schneller und einfacher ablaufen
als vor der Einführung von Insika.
In Wahrheit muss in Berlin auch nie-
Wirtschaftsminister Gabriel: Schutz für die Unehrlichen? mand Angst vor einer EU-Klage haben.
Deutschland gilt als Schlusslicht in der Bar-
Betrugszeiten sind vorbei.“ Jetzt fahren Protest lesen sich heute die Einlassungen geldbetrugsbekämpfung. In Italien und
in Hamburg nur noch 3273 Taxen, der nied- aus Berliner Ministerien. Der Aufwand für Griechenland sind Restaurantbesucher seit
rigste Stand seit 1966. Weil nun keine Fahr- das zuvor noch hochgelobte Insika scheine Jahren verpflichtet, ihre Rechnung mit aus
ten mehr verschweigen werden, geschah „den erwarteten Ertrag nicht zu rechtferti- dem Lokal zu nehmen. Wer etwa als Tou-
über Nacht ein kleines Wirtschaftswunder: gen“, heißt es etwa aus Gabriels Behörde. rist von der Finanzpolizei ohne Beleg an-
Der Umsatz der Firmen stieg um 50 Pro- Bei einer Million betroffener Kassen in getroffen wird, kann zu einer empfind-
zent. Deutschland handle es sich schließlich um lichen Geldbuße verdonnert werden.
Insika würde nicht nur für mehr Steuer- ein IT-Großprojekt wie zuletzt die euro- In Schweden und Belgien sind die Kas-
ehrlichkeit sorgen. Die Speicherkarte päische Umstellung der Kontonummern. sen mit Fiskalspeichern ausgestattet – einer
könnte auch für Waffengleichheit unter Eine Einführung verstieße zudem womög- Art Blackbox, die alle Daten sammelt.
Gastwirten oder Einzelhändlern sorgen. lich gar gegen Europarecht. Und in Kroatien veranstaltet die Finanz-
Doch deren Lobbyverbände sehen offen- Auch in der PTB, die Gabriels Minis- verwaltung eigens Beleglotterien. Die Bür-
bar eher Gefahren – weshalb sie die Ein- terium nachgeordnet ist, scheint die ger schicken ihre Quittungen an die Be-
führung von Insika oder ähnlichen Kon- Euphorie inzwischen geschwunden. Nor- hörde, dort dienen sie als Lose in einer öf-
trollsystemen bekämpfen. bert Zisky, der zuständige Mann, darf fentlichen Ziehung. Es gibt Geld und sogar
Bislang überaus erfolgreich. 2008 näm- nicht mehr zu Kongressen und Tagungen Autos zu gewinnen. Wer als Ladeninhaber
lich wollte der damalige Finanzminister reisen, um dort Insika vorzustellen. Das einen Beleg ausstellt, muss mithin befürch-
Peer Steinbrück bereits bei Bargeldkassen Projekt sei abgeschlossen, der IT-Experte ten, dass dieser bei der Steuerbehörde lan-
einen verschlüsselten Speicher vorschrei- solle sich um neue Aufgaben kümmern. det und für eine Kontrolle genutzt wird.
ben. Doch der SPD-Politiker sah sich einer Selbst der Wikipedia-Eintrag zu Insika Auch Österreichs Sozialdemokraten sind
großen Allianz gegenüber. Industrie, Han- wurde von einem Rechner der PTB aus weiter als Gabriel. Im Dezember legte eine
del, Handwerk, Banken, Einzelhandel und nachträglich geändert. Dort fand sich Kommission der Regierungsparteien ihren
Versicherungswirtschaft wüteten gemein- plötzlich der Hinweis: Insika werde nicht Bericht für eine Steuerreform vor. Vorge-
sam gegen den Plan. Das System sei weiterverfolgt. schlagen wird darin unter anderem die Ein-
„nicht praxistauglich“, gerade für kleinere Die Beamten von Finanzminister Wolf- führung des deutschen Insika-Systems.
Unternehmer; es belaste „steuerehrliche gang Schäuble, die ja eigentlich an höhe- Eine Milliarde Euro könne der Staat zu-
Unternehmen mit neuen beträchtlichen ren Steuereinnahmen interessiert sein sätzlich einnehmen, argumentierten die
finanziellen und administrativen Lasten“, sollten, schlossen sich den Bedenken ihrer Befürworter von der SPÖ. Nur der kon-
heißt es in einer Stellungnahme. Stein- Kollegen aus dem Wirtschaftsressort an. servative Koalitionspartner, die ÖVP, hat
brücks Vorschlag wurde vor einer Sitzung Sie übernahmen teilweise sogar deren For- noch Bedenken. Michael Fröhlingsdorf
des Kabinetts von der Tagesordnung ge- mulierungen. Im November teilte Schäub-
FOTO: HC PLAMBECK

nommen. les Abteilungsleiter den Ländern die Ber- Video: Steuerbetrug


Heute, knapp sieben Jahre später, kön- liner Position mit: Eine verpflichtende Ein- im Taxi
nen sich die Verbände solche Art Gegen- führung von Insika „wäre nicht umsetzbar, spiegel.de/sp062015steuer
wehr sparen. Ähnlich wie ihr damaliger da das Festschreiben eines technischen oder in der App DER SPIEGEL

38 DER SPIEGEL 6 / 2015


„Übersät von blauen Flecken“
Jugendhilfe In Baden-Württemberg starb ein Dreijähriger nach Schlägen seines
Stiefvaters. Vorher hatten etliche Ärzte Misshandlungen festgestellt und an
das Jugendamt appelliert, den Jungen aus der Familie zu nehmen. Vergebens.

Alessios Elternhaus in Lenzkirch

E
indeutig seien die Befunde gewesen, Alessio wird in dieser Reihe wohl als „Heute wissen wir, dass es eine Fehlein-
sagt Isolde Krug: Verletzungen, die der Fall in Erinnerung bleiben, in dem ein schätzung war, Vertrauen in die Eltern zu
von Schlägen rührten, zu verschie- Jugendamt ein Kleinkind in die Prügelhöl- setzen und die Kinder in der Familie zu
denen Zeitpunkten zugefügt. Und sicher- le seiner Familie zurückschickte – obwohl lassen“, schreibt Feser auf der Interseite
lich nicht durch Unfälle verursacht. es um die vorherigen Misshandlungen der Gemeinde. Lenzkirch steht unter
„Wir haben unsere Sorge klar zum Aus- wusste und die Warnungen der betreuen- Schock. Der frühere Besitzer des Hofs
druck gebracht“, sagt die Psychologin am den Ärzte kannte. kümmert sich wieder um die Kühe, das
Kinderschutzzentrum der Universitätskli- Anders als Yagmur oder Kevin wird Haus ist abgesperrt. Vor der Kapelle ne-
nik Freiburg. Krug sitzt in ihrem Dienst- Alessio nicht in prekäre Großstadtver- benan haben Trauernde Blumen und Grab-
zimmer, umgeben von Handpuppen, ei- hältnisse, sondern in ein ländlich-bäuer- lichter in den Schnee gelegt. In der Dorf-
nem Tipp-Kick-Spiel und diversen Brett- liches Milieu hineingeboren. Über den kirche liegt ein Kondolenzbuch aus.
spielen. Sie wägt ihre Worte, sie versteckt leiblichen Vater ist nichts bekannt, aber Alessios Start ins Leben war von Pro-
ihre Empörung hinter Fachbegriffen. Denn Alessio wird in der kleinen Schwarzwald- blemen überschattet, seine alleinstehende
ihr Alarmruf verhallte. Der Junge, dessen gemeinde Eisenbach katholisch getauft. Mutter psychisch labil. Deshalb kümmer-
schwere Misshandlungen Krug und ihre Seine Mutter zieht später ins nur wenige ten sich Mitarbeiter des Jugendamts seit
Kollegen angeprangert hatten, ist jetzt tot. Kilometer entfernte Lenzkirch zu ihrem seiner Geburt um Mutter und Kind. Aber
Alessio N., drei Jahre und fünf Monate neuen Lebensgefährten. Der Landwirt hat es sind nicht sie, die Alarm schlagen, son-
alt, starb am 16. Januar an schweren Organ- dort einen historischen Schwarzwaldhof dern Alessios Kinderärzte.
verletzungen. Stiefvater T. hat eingeräumt, gekauft, ein Anwesen mit Milchkühen, auf Zweimal, im Sommer 2013 und im Som-
das Kleinkind geprügelt zu haben. Er be- dem er zuvor als Betriebshelfer gearbeitet mer 2014, überweisen zwei verschiedene
harrt aber darauf, der Junge sei dann die hatte. Ärzte den Jungen in die Kinderklinik der
Treppe hinuntergefallen. Der 32-Jährige Er habe nichts von dem Martyrium ge- Universität Freiburg, sie vermuten, dass er
sitzt in Untersuchungshaft, er gilt als drin- ahnt, das der Junge dort erleiden musste, misshandelt wird. Schon beim ersten Mal
gend verdächtig, das Kind getötet zu haben. sagt der Bürgermeister von Lenzkirch, stellen Ärzte und Rechtsmediziner verdäch-
Der Fall Alessio fügt sich ein in eine Se- Reinhard Feser. Er habe T. bei den Ver- tige Spuren fest. Der Junge schont sein
rie von Kindesmisshandlungen, die bun- handlungen um Hofübergabe und Pacht- rechtes Bein und hat Schmerzen. T. gibt
desweit unter den Augen der Jugendämter verträge „als normalen Menschen erlebt, zu, dem Jungen eine Ohrfeige verpasst zu
geschahen. Eltern, Stiefeltern oder Lebens- mit dem man reden kann“. T. war in der haben. Er war mit ihm einige Tage allein,
gefährten der Mütter waren schon negativ Freiwilligen Feuerwehr aktiv; wenn ein an- weil die Mutter, erneut schwanger, im Kran-
aufgefallen und wurden betreut, trotzdem derer Bauer einmal wegmusste, sei er für kenhaus behandelt werden musste. Die Kli-
kamen die Kinder im familiären Umfeld den Stalldienst eingesprungen. Einige Male nikärzte schreiben dem Jugendamt, es gebe
zu Tode. Kevin in Bremen 2006, Zoe, Lena sah Feser, wie T. mit Alessio spielte oder Hinweise auf Misshandlungen.
und Daniel in Berlin 2012 und 2013, Yag- ihn auf den Trecker setzte. T. schien stolz Ein Jahr später, Alessio wird wegen Auf-
mur in Hamburg 2013. auf den Stiefsohn zu sein. fälligkeiten bei der routinemäßigen U7-
40 DER SPIEGEL 6 / 2015
Deutschland

Kinderuntersuchung nach Freiburg ge- stellen gewesen, schreibt das Landratsamt die dörflichen Strukturen und auf die Ein-
schickt, fällt die Warnung der Mediziner des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald in sicht der Eltern. Sie unternahmen nicht
noch deutlicher aus. „Die Befunde eska- einer Stellungnahme. Und: „Es bestand einmal den Versuch, ihnen das Sorgerecht
lierten“, sagt der Oberarzt Karsten Häffner, eine hohe Kooperationsbereitschaft und zu entziehen. Dabei sehen die im Land-
der Alessio untersuchte. Mediziner stellen Mitwirkungsbereitschaft, erforderliche Hil- ratsamt seit 2005 geltenden „Verfahrens-
Hämatome und Abschürfungen fest. Die fen anzunehmen.“ Gemeinsam mit den El- standards bei Meldungen von Kindeswohl-
Ärzte entschließen sich zu einem unge- tern sei ein „Maßnahmenbündel zum gefährdung“ vor: „Der Schutz von Kin-
wöhnlichen Schritt. Sie schicken nicht nur Schutz des Kindes“ vereinbart worden. dern und Jugendlichen durch Abwehr der
einen Bericht ans Jugendamt, in dem sie Das Team im Jugendamt war zuversicht- Gefährdung, im Zweifel durch Inobhutnah-
schreiben, es sei nicht verantwortbar, dass lich, dass der Stiefvater von der Hilfe pro- me, hat absoluten Vorrang.“
das Kind in der Familie bleibe. Sie erstat- fitieren würde. Der Fall müsse „rückhaltlos aufgeklärt
ten überdies Strafanzeige wegen des Ver- Das Jugendamt mag auch jetzt keine werden“, fordert Baden-Württembergs So-
dachts auf Kindesmisshandlung, ein selte- Fehler erkennen. Es habe keine fachliche zialministerin Katrin Altpeter (SPD). Ins-
ner Vorgang. und rechtliche Grundlage für eine Heraus- besondere sei zu beantworten, warum die
Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermitt- nahme des Kindes und eine Inobhutnahme „akute Gefahr für das Kindeswohl falsch
lungen im Oktober 2014 zwar ein, weil gegeben, argumentiert die fürs Jugendamt eingeschätzt“ wurde. „An irgendeiner Stel-
dem Stiefvater die Misshandlungen nicht zuständige Sozialdezernentin Eva-Maria le ist falsch abgewogen worden“, sagt Ve-
nachzuweisen sind und die Mutter nur be- Münzer. Der Tod Alessios sei nicht vor- rena Mohnke, Geschäftsführerin des Deut-
stätigt, der Stiefvater gehe etwas grob mit hersehbar gewesen. schen Kinderschutzbundes in Baden-Würt-
dem Kind um. Doch auch der Staatsanwalt Eine Aussage, die nicht nur die Ärzte temberg. „Sonst wäre das Kind ja noch am
empfiehlt in seiner Einstellungsverfügung: empört, die versucht hatten, Alessio zu Leben.“ Dass Alessio gefährdet war, sei
„Maßnahmen des zuständigen Jugendam- schützen. „Wie können Sie von Unvorher- unstrittig gewesen. Doch sei hier ein Amt
tes zum Schutze des dreijährigen Alessio sehbarkeit sprechen“, schreiben die Kin- wie so oft dem Willen der Eltern gefolgt.
N. erscheinen als dringend geboten.“ Die derärzte Monika Spitz-Valkoun und Chris- Schon immer wurde das Elternrecht auf
vielen blauen Flecke seien durch Misshand- Erziehung in Deutschland hoch bewertet.
lungen entstanden. „Dieser Eindruck Dazu kommt, dass eine Kammer des Bun-
drängt sich auch ohne medizinische Sach- desverfassungsgerichts im vergangenen
kunde beim Betrachten der dem Gutach- Jahr innerhalb von drei Monaten sechs
ten beigefügten Lichtbilder auf.“ Entscheidungen diverser Oberlandesge-
Die Klinik lädt Eltern und Behördenver- richte aufhob. In allen diesen Fällen be-
treter zu Gesprächsrunden ein. Dort wird fanden die Richter, Behörden hätten in ver-
beschlossen, dass die Mutter mit Alessio fassungswidriger Weise in das Elternrecht
und seiner Schwester in eine Mutter-Kind- eingegriffen.
Einrichtung gehen soll. Die Mutter lehnt Diese Rechtsprechung färbe auf die Ju-
das ab und zieht stattdessen zu einer Ver- gendämter ab, argumentiert Stefan Heil-
wandten ihres Lebensgefährten. Doch mann, Richter am Oberlandesgericht
schon Mitte Oktober kehrt sie auf den Hof Frankfurt am Main in einem juristischen
zurück. Das Jugendamt stimmt zu und ini- Fachbeitrag. Es sei zu befürchten, dass die
tiiert eine Reihe von Maßnahmen: Fami- Ämter nicht ausreichend vor Gefahren
lientherapie, Kontrollbesuche beim Kin- schützten, „weil die Ansicht vermittelt wor-
derarzt alle 14 Tage, Unterstützung durch den sein könnte, die Grundrechte der El-
eine Dorfhelferin. Psychologin Krug, Arzt Häffner tern seien bei den Gerichten auch hier vor-
Im November geht die Mutter in eine Strafanzeige aus der Klinik rangig gegenüber den Rechten des Kin-
Reha-Einrichtung zur Mutter-Kind-Kur, im des“. Weiter schreibt Heilmann: „Beispiele
Dezember kehrt sie mit den Kindern auf tian Spitz, die Alessio 2014 an die Uni-Kli- von Kindern, die unter den Augen des
den Hof zurück. Kurz vor Weihnachten nik überwiesen, in einem offenen Brief. staatlichen Wächteramtes aus genau die-
lässt sie sich in eine psychiatrische Klinik Bei einem Kind, „das wiederholt übersät sen Erwägungen verstorben sind, gibt es
einweisen, die Kinder bleiben bei T. Die war von blauen Flecken und bei dem selbst leider zu häufig.“
Bearbeiter im Jugendamt diskutieren da- Verletzungsmuster am Gehirn nachgewie- Der Jurist gehört einer Bewegung an,
rüber – und kommen zu dem Entschluss, sen wurden“. Das Jugendamt habe von all die Kinderrechte im Grundgesetz veran-
dass die Abwesenheit der Mutter die Fa- dem gewusst und das Kind in der Familie kert sehen möchten, so wie es Familien-
milie eher entlaste als belaste. Sie hoffen belassen, trotz des „höchst auffallenden ministerin Manuela Schwesig (SPD) vor-
auf die Hilfe der Großfamilie von T. und Verhaltens des Vaters“. Das Ärztepaar hat- schlägt. In den USA und Großbritannien,
auf die Dorfhelferin, die den Haushalt auf te vor Alessios Tod ans Jugendamt geschrie- wo das der Fall ist, sind Ämter schneller
dem Hof stundenweise führt. Sie ist die ben und gewarnt, der Junge und seine klei- bereit, bedrohte Kinder aus ihren Familien
Cousine von T. ne Schwester befänden sich den Großteil zu holen. Die Verfechter der Kinderrechte
Im Alltag entsteht genau jene Situation, ihres Lebens in akuter Lebensgefahr. haben durch Alessios Tod ein weiteres Ar-
vor der die Ärzte immer gewarnt haben. Die Staatsanwaltschaft Freiburg hat die gument erhalten.
FOTOS: WINFRIED ROTHERMEL/DER SPIEGEL

Alessio ist mit dem Stiefvater allein – und Akten des Jugendamtes eingezogen. Die „Bei allen Entscheidungen muss das Kin-
dieser mit der Lage offenbar überfordert. Landrätin hat zusätzlich eine Kommission deswohl über dem Elternrecht stehen“, for-
Am 14. Januar nimmt T. noch an der ersten eingesetzt, die alle Vorwürfe untersucht, dert auch der niedergelassene Kinderarzt
Sitzung der Familientherapie teil, am 16. auch das Regierungspräsidium lässt sich Christian Spitz, der Alessio betreute.
Januar ist Alessio tot. berichten. Das Dorfhelferinnenwerk prüft Ihren Brief an das Amt schlossen Spitz
Warum nur hat das Amt dem Zusam- die Vorgänge intern. und seine Frau mit einem Appell: „Der
menleben zugestimmt? Beim Stiefvater sei Mindestens drei Sachbearbeiter im Ju- Tod des kleinen Jungen darf nicht sinnlos
„eine große Einsicht in das bisher fehler- gendamt und ein Vorgesetzter entschieden bleiben! Wenigstens das schulden wir
hafte Verhalten in der Erziehung“ festzu- über Alessios Schicksal. Sie vertrauten auf ihm.“ Jan Friedmann

DER SPIEGEL 6 / 2015 41


Koch-Nachwuchs im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten

Ausbeutung à la carte
Gastronomie Restaurantbesucher ahnen nicht, dass Auszubildende auch in Spitzenküchen
Schikanen der Chefs und Zwölf-Stunden-Tage aushalten müssen. Fast jeder zweite bricht die Lehre ab.

E
s scheint ein Traumberuf zu sein: Fast täglich köchelt es in irgendeiner TV- tige zu versprechen scheint. Bei Andreas
Entspannt stehen die Fernsehköche Küche, ständig werden marode Restau- Becker, dem Präsidenten des Verbands der
in schicken weißen Jacken an ihrem rants gerettet, und Millionen sehen zu. Die Köche Deutschlands (VKD), bewarb sich
FOTO: JOHANNES ARLT/DER SPIEGEL

Schneidebrett. Sie lächeln in die Kameras, Steffen Hensslers, Johann Lafers und Tim in Trier ein Schulabgänger für eine „Aus-
kalauern um die Wette. Nebenbei lassen Mälzers sind bekannter als viele Schau- bildung zum Fernsehkoch“, die es nicht
sie ein paar dünne Scheibchen vom Win- spieler, sie sind hochbezahlte Stars – und gibt. Ein anderer wollte bei Frank Rosin,
tertrüffel auf den gebratenen Wolfsbarsch manch einer gibt erst am Herd Gas und dem Coach und Juror der Sat.1-Show „The
gleiten oder füllen mal eben eine Kalbs- dann in einem Aston Martin oder Jaguar. Taste“, das Handwerk lernen – und ein
roulade mit Manchego, Lauchzwiebeln Kein Wunder, dass junge Leute den Be- Jahr später ein Sternerestaurant eröffnen.
und Mango-Curry-Senf. ruf erlernen wollen, der so viel Sozialpres- Er hatte offenbar Rosins Lebenslauf nicht
42 DER SPIEGEL 6 / 2015
Deutschland

gelesen. Zwischen dem Beginn von dessen Quelle: BIBB-Erhebung;


jeweils zum 30. September Krise am Herd IHK So hatte ein Lehrling in Trier bei der
Lehre und seinem ersten Michelin-Stern vier Wochen vorher Zutaten für sein
lagen 22 Jahre, 7 Jahre später erhielt der 18699 Neu abgeschlossene Menü bestellt. Hauptgang: Forellenröll-
Westfale den zweiten Stern. 17 547 Ausbildungsverträge chen. Er erschrak, als im sogenannten Wa-
„Das Bild, das Schulabgänger von der Koch/Köchin renkorb, in dem die Produkte bereitliegen,
Arbeit in der Küche haben, wird von TV- 15000 eine ganze Forelle ruhte – nie hatte er ei-
Köchen geprägt“, sagt Andreas Truglia, nen Fisch filetiert. „Der arme Kerl versuch-
Ausbildungsberater der Berliner Industrie- 9795 te es, und die Forelle sah aus wie nach ei-
und Handelskammer (IHK). Es ist ein 10000 nem Granateneinschlag“, sagt Dirk Mels-
Trugbild: Das Gemüse ist im Fernsehstudio heimer, Mitglied des Prüfungsausschusses.
geputzt und oft geschnitten, die aufwendi- Markus Möller-Lüneburg ist Küchenchef
5000
ge Basis der Soßen steht bereit. Alles wird bei der Firma Johnson & Johnson Medical
pünktlich fertig, irgendwer spült, irgend- in Norderstedt nahe Hamburg und im Ne-
wer macht sauber – im realen Leben erle- benjob Prüfer. Er berichtet von einem
digen Lehrlinge diese Arbeiten. 2004 2007 2014 „grauenhaften Niveau“, viele Azubis hät-
Wer wissen will, wie es tatsächlich zu- ten „nicht einmal Grundkenntnisse“. Sie
geht in vielen Speiselokalen, kann sich bei nalmangel als Geschäftsmodell. „Ohne beobachteten ratlos, wie der Brokkoli des
Auszubildenden in der Hamburger Gewer- Azubis würde alles zusammenbrechen“, Prüfungsmenüs grau werde, weil sie das
beschule für Gastronomie und Ernährung sagt sie. Gemüse übergarten und Chlorophyll, das
erkundigen. Was die 17 bis 22 Jahre alten Ein 19-Jähriger gibt zu, nach zwei Jah- Blattgrün, abgebaut worden sei. „Blanchie-
Lehrlinge berichten, klingt wie ein Vortrag ren nicht zu wissen, wie aus Knochen und ren, dann den Garprozess im Eiswasser
über die Frühindustrialisierung im 19. Jahr- Gemüse eine braune Grundsoße entsteht, stoppen, so etwas Simples lernen manche
hundert: zehn bis zwölf Stunden Plackerei, die Basis vieler Soßen. Seine Firma nutzt nicht“, so Möller-Lüneburg.
karger Lohn, tägliche Tyrannei. „Wer Convenience Food, Fertigprodukte. „Tüten Im Ausbildungsplan sind solche Lern-
Glück hat, lernt wenig, wer Pech hat, lernt aufschnibbeln, da bin ich gut“, sagt er. schritte vorgeschrieben. Doch manche Kü-
nichts“, sagt einer. Eine angehende Köchin berichtet, was chenchefs zwingen Azubis dazu, das Be-
Ausbeutung, Demütigung, mangelhafte sie in einem Viersternehotel erlebt hat. We- richtsheft, eine Art Tagebuch der Ausbil-
Vorbereitung auf das Berufsleben – die gen schlechter Noten sei sie zum Manager dungszeit, zu fälschen: Sie protokollieren
Ausbildung der Köche ist zur finstersten zitiert und angeherrscht worden: „Geh zu- Lernschritte, die es nicht gab. „Das pas-
Seite der Gastronomie verkommen. Die rück unter die Brücke zu den Pennern.“ siert leider viel zu oft“, sagt Köche-Präsi-
Azubis wehren sich auf ihre Weise: Fast Ein anderer Azubi erzählt, er habe „ein dent Becker. Dass schlechte Betriebe mit
jeder zweite Ausbildungsvertrag wird vor- Jahr in der Patisserie festgeklebt“: Panna dem Entzug ihrer Ausbildungserlaubnis
zeitig aufgelöst. cotta, Mousse, Kompott. Kompott, Mousse, bestraft werden, geschieht nur selten. Auf-
Der hochgeschätzte Beruf ist in seine Panna cotta. Von morgens bis abends. Ver- seher der IHK, berichten Ausbilder, schau-
größte Krise geraten. Im Ausbildungsre- tane Zeit. ten gern weg.
port 2014 des Deutschen Gewerkschafts- Es geht noch schlimmer: In einem Res- So spiegeln die Ergebnisse der Abschluss-
bunds erhielt diese Lehre schlechteste Be- taurant an der Sauer, dem Grenzfluss zu prüfungen im Sommer 2014 denn auch die
wertungen, drastisch gesunken ist die Zahl Luxemburg, arbeitete eine Auszubildende desolate Lage wider. Bundesweit erreichten
derer, die einen Vertrag unterschreiben: drei Jahre nur am Salatposten. In der Kü- 45,6 Prozent der Auszubildenden mit Ach
2004 waren es 17 547 junge Leute, 2013 che eines Luxushotels in Frankfurt am und Krach die Note Vier, eine Drei schaff-
noch 10 338 und 2014 lediglich 9795 (siehe Main wurde eine aus Nordafrika stammen- ten nur 36,8 Prozent, eine Zwei lediglich
Grafik). de Nachwuchsköchin beschimpft: „Geh 8,5 Prozent, eine Eins nur 0,5 Prozent.
„Eine Katastrophe ist das“, sagt Köche- doch da hin, wo du herkommst.“ Und: Die vielen schlechten und die wenigen
Präsident Becker. Selbst Topadressen hät- „Asoziale Kuh.“ Auf Bitten des Betriebs- guten Azubis vereint eines: die Empörung
ten es schwer, Lehrlinge zu finden, fast rats versuchte eine Mediatorin der NGG über die Arbeitszeiten. Abends malochen,
jeder fünfte Ausbildungsplatz sei 2013 un- zu vermitteln. Verändert habe sich „so gut wenn Freunde sich ohne sie treffen, Arbeit
besetzt geblieben. „Die Betriebe haben wie nichts“, beklagt die Schlichterin. an Wochenenden und an Feiertagen. Oft
unsere jahrelangen Forderungen, die Lage Lehrjahre sind eben doch Herrenjahre. 10 und 12, auch 14 Stunden ohne Aus-
der Azubis deutlich zu verbessern und ins- Viele junge Leute fühlen sich den gleich – obwohl das Arbeitszeitgesetz
besondere die Überstunden zu reduzieren, Chefs ausgeliefert. Er habe es „noch nie die Überschreitung von 8 auf 10 Stunden
ignoriert. Das rächt sich jetzt“, sagt Guido geschafft, in zwei Monaten schon bei Erwachsenen nur
Zeitler, Referatsleiter der Gewerkschaft Menschen so zu hassen“, ausnahmsweise erlaubt. „Wa-
Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). schrieb ein 17-jähriger Lehr- rum gibt es Gesetze, wenn
In der Hamburger Gewerbeschule be- ling in einem Ausbildungsfo- sich keiner daran halten
richten Lehrlinge, wie sie um ihre Ausbil- rum im Internet, „noch nie“ muss?“, fragte der 17 Jahre
dung betrogen werden – damit solide Res- habe er „so sehr das Bedürfnis alte Lucas den „Dr. Azubi“ im
taurants höhere Gewinne machen oder gehabt, mir das Bein zu bre- Forum der DGB-Jugend.
renditeschwache überleben. Aus Angst vor chen, um zwei Monate auszu- In einer Befragung für den
Repressalien ihrer Chefs haben sie eine fallen“. DGB-Ausbildungsreport 2014
Bitte: keine Namen, keine Fotos. Wegen der schweren Män- gaben fast zwei Drittel der
Eine 18-Jährige angehende Köchin er- gel in der Ausbildung kommt Lehrlinge an, regelmäßig
zählt, was in einem Luxushotel geschieht. es bei den Abschlussprüfun- Überstunden zu leisten – so
Arbeitszeit laut Plan: Ab 5 Uhr Frühstück gen der IHK regelmäßig zu viele wie in keiner anderen
in die Zimmer bringen. Um 14 Uhr, nach Dramen. Im praktischen Teil Branche. Im Bundesdurch-
neun Stunden, Feierabend. Eigentlich. Da- sollen die Azubis zeigen, was schnitt fallen Woche für Wo-
nach aber zwei, drei Stunden als Aushilfe sie können. Sie scheitern zu- Koch-Azubi che 9,8 Stunden Mehrarbeit
irgendwo im Hotel – kalkulierter Perso- hauf. Biss vom Chef an, massenhaft müssen dem-
DER SPIEGEL 6 / 2015 43
Deutschland

nach die Ausschläge nach oben mit 10 und


mehr Arbeitsstunden täglich sein. „Zwei
Viele Jungköche satteln um Zukunft der Zunft. „Man darf diese mo-
tivierten jungen Leute doch nicht so ver-
Drittel meiner Schüler“, schätzt der Ham- und arbeiten als Verkäufer, brennen“, warnt er kopfschüttelnd, „80
burger Gewerbelehrer Michael Mittelber- Fischhändler oder Fahrer Prozent verlieren während ihrer Ausbil-
ger, „arbeiten täglich mehr als 10 Stunden dung die Freude am Beruf.“
ohne Ausgleich.“ von Gemüsehändlern. Viele von denen, die durchhielten, so
Der durchschnittliche Bruttolohn für die Mittelberger, „satteln gleich, andere bald
Schinderei: 794 Euro im dritten Lehrjahr Pfannen war die Rede, von Tritten und ab- nach der Abschlussprüfung um“. Sie ar-
im Westen, 661 Euro in den neuen Län- sichtlich herbeigeführten Verbrennungen. beiten als Verkäufer, Fischhändler oder
dern. Nach der Ausbildung bleibt der Job Dazugelernt hat ein Hamburger Spit- Fahrer von Gemüsezulieferern, manche
schlecht bezahlt: 1400 Euro brutto im Mo- zenkoch, dem vor Jahren nach einem werden von Lebensmittelproduzenten als
nat sind keine Seltenheit. Tritt in den Unterleib eines Lehrlings die fachkundige Ansprechpartner für Küchen-
Die Interessenvertreter der Gastronomen Ausbildungserlaubnis befristet entzogen chefs geschätzt. „Man weiß, dass die
reden die Lage schön. Die Branche unter- worden war. Der bekannte Brutzler, so durchs Feuer gegangen sind und sie nichts
scheide sich „vor allem durch besondere wird erzählt, zwinge Azubis zwar, wegen mehr schocken kann“, sagt der Lehrer.
Arbeitszeiten und bisweilen höheren Zeit- Fehlern niederzuknien und um Vergebung Junge Menschen ausbilden und dann
druck von anderen“, so ein Experte des zu bitten. Aber er tritt immerhin nicht an andere Branchen verlieren – das hat
Deutschen Industrie- und Handelskammer- mehr. inzwischen auch der Hotel- und Gast-
tags. Schwarze Schafe gebe es, aber Verall- Der Hamburger Gewerbelehrer Uwe stättenverband als Problem erkannt. Er
gemeinerungen seien „unangebracht“. Wenzel begleitete kurz vor Weihnachten macht sich für eine Neuordnung der Aus-
„Überstunden“, weiß der Deutsche zwei junge Männer zur Polizei, die gegen bildung für gastgewerbliche Berufe stark.
Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga), ihren Küchenchef Strafantrag wegen Kör- Das Konzept ist zuletzt den Arbeitgeber-
„werden sich auch bei Azubis in den meis- perverletzung stellten. Der Koch soll ei- verbänden und der Gewerkschaft NGG
ten Betrieben nicht ganz vermeiden las- nem von ihnen in einem feinen Hotel im zugegangen. Kernpunkte für Köche: Wahl-
sen.“ Das verstünden die Azubis, „wenn Hamburger Norden minus 80 Grad kaltes qualifikationen sollen schon Azubis eine
ein angemessener Ausgleich erfolgt“. Trockeneis in die Hose geschüttet und ihn Spezialisierung etwa auf vegetarische oder
Doch den gibt es so oft wie Schnee im mit einem Holzstiel geschlagen haben. vegane Gerichte ermöglichen, auch für
Sommer. Vom „Stab der Zuneigung“ sprachen die Diätetik, Convenience-Produkte, Gour-
Zum Alltag gehört hingegen ein rüder Küchenleute. Den anderen soll er in den metküchen oder Kantinen gibt es Schwer-
Umgangston – vor allem am sogenannten Oberarm gebissen haben. Mal gab es Prü- punkte.
Pass, wo die fertigen Gerichte für den Ser- gel für eine zu grob geschnittene Zwiebel, Jugendlichen, die Lernschwierigkeiten
vice bereitgelegt werden. Ein Azubi schil- mal für einen leeren Thymiankorb. Fotos in der Theorie haben, soll eine vereinfach-
dert eine Szene vor Weihnachten: Dutzen- dokumentieren die Vorwürfe. te, zweijährige Ausbildung den Einstieg
de Gäste warten auf den Hauptgang. Tisch Langjährige Praktiker wie der Gewerbe- ins Berufsleben erleichtern. Eine solche
vier kann nicht bedient werden, weil ein lehrer Mittelberger, einst Küchenchef im „Fachkraft für Hotellerie und Gastrono-
Koch und ein Lehrling den Rotkohl zur Hamburger Hotel Grand Elysée, sorgen mie“ mit der „Fachrichtung Küche“ kann
Ente und die Buttersoße zum Karpfen sich angesichts solcher Auswüchse um die sich dann ein weiteres Jahr zum Koch wei-
nicht rechtzeitig auf die Teller gebracht ha- terqualifizieren.
ben. Die acht, neun Sekunden, die der Manche Betriebe versuchen, den schlech-
Chef mit hochrotem Kopf am Pass wartet, ten Ruf der Ausbildung zu verbessern –
um die Teller zu garnieren, sind eine ver- vor allem mit Regelungen für Überstunden.
dammt lange Zeit. Am Pass entsteht ein Der Berliner Ausbildungsberater Truglia
Enten- und Karpfenstau. „Ihr Asos ruiniert kennt Lokalitäten, die Azubis zu einer
mir den Laden, ihr Vollpfosten“, brüllt er. Übernachtung mit Abendessen für zwei
Dann kehrt Ruhe ein. Beim nächsten Feh- Personen in ein Partnerhotel einladen. An-
ler schreit er wieder. dere bereiten gründlich auf die Gesellen-
Die jungen Leute befremdet die soziale prüfung vor: Im Hamburger Vier Jahres-
Kälte in manchen Küchen. Zwei wurden zeiten etwa durfte Auszubildende Lena
Zeuge, als ein Koch in einem Hamburger Filusch ihr Prüfungsmenü bis zur Perfek-
Sternerestaurant vor lauter Stress inmitten tion üben – und es bei der Generalprobe
von Töpfen und Pfannen kollabierte. in der Hotelküche ihrer Mutter und dem
„Räumt den da mal weg“, sagte der Chef. Freund servieren. In Trier dürfen Auszu-
In ihren Betrieben sehen und riechen bildende bei VKD-Präsident Becker drei
die Lehrlinge, wie Köche den Druck mit Wochen lang Auslandserfahrung etwa in
Haschisch, Kokain oder Alkohol betäuben. einem norwegischen oder einem franzö-
Azubis erlebten, wie der Koch eines Cate- sischen Restaurant sammeln. Die Fortbil-
rers im größten Stress einen Joint rauchte, dung zählt als Arbeitszeit – und der Chef
die Hände hob und mit einem „Alles easy, legt pro Woche 150 Euro Taschengeld drauf.
Leute“ lächelnd zur Gelassenheit mahnte. In Nells Park Hotel, auch in Trier, darf der
„Wenn Gäste wüssten, was sich in der Kü- Auszubildende des Monats kostenlos das
FOTO: JOHANNES ARLT/DER SPIEGEL

che abspielt, würde vielen der Appetit ver- Azubi-Mobil des Betriebs fahren.
gehen“, sagt eine 18-Jährige. Chefkoch Möller-Lüneburg achtet bei
Probleme gibt es auch anderswo. Für Johnson & Johnson strikt darauf, dass ge-
Aufsehen sorgte Anfang Dezember ein Ma- setzliche Arbeitszeiten eingehalten wer-
nifest französischer Spitzenköche, die ihre den. Er kennt das Geheimnis guter Aus-
Kollegen aufforderten, Gewalt in den Kü- Azubi-Prüfer Möller-Lüneburg bildung: „Man muss den Azubis zeigen,
chen nicht zu tolerieren. Von fliegenden „Grauenhaftes Niveau“ dass man sie wertschätzt.“ Carsten Holm

44 DER SPIEGEL 6 / 2015


Soldat G. Bundeswehrtrauerfeier

gend“, dass der Wehrbeauftragte Hellmut uns mit dem Ende der Afghanistan-Mis-

Bilder im Kopf Königshaus in seinem Jahresbericht den


ansteigenden Suizidzahlen in der Truppe
ein eigenes Kapitel widmete.
sion erst bevor.“
Besonders problematisch sind die Fälle
der sogenannten „Einsatzjunkies“. Dabei
Verteidigung Die Zahl der Die Fälle werfen Fragen auf, es geht da- handelt es sich um Soldaten, die sich in
bei auch um die Spätfolgen des Afgha- der Vergangenheit immer wieder für den
Selbstmorde in der Bundeswehr nistan-Kampfeinsatzes, der vor wenigen riskanten Kampfeinsatz am Hindukusch
steigt – Experten fürchten, Wochen zu Ende gegangen ist. Rückkehrer verpflichtet haben, weil ihnen das normale
dass sich der Trend fortsetzen müssen sich wieder an das Leben in Leben in der Heimat schwergefallen ist.
Deutschland und den Kasernenalltag ge- Dieses Ventil, so fragwürdig es war, haben
wird. wöhnen. Vielen fällt es so schwer wie Wolf- sie nun nicht mehr.
gang C., die Bilder aus dem Kriegsgebiet Im Verteidigungsministerium gibt es seit

W
olfgang C. wollte noch etwas tun, bleiben im Kopf. 2010 eine Anlaufstelle für PTBS-Betroffe-
noch einmal kämpfen. Anfang Ein anderer Fall: Wie sehr Afghanistan ne, der Leiter ist Brigadegeneral Klaus
des vergangenen Jahres meldete ihren Sohn verändert hatte, merkte Eva- von Heimendahl. Insgesamt 500 Soldaten
sich der Soldat aus Süddeutschland bei der Maria G. bereits wenige Wochen nach befinden sich in Heimendahls Dateien, sie
Bundeswehr zum „Sport für Versehrte“ an. seiner Rückkehr vom Hindukusch 2012. alle haben offiziell Hilfe gesucht. Für
Drei Wochen Training in Warendorf, Nord- Vier Monate war Wolf G. zuvor in Masar- Heimendahl liegen die Ursachen der Sui-
rhein-Westfalen. Ballspiele, Turnübungen, i-Scharif stationiert, es war sein erster zide nicht zwangsläufig in den Erlebnissen
Gewichte heben. Herausfinden, zu was Einsatz. „Er war nach der Rückkehr plötz- in der Truppe. „Die Gründe sind oft diffus
Körper und der Geist noch fähig sind. lich misstrauisch, übersensibel und auf- und nicht klar“, sagt Heimendahl. Den-
Nach dem Kriegseinsatz. brausend“, sagt Eva-Maria G., „dauernd noch könne man einen Zusammenhang
Wolfgang C. macht alle Übungen mit, hatte er mit uns und seiner Freundin mit dem Dienst nicht grundsätzlich aus-
er ist eifrig. In den Pausen unterhalten sich Streit.“ schließen. „Die Bundeswehr muss das
die Soldaten, es geht oft um die Zeit Eine Therapie lehnte Wolf G. damals sehr ernst nehmen“, sagt er.
bei der Truppe. Viele sind im Einsatz ver- ab, aus Angst, nicht mehr befördert zu Wie ernst, das zeigte 2013 bereits eine
wundet worden, bei C. wurde dagegen werden. „Wenn ich mich in Behandlung Studie der TU Dresden über PTBS bei
eine posttraumatische Belastungsstörung begebe, kann ich meine Karriere verges- Bundeswehrsoldaten. Viele psychische Er-
(PTBS) diagnostiziert. Er steht in den Pau- sen“, sagte er damals zu seiner Mutter. krankungen werden demnach bei Soldaten
sen oft für sich und raucht, er redet nicht Am 8. September 2013 erhängt sich Wolf gar nicht oder erst spät diagnostiziert. Jede
viel. G. in seiner Wohnung. Er stirbt mit 30 zweite PTBS-Erkrankung bleibt sogar voll-
Wenige Wochen nach dem Kurs ist Wolf- Jahren. kommen unerkannt. Zudem ist ein großer
gang C. tot. Selbstmord mit Anfang 30. Nach internen Schätzungen gilt mittler- Teil der Soldaten, die in den vergangenen
FOTO: MAURIZIO GAMBARINI / DAPD (R.)

„Viel zu kurz war die Zeit, die wir mit Dir weile eine vierstellige Zahl Soldaten als 13 Jahren in Afghanistan gekämpft haben,
verbringen durften“, schreibt seine Familie PTBS-geschädigt – dabei werden viele Er- nicht mehr offiziell erfasst. Die Zeitsolda-
in der Todesanzeige. krankungen erst Jahre nach dem Einsatz ten verschwinden mit ihrem endgültigen
C. ist im Jahr 2014 einer von 24 Solda- diagnostiziert. „Der Zusammenhang zwi- Ausscheiden aus der Truppe auch aus vie-
ten, die sich laut Wehrbericht das Leben schen Einsatz, PTBS-Rate und den Suizid- len Statistiken. Ein Suizidfall in dieser
genommen haben, 9 Soldaten mehr als im fällen ist eindeutig“, sagt Johannes Clair Gruppe gilt in der Bundeswehr als Ereig-
Vorjahr. 43 versuchte Selbsttötungen kom- vom Bund Deutscher Veteranen. „Die gro- nis, mit dem die Streitkräfte nichts zu tun
men dazu. Die Zahlen sind so „beunruhi- ße Welle der PTBS-Erkrankungen steht haben. Gordon Repinski

DER SPIEGEL 6 / 2015 45


Sechserpack Der Mullah im Brötchen, die Burka als Müllsack, der Priester als Kinderschänder – die Mottowagen des Düssel-
dorfer Bildhauers Jacques Tilly (siehe Interview) waren immer schon „Charlie“: Rücksicht auf religiöse Empfindlichkeiten wird
nicht genommen – erst recht nicht im Karneval. Gewehrt haben sich bislang vor allem katholische Fundamentalisten.

do“. Aber Karneval ist der leramt flog, darunter stand:


Fährt Mohammed falsche Ort für Mohammed. „Merkels 11. September“.
mit im Zug, Dieses Fest ist für Christen, Nicht so geschmackssicher
Herr Tilly? Muslime und Atheisten. Es nach 3000 Toten. Aber es ist
sind ja nicht die großen Pro- auch ein Fehler anzunehmen,
Jacques Tilly, 51, ist Bildhauer pheten, die wir kritisieren, dass Satire automatisch auf
und Designer aus Düsseldorf. sondern das Bodenpersonal. der Seite des Richtigen ist.
Seit 32 Jahren gestaltet er Ich mache mich nicht über 1934 fuhr ein Wagen mit, auf
Wagen für Rosenmontagszüge. Jesus oder Gott lustig, son- dem als Juden verkleidete
dern über Kardinal Meisner, Tilly Männer mit Gepäckstücken
SPIEGEL: Herr Tilly, wird es Ahmadinedschad oder Osa- standen, unter dem Motto
dieses Jahr den Karnevals- ma Bin Laden. „Die Letzten ziehen ab“.
wagen mit dem Propheten SPIEGEL: 2007 zeigten Sie „Kardinal Meisner und Ab- SPIEGEL: An einem Ihrer Wa-
Mohammed geben? Selbstmordattentäter mit treibung“ gab es Beschimp- gen mit Dschihadisten stand:
Tilly: Wir halten die Entwürfe Sprengstoffgürtel und Säbel, fungen und Klageandrohun- „Wer zuletzt lacht ...“. Siegt
ja immer bis Rosenmontag 2010 einen Narrenkopf, der gen ohne Ende. In Mainz Humor immer?
geheim. Aber Mohammed einem Dschihadisten in den wurde ein Wagen meines Tilly: Ja, ich bin da optimis-
wird es dieses Jahr sicher Hintern beißt, 2011 gab es die Kollegen zum Thema Zölibat tisch. Gewalt geht vorüber.
nicht geben, auch nicht nach Burka als Müllbeutel. Hatten mit Molotowcocktails bewor- Der Humor besiegt die
den Anschlägen in Paris. Sie nie Sorge um Ihr Team? fen. Der Fahrer wäre fast ver- Angst, und ohne Angst kann
SPIEGEL: Warum nicht? Darf Tilly: Nein, ich hatte mit Mus- brannt. Das Gewaltproblem es keine totalitäre Herrschaft
FOTOS: JAQUES TILLY (O./6)

man sich nicht über den limen wenig Ärger. Da waren hat also nicht nur der Islam. geben. Deshalb hassen uns ja
Propheten lustig machen? die Katholiken emotionaler. SPIEGEL: Gibt es Entwürfe, die auch die Selbstmordatten-
Tilly: Natürlich, Satire darf Ich durfte hier keinen Clown Sie bereuen? täter. Und was wäre meine
das, und ich bewundere die am Kreuz zeigen. Und nach Tilly: Natürlich. 2011 bastelte Alternative? Zurückschießen?
Kollegen von „Charlie Heb- meinem Wagen zum Thema ich Guttenberg, der ins Kanz- Nein, Humor tötet nicht. jst

46 DER SPIEGEL 6 / 2015


Gesellschaft
kennen, eine alte Dame, die manchmal zu Besuch ins Pflege-
heim kam, und das Träumen fing erneut an. Diesmal wünschte
er sich einen schönen Lebensabend. Hannelore fuhr einen Lupo
Smithis gute Fee von VW.
„Hast du einen Führerschein?“, fragte sie.
Ein Post und seine Geschichte In Lage in „Ja“, antwortete Mister Smith.
Hannelore wollte nicht mehr fahren, Smith vermisste das
Nordrhein-Westfalen erlebt ein alter Pechvogel Fahren sehr. Er fuhr sie zum Arzt, zum Einkaufen, es ging ihm
das späte Glück guter Nachbarschaft. besser mit ihr. Bald zogen sie zusammen in die Wohnung ge-
genüber von Frau Teschner. Sie aßen gemeinsam, und an Sonn-
tagen saßen sie auf dem Sofa und guckten Formel 1. Sie waren

W
enn die Tage gut sind in Lage, Nordrhein-Westfalen, gut zusammen, Hannelore und Mister Smith. Bis Hannelore
wenn nichts wehtut und der Regen in den Wolken anfing, die Töpfe schwarz zu brennen und zu behaupten, sie
bleibt, setzt Mister Smith seine rote Rennfahrerkappe habe gar nicht gekocht. Hannelore glaubte, mit dem Hund ge-
auf, steigt die Stufen seines Mietshauses hinunter, nimmt seinen gangen zu sein, aber der Hund musste noch immer. Hannelore
Rollator aus der Ecke und macht sich auf den Weg zur Shell- wusste bald nicht mehr so genau, wer Hannelore war.
Tankstelle, ein Mann wie ein Vögelchen, keine 50 Kilogramm Wahrscheinlich hätte Mister Smith das Träumen endgültig
schwer. Er will zu der Frau, die ihm seinen allerletzten Traum eingestellt an dieser Stelle, hätte Nicole Teschner von gegenüber
erfüllt. nicht immer wieder an die Tür geklopft.
Die Frau heißt Nicole Teschner und arbeitet „auf der Tank- Frau Teschner kennt sich ein bisschen aus mit alten Leuten.
stelle“, wie sie sagt, sie war bis vor Kurzem seine Nachbarin, Sie stammt aus einer katholischen Familie, vier Mädchen, Vater
42 Jahre alt, eine liebenswerte Frau Fernfahrer, Mutter Hausfrau, die
mit wasserstoffblondem Haar und Oma wohnte unterm Dach und
dünn gezupften Augenbrauen. Sie kochte gute Hühnersuppe. Alte
raucht gern die Blauen von John Menschen sind für sie Teil des Fa-
Player, und wenn sie nicht auf milienlebens. „Dat gehört sich doch
Schicht ist, kümmert sie sich um so“, sagt sie.
Keith Smith, „Herrn Smithi“, so Und weil sich das so gehört, fing
nennt sie ihn. Sie kocht für ihn, geht Frau Teschner an, für die alten Leu-
zum Arzt mit ihm, schiebt ihm an te von gegenüber zu kochen, ein-
der Tankstelle eine Dr.-Oetker-Pizza fach so. Sie räumte die Küche aus,
in den Ofen. Aber ohne Belag, „er schmiss die verbrannten Töpfe auf
mach ja keine Wurst“, sagt sie. den Müll, kaufte neue, machte Fri-
Es heißt immer, dass sich die jun- kadellen und Kartoffeln. Als Han-
gen Menschen nicht um die alten Teschner, Smith nelore ins Pflegeheim musste, such-
kümmern würden in Deutschland, te Frau Teschner Mister Smith eine
die Hälfte der über 80-Jährigen ist bezahlbare Wohnung.
allein. Aber in dieser Geschichte soll Er war nun einer von 5,5 Mil-
alles anders sein. Denn kurz vor sei- lionen Alten, die in Deutschland al-
nem 81. Geburtstag beschloss Nicole lein leben, er hätte einsam werden
Teschner, dass es noch einmal Zeit können. Stattdessen sitzt nun an
wäre für etwas Glück im Leben des den Sonntagen die blondierte Frau
alten Mannes. An einem Sonntag von der Tankstelle auf dem Sofa
um 14.45 Uhr postete sie auf Face- neben ihm. Zusammen sehen sie
book einen Aufruf für ihn. Hamilton zu, Jenson Button und
Mister Smith, geboren am Niko- hören das Sirren der Geschwindig-
laustag des Jahres 1933 in Stoke-on- Teschners Facebook-Post keit. Und zwischendrin erzählt
Trent in England, hatte viele Träu- Smith von seinem letzten Traum:
me in seinem Leben, manche wurden wahr, die meisten lösten dass er einmal im Leben live beim Autorennen dabei sein
sich mit der Zeit in Luft auf. möchte.
Erst träumte er vom Fliegen. Er wurde Pilot bei der britischen Nur wenige Stunden nachdem Frau Teschner diesen Wunsch
Luftwaffe, wie es schon sein Vater war. Sie stationierten ihn in auf Facebook gepostet hatte, hörte ihr Handy nicht mehr auf
Gütersloh, er flog an der Grenze zur DDR entlang, aber die Au- zu piepen. Es kamen 29 000 Nachrichten. Unzählige Menschen
gen wurden schlecht, und dann durfte er nicht mehr. Er träumte hatten ihren Post geteilt. Rennfahrer meldeten sich, eine Rei-
von der Liebe, fand eine deutsche Frau und bekam eine Tochter, fenfirma lud Mister Smith auf den Nürburgring ein, VIP-Lounge,
aber sie verließen ihn, und er war wieder allein. Nun träumte er Catering, Boxengasse.
von Autos: Smith fuhr Lastwagen, eröffnete ein Taxiunternehmen Er will sich nicht zu früh freuen. „Ich trau dat Braten noch
in Lage, er liebte alles, was schnell und motorisiert war, gründete nicht“, sagt Mister Smith. „Egal, was ich mache, alles geht
FOTO: NORBERT ENKER / DER SPIEGEL

einen Oldtimer-Klub, fuhr einen Wolseley, Baujahr 36, einen schief.“ Er lacht darüber, aber ein bisschen hat er ja recht. Erst
Austin 10 von 1940 in Schwarz und Rot. Er fand eine neue Frau, kürzlich stand Smith auf dem Bahnübergang, und ihm wurde
bekam einen Sohn, eine Zeit lang sah es ganz gut aus für ihn. schwindelig, der Zug riss seinen Rollator mit, und der Luftzug
Doch dann wurde er krank, und der Krebs zwang ihn, ins warf ihn zu Boden.
Pflegeheim zu ziehen. Er verließ seine Frau, weil er fürchtete, Er hat jetzt ein Elektromobil beantragt, er wird in Zukunft
ihr zur Last zu fallen. Ein Auto besaß er nun auch nicht mehr. mit sechs Stundenkilometern zu Nicole Teschner auf die Tank-
Sein Leben wurde langsamer. Er hätte sich damit abfinden kön- stelle rollen. Sein Leben wird wieder etwas schneller sein. Und
nen, doch mit Anfang siebzig lernte er überraschend Hannelore im März beginnt die Rennsaison am Nürburgring. Dialika Neufeld

DER SPIEGEL 6 / 2015 47


Operation „Tomodachi“
Katastrophen Im März 2011 fuhr der Flugzeugträger USS „Reagan“ nach Japan, um
der Bevölkerung nach dem Tsunami zu helfen. Heute sind viele der damals
am Einsatz beteiligten Marinesoldaten krank. Sie wollen Gerechtigkeit, Entschuldigung,
Entschädigung. Ihrer Navy untreu werden wollen sie nicht. Von Alexander Osang

Reinigung des Flugdecks der USS „Ronald Reagan“ im März 2011

48 DER SPIEGEL 6 / 2015


Gesellschaft

A
m 11. März 2011 erhielt der ameri-
kanische Flugzeugträger USS „Ro-
nald Reagan“ aus der Navy-Zen-
trale den Auftrag, an die japanische Ost-
küste zu fahren, die von einem Tsunami
getroffen und verwüstet worden war. Die
„Reagan“ war auf dem Weg nach Südko-
rea, als der Funkspruch sie erreichte. Cap-
tain Thom Burke, der das mit 4500 Frauen
und Männern besetzte Schiff steuerte, än-
derte den Kurs. Die Amerikaner erreichten
die japanische Küste am 12. März, nördlich
von Sendai. Die USS „Reagan“ blieb für
mehrere Wochen. Sie nannten den Einsatz
„Tomodachi“.
Tomodachi heißt Freunde. Ein heikles
Motto, vor allem, wenn man es mit Ab-
stand betrachtet.
Dreieinhalb Jahre später sitzt Oberstabs-
bootsmann Leticia Morales in der Kaffee-
ecke eines verrumpelten Kaufhauses am
Rande einer Schnellstraße nördlich von
Seattle und versucht, sich an den Namen
des Arztes zu erinnern, der ihr vor zehn
Monaten die Schilddrüse entfernte. Neben
ihr sitzt ihre Lebensgefährtin Tiffany vor
einer großen Tablettenbox, aus der sie im
Minutenabstand Pillen fischt und Morales
hinüberschiebt.
„So was wie Erikson“, sagt Leticia Mo-
rales. „Oder vielleicht hieß er einfach Eric
mit Vornamen oder Rick, ach, ich weiß
nicht. Zu viele Ärzte.“ Sie hat in den ver-
gangenen anderthalb Jahren Onkologen,
Radiologen, Kardiologen, Blutspezialisten,
Nierenspezialisten, Darmspezialisten,
Lymphdrüsenspezialisten, Stoffwechsel-
spezialisten kennengelernt. „Ich verbringe
inzwischen die Hälfte des Monats in me-
dizinischen Einrichtungen. Ich hatte in die-
sem Jahr über 20 MRTs. Ich habe einfach
den Überblick verloren.“
Sie schluckt eine der Pillen, trinkt einen
Schluck Wasser, lächelt schief.
Der Endokrinologe habe sie gefragt: Wa-
ren Sie auf der „Reagan“? Während „To-
modachi“?
Ja, sagte Morales, warum?
Der Arzt sagte laut Morales: weil ich in
den letzten Monaten schon sechs Schild-
drüsen von Besatzungsmitgliedern rausge-
nommen habe, die auf dem Schiff waren.
Es war der Moment, in dem Leticia Mora-
les zum ersten Mal das größte Unglück in
der Geschichte der zivilen Atomenergie
mit ihrem eigenen Unglück verband.
Die Katastrophe von Fukushima verän-
derte die Welt. Atomreaktoren schmolzen
vor Live-Kameras, es wurde mehr als
doppelt so viel radioaktives Material frei-
gesetzt wie bei der Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl 1986. Der Unfall vertrieb
150 000 Menschen aus ihren Wohnorten,
er vergiftete Landschaften für Jahrhunder-
te und tötete Hunderttausende Nutztiere,
er ließ Länder in aller Welt ihre Energie-
FOTO: AFP

politik überdenken. Fukushima ist mehr


DER SPIEGEL 6 / 2015 49
als ein Ortsname, es ist ein historisches Er-
eignis, wie Tschernobyl, und es hat offen-
kundig auch Leticia Morales’ Leben ver-
ändert.
Es ist eine schmerzhafte Erfahrung, nicht
nur, weil es der Soldatin sehr schlecht geht.
Sie ist auch in Konflikt mit ihren Überzeu-
gungen geraten. Die Armee, der sie dient,
hat erklärt, dass ihr Einsatz an der japani-
schen Küste nicht gesundheitsgefährdend Explosion in Fukushima am 12. März 2011: Metallischer Geschmack im Mund
war. Aber sie ist krank. Leticia Morales ist
der Navy mit 19 Jahren beigetreten, um ih-
rem Leben Ordnung und Sinn zu geben,
wie sie sagt. Sie hat einen Großteil ihrer
Kindheit und Jugend in Heimen verbracht
und bei Pflegeeltern, weil ihre Mutter nicht
in der Lage war, für sie und ihre Geschwis-
ter zu sorgen. Ihren Vater lernte sie erst
als erwachsene Frau kennen. Sie durchlief
die kurze Grundausbildung in der Wüste
Nevadas und ging dann aufs Wasser.
Seit 2008 ist sie für das Flugdeck der
„Reagan“ zuständig, als Chief von hundert
Leuten. Die „Reagan“ ist ein Schiff, in des-
sen Bauch hundert Flugzeuge Platz finden,
eine schwimmende Stadt. Ihr Heimathafen
ist San Diego, Kalifornien, Leticia Morales
ist in der Nähe von Seattle stationiert, im
Staat Washington.
Den großen Teil ihres Lebens verbrachte
sie auf den Weltmeeren. Sie war vor den Zerstörter Ort Otsuchi am 15. März 2011: „Es ist das, was wir machen – wir helfen“
Küsten der Arabischen Emirate, Japans,
Koreas, vor den Philippinen, China, Ma-
laysia. das Atomkraftwerk Fukushima über den fährtin Tiffany, die damals im Süden Ja-
Meist erfahren sie erst auf dem Wasser, Pazifik blies. pans stationiert war, wurde mit ihrer Ein-
wo die Reise hingeht. An Bord beschäfti- Am Morgen des 13. März erreichte die heit evakuiert. Sie wurden nach Guam ge-
gen sie sich vor allem mit Ausbildung und USS „Reagan“ die japanische Küste. Die bracht, einer Insel zwischen Japan und
Wartung. Eigentlich sind sie nur da, um Verwüstung war unbeschreiblich. Häuser, Australien, mitten im Pazifik. Sehr weit
der Welt zu zeigen, dass sie da sind. Sie Autos und Trümmer schwammen an ihnen weg von dem kaputten Atomkraftwerk.
ziehen amerikanische Grenzen durch das vorbei. Tote. Die „Reagan“ aber blieb. Am nächsten
Weltwasser. Entsprechend angenehm ist Die Erinnerung an das Leid treibt Leti- Tag gab der Captain Entwarnung. Die Wer-
es, wenn sie wirklich mal gebraucht wer- cia Morales Tränen in die Augen. Es war te seien okay. Morales stand mit ihrer Crew
den, sagt Morales. ja nicht umsonst. Sie haben Gutes getan. auf dem Deck. Sie vergaßen die Bedenken.
Am 2. Februar 2011 ist die „Reagan“ ge- Sie muss nichts bereuen. „Ich glaube nicht, dass uns Captain Burke
rade zu ihrer halbjährigen Weltreise aus Inzwischen hatten sie von der Explosion wissentlich in Gefahr gebracht hätte. Nie-
San Diego aufgebrochen. Sie ist auf dem der Atomreaktoren gehört. Captain Burke mals würde die Navy so was tun. Sie wuss-
Weg nach Busan, Südkorea, um einen Ha- habe sie beruhigt. Sie seien nicht in Gefahr. ten es auch nicht besser“, sagt Morales.
fenstopp zu machen, als sich Captain Die Werte seien unbedenklich. Die Welt Im Bericht des Verteidigungsministeri-
Thom Burke, der Chef des Schiffes, über zu Hause reagierte besorgter. Morales’ ums an den amerikanischen Kongress hieß
die Intercom meldet. Die Nachricht aus Vater schrieb warnende Mails. Er hat lange es später, sie seien nie dichter als hundert
dem Lautsprecher: Ein Tsunami hat Japan in einem Atomkraftwerk gearbeitet. Er Seemeilen an die Küste herangekommen.
getroffen. Wir fahren an die japanische hat dort Versuche mit Hunden gemacht, Aber das sei Unsinn, sagt Morales. Sie
Küste, um humanitäre Hilfe zu leisten. Beagles, sagt sie. Geh nicht an Deck, vertraut ihrer Erinnerung. Sie seien ganz
Morales hatte nichts gespürt, auf dem schrieb er. Trink nur abgefülltes Wasser. nah dran gewesen, sagt sie. Im April fuh-
offenen Meer gleitet die Welle unter einem Nimm die Kaliumtabletten. ren sie weiter, nach Sasebo, Japan. Von
durch wie ein Fisch. Es war auch nichts Als Freiwillige gesucht wurden, um Japan fuhren sie nach Thailand und wei-
Neues für sie. Als der Taifun die Philippi- draußen auf dem Flugdeck die Rettungs- ter nach Bahrain. Am 10. Juli 2011 kam
nen traf, war sie im Einsatz. „Es ist das, hubschrauber zu beladen, meldete sie sich. sie wieder zu Hause an. Es war Leticia Mo-
was wir machen. Wir helfen“, sagt sie. Und auch die anderen aus ihrer Mann- rales’ Geburtstag, der 32. Zwei Wochen
Vom explodierten Atomkraftwerk in Fu- schaft meldeten sich. Alle. Es ist das, was später wurde sie befördert, eine Gehalts-
FOTOS: IMAGO (U.); REUTERS (O.)

kushima wussten sie zunächst nichts. Auf sie tun. Helfen. erhöhung von 400 Dollar.
der Fahrt an die Küste habe sie einen me- Sie machten sich keine Sorgen, nur Es war Sommer in Washington. Nur die
tallischen Geschmack im Mund gespürt. manchmal gab es leichte Verunsicherun- Formulare, die sie ausfüllen musste, erin-
Auch die anderen merkten das. Sie sahen gen. Nach ein paar Tagen, so um die Mit- nerten Morales noch an Japan: Wie lange
sich fragend an, sagt Leticia Morales. Sie tagszeit, hieß es plötzlich aus den Schiffs- warst du draußen? Wo genau?
glaubt, dass dies der Moment war, in dem lautsprechern: Trinkt kein Wasser aus der Sie schrieb: Ich war immer auf dem Flug-
sie durch die nukleare Wolke fuhren, die Leitung! Nicht duschen! Ihre Lebensge- deck. Die ganze Zeit.
50 DER SPIEGEL 6 / 2015
Gesellschaft

Die letzte Nachricht von ihrem Kapitän gen, dass ich mir das an Bord der ,Reagan‘ werks aufhielten. Leticia Morales kontak-
bekam sie über Facebook. Er bedankte zugezogen habe. Konnten nicht oder woll- tierte die Anwälte. Es war ihr wichtig, dass
sich bei seiner Besatzung für den tollen ten nicht. Was weiß ich.“ es nicht gegen die Navy ging. Sie ist Sol-
Einsatz, vor allem in Japan. Im Sommer 2014 bekam Morales Herz- datin. Sie möchte loyal sein. Sie hat ihre
„Wir sind stolz, eine der komplexesten rhythmusstörungen. Im Herbst fanden sie Gesundheit verloren, aber nicht ihre Le-
humanitären Hilfsaktionen in der Ge- Metastasen in ihrer Brust. bensrichtung.
schichte der Menschheit durchgeführt zu Dazwischen legte das amerikanische Die Anwälte erklärten ihr, dass es in
haben. Wir mussten nicht nur mit Trüm- Verteidigungsministerium dem US-Kon- Amerika gar nicht möglich sei, seine Ar-
merfeldern und eisigen Bedingungen gress die Ergebnisse einer Studie zum Ein- mee zu verklagen. Die Feres-Doktrin re-
kämpfen, sondern auch mit einer unklaren satz der Navy während der Operation „To- gelt das, ein Urteil aus den Fünfzigerjah-
radioaktiven Bedrohung. Wir haben unse- modachi“ vor. Demnach seien auch jene ren. Jeder, der beim Militär anheuert, muss
re Furcht besiegt und unsere Aufgabe er- Seeleute, die sich die ganze Zeit an Deck wissen, dass bei Verlust seines Lebens oder
füllt. ,Tomodachi‘ war ein Höhepunkt“, der USS „Reagan“ aufgehalten hatten, kei- seiner Gesundheit nicht der Staat haftbar
schreibt Burke. ner gesundheitsbedrohlichen Strahlung gemacht werden kann. Sie ließ ihren Na-
Das war am 8. September 2011. ausgesetzt gewesen. Die Belastung durch men unter die Klage setzen.
Im Mai 2013 bekam Leticia Morales das Wasser, mit dem sie während ihres Ein- Auch die erkrankten Leute aus ihrer
plötzlich Schwindelanfällte. Ihr Arm satzes in Kontakt gekommen seien, liege Flightdeckcrew machten mit. Einige woh-
schwoll an, die rechte Hand sah aus wie nicht über der, die ein Passagier während nen in ihrer Gegend, mitten in einer bild-
ein Baseballhandschuh. Sie hatte einen eines Langstreckenflugs abbekomme. Zu- schönen nordamerikanischen Landschaft,
Tunnelblick, sagt sie. Sie machten Com- dem entwickle sich der durch Radioaktivi- Wälder, Fjorde, Seen und Holzhäuser. Le-
puterscans von ihrem Gehirn, Bluttests. tät verursachte Krebs langsamer als bei ticia und Tiffany fühlen sich wohl hier als
Immer wieder. Ihre Hausärztin sagte: Ir- den erkrankten Seeleuten. lesbisches Paar, im letzten Jahr haben sie
gendetwas geht in dir vor. Wir wissen Ein Vertreter des Pentagon bedankte in einem der Viertel, deren Straßen nach
nicht, was es ist. Aber es ist etwas Großes. sich beim Kongress für das Interesse an amerikanischen Präsidenten oder Bäumen
Thanksgiving 2013 begannen die Nie- der Gesundheit der Streitkräfte. Sie hätten benannt sind, ein nagelneues Haus gekauft.
renschmerzen. Sie wussten nicht, woran alles untersucht. Und nichts gefunden. Washington ist ein gesunder, liberaler
es lag, fanden aber einen Tumor in der Le- Leticia Morales hatte nur den Namen Staat. Seit diesem Jahr kann man hier Ma-
ber. Im Januar 2014 sagte ein Arzt: Das eines Schilddrüsenspezialisten, an den sie rihuana kaufen wie Bud Light.
Zentrum des Problems befindet sich in der sich nicht mehr erinnerte, ihre dicke Kran- In einem anderen nagelneuen Holzhaus
Wirbelsäule. Im Februar fanden sie eine kenakte und die Geschichten von ein paar lebt Brett Bingham. Bingham ist einer von
Wucherung in der Schilddrüse. Kameraden ihres Flugdecks, die ebenfalls Morales’ Bootsmännern. Er hat den Na-
Leticia Morales begann zu recherchie- krank geworden waren. cken eines Footballspielers, ein Lächeln
ren. Viele Symptome ihrer Erkrankungen Sie erfuhr von der Sammelklage, die wie Channing Tatum, er hat kleine Kinder,
entsprachen solchen, die man bekommen zwei kalifornische Anwälte vorbereiten. viele Hunde und eine Garage, in die drei
kann, wenn man radioaktiver Strahlung Sie wollten Tepco verklagen, den Betreiber Autos passen. Das vierte steht auf der Stra-
ausgesetzt ist. „Einige der Ärzte, bei denen des Atomkraftwerks von Fukushima. Im ße. Zweimal im Jahr spendet er Blut.
ich in Behandlung war, bestätigten das“, Namen der 70 000 amerikanischen Militärs, Im vorigen Jahr kam kurz danach ein
sagt sie. „Aber sie konnten nicht bestäti- die sich damals in der Nähe des Atomkraft- Einschreibebrief von der Blutbank, er soll-
te sich sofort melden. Sie sagten ihm, er
habe eine schwere Hepatitis. Sie fragten,
ob er Drogen nehme, gebrauchte Nadeln
verwendet habe. Nein, sagte Bingham. Ein
Arzt sagte, es könne sich um sogenannte
Strahlenhepatitis handeln. Die komme und
gehe. Sie machten eine zweite Untersu-
chung. Und dann eine dritte. Es sei alles
gut, sagten sie ihm. Blut spenden darf er
trotzdem nicht mehr.
Ein paar Straßen weiter wohnt Ron
Wright, er ist 24 Jahre alt und hat 2010 bei
der Navy unterschrieben. Die Fahrt nach
Japan war sein erster Auslandseinsatz auf
einem Flugzeugträger und, wie es im Mo-
ment aussieht, auch sein letzter. Er erin-
nert sich, wie er mit Morales’ Crew auf
dem Deck stand, an die Kälte, den Schnee,
aber auch an die Schutzkleidung, die sie
nach ein paar Tagen bekamen. Hosen, Ja-
cken und Überzüge für die Stiefel.
Wenn sie nach der Schicht wieder unter
FOTO: BRIAN SMALE / DER SPIEGEL

Deck gingen, wurden sie gescannt, die Sa-


chen, die kontaminiert waren, mussten sie
abgeben. Die wurden verbrannt, die Reste
ins Meer verklappt, glaubt Wright. Einmal
musste er seine Hosen abgeben. Er erin-
nert sich noch, wie er in Unterhosen
Japan-Veteran Wright im Dezember 2014: „Es hieß ja immer, wir sind sicher“ durchs Schiff lief. Alle lachten, er auch. Es
DER SPIEGEL 6 / 2015 51
Oberleutnant Simmons in Washington, D. C., im Juni 2014: In Amerika ist man entweder Held oder Verräter

war ein Witz, damals. „Es hieß ja immer, „Ach so“, sagt die Frau, ohne vom Im Januar 2013 stand Theodore Hol-
wir sind sicher“, sagt Ron Wright. Handy aufzuschauen. comb mit seinem Koffer vor Leslies Haus
Einen Monat später schwollen seine Der einzige Seemann aus Morales’ am Stadtrand von Reno. Die Navy hatte
Hoden auf die Größe von Tennisbällen an, Mannschaft, der eine klare Diagnose be- seinen Vertrag nicht verlängert, sodass sie
wie er sagt. Die Schmerzen waren uner- kommen hat, ist Theodore Holcomb. das Geld für die Pension sparte. 14 Jahre
träglich. Das Schiff trieb auf der japa- Krebs der Nebenschilddrüse. Daran ist er hatte Holcomb den amerikanischen See-
nischen See, ein Bordarzt empfahl, den im April 2014 gestorben. Er ist der erste streitkräften gedient, Rente gibt es ab 15
jungen Seemann auszufliegen, auch weil Tote der Hilfsaktion „Tomodachi“. Jahren Dienstzeit. Sein Job war weg, Frau
er nicht wusste, woran der eigentlich litt. Leticia Morales hat erst erfahren, wie und Tochter lebten Tausende Meilen ent-
Sie entschieden sich dagegen. Wright wur- krank ihr Kamerad war, als er schon zu fernt, er hatte keine Vorstellung, wie es
de mit Schmerzmitteln ruhiggestellt. An schwach war, um zu telefonieren. Seine weitergehen sollte. Leslie, der die Navy
der Therapie hat sich bis heute nichts Exfrau rief sie an. Holcomb war ein schon 2006 verlassen hatte, ahnte, was sein
geändert. Neurontin und Perocet heißen Schweiger, sagt Morales. Einer ihrer zuver- Freund durchmachte.
seine Drogen. lässigsten Soldaten. Aber er redete nicht Holcomb zog ins Gästezimmer des Hau-
„Als ich fragte, ob es mit der Strahlung gern, schon gar nicht über seine Probleme. ses. Die beiden arbeitslosen Veteranen
von Fukushima zu tun haben könnte, sagte Und dann wohnte er ja auch weit weg. Erst lebten wie Schuljungen in nicht endenden
mir ein Arzt ziemlich schroff Nein“, sagt in North Carolina bei seiner Frau und spä- Ferien. Oder wie Rentner.
Wright. „Er zeigte mir so einen Untersu- ter in Reno, Nevada, bei einem Kumpel. Sie verbrachten viel Zeit in der Natur,
chungsreport des Verteidigungsministeri- Da starb er auch. sie gingen jagen. Holcomb kam nach sei-
ums. Aber die Schmerzen hörten nicht auf. „Er war zum Schluss ziemlich hinüber, nem Leben auf dem Wasser langsam wie-
Ich bin siebenmal operiert worden. Immer glaube ich“, sagt Morales. „Nicht nur ge- der auf dem Land an. Es dauerte min-
in Militärkrankenhäusern. Es hat nicht ge- sundheitlich.“ destens ein Jahr, bis sein Freund akzep-
holfen. Es gibt keine Diagnose, nur Pillen.“ Sie alle kennen sich eigentlich nur vom tierte, dass es nicht seine Schuld war, sagt
Wright hat seit Japan keinen normalen Schiff. Sie leben ein halbes Jahr zusam- Leslie.
Dienst machen können. Er sitzt zu Hause men, dann verstreuen sie sich in alle Win- Dann wurde er krank.
und wartet auf den nächsten Arzttermin. de. Die USA sind ein großes Land. Die Kurz vor Weihnachten 2013 bekam er
Für vier Jahre war er verpflichtet, seine meisten waren mit ihren Problemen allein. keine Luft mehr. Im Januar erklärten die
Zeit ist abgelaufen. Meist sitzt er jetzt in Theodore Holcomb starb in den Armen Ärzte: Es ist Krebs. Thymuskrebs. Die Drü-
der Küche, von der man in einen Wald seines besten Freundes Manuel Leslie. Die se sitzt hinter dem Brustbein, Krebs hier
FOTO: BROOKS KRAFT / DER SPIEGEL

schauen kann, zu seinen Füßen ein Hund, beiden kannten sich seit der sechsten Klas- ist sehr selten. Eine Risikogruppe bilden
auf dem Sofa im Wohnzimmer eine junge se, sie gingen zusammen zur Marine. Als Menschen, die radioaktiver Strahlung aus-
Frau, seine Freundin, die auf ein Handy Leslie heiratete, war Holcomb Trauzeuge; gesetzt sind. Holcomb war 35, als der
starrt. als Holcomb heiratete, war Leslie sein Krebs diagnostiziert wurde. Sie begannen
„Worüber redet ihr?“, fragt sie irgend- Trauzeuge. Beide Ehen hielten nicht. Die sofort mit Chemotherapie, er verlor über
wann. Navy ist Gift für eine Beziehung, sagt Les- zehn Kilogramm in einem Monat, sagt Les-
„Über meine Eier“, sagt Wright. lie. Die Frauen sind zu lange allein. lie. Normalerwiese wächst ein Thymus-
52 DER SPIEGEL 6 / 2015
Gesellschaft

krebs langsam, in Holcombs Körper wüte- rotes Hemd und hat aus den wenigen Haa- sind die Fälle. Sie haben über 500 Seeleute
te er rasend schnell. ren, die er noch besitzt, einen dünnen angeschrieben, die nach ihrem Japan-Ein-
Manuel Leslie fuhr ihn ins Krankenhaus Zopf geflochten. Außerdem ist er über satz krank wurden, 250 haben sich zurück-
und wieder zurück. Er organisierte für die eine Stunde zu spät. gemeldet. Mit deren Geschichten wollen
letzten Tage einen Hospizplatz. Sie hatten Sein alter Mercedes sprang nicht an, sagt sie vor Gericht erscheinen. Garner bestellt
einen Rosengarten, da saßen die beiden er. Deshalb hat er sich von seinem Bruder sich eine Suppe und ein Sandwich und zi-
Männer zum Schluss, zwei Exsoldaten, Bob fahren lassen. Ein kleiner, quirliger tiert aus den dramatischsten Fällen. Die
Mitte dreißig. Am Ende verzieh Holcomb Mann in einem Hawaiihemd. Die Brüder Seefrau, die ein krankes Baby zur Welt
seiner Frau, er wollte aber nicht mehr von betreten das verlassene Restaurant am brachte; der Seemann, dem die Ärzte ei-
ihr und der Tochter besucht werden. Sie Rande von Palm Springs wie der kleine nen genetischen Defekt unterstellen wol-
sollten ihn als starken Mann in Erinnerung und der müde Joe. Sie sehen nicht aus len, obwohl sein Zwillingsbruder als Zivi-
behalten, und er sah ja wirklich aus wie wie zwei Männer, die an einer Milliarden- list total gesund ist; ein Seemann, der nach
eine Vogelscheuche, sagt Leslie. Sein letz- Dollar-Schadensersatzklage arbeiten. seiner Rückkehr aus Japan erblindete. Ein
ter Wunsch war, seiner Tochter noch zum Aber sie waren die Ersten. anderer, der mit seiner Familie in Japan
fünften Geburtstag zu gratulieren. Leslie Bob Garner, der in den Sechzigern in Ro- stationiert war und an Leukämie erkrankt
hielt das Telefon. bert Kennedys Wahlkampfteam arbeitete ist; ein Navy-Flugzeugmechaniker, der an
Das Mädchen sagte: Aber ich hab doch und seitdem an einem großen amerikani- unerklärlichem Muskelrückgang leidet.
erst in fünf Tagen Geburtstag, Daddy. schen Lyrikband werkelt, traf vor zwei Jah- Garner listete die Krankheiten und
Ich weiß, sagte Holcomb. ren an einer Tankstelle in der Wüste den Symptome auf, verschiedenste Krebsarten,
In der Nacht starb er. Manuel Leslie saß Vater von Lindsey Cooper, die mit der USS innere Blutungen, Geschwüre, Tumoren,
neben dem Bett. „Reagan“ nach Fukushima fuhr. Der Mann entfernte Schilddrüsen und Gallenblasen,
Sie verbrannten ihn und teilten die erzählte ihm, dass seine Tochter an der Geburtsschäden. Sein Bruder Bob ruft da-
Asche. Ein Drittel für die Exfrau in North Schilddrüse erkrankt sei und von anderen zwischen: „All das Leid, all die Schmerzen.
Carolina, ein Drittel für die Eltern in Kali- Seeleuten erfahren habe, die nach der Ja- Diese Schweine.“ Während sein Bruder
fornien und eins für den Freund in Reno. pan-Reise ebenfalls krank wurden. Bob er- das Schicksal der kranken Seeleute aus-
Die Urne steht auf dem Kaminsims. Ein zählte das seinem Bruder Paul, der infor- breitet, zitiert er Martin Luther King und
Kasten aus Kirschholz. mierte seinen Partner Charles Bonner, der Marx, er umreißt, wie Hillary Clinton als
Manuel Leslie hat als Navy-Seemann 26 eine kleine Kanzlei in Sausalito betreibt. Außenministerin in den militärisch indus-
Länder bereist, jetzt sitzt er in der Cafete- Die beiden kennen sich aus der Bürger- triellen Komplex verstrickt war, er ver-
ria eines Jagdkaufhauses, das zehn Meilen rechtsszene. Garner ist ein New Yorker gleicht Vietnam und Afghanistan.
außerhalb von Reno mitten in der Wüste Jude, Bonner ein Schwarzer aus Alabama. „Das Schiff heißt ,Reagan‘, Reagan selbst
steht. Ein kleiner, untersetzter Mann, der In ihrer Freizeit sitzen die beiden alten war Sprecher für General Electric in den
heute seine Eltern pflegt, die ebenfalls an Männer auf dem Bootssteg von Bonners Fünfzigern. Man muss nur eins und eins
Krebs erkrankt sind. Im Hintergrund sieht Lakehouse in den kalifornischen Bergen, zusammenzählen“, sagt Bob Garner. Halt
man Waffenschränke und ausgestopfte trinken Wein und singen Pete-Seeger- endlich den Mund, sagt sein Bruder Paul.
Tiere. Gämsen, Wölfe, Grizzlybären; aber Songs. In ihrer Arbeitszeit haben sie Auch Paul Garner möchte dem Kapita-
auch Elefanten, Löwen und Nashörner. Chevron, Exxon und Shell verklagt. Der lismus die Maske vom Gesicht reißen, auch
Vor verschließbaren Glasvitrinen stehen Untersuchungsbericht des Verteidigungs- er möchte mehr als Gerechtigkeit und Ent-
Männer und Kinder und bestaunen Ma- ministerium beeindruckt sie nicht. Ihr Mot- schädigung für die Seeleute der „Reagan“,
schinengewehre für 15 000 Dollar. Es ist to ist: We screw people, who screw people. er will zeigen, wie stark der Arm der welt-
ein seltsames Land. Manuel Leslie hasst Paul Garner legt eine speckige, dicke weiten Atomenergielobby ist. Der Scha-
die Navy, und er liebt sie. Sie zerstört Le- Aktenmappe auf den Kneipentisch. Darin densersatzprozess soll eine Bühne werden,
ben, und sie rettet Leben. Sie ist der Sinn auf der Bonner und Garner vorführen, wie
und der Fluch seiner Existenz. Sein bester rücksichtslos wir mit unserem Planeten
Freund holte sich den Tod, als er Japan umgehen.
half, sein Großvater war als 16-Jähriger Es wird schwer werden zu beweisen,
für die Navy auf Hawaii stationiert, als die dass ihre Mandanten im Einsatz verstrahlt
Japaner angriffen. Er selbst verbrachte das und deshalb krank wurden, vielleicht ist
schönste Jahr seines Lebens in Tokio. es unmöglich. Um Geld wird es auf alle
Manuel Leslie ist jetzt der Nachlassver- Fälle gehen, viel Geld, und erst einmal
walter seines Freundes. Es gibt eigentlich geht es darum, am Bezirksgericht in San
nur zwei Sachen zu verwalten. Er bleibt Diego durchzusetzen, dass sie überhaupt
in Kontakt mit Holcombs Tochter, und er klagen dürfen. In erster Instanz sind sie
wird in seinem Namen verschiedene Groß- abgewiesen worden.
konzerne verklagen. Er wird als Vertreter Paul Garner hat die kranken Seeleute
von Theodore Holcomb vor Gericht er- gebeten, zur Anhörung nach San Diego
scheinen. Sein Name steht auf der Liste zu kommen. Als moralische Unterstüt-
des Anwalts Paul Garner, der Tepco ver- zung. Aber die meisten wagen es nicht,
FOTO: WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL

klagen will, aber auch Toshiba, Hitachi, selbst die nicht, die in der Stadt leben.
Ebasco und General Electric, die die Re- Lindsey Cooper beispielsweise. Die Frau,
aktoren des Atomkraftwerkes Fukushima die den Stein ins Rollen brachte, wurde
konstruiert haben. im CNN-Studio von einem Experten für
Paul Garner, der Anwalt, ringt schon Atomenergie auseinandergenommen. Sie
ein Leben lang mit den Konzernen, die ist in konservativen Radiotalkshows ver-
die Umwelt verschmutzen, Bürgerrechte Exsoldat Leslie mit der Urne seines höhnt worden. Sie will nicht mehr.
verletzen, Menschen krank machen. Er ist Kameraden Holcomb Kristian William, ein texanischer Heli-
Ende sechzig, dick, trägt ein verschwitztes Die Navy hassen, die Navy lieben kopterpilot, der die Hilfsgüter von der
DER SPIEGEL 6 / 2015 53
Gesellschaft

„Reagan“ aufs japanische Festland flog, ist tet. Aber sie verschwanden von einem Tag
an Krebs der Nebenschilddrüsen erkrankt. auf den anderen, und wenn er fragt, tun
Auch das ein Krebs, der sehr selten ist und alle so, als wären sie nie da gewesen.
meistens durch radioaktive Strahlung aus- Er glaubt nicht, dass die Navy dahinter
gelöst wird. Er will trotzdem nicht in die steckt. Er zweifelt nicht an den redlichen
Öffentlichkeit, sagt er am Telefon, weil er Motiven ihres Einsatzes. Er hat an zwei
mehr noch als den Krebs fürchtet, in un- Tsunami-Hilfsaktionen teilgenommen und
überschaubare Zusammenhänge gezerrt zu würde auch zu einer dritten fahren, wenn
werden. Auch die kranke Leticia Morales, es in seinen Kräften stünde. Er hat Captain
Chief vom Flugdeck der „Reagan“, die ihre Burke in den kritischen Tagen regelmäßig
Kameraden ermunterte, sich der Klage an- auf den Leitungsbesprechungen getroffen.
zuschließen, erscheint nicht vor Gericht in Burke wirkte besorgt, aber nicht kopflos.
San Diego. Sie möchte nicht einmal foto- Was ihn stört, ist, wie still sich Burke
grafiert werden. Sie ist Soldatin, sagt sie. jetzt verhält. Der schweige aus Karriere-
In Amerika gilt: Wer nicht für uns ist, gründen. Er sei jetzt im Pentagon und wol-
ist gegen uns. Man ist entweder Held oder le General werden, sagt Simmons.
Verräter. „Es geht um persönliche, diplomatische
Die Berichterstattung über das tragische und wirtschaftliche Interessen“, sagt er.
Kriegsschiff ist erstaunlich zurückhaltend. „Sie lassen uns allein. Sie schließen die Au-
Hier und da erscheint ein einzelner See- gen, sie schweigen, sie warten, dass es vor-
mann in einer lokalen Nachrichtensendung beigeht. Es gibt überall kranke Soldaten,
und verschwindet gleich wieder, niemand viele im Hospital in San Diego, im Medical
stellt einen großen Zusammenhang her. Center auf Hawaii. Es sind einfache Leute,
Die Navy sagt, sie möchte das laufende schlecht versichert, mit Familien und Kin-
Verfahren nicht kommentieren. Captain dern, loyal, verstreut. Die meisten wissen
Burke antwortet nicht. Das Verteidigungs- nicht, wie sie reagieren sollen. Im Internet
ministerium verweist auf den Kongress- werden die, die sich melden, denunziert,
bericht. als unpatriotisch, man muss da schon viel
Die Seeleute wollen nicht krank und ge- ertragen können“, sagt Simmons.
demütigt sein. Sie wollen nicht gegen die Er ist in ihrem Auftrag unterwegs.
Navy aufstehen, ihre Navy, ihr Land. Die Als er in den Gerichtssaal rollte, sah er
Vereinigten Staaten sind ein Land des Mi- auf der einen Seite die Anwälte einer gro-
litärs, aber sie sind auch ein Land der An- Anwälte Garner, Bonner ßen Kanzlei in Los Angeles und ihre Re-
wälte. Die Soldaten sind zwischen diese Der Atomlobby in den starken Arm fallen chercheteams, auf der anderen Seite Paul
Fronten geraten. Garner und Charles Bonner, die beiden
Paul Garner hat ihnen gesagt, dass es ist von Salt Lake City über Los Angeles Bürgerrechtler. Vorn eine Richterin, die
20 Jahre dauerte, bis das Militär anerkann- nach San Diego geflogen und dann mit mit skeptischem Blick das Hemd und die
te, dass Agent Orange, das sie in Vietnam dem Mietwagen zum Gericht. Nach der Frisur des klagenden Anwalts mustert.
versprühten, gesundheitsgefährdend und Anhörung wird er zurück nach Utah flie- Simmons wird die belustigten Gesichter
lebensbedrohlich war. 20 Jahre sind eine gen. Für ihn und seine Frau sind das fast der Tepco-Anwälte in ihren 3000-Dollar-
lange Zeit. 700 Dollar. Aber es ist ihm wichtig. Er will Anzügen nicht vergessen.
Am Ende erscheint nur ein einziger See- endlich Gewissheit. Die Richterin stellte ihm keine einzige
mann der USS „Reagan“ im Gericht von Simmons’ Beschwerden begannen ein Frage. Oberleutnant Simmons schwieg,
San Diego. Steve Simmons, Oberleutnant Jahr nachdem er aus Japan zurückkehrte. aber er war da. Paul Garner konnte ihn in
Simmons. Er sitzt im Rollstuhl. An seinem Seine Muskeln versagten. Er verlor bü- sein Plädoyer einbauen. Steve Simmons
Rollstuhl klebt ein Sticker: Nobody’s left schelweise Haare. Er bekam Migräne, blu- gibt dem Leiden ein Gesicht. Er ist ein ame-
behind, niemand wird zurückgelassen. tigen Ausfluss, er wurde inkontinent, seine rikanischer Held. Ein Pionier. Mit seiner
Simmons ist Anfang Juni vergangenen Finger verfärbten sich gelb, an schlechten Hilfe schaffte es Paul Garner in den andert-
Jahres im Navy Memorial Washington, Tagen braun, seine Füße sind dunkelrot, halb Stunden, die er hatte, das selbstgewis- FOTOS: WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL (U.); ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL (O.)
D. C., aus der amerikanischen Armee ent- er hat Spasmen im ganzen Körper, seine se Grinsen aus den Gesichtern der Indus-
lassen worden. Er trug seine weiße Gala- Prostata ist so groß wie die eines 80-jähri- trieanwälte aus Los Angeles zu wischen.
uniform und dankte der Navy für 17 wun- gen Mannes, seine Leberwerte so hoch wie Der Gerichtsbeschluss kommt ein paar
dervolle Jahre, er wäre gern 30 geblieben. die eines Alkoholikers. Vor vier Jahren ab- Wochen später mit der Post. Sie dürfen
Es waren kaum Gäste da, nur ein anderer solvierte er Triathlons und kletterte im klagen. Die Klageschrift ist hundert Seiten
Rollstuhlfahrer, den er im Krankenhaus in Hochgebirge, jetzt kann er nicht mehr lau- lang. Sie enthält die Namen von 237 kran-
Maryland kennengelernt hatte, und Nancy, fen. Und niemand kann ihm sagen, warum. ken Seeleuten, Details über Reaktorbau,
seine Frau, die er über die Dating-Website An schwachen Tagen vermutet er dahin- Wasserproben, Navy-Taktik und japani-
seiner Kirche kennengelernt hat. Nach der ter Methode. Dass es einfach gar keine Dia- sche Politik. Sie klagt die Gier der Kon-
Entlassung aus der Navy ist er zu ihr und gnose gibt, weil sie sonst zugeben müssten, zerne ebenso an wie die Schludrigkeit der
ihren vier Kindern nach Utah gezogen, in dass es die Radioaktivität war. Dass ihre Konstrukteure, die Weltpolitik und den
die Nähe von Salt Lake City. Das Klima Berichte nicht stimmen. Es habe einen Zynismus der Menschheit. Eine alttesta-
da bekommt ihm besser als das feuchte Arzt gegeben, der ihm sagte: Es ist besser, mentarische Wut fegt durch die Zeilen. Die
Klima von Washington, D. C., wo er zuvor Sie wissen nicht, woran Sie leiden. An- Klage ist so umfassend, dass sie gar kein
wohnte. Sie haben eine Rampe an das fangs war er im Washingtoner Militärkran- richtiges Ziel mehr zu haben scheint. Die
Haus gebaut. kenhaus mit drei anderen Männern zusam- USS „Reagan“ wirkt hier wie das letzte
Simmons ist um vier aufgestanden, um men, die ähnliche Symptome hatten, sagt Boot der Menschheit. Ein Flugzeugträger.
pünktlich zur Anhörung zu erscheinen. Er er. Sie hatten auf Atom-U-Booten gearbei- Ein Geisterschiff.
54 DER SPIEGEL 6 / 2015
Sein langjähriger Vorgänger Paul Metzger war einst in der SPD,
dann in der CDU, zwischenzeitlich leitete er vorübergehend
BRETTEN
den Karlsruher SC. Und jetzt ist Metzger einer der Wortführer
gegen den Moscheebau am Ortseingang.
„Unwürdig“ sei das Gleisdreieck, sagt die Vertreterin der
SPD. Ohne Fluchtweg, nicht einsehbar, frauenfeindlich auch
irgendwie, das letzte Loch in Bretten. „Nur als Biotop geeig-
Kraichgauer Abendland net“, so die Grünen, und einer Parallelgesellschaft würden
durch diesen Standort „Tür und Tor geöffnet“. Wenn Beschlüsse
Ortstermin Die Räte der „Melanchthonstadt“ einfach so wieder gekippt würden, ruft die SPD-Rätin: „Wie
glaubhaft ist Demokratie?“
Bretten debattieren, ob der Islam zur Stadt Es ist unruhig geworden im Gemeinderatssaal. Unter den
gehört. Und wie man die Moschee versteckt. Kugelleuchten, dem freigelegten Dachgebälk sitzen viele
Ruheständler und geben Grund zur Annahme, dass ihnen
diese ganze Moschee-Sache ohnehin ziemlich suspekt ist.

E
s gehört ein gewisser Mut dazu, sich als Wahrzeichen Als eine Gemeinderätin dann noch sagt, der Islam gehöre
den Mops zu wählen. Die Stadt Bretten, im Kraichgau zu Bretten wie Philipp Melanchthon, wird gemurrt und
gelegen, 22 Kilometer nordöstlich von Karlsruhe, hat die- gehö-hö-höht.
ses Selbstbewusstsein. Der „Hundlesbrunnen“ steht mitten in Rund 2500 Türkischstämmige leben in Bretten, die ersten ka-
der fachgewerkelten Innenstadt, nicht weit vom Geburtsort men vor einem halben Jahrhundert, der Taxifahrer Mustafa Yigit
Philipp Melanchthons, des Reformators und Humanisten. vor 28 Jahren. Er hat sich ein schwarzes Hemd angezogen und
Bretten spannt sich zwischen Mops und Melanchthon. So sitzt mit einer Handvoll Gemeindemitgliedern am Rand des Saals.
könnte man es sagen. „Wir wollten“, sagt er, „eigentlich unsere alte Moschee in der
Um 18 Uhr am Dienstagabend eröffnet Martin Wolff die Sit- Innenstadt erweitern. Aber die Stadt wollte einen Neubau. Also
zung des Gemeinderats. Er erinnert an die Befreiung des Ver- haben wir einen Entwurf gebracht. Der war der Stadt zu groß
nichtungslagers Auschwitz und kommt dann zur Tagesordnung. und zu orientalisch. So haben wir ihn geändert. Die Stadt hat
Auf Ton- und Bildaufnahmen zugestimmt. Und jetzt sollen
bittet er heute zu verzichten, wir an die Gleise verschoben
„zum Schutz des Gemeinderats werden. Wir sind kein Spiel-
und auch der Bürgerschaft“. zeug.“
Wolff ist das Stadtoberhaupt Es ist schon fast 20 Uhr, als
von Bretten, ein angenehm un- der Oberbürgermeister zur Ab-
auffälliger Herr, und er darf stimmung aufruft. Mit 15 gegen
sich Oberbürgermeister nennen, 12 Stimmen wird dem Antrag
weil Bretten mit seinen 29 000 der Verwaltung zugestimmt.
Einwohnern eine „Große Kreis- Der alte Beschluss wird auf-
stadt“ und raumordnungspoli- gehoben. Die neue Moschee
tisch ein „Mittelzentrum“ ist. kommt, wenn sie denn über-
Die Beschlussvorlage des haupt noch gewünscht wird,
Dezernats I trägt die Nummer auf das Gleisdreieck.
002/2015. Im Februar 2014 hat- Martin Wolff ist sichtbar froh,
te der Brettener Gemeinderat diesen Tagesordnungspunkt
mit nur zwei Gegenstimmen überstanden zu haben. Er hat
beschlossen, der türkisch-isla- seinen Antrag durchgebracht.
mischen Gemeinde „Grüne Was hat sich denn seit Februar
Moschee“ den Neubau eines 2014 geändert? Warum jetzt auf
Gotteshauses am Ortseingang Brettener Hundlesbrunnen: Wo der Mops hechelt einmal Gleisdreieck? Nun ja,
zu erlauben. Der später über- sagt der Oberbürgermeister.
arbeitete Entwurf war wie gewünscht modern, aber mit Kuppel Da wäre der leicht verkleinerte Bauplan, der nun auch
und einem 28 Meter hohen Minarett. aufs Gleisdreieck passen würde, die größeren Außenflächen,
Jetzt steht die Aufhebung des Beschlusses auf der Tages- ein gemeinsam zu nutzender Parkplatz. Und da sind die
ordnung. Unterschriftenlisten, die wütenden Leserbriefe, der Druck in
Die CDU bittet ums Wort. Es gelte, „einige grundlegende der CDU, die Bilder aus dem Nordirak und Paris und aus
Überlegungen zum Moscheebau anzustellen“. Auch in Bretten, Dresden.
so ihr Sprecher, lebe man in einer multireligiösen Gesellschaft. Mustafa Yigit ist sofort nach der Abstimmung aus dem Saal
„Ein positives Zeichen“ sei die Stellungnahme der muslimischen geeilt. „Ein Tiefschlag“, sonst will er lieber nichts sagen. Er
Brettener „gegen Gewalt und Terrorismus“. Es werden auch dreht ein paar Runden in der Lobby. „Bretten ist nicht islam-
Hans Küng und ein „Stararchitekt aus Istanbul“ zitiert, und feindlich“, sagt er dann. „Das ist nur ein Popanz.“ Es gibt doch
nach gewissenhaftem Hin und Her müsse man sich jetzt gegen einen internationalen Freundeskreis, Dialoggruppen, den In-
die eigene Haltung vom Februar stellen. tegrationsbeauftragten. Man hätte noch mehr für sich werben
Die neue Moschee soll gebaut werden, aber nicht wie geplant müssen.
FOTO: UDO SIEBIG / MAURITIUS

gut sichtbar am Ortseingang, sondern auf dem „Gleisdreieck“, Vielleicht hat er recht. Vielleicht ist das Ressentiment vieler
hinter der alten Bußgeldstelle, beim Obdachlosenheim, wo die Bürger nicht von Dauer. Es war aber nicht der humanistische
Güterzüge rattern. Da gebe es auch viele Parkplätze. Geist Melanchthons, den Oberbürgermeister Martin Wolff da
Der Gemeinderat ist mehrheitlich bürgerlich, CDU, Freie im Nacken gespürt haben muss.
Wähler und ähnliche Listen. Martin Wolff selbst ist parteilos. Eher das Hecheln des Mopses. Alexander Smoltczyk

DER SPIEGEL 6 / 2015 55


Verkehr
Uber lockt
Taxifahrer
Der umstrittene Fahrdienstvermittler Uber
setzt auf einen Strategiewechsel, um auf
dem deutschen Markt Fuß zu fassen. An-
statt Taxibetrieben das Geschäft streitig zu
machen, will das US-Unternehmen ihre
Fahrer nun mit Geld zum Überlaufen
bewegen. Uber reagiert damit auf die Ent-
scheidungen mehrerer deutscher Gerichte,
die Vermittlung von Privatfahrern ohne
Taxischein einzuschränken. Seit Ende 2014
versuchen Uber-Mitarbeiter systematisch,
Taxifahrer in Berlin und Hamburg für das
Angebot „UberTaxi“ anzuwerben. Ihr Ver-
sprechen: Wenn Fahrer eine Tour über die
firmeneigene App annehmen, müssen sie,
anders als bei der Taxikonkurrenz, keine
Vermittlungsgebühr an Uber zahlen, zumin-
dest derzeit. Zusätzlich legt das Unterneh-
men fünf Euro auf jede absolvierte Tour
drauf, wie interne Abrechnungen belegen.
Fahrer, die einen Kollegen anwerben, be-
lohnt Uber mit 250 Euro. „Werbungsmodel-
le gehören zum Markteintritt dazu“, erklärt
ein Sprecher von Uber Deutschland. Der
Konzern kann sich das Verlustgeschäft leis-
ten, weil Investoren wie Google und Gold-
Taxifahrerprotest gegen Uber in Berlin man Sachs ihn mit über vier Milliarden Dol-
lar Kapital ausgestattet haben. akn

Ukraine komme nicht so sehr darauf gesagt, 12 Milliarden davon Gegendarstellung


Gespräche mit rus- an, ob es 13 oder 15 Milliar- wurden bislang abgerufen,
den Dollar schwer sei, son- vor allem, um alte Schulden In „DER SPIEGEL“ Nr.
sischen Gläubigern dern darauf, dass es mittelfris- abzulösen. Um die Staats- 2/2015 heißt es auf Seite 57 in
Die neue ukrainische Finanz- tig angelegt werde. „Idealer- finanzen in Ordnung zu brin- einem Artikel mit der Über-
ministerin Natalie Jaresko weise sollte das Programm gen, will die Finanzministerin schrift „Datenschutz Daimler
will auch mit russischen über drei bis vier Jahre ge- unter anderem Staatsunter- durchleuchtet Mitarbeiter“ in
Gläubigern sprechen, um das hen, und ein Großteil sollte nehmen privatisieren. „Wir Bezug auf den konzernwei-
Land aus der prekären wirt- am Anfang des Programms wollen bereits in diesem Jahr ten Abgleich von Beschäftig-
schaftlichen und finanziellen ausgezahlt werden.“ Der IWF eine Milliarde Dollar aus tendaten mit Sanktionslisten
Lage zu befreien. Verhand- hatte 2014 einen Hilfskredit Privatisierungen einnehmen“, der EU und USA:
lungen über eine Umschul- über 17 Milliarden Dollar zu- sagte Jaresko. mhs
dung sind Voraussetzung für „Ausgenommen von der
ein neues Hilfspaket, über Schnüffelaktion sind hinge-
das Jaresko derzeit mit dem gen die leitenden Angestell-
Internationalen Währungs- ten ...“
fonds (IWF) verhandelt. „Wir
haben uns verpflichtet, Kon- Hierzu stellen wir fest:
sultationen mit allen Staats- Der Datenabgleich betrifft
FOTOS: GENYA SAVILOV/AFP (U.); BOILLOT / DAVIDS (O.)

anleihen-Gläubigern aufzu- alle Beschäftigten.


nehmen, inklusive der russi-
schen“, sagte Jaresko dem Stuttgart, den 21.01.2015
SPIEGEL. „Diese Gespräche
könnten bereits Anfang Feb- Daimler AG, vertreten durch
ruar beginnen.“ Allein russi- die Vorstandsmitglieder
schen Gläubigern schuldet Dr. Christine Hohmann-
die Ukraine mehr als 20 Mil- Dennhardt Wilfried Porth
liarden Dollar. Mit Blick auf
den Umfang des IWF-Pakets Jaresko, Premier Arsenij Jazenjuk Anm. d. Red.: Die Daimler
sagte die Finanzministerin, es AG hat recht.

58 DER SPIEGEL 6 / 2015


Wirtschaft
Deutsche Bank Anklage zur Hauptverhand- Hypo Real Estate (HRE),
Entscheidung im lung entscheidet, da er zum Georg Funke, und sieben
Frühjahr Oberlandesgericht wechseln weitere Exvorstände wegen
will. Nun heißt es in Münch- des Verdachts auf unrichtige
Deutsche-Bank-Co-Chef Jür- ner Justizkreisen, Noll solle Darstellung der Geschäfts-
gen Fitschen und vier weite- über den Fortgang des heik- lage. Da unter den Beschul-
re Exmanager des Instituts len Verfahrens auf jeden Fall digten auch angelsächsische
erfahren voraussichtlich noch selbst befinden – und Manager sind, muss die
noch in diesem Frühjahr, ob zwar bald. Ein Mitbewerber Anklageschrift zunächst ins
sie sich wegen angeblichen hat seine Klage gegen Nolls Englische übersetzt werden,
Prozessbetrugs im Zuge der Bestellung inzwischen zu- bevor die Anwälte Stellung
Kirch-Pleite vor Gericht ver- rückgezogen, sodass der nehmen können. Ob und
antworten müssen. Zuletzt Weg für ihn frei ist. Verzö- wann es zu einem Prozess
war Verwirrung darüber ent- gern wird sich dagegen wohl kommt, wird in diesem Fall
standen, ob der zuständige die Entscheidung über einen wohl Nolls Nachfolger ent-
Deutsche-Bank-Zentrale Richter Peter Noll überhaupt Prozess gegen den ehe- scheiden. Alle Beschuldigten
noch über die Zulassung der maligen Chef der Pleitebank bestreiten die Vorwürfe. did

Lufthansa ren bayerischen Ministerprä-


Flugbegleiter vor sidenten Edmund Stoiber
und Ex-SPD-Chef Franz
Schlichtung Müntefering werden dort die
In die Tarifverhandlungen ehemaligen Justizministerin-
zwischen der Lufthansa-Füh- nen Sabine Leutheusser-
rung und der Kabinengewerk- Schnarrenberger und Herta
schaft UFO um die Alters- Däubler-Gmelin als mögliche
und Übergangsversorgung Schlichter genannt. Andere
der rund 19 000 Stewards und Streitpunkte wie die Vergü-
Stewardessen im Konzern tung oder die Forderung nach
kommt Bewegung. Die Ge- verbilligten Mitarbeiterflügen
spräche zum Thema Rente sind in die Kompromiss-
waren Mitte Januar geschei- gespräche dagegen nicht ein-
tert, nun kursiert bei den Un- bezogen. Wird keine Eini-
terhändlern eine Liste mit gung erzielt, könnte es
Namen prominenter Persön- wegen dieser und anderer
lichkeiten, die zumindest die- Themen zu einem Ausstand
sen Teil des seit Monaten kommen. Die Urabstimmung
schwelenden Konflikts lösen für die Flugbegleiter endet
könnten. Neben dem frühe- an diesem Samstag. did

Ärztekorruption Justizministeriums neben Lavendelfeld in Frankreich


Gröhe will Gesetz dem Geschädigten explizit
bislang nur Wettbewerbern,
verschärfen Kammern oder Berufsver- Agrarsubventionen
Bundesgesundheitsminister bänden zu. Dabei decken die Zu viel Geld für Frankreichs Bauern
FOTOS: LUIGI VACCAREL / BILDAGENTUR HUBER (U.); FRANK RUMPENHORST / DPA (O.)

Hermann Gröhe (CDU) will Kassen mit eigenen Experten


das von Justizminister Heiko schon heute viele Fälle von Frankreich muss Agrarsubventionen von gut einer Milliar-
Maas (SPD) geplante Gesetz Korruption und Abrech- de Euro an die EU zurückzahlen. Französische Bauern
gegen Korruption im Gesund- nungsbetrug auf. Dazu sind hatten unter anderem jahrelang überhöhte Flächenanga-
heitswesen nachbessern. Wie sie auch gesetzlich verpflich- ben gegenüber den Behörden gemacht und deshalb zu
aus Regierungskreisen ver- tet. Nach den Plänen von hohe Zuschüsse für ihre Äcker kassiert. Wiederholt
lautet, wolle er sich bei der Maas droht niedergelassenen mahnte die EU Frankreich, bei den Behörden ein besseres
Ressortabstimmung für eine Ärzten, Apothekern, Physio- Kontrollsystem aufzubauen, nachdem der Europäische
entscheidende Änderung ein- therapeuten oder Pflegekräf- Rechnungshof schon 2006 Fehler entdeckt hatte. Doch die
setzen: So soll das Gesetz ten, die sich bestechen lassen, Missstände wurden nicht geahndet. Schließlich drohte das
ausdrücklich festschreiben, künftig eine Freiheitsstrafe Europäische Parlament, der EU-Kommission die Ent-
dass auch die gesetzlichen von bis zu drei Jahren. Auch lastung zu verweigern, wenn sie das Geld von Frankreich
Krankenkassen im Verdachts- Pharmavertreter, die aktiv nicht einfordert. „Der Fall zeigt, dass der öffentliche
fall einen Strafantrag stellen bestechen wollen, machen Druck des Parlaments Verfahren beschleunigen kann“,
dürfen. Dieses Recht gesteht sich strafbar. Das Kabinett sagt der EU-Abgeordnete Markus Pieper von der CDU.
der entsprechende Paragraf soll den Gesetzentwurf Ende Nun würde die Schlamperei der französischen Behörden
im Referentenentwurf des Mai beschließen. ama, cos endlich bestraft. pau

DER SPIEGEL 6 / 2015 59


Niedriglohnbereich Schaustellergewerbe*

Irrfahrt der Lobbyisten


Arbeitsmarkt Um Punkte bei der eigenen Klientel zu machen, entfacht die Union
eine Kampagne gegen das Mindestlohngesetz von Arbeitsministerin
Andrea Nahles. Nur: Das angebliche Bürokratieproblem existiert in Wahrheit nicht.

D
er Mindestlohn war kaum 24 Stun- ihrem Heimatort Mayen in der Eifel reichte schon zuvorgekommen. Zur besten Früh-
den in Kraft, da wollte Andrea sie den Kunden Schwarzwälder Brot und stückszeit hatte Bäckermeister Achim Loh-
Nahles sich für ihr sozialdemokra- ein wenig Eigenlob über den Tresen. Auch ner in einem Radiointerview erklärt, dass
tisches Wunderwerk feiern lassen. Am ers- die Bäcker könnten sich freuen, jubelte sie. die Sache mit dem Mindestlohn für die
ten Werktag des Jahres hatte sich die Bun- Schließlich schütze das neue Gesetz an- kleinen Betriebe nicht ganz so einfach sei.
desarbeitsministerin um elf Uhr hinter der ständige Arbeitgeber „vor Dumping-Kon- Er, mit seinen 1400 Mitarbeitern in 120
Theke einer Bäckereifiliale aufgebaut. In kurrenz“. Fachgeschäften, könne mit dem Gesetz ja
Doch der Inhaber war Nahles in Sachen umgehen. Aber für Kleinbetriebe sei der
* Fahrgeschäft auf dem Oktoberfest in München 2014. Öffentlichkeitsarbeit an diesem Morgen bürokratische Aufwand „viel zu groß“, sag-
60 DER SPIEGEL 6 / 2015
Wirtschaft

für Zwist, seit es die Union wieder zum versicherungspflichtig Beschäftigte, die bis
Symbolthema erhoben hat. Vor allem ihr zu 2958 Euro verdienen, gilt sie nur in je-
Wirtschaftsflügel hat das erste Jahr der Gro- nen neun Branchen, die in der Vergangen-
ßen Koalition wegen des Mindestlohns und heit durch übermäßige Schwarzarbeit und
der Rente mit 63 als Zeit sozialdemokrati- Lohnbetrug aufgefallen sind – von der Bau-
scher Erniedrigung empfunden. Nun will branche über das Gaststätten- und Beher-
er das Mindestlohngesetz stutzen, um poli- bergungsgewerbe bis zur Fleischwirtschaft.
tische Durchsetzungskraft zu beweisen. In deutschen Schlachthöfen etwa wurden
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel jahrelang Leihbeschäftigte aus Rumänien
mahnte am vergangenen Donnerstag, die und Bulgarien ausgebeutet, sodass sogar
Lage erst einmal in Ruhe zu beobachten, die EU-Kommission gegen die Zustände
doch Angela Merkel hat bereits Änderun- in der Branche vorging.
gen in Aussicht gestellt. Wie beiläufig ließ Die Debatte ist von Verwirrung geprägt:
sie kürzlich bei einem Neujahrsempfang Im Arbeitsministerium wundern sich die
in ihrem Wahlkreis Greifswald fallen, der Beamten über seltsame Anfragen von
Mindestlohn solle nach drei Monaten über- Rechtsanwälten und Steuerberatern. Neu-
prüft werden, um dann „gegebenenfalls lich klagte auch die CSU-Abgeordnete
Bürokratie wegzunehmen“. Dagmar Wöhrl, Betriebe müssten einzelne
Die Kanzlerin als Business-Angie – der Pausen ihrer Minijobber jetzt „minutiös
Auftritt ist gut inszeniert, aber nicht be- festhalten“. Die BDA glaubt ebenfalls, dass
rechtigt. Was Merkel Punkte bei den Un- Pausen dokumentiert werden müssen, da
ternehmern bringen soll, nährt in Wahrheit mit ihrem Beginn die Arbeitszeit formal
den Verdacht, dass ihre Berater das Regel- endet und an deren Ende wieder startet.
werk nur selektiv gelesen haben. Der ver- Doch das steht so explizit weder in der
meintliche bürokratische Mehraufwand Verordnung noch im Mindestlohngesetz –
existiert in Teilen schon, und wo der Min- und auch nicht in den Vorgaben des Zolls,
destlohn tatsächlich neue Pflichten schafft, der den Mindestlohn kontrolliert.
sind sie überwiegend gerechtfertigt. Es gibt Experten betrachten die Debatte eini-
bürokratische Schwächen der neuen Rege- germaßen fassungslos. „Lediglich Beginn,
lung – aber die liegen nicht dort, wo die Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit
Union sie vermutet. sind zu erfassen, nicht jedoch die exakte
So stören sich die Abgeordneten von Lage und Dauer der einzelnen Pausen“, lau-
CDU und CSU daran, dass die Arbeitgeber tet die schriftliche Vorgabe der Kontrolleure
verpflichtet sind, für bestimmte Beschäf- für die Firmen. Es genügt ein handschrift-
tigte bis zu einer gewissen Lohngrenze die licher Zettel pro Woche. Für Arbeitnehmer,
Arbeitszeit aufzuschreiben. Der Groll über die wie Taxifahrer ausschließlich mobil ar-
das viel beschworene „Bürokratiemonster“ beiten, Angestellte, denen keine konkrete
entlud sich am vergangenen Dienstag in Arbeitszeit vorgegeben ist oder die eigen-
der Sitzung der CDU/CSU-Bundestags- verantwortlich ihre tägliche Arbeitszeit ge-
fraktion. Einstimmig beschloss sie, den stalten, müssen die Arbeitgeber nicht ein-
Schwellenwert für die Aufzeichnungs- mal Beginn und Ende dokumentieren. Da
pflicht von 2958 Euro auf 1900 Euro senken reicht allein die Zahl der täglichen Arbeits-
zu wollen. Für Minijobs will die Union die stunden. Und dieses Datum festzuhalten
Dokumentationspflicht in vielen Fällen so- soll unzumutbar sein für Unternehmer, die
gar ganz abschaffen, wenn Arbeitsdauer sich ständig über Aufwand und Ertrag ihrer
und Gehalt in einem Vertrag geregelt sind. Firma Gedanken machen müssen?
In Wahrheit führen Merkels Leute ein Auch die Aufregung um die rund 7,6
te er. Es müsse eine Lösung gefunden wer- Scheingefecht, das vermeintliche Monster Millionen Minijobber ist nicht gerechtfer-
den, „dass das einfacher wird“. ist ein Monsterchen. So wollen die Uni-
Inzwischen ist das Gesetz vier Wochen onsabgeordneten abschaffen, wozu Arbeit-
alt. Es sollte die Gewerkschaften mit der geber längst verpflichtet sind: Das Arbeits-
FOTOS: ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES (O.); HENNING SCHACHT (R.)

SPD versöhnen und Niedriglöhner für die zeitgesetz schreibt bereits seit über zwei
Partei erwärmen. Sogar im Arbeitgeber- Jahrzehnten vor, dass Betriebe jede Über-
lager hatte es am Ende Zuspruch für das stunde der Angestellten notieren und die
lang umkämpfte Vorhaben gegeben. Aufzeichnungen zwei Jahre aufbewahren
Das ist vorbei. Seit Tagen geißeln Unter- müssen. Das setzt voraus, dass sie auch
nehmer und Lobbyisten wie der Präsident die reguläre Arbeitszeit erfassen.
der Bundesvereinigung der Deutschen Ar- Die Union stört zudem, dass die Arbeit-
beitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer, das geber neuerdings wegen des Mindestlohns
Gesetz als Beispiel „überflüssiger Bürokratie konkret wöchentlich auch Beginn, Ende
in Reinkultur“. In bemerkenswerter Einig- und Arbeitszeit ihrer Beschäftigten für je-
keit verlangen Wirtschaftsvertreter vom In- den Tag notieren müssen.
dustrieverband BDI bis hin zu den organi- Das stimmt. Nur: Die neue Vorschrift
sierten Familienunternehmern, die Regie- gilt weder für die Mehrheit der Beschäf-
rung müsse die Vorgaben so schnell wie tigten noch für die Mehrheit der Betriebe.
möglich schreddern. Auch in der schwarz- Die Pflicht umfasst zum einen Minijobber Sozialdemokratin Nahles
roten Regierungskoalition sorgt das Gesetz mit Verdiensten bis zu 450 Euro. Für sozial- „Auch die Bäcker können sich freuen“

DER SPIEGEL 6 / 2015 61


Frachtschiff auf der Elbe: Wie soll man ein Arbeitsleben, das aus Reisen unter Termindruck besteht, in ein starres Stundenkorsett zwängen?

tigt. Privathaushalte sind ohnehin von der essen sie Koteletts, die seine Schwieger- Reeder-Verband glaubt, dass für ausländi-
Zettelpflicht befreit, sie gilt nur für Unter- tochter gebraten hat. „Wenn wir bei Tisch sches Personal der Mindestlohn des jewei-
nehmen. Und ein Blick in die Vorgaben darüber reden, was am Tag ansteht, wo ligen Landes gültig sei und hofft dabei auf
verrät, dass die Belastung sich in Wahrheit drei Glühbirnen ausgetauscht werden und Unterstützung des CSU-geführten Ver-
wenig verändert. Schon seit Jahren sind wie der Stand in der Bundesliga ist – ist kehrsministeriums.
Arbeitgeber bei Minijobs per gemeinsame das dann bitte schön Arbeitszeit oder Vor allem der Transitverkehr führt zu
„Geringfügigkeits-Richtlinien“ der Sozial- nicht?“, fragt Hempen. politischem Streit. Die Haltung der Sozial-
versicherungen und der Bundesagentur für Auch ein anderes Problem treibt die demokraten ist bisher eindeutig: Auch wer
Arbeit verpflichtet, in den „Entgeltunter- Branche um. Nach dem Arbeitszeitgesetz seine Schiffe in Deutschland nur auf
lagen“ von Minijobbern neben dem mo- dürfen Beschäftigte in Deutschland in der Durchreise schickt, soll den Mindestlohn
natlichen Salär und der Beschäftigungs- Regel maximal 48 Stunden pro Woche ar- zahlen – das gilt auch für die polnischen
dauer auch „die regelmäßige wöchentliche beiten, die Ausgleichsregelungen sind kom- Binnenreeder. Ihr Verband hat schon bei
Arbeitszeit und die tatsächlich geleisteten pliziert. Der Stundenzettel macht den Fall der EU-Kommission Protest eingelegt.
Arbeitsstunden“ aufzuzeichnen. jetzt noch schwieriger. Wie soll man ein Schließlich hat Brüssel an anderer Stelle
So liegt der Verdacht nahe, die Ver- Arbeitsleben, das aus Reisen und Aufbau- längst eingegriffen und Nahles einen
bandsfunktionäre könnte weniger die ten unter Termindruck besteht, in ein star- Rüffel erteilt. So soll der Mindestlohn
Angst vor der bürokratischen Bestie um- res Stundenkorsett zwängen? nach ureigener Rechtsauslegung des
treiben als vielmehr die Sorge, dass Ver- Noch ein weiteres Problem der Nahles- Arbeitsministeriums auch für ausländische
stöße gegen längst geltende Pflichten nun Regelung ist nicht gelöst. Die Regierung Lkw-Fahrer während jener Stunden gel-
ernsthaft mit Bußgeldern bewehrt sind. hat sich tief in der Frage verheddert, auf ten, in denen sie ihre Waren im Transit
Beispielsweise müssen Betriebe aus Bran- welche ausländischen Beschäftigten das durch Deutschland steuern – selbst wenn
chen wie dem Bau, die allgemein verbind- Gesetz eigentlich angewendet werden sie auf ihrer Durchreise nicht einmal aus-
liche Mindestlöhne nach dem Arbeitneh- muss. „Wo der Mindestlohn gilt und wo steigen, um ein Toilettenhäuschen aufzu-
mer-Entsendegesetz zahlen müssen, schon nicht, werden am Ende wohl die Gerichte suchen.
seit Jahren die täglichen Arbeitszeiten ih- entscheiden müssen“, sagt der Arbeits- Die polnische Regierung hat daher Ge-
rer gewerblichen Mitarbeiter aufzeichnen. rechtsexperte Stefan Lingemann von der sprächsbedarf angemeldet. Auch EU-Ver-
Allerdings mussten sie die Dokumente bis- Kanzlei Gleiss Lutz. kehrskommissarin Violeta Bulc hat Nahles
lang nicht wöchentlich erstellen. So blieb Unklar ist die Lage vor allem dann, bereits schriftlich aufgefordert, ihre Pläne
auch Raum für Interpretationen. wenn ausländische Beschäftigte sich nur zu begründen (SPIEGEL 5/2015). Im äußers-
Mit den neuen Pflichten zu kämpfen ha- für kurze Zeit auf deutschem Boden be- ten Fall müsste schließlich der Europäische
ben lediglich jene Chefs, die kaum zwi- wegen – oder in deutschen Hoheitsgewäs- Gerichtshof den Casus klären.
schen Arbeits- und Freizeit ihrer Beschäf- sern. So hat eine britische Reederei, die Den Schaustellern jedenfalls will die
tigten unterscheiden können. In diesen ihr Schiff in Cuxhaven vor Anker gehen Bundesarbeitsministerin selbst entgegen-
Branchen schafft das Nahles-Gesetz tat- ließ, neulich sicherheitshalber von Linge- kommen. Schon vor gut zwei Wochen hat-
sächlich Probleme. manns Kanzlei prüfen lassen, ob sie ihrer te sie auf einer Veranstaltung versprochen,
Michael Hempen etwa stammt aus einer Besatzung für die Zeit im Hafen den Min- dass „wegen des Mindestlohnes in Deutsch-
Schaustellerfamilie. Das alte Firmenschild, destlohn zahlen muss. Man gehe davon land“ kein Karussell stillstehen dürfe. Sie
das er in sein Büro gehängt hat, stammt aus, dass sich das Recht nach der Flagge hatte daher das Präsidium des Deutschen
aus dem Jahr 1860. Damals des Schiffs richte, teilten die Schaustellerbundes am vergangenen Mitt-
reiste der Betrieb noch mit Experten mit. Und genauso woch in ihr Ministerium geladen.
FOTOS: ARIS / IMAGES.DE (U.); C. OHDE / BILDAGENTUR-ONLINE (O.)

Schaubuden und Karussells sieht das auch der Verband Dort gab sie ein Angebot ab. Sie wolle
von Kirmes zu Kirmes. Heu- der Reeder. sich bei Finanzminister Wolfgang Schäuble
te baut Hempen seine trans- Auch er wird seit Jahres- dafür einsetzen, dass die Branche künftig
portable Südseeinsel „Big beginn mit Anfragen über- Kost und Logis für ihre Beschäftigten auf
Bamboo“ auf den großen häuft. Gilt der Mindestlohn den Mindestlohn anrechnen könne. Für
Volksfesten auf. auch für den philippinischen die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft
Die vier Mitarbeiter, die Seemann, wenn sein Frach- gilt diese Regelung schließlich.
mit Hempen während der ter im Hamburger Hafen Bei den Dokumentationspflichten, den
Saison auf Reisen gehen, liegt? Deutsche Reedereien Stundenzetteln, will Nahles dagegen hart
gehören zur Familie. „Die zahlen bislang Monatslöhne bleiben. Anders lasse sich Missbrauch
Jungs“, wie er sie nennt, ab 1071 Euro – auf den Phi- beim Mindestlohn nicht vermeiden. Da
schlafen im Wohnwagen ne- lippinen ein Spitzengehalt, mag die Union fordern, was sie will.
benan, sie frühstücken in Arbeitgeberlobbyist Kramer aber deutlich unter dem Alexander Demling, Markus Dettmer,
Hempens Küche, zu Mittag „Überflüssige Bürokratie“ deutschen Mindestlohn. Der Cornelia Schmergal

62 DER SPIEGEL 6 / 2015


Wirtschaft

Einfach schlecht
Ernährung McDonald’s ist so stark unter Druck wie nie, der Chef muss gehen. Vor allem junge
Leute wenden sich ab und stürmen in Restaurants, die besseres und gesünderes Essen versprechen.

M
ike Donahue hat die Probleme be- Zu den Pionieren der kulinarischen Gen- Dass Jonathan Neman näher an der jun-
reits kommen sehen, da wollte sie trifizierung gehören neben Lyfe Kitchen gen Kundschaft dran ist als ein anonymer
bei McDonald’s noch niemand auch das Bäckerei-Café Le Pain Quotidien Weltkonzern, glaubt sofort, wer den smar-
wahrhaben. Als Kommunikationschef des und die Salatbar Sweetgreen. Fast täglich ten 30-Jährigen trifft. Neman konzentriert
Burger-Giganten sollte er gemeinsam mit eröffnet einer der rasch wachsenden Re- sich nicht wirklich auf das Gespräch, tippt
ein paar Kollegen herausfinden, wie sich staurant-Zwitter irgendwo eine Filiale. auf seinem iPhone, checkt, was um ihn
die Essgewohnheiten der Amerikaner ver- McDonald’s dagegen kämpft längst nicht herum passiert und hält nebenbei eine Mo-
ändern. Der Trend, den das Team aus- mehr nur gegen das Image, Mitarbeiter tivationsansprache vor den Mitarbeitern
machte, war eindeutig: Immer mehr Men- auszubeuten und Kunden dick zu machen. der Filiale, die zur morgendlichen Aufwär-
schen wollen besseres und gesünderes Es- Der Konzern, der einst das Essen globali- mung „sweet“ und „green“ skandieren.
sen aus regionalen Zutaten. sierte und als unangreifbar galt, ist ins Die Firma Sweetgreen ist aus einer ty-
Besser, gesünder, regionaler – die Zu- Wanken geraten. 2014 verzeichnete das pisch amerikanischen Let’s-do-it-Laune
kunft wirkte wie der Gegenentwurf zu Unternehmen erstmals seit Langem einen entstanden. Als Neman sich mit zwei Kom-
McDonald’s. „Man kann noch so viel Wer- Umsatzrückgang. Der in dieser Woche ver- militonen während des Studiums an der
bung machen, am Ende ent- Washingtoner Georgetown-Uni-
scheidet der Konsument, wohin versität ärgerte, dass es nirgend-
sich der Markt entwickelt“, sagt wo in der Nähe gesundes und
Donahue. Weil McDonald’s bezahlbares Essen gab, machten
zwar wandlungsfähig, als glo- sie 2007 eben selbst einen La-
baler Konzern mit 27 Milliarden den auf.
Dollar Umsatz zugleich aber Das Startkapital mussten sie
auch schwerfällig ist, machte noch mühsam bei Freunden und
Donahue kurzen Prozess mit Verwandten eintreiben. Inzwi-
dem Fast Food. schen sind finanzkräftige Inves-
Zusammen mit dem früheren toren mit mehr als 40 Millionen
McDonald’s-Chef Mike Roberts Dollar eingestiegen. Rund 30 Fi-
gründete er 2011 die Kette Lyfe lialen hat Sweetgreen bereits,
Kitchen. Lyfe steht für „Love allein in diesem Jahr sollen 10
your food everyday“. Auf der weitere eröffnen – mindestens.
Speisekarte findet sich, was Do- Im Vergleich zu den gut
nahue die „Vereinten Nationen 14 000 US-Filialen von McDo-
des Essens“ nennt: von Suppen nald’s ist das zwar ein Klacks.
und Salaten über Burger und Doch mit einem Revolutiön-
Nudelgerichte bis zu Joghurt McDonald’s-Filiale in Chicago: Akt der Verzweiflung chen wollen sich die Sweet-
und Cookies. So variantenreich green-Gründer nicht zufrieden-
die Karte ist, einige Prinzipien gelten stets: kündete Rauswurf von Firmenchef Don geben. „Man sollte nie gegen eine so mäch-
Kein Gericht hat mehr als 600 Kalorien, Thompson mutet wie ein Akt der Ver- tige Maschine wie McDonald’s wetten“,
alles wird frisch zubereitet, die Zutaten zweiflung an, es ist der vierte Chefwechsel sagt Neman. „Aber wir haben nichts Ge-
sind möglichst bio und von lokalen Produ- innerhalb von zehn Jahren. Im Werbe- ringeres vor, als die Essgewohnheiten der
zenten. Bislang hat Lyfe Kitchen nur rund jargon von McDonald’s lässt die Entwick- Amerikaner zu ändern.“
ein Dutzend Standorte. Doch nun soll die lung nur ein Urteil zu: Einfach schlecht, Ein Teil der Einnahmen fließt an eine Or-
Expansion richtig losgehen und Dutzende bei McDonald’s ist es einfach schlecht. ganisation, die Schulen an sozialen Brenn-
Filialen eröffnen. „Wir stehen am Anfang Fatal für das Unternehmen ist, dass es punkten mit gesundem Essen versorgt. Und
eines gigantischen Umbruchs der Bran- auch auf dem Heimatmarkt mies läuft – die Mitarbeiter von Sweetgreen informieren
che“, sagt Donahue. also dort, wo noch immer die globalen Kinder darüber, dass es mehr gibt als Ham-
In der Tat sind traditionelle Fast-Food- Trends gesetzt werden. Die US-Filialen burger und Tiefkühlpizza. „Wir haben mit
Konzerne unter Druck geraten – allen verzeichneten im vergangenen Jahr einen Schülern zu tun, die noch nie Obst oder
voran McDonald’s. Anbieter wie Lyfe Besucherrückgang von über vier Prozent. Gemüse gesehen haben“, sagt Neman.
Kitchen, die sich im sogenannten Fast- „Fast alles spricht dafür, dass sich diese Sweetgreen will natürlich nicht nur den
Casual-Segment breitmachen, setzen dem Entwicklung fortsetzt“, sagt Sara Monnette Nachwuchs aufklären, auch Erwachsene
bislang so erfolgreichen Platzhirsch zu. Die von der Beratungsfirma Technomic. Dem- sollen sich gesund ernähren. „Das funktio-
jungen Konkurrenten suchen den Erfolg nach kehrten gerade jene Generationen niert nur, wenn gutes Essen bezahlbar ist“,
in der Mitte zwischen Fast Food und klas- McDonald’s den Rücken, die es einst groß sagt Neman. Für ihn heißt das: Es darf nur
sischen Restaurants: Ein Essen kostet mit machten. So stagniert seit 2011 der Anteil unwesentlich mehr kosten als ein McDo-
FOTO: PEER GRIMM / DPA

rund zehn Dollar kaum mehr als bei McDo- der 22- bis 37-jährigen Amerikaner, die nald’s-Menü. Deshalb sind die frisch zube-
nald’s. Dafür gilt es als gesünder, die Ein- mindestens einmal pro Monat zu Mc- reiteten Salate und Suppen ab sechs Dollar
richtung ist heimeliger, oft gibt es sogar Donald’s gehen. Bei den 19- bis 21-Jährigen zu haben. Gut sichtbar hängt in den Läden
Keramikteller und Metallbesteck. Aller- ging er sogar um fast 13 Prozentpunkte aus, von welchen lokalen Herstellern die
dings ist Selbstbedienung die Regel. zurück. Zutaten jeweils kommen.
64 DER SPIEGEL 6 / 2015
Verkaufstheke der Kette Le Pain Quotidien in Beverly Hills: „Es ist völlig okay, auch mal eine Waffel zu essen“

Wer die vielen jungen Sweetgreen-Kun- „Wir haben die Grenzen des Wachstums über 200 Filialen präsent ist, so erfolgreich
den fragt, wann sie das letzte Mal bei noch lange nicht erreicht“, sagt Davis. Mitt- wie in den USA. Die umsatzstärkste Nie-
McDonald’s waren, guckt in schmerzver- lerweile gibt es fast 2000 Panera-Filialen derlassung liegt mitten in Manhattan, dem
zerrte Gesichter. „Früher war ich da viel- in Nordamerika – und damit so viele, wie Epizentrum der rastlosen Gesellschaft. „Je
leicht mal“, ist aus Sicht des Burger-Bra- die Kaffeehauskette Starbucks nach ihrer hektischer das Leben irgendwo ist, desto
ters noch die positivste Antwort. Auch ersten Expansionswelle Ende der Neunzi- besser läuft es“, sagt Herbert. 400 Millio-
Neman verzieht das Gesicht, als der Name gerjahre hatte. Der Konzern breitete sich nen Dollar Umsatz machte Le Pain Quoti-
fällt. Mit McDonald’s, für ihn die Inkarna- einst so rasch aus, dass sich die Filialen ge- dien zuletzt – viermal so viel wie 2007.
tion schlechten Essens, will er nichts zu genseitig kannibalisierten. Erst ein Strate- Hektik ist nicht der einzige Trend, auf
tun haben. Zumal Neman den Konzern gieschwenk bewahrte ihn vor dem Unter- den Herbert setzt. „Zucker, Salz und Fett
längst als Getriebenen sieht: „Entweder gang. Für die meisten Gründer der neuen sind die drei schlimmsten Gifte des 21.
er ändert sich radikal, oder es geht weiter Generation ist Starbucks deshalb kein An- Jahrhunderts“, sagt er und zeigt auf das
den Bach runter.“ Und wenn jemand ver- sporn, sondern Abschreckung. An den ei- Bild „Save the Human“ in seinem Büro
suchen würde, sein Unternehmen zu über- genen Börsengang denken nur wenige. hoch über dem Broadway. Zu sehen ist ein
nehmen? „Das Angebot könnte noch so „Zu schnelles Wachstum ist der Elefant Skelett auf einem Skateboard. Es ist die
verlockend sein“, sagt Neman spöttisch. im Porzellanladen“, sagt Vincent Herbert. McDonald’s-Welt.
„Keine Chance!“ Der frühere Investmentbanker ist Chef von Und dann ist da noch eine Entwicklung,
Scott Davis überraschen solche Aussa- Le Pain Quotidien – und nennt sich selbst die Herbert menschlich bedauert, die ihm
gen nicht: „Wer zwischen 20 und 40 ist, be- „Chief Happiness Officer“. Herbert hat kla- betriebswirtschaftlich aber in die Hände
kam von seinen Eltern in der Regel einge- re Positionen, vor Jahren verbannte er ge- spielt. „Die größte Bedrohung für moder-
bläut, dass McDonald’s schlecht ist.“ Die gen den Willen seiner Mitarbeiter Cola von ne Gesellschaften ist Einsamkeit“, sagt er.
jahrzehntelange Gehirnwäsche zeige nun der Speisekarte. Die Läden abends länger Deshalb gibt es in allen Filialen einen gro-
Wirkung. Davis ist so etwas wie der Chef- offen zu halten, nur um mehr Umsatz zu ßen Gemeinschaftstisch. Wie beim Klub-
vordenker von Panera Bread. Die Ursprün- machen, lehnt er ebenfalls ab – irgendwann urlaub sollen Menschen, die sich nicht ken-
ge der börsennotierten Firma, die neben muss auch mal Ruhe sein. Und das Übernah- nen, ins Gespräch kommen. Die Hürde ist
Backwaren ein breites Sortiment von Sand- meangebot von Starbucks wies er zurück. groß, in den wenigsten Fällen funktioniert
wiches bis zu Salaten im Angebot hat, rei- Doch ein Dogmatiker ist Herbert nicht, es. Zumindest bislang.
chen mehr als 30 Jahre zurück. bei Le Pain Quotidien gibt es neben Bio- Besonders gering war das Bedürfnis of-
Jahrelang war gesundes Essen in den suppe und Humus auch Muffins und Scho- fenbar in Deutschland. 2011 zog sich Le
USA kein Thema. Entsprechend dümpelte ko-Croissants. „Wer gesund leben will, muss Pain Quotidien nach nicht einmal drei Jah-
auch der Aktienkurs von Panera vor sich nicht Veganer werden“, sagt er. „Es ist völ- ren wieder aus dem Markt zurück. Aber
hin, erst seit 2009 geht es unaufhaltsam lig okay, auch mal eine Waffel zu essen.“ schon bald, das lässt Herbert durchblicken,
aufwärts. Allein im zweiten Halbjahr des Bei keiner der neuen McDonald’s-Kon- will er es noch einmal versuchen – und
vergangenen Jahres legte das Papier um kurrenten wird Gemütlichkeit so insze- dieses Mal, da ist er sich sicher, wird es
17 Prozent zu. Inzwischen ist die Firma niert wie bei Le Pain Quotidien. Die Firma auch klappen.
FOTO: ALAMY / MAURITIUS IMAGES

4,4 Milliarden Dollar wert – und expandiert investiert viel Geld, damit auch die neu Herbert hat eine pragmatische Erklä-
weiter aggressiv. Kunden können seit eini- eröffneten Filialen möglichst alt aussehen rung für seinen Optimismus: „Noch sind
ger Zeit online vorbestellen, um sich mit- – vom edlen Dielenfußboden über die an- die Gesellschaften in Europa – und damit
tags nicht mehr in die Schlangen einreihen tik anmutenden Holzmöbel bis zur tradi- auch in Deutschland – zu intakt.“ Aber
zu müssen. Nicht jeder, der gesund essen tionellen Regalwand. das werde sich ändern. „Europa folgt den
will, hat auch einen gesunden Lebensstil – Nirgendwo ist die in Belgien gegründete USA immer“, sagt er, „im Guten wie im
und bringt die entsprechende Zeit mit. Firma, die von Buenos Aires bis Tokio mit Schlechten.“ Sven Böll

DER SPIEGEL 6 / 2015 65


gewiesen. Bei dem Thema Krim allerdings
geht es um eine Völkerrechtsverletzung …
SPIEGEL: … die eine Antwort verlangt. Eine
militärische Reaktion kommt nicht infrage.
Was bleibt da außer Sanktionen?
Cordes: Es bleibt das politische Gespräch.
Je ernster die Lage ist, umso mehr
muss man es suchen. Die jetzige Krise hat
nicht mit der Krim begonnen. Ihr ging
eine lange Phase der Entfremdung voraus.
Wir von der Wirtschaft versuchen die
Kanäle, die wir zu russischen Unterneh-
mern und Politikern haben, offen zu hal-
ten. Mit gutem Erfolg bisher. Aber wir be-
obachten, dass nun auch das Vertrauens-
verhältnis zwischen Russen und Deut-
schen langsam erodiert. Hier liegt eine
große Gefahr.
SPIEGEL: Kanzlerin Angela Merkel hatte
Volkswagen-Produktion im russischen Kaluga gerade eine Freihandelszone zwischen der
EU und der Eurasischen Union vorgeschla-
gen, als Kompromisssignal an Russland.
Dann kam der Raketenangriff auf die Stadt
rückt zusammen und beugt sich nicht dem Mariupol. Zeigt dies nicht, dass Putin ein

„Die Kanäle Druck. Zum Zweiten sind die Wirtschafts-


sanktionen löchrig, weil sie nur von einem
Teil der Welt angewendet werden, von der
Entgegenkommen als Schwäche auslegt?
Cordes: Hier einen negativen Zusammen-
hang herzustellen wäre grundfalsch. Die

offen halten“ EU und den USA. Große andere Wirt-


schaftsblöcke wie Brasilien, China oder
Südkorea nehmen nicht teil. Und drittens
sinnvolle Idee einer Freihandelszone von
Lissabon bis Wladiwostok gibt es seit über
20 Jahren. Putin hat sich mehrfach selbst
Exporte Eckhard Cordes belasten die gegenseitigen Wirtschaftssank- dafür ausgesprochen. Es ist ein wichtiges
tionen gerade auch die Ukraine, die sowohl Signal, dass Merkel und Gabriel dies jetzt
fürchtet eine Destabilisierung den EU- als auch den russischen Markt aufgegriffen haben. Dies liegt in unserem
Russlands und warnt vor braucht und die wir ja stabilisieren wollen. eigenen Interesse.
SPIEGEL: Aber die Sanktionen zeigen doch SPIEGEL: In Deutschland leiden Unterneh-
schärferen Sanktionen. Sie Wirkung. Der Kurs des Rubels stürzt ab, men unter den Russland-Sanktionen. Wie
könnten den Konflikt verhärten. die Öleinnahmen brechen zusammen … stark sind die Auswirkungen bislang?
Cordes: … was aber nur eingeschränkt mit Cordes: Die deutschen Exporte sind 2014
SPIEGEL: Herr Cordes, die Europäische Uni- den Sanktionen zusammenhängt. Außer- um 18 Prozent zurückgegangen, im Ma-
on droht Russland mit neuen Sanktionen, dem hat sich die russische Wirtschaft schon schinenbau und der Autoindustrie ist die
weil es die Separatisten in der Ukraine vor der Krim-Krise, im Jahr 2013, schwach Entwicklung noch dramatischer. Erstaun-
weiter militärisch unterstützt. Ist das der entwickelt. Da kommt jetzt einiges zusam- licherweise sind die Ausfuhren der USA
richtige Weg, um Präsident Wladimir Putin men, und man kann nicht klar auseinan- nach Russland 2014 leicht gestiegen. Sie
zum Einlenken zu bewegen? derrechnen, welchen Effekt eine einzelne exportieren offensichtlich Güter, die nicht
Cordes: Wir wissen nicht, welche Sank- Maßnahme hat. von den Sanktionen betroffen sind.
tionen geplant sind. Wenn Wirtschafts- SPIEGEL: Bei den Banken ist es eindeutig. SPIEGEL: Gleichzeitig ist die US-Regierung
sanktionen beschlossen werden, setzt die Russische Institute sind vom Finanzmarkt besonders schnell, wenn es um die Forde-
Wirtschaft sie um. Aber ich bin abgeschnitten und geraten mög- rung nach schärferen Sanktionen geht.
skeptisch, dass Sanktionen Pu- licherweise bald in ernste Schwie- Cordes: Man muss sehen, wo die wirtschaft-
tin kompromissbereiter machen rigkeiten. lichen Interessen liegen. Die USA expor-
werden. Ich fürchte, sie könnten Cordes: Der russische Staat hat tierten 2013 für 10 Milliarden Euro nach
sogar kontraproduktiv sein und die Reserven, um einzugreifen, Russland, Deutschland für 36 Milliarden,
FOTOS: SERGEI CHIRIKOV / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (U.); ZENSEN / CARO (O.)

den Konflikt verhärten. Das se- wenn Banken in Schieflagen die EU für rund 120 Milliarden. Wenn ich
hen die meisten meiner Kollegen kommen sollten. Im Übrigen bin nicht viele Geschäfte mache in einem
ebenso. Wir haben eine Umfrage ich ganz der Ansicht unseres Land, dann fällt mir die Forderung nach
unter 150 großen deutschen Un- Wirtschaftsministers Sigmar Ga- Sanktionen leichter.
ternehmen gemacht, die in Russ- briel: Die EU kann kein Inter- SPIEGEL: Der VW-Konzern, E.on, die Metro
land aktiv sind. Die weit über- esse an einer politischen oder und Adidas haben Milliarden Euro in Russ-
wiegende Zahl hält Wirtschafts- Cordes, 64, ist wirtschaftlichen Destabilisierung land investiert. Droht ihnen möglicher-
sanktionen für nicht zielführend. Vorsitzender des Russlands haben. Man muss alles weise demnächst die Enteignung, die Hard-
SPIEGEL: Warum sind Sie da so Ost-Ausschusses versuchen, damit Russland als liner in Moskau schon fordern?
skeptisch? der Deutschen wirtschaftlicher und politischer Cordes: Dazu wird es nach meiner Über-
Cordes: Aus drei Gründen. Zum Wirtschaft, zuvor Partner erhalten bleibt. Ohne zeugung nicht kommen. Das wäre für Russ-
einen hat Putin weiterhin hohe war er Chef des Russland lässt sich Europa land die schnellste Methode, sich den Ast
Zustimmungsraten in der Be- Handelskonzerns schwer bauen, gegen Russland abzusägen, auf dem man sitzt. Das wird
völkerung. Da entwickelt sich Metro und Vor- ist es praktisch unmöglich. Aber Putin nicht machen.
eine Wagenburg-Mentalität. Man stand bei Daimler. auch Russland ist auf Europa an- Interview: Dietmar Hawranek

66 DER SPIEGEL 6 / 2015


Wirtschaft

band von Klaus Brüggemann. Im Frühjahr

Spiel mit luden die Lobbyisten zur Pressekonferenz,


in einem Bericht wetterten sie: Ein Wegfall
der bisherigen Zwischenprüfung könne zu

der Angst „gefährlichen, ja lebensbedrohlichen Situa-


tionen führen“.
Die Medien sprangen auf das Thema an.
Lobbyismus Viele Menschen „TÜV warnt vor laxeren Sicherheitsre-
geln“, schrieb die Nachrichtenagentur dpa.
fühlen sich in Fahrstühlen un- Bei Focus Online hieß es: „Aufzüge immer
sicher. Der TÜV weiß, wie gefährlicher – und Nahles streicht die Tests
zusammen.“ Kein Politiker will sich nach-
man damit gute Geschäfte macht. sagen lassen, die Bevölkerung zu gefähr-
den. Und so verzeichneten die TÜV-Leute

K
laus Brüggemann kann plastisch be- im Sommer 2014 einen Etappensieg: Als
schreiben, wie gefährlich Aufzüge das Bundeskabinett die Reform der Lift-
manchmal sind. Der Cheflobbyist Verordnung beschloss, war die Zwischen-
des TÜV erzählt dann mit sorgenvoller prüfung wieder drin. Allerdings sollten die
Miene von einem Berliner Arzt, der einen Kontrollen auch von Wartungsfirmen er-
defekten Fahrstuhl zum Laufen bringen ledigt werden können – und das passte
wollte. Der Mann griff von außen in die dem TÜV nicht.
Kabine, als der Lift plötzlich losrauschte Doch die Reform war ja noch nicht end-
und ihn mitriss. „Kurz darauf war er tot.“ gültig beschlossen, im Herbst musste der
Angesichts solcher Geschichten erschie- Bundesrat zustimmen. Die Lobbyisten
nen die Pläne von Bundesarbeitsministerin nahmen nun die Länder ins Visier. Immer
Andrea Nahles aus dem vorigen Jahr ge- wieder hätten die TÜV-Leute das Ge-
radezu wahnsinnig: Die SPD-Frau wollte spräch gesucht und warnende Briefe ver-
die Vorschriften für die Überprüfung Hun- schickt, heißt es aus verschiedenen Lan-
derttausender Aufzüge in Deutschland lo- desministerien. Nach dem Motto „Steter
ckern. „Die Sicherheit der Bevölkerung Tropfen höhlt den Stein“ hätten sie auf
war in Gefahr“, sagt Brüggemann in sei- allen Ebenen interveniert.
nem Büro in Berlin-Mitte. Zu Hilfe kamen den Prüfern Beamte aus
Man kann den Vorgang aber auch an- Wartungsbedingt stillgelegter Aufzug dem zuständigen Sozialministerium in
ders betrachten. Demnach war vor allem Zahlen müssen die Mieter Schleswig-Holstein. Am 3. November ver-
die Macht des TÜV in Gefahr – und seine schickten sie einen Vorschlag an die ande-
Millioneneinnahmen. seine Interessen durchsetzte. Leidtragende ren Länder, wonach die Zwischenprüfung
Selbst altgediente Beamte im Arbeits- sind Millionen Mieter mit Aufzügen im erhalten bleiben solle – und nur von Prüf-
ministerium können sich nicht erinnern, Haus, denn sie tragen die Kosten der Kon- unternehmen wie dem TÜV durchgeführt
je zuvor derart von Interessenvertretern trollen am Ende. werden dürfe.
belagert worden zu sein wie zuletzt vom Fahrstühle müssen, wie Autos, alle zwei Kurz vor einer entscheidenden Sitzung
TÜV. Von den Sachreferenten bis hinauf Jahre vom TÜV untersucht werden. Dazu versandten sie den Text erneut, dieses Mal
in die Hausspitze kämpften die Lobbyisten kommt eine Zwischenprüfung – und nur ergänzt um eine Passage, die auch ein
gegen eine kleine Reform, die große Fol- die sollte nach Vorstellung des Arbeits- Lobbyist nicht schöner hätte formulieren
gen für den TÜV und andere Prüfunter- ministeriums entfallen. können: „Man mag sich nicht ausmalen,
nehmen wie die Dekra gehabt hätte: 40 Doch Fahrstuhlfahren ist ein angstbe- dass Kinder, Kranke oder eine Schwange-
Millionen Euro Umsatz pro Jahr standen setztes Thema. In einer TÜV-Umfrage gab re auf dem Weg zur Entbindung aufgrund
auf der Kippe. jeder Fünfte an, dass er sich in Aufzügen einer Funktionsstörung im Aufzug stecken
Kaum eine Einrichtung steht so sehr für unsicher fühlt. Dabei sinkt die Zahl der bleiben oder durch unkontrolliertes An-
Objektivität wie der TÜV. Weniger be- Lift-Unfälle seit Jahren, 2014 wurden bis fahren bei geöffneten Türen eingequetscht
kannt ist, wie raffiniert die Prüfer das Si- September 22 Menschen verletzt, die meis- werden.“
cherheitsbedürfnis der Deut- ten nur leicht. In mehreren Wer könnte da widersprechen? Ende
schen nutzen, wenn es um 72 Aufzugunfälle Nachbarländern wird viel November nahmen die Länder mehrheit-
eigene Interessen geht. mit Verletzten seltener geprüft: in Däne- lich den TÜV-freundlichen Vorschlag an.
Längst sind aus den „Tech- in Deutschland mark alle drei, in Frankreich Ein Alternativantrag mit flexibleren Prüf-
nischen Überwachungsver- 54 sogar nur alle fünf Jahre. fristen war zuvor knapp gescheitert.
einen“ mit Wurzeln im 46 Auch deshalb hielten es Wenn die Reform im Juni in Kraft tritt,
19. Jahrhundert milliarden- die Regierungsexperten für bleibt es also bei der alten Regelung. Eini-
schwere Konzerne wie TÜV vertretbar, die TÜV-Zu- ge Beamte verstehen die neue Fassung so-
Süd und TÜV Rheinland ge- 31 satzprüfung zwischen den gar so, dass die Zwischenprüfungen in Zu-
worden, die alles Mögliche Hauptuntersuchungen zu kunft umfassender werden.
prüfen und zertifizieren – 22 streichen. Anfang 2014 ver- TÜV-Cheflobbyist Klaus Brüggemann
und dafür sorgen, dass nie- schickte das Arbeitsministe- lehnt sich in seinem Berliner Büro ent-
mand ihr einträgliches Ge- rium eine überarbeitete Ver- spannt im Stuhl zurück. „Es ist gut, dass
FOTO: FRANK BOXLER

schäft stört. davon mit Todesfolge ordnung an die übrigen Mi- wir am bewährten System festhalten“, sagt
Aus internen Unterlagen 1 3 5 4 1 nisterien. Es dauerte nicht er. „Im Sinne der Sicherheit.“
zur Lift-Reform lässt sich 2010 2014 lange, und der Entwurf lan- Und im Sinne des TÜV.
rekonstruieren, wie der TÜV Quelle: VdTÜV bis 25. 9. dete auch beim TÜV-Ver- Sven Becker, Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 6 / 2015 67


Hip und ex
Mode Das US-Label Abercrombie & Fitch war jahrelang angesagt bei trendbewussten
Jugendlichen. Doch nun ist das Image dahin, und die Branche huldigt einem neuen Vorbild:
dem langjährigen Konkurrenten Zara.

Store-Model bei Abercrombie & Fitch

68 DER SPIEGEL 6 / 2015


Wirtschaft

I
n Würde zu altern ist eine hohe Kunst – mit einem Lebensgefühl aufzuladen. Dort gung. Merke: Wer hier kauft, soll gefälligst
und so gar nicht das Ding von Mike die nüchternen Spanier, die ihren Kunden wissen, was er will.
Jeffries. „Ich bin doch kein alter Furz“, ebenfalls das Gefühl vermittelten dazu- Wer zu dick ist, hat bei Abercrombie
sagt der langjährige Chef der US-Modefir- zugehören. Aber nicht zu einer vermeint- nichts zu suchen, große Größen gibt es
ma Abercrombie & Fitch oft und gern, als lichen Elite, sondern zum Kreis der mo- nicht. Große Geldbeutel dagegen sind Be-
wäre das ein Zauberspruch gegen den Ver- disch Eingeweihten, die wissen, was gerade dingung: Die Kleidung ist oft doppelt so
fall. Trotz seiner 70 Jahre färbt sich der angesagt ist, auch wenn sie sich keine Pra- teuer wie vergleichbare der Konkurrenz.
Manager die Haare surferblond, schlappt da-Tasche leisten können. Hemmungslos pumpte Jeffries die Mar-
in Flipflops und kunstvoll zerschlissenen Statt wie Abercrombie über Jahre hin- ke mit Sex auf. Starfotograf Bruce Weber
Jeans durch die Firmenzentrale in Colum- weg ähnliche Produkte anzubieten, lässt schuf Werbeplakate in Schwarz-Weiß-Äs-
bus, Ohio, und hüllt sich in eine Parfum- Zara das Sortiment in irrwitziger Geschwin- thetik, wie sie schöner in keinem Schwu-
wolke der Duftnote Moschusochse. Die digkeit rotieren – was die Kunden dazu lenkalender zu finden sind. Schnell war
Muskeln pumpt er im Fitnessstudio in bringt, schnell zuzugreifen. Zara hat das klar: Wer hier kauft, kauft ein Image. Und
Form, Falten und Hängebacken lässt er Fast-Fashion-Prinzip perfektioniert – und das lautet: Wir sind reich, wir sind schön,
wegstraffen. Jeffries’ System, das ein Lebensgefühl ver- und wir scheißen auf die Konventionen
Dieser Jugendlichkeitswahn ist Jeffries’ ordnete, statt ihm nachzuspüren, verdrängt. unserer prüden Alten. In Abercrombie-
Kapital. 1992 übernahm der damals 48-Jäh- Klamotten, so das Versprechen, gehört
rige die Leitung von Abercrombie & Fitch Columbus, Ohio man zur Clique der Gewinner.
und verwandelte den verstaubten Anbieter Als Mike Jeffries zu Abercrombie & Fitch Damit traf Jeffries den Nerv wohlhaben-
von Jagdbedarf zur zeitweise begehrtesten kam, waren deren heißeste Produkte gum- der Elitestudenten – und all jener, die gern
Jugendmarke des Planeten. Er lud Klei- mierte Anglerhosen und khakifarbene Out- dazugehören würden. 1996 brachte der
dung mit dem Image von Siegern auf und doorjacken. Jeffries machte sich auf die Besitzer, der Textilkonzern The Limited,
traf wie kein anderer Ende der Neunziger- Suche nach der DNA der 1892 gegründeten Abercrombie an die Börse. Drei Jahre spä-
jahre das Lebensgefühl der amerikani- Marke – und fand Teddy Roosevelt und ter durchbrach die Firma die Milliarden-
schen Upperclass-Jugend, einfach weil er die Fliegerlegende Charles Lindbergh. Der Umsatzmarke. Im Jahr 2000 wurde Aber-
sich selbst so fühlte wie sie: jung, schön frühere US-Präsident hatte sich 1909 bei crombie zur beliebtesten Teeniemarke der
und erfolgreich, dabei lässig und cool. Abercrombie für eine Afrika-Safari aus- USA gekürt.
Nun ist der Traum zerstoben. Seit ein rüsten lassen, der Pilot 1927 für seine At- Die Kinder-Linie abercrombie kids wur-
paar Jahren schon geht es mit dem einst lantiküberquerung. Jeffries nutze diese de 1998 gegründet, 2000 kam der A&F-
trendigen US-Konzern bergab. Das Ge- Glamourfetzen als Erbmasse Ableger Hollister dazu. Ziel-
schäft schrumpft, Läden werden geschlos- und bestückte moderne Frei- Filialen gruppe: Highschool-Kids zwi-
sen, und auch Jeffries’ flotte Sprüche ver- zeitkleidung mit dem traditio- der Modemarken Zara, schen 12 und 16 Jahren.
fangen nicht mehr. Vor wenigen Wochen nellen Firmenlogo, einem Hollister und Abercrombie Diesmal hatte Jeffries eine
schickten ihn seine Aktionäre in Rente. Elchkopf, und den übergro- & Fitch, weltweit 2014
Geschichte von einem jungen
17 Jahre bevor Jeffries bei A&F den Job ßen Buchstaben A&F. Quelle: Bloomberg
2057 Geschäftsmann namens Hol-
seines Lebens bekam, eröffnete in der spa- Die Kleidung, die Jeffries lister erfunden, der ewig gut
nischen Stadt La Coruña ein neues Mode- wählte, lehnte sich an die tra- gelaunt den kalifornischen
geschäft namens Zara. Der Gründer, ein ditionelle Uniform der Col- Way of Life pflegt.
bescheidener Spanier namens Amancio lege-Studenten an. Sweater, Hollister-Läden sind ka-
Ortega, hatte sein Startkapital mit der T-Shirts, Shorts, Jeans. Nichts lifornischen Strandhäusern
Herstellung von Morgenmänteln verdient. Aufregendes, aber das Beson- nachempfunden, Surfbretter
Nun wollte der Textilfabrikant eine neue dere lag in der Präsentation. lehnen an den Regalen, auf
Idee ausprobieren. Ein Modegeschäft, das Jeffries schuf Läden wie sie Videobildschirmen flimmern
schnell wechselnde Kollektionen zu güns- es vorher noch nie gab. Es Livebilder kalifornischer Strän-
tigen Preisen anbietet. war eine Revolution. 2004 de. Ansonsten kopierte Jef-
Damals ahnte keiner, dass aus dem klei- A&F-Filialen verdecken 723 fries das A&F-Muster: keine
nen Laden in Galicien der größte Textil- ihre Schaufenster hinter Holz- Schaufensterauslagen, laute
konzern der Welt werden sollte. Bis heute jalousien und Postern. Nichts 587 Musik, Dämmerlicht, Label-
wirft er hohe Gewinne ab und machte den lässt erahnen, was einen drin- Aufdrucke.
stillen Ortega zum viertreichsten Mann nen erwartet. An den Ein- 357 275 Die Marke entwickelte sich
der Welt. gängen postierte der offen ho- schnell zum Renner – und
Der Abstieg von Abercrombie und der mosexuelle Manager ganze zum Albtraum vieler Eltern,
Erfolg von Zara: Das ist nicht nur der Sieg Kompanien halb nackter Mus- 172 die bald schon jedes Wochen-
des Rechenschiebers über den Rausch, es kelboys, die ihre ausgepräg- ende von ihren Zwölfjäh-
ist auch ein Lehrstück über die richtige ten Sixpacks und glatt rasierten Körper rigen durchs Hollister-Disneyland gezerrt
Strategie im schnelllebigen Geschäft mit präsentieren. Kunden werden mittels Ab- wurden.
FOTO: YOKO AZIZ / AGEFOTOSTOCK / AVENUE IMAGES

Jugendmode. Eine Zeit lang schien es, als sperrbändern zu Warteschlangen formiert. Der neuerliche Erfolg machte Jeffries
würde der Textilmarkt nach Geschäftsprin- Im Ladeninneren herrscht Dämmerlicht zum unangefochtenen Herrscher der Fir-
zipien aus Hollywood funktionieren, doch wie in einem Darkroom-Club. Alle 30 Mi- ma. In seiner Doppelrolle als Chef des Vor-
nun hat die kühle Betriebswirtschaft ge- nuten strömt der Duft des firmeneigenen stands und des Verwaltungsrats lebte er
siegt – und eine genauso dreiste wie er- Moschusparfums „Fierce“ aus Düsen in wie ein wild gewordener Kindskaiser seine
folgreiche Form von Ideenklau. den Wänden. Ohrenbetäubende Musik Schrullen aus.
Abercrombie gegen Zara – das war lan- macht Gespräche fast unmöglich. Doch Be- In der Zentrale wurden nur Mitarbeiter
ge Zeit der Kampf zweier Systeme. Hier ratung findet ohnehin nicht statt: Statt Ver- in Abercrombie-Outfit geduldet. Die Flug-
die großspurigen Amerikaner, die es wie käufern posieren leicht bekleidete junge begleiter seines Firmenjets, von einer New
kein zweites Modeunternehmen verstan- Schönheiten, sogenannte Store-Models. Yorker Modelagentur ausgesucht, mussten
den, die eigene Marke zu inszenieren und Nur auf Anfrage setzen sie sich in Bewe- Abercrombie-Parfum benutzen und Boxer-
DER SPIEGEL 6 / 2015 69
Zara-Kollektion: Fast Fashion in Perfektion

shorts unter den Jeans tragen. Auf Fragen duktmanager entscheiden anhand der Die höheren Lohnkosten würden da-
durften sie ausschließlich mit „no problem“ Zahlen, was bald neu in den Geschäften durch ausgeglichen, dass man schneller als
antworten, so war das im Benimmbuch hängen wird. Wenn sich ein Teil besonders andere auf Trends oder Wetterschwankun-
festgelegt. Das Klopapier sollte unsichtbar gut verkauft, ein roter Dufflecoat zum Bei- gen reagieren könne und nur wenig Ware
sein, die Waschlappen dreifach gefaltet. spiel, wird es trotzdem nicht exakt nach- in den Lagern liegen bleibe, lautet das
Die Aktionäre ertrugen den Wahnsinn produziert. Stattdessen lässt Zara den Prinzip der Firma. Höchstens 48 Stunden
ihres Genies ergeben. Sie hielten zu ihm, Mantel in Grün nähen oder entwirft eine brauche man, um die Klamotten von den
als 2,2 Millionen Dollar Entschädigung für Jacke aus demselben Stoff und mit ähnli- zehn spanischen Logistikzentren in alle
11 000 Exmitarbeiter anfielen, die Arbeits- chem Schnitt. Diese Form der künstlichen Ecken der Welt auszuliefern. So schafft es
kleidung auf eigene Rechnung hatten kau- Verknappung ist ein geschickt gesetzter Zara, ein Kleidungsstück in seine Läden
fen müssen, wodurch der Mindestlohn un- Kaufanreiz. Die Kunden wissen: Wenn sie zu bringen, nur zwei Wochen nachdem
terschritten wurde. nicht sofort zugreifen, ist das Stück beim ein Scout die Vorlage auf der Straße oder
Sie muckten nicht auf, als Jeffries mit nächsten Besuch nicht mehr da. Zaras De- dem Laufsteg entdeckt hat.
Push-up-Bikinis und Stringtangas für Acht- signscouts scannen Modemagazine und Der Erfolg ist beispiellos. Heute ist In-
jährige einen Aufschrei provozierte. reisen um die Welt auf der Suche nach ditex das größte Textilunternehmen der
Sie erduldeten Rassismusklagen, die dem neuesten Trend. Welt. Über 6500 Filialen in 88 Ländern
2003 40 Millionen Dollar Entschädigung Immer wieder wird Zara vorgeworfen, zählt das globale Modereich, der Jahres-
kosteten. Abercrombie hatte fast nur wei- Designs zu kopieren. „Viele meiner Ent- umsatz beträgt rund 17 Milliarden Euro.
ße Angestellte. würfe hängen bei Zara, lange bevor ich Trotzdem blieb Mode-Tycoon Ortega
Sie nahmen alles hin. Schließlich gehör- sie selbst verkaufe“, sagt US-Designer Tom fast unbekannt. Er liebt die Anonymität.
te Krawall zum rebellischen Markenkern. Ford. Im Internet gibt es Blogs, die ver- Die wenigen Fotos zeigen einen rund-
meintliche Zara-Plagiate sammeln. Man lichen Mann mit freundlichem Gesicht.
La Coruña, Spanien lasse sich lediglich inspirieren, verteidigt Ortega lebt zumeist zurückgezogen auf ei-
Mitte der Achtzigerjahre waren Zara-Ge- sich das Unternehmen. Doch zeigt man nem Anwesen außerhalb von La Coruña.
schäfte bereits in nahezu jeder spanischen dem Pressechef Fotos zweier fast identisch Er hasst Publicity, gibt niemals Interviews,
Stadt zu finden. Ortega gründete die Hol- aussehender Perlenketten, die eine von lässt sich kaum ablichten. Nicht nur aus
ding Inditex, zu der heute neben Zara Mar- Chanel, die andere von Zara, muss er Schüchternheit: Er will jederzeit uner-
ken wie Bershka, Pull&Bear und Massimo selbst lachen. kannt durch die Stadt laufen können, um
Dutti gehören. Die schnelle Umdrehungszahl erreicht zu schauen, was die Frau von heute so
Seine Geschäftsidee war einfach: Nur Zara, indem die Hälfte der Ware in Spa- trägt. Seine Bodenständigkeit spiegelt sich
wer sich nicht auf einen Stil festlegt, kann nien, Portugal, Marokko und der Türkei auch in seinem Lebensmotto: „Optimis-
langfristig begehrenswert bleiben. Deshalb produziert wird. Je trendiger ein Teil, des- mus ist negativ, Selbstzufriedenheit ge-
wechselt das Zara-Sortiment zweimal wö- to näher an der Zentrale wird es herge- fährlich.“
QUELL: ZARA

chentlich. Jede Filiale schickt täglich ihre stellt. Nur Basismode – Strickjacken oder Diese Einstellung hätte vielleicht auch
Verkaufsergebnisse an die Zentrale. Pro- einfarbige Tops – kommt aus Südostasien. den Exzentriker Jeffries gerettet.
70 DER SPIEGEL 6 / 2015
Wirtschaft

Columbus, Ohio deutschen Abercrombie-Tempel drängten, Columbus, Ohio


Keiner weiß, was Mike Jeffries 2006 getrie- hatte das Label in den USA schon zu rie- 2013 erreichte Abercrombie & Fitch den
ben hat, dem Internetmagazin Salon.com chen begonnen. Tiefpunkt. Eine A&F-kritische Initiative in
ein Interview zu geben – wo er sonst bei- den USA rief dazu auf, jeder möge seine
nahe alle Presseanfragen abschlug. Jeden- La Coruña, Spanien A&F-Kleider an Obdachlose verschenken.
falls zog er ordentlich vom Leder: „In jeder 2011, im Alter von 76 Jahren, gab Amancio Doch die protestierten gegen die „ent-
Schule gibt es coole und beliebte Kinder Ortega die Leitung von Inditex ab. Seine menschlichende“ Aktion.
und solche, die nicht so cool sind. Wir sind Idee von Fast Fashion hat dem Spanier, Auch in Europa begann es zu kriseln. In
ganz offen hinter den coolen her. Wir wol- der 60 Prozent des Unternehmens hält, ein Frankreich klagten Mitarbeiter gegen zu
len das attraktive All-American-Kid, das Vermögen von geschätzten 62 Milliarden viel Gängelung und die Vorgaben bezüg-
gut drauf ist und viele Freunde hat.“ Und, US-Dollar eingebracht. lich ihres Erscheinungsbilds. In Deutsch-
ja, es gebe Leute, die in seinen Klamotten Doch der Reichtum hat ihn kaum ver- land kämpften Betriebsräte gegen strenge
nichts zu suchen hätten. „Grenzen wir aus? ändert. Ortega hat nie Englisch gelernt und Überwachung. In München erwirkten An-
Aber klar!“, sagte er. ist nie aus Nordspanien weggezogen. Mit wohner, dass A&F-Läden ihr Parfum nicht
Als das Interview erschien, passierte erst seiner zweiten Frau bewohnt er auch ein mehr vor der Tür versprühen durften, der
mal gar nichts. Noch war Abercrombie un- Haus mit Sandsteinfassade und Blick auf Gestank sei eine Zumutung. Der Baye-
antastbar. Erst als vier Jahre später die Ge- den Hafen. Kein Zaun, keine Überwa- rische Rundfunk berichtete über miserable
schäfte schlechter liefen, sorgten seine chungskameras. Ein paar Meter weiter Arbeitsbedingungen in indischen Textil-
Sprüche für Empörung. fabriken, die für A&F produzierten.
Jeffries’ elitäres Gehabe wirkte wie aus Im Januar 2014 reagierten die Aktionäre.
der Zeit gefallen. Die Kinder der Internet- Sie entzogen Jeffries den Vorsitz im Ver-
generation waren als Weltenbürger aufge- waltungsrat und setzten erfahrene Textil-
wachsen, Ausgrenzung, Diskriminierung manager ins Gremium. Auch in den Läden
und Klassendünkel waren nicht mehr en wurde gegengesteuert. Das Licht wurde
vogue. Außerdem hatte die Bankenkrise auf-, die Musik runtergedreht. In den Fi-
2008 das Wertesystem Schön-Reich-Glück- lialen hängen nun Kunstfelljacken, Häkel-
lich zerstört, es galt nun als obszön. tops und Hippie-Kleidchen, ganz im Sinne
Auch das Konsumverhalten änderte sich. der neu ausgegebenen Firmenstrategie:
Die Jugendlichen gaben ihr begrenztes trendy. Die traditionellen T-Shirts mit dem
Budget lieber für Smartphones aus. Und Firmenlogo fristen ihr Dasein nun auf ei-
weil sie in Chats lernten, dass Abercrom- Zara-Gründer Ortega nem Einzeltisch neben dem Eingang. Ra-
bie in den gleichen asiatischen Firmen pro- Sieg des Rechenschiebers über den Rausch batte bis zu 40 Prozent locken, die Perso-
duzieren ließ wie etwa Hennes & Mauritz, nalkosten wurden heruntergeschraubt.
war der Schritt in die Billigfiliale nicht weit. Doch der Abstieg war nicht mehr auf-
Dort entdeckten sie, dass Kleidung nicht zuhalten. Das dritte Quartal 2014 brachte
nur deutlich günstiger sein kann, sondern einen Umsatzrückgang von 12 Prozent
auch vielfältiger und individueller. Wie zum Vorjahr auf 911 Millionen Dollar. Der
eine Litfaßsäule mit Firmenlogos rumzu- Gewinn schrumpfte um ein Viertel auf
laufen galt nun als uncool. 30 Millionen. Seit Juli 2011 war der Ak-
Jeffries aber bekam den Kulturwandel tienkurs um über 60 Prozent gefallen.
nicht mit. Wie ein alter Hippie in den Auch in Europa brach die Nachfrage ein.
Siebzigern war er im Jugendlichkeitsge- Am 7. Dezember stellte sich Jeffries in
fühl der Neunziger stecken geblieben. Er einer Telefonkonferenz den Analysten von
verweigerte Rabattaktionen und vernach- Großbanken wie Goldman Sachs, Morgan
lässigte das Internetgeschäft. Fotos erschie- Manager Jeffries 2009 Stanley und Barclays. Zu Beginn las er mit
nen, auf denen der Mode-Opa mit seinem Wir sind reich, wir sind schön knarziger Stimme eine Erklärung vor. Er
gelifteten Gesicht wie ein Aberzombie klang angeschlagen. Es war sein letzter öf-
aussah. Sein Versuch, mit Ruehl No 925 hält der Bus. Ortegas einziger Luxus ist fentlicher Auftritt. Zwei Tage später wurde
eine etwas erwachsenere Marke zu kre- eine Reitanlage, die er für seine pferde- der Mann, der nie ein alter Furz werden
ieren, scheiterte krachend. Seine Magie begeisterte Tochter Marta westlich von La wollte, in Rente geschickt. Die Aktie
war dahin. Coruña bauen ließ. schoss um sieben Prozent nach oben. Nun
Markenexperte Klaus-Dieter Koch, Obgleich er das operative Geschäft ab- sucht die Firma nach einer neuen Lichtge-
Gründer der Managementberatung Brand- gegeben hat, wird der Mann, der Anzüge stalt, die die Marken retten soll. Nur wie?
FOTOS: MARK LENNIHAN / AP (U.); ABACA PRESS / ACTION PRESS (O.)

Trust, erklärt den Niedergang so: „Aber- und Krawatten verabscheut und niemals Der Einstieg in Fast Fashion erscheint
crombie & Fitch sind die perfekten Ober- eine Visitenkarte besessen hat, fast täglich angesichts des Vorsprungs von Zara oder
flächenmechaniker, aber es steht keine im Unternehmen gesichtet. Ohne Be- Ketten wie Primark, H&M und Forever 21
wirkliche Leistung wie Qualität, Passform gleitung schlendert er durch die Werkshal- schwierig. „Die gesamte Firmenkultur
oder Design hinter dem Produkt. Man len oder tippt in der Designabteilung auf müsste sich ändern“, sagt Markenexperte
kauft nur den Effekt. Langfristig kann eine sein iPad. Als der damalige spanische Koch. Eine Herkulesaufgabe, die Jahre
Marke nur Erfolg haben, wenn über Jahre Prinz Felipe einst die Zentrale besuchte, dauern und Millionen kosten würde – und
hinweg der Leistungskern stimmt.“ ließ sich der Unternehmer allerdings nicht das ohne Erfolgsgarantie. Beispiele für ein
2007 eröffnete die erste europäische blicken. gelungenes Comeback abgewirtschafteter
A&F-Filiale in London, was Branchenken- Tatenlos ist Ortega auch als Rentner Labels sind in der Branche Mangelware.
ner jedoch eher als Flucht denn als Expan- nicht: Sein neuestes Betätigungsfeld sind Auch im Fall von Abercrombie und Hol-
sion deuteten. Als 2011 Teenager in Düs- Immobilien in den prächtigsten Einkaufs- lister wird das schwer. „Die Marke ist von
seldorf kreischend an den waschbrettbäu- straßen der Welt, den bevorzugten Stand- innen morsch“, sagt Koch.
chigen Empfangsboys vorbei in den ersten orten für Zara-Filialen. Ann-Kathrin Nezik, Michaela Schießl

DER SPIEGEL 6 / 2015 71


Subventioniertes Eheglück
Gepanzerte Armeefahrzeuge bringen diese jungen Indonesier zu ihrer Trauung. Mehr
als 5000 Paare nahmen am Mittwoch an einer Massenhochzeit in Jakarta teil. Die meisten
von ihnen waren bereits nach religiösem Ritus verheiratet. Um ihre Ehe auch vom Staat
anerkennen zu lassen, hätten sie jeweils umgerechnet 35 Euro aufbringen
müssen, viel Geld für indonesische Verhältnisse. Eine gemeinnützige Stiftung übernahm
nun einen Teil der Kosten – und das Militär den Weg zur Zeremonie.

Libyen Ich selbst bin am 10. Oktober mitten in


„Jeder hat eine Kalaschnikow im Kofferraum“ Tripolis auf der Straße von Bewaffneten
entführt worden. Sie warfen mich in ein
Der Publizist und Bürgerrechtler Salah Ngab, lange in unserem Land. Aber auch Auto, verbanden mir die Augen und
33, über den alltäglichen Terror der Milizen der Alltag hier ist mörderisch. Selbst brachten mich in ein kleines Privatgefäng-
und Dschihadisten in seiner Heimat ganz normale Bürger haben eine nis. Von denen gibt es Dutzende, jede Mi-
Kalaschnikow im Kofferraum, um liz hat ihr eigenes. Sie nannten mich ei-
„Nach der Revolution habe ich in Tripo- sich zu schützen. nen Ungläubigen, schlugen mich, drohten,
FOTOS: SUSANNE KOELBL / DER SPIEGEL (U.); MAST IRHAM / DPA (O.)

lis das Kulturmagazin ‚Armat‘ gegrün- mir die Finger abzuschneiden und mich
det, das heißt so viel wie Gerechtigkeit. zu töten. Sie zwangen mich, die Passwör-
Aber die hat es bei uns nie gegeben, ter meiner Mail-Accounts zu verraten.
nicht unter Muammar al-Gaddafi und Dass ich noch lebe, habe ich einflussrei-
heute schon gar nicht. In Libyen ringen chen Freunden zu verdanken, die sich für
hundert unterschiedliche Milizen um mich eingesetzt haben. Ich glaube an die
die Macht. Der Überfall auf das Corin- Aufklärung, an Meinungs- und Religions-
thia Hotel am Dienstag dieser Woche, freiheit – und immer hatte ich das Gefühl,
bei dem neun Menschen starben, hat zu diesem Land zu gehören. Aber jetzt
einmal mehr gezeigt, dass die Extremis- habe ich Zweifel. Meine Freunde haben
ten auf dem Vormarsch sind. Ob die das Land alle verlassen. Für Leute wie
Attentäter dem ‚Islamischen Staat‘ oder uns ist in Libyen kein Platz mehr, wir sind
al-Qaida angehören, das weiß niemand. Ngab von Feinden umzingelt.“
Beide Terrorgruppen operieren schon Aufgezeichnet von Susanne Koelbl

72 DER SPIEGEL 6 / 2015


Ausland
China drückung durch Peking. Die militärisches Training und
Terrorhilfe aus chinesische Führung hatte Ka- Waffen erhalten. Die Ausbil-
bul um Hilfe gebeten, nach- dung findet in Nord-Waziri-
Pakistan dem bekannt geworden war, stan statt, wohl unter Mitwir-
Chinesische Uiguren lassen dass die Uiguren in Pakistan kung des Haqqani-Netzwerks,
sich offenbar von Extremis- einer mächtigen Is-
ten im Nachbarland ausbil- lamistengruppe
den. Gerade lieferte die Re- mit Kontakten zu
gierung Afghanistans mindes- Xinjiang
al-Qaida. Von dort
tens 60 uigurische Kämpfer AFGHANISTAN wollten die Uigu-
an China aus, die meisten Kabul ren über Afgha-
CHINA
von ihnen waren vom afgha- nistan nach China
nischen Geheimdienst im Islamabad weiterziehen. In
Nord-
Nordosten des Landes festge- waziristan Kabul unterhalten
setzt worden. Sie befanden PAKI STA N sie anscheinend
sich offenbar auf dem Rück- sogar Reisebüros,
weg nach China. Uigurische die Aufständische
Separatisten kämpfen in der als Geschäftsleute
chinesischen Region Xinjiang 500 km getarnt nach Chi-
seit Jahren gegen die Unter- na schleusen. suk

USA Doch dann schrumpfte der im Staat New York ein wirt-
Der Ein-Milliarden- vermeintliche Blizzard über schaftlicher Schaden von etwa
Nacht zu einem normalen 700 Millionen Dollar ent-
Dollar-Blizzard Schneesturm, der New York standen, schätzen Ökonomen,
Ein „Jahrhundert-Blizzard“ weitgehend verschonte und in Massachusetts von etwa
sollte „Juno“ werden. In vor allem Massachusetts traf. 265 Millionen. Hinzu kommen
sechs Bundesstaaten an der Einen Jahrhundertrekord Sturmschäden zum Beispiel
US-Ostküste hatten die könnte „Juno“ trotzdem auf- auf der Atlantikinsel Nantu-
Regionalregierungen daher stellen: als die teuerste ausge- cket, wo 12 000 Bewohner
davor gewarnt, am Montag- bliebene Katastrophe. Denn eine Nacht lang ohne Strom
abend und Dienstag aus dem die Vorsichtsmaßnahmen ha- auskommen mussten. Auf-
Haus zu gehen. New York ben womöglich Kosten in grund der Warnungen hatten
City verhängte ein Fahr- Höhe von etwa einer Milliar- zudem Fluggesellschaften
verbot für Autos, die U-Bahn de Dollar verursacht. Allein mehr als 7700 Flüge im Nord-
stellte ihren Betrieb ein. durch den Arbeitsausfall sei osten Amerikas gestrichen. hst

Fußnote

991
Milliarden
Dollar flossen allein 2012
illegal aus Entwicklungs-
ländern ab. Verbrecher-
kartelle und Politiker
brachten auf diese Weise
ihre Gewinne – aus krimi-
nellen Machenschaften
oder Korruption – an west-
FOTO: KIKE CALVO / REDUX / LAIF

lichen Finanzplätzen und


in Steuerparadiesen in
Sicherheit. Die Summe
übersteigt alle ausländi-
schen Direktinvestitionen
sowie die gesamte Manhattan nach Schneesturmwarnung am Dienstag
Entwicklungshilfe. jpu

DER SPIEGEL 6 / 2015 73


Flüchtling Yusuf mit Frau und Baby in Abuja
Ausland

Die Mörder im Haus


Nigeria Kurz vor den Wahlen versucht Boko Haram, den gesamten
Nordosten zu erobern, auch die Millionenstadt Maiduguri. Eine Reise durch
ein Land zwischen Bürgerkrieg, Zerfall und Paranoia.

D
as Flugzeug von Präsident Good- mehr Gewaltopfer. Allein Anfang Januar, haben sie ihre Gewehre weggeworfen und
luck Jonathan landete am vergan- beim Großangriff auf den Ort Baga an der Frauenkleider anzogen.
genen Samstag Punkt 13 Uhr in Grenze zum Tschad, sollen Hunderte Be- „Die Menschen fürchten die Soldaten
Maiduguri. Der Staatschef verkündete, wohner getötet worden sein, Satellitenbil- oft genauso wie die Terroristen“, sagt Yu-
was er immer verkündet: Man werde einen der zeigten eine verwüstete Stadt. Die Ver- suf. Er hat das Vertrauen in die Armee ver-
„totalen Krieg“ gegen die Terroristen füh- einten Nationen schätzen, dass insgesamt loren, die Soldaten seien Feiglinge,
ren und sie endgültig besiegen, gleich nach rund anderthalb Millionen Nigerianer aus schimpft er. „Sie werden Boko Haram in
den Wahlen, die er selbstverständlich ge- der Krisenregion geflohen sind. hundert Jahren nicht besiegen.“
winnen werde. Zweieinhalb Stunden spä- Rund 2000 Flüchtlinge sind in Durumi Zusammen mit sechs Angehörigen
ter war der Präsident schon wieder in der gestrandet, einem Bezirk der Hauptstadt konnte er fliehen. „Jetzt wohnen die Mör-
Luft, aus Sicherheitsgründen musste sein Abuja. Darunter sind auch Prince Bala Yu- der in unserem Haus“, sagt er. „Boko Ha-
Wahlkampfauftritt schnell gehen, denn die suf und seine Angehörigen. Boko Haram ram hat die Macht übernommen. Ich weiß
größte Stadt im Nordosten Ni- nicht, ob wir je heimkehren kön-
gerias ist von der radikalislami- nen.“ Einige Wochen nach dem
schen Terrororganisation Boko Massaker riefen die Islamisten
Haram umstellt. Anschlag vor der Großen Moschee in Kano* in Gwoza ein Kalifat aus, dort
Die Antwort von Boko Ha- gilt nun die Scharia.
ram kam noch vor Einbruch der Die Flüchtlinge aus Gwoza
Dämmerung. Hunderte Kämp- hausen in einem dreistöckigen
fer griffen Maiduguri von drei Rohbau, die Besitzerin hat ih-
Seiten zugleich an. Es war die nen das halbfertige Gebäude
bislang größte Offensive gegen überlassen. Sie schlafen auf
die Hauptstadt des Bundesstaa- Bastmatten, die auf dem nack-
tes Borno, der fast vollständig ten Beton liegen, es gibt kein
in der Hand der Miliz ist. Die Trinkwasser, keine Toiletten
Stadt mit ihren zwei Millionen und keine Arbeit. Die Lebens-
Bewohnern ist für die Terroris- mittelrationen der Regierung rei-
ten strategisch wichtig. Und sie chen gerade aus, um den ärgsten
ist ein symbolträchtiger Ort, Hunger zu stillen. Im Hinterhof
denn hier wurde vor 13 Jahren brodelt eine dünne Gemüsesup-
Boko Haram gegründet. pe, die sich fünf Familien teilen.
Maiduguri konnte gehalten Vor sechs Wochen hat Yusufs
werden, auch durch den Einsatz Frau Halita einen Sohn geboren,
der Luftwaffe. Doch am selben sie haben ihn Godgift getauft,
Tag eroberte Boko Haram den Gottesgabe. Aber wenn Yusuf
Militärstützpunkt Monguno, das winzige Kerlchen anschaut,
100 Kilometer nordöstlich von mischt sich Bitterkeit in die Freu-
Maiduguri. 1400 Soldaten sollen de. Denn sein Sohn kam heimat-
dort stationiert gewesen sein, sie wurden fiel im Juni 2014 über sein Dorf nahe Gwo- los auf die Welt. „Wir fühlen uns wie Skla-
FOTOS: KEMI AKIN-NIBOSUM / DER SPIEGEL (L.); XINHUA / POLARIS / STUDIO X (R.)

von den Kämpfern einfach überrannt. Von za im Südosten von Borno her. „Sie kamen ven, nicht wie nigerianische Staatsbürger“,
den fünf Hauptstraßen, die nach Maidu- auf Motorrädern und nagelneuen Gelän- klagt er. „Wir haben alles verloren. Nicht
guri führen, kontrolliert Boko Haram nun dewagen und wüteten wie wilde Bestien“, einmal wählen können wir.“
vier. erzählt Yusuf, ein hagerer Mann von 27
Seit Beginn ihres Terrorfeldzugs im Juli Jahren mit schütterem Kinnbart und einem
2009 hat die Miliz weite Teile der Bundes- weißen Kaftan voller Flecken. Die Terro-
staaten Adamawa, Yobe und Borno er- risten plünderten, brannten Häuser nieder
A m 14. Februar stimmen die Nigerianer
über ihren Präsidenten und ihr Parla-
ment ab, der Wahlkampf wird vom Terror
obert, sie soll mittlerweile ein Territorium und töteten die Bewohner, vermutlich star- überschattet. Alle Kandidaten für das
von der Größe Portugals beherrschen. Die ben 300 Menschen. höchste Staatsamt versprechen, die Isla-
25 000 Regierungssoldaten, ein Drittel der Yusuf hat überlebt, doch er musste mit misten zu besiegen. Doch Yusuf glaubt ih-
nigerianischen Streitkräfte, halten im Nord- ansehen, wie sein Vater, der Dorfchef, von nen nicht, zu lange terrorisiert Boko Ha-
osten des Landes nur noch ein paar größere den Kämpfern mit Schüssen in den Kopf ram seine Heimatregion. „Wer dort wählen
Orte. Und die Millionenstadt Maiduguri. exekutiert wurde. Die Soldaten, die sie will, den werden sie umbringen“, sagt er.
Der Terror hat seither über 13 000 Men- schützen sollten, seien vor dem Angriff in Nigeria ist mit seinen 175 Millionen Ein-
schenleben gekostet; in kaum einem an- die Berge abgehauen, erzählt er, angeblich wohnern das bevölkerungsreichste Land
deren Land der Welt, in dem offiziell Frie- Afrikas und die größte „schwarze Demo-
den herrscht, gab es in diesem Zeitraum * Am 28. November 2014. kratie“ der Welt. Wahlen hier sind schon
DER SPIEGEL 6 / 2015 75
Oppositionskandidat Buhari (stehend im Bus) im Stadion von Kano: Wer im Norden Nigerias wählen will, muss um sein Leben fürchten

in normalen Zeiten eine gewaltige logisti- Doch nun heißt es, diese würden reihen- inzwischen die ganze Region, im Nachbar-
sche Herausforderung: In 155 000 Wahllo- weise abspringen, aus Angst um ihr Leben. land Kamerun hat sie mehrfach Orte über-
kalen müssen 465 000 Urnen aufgestellt Keine Woche vergeht, in der nicht ir- fallen. Zudem sei die Gefahr groß, dass
werden, landesweit sind 750 000 freiwillige gendwo im Nordosten Nigerias Selbstmord- Boko Haram mit seinen 15 000 bis 30 000
Wahlhelfer im Einsatz. Knapp 69 Millionen attentate verübt, Dörfer geplündert und Kämpfern den fragilen Vielvölkerstaat Ni-
Bürger sind wahlberechtigt, doch drei Wo- Menschen ermordet, verwundet oder ver- geria sprenge, warnt Adekeye Adebajo,
chen vor dem Stichtag hatten 29 Millionen schleppt werden. Doch die Außenwelt der das Centre for Conflict Resolution in
noch keinen Wahlausweis. nimmt das Blutvergießen nur am Rande Kapstadt leitet. Ein Zerfall des Landes hät-
Die Frage ist, ob eine faire und freie Ab- wahr, was auch an der nigerianischen Re- te verheerende Folgen für ganz Westafrika.
stimmung überhaupt stattfinden kann in gierung liegt, die das wahre Ausmaß des
einem Land im Bürgerkrieg. Denn in den Terrors seit Jahren herunterspielt. Von Prä-
drei umkämpften Bundesstaaten im Nord- sident Jonathan ist der Satz überliefert,
osten leben 4,6 Millionen Wahlberechtigte. dass es sich bei Boko Haram nur um ein
K ano, 440 Kilometer nördlich von Abu-
ja, ist eine Drei-Millionen-Stadt am
Rand der Terrorzone. Auf dem Weg dort-
Nur wenige werden ihre Stimme abgeben „vorübergehendes Phänomen“ handle. hin müssen zwei Dutzend Straßensperren
können, weshalb Verfassungsexperten die Dabei reicht der Terror weit über die von Polizei und Armee überwunden wer-
Rechtmäßigkeit der Wahlen anzweifeln. Landesgrenzen hinaus. Die Miliz bedroht den. In der Handelsmetropole leben die
Eine Verschiebung wird bereits diskutiert. muslimische Mehrheit und die christliche
Als US-Außenminister John Kerry am von Boko Haram weitgehend Minderheit seit Jahrhunderten friedlich
vorigen Sonntag Nigeria besuchte, warnte eroberte Bundesstaaten miteinander, doch nun sehen sich beide
er eindringlich davor: Friedliche, glaub- jüngste Angriffe TSCHAD Gruppen durch Boko Haram bedroht.
würdige und transparente Wahlen seien NIGER „Sie können jederzeit wieder zuschla-
entscheidend dafür, dass die Nigerianer Baga gen“, sagt Muktar Hamisu. Der 18-Jährige
und die Welt Vertrauen in die Regierung Yobe
Monguno war dabei, als am 28. November 2014 ein
fassten, zugleich würden sie Gruppen wie Kano Maiduguri Toyota auf den Vorplatz der Großen Mo-
Boko Haram schwächen. Doch während Borno Gwoza schee zuraste, wo sich Tausende Gläubige
Kerry fristgerechte Wahlen anmahnte, N I G E R I A zum Freitagsgebet versammelt hatten. Ein
wurde im Nordosten heftig gekämpft. Abuja Adamawa paar Sekunden später explodierte das
Wo Boko Haram herrsche, seien regulä- Fahrzeug, Hamisu sah zerfetzte Körper
re Wahlen nicht möglich, räumt auch die und abgerissene Gliedmaßen. „Genau hier
EU-Beobachtermission ein. Ihre Wahlbe- Lagos AFRIKA ist es geschehen“, sagt er und deutet auf
obachter haben sich in einem Luxushotel einen schwarzen Brandkreis im Sand.
in Abuja einquartiert, in die Krisenregion Daneben befindet sich der Palast, in
trauen sie sich nicht. Dort sind fast nur 300 km KAMERUN dem Muhammadu Sanusi II. residiert, der
einheimische Wahlbeobachter unterwegs. Emir von Kano. Er zählt zu den mächtigen
76 DER SPIEGEL 6 / 2015
Ausland

traditionellen Herrschern, die alle Muslime Denn in seiner Amtszeit wuchs die Wirt- ihren Sold warten.“ Die Armee ist ein Spie-
dazu aufgerufen haben, sich gegen die schaft kräftig, Nigeria hat das höchste gel des nigerianischen Staatswesens: hoch
selbst ernannten Gotteskrieger zu erheben. Bruttoinlandsprodukt in Afrika. korrupt, ineffizient, chaotisch. Dennoch
Der Anschlag war die Rache von Boko Ha- Fünf Stunden lässt Buhari seine Anhän- glaubt die Militärführung, den Krieg gegen
ram. Am selben Tag gingen in und vor der ger warten. Dann fährt der Kandidat in ei- den Terror allein gewinnen zu können, das
Großen Moschee weitere Sprengsätze nem Bus, begleitet von einem Konvoi, in zeigt die Großmannssucht der nigeriani-
hoch, ein Stoßtrupp von Terroristen feu- das überfüllte Stadion ein, den Kopf aus schen Eliten: Wir sind die stärkste Wirt-
erte in die Menge, über hundert Menschen dem Dach gestreckt. Er redet ganze drei schaftsmacht Afrikas, wir haben die schlag-
starben. Die Opfer waren alle Muslime. Minuten, verspricht Wohlstand und Frie- kräftigste Armee Westafrikas, wir lösen je-
„Das zeigt, dass wir hier keinen Reli- den – und wird gefeiert wie ein Erlöser. des Problem selbst. Auch deshalb reagierte
gionskrieg haben. Boko Haram tötet Chris- Dazu schwingt er einen Besen, das Symbol Präsident Jonathan bislang so zögerlich
ten, aber noch viel mehr Muslime. Es ist seiner Partei. Boko Haram erwähnt er auf Vorschläge der Nachbarstaaten, eine
eine Bande von Verbrechern, die nur nicht. Vielleicht, weil er die Muslime nicht internationale Eingreiftruppe ins Feld zu
Macht und Geld wollen und unseren Glau- spalten und die Terrorgruppe nicht provo- schicken.
ben missbrauchen“, sagt Hamisu. Er trägt zieren will. Dann ist Buhari wieder weg. Amnesty International beschuldigt die
ein ausgebleichtes Trikot von Juventus Tu- Streitkräfte, mit äußerster Brutalität zu-
rin. Niemals würde er unter dem Regime
der Fanatiker leben wollen, schon weil er
dann die Spiele seines Lieblingsvereins
K ein Name, kein Foto, kein Detail, das
seine Identität verraten könnte. Der
Mann nennt sich Moses, er ist Soldat und
rückzuschlagen und schwere Menschen-
rechtsverletzungen zu begehen. Zahlreiche
Augenzeugen haben berichtet, wie un-
nicht mehr im Fernsehen verfolgen dürfte. will über die skandalösen Zustände in der schuldige Zivilisten eingesperrt, gefoltert
Boko Haram verbietet Fußball, freizügige und hingerichtet wurden. Ein unweit von
Kleidung, Musik, Tanz und Alkohol. Maiduguri gedrehtes Video zeigt offenbar
Hamisu wohnt im Zentrum von Kano, Mitglieder einer Spezialeinheit, die jungen
seine Mutter hat über dem Türsturz des Muslimen die Kehlen durchschneiden. Der
Hauses kleine Plastikpakete und Fläsch- Internationale Strafgerichtshof in Den
chen befestigt, sie enthalten Koranverse Haag hat angekündigt, Kriegsverbrechen
und sollen böse Geister und Terroristen von beiden Seiten zu verfolgen.
abwehren. „Wir haben Angst, denn Boko Aber auch die eigenen Männer werden
Haram ist überall. Ihre Kämpfer sind sogar von der Armee schlecht behandelt. Die
unter uns“, sagt Hamisu. Deswegen meidet Familien getöteter Soldaten erhielten kei-
er an diesem Tag das Stadion von Kano. ne Entschädigung, viele Frauen wüssten
Die Arena fasst 25 000 Zuschauer, aber nicht einmal, ob ihre Männer noch am Le-
80 000 Menschen sind gekommen, um Mu- ben seien, berichtet Moses. „Meine Kame-
hammadu Buhari zuzujubeln. Der General raden sterben da draußen. Oft werden die
und Ex-Militärherrscher gilt als aussichts- Leichen der Gefallenen nicht geborgen,
reichster Herausforderer von Präsident sie verfaulen im Busch.“ Niemand könne
Jonathan. Im Norden werden ihn viele wäh- sagen, wie viele Soldaten getötet würden,
len, im Süden werfen sie ihm vor, landes- es gebe keine Statistiken und keine Infor-
weit die Scharia einführen zu wollen. Bu- mationen. Als Moses von einem Freund
hari ist Muslim, seine Anhänger hoffen, erzählt, der bei der Schlacht um Baga ver-
dass er die von Christen dominierte Regie- wundet wurde, versagt seine Stimme. „Er
rung ablöst. Denn obwohl Nigeria der größ- liegt seitdem in einem Lazarett und wartet
te Erdölproduzent Afrikas ist, kommt von darauf, dass die Kugeln aus seinem Bein
dem Reichtum in den unterentwickelten operiert werden.“ Es gebe kaum Ärzte,
Bundesstaaten des Nordens wenig an. Augenzeuge Hamisu und ein privates Krankenhaus könne sich
Auch weil die korrupte Machtelite von den „Boko Haram tötet vor allem Muslime“ der Freund nicht leisten.
2,5 Millionen Barrel Öl, die täglich geför- Die Moral der Truppe sei miserabel,
dert werden, 400 000 Fass abzweige, wie nigerianischen Armee berichten. Sichtlich sagt Moses, immer mehr Soldaten würden
die Opposition behauptet. Nigerianische aufgewühlt sitzt er in einem abgedunkel- desertieren, manche sogar zum Feind über-
Sozialwissenschaftler sehen in der Vernach- ten Hotelzimmer in Kano, ein bulliger laufen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass
lässigung die Hauptursache des Terrors. Mann, vielleicht 40 Jahre alt, Dienstrang bestechliche Offiziere Waffen an Boko Ha-
Goodluck Jonathan, seit 2010 im Amt, Feldwebel. Seit 20 Jahren ist er beim Mili- ram verkaufen. Moses will das nicht be-
hatte damals große Reformen angekündigt, tär, er bildet Spezialkräfte für den Feldzug stätigen. „Da kann ich nicht drüber reden“,
doch seine Bilanz fällt dürftig aus. Die Si- gegen Boko Haram aus. Moses war bei sagt er mehrmals. Er ist trotz allem stolz
cherheitslage im Nordosten hat sich dra- den Friedenseinsätzen nigerianischer Trup- auf seine Armee. Und er hat Angst.
matisch verschlechtert, obwohl die Ausga- pen in Liberia und Sierra Leone dabei, er Nach 20 Minuten bricht er das Gespräch
ben für Verteidigung erhöht wurden. Der stand an der Front im Grenzkonflikt mit ab. Schon viel geringere Kritik werde ge-
Präsident gilt als Zauderer, vor allem seine Kamerun. „Aber im Kampf gegen die Isla- ahndet, sagt er. Viele Soldaten trauten sich
FOTOS: KEMI AKIN-NIBOSUM / DER SPIEGEL

Tatenlosigkeit nach der Entführung von misten versagen wir.“ nicht einmal, nach ihrem Sold zu fragen,
276 Schülerinnen in Chibok wurde kriti- Dafür gebe es viele Gründe: veraltete selbst das könne bereits als Meuterei gel-
siert. Auch die Bekämpfung der Korruption Waffen, zu wenig Munition, miserable ten. Und die wird in Nigeria mit dem Tod
blieb ein Lippenbekenntnis. Immerhin ist Ausrüstung, planlose Operationen. Am bestraft. Bartholomäus Grill
es gelungen, die Ausbreitung des Ebola- schlimmsten aber sei die Korruption, vor
virus in Nigeria zu verhindern. allem auf der höchsten Ebene. „Die Gene- Video: Bartholomäus Grill
Aber Jonathan hat eine starke Macht- räle bereichern sich. Sie fahren dicke Autos über die Recherchen in Nigeria
basis im Süden des Landes, seine Chancen, und wohnen in schönen Villen, während spiegel.de/sp062015nigeria
wiedergewählt zu werden, stehen gut. die einfachen Soldaten oft vier Monate auf oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 6 / 2015 77


Der Grenzgänger
Ukraine Er ist Kunstsammler, Philanthrop und der westlichste aller Oligarchen. Sein Geld
verdient Wiktor Pintschuk aber im Osten. Das bringt ihn in Konflikte. Von Marc Hujer

E
r hat nach Hause eingeladen, an sei- stadion und die Münchner Allianz Arena maschine.“ Einen Moment wiegt er sein
FOTO: BÄRBEL SCHMIDT / DER SPIEGEL

nen Lieblingsort. Ein mehrere Tau- bauten, haben den Pavillon entworfen. Glas in der Hand, damit der Wein Luft be-
send Quadratmeter großes Anwesen, Der Butler hat einen Château Montrose kommt. Dann nimmt er, viel zu früh, einen
40 Autominuten vom Kiewer Maidan ent- entkorkt, einen schweren Bordeaux, Jahr- Schluck. Es ist ein großer, außergewöhn-
fernt, mit einem gläsernen Kunstpavillon gang 2005, es ist das Jahr, in dem die licher Wein, aber Pintschuk sagt: „Schme-
an einem See, umgeben von einem Bir- Orange Revolution aus Wiktor Pintschuks cken Sie die Enttäuschung?“
kenwald. Sicht scheiterte. Es ist eine Frage, die er nach den Parla-
Die Schweizer Architekten Herzog & „Es hängt sehr viel vom Jahrgang ab“, mentswahlen am 26. Oktober 2014 auch
de Meuron, die das Pekinger Olympia- sagt er. „Wein ist eine wunderbare Zeit- einem hochrangigen Mann der neuen
78 DER SPIEGEL 6 / 2015
Ausland
Unternehmer Pintschuk in Kiew
Die Vergangenheit überwinden

klingt es natürlich kultivierter, weniger an- Vor einigen Jahren räumte Pintschuk
greifbar. Auch deshalb erzählt dieser Mann vorsichtig ein, sein heutiges Vermögen sei
gern Geschichten, die mit 500 Euro teuren tatsächlich „keine unbefleckte Empfäng-
Weinen beginnen. nis“ gewesen. Und rechtfertigte sein Han-
Pintschuk hatte sich damals, nach der deln damit, dass er sich in dieser Zeit wie
Orange Revolution, so sagt er, einen viele andere verhalten habe. „Die Ästhetik
Rechtsstaat europäischer Prägung ge- der damaligen Epoche“ nennt er das. Es
wünscht und Reformen, die in diese Rich- ist ein Satz, den er besser nicht wiederho-
tung gehen. Er propagiert seit Langem len sollte, wenn er nicht erneut den Volks-
westliche Werte, die auch seinen eigenen zorn gegen sich aufbringen will.
Interessen entsprechen: Nur ein solcher Pintschuk erhebt sich von seinem Stuhl.
Rechtsstaat könnte den Status quo seines Er ist ein Mensch mit verschlossenem Ge-
Vermögens sichern. sicht, kein schulterklopfender Bulle wie
Und Wiktor Pintschuk, 54, hat und hat- andere Oligarchen, kein lauter Prolet, ob-
te viel zu verlieren. Er ist nicht nur reich, wohl seine leicht gedrungene Figur ein we-
sondern unverschämt reich. Die amerika- nig an den ehemaligen italienischen Minis-
nische Zeitschrift „Forbes“ schätzt sein terpräsidenten Silvio Berlusconi erinnert.
Vermögen auf 2,9 Milliarden Dollar, was Auf seinen Lippen liegt ein dünnes Lä-
ihn zum zweitreichsten Mann der Ukraine cheln, das freundlich ist, aber nicht fröh-
macht, nur Stahlbaron Rinat Achmetov, lich. Er weiß, wie er seine perfekte Höf-
Eigentümer des Fußballklubs Schachtar lichkeit als Waffe verwenden kann.
Donezk, ist noch reicher. Pintschuk besitzt Er spricht Englisch, mit kleinen Fehlern,
vier Fernsehsender, die Zeitung „Fakty i aber so, dass er jede Art Unterhaltung da-
Kommentarii“ und eine Stahl-, Röhren- mit bestreiten kann. Er hat dafür hart ar-
und Eisenbahnräderfabrik. Sein wichtigs- beiten müssen, in der Schule lernte er nur
ter Absatzmarkt ist Russland, was ihm zu- Russisch und Ukrainisch. Aber es gehört
nehmend Probleme bereitet. zu seinem Selbstverständnis, die wichtigste
Zu seinem 50. Geburtstag, den er im Sprache des Westens zu sprechen.
französischen Skiort Courchevel feierte, In der Mitte seines Glaspavillons hat er
ließ er den Cirque du Soleil einfliegen, in die Arbeit „The Incomplete Truth“ aufstel-
Kiew baute er für seine Kunstsammlung len lassen, eine weiße, in Formaldehyd ein-
ein eigenes Museum. Seit Jahren führt er gelegte Taube hinter einer himmelblauen
ein Oligarchenleben wie aus dem Bilder- Glasscheibe, ein berühmtes Kunstwerk
buch, bis heute. von Damien Hirst, das schon in der Tate
Die Proteste am Maidan waren aber Modern in London ausgestellt war. „Sehen
auch mit der Hoffnung verbunden, dass Sie diese Taube“, sagt Pintschuk. „Sie
die Macht der Oligarchen gebrochen wer- scheint zu fliegen. Sie sieht aus, als ob sie
de. Noch immer gilt die Ukraine als eines lebt. Aber in Wahrheit ist sie eingesperrt
der korruptesten Länder der Erde. In we- hinter diesem Glas. Sie ist befestigt. Und
nigen Jahren wurden hier wenige Männer sie ist tot.“
sagenhaft reich, zu ihnen gehört Pintschuk. Er redet über Kunst, vielleicht aber auch
Er gilt noch dazu als ein Oligarch, der über sich selbst. Er kann sich dieses An-
sich über eine Hochzeit in die Politik ein- wesen für Millionen Dollar leisten, mit
gekauft hat, um aus seinen Milliarden noch dem Glaspavillon, dem See, den er für sei-
mehr Milliarden zu machen. 2002 heiratete ne Spaziergänge anlegen ließ, seiner Villa
er Olena Frantschuk, Tochter des damali- auf dem Hügel daneben, in der er wohnt,
gen Präsidenten Leonid Kutschma. Für und dem kleinen Birkenwald, in dem er
Spottpreise kaufte er ab 2003 dann Stahl- mit seiner Tochter am Morgen noch Schlit-
fabriken aus der Konkursmasse der Sow- ten gefahren ist. Er sammelt zeitgenössi-
ukrainischen Regierung stellte, dessen Na- jetunion auf, Betriebe, die während der sche Kunst für Millionen: neben Damien
men man leider nicht erwähnen darf. Präsidentschaft seines Schwiegervaters pri- Hirst Skulpturen des Amerikaners Jeff
Pintschuk hatte zu jenem Treffen einen vatisiert wurden. Er hielt sich dabei zwar Koons und Bilder des deutschen Fotogra-
der besten Bordeaux-Weine überhaupt mit- wohl formal an Recht und Gesetz, doch wie fen Andreas Gursky und die Installationen
gebracht, einen Château Haut-Brion, eben- viele Privatisierungen fanden auch diese in des Isländers Olafur Eliasson. Und doch
falls Jahrgang 2005. Es war ein Geschenk, einer Grauzone statt. Die Ausschreibungen ist er kein freier Mensch, sondern gefangen
aber die Flasche sollte auch eine Warnung waren jeweils so formuliert, dass außer Pin- in diesem ewigen Konflikt zwischen Osten
sein, er überbrachte sie mit den Worten: tschuk, dem Schwiegersohn des Präsiden- und Westen. Den Westen liebt er, den
„Lassen Sie uns an diesem speziellen Tag ten, kaum andere als Käufer infrage kamen. Osten braucht er für seine Geschäfte.
diesen unglaublichen Wein trinken. Er erin- Auch deshalb wollte Julija Tymoschen- Er genießt den westlichen Lebensstil,
nert an ein großartiges Bordeaux-Jahr – aber ko, die nach der Orange Revolution zur aber sein Tanz um die Kunst, seine Liebe
auch an eine unglaubliche Enttäuschung für Ministerpräsidentin aufgestiegen war, ein zu französischen Weinen dienen auch dazu,
die Ukraine. Schmecken Sie die Enttäu- Exempel an ihm und anderen Oligarchen seine nicht immer rühmliche Vergangenheit
schung! Und verstehen Sie, dass sich das un- statuieren. Und so ordnete sie 2005 die zu übertünchen. Seine Gegner kritisieren
ter keinen Umständen wiederholen darf!“ Zwangsverstaatlichung von Pintschuks Pintschuks demonstrierte Nähe zum Wes-
Machen Sie uns bloß nicht noch einmal Hüttenwerk Kryworischstal an, um ein ten als „Versuch, sich weißzuwaschen“.
so einen Ärger, sollte das wohl heißen. Haar hätte sie ihm auch das Eisenwerk Pintschuk gilt als Europaversteher. Er
Aber so, wie Pintschuk es gesagt hat, Nikopol abgenommen. trifft sich mit Stefan Füle, bis vor Kurzem
DER SPIEGEL 6 / 2015 79
Ausland

und uns mit Waffen ausrüsten, die der


Verteidigung dienen.“
Der Krieg in der Ostukraine stachelt
die Kiewer Regierung zu regelrechten
Verzweiflungstaten an: Am Tag nach
dem Raketenschlag beschloss der Sicher-
heitsrat der Ukraine, sich den Sanktio-
nen der Amerikaner und der EU gegen
Russland anzuschließen. Das ist ein
großes Risiko für ein Land, das ohne
die Milliardenspritzen des Internationa-
len Währungsfonds, der Amerikaner
und der EU schon längst bankrott
wäre. Denn ein Gutteil der ukraini-
schen Wirtschaft hängt noch immer
von Exporten nach Russland ab.
Die Ukraine ist jetzt noch mehr ein
Trauerfeier in Mariupol Land mit begrenzter Souveränität. Die
Regierung hat nicht nur die Kontrolle
über ganze Landesteile verloren, son-
dern Angela Merkel hat der neuen Fi-

„Ein Kampf der Systeme“ nanzministerin, einer von Kiew schnell


eingebürgerten Amerikanerin ukraini-
scher Abstammung, auch zwei deut-
Ostukraine-Konflikt Nach dem Angriff auf Mariupol rüstet Kiew sche Beamte zur Seite gestellt – damit
die Hilfsgelder nicht in den Taschen
auf und schließt sich den Sanktionen an. korrupter Politiker versickern.
Der Krieg zehrt das Land aus. Ob-

E
s ist Dienstagmittag, in Mariupol wurde gestoppt. Droht nun die Offensi- wohl wegen der Wirtschaftskrise Sozial-
werden gerade die Toten beer- ve auf den gesamten Donbass? leistungen gekürzt werden mussten,
digt, als Arsenij Jazenjuk das Ka- Mehrere Erklärungen für den An- sieht das Budget eine Verdreifachung
minzimmer in seinem Amtssitz betritt. griff auf Mariupol sind möglich: Entwe- des Verteidigungshaushalts vor. Jazen-
Noch vor gut einem Jahr war er einer der will der Kreml die Ukraine und die juks Regierung hat zudem den Export
der Anführer der Maidan-Revolution, westlichen Staatschefs zu seinen Bedin- von Rüstungsgütern gestoppt, die Waf-
jetzt ist er ein Premier, der Krieg im gungen an den Verhandlungstisch fen benötigt das Land nun selbst. Kiew
Osten seines Landes führt. Er kommt zwingen, nachdem Angela Merkel ei- stornierte einen Vertrag über Panzer-
schnell auf den Raketenangriff gegen nen geplanten Krisengipfel wegen man- lieferungen nach Thailand, für den Irak
die ostukrainische Hafenstadt Mariu- gelnder Erfolgsaussichten abgesagt bestimmte Truppentransporter kaufte
pol am vorigen Samstag zu sprechen, hat. Oder die Rebellen wollen nun die die Armee auf. Noch 2012 war das
bei dem mindestens 31 Zivilisten star- von Kiew beherrschten Teile der Land der weltweit viertgrößte Expor-
ben. „Putin will die Ukraine als Staat abtrünnigen Bezirke Luhansk und Do- teur von konventionellen Waffen; einst
zerstören“, sagt Jazenjuk. „Es ist ein nezk erobern, vielleicht sogar eine stellte die Ukraine mit 3700 Betrieben
Kampf der Systeme. Russland tritt ge- Landbrücke zur Krim schaffen. In die- und vier Millionen Angestellten ein
gen den Westen und seine Werte an. sem Fall allerdings müssten 300 Kilo- Drittel der sowjetischen Rüstungs- und
Wir Ukrainer zahlen den Preis dafür.“ meter Küstenstreifen erobert werden. Weltraumindustrie.
Die Moskauer Regierungszeitung Deutlich war, dass sich Wladimir Pu- Die Sollstärke der Armee wurde be-
„Rossiiskaja gaseta“ tat den Raketen- tin und sein Außenminister Sergej Law- reits im Dezember auf 250 000 Solda-
angriff zwar als eine „neuerliche Pro- row so klar hinter die Rebellen stellten ten erhöht, 100 000 Ukrainer sollen in
vokation“ ab, initiiert von der Kiewer wie seit Wochen nicht mehr. Beide diesem Jahr im Rotationsverfahren an
Regierung. Doch ansonsten zweifelt sprachen erstmals von den „Volksrepu- die Front im Osten geschickt werden.
kaum jemand daran, dass es die von bliken“ Luhansk und Donezk. Der Der Enthusiasmus für den Krieg aber
Russland unterstützen Separatisten wa- Kremlkenner Sergej Markow sagt: schwindet. Am Mittwoch musste der
ren, die die Wohnsiedlung in Mariupol „Der Westen wird hart auf die Befrei- Generalstab in Kiew einräumen, dass
beschossen. Selbst die stets vorsich- ung von Mariupol reagieren. Wenn wir sich selbst in der friedlichen West-
tigen Experten der OSZE wiesen ihnen aber Odessa und Charkiw einnehmen, ukraine jeder zweite Einberufene dem
die Schuld zu. wird er an den Verhandlungstisch kom- Fronteinsatz entziehen will.
Separatistenführer Alexander Sa- men und endlich unsere Interessen be- „Man muss diesen Menschen helfen“,
chartschenko, Ministerpräsident der rücksichtigen.“ erklärte Putin maliziös vor Studenten
FOTO: DMITRY BELIAKOV / DER SPIEGEL

selbst ernannten „Volksrepublik Do- Genau das fürchtet offenbar auch in seiner Heimatstadt Sankt Peters-
nezk“, hatte nach dem Raketenschlag Jazenjuk. „Putin möchte die Millio- burg – und rief ukrainische Wehrpflich-
die baldige „Befreiung von Mariupol“ nenstadt Charkiw im Nordosten, unse- tige zur Fahnenflucht auf. „Sie können
angekündigt. Bereits im Mai hatten sei- ren Hafen in Odessa und am liebsten gern in Russland bleiben, statt Kano-
ne Leute die Großstadt am Schwarzen Kiew“, sagt er. „Der Westen muss jetzt nenfutter zu werden.“
Meer angegriffen, doch der Vormarsch handeln, die Sanktionen verschärfen Pavel Lokshin, Matthias Schepp

80 DER SPIEGEL 6 / 2015


EU-Erweiterungskommissar, mit Tony
Blair, José Barroso. Er lädt sie auf seine
Yes-Konferenz ein, die er zehn Jahre lang
auf der Krim und in diesem Jahr in Kiew
veranstaltete. Es ist eine prowestliche Ta-
gung, auf der auch führende europäische
Politiker zu Wort kommen, die sich sehr
kritisch über die Ukraine und Russland äu-
ßern. Er unterhält eine Stiftung, die ukrai-
nische Studenten fördert, die an interna-
tionalen Hochschulen studieren wollen.
Aber sein Geld verdient er noch immer
im Osten.
Auch deshalb hat Pintschuk sich schon
früh für eine Westorientierung der Ukrai-
ne starkgemacht, für eine Abkehr von der
Willkür des Ostens. Auch deshalb ist er
einer der wichtigsten Gesprächspartner
des Westens geworden. Es darf nur nicht
so aussehen, als befürwortete er eine Ab-
kehr vom Osten. Es ist ein stetiger Grenz-
gang zwischen zwei Welten, ein gefähr-
liches Spiel, das er, der Meister der
Zwischentöne, besser als andere be-
herrscht. Doch nun, nach den Protesten
am Maidan, dem Regierungswechsel in
Kiew und dem Ausbruch des Krieges in
der Ostukraine, gibt es keinen Raum mehr
für Zwischentöne, es ist die Zeit des Ent-
weder-oder: Russland oder Europa. Das
macht es so schwer. Ehepaar Pintschuk mit Künstlern Hirst (l.), Koons (r.): „Ein demokratischer Oligarch“
Als im November 2013 die Proteste auf
dem Maidan begannen, verfolgte Pin- wenig geändert. Es gibt immer noch zwei Geschmack? Ein Märtyrer ist Pintschuk je-
tschuk die Ereignisse zunächst zu Hause Welten in diesem Land: eine mit und eine denfalls nicht. Er ist Risiken eingegangen,
vor dem Fernseher. Sein Sender ICTV be- ohne Bodyguards. aber er hat nie alles riskiert. Nie hat er
richtete rund um die Uhr von den De- In der Kiewer Innenstadt, im 26. Stock sich voll auf eine Seite geschlagen, immer
monstrationen, das war Risiko genug. des Parus Business Centre, liegt Pintschuks ließ er sich eine Hintertür offen. Aber wie
Er wusste, dass seine Mitarbeiter den Mai- Büro: 400 Quadratmeter mit einem atem- viel der eigenen Macht ist er jetzt bereit
dan besuchten, gelegentlich erkundigte er beraubenden Blick über Kiew. Hier steht zu opfern? Wie viel Westen will er wirklich
sich bei ihnen nach dem Geschehen dort. das „Zerbrochene Ei“ von Jeff Koons, eine für die Ukraine?
Er selbst legte sich zunächst nicht öffent- schulterhohe Plastik von Antony Gormley, In Dnipropetrowsk, seiner Heimatstadt,
lich fest. Drei Wochen nach Beginn der an der Wand hinter dem Konferenztisch hat er vor zwei Jahren das modernste
Proteste aber, lange bevor Präsident hängt das Bild „Ocean I“ von Andreas Stahlwerk der Ukraine eröffnet. Es ent-
Wiktor Janukowytsch aus Kiew flüchtete, Gursky. Es ist ein Ort, den er nie ohne sei- spricht westlichen Umwelt- und Arbeits-
bekannte er sich zum Maidan: „Nichts ne beiden Bodyguards betritt. Das Handy standards. 700 Millionen Dollar hat er
ist kraftvoller als freie Bürger, die offen muss man bei der Vorzimmerdame unter investiert. So viel, sagt er, hätte sonst
ihre Meinung kundtun. Das macht mir einer gläsernen Kuchenglocke ablegen – niemand ausgegeben. Er habe das Gefühl
große Hoffnung für die Zukunft unseres auch über ein abgeschaltetes Handy könn- gehabt, er sei seinem Land um Jahre
Landes.“ te ja ein Gespräch abgehört werden. Pin- voraus. Es ist für ihn ein Stück Europa
Er teilt die Ziele der Revolution, aber tschuks Mitarbeiter reden mit gedämpfter mitten in der Ukraine, ein energiesparen-
er fürchtet ihre Unberechenbarkeit, die Stimme, selbst bei geschlossener Bürotür. des Werk, das sich bezahlt machen soll,
Wut der Revolutionäre. Können sie mit ih- Wenn sie aufgeht, ist es still wie auf dem wenn einmal die Energiepreise anziehen.
rer neuen Macht umgehen, den Rache- Friedhof. Ein Werk, das zu seinem Masterplan ge-
gelüsten? „Ich ziehe Evolutionen den Re- Auf einem Glastisch neben dem Eingang hört: die Ukraine zu verändern ohne neue
volutionen vor“, sagt er, „Evolutionen sind stehen die Fotos, die ihn mit den Großen Revolution.
nicht unbedingt langsam. Aber sie zerstö- der westlichen Welt zeigen: Pintschuk mit Pintschuks Stahlwerk steht wie ein
ren keine staatlichen Institutionen.“ Hillary und Bill Clinton. Pintschuk im Wei- Fremdkörper in der Landschaft, eine fu-
Er sagt, die Ukraine erlebe gerade die ßen Haus mit Barack Obama. Pintschuk turistische Insel im postsowjetischen Ab-
gefährlichste Zeit seit ihrer Unabhängig- mit George Bush senior, mit Paul McCart- bruchland. Den Lichtkünstler Olafur Elias-
keit 1991. Alte Konflikte brechen wieder ney. Kein anderer Oligarch in der Ukraine son hat er beauftragt, eine künstliche Son-
auf, alte Rechnungen werden beglichen. hat so viel Freunde im Westen. Das hat ne über der Fabrik zu errichten, die von
Es ist ein Erbe, das sein Land so schnell ihm den Ruf eingebracht, ein besserer vielen Stellen der Stadt gesehen werden
nicht loswerden wird, diese alte Macht Oligarch zu sein, ein „demokratischer kann. Für die Haupteinfahrt entwarf Elias-
FOTO: GETTY IMAGES

der Oligarchen, zu denen auch er gehört. Oligarch“, wie ihn das Magazin „Forbes“ son einen spiralförmigen Tunnel, den der
Die Revolution hat für eine neue poli- einmal genannt hat. Aber kann man „ein Künstler den Zeittunnel nennt. Wer ihn
tische Führung gesorgt, an den gesell- demokratischer Oligarch“ sein? Oder ist passiert, hat das Gefühl, er fahre immer
schaftlichen Strukturen aber hat sich alles nur eine Fassade von Stil und gutem schneller und werde sozusagen hinein-
DER SPIEGEL 6 / 2015 81
katapultiert in die Firma der zurückdrängen, sagt er heute.
Zukunft. Der Umsturz auf dem Maidan
Jeden Morgen müssen sich habe der Ukraine zwar eine
Pintschuks Mitarbeiter einem zweite Chance eröffnet, aber
Alkoholtest unterziehen, mehr es werde die letzte sein. „Noch
als 0,2 Promille führen zur immer werden Milliardensum-
fristlosen Entlassung. Bestraft men aus dem Staatshaushalt
wird auch Schlampigkeit, die abgezweigt“, sagt Pintschuk.
der Firma unnötige Kosten „Die Oligarchen haben noch
verursacht. Die Fotos der be- zu viel Einfluss auf Politiker.“
troffenen Angestellten werden Die neue Regierung werde die-
wochenlang auf „Tafeln der se Macht nur erfolgreich redu-
Schande“ ausgestellt, die über- zieren können, wenn sie es
all in den Fluren hängen. Es Schritt für Schritt tue, statt sich
sind drastische Maßnahmen, im Gerangel um mehr Einfluss
um das Unternehmen fit zu zerfleischen zu lassen.
machen für die Hinwendung Er hält es für ein großes Ver-
der Ukraine nach Europa. säumnis von Präsident Poro-
Aber der Maßnahmenkatalog schenko, bisher nicht engagier-
zeigt auch, mit welchen Pro- ter durchgegriffen zu haben.
blemen das Land noch immer „Er hätte verhindern müssen,
kämpft, wie viel es aufholen dass sich die Oligarchen weiter
muss, um mithalten zu kön- in die Politik einmischen.“ So
nen. Veränderung braucht säßen nun wieder Abgeordne-
eben Zeit, mehr Geduld, als te im Parlament, die deren
die Revolutionäre haben. Weisungen ausführten. Er hat
Pintschuk befürwortet harte über dieses Thema gerade ei-
Sanktionen gegen Russland, nen Kommentar für die „Fi-
aber er achtet darauf, sich so nancial Times“ geschrieben.
auszudrücken, dass er seine Es gibt noch Nachfragen von
guten Geschäftsbeziehungen der Redaktion in London, es
zu Russland nicht schädigt. Er geht um Kleinigkeiten. Tho-
unterstützt den ukrainischen mas Weihe, sein persönlicher
Präsidenten Petro Poroschen- Kunstinstallation „Sunrise“ von Eliasson in Dnipropetrowsk Assistent, ein Deutscher, hat
ko, auch wenn er seit der Futuristische Insel im postsowjetischen Abbruchland sich neben ihn gesetzt, um die
Orange Revolution ein ambi- Korrekturen zu besprechen.
valentes Verhältnis zu ihm hat, weil beide Kommunist, der beste Schüler seines Jahr- „Die Ukraine braucht harte, nicht un-
damals unterschiedliche Ziele vertraten. gangs, Träger von zwei Goldmedaillen in eingeschränkte Liebe“, lautet die Über-
Er lobt Poroschenko für seinen „sehr prag- Mathematik. Zu den bleibenden Erinne- schrift. Es geht um den Kampf gegen die
matischen“ Kurs, die vorgezogenen Wah- rungen seiner Jugend zählt seine erste Rei- Korruption, um den schädlichen Einfluss
len, die temporäre Selbstverwaltung in der se nach Moskau. Er hat danach im Wohn- der Oligarchen. Pintschuk schreibt, dass
Ostukraine, dafür, dass er die Krim nicht zimmer den Roten Platz aus Pappe nach- er selbst einmal Abgeordneter gewesen
aufgeben wollte. gebaut und lange darauf bestanden, dass sei, aber seine Lektion gelernt und sein
Aber er vermeidet es, ein einziges er nicht abgebaut wird. Amt abgegeben habe. Heute säßen mehr
schlechtes Wort über Wladimir Putin zu Pintschuk wuchs in der Zentralukraine als ein Dutzend Alumni seiner Stiftung in
sagen, er gibt kaum Hinweise darauf, was auf, in Dnipropetrowsk, der verbotenen Parlament und Regierung, Menschen, die
er von ihm denkt. Und dann wird er doch Stadt. Hier wurden Mittelstreckenraketen auf seine Kosten im Ausland studiert hät-
wieder deutlich. Zu dem Krieg, der im hergestellt, der Stolz der sowjetischen Rüs- ten. Das sei zwar auch eine Art von Ein-
Osten der Ukraine tobt, sagt er: „Ich halte tungswirtschaft. Viele ukrainische Füh- fluss, aber eine sehr westliche. „Sie sind
die derzeitige Eskalation für extrem ge- rungskräfte sind hier geboren. Wo die Pin- unabhängig. Sie sind ihrem Land ver-
fährlich, die Ukraine braucht dringend tschuks wohnten, in einem Teil der Stadt, pflichtet. Nicht mir.“
Unterstützung aus dem Westen. Es gibt in dem die gehobenen Werktätigen der Sein Mitarbeiter erinnert ihn an die
bei uns ein Sprichwort, das besagt, wenn sowjetischen Kombinate lebten, waren alle Änderungen, die noch nach London ge-
der fette Kerl nur Gewicht verliert, liegt Metaller: die Nachbarn über ihm, unter schickt werden müssen. Aber Pintschuk
der dünne Kerl schon im Sterben. Der ihm und natürlich auch seine Eltern. ist jetzt, nach dem Wein, nicht in der
Westen muss verstehen, dass die Ukraine Er spezialisierte sich später, in seinem Stimmung für Kleinkram. Weihe schaut
dieser dünne Kerl ist.“ Pintschuk fordert Studium, auf Materialwirtschaft für me- ihn erstaunt an. Er ist es gewohnt, dass
wirtschaftliche Unterstützung vom Wes- tallverarbeitende Betriebe. Danach lässt Pintschuk seine Sätze unzählige Male wen-
ten, einhergehend mit Reformen zu Hause, er sich eine Erfindung patentieren: Er hat det, Worte so lange tauscht, bis er das
und er fordert Waffen. herausgefunden, wie man nahtlose Röh- Gefühl hat, keinesfalls missverstanden
Dabei redet er nur ungern schlecht ren produzieren kann. Es ist eine Ge- zu werden.
über die Sowjetunion. Sie habe ihm nichts schichte, die er gern erzählt, weil sie den Aber diesmal muss er nichts ändern. Es
FOTO: INTERPIPE STEEL

vorenthalten, sagt er. Denn sie sei gerade Anschein erweckt, dass in ihm, dem Oli- ist nicht mehr so wichtig, die richtigen Zwi-
rechtzeitig zusammengebrochen, um ihn garchen, auch ein ehrlicher Unternehmer schentöne zu finden. Die Zukunft der
aufsteigen zu lassen. Er war, glaubt man steckt. Ukraine liegt jetzt eindeutig im Westen.
den Erzählungen seiner Mutter, ein Mus- Die neue Regierung müsse den Einfluss Pintschuk schaut in die Runde. Noch
terschüler der Sowjetunion, ein stolzer der Oligarchen in der Politik unbedingt einen Schluck Château Montrose?
82 DER SPIEGEL 6 / 2015
Ausland

Es war einmal eine Revolution


Ägypten Vier Jahre nach dem Aufstand ist das Land wieder eine Diktatur.
Wie konnte das geschehen? Der Autor Thanassis Cambanis hat drei Tahrir-Anführer seither begleitet –
und das langsame Sterben ihrer Rebellion beobachtet.

A
m vierten Jahrestag der Revolution
wiegt der inhaftierte Blogger Alaa
Abdel Fattah 72 Kilo, es ist der
84. Tag seines Hungerstreiks. Der frühere
Muslimbruder Moaz Abdelkarim ist in die
Türkei geflohen. Und der Architekt Basem
Kamel ist Abgeordneter in einem Parlament,
das vor über zwei Jahren aufgelöst wurde.
18 Tage lang waren die drei Männer
Hauptakteure in einem großen histori-
schen Drama. Sie wollten ihr Land, ja, den
ganzen Nahen Osten neu erfinden, und
die Welt sah ihnen begeistert zu. Ein Mus-
limbruder, ein Architekt und ein Blogger,
die gemeinsam Herz, Hirn und Muskeln
des Aufstands bildeten; ohne die es die Re-
volution vielleicht nicht gegeben hätte.
Die drei Aktivisten schliefen fast jeden
Tag auf dem Tahrir-Platz im Zentrum von
Kairo, sie versorgten Verwundete und ko-
ordinierten den Protest. Als Präsident Hos-
ni Mubarak am 11. Februar 2011 seinen
Rücktritt verkündete, weinten, beteten
und tanzten Millionen Menschen auf dem
Tahrir und im ganzen Land. „Niemals wie-
der kann das Regime das Volk ignorieren“,
rief der Architekt Basem Kamel, kaum hör-
bar im Jubelgeschrei. Er war zuversichtlich,
dass die Generäle die Macht schnell an das
Volk übergeben würden.
Vier Jahre später ist von der Revolution
wenig übrig – und ihre Helden sind geflo-
hen, im Gefängnis oder bedeutungslos.
Aber sie haben nicht aufgegeben.
Als der Aufstand auf dem Tahrir begann,
arbeitete Alaa Abdel Fattah in Südafrika
als Programmierer. Er kam sofort zurück,
und als ich ihn im Februar 2011 das erste
Mal traf, starrte er sehnsüchtig auf die Zen-
trale des Staatsfernsehens, das Maspero-
Gebäude am Nil. „Es ist unmöglich, dieses
Haus einzunehmen“, sagte er und deutete
auf die Reihen von Panzern, die es umga-
ben. „Sie können uns alle töten.“
Alaa war damals 29, er hatte einen klei-
nen Bauch, wilde Locken und ein anste-
ckendes Lachen. Er war ein Computernerd,
ein Intellektueller, aber auch einer, der be-
FOTO: RENA EFFENDI / INSTITUT / DER SPIEGEL

reit war zu kämpfen. Wann immer das Re-


gime die Demonstranten angriff, stand er
in der ersten Reihe. Er wurde schon mit
Widerstandsgeist geboren, sein Vater war
ein bekannter Menschenrechtsanwalt.
Zum ersten Mal saß Alaa unter Mubarak
im Gefängnis, zum zweiten Mal nach der
Revolution 2011, zum dritten Mal Ende
Abgeordneter Kamel in Kairo
2013. Zum vierten Mal wurde er im Som-
DER SPIEGEL 6 / 2015 83
Ausland

mer 2014 inhaftiert. Am 18. August 2014 visten an, die sich in einer geheimen Woh- Aber er glaubte trotzdem, dass die
begann Alaa seinen ersten Hungerstreik, nung trafen und später die „Revolutionäre Revolution eine Chance habe, er glaubte
in seiner Gefängniszelle. Jugendkoalition“ bilden würden. es bis zu jenem 14. August 2013, als die
Der Prozess gegen ihn war ein absurdes Nach der Revolution gründete Moaz mit Sicherheitskräfte auf dem Platz Rabaa al-
Schauspiel, aufgeführt von einem paranoi- anderen jungen Muslimbrüdern die „Partei Adawija aufmarschierten. Dort campierten
den Polizeistaat. Man warf ihm Verbre- der ägyptischen Strömung“. Sie waren Is- die Anhänger Morsis und forderten die
chen gegen den Staat vor, zu bestrafen mit lamisten, aber sie glaubten an eine demo- Wiedereinsetzung ihres vom Militär ge-
15 Jahren Haft. Alaa saß in einem Glas- kratische Regierung, die Religion und Poli- stürzten Präsidenten. Die Sicherheitskräfte
käfig, sein Mikrofon war ausgeschaltet. Die tik trennt. „Ich bin islamisch“, sagte Moaz hätten das Sit-in mit Tränengas und Was-
Staatsanwälte waren nicht in der Lage, ihm im Frühling 2011. „Aber ein Staat kann serwerfern räumen können, wie so oft.
etwas nachzuweisen; als Indiz präsentier- nicht islamisch sein, so wie auch ein Stuhl Stattdessen schossen sie mit scharfer Mu-
ten sie unter anderem ein Video, das seine nicht islamisch sein kann.“ Er kritisierte nition in die Menge, aus kurzer Distanz.
Frau beim Bauchtanz zeigt. Er kam auf die Muslimbrüder öffentlich, als diese sich Fast einen Tag dauerte das Massaker, am
Kaution frei, aber nur kurz. entschlossen, eine Partei zu gründen. Die Ende waren mindestens 800 Menschen tot,
„So wie meine Verhaftung eine Ver- Organisation begann ein Disziplinarverfah- laut den Muslimbrüdern sogar 2600.
schwörung ist, so ist es auch meine vor- ren gegen Moaz – und schloss ihn aus. Auf Twitter erklärte Moaz’ Freund Ba-
übergehende Freilassung“, schrieb Alaa Zweimal wurden die Anführer der „Re- sem, die Muslimbrüder seien selbst schuld
auf Facebook. Nur wenige Wochen später volutionären Jugendkoalition“ vom regie- am Massaker, sie hätten es provoziert.
wurde er erneut verhaftet. Das Urteil wur- renden Obersten Rat der Streitkräfte ein- Moaz fuhr Verwundete ins Kranken-
de mittlerweile wegen Verfahrensfehlern geladen, auch Moaz war dabei. Die Gene- haus, organisierte heimliche Treffen, half,
aufgehoben, er wartet im Gefängnis auf räle hörten belustigt zu, was die jungen die Leichname in der Moschee aufzubah-
seinen neuen Prozess. Auch seine jüngere Aktivisten zu sagen hatten. Und ignorier- ren, darunter viele seiner Freunde. Ein
Schwester Sanaa Seif sitzt im Gefängnis, ten dann all ihre Vorschläge und Bitten. Mann verblutete in seinem Auto. Moaz
verurteilt zu zwei Jahren. Weil sie gegen Schnell war Moaz klar, dass die Generäle weinte, während er fuhr, vor Verzweiflung
die Haft ihres Bruders demonstriert hatte. nichts ändern wollten, dass das alte Re- und Erschöpfung. Fünf Tage lebte er in sei-
So sieht es aus in Ägypten, vier Jahre nach gime noch immer an der Macht war. nem Auto. Er sah, wie die Freunde, die
der Revolution, die am 25. Januar 2011 be- überlebt hatten, in den Tagen nach dem
gann und kurz darauf den ewigen Präsiden- Massaker verhaftet wurden. Auch gegen
ten Mubarak zum Rücktritt zwang. Seitdem ihn bereitete die Justiz Anklagen vor; sie
das Militär im Juli 2013 den Muslimbruder warf ihm vor, er habe mit der libanesischen
Mohamed Morsi abgesetzt hat, den ersten Hisbollah zusammengearbeitet.
frei gewählten, zivilen Präsidenten des Lan- Als er fünf Tage nach dem Massaker
des, ist die kurze Phase der Freiheit endgültig nach Hause kam, weinte seine Mutter, sie
vorbei. Seither ist die Muslimbruderschaft hatte gedacht, er sei tot. Moaz packte seine
verboten. Die Verfahren gegen Mubarak Sachen und stieg kurz darauf in ein Flug-
führten zu nichts, seine ebenfalls angeklagten zeug, das ihn in die Türkei brachte.
Söhne wurden gerade freigelassen. Kritiker Monatelang kannten die Medien kein
sitzen im Gefängnis oder sind ins Exil geflo- anderes Thema als den „islamistischen Ter-
hen. Und in Kairo regiert wieder das Militär, ror“. Im November, drei Monate nach dem
mit einem starken Mann an der Spitze. Massaker, schränkte das Militärregime Pro-
Es gibt weniger Möglichkeiten für Wi- teste stark ein und verhaftete zahlreiche
derspruch als vor der Revolution. Versamm- Kritiker unter dem Vorwand, dass sie die
lungen und Proteste sind verboten; die Ge- nationale Sicherheit gefährdeten. Auch der
heimpolizei kontrolliert mehr denn je. Das Blogger Alaa kam, mal wieder, ins Gefäng-
Parlament ist aufgelöst, und die Medien nis. Im Januar 2014 testete Sisi den Wider-
jubeln dem neuen Präsidenten und frühe- stand der Bürger mit einem Verfassungs-
ren Feldmarschall Abdel Fattah el-Sisi zu. referendum, es wurde mit 98 Prozent an-
genommen. Im Mai wurde Sisi dann mit

A uch gegen Moaz Abdelkarim, 30, läuft


ein Verfahren in Kairo, aber er konnte
rechtzeitig fliehen. Der Apotheker und
97 Prozent zum Präsidenten gewählt.
Moaz lebt seither in der Türkei, alle
30 Tage muss er ausreisen, um ein neues
einstige Muslimbruder lebt jetzt in Istanbul Touristenvisum zu bekommen. Es ist ein Le-
und hat sich den Bart abrasiert. „Es sieht ben in Unruhe, in ständiger Bewegung.
nicht so aus, als hätten wir eine Revolution Nach Kairo zurückkehren kann er vielleicht
gemacht“, sagt er. „Es sieht so aus wie ein nie, der Prozess gegen ihn läuft weiter,
totaler Misserfolg.“ Moaz ist wegen Terrorismus angeklagt. „Sie
Moaz war während der Revolution ein wollen uns beschäftigt halten mit ausgedach-
FOTO: KHALED ELFIQI / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)

junger Muslimbruder, der sich anzog wie ten Vorwürfen“, sagt er, „sodass wir keine
ein alter Islamist, mit Bundfaltenhosen und Zeit haben, das Regime zu bekämpfen.“
karierten Hemden. Aber sein Grinsen war Deswegen arbeitet er jetzt an der Aussöh-
jungenhaft, er war ein wenig naiv, mit ei- nung zwischen Säkularen und Islamisten,
sernem Willen. Er war Muslimbruder in mit der die nächste Revolution beginnen soll;
dritter Generation, und doch störten ihn denn er hofft, dass die Ägypter bald genug
die autoritären Traditionen. Obwohl die haben werden von Sisis Herrschaft. Doch
Anführer ihren Mitgliedern anfangs befah- an diesem Wintertag sind gerade wieder
len, politischen Aktionen fernzubleiben, Flüchtling Abdelkarim*, Blogger Abdel Fattah
schloss sich Moaz einer Gruppe von Akti- „Sie können uns alle töten“ * In Istanbul.

84 DER SPIEGEL 6 / 2015


Man kann Basem noch immer im Haupt-
quartier der Sozialdemokraten treffen, einem
heruntergekommenen Prachtbau im Zen-
trum Kairos. Früher waren die Büros voller
Menschen, heute sind sie wie ausgestorben.
„Die meisten Ägypter unterstützen uns nicht
mehr“, sagt der Abgeordnete. „Das Problem
in Ägypten ist nicht das Regime, es sind die
Menschen. Wir müssen sie überzeugen.“
Auch mehr als ein Jahr später bereut er
Morsis Absetzung nicht, aber inzwischen
sieht er die Rückkehr zur Diktatur mit Sor-
ge. „Es gibt nur noch eine Politik, die er-
laubt ist: Sisis Politik.“ Er glaubt, Sisi werde
mindestens zwei Amtszeiten lang Präsident
sein. „Dann sind wir wieder im Spiel.“
Trotzdem will er bei der Parlamentswahl
antreten, die im Frühjahr stattfinden soll.
Auch wenn rund 80 Prozent der Sitze für
unabhängige Einzelkandidaten reserviert
Anti-Morsi-Demonstration im Juli 2013 auf dem Tahrir: „Niemals wieder das Volk ignorieren“ sind und nur 20 Prozent für Parteien. Das
schwächt die Parteien und stärkt alle, die
seine Versuche gescheitert, zwischen säku- tion wird so enden, wie sie begonnen hat“, gut vernetzt sind und das Geld für die teu-
laren Regimekritikern und Muslimbrüdern sagte er, vor sich eine Mauer aus ver- ren Wahlkampagnen aufbringen können.
im Exil zu vermitteln. Das Misstrauen zwi- mummten Polizisten. „Ein paar Hundert Doch er ist noch immer überzeugt, dass
schen ihnen war so groß, dass die Gruppen Menschen werden protestieren, und nie- Ägypten eine Demokratie werden kann,
sich nicht einmal persönlich treffen wollten. mand wird sich dafür interessieren.“ auch wenn es Jahrzehnte dauern wird. Es
„Wir brauchen einen Dialog, und wir Basem war als einer der Letzten zu den seien die Egomanie der Politiker und die
müssen uns darauf einigen, wofür wir Aktivisten gestoßen, er war älter als die Apathie der Öffentlichkeit, die die Revo-
kämpfen wollen“, sagt Moaz. Die einzige meisten, damals 41, ein großer, dünner lution hätten scheitern lassen. Die Oppo-
Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings Mann mit beginnender Glatze, Vater von sitionsparteien müssten sich zusammen-
habe es in Tunesien gegeben, weil die Op- drei Kindern. Seine Großeltern waren arme schließen, um mehr Einfluss zu haben –
position dort bereits im Exil einen Dialog Bauern gewesen, er selbst hatte Architektur stattdessen bekämpften sie sich. All die
begonnen hatte. Das versucht er nun auch, studiert. Im Studium hatte er moderne Ge- nach der Revolution gegründeten Parteien,
er ist im Vorstand der Ghad-Partei, einer bäude aus nachhaltigen Materalien entwor- sagt Basem mit einem Seufzen, seien nicht
der wenigen säkularen Parteien, die Be- fen; doch sein Geld verdiente er mit billigen besser als die nutzlosen Oppositionspar-
ziehungen zur Bruderschaft haben. Aber Betonblocks, in die man möglichst viele teien, die es unter Mubarak gab.
die Parteiführer sind im Exil verstreut und Bewohner pferchen kann. So hatte er sich Basem will sich jetzt wieder mehr um
machtlos gegen die Propaganda des Re- zu einem Mittelklasseleben hochgearbeitet. seine Baufirma kümmern, die er in den
gimes. Moaz lernt jetzt Türkisch und spielt Doch obwohl er 16 Stunden am Tag schuf- vergangenen Jahren vernachlässigt hat.
mit dem Gedanken, wieder als Apotheker tete, fiel es ihm schwer, seine Familie durch- Sein Geschäft hat Kunden verloren, seine
zu arbeiten – und die Politik zu vergessen. zubringen. Das machte ihn wütend, und Familie lebt von der Hand in den Mund.
diese Wut war es, die ihn erst zu Treffen „Heute ist meine erste Priorität mein Ge-

B asem Kamel ist der einzige der drei


Revolutionäre, der noch in Ägypten
ohne Angst politisch aktiv sein kann. Er
des Politikers Mohamed ElBaradei und bald
danach auf den Tahrir trieb.
Es war einer der Erfolge des Tahrir-Auf-
schäft“, sagt er. „Politik kommt danach.“
Alaa ist noch immer im Hungerstreik,
gerade wurde er ins Gefängniskranken-
gründete nach der Revolution die Sozial- stands, Menschen wie Basem zu politisie- haus eingeliefert. Viele Aktivisten hatten
demokratische Partei mit. Nur vier Tahrir- ren, er repräsentierte all die Ägypter, die sich seinem Hungerstreik angeschlossen,
Aktivisten wurden vor drei Jahren ins Par- sich sonst lieber raushielten. Ihre Unter- doch gebracht hat ihr Protest nichts, er ist
lament gewählt, er war einer von ihnen. stützung war entscheidend für den Erfolg ein letztes Aufbegehren, ein Sinnbild der
Danach änderte er seinen Facebook-Status der Revolution. Aber am Ende waren sie Sackgasse, in der die Revolution steckt.
von „Architekt“ in „Politiker“. es auch, die abtrünnig wurden und die Mi- „Wichtig ist, dass wir die Herrschenden
Als die frisch gewählten Abgeordneten litärregierung unterstützten. weiter unter Druck setzen“, sagte Alaa,
kurz vor dem ersten Jahrestag des Auf- „Machst du dir keine Sorgen über eine bevor er aufhörte zu essen. „Ich werde
stands tagten, sah Kairo aus wie ein Kriegs- Militärherrschaft?“, fragte ich Basem, nach- nicht die Rolle spielen, die sie für mich ge-
gebiet. Das Militär hatte die Straßen um dem die Generäle den Muslimbruder Mor- schrieben haben. Wir haben genug.“
den Tahrir mit Betonmauern gesperrt, der si im Sommer 2013 gestürzt hatten.
Weg zum Parlament war von Stacheldraht „Wir wissen, wie wir mit dem Militär Der Journalist Thanassis Cambanis, 40, lebt
gesäumt. Die Muslimbrüder und die Sala- umgehen müssen“, antwortete er. „Es sind in Beirut und ist Fellow des US-Thinktanks
fisten hatten eine Mehrheit errungen. Aber die Islamisten, die uns Sorgen machen.“ Century Foundation. Sein Buch „Once Upon
Basem blieb optimistisch. „Die Revolution Obwohl Basem ein autoritäres Regime
FOTO: SUHAIB SALEM / REUTERS

A Revolution“ über die ägyptische Revolution


ist endlich Politik geworden“, sagte er, wäh- bekämpft hatte, freute er sich über das ist gerade bei Simon & Schuster erschienen.
rend er zum Parlament lief. Ende der Demokratie in Ägypten. „Es ist
Davor demonstrierte zur gleichen Zeit eine Revolution, kein Putsch“, sagt er. Video: Chronik einer
Moaz gegen den Militärrat, gegen Zensur, „Wenn du es unbedingt Putsch nennen gescheiterten Revolution
Folter, Verhaftungen, die es doch eigent- willst, dann nenn es wenigstens einen vom spiegel.de/sp062015aegypten
lich nicht mehr geben sollte. „Die Revolu- Volk legitimierten Putsch.“ oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 6 / 2015 85


Ausland

HANOI
besonders vietnamesisch aussehen, sagte der Tourist. Xuan
überlegte.
Er kennt sich aus mit Kautschuksandalen, schon sein Vater
produzierte sie. 1968 übernahm Xuan das Geschäft. Während
des Krieges trug so gut wie jeder Sandalen, nicht wenige Viet-
namesen glauben, dass sie das Land „zum Sieg über die Ame-
König der Sandalen rikaner“ getragen haben. Sie sind ein Mythos. Im Alltag jedoch
sind Gummisandalen heute eher out, es gibt kaum noch Schuh-
macher, die sie herstellen. Denn seit den Neunzigerjahren, seit
Global Village Ein vietnamesischer Schuster die Wirtschaft boomt, tragen viele Vietnamesen lieber bunte
macht die Gummilatschen Sneakers und Lederschuhe. Sandalen sind nur noch etwas für
die Armen.
von Ho Chi Minh zum Exportschlager. Xuan versuchte, sich vorzustellen, was für einen Touristen
besonders vietnamesisch aussehende Sandalen sein könnten.

S
chuhe sind ein Spiegel des Charakters, findet Pham Quang Er dachte an Ho Chi Minh, er schaute Fernsehen und las
Xuan. Ho Chi Minh zum Beispiel trug am liebsten Sanda- Zeitung. Die Journalisten und Politiker redeten zu diesem
len aus alten Autoreifen mit zwei sich überkreuzenden Zeitpunkt viel von den umstrittenen Inseln im Südchinesischen
Riemen über dem Fußrücken. Onkel Ho, wie der Revolutionär Meer. Da kam Xuan eine Idee. Er schnitzte die Landkarte Viet-
und spätere Präsident in Vietnam respektvoll genannt wird, nams in die Sandalensohlen, erst das vietnamesische Festland,
soll die Kautschuksandalen sein Leben lang getragen haben, daneben ritzte er ein paar feine Kerben: oben für die Hoang-
sogar um die halbe Welt ist er mit ihnen gereist. „Genauso Sa-Inseln, unten für die Truong-Sa-Inseln. „Der Tourist war
war auch der Charakter von Onkel Ho“, sagt Xuan, „beschei- sehr zufrieden“, sagt Xuan.
den, aber unbeugsam.“ Die Hoang-Sa-Inseln sind als Paracel-Inseln bekannt, sie
Xuan ist ein vietnamesischer Schuster, er ist 73 Jahre alt werden von China kontrolliert und von Vietnam und Taiwan
und eigentlich reif für den Ruhestand. Aber seit einiger Zeit beansprucht. Die Truong-Sa-Inseln werden Spratly-Inseln
ist er so gefragt wie noch nie in seinem Leben. Er ist vom genannt, auf sie erheben Vietnam, China und Taiwan, Brunei,
Schuster zum Sonderbeauftragten für die Pflege des nationalen die Philippinen und Malaysia ganz oder teilweise Anspruch.
Kulturerbes aufgestiegen. Mit seinen Sandalen war Xuan ins heikle Feld der Geopolitik
Alles begann 2012, als ein ausländischer Tourist Xuans vorgedrungen.
Werkstatt in Hanoi betrat und ein Paar Gummisandalen Kaum hatte sich die Nachricht von den patriotischen Sanda-
bestellte. Die Sandalen sollten ein Souvenir sein und len herumgesprochen, kamen weitere Kunden und verlangten
das gleiche Modell. Kurz darauf standen Fernsehreporter in
Xuans Werkstatt. Sie fragten, was er mit seinen Sandalen aus-
sagen wolle. Und warum er umstrittene Inseln in die Sohlen
graviert habe. Xuan kann die Aufregung nicht verstehen. Er
sei doch kein Nationalist, sagt er, sondern nur ein einfacher
Bürger, der die Zeitung lese und sich seine Meinung zum Zeit-
geschehen bilde. Und eigentlich habe er dem Touristen ja nur
eine schöne Erinnerung an Vietnam bereiten wollen.
Die Sandalen haben Xuan im ganzen Land bekannt gemacht.
Als das Ho-Chi-Minh-Museum in Hanoi im vergangenen Jahr
einen Schuster suchte, fiel die Wahl auf ihn. Er ist jetzt Hüter
der Sandalen von Ho Chi Minh. Jeden Morgen steht Xuan seit-
her im Museum und erklärt den Besuchern Geschichte und
Beschaffenheit von Onkel Hos Schuhwerk. Auch Xuans Ge-
schäft läuft wieder gut. Vor seinem Haus in Hanoi stapeln sich
die Autoreifen, aus denen er die Latschen fertigt. Er nennt
sich jetzt „König der Sandalen“ und schustert, was das Zeug
hält. Früher stellte er jede Sandale selbst her. Doch heute ist
die Nachfrage so groß, dass nur noch die Riemen Chefsache
sind. Für die restliche Arbeit hat er zwei Mitarbeiter eingestellt.
Auch sein Schwiegersohn arbeitet mit, er hat für die Sandalen
seinen Job als Vizechef einer Softwarefirma aufgegeben.
Besonders bei Touristen sind Xuans Sandalen beliebt. Er habe
sie an Menschen aus rund 30 Ländern verkauft, sagt er. Zehn
Modelle hat Xuan inzwischen im Angebot, die meisten tragen
geschichtsträchtige Namen wie „Die Schlacht von Dien Bien
Phu“ oder „Junge Freiwillige gegen Bombensplitter“. Sie kosten
zwischen 10 und 40 Euro, mehr als Ho Chi Minh und die meisten
FOTO: MAXIMILIAN KALKHOF / DER SPIEGEL

Vietnamesen jemals für Gummisandalen ausgegeben hätten.


Xuan sagt, seine Sandalen mit den umstrittenen Inseln wür-
den den Nationalismus nicht schüren, vielmehr leisteten sie ei-
nen Beitrag zur Völkerverständigung. Er könne das in seinem
Laden beobachten. Schließlich habe er auch chinesische Kun-
Sandalenhersteller Xuan den. Und die hätten alle das Modell mit den Inseln gewollt.
„Bescheiden, aber unbeugsam“ Maximilian Kalkhof

86 DER SPIEGEL 6 / 2015


Sport
Vonn

Ski-WM „Wir können von allen spektakulären Stellen Wiederho-


Cheerleader und lungen liefern“, sagt Michael Kögler, der TV-Direktor der
Weltmeisterschaft. „Verbogene Skier, unmögliche Körper-
Marschkapelle positionen, wir wollen den Zuschauern den Kampf der
Fahrer gegen den Berg verdeutlichen.“ Ein Höhepunkt der
Die alpine Ski-Weltmeisterschaft, die ab Montag in Vail und Titelkämpfe wird der Riesenslalom der Damen, bei dem
Beaver Creek, USA, ausgetragen wird, soll ein „typisch ame- Superstar Lindsey Vonn und das Ausnahmetalent Mikaela
rikanisches Fest“ werden, sagt Ceil Folz, die Präsidentin des Shiffrin gegeneinander antreten. Die beiden Amerikanerin-
Organisationskomitees. Mit Cheerleadern und einer Marsch- nen, die aus Vail kommen, sind die Gesichter der WM, zu
kapelle soll „eine Stimmung wie beim American Football“ sehen auf Bussen, Plakaten und Videowänden. Skirennen
aufkommen. Folz rechnet im Schnitt bei jedem Rennen mit sind in den USA nicht so populär wie in Europa, ursprüng-
10 000 Zuschauern, bei den Abfahrtsläufen der Männer und lich sollte Ted Ligety das Aushängeschild der WM werden,
Frauen erwartet sie jeweils 15 000. Die Fernsehübertragung aber den vierfachen Weltmeister und zweifachen Olympia-
wird so aufwendig sein wie noch nie. Allein für die Abfahrts- sieger kennen nur 20 Prozent aller Amerikaner. Shiffrin hat
rennen werden 45 Kameras eingesetzt. Es wird sechs Super- einen Bekanntheitsgrad von knapp 40 Prozent, Vonn von
Zeitlupenkameras geben und vier Hyper-Zeitlupenkameras, 80 Prozent – was wohl vor allem an ihrer Liaison mit dem
die bis zu 2500 Bilder in der Sekunde einfangen können. Golfprofi Tiger Woods liegt. le, mag

Fußball und seiner Fitness „zu- Klausel „nicht mit der ver-
DFL wollte Profis das gunsten der Sicherung der fassungsmäßig geschützten Fußnote
körperlichen und geistigen Religionsfreiheit vereinbar
Fasten untersagen

17
Leistungsfähigkeit auflösen“ und würde auch im Hinblick
Die Deutsche Fußball Liga werde. Der Passus zielte vor auf die internationale Ver-
(DFL) plante ein Fasten- allem auf muslimische Profis, marktung der Bundesliga ein
verbot für Bundesligaprofis. die den Ramadan befolgen ungünstiges Signal setzen“.
Dies geht aus dem 29 Seiten und während dieses heiligen Die DFL teilte mit, dass sie
umfassenden Entwurf eines Monats zwischen Sonnenauf- in dem Mustervertrag „nach
Mustervertrags hervor, den gang und -untergang nichts einer weiteren internen
die DFL im April 2014 for- essen. Nach Protesten vieler Überarbeitungsrunde“ auf
muliert hat. Unter der Über- Klubs und der Vereinigung die umstrittene Klausel ver- Weltmeisterschaften
schrift „Gesundheit und der Vertragsfußballspieler zichten werde. 2009 hatte
Krankheit“ heißt es, dass ein (VDV) hat die DFL die Pas- Zweitligist FSV Frankfurt werden in den kommenden
FOTO: MARCO TROVATI / AP / DPA

Spieler einen „Konflikt zwi- sage Ende vergangenen Jah- drei muslimische Profis ab- Jahren im Emirat Katar
schen der Befolgung religiöser res aus dem Vertragsentwurf gemahnt, weil sie die Regeln ausgetragen, darunter die
oder hiermit vergleichbarer gestrichen. Nach Ansicht des des Ramadan befolgten. WM im Bowling, im Turnen
Regeln [...] (zum Beispiel VDV-Geschäftsführers Ulf Man einigte sich außerge- und in der Leichtathletik.
durch eine Fastenzeitregel)“ Baranowsky sei eine solche richtlich. rab

DER SPIEGEL 6 / 2015 87


Götze Reus

Spielervermittler Barthel Berater Struth

Höwedes Lewandowski

88 DER SPIEGEL 6 / 2015


Sport

Schattenmänner
Fußball Spielerberater sind eine heimliche Macht. Sie liefern den Klubs
die Profis, handeln Verträge aus und kassieren dafür fantastische Provisionen.
Unterwegs mit den Goldgräbern der Branche.

O
tterndorf in Niedersachsen, die spielen kann, dann gibt es eben keine ner seiner Mitarbeiter demonstrativ mit
Wolken hängen tief, Nieselregen. Musik.“ dem damaligen Trainer von Manchester
Der Versicherungsvertreter Andre- Struth, 48, sitzt in seinem Büro in der United, David Moyes, auf die Tribüne der
as Hahn sitzt in seinem Büro im Ortszen- Kölner Innenstadt. Viel Platz, schöner Allianz Arena. Den Bossen aus München
trum. Gehäkelte Gardinen, auf dem Tisch Blick auf den Rhein. André Hahn, das Ta- wurde damit signalisiert, dass Kroos auch
steht ein Porzellanhuhn. „Vor einem Jahr lent aus Otterndorf, spielt jetzt nicht mehr Angebote anderer Topklubs vorliegen. Die
herrschte hier wochenlang Terror“, sagt für den FC Augsburg, sondern für Borussia Bayern sollen ziemlich sauer gewesen sein.
Hahn. Es wühlt ihn immer noch auf, wenn Mönchengladbach. Struth hat den Deal Trotzdem erhöhten sie das Angebot nicht.
er davon erzählt. eingefädelt. Der Stürmer ist inzwischen Kroos spielt heute für Real Madrid.
Es ging um seinen Sohn. auch Nationalspieler, sein Marktwert hat Wer mit dem FC Bayern Geschäfte
André Hahn ist Fußballer. Stürmer. Sehr sich also noch mal erhöht. macht, hat es als Spielerberater geschafft.
talentiert. Als Kind kickte er für den TSV Es läuft gut für Struth. Stars wie Bastian Schweinsteiger, Philipp
Otterndorf, heute ist der 24-Jährige Profi. Spielerberater sind ein Produkt des Lahm oder Franck Ribéry verdienen nicht
Vor einem Jahr spielte Hahn für den kommerziellen Fußballs. Goldgräber, die nur selbst Millionen, sie machen auch ihre
FC Augsburg. Der Angreifer, der damals von dem vielen Geld, das im Profigeschäft Agenten reich.
noch von seinem Vater gemanagt wurde, kursiert, angelockt werden. Sie liefern den Für Maik Barthel war es ein langer Weg.
schoss ein Tor nach dem anderen für die Rohstoff für die große Show. Talente, Barthel, 46, sitzt auf der Tribüne des Sta-
FOTOS: EIBNER/IMAGO (O.L.); FIRO SPORTPHOTO (O.R.); GERALD VON FORIS / DER SPIEGEL (M.L.); HENNING ROSS / DER SPIEGEL (M.R.); SPORT MOMENTS / DDP IMAGES (U.L.); IMAGO (U.R.)

Schwaben. Große Aufregung in der Fuß- Stars, preisgünstige Durchschnittsspieler. dions an der Grünwalder Straße in Mün-
ballbranche. Wer ist dieser junge Mann? Ein guter Agent hat alles im Angebot. chen. Es ist saukalt. Er trägt eine leichte
In der Filiale von Vater Hahn stand das Volker Struth verkaufte früher Büro- Winterjacke, enge Jeans, Sportschuhe. Die
Telefon seinerzeit nicht mehr still. Es mel- artikel, baute später eine große Merchan- U19 des FC Bayern spielt in der Jugend-
deten sich Spielerberater aus allen Ecken dising-Firma auf. Seit 2007 handelt Champions-League gegen ZSKA
Deutschlands. Einen tollen Jungen haben der ehemalige Oberligakicker Moskau. Kein großer Fußball.
Sie da, können wir ins Geschäft kommen? mit Fußballern. Seine Agentur Barthel gähnt.
Manche Agenten fuhren direkt bei Hahns Sportstotal ist eine Macht. Ausgaben Als Jugendlicher kickte
Büro vor, versperrten mit ihren Limousi- Die Firma hat über 60 Pro- ch en Profi kl ubs er in der Fußballförder-
nen die Einfahrt und den Gehweg. „Da fis mit einem Gesamt- der deuts gruppe der Dresdner Kin-
le rb erater
waren einige dabei, die wussten nicht, wel- marktwert von etwa für Spie : der- und Jugendsport-
2013/2014
cher Andrés starker Fuß ist, konnten aber 300 Millionen Euro im in der Saison schule. Ein schwerer
genau sagen, dass er eine Riesenkarriere Portfolio. Struth vertritt Knieschaden beendete
vor sich hat. Lächerlich!“, sagt Andreas
Hahn. Er wimmelte einen nach dem ande-
Spieler, die jeder Verein
gern hätte. Marco Reus,
über seine Fußballerkarriere.
In den Neunzigern mach-
ren ab.
Auch der Kölner Spielerberater Volker
Mario Götze, Benedikt Hö-
wedes, Toni Kroos. Kicker, 100 Mio. € te er eine Ausbildung zum
Brandschutzsachverständi-
Struth setzte sich im Februar 2014 in sein mit denen ein Klub eine Meis- gen und arbeitete in der Firma
Auto und fuhr nach Otterndorf an die terschaft gewinnen kann, die über seines Vaters. Daneben jobbte
Nordseeküste. Er hatte einen Termin mit Aufstieg oder Abstieg entscheiden kön- Barthel als Jugendtrainer, schaffte es bis
Andreas Hahn bekommen. Es schneite, die nen. Andere Agenten müssen bei den Ver- zum Drittligisten SV Wehen Wiesbaden. Ir-
Straßen waren vereist, er hatte eine schwe- einen Klinken putzen. Struth wird ange- gendwann geriet die Laufbahn ins Stocken.
re Erkältung. „Das Geschäft verzeiht aber rufen. Barthel überlegte, wie er sein Fußball-
keine Auszeiten“, sagt Struth. Vier Stun- Der VIP-Bereich des FC Bayern in der Know-how nutzen könnte – und stieg 2004
den saßen er und sein Partner Dirk Hebel Allianz Arena in München. Sitzecken, ins Beratergeschäft ein. Er gründete die
mit dem Spielervater zusammen. Keine Stehtische, Flachbildschirme an den Wän- Firma Eurosportsmanagement. Anfangs
Powerpoint-Präsentation. Kein Millionen- den, ein üppiges Buffet. Struths Revier. Ein war es nicht leicht, in den umkämpften
versprechen. „Die haben als einzige Bera- Plausch mit den Klubchefs, eine Unter- Markt zu kommen. 2008 hatte Barthel
ter gefragt: Was können wir für Sie tun?“, redung mit Sponsorenvertretern. Netz- dann seinen großen Moment. Ein befreun-
sagt Hahn. Man wurde sich einig. werkarbeit. Ein bisserl was geht immer. deter Trainer aus der Schweiz stellte den
Wie hat Struth Papa Hahn von sich über- Und manchmal kommt es zu kleinen In- Kontakt zu dem polnischen Spielerberater
zeugt? szenierungen. Cezary Kucharski her, der gerade einen
„Das ist wie bei einer Jukebox, die ge- Als die Vertragsgespräche zwischen Bay- Spieler namens Robert Lewandowski un-
füttert werden soll“, sagt Struth, „in der ern München und Toni Kroos stockten, ter Vertrag genommen hatte. Barthel half
ersten halben Stunde des Gesprächs musst weil Vorstandschef Karl-Heinz Rumme- dabei, den Stürmer zu Borussia Dortmund
du heraushören, welche Platte der andere nigge nicht bereit war, die Gehaltsforde- zu bringen.
hören will. Was ist dem Gegenüber wirk- rung des Nationalspielers zu erfüllen, brach Seither ist sein Leben ein anderes.
lich wichtig, wie können wir ihn unter- Struth die Verhandlungen ab. Bei einem Barthel ist mit einem mattschwarzen
stützen? Wenn ich diese Platte nicht der folgenden Bayern-Spiele setzte sich ei- Porsche Cayenne nach München gekom-
DER SPIEGEL 6 / 2015 89
Sport

men. In seiner Garage steht auch ein erläutert, wie viel der Stürmer maximal ein neuer Außenverteidiger gefunden wer-
Mercedes SLS Final Edition, Marktwert: kosten darf: „Mehr als 4500 Euro geht den muss. Sie stillen den Durst nach immer
266 000 Euro. Barthel fährt ihn aber nur nicht.“ Brutto, pro Monat. Barthel hört zu, besseren Spielern. In England gaben die
bei gutem Wetter. grübelt, sagt dann: „Mensch, reg dich ab. Profiklubs der Premier League zuletzt 145
Für den BVB-Deal mit Lewandowski Im Januar schicke ich dir einen ins Trai- Millionen Euro für Berater aus. Die Ver-
kassierte der Agent 500 000 Euro. Inzwi- ningslager. Der war länger verletzt, ist aber eine in Deutschland durchbrachen vorige
schen spielt der polnische Nationalstürmer eine Granate.“ Der Trainer fragt, ob der Saison zum ersten Mal die 100-Millionen-
für Bayern. Lewandowski gehört in Mün- Spieler auch wirklich fit sei. Euro-Grenze.
chen zu den Spitzenverdienern, hat einen „Willste mich verkaspern? Klar ist der Maik Barthel steht auf einer Bergwiese
Vertrag über fünf Jahre. Barthels Provi- fit“, sagt Barthel. oberhalb von Schaan, einer Gemeinde in
sion: sieben Millionen Euro. Fast 500 lizenzierte Berater gibt es in Liechtenstein, und guckt hinab ins Tal.
Wenn Volker Struth der Gordon Gekko Deutschland – und mindestens noch mal „Schön sauber hier“, sagt er. Barthel lebt
der deutschen Beraterbranche ist, dann ist so viele, die ohne Lizenz arbeiten. Ex- seit sieben Jahren im Fürstentum, baut ge-
Barthel Forrest Gump. kicker, Extrainer, Glücksritter und Gauner, rade ein Haus, geplant sind 400 Quadrat-
„Der Zehner bei den Russen, der kann Kaufleute, Spielermütter, gescheiterte An- meter Wohnfläche. Mit seiner Firma ist er
was“, sagt Barthel auf der Tribüne in Mün- wälte, Restaurantbesitzer. Wer einen star- in Schaan in die ehemaligen Büroräume
chen. Er guckt in die Aufstellung. Zwei ken Fußballer anbietet, findet immer einen von Robert Schwan gezogen, dem einsti-
Reihen unter ihm sitzt ein Scout von Bo- Abnehmer. gen Berater von Franz Beckenbauer. Im
russia Mönchengladbach, der sich Notizen Für die Klubs ist die Beraterschwemme Foyer des Gebäudes, in dem auch das Kon-
macht. eine Plage. Schon 13-Jährige haben heute sulat der Republik Tschad und ein Wirt-
„Im Fußball sollten nur Menschen arbei- Agenten. Für manche Eltern seien sie ein schaftsinstitut residieren, steht ein vergol-
ten, die selbst Fußball gespielt haben“, sagt Statussymbol, sagt Heribert Bruchhagen, deter Panther, in einem Regal liegt der
Barthel. Ihn nervt es, dass die Branche Vorstandschef von Eintracht Frankfurt: Stoßzahn eines Elefanten.
überlaufen ist von Quereinsteigern. Ein „Früher ist man mit dem Mercedes zur Barthels Besprechungsräume tragen die
guter Berater müsse in der Lage sein, seine Kirche gefahren, um die Leute zu be- Namen Le Baron und Le Monarch.
Klienten auch sportlich zu verbessern. Mit eindrucken, heute zeigt man eben den Acht Talentscouts beobachten für ihn
Robert Lewandowski diskutiert er ausgie- Spielerberater. Der impliziert ja immer: den Spielermarkt. Er lässt sie in Polen,
big darüber, ob der Stürmer sich bei Flan- Mein Junge kann es, er ist jetzt wichtig, der Schweiz und in Kroatien suchen. Dort
ken womöglich zu früh zum ersten Pfosten wird bestimmt mal ein großer Profi.“ werde in den Jugendteams nicht so viel
bewegt. Volker Struth sagt, er baggere keine trainiert wie in Deutschland, daher seien
„Auf dem Niveau, auf dem Robert ist, Spieler unter 16 Jahren an, eine Karri- die Spieler später im Profibereich nicht
geht es um Details“, sagt Barthel. ereplanung mache erst ab dem ersten so schnell ausgelaugt. Seine Leute bewe-
Er wäre gern Bundesligatrainer ge- Profivertrag Sinn. Beim VfB Stuttgart ver- gen sich auch in Ostfriesland, im Rhein-
worden. hängte die Klubführung Beratern schon Main-Gebiet, in Bayern, im Raum Dres-
Barthel hat mehrere Mobiltelefone. Er vor über zwei Jahren Platzverbot. Zu den und in Berlin. Nordrhein-Westfalen
telefoniert unentwegt, auch im Auto. Es oft wurden Talente nach dem Training meidet Barthel, der Markt dort sei „völlig
gibt ständig was zu organisieren. Barthel vollgequatscht. Bei einem anderen Bun- überhitzt“.
hat Lewandowski eine Villa in München- desligisten werden seit einigen Monaten In NRW ist Barthels Kollege Struth der
Bogenhausen besorgt. Lewandowski woll- alle Autos der Jugendspieler zentral vom Platzhirsch. Er hat Spieler in Dortmund,
te ein großes Gym, seine Frau ist Kampf- Verein bei der Zulassungsstelle ange- bei Schalke 04, in Leverkusen, in Köln, in
Mönchengladbach. Struth lebt in einem
Ein Mitbewerber behauptet, den Vater von Mario Götze permanenten Alarmzustand. Jede Schlag-
zeile, jeder Trainingsunfall, jedes Tor kann
habe Struth mit einem Koffer voller Geld überzeugt. sein Geschäft beeinflussen. Götze schießt
Deutschland zum WM-Sieg – der Markt-
sportlerin. Kein Problem für Barthel. Le- meldet. Die Verantwortlichen hatten wert steigt. Reus verletzt sich schwer am
wandowski wollte einen Ferrari. Barthel mehrmals beobachtet, wie Agenten die Knöchel – der Marktwert sinkt. Reus fährt
besorgte ihm einen roten F12. Nummernschilder der Spieler abfoto- ohne Führerschein – die ganze Fußball-
Im Fond seines Cayenne hängt immer grafierten, um anschließend über die branche debattiert: Ist der Junge durch-
ein frischer Anzug. Barthel hat Flugangst, Zulassungsstelle den Halter des Wagens geknallt? Sollte man von dem besser die
deshalb fährt er meist mit dem Auto zu und so die private Adresse der Kicker zu Finger lassen?
Terminen. Der Cayenne ist sein rollendes ermitteln. Struth hält sich gern im Hintergrund.
Büro. In seinem nächsten Modell will er Verärgert sind die Vereine aber vor al- Er spricht selten in Kameras, sitzt nie in
sich einen Scanner und einen Drucker ein- lem darüber, dass die Berater die Preise TV-Studios. Ein Schattenmann. In der Be-
bauen lassen, damit er Verträge auch un- hochtreiben. Und dass sie immer mitkas- raterszene kursieren eine Menge Gerüchte
terwegs versenden kann, sagt Barthel. sieren. 5 bis 15 Prozent des Jahresgehalts über den Marktführer aus Köln. Ein Mit-
Die Freisprechanlage klingelt. Der Trai- eines Spielers bekommen die Agenten von bewerber aus Düsseldorf behauptet, den
ner eines ostdeutschen Regionalligisten ist den Klubs als Provision. So lautet der of- Vater von Mario Götze habe Struth mit
dran. „Maik, wir brauchen einen Stürmer“, fizielle Kurs. Tatsächlich saugen die Agen- einem Koffer voller Geld überzeugt.
sagt der Mann. ten, dank spezieller Vertragsklauseln, oft „Blödsinn“, sagt Struth, „wer erfolgreich
„Welches Profil?“, fragt Barthel. noch viel mehr Geld ab. ist, hat immer Neider. Wir bestechen
„Wendig, schnell, soll auch aus der Dis- Frankfurts Chef Bruchhagen hat sich niemanden, wir zahlen keine Kickbacks,
tanz schießen können“, sagt der Trainer. lange geweigert, mit Spielervermittlern zu- wir hinterziehen keine Steuern und ma-
Er klingt verzweifelt. Sein bester Stürmer sammenzuarbeiten. Inzwischen gehe es chen auch sonst keine krummen Ge-
habe sich vor ein paar Wochen schwer ver- nicht mehr ohne sie. Berater haben eine schäfte.“
letzt, wird länger ausfallen. Seitdem stecke bessere Marktübersicht als die Scouts der Vertraglich ist es Struth verboten, seine
der Verein sportlich in Not. Der Trainer Vereine, sie können helfen, wenn schnell von den Vereinen erhaltenen Provisionen
90 DER SPIEGEL 6 / 2015
Berater Struth (M.) mit Partner Hebel (r.), Klienten Götze, Höwedes, Reus: Sprudelnde Geldquelle

an Spieler weiterzureichen. Aber es gibt gehalt sowie seiner in der Bundesliga er- derthalb Jahren die Verhandlungsrechte
andere Wege. Man kann den Papa mitver- spielten Prämien kamen obendrauf, mach- für Andrej Kramarić gesichert, einen jun-
dienen lassen. Zum Beispiel über eine ge- te weitere 325 600 Euro. Als Götze dank gen kroatischen Nationalspieler von HNK
meinsame Firma. Solche Konstrukte dulden einer von Struth ausgehandelten Aus- Rijeka. Barthel darf für den Spieler in
die Verbände. Es ist eine Grauzone. stiegsklausel nur ein Jahr nach seiner Ver- Frankreich, Deutschland und Italien ver-
Laut Handelsregisterauszug vom 23. Ok- tragsunterschrift von Dortmund zu Bayern handeln.
tober 2014 gehört Struth gemeinsam mit München wechselte, gingen von der Ab- Der Vater von Kramarić empfing den
Jürgen Götze, dem Vater von Mario, die lösesumme in Höhe von 37 Millionen Euro Agenten, der einen deutschen Anwalt
Götze Marketing GmbH. „Ich will das fünf Prozent an Struths Firma: 1,85 Mil- als Dolmetscher mitgebracht hatte, an
nicht kommentieren. Aber es ist klar, dass lionen Euro. der Haustür. Die Stimmung war gut,
Familienmitglieder oft die Karriere der In nur einem Vertragsjahr verdiente der man nahm am Wohnzimmertisch Platz.
Spieler begleiten“, sagt Struth etwas Berater an Götze also mehr als drei Mil- Barthel präsentierte ein Angebot des
blumig. In seiner Firma arbeitet auch lionen Euro. Die Provisionen, die er an- OSC Lille, Frankreich, erste Liga. Viel-
Enver Derdiyok, der Bruder von Profiki- schließend noch von Bayern München er- leicht gehe sogar was in Deutschland.
cker Eren Derdiyok, den Struth seit Jah- hielt, nicht mitgerechnet. Dortmund habe Probleme im Sturm. Die
ren vertritt. „Wir versuchen, Modelle zu Struth äußert sich nicht zu den Zahlen. berühmte Borussia. Das wäre doch was,
finden, um die Familien in die Karriere- Für den Millionendeal mit Götze wird er oder?
planung der Jungen einzubinden. Das in der Beraterszene bis heute gefeiert. Gu- Dann aber erzählte Vater Kramarić, der
ist bei Profiklubs, die begehrte Spieler ter Job. Und voriges Jahr wurde Struth FC Chelsea habe sich über einen anderen
verpflichten wollen, nicht anders“, sagt sogar für den Globe Soccer Award, den Berater bei ihnen gemeldet. Der noch
Struth. Oscar der Beraterbranche, nominiert. Er berühmtere FC Chelsea.
Mario Götze ist seit fünf Jahren Struths konnte die Reise zur Gala nach Dubai kurz Barthel versuchte, dem Vater zu er-
Klient. Der Nationalspieler ist eine spru- vor Neujahr allerdings wegen einer Ope- klären, dass Kramarić noch nicht das
delnde Geldquelle. Ende März 2012 unter- ration nicht antreten. sportliche Niveau für einen solchen
schrieb Götze einen Vertrag bei Borussia Maik Barthel war einen Tag nach Sil- Topklub besitze. Keine Reaktion. Bar-
FOTO: ANDREAS POHL / BILD-ZEITUNG

Dortmund, Laufzeit vier Jahre. Struth hat- vester schon wieder unterwegs. Im Winter, thel holte einmal tief Luft, stand auf
te den Kontrakt ausgehandelt, das Papier wenn viele Ligen in Europa Pause machen, und ging.
liegt dem SPIEGEL vor. haben Berater Hochkonjunktur, weil sich Mal gewinnt man, mal verliert man.
Sportstotal kassierte laut Honorarver- die Klubs vor dem Start in die Rückrunde Er stieg in seinen Cayenne und pro-
einbarungen eine Provision in Höhe von noch mal verstärken wollen. Mit dem Ca- grammierte im Navi das nächste Ziel.
850 000 Euro vom BVB. Jeweils acht Pro- yenne fuhr Barthel von Schaan nach Za- Hamburg. Der HSV. Von Zagreb aus 1281
zent von Götzes jährlichem Brutto-Fest- greb. 928 Kilometer. Er hat sich vor an- Kilometer. Rafael Buschmann, Gerhard Pfeil

DER SPIEGEL 6 / 2015 91


„It doesn’t matter how I feel“, 2013

„We are the ones that look back


from the abyss“, 2014 „Father“, 2013

Kunst die Erfahrung, nicht als Individuum wahrgenommen zu wer-


den, sondern als Bedrohung. „Es ist egal, wie ich mich fühle“,
Porträt der Verzweiflung heißt eines seiner Selbstporträts, sein Körper ist dunkel bemalt,
Ausgrenzung fühlt sich überall auf der Welt gleich an, sie ver- er steht vor einem schwarzen Hintergrund, hell sind nur die
ursacht stets Verzweiflung, und das ist das Thema des austra- Hände, einen Mittelfinger streckt er nach oben. Abdullah setzt
lischen Künstlers Abdul Abdullah, 28. Mit seinen Foto-Insze- oft Bilder um, die andere von ihm oder seiner Familie haben.
nierungen und Gemälden dürfte er das Grundgefühl all jener Auf einem Foto trägt er eine Affenmaske, in der Hand hält er
treffen, die wegen ihrer Religion oder ihrer ethnischen Wur- eine Rauchfackel. Immerhin: In Australien wurde er für seine
zeln herabgesetzt werden. Abdullah ist der Sohn einer musli- Kunst ausgezeichnet, bald dürfte ihn auch der Rest der Welt
mischen Mutter mit malaiischen Vorfahren und eines Vaters, entdecken. Ihn beunruhigt, dass die antiislamischen Tendenzen
der zum Islam konvertiert war. Abdullah wurde erwachsen in zunehmen, auch in Deutschland. Aber er hoffe, sagt er, einen
den Jahren nach den Anschlägen in New York. Früh machte er Beitrag zu einer Veränderung leisten zu können. uk

Sachbücher Jahrgang 1968, setzt sich eigene Schauen zu sprechen. triebenem Tiefgang. Viele
Bibel für die Coolen selbst ein Denkmal. So hat er Die erste fand in der Küche Einsichten hat Obrist – auch
sich und seinem Berufsstand seiner Wohnung statt, eine da Kurator – bei anderen ein-
Erfolgreiche Künstler im Al- ein Buch mit dem Titel „Kura- spätere in Zimmer 763 des gesammelt. So war es sein
ter von Mitte vierzig werden tieren!“ (C. H. Beck Verlag) Pariser Hotels Carlton Palace. Ökonomieprofessor in St. Gal-
gern mit einer „Midlife Retro- gewidmet. Er beginnt mit den Tatsächlich verwirklichte len, der betonte, dass die
spective“ geehrt: einer Aus- Kunsterfahrungen seiner Obrist, der seit Jahren Ko- Verbreitung von Papiergeld
stellung, die das bisherige Jugend, später ordnet er die direktor der Londoner Serpen- den Menschen einst Imagina-
Schaffen würdigt. Doch was Tätigkeit des Ausstellungsma- tine Gallery ist, gewitzte Pro- tionskraft abverlangte. Geld –
tun, wenn es der (noch be- chens (und damit sich selbst) jekte. Dank Leuten wie ihm ohnehin ein Fantasieprodukt –
rühmtere) Ausstellungsma- historisch ein. So nennt er be- gilt Kuratieren als cooler Job. wird auf Papier zu einer Form
cher ist, der die Lebensmitte deutende Vorgänger, erwähnt Das Buch wird dem Nach- der Abstraktion. Die Fantasie
erreicht? Der gebürtige Ausstellungen, die originell wuchs eine Bibel sein; und es (und auch die Kunst) ist und
Schweizer Hans Ulrich Obrist, waren – kommt auch da auf belastet nicht einmal mit über- bleibt Gold wert. uk

92 DER SPIEGEL 6 / 2015


Kultur
Festivals dezeit in den Tag hinein le- Dirk Kurbjuweit Zur Lage der Welt
Wilde Jugend ben, saufen, dealen und von

Am Donnerstag beginnt die


Neonazis über die Straßen
gehetzt werden. Der Regis-
Unterwirf mich (nicht)
65. Berlinale (5. bis 15. Fe- seur Sebastian Schipper wie-
bruar). Neben neuen Werken derum folgt in „Victoria“ Als ich „Unterwerfung“ von Michel
von früheren Bären-Gewin- einer Bande Jugendlicher bei Houellebecq las, musste ich sofort an
nern wie dem Amerikaner einem nächtlichen Raubzug „Der Circle“ von Dave Eggers den-
Terrence Malick oder dem durch das heutige Berlin, ken. Die beiden Romane könnten ver-
Iraner Jafar Panahi zeigt das und der Franzose Jean-Ga- schiedener kaum sein, aber sie haben
Festival einige Filme, die briel Périot wirft in seiner ein gemeinsames Oberthema, und das
davon erzählen, was es be- Dokumentation „Une jeu- heißt Unterwerfung. Houellebecq hat
deutet, in Deutschland jung nesse allemande“ einen ganz mit diesem Titel die Gemütslage unse-
zu sein und erwachsen zu eigenen Blick auf die Revolte rer Zeit auf den Punkt gebracht.
werden. „Als wir träumten“, der Sechzigerjahre, aus der Der Protagonist seines utopischen
den Andreas Dresen nach die Rote Armee Fraktion her- Buchs, François, lebt in einem Land,
dem gleichnamigen Roman vorging. Allesamt fiebrige das kurz vor dem Bürgerkrieg steht.
von Clemens Meyer drehte, Filme, die von Lebensgier, Doch dann wählen die Franzosen einen Mann der Mus-
handelt von vier Freunden, Wildheit und auch von Ge- limbruderschaft zu ihrem Präsidenten, und der räumt auf.
die im Leipzig der Nachwen- walt erzählen. lob François ist beeindruckt vom Islam und konvertiert.
In Dave Eggers’ Dystopie lebt die junge Mae Holland
ziellos dahin, bis sie sich dem Internetkonzern Circle
anschließt. Auch das wird zur Unterwerfung, unter eine
digitale Lebensweise, die angenehm erscheint, aber auch
die komplette Kontrolle durch die Firma bedeutet. Mae
FOTOS V.L.N.R.: ABDUL ABDULLAH (3); PETER HARTWIG / ROMMEL FILM / PANDORA FILM; DEREK STORM / SPLASH NEWS / CORBIS: ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

Holland fühlt sich wohl damit. Ihr Leben hat nun eine
Quasireligion und eine strenge Ordnung. An diesem Ro-
man ist bestürzend, dass die Herrschaft des Digitalen im
Kern schon existiert, dass sich viele Bürger den Möglich-
keiten des Internets unterwerfen.
Eggers macht deutlich, dass er das schrecklich findet.
Houellebecq hält sich zurück. Das Leben unter dem Islam
beschreibt er eher gemütlich; solange man in Ruhe vö-
geln kann, ist nicht so wichtig, wer regiert.
Szene aus „Als wir träumten“ Beide Romane haben es in Deutschland und vielen an-
deren Ländern an die Spitze der Bestsellerliste geschafft.
Dort stand auch „Shades of Grey“ von E. L. James, eine
Pop dem Great American Song- Trilogie, in der es viel um Sadomaso-Sex geht. Ich muss
Alles alt, alles neu book, zum großen Teil Lieder gestehen, dass ich sie nicht gelesen habe, dafür aber ei-
aus der unmittelbaren Vor- nen Buchessay der israelischen Soziologin Eva Illouz
Wer es als Sänger ernst mei- Rock-’n’-Roll-Zeit der Vier- über „Shades of Grey“. Illouz schreibt: „Im Mittelpunkt
ne, hat Bob Dylan neulich in ziger und Fünfziger, deren des Romans steht eine Beziehung von Herrschaft und Un-
einem seiner seltenen Inter- Gemeinsamkeit darin besteht, terwerfung.“ Wieder dieses Wort.
views gesagt, müsse sich an dass sie einmal von Frank Si- Sadomaso-Sex ist nicht, wie ich dachte, eine wilde An-
Frank Sinatra messen. Das natra gesungen worden sind. gelegenheit, sondern das Gegenteil. Damit der Schmerz in
sei der Berg, den es zu bestei- Wirklich ungewöhnlich ist Grenzen bleibt, damit niemand verletzt wird, müssen die
gen gelte. Sätze, die so selbst- aber, wie Dylan klingt, wenn Absprachen genau sein, muss Vorsicht walten. „Shades of
verständlich wie überra- er Sinatra singt. Wenn er will, Grey“, schreibt Illouz, habe auch deshalb einen giganti-
schend sind. Ist doch auf der kann der alte Nuschler und schen Erfolg, weil das Buch einen Ausweg aus dem Liebes-
einen Seite keine größere Silbenverschlucker nämlich chaos weist. „Die neue Liebesordnung“ heißt der Essay.
Entfernung denkbar als die durchaus mit Schmelz in der Ordnung, Ordnung, Ordnung. Für Illouz sind Romane
zwischen dem Mittsechziger- Stimme singen. rap erfolgreich, weil sie eine „kulturelle Resonanz“ haben,
Las-Vegas-Sinatra auf der sie drücken Stimmungen und Sehnsüchte aus. Offenbar
Höhe seines Könnens und sei- sind wir der Freiheiten überdrüssig. Sadomaso-Sex, digi-
nes Ruhms und dem Gegen- tal kontrolliert, unter der Oberaufsicht eines Imam – ist
kultur-Dylan der gleichen das unser Traum vom Leben?
Jahre, der für alles stand, was Ich schreibe diese Kolumne übrigens eingeschneit in ei-
nicht Sinatra war. Aber die nem Gasthaus in Kandern im Schwarzwald. Hier zog im
Welt hat sich weitergedreht. Jahr 1848 Friedrich Hecker durch, als er mit seinen repu-
Sinatra- und Dylan-Lieder blikanischen Rebellen den Aufstand gegen die Monarchie
sind heute vor allem eins: alt. wagte. Ich beschäftige mich derzeit viel mit Hecker. Was
So erstaunt weniger, dass es mir so gefällt, ist dieser immense Drang nach Freiheit.
das neue Bob-Dylan-Album Endlich die Ketten abwerfen, die Unterwerfung beenden!
„Shadows in the Night“, eine
Hommage an Sinatra, über- Dylan An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist
haupt gibt. Zehn Songs aus Claudia Voigt an der Reihe, danach Elke Schmitter.

DER SPIEGEL 6 / 2015 93


Kultur

Es tut gleichmäßig weh


Dresden Zu Tausenden sind Pegida-Anhänger in den vergangenen Monaten
durch die Straßen gezogen, die Welt schaut auf diese Stadt und mag
sie nicht mehr. Doch sie lebt davon, gemocht zu werden. Was ist bloß passiert?

M
ontagabend in Dresden, das Kon- größeren Sorgen. Im Dezember waren es schichtig und komplex ist –, könnte es
zert, das um 18 Uhr begonnen hat, dann zwar schon 17 000 Pegida-Anhänger, doch einen Versuch wert sein, sich allge-
läuft erst seit einer kurzen Weile, doch auch dies war ja eine Minderheit, ge- meine Fragen zu stellen: Was ist das für
und schon sind sie da, die Pegida-Leute. Sie messen an 530 000 Einwohnern. Arbeits- eine Stadt? Wie wurde sie, was sie ist? Und
rufen diesen Spruch, der einmal eine ganz lose seien das, vermutete man. Rentner können Städte aus einer Krise herausfin-
andere Bedeutung hatte, 1989 während der vielleicht. Solche Leute empfänden sich den, wenn ihre Bewohner nachgedacht
Wende, sie rufen: „Wir sind das Volk!“ oft als Opfer der Politik, als Ausgelieferte, haben über das, was war?
Buh, rufen jetzt andere Konzertbesu- dächten in Kategorien von oben und un- Stadtethnologen erkunden das Selbst-
cher, buh. Und sie pfeifen. Denn das hier ten, hätten Angst vor Fremden, weil ihnen verständnis eines Ortes, und sie haben
ist ihre Veranstaltung: ein Anti-Pegida- Erfahrungen fehlten, auch die Erfahrung auch Erkenntnisse zu Dresden zusammen-
Konzert mit einem Slogan, in dem die des Reisens. getragen. Dresden gilt als „schön“ und „ge-
Wörter „Weltoffenheit“ und „Toleranz“ Doch dann kamen die ersten Daten. mütlich“, die Stadt sei aber „nicht multi-
vorkommen. Hans Vorländer, Politikwissenschaftler in kulturell“, „nicht dynamisch“, so lautet
Und diese Wörter sind in Dresden Ge- Dresden, ließ Ende Dezember und Anfang das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr
genbegriffe geworden zu diesem anderen Januar 400 Pegida-Demonstranten befra- 2006. Und es sind genau diese Eigenschaf-
Spruch: „Wir sind das Volk.“ gen, und da stellte sich heraus, dass der ten, die jetzt zum Problem geworden sind:
Um 21.47 Uhr singt Herbert Grönemey- durchschnittliche Teilnehmer aus der Mit- „nicht multikulturell“, „nicht dynamisch“.
er sein berühmtes Lied „Mensch“, singt telschicht kommt, 28 Prozent haben einen Wann hat das angefangen?
den Vers „Ist schon okay, es tut gleichmä- Hochschulabschluss, 16 Prozent Abitur, nur „Ich würde nicht vom Dresden-Problem
ßig weh“. Und die Leute auf dem Platz 2 Prozent sind arbeitslos. „Das hat hier ei- reden, sondern vom Residenzstadt-Pro-
schalten die Taschenlampen ihrer Handys nen Schock ausgelöst“, sagt Vorländer. blem“, sagt Winfried Müller, Professor für
an und strecken sie hoch in die Luft. Auf Die Minderheit ist gefühlt zu einer Sächsische Landesgeschichte an der TU
der Fassade der Frauenkirche erscheint ein potenziellen Mehrheit geworden. Wenn Dresden. Der Dresdner „Stadt-Habitus“,
Friedensengel aus Licht, und auf der Wand so nennt er das, sei nicht „bürgerlich-dis-
eines Hotels leuchtet das Wort „Toleranz“
und noch andere Wörter, „Liebe“.
Dresden war auf Obrigkeit kursiv“ gewesen, sondern „höfisch-reprä-
sentativ“. Denkmuster von oben und un-
Endlich löst sich die Stimmung – mehr ausgerichtet, das Bürgertum ten, mächtig und ausgeliefert, hätten sich
als drei Stunden sind vergangen, seitdem wollte es gemütlich. früh gebildet.
die „Wir sind das Volk“-Rufe zu hören ge- Dresden war eine Residenzstadt, der
wesen sind. Es waren drei Stunden der Demokratie ist ungemütlich. sächsische Kurfürst und später der säch-
Verkrampfung, obwohl mehr als 22 000 sische König wohnten hier. Der Hof sam-
Leute sich versammelt hatten, obwohl die Pegida-Anhänger einen Querschnitt der melte wertvolle Reichtümer aus aller Welt,
„Wir sind das Volk“-Rufer leiser geworden Gesellschaft abbilden, heißt das: Alle könn- die Sixtinische Madonna, die sogenannte
sind und die „Toleranz“-Leute sich durch- ten dabei sein. Türckische Cammer mit orientalischen
gesetzt haben. Dresden hat ein Problem. Die Stadt ist Kunstwerken aus vielen Jahrhunderten.
Dresden hat sich gespalten in diese zwei gespalten und das Außenbild schlecht. Und 1,5 Millionen Objekte sind in den 14 Mu-
Lager: „Toleranz“-Dresden und „Pegida“- Dresden lebt vom Außenbild: Barockstadt, seen der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden. Das Konzert Anfang der Woche, Elbmetropole, Semperoper, Staatskapelle, Dresden versammelt, „etwa ein Drittel
die Streitigkeiten innerhalb der Pegida-Be- Kreuzchor, Zwinger. davon“, sagt Generaldirektor Hartwig
wegung Mitte der Woche, der Rücktritt der Eine Studie des Instituts für Sächsische Fischer, „kommt nicht aus Europa“.
Organisatoren: Die Stadt zerreißt es fast Geschichte und Volkskunde besagt, dass Das Fremde war also da und mehrte den
in diesen Tagen, sie ringt darum, was sie keine andere deutsche Stadt in Reisefüh- Ruhm der Stadt, doch es waren die Könige,
sein will, und die Welt schaut zu. Die rern derartig mit Superlativen überzogen die das Fremde hereinholten. Sie ließen
„New York Times“ hat über Pegida berich- wird. Sie lebt von der Übertreibung ins das Bürgertum zwar teilhaben am Glanz,
tet, „Le Monde“ hat über Pegida berichtet, Positive, davon, dass sie für die Künste übertrugen ihm aber kaum die Verantwor-
und in den Artikeln schwang die Frage mit, steht, also für das Gute, Wahre, Schöne. tung, selbst dafür zu sorgen.
ob sich in den Straßen dieser Stadt eine Fremdenhass ist nicht gut. Leipzig war seit 1409 Universitätsstadt,
neue politische Rechte formiert, die nicht Städte haben ihren Ruf, so wie Men- Dresden legte sich erst 1828 eine „Techni-
nur etwas aussagt über eine fremdenfeind- schen einen Ruf haben. Und obwohl es sche Bildungsanstalt“ zu. Leipzig war seit
liche Tendenz in dieser Stadt, sondern wo- vielleicht nicht in Ordnung ist, eine Stadt dem 12. Jahrhundert Messestadt, bereits
möglich über eine solche Tendenz in ganz wie eine Person anzusehen – weil ihre Ge- im 15. Jahrhundert eine Stadt des Buch-
Deutschland. schichte länger ist, weil das Gestern nicht drucks, auch Dresden war erfolgreich im
Als etwa 350 „Patriotische Europäer ge- eins zu eins auf das Heute schließen lässt, Handel, aber in ganz anderer Weise ab-
gen die Islamisierung des Abendlandes“ weil eine Stadt vielschichtiger und kom- hängig vom Hof.
im Oktober auf die Straße gingen, bereite- plexer ist als jede einzelne Person, die ja In Dresden gab es immer auch ein auf-
te das den anderen Dresdnern noch keine für sich genommen schon genügend viel- geschlossenes Bürgertum, das die progres-
94 DER SPIEGEL 6 / 2015
FOTO: JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL

Pegida-Anhänger auf Anti-Pegida-Konzert in Dresden: Die Stadt liebt die Übertreibung ins Positive, Fremdenhass ist nicht positiv

DER SPIEGEL 6 / 2015 95


Grad-Panoramabild der zerstörten Stadt
installiert worden, passend zum Jubiläum,
70 Jahre Bombardement.
Die DDR verstand sich als antifaschis-
tischer Staat. Hier regierten die Opfer des
Faschismus, insofern schien es nicht nötig,
sich über die eigene Schuld zur NS-Zeit
zu befragen.
Das Diffuse, eine merkwürdige Ge-
mengelage aus Stolz und Rückzug, ist in
dieser Zeit erst recht zu einem Kennzei-
chen des Dresdner Bürgertums geworden.
„Refugiumsbürgertum“ nennt das der
Dresdner Kultursoziologe Karl-Siegbert
Rehberg. Die Nische, das Private, die ei-
genen vier Wände, „schön“, „gemütlich“,
Panoramabild „Dresden 1945“: Das Bombenopfer schlechthin „nicht dynamisch“.
Das Bild Dresdens zu DDR-Zeiten hat
siven Künste beförderte, der Expressio- wieder angegriffen wurden. Wer genügend im Nachhinein der Schriftsteller Uwe Tell-
nismus ist hier mit der Malervereinigung ignorant war und die Judenverfolgung aus- kamp geprägt. In seinem Roman „Der
„Brücke“ groß geworden, der moderne blendete, konnte beinahe an eine immer- Turm“ beschreibt er dieses Rückzugsbür-
Tanz mit Mary Wigman und Gret Palucca. währende Gemütlichkeit glauben. Am spä- gertum, das Leben der Bewohner des Wei-
Doch es gab auch das gemütliche Bürger- ten Abend des 13. Februar 1945 kamen ßen Hirsch, eines Viertels im Osten der
tum, das sich gern in seine Villen zurück- dann doch britische und amerikanische Stadt, die sich dem Wahren, Schönen und
zog, die Spannung innerhalb der Dresdner Bomber und zerstörten an diesem und in Guten widmeten, der Literatur, der Anti-
Malerei in der ersten Hälfte des 20. Jahr- den beiden folgenden Tagen weite Teile quitäten und der Kammermusik.
hunderts hat der Kunsthistoriker Fritz Löff- der Innenstadt. Jan Vogler, Intendant der Dresdner Mu-
ler in einer posthum erschienenen Schrift Es war eine Katastrophe, aber eine, die sikfestspiele und Cellist mit Wohnsitz New
mit „Gemütlichkeit und Dämonie“ über- vielen deutschen Städten widerfahren war. York, erinnert sich an das Dresden der
schrieben. NS-Minister Joseph Goebbels ließ über Achtzigerjahre als „stille Zeit“. Er war da-
Die Nationalsozialisten erzielten in seine Propagandaorgane verbreiten, Dres- mals als Solocellist angestellt bei der Staats-
Dresden gleich zu Beginn hohe Wahler- den sei das Opfer schlechthin, und als der kapelle, man lebte mit seinen Freunden,
gebnisse, hier brannten die Bücher als Ers- Krieg vorbei war, blieb es dabei, weil die traf sich in den Wohnungen.
tes auf dem Scheiterhaufen, und Dresden Sowjets Interesse daran hatten, die Ame- Die Wende schließlich war vor allem
veranstaltete auch die erste Ausstellung rikaner als Feind zu sehen. von Leipzig ausgegangen, die Dresdner
zur „Entarteten Kunst“. „Dresden hat einen Opfermythos er- stießen später hinzu, „hängten sich ran“,
„Da war es wieder, dieses Dresden, das schaffen“, sagt Lühr, „dass die Bomben- sagen manche.
sich sofort auf die Obrigkeit ausrichtet“, angriffe eine Reaktion gewesen sind, eine Die Hauptbilder der Einheitseuphorie
sagt Hans-Peter Lühr, der sein Büro im fürchterliche natürlich, aber eben eine Re- aber lieferte Dresden. Bundeskanzler
Dresdner Stadtmuseum hat und von dort aktion auf ein Regime, das die halbe Welt Helmut Kohl als Inkorporation der neuen
aus die „Dresdner Hefte“ herausgibt, die angegriffen hat, das dringt in den vergan- Obrigkeit, in Höhen schwebend, unter ihm
sich zunehmend mit Mentalitätsgeschichte genen 20 Jahren immer stärker ins Be- ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer.
befassen. wusstsein.“ Kohl versprach später blühende Landschaf-
Lange ist Dresden im Krieg von Bomben Doch der Opfermythos setzt sich fort, ten, als wäre er einer, der das versprechen
weitgehend verschont geblieben, während soeben ist im ehemaligen Gasometer, könnte, als wäre er der neue König.
Städte wie Köln oder Berlin wieder und einem Dresdner Ausstellungsort, ein 360- Der erste Ministerpräsident Sachsens
lebte im Villenviertel Weißer Hirsch, hieß
Kurt Biedenkopf und wurde „König Kurt“
genannt.
Tatsächlich ging es der Stadt bald gut,
FOTOS: BERNARD BISSON / SYGMA / CORBIS (U.); FABRIZIO BENSCH / REUTERS (O.)

sie zog Wissenschaftler an und Kapital, es


war schön, von woanders hierherzukom-
men: die Elbe im natürlichen Flussbett,
kurvig und breit, die Wiesen am Ufer, die
Villen, die Weinberge, der Christstollen.
Da war Stolz, da war aber auch Scham,
selbst auf die eigene Sprache. Über das
Sächsische ist innerhalb und außerhalb
Sachsens schon immer gespottet worden.
Der Dresdner Schriftsteller Thomas Rosen-
löcher hat das in seinem Buch „Ostgezeter“
beschrieben: „Sächsisch durften wir schon
als Kinder nicht reden. ‚Sprich anständig,
Domas‘, sagte die Mutter, die auch säch-
sisch sprach. ‚Sprich ordentlich, Domas‘,
sagte der Lehrer, der auch sächsisch
Patrioten bei Kohl-Besuch in Dresden im Dezember 1989: Kein Happy End sprach.“
96 DER SPIEGEL 6 / 2015
Und dann kamen lauter Leute nach Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere
Dresden, die kein Sächsisch sprachen, die Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Westdeutschen, die dauernd alles besser
wussten, die Dresdner waren irritiert in Belletristik Sachbuch
ihrem Stolz und reagierten mit einem ver-
trauten Muster: Reserviertheit, Distanz. 1 (1) Michel Houellebecq 1 (1) Hape Kerkeling
Muslime, vor denen sich Pegida-Anhän- Unterwerfung DuMont; 22,99 Euro Der Junge muss an die frische Luft
ger so fürchten, gibt es in Sachsen kaum, Piper; 19,99 Euro
es sind nicht mal ein Prozent. Vielleicht 2 (2) Ian McEwan
Kindeswohl 2 (2) Wilhelm Schmid
waren für Pegida-Anhänger die anderen Diogenes; 21,90 Euro
Gelassenheit – Was wir gewinnen,
Fremden schon unerträglich genug: die wenn wir älter werden Insel; 8 Euro
Westdeutschen. 3 (3) Sebastian Fitzek
Passagier 23 Droemer; 19,99 Euro 3 (3) Udo Ulfkotte
Christiane Filius-Jehne und ihr Mann Gekaufte Journalisten Kopp; 22,95 Euro
Martin Jehne sind Westdeutsche, aber sie 4 (7) Robert Seethaler
empfinden sich als Dresdner. Sie kamen Ein ganzes Leben Hanser Berlin; 17,90 Euro 4 (4) Peter Scholl-Latour
1993 hierher, er als Professor für Geschichte, Der Fluch der bösen Tat
5 (4) Ken Follett Propyläen; 24,99 Euro
sie gab in München ihren Verlagsjob auf
und engagiert sich nun in Politik und Kultur, Kinder der Freiheit 5 (5) Guido Maria Kretschmer
Bastei Lübbe; 29,99 Euro Eine Bluse macht noch keinen
ist seit mehr als zehn Jahren Stadträtin und
mittlerweile Mitglied bei den Grünen. „Ich Sommer Edel Books; 17,95 Euro
6 (6) Jürgen von der Lippe
lebe gern hier“, sagt sie. „Ich habe noch Beim Dehnen singe ich Balladen 6 (6) The Bodleian Library (Hg.)
nie irgendwo so lange gelebt wie hier“, sagt Knaus; 14,99 Euro Leitfaden für britische Soldaten
er. Doch da sind immer diese Fragen um in Deutschland 1944
sie herum, ob sie bleiben wollten, ob es 7 (5) Nele Neuhaus Kiepenheuer & Witsch; 8 Euro

nicht irgendwann zurückgehe. „Wohin zu- Die Lebenden und die Toten 7 (9) Alexander von Schönburg
Ullstein; 19,99 Euro
rück?“, fragt er dann. „Und warum?“ Smalltalk Rowohlt Berlin; 16 Euro
Die Wende war kein Happy End. De- 8 (8) Dave Eggers 8 (–) Paul Sahner
mokratie ist schwierig, ungemütlich. Sie Der Circle Kiepenheuer & Witsch; 22,99 Euro Merci, Udo!
stellt keine Obrigkeit im klassischen Sinne, Herder; 16,99 Euro
die die Bürger bevormundet, ihnen auch 9 (11) Paulo Coelho
viel abnimmt, sie fordert im Gegenteil Untreue Diogenes; 19,90 Euro
Das Abschiedsgeschenk
Beteiligung, eine Beteiligung, die das 10 (12) Jan Weiler des „Bunte“-Klatschreporters
Dresdner Bürgertum in all den Jahrhun- Das Pubertier Kindler; 12 Euro an den kürzlich ver-
derten kaum je gekannt hat. storbenen Entertainer
Und Demokratie lebt vom Konflikt. Der 11 (9) Kathy Reichs
Kampf von Pegida-Dresden gegen Tole- Knochen lügen nie Blessing; 19,99 Euro 9 (7) Thomas Piketty
Das Kapital im 21. Jahrhundert
ranz-Dresden hat gezeigt, dass sich beide C. H. Beck; 29,95 Euro
12 (10) Jo Nesbø
Seiten mit Konflikten nicht leichttun. Pe- Der Sohn Ullstein; 22,99 Euro
gida artikulierte sich kaum, und die andere 10 (–)Shaun Usher
Seite versteckt sich hinter Wörtern, die Letters of Note – Briefe, die die Welt
13 (15) Volker Klüpfel / Michael Kobr bedeuten Heyne; 34,99 Euro
den Konflikt ausschließen: Liebe, Tole- Grimmbart Droemer; 19,99 Euro
ranz. Eine streitbare politische Kultur muss 11 (12) Ferdinand von Schirach
Dresden noch ausbilden. 14 (13) Robert Galbraith Die Würde ist antastbar Piper; 16,99 Euro
Am Mittwoch dieser Woche haben sich Der Seidenspinner Blanvalet; 19,99 Euro
12 (10) Giovanni di Lorenzo
die Organisatoren von Pegida überworfen, 15 (16) Lutz Seiler
Vom Aufstieg und anderen Niederlagen
sie sagten die Demonstration für den Kiepenheuer & Witsch; 18,99 Euro
Kruso Suhrkamp; 22,95 Euro
nächsten Montag ab, Vizekanzler Gabriel 13 (8)Hajo Schumacher
hofft auf eine „Erlösung“ für Dresden. 16 (–) Elisabeth Herrmann Restlaufzeit Eichborn; 19,99 Euro
Gibt es das, eine Erlösung, so schnell, Der Schneegänger Goldmann; 19,99 Euro
14 (11) Philipp Oehmke
von etwas, das tief in der Geschichte wur- Die Toten Hosen Rowohlt; 19,95 Euro
17 (18) Thomas Hettche
zelt? Städte haben ihre Muster, Muster Pfaueninsel 15 (–) Hamed Abdel-Samad
sind hartnäckig. Kiepenheuer & Witsch; 19,99 Euro Der islamische Faschismus
Nachdem Grönemeyer gesungen hat am Droemer; 18 Euro
Montagabend, leert sich die Stadt schnell, 18 (14) Fredrik Backman
22 000 Menschen wie verschluckt. Ein Ita- Ein Mann namens Ove 16 (16) Matthias Weik / Marc Friedrich
Fischer Krüger; 18,99 Euro Der Crash ist die Lösung
liener an der Kreuzkirche bietet noch Piz- Eichborn; 19,99 Euro
za an, doch um 23.30 Uhr stellt der Wirt
19 (–) Stephan Thome 17 (13) Guido Maria Kretschmer
die Stühle auf die Tische und bittet, abkas- Gegenspiel
sieren zu dürfen. Das Restaurant schließt. Anziehungskraft Edel Books; 17,95 Euro
Suhrkamp; 22,95 Euro
„Refugiumsbürgertum“. Gefeiert wird zu 18 (19) Peter Hahne
Hause, nicht im Restaurant. Ist ja schon Geschichte einer Selbstfindung: Rettet das Zigeuner-Schnitzel!
Quadriga; 10 Euro
spät. Susanne Beyer Die Portugiesin Maria nimmt
eine Ehekrise zum Anlass, ihr 19 (18) Margot Käßmann
Videoreportage: Leben zu überdenken
Das Zeitliche segnen Adeo; 17,99 Euro
Was ist Dresden?
20 (19) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt 20 (17) Wolfgang Büscher
spiegel.de/sp062015dresden Das Mädchen, das verstummte Ein Frühling in Jerusalem
oder in der App DER SPIEGEL Wunderlich; 19,95 Euro Rowohlt Berlin; 19,95 Euro

DER SPIEGEL 6 / 2015 97


Kultur

„Aber so was von stinkfalsch“


SPIEGEL-Gespräch 40 Jahre lang versorgte der Basler Antikenhändler Christoph Leon
die Museen mit archäologischer Kunst. Ein Gespräch über Fälschungen,
Plünderungen durch den „Islamischen Staat“ und die Praktiken der Auktionshäuser.
SPIEGEL: Herr Leon, gerade wird viel über SPIEGEL: Von welchen Preisen sprechen
die Raubgrabungen der IS-Terrormilizen wir?
in Syrien und im Irak berichtet. Berühmte Leon: Das geht von 500 bis 30 000 Euro,
archäologische Stätten wie Mari oder Dura manchmal aber auch in die Hunderttau-
Europos, die in dem vom IS kontrollierten sende. Millionen Euro erreichen Sie nur
Gebiet liegen, wurden geplündert: Wert- für Objekte, die eine fantastische Prove-
volle Antiken, also archäologische Kunst, nienz haben, man zahlt für die zweifels-
sollen in großer Zahl nach Europa gelangt freie Herkunft. Wenn das nachweislich aus
sein. Mit dem Geld, das Kunsthändler für einer alten Sammlung stammt, macht das
diese Objekte bezahlen, finanziert der IS 75 Prozent des Preises aus.
angeblich seinen Feldzug. SPIEGEL: Muss man sich das so vorstellen,
Leon: Das deckt sich mit meinen Informa- dass da fanatisierte IS-Wirrköpfe ahnungs-
tionen. los im irakischen Sand rumbuddeln?
SPIEGEL: Es gibt Satellitenbilder, die zeigen, Leon: Nein. Das sind oft ehemalige Offi-
dass ganze Landstriche auf der Suche nach ziere Saddam Husseins, gut ausgebildete
Antiken im Wortsinne durchsiebt wurden. Leute. Glauben Sie ja nicht, dass das ver-
Dennoch sind in den vergangenen Mona- schleierte Beduinen sind, die auf Kamelen
ten erstaunlich wenige Objekte bei Antiken- rumreiten und mit Vorderladern in der
messen oder in den Katalogen der großen Gegend rumschießen.
Auktionshäuser aufgetaucht. SPIEGEL: Die meisten Kunsthändler sagen:

FOTOS: CHRISTIAN AEBERHARD / 13 PHOTO / DER SPIEGEL (L.); DEAGOSTINI / GETTY IMAGES (R.M.); VERONIQUE DE VIGUERIE / GETTY IMAGES (U.L.); JOHANNES LAURENTIUS / BPK (U.R.)
Leon: Na ja, auch die Händler lesen Zei- „Keine Ahnung, woher das Zeug kommt.“
tung. An diesen Stücken hängt Blut, das Leon: Sie müssen davon ausgehen, dass
Zeug ist im Schwarzmarkt verschwunden. jeder Kunsthändler, der halbwegs im Ge-
SPIEGEL: Man kann es also kaufen? schäft überlebt, genau weiß, woher die
Leon: Natürlich. Stücke kommen. Und er kennt den Weg.
SPIEGEL: Wurde Ihnen etwas angeboten? Es gibt nicht so viele Zwischenhändler, für
Leon: Mir wird ständig irgendetwas ange- Objekte aus dem Irak und aus Syrien sind
Leon ist einer dieser Menschen, die man boten, und da ich gern einen Überblick das vielleicht 15 oder 20 Leute. Das funk-
eher in einem Roman als im richtigen über die Marktlage habe und ein neugie- tioniert wie Drogenschmuggel, die haben
Leben erwartet: 75 Jahre alt, humanis- riger Mensch bin, schaue ich mir auch vie- Organigramme von großer Präzision, vom
tisch gebildet, graues, volles Haar, makel- les an. Es läuft wie immer: Die Ware wird Ausgräber bis hin zur Einlieferung. Wenn
lose Manieren, mehrsprachig, dazu eine ins Land geschleust, dann kriegst du einen einer was anderes erzählt, muss ich sagen:
Vorliebe für klassische, nicht billige Gar- Anruf. Wir sind da und da und haben das Tut mir leid, das ist nicht die Wahrheit.
derobe. und das, interessiert? Ich kann mich an ein SPIEGEL: Kaufen auch offizielle Institutio-
Der promovierte Archäologe hat in Paris, paar Türken erinnern, die mit Koffern vol- nen? Museen beispielsweise?
Bern, Fribourg und Athen studiert, war bei ler Bronzen ankamen und sagten: Hallo. Leon: Das denke ich nicht. Das verhindert
Ausgrabungen in Theben und Kalamata. Ich Bronze haben. Du wollen? die Gesetzgebung in vielen Ländern.
Nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn SPIEGEL: Ist wirklich so viel Geld in diesem SPIEGEL: Wer kauft?
begann Leon eine Karriere als Kunsthänd- Geschäft, dass sich eine Terrorgruppe da- Leon: Oft die Händler selbst. Das läuft so:
ler für antike Objekte. Rund 40 Jahre lang für interessiert? Man hält das Stück ein Jahr lang, bis sich
hat er fast ausschließlich an Museen ver- Leon: Dazu sollten Sie wissen, dass die Fi- die Aufregung gelegt hat, und bringt es
kauft; kein Direktor, kein Kurator, der sich nanzwelt vor einigen Jahren gemerkt hat, dann über einen Auktionator auf den
mit klassischer Archäologie beschäftigt, dass man mit Antiken spekulieren kann. Markt. Dann kauft man es anonym selbst.
der seinen Namen nicht kennt. Leon hat- Bis vor einigen Jahren waren bedeutende, Damit schafft man eine Provenienz: Beim
te nie viel im Angebot – was er anbot, war geradezu monumentale Objekte für ver- Auktionshaus für 100 000 Dollar verkauft.
stets exklusiv und teuer. Mitte der Achtzi- hältnismäßig wenig Geld zu haben. Mit Ach – dann muss es echt sein.
gerjahre verkaufte er 21 apulische Vasen dem neuen Geld stiegen die Preise. Die Ar- SPIEGEL: Es wird also gewaschen.
an die Antikensammlung in Westberlin, temis der Albright-Knox Art Gallery in Buf- Leon: So könnte man es ausdrücken.
die heute zu den Prunkstücken des Muse- falo hat 29 Millionen Dollar gebracht. Eine SPIEGEL: Wer sind die Sammler? Naive
ums gehören. nur acht Zentimeter große mesopotamische Laien?
Leon sitzt in seinem Büro in Riehen bei Löwinnenfigur brachte 57 Millionen Dollar. Leon: Das sind keine Laien, sondern Leute,
Basel, umgeben von Hunderten Büchern Die meisten Objekte bringen nicht so viel, die Rollsiegel, Zylinder oder Tontafeln
und Auktionskatalogen. Er hat sich ent- aber wenn Sie kontinuierlich Rollsiegel und sammeln und sich auch auskennen. Das
schlossen, etwas für einen Kunsthändler Terrakotten auf den Markt werfen, dann ist eine faszinierende Welt. Man sieht in
Ungewöhnliches zu tun: Er möchte ein In- macht es auf Dauer natürlich die Masse. die antike Geschichte hinein. Das hat eine
terview geben, in dem er auch die Fragen Faszination für einen ganz großen Kreis
beantwortet, die Kunsthändler normaler- Das Gespräch führten Redakteur Juan Moreno und von Leuten. In der letzten Zeit kam viel
weise nicht beantworten. SPIEGEL-Mitarbeiterin Sönje Storm. Geld aus der islamischen Welt – Katar,
98 DER SPIEGEL 6 / 2015
Geschützte Ausgrabungsstätte im syrischen Mari, Raubgräber im Irak, von Leon verkaufte apulische Vase: „Alles Raubkunst“

DER SPIEGEL 6 / 2015 99


Ausgrabungsstätte im syrischen Palmyra 2009, nach der Plünderung 2014: „Das sind keine verschleierten Beduinen, die auf Kamelen reiten und mit

Dubai, Abu Dhabi – da war sehr viel Kauf- mord. Von Tausenden Toten, das ist eine Leon: Ich bin kein Heiliger, musste mich
aktivität, die Prinzen haben den Stolz ge- andere Dimension. aber immer an die Unesco-Konvention
habt, Sammlungen aufzubauen. Katar ist SPIEGEL: Sie beobachten seit 40 Jahren den halten, weil ich nur an Museen verkauft
ein gutes Beispiel. Die haben zum Teil zu Antikenhandel, wie hat er sich verändert? habe.
irren Preisen gekauft. Da steht jetzt eines Leon: Als ich anfing, so 1974, 1975, war das SPIEGEL: Die berühmten apulischen Vasen,
der schönsten Islammuseen der Welt. eine Zeit des Umbruchs. Davor war nicht die Sie 1984 nach Berlin verkauft haben,
SPIEGEL: Sammler wissen, was sie kaufen, alles besser, aber es war wenigstens legal. sollen aus Raubgrabungen stammen.
wenn sie derzeit mesopotamische Kunst Na ja, meistens. Die früheren Stücke aus Leon: Das stimmt, alles stammte irgend-
erwerben? Grabungen jedenfalls waren legal. Da gab wann aus Raubgrabungen. Die entschei-
Leon: Natürlich. Ein Sammler weiß, was es Verträge. Denken Sie an Siemens, die dende Frage aber ist, ob die Vasen bereits
los ist. haben im Gegenzug für Antiken Teile der 1970 Italien verlassen hatten.
SPIEGEL: Kann es den Sammlern egal sein, Türkei elektrifiziert. Das Zeug steht heute SPIEGEL: Auf Objekte, die vor 1970 das Land
was mit dem Geld geschieht? im Pergamonmuseum. verlassen haben, haben die Ursprungslän-
Leon: Eine Tragödie. Wir wissen, dass mit SPIEGEL: Es heißt, dass man auch früher oft der keinen Rückübertragungsanspruch.
diesen vorderasiatischen Objekten Waffen nicht so genau wissen wollte, woher die Leon: Die Vasen stammen aus einer sehr
bezahlt werden. Und gleichzeitig wird die Stücke kamen. alten Sammlung. Ich habe schriftlich, dass
vorderasiatische Archäologie gerade aus- Leon: Mitte der Siebzigerjahre wurde der sie schon lange vor 1970 in der Schweiz
gelöscht. Stätten wie Palmyra werden Kunsthandel zu einem großen Business, waren. Ich selbst habe die Vasen 1965 ge-
beschossen, ruiniert, Reliefs die Köpfe betrieben von Leuten, die keine wis- sehen, als ich in die Schweiz kam. Wie
herausgeschlagen und verschickt. Alles, senschaftliche Ausbildung hatten. Ich war gesagt, ich bin kein Heiliger, aber ich habe
was bewegt werden kann, wird wegge- als promovierter Archäologe eine Aus- nie den Wahnsinn gemacht, den diese Leu-
schafft. Das hat unvorstellbare Dimensio- nahme. Es entstand ein Nachfragesog. Die te getrieben haben. Symes hatte mehr als
nen. Einige Sammler sagen sich: Durch Museen, gerade in den USA, bekamen 20 Lager. Das war Massenexport.
den Kauf bewahre ich es vor der Zerstö- Manager an die Spitze gesetzt, nicht mehr SPIEGEL: Seit die italienische Polizei den
rung. Das ist Abwägungssache. Aber ich Archäologen. Die neuen Manager wollten Raubhandelsring um Medici zerschlagen
habe keine Hoffnung mehr. Alles weg. Events, wollten das Haus vollbekommen, hat, ist das Geschäft mit Antiken aus
SPIEGEL: Und ein Moratorium, um die tolle Bronzen, tolle Statuen, da musste es dem Mittelmeerraum praktisch tot. Woher
Schätze zu schützen? knallen. Jedes Mal, wenn ich ankam, war kommt das neue Angebot?
Leon: Der Antikenhandel ist wie fließendes die Frage: Was hast du Neues? Ich ant- Leon: Schlagen Sie irgendeinen Auktions-
Wasser: Er findet immer seinen Weg. Dann wortete mit dem Archäologen Ernst katalog auf. Was da präsentiert wird, ist
gibt es eben einen Schwarzmarkt. Das ist Curtius: Ja, kennen Sie denn das Alte ein Witz.
nicht zu unterbinden. schon? SPIEGEL: Was meinen Sie?
SPIEGEL: Woher haben Sie Ihre Informa- SPIEGEL: Es heißt, wo eine Nachfrage ist, Leon: Massenweise Fälschungen, überall.
tionen? findet sich immer ein Angebot. Schwierig SPIEGEL: Haben Sie Beispiele?
Leon: Ich habe Händlerfreunde im Libanon bei antiken Objekten. Leon: Aber natürlich. (Er steht auf, holt
und bin seit vielen Jahren im Geschäft. Leon: Da kommen wir in einen Grau- Unterlagen.) Nehmen Sie dieses Bronze-
Außerdem sind das wirklich keine Ge- bereich. Bei einigen Händlern fielen die köpfchen, Kaiser Augustus, handgroß.
heimnisse, die ich Ihnen erzähle. Ich lasse Hemmschwellen, und dann gingen auch SPIEGEL: Was ist mit dem Kopf?
ja die Namen weg. Jeder halbwegs ernst- mal dubiose Sachen über den Tresen. Leon: Er wird gerade in Genf über einen
hafte Kunsthändler wird das bestätigen. SPIEGEL: Antikenhändler wie Giacomo Me- Händler angeboten.
SPIEGEL: Die reden aber nicht. dici oder Robin Symes wurden verurteilt, SPIEGEL: Kostet?
Leon: Das ist ein sehr diskretes Geschäft. weil sie in den Neunzigerjahren Raubkunst Leon: Geschätzt um die 40 000 Euro.
FOTO: UNITAR-UNOSAT / AFP

SPIEGEL: Warum reden Sie? aus Italien und Griechenland an Museen SPIEGEL: Und der Kopf ist falsch?
Leon: Der Kunsthandel war immer ein spe- und Sammler verkauft hatten. Leon: Aber so was von stinkfalsch.
zielles Geschäft. Da wurde immer mal wie- Leon: Ich bin praktisch der Letzte aus die- SPIEGEL: Woher wissen Sie das?
der ein Gegner übervorteilt, da wurde von ser Zeit, der noch lebt und nicht im Knast Leon: Bildnisse des Kaisers Augustus sind
vielen getrickst, oft auch schlichtweg be- sitzt. wertvoll, er war ein ganz berühmter, wich-
trogen. Aber wir reden hier von Massen- SPIEGEL: Weil Sie als Einziger sauber sind? tiger Kaiser. Diese kleinen Bildnisse gab
100 DER SPIEGEL 6 / 2015
Kultur

8. Jahrhundert bis in die klassische Zeit. wenden. Jetzt kann jeder behaupten und
„Gold der Skythen“, berühmte Ausstel- anbieten, was er will. Die Fälschungs-
lung, haben Sie vielleicht schon mal ge- industrie hat Hochblüte.
hört. Und mir fällt gerade auf, dass die SPIEGEL: Bei Messen gibt es doch Juroren,
Fälscher in der Eile sogar die Löcher ver- Experten, die dafür Sorge tragen sollten,
gessen haben, durch die das Goldblech an dass nur Originale zugelassen werden.
ein Gewand genäht werden sollte. Leon: Ja. Juroren sind dafür da, auf einer
SPIEGEL: Was sollten sie kosten? Messe den Händlern zu sagen, das können
Leon: 70 000 Dollar wurden aufgerufen. Da wir nicht durchgehen lassen, das ist zwei-
lohnt sich der Aufwand. Es werden aber felhaft, ich möchte, dass Sie es zurückstel-
auch viel höhere Summen erzielt. Sehen len. Aber es gibt Seilschaften von Juroren
Sie (blättert im aktuellen Katalog eines an- und Händlern, da werden solche Objekte
deren renommierten Auktionshauses), die- durchgewinkt.
ser Alexander-Kopf aus Marmor, äußerst SPIEGEL: Und was ist mit Auktionshäusern,
zweifelhaft. Hat gerade zwei Millionen haben die auch Juroren?
Dollar gebracht. Es ist viel Geld im Spiel. Leon: Aber nein, das wäre Selbstmord. Ju-
SPIEGEL: Könnte eine naturwissenschaft- roren würden den Umsatz ruinieren. Auk-
Vorderladern in der Gegend rumschießen“ liche Untersuchung Gewissheit bringen? tionshäuser funktionieren anders. Da geht
Leon: Na ja, das ist schwieriger als bei der alles über den Tresen. Die würden sogar
es in besonders kaisertreuen Häusern. Auf Bronze. Marmor und Gold sind Huren. Sie ihre Großmutter verkaufen, wenn die Geld
deren Hausaltären standen Figuren von können das Gold nur analysieren, und bringen würde. So einfach ist das.
Göttern, zum Teil aber auch solche kleinen wenn das Gold grobe Verunreinigungen SPIEGEL: Und wenn ein Sammler ein Objekt
Kaiserbronzen: von Caligula, Claudius und hat, dann ist das ein Hinweis auf eine an- später überprüft und sich herausstellt, es
anderen. Von Augustus wäre diese hier die tike Entstehung. Es gab Zeiten, da wurden ist falsch?
einzige qualitätsvolle, ein kleiner Hohlguss im Handel angebotene Objekte wissen- Leon: Das sind kommunizierende Gefäße,
aus Bronze. Aber sie ist falsch. schaftlich besprochen. Falls es Diskus- was bei mir reingeht, geht bei einem an-
SPIEGEL: Wie erkennen Sie das? sionen um die Echtheit eines Stücks gab, deren raus. Wenn ich eine Fälschung ver-
Leon: Fangen wir mit dem angestrengten schaltete sich die Wissenschaft ein und kaufe und der andere die nach zwei Jahren
Ausdruck an. In der archäologischen Fach- sprach ein Urteil. Das aber ist vorbei. Das verkaufen will, ist er ein armer Mann.
literatur gibt es verschiedene Augustus-Ty- gibt es nicht mehr. Oder hat zumindest einen Schaden.
pen, sie alle zeigen einen majestätischen, SPIEGEL: Warum nicht? SPIEGEL: Ein Sammler also hat nach einem
einen gelassenen Kaiser. Ein Römer wäre Leon: Das Deutsche Archäologische Institut Kauf gar kein Interesse mehr herauszufin-
nie auf die Idee gekommen, den Kaiser in oder das entsprechende Institut in Öster- den, ob das Objekt echt ist? Gewissheit
einer angestrengten Pose darzustellen, reich besprechen schon seit gut 15 Jahren könnte einen viel Geld kosten. Ein Markt
weil er damit ja auf die Ebene der Bürger keine Objekte mehr aus dem Kunsthandel ohne Kontrolle.
treten würde. Der Kaiser ist dem Bürger- in wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Leon: Das BKA in Wiesbaden hat nicht
lichen, ja dem Irdischen enthoben. Und Wissenschaft will mit dem Handel nichts einmal zwei volle Planstellen für den ge-
schauen Sie sich die Details an: Die Stirn- mehr zu tun haben. Aber nur sie ist durch samten Bereich. Die verantwortliche Be-
falten sind schlampig, die Frisur hinten ihr Wissen und ihre Erfahrungen imstande, amtin sagt, dass ein deutsches Ei genauer
stimmt nicht. Das ist der Anfangsverdacht. die Dinge zu beurteilen und im Zweifel kontrolliert werde als eine Antike im
Man müsste das alles noch naturwissen- naturwissenschaftliche Methoden anzu- Kunsthandel.
schaftlich nachweisen, aber hier schrillen SPIEGEL: Was ist das Einfallstor für Fäl-
die Alarmglocken. schungen? Auktionen oder Messen?
SPIEGEL: So einfach ist das zu erkennen? Leon: Eindeutig die Auktionen.
Leon: Schlechte Fälschungen, ja. SPIEGEL: Wie viele der angebotenen Ob-
SPIEGEL: Wie kann es sein, dass ein Fälscher jekte sind falsch?
so danebenlangt? Leon: Sehr viele. Im aktuellen Katalog
Leon: Er kann es nicht. Er konnte keinen eines großen Auktionshauses halte ich
Kopf erschaffen, der ein antikes Antlitz 70 Prozent für zumindest zweifelhaft.
hat. Das waren in der Antike teilweise SPIEGEL: Bitte was?
künstlerisch herausragende Arbeiten. Leon: Die Nachfrage durch das Geld aus
SPIEGEL: Wie alt ist diese Bronze? der Finanzwelt ist groß, das Angebot
Leon: Die ist neu, ich schätze, zehn Jahre. knapp. Und wie gesagt, es werden heute
SPIEGEL: Haben Sie noch ein Beispiel? viel höhere Summen bezahlt. Wir hatten
Leon: Aber natürlich. (Er nimmt den Ka- unlängst eine Konferenz in Halle über Fäl-
talog eines renommierten internationalen schungen, da haben wir gesehen, wie viele
Auktionshauses aus dem Jahr 2012.) Diese falsche Römerköpfe aus Bronze auf dem
FOTO: VERONIQUE DE VIGUERIE / GETTY IMAGES

skythischen Goldbleche, das waren Ge- Markt sind.


wanddekorationen, damit hat man Mäntel SPIEGEL: Was heißt das für den Markt?
verziert. Ganz sicher falsch. Hier ist etwas Leon: Ich gehe davon aus, dass der Anti-
dargestellt, was es in der skythischen Kunst kenmarkt in seiner jetzigen Form in eini-
nicht gibt. Der Körper des Tieres ist ver- gen Jahren nicht mehr existiert. Das muss
dreht, da gehen die Hufe nach oben. Das kollabieren.
hat es typologisch nie gegeben. Das SPIEGEL: Und Geld ist immer das Motiv.
kommt aus dem Schwarzmeergebiet, Leon: Nein. Sehr viel Geld.
Asowsches Meer, Krim und Südrussland, Zurückgekauftes Kunstgut aus Bagdad SPIEGEL: Herr Leon, wir danken Ihnen für
da waren die Skythen zu Hause. Vom „Ein Sammler weiß, was los ist“ dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 6 / 2015 101
Kultur

A Psalmen für
uch Diven haben ein Vorleben, die „Der blaue Engel“, sie 1930 nach Holly-
Zeit, in der der Ruhm weit entfernt wood gebracht hatte.
und die Existenzangst groß ist. Die Noch in Berlin hatte die Dietrich ihren
Anfänge des einzigen wirklichen Weltstars, Bewunderer Polgar näher kennengelernt.
den Deutschland je hervorgebracht hat, lie-
gen Mitte der Zwanzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts in Berlin.
eine Göttin Er schätzte ihre Schauspielkunst und ihre
erotische Aura, sie verehrte ihn als Kritiker
und Schriftsteller. In ihrer Wohnung in
Maria Magdalene Dietrich, die sich Diven Vor fast 80 Jahren schrieb Paris, wo sie 1992 vereinsamt starb, fanden
Marlene nannte, trat als Kleindarstellerin die Kritikerlegende sich Bücher von Polgar in ihrer Bibliothek.
in unbedeutenden Stücken auf. Sie hatte Einen Band mit Kurzprosa hatte ihr der
zuvor in Weimar Geige studiert, eine Seh- Alfred Polgar eine Biografie Autor 1930 mit einer Widmung geschickt:
nenentzündung setzte der Musikerkarriere Marlene Dietrichs. „Für Marlene Dietrich, mit allerschönstem
ein Ende. Nun erscheint sie erstmals. Dank dafür, dass sie auf der Welt ist“.
Sie versuchte es mit der Schauspielerei. Zwar bekamen beide später die ameri-
Die junge Berlinerin, die damals noch kanische Staatsbürgerschaft, aber unter
etwas pummelig war, wirkte schon beim höchst unterschiedlichen Vorzeichen. Der
Vorsprechen auf provozierende Weise ge- Dietrich gelang es als einem der größten
langweilt. Nur wenige erkannten in diesem Hollywood-Stars, Polgar musste sich als
Typus – einer Art Vamp der Neuen Sach- armer Emigrant wie ein Bittsteller fühlen.
lichkeit – das große Talent. Er war 1933 gewarnt worden, er müsse
Einer von ihnen war Alfred Polgar. Der Deutschland umgehend verlassen, die Na-
1873 in Wien geborene Kritiker, einer der zis würden ihn sicherlich verfolgen. Über
angesehensten seiner Zeit, besuchte 1927 Prag reiste das Ehepaar Alfred und Lisl
eine Aufführung des belanglosen ameri- Polgar nach Wien. Ein Freund, Carl Seelig,
kanischen Kriminalstücks „Broadway“ in lud sie nach Zürich ein, dann reiste Polgar
Wien. Gemeinsam mit vier anderen jun- nach Paris weiter. Ein Schweizer Bankier
gen Schauspielerinnen trat darin Marlene ließ ihm Geld zukommen. Das brachte Pol-
Dietrich unter der Rollenbezeichnung gar zum ersten Mal in Gewissensnöte, die
„Girl“ auf. Sie hatte in dem Stück nicht ihn während seiner gesamten Emigrations-
viel zu tun, doch fiel ihr ein dramaturgisch zeit nicht verlassen sollten: „Wie macht
bedeutsamer Auftritt zu: Durch einen ge- man’s, ein Schnorrer zu sein und doch ein
zielten Todesschuss mit einem Revolver Gentleman zu bleiben?“
musste sie einen Gangster ausschalten. Autor Polgar um 1930 Diverse Filmprojekte, an denen Polgar
Jahre später behauptete Polgar, der ei- mitarbeiten sollte, zerschlugen sich, seine
gentlich Polak hieß, schon damals erkannt Verzweiflung wuchs. Carl Seelig, der Zür-
zu haben, dass in dieser Szene die Größe cher Freund, wandte sich an die Dietrich
der Dietrich zu erkennen gewesen sei. lästiger Bewunderer beim Verlassen eines mit der Bitte um Hilfe. Sie schickte 500
Für ihren Revolver-Auftritt fand Polgar Kaffeehauses in Wien fragte, in welche Dollar. Nach heutiger Rechnung, so legt
bewundernde Worte: „Diese Passivität im Richtung er nun zu gehen gedenke, sagte es Ulrich Weinzierl in seinem umfangrei-
Augenblick schicksalsschwerer Aktivität, Polgar, der ahnte, dass der Mann ihn be- chen Nachwort zu „Marlene“ dar, sind das
diese seltsame Ruhe im Affekt – vertieft gleiten wollte: „In die entgegengesetzte.“ gut 12 000 Schweizer Franken.
noch durch ein nur andeutendes Mienen- Noch heute sind seine Schriften auf dem Polgar tat sich mit einem Dankschreiben
spiel und den umschleierten Klang einer Markt, und die besten von ihnen glänzen an die Diva schwer. Er war von ihrer Groß-
mit Ton sparenden Stimme – wurde von durch fein dosierte Ironie und sprachliche zügigkeit beschämt und gleichzeitig in sei-
manchen schon damals, als der Stern der Meisterschaft. Polgar gehörte neben Kurt ner Würde verletzt. Die Dietrich fragte bei
Dietrich noch unterm Horizont stand und Tucholsky, Alfred Kerr und Herbert Ihe- Seelig an, was Polgar denn an monatlicher
sie nur ein Girl unter Girls war, als Origi- ring zu jenen Kritikern, die einen neuen Unterstützung brauche, um überleben zu
nalitäts-Zeichen empfunden und erkannt.“ Ton einführten, die die Moderne der Wei- können. 200 Dollar war die Antwort, die
Es habe, so Polgar weiter, „eine kleine marer Republik feierten und selbst ein Teil Dietrich möge doch eine Gegenleistung
Dietrich-Gemeinde in Wien“ bestanden, von ihr waren. verlangen, vielleicht ein Drehbuch nach
unter Vorsitz des Verlegers Adolf Josef Zu danken ist der Fund seiner Marlene- einer Klassiker-Romanvorlage. Der Schein
Storfer und mit ihm selbst als treuem Mit- Biografie dem Wiener Kulturjournalisten des Gebrauchtwerdens sollte aufrechter-
glied. und Polgar-Spezialisten Ulrich Weinzierl, halten werden.
Diese Zitate finden sich in einem schma- 60, der das Manuskript schon 1984 in ei- Immer wieder ließ Seelig Marlene Die-
len Polgar-Buch, das jetzt – als literarhis- nem Koffer in New York in der Wohnung trich von der großen finanziellen und see-
torische Kuriosität und als bedeutendes von Polgars Stiefsohn gefunden hatte. Des- lischen Not ihres Bekannten wissen. Und
Dokument der Emigrationsgeschichte, fast sen Witwe hat es Weinzierl anschließend immer wieder überwies die Diva Geld.
80 Jahre nach seiner Niederschrift – erst- geschenkt. Polgar hielt sich inzwischen in Salzburg-
mals in gedruckter Form herauskommt*. Der Text erzählt auf einer außerliterari- Aigen auf. Im Sommer 1936 kam Marlene
Polgar war in Wien und später in Berlin schen Ebene eine berührende Geschichte: Dietrich, die ein erotisch umfangreiches
eine Institution, ein weltläufiger Kritiker Sie handelt von zwei Menschen, die, jeder Leben führte, mit ihrem Mann Rudi Sieber,
für Theater, Film und Literatur, witzig, ge- auf seinem Feld, zu Bedeutung und Be- ihrer gemeinsamen Tochter Maria, Rudis
bildet und überaus schlagfertig. Als ihn ein rühmtheit gelangt sind. Beide verließen Geliebter Tamara und ihrem eigenen Lieb-
FOTO: GETTY IMAGES

ihre Heimat. Der eine, Polgar, weil er es haber, Douglas Fairbanks Jr., nach Öster-
* Alfred Polgar: „Marlene. Bild einer berühmten Zeit-
als Jude musste und es ihm im letzten Au- reich auf Urlaub, ganz in Polgars Nähe.
genossin“. Paul Zsolnay Verlag, Wien; 160 Seiten; genblick tatsächlich gelang, und die ande- Die beiden trafen sich des Öfteren. Und
17,90 Euro. re, Dietrich, weil ihr erster Filmerfolg, in einem Dankschreiben fragt der Schrift-
102 DER SPIEGEL 6 / 2015
Filmstar Dietrich in „Shanghai Express“ 1932: Laxe Auffassung ehelicher Moral

steller schließlich, ob er der Dietrich nicht so beobachtete er, fiel er aus der Bewun- Polgar versuchte, einen anderen Verle-
„in irgendwelcher Form“ gefällig sein derung gelegentlich in einen ironischen ger für den Text zu finden. Er ließ sich so-
könne. Als Autor etwa, „auch unhono- Ton, seinen Ton. gar dazu herab, sein Manuskript der Die-
riert“, es wäre ihm „eine Herzensfreude“. Und in der Tat. Der Text will seinem trich und ihrem Mann zum Gegenlesen zu-
Das alles verpackt mit der Schmeichelei: Gegenstand nicht zu nahe treten. Über kommen zu lassen. Das Ehepaar ließ sich
„Was für ein feiner wie glänzend-aparter weite Strecken ist es, bisweilen brillant Zeit und strich die kleinsten Hinweise auf
Einfall der Schöpfung es war, Sie zu er- formulierte, Adorations-Prosa, ein blank die laxe Auffassung ehelicher Moral.
finden.“ geputzter Bewunderungsessay. Marlene Auch die Idee, das Buch in den USA he-
1937 entstand der Plan, Polgar solle für Dietrich wird als Künstlerin über den grü- rauszubringen und von einem amerikani-
einen Wiener Verlag eine Art Biografie nen Klee gelobt und auch als Mutter. Nun schen Autor bearbeiten zu lassen, ließ sich
über die Dietrich schreiben. Die Verhand- war gerade diese zweite Rolle, wie man nicht verwirklichen. Polgar nahm sein Ma-
lungen zogen sich hin. Polgar wurde miss- inzwischen von den Aussagen der Tochter nuskript mit ins Exil nach New York. Sein
mutig, in einem Brief an eine Freundin weiß, ihre schwächste Leistung. Kontakt zu Marlene Dietrich brach ab. Das,
beklagt er, es habe „etwas kaum Erträg- Natürlich kommt ihr kompliziertes Lie- was als generöse Hilfsmaßnahme für einen
liches“, „in heutiger Zeit als Psalmodist besleben nicht vor. Ihre Ehe ist längst ein verehrten, in Not geratenen Schriftsteller
einer Filmdiva 150 Seiten unter meinem nicht immer leicht einzuhaltendes Ar- begonnen hatte, endete in Bitterkeit.
Namen von mir zu geben“. Aber er könne, rangement. Rudi Sieber lebt in Kalifornien Marlene Dietrich hat den Schriftsteller,
so schreibt er in falscher Rechtschreibung, mit seiner nervenkranken Geliebten. Mar- der 1955 in Zürich starb, nie wiedergese-
sich ja wohl „keinerlei litterär-moralischen lene hat Beziehungen zu Männern und hen. Sie hat ihn um 37 Jahre überlebt. Sie
Luxus“ leisten. Frauen. Ihre größte Liebe sollte wohl der starb in Paris. Viele Jahre lang hatte sie
Nach einigen anstrengenden Treffen französische Schauspieler Jean Gabin wer- ihr Appartement in der Avenue Montaigne
mit der Dietrich in Paris blieb Polgars den. Doch der ließ sie sitzen. nicht verlassen, weil sie nicht wollte, dass
Lust, das Buch zu schreiben, gering. Er Alle Mühe Polgars, einen druckbaren man eine alte, zerbrechliche Frau im Roll-
hatte den Eindruck, jeder glaube, er wolle Text hinzubekommen, der seinen eigenen stuhl auf der Straße sieht, die Frau, die
das Buch unbedingt schreiben, und die Anforderungen an einen Polgar-Text halb- einmal der „Mythos Marlene“ gewesen
Schauspielerin lasse es gnädig geschehen. wegs entsprach, erwies sich als hinfällig, war. Ewig jung, verführerisch und eine
FOTO: KOBAL / IMAGES.DE

Im Oktober 1937 kam schließlich ein als sich 1938 Österreich dem Deutschen Göttin der Begierde.
Vertrag zustande, Polgar erhielt einen Reich „anschloss“. Ein Jude, der in einem An diesem Mythos hat auch Alfred Pol-
Vorschuss, der nach heutigem Kurs gut Wiener Verlag eine Biografie über die gar mitgewoben in einem Buch, das lange
10 000 Euro entsprechen würde. Das Nazi-Gegnerin Dietrich veröffentlicht? Un- nach beider Tod nun erscheint.
Schreiben fiel ihm schwer. Unbeabsichtigt, möglich. Joachim Kronsbein

DER SPIEGEL 6 / 2015 103


Antiisraelische Demonstranten in Berlin: „Wenn sie die Rebellion suchen, finden sie sie im Salafismus“

Der Dschihad und der Islam


Religion Lamya Kaddor arbeitet als Lehrerin für Islam-Unterricht in Dinslaken-Lohberg, fünf ihrer
ehemaligen Schüler gingen nach Syrien. Ihre Erfahrungen beschreibt sie in einem Buch. Ein Vorabdruck.

I
ch bin gläubige Muslimin und als Kind den Aktionen der islamistischen Terror- und von hier aus nach Syrien aufgebro-
syrischer Eltern 1978 in Deutschland ge- gruppen zu beteiligen. In Deutschland wa- chen sind.
boren. Ich bereiste Syrien beinahe jähr- ren sie von Salafisten angeworben worden. Unter ihnen waren auch fünf meiner
lich. Seit fast vier Jahren ist mir das nicht Sie hatten sich ihnen angeschlossen, weil ehemaligen Schüler. Diese jungen Men-
mehr möglich. Syrien bedeutete für mich sie bei ihnen das zu bekommen glaubten, schen hatten sich der sogenannten Lohber-
Familie, Fernweh, aber auch Fremdheit. was sie zuvor vergeblich suchten: Respekt, ger Brigade angeschlossen. Als ich davon
Als ich mich nach dem Abitur 1997 ent- Orientierung und Zusammenhalt. Das erfuhr, empfand ich es als eine persönliche
schloss, Arabistik und Islamwissenschaft Ganze traf mich wie ein Schlag. Niederlage. Es sind fünf mir eigentlich gut
zu studieren, war das eine reine Bauch- Ich habe junge Menschen kennengelernt bekannte und sympathische Menschen, die
und Sympathieentscheidung. Ich hätte nie und zeitweise begleitet, die sich haben ver- ich in gewissem Sinne verloren habe. Mir
daran gedacht, dass ich mit diesem Studi- führen lassen. Ich konnte mit Menschen ist bewusst, dass ich sie wahrscheinlich
um jemals etwas zum Zusammenleben der sprechen, deren Kinder verschwunden nicht hätte aufhalten können, und dennoch
deutschen Gesellschaft beitragen könnte. sind. Ich habe mit Jungen wie Mädchen stelle ich mir die Frage, ob ich es voraus-
Im Jahr 2003 begann ich, im Stadtteil gesprochen, die in den Dschihad gezogen sehen oder irgendetwas hätte anders ma-
Dinslaken-Lohberg als Lehrerin für Islam- sind und wiederkamen oder hier dafür chen können.
kunde (seit 2014 als Lehrerin für Islami- werben. Und ich kenne mich als Islam- Das Positive vorweg: Immerhin vier die-
schen Religionsunterricht) zu arbeiten. In- wissenschaftlerin mit jener Religion aus, ser Exschüler erkannten rechtzeitig, dass
zwischen muss ich in den letzten zwölf die hier von Extremisten benutzt wird. sie sich nicht auf den Weg zu Heldentaten
Jahren weit mehr als 1000 Schülerinnen Dinslaken liegt am nordwestlichen begeben hatten, sondern im Begriff waren,
und Schüler muslimischen Glaubens un- Rand des Ruhrgebiets und hat fast 70 000 einen Riesenfehler zu machen. Nur einer
FOTO: MARTIN LEJEUNE / PICTURE ALLIANCE / DPA

terrichtet haben. Bereits zu Beginn meiner Einwohner. Bundesweit in den Fokus ge- blieb dort und hielt am Irrglauben fest, für
Tätigkeit stellte ich große soziale und emo- rückt ist die Stadt erst in jüngster Zeit die Sache Gottes zu kämpfen.
tionale Defizite bei ihnen fest. Seit Jahren wegen ihres Stadtteils Lohberg. Dort hat Lohberg ist eine Zechensiedlung, wie
beschäftige ich mich mit der sozialen und sich eine Gruppe gebildet, die dem Ort man sie fast in jeder Stadt im Ruhrgebiet
emotionalen Integration dieser muslimi- international den Ruf einer Salafisten- findet. Die Stilllegung des Verbundberg-
schen Jugend. Hochburg beschert hat. Das ist natürlich werks Lohberg-Osterfeld vor einigen Jah-
Im Frühjahr 2013 wurde ich von der ein Blickwinkel, der weder dem Stadtteil ren hat allerdings mit dafür gesorgt, dass
Nachricht überrascht, dass eine Handvoll noch seinen Einwohnern gerecht wird. dieser Stadtteil ökonomisch immer mehr
meiner ehemaligen Schüler in das Land Fakt aber ist, dass sich etwa 20 aus ihrer abgehängt wurde. Selbstverständlich ist
meiner Eltern gereist war, um sich dort an Mitte zu Dschihadisten entwickelt haben Lohberg auch von seinen vor allem aus
104 DER SPIEGEL 6 / 2015
Islamistische Graffiti in Damaskus: Im Namen von al-Qaida

der Türkei stammenden ehemaligen Gast- In den letzten Jahren haben nach mei- bekannteste deutsche Salafisten-Prediger,
arbeitern und deren Nachkommen geprägt. ner Beobachtung die Moschee als Ein- Pierre Vogel, 2006 einen Vortrag in der
Es ist eigentlich alles sehr kleinbürgerlich, richtung wie auch die Religion für manche DITIB-Moschee halten durfte.
nur eben multikulti. Man sieht türkische Jugendliche in Lohberg einen größeren Ich erinnere mich noch sehr gut daran,
neben deutschen Fahnen. Gepflegte Vor- Stellenwert bekommen. Sie suchen nach denn die Jugendlichen kamen nur einen
gärten sind hier sowohl in herkunftsdeut- Identität, auch über den Weg der Religion. Tag später in der Schule zu mir und be-
scher als eben auch in neudeutscher Hand. Immer wieder hörte ich davon, dass sich richteten fasziniert von dieser Begegnung
Natürlich spielt die Frage der Kriminali- unterschiedliche Personen aus dem sala- mit dem damals noch weitgehend unbe-
tät in Lohberg eine größere Rolle als an- fistischen Milieu in den Moscheen von Loh- kannten Konvertiten. Ich fragte sie, was
derswo in Dinslaken. Schon Schüler der berg trafen. Ob mit dem Wissen der Ver- denn Inhalt seines Vortrags gewesen sei,
siebten Klasse sind gelegentlich in krimi- antwortlichen oder nicht, ob dort missio- und sie erzählten mir, dass Pierre Vogel in
nelle Machenschaften verwickelt. In der niert wurde oder ob man die Moscheen ihrer Sprache, also in deutscher Jugend-
zehnten Klasse gibt es immer wieder wel- nur als Treffpunkt aufsuchte, um zu beten, sprache, ausgedrückt habe, was der „wah-
che, die bereits Vorstrafen haben oder in weiß ich nicht. Sicher ist, dass der heute re“ Islam eigentlich von uns wolle. Er sagte
Jugendarrest saßen. Ich erinnere mich an ihnen beispielsweise, dass Discobesuche
einen sehr extremen Fall vor einigen Jah- eigentlich haram – also verboten – seien.
ren: Körperverletzung, Diebstahl, Raub- Dass Alkoholgenuss ebenfalls haram sei.
überfall, Verstoß gegen das Betäubungs- Dass die wahre Religion natürlich der Is-
mittelgesetz, mehr als ein Dutzend Vor- lam sei und sich alle bemühen sollten, auf
strafen. Wenn ihm etwas gegen den Strich den Weg Gottes, den Weg des Islam, zu
ging, schlug er zu. Wenn er etwas benötig- gelangen. Es gehe im Leben einzig und al-
te, griff er zu. Und doch konnte er in der lein darum, sich an Gottes Gebote zu hal-
Schule ein netter, lustiger Kerl sein. ten. Andersgläubige bezeichnete Pierre
Wer diese Jugendlichen näher kennen- Vogel schon damals als Kuffar (von ihm
lernt, erfährt, dass sie oft existenzielle Pro- als „Ungläubige“ übersetzt).
bleme haben. Diese können sich schon früh Aber sein Auftritt hatte damals noch kei-
in ihrem alltäglichen Verhalten äußern. Das nen Nachhall. Doch schon bald wurde
FOTOS: DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL (U.); REUTERS (O.)

kann mangelnder Respekt gegenüber einer deutlich, dass Eiferer wie er das Potenzial
Lehrperson sein, es kann Alkohol- oder mitbringen würden, Jugendliche zu einem
Drogenmissbrauch sein und es können sich restriktiven Islamverständnis zu verführen.
Disziplinprobleme häufen – zu spät kom- Meistens gibt eine charismatische Person
men, keine Hausaufgaben machen, perma- den Ausschlag und findet mit einer verein-
nent den Unterricht stören etc. Die Einsicht, fachten Weltsicht Zugang zu diesen jungen
wie wichtig und wertvoll Bildung ist, Menschen. Auch in Dinslaken-Lohberg ist
scheint bei diesen Schülern allenfalls an- diese Infiltrierung gut sechs Jahre nach
satzweise vorhanden zu sein. In der Reali- dem Auftritt von Pierre Vogel zunächst
tät Lohbergs treten solche Probleme bei von einer Einzelperson ausgegangen. Der
deutschstämmigen genauso wie bei ande- Autorin Kaddor junge Mann Mitte 20 bekannte sich zum
ren Jugendlichen auf. „Die katholische Brille abnehmen“ Salafismus, und seine Mission bestand
DER SPIEGEL 6 / 2015 105
Kultur

darin, Jugendliche ebenfalls zum „wahren“


Islam zu bringen. Was mit lockeren Zu-
sammentreffen begann, wurde irgendwann
zu regelmäßigen Verabredungen, anfangs
unter anderem in den Räumlichkeiten ei-
ner Stiftung, später sogar für kurze Zeit
in den Gemeinderäumen der Moscheen.
All das geschah, ohne viel Aufsehen zu er-
regen. Niemand sah dies als gefährlich an.
Und irgendwann wurde aus dieser kleinen
Gruppe eine größere, die überregionale
Kontakte zu anderen Gruppen suchte.
Die Person, die in Lohberg missionierte,
stammt selbst aus der dortigen Com-
munity – weshalb ihr erst recht kein Miss-
trauen entgegengebracht wurde. Die Ju-
gendlichen konnten sich mit ihm „in ihrer
Sprache“ (sowohl auf Türkisch als auch
auf Deutsch) austauschen. Dass ausgerech-
net Dinslaken-Lohberg zu einer interna-
tional bekannten „Hochburg“ des gewalt-
bereiten Salafismus in Deutschland wurde,
ist letztlich zu einem großen Teil dem Zu-
fall geschuldet. Der Boden für eine solche
Entwicklung wäre auch in anderen Städten
und Stadtteilen bereitet.
Jede Radikalisierungsgeschichte ist ein-
zigartig. Die Mechanismen jeder Radikali-
sierung – ob rechtsextremistisch, linksex-
tremistisch, salafistisch – wiederum sind
grundsätzlich die gleichen. Entscheidend
ist die Bereitschaft der Jugendlichen, aus
ihrem alten Leben zu fliehen. Genau daran
knüpfen Menschenfänger an – und als Ver-
kleidung dient ihnen der „Islam“. Jugend-
liche, die in ihrem Elternhaus keine Gebor-
genheit, Sicherheit und Akzeptanz erfah-
ren, haben emotionale Defizite, vor allem
Selbstwertprobleme und Schwierigkeiten
bei der Regulierung ihrer Gefühle. Ihre
Ohnmacht kompensieren sie häufig mit
Unrecht und Gewalt. Zugleich haben sie
eine erhöhte Bereitschaft, Menschen Ver-
trauen zu schenken, die ihnen vermeintlich Dinslakener Dschihadist Mustafa K. (l.), Mitstreiter, Markt in Dinslaken-Lohberg
die Zuneigung und Anerkennung geben, „Die besten sind wir: die Muslime! Willst du dazugehören?“
die sie brauchen. Das ist kein salafismus-
spezifisches Phänomen. lafismus für viele ein rein religiöses zu sein: rer Religion ringen müssen. Dass es in der
Junge Menschen stellen sich ab einem „Sollen sich doch die Muslime darum küm- Geschichte des Glaubens immer unter-
gewissen Reifegrad immer wieder die Fra- mern, was haben wir damit zu tun?“, schiedliche Auffassungen gab und geben
ge, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind. schallt es mir bei Veranstaltungen häufig wird. Der Islam kennt keine Instanz, die
Insbesondere viele deutsche Jugendliche entgegen. Aber nur weil uns Salafisten – für alle verbindlich festlegen kann, was
mit muslimischer Glaubenszugehörigkeit übrigens genauso wie Islamhasser – einre- die Religion ausmacht. Es gibt keinen
und/oder ausländischem Familienhinter- den wollen, das sei alles Islam, was sie da Papst und auch sonst keine theologischen
grund werden diese Frage mit „nicht be- machen, entspricht das noch lange nicht Autoritäten, die so einen Anspruch erfül-
sonders zufrieden“ beantworten. Der Un- der Wahrheit. Natürlich hat der Islam et- len könnten. Daran ändert auch nichts,
mut über die Verhältnisse zu Hause treibt was mit dem Salafismus zu tun. Es wäre dass immer wieder Muslime auftreten, die
Jugendliche ebenso um wie der Frust über ja absurd, etwas anderes zu behaupten. Derartiges für sich reklamieren. Die be-
die sie ausgrenzende Mehrheitsgesell- Aber der Islam ist nur das Vehikel für die haupten, die Wahrheit zu kennen.
FOTO: DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL (U.)

schaft, in der sie leben, und die Wut über Salafisten. Mir geht es nicht darum, die Aufgeklärte Schüler würden solchen Per-
die eigene unklare Identität. Wenn musli- Religion auszuklammern, sondern darum, sonen mit der nötigen Skepsis begegnen.
mische Jugendliche die Rebellion suchen, ihre tatsächliche Rolle aufzuzeigen. Sie hätten erfahren, dass es Koranverse
finden sie sie im Salafismus. Er ist für die Ich bin der Meinung, dass ein religiös mit Gewaltinhalten gibt, aber sie hätten
meisten Anhänger vor allem auch eine Ju- gebildeter Jugendlicher den Salafisten auch erfahren, dass der Koran an anderen
gendprotestbewegung, mehr jedenfalls als nicht so einfach in die Hände fallen würde. Stellen der Gewalt deutliche Grenzen
eine religiöse Erweckungsbewegung. Er hätte gelernt, dass es „den“ einzig wah- setzt, dass, bis auf eine, jede Sure am An-
Trotz all der sozialen und psychosozia- ren Islam gar nicht geben kann. Dass Gläu- fang auf die Barmherzigkeit Gottes hin-
len Faktoren scheint das Problem des Sa- bige im Islam stets um das Verständnis ih- weist. Wenn wir in Deutschland über den
106 DER SPIEGEL 6 / 2015
Islam oder andere Religionen reden, müs- Beim gemeinsamen Beten, beim gemein- können dir sagen, dass es gute und schlech-
sen wir die katholische Brille abnehmen. samen Fasten oder Essen, bei gemeinsa- te Menschen gibt. Die besten aber sind
Wir gehen von denselben institutionellen men Freizeitaktivitäten wird der Zusam- wir: die Muslime! Willst du dazugehören?“
Strukturen aus, die aber viele andere Reli- menhalt unter der Flagge des Islam ge- Der gezielte Zugriff der Salafisten auf
gionen so eben nicht haben. stärkt. Die Neuzugänge sind nun Teil der die Seelen dieser jungen Menschen treibt
Im Rahmen meiner Studien über das „wahren Umma“. Eigentlich umfasst der die Isolation am Ende so weit, dass die Be-
Gottesverständnis muslimischer Haupt- Begriff Umma die weltweite Gemeinschaft urteilung des gesamten Weltgeschehens
schüler stieß ich auf erschreckende, aber aller Muslime. Bei den Salafisten werden nur noch durch die eigenen Wortführer
zu erwartende Ergebnisse. In Gesprächen die Jugendlichen zum Teil einer kleinen und Vordenker respektiert wird. Alles an-
bekräftigten sie: Gott ist unser Schöpfer Umma, einer Gruppe von Rechtgeleiteten. dere, alles, was Medien über die Gefahren
und unser Richter, er beobachtet und prüft Mit dem Gedanken dieser Mini-Umma des Salafismus melden, wird ausgeklam-
uns, er kennt unsere Ungerechtigkeiten. wird suggeriert, dass man sich in einer ähn- mert: Warnungen vor der Brutalität der
Der zentrale Aspekt der Barmherzigkeit lichen Situation befände wie die Urgemein- Terrororganisation IS, Berichte von Ent-
spielt in der Wahrnehmung kaum eine Rol- de um den Propheten Mohammed. Mo- hauptungen und anderen Gräueltaten. Al-
le. Die Schüler sehen sich häufig in einer hammed wurde zu seinen Lebzeiten in les, was Kritiker sagen, ist aus salafistischer
Art Bringschuld Gott gegenüber, der sie Mekka, während der Entstehung des Islam, Sicht ein teuflischer Versuch, „wahre Gläu-
hoffnungslos ausgeliefert sind. Während mit seiner kleinen Gemeinde kritisiert, dif- bige“ von ihrem Weg abzubringen, und
er unsere Geschicke bestimmt, haben wir
Menschen eigentlich nur zu parieren oder
zu reagieren. Häufig habe ich den Ein-
Einige lockte der Gedanke, der eigenen Wut freien Lauf
druck, dass die Jugendlichen gelegentlich zu lassen. Zu prügeln, zu quälen, auch zu töten.
ein Ohnmachtsgefühl beschleicht.
Die Salafisten erkennen, wenn sie Ju- famiert und verfolgt. Damit vergleichen schlicht Lüge. Und alles, was Lüge ist, darf
gendliche vor sich haben, die in prekären sich heutige Salafisten, wenn sie von Staat und muss bekämpft werden.
Verhältnissen leben, die mehr oder minder und Öffentlichkeit angegangen werden. Für die militanten Salafisten ist Gewalt
starke Defizite in der schulischen Bildung Sie verkehren und verwenden die Kritik grundsätzlich das wirksamste Mittel gegen
aufweisen oder vielleicht schon arbeitslos und staatlichen Repressionen für ihre Zwe- „Unrecht“. Gottes Gerechtigkeit auf Erden
sind, die diskriminiert werden durch die cke und appellieren an die Mitglieder, sich darf durch Gewalt hergestellt werden. Die
Mehrheitsgesellschaft. Und sie merken es, als verfolgte Minderheit zu sehen und ge- Salafisten beziehen sich auf die Suren, miss-
wenn diese Jugendlichen frustriert sind, gen die unterdrückende Mehrheit aufzu- brauchen Verse zur Rechtfertigung ihres Vor-
labil. Sie werden von Salafisten angelockt begehren – so, wie einst Mohammed und gehens. Wenn der Prophet Krieg führte ge-
durch Angebote, die ihre bisherigen Be- seine Gefährten es getan haben. gen verfeindete Stämme, dann hat er das
dürfnisse und Interessen ansprechen. Ein Alle gläubigen Muslime dürften davon unter den Umständen seiner Zeit getan. Den
sportinteressierter 17-Jähriger wird mit Ge- überzeugt sein, dass Gott die absolute Salafisten ist das egal. Ihnen geht es darum,
sprächen über Fußball angelockt. Einem Wahrheit kennt. Nur die Salafisten behaup- dem Leben des Propheten nachzueifern. Mit
15-Jährigen, der schwach in der Schule ist, ten, sie – und sie allein – würden diese der Überzeugung, einen „gerechten“ Krieg
bietet man an, ihm bei den Hausaufgaben Wahrheit ebenfalls kennen. Nach islami- zu führen, sprechen die Salafisten all dieje-
zu helfen. Eine 19-Jährige, die sich mit ih- schem Verständnis ist das ein Frevel, stellen nigen an, die sich ungerecht behandelt füh-
rer traditionellen Rolle im Elternhaus nicht die Salafisten ihr Wissen damit doch auf len. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, darf
zufriedengibt, kann sich mit anderen Mäd- eine Stufe mit Gottes Allwissenheit. zum ersten Mal in seinem Leben mit „legiti-
chen austauschen. Gerne gehen Salafisten Gerade junge Muslime, die in ihrem mierter“ Gewalt für vermeintliche Gerech-
auch über Sportvereine, um an Jugend- Glauben noch nicht gefestigt sind, viel- tigkeit sorgen. Die Salafisten ermöglichen
liche zu gelangen – insbesondere über Fuß- leicht auch erst konvertiert sind, lassen es scheinbar, aus Ungerechtigkeit Gerechtig-
ball- oder Kampfsportklubs. Einladungen sich einschüchtern, wenn sie sich erst ein- keit zu machen. Die Bösen zu bestrafen.
in den Gemeinderaum oder in die Mo- mal auf die religiöse Indoktrinierung ein- Durch Aussagen junger Rekruten, die
schee sind der nächste Schritt. Die Salafis- gelassen haben. Wenn ihnen gesagt wird, sich den Dschihadisten angeschlossen ha-
ten schleichen sich förmlich in die Lebens- dass Gott Zeuge sei für das, was die Sala- ben, ist bekannt, dass einige der Gedanke
wirklichkeit dieser jungen Menschen ein. fisten predigen, Zeuge dafür, dass das, was gelockt hat, den eigenen Gewaltfantasien,
Dabei spielt ihnen nun in die Hände, man da gerade gesagt habe, die Wahrheit der eigenen Wut und den eigenen Rache-
dass sich die meisten muslimischen Jugend- sei, und dass alle verpflichtet seien, in den gelüsten freien Lauf lassen zu können. Un-
lichen als gläubige Muslime begreifen, Kampf, den Dschihad, zu ziehen, wagen gefährdet von Recht und Gesetz mit einem
auch wenn das Ausleben ihrer Religion viele von ihnen nicht zu widersprechen. anderen Menschen machen zu können, was
ganz unterschiedlich sein kann: Einige ge- Vielen Jugendlichen, die komplexe welt- man will. Ihn zu verprügeln, zu quälen, ihn
hen allenfalls am Ende des Fastenmonats anschauliche und religiöse Fragen überfor- auch zu töten. Sich eine Frau zu nehmen,
Ramadan zum Festgebet in die Moschee, dern, sind die Antworten, die die Salafis- wie man will. Sich am Hab und Gut der
so, wie viele Christen nur an Weihnachten ten geben, ihre klare Positionierung, sogar Opfer zu bereichern. Keine Polizei, keine
in die Kirche gehen. Andere setzen nie sehr willkommen. Es gibt unmissverständ- Strafverfolger, keine Eltern, die einen auf-
einen Fuß in eine Moschee, trinken Alko- liche Aussagen. Die Salafisten senden klei- halten.
hol, essen und trinken im Ramadan. An- ne, einfache Botschaften in einer immer
ders als in vielen säkularisierten Familien komplexeren Welt. Dabei wird den Ju- Die Passagen
mit christlichem Hintergrund, in denen es gendlichen eine sehr ketzerische „Wahr- stammen aus Kaddors
Jugendlichen oft schwerfällt, den Glauben heit“ nahegelegt: „In diesem ganzen west- Buch „Zum Töten bereit.
an Gott zu thematisieren (was christliche lichen Chaos, in dem der Individualismus Warum deutsche
Kollegen in der Religionspädagogik immer so hochgepriesen wird und die Gemein- Jugendliche in den
wieder beklagen), ist das in vielen musli- schaft nichts mehr zählt, können wir dir Dschihad ziehen“.
mischen Familien überhaupt kein Tabu- sagen, dass die Gemeinschaft sehr wohl Es erscheint am 6. Februar
oder Outthema für junge Menschen. etwas zählt. Und wir zeigen es dir. Wir im Piper Verlag.

DER SPIEGEL 6 / 2015 107


Kultur

den Deutschen Buchpreis einbrachte, und durch das Porträt


seines dementen alten Vaters im Buch „Der alte König in sei-
nem Exil“, das im Jahr 2011 erschien. Nun erzählt er von einem
jungen Mann, der eine Geliebte verliert und eine neue gewinnt.
Der mit seinen Freunden in Badeseen planscht, mit ihnen feiert,
herumalbert und sich einmal auch prügelt.
Trauer, Sex und das ganze Zeug Julian Birk ist 22 Jahre alt in diesem Sommer und ein später
Wiedergänger von Jerome D. Salingers Romanheld Holden
Caulfield. Julian stammt aus einer Vorarlberger Bauernfamilie
Literaturkritik Der Österreicher Arno Geiger (ähnlich wie der Autor Geiger), und er studiert Tiermedizin in
erzählt in seinem Roman von den Verwirrungen Wien. Er lebt in der Wohnung seiner Freundin Judith, die ihm
eines jungen Mannes. eines Tages das Ende ihrer Beziehung verkündet. Erst ist Julian
erleichtert, dann stürzt er – zur eigenen Überraschung – in ein
Loch aus Trauer und Eifersucht. Julian hat Schulden, kommt
in einer Wohngemeinschaft unweit des Naschmarkts unter und
verdingt sich als Tierpfleger im Garten der Vorstadtvilla eines
emeritierten Professors. Für den todkranken Mann soll er ein
Zwergflusspferd pflegen, das in und um den Gartenteich haust.
Als Julian das Tier sieht, muss er lachen, „so erregte mich
der Anblick“. Er staunt über die Größe des vom Professor aus
einem Zirkus geretteten Tiers und über „die Schönheit dieses
rundlichen, schwarzgrünen Geisterwesens“. Es komme ihm
vor, bekennt er, „wie ein Priester im dunstigen Wald“.
Irritierend unbekümmert wird in diesem Buch mit Verglei-
chen, lyrischen Anflügen und großen Worten hantiert. Es ist
die Sprache eines von kleinen und großen Ängsten geplagten
22-jährigen Helden, der nicht weiß, wohin mit seiner Begierde
und mit seinem Weltschmerz. „Das Schwankende und Arm-
selige der menschlichen Zustände“ bekümmert den jungen
Mann, der einerseits seiner Exfreundin hinterhertrauert und
andererseits mit einer fünf Jahre älteren Frau – der Tochter
des Professors – ein neues Liebesglück beginnt. Er habe, gesteht
Julian dem Leser, „Freude am Gehen, Freude am Atmen, Freu-
de an dem, was ich wahrnehme“. Er leide aber auch häufig un-
ter dem „Gefühl, nicht wirklich zu verstehen, was vorgeht“.
All das Durcheinander aus Liebe, Sex, Zukunftsfurcht und
dem ganzen Zeug fügt sich aber zu einem hinreißenden Roman.
Geiger schildert die Weltverzweiflung eines Mannes, der nicht
weiß, ob er noch Kind oder schon Erwachsener ist, den es aber
Schriftsteller Geiger vor beidem graust. „Dieses Gefasel von der tollen Kindheit
„Das Gefasel von der tollen Kindheit kotzte mich schon als Kind an“ kotzte mich schon als Kind an“, behauptet Julian, und: „Es
klingt tatsächlich blöd, wenn einer sagt: Ich will erwachsen

D
as Morden der islamistischen Terroristen ist zweiein- werden. Oder: Ich glaube, jetzt bin ich erwachsen.“
halbtausend Kilometer entfernt und doch selbst in den „Selbstporträt mit Flusspferd“ ist ein Buch, das vom Jungsein
Gärten der Wiener Vorstadt bedrückend nah. Der Stu- in oft trostloser Zeit erzählt. Zu Beginn will der Held uns weis-
dent Julian Birk, von dessen Liebesunglück und Geistesverfas- machen, er berichte aus dem Abstand von zehn Jahren über
sung im Sommer 2004 dieses Buch berichtet, ist mit Sorgen den Sommer der Entscheidungen in seinem Leben. Die Kraft
wie der, dass er im Bett womöglich ein Langweiler ist, eigentlich dieses Romans aber entsteht gerade aus der Unmittelbarkeit,
hinreichend beschäftigt. Als er aber im Fernsehen die Berichte in der Julian seine Not mit dem Terror in der Ferne und mit
über die Geiselnahme im nordossetischen Beslan sieht, formu- den Wirren der neuen Liebe bekennt. Einmal
liert er hilflos: „Man würde annehmen, dass während so schö- jubelt er: „Die Zeit ist jetzt, der Ort ist hier.“
ner Spätsommertage alle etwas Besseres zu tun haben, als Kin- Das schmatzende, schnarchende und sich
der umzubringen.“ Mehr als 300 Menschen starben Anfang im Wasser suhlende Zwergflusspferd wird am
September 2004 in Beslan, als Terroristen eine Schule überfie- Ende übrigens in einen Zoo nach Basel ver-
len. Julian nennt die Angreifer „Blutsäufer“. bracht und schwankt in einer Holzkiste aus
Und dann überlegt der Held in einer Mischung aus Naivität Julians Leben. „Es kam mir immer sonderbar
FOTO: GAETAN BALLY / PICTURE ALLIANCE / DPA / KEYSTONE

und Poesie: „Vielleicht kamen die Menschen, die dieses Unheil vor, dass auch ein Zwergflusspferd sich zuwei-
verschuldet haben, auf dem Weg nach Beslan an einem Teich len aufregte: wie ich“, erkennt der Held in ei-
vorbei. Der 1. September war ein sonniger Tag. Diese Men- nem Moment animalischer Überidentifikation.
schen hätten stehen bleiben, sich ausziehen und schwimmen Der alte Professor aber darf in diesem Roman, Arno Geiger
gehen sollen. Alles vergessen. Drei Dutzend Terroristen und der auf meisterhafte Weise die Weltsicht eines Selbstporträt
Terroristinnen an einem Teich.“ 22-Jährigen, seine poetischen Flausen und sei- mit Flusspferd
„Selbstporträt mit Flusspferd“ heißt der neue Roman des ne Entscheidungsnot in tollen Erzählstoff ver- Hanser Verlag,
österreichischen Schriftstellers Arno Geiger. Es ist eine Som- wandelt, auf den Boden zurückholen mit dem München;
mer- und Selbstfindungsgeschichte. Geiger ist berühmt gewor- Satz: „Es ist ein Zwergflusspferd und weiter 288 Seiten;
den durch den Familienroman „Es geht uns gut“, der ihm 2005 nichts.“ Wolfgang Höbel 19,90 Euro.

108 DER SPIEGEL 6 / 2015


Kommentar

Schlimmer als Ebola


und Vogelgrippe
E in Erreger, gegen den fast kein Antibiotikum hilft,
ist der Albtraum der modernen Medizin. Ein solcher
multiresistenter Keim verbreitete sich auf der Intensiv-
station der Kieler Uni-Klinik. Bei 31 Patienten konnte
das Bakterium nachgewiesen werden, wohl mindestens
drei von ihnen starben daran. Gegen den in Kiel gras-
sierenden Keim Acinetobacter baumannii wirkt keine
der vier gewöhnlich eingesetzten Antibiotikagruppen
mehr. Für Menschen mit geschwächter Immunabwehr
bedeutet das eine tödliche Gefahr: Falls sie sich anste-
cken, helfen nur noch wenige Reservemittel, die lebens-
gefährliche Nebenwirkungen haben können.
Der Erreger kann auf Telefonhörern überleben, auf
Computertastaturen, Lampen und Nachttischen.
Selbst in der Luft von Patientenzimmern ist er schon
gefunden worden. Was tun? Der Erreger verbreitet
sich besonders leicht unter Bettnachbarn – große Mehr-
bettzimmer gehören abgeschafft. Wer auf der Intensiv-
station liegt, muss regelmäßig auf die gefährlichen
Erreger untersucht werden. Außerdem sollten alle
Klinikpatienten, die zuvor in Risikoländern behandelt
wurden, auf multiresistente Keime getestet werden –
bis der Befund vorliegt, gehören sie in Quarantäne.
Und natürlich ist es hilfreich, mehr Pflegepersonal ein-
zustellen, wie es nach dem Kieler Drama die Gewerk-
schaft ver.di fordert, und das Personal besser darin zu
schulen, die Hände wirksam zu desinfizieren.
All diese Maßnahmen sind wichtig – aber sie helfen
nur wenig, wenn in Südostasien, in Süd- und Osteuropa
Antibiotika immer noch leichtfertig verschrieben wer-
den, oft sogar frei verkäuflich sind. Und wenn in der
Tiermast die Lebensretter weiter wie Kraftfutter ver-
teilt werden. So werden automatisch mehr Resistenzen
gezüchtet – und neue Antibiotika zu entwickeln dauert
Jahre.
Wenn wir nicht schnell handeln, könnten unsere
Kinder, spätestens unsere Enkelkinder wieder an Lun-
genentzündung sterben, an Kindbettfieber und ent-
zündeten Wunden. Infektionen mit multiresistenten
Keimen sind die gefährlichste neue Seuche, weit schlim-
mer als Vogelgrippe und Ebola. Veronika Hackenbroch

Fußnote

2,7 Monate
früher bekommen Mädchen ihre erste Regelblutung, wenn
sie täglich mehr als anderthalb Gläser Cola, Fanta oder
andere gezuckerte Getränke zu sich nehmen. Das ergab eine
Studie von Forschern an der Harvard Medical School in
Boston. Der zugesetzte Zucker lässt den Insulinspiegel im
Blut rasch ansteigen – was wiederum zu einer erhöhten
Konzentration von Sexualhormonen führt. Fruchtsäfte wirk-
ten sich dagegen nicht auf den Beginn der Menstruation aus.

110 DER SPIEGEL 6 / 2015


Wissenschaft+Technik
Psychologie 70 Prozent der Probanden, sie
„Erinnerungen wären tatsächlich in ein Ver-
brechen verwickelt gewesen
lassen sich leicht und hätten es nur verdrängt.
Babybauch fälschen“ Sie schmückten die unter-
Die deutsch-kanadische Psycho- geschobenen Erinnerungen
Das trächtige Zwerg-See- login Julia Shaw, 28, über die sogar mit eigenen Details aus.
pferdchen, ein kaum zwei Anfälligkeit des menschlichen SPIEGEL: Warum sind wir so
Zentimeter großes Männ- Gehirns für Manipulationen leicht zu übertölpeln?
chen, wird bald viele winzi- Shaw: Die Erinnerung ist chro-
ge Junge ins Wasser ent- SPIEGEL: Sie haben unschuldi- nisch unzuverlässig. Wenn wir
lassen. Die knotigen War- gen Menschen das Geständnis uns Vergangenes vor Augen
zen dienen der Tarnung – entlockt, sie seien als Jugend- rufen, müssen wir es jedes Mal
die Tiere sind fast nicht von liche bei einem Raubüberfall neu rekonstruieren – da schlei-
den Hornkorallen zu unter- geschnappt worden. Wie ist chen sich leicht Fiktionen ein.
scheiden, auf denen sie das möglich? Neu ist, dass die Manipulation
leben. Deshalb glauben For- Shaw: Erinnerungen lassen sogar bei Verbrechen gelingt.
scher, dass es noch ähn- sich erstaunlich leicht fäl- SPIEGEL: Auch vor Gericht le-
liche, bislang unentdeckte schen. Für die Studie haben gen manchmal Unschuldige
Arten gibt. wir zuvor heimlich die Eltern ein falsches Geständnis ab –
der Teilnehmer nach Details müssen Strafverfolger um-
aus deren Jugendzeit gefragt: denken?
Wohnort und bester Freund Psychologin Shaw Shaw: Das hat bereits begon-
zum Beispiel. Daraus fa- nen. Die Polizei lernt, dass es
brizierten wir eine passende wenig nützt, alles Mögliche
Verbrechergeschichte und leg- Shaw: Nicht ganz. Wir fragten in die Verdächtigen hineinzu-
ten sie den Probanden vor. die Teilnehmer sehr freundlich fragen. Ein guter Verhörer
Sie glaubten, es gehe bei dem und einfühlsam, wir ermunter- schüchtert sie auch nicht mit
Experiment darum, ver- ten sie, nach weiteren Details den Dingen ein, die er angeb-
schüttete Erinnerungen aus- zu graben. Dass wir einiges lich alle schon weiß. Er fragt
zugraben. schon zu wissen schienen, mit offenem Interesse, um
SPIEGEL: Das genügte, um den machte die Geschichte für sie möglichst viel zu erfahren.
Leuten etwas einzureden, das zunehmend plausibel. Nach Das Ziel ist nicht mehr das Ge-
sie nie getan haben? der dritten Sitzung glaubten ständnis um jeden Preis. mdw

Biologie ten und dem kühleren Meer- könnte: Auch im Labor zün-
Schöpfungsfunken wasser in der Umgebung – dete der Schöpfungsfunke.
Moleküle, die sich in den hei- Die Biologen fütterten ihre
im Labor ßen Poren des Gesteins ange- künstlichen Poren mit DNA-
Wie ist das Leben einst ent- sammelt hatten, wurden dort Bausteinen, aus denen von
standen? Oder nüchtern ge- zur Bildung längerer Ketten selbst immer komplexere Ge-
fragt: Wo haben sich erstmals angeregt. Die Münchner For- bilde entstanden – womög-
kleine Biomoleküle spontan scher haben nun gezeigt, dass lich ein erster Schritt auf dem
zu längeren Ketten zusam- es tatsächlich so gewesen sein Weg zur lebenden Zelle. mdw
mengefügt? Forscher an der
Münchner Ludwig-Maxi-
milians-Universität sind der Vulkanschlote
FOTOS: FILIPPO BORGHI (L.); NOAA PMEL EOI PROGRAM (U.R.); BORIS BREUER (O.R.)

Antwort jetzt einen großen am Meeresgrund


Schritt näher gekommen. Sie
schufen im Labor Bedingun-
gen, wie sie im Umfeld vulka-
nischer Schlote („Schwarze
Raucher“) auf dem Meeres-
grund herrschen. Dort vermu-
tet man schon länger den Ur-
sprung des Lebens. Die winzi-
gen Hohlräume des porösen
Gesteins könnten wie chemi-
sche Reaktoren funktioniert
haben. Die nötige Anstoß-
energie, so die Theorie, kam
aus dem Temperaturgefälle
zwischen der höllisch bro-
delnden Hitze in den Schlo-

DER SPIEGEL 6 / 2015 111


Mein Wille geschehe
Euthanasie Die Niederländerin Annie Bus war nicht sterbenskrank, wollte aber
sterben. Sie bat eine Ärztin um eine tödliche Spritze. Ihre Geschichte zeigt, wie schwer
es ist, Grenzen zu ziehen, wenn eine Gesellschaft die Sterbehilfe erlaubt.

C
onstance de Vries sitzt in ihrer Kü-
che und zieht die Spritzen auf. Die
eine füllt sie mit einem starken Be-
täubungsmittel, die andere mit Gift. Lang-
sam tupft sie die Nadeln an einem Stück
Papier ab und packt sie vorsichtig ein.
Dann geht sie zu ihrem Auto. Um zwei
Uhr nachmittags soll Annie Bus sterben.
Immer wieder sind die beiden Frauen
den Ablauf durchgegangen. Sie saßen da-
bei an dem massiven Holztisch in Annie
Bus’ Häuschen, 15 Kilometer von der deut-
schen Grenze entfernt. Über ihnen hingen
die Fotos der Kinder, darüber das Kreuz
Jesu, und immer wieder fragte de Vries:
„Bist du dir sicher?“ Bus hockte in ihrem
elektrischen Rollstuhl, die Beine unter
einer Strickdecke verhüllt, die Schultern
leicht nach vorne gesackt, und lächelte ver-
gnügt: „Ja, ich bin sicher.“
Geduldig hörte die 75-Jährige zu, wie
die Ärztin die niederländischen Euthana-
sieregeln erläuterte. Dass sie wählen kön-
ne, ein tödliches Mittel zu trinken oder es
injiziert zu bekommen. Dass das Betäu-
bungsmittel innerhalb von zehn Sekunden
wirke; vielleicht entfahre ihr noch ein Gäh-
nen, bevor sie das Bewusstsein verliere.
Und wenn danach eine Überdosis Muskel-
relaxan ihre Atmung lähme, dann würde
sie das schon nicht mehr spüren.
Bus rutschte auf ihrem Sitz umher.
Nichts mehr spüren: der Gedanke gefiel
ihr. Schwach fühle sie sich, sagte sie, und
doch wirkte sie in diesem Moment unfass-
bar lebhaft. Sie erzählte, wie sie als Mäd-
chen in den Lokalen tanzte, wie sie mit 24
Jahren Mutter wurde und mit 44 Jahren
Oma. Dann stockte ihre Stimme. Sie stöhn-
te leise und beugte sich nach vorne.
Seit einer Embolie vor 23 Jahren ist Bus’
Körper von der Brust abwärts gelähmt. Os-
teoporose hat ihre Knochen brüchig wer-
den lassen. Beide Oberschenkelknochen
und mehrere Wirbelkörper hat sie sich ge-
brochen, die unteren linken Rippen eben-
falls, die nun auf die Organe drücken. Bus
leidet an furchtbaren Schmerzen – doch
an keiner tödlichen Krankheit. Wenn ihr
Mann kocht, schält sie die Kartoffeln und
wäscht das Gemüse ab; und wenn sie einen
guten Witz hört, lacht sie spitzbübisch. Sie
könnte noch viele Jahre leben.
Aber warum weiterexistieren, hat sie sich Ärztin de Vries beim Vorbereiten der Betäubungsspritze
gefragt, wenn jeder Tag mit Qualen beginnt
112 DER SPIEGEL 6 / 2015
Wissenschaft

und mit Qualen endet? Und wenn sie die Ihr Ehemann beharrte darauf, seine Frau tern, mehr Büro als Krankenhaus. Hier ste-
Zeit dazwischen nicht mehr genießen kann. weiterzupflegen. Ihre drei Töchter hader- hen keine Betten, auch stirbt hier niemand.
Ein Jahr ist es her, dass Bus um ihren ten: „Mach das alleine. Sonst heißt es noch: Stattdessen kommen die Sterbehelfer nach
Tod gebeten hat. Wer in den Niederlanden Ihr wollt mich loswerden!“ Hause.
Sterbehilfe erhalten möchte, muss unheil- So wandte sich Bus an jene Spezialkli- Fast drei Jahre nach Eröffnung beschäf-
bar krank sein und unerträglich leiden. So nik, in der sich die Ärzte nicht darum küm- tigt die Klinik 37 Teams aus jeweils einem
besagt es das Gesetz. Was es nicht verrät: mern, das Leben zu verlängern, sondern Arzt und einem Pfleger. Im vorigen Jahr
Wie misst man unerträgliches Leid? es zu beenden. Die Levendseindekliniek leisteten sie über 200-mal Sterbehilfe; vier-
Ihr Hausarzt, eigentlich für die Eutha- („Lebensendeklinik“) liegt in Den Haag, mal so viele Patienten hatten darum gebe-
nasie zuständig, lehnte die Sterbehilfe ab. hohe Decken, kleine Balkone vor den Fens- ten. Wenn der Hausarzt die Euthanasie
verweigert, findet ein Patient hier Exper-
ten fürs Sterben. Und wer hier arbeitet,
hegt großes Verständnis für die Todeswün-
sche seiner Patienten.
Es sind oft die besonders heiklen Fälle,
die bei der Levendseindekliniek landen.
Solche, die an einen sensiblen Punkt der
Euthanasie rühren: Wenn eine Gesellschaft
die Sterbehilfe legalisiert – wo zieht sie
die Grenzen? Unter den Patienten waren
eine Frau mit krankhafter Angst vor
Schmutz und Bakterien und einem Wasch-
zwang und ein 63-jähriger Mann, der sich
vor der Einsamkeit nach der Rente fürch-
tete. Beiden halfen die Ärzte zu sterben.
De Vries und Bus lernen sich am 27. Au-
gust 2014 kennen. Die Patientin wird die Le-
vendseindekliniek nie betreten; wie fast alle
zieht sie es vor, daheim zu sterben. Als am-
bulante Sterbehelfer fährt die Ärztin mit ei-
ner Krankenschwester zu ihr. De Vries, 65,
die Augen schwarz umrahmt, die Fingernä-
gel orange lackiert, ist eine energische Frau.
Eine, die nicht zaudert, sondern Verständnis
dafür hat, dass man eine Zeit lang so leben
kann wie Bus – aber nicht jahrelang.
Neben ihr liegt die Akte ihrer Patientin,
in der sie jeden Besuch, jedes Telefonat
notiert. Wenn Bus tot ist, wird eine drei-
köpfige Kommission aus einem Arzt, ei-
nem Juristen und einem Ethiker prüfen,
ob de Vries sorgfältig gehandelt hat. Sechs-
mal werden die Ärztin und ihre Patientin
sich insgesamt treffen, vier Monate werden
zwischen dem ersten und dem letzten Be-
such vergehen.
De Vries zieht drei Seiten hervor, be-
schrieben in zittriger Handschrift: „Annie
Bus, geboren am 25.08.1939, schriftliches
Ersuchen um Euthanasie.“ Sie verspüre
„unerträgliche Schmerzen“, schreibt Bus
weiter, „und ein Gefühl, als ob ihr Körper
verbrannt ist“. Es erniedrige sie, in einen
Beutel zu pinkeln, und sie schäme sich da-
bei. Sie habe „das Gefühl, von den Ärzten
aufgegeben worden zu sein“. Denn wann
immer sie um Hilfe bitte, bekomme sie zu
hören: „Wir können nichts mehr tun.“
Ein Psychiater der Levendseindekliniek
FOTO: SELINA PFRUENER / DER SPIEGEL

erkennt bei Bus Verbitterung, aber einen


klaren Verstand. Ein Neurologe bestätigt,
jene neuropathischen Schmerzen, an de-
nen Bus leidet, seien mit Medikamenten
nicht zu lindern. Erneut erhält Bus die
Diagnose: hoffnungslos. De Vries berat-
schlagt sich mit der Krankenschwester,
konsultiert die Klinik, ruft den Hausarzt
DER SPIEGEL 6 / 2015 113
Wissenschaft

an. Nach Meinung aller sind die Voraus-


setzungen für eine Euthanasie erfüllt.
Im Oktober verkündet Bus ihrer Familie,
es könne ihr mit dem Sterben nicht schnell
genug gehen. Am liebsten noch im Laufe
des Monats solle es passieren. Sie bittet
nun nicht mehr, sie besteht darauf.
„Wenn du stirbst, dann nicht daheim“,
verlangt ihr Mann. Wenn er schon alleine
in diesem Haus weiterleben müsse, dann
nicht mit der Erinnerung an den Tod seiner
Frau. Ihre Töchter flehen: „Denk doch
auch an deine Enkelkinder.“
De Vries seufzt, wenn sie über die Fa-
milienstreitereien spricht. Bus ist für sie
einer der schwierigeren Fälle. Die Eheleute
reden gleichzeitig, aber wenig miteinander.
Die Patientin kann missgünstig wirken.
Einmal hatte Bus die Ärztin an der Haus-
tür zurückgehalten und ihr zugeraunt, das
Erbe vermache sie ihren Töchtern. Ihr Ehe-
mann sei ja schon immer hinter ihrem Euthanasiepatientin Bus, Ehemann 2014: „Ich wünsche euch, dass ihr so etwas nie bekommt“
Geld her gewesen.
Eigentlich führt de Vries eine Praxis als rigen Mutter mit schwerem Tinnitus ge- auf womöglich grausame Weise selbst tö-
Hausärztin. Ihre Patienten leiden an Ma- holfen zu sterben – obwohl „nicht alle tet, so argumentieren die Befürworter der
gengeschwüren oder Allergien, auch an De- Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft wa- Sterbehilfe, sei es doch humaner, ihnen ei-
menz oder Krebs. Aber die allermeisten ren“, wie sie bemängelten. Es war der drit- nen Tod in Würde zu ermöglichen.
wollen leben. Als Sterbehelferin arbeitet de te Verweis für die Klinik innerhalb eines Gegründet hat die Levendseindekliniek
Vries nebenbei, aus Überzeugung. Sie habe Jahres. der „Verein für ein freiwilliges Lebens-
ihre Euthanasiepatienten nicht gezählt, viel- Weichen die Grenzen also auf? Wäh- ende“, der „NVVE“. Für seine 161 000 Mit-
leicht seien es sieben pro Jahr, maximal rend die Gegner der Sterbehilfe davor war- glieder ist Sterben ein Menschenrecht. Seit
zehn. Und niemals zwei an einem Tag; nur nen, einen Menschen zu früh aufzugeben, Jahren kämpfen sie für eine „Letze-Wille-
einmal habe sie eine Ausnahme gemacht. sehen die Befürworter in der Euthanasie Pille“, die jeder Bürger, der nicht mehr le-
Aber ganz gleich, wie viele Leben sie einen Akt der Selbstbestimmung. ben will, schlucken darf.
beende, zur Routine werde es nie. Da steht Jedes Mal, wenn de Vries einen neuen Doch für Ärzte wie de Vries ist es nicht
sie vor einem Menschen, der in einem Mo- Patienten trifft, muss sie eine Entscheidung leicht herauszufinden, ob tatsächlich alle
ment noch atmet und spricht, und im treffen, die schwieriger nicht sein könnte: Hoffnung verloren ist. Manchen Menschen
nächsten Moment ist er tot. Darf dieser Mensch sterben? reichen ein paar gute Erlebnisse, um wieder
„Und ich habe ihn getötet“, sagt de Vries. Es war bereits dunkel, als de Vries bei Lebensmut zu schöpfen – wie jene Diabe-
„Beim ersten Mal habe ich noch gezittert.“ der 82-jährigen Krekelberg auf dem Sofa tespatientin, die sich vor ihrem geplanten
Bis heute sei sie dabei nervös. saß. Krekelbergs linkes Bein ruhte auf ei- Tod noch von ihrer Schwester verabschie-
den wollte, die auf der karibischen Insel
Plötzlich zögert Annie Bus vor dem letzten Schritt: Aruba lebt. Nach dem Urlaub traf de Vries
eine braungebrannte, gut gelaunte Frau, die
„Ich finde das alles so schön. Ich will leben.“ alles, nur nicht sterben wollte.
Auch Annie Bus zögert vor dem letzten
Einmal hat sie sich von einer Feier weg- nem Hocker, ihr Rücken schmerzte. Ihr Schritt. Es ist November und bitterkalt,
gestohlen, um Sterbehilfe zu leisten. Als Kontakt zur Welt sind der Fernseher und aber der erste helle Tag seit Wochen. Plötz-
sie zurückkehrte, zwinkerte ihr Mann ihr das Internet, aber auch das lässt nach. Sie lich sagt sie etwas, das die Ärztin aufhor-
zu. Nur er wusste, wo sie gewesen war. habe sich immer Kinder gewünscht, sagte chen lässt: „Ich finde das alles so schön.
Wenn de Vries unter ihrer Berufung lei- Krekelberg, aber ihr erster Mann starb bei Ich will leben.“ – „Wenn du zweifelst, ma-
det, dann hat sie gelernt, es zu verbergen. einem Flugzeugabsturz, der zweite an ei- chen wir es nicht“, sagt de Vries. Bus über-
Als erstes Land der Welt stellten die Nie- ner unheilbaren Krankheit. Damals endete legt. „Wären die Schmerzen nicht da“, sagt
derlande 2002 das Töten auf Verlangen für ihr Leben, trotzdem sei sie noch da. sie, „würde ich weiterleben wollen.“
Ärzte straffrei. 2003 erhielten 1815 Men- Die 82-Jährige leide „an einem vollen- Sie fürchte sich vor der Nadel, sagt Bus,
schen aktive Sterbehilfe, 2013 waren es deten Leben“, so de Vries. Es klingt wie sie habe doch so kleine Rollvenen. Was,
schon 4829, mehr als drei Prozent aller eine Diagnose. Und de Vries hätte ihr viel- wenn die Ärztin danebensticht? De Vries
Todesfälle. Die meisten von ihnen waren leicht geholfen, wäre ein Leben, das zum nimmt Bus’ Hand, streicht die Adern ent-
unheilbar an Krebs erkrankt. Aber die Zahl Problem wird, weil es nicht enden will, lang des Handgelenks. „Du musst keine
FOTOS: SELINA PFRUENER / DER SPIEGEL

der psychiatrischen Patienten, die an De- Grund genug für Euthanasie. Stattdessen Angst haben.“
pression, Schizophrenie oder Angststörun- verweigerte die Klinik jedoch die Sterbe- Bus’ Mann hat seinen Stuhl nah an seine
gen litten, steigt; 42 waren es im vorigen hilfe, weil keine Krankheit vorlag. Was sie Frau gerückt, geistesabwesend wischt er
Jahr. Es sind die schwierigen Fälle, weil bei nun vorhabe, fragte die Ärztin abends mit seinen breiten Fingern den Staub vom
ihnen die Antwort besonders schwerfällt, noch auf dem Sofa. „Mich ertränken“, ant- Rollstuhl. „In guten wie in schlechten Zei-
was einem Menschen zuzumuten ist. wortete Krekelberg. ten“, brummt er. Bis dass der Tod sie schei-
Erst kürzlich rügte die Kommission ei- Etwa 1854 Niederländer brachten sich det. So hat es der Pfarrer gesagt, damals,
nen Arzt der Klinik: Er hatte einer 47-Jäh- im vorigen Jahr um. Bevor sich ein Mensch vor 52 Jahren, als sie versprachen, für-
114 DER SPIEGEL 6 / 2015
es dauerte bis zum Abend, bis ein Facharzt
herausfand, was geschehen war: losgelös-
tes Gewebe hatte eine Ader verschlossen,
die zum Rückenmark führt; die Nerven
waren bereits geschädigt. Bus ist bis heute
davon überzeugt, dass man ihre Beine hät-
ten retten können. Wahrscheinlicher ist,
dass sich ihr weiteres Leben innerhalb we-
niger Sekunden entschied.
Mühsam stemmt sie sich im Bett auf.
„Wenn so etwas mit 75 geschieht, dann ist
das schrecklich“, sagt sie. „Wenn es dir mit
54 passiert, dann ist es nicht fair.“
„Unsere Mutter hat ihr Schicksal nie ak-
zeptiert“, sagt eine ihrer drei Töchter, und
die anderen beiden nicken. Seit feststeht,
dass ihre Mutter sterben wird, besuchen
sie sie jeden Tag. Heute haben sie zusam-
men Rindersuppe gekocht. Die Jüngste
trägt ein Gedicht vor. Sie stehen beisam-
men und erinnern sich an den Menschen,
Bilder der Familie Bus: „Denk doch auch an deine Enkelkinder“ der ihre Mutter einmal war.
Früher, vor dem Unglück, radelte sie
einander zu sorgen. Er trug einen Zylinder, delt zu werden. Ihr Mann unterbricht sie. überallhin: zur Elektronikfirma Philips, wo
sie Schleier. „Ginge es nach mir, würde sie Er hält einen grauen Notknopf in der Hand. sie putzte, und ins nahe Deutschland, wo
hundert Jahre alt werden.“ Er weiß nicht, Als er ihn drückt, läutet im Haus eine Klin- sie Schuhe nähte. Immer arbeitete sie. Nie
ob er bei ihrem Tod dabei sein will. gel. Wenn er das höre, dann komme er so- saß sie still.
Doch zwei Wochen später gibt es für Bus fort. Er lächelt, seine Frau flucht. Sie liebte Karneval. Abends in den Knei-
keine Zweifel mehr: Sie will sterben. Ein Sie streiten, wenn sie friert und er ihr pen rief die Mutter ihren Töchtern zu, die
zweiter unabhängiger Arzt bestätigt de einen Pulli überstülpen will. Sie zanken, längst hätten nach Hause gehen sollen:
Vries’ Einschätzung. Sie sprechen mit der wenn er sie im Auto spazieren fahren Bleibt noch! Trinkt ein Bier, trinkt ein
Familie, die Töchter weinen, der Mann wü- möchte, sie aber klagt, jede Erschütterung Schneewittchen! Und dann tanzten sie
tet: „Nicht in unserem Bett!“ Sie einigen würde sie peinigen. gemeinsam auf den Tischen. Auf den Ti-
sich darauf, dass Bus in ihrem Rollstuhl ster- Bus will keine Last sein, aber sie ist es. schen? Sie lachen.„Oh ja, auf den Tischen!“
ben wird. An einem Dienstag um 14 Uhr In manchen Nächten muss ihr Mann sechs- „Und abends gingen wir oft zusammen
soll es so weit sein. mal aufstehen, um sie zu wenden. im Wald spazieren“, sagt die jüngste Toch-
Man könnte meinen, Bus habe doch ein Doch vielen Menschen, die heute jung ter. Ihr kommen die Tränen, und die Zweit-
gutes Leben. Sie wohnt in einem eben- sind, wird es im Alter ähnlich ergehen wie älteste drückt ihre Schwester an sich.
erdigen, einstöckigen Haus. Die Türen Annie Bus. Sie werden im Heim leben, Kann man das verstehen: dass die Mut-
sind so breit, dass sie mit ihrem Rollstuhl möglicherweise dement sein, schwach, auf ter gehen will? „Ich schaue sie an, und
hindurchfahren kann. Ihr Ehemann hebt Fürsorge angewiesen. Ist es nicht wichtiger, oberhalb der Brust scheint doch alles in
sie jeden Morgen aus dem Bett in die die Pflege zu verbessern, statt Leidende Ordnung zu sein“, sagt die eine Tochter.
Dusche. Vor dem Schlafengehen mischt er in den Tod zu schicken? „Sie sagt, sie hat Schmerzen“, wendet die
zwei Paracetamol in ein Glas lauwarme „Es ist doch keine Frage guter Pflege“, andere ein. „Aber das können wir ja nicht
Milch, manchmal auch ein bisschen Co- widerspricht de Vries. „Was zählt, ist Frei- fühlen“, sagt die dritte.
gnac in den Kaffee. Nachts, wenn das Lie- heit.“ Die Menschen, mit denen sie spricht, Die drei Frauen tragen den Gewissens-
gen zu sehr schmerzt, wendet er sie. Um wollen nicht „hinter Gittern“ im Alters- konflikt einer ganzen Gesellschaft aus:
drei Uhr führt er ihr ein Zäpfchen ein, da- heim leben. Es sind Alzheimerpatienten, Ist der Tod für Menschen wie Annie Bus
mit sich am frühen Morgen ihr Darm auf die nicht mit „den anderen Dementis“ eine Erlösung? Oder ein schrecklicher
eine Windel unter ihr entleert. Bus hat es puzzeln, und Männer, die nicht in eine Fehler?
so satt. Windel pinkeln wollen. Den Tod sehen Zwei Tage vor ihrem Tod gibt ein pen-
In ihrem Schlafzimmer sieht es aus wie sie als Wohltat. Nach der Euthanasie schi- sionierter Pfarrer Bus die Letzte Ölung.
in einem Krankenhaus. Bus hängt in einem cken die Angehörigen de Vries manchmal Zwei amtierende Pfarrer hatten dies abge-
Hebelift, mit dem ihr Mann sie auf die Ma- Blumen. lehnt. Bus’ Wunsch verstoße gegen Gottes
tratze herabsenkt. Eine Windel liegt schon Auch Bus sehnt sich zurück nach dem, Willen. Sie kann gar nicht aufhören, da-
bereit. Sie schnauft, zieht die Luft ein. „Es was sie vor 23 Jahren verloren hat: ihre rüber zu schimpfen. 75 Jahre lang war sie
tut weh“, stöhnt sie. Er rollt ihre Strümpfe Unabhängigkeit. Eines Morgens, kurz nach Katholikin, vier Holzkreuze hängte sie in
von ihren dürren Beinen, schiebt ein Kis- ihrem 54. Geburtstag, wich auf einmal al- ihr Haus; und als sie die Kirche brauchte,
sen unter ihre eiskalten Füße. les Gefühl aus ihren Beinen. Zwei Schritte half sie nicht.
Vorsichtig streckt Bus sich nach ihrer schaffte sie noch, bevor sie zu Boden stürz- Am folgenden Tag schaut sich die Fami-
Schnabeltasse, doch sie reicht nicht heran. te. Sie schrie um Hilfe, hinein in ein leeres lie zusammen alte Videos an. De Vries fei-
Ihr Gesicht verzieht sich, mehr vor Ärger Haus. An das Telefon reichte sie nicht he- ert derweil in ihrer Praxis ein kleines Ab-
als vor Schmerz. ran. Sie robbte sich mit den Armen den schiedsfest: Es ist ihr letzter Tag als Haus-
„Ich bin durstig, und ich muss um Wasser Boden entlang Richtung Fenster und zerrte ärztin. Für die Levendseindekliniek aber
bitten“, sagt sie. „Ich will auf die Toilette, am Vorhang. will sie weiterarbeiten.
und ich muss jemanden fragen.“ Sie klagt, Ein Nachbar bemerkte den wehenden Dann ist Dienstag. Am Vormittag hält
dass es sie demütige, wie ein Kind behan- Stoff und rief den Hausarzt um Hilfe. Doch ein Krankenwagen vor dem grauen Klin-
DER SPIEGEL 6 / 2015 115
kerhaus der Bus’. Ein Rettungsassistent
legt einen Zugang in Annie Bus’ Vene, um
die Kanüle wickelt er einen Verband. De
Vries hatte ihn gerufen, ihr fehlt die Übung,
und sie will vermeiden, dass sie im ent-
scheidenden Moment danebensticht: Sie
fürchtet die Blicke der Angehörigen, die
Ängste der Patientin.
Um 13.15 Uhr sitzt de Vries zu Hause
am Esstisch und sticht die Nadeln in die
Ampullen. Die Mittel lagern seit einer Wo-
che bei ihr im Kühlschrank. Langsam zieht
sie eine Spritze auf. Ein paar Meter ent-
fernt schauen ihre beiden Enkel Fernsehen.
Die sieben Zwerge tanzen gerade singend
um Schneewittchen herum.
De Vries nummeriert die Spritzen. Num-
mer eins enthält eine Kochsalzlösung zum
Durchspülen der Kanüle. Nummer zwei
wird Bus’ Vene leicht betäuben, bevor
sie mit der dritten Spritze das Betäubungs-
mittel injiziert. Erst dann füllt de Vries
die letzte Spritze mit 150 Milligramm
Rocuronium, das die Atemmuskel blo-
ckiert.
Sie legt die Spritze vorsichtig in eine
Tupperdose. „Tauche nie zu früh auf“, er-
klärt sie im Auto. „Sonst störst du die Fa-
milie bei ihrem Abschied.“ Auf der Rück-
bank liegt in einer Apothekentüte das Not-
fallset. „Man weiß nicht, was passiert“, hat
sie vorher gesagt.
Um 13.45 Uhr schwenkt das Auto in die
kleine Straße der Bus ein. De Vries greift
ihre Arzttasche, die Tüte und die Tupper-
dose. Sie klingelt an der Haustür.
Alle sind sie gekommen, die Töchter, ihr
Mann, die Enkelkinder, 15 Angehörige und
Freunde. Alle umringen Annie Bus. Eine
der Töchter hält die Hand ihrer Mutter,
ihre Augen sind gerötet. Bus lächelt. So
viele Menschen. Nur wegen ihr.
De Vries rollt den Verband ab und legt
die Kanüle frei. Sie greift nach der ersten
Spritze.
„Bist du dir sicher?“, fragt sie.
„Ja, ich bin sicher.“
Sie fahren die Lehne des Rollstuhls zu-
rück, unter Bus’ Kopf schieben sie ein Kis-
sen. Ihr Mann rückt nah an sie heran, ihre
mittlere Tochter fasst ihre Hand fester, die
jüngste hockt zu ihren Füßen: „Mama,
willst du noch etwas sagen?“ Sie drückt
ihre Hand.
Als Bus ihre letzten Worte spricht, be-
ginnt sie zu weinen. „Ich wünsche euch,
dass ihr so etwas nie bekommt“, sagt sie.
Sie sagt noch, dass sie alle zusammen-
halten sollen, dass sie es immer gut hatte,
dass sie über Probleme sprechen sollen.
Dann versiegen die Tränen, ihre Stimme
wird leiser. De Vries streicht über ihre
Wange.
Um 14 Uhr läuten die Glocken der
Wanduhr, aber das Weinen ihrer Familie
übertönt das Geräusch. Annie Bus spürt
nichts mehr. Laura Höflinger

116 DER SPIEGEL 6 / 2015


Technik

zur Aufnahme von Selbstporträts verwen-

Nahkampf im det, zumindest um den Auslöser zu bedie-


nen“, berichtet Christian Stiegler, Professor
für Medienmanagement an der Karlshoch-

Stadion schule in Karlsruhe. Bereits 1983 brachte


die japanische Firma Minolta eine Kamera
mit angeschraubtem Selfie-Stick auf den
Modernes Leben Fotostangen Markt, die Disc-7. Doch das Produkt hin-
terließ keine bleibenden Erinnerungen,
zum Knipsen von Selbstporträts nicht einmal beim Hersteller selbst, der
gelten als neues Kult-Gadget sich inzwischen aus dem Kamerageschäft
der Generation iPhone. Dabei ist zurückgezogen hat.
Seit den Achtzigern wurden immer wie-
die Erfindung uralt. der Fotostock-Patente eingereicht – ohne
Erfolg. Bereits Mitte der Neunzigerjahre

E
ine Stange spaltet die Gesellschaft. wurde die Knipserstange in einem japani-
Ob auf Konzerten, vor Sehenswür- schen Buch veralbert als Beispiel für Er-
digkeiten oder bei Familienfesten: findungen, die die Welt nicht braucht.
Wo immer sich Menschengruppen versam- Dann aber kam plötzlich doch noch der
meln, ist neuerdings garantiert irgend- Durchbruch für den Quickpod. Wie nur
jemand dabei, der eine Stange mit Handy konnte das geschehen?
in die Höhe hält, um Fotos zu schießen. Die Pioniere kamen aus zwei komplett
Während die Fans ihre sogenannten Sel- unterschiedlichen Richtungen: Großgrup-
fie-Sticks als die wichtigste Erfindung seit pen in Südostasien und Extremsportler in
dem iPhone bejubeln, lästern ihre Gegner den USA. Letztere schraubten GoPro-
über die peinlichen „Narziss-Stöckchen“. Actionkameras an Fromms Stangen, um
Es tobt also wieder einmal ein existen- ihre Stunts zu verewigen. „Durch Snow-
zieller Streit, fast so erbittert wie weiland boarder wurde aus einer peinlichen Erfin-
bei der Frage: Beatles oder Stones? Zu- dung eine coole“, so der Kanadier.
mindest der kommerzielle Erfolg gibt den Aufgrund der Vogelperspektive sind die
Anhängern des Gadgets recht: Allein in Fotostangen ideal für Massenspektakel
den USA wurden im Dezember schät- aller Art – aber auch unhandlich. Schnell
zungsweise 100 000 Stück verkauft. verwandeln sie sich in Nahkampfwaffen,
Kulturpessimisten behaupten, die Foto- mit böser Absicht oder ohne. In einigen
stangen trügen nur zur weiteren Verein- Fußballstadien sind sie schon verboten.
samung der Menschen bei, weil niemand Ein weiteres Problem: Während Billig-
mehr bei Erinnerungsfotos wildfremde stangen nur mit dem Selbstauslöser der
Passanten um Hilfe bitten müsse. „Es ist Handykamera funktionieren, bieten Lu-
FOTOS V.O.N.U.: KAMRAN JEBREILI / AP / DPA; REMY DE LA MAUVINIERE / AP / DPA; XINHUA / IMAGO; ED JONES / AFP; SETH WENIG / AP / DPA

genau andersherum“, widerspricht Wayne xusvarianten einen Fernauslöser, vernetzt


Fromm: „Selfie-Sticks bringen die Men- über den Funkstandard Bluetooth. In der
schen wieder näher zusammen, denn sie Nähe von Touristenattraktionen könnten
sind ideal für Gruppenbilder.“ sie jedoch wie Störsender wirken. Der
Das Lob des 50-jährigen Kanadiers für Einsatz nicht zertifizierter Stangen sei
die Fotostange ist nicht ganz uneigen- daher illegal, mahnen südkoreanische Be-
nützig: Er gilt als ihr Erfinder. hörden.
Der Ökonom und Psychologe aus Toron- Vor allem Produktpiraten verdienen
to staunt noch immer über den Siegeszug eine Stange Geld mit seinem Stock, ärgert
seines Produkts, das er selbst Quickpod ge- sich Fromm: „Chinesische Firmen haben
tauft hat. Der Gründungsmythos geht so: mein Design geklaut und werben sogar
Vor gut zehn Jahren bereiste er mit seiner mit Fotos von mir und meiner Tochter!“
Tochter Florenz; das Touristengedränge auf Aber der Kanadier weiß natürlich, dass
dem Ponte Vecchio war so arg, dass den der Kampf gegen die Kopisten aussichtslos
beiden ständig jemand vor die Linse lief. ist: „Auch tausend Patente würden mir
Lange tüftelte er herum, zunächst mit nichts nützen. Das Wichtigste ist es, schnell
umgebauten Regenschirmen; über hundert eine starke Marke zu entwickeln.“
Varianten hat er angeblich getestet. 2005 Smartphone-Nutzer mit Selfie-Stick Am meisten Spaß macht ihm derzeit oh-
endlich meldete er seine Fotostange zum Lösung auf der Suche nach einem Problem nehin weniger das Erfinden als vielmehr
Patent an. das Dozieren darüber. Fromm träumt da-
Und es passierte: nichts. fach zu peinlich. „Mein psychologischer von, einen Vortrag an der elitären Harvard
Jahrelang tingelte Fromm über Messen, Sachverstand gab ihnen recht“, sagt University zu halten. Er vorn am Redner-
um das Ergebnis seiner Tüftelei anzupreisen. Fromm: „Ich kam zu der Überzeugung, pult – das wäre das perfekte Selfie-Motiv.
Aber niemand kapierte, wozu sein Quick- die Selfie-Stangen könnte man nur heim- Hilmar Schmundt
pod zum stolzen Preis von etwa 50 Dollar lich zu Hause einsetzen, etwa um die eige-
gut sein soll. Eine Lösung auf der Suche ne Abendgarderobe zu checken.“ Video: Der Erfinder
nach einem Problem. Dabei war Fromm nicht einmal seiner des Selfie-Sticks
Es schien aussichtslos. Asiatische Freun- Zeit voraus – sondern Jahrzehnte hinterher. spiegel.de/sp062015selfie
de erklärten ihm, der Selfie-Stick sei ein- „Schon um 1925 herum wurden Stangen oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 6 / 2015 117


Multikulti in der Steinzeit
Archäologie Schon vor 8000 Jahren war Deutschland ein Einwanderungsland. Eine neue
Genstudie belegt: In vier großen Wellen fluteten fremde Flintstein-Siedler heran.

W
er in der ewigen Kette von Ge- förmige Figuren mit dicken Gesäßen. Ske- fäßen („Kümpfen“), bauten die gleichen
burt und Untergang Orientie- lette aus der Zeit sind selten erhalten – wuchtigen Reethäuser und hüteten die-
rung sucht, kann sich an folgende wahrscheinlich wurden die Toten in der selben Rinderrassen.
Stammbaumformel halten: Vor 3 Genera- Wildnis aufgebahrt, um sie von Raubtieren Ist es denkbar, dass die Bandkeramiker
tionen, als die Urgroßeltern lebten, war fressen zu lassen. alle miteinander verwandt waren? Oder
Weltkrieg. Vor 30 Generationen herrschte Wie der Siegeszug der Sesshaftwerdung hatte man quer über den Kontinent nur
Mittelalter. Und vor 300 Geschlechtern tra- genau vonstattenging, gehört zu den gro- Know-how ausgetauscht?
ten in Europa die ersten Bauern und Vieh- ßen Mysterien des Neolithikums. War da Die „Arbeitsgruppe Palaeogenetik“ an
züchter auf. eine Idee gewandert? Oder wanderten die der Universität Mainz hat das Rätsel nun
Zwei Millionen Jahre lang war die Gat- Menschen selbst? offenbar gelöst. Die Forscher untersuchten
tung Homo durch die Flur gepirscht. Dann, Kopfzerbrechen bereitet vor allem die 47 Starčevo-Skelette sowie 61 Gebeine von
um 8000 vor Christus, machte sich im Ori- „Bandkeramik“, die auf die Starčevo-Kul- frühen Bandkeramikern aus Ungarn und
ent eine neue Lebensweise breit, die mit tur folgte: Um 5600 vor Christus breitete Kroatien. Diese verglichen sie mit dem
Joghurt, Käseessen und Unkrautjäten ein- sich die Bewegung (benannt nach den Mus- Erbgut von insgesamt 67 996 modernen
herging. Knorrige Ackerleute rissen mit tern auf den Gefäßen) explosionsartig von Europäern.
Hacken und Steinbeilen jungfräulichen ihrer Urzelle in Westungarn aus. Plötzlich Das Ergebnis der Fleißarbeit, veröf-
Boden auf und pflanzten Getreide. färbten sich die Frauen vom Pariser Be- fentlicht im Onlineportal BioRxiv, belegt
Bald rückte die Technik auch nach cken bis in die Ukraine die Haare mit Hen- eine Massenwanderung. Die Menschen in
Europa vor. Um 6000 vor Christus breitete na und schmückten sie mit Muscheln und Europa sind verschwippt und verschwä-
sich auf dem Balkan die geheimnisvolle Schneckengehäusen. Die Männer trugen gert.
Starčevo-Kultur aus. Ihre Vertreter wohn- Hose und Käppi. Genormt wie die Zinn- „Die Starčevo-Farmer sind die Ahnen
ten in ovalen Hütten und verehrten stab- soldaten, tranken sie aus bauchigen Ge- der Bandkeramiker. Diese wiederum brei-

„Trichterbecherkultur“ um 3100 v. Chr.


Marsch der Migranten Errungenschaften Megalithgräber
AKG

Durch DNA-Analysen belegte und -bauten, Ochsengespanne


Einwanderungswellen nach mit Schulterjoch, Pflug
Mitteleuropa
Megalithgrab in der Lüneburger Heide
Elb
e

Magdeburger
Börde
Rh

Sa
ein

ale

besonders
ertragreiche
Böden Don
au
Do n a u

„Glockenbecherkultur“ um 2500 v. Chr. Kerngebiet


Errungenschaften Metallgewinnung, Kupferdolche, „Bandkeramiker“-
Armschutzplatten für Bogenschützen, Feinkeramik
„Bandkeramiker“ um 5600 v. Chr. Figur mit Sichel
Fortschrittliche Ackerbauer
Acke ziehen vom
E . L E S S I N G / A KG

heutigen Ungarn nordwärts bis zu den frucht-


baren Lössböden der Magdeburger Börde.
Quelle: „Archäologie Errungenschaften Getreideanbau, Rinderzucht, Starčevo-Kultur
in Deutschland“ Glockenbecher Holzhäuser, astronomische Kultanlagen um 6000 v. Chr.
Wissenschaft

teten sich als eine Bewegung von Tanten, Sie nahmen reißaus. Die Wildbeuter, das gemacht war. Ein Zuzug fand damals nicht
Onkeln und Schwestern aus“, erklärt Stu- zeigen die Gen-Analysen, „wichen nach statt.
dienleiter Kurt Alt. Norden aus“ (Alt). Erst um 3100 vor Christus erstürmten
Die Urfarmer aus dem Karpatenbecken Zum Tête-à-Tête am Lagerfeuer hatte erneut Fremde die Edelkrume der Börde.
bestimmen noch heute unser Erbgut. Bis offenbar niemand Lust. Kein Wunder: Die Ausgerechnet den vertriebenen mesolithi-
zu 48,6 Prozent ihrer mitochondrialen Jäger lebten im Rhythmus der Natur. Sie schen Jägern gelang die Rückkehr. Deren
DNA ist im deutschen Gegenwartsbürger folgten den Tierherden und beteten zum Nachfahren hatten sich während der lan-
enthalten. Mond. Machten sie fette Beute, lagen sie gen Diaspora in Skandinavien zu Meistern
In einem Fußmarsch von rund 800 Kilo- hernach tagelang mit vollem Bauch im der Agrartechnik gemausert. Nun brande-
metern waren die Leute entlang der Elbe Zelt. ten sie als „Trichterbecherkultur“ von Nor-
nach Norden vorgestoßen. Ihre frühesten Die eingewanderten Bauern dagegen den aus Richtung Harz
Dörfer hierzulande liegen in der Magde- bückten, plagten und mühten sich unent- Ziemlich seltsame Kerle kamen da an-
burger Börde. Wohl kein Zufall: Die Re- wegt. So blieb man sich fremd. Der Mole- gestürmt, sie türmten riesige Hinkelsteine
gion ist mit fruchtbaren Lössböden geseg- kularbiologe Joachim Burger vermutet gar, („Menhire“) auf und bestatteten ihre Ah-
net. Wer dort sät, erzielt Rekordernten. dass ein „Heiratsverbot“ bestand. nen in Hünengräbern. Ihr größter Trumpf:
Dieses Land der goldenen Sichel wähl- Was weiter verblüfft: Die Landwirte in eine neuartige Zugmaschine, die sie erfun-
ten die Immigranten treffsicher als neue den Holzsiedlungen waren oft nicht direkt den hatten. Es war ihnen gelungen, jeweils
Heimat aus. Grabungen zeigen, dass Dör- miteinander verwandt. „Das spricht für zwei Ochsen ins Joch zu spannen und mit
fer mit bis zu hundert Häusern entstanden. eine erhebliche Fluktuation unter den ihnen wie mit einem John-Deere-Traktor
Bewohnt wurden sie ausschließlich von bandkeramischen Dorfbewohnern“, er- übers Feld zu pflügen.
Kolonisten. klärt Alt. Besonders die Frauen reisten Das war effektiv, kastrierte Bullen ha-
Ihr Saatgut – Emmer, Gerste, Einkorn viel. Womöglich gab es einen Heiratsmarkt ben enorme Muskelkraft. Doch die Tiere
und Linsen – hatten die Zuzügler mitge- quer über den Kontinent. lassen sich schlecht lenken. Hindernissen
bracht. Auch ihre Rinder stammten nicht Der Massenzustrom der Bandkeramiker weichen sie ungern aus. Beim Wenden
vom nordischen Auerochsen ab, sondern im sechsten vorchristlichen Jahrtausend mussten die Gespanne große Kurven ma-
von Viehzeug aus Anatolien. war allerdings nur der Auftakt. Insgesamt chen – die schiere Ochsentour.
Was aber geschah mit den Altbewoh- kamen in der Magdeburger Börde drei wei- Wohl deshalb, vermutet die Archäologin
nern, jenen mesolithischen Jägern, die zu- tere neolithische Siedlungswellen an. Susanne Friederich, hätten die Rückkehrer
vor in den einsamen Wäldern am Harz- Um das Völkergeschiebe zu fassen, er- aus dem Norden „alle Baumstümpfe aus
rand gelebt hatten? stellten die Mainzer Urdemografen eine dem Boden gerissen“ und störende Find-
weitere Studie. Diesmal legten sie das linge an den Rand gerollt. Zugleich ver-
Augenmerk nur auf das Mittelelbe-Saale- größerten sie die Felder: „So erst entstan-
Gebiet, das sich wie ein fruchtbarer Halb- den die Sichtachsen, in denen ihre Dolmen
mond um den Harz legt (siehe Karte). und Menhire zur Geltung kamen.“
Über 600 Skelette aus der Region wurden Viele Skelette der Zeit weisen Blessuren
genetisch untersucht. Sie stammen von auf. Offenbar gab es Kämpfe um die beste
25 Friedhöfen aus dem 6. bis 2. Jahrtau- Scholle.
send vor Christus. Gleichwohl kamen noch zwei weitere
Eifrig bohrten die Forscher Rippen, Migrantentrupps. Um 2800 vor Christus
„Schnurkeramiker“ um 2800 v. Chr. Schädel oder Schlüsselbeine an, um aus tauchten in der Börde „Schnurkeramiker“
Errungenschaften Reitpferde, den Knochen Erbgut zu gewinnen. Die er- aus der russischen Steppe auf. Sie nutzten
vierrädrige Wagen mit mittelten Daten zeigen, dass es auch da- bereits Wagen und Pferde.
Scheibenrädern und nach ziemlich turbulent weiterging. Etwa Die letzten Einwanderer erschienen
Deichsel um 4900 vor Christus geriet die Band- kurz danach – diesmal von der Iberischen
keramik in eine blutige Krise. Davon Halbinsel. Es waren die handwerklich ge-
zeugen viele Beilhiebe oder Messer- schulten Vertreter der „Glockenbecher-
attacken an den Gebeinen. kultur“. Wie eine Sekte von Meister-
Ganz Europa stürzte in ein blutiges schmieden, so die Vermutung, hüteten sie
Chaos, überall wurde gemetzelt und geheime Erzformeln und stellten edle Ton-
C. P L A MP / BP K

geraubt. In einem Bandkeramiker-Dorf ware her.


bei Schletz (Österreich) kamen Skelette Insgesamt haben die vier Steinzeit-
von 50 erschlagenen Männern zutage. Wanderwellen mit bis zu 76,8 Prozent zum
frühgeschichtliches Wagenmodell aus Anatolien Ähnliche Gräuel sind für Talheim nachge- Erbgut der heutigen Bevölkerung Zentral-
wiesen. In Herxheim erfolgten derweil europas beigetragen.
rund 500 sakrale Tötungen. Die Opfer wur- Anders gesagt: Im nordischen Tann
den geschlachtet und verspeist. herrschte Multikulti. Die vermeintliche
In dieser Wolke des Zorns ging die Kul- Edelrasse der Germanen beruht in Wahr-
tur der Bandkeramiker um 4900 vor Chris- heit auf einer Mixtur verschiedenster Sip-
tus unter. In der Folgezeit nahm die Kör- pen, Clans und Ethnien, die einst aus allen
pergröße der Männer ab. Auch litten sie Himmelsrichtungen heranströmten, um
verstärkt an Zahnfäule. Der Genetiker Alt jene edlen Ackerböden zu erobern, in
führt den Karies auf die einseitige Nahrung deren Nähe sich heute Pegida-Anhänger
zurück: Ständig gab es Getreidebrei. vor der Überfremdung des Abendlands
Was die Krise auslöste, ist unklar. Viel- fürchten.
leicht waren die Böden ausgelaugt, oder „Keine Sorge“, möchte man ihnen zu-
das Klima hatte sich verschlechtert. Klar rufen: „Wir sind alle Ausländer.“
A KG

ist jetzt immerhin, dass die Not haus- Matthias Schulz

DER SPIEGEL 6 / 2015 119


Wissenschaft

Hunde und Katzen“, sagt Tiermediziner Amerikaner sind spendabel, wenn es

Zerfressene Ernst Heinen.


Vor gut zwei Jahren hat der Forscher
aus der Eifel als Entwicklungschef bei der
um ihren Hund oder ihre Katze geht: Am
Valentinstag werden die Tiere daheim mit
Aufmerksamkeiten im Gesamtwert von

Knochen Firma Aratana in Kansas City angeheuert.


In diesem Mekka der Veterinärmedizin ha-
ben, inmitten horizontweiten Farmlands,
800 Millionen Dollar überrascht, an Hallo-
ween gibt’s noch mal Geschenke für ins-
gesamt 400 Millionen Dollar. Und sogar
Tiermedizin Die Biotech-Branche fast alle Konzerne Quartier bezogen, die 15 Milliarden Dollar im Jahr lassen sich
ihr Geld mit Arzneien für Rind, Schwein die Amerikaner die medizinische Versor-
entdeckt Vierbeiner als und Huhn verdienen – genau das richtige gung ihrer tierischen Gefährten kosten.
Patienten. Das erste Hightech- Klima für eine Neugründung wie Aratana, Das sind Zahlen, die die Biotech-Industrie
die nun auch Hund und Katze ins Visier hoffnungsfroh stimmen.
Medikament gegen Krebs nehmen will. Erst die Medizin habe dem Hund Zu-
bei Hunden ist schon fertig. Bei Anlegern sammelte das Unternehmen gang zu Herrchens Schlafzimmer und der
250 Millionen Dollar ein. Jetzt, sagt Heinen, Katze zu Frauchens Bett verschafft, meint

A
ls Jennie Mather bei kalifornischen „wollen wir zum Marktführer bei Hunde- Veterinär Heinen. Ohne wirksame Parasi-
Anlegern um Geld für ihre Ge- und Katzen-Pharmazeutika werden“. Vor tenbekämpfung hätten Vierbeiner niemals
schäftsidee warb, stieß sie auf zwei zwei Monaten hat die Firma den weltweit vollwertige Familienmitglieder werden
Typen von Investoren: Die einen erklärten ersten monoklonalen Antikörper gegen können. Gut gepflegt und gehätschelt
sie für verrückt – die anderen waren Kat- Krebs bei Hunden auf den Markt gebracht. werden die Tiere nun alt – und damit anfäl-
zenbesitzer. Gentherapie für Hasso? Biotech-Infusio- lig für Zivilisationskrankheiten: Arthrose,
Um die Finanziers zu überzeugen, schil- nen für Duchesse? Denkbar ist so etwas Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs.
derte die Krebsforscherin ihnen das Schick- wohl nur in den USA. Nirgendwo leben Besonders qualvoll ist es für Hunde,
sal von Annie, ihrer eigenen Katze. Das mehr Hunde als dort, nirgendwo mehr wenn ein Osteosarkom ihre Knochen zer-
Tier war an Magenkrebs erkrankt, und der kaufkräftige Hundenarren. Die Besitzer frisst. „Wir bekommen herzerweichende
Tierarzt hatte erklärt, er könne nichts von 83,3 Millionen Hunden und 95,6 Mil- Zuschriften“, sagt Heinen. Alternde Kat-
mehr tun für Annie. Die Katze starb einen lionen Katzen sind eine verlockend große zen wiederum leiden oft unter Nierenver-
grausamen Tod, den Mather anderen Tie- Zielgruppe. Zum Vergleich: In Deutsch- sagen. Sie rühren ihr Futter nicht mehr an,
ren ersparen möchte. Deshalb hat sie land leben 11,5 Millionen Katzen und 6,9 bis sie an Auszehrung sterben. Aratana
CanFel Therapeutics gegründet. Das Ziel Millionen Hunde. will dem mit einem Appetitanreger begeg-
der Firma ist es, Antikörper gegen Krebs Schon heute ist die Kundschaft bereit, nen, die Konkurrenz experimentiert mit
bei Katzen zu entwickeln. einer Katze 20 000 Dollar für die Trans- blutbildendem Erythropoetin.
Mather steht noch am Anfang ihres Pro- plantation einer neuen Niere zu spendie- Vorerst aber widmen die Biotechnologen
jekts. Andere sind schon weiter. Start-ups ren oder den Hoden einer kastrierten Dog- ihre Aufmerksamkeit besonders dem Krebs,
mit Namen wie Nexvet, VetDC oder ge für 500 Dollar mit Silikon wieder auf- der bei Hund und Katze, wie beim Men-
Kindred Biosciences haben sich den chro- zubauen. Sollte sie dann nicht erst recht schen, zu den häufigen Todesursachen
nischen Leiden von Vierbeinern zuge- tief in die Tasche greifen, wenn der Lieb- zählt. Die neuen Antikörper von Aratana
wandt. „Die Biotech-Branche entdeckt die ling krebskrank darniederliegt? etwa sollen die besonders weit verbreiteten
Lymphome in Schach halten. Bei der Markt-
einführung kommt der Firma zugute, dass
sie mit den mehr als 200 amerikanischen
Krebskliniken zusammenarbeiten kann, die
sich bereits auf die Behandlung von Hun-
den spezialisiert haben. Chemo- und Strah-
lentherapie zählen dort zum Standard-
arsenal. Zusätzlich bietet Aratana nun auch
noch die Antikörper-Therapie an, für der-
zeit 3600 Dollar pro zwölfwöchigem Be-
handlungszyklus.
Rabatte gibt’s, wenn der Tierarzt Pa-
tientendaten übermittelt. Diese helfen
dann, die richtige Dosierung zu bestim-
men – keine leichte Aufgabe, wenn die
Kundschaft vom moribunden 2-Kilo-Chi-
huahua bis zum siechen 75-Kilo-Bernhar-
FOTO: ADAM FERGUSON / NATIONAL GEOGRAPHIC / CORBIS

diner reicht.
Die Zulassung für eine weitere Immun-
therapie, diesmal gegen Knochenkrebs, ist
bereits beantragt. Bei der Entwicklung
konnte sich Aratana die Erfahrungen der
Humanmediziner zunutze machen, die das
Mittel im Tierversuch schon an Hunden
getestet hatten. Heinen ist zuversichtlich:
„Am Ende könnte dieses Krebsmittel für
Hunde auf den Markt kommen, noch ehe
es für Menschen verfügbar ist.“
Untersuchung eines Hundes im Computertomografen: Gentherapie für Hasso? Johann Grolle

120 DER SPIEGEL 6 / 2015


Modeschöpfer Kretschmer, Models Medien
Fernsehen
Investitionspflicht
für ARD und ZDF
Dass ARD und ZDF mehr
Geld ins Programm investie-
ren sollen, gehört seit Jahren
zu den Forderungen der deut-
schen TV-Produzenten. Un-
terstützung dafür bekommen
sie nun aus der Politik. Der
für Medien zuständige Staats-
sekretär in Nordrhein-Westfa-
len, Marc Jan Eumann (SPD),
will die öffentlich-rechtlichen
Sender dazu verpflichten,
dass sie die für Programm-
ausgaben bewilligten Gelder
Unterhaltung auch tatsächlich für Pro-
gramm verwenden müssen.
„Hohl in der Birne“ Das ist bisher anders: Die
ARD gab zwischen 2009 und
2012 knapp 94 Millionen
Euro weniger für Programm
Designer und Moderator Guido Kretschmer: Absolut. Sie bin zum Beispiel auch für die aus, als ihr die Kommission
Maria Kretschmer, 49, über sei- muss sich ja nicht unbedingt Frauenquote, weil ich es zur Ermittlung des Finanzbe-
ne neue Show „Deutschlands nur im BH zeigen. Wenn traurig finde, dass Frauen darfs genehmigt hatte. Der
schönste Frau“ (ab Mittwoch, man sie toll zurechtmacht noch immer nicht die glei- größte Teil der Summe floss
11. Februar, 21.15 Uhr, RTL) und fotografiert, kann sie ge- chen Karrierechancen haben stattdessen in Personalausga-
nauso schön sein wie eine wie Männer. Zusätzlich ist ben. Das ZDF investierte so-
SPIEGEL: Was unterscheidet Frau mit Größe 36. Selbst man als Frau noch dem gar 142 Millionen Euro weni-
Ihre Sendung von Model- die dünnsten Models werden Druck ausgesetzt, stets appe- ger als vorgesehen. Ginge es
Castingshows wie „Germa- getunt und auf Fotos retu- titlich aussehen zu müssen. nach Eumann, der seinen
ny’s Next Topmodel“? schiert. Wer glaubt, dass die Nehmen Sie unsere Kanzle- Vorschlag demnächst in die
Kretschmer: Es geht bei uns Mädels in echt so aussehen, rin. Die kann eine wichtige Rundfunkkommission der
nicht nur um Äußerlichkei- tut mir leid. Rede halten, und trotzdem Länder tragen will, dann
ten. Wir suchen eine Frau SPIEGEL: Aber das Schön- sagen hinterher alle: Was könnten ARD und ZDF also
mit Charakter und einer heitsideal der Mode ist nun hatte die bloß wieder für knapp 60 Millionen Euro im
interessanten Biografie, weil mal jung und schlank. eine Frisur? Jahr mehr für Filme oder
wir zeigen wollen, dass diese Kretschmer: Man muss ver- SPIEGEL: Die Frauen in Ihrer Dokumentationen einsetzen.
Dinge genauso begehrens- suchen, sich davon zu lösen. Erfolgssendung „Shopping Die Summe ist bescheiden,
wert machen wie das Aus- Ist doch egal, wenn die Bein- Queen“ trinken ständig Pro- dürfte die Produzenten aber
sehen. Die Gewinnerin darf chen kräftig sind, solange sie secco und haben oft 50 Paar freuen. Mehr Geld trage
ruhig einen dicken Po und einen sicher durchs Leben Schuhe im Schrank. Sieht so dazu bei, an „frühere Quali-
FOTOS: DIRK VON NAYHAUSS / AGENTUR FOCUS (U.); FRAZER HARRISON / GETTY IMAGES FOR MERCEDES-BENZ (O.)

Cellulite haben. tragen. Und was nützen die ein modernes Frauenbild tätsstandards“ anzuknüpfen
SPIEGEL: Sie wird in den Lä- schönsten Beinchen, wenn aus? und die „beschämenden
den einer Wäschemarke auf man dafür hohl in der Birne Kretschmer: Natürlich nicht. Verhältnisse zu mildern, in
Werbeplakaten zu sehen ist? Aber man kann sehr wohl denen zu viele Kreative und
sein. Hat eine Frau mit Klei- SPIEGEL: Sind Sie Feminist? ein bisschen Tussi sein und Filmschaffende leben“, heißt
dergröße 44 da wirklich eine Kretschmer: Ja. Ich habe lan- trotzdem mit beiden Beinen es bei der Allianz Deutscher
Chance? ge die „Emma“ gelesen und im Leben stehen. akn Produzenten. ih

Rundfunkbeitrag dio nur noch für Angebote zuständig sein sollen,


Dreyer belehrt Schäuble die von den Privaten nicht geleistet werden – das
würde in der Folge die Gebühr absenken. Problem
Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu an der Sache: Für Rundfunk sind die Länder zu-
Dreyer (SPD), hat Bundesfinanzminister Wolfgang ständig. Der Bund hat nichts zu sagen. „Ich gehe
Schäuble (CDU) Nachhilfe in Sachen Rundfunk- nicht davon aus, dass wir den Beirat an die Kompe-
recht gegeben. In einem Brief an Schäuble zeigte tenzordnung des Grundgesetzes erinnern müssen,
sie sich „befremdet“ darüber, dass der Wissen- wonach Rundfunk in die Zuständigkeit der Länder
schaftliche Beirat des Finanzministeriums ein Gut- fällt“, schreibt Dreyer nun und empfahl dem Gre-
achten zu einer Reform des öffentlich-rechtlichen mium als Lektüre die letzte Rundfunkentscheidung
Rundfunks erarbeitet hatte. Das Gremium hatte Dreyer des Bundesverfassungsgerichts – „um sich einem
vorgeschlagen, dass ARD, ZDF und Deutschlandra- sachlichen Diskussionsniveau anzunähern“. mum

DER SPIEGEL 6 / 2015 121


Google-Verwaltungsratschef Schmidt in einem Fotoautomaten

Stiche für die Spinne


Internet Das Brüsseler Kartellverfahren gegen Google hat sich
zur Schlacht der Lobbyisten entwickelt. Vor allem der Springer-Verlag
macht Front gegen den erfolgsverwöhnten Weltkonzern.

122 DER SPIEGEL 6 / 2015


Medien

E
ric Schmidt ist Vorzugsbehandlung teilhafte Deal mit Almunia im vergange- Verlag bei und brachte nur Tage später,
gewohnt. Wo immer der Verwal- nen September endgültig geplatzt ist. Da- ebenfalls via „FAZ“, die Zerschlagung des
tungsratschef von Google anklopft, für hatten nicht zuletzt die Springer-Man- Multis nach dem Vorbild der Gas- und
öffnen sich die Türen wie von allein. Dass nen gesorgt, die gemeinsam mit deutschen, Stromversorger ins Spiel.
er auf einen Termin warten muss und ver- französischen und spanischen Verlegern Google vermutet handfeste ökonomi-
tröstet wird wie ein Kassenpatient beim in Brüssel die Stimmung drehten. Bei EU- sche Interessen hinter Springers Mission.
Herzspezialisten – das ist für ihn wohl eine Kommissar Günther Oettinger war nicht Denn Döpfner hat aus dem Zeitungshaus
neue Erfahrung. viel Überzeugungsarbeit nötig, aber auch ein digitales Unternehmen gemacht. Schon
Vorvergangene Woche war Schmidt wie- seine damaligen Kollegen Viviane Reding, jetzt stammen über die Hälfte des Umsat-
der in Europa. Beim Weltwirtschaftsforum Michel Barnier und Johannes Hahn waren zes und fast 70 Prozent des Springer-Pro-
in Davos war er als Gesprächspartner und bald im Boot. fits aus Internetgeschäften. Mit „Bild“ und
Podiumsredner begehrt wie immer. Doch Auch jetzt sind die Springer-Leute wie- „Welt“ verdient der Verlag immer weniger,
der eine Termin, der dem Google-Mann der aktiv. Und sie kämpfen nicht mit den mit Jobportalen und Gebrauchtwagensei-
wirklich wichtig gewesen wäre, kam Terminproblemen eines Eric Schmidt. Am ten im Netz immer mehr Geld.
wieder nicht zustande: ein Treffen mit 19. Januar war Springer-Chef Mathias Zu Springers Reich gehören etwa das
EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Döpfner, zusammen mit vier führenden Karriereportal StepStone, die Immobilien-
Vestager. europäischen Verlegern, bei Vestager zu seite Immonet und der Ferienhausvermitt-
Seit Monaten wartet Google auf eine Gast. Es ist schon der zweite Termin auf ler Casamundo. Mit seinen Preisvergleichs-
Einladung von Vestager. Doch die Kom- hoher Ebene: Im Dezember hatte Sprin- seiten Idealo und LadenZeile steht Sprin-
missarin, die von ihrem Vorgänger Joaquín ger direkt mit Googles Einkaufsangebot
Almunia das seit über vier Jahren laufende „Google Shopping“ im Wettbewerb. Bei
Wettbewerbsverfahren gegen den mäch- Idealo können Verbraucher auch Flugprei-
tigsten Internetkonzern der Welt geerbt se vergleichen – wie bei „Google Flights“.
hat, lässt den Multi auflaufen. Sie trifft sich Sogar auf Googles ureigenem Terrain,
stattdessen mit ausgewiesenen Google-Kri- der Suchmaschine, kommen sich die bei-
tikern, die sich mithilfe des Brüsseler Ver- den Konzerne neuerdings ins Gehege. Mit
fahrens aus der Abhängigkeit von dem In- 20 Prozent stieg Springer im vergangenen
ternetkonzern befreien wollen. Sommer bei der französischen Google-Al-
Dabei sah es so gut aus, noch vor einem ternative Qwant ein – die bisher allerdings
Jahr, als Eric Schmidt mit Almunia einen kaum ein Internetnutzer anklickt. Finan-
Deal aushandelte, der für Google nicht be- ziell ist das Engagement für Springer eher
sonders schmerzhaft war. Doch der Kom- unbedeutend, der Symbolwert aber ist
promiss platzte, weil er selbst Almunias hoch.
Kollegen in der Kommission zu lasch er- In das EU-Verfahren gegen Google ist
schien. Jetzt beginnt das Spiel von vorn – der Verlag gleich doppelt involviert: Als
und diesmal läuft es nicht gut für Google. Mitglied der Zeitungs- und Zeitschriften-
Die Beschwerdeführer – Verlage und verlegerverbände und als Eigentümer des
Online-Händler – fühlen sich von der neu- Portals LadenZeile.de.
en Kommissarin endlich verstanden in ih- Auch wenn die Google-Vertreter den
rer Angst, dass der Internetkonzern seine deutschen Verlag zum Lieblingsfeind
Macht im Suchgeschäft missbrauche, um erkoren haben: Allein hätte Springer die
Konkurrenten beim Online-Handel zu be- europäische Front gegen Google nicht auf-
nachteiligen. Schon der merkliche Tempe- bauen können. Wie groß die Koalition war,
raturwechsel in der Kommission gibt den musste der scheidende Kommissionspräsi-
Google-Gegnern Aufwind: Vestager stelle dent José Manuel Barroso bei einem
Fragen und höre zu, erzählt ein Teilneh- Springer-Chef Döpfner Abendessen mit Verlegern erleben. Zu
mer der Gespräche, statt, wie Almunia, Temperaturwechsel in der EU-Kommission dem dreistündigen Dinner am 18. Juni im
die Argumente der Beschwerdeführer Brüsseler Stanhope Hotel hatten die 26 im
gleich zu kontern. Und: Vestager mache ger-Vorstand Andreas Wiele bei Vestager European Publishers Council (EPC) orga-
Tempo. Nicht noch einmal, so der Ein- vorgesprochen. nisierten führenden Großverlage geladen,
FOTOS:CHRISTOPHER LANE/THE GUARDIAN (L.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (R.)

druck, werde die Kommission jahrelang Spätestens seit Döpfner im vergangenen Barroso brachte neben Almunia weitere
verhandeln und Google damit Zeit geben, April in einem offenen Brief an Google- Kommissare mit. „Nach dem Abend war
seine Marktmacht auszubauen. Verwaltungsratschef Schmidt bekannte: klar, dass das komplette europäische Ver-
Plötzlich scheint es möglich, dass Goo- „Wir haben Angst vor Google“, stehen sich legerlager den Almunia-Vorschlag nicht
gle in der Brüsseler Lobbyschlacht als Ver- die beiden Konzerne unversöhnlich gegen- akzeptieren wird“, sagt ein Beteiligter.
lierer vom Platz gehen könnte. Und als über. Google entwickle sich zu einem Su- Auch im EU-Parlament fanden die Inte-
Hauptgegner hat der US-Internetkonzern prastaat, zur „alles bestimmenden Spinne ressen der Google-Gegner Gehör. Im No-
dabei ein – aus seiner Sicht – kleines deut- im Netz“, schrieb Döpfner in der „FAZ“. vember forderte die Mehrheit der über 600
sches Medienunternehmen ausgemacht: Almunias Kompromissvorschlag sei die Abgeordneten eine scharfe Regulierung
den Axel-Springer-Verlag. Der Konzern „EU-behördlich sanktionierte Einführung des Internetriesen bis hin zur Entflechtung.
mit einem Jahresgewinn von zuletzt 230 jenes Geschäftsmodells, das man in weni- Freimütig erzählt einer der Initiatoren der
Millionen Euro wird ernst genommen von ger ehrenwerten Kreisen Schutzgeld Resolution, der liberale EU-Abgeordnete
dem digitalen Weltkonzern, der mit einem nennt“ und ein „Sargnagel“ für Europas Ramon Tremosa i Balcells, dass sich ein
Jahresgewinn von annähernd zehn Mil- Internetindustrie. Döpfners Angstbekennt- Beschwerdeführer aus seiner Heimatstadt
liarden Euro in einer anderen Liga spielt. nis befeuerte die internationale Debatte Barcelona beklagt hatte, der Multi miss-
Google hat Springer auf dem Kieker, über Googles Marktmacht. Bundeswirt- brauche seine Macht. „Wenn Google un-
seit der für den Internetkonzern so vor- schaftsminister Sigmar Gabriel sprang dem liebsame Wettbewerber einfach mal für
DER SPIEGEL 6 / 2015 123
Medien

ein paar Tage aus seinen Suchergebnissen elle Werte“ aus der EU beziehe und damit
eliminiert, ist das nicht akzeptabel“, sagt
Tremosa.
Doch auch Google – erfahren in Lobby-
arbeite, verkündete er im Oktober, dann
könne die EU „von Google eine Abgabe
dafür verlangen“. Vor wenigen Tagen
Liebe auf den
schlachten – macht Druck. Und nutzt poli-
tische Kontakte. Pünktlich zur Abstimmung
im EU-Parlament warnten 17 US-Kongress-
schob Oettinger im Interview mit dem
amerikanischen „Wall Street Journal“
nach: Dass Google für die Nutzung ur-
ersten Wisch
Mitglieder in teils schrill formulierten Brie- heberrechtlich geschützer Inhalte zur Kasse Gründer Sachsen gegen Kalifor-
fen an hochrangige EU-Vertreter vor Tech- gebeten werde, sei eine Option.
nikfeindlichkeit in Europa. Der Republi- Wie weit sich Oettinger in dem ange- nien: Zwei Jungunternehmer
kaner Bob Goodlatte, Vorsitzender des kündigten Entwurf wirklich vorwagt, ist ringen um die Vorherrschaft im
Rechtsausschusses im Repräsentantenhaus, schwer vorherzusagen, zumal das Verle- boomenden Geschäft
etwa schrieb an Fraktionsvorsitzende des gerlager beim Urheberrecht gespalten ist
EU-Parlaments, er sei besorgt, dass einige und Oettinger die Kunst beherrscht, zu- mit digitalen Flirt-Portalen.
Abgeordnete sich „offenbar von politi- gleich viel und doch gar nichts zu sagen.

D
schen Erwägungen statt faktischen und Bei Springer zumindest ist die Hoffnung ass man im Internet die große Lie-
juristischen Prinzipien“ leiten ließen. Good- groß, dass der Digitalkommissar als Boll- be finden kann, wusste Björn Bak
latte hatte zuvor über 31 000 Dollar Wahl- werk gegen Google steht und sich auch vor den meisten anderen. Im Chat-
kampfhilfe von Google erhalten, auch acht von etwaigem Gegenwind aus dem Parla- room auf der Website einer Dresdner Disc0
weitere Unterzeichner der Briefe hatten ment nicht beeindrucken lässt. traf der heute 32-Jährige vor zwölf Jahren
Spenden von Google bekommen. Die für die Urheberrechtsreform im EU- seine Freundin Anna, vergangenen August
Am vorvergangenen Dienstag nutzte Parlament zuständige Berichterstatterin, heirateten die beiden. Der Online-Flirt ver-
Springers Cheflobbyist Christoph Keese die deutsche Piraten-Abgeordnete Julia änderte Baks Leben – privat und beruflich:
den Auftritt bei einer Brüsseler Medien- Reda, hatte Mitte Januar ihren ersten Be- Es gibt schon viele Kennenlern-Portale im
konferenz, um die US-Politiker als „Di- richt vorgelegt und erklärt, von einer Re- Internet, habe er sich damals gedacht,
rektbezieher von Google-Geldern“ anzu- form, die in erster Linie darauf abziele, „aber ich möchte Dating neu erfinden“.
greifen. Manche im großen Google-Reich bei Google zu kassieren, halte sie nichts. Heute ist Bak, ein Jungsgesicht im Karo-
halten es wiederum für keinen Zufall, dass Gemünzt war das auch auf das deutsche hemd, Chef der erfolgreichsten Flirt-App
Döpfner sich in einem Kommentar in Leistungsschutzrecht: Das Gesetz, für das des Landes: Wer das Logo seines Unterneh-
sich vor allem Springer und Burda stark- mens Lovoo auf dem Smartphone hat, kann
Der Multi drohte, gemacht hatten, verpflichtet Google und in der Nachbarschaft einen Seelenverwand-
andere Suchmaschinen zu einer Art Ein- ten oder den nächsten One-Night-Stand su-
lieber auf Inhalte deutscher speisegebühr, wenn sie in den Trefferlisten chen. Die Angabe einer Mail-Adresse oder
Textschnipsel von Verlagswebsites anzei- eines Facebook-Kontos genügt, schon zeigt
Verlage zu verzichten, gen. Der Multi aber weigert sich bisher die Seite einen Radar voller rosafarbener
als dafür zu bezahlen. und drohte zuletzt damit, lieber auf Inhalte Punkte. Marie, 23, Luisa 19, Lucky One, 30:
deutscher Verlage zu verzichten, als dafür Alle sind an einem Mittwochmorgen weni-
der „Bild“ direkt nach der Europawahl zu bezahlen. Aus Angst um ihre Klickzah- ge Hundert Meter um die Lovoo-Zentrale
vehement für Jean-Claude Juncker als len im Netz gaben die Verlage klein bei in der Dresdner Südvorstadt online. Jede
neuen EU-Kommissionspräsidenten aus- und erlaubten Google die kostenlose Nut- der Frauen kann man sofort anschreiben.
sprach. Von Kontaktpflege auf höchster zung wieder. Sie versuchen es nun auf dem Bak und seine Mitgründer erkannten
Ebene sprechen Google-Lobbyisten aner- Klageweg. früh, wie Smartphones mit GPS-Empfänger
kennend. Google fühlt sich dadurch nur bestätigt: die Partnersuche im Internet erleichtern
Wegen des neuen Wohlwollens aus „Wir liefern allein deutschen Nachrichten- können. Statt am Computer in lange Frage-
Brüssel schöpfen europäische Verlage nun seiten über eine halbe Milliarde Klicks pro bögen Lieblingssport und bevorzugtes
Hoffnung, dass die EU-Kommission Goo- Monat und damit jede Menge zusätzliche Haustier einzutragen, finden Teens und
gle langfristig auch auf einem anderen Leser.“ Auch das Bundeskartellamt habe Twens per App den schnellen Flirt in ihrer
Gebiet in die Schranken weisen wird. keinen Anlass gesehen, gegen Google vor- direkten Umgebung. Vorbei die Zeit, als
Vestager interessiert sich – anders als Al- zugehen. Im Oktober, so heißt es im Kon- man sich in überfüllten Discos „Tut mir leid,
munia – offenbar nicht bloß für das Wett- zern, habe Google daher beantragt, dass bin schon vergeben“ ins Ohr schreien muss-
bewerbsverfahren, sondern auch für ein das Kartellamt seine Einschätzung auch in te. Heute filtert man per Handy schon vor-
zweites Thema, bei dem die Verlage gegen eine formale Entscheidung gießt. her die Singles auf der Tanzfläche heraus.
Google stehen: das Urheberrecht. Das Auch ökonomisch erhöht Google den „Wir wollen das größte Kennenlern-
spielt zwar im EU-Verfahren keine Rolle, Einsatz in der Lobbyschlacht. Am gleichen Netzwerk der Welt aufbauen“, sagt Bak.
doch Vestager wird beteiligt sein, wenn Tag wie Döpfner war Google-Rechtsvor- Mit Facebook soll man den Freundeskreis
die Kommission in diesem Jahr auf Initia- stand David Drummond in Brüssel und gab pflegen, mit Lovoo neue Freunde finden.
tive ihres neuen Digitalkommissars Gün- den Good Guy: „Google hat Hunderttau- Mit seinen 120 Angestellten will das Un-
ther Oettinger Vorschläge für den Inter- senden von Kleinunternehmen in Europa ternehmen als erstes soziales Netzwerk
netbinnenmarkt in Europa vorlegt. geholfen, online erfolgreich zu werden“, aus Deutschland ein Welterfolg werden.
Auch das Urheberrecht im Netz soll sagte er in einer Rede. Und ein Risikokapi- Mehr als 23 Millionen Mal wurde die App
dann europaweit angeglichen werden – talfonds für europäische Kleinunternehmen laut Unternehmensangaben inzwischen he-
nicht zuletzt Springer erhofft sich davon, sei auf 125 Millionen Dollar aufgestockt runtergeladen, rund die Hälfte der Kunden
dass Google künftig zahlen muss, wenn worden. kommen aus Deutschland. Damit sind die
die Suchmaschine in ihren Trefferlisten Viel lieber hätte Drummond noch bei Dresdner unter den Flirt-App-Anbietern
Ausschnitte aus Zeitungsartikeln anzeigt. der Wettbewerbskommissarin vorbeige- hierzulande Marktführer. Noch.
Oettinger hat sich bereits hinter die For- schaut. Aber da saß ja schon Döpfner. Baks härtester Konkurrent war mal
derung gestellt: Wenn Google „intellektu- Isabell Hülsen, Christoph Pauly Schauspieler, die Haferlschuhe und die

124 DER SPIEGEL 6 / 2015


knappe Lederhose trägt Jonathan spräch, hierzulande hat die App
Badeen mit Selbstironie. Der 33- mit dem roten Flammen-Icon
jährige Entwickler aus Los Ange- rund zwei Millionen Nutzer.
les, der mit zwei Freunden das Da- Unter anderem in Deutschland,
ting-Angebot Tinder gegründet nicht etwa in den USA, testeten
hat, ist der Stargast auf einer Grün- die Kalifornier ihr Bezahlange-
derkonferenz im Münchner Löwen- bot „Tinder Plus“. Ab Mitte Fe-
bräukeller. In kurzen, einprägsa- bruar soll es für alle Nutzer mög-
men Sätzen erklärt er den jungen lich sein, ein versehentlich nach
Internetunternehmern im Publi- links gewischtes Profil zurückzu-
kum, wie seine App zum Shooting- holen und – etwa vor einer Ur-
star der Branche wurde. laubsreise – aus der Entfernung
„Einfachheit ist eine Notwen- nach Dates in fremden Städten
digkeit“ ist so ein Satz. Tinder hat zu suchen. Diese Features wird
die Partnersuche in ein simples es aber nur gegen Geld geben.
Kartenspiel verwandelt. Die App IAC will aus seiner trendigen Ent-
präsentiert einen schier endlosen wicklerbude endlich Kapital
Stapel polaroidartiger Profilbilder. schlagen.
Nach links wischt man ein unat- Spätestens dann, hofft Björn
traktives Gegenüber ins digitale Lovoo-Gründer Bak Bak, wird den Amerikanern die
Nirwana, mit einem Rechtswisch Luft ausgehen: „Es ist viel schwie-
signalisiert man Interesse. Gegen riger, Kunden zum Bezahlen zu
die Liebe auf den ersten Wisch wirkt Lo- ditreform nennt sie 331250 Euro und 83 Cent bringen, wenn sie vorher ein kostenloses
voos Radar geradezu kompliziert. Kapital ihr eigen. Angebote von Investoren Produkterlebnis hatten“, sagt der Lovoo-
Der Aufstieg des US-Start-ups, das am lehne er regelmäßig ab, erzählt Bak, er schät- Chef.
Sunset Boulevard in West Hollywood resi- ze die Autonomie. Für die Gründung legten Allein darauf will er sich aber nicht ver-
diert, begann mit den Winterspielen in Sot- er, sein Bruder Benjamin und einige Freunde lassen. Bak geht zu seinem Schreibtisch,
schi im Februar 2014: Eine US-Snowboar- all ihr Erspartes zusammen. „Uns blieb gar wühlt in Papierstapeln nach seinem Handy.
derin erzählte, wie viele attraktive Athle- nichts anderes übrig, als schnell profitabel Er öffnet die neue App, die frische Beta-
ten aus dem olympischen Dorf sich bei zu werden“, sagt er. Von Anfang an zahlten Version. Statt eines Radars steht ein
Tinder tummeln. Bald darauf plauderten Firmen für Werbeplätze in der App und Nut- Newsfeed aus Bildern im Zentrum, ähnlich
auch Katy Perry, Lily Allen und Lindsay zer für Sonderfeatures. Wer im Radar als der Zeitleiste von Facebook. Nutzer kön-
Lohan über ihre Dating-Erlebnisse. Zufall Bild statt als Punkt angezeigt werden will, nen darin Fotos veröffentlichen und mit
war das kaum: Badeens Mitgründer Sean muss den Dresdnern rund einen Euro pro Stichwörtern versehen, nach denen andere
Rad leitete zuvor eine Agentur, die Mar- Tag überweisen. Rund 300000 Euro Gewinn suchen können. Ein Foto von drei feiern-
ketingdeals an Prominente vermittelt. machten sie so 2013. den jungen Männern erscheint, unter dem
„Tinder ist eine Marketingmaschine, an Kann man ein Start-up so führen, so Stichwort #Party. Mit zweimal Tippen ist
unsere Ingenieursleistung kommen die solide und vorsichtig wie einen schwäbi- Bak im Chat mit dem Menschen, der das
nicht ran“, sagt Bak trotzig. Bei Lovoo ar- schen Mittelständler? Nirgendwo ist die Bild geschickt hat.
beiten rund 60 Entwickler – mehr als Tin- kreative Zerstörung durch die Internetöko- Statt nur Paare zu vermitteln, will Bak
der Beschäftigte hat. „Wir wollen besser nomie erbarmungsloser als bei sozialen Menschen mit gleichen Interessen und
vorhersagen, welche Nutzer zueinander Netzwerken: Wer sich bei einem Flirt-Por- Hobbys zusammenbringen: „Ich spiele lei-
passen“, sagt Bak. Wer immer auf schwarz- tal anmeldet, sucht die größtmögliche Zahl denschaftlich gern Beachvolleyball“, sagt
haarige und nie auf blonde Männer tippt, an Partnern. Verschwinden erst einmal er. Mit seinem neuen Service könne er
soll Letztere seltener angezeigt bekommen. Punkte vom Bildschirm, verliert die App Leute in der Umgebung suchen, die gerade
Während in Dresden Ingenieure der Lie- sofort an Anziehungskraft. Im Ausland prä- Bilder von ihrem Spiel auf Lovoo stellen,
be an der Optimierung ihres Produkts fei- sent zu sein ist dabei überlebenswichtig. und eine Partie ausmachen.
len, planen die hippen Dating-Rebellen Ein einsames Herz, das in seiner Nachbar- Im Frühjahr soll die neue App erschei-
aus Los Angeles die Eroberung des globa- schaft Bekanntschaften sucht, will im Ur- nen, die Dresdner wollen sie in vielen Län-
len Marktes. Den alten Wettstreit zwischen laub oder im Austauschjahr kaum darauf dern Europas bewerben, in Skandinavien,
deutschen und US-amerikanischen Unter- verzichten. Die Tinder-App gibt es in 33 in Polen, im Vereinigten Königreich.
nehmenstugenden fechten die zwei Start- Sprachen, sogar in der Antarktis sollen Schlägt sie dort ein, kommen als Nächstes
ups in der digitalen Welt aus. Bislang mit sich schon Tinder-Partner gefunden haben. die USA dran. Floppt sie, haben Baks Ent-
Vorteil für die Amerikaner: Obwohl Tinder Lovoo wird bislang vor allem in West- wickler und Produktdesigner mehr als ein
ein Jahr später startete, hat es Lovoo in- europa und Brasilien genutzt. Den Sprung Jahr Entwicklungszeit vergeudet; es geht
zwischen weltweit abgehängt. in die USA sagten die Sachsen Ende 2013 um die Zukunft seines Unternehmens.
FOTO: SVEN DÖRING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

Eine klassische Garagengründer-Story ab. Am Ende eines vom Bundeswirtschafts- An die glaubt er, das hat Bak seinen Mit-
kann Badeen nicht erzählen, seine Wisch- ministerium unterstützten Aufenthalts im arbeitern auf der Weihnachtsfeier bewie-
App programmierte er 2012 in einem Start- Silicon Valley entschieden sie sich gegen sen, zu der er auch einen Tätowierer ein-
up-Labor des Internetkonzerns IAC. Der den Markteintritt. Die USA seien „der här- geladen hatte. „Dahin“, sagt er und deutet
milliardenschwere Börsengigant verdient mit teste Markt der Welt“, sagt Bak, „die Ex- auf seinen Unterarm, „hat er mir das Lo-
seiner heißesten Marke bis heute keinen pansion hätte uns Millionen gekostet“. voo-Logo tätowiert.“ Alexander Demling
Cent. Die Tinder-Angebote sind kostenlos, Nun rückt Tinder dem Konkurrenten in
Badeen und seine Kollegen setzen alles auf seiner Heimat auf die Pelle: „Deutschland Video: So funktionieren
Wachstum und verbrennen dabei eifrig Geld. ist unser wichtigster Wachstumsmarkt“, die Dating-Apps
Die Lovoo GmbH dagegen gehört weiter- sagt Jonathan Badeen. In Berlin und Ham- spiegel.de/sp062015dating
hin ihren Gründern, laut der Auskunftei Cre- burg ist Tinder seit Monaten Stadtge- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 6 / 2015 125


Impressum Service
Leserbriefe
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
Fax: 040 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
Hinweise für Informanten
HERAUSGEBER Rudolf Augstein SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, MOSKAU Matthias Schepp, Glasowskij Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Infor-
(1923 – 2002) Annette Großbongardt (stellv.). Redaktion: Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, mationen zukommen lassen wollen, finden Sie unter der
Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe Tel. +7 495 22849-61, Fax 22849-62 Webadresse www.spiegel.de/briefkasten Hinweise, wie Sie
CHEFREDAKTEUR Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall,
Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.) Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Eva-Maria NEW YORK 10 E 40th Street, Suite 3400, die Redaktion erreichen und sich schützen. Wollen Sie
Schnurr, Autorin: Dr. Susanne Weingarten New York, NY 10016, Tel. +1 212 2217583, wegen vertraulicher Informationen direkt Kontakt zum
ST ELLV. CHEFREDAKTEUR
Fax 3026258 SPIEGEL aufnehmen, stehen Ihnen folgende Wege zur Ver-
MULTIMEDIA Jens Radü; Alexander Epp,
Clemens Höges Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard PA RIS Julia Amalia Heyer, 12 Rue de fügung: Post: DER SPIEGEL, c/o Briefkasten, Ericusspitze 1,
Riedmann Castiglione, 75001 Paris, Tel. +33 1 20457 Hamburg
MITGLIED DER CHEFREDAKTION 58625120, Fax 42960822
Nikolaus Blome CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Anke PGP-verschlüsselte Mail: briefkasten@spiegel.de
(Leiter des Hauptstadtbüros) Jensen (stellv.), Katharina Lüken (stellv.) PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, (den entsprechenden PGP-Schlüssel finden Sie unter
Peking 100101, Tel. +86 10 65323541, www.spiegel.de/briefkasten)
S C H LU S S R E DA KT I O N Christian Albrecht, Fax 65325453
GESCHÄF TSFÜHRENDER REDAKTEUR Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Briefkasten“
Rüdiger Ditz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa
Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Stefan Postal 56071, AC Urca, Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche
Politischer Autor: Dirk Kurbjuweit Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen, 22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Telefon: 040 3007-2687 Fax: 040 3007-2966
DEUTSCHE POLITIK · HAUPTSTADTBÜRO Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Tel. +55 21 2275-1204, Fax 2543-9011
Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels
E-Mail: artikel@spiegel.de
Stellvertretende Leitung: Christiane Hoff- ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, 00187
mann, René Pfister. Redaktion Politik: P RO D U KT I O N Solveig Binroth, Christiane Rom, Tel. +39 06 6797522, Fax 6797768 Nachdruckgenehmigungen für Texte, Fotos, Grafiken
Dr. Melanie Amann, Horand Knaup, Kris- Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon, Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher
tiana Ludwig, Ann-Katrin Müller, Peter Petra Gronau, Martina Treumann SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz,
Müller, Ralf Neukirch, Gordon Repinski, P.O. Box 330119, San Francisco, CA 94133, Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme
Britta Stuff. Autor: Marc Hujer BILDREDAKTION Michaela Herold (Ltg.), Tel. +1 212 2217583 in elektronische Datenbanken und Mailboxen sowie für
Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt; Vervielfältigungen auf CD-Rom.
Redaktion Wirtschaft: Sven Böll, Markus Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thors- TEL AVIV Nicola Abé, P.O. Box 8387,
Dettmer, Cornelia Schmergal, Anne Seith, Tel Aviv-Jaffa 61083, Tel. +972 3 6810998, Deutschland, Österreich, Schweiz:
ten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein,
Gerald Traufetter. Autoren, Reporter: Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Parvin Fax 6810999 Telefon: 040 3007-2869 Fax: 040 3007-2966
Alexander Neubacher, Christian Reier- Nazemi, Peer Peters, Anke Wellnitz E-Mail: nachdrucke@spiegel.de
mann, Marcel Rosenbach TOKIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya
E-Mail: bildred@spiegel.de Minami 2-31-15 B, Suginami-ku, übriges Ausland:
Meinung: Dr. Gerhard Spörl SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828 New York Times News Service/Syndicate
DEUTSCHL AND Leitung: Alfred Weinzierl, Tel. +1 212 3075948 WA RS C H AU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona
E-Mail: nytsyn-paris@nytimes.com Tel.: +33 1 41439757
Cordula Meyer (stellv.), Dr. Markus Ver- GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt 26, 03-912 Warschau, Tel. +48 22 6179295,
beet (stellv.); Hans-Ulrich Stoldt (Meldun- Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
(stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger Fax 6179365
gen). Redaktion: Michael Fröhlingsdorf, Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena
wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
Hubert Gude, Carsten Holm, Charlotte Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia WAS H I N GTO N Markus Feldenkirchen, WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versand-
Klein, Petra Kleinau, Guido Kleinhubbert, Pfauter, Julia Saur, André Stephan, Holger Stark, 1202 National Press Building, kostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Lud- Michael Walter Washington, D.C. 20045, Tel. +1 202
wig, Andreas Ulrich, Wolf Wiedmann- 3475222, Fax 3473194 Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Schmidt, Antje Windmann. Autoren, Re- L AYOUT Wolfgang Busching, Jens Kuppi, www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke, DOKUMENTAT ION Dr. Hauke Janssen, Cor-
porter: Jürgen Dahlkamp, Gisela Friedrich- delia Freiwald (stellv.), Axel Pult (stellv.),
sen, Julia Jüttner, Beate Lakotta, Bruno Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens,
Schrep, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe Dr. Susmita Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Rödiger, Doris Wilhelm Booms, Viola Broecker, Dr. Heiko Busch- Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
Redaktion: Sven Becker, Markus Degge- ke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltz- Telefon: 069 955124
rich, Maximilian Popp, Sven Röbel, Jörg Beratung: Uwe C. Beyer schig, Johannes Erasmus, Klaus Falken-
Schindler, Michael Sontheimer, Andreas Sonderhefte: Rainer Sennewald berg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich, Abonnementspreise
Wassermann, Peter Wensierski. Autoren: Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Inland: 52 Ausgaben € 228,80
Stefan Berg, Jan Fleischhauer, Konstantin TITELBILD Suze Barrett, Arne Vogt; Iris Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg,
Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt
Studenten Inland: 52 Ausgaben € 153,40 inkl.
von Hammerstein
Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, sechsmal UNISPIEGEL
WIRTSCHAF T Leitung: Armin Mahler, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN
DEUTSCHL AND Renate Kemper-Gussek, Jessica Kensicki, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Michael Sauga (Berlin), Susanne Amann Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac,
(stellv.), Markus Brauck (stellv.). Redak- BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 202,80
Deutsche Politik, Wirtschaft Peter Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-
tion: Isabell Hülsen, Alexander Jung, Wiesner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer
(der Anteil für das E-Paper beträgt € 171,60)
Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111;
Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt- Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
Müller, Ann-Kathrin Nezik, Jörg Schmitt. Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard
Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar Gesellschaft Tel. 030 886688-200, Kundenservice Persönlich erreichbar
Fax 886688-222 Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mu-
Hawranek, Michaela Schießl lot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
AUS L A N D Leitung: Britta Sandberg, DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Nitsche, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg


Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, Dr. Vassilios Papadopoulos, Tordis Pohl- Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
von Rohr (stellv.). Redaktion: Dieter Bed- Fax 26620-20 mann, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Tho-
mas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian
E-Mail: aboservice@spiegel.de
narz, Manfred Ertel, Jan Puhl, Sandra DÜSSELDORF Frank Dohmen, Barbara
Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße Schäfer, Marko Scharlow, Rolf G. Schier-
Autoren, Reporter: Marian Blasberg, Ralf 8, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, horn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina
Hoppe, Susanne Koelbl, Dr. Christian Fax 86679-11 Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas
Neef (Moskau), Christoph Reuter Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Abonnementsbestellung
FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Siegenthaler, Rainer Staudhammer, Tuisko bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Martin Hesse, Simone Salden, An der Wel- Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz,
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. le 5, 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 Rainer Szimm, Nina Ulrich, Ursula Wam-
SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred 9712680, Fax 97126820 ser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner, Holger oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Dworschak, Katrin Elger, Marco Evers, Dr. Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Ani-
Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße
ka Zeller, Malte Zeller
Ich bestelle den SPIEGEL
Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar 36, 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, ❏ für € 4,40 pro gedruckte Ausgabe
Schmundt, Matthias Schulz, Frank Tha- Fax 9204449 LESER-SERVICE Catherine Stockinger
❏ für € 3,90 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
deusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Anna N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa, E-Paper beträgt € 3,30)
KULT UR Leitung: Lothar Gorris, Susanne Kistner, Conny Neumann, Rosental 10, Los Angeles Times / Washington Post,
Beyer (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, 80331 München, Tel. 089 4545950, New York Times, Reuters, sid ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
Ulrike Knöfel, Philipp Oehmke, Tobias Fax 45459525 beträgt € 0,48) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Jederzeit
Rapp, Katharina Stegelmann, Claudia SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN
ST U T TGA RT Jan Friedmann, Büchsen- GMBH & CO. KG zum Monatsende kündbar mit Rückerstattung des Geldes für be-
Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: straße 8/10, 70173 Stuttgart,
Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Wolfgang Tel. 0711 664749-20, Fax 664749-22 Verantwortlich für Anzeigen: zahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte. Alle Preise inkl. MwSt.
Höbel, Thomas Hüetlin, Dr. Joachim Norbert Facklam und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte liefern
Kronsbein, Elke Schmitter, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN AUSL AND
BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 69 vom Sie den SPIEGEL an:
KULTURSPIEGEL: Marianne Wellershoff 02138 Cambridge, Massachusetts, 1. Januar 2015
(verantwortlich). Tobias Becker, Anke Tel. +1 617 9452531 Mediaunterlagen und Tarife:
Dürr, Maren Keller, Jonas Leppin, Daniel Tel. 040 3007-2540, www.spiegel-qc.de
Sander BRÜSSEL Christoph Pauly, Christoph Name, Vorname des neuen Abonnenten
Schult, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Verantwortlich für Vertrieb:
GESELLSCHAF T Leitung: Ullrich Fichtner, Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436 Thomas Hass
Matthias Geyer, Barbara Supp (stellv.).
Redaktion: Fiona Ehlers, Özlem Gezer, K A P STA DT Bartholomäus Grill, Verantwortlich für Herstellung: Straße, Hausnummer oder Postfach
Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ans- P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Silke Kassuba
bert Kneip, Katrin Kuntz, Dialika Neufeld, Tel. +27 21 4261191
Bettina Stiekel, Jonathan Stock. Reporter: Druck: Mohn Media, Gütersloh
KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, 01001 Stark Druck, Pforzheim PLZ, Ort
Uwe Buse, Jochen-Martin Gutsch, Guido Kiew, Tel. +38 050 3839135
Mingels, Alexander Osang, Cordt Schnib- DER SPIEGEL wird auf Papier aus verant-
ben, Alexander Smoltczyk LON DON Christoph Scheuermann, wortungsvollen Quellen gedruckt.
S P O RT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael
26 Hanbury Street, London E1 6QR, Tel. E-Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
+44 203 4180610, Fax +44 207 0929055 VERL AGSLEITUNG Matthias Schmolz,
Wulzinger. Redaktion: Rafael Buschmann, Rolf-Dieter Schulz
Lukas Eberle, Maik Großekathöfer, Detlef MADRID Apartado Postal Número 100 64,
Hacke, Jörg Kramer 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 GESCHÄF TSFÜHRUNG Ove Saffe
Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS No. 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Subscrip-
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog tion price for USA is $ 370 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP15-001, SD15-006
TWIT TER @derspiegel Englewood, NJ 07631. Periodicals postage is paid at Paramus, NJ 07652. Postmaster: Send SD15-008 (Upgrade)
FACEBOOK facebook.com/derspiegel address changes to: DER SPIEGEL, GLP, P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631.

126 DER SPIEGEL 6 / 2015


Nachrufe
ABDULLAH BIN ABDULAZIZ
Er wusste schon bei seiner
Machtübernahme 2005, dass
in der saudischen Geronto-
kratie die Gesundheit für ei-
nen König das Wichtigste ist.
Demonstrativ zeigte er sich
seinen Untertanen als wacke-
rer Säbeltänzer, der auch mit
seinen damals rund 80 Jah-
ren – sein genaues Geburts-
jahr ist nicht bekannt – noch COLLEEN MCCULLOUGH, 77
rüstig genug wirkte, um das Um sich für das Alter besser
Land mit den riesigen Erdöl- abzusichern, begann die Aus-
reserven zu regieren. Er fes- tralierin – nach jahrelanger,
tigte in den folgenden zehn schlecht bezahlter Tätigkeit
Jahren das monarchistische als Wissenschaftlerin – zu
Regime der Sauds. Ohne den schreiben. Es sollte ihr bes-
Beistand des erzkonservati- tens gelingen. Schon ihr zwei-
TOLLER CRANSTON, 65 ven Klerus zu verlieren, ge- ter Roman, „Die Dornen-
Als er bei der Weltmeisterschaft im Eiskunstlauf 1974 seine langen Abdullah Ansätze von vögel“ (1977) – ein Epos um
Kür beendet hatte, hielt es die über 8000 Zuschauer in der Reformen – etwa das gemein- Pater Ralph de Bricassart
Münchner Olympiahalle nicht mehr auf ihren Sitzen. Sie und seine Liebe zu Meggie –,
standen auf, trampelten, klatschten und honorierten so wurde ein Welterfolg: Er ver-
eine Kür, die den Sport verändern sollte. Der Kanadier Tol- kaufte sich mehr als 30 Mil-
ler Cranston war einer der innovativsten Eiskunstläufer sei- lionen Mal, auch die Verfil-
ner Zeit. Er stellte als Erster künstlerische Aspekte und mung mit Richard Chamber-
Showelemente in den Vordergrund und wurde dadurch lain war ein Riesenerfolg.
zum Liebling der Zuschauer. Dass es trotzdem nie zum Danach veröffentlichte
großen Wurf reichte, lag vor allem an seiner Schwäche in McCullough zwar noch meh-
der damals noch existierenden Pflicht. Bei der Weltmeister- rere Werke, etwa den Roman-
schaft 1974 in München gewann er deshalb trotz einer zyklus „Masters of Rome“,
atemberaubenden Kür nur Bronze, zwei Jahre später auch konnte aber nicht mehr an
bei den Olympischen Spielen. Nach seiner Karriere wurde die „Dornenvögel“-Auflagen-
er zum Star zahlreicher Eisrevuen. Nebenbei arbeitete er höhe anschließen. Colleen
als Maler. Seine Bilder wurden in Museen und Galerien same Studium von Männern McCullough starb am 29. Ja-
ausgestellt. Toller Cranston starb am 24. Januar in San Mi- und Frauen oder die angekün- nuar auf Norfolk Island, Aus-
guel de Allende, Mexiko. red digte Einführung des Wahl- tralien. kle
rechts für Frauen. Dass Saudi-
Arabien erst jetzt und damit EDGAR FROESE, 70
DEMIS ROUSSOS, 68 als letztes arabisches Land sei- Die Musikmaschinen, auf de-
FOTOS V.L.N.R.: SÜDDEUTSCHER VERLAG; GETTY IMAGES; RABIH MOGHRABI / AFP; PIETER MAZEL / SUNSHINE / ACTION PRESS

Mit seiner hohen, voluminö- ner weiblichen Bevölkerung nen er und seine Band Tange-
sen und gefühlvollen Stimme, eine Stimme geben will, zeigt rine Dream in den Siebzigern
die der im ägyptischen Ale- die Verkrustung am Golf ihre Platten machten – Pio-
xandria aufgewachsene Sohn ebenso wie die tausend Peit- nierwerke der Synthesizer-
eines Griechen und einer ita- schenhiebe, zu denen ein musik –, waren noch schwere
lienischstämmigen Ägypterin kritischer Blogger verurteilt Kisten, keine kleinen Laptops.
im Chor der griechisch-ortho- wurde. Weil Abdullah kein Froese nahm auch die Musik
doxen Kirche ausgebildet hat- ausschweifendes Luxusleben selbst nicht leicht: Alles hing
te, beeindruckte er seine führte, war er bei vielen Un- für ihn mit allem zusammen,
Fans. Weltweit verkaufte der tertanen beliebt. In seiner sein Schaffen war von Philo-
schwergewichtige, oft mit Umsicht, für die ihn auch US- sophie, Esoterik, Wissenschaft
wallenden Gewändern be- Präsident Obama schätzte, be- und dem klassischen Erbe be-
kleidete Sänger solo und mit Band rund 60 Millionen Alben. rief er schon vor Jahren einen einflusst. Ein Sommer im
In Deutschland feierte der Mann mit dem Rauschebart, der Thronrat ein, in dem alle Fa- Haus von Salvador Dalí weck-
mehrere Instrumente spielte und in verschiedenen Sprachen milienzweige des Staatsgrün- te in ihm den Wunsch, sich
sang, in den Siebzigerjahren große Erfolge, darunter den ders Ibn Saud im Einverneh- von der US-Popmusik abzu-
Nummer-eins-Hit „Goodbye, My Love, Goodbye“ und men die Erbfolge aushandeln wenden, um eine genuin euro-
„Schönes Mädchen aus Arcadia“. Roussos’ Karriere begann, sollten. Als der König zur Jah- päische Kunstmusik zu erfin-
als er nach Paris ging und 1968 mit dem Keyboarder Vangelis reswende eine Lungeninfek- den. Dabei ging es Froese und
und der Band Aphrodite’s Child ein Album aufnahm. Mit tion erlitt, stand mit seinem seiner Band um das Ausloten
„Rain and Tears“ landeten sie einen ersten Pop-Hit. Als Halbbruder Salman der nächs- der menschlichen Innenwelten.
Bassgitarrist und Sänger überzeugte Roussos auf ihrem Dop- te Regent fest, selbst der neue Er produzierte auch Sound-
pelalbum „666“, das zu einem Klassiker des Progressive Kronprinz und sogar dessen tracks und komponierte Musik
Rock wurde. Nach dem Ende der Band beschränkte er sich Nachfolger sind bereits be- für das Theater. Edgar Froese
als Schlagersänger auf weniger anspruchsvolle Musik. Demis stimmt. Abdullah bin Abdula- starb am 20. Januar in Wien
Roussos starb in der Nacht zum 25. Januar in Athen. kle ziz starb am 23. Januar. dbe an einer Lungenembolie. rap
DER SPIEGEL 6 / 2015 127
Ich, ich, ich
Dem indischen Premier Naren-
dra Modi, 64, gelang es am ver-
gangenen Wochenende, die
engen Grenzen der Kleider-
ordnung für Staatsmänner
etwas zu lockern. Als Gast-
geber des US-Präsidenten
Barack Obama, 53, trug Modi
einen Anzug, der nur auf den
ersten Blick ein konventionel-
les Nadelstreifenmuster hatte.
Näher betrachtet, entpuppten
sich die Streifen als winzige, Heute privat
senkrecht angeordnete Buch-
staben, die den vollen Na- Die Chefin der rechten fran-
men des Premiers bildeten: zösischen Partei Front natio-
Narendra Damodardas Modi. nal (FN), Marine Le Pen, 46,
Politische Gegner unterstell- will trotz der Attentate in
ten Modi „Narzissmus“, ein Frankreich Wähler aus der
Designer lobte Modis Wahl: muslimischen Bevölkerung
„Diese personalisierten Texti- für ihre Partei gewinnen. Da-
lien sind total angesagt. Alle bei stößt sie auf Widerstand
machen es, von Burberry bis in den eigenen Reihen – so-
Hermès.“ Der Stoff für Modis gar bei ihrer Nichte, der FN-
Anzug, handgewebt und Abgeordneten Marion Maré-
nicht bestickt, wie viele Be- chal-Le Pen, 25. Das jüngste
obachter mutmaßten, war Mitglied des französischen

FOTOS V.L.N.R.: PRAKASH SINGH / AFP; ANNE-CHRISTINE POUJOULAT / AFP; VINCENT / THE GUARDIAN; BÜRO WÖHRL
aber made in India. ks Parlaments postete auf Twit-
ter ein Anti-Islam-Video des
FN-Europaabgeordneten
Aymeric Chauprade über den
Im Shitstorm „Krieg Frankreichs gegen
Muslime“ – trotz expliziten
Zusammen mit der früheren Grünen-Chefin Verbots von Tante Marine.
Claudia Roth, 59, war die CSU-Bundestagsabge- Le Pen hatte alle Parteimit-
ordnete Dagmar Wöhrl, 60, vergangene Woche glieder angewiesen, das
in Iran, um Menschenrechte anzumahnen. „juristisch problematische“
Die Politikerinnen setzen sich seit Langem für Dokument nicht weiterzuver-
die Freilassung des zu 13 Jahren Haft verur- breiten. Nichte Marion ver-
teilten Regimekritikers Abdolfattah Soltani sucht sich jetzt herauszure-
ein, der den Nürnberger Menschenrechtspreis den. Sie habe mit ihrer Ak-
erhielt. Wöhrl postete während der Reise ein tion keineswegs die Autorität
Foto auf Facebook, das sie und Roth mit der Parteichefin infrage stel-
Kopftuch zeigt. Sofort sah sie sich Hetztira- len wollen. Ihr Tweet versto-
den und Schmähungen von Islamhassern aus- ße auch nicht gegen die Par-
gesetzt. Wöhrl reagierte bestürzt. Sie sei als teilinie. Sie habe das Video
Politikerin den einen oder anderen Shitstorm tigt oder ausgepeitscht“ werde. Solche Aus- schließlich nicht auf einer In-
gewohnt, was sie jetzt erlebe, habe aber eine sagen hätten nichts mit freier Meinungsäuße- ternetseite des FN, sondern
„andere Dimension“: Man habe ihr ge- rung zu tun: „Hier bewegen wir uns im straf- über ihren privaten Twitter-
wünscht, dass sie „geköpft, massenvergewal- rechtlichen Bereich.“ cnm Account veröffentlicht. pe

Jens Breivik, 79, Vater des norwegischen Mörders An- Slawa Smirnow, 29, russischer Publizist, kämpft auf
ders Breivik, der im Juli 2011 in Oslo und auf der Insel der Website www.leviathan-film.ru gegen illegale
UtØya 77 Menschen getötet hat, sucht das Gespräch Downloads von Filmen. Der Film „Leviathan“, das Por-
mit seinem Sohn. Viel Kontakt hatten die beiden bisher trät einer russischen Kleinstadt, hatte überraschend
nicht, der damalige Diplomat trennte sich von Anders’ den Golden Globe als bester ausländischer Film gewon-
Mutter, als der Junge 18 Monate alt war. Breivik nen und ist für einen Oscar nominiert. Im Entstehungs-
schrieb seinem Sohn ins Gefängnis und fragte nach land Russland wird der umstrittene Film häufig raub-
dem Warum. Die Antwort kam nach Monaten: Er wolle kopiert. Geistiger Diebstahl, warnt Smirnow, bedrohe
nur dann mit seinem Vater kommunizieren, wenn der kreative Prozesse in aller Welt. Als Zeichen der Solida-
Faschist werde. Breivik sen. schrieb zurück: „Ich glau- rität mit den Filmemachern fordert er zu Spenden für
be, es gibt immer noch etwas Menschliches in dir.“ ks eine Wohltätigkeitsorganisation auf. ks

128 DER SPIEGEL 6 / 2015


Personalien
FOTOS V.L.N.R.: GARETH CATTERMOLE; GETTY IMAGES; IMAGO

Billion Dollar Baby lionen Dollar Anteile an dem Filmstudio Alibaba Pictures.
Die Firma ist Teil der Alibaba Group, eines Internetkonzerns,
Die Filme der chinesischen Schauspielerin Vicki Zhao, 38, spiel- der im vorigen Jahr mit spektakulärem Erfolg an die Börse
ten in Asien mehrere Hundert Millionen Dollar ein, und auch ging. Alibaba-Gründer Jack Ma bezeichnet seine Firma als
ihr Regiedebüt „So Young“ war vor zwei Jahren ein Kassen- „größten Unterhaltungskonzern der Welt“. Im vergangenen
schlager. Nun ist Zhao Medienunternehmerin. Zusammen mit Jahr allerdings machte Alibaba Pictures offenbar über 70 Mil-
ihrem Ehemann Huang Youlong erwarb sie für rund 400 Mil- lionen Dollar Verlust. lob

Hilary Mantel, 62, britische Schriftstellerin, kümmerte Sly Stone, 71, amerikanischer Musiker, der in den Sech-
sich bei der BBC-Verfilmung ihrer Bestseller „Wölfe“ ziger- und Siebzigerjahren mit seiner Funk-Band Sly and
und „Falken“ über die Tudors im 16. Jahrhundert sogar the Family Stone erfolgreich war, bekam vor Gericht
um das Aussehen der Zähne der Schauspieler. In fünf Millionen Dollar zugesprochen. Nach jahrelangen
Filmen, die in vergangenen Jahrhunderten spielen, Auseinandersetzungen entschied die Jury in Los Ange-
werden die Gebisse der Darsteller oft künstlich ge- les einstimmig, dass dem Musiker rückwirkend Tantie-
schwärzt, um Authentizität zu erzielen. Mantel lehnte men gezahlt werden müssen. Im Jahr 2010 hatte Stone
diese Maßnahme ab, und zwar aus Gründen der histo- seinen ehemaligen Manager Jerry Goldstein wegen
rischen Genauigkeit: Weil damals kaum Zucker konsu- Betrug, Untreue und Vertragsbruch verklagt. Damals
miert worden sei, hätten die Menschen weit weniger wurde bekannt, dass Stone obdachlos war. Goldsteins
Zahnprobleme gehabt als gemeinhin angenommen. red Anwälte kündigten Revision an. red

DER SPIEGEL 6 / 2015 129


Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGEL-Be-
richt „Hasen mit Wampe“ über den kri-
sengeschüttelten Fußball-Bundesligisten
Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ Borussia Dortmund (Nr. 5/2015):

Über die Ursachen für diesen chronisch


Aus der „Pforzheimer Zeitung“: „Bei labilen Zustand gibt es weiterhin unter-
einer Studie mit Senioren habe man schiedliche Meinungen. Klopp betont be-
festgestellt, dass der Hippocampus inner- harrlich, dass die schlechte Stimmung
halb eines Jahres um zwei Prozent ge- und der Mangel an Selbstvertrauen allei-
wachsen sei, wenn diese täglich eine ne eine Folge der schwachen Ergebnisse
Stunde spazieren gingen. Die Wissen- seien, die sich wiederum mit der zerfaser-
schaft vertrete hingegen, dass der Hippo- ten Sommervorbereitung und dem
campus jährlich um ein Jahr schrumpfe.“ schlechten körperlichen Zustand des
Teams erklären lassen. In der aktuellen
Ausgabe des SPIEGEL ist nun eine lange
Geschichte zu lesen, in deren Mittelpunkt
die These steht, dass die Mannschaft in
eine tiefe Sinnkrise gestürzt sei. Dass der
Kern des Problems in den Köpfen der
Spieler sitze. Der strahlende BVB der
Jahre 2011, 2012 und 2013 sei irreparabel
zerfallen, weil die Spieler zweifeln, über
Klubwechsel grübeln, sich nicht mehr so
gut verstehen. Und weil einige der Hel-
den der großen Zeit mit dem Verdacht
Aus dem „Badischen Tagblatt“ hadern, dass der glanzvollste Teil ihrer
Karriere (ja vielleicht sogar ihres Lebens)
bereits hinter ihnen liege. Das Magazin
Aus der „Südwest Presse“: „Davon stützt diese Thesen mit Aussagen na-
erhielten Opfer und Angehörige der mentlich nicht benannter Klubmitarbei-
Terrorgruppe Nationalsozialistischer ter und mit Zitaten aus der Beraterszene.
Untergrund mehr als eine Million Euro.“
Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berké-
wicz in einem „Zeit“-Interview zum SPIE-
GEL-Bericht „Weißwaschen“ über die NS-
Vergangenheit der Familie Ströher, Exeigen-
tümer des Wella-Konzerns (Nr. 36/2013):

„Zeit“: Haben Sie keine Bedenken im


Hinblick auf das Geld der Ströhers? Die
Nazi-Vergangenheit des Wella-Konzerns
ist ja vor einem Jahr im SPIEGEL sehr
Aus den „Lübecker Nachrichten“ breit erörtert worden.
Unseld-Berkéwicz: Die Wella-Gründer-
söhne Karl und Georg Ströher haben
Aus den „Rieser Nachrichten“: „Men- nach dem Krieg durch Enteignung der in
schen und Touristen aus der ganzen der Sowjetischen Besatzungszone gelege-
Region kommen nach Bissingen, um nen Produktionsbetriebe praktisch alles
sich dort eine Auszeit zu nehmen.“ verloren und mussten das Unternehmen
in Hünfeld und später in Darmstadt ganz
neu aufbauen. Der Bericht, auf den Sie
sich beziehen, schildert Karl Ströher ja
auch eher als jemanden, der sich mit
dem System als Unternehmer arrangiert
hat, und nicht als überzeugten Nazi. Im
Anzeige aus „Frizz – Das Magazin für Übrigen kann ich diese Falschmoral gar
Gießen/Marburg/Wetzlar/Wetterau“ nicht leiden: Wenn nur solche Unterneh-
men, die sich gegen die Nazis verhalten
haben, nach 1945 ihre Geschäfte hätten
Aus einer Werbung für „Weihrauch- weiterführen können, wäre Deutschland
Balsam“: „Heilerde … Schon im Mittel- ein Agrarland im Sinne des Morgenthau-
alter wurde sie von Sebastian Kneipp zur plans geworden. Es hätte kein Wirt-
Behandlung von Rheuma, Akne, Aller- schaftswunder gegeben, und es ginge uns
gien und Entzündungen angewendet.“ jetzt bestimmt nicht besonders gut.
130 DER SPIEGEL 6/ 2015
82-facher Nationalspieler

Das könnte Ihnen auch gefallen