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Tiere und Fabelwesen im Mittelalter


Tiere und Fabelwesen
im Mittelalter

Herausgegeben von
Sabine Obermaier

Walter de Gruyter · Berlin · New York



앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020137-6

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany
Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort

Den Auftakt zu diesem Sammelband bildete die Ringvorlesung »Tiere und


Fabelwesen im Mittelalter«, die ich im WS 2007/08 an der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz für den Interdisziplinären Arbeitskreis Me-
diävistik organisieren durfte. Sehr glücklich war ich, als sich Herr Heiko
Hartmann nicht nur für einen Vortrag gewinnen, sondern auch sofort
dafür begeistern ließ, einen entsprechenden Sammelband ins Auge zu fas-
sen. Für seinen persönlichen Einsatz bei der Aufnahme des Bandes in das
Verlagsprogramm sowie für die liebevolle Betreuung des Buches danke
ich Heiko Hartmann und seinen Kolleginnen, namentlich Angelika Her-
mann (Herstellung) und Julia Rintz (Lektorat), ganz herzlich.
Die Idee, einen Teil der Beiträge, die auf dem International Medieval
Congress »The Natural World« 2008 in Leeds in den beiden von der ani-
maliter-Projektgruppe (www.animaliter.info) organisierten Sektionen gehal-
ten wurden, sowie einen weiteren Beitrag aus dem animaliter-Kreis in den
Sammelband zu integrieren, stieß zu unserer großen Freude beim Verlag
auf offene Ohren, und so erhielt der Band seine vorliegende Gestalt. Auf
die Ringvorlesung gehen die Beiträge von Henryk Anzulewicz, Bettina
Bosold-DasGupta, Leonie Franz, Heiko Hartmann, Marco Lehmann,
Andreas Lehnardt und Anette Pelizaeus zurück; sie wurden ergänzt um
die Leeds-Beiträge von Thomas Honegger, Kathrin Prietzel, An Smets
und Clara Wille sowie den Beitrag von Andrea Rapp.
Allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben, sei an die-
ser Stelle herzlich gedankt: den Beiträgerinnen und Beiträgern, die durch
ihr zügiges Arbeiten ein zeitnahes Erscheinen des Bandes ermöglicht
haben, Lea Dombrink für ihre Hilfe bei der Vereinheitlichung der Bei-
träge, Jessica Quinlan für die kritische Durchsicht der englischsprachigen
Beiträge und ganz besonders Anuscha Monchizadeh, ohne deren uner-
müdliche und gewissenhafte Mitarbeit bei Drucklegung und Register-
erstellung dieser Band nicht hätte entstehen können.

Mainz, im März 2009 Sabine Obermaier


Inhaltsverzeichnis

SABINE OBERMAIER
Tiere und Fabelwesen im Mittelalter.
Einführung und Überblick ........................................................................ 1

Das Wissen vom Tier

HENRYK ANZULEWICZ
Albertus Magnus und die Tiere .............................................................. 29
AN SMETS
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona ............................... 55
CLARA WILLE
Der Reiher, das Neunauge und der Igel. Tiernamen
im romanischen Mittelalter ...................................................................... 79

Vom Umgang mit Fabelwesen

ANDREAS LEHNARDT
Leviathan und Behemoth. Mythische Urwesen
in der mittelalterlichen jüdischen Tradition ........................................ 105
THOMAS HONEGGER
Draco litterarius. Some Thoughts on an Imaginary Beast ................... 131
VIII Inhaltsverzeichnis

Theriomorphe Zeichensprachen

HEIKO HARTMANN
Tiere in der historischen und literarischen Heraldik
des Mittelalters. Ein Aufriss .................................................................. 147
ANETTE PELIZAEUS
Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen
am Mainzer Dom – Provenienz und Nachfolge ................................ 181
ANDREA RAPP
Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn Zur Deutung des Hundes
in Hadlaubs Autorbild im Codex Manesse ............................................. 207

Literarische Tiere

KATHRIN PRIETZEL
Animals in religious and non-religious Anglo-Saxon writings ......... 235
LEONIE FRANZ
Im Anfang war das Tier. Zur Funktion und Bedeutung
des Hirsches in mittelalterlichen Gründungslegenden ...................... 261
BETTINA BOSOLD-DASGUPTA
Schweben, kreisen, gleiten, flattern... Zur Semantik der Vögel
und Flugbewegungen in Dantes Divina Commedia .............................. 281

Ein Ausblick in die Neuzeit

MARCO LEHMANN
Ars Simia – Ästhetische und anthropologische Reflexion
im Zeichen des Affen. Zum Fortleben mittelalterlicher
Bildprogramme in der Romantik, bei Raabe und Kafka .................. 309

REGISTER DER TIERE UND FABELWESEN ................................................ 339


Sabine Obermaier (Mainz)

Tiere und Fabelwesen im Mittelalter.


Einführung und Überblick

»Les animaux ont une histoire«1 – mit diesem Buch hat Robert Delort
1984 die historische und kulturelle Bedingtheit der Tierwelt und der Tier-
Mensch-Beziehung nachdrücklich bewusst gemacht. Doch hat das Mittel-
alter nicht nur ein anderes Verständnis vom Tier als die Neuzeit, es berei-
tet auch wesentliche Elemente des neuzeitlichen Verständnisses vor. Alte-
rität und (!) Kontinuität kennzeichnen demnach die Epochendifferenz
auch in Hinblick auf das Tier. Schon was Tier genannt und als Tier gedacht
wird, ist im Mittelalter anders bestimmt;2 so gehören z. B. auch die Fabel-
wesen zu den Tieren. Dies begründet auch den Zusammenschluss von
Tieren und Fabelwesen in diesem Band.

Ziel dieses Bandes

»Les animaux ont une histoire« zog eine Reihe von Studien und Sammel-
bänden nach sich, die sich der Geschichte der Tier-Mensch-Beziehung aus
verschiedenen Perspektiven widmen3 – bis hin zu der 6-bändigen »Cultu-
_____________
1 Robert Delort, Les animaux ont une histoire, Paris 1984.
2 Brigitte Resl, »Introduction: Animals in Culture, ca. 1000-ca. 1400«, in: dies. (Hrsg.),
A Cultural History of Animals in the Medieval Age, Oxford, New York 2007 (A Cultural His-
tory of Animals 2), S. 1-26, hier S. 3 u. 9 (mit Beispielen auch für die Volkssprachen).
3 Alain Couret / Frédéric Oge (Hrsg.), Histoire et animal, 2 Bde., Toulouse 1989 (Homme,
animal, société 3); Aubrey Manning / James Serpell (Hrsg.), Animals and Human Society.
Changing Perspectives, London 1994; Paul Münch / Rainer Walz (Hrsg.), Tiere und Menschen.
Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 21999; Peter Dinzelbacher
(Hrsg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000; Il mondo animale / The world of
animals, 2 Bde., Florenz 2000 (Micrologus 8); Frank Meier, Mensch und Tier im Mittelalter.
2 Sabine Obermaier

ral History of Animals« (2007).4 Auch zur mittelalterlichen Naturauf-


fassung5 und Archäozoologie,6 zur Tiersymbolik,7 zu Bestiarien8 und Fa-
belwesen9 sind inzwischen einschlägige Sammelbände erschienen. Man
könnte also mit gutem Recht fragen: Wozu noch ein weiterer Sammel-
band?
Der hier vorgelegte Band will einen neuen Akzent setzen und legt den
Fokus ganz dezidiert auf das Tier als Gegenstand und vor allem als Me-
dium der geistigen Erfassung von Welt und Mensch durch den Menschen.
Ziel des interdisziplinär konzipierten Bandes ist es zu zeigen, wie das Tier
in maßgeblichen mittelalterlichen Diskursen (Religion und Wissenschaft,
Jagdalltag und Wappenwesen, Literatur und Kunst) zum Medium der Er-
kenntnis und Vergegenwärtigung, der Strukturierung und Ordnung sowie
der Deutung und Bewältigung von Welt wird. Widersprüche und Verwer-
_____________
Ostfildern 2008 (populärwissenschaftlich). Siehe auch: Sieglinde Hartmann (Hrsg.), Fauna
and Flora in the Middle Ages. Studies of the Medieval Environment and its Impact on the Human Mind.
Papers Devlivered at the International Medieval Congress, Leeds, in 2000, 2001 and 2002, Frankfurt
a. M. 2007 (Beihefte zur Mediävistik 8); Nona Flores (Hrsg.), Animals in the Middle Ages,
New York, London 1996. Grundlegend in Hinblick auf die Frage nach der Grenze zwi-
schen Mensch und Tier: Joyce E. Salisbury, The Beast Within. Animals in the Middle Ages,
New York, London 1994. Demnächst auch: Udo Friedrich, Menschentier und Tiermensch. Dis-
kurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2008 [i. E.].
4 Linda Kalof, Brigitte Resl (Hrsg.), A Cultural History of Animals. 6 Bde., Oxford, New York
2007.
5 Albert Zimmermann / Andreas Speer (Hrsg.), Mensch und Natur im Mittelalter, 2 Bde., Ber-
lin, New York 1991 (Miscellanea Medievalia 21); Joyce E. Salisbury (Hrsg.), The Medieval
World of Nature. A Book of Essays, New York, London 1993; Peter Dilg (Hrsg.), Natur im
Mittelalter. Konzeptionen, Erfahrungen, Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverban-
des, Marburg, 14.-17. März 2001, Berlin 2003.
6 Aleks Pluskowski (Hrsg.), Medieval Animals, Cambridge 2000 (Archaeological Review from
Cambridge 18).
7 Paul Michel (Hrsg.), Tiersymbolik, Bern 1991 (Schriften zur Symbolforschung 7); Luuk A. J.
R. Houwen (Hrsg.), Animals and the Symbolic in Medieval Art and Literature, Groningen 1997;
Dora Faraci (Hrsg.), Simbolismo animale e letteratura, Manziana 2003 (Memoria Bibliogra-
fica 23).
8 Willene B. Clark / Meredith McMunn (Hrsg.), Beasts and Birds of the Middle Ages. The Bestiary
and its Legacy, Philadelphia 1989; Gisela Febel / Georg Maag (Hrsg.), Bestiarien im Spannungs-
feld zwischen Mittelalter und Moderne, Tübingen 1997; Marie-Hélène Tesnière / Thierry Del-
court (Hrsg.), Le Bestiaire du Moyen Age. Les animaux dans les manuscripts, Paris 2004.
9 John Cherry (Hrsg.), Mythical Beasts, London 1995; Ulrich Müller / Werner Wunderlich
(Hrsg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter-Mythen 2).
Einführung und Überblick 3

fungen innerhalb eines Diskurses kommen dabei genauso in den Blick wie
Transferphänomene und Interferenzen zwischen den Diskursen, womit –
was selten genug geschieht – die Interdisziplinarität in die Beiträge selbst
getragen ist. Der Genese des Bandes (siehe Vorwort) ist es zu verdanken,
dass die Beiträge einerseits einführenden Charakter haben, andererseits
neue Forschungsimpulse bieten, so dass die Lektüre für den interessierten
Laien genauso lohnend sein kann wie für den Experten.

Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Ein erster Überblick

In einer (notwendig lückenhaften) »tour d’horizon« wird hier nun ein


Rahmen aufgespannt, in dem die nachfolgenden Beiträge zu verorten und
vor dessen Hintergrund sie zu perspektivieren sind. Angesichts der Uner-
schöpflichkeit des Themas konzentriere ich mich auf die Aspekte, welche
zum einen die Alterität wie die Kontinuität von Mittelalter und Neuzeit im
Umgang mit dem Tier vor Augen führen, zum anderen den Themenkreis
der Einzelbeiträge zu einem vollständigeren Bild ergänzen und den Leitge-
danken des Bandes – das Tier als Gegenstand und Medium der geistigen
Erfassung der Welt – sichtbar machen.

A. Das Leben mit Tieren

Historischem Wandel ist nicht nur das Verständnis des Menschen vom
Tier unterworfen, sondern auch das Tier selbst10 sowie – und dies sei hier
nun Thema – der alltägliche Umgang des Menschen mit dem Tier.

_____________
10 Delort, Les animaux (Anm. 1), S. 28 »Les premières et les plus évidentes conclusions scien-
tifiques découlant de la stricte étude des vestiges zoologiques sont que nos animaux, do-
mestiques et sauvages, sont différents, parfois très différents, de ceux qui vécurent il y a
quelque millénaires et même quelque siècles à peine: nombre de races de chiens, la plus
grande part de races de chats et de lapins n’existaient pas au siècle dernier; inversement,
bien de races de moutons, de bovins, de porcins ou d’équidés domestiques ont disparu au
bout de quelques décennies, notamment depuis le Moyen Age.«
4 Sabine Obermaier

1. Hund, Pferd, Ochs und Schwein: Mittelalterliche Nutztierhaltung

In einer feudal strukturierten Agrarkultur gehört regelmäßiger Umgang


mit Tieren – und das heißt innerhalb einer Agrarkultur: Besitz, Haltung
und Nutzung von Tieren – zum Alltag beinahe jedes mittelalterlichen
Menschen.11 Durch die Archäozoologie ist gut bekannt, welche Tiere
wozu gehalten wurden.
Der Hund ist überhaupt das erste Tier, das domestiziert wurde;12 er
dient als Hirten- oder Wachhund, aber auch als Jagdhund. Daneben kam
es auch zu höfischen und urbanen Neuzüchtungen von Schoßhündchen.
Ochsen werden zum Pflügen, aber auch als Zug- und Lasttiere einge-
setzt,13 und ihre Haut ist wichtiger Leder- und Pergamentlieferant. Pferde
bilden das wichtigste Fortbewegungs- und Transportmittel (im Frieden
wie im Krieg, in der Landwirtschaft wie bei der Jagd).14
Schafe liefern Wolle, Fleisch und Milch (das Schaf, nicht die Kuh, ist
im Hochmittelalter Hauptlieferant für Milch!), Haut für Pergament, Dung
und Talg,15 Ziegen vorrangig Leder. Das Schwein bildet die Hauptquelle
für Fett und Fleisch;16 man hält es in Herden im Wald oder auf dem Feld,
später dann auch im Haus. Hühner, Enten und Gänse17 sorgen schließlich
für Eier und Fleisch.
_____________
11 Vgl. Esther Pascua, »From Forest to Farm and Town«, in: Resl, A Cultural History of Ani-
mals (Anm. 2), S. 81-102, hier S. 81: »Wherever one looked, there were animals: the forests,
fields and farms, towns, fairs and markets, and the household itself.« Siehe auch Salisbury,
The Beast Within (Anm. 3), Kap. 1: »Animals as Property«.
12 Norbert Benecke, Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung,
Stuttgart 1994, S. 68-77, 208-228.
13 Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 90.
14 Erhard Oeser, Pferd und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2007, Kap. 7. Vgl.
Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 288-310, zum Pferd als Haustier im
Mittelalter: S. 306-308. Am Pferd kann man auch gut sehen, dass die Nutzung eines Tiers
ständisch geprägt ist: dem Adel ist das Pferd Streitross, den Bauern Last- und Zugpferd,
siehe Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 91.
15 Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 84 u. bes. S. 92: »The sheep was the
most common medieval farm animal as well as the most versatile.« Zur Geschichte des
Schafs als Haustier: Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 228-238.
16 Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 248; Pascua, From Forest to Farm and
Town (Anm. 11), S. 85 u. S. 99.
17 Zur Geschichte des Geflügels siehe Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12),
S. 362-390.
Einführung und Überblick 5

Die genannten Nutztiere dienen demnach vorrangig als:


– Arbeitskräfte, Transport- und Fortbewegungsmittel;
– Lieferanten von Materialien und Nahrungsmittel,
– oder auch selbst als Nahrungsmittel.
Gehalten werden im Mittelalter jedoch nicht nur gezähmte Tiere. Dem
Menschen dienen auch Tiere, die ihre Wildheit nie ganz aufgegeben ha-
ben,18 so z. B. Bienen zur Produktion von Honig, Katzen zur Mäusebe-
kämpfung und – im Unterschied zu heute – Frettchen zur Kaninchen-
jagd.19 In Adelskreisen werden Raubvögel für die Jagd abgerichtet.
Das Tier wird aber nicht nur als Eigentum betrachtet, sondern auch
als Feind, als Zerstörer von Eigentum gefürchtet,20 vor allem der Wolf21
(in geringerem Maße auch das Wildschwein und der Bär). Der moderne
Mensch ist gegen solche Gefahren – taucht nicht gerade ein »Problembär«
auf – in der Regel gefeit. Irrationale Angst hat der mittelalterliche Mensch
davor, von wilden Tieren gefressen zu werden, was mit der Abscheu dar-
über korrespondiert, dass der menschliche Leib nach seinem Tode von
Würmern und Kröten zerfressen wird.
Wo man Tiere als Eigentum besitzt, betrachtet man Tiere als Wert.
Viehdiebstahl wird hart bestraft (z. T. sogar mit der Todesstrafe); und es
gilt: Der Eigentümer haftet für seine Tiere. Umfangreicher Viehbesitz ist
demnach ein Statussymbol. Überdies lässt sich in Rechtsvorschriften und
Preislisten des Mittelalters eine gewisse Wertehierarchie erkennen (es ist
hier allerdings nur die Perspektive des Adels bezeugt):22 Den obersten
Platz nehmen die Tiere ein, die dieselbe ›Arbeit‹ (gemeint: Kriegsführung
und Jagd) haben wie Edelleute, also Pferde, Jagdhunde und Beizvögel. An
zweiter Stelle stehen die Arbeitstiere, das sind die Zug- und Lasttiere. An
_____________
18 Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 14, spricht von Tieren, »that existed on the border
of the two realms of wild and domestic«; Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11),
S. 102, bezeichnet die Katze als »probably semiwild«. Aus Gebissanomalien an Katzenkno-
chenfunden schließt Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 352f. jedoch, dass
die Katze »offensichtlich zunehmend Heimtier« wird.
19 Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 353-356 (wohingegen das Kaninchen
ein eher junges Haustier ist, siehe ebd. S. 356).
20 Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 14.
21 Dies führt in einigen Regionen beinahe zur Ausrottung des Tiers, siehe dazu grundlegend
Aleksander Pluskowski, Wolves and the Wilderness in the Middle Ages, Woodbridge 2006.
22 Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 28, vgl. S. 33f.
6 Sabine Obermaier

unterster Stelle in der Hierarchie rangieren die bloß nahrungsgebenden


Tiere. Das Eigentum Tier kann damit auch als Statussymbol gelten.23
Insgesamt wird deutlich: Das Tier bestimmt sich im Mittelalter mehr
als heute vom Nutzwert her (auch wenn dem Tier in Form von
Schoßhündchen, gezähmten Vögeln, Tanzbären, Menagerie-Exoten und
Kampftieren Unterhaltsfunktion zukommen kann).24

2. Von Hirschen und Falken: Die Jagd als Adelsprivileg

Die Jagd hat im Mittelalter stets zwei Funktionen: Sie dient dem Nah-
rungserwerb, dem Schutz vor Raubtieren und dem Gewinn von Häuten;25
sie begegnet aber auch schon seit dem Frühmittelalter als »sportliche Betä-
tigung« des Adels und der Könige.26 Seit der Merowingerzeit werden
größere Waldgebiete in sog. Königswälder umgewandelt, für die ein Son-
dernutzungsrecht beansprucht wird:27 Die Jagd wird zu einem »Privileg
des Adels«.28 In diesem Zusammenhang taucht an einigen Höfen auch ein
neues, eigenes Hofamt auf: das Amt für den venator, den Jägermeister.
Die aristokratische Jagd ist durch Jagdtraktate, archäologische Funde,
Rechtstexte, aber auch Literatur und Kunst gut dokumentiert:29 »Hunting

_____________
23 Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 17: »As property, domestic animals were valued for
three things: materials […], labor, and status.«
24 Dazu demnächst: Kathleen Walker-Meikle, Late Medieval Pet-Keeping. Gender, Status and Emo-
tions (PhD diss., University College London). Siehe auch: Lisa J. Kiser, »Animals in Medie-
val Sports, Entertainment, and Menageries«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2),
S. 103-126.
25 Werner Rösener, »Jagd und höfische Kultur als Gegenstand der Forschung«, in: ders., Jagd
und höfische Kultur im Mittelalter. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Insti-
tuts für Geschichte 135), S. 11-28, hier S. 15.
26 Werner Rösener, »Jagd, Rittertum und Fürstenhof im Hochmittelalter«, in: ders. (Hrsg.),
Jagd und höfische Kultur (Anm. 25) S. 123-147, hier S. 125.
27 Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 128. Vgl. Rösener, Jagd und höfische Kultur
(Anm. 25), S. 15.
28 Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 129. Vgl. Rösener, Jagd und höfische Kultur
(Anm. 25), S. 15: »Die Könige und der sich formierende Adel hatten das Bestreben, ihre
herrschaftliche Stellung auch im Bereich der Jagd auszubauen.«
29 Einen guten Überblick über die Quellen geben An Smets / Baudouin Van den Abeele,
»Medieval Hunting«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 59-79, hier S. 64-73.
Einführung und Überblick 7

is [...] one of the most generously documented aspects of the interrela-


tionship between man and animal during the Middle Ages.«30
Drei Formen von Jagd sind es, die von der mittelalterlichen Adelsge-
sellschaft vorrangig gepflegt werden:31
– Pirschjagd: Hier wird das Wild auf mit Pfeil und Bogen oder Arm-
brüsten bewaffnete Jäger zugetrieben. Die meist nur angeschossenen
Tiere werden dann durch die Hunde aufgespürt und zur Strecke ge-
bracht.32 Die Pirschjagd wurde vornehmlich in Deutschland betrieben,
da sie geeignet für unwegsames Waldgelände ist, wie es für viele
deutsche Mittelgebirgsregionen typisch war.33
– Hetzjagd: Hier wird ohne Einsatz von Schusswaffen ein Hirsch von
berittenen Jägern und Hunden gehetzt, bis er sich ermattet den Hun-
den stellt (je nach Kraft des Tiers kann dies den ganzen Tag dauern).34
Dieser in Frankreich sehr verbreitete Jagdtypus galt dort als weid-
gerechteste und edelste Form des Jagens.35
– Beizjagd: Diese aus dem Orient übernommene Jagdform »entwickelte
sich zur vornehmsten ritterlichen Jagdart«.36 Hier wird mit eigens
dafür abgerichteten Raubvögeln (meist Falken, Habichte, Sperber)
Jagd auf Reiher, Fasanen oder Enten gemacht, und dies in ebenem
Gelände, damit man sich an den Luftkämpfen zwischen Raubvogel
und Beute ergötzen kann. Dafür müssen die Raubvögel in einem lang-
wierigen Prozess, der viel ornithologisches Wissen voraussetzt, ge-
zähmt und abgerichtet werden.37
_____________
Grundlegend zum Typus Jagdliteratur: Baudouin Van den Abeele, La littérature cynégétique,
Turnhout 1996 (Typologie des sources du moyen âge occidental 75).
30 Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 79.
31 Eine prestigelose Form der Jagd ist dagegen das Jagen mit Fallen und Netzen; siehe Smets/
Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 63f.
32 Helmut Brackert, »›deist rehtiu jegerîe‹. Höfische Jagddarstellungen in der deutschen Epik
des Hochmittelalters«, in: Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 365-406, hier
S. 373; siehe auch Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 62 (»Archery«).
33 Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 141.
34 Zum genauen Ablauf siehe Brackert, Höfische Jagddarstellungen (Anm. 32), S. 372; siehe auch
Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 61f. (»Venery«)
35 Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 141.
36 Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 21.
37 Zum genauen Ablauf siehe Brackert, Höfische Jagddarstellungen (Anm. 32), S. 374; siehe auch
Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 59-61 (»Hawking or Falconry«).
8 Sabine Obermaier

Die Ausweitung der königlichen und fürstlichen Jagdrechte führte umge-


kehrt zu einer Einschränkung des Jagdrechts der Bauern auf das Nieder-
wild.38 Hirsch, Eber und Bär gehören dagegen zu den Wildarten mit dem
höchsten Ansehen – Hirsch-, Eber- und Bärenjagd-Szenen finden sich
dementsprechend oft in mittelalterlicher Literatur, Kunst und Heraldik.39
Werner Rösener betont zu Recht die Parallelen zwischen Jagd und
Turnier als Teil der höfisch-ritterlichen Repräsentation (was spezifisch
mittelalterlich ist):40 Ein guter Herrscher hatte auch ein guter Krieger und
ein guter Jäger zu sein.41 In diesem Sinne finden – wie Helmut Brackert
herausgearbeitet hat42 – Jagdszenen auch Eingang in die Literatur. Selten
geben sie detailliert Aufschluss über realgeschichtliche Aspekte der Jagd;
die Jagd dient hier vielmehr als Adelssignum und als Minne-Metapher.

3. Schweine und Engerlinge vor Gericht:


Tier und Recht im Mittelalter

Ein Bereich, in dem uns das Mittelalter besonders »fremd«43 wird, ist der
Bereich des Rechts: Nicht nur, dass Tiere als Hinrichtungsinstrumente
verwendet wurden (wobei dann nicht nur der Delinquent, sondern auch
die Tiere grausam gequält wurden), nicht nur, dass Tiere, sofern sie am
Verbrechen des Menschen beteiligt waren (etwa bei Sodomie), mitbestraft
wurden44 – auch die Tiere selbst wurden im Rahmen ordentlicher und
kostspieliger Verfahren als Verbrecher angeklagt, verurteilt, in Haft ge-
_____________
38 Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 16. Die heute nicht mehr gebräuchliche Ein-
teilung in Hoch- und Niederwild geht auf das mittelalterliche Jagdrecht zurück. Zum
Hochwild (dem Adel zur Jagd vorbehaltenes Wild) zählen die Cerviden, das Schwarzwild
(Wildschweine) und paarhufige Hornträger, nicht aber das Reh, dafür aber auch das Auer-
wild, der Steinadler, der Seeadler, der Bär und Vögel wie Schwan und Kranich. Alles übrige
Wild gehört zum Niederwild.
39 Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 136. Jagdtiere sind auch oft Wappen-
tiere (ebd., S. 143), siehe dazu auch den Beitrag von Heiko Hartmann in diesem Band.
40 Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 18.
41 Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 16.
42 Vgl. Brackert, Höfische Jagddarstellungen (Anm. 32), S. 406.
43 Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006, S. 11.
44 Dinzelbacher, Mensch und Tier (Anm. 3), S. 196f.; ders., Das fremde Mittelalter (Anm. 43),
S. 124-128.
Einführung und Überblick 9

nommen und sogar hingerichtet.45 Ab dem 13. Jh. kam es vor allem in
Frankreich, aber auch in der Schweiz, Deutschland und anderen Regionen
immer wieder zu Tierprozessen. Geführt wurden sie zuerst vor weltlichen
Gerichten gegen Haustiere, die Menschen verletzt oder getötet hatten,46
später auch vor kirchlichen Gerichten gegen ganze Schädlingskollektive47
– und dies, obgleich im kodifizierten Recht lediglich die Sachhaftung des
Besitzers vorgesehen war.48
Es überrascht, dass Tiere im Kontext der Strafverfolgung wie Men-
schen behandelt wurden. Insofern es sich jedoch bei den Delikten (neben
Kindesmord auch Zerstörung der Ernte, Störung der Heiligen Messe oder
Auslöser einer Seuche) um »Hierarchieverletzungen«49 seitens der Tiere
handelt, wird die Grenze zwischen Tier und Mensch wieder scharf gezo-
gen. Überdies haben mittelalterliche Tierprozess-Kritiker von Beginn an
darauf hingewiesen, dass die vernunftlosen Tiere, die nicht zwischen Gut
und Böse unterscheiden können, für ihr Verhalten nicht zur Verantwor-
tung gezogen werden können und damit nicht schuldfähig sind.50
Das noch immer rätselhafte Phänomen der mittelalterlichen Tierpro-
zesse lässt sich weder aus bestehenden Rechtstraditionen noch aus der Bi-
bel oder einem Dämonenglauben herleiten. Die Simultaneität und Paralle-
lität mit den Hexen- und Häretikerprozessen sowie Judenpogromen legen
es nahe, darin eine Reaktion auf die spätmittelalterliche Rezession zu se-

_____________
45 Grundlegend: Edward P. Evans, The criminal prosecution and capital punishment of animals, New
York 1906; Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 103-156.
46 Beispiele bei Dinzelbacher, Das fremde Mittelalte (Anm. 43), S. 113-166. Aufsehen erregte
das Tribunal von Falaise, bei dem eine Sau gehenkt wurde, weil es einen drei Monate alten
Säugling verstümmelt und totgebissen hatte. Belegt bei Evans, S. 16 u. 140f., mit Hinweis
auf ein nicht mehr erhaltenes Fresko an der Westseite der Falaiser Heiligen Dreifaltigkeits-
kirche; das Frontispiz des Buches von Evans zeigt die Szene in einer modernen Repro-
duktion.
47 Beispiele bei Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 116-124.
48 Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 114.
49 Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 113.
50 Der Rechtspraktiker Philipp de Beaumanoir (1283) sieht den Grund für diese Rechtspraxis
daher in der Habgier der Gerichtsherren, zit. bei Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter
(Anm. 47), S. 129f. Weitere Belege für die Argumente der Kritiker ebd., S. 130-132. Aus
ähnlichen Gründen hatte schon Thomas von Aquin bezweifelt, dass Tiere beschworen
werden können (Dinzelbacher, Mensch und Tier (Anm. 3), S. 282).
10 Sabine Obermaier

hen.51 Die Tierprozesse stellen gestörte Ordnung wieder her, und dienen
so der Bewältigung einer unüberschaubar gewordenen Welt.52

Tierbesitz, Nutztierhaltung und Jagd können als Formen materieller An-


eignung von Welt des Menschen verstanden werden – in unmittelbarer
Umsetzung von Gen 1, 28. Tierhaltung und Jagd (und in gewissem Sinne
auch die Tierprozesse) sind Dokumentationen menschlicher Macht über
die Tierwelt. Insofern Tierhaltung und Jagd einen Blick auf die mittelal-
terliche Gesellschaftshierarchie freilegen, dienen die Tiere in diesem Zu-
sammenhang auch als Medium der Demonstration von Macht und gesell-
schaftlichem Status. Mit dem Tierprozess dagegen wird gestörte Ordnung
wiederhergestellt, das bestrafte Tier wird zum Sinnbild wiederhergestellter
ordentlicher Mensch-Tier-Hierarchie.

B. Das Wissen vom Tier

Die Zoologie (in der übrigens noch lange die Fabelwesen ihren festen Ort
hatten) ist zur Zeit des Mittelalters noch keine eigene Wissenschaft. Em-
pirische Tierbeobachtung findet zunächst nur dort statt, wo das Tier für
die Lebenswelt des Menschen direkte Bedeutung hat (z. B. in der Falk-
nerei oder Rossarzneimittelkunde). Die Beschäftigung mit tierkundlichem
Wissen war kein Selbstzweck, sondern diente im Mittelalter vielmehr dazu,
Gottes Schöpfung und Gottes Heilsplan zu begreifen oder Hinweise zur
gottesfürchtigen Lebensführung zu erhalten.53

1. Der Löwe und Gottes Heilsplan: Die Tradition des Physiologus

In populärer Darstellung wird der Physiologus gern als ›mittelalterliches


Zoologiebuch‹ gehandelt.54 Diese ursprünglich griechische Naturlehre, die

_____________
51 So Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 141-143.
52 Vgl. Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 142.
53 Vgl. Pieter Beullens, »Like a Book Written by God’s Finger. Animals Showing the Path to-
ward God«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 127-151, hier S. 128.
54 Beispiele bei Nikolaus Henkel, Studien zum ›Physiologus‹ im Mittelalter, Tübingen 1976 (Her-
maea, N. F. 38), S. 139f.
Einführung und Überblick 11

im 2. Jh. im Kontext der frühchristlichen Gemeinden in Alexandria ent-


standen sein dürfte, bietet jedoch vielmehr eine allegorische Deutung der
darin beschriebenen Pflanzen, Steine und Tiere.55 Im Titel (›der Natur-
kundige‹) ist der anonyme Gewährsmann genannt, auf den sich die Schrift
stets beruft; der tatsächliche Verfasser ist unbekannt.56 Dieses Buch wird
im Mittelalter sowohl auf Latein als auch in den verschiedenen Volks-
sprachen intensiv rezipiert57 und findet auch eine Fortschreibung in den
lateinischen und volkssprachigen Bestiarien.58
Die Kapitel des Physiologus sind nach einem einheitlichen Muster ge-
baut: Dem einleitenden Bibelzitat folgt die Beschreibung der natürlichen
Eigenschaften (der sog. proprietates) des Tieres, die sodann einer theologi-
schen59 Auslegung unterzogen werden (oft mit Hinweis auf weitere Bibel-
stellen). Damit gehört der Physiologus in den Kontext der Bibel-Exegese.60
Ein Beispiel: Das Kapitel über den Löwen beginnt mit 1 Mose 49,9, worin
Jakobs Sohn Juda mit einem jungen Löwen verglichen wird. Danach wer-
den die drei Proprietäten des Löwen wie folgt ausgelegt:

_____________
55 Christian Schröder, Art. »›Physiologus‹«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasser-
lexikon, Bd. 7/1988, Sp. 620-634, bes. Sp. 621.
56 In der weitverzweigten Texttradition des Physiologus findet man zahlreiche Verfasserzu-
schreibungen, z. B. an Kirchenväter wie Epiphanios von Zypern, Petros von Alexandrien,
Chrysostomus, Ambrosius, aber auch an Salomon (genannt auch bei Schröder, Art. Physio-
logus (Anm. 55), Sp. 621). Keine dieser Zuschreibungen hat sich bisher verifizieren lassen.
57 Friedrich Lauchert, Geschichte des ›Physiologus‹, Straßburg 1889 (Reprint Genf 1974); Henkel,
Studien zum ›Physiologus‹ (Anm. 54). Zur Rezeption in der deutschsprachigen Literatur siehe
Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretaion in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters
(1100-1500), 2 Bde., Berlin 1968.
58 Meist spricht man dann von einem Bestiarium, wenn Kapitelbestand und Kapitelreihenfol-
ge gegenüber dem üblichen Physiologus-Bestand signifikant abweichen, d. h. wenn eine signi-
fikante Zahl von neuen Kapiteln und neuen Tieren den üblichen Physiologus-Kapiteln hinzu-
gefügt wird; aber auch wenn in die vorhandenen Kapitel Material aus anderen Quellen
(z. B. aus dem ›Hexaemeron‹ des Ambrosius oder den ›Etymologiae‹ des Isidor von Sevilla)
eingeschoben ist, so Willene B. Clark / Meradith T. McMunn, »Introduction«, in: dies.,
Beasts and Birds of the Middle Ages (Anm. 8), S. 1-11, hier S. 3.
59 Clark/McMunn, Introduction (Anm. 58), S. 3: »The animal interpretations in the Physiologus
tend to be more theological, that is, ›mystical‹, while the bestiary expands the moral-ethical
content considerably, making the work more obviously didactic than its predecessor.«
60 Zum Umgang mit (gefährlichen) Bibeltieren in der jüdischen Tradition siehe den Beitrag
von Andreas Lehnardt in diesem Band.
12 Sabine Obermaier

(1) Wenn der Löwe gejagt wird, verwischt er seine Spur mit dem Schwanz.
Ebenso tat Christus, der in seiner Menschwerdung die Spur seiner Göttlichkeit
verwischte.
(2) Wenn der Löwe schläft, hält er die Augen offen. Dies ist ein Zeichen für den
auferstehenden Christus, der nur im Fleische schlief, aber in seiner Gottheit er-
wachte.
(3) Wenn die Löwin ihre Jungen gebiert, sind diese zunächst tot und werden von
der Löwin drei Tage gehütet. Dann kommt der Löwenvater hinzu und bläst den
Jungen ins Gesicht, wovon sie lebendig werden. Ebenso tat der Allmächtige mit
seinem Sohn, als er ihn am dritten Tage auferstehen ließ.
Die Beschreibung stützt sich offensichtlich nicht auf eigene empirische
Beobachtung, sondern ist vermittelt durch Autoritäten. Charakteristisch
für die in der Tradition des Physiologus stehende Tierallegorese ist es auch,
dass ein und dasselbe Tier sowohl in bonam partem als auch in malam partem
ausgelegt werden, es also z. B. für Christus und (!) für den Teufel stehen
kann.61
Die geistesgeschichtlichen Grundlagen für das Entstehen eines Bu-
ches von der Art des Physiologus bildet die sog. »Zwei-Bücher-Lehre« (Bibel
und Natur als zwei gleichberechtigte Wege zur Erkenntnis Gottes), ver-
bunden mit der christlichen Auffassung von der Zeichenhaftigkeit der
Welt – prägnant zusammengefasst bei Alanus ab Insulis († um 1203),
einem französischen Zisterziensermönch aus der Schule von Chartres:
Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum, / nostrae vitae,
nostrae mortis, / nostri status, nostrae sortis / fidele signaculum.62
Umstritten bleibt, ob das Mittelalter die Naturberichte des Physiologus
für wahr hielt und welcher Wahrheitsbegriff hier angemessen ist. Klaus
Grubmüller setzt zunächst voraus: »Physiologus-Wahrheit ist Wahrheit
der Schöpfung; sie kann ihren vollen Verweischarakter nur behalten, wenn
sie buchstäblich und real als Faktenwahrheit aufgefaßt wird.«63 Dennoch

_____________
61 Beispiele bei Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation (Anm. 57), S. 331-347: III (König der
Tiere), IV (Umkreisen der Beute), XIX (Feindschaft gegenüber dem Waldesel).
62 Alanus ab Insulis, Rhythmus de natura hominis fluxa et caduca, Str. 1, in: Sacred Latin Poetry,
Richard Chenevix Trench (Hrsg.), London 1874, S. 262. Übers.: Die gesamte Schöpfung
der Welt ist für uns gleichsam ein Buch und ein Bild und ein Spiegel, ist ein getreues Zei-
chen unseres Lebens, unseres Todes, unseres Zustandes [und] unseres Schicksals).
63 Klaus Grubmüller, »Überlegungen zum Wahrheitsanspruch des Physiologus im Mittelal-
ter«, in: Frühmittelalterliche Studien, 12/1978, S. 160-177, hier S. 169. Dagegen bringt Henkel,
Einführung und Überblick 13

gilt auch: »Das Bild bleibt illustrativ, unabhängig davon, ob seine Elemen-
te faktisch nachweisbar sind.«64 Man glaubt nicht nur, was man sieht.

2. Von Land-, Luft- und Meerwundern:


Tierkundliches Wissen als Buchwissen

Als Vater der wissenschaftlichen Zoologie gilt Aristoteles.65 Doch bis zum
13. Jh. kannte das Mittelalter die zoologischen Schriften des Aristoteles
nur vermittelt über Plinius,66 Solinus67 und Isidor von Sevilla68 – ohne dass
die Urheberschaft des Aristoteles im Einzelfall immer ganz klar war.
Tierkundliches Wissen – das bedeutet im Mittelalter vor allem: Buch-
wissen, angelesenes Wissen, nicht empirisches, aus Beobachtung und Er-
fahrung gewonnenes Wissen. Auch in der Enzyklopädik war die Tierkun-
de kein Selbstzweck, sondern stand noch ganz im Dienste der Theologie:
»Alle Autoren waren, selbst wenn sie sich als Empiriker gebärdeten, kir-
chentreue Welt- oder Ordensgeistliche, aber keineswegs Kämpfer für eine
von der Theologie emanzipierte Naturwissenschaft.«69 So stellt schon Hra-
banus Maurus auf der Grundlage von Isidor seine Enzyklopädie De rerum
_____________
Studien zum ›Physiologus‹ (Anm. 55), S. 140-146, Belege, die zeigen, dass auch die mittelal-
terlichen Autoren nicht alle Physiologus-Geschichten glauben.
64 Grubmüller, Wahrheitsanspruch des Physiologus (Anm. 63), S. 169. Vgl. Beullens, Like a Book
(Anm. 53), S. 134: »What really counted was the similitude, the suitability of the subject
matter to illustrate theological or moral learning.«
65 Christian Hünemörder, »Aristoteles als Begründer der Zoologie«, in: Georg Wöhrle
(Hrsg.), Biologie, Stuttgart 1999 (Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften
in der Antike 1), S. 89-102.
66 Mit seiner Naturalis historia hat Gaius Plinius Secundus (1. Jh.) einen »Typus der natur-
kundlichen Enzyklopädie« geschaffen, der sich als überaus erfolgreich erwies (Christian
Hünemörder, »Antike und mittelalterliche Enzyklopädien und die Popularisierung natur-
kundlichen Wissens«, in: Sudhoffs Archiv, 65/1981, H.4, S. 339-365, hier S. 343). Zur Plinius-
Rezeption im Mittelalter: Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im
Zeitalter des Pergaments, Heidelberg 21995.
67 Plinius bildet auch die Hauptquelle für die im Mittelalter ebenfalls eifrig rezipierten Collec-
tanea rerum memorabilium des Gaius Julius Solinus (3./4. Jh.), die zu drei Vierteln aus Plinius
geschöpft sind.
68 Bernard Ribémont, »L’établissement du genre encyclopédique au Moyen Âge« [1997], in:
ders., Littérature et encyclopédies du Moyen Âge, Orléans 2002, S. 5-23.
69 Hünemörder, Antike und mittelalterliche Enzyklopädien (Anm. 66), S. 351.
14 Sabine Obermaier

naturis (besser bekannt unter dem Titel De univserso, 842-846) zu Unter-


richtszwecken und mit dezidiert christlicher Zielsetzung zusammen.70 Der
Augustinerchorherr (später Dominikaner) Thomas von Cantimpré ver-
steht seinen – absteigend nach Seinsstufen geordneten – Liber de naturis
rerum (ca. 1225/26-1241) als Handbuch für Prediger, so dass man von
einer »Enzyklopädie als Predigthilfe«71 gesprochen hat. Ähnlich gilt dies
auch für den französischen Dominikaner Vinzenz von Beauvais, der sein
Speculum naturale (1256-1259) nach den ersten sechs Schöpfungstagen ge-
ordnet hat. Dieses Werk bildet zusammen mit dem »Speculum doctrinale,
morale und historiale ein Kompendium (das Speculum maius), welches in die-
ser umfassenden Konzeption einzigartig ist. Die Naturenzyklopädie des
Franziskaners Bartholomäus Anglicus (ca. 1240 vollendet), De proprietatibus
rerum, orientiert sich in ihrer Gliederung an der Lehre von den vier Ele-
menten.72 Auch wenn hier Allegoresen und Moralisationen fehlen (erfah-
rene Prediger brauchen so etwas nicht!), findet man in den Handschriften
Randbemerkungen, die auf Auslegemöglichkeiten der Motive in Predigt
und Exempelliteratur hindeuten.73 Bald erscheinen die großen Naturenzy-
klopädien auch in moralisierter Form.74 Die Naturkunde wie die Tierkun-
de des Mittelalters entspringen demnach dem gleichen Geist wie der Phy-
siologus und die Bestiarien.

_____________
70 Hünemörder, Antike und mittelalterliche Enzyklopädien (Anm. 66), S. 348. Gern wird auch das
von Isidor gebotene Material in Florilegien gebracht; zu nennen ist z. B. das Summarium
Heinrici und der Liber floridus von Lambertus von St. Omer (ebd., S. 350).
71 Christel Meier, »Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und
Funktionen einer problematischen Gattung«, in: Ludger Grenzmann / Karl Stackmann
(Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfen-
büttel 1981, Stuttgart 1984, S. 467-503, hier S. 491.
72 Zur Einordnung von De proprietatibus rerum in die Enzyklopädik der Zeit: Baudouin Van
den Abeele, »Introduction générale«, in: Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum.
Edition latine. Sous la direction de Christel Meier, Heinz Meyer, Baudouin Van den Abee-
le, Iolanda Ventura, Bd. 1, Turnhout 2007, S. 3-34, hier S. 4-6, sowie Heinz Meyer, Die En-
zyklopädie des Bartholomäus Anglicus. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von
›De proprietatibus rerum‹, München 2000 (Münstersche Mittelalter-Schriften 77), Kap. I.3.
73 Heinz Meyer, Die Enzyklopädie des Bartholomäus Anglicus (Anm. 73), Kap. IV.3, hier mit dem
Plädoyer, die Randnoten als »Werkteil« zu begreifen.
74 Baudouin Van den Abeele, »Béstiares encyclopédiques moralisé. Quelques succédanés de
Thomas de Cantimpré und Barthelémy l’Anglais«, in: Reinardus, 7/1994, S. 209-228.
Einführung und Überblick 15

Erst mit der Übersetzung der zoologischen Schriften des Aristoteles


ins Lateinische durch Michael Scotus (wenig vor 1220, aus dem Arabi-
schen) und später – weniger erfolgreich – durch Wilhelm von Moerbeke
(1260, aus dem Griechischen) kommt es zu einer intensiveren Rezeption
der aristotelischen Zoologie.75 Bedeutendstes Zeugnis dieser Rezeption ist
der Kommentar De animalibus von Albertus Magnus (entstanden um 1256-
1260), weil er sich am intensivsten auf die aristotelische Systematik ein-
lässt.76 Aber auch in den noch Thomas von Cantimpré verpflichteten
Tierbüchern beeindruckt uns heute die gute Beobachtungsgabe und seine
Quellenkritik, womit der Empirie der Weg bereitet wird.
Dort, wo der Mensch praktischen Umgang mit dem Tier hat (wie bei
der Falknerei oder der Pferde-Heilkunde), findet man schon viel empiri-
sches Wissen über die fraglichen Tiere. Originellstes Werk ist und bleibt
hier das Falkenbuch Friedrichs II. von Hohenstaufen, De arte venandi cum
avibus (1244-1250). Als Autor darf wohl wirklich – bemerkenswert genug –
Friedrich II. selbst gelten. Neben den üblichen klassischen Autoritäten
und praktischen Falkentraktaten (insbes. arabischer Provenienz) bilden
eigene Beobachtungen und Experimente Friedrichs Hauptquelle. Große
Wirkung auf das Mittelalter hatte Friedrichs Schrift allerdings nicht.77

In der Tradition des Physiologus und der Bestiarien machen Tiere die Welt
als Gottes Schöpfung lesbar und geben Orientierung über die moralische
Qualität menschlichen Handelns. Dies gilt auch noch für die als Predigt-
hilfe zu verstehenden Naturenzyklopädien. In den ›empirischer‹ ausgerich-
teten Texten wird das Tier selbst zum Gegenstand der geistigen Erfassung
von Welt. Andererseits führt die Beobachtung, Beschreibung und Klas-

_____________
75 Zur mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption grundlegend: Baudouin Van den Abeele, »Le
›De animalibus‹ d’Aristote dans le monde latin: modalités de sa réception médiévale«, in:
Frühmittelalterliche Studien, 33/1999, S. 287-318.
76 Einen guten Überblick bietet Christian Hünemörder, »Die Zoologie des Albertus Magnus«,
in: Geribert Meyer / Albert Zimmermann (Hrsg.), Albertus Magnus, doctor universalis 1280-
1980, Mainz 1980 (Walberberger Studien 6), S. 235-248. Siehe auch den Beitrag von Hen-
ryk Anzulewicz in dem vorliegenden Band.
77 Umso erstaunlicher ist es, dass Artelouche de Alagona Friedrich II. unter der Bezeichnung
»Sultan« als eine der Quellen genannt wird (siehe den Beitrag von An Smets).
16 Sabine Obermaier

sifikation von Tieren78 wiederum zu einer geistigen Ordnung der Welt


durch den Menschen und – wenn diese Beschäftigung mit dem Tier ganz
praktischen Zwecken dient, wie im Falle von Jagdtraktaten oder Rossarz-
neimittelkunden – zu einer materiellen Bemächtigung von Welt.

C. Das Tier in Literatur und Kunst des Mittelalters

Tiere sind in mittelalterlicher Literatur und Kunst allgegenwärtig. Das Feld


ist weit, daher beschränke ich mich auf wenige signifikante Beispiele, wel-
che die Alterität des Mittelalters gut vor Augen führen können.

1. Fuchs und Wolf: Die mittelalterliche Tierdichtung

Die Literatur des Mittelalters verfügt über Gattungen, die das Tier als
Protagonisten in das Zentrum ihrer Texte stellen: die Fabel und das Tier-
epos.79 Das Tierepos in Form der Fuchsepik ist eine genuin mittelalter-
liche Gattung,80 es gibt keine antike Tradition.81 Allerdings: Die stoffliche

_____________
78 Wie schwer man sich schon bei der Bezeichnung der Tiere im Mittelalter tat, zeigt der Bei-
trag von Clara Wille in diesem Band.
79 Das Tierstreitgedicht dagegen ist weniger prominent (und auch nicht auf Tiere beschränkt),
siehe dazu Jan M. Ziolkowski, Talking Animals. Medieval Latin beast poetry 750-1150, Philadel-
phia 1993, Kap. 5; Thomas Honegger, From Phoenix to Chauntecleer. Medieval English Animal
Poetry, Tübingen, Basel 1996, Kap. III; Petra Busch, Die Vogelparlamente und Vogelsprachen in
der deutschen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, München 2001; Günter Prin-
zing, »Zur byzantinischen Rangstreitliteratur in Prosa und Dichtung«, in: Römische Historische
Mitteilungen, 45/2003, S. 241-286, hier S. 260-286.
80 Hans Robert Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959 (Beihefte
zur Zeitschrift für romanische Philologie 100), S. 20 u. ö.; Fritz Peter Knapp, »Tierepik«,
in: Volker Mertens / Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984 (Krö-
ners Taschenausgabe 483), S. 229-246, hier S. 229; Klaus Düwel, Art. »Tierepik«, in: Real-
lexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3/2003, Sp. 639a-641b, hier Sp. 640a. Zur For-
schung: Kenneth Varty, The Roman de Renart. A Guide to Scholarly Work, London 1998.
81 Die antiken Tierepen bleiben ohne Nachwirkung. Die Batrachomyomachia, der ›Frosch-
Mäuse-Krieg‹, z. B. wird erst Ende des 16. Jhs. mit Georg Rollenhagens Froschmeuseler rezi-
piert, der seit 1989 in der kritischen Edition von Dietmar Peil gut zugänglich ist.
Einführung und Überblick 17

Grundlage ist nicht radikal neu: Es ist die äsopische Fabel. Im Unterschied
zur Gegenwart aber ist das Mittelalter ein ›Zeitalter der Fabel‹.82
In den ersten beiden mittelalterlichen Tierepen – der Ecbasis cuiusdam
captivi per t(r)opologiam (1043/46) und dem Ysengrimus (1148/49)83 – begeg-
nen wir zwar bereits zentralen Motiven der künftigen Fuchsepik (z. B. der
Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf), aber der Fuchs ist noch nicht der
Protagonist. Zu diesem wird der Fuchs erst im altfranzösischen Roman de
Renart, einer Sammlung verschiedener »Branchen«, die von unterschied-
lichen, meist unbekannten Autoren stammen.84 Als direkte Fortsetzung
des Ysengrimus versteht sich die älteste Branche II-Va.85 Der Autor setzt
die Bekanntheit von Renart und Isengrin voraus und will vom Beginn ih-
rer Fehde erzählen.86 Aus den ersten Episoden (gespeist aus bekannten
Fabeln) geht Renart stets als »der betrogene Betrüger« hervor. Erst in der
Beziehung zum connetable Isengrin läuft Renart zu voller Form auf: Er ver-
führt die Wölfin Hersant, misshandelt und beleidigt die Welpen. Die Ver-
folgung Renarts durch die Wölfe endet in einer burlesken Vergewaltigung
der Wölfin vor den Augen ihres Gatten. Isengrin und Hersant erheben
Anklage gegen Renart vor dem Löwen, der jedoch auf Renards Seite steht.
Am Ende des Prozesses, den man als Persiflage auf einen »Minneprozess«
lesen kann, steht der Schwur auf den Hundezahn (von Isengrin als List
geplant, von Renart aber bemerkt, der entkommen kann). Der offene
Schluss provoziert verschiedene Fortsetzungen, auf die ich hier nicht
näher eingehen kann. Eines wird aber schon deutlich: Komik und Beleh-

_____________
82 Dies dokumentiert gut der Fabelkatalog von Gerd Dicke / Klaus Grubmüller, Die Fabeln
des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Ent-
sprechungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60).
83 Fritz Peter Knapp, Das lateinische Tierepos, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 121).
84 Zur Rezeption des Roman de Renart in der französischen Literatur des Mittelalters noch im-
mer grundlegend: John Flinn, Le Roman de Renart dans la littérature française et dans les littératu-
res étrangères au Moyen Age, Paris 1963, zu den Branchen: Kap. II.
85 Früher wurde dieses Kurzepos einem Pierre de Saint-Cloud (1174-77) zugeschrieben. Kri-
tisch dazu R. Anthony Lodge / Kenneth Varty, The earliest branches of the Roman de Renart,
Leuven 2001, S. XXIV-XXVII.
86 Or oez le conmencement / Et de la noise et du content, / Par quoi et por quel mesestance / Fu
entr’eus deus la desfiance (RdR II, 19-22); zitierte Ausgabe: Le Roman de Renart, Helga
Jauß-Meyer (Hrsg./Übers.), München 1965 (Klassische Texte des Romanischen Mittel-
alters 5).
18 Sabine Obermaier

rung mittels Parodie und Satire sind entscheidende Elemente des Tier-
epos.87 Die Tiere erscheinen stets anthropomorphisiert, sie repräsentieren
bestimmte Menschentypen. Die Tierwelt dient als Spiegel der menschli-
chen Gesellschaft.
Mit dem Roman de Renart ist die mittelalterliche Fuchsepik geboren,
und sie geht nun auf Siegeszug durch die europäische Literatur des Mittel-
alters.88 Die wichtigsten Stationen seien hier kurz vorgestellt: Der mittel-
hochdeutsche Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich verarbeitet einen Teil
der Roman de Renart-Branchen zu einem Kurzepos mit finaler Struktur.89
Diese »antistaufische Satire«90 ist ohne weitere Nachwirkung geblieben.
Wirksamer waren die mittelniederländischen Bearbeitungen des Roman de
Renart: Willems Van den Vos Reynaerde (Reynaert I, um 1250) und Reynaerts
Historie (Reynaert II, nach 1373, vor ca. 1470).91 Über die uns nur in Bruch-
stücken erhaltene Versfassung Hinreks van Alkmar (1487) gelangt der
Stoff ins Mittelniederdeutsche, wo 1498 in Lübeck der Reynke de Vos er-
scheint. Kennzeichen dieser Version, aber auch eine Herausforderung für

_____________
87 So schon Flinn, Le Roman de Renart (Anm. 84), Kap. III, und Jauß, Untersuchungen
(Anm. 80), insbes. Kap. 4.D, 5.C und 5.D. Vgl. auch Anm. 90.
88 Dies auch weit über die Gattung Tierepik hinaus, siehe dazu: Kenneth Varty, Reynard, Re-
nart, Reinaert and Other Foxes in Medieval England. The Iconographic Evidence, Amsterdam 1999.
89 Dies hat Hansjürgen Linke, »Form und Sinn des ›Fuchs Reinhart‹«, in: Alfred Ebenbauer
u. a. (Hrsg.), Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie gewidmet Blanka
Horacek, Wien, Stuttgart 1974 (Philologica Germanica 1), S. 226-262, in wünschenswerter
Klarheit herausgearbeitet.
90 Ute Schwab, Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs. Mit einem textkritischen Beitrag
von Klaus Düwel, Neapel 1967, Kap. II bis V, hat die historischen Hintergründe dieser poli-
tischen Satire freigelegt; sie versteht den Reinhart Fuchs dementsprechend als »Warnfabel« in
der Tradition des griechischen ainos (Kap. I). Dezidiert als »antistaufische Satire« interpre-
tiert den Text Jürgen Kühnel, »Zum ›Reinhart Fuchs‹ als antistaufischer Gesellschaftssa-
tire«, in: Rüdiger Krohn (Hrsg.), Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst, Stuttgart 1977 (Karls-
ruher kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 71-85.
91 Zur Datierungsproblematik siehe zusammenfassend: Paul Wackers, »Nawoord«, in: ders.
(Hrsg.), Reynaert in tweevoud. Deel II: Reynaerts historie, Amsterdam 2002, S. 327-359, hier
S. 329-331. Reynaerts Historie bildet auch die Grundlage für Caxtons Übersetzung ins Eng-
lische, siehe dazu Rita Schlusemann, »Die hystorie van reynaert die vos« und »The history of reynard
the fox«. Die spätmittelalterlichen Prosabearbeitungen des Reynaert-Stoffes, Frankfurt a. M. 1991
(Europäische Hochschulschriften, I,1248).
Einführung und Überblick 19

die Forschung ist die geistlich-moralische Glossierung des Textes, welche


die Erzählung zu unterlaufen scheint.92
Die anbrechende Neuzeit nimmt dieses Werk mit großer Begeisterung
auf: Im Rostocker Druck von 1539 erhält der Verstext eine »protestan-
tische« Glosse, 1544 wird der Text (unter dem Titel Von Reinicken Fuchs)
erstmals ins Hochdeutsche übertragen. Der Aufklärer Johann Christoph
Gottsched gibt im Jahre 1752 eine niederdeutsch-hochdeutsche Ausgabe
heraus inklusive der Lübecker und der Rostocker Glosse. In dieser Form
hat Johann Wolfgang von Goethe den Text kennen gelernt. Er verfasst im
Jahre 1793 eine Hexameter-Bearbeitung des Verstextes (und bezieht den
Stoff auf das aktuelle politische Geschehen in den Wirren der Französi-
schen Revolution). Danach wird es still um das Tierepos. Eine der mittel-
alterlichen und frühneuzeitlichen Breitenwirkung vergleichbare Rezeption
gibt es in der Neuzeit nicht mehr.
Doch auch jenseits von Fabel und Tierepos spielen die Tiere in der
mittelalterlichen Literatur eine bedeutsame Rolle.93 Ich erinnere nur an die
Pferde Enites und den Löwen Iweins in der Artusepik,94 ja überhaupt an
die enge Bindung des Ritters an sein Pferd im höfischen Roman,95 aber
_____________
92 Hartmut Kokott, »Reynke de Vos«, München 1981 (UTB 1031), Kap. IV.1. Siehe auch: Ralf-
Henning Steinmetz, »›Reynke de vos‹ (1498) zwischen Tierepos und kommentierter Fabel-
sammlung«. In: Robert Peters u. a. (Hrsg.), Vulpis adolatio [Festschrift für Hubertus Menke],
Heidelberg 2001, S. 847-859.
93 Siehe z. B. das Material bei Otto Batereau, Die Tiere in mittelhochdeutscher Literatur, Diss. Leip-
zig 1909; Gertrud Jaron Lewis, Das Tier und seine dichterische Funktion in Erec, Iwein, Parzival
und Tristan, Bern, Frankfurt a. M. 1974 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und
Literatur 11); Friedrich Bangert, Die Tiere im altfranzösischen Epos, Marburg 1885.
94 Ingrid Bennewitz, »Die Pferde der Enite«, in: Matthias Meyer / Hans-Jochen Schiewer
(Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters
[Festschrift für Volker Mertens], Tübingen 2002, S. 1-17; Xenja von Ertzdorff, »Hartmann
von Aue: Iwein und sein Löwe«, in: dies. (Hrsg.), Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen,
Amsterdam u. a. 1994 (Chloe 20), S. 287-311. Zur Rezeption des Löwenmotivs im
späthöfischen Artusroman: Sabine Obermaier, »Löwe, Adler, Bock. Das Tierrittermotiv
und seine Verwandlungen im späthöfischen Artusroman«, in: Otto Neudeck / Bernhard
Jahn (Hrsg.), Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischer Anthropologie
vormoderner Literatur, München 2004 (Mikrokosmos 71), S. 121-139.
95 Dietmar Peschel-Rentsch, »Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein eines Rit-
ters«, in: ders. (Hrsg.), Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittel-
alterlicher Literatur, Erlangen, Jena 1998 (Erlanger Studien 117), S. 12-47; Udo Friedrich,
»Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im
20 Sabine Obermaier

auch an Kriemhilds Falkentraum im Nibelungenlied96 und an die Hunde,


den Eber und den ›wunderbaren‹ Hirsch im Tristan-Roman.97 Aber auch
weniger prominente Tiere – wie z. B. die Kriegselefanten des Perserkönigs
Porus im Alexanderroman – können ganz spezifische, für die Deutung
des Textes zentrale Bedeutungen tragen.98 Das Tier wird hier zur komple-
xen Metapher, die für die Deutung der Werke unverzichtbar ist. Dies im
Rahmen eines kurzen Einführungsbeitrages auch nur annähernd erschöp-
fend skizzieren zu wollen, ist unmöglich.99 So mag hier der Verweis darauf
genügen, dass das Tier in diesem Bereich zu einem Medium der Konstruk-
tion und Interpretation imaginierter Welten avanciert.100

2. Zwischen Symbol und Ornament:


Das Tier in der mittelalterlichen Kunst

In der mittelalterlichen Kunst begegnen Tiere auf Schritt und Tritt. Kaum
eine Kathedrale, die nicht von Tieren und Fabelwesen bevölkert wäre –
_____________
Mittelalter«, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450,
Stuttgart, Weimar 2001, S. 245-267. Zur Freundschaft nicht nur zwischen Pferd und
Mensch in der mhd. Epik siehe Sabine Obermaier, »›Der fremde Freund‹. Tier-Mensch-Be-
ziehungen in der mittelhochdeutschen Epik«, in: Gerhard Krieger (Hrsg.), Freundschaft,
Verwandtschaft, Bruderschaft. 12. Symposion des Mediävistenverbands, Berlin 2009, S. 363-381
(im Druck).
96 Einen Überblick über Tier-Träume in mhd. Epik bietet demnächst Sabine Obermaier,
»›Traum-Tiere‹. Tier-Träume in der mittelhochdeutschen Epik«, erscheint in: Christine
Walde / Annette Gerok-Reiter (Hrsg.), Traum und Traumdeutung im Mittelalter, Berlin 2009.
97 Noch immer grundlegend: Louise Gnädinger, Hiudan und Petitcreiu. Gestalt und Figur eines
Hundes in der mittelalterlichen Tristandichtung, Zürich u. a. 1971; Klaus Speckenbach, »Der Eber
in der deutschen Literatur des Mittelalters«, in: Hans Fromm u. a. (Hrsg.), Verbum et signum
[Festschrift für Friedrich Ohly], München 1975, Bd. 1, S. 425-476; Johannes Rathofer,
»Der ›wunderbare Hirsch‹ der Minnegrotte« [1966], in: Alois Wolf (Hrsg.), Gottfried von
Straßburg, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 320), S. 371-391.
98 Sabine Obermaier, »Alexander und die Elefanten. Antike Zoologie und christliches Herr-
scherideal im deutschsprachigen Alexanderroman«, in: Jochen Althoff / Sabine Föllinger /
Georg Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Trier 2008, Bd. 18, S. 77-
100.
99 Diesen Bereich umfassend zu erschließen wird Aufgabe unseres Tierlexikon-Projekts sein,
siehe http://www.animaliter.info.
100 Siehe dazu die Beiträge von Leonie Franz, Kathrin Prietzel, Bettina Bosold-DasGupta und
Marco Lehmann in diesem Band.
Einführung und Überblick 21

sie zieren Kapitelle und Misericordien, Fenster, Portale und Dachfirste.101


Tiere sind auch eines der häufigsten Dekorationsmotive auf Gebrauchs-
gegenständen und Wappen.102 Sehr reich illustriert sind von Anfang an der
Physiologus, die Bestiarien und die Enzyklopädien, ebenso die Fabelbücher
und Tierepen. Der Edelstein Ulrich Boners, ein spätmittelalterliches Fabel-
buch, ist sogar das erste illustrierte deutschsprachig gedruckte Buch über-
haupt. Doch auch in der Illustration anderer Texte sind Tiermotive häu-
fig.103 Kein Wunder, dass den Tieren in der mittelalterlichen Kunst seit
jeher großes Interesse galt.104
Drei Aspekte seien im Folgenden hervorgehoben:
a) Das christliche Fundament bildlicher Tierdarstellungen: Im Mittelalter
gibt es feste Bildtypen, die Tieren verlässlich Raum geben. Dazu gehö-
ren z. B. »Die Erschaffung der Tiere«, »Adam gibt den Tieren Namen«.
»Die Arche Noah« und »David (auch: Orpheus) spielt vor den Tie-
ren«.105 Grundlage dieser Bildtypen ist die Bibel. Den Tieren kommt
dabei keine allegorische Bedeutung zu, sie repräsentieren lediglich den
animalischen Part der Schöpfung. Anders verhält sich dies bei den the-
riomorphen Evangelistensymbolen, dem Lamm Gottes und der Taube
als Symbol für den Heiligen Geist. Hier haben die Tiere eindeutig Ver-
weisungsfunktion. Weniger eindeutig ist dagegen der Symbolgehalt der
Tiere, die den Heiligen als feste Attribute beigegeben sind und an Le-
gende oder Kult erinnern.106 Feste ikonographische Typen bildet die
mittelalterliche Tierdarstellung auch in der Tradition des Physiologus aus,
_____________
101 Siehe den Beitrag von Anette Pelizaeus zu den Tierplastiken am Mainzer Dom in diesem
Band.
102 Siehe dazu den Beitrag von Heiko Hartmann in diesem Band.
103 Dass dabei die Tiermotive zur festen Bildersprache des Mittelalters gehören, zeigt der Bei-
trag von Andrea Rapp in diesem Band.
104 Aus der vielfältigen Literatur sei hier lediglich genannt: Francis Klingender, Animals in art
and thought to the end of the Middle Ages, Evelyn Antal und John Harthan (Hrsg.), London
1971; Janetta Rebold Benton, The Medieval Menagerie: Animals in the Art of the Middle Ages,
New York 1992. Allgemeiner: Claudia List, Tiere. Gestalt und Bedeutung in der Kunst, Stuttgart,
Zürich 1993, bes. S. 65-120 zu Mittelalter und Früher Neuzeit (mit ausführlichem Bildteil).
105 Beispiele bei List, Tiere (Anm. 104), S. 76-80.
106 Jetzt grundlegend Dominic Alexander, Saints and animals in the Middle Ages, Woodbridge
2008; zum Problem der Zuordnung Sabine Obermaier, »Der Heilige und sein Tier, das Tier
und sein Heiliger. Ein Problemaufriss«, in: Thomas Honegger / W. Günther Rohr (Hrsg.),
Tier und Religion, in: Das Mittelalter, 12/2007, H. 2, S. 46-63.
22 Sabine Obermaier

z. B. der sich die Seite aufreißende Pelikan, der sich selbst kastrierende
Biber, die sich im Spiegel betrachtende Tigerin. Mit diesen Bildformeln
werden die Betrachter an die entsprechende geistliche Lehre erinnert.
Im Zusammenhang religiöser Kunst fungieren Tiere in der Tat als
»didactic and mnemonic tools«.107
b) Die Frage nach dem Verhältnis von Typik und Realistik: In der mittel-
alterlichen Kunst stehen stark stilisierte und typisierte Darstellungen
neben bereits recht realistischen. Es sind insbesondere die kultivierten
Höfe Oberitaliens, die um 1400 an der Ausbildung und europäischen
Verbreitung der Tiermalerei maßgeblich beteiligt sind durch Künstler
wie Giovannino de’ Grassi, Michelino da Besozzo und Antonio Pisa-
nello.108 Sie weisen den Weg zum Tierporträt der Renaissance.109
Naturgetreue Tierbilder finden sich aber auch schon vor dem 14. Jh.,
insbesondere in praxisorientierten Jagdtraktaten oder medizinischen
Schriften, so dass nicht mehr von einer linearen Entwicklung vom stili-
sierten Tierbild zum Tierporträt ausgegangen werden kann.110 Ent-
scheidend ist offenbar auch der Kontext, für den das Bild geschaffen
wurde.111 Gerade Ausnahmeleistungen wie der sichtlich nach der Natur
gezeichnete Elefant in der Chronica maiora des Matthew Paris (1255)
und der in Frontalansicht gezeigte Löwe im Skizzenbuch des französi-
schen Künstlers Villard de Honnecourt (1230/35) machen deutlich,
dass realistischere Darstellungen im Mittelalter möglich sind, aber of-
fenbar nicht das vorrangige Darstellungsziel bilden.112
c) Ornament oder Symbol? Die Frage, ob die bildlich dargestellten Tiere
immer eine Bedeutung haben oder ob ihnen einfach nur Schmuck-

_____________
107 Brigitte Resl, »Beyond the Ark. Animals in Medieval Art«, in: dies., A Cultural History of
Animals (Anm. 2), S. 179-201, hier S. 180, vgl. S. 179.
108 List, Tiere (Anm. 104), S. 98-103.
109 Zu denken wäre an Miniaturen, wie sie für das Thierbuch des Züricher Universalgelehrten
und Stadtarztes Conrad Gesner (1563) oder für De animantium naturis des Petrus Candidus
(Text: um 1460, Illustrationen: 16. Jh.) in Auftrag gegeben wurden, wie auch an die populä-
ren Tierstudien Albrecht Dürers (1471-1528); siehe List, Tiere (Anm. 104), S. 121-124.
110 So noch dargestellt bei Klingender, Animals in Art and Thought (Anm. 104), Kap. 3.10, und
Benton, The Medieval Menagerie (Anm. 104), Kap. 2.
111 Dies zeigt Resl, Beyond the Ark, S. 179-201.
112 Dazu demnächst Sabine Obermaier, »Auf den Spuren des Löwen. Zum Bild des Tiers in
Mittelalter und früher Neuzeit«, in: Imprimatur. Jahrbuch für Bücherfreunde, N. F. 21/2009.
Einführung und Überblick 23

funktion zukommt, wird in der Kunstgeschichte für einige Bereiche


kontrovers diskutiert, gerade für die Legion von Tieren und Fabelwe-
sen in der Marginal-Illustration: Am nachdrücklichsten hat Michael Ca-
mille die These vom Zusammenhang der Randzeichnungen mit dem
Textinhalt vertreten.113 Und es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass
sich im Mittelalter, dem Zeitalter der Zeichen, die Funktion der Tiere
im Ornament erschöpfen sollte.114
Die Funktion des Tiers in Literatur und Kunst ist vielfältig und in dieser
knappen Einführung nicht in Gänze zu erfassen: Das Tier kann als Vor-
bild und Warnung, als Maske und Metapher, als Erinnerungs- und Deu-
tungsinstrument fungieren. Aufgabe des Literar- wie des Kunsthistorikers
ist es, die je eigene Bedeutung des jeweiligen literarisch oder bildlich dar-
gestellten Tiers zu ermitteln.

Perspektiven für diesen Band

Was hat unsere (notwendig lückenhafte) »tour d’horizon« deutlich machen


können? Tiere sind in allen mittelalterlichen Lebensbereichen omnipräsent
– und sie sind in der mittelalterlichen Geisteskultur in der Tat Gegenstand
und Medium der Erfassung von Welt und Mensch durch den Menschen.
Tiere können dabei erscheinen als
1. Medium der Erkenntnis und Vergegenwärtigung von Welt: In der Tra-
dition des Physiologus und der Bestiarien, aber auch in den als Predigt-
hilfe gedachten Naturenzyklopädien dient das Tier dem mittelalterli-
chen Menschen als Medium der unmittelbaren Einsicht in den sich in
der Welt ausdrückenden schöpfergöttlichen Willen: Das Tier ist – als
_____________
113 Michael Camille, Image on the Edge. The Margins of Medieval Art, London 1992.
114 Rätselhaft bleibt auch das Phänomen, das man germanischen Tierstil oder nordische Tier-
ornamentik zu nennen pflegt. In Form des anglo-karolingischen Tierstiles findet diese
Kunstform im Zuge der angelsächsischen Mission seinen Weg auf den Kontinent (im
8. Jh.). Die inhaltliche Deutung der Tierornamentik ist noch immer eines der schwierigsten
Probleme bei der Interpretation frühmittelalterlicher Kunst. Die Auswahl der Tiere (Raub-
vogel, Eber, Schlange und nicht identifizierbare Vierfüßler) legt – zumindest für die germa-
nische Zeit – sakrale Funktionen nahe; auch die Möglichkeit, dass hier Totem-Tiere reprä-
sentiert würden, wurde erwogen. Doch angesichts der fortschreitenden Christianisierung
geht man heute davon aus, dass diese Tiersymbolik – zumindest auf dem Kontinent – ihre
Bedeutung verloren hat und nur noch ornamental verstanden wurde.
24 Sabine Obermaier

Geschöpf Gottes – ein zentrales Werkzeug der Erkenntnis des göttli-


chen Heilsplans. In bildlichen Darstellungen, die auf diese Tradition
verweisen, fungiert das Tier als Erinnerungs»tool«.
2. Medium der Strukturierung und Ordnung von Welt: In den stärker
empirisch ausgerichteten Texten (und Bildern) wird das Tier einerseits
zum Gegenstand der geistigen Erfassung von Welt, andererseits schafft
der Mensch über die Klassifikation von Tieren geistig Ordnung in der
ihn umgebenden natürlichen Welt. Dagegen spiegelt sich in Tierbesitz
und Jagd die soziale (Menschen-)Hierarchie wieder. Das Tier wird so
auch zum Medium der Demonstration von Macht und gesellschaftli-
chem Status (was sich auch in der tierreichen Wappenkunst nieder-
schlägt). Die Tierprozesse stellen gestörte Ordnung wieder her und
dienen somit eigentlich schon der Bewältigung einer unüberschaubar
gewordenen Welt.
3. Medium der Deutung und Bewältigung von Welt: Unmittelbare Le-
benshilfe geben die Tiere dort, wo sie als Vorbilder für menschliches
Verhalten gesehen werden, so z. B. in den moralisierenden Bestiarien
und Enzyklopädien. In Fabel und Tierepik dagegen dient die anthro-
pomorphisierte Tiersozietät als Spiegel der mittelalterlichen (Men-
schen-)Gesellschaft: Damit werden soziale Missstände und Konflikte
parodistisch und satirisch bewältigt. Tiere haben darin einerseits die
Funktion, die Wahrheit zu ›maskieren‹, andererseits wird das Tier-Sein
selbst semantisiert. In Lyrik und Epik jenseits von Fabel und Tierepik
können Tiere die Funktion von Leitmotiven oder Leitmetaphern über-
nehmen, wodurch sie zu einem unverzichtbaren Deutungsinstrument
des Textes werden können.
Mit diesen wenigen Stichworten sei der Rahmen umrissen, vor dem die in
diesem Band gewählten Rubriken und die Beiträge zu verstehen sind.
Die erste Rubrik – »Das Wissen vom Tier« – vereint Beiträge, in
denen das Tier als Gegenstand der geistigen Auseinandersetzung mittelal-
terlicher Gelehrter erscheint, sei es in einer philosophisch-wissenschaft-
lichen (Henryk Anzulewicz), einer technisch-praktischen (An Smets) oder
einer taxonomisch-philologischen Perspektive (Clara Wille).
In der zweiten Rubrik – »Vom Umgang mit Fabeltieren« – finden Bei-
träge Platz, die zeigen, wie mit bestimmten Strategien zur Bewältigung von
›Ungeheuern‹ Welt gedeutet wird (Andreas Lehnardt), aber auch wie sich
Einführung und Überblick 25

die Neuzeit ein typisch mittelalterliches Tier wie den Drachen auf ganz
eigene Weise handhabbar macht (Thomas Honegger).
Die dritte Rubrik – »Theriomorphe Zeichensprachen« – führt am Bei-
spiel der historischen wie literarischen Heraldik (Heiko Hartmann), der
Kirchenbauplastik (Anette Pelizaeus) und einem – Literatur ins Bild set-
zenden – Autorporträt aus dem Codex Manesse (Andrea Rapp) vor, wie
Tiere – auch diskursübergreifend – als konventionell verabredete Zeichen,
als feste Kommunikationssysteme fungieren können.
Mit der vierten Rubrik – »Literarische Tiere« – kommt das Tier als
Deutungsinstrument literarischer Texte, als Metapher in den Blick: So
wird der literarische ›Gebrauch‹ von Tieren in der angelsächsischen Lite-
ratur, insbesondere bei Ælfric (Kathrin Prietzel), in den bisher literarhisto-
risch vernachlässigten Gründungslegenden (Leonie Franz) und in Dantes
Divina Commedia (Bettina Bosold-DasGupta) beleuchtet.
Den Abschluss bildet ein »Ausblick in die Neuzeit«: Hier wird gezeigt,
wie der Affe – auch unter Rückgriff auf mittelalterliche Affen-Diskurse –
für die Romantik bis hin zur Moderne zum Medium ästhetischer und an-
thropologischer Reflexion wird (Marco Lehmann).
So vermag der Band letztlich auch dies zu bestätigen: Tiere – und
nicht nur die realen Tiere, sondern gerade auch die imaginären, literarisch
und künstlerisch imaginierten Tiere – haben eine – spannende – Ge-
schichte.
Das Wissen vom Tier
Henryk Anzulewicz (Bonn)

Albertus Magnus und die Tiere

I. Tiergeschichten vor Albertus Magnus

Tiere und Tiergeschichten begleiten und beschäftigen den homo sapiens seit
archaischen Zeiten. Für Westeuropa zeugen davon u. a. die etwa 17 000
Jahre alten bildlichen Darstellungen verschiedener Tiere auf den Felswän-
den einer Höhle in Lascaux in den Pyrenäen. Aus der Antike sind uns an-
dere Umgangsformen mit den Tieren überliefert, die ihren Ausdruck in
Tiergeschichten und Tierbüchern fanden. Eine der frühesten Tierge-
schichten ist das Buch Genesis (1, 20-31), das die Erschaffung aller Tier-
arten beschreibt, zur Zierde unserer Erde, wie es die mittelalterlichen In-
terpreten des biblischen Schöpfungsberichtes sahen.1 Die umfassendste
und wissenschaftlich bedeutendste zoologische Schriftensammlung aus
der Antike stammt von Aristoteles († 322 v. Chr.). Ihm folgten andere,
durch Dichtung und Realiengeschichten berühmt gewordene Autoren, die
sowohl Lehrhaftes und Unterhaltsames als auch Wissenswertes über und
durch die Tiere zu vermitteln versuchten. Erwähnt seien die Dichter Lu-
krez († um 55 v. Chr.), Vergil († 19 v. Chr.) und Horaz († 8 v. Chr.), Juba
II. von Mauretanien (25 v. Chr. – 25 n. Chr.), der im Mittelalter unter den
Namen Iorach bekannt wurde,2 Plinius der Ältere († 79), Aelian († 235)
und Solinus (3./4. Jh.).

_____________
1 Vgl. Albertus Magnus, De IV coaequaevis tr. 4 q. 72 a. 2 part. 2, Stéph[ane] Caes[ar]
Aug[uste] Borgnet (Hrsg.), Paris 1895 (Opera Omnia 34), S. 743b: Volatilia et natatilia
pertinent ad ornatum quintae diei; gressibilia autem cum homine pertinent ad ornatum sextae diei.
2 Vgl. Henryk Anzulewicz, »Marginalie zu ›Iorach‹ «, in: Bulletin de Philosophie Médiévale,
38/1996, S. 115-118. Isabelle Draelants, »Le dossier des livres ›sur les animaux et plantes‹
de Iorach. Traditions occidentale et orientale«, in: Isabelle Draelants / Anne Tihon / Bau-
30 Henryk Anzulewicz

Zu den antiken, bis ins Hochmittelalter nachwirkenden Tiergeschich-


ten gehört der Physiologus (›der Naturkundige‹), eine Sammlung von über
50 moralisierenden Darstellungen verschiedener Tiere und animalischer
Fabelwesen.3 Dieses vielleicht im 2. Jh. n. Chr. auf Griechisch verfasste
Büchlein, das auf älteren Quellen beruht, bediente sich der Beschreibung
von Eigenschaften und Lebensgewohnheiten der Tiere zur Vermittlung
christlicher Lebensweisheit. Die literaturgeschichtliche Forschung des letz-
ten Jhs. ging hart ins Gericht mit dem anonymen Autor und dem mut-
maßlich monastischen Umfeld des Buches und bezeichnete sie als »Hen-
ker der wissenschaftlichen Naturerkenntnis im Altertum«.4 Tatsächlich
sind die Tiergeschichten des Physiologus erst mit der Wiederentdeckung der
naturphilosophischen Schriften des Aristoteles im lateinischen Westen im
12. und 13. Jh. verdrängt worden.
Seit Isidor von Sevilla († 636) bemühten sich mittelalterliche Autoren
darum, das Wissen über die Naturwelt enzyklopädisch zu erfassen. Solche
Kompendien der Naturkunde, in denen Tiere Berücksichtigung fanden,
hinterließen u. a. Hrabanus Maurus († 856), Alexander Neckham († 1217),
Arnold von Sachsen († vor 1250), Bartholomaeus Anglicus († nach 1250),
Vinzenz von Beauvais († um 1264) und Thomas von Cantimpré († um
1270).

II. Tiere in den Schriften des Albertus Magnus

Die Hinwendung zu einer kritisch-wissenschaftlichen Betrachtung der


Tiere im Anschluss an Aristoteles in der lateinischen Welt ist besonders
einem Gelehrten zu verdanken, der den Namen Albertus trug und den die
Nachwelt mit dem Beinamen Magnus (›der Große‹) ehrt.5 Ihm widmen
wir unsere Aufmerksamkeit mit Blick auf seine wissenschaftliche Beschäf-
_____________
douin Van den Abeele (Hrsg.), Occident et Proche-Orient: Contacts scientifiques au temps de Croisa-
des, Turnhout 2000, S. 191-276.
3 Der ›Physiologus‹. Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel, Düsseldorf
2003, S. 83.
4 Max Wellmann, Der ›Physiologus‹. Eine religionsgeschichtlich-naturwissenschaftliche Untersuchung,
Leipzig 1930, S. 116. Otto Seel, »Nachwort«, in: Der ›Physiologus‹. Tiere (Anm.3), S. 92-94.
5 Vgl. Michael W. Tkacz, »Albert the Great and the Revival of Aristotle’s Zoological
Program«, in: Vivarium, 45/2007, S. 30-68, hier S. 32, 68.
Albertus Magnus und die Tiere 31

tigung mit der Tierwelt und die wissenschaftstheoretischen Reflexionen


auf die vom ihm als wissenschaftliche Disziplin ausgewiesene scientia de ani-
malibus: die Zoologie. Bevor wir uns ihm zuwenden, seien zwei weitere
Namen aus dem Hochmittelalter erwähnt, die für die Geschichte der Zoo-
logie bedeutend sind: David von Dinant († nach 1206), der sich mit der
Zoologie auf der Grundlage des griechischen corpus Aristotelicum befasste
und dessen Schriften 1210 und 1215 in Paris für häretisch befunden, ver-
boten und verbrannt wurden,6 sowie Petrus Hispanus (Medicus), Alberts
Zeitgenosse, von dem der erste erhaltene lateinische Kommentar zur Tier-
kunde des Aristoteles stammt.7
Das wissenschaftliche Interesse des Albertus Magnus für die Tiere
und seine außerordentlich intensiven, durch Fremdberichte, eigene Beob-
achtungen und Experimente (wie z. B. das Sezieren kleinerer Lebewesen)
begleiteten zoologischen Studien fanden ihren Niederschlag in mehreren
Schriften. An erster Stelle ist sein monumentales Werk De animalibus
(»Über die Sinnenwesen«) zu nennen, das ursprünglich 28 Bücher um-
fasste und nunmehr aus 26 Büchern besteht. Die ersten 19 Bücher dieses
Werkes bilden einen Kommentar zur Tierkunde des Aristoteles, die Albert
in der lateinischen Übersetzung aus dem Arabischen zur Verfügung
stand.8 Die Schriften Liber de natura et origine animae (Ȇber die Natur und
den Ursprung der Seele«) 9 und Liber de principiis motus processivi (»Über die

_____________
6 Henryk Anzulewicz, »David von Dinant und die Anfänge der aristotelischen Naturphilo-
sophie im Lateinischen Westen«, in: Ludger Honnefelder / Rega Wood / Mechthild
Dreyer / Marc-Aeilko Aris (Hrsg.), Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im
lateinischen Mittelalter, Münster 2005, S. 71-112.
7 Kenneth F. Jr. Kitchell / Irven M. Resnick, »Introduction«, in: Albertus Magnus On Animals.
A Medieval Summa Zoologica. Transl. and annotated by Kenneth F. Kitchell Jr. / Irven
M. Resnick, Baltimore 1999, S. 39. Theodor W. Köhler, Grundlagen des philosophisch-anthro-
pologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert, Leiden 2000, S. 10-11, 254-255; ders., Homo
animal nobilissimum. Konturen des spezifisch Menschlichen in der naturphilosophischen Aristoteleskom-
mentierung des dreizehnten Jahrhunderts, Leiden 2008, S. 24.
8 Die Übersetzung hat Michael Scotus († um 1235) angefertigt. Alberts Kommentar ist im
Autograph erhalten: Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI, 2 Bde., Hermann Stadler
(Hrsg.), Münster 1916-1920.
9 Albertus Magnus, Liber de natura et origine animae, Bernhard Geyer (Hrsg.), Münster 1955
(Opera Omnia 12), S. V-XX, S. 1-46.
32 Henryk Anzulewicz

Prinzipien der fortschreitenden Bewegung«),10 einst Bücher 20 und 22 von


Alberts zoologischer Hauptschrift, wurden vom Autor ausgegliedert und
als eigenständige Werke veröffentlicht. Während die erstgenannte Schrift
eine originäre Schöpfung Alberts ist, stellt die letztere einen Kommentar
zum Werk des Aristoteles »Über die Bewegung der Sinnenwesen« dar, das
Albert in der griechisch-lateinischen Übersetzung während einer Dienst-
reise in Italien in die Hände bekam. Es ist interessant zu wissen, dass Al-
bert vor dem Auffinden der griechisch-lateinischen Übersetzung dieser im
arabisch-lateinischen corpus Aristotelicum fehlenden Schrift sie »aus eigener
Erfindungskraft«, wie er schreibt, rekonstruierte.11 Motiv und Ziel seiner
Rekonstruktion war die Schließung einer Lücke, die er in der Reihe der
Kommentare zu den naturphilosophischen Schriften des Aristoteles fest-
gestellt hatte. Die letzte zoologische Schrift Alberts sind die Quaestiones
super De animalibus (»Abhandlungen über die Sinnenwesen«), welche einen
in Quästionenform verfassten Kommentar zur aristotelischen Tierkunde
darstellen.12
Alberts enormes Interesse für die Tiere und seine durch die Aneig-
nung der aristotelischen Naturwissenschaft angeregte wissenschaftliche
Beschäftigung mit ihnen lassen sich schon lange vor der Abfassung seines
zoologischen Hauptwerkes De animalibus feststellen.13 Aus dieser Schrift
erfahren wir nämlich, dass er schon in seiner Jugendzeit wichtige Beob-
achtungen auf diesem Gebiet gemacht hat, die er später in seine Tierkunde
einfließen ließ.14 Eine andere Ebene der Begegnung mit den Tieren bot
sich für den gelehrten Dominikanermönch in der Theologie. Sie erlaubte
ihm, die Tiersymbolik und Tiermetaphorik, derer sich die Bibel und der
Physiologus bedienten, auch nach der Rezeption der aristotelischen Tier-
_____________
10 Albertus Magnus, Liber de principiis motus processivi, Bernhard Geyer (Hrsg.), Münster 1955
(Opera Omnia 12), S. XXI-XXXII, S. 47-75.
11 Bernhard Geyer, »Prolegomena ad Librum De principiis motus processivi«, in: Albertus
Magnus, Liber de principiis motus processivi (Anm. 10), S. XXIII f.
12 Vgl. Albertus Magnus, Quaestiones super De animalibus, Ephrem Filthaut (Hrsg.), Münster
1955 (Opera Omnia 12), S. XXXIII-XLVIII, S. 77-309.
13 Vgl. Henryk Anzulewicz, »Die aristotelische Biologie in den Frühwerken des Albertus
Magnus«, in: Carlos Steel / Guy Guldentops / Pieter Beullens (Hrsg.), Aristotle’s Animals in
the Middle Ages and Renaissance, Leuven 1999, 159-188.
14 Vgl. Albertus Magnus, De animalibus l. 8 tr. 2 c. 4 § 72, S. 600 Z. 38 – S. 601 Z. 6. Heribert
C. Scheeben, Albertus Magnus, Köln 31980, S. 19.
Albertus Magnus und die Tiere 33

kunde zu verwenden. Die Gründe für die Zulässigkeit und Nützlichkeit


der Metapher in der Theologie nannte er u. a. in seiner Summa theologiae.
Die Metapher, hält er dort fest, sei in der Theologie ein erlaubtes methodi-
sches Mittel, während sie in anderen Wissenschaften unzulässig sei, da sie
deren Gegenstände, die an sich für die Vernunft einsehbar sind, nicht
erklärt, sondern verhüllt. Die Theologie hingegen, die von Gott als dem
unfassbaren Licht handle, brauche die Metapher als eine Stütze der Ver-
nunft, um sich jenem Licht nähern zu können.15 Auch als praktische Wis-
senschaft, die tugendhaftes Handeln mit Einsicht und Affekt verbinde,
bediene sich die Theologie der Metapher und Dichtung, insofern sie von
göttlicher Weisheit inspiriert seien.16
Ein Beispiel aus seiner moraltheologischen Erstlingsschrift De natura
boni (»Über die Natur des Guten«) macht deutlich, dass und wie Albert die
Tiermetapher verwendet. Mit dem Ziel, einen Weg aufzuzeigen, wie der
Mensch seinen verfehlten Lebensstil aus eigener Kraft korrigieren kann,
greift er aus dem Buch der Sprüche (6, 6-8) folgende Verse auf: »Gehe zur
Ameise hin, Fauler! und siehe ihre Wege an und lerne Weisheit. Obwohl
sie keinen Führer noch Lehrmeister noch Gebieter hat, schafft sie sich
doch im Sommer ihre Speise und sammelt in der Ernte ihre Nahrung
ein«.17 Albert stellt die Ameise als Vorbild der praktischen Lebensweisheit
dar. Er nimmt keinen Bezug auf den Physiologus, dessen Ameisengeschichte
dieselbe Bibelstelle zum Ausgangspunkt hat, sondern er knüpft an eine an-
dere Aussage aus dem Buch der Sprüche (30, 24-28) an, in der vier anima-
lische Verkörperungen der Weisheit in Gestalt von Ameise, Häslein, Heu-
schrecke und Eidechse auftreten.18 Da Albert in seinen Schriften mehr
Aufmerksamkeit für die Ameise als für die übrigen drei erwähnten Sinnen-
wesen zeigt, wollen wir an ihrem Beispiel seine Beschäftigung mit den Tie-
ren kurz vorstellen. Zuvor seien, wie angekündigt, einige formale, wissen-

_____________
15 Albertus Magnus, Summa theologiae sive de mirabili scientia dei l. 1 tr. 1 q. 5 c. 1, Dionysius Sie-
dler / Wilhelm Kübel / Heinz-Jürgen Vogels (Hrsg.), Münster 1978 (Opera Omnia 34/1),
S. 17 Z. 10-21.
16 Ebd. c. 2, S. 18 Z. 11-15; ebd. q. 3 c. 3, S. 13 Z. 58-81.
17 Albertus Magnus, De natura boni tr. 2 pars 1 c. 2 § 3, Ephrem Filthaut (Hrsg.), Münster 1974
(Opera Omnia 25/1), S. 10 Z. 16-19.
18 Ebd., S. 10 Z. 19-27: Et hoc optime quattuor metaphoris in fine Prov. (XXX, 24-28) a Salomone
docetur […].
34 Henryk Anzulewicz

schaftstheoretische und wissenschaftssystematische Aspekte seiner Auf-


fassung der scientia de animalibus umrissen, die von einer herausragenden
Bedeutung für die Geschichte des Faches Zoologie sind.

III. Die Wissenschaftslehre der scientia de animalibus


des Albertus Magnus

Obwohl Albert den Ausdruck »Zoologie«, offenbar eine Neubildung des


18. Jhs. zum griechischen τό ζῷον, d. h. Tier,19 nicht kennt, hat er einen
klaren und distinkten Begriff der Wissenschaft von den Tieren. Er nennt
sie die scientia de animalibus. Sie ist nach seinem Verständnis die Wissen-
schaft über den Körper der Tiere oder vielmehr über dessen unterschied-
liche Ausprägungen, insofern diese vom seelischen Prinzip hervorgebracht
sind.20 Das den Körper der Sinnenwesen prägende und in ihm wirkende
Prinzip, die sinnenhafte Seele, rückt er auch bei der etymologischen In-
terpretation der lateinischen Termini animal und animale in den Vorder-
grund.21 In der Reihe der naturwissenschaftlichen Disziplinen, die er mit
Blick auf die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles zu Beginn
seines Physikkommentars aufgestellt hat, platziert er die scientia de anima-
libus aufgrund der Besonderheit ihres Gegenstandes an letzter Stelle.22 Ihr
geht der allgemeine Teil der Naturwissenschaften voraus, in dem die psy-
chischen Kräfte und Eigenschaften der Lebewesen sowie deren Ursprung
und Funktionen behandelt werden.
_____________
19 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar
Seebold, Berlin 231999, S. 914. Wilhelm Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch. Nachdr. der
3. Aufl. bearb. von Max Sengebusch, Graz 1954, Bd. 1, S. 1142 u. S. 1144.
20 Vgl. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 1 Z. 1 ff., S. 2 Z. 5-12.
21 Vgl. Albertus Magnus, Super Ethica l. 1 lect. 9, Wilhelm Kübel (Hrsg.), Münster 1968/72
(Opera Omnia 14/1), S. 46 Z. 38-45: animal, quod apud Graecos dicitur psychicum, et sic dicitur
animale, quod est animae secundum actum ipsius in corpore.
22 Ders., Physica l. 1 tr. 1 c. 4, Paul Hoßfeld (Hrsg.), Münster 1987 (Opera Omnia 4/1), S. 7 Z.
59-64: Quibus habitis sufficit addere scientiam de corpore animato vegetabili et sensibili, cuius differentiae
quoad vegetabilia traduntur in libris De vegetabilibus, et quoad differentias animalium traditur scientia
sufficiens in libris De animalibus. Et ille liber est finis scientiae naturalis; ders., De animalibus
(Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 1 Z. 1 ff., S. 2 Z. 6-7: relinquitur hic dicendum esse tantum de corpore;
ebd. l. 11 tr. 1 c. 1, S. 764 Z. 12-14: oportet nos hic scientiam aliam inducere, quae sit per propria
singulis convenientia, quia aliter doctrina naturarum a nobis non erit perfecte tradita.
Albertus Magnus und die Tiere 35

In welcher Ordnung man in der scientia de animalibus vorgehen muss,


um Wissen über den ganzen Körper verschiedener Tierarten zu gewinnen,
legt Albert in Anlehnung an die Reihenfolge der zoologischen Bücher und
die Vorgehensweise des Aristoteles dar. Zuerst – in den Büchern I-X –
sollen Teile und Glieder der Sinnenwesen, deren anatomisch-morpholo-
gische Eigenschaften, Funktionen und die Zeugung der Tiere beschrieben
sowie die natürlichen Ursachen für die Befunde erforscht werden.23 Im
zweiten Teil dieser Wissenschaft, die über die Glieder der Tiere handelt –
in den Büchern XI-XIX – gilt es die Ursachen für die Unterschiede und
Ähnlichkeiten der Glieder und für deren physiologische Konstitution so-
wie die Eigenschaften der inneren und der äußeren Glieder zu ermitteln.
Es folgen Fragen zur Fortpflanzung, zu den Kräften, die das Sinnenwesen
seelisch und körperlich prägen und zu einer Reihe von weiteren Eigen-
schaften der Tiere.24 Albert gibt sich mit dem von Aristoteles vorgegebe-
nen Rahmen nicht zufrieden und erweitert ihn um sieben, ursprünglich
sogar, wie erwähnt, um neun Bücher. Darin bietet er eine Untersuchung
über die Natur des Körpers der Tiere als Ganzes im Allgemeinen (Bücher
XX-XXI) und im Besonderen, d. h. einzelner, nach Gattung und Art klas-
sifizierter Tiere (Bücher XXII-XXVI). Während der allgemeine Teil dieser
Untersuchung größtenteils als Alberts originäre Leistung gewertet wird,
hat der spezielle Teil, ein Tierlexikon, sein Vorbild und seine Hauptquelle
im zoologischen Teil der Enzyklopädie Liber de natura rerum des Thomas
von Cantimpré.25
_____________
23 Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 2 Z. 17-20: Tangemus igitur in primis decem libris
membrorum animalium diversitates et compositiones et anathomias et actus et generationes: et postea in
novem sequentibus horum omnium dabimus veras et physicas causas.
24 Ebd., S. 3 Z. 22 – S. 4 Z. 1: Secundam autem partem scientiae membrorum animalium complebimus in
novem libris: ita quod promittemus in universali, quae causae et quomodo assignanadae sint omnium diver-
sitatum inductarum de membris animalium. Et deinde tangemus causam omnium membrorum consimilium
et dissimilium et complexionis eorum. Et deinde tangemus causas physicas interiorum membrorum et na-
turam ipsorum. Et consequenter hiis naturas et causas determinabimus exteriorum membrorum secundum
diversitates communes generum ipsorum. Et sic a membris transibimus ad assignandas causas generatio-
num animalium et spermatis eorum in communi. Et huic connectemus inquisitionem de virtutibus facien-
tibus et formantibus animal tam secundum animam quam secundum corpus. Vgl. Heinrich Balss,
Albertus Magnus als Zoologe, München 1928, S. 17.
25 Vgl. Balss, Albertus Magnus (Anm. 24), S. 9-12. Miguel J. C. De Asúa, The Organization of Dis-
course on Animals in the Thirteenth Century. Peter of Spain, Albert the Great, and the Commentaries on
›De animalibus‹, Diss. Notre Dame, IN 1991, S. 206-216. John B. Friedman, »Albert the
36 Henryk Anzulewicz

Alberts Ausführungen über den Gegenstand dieser Wissenschaft und


ihre Vorgehensweise interessieren uns hier nur, sofern sie für seine Wis-
senschaftslehre dieser Disziplin charakteristisch sind. Anders als bei der
Organisation der Naturwissenschaften und der Abfolge der Behandlung
ihrer Gegenstände, nämlich beginnend beim Einfacheren und fortschrei-
tend zum Komplexeren,26 nimmt Albert in der Tierkunde den Körperbau
und die Physiognomie des Menschen als des vollkommensten aller Sin-
nenwesen zum Ausgangs- und Bezugspunkt für die beschreibende und
vergleichende Darstellung der Anatomie der Tiere.27 Demnach gelte es
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anatomie zuerst der einfache-
ren und im zweiten Schritt der heterogenen Körperteile und Organe der
Wirbeltiere aufzuzeigen. Zur Begründung für diese Reihenfolge der Unter-
suchung weist Albert auf die Morphogenese hin, nämlich dass die hetero-
genen Glieder aus den homogenen entstanden seien. In derselben ver-
gleichenden Weise sollten anschließend die Wirbellosen abgehandelt
werden.28 Bilden die anatomisch höher entwickelten Sinnenwesen den
Ausgangs- und Bezugspunkt für Alberts vergleichende Untersuchungen,
ist er hierbei seinem Grundsatz »Komplexeres betrachtet man nach dem
Einfacheren« (compositiora considerantur post simplicia)29 insofern treu, als er
diesen auf partikuläre, anatomische Sachverhalte und nicht auf das Sin-
nenwesen als Ganzes anwendet.
Ein anderes Merkmal von Alberts Tierkunde ist darin zu sehen, dass
in ihr nicht nur körperliche Eigenschaften, sondern auch psychische Kräf-
_____________
Great’s Topoi of Direct Observation and His Debt to Thomas of Cantimpré«, in: Peter
Binkley (Hrsg.), Pre-Modern Encyclopaedic Texts, Leiden 1997, S. 379-392. Leen Spruit, »Albert
the Great on the Epistemology on Natural Science«, in: Alexander Fidora / Matthias Lutz-
Bachmann (Hrsg.), Erfahrung und Beweis, Berlin 2007, S. 68-69.
26 Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 1 Z. 10-11: in omnibus compositiora
considerantur post simplicia et minus composita: eo quod minus composita sunt in magis compositis.
27 Ebd. § 3, S. 2 Z. 20-25: Oportet enim primum maxime membra perfectissimi determinare animalis,
quod homo est, secundum divisionem membrorum suorum, quae anathomia a Graecis dicitur, et secundum
significationes physionomiae et secundum figuras suorum membrorum: et deinde considerare comparationes
aliorum animalium ad membra hominis secundum convenientiam et differentiam.
28 Ebd. § 4, S. 2 Z. 25-31: Et quia omnia membra etherogenia a similibus habent ortum membris, oportet
iterum considerare consequenter ortum et principium similium membrorum in sanguinem habentibus
omnibus, quae perfectiora sunt hiis quae sanguinem non habent. Et tunc demum comparare ad hoc
secundum convenientiam et differentiam ea quae sanguinem non habent.
29 Wie Anm. 23.
Albertus Magnus und die Tiere 37

te, die ursächlich mit der Zeugung und der Ausformung des Körpers so-
wie dem Verhalten der Sinnenwesen verbundenen sind, berücksichtigt
werden.30 Die Konsequenz des Denkens, das von der Kausalität geleitet
wird, ist die für Albert charakteristische Verknüpfung der Lehre über die
Tiere mit der Metaphysik, ein Konnex, der das Geschäft des Naturphilo-
sophen und des Naturwissenschaftlers vor allem hinsichtlich der Frage
nach den letztgültigen Prinzipien und Ursachen der Phänomene vervoll-
ständigen soll. Dieser metaphysische Ausgriff ist nicht unreflektiert, son-
dern ein in der Formel »das Naturgeschehnis ist das Werk der Intelligenz«
(opus naturae est opus intelligentiae) prägnant zusammengefasster und zum
Axiom erhobener Grundsatz.31
In der Einleitung des Werkes De animalibus kündigt Albert an, dass er
seine Untersuchung über die Anatomie der Teile und über die Zeugung
der Tiere sowie über die Ursachen ihrer Eigenschaften um eine Analyse
des tierischen Körpers als Ganzes ergänzen wird. Er werde dabei alle ihm
bekannten Tiere, nach Gattung und Art klassifiziert, berücksichtigen. Was
in der Einleitung auffälligerweise fehlt, sind Aussagen zur Wissenschafts-
theorie und Wissenschaftsfähigkeit der scientia de animalibus. Diese Frage
wurde von ihm im Physikkommentar allgemein behandelt und für alle na-
turwissenschaftlichen Disziplinen, sofern deren Gegenstand das Allge-
meine ist, beantwortet.32 In der Tierkunde wird sie nicht zu Beginn des

_____________
30 Albertus Magnus, ebd. § 4, S. 3 Z. 32 – S. 4 Z. 1: Et huic connectemus inquisitionem de virtutibus
facientibus et formantibus animal tam secundum animam quam secundum corpus.
31 Vgl. ders., De natura et origine animae (Anm. 9) tr. 2 c. 17, S. 44 Z. 16-20: in eis quae hic diximus,
cum naturalibus metaphysica composuimus, ut perfectior sit doctrina et facilius intelligantur ea quae dicta
sunt; haec enim est consuetudo nostra in toto hoc physico negotio. James A. Weisheipl, »The Axiom
›Opus naturae est opus intelligentiae‹ and its Origins«, in: Gerbert Meyer / Albert
Zimmermann / Paul-Bernd Lüttringhaus (Hrsg.), Albertus Magnus Doctor universalis
1280/1980, Mainz 1980, S. 441-463. Ludwig Hödl, » ›Opus naturae est opus intelligentiae‹.
Ein neuplatonisches Axiom im aristotelischen Verständnis des Albertus Magnus«, in:
Friedrich Niewöhner / Loris Sturlese (Hrsg.), Averroismus im Mittelalter und in Renaissance,
Zürich 1994, S. 132-148. Spruit, Albert the Great on the Epistemology (Anm. 28), S. 62-64.
Tkacz, Albert the Great (Anm. 5), S. 42-43, 63-65, 67.
32 Albertus Magnus, Physica (Anm. 22) l. 1 tr. 1 c. 2, S. 3 Z. 44 ff., S. 4 Z. 81 – S. 5 v. 17, bes.
S. 5 Z. 8-17: Est autem abstractio universalis ab hoc particulari signato, sicut quando consideramus
lignum secundum esse ligni et rationem et non in eo quod est hoc lignum, quod est haec cedrus vel haec
palma. Et talem abstractionem in omni scientia oportet esse, quoniam omnis scientia de universali est, sive
38 Henryk Anzulewicz

Werkes, sondern erst am Anfang des elften Buches, d. h. an der Stelle auf-
genommen, wo sich auch Aristoteles in seiner Schrift (De partibus anima-
lium I), die Albert kommentiert, darüber äußert. Es ist bezeichnend, dass
Alberts Erörterungen nicht beim Begriff der »Wissenschaft« (scientia), son-
dern beim Begriff der »Lehre« (doctrina) und der »Meinung« (opinio) anset-
zen.33 Damit kommt seine Ansicht zum Ausdruck, dass Wissen über die
Tiere das Kriterium der Allgemeinheit, Notwendigkeit und Beweisbarkeit,
welches dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff zugrunde liegt, nicht er-
füllt. Eine Meinung über eine beliebige Sache beinhaltet, so Albert, zwei-
erlei: Sie unterrichtet mittels der Definition darüber, was die Sache an sich
ist und was ihre Eigenschaften sind. Diese beiden Zugänge seien notwen-
dig für eine vollständige Erkenntnis sowohl der Psyche als auch des
Sinnenwesens in seiner psychisch-körperlichen Verfasstheit. Vermag die
Kenntnis der letzteren vollständig zu sein, wird sie von Albert dennoch als
Meinung qualifiziert, da man sie aus wahrscheinlichen Prämissen (ex proba-
bilibus) gewinnt. Eine Wissenschaft im strengen Sinne, die das Ergebnis
eines Beweises (effectus demonstrationis) ist, kann es nach Albert nicht über
die Natur einzelner Dinge geben. Es komme hinzu, dass die partikulären
Gegenstände von unterschiedlicher Wertigkeit seien, die den Stellenwert
der Meinung als Wissensform beeinflusse. Die Meinung sei dennoch nütz-
lich, weil es ohne sie überhaupt kein Wissen über die Natur der Tiere ge-
ben könne.34
Das Wissen, das nach Aristoteles als Meinung qualifiziert wird,
vermittelt die Kenntnis darüber, was eine Sache aufgrund ihrer Definition

_____________
illud secundum intentiones communes accipiatur, quod est intendere logice, sive accipiatur secundum
naturam et esse physicum, quod est intendere physice et per propria rei.
33 Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 11 c. 1, S. 761 Z. 1-6: Incipit liber undecimus de animalibus cuius
primus tractatus est de ordine doctrinae tradendae de animalibus. Cap. I. Quod duo necessaria sunt in
omni opinione nobili et vili, quae est de animalibus. Vgl. Spruit, Albert the Great on the Epistemology
(Anm. 25), S. 65.
34 Ebd. § 2, S. 761 Z. 22-29: Neque dicitur hic scientia, quae est effectus demonstrationis, quoniam illam
habere non possumus de naturis particularibus animalium, sed opinionem ex probabilibus possumus con-
cipere, quae licet in aliqua parte sui sit de rebus nobilibus et pulchris, sicut de vita animalium et animae
operibus, et alicubi videatur esse vilis, sicut de egestionibus et urinis et huiusmodi: tamen per totum est uti-
lis, quia scientia naturarum animalium sine hiis haberi non potest. Vgl. Albertus Magnus, De homine,
Henryk Anzulewicz / Joachim R. Söder (Hrsg.), Münster 2008 (Opera Omnia 27/2),
S. 393, Z. 9 – S. 394, Z. 55.
Albertus Magnus und die Tiere 39

ist und welche Eigenschaften aus welchen Gründen derselben Sache zu-
kommen. Derartiges Wissen genügt nach Albert für die Naturwissenschaft
und ihre lehrmäßige Vermittlung (instructio et doctrina). Der Existenz-
nachweis des Gegenstandes der Tierkunde entfalle, da er durch die
früheren Schriften zur Naturphilosophie erbracht sei. Unbestritten sei
ebenfalls, dass einzelne Naturgegenstände jeweils bestimmte Eigenschaf-
ten aufweisen. Den Eigenschaften einzelner Gegenstände nachzugehen sei
aber notwendig, da ein Weiser – sei er Philosoph, sei er Naturforscher –
sich in seiner Lehre nicht auf das Allgemeine beschränke, sondern die Er-
kenntnis des Einzelnen und einzelner eigentümlicher Eigenschaften mit
einbeziehen müsse.35
Zu gleichem Ergebnis kommt Albert bei seinen Reflexionen auf die
Wissenschaftslehre der scientia de animalibus vom wissenschaftssystema-
tischen Gesichtspunkt aus. Eine allgemeine Naturwissenschaft wie die
Physik, deren Gegenstand ein beweglicher Körper sei, würde nur dann ge-
nügen, wenn es auch spezielle Wissenschaften von den Naturdingen im
Besonderen gebe. Dem sei so, da jede Einzelwissenschaft samt ihrer Teil-
bereiche Wissen über die nur für sie bekannten Eigenschaften ihrer
Gegenstände verfüge und sich dadurch von einer anderen Einzelwissen-
schaft und ihren Teilbereichen unterscheide.36
Mit den hier referierten Ausführungen hat Albert die Bedingungen
festzustellen versucht, unter denen Wissen über die Natur der Tiere, das
teils schlussfolgernd, teils empirisch gewonnen wird, möglich und in Lehr-
form vermittelbar ist. Den Ausgangspunkt hierfür sah er in selbsteviden-
ten Definitionen, die das Mittel der Beweisführung für alles andere seien,
was hinsichtlich der Natur erforscht werden soll. Auf der Grundlage
dieser Definitionen werde ein Urteil gefällt, ob Aussagen über allgemeine
oder besondere Eigenschaften der Tiere mit Gewissheit wahr seien, in-
sofern sie bewiesen werden können, oder nur annähernd wahr, insofern
sie aus wahrscheinlichen Prämissen geschlossen werden. Da ein bewiese-
nes Wissen (scientia per demonstrationem) nicht von allem möglich sei, würde
man in solchen Fällen mutmaßen und glauben, dass den Tieren bestimmte

_____________
35 Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 11 c. 1 § 3-5, S. 762 Z. 1-30.
36 Ebd. § 5, S. 762 Z. 33-38.
40 Henryk Anzulewicz

Eigenschaften mit Wahrscheinlichkeit zukämen, insofern sie nicht im


Widerspruch mit deren Natur stünden.
Will die Lehre über Tiere vollständig sein, muss sie, so Albert, jedes
einzelne der Sinnenwesen gesondert durch eigene Definition erfassen. Auf
dieser Grundlage wird von jedem Sinnenwesen ausgesagt, was für dieses
konstitutiv ist, und in einem zweiten Schritt, welche Eigenschaften ihm
zukommen.37 Die den Tieren gemeinsamen Eigenschaften werden in einer
für sie alle gültigen Weise erfasst und zu einer »allgemeinen Lehre« (doc-
trina communis) zusammengefasst. Eine Verallgemeinerung ist deshalb mög-
lich, weil viele Sinnenwesen, die nicht zu ein und derselben Gattung, son-
dern auch zu verschiedenen Arten einer Gattung gehören, bestimmte
Eigenschaften miteinander teilen. Zu den gemeinsamen Eigenschaften
rechnet Albert u. a. Schlaf und Wachen, Wachstum und Verfall, Leben
und Tod sowie Atmung.38 Das Wissen um diese körperlichen, mit der Psy-
che zusammenhängenden Eigenschaften der Sinnenwesen, die er im all-
gemeinen Teil seiner naturphilosophischen Werke, insbesondere in den
Schriften De sensu et sensato (Ȇber Sinneswahrnehmung und Sinnes-
gegenstände«), De memoria et reminiscentia (»Über Gedächtnis und Erin-
nerung«) und De motibus animalium (»Über Bewegungen der Sinnenwesen«)
aufgearbeitet hat, hält er gegenüber einer speziellen Wissenschaft über die
Tiere aus prinzipientheoretischen Gründen für unzureichend. Denn die
Prinzipien einer allgemeinen Wissenschaft sind nach seiner Auffassung für
eine partikuläre Wissenschaft über die Tiere zu allgemein. Das allgemeine
Wissen ist gegenüber einem speziellen defizitär. Eine schlussfolgernd ver-
fahrende Wissenschaft sichert nur ein allgemeines Wissen über die Natur
der Dinge, welches ein theoretisches Wissen ist, mit Alberts Worten: ein
mögliches Wissen. Das mögliche Wissen bleibt aber unbestimmt, sofern
es nicht an die konkrete Natur der Sinnenwesen und ihre Eigenschaften
geknüpft ist. Aus diesem Befund leitet Albert die Notwendigkeit einer Er-
gänzung der allgemeinen Lehre über die Sinnenwesen durch eine partiku-

_____________
37 Ebd. § 7, S. 763 Z. 18-22: Docens enim perfecte naturas non sistit in communi natura, sicut diximus,
sed per diffinitionem propriam separatim tradit unumquodque naturalium per se, et quamlibet substantiam
dicit quid est: tunc docet accidentia propria illi inesse, quae voluerit dicere per rationem.
38 Hierzu und zum Folgenden: Ebd. § 8, S. 763 Z. 25 – S. 764 Z. 2.
Albertus Magnus und die Tiere 41

läre Wissenschaft ab, deren Gegenstand die den einzelnen Tieren zukom-
menden Eigenschaften sind.39
Die Frage nach der inhaltlich-didaktischen Organisation dieser Wis-
senschaft (ordo doctrinae) und nach Art und Zahl der Ursachen für den Ge-
genstandsbereich der Tierkunde erörtert Albert in zwei weiteren Kapiteln
des elften Buches seines Werkes.40 In diesem Zusammenhang treten er-
neut wissenschaftstheoretische Fragen in den Vordergrund, die hier nicht
weiter verfolgt werden können. Wir wenden uns jetzt dem angekündigten
Spezialfall von Alberts Tierforschung zu, nämlich seiner Darstellung der
Ameise, um an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen, unter welchen
wissenschaftssystematischen Rahmenbedingungen, auf welcher Quellen-
basis, auf welche Art und Weise und aus welchen anderen Motiven als den
ebengenannten er sich mit den Tieren in seinen Werken beschäftigte.

IV. Zwischen Metaphorik und Wissenschaft:


Die Ameise im Werk des Albertus Magnus

Die Ameise (formica) wird, wie erwähnt, neben dem Häslein (lepusculus), der
Heuschrecke (locusta) und der Eidechse (stellio), zum ersten Mal in Alberts
moraltheologischer Schrift De natura boni mit einem Zitat aus dem Buch
der Sprüche (6, 6-8) zur Erklärung einer anderen Stelle aus demselben

_____________
39 Ebd. § 9, S. 764 Z. 3-14: Tamen sermo habitus de tali modo scientiae animalium in communi,
quantum ad istam doctrinam in qua modo sumus, latens est et non manifestus neque determinatus. Laten-
tem autem dico in principiis in illis libris positis, quae nimis sunt communia ad hanc scientiam de naturis
particularium animalium. Non manifestum autem voco in scientia conclusionum, quoniam scire in univer-
sali naturas rerum non est scire eas nisi in potentia, eo quod est huiusmodi sermo doctrinae indeterminatus
et non appropriatus naturis animalium propriis et accidentibus eorum. Sic igitur manifestum est quod opor-
tet nos hic scientiam aliam inducere, quae sit per propria singulis convenientia, quia aliter doctrina natura-
rum a nobis non erit perfecte tradita. Vgl. Albertus Magnus, De homine (Anm. 34), S. 445 Z. 2-3:
scire in universali est scire in potentia; scire autem in particulari est scire in propria natura.
40 Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 11 c. 2, S. 764 v. 16-17: Secundum quem ordinem doctrinae
procedendum in scientia eorum quae animalibus attribuuntur ? ; ebd. c. 3, S. 770 Z. 26-27: Ex quibus
et quot causis causanda sint ea quae quaeruntur de animalibus. Ergänzend zu allem, was hier
verkürzt dargelegt wurde, und zu den beiden nachfolgenden Kapiteln sei auf die
Untersuchung von Theodor W. Köhler, »›Processus narrativus‹. Zur Entwicklung des
Wissenschaftskonzepts in der Hochscholastik«, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie,
39/1994, S. 109-127, verwiesen.
42 Henryk Anzulewicz

Buch (30, 24-28) angeführt. Der zitierten Aussage zufolge sind die vier ge-
nannten Lebewesen »die Geringsten auf Erden und doch weiser als die
Weisen«.41 Die Klugheit der Ameisen besteht gemäß dieser weisheitlichen
Tradition in deren Vorsorge für Nahrungsvorräte. An diese moralisie-
rende Allegorie knüpft Albert mit dem Ziel an, seiner Ansicht, der
Mensch könne durch beharrlich gutes Handeln sittliche Werte, die ihm
abhanden gingen, wiedererlangen, bildhaft und autoritativ Nachdruck zu
verleihen. Obwohl die Ameisen winzige und schwache Lebewesen seien,
bewegen sie dennoch dank der Beharrlichkeit, mit der sie ihrer Arbeit
nachgehen, große Lasten.42 Auch in dem ca. 20 Jahre nach der Erstlings-
schrift verfassten Kommentar zum Matthäusevangelium nimmt Albert
Bezug auf die Ameise in Verbindung mit derselben Bibelstelle (Spr 6, 6-8)
und mit demselben moralisierenden Zweck.43 Er bezeichnet sie dort als
ein Reptil, das im Gegensatz zu den Vögeln, dem Sinnbild der Unbeküm-
mertheit um Dinge des Lebens, Nahrungsvorräte anlegt.44 Die genannten
Stellen zeigen, dass Albert in seinen theologischen Schriften mit morali-
sierenden Absichten auf die Ameise Bezug nimmt. Sie soll für den Men-
schen ein Vorbild der Beharrlichkeit im sittlich guten Handeln, des Fleißes
sowie der Vorsorge sein. Ihre Kleinheit spielt in diesen und in anderen
Zusammenhängen keine unbedeutende Rolle. Aufgrund ihrer Kleinheit
wurde sie bei der Diskussion kosmologischer und wahrnehmungspsy-
chologischer Fragen schon in der Antike bemüht, wie Alberts Kommen-
tarwerken De caelo et mundo (»Über den Himmel und die Welt«) und Super
Dionysium De divinis nominibus (»Über Dionysius’ göttliche Namen«) einer-
seits und andererseits De anima (»Über die Seele«) und Super Dionysium De
caelesti hierarchia (»Über Dionysius’ himmlische Hierarchie«) zu entnehmen
ist.45
_____________
41 Albertus Magnus, De natura boni (Anm. 17) tr. 2 pars 1 c. 2 § 3, S. 19 Z. 21-22.
42 Albertus Magnus, De natura boni (Anm. 17) tr. 2 pars 1 c. 2 § 3, S. 10 Z. 28-32.
43 Ders., Super Matthaeum VI, 34, Bernhard Schmidt (Hrsg.), Münster 1987 (Opera Omnia
21/1), S. 240 Z. 17-21: Sicut enim dicit Apostolus, providere possumus ›bona non solum coram deo, sed
etiam coram omnibus hominibus‹. Et ideo in Prov. VI (6-8) mittitur piger ad formicam, quae in aestate
congregat cibum sibi.
44 Ebd. VI, 26, S. 236 Z. 56-58.
45 Albertus Magnus, De caelo et mundo l. 2 tr. 3 c. 9, Paul Hoßfeld (Hrsg.), Münster 1971
(Opera Omnia 5/1), S. 162 Z. 69-71; ders., Super Dionysium De divinis nominibus c. 4, Paul
Simon (Hrsg.), Münster 1972 (Opera Omnia 37/1), S. 152 Z. 6-21; ders., De anima l. 2 tr. 3
Albertus Magnus und die Tiere 43

Was kann der Mensch noch von der Ameise lernen? Die Ameise ver-
hilft einem aufmerksamen Beobachter der Natur zu einem tieferen Ein-
blick in deren Gesetze. In seinem grundlegenden naturphilosophischen
Werk, dem Physikkommentar, argumentiert Albert mit Aristoteles, dass
dem Wirken der Natur ein teleologisches Prinzip zugrunde liegt. Ein ziel-
gerichtetes Agieren zeige sich am deutlichsten bei den Sinnenwesen, die
im Unterschied zu den Menschen ohne zu fragen oder zu überlegen ihre
Aktivität unmittelbar auf ein bestimmtes Ziel hin richten. Diese Zielorien-
tierung beruhe auf dem natürlichen Instinkt, den Albert wie Aristoteles
mit der Verhaltensweise der Ameise und ähnlich kleiner Sinnenwesen,
denen nur eine geringe Auffassungsgabe eignen würde, exemplifiziert.46
Von der Ameise zu lernen, sei es praktische Lebensweisheit, seien es
die Naturgesetze, bedeutet auch, wie es scheint, über die Ameise zu
lernen. Dieser Eindruck ergibt sich in Alberts Schrift De anima, in der er
seine frühere Erklärung der Teleologie der Natur aus dem Physikkom-
mentar ergänzt. Er hält fest, dass jedes Tier, das einen oder mehrere
äußere Sinne besitzt, über (mindestens) drei innere Sinnesvermögen ver-
fügt, nämlich Gemeinsinn (sensus communis), Vorstellungsvermögen (imagi-
natio) und Einschätzungsvermögen (aestimativa).47 Wir dürfen schließen,
dass dies auch für die Ameise gilt. Denn aus seinem Exkurs über das Ein-
bildungsvermögen (phantasia) geht hervor, dass Tiere, denen die Fertigkeit
zu eigen ist, Nester zu bauen und Nahrungsvorräte anzulegen, mit der
Einbildungskraft ausgestattet sind.48 Diese ermöglicht es ihnen, Vorstel-
lungen und Intentionen miteinander zu verknüpfen, woraus sich ein
Muster für deren Wahrnehmung und Agieren ergibt. Das Einbildungsver-
mögen wird beim Menschen durch den Verstand, bei den Tieren durch
einen natürlichen Instinkt geleitet. Da die Natur bei jeder Art von Sinnen-
wesen stets auf nur eine Weise wirkt, zeichnen sich die Aktivitäten inner-
halb einer Art durch Einheitlichkeit aus. Jede Ameise sorgt auf gleiche
Weise für die Nahrungsvorräte. Sie agiert gemäß der vom Instinkt gelei-
_____________
c. 15, Clemens Stroick (Hrsg.), Münster 1968 (Opera Omnia 7/1), S. 121 Z. 54-61; ders.,
Super Dionysium De caelesti hierarchia c. 4, Paul Simon (†) / Wilhelm Kübel (Hrsg.), Münster
1993 (Opera Omnia 36/1), S. 67 Z. 20-26.
46 Ders., Physica (Anm. 22) l. 2 tr. 3 c. 2, S. 135 Z. 45-66.
47 Ders., De anima (Anm. 45) l. 3 tr. 1 c. 2, S. 167 Z. 74 ff.
48 Ebd., S. 168 Z. 27 ff.
44 Henryk Anzulewicz

teten Einbildungskraft.49 Aus Alberts Ausführungen über die psychischen


Wahrnehmungskräfte der Sinnenwesen geht hervor, dass er bei einer
Ameise wenigstens ein äußeres Sinnesvermögen und insgesamt vier innere
Wahrnehmungskräfte annimmt, nämlich Gemeinsinn, Vorstellungskraft,
Einschätzungsvermögen und Einbildungskraft. Das, was die Ameisen hin-
sichtlich der inneren Wahrnehmung von den höher entwickelten Tieren
(animalia perfecta) unterscheidet, wäre demnach das Gedächtnis.50
Die Auffassung, dass den Ameisen das Einbildungsvermögen eignet,
bekräftigt Albert mit Nachdruck. Er stimmt mit Aristoteles darin überein,
dass aus dem Verhalten von Insekten, Würmern und anderen Tieren, die
auf der untersten Entwicklungsstufe im Tierreich stehen, auf das Fehlen
einer Einbildungskraft (phantasia) bei ihnen geschlossen werden muss.
Über eine gewisse Vorstellungskraft und ein Einschätzungsvermögen ver-
fügten sie dennoch. Während Aristoteles (De anima III 3 428a10-11) kein
Einbildungsvermögen bei den Ameisen und Bienen erkennen kann, ist
Albert gegenteiliger Meinung, die darauf gründet, dass die Ameisen wie
die Bienen auf kunstvolle Weise ihre Nester bauen, Nahrungsvorräte anle-
gen und sich für das Gemeinwohl ihres Staates einsetzen. Nicht Aristote-
les habe sich in diesem Punkt geirrt, sondern vielmehr liege der Fehler,
vermutet Albert, in der lateinischen Übersetzung dieser Textstelle aus dem
Griechischen. Der Übersetzer habe Namen von Sinnenwesen, bei denen
Aristoteles keine Einbildungskraft zu erkennen scheint, nicht verstanden
und übertrug sie mit »Ameisen und Bienen«. Dieser Übersetzungsfehler
habe den wahren Sinn der Aussage entstellt.51 Ein Blick auf das griechi-
sche Original der Aristoteles-Schrift bestätigt Alberts Vermutung aller-
dings nicht.

_____________
49 Ebd. c. 3, S. 168 Z. 88-92: omnis formica uno modo providet cibum, et sic de aliis secundum visa
phantasiae ad instinctum naturae operantibus.
50 Vgl. ebd. c. 2, S. 167 Z. 74-77: Tres ergo istos interiores sensus, sensum communem scilicet et
imaginationem et aestimativam, habet omne animal, quod aliquem vel aliquos habet de sensibus exterio-
ribus; ebd. c. 3, S. 168 Z. 86-89: opera phantasiae in omnibus habentibus speciem unam in irrationa-
bilibus sunt uno modo, et ideo omnis hirundo uno modo facit nidum, et igitur omnis formica uno modo
providet cibum.
51 Ebd. c. 7, S. 173 Z. 40-45: Puto autem hoc non ex vitio esse Philosophi, sed ex vitio translationis, quia
translator non intellexit nomina animalium, quae dixit Aristoteles phantasiam non habere, et loco eorum
transtulit formicas et apes et corrupit veritatem ex mala translatione.
Albertus Magnus und die Tiere 45

Nach welchen formalen und sachlichen Kriterien und unter welchen


Gesichtspunkten beschreibt Albert die Ameise in seiner Tierkunde?
Die Maßgabe für die methodisch-didaktischen, systematischen und
inhaltlichen Aspekte des Hauptteils der albertinischen Tierkunde (Bücher
I-XIX) ist, wie wir schon wissen, die Zoologie des Aristoteles. Sie wird
von Albert in Form einer Paraphrase kommentiert und in den so genann-
ten »erklärenden Digressionen« um neuere Erkenntnisse ergänzt. Albert
stützt sich auf schriftliche Quellen unterschiedlicher Provenienz und auf
eigene Beobachtungen sowie auf mündliche Berichte von Gewährsleuten,
die ihm glaubwürdig erscheinen. Von den schriftlichen Quellen bevorzugt
er – abgesehen von Aristoteles – die Werke von Plinius, Avicenna (Canon,
De animalibus) und Thomas von Cantimpré (De natura rerum).52
Im allgemeinen Teil von Alberts Zoologie kommt die Ameise in ver-
schiedenen Zusammenhängen mindestens achtmal in den Blick und ein
weiteres Mal im Tierlexikon am Schluss des Werkes. Sie erscheint zuerst
bei der Erörterung der verhaltensökologisch bedingten Unterschiede der
Tiere53 und bei der Behandlung von deren Zeugungsarten;54 sie wird bei
der Darstellung der Morphologie äußerer Körperteile berücksichtigt, die
für die Bewegung zuständig sind;55 und man findet sie bei der Beschrei-
bung der wirbellosen Landtiere.56 Viel Aufmerksamkeit widmet Albert
dem Verhalten und der Schlauheit (astutia) der Ameise57 sowie der Frage
nach den Ursachen ihres anscheinend freien und ›mechanischen‹ Agie-
rens.58 Man begegnet der Ameise bei der Beschreibung der äußeren
Glieder der Kerbtiere59 und der Arten psychischer und körperlicher Voll-
endung der Sinnenwesen.60 Schließlich im Tierlexikon (De animalibus,
_____________
52 Vgl. Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments,
Heidelberg ²1995, S. 285-287. De Asúa, The Organization (Anm. 25), S. 141-157, 206-216.
53 Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 3, S. 11 Z. 3.
54 Ebd. c. 6 § 77, S. 29 Z. 13 ff. : De modis generationis animalium in universali.
55 Ebd. l. 2 tr. 1 c. 2, S. 228 Z. 17 ff. : De membris manifestis exterioribus corporis pertinentibus ad
motum, et aliis quae comparantur ad membra hominis, (…) et praecipue de ungula et cornu et pilo.
56 Ebd. l. 4 tr. 1 c. 1, S. 357 Z. 5-6: Quae sit libri intentio et quae diversitas marinorum (et terrestrium)
sanguinem non habentium […].
57 Ebd. l. 8 tr. 4 c. 1, S. 626 Z. 31: De operibus formicarum et aranearum.
58 Ebd. tr. 6 c. 2, S. 671 Z. 24-25.
59 Ebd. l. 14 tr. 1 c. 1, S. 951 Z. 6.
60 Ebd. l. 21 tr. 1 c. 2 § 10, S. 1326 Z. 38 ff.
46 Henryk Anzulewicz

Bücher XXII-XXVI), in dem einzelne Arten verschiedener Tiergattungen


aufgelistet und charakterisiert werden, finden wir unter den wirbellosen
Würmern eine ausführlichere Beschreibung der Ameise. Versuchen wir
die aufgezählten Teilberichte zusammenzufügen, um ein Bildganzes der
Ameise herzustellen.
(1) Nimmt man die verhaltensökologischen Merkmale der Ameisen,
welche sich von denen des Menschen unterscheiden, zum Ausgangspunkt
für deren Beschreibung, dann ist vor allem darauf zu achten, wie sie ihren
gesamten Lebensbereich organisieren, welche Aktivitäten sie in welcher
Weise ausführen, welche Fähigkeiten ihnen eignen und welche fehlen. Zu
diesen Fragen hat uns Albert folgende Erkenntnisse anzubieten:
Die Ameisen leben in Scharen. Ihre Aktivitäten sind, ähnlich wie bei
Mensch, Wespe, Biene und Kranich, einem einheitlichen Prinzip unterge-
ordnet und von ihm geeint. Dieses Prinzip ist das Gemeinwohl. Im Unter-
schied zu den genannten, staatenbildenden Lebewesen haben die Ameisen
in ihrem Staat keinen König. Sie führen ihre Aufgaben selbständig in der
Weise aus, als ob jeder einzelnen Ameise die Sorge um das Gemeinwohl
aufgetragen wäre. Die Organisationsform ihres Staates entspräche dem,
was man bei den Menschen unter Aristokratie und Plutokratie (timocratia)
versteht, in welchen die Lenkungsgewalt über das Gemeinwesen von meh-
reren ausgeübt wird.61 Es beruht auf ihrer natürlichen Veranlagung, dass
sie ohne einen König im Sinne des Gemeinwohls wirken.62 Dem Staatswe-

_____________
61 Ebd. l. 1 tr. 1 c. 3 § 39, S. 16 Z. 10-24: De his autem quae in unum conferunt operationes, est homo
et vespa et apis et fornica et grus. Sed in gruibus minus est manifestum quam in aliis […] alia autem
animalia inducta, conferunt multa in unum communitate negotiorum et ciborum, ex quibus communi con-
sulitur utilitati. Horum autem quae sic communicant, quaedam regit rex, cui obediunt, sicut grues et apes
et homines. Ista enim habent regem et principem sollicitum circa se de utilitate communi. Quaedam autem
gregalium non habent regem, sicut formicae et locustae, quae per turmas egrediuntur concorditer, sicut uni-
cuique eorum per se comissa sit cura communis et urbanitas. Sic et inter homines est duplex urbanitas,
regni videlicet quod committitur uni gubernandum, et aristocratiae et tymocratiae, quae sunt urbanitates
comissae pluribus, per quas gubernantur.
62 Ebd. § 58, S. 22, Z. 33-40: non agunt actus regiminis istius libere, sed naturae impulsu, propter quod
mente et ratione et memoria minus quam alia participantia melius habent regimen vitae, sicut apis quae
nichil mentis et parum habet memoriae […] et tamen multa regitur yconomica et monarchia et civilitate. Et
quibuscumque quidem hoc a natura inditum est, et quasi nullius disciplinae sunt suceptilia, in commune
operantur sine rege, sicut formicae.
Albertus Magnus und die Tiere 47

sen der Ameisen liegt nicht wirklich ein Lenkungsprinzip63 zugrunde,


sondern dessen Nachahmung. Ihr Agieren wird durch eine natürliche Hin-
neigung zur Imitation einer Lenkungskraft bestimmt. Sie ahmen zwar die
ökonomische Vorsorge nach, indem sie sich um ausreichende, in ihrer
Siedlungsstätte abgelegte Güter kümmern, aber diese Nachahmung
schließt nicht das eigentliche Ziel der Vorsorge ein. Denn obwohl sie ihre
Nester bauen und Vorräte anlegen, tun sie dies nicht, damit diese anderen
Artgenossen oder anderen Tierarten nützlich sind. Ein Ameisenhaufen
leistet keine Unterstützung für einen anderen, ein Verhalten, das im Ge-
gensatz zum Verhalten der Menschen bei der Ausübung der Lenkungs-
gewalt in Staat und Volk steht. Sie imitieren zwar einen Staat, indem sie
eine ganze Population vereinigen, aber sie tauschen sich weder wechsel-
seitig in ihrem Agieren aus noch teilen sie untereinander Gewinn noch
werden sie durch von ihnen beschlossene Gesetze regiert noch richten sie
ihr Streben auf die Glückseligkeit als das Ziel.64 Das Lenkungsprinzip
sämtlicher Lebensvollzüge wird von den Ameisen unvollkommen nachge-
ahmt, wobei diese Nachahmung nicht frei, sondern aufgrund eines natür-
lichen Impulses erfolgt. Die Ameisen zeichnet eine gewisse Klugheit aus,
da sie Nahrungsvorräte für die Zukunft anlegen.65 Aber sie seien dennoch
völlig schweigsam, stumm66 und nicht lernfähig.67
_____________
63 Dieses Lenkungsprinzip wird aus mehreren organischen Kräften gebildet (virtus naturalis,
vitalis, animalis); vgl. Albertus Magnus, Quaestiones super De animalibus (Anm. 12) l. 7 q. 3,
S. 171 Z. 63 ff., S. 172 Z. 22-24.
64 Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 4 § 55, S. 21 Z. 31 – S. 22 Z. 1: Ali-
quando autem imitatur in utroque istorum yconomicam, sed non in fine, sicut apis et formica, quae et
faciunt casas et replent eas thesauris suis. Sed non referunt hos thesauros, ut organice civilitati aliorum
deserviant animalium, sive sint eadem specie cum ipsis sive in diversa sint specie ab ipsis. Unum enim exa-
men apum aut fornicarum non deservit in aliquo alii, sicut habundantiae promptuariorum hominum sibi
invicem deserviunt ad regendas civitates et gentes. Ea autem quae civilitatem imitantur congregantia totam
gentem suae speciei, non communicant ad invicem opera neque distribuunt sibi invicem lucra neque legibus
editis reguntur et gubernantur nec finem felicitatis attendunt, sed imitantur civilitatem in habitatione congre-
gata et defensione communi, sicut grus et anas et sturnus.
65 Ebd. c. 3 § 41, S. 17 Z. 1-4: Quaedam autem prudentia quadam accumulant sibi cibum sufficientem in
futurum, sicut formica et mus montanus, cum alia e contra nichil provideant, sicut cicada et passer.
66 Ebd. § 46, 18 Z. 24-26: Quaedam autem animalium omnino sunt taciturna et muta, sicut formica et
eruca […].
67 Ebd. c. 4 § 58, S. 22 Z. 39-40: et quasi nullius disciplinae sunt susceptibilia, in commune operantur
sine rege, sicut formicae.
48 Henryk Anzulewicz

(2) Bezüglich eines der primären Unterscheidungsmerkmale der Tiere,


nämlich der Fortpflanzung, äußert sich Albert über die Ameisen zunächst
nur allgemein und sehr knapp. Ähnlich wie die Bienen, schreibt er, zeugen
die Ameisen »unvollständige Würmer« (vermes incompleti) – mit »Wurm«
meint er hier die Puppen, das weiße, ovale Ei, wie er später sagen wird.
Diese »Würmer« ruhen nach der Geburt und beginnen erst nach einigen
Tagen, sich zu bewegen. Eine spezielle Behandlung dieser Frage schiebt er
für einen anderen Zusammenhang auf, in dem sie von den Ursachen her
beleuchtet werden soll.68
(3) Hinsichtlich der Morphologie der Körperteile, die der Fortbewe-
gung dienen, hält Albert fest, dass die Ameise ein Vielbeiner (animal multi-
pes) ist. Ihre Beine seien unter der Brust verbunden, weshalb die Ameisen
sich schnell fortbewegen können. Die Kniebiegung wenden sie von der
Seite nach außen hin.69
(4) Aus Alberts Beschreibung wirbelloser Landtiere ist über die Amei-
sen zu erfahren, dass sie zu dieser Gattung gehören und dass sie im Ge-
gensatz zu Wespen und Bienen keine Doppelung der Kerben aufweisen.70
(5) Bei der Untersuchung der Schlauheit und Aktivitäten der Wirbello-
sen bietet Albert wohl die bedeutendste, ausführlichste und interessanteste
Beschreibung der Ameisen. Der Zoologiehistoriker Heinrich Balss hat un-
serem Autor mit Blick auf diese Darstellung »schöne Beobachtungen«
_____________
68 Ebd. c. 6 § 77, S. 29 Z. 13-16: Diversitas etiam animalium est penes modos generationis eorum,
quoniam quaedam eorum gignunt ova, et quaedam generant vermes incompletos, sicut apes et formicae et
pediculi, qui generant lendes […]. Ebd. § 81, S. 30 Z. 38 – S. 31 Z. 4: Animalium autem generan-
tium vermes quidam vermes moventur in eadem hora suae nativitatis, et quidam non faciunt hoc nisi post
aliquot dies, sicut vermes formicarum et apum: et de omnibus hiis diversitatibus exsequemur inferius cum
ratione subtili causam assignantes omnium dictorum. Albert unterscheidet an einer anderen Stelle
zwischen Puppe und Ei des Insekts und korrigiert somit die Auffassung des Aristoteles;
vgl. De animalibus (Anm. 8) l. 17 tr. 2 c. 1, § 49-50, S. 1170 Z. 24 – S. 1171 Z. 30. Willehad
P. Eckert, »Albert der Große als Naturwissenschaftler«, in: Angelicum, 57/1980, S. 484.
69 Ebd. l. 2 tr. 1 c. 2 § 17, S. 229 Z. 31-37: Hunc autem modum flexionis omne animal multipes
imitatur, sicut apis et musca et inauris et multa alia propter eandem causam. Omnia enim talia malae sunt
ambulationis. Si qua autem talium sunt multum volocia ut formica et aranea pedes habent sub pectore con-
iunctos, quasi ad eamdem pixidem: et ideo sunt velociora sed tamen flexuras poplitum suorum ad silvestre
lateris convertunt.
70 Ebd. l. 4 tr. 1 c. 1 § 7, S. 360 Z. 8-10: Istius modi enim animal alatum est unum quoddam genus
anulosorum: et in isto genere quaedam animalia sunt alata rugosa cum duplicatione rugarum sicut vespae et
apes et quaedam non, sicut formicae.
Albertus Magnus und die Tiere 49

bescheinigt.71 Lassen wir Albert unkommentiert, aus dem Lateinischen


übersetzt, das Wort reden:
»Für jeden, der das Werk der Ameisen betrachten will, ist deren kunstvolle und
fleißige Tätigkeit offenkundig. Beim Sammeln ihrer Nahrung eilen sie alle stracks
auf dem geraden Weg zu ihrem Nest, damit eine die andere nicht behindert, und
sie merken sich nur eine Stelle, an der sie ihre Nahrungsbeute zusammentragen.
Sie sind in ihrem Arbeitseifer so unablässig, dass sie auch nachts bei Mond arbei-
ten. Wegen der Kleinheit ihres Kopfes befinden sich ihre Augen auf gewissen
Vorsätzen, welche nach Art zweier Haare aus ihrem Kopf ausgehen. Anzeichen
dafür ist, dass wenn sie amputiert werden, die Ameise umherirrt, nicht wissend,
wohin sie läuft, und wenn sie dann eine andere Ameise erfasst, hält sie sich an ihr
mit aller Kraft fest, damit sie durch diese in ihr Nest zurückgeführt werde, und
sie lässt sich nicht leicht von ihr trennen. Die Ameisen spüren Kälte, Regen und
Sturmwind. Dies zeigt sich darin, dass sie vor deren Eintreten sich in ihre Nester
zurückziehen. Wenn sie aber zeugen, sind ihre Eier länglich, gleichsam säulenför-
mig, die, von ihnen in ihren Nestern gewärmt, sich in kleine Ameisen verwan-
deln. Wenn man ihre Nester aufmacht, ergreifen sie die Eier und tragen sie fort.
Alle Ameisen, Weibchen und Männchen, arbeiten gleichzeitig und scheinen dabei
keinen König zu haben, sondern sie gehen alle zugleich scharenweise, so wie die
Eidechsen, heraus. Deshalb ist ihre Staatsform nicht wie bei den Bienen, sondern
vielmehr wie der Staat derer, bei denen keiner die Obergewalt innehat, alle aber
aus ihrer Zuneigung zur Tugend heraus und zugleich dank der natürlichen Güte
an einem Ort wohnen und in der Gemeinschaft wirken. Das, was ihnen Schaden
zufügt, bespritzen sie mit einer scharfen und brennenden Flüssigkeit, welche auf
der Haut des Menschen Pusteln hervorruft, aber anderen Tieren nicht schadet.
Das Nest selbst gibt von sich einen scharfen, herben, angenehmen Geruch ab;
wenn man darüber neue Latten mit Flaschen legt, zieht der Wein den in die
Flaschen eingegangenen Geruch und Geschmack des Ameisennestes an; deshalb
auch nennt man einen solchen Wein Ameisenwein. Die Nahrung der Ameise ist
der Saft von Früchten und Fleisch, manchmal auch von Kräutern; von diesen
Dingen trennt sie auch kleine Stücke ab und trägt sie in ihr Nest.«72

(6) Durch die Anlage von Speisevorräten treffen die Ameisen (wie auch
die Bienen) Vorsorge für die Zukunft. Diese Tatsache veranlasst Albert
zur Klärung der Frage nach den Ursachen der freien und mechanischen
Aktivitäten der Tiere. Es scheine, dass die Ameisen aus Überlegung und
Sorge um künftige Nahrungsentbehrung sich derart fleißig betätigen.
_____________
71 Balss, Albertus Magnus (Anm. 24), S. 113.
72 Ebd. l. 8 tr. 4 c. 1 § 131-132, S. 626 Z. 31 – S. 627 Z. 32. Vgl. Heinrich Balss, »Die
Tausendfüßler, Insekten und Spinnen bei Albertus Magnus«, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte
der Medizin und der Naturwissenschaften, 38/1954, S. 316-317.
50 Henryk Anzulewicz

Beides setzt jedoch ein gewisses Verstandeslicht voraus, das Tieren nicht
zukommt. Die Antwort ist, schreibt Albert, einfach: Alle derartige Aktivi-
täten führen die Tiere aus, indem durch sie die Natur aufgrund dessen,
was sie sehen und sich vorstellen, wirkt. Mit anderen Worten: Nicht die
Ameisen treffen die Vorsorge, sondern diese wird durch die Natur in ih-
nen bewirkt.73 Alle Tätigkeiten der Tiere, auch von solcher Art, die man
bei den Menschen als frei und kunstvoll qualifiziert, sind weder frei noch
verstandesgemäß, sondern sie werden durch die Natur bewirkt. Die für die
Ameisen eigentümliche Vorsorge hat ihre Ursache nicht in einer Vor-
überlegung, sondern im natürlichen Instinkt. Nicht die Mutmaßung eines
künftigen Nahrungsmangels ist die treibende Kraft ihrer Agilität, sondern
die beständige Begier nach Nahrung.
(7) Die Ameisen haben so etwas wie Zähne, wie Albert in seiner Dar-
stellung von Zweck und Eigenschaften äußerer Glieder der Wirbellosen
schreibt. Von den Zähnen bewege sich der eine von links und der andere
von rechts. Mit den Zähnen fühlen und nehmen die Ameisen die Nahrung
auf.74
(8) Ähnlich wie die Bienen zeichnet die Ameisen eine gewisse Klug-
heit aus, stellt Albert bei seiner Erläuterung verschiedener Arten der Voll-
kommenheit der Tiere fest. Er verbindet sie mit der zuvor auf den Natur-
instinkt zurückgeführten Vorsorge für die Nahrungsvorräte. Aber er hebt
hervor, dass sie nicht lernfähig sind, zumindest nicht fähig, von Menschen

_____________
73 Albertus Magnus, De animalibus l. 8 tr. 6 c. 2, S. 671 Z. 24-25: Et est digressio declarans de causa
liberalium et mechanicarum operationum quas haben bruta animalia. Ebd. § 238-239, S. 672 Z. 12-
17. 24-26: Adhuc autem opera providentiae inveniuntur in quibusdam, sicut formicae et apes thesaurizant
cibos: et hoc non videtur posse fieri nisi cum praemeditatione et sollicitudine futurorum defectuum: et constat
quod talis praemeditatio non est sine aliquo rationis lumine, quod secundum praecedentia bruta non
habent. […] Omnes enim huiusmodi actiones agunt bruta natura agente et ex visis ymaginatis […].
Ebd., S. 673 Z. 3-6: Providentiae autem opera quaedam eorum participant sine omni praemeditatione
fururorum, sed naturae instinctu: et quando congregant, non coniecturant futurum temporis defectum, sed ex
aviditate cibi praesentis.
74 Ebd. l. 14 tr. 1 c. 1 § 4, S. 952 Z. 32-35: Ea autem quae de numero anulosorum non habent huius-
modi aculeatam linguam, haben dentes quosdam qui moventur unus a dextra et alter a sinistra, per quos
accipiunt et sentiunt cibum sicut formicae et ataci et opimaci et apes et vespae.
Albertus Magnus und die Tiere 51

belehrt zu werden, da sie sich von der Stimme des Menschen weder
locken noch abschrecken lassen.75
Die letzte, enzyklopädische Beschreibung der Ameise bietet Albert in
seinem Tierlexikon im letzten Buch des Werkes De animalibus. In dieser
konzisen Darstellung, welche sich mit der zuvor (Buch VIII Tr. 4 Kap. 1)
gebotenen, ausführlicheren Beschreibung nur in wenigen Punkten über-
schneidet, ist Albert offensichtlich von Thomas von Cantimpré abhän-
gig.76 Sein enzyklopädisches Dossier über die Ameise liest sich folgender-
maßen:
»Die Ameise ist ein sehr kleiner Wurm, der mit dem Alter erstarkt. Sie besorgt
sich die Nahrung nicht durch Erzeugung wie die Biene, sondern durch Sammeln
und Aufheben. Sind trockene Körner, die sie sammelt, zu groß zum Tragen, spal-
tet sie diese. Ameisen halten stets ihre Wege ein, um sich gegenseitig nicht zu be-
hindern. Feuchte Körner lassen sie trocknen, damit sie nicht faul werden. Sie
sehen die Wetterlage vorher, weil sie sich vor dem Sturm in die Nester zurück-
ziehen. Man sagt, dass sie ihre Toten begraben. Sie verabscheuen Schwefel und
wilden Oregano derart, dass wenn man sie über deren Nester streut, sie diese ver-
lassen. Mit ihren Biss versprühen sie giftige Flüssigkeit, die Pusteln hervorruft.
Manche Ameisen beginnen im Alter zu fliegen. Die Ameise saugt von Früchten
und tierischen Körpern, die sie findet und ernährt sich davon. Sie zeugt, indem
sie zuerst Eier legt, die zu weißen, in Mäntelchen eingewickelten Würmern wer-
den; aus diesen entstehen auf einer Fläche, die zur Sonne ausgesetzt ist, Ameisen.
Im Winter ruht sie von der Nahrung zehrend, für die sie im Sommer vorgesorgt
hat.«77

_____________
75 Ebd. l. 21 tr. 1 c. 2 § 10, S. 1326 Z. 38 – S. 1327 Z. 7: Amplius videmus quaedam animalia
quamdam habentia prudentiam circa res sibi conferentes, et tamen indisciplinabilia, sicut patet in apibus
quae prudentiam habent magnam in rebus conferentibus, et tamen non disciplinantur, et similiter formicae.
Ex prudentia enim contingit quod provident sibi thesauros. Sed quod non veniunt ad voces hominum, et
non timent minas ipsorum, nec videntur fugere terribiles sonos, signum est quod sint indisciplinabilia per
magisterium hominum: propter quod etiam quidam dicunt quod sonos non audiunt: hoc autem in ante-
habitis improbatum est, quia videntur sonos audire. Sed quidquid sit de auditu, hoc absque dubio verum
est, quod sonos non audiunt ad disciplinam ut per nomina vocari possint et instrui, sicut instruuntur multa
animalia sicut canes et symye. . . .
76 Vgl. Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum, Helmut Boese (Hrsg.), Berlin 1973,
S. 303 Z. 6-21.
77 Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 26 § 16, S. 1586 Z. 17-31: Formica vermis est
parvus valde qui hoc habet proprium quod in maiori aetate crescit et virtute. Est autem providus sibi escas
quidem non faciens ut apis, sed congregans et condens; grana sicca colligit et condit et si maiora sunt quam
vires subpetunt, scindit. Vias ordinate observant ne exeuntes intrantes impediant obviando. Grana etiam
humida siccant, ne putrescant. Pronosticantur auras quia ante tempus tempestatis ad casas se congregant.
52 Henryk Anzulewicz

Von Thomas von Cantimpré angeregt erwähnt Albert im Anschluss


an den Ameisenartikel in seinem Tierlexikon die angeblichen Riesen-
ameisen Indiens, von denen Alexander im Brief an Aristoteles (Epistola
Alexandri de mirabilibus Indiae) berichtet. Groß wie Hunde oder Füchse,
vierbeinig und mit hackenförmigen Krallen würden sie Goldberge be-
wachen und Menschen zerreißen, die diese Berge besteigen. Er steht dem
Bericht skeptisch gegenüber, da dieser aus seiner Sicht durch die Erfah-
rung nicht hinreichend abgesichert ist.78
Alberts mosaikartige Darstellungen der Ameise samt den zwei kon-
zisen Beschreibungen aus dem Werk De animalibus ergänzen und be-
schließen wir mit den Angaben, die wir in seiner Schrift Quaestiones super
De animalibus finden. Die Tatsache, dass die Ameisen in Scharen leben,
scheint nicht nur ökologisch und durch einen natürlichen Instinkt bedingt
zu sein, sondern auch physiologisch. Tiere, die über ein stärker ausgebilde-
tes Einschätzungsvermögen (vis aestimativa) verfügen, schützen sich besser
vor Gefahren und treffen besser Vorsorge. Dieses Vermögen, das vom
Gehirn als dem Zentralorgan gesteuert wird, ist bei Tieren mit trockener
Konstitution (complexio) des Zentralorgans besser ausgebildet. Die Amei-
sen, wie auch Kraniche und Biene, denen diese psychophysiologische Ei-
genschaft gemeinsam ist, treten immer in Scharen auf, um den Gefahren
auf ihren Wegen oder beim Sammeln der Nahrung besser zu begegnen.79
_____________
Mortuas dicuntur ferre ad sepulturam. Sulfur et origanum agreste ita abhominantur quod si haec duo
pulverizata super domos earum spargantur, casas dimittunt. Morsu suo venenosum humorem spargunt qui
pustulas excitat. In senectute etiam quaedam volare incipiunt. Formica etiam sugit fructus et animalium
corpora quae invenit et exinde capit nutrimentum. Generando primo ova facit quae in vermes albos panicu-
lis involutos erumpunt, et ex hiis in superficie ad solem expositis formicae nascuntur. Hyeme quiescit cibo
quem sibi aestate providit sustentata. Vgl. Balss, Die Tausendfüßler (Anm. 72), S. 316-317.
78 Ebd., S. 1587 Z. 3-7: Si credendum est hiis quae in epistola Alexandri de mirabilibus Indiae scribuntur
tunc in India sunt formicae magnae sicut canes vel vulpes quatuor crura habentes et ungues aduncos, et cu-
stodiunt montes aureos et homines accedentes discerpunt: sed hoc non satis est probatum per experimentum.
79 Albertus Magnus, Quaestiones super De animalibus (Anm. 12) l. 1 q. 8, S. 85 Z. 34-50: Dicen-
dum, quod quaedam animalia sunt aggregabilia vel sociabilia et quaedam solitaria et quaedam se habent
utroque modo. Ad cuius evidentiam intelligendum, quod cum quattuor sint vires sensitivae interiores, scilicet
sensus communis et imaginativa, aestimativa et memorativa, et aestimativa est receptiva intentionum, quas
sensus non recipit, secundum quod animalia meliorem aestimativam habent, secundum hoc melius sibi
cavent et melius provident. Unde quaedam animalia volatilia propter siccitatem cerebri, in quo viget aesti-
mativa, semper sunt in societate, sicut grues et apes. Grues enim transeunt de regione in regionem et ideo
propter pericula vitanda in via congregant se in unum. Et similiter apes, ut melius mellificent, et formicae,
Albertus Magnus und die Tiere 53

Die Vorsorge, welche die Ameisen treffen, beruht nicht auf einer vor-
ausschauenden Erkenntnis, sondern sie ist eine aktuelle, zukunftsorien-
tierte Handlung, der eine Vorstellung des Gegenwärtigen zugrunde liegt.80
Die in einer Sozietät lebenden Ameisen unterscheiden sich in dieser
Hinsicht von den Menschen nicht nur durch den Umstand, dass sie unter
sich kein Lenkungsprinzip kennen, sondern auch darin, dass sie ihre So-
zietät instinktvoll bilden und nicht wie bei den Menschen aufgrund ihrer
Natur, die mit der Urteilskraft vermittelt wird. Deshalb gibt es bei den
Tieren weder Politik noch Ökonomie im engeren Sinne.81 Nächtliche
Aktivitäten der Ameisen erklärt Albert physiologisch und psychologisch:
Sie seien schwach, weshalb sie aus Angst vor Gegnern und Störern mehr
nachts als am Tage arbeiten, besonders bei Vollmond, weil sie dann ihre
Aufgaben besser unterscheiden könnten.82

_____________
ut grana accumulent et resistant raptoribus mellis et granorum; nam dulce et pingue multos habent
insidiatores.
80 Ebd. l. 8 q. 23, S. 196 Z. 40-62: Ulterius quaeritur, utrum formica colligat grana. (1) Et videtur,
quod non. Nam si grana colligeret, maxime tempore apto congregationi congregaret, sicut apis tum colligit;
sed formica de die quiescit, cum tamen dies convenientior sit ad operandum; ergo etc. (2) Praeterea, si deter-
minetur ad grana colligenda, aut hoc est ratione complexionis aut ratione virtutis sensitivae. Non ratione
complexionis, quia sic araneae hoc competeret et aliis eiusdem complexionis; nec ratione virtutis sensitivae
per eandem rationem. Restat ergo quaerere, quid determinat formicam ad collectionem granorum. Opposi-
tum dicit Philosophus. Dicendum, quod formica grana colligit. Et ad hoc determinatur pro sua specie, quia
operatio facit scire formam, sicut transmutatio materiam. Unde forma causa est operationis, et ideo quae
sunt diversae speciei, diversas habent operationes. Nec tamen grana colligit, quia cognitionem futurorum
habeat, sed actus praesentes ordinati sunt ad futura, et ideo ex imaginatione praesentium faciunt aliqua,
quae ordinantur ad futura.
81 Ebd. l. 1 q. 8, S. 86 Z. 12-20: Sed multa animalia aggregabilia non habent principem, sicut formicae et
columbae, quae aggregatae in volando quaerunt cibum. Unde istud faciunt per suam aestimativam. (1) Ad
rationes: Ad primam dicendum, quod homo est animal sociale per naturam, sed sua socialitas fit mediante
discretione; sed aliorum animalium est instinctu naturae; et ideo alia animalia non habent proprie politicam
nec oeconomicam.
82 Ebd. l. 8 q. 23, S. 196 Z. 63-68: formica animal parvae virtutis est, et ideo propter timorem obviantium
et impedientium de die maxime laborat de nocte et maxime in plenilunio, quia tunc maxime potest agenda
discernere propter plenilunium.
54 Henryk Anzulewicz

Schlussbemerkung

Alberts Dossier über die Ameise ist umfangreich und vielseitig. Der
Doctor universalis strebte nach einer Erschließung all dessen, was über
dieses Lebewesen die vorhandenen Wissensbestände, zumeist literarische
Quellen zur Tierkunde, boten und was er diesen durch eigene vergleichen-
de Analysen und Schlussfolgerungen sowie durch eigene Beobachtungen
und Erfahrungen hinzufügen konnte. Auf diese Weise hat er eine Fülle an
Erkenntnissen zusammengetragen und hinzugewonnen, welche die mo-
derne Entomologie zu würdigen weiß, ungeachtet dessen, dass sie diese in
vieler Hinsicht korrigieren und ergänzen muss.83

_____________
83 Die wichtigsten Defizite und Irrtümer in Alberts Darstellung nennt Balss, Die Tausendfüßler
(Anm. 72), S. 316-317; vgl. auch Hans-Jürgen Hoffmann, »Zur Geschichte der Entomo-
logie in Köln«, in: Decheniania. Beihefte, 31/1992, S. 41.
An Smets (Leuven)

The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona*

1. General presentation

During the whole medieval period, hunting was a popular activity and
from the end of the 10th c. onwards, practitioners and other authors wrote
down their experiences in hunting treatises, especially on falconry.1 These
texts were particularly popular in medieval France, where we know of
45 texts translated or composed between the 13th and the 15th c.2 19 of
these texts date from the 15th c., of these, only seven can be considered
complete, that means they present ornithological data, cynegetic informa-
tion, hygienic data and medical and other miscellaneous information.3 Of
these seven treatises, only two are original,4 which means they do not have
a (Latin) source: the Medecine pour faulcons of Adam des Aigles5 and the Fau-

_____________
* I would like to thank the audience at the International Medieval Congress at Leeds (July
2008) for all their suggestions.
1 For a general presentation, see An Smets / Baudouin Van den Abeele, »Medieval Hunt-
ing«, in: Brigitte Resl (ed.), A Cultural History of Animals in the Medieval Age, Oxford, New
York 2007, pp. 59-79.
2 For more information on the French texts, see An Smets / Baudouin Van den Abeele,
»Manuscrits et traités de chasse français du Moyen Âge. Recensement et perspectives de
recherche«, in: Romania, 116, H. 3/4/1998, pp. 316-367.
3 See José Manuel Fradejas Rueda, Literatura cetrera de la Edad media y el Renacimiento español,
London 1998 (Papers of the Medieval Hispanic Research Seminar 13), pp. 8-9.
4 More information on the French texts of the 15th c. can be found in An Smets, »Jean de
Francières, Artelouche de Alagona et leurs collègues. Pour une étude des traités de
fauconnerie français du XVe siècle«, in: Alex Vanneste / Peter De Wilde / Saskia Kindt /
Joeri Vlemings (eds.), Memoir en temps advenir. Hommage à Theo Venckeleer, Leuven, Paris,
Dudley, MA 2003 (Orbis supplementa 22), pp. 301-312.
5 Adam des Aigles, Traité de fauconnerie, Åke Blomqvist (ed.), Karlshamn 1966 (Studia ro-
manica holmiensia 5).
56 An Smets

connerie of Artelouche de Alagona. It is this second text which forms the


subject of the present contribution.
The author of this text is mentioned on the first page of the printed
versions as Messire Arthelouche de Alagona, Seigneur de Maraueques, Conseiller &
Chambellan du Roy de Sicille. Maraueques stands for ›Meyrargues‹,6 a little vil-
lage 12 km north of Aix-en-Provence (Bouches-du-Rhône).
According to Françoise Féry-Hue,7 the Roy de Sicille, who is also men-
tioned on the first page, is Alfonso V of Aragon. But it was by following
René of Anjou, his political enemy,8 that Artelouche left Italy in 1442.
Afterwards, in 1443, René of Anjou made him lord of Meyrargues. It was
there that Artelouche wrote his falconry treatise.9
The manuscript of Montpellier10 adds to this introduction a dedication
to the count of Vaudémont.11 Vaudémont is a small village in the north of
France (department of Meurthe-et-Moselle, region of Lorraine).12 From
_____________
6 Jean Richard mentions that the ms. Paris, Bibliothèque nationale de France, fr. 2005,
contains the correct name (Meirargues). Cf. Jean Richard, »La Fauconnerie de Jean de
Francières et ses sources«, in: Le Moyen Âge, 59/1963, pp. 893-902, here p. 894. See also
Meyrargues, 1996-2008: www.provenceweb.fr/e/bouches/meyrargues/meyrargues.htm (ac-
cessed 26 Jan 2008).
7 Françoise Féry-Hue, »Artelouche de Alagona«, in: Geneviève Hasenohr / Michel Zink
(ed.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age. Edition entièrement revue et mise à jour,
Paris 1992 (11964), p. 99.
8 When Alfonso V finally sacked Naples, René of Anjou went back to France. Cf. Sylvie Le-
fèvre, »René d’Anjou«, in: Hasenohr/Zink (eds.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen
Age (fn. 7), pp. 1258-1260. For more information on the family de Alagona, see Richard,
La Fauconnerie de Jean de Francières (fn. 6), pp. 893-894.
9 This period does not correspond to the dates mentioned in some manuscripts. Indeed,
according to the colophon of the Torino ms. (fol. 32v), the text was copied in 1542: Cy
finist le present livre de faulconnerie lequel ay escript moy [...] Jehan Fabre natif de Carpentras l’an mil
cinq cens quarante deux, whereas the manuscripts of Yale University mention 1502 (ms. 162)
and 1504 (ms. 667). But these dates probably indicate the period of copying, not of the
redaction of the text. See Yale University, Ms. 162, Artelouche de Alagona etc., s.d.:
http://webtext.library.yale.edu/beinflat/pre1600.MS162.htm and Yale University, Ms. 667,
Artelouche de Alagona Fauconnerie, s.d.:
http://webtext.library.yale.edu/beinflat/pre1600.MS667.htm (accessed 20 Sept 2007).
10 Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire, Faculté de Médecine, H 459, fol. 1.
11 Monseigneur le conte du Vandemont, je Arteluche de Lagona me recommande a vostre seigneurie.
12 Communes.com, Commune Vaudémont, 1997-2008:
http://www.communes.com/lorraine/meurthe-et-moselle/vaudemont_54330/
(accessed 16 Nov 2008).
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 57

1458 on, the count of Vaudémont was Ferry II of Lorraine (ca. 1428-
1470), who married Yolande of Anjou, daughter of René of Anjou,
in 1444 or 1445.13 This allows us to make a connection between this fam-
ily and Artelouche, despite the large distance between Meyrargues and
Vaudémont, and probably means that the treatise was written between
1458 and 1470 (death of Ferry II).
The treatise has come down to us in nine manuscripts14 and several
printed editions dating from between 1567 and 1628. Most of the printed
editions belong to a compilation by Guillaume Bouchet,15 and often fol-
low the second version of the falconry treatise of Jean de Francières,
which has yet to be edited.16 For the study of this text, we used the edition
of 1618 as our main source,17 completed sometimes with manuscript
copies.

_____________
13 Michel François, Histoire des comtes et du comté de Vaudémont des origines à 1473, Nancy 1935,
esp. pp. 226-227 and Michel Parisse, »Vaudémont«, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 8/1997,
cc. 1436f.
14 Le Mans, Bibliothèque Municipale, B 79; Marseille, Bibliothèque Municipale, 1009 and col-
lection Clapiers; Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire, Section de médecine, H 459;
New Haven, Yale University Library, Beinecke 162 and 667; Paris, Bibliothèque nationale,
fr. 2005 and fr. 25342, and Torino, Archivio di Stato, J.a. IX 4 (cf. Smets/Van den Abeele,
»Manuscrits et traités de chasse« (fn. 2), p. 340) and An Smets / Laurent Brun, Artelouche de
Alagona, 2008:
http://www.arlima.net/ad/artelouche_de_alagona.html (accessed 26 Febr 2008).
The ms. Beinecke 667 is mentioned as sold at the auction of the collection of Marcel Jean-
son in Smets/Van den Abeele, »Manuscrits et traités de chasse« (fn. 2), p. 335, cf. Yale
University, Ms. 667, Artelouche de Alagona Fauconnerie (fn. 9).
15 There are eight different editions of this compilation dating from between 1567 and 1628.
The compilation consists of the falconry treatises by Jacques du Fouilloux, Jean de Fran-
cières, Guillaume Tardif, Artelouche de Alagona and Guillaume Bouchet himself (cf. Ri-
chard, »La Fauconnerie de Jean de Francières« (fn. 6), p. 893).
16 Féry-Hue, Artelouche (fn. 7), p. 99. See Richard, La Fauconnerie de Jean de Francières (fn. 6) and
Rolf Wistedt, Le Livre de fauconnerie de Jean de Fransières. L’auteur et ses sources, Lund 1967 (Filo-
logiskt Archiv 11) for more information on the text of Jean de Francières.
17 Artelouche de Alagona, Fauconnerie, Paris 1618.
58 An Smets

2. Content

The treatise of Artelouche de Alagona is divided into 39 chapters: four


deal with the different kinds of birds of prey, four with training, and no
less than 31 chapters concern the health of birds of prey and different ail-
ments to which they are susceptible, including one chapter on moulting.
Concerning the different kinds of birds of prey, Artelouche starts with
the sparrow hawk (espervier), which is not surprising, as this bird was espe-
cially popular in Italy,18 where the author lived for a long time.19 Arte-
louche talks about the place of birth and its effects on the bird (e. g.
a sparrow hawk born in a cold and humid place is rather big and strong).
The author also pays much attention to the physical aspects, and especially
to the different colours of the sparrow hawk. Concerning the sparrow
hawk, there are no correspondences to the Latin texts studied by Bau-
douin Van den Abeele,20 so Artelouche probably did not use these Latin
texts as sources for his chapter on the sparrow hawk.
The second chapter is dedicated to the goshawk (autour). Artelouche
again begins with some remarks about the place of birth and comes to vir-
tually the same conclusions as for the sparrow hawk: the boldest birds
come from cold and humid places. This observation can also be found in
some Latin treatises such as the De animalibus of Albertus Magnus21 and
the Autourserie of Berlin.22 Afterwards, Artelouche gives a physical descrip-
tion of the goshawk: blackish tongue, long head and neck, wide shoulders,
round chest, tail of average length, etc.
The two following chapters concern different species of falcons: the
peregrine falcon and the faucon gentil in chapter 3 and seven further species

_____________
18 Baudouin Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge. Connaissance, affaitage et médecine des
oiseaux de chasse d’après les traités latins, Paris 1994 (Sapience 10), p. 85.
19 He was count of Policastro and Agnati (Féry-Hue, Artelouche (fn. 7), p. 99). However, in the
Torino manuscript, the first chapter concerns the goshawk and the second the sparrow
hawk.
20 Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 83-86.
21 Chapter De accipitre. Scias autem quod huius avis natura praecipue confortatur in Aquilonis partibus et
ibi hee aves fortiores sunt et maiores (Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI, 2 vols., Her-
mann Stadler (ed.), Münster 1916-1920 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mit-
telalters 15-16), p. 1438).
22 Cf. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), p. 81.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 59

in chapter 4: ›saffire falcon‹ or faucon saffir, gyrfalcon or gerfaut, lanner fal-


con or lasnier, saker falcon or sacre, and, finally, the ›black‹ and ›white
falcon‹ or faucon noir et faucon blanc.
Chapter 3 gives some information on the mew and describes the
physical characteristics of the peregrine: large shoulders, small feathers,
big eyes, big feet, etc. On the other hand, Artelouche does not give physi-
cal details of the gentil, but seems to assume that these characteristics are
widely known, for he writes in the next chapter that the zechart falcons ont
les signes de Gentils (ch. 4, fol. 89r). Also in the next chapter, Artelouche
states that the gentil is better than the peregrine. By treating these two
falcons together and – at the same time – placing them in a chapter of
their own while all the other kinds of falcons are discussed together in
chapter 4, Artelouche de Alagona highlights their importance and ac-
knowledges certain resemblances between them, while also pointing out
the differences. Because of these differences, Artelouche seems to view
them as two different species of falcons, whereas in other treatises faucon
pèlerin and faucon gentil are treated as synonyms or at any rate in a relation-
ship of hyperonym to hyponym.23
As for the other falcon species, Artelouche sometimes gives ornitho-
logical details (specifying, for instance, that the feathers of the saffire fal-
con are longer than its tail) and some descriptions contain items of hunt-
ing information – the saker falcon is said, for example, to hunt the crane.
But this chapter mainly outlines and compares the qualities of the differ-
ent falcons. So we read that the gentil is better than the peregrine (cf.
supra). Further, we learn that the black falcon is the smoothest (coullant),
the white the most peaceful and the lanner the most courteous.24 On the
other hand, the saker falcon has the highest degree of goodness. None of
these birds, however, can compare to the gyrfalcon, falcons which Arte-
louche considers as les plus nobles oiseaux du monde.25

_____________
23 Cf. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), p. 58 and infra; see pp. 56-73 for
the identity of several species mentioned here.
24 This positive characterization is in contradiction with the generally negative view of this
bird adopted by the majority of falconry treatises – especially the French ones (Van den
Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 63-64).
25 This is said about the zechart, but zechart should be interpreted as gerfaut (cf. infra).
Cf. Artelouche, Fauconnerie (fn. 17), ch. 4, fol. 89r.
60 An Smets

The identification of these different kinds of falcons is not always easy


and remains sometimes hypothetical. It is clear that Artelouche used dif-
ferent sources to write his treatise (cf. infra). There is no doubt about the
peregrine falcon, which is the falco peregrinus. The text, however, does not
give enough details to allow to ascertain which subspecies of the peregrine
falcon is meant. As for the faucon gentil, certain authors (Guillelmus, Fre-
derick II etc.) consider it as the subspecies falco peregrinus germanicus, while
others treat them as two different species.26 An exact identification seems
difficult on the ground of so little data, so we can only assume that, given
the stress on the differences, we are at least dealing with two different
subspecies of the falco peregrinus.
The next falcon is the ›saffire falcon‹ or faucon saffir. This species is not
widespread, but we do also find the falco zaffir in the Latin treatise of Bra-
gadino (ch. 23),27 where this bird can be identified with the falco peregrinus
babylonicus, an oriental subspecies of the peregrine falcon. As this descrip-
tion immediately follows those of the peregrine and the gentil falcon and
also contains a comparison with the peregrine, this identification seems
plausible. The next one is the gyrfalcon (falco rusticolus). The first mention
is spelled zerchart,28 but this seems to be a corrupted form for gerfaut, the
right spelling used only three words further.29 One of the reasons why it
seems plausible that zerchart and gerfaut refer to one and the same species is
the fact that Artelouche writes that the zechart sont les plus nobles oiseaux du
monde (cf. supra), a possible reference to Frederick II, who already char-
acterized the gyrfalcon as the biggest, strongest, quickest, etc. of all fal-
cons.30 Then comes the lanner falcon, followed by the saker falcon. These

_____________
26 Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), p. 58.
27 Ms. New Haven, Yale University Library, Beinecke 232, fol. 14v. I would like to thank
Baudouin Van den Abeele for having lent the microfiches of this manuscript.
28 zagari in the Torino ms. (fol. 2v).
29 As far as we know, no other Latin or French treatise contains the form zerchart. The only
other form which does resemble a bit is zaganus, which appears (only) in the Latin treatise
by Archibernardus, and could have been used for the saker falcon in some Byzantine trea-
tises (Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 72-73). However, we prefer
an identification with the gyrfalcon.
30 Girofalci autem, quia sunt maiores, fortiores, audaciores et velociores omnibus aliis falconibus (Carl Ar-
nold Willemsen, Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. Kommentar zur lateinischen und deutschen Aus-
gabe, Frankfurt a. M. 1970, p. 208). According to Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 61

birds can be easily identified: the first one is the falco biarmicus, the second
the falco cherrug.31 The last two falcons are the black and the white falcon.
These birds, which appear for the first time in the treatise of Dancus rex,32
are more problematic. The black falcon is once again a peregrine falcon,
but the subspecies cannot be defined. As for the white falcon, two iden-
tifications are possible, either the Scandinavian subspecies of the peregrine
(Falco peregrinus peregrinus Tunst.), or the gyrfalcon of Greenland (Falco
rusticolus candicans Gm.).
Following the presentation of the different birds of prey, Artelouche
dedicates the next four chapters to the training of the birds: first the gos-
hawk and the sparrow hawk (ch. 5 and 6), then the falcons (ch. 7) and fin-
ally all the birds of prey (ch. 8). There are four chapters on the different
kinds of birds and four on training, but these last chapters are more than
twice as long (three versus six and a half pages). It is clear that this is an
essential issue for Artelouche, and, accordingly, his information is very
detailed.
The most vital topic, however, is found in the last part which contains
medical information. This comes as no surprise as medical data are very
important in all falconry treatises with the exception of the De arte ve-
nandi.33 Artelouche starts with some chapters treating general questions,
such as how to keep a bird healthy or how to recognize the signs of ail-
ments (ch. 9-14). Afterwards (ch. 15-39), he discusses specific ailments but
in no discernible order, for instance, the different parasites are not group-
ed together.34 We find worms in chapter 20, moths in chapter 27 and lice
in chapter 39. This part also contains several chapters dealing with food:
good and bad meat (ch. 31-33), bacon (ch. 38) or the types of meat which
will enhance the appetite of a bird, have laxative effects, comfort it or –
most importantly – to ensure that the mew will go smoothly (ch. 34-37).
_____________
Âge (fn. 18), p. 59, Frederick II even uses the expression nobilissima avis for the gyrfalcon,
but we do not find it in the treatise.
31 Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 63-64 and 70-71.
32 Dancus rex, Guillelmus Falconarius, Gerardus Falconarius. Les plus anciens traités de fauconnerie de
l’Occident, Gunnar Tilander (ed.), Lund 1963 (Cynegetica 9), pp. 86-89.
33 Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 173-174.
34 For a lexical analysis of parasites in falconry treatises, see An Smets, »Poux, vers et vermine:
ces parasites qui infectent les oiseaux rapaces. Une étude sémantique basée sur un corpus
de traductions cynégétiques«, in: Médiévales, 51/2006, pp. 97-118.
62 An Smets

The subject dealt with in these last chapters is also related to chapter 29,
which more generally deals with the complexions of the black, white and
red falcons (although Artelouche did not mention the red falcon before).
One of the characteristics of the medical recipes in this treatise is the
mix of Latin and French terms. Indeed, sentences such as une pillule faicte de
gomma balsamico, & castoreo, cum succo mentastri, & leur mettoit en la gorge une
pierre de castoreo (ch. 16, fol. 95r) or Et aucuns font tremper armoniacum in aceto
(ch. 21, fol. 97v) are not exceptional.

3. Sources

In the paragraph on the different kinds of falcons we encountered a num-


ber of resemblances between the treatise of Artelouche and some older
falconry texts. At this point, I wish to deal with this topic in a more de-
tailed way.
Of course, the medieval view of authority and sources differed signifi-
cantly from the modern one, and as sources were often not or badly indi-
cated, it is not always easy for the modern scholar to find the sources the
medieval author used.35 The search for sources, therefore, can be consid-
ered a ›work in progress‹, as it is always possible to make new discoveries.
In this section, we will consider firstly the sources mentioned by Arte-
louche (3.1), and secondly those which he does not mention or which he
passes over in silence (3.2).

3.1 Sources mentioned by the author

The dedication of the Montpellier manuscript (fol. 1) includes the follow-


ing sentence:
Je vous mande cest petit livre abregé de la medecine des oyseaux de rapure, extrait de bien vingt
livres qui traictent de ceste matiere, lesquelz livres ont esté faiz en divers regions selon les anciens
qui ont escript [...].

_____________
35 For more information about collecting sources, see e. g. Erwin Huizenga, Bitterzoete balsem.
Geneeskunde, chirurgie en farmacie in de late middeleeuwen, Hilversum 2004, pp. 50-51.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 63

Apart from some general indications such as aucuns fauconniers or even au-
cuns or plusieurs,36 Artelouche does indeed refer to specific sources he used
during the redaction of his text. However, the sources he mentions do not
amount to 20 (or more) names:
Armodeus ch. 1 (2), ch. 36
les Florentins ch. 1 (2)
les Allemans ch. 6, 7 (2), 39
Fauconniers de terre d’Oriente ch. 7
le Soldan ch. 7
Jacob de Mestrette ch. 8
Nicolas ch. 15
Cassian ch. 16
Moymon fauconnier Arabique ch. 16
Anthonel / Anthoine Spinello ch. 18, ch. 21
Razis ch. 23
le Roy Daucus ch. 30 (2)
Iohannes Serpaion ch. 36
The names on this list can roughly be divided in two groups: names of in-
dividuals and names containing a geographical indication. The first catego-
ry contains the names Armodeus, Jacob de Mestrette, Nicolas, Cassian, Moymon
fauconnier Arabique, Anthonel Spinello, Razis, le Roy Daucus and Iohannes Ser-
paion, whereas les Florentins, les Allemans and les Fauconniers de terre d’Oriente
refer to people living in a certain region, as does the title le Soldan.
Unfortunately, three names on the first list are unknown to us: Ar-
modeus,37 Jacob de Mestrette and Anthonel Spinello.38 The other individuals can
be split into two groups: medical authors on the one hand (Nicolas, Razis
and Iohannes Serapion), falconers on the other (Cassian, Moamin and Dancus).
The individual referred to as Nicolas was the Salernitan physician
Nicolaus de Aversa, assessed to be the author of the Antidorium Nicolai, a
_____________
36 aucuns fauconniers ch. 4, fol. 89 and ch. 28, fol. 99, aucuns ch. 4, fol. 89 and ch. 21, fol. 97-97v,
plusieurs ch. 19 fol. 96v.
37 There is a reference to Armodeus in a falconry treatise of the 19th c. by G. Foye, Manuel
pratique du fauconnier au XIXe siècle contenant tout ce qu’il faut …, Paris 1886, p. 63, but this
author based his reference on the treatise of Artelouche. See:
http://books.google.be/books?id=Gx5IAAAAIAAJ&q=armodeus&dq=armodeus&pgis=1
(accessed 7 Jun 2008).
38 According to an e-mail from Baudouin Van den Abeele (21 Aug. 2008), the name of »Espi-
nello« is mentioned in the French treatise by Charles Lescullier, but his source might be
Artelouche de Alagona. To date, I have not been able to check this information.
64 An Smets

well-known recipe book dating from the end of the 12th c.,39 Razi (= Rha-
zes) was a Persian physician and philosopher (ca. 860-ca. 923)40 and Io-
hannes Serapion or Serapio Iunior, who died ca. 864, was the author of a
Liber de simplici medici.41
It is, however, not easy to trace the exact passage to which Artelouche
is referring when he mentions these medical authors. For example, he
cites the livre de Nicolas when describing medicine for birds suffering from
catarrh (ch. 15, fol. 94v): luy donnez des pillules de yera ex octo rebus, ou des
pillules cochées, […] & les trouverez au livre de Nicolas. However, the Antidota-
rium Nicolai mentions several types of yera.42 All are used for ailments simi-
lar to catarrh, but all also contain more than the eight ingredients men-
tioned by Artelouche. Moreover, the synonym pillules cochées is mentioned
nowhere in these recipes. Therefore, the simple reference to the livre de
Nicolas does not allow us to identify the exact passage to which Artelouche
is referring. Afterwards, Artelouche several times mentions the yera pigra,
and more specifically the yera pigra Galeni (des pillules de yera pigra Gaveli […]
poudre d’yera pigra de Galeni, ch. 17, fol. 95-95v), named after the famous
Greek physician of the second century AD,43 and these ingredients, of
course, refer to the yerapigra Galyeni of the Antidotarium Nicolai.
_____________
39 Françoise Féry-Hue, »Antidotaire Nicolas«, in: Hasenohr/Zink (eds.), Dictionnaire des lettres
françaises (fn. 7), pp. 74-75, cf. Dietlinde Goltz, Mittelalterliche Pharmazie und Medizin. Darge-
stellt an Geschichte und Inhalt des Antidotarium Nicolai, Mit einem Nachdruck der Druckfassung
von 1471, Stuttgart 1976 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Ge-
schichte der Pharmazie e. V. 44) and L’Antidotaire Nicolas. Deux traductions françaises de l’Anti-
dotarium Nicolai: l’une du XIVe siècle, suivie de quelques Recettes de la même époque et d’un Glos-
saire, l’autre du XVe siècle, incomplète. Publiées d’après les manuscrits français 25,327 et 14,827
de la Bibliothèque Nationale, Paul Dorveaux (ed.), Paris 1896.
40 Paul Robert / Alain Rey, Le petit Robert 2. Dictionnaire universel des noms propres alphabétique et
analogique, illustré en couleurs, Paris 81984, p. 1519.
41 Claudia Fabian, Personennamen des Mittelalters – Nomen Scriptorum Medii Aevi – PMA. Namens-
formen für 13000 Personen gemäss den Regeln für die Alphabetische Katalogisierung (RAK), München
22000, p. 615. See also Gundolf Keil, »Serapion, [3]Serapion junior«, in: Lexikon des Mittelal-

ters Bd. 7/1999, cc. 1775f.


42 yeralogodion, yera rufini, yerapigra – divided in turn into three varieties – and yera fortissime
Galieni in the Latin version. The first three also occur in the French version, cf. Goltz, Mit-
telalterliche Pharmazie und Medizin (fn. 39), p. 219 and L’Antidotaire Nicolas (fn. 39), pp. 35-36.
According to L’Antidotaire Nicolas (fn. 39), p. 97, yera comes from ἱερὰ ἀντίδοτος or »sac-
red antidote« in Greek, a name given by the people of the Antiquity to several confections.
43 Robert/Rey, Le petit Robert 2 (fn. 40), p. 699.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 65

Rhazes is also an eminent authority. We know of more than 100 trea-


tises he has written.44 Of course, it is impossible to find the exact para-
graph to which Artelouche is referring, since he only mentions the au-
thor’s name but does not specify the work he has in mind.
A similar problem occurs with Iohannes Serapion. He is the author of
just one treatise, the Liber de simplici medici or Liber aggregatus in medicinis sim-
plicibus,45 but I have not been able to locate the exact passage from which
Artelouche might have taken his information.
It is much easier to trace the exact relationships between the text of
Artelouche de Alagona and the falconry treatises, at least those of Moamin
and Dancus rex.
The Arab treatise by Moamin was translated into Latin by Theodore
of Antioch at the court of Frederick II and afterwards translated into sev-
eral romance languages. Its importance for Artelouche was already indi-
cated by Françoise Féry-Hue.46 The name of the falconer is cited in chap-
ter 16 (Et Moymon fauconnier Arabique luy donnoit une pillule […], ch. 16,
fol. 95r), but Moamin’s text is clearly the main source for the medical
chapters 10-14 (fol. 93r-94r), even if his name is not mentioned there (see
the annex for a detailed list of the correspondences between the texts).
The second falconry source is Dancus rex, a very popular therapeutical
treatise. It was written in Latin in the 12th c. at the court of Sicily, and af-
terwards translated into several European languages.47 The name of Dan-
cus (or Daucus) is cited twice in chapter 30:
(1) Artelouche 30 Dancus 26.3-5
Tous cauteres se doivent donner en Mars, si ce Cauteriza prius sub oculis et confert
n’est pas necessité pour tenir les oiseaux sains. visui, postmodum in sumitate capitis pro
[…] dolore // et supra nodum ale pro gutta
Le Roy Daucus appliquoit le cautere au [et in renibus pro gutta]48 et in planta
milieu des reins en la fossette qui est celle part pedis pro gutta. // Et iste
[…] cauteriçationes faciende sunt in mense
Les cauteres presque de toutes infirmitez se marcii (p. 104).
doivent donner les veines lacees, & cauteriser
le lieu où les infimitez sont soupçonnees. Le
Roy d’Aucus, avec tous les autres cauteres leur
_____________
44 See also Heinz Schipperges, »Rhazes«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7/1999, cc. 780-782.
45 The edition of 1473 is available on www.gallica.fr (accessed 10-12 Jun 2008).
46 Féry-Hue, Artelouche (fn. 7), p. 99.
47 Smets/Van den Abeele, Manuscrits et traités de chasse (fn. 2), pp. 342-343.
48 Fragment between brackets: lacuna in the Latin manuscripts CNPTVXYZ.
66 An Smets

perçoit les narilles de part en pa[r]t, avec un


cautere bien subtil (fol. 100r).

The first reference in particular shows a clear relationship between the


two texts, but it is also clear that Artelouche did not translate the text of
Dancus rex literally.
Apart from this reference, there are also other passages where Arte-
louche used some material gleaned from Dancus rex without citing his
source:
(2) Artelouche 29 Dancus 17.6-11
Et parce que les Faucons noirs sont Omnes falchones qui habent pennam nigram
melancholiques, ils doivent estre sunt mellancolici. // Convenit medicari cum
medecinez avecques medecines chaudes medicinis calidis et humidis, sicut sunt aloe,
& humides, pour cause de la piper paulinum, carnes pulli magni, passeres,
complexion qui est froide & seche : columbi magni et capre magne et yrci.
comme aloës, poyvre, chairs de coqs &
de coulombs, passereaux, chevre ou
chevreau.
Les Faucons blancs sont flegmatiques Omnes falcones qui habent pennam albam
& se medecinent avec les medecines sunt flegmatici et scici. // Convenit medicari
chaudes & seiches pour cause du flegme, cum medicinis calidis et scicis, sicut sunt piper,
qui est froid & humide : c’est à sçavoir, cuminum, cinamomum, [gariofoli,
avec cynamome, garofili, sirelis montani, sirmontanum, tymi, cardamomum,]49 carnes
cardomi, chair de bouc & de corneilles. yrci, cornicule et nilvi rubei, frexones,
piccarusuli et carnes grandium animalium et
passeres magni.
Les Faucons roux sont sanguins, Omnes falcones qui habent pennas rubeas sunt
coleriques, & se doivent medeciner par sanguinei, sic convenit medicari cum medicinis
medecines froides & attrempees en frigidis et humidis, sicut sunt // mortina,
humidité & seicheresse, comme sont tamarendi, medula cassiafistule, manna, et
mittile, amarici, cassia fistula, acetum, omnia ista in aceto, carnes pulline, agneline,
chairs de poules & d’aigneaux camici, agirones et scarças (p. 86-88).
(fol. 99v-100r).

(3) Artelouche 37 Dancus 7.5-6 Dancus fr. II 7.5-650


Des choses qui font muer. De gutta filera. De fallera.
Prenez une Couleuvre, & Accipe serpentem Medecine : Pren une
luy taillez un peu de la teste, nigrum et incide ad couleuvre noire et luy
& autant de la queuë, & mensuram palme unius toulle une paulme de la
du milieu paissez vostre a capite et tantumdem teste et une paulme de la
_____________
49 Fragment between brackets: only in the Latin manuscripts NPTVY and in the margins of
manuscript U.
50 Traductions en vieux français de Dancus rex et Guillelmus falconarius, Gunnar Tilander (ed.), Karls-
hamn 1965 (Cynegetica 12), p. 34.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 67

oiseau : car cela fait bien a cauda, et tolle illud queue, et pren ce du
muer & tout entierement de medio … millieu …
(fol. 101). (pp. 68-70)

It is possible that Artelouche also based the following passage on the text
of Dancus rex:
(4) Artelouche 4 Dancus 18.6
Que si un Villain de quelque condition Quando vides falchonem rusticum bonum
qu’il soit, se trouve bon, il est meilleur que esse, poteris venari cum eo securius quam
les autres (fol. 89r). cum nobili (p. 90).

As for the third falconry text, the situation is more complicated. Ayme
Cassian was a knight of Malta who lived in the first half of the 15th c. His
falconry treatise, of which three copies are known,51 is still unedited.52
Artelouche mentions his name in chapter 1653 when discussing epilepsy,
but neither of the two copies I was able to consult (the Narbonne and the
Paris mss.) contains such a chapter.54
The first of the geographical references is to les Florentins, a source
mentioned twice in chapter 1. But instead of considering a whole group,
Artelouche here refers to a well-known Florentine scholar, Brunetto La-
tini. There are indeed some resemblances between his Livre dou tresor55 and
the Fauconnerie, although the passages in Artelouche are longer and the
references to les Florentins do not always figure at the exact spot where the
relationship between the two texts is close:
(5) Artelouche ch. 1 Brunetto Latini 148, 1-2
Les Florentins disent que les esperviers qui se il a aucune crossete en mi le moien artil
ont la croix sur les doigts, specialement sur destre, la ou l’aschaille se part, car ce est
la serre du milieu, en ceste forme X, sont les signe de grandisme bonté
meilleurs pour estre avantageux & bons.
L’Espervier qui a treze pennes en la queuë, & sachiés tant des esperviers, que cil qui a

_____________
51 Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire, Faculté de Médecine, H 453; Narbonne,
BM, 6 and Paris, Bibliothèque nationale de France, naf. 4506.
52 Smets/Van den Abeele, Manuscrits et traités de chasse (fn. 2), pp. 340-341.
53 Artelouche, Fauconnerie (fn. 17), fol. 95.
54 The remedy Artelouche recommends here is a mixture of the yera pigra already mentioned
and juice of absinthe. Ayme Cassian mentions the yera pigra twice in the Paris manuscript
(girapigre fol. 74 and – added by a later hand – jerapyqua (?) fol. 80v ), but not together with
absinth.
55 Brunetto Latini, Li Livres dou Tresor, Spurgeon Baldwin / Paul Barrette (eds.), Tempe 2003,
p. 120.
68 An Smets

& sur le iaune du bec a une tache noire, longue coe est coars, mes il vole tost, & cil
comme un grain de poyvre, sont deux signes qui a .xiii. penes en la coe est tosjors
pour estre bons. [...] mieldres des autres, & miels volans, &
Selon les Florentins, l’Espervier qui à [sic] plus tost consuit sa proie
la couverte noire, & pennage de travers
roux, & la maille noire & blanche
entremeslee, brayer net, est des meilleurs qui
se trouvent, & sont appellez blancs-noirs.
[...]
L’Espervier qui a le col long & plus
estendu, est tenu & reputé pour lasche
voleur (fol. 88r)

The passages on the cross (crossete / croix) and the thirteen feathers of the
tail are clearly related, but Artelouche changes the meaning when discuss-
ing the coward sparrow hawk: the coe (›tail‹) of Brunetto Latini reappears
as col (›neck‹) in the text of Artelouche. As the two words coe and col are
spelled in almost the same way, it seems very likely that this transforma-
tion was caused by a palaeographic confusion.56

The second ›geographical source‹ named is les Allemans:


(6) ch. 6 Les Allemans trouvent les Tiercelets plus vaillants & plus legers que les Autours,
pour Perdrix & Faisan (fol. 90r)
(7) ch. 7 Les Allemans font tirer le Faucon soir & matin, mais les Fauconniers de terre
d’Oriente sont de contraire opinion, & disent que ce leur faste les reins. (fol. 91r)
(8) ch. 7 Les Allemans font voller la Pie avec trois ou quatre Faucons, & les font monter
& battre comme pour riviere, en lieu plein et sans arbres: mais il doit y avoir des
petits buissons (fol. 91v).
(9) ch. 39 Pour lever & oster les poulz.
Recipe piperis part .i., cineris part .ij. Et avec eau chaude soit lavé par tout le
corps, & luy gardez bien les yeux. Les Alemans les orpimantent tout à sec, & ce
est bon pour temps chaut (fol. 101v)

Only example (6) concerns the goshawk,57 which is quite surprising, be-
cause all the original German treatises deal exclusively with goshawks and
omit falcons entirely.58 However, it is possible that Artelouche is referring
here to lost texts, oral sources or translations of Latin works written by
_____________
56 The ms. Torino, Archivio di Stato, J.a. IX.4 also has the form col.
57 This example contains a comparison between the tiercelet and the goshawk (autour), or, in
other words, between the male goshawk and the female.
58 Baudouin Van den Abeele, La littérature cynégétique, Turnhout 1996 (Typologie de sources du
moyen âge occidental 75), p. 52.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 69

Germans. An example of this last case is the falconry treatise by Albertus


Magnus, but at first sight there does not appear any direct relationship be-
tween this text and the passage mentioned here. I have not been able to
trace any other sources.59
The third and last group of ›geographical sources‹ are the Fauconniers de
terre d’Oriente, mentioned in example (7) above, in juxtaposition with the
Germans. Another name which reveals oriental origins is le Soldan, also
mentioned in chapter 7. Soldan (or soudan) is indeed the Middle French
form of sultan, on which the DMF1 includes no less than 9 articles citing
different examples from the 14th and the 15th c.60 Unfortunately, I did not
find any source for the reference to the Fauconniers de terre d’Oriente, but I
do discover a parallel for the text of the sultan. The author of this text is
not a sultan, but an emperor, to be precise, Frederick II:
(10) Artelouche ch. 7 Frederick II, De arte venandi P I.1661
Le Soldan fait voller les Gruës, Amplius omnes aves rapaces possunt doceri per hanc
les Oyes, & les Bistars, avec artem capere maiores aves, ut grues, bistardas,
deux ou trois, ou quatre anseres et maiores alterius maneriei
Faucons, ou plus du poing, & de »Par cet art, on peut duire tous les oiseaux rapaces
toutes generations de Faucons, à chasser de plus grands oiseaux comme des grues,
Sacres, Gerfaux, Villains, & des outardes, des oies et d’autres grands oiseaux,
Pelerins (fol. 91v) d’une autre façon qu’ils ne le feraient d’eux-
mêmes.«62

The bustard is not mentioned very often in falconry treatises63 and the
Latin text of the De arte venandi is the only one to feature the combination

_____________
59 The use of orpiment against lice (8) is a remedy mentioned in several treatises, but mainly
in French ones. See An Smets, »Le ›prince guérisseur‹: sur Molopin, Michelin et ›leur‹ Livre
du Prince«, in: José Manuel Fradejas Rueda (ed.), Los libros de caza, Tordesillas 2005 (Estudios
y ediciones 6), pp. 177-197, especially pp. 193-194.
60 »Soudan«, in Dictionnaire du moyen français, www.atilf.fr/dmf/ (accessed 1 Jun 2008). These
articles also contain references to Tobler-Lommatzsch and the FEW.
61 Friderici Imperatoris Secundi, De arte venandi cum avibus, Carl Arnold Willemsen (ed.), Leip-
zig 1942. I, p. 5.
62 Frédéric II de Hohenstaufen, L’art de chasser avec les oiseaux. Traduction intégrale en français
du traité de fauconnerie De arte venandi cum avibus, Anne Paulus / Baudouin Van den Abeele
(eds.), Nogent-le-Roi 2000 (Bibliotheca cynegetica 1).
63 An Smets, Des faucons: les quatre traductions en moyen français du De falconibus d’Albert le
Grand. Analyse lexicale d’un dossier inédit (Thèse de doctorat non publiée), Leuven 2003, vol. I,
p. 293.
70 An Smets

crane – duck – bustard (although not in the same order). Even in the French
translation of this treatise, we do not find these three kinds of birds.64

3.2 Sources not mentioned by the author

Besides the examples numbered (2)-(4), in which Artelouche clearly uses


material from Dancus rex without overtly citing this work, I came upon a
number of other examples where it is possible to identify a source which
is not mentioned by Artelouche. Indeed, chapter 37, on the mew, shows
some similarities with the chapter devoted to this topic in the treatise by
the English scientist Adelard of Bath (ca. 1090 – ca. 1160)65, even if the
corresponding sentences are not mentioned in the same order:
(11) Artelouche 37 Adelard of Bath 2466
Le grain du serpent noir, & en nourrir des Quod si bene non mutaverit, dabis
poules, desquelles paissez vostre oiseau, fait carnem soricinam.
pareillement muer, lequel grain se fait en ceste Item, serpente coque in aqua et in iure
maniere. Prenez une couleuvre noire, & la illo triticum ebullias, et pullos quos ei
mettez bouillir en eau avec du froment, & en dabit inde nutrias.
nourrissez vos poullailles, & leur en donnez à
boire l’eau. Mais le bon past & les Souris font
muer naturellement, & mieux que toutes les
medecines du monde (fol. 101r).

Afterwards, chapter 39, a chapter on lice which has been mentioned be-
fore in connection with its reference to the Germans (9), also mentions
roman mint as a possible remedy. This had already been suggested by the
Tractatus de austuribus and was later recommended by Albertus Magnus:

_____________
64 La quinte est car tuit li oisel de proie pueent estre ensoignié par cest art a panre les plus grans oisiaus,
ainsis comme grues, bitardes et les plus grans (Federico II, De arte venandi cum avibus. L’art de la chace
des oisiaus. Facsimile ed edizione critica del manoscritto fr. 12400 della Bibliothèque Nationale de France,
Hélène Toubert / Laura Minervini (eds.), Napoli 2005, p. 450).
65 For further information on Adelard, see Guy Beaujouan, »Adélard de Bath«, in: Hasenohr/
Zink (eds.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age (fn. 7), pp. 15-16.
66 Adelard of Bath, Conversations with his Nephew. On the Same and the Different, Questions on
Natural Science and On birds, Charles Burnett / Italo Ronca / Pedro Mantas España /
Baudouin Van den Abeele (eds.), Cambridge 1998 (Cambridge Medieval Classics 9), p. 265.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 71

(12) Artelouche 39 Tractatus de austuribus 1567 Albertus Magnus XXI.1568


La decoction de la Ad austurem qui habet Si pediculos habeat, mentam
mente Romaine faict ediculos, mentam romanam tere, omanam tere et distempera
mourir les poulz, & et tempera cum vino acri um vino acri et iunge
pareillement l’estafisagre stafisagriam
(fol. 101).

Conclusions

At this point, it is too early to present definitive conclusions concerning


this treatise. To summarise this contribution, however, we can observe
firstly that we have precise data concerning its author and the place and
date of composition of his falconry text. The Fauconnerie can be considered
a ›complete‹ treatise, dealing in details with ornithology, training and medi-
cine. We also know that Artelouche used a number of different sources,
mainly Latin, to which he often refers explicitly. His sources are both me-
dical and cynegetic, but with regard in particular to the medical sources, it
is often difficult to locate the exact passage from which Artelouche drew
his information. Other sources are almost certainly yet to be discovered.
But as long as a large number of treatises on falconry remain unedited,
this part of the work will have to confront material problems. This con-
tribution, therefore, can also be seen as appeal for the edition of medieval
texts, and the treatise of Artelouche itself is certainly worthy of a good
critical edition.

_____________
67 Baudouin Van den Abeele, Les traités de fauconnerie latins du Moyen Age (Thèse de doctorat),
Louvain-la-Neuve 1991, ann. p. 207.
68 De animalibus libri XXVI (fn. 21), p. 1486.
72 An Smets

Annex : correspondances Moamin – Artelouche de Alagona

Moamin latin (ms. T)69 Artelouche 10


11.1 Pour cognoistre la santé universelle de
tous oiseaux.
11.2 Sapientes dixerunt quod imposibile est scire Tous sages disent qu’il est impossible de
egritudinem antequam sciatur sanitas. cognoistre l’infirmité, si premierement on
n’a la cognoissance de la santé, qui est
telle
11.3 Signum autem sanitatis avium rapatium est Quand vous verrez vostre oiseau le matin
quod volucris inveniatur in mane in aurora à l’aube du iour qui remuë la queuë, &
movens se, et moveat caudam et ventilet et la vantelle, & secouë la plume pour
eitiat plumatam de nocte autem post l’amour de l’aube,
auroram,
11.4 deinde levet alas cum rostro dextram sicut et & apres leve les aisles, & avec le bec
sinistram et accipiet de loco qui est sub prent en quelque lieu de sa crouppe
croppa aliquam pinguedinem et ungat se a aucune graisse, dequoy il se oingt à dextre
dextra et sinistra parte. et à senestre.
11.5 Opus autem hoc vocatur untio fiale. Et ceste curée est appellee onction feable.
11.6 Si autem hoc fatiat cum duabus partibus Et s’il le fait aux deux parts des aisles,
alarum, signum est sanitatis ; si tamen c’est signe de santé : que s’il ne le fait
fatiat hoc cum una parte alarum, signum est d’une part ne d’autre, sçachez qu’il est
quod infirmitas est in parte dimissa ; et non constraint de forte & grande infirmité
fatiat hoc ex parte aliqua, scias quod
maxima infirmitate constringitur.
11.7 Signum autem sanitatis in volvere est quod & les signes de la santé du iour, sont que
alacer videatur et solers et equaliter accipat vous verrez vostre oiseau allegre, & qu’il
carnes ab utraque fauce. se plaist esgallement de quelque past que
ce soit,
11.8 stercus suum erit digestum, continum, non & son esmeut est continuellement digest,
abscisum, valde album et nigrum et suptile & non en partie, & fort blanc, & le
erit, venter siccus, noir est fort subtil,
11.9 et avis videbitur pinguis et clari coloris ac si & l’oiseau est reluisant de plumage,
ungantur penne ejus oleo et duo ossa que comme s’il fust oingt, & les deux os qui
sunt apud duas coxas equalia sunt vel sont aupres des cuisses sont egaux sans
erunt, non dulsa, et due vene que sunt in differe[n]ce & les deux veines qui sont en
radice alarum pulsabunt semper ; la raye des aisles battent tousiours
attempreement entre fort & foible,

_____________
69 Martin-Dietrich Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« im Spiegel ihrer volgarizzamenti.
Studien zur Romania Arabica, Tübingen 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philo-
logie 269-270), vol. I, pp. 283-284.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 73

11.10 si vero frequenter et velociter pulsent, erit & qu’il dorme bien la nuit,
signum infirmitatis; et si quandoque pulsent
quandoque non, etiam erit signum
infirmitatis;
11.11 pulsatio enim venarum significans sanitatem
erit mediocris inter firmitatem vel
fortitudinem et debilitatem, et velocitatem et
tardidatem.
11.13 Simiter bonus appetitus signum est & qu’il enduisse bien sa viande
sanitatis. raisonnableme[n]t, & nonobstant, s’il
enduit bien & il ne dort, il a aucun grief
excez, si ce n’estoit pour les pouls qui
l’engardent de dormir (fol. 93r)

12 Moamin latin (ms. T)70 Artelouche 11


12.2 Signa egritudinum cognoscuntur tribus Les signes des infirmitez universellement.
modis : Il y a de trois sortes d’infirmitez es
primo de dispositione egrotantis, oiseaux :
secundo de nocumento virtutis, c’est assavoir en la disposition de
tertio de hoc quod erit de superfluitate l’egestion,
au mouvement de la vertu,
en la superfluité du corps.

Moamin latin (ms. T)71


Premierement de la disposition de
l’egestion.
12.3 Primum est quando vides volucrem Quand vous verrez l’oiseau clourre les
claudentem oculos vel oculum ex hiis yeux, & qu’il en ysse aucune l’arme
exibunt lacrime vel aliquid humidum, tunc [sic] ou humidité, adonc pouvez
scias quod aliquid ceciderit intus. considerer que quelque chose estrange doit
estre dedans.
12.4 Cum autem videbis quod avis claudet duas Et si l’oiseau ferme la deuxiesme ou
tertias partes oculi cum panno oculi et troisiesme partie de l’oeil, ou leve un pied
levabit pedem unum et alterum deponet et & reboute l’autre, & qu’il hausse son
oripilabit pennas suas, scias quod est plumage, sçachez qu’il est refroidi.
refrigidatus.

_____________
70 Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 284.
71 Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 284-285.
74 An Smets

12.5 Cum aperiet os et rostrum et anelat cum Quand vous verrez que l’oiseau ouvrira
lingua, et apud partem inferiorem oculi le bec, & qu’il alaine la langue, & la
incrossant et coartat pennas et alas, scias forame part des yeux en grosse à entour,
quod habent calorem extraneum. & qu’il couche les pennes et les aisles,
sçachez qu’il souffre extreme chaleur
(fol. 93r-93v).
12.6 Cum vero videbis oculum avis clausum, Quand vous verrez l’oeil de l’oiseau clos,
tenendo eum cum latere sue ale, vene que & qu’il le tienne au costé de son aisle,
sunt inter oculos in loco cauterizationis & les veines qui sont entre les yeux
pulsant frequenter et palpetritzant, scias batte[n]t & pousse[n]t, sçachez qu’il a
quod gipsum habet in capite suo. frenaisie au chef, & estourdissement.
12.7 Cum videbis ejus palatum albescere post Qua[n]d vous verrez le palais bla[n]chir,
nigredinem, scias quod habet corrosionem sçachez qu’il a corrosio[n] ou arsure.
sive arsuram.
12.8 Cum videbis avem os vel rostrum aperire et Si vous voyez que vostre oiseau ouvre le
movere caput et ferre cum pectore et ferendo bec, & remuë la teste, & se batte en la
turbatur, scias quod smaticus est. poictrine, & en ce faisant demene la
queuë, & qu’il semble estre troublé,
sçachez qu’il est asmatique.
12.9 Et cum avis assidue sternutabit Quand vous verrez vostre oiseau
palpetrizando de bibere, scias eum in capite palpabier doublement, sçachez qu’il a
ventositatem habere. ventosité en la teste.
12.10 Cum autem videbis cum stare aliomodo Qua[n]d vous verrez vostre oiseau esbahy
quam solitus sit super perticam, collisus est. sur la perche, sçachez qu’il peut estre
grevé.
12.11 Laxatio enim alarum ventositatem pretendit La debilitation des aisles, signifie
in alis suis. ve[n]tositez en celle partie.
12.12 Inflatio guturis sine cibatione notat illic L’influence de la gorge sans past, signifie
ventositatem. ventositez en ladite partie.
12.13 in dorso Quand l’oiseau se tient moüillé sur la
perche, ce signifie ventositez és rains.
12.14 Fixura pedum exeunte inde aqua citrina La rupture des pieds, ou la crevasse, &
emorroides significat. qu’il en sorte eau continuë, signifie
emorroides.
12.15 Inflatio palmarum significat rupturam vel L’inflation des pennes signifie roupture,
disjuncturam aut ventositatem. ou distilation, ou ve[n]tosité.
12.16 Quandoque autem a parte posteriori vadit Quand l’oiseau est sur la perche, & qu’il
aliquis ad avem et avis volvere se vult versus se veut virer vers vous contre sa nature,
hominem, ut ejus moris est, et in se volvendo & s’il travaille & ne se puet soit tenir
tremit et non potest stare super perticam, (?), c’est signe qu’il est podagreux.
scias quod podagram habet.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 75

12.17 Constrictio rostri et sessio super pectus et La constrinction du bec, & l’appuyer sur
abominatio aborum notat augumentum la poictrine, & l’abomination de la
podagre. viande, augmente la podagre.
12.18 Inflatio super cavillam et pilorum depilatio, L’inflation sur la cheville du pied, & la
hoc notat vermes amplos ad modum despoliation du poil, signifient vers,
granorum cucurbitarum intra ventrem.
12.19 Carminatio autem pennarum que dicuntur L’herissement des plumes sur le col, &
cultelli que in alis sunt notant caliditatem. extreme debilitation de couteaux
signifient grande & outrageuse chaleur.

Moamin latin (ms. T)72 Artelouche 12


12.20 Secundo autem modo signum quod est de Du nocemens de la vertu
nocumento virtutis est sic :
12.21 Cum videris volucrem minuentem Apres que vous verrez l’oiseau musse
excussionem sive expergefactionem tout en son plumage, & qu’il ne tourne
pennarum suarum et coartat se non la teste ne le col, sçachez qu’il est malade
movendo collum nec caput, scias quod du chef.
infirmatur in capite.
12.22 Et cum avis hyat sive clamat, arsuram Quand l’oiseau siffle ou crie, cela signifie
significat. grande chaleur, ou arsure.
12.23 Quando vero comedit, si cum ungue scalpit Quand il se paist, & il se gratte de
palatum sicut exeat inde sanguis et aborrent l’ongle le palais iusques au sang, & qu’il
cibum, corrosionem et arsuram habet ibi. ne se puet paistre, cela signifie chaleur
audit lieu, & peril de chancre.
12.24 Similiter quando ferit unam partem rostri Et s’il machote du bec l’un contre l’autre,
ad aliam, corrosionem et arsuram habet. cela signifie comme le precedant.
12.25 Inequalitas cibationis et lassatio alarum et Inequalité du paistre & debilitation
debitias animi significat caliditatem. d’oiseau, signifie chaleur.
12.26 Frequens anelatio ex naribus ore clauso et Le bec clos & sans alteration, signifie
sine alteratione dispositionnis significat grand travail, & grande infirmité.
laborem aut aliam infirmitatem.
12.27 Et quando avis frequenter non mordet Si l’oiseau ne veut prendre la chair ou le
carnes, scias quod habet indigestionem. past si tost qu’on luy presente, signifie
indigestion.
12.28 Pone nares tuas in rostro et odora movendo Et si vous le voulez sçavoir, faut odorer
rostrum cum manibus, et si fetorem sentias, son aleine, que si elle put, signifie
indigestionem habet. indigestion.

_____________
72 Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 285.
76 An Smets

12.29 Si autem avis expellat cibum a gucture vel Si l’oiseau iette la chair de son bec en la
remaneat ibi et non descendat, signum est paissant, & la gorge qu’il prendra luy
indigestionis. demeure sans enduire, signifie indigestion.
12.30 Quando excalpit destram partem rostri, Si l’oiseau gratte la dextre partie du bec,
signum est doloris epatis. signifie douleur au faye.
12.31 Si autem in pertica ventilet sive ventositatem Quand l’oiseau vantelle à la perche, &
fatiat, maxime quando egerit, signum est qu’il fait grand ventosité quand il digere,
ventositatis in ventre. signifie qu’il a ventosité dedans le ventre.
12.32 Si brancet carnes et facit eas pendere, S’il grippe la chair, & qu’il la face
signum est quod in palma vel in crure vel in prendre, signifie qu’il a ventositez dedans
cossa habet ventositatem. les plumes, ou és iambes, ou es cuisses.
12.33 Quando autem tremit cum portatur super Si un piseau [sic] travaille qua[n]d vous
manum portantis, signum est quod le portez sur le poing, signifie qu’il y a
plumatam habet. quelque cure dedans le corps.
12.34 Tardatio egerendi stricturam orificii ani Retardement de la digestio[n], signfie
denotat. restrinction de fondement, & la tardation
de la cure signifie indigestion.
12.37 Quando vero invenitur pastus in intestinis Quand vous trouverez le pastaux
mollis quasi aqua et in gutture durus ut intestins mol comme eau, & la en gorge
lapis, egritudinem pretendit. dur, cela signifie engendrement de la
pierre.
12.39 Cum autem avis a pertica descendit et non Quand un oiseau se bat à la perche, &
poterit super eam saltare, denotat mortem. qu’il tombe, & ne puet remonter dessus,
cela signifie sa mort : si ce ne provient par
la faute de ceux qui l’ont attaché
(fol. 93v-94r).

Moamin latin (ms. T)73 Artelouche 13


12.43 Modo quidem dicendum est de signo quod Des maladies de la superfluité.
exit de superfluitate : Mais parce qu’o[n] dit qu’il y a cinq
manieres de superfluitez, il est bien
necessaire de les sçavoir : la premiere,
sont larmes & eaux de nerfs : la seconde,
ventositez : la tierce, vomissement : la
quarte, la cheute des pennes hors de
saison : la quinte, l’escails ou esmail.
12.45 Si autem exeat aqua ex oculis notat quod S’il iette eau des yeux, signifie que
aliquid illic cecidit. quelque chose est cheute dedans :
12.46 Si vero exeat aqua ex suis naribus, scito & s’il jette humidité par les nazilles, cela
quod infirmatus est. signifie qu’il est malade de rheume.

_____________
73 Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 91), I, p. 286.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona 77

12.50 Quando depilat suum ventrem, vermes habet S’il se plume le ventre & les cuisses, cela
intus. signifie vers estre dedans le ventre
(fol. 94r).

Moamin latin (ms. T)74 Artelouche 14

Pour cognoistre la seinté & la maladie,


pour la cure & par l’esmut. […]
12.55 Et cum videtur egestio sua incisa, scito quod Si l’esmut est gras, & qu’il file, c’est
constrictionem habet. signe de restrinction du fondement.
12.56 Viriditas egestionis et frequentatio ejus Si verdeur d’esmut continuë, & qu’il
paulatim et scalpatio caude et potatio aque demene peu souvent la queuë, & qu’il
significat quod constringitur orifitium ani. boive eau, signifie que le fondement est
restraint.
12.57 Albedo egestionis sue tendens ad citrinitatem La blancheur de l’esmut qui tire à
et crossities illius nigri quod est intus scilicet citrinité, & la multiplication d’humidité,
in egestione, pretendit indigestionem. signifie indigestion.
12.58 Quando autem erit nigredo egestionis Et quand l’esmut est noirastre &
quantum albedo vel quasi et fuerit albedo entremeslé de blanc, & qu’il ayt de
sicus panis sine mucositate, tunc denotat petites bubettes parmy, signifie ventosité
egritudinem vel matiem. (fol. 94r).

_____________
74 Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 286.
Clara Wille (Zürich)

Der Reiher, das Neunauge und der Igel.


Tiernamen im romanischen Mittelalter1

Eine der großen Errungenschaften des 18. Jhs. ist die Taxonomie von
Linné, mit welcher ein bestimmtes Tier in der Wissenschaft auf der gan-
zen Welt mit einem lateinischen Namen eindeutig bezeichnet wird und so
für den Zoologen die verschiedenen volkssprachlichen Tiernamen gleich-
sam ersetzt werden. Die volkssprachlichen Tiernamen ändern sich in der
Tat je nach Epoche, Sprache, Land und Gesellschaft, und es ist oft
schwierig festzustellen, von welchem Tier in einem bestimmten Zusam-
menhang die Rede ist. Für den Philologen handelt es sich hier um das alt-
bekannte Problem der »Wörter und Sachen«. In dieser Studie versuche
ich, diesem Problem am Beispiel der mittelalterlichen Benennung von drei
Tieren nachzugehen, die in Europa bekannt und verbreitet sind, nämlich
von ardea, (›Reiher‹), murena (›Neunauge‹) und ericius (›Igel‹).

Der Reiher

Auf Lateinisch haben wir eine Sache, einen Vogel, den Reiher, aber zwei
Namen, denn er wird bei Vergil ardea, in der Vulgata jedoch herodius ge-
nannt.2 Herodius ist der latinisierte Name von griechisch ἐρῳδιός, ›Reiher‹,
_____________
1 Als Romanistin untersuche ich vor allem die Entwicklung im anglonormannischen und
französischen Sprachbereich und berücksichtige altenglische und althochdeutsche Zeug-
nisse nur dann, wenn sie meine Ausführungen unterstützen.
2 In der Itala und der Vulgata, vgl. Thesaurus Linguae Latinae (= ThLL). Auctoritate et consilio
academiarum quinque Germanicarum Berolinensis … [u. a.], Leipzig 1900 ff.: »erodius, -i
m«; Novae Concordantiae Bibliorum Sacrorum iuxta Vulgatam Versionem Critice editam, Bonifatius
Fischer (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977: »Herodius Dt 14, 16, Jb 39, 13 Ps (Psalte-
rium Gallicanum) 103, 17«; Allerdings wusste man nicht in jedem Fall genau, welches Tier
80 Clara Wille

den Aristoteles in der Historia animalium beschreibt, und ardea ist seit Vergil
in der lateinischen Sprache belegt.3 Beide gehen auf die gleiche indogerma-
nische Wurzel, »arôd-, arəd-, ein Wasservogel« zurück.4
Vergil sagt in den Georgica, dass die ardea hoch über die Wolken fliegt:
ventis surgentibus […] notasque paludes deserit atque altam supra volat ardea nubem.5
Und im 4. Jh. kommentiert Servius diesen Vers wie folgt: ardea dicta quasi
ardua. quae cum altius volaverit, significat tempestatem.6

_____________
auf Lateinisch mit herodius bezeichnet wird; schon auf Griechisch ist es nicht immer eindeu-
tig: vgl. Henry George Liddell / Robert Scott, Greek-English Lexicon, Oxford 1867-1939,
S. 695, ἐρῳδιός, ὁ, heron, gibt als frühestes Zeugnis Ilias 10, 274 an, aber dort soll es even-
tuell der shearwater (Sturmtaucher, eine Art Albatros) sein. In Homer, Ilias. Neue Über-
tragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975, übersetzt Schadewaldt jedoch
die Stelle mit ›Reiher‹; bei Aristoteles (Arist. HA 9, 1 609b21-23 = Plin. NH 10, 164) wird
mit ἐρῳδιός der Reiher bezeichnet. Eine ausführliche Bibliographie mit sehr nützlichen Be-
schreibungen der wichtigsten Werke, Nachschlagewerke, Studien und Lexika zu den latei-
nischen Tiernamen im Mittelalter findet man in: Peter Stotz, Handbuch zur Lateinischen
Sprache des Mittelalters, München 1996-2004, Bd. 1: Einleitung Lexikologische Praxis, Wörter
und Sachen, Lehnwortgut, S. 316-325. Siehe auch den Aufsatz von Roland Sanfaçon, »Le
portail de Ripoll, les hérons et l’Apocalypse«, in: Cahiers de Civilisation Médiévale, Xe-XIIe Sièc-
les, 13/1970, S. 139-147, der die symbolische Bedeutung des Reihers bespricht.
3 Aristotle, History of animals, David M. Balme (Übers. u. Hrsg.) / Allan Gotthelf (Hrsg.),
Cambridge, MA, London 1991, VIII (IX), 1, 609b, 21-23: »There are three kinds of herons,
the grey, the white, and the so-called starry. Of these the grey has difficulty in being cover-
ed and in covering; for it screams and, so they say, drips blood from its eyes while cover-
ing, and it gives birth badly and painfully.« Hieronymus übernimmt diese Beschreibung für
den herodius in seinem Kommentar zu Zach 5, 9 in »Sancti Hieronymi Stridonensis Pres-
byteri Commentariorum in Zachariam Prophetam […] Libri Dvo«, in: Patrologia Latina
(= PL): Patrologiae cursus completus. Series Latina, Jaques-Paul Migne (Hrsg.), 221 Bde., Paris
u. a. 1879-1890, hier Bd. 25, Sp. 1450D-1451A: erodionem […] hi qui de volucrum scripsere
naturis, tria genera autumant: unum album, aliud stellatum, tertium nigrum quod et saevissimum est et
sanguinarium, et pugnans ad coitum impatiens: ita ut ex oculis eorum erumpat cruor. Diese Beschrei-
bung finden wir später bei Albertus Magnus, ardea (vgl. Anm. 45). Vgl. Christian Hüne-
mörder, Art. »Reiher«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7/1995, Sp. 649.
4 Alois Walde / Johann Baptist Hofmann, Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg,
1938: »ardea, -ae f. ›Reiher‹«; Julius Pokorny, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, Bern,
München, 1959: »arod-, arəd- ›ein Wasservogel‹«.
5 Vergil, Hirtengedichte. Vom Landbau, Rudolf Alexander Schröder (Hrsg. u. Übers.), Leipzig
1939, S. 56, I, VV. 356-364: »Wenn sich ein Sturm anhebt […] vom Nest im heimischen
Sumpfe / Hebt sich der Reiher und fliegt hoch rudernd über den Wolken.«
6 ThLL (Anm 2): »ardea: […] Servius, Verg. georg. 1,364«. D. h. »ardea (Reiher) wird gleich-
sam ardua genannt, welche, wenn sie sehr hoch fliegt, einen Sturm ankündigt.«
Tiernamen im romanischen Mittelalter 81

Hieronymus († 420), der den Vers 17 des Psalms 103 kommentiert,


vergleicht den herodius mit dem Adler und sagt: erodion volatile est nimiae
magnitudinis: dicitur autem vincere et aquilam et ipsam habere escam, d. h. der ero-
dios ist ein ziemlich großer Vogel (der nicht näher beschrieben wird); man
sagt, dass er sogar den Adler besiegt und ihn frisst.7 Diese Beschreibung
kann nun einigen Zweifel wecken, was den ›Reiher‹ betrifft, und tatsäch-
lich wird von Hieronymus selber eine zweite Sache ins Spiel gebracht.
Wir besitzen nämlich von Hieronymus zwei Übersetzungen der Psal-
men: die eine, das Psalterium iuxta Hebraeos, nach dem hebräischen Urtext
angefertigt, das sich zunächst in den meisten vollständigen Bibelhand-
schriften befand; die andere, eine Bearbeitung nach dem Septuaginta-Text
der Hexapla des Origines, das Psalterium Gallicanum, war, wohl unter dem
Einfluss der Bibelausgabe Alkuins, insbesondere in Gallien verbreitet. So-
mit ist Vers 17 des Psalms 103 in der Vulgata in zwei verschiedenen Ver-
sionen überliefert: Im Psalterium Gallicanum übersetzt Hieronymus: illic
passeres nidificabunt, erodii domus dux est eorum,8 im Psalterium iuxta Hebraeos da-
gegen: ibi aves nidificabunt, milvo abies domus eius.9 Das heißt, wir haben für
ein und denselben Vers in den Übersetzungen des Hieronymus ins Latei-
nische in der Vulgata, je nach Ausgabe, die wir benützen, einmal erodius,
›Reiher‹ und einmal milvus, ›Milan‹.10

_____________
7 S. Hieronymi Presbyteri, »Tractatus de Psalmo CIII, 17«, in: ders., Opera, Pars II, D. Germanus
Morin (Hrsg.), Turnholt 1958 (Corpus Christianorum, Series Latina 78), S. 185.
8 Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes, Joseph Franz von Allioli (Übers. u. Hrsg.),
Regensburg, New York, Cincinnati 1866, Ps 103, 17: »Wo die Sperlinge nisten, welchen das
Haus der Reiher vorangeht«, und Anm. 2 dazu: »Vor welchen, gleichsam ihnen zum Bei-
spiele, die Reiher nisten. Die Reiher nisten früher als die Sperlinge.«
9 »Dort werden die Vögel ihr Nest bauen, die Zeder wird dem milvus sein Haus (Schutz)
sein.« Zu milvus siehe: Karl Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch
(= Georges), Leipzig 81913, ND Hannover 1983: »Weih / Taubenfalke«.
10 Baudouin Van den Abeele, »L’escoufle: portrait littéraire d’un oiseau«, Reinardus, 1 (1988),
pp. 5-15. Biblia Sacra Vulgata, Robertus Weber (Hrsg.), Editio minor, Stuttgart 31984,
Ps 103, 17 übersetzt iuxta Hebraeos mit milvo abies domus; vgl. ThLL (Anm. 2): »erodius: (ἐρω-
διοῦ. ibi aves nidificabunt. milvo abies domus eius (cod. Amiat.)«. Eines der ältesten Zeugnisse ist
der Codex Amiatinus, Firenze, Bibl. Mediceo-Laurenziana, Amiatino I, ein Codex aus
Northumbria, Anfang 8. Jh. Meine Argumentation gründet u. a. auch auf einem Corpus an-
glonormannischer Glossen in englischen Manuskripten sowie auf lateinischen Bestiarien,
die in England entstanden sind. Dagegen übersetzt die Biblia Vulgata iuxta Vulgatam Clemen-
tinam, Alberto Colunga / Laurentio Turrado (Hrsg.), Madrid 112002, mit herodii domus dux est
82 Clara Wille

Doch Hieronymus interpretiert den herodius an anderer Stelle eindeutig


als ›Reiher‹ und zitiert Aristoteles, wobei er auch dessen Einteilung in drei
Arten übernimmt: Herodionem vero, hi qui de volucrum scripsere naturis, tria gene-
ra autumant: unum album, aliud stellatum, tertium nigrum, quod et saevissimum est et
sanguinarium, et pugnans ad coitum impatiens: ita ut ex oculis eorum erumpat cruor.
Hieronymus sagt, dass es drei Arten des herodius, gebe: die eine weiß, die
zweite gestirnt und die dritte schwarz; diese ist auch die wildeste und blut-
rünstigste Art, kämpferisch und bei der Paarung so leidenschaftlich, dass
sie blutige Tränen vergießt.11
Es gibt noch zwei weitere Stellen in der Vulgata, die den herodius nen-
nen und die für die Interpretation eine Rolle spielen werden: Einerseits in
einer Aufzählung unreiner Vögel in Deuteronomium 14,16-19: herodium et
cycnum et ibin ac mergulum […] et omne quod reptat et pinnulas habet / immundum
erit nec comedetur; und andererseits in Hiob 39,13, wo Vogelgefieder vergli-
chen wird: pinna strutionum similis est pinnis herodii et accipitris.12
_____________
eorum; vgl. Septuaginta (= LXX), Deutsche Bibelgesellschaft (Hrsg.), Stuttgart 1979,
Ps 103, 17: ἐκεῖ στρουϑία ἐννοσσεύσουσιν, τοῦ ἐρωδιοῦ ἡ οἰκία ἡγεῖται αὐτῶν.
Das Problem scheint sich bei der Übersetzung des hebräischen Wortes khasidah zu stellen.
Hieronymus, »S. Eusebii Hieronymi Stridonensis Presbyteri Commentariorum in Jeremiam
Prophetam Libri Sex«, in: PL (Anm. 3), Bd. 24, Sp. 0737B-C, kommentiert dies z. B. an-
lässlich der verschiedenen Übersetzungen zu Ier 8, 7 ins Griechische wie folgt: »pro milvo
quem interpretatus est Symmachus, LXX et Theodotio ipsum verbum hebraicum posuere asida, Aquila
herodium«. D. h. die LXX und Theodotio übersetzen das hebräische Wort asida nicht,
Symmachus übersetzt es mit milvus, und Aquila (Aquila ist gemäß Adolf Jülicher, Art.
»Aquila«, in: Pauly-Wissowa, Realencyclopädie, Bd. 2/1896, Sp. 314, der wörtlichste der Über-
setzer) mit herodius – das wir auch heute in der LXX finden. Weiter sagt Hieronymus dazu,
dass die Hebräer allgemein glauben, dass mit asida der milvus, gemeint ist, dass aber diejeni-
gen, die über die Natur der Tiere schreiben, sagen, dass es der herodius ist; Hieronymus wie-
derholt dies in anderen Worten zu Zach 5, 9, in: PL (Anm. 3), Bd. 25, Sp. 1450D-1451A:
Asidam Hebraei milvum putant, avem rapacissimam, et semper domesticis avibus insidiantem; Herodio-
nem vero, hi qui de volucrum scripsere naturis tria genera autumant […], und er fügt die Beschrei-
bung über die drei Arten des Reihers des Aristoteles hinzu (ebd.). Die Probleme der Bibel-
übersetzung zu besprechen, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. Siehe u. a. Rolf
Peppermüller, Art. »Psalmen, Psalter, A. Christliche Kirchen«, in: Lexikon des Mittelalters,
Bd. 7/1995, Sp. 296.
11 Hier in Zach 5, 9, in: PL (Anm. 3), Bd. 25, Sp. 1451 (vgl. Anm. 3 und 10).
12 Die Heilige Schrift (Anm. 8), Dt 14, 16-20: »den Reiger, und den Schwan, und den Jbis, und
den Taucher, […] Und Alles, was kriecht, und Flügel hat, soll unrein sein, und nicht geges-
sen werden«; Io 39, 13: »Des Straussens Federn sind den Federn des Storchen und Ha-
bichts gleich.« (vgl. Anm. 2 und 10).
Tiernamen im romanischen Mittelalter 83

Was die Bedeutung des Wortes erodius betrifft, herrscht also eine ge-
wisse Unklarheit. In der ersten Hälfte des 5. Jh. spiegelt Eucherius († 450)
aus Lyon, ein Gallier, die Situation wieder, indem er Ps 103, 17 wie folgt
kommentiert: Erodius in psalmo ardea a quibusdam putatur, »gewisse glauben,
dass herodius die ardea (der ›Reiher‹) ist.«13 Ardea ist das Interpretamentum
für erodius, woraus man schließen kann, dass ardea, nicht erodius, der geläufi-
ge Begriff ist. Es fällt übrigens auf, dass im ältesten gallischen Vokabular,
das wir besitzen, bei Polemius Silvius, in einer Aufzählung der Vögel der
herodius nicht genannt wird, wohl aber die ardea.14
Im 7. Jh. kommentiert Gregor der Große die Stelle Iob 39, 13: pinna
strutionum similis est pinnis herodii et accipitris und sagt zu herodius und zu accipi-
ter, dass beide einen kleinen Körper, ein sehr dichtes Gefieder und kein
großes Gewicht haben und daher sehr hoch fliegen können.15 Hier werden
herodius und accipiter – wie schon im Vulgatavers – einander gleichgestellt;
während der kleine Körper jedoch den ›Reiher‹ erneut auszuschließen
scheint.
Der herodius der verschiedenen Stellen im Alten Testament wird somit
einerseits als ardea, ›Reiher‹, der sehr hoch fliegt, interpretiert oder anderer-
seits mit einem Raubvogel, der auch sehr hoch fliegt, verglichen oder ihm
gleichgesetzt. Wir haben also einen Namen, den herodius, der zwei Sachen,
zwei Vögel, bezeichnen kann, die hoch fliegen.
Die Interpretation von erodius als Raubvogel wird von volkssprachli-
chen Quellen gestützt. Im 10. Jh. finden wir eine Glosse zum Psalmenvers
103, 17, die den Kommentar des Hieronymus wieder aufnimmt (s. S. 81),
der sagt, dass der herodius den Adler fängt: Erodion avis maior qui etiam aqui-

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13 Eucherii Lugdunensis Opera, Pars I, Formulae Spiritalis Intellegentiae, Instructionum Libri Duo, Car-
melo Mandolfo (Hrsg.), Turnhout 2004 (Corpus Christianorum, Series Latina 66), S. 210.
14 Polemius Silvius, ein anderer Gallier, der für uns wichtig sein wird, widmete seinem
Freund, dem heiligen Eucherius, den Laterculus, welcher das älteste uns überlieferte galli-
sche Vokabular enthält; vgl. »Polemii Silvii Laterculus a. CCCCXLIX«, in: Monumenta Ger-
maniae Historica (= MGH) AA, Bd. 9,1, Theodor Mommsen (Hrsg.), Berlin 1892, S. 511-
614, hier S. 513 (Widmung) u. S. 543: Nomina cunctarum [sic] spirancium […] et volucrum.
15 »Sancti Gregorii Magni Moralium Lib. 31, cap. 39,12, B. Iob«, in: PL (Anm. 3), Bd. 76,
Sp. 579: Accipitris quippe et herodii parva sunt corpora, sed pennis densioribus fulta, et idcirco cum celeri-
tate transvolant […].
84 Clara Wille

lam prindet [sic].16 Schon vom 8. Jh. an geben angelsächsische und alt-
deutsche Glossen dieser Sache ein volkssprachliches Wort: herodio: falcho,
etc., d. h. sie übersetzen den bei Hieronymus erodius genannten Vogel, der
den Adler fängt, als eine Art Falken.17 Im 12. Jh. schließlich, in der Glossa
ordinaria zum Vers Dt 14, 16, fasst eine Interlinearglosse zu herodius diese
Kommentare zusammen und sagt girfalco vulgo rapit aquilam. Der Vogel, der
den Adler fängt, wird hier mit dem volkssprachlichen Wort germanischen
Ursprungs girfalco bezeichnet.18
Im 13. Jh. wird dieses Resultat von anglonormannischen Glossen, die
wir in einer Sammlung von Texten aus englischen Handschriften finden,
bestätigt – auch wenn man dem Zeugnis von Glossen, je nach Zusam-
menhang, nur einen beschränkten Wert beimessen darf.19
So geben zum Beispiel verschiedene Glossen zum Dictionarius und
zum Commentarius des Johannes de Garlandia, zum Exoticon des Alexander
von Hales oder in De Nominibus Vtensilium des Alexander Nequam, auf
18 Erwähnungen 17-mal herodius mit einem Raubvogel wieder: zehn davon

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16 Corpus Glossariorvm Latinorvm, Gustav Loewe / Georg Goetz (Hrsg.), Leipzig 1894, Bd. 5,
S. 498, 63.
17 Im Folgenden haben wir nur wenige Zeugnisse als Beispiele für die Interpretation von hero-
dius als Raubvogel, resp. Falke, notiert: Thomas Wright / Richard Paul Wülcker (Hrsg.),
Anglo-Saxon and Old English Vocabularies, London 21884, ND Darmstadt 1968, Bd. 1,
Sp. 25,24: »Herodius, walchhabuc« (Anglo-SaxonVocabulary, 8. Jh.); Wallace Martin Lind-
say, Studies in Early Medieval Latin Glossaries, Michael Lapidge (Hrsg.), Aldershot, Hampshire,
GB 1996, S. 33: »Erodius: uualhhebuc (Job 39,13 pennis erodii et accipitris)«; Elias Stein-
meyer / Eduard Sievers (Hrsg.), Die althochdeutschen Glossen, Berlin 1879-1898, ND Dublin,
Zürich 1968, Bd. 1, S. 340-41: »Zum Leviticus xxxix: herodianum uualuc haec fuch« und
»xl: herodio falcho« (ms. des 9.-10. Jh.) und S. 343: »herodius vualdfalcho, uualdfalcho,
falcho«, etc. und Bd. 3, S. 23: »Herodius Gerualch« (ms. des 14. Jh.); vgl. Ronald E. La-
tham / David R. Howlett (Hrsg.), Dictionary of Medieval Latin from British Sources, Oxford
1975ff.: »erodius« und Taylor Starck / John C. Wells (Hrsg.), Althochdeutsches Glossenwörter-
buch, Heidelberg 1990, S. 138: »falco«, S. 197: »gervalke«, S. 246: »-habuh, walh-«; und Ru-
dolf Schützeichel (Hrsg.), Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz, Tübingen 2004,
Bd. 3: »falk«, Bd. 4: »habuh«.
18 Biblia Latina cum Glossa Ordinaria. Facsimile Reprint of the Editio Princeps Adolph Rusch of
Strassburg 1480/81, Karlfried Froehlich / Margaret T. Gibson (Vorwort), Turnhout 1992
(Glossa Ordinaria), S. 392, Dt 14, 16. Die Interlinearglossen wurden Anselm von Laon zuge-
schrieben; vgl. S. VIII und Anm. 19.
19 Vgl. die sehr gute Einführung zu Glossen und Glossatoren von Tony Hunt, Teaching and
Learning Latin in 13th-Century England, 3 Bde., Cambridge 1991, Bd. 1, S. 3-55.
Tiernamen im romanischen Mittelalter 85

übersetzen mit gerfaut (›Gierfalk‹ oder ›Gerfalk‹), ein Falke, mit dem man
unter anderem den Reiher jagte, zwei Stellen sagen, es sei ein Vogel, der
den Reiher jagt, fünf übersetzen mit einer Art Raubvogel und nur eine gibt
als Entsprechung hayrun (›Reiher‹). Umgekehrt geben neun von 16 lateini-
schen Glossen für gerfaut, girfauc, gyrfauc ›herodius‹, sechs einen anderen
Raubvogel, und eine Glosse übersetzt mit grua (›Kranich‹).20
Der Gerfalk, das häufigste der interpretamenta für erodius, ist der wert-
vollste Jagdfalke, er kommt aus dem Norden und trägt seiner Herkunft
gemäß einen germanischen Namen.21 Die Bezeichnung girfaut, gerfaut etc.,
das dem nordischen girfalc entlehnt worden war, wird ihrerseits wiederum
zu girfalco latinisiert.22
_____________
20 Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm. 19), Bd. 3:
10 x erodius/herodius girfauc, gerefauc, gerfauc, etc. (wovon 1 x anglice gerfaukyn)
2x herodius herouner (derjenige, der den Reiher jagt)
1x herodius hayrun
5x herodius ostur (3x), merlinus (2x), zwei andere Arten Raubvögel!
5x gerefauc, gerfauc, etc. herodius (3x), tercellus (ein Falke) (1x), falco (1x)
11 x girfauc etc. herodius (6x), ancipiter (2x), prefalco / peregrinus (2x), grua (1x).
Im Dictionnaire Etymologique de l’Ancien Français (= DEAF), Tübingen, Laval Québec 1974-
1995, Bd. G, Sp. 563-67, unter »Gerfaut«, wird gesagt: »L’origine germanique est assurée
[…] il faut admettre que le français a emprunté le mot déjà composé à l’allemand, de sorte
que la provenance des deux éléments est un problème de la philologie germanique«; erstes
franz. Zeugnis: »girfaut ca. 1176, Cliges 3855, Yvain 882, etc.« Die franz. Glossare spiegeln
in etwa dieselbe Situation wieder: Mario Roques, Recueil général de lexiques français du moyen
âge, 2 Bde., Paris 1936-38; Firmini Verris Dictionarivs, Dictionnaire Latin-Français de Firmin Le
Ver, Brian Merrilees / William Edwards (Hrsg.), Corpus Christianorum. Continuatio Medi-
aevalis (= CCCM), Series in 4o, Bd. 1, Turnhout 1994; Dvo Glossaria. Anonymi Montepessu-
lanensis Dictionarius. Le Glossaire Latin-Français du Ms. Montpellier H236, Anne Grondeux
(Hrsg.), Glossarium Gallico-Latinum. Le Glossaire Français-Latin du Ms. Paris lat. 7684, Brian
Merrilees / Jacques Monfrin (Hrsg.), CCCM, Series in 4o, Bd. 2, Turnhout 1998; Dictionarivs
Familiaris et Compendiosvs. Dictionnaire Latin-Français de Guillaume le Talleur, William Edwards /
Brian Merrilees (Hrsg.), CCCM, Series in 4o, Bd. 3, Turnhout 2002.
21 Vgl. Baudouin Van den Abeele, La fauconnerie dans les lettres françaises du XIIe au XIVe siècle,
Leuven 1990 (Mediaevalia Lovaniensia Series 1 / Studia 18), wo in einer umfassenden Stu-
die die französischen Texte des Mittelalters über die Bedeutung von Falkenjagd und Fal-
kenzucht in verschiedenen Gebieten vorgestellt und kommentiert sind, hier S. xv: »La fau-
connerie […] a été introduite en Europe par les Germains, entre le IIe et le IVe siècle« und
S. 218 die Aufstellung über die Beutetiere der verschiedenen Raubvögel.
22 Dictionary of Medieval Latin from British Sources (Anm. 17): »girfalco, ~us«: erstes Zeugnis
1159; und unter »erodius, ~ion 2, bird of prey b: herodius qui et girfale [sic], ut glossa super Levi-
ticum dicit, […] vel girfalcus dicitur. inter omnes autem aves nobiles nobilissima avis est, colore vestita
86 Clara Wille

Im Mittelalter wurde also das im Lateinischen eigentlich überflüssige


Wort erodius als gelehrte Bezeichnung für eine neue Sache, einen Falken,
benützt, mit welchem man den Reiher und andere Vögel jagte,23 wobei das
tertium comparationis der hohe Flug ist. Die Übertragung scheint durch die
Bibelexegese entstanden zu sein. Nun haben wir also nicht mehr, wie ur-
sprünglich, nur eine Sache, sondern zwei, den Gerfalken und den Reiher
für die beiden lateinischen Wörter herodius und ardea.24
Aber auch die Bezeichnung ardea, die keine größeren Verständnis-
probleme aufwirft, wird durch einen volkssprachlichen Ausdruck margi-
nalisiert. Der Reiher lebt in den gemässigten Zonen Europas mit dem
fränkischen Namen heirun fort (wobei es sich um den sehr verbreiteten
Graureiher handelt) und behält nur als gelehrten Namen ardea.25
Im 13. Jh., gemäß der genannten Sammlung anglonormannischer
Glossen finden wir auf 15 Glossen 15 mal die Erwähnung: ardea ›heirun‹,
›hairuns‹, etc.26 Auch hier scheint die volkssprachliche Situation eindeutig
zu sein. Französisch héron, deutsch Reiher und englisch heron, die seit dem
8.-12. Jh. bezeugt sind, gehen alle auf die gleiche altfränkische Wurzel

_____________
ceruleo. […] aliud genus <falconum> est illud quod herodius vel v u l g a r i t e r girfalcus dicitur.«
Nicholas Upton [ † 1357], De studio militari, Edward Bysshe (Hrsg.), London 1654, S. 187-
88, beschreibt den herodius als einen wertvollen und edlen Vogel, den man vulgariter, d. h.
allgemein, girfalcus nennt.
23 Baudouin Van den Abeele, La fauconnerie dans les lettres françaises (Anm. 21), S. xvii.
24 Dieselbe Situation findet sich schon bei Hieronymus mit der Übersetzung des hebr.
khasida, vgl. Anm. 10.
25 Vgl. z. B. Osberno, Derivazioni, Feruccio Bertini, Vicenzo Ussani jr. (Hrsg.), Spoleto 1996,
Bd. 1, S. 33, Axxx, a318: Ardea, quedam avis que G a l l i c e dicitur hairun (11. Jh.).
26 Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm.19), Bd. 3.
15 x ardea (ardee etc.) hairun, etc.
3 x hairun ardea
Die Gleichsetzung von lateinisch ardea und volkssprachlich hairon wird auch durch die Ab-
leitungen bezeugt: die Reiherjagd war sehr in Mode beim Adel im Mittelalter und ein neuer
Fachausdruck, D. h. ardearius ›haironier‹ (seit 1188), wurde gebildet; der heironier ist der, der
dressiert ist, den heiron zu fangen: Falke oder Hund, aber vor allem Jagdfalke.
8 x ardearius hairuner
1 x ardearius hayrun
Vgl. Frédéric Godefroy (Hrsg.), Dictionnaire de l’Ancienne Langue Française, Paris 1885:
»HAIRONNER, v. n., prendre un héron«.
Tiernamen im romanischen Mittelalter 87

*HAIGRO, ›Reiher‹, zurück.27 Aus dem volkssprachlichen heirun wurde


wiederum ein gelehrter lateinischer Ausdruck gebildet, heiro oder heironus.28
Im Mittelalter bezeichnet nun die lateinische Dublette zwei Vögel, die
beide sehr hoch fliegen, den Reiher, d. h. einen Wasservogel, und den
Gerfalken, einen Raubvogel. Beide haben einen volkssprachlichen Namen
und zwei wissenschaftliche Namen, der eine geerbt (herodius respektive
ardea) und der andere neu aus dem volkssprachlichen Wort (girfalco resp.
hairo) gebildet.
Leider ist die Situation nicht ganz so einfach, denn es gibt, während
sich die Bedeutung herodius gleich gerfaut durchsetzt, noch andere Anwärter
auf diese Namenshülle, welche seit der Vulgata zur Verfügung stand.
1. Eine erste neue Bezeichnung finden wir im Physiologus, der im
Mittelalter in diesem Gebiet beinahe ebenso wichtig wie die Bibel ist. In
der lateinischen Übersetzung Versio Y29 gibt es den Titel herodius .i. fulica,
_____________
27 DEAF (Anm. 20), Bd. H, Sp. 68-71, »hairon«: »[…] heiger ce qui en langue gauloise mène
régulièrement à héron; […] hairon est attesté en fr. dans une glose de Raschi fin XIe s. et
chez Osbern [vgl. Anm. 25]«. Vgl. Friedrich Kluge / Elmar Seebold, Etymologisches Wörter-
buch der deutschen Sprache, Berlin, New York 1999: »Reiher m. (< 10. Jh.) […] in ahd. heigar«;
vgl. Dictionary of Medieval Latin from British Sources (Anm. 17): »ardea, heron«; Anglo-Saxon and
Old English Vocabularies (Anm. 17), Sp. 6,35: ».Ardia, hragra« (Anglo-Saxon Vocabulary,
8. Jh.); Lindsay, Studies in Early Medieval Latin Glossaries (Anm. 17), S. 10: »Ardea et dieper-
dulum: hragra«; Steinmeyer/Sievers (Anm. 17), Bd. 1, S. 343,11: »Zum Leviticus, XLI.: heigr
uel ardua« und Bd. 3, S. 22,17: »ardea haigir, haiger«, etc. Vgl. Osbern (Anm. 25): Ardea,
quedam avis que G a l l i c e dicitur hairun (11. Jh.); in Ms. London, BL Roy. 12 F xiii, in einem
lat. Bestiarium der Familie IID, Anf. 13. Jh., wird für ardea eine volkssprachliche
Bezeichnung gegeben: (ardea) dicitur r o m a n e herun. Vgl. Wilma George / Brunsdon Yapp,
The Naming of the Beasts, London 1991, S. 3 und S. 125: »Ardea«.
28 Dictionary of Medieval Latin from British Sources (Anm. 17): »heiro, ~onus [ME heiron, OF
hairon], heron.« Seit 1217; Charles du Fresne, seigneur Du Cange, Glossarium mediae et infimae
Latinitatis, Niort 1883-1887: »HAIRO, Ardea, erodius, Gall. Héron [bei Du Cange gibt es kei-
nen Eintrag für ›ardea‹]: volucres sunt contemplati, quas Hairones nuncupat l o c u t i o v u l g a r i s «;
Jan Frederik Niermeyer / Co Van de Kieft (Hrsg.), Mediae Latinitatis Lexicon Minus. Über-
arbeitet von Johannes W. J. Burgers, Darmstadt 22002: »hairo hero (genet. –onis), heronus
(germ.): héron«. Niermeyer, Bd. 1, S. xviii, bemerkt übrigens im Vorwort zu seinem Lexicon
zu den Wörtern, die von der Bemerkung vulgo, vulgariter etc. begleitet werden: »Tatsächlich
waren diese Worte, die der Autor mit volkssprachlich bezeichnet, durchaus gebräuchlich
bei den zeitgenössischen Schreibern. Das berühmte ut vulgo dicitur sollte lediglich darauf
hinweisen, dass der Autor meinte, besseres Latein als seine Zeitgenossen zu schreiben.«
29 Physiologus Versio Y, Francis J. Carmody (Hrsg.), Berkeley, CA, London 1941 (University of
California Publications in Classical Philology 12, 7), S. 95-134, hier S. 122: »XXVII De
88 Clara Wille

was in der Versio B nur noch mit fulica bezeichnet wird, das ist ein anderer
Wasservogel.30 Eine entsprechende Bemerkung zu herodius gibt es in
Ps 103, 17 in der Glossa ordinaria, wo es heisst: Cas(siodor). Vel fulica avis que
in aquis habitat.31 Vom 13. Jh. an haben die lateinischen Bestiarien, die aus
dem Physiologus in England entstanden sind,32 einen Artikel fulica neben
ardea (nicht aber für herodius, den sie der fulica oder einem anderen Vogel
gleichsetzen). Das heißt, wir haben hier die Gleichsetzung: herodius gleich
fulica.
2. Eine weitere Bezeichnung hat wiederum ihren Ursprung bei Vergil
und zwar in folgenden Versen der Aeneis: Et socii amissi petierunt aethera pen-
nis / Fluminibusque vagantur aves (heu! dira meorum / Supplicia) et scopulos lacri-
mosis vocibus implent,33 die Servius wie folgt kommentiert: hae aves hodieque
Latine Diomedeae vocantur, Graeci eas erôdious dicunt; d. h. in der Aeneis wurden
die Gefährten des Diomedes in nicht näher bestimmte Vögel verwandelt,
erstrebten in hohem Flug den Aether, streiften an Flüssen umher und
erfüllten die Klippen mit ihrem Klageschrei, was Servius mit »diese Vögel
werden heute auf lateinisch die Vögel des Diomedes genannt, die Grie-
chen nennen sie herodioi« kommentiert.34 Es ist klar, dass es sich bei den
Diomedeae aves um Wasservögel handeln muss, die sehr hoch fliegen kön-
nen. Sie haben in den lateinischen Bestiarien – zwar nur in der dritten

_____________
Herodion id est Fulice«; Physiologus Latinus, Versio B, Francis J. Carmody (Hrsg.), Paris 1939,
S. 39: »XXII Fulica«; vgl. Physiologos. Le bestiaire des bestiaires, Arnaud Zucker (Übers. u.
Hrsg.), Grenoble 2004, S. 251, 47. »Περὶ ἐρωδιοῦ πετεινοῦ (l’Oiseau héron)«.
30 Vgl. Liddell/Scott, Greek-English Lexicon (Anm. 2), S. 1914: »φᾰλᾱρίς, Ion. φαληρίς, ίδος,
ἡ: coot, Fulica atra, Arist. HA 593b 16 (v. l. φαληρίς)«; vgl. Oscar Bloch / Walter von Wart-
burg, Dictionnaire Etymologique de la Langue Française, Paris 111996 (11932): »foulque«.
31 Glossa ordinaria (Anm. 18), Ps 103, 17 (S. 587).
32 Vgl. Willene B. Clark, A Medieval Book of Beasts. The Second-Family Bestiary, Woodbridge,
Suffolk, UK 2006, Einleitung, S. 1-116, v. a. S. 10-11; »The Latin Bestiaries«.
33 Vergil, Aen. 11,272-4; Vgl. Vergils Aeneis, Rudolf Alexander Schröder (Übers.), Zürich 1952,
S. 239: »Meiner Erschlagenen Schar nahm Fittiche, floh zu den Lüften, / Flattert am Strom
in Vogelgestalt – ach, grausame Strafe / Aller der Meinen! – ihr Klagegeschrei füllt Buch-
ten und Felswand.«; vgl. Robert Deryck Williams, The Aeneid of Virgil, Basingstoke, London
1973, ND 1984, 2 Bde., Bd. 2, Buch 7-12, S. 399: »271 f., Diomedeae aves (Plin. NH 10.126)
[…] have been identified by Warde Fowler as shearwaters (eine Art Albatros)«.
34 Servii Grammatici in Vergilii Aeneidos Librvm Undecimvm Commtentarivs, in: http://www.
perseus.tufts.edu/cgi-bin/ptext?lookup=Serv.+A.+11.271 (Stand: 16.06.2008), S. 271: hae
aves hodieque Latine Diomedeae vocantur, Graeci eas erôdious dicunt.
Tiernamen im romanischen Mittelalter 89

Familie – ein Kapitel mit einer entsprechenden Illustration. Das heißt, Ser-
vius setzt den herodius nicht mit der ardea gleich, sondern mit der diomedea.35
3. Noch eine andere Bezeichnung findet sich schließlich bei Isidor,
dem ›Lexikon des Mittelalters‹, der die etymologische Erklärung des Ser-
vius für ardea übernimmt und hinzufügt: ardea […] Hanc multi tantalum no-
minant, d. h. ›viele nennen sie tantalus‹.36 Hier haben wir die Gleichung:
ardea gleich tantalus.37
Gemäß den oben erwähnten Einträgen im Physiologus und den Bestia-
rien ist also herodius gleich fulica gleich diomedea und ardea gleich tantalus. Im
Mittelalter existieren demnach, wie gesagt, zwei oder drei Sachen, und wir
haben mindestens fünf lateinische Namen plus zwei volkssprachliche,
d. h. gut sieben Namen, um sie zu bezeichnen.38
Diese komplizierte Situation wird von den verschiedenen Artikeln der
Enzyklopädisten des 13. Jhs. gespiegelt, die systematisch das ganze Wissen

_____________
35 Zu den Vögeln des Diomedes: Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri
XX, Wallace Martin Lindsay (Hrsg.), Oxford 1911, Buch XII, 7, 28-29: Diomedias aves a
sociis Diomedis appellatas, quos ferunt fabulae in easdem volucres fuisse conversos; forma fulicae similes
[…].
36 Isidor von Sevilla, Etymologiae (Anm. 35), Buch XII, 7, 21. Vgl. Isidorus Hispalensis Etymologiae
XII, Jacques André (Hrsg.), Paris 1986, S. 239: ardea […] Hanc multi tantalum nominant, und
Anm. 476: , »d’après Tantale, le héros de la mythologie debout au milieu de l’eau.«
37 Jacques André, Les Noms d’Oiseaux en Latin, Paris 1967 (Etudes et Commentaires 66); vgl.
Filippo Capponi, Ornithologia latina, Genova, Istituto di Filologia Classica e Medioevale,
1979, p. 479; Le Nouveau Petit Robert, Paris 2007, Art. »Tantale«: »Zool. oiseau échassier
d’Amérique centrale, voisin de la cigogne«.
38 Vom 13. Jh. an findet man in den lat. Bestiarien der 3. Familie je ein Kapitel für fulica,
diomedea und ardea (in der Regel von einer Illustration begleitet), nicht aber für herodius, der
oft mit einem oder mehreren dieser Vögel gleichgesetzt wird. Im 15. Jh. erst hat das jüngste
Exemplar der Bestiarien, Ms. Cambridge, University Library, Gg. 6.5, einen Artikel für hero-
dius (nicht aber für ardea) mit einer guten Illustration eines Falken; vgl. George/Yapp, The
Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 3 u. 26, und William Brunsdon Yapp, »Medieval Know-
ledge of birds as shown in bestiaries«, in: Archives of Natural History, 14, H. 2/1987, S. 175-
210, S. 196. Beim Bestiarium im Ms. Cambridge, University Library, Gg. 6.5 handelt es sich
jedoch um eine Mischform; vgl. Baudouin Van den Abeele, »Un Bestiaire latin à la croisée
des genres. Le manuscrit Cambridge UL Gg.6.5 (›quatrième famille‹ du Bestiaire latin)«, in:
Reinardus, 13/2000, S. 215-236 und Ill. 30-31. Clark, A Medieval Book of Beasts (Anm. 32),
S. 1-116, v. a. S. 23-25. »The Second-family compiler’s sources«.
90 Clara Wille

– sowohl folkloristisches wie wissenschaftliches – , das sich seit der Antike


bis zu ihrer Zeit angesammelt hat, sorgfältig aufzeichnen.39
Vincent de Beauvais40 widmet jeder dieser Bezeichnungen einen
eigenen Eintrag: der ardea, dem girfalco (wobei er sagt: girfalco idem dicitur esse
quod herodius, de quo plenius dicetur inferius), dem herodius, der diomedea und der
fulica, deren Beschreibung sich aber oft überschneidet, nicht nur im Falle
des girfalco-herodius. Unter dem Titel de ardea, & ardeola, & asalon, & asida
übernimmt Vincent die Beschreibung des Servius und Isidor: ardea dicitur
quasi ardua propter arduos volatus, […] hanc multi tantalum vocant. Die Über-
schrift jedoch mit ihren vier Begriffen, unter welchen Vincent auch den
umstrittenen hebräischen Begriff asida des Psalms 103 zitiert, zeigt, dass es
sich nicht um eindeutige Verweise handeln kann.41 Weiter sagt Vincent, im
Kapitel über den Herodius, dem er, anders als die Bestiarien und Albertus,
ein eigenes Kapitel widmet: Isidor. Herodios Greci vocant, quos Latini
Diomedeas aues, de quibus videlicet supra dictum est. Glos. super Psal. 103. Herodius
est auis rapacissima, omnium volatilium maior, & aquilam vincit. Glos. super Deuter.
Herodius vulgo gyrofalco dicitur, & rapit aquilam. Vincent zitiert zuerst nach Art
eines gewissenhaften Gelehrten seine Vorgänger, die wir zum Teil schon
kennen: Isidor42 und Hieronymus zu Ps 103, 17 (s. S. 81), – den er, wie er
selbst sagt, aus der Glossa ordinaria übernommen hat. Dann fügt er die
Interlinearglosse der Glossa ordinaria zu herodius in Dt 14, 16 (s. S. 84)

_____________
39 Im Folgenden gebe ich die vier großen Enzyklopädisten des 13. Jhs. an und die von mir
benutzten Ausgaben: Thomas Cantimpratensis [1272], Liber de natura rerum, Helmut Boese
(Hrsg.), Berlin, New York 1973; Vincentius Bellovacensis [um 1264], Speculum Quadruplex
sive Speculum Maius, Graz 1964, Bd. 1: Speculum naturale; Albertus Magnus [1280], De animali-
bus Libri XXVI, 2 Bde, Hermann Stadler (Hrsg.), Münster 1916-20; Bartholomaeus Angli-
cus [1272], De proprietatibus rerum, [Basel]: [Berthold Ruppel], [um 1470] (Impressum gem.
Gesamtkatalog der Wiegendrucke). Im Rahmen dieser Studie ist es mir nicht möglich, je-
weils die Artikel aller Enzyklopädisten zu besprechen.
40 Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale (Anm. 39), S. 1180: lib. decimussextus,
cap. XXXVIII, de ardea, & ardeola, & asalon, & asida. Ganz am Schluss seines Artikels sagt
Vincent: Auctor [d. h. Vincent] asida iuxta Physiologum ipsa est struthio de qua dicetur infra. (Inter-
essant ist, dass Vincent asida mit ardea und struthio gleichsetzt und nicht, wie Hieronymus,
mit herodius); S. 1195, cap. LXVIII De Diomedais avibus; S. 1201, cap. LXXVI, De Fulica;
cap. LXXXVII De girfalcone et gosturdo; S. 1212, cap. XCV De Herodio.
41 Vgl. Anm. 10.
42 Vgl. Anm. 35.
Tiernamen im romanischen Mittelalter 91

hinzu.43 Schließlich gibt er unter Auctor seine eigene, sehr genaue Beschrei-
bung des Gerfalken, die derjenigen seiner Zeitgenossen entspricht.44 Auch
für Vincent ist herodius der gelehrte Name für den Gerfalken und auch bei
ihm muss die Tradition der Bibelexegese diese Interpretation bekräftigt
haben. Gemäß den verschiedenen Artikeln bei Vincent ergibt sich somit
die Gleichsetzung: herodius gleich vulgo gyrofalco gleich diomedea gleich fulica.
Im Gegensatz zu Vincent, der jedem einzelnen Wort – auch den
›Synonymen‹ – einen eigenen Eintrag mit Querverweisen widmet, versucht
Albertus Magnus, die Dinge zu ordnen und zu gruppieren. Anders als
Vincent widmet er dem herodius keinen Eintrag, sondern bespricht ihn im
Kapitel über den Adler und sagt, dass es der größte und sozusagen der
heros der Adler sei. Dagegen beschreibt er in einem eigenen, langen Kapitel
den Gerfalken, den Vincent dem herodius gleichsetzt, und unterscheidet ihn
deutlich von den anderen genannten Vögeln.45 Die Beschreibung der ardea
_____________
43 Vgl. Anm. 18.
44 Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale (Anm. 39), S. 1212, cap. XCV: De Herodio.
45 Albertus versucht, die verschiedenen Begriffe einer Gattung zuzuordnen. Er übernimmt
unter de ardea die Einteilung des herodius in drei Arten von Aristoteles und Hieronymus
(Anm. 3): Vgl. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 39), Bd. 2, S. 1440, xxiii, 20-21: Ardea
quam quidam ardeolam quidam autem tantalum vocant […] Ardearum aput nos tria inveniuntur genera
unum quidem cinereum acuti rostri et longi colli et aliud totum album in figura per omnia simile dicto, et
est melius pennatum eo: tertium habet longius collum et rostrum ante rotundum sicut sit circulus super
circulum: et ideo cocliarium vocatur, et est totum album. […]; Albert the Great, Man and the Beasts, de
animalibus (Books 22-26), James J. Scanlan (Übers.), Binghamton, New York 1987 (Medieval
and Renaissance Texts and Studies 47), S. 200-01, xxiii, 20-21: »Ardea (Heron) is a bird that
some call ›ardeola‹ and others call ›tantalus‹ […] In our country three species of herons are
recognized. The first is ash-grey in color and has a sharp beak and long neck. The second is
similar in profile but is completely white and has a more luxuriant plumage. The third has a
longer neck and a rounded beak whose mandibles come together in front like one ring fit-
ting into another; for this reason it is called the spoonbill [cocliarium]; it too is totally
white.« Über den herodius, dem er keinen eigenen Eintrag widmet, sagt Albertus Bd. 1,
S. 463, vi, 54: Invenitur autem unum genus accipitrum, quod suum nidum facit in locis valde altis inac-
cessibilibus […] hoc praecipue faciunt herodii aput nos; und Bd. 2, S. 1156, xvii, 22: Dico autem hero-
dium aquilam magnam nigram quae ideo herodius dicitur quia heros est avium. / Iste enim modus avium
est calidissimae naturae. Bd. 2, xxiii, 7 de aquila sagt er noch einmal: Omnis enim aquila viget acumi-
ne visus, maxime vero illa quae nobilis aquila vocatur et haec herodius Latine, quasi heros avium vocatur.
Albert the Great, Man and the Beasts, S. 190-91: »Every species of eagle is noted for its sharp
sight, especially that noble bird known as ›herodius‹ in Latin. The latter is called by this
name as if it were the ›heros‹ (hero) of all birds.« Albertus unterscheidet deutlich den herodi-
us, von welchem er sagt, dass er eine Art Adler ist, vom gyrofalco, dem er ein ganzes, sehr
92 Clara Wille

übernimmt Albertus vom herodius des Aristoteles, wobei er die Geschichte


mit den blutigen Tränen bei der Paarung für unglaubwürdig hält (s. S. 82).
Bei Albertus ist also der mittelalterliche herodius eine Art Adler, der gyrofalco
der Gerfalk und die ardea sozusagen korrekterweise der aristotelische hero-
dius, d. h. wir haben drei Wörter und drei Sachen.
In den Miniaturen der Bestiarien, die gewissermassen eine Zwischen-
position zwischen den Enzyklopädisten und der volkssprachlichen Situa-
tion einnehmen, wird diese Sachlage illustriert. Im Bestiarium der dritten
Familie des Manuskripts, London, Westminster Abbey, 22, aus dem
13. Jh. zeigt eine Miniatur ein ziemlich gutes Bild der ardea – auch wenn
der typisch S-förmige Hals, der den Reiher vom Storch unterscheidet,
fehlt.46 In den lateinischen Bestiarien gibt es kein Kapitel herodius, welcher
der diomedea und der fulica gleichgesetzt wird, die ihrerseits ebenfalls aus-
tauschbar sind. Diese Unklarheiten spiegeln sich in den Darstellungen der
Miniaturen wieder: Diomedea und fulica sehen beinahe gleich aus, die Diome-
dea hat zwar etwas komische Füße (Raubvogel oder Wasservogel?), die
fulica dagegen eindeutig Füße eines Wasservogels.47 Erst in einem der letz-
_____________
ausführliches Kapitel widmet: Bd. 2, S. 1458-61, xxiii, 53: de gyrofalcone. Vgl. An Smets, Des
faucon. Les quatre traductions en moyen français du De falconibus d’Albert le Grand. Analyse lexicale
d’un dossier inédit (Thèse de doctorat non publiée), Leuven 2003, Bd. I, S. 172-174, »Des
faucons«; An Smets / Baudouin Van den Abeele, »Manuscrits et Traités de Chasse français
du Moyen Age. Recensement et perspectives de recherches«, in: Romania 116/1998, S. 316-
367, hier S. 339. An Smets, »Les traductions françaises et italiennes du De falconibus d’Albert
le Grand. Etude comparative de la structure et du lexique médical«, in: The Medieval
Translator. Traduire au Moyen Âge, 10/2004, S. 207-221.
46 Ms. London, Westminster Abbey, 22 (13. Jh. – ein Bestiarium der 3. Familie), fol. 42r/36r,
ardea; vgl. Yapp, Medieval knowledge of birds (Anm. 38), S. 187; dagegen findet man im lat.
Bestiarium Ms. Aberdeen, University Library, 24, fol. 53v. eine sehr gute Darstellung eines
Reihers mit dem typischen Hals in S-Form:
http://www.abdn.ac.uk/bestiary/translat/53v.hti (Stand: 22.05.2008). George/Yapp, The
Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 2f., die Einteilung der lat. Bestiarien in Familien:
Familie IIA, Ms. Aberdeen, 24 (1175-1200); Familie III Ms. Westminster 22 (1261-1299);
Familie IV, Ms. Cambridge, University Library, Gg. 6.5 (15. Jh.). Clark, A Medieval Book of
Beasts (Anm. 38), S. 23-25: »The Second-family compiler’s sources« und S. 115: über die
Beziehung zwischen den Bestiarien und den Enzyklopädien des 13. Jh.
47 Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 43v/37v, »Diomedea«: Sunt circa apuliam in insula
diomedia aues quedam inter scopulos litorum uolitantes forma fulice similes magnitudine et colore cignorum
duris et grandibus rostris. Rapaces et auide […]; »es gibt bei Apulien auf einer Insel diomedia aves,
die in den Klippen der Küsten herumfliegen, an Gestalt der fulica, an Größe und Farbe den
Tiernamen im romanischen Mittelalter 93

ten Bestiarien aus dem 15. Jh. zeigt eine Illustration eines herodius einen
Falken.48
Dieser kurze Abriss über die Geschichte und das Wort- und Bedeu-
tungsfeld von ardea und herodius und ihre Konkurrenten wäre nicht voll-
ständig ohne Linné. Der schwedische Forscher, der im 18. Jh. das Tier-
reich ordnet und großen Bedarf an Namen für seine differenzierten
Bezeichnungen hat, gebraucht nun gerade die Namen wieder, die verfüg-
bar sind, weil es sich um Dubletten handelt oder weil man vergessen hat,
was sie genau bezeichnen: In seiner Taxonomie ist der falco rusticolus der
Gerfalk, die fulica ein Blässhuhn, die diomedea eine Art Albatros,49 der tan-
talus wird zu einer Art Storch, und der herodius wird wieder der ardea bei-
gesellt.

Das Neunauge50

Im Falle des Neunauges hat eine ähnliche Entwicklung stattgefunden,


doch in gewisser Weise gerade in umgekehrter Richtung: Im Mittelalter
existiert ein lateinisches Wort, murena, das zwei Sachen bezeichnet, näm-
lich einerseits die Muräne des Mittelmeers, die im Norden nicht vor-
kommt und welche deswegen in Nordeuropa unbekannt blieb, und an-
dererseits einen anderen langen, aalartigen Fisch, die lamproie (oder auf
Deutsch das Neunauge), der seinerseits im Süden nicht vorkommt. Bis
zum 16. Jh. wurden also in der gelehrten Sprache mit murena zwei ver-
schiedene, lange und fischartige Sachen bezeichnet, wobei das tertium com-
parationis wohl ihre aalförmige Gestalt ist. Dieser Sachverhalt wird einmal
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Schwänen ähnlich, und sie haben harte und große Schnäbel«; und Ms. London, Westmins-
ter Abbey, 22, fol. 43r/37r, »Fulica«.
48 Ms. Cambridge, University Library Gg. 6.5, fol. 67v, herodius; vgl. Yapp, Medieval knowledge of
birds (Anm. 38), S. 187; George/Yapp, The Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 141-42: Minia-
tur, Ms. Cambridge, University Library Gg. 6.5. Vgl. Van den Abeele, »Un Bestiaire à la
croisée des genres« (Anm. 38), S. 215-236.
49 http://en.wikipedia.org/wiki/Great_Albatros (Stand: 24.06.2008);
http://gdz.sub.uni-goettingen.de (Stand: 23.06.2008): S. 65. ›Diomedea‹. Die Bezeichnung
›Diomedea avis‹ ist im Mittelalter problematisch, da der Albatros in Europa nicht bekannt
war.
50 Für die folgenden Ausführungen vgl. Clara Wille, »Murena id est lampreda«, in: Reinardus,
20/2007, im Druck.
94 Clara Wille

mehr von den anglonormannischen Glossen aus dem 13. Jh. bestätigt, die
wir in der erwähnten Sammlung von Texten in englischen Manuskripten
finden: auf 24 Erwähnungen des Wortes murena in den lateinischen Texten
finden wir 24 mal murena id est lamproie, lampreye, etc., wobei mit lamproie
(›Lamprete‹) das Neunauge gemeint ist, das eine sehr begehrte Delikatesse
und äußerst beliebt am Tisch der Könige und der Reichen war.51
Neben murena existierte seit dem 5. Jh. in Gallien das volkssprachliche
Wort naupreda oder lampreda.52 Dieses im klassischen Latein nicht existie-
rende Wort naupreda oder lampreda wurde volkssprachlich anstelle des ge-
lehrten Erbwortes murena gebraucht. In den lateinischen Bestiarien der
dritten Familie gibt es den Eintrag murena mit der dazugehörigen Illustra-
tion, welche eindeutig eine lampreda, ein Neunauge, darstellt.53 Sie ist gut
erkennbar an ihren sieben Öffnungen auf beiden Seiten, was ihr in den
französischen Dialekten den Namen bête à sept trous oder sept yeux eintrug.
Beim deutschen Neunauge wurden wohl noch die Augen und die Fistel

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51 Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm.19), Bd. 3: auf 24 Erwähnungen 24 mal: murena =
lamproie, lampreye etc.
52 Antoine Thomas, »Le Laterculus de Polemius Silvius«, in: Romania 35/1906, S. 161-197,
hier S. 185-187.
53 Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 44v/50v: Murenam Greci murinam uocant, eo quod
complicet se in circulos. Hunc feminini sexus tantum esse tradunt et concipere a serpente. Ob id a pisca-
toribus tanquam a serpente sibilo euocatur et capitur. Ictu autem fustis difficulter interimitur; ferula
protinus. Animam in cauda habere certum est. Nam capite percusso uix eam interimi cauda statim exani-
mari. Hunc uulgo nauipredam uocant eo quod naui rostro adherens a nautis capi soleat. Sunt et alii pisces
[…]; »Die Griechen nennen die murena ›murina‹, deshalb weil sie sich in Ringe wickelt. […]
Diese nennen sie im Volk nauipreda, weil die Seeleute, wenn sie sich am Vorderteil des
Schiffes festsaugt, sie zu fangen pflegen«; vgl. Alanus Flandrensis, Ms. Paris, Bibliothèque
nationale de France, f. lat. 7481, fol. 157r, der in seinem Kommentar zu den Prophetie
Merlini, entstanden in Frankreich im 12. Jh., im Zusammenhang mit derselben Geschichte
kommentiert: Est autem ›murena‹ piscis, qui latine ›lanpreda‹ uocatur; Niermeyer/Van de Kieft
(Anm. 28): »lampreda […] lamproie – lamprey – Neunauge. Pisces qui v u l g o lampredi vo-
cantur.« Vgl. Isidor, Etymologiae (Anm. 35), Buch XII, 6, 43: Muraenam Graeci μύριναν vocant,
eo quod conplicet se in circulos. Alle diese Zeugen sagen, dass muraena ein aus dem griechischen
stammender latinisierter, und folglich gelehrter, Begriff ist, und dass sie vulgo oder gemäss
Alanus sogar latine lampreda heisst. Lampreda existiert im klassischen Latein nicht und gem.
dem Zeugnis des Alanus scheint latine dem vulgo zu entsprechen.
Tiernamen im romanischen Mittelalter 95

auf dem Kopf dazu gezählt, wie es auch die Miniatur in der Hand-
schrift 22 der Westminster Abbey darstellt.54
Parallel dazu existiert das Wort murena weiter zur Bezeichnung der
›echten‹ Muräne des Mittelmeers, dringt aber weder ins Französische ein,
wo der Platz von der lamproie, noch ins Deutsche, wo er vom Niunouge be-
legt ist. Erst im 14. Jh. ist die Muräne im Deutschen und im 16. Jh. murène
im französischen Sprachschatz belegt zur Bezeichnung dieses relativ unbe-
kannten, für diese Gegenden neuen und exotischen Tiers.
Das Wort naupreda ist, wie gesagt, schon im 5. Jh. zum ersten Mal be-
legt, bezeichnenderweise im gallischen Vocabularium des Polemius Silvius,
und darauf im 8. Jh. in einem Text, der in der Gegend von Nantes ent-
standen ist.55 Nantes war im Mittelalter berühmt für seine lamproies, so wie
Brie für seinen Käse und Dijon für den Senf.56 Und schließlich setzt sich
auch hier der volkssprachliche Ausdruck lampreda für eine einheimische
Sache durch.

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54 Eugène Rolland, Faune populaire de la France, Paris 1877, Bd. 3, S. 97. Vgl. Caius Plinius
Secundus der Ältere, Naturkunde, Roderich König (Übers. u. Hrsg.), Darmstadt 1973ff.,
IX,76: In Gallia septentrionali murenis omnibus dextera in maxilla septenae maculae ad formam septen-
trionis aureo colore fulgent. »Im nördlichen Gallien haben alle Muränen an der rechten Kinn-
lade sieben Flecken von der Gestalt des Großen Bären.« Dagegen erwähnt Albertus Mag-
nus, der keinen Eintrag lampreda in seinem Buch über die Fische hat, im Kapitel »murena«
eine Art, die das vulgus novem oculi nennt. Vgl. Kluge/Seebold, Etymologisches Wörterbuch
(Anm. 27): »Neunauge ›Lamprete‹ (< 10. Jh.) niunouga«; und »Muräne (< 14. Jh.)«.
55 Polemii Silvii Laterculus (Anm. 14), S. 543f.: Nomina Cunctarum Spirancium […] Item natancium;
»Vita Ermenlandi Abbatis Antrensis auctore Donato« [s. viiiex/ixin], in: Monumenta Germaniae
Historica SS Rer. Merov. Bd. 5, Bruno Krusch, Wilhelm Levison (Hrsg.), Hannover 1910,
S. 674-710, hier: cap. 8, S. 695f.
56 Bruno Laurioux, Une histoire culinaire du moyen âge, Paris 2005, S. 351 und Anm. 87: Im Ms.
Paris, Bibliothèque nationale de France, f. fr. 837, fol. 225v.b-226r.b und fr. 19152, fol. 71
r.b-v.b. findet man eine Liste, ›Concile d’Apostole‛ genannt, die gewisse Produkte bestimm-
ten Städten zuordnet.
96 Clara Wille

Der Igel57

Der Igel wird im Lateinischen mit drei Wörtern bezeichnet, einerseits das
latinisierte griechische Wort echinus, und andererseits zwei Adjektive, die
vom klassisch lateinischen Wort er, ›Igel‹, abgeleitet sind, nämlich ericius
und erinacius. Der Philologe Manu Leumann bemerkt dazu: »ericius: ›(wie
ein) Igel‹ Varro Men. 490;58 ›Igel‹ Ambr. romanisch; ›eine Kriegsmaschine‹
Caes. Sall., vielleicht als Materialadjektiv in der Soldatensprache entstan-
den ›aus Igel (er) bestehend‹«.59 Gemäß Leumann ist die übertragene Be-
deutung des Adjektivs ericius, ›aus Igel (er) bestehend‹ (bei Caesar und Sal-
lust belegt), älter und hat erst bei Ambrosius die Bedeutung ›Igel‹.60
Ambrosius bemerkt im Exameron VI, 4, 20: echinus iste terrenus, quem
vulgo iricium vocant, was später von Isidor in seinen Etymologiae übernommen
wird: Echinus a terrestro echino nomen traxit, quem vulgus iricium vocant.61 Ambro-
sius und Isidor halten somit den latinisierten griechischen Begriff echinus
für das gelehrte Pendant des volkssprachlichen, d. h. romanischen Wortes

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57 Für die folgenden Ausführungen vgl. Clara Wille, »Quelques observations sur le porc-épic
et le hérisson dans la littérature et l’iconographie médiévale«, in: Reinardus, 17/2004, S. 181-
203.
58 Vgl. M. Terentii Varronis Saturarum Menippearum Fragmenta, Raymond Astbury (Hrsg.), Leip-
zig 1985, S. 489, 490: atque invenisse se […] esse factum ericium cum pilis albis […].
59 Manu Leumann, Lateinische Laut- und Formenlehre, München 1977 (Neuausgabe der 1926-
1928 in 5. Auflage erschienenen ›Lateinischen Laut- und Formenlehre‹), S. 302,2: »Adjek-
tive auf -icius, c) Isoliertes. ericius« und S. 287,4: »Adjektive auf –aceus (nur späte Orthogra-
phie –acius) […] Scherzbildungen gallin-aceus […]. erinaceus Vulg. (iren- Plin., nach εἰρή-
νη) ›Igel‹ von er nach gall-inaceus (der Igel liebt die Hühnereier).«
60 Vgl. ThLL (Anm. 2), »echinus«, »ericius« und »erinaceus«. Walter von Wartburg, Französi-
sches Etymologisches Wörterbuch, eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes (= FEW),
Leipzig, Bonn, Basel 1928ff., Bd. 3, S. 238, »ericius igel: das lt. hatte 2 ablt. von ER ›igel‹ zur
bezeichnung dieses tieres, ERINACIUS und ERICIUS. Die rom. sprachen haben nur die letz-
tere behalten: […] Ein schon lt.*ERICIONE hätte *erçon ergeben müssen. Immerhin ist im
norden in noch vorliterarischer zeit die ablt. auf -ONE an die stelle des simplex getreten«.
Erstes Auftreten von herisson: vgl. F. Godefroy (Anm. 26), und Adolf Tobler / Edgar Lom-
matzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Berlin 1925 ff.: »heriçon s.m.: Ph. Thaon Best. (xiie
siècle): heriçon.«
61 Sancti Ambrosii Opera, Pars Prima, Carolus Schenkl (Hrsg.), Vindobonae 1897 (Repr. New
York 1962.), Exameron VI, 4, 20, S. 216: echinus iste terrenus, quem uulgo iricium uocant, si quid
insidiarum praesenserit, spinis suis clauditur atque in sua se arma colligit […]; Isidor, Etymologiae
(Anm. 35), XII, 6, 57.
Tiernamen im romanischen Mittelalter 97

ericius. Andere Kommentatoren, insbesondere die Grammatiker, sagen je-


doch, dass erinacius und nicht ericius das korrekte Wort für ›Igel‹ ist.62 Drei
Wörter für eine Sache – dies wurde also schon früh als Problem empfun-
den, aber die Diskussion führte zu keinem eindeutigen Resultat.
Die Identität des Igels war jedoch kein Diskussionsgegenstand. Das
sollte aber nicht immer so bleiben, denn bei einer solchen Vielfalt von
quasi synonymen Begriffen lag es nahe, einen spezifischen Ausdruck für
eine bestimmte Igelart zu reservieren. Im 5. Jh. versucht der Gallier
Eucherius in seinen Instructiones, mit welchen er die Bibel kommentiert, die
beiden Wörter erinaceus und ericius auseinander zu halten und nimmt dabei
einen vierten Begriff (der auch aus der Vulgata stammt) zu Hilfe, so dass
zu einem lateinischen Wort je ein gelehrter griechischer Begriff gehört:
Erinacei χοιρογρύλλιοι (choirogryllioi) nuncupantur, prope magnitudine medio-
crium cuniculorum de cauernis petrarum procedentes gregatim; in heremo quae est contra
mare Mortuum depascuntur. Ericii qui ἐχῖνοι (echinoi) dicuntur ita spinoso defendun-
tur tegmine, ut ne contingi quidem possint.63 Die Einführung des choerogryllos
erklärt sich durch den Einfluss des Alten Testaments, das neben dem eri-
cius,64 (h)erinacius65 auch den choerogryllos66 nennt. Die biblische und gelehrte
Tradition hat uns also zwei griechische und zwei lateinische, d. h. vier Na-
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62 Vgl. ThLL (Anm. 2), »erinacius: […] Cassiod. in psalm. 103,18: ›herinacius‹ est quem voca-
mus ›hericium‹ animale armatum«. Erinacius ist demnach die Form bei Plinius, in der Bibel
und in Glossaren. Grammatici Latini, Heinrich Keil (Hrsg.), Hildesheim 1961, S. 577-78:
»De Dubiis Nominibs: […] Erinaceus, non ericius. tamen Rabirius, portarumque fuit custos
ericius«; auch dies bezeugt ein Unbehagen angesichts dieser Dublette.
63 Eucherii Lugdunensis, Instructionum Libri Duo (Anm. 13), II, S. 210-11: »Die erinacei werden
choirogryllioi genannt, weil sie die Grösse eines mittleren Kaninchens haben, und kommen
scharenweise aus den Höhlen; sie leben in der Wüste, die ans Tote Meer grenzt. Die ericii,
die man auch echi