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Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016,
Neben dem geläufigen eintönigen Vorschlag (kurz oder lang) waren zwei Arten des mehrtönigen
Vorschlags bekannt: der Anschlag (frz. port de voix double, engl. double appoggiatura) und der
Während Quantz nur den eine Terz umfassenden Anschlag als Umspielung des Haupttons
kennt, finden sich bei Marpurg und C. Ph. E. Bach mehrere Formen dieser Anschlagsart (Abb. 6).
Zunächst einmal stimmen Quantz und Bach darin überein, daß sie nur den Anschlag von der
unteren Note kennen. Bei Bach und Marpurg tritt darüber hinaus die geweitete Form auf, die ein
geweitetes Intervall bis zur Septime umfassen kann. Marpurg kennt ferner noch die
Haupttonumspielung von oben, die gleiche Figur von unten; wie Quantz und Bach sie darstellen,
wird bei ihm nicht aufgeführt (möglicherweise wird sie als geläufig vorausgesetzt, so daß eine
spezielle Erwähnung als überflüssig angesehen wird). Bei C. Ph. E. Bach erscheint der Anschlag,
der in seiner Spielästhetik im Vergleich zu Quantz und Marpurg den wohl gewichtigsten Raum
beansprucht, in der Notierungsvariante mit Zweiundreißigstel und diese darüber hinaus auch
in punktierter Form. Wie die Notation vermuten läßt, kennt Bach zweierlei Ausführungstempi,
Anschlagsintervallformen werden langsamer gespielt als diejenigen mit einem kleineren, vor
allem dem einer Terz. Bach nennt auch den Unterschied zum Vorhalt: »allezeit aber werden sie
schwächer als die Haupt=Note gespielt« (1753, S. 104, § 3, vgl. Abb. 6 c, Fig. LXXXI zeigt die
Ausführung mit p. und f. Hinweisen). Bei der Form der punktierten Anschläge fordert Bach in
manchen Fällen eine Ausführung, die vor der, die der Hauptnote folgt, einen Vorhalt vorsieht,
oder aber diejenige, wie sie in Fig. LXXXVI b) und c) dargestellt ist. Bach schätzt diese
Verzierungsart vor allem deswegen, weil durch sie »der Gesang […] gefällig [wird], indem die
Noten theils gut zusammen gehängt, theils auch einigermaßen ausgefüllt werden« (1753, S. 104 [korrig.
sonst 86] § 3). Den Anschlag mit größerem Intervall fordert Bach nur für »gemäßigte Zeitmaaße«,
wohingegen der Terzenanschlag auch im schnelleren Tempo verwendet werden kann, da er stets
schnell ausgeführt werden muß. Bei beiden Arten des Anschlags gehört dieser stets zur
folgenden Hauptnote, wobei in den punktierten Formen Bach eine spezielle Ausführungsart
aufweist, die die Hauptnote rhythmisch so gliedert, als wenn die kurzen Noten mehr zu der Note
nach der Hauptnote weisen würden (vgl. Abb. 6 c, Fig. LXXXVI, c). Der Anschlag kommt als
Verzierungsart nicht nur im engen Zeitraum der genannten Quellen (Quantz, Bach, Marpurg)
als diesem Stil allein zuzuordnender Bestandteil vor, sondern erscheint vor allem in ruhigen
Abb. 6a-c: a. J. J. Quantz 1752, Tabelle XVI; b. Marpurg 1762, S. 26; c. C. Ph. E. Bach 1753
Der Schleifer füllt einen Terzraum vor einer Note aus. Notiert wird er zumeist mit zwei kleinen
Noten, die an eine Hauptnote gebunden werden. Erste Formen dieser zweinotigen Verzierungen
finden sich bereits bei Caccini, obwohl es scheint, daß sie im Vergleich zu nachfolgenden
Auffassungen differieren. Caccini erwähnt, daß einige die erste Note einer Phrase mit einer
Figur beginnen, die sie eine Terz unter der Hauptnote ansetzen. Eine solche Singweise wird
sogar später als allgemein üblich bezeichnet. Gemeint ist ein zweinotig unrhythmisierter oder
punktierter »Aufschwung« zur Hauptnote. Caccini warnt vor stetigem Gebrauch, da ein solcher
Beginn häufig Dissonanzen erzeugen kann. Zum anderen verwenden vor allem Anfänger diese
ausschmückende Figur achtlos, so daß sie an Reiz verliert (Caccini 1601 / 02, S. 49). Die Figur mag
mit derjenigen des später sog. Schleifers identisch sein, hat vielleicht aber eine mehr
später dann Praetorius (1619) kennen diese Verzierungsform und zwar in der Gestalt von unten.
Erst bei J. Playford d.Ä. (71674) findet sich der Schleifer ebenfalls von oben ausgeführt als »double
backfall« bezeichnet, der durch zwei unterschiedlich hochgestellte Kommata (Häkchen) hinter
der Note angezeigt wird (ebd., S. 116: A Table of Graces proper to the Viol or Violin, vgl. Abb. 7).
Ähnlich kennzeichnen Simpson (1659) und Mace (1676) diese Verzierungsart, wohingegen
Purcell (1699) den slide nach der französischen Übersetzung »slur« benennt. Bei D’Anglebert
findet sich der Schleifer sowohl in der aufsteigenden wie absteigenden Form, er unterscheidet
aber zwei Notierungs- und Ausführungsformen. Zunächst werden Klammern vor oder nach
einer veritkalen Terz für die Ausführung auf den Schlag verwendet. Die zweite Art wird als
zeigt die gewünschte Plazierung durch Punkte unterhalb der Hauptnote an (1739).
Abb. 7: J. Playford 1654, hier 71674, S. 116
Der Schleifer erscheint im Werk von J. S. Bach in einigen seiner Vokalkompositionen (Gutknecht
1980, S. 213, Fußnote 8), in einigen Fällen an exponierten Stellen, wovon die »Erbarme dich«-Arie
aus der Matthäus-Passion sicherlich das bekannteste Beispiel darstellt (s. o.). Bach kennt sowohl
die zweinotige Schleifernotierung als auch diejenige in Custos-Form. Eine Beschreibung des
Schleifers liefert Heinichen 1728, auch mit der Problematik der fehlerhaften harmonischen
Verwendung: »§ 9. Die bekandte Schleifung […] fället sonderlich in cantablen Sachen wohl aus, und
kan bey allen aufwärts springenden Intervallis so wohl, als bey der auffwärts steigenden 2de angebracht
werden. Nur muß man sich hüten, daß derjenige Ton, wo die Schleiffung ihren Anfang nimmet, […],
nicht mit dem Basse vitiöse progressen verursache« (S. 527, §. 9.). Gemeint sind vornehmlich
Oktavparalellen zwischen dem Baß und dem Ton vor dem Schleifer und dem ersten
Verzierungston. Solche »Progressen« tauchen z. B. in der »Erbarme dich«-Arie aus J. S. Bachs
Matthäus-Passion auf.
Eine nicht ganz leicht zu verstehende Definition des Schleifers liefert Quantz, der sowohl
denjenigen mit zwei gleichwertigen Sechzehntelnoten als auch den in punktierter Notation
kennt. Zum ersten erläutert er: »Die zwo kleinen zweygeschwänzten Noten […], welche mehr im
französischen als italienischen Geschmacke üblich sind, müssen nicht so langsam wie die oben
beschriebenen [d. h. punktierten], sondern präcipitant gespielt werden« (Quantz 1752, S. 198, 23.§).
Ein Mißverständnis könnte aus der Anweisung des »präcipitant« Spielens entstehen. Sieht man
jedoch in seine Tabelle (vgl. Abb. 8 b), dann wird schnell deutlich, daß keinerlei Spiel vor dem
Schlag gemeint sein kann, sondern sich die Anweisung auf ein gelindes Hinspielen auf die
Hauptnote beziehen mag, die dann wohl die Hauptbetonung zu bekommen hat. Die punktierte
Variante, die notiert äußerst selten ist, kommt nach Quantz »im langsamen Tempo« vor. Zu deren
Ausführung erläutert er: »sie bekommen […] die Zeit von der darauf folgenden Hauptnote; die
Hauptnote selbst aber, nur die Zeit von dem Puncte. Sie müssen mit viel Affekt gespielet, und auf die Art
ausgedrücket werden, wie die Noten bey Fig. 41 [Abb. 8 a] zeigen. Man muß die mit zweenen Punkten
versehene Note im Herunterstriche nehmen, und den Ton an Stärke wachsen lassen; die zwo folgenden,
durch ein verlierendes Piano, an die erste schleifen; die letzte kurze aber mit dem Hinaufstriche wieder
erheben« (1752, S. 197, 21.§). Beide Schleiferarten, beschrieben für Streicher, unterscheiden sich
somit nicht nur in ihrer Notierung, sondern auch in ihrer dynamischen Gestaltungsweise,
wodurch eine Affektvariante ausgedrückt erscheint. C. Ph. E. Bach widmet dem Schleifer ein
eigenes Kapitel, wodurch er die Bedeutung unterstreicht, die er dieser Verzierungsart für seine
Musik zumißt. Die Ausführungsvarianten, besonders des punktierten Schleifers, sind bei ihm in
einer Fülle vertreten wie bei keinem anderen (vgl. Abb. 9). Für die nichtpunktierte Schreibweise
führt er die drei Varianten in Zweiunddreißigstel, mit dem Custos-Zeichen (a) oder der in der
ausgeschriebenen Art auf. Sie kommen stets vor einem Sprunge vor, »allwo sie die Intervallen
dazwischen ausfüllen [und] werden allezeit geschwinde gespielt.« Den punktierten Schleifer hält
Bach für eine Verzierungsart, die »viel Gefälligkeit erregt«. Die zahlreichen
Ausführungsmöglichkeiten hängen nach seiner Auskunft von dem jeweiligen Affekt ab. Auch
fordert er wie Quantz eine starke Betonung des punktierten Schleifers mit gleichzeitig
Marpurg (vgl. Abb. 10; Anleitung zum Clavierspielen, 1765, Tab.V, S. 17–21) übernimmt für die
Kennzeichnung des Schleifers, den er in der von unten wie von oben gespielten Form kennt, die
Notierungsart wie sie D’Anglebert (1689) einführte. Eine Klammer vor zwei Noten eines Akkords
zeigen die Plazierung, der aufwärts oder abwärts schräggerichtete Strich die Richtung des
Schleifers an. Diese Notierungsart überliefert die Konventionen der Clavecinisten-Ära und blieb
C. Ph. E. Bach kennt über die beschriebenen zweinotigen Schleifer hinaus auch die Form des
dreinotigen, die er dem Doppelschlag »in der Gegen-Bewegung« gleichsetzt. Er mißt ihm eine
breite Skala des Affektgehalts und damit -ausdrucks bei. In schnellen Tempi wird er zur
Intervallausffüllung und »zum Schimmer« eingesetzt, d. h. zur Intensivierung der Brillanz. Der
Dreitonschleifer kann aber auch zur Unterstreichung eines traurigen Affekts eingesetzt werden
»bey matten Stellen, besonders im Adagio […]. Er wird alsdenn matt und piano gespielt, und mit vielem
Affecte und mit einer Freyheit, welche sich an die Geltung der Noten nicht zu sclavisch bindet,
vorgetragen« (Bach 1753, S. 108, § 7). Die Plazierung des Dreitonschleifers empfiehlt Bach
besonders bei der kleinen Septime, der großen Sexte mit Quinte, der Sexte mit übermäßiger
Quarte und kleinen Terz. Da diese Verzierungsform (Tab.V, S. 25, 27) lediglich noch bei Marpurg
vorkommt, jedoch nicht in der beschriebenen Ausführung, kann Bach zu Recht ihn als »unser
Schleiffer« bezeichnen. Manche Forscher schlugen in einigen Fällen, an denen die Noten vor dem
Schleifer und dessen Beginn mit dem Baß Parallelen erzeugen, vor, diesen Schleifer vor der Zeit
zu plazieren und die Betonung der Hauptnote zukommen zu lassen (s. Tabelle zur »Erbarme-
dich«-Arie aus der Matthäus-Passion von J. S. Bach). Bei Quantz und anderen findet sich zwar
eine verwandte Betonungsempfehlung, aber stets wird der Schleifer auf die Zeit plaziert, jedoch
in der Betonung zurückgenommen. Die Regel des Verbots von zumeist Oktavparallelen gilt
natürlich; es muß aber immer an den jeweiligen Stellen klanglich überprüft werden, ob sie
DIETER GUTKNECHT, Art. Verzierungen in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel,
Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016,