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Teil II Lehren

Nach dem Lernen nun zum Lehren. Ist es che, aber nicht beliebige Vorgehenswei-
berhaupt notwendig, dass wir uns ei- sen und Prinzipien beschrieben und hin-
gens mit dem Lehren befassen? Und sichtlich ihrer Wirksamkeit beurteilt. Die
wenn ja, weshalb dann in dieser Reihen- Darstellung der Lehrmethoden und In-
folge? Geht das Lehren nicht eigentlich struktionsmodelle sttzt sich dabei auf
dem Lernen voran und setzt dieses ber- Ergebnisse der empirischen Lehr-Lern-
haupt erst in Gang? Oder gelingt Lehren Forschung. Insofern ist sie deskriptiv und
seinerseits nur, wenn die Gesetzmßig- nicht normativ-prskriptiv im Sinne einer
keiten des Lernens zuvor bekannt sind Methodenempfehlung fr die Unter-
und sich die Lehrttigkeit daran orien- richtspraxis zu verstehen.
tiert? Im siebten Kapitel werden Rahmenbe-
Das Auslçsen und Optimieren von Lern- dingungen des Lehrens im institutionel-
prozessen ist das Ziel des Lehrens, inso- len Kontext betrachtet. Die Konzentra-
weit ist es dem Lernen zweckrational vor- tion auf den schulischen Unterricht
und untergeordnet zugleich. Im zweiten kennzeichnet zugleich die besonderen
Teil dieses Buches geht es um das kom- gesellschaftlichen Erwartungen, die seit
plexe Zusammenspiel von Lehren und jeher an die Pdagogische Psychologie
Lernen. Er ist in die vier Kapitel 5 bis 8 ge- herangetragen werden: einen Beitrag
gliedert: zur Verbesserung von Bildung und Erzie-
hung zu leisten. Auch außerhalb und un-
5 Auffassungen ber Lehren, abhngig von der Lehrttigkeit gibt es
6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Bedingungen, die das schulische Lernen
Wissen und Kçnnen, beeinflussen. Schulischer Lernerfolg
7 Rahmenbedingungen des Lehrens, hngt deshalb nicht nur von den unter-
8 Besonderheiten des Lehrens. richtlichen Lehrttigkeiten ab.
Spezielle Aspekte des Lehrens werden im
Im fnften Kapitel werden begriffliche achten Kapitel behandelt. Sie betreffen
Klrungen vorgenommen und histori- vor allem adaptive Maßnahmen der be-
sche Entwicklungslinien nachgezeichnet, sonderen Behandlung von Teilgruppen
die zu den gegenwrtigen Auffassungen von Lernenden und die Fçrderung von
von Lehren gefhrt haben. Dabei wird individuellen Lernvoraussetzungen.
Lehren in einer ersten Annherung als di-
daktisches – theoretisch begrndbares – Lehren lernen. Burrhus Frederic Skinner,
Handeln betrachtet, mit dem Ziel, das der bereits erwhnte einflussreiche und
Lernen zu fçrdern. streitbare Lerntheoretiker des 20. Jahr-
Im sechsten Kapitel wird unter dieser Pr- hunderts, hat 1954 eine kleine Schrift mit
misse nach Bedingungen erfolgreichen dem Titel »Die Wissenschaft vom Lernen
Lehrens gefragt. Es werden unterschiedli- und die Kunst des Lehrens« verçffent-

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Teil II Lehren

gisch zu begrnden und als didaktische Die Herausforderungen und Probleme der
Kernprozesse mit Blick auf ihre prakti- pdagogischen Praxis sind vielfltig und
sche Anwendbarkeit im Unterricht den sie sind dringlich. Der alte Wunsch nach
angehenden Lehrer(inne)n einbend zu pdagogisch relevanten Theorien des Leh-
vermitteln (vgl. Kap. 5.2). rens und Lernens ist deshalb nur allzu ver-
stndlich. Richard Mayer sieht hierfr im
Theorie einer Praxis. Die Frage, was gute
kognitionspsychologischen Paradigma
Lehre ausmacht und auf welche Weise
aus erkenntnistheoretischer Sicht eine
unterrichtliches Handeln den Wissens-
gnstige Ausgangslage gegeben. Es sei
fortschritt der Lernenden begnstigen
nmlich ein besonderer Reiz und ein bei-
kann, ist so alt wie die Schule selbst. Die
derseitiger Vorteil, wenn Kognition und
im sechsten Kapitel vorgestellten Metho-
Instruktion, Lernen und Lehren, Psycholo-
den und Prinzipien erfolgreicher Lehre
gie und Pdagogik unter dem Dach einer
reprsentieren den Ertrag einer anwen-
kognitiven Pdagogischen Psychologie
dungsorientierten, aber nicht vornehm-
zusammenfnden, um eine solche Theo-
lich der Anwendung verpflichteten Pda-
rienbildung voranzutreiben:
gogischen Psychologie. Wir sehen die
Aufgabe der Pdagogischen Psychologie Kurz gesagt sind Psychologie und Pdagogik
vor allem darin, die Theorie-Praxis-Br- von beiderseitigem Nutzen. Zur Rolle der
Psychologie in der Pdagogik ist zu sagen,
cke fr beide Seiten begehbar zu ma-
dass es nichts Ntzlicheres fr die Praxis gibt
chen. Erst wenn das im besten Sinne als eine gute Theorie. Zur Rolle der Pdago-
theoretische Wissen ber Lernen und In- gik in der Psychologie ist zu sagen, dass es
struktionsmethoden fr die unterrichts- nichts Ntzlicheres fr die Theoriebildung
praktische Arbeit der Lehrenden hand- gibt als ein gutes praktisches Problem. (May-
lungsleitend geworden ist, ist die eine er, 2001, S. 87)
Hlfte des Weges zurckgelegt. Und erst Am Mangel an »guten praktischen Pro-
wenn die unterrichtspraktische Kompe- blemen« im Bereich des Unterrichtens
tenz der Lehrenden, das tatschliche Leh- und Erziehens sollte Mayers visionrer
rerhandeln und die Komplexitt des Ausblick jedenfalls nicht scheitern. Es
Lehr-Lern-Geschehens als Forschungsthe- gibt genug davon.
men in der empirischen Lehr-Lern-For-
schung fest etabliert sind, ist auch die an-
dere Hlfte begangen.

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5 Auffassungen ber Lehren

Lehrens – wie sie sich aus den Befunden dagogischen Psychologie. Sie beziehen
der empirischen Lehr-Lern-Forschung allgemein- und entwicklungspsycholo-
destillieren lassen – beschrieben. Dabei gische Erkenntnisse ber Lernen und
wird auch auf Gemeinsamkeiten unter- Entwicklung mit ein. In Teil I ist auf die
schiedlicher Theorienfamilien verwiesen. neurowissenschaftlichen Beitrge hinge-
Nicht eigens behandelt wird die neuer- wiesen worden, die unser Verstndnis
dings unter dem Schlagwort »Neurodi- kognitiver Prozesse und Strukturen berei-
daktik« verschiedentlich plakativ dis- chert haben. Neuropdagogische Einsich-
kutierte Thematik (Hther, 2004; Spitzer, ten, die ber das in der pdagogisch-
2004). Die in diesem Lehrbuch vor- psychologischen Modellbildung bereits
gestellten Instruktionsmodelle und Lehr- Bekannte hinausgingen, vermçgen wir
methoden stehen in der Tradition der derzeit (noch) nicht zu erkennen.
empirischen Lehr-Lern-Forschung der P-

Orientierungsfragen
. Wie hngen Lernen und Lehren miteinander zusammen?
. Was folgt aus dem INVO-Modell des Lernens fr das Lehren?
. Muss man zwischen Lehren und Instruktion unterscheiden? Was versteht man ei-
gentlich unter Didaktik?
. Kann man Lehren berhaupt im Voraus planen? Ist die Außensteuerung von
Lernprozessen mçglich oder gar notwendig?
. Kann man Lehren lernen?

5.1 Lehren und Lernen onspsychologie bezeichnet, als Psycholo-


gie des Lernens unter den Bedingungen
Lehren ist ein methodisches Vorgehen, des Lehrens. Aus instruktionspsychologi-
das explizit und bewusst, absichtlich und scher Perspektive sind vor allem die fol-
geplant eingesetzt wird, um Lernvorgnge genden Aspekte interessant:
unterschiedlicher Art auszulçsen oder zu
. Lehren als Strategie oder Methode (als
beeinflussen. Die Absicht ist eine pdago-
Mittel), um ein Lernziel zu erreichen,
gische. Der planvolle Einsatz von Lehr-
. Lehren als »Lernenmachen«, im Sinne
methoden und -techniken setzt ein hohes
einer individualisierten Unterrichtsopti-
Ausmaß an Professionalisierung des Leh-
mierung,
renden voraus, und explizit ist das metho-
. Lehren als »Bereitstellen von Lerngele-
dische Vorgehen deshalb zu nennen, weil
genheiten«, um Lernen zu ermçgli-
eine Lehrsituation ausdrcklich zum
chen,
Zwecke des Lernens gestaltet oder ge-
. Lernen durch Lehren.
nutzt wird. Das methodische Vorgehen
des Lehrens ist auch Gegenstand anderer Dabei hat die Instruktionspsychologie
wissenschaftlicher Disziplinen, so der All- vornehmlich die Individualebene und die
gemeinen Didaktik (als Teil der Schulp- Interaktionsebene der in pdagogischen
dagogik) und der Fachdidaktiken der Un- Situationen Handelnden im Blick: die Be-
terrichtsfcher. Die Psychologie des schreibung und Erklrung der Variabilitt
Lehrens wird hufig auch als Instrukti- des Lehrerhandelns sowie der unter den
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Teil II Lehren

Bedingungen dieses Handelns bei den voraussetzenden Teilkomponenten des


Schlerinnen und Schlern stattfindenden Wissens, maximiert. Die Beherrschung
Lernprozesse. Die (lern-)zielinhaltliche der jeweils vorgeordneten Fertigkeiten
Diskussion, vor allem aber die Betrach- oder Regeln ist nmlich die wesentliche
tung der bildungstheoretischen und -so- Bedingung fr den vertikalen Transfer
ziologischen Bedingungen des Lehrens, (vgl. Kap. 3.3). Fr jede Lernaufgabe lsst
findet eher in den anderen Disziplinen sich somit fragen, welche unmittelbaren
statt. Vorwissenskomponenten verfgbar sein
mssen, um die Aufgabe zu lçsen. Fr je-
Lehren als Methode zur de dieser Komponenten lsst sich die Fra-
ge jeweils wiederholen (Modell des ku-
Erreichung von Lernzielen
mulativen Lernens). Aus der daraus
Lernen als Aufbau von Wissen und Kçn- resultierenden Hierarchie der Vorkennt-
nen ist die eigentliche Zielvariable. Wie nisebenen ergibt sich sachlogisch die An-
sind nun Lernende zu instruieren, zu be- weisung zur Anordnung und Sequenzie-
lehren, damit Lernen ausgelçst, damit rung des zu erlernenden Wissens und
solches Lernen gefçrdert wird? Auf Ro- mithin zur Unterrichtsgestaltung. Damit
bert Gagn (1962, 1965; Gagn & Roh- wird die (innere) Systematik des Sachwis-
wer, 1969) geht die zunchst verhaltens- sens zur inhaltlichen Grundlage der Wis-
wissenschaftlich geprgte Verwendung sensvermittlung und die Diagnose der in-
des Begriffs der Unterrichtsplanung bzw. dividuellen Lernvoraussetzungen wird
des Unterrichtsentwurfs (instructional de- zum notwendigen Ausgangspunkt jedes
sign) zurck: Lernaufgaben oder -ziele Lehrprozesses.
werden sachinhaltlich in Teilkomponen- Modelle der rationalen Unterrichtspla-
ten zerlegt und es werden die notwen- nung in der Folge von Gagn sind z. B.
digen kognitiven Prozesse oder Fertig- von Carroll (1963) und Bloom (1976)
keiten, so genannte »learning sets«, sowie von Ausubel (1968) entwickelt
benannt, die fr das Erreichen dieser Teil- worden (vgl. Kap. 6.1 und 6.2). Carroll
ziele Voraussetzung sind. Aus solchen und Bloom haben insbesondere die Be-
berlegungen heraus sind neo-behavio- deutung einer ausreichenden Lernzeit fr
ristische, spter kognitive Modelle der das zielerreichende Lernen (mastery lear-
Planung, des Entwurfs und der Gestal- ning) betont. Ausubel hat vor allem auf
tung von Unterricht entstanden, so ge- den Vorkenntnisbezug beim Wissensauf-
nannte Instructional Designs bzw. ID- bau hingewiesen und auf die Notwendig-
Modelle (Dick, 1987; zusammenfassend: keit, neue Informationen stets in An-
Ertmer, Driscoll & Wagner, 2003; Reige- knpfung an das bereits vorhandene
luth, 1983). Wissen darzubieten (expository teaching).
Gagn lenkte den Blick des Unterrichts- Gemeinsam ist diesen Anstzen das Pri-
planers vom Lernziel auf den strukturel- mat der Instruktion im Sinne einer au-
len Aufbau der zu lernenden Inhalte: In- ßengesteuerten Optimierung der Lehr-
dem ein Lernziel in Komponenten zerlegt situation, also eine Sichtweise vom
und diese Komponenten hierarchisch, im Lehrenden als »didactic leader« des
Sinne von Voraussetzungsrelationen, an- Lerngeschehens. Das konkrete instruk-
geordnet werden, wird der Unterricht auf tionale Vorgehen setzt dabei stets eine
eine Art und Weise geplant und gestaltet, explizite Lernzielanalyse und eine sorg-
die den vertikalen Lerntransfer, d. h. die fltige Diagnostik der individuellen Lern-
Lernbertragung zwischen den einander voraussetzungen voraus.
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5 Auffassungen ber Lehren

Fokus: Ein pdagogischer Traum?


»Man tritt vor die Klasse, achtet darauf, dass Ruhe und Ordnung herrscht, und
dann beginnt das Lehren: Der Lehrer spricht, erklrt, erlutert, stellt dar, vermittelt
den Stoff, bringt das Nçtige, das Wichtige vor, informiert, bietet, zeigt vor usw. Der
Schler nimmt das vom Lehrer Dargebotene auf, merkt es sich, lernt es (vor allem
zu Hause, damit dem Lehrenden in der Schule keine Zeit verloren geht). Spter fragt
der Lehrer den Schler ab. Die Vollstndigkeit des Wiedergegebenen erlaubt dem
Lehrer daraufhin, gerechterweise die beste Note zu setzen …« (Mller, 1970, S. 15)

Im Vorzug einer streng rationalen Gestal- Lernvoraussetzungen gnstig sind. Pro-


tung des Lehr-Lern-Prozesses liegt zu- blematisch sei allerdings, neben der Ver-
gleich eine Schwachstelle des Ansatzes. nachlssigung der Selbststeuerungskom-
Denn das analytisch-reduktionistische, ponente des Lernens, der meist fehlende
kleinschrittige, vom einfacheren zum Kontext- und Alltagsbezug der Wissens-
komplexeren voranschreitende Vorgehen darbietung, der dem Aufbau »trger«,
des Lehrens beruht auf einer elementaris- nicht oder nur unzureichend anwend-
tisch-additiven, assoziativen Vorstellung barer Wissensbestnde Vorschub leiste
von Lernen. Insbesondere in den frhen (Renkl, 1996a).
ID-Modellen geht eine solche mechanis-
tisch-assoziative Auffassung von Lernen
Lehren als Lernen machen
rasch mit einer verkrzt-technizistischen
Auffassung von Lehren einher. So bleibt Weinert (1974b) hat Elemente der frhen
wenig Raum fr ein ganzheitliches, holis- ID-Konzeptionen von Gagn und Glaser,
tisches und einsichtiges Lernen der ge- Carroll und Bloom sowie von Ausubel
staltpsychologischen Tradition. Vernach- in einem Instruktionsmodell »unter
lssigt wird auch das Potenzial des Bercksichtigung individueller Lern-
selbststndigen und konstruktiven Ler- voraussetzungen und unterschiedlicher
nens und des entdeckenlassenden Lehrens Leistungen«, wie er es nennt, als Emp-
der reformpdagogischen und struktur- fehlungen fr die Planung und Durch-
genetischen Tradition. Erst allmhlich fhrung von Unterricht wie folgt zu-
wurde der Vorstellung des aktiv und stra- sammengefasst:
tegisch Lernenden auch in den Instrukti-
onsmodellen Rechnung getragen – Rein- . Lernziele konkretisieren,
mann-Rothmeier und Mandl (2001) . individuelle Lernvoraussetzungen diag-
sprechen dann von den ID-Modellen der nostizieren,
zweiten Generation. . Lernvoraussetzungen vor Beginn des
In einer kritischen Wrdigung der syste- Unterrichts angleichen,
matisch geplanten und von außen gesteu- . Lernaufgaben in Lernzielkomponenten
erten Formen der Wissensvermittlung in zerlegen und in Voraussetzungsrelatio-
der Nachfolge Gagns kommen Rein- nen anordnen,
mann-Rothmeier und Mandl (1998) . die Schler motivieren,
dennoch zu einer positiven Bewertung – . den individuellen Lernprozess anleiten,
bezogen auf bestimmte Lernziele (Wis- steuern und untersttzen,
sensvermittlung) und -inhalte (Sach- . den individuellen Lernfortschritt ber-
wissen) und wenn die individuellen prfen,
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Teil II Lehren

. wenn nçtig, zustzliche Lernmçglich- von Lerngegenstnden. Im konstrukti-


keiten und -hilfen bereitstellen. vistischen Paradigma ergibt sich die Situ-
iertheit und Kontextbezogenheit des
Auffllig ist der hohe Stellenwert der In- problemorientierten Lehrens aus der
dividualisierung, der hier einfordert wird: Grundidee eines selbstgesteuerten, kon-
die Anpassung des Unterrichts an die Vo- struktiven und sozialen Lernprozesses,
raussetzungen des Lernenden und vor al- der von außen allenfalls ermçglicht und
lem an die Unterschiedlichkeit zwischen begleitet, nicht aber kontrolliert werden
den Lernenden. Der Ausgleich von Leis- kann. Dieses Ermçglichen und Begleiten
tungsunterschieden wird also als (eine) kann nicht im Sinne eines Wissenstrans-
primre Aufgabe des Unterrichts gesehen. fers vom Lehrenden zum Lernenden,
Wir werden darauf noch zurckkommen. sondern nur durch das Anbieten und
Die bergeordnete Zielvorgabe lautet, Bereitstellen geeigneter Lernumgebungen
mçglichst viele Schler an die gestellten und Problemstellungen erfolgen (Dinter,
(individuellen) Lernziele heranzufhren 1998; Hoops, 1998; Palincsar, 1998).
(vgl. dazu Kap. 6.2 und 8.4). Ganz so neu ist die neuerliche Hinwen-
dung zum Lernenden allerdings nicht
Lehren als Bereitstellen (vgl. Bredo, 1997; Brown, 1994). Kurt
Reusser (2001) hat deshalb von »alten
von Lerngelegenheiten
Sackgassen und neuen Wegen in der Bear-
»Warum lernen Schler eigentlich nicht, beitung eines pdagogischen Jahrhun-
was die Lehrer ihnen beibringen?« Die dertproblems« gesprochen, Karl Josef
plakative Frage deutet den Perspektiven- Klauer (1999) sieht »alten Wein in neuen
wechsel an, der zu einer neuen Auffas- Schluchen«. Denn Vorbilder aus der Re-
sung von Lehren gefhrt hat. Diese neue formpdagogik und aus der Psychologie
Auffassung ist durch eine zunehmende in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts
Selbststeuerung des Lernens gekennzeich- gibt es in der Tat: Kerschensteiner (1854–
net. Sie bevorzugt so genannte »offene« 1932), Dewey (1859–1952), Wygotski
oder »problemorientierte« Lernsituatio- (1896–1934) und Piaget (1896–1980).
nen und betont die soziale und situative Schon Kerschensteiner und Dewey haben
Einbettung des Lernens in authentische die Bedeutung der Selbstttigkeit und des
Handlungskontexte. Damit geht zugleich konkreten Handelns beim Lernen hervor-
eine Abkehr von der traditionellen »Lern- gehoben. Und aus Piagets strukturgeneti-
gegenstandsorientierung« des Lehrens scher Theorie ist vor allem das Prinzip
und Lernens einher und eine Zuwendung des »kognitiven Konflikts« maßgeblich,
zu einer »konstruktivistischen« oder »si- z. B. fr Bruners »entdeckendes Lernen«
tuierten« Lernphilosophie (Reinmann- und fr Aeblis »psychologische Didak-
Rothmeier & Mandl, 1998; 2001). tik«. Bereits Wygotskis soziokulturelle
Theorie verweist auf die wichtige Rolle
Gegenstands- vs. Problemorientierung. der sozialen Austauschprozesse, die fr
Im kognitionspsychologischen Paradigma Methoden des kooperativen Lernens von
der regelhaften und symbolischen Infor- großer Bedeutung sind.
mationsverarbeitung ergibt sich die Lern-
gegenstandsorientierung des Lehrens aus Konstruktivismus. In der Hinwendung
der Vorstellung einer systematischen zum sozial, selbstttig, konstruktiv und
bermittlung fertiger, geschlossener Wis- selbst organisiert Lernenden sind mittler-
senspakete: eben als Wissenstransport weile ganz unterschiedliche lehr-lern-
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5 Auffassungen ber Lehren

theoretische Traditionen miteinander ver- Aus konstruktivistischen Auffassungen


bunden, die gemeinsam unter der Be- des Wissenserwerbs folgt aber nicht un-
zeichnung »konstruktivistische Anstze« mittelbar eine instruktionale Vorschrift,
firmieren (Reinmann-Rothmeier & wie dieses Wissen zu vermitteln sei. John
Mandl, 2001; Shuell, 1996). Sie eint die Bransford und seine Kollegen haben da-
Abkehr von der Vermittlungsperspektive rauf zu Recht hingewiesen:
des »didactic leader« und das Unbehagen
Ein hufiges Missverstndnis bezglich »kon-
ber zwei Problemfelder der traditionel-
struktivistischer« Theorien des Wissenserwerbs
len Lehr-Lern-Philosophie: die mangelnde (dass also vorhandenes Wissen benutzt wird,
Eigeninitiative und Selbstverantwortung um neues Wissen aufzubauen) ist, dass Lehrer
der Lernenden fr den eigenen Lernpro- ihren Schlern niemals etwas direkt mitteilen
zess und die oftmals unzureichenden drften, sondern ihnen immer ermçglichen
Lernergebnisse – trges, unverbundenes, sollten, ihr neues Wissen selbst zu konstruie-
fragmentarisches und wenig transferier- ren. Diese Ansicht verwechselt eine Theorie
bares Wissen. Der Kern der Kritik besteht des Unterrichtens mit einer Theorie des Wis-
nicht etwa darin, dass unter den Bedin- senserwerbs. Konstruktivisten nehmen an, dass
alles Wissen aus bereits vorhandenen Wissens-
gungen herkçmmlicher Unterrichtsgestal-
bestnden konstruiert wird, unabhngig da-
tung kein Lernen stattfinde. Bemngelt von, wie gelehrt wird. Selbst das Zuhçren bei
wird vielmehr die Qualitt des erworbe- einer Vorlesung kann in diesem Sinne als ein
nen Wissens und die Vernachlssigung durchaus aktiver Versuch angesehen werden,
der wertvollsten Ressource: der konstruk- neues Wissen zu konstruieren. (Bransford et
tiven Eigenaktivitt der Lernenden. al., 2000, S. 11)

Definition: Konstruktivismus
Der Begriff wird in ganz unterschiedlichen Zusammenhngen, in unterschiedlichen
wissenschaftlichen Disziplinen und mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen ge-
braucht. Wir beschrnken uns auf seine lern- und instruktionspsychologische Ver-
wendung im Sinne einer individuellen Konstruktion von Wissen.
. Lernen, konstruktivistisch betrachtet, ist nicht die Verarbeitung von Informatio-
nen, sondern ihre (stets subjektive) Interpretation. Diese Interpretation wird sehr
viel weniger als in den kognitionspsychologischen Modellen durch strukturelle
und prozessuale Parameter des kognitiven Apparats bestimmt als vielmehr durch
die aktuellen Situationen, Kontexte und Vorbedingungen, unter denen sie stattfin-
det.
. Lernen, konstruktivistisch betrachtet, ist nicht von außen steuerbar. Lernprozesse
sind deshalb auch nur bedingt vorhersehbar. Ob Instruktion in Lehr-Lern-Situa-
tionen unmçglich oder sogar schdlich ist, wird durchaus kontrovers beurteilt.
»Gemßigte Konstruktivisten« gehen davon aus, dass Lernen »von außen«, d. h.
durch das Gestalten von Lernumgebungen, »angestoßen« und erleichtert werden
kann.
. Dass jedes Unterrichten von bereits vorhandenem Wissen ausgehen muss, ist die
Kernaussage einer konstruktivistischen Didaktik. Sie ist bereits in Piagets struk-
turgenetischer Entwicklungstheorie formuliert.
(nach Terhart, 2000, S. 181–201)

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Teil II Lehren

Konstruktivistisch im Sinne der auf Piaget schung des Lernens unter den Bedingun-
und Wygotski (aber auch auf Bartletts gen des Lehrens. Im Interesse am
Gedchtnispsychologie) zurckgehenden menschlichen Lernen fllt das Kerngebiet
Tradition des Lernens ist also eine be- der Pdagogischen Psychologie in großen
stimmte Auffassung ber den Wissens- Teilen mit dem der Kognitionswissen-
aufbau des Lernenden: Wissenserwerb als schaft zusammen, weshalb auch die Er-
individuelle Konstruktion. Es ist eine kenntnis von Snow und Swanson (1992)
ganz andere Frage, welche Lehrmethoden nicht verwundert, dass es sich bei den
geeignet sind, diesen Konstruktionspro- Kognitionswissenschaftlern und den In-
zess zu untersttzen. struktionspsychologen im Wesentlichen
um die gleichen Personen handelt.
Lernen durch Lehren, so wie bislang ver-
Lernen durch Lehren
standen, kennzeichnet die klassische p-
Die Pdagogische Psychologie beschftigt dagogische Situation der zielgerichteten
sich mit dem menschlichen Lernen in Si- Interaktion zwischen Lehrenden und Ler-
tuationen, die eigens zur Auslçsung oder nenden und fokussiert den Wissensauf-
Untersttzung dieses Lernens hergestellt bau des Lernenden unter der Bedingung
werden. Die Situationen nennt man des Belehrtwerdens. Das apodiktische
»pdagogische«, d. h. die Erziehung be- Lernen durch Lehren ist aber auch in an-
treffende, wobei der Erziehungs- als derer Weise bereits besetzt. Im Rahmen
Oberbegriff hier inhalts- und situations- sozial-konstruktivistischer Anstze, wie
bergreifend sehr weit gefasst ist und in- am Beispiel der von Annemarie Palincsar
stitutionelle Kontexte der Schule und an- und Ann Brown entwickelten Methode
derer Bildungseinrichtungen ebenso der reziproken Instruktion (vgl. Kapitel
einschließt wie die Familie. Das Herstel- 6.4) gezeigt, lsst sich der erfolgreiche
len der Lernsituationen nennt man »Leh- Wissensaufbau der Lernenden nmlich
ren«, wobei auch dieser Begriff extensiv auch als Funktion ihrer eigenen Lehrttig-
zu verstehen ist und vom schulischen Un- keit darstellen (Renkl, 1997; Rosenshine
terrichten bis zum huslichen Erziehen & Meister, 1994). Man kann einen Sach-
reicht. Das ist bekanntlich das Kerngebiet verhalt leichter erlernen, wenn man ihn
der Pdagogischen Psychologie: die Erfor- anderen zugleich auch erklren muss.

Fokus: Geschichte des Lernens und Lehrens


Die Entwicklung der Auffassungen zu Lehren und Lernen kann man vor allem in
den zusammenfassenden Darstellungen im »Handbook of Research on Teaching«
nachlesen. Die erste Auflage wurde von Gage (1963) verantwortet, die zweite von
Travers (1973), die dritte von Wittrock (1986) und die vierte von Richardson
(2001). Darber hinaus sind die zusammenfassenden Darstellungen von Shuell
(1996) sowie von Greeno, Collins und Resnick (1996) im von Berliner und Calfee
herausgegebenen »Handbook of Educational Psychology« zu empfehlen. Im Jahr-
buch »Annual Review of Psychology« lsst sich der Wissensstand der Instruktions-
psychologie ab 1969 kontinuierlich verfolgen, zunchst umfassend (z. B. Gagn &
Rohwer, 1969; Glaser & Bassok, 1989; Glaser & Resnick, 1972; McKeachie, 1974;
Resnick, 1981), spter Einzelaspekte betreffend (z. B. Gallagher, 1994; Snow &
Swanson, 1992; Palincsar, 1998; Weinstein, 1991).

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5 Auffassungen ber Lehren

Und im Paradigma des selbstgesteuerten Insbesondere, so Gagn und Rohwer wei-


Lernens (vgl. Kapitel 6.6) wird der ter, htten die experimentell-reduktionis-
Lernende selbst und ausschließlich zu sei- tischen Bedingungen, unter denen das
nem eigenen Instrukteur und damit durch Lernen im Labor erforscht werde, nur
die Internalisierung der Außensteuerung sehr wenig mit den Bedingungen des be-
letztendlich zum Autodidakten des Wis- deutungshaltigen menschlichen Lernens
senserwerbs (Friedrich & Mandl, 1997; gemein und in der Regel seien die ver-
Schunk & Zimmerman, 1994). wendeten Lernaufgaben nur als seltsam,
wenn nicht gar als esoterisch zu bezeich-
nen. Dass es in einer lerntheoretischen
Forschungstradition, wo Anwendungs-
5.2 Bausteine erfahrungs- relevanz so offenkundig nicht beabsich-
wissenschaftlicher tigt war, auch zum Scheitern einer Pda-
Theorien des Lehrens gogischen Psychologie als Psychologie fr
Pdagogen kommen musste, verwundert
Lehren hat nicht automatisch Lernen nicht (Ewert & Thomas, 1996).
zur Folge. Die Lernenden mssen auch Die lernpsychologischen Befunde waren
mitspielen: »Die Lernergebnisse werden nmlich so zahlreich und so verschieden,
im Wesentlichen durch die Lernaktivit- dass eine einfache Transformation in
ten determiniert, die die Lernenden Lehrvorschriften ohnehin zum Scheitern
selbst ausfhren« (Vermunt & Verloop, verurteilt war. Auch erwiesen sich die in-
1999, S. 258). Auf der anderen Seite gilt: dividuellen, sachinhaltlichen und sozialen
Aus Theorien, die Lernvorgnge auf der Bedingungen des Lernens als so komplex,
Individualebene beschreiben und erkl- dass Verallgemeinerungen entweder un-
ren, lassen sich noch lange keine Vor- mçglich waren oder nur trivial sein konn-
schriften ableiten, wie gelehrt werden ten. Nathaniel Gage hat deshalb die Not-
soll. Eher ist es immer schon so gewe- wendigkeit eigenstndiger Theorien des
sen, dass es den Lehrenden selbst ber- Lehrens folgendermaßen begrndet:
lassen war, mit Geschick, »produktiv Um die praktischen Bedrfnisse der Erziehung
und schçpferisch«, wie es William James zu befriedigen, mssen Theorien des Lernens
(1899) nannte, ihre Lehren aus den »auf den Kopf gestellt werden«, damit sie zu
Lerngesetzen zu ziehen und sie fr die Theorien des Lehrens werden. (Gage, 1964; in
Unterrichtsgestaltung umzusetzen. Gagn deutscher bersetzung in Loser & Terhart,
und Rohwer haben 70 Jahre spter in 1977, S. 147)
einem viel zitierten bersichtsartikel,
Und an anderer Stelle heißt es:
dem ersten brigens, der im Annual Re-
view of Psychology zum Thema Instruk- Viel zu groß sind die Bereiche der Pdagogi-
tionspsychologie erschien, die Grabrede schen Psychologie, die dem Lehrer nahe legen,
auf den Nutzen des laborexperimentell- aus dem, was er ber Lernende und Lernen
lerntheoretischen Ansatzes fr das Leh- weiß, abzuleiten, was er tun soll. Theorien des
Lehrens wrden ausdrcklich darstellen, wie
ren gehalten:
sich Lehrer verhalten, warum sie sich so ver-
Wir stellen mit Bedauern fest, dass eine Distanz halten, und welches die Wirkungen dieses Ver-
zur Anwendbarkeit fr Unterricht viele For- haltens sind. Also mssen sich Theorien des
schungsarbeiten zu menschlichem Lernen, Lehrens neben und mit gleichen Rechten wie
Behalten und Transfer in den angesehensten Theorien des Lernens entwickeln, anstatt aus
psychologischen Zeitschriften charakterisiert. ihnen hergeleitet zu werden. (Gage, 1963; in
(Gagn & Rohwer, 1969, S. 381) deutscher bersetzung in Weinert, 1967, S. 91)

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Teil II Lehren

Mit anderen Worten: Lehren muss um Wie werden die unterschiedlichen Lehr-
seiner selbst willen theoretisch betrachtet theorien und Instruktionsmodelle bzw.
und einer wissenschaftlichen berpr- die auf ihnen basierenden Lehrmethoden
fung unterzogen werden. Das aber heißt: diesen Anforderungen gerecht? In der P-
ber die Beschreibung und Erklrung dagogischen Psychologie lassen sich drei
von Lernprozessen hinaus muss die Wirk- wichtige Perspektiven unterscheiden, aus
samkeit von Lehrprozessen erforscht denen heraus Lehrtheorien entwickelt
werden. Lehren muss aus seinen Bedin- wurden: eine verhaltensorientiert-empiri-
gungen heraus erklrt und ber die Ver- sche, eine kognitiv-rationalistische und
haltensweisen erfolgreich Lehrender theo- eine konstruktivistische, letztere mit eher
retisch rekonstruiert werden. kognitivistischer oder eher sozialer Aus-
Aus mehr als drei Jahrzehnten empirischer gestaltung (Greeno, Collins & Resnick,
Lehr-Lern-Forschung lassen sich mittler- 1996; Shuell, 1996).
weile tragfhige Bausteine erfahrungswis- Unter der verhaltensorientierten (beha-
senschaftlicher Theorien des Lehrens be- vioralen) Perspektive werden die Schwer-
nennen. Sie sind im Wesentlichen aus der punkte bei der Analyse des Zielverhal-
Beobachtung und Analyse erfolgreich tens, bei der Planung der einzelnen
Lehrender und erfolgreichen Lehrer(in- Lehrschritte und bei der Leistungsrck-
nen)handelns abgeleitet. Sie lassen sich als meldung gesetzt. Przise operationalisier-
Lehrstrategien zu grundlegenden Lehr-/ te Lehrziele, die kleinschrittige Darbie-
Lernfunktionen unterrichtlichen Handelns tung von Stoffinhalten in einer zuvor
verdichten. Im Folgenden werden diese sachlogisch festgelegten Sequenz, das
Bausteine zusammenfassend dargestellt. wiederholte und kontrollierte ben sowie
eine regelmßige Ergebniskontrolle mit
unmittelbarer Leistungsrckmeldung
Was muss eine Theorie des sind besondere Kennzeichen von Lehr-
Lehrens leisten? ttigkeiten in der Tradition der Theorien
des assoziativen, außengesteuerten Ler-
Robert Glaser (1976; Glaser & Bassok,
nens. Das sind die Lehrmodelle des direk-
1989) hat fnf notwendige Basiskom-
ten Unterrichtens (explicit teaching). In
ponenten fr Lehrtheorien benannt, sie
den Kapiteln 6.1 und 6.2 werden solche
bezeichnen zugleich eine zweckrational-
Anstze spter vorgestellt.
pragmatische Schrittfolge von Instruktion
Unter der kognitivistischen Perspektive
in einer ursprnglich verhaltenstheoreti-
werden die Schwerpunkte der Lehrttig-
schen Tradition:
keit anders gesetzt, zumindest anders
1. Lehrziele als Zielleistungen im Sinne begrndet. Durch Unterricht sollen (kog-
eines Soll-Zustandes definieren, nitive) Prozesse des Wissenserwerbs ge-
2. Eingangsvoraussetzungen im Sinne fçrdert werden, indem »verstehendes«
eines Ist-Zustandes diagnostizieren, Lernen ausgelçst wird. Dies geschieht, in-
3. den (Lern-)Prozess des bergangs dem relevantes Vorwissen aktiviert, der
vom Ist-Zustand in den Soll-Zustand Lernprozess angeleitet und der Lern-
beschreiben und erklren, transfer gebahnt wird (comprehension
4. die instruktionalen Bedingungen, die teaching). In der Betonung der besonde-
den bergang erleichtern, spezifizie- ren Bedeutung von Lernvoraussetzungen
ren, hneln sich die verhaltensorientierten
5. die instruktionalen Wirkungen nach und die kognitivistischen Instruktions-
Abschluss eines Lehrgangs erfassen. modelle.
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5 Auffassungen ber Lehren

Noch deutlicher auf die Eigenaktivitt des 6.5 werden solche Lehrmodelle spter be-
Lernenden bezogen ist die konstruktivisti- handelt. In Abbildung 5.1 sind die vier
sche Perspektive des Lehrens. Auch sie lehr-lern-theoretischen Traditionen mit ih-
setzt am Vorwissen der Lernenden an und ren Schlsselbegriffen aufgelistet.
nimmt die bereits vorhandenen Wissens-
strukturen zum Ausgangspunkt der Lehr- Erfolgreiche Lehrerinnen und
ttigkeit. Auf eine instruktionale Außen-
Lehrer
steuerung wird aber fast vçllig verzichtet:
Lernen ist individuelle Wissenskonstrukti- Wodurch zeichnen sich erfolgreiche Leh-
on, nicht Wissenserwerb durch Vermitt- rerinnen und Lehrer aus? Die empirische
lung. Diese Perspektive steht in der Tradi- Unterrichtsforschung hat sich an zwei
tion des entdeckenden, problemlçsenden Zielkriterien orientiert, um diese Frage zu
Lernens in so genannten »offenen« oder beantworten:
»problemorientierten« Lernumgebungen.
. Was sind die Resultate guten Unter-
Die konstruktivistische Perspektive lsst
richts?
sich weiter ausdifferenzieren: In ihrer kog-
. Mit welchen Mitteln wurden diese Re-
nitiv-konstruktivistischen Ausgestaltung
sultate erreicht?
beruft sie sich auf das Prinzip des indivi-
duellen »kognitiven Konflikts« im Sinne In der Tradition einer vornehmlich am
Piagets oder Bruners, in ihrer sozio-kon- guten Resultat – der Lernleistung von
struktivistischen Variante vor allem auf Schlerinnen und Schlern – orientierten
Prozesse des sozialen Austauschs Wygots- Forschungslinie wurde zunchst nach all-
kischer Prgung. In den Kapiteln 6.3 bis gemeinen Merkmalen der Lehrerpersçn-

Traditionen Lerntheorie (Lernen als) Lehrtheorie (Lehren als) Lehrtätigkeit

verhaltensorientiert-
empiristisch
Wissenserwerb Primat der Instruktion Lehrzielanalyse,
Thorndike
durch Assoziationen Verhaltenskontrolle Sequenzierung der
Skinner
Explicit teaching Lehrinhalte,
Gagné
Reaktionslernen aktives Lehren Leistungsrückmeldung

kognitiv- Wissenserwerb Primat der Kognition Anleiten, Darbieten


rationalistisch durch symbolische Veränderung der und Erklären
Gagné Informationsverarbeitung kognitiven Strukturen Lernstrategien und
Ausubel Comprehension teaching Lerntransfer
Mayer Verstehendes Lernen aktives Lehren

kognitiv- Wissenskonstruktion Primat der Konstruktion Problemsituationen


konstruktivistisch durch Informations- Problemlösen und Werkzeuge
Piaget erzeugung reaktives Lehren bereitstellen
Bruner entdeckenlassendes Unterstützen, Anregen
Aebli Entdeckendes Lernen Lehren und Beraten

sozio- Wissenskonstruktion Primat der Ko- Kooperative Settings


konstruktivistisch durch Informations- Konstrukion bereitstellen,
Wygotski erzeugung Authentische
Rogoff Aushandeln von Problemsituationen
Brown Geteilte Kognitionen Bedeutung

Abb. 5.1: Auffassungen ber Lernen und Lehren


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© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Gießen Mo, Jul 20th 2020, 23:56

5 Auffassungen ber Lehren

Voraussetzungsvariablen Prozessvariablen Produktvariablen

Frühere Kurzfristiger
Erfahrungen des Lernzuwachs
Lehrers • Wissen
• soziale Schicht • Einstellungen
Lehrermerkmale Lehrer- • Fähigkeiten
• Alter
• »teaching skills« verhalten
.... ...
• Intelligenz Änderun-
• Motivation gen des
Erfahrungen aus …
Schüler- Langfristige
der Lehrerausbil-
verhaltens Lernergebnisse
dung
• welche Uni?
Schüler- • Identität
• welches Fach? verhalten • Berufsqualifizierung
... ...

Kontextvariablen

Schüler-
Frühere
eigenschaften
Erfahrungen • Fähigkeiten
des Schülers • Wissen
• Geschlecht • Einstellungen
... ....

Schule und Klassenraum


Gemeinde • Klassengröße
• Sozialklima • Ausstattung
• ethnische ...
Zusammensetzung
...

Abb. 5.2: Prozess-Produkt-Forschung (nach Terhart, 2000, S. 86)

halb, weil es weniger die Hufigkeit einer fekte einzelner Instruktionsmaßnahmen


Maßnahme ist, als vielmehr deren situa- nicht ohne Weiteres replizierbar waren
tive Angemessenheit, die gutes Unterrich- und dass ganz unterschiedliche Maßnah-
ten auszeichnet. Aber nicht nur aus men offenbar in gleicher Weise erfolgver-
diesem Grund ist der theoretische Erkl- sprechend sind. Weinert (1998a) hat das
rungsgehalt der Prozess-Produkt-For- mit Blick auf vorliegende Metaanalysen
schung aus heutiger Sicht eher gering. Es (z. B. Fraser et al., 1987; Wang, Haertel
fehlen Aussagen zu den kognitiven, affek- & Walberg, 1993) fast schon sarkastisch
tiven und motivationalen Prozessen, die kommentiert:
durch das Instruktionsverhalten beim Ler- Man gewinnt bei der Lektre der ermittelten
nenden ausgelçst oder beeinflusst werden. Effektstrken den Eindruck, dass alle Lehr-
Dennoch hat die verknpfende Analyse methoden, Lehrstrategien und Lehrfertigkeiten
von Lehrerverhalten und Lehrerfolg fr das Lernen der Schler irgendwie bedeut-
wichtige Erkenntnisse zum effektiven Un- sam, zugleich aber auch irgendwie unwichtig
terrichten in Schulklassen erbracht. Dazu sind. (Weinert, 1998a, S. 206)
gehçren insbesondere die (technologisch
leicht verwertbaren) Befunde zur effizien- Lehrfunktionen
ten Klassenfhrung, zur Strukturiertheit
und Lernfunktionen
des Unterrichts und zur Lernber-
wachung (Doyle, 1986; Walberg, 1986). Die von Rosenshine und Stevens (1986)
Unbefriedigend ist allerdings, dass die Ef- aus der Prozess-Produkt-Forschung abge-
227
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Teil II Lehren

Fokus: Effektstrke bzw. Effektgrçße


Vor allem bei der empirischen berprfung der Wirksamkeit pdagogisch-psycho-
logischer Maßnahmen will man nicht nur wissen, ob eine Maßnahme wirksam
bzw. einer anderen berlegen ist, sondern auch, wie groß diese berlegenheit ist.
Dies lsst sich mit Hilfe von Maßen der Effektstrke bzw. Effektgrçße feststellen.
Solche Maße setzen in der Regel den Unterschied zwischen zwei Vergleichsgruppen
(z. B. den Leistungszugewinn unter Methode A gegenber demjenigen bei Methode
B) ins Verhltnis zu der gemittelten Streuung innerhalb dieser Gruppen. Verbreitet
ist hierfr das Maß d. Der Wert d = 1 bedeutet, dass der Unterschied zwischen zwei
Gruppen genau einer Standardabweichung entspricht.

leiteten Empfehlungen (s.o.) markieren Lernenden beschreiben. Sie wurzeln au-


auf der Ebene des Lehrerhandelns, was ßerhalb der Instruktionspsychologie in
Glaser (1976) von einer Theorie des Leh- einer lerntheoretischen Forschungstradi-
rens eingefordert hatte. Kognitionspsy- tion. Lernfunktionen kçnnen auf sehr un-
chologisch reinterpretiert und angerei- terschiedliche Weise initiiert und realisiert
chert, lassen sich diese Empfehlungen zu werden. Vor allem kçnnen sie sowohl vom
den folgenden Lehrfunktionen verdichten Lehrenden (»teacher initiated«) als auch
(vgl. auch Greeno et al., 1996): vom Lernenden selbst (»learner initiated«)
ausgelçst werden. Im ersten Fall sprechen
1. ber Ziele einer Lerneinheit infor- wir von fremd gesteuertem, im zweiten
mieren, Fall von selbstgesteuertem Lernen. Wichti-
2. Eingangsprfungen durchfhren, ge Lernfunktionen sind die folgenden
3. Aufmerksamkeit sicherstellen, zwçlf (vgl. Shuell, 1996):
4. Aktivierung des Vorwissens fçrdern,
5. darstellende Stoffvermittlung, 1. Erwartungen aufbauen,
6. zu Elaborationen anregen, 2. Motivieren,
7. Selbstregulation des Lernens fçrdern, 3. Vorwissen aktivieren,
8. untersttzende Lerngerste verwen- 4. Aufmerksamkeit zuwenden,
den, 5. Enkodieren,
9. angeleitetes und selbststndiges ben 6. Vergleichen,
sicherstellen, 7. Hypothesen generieren,
10. Lernberwachung sicherstellen und 8. Informationsintegration,
Rckmeldungen geben, 9. Wiederholen,
11. regelmßige Lernerfolgskontrolle si- 10. Rckmeldung und Korrektur,
cherstellen, 11. Evaluation und Reflexion,
12. Transfer des Gelernten vorbereiten 12. berprfen (Monitoring).
und untersttzen.
Die Entsprechung zu den oben aufgefhr-
Die Lehrfunktionen beschreiben, was Leh- ten Lehrfunktionen ist leicht zu erkennen.
rende tun sollen, um Lernen zu befçrdern. Neu ist vor allem die Hervorhebung von
Ihr notwendiges Pendant sind grundlegen- Kernprozessen strategischer Informa-
de Lernfunktionen, die den Wissensauf- tionsverarbeitung: Enkodieren, Verglei-
bau und die Prozesse der Informations- chen, Hypothesen generieren und Infor-
verarbeitung aus der Perspektive des mationsintegration. An ihnen lsst sich
228
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Teil II Lehren

geeignet, die unterschiedlichen Lern- Aeblis Psychologische Didaktik. Weil das


prozesse zielfhrend auszulçsen. Video- Lernen am besten durch lebendig emp-
aufzeichnungen des Unterrichts von 90 fundene Probleme in Bewegung gesetzt
Lehrkrften zeigen brigens, dass die werde, steht das problemlçsende Aufbau-
»Begriffs- und Konzeptbildung« den en einer neuen Wissensstruktur am An-
weitaus grçßten Teil des unterrichtlichen fang eines Lehrprozesses. Der Lehrende
Lehr-Lern-Geschehens ausmacht (Oser stellt ein Problem bereit. Die Aufgabe der
& Baeriswyl, 2001). Lernenden besteht darin, fr das Problem
Hans Aebli hat Piagets Lerntheorie in ei- eine Lçsung zu entwickeln. Das problem-
ne Allgemeine Didaktik auf psychologi- lçsend erarbeitete Wissen ist aber zu-
scher Grundlage bersetzt. Aus dem han- nchst noch fragil und unbeweglich. Zu
delnden Ursprung des Denkens leitet sehr sind die Begriffe an den Beispielen
Aebli fr den Prozess der individuellen verhaftet, an denen sie erarbeitet worden
Wissenskonstruktion die folgerichtige sind. An die Phase des problemlçsenden
Sequenz »von der Handlung ber die Aufbauens schließt deshalb eine Phase
Operation zum Begriff« ab. Aebli zufolge des Durcharbeitens an. Erst sie fhrt zur
sollen die Lehrttigkeiten mit dem »pro- Beweglichkeit im Handeln und Operie-
blemlçsenden Aufbauen« eines Inhalts ren. Zum Durcharbeiten von Begriffen
beginnen und ber das »Durcharbeiten« gehçrt, dass ein Begriff auf verschiedene
sowie das »ben und Wiederholen« Weise erklrt und dass die Perspektive ge-
schließlich zum »Anwenden« des Gelern- wechselt wird.
ten fhren. Das ben und Wiederholen konsolidiert
Bei Aebli, aber auch in anderen hand- das Gelernte. Es dient der Routinisierung
lungstheoretischen Didaktiken, wird also und Automatisierung von gedanklichen
eine Sequenz von Unterrichtsschritten Ablufen. Hierbei wird den Gesetzmßig-
oder Lernphasen vorgegeben. Solche keiten des verknpfenden Lernens Rech-
Auffassungen wurzeln in der idealis- nung getragen. Es ist auf den korrekten
tisch-rationalistischen Tradition der un- Vollzug der Ablufe oder Operationen zu
terrichtlichen Formalstufenlehre Herbarts achten und auf das Gesetz der »verteilten
(1776–1841) und seiner Schler. Danach bung« (vgl. Kap. 1.3). Wichtig ist die
soll Unterricht einer Sequenz folgen, die besondere Stellung der bung im Lern-
von der klaren Darbietung ber die Ver- prozess: Das »Auswendiglernen« darf
knpfung und Ordnung der neuen Inhal- erst nach dem Durcharbeiten stattfinden.
te zum ben und Anwenden des Gelern- In diesem Punkt stellt Aebli brigens
ten fhrt. Diese Vorstellungen von der Gagns Lernhierarchien (Gagn, 1965)
Lehrttigkeit entsprechen spiegelbildlich auf den Kopf: Lernen beginnt bei Aebli
einer Auffassung vom Lernprozess, die mit dem komplexen Problemlçsen und
eine Abfolge vom Verstehen ber das Be- endet mit der Festigung der einfachen as-
halten bis zum Transfer des neu erworbe- soziativen Verknpfungen.
nen Wissens postuliert. Weinert (1996c) Als letzter didaktischer Schritt folgt die
hat darauf hingewiesen, dass die analyti- Anleitung zur Anwendung des Gelernten.
schen Einsichten der weitgehend speku- Neu aufgebaute Begriffe, Handlungssche-
lativen Formalstufenmodelle in den ein- mata und Operationen sind letztendlich
flussreichen kognitionspsychologischen nur Instrumente, um weitere Probleme
Stadienmodellen des Wissenserwerbs hnlicher Art zu lçsen. Schließlich soll
(Anderson, 1982; Shuell, 1990) wieder das neu aufgebaute Wissen in neuen Zu-
auftauchen. sammenhngen, d. h. in neuartigen, aber
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5 Auffassungen ber Lehren

Fokus: Problemlçsendes Aufbauen


Das Problem:
Bereits im 17. Jahrhundert beschftigte man sich mit der Frage, wie der Wasseraus-
tausch zwischen Mittelmeer und Atlantik durch die Straße von Gibraltar vonstatten
gehe. In Seefahrerkreisen war nmlich bekannt, dass ein starker Einstrom aus dem
Atlantik die Durchfahrt in westlicher Richtung erschwerte. Unklar blieb, wie sich
das Mittelmeer dieses zufließenden Wassers wieder entledigte. Denn die einstrç-
mende Wassermenge von einer Million Kubikmeter pro Sekunde wrde den Spiegel
des Mittelmeeres pro Jahr um zehn Meter steigen lassen. Gibt es einen »zweiten«
Abfluss? Verdunstet das Mittelmeerwasser?
Die Lçsung:
Einen zweiten Abfluss gibt es nicht und die hçhere Verdunstung reicht bei weitem
nicht aus, um den Zufluss aus dem Atlantik zu kompensieren. Also muss das Was-
ser in irgendeiner Form in den Atlantik zurckfließen. Das geschieht durch einen
starken Unterstrom. Urschlich fr den Wasseraustausch ist der Dichteunterschied
zwischen Atlantik- und Mittelmeerwasser. Weil die mittlere Verdunstungsrate ber
dem relativ warmen Mittelmeer grçßer ist als ber dem Atlantik, ist Mittelmeer-
wasser salzhaltiger und wiegt pro Kubikmeter etwa zwei Kilogramm mehr als At-
lantikwasser an der Oberflche. Es sinkt unter dem Einfluss der Schwerkraft auf
der westlichen Seite der Schwelle von Gibraltar in das Atlantikbecken ab, bis es in
einer Tiefe von rund 1000 Metern das ihm entsprechende Dichteniveau erreicht.
Wegen der abnehmenden Temperatur nimmt die Dichte von Meerwasser mit zuneh-
mender Tiefe zu. Zum Ausgleich dafr strçmt an der Oberflche (und mithin fr
die Seefahrer zu beobachten) spezifisch leichteres Atlantikwasser ins Mittelmeer.
Die Rolle der Lehrenden:
Den Lernenden dabei helfen, geeignete Lçsungsgedanken aus ihrem Wissen abzuru-
fen. Der Lehrende kennt die Lçsung, kennt auch die Elemente, die auf den Schritten
des Lçsungsprozesses bençtigt werden. Er gibt Zusatzinformationen (minimale Hil-
fen). Statt die Lçsung mitzuteilen, lsst er die Lernenden selbst die Lçsung finden.
Er antwortet auf Fragen.
(Problemstellung nach einer Vorlage von Kse und Zenk, 1993)

vergleichbaren Problemsituationen zur die im Unterricht bereitgestellt werden.


Anwendung kommen (Lerntransfer). Da- Bei der Problemlçsung werden zunchst
bei ist schrittweise von der geleiteten zur Handlungsschemata entwickelt, spter
selbststndigen Anwendung berzuge- Operationen, die Operationen »hinter«
hen. den Handlungen fhren schließlich zum
Aeblis psychologische Didaktik kom- Begriff. Im Lernprozess muss auf das
biniert Erkenntnisse der verhaltensorien- problemlçsende Erarbeiten der ersten
tierten mit der kognitiv-konstruktivis- Lernphase das Durcharbeiten in einer
tischen Tradition des Lernens. Alles zweiten Phase folgen. Durch bung und
Wissen muss der Lernende selbst aufbau- Wiederholung mssen schließlich die neu
en – den Anstoß dazu geben Probleme, erarbeiteten Fertigkeiten und Begriffe in
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Teil II Lehren

einer dritten Phase konsolidiert werden. didaktische Kurzschluss besteht darin, bloße Er-
Zu guter Letzt muss das Gelernte anwend- gebnisse zu vermitteln und zu meinen, man ha-
bar gemacht werden, damit es auf neue be nicht die Zeit oder es sei zu umstndlich, mit
den Schlern jene Ttigkeiten in Gang zu set-
Situationen transferiert werden kann.
zen, deren Ergebnis die Einsicht, die Problemlç-
Aeblis Lehrtheorie ist als »Psychologische
sung, der Begriff ist. (Aebli, 1987, S. 30–31)
Didaktik« zunchst eine Theorie des di-
daktischen Handelns auf der Grundlage Gerhard Steiner spricht hnlich wie Aebli
der strukturgenetischen Erkenntnistheo- von den »didaktischen Kernprozessen«
rie von Piaget. Sie knpft an die spekula- des Aufbauens, Durcharbeitens und Kon-
tiven berlegungen der Herbartianer solidierens, die das Wissen, das Kçnnen
ber die Phasen des Lernprozesses und und das Anwenden des Gelernten befçr-
die daraus folgenden Stufen des Unter- dern (Steiner, 1996, 2001). In Steiners
richtens an. Sie wird zur erfahrungswis- Terminologie wird Aeblis Didaktik nher
senschaftlichen Theorie, wo sie die not- an die aktuelle kognitionswissenschaftli-
wendigen Phasen des Lernprozesses als che Diskussion herangefhrt. Die ber-
Lernfunktionen bezeichnet und von der lappung mit den Lehr- und Lernfunktio-
prskriptiven auf die beschreibende und nen der kognitiv-konstruktivistischen
empirisch begrndbare Ebene der Lehr- Tradition (z. B. Shuell, 1996) wird dabei
Lern-Forschung zurckfhrt. noch sichtbarer.
Aebli teilt mit Piaget die konstruktivisti-
sche Grundhaltung, weist aber dem Leh-
rer oder Erzieher eine aktivere Aufgabe
zu, als dies Piaget vorgesehen hat: das 5.3 Die Vereinbarkeit
Anregen von Lernprozessen durch das von Instruktion
Bereitstellen von Lernangeboten und und Konstruktion
Problemen, das Anleiten beim Aufbau
von Handlungsstrukturen und Operatio- Lehrttigkeit lsst sich auf der Grundlage
nen, das Durcharbeiten, ben und An- konstruktivistischer, kognitivistischer und
wenden der neu aufgebauten Strukturen. verhaltensorientierter Auffassungen von
Und doch kann der Lehrende dem Ler- Lernen begrnden und gestalten. Die in
nenden das Lernen nicht abnehmen: vor Kapitel 5.2 aufgelisteten Lehr-Lern-Funk-
dem didaktischen Kurzschluss wird des- tionen lassen sich leicht in entsprechende
halb besonders gewarnt. Handlungsanweisungen bersetzen. Bei
Die große Gefahr besteht darin, dass Wissens- der Auswahl einer Lehrmethode wird
stoffe unabhngig von den unterrichtlichen T- auch eine Rolle spielen, welche Lernziele
tigkeiten gesehen werden, deren Niederschlag durch Lehren erreicht werden sollen. Der
und Ergebnis sie eigentlich darstellen sollten. Erwerb systematischen Wissens, der Er-
Sie werden dem Schler unmittelbar vorgetra- werb anwendungsfhigen, transferier-
gen oder zum Lesen im Lehrbuch »aufgege- baren Wissens, der Erwerb allgemeiner
ben«. Einige Unglcksraben lernen sie aus- Lernkompetenzen und von Schlsselqua-
wendig, auch wenn sie sie nicht verstehen. lifikationen, der Aufbau sozialer Verhal-
Stoffsammlungen, also Beschreibungen von
tensweisen und der Aufbau von Wertori-
Wissen, Zusammenfassungen von Unterrichts-
ergebnissen, sind dann gefhrlich, wenn sie im
entierungen wird vermutlich nicht durch
Unterricht nicht in Ttigkeiten zurckverwan- eine einzige Lehrmethode zu erreichen
delt werden, die von lebendigen Problemen aus- sein (Weinert, 2000b).
gehen und vom Schler eigenes Handeln, Be- Aus einer pragmatischen Perspektive, wie
obachten und Nachdenken erfordern. Der es Reinmann-Rothmeier und Mandl
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5 Auffassungen ber Lehren

(2001) tun, wird in der Instruktionspsy- Eine solche Auffassung von Lernen hat in-
chologie ohnehin meist ein so genannter sofern weit reichende Folgerungen fr das
»gemßigter« Konstruktivismus vertre- Lehren, als sie dem Lehrenden eine ver-
ten, der die Koexistenz zwischen Instruk- antwortliche Position zuweist, jenseits ei-
tion und Konstruktion nicht nur zulsst, nes radikal-konstruktivistischen Lehrver-
sondern gleichsam einfordert. Die »M- bots (Lehren ist nicht mçglich, weil das
ßigung« drckt sich auch in der Ausblen- lernende System von außen prinzipiell un-
dung der epistemisch-erkenntnistheo- zugnglich ist) und einer behavioral-kog-
retischen Dimension des Konstrukti- nitivistischen Lehrverpflichtung (Lehren
vismusbegriffs aus. Damit bleibt die ist notwendig, weil Lernen erst dadurch
radikal-konstruktivistische Position einer ermçglicht bzw. erleichtert wird). Eine
»konstruierten Wirklichkeit« (Watzla- moderat-konstruktivistische Sichtweise
wick, 1976), d. h. einer unauflçsbaren betrachtet Lehren nicht nur als mçglich,
Relativitt von Wirklichkeit im Sinne ei- sondern zugleich als ntzlich, wenn es
ner Verneinung ontologischer Realitt – nmlich die Eigenaktivitt, die Situiertheit
auch in ihrer neurobiologischen Ausge- und die soziale Eingebettetheit des Ler-
staltung –, in der lehr-lern-theoretischen nens fçrdert (Terhart, 2000, 2002).
Diskussion außen vor. Zentrale Annahme
Die Aufgabe des Lehrers besteht mithin darin,
des gemßigten, in der Instruktionspsy- solche Lernumwelten aufzubauen bzw. zu in-
chologie vornehmlich vertretenen Kon- szenieren, in denen Lernen als in sozialen und
struktivismus ist vielmehr die der eigenen situativen Kontexten stattfindendes Ko-Kon-
individuellen, »inneren« Konstruktions- struieren und Restrukturieren wahrscheinlicher
leistung des Lernenden beim Wissens- wird. Dafr sind vor allem solche Lernumwel-
erwerb. Neue Wissensstrukturen – so die ten geeignet, die dem situationsbedingten und
Kernthese – kçnnen nur generativ aus der konstruktiven Charakter jedweden Lernens
Restrukturierung bereits bestehenden Rechnung tragen und in denen bzw. durch die
hindurch Lernende sich selbstndig ihren Weg
Wissens entstehen und folglich nicht
bahnen kçnnen. (Terhart, 2000, S. 190)
»von außen nach innen«, durch Vermitt-
lung, transportiert werden. Und spter, die moderat-pragmatische
Lernen, das sich in dieser Weise kon- Sichtweise eines pdagogischen Konstruk-
struktiv und eigenttig-aktiv vollzieht, ist tivismus nochmals zusammenfassend:
in hohem Maße individuell – weil auch
Hat man auf diese Weise den Kern des Ansat-
die jeweiligen Ausgangspunkte des Kon- zes der Konstruktivistischen Didaktik rekon-
struktionsprozesses verschieden sind. Es struiert, so berrascht, dass eigentlich nichts
weist zudem aufgrund seiner Konkretheit wirklich berrascht. (Terhart, 2000, S. 191)
notwendigerweise eine starke Situations-
und Kontextbindung auf. Fgt man die- Das ist nicht resignativ oder gar triviali-
sen Attributen noch hinzu, dass die Ver- sierend gemeint. Es wird lediglich auf
antwortung fr den Erfolg des Lernens den Umstand der Neubeschreibung altbe-
beim Lernenden selbst liegt und dass kannter didaktischer Prinzipien aufmerk-
Wissen grundstzlich in sozialen und sam gemacht: Lernen ist Wissenskon-
kulturell geprgten Kontexten erzeugt struktion und setzt Eigenttigkeit des
wird, so sind die wesentlichen Grund- Lernenden voraus. Lehren ist mçglich
bausteine einer moderat konstruktivisti- und hilfreich, muss aber stets vom vor-
schen Lehr-Lern-Philosophie benannt: handenen Wissen ausgehen.
aktiv, konstruktiv, situiert, selbstregulativ Es ist weder mçglich noch sinnvoll, allein auf
und sozial. aktive Konstruktionsleistungen der Lernenden

233
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Teil II Lehren

Organisieren

OUTPUT
Arbeits-
INPUT

Senso-
risches speicher
Register Selegieren

Integrieren
Langzeit-
gedächtnis

Abb. 5.3: Mehrstufige Informationsverarbeitung (nach Mayer, 1992a, S. 408)

zu vertrauen; man kann Lernenden aber auch werden. Erfolgreich Lernende zeichnen
nicht stndig fertige Wissenssysteme nach fest- sich dadurch aus, dass sie mittels strategi-
stehenden Regeln vermitteln. (Reinmann-Roth- scher Maßnahmen Kontrolle ber die ge-
meier & Mandl, 1997, S. 377)
nannten Prozesse erlangen. Enge Bezge
Brcken schlagen. Die so beschriebene zu dem in Kapitel 2 dieses Buches dar-
Vereinbarkeit von Instruktion und Eigen- gestellten INVO-Modell sind hier un-
ttigkeit lsst sich leichter illustrieren, schwer zu erkennen. Ebenso leicht lassen
wenn man Konzepte und Prinzipien be- sich die in Kapitel 5.2 beschriebenen
nennt, in denen sie realisiert ist. Die Lehr-Lern-Funktionen auf die Prozesse
gemeinsame Plattform ist dabei eine kog- mehrstufiger Informationsverarbeitung
nitionspsychologische: Lernen als be- beziehen.
reichsspezifischer, systematischer, mehr-
stufiger und kumulativer Prozess der Kernelemente moderat-
Informationsverarbeitung, in dessen Ver- konstruktivistischen Lehrens
lauf Wissensstrukturen aktiv aufgebaut
und fortwhrend verndert werden. May- Als wichtige Ansatzpunkte zur Fçrderung
ers SOI-Modell des Lernens mag hier als – nicht Steuerung – des Wissenserwerbs
Referenzrahmen dienen. Mayer (1992a, gelten die folgenden fnf Merkmale und
2003a) unterscheidet die kognitiven Pro- Prinzipien des Lehr-Lern-Prozesses (vgl.
zesse der Selektion (S), Organisation (O) Reinmann-Rothmeier & Mandl, 1998;
und Integration (I) von Informationen Shuell, 1996):
(Abb. 5.3).
. aktiv,
In der Selektionsphase erfolgt eine geziel-
. konstruktiv,
te Aufmerksamkeitszuwendung, in der
. situiert,
Organisationsphase werden die in den
. selbstregulativ,
Arbeitsspeicher transferierten Informatio-
. sozial.
nen (untereinander) verdichtet und ver-
knpft, in der Integrationsphase werden Anleitung zum aktiven Lernen. Aktiv
sie mit dem bereits vorhandenen Wissen meint die Eigenaktivitt des Lernenden.
elaborativ verbunden. Gelernt wird, Lehrarrangements mssen Vorkehrungen
wenn alle Phasen erfolgreich durchlaufen enthalten, die die Eigenttigkeit des Ler-
234
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Teil II Lehren

notwendige Voraussetzungen beim Ler- Weinert (1996a, 1998a) hat deshalb kriti-
nenden geknpft ist. Sind kooperative sche Fragen zur bergeneralisierung des
Fertigkeiten nicht vorhanden, mssen sie situierten, selbstregulierten und koope-
zunchst vermittelt und eingebt werden rativen Lernens gestellt. Vor allem mahnt
(vgl. Kapitel 6.5). er die Sicherstellung der »notwendigen
Systematik kumulativen Lernens« an und
die »erforderliche Automatisierung« von
Wasser in den Wein
routinisierten Fertigkeiten. Ohne qualifi-
Das Leitbild vom aktiven und konstrukti- zierte Lernvoraussetzungen fhre das
ven, intrinsisch motivierten, situiert und selbststndige Lernen »mit hoher Wahr-
kontextuiert, kooperativ und selbstregu- scheinlichkeit zu Lerndefiziten, fehler-
lativ Lernenden, ist ein idealisiertes. Es behafteten Kenntnissen und Misserfolgs-
kennzeichnet erfolgreiches Lernen und es erlebnissen«. In der Tat muss man sich
bezieht seinen besonderen Charme so- gelegentlich wundern, denn:
wohl aus der multiplen theoretischen Be- Aus dem Schler, der einer wissenschaftlich
grndbarkeit der einzelnen Komponenten fundierten, didaktisch reflektierten, externen
als auch aus der Wnschbarkeit seiner Instruktion zum Lernen bedarf, wird plçtzlich
praktischen Umsetzung. Das Primat der der kompetent Lernende, dem man nur die ent-
Wissenskonstruktion durch aktives und sprechenden Gelegenheiten und Anregungen
selbstgesteuertes Lernen verdrngt in geben muss, damit er von sich aus und auf sei-
scheinbar plausibler Weise die Leitvor- ne spezifische Art und Weise das tut, was zum
erfolgreichen Lernen notwendig ist. (Weinert,
stellung einer fremdgesteuert-systemati-
1998a, S. 207)
schen Wissensvermittlung, die dem Ler-
nenden eine eher passiv-rezeptive Rolle In Anlehnung an Weinert (2000b) lassen
auferlegt. Damit wird aber an das schon sich die notwendigen und unstrittigen
von Bransford et al. (2000) angesproche- Kernelemente des Lehrens und Lernens
ne Problem erinnert: Aus einem lerntheo- im Sinne eines Lerndreiecks illustrieren.
retischen Paradigmenwechsel lsst sich ei- Drei gundlegende Auffassungen von Leh-
ne bertragung auf Lehrmodelle nicht ren und Lernen aus Abbildung 5.1 finden
unmittelbar ableiten. sich darin wieder: die kognitivistische
Die fnf Kernelemente bedrfen deshalb und die beiden konstruktivistischen. Aus
einer Ergnzung. Die Fçrderung des kognitivistischer Sicht tritt nun die Ziel-
selbststndigen, selbstregulativen Ler- gerichtetheit und die Systematik des Ler-
nens, um ein Beispiel zu geben, bedarf ei- nens zu den fnf oben beschriebenen mo-
ner ausgeprgten Darstellungs- und An- derat-konstruktivistischen Kernelementen
leitungskomponente – idealerweise durch hinzu (Abb. 5.4).
ein kompetentes kognitives Modell (z. B.
kann das die Lehrperson bernehmen). Zielgerichtetes, kumulatives und syste-
Auch wird es whrend der kontrollierten matisches Lernen. Intelligentes Wissen
Phasen des Einbens und der Korrektur muss also – in Ergnzung zu den bereits
neu erworbener Fertigkeiten einer sol- beschriebenen Prinzipien – in systemati-
chen Hilfe bedrfen, unter allmhlicher scher Weise und zielgerichtet vermittelt
Ausblendung der gewhrten Unterstt- werden, indem Inhalte sachlogisch ange-
zung – im Sinne einer gelenkten Außen- ordnet werden, auf das Vorwissen Bezug
steuerung. Solches lsst sich kaum ber genommen wird, Fragen unterschiedli-
indirekte Methoden des entdeckenlassen- cher Schwierigkeit gestellt werden, fr
den Lehrens erreichen. ausreichende bung gesorgt wird und die
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5 Auffassungen ber Lehren

kognitivistische Sichtweise

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Abb. 5.4: Kernelemente des Lehrens und Lernens (nach Weinert, 2000b)

Lernfortschritte fortlaufend kontrolliert Wahrscheinlich kann man das eine tun,


werden (vgl. Kap. 6.1). Dies erfordert un- ohne das andere zu lassen. Weinert
terschiedliche Methoden eines »lehrer- (1998a) hlt die ganze Debatte ohnehin
gesteuerten, aber schlerzentrierten Un- fr berzogen:
terrichts« (Weinert, 2000b). Fr mich stellt sich die Frage, worin eigentlich
der Gegensatz liegt. Verarbeiten wir nicht alle
Ein vorlufiges Fazit unsere sozio-kulturellen Erfahrungen im Kopf?
Benutzen wir dabei nicht enaktive, ikonische
Problemorientiertes Lehren ist zeitauf- und symbolische Reprsentationen der Wirk-
wndig, mçglicherweise sogar unçko- lichkeit, und erwerben wir nicht dadurch so-
nomisch, gelegentlich berfordernd und wohl segmental-domnenspezifisches, als auch
vor allem dann vom Scheitern bedroht, systematisch-domnenbergreifendes Wissen?
Nach meinem theoretischen Verstndnis ist si-
wenn instruktionale Hilfestellungen aus-
tuiertes Lernen eine wichtige Teilmenge aller
bleiben. Zustzlich ist die Gefahr der
kognitiven Lernprozesse, – die natrlich im
Unvollstndigkeit und Ungeordnetheit Kopf von Lernenden stattfinden. Man mag
des entdeckend und situativ erworbenen dann darber streiten, ob Lernen eher monolo-
Wissens gegeben. Diesen Problemen und gisch oder dialogisch, strker systematisch oder
Gefahren stehen die Vorteile eines kontextspezifisch, vorwiegend symbolisch oder
praxis- und anwendungstauglicheren und ber alltagspraktische Erfahrungen verluft
besser transferierbaren Wissens gegen- oder verlaufen soll. Persçnlich wrde ich die
ber. Denn auch die gegenstandsorien- einschlgige Literatur als Argument fr einen
tierte systematische und kleinschrittige handfesten Eklektizismus interpretieren …
(Weinert, 1998a, S. 208)
Darbietung von Stoffinhalten in der Tra-
dition von Gagn und Ausubel kennt ei- Wie also sollen wir lehren? Das William
nen Problembereich: die unzureichende James zugeschriebene Zitat von der Wis-
Qualitt und Vernetztheit des erworbenen senschaft des Lernens und der Kunst des
Wissens. Lehrens (s.o.) geht wie folgt weiter:
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Teil II Lehren

… und Wissenschaften bringen niemals Kunst der Geist schçpft ja nicht aus dem Nichts,
direkt aus sich hervor. Ein vermittelnder, sondern aus dem verfgbaren Wissen
schçpferischer Geist muss die Anwendung ber Lehren und Lernen. Die Wissen-
selbstndig vollziehen, durch seine Originali- schaft vom Lehren und Lernen kann die-
tt. (James, 1899/1900, S. 8)
ses Wissen bereitstellen. Der Wissens-
Der Hinweis auf den schçpferischen stand wird in den folgenden Kapiteln
Geist ist so notwendig wie treffend. Aber prsentiert.

Literaturhinweis
Aebli, H. (1983). Zwçlf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett-Cotta.

Zusammenfassung
Die Psychologie des Lehrens befasst sich mit der zielfçrderlichen und lernerleichtern-
den Funktion von Lehr- und Unterrichtsmethoden. Lehren heißt nicht einfach pr-
skriptiv »Lernenmachen«, sondern Lehren ist der zentrale Forschungsgegenstand
der Instruktionspsychologie, die das Lernen unter den Bedingungen des Lehrens un-
tersucht. Die Auffassungen ber Lehren sind sehr verschieden. Den meisten Lehr-
theorien ist aber gemein, dass sie Aussagen ber Lehrziele, ber Eingangsvorausset-
zungen der Lernenden, ber die Natur von Lernprozessen, ber instruktionale
Maßnahmen zur Befçrderung dieser Prozesse und ber das Feststellen und Prfen
instruktionaler Wirkungen treffen. Einflussreiche Theorien des Lehrens wurden aus
verhaltensorientierter, aus kognitionspsychologischer und aus konstruktivistischer
Perspektive entwickelt.
Aus verhaltensorientierter Sicht lsst sich Unterricht rational planen und gestalten.
Die Strukturierung, Sequenzierung und kleinschrittige Darbietung von Stoffinhal-
ten, verbunden mit geeigneten Maßnahmen zur Klassenfhrung und Lernstands-
kontrolle, gewhrleistet effektives Unterrichten. Aus kognitionspsychologischer
Sicht sind solche Lehrmodelle um motivationale Aspekte und um Aspekte der
Selbststeuerung, Selbstkontrolle und Selbstbewertung des Lernenden zu ergnzen.
Aus konstruktivistischer Sicht kann Wissen nur situiert und kontextbezogen auf-
gebaut werden, »von außen« allenfalls begleitet, nicht aber kontrolliert. Die indivi-
duelle Wissenskonstruktion wird durch das Bereitstellen authentischer, problemori-
entierter Lernkontexte erleichtert.
Konstruktion und Instruktion, fremdgesteuerte Wissensvermittlung und selbst-
gesteuerter Wissensaufbau, lassen sich durchaus integrieren. Das Rahmenmodell der
mehrstufigen Informationsverarbeitung bietet eine gemeinsame kognitionspsycholo-
gische Plattform fr eine gemßigt-konstruktivistische Auffassung von Lernen und
Lehren.

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau


von Wissen und Kçnnen

Lernprozesse kçnnen durch Lehrttigkei- gleiche Methode in gleicher Weise effizi-


ten ausgelçst, aufrechterhalten, unter- ent und nachhaltig. Wichtig ist, dass die
sttzt und gefçrdert werden. Insoweit ist individuellen Lernvoraussetzungen, der
die Ttigkeit des Lehrens und Unterrich- spezifische Lerninhalt und das jeweilige
tens den Lernprozessen komplementr. Lernziel bei der Methodenwahl in je ge-
Es wurde jedoch bereits darauf hingewie- eigneter Weise Bercksichtigung finden.
sen, dass Lernen auch ohne Lehren statt- Es gibt unterschiedliche, aber nicht belie-
finden kann und dass Lehrttigkeiten bige Vorgehensweisen erfolgreichen Leh-
nicht immer die intendierten Lernprozes- rens. Wir haben in Kapitel 5.2 zwischen
se auslçsen. Zustzlich gilt: So wie es drei grundlegenden Perspektiven unter-
unterschiedliche Lernprozesse und unter- schieden, aus denen heraus Lehrmetho-
schiedliche Bedingungen und Einflussfak- den entwickelt wurden: eine verhaltens-
toren des Lernens gibt, so gibt es auch orientierte, eine kognitivistische und eine
unterschiedliche Methoden des Lehrens, konstruktivistische. In vielen neueren
die das Lernen begnstigen kçnnen. Die Darstellungen ist eine Tendenz zur ver-
Untersttzung beim Aufbau deklarativen einfachenden Zweiteilung festzustellen.
und konzeptuellen Wissens wird einer an- Dabei wird die verhaltensorientierte
deren Form der Instruktion bedrfen, als Sichtweise auf der einen Seite der kon-
dies zum Aufbau von Anwendungswis- struktivistischen auf der anderen gegen-
sen, Handlungsroutinen und prozedura- bergestellt, bevor die Letztere gegebe-
len Fertigkeiten zweckmßig ist. Es gibt nenfalls nochmals in eine kognitiv- und
deshalb keine allerbeste Lehrmethode. eine sozial-konstruktivistische Richtung
unterteilt wird (z. B. Mayer, 2003a; Shu-
Nach der besten Unterrichtsmethode zu fragen ell, 1996). Auch Pressley et al. (2003)
ist wie nach dem besten Werkzeug zu fragen – whlen diese Form der Kategorisierung
Hammer, Schraubenzieher, Messer oder Zange.
und verwenden die Bezeichnungen »di-
Beim Unterrichten wie beim Handwerken
hngt die Auswahl der Werkzeuge von der Auf-
rect transmission teaching« und »con-
gabe ab und von den Materialien, mit denen structivist teaching« fr die beiden unter-
gearbeitet wird. (Bransford et al., 2000, S. 22) schiedlichen Lehrphilosophien.
Wir bevorzugen die Darstellung der drei
Man kann aus Vortrgen und Vorlesun- oben genannten Perspektiven auf einer
gen ebenso lernen wie durch Problemlç- gleichrangigen Hierarchieebene, wobei
sen und fragend-entwickelnden Unter- sich ohnehin eher vier als zwei Positionen
richt, durch Computersimulationen wie gegenberstellen ließen (vgl. Abb. 5.1).
durch gelenktes Entdeckenlassen, durch Betrachtet man nmlich die kognitiv-
Selbststudium wie in kooperativen Um- konstruktivistische Position in ihrer Ent-
gebungen. Aber eben nicht jeder und stehungsgeschichte, so sind durchaus
nicht alles und nicht jeder alles durch die zwei sehr unterschiedliche Stadien mit
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Teil II Lehren

deutlich weniger (Ausubel und der »sp- ne schlergesteuerte Auffassung gegen-


te« Gagn) und deutlich mehr (Piaget bergestellt, die vornehmlich die Selbst-
und Bruner) konstruktivistischer Tçnung ttigkeit und die Eigenverantwortlichkeit
zu identifizieren. Dennoch: Bei aller Un- des Lernenden betont. Sie findet ihren
terschiedlichkeit in der theoretischen Fun- klassischen Ausdruck in Bruners Konzep-
dierung sind die grundlegenden Positio- tion des entdeckenlassenden Lehrens (Ka-
nen in ihrer unterrichtlichen Realisierung pitel 6.3). Damit ist zugleich der Einstieg
sehr viel hnlicher, als dies hier aus Grn- in die konstruktivistische Sichtweise des
den der Klarheit und Vereinfachung in Lernens und Lehrens vollzogen, mit ei-
der Darstellung den Anschein haben nem mehr oder minder stark ausgeprg-
mag. Hufig sind es nmlich die pragma- ten Weiterwirken der Anleitungskom-
tisch-gemßigten Zwischenformen der ponente. Das gelenkte Entdeckenlassen
Lehrmethoden, die den grçßten Unter- ist auch ein wesentliches Instruktions-
richtserfolg mit sich bringen. Auch das prinzip problemorientierten Lehrens in si-
die nachfolgende Darstellung ordnende tuierten, authentischen Lernumgebungen
Prinzip der sukzessiven Prsentation der (Kap. 6.4). Empirisch vergleichsweise gut
Unterrichtsmodelle tuscht eher eine ent- untersucht ist die Wirksamkeit koope-
stehungsgeschichtliche Abfolge vor, wo rativer Lehrarrangements (Kap. 6.5).
hufig berlappungen und Vermengun- Beim kooperativen Lernen gibt der Leh-
gen die Regel waren. rende seine didaktische Fhrerschaft auf
In den folgenden Abschnitten werden die und der Wissensaufbau resultiert aus Pro-
bergreifenden Unterrichtskonzeptionen zessen des sozialen Aushandelns unter
(Lehrstrategien) inhaltlich beschrieben den Lernenden. Als eine Form des so ge-
und beispielhaft illustriert. Anhand aus- nannten »offenen Unterrichts« gilt das
gewhlter Studien und in Form meta- kooperative Lernen zugleich als ein klas-
analytischer Zusammenfassungen wer- sisches Gegenmodell der lehrergeleitet
den die Befunde der empirischen strukturierten Lernsituationen und der in-
Unterrichtsforschung zur Wirksamkeit dividualistischen Lernphilosophie des ver-
dieser Konzeptionen dargestellt. Am An- einzelt Lernenden. Neben der Situiertheit
fang stehen die Methoden der direkten von Lernprozessen und der Selbstttigkeit
und der adaptiven Instruktion, die zu- der Lernenden ist die Notwendigkeit der
nchst in verhaltensorientierten, spter Selbststeuerung des Lernens ein weiteres
auch in kognitionstheoretischen Rahmen- wichtiges Merkmal dieses Gegenmodells
modellen ihren Ursprung hatten (Kap. (Kap. 6.6). Die Selbststeuerungskom-
6.1 und 6.2). In beiden ist die Sichtweise petenz beruht ganz wesentlich auf Prozes-
vom aktiv Lehrenden vorherrschend, der sen der kognitiven, metakognitiven, moti-
den Aufbau von Verhaltensweisen und vationalen und volitionalen Regulation,
den Erwerb von Wissensstrukturen plan- Prozessen also, die selbst wiederum durch
voll vorbereitet, steuert und berwacht. gezielte Interventionen gefçrdert werden
Dieser lehrergeleiteten Sichtweise wird ei- kçnnen.

Orientierungsfragen
. Ist Lehren berhaupt notwendig, damit gelernt wird?
. Wann ist eine Lehrmethode erfolgreich?
. Welche Lehrmethode ist die beste?

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

. Weshalb wird die Methode des Frontalunterrichts eigentlich so sehr kritisiert?


. Ist es nicht besser, wenn man Zusammenhnge selbst entdeckt, anstatt sie sich
erklren zu lassen?
. Inwieweit lsst sich schulisches Wissen auf die spteren Erfordernisse des Alltags-
lebens transferieren?
. Kann man in Gruppen besser lernen als alleine?

6.1 Direkte Instruktion folgenden (Brophy & Good, 1986; Ro-


senshine & Stevens, 1986):
»Setzt Euch gerade hin! Legt Eure Hnde auf . tglicher Rckblick auf die voran-
den Tisch, sonst nichts! Schaut mich an!« Der
gegangene Stunde und Prfung der
Lehrer liest aus einem Textbook den neuen
Stoff in Regelform vor. Darin wird abstrakt be-
Lernvoraussetzungen,
schrieben, was eine Erzhlung ist, welches ihre . darstellende Stoffvermittlung,
Merkmale sind, woran man sie erkennen kann. . gengend Zeit fr angeleitetes ben
Die Schler wiederholen einzelne Aussagen im mit Verstehensprfungen,
Chor, danach fragt sie der Lehrer einzeln ab. . Lernberwachung mit korrigierenden
Anschließend geht der Lehrer dazu ber, die Rckmeldungen,
Regeln in ungeordneter Reihenfolge noch ein- . gengend Zeit fr selbststndiges ben,
mal vorzutragen und abzufragen, die Kinder . wçchentlicher bzw. monatlicher Rck-
haben darauf im Chor zu antworten. Die Defi-
blick und Kontrolle des Lernfortschritts.
nition, was eine Erzhlung ist, muss auswendig
gekonnt werden (…). Nach 20 Minuten erhal- Vor allem der Name und die Arbeiten von
ten die Schler Arbeitsbltter, in denen nach Barak Rosenshine (1979; Rosenshine &
den Regeln bzw. nach den Merkmalen von Er- Stevens, 1986) sind mit der Methode der
zhlungen gefragt wird und in die die Antwor-
Direkten Instruktion verknpft. Der Un-
ten in Lckentexte eingetragen werden ms-
terricht ist direkt und zugleich explizit,
sen. Diese Arbeitsbçgen werden vom Lehrer
nach der Bearbeitung sofort eingesammelt (Di- weil er den unmittelbaren Zugang vom
chanz & Zahorik, 1986, S. 299). Lernstoff zum Lernenden sucht. Leitbild
ist die bermittlung von Kenntnissen und
So oder hnlich wird hufig in durchaus Fertigkeiten im Sinne eines Wissenstrans-
diskreditierender Absicht eine unterricht- ports. In den klassischen Handbucharti-
liche Lehrmethode karikiert, die sich allen keln der 1980er-Jahre werden die oben
Anfeindungen zum Trotz als ausgespro- aufgefhrten auch als Hauptmerkmale
chen wirksam erwiesen hat. Die Lehr- »effektiven Unterrichtens« bezeichnet; ih-
methode der Direkten Instruktion gilt als re Effektivitt haben sie in (vornehmlich)
zusammenfassende Kennzeichnung einer auf Korrelationsanalysen basierenden Stu-
Reihe von lehrerinitiierten und lehrer- dien der so genannten Prozess-Produkt-
abhngigen Unterrichtsmerkmalen, die Forschung erwiesen (vgl. Kap. 5.2).
zusammen genommen ein Muster effekti- Die Zusammenstellung der Hauptmerk-
ven Lehrerhandelns in Schulklassen nach male direkten, expliziten Unterrichtens
dem Kriterium des Unterrichtserfolgs macht bereits deutlich, dass es sich bei
ergeben. Zu diesen Merkmalen des Un- der Direkten Instruktion weniger um eine
terrichts bzw. zu den Maßnahmen des kohrente Theorie als vielmehr um ein
Lehrerhandelns gehçren wesentlich die empirisch gewonnenes additives Muster
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Teil II Lehren

effektiven Unterrichtens handelt. Lehrer- mehr eine die Lerntheorien bergreifende


aktivitt und Außensteuerung sind zwei Auffassung von der notwendigen exter-
wesentliche Sulen dieses Musters. Die nalen Steuerung des Lerngeschehens. Die
Lehrenden sind verantwortlich. Sie pla- instruktionale Steuerung mag dann auf
nen und steuern die Lernttigkeit der den Prinzipien der operanten Konditio-
Lernenden. Die Systematik des unter- nierung, auf dem Modell des kumulati-
richtlichen Vorgehens ergibt sich aus der ven Lernens nach Gagn oder auf Aus-
Sachstruktur des Lerngegenstandes sowie ubels Vorstellungen zum sinnvollen
aus der angemessenen Bercksichtigung rezeptiven Lernen beruhen. Wichtig ist –
der individuellen Lernvoraussetzungen. und darin liegt ein Wesensmerkmal der
Zwar wurden zunchst vornehmlich die direkten Instruktion –, dass die Systema-
verhaltensorientierten Theorien des ver- tik des Lernens von außen vorbereitet
knpfenden, assoziativen Lernens zur Be- und geplant, organisiert und berwacht
grndung des Direkten Unterrichtens he- wird. »Außen« meint dabei außerhalb
rangezogen, jedoch lassen sich fr die des Lernenden. Kennzeichnend ist also
genannten Formen des Lehrerhandelns die leitende Funktion des Lehrenden, der
auch kognitionspsychologische Begrn- den Lernstoff explizit vermittelt, indem
dungen geben (Ausubel, 1968). Entschei- er Wissensinhalte durch Auswhlen, Pr-
dend ist nmlich weniger die theoretische sentieren, Erklren und beispielhaftes
Vorstellung vom Lernprozess als assozia- Illustrieren bermittelt. Reinmann-Roth-
tiv-mechanistisches Reaktionslernen oder meier und Mandl (2001) sprechen des-
als sinnvoll-verstehendes Lernen, als viel- halb vom Primat der Instruktion.

Beispiel: Direkte Instruktion


(Information ber Lernziele)
»Heute wollen wir etwas ber die Franzçsische Revolution erfahren. Was ist da pas-
siert, wie ist es dazu gekommen? Die Franzçsische Revolution hat weit reichende
Folgen fr Europa und die Welt nach sich gezogen. Wahrscheinlich ist der Umsturz
in Frankreich das wichtigste Ereignis im 18. Jahrhundert gewesen und vieles von
dem, was uns heute selbstverstndlich scheint, hat seinen Ursprung in dieser Zeit.«
(Rckblick und Prfung von Lernvoraussetzungen)
»Ich habe euch eine Landkarte mitgebracht, auf der die Lnder in Mitteleuropa in
der Zeit vor 1789 eingezeichnet sind. Was fllt auf, wenn man dies mit einer Land-
karte von heute vergleicht? …
Wir haben in den vergangenen Wochen ber das Zeitalter des Absolutismus gespro-
chen. Was versteht man denn unter einer absolutistischen Monarchie? (…) Wir ha-
ben uns auch mit der Grndung der Vereinigten Staaten (1776) beschftigt, d. h.
mit der Ablçsung der vormaligen Kolonien vom englischen Kçnigreich. Was waren
die Beweggrnde der amerikanischen Revolutionre? Welche Grundstze haben sie
spter in die Unabhngigkeitserklrung geschrieben? (…) In Frankreich, wie auch
in England und in anderen Lndern, war es im 18. Jahrhundert zu großen Vernde-
rungen im wirtschaftlichen und sozialen Gefge gekommen. Die Fçrderung des
Handels und die Fortentwicklung der handwerklichen Produktionsprozesse zu Ma-
nufakturen hatte ein wirtschaftlich starkes, politisch aber einflussloses Brgertum
entstehen lassen. Was ist eine Manufaktur?«
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

(Darstellende Prsentation des Lernstoffs)


»Die absolutistische Monarchie war in eine schwere Krise geraten. Dazu hatten
wirtschaftliche Probleme, der Verlust der Kolonien und Niederlagen in kriegeri-
schen Auseinandersetzungen beigetragen (hierzu beispielhaft Nheres ausfhren).
Im Inneren begann das wirtschaftlich erstarkende, politisch aber weit gehend recht-
lose Brgertum – der Dritte Stand – zunehmend strker zu opponieren, dies auch
unter dem Einfluss der geistigen Wortfhrer der politischen Aufklrung wie Vol-
taire, Rousseau und Montesquieu (anhand von Schriften, Aufrufen u.. verdeutli-
chen). Nachdem Ludwig XVI und mit ihm die beiden privilegierten Stnde des
Adels und des Klerus die vom Dritten Stand gestellten Forderungen nur unzurei-
chend erfllten, erklrte sich der Dritte Stand zur Nationalversammlung. Der Pari-
ser Volksaufstand vom 14.7.1789 (…)«
(Angeleitetes ben und Verstehensprfung)
»Warum hat Ludwig XVI die Generalstnde einberufen? Wie waren die Bevçlke-
rungsgruppen in dieser Stndeversammlung reprsentiert? Was ist mit den Bauern?
Kannst du die Forderungen des Dritten Standes einmal in eigenen Worten zusam-
menfassen? (…)«
(Selbststndiges ben)
»Versucht einmal, euch in die Menschen der damaligen Zeit hineinzuversetzen? Ihr
drft es euch aussuchen, ob ihr ein Adliger, ein Bischof, ein Arzt oder ein Handwer-
ker oder ein einfacher Bauer sein wollt. Schreibt auf, wie ihr als eine solche Person
einen Tagesablauf erlebt! (…)
Was htte der Kçnig tun kçnnen, um den Aufstand zu verhindern? berlege dir ei-
nige Vorschlge und versuche, die Erfolgsaussichten zu bewerten. (…)«
(Hausaufgabe)
»Freiheit, Gleichheit, Brderlichkeit«. Was haben die franzçsischen Revolutionre
damit gemeint? Und was bedeutet das fr dich?«

Rosenshine und Stevens haben die oben Prgnanter lsst sich der programma-
bereits genannten Merkmale effektiven tische Anspruch des Direkten Unterrich-
Unterrichtens zu folgender Beschreibung tens kaum ausdrcken. Die sechs grund-
verdichtet: legenden Lehrfunktionen werden im
Folgenden nher beschrieben.
Die Hauptkomponenten systematischen Unter-
richtens beinhalten das Vorgehen in kleinen
Schritten mit bungsphasen nach jedem Rckblick und Prfung
Schritt, das Anleiten der Schler whrend der der Lernvoraussetzungen
anfnglichen bungen und das Ermçglichen
eines großen Ausmaßes erfolgreichen bens Indem der Einstieg in eine neue Lernein-
fr alle Schler. Natrlich verwirklichen alle heit stets mit einer rckblickenden Pr-
Lehrer einige dieser Aspekte manches Mal, fung der Lernvoraussetzungen beginnt,
aber die effektivsten Lehrer verwirklichen die wird zum einen die notwendige Ein-
meisten dieser Aspekte fast die ganze Zeit ber. gangsdiagnostik betrieben, zum anderen
(Rosenshine & Stevens, 1986, S. 377) wird das zuvor Gelernte nochmals gefes-
tigt (»berlernen« in den verhaltensori-
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Teil II Lehren

entierten Anstzen) bzw. aktualisiert, um Enthusiasmus prsentiert werden. Dabei


die Aufnahme neuer Informationen zu er- sind wichtige Punkte besonders hervor-
leichtern (»Relevantes Vorwissen aktivie- zuheben. Abstrakte Prinzipien und Be-
ren« in den kognitivistischen Anstzen). griffe sind an konkreten Beispielen zu er-
Ein solcher Rckblick kann ber die Be- lutern. Durch eingeschobene Fragen
sprechung von Hausaufgaben erfolgen, wird noch whrend der Prsentation das
durch gezieltes Fragen zu wichtigen Lern- Verstehen berprft, bevor im Stoff wei-
inhalten der vergangenen Stunde oder ter vorangegangen wird. Wenn nçtig,
durch allgemeine Nachfragen (»Was habt mssen Erklrungen wiederholt und zu-
ihr in der letzten Stunde nicht verstan- stzliche Beispiele und Illustrationen ge-
den? Gab es Probleme mit den Haus- geben werden.
aufgaben?«). Es ist durchaus mçglich,
dass auf den tglichen Rckblick ein er-
Angeleitetes ben
neutes Unterrichten der notwendigen
Lernvoraussetzungen erfolgen muss. Das angeleitete, gelenkte ben bereitet
das selbststndige ben vor. Zugleich
stellt es fr den Lehrenden eine wichtige
Darstellende Stoffvermittlung
Informationsquelle zur Effektivitt der
Die explizite Prsentation des Lernstoffes vorangegangenen Prsentationsphase dar.
ist der inhaltliche Kern der Direkten In- Durch gezielte Fragen wird der Lernende
struktion. Hier kommt es darauf an, zu- erneut durch den Lernstoff gefhrt. Gute
nchst das Thema und das Ziel einer Un- Lehrerinnen und Lehrer verwenden viel
terrichtsstunde zu benennen und eine Zeit fr diese Art der Behaltensprfung.
Vorausschau auf die nachfolgenden Stoff- Dabei werden mçgliche Fehlkonzepte der
inhalte zu geben. Idealerweise wird durch Lernenden aufgedeckt. Es werden Hilfen
diese Form der Einleitung auch zum Ler- gegeben, um die Fragen zu beantworten.
nen motiviert. Der Stoffinhalt soll klein- Wenn notwendig, werden zustzliche Er-
schrittig und klar, emphatisch und mit klrungen angeboten. Die Lernenden sol-

Fokus: Aktives Zuhçren


Einer Erklrung, einer Darbietung, einem Vortrag muss man auch zuhçren (kçn-
nen). Es erstaunt, dass der Fertigkeit des Zuhçrenkçnnens in der Pdagogischen
Psychologie so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. In der Darbietungsorientie-
rung der Direkten Instruktion tritt diese Vernachlssigung der Adressaten von Lehre
besonders deutlich zutage. Dass die Lernenden zuhçren kçnnen, wird als gegeben
vorausgesetzt.
Margarete Imhof hat sich intensiv mit Aspekten auditiver Informationsverarbeitung
akustisch vermittelter Information befasst (z. B. Imhof, 2003). Sie folgert, dass sich
Zuhçrfertigkeiten nicht automatisch entwickeln, sondern erlernt und gefçrdert wer-
den mssen. Dies kann mit Blick auf den Schriftspracherwerb bereits im Vorschulal-
ter (Kspert & Schneider, 1999), im Grundschulalter (Ellermeyer, 1993) oder noch
bei Erwachsenen geschehen (Brownell, 2002; Lebauer, 2000). In diesen Fçrderpro-
grammen wird das aktive Zuhçren trainiert, indem auf inhaltliche, lautliche und
rhetorische Merkmale der gesprochenen Sprache eingegangen wird und indem ela-
borative und reduktive Zuhçrstrategien vermittelt werden.

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

len ihre neu erworbenen Kenntnisse und …«). Falsche Antworten mssen kor-
Fertigkeiten in dieser Unterrichtsphase rigiert werden. Dazu kann man erforder-
sichtbar zeigen oder ausfhren. Mçg- liche Hilfen zur richtigen Beantwortung
lichst alle Lernenden sollen die gestellten geben, die gestellte Frage vereinfachen,
Fragen beantworten (was sich leicht reali- notwendige Vorkenntnisse in Erinnerung
sieren lsst, wenn Fragen schriftlich zu rufen oder zustzliche Erklrungen an-
beantworten sind) und sie mssen stets bieten. Keine Frage darf unbeantwortet
eine Rckmeldung auf ihre Antwort er- bleiben!
halten. Zur Technik der Lehrerfragen und zum
Umgang mit korrekten, ausbleibenden
Lernberwachung oder fehlerhaften Schlerantworten ist ei-
ne eigene Forschungstradition entstanden
und Rckmeldung
(zusammenfassend: Good & Brophy,
Antworten, die Schlerinnen auf Lehrer- 1997). Im Unterrichtsmodell der Direk-
fragen geben, mssen in geeigneter ten Instruktion sind es vor allem die Leh-
Weise kommentiert werden (Feedback). rerfragen, die Lernaktivitten und -resul-
Schnell, sicher und richtig gegebene Ant- tate sichtbar machen. Denn indem sie auf
worten sollen als solche sachlich aner- Fragen antworten, wenden Lernende das
kannt werden (»Das ist richtig!«) und/ neu Gelernte an. Die Fragen sollen klar,
oder es kann, eine richtige Antwort kurz und verstndlich formuliert werden;
belohnend, eine zweite Frage direkt an- sie sollen durch Nachdenken zu beant-
geschlossen werden. Zçgerliche, aber worten sein. Es sollen Fragen unter-
richtig gegebene Antworten sollten etwas schiedlichen Niveaus gestellt werden. Die
ausfhrlicher kommentiert werden, um Fragen sollen bedeutsame Unterrichtszie-
das noch nicht konsolidierte Wissen zu le betreffen und in einer vernnftigen Ab-
festigen (»Ja, Judith, das ist richtig, weil folge prsentiert werden. Es wird emp-

Beispiel: Feedback und Lernen


Legen Sie Ihren Personalausweis auf den Boden, es kann auch die Bahncard oder ei-
ne Kreditkarte oder eine kleine Karteikarte sein. Setzen Sie sich etwa einen Meter
davon entfernt ebenfalls auf den Boden und schließen Sie die Augen. Nehmen Sie
dabei zehn Ein-Cent-Mnzen in die Hand und versuchen Sie, die Mnzen nachei-
nander auf die Karte zu werfen. Die Augen bleiben die ganze Zeit ber geschlossen.
Dann çffnen Sie die Augen wieder und messen die Abstnde zur Karte (fr Mn-
zen, die auf der Karte gelandet sind, ist der Abstand 0 cm). Tragen Sie die Abstnde
in Zentimetern in eine kleine Tabelle ein – das ist Ihre Baseline.
Nun drfen Sie es noch 20 Mal versuchen. Nur drfen Sie jetzt nach jedem Wurf
die Augen çffnen, um zu sehen, wie gut Sie geworfen haben (Feedback). Am Ende
tragen Sie die Abstnde wieder in eine kleine Tabelle ein – das ist Ihre Trainingsleis-
tung. Sie sollte besser ausfallen als zuvor!
Wenn Sie gengend Zeit haben, machen Sie noch einen dritten Durchgang, unter
den gleichen Bedingungen wie in der Baseline-Phase. Tragen Sie die Abstnde
wieder in eine Tabelle ein – daran kçnnen Sie die Leistung in der Extinktionsphase
ablesen.
(mit leichten Modifikationen aus Mayer, 2003a, S. 240ff)

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Teil II Lehren

fohlen, die Fragen an die ganze Klasse zu menfassungen kçnnen auch als Hausauf-
richten und gengend Wartezeit zuzulas- gaben gefordert werden. Wçchentliche
sen. Gute Lehrer kçnnen es brigens ln- oder monatliche Leistungstests liefern
ger ertragen, wenn eine Frage nicht so dem Lehrenden darber hinaus wichtige
rasch beantwortet wird. Informationen und kçnnen auf die Not-
wendigkeit weiterer Erklrungen verwei-
sen.
Selbststndiges ben
Das selbststndige ben, z. B. in Phasen Wirksamkeit Direkter
der Stillarbeit oder durch Hausarbeiten,
Instruktion
soll erst dann stattfinden, wenn die Lern-
inhalte sicher verstanden und hinreichend Die in den Lehrfunktionen zusammenge-
gefestigt sind. fassten Prinzipien effektiven Lehrens sind
das prskriptive Destillat aus vielen
Ich mache es dir vor, dann machen wir es ge-
empirischen Untersuchungen zur Unter-
meinsam, und dann wirst du es alleine machen.
(Rosenshine & Stevens, 1986, S. 380)
richtsqualitt. Die Erkenntnisse wurden
zunchst vornehmlich korrelativ ber
Hinweise darauf, wann das selbststndi- Unterrichtsbeobachtungen in natrlichen
ge ben beginnen kann, sind der Phase Situationen gewonnen, spter auch aus
des angeleiteten bens zu entnehmen, de- quasi-experimentellen Studien. Die korre-
ren erfolgreichen Abschluss Brophy und lativen Studien folgen einem einfachen
Good (1986) ber das 80 %-Kriterium Schema:
definieren: Mindestens 80 Prozent der
. ber Leistungstests werden mehr oder
Lehrerfragen sollten korrekte Antworten
weniger erfolgreiche Schulklassen iden-
gefunden haben. Die Stillarbeit in der
tifiziert.
Klasse muss aktiv berwacht und vor al-
. Durch systematische Unterrichtsbe-
lem mssen die Ergebnisse selbststndi-
obachtungen werden Merkmale des
gen bens kontrolliert werden. Selbst-
Lehrerhandelns in diesen Klassen er-
stndiges ben ist besonders wichtig,
fasst.
wenn grundlegende Kenntnisse und Fer-
. Durch statistische Analysen wird nach
tigkeiten, z. B. in der Mathematik, beim
systematischen Zusammenhngen zwi-
Lesen und Schreiben oder beim Erlernen
schen Lehrerhandeln und Lernerfolg
einer Fremdsprache zu erwerben sind.
gesucht.
Durch das selbststndige ben wird das
neu Gelernte verfestigt und automatisiert. Terhart (2000) bezeichnet dieses Vorge-
Das selbststndige ben hat eine geringe- hen treffend als »eine Art Rckschluss-
re Bedeutung, wenn komplexe und mehr- verfahren«: Guter Unterricht wird zu-
schichtige Inhalte (»Die Franzçsische Re- nchst ber das Resultat oder Produkt
volution«) vermittelt werden. desselben – den Unterrichtserfolg – defi-
niert. Anschließend wird nach Korrelaten
Rckblick und dieses Produkts gesucht. Weil sich die
Korrelate vornehmlich auf proximale
Lernerfolgskontrolle
Prozessvariablen des Unterrichts bezie-
In regelmßigen Abstnden, am besten hen, spricht man auch vom Paradigma
einmal wçchentlich, soll ein zusammen- der Prozess-Produkt-Forschung (Dunkin
fassender Rckblick auf die unterrichte- & Biddle, 1974; Rosenshine & Furst,
ten Inhalte stattfinden. Solche Zusam- 1973; vgl. Abb. 5.2).
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Analyse: Effektiver Unterricht


Vor allem in den 1980er-Jahren sind vermehrt Metaanalysen und Synthesen von
Metaanalysen zum Einfluss des Unterrichts auf die Schulleistung verçffentlicht wor-
den (Fraser et al., 1987; Walberg, 1986; Wang et al., 1993). Die Befunde solcher
Synthesen sind nur mit Vorbehalt zu interpretieren, deshalb werden hier auch keine
Kennzahlen berichtet: Zu willkrlich und inhaltsleer scheint oftmals die Kategori-
sierung von Unterrichtsmerkmalen. Zu selten werden die interessierenden Effekte
zur Unterrichtsqualitt unter regressionsanalytischer Kontrolle anderer Determinan-
ten der Schulleistung bestimmt.
Die Arbeitsgruppe um Walberg kommt zu dem (wohl gerechtfertigten) Schluss, dass
die proximalen Bedingungsfaktoren auf Seiten der Lernenden und Lehrenden einen
grçßeren Einfluss auf die Schulleistung haben als die distalen (wie Bildungspolitik,
Schuladministration, soziale Herkunft oder Freizeitverhalten der Schler). Unter
den proximalen Faktoren scheinen wiederum zwei Variablenbndel besonders be-
deutsam: die kognitiven Fhigkeiten, insbesondere die Eingangsvoraussetzungen
der Lernenden, und die Unterrichtsqualitt, d. h. das Lehrerhandeln.
Zur Synthese der Studien zum Lehrerhandeln bilden Wang et al. (1993) Kategorien,
die unterschiedliche Aspekte von Unterricht betreffen. Die fr den Lernerfolg be-
deutsamsten sind (in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit): Klassenfhrung, lernbezo-
gene Lehrer-Schler-Interaktionen, Lernzeit, Leistungsmessungen sowie Instrukti-
onsverhalten. Mit Letzterem sind vor allem Merkmale direkten Unterrichts
gemeint, wie sequentielles und kleinschrittiges Prsentieren, Fragen stellen, Rck-
meldungen geben, Verstehen berprfen, ben und Wiederholen lassen. Aber auch
die Fçrderung strategischer und metastrategischer Aktivitten der Lernenden fllt
darunter. Fr die Merkmale des Lehrerhandelns lassen sich positive Beziehungen
zum schulischen Lernerfolg nachweisen.

Je hçher die Aufgabenorientierung, je Das beschriebene Ergebnismuster zur


mehr Stoff im Unterricht behandelt und Effektivitt des Direkten Unterrichtens
eingebt wird, je besser der Unterrichts- findet sich auch in zwei breit angeleg-
stoff strukturiert ist, je mehr Unterrichts- ten Schulleistungsstudien des frheren
zeit zur klaren und sequenzierten Prsen- Mnchner Max-Planck-Instituts fr psy-
tation genutzt wird, je weniger Zeit fr chologische Forschung. Die eine Untersu-
(disziplinierende und organisatorische) chung wurde in 39 Hauptschulklassen der
Maßnahmen der Klassenfhrung ver- fnften und sechsten Jahrgangsstufe im
wendet werden muss, desto gnstiger ist Fach Mathematik durchgefhrt (Helmke,
die Leistungsentwicklung. Shuell (1996) 1988), die andere in 54 Grundschulklas-
weist allerdings zu Recht auf ein bekann- sen der dritten und vierten Jahrgangsstufe,
tes Manko der Prozess-Produkt-Befunde ebenfalls im Fach Mathematik (Weinert
hin: die vornehmliche Fokussierung auf & Helmke, 1997a). In beiden Studien (sie
Quantitten des Lehrerhandelns. Die be- werden ausfhrlicher in Kapitel 7.1 be-
obachtete Hufigkeit, mit der Lehrende handelt) zeigt sich, dass »gute Lehrer«
das eine oder andere Lehrverhalten zei- eine besonders effiziente Form der Klas-
gen, sagt aber nur wenig ber dessen senfhrung betreiben, die Unterrichtszeit
adaptive Angemessenheit aus. intensiv fr die Prsentation des Unter-
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Teil II Lehren

richtsstoffes nutzen, in ihren Darstellun- sondern nur in Bezug auf konkrete Lern-
gen klar, verstndlich und strukturiert ziele, Lernvoraussetzungen und Lern-
erscheinen, aufgabenbezogene Schler- inhalte wird eine Methode mehr oder we-
aktivitten fçrdern, das Anforderungs- niger gut geeignet sein. Es ist deshalb
niveau an die unterschiedlichen Fhig- zweifelhaft, inwieweit die experimentelle
keiten der Schler anpassen und »in Zuweisung von Lehrenden auf die eine
zweckmßiger Weise Klassen-, Gruppen- oder andere Lehrmethode den Besonder-
und Einzelarbeit« kombinieren (Weinert, heiten und Erfordernissen einer konkre-
1996a, S. 8). Es zeigt sich aber auch, dass ten Unterrichtssituation berhaupt ge-
erfolgreicher Unterricht »auf eine sehr ver- recht werden kann.
schiedene, aber nicht beliebige Weise reali- Wie Grundschullehrer im Fach Mathe-
siert werden« kann (Weinert & Helmke, matik im Rahmen eines Trainings auf die
1997a, S. 472). Prinzipien des Direkten Unterrichtens
Neben den korrelativen gibt es auch verpflichtet werden, ist beispielhaft bei
experimentelle Studien im Prozess-Pro- Good und Grouws (1979) beschrieben.
dukt-Paradigma. Sie zielen nicht rck- Die Autoren haben auch untersucht, ob
schließend-beobachtend auf die Verhal- die trainierten Lehrpersonen die neuen
tensweisen der »besten Lehrer«, sondern Verhaltensweisen tatschlich im Unter-
intervenierend-manipulativ auf die »beste richt praktizieren und wie sich das auf
Lehrmethode«. Forschungsmethodisch die Schulleistungen auswirkt: In die Stu-
sind sie wie folgt angelegt: die waren 40 Mathematiklehrer der vier-
ten Klassenstufe einbezogen. Einund-
. ber Eingangstests werden (zwei oder
zwanzig von ihnen durchliefen ein
mehr) vergleichbare Gruppen von Ler-
90-mintiges Trainingsprogramm zur Di-
nenden definiert.
rekten Instruktion und erhielten ein er-
. Die Lehrenden wenden in diesen Grup-
luterndes Manual zur Unterrichtsvor-
pen unterschiedliche Lehrmethoden
bereitung nach den fnf oben genannten
an, um den gleichen Lerninhalt zu ver-
Prinzipien. Die anderen wurden instru-
mitteln.
iert, ihren Unterricht »wie bisher« zu ge-
. ber einen Leistungstest am Ende des
stalten. In regelmßigen Abstnden wur-
Unterrichts wird die Wirksamkeit der
de der Unterricht in den Experimental-
beiden Methoden ermittelt.
und in den Kontrollklassen beobachtet.
Interventionsstudien dieser Art haben die Die Mathematikleistungen der Schlerin-
Befunde aus den korrelativen Analysen nen und Schler wurden zu Beginn und
im Wesentlichen besttigt (z. B. Good & zum Ende der Lerneinheit mit standardi-
Grouws, 1979). Sie belegen zugleich die sierten und mit lehrzielorientierten Tests
prinzipielle Modifizierbarkeit des In- erfasst. Wie die Unterrichtsbeobachtun-
struktionsverhaltens. Zu Recht wird bei gen zeigten, hatten die Lehrenden we-
solchen Studien jedoch auf ein anderes sentliche (z. B. Hausaufgaben berprfen,
Problem hingewiesen: dass nmlich die Rckblick zu Beginn, Stillarbeit), aber
Suche nach der besten Lehrmethode der durchaus nicht alle Trainingsprinzipien
Suche nach der besten Medizin gleicht, der Direkten Instruktion in ihr unterricht-
»ohne die Krankheit, die es zu heilen und liches Verhalten bernommen. Die Leis-
den Patienten, den es zu behandeln gilt«, tungsfortschritte fielen in den Klassen der
gengend im Blick zu haben (Terhart, trainierten Lehrer grçßer aus.
2000, S. 81). Es gibt nmlich nicht die ge- Das Direkte Unterrichten ist erfolgreich.
nerell bessere oder schlechtere Methode, »So kann man auch unterrichten« heißt es
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Fokus: Prinzipien Direkter Instruktion im Mathematikunterricht


1. Wiederholung (jeweils acht Minuten, außer montags)
. wiederhole die Konzepte und Fertigkeiten, die in den Hausaufgaben angespro-
chen wurden,
. berprfe die Hausaufgaben,
. fhre ein paar Kopfrechenbungen durch.

2. Stoffvermittlung (ungefhr 20 Minuten)


. gehe kurz auf Fertigkeiten und Konzepte ein, die als Lernvoraussetzungen benç-
tigt werden,
. fhre die neuen Inhalte ein und fçrdere das Verstndnis durch lebendige Erkl-
rungen, Demonstrationen, Illustrationen usw.,
. berprfe das Verstndnis durch Fragen und durch angeleitetes, kontrolliertes
ben,
. wiederhole und erarbeite die neuen Inhalte so oft wie notwendig.

3. Stillarbeit (ungefhr 15 Minuten)


. ermçgliche ungestçrtes erfolgreiches ben,
. halte das Geschehen in Gang, sorge dafr, dass alle beteiligt sind, halte die Beteili-
gung aufrecht,
. kndige an, dass die Arbeit der Schler am Ende dieser Phase berprft werden
wird,
. fçrdere die Verantwortlichkeit – berprfe die Arbeit der Schler.

4. Hausaufgaben
. erteile routinemßig am Ende jeder Mathematikstunde Hausaufgaben, außer frei-
tags,
. die Hausaufgaben sollten nicht mehr als 15 Minuten Bearbeitungszeit erfordern,
. die Hausaufgaben sollten auch Wiederholungsaufgaben beinhalten.

5. Zustzliche Wiederholungen
. wiederhole die Inhalte der letzten Woche whrend der ersten 20 Minuten an je-
dem Montag,
. gehe auf die Fertigkeiten und Konzepte ein, die whrend der letzten Woche be-
handelt wurden,
. wiederhole die Inhalte des letzten Monats an jedem vierten Montag,
. gehe auf die Fertigkeiten und Konzepte ein, die whrend des Monats behandelt
wurden.
(leicht gekrzt, aus Good & Grouws, 1979, S. 357)

lakonisch und unvermutet zurckhaltend le Lernziele genau die richtige Methode.


bei einem seiner einflussreichen Frspre- So gibt es Hinweise darauf, dass sich die
cher (Grell, 1999, S. 45). Man kann die Direkte Instruktion fr sequentiell gut
Prinzipien des Direkten Unterrichtens na- strukturierbare Stoffinhalte besser eignet
trlich mehr oder weniger gut anwenden und dass sie eher den Aufbau von Kennt-
und die direkte Unterweisung ist auch nissen (Wissen) und das Verstehen neuer
nicht unbedingt fr alle Schler und fr al- Inhalte fçrdert als die Fhigkeit des An-
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Teil II Lehren

wendens dieser Kenntnisse. Es wird auch zipien der Direkten Instruktion wieder
berichtet, dass Maßnahmen der Direkten finden. Stets ist es aber das hohe Aus-
Instruktion wirksamer zur Erreichung maß an Lehrersteuerung und Lernber-
kognitiver Lernziele eingesetzt werden wachung – die Organisation und Kon-
kçnnen als zur Erreichung sozialer, affekti- trolle der Lernprozesse durch die Lehr-
ver oder emanzipatorischer Ziele. person –, welches die direkte Wissensver-
Die Direkte Instruktion ist nicht mit dem mittlung von den anderen Formen des
Frontalunterricht gleichzusetzen, aber im Unterrichtens unterscheidet.
Frontalunterricht kommen die wesentli- Viele Untersuchungen zeigen, dass die
chen Prinzipien direkten Unterrichtens Unterrichtsrealitt an deutschen Schulen
zum Einsatz. Ohnehin wird es kaum eine in hohem Maße durch einen direkten,
Methode des Unterrichtens in Schulklas- fragend-entwickelnden Unterrichtsstil ge-
sen geben, in der sich nicht wichtige Prin- prgt ist, in Verbindung mit dem Lehrer-

Definition: Formen lehrerzentrierten Unterrichtens


Frontalunterricht
Weit verbreitete Methode des lehrerzentrierten Unterrichts, die vornehmlich bei grç-
ßeren, altershomogenen Gruppen (z. B. in Schulklassen) zum Einsatz kommt. Eine
Gruppe von Lernenden wird gemeinsam und in gleicher Weise unterrichtet. Viele
Merkmale der Direkten Instruktion werden im Frontalunterricht realisiert. Vorteil-
haft ist, dass in vergleichsweise çkonomischer Form neues Wissen dargeboten wer-
den kann. Nachteilig sind die Vernachlssigung der Selbstttigkeit der Schler und
das Befçrdern einer rezeptiven Lernhaltung.
Darbietender Unterricht
Eine wie der Frontalunterricht in hohem Maße lehrerzentrierte Form des Lehrens.
Das Prinzip der explizit darbietenden Stoffentwicklung entspricht dem inhaltlichen
Kern der Direkten Instruktion – der Prsentation. Das Darbieten von Lerninhalten
kann allerdings in unterschiedlichen sozialen Organisationsformen erfolgen – fron-
tal, individuell oder kooperativ.
Unterrichtsvortrag
Ein Vortrag (eine Vorlesung, ein Referat) ist der Prototyp des frontalen, darbieten-
den Unterrichtens. Hauptziel des Unterrichtsvortrags ist die einfhrende Informati-
onsvermittlung ber einen Lerngegenstand.
Unterrichtsgesprch (gelenktes)
Auch eine Form des lehrerzentrierten Unterrichtens, allerdings mit geringerem
Strukturierungsgrad als das darbietende oder vortragende Lehren. Das Unterrichts-
gesprch erfolgt im Sinne eines lehrergesteuerten Austauschens von Fragen und
Antworten. Es findet in der Regel in Kombination mit der darbietenden Stoffent-
wicklung statt.
Unterrichtsdiskussion
Wenn Kenntnisse und Sachinformationen bereits vorhanden sind, eignet sich die
Diskussionsmethode zur Erprobung der Anwendung, Analyse und Bewertung neu-
en Wissens. Diskussionen fçrdern das Erreichen komplexer kognitiver Lernziele.

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

vortrag, der Stillarbeit und dem angeleite- mit dem, was der Lernende bereits vorher
ten ben (Hage et al., 1985; Wiechmann, weiß, erfolgt. Es ist die Aufgabe des Un-
1999). terrichts, dies zu gewhrleisten. Neben
Die von Michael Pressley (z. B. McCor- dem sinnvollen gibt es auch ein mecha-
mick & Pressley, 1997) propagierte Me- nisches sprachliches Lernen, man denke
thode der Direkten Erklrungen (direct nur an das Auswendiglernen von Telefon-
explanation) wurde ursprnglich von nummern oder Geheimzahlen (zumin-
Duffy und Kollegen im Zusammenhang dest, wenn dabei keine Mnemotechniken
mit dem Leseunterricht entwickelt (Duffy zur Anwendung kommen). Das sinnvolle
& Roehler, 1989). Sie weist eine große sprachliche Lernen kann rezeptiv oder
bereinstimmung mit den Prinzipien der durch Entdeckungen erfolgen. Ausubel
Direkten Instruktion auf, gibt dieser je- pldiert fr die rezeptive Variante – die
doch einen kognitionspsychologischen mit Jerome Bruner darber gefhrte Kon-
berbau (oder Unterbau, ganz wie man troverse wird in Kapitel 6.3 aufgegriffen.
will). Neu sind beim Direkten Erklren
Rezeptives vs. entdeckendes Lernen. Fr
die beiden zustzlichen Phasen des men-
das rezeptive Lernen prsentiert der Leh-
talen Modellierens und des individuell
rende den Lerninhalt in seiner endglti-
angepassten Elaborierens im Sinne eines
gen (fertigen) Form, z. B. als Lehrbuch-
Lerngersts (»scaffolding«). Die Metho-
text oder als Unterrichtsvortrag. Die
de des Direkten Erklrens weist deshalb
Informationsaufnahme durch den Ler-
enge Verbindungen zum reziproken Leh-
nenden kann daraufhin mechanisch oder
ren (Palincsar & Brown, 1984) und zur
sinnvoll (elaborativ) erfolgen. Beim ent-
kognitiven Meisterlehre (Collins et al.,
deckenden Lernen ist der Lerninhalt hin-
1989) auf (vgl. dazu Kap. 6.4).
gegen nicht in seiner endgltigen Form
gegeben; das zu lernende Material muss
Ausubels Darstellendes zuerst entdeckt werden. Nach der Entde-
Unterrichten ckung folgt wiederum meist eine rezepti-
ve Lernphase.
Mit David Ausubels »Educational psy-
chology: a cognitive view« ist 1968 eine Mechanisches vs. sinnvolles Lernen. Beim
Abkehr von der vornehmlich verhaltens- mechanischen Lernen wird wortwçrtlich
psychologischen Fundierung der Unter- (und nicht inhaltlich) gelernt. Die Lern-
richtsplanung eingeleitet worden. Aus- inhalte werden dabei nicht auf das Vor-
ubel bestreitet nicht, dass es auch Formen wissen bezogen. Sinnvolles Lernen setzt
des assoziativ-mechanischen, des perzep- hingegen voraus, dass relevante Vor-
tiv-motorischen oder des sozialen Ler- kenntnisse aktiviert werden (kçnnen), die
nens gibt. Nur sind sie nicht sein Thema. eine Subsumtion, Erweiterung oder Ver-
Schulisches Lernen – so Ausubel – knpfung des neuen mit dem bereits
geschieht im Wesentlichen durch das vorhandenen Wissen zulassen. Ausubel
sinnvoll-rezeptive Nachvollziehen von spricht in diesem Zusammenhang auch
Zusammenhngen. Und das primre Me- von assimilierendem Lernen.
dium schulischen Lernens ist die Sprache.
Sprachliches Lernen nennt Ausubel auch Prinzipien des Darstellenden
symbolisches Lernen – Lernen in und mit
Unterrichtens
dem Symbolsystem Sprache. Sinnvolles
symbolisches Lernen findet statt, wenn Das sinnvolle rezeptive Lernen lsst sich
eine Verknpfung des neuen Lernstoffs – so Ausubel – am besten durch Darstel-
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Teil II Lehren

lendes Unterrichten (expository teaching) 6.2 Adaptive Instruktion


fçrdern. Ziel des Unterrichts ist der Auf-
bau einer Wissensstruktur. Diese Wissens- »Wer ber adaptive Instruktion schon
struktur soll stabil, gegliedert und hierar- Bescheid weiß, kann diesen Abschnitt
chisch aufgebaut sein. Auf den niederen berspringen und auf Seite 262 mit den
Hierarchieebenen sollen konkrete Einzel- Ausfhrungen zum entdeckenlassenden
erfahrungen ihren Platz finden, an der Lehren beginnen. Lesen Sie aber zuvor
Spitze einer Wissenshierarchie stehen die das Fazit auf Seite 261, um sicherzustel-
allgemeinen Konzepte und Begriffe. Eine len, dass Ihnen die zentralen Begriffe zur
solche Wissensstruktur lsst sich nach adaptiven Instruktion tatschlich vertraut
dem Prinzip der progressiven Differenzie- sind.«
rung aufbauen, indem man in der Stoff- Die Aufforderung ist nicht ganz ernst ge-
darbietung vom Allgemeinen zum Beson- meint – es gibt gute Grnde dafr, den
deren fortschreitet. Als Technik hierfr Abschnitt 6.2 auch dann zu lesen, wenn
eignet sich etwa das Regel-Beispiel-Regel- das Konzept der adaptiven Instruktion
Konzept: Eine grundlegende Erklrung bereits bekannt ist. Sie verweist aber illus-
wird anhand einiger Beispiele illustriert trativ auf eine mçgliche instruktionale
(deduktives Prinzip). Aufgrund des Infor- Maßnahme der Anpassung des Lernma-
mationsberschusses aus den gegebenen terials an die Lernvoraussetzungen. In
Beispielen wird so leicht eine weitere Kapitel 2 haben wir wichtige Merkmale
(zweite) Regel gefunden (induktives der Lernenden beschrieben, die fr den
Prinzip). Andere wichtige Prinzipien des Lernerfolg entscheidend sind. Vor allem
darstellenden Unterrichtens sind das inte- in leistungsheterogen zusammengesetzten
grierende Verbinden der einzelnen Lern- Lerngruppen – wie beispielsweise in einer
inhalte und die sequentielle, sachlogische Jahrgangsklasse – wird es im Hinblick
Organisation der Stoffdarbietung. auf solche Merkmale vor Beginn einer
Ein weiteres, in besonderer Weise mit Lerneinheit stets erhebliche interindividu-
Ausubels Namen verknpftes Prinzip elle Unterschiede geben (Gustafsson &
wurde bereits in Kapitel 1.3 erlutert. Es Undheim, 1996; Snow, Corno & Jack-
handelt sich dabei um das Prinzip der son, 1996). So sind manche Schlerinnen
vorstrukturierenden Hinweise (advance und Schler krftiger und grçßer (und
organizer). Diesen kommt die wichtige tun sich deshalb vielleicht leichter, schnel-
Funktion zu, vor Beginn des eigentlichen ler zu laufen oder hçher zu springen), leis-
Lernprozesses das relevante Vorwissen zu tungsmotivierter und weniger ngstlich
aktivieren, um die nachfolgenden Assimi- (und kçnnen mçglicherweise mit Miss-
lationsprozesse zu erleichtern. Hufig erfolgen besser umgehen), sind zweispra-
wird in diesem Sinne in Lehrbchern eine chig aufgewachsen (und verfgen deshalb
kurze Vorausschau auf die Themen und ber besondere Vorteile beim Erlernen ei-
Inhalte eines jeden Kapitels gegeben. Da- ner Fremdsprache) oder haben Lesen und
mit eine solche Vorstrukturierung effektiv Schreiben bereits vor der Schule gelernt
ist, muss sie allerdings Begrifflichkeiten (und langweilen sich deshalb im ersten
verwenden, die der Lernende bereits Halbjahr der ersten Klasse). Sind solche
kennt. Vorangestellte bersichten bewir- Schlermerkmale im Sinne von Eignun-
ken nmlich wenig, wenn sie sich auf gen (unterrichts-)zielrelevant, indem sie
dem gleichen Abstraktionsniveau wie das das Erreichen eines Lernziels erleichtern
nachfolgende Lernmaterial bewegen oder erschweren, so wird ein Unterricht,
(Corkill, 1992). der alle Schlerinnen und Schler in der
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

gleichen Weise behandelt, mit großer Wettbewerb abbrechen. Die starre Zeit-
Wahrscheinlichkeit die im Hinblick auf vorgabe ist fr die Zwei-Stunden-Lufer
ein Lernziel vorgefundenen Eingangs- unnçtig, fr die Vier-Stunden-Lufer ver-
unterschiede festigen und reproduzieren, hngnisvoll. Sie mssten das Unterneh-
wahrscheinlich sogar vergrçßern. men erfolglos einstellen, obgleich viele
Ein wichtiges Unterrichtsmerkmal ist die von ihnen vermutlich doch noch ins Ziel
Zeit, die im Unterricht zur Verfgung gekommen wren, wenn man ihnen die
steht, genauer: die Zeitdauer, die der Leh- Zeit dazu gelassen htte. Anders als die
rende fr einen Vortrag oder eine Erkl- schulische Unterrichtszeit, ist die Zeit-
rung, fr das Vorzeigen oder Vormachen messung beim wirklichen Marathonlauf
aufwendet oder fr das angeleitete und glcklicherweise adaptiv – beim Ziel-
das selbststndige ben bereitstellt. Die eingang wird jedem Lufer im Nachhi-
Lernenden unterscheiden sich nun aber nein die Zeit »zugemessen«, die er tat-
darin, wie viel Zeit sie bençtigen (und schlich gebraucht hat, um das Ziel zu
auch tatschlich einsetzen), um etwas zu erreichen.
erlernen. Diese Erkenntnis ist nicht neu – Adaptieren heißt anpassen. Nicht nur die
Corno und Snow (1986) zufolge war es Unterrichtszeit kann man den Erforder-
schon in den vorchristlichen Hochkultu- nissen und Bedrfnissen der Lernenden
ren bekannt, dass Lernende mit unter- anpassen, auch das unterrichtsmetho-
schiedlichen Lernvoraussetzungen dem- dische Vorgehen oder gar das Lernziel
entsprechend in unterschiedlicher Weise selbst. Der Begriff der adaptiven Instrukti-
unterwiesen werden sollten. Jedoch ist on ist eine Sammelbezeichnung fr den
die unterrichtspraktische Umsetzung der unterrichtlichen Umgang mit interindivi-
Lernzeitdifferenzierung unter den Bedin- duellen Differenzen. Dabei wird das un-
gungen des Schulklassenunterrichts alles terrichtliche Vorgehen an vorgegebene
andere als trivial. Wie lsst sich im starren oder vorgefundene Unterschiede ange-
Zeitrahmen des Schulunterrichts die Not- passt, um individuelle Lernprozesse zu op-
wendigkeit unterschiedlicher Lernzeiten timieren (Corno & Snow, 1986). Durch
praktisch realisieren? adaptiven Unterricht soll jeder Lernende
Es ist allerdings nicht allein der quantita- mçglichst gut gefçrdert werden. Ob eine
tive Aspekt des Unterrichts, welcher der solcherart optimierte Fçrderung individu-
Anpassung bedarf: Die eine Schlerin elle Leistungsdefizite nicht nur ausglei-
wird die Addition mit Zehnerberschrei- chen, sondern letztendlich sogar zu einer
tung in kurzer Zeit verstanden haben, fr Verringerung der Leistungsvariabilitt in
einen anderen Schler wird es nicht aus- heterogenen Lerngruppen beitragen kann
reichen, das Zeitbudget zu erhçhen, son- (und soll), wird kontrovers beurteilt
dern es wird zudem ein (zeit-)aufwndi- (Bloom, 1976; Neber, 1996). Dennoch ist
ges didaktisches Zurckgehen vom die Notwendigkeit des adaptiven Unter-
Operieren mit Zahlsymbolen auf die iko- richtens unstrittig. Sie leitet sich aus der
nische oder gar enaktive Reprsentations- grundstzlichen Problematik nahezu jeder
ebene erforderlich sein, das aber heißt: ei- Gruppenunterweisung in nicht selegierten
ne vçllig andere Form der Instruktion. Lerngruppen ab: der vorgefundenen Un-
Es ist offensichtlich: Gleiche Lernzeit fr terschiedlichkeit der Lernenden.
alle ist genauso unsinnig, als wolle man Vor allem Lee Cronbach und Richard
bei einem Marathonlauf fr alle Teilneh- Snow (Corno & Snow, 1986; Cronbach
mer eine Richtzeit von drei Stunden und & Snow, 1977) haben sich um eine kon-
20 Minuten festlegen und danach den zeptuelle Klrung der Adaptivitt von In-
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Teil II Lehren

struktion bemht. Im deutschsprachigen pulierten) Instruktionsmethode, sondern


Raum wurde das Thema z. B. von Flam- auch auf relevante Merkmalsunterschiede
mer (1973), von Treiber und Weinert zwischen den Lernenden zurckfhrten.
(1985) und von Leutner (1992) aufgegrif- Dowaliby und Schumer (1973) haben
fen. Die plausible Grundidee, durch das z. B. in einer experimentellen Studie he-
Anpassen des Unterrichtens an die unter- rausgefunden, dass ngstliche Collegestu-
schiedlichen Lernvoraussetzungen die denten, die ber die Vortragsmethode
Lernerfolge zu optimieren, durchzieht die (lehrergesteuert) unterrichtet werden, in
gesamte Pdagogische Psychologie, sie einem Leistungstest zu Semesterende
war seit jeher auch in den reformpdago- besser abschneiden, als wenn (selbst-
gischen Anstzen und in den allgemeindi- gesteuert) nach der Diskussionsmethode
daktischen Entwrfen der Erziehungswis- vorgegangen wurde. Fr die weniger
senschaft prominent. ngstlichen ergibt sich genau das umge-
Unzutreffend wre es, wollte man den kehrte Bild. Sie leisten mehr, wenn man
Perspektivenwechsel von der direkten zur sie selbststndig lernen lsst. Whrend
individualisierten Adaptiven Instruktion die einen auf hufige, zustimmende
mit der spten »Entdeckung des Lernen- Rckmeldungen und Bekrftigungen an-
den« umschreiben. Eher ist die besondere gewiesen sind, kommen die anderen bes-
Fokussierung der Unterschiedlichkeit ser ohne solche Ermutigungen zurecht.
zwischen den Lernenden und der daraus Beim hier beschriebenen Typ einer va-
resultierenden Folgerungen fr instruk- rianzanalytischen Wechselwirkung zwi-
tionale Maßnahmen neu hinzugekom- schen Lernermerkmal und Lehrmethode
men. Der Lernende ist schon bei der Vor- handelt es sich um eine disordinale Inter-
bereitung und Durchfhrung einer direkt aktion. Einen Haupteffekt zu Gunsten ei-
konzipierten Instruktion stets prsent ge- ner der beiden Lehrmethoden gab es in
wesen. Nur eben als »mittlerer Lernen- der Studie von Dowaliby und Schumer
der« und nicht in seiner tatschlichen, die brigens nicht.
unterrichtliche Situation verkomplizieren- Dass (unangemessen) hufige Rckmel-
den Unterschiedlichkeit. Dabei ist die di- dungen bei guten Schlern sogar zu
rekte Unterweisung prinzipiell ohnehin schlechteren Lernergebnissen fhren kçn-
adaptiv, nmlich dann, wenn sie sich an nen, berichten Cope und Simmons
einen einzigen Lernenden richtet (Haus- (1994) fr das Lçsen von Programmier-
lehrerprinzip). Problematisch wird es erst aufgaben. So weit muss es nicht unbe-
beim Unterricht in voraussetzungshetero- dingt kommen, es bleibt aber festzuhal-
genen Jahrgangsklassen – das aber ist der ten, dass nicht jede instruktionale
Regelfall schulischen Lernens. So be- Maßnahme allen Lernenden in gleicher
trachtet, ist das adaptive eine notwendige Weise gut tut. Trifft die richtige Maßnah-
und nahe liegende Przisierung und Er- me jedoch den richtigen Adressaten, so
gnzung des Direkten Unterrichtens. tritt der angestrebte Effekt auf. Tausch,
Barthel, Fittkau, Langer und Theunißen
(1969) haben das in einer Studie zum
ATI-Forschung
Sportunterricht bei Zwçlfjhrigen illus-
Es hat seit den 1960er-Jahren Studien ge- triert. Sie untersuchten die Wirksamkeit
geben, die die Wirksamkeit unterricht- ermutigender Lehrerußerungen wie
licher Maßnahmen der Direkten Instruk- »Weiter so«, »Gut« oder »Bravo« nach
tion nicht nur auf Merkmale der guten Leistungen, aber auch »Wird schon
(beobachteten oder experimentell mani- noch« oder »Schon besser« nach sub-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

optimalen Trainingsversuchen. Die syste- Cronbach (1975, S. 119) hat das so um-
matische Ermutigung wurde durch kurze schrieben: »Sobald wir auf Interaktionen
Zurufe beim Weitsprung, beim Schlag- achten, betreten wir ein Spiegelkabinett,
ballwurf und beim 50-Meter-Lauf experi- das sich bis zur Unendlichkeit ausdehnt.«
mentell induziert. Es zeigte sich, dass vor Vermutlich gibt es viele Eigenschaften
allem die hochngstlichen Schler (aus- von Lernenden, die mit vielen Lehr-
weislich ihrer Testwerte fr Schul- und methoden, Lerninhalten und Lernzielen
Prfungsangst) von den ermutigenden im Hinblick auf den Lernerfolg Wechsel-
Verstrkungen profitierten. In einer Kon- beziehungen aufweisen. Hinzu kommt:
trollgruppe ohne solche Verstrkungen Selbst wenn die maßgeblichen Wechsel-
konnten sich die ngstlichen Schler in wirkungen alle bekannt wren, wie soll-
ihren Leistungen nmlich nicht verbes- ten die auf ihnen beruhenden Schlussfol-
sern. Fr die weniger ngstlichen Schler gerungen unter den Bedingungen des
waren die Ermutigungen wie auch deren Gruppenunterrichts in praktikable, diffe-
Ausbleiben weniger wichtig – wenn auch renzierende instruktionale Maßnahmen
nicht schdlich. umgesetzt werden?
Studien wie diese haben eine methodische Auch wenn der unmittelbare unterrichts-
Forschungstradition in der Instruktions- methodische Nutzen mithin zweifelhaft
psychologie begrndet, die als ATI-For- erscheint, kommt der ATI-Forschung im
schung bekannt wurde. Das Akronym wertenden Rckblick eine besondere Be-
ATI steht fr »Aptitude-Treatment-Inter- deutung zu. Sie hat, wie Terhart (2000,
action« – die differenzielle Wirksamkeit S. 84) treffend formuliert, »die Mçglich-
pdagogischer Interventionen. Eine keit des einfachen Methodenvergleichs
brauchbare deutsche bersetzung hat sich endgltig sabotiert«. Die naive Suche
nicht durchgesetzt. Als »aptitudes« be- nach der besten Lehrmethode, dem bes-
zeichnet man die Eigenschaften oder ten Unterrichtsmedium, dem erfolgreichs-
Merkmale (eigentlich: die Eignungen) der ten Lehrerverhalten war damit in ihrer
Lernenden, als »treatment« die unter- Ausschnitthaftigkeit als zu kurz gegriffen
richtlichen Maßnahmen (eigentlich: die entzaubert. Was neben dieser ernchtern-
Behandlung) durch die Lehrenden, also in den Erkenntnis bleibt, sind die vielflti-
der Regel die Lehrmethode, und die »in- gen ATI-Befunde zur Wirksamkeit in-
teraction« ist im Sinne eines statistischen struktionaler Medien in Abhngigkeit
Interaktionseffekts im varianzanalyti- von spezifischen kognitiven Lernvoraus-
schen Versuchsplan gemeint. setzungen (z. B. Plass, Chun, Mayer &
Schlerinnen und Schler mit bestimmten Leutner, 1998; Tuovinen & Sweller,
Eignungen und Voraussetzungen (Aptitu- 1999; ausfhrlicher vgl. Kap. 7.4). Es gibt
des) lernen also offensichtlich besser, wenn ganz offensichtlich Interaktionen zwi-
sie nach einer bestimmten Methode schen ngstlichkeit, Intelligenz und Vor-
(Treatment) unterrichtet werden; fr an- kenntnisniveau der Lernenden und Merk-
dere ist wiederum eine andere Methode malen der Instruktion: ngstlichere und
gnstiger. Die vielfach aufgefundene infe- Leistungsschwchere scheinen nmlich
renzstatistisch bedeutsame Wechselwir- von hochstrukturierten Unterrichts-
kung (Interaction) zwischen Eigenschaf- umgebungen mit klar definierten Auf-
ten des Lernenden und bestimmten Unter- gabenstellungen, von einer schrittweisen
richtsmerkmalen erçffnet allerdings auf Stoffprsentation und einer strkeren
der Theorie- wie auf der Praxisebene weit Lenkung vergleichsweise mehr zu profi-
mehr Probleme, als sie zu lçsen vorgibt. tieren (Snow & Swanson, 1992; Swan-
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Teil II Lehren

Analyse: ATI-Effekte beim studentischen Lernen


Problemstellung:
Lernende unterscheiden sich darin, ob sie eher einen strukturierenden, gegenstands-
orientierten und lehrergesteuerten Unterrichtsstil bevorzugen oder ein kollegiales,
problemorientiertes und offenes Lehrerverhalten (d. h., ob sie lieber durch Anpas-
sung [A] oder durch Selbststndigkeit [S] lernen wollen). Lehrende ihrerseits unter-
scheiden sich ebenfalls darin, welchen Unterrichtsstil sie persçnlich bevorzugen
(Domino, 1971).
Hypothese:
Lernerfolge lassen sich optimieren, wenn eine Passung (Interaktion) zwischen Ler-
nereigenschaften (aptitudes) und Lehrerverhalten (treatment) hergestellt wird.
Methode:
Neunhundert Erstsemestern wird ein Fragebogen vorgegeben, der die individuelle
Bevorzugung des Unterrichtsstils erfassen soll. Einhundert werden fr ein Quasiex-
periment ausgewhlt, und zwar jene 50, die am deutlichsten offene Unterrichtsfor-
men ablehnen und zugleich einen lehrerzentrierten Unterricht befrworten (A), so-
wie jene 50, die genau entgegengesetzter Meinung sind (S). Im 2x2-Design werden
die Studierenden auf insgesamt vier Seminare aufgeteilt, wobei in zwei der vier Se-
minare erwartungs- und wunschkonform unterrichtet wird (A/A bzw. S/S), in den
beiden anderen erwartungswidrig (A/S bzw. S/A). Am Ende des Semesters wird der
Lernzuwachs festgestellt. Der Leistungstest enthlt sowohl Multiple-Choice- (MC)
als auch Textaufgaben, bei deren Lçsung neben Faktenwissen (FW) auch die Origi-
nalitt der Ideen (OI) bewertet wird.
Ergebnisse:
Es gibt keinen Haupteffekt fr eine der beiden Lehrmethoden. Nur fr die Variable
OI gibt es einen Haupteffekt zu Gunsten der selbststndigkeitsorientiert Lernenden.
Fr die Variablen MC und FW gibt es die erwarteten statistischen Interaktionen im
Sinne des ATI-Paradigmas: Bei einer Passung zwischen Lernereigenschaften und
Lehrmethode ist der Lernzuwachs am grçßten.

son, 1999). Erklrt wird das durch eine instruktionale Vorgehensweisen kçnnen
kompensatorische Wirkung der direkten also dazu fhren, dass die Lernenden in-
Instruktion bei den leistungsschwcheren dividuell optimal gefçrdert werden.
Schlern, bei denen defizitre kognitive Die adaptive Instruktion sorgt offenbar dafr,
oder motivationale Lernvoraussetzungen dass getan wird, was fr den Lernprozess not-
durch ußere Vorgaben substituiert und wendig ist, was aber der Lernende zu einem be-
damit Prozesse der Informationsverar- stimmten Zeitpunkt selbst spontan nicht tun
beitung erleichtert wrden. Lernende kann. (Weinert, 1996c, S. 32)
hingegen, die aufgrund ihrer Lernvoraus-
setzungen zu selbstregulativem Lernver- Modelle der Adaptation
halten in der Lage seien, profitierten eher Leutner (1992) hat die Facetten des
von offenen und entdeckenlassenden Un- Adaptationsbegriffs systematisiert. Er un-
terrichtsverfahren. Ganz unterschiedliche terscheidet zwischen dem Adaptations-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

zweck, der Art einer Adaptationsmaß- Adaptationsmaßnahme. Unterricht lsst


nahme und dem zeitlichen Abstand sich anpassen, indem man das Lernziel,
zwischen den zu treffenden Adaptations- die Lehrmethode oder die Lehr-Lern-Zeit
entscheidungen, der so genannten Adap- auf den Lernenden abstimmt. Das Lern-
tationsrate. ziel beschreibt die angestrebte bzw. gefor-
derte Kompetenz am Ende eines Lehr-
Adaptationszweck. Das Ziel adaptiven gangs oder einer Maßnahme, die
Lehrens kann die performanzorientierte Lehrmethode den qualitativen und die
Beseitigung von Wissens- bzw. Leistungs- Lehr-Lern-Zeit den quantitativen Aspekt
defiziten sein, z. B. durch zustzlichen des Unterrichtens. Ziele, Methoden und
(Nachhilfe-)Unterricht (Fçrdermodell), Lehrzeit sind mçgliche Adaptationsmit-
der ursachenbezogene Ausgleich von tel, die den Eignungen der Lernenden in
Wissens- bzw. Leistungsdefiziten durch unterschiedlichem Maße angepasst wer-
die nachhaltige Vernderung defizitrer den kçnnen. Liegen das Lernziel und die
Lern- und Leistungsvoraussetzungen, Lehrmethode bereits fest und ist auch die
z. B. im Bereich der Lernmotivation und verfgbare Zeit begrenzt (fixiert), so re-
der selbstregulativen Kompetenzen (Kom- sultiert im Ergebnis eine »fortschreitende
pensationsmodell), oder die wertschçp- Auslese« nach den kognitiven, motivatio-
fende Ausnutzung besonderer Strken nalen und affektiven Lernvoraussetzun-
und Vorlieben der Lernenden, z. B. durch gen ohne jegliche Adaptation. Blooms
die Anpassung der Methodenwahl an zielerreichendes Lernen (s. u.) ist hingegen
den »Lerntyp« oder Lernstil, um eine ein Beispiel fr die variable (und daher
Optimierung des Lernverhaltens zu erzie- adaptive) Handhabung der Unterrichts-
len (Prferenzmodell). zeit beim gleichzeitigen Festhalten an ver-
Adaptiver Unterricht im Sinne des Kom- bindlichem Lernziel und einheitlicher
pensationsmodells passt sich nicht nur an Lehrmethode. Maßnahmen der Lernzeit-
individuelle Lernvoraussetzungen an, adaptation sind in Folge der von Carroll
sondern zielt zugleich darauf, diese nach- (1963) und Bloom (1968) entwickelten
haltig zu entwickeln. Das gilt insbesonde- Modelle schulischen Lernens besonders
re fr die von Neber (1996) beschriebe- populr geworden. Beim individuellen,
nen Formen des remedialen (abhelfenden, unterrichtsadditiven Nachhilfeunterricht
heilenden) Lernens zur Fçrderung von werden Lernzeit und Lehrmethode den
Strategien des Lernens und Problemlç- Eignungen der Lernenden angepasst;
sens, zur Fçrderung metakognitiver ber- wird im Klassenverband fr einzelne
wachungs- und Steuerungskompetenzen Schlerinnen und Schler nur die Metho-
und zur selbstwertdienlichen Vernde- de, nicht aber die Lernzeit adaptiert,
rung ungnstiger Attributions- und spricht man von Formen innerer unter-
Selbstbewertungsprozesse in Leistungs- richtlicher Differenzierung. Formen uße-
situationen. Die Kernkomponenten des rer Schuldifferenzierung (z. B. das in
INVO-Modells sind hier unschwer zu er- Deutschland stark gegliederte Sekundar-
kennen (vgl. Kap. 2). Es gibt allerdings schulwesen) sind eine Extremvariante in-
Hinweise darauf, dass jngere Schler stitutioneller zieladaptiver Maßnahmen;
und Lernende mit ungnstigen Lern- in schwcherer Form ist die Leistungs-
voraussetzungen bei diesen Formen des bewertung ber soziale Bezugsnormen in
prozess- und strukturfçrdernden reme- der jeweiligen Lerngruppe (Vergleichs-
dialen Lernens einer strkeren (expliziten) noten) bei fixierter Methode und begrenz-
Anleitungskomponente bedrfen. ter Lernzeit ebenso zieladaptiv. Eine
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Teil II Lehren

»mittlere« Form der Zieladaptivitt bei mierten Lehrbcher und apparativen


fixierter Lernzeit und angepasster Lehr- Lehrmaschinen der 1960er- und 1970er-
methode stellt beispielsweise die Zuwei- Jahre beruhen auf den bewhrten Prinzi-
sung zu Grund- und Leistungskursen dar, pien der operanten Konditionierung (zu-
wie sie blicherweise in Gesamtschulen sammenfassend: Morris, 2003):
vorgenommen wird.
. Der Lerninhalt wird in kleine Einheiten
aufgeteilt und kleinschrittig dargebo-
Adaptationsrate. Zwar sind auch Maß-
ten; auf eine Informationseinheit folgt
nahmen ußerer (institutioneller) Diffe-
jeweils eine einfache Frage.
renzierung prinzipiell reversibel, jedoch
. Alle Lernenden mssen auf jede Frage
geschieht dies in der Regel erst nach ln-
mit einer Antwort, meist in schriftli-
geren Zeitabstnden. Auf der anderen
cher Form, reagieren.
Seite lassen sich in jeder Unterrichtsstun-
. Auf jede Reaktion erhalten die Lernen-
de fortwhrend neue Entscheidungen
den eine unmittelbare Rckmeldung.
ber die Anpassung von Lehrmethode
. Um das Entstehen kumulativer Lernde-
und Schwierigkeitsgrad an die Bedrfnis-
fizite zu vermeiden, sind die Aufgaben-
se und an die Leistungsentwicklung ein-
schwierigkeiten so gehalten, dass sie
zelner Schlerinnen und Schler treffen.
das 90/90-Kriterium erfllen (90 % der
Wird eine eingefhrte Adaptationsmaß-
Lernenden sollen 90 % der Lernaufga-
nahme erst nach Wochen oder Monaten
ben richtig lçsen kçnnen).
erneut berprft und gegebenenfalls kor-
rigiert, bezeichnet man dies als Makro- Ein programmiertes Lehrbuch besteht
adaptation. Makroadaptiv ist demnach aus einer sachlogischen Abfolge solcher
auch die mittel- und langfristige Zuwei- Lernschritte. In den 1960er- und 1970er-
sung von Lernenden zu Lehrbedingungen Jahren waren selbstinstruktive, gedruckte
und Unterrichtsmethoden aufgrund von Lehrprogramme weit verbreitet, compu-
vorab diagnostizierten Lernvoraussetzun- terbasierte Lehrsysteme setzten sich erst
gen oder Lernprferenzen. Bei Makro- mit dem Aufkommen der dezentralen
adaptationen werden die Adaptationsent- Personal Computer durch (Leutner,
scheidungen vor Beginn einer Lehreinheit 1992). Skinners PU gilt als Wegbereiter
getroffen. Bei einer Mikroadaptation moderner, technologisch-adaptiver Lehr-
werden hingegen stndig, idealerweise in systeme der computeruntersttzten In-
sehr kurzen Zeitabstnden und whrend struktion (CUI) und der computerbasier-
des laufenden Unterrichts, notwendige ten »intelligenten« Tutorensysteme (ITS).
Adaptationsentscheidungen vorgenom- Die adaptive Prsentation von Informa-
men. Die adaptiven, maschinell unter- tionen und Aufgaben in Abhngigkeit
sttzten Lehrsysteme, die sich im Verlauf von den individuellen Lernvoraussetzun-
des Lernens dem Kenntnisstand des Ler- gen und -fortschritten – eine Fortentwick-
nenden anpassen, sind in diesem Sinne lung der so genannten »verzweigten Pro-
mikroadaptiv (Leutner, 1992). gramme« des klassischen PU – ist ein
wichtiges Kennzeichen intelligenter tuto-
rieller Systeme. Sie wird realisiert durch
Programmierter Unterricht
den regulativen Rckgriff auf die Inhalte
Skinners Programmierter Unterricht (PU) zweier Systemmodule: auf die im so ge-
ist als Individualisierung der Direkten In- nannten »Expertenmodul« reprsentierte
struktion der Prototyp einer mikroadap- (objektive) Wissensbasis einschließlich
tiven Fçrdermaßnahme. Die program- der fr den Wissensaufbau zweckmßi-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

gen Lernsequenzen und auf den im »Ler- wenn es um das Erreichen nicht-kogniti-
nermodul« reprsentierten (subjektiven) ver Lernziele geht, etwa um die Vernde-
Stand des Wissensaufbaus, quasi als Di- rung von Einstellungen und Werthaltun-
agnosekomponente des Systems. gen.
Programmierter Unterricht ist effektiv
und effizient. Gottschaldt (1972) berich-
Zielerreichendes Lernen
tet fr das Bruch-, Dreisatz- und Prozent-
rechnen in sechsten und siebten Klassen Auf Benjamin Bloom (1976) geht das
ber eine Lernzeitersparnis in betrcht- Konzept des zielerreichenden Lernens zu-
licher Grçßenordnung bei gleichem Lern- rck (learning-for-mastery; LFM). Unter
erfolg wie in herkçmmlich unterrichteten den Bedingungen des Unterrichts in
Kontrollklassen. Einen geringeren Lern- Schulklassen ist das zielerreichende ein
zeitbedarf indiziert auch eine Metaanaly- individualisiertes, angepasstes Lernen,
se zur Wirksamkeit des computerunter- wobei die wesentliche Adaptivittsmaß-
sttzten Unterrichts (Kulik & Kulik, nahme in der Gewhrung unterschiedli-
1989). Es ist allerdings nicht die mediale cher Lernzeiten zur Bewltigung vorgege-
Realisation – programmiertes Lehrbuch bener Lernaufgaben besteht.
bzw. Computerprogramm –, die fr den
positiven Effekt verantwortlich ist, son- Was irgendein Mensch auf der Welt lernen
kann, kçnnen fast alle Menschen lernen, wenn
dern der beiden Medien gemeinsame
sie mit angemessenem Vorwissen und angemes-
adaptive Aspekt der Individualisierung senen aktuellen Lernbedingungen ausgestattet
von Unterricht. Programmierte Instrukti- werden. (Bloom, 1976, S. 7)
on trgt den Unterschieden zwischen den
Lernenden Rechnung, indem ein indivi- »Alle Schler schaffen es!« lautet die
duelles Lerntempo zur Zielerreichung zu- deutsche bersetzung von Blooms visio-
gelassen (Zeitadaptivitt) und, wenn er- nrem Programm. Das auf den schu-
forderlich, erneute Erklrungen und lischen Unterricht bezogene zielerreichen-
weitere Beispiele angeboten werden. Sie de Lernen fußt auf John B. Carrolls
fordert die Selbstttigkeit (Aktivitt) des Vorberlegungen zur Bedeutsamkeit der
Lernenden ein und sie nutzt zwei weitere aktiven Lernzeit fr den Schulerfolg (Car-
bewhrte Wirkmechanismen der operan- roll, 1963). Auch Carrolls richtungswei-
ten Konditionierung: fehlerfreies Lernen sender Aufsatz hat brigens eine ver-
und unmittelbare Rckmeldung. Die Me- gleichbar plakative deutsche bersetzung
thode des PU ist weniger gut geeignet, gefunden: »Lernerfolg fr alle«.

Beispiel: Ein Programmiertes Lehrbuch


Verstrkung, die darin besteht, Stimuli zu prsentieren (z. B. Futter) wird positive
Verstrkung genannt. Im Gegensatz dazu wird Verstrkung, die darin besteht, Sti-
muli zu beenden (z. B. Schmerzreize), ______ Verstrkung genannt. [Antwort: nega-
tive]
Einen Werbespot im Fernsehen wegzuschalten, wird verstrkt durch die Beendigung
eines ______ Verstrkers; ein sehr lustiges Fernsehprogramm anzustellen, wird ver-
strkt durch die Prsentation eines ______ Verstrkers. [Antworten: negativen, posi-
tiven]
(aus Holland & Skinner, 1961, S. 52–56)

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Teil II Lehren

Carroll formuliert das Ausgangsproblem mithin im negativen Sinne ein zieladap-


so: Individuen unterscheiden sich – aus tiver Unterricht. Bloom setzt demgegen-
welchen Grnden auch immer – hinsicht- ber auf das Instrument der Lernzeit-
lich ihrer Lernfhigkeiten. Dies hat zur adaptivitt, um mçglichst alle Lernenden
Folge, dass sie unterschiedlich viel Zeit zum verbindlichen Lernziel (mastery) zu
bençtigen, um unter optimalen Lernbe- fhren: Die fixierten Lernzeiten des her-
dingungen ein bestimmtes Lernziel zu er- kçmmlichen Unterrichts werden deshalb
reichen. Wenn aber allen Lernenden die- entsprechend der Bedrfnisse der Lernen-
selbe Menge an Unterricht zuteil wird, den durch adaptiv-variable Lernzeiten er-
werden die schnelleren das gesteckte Ziel setzt.
erreichen, die langsameren werden Deutlicher als Bloom, der ber dem
scheitern. Fr sie muss mithin ber die Wnschbaren und scheinbar Mçglichen
zugestandene Lernzeit ein Zeitausgleich gelegentlich das tatschlich Machbare
erfolgen, um den unterschiedlichen Be- aus dem Auge verliert, verweist Carroll
drfnissen zu entsprechen. Nur bei sehr ausdrcklich auf die notwendige Ausdau-
schwierigen Aufgaben wird ein solcher er (die Motivation) des Lernenden, d. h.
Zeitausgleich nicht gengen. Auch wird auf das Ausmaß der tatschlich lernziel-
es immer einige wenige Lernende geben, bezogen aufgewendeten Lernzeit. Nicht
die so langsam lernen, dass sie ein fixier- die zeitadaptiv zugestandene, sondern die
tes Lernziel praktisch nie erreichen kçn- tatschlich zielbezogen genutzte im Ver-
nen. gleich zur bençtigten Lernzeit ist fr Car-
Carrolls entscheidender Perspektiven- roll die entscheidende Determinante des
wechsel besteht darin, dass er stabile (und Lernerfolgs. Und man darf im Vorgriff
scheinbar unvernderliche) Parameter der auf sptere Ausfhrungen hinzufgen:
Begabung und der Fhigkeit des Lernen- Nicht allein die Zeit, »sondern das, was
den in variable (und beeinflussbare) Para- in der Zeit geschieht« (Weinert, 1998a,
meter der erforderlichen Anstrengung S. 206), verantwortet letztendlich den
und des notwendigen Zeitaufwands um- Lernerfolg. Carroll betont im brigen,
definiert, um pdagogischen Handlungs- dass die bençtigte Lernzeit nicht nur von
spielraum zu gewinnen. Fast deckungs- der Begabung und den spezifischen Vor-
gleich mit Blooms spterem Anspruch kenntnissen des Lernenden abhngt, son-
(s.o.) formuliert nmlich schon Carroll: dern auch von der Qualitt der Instruk-
tion.
… ein Lernender wird beim Meistern einer be- Shuell (1996) weist darauf hin, dass die
stimmten Aufgabe in dem Ausmaß erfolgreich
von Carroll und Bloom vorgenommene
sein, in dem er die Lernzeit aufwendet, die er
bençtigt, um die Aufgabe zu meistern. (Car-
Rekonzeptualisierung des Begabungs-
roll, 1963, S. 725) begriffs in ein weniger interventionsresis-
tentes Lernzeitkonzept den egalisierenden
Im herkçmmlichen Unterricht werden bei und fortschrittlichen bildungspolitischen
gleicher, durch die einheitliche Unterwei- Tendenzen der damaligen Zeit entsprach,
sung fixierter Lernzeit einige Schler das nicht unbedingt aber den pdagogischen
gesetzte Lernziel erreichen, andere nicht. berzeugungen der Lehrerinnen und
Nur ein gutes Drittel der Schlerinnen Lehrer.
und Schler, so schtzt Bloom, wird ohne Denn bei aller Plausibilitt birgt das Lern-
Mhe erfolgreich lernen. Bei den anderen zeitkonzept doch ein fundamentales Pro-
werden sich Leistungsdefizite kumulie- blem: Man geht implizit von einem belie-
ren. Im Resultat ist der herkçmmliche big verfg- und vermehrbaren Zeitbudget
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

aus. Aber jede erbrachte Lernleistung ist Studien zur Direkten Instruktion klar er-
immer auch eine Leistung in einer Zeit- wiesen, dass der vermittelte Stoffumfang
einheit. So gesehen ist die Allokation von in entscheidender Weise den resultieren-
Lehr-Lern-Zeit im Unterricht ein knappes den Wissensaufbau beeinflusst (vgl. Kap.
Gut. Nur bei unbegrenzter Unterrichts- 6.1). Erst wenn man die zeitadaptiven
zeit und wenn die schneller Lernenden Sttzkurse additiv, d. h. zustzlich zum
whrenddessen eine Auszeit nehmen, regulren Unterricht anbietet, findet die
kann sich deshalb der »hypertrophe An- Umverteilung der unterrichtlichen Lern-
spruch« (Weinert, 1998a, S. 206) Blooms zeit zu Gunsten der langsamer Lernenden
erfllen, wonach das zielerreichende Ler- ihr Ende. Mit der Folge allerdings, dass
nen langfristig dazu fhren werde, die die Leistungsunterschiede zwischen den
Leistungsvarianz in einer Lerngruppe zu Lernenden in der Regel weiter bestehen
verringern. Mit anderen Worten: Nur bleiben.
wenn man bewusst »Robin-Hood-Effek- Eine damit zusammenhngende Frage ist
te«, d. h. ein ausgleichendes Umverteilen die nach den »Kosten« der Divergenz-
der pdagogischen Bemhungen auf die minderung durch Lernzeitadaptation zu-
Leistungsschwcheren, einkalkuliert oder lasten einer mçglicherweise unterbliebe-
die Leistungsanforderungen sprbar nen Leistungsfçrderung. Wenn – wie
senkt, wird das zielerreichende auch ein bereits angedeutet – die Unterrichtszeit
ausgleichendes Lernen. im Klassenverband »nur einmal ausgege-
Vorliegende Metaanalysen und zusam- ben werden kann«, (Ewert & Thomas,
menfassende Darstellungen stimmen weit 1996, S. 100) stellt sich nmlich die Fra-
gehend darin berein, dass die zeitadap- ge, ob ein »zgiges Voranschreiten« zu
tiven Maßnahmen des zielerreichenden Gunsten der Leistungsentwicklung der
Lernens prinzipiell wirksam sind (Guskey, schneller Lernenden nicht dem divergenz-
1987; Kulik, Kulik & Bangert-Drowns, mindernden ben und Wiederholen unter
1990; Slavin, 1987). Allerdings, darauf einem bergeordneten Gesichtspunkt
weist insbesondere Arlin (1984) hin, pro- vorzuziehen ist. Was bringt es der Lern-
fitieren vornehmlich die Lernschwachen gruppe insgesamt, wenn »alle warten
von diesen Maßnahmen. Die schneller [mssen], bis der letzte durchs Ziel ge-
Lernenden werden in ihrer Leistungsent- gangen ist, ehe es weiter geht?« (Ewert &
wicklung eher gebremst. Daran ndern Thomas, 1996, S. 99). Allerdings gibt es
auch die vielfltigen »enrichment activi- Hinweise, dass die Zielkriterien der Leis-
ties« nichts, die man ihnen anbietet: sie tungsfçrderung und des Ausgleichs von
als Tutoren einsetzen, ihnen ergnzendes Leistungsunterschieden nicht gnzlich so
Lernmaterial vorlegen, sie mit Arbeiten inkompatibel sind, wie es zunchst
ihrer Wahl beschftigen. Slavin (1987) scheint (Helmke, 1988; Helmke & Wei-
bringt es diesbezglich auf den Punkt: nert, 1997b; vgl. Kap. 7.1).
Die Unterrichtszeit, die man bençtigt, um
die Lernschwcheren zum Lernziel zu
Fazit
fhren, muss irgendwo herkommen. Bei
insgesamt begrenzter Unterrichtszeit re- Maßnahmen der adaptiven Instruktion
sultiert zwangslufig ein unerwnschter sind nahe liegend und notwendig, um
»tradeoff« zwischen dem vermittelbaren Lernprozesse an individuelle Lernvoraus-
Stoffumfang auf der einen Seite und der setzungen anzupassen. Sie setzen eine
Zielerreichungsquote auf der anderen. sorgfltige Lernstandsdiagnostik voraus.
Dies aber ist ein Problem, haben doch die Die Anpassung kann sich auf die Aus-
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Teil II Lehren

wahl (erreichbarer) Lernziele, auf die Ap- zum selbstgesteuerten Lernen (vgl. Kapi-
plikation (geeigneter) Lehrmethoden oder tel 6.6) darauf zurckkommen.
Lernumgebungen und auf die Variabilitt
der zur Zielerreichung gewhrten Lern-
zeit beziehen. Befunde der ATI-Forschung 6.3 Entdeckenlassendes
weisen darauf hin, dass bei einer Passung Lehren
individueller Lernvoraussetzungen mit
bestimmten Strukturmerkmalen unter- »Erfolgreiches Lehren« lautet die Gene-
richtlichen Handelns Lernergebnisse in ralberschrift des sechsten Kapitels. Inte-
der Tat optimierbar sind (Prferenzmo- ressanterweise firmieren aber die meisten
dell). Die Erfahrungen mit Blooms zieler- Teilabschnitte, beginnend mit diesem, in
reichendem Lernen haben gezeigt, dass anderen Darstellungen hufig unter dem
Leistungsdefizite durch Erhçhung des Etikett »Lernen«: entdeckendes, situier-
Zeitaufwandes behoben werden kçnnen tes oder problemorientiertes, kooperati-
(Fçrdermodell). Die vielfltigen Ergebnis- ves und selbstgesteuertes. Das ist gewiss
se zum remedialen Lernen belegen zudem, kein Zufall und auch keine sprachliche
dass Leistungsdefizite auszugleichen sind, Ungenauigkeit. In den Komposita tritt
wenn die Ursachen defizitrer Lernleis- vielmehr zutage, dass die Lehrersteue-
tungen angegangen werden (Kompensati- rung der Direkten und der Adaptiven In-
onsmodell). Aus der kognitiven Trainings- struktion (vgl. Kapitel 6.1 und 6.2) nun-
forschung ist seit langem bekannt, dass mehr einer strkeren Selbststeuerung des
Schlerinnen und Schler mit Lern- Lernenden Raum gibt, oder, um es an-
schwierigkeiten einer besonderen Art von ders zu formulieren, dass anstelle vor-
Trainingsmaßnahmen bedrfen (Gersten bereiteter Erklrungen und Antworten
et al., 2001; Swanson, 1999; vgl. auch der Lehrenden antwortsuchende Fragen
Kap. 8.4). Es scheint mithin unstrittig, und Problemlçseversuche der Lernenden
dass adaptive Maßnahmen die Leistungs- in ihrer wissensaufbauenden Funktion
entwicklung der langsamer Lernenden in betrachtet werden. Wir haben uns – um
positiver Weise befçrdern kçnnen. Alle das Lehren vom Lernen begrifflich deut-
Maßnahmen der Lernziel- und der Lehr- licher abzusetzen – im sechsten Kapitel
methodenadaptivitt kommen im Grunde des Lehrbuchs, wo mçglich, dennoch
den schnelleren und den langsameren, fr die Bezeichnung »Lehren« entschie-
den besseren und den schwcheren Ler- den.
nern in gleicher Weise zu Gute. Wird im Das entdeckenlassende Lehren basiert auf
Klassenverband jedoch nur die Lernzeit einer Art indirekter, sokratischer Instruk-
zu Gunsten der langsameren Lerner adap- tion, bei der (die angestrebten) Wissens-
tiert, so resultiert fr die schnelleren hu- strukturen eben nicht instruktional vor-
fig eine (unerwnschte) Lernhemmung. gegeben, sondern vom Lernenden selbst
Die vorgestellten Adaptationsmaßnah- aktiv generiert (hergeleitet) und konstru-
men sind lehrerinitiiert. Merrill (1975) iert werden mssen. In diesem Sinne zhlt
hat darauf hingewiesen, dass auch die es zur Familie der kognitiv-konstrukti-
Lernenden selbst im Verlauf von Lernpro- vistischen Lehr-Lern-Theorien mit ver-
zessen solche Adaptationen vornehmen gleichsweise geringer externaler Steue-
kçnnen: also z. B. selbst die Lernzeit er- rungskomponente. Beim Durcharbeiten
hçhen, selbst andere Lernstrategien ein- des folgenden Unterrichtsbeispiels lassen
setzen, selbst andere mediale Darstellun- sich wichtige Prinzipien des entdeckenlas-
gen auswhlen. Wir werden im Abschnitt senden Lehrens entdecken – zusammen
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Beispiel: Frau Mayers Zylinder


»Wenn ihr euch erinnert«, beginnt Frau Mayer ihre Mathematikstunde in der ach-
ten Klasse, »dann wisst ihr noch, wie man die Flche eines Kreises und den Raum-
inhalt (das Volumen) eines Wrfels ausrechnet. Heute wollen wir das Volumen eines
Zylinders bestimmen. Aber ihr msst es selbst herausfinden.«
(An sechs großen Arbeitstischen sitzen jeweils vier Kinder. Die Kinder arbeiten hu-
fig in festen Gruppen zusammen: Es gibt die Monster-, die Barbie-, die Tiger-, die
Zombie-, die Bad-Girls- und die Superstar-Gruppe. Auf jedem Arbeitstisch liegen
fnf Zylinder unterschiedlicher Grçße, dazu ein Taschenrechner und ein Lineal.)
»Das ist alles, was ihr braucht! Am Waschbecken neben der Tafel kçnnt ihr euch
Wasser holen, wenn ihr wollt. Das Wichtigste aber ist: Benutzt euren Kopf und ar-
beitet zusammen! Am Ende der Stunde sollt ihr nicht nur die richtige Formel wis-
sen, ihr sollt auch erklren kçnnen, wie ihr sie gefunden habt.«
(Die Monster fllen alle fnf Zylinder mit Wasser.)
»Was machen wir jetzt?« fragt Luisa. »Wir messen die Zylinder ab«, schlgt Jan
vor. Er nimmt das Lineal und diktiert Philipp die Maße. »Im kleinsten Zylinder
steht das Wasser 36 mm hoch und die Grundflche unten hat einen Durchmesser
von 42 mm.« »Das hilft uns auch nicht weiter. Wir mssen nachdenken, bevor wir
einfach nur messen,« klagt Esther. »Stimmt, wir mssen einen Plan machen!«
(Luisa hat eine Idee.)
»Es hat bestimmt einen Grund, dass uns die Mayer vorhin an die Flche eines Krei-
ses und an das Volumen eines Wrfels erinnert hat. Wahrscheinlich sollten wir dar-
ber nachdenken.«
»Nicht schlecht«, sagt Frau Mayer, die gerade am Tisch der Monster vorbergeht,
»aber was fangt ihr damit an?«
(Die Monster berlegen.)
Dann sagt Jan: »Nehmen wir doch den kleinsten Zylinder. Der Boden ist ja ein
Kreis. Wie groß wre denn die Bodenflche?« Luisa: »Die Formel ist p mal r2.«
»Du hast doch vorhin 42 mm gemessen. Also 42 im Quadrat mal …« »Nein, nicht
42, sondern 21 musst du ins Quadrat setzen.
Der Durchmesser war 42, der Radius ist 21 mm«, verbessert Luisa Jan. »Das htte
ich schon noch selbst gemerkt.« »Einundzwanzig im Quadrat ist 441 und das mal
3.14, ergibt 13847,« sagt Philipp. »Kann nicht sein, du hast dich um eine Kom-
mastelle vertan. Drei mal 400 ist 1200; viel mehr als 1300 kann das nicht werden.«
»Du hast recht: 1384.«
Esther: »Aber was hilft uns das? Wir suchen das Volumen des Zylinders und bis
jetzt wissen wir nur, wie groß die Bodenflche ist.« Leicht resignativ: »Zylinder sind
eh‹ blçd; das erinnert mich nur an Dosenpfand.«
Luisa ist ganz aufgeregt: »Wir mssen das malnehmen. Wir mssen die Bodenflche
mit der Hçhe des Wassers malnehmen.« »Aber warum?« »Als wir das Wasser ein-
gefllt haben, haben wir Schicht fr Schicht den Boden mit Wasser bedeckt, so lan-
ge, bis wir die Hçhe erreicht hatten, die wir dann gemessen haben«, erklrt Luisa.
»Und beim Wrfel war es auch so: Wir haben Lnge mal Breite mal Hçhe gerech-

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Teil II Lehren

net, um das Volumen zu bestimmen«, fgt Esther hinzu. »Das glaube ich nicht«,
sagt Philipp, »das eine waren doch lauter Flchen und hier haben wir einen Kreis
und eine Hçhe.« »Ich weiß, wie wir es beweisen kçnnen«, ergnzt Jan. »Wir wissen
zwar noch nicht, wie groß das Volumen dieses kleinen Zylinders hier ist, aber wir
wissen, dass das Wasservolumen gleich bleiben wird, wenn wir das Wasser in einen
grçßeren Zylinder umschtten.«
(Jan entfernt das Wasser aus vier der fnf der Zylinder und schttet das Wasser aus
dem kleinsten in den nchst grçßeren um. Auch bei diesem misst er dann den Kreis-
durchmesser und die Hçhe des Wasserstandes. Er bestimmt nun die Bodenflche
dieses Zylinders und setzt diesen Wert in die Formel ein, die Luisa vorgeschlagen
hat. Das Wasservolumen entspricht dem fr den kleineren Zylinder bereits berech-
neten.)
Die Monster rufen nach Frau Mayer und erklren ihr Vorgehen. »Wunderbar! Jetzt
kçnnt ihr mir helfen, die anderen Gruppen auf den richtigen Weg zu bringen. Sagt
ihnen nicht die Lçsung, aber helft ihnen, die richtige Spur zu finden. Ihr beiden geht
bitte zu den Bad Girls, Philipp und Jan untersttzen die Superstars.«
(Beispiel nach Slavin, 2006, pp. 241–242; hier gekrzt und modifiziert)

mit weiteren Kennzeichen konstruktivisti- Entdeckendes Lernen wird durch ent-


scher Anstze. deckenlassendes Lehren mçglich. Der Un-
Prinzipien des entdeckenden Lernens fin- terschied zu den darbietenden Verfahren
den sich in zahlreichen Unterrichtsmodel- Ausubels und Gagns (vgl. Kap. 6.1) be-
len. Fr Heinz Neber (1981; 1999b), der steht in der Gewhrung des Entdecken-
sich um die deutschsprachige Rezeption lassens. Was erklrt wird, kann spter
des von Jerome Bruner (1961; 1966) ein- nicht mehr entdeckt werden. Hinter die-
gefhrten Konzepts verdient gemacht hat, ser Abwertung des Erklrens verbirgt sich
ist es denn auch weniger eine globale die spekulative Annahme, dass das
Lehrmethode als vielmehr ein grund- Selbsterkannte und -entdeckte von einer
legendes Prinzip, das sich in nahezu allen anderen Behaltensqualitt sei, als das
neueren, so genannten konstruktivisti- durch eine Erklrung vermittelte. Denn
schen Lehr-Lern-Modellen, wieder findet: das »allerpersçnlichste Wissen« und das
In Hans Aeblis Konzeption etwa in der leichter abrufbare sei jenes, welches man
Phase des problemlçsenden Aufbauens »selbst entdeckt hat« (Bruner, 1961/
(vgl. Kap. 5.2), vor allem aber beim situ- 1973, S. 21).
ierten und beim kooperativen Lernen – Fr die Lehrenden ist das entdeckenlas-
wie in den nachfolgenden Abschnitten sende Lehren (vor allem in der Vorberei-
6.4 und 6.5 noch gezeigt werden wird. tungsphase) brigens nicht weniger auf-
Im Illustrationsbeispiel lçsen die Lernen- wndig, als es die Verfahren der direkten
den gemeinsam (kooperativ) ein komple- Instruktion sind. Denn die sorgfltige
xes Problem, indem sie selbststndig Hy- und vorausbedachte Bereitstellung von
pothesen aufstellen und diese berprfen. Lerngelegenheiten und -hilfen und die
Sie werden dabei, wo notwendig, in subtile Begleitung des Entdeckungspro-
adaptiver Weise durch die Lehrerin unter- zesses erfordern besonderes professionel-
sttzt. les Geschick. Insbesondere kommt es
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

auch darauf an, die »richtigen« Probleme Einsichten, die von anderen entdeckt
auszuwhlen, die Schlerinnen und Sch- wurden und auf sinnvolle Weise kom-
ler in geeigneter Weise zur Selbstttigkeit muniziert worden sind«. Aber es ist ein
zu motivieren, der Verfestigung von Fehl- verstehendes Nach-Entdecken, welches
konzepten whrend des Lernens gegen- dem Lernenden ein besonderes Ausmaß
zusteuern und eine konsolidierende Form an Eigenttigkeit und aktiver Auseinan-
der Ergebnissicherung am Ende des Lern- dersetzung mit seiner Lernumwelt abver-
prozesses zu gewhrleisten. Ganz ohne langt.
Lenkung kommt nmlich das entdecken-
de Lernen nicht aus, in der Lernsituation
Bruners Beitrag
selbst tritt sie aber mçglichst in den Hin-
tergrund. Der Begriff des Entdeckungslernens geht
Auch fr die Lernenden ist das ent- auf Jerome Bruner (1961; 1966) zurck;
deckende Lernen kein Kinderspiel. Die Bruner steht dabei in der reformpdago-
induktiv-konstruktiven Denkprozesse gischen Tradition Deweys und ist beein-
stellen hçhere Anforderungen an den flusst von der strukturalistischen Theorie
kognitiven Apparat, als es beim rezepti- Piagets und der sozio-kulturellen Analyse
ven Lernen der Fall sein drfte. Entdecker Wygotskis. Das Entdeckungslernen ist
probieren etwas aus. Sie bedienen sich brigens nicht der einzige wichtige Bei-
dabei vorhandener Methoden und Hilfs- trag Bruners zur Pdagogischen Psycho-
mittel und des Vorwissens, das sie bereits logie: Nachhaltige Wirkungen haben
besitzen. Vor allem aber bedienen sie sich auch seine bildungspolitischen und kul-
ihres eigenen Verstandes. Durch Nach- turanthropologischen Arbeiten hinterlas-
denken und Ausprobieren gelangen die sen (z. B. Bruner, 1971, 1996).
Lernenden zu neuen Einsichten, indem Bruner ist Ende der 1950er-Jahre einer
sie Elemente einer gegebenen Situation der Wegbereiter der so genannten »kogni-
umordnen und damit ber das Gegebene tiven Wende« gewesen. Die auf den
hinausgehen. Natrlich ist das entdecken- »Sputnik-Schock« in den 1960er-Jahren
de Lernen letztendlich auch nur ein Ent- folgende Bildungsoffensive in den USA
decken aus zweiter Hand, nur ein »Nach- hat er entscheidend mitgeprgt. Die De-
Entdecken« (Terhart, 2000), denn, so batte um das entdeckende Lernen – vor
Bruners schrfster Kritiker Ausubel allem in den naturwissenschaftlichen F-
(1968/1974, S. 528), »das meiste von chern – hat hier ihren Ausgangspunkt,
dem, was man wirklich weiß, besteht aus verbunden mit der Zielvorstellung, quali-

Fokus: Die Methode des Sokrates


Die Sokrates zugeschriebene Form der Belehrung in Frage und Antwort, auch als
geistige Meutik (»Geburtshilfe« oder »Hebammenkunst«) bezeichnet, sucht durch
geschicktes Fragen die in einem Menschen liegende richtige Erkenntnis »heraus-
zuholen«. Die sokratischen Dialoge fhren den Gesprchspartner zu der Erkennt-
nis, dass sein eigenes bislang vorhandenes Wissen noch unzureichend ist und sie re-
gen ihn zu weiterem Nachdenken an.
Auf das Unterrichten bertragen bedeutet dies, dass ein Lehrender dem Lernenden
dabei hilft, auf der Grundlage des bereits Vorhandenen neues Wissen schrittweise
selbst zu konstruieren.

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Teil II Lehren

tative Verbesserungen im amerikanischen Terhart (2000) whlt zur Beschreibung


Bildungswesen herbeizufhren (Lutke- der didaktischen Umsetzung den Begriff
haus & Greenfield, 2003; Roeder, 2002). des »problemorientierten Unterrichts«.
Entdeckendes Lernen, so Bruner sinn- Weniger geeignet, weil unschrfer, ist der
gemß, wird den Erfordernissen der mo- hufig auch anzutreffende Begriff des
dernen Wissensgesellschaft besser ge- »offenen Unterrichts«. Fr Reinmann-
recht, weil beim Entdeckungslernen ber Rothmeier und Mandl (1998, 2001) wird
das (vergngliche) Sachwissen hinaus der Begriff der Problemorientierung
spezifische Strategien und allgemeine zur pragmatisch-verbindenden Klammer
Heuristiken des Problemlçsens erworben konstruktivistischer und kognitivistischer
werden, die auch auf zuknftige Problem- Lehr-Lern-Modelle. Bewhrte Prinzipien
situationen anwendbar sind. »gegenstandsorientierter Instruktion«
und »situierter Konstruktion« ergnzen
Meiner Meinung nach kann man nur durch sich dabei. Zu den in diesem Sinne pro-
ben des Problemlçsens und dadurch, dass blemorientierten Lernumgebungen zh-
man sich um Entdeckung bemht, die heuristi-
len z. B. die Methode der Verstehensan-
schen Methoden der Entdeckung lernen; je
mehr man gebt ist, um so eher wird man das
ker, das Lernen durch Lçsungsbeispiele
Gelernte zu einem Problemlçsungs- oder Fra- und das fallbasierte Lernen.
gestil verallgemeinern kçnnen, der sich auf jede [In problemorientierten Lernumgebungen wer-
oder fast jede angetroffene Aufgabenart an- den] aktiv-konstruktive, situative, selbstgesteu-
wenden lsst. (Bruner, 1961/1973, S. 26) erte und soziale Prozesse des Lernens angeregt
und gefçrdert …, ohne dabei auf instruktionale
Man erkennt hier unschwer die Wieder- Unterrichtsanteile wie Anleiten, Darbieten und
aufnahme der Formalbildungsdoktrin Erklren zu verzichten. (Reinmann-Rothmeier
und des Transferdesiderats, welche seit & Mandl, 2001, S. 645)
Thorndike die Pdagogische Psychologie
beschftigen (vgl. Kap. 3.3). Wie aber
Ausubels Kritik
lsst sich die allgemeine Problemlçse-
fhigkeit im Unterricht einben? Bruner: Die Debatte zwischen Bruner und Aus-
Indem man geeignete (d. h. authentische ubel liegt viele Jahrzehnte zurck. Sie ist
und realistische) Probleme vorgibt und in der von Neber (1981) herausgegebe-
die Schlerinnen und Schler behutsam nen Textsammlung in deutscher berset-
zur Entdeckung der Lçsungen lenkt (ge- zung dokumentiert. In ihrer Zuspitzung
lenktes Entdeckenlassen). Bruners Grund- trgt sie auch heute noch zum besseren
idee ist die des Lernens durch Induktion: Verstndnis der entdeckenlassenden und
das Schlussfolgern aufgrund von Einzel- der darbietenden Unterrichtsphilosophie
informationen, das Erkennen von Zu- bei (unnçtig, daran zu erinnern, dass es in
sammenhngen, das Transzendieren des der unterrichtlichen Praxis die Mischfor-
Bereits-Bekannten. Von den Lernenden men beider Positionen sind, die sich als
fordert dies ein aktives, selbststndiges besonders vorteilhaft erwiesen haben!).
und exploratives Lernverhalten ein. Wohlmeinende Umschreibungen charak-
Triebfeder der Selbstttigkeit sei die Neu- terisieren das dem entdeckenden Lernen
gier der Schlerinnen und Schler, sie gel- zugrunde liegende Menschenbild als
te es nutzbar zu machen. Welche Lernar- optimistisch oder utopisch, weniger
rangements lçsen aber den Wissensdrang wohlmeinende sprechen von einer »mili-
aus, welche fçrdern die selbst initiierten tanten Sentimentalitt« als Ausfluss einer
Lernttigkeiten? »umweltbetonte[n] Voreingenommenheit
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

progressiver Erziehung« (Ausubel, 1968/ Deweys) an. In Abgrenzung zu Bruners


1974, S. 524). Viele Lernende, so Ausubel idealistischen Bildungsvorstellungen be-
in seiner bissigen Stellungnahme, kçnn- mngelt Ausubel die Vernachlssigung
ten alle Konzepte und Prinzipien fehler- des stoffinhaltlichen Lernens und die Do-
frei und in wesentlich krzerer Zeit sinn- minanz der Methode ber den Inhalt,
voller – nmlich ohne Entdeckung – aber auch die (von ihm antizipierte) Be-
lernen. nachteiligung der Lernschwcheren.
Ausubel und Bruner fokussieren unter- Wren Oberstufenschler und Studenten ver-
schiedliche Aspekte kognitiven, verste- pflichtet, selbst jedes Konzept … zu entdecken,
henden Lernens: Bruner geht es um den wrden sie niemals weit ber die Grundbegrif-
Prozess des Verstehens, Ausubel um das fe einer jeden Disziplin hinauskommen …
Produkt der Wissensaneignung und um Nach allem besteht ein Schulalltag nur aus ei-
die dafr notwendigen Voraussetzungen, ner gewissen Anzahl von Stunden. Whlte die
d. h., um die »Wissensbasis, von der aus- Schule als ihre Hauptfunktion die Entwicklung
von Entdeckungs- und Erkundungsfertigkei-
gehend man entdeckt« (Terhart, 2000,
ten, wieviel Zeit wrde dann noch fr das Leh-
S. 151). Whrend fr Bruner die intrinsi-
ren von Stoffgebieten zur Verfgung stehen? …
sche Motivation und die Neugier den Schließlich mag man sich zu Recht fragen, wie-
Wissensaufbau vorantreiben und struktu- viele Schler die Fhigkeit besitzen, alles zu
rieren, ist fr Ausubel die organisierende entdecken, was sie wissen mssen … Problem-
Rolle des darstellenden Lehrens konstitu- lçsungsmethoden sind entwicklungsmßig und
tiv. Vor allem fr die leistungsschwche- pdagogisch gesehen unnçtig und zu zeitrau-
ren Schler, so Ausubel, setzt der Aufbau bend, um … den wesentlichen Inhalt einer Dis-
einer soliden Wissensstruktur notwendi- ziplin sinnvoll zu assimilieren. (Ausubel, 1968/
gerweise die Vorstrukturierung der Wis- 1974, S. 536–537)
sensinhalte durch darstellende Verfahren Ausubels Kritik an Bruner lsst sich so
voraus. Im Kern kreist die Auseinander- zusammenfassen: Das Entdeckungslernen
setzung zwischen Bruner und Ausubel ist ineffizient, weil zeitraubend, diskrimi-
um die Frage, ob der Aufbau der ange- nierend, weil Lernschwchere systema-
strebten Wissensstrukturen allein der tisch benachteiligend, und unverantwort-
Selbstttigkeit der Schlerinnen und lich, weil die Vermittlung notwendiger
Schler berlassen bleiben kann, oder ob Wissensinhalte zu Gunsten des Erwerbs
und in welchem Maße Organisationshil- formaler Schlsselqualifikationen ver-
fen gegeben werden mssen. nachlssigt wird. Hinzu kommt die Ge-
Ausubel (1968/1974) hebt auf die bil- fahr, dass unangemessene Strategien er-
dungs- und gesellschaftspolitische Kom- worben werden und dass sich auf den
ponente der Auseinandersetzung ab, vielfltigen Entdeckungsreisen und Lern-
wenn er die Befrworter der Ent- umwegen Fehlkonzepte festigen.
deckungsmethode pauschal dem liberalen
»Lager der progressiven Erziehung« und Grundformen entdeckenden
des »kritischen Denkens« zuordnet. Ur-
Lernens
schlich fr die »Verherrlichung« der
Entdeckungsmethode und fr die »pri- Neber (1999a, 2001) unterscheidet drei
mitive Mystifizierung« der direkten Er- Formen von Instruktion, in denen sich
fahrung und der autonom erzielten Ein- Prinzipien des entdeckenden Lernens wie-
sicht sieht er den schdlichen Einfluss der der finden: das problemlçsende Lernen,
kindzentrierten und sentimentalen Er- das Lernen mit Beispielen und das Lernen
ziehungsutopien Rousseaus (aber auch durch Explorieren und Experimentieren.
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Teil II Lehren

Lernen durch Problemlçsen. Phasenmo- dellierung von Lçsungsstrategien, durch


delle des Erwerbs kognitiver Fertigkeiten direkte Erklrungen und durch die Pr-
(Anderson, 1982; Shuell, 1990) lassen sentation von Problemaufgaben unter-
Raum fr instruktionale und fr ent- schiedlicher Schwierigkeit gegeben wer-
deckenlassende Lehrttigkeiten: In der den (z. B. Neber, 1997).
Initialphase, Andersons »kognitivem
Stadium«, wird vornehmlich das darstel- Lernen durch Beispiele. Das ist eigentlich
lende, vermittelnde Lehren seinen Platz Bruners Grundidee gewesen: entdecken-
haben, in der »assoziativen« Zwischen- des Lernen als induktive Begriffsbildung
phase der Wissenstransformation und durch die Abstraktion von Merkmalen
-kompilation soll das entdeckenlassende aus Einzelbeispielen. Hier ist eine andere
Lehren bevorzugt eingesetzt werden und Form der Verwendung von Beispielen ge-
im »autonomen Stadium« ist mecha- meint: Beispiele als »exemplarische Fl-
nisches Lernen durch wiederholendes le«, die sich verallgemeinern lassen. Sol-
ben vorteilhaft (vgl. hierzu Abschnitt cherart »fallbasiertes Lernen« wird z. B.
5.2 zur davon abweichenden Auffassung in der beruflichen Ausbildung von Medi-
von Hans Aebli). Das problemlçsende zinern oder Juristen eingesetzt (z. B. Gr-
Entdeckungslernen »ersetzt nach diesem sel, 1997), aber auch zur Wissensvermitt-
Phasenmodell nicht einfach andere lehr- lung in der Mathematik und in den
methodische Konzeptionen, sondern wird Naturwissenschaften und in der kauf-
im Rahmen solcher Konzeptionen posi- mnnischen Ausbildung (z. B. Neber,
tioniert« (Neber, 1999b, S. 230). 1997, 2000; Stark, Gruber, Renkl &
Konkret befçrdern lsst sich das Ent- Mandl, 2000). Dabei werden meist voll-
deckungslernen etwa ber das Induzieren stndig explizierte Lçsungsbeispiele, so
kognitiver Konflikte durch die Prsentati- genannte »worked-out examples«, zur
on unerwarteter, kontraintuitiver oder Bearbeitung vorgegeben (Reimann, 1997;
widersprchlicher Ergebnisse eines natur- Renkl & Atkinson, 2003). Ein wesent-
wissenschaftlichen Experiments (z. B. licher Vorteil gegenber dem problem-
Chinn & Brewer, 1993). Es ist vorteil- lçsenden Lernen wird vor allem in der
haft, wenn dabei im Sinne des gelenkten geringeren Belastung des Arbeitsgedcht-
Entdeckenlassens (Mayer, 2004), unter- nisses gesehen (Mwangi & Sweller, 1998;
sttzende Hilfen durch die Expertenmo- Tuovinen & Sweller, 1999; vgl. Kap. 7.4).

Fokus: Selbsterklrungen
Beim Lernen mit (ausgearbeiteten) Lçsungsbeispielen ist die Qualitt der generierten
Selbsterklrungen entscheidend. Werden Lçsungsbeispiele nmlich nur passiv und
oberflchlich verarbeitet, d. h. nur flchtig nachvollzogen, dann sind sie wenig lern-
wirksam. Um aus beispielhaft bereits gelçsten Aufgaben effektiv lernen zu kçnnen,
mssen die Lernenden aktiv so genannte Elaborationsstrategien anwenden, um sich
die Aufgaben selbst zu erklren, d. h. sie mssen ber die Aufgabe hinaus Inferen-
zen ziehen, Zusammenhnge erkennen und den gesamten Verstehensprozess meta-
kognitiv berwachen. Selbsterklrungen dienen der aktiven Verarbeitung von Lç-
sungsbeispielen. Sie kçnnen durch Anleitungen zu Verbalisierungen gefçrdert
werden. Stark (1999) pldiert z. B. fr die Vorgabe unvollstndiger Lçsungsbeispie-
le, um passives und oberflchliches Lernen zu verhindern.

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Entscheidend fr die wissensgenerierende . eine Frage formulieren,


Wirksamkeit von Lçsungsbeispielen ist . Hypothesen aufstellen (ein Ergebnis
allerdings die Qualitt der »Selbsterkl- prognostizieren),
rungen«, die sie auslçsen. . ein Experiment durchfhren (hufig
Die direkte Fçrderung und instruktionale ber eine Computersimulation),
Untersttzung der Qualitt von Selbst- . anhand der Ergebnisse eine Gesetz-
erklrungen ist vorteilhaft, bei Lern- mßigkeit erkennen,
schwcheren sogar notwendig, um den . die entdeckte Gesetzmßigkeit auf an-
Lernerfolg zu gewhrleisten. Aber auch dere Situationen anwenden.
ber die konkrete Gestaltung der Lç-
sungsbeispiele und ber die Art ihrer me- Durch solche Aktivitten wird Wissen ak-
dialen Prsentation lassen sich lernfçrder- tiv generiert. Durch die begleitende Selbst-
liche Effekte optimieren (z. B. O’Reilly, verbalisierung werden die Wissenser-
Symons & MacLatchy-Gaudet, 1998; werbsprozesse explizit gemacht, damit
Renkl, 1999; Stark, 1999). geht zugleich eine Fokussierung der meta-
kognitiven Kontrollfunktionen des Wis-
Lernen durch Explorieren und Experi- sensaufbaus einher. Beides zusammen,
mentieren. Fr die Inhaltsdomne Physik das Generieren und das Kontrollieren, be-
haben White und Frederiksen (1998) ei- zeichnet Neber (1999a, b) als »episte-
nen so genannten Fragezirkel vorgestellt, mische« (erkenntnisfçrderliche) Lernakti-
um das hypothetisch-deduktive, explorie- vitt. Eine gezielte Anleitung zum episte-
rende Lernen zu befçrdern: mischen Fragen hat er am Beispiel eines

Analyse: Epistemisches Fragen


Wenn man Schler zur Fçrderung des Wissenserwerbs zu Selbstbefragungen anlei-
tet, nennt man das »epistemisches Fragen«. Durch das epistemische Fragen wird
zum einen der Aufbau inhaltlichen Wissens erleichtert (Generierungsfunktion) und
es wird zum anderen die metakognitive Steuerung des Lernprozesses gefçrdert
(Kontrollfunktion). Neber (1999a) hat sich die Frage gestellt, ob sich der Wissens-
aufbau besser durch ein Generierungstraining oder durch ein Prozesskontrolltrai-
ning fçrdern lsst.
Methode:
Im Geschichtsunterricht zweier Gymnasialklassen wird das epistemische Schlerfra-
gen trainiert. In der einen Klasse wird ein (metakognitives) Prozesskontrolltraining
durch die Verwendung so genannter Fragestmme in Anlehnung an King (1991)
realisiert (z. B. »Ich wollte wissen, …«; »Beim Lernen habe ich darber nach-
gedacht, …«). In der anderen Klasse wird ein Generierungstraining realisiert (z. B.
durch Fragen wie: »Was ermçglichte …?«, »In welcher Absicht …?«). Der Wissens-
zuwachs wird jeweils durch Testleistungen in erklrenden Aufstzen und durch
einen MC-Test erfasst.
Ergebnisse:
Das Training im wissensgenerierenden epistemischen Fragen fhrt zu besseren Lern-
leistungen. Das zeigt sich insbesondere an der Gte der schriftlichen Erklrungen in
den Aufstzen.

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Teil II Lehren

Fragetrainings fr die Inhaltsdomne des wie »Verstehen« und »Anwenden«, aber
Geschichtsunterrichts beschrieben. auch der Lerntransfer, wird offenbar
Einen hnlichen Ansatz verfolgt Alison durch entdeckende Methoden eher be-
King (1991, 1994) mit der Methode des gnstigt. Es gibt auch Hinweise darauf,
gelenkten kooperativen Fragens (vgl. Kap. dass die Entdeckungsmethode eher das
6.5). Es werden allgemeine Fragenforma- lngerfristige als das kurzzeitige Behalten
te (so genannte Fragenstmme) vorgege- befçrdert (z. B. Worthen, 1973). Und es
ben, die zu konkreten Fragen vervollstn- scheint sich Ausubels Vermutung zur
digt werden sollen, um eine elaborative differenziellen Wirksamkeit des Ent-
Informationsverarbeitung zu befçrdern. deckungslernens zu besttigen: Leistungs-
Die Fragenstmme zielen auf das Generie- schwchere Schlerinnen und Schler
ren interner und externer Verknpfungen bedrfen einer hçheren Lenkungskom-
der neu prsentierten Inhalte: ponente (Heller & Hany, 1996; Neber,
1996; Swanson, 1999).
. »Was wre ein Beispiel fr …?«
Von den Vorteilen einer Mischform ent-
. »Worin unterscheiden sich …?«
deckenlassender und darstellender Ver-
. »Was wrde passieren, wenn …?«
fahren berichten Schwartz und Bransford
. »Erklre, warum …!«
(1998). Sie hatten in einer quasi-experi-
King hat zeigen kçnnen, dass ein Training mentellen Versuchsanordnung 36 Studi-
des gelenkten kooperativen Fragens zu enanfnger in das Schemakonzept der
besseren Verstehens- und Behaltensleis- Kognitiven Psychologie eingefhrt, und
tungen fhrt (King, 1991, 1994). Ob auf zwar entweder durch induktives Ent-
eine Frage richtig oder falsch geantwortet deckungslernen, durch Lehrbuch und
wurde, war dabei gar nicht so entschei- Vorlesung oder durch eine Kombination
dend: Allein das Formulieren von Fragen beider Vorgehensweisen. Die Mischform
fhrte offenbar schon zu einer in hçhe- – Schwartz und Bransford nennen sie
rem Maße elaborativen Informationsver- »Entdeckendes Darbieten« – war den bei-
arbeitung. den anderen Vorgehensweisen berlegen.
Die grçßten Lerneffekte ließen sich dann
erzielen, wenn durch eine vorgeschaltete
Wirksamkeit
Entdeckungsphase der Boden fr das ex-
Dem entdeckenlassenden Lehren werden positorische Unterrichten – ber Vortrag
eine Reihe erwnschter, inhaltsbergrei- oder Lehrbuch – bereitet wurde. Dieser
fender Nebenwirkungen zugeschrieben: Synergieeffekt trat aber nur dann auf,
Es fçrdere das Neugierverhalten und die wenn das entdeckenlassende dem exposi-
(intrinsische) Lernmotivation und es un- torischen Lehren voranging.
tersttze auf indirektem Wege die Ausbil-
dung metakognitiven Wissens ber den
Einsatz von Problemlçsestrategien. 6.4 Problemorientiertes
Die empirische Befundlage hierzu ist un- Lehren
einheitlich (vgl. McDaniel & Schlager,
1990; Neber, 1981), spricht aber insge- Ob operantes oder kognitives, assoziati-
samt eher fr einen Vorteil des entdecken- ves oder einsichtiges, entdeckendes oder
den gegenber dem rezeptiven (insbeson- rezeptives Lernen: In der Regel wird von
dere: programmierten) Lernen. Vor allem situations- und gegenstandsbergreifen-
das Erreichen der in Blooms Lernzielta- den Gesetzmßigkeiten des Lernprozesses
xonomie »hçher« angeordneten Lernziele und von prinzipiell generalisierbaren,
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

d. h. auf neue Situationen bertragbaren Leitfigur (Moll, 2001; Tudge & Scrims-
Lernergebnissen ausgegangen. Von Ver- her, 2003). Ein Lernkontext – so Wygots-
tretern des Situiertheitsansatzes wird ki – wird meist von mehreren Individuen
demgegenber die Situations- und Kon- geteilt – neben dem Lernenden wird in
textgebundenheit von Lernen und die der Regel ein Lehrender Teilhaber sein,
Notwendigkeit problemorientierter Lehr- aber auch andere kollaborierende Mit-
methoden betont. Wenn sich Lernen in lernende. Im Prozess des sozialen Aus-
konkreten Lernepisoden vollzieht, so die tauschs werden unter den am Lernpro-
Grundannahme der Situationisten, dann zess Beteiligten Bedeutungszuschreibun-
bleibt auch die Nutzbarkeit des Gelernten gen gemeinsam entwickelt und interaktiv
in hohem Maße an den jeweiligen ausgehandelt. Das aber heißt: Zum Auf-
Lernkontext gebunden. Aus dieser Si- bau neuer Kenntnisse und Fertigkeiten
tuationsgebundenheit von Lernen wird bedarf es stets einer sozialen Gemein-
die instruktionspsychologische Forde- schaft von Lernenden – Lernen und Wis-
rung abgeleitet, der konkreten Gestaltung senskonstruktion sind mithin genuin so-
von Lernsituationen besondere Aufmerk- ziale Prozesse. Aus heutiger Sicht verbin-
samkeit zu widmen, denn: Die Eigenhei- det Wygotskis sozio-kulturelle Theorie
ten der Lernsituation beschrnken die die Individuumszentrierung der kogniti-
sptere Anwendbarkeit des Gelernten. onspsychologischen mit der Umweltzen-
trierung der verhaltensorientierten Tra-
Die Wurzeln. Der Aufsatz »Situated cog- dition und beide zusammen mit der so-
nition and the culture of learning« von zial-interaktionistischen Perspektive von
Brown, Collins und Duguid (1989) im George Herbert Mead (1934).
Educational Researcher gilt als Auslçser
der situationistischen Position (wichtig zu Grundannahmen. Wird (schulisches) Wis-
wissen: Es handelt sich dabei um John sen anhand ungeeigneter Beispiele erwor-
Seely Brown und nicht um die 1999 ver- ben, ist es nicht anschlussfhig und kann
storbene Ann Brown des »reciprocal tea- in realen Situationen (»im wirklichen Le-
ching«). Dem vorausgegangen waren die ben«) nicht genutzt werden. Die Situatio-
kulturanthropologischen Studien von nisten ziehen aus dieser vermeintlichen
Jean Lave, Barbara Rogoff und anderen Sollbruchstelle zwischen Schulwissen und
(Lave, 1988; Rogoff, 1990; Rogoff & La- Lebenspraxis den Schluss, dass die Lern-
ve, 1984). Die Feldstudien von Lave und situationen den spteren Anwendungs-
Rogoff zum nicht-institutionalisierten, so- situationen mçglichst hneln sollten, d. h.
zial konstruierten Lernen fußen ihrerseits in besonderer Weise realitts- oder lebens-
auf den handlungstheoretischen Vorarbei- nah bzw. »authentisch« zu gestalten sei-
ten der russischen (materialistischen) en (Brown et al., 1989; Collins, Brown &
Schule um Wygotski, Leontiew und Newman, 1989; Greeno et al., 1996).
Davydov, aber auch auf Deweys Erzie-
hungsphilosophie und auf den reformp- Aus dieser Perspektive betrachtet, kann es ei-
dagogischen Ideen Kerschensteiners, sp- nen abstrakt-allgemeinen Wissenserwerb nicht
geben, der frei wre von dem Kontext, in dem
ter Wagenscheins (zusammenfassend:
er stattfindet, und von den Aktivitten, durch
Bredo, 1994, 1997; Brown, 1997). die er vonstatten geht. Vielmehr hngt das,
Vor allem in postmodernen sozial-kon- was wir lernen, sehr stark von den besonderen
struktivistischen Argumentationszusam- Hinweisen und der kognitiven Untersttzung
menhngen gilt der in den 1970er-Jahren ab, die in diesem Kontext und in diesen Aktivi-
wiederentdeckte Wygotski (1934) als tten liegen. (Shuell, 1996, S. 746)

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Teil II Lehren

Fokus: Wygotskis sozio-kulturelle Theorie


Wygotski zufolge gehen den individuellen Lernprozessen soziale Austauschprozesse
voraus. Lernen ohne Interaktion mit anderen (kompetenten) Personen sei nicht
denkbar, entscheidend mithin, dass soziale Interaktionen und eine Teilhabe an au-
thentischen kulturellen Praktiken einer Lerngemeinschaft berhaupt ermçglicht
wrden.
Die Richtung der Entwicklung des kindlichen Denkens, so Wygotski in seinem
Hauptwerk »Denken und Sprechen« (1934; deutsch 1977) am Beispiel der Sprach-
entwicklung, sei eine andere, als bei Piaget dargestellt. Insbesondere liege das Sozia-
le nicht am Ende der Entwicklung, sondern sei deren Beginn. »Die Entwicklung des
kindlichen Denkens verluft nicht vom Individuellen zum Sozialisierten, sondern
vom Sozialen zum Individuellen« (Wygotski, 1934/1977, S. 44). Das entspricht ei-
ner Umkehrung der kognitivistischen Individuumszentrierung: Der Aufbau indivi-
duellen Wissens ist demnach die Folge nachahmenden sozialen Lernens im Rahmen
arrangierter Interaktionen.
Anders als bei Piaget sind es nicht die kognitiven Konflikte an sich, sondern die
konstruktiven Prozesse des sozialen Austauschs mit kompetenten Partnern, d. h. die
kooperativen Dialoge und das geleitete Herbeifhren von bereinstimmung, die
den Wissensaufbau vorantreiben. Insoweit ist Lernen das Hineinwachsen in eine
Expertenkultur, begleitet durch ein Untersttzungssystem kompetenter Interaktions-
partner. Palincsar und Brown (1984) haben diese zunehmende Teilhaberschaft und
Verantwortungsbernahme des Lernenden spter als »Scaffolding« beschrieben.

Beispiel: Trges Wissen


Im Mathematikunterricht ist Bruchrechnen dran. Daniela muss nicht weiter nach-
denken, um die folgende Aufgabe zu lçsen: 3/4 x 2/3 = 1/2 (»Drei mal zwei ist
sechs, vier mal drei ist zwçlf, und sechs Zwçlftel ist das Gleiche wie ein halb«).
Zu Hause ist eine strenge Dit angesagt und Daniela will sich genau an die Regeln
halten. Heute ist Httenksetag. Daniela darf jedoch nur eine bestimmte Menge da-
von essen und zwar hat sie ihren »Ditbecher« am Morgen entsprechend nur zu
zwei Dritteln gefllt. Der Becher weist eine solche dreiteilige Markierung auf, zu-
stzlich eine, die den Inhalt vierteilt. Das Problem ist nun, dass sie in der großen
Pause bereits einen Apfel gegessen hat, so dass ihr jetzt nur noch drei Viertel ihrer
vorgesehenen Zweidrittelportion zustehen. Was tun?
Daniela kippt den Zweidrittelinhalt des Bechers auf ein Schneidebrett, so dass eine
Art Kuchenform entsteht. Dann nimmt sie ein Messer, markiert ein Kreuz und
schneidet den Httenksekuchen in vier Teile. Drei davon isst sie auf, den vierten
gibt sie zurck in den großen Behlter.
Das in der Schule gelernte begriffliche und operative Wissen ber die Multiplikation
von Brchen war offenbar nicht zugnglich (trge), so dass auf handelndes Prob-
lemlçsen zurckgegriffen wurde.
(nach Brown, Collins & Duguid, 1989, vgl. auch Mayer, 2003a, S. 430)

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Gespeist wird die Argumentation zuguns- partmentalisierung« (Mandl, Gruber &


ten des Situiertheitsansatzes zustzlich Renkl, 1993; Verschaffel, De Corte &
durch die vermeintliche Trgheit (»inert Lasure, 1994), d. h. der »getrennten Auf-
knowledge«) des herkçmmlichen, nicht- bewahrung« von Schul- (oder Univer-
situiert erworbenen Schulwissens (Renkl, sitts-) und Alltagswissen.
1996b; Resnick, 1987). In der Schule er-
worbenes Wissen, z. B. ber mathemati- Situiert ist konstruktivistisch. Zur Situati-
sche Operationen oder ber physikalische onsbindung und zum Kontextbezug tritt
Gesetze, bleibe meist trge und letztlich die notwendige konstruktive Eigenaktivi-
unbrauchbar, weil es in außerschulischen, tt des Lernenden. Situiertes Lernen ist
leicht verfremdeten Kontexten hufig die konstruktive Auseinandersetzung mit
nicht abgerufen werden kçnne (vgl. dazu Aufgaben oder Problemen in einer kon-
auch Kap. 3.3). kreten Situation. Um anhand komplexer
Eng damit verknpft ist das Problem der und realittsnaher Probleme lernen zu
vermeintlichen Dissoziation zwischen im- kçnnen, sind allerdings besondere Kom-
plizitem und explizitem, prozeduralem petenzen der Selbststeuerung und der me-
und deklarativem Wissen (Billett, 1996) takognitiven Kontrolle notwendig – sie
bzw. das der so genannten »Wissenskom- mssen vor oder whrend des Lernens ei-

Fokus: Situierte Arithmetik


Carraher und Kollegen (z. B. Carraher, Carraher & Schliemann, 1985; Saxe, 1988)
haben brasilianische Straßenkinder und Schulkinder beim Lçsen arithmetischer
Aufgaben beobachtet. Das arithmetische Wissen der Handel treibenden Straßenkin-
der erwies sich in hohem Maße als kontextgebunden. Inhaltsanaloge, aber dekon-
textualisierte Papier-Bleistift-Aufgaben konnten sie nicht lçsen. Die wiederholten
Additionen von Andre im folgenden Fallbeispiel machen durchaus Sinn: Die Zahlen
bleiben stets mit den Objektmengen verknpft, wodurch den potenziellen Kunden
schrittweise demonstriert wird, dass der Endpreis korrekt zustande gekommen ist.
Viviana erkennt hingegen die proportionale Beziehung zwischen den Ausgangswer-
ten des ersten Variablenpaars und wendet sie auf das zweite Paar an, um das fehlen-
de Glied zu finden.
Fallbeispiel Andre:
Andre, ein zwçlfjhriger Straßenverkufer, der seit seinem sechsten Lebensjahr Pop-
corn verkauft. Interviewer: »10 Kaugummis kosten 3 Cruzeiros. Wie viele Kaugum-
mis bekommst du fr 9 Cruzeiros?« Andre: »30. 10 Kaugummis kosten 3, 20 kos-
ten 6, 30 kosten 9. Mit 9 kannst du 30 Kaugummis kaufen.«
Fallbeispiel Viviana:
Viviana, eine zwçlfjhrige Schlerin der sechsten Klasse. Interviewer: »10 Kaugum-
mis kosten 3 Cruzeiros. Wie viele Kaugummis kann ich fr 9 Cruzeiros kaufen?«
Viviana: »3.« Interviewer: »Warum?« Viviana: »Oh, nein, einen Moment, 10 Kau-
gummis kosten 3 Cruzeiros (Pause), 30.« Interviewer: »Warum 30?« Viviana: »3
mal 10 ist 30.« Interviewer: »Richtig, aber warum hast du 3 mal 10 gerechnet?« Vi-
viana: »Weil 9 das Gleiche ist wie 3 mal 3 Cruzeiros.«
(nach Schliemann, 1998, S. 552)

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Teil II Lehren

Fokus: Unterricht als soziale Konstruktion


Gçtz Krummheuer pldiert in der Grundschulmathematik fr eine »sozio-kulturel-
le« Didaktik (Krummheuer, 1997; Krummheuer & Brandt, 2001). Das mathemati-
sche Wissen der Kinder solle sich als »sozial geteiltes« Wissen entwickeln und die
soziale Interaktion im Unterricht sei der wesentliche Lernmechanismus. In fortlau-
fenden Interaktionssituationen zwischen Schlerinnen und Schlern mssten
sachinhaltliche (hier: mathematische) Bedeutungen gemeinsam ausgehandelt und
Bedeutungszuschreibungen einander angenhert werden. Krummheuer setzt mikro-
soziologische, videobasierte Beobachtungsmethoden ein, um solche Interaktions-
prozesse zu rekonstruieren.

gens eingebt werden. Hinzu kommt: Si- Grundmodell des handwerklichen Aus-
tuiertes Lernen ist stets ein sozialer Pro- bildungsverhltnisses zwischen Meister
zess. Auf der Makroebene wirken Ein- und Lehrling entspricht, ist von Collins et
flsse der jeweiligen Kultur, in der das al. (1989) auf das schulische, kognitive
Lernen stattfindet; auf der Mikroebene Lernen bertragen und unter der Bezeich-
sind die individuellen Wissenskonstruk- nung »kognitive Meisterlehre« (cognitive
tionen mit jenen der Lehrenden und der apprenticeship; CA) bekannt gemacht
kollaborierenden Mitlernenden in Ein- worden. Dabei stand weniger die Analo-
klang zu bringen (Greeno et al., 1996; Pa- gie zu gegenwrtigen Formen der ge-
lincsar, 1998). Bei den unterrichtlichen werblichen oder kaufmnnischen Ausbil-
Realisierungen des situierten Lernens dung Pate als vielmehr der fast nos-
handelt es sich in der Regel um »liberali- talgisch zu nennende Verweis auf einen
sierte Variante[n] des Konstruktivismus«, prinstitutionellen natrlichen Urzustand
bei denen ber die Verknpfung von des Lernens.
Selbst- und Fremdsteuerung ein pragma- Die Meisterlehre ist die Art, auf die wir am na-
tischer Ausgleich zwischen Instruktion trlichsten lernen. Sie bestimmte das Lernen,
und Konstruktion angestrebt wird (Gers- bevor es Schulen gab, vom Erlernen der Spra-
tenmaier & Mandl, 2001). che bis hin zum Regieren eines Kçnigreichs …
Zwei wichtige Formen situierten, prob- Vor allem in Lernumgebungen, in denen indivi-
lemorientierten Lehrens sind die »kogni- dualisiert und sehr personalintensiv unterrich-
tive Meisterlehre« und die Methode der tet wird, wie beim Tennistraining, beim Fremd-
sprachen-Lernen in einer Berlitz-Schule oder
»Verstehensanker«. Sie eint die Ausrich-
bei der Ausbildung in medizinischer Diagnos-
tung an komplexen, realittsnahen Prob-
tik, werden Methoden der Meisterlehre auch
lemen als Ausgangspunkt von Lernpro- heute noch eingesetzt. Mit Hilfe der neuen Me-
zessen. Fr diese beiden Prototypen dien lassen sich Techniken des Modellierens
werden im Folgenden unterrichtliche und des angeleiteten bens nunmehr in einer
Realisierungen und – soweit vorhanden – Weise optimieren, die diese Art zu lehren (die
Untersuchungen zu ihrer Wirksamkeit Meisterlehre) kostengnstig und effektiv gestal-
prsentiert. tet und somit einer breiteren Verwendung zu-
fhren kann. (Collins et al., 1989, S. 491)

Kognitive Meisterlehre
Anregend fr den CA-Ansatz waren vor
Das Lernen durch angeleitete Partizipati- allem die Fallberichte zu Lern- und Kom-
on (apprenticeship learning), das dem munikationsformen in vorindustriellen,
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

nichtwestlichen Kulturen, wie sie insbe- Ergebnis einer isolierten instruktionalen Lekti-
sondere den ethnographischen Arbeiten on. (Bredo, 1997, S. 37)
von Lave (1988) und Rogoff (1990) zu
entnehmen sind. Diese Studien weisen Situiertes Lernen nach dem Modell der
auf den Handlungskontext des Wissens- Meisterlehre ist mithin praxisnah angelei-
erwerbs im sozialen Austausch hin. So tetes, individualisiertes Lernen. Es wird
berichtet beispielsweise Lave (1988), dass realisiert durch Formen der Partizipation
liberianische Schneider ihr Handwerk in einer Gemeinschaft praktisch ttiger
praktisch ohne institutionalisierte In- Menschen. Reinmann-Rothmeier und
struktion, nur durch einfache Partizipati- Mandl (2001) sprechen in diesem Zu-
on am Produktionsprozess erlernen. sammenhang auch von der »Einfhrung
in eine Expertenkultur«.
Der Schneiderlehrling beginnt damit, Arbeits- Im Kern des didaktischen Vorgehens geht
schritte zu bernehmen, die relativ wenig spe- es bei den unterrichtlichen Realisierungen
zialisierte Fertigkeiten erfordern und, im Falle der Meisterlehre um eine lehrergesteuerte
des Scheiterns, nur ein geringes finanzielles Ri-
Abfolge von Modellierung, Anleitung
siko beinhalten. Mit der Zeit wechselt er dann
und Untersttzung des Lernens und um
zu spezialisierteren, risikoreicheren und als
wichtiger bewerteten Teilauftrgen. Wann im- die Fçrderung der Selbstttigkeit des Ler-
mer »Lernen« auftrat, war es mehr oder weni- nenden, hufig unter Nutzung moderner
ger beilufig whrend der gemeinsamen Arbeit Medien oder Technologien. Dies beinhal-
mit anderen in unterschiedlichen Phasen der tet typischerweise das modellhafte Vor-
Kleidungsproduktion entstanden und nicht als machen oder Demonstrieren einer (kogni-

Fokus: Lernen aus erster Hand


Barbara Rogoff hat die klassischen kulturanthropologischen Studien zum »Lernen
aus erster Hand« in einer bersicht zusammengefasst (Rogoff, Paradise, Mejia
Arauz, Correa-Chavez & Angelillo, 2003). Sie weist auf die besonderen Praktiken
in kulturellen Gemeinschaften ohne frhe Eltern-Kind-Segregation hin.
Fallbeispiel Inuk:
M. Crago (1988, zitiert nach Rogoff et al., 2003, S. 192), eine Anthropologin, be-
richtet von einer Grçnlanderfahrung ihrer Tochter in einer wenig erklrungsbasier-
ten Lernkultur: »Eines Tages, als meine acht Jahre alte Tochter [Anna] einige Md-
chen ihres Alters in dem Haus, in dem wir wohnten, bei einem Spiel sah, wandte sie
sich an die englischsprechende Mutter der Mdchen und fragte: ›Wie spielt man
dieses Spiel? Sag mir, was ich machen muss. Wie sind die Regeln?‹ Inuk-Mutter
(freundlich): ›Schau ihnen zu und du wirst sehen, wie es geht.‹ Anna: ›Ich kann nicht
durch Zusehen lernen, kannst du es mir nicht erklren?‹ Inuk-Mutter: ›Du wirst es
durch Zusehen lernen kçnnen.‹«
Fallbeispiel Navajos:
J. Collier (1988; zitiert nach Rogoff et al., 2003, S. 191) berichtet aus Guatemala:
»Navajos unterrichten ihre Kinder nicht, aber sie beziehen sie in jede Alltags-Auf-
gabe ein, so dass die Kinder durch eifrige Beobachtung von selbst lernen. Mtter
bringen ihren Tçchtern nicht bei, wie man webt, aber eines Tages wird ein Md-
chen von sich aus sagen: ›Ich bin soweit. Lass mich weben.‹«

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Teil II Lehren

tiven) Ttigkeit durch den Lehrenden so- erlaubt ein untersttztes Erproben
wie das angeleitete Beobachtenlassen und von Methoden und Strategien, die
das untersttzte und kontrollierte Nach- der Lernende noch nicht allein voll-
ahmenlassen durch den Lernenden; ver- ziehen kann. Schrittweise werden
bunden mit besonderen instruktionalen aber die Hilfestellungen wieder aus-
Techniken, die neuartige Bezeichnungen geblendet und das Lerngerst wird
wie »scaffolding« und »fading« tragen, wieder abgebaut.
aber nichts anderes meinen, als dass ein 4. Artikulation. Die Lernenden werden
helfendes Lerngerst zunchst auf- und aufgefordert, whrend der Aufgaben-
dann schrittweise wieder abgebaut wird. bearbeitung ihre Gedanken zu arti-
Mit anderen Worten: dass sich der Leh- kulieren; gelegentlich werden auch
rende, der »Kognitive Meister«, beim explizite Nachfragen gestellt, um die
Fortschreiten des Lernprozesses sukzessi- Qualitt des internalen kognitiven
ve aus dem Prozess des Wissensaufbaus Modells zu diagnostizieren. Nur so
wieder zurckzieht. wird der Lernende spter in der Lage
Collins et al. (1989) haben das metho- sein, selbststndig strategische Ent-
dische Zusammenspiel zwischen Beob- scheidungen zu treffen.
achtenlassen, Untersttzung geben und 5. Reflexion. Die Lernenden werden
selbststndiger Praxis in einer Sequenz aufgefordert, ihr eigenes Vorgehen –
von sechs Stufen zusammengefasst: die eigenen Strategien – mit dem stra-
tegischen Vorgehen der anderen Ler-
1. Modellieren. Der Lehrende fhrt die nenden und dem des lehrenden Ex-
Lçsung einer Zielaufgabe modellhaft perten zu vergleichen. Durch diesen
vor (demonstriert die neue Fertig- Vergleich wird eine neue Abstrakti-
keit). Wenn es um eine kognitive onsebene erreicht.
Fertigkeit geht, erfordert dies eine 6. Exploration. Die Anregung, neue
Externalisierung der internen kogni- Probleme selbststndig zu explo-
tiven Prozesse durch begleitendes rieren, beschließt den Unterrichts-
Verbalisieren. Lernexperten (»Kogni- zyklus.
tive Meister«) legen also offen, wie
sie lernstrategisch vorgehen. Sie bie- Wirksamkeit
ten damit Gelegenheit zur Nach-
ahmung. Collins et al. (1989) nennen drei Muster-
2. Angeleitetes ben (Coaching). Nun beispiele der praktischen Umsetzung die-
muss der Lernende die Aufgabe ser Prinzipien in situierten, problemorien-
selbst ausfhren oder lçsen. Er wird tierten Lernumgebungen: »Reciprocal
dabei vom Lehrenden betreut und Teaching of Reading« von Palincsar und
gezielt untersttzt, z. B. durch not- Brown (1984) als Trainingsprogramm
wendige Hinweise, Rckmeldungen zum Textverstehen, »Procedural Faciliati-
und Erinnerungen. on of Writing« von Scardamalia und Be-
3. Lernhilfen und Lernsteuerung (Scaf- reiter (1985) als Trainingsprogramm zum
folding and Fading). Zur Erleichte- Textverfassen und »Methods for Tea-
rung des Wissensaufbaus wird ein ching Mathematical Problem Solving«
»Lerngerst« aufgebaut. Vorber- von Schoenfeld (1985) als Trainingspro-
gehend kann der Lehrende schwieri- gramm zur Fçrderung des mathemati-
ge Teilaufgaben auch vollstndig schen Denkens. Alle drei Programme so-
selbst bernehmen. Das Lerngerst wie deren Weiterentwicklungen, aber
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Fokus: Reciprocal Teaching (RT)


Das Trainingsprogramm zum Textverstehen ist ursprnglich fr Schler siebter
Klassen entwickelt worden. Es basiert auf Wygotskis Theorie der Internalisierung
durch soziales Handeln. Zum Textverstehen mssen die Lernenden untereinander
kooperieren, und zwar durch fortlaufenden Rollenwechsel in Kleingruppen wh-
rend des Lesens: Die Lernenden bernehmen wechselseitig die Lehrerrolle [L], stel-
len dabei Fragen oder fassen etwas zusammen sowie die Schlerrolle [S], indem sie
z. B. auf Fragen antworten. Im Rollenwechsel liegt das reziproke Moment. Beim Er-
arbeiten eines Textes sollen die folgenden vier Strategien eingebt werden:
(1) einen Text selbststndig zusammenfassen (sum),
(2) Fragen zum Text formulieren (question),
(3) Vorhersagen ber den Fortgang machen (predict),
(4) das Gelesene erklren (clarify).
Zu Beginn des Trainings modelliert eine Lehrperson (LP) den korrekten Strategie-
gebrauch, danach gibt sie Hilfen und Beratung, wenn notwendig (Scaffolding).
Brown und Palincsar illustrieren RT anhand eines Dialogs, der hier in Ausschnitten
wiedergegeben wird. Die Schlerinnen und Schler haben zuvor einen kurzen Text-
abschnitt folgenden Inhalts gelesen:
»In den Vereinigten Staaten wird Salz auf dreierlei Weise gewonnen: Verdunstung
durch die Sonne, Abbau aus Salzminen und Verdunstung durch knstliche Hitze.
Um Salz durch Sonneneinstrahlung zu gewinnen, muss das Wetter heiß und trocken
sein. Deshalb wird dieses solare Salz in den tropenhnlichen Gegenden an unseren
sdlichen Ksten und am Great Salt Lake gewonnen. «
Schler C (L): »Nenne drei verschiedene Methoden, wie Salz produziert wird.«
Schler A (S): »Verdunstung, Abbau aus Salzminen, Verdunstung … Verdunstung
durch knstliche Hitze.«
Schler C (L): »Korrekt, sehr gut. Meine Zusammenfassung dieses Abschnitts geht
ber die drei Methoden, wie Salz produziert wird.«
Lehrperson (LP): »Sehr gut. Kannst du den nchsten Lehrer auswhlen!« (Schler C
whlt Schler U aus, der mit dem Textvorlesen fortfhrt.)
»Die zweitlteste Form der Salzproduktion ist der Abbau aus Salzminen. Im Gegen-
satz zu frhen Methoden, die die Arbeit extrem gefhrlich und schwierig machten,
werden heute spezielle Maschinen verwendet und die Arbeit in Salzminen ist ein-
facher und sicherer geworden. Der alte Ausdruck ›zurck in die Salzmine‹ passt
heute eigentlich nicht mehr. «
Schler U (L): »Nenne zwei Begriffe, die frher gebruchlich waren, um die Arbeit
in Salzminen zu beschreiben.«
Schler K (S): »Zurck in die Salzmine?«
Schler U (L): »Nein. Angela?«
Schler A (S): »Gefhrlich und schwierig.«
Schler U (L): »Richtig. Dieser Abschnitt geht ber einen Vergleich zwischen den al-
ten Salzminen und dem heutigen Salzabbau.«
Lehrperson (LP): »Sehr schçn!«
Schler U (L): »Ich habe eine Vorhersage.«
Lehrperson (LP): »Gut.«

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Teil II Lehren

Schler U (L): » Ich glaube, der Text kçnnte so weiter gehen, dass beschrieben wird,
wie das Salz erstmals entdeckt wurde, und dann, woraus Salz besteht, und dann,
wie es entsteht.«
Lehrperson (LP): »O.K. Kçnnen wir einen anderen Lehrer whlen?«
»Speisesalz wird durch die dritte Methode gewonnen, die knstliche Verdunstung.
In ein unterirdisches Salzbett wird Wasser gepumpt, um das Salz aufzulçsen und ei-
ne Lake herzustellen, die an die Oberflche gebracht wird. Nach der Reinigung bei
hohen Temperaturen ist das Salz fertig fr unseren Tisch.«
Schler K (L): »Nach der Reinigung bei hohen Temperaturen ist das Salz fertig fr
was?«
Schler C (S): »Unseren Tisch.«
Schler K (L): »Das stimmt. Zum Zusammenfassen: Nach der Reinigung kommt
das Salz auf unsere Tische.«
Lehrperson (LP): »Das war sehr schçn, Ken, und ich finde eure Arbeit sehr gut, aber
ich glaube, da gehçrt noch etwas anderes in unsere Zusammenfassung. Es gibt noch
mehr wichtige Informationen, die wir einbeziehen sollten …«
(nach Brown & Palincsar, 1989, S. 421)

auch andere Anstze, die auf den Prinzi- und metastrategischen Elementen zurck-
pien der Meisterlehre beruhen, haben gefhrt.
sich in Evaluationsstudien als wirksam Cornelia Grsel (1997) berichtet ber die
erwiesen (Brown, 1997; Rosenshine & Adaptation, Implementation und Erpro-
Meister, 1994; zusammenfassend: Gr- bung der computerbasierten Lernpro-
sel, 1997, oder Stark, 1999). Das ist gramme PlanAlyzer und Thyroidea in
nicht wirklich berraschend, vereinen sie der klinischen Ausbildung von Studentin-
doch die bekanntermaßen wirksamen nen und Studenten der Medizin. Unter
Merkmale direkter Instruktion mit den besonderer Bercksichtigung der beiden
Vorteilen des selbstttigen, nachahmen- CA-Prinzipien Artikulation und Coa-
den und sozialen Lernens. Andere erfolg- ching waren in diesen Studien problem-
reiche kognitive Trainings, die ebenfalls orientierte Lernumgebungen mit einem
wesentliche Prinzipien der Meisterlehre hohen Ausmaß an Authentizitt realisiert
realisieren, werden in Kapitel 8.1 be- worden. Auch hier zeigt sich, dass erst
schrieben. das Bereitstellen zustzlicher instruktio-
Rosenshine und Meister (1994) haben ei- naler Hilfen und Anregungen den Erwerb
ne Metaanalyse zum Reciprocal Teaching anwendungsorientierten Wissens, d. h.
vorgelegt, in der zwischen Studien mit die Diagnosekompetenz der angehenden
und ohne vorherige explizite Modellie- Mediziner, befçrderte.
rung der Strategien des Textverstehens Unter den situierten Lernumgebungen
durch die Lehrperson unterschieden wird. gibt es weitere methodische Anstze, die
Bei einer mittleren Effektstrke von d = die von Collins et al. (1989) formulierten
0.57 zeigen sich grçßere Effekte nach Prinzipien bercksichtigen. Bei Blumen-
vorherigem expliziten Modellieren der feld et al. (1997) findet sich zu diesen An-
vier Strategien. Die Wirksamkeit des Re- stzen eine zusammenfassende bersicht.
ciprocal Teaching wird vor allem auf die Die meisten Konzeptionen verwenden
gelungene Verknpfung von strategischen Computer zur Untersttzung des Lern-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Fokus: Polyas Problemlçsestrategien


Auf George Polya (1957) und Alan Schoenfeld (1985) geht die Vermittlung heuristi-
scher Strategien zum Lçsen mathematischer Probleme zurck. Eine Metaanalyse
von Hembree (1992) und eine vergleichbare Literaturanalyse von Burkell, Schnei-
der & Pressley (1990) haben gezeigt, dass den meisten Problemlçsetrainings Polyas
vier Prinzipien zugrunde liegen – auch wenn sich die wenigsten Autoren explizit auf
ihn beziehen. Im Folgenden wird eine fr den Grundschulbereich adaptierte Version
von Polyas Allgemeinen Problemlçsestrategien dargestellt (nach Burkell et al., 1990;
leicht gekrzt).
1. Verstehe die Aufgabe (das Problem)!
. Lies die Aufgabe langsam und sorgfltig, identifiziere genau, wonach gefragt
wird.
. Identifiziere wichtige Informationen, vielleicht indem du eine Liste oder Tabelle
erstellst.
. Definiere die Bedingungen in der Aufgabe.
. Paraphrasiere die Problemstellung.
. Bilde eine Reprsentation der Problemstellung, z. B. durch das Anfertigen eines
Diagramms oder einer Zeichnung.
2. Entwirf einen Plan zur Lçsung der Aufgabe!
. Setze die Aufgabe in Bezug zu Aufgaben, die du schon kennst.
. Identifiziere ein vertrautes Muster in der Aufgabe, das du schon in frheren
Aufgaben gesehen hast.
. Entwickle eine Vermutung (Hypothese) ber die Aufgabenstellung und ber
mçgliche Lçsungen.
. Versuche, einen Teil der Aufgabe zu lçsen.
. Versuche, eine verwandte Aufgabe zu lçsen.

3. Fhre deinen Plan aus!


4. Schau zurck!
. berprfe deine Antwort, einschließlich aller Berechnungen.
. Vergleiche die Antwort, die du gefunden hast, mit deiner zuvor aufgestellten
Vermutung.
. Lçse die Aufgabe auf eine andere Art.
. Fasse zusammen was du getan hast, um die Aufgabe zu lçsen.
. Denk dir eine Aufgabe aus, die hnlich gelçst werden kçnnte.

prozesses und fokussieren die Bedeutsam- on; AI) ein weiteres Beispiel des situierten
keit einer gemeinsamen Lerngruppe (kol- Lernens durch problemorientierte Metho-
laboratives Lernen). den. Sie stehen eher in Piagets als in
Wygotskis Tradition. Zur Fçrderung des
verstehenden Wissenserwerbs werden
Verstehensanker
spannende (kindgemße) Abenteuerge-
Neben der Kognitiven Meisterlehre sind schichten im Filmformat angeboten, in
die Verstehensanker (anchored instructi- die das zu erlernende konzeptuelle Wis-
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Teil II Lehren

sen (vorwiegend mathematischer und zu lçsen. Der didaktische Clou besteht


naturwissenschaftlicher Domnen) einge- darin, dass die Kinder, die den Film
bettet ist. Diese Form der szenischen Ver- sehen, Jasper bei der Problemlçsung be-
ankerung der Lerninhalte – so genannte hilflich sein sollen. In einer Folgeserie
narrative Anker – soll Interesse wecken, »Scientists in Action« werden in hn-
Identifikationsprozesse bei den Schlerin- lichem Format komplexe naturwissen-
nen und Schlern auslçsen und damit schaftliche Probleme behandelt (CTGV,
Vorteile des problemlçsenden, selbst- 1997; Goldman et al., 1994).
gesteuerten und kooperativen Lernens er- Die folgenden sechs Gestaltungsprinzi-
çffnen und nutzen. pien liegen der Entwicklung der CTGV-
Die Wissenschaftler der »Cognition and Lernmaterialien zugrunde:
Technology Group« an der Vanderbilt-
Universitt in Nashville (CTGV) haben 1. Videobasiertes Format. ber Filme,
das Prinzip der Verstehensanker mit der Videos oder Computer wird eine
so genannten Jasper-Abenteuerserie »Ad- komplexe, authentische Problemsi-
ventures of Jasper Woodbury« fr die In- tuation in Geschichtenform prsen-
haltsdomne Mathematik als praxistaug- tiert.
liche Unterrichtstechnologie realisiert, 2. Narrative Struktur. ber die abenteu-
und zwar auf Videos, Bildplatten und erliche Geschichtenform wird ein
CD-ROM (http://peabody.vanderbilt.edu/ vertrauter Kontext erzeugt. Die Ge-
projects/funded/jasper/Jasperhome. html). schichten sollen in einem Zusam-
In der Jasperserie gibt es Lernmaterial menhang mit den Vorerfahrungen
zu unterschiedlichen mathematischen der Lernenden stehen.
Inhaltsbereichen, z. B. zu Statistik und 3. Generatives Problemlçsen. Die Ge-
Wahrscheinlichkeitsrechnung, zur Geo- schichten enden mit einem offenen,
metrie und zur Algebra. Der Serienheld schlecht definierten Problem (hier
Jasper steht in den jeweiligen Filmepiso- wird der Film angehalten), welches
den vor der Aufgabe, ein komplexes ma- die Lernenden selbststndig lçsen
thematisches Problem zu erkennen, dieses sollen. Die Beispiellçsung (im Film)
in Termini der zur Lçsung notwendigen wird erst nach der eigenstndigen
Operatoren zu definieren und schließlich Problemlçsung prsentiert.

Beispiel: Ein Jasper-Abenteuer


Filmbeschreibung »Rescue at Boone’s Meadow«:
»Ein Wildhter findet in schwer zugnglichem Gelnde einen verletzten Adler, der
dringend medizinisch versorgt werden muss. Es stellt sich heraus, dass es eine ein-
zige Mçglichkeit gibt, den Rettungstransport zu bewerkstelligen: den Einsatz eines
Lenkdrachens (eines Ultraleichtflugzeugs). Der Rettungsaktion stehen jedoch einige
Schwierigkeiten und Hindernisse im Wege, so die begrenzte Ladungskapazitt des
Fluggerts, der kleine Tank und die vergleichsweise große Entfernung zwischen
dem aktuellen Standort (dem Startplatz) des Lenkdrachens, dem Fundort des Adlers
und dem Zielort, der Tierklinik.«
Die zur Problemlçsung notwendigen Informationen sind in der Geschichte enthal-
ten. Sie in lçsungsdienlicher Weise miteinander zu verknpfen, erfordert mathema-
tische Kenntnisse und Fertigkeiten.

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

4. Selbststndiges Lernen. Alle Infor- Variablen waren der Leistungszuwachs


mationen, die zur Problemlçsung er- und die Entwicklung der Lernmotivation.
forderlich sind, sind in der Geschich- Nur beim mathematischen Problemlçsen
te enthalten. Es ist Aufgabe der (nicht aber fr das konzeptuelle mathe-
Lernenden, die relevanten Informa- matische Wissen und fr die Rechenfer-
tionen selbststndig (und kooperativ) tigkeiten) erwiesen sich die Jasper-Klassen
zu finden und zu integrieren. als berlegen – das galt aber auch fr die
5. Authentische Probleme. Die Prob- eher reformorientierten Schulklassen ins-
lemstellungen sind komplex und gesamt. Die grçßte Wirksamkeit zeigte
lebensnah. In den Geschichten wer- sich in jenen fnf Klassen, bei denen Re-
den auch berflssige und wider- formorientierung und Jasper-Applikation
sprchliche Informationen gegeben. zusammentrafen, und zwar unabhngig
6. Transfer. Zu jedem Lerninhalt (z. B. vom sozialschichtbezogenen Hintergrund
»Satz des Pythagoras«) werden zwei der Schule. Im Hinblick auf die motiva-
verwandte Geschichten und damit tionalen berzeugungen tat sich aller-
zwei unterschiedliche situative Ein- dings nichts. Insgesamt waren die Effekte
bettungen prsentiert. Damit soll die der Intervention eher gering. In der Dis-
Flexibilisierung und Dekontextuali- kussion verweisen die Autoren der Studie
sierung der Wissensstrukturen ge- auf ein interessantes Phnomen: »Die Jas-
bahnt werden. per-Geschichten wurden nicht immer so
eingesetzt, wie es sich die Erfinder vor-
gestellt hatten« (S. 634). Die Lehrkrfte
Wirksamkeit
in den leistungsschwcheren Klassen
Die (vornehmlich formativ-evaluieren- adaptierten nmlich die Programmprinzi-
den) Untersuchungen zur Implemen- pien in einer Weise, die den Intentionen
tierbarkeit und zur Wirksamkeit der der Programmentwickler entgegenlief: Sie
Jasper-Materialien sind vielversprechend trivialisierten das Lernprogramm, indem
verlaufen. Allerdings verweisen sie auch sie mehrere Episodenfilme am gleichen
auf die Notwendigkeit, instruktionale Tag vorfhrten, als Begleitmaterial struk-
Hilfestellungen im Sinne einer hçheren turierende Arbeitsbltter aushndigten
Lenkungskomponente zu przisieren und und selbst die Fragen stellten, die eigent-
zu optimieren (CTGV, 1997; Vye et al., lich die Kinder htten generieren sollen.
1997); insbesondere bei Lernenden mit Dies ist ein Musterbeispiel fr eine
ungnstigen Lernvoraussetzungen (vgl. Grundregel pdagogisch-psychologischer
Kap. 6.2 und 6.3). Interventionen, nmlich dass der Nach-
Hickey, Moore und Pellegrino (2001) ha- weis der Wirksamkeit eines Interventions-
ben die Lernwirksamkeit von Jasper- programms in hohem Maße von der Zu-
Lernumgebungen in 19 fnften Klassen verlssigkeit und Angemessenheit seiner
an vier unterschiedlichen Schulen unter- praktischen Umsetzung abhngt (Grsel
sucht. Neben der Jasper-Intervention (in & Parchmann, 2004; Souvignier, Kp-
zehn der 19 Klassen) unterschieden sich pers & Gold, 2003).
die teilnehmenden Schulen und Klassen
zustzlich in systematischer Weise hin-
Grundstzliche Fragen
sichtlich ihres pdagogischen Profils
(mehr vs. weniger Reformorientierung) In der Zeitschrift Cognitive Science (z. B.
und hinsichtlich der Sozialschichtzuge- Suchman, 1993; Vera & Simon, 1993)
hçrigkeit ihrer Schlerschaft. Abhngige und im Educational Researcher (z. B. An-
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Teil II Lehren

derson, Reder & Simon, 1996, 1997; erwerbs werden aus kognitivistischer Sicht
Greeno, 1997; Kirshner & Whitson, empirische Befunde entgegengehalten, die
1998) wurde intensiv ber die Tragfhig- eine breite Generalisierbarkeit erlernter
keit und Ntzlichkeit des Situiertheits- Basiskompetenzen belegen – sichtbar vor
ansatzes gestritten. In der Zeitschrift fr allem am Beispiel des Lesens, Schreibens
Pdagogische Psychologie ist diese De- und Rechnens. Solche Befunde sprechen
batte von Alexander Renkl (2000) und fr den Erfolg eines vertikalen und hori-
Karl Josef Klauer (1999, 2000) nochmals zontalen Wissenstransfers zwischen unter-
aufgegriffen worden. Kern der Auseinan- richtlichen Lernaufgaben und fr die
dersetzung zwischen Situationisten und Wirksamkeit allgemeiner und spezifischer
Kognitivisten ist die Frage, ob die sym- kognitiver Trainings (zumal, wenn in sol-
bolischen Prozesse der Informationsverar- chen Trainings Phasen einer abstrakt-in-
beitung eher in abstrakter Form oder eher formierenden Instruktion mit Phasen an-
ber alltagspraktische Erfahrungen in der geleiteten und selbststndigen bens
sozialen Interaktion untersttzt werden kombiniert werden). Mit anderen Worten:
kçnnen, oder, wie es Weinert (1998a, Auch in Lernumgebungen, die weder au-
S. 208) ironisch zuspitzt, ob das Lernen thentisch noch sozial gestaltet sind, wird
»im Kopf der Lernenden« stattfindet oder offenbar hinreichend gut gelernt.
in »der Interaktion mit sozialen, kulturel- Die Auseinandersetzung zwischen den Si-
len und physikalischen Kontexten«. tuationisten und den Kognitivisten ist
Den zentralen Thesen der Situationsver- von erkenntnistheoretischen und philoso-
ankerung von Lernvorgngen, des prinzi- phischen Grundberzeugungen ber-
piell geringen, wenn nicht unmçglichen lagert: auf der einen Seite die gemßigt,
Wissenstransfers, des begrenzten Nutzens gelegentlich auch radikaler vorgetragene
abstrakter Prinzipien und der grundstz- sozial-konstruktivistische Position, auf
lich sozialen Bedingtheit des Wissens- der anderen Seite die rational-kognitivisti-

Fokus: Ein positionsbergreifender Lernbegriff


Wenn Sichtweisen zu Ideologien werden und wenn Theorien der situierten Kogni-
tion »als Gegenposition zum traditionellen Vorverstndnis des Wissens als eines in
sich geschlossenen Systems symbolischer Reprsentationen« (Weinert, 1996c, S. 8)
aufgebaut werden, wird die Verstndigung schwierig. Ein vorlufiges Ende der
Debatte (Anderson, Greeno, Reder & Simon, 2000) lsst sich dann allenfalls ber
einen Formelkompromiss erreichen:

1. Lernen findet im sozialen Kontext statt und ist dennoch ein individueller
Prozess.
2. Lernen ist spezifisch und allgemein zugleich; ein Lerntransfer ist mçglich, auch
wenn er nicht immer gelingt.
3. Situative und kognitive Zugnge zur Erforschung von Lehr-Lern-Prozessen
kçnnen einander ergnzen und sie kçnnen unterschiedliche Methoden der Er-
kenntnisgewinnung anwenden.
4. Pdagogische Maßnahmen sollten auf der Grundlage wissenschaftlicher Er-
kenntnisse fußen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten mit strengen
wissenschaftlichen Methoden erzielt werden.

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

sche Sichtweise (Billett, 1996; Gersten- wenn in der Alltagspraxis fr die Alltags-
maier & Mandl, 2001). Beide Sichtwei- praxis gelernt wird.
sen haben eines gemeinsam: Aus lerntheoretischer Sicht ist das Trans-
ferproblem zweifellos zentral (vgl. Kap.
Die radikaleren Fraktionen der jeweiligen An- 3.3). Der zu Recht beklagte Umstand des
hngerschaft tendieren … zu einem gewissen trgen, kompartmentalisierten, nicht an-
Holismus, d. h. zu einer Tendenz, die Gesamt-
wendbaren Wissens war ja der Ausgangs-
ordnung des Universums im ganz Kleinen wie
im ganz Großen aus einer Wurzel oder einem
punkt des situierten Lernens. Nur: Wenn
Prinzip zu erklren, welches dann natrlich zu die Rechenfertigkeit der Straßenkinder
dem Gedanken fhrt, dass ganz zwanglos Alles nicht auf die Schularithmetik transferiert,
mit Allem zusammenhngt, das Große sich im folgt daraus wirklich, dass in der Schule
Kleinen widerspiegelt und umgekehrt, alles sei- situierter gelernt werden sollte? Mit noch
nen Sinn, seine Bedeutung und Ordnung hat – weniger Aussicht auf Transfer? Zu Ende
und sei es die der Un-Ordnung. (Terhart, 2000, gedacht impliziert der Situiertheitsansatz
S. 189) das Ende jeglichen Transferanspruchs.
Unter den Rahmenbedingungen sich
Aus forschungsmethodologischer Sicht rasch wandelnder beruflicher Anforde-
ist der empirische Nachweis ohnehin die rungen scheint dies aber nicht unproble-
kritische Prfgrçße des Situiertheitsansat- matisch. Es kann doch kaum Anspruch
zes. Fallbeispiele und teilnehmende Be- von Schule sein, auf einen bestimmten
obachtungen aus der qualitativ-narrati- Beruf vorzubereiten. Anders als in der
ven Feldforschung kçnnen zwar wichtige handwerklichen Meisterlehre werden die
Anregungen geben, kontrollierte (wenn Situation des Wissenserwerbs und die Si-
mçglich: experimentelle) Studien jedoch tuation der spteren Wissensanwendung
nicht ersetzen. Damit sich der Situiert- in der heutigen Zeit eben gerade nicht
heitsansatz nicht im Anekdotischen er- mehr zusammenfallen. Daraus aber folgt:
schçpft, sind Implementationsstudien Wenn im Unterricht kontextgebunden
und Wirksamkeitsprfungen notwendig. und situiert gelernt wird, dann ist eben-
Dass sich die illustrativen Beispiele der dort die Option zur Flexibilisierung und
brasilianischen Straßenkinder und der Dekontextualisierung des Gelernten mit
Httenksedit leicht konterkarieren las- anzulegen, um spteren Lerntransfer zu
sen, haben schon Anderson et al. (1996; ermçglichen. Was aber heißt das fr die
vgl. auch Klauer, 2000) gezeigt: Das All- Schulentwicklung? Wenn Schule Bildung
tagswissen der Straßenkinder transferiert und nicht nur berufsqualifizierende Aus-
offenbar nicht auf Schularithmetik. Wohl bildung ermçglichen will, muss sie zu
wahr! Das legendre Httenksebeispiel abstrakten Konzepten hinter den enakti-
veranschaulicht auch die prinzipielle Be- ven und situationsgebundenen fhren.
grenztheit des situativen Lernens. Denn Die Kontextgebundenheit und die Hand-
nur durch kreative Zusatzberlegungen lungsverankerung von Wissen lsst sich
(zuvor ins Gefrierfach stellen) lsst es sich durchaus unterrichtlich bercksichtigen
auf flssige Materialien bertragen. Da- und nutzen, ohne zugleich den Anspruch
raus zu folgern, der Schulunterricht ms- der Abstraktion und der Systematik gnz-
se sich ndern, um den Erfordernissen lich fallen zu lassen. Hans Aeblis All-
der Lebenswirklichkeit zu entsprechen, gemeine Didaktik – von der Handlung
scheint wenig durchdacht. Vor allem wird ber die Operation zum Begriff – kann
aber das Transfer- oder Anwendungspro- hier wiederum als Beispiel dienen (vgl.
blem von Wissen nur scheinbar gelçst, Kapitel 5.2).
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Teil II Lehren

Klauer (2000) sieht im Situationismus ei- maier (1999) die neue Perspektive des so
ne ganz andere Gefahr, nmlich die der genannten situierten Lernens durch pro-
Dissoziation des wissenschaftsorientier- blemorientierte Lehrmethoden. Ob sich
ten vom »gemeinschaftsorientierten« Ler- dieses Dreiecksverhltnis letztendlich als
nen fr die breite Masse, im Sinne einer gefhrliche Liebschaft oder als zukunfts-
allgemeinen Volksbildung: trchtige Verbindung herausstellen wird,
Wie lange wird es wohl dauern, bis offenbar muss – soweit es das Wissenschaftsver-
wird, dass Wissen vornehmlich bei schwachen stndnis der Psychologie angeht – letzt-
Lernern im Kontext des Erwerbs situiert bleibt endlich die Empirie weisen. Genau darin
und dass leistungstchtigere viel rascher zum besteht aber derzeit das Hauptproblem
flexiblen Einsatz und Transfer fhig sind? Oder bei der Bewertung des Situiertheitsansat-
bis offenbar wird, dass ein Unterricht gemß zes: Es wurde mit großem Enthusiasmus
dem Situiertheitskonzept gut befhigte Lernen- eine modern anmutende (eigentlich aber
de unterfordert und auf Dauer langweilt?
nicht wirklich neue) Unterrichtsphiloso-
(Klauer, 2000, S. 10)
phie positioniert, die sich theoretisch ele-
Klauers Befrchtung mag bertrieben gant begrnden lsst; aber es gibt bislang
sein. Gleichwohl wird man ber die not- nur wenige belastbare empirische Studien
wendigen Lernvoraussetzungen der Me- zur Sttzung dieser Konzeption (Ander-
thoden des situierten, problemorientier- son et al., 1996; vgl. dazu auch Klauer,
ten Lehrens nachdenken mssen. Dabei 1999; Renkl, 2000).
muss die Frage erlaubt sein, ob der Er-
werb domnspezifischer Expertise, im
Sinne einer »Berufsvorbereitung«, tat-
schlich an die Stelle des klassischen Bil- 6.5 Kooperative
dungsauftrags von Schule treten kann Lehrarrangements
und soll.
Hans Gruber (1999) hat das Konzept der »Jetzt wollen wir die Lernaufgabe als
»Erfahrung« benutzt, um die Vereinbar- Gruppenprozess organisieren! Schließlich
keit des kognitionspsychologischen mit lesen Sie dieses Lehrbuch nicht (nur) zum
dem situativen Ansatz zu verdeutlichen. Vergngen, sondern um sich auf eine Pr-
Gruber spricht von »Informationsver- fung in Pdagogischer Psychologie vor-
arbeitung in Situationen«. Das heißt, auf zubereiten. Und das sollte zum einen
der Grundlage individueller kognitiver mçglichst effizient, zum anderen mçg-
Verarbeitungsprozesse werden subjektive lichst nachhaltig, im Sinne einer qualitativ
Erfahrungen dadurch konstruiert, dass hochwertigen Wissenskonstruktion, ge-
sie auf selbst erlebten Ereignissen aufbau- schehen. Bilden Sie zusammen mit drei
en. Komplexe und authentische Lern- weiteren Kommilitonen eine Kleingruppe
umgebungen, die ein episodisches Erle- und teilen Sie sich den folgenden Ab-
ben ermçglichen, regen mithin zur schnitt 6.5 untereinander auf. Zwar sollen
aktiven Konstruktion von Wissen an. Sie alle vier den gesamten Text einmal
Wichtig ist allerdings, dass die bereit- grndlich durcharbeiten, aber die weiter
gestellten Lernsituationen durch Maß- gehenden Arbeitsauftrge sind spezifisch:
nahmen der instruktionalen Betreuung Zwei von Ihnen sollen sich in Theorie
gesttzt werden. und Praxis einer bestimmten kooperati-
Als »mnage
trois«, als »love affair« ven Methode – des so genannten Grup-
zwischen Philosophie, Psychologie und penpuzzles – einarbeiten und zustzlich
Medientechnologie, bezeichnete Gersten- die beiden empirischen Originalarbeiten
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Definition: Kooperatives Lernen


Beim kooperativen Lernen arbeiten Schlerinnen und Schler in kleinen Gruppen,
um sich beim Erlernen von Kenntnissen und Fertigkeiten gegenseitig zu helfen. Das
kooperative ist ein aktives, selbststndiges und soziales Lernen. Die kooperativen
Lehrformen sind lernerzentriert, denn whrend des Lernprozesses tritt die Lehrper-
son im Allgemeinen in den Hintergrund. Mindestens zwei, meist aber drei bis fnf
Lernende konstituieren eine Lerngruppe; einige Methoden sind allerdings speziell
fr das dyadische, tutorielle Lernen entwickelt worden. Gelegentlich wird auch der
Sammelbegriff des »peer-assisted learning« (PAL) verwendet, um das dyadische
und das Lernen in Kleingruppen thematisch zusammenzufassen.

von Borsch, Jrgen-Lohmann und Giesen Umgang mit Kontroversen, ist eine
(2002) sowie von Jrgen-Lohmann, wichtige Voraussetzung des kooperativen
Borsch und Giesen (2002) zu diesem The- Arbeitens. Historische Vorlufer der
ma lesen und in ihren Kernaussagen zu- neueren pdagogisch-psychologischen
sammenfassen. Die beiden anderen sollen Anstze des kooperativen Lernens sind
sich intensiver mit der Metaanalyse von vor allem die sozial- und entwicklungs-
Rohrbeck, Ginsburg-Block, Fantuzzo psychologischen Arbeiten von Kurt Le-
und Miller (2003) zur Wirksamkeit ko- win und Morton Deutsch sowie von Jean
operativer Lernformen in der Grundschu- Piaget und Lew Wygotski in der ersten
le beschftigen. Und sie sollen sich mit Hlfte des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu
dem methodischen Vorgehen der Meta- Slavin, 1995; Webb & Palincsar, 1996).
analyse auseinander setzen. Die Lern- Seit den 1970er-Jahren ist vor allem in
ergebnisse beider Arbeitsgruppen mssen den USA und in Israel eine Wiederentde-
dann in geeigneter Weise schriftlich doku- ckung kooperativer Lehr-Lern-Formen zu
mentiert und in einer gemeinsamen Grup- beobachten – Wiederentdeckung deshalb,
pensitzung den Lernenden der jeweils an- weil kooperative Unterrichtselemente in
deren Gruppe vorgetragen werden. Nur den reformpdagogischen Anstzen zu
so kçnnen alle von den vertiefenden Ar- Beginn des 20. Jahrhunderts schon eine
beiten der jeweils anderen profitieren.« Rolle gespielt haben. Die neuerliche Be-
Beim schulischen kooperativen Lernen grndung der kooperativen Renaissance
sind die Lerngruppen in der Regel leis- setzt auf drei unterschiedlichen Ebenen
tungsheterogen zusammengesetzt und sie an:
bleiben in ihrer Zusammenstellung meist
ber einen lngeren Zeitraum bestehen. . Das kooperative Lernen soll dazu bei-
Oft ist es hilfreich oder gar notwendig, tragen, dass nicht nur kognitive, son-
vor Beginn des kooperativen Arbeitens dern auch motivationale und emotio-
kommunikative Basiskompetenzen ein- nale Lernziele erreicht werden.
zuben, wie z. B. die Fertigkeiten zum . Durch kooperative Lehrformen sollen
bermitteln kongruenter Botschaften, die Qualitt und die Anwendbarkeit
zum (wertungsfreien) Paraphrasieren von des erworbenen Wissens verbessert
Nachrichten oder zum (gleichberechtig- werden.
ten) Aushandeln von Bedeutungsber- . Die Anwendung kooperativer Lehr-
einstimmungen. Auch das Beherrschen formen soll sozialintegrativ und damit
elementarer Gruppenregeln, z. B. zum gesellschaftspolitisch prventiv wirken,
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Teil II Lehren

da durch das gemeinsame Lernen und genen Erfolgs. Johnson und Johnson
Arbeiten im Klassenverband der Um- nennen das eine »negative Interdepen-
gang mit und die Bewltigung von denz«.
Konflikten zwischen verschiedenen Es gibt noch eine weitere, weniger wett-
Gruppierungen eingebt wird. bewerbsorientierte Form nicht-koope-
rativer Zielstrukturen, die Johnson und
Zur Verortung kooperativen Lernens im Johnson als individualistische bezeich-
Kontext anderer schulischer Lehr-Lern- nen. Das sind Lehr-Lern-Situationen ohne
Methoden haben Johnson und Johnson Interdependenz, in denen die Lernenden
(1994) den Begriff der unterschiedlichen unabhngig voneinander mehr oder we-
Zielstrukturen von Lehr-Lern-Situationen niger erfolgreich sein kçnnen, weil die ex-
geprgt. In der Systematik der Johnsons terne Leistungsbewertung nicht nach so-
werden drei Arten von Zielstrukturen zialen, sondern nach absoluten (oder
unterschieden: kooperative, kompetitive nach individuellen) Maßstben vor-
und individualistische. genommen wird – wie es etwa beim Er-
Eine kooperative Zielstruktur ist dann ge- reichen eines Tagesziels fr den Strecken-
geben, wenn eine Gruppe von Lernenden wanderer der Fall ist.
eine Aufgabe nur gemeinsam erfolgreich Hufig liegen der Organisation schu-
lçsen kann. Johnson und Johnson nennen lischer Lernprozesse kompetitive Ziel-
das eine »positive Interdependenz«. Das strukturen zugrunde, ohne dass damit
Lernziel, das jeder Einzelne fr sich an- Vorteile verbunden wren. Im Gegenteil:
strebt, kann nur erreicht werden, wenn Ungnstig verlaufende soziale Vergleichs-
auch alle anderen zum Ziel kommen – prozesse kçnnen sich fr die erfolglos Ler-
wie etwa beim Staffellauf in der Leicht- nenden demotivierend und auf ihr Selbst-
athletik. Die Zielstrukturen der Einzelnen konzept beeintrchtigend auswirken.
sind in diesem Fall in ihrer wechselseiti- Vom Einsatz kooperativer Lernformen er-
gen Abhngigkeit positiv miteinander hofft man sich hingegen gnstige Auswir-
verknpft. kungen im Hinblick auf das Erreichen
Ganz anders verhlt es sich in Lehr- kognitiver, motivationaler und emotiona-
Lern-Situationen, in denen unter kom- ler Lernziele. Allerdings setzt der erfolg-
petitiven Zielstrukturen Leistungsbewer- reiche Einsatz kooperativer Lehrformen
tungen aufgrund des sozialen Vergleichs voraus, dass Lernaufgaben, Lernanreize
zwischen den Lernenden vorgenommen und die Bewertung der Lernleistung in be-
werden. In solchen Situationen sind die sonderer Weise gestaltet werden. Es reicht
Aufgaben so gestellt, dass sie auch jeder nmlich nicht aus, eine Gruppe von Ler-
fr sich allein lçsen kann. Zusammenar- nenden zusammenzustellen und sie zu ge-
beit ist mçglich, aber nicht notwendiger- meinsamem Tun aufzufordern. Nicht jede
weise erforderlich – wie es etwa mit der Gruppenarbeit ist kooperativ.
Fhrungsarbeit in einer Ausreißergruppe Um den Voraussetzungen kooperativen
in einem Radrennen der Fall ist. Die Ler- Lernens eine Systematik zu unterlegen,
nenden bzw. die Sportler konkurrieren werden im Folgenden die fnf Basismerk-
letztendlich miteinander um eine gute male kooperativen Lernens nach Johnson
Leistungsbewertung. Wenn es nur einen und Johnson (1994) dargestellt: die po-
Sieger geben kann, sind die Zielstruktu- sitive Interdependenz, die individuelle
ren negativ miteinander verknpft, denn Verantwortlichkeit, die fçrderlichen Inter-
der wahrscheinliche Erfolg des anderen aktionsstrukturen, die kooperativen Ar-
vermindert die Wahrscheinlichkeit des ei- beitstechniken und die Gruppenreflexion.
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

1. Positive Interdependenz. Kooperative das Sich-Ausgenutzt-Fhlen der Willi-


Lernsituationen zeichnen sich durch ei- gen (»sucker effect«) vermieden wer-
ne besondere Form der positiven Ab- den. Das Problem einer unerkannt un-
hngigkeit der Lernenden untereinan- gleichen Arbeitsteilung bei der
der aus, das aber heißt: durch eine Gruppenarbeit fhrt aber nicht nur zu
wechselseitige Verantwortlichkeit fr Ungerechtigkeiten bei der Leistungs-
das Gelingen von Lernprozessen. Cha- bewertung durch Dritte. Gravierender
rakteristisch dafr ist, dass die Mitglie- ist, dass der Erwerb von Kenntnissen
der einer Lerngruppe ein angestrebtes und Fertigkeiten je nach aktiver Betei-
Ziel nur gemeinsam erreichen kçnnen ligung an der Gruppenarbeit in ganz
(»alle sitzen in einem Boot«). Vor allem ungleicher Weise gelingt und dass es
solche Aufgaben, die zur gemeinsamen deshalb zu einem kontinuierlich wach-
Zielerreichung eine koordinierte Zu- senden Schereneffekt zwischen den ak-
sammenarbeit zwischen den Lernen- tiv Lernenden und den passiven Mit-
den erforderlich machen, sind deshalb lufern einer Lerngruppe kommen
fr kooperative Lehrformen geeignet kann. Auf Slavin (1995) gehen Lç-
(Zielinterdependenz). Positive Interde- sungsvorschlge fr dieses Dilemma
pendenz lsst sich durch ganz unter- zurck, die im Wesentlichen auf der
schiedliche instruktionale Eingriffe her- Hervorhebung und Herausstellung der
stellen: durch die Zuweisung unter- individuellen Anteile am Gruppenpro-
schiedlicher und spezieller, aber in glei- dukt (task accountability) und/oder,
cher Weise fr das Lernprodukt damit zusammenhngend, auf der Ver-
wichtiger Rollen an die einzelnen Lern- knpfung von Gruppen- mit individu-
gruppenmitglieder (Rolleninterdepen- ellen Belohnungssystemen (reward ac-
denz), durch die Vergabe von Gruppen- countability) beruhen.
gratifikationen im Sinne von kollekti-
ven »Mannschaftswertungen« (Beloh- 3. Fçrderliche Interaktionen. Es ist wich-
nungsinterdependenz) sowie durch die tig, dass die Aufgabenspezialisierung
Fragmentierung und Zergliederung des nicht zur bloßen Aufgabenteilung oh-
Unterrichtsstoffes in sich ergnzende ne kooperative Zusammenarbeit fhrt.
Teilaufgaben bei gleichzeitiger Ver- Nur in der realen sozialen Interaktion
knappung der bereitgestellten Arbeits- kommen nmlich die Vorteile des
und Hilfsmaterialien (Aufgaben- und Gruppenlernens gegenber dem indivi-
Ressourceninterdependenz). dualisierten arbeitsteiligen Lernen zum
Tragen. Erst die sozialen Interaktionen
2. Individuelle Verantwortlichkeit. Damit ermçglichen und erfordern das wech-
kooperative Lernprozesse erfolgreich selseitige Erklren und Korrigieren,
verlaufen, muss der individuelle Bei- das Erproben, Verteidigen und Modi-
trag des Einzelnen am Zustandekom- fizieren von Standpunkten und das
men der kollektiven Gruppenleistung Erkennen und Akzeptieren unter-
– und damit dessen individuelle Ver- schiedlicher Perspektiven. Mithin ist es
antwortlichkeit fr diese Leistung – er- notwendig, dass sich die kooperativ
kennbar bleiben. Nur so kçnnen das Lernenden tatschlich face-to-face zu
vielfach als unerwnschte Nebenwir- Arbeitssitzungen zusammenfinden. In
kung nicht-kooperativer Gruppenar- solchen Arbeitssitzungen bernehmen
beit beschriebene Trittbrettfahren der die Mitlernenden wichtige motivieren-
Unwilligen (»free rider effect«) und de und verstrkende Funktionen im
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Teil II Lehren

Lernprozess, wie sie blicherweise die 5. Reflexive Prozesse. Nicht nur das ge-
Lehrenden in den Unterrichtsmodellen meinsame Arbeiten am Lerninhalt ist
Direkter Instruktion wahrnehmen. wichtig. Es ist auch notwendig, dass
sich die Lernenden ber hilfreiche oder
4. Kooperative Arbeitstechniken. Erfolg- den Lernerfolg beeintrchtigende
reiches kooperatives Lernen setzt vo- Gruppenprozesse untereinander aus-
raus, dass die Lernenden gewillt und in tauschen. Eine konstruktive Form der
der Lage sind, angemessen miteinander Gruppenreflexion kann die Effektivitt
zu kommunizieren, ein vertrauensvolles der gemeinsamen Arbeit voranbrin-
Gruppenklima aufzubauen, Fhrungs- gen. Die reflexiven Prozesse, d. h. das
aufgaben zu bernehmen und anzuer- Fokussieren und Kommentieren der ei-
kennen und Kontroversen konstruktiv genen Lernprozesse in der Gruppe, las-
zu bewltigen. Kommunikative Fertig- sen sich in Termini metakognitiver Ak-
keiten sind grundlegende Voraussetzun- tivitten beschreiben: regelmßiges
gen einer kooperativen Zusammen- berprfen, ob vereinbarte Verhaltens-
arbeit. Ideen, Entwrfe und persçnliche regeln eingehalten und gesetzte Ziele
Ansichten werden in der Gruppe dann erreicht werden, regulative Vernde-
leichter offenbart, wenn sich die Grup- rung von Strategien und Verhaltens-
penmitglieder gegenseitiger Unterstt- weisen, die sich als nicht zielfhrend
zung und uneingeschrnkter persçnli- erwiesen haben. Das zieladaptive
cher Wertschtzung und Akzeptanz si- Funktionieren einer Lerngruppe hngt
cher sein kçnnen. Die einzelnen Lernen- auch davon ab, ob stçrende und
den werden nmlich nur dann bereit leistungsbeeintrchtigende Aktivitten
sein, »ihre Kognitionen zu teilen«, und Verhaltensweisen erkannt, ange-
wenn sie nicht befrchten mssen, als sprochen und verndert werden.
Personen abgewertet oder um den Er-
trag ihrer Ideen gebracht zu werden. Das sind die Basismerkmale und Grund-
Zur Gruppenarbeit gehçrt notwendi- voraussetzungen kooperativen Lernens.
gerweise auch die Bewltigung sach- Vor ihrem Hintergrund lassen sich unter-
licher und persçnlicher Konflikte. Sach- richtspraktische Realisierungen koope-
liche Kontroversen sind bei der Grup- rativer Lehrmethoden nher betrachten.
penarbeit nicht nur unvermeidlich, sie Diese Methoden sind aus ganz unter-
treiben im Idealfall die Klrungen im schiedlichen theoretischen Traditionen
Lernprozess voran. Wichtig ist, dass in- heraus entwickelt worden. Um eine leich-
dividuelle Beitrge oder Meinungen tere Einordnung zu ermçglichen, werden
nicht vorschnell als richtig oder falsch, zunchst die vier wichtigsten theoreti-
sondern letztendlich als mehr oder we- schen Perspektiven aufgezeigt.
niger zielfhrend anerkannt werden.
Auch spter verworfene Beitrge und Theoretische Perspektiven
Ideen besitzen in ihrer prozesshaften Be-
der Kooperation
deutsamkeit eine wichtige Funktion.
Unterschiedliche Ideen und Ansichten Slavin (1995) hat eine motivationspsy-
sind in diesem Sinne stets notwendige chologische von zwei im engeren Sinne
Zwischenphasen auf dem Weg zur ab- kognitionspsychologischen Begrndungs-
schließenden Lçsung einer Lernaufgabe perspektiven unterschieden. Sptere Sys-
– sie drfen nicht vorschnell geglttet tematisierungen nehmen hufig eine Vier-
und integriert werden. teilung der Theoriefamilien vor: in eine
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

entwicklungspsychologische, eine elabo- Gleichgewichts beim Gegenber aus-


rativ-kognitionspsychologische, eine mo- zulçsen. Im individuellen Bestreben,
tivationale und eine sozial-kohsive. Die- ein kognitives Ungleichgewicht durch
se Sichtweise wird auch hier bevorzugt. das Lçsen des (internalen) kognitiven
Konflikts wieder zu beseitigen, liegt
1. Die Entwicklungsperspektive. Im Hin- fr Piaget der eigentliche Motor des
blick auf die Entwicklung kognitiver Wissensaufbaus.
Funktionen wird der Vorteil koope- Beim bergang vom Sozialen zum In-
rativer Lernarrangements im Wesent- dividuellen spielt Wygotskis Konzept
lichen darin gesehen, dass das der Zonen der nchsten Entwicklung
gemeinsame Lernen kognitive bzw. so- eine große Rolle: Der einzelne Lernen-
zio-kognitive Konflikte auslçst und zu- de kann nicht aus eigener Kraft, son-
gleich einer Lçsung nher bringt. In dern nur mit Hilfe und am Vorbild ei-
dieser allgemeinen Formulierung las- nes kompetenteren Lernpartners oder
sen sich so unterschiedliche theoreti- Tutors den jeweils nchsten notwendi-
sche Wurzeln, wie die auf Piaget und gen Entwicklungsschritt vollziehen. In
Wygotski zurckgehenden, vereinen. den heterogen zusammengesetzten
Bei nherer Betrachtung werden die Lerngruppen der kooperativen Arran-
unterschiedlichen Fokussierungen bei- gements reprsentieren die Leistungen
der Traditionen allerdings deutlich. der Strkeren zugleich das proximale
Whrend sich in Wygotskis sozio-kul- Entwicklungsziel fr die weniger Leis-
tureller Theorie der Einfluss der Kultur tungsfhigen. Es ist immer wieder be-
als treibender Kraft des Wissensauf- tont worden, dass das Konzept der Zo-
baus in der sozialen Interaktion mit nen der nchsten Entwicklung das ko-
dem Mitlernenden manifestiert, ist es operative Lehrmodell in besonderer
in Piagets strukturgenetischer Theorie Weise legitimiert (Brown & Palincsar,
eher das einzelne Individuum, welches 1989; Palincsar, 1998). Anders als bei
mit seiner Lernumgebung in konflikt- der traditionellen Lehrer-Schler-Inter-
trchtiger Weise interagiert, um sein aktion soll es nmlich bei der Schler-
Wissen zu reorganisieren. Schler-Interaktion aufgrund des ge-
Fr Wygotski ist die individuelle Di- ringeren Autoritts- und Wissensge-
mension dem sozialen Lernen nachge- flles mit grçßerer Wahrscheinlichkeit
ordnet – den spteren Internalisie- zu adaptiven Aktivitten und Hilfe-
rungsprozessen der Wissensaneignung stellungen in den jeweils nchsten
gehen stets die notwendigen (und fr Entwicklungszonen kommen. Den
Wygotski interessanteren) Prozesse des Gleichaltrigen wird es leichter fallen,
sozialen Ausgleichs und Aushandelns Hilfen zu geben, die sie kurz zuvor
voraus. Lernen kann deshalb ber- noch selbst bençtigt haben. Und den
haupt nur in sozialen Situationen statt- noch nicht so weit Fortgeschrittenen
finden. Ganz anders bei Piaget. Fr wird es leichter fallen, solche Hilfen
Piaget ist der kollaborative Sozialpart- anzunehmen. Ihnen wird zugleich das
ner zweitrangig – sein Hauptinteresse in Reichweite befindliche Ziel modell-
gilt der Natur der individuellen Kon- haft in seiner Erreichbarkeit durch
struktionsprozesse. Die wesentliche Gleichaltrige vor Augen gefhrt.
Funktion der Lernpartner besteht fr
Piaget darin, Stçrungen (Perturbatio- 2. Die Perspektive der kognitiven Ela-
nen) des individuellen kognitiven boration. hnlich wie die entwick-
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Teil II Lehren

lungstheoretische Perspektive beruht All dies geschieht aber durchaus nicht


die Elaborationsperspektive auf Vor- automatisch, indem Lerngruppen ein-
stellungen ber die Funktionsweise fach nur zusammengestellt und belie-
kognitiver Prozesse. Kognitionspsy- bige Lernaufgaben formuliert werden.
chologische Modelle der Informations- Vielmehr mssen geeignete Strukturie-
verarbeitung betrachten Lernen als rungen der kooperativen Situation
Vernderung von Wissensstrukturen vorgenommen werden, insbesondere
durch die fortlaufende Integration neu- durch die Vorgabe von Rollen- oder
er Informationen in bereits vorhande- Aufgabenverteilungen und durch die
ne Wissensbestnde. Diese Integration Bereitstellung notwendiger Ressour-
wird umso leichter gelingen, je reich- cen. Bekannte Realisierungen auf der
haltiger die Anknpfungspunkte zwi- Grundlage der kognitiven Elaborati-
schen den neuen Informationen und onsperspektive sind das so genannte
den bereits vorhandenen Wissensein- »Cooperative Scripting« zum Lernen
heiten sind. aus Texten mit verteilten Rollen
Als elaborativ bezeichnet man ein lern- (O’Donnell, 1996; O’Donnell & Dan-
strategisches Vorgehen, bei dem solche sereau, 1992), das sich vornehmlich
Anknpfungspunkte gezielt generiert fr Lernende auf Collegeniveau eignet
und expliziert werden, z. B. durch Er- oder das »CIRC-Programm« (Coope-
klrungen und durch das Fragenstellen rative Integrated Reading and Com-
oder durch das Suchen nach Beispielen position) zum Lesen und Schreiben im
und Gegenbeispielen. Es ist offensicht- fortgeschrittenen Grundschulalter (Ste-
lich, dass kooperative Lehrsituationen vens & Slavin, 1995). Die Perspektive
hierfr gut geeignet sind, denn der der kognitiven Elaboration spielt aber
sprachliche Diskurs ist das natrliche auch in vielen anderen tutoriellen und
Bindeglied zwischen dem Sozialen und kooperativen Arrangements, wie dem
dem Individuellen. Der Vorteil koope- reziproken Lehren (Palincsar &
rativer Situationen ist nahe liegend, Brown, 1984), eine wichtige Rolle
weil die soziale Situation elaborative (vgl. auch Kramarski & Mevarech,
Strategien der Wissenskonstruktion 2003; Webb & Farivar, 1994).
und damit eine »tiefere« Form der In-
formationsverarbeitung geradezu er- 3. Die motivationale Perspektive. In der
zwingt: Tradition behavioraler Lerntheorien ist
Lernumgebungen, die das Hinterfragen, die motivationale Perspektive des
Bewerten und Kritisieren befçrdern und die Gruppenlernens einzuordnen. Motiva-
ganz allgemein zum Anzweifeln von Wissen tion wird dabei vornehmlich als ex-
ermutigen … gelten als besonders frucht- trinsische, ber Zielstrukturen oder
barer Nhrboden fr die notwendige Bekrftigungen aufgebaute und auf-
Restrukturierung, d. h. den Neuaufbau rechterhaltene Verhaltenstendenz zur
von Wissen … zu Wissensvernderungen Zusammenarbeit verstanden. Wenn
kommt es mit hçherer Wahrscheinlichkeit, Belohnungs- und Zielstrukturen so ge-
wenn man etwas erklren, elaborieren oder
staltet werden, dass Zusammenarbeit
die eigene Position vor anderen oder vor
sich selbst verteidigen muss; denn erst das
zur Zielerreichung notwendig wird, ist
Bemhen um eine Erklrung zwingt den ein externer Anreiz zur Lernkooperati-
Lernenden hufig dazu, sein Wissen zu inte- on gegeben. Aus dieser Perspektive er-
grieren und in neuer Weise zu elaborieren. geben sich Anstze, Gruppenbeloh-
(Brown & Palincsar, 1989, S. 395) nungen in unterschiedlicher Weise mit
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

individuellen Anerkennungen fr spe- Teile eines Ganzen sind, so wie Teile ei-
zifische Anteile am Zustandekommen nes Puzzles zusammengehçren.
eines Gruppenprodukts zu kombinie- (…) Schler helfen einander beim Lernen,
ren. Die Verknpfung individueller mit weil ihnen etwas an der Gruppe und an ih-
kollektiven Gratifikationssystemen gilt ren Mitgliedern liegt und weil die Mitglied-
dabei als besonders erfolgversprechend schaft in der Gruppe fr ihre eigene Identi-
(vgl. Johnson & Johnson, 1994; Sla- tt wichtig ist. (Brown & Palincsar, 1989,
vin, 1983, 1995). S. 395)
Die von Slavin und Mitarbeitern ent- Die sozial-kohsive Perspektive ist so-
wickelten Methoden der Gruppenral- zusagen das intrinsisch motivierte Ge-
lye (STAD; Student Teams Achieve- genstck der zuvor dargestellten (ex-
ment Divisions), des Gruppenturniers trinsischorientierten) motivationstheo-
(TGT; Teams Games Tournaments) retischen Sichtweise. Daraus folgt eine
und des Gruppenwettbewerbs (TAI; strikte Ablehnung der Belohnungs-
Team Accelerated Instruction) sind Bei- interdependenz:
spiele fr die Realisierung interdepen- Wenn die Aufgabe herausfordernd und inte-
denter Belohnungssysteme. Bei der ressant ist und wenn die Schler ausrei-
STAD-Methode wird, hnlich wie bei chend ber kooperative Fertigkeiten ver-
TGT, durch das unterrichtliche Arran- fgen, werden sie den Prozess der
gement der Leistungswettbewerb zwi- Gruppenarbeit selbst als stark belohnend
schen den Lernteams forciert. Die Be- empfinden (…) Niemals aber sollte man die
lohnungen erfolgen in erster Linie Schler nach ihren individuellen Beitrgen
zum Gruppenprodukt benoten oder bewer-
teambezogen, allerdings wird dabei
ten. (Cohen, 1986, S. 69–70)
sichergestellt, dass jedes Gruppenmit-
glied zu gleichen Anteilen zur Gesamt- Unter der Perspektive der sozialen
bewertung einer Gruppe beitragen Kohsion wird die positive Interdepen-
kann und soll. Eine Aufgabenspeziali- denz deshalb ausschließlich ber
sierung innerhalb der Gruppe findet bei Aufgabenspezialisierungen und ber
den Wettbewerbsmethoden nicht statt. unterschiedliche Rollenzuweisungen
hergestellt. Zwei unterrichtliche Reali-
4. Die Perspektive der sozialen Kohsion. sierungen der sozial-kohsiven Per-
Neben der Ziel- und Belohnungsinter- spektive werden spter nher beschrie-
dependenz, die sich eher aus einer ben – das Gruppenpuzzle (Jigsaw I)
pragmatischen Sichtweise begrnden von Aronson und die Methode der
lassen, gilt die soziale Interdependenz Gruppenrecherche von Sharan und
als ein weiterer grundlegender Wirk- Sharan. Weiterentwicklungen und Mo-
mechanismus kooperativen Lernens. difikationen, wie Slavins Jigsaw II (Sla-
Im Unterschied zu den zuvor genann- vin, 1985) oder die so genannten »Le-
ten Perspektiven enthlt die Perspekti- arning Together«-Umgebungen von
ve der sozialen Kohsion jedoch eine Johnson und Johnson (1994), verbin-
idealistische Nuance. Kooperiert wird den in vielversprechender Weise die
nicht etwa, weil man etwas dafr be- sozial-kohsive Perspektive mit den Be-
kommt, sondern weil man sich zusam- lohnungs- und Verantwortlichkeits-
mengehçrig fhlt. Soziale Kohsion strukturen der motivationalen Theorie.
meint, dass die Mitglieder einer Lern-
gruppe aus eigenem Antrieb »zusam- Vorlufiges Fazit. Die vier Perspektiven
menhaften« und dass sie notwendige schließen sich nicht gegenseitig aus, son-
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Teil II Lehren

Methoden Gruppen- Skript- Gruppen- Gruppen- Reziprokes


recherche kooperation rallye puzzle Lehren
Theoretische
Perspektiven

Entwicklung

Kognitive
Elaboration
Motivation *
Soziale
Kohäsion

* nur JIGSAW II

Abb. 6.1: Kooperative Methoden

dern fokussieren einander sinnvoll ergn- von bis zu sechs Teilnehmern entwickelt.
zende Aspekte des Gruppenlernens. Hin- Sie lsst sich bereits in der Grundschule
zu kommt, dass die unterschiedlichen einsetzen und kommt in ihrer unterricht-
Realisierungen fr unterschiedliche Lern- lichen Realisierung dem nahe, was in der
inhalte und fr unterschiedliche Ziel- Allgemeinen Grundschuldidaktik in der
gruppen von Lernenden unterschiedlich Tradition Deweys als Projektarbeit oder
gut geeignet scheinen. Im Folgenden wer- als Projektmethode bezeichnet wird. Im
den vier kooperative Lernarrangements Unterschied zum Gruppenpuzzle und zur
ausfhrlicher vorgestellt: die Gruppenral- Skriptkooperation ist die Gruppenrecher-
lye als Prototyp der motivationstheoreti- che eine »offene«, wenig vorstrukturierte
schen Perspektive, das Gruppenpuzzle, Unterrichtsform.
welches sozial-kohsive mit motiva- Die Gruppenarbeit beginnt damit, dass
tionalen Traditionen verbindet, die Grup- die Lehrperson einer grçßeren Gruppe
penrecherche, die der sozial-kohsiven von Schlerinnen und Schlern (in der
Sichtweise verpflichtet ist, und die Skript- Regel der gesamten Schulklasse) Unter-
kooperation, die sich auf die Sichtweise themen innerhalb eines Rahmenthemas
der kognitiven Elaboration beruft. In den zur Auswahl anbietet. Teilgruppen der
Darstellungen werden die bereits auf- Lernenden sollen dann in Gruppenarbeit
gezeigten berschneidungen der Begrn- diese unterschiedlichen Unterthemen be-
dungszusammenhnge nochmals deutlich arbeiten. Die Mitglieder einer solchen
(Abb. 6.1). Teilgruppe einigen sich untereinander,
welchen Beitrag sie mit welchen Hilfsmit-
teln und in welcher Weise (wiederum ar-
Gruppenrecherche
beitsteilig) leisten wollen. Jedes Gruppen-
Die Methode der Gruppenrecherche mitglied arbeitet dann innerhalb eines
(Group Investigation) wurde von Shlomo Unterthemas weit gehend selbststndig
und Yael Sharan (1992) fr Kleingruppen an einem speziellen Teilaspekt eines Un-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

terthemas. Durch organisatorische Vor- auf der Grundlage der sozialen Kohsion
kehrungen wird gewhrleistet, dass die argumentieren. Die ursprngliche Form
Zugnglichkeit zu Lernmaterialien und des Gruppenpuzzles JIGSAW I (Aronson
Informationen und die Mçglichkeit zu et al., 1978) ist hier vor allem zu nennen.
Kommunikation und Informationsaus- Slavin und die Johnsons haben aber zu-
tausch stets gegeben sind. Die individuel- stzlich Gruppenanreize in die Investiga-
len Erarbeitungen werden spter in den tionsmethoden eingefgt. Slavins JIG-
einzelnen Teilgruppen wieder zusammen- SAW II (Slavin, 1985; Clarke, 1994) ist
getragen und prsentiert. Jede der Teil- hierfr ein gutes Beispiel.
gruppen bereitet abschließend eine Team-
prsentation in der Gesamtgruppe, der
Skriptkooperation
Schulklasse, vor. Die Bewertung der
Arbeitsleistung obliegt allein den Team- Dansereau und Kollegen haben fr ko-
mitgliedern selbst und der gesamten operative Dyaden Methoden entwickelt,
Schulklasse. Gruppenbelohnungen und die sich vor allem fr das Lernen aus
-bewertungen durch die Lehrpersonen Lehrbuchtexten eignen (O’Donnell,
sind nicht vorgesehen. 1996; O’Donnell & Dansereau, 1992).
Die positive Interdependenz wird bei der Die Partner eines Lerntandems lesen ei-
Gruppenrecherche durch Aufgabeninter- nen bestimmten Textabschnitt, der eine
dependenz, d. h. durch die individuellen muss den Inhalt in eigenen Worten zu-
Verantwortlichkeiten fr die Teilbeitrge, sammenfassen, also die Rolle des Lehrers
hergestellt. Allein die Prozesse der sozia- bernehmen, der andere hçrt zu, kor-
len Kohsion sichern die Wirksamkeit rigiert und ergnzt das Vorgetragene. Fr
der Methode. Die erfahrene Wertscht- den nchsten Textabschnitt werden die
zung durch die kollaborierenden Mitler- Rollen des Lehrers und des Zuhçrers ge-
nenden und der Stolz auf das gemeinsam tauscht. In einer Korrekturphase kommt
erstellte Produkt gelten als die entschei- es durch das partnerschaftliche Arbeiten
denden Wirkmechanismen. zu weiterfhrenden kognitiven Elabora-
Fr die Methode der Gruppenrecherche tionen – es entstehen so genannte »ko-
werden positive Effekte berichtet – wenn operative Skripts« des Gelesenen. Insbe-
die Projektarbeit durch die Lehrperson sondere wegen des evozierten Erklrens
sorgfltig vorbereitet war (Sharan & Sha- und Nachfragens wird aus kognitionspsy-
char, 1988). Allerdings ist zu bedenken, chologischer Perspektive ein Vorteil der
dass eine externe Bewertung des Gruppen- Skriptkooperation gegenber dem indivi-
produkts nicht ohne weiteres mçglich ist, duellen Textlernen gesehen. Strittig ist, ob
wenn man die Investigationsmethode sich dieser Vorteil textabschnittsbezogen
ernst nimmt. Unstrittig scheint, dass in nur zu Gunsten des jeweils erklrenden
»funktionierenden« Teilgruppen gute Partners auswirkt (Renkl, 1997).
Lernerfolge erzielt werden kçnnen. Strittig Im Brunerschen Sinne hat die Methode
ist, inwieweit diese Lernerfolge durch die wenig Entdeckenlassendes. Im Gegenteil:
abschließende Teamprsentation auch in Eine ausgeprgte Instruktionskomponen-
die Gesamtgruppe »transferiert« werden te strukturiert die Lehr-Lern-Situation
kçnnen. vor. Es werden detaillierte Anweisungen
Neben den Sharans haben auch Cohen gegeben, wer wann welche Rolle und
(1986), Aronson et al. (1978), Slavin welche Aufgaben bernehmen soll. Die
(1985) und Johnson und Johnson (1994) positive Interdependenz wird ber die
unterrichtliche Methoden vorgestellt, die Rollen- und Aufgabenteilung hergestellt,
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Teil II Lehren

die im Lernverlauf reziprok wechselt. Gruppenbelohnung, wenn sie dieses Ziel


Durch diesen Rollenwechsel wird sicher- erreichen. Zugleich sind sie fr ihre eige-
gestellt, dass beide Lernpartner mit glei- nen Beitrge zur Gruppenarbeit selbst
chen Rechten und Pflichten am gemein- verantwortlich. Da die Einzelbeitrge
samen Erfolg arbeiten. Die wechselseitige zum Gruppenprodukt am Ende auf-
Abhngigkeit der Lernenden untereinan- addiert werden, nutzt es ihnen aber we-
der und ein hohes Maß an Gleichheit nig, wenn sie allein ihr gestecktes Indivi-
und Gegenseitigkeit sind damit gegeben. dualziel erreichen, whrend die anderen
Die Wirksamkeit der Skriptkooperation Gruppenmitglieder zurckbleiben. Die
lsst sich hnlich dem reziproken Lehren positive Interdependenz wird demnach
(Brown & Palincsar, 1989; Palincsar & durch die Gruppenbelohnung und durch
Brown, 1984), dem reziproken Peer Tuto- das gemeinsame Ziel aufgebaut.
ring (Fantuzzo et al., 1989, 1995) und blicherweise besteht eine Lerngruppe aus
dem angeleiteten Fragen (King, 1991, vier bis fnf Mitgliedern. Fr den Schulun-
1992, 1994) vor allem auf Effekte der terricht gilt die Empfehlung, leistungshete-
kognitiven Elaboration zurckfhren. rogene, aber ber die Teams hinweg ver-
Whrend sich die Methode der Skript- gleichbar leistungsfhige Gruppen zusam-
kooperation vornehmlich fr jugendliche menzustellen. Auch nach Geschlecht und
und erwachsene Lernende als wirksam er- ethnischer Herkunft sollten die Gruppen
wiesen hat, sind fr das reziproke Lehren ausbalanciert sein. Die eigentliche Grup-
und fr das angeleitete Fragen auch posi- penarbeit wird zunchst durch individuel-
tive Erfahrungen aus dem Grundschul- les Bearbeiten von Arbeitsblttern erçff-
bereich berichtet worden (z. B. Hacker & net, die selbststndig gefundenen Antwor-
Tenent, 2002; Rosenshine, Meister & ten und Lçsungsvorschlge werden daran
Chapman, 1996). anschließend mit denen der anderen Grup-
penmitglieder verglichen und zur berein-
stimmung gebracht. Dies ist die im eigent-
Gruppenrallye
lichen Sinne kooperative Phase. Eine Auf-
Die Gruppenrallye (STAD) gilt, wie die gabenspezialisierung findet whrend des
verwandte Methode des Gruppenturniers Lernens nicht statt. Nach dem Ende der
(TGT), als Prototyp kooperativer Arran- Gruppenarbeit wird ein Test geschrieben,
gements auf der Grundlage der Theorie den die Gruppenmitglieder individuell,
motivationaler Anreize. Bezeichnungen d. h. ohne gegenseitige Hilfen, bearbeiten
wie Rallye oder Turnier weisen bereits auf mssen. Um den individuellen Lernfort-
den Wettbewerbscharakter hin: Es han- schritt festzustellen, werden die dabei er-
delt sich um Gruppenspiele, bei denen zielten Leistungswerte mit den individuel-
Lerngruppen »gegeneinander antreten«. len Basiswerten aus der Eingangsdiagnos-
Fr Wettbewerbsmethoden ist von vorn- tik verglichen. Eine Verbesserung der
herein eine vergleichsweise große Akzep- Basiswerte wird durch individuelle »Fort-
tanz bei Schulkindern gegeben: Meist rea- schrittspunkte« belohnt. Die Fortschritts-
gieren sie mit Freude und Begeisterung, punkte werden ber die Gruppenmitglie-
wenn ein spielerischer Wettbewerb oder der hinweg aufaddiert, um einen Gesamt-
wenn ein Quiz angekndigt wird. Die wert fr die Gruppe zu bestimmen. Durch
Frage ist, wie gut dabei gelernt wird. den Vergleich der Gesamtwerte lsst sich
Bei der Gruppenrallye haben die Mitglie- am Ende ermitteln, welche Lerngruppe
der einer Lerngruppe ein gemeinsames den Wettbewerb innerhalb einer Klasse ge-
Gruppenziel und sie bekommen eine wonnen hat.
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Die Individualtestung am Ende der ko- der kooperativen Phase auch tatschlich
operativen Lernphase und die Ermittlung zielbezogen kooperativ gelernt wird. Vor
eines Gruppengesamtwertes auf der allem Slavin weist auf die Unverzichtbar-
Grundlage der individuellen Lernfort- keit solcher Individualtestungen hin:
schrittswerte sollen gewhrleisten, dass in

A
Einführungsphase
B B
B
A Stammgruppenbildung B
A
A B

A D
D C C
C
D
C
D C
D

B B

A Thema 1 C Erarbeitungsphase Thema 4 C


A

D D

B A B
Erarbeitung der
Thema 3 C Teilthemen in Thema 2
A
Expertengruppen
D D
C

A B
2 2
B
1 Themen 3 B 1 Themen 3
A Vermittlungsphase
4 4
A
B

2 Vermittlung der C
D
1 Themen 3 Teilthemen in 2C
C
D D 4
D Stammgruppen 1 Themen 3
C
C 4
C

Phase der Evaluation und Integration

Abb. 6.2: Arbeitsphasen des Gruppenpuzzles (aus: Borsch, F. (2005). Der Einsatz des
Gruppenpuzzles in der Grundschule. Hamburg: Kovač. Abdruck mit freundlicher Ge-
nehmigung des Verlags Dr. Kovac̆)

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Teil II Lehren

Fr das Team gibt es nur einen einzigen Weg Lernen findet in der zweiten, der so ge-
zum Erfolg: Sicherzustellen, dass alle Mitglie- nannten Erarbeitungsphase statt. Dazu
der gelernt haben. Daher konzentrieren sich treffen sich die Lernenden aus den ver-
die Aktivitten der Gruppenmitglieder darauf,
schiedenen Stammgruppen, die dasselbe
sich gegenseitig die Konzepte zu erklren, sich
Teilgebiet gewhlt haben, in so genannten
beim ben zu helfen und zu Leistungen anzu-
spornen. Im Gegensatz dazu gibt es nur wenig Expertengruppen. In den Expertengrup-
Anreize zur Kooperation, wenn die Gruppen- pen wird der Lernstoff eines Teilgebiets
belohnungen auf der Basis eines Gesamt- selbststndig (aber gemeinsam) erarbeitet
produkts der Gruppe gegeben werden. Dann und fr die sptere Prsentation in den je-
kçnnen nmlich auch ein oder zwei Gruppen- weiligen Stammgruppen vorbereitet. In
mitglieder die gesamte Arbeit tun. (Slavin et al., dieser Arbeitsphase werden die Lernen-
2003, S. 180) den zu Experten in ihrem Teilgebiet. In
der dritten, der Vermittlungsphase mssen
sie ihr neu erworbenes Wissen an ihre
Gruppenpuzzle
(frhere) Stammgruppe weitergeben. Im
Das ursprngliche Gruppenpuzzle JIG- Austausch dafr erhalten sie jenes Wissen,
SAW I (Aronson et al., 1978; Aronson & das sich ihre jeweiligen Stammgruppen-
Patnoe, 1997) beruht, wie die Methoden kollegen in den anderen Expertengruppen
der Sharans, auf (eher idealistischen) sozi- angeeignet haben. Einem Puzzle gleich
al-kohsiven Vorstellungen. Die positive werden in dieser Vermittlungsphase die
Interdependenz soll durch spezifische Auf- einzelnen Wissensteile zu einem Ganzen
gabenstellungen, die sich wie Teile eines zusammengesetzt. In einer abschließen-
Puzzles zum Ganzen zusammenfgen, er- den Phase der Evaluation und Integration
zeugt werden. In Aronsons Konzeption ist bearbeiten die Lernenden individuell, in
die Methode explizit nicht-kompetitiv an- Kleingruppen oder der gesamten Klasse
gelegt. Diese als JIGSAW I bezeichnete Aufgaben, bei denen alle Wissensteile in-
Form des Gruppenpuzzles wird im Fol- tegriert werden mssen.
genden vorgestellt (Abb. 6.2). Slavin (1985) hat Aronsons Konzeption
Clarke (1994) beschreibt die vier Arbeits- jedoch weiterentwickelt und zustzlich
phasen beim Gruppenpuzzle folgender- zur Aufgabeninterdependenz eine Be-
maßen: Vorbereitend gliedern die Lehren- lohnungsinterdependenz ber Gruppen-
den den Lernstoff in Teilgebiete, fr die belohnungen fr die erfolgreichste Grup-
sie Lernmaterialien auswhlen. In der pe in der Phase der Integration eingefhrt.
ersten, der Einfhrungsphase gibt der Dadurch wird allerdings eine kompetitive
Lehrende fr die Gesamtgruppe einen Situation unter den Gruppen erzeugt und
berblick zur Gesamtthematik. Danach es besteht die Gefahr, dass sich die Mit-
werden die Lernenden in so genannte glieder der verschiedenen Stammgruppen
Stammgruppen zu vier bis sechs Lernen- nicht mehr wechselseitig untersttzen,
den eingeteilt. Diese Stammgruppen sol- um den Erfolg der eigenen Gruppe zu si-
len leistungsheterogen zusammengesetzt chern.
sein. Jede Stammgruppe hat den gesamten Beim Gruppenpuzzle fließen drei Er-
Lernstoff zu bearbeiten, allerdings nicht klrungsperspektiven kooperativer Lehr-
in gemeinsamer Gruppenarbeit, sondern Lern-Modelle zusammen und es sind
auf eine besondere Weise arbeitsteilig, in- alle fnf Basiselemente erfolgreicher Ko-
dem jedes Stammgruppenmitglied fr ei- operation nach Johnson und Johnson
nes der Teilgebiete Verantwortung ber- (1994) verwirklicht. Positive Interdepen-
nimmt. Das eigentliche arbeitsteilige denz wird ber das gemeinsame Lernziel,
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Analyse: Gruppenpuzzle in der Grundschule


Borsch et al. (2002) haben die Frage gestellt, ob das Gruppenpuzzle schon bei
Grundschulkindern mit Erfolg eingesetzt werden kann.
Methode:
An acht Schulen wurden in je einer dritten oder vierten Klasse zwei einwçchige
Unterrichtseinheiten nach der Gruppenpuzzlemethode durchgefhrt (Themenaus-
wahl: Ritter und Burgen, Wetter, Vulkane, Astronomie). Zum Vergleich wurden die-
selben Themen in einem herkçmmlichen Unterricht in je einer Parallelklasse durch-
genommen.
Ergebnisse:
Die Kinder in den Gruppenpuzzleklassen erzielten einen hçheren Wissenszuwachs
als die herkçmmlich unterrichteten Kinder. Dieser Vorsprung blieb auch vier Mona-
te nach Ende der Unterrichtseinheiten erhalten. Alle Kinder profitierten, unabhn-
gig von ihrem Vorwissen zu den Themen, von der kooperativen Unterrichtsform.
Die Kinder lernten am meisten in ihren eigenen Expertengebieten, es konnte aber
auch ein deutlicher Wissenszuwachs der Zuhçrer in den Stammgruppen erreicht
werden. Die kooperative Unterrichtsform war besonders erfolgreich in Schulen mit
flexiblen Organisationsformen und einer aufgeschlossenen Haltung gegenber dem
kooperativen Lernen sowie in Klassen mit einem positiven Klassenklima.

Analyse: Gruppenpuzzle im Studium


Jrgen-Lohmann et al. (2001) haben untersucht, ob Studierende mit der Methode
des Gruppenpuzzles grçßere Lernerfolge erzielen, als wenn sie herkçmmliche Refe-
rateseminare besuchen.
Methode:
Das Gruppenpuzzle wurde in zwei Seminaren der Pdagogischen Psychologie einge-
setzt und hinsichtlich seiner Wirksamkeit jeweils mit einem Referateseminar vergli-
chen.
Ergebnisse:
In Gruppenpuzzle- und in Referateseminaren wurde ein vergleichbarer Lernerfolg
(Abschlussklausur) erzielt. Die subjektive Seminarbewertung durch die Studieren-
den fiel jedoch in der kooperativen Seminarform deutlich positiver aus. Die Studie-
renden hielten die Gruppenpuzzleseminare fr effektiver, interessanter und kognitiv
anregender als die Referateseminare und sie schtzten ihre eigene Beteiligung und
ihren Fleiß hçher ein.

ber die Aufgabenspezialisierung und seren und schwcheren Lernern gleicher-


ber die Gruppenbewertung realisiert. maßen anwenden. Souvignier (1999) hat
Das Gruppenpuzzle hat seit vielen Jahren gezeigt, dass auch lernbehinderte Kinder
Eingang in die pdagogische Arbeit an davon profitieren kçnnen. In Abhngig-
Schulen und Hochschulen gefunden. Es keit von den verglichenen Referenz-
lsst sich bei jngeren und lteren, bes- methoden werden in der Regel mittlere
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Teil II Lehren

Effekte fr den Einsatz des Gruppenpuzz- gesamt zeigen die Analysen einen be-
les berichtet (Slavin, 1995). Dass es vor achtlichen Leistungsvorteil kooperativ
allem in der Vermittlungsphase zu Ver- lernender Schlerinnen und Schler ge-
stehensproblemen kommen kann, haben genber individualistisch oder kompeti-
die Untersuchungen von Borsch (2005) tiv strukturiertem Unterricht. Allerdings
und Kronenberger (2004) in der dritten sind die Effekte in den einzelnen Studien
Grundschulklasse gezeigt. sehr unterschiedlich, was auf den Ein-
fluss moderierender Bedingungen hin-
Wirksamkeit kooperativer weist.
Rohrbeck et al. (2003) haben eine Me-
Methoden
taanalyse zum »peer-assisted learning«
Einer von Antil, Jenkins, Wayne und Va- (PAL) im Grundschulalter vorgelegt. PAL
dasy (1998) durchgefhrten Befragung zu umfasst ein breites Spektrum koope-
Folge werden kooperative Lernformen rativer Lernformen und Tutorenmodelle,
nahezu flchendeckend in amerikani- sowohl fr das Lernen in Dyaden als
schen Grundschulen eingesetzt. Besser auch in Kleingruppen. Insofern ergnzt
sollte man hier aber von Formen der die Metaanalyse von Rohrbeck et al. die
»Gruppenarbeit« sprechen, denn keiner Befundlage vorangegangener Zusammen-
der von Antil et al. befragten Lehrer hat fassungen. Eine zustzliche Przisierung
sich explizit auf eines der oben beschrie- besteht darin, dass Teilkomponenten der
benen Modelle kooperativen Lehrens kooperativen Methode in ihrer Wirksam-
bezogen. Meist wird bei einer so verstan- keit vergleichend analysiert und differen-
denen Gruppenarbeit zwar ein Gruppen- zielle Effekte (Moderatoren) der Wirk-
produkt erwartet und es werden unter- samkeit thematisiert werden.
schiedliche Aufgaben an unterschiedliche In die Metaanalyse waren 90 Interventi-
Schler delegiert. Es fehlt aber in der Re- onsstudien einbezogen, die den Kriterien
gel an Maßnahmen, die die individuelle einer (quasi-)experimentellen Versuchs-
Verantwortlichkeit und damit die zentrale anordnung gengten. ber alle spezi-
Voraussetzung erfolgreicher Kooperation fischen Interventionsformen hinweg lsst
gewhrleisten kçnnten. sich fr die kooperativen/tutoriellen Ar-
In der Metaanalyse von Slavin (1995) rangements eine moderate berlegenheit
wird eine mittlere Effektstrke von 0.26 gegenber herkçmmlichen Lehrformen
zu Gunsten des kooperativen Lernens feststellen (gewichtete Effektstrke d =
berichtet (Gruppenrecherche: d = 0.06, 0.33). Grçßere Effekte lassen sich dann
Gruppenrallye: d = 0.32, Gruppenpuzzle: finden, wenn bestimmte Teilkomponen-
d = 0.12). Johnson (2003) ermittelt ber ten kooperativer Arrangements realisiert
754 Studien hinweg eine mittlere Effekt- sind. Auch gibt es fr Teilgruppen von
strke von 0.64. In einer differenzierte- Lernenden grçßere Effekte:
ren Aufstellung von Johnson, Johnson
und Stanne (2000) werden die Studien . Kooperative Lehrformen sind beson-
nach kompetitiven Kontrollbedingungen ders wirksam, wenn den Lernenden
(Gruppenrecherche: d = 0.37, Gruppen- ein hohes Maß an Autonomie bertra-
rallye: d = 0.51, Gruppenpuzzle: d = gen wird. Dies kann z. B. durch eine
0.29) und individualistischen Kontroll- hçhere Eigenverantwortlichkeit bei
bedingungen (Gruppenrecherche: d = der Festlegung von Lernzielen und bei
0.62, Gruppenrallye: d = 0.29, Gruppen- der Auswahl von Belohnungen gesche-
puzzle: d = 0.13) aufgeschlsselt. Ins- hen.
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

. Die Verwendung interdependenter Be- Umgebung aufwachsen, die am strksten ge-


lohnungssysteme ist leistungsfçrderlich. fhrdete Gruppe von Grundschlern in den
. Jngere, stdtische Kinder und solche Vereinigten Staaten sind. (Rohrbeck et al.,
mit Migrationshintergrund profitieren 2003, p. 250)
in hçherem Maße von den kooperati-
ven Lehrformen.
. In gleichgeschlechtlich zusammenge- 6.6 Selbstgesteuertes
setzten Dyaden ist eine gnstigere Leis- Lernen
tungsentwicklung zu beobachten als in
gemischten. Alle Lernprozesse weisen eine Steue-
rungskomponente auf – ist diese außer-
Vorsicht ist aufgrund der schmalen Da- halb des Lernenden lokalisiert, spricht
tenbasis bei der Interpretation des zu- man von fremdgesteuertem Lernen, liegt
letzt aufgefhrten Moderatoreffekts an- die Regulationsinstanz letztlich im Ler-
gebracht (vgl. dazu auch Kap. 8.3). nenden selbst, ist von selbstgesteuertem
Insgesamt spricht die Metaanalyse aber Lernen die Rede. Bei realen Lernprozes-
fr eine Wirksamkeit der kooperativen sen kommt es in der Regel zu Mischfor-
Methoden, und fr eine ausgleichende men der Selbst- und Fremdsteuerung. So
dazu: wird die Planung einer Lernhandlung
hufig aufgrund externer (fremdbe-
Die grçßten Effekte gibt es bei den schwchs- stimmter) Vorgaben in Gang gesetzt und
ten Schlern (…). Diese Befunde sind insge- auch die Bewertung eines abgeschlosse-
samt sehr ermutigend, da Schler aus eth- nen Lernprozesses wird hufig von
nischen Minderheiten, die in einer stdtischen außen – etwa durch eine Lehrperson –

Beispiel: Selbstgesteuertes Lernen


Der fnfzehnjhrige Franz bereitet sich auf eine Franzçsischarbeit vor. Es geht um
die Anwendung der Vergangenheitsformen. Aus Erfahrung weiß er, wie er dabei am
besten vorgeht. Erst stellt er sich vor, was genau gefragt sein kçnnte. Dann berlegt
er, auf welche Fragen er schon jetzt Antworten geben kann. Was er schon weiß,
berfliegt er noch einmal, zur Sicherheit. Nachdem er seine Kenntnislcken identifi-
ziert hat, geht er sie an – und dafr macht er sich einen Plan. Er nimmt sich vor, an
den nchsten drei Tagen jeweils zweimal eine Stunde zustzlich zu investieren, und
er motiviert sich selbst, indem er sich eine Belohnung nach getaner Arbeit ausdenkt.
Er weiß auch, dass er leicht abzulenken ist, deshalb macht er whrend des Lernens
die Zimmertr zu und schaltet sein Handy aus. Um neue Inhalte zu verstehen, akti-
viert er sein Vorwissen und versucht, Verknpfungen zwischen neuen und schon
vorhandenen Wissenselementen herzustellen. Zum Beispiel erinnert er sich an die
Zeitenfolge im Lateinunterricht. Wenn er nicht weiterkommt, fragt er seinen lteren
Bruder um Rat. Wenn er etwas verstanden hat, dann weiß er, dass es damit noch
nicht getan ist. Er muss das neue Wissen im Hinblick auf seinen Anwendungs- und
Geltungsbereich prfen. Um sicherzustellen, dass das Verstandene auch behalten
wird, festigt er das neu Gelernte durch gezieltes Wiederholen und ben. Abschlie-
ßend lsst er sich von seinem Bruder abfragen und er versucht, seiner Mutter zu er-
klren, was er gelernt hat.

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Teil II Lehren

vorgenommen. Auch gibt es sehr unter- Im Folgenden werden wichtige Kom-


schiedliche Lernsituationen, die durch ponenten und Merkmale des selbst-
die Art ihrer Ausgestaltung ein mehr gesteuerten Lernens dargestellt. Dabei
oder weniger an Selbst- und Fremdsteue- wird auch gefragt, ob es besonderer Kom-
rung einfordern und zulassen, wie das petenzen zur erfolgreichen Selbststeue-
individuelle Vorbereiten auf eine Prfung rung bedarf und wie sich selbstregulative
oder Klassenarbeit und das eigen- Fertigkeiten fçrdern und trainieren lassen.
stndige Bearbeiten einer Hausaufgabe Der Kernbereich der Selbststeuerung ist
auf der einen Seite oder das gemeinsame das strategische und das metastrategische
Lernen im Klassenunterricht auf der an- Lernverhalten (vgl. Kap. 2.3). Deshalb
deren. wird das Thema Lernstrategien und Ar-
Franz (aus dem Beispielkasten) lernt beitstechniken abschließend ausfhrlicher
selbstgesteuert – Anteile von Außensteue- behandelt.
rung sind nur mittelbar durch die ange-
kndigte Klassenarbeit gegeben. Diese
Lernsteuerung
Lernanforderung fhrt zu eigenverant-
wortlichen, strategischen Lernhandlun- Lernprozesse lassen sich beeinflussen. Als
gen, mit dem Ziel, Wissen zu erwerben. Steuerungs- oder Kontrollinstanzen des
Dabei werden die einzelnen Lernhand- Lernens kommen der Lernende selbst
lungen selbststndig geplant, durch- sowie die außerhalb seiner Person ge-
gefhrt und fortlaufend hinsichtlich ihrer gebenen oder arrangierten personalen
Effektivitt bewertet. Diese drei Phasen und materiellen Bedingungen der Lern-
einer Lernhandlung – Planung, Durch- umgebung in Betracht. Im einen Fall ge-
fhrung und Bewertung – sind fr alle staltet und verantwortet die lernende Per-
Lernprozesse konstitutiv, nicht nur fr son selbst in hohem Maße den eigenen
Formen des selbstgesteuerten Lernens. Lernprozess (Selbststeuerung), im ande-
Die grundlegende Unterscheidung zwi- ren Fall wird das Lernen quasi »von au-
schen Selbst- und Fremdsteuerungs- ßen« verwaltet (Fremdsteuerung). Das
mechanismen des Lernens ist in diesem Ausmaß, in welchem dem Lernenden
Buch schon hufiger angeklungen (etwa selbst die Verantwortung fr bzw. die
in den Kapiteln 2.3, 5.2 und 6.2). Am Kontrolle ber den individuellen Lern-
Beispiel der Lernzeitadaptation lsst sich prozess ermçglicht oder zugeschrieben
die Plausibilitt des Selbstregulations- wird, scheidet die verhaltensorientierten
ansatzes besonders augenfllig begrn- von den kognitivistischen und – innerhalb
den: Lernende, die mehr Zeit als andere des kognitivistischen Paradigmas ein wei-
zum Erreichen eines Lernziels bençtigen, teres Mal – die kognitiv-rationalistischen
brauchen natrlich nicht darauf zu war- von den kognitiv-konstruktivistisch ori-
ten, bis ihnen die erforderliche Lernzeit entierten Lehr-Lern-Theorien (vgl. Abb.
»von außen« verordnet oder zugestanden 5.1). Die Lehrmodelle der Direkten und
wird, sie sollten sich vielmehr selbst die der Adaptiven Instruktion, die Methode
Zeit zumessen, derer sie bedrfen. Selbst- des Direkten Erklrens und Ausubels
steuerung ist damit eine notwendige, Darstellendes Unterrichten sind Beispiele
sinnvolle und zielfhrende Form der indi- fr die außengesteuerten Anstze der ge-
viduellen Adaptation, die die Lernenden genstandsorientierten Lernumgebungen
selbst vornehmen kçnnen (und sollen). (vgl. Kap. 6.1 und 6.2). Bei Bruners ent-
Selbstgesteuert Lernende nehmen ihr Ler- deckenlassendem Lehren sowie in den si-
nen selbst in die Hand! tuierten und kooperativen Lehr-Lern-Ar-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

rangements wird hingegen die Betonung (frher Konstruktion) und Integration ver-
der internen Steuerungskomponente der dichtet (vgl. Abb. 5.3). Ganz gleich, ob
eher problemorientierten Lehr-Lern-Mo- man nun drei oder vier Phasen der Infor-
delle sichtbar (vgl. Kap. 6.3 bis 6.5). mationsverarbeitung annehmen mag:
Zwar hat die Selbststeuerung von Lern- Selbst initiierte, aktive und strategische
verhalten auch eine behavioristisch-ope- Steuerungsmaßnahmen ermçglichen, be-
rante Vorgeschichte, der eigentliche fçrdern und verbessern die Informations-
Durchbruch gelang aber erst mit dem Sie- verarbeitung in allen diesen Phasen.
geszug der kognitionspsychologischen Definitionen selbstgesteuerten (selbst-
Modelle (Schunk & Zimmerman, 2003). regulierten) Lernens stellen den strategi-
Erst im Paradigma der Informationsverar- schen und zieladaptiven Aspekt des Lern-
beitung waren Selbststeuerungsmaßnah- verhaltens heraus: die Auswahl, die
men kognitiver, metakognitiver und moti- Anwendung und die berwachung von
vationaler Art nicht nur mçglich, sondern Lernstrategien. Wird in diesem Sinne
fr das Gelingen von Lernprozessen strategisch und letztendlich erfolgreich
gleichsam konstitutiv. In einer fr die Ent- selbstgesteuert gelernt, so sind gnstige
wicklung des Selbststeuerungsansatzes Auswirkungen auf den Wissenserwerb
wegweisenden Arbeit haben Weinstein und fr die Entwicklung des Selbstkon-
und Mayer (1986) vier Phasen im Prozess zepts eigener Tchtigkeit zu erwarten.
der Informationsverarbeitung unterschie- Zugleich festigt das erfolgreiche selbst-
den, in denen die selbststeuernden Aktivi- gesteuerte Lernen die notwendigen Kom-
tten ansetzen kçnnen: bei der Selektion, petenzen der Selbststeuerung.
der Konstruktion, dem Erwerb bzw. der Zu Unrecht werden solche Kompetenzen
Speicherung und bei der Integration von brigens vielfach als »gegeben« voraus-
Informationen. Mayer (2003a) hat dies gesetzt – so insbesondere im sekundren
spter in seinem SOI-Modell auf die drei und tertiren Bildungsbereich. Kaum eine
Kernphasen der Selektion, Organisation Lehrerin erklrt ihren Schlern, wie sie

Definition: Selbstreguliertes Lernen


Selbstregulation (oder selbstreguliertes Lernen) ist Lernen, das aus den selbst gene-
rierten Gedanken der Lernenden resultiert und aus jenen Verhaltensweisen, die sys-
tematisch auf das Erreichen ihrer Lernziele ausgerichtet sind (Schunk & Zimmer-
man, 2003, S. 59).
Lernende, die ihr eigenes Lernen regulieren, sind in der Lage, sich selbststndig
Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien aus-
zuwhlen und sie auch einzusetzen. Ferner erhalten sie ihre Motivation aufrecht,
bewerten die Zielerreichung whrend und nach Abschluss des Lernprozesses und
korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie (Artelt, Demmrich & Baumert,
2001, S. 271).
Selbstreguliertes Lernen ist eine Form des Lernens, bei der die Person in Abhngig-
keit von der Art ihrer Lernmotivation selbstbestimmt eine oder mehrere Selbststeue-
rungsmaßnahmen (kognitiver, metakognitiver, volitionaler oder verhaltensmßiger
Art) ergreift und den Fortgang des Lernprozesses selbst berwacht (Schiefele & Pe-
krun, 1996, S. 258).

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Teil II Lehren

eine Hausaufgabe angehen oder ihren metakognitiven Prozesse an. Durch


huslichen Arbeitsplatz gestalten sollen. willentlich und bewusst eingesetzte stra-
Kaum ein Dozent vermittelt seinen Stu- tegische Aktivitten des Wiederholens,
dentinnen, welche Strategien des Textver- Elaborierens und Organisierens von In-
stehens einen Lehrbuchtext leichter er- formationen bzw. des Planens, ber-
schließbar machen. Lernprobleme sind wachens und Korrigierens dieser Ttig-
dann hufig die Folge. Oftmals wird keiten wird die Funktionsweise der
nmlich vergessen, dass das selbstge- kognitiven Prozesse in lernfçrderlicher
steuerte Lernen »jeweils seine eigene Weise beeinflusst. Die strategischen Akti-
Voraussetzung und zugleich seine lang- vitten sind aber in ihrer Wirkungsweise
fristige Zielperspektive« darstellt (Wei- nicht direkt beobachtbar, allenfalls kann
nert, 1996a, S. 5). Mit anderen Worten: aufgrund der sich einstellenden Lernerfol-
Auch das selbstgesteuerte Lernen muss ge auf ihre Wirksamkeit geschlossen wer-
erst gelernt werden! den. Im Grunde geht es beim strategi-
schen Lernen stets darum, durch den
Modelle selbstgesteuerten Einsatz von Lernstrategien Kontrolle ber
die (hypothetischen) Prozesse der Infor-
Lernens
mationsverarbeitung zu gewinnen.
Selbstgesteuertes ist selbststndiges ist Das Paradigma der Informationsverarbei-
selbstreguliertes Lernen. In der eng- tung ist die wichtigste, aber nicht die
lischsprachigen Forschungslandschaft ist einzige theoretische Wurzel der Selbst-
meist der Terminus »self-regulated lear- regulation. Auf die selbstbezogenen Re-
ning« (SRL) gebruchlich. Wichtig und gulationsmçglichkeiten der operanten
allen Konzeptionen gemeinsam ist: Der Lerntheorie wurde bereits hingewiesen.
oder die Lernende kann und muss sein Sie werden erfolgreich fr Maßnahmen
oder ihr Lernverhalten selbst beeinflussen und Programme der (vornehmlich kli-
und gestalten, um erfolgreich zu sein. nischen) Verhaltensmodifikation genutzt
Vielfltige Einflussmçglichkeiten sind zu- (vgl. dazu die grundlegenden theoreti-
nchst einmal auf der Verhaltensebene schen Arbeiten von Kanfer (1977) und
gegeben, z. B. durch eine ausreichende Meichenbaum (1977) und beispielhaft
und effektive Lernzeitplanung und -nut- die Interventionsprogramme zum Um-
zung, durch die vorausschauende Be- gang mit aufmerksamkeitsgestçrten Kin-
reitstellung von Hilfsmitteln vor dem Ler- dern, die von Dçpfner, Schrmann und
nen und durch das vorausschauende Frçlich (2002) sowie von Lauth und
Ausschalten potenzieller Ablenkungen. Schlottke (2002) entwickelt wurden).
Friedrich und Mandl (1997) bezeichnen Weitere Begrndungslinien und Vorlufer
solche lernfçrderlichen Aktivitten auf der selbstregulatorischen Anstze sind
der (sichtbaren) Verhaltensebene auch als Banduras sozial-kognitive Lerntheorie
»Ressourcenmanagement« oder in An- (1986) und das sozial-konstruktivistische
lehnung an Weinstein und Mayer (1986) Gedankengut Wygotskis (Schunk & Zim-
als Anwendung von Sttzstrategien. Hu- merman, 2003).
fig wird auch die Selbstregulation von Barry Zimmerman (1998; Schunk &
Lernmotivation und Emotion (vgl. Kap. Zimmerman, 2003) hat ein zyklisch-ite-
2.4 und 2.5) im Sinne solcher sttzenden ratives Modell der Selbstregulation vor-
Strategien interpretiert. Andere Einfluss- gestellt. Monique Boekaerts (1999) hat
mçglichkeiten setzen unmittelbar, d. h. aus ganz anderer Perspektive zur Syste-
direkt, auf der Ebene der kognitiven und matisierung der unterschiedlichen Theo-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

a)
Beobachtung
und Bewertung
eigenen Lern-
verhaltens

d) b)
Bewertung der Zielsetzung und
Effektivität des strategisches
Strategieeinsatzes Planen

c)
Strategieeinsatz
und Überwachung

Abb. 6.3: Zyklen der Selbstregulation (nach Zimmerman, 1998, S. 83)

rieanstze ein Schichtenmodell selbst gleichsam dispositional-habituellen Lern-


regulierten Lernens entwickelt. Beide verhaltens, im Sinne einer Bestandsauf-
Modelle werden im Folgenden beschrie- nahme der aktuellen Lernvoraussetzun-
ben, ebenso das Selbstregulationsmodell gen und der Lernvorgeschichte, und b) die
von Schiefele und Pekrun (1996). aus dieser Selbstdiagnose resultierende
Festlegung konkreter Lernziele, ein-
Regulationszyklen. Zimmerman versteht schließlich der Auswahl geeigneter und
die Selbstregulation des Lernens als zykli- verfgbarer Strategien zur Zielerreichung.
schen Prozess einer stndigen und kreis- In der zweiten, der eigentlichen Lernpha-
fçrmigen Aufeinanderfolge von Phasen se werden c) die zur Aufgabenbearbeitung
der Lernvorbereitung, der eigentlichen ausgewhlten Strategien eingesetzt und
Lernhandlung und der nachbereitenden der Strategieeinsatz wird fortwhrend
Analyse des Lernergebnisses (Abb. 6.3). berwacht. In der dritten, der nachberei-
In hnlicher Weise sprechen andere Auto- tenden Phase werden d) die Ergebnisse
ren von »praktionalen, aktionalen und des Strategieeinsatzes im Hinblick auf das
postaktionalen« Lernphasen (Schmitz, angestrebte Lernziel bewertet.
2001) oder von Phasen »vor dem Lernen, Die unter a)–d) beschriebenen Aktivitten
whrend des Lernens und nach dem Ler- dieses Lernzyklus bezeichnen die Prozess-
nen« (Hasselhorn & Kçrkel, 1983). komponenten selbstgesteuerten Lernens:
In der ersten, der Phase der Lernvorberei- die vorbereitende Selbstbeobachtung, die
tung spielen zwei aufeinander bezogene Zielsetzung und Strategieauswahl, den
Teilprozesse der Selbstregulation eine Einsatz und die berwachung der aus-
wichtige Rolle: a) die Selbstbeobachtung gewhlten Strategien und die Bewertung
und die Selbstbewertung des eigenen, des Strategieeinsatzes im Sinne einer
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Teil II Lehren

Beispiel: Selbstreguliertes Lernen


Katja (22) soll ein Lerntagebuch fhren. ber einen Zeitraum von zwei Wochen
trgt sie tglich ein, wie viel Zeit sie fr die Vorbereitung auf die Abschlussklausur
im Seminar »Gedchtnisentwicklung« aufwendet. Sie notiert auch, wo und mit
wem sie gelernt hat und ob es dabei Stçrungen oder Besonderheiten gab. Fr die be-
arbeiteten Texte gibt sie an, wie viele Seiten sie jeweils gelesen hat und welche stra-
tegischen Verhaltensweisen sie whrend des Lernens eingesetzt hat.
Selbstbeobachtung
Nach 14 Tagen stellt sie fest, dass sie zu ganz unterschiedlichen Tageszeiten und zu-
dem an sechs Tagen gar nicht, an drei Tagen jeweils eine Stunde, an zwei Tagen
zweieinhalb Stunden und an drei Tagen vier Stunden gelernt hat. Wenn sie spt
abends gelernt hat, ist sie mit dem Ertrag eher unzufrieden und whrend des Ler-
nens wird sie hufig durch Telefonanrufe abgelenkt. Um Textinhalte besser behalten
zu kçnnen, unterstreicht sie wichtige Stellen. Unbekannte Begriffe schlgt sie in ei-
nem Fachlexikon nach. Katja ist sich unsicher, wie viel sie behalten hat.
Zielsetzung und strategische Planung
Katja interessiert sich fr das Thema. Sie nimmt sich vor, in der Klausur mçglichst
gut abzuschneiden. Wenn sie sich gengend anstrengt, msste das auch gelingen.
Um zu regelmßigen Lernzeiten zu kommen, setzt sie Zeitvorgaben fest (eine Stun-
de am frhen Morgen und eine Stunde am spten Nachmittag). Whrend dieser
Zeiten sorgt sie fr eine stçrungsfreie Lernumgebung. Innerhalb der nchsten sie-
ben Tage will sie insgesamt 80 Seiten lesen. Wichtige Inhalte will sie unterstreichen
und in eigenen Worten zusammenfassen. Am Ende eines Tages will sie ihrem
Freund erklren, was sie gelernt hat.
Einsatz und berwachung von Lernstrategien
Das Zeitmanagement wird wie vorgesehen durchgefhrt. Das Unterstreichen und
das Zusammenfassen funktionieren so, wie sie es sich vorgestellt hat. Nur beim Er-
klren merkt sie manchmal, dass sie die Inhalte zwar behalten, aber offenbar nicht
ganz verstanden hat. Solche Textstellen muss sie am nchsten Tag noch einmal le-
sen. Wenn sie beim Lernen merkt, dass sie nicht ganz bei der Sache ist, liest sie den
Abschnitt noch einmal halblaut und macht danach eine kleine Pause.
Bewertung des Strategieeinsatzes
Mit dem Zeitmanagement ist Katja zufrieden. Sie merkt, dass das Festlegen von
Lernzeiten Freirume fr andere Aktivitten geschaffen hat. Vor allem hat sie in
den lernfreien Zeiten nicht lnger ein schlechtes Gewissen. Die Behaltensstrategien
des Unterstreichens und des Zusammenfassens haben sich als hilfreich erwiesen.
Auf Seiten der Verstehensstrategien gibt es aber noch Defizite. Katja muss vor dem
Einprgen sicherstellen, dass sie die Inhalte auch verstanden hat. Dazu kann sie sich
Fragen zum Text stellen, Anwendungsbeispiele ausdenken oder sie kann in ihrem
Vorwissen nach Analogien oder Widersprchen zum neu Gelesenen suchen.

Erfolgskontrolle. Ein solcher Steuerungs- laufen. Vorausgesetzt, die Lernenden


zyklus wird immer wieder neu durch- verfgen ber das notwendige selbst-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

instruktive Repertoire, sind damit die all- schen denen Lernende auswhlen kçn-
gemeinen Basiskomponenten einer In- nen. Boekaerts spricht auf dieser Modell-
struktionstheorie, wie sie Robert Glaser ebene von »Was-Fragen« des Lernens,
(1976; vgl. Kap. 5.2) formuliert hat, wie z. B.: »Was kann ich tun, um den In-
selbstregulativ reformuliert vorhanden: halt eines Textes zu behalten?«
Eingangsvoraussetzungen selbst diagnos- Die mittlere Ellipse des Modells adressiert
tizieren, Ziele selbst definieren, instruk- die nchst hçhere Regulationsebene – die
tionale Maßnahmen (d. h. geeignete Stra- des gesamten Lernprozesses. Damit legt
tegien) selbst spezifizieren, instruktionale sich die zweite Schicht ber die erste, so
Wirkungen selbst erfassen. wie sich die bergeordneten (metakogni-
Es ist offensichtlich, dass die metakogni- tiven) auf die untergeordneten (kogniti-
tiven Kompetenzen des Planens, ber- ven) Strategien der Informationsverarbei-
wachens, Bewertens und – wenn nçtig – tung beziehen. Es geht darum, den
Korrigierens den konzeptuellen Kern der Einsatz der kognitiven Primrstrategien
Selbstregulation ausmachen (Schmitz, zu kontrollieren und zu optimieren. Boe-
2003). kaerts spricht hier von »Wie-Fragen« des
Lernens, wie z. B.: »Wie kann ich kon-
Drei Schichten der Selbstregulation. Dass trollieren, ob ich die Hauptaussagen eines
sich die Selbststeuerung nicht nur auf die Textes wirklich behalten habe?« Regulati-
Regulation »kalter« kognitiver und meta- on auf dieser Ebene setzt metakognitives
kognitiver Prozesse beschrnken darf, hat Wissen voraus und darber hinaus die
vor allem Monique Boekaerts (1996, metakognitiven prozeduralen Fertigkei-
1997) betont. Insbesondere weist Boe- ten des Planens, berwachens und Kor-
kaerts auf den wichtigen Aspekt der mo- rigierens.
tivationalen Selbstregulation hin und auf Die ußere Ellipse des Modells symboli-
die wechselseitigen Verknpfungen und siert die Einbettung des gesamten Lern-
Bedingtheiten der motivationalen und prozesses (und der darin eingebetteten
der kognitiven Regulationsebenen. kognitiven Prozesse) in das kognitive und
Boekaerts (1999) hat ein Dreischichten- motivationale Selbstkonzept und in die
modell konzentrischer Ellipsen vorgelegt, selbstbezogenen berzeugungen einer
das unterschiedliche Traditionen selbst- Person. Hier sind »Warum-Fragen« der
gesteuerten Lernens bercksichtigt (Abb. motivationalen, emotionalen und volitio-
6.4). Die innere Ellipse von Boekaerts nalen Selbstkontrolle des Lernens ange-
Dreischichtenmodell thematisiert die sprochen, wie z. B.: »Warum soll ich die-
Ebene der kognitiven Prozesse und der sen Text berhaupt lesen?« Wer ber die
auf sie einwirkenden kognitiven Primr- Warum-Frage nachgedacht hat, wird
strategien der Informationsverarbeitung. mçglicherweise zu der Auffassung gelan-
Das sind die von Lernenden quasi habitu- gen, dass die Was- und die Wie-Fragen der
ell bevorzugten Herangehensweisen oder Lern- und Kontrolltechniken demgegen-
Lernstile, die gelegentlich als »Tiefen- ber nur von nachgeordneter Bedeutung
oder Oberflchenverarbeitung« oder als sind. Es ist aber notwendig, die operative
»Reproduktions-, Leistungs- oder Verste- Ebene des »Was« und des »Wie« der Lern-
hensorientierung« umschrieben werden regulation ebenso gut zu beherrschen,
(vgl. dazu Artelt, 2000; Wild, 2000). Re- denn eine positive Antwort auf die Wa-
gulation auf dieser Ebene setzt notwendi- rum-Frage stellt nur eine notwendige, kei-
gerweise voraus, dass unterschiedliche nesfalls aber hinreichende Bedingung er-
Primrstrategien verfgbar sind, zwi- folgreicher Lernsteuerung dar.
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Teil II Lehren

Regulation des Selbst

Regulation des Lernprozesses

Regulation der
Informationsverarbeitungsprozesse

Kognitive Strategien

Metakognitives Wissen und


metakognitive Strategien

Ziele und Ressourcen

Abb. 6.4: Drei Schichten der Selbstregulation (nach Boekaerts, 1999, S. 449)

Dreiphasiges Rahmenmodell. Auch in bereiche Motivation und Volition). Dazu


der Systematik von Schiefele und Pekrun gehçren auch das Aktualisieren und Be-
(1996) werden drei Lernphasen unter- wusstmachen der lerninhaltsbezogenen
schieden: die Phase der Lernplanung, Vorkenntnisse (Funktionsbereich Vorwis-
der Lerndurchfhrung und der Lern- sen), das vorsorgliche Bereitstellen benç-
bewertung (Abb. 6.5). Mçglichkeiten tigter Hilfsmittel des Lernens sowie das
der internen Selbststeuerung sind in allen Formulieren konkreter Lernziele, aber
drei Phasen gegeben (Mçglichkeiten der auch die Auswahl von Lernstrategien zur
Fremdsteuerung brigens auch; sie wer- Zielerreichung (Funktionsbereich Lern-
den im Folgenden aber nicht thema- strategien und deren metakognitive Regu-
tisiert). Die interne Lernsteuerung zielt in lation).
allen drei Lernphasen auf vier der grund- Steuerungsmaßnahmen whrend des Ler-
legenden Funktionsbereiche erfolgreichen nens dienen wiederum der Abschirmung,
Lernens, nmlich auf Vorwissen, auf vor allem aber der Aufrechterhaltung der
Lernstrategien und deren metakognitive gefassten Lernintention gegenber kon-
Regulation sowie auf Motivation und kurrierenden Handlungsabsichten und
Volition (das sind die wesentlichen Alternativen (z. B. »ins Schwimmbad ge-
Komponenten des INVO-Modells aus hen«). Von zentraler Bedeutung whrend
Kapitel 2). des Lernens ist jedoch der Einsatz kogni-
Steuerungsmaßnahmen vor dem Lernen tiver Strategien der Informationsverarbei-
sind planender, vorbereitender und wil- tung (im Wesentlichen sind das Strategien
lensbildender Natur. Dazu gehçren die des Wiederholens, des Organisierens und
Herausbildung einer Lernabsicht und die des Elaborierens) sowie metakognitiver
Abschirmung und Verteidigung dieser In- Strategien der berwachung und Regu-
tention gegenber Stçrreizen (Funktions- lation. Dazu gehçren auch das Aufrecht-
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Interne Lernsteuerung

Merkmale vor während nach


des Lernenden dem Lernen des Lernens dem Lernen
Metakognitives Planung Überwachung und Selbstbewertung
Wissen Zielsetzung Regulation erreichter
Aufgaben- Lernergebnisse,
analyse Vergleich mit
Standards

Fähigkeiten Vorbereitendes Kognitive Lernstrate-


Vorwissen Ressourcen- gien
management

Motivationale Absichts- und Ressourcen- Selbst-


Orientierungen bildung management verstärkung

Abschirmung Abschirmung und


Volitionale
und Aufrecht- Aufrechterhaltung
Merkmale
erhaltung der der Lernintention
Lernintention

Lernprodukte
Lernprozess: Planung Durchführung Bewertung
Merkmale des
erworbenen Wissens:
(z. B. Umfang,Tiefe,
z. B. Lehrerverhalten, Verstärkung, Unterrichtsmethoden,
Differenziertheit,
Lernumwelt, Prüfungen
Kohärenz)

Externe Lernsteuerung

Abb. 6.5: Drei-Phasen-Modell (nach Schiefele & Pekrun, 1996, S. 271)

erhalten und die Regulation der Auf- prgt die Ausgestaltung derjenigen Ler-
merksamkeit sowie das Erkennen von nermerkmale, die als personale Vorbe-
und das Umgehen mit Verstndnispro- dingungen einen jeden (weiteren) Lern-
blemen. Erst die metakognitive Kontrolle prozess habituell mitbestimmen: das
sichert eine zielfhrende Nutzung der inhaltliche Vorwissen, das strategische
kognitiven Strategien. und das metastrategische Wissen, die pro-
Steuerungsmaßnahmen nach dem Ler- zeduralen strategischen und metastrategi-
nen sind vornehmlich bewertender Na- schen Kompetenzen, die motivationalen
tur. Sie beinhalten Vergleichsprozesse in- Orientierungen und berzeugungen (Pe-
dividueller und sozialer Art. Sie geben krun, 1997).
Auskunft ber die Angemessenheit des Bernhard Schmitz’ (2001; Perels, Schmitz
zuvor gewhlten Strategieeinsatzes. Bei & Bruder, 2003) prozessuales Selbstregu-
einem positiven Lernausgang wird die lationsmodell ist in den Lernphasen hn-
Selbstbewertung zur Selbstverstrkung lich wie das Dreiphasenmodell von Schie-
fhren. fele und Pekrun konzipiert, betont aber
Jede Lernepisode wird so zum Teil der in- strker die Rckkoppelungsschleife, die
dividuellen Lerngeschichte einer Person. von der Phase nach dem Lernen, der post-
Die kumulative Lerngeschichte wiederum aktionalen, zur nachfolgenden lernvor-
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Teil II Lehren

bereitenden Phase, der praktionalen dem er sich nach getaner Arbeit mit einer
Lernphase eines neuen Lernzyklus, fhrt. angenehmen Ttigkeit belohnt. Weil er
Solche Rckkoppelungen spielen eine von vornherein mit lernintentionsbedroh-
wichtige Rolle bei der Entwicklung fhig- lichen Ablenkungen rechnet, macht er
keitsbezogener Selbstkonzepte und Selbst- whrend des Lernens die Zimmertr zu
wirksamkeitsberzeugungen. und schaltet sein Handy aus. Katja (22)
Jede Lernanforderung, mit der ein Ler- ist intrinsisch motiviert, weil sie sich fr
nender konfrontiert wird, lçst in der das Seminarthema besonders interessiert.
praktionalen Phase nicht nur (die bereits Beides sind gute Voraussetzungen fr den
geschilderten) Prozesse der Ziel- und Wil- Einsatz anspruchsvoller Verstehensstrate-
lensbildung aus, sondern auch eine Reihe gien. Franz setzt whrend des Lernens
emotionaler Zustnde unterschiedlicher elaborative Verstehensstrategien ein. Da-
Gestimmtheit – dies zustzlich zu den in zu aktiviert er sein inhaltsbezogenes Vor-
einer beliebigen Lernsituation ohnehin wissen und versucht, Verknpfungen zwi-
aktuell vorhandenen emotionalen Ge- schen neuen und schon vorhandenen
stimmtheiten. Lernbezogene Emotionen Wissenselementen herzustellen, so etwa,
sind nicht ohne Einfluss auf die Willens- wenn er fr die Zeitenfolge im Franzçsi-
bildung und auf die Auswahl von Lern- schen nach Analogien zur ihm bekannten
strategien in der praktionalen Phase, sie consecutio temporum im Lateinunter-
beeinflussen auch den Einsatz von Lern- richt sucht. Um sicherzustellen, dass er
strategien in der aktionalen Phase. Empi- das Verstandene auch behalten hat, wen-
rische Studien haben gezeigt, dass eine det er abschließend eine Wiederholungs-
ngstliche Gestimmtheit vor dem Lernen strategie an. Katja (22) setzt Organisati-
mit einer verminderten Lernmotivation onsstrategien zur Informationsreduktion
und einem wenig effektiven Lernverhal- ein, indem sie Zusammenfassungen an-
ten einhergeht (Pickl et al., 2001; Schmitz fertigt und wichtige Textstellen unter-
& Wiese, 1999). streicht. Fr das Verstehen des Gelesenen
wre es gut gewesen, wenn sie sich zu-
Fazit. Die vorgestellten Modelle eint ein stzlich Fragen zum Text berlegt und
definitorischer Kern: Selbstgesteuertes Anwendungsbeispiele ausgedacht htte.
Lernen beruht auf dem Vorhandensein Franz hat sich vor dem Lernen berlegt,
und Zusammenwirken spezifischer Struk- was genau gefragt sein kçnnte – entspre-
turen und Prozesse auf der kognitiven chend plant er sein Lernverhalten. Er
und auf der motivationalen Funktions- kennt den Unterschied zwischen Verste-
ebene: »SRL is the fusion of skill and hen und Behalten. Zur Lernkontrolle ließ
will« (Paris & Paris, 2001, S. 98). Es sind er sich von seinem Bruder abfragen und
sehr unterschiedliche Klassifikationssyste- er versuchte, seiner Mutter zu erklren,
me denkbar, um zu einer genaueren Syste- was er gelernt hat. Katja hat erst beim
matisierung dieses SRL-Kerns zu gelan- Lernen gemerkt, dass man Dinge auch
gen. Wir haben im zweiten Kapitel dieses behalten kann, ohne sie verstanden zu ha-
Buches mit dem INVO-Modell eine sol- ben. Deshalb korrigiert sie spter ihr
che Systematisierung vorgeschlagen. Lernverhalten. Schwierige Textstellen
liest sie nun ein zweites Mal.
Erfolgreiche Selbstregulation Den aufmerksamen Leser(inne)n wird
nicht entgangen sein, dass die Modelle
Franz (15) aus dem Eingangsbeispiel die- und Verhaltensweisen selbstgesteuerten
ses Abschnitts motiviert sich selbst, in- Lernens nur dann gelingen kçnnen, wenn
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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

Fokus: Selbstregulation und Arbeitsdisziplin


Eine augenfllige und leicht beobachtbare Gemeinsamkeit erfolgreicher Schriftstel-
ler, Musiker und Sportler zeigt sich brigens in der disziplinierten Selbstregulation
der Arbeits- oder bungszeiten. Die Einhaltung tglicher, regelmßiger bungs-
stunden ist fr Sportler und Musiker von großer Wichtigkeit. Selbst fr die Produk-
tivitt von Schriftstellern ist eine Regelhaftigkeit der Schreibphasen vorteilhaft. Von
Thomas Mann ist beispielsweise ein besonders striktes Zeitmanagement berliefert:
Am frhen Vormittag schloss er sich regelmßig in seinem Arbeitszimmer ein – Stç-
rungen waren danach nicht mehr erlaubt. Selbst die im November des Jahres 1929
im Hause Mann zur Unzeit eingetroffene Mitteilung, das Stockholmer Komitee ha-
be ihm den Nobelpreis fr Literatur zuerkannt, durfte dem Dichter erst berbracht
werden, als er sein Tageswerk beendet hatte.

die in Kapitel 2 aufgefhrten individuel- sein. Zimmerman (1998) zu Folge ver-


len Voraussetzungen erfolgreichen Ler- fgen herausragende Schriftsteller, Musi-
nens gegeben sind: wenn Lernstrategien ker oder Sportler – also Personen, die ihre
genutzt und metakognitiv reguliert wer- besondere Expertise selbststndig in ei-
den (vgl. Kap. 2.3), wenn die motivatio- nem außerschulischen, nichtinstitutio-
nalen Voraussetzungen – zu denen auch nellen Lernumfeld erworben haben – in
die entsprechend positiven Fhigkeits- besonderer Weise ber Selbststeuerungs-
selbstkonzepte zhlen – vorhanden sind kompetenzen. Anhand von Fallbeispielen
(vgl. Kap. 2.4) und wenn die volitionale hat er besondere Lernprinzipien solcher
Kontrolle des eigenen Lernverhaltens »Lernexperten« beschrieben, um genera-
gewhrleistet ist (vgl. Kap. 2.5). lisierbare Merkmale erfolgreicher Selbst-
Selbstgesteuertes Lernen scheint auch ein steuerung zu charakterisieren.
»kritisches Merkmal« bei der Heraus- Erfolgreich Lernende setzen sich an-
bildung (außerschulischer) Exzellenz zu spruchsvolle und konkrete Ziele (»Wie

Fokus: Frhfçrderung im Nachwuchsleistungssport


Erfolg im Spitzensport beruht auf der Kombination von Begabung und Anstren-
gung. Viele Leistungssportler haben von klein auf ein intensives und aufwndiges
Trainingspensum auf sich genommen, um Exzellenz zu erreichen. Der Erwerb und
die Nutzung leistungsfçrderlicher Techniken der Selbstmotivierung sind hierfr eine
ganz wesentliche Voraussetzung.
Dass sich eine allzu frhe Festlegung auf eine spezifische Sportart im Nachhinein je-
doch als eher suboptimal erweist, ist einer Verlaufsstudie von Emrich und Gllich
(2005) zu entnehmen. Sie belegt, dass herausragende sportliche Leistungen im Er-
wachsenenalter eher dann zu erwarten sind, wenn es im Kindesalter nicht allzu frh
eine Festlegung auf eine einzige Sportart gegeben hat. Die erfolgreicheren Karrieren
gehen oft mit einer die Sportartgrenzen berschreitenden Variabilitt im Kindesalter
einher, hufig verbunden mit einer verzçgerten Entwicklung in der spteren Haupt-
sportart. Von Ausnahmen abgesehen, scheint sich demnach eine besonders frhe Se-
lektion und Fçrderung nicht auszuzahlen.

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Teil II Lehren

viele Seiten will ich heute schreiben? Wie (fr eine bersicht vgl. Wild, 2000). Die
viele Bahnen will ich heute schwimmen? Skalen »Memorieren« und »Elaborieren«
In welcher Zeit?«) und sie sind berzeugt zielen auf die beiden von Weinstein und
davon, diese Ziele durch eigene Anstren- Mayer (1986) so bezeichneten kognitiven
gung auch erreichen zu kçnnen. Erfolg- Primrstrategien, die Skalen »Veran-
reich Lernende verfgen ber ein reich- schaulichen« und »Transformieren« auf
haltiges Repertoire bereichsbezogener das Organisieren von Lernmaterial. Die
Lernstrategien, sie kennen den Nutzen beiden anderen Skalen zielen auf die Re-
und die Anwendungsbedingungen dieser gulation von Anstrengung und Zeitma-
Strategien und sie sind in der Lage, ihr nagement – also auf so genannte Sttz-
strategisches Lernverhalten durch Metho- strategien.
den der motivationalen und volitionalen Die ber Fragebogen diagnostizierten
Kontrolle abzuschirmen. Sie wenden da- Lerngewohnheiten haben allerdings in der
zu Techniken der Selbstinstruktion und Regel nur wenig mit dem ber Klausur-
der Selbstverstrkung an. Erfolgreich Ler- leistungen erfassten Lernerfolg von Stu-
nende beobachten sorgfltig ihre Lern- dierenden zu tun. In einer Studie mit fast
fortschritte und sie kontrollieren fortlau- 400 Studierenden zeigten sich nur nied-
fend, ob und was sie gelernt haben. Sie rige korrelative Zusammenhnge; am
bewerten ihren Lernfortschritt selbst und ehesten fhrt noch die Anstrengungsregu-
ziehen daraus Konsequenzen. lation zu besseren Lernleistungen (Gold,
2005). Es zeigt sich aber, dass die Zusam-
menhnge zwischen Lernstrategien und
Diagnostik der Selbstregulation
Lernerfolg hçher ausfallen, wenn das
Selbstregulative Fertigkeiten lassen sich Lernerfolgskriterium anspruchsvoller de-
durch geeignete Maßnahmen unterstt- finiert wird. Treten Aufstze oder Referate
zen und fçrdern. Eine solche Fçrderung als Leistungsanforderung an die Stelle der
setzt aber eine zuverlssige Zustandsdiag- Mehrfachwahlaufgaben einer Klausur,
nostik voraus. Dass dies nicht einfach dann gehen mit gut bewerteten Leistun-
sein wird, liegt auf der Hand: Wissen gen zugleich hçhere Ausprgungen auf
ber und situationsgerechte Anwendung der Skala »Elaborieren« und auf den
von selbstregulativen Strategien sind beiden Skalen zur Erfassung organisieren-
durchaus nicht deckungsgleich. Deshalb der Strategien (»Veranschaulichen« und
reichen Selbstausknfte ber dispositio- »Transformieren«) einher (Gold, 2005;
nal-habituelle Aspekte der Selbstregulati- Souvignier & Gold, 2004). Mit anderen
on beim Lernen allein nicht aus (Artelt, Worten: Wenn in Leistungssituationen re-
2000; Jamieson-Noel & Winne, 2003). flexives und anspruchsvolles anstelle von
Zur lernstrategischen Schnelldiagnostik reproduktivem Wissen eingefordert wird,
eignet sich der Fragebogen WLS »Wie ler- dann erweist sich offenbar strategisches
nen Sie?« (Gold, 2005; Souvignier & Verhalten als ntzlich.
Gold, 2004). Der Fragebogen ist in einer
fr Oberstufenschler konzipierten Form Fçrderung selbstgesteuerten Lernens im
auf der folgenden Seite, zusammen mit Unterricht. Das selbstgesteuerte Lernen
der notwendigen Auswertungsanwei- lsst sich fçrdern, indem (schulische)
sung, abgedruckt (Abb. 6.6). Die 35 Lernumgebungen so gestaltet werden,
Items der WLS-Skalen sind auf der Basis dass Selbststeuerung nicht nur mçglich,
bereits vorhandener Instrumente aus- sondern nahe gelegt und eingefordert
gewhlt, modifiziert und ergnzt worden wird. Damit sind vor allem die in den Ab-
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Teil II Lehren

Literaturhinweise
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Handbook of research on teaching (pp. 376–391). New York: MacMillan.
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ley.
Schunk, D. H. & Zimmerman, B. J. (2003). Self-regulation and learning. In W. M.
Reynolds & G. E. Miller (Eds.), Handbook of Psychology, Vol. 7, Educational Psy-
chology (pp. 59–77). Hoboken: Wiley.

Zusammenfassung
Es gibt unterschiedliche, aber nicht beliebige Vorgehensweisen erfolgreichen Leh-
rens. Auf verhaltens- und kognitionspsychologischen Anstzen fußen die Methoden
der Direkten und der Adaptiven Instruktion. Fr beide Methoden gilt, dass die Leh-
renden den Unterricht rational planen, vorbereiten, steuern und berwachen. Sie
fungieren als »didactic leader«. Das entdeckenlassende und das situierte Lehren sind
dagegen lehr-lern-theoretischen Anstzen verpflichtet, die vornehmlich die Selbst-
ttigkeit und die Eigenverantwortlichkeit des Lernenden betonen. Anstze dieser
Art setzen auf die Selbststeuerung des Lernens, bei dem die Regulation des Zielset-
zungs- und Bewertungsverhaltens durch kognitive, metakognitive und motivationa-
le Prozesse geleistet wird. Auch das kooperative Lernen beruht auf einer Lehrmetho-
de mit hohen Selbststeuerungsanteilen.
Die Hauptmerkmale der lehrerzentrierten Direkten Instruktion (Eingangsprfung,
darstellende Stoffvermittlung, angeleitetes und selbststndiges ben, regelmßige
berprfung des Lernerfolgs) haben sich als effektiv erwiesen. Adaptive Maßnah-
men sind darber hinaus notwendig und geeignet, um Anpassungen an unterschied-
liche Lernvoraussetzungen sicherzustellen. Blooms zielerreichendes Lernen ist ein
Beispiel fr eine lernzeitadaptive Maßnahme. Den Methoden des entdeckenlassen-
den und problemorientierten Lehrens liegt die Annahme zugrunde, dass das Selbst-
entdeckte von einer anderen Verstehens- und Behaltensqualitt sei als das durch eine
Erklrung Vermittelte. Die in den 1960er-Jahren zwischen Bruner und Ausubel ge-
fhrte Kontroverse ber das Entdeckungslernen ist gut geeignet, um die gegenstzli-
chen Positionen zu illustrieren.
Die Vertreter der situierten Kognition berufen sich auf kulturanthropologische Studi-
en und auf die frhen Arbeiten von Wygotski. Mit der kognitiven Meisterlehre, dem
reziproken Lehren und der Methode der Verstehensanker liegen drei bewhrte un-
terrichtspraktische Umsetzungen der situiert-konstruktivistischen Lernprinzipien
vor.
Beim kooperativen Lernen arbeiten die Lernenden zusammen, um Wissen zu erwer-
ben. Methoden des kooperativen Lernens sind effektiv, wenn bestimmte Vorausset-
zungen, die Aufgabenstellung, die individuellen Verantwortlichkeiten und die Kom-

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6 Erfolgreiches Lehren als Aufbau von Wissen und Kçnnen

munikationsstrukturen in den Lerngruppen beachtet werden. Bekannte kooperative


Methoden sind die Gruppenrecherche, die Gruppenrallye und das Gruppenpuzzle.

Modelle selbstgesteuerten Lernens gehen davon aus, dass die Lernenden selbst ihr
Lernverhalten initiieren, gestalten und kontrollieren mssen, um erfolgreich zu sein.
Die Verfgbarkeit strategischer, metakognitiver, motivationaler und volitionaler
Kompetenzen macht den Kern der Selbstregulation aus. Erfolgreich Lernende sind
diesbezglich Experten.

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Die im sechsten Kapitel beschriebenen eine lange Tradition, die sich aus den
Methoden des Lehrens beeinflussen das klassischen Modellen schulischen Ler-
Lernen und den Aufbau von Wissen und nens und aus der empirischen Forschung
Kçnnen bei den Adressaten der instruk- zur Wirksamkeit von Lehrmethoden und
tionalen Maßnahmen. Sie sind aber nicht Schulsystemen, zur Leistungsentwicklung
die einzigen Einflussgrçßen. Ihre Wirk- von Schulen und Schulklassen speist. Die
samkeit bemisst sich aus dem Vorhanden- aufzhlende Betrachtung der Bedingungs-
sein und Zusammenspiel wichtiger Rah- faktoren – innerhalb und außerhalb von
menbedingungen des Lehrens. In Kapitel Schule und Unterricht sowie innerhalb
7 werden wichtige Rahmenbedingungen und außerhalb des Lernenden selbst –
erfolgreichen Lehrens behandelt und es schließt die Behandlung grundstzlicher
wird das Zusammenwirken der unter- Fragen mit ein. Dazu gehçren z. B. die
schiedlichen Aspekte und Bedingungen Problematik der multiplen Zielkriterien
von Unterricht nher beschrieben. von Unterricht und Schule sowie das Pro-
Merkmale der Qualitt und Quantitt blem der Vereinbarung disparater Unter-
von Unterricht, die individuelle Lernpro- richtsziele, die multiple Determiniertheit
zesse auslçsen und begnstigen, werden von Schulerfolg sowie die Frage der Kop-
im Folgenden in einen grçßeren Zusam- pelung oder Kompensation von Bedin-
menhang gestellt. Was sind die Ziele von gungsfaktoren.
Unterricht und Schule insgesamt? Welche Pdagogische Fertigkeiten der Klassen-
notwendigen Voraussetzungen mssen fhrung und des Managements von Un-
gegeben sein, um durch unterrichtliches terrichtsablufen und -problemen sind
Handeln diese Ziele erreichen zu kçnnen? notwendige Bestandteile aller erfolgrei-
Welche pdagogischen Fertigkeiten der chen Lehrmethoden. Als leicht beobacht-
Klassenfhrung und des -managements, bare Prozessvariablen des unterrichtlichen
welche diagnostischen Fertigkeiten des Lehrverhaltens gehçren sie zugleich zum
Beurteilens und Bewertens muss eine inhaltlichen Kern der Forschungstradition
Lehrerin besitzen? Wovon hngt die Ef- des Prozess-Produkt-Paradigmas schu-
fektivitt von Unterricht, ja von Schule lischen Lernens. Ihre besondere Attrakti-
insgesamt, ab? Wie wirken unterricht- vitt verdanken sie auch einer vergleichs-
liche Bedingungen, Kontextbedingungen weise geringen Modifikationsresistenz.
schulischen Lernens und die individuellen Mit anderen Worten: Solche Fertigkeiten
Lernvoraussetzungen der Schlerinnen kann man erlernen. Vor allem in den
und Schler zusammen? amerikanischen Lehrbchern nehmen die
Am Anfang steht der Entwurf einer Syste- Prinzipien effizienter Klassenfhrung
matik der Bedingungsfaktoren schu- breiten Raum ein (Good & Brophy, 1997;
lischen Lernens (Kapitel 7.1). Die syste- Slavin, 2006). In Kapitel 7.2 werden sol-
matisch-ordnende Betrachtungsweise hat che Prinzipien dargestellt.
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Leistungen oder Zielerreichungen der tung schulischer Leistungen auseinan-


Lernenden mssen gemessen und bewer- der.
tet werden, vor allem auch, weil die Lehrende setzen unterrichtliche Medien
Wirksamkeit pdagogischer Maßnah- ein, um Lehrziele zu erreichen. Das Leh-
men einer kontinuierlichen berprfung ren mit Medien findet lernerseitig seine
bedarf. Wer Bildungs-, Lern- oder Un- Entsprechung im informationsverarbei-
terrichtsziele setzt oder vereinbart, muss tenden Umgang mit den medial prsen-
sich auf Kriterien und Verfahren der tierten Stoffinhalten. Eine pdagogische
Zielerreichungsmessung verstndigen. Psychologie der Instruktionsmedien muss
Die Beurteilung und das Bewerten schu- beides bercksichtigen: die Angebotssei-
lischer Leistungen kann sich auf Indivi- te, d. h. die Realisierungen und Mçglich-
dual-, Schulklassen-, Schul- oder Schul- keiten multimedialer Informationsdarbie-
systemebene vollziehen und es kçnnen tung, und die Nutzerseite, d. h. die kogni-
unterschiedliche Vergleichsmaßstbe da- tiven Prozesse der Informationsverarbei-
bei zum Tragen kommen. Werden Lern- tung beim Text- und Bildverstehen. In
leistungen einzelner Schlerinnen und Kapitel 7.4 wird zu zeigen sein, dass un-
Schler im Unterricht beurteilt und be- terschiedliche Medien und Medienattri-
wertet, so ist in erster Linie die diag- bute fr unterschiedliche Lernziele und
nostische Kompetenz der Lehrerinnen fr Lernende mit unterschiedlichen Lern-
und Lehrer gefragt. Eine wertvolle Hilfe voraussetzungen unterschiedlich gut ge-
als diagnostisches Werkzeug stellen hier eignet sind. Dabei wird auch auf die
auch standardisierte Schulleistungstests Frage der berlastung des Informations-
dar. Kapitel 7.3 setzt sich mit den verarbeitungssystems bei multimedialen
Grundlagen der Beurteilung und Bewer- Lernangeboten eingegangen.

Orientierungsfragen
. Wozu ist Schule gut?
. Lsst sich Schulerfolg vorhersagen? Welches sind die wichtigsten Prdiktoren fr
schulische Leistungen?
. Wodurch ist qualitativ guter Unterricht charakterisiert?
. Kann man in kleinen Klassen besser lernen als in großen?
. Was sind Merkmale effizienter Klassenfhrung?
. Wie lassen sich schulische Leistungen angemessen beurteilen?
. Kann man mit Bildern oder Texten besser lernen? Oder mit dem Computer?

7.1 Determinanten Lernerfolgskriteriums: die lernende Per-


schulischer Leistungen son selbst bzw. die relevanten Person-
merkmale des Lernenden und die Institu-
»Schulleistungen sind stets Leistungen tion Schule bzw. die Quantitt und die
der Schule und der Schler!« So beant- Qualitt des unterrichtlichen Angebots.
wortet Weinert (2001b, S. 73) die zuvor Hinzu kommt als dritte maßgebliche De-
selbst gestellte rhetorische Frage. Und be- terminante der Einfluss schulexterner und
nennt damit zwei der drei Hauptdetermi- -interner Kontextbedingungen familirer,
nanten des auf den Lernenden bezogenen sozialer und organisatorischer Art. Es
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Teil II Lehren

geht im folgenden Abschnitt primr um und verweist auf die Unterschiedlichkeit


die individuellen schulischen Leistungen der gestellten Fragen (Weinert, 2001b) –
von Schlerinnen und Schlern und um der nach der Rolle von Schule fr den
die anteilige Verantwortlichkeit von Lehr- Kompetenzerwerb und der nach der Rolle
anstalt und Lernendem am Zustande- von Schule fr den Ausgleich von
kommen dieser Leistungen. Eine ganz an- Kompetenzunterschieden: Schulen sind
dere Frage ist die der Leistungsfhigkeit wirksam, indem sie Wissen, Kçnnen und
von Schulen, Schulformen und Schulsys- Bildung vermitteln. Der schulische Unter-
temen im nationalen oder internationalen richt ist wesentlich besser als das vor- und
Vergleich. Sie wird im Sinne eines System- außerschulische Gelegenheitslernen ge-
monitorings in den großen Vergleichs- eignet, inhaltsspezifisches und anwen-
untersuchungen wie TIMSS oder PISA dungsfhiges Wissen und Kçnnen in sys-
bearbeitet (Weinert, 2001c). tematischer Weise aufzubauen. Formen
Jenseits von Doppeldeutigkeit und Hin- organisierten Unterrichts sind in der ar-
tersinn des Begriffs »Schulleistung« wird beitsteiligen Welt eine notwendige Vo-
allerdings gelegentlich tatschlich in raussetzung fr die Entwicklung an-
Zweifel gezogen, ob Schule (d. h. Vari- spruchsvoller kognitiver Leistungen, so
ablen des Schulsystems und des Unter- genannter sekundrer Fhigkeiten (Geary,
richts) berhaupt in nennenswerter Weise 1995; Geary et al., 1998). Schulen sind
mit den Lern- und Leistungsfortschritten aber offenbar weniger wirksam im Hin-
der Schlerinnen und Schler zu tun hat, blick auf den Anspruch einer Divergenz-
geschweige denn, dafr (mit-)verant- minderung hinsichtlich der Eingangs-
wortlich sei, so Weinert (2001b) sinn- merkmale der Lernenden: Es gelingt
gemß mit Verweis auf die Sekundrana- weniger gut, interindividuelle Unterschie-
lyse des legendren Coleman-Reports de in den intellektuellen Fhigkeiten
durch Jencks et al. (1972). Die Lehrper- durch Unterricht auszugleichen oder ab-
sonen selbst neigen eher zur Skepsis hin- zubauen (Weinert & Helmke, 1995). Ein
sichtlich der Wirksamkeit von Schulen. solcher Ausgleich kann offenbar nur
Sie benennen nmlich »Begabungsdiffe- kompensatorisch erfolgen, wenn nmlich
renzen, Motivationsunterschiede und au- Teilgruppen in hohem Maße lernzeit-
ßerschulische Einflsse als entscheidende adaptiv unterrichtet werden.
Lernfaktoren« (Weinert, 2001b, S. 75),
und das trotz der von ihnen verantworte-
Erklrung von Schulleistungen
ten durchschnittlich 15.000 Unterrichts-
stunden. Kann, besser: darf das wahr Die Erklrung schulischer Leistungen
sein? »gehçrt zu den ltesten und zugleich
Wer sich mit dem Aufwand beschftigt, der schwierigsten Problemen der Pdagogi-
hinter der Organisation und Durchfhrung schen Psychologie« (Helmke & Schrader,
von Unterricht fr alle Schler von mindestens 2001, S. 81). Mit anderen Worten: Der
15000 Stunden steckt, und wer die Kosten be- Erkenntnisstand ist nach wie vor unbe-
denkt, die bei etwa 5000  pro Jahr und Sch- friedigend. Und dies, obwohl seit Jahr-
ler liegen, fr den ist es fast unvorstellbar, dass zehnten hierzu intensiv geforscht wird
verschiedene Gestaltungsfaktoren dieses Ange- (zusammenfassend z. B. Helmke & Wei-
bots eine so geringe Wirksamkeit haben. (Fend,
nert, 1997a; Wang, Haertel & Walberg,
2002, S. 144)
1993). Bei der Defizitanalyse lassen sich
Weinert lçst die scheinbare Diskrepanz mehrere Problemebenen unterscheiden:
zwischen Anspruch und Wirksamkeit auf die Ebene der kriterialen Definition, die
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

vielfltigen Aggregatebenen der Betrach- kognitiven Entwicklung im Allgemeinen


tungsweise und die Interdependenz dieser als die vordringlichsten Ziele jedes Schul-
Ebenen, die Komplexitt von Kriterium systems. Hinzu kommt: Schule muss ver-
und Bedingungsgefge, die Widersprch- suchen, jeden Einzelnen mçglichst opti-
lichkeit und Instabilitt von Ergebnissen mal zu fçrdern. Daneben umfasst der
in Abhngigkeit von den gewhlten Ope- Bildungsauftrag der Schule auch die Ent-
rationalisierungen der Einflussgrçßen wicklung und Fçrderung sozialer und af-
und die Beschrnktheit der vorliegenden fektiver Kompetenzen. brigens sind
Datenstrukturen, die die bedingungsana- auch die Universitten mit einem ber die
lytische Aufhellung des Determinations- fachwissenschaftliche Bildung hinaus-
gefges erschweren. Helmke und Weinert gehenden Bildungsauftrag versehen (vgl.
(1997a, S. 75) sprechen mit Blick auf den dazu die entsprechenden Passagen in den
letzten Punkt auch von einer gewissen Schul- und Hochschulgesetzen der Ln-
»›Kulissenhaftigkeit‹ der Schulleistungs- der).
determinanten, die auf immer neue und Bildung setzt aber auch voraus, dass der
verschachtelte proximale wie distale Ein- zu Bildende sich strebend selbst bemht,
flussfaktoren und Wirkungsmechanismen indem er sie erwirbt:
verweist.«
Bildung ist ein individueller, sich an und in der
Person, am Ende durch sie vollziehender Vor-
Ziele von Bildung und Unterricht. Schule
gang. »Ich bilde mich«, lautet die richtige Be-
und Unterricht erzeugen angestrebte und schreibung. Eine Form, die mir ein anderer auf-
unbeabsichtigte Wirkungen und Effekte prgt, macht mich nicht zum Gebildeten,
hinsichtlich einer ganzen Reihe von Ziel- sondern zu einem Gebilde. Und die Ertchti-
grçßen. Unter den intendierten Lernzielen gung fr eine gesellschaftliche Ttigkeit ist et-
des Schulunterrichts sind vor allem die was ganz anderes und heißt Ausbildung. (von
kognitiven und die affektiven (d. h. Ein- Hentig, 2003, S. 13)
stellungen und Werthaltungen betreffen-
den) zu nennen. Blooms klassische Taxo- Unterricht verfolgt, mit unterschiedlicher
nomie der kognitiven Lernziele ist Intensitt, multiple Ziele zur gleichen
hierarchisch aufgebaut: Kennen, Verste- Zeit – nicht immer sind sie miteinander
hen, Anwenden, Analyse, Synthese und vereinbar. Helmke und Schrader (1990)
Bewertung (Bloom, 1976). Auf einer konnten allerdings zeigen, dass affektive
globaleren Ebene bezeichnet Weinert und kognitive Zielkriterien des Unter-
(2001b) die Vermittlung speziellen Wis- richts auch nicht notwendigerweise in-
sens und Kçnnens und die Fçrderung der kompatibel sein mssen. Sie haben fnf
so genannte Positivklassen aus den 39
Klassen der Mnchner Hauptschulstudie
Fokus: Was Schule vermitteln soll (Helmke, Schneider & Weinert, 1986)
1. Intelligentes Wissen, identifiziert, in denen es gelang, kogniti-
2. anwendungsfhiges Wissen, ve, affektive und motivationale Zielkrite-
3. variabel nutzbare Schlsselqualifi- rien des Unterrichts auszubalancieren.
kationen, Vier der fnf Lehrpersonen mit einem
4. Lernkompetenz, solchermaßen positiven Effektmuster hin-
5. Sozialkompetenz, sichtlich der Erfolgskriterien von Unter-
6. Wertorientierungen. richt zeichneten sich durch eine Unter-
(nach Weinert, 2000b) richtsgestaltung aus, die sich wie folgt
zusammenfassen lsst: inhalts- und zeit-
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Teil II Lehren

adaptive Stoffvermittlung bei effizienter sen fllt die Effektbilanz eines leistungs-
Lernzielorientierung. egalisierenden Mathematikunterrichts
Das Problem der Vereinbarkeit von Un- nmlich deutlich gnstiger aus als fr die
terrichtszielen stellt sich aber nicht nur Begabungsschwachen – dies ein weiterer
fr die unterschiedlichen Zielkriterien des Hinweis auf die lernhierarchische Bin-
affektiven und kognitiven Bereichs. Blei- nenstruktur des Stoffinhalts Mathematik
ben wir bei den kognitiven Lernzielen: und auf die kompensatorische Wirksam-
Bezogen auf den Wissens- und Kom- keit zeitadaptiver unterrichtlicher Maß-
petenzerwerb ist zunchst der individuel- nahmen.
le Leistungsfortschritt (Qualifizierung) ei- Der Ausgleich von Leistungsunterschie-
ne primre Zielgrçße von Unterricht. den lsst sich – zwar mhsam und nur in
Leistungsfortschritte kçnnen (nahezu) al- Maßen, aber durchaus im Einklang mit
le Kinder durch Unterricht erreichen. dem Zielkriterium der Qualifizierung –
Aber nicht alle kçnnen den gleichen Wis- unter bestimmten Rahmenbedingungen
sensstand erreichen, auch dann nicht, und bei Realisierung geeigneter Unter-
wenn sie lange genug und unter den fr richtsprinzipien erreichen (Baumert et al.,
sie optimalen Bedingungen lernen. Der 1986; Treinies & Einsiedler, 1996). An-
Ausgleich von Leistungsunterschieden dreas Helmke (1988) spricht in diesem
(Egalisierung) ist deshalb eine zweite Fall von »Optimalklassen« der doppelten
wichtige Zielgrçße von Unterricht. Sie Zielerreichung. Optimalklassen sind die
ließe sich mhelos im Sinne eines intellek- »doppelt erfolgreichen« Klassen, also die-
tuellen »Downgrading« erreichen, wo- jenigen Klassen, bei denen sich die Leis-
durch allerdings das durchschnittliche tungsstreuung aufgrund von Unterricht
Qualifikationsniveau der Schulklasse zu Gunsten der Leistungsschwcheren
Schaden nhme. Denn eine Leistungsega- vermindert, ohne dass es dadurch zu Ein-
lisierung auf niedrigem Niveau wrde ja bußen beim mittleren Leistungsniveau
nicht durch eine Verbesserung der leis- der Klasse und bei den Leistungsstrke-
tungsschwcheren, sondern vornehmlich ren kommt. Helmke charakterisiert das
durch eine nivellierende Verschlechterung Unterrichtsmuster in den »Optimalklas-
der ursprnglich Leistungsstrkeren be- sen« folgendermaßen:
wirkt. Besonders ernchternd ist, dass ein
. Lehrstoffzentrierung, Klarheit und Ver-
egalisierender Unterrichtsstil den Lern-
stndlichkeit der Instruktion,
fortschritt der Leistungs- und Begabungs-
. effiziente Klassenfhrung,
strkeren hemmt, ohne den Begabungs-
. Fçrderungsorientierung im Sinne einer
schwcheren zum Vorteil zu gereichen.
Anpassung an wesentliche Merkmale
Dies berichtet wiederum Helmke (1988)
der Lernenden und des Kontextes,
auf der Datenbasis der Mnchner Haupt-
. hohe Leistungsansprche bei Verzicht
schulstudie, in weitgehender berein-
auf geschwindigkeitsbetonte Leis-
stimmung mit entsprechenden Befunden
tungsanforderungen.
aus der Heidelberger Hauptschul- (Trei-
ber & Weinert, 1985) und der Berliner Wie man sieht, finden sich hier wesentli-
Gymnasialstudie (Baumert et al., 1986). che Unterrichtsmerkmale der kognitiven
Aufschlussreich ist allerdings die Diffe- und affektiven Zielerreichung wieder
renzierung der Leistungsschwcheren in (s.o.). Weder ein leistungsmaximierender
solche mit Begabungs- und solche mit und tempofixierter Unterrichtsstil noch
Vorkenntnisdefiziten. Fr Schlerinnen eine sozialintegrativ ausgleichende Orien-
und Schler mit defizitren Vorkenntnis- tierung allein kçnnen also der multiplen
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Zielsetzung gengen. Erst die Kombinati- toren sind die individuellen Lernvoraus-
on hoher Leistungsansprche mit einer setzungen sowie die Prozessmerkmale
proaktiven Anpassung an die vorgefun- des Unterrichts und der Erziehung. Bei-
dene Heterogenitt der Lernvorausset- spiele fr distale Faktoren sind die
zungen lsst sowohl Lernfortschritte fr strukturellen Merkmale von Familien,
alle (Qualifizierung) als auch eine Verrin- das Schul- und Unterrichtsklima oder
gerung von interindividuellen Leistungs- die Persçnlichkeitsmerkmale der Lehren-
unterschieden (Egalisierung) erwarten. den. Die distalen Faktoren sind nicht
Dies wohl vor allem deshalb, weil insbe- weniger bedeutsam, sie sind nur in der
sondere die Lernschwcheren von gut Wirkungskette weiter entfernt: So hat
strukturiertem, didaktisch hochwertigem die Sozialschicht der Eltern keinen ei-
Unterricht profitieren. genstndigen Erklrungswert im Hin-
blick auf die unterschiedlichen Lesekom-
Unterschiedliche Analyseebenen. Deter- petenzen der Kinder. Es sind aber die
minanten der Schulleistung lassen sich mit der sozialen Schichtzugehçrigkeit
in unterschiedlichen Bereichen und auf assoziierten Merkmale, wie die Bil-
mehreren Ebenen definieren. Es gibt Ein- dungsnhe und der Anregungsgehalt der
flussgrçßen, die der schulischen Leistung huslichen Umwelt, die elterlichen Leis-
kausal »nher stehen« (so genannte pro- tungserwartungen und das Bekrfti-
ximale Faktoren) oder von ihr »weiter gungsverhalten sowie das sprachliche
entfernt« sind (so genannte distale Fak- Modellverhalten, die auf der Wirkebene
toren). Beispiele fr die proximalen Fak- der familiren Interaktion die Entwick-

Fokus: Chancengleichheit
Die Gleichheit der Bildungschancen wird in der anglo-amerikanischen Diskussion
vornehmlich inputgesteuert-quantitativ unter dem Gesichtspunkt egalitrer Bil-
dungsgelegenheiten fr die Angehçrigen aller sozialen und ethnischen Teilgruppen
betrachtet (Angebotsgleichheit). In Deutschland wird dagegen meist die Forderung
nach einem korrigierenden Chancenausgleich erhoben (vgl. Schnabel, 2001). Mit
Verweis auf geschlechts- und schichtspezifische Disparitten von Bildungskarrieren
wird dabei weniger das Bildungsangebot als vielmehr das Resultat von Bildungs-
prozessen problematisiert. Dazu zwei Beispiele:
Gesamtschule. Mit der Einfhrung der Gesamtschule in den 1970er-Jahren war ei-
ne Verringerung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungskarrieren der
Kinder intendiert gewesen. Wie die jngeren Vergleichsstudien TIMSS und PISA be-
legen, ist diese Entkoppelung nur unzureichend gelungen. (Baumert et al., 2001)
Koedukation. Mit der neuerlichen Propagierung nicht-koedukativer Beschulungs-
formen seit den 1980er-Jahren war ein Gegensteuern der geschlechtsstereotypen
Kurs- und Studienfachwahlen von Abiturientinnen beabsichtigt. Insbesondere sollte
die unterrichtliche Separierung der Geschlechter der Ausprgung geschlechter-
stereotyper Interessenstrukturen entgegenwirken. Lngsschnittstudien und Fallana-
lysen der Arbeitsgruppe Bildungslebenslufe zeigen, dass dies – im Hinblick auf das
Zielkriterium der Studienfachwahlentscheidung – in begrenztem Maße auch ge-
lingt. (Giesen, Gold, Hummer & Weck, 1992; Gisbert, 1995, 2001)

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Teil II Lehren

lung der kindlichen Lesekompetenz ent- Hinzu kommt ein Weiteres: Da sich Ef-
scheidend beeinflussen. fekte von Einflussfaktoren auf ganz un-
Sauer und Gamsjger (1996) spezifizieren terschiedlichen Aggregatebenen auswir-
mit zunehmender Nhe zum Schulleis- ken, kçnnen sie in ihrem komplexen
tungskriterium Einflussgrçßen auf sozio- Zusammenwirken leicht fehlinterpretiert
logischer, çkologischer, psychologischer werden. Variablen aus unterschiedlichen
und schulischer Ebene. Helmke und Wei- Lebenszusammenhngen kçnnen nm-
nert (1997a) sprechen in ihrem Rahmen- lich gleichlufige, gegenlufige oder sub-
modell von kulturellen, gesellschaftlichen stitutive Beziehungen zum Kriterium auf-
und wirtschaftlichen Rahmenbedingun- weisen. Analysen auf der Individualebene
gen, von schulorganisatorischen Einfls- verkennen, dass Schlerinnen und Sch-
sen, vom Einfluss der Schulklasse, der ler der einen und eben nicht einer anderen
Lehrperson und des von ihr ausgehenden Schulklasse angehçren und dass sie damit
Unterrichtsverhaltens, vom Einfluss der eine gemeinsame schulklassenbezogene
Status- und Strukturmerkmale der Fami- Mikroumwelt teilen. Analysen auf der
lie, vom Erziehungsverhalten der Eltern Mikroebene der Schulklassen mitteln das
und schließlich von den kognitiven, moti- Individuum unter dem Aspekt der ge-
vationalen und emotionalen Lernvoraus- meinsamen Unterrichtung, negieren aber
setzungen (Abb. 7.1). weiterhin den Einfluss, der auf der Meso-

Schulorganisation und Klassenzusammensetzung

Persönlichkeit und Expertise des Lehrers


Prozessmerkmale des Unterrichts und Lehrer-Schüler-Interaktion

Persönlichkeit Persönlichkeit Schulische


Eltern als
der Eltern Erzieher: des Kindes Leistungen
Erwartungen
Unterstützung
Förderung
Vertrauen

Status- und Strukturmerkmale der Familie

Andere Sozialisationsinstanzen: Gleichaltrige, Medien

Historische, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Abb. 7.1: Schulleistungsdeterminanten (nach Helmke & Weinert, 1997a, S. 86)

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

ebene von Schulkulturen und -klimata tagsschulen oder die Straffung von Lehr-
und von den Schuleinzugsbereichen aus- plnen), unterliegt leicht einem ȍkologi-
geht. Strukturunterschiede auf der Ma- schen Fehlschluss« – wenn nmlich aus
kroebene eines Systems werden in der Re- den Ergebnissen internationaler Ver-
gel erst im interkulturellen Vergleich gleichsuntersuchungen (also aus Zu-
sichtbar. sammenhngen auf einer hçheren Aggre-
Das aber heißt, dass die Schler einer gatebene) auf (so nicht beobachtete)
Klasse, die Klassen einer Schule, die Wirkmechanismen einer darunterliegen-
Schulen eines Landes streng genommen den Aggregatebene geschlossen wird. Die
nicht als unabhngige Beobachtungsein- im Sinne einer Makrosteuerung adminis-
heiten gelten kçnnen und dass (die bli- trativ eingeleiteten Vernderungen auf
chen) Analysen auf der Individualebene der institutionellen Ebene (z. B. die Ein-
durch systematische Varianzanteile der richtung von Ganztagsschulen) sind aber
»hçheren Ebenen« belastet sind – es in der Regel so weit von der eigentlichen
handelt sich im varianzanalytischen Sin- Wirkebene (z. B. der individuellen Lern-
ne also um so genannte »nested de- fçrderung) entfernt, dass unklar bleiben
signs«. Diese lassen sich angemessen nur muss, welche Wirkungen sie berhaupt
ber struktur- und mehrebenenanalyti- entfalten kçnnen.
sche statistische Auswertungsverfahren
bearbeiten (Bryk & Raudenbush, 1992; Multiple Determiniertheit. Schulleistun-
Ditton, 1998). Erst solche Verfahren er- gen sind multipel determiniert, das Rah-
mçglichen eine separate Schtzung der menmodell von Helmke und Weinert
relativen Einflsse, die auf der Indivi- (1997a; Abb. 7.1) vermittelt einen Ein-
dual- bzw. auf der Schulklassenebene ei- druck davon. Das aber heißt, wir haben
ne Rolle spielen. es mit multiplen Kriterien und multiplen
Die Einleitung administrativer Maßnah- Prdiktoren auf unterschiedlichen Ebe-
men bildungspolitischer und schulorgani- nen zu tun, die in vielfltiger Weise funk-
satorischer Art, wie sie im Anschluss an tional miteinander verknpft sind. Auf
TIMSS oder PISA zu beobachten waren und zwischen diesen Ebenen existieren
(z. B. die forcierte Einrichtung von Ganz- additive und multiplikative, lineare, mo-

Fokus: Mehrebenenanalyse
Herkçmmliche regressionsanalytische Verfahren sind zur Verrechnung geschachtel-
ter Datenstze ungeeignet, da die Voraussetzung unabhngiger Stichprobenelemen-
te nicht erfllt ist. Im hierarchisch linearen Modell (HLM) lassen sich hingegen
Merkmale auf unterschiedlichen Ebenen spezifizieren, z. B. im Zusammenhang mit
schulbezogenen Studien auf der Ebene des Individuums (1. Ebene), auf der Ebene
des Klassenkollektivs (2. Ebene) und auf der Ebene der Institution Schule oder des
Schulsystems (3. Ebene). Entsprechend kçnnen Effekte von Individual- und Aggre-
gatvariablen unabhngig voneinander bestimmt werden, indem die Regressionsana-
lyse um eine oder mehrere Ebenen erweitert wird. Die auf Individualebene geschtz-
ten Regressionsgewichte lassen sich im HLM als abhngige Variablen betrachten,
deren Ausprgung durch Merkmale der Aggregatvariablen anderer Ebenen vorher-
gesagt wird. Die Berechnung der Parameter erfolgt simultan durch Maximum-Like-
lihood-Schtzungen.

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Teil II Lehren

Fokus: Koppelung und Kompensation


Spitzenleistungen im sportlichen, knstlerischen oder wissenschaftlichen Bereich
setzen stets beides, »skill and will«, besondere Begabung und hohe Anstrengung,
Eignung und Neigung voraus – eines allein reicht nicht aus (Koppelung). Um durch-
schnittliche Leistungen zu erzielen, mag hingegen ein minimaler Schwellenwert in
einer der beiden Determinanten hinreichen, sofern die andere das Manko substitu-
iert. Das wrde bedeuten: Mangelnde Begabung lsst sich durch erhçhte Anstren-
gung ausgleichen und umgekehrt (Kompensation).
Fr Mathematikleistungen beispielsweise gilt, dass leichtere Aufgaben eine Kom-
pensation von Vorkenntnisdefiziten durch die allgemeine Intelligenz zulassen. Bei
schwierigen Aufgaben ist es hingegen notwendig, ber die relevanten Vorkenntnisse
zu verfgen. Auf der anderen Seite gilt, dass die bereichsbezogenen Vorkenntnisse –
so sie vorhanden sind – Intelligenzdefizite weitgehend kompensieren kçnnen.
(Helmke & Weinert, 1997a; Simons, Weinert & Ahrens, 1975)

derierende sowie einander unterdrcken- kovariieren. berdies sind auch komple-


de oder verstrkende Beziehungen. xere Interaktionsmuster denkbar, die auf
Die ausschnitthafte Betrachtung einzelner eine schwellenwertbezogene Koppelung
Prdiktoren schmlert naturgemß die oder auf eine kompensatorische Aus-
Alltagsnhe bzw. çkologische Validitt ei- tauschbarkeit von Einflussgrçßen hinaus-
nes Erklrungs- oder Prognosemodells laufen.
(wie auch die gelegentlich bertrieben Mit der Methode der Kommunalitten-
oder gering anmutenden Varianzanteils- analyse ist eine einfache Mçglichkeit ge-
schtzungen einzelner Faktoren stets im geben, spezifische von »konfundierten«,
Hinblick auf jene Modellvariablen zu re- d. h. zwei Variablen gemeinsamen Va-
lativieren sind, mit denen gemeinsam sie rianzanteilen statistisch zu separieren. Fr
»in die statistische Analyse geschickt wer- den Teilbereich der individuellen Determi-
den«). Zudem gilt, dass sich einzelne De- nanten der Schulleistung hat Helmke
terminanten konzeptuell berlappen oder (1997) bei Viertklsslern einen Anteil von
dass sie im statistischen Sinne konsistent etwa 30 % gemeinsamer (konfundierter)

Analyse: Bedingungen des Studienerfolgs


In der Arbeitsgruppe von Heinz Giesen wurde im Rahmen einer umfnglichen
Lngsschnittstudie ber individuelle und institutionelle Bedingungen des Studien-
erfolgs geforscht. Dabei wurden als Erfolgskriterien die Examensnoten bzw. der
Studienabbruch (Giesen, Gold, Hummer & Jansen, 1986; Gold, 1988, 1999; Gold
& Souvignier, 2005), die Studiendauer (Giesen & Gold, 1996) und die subjektive
Studienzufriedenheit (Gold & Souvignier, 1997) zugrunde gelegt. Der Studienerfolg
– hnlich wie der Schulerfolg – lsst sich in erster Linie durch die individuellen De-
terminanten (vornehmlich durch Merkmale der Leistungsfhigkeit und -bereit-
schaft) prognostizieren. Darber hinaus tragen Merkmale der (rezipierten) Studien-
umwelt – des so genannten Studienerlebens – zur Varianzaufklrung bei (Giesen &
Jansen, 1983; Jansen, 1987).

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Varianz der kognitiven und der motivatio- Bedeutung der Lehr-Lern-Zeit fr den
nalen Prdiktoren der Schulleistung er- Lernerfolg. Das Produktivittsmodell von
mittelt. Das liegt fr die Kriterien der Walberg (1986) systematisiert und er-
Deutsch- und Mathematiknoten etwas gnzt diese Einflussfaktoren um distale
ber dem spezifischen Beitrag der ein- Umweltmerkmale. Helmke (2002, 2003)
bezogenen kognitiven Prdiktoren allein. hat ein integratives Angebots-Nutzungs-
Modell unterrichtlicher Wirkungen ent-
wickelt.
Modelle schulischen Lernens
Modelle schulischen Lernens beziehen Carrolls Modell. Carroll (1963) betrach-
sich in der Regel auf die »mittlere« Ag- tet Lernerfolg als Funktion der auf-
gregatebene des Lernens in der Schul- gewandten im Verhltnis zur bençtigten
klasse. Sie sind damit »ber« den auf der Lernzeit. In dieser Schlichtheit ist Carrolls
Individualebene angesiedelten Prozess- die Mutter aller Modelle. Die Relation
modellen selbst- und fremdgesteuerten der beiden finalen Determinanten defi-
Lernens (vgl. Abb 5.3 und 6.5) und »un- niert den individuellen Lernerfolg. Wird
terhalb« des Schul- und Bildungssystem- soviel Zeit aufgewendet, wie bençtigt
vergleichs spezifiziert. Solche Modelle wird, ist das Ergebnis entsprechend posi-
strukturieren die Empirie und ermçgli- tiv. Wird zur Aufgabenbearbeitung mehr
chen eine Ordnung der Befundlage. Die Zeit bençtigt, als tatschlich investiert,
frhen Modelle von Carroll (1963) und werden Lernschwierigkeiten die Folge
Bloom (1976) thematisieren vor allem die sein (Abb. 7.2).

Aufgabenspezifische
Begabung

Instruktionsverständnis Benötigte
Lernzeit

Ausmaß des
Lernerfolgs
Qualität des Unterrichts

Aufgewendete
Lernzeit
Ausdauer
(Lernmotivation)

Zugestandene Lernzeit

Abb. 7.2: Carrolls Modell (nach Carroll, 1963)

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Teil II Lehren

Die (tatschlich) bençtigte Lernzeit ergibt in hohem Maße vorhanden ist) und bei
sich in Carrolls Modell aus der aufgaben- einer hohen allgemeinen Intelligenz (In-
spezifischen Begabung (weniger Begabte struktionsverstndnis) wird man eine
brauchen mehr Zeit) und aus der Fhig- qualitativ schlechte Unterrichtsgestaltung
keit, die Aufgabenanforderung zu verste- wohl bis zu einem gewissen Grade »ver-
hen (wer die Instruktionen nicht sofort schmerzen« kçnnen. Auf der anderen Sei-
versteht, braucht mehr Zeit). Hinzu te: Wird ein gut strukturierter, niveau-
kommt der Einfluss der Unterrichtsquali- adaptiver und anregender Unterricht die
tt (schlechter Unterricht wirkt sich lern- Bedeutsamkeit der allgemeinen Intelli-
zeitverlngernd aus). Die Qualitt des genz fr den Lernzeitbedarf nicht deut-
Unterrichts interagiert auch mit dem In- lich verringern? Slavin (2006) hat dem in
struktionsverstndnis der Lernenden. seinem so genannten QAIT-Modell wi-
Die (tatschlich) aufgewendete Lernzeit dersprochen. QAIT (Quality, Appropria-
hngt ab von der individuellen Ausdauer teness, Incentives, Time) fasst die durch
bzw. der Lernmotivation (Lern- und Leis- Instruktion modifizierbaren Stellgrçßen
tungsmotivierte und sachinhaltlich Inte- des Carroll-Modells zusammen. Alle
ressierte sind bereit, mehr Zeit aufzuwen- vier QAIT-Komponenten, also die Unter-
den) und von der durch die Lehrperson richtsqualitt im engeren Sinne (z. B.
zugestandenen Lernzeit oder Lerngele- Strukturiertheit, Verstndlichkeit), die
genheit. Die Ausdauer, also die Bereit- Angemessenheit oder Adaptivitt des
schaft, Lernzeit zu investieren, wird wie- Vorgehens, die Motivierungsqualitt und
derum durch die Unterrichtsqualitt mit die Gestaltung des Lernzeitparameters,
beeinflusst. Auch die dem Lernenden zu- seien unbedingt notwendige, nicht ohne
gestandene Lernzeit steht in einer Bezie- Verlust kompensierbare und mithin mul-
hung zu den Merkmalen der Unterrichts- tiplikativ verknpfte Erfolgsdeterminan-
qualitt. Sie wird zudem durch die in ten von Unterricht.
Stundentafel und Lehrplan vorgesehene,
Blooms Modell. Bloom (1976) differen-
d. h. »zugeteilte« Lernzeit bestimmt.
ziert den Lernerfolg im Hinblick auf den
Helmke und Weinert (1997a) bezeichnen
Leistungsbereich (kognitive vs. affektive
die vom Lernenden aufgabenbezogen ge-
Lernergebnisse) und im Hinblick auf die
nutzte przisierend als »aktive Lernzeit«
Leistungseffizienz (d. h. die Leistungs-
und differenzieren hinsichtlich der zuge-
menge in Relation zu der dafr bençtig-
standenen zwischen der »nominal« laut
ten Zeit). Das Lernergebnis beruht in
Stundenplan vorgeschriebenen Unter-
Blooms Modell auf einem Zusammen-
richtszeit, den »tatschlich« gehaltenen
spiel der kognitiven und der affektiven
Schulstunden und der in diesen Stunden
Lernvoraussetzungen mit Merkmalen der
»curricular gentzten« Unterrichtszeit.
Unterrichtsqualitt (Abbildung 7.3).
Carrolls Modell verspricht vielfltige
Entscheidende Stellgrçße der Intervention
Mçglichkeiten pdagogischer Interven-
ist die Unterrichtsqualitt. Diese ist durch
tion, vor allem in lernzeitadaptiver Hin-
vier Aspekte nher bestimmt, die in ihrer
sicht. Das Modell lsst allerdings offen,
unterrichtlichen Realisation allesamt eine
in welchem Maße die finalen Lernzeit-
hohe Steuerungskomponente auszeichnet:
determinanten in ihrer Bedingtheit auf
wechselseitig kompensierbaren (d. h. ad- . schrittweise Darbietung der Lernin-
ditiven) Einflssen beruhen. Bei einer halte,
hohen aufgabenspezifischen Begabung . bekrftigendes Lehrverhalten bei auf-
(d. h., wenn bereichsbezogenes Vorwissen gabenbezogenen Lernaktivitten,
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Individuelle Lernvoraussetzungen Unterricht Lernergebnisse

Kognitive
Kognitive Lern-
Lern-
ergebnisse
voraussetzungen
(Ausmaß, Effizienz)
Lernaufgaben

Affektive
Lern- Affektive Lern-
voraussetzungen ergebnisse
Qualität des
Unterrichts
Darbietung
Bekräftigung
Eigenaktivität
Rückmeldungen

Abb. 7.3: Blooms Modell (nach Helmke & Weinert, 1997a, S. 81)

. hohe Anteile an aktiver Lernzeit durch riablenbereiche fr die Produktivitt eines
Forcierung der Eigenaktivitt der Ler- Lernenden, einer Schule oder einer Schul-
nenden, klasse ausschlaggebend: 1. der Bereich
. unmittelbare Leistungsrckmeldungen der Schlerkompetenzen (kognitive und
sowie Korrekturen und – wenn nçtig – motivationale Fhigkeiten sowie der all-
zustzliche bungsaufgaben und zu- gemeine Entwicklungsstand), 2. der Be-
stzliche Lernzeit. reich des Unterrichts (Qualitt und Quan-
titt von Unterricht) und 3. der Bereich
So betrachtet lsst sich Unterrichtsquali- der so genannten Umwelt- oder Kontext-
tt leicht »quantifizieren« und verweist variablen. In Abbildung 7.4 finden sich
wiederum auf das grundlegende Prinzip neben den neun Produktivittsfaktoren
der Lernzeitadaptivitt in Blooms Kon- aus diesen drei Bereichen die mittleren
zept des zielerreichenden Lernens (vgl. (unkorrigierten) Korrelationskoeffizienten
Kapitel 6.2): Wenn zustzliche Lernzeit der jeweiligen Faktoren mit der Schulleis-
gewhrt wird, kçnnen fast alle Lernenden tung (vgl. Fraser et al., 1987).
ein beliebig anspruchsvolles Lernziel er- Es drfte kaum mçglich sein, so res-
reichen. miert Schnabel (2001, S. 479), einen wei-
teren Einflussfaktor zu finden, »der nicht
Walbergs Produktivittsmodell. Walberg unter einem der neun Faktoren zu subsu-
und Kollegen haben ber die Analysen mieren wre oder zumindest mittelbar
vieler tausend Einzelstudien eine Systema- ber diese wirkt«. Unterschiedlich sind
tisierung von Einzelbefunden in Form ei- die Auffassungen darber, wie die Fak-
nes Neun-Faktoren-Modells der Schul- toren zusammenwirken. Fr die fnf
leistung vorgenommen (Fraser, Walberg, Kernfaktoren aus dem Bereich der Sch-
Welch & Hattie, 1987; Walberg, 1986; lerkompetenzen und des Unterrichts-
Wang et al., 1993). Danach sind drei Va- geschehens wird eine wechselseitige Sub-
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Teil II Lehren

Korrelation mit botsseite sind die Unterrichtsqualitt im


Produktivitätsfaktoren Schulleistung engeren Sinne, die persçnliche Kompe-
Personmerkmale tenz und Expertise des Lehrenden, die op-
• Kognitive Fähigkeiten/ 0.44 timale Verwendung der Unterrichtszeit
Vorwissen
• Entwicklungsstand 0.10
durch den Lehrenden und die fachlich-di-
• Motivation 0.29 daktische Qualitt des eingesetzten Lehr-
Unterrichtsvariablen Lern-Materials entscheidende Determi-
• Quantität des Unterrichts 0.38 nanten. Der Klassenkontext und das
• Qualität des Unterrichts 0.48 Klassenklima sowie die individuellen
Psychologisches Umfeld Eingangsvoraussetzungen der Lernenden
• Häusliche Umwelt 0.31
• Klassen- und Schulklima 0.20
qualifizieren sowohl die Angebots- als
• Außerschulische Peer- 0.19 auch die Nutzungsseite von Unterricht.
Beziehungen Folglich hngt der Ertrag (die Wirkung)
• Massenmediennutzung -0.06 von Unterricht nicht allein von der
Qualitt des Angebots, sondern auch
Abb. 7.4: Walbergs Produktivittsfak-
toren (nach Schnabel, 2001, S. 479) von diesen Rahmenbedingungen ab (vgl.
Abb. 7.5).
Helmke (2002, 2003) bezieht sich bei sei-
stituier- bzw. Kompensierbarkeit hufig nen berlegungen auf Helmut Fend. Die-
verneint – mithin wren sie (bzw. ihre ser hat den Angebots-Nutzungs-Gedan-
Ausprgungen) notwendige Bedingungen ken in Bezug auf das schulische Lernen
des Lernerfolgs. Fr die vier Faktoren der wie folgt begrndet:
huslichen und schulischen Lernumwelt
wird eine Substituierbarkeit hingegen [Die] Produktion von Schulleistungen [ist] kein
nicht ausgeschlossen. Ihnen kommt aber industrieller Fertigungsprozess, sondern das Er-
gebnis des Gegenberstehens von zwei Per-
ohnehin eher ein moderierender Einfluss
sonen bzw. Personengruppen, wobei die eine
zu. Walberg selbst hat betont, dass ein Angebot macht oder eine Anforderung
die Produktivittsfaktoren untereinander stellt und der andere darauf reagiert, es z. B. ab-
multiplikativ, nicht additiv verbunden lehnt, ignoriert, bernimmt, ausarbeitet. (Fend,
seien. Das heißt: Kompensationen eines 2002, S. 145)
Defizits bei einer der Determinanten
»werden um so schwieriger, je niedriger Das Lernangebot der Schule kann also in
die Ausprgung dieser notwendigen De- unterschiedlicher Weise genutzt werden.
terminante ist; in diesem Fall muss das Es wirken nicht einfach vorgegebene Pro-
Defizit durch unverhltnismßige ›Mehr- duktivittsfaktoren, »sondern diese Fak-
leistungen‹ bei anderen Faktoren wett- toren sind Ausdruck der [willentlichen]
gemacht werden« (Helmke & Weinert, Handlungen von Menschen« (Fend,
1997a, S. 140). 2002, S. 146). In Fends berlegungen re-
sultiert aus der analytischen Trennung
Helmkes Angebots-Nutzungs-Modell un- von Angebot und Nutzung zugleich eine
terrichtlicher Wirkungen. Helmke (2002, hilfreiche Trennung und Bewusstma-
S. 262) fasst »wichtige Aspekte des Unter- chung der unterschiedlichen Verantwor-
richts und seiner Wirkweise« folgender- tungsbereiche und Verantwortlichkeiten.
maßen zusammen: Unterricht ist ein An- Sie betreffen die politisch-administrative
gebot, das nach Maßgabe individueller Bildungsplanung, die auf die Schulklasse
Lernaktivitten mehr oder weniger inten- bezogene Unterrichtsplanung und die auf
siv genutzt werden kann. Auf der Ange- der Individualebene des Lernenden bzw.
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Lehrer- Unterricht Individuelle Eingangsvoraussetzungen


persönlichkeit (Angebot)

Expertise in Qualität des Unterrichts Mediationsprozesse Lernaktivitäten Wirkungen


Fachwissenschaft Passung, Adaptivität auf Schülerseite der Schüler (Ertrag)
Fachdidaktik Klarheit (Nutzung)
Klassenführung Angemessene Motivationale und Fachliche Effekte
Diagnostik Methodenvariation emotionale Aktive Lernzeit Fachwissen
Individualisierung Vermittlungs - im Unterricht Grundverständnis
Motivierung prozesse Lernstrategien
Fertigkeiten
Werte und Ziele Effizienz der Wahrnehmung und Außerschulische
Subjektive Klassenführung Interpretation des Lernaktivitäten
Theorien Quantität des Unterrichts Überfachliche
Bereitschaft zur Unterrichts: Effekte
Selbstreflexion und Unterrichtszeit, Schlüssel-
Selbstverbesserung Lerngelegenheiten kompetenzen
Selbstwirksamkeit Qualität des Sozialisations-
Lehrmaterials effekte

Klassenkontext und fachlicher Kontext

Abb. 7.5: Angebots-Nutzungs-Modell (nach Helmke, 2003, S. 42)

seiner familiren Sttzsysteme zu inves- nicht selbst … Aspekte der Unterrichts-


tierende Anstrengung. qualitt« sind (Helmke, 2003, S. 42).
Helmke (2003) hebt hervor, dass ein Un-
terrichtsangebot nur dann Lernprozesse
Die wichtigsten Determinanten
auslçsen und den Wissensaufbau befçr-
dern kann, wenn es die Lernenden zu ei- In großer bereinstimmung war in den
genstndigen Lernaktivitten anregt. Das meisten Modellen und Klassifikationen
ist der wesentliche Kern der »Nutzungs- von drei Hauptgruppen von Schulleis-
komponente« seines Modells. ber die tungsdeterminanten die Rede. Sie wer-
»Angebotskomponente« des Unterrichts den, in Anlehnung an die bei Helmke
ist bereits an anderer Stelle alles gesagt und Weinert (1997a) gewhlte Form der
worden: Klarheit, Strukturiertheit, Adap- Kategorisierung im Folgenden hinsicht-
tivitt, Motivierungsqualitt, Leistungs- lich ihrer relativen Bedeutsamkeit nher
rckmeldungen, effiziente Klassenfh- beschrieben. Dabei ist zu bedenken, dass
rung, ausreichende Lernzeitallokation. nur eine simultane Bercksichtigung aller
Die neu hinzugekommenen distalen »Hin- Einflussgrçßen eine realistische Abscht-
tergrundvariablen« der Lehrerpersçnlich- zung ihres spezifischen Erklrungsbei-
keit (vor allem: fachwissenschaftliche und trags liefern kann.
fachdidaktische Expertise sowie diagnosti-
sche Kompetenz) werden – wie schon im
Individuelle Merkmale
Rahmenmodell der Abbildung 7.1 – von
den verhaltensnahen Merkmalen der Un- Nach Helmke und Weinert (1997a,
terrichtsqualitt separiert, weil sie »den S. 99) »gibt es doch keinen vernnftigen
Unterricht zwar beeinflussen …, aber Zweifel daran, dass der Lernende mit
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Teil II Lehren

Fokus: Die SCHOLASTIK-Studie


Die Mnchner Grundschulstudie SCHOLASTIK (Schulorganisierte Lernangebote
und Sozialisation von Talenten, Interessen und Kompetenzen) zielt auf die lngs-
schnittliche Beschreibung und Erklrung individueller Entwicklungsverlufe im
Grundschulalter. Sie umfasst eine Stichprobe von 1150 Kindern in 54 Schulklassen.
ber einen Zeitraum von vier Jahren wurden schulische Leistungen, individuelle
Determinanten der Schulleistung sowie Unterrichts- und Kontextmerkmale der
schulischen Umwelt erfasst. Neben den Heidelberger (Treiber & Weinert, 1985)
und den Mnchner Hauptschulstudien (Helmke, Schneider & Weinert, 1986) sowie
der Berliner Gymnasialstudie (Baumert et al., 1986) ist die Mnchner Grundschul-
studie SCHOLASTIK (Weinert & Helmke, 1997a) eine der wenigen lngsschnitt-
lichen Schulleistungsstudien.

seinen dispositionalen Merkmalen und fr sptere Mathematikleistungen ein-


seinem aktuellen Verhalten die wichtigste drucksvoll belegen (Abb. 7.6). ber die
dynamische Determinante der Schulleis- zunehmende Bedeutsamkeit bereichs-
tungen und der Entstehung von Schul- bezogener Vorkenntnisse im Verlauf ku-
leistungsunterschieden darstellt«. Zu den mulativer Lernprozesse hatten bereits
individuellen Determinanten zhlen kon- Simons, Weinert und Ahrens (1975) an-
stitutionelle Faktoren wie Lebensalter hand eines querschnittlichen Datensatzes
oder Geschlecht, kognitive Faktoren wie
die allgemeine Intelligenz und die be-
reichsspezifischen Vorkenntnisse, konati- Einfache Korrelationen und Partialkorrela-
ve oder volitionale Faktoren wie die tionen zwischen Mathematikleistung und
lernstrategischen, metakognitiven und Intelligenztestleistungen
Korrelation r
handlungskontrollierenden Regulations-
Einfache Korrelationen
kompetenzen sowie motivationale und
affektive Faktoren wie das Fhigkeits- • Mathematikleistung (2. Klasse) mit .77*
selbstbild, die Prfungsangst, das Inte- Mathematikleistung (4. Klasse)

resse und die Lernfreude (vgl. dazu Kapi- • Intelligenztestleistung (1. Klasse) mit .47*
tel 2). Mathematikleistung (4. Klasse)
Besonders enge Beziehungen des Lern-
erfolgs bestehen zur Intelligenz und zu
Partialkorrelationen
den bereichsspezifischen Vorkenntnissen,
weil die Intelligenteren schneller, leichter • Mathematikleistung (2. Klasse) mit
.68*
Mathematikleistung (4. Klasse) bei
und besser lernen und weil sie hufiger
Auspartialisierung der Intelligenztest-
ber ein »intelligent organisiertes« Wis- leistung (1. Klasse)
sen verfgen, welches die Bewltigung
neuer, darauf aufbauender Lernprozesse • Intelligenztestleistung (1. Klasse) mit
.15*
wiederum erleichtert (vgl. Kapitel 2.2). Mathematikleistung (4. Klasse) bei
Auspartialisierung der Mathematik-
Weinert und Helmke (1995) fhren aus leistung in der 2. Klasse
der lngsschnittlichen SCHOLASTIK-
Anmerkung: *p<.01
Studie Korrelationen und Partialkorrela-
tionen an, die die nachhaltige Bedeutsam- Abb. 7.6: Vorkenntnisse und Leistung
keit der mathematischen Vorkenntnisse (nach Weinert & Helmke, 1995, S. 17)

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Fokus: Schulnoten
In der SCHOLASTIK-Studie wurden Schulnoten erhoben und klassenweise stan-
dardisiert. So verwendet markieren sie den individuellen Abstand vom jeweiligen
Klassenmittelwert.
In der schulischen Bewertungspraxis sollen Schulnoten als Ergebnis eines (mçglichst
objektiven) Beurteilungsprozesses das Konstrukt Schulleistung ausdrcken, und zwar
nach vorgegebenen Richtlinien. Dabei sollen sie interindividuelle Unterschiede und in-
traindividuelle Vernderungen mçglichst zuverlssig abbilden. Den Schulnoten (Zif-
fernnoten) kommt aber neben der pdagogischen (Rckmeldung, Anreiz) eine wichti-
ge gesellschaftliche Funktion (Berechtigung, Zuordnung, Kontrolle) zu. Es wird
durchaus kontrovers beurteilt, ob Ziffernnoten einen hinreichenden Informationsge-
halt aufweisen. Hufig wird empfohlen, dass die Notengebung anstelle einer sozialen
der sachlichen Bezugsnormorientierung folgen solle (vgl. dazu Kapitel 7.3). Dies aber
gilt – wie die Ansprche an die Kriterien der Objektivitt und Reliabilitt – fr jede
Art der Diagnostik, also auch fr das Berichtszeugnis (Jger, 2000; Tent, 2001).

sowie Weinert, Schrader und Helmke rung von Schulleistung erlaubt«. Einsied-
(1990) anhand der Mnchner Haupt- ler (1997, S. 228) unterscheidet:
schuldaten berichtet. Aus der Expertise-
. Makromethoden des Unterrichts (im
forschung war dies in anderen Zusam-
Sinne der in Kapitel 6 beschriebenen),
menhngen ohnehin schon bekannt
. Mikroverhaltensweisen der Lernsteue-
(Gruber, 1994).
rung (wie z. B. Strukturierungshinweise
In der SCHOLASTIK-Studie ließen sich
oder Leistungsrckmeldungen),
Testleistungen in eigens konstruierten
. Methoden des Klassenmanagements,
Schulleistungstests durch die kognitiven
. den Einsatz unterschiedlicher Sozialfor-
(Intelligenz, Konzentrationsfhigkeit) und
men des Unterrichts (wie z. B. Still-
die motivationalen (Selbstkonzept, Leis-
oder Gruppenarbeit),
tungsangst) Faktoren brigens besser vor-
. die Herstellung eines gnstigen Sozial-
hersagen als Schulnoten. Und es ließ sich
oder Unterrichtsklimas.
fr den Inhaltsbereich Mathematik deut-
lich mehr Kriteriumsvarianz aufklren Helmke und Weinert (1997a) geben einen
als fr den Inhaltsbereich Deutsch berblick zum Stand der Forschung zur
(Rechtschreiben). Verglichen mit den mo- Unterrichtsqualitt (vgl. auch Clausen,
tivationalen Faktoren kam dabei den 2002; Gruehn, 2000). Meist wird »vor-
kognitiven Merkmalen eine hçhere Pr- sichtig« argumentiert, wenn es um den
diktionskraft zu (Helmke, 1997). relativen und spezifischen Erklrungsbei-
trag der Unterrichtsqualitt im Vergleich
Unterrichtsqualitt zu anderen Determinanten des Lern-
erfolgs geht; Jencks et al. (1972) haben
Weinert, Schrader und Helmke (1989, hier die negative Erwartungshaltung vor-
S. 899) definieren Unterrichtsqualitt gegeben. Zwar lsst sich durch alle in Ka-
pragmatisch als »stabile[s] Muster von pitel 6 beschriebenen Instruktionsmetho-
Instruktionsverhalten, das als Ganzes den qualitativ guter Unterricht gestalten;
oder durch einzelne Komponenten die die Metaanalysen der Produktivittsfor-
substanzielle Vorhersage und/oder Erkl- schung fallen jedoch hinsichtlich der spe-
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Teil II Lehren

zifischen Wirksamkeit einzelner Instrukti- ter fhren dort zum mehrkriterialen Er-
onsmethoden eher enttuschend aus und folg (Helmke, 1988; Helmke & Schrader,
geben keine Hinweise, unter welchen 1990). Auch die sechs »Meisterlehrer«
Rahmenbedingungen welche Instrukti- aus der SCHOLASTIK-Studie – das sind
onsmethode erfolgreich sein kann. Das Lehrende der Klassen mit den hçchsten
aber liegt vor allem in den methodischen Leistungszuwchsen in Mathematik –
Defiziten unterrichtlicher Vergleichsstudi- zeigen durchaus variable Muster erfolg-
en begrndet. Denn: reichen Unterrichtens (Helmke & Wei-
Bercksichtigt man … die relevanten Kontext- nert, 1997b; Weinert & Helmke, 1997b).
bedingungen, spezifiziert man einen sinnvollen Nur zwei der sechs weisen bei allen acht
Ausschnitt aus dem zu untersuchenden Phno- Indikatoren der Unterrichtsqualitt ber-
menbereich, erfasst man in reliabler Weise vali- durchschnittliche Werte auf. Nur einer
de Indikatoren der simultan wie sukzessive ab- der Indikatoren – nmlich die Klarheit
laufenden Unterrichts- und Lernprozesse, der Lehrerußerungen – scheint mithin
whlt man zugleich ein zweckmßiges Aggre- eine notwendige Bedingung guten Unter-
gierungsniveau fr die Daten …, so ndert sich
richtens zu sein.
das Bild vçllig: Qualittsunterschiede des Un-
terrichts werden fr die Schulleistungen und
ihre interindividuellen Differenzen zu Determi- Prozessmerkmale des Unterrichts. In der
nanten von begrenzter, aber erheblicher Wich- SCHOLASTIK-Studie wurden die Klas-
tigkeit. (Helmke & Weinert, 1997a, S. 126) senfhrung, die Strukturiertheit des Lern-
stoffes, das Ausmaß an individueller Un-
Helmke und Weinert (1997a, S. 127) tersttzung, die Fçrderungsorientierung,
fhren die Vielfltigkeit und Widersprch- das Sozialklima und die Variabilitt von
lichkeit des Erkenntnisstandes nicht zu- Sozialformen des Unterrichts durch hoch-
letzt auf unterschiedliche »Kernannahmen inferente Ratings geschulter Beobachter
ber die zentralen Gesetzmßigkeiten des erfasst. Die perzipierte Klarheit der Leh-
Lernens und Lehrens und die daraus ab- rerußerungen wurde hingegen direkt bei
leitbaren zweckmßigen Forschungsstra- den Schlerinnen und Schlern erfasst,
tegien« zurck. Dazu zhlen die grund- die Motivierungsqualitt des Unterrichts
legenden Unterschiede zwischen »instruk- (indirekt) ebenfalls ber die Schlerinnen
tionszentrierten und lernorientierten« und Schler, und zwar durch ein nied-
Anstzen, zwischen »Prozess-Produkt- riginferentes Beobachtungsinventar zum
Modellen und Modellen der kognitiven Aufmerksamkeitsverhalten.
Mediation« sowie zwischen »variablen- Nur fr den Leistungszuwachs im Fach
und personzentrierten« Anstzen. Fr eine Mathematik lassen sich auf Schulklassen-
Systematisierung empirischer Befunde bie- ebene konsistent und substanziell Bezie-
tet sich vor allem die zuletzt genannte Un- hungen zu den Merkmalen der Unter-
terscheidungsebene an (vgl. auch Brom- richtsqualitt nachweisen (Helmke &
me, 1992, 1997; Helmke, 2003). Weinert, 1997b; Abb. 7.7): Erfolgreiche
Klassen zeichnen sich durch eine effizien-
Lehrerpersçnlichkeit und Unterrichtsstil. te Klassenfhrung, durch eine hohe
»Lehrer kçnnen sowohl guten als auch Strukturiertheit des Lehrervortrags, durch
schlechten Unterricht auf eine sehr ver- ein hçheres Maß an individueller fachli-
schiedene Weise halten« (Helmke & Wei- cher Untersttzung (auch im Sinne einer
nert, 1997a, S. 130). Ein Blick auf die fortwhrenden Diagnostik und Kontrolle
Optimal- oder Positivklassen belegt dies des Lernverhaltens) und durch variable
– ganz unterschiedliche Interaktionsmus- unterrichtliche Sozialformen aus. Es ver-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Leistungszuwachs schulische und/oder fachinhaltsspezifische


(Residualisierte Bedingungsfaktoren beeinflusst (Helmke
Nachtestwerte)
& Weinert, 1997a; Lompscher, 1997).
Mathe- Recht-
Unterrichtsmerkmale
matik schreiben
Klassenführung .36** .26
Strukturiertheit .28* .17
Kontextfaktoren
Individ. fachl. Unterstützung .32* .16
Förderungsorientierung .17 -.02
Alles hngt mit allem zusammen. Es kann
Variabilität d. Unt.formen .28* -.04 aber hier nicht alles dargestellt werden,
Soziales Klima .18 .02 was an genetischen, allgemeinen und pro-
Klarheit .34* .17
Motivierungsqualität .35* .27*
zessbezogenen familiren, gesellschaftli-
Anmerkung: *p<.05, **p<.01.
chen, kulturellen und sozialen Faktoren
auf das schulische Lernen einwirkt. Schul-
Abb. 7.7: Unterrichtsqualitt externe und -interne Faktoren wirken auf
(nach Helmke & Weinert, 1997b, S. 248) den Unterricht im Klassenzimmer und auf
die Schlerinnen und Schler ein. Merk-
male des Schulsystems wirken sich
wundert nicht, dass diese Form des Un- vermittelt ber die schulischen Organisa-
terrichtens mit einer hçheren Motivie- tionsformen auf die konkreten Lernbe-
rungsqualitt und Klarheit einhergeht. dingungen im Unterricht aus. Die Quali-
Fr den Leistungszuwachs im Rechtschrei- tt der Lehrerbildung beeinflusst die
ben spielen die angefhrten Qualittsmerk- Qualifizierung der knftigen Lehrerinnen
male von Unterricht allerdings keine große und Lehrer und damit die Art des Unter-
Rolle. Offenbar wird, anders als in der richts, den sie spter »anbieten« werden.
Mathematik, die Leistungsentwicklung Klasseninterne Faktoren, wie die Klassen-
des Rechtschreibens eher durch außer- grçße oder die Zusammensetzung einer

Fokus: Beobachtungen von Unterricht


Die Qualitt von Unterricht wird in der Regel durch Verfahren der standardisierten
Beobachtung erfasst. Niedrig-inferente Beobachtungen fokussieren Aspekte des
Zielverhaltens, die »einfach« und schlussfolgerungsfrei, direkt quantitativ zu kodie-
ren sind, wie z. B. die Auftretensdauer oder die Hufigkeit eines Merkmals oder ei-
ner Ttigkeit (z. B. »Zu-Spt-Kommen des Lehrers«). Dagegen erfordern hoch-infe-
rente Ratings, z. B. zur »Strukturiertheit« oder zur »Fçrderungsorientierung« von
Unterricht, interpretative Schlussfolgerungen inhaltlich geschulter Beobachter. Kos-
ten und Nutzen der beiden Vorgehensweisen unterliegen einem »bereinstim-
mungs-Bedeutsamkeits-Dilemma«. (Clausen, 2002)
Diese Problematik stellt sich brigens fr videographierte Unterrichtsstunden in
gleicher Weise wie fr die Direktbeobachtungen. Clausen, Reusser und Klieme
(2003) haben anhand der TIMSS-Videodaten die Unterrichtsqualitt in Mathema-
tik in einer deutschen und einer schweizerischen Stichprobe mit einem hoch-infe-
renten Verfahren verglichen. Die Unterrichtsstunden aus der deutschsprachigen
Schweiz zeichneten sich durch eine hçhere Instruktionseffizienz (Klassenfhrung)
und durch eine ausgeprgtere Schlerorientierung (individualisierte Unterrichtsfor-
men) aus. In der TIMSS-Studie hatte die deutschsprachige Schweiz im internationa-
len Vergleich der Mathematikleistungen einen Spitzenplatz eingenommen.

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Teil II Lehren

Klasse nach Sozialschicht und Geschlecht Unter den vier Kontextfaktoren des Wal-
kçnnen sowohl die Qualittsmerkmale bergschen Produktivittsmodells ist die
der Unterrichtsgestaltung als auch die »husliche Umwelt« der bedeutsamste,
Leistungsentwicklung der Schlerinnen beispielhaft charakterisiert durch die
und Schler beeinflussen. Es gibt aber – elterliche Hausaufgabenkontrolle (vgl.
abgesehen von extrem großen oder sehr Abb. 7.4). Helmke, Schrader und Leh-
kleinen Klassen und von den beiden An- neis-Klepper (1991) haben in einer Teil-
fangsklassen in der Primarstufe – keine stichprobe der Mnchner Hauptschulstu-
Hinweise darauf, dass in den grçßeren die untersucht, welche relative Bedeutung
Klassen schlechter und in kleineren besser dem Elternverhalten fr die kindliche
gelernt wird (Ehrenberg, Brewer, Gamo- Schulleistung zukommt. Mtter, deren
ran & Willms, 2001). In der SCHOLAS- Kinder eine gnstige schulische Leis-
TIK-Studie war in den grçßeren Klassen tungsentwicklung nahmen, waren dem-
sogar eine effizientere Klassenfhrung, nach eher solche mit hohen Leistungs-
ein strukturierterer Unterricht, ein hçhe- erwartungen und mit einer Tendenz zur
res Ausmaß an individueller Unterstt- berschtzung der tatschlichen Kompe-
zung und ein gnstigeres Sozialklima be- tenz ihres Kindes (zur Funktion des ber-
obachtet worden (Helmke & Weinert, optimismus vgl. Kapitel 4.1). Wenn sie
1997b). Der kontraintuitive Befund lsst sich bei der Hausaufgabenkontrolle ein-
sich durch einen »erzwungenen« Anpas- schalteten, dann »eher prozess- als pro-
sungsprozess des Lehrerverhaltens an die duktorientiert«. Bei der Aufklrung der
gegebenen Notwendigkeiten erklren. Schulleistungsvarianz spielen die Eltern-
Helmke und Weinert bieten eine alterna- merkmale fr sich genommen eine
tive Erklrung an, dass nmlich die vergleichsweise geringere Rolle als die
Schulleitung die »kompetenteren Lehr- kognitiven Determinanten; sie sind aller-
krfte« offenbar gezielt in den zahlen- dings in betrchtlichem Umfang mit die-
mßig grçßeren Klassen einsetze. sen konfundiert.
Fr die familiren Determinanten lassen Fr die Kontextfaktoren schulischen Ler-
sich auf der (prinzipiell beeinflussbaren) nens und Lehrens gilt, dass sie nur mehr-
Prozessebene des Erziehungsverhaltens ebenenanalytisch angemessen modelliert
vier Funktionsbereiche benennen, »die und in ihrer Bedeutsamkeit geprft wer-
fr die Entwicklung der Schulleistung den kçnnen. Hinzu kommt ein weiteres,
von Belang sind« (Helmke & Weinert, bislang unterschlagenes Problem, das aber
1997a, S. 121): aus Kapitel 6.2 noch bekannt sein drfte:
das der vielfltigen Interaktion zwischen
. Stimulation (durch eine anregende Unterrichts- und Schlermerkmalen, d. h.
husliche Lernumwelt), der notwendigen bereinstimmung zwi-
. zustzliche Instruktion (durch additive schen individuellen Lernvoraussetzungen
oder kompensatorische husliche Stoff- und den fr diese Individuen »passenden«
vermittlung; Nachhilfe), unterrichtlichen Methoden und Verhal-
. untersttzende Fçrderung leistungs- tensweisen. Zwar werden die Erkenntnis-
zuversichtlicher Motivsysteme (durch se unbersichtlicher und komplexer,
die Einwirkung auf die Selbstkonzept- wenn individuelle Determinanten, Unter-
entwicklung), richtsvariablen und Kontextfaktoren si-
. modellhafte Vorbildfunktion in leis- multan zu beachten sind. Die Dringlich-
tungsthematischen Zusammenhngen. keit einer solchen Betrachtungsweise liegt
jedoch auf der Hand. Denn:
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Kontextfaktoren des schulischen Lehrens und res Klassenmanagements. Ein Ergebnis


Lernens sind eine eigentmliche, ziemlich theo- der bereits erwhnten Metaanalyse von
riearm konzipierte Kollektion von proximalen Wang et al. (1993) war, dass kein anderes
und distalen, forschungsstrategisch unabhngi-
Unterrichtsmerkmal so stark mit dem
gen und abhngigen, objektiv erfassten und
Leistungsniveau und dem Leistungsfort-
subjektiv wahrgenommenen, zeitlich stabilen
und vernderbaren, separierbaren und syste- schritt von Schulklassen verknpft ist wie
misch vernetzten Determinanten der Schulleis- das Klassenmanagement. Aber was ver-
tungen. Solche kontextuelle Einflussfaktoren steht man eigentlich unter Klassenfh-
dekontextuiert untersuchen zu wollen, ist ein rung und Klassenmanagement? Und wa-
Widerspruch in sich! (Helmke & Weinert, rum sind sie wichtig fr erfolgreiches
1997a, S. 99) Lehren?
Das gilt auch fr den Fernsehkonsum, Diesen beiden Fragen gehen wir im Fol-
den einzigen der Walbergschen Produkti- genden nach. Anschließend geben wir ei-
vittsfaktoren des psychologischen Um- nen berblick ber unterrichtspraktische
felds, der negativ mit der Schulleistung Umsetzungen. Dazu stellen wir zunchst
assoziiert ist. Ignorieren sollte man die einige Empfehlungen zur Vereinbarung
korrelativen Befunde allerdings nicht. und erfolgreichen Einfhrung von Regeln
Neuere Studien weisen darauf hin, dass vor, die als Voraussetzungen effizienter
sich zumindest das frhe Vielsehen (mehr Klassenfhrung gelten. Anschließend ge-
als zwei Stunden tglich bei Kindern un- ben wir einen berblick ber wichtige
ter drei Jahren) und die Verfgbarkeit ei- Prinzipien effizienter Klassenfhrung. Die
nes Empfangsgerts im Kinderzimmer konsequente Umsetzung solcher Prinzi-
(Bedroom-TV) durchaus abtrglich auf pien trgt zum Aufbau und zur Aufrecht-
Entwicklung kognitiver Fertigkeiten und erhaltung einer lernfçrderlichen Umge-
schulischer Leistungen auswirken. Dies bung bei und hat sich zur Vermeidung
auch dann, wenn wichtige Kovariaten in von Unterrichtsstçrungen als hilfreich
Rechnung gestellt werden (Borzekowski erwiesen.
& Robinson, 2005; Zimmerman &
Christakis, 2005).
Das Lernen ermçglichen
Fortgesetzte Unterrichtsstçrungen gelten
7.2 Klassenfhrung und als Hinweis darauf, dass es den Lehrper-
Klassenmanagement sonen nicht gelingt, die fr erfolgreiches
Lernen notwendige Unterrichtsdisziplin
Im vorigen Abschnitt haben wir von so herzustellen. Die Stçrungen sind die
genannten Optimalklassen gesprochen. Folge mangelhafter Klassenfhrung und
Unterrichtsforscher benutzen diesen Be- eines unzureichenden Klassenmanage-
griff, wenn sie in empirischen Studien ments. Unter Klassenfhrung und Klas-
Klassen vorfinden, bei denen die durch- senmanagement versteht man dabei jene
schnittlichen schulischen Leistungen sehr Aktivitten, die die Lehrkrfte unterneh-
hoch liegen bei einer gleichzeitig relativ men, um die unterrichtlichen Lernmçg-
geringen Leistungsstreuung, d. h. bei ei- lichkeiten ihrer Schlerinnen und Schler
nem geringen Ausmaß an interindividuel- zu maximieren.
len Differenzen. Lehrkrfte von Optimal- Es liegt auf der Hand, dass ein gutes Klas-
klassen unterscheiden sich von ihren senmanagement voraussetzt, dass der Un-
Kolleginnen und Kollegen vor allem terricht selbst gut geplant und vorbereitet
hinsichtlich ihrer Klassenfhrung und ih- ist. Gut geplanter und gut vorbereiteter
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Teil II Lehren

Definition: Klassenmanagement
Das Klassenmanagement beinhaltet alle Methoden, die eingesetzt werden, um die
Lernaktivitten in der Klasse zu organisieren. Dazu gehçren Instruktionen, rumli-
che und schliche Strukturen und alles Weitere, was dazu beitragen soll, um fr eine
effektive Nutzung von Unterrichtszeit zu sorgen, eine frçhliche und effektive Lern-
umgebung zu schaffen und Verhaltensprobleme und andere Stçrungen zu minimie-
ren. (nach Slavin, 2006, S. 351)

Unterricht beinhaltet klare Ziele und An- von Ruhe und Ordnung kann nmlich
forderungen fr die Schler(innen) und auf sehr unterschiedliche Weise erreicht
erhçht die Nutzbarkeit der Unterrichts- werden. »Erzwingt« man sie durch auto-
zeit fr die aktive Auseinandersetzung ritres Verhalten, gehen die Vorteile des
mit den Lerninhalten. gelungenen Klassenmanagements offen-
Je mehr Unterrichtszeit fr die Reduktion stç- kundig wieder verloren (vgl. Einsiedler,
render Aktivitten verbraucht bzw. verschwen- 2000). Eine erhçhte aktive Lernzeit und
det wird, desto weniger aktive Lernzeit steht ein hohes Leistungsniveau werden dage-
zur Verfgung. Je hufiger einzelne Schler im gen durch einen autoritativen Unter-
Unterricht anwesend und zugleich geistig ab- richtsstil erreicht, bei dem zwar feste Re-
wesend sind, um so weniger kçnnen sie lernen. geln und Normen vorgegeben sind, diese
Der Klassenfhrung kommt deshalb eine jedoch erklrt und begrndet werden, mit
Schlsselfunktion im Unterricht zu. (Weinert, dem Ziel, die Schlerinnen und Schler
2000b, S. 15)
von der Ntzlichkeit der Regeln zu ber-
Unterrichtsstçrungen und Disziplinpro- zeugen.
bleme verringern aber nicht nur die akti- Helmke (2003; vgl. auch Good & Bro-
ve Lernzeit der Schler(innen), sie gehç- phy, 1997) hat darauf hingewiesen, dass
ren auch zu den am hufigsten genannten sich die Unterscheidung zwischen »Dis-
Belastungsfaktoren fr Lehrerinnen und ziplin« und »effizienter Klassenfhrung«
Lehrer. offenkundig erst mit zunehmender Be-
Von einem guten Klassenmanagement rufserfahrung der Lehrkrfte herausbil-
und einer effizienten Klassenfhrung ver- det. In Befragungen von Berufsanfngern
spricht man sich zu Recht eine Verringe- und erfahrenen Lehrkrften nach der Be-
rung von Disziplinproblemen. Dennoch deutung des Themas Klassenfhrung fr
ist ein hohes Maß an Disziplin in der den eigenen Unterricht zeigte sich, dass
Klasse nicht gleich zu setzen mit effizien- Berufsanfnger »effiziente Klassenfh-
ter Klassenfhrung. Die Sicherstellung rung« und »Disziplin« weitgehend gleich

Fokus: Disziplinprobleme belasten die Schule


Die amerikanische Zeitschrift Phi Delta Kappa fhrt in jedem Jahr eine reprsenta-
tive Umfrage zur Situation im çffentlichen Schulwesen durch. Auf die Frage nach
den grçßten Problemen in den Schulen rangierte zwischen 1969 und 1999 der
»Mangel an Disziplin« stets unangefochten an erster Stelle. Erst in jngerer Zeit
werden die Disziplinprobleme durch das Budgetproblem »notorische Unterfinanzie-
rung« auf Platz 2 verdrngt.

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

setzten: Klassenfhrung bedeutet fr sie, gestellens im Unterricht oder auf das
die Schler(innen) unter Kontrolle zu ha- Anzeigen von Hilfsbedrftigkeit bezie-
ben und klar zu machen, wer hier »der hen,
Chef« ist. Bei den Antworten der berufs- . Routinen der Kommunikation zwi-
erfahrenen Lehrkrfte kam der Begriff schen Schler(inne)n, die die Zulssig-
»Disziplin« dagegen kaum vor. Unter keit und Erwnschtheit von Schler-
Klassenfhrung subsumierten sie vor al- Schler-Interaktionen whrend des
lem das sorgfltige und rechtzeitige Pla- Unterrichts beschreiben.
nen der Unterrichtsstunde, die Auswahl
interessanten Lehrmaterials sowie das Wie solche Routinen im Einzelnen aus-
rechtzeitige und entschiedene Einfhren sehen, wird natrlich von der Jahrgangs-
klarer Verhaltensregeln in der Klasse. stufe und von anderen Besonderheiten
der Klasse abhngig sein.
Verhaltensregeln und -routinen Im Unterschied zu diesen spezifischen
Verhaltensmustern spricht man von Re-
Als Voraussetzung effizienter Klassenfh- geln, wenn es um allgemeine Standards
rung und erfolgreichen Klassenmanage- des Verhaltens geht. blicherweise wer-
ments gilt die frhzeitige und konsequen- den fr ein erfolgreiches Klassenmanage-
te Einfhrung von Regeln und Routinen ment mehr Routinen als Regeln existie-
fr das Verhalten in der Klasse. Unter ren. Dafr sind die Regeln sehr viel
Routinen versteht man spezifische Ver- expliziter und verbindlicher als die Routi-
haltensmuster fr immer wiederkehrende nen. Hufig werden sie sogar schriftlich
Situationen, wie etwa das Austeilen und festgehalten, den Schler(inne)n und gele-
Einsammeln von Materialien, das Wann gentlich auch den Eltern ausgehndigt
und Wie des Redens im Unterricht oder oder auf eine andere Weise zugnglich ge-
das Verhalten beim Verlassen des Klassen- macht. McPhillimy (1996) schlgt vor,
raums. Routinen sind selten schriftlich drei Metaregeln bei der Einfhrung von
festgelegt, dennoch kann ohne sie keine Regeln zu beachten: (a) es sollten so we-
effiziente Klassenfhrung aufkommen. nig Regeln wie mçglich eingefhrt wer-
Claire Weinstein (2003; Weinstein & den, (b) diese sollten so einsichtig wie
Mignano, 2003) erachtet fr das Klassen- mçglich sein, und (c) Regeln sollten mçg-
management im Primar- und Sekundar- lichst positiv formuliert sein. Die in den
bereich die folgenden Routinen als not- einschlgigen Lehrbchern zur Klassen-
wendig: fhrung vorgeschlagenen Regeln hneln
einander. Meist beziehen sie sich auf all-
. Verwaltungsroutinen, die sich z. B. auf gemeine Normen des Miteinanders in der
die unterrichtliche Anwesenheitspflicht Schule:
beziehen,
. Sei freundlich und hilfsbereit!
. Mobilittsroutinen, die sich z. B. da-
. Respektiere das Eigentum anderer!
rauf beziehen, wie und wann das Klas-
. Befolge alle Schulregeln!
senzimmer whrend des Unterrichts
verlassen werden darf, Entscheidend dafr, ob die Einfhrung
. Routinen fr das Beginnen und Been- von Routinen und Regeln gelingt und da-
den einer Unterrichtsstunde, wie z. B. mit das fr ein gelungenes Klassenmana-
das Notieren von Hausaufgaben, gement charakteristische Lernklima in ei-
. Routinen der Lehrer-Schler-Interakti- ner Klasse entstehen kann, ist deren
on, die sich z. B. auf die Art des Fra- frhzeitige und konsequente Einfhrung.
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Teil II Lehren

Beispiel: Verhaltensregeln einer Schule


. Das Schulgelnde wird von uns gepflegt und sauber gehalten.
. Es darf niemand verletzt werden. Deshalb drfen Streitigkeiten nicht durch Tre-
ten, Schlagen, Beißen oder Beschimpfungen ausgetragen werden.
. Das Werfen von Schneebllen ist nicht erlaubt.
. Essen und Trinken, Kaugummi kauen und Bonbons lutschen sind whrend des
Unterrichts nicht erlaubt.
. Der Unterricht beginnt um 7.45 Uhr. Damit er pnktlich beginnen kann, sind alle
Schler(innen) um 7.40 Uhr im Klassenraum.
. In den Pausen muss den Anweisungen der Aufsicht fhrenden Lehrer gefolgt wer-
den.
. Der Gebrauch und das sichtbare Mitfhren von elektronischen Gerten ist auf
dem Schulgelnde nicht erlaubt.
. Mobiltelefone mssen auf dem Schulgelnde ausgeschaltet sein.

Das Adjektiv »frhzeitig« ist dabei wçrt- liert hatten. Besonders reibungslos verlief
lich gemeint. Bereits die ersten Tage und der Unterricht, wenn zustzlich auch die
Wochen eines Schuljahres – insbesondere (gnstigen) Konsequenzen fr regelkon-
wenn die Lehrkraft eine Klasse neu ber- formes und die Sanktionen fr regelwid-
nimmt – sind entscheidend. Das belegt riges Verhalten von Anfang an deutlich
beispielsweise eine Untersuchung von gemacht worden waren. Lehrkrfte, die
Emmer, Evertson und Anderson (1980) sowohl frhzeitig als auch konsequent
in 28 Klassen des dritten Schuljahres. Ein Regeln und Routinen eingefhrt hatten,
reibungsloser Unterrichtsverlauf mit ho- konnten sich im Unterricht viel besser auf
hen Anteilen aktiver Lernzeit war bei je- die eigentlichen Lernaktivitten konzen-
nen Lehrer(inne)n zu beobachten, die trieren. Sie konnten Aufgabenstellungen
vom ersten Schultag an die wichtigsten leichter erlutern, wo nçtig Korrekturen
Verhaltensregeln konsequent eingefhrt und Wiederholungen anbringen sowie
und ihre Umsetzung beispielhaft model- differenziertere Rckmeldungen geben.

Fokus: Wenn Regeln nicht eingehalten werden


Weinstein und Mignano (2003) beobachteten das Verhalten von vier berufserfahre-
nen und besonders erfolgreichen Primarschullehrern. Auch sie hatten mit Regelver-
letzungen im Unterricht zu tun. Die von ihnen bevorzugten Sanktionen lassen sich
den folgenden Kategorien zuordnen:

. die eigene Enttuschung zum Ausdruck bringen,


. Privilegien entziehen,
. kurzzeitig aus der Lerngruppe ausschließen,
. eine schriftlich abgefasste Reflexion ber die eigene Regelverletzung einfordern,
. nach der Schulstunde zum Gesprch einbestellen,
. die Schulleitung informieren,
. Kontaktaufnahme mit den Eltern.

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Beispiel: Reflexion ber einen Regelverstoß


Max hat whrend des Unterrichts mit »Krampen« geschossen, das sind kleine Pa-
pierkugeln, die ber ein zwischen Daumen und Zeigefinder gespanntes Gummi-
band auf ein Ziel – meist einen Mitschler – katapultiert werden. Um Einsicht ber
sein Fehlverhalten zu bewirken, soll er sich schriftlich mit der Gefhrlichkeit seines
Tuns auseinander setzen. Max liefert die folgende schriftliche Reflexion ab:
»Die Krampe kann einem Kind ins Auge fliegen und das Kind kann dann vielleicht
nicht mehr so gut sehen. Es kann auch passieren, dass das Kind blind werden kann.
Die Krampe kann auch einem Menschen ins Ohr fliegen und das ist unangenehm.
Ich habe schon mal eine Krampe an die Nase bekommen und das war sehr unange-
nehm. Die Krampe ist berhaupt eigentlich schon ganz schçn gefhrlich. Und wenn
man im Fachunterricht einfach in die Klasse hinein schießt, dann stçrt das auch die
Lehrer und andere Kinder. Und ich hoffe, ich bekomme nicht noch mal so eine
Strafarbeit von einem Lehrer auf«.

Disziplinprobleme, die Sanktionsandro- durchgefhrt worden. Im deutschsprachi-


hungen nach sich ziehen wrden, spielten gen Raum ist das Thema Klassenmanage-
bei ihnen keine große Rolle. ment und Klassenfhrung weitgehend
Nolting (2002) hat darauf hingewiesen, unbearbeitet geblieben. Helmke (2003,
dass das frhzeitige Einfhren von Re- S. 82) stellt sogar die These auf, dass es
geln nicht notwendigerweise bedeutet, sich in Deutschland geradezu um ein Ta-
dass alle Regeln und Routinen gleichzei- buthema handele. Dabei ist seine prakti-
tig eingefhrt werden sollten. Das gleich- sche Bedeutsamkeit keineswegs zu unter-
zeitige Einfhren von sehr vielen Regeln schtzen.
kann nmlich leicht zur berforderung Unsere Ausfhrungen zum frhzeitigen
fhren. Außerdem erfordert ein kon- und konsequenten Einfhren von Regeln
sequentes Einfhren von Regeln, dass die haben bereits deutlich gemacht, dass eine
Lehrkraft durch ihr eigenes Handeln effiziente Klassenfhrung auf dem Prinzip
zeigt, dass sie die eingefhrten Regeln der Prvention basiert. Durch Prvention
selbst ernst nimmt. Nimmt man nmlich wird verhindert, dass etwas »anbrennt«,
von Verletzungen fest geregelter Verhal- so dass man nicht erst dann handeln
tensmuster keine Notiz, dann ist der not- muss, wenn es bereits »brennt«. Die For-
wendige Grad an Konsequenz nicht er- schungen von Jacob Kounin (1970) ha-
fllt. Schler(innen) nehmen dies nicht ben die Bedeutsamkeit des Einhaltens
selten zum Anlass, die Grenzen des noch prventiver Prinzipien fr die Aufrechter-
tolerierten Abweichens von den Regeln haltung stçrungsfreien Unterrichts ein-
auszuloten. drcklich belegt. Dabei war Kounin ur-
sprnglich der Frage nachgegangen, was
Prinzipien effizienter denn die wirksamsten Interventionsmaß-
nahmen beim Auftreten von Unterrichts-
Klassenfhrung
stçrungen seien – was also zu tun wre,
Empirische Forschung zum erfolgreichen wenn schon etwas angebrannt ist. Ein Er-
Klassenmanagement ist vor allem in den lebnis in seiner eigenen Vorlesung hatte
1970er- und 1980er-Jahren in den USA ihn zu dieser Fragestellung gebracht. Er
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Teil II Lehren

hatte einen Studenten gergt, der wh- Allgegenwrtigkeit. Streng genommen ist
rend der Vorlesung in der Tageszeitung die Allgegenwart der Lehrkraft natrlich
las, statt aufmerksam den Ausfhrungen eine an Allmachtsphantasien erinnernde
zu folgen. Die Rge bewirkte mehr, als er Fiktion. Auch ein noch so erfahrener und
geahnt hatte. Nicht nur fhrte sie dazu, versierter Lehrer kann nicht wirklich im-
dass der Gescholtene seine Zeitung zur mer ber alles im Bilde sein, was im Un-
Seite legte. Vielmehr gab es eine Art Wel- terricht oder gar in der Klasse insgesamt
leneffekt – die Rge schien sich auch auf abluft. Dennoch wird diese Fiktion
das Verhalten der nicht gergten Studie- leicht zur subjektiven Realitt, nmlich
renden im Hçrsaal auszuwirken: Es wur- dann, wenn eine Lehrkraft bei den Sch-
de schlagartig still im Raum, das Flstern ler(innen) den Eindruck erweckt, jederzeit
untereinander wurde eingestellt, Seiten- ber alles, was in der Klasse geschieht,
blicke unterblieben, die Augen wandten genau Bescheid zu wissen. Dieser erste
sich vom Lehrer ab und vergruben sich in Bereich effizienter Klassenfhrung wird
den Mitschriften. von Kounin (1970) durch zwei Kom-
Dass eine solche Stimmung nicht gerade petenzen des Lehrenden nher umschrie-
lernfçrderlich ist, leuchtete Kounin un- ben, die er als Prsenz (withitness) und
mittelbar ein. Er begann mit einer Serie berlappung (overlapping) bezeichnet.
empirischer Untersuchungen zu der Fra- Prsenz bedeutet, dass die Lehrkraft alle
ge, welche Arten von Interventionen sich Aktivitten der Schler(innen) im Blick
auf den Unterrichtsfluss und auf das akti- hat. Das geht so weit, dass die Unterrich-
ve Lernen in der Klasse besonders gnstig teten das Gefhl haben, die Lehrperson
auswirken. Die mehrjhrigen For- habe auch im Rcken Augen und Ohren.
schungsbemhungen blieben ohne befrie- Dieser Eindruck wird vermittelt, wenn
digendes Resultat. Dies nderte sich erst, man sehr deutlich macht, dass Stçrungen
als Kounin die Perspektive wechselte und und heikle Entwicklungen nicht geflis-
im Rahmen von groß angelegten Video- sentlich bersehen und schon gar nicht
studien der Frage nachging, worin sich ignoriert werden. Mit berlappung ist
Lehrkrfte von Klassen mit hoher aktiver die Kompetenz der Lehrperson gemeint,
Lernzeit und geringer Stçrungsrate von mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Ge-
solchen unterschieden, die ber hufige lingt es, sich einem Verhaltensproblem zu
Disziplinprobleme klagten. widmen, ohne die bersicht und Kontrol-
Aus diesen Rekonstruktionen erfolgrei- le ber die gesamte Klasse zu verlieren,
chen Klassenmanagements leitete Kounin dann strkt auch das den subjektiven
(1970) eine Reihe von Prinzipien effizien- Eindruck, dass der Lehrer oder die Lehre-
ter Klassenfhrung ab, die sich vier rin allgegenwrtig sei. Die Folge ist, dass
Bereichen zuordnen lassen: der Allgegen- es wenig Anlass gibt, die Kompetenzen
wrtigkeit der Lehrkraft, der Reibungs- der Lehrperson durch Stçrmançver wei-
losigkeit im Unterrichtsablauf, der Auf- ter auszuloten oder in Frage zu stellen.
rechterhaltung des Gruppenfokus und
der berdrussvermeidung. Auch wenn Reibungsloser Unterrichtsablauf. In je-
die im Folgenden etwas nher ausgefhr- dem Unterricht kommt es zu bergngen
ten Prinzipien nicht immer klar von der zwischen verschiedenen Phasen, Aktivit-
zugleich verwendeten Unterrichtsmetho- ten oder Anforderungen. Erfolgreiches
dik abzugrenzen sind, gelten sie bis heute Klassenmanagement ist auch dadurch
als eine geeignete Grundlage fr eine effi- charakterisiert, dass die Unterrichtsdyna-
ziente Klassenfhrung. mik auch bei solchen bergngen erhal-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Fokus: Allgegenwrtigkeit
Fetsco und McClure (2005, S. 322ff) haben einige Techniken aufgefhrt, die geeig-
net sind, den Eindruck der Allgegenwrtigkeit zu erhçhen:

. regelmßig den Klassenraum mit den Augen forschend absuchen und nicht zu
lange einen einzelnen Schler zu fokussieren,
. im Unterricht stehen anstatt zu sitzen und dabei Positionen einnehmen, aus denen
heraus der gesamte Klassenraum berblickt werden kann,
. in Phasen der Gruppenarbeit durch den Raum wandern und die Aktivitten ber-
wachen,
. darauf achten, dass die Sicht auf die ganze Klasse nicht blockiert wird.

ten bleibt und dass Verzçgerungen im Geschmeidigkeit lautet: Vermeide thema-


Unterrichtsfluss mçglichst vermieden wer- tische Sprnge.
den. Kounin (1970) benennt zwei Merk-
male der Klassenfhrung, mit denen sich Aufrechterhaltung des Gruppenfokus.
dies erreichen lsst, nmlich den Schwung Schulunterricht erfolgt in der Regel in der
(momentum) und die Geschmeidigkeit Gruppe. Gute Klassenfhrung impliziert
(smoothness). Um den Schwung aufrecht daher, nicht nur einzelne, sondern mçg-
zu erhalten, drfen zufllige und unwich- lichst viele Schler(innen) zu aktivieren.
tige Unterbrechungen keine große Auf- Kounins (1970) Analysen ergaben, dass
merksamkeit erhalten. Zu den typischen vor allem zwei Aspekte dazu beitragen,
Verstçßen gegen das Prinzip des Unter- dass dies gelingt, nmlich die Stimulie-
richtsschwungs gehçren z. B. vom Haupt- rung einer breiten Aufmerksamkeit in der
thema abschweifende Ausfhrungen und Klasse (group alerting) und die Zuwei-
das berproblematisieren von Kleinigkei- sung der Leistungsverantwortlichkeit auf
ten. Das Vermeiden unnçtiger Unterbre- die ganze Klasse (accountability). Der
chungen ist also die oberste Maxime fr Gruppenfokus wird besonders durch die
das Prinzip der Schwungerhaltung. Die Art und Weise erreicht, mit der Themen
Geschmeidigkeit des Unterrichts wird eingefhrt und Leistungskontrollen reali-
durch Sprunghaftigkeiten (wie z. B. durch siert werden. Mssen alle damit rechnen,
einen abrupten Themenwechsel) und whrend einer Stunde befragt zu werden,
durch Inkohrenzen (wie z. B. durch sach- erhçht dies das Aufmerksamkeitsniveau
logische Brche) gefhrdet. Die allgemei- in der Klasse. Zeigt der Lehrer an, dass er
ne Faustregel zur Aufrechterhaltung der die Leistungsnachweise (Hausaufgaben,

Fokus: Reibungsverluste
. Whrend einer Rechenbung ermahnt der Lehrer einen Schler, aufrecht zu sit-
zen, und macht ihm vor, wie er richtig sitzen solle.
. Mitten in die Stillarbeitsphase einer Unterrichtsstunde hinein fragt die Lehrerin
unvermittelt, ob jemand wisse, warum Dennis heute fehle.
. Whrend eines Unterrichtsgesprchs entdeckt der Lehrer ein Abfallpapier auf dem
Boden und macht zu dieser Beobachtung einige grundstzliche Bemerkungen.
(nach Nolting, 2002, S. 33)

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Teil II Lehren

Hefteintrge) kontrollieren wird, so steigt Die in diesem Abschnitt zusammengetra-


die von den Schler(inne)n subjektiv genen Facetten erfolgreichen Klassenma-
wahrgenommene Wichtigkeit der Leis- nagements und effizienter Klassenfhrung
tung an und damit auch das Gefhl einer drften deutlich gemacht haben, dass Re-
Verantwortlichkeit fr die eigene Leis- geln, Routinen, Kontrolle und Prvention
tung. wichtige Elemente sind, aus denen sich ein
gelungenes Klassenmanagement zusam-
berdrussvermeidung. Langeweile ist der mensetzt. Im deutschen Sprachraum wird
Feind aktiven Lernens; sie entzieht die dieses Thema gern ausgespart, vermutlich
motivationale Grundlage fr erfolgrei- deshalb, weil sich rasch Assoziationen zu
ches Lernen. Kounin (1970) weist darauf Themen wie »Recht und Ordnung« oder
hin, dass sich berdruss am besten durch »Autoritarismus« einstellen mçgen. Be-
Abwechslung und durch intellektuelle schftigt man sich jedoch mit der Frage der
Herausforderung vermeiden lsst. Ab- Unterrichtsgestaltung unter der Perspekti-
wechslungen kçnnen auf sehr unter- ve des »erfolgreichen« Lehrens (vgl. Kapi-
schiedliche Weise realisiert werden, so tel 6), kommt dem Thema Klassenfhrung
z. B. durch die Variation der Aufgaben- und Klassenmanagement eine zentrale Be-
schwierigkeit, durch den Wechsel der In- deutung zu. Erfolgreich ist Lehren dann,
halte oder der geforderten Aktivitt. Z- wenn erfolgreiches Lernen stattfindet. Dies
gige und stimulierende berleitungen in ist am wahrscheinlichsten, wenn eine Lern-
neue Unterrichtsphasen dienen nicht nur umgebung geschaffen wird, die einen mçg-
der Aufrechterhaltung eines reibungs- lichst hohen Prozentsatz an aktiver Lern-
losen Unterrichts (s.o.), sondern darber zeit sicherstellt. Genau dies wird durch er-
hinaus der Unterbindung von berdruss folgreiches Klassenmanagement und effi-
und Langeweile. ziente Klassenfhrung erreicht.

Fokus: Wenn Prvention versagt


Levin und Nolan (2000) empfehlen sieben einfache Techniken, um stçrendes Ver-
halten schnell zu unterbinden:

. Blickkontakt aufnehmen oder dicht an den Stçrenfried herantreten,


. verbale Hinweise nutzen, z. B. durch das namentliche Benennen des betreffenden
Schlers – ohne den Unterrichtsfluss zu unterbrechen,
. den Stçrenfried fragen, ob er sich ber die negativen Konsequenzen seines Verhal-
tens im Klaren ist,
. an die vereinbarten Regeln erinnern (und die vereinbarten Konsequenzen prakti-
zieren),
. den Stçrenden auffordern, die vereinbarten Routinen oder Regeln zu benennen
und ihnen Folge zu leisten,
. den Stçrenden unmissverstndlich auffordern, seine Stçrung zu unterlassen,
. eine Wahlalternative anbieten (z. B. »Du hast jetzt die Wahl. Unterlasse das Rein-
rufen von Antworten und melde dich, wenn du eine Antwort weißt, oder setze
dich in eine Ecke des Klassenraumes und wir beide diskutieren spter ber dein
Verhalten!«).

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

7.3 Beurteilen und Bewerten Lehrkrften zu wnschen brig lsst, hat


schulischer Leistungen eine lange Tradition. Verstrkt wurde die-
se Sorge durch empirische Untersuchun-
Zu den alltglichen Anforderungen an gen zur Beurteilerbereinstimmung. Da-
Unterrichtende gehçrt es, Leistungen zu bei zeigte sich, dass die Benotung von
beurteilen und zu bewerten. Das summa- Aufstzen – aber auch von Klausuren in
tive (abschließende) Benoten ist die den naturwissenschaftlichen Fchern –
bekannteste Beurteilungsaufgabe von nicht sonderlich gut bereinstimmte. Die
Lehrkrften. Darber hinaus sind unter- Vermutung, dass Voreinstellungen und
richtsbegleitend fortlaufend Leistungs- Erwartungen die Urteilsgte beeintrchti-
beurteilungen vorzunehmen, die die gen, wurde z. B. durch die Befunde einer
Grundlage fr die weitere Unterrichts- Untersuchung von Weiss (1965) besttigt.
gestaltung zur Optimierung von Lehr- Weiss legte Deutschlehrern den Aufsatz
Lern-Prozessen bilden. All diese Ttigkei- eines Schlers vor mit der Bitte, fr die-
ten des Beurteilens und Bewertens fasst sen Aufsatz eine Note vorzuschlagen.
man unter dem Begriff des Diagnostizie- Der einen Hlfte der Lehrer wurde bei-
rens zusammen. Neben einer effizienten lufig mitgeteilt, es handele sich um einen
Klassenfhrung zhlt die diagnostische eher durchschnittlich begabten Schler.
Expertise zu den basalen Kompetenzen Den anderen wurde der Hinweis gege-
des Lehrens und Unterrichtens. ben, es handele sich um einen sprachlich
Die Sorge, dass die Angemessenheit und besonders begabten Schler, dessen Vater
Fairness der Leistungsbeurteilungen von Redakteur einer großen Tageszeitung sei.

Analyse: Erwartungseffekte
Ovid berichtet, dass sich einst der zyprische Stadtkçnig und Bildhauer Pygmalion ei-
ne wunderschçne Frauenstatue geschaffen hatte, in die er sich unsterblich verliebte.
Er wnschte sich nichts sehnlicher, als dass die Statue »aufblhe« und zum Leben er-
weckt werde, damit er sie ehelichen kçnnte. Die Gçtter hatten ein Einsehen – und die
sehnliche Erwartung des Pygmalion und alle seine Wnsche wurden Wirklichkeit.
Der Sozialpsychologe Robert Rosenthal und die Schulleiterin Leonore Jacobsen
(1968) berichteten vom »Aufblhen« von Schulkindern aufgrund einer entspre-
chenden Leistungserwartung ihrer Lehrer. In Anlehnung an Pygmalions Geschichte
haben sie das Phnomen als Pygmalioneffekt im Unterricht bezeichnet. In mehreren
Klassen einer Grundschule hatten die Forscher einen speziellen Intelligenztest
durchgefhrt, vorgeblich mit dem Ziel, die weitere Leistungsentwicklung der Kin-
der vorherzusagen. Im Anschluss wurden den Lehrern dieser Schler einige als ver-
meintlich Hochbegabte namentlich benannt – fr sie sei ein besonders deutlicher
Leistungsfortschritt im nchsten Schuljahr zu erwarten. Tatschlich waren diese
Schler per Zufall ausgewhlt worden. Dennoch erreichten deutlich mehr von ih-
nen am Ende des Schuljahres bessere kognitive Leistungswerte als die Schler einer
Kontrollgruppe.
Was war passiert? Die Lehrer gingen mit den vermeintlich Hochbegabten freundli-
cher und nachsichtiger um und sie gaben ihnen vermehrt Gelegenheit, sich am Un-
terricht zu beteiligen (zu einer umfassenden Darstellung und Diskussion vgl. Rosen-
thal, 1991; Ludwig, 2001).

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Teil II Lehren

Diese zweite Gruppe benotete nicht nur ihnen zugrunde liegen und wie die Test-
den Gesamtaufsatz, sondern auch ver- werte zu interpretieren sind.
gleichsweise gut objektivierbare Teilkom- Es gibt eine Reihe von Gtekriterien, die
ponenten, wie die Rechtschreibung, im an diagnostische Urteile anzulegen sind,
Durchschnitt deutlich besser. damit sie als angemessen und fair gelten
Auch die PISA-Studie aus dem Jahre kçnnen. Welche Gtekriterien mssen be-
2000 deutet an, dass es um die diagnosti- achtet werden und wie relevant sind diese
sche Kompetenz von Lehrer(inne)n nicht Gtekriterien fr das tgliche Urteilsver-
immer gut bestellt ist. Die Lehrkrfte der halten von Lehrerinnen und Lehrern?
an der PISA-Studie beteiligten Haupt- Des Weiteren geht es in diesem Abschnitt
schulen wurden gebeten, jene Schler um die Bezugsnormen, an denen sich
und Schlerinnen zu nennen, »deren Le- Leistungsbeurteilungen orientieren. Die
sefhigkeit so gering ausgeprgt ist, dass bloße Feststellung oder Messung einer
sie sich als ernsthaftes Problem beim Leistung ist lediglich die Voraussetzung
bergang ins Berufsleben erweisen wird dafr, eine Leistungsbewertung vorneh-
... [weil sie] deutlich unterhalb der Lese- men zu kçnnen. Erst wenn die Leistungs-
fhigkeit gleichaltriger Schlerinnen und feststellung mit einer Norm oder mit ei-
Schler derselben Schulform [liegt]« (Ar- nem Standard verglichen wird, wird
telt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001, deutlich, ob es sich um eine gute oder um
S. 119). Von den etwa 23 Prozent Haupt- eine weniger gute Leistung handelt.
schlern, deren gemessene Lesefhigkeit Schließlich wird thematisiert, wie es um
noch unterhalb der basalen Lesekom- die Genauigkeit der Leistungsbeurteilun-
petenzstufe 1 lag, wurde aber nur jeder gen steht. Es gibt unterschiedliche Kom-
Zehnte von seinen Lehrer(inne)n als zur ponenten der Urteilsgenauigkeit und es
Risikogruppe gehçrig eingestuft. gibt typische Fehlerquellen, die die Ge-
Auch wenn die aufgefhrten Befunde kei- nauigkeit von Leistungsbeurteilungen be-
neswegs zu der Schlussfolgerung verfh- eintrchtigen. Abschließend geht es um
ren sollten, die diagnostischen Kompeten- die Wirkungen von Lehrerurteilen. Den
zen von Lehrkrften seien durchwegs Bewertungen und Leistungsrckmeldun-
mangelhaft, so machen sie doch deutlich, gen kommt nmlich eine große Bedeutung
wie schwierig das zutreffende und zuver- fr das knftige Lern- und Leistungsver-
lssige Beurteilen und Bewerten von halten der Schlerinnen und Schler zu.
Schulleistungen ist. In diesem Abschnitt
werden wir deshalb ber wichtige Grund-
Diagnose und Prognose
lagen einer professionellen Leistungsdiag-
nostik in Schule und Unterricht informie- Auf den ersten Blick ist die Beurteilung
ren. Zunchst werden grundlegende und Bewertung der Leistungen von Sch-
Begriffe der Diagnose und Prognose er- lerinnen und Schlern eine Diagnose. Der
lutert, um anschließend zentrale The- griechische Ursprung des Wortes Diag-
menbereiche der Beurteilung und Bewer- nose bedeutet nmlich so viel wie »eine
tung schulischer Leistung zu skizzieren. unterscheidende, zusammenfassende Be-
Da standardisierte Schulleistungstests in urteilung«. Es geht also um eine zusam-
jngerer Zeit auch im deutschen Sprach- menfassende Bewertung bisher erbrachter
raum sehr an Bedeutung gewonnen ha- Leistungen. Fr die mit der Diagnose
ben, wird erklrt, was standardisierte einhergehende Bewertung ist die Vorgabe
Tests eigentlich sind, wozu sie bençtigt eines Unterscheidungskatalogs, eines Ka-
werden, welche Konstruktionsprinzipien tegorien- bzw. sonstigen Klassifikations-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

systems erforderlich. Das am meisten ver- zur Vorhersage schulischer und akademi-
breitete Klassifikationssystem im Kontext scher Leistungen wissen wir: Die besten
von Schule sind Zensuren. Die Bewer- Prdiktoren fr zuknftige Leistungen
tung einer erbrachten Leistung durch die sind die vergangenen Leistungen (Helm-
Vergabe einer Zensur ist eine Diagnose ke & Weinert, 1997a).
im Sinne einer Schlussfolgerung ber den ber die Qualitt von Diagnosen und
erreichten Leistungsstand auf der Grund- Prognosen entscheidet der Prozess des Di-
lage des gezeigten Leistungsverhaltens agnostizierens. Es verwundert daher nicht,
und der fr die Jahrgangsstufe definierten dass Oser (2004) bei seiner Beschreibung
Leistungserwartung. von Kompetenzen als Standards fr die
In der schulischen Praxis sind Leistungs- Lehrerbildung auch die Kompetenz der
bewertungen jedoch hufig weit mehr als vielseitigen, gerechten und effizienten
eine Schlussfolgerung ber das bisher ge- berprfung von Schulleistungen auf-
zeigte Lern- und Leistungsverhalten. Oft- fhrt. Aber wie lsst sich die Qualitt die-
mals haben Beurteilungen und Zensuren ses Diagnostizierens sichern? Pdagogi-
auch die Funktion, die Geeignetheit eines sche Psychologen sind davon berzeugt,
Schlers etwa fr bestimmte weiterfh- dass die beste Qualittssicherung fr das
rende Bildungsgnge abzuschtzen. Aus Diagnostizieren schulischer Leistungen in
der Diagnose eines bisher erreichten Leis- der Bereitstellung geeigneter diagnosti-
tungsniveaus wird somit eine Prognose scher Werkzeuge liegt. Wie den Bnden
ber zuknftig erreichbare Lernziele (z. B. der Reihe »Tests und Trends. Jahrbuch
bei der bertrittsentscheidung am Ende der pdagogisch-psychologischen Diag-
der Grundschule oder bei der Entschei- nostik« zu entnehmen ist, liegen mittler-
dung ber die Befhigung, nach erfolgrei- weile fr viele (wenn auch noch keines-
chem Abschluss der Realschule noch eine wegs fr alle) schulische Leistungsbereiche
Hochschulreife zu erreichen). diagnostische Testverfahren vor, die den
Im brigen hat sich der Gebrauch von di- Prozess des unterrichtlichen Diagnostizie-
agnostischen Urteilen anhand der bisher rens entscheidend verbessern helfen. Im
gezeigten (Schul-)Leistungen durchaus als Folgenden wird auf die Konstruktion, die
angemessene Grundlage fr eine prog- Interpretation und den Nutzen solcher
nostische Entscheidung erwiesen. Aus der Tests eingegangen. Aber auch vorstruktu-
Expertiseforschung, aus den Studien zum rierte Interviews und systematische Ver-
kumulativen Lernen und aus den Studien haltensbeobachtungen sind durchaus

Definition: Diagnose und Prognose


Unter Diagnose versteht man die bewertende Schlussfolgerung ber eine Person (ge-
legentlich auch ber eine Sache oder Institution) im Rahmen eines vorgegebenen
Klassifikationssystems. Eine kompetente Diagnose ist das Ergebnis eines systemati-
schen Sammelns und Aufbereitens von Informationen mit dem Ziel, eine diagnosti-
sche Schlussfolgerung zu begrnden und zu optimieren. Den gesamten Prozess
nennt man Diagnostizieren.
Auch der Prognose liegt ein Prozess des Diagnostizierens zugrunde. Eine Prognose
wird sich allerdings erst in der Zukunft als zutreffend oder verfehlt erweisen. Denn
es geht stets um die Vorhersage bzw. Einschtzung einer zuknftigen Entwicklung
von Personen oder Sachverhalten.

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Teil II Lehren

taugliche diagnostische Instrumente (vgl. richts zu tun haben, oder entschließt sich
dazu Lukesch, 1998). der Lehrer gar, unterschiedlichen Sch-
ler(inne)n unterschiedliche Aufgaben
vorzulegen, dann entsteht bei vielen
Was sind standardisierte Tests?
Schler(inne)n der Eindruck, die Leis-
Im Sprachgebrauch hat es sich eingebr- tungsprobe sei nicht »fair«. Der Erfolg
gert, Leistungsberprfungen als Tests zu des Einzelnen bei einer solchen Leistungs-
bezeichnen. So kndigt der Lehrer am probe hngt brigens nicht nur davon ab,
Ende einer curricularen Einheit an: ob die Inhalte der letzten curricularen
»Morgen schreiben wir einen kleinen Einheit verstanden und behalten wurden,
Test, damit ich sehe, ob ihr das Thema sondern auch von einer Reihe anderer
verstanden habt«. Bei dem dann am Begebenheiten. Haben die Prfaufgaben
nchsten Tag vorgelegten Test handelt es nur wenig mit den Inhalten des Unter-
sich streng genommen um eine Leis- richts zu tun, entscheiden mitunter
tungsprobe, die sich unmittelbar auf den Qualitt und Verfgbarkeit des geeig-
vorausgegangenen Unterricht bezieht. neten Vorwissens ber das individuelle
Haben die Schler(innen) den Eindruck, Abschneiden. hnliches gilt fr den Fall,
dass die Aufgaben der Leistungsprobe dass ein Test fr jeden Schler eine jeweils
nicht viel mit den Inhalten des Unter- andere Aufgabe bereithlt: Schlerin A ist

Definition: Test
Ein Test ist ein systematisches und routinemßig einsetzbares Verfahren zur Mes-
sung definierter Ausschnitte menschlichen Verhaltens. Die Messung wird verwen-
det, um den Grad der Ausprgung einer so genannten Eigenschaft, Fhigkeit oder
Fertigkeit festzustellen und/oder um ein zuknftiges Verhalten vorherzusagen.

Fokus: Standardisierte Schulleistungstests


In den USA gibt es eine lange Tradition bei der Nutzung standardisierter Schulleis-
tungstests. Wenn Schulleistungen als verlssliche Schtzungen fr individuelle Kom-
petenzen gelten sollen, dann mssen fr wichtige Leistungsbereiche (z. B. Lesen,
Schreiben, Rechnen) Testverfahren entwickelt, standardisiert und an reprsentativen
Stichproben normiert werden, um die Leistungsbewertungen vergleichbar zu gestal-
ten. Unter der Prsidentschaft von Bill Clinton wurden landesweit solche standardi-
sierten Schulleistungstests fr vierte und achte Klassenstufen eingerichtet. Die Test-
ergebnisse dienen oft als Grundlage fr Platzierungsentscheidungen (z. B. wenn es
darum geht, ob ein Schler die Zulassung zu einem spezifischen Highschoolpro-
gramm erhlt).
Auch im deutschen Sprachraum gibt es eine lange Tradition, standardisierte Schul-
leistungstests verfgbar zu machen. Eine gute bersicht findet man hierzu im Bri-
ckenkamp Handbuch psychologischer und pdagogischer Tests (Brhler, Holling,
Leutner & Petermann, 2002) sowie in der Reihe »Deutsche Schultests«. ber aktu-
elle Entwicklungen auf diesem Gebiet informiert die Reihe »Tests und Trends: Jahr-
buch der pdagogisch-psychologischen Diagnostik«.

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

sich im Nachhinein sicher, dass sie die Wie werden Leistungstests


von Schler B zu bearbeitende Aufgabe
konstruiert?
besser gelçst htte als die eigene.
Zu Recht mag man sich fragen, wie sich Die Konstruktion eines Schulleistungs-
die Objektivitt der Leistungsprobe erhç- tests beginnt mit der Lehrzielanalyse, in
hen und die Fehleranflligkeit beim Fest- der festgelegt wird, was genau durch den
stellen des individuellen Leistungsstandes Test geprft werden soll. Im Idealfall geht
minimieren lsst. Die Antwort der Pda- es beim schulischen Lernen um die
gogischen Psychologie auf diese Frage Kenntnis, das Verstehen und das Anwen-
lautet: Verwende, wenn mçglich, einen den von spezifischen Inhalten. Je nach
standardisierten Leistungstest! Fach und curricularer Vorgabe lassen sich
Doch was versteht man unter einem stan- diese Kompetenzbereiche der Bloom-
dardisierten Leistungstest? Wie der Begriff schen Lehrzieltaxonomie noch weiter
schon sagt, handelt es sich um einen Test, ausdifferenzieren. Bei der Konstruktion
bei dessen Entwicklung und Anwendung eines (kognitiven) Leistungstests sollten
gewisse Standards einzuhalten sind, um jedenfalls das Kennen, Verstehen und An-
die Gefahr eines Messfehlers mçglichst wenden im Hinblick auf einen Gegen-
gering zu halten. Die minimale Vorausset- standsbereich in gleicher Weise Berck-
zung, um von Standardisierung zu spre- sichtigung finden (Abb. 7.8).
chen, besteht in der formellen Festlegung Die vor dem Hintergrund der Lehrziel-
der Art der Testdurchfhrung. Hinzu analyse ausgewhlten Aufgaben (Items)
kommt die Festlegung von Bewertungs- sollten eine reprsentative Auswahl der
normen, auf deren Basis die individuellen im Unterricht verwendeten bzw. im Cur-
Testleistungen eingeordnet werden. riculum verankerten Lernaufgaben dar-
stellen.
Neben der Lehrzielanalyse und dem Ge-
nerieren von Testitems – was im brigen

Kompetenzen
Kennen Verstehen Anwenden ... ...

Tonarten

Instrumente
Inhalte

Komposi-
tionsstile

...

...

Abb. 7.8: Matrix der Lehrzielanalyse als Grundlage zur Konstruktion standardisierter
Tests (Beispiel fr den Bereich Musik)

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Teil II Lehren

auch beim Erstellen einer »normalen« teilnehmer sollte sich aber schon im
Klassenarbeit geschieht – sind aber wei- dreistelligen Bereich bewegen) erfolgen.
tere Konstruktionsschritte erforderlich, Hufig werden die Schler(innen) und
um eine Standardisierung im engeren Lehrer(innen) zustzlich nach der Testung
Sinne zu gewhrleisten. Lukesch (1998) um eine allgemeine Einschtzung ber
nennt hier eine Abfolge von fnf Schritten: die Angemessenheit und Schwierigkeit
Vorerprobung, Testdurchfhrung an einer der Aufgaben und der Testinstruktionen
kleinen Stichprobe, Aufgaben- und Test- gebeten.
analyse, Testvalidierung und Testeichung. Anhand der Daten dieser Vorerprobung
Sind die Testaufgaben (Items) fr das ge- wird eine Aufgaben- und Testanalyse
plante Testverfahren in einem ersten Ent- durchgefhrt, bei der bestimmte Item-
wurf zusammengestellt, sollte dieser an kennwerte und Testindikatoren berechnet
einigen Personen erprobt werden. Im werden. Die beiden wichtigsten Item-
Wesentlichen geht es bei dieser Vorer- kennwerte sind die Aufgabenschwierig-
probung um eine berprfung der Ver- keit und die Trennschrfe einer Aufgabe.
stndlichkeit und Eindeutigkeit der Auf- Die Aufgabenschwierigkeit gibt an, wie
gabenformulierung und um eine erste viele Personen eine Aufgabe richtig gelçst
Abschtzung der Durchfhrungsprakti- haben. Aufgaben mit hoher Schwierigkeit
kabilitt. Treten hier Probleme auf, so (also mit einem kleinen Prozentsatz richti-
fhrt dies frhzeitig zu einer entsprechen- ger Lçsungen) sind gut geeignet, um Leis-
den Revision der betroffenen Items. tungsunterschiede zwischen leistungs-
Ist aufgrund der Vorerprobung gesichert, starken Personen abzubilden. Leichte
dass die Testitems verstndlich und ein- Aufgaben, die von sehr vielen Personen
deutig sind, kann eine erste Testdurchfh- richtig beantwortet werden, sind dagegen
rung unter realen Bedingungen an einer zur Erfassung von Unterschieden zwi-
kleinen Stichprobe (die Anzahl der Test- schen den leistungsschwcheren Personen

Beispiel: Aufgabenschwierigkeit
In dem von Roick, Gçlitz und Hasselhorn (2004) vorgelegten Mathematiktest fr
dritte Klassen (DEMAT 3+) werden z. B. Items zur Subtraktion vorgegeben. Eines
lautet:

In einer Voruntersuchung mit 200 Schulkindern am Ende der dritten Klassenstufe,


in der dieses Item zusammen mit einer Reihe hnlicher Items unter einer Zeitvor-
gabe zu bearbeiten war, lçsten 98 Kinder die Aufgabe richtig. Die Aufgabenschwie-
rigkeit P betrgt daher
Pi = 98/200 = 0.49
Das Item ist mittelschwer, da es mit einer Wahrscheinlichkeit von 49 % richtig ge-
lçst wird.

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

geeignet. Die besten Differenzierungs- und die Testeichung. Bei der Testvalidie-
mçglichkeiten bieten Aufgaben mit einer rung geht es um die empirische berpr-
mittleren Schwierigkeit. Empfehlenswert fung der Gltigkeit (Validitt) des Testver-
sind daher Testverfahren, bei denen sich fahrens. Ein Test ist dann valide, wenn er
die Aufgabenschwierigkeiten zwischen tatschlich das misst, was er messen soll.
0.20 (jeder Fnfte kennt die richtige Lç- Die Gltigkeit eines Mathematiktests
sung) und 0.80 (vier von fnf Personen lsst sich beispielsweise danach bewerten,
kennen die richtige Lçsung) streuen. ob die Testergebnisse in einem Zusam-
Der zweite zentrale Itemkennwert fr die menhang stehen mit der Einschtzung
weitere Konstruktion des Testverfahrens des mathematischen Leistungsvermçgens
ist die Trennschrfe. Sie gibt an, wie gut durch einen entsprechenden Fachlehrer
die Lçsung eines jeden einzelnen Items oder mit den Ergebnissen in einem ande-
mit dem Abschneiden im Gesamttest ren Mathematiktest. Fr den oben er-
bereinstimmt, d. h., wie trennscharf eine whnten DEMAT 3+ konnte z. B. bei
einzelne Aufgabe ist. Trennschrfen sind einer Testvalidierung ein statistischer Zu-
als statistische Zusammenhnge (Korrela- sammenhang von r = -0.61 zwischen der
tionen) zwischen der Lçsung des jeweili- Testleistung und der Mathematiknote
gen Einzelitems und dem Abschneiden festgestellt werden: Das bedeutet, dass
im Gesamttest definiert. Die Trennschr- Kinder mit einem hohen Testpunktwert
fen kçnnen, wie bei Korrelationskoeffi- eine bessere (d. h. numerisch kleinere) No-
zienten blich, Werte zwischen -1 und +1 te in Mathematik aufweisen.
annehmen, wobei eine Trennschrfe von Der letzte Schritt bei der Konstruktion ei-
0 indiziert, dass eine Aufgabe von leis- nes standardisierten Testverfahrens ist die
tungsstarken wie leistungsschwachen Per- Eichung bzw. die Normierung im engeren
sonen gleich hufig richtig gelçst wird. Sinne. Hierzu wird der Test in einer
Solche Aufgaben sind wenig aussagekrf- großen und reprsentativen Stichprobe
tig und sollten wieder aus dem Testent- durchgefhrt, um einen Vergleichsmaß-
wurf herausgenommen werden. Anzu- stab zu generieren, der spter die Grundla-
streben ist eine Auswahl von Items mit ge fr die Bewertung von Einzelleistungen
einer mçglichst hohen positiven Trenn- abgeben wird. Man nennt die Testeichung
schrfe. auch Normierung, weil durch sie die Be-
Ist ber die Aufgaben- und Testanalyse wertungsnormen fr die Interpretation
eine Reihe unterschiedlich schwieriger von Testwerten gewonnen werden.
und trennscharfer Items zusammenge- In der testdiagnostischen Praxis haben
stellt, werden in der Endform des Tests sich ganz unterschiedliche Normierungen
die Items nach ansteigendem Schwierig- eingebrgert. Weitlufig bekannt ist die
keitsgrad angeordnet. Dies gilt jedenfalls IQ-Normierung, die vor allem bei Intelli-
fr Leistungstests und hat den Vorteil, genztests Verwendung findet. In den Ab-
dass zunchst die leichteren Aufgaben zu schnitten ber Lernschwierigkeiten (Kap.
bearbeiten sind. Sie werden mit einer grç- 4.2) und ber Hochbegabung (Kap. 4.3)
ßeren Wahrscheinlichkeit richtig gelçst – war davon bereits die Rede. Bei einer
und wenn die ersten Aufgaben erfolgreich mittleren Testleistung wird hier der Wert
gemeistert werden, entsteht eine gnstige 100 vergeben. Der IQ-Normierung liegt
Testmotivation. eine theoretische (Standard-)Normalver-
Nach der Aufgaben- und Testanalyse ver- teilung zugrunde, die fr 68 Prozent der
bleiben zwei weitere Schritte der Test- in der Eichstichprobe untersuchten Per-
konstruktion: nmlich die Testvalidierung sonen IQ-Leistungen zwischen 85 und
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Teil II Lehren

Fokus: Prozentrangnormen
Um zu Prozentrangnormen zu gelangen, fasst man die Rohwerte (z. B. die Anzahl
der richtig gelçsten Testitems) zu Rohwertklassen zusammen, die jeweils gleiche
Prozentanteile der Gesamtverteilung der Rohwerte ausmachen. Auf diese Art und
Weise kann man jedem Rohwert des Tests einen bestimmten Prozentrang zuordnen.
Der Prozentrang gibt an, wie viel Prozent der Eichstichprobe diese oder eine
schlechtere Leistung gezeigt haben. Ein Prozentrang PR = 60 bedeutet z. B., dass 60
Prozent der Personen der Eichstichprobe genauso viele oder noch weniger Testitems
richtig gelçst haben.
Prozentrnge sind gleichverteilt. Im mittleren Leistungsbereich differenzieren die
Prozentrangnormen sehr stark, d. h. schon sehr kleine Unterschiede in den Rohwer-
ten machen sich deutlich in den Prozentrangunterschieden bemerkbar. In den Ex-
trembereichen der Leistung hingegen machen selbst grçßere Rohwertunterschiede
in den Prozentrngen kaum noch einen Unterschied. Weil die Normalverteilungs-
annahme fehlt, kann man mit Prozentrangnormen in der schlussfolgernden Statistik
nur wenig anfangen. In der diagnostischen Praxis sind sie jedoch sehr beliebt, weil
sie eine rasche Bestimmung der relativen Position einer getesteten Person zulassen.

115 Punkten postuliert. Bei schulischen scher Konzepte. Zu diesen zhlen die
Leistungstests werden nur selten IQ-Nor- Hufigkeitsverteilung, die Maßzahlen
mierungen vorgenommen. Weit verbrei- der zentralen Tendenz und der Streuung
tet sind die ohne Verteilungsannahmen sowie die Unterscheidung zwischen ei-
operierenden Prozentrangnormierungen. nem Rohwert und einem Normwert so-
An den Prozentrngen lsst sich direkt wie zwischen dem Testwert und dem
ablesen, ob man zu den Schlechtesten »wahren« Wert einer Person. Unter den
oder Besten einer Stichprobe gehçrt. Stichworten Deskriptivstatistik, Wahr-
scheinlichkeitsrechnung und Testtheorie
Wie werden Testwerte finden sich einfhrende Darstellungen
hierzu in nahezu jedem Standardwerk der
interpretiert?
Psychologie (vgl. z. B. Zimbardo & Ger-
In Lndern, in denen die Anwendung rig, 2004).
standardisierter Tests zum Schulalltag ge-
hçrt, wird von den Lehrkrften erwartet, Rohwerte und Normwerte. Bisher haben
dass sie wissen, wie man die Ergebnisse wir immer von den Testwerten gespro-
solcher Tests interpretiert. Bei genauem chen, also von Punktwerten, die Personen
Hinschauen zeigt sich jedoch, dass die In- bei einem Test erzielen. Lassen wir z. B.
terpretation von Testwerten keineswegs einen Test bearbeiten, der aus zehn Auf-
trivial ist. Oft genug enthalten die Test- gaben besteht, und zhlen aus, ob eine
manuale zwar unterschiedliche Kennwer- Aufgabe richtig beantwortet wurde oder
te und Kennziffern – es fllt aber dem An- nicht, dann wird als Rohwert die Anzahl
wender nicht leicht, ihre Bedeutung und richtig gelçster Aufgaben herangezogen.
ihre Implikationen zu berblicken. Allein aufgrund des erreichten Rohwertes
Fr das Verstehen und Interpretieren von einer Person kann man aber – von Ex-
Testwerten bedarf es der Kenntnis grund- tremfllen einmal abgesehen – das Leis-
legender statistischer und messtheoreti- tungsvermçgen einer Person nicht wirk-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Fokus: Grundlegende statistische Konzepte


Hufigkeitsverteilung. Fhrt man einen Leistungstest an einer grçßeren Anzahl von
Personen durch, dann kann man die Personen nach ihren individuell erzielten Wer-
ten auflisten und so die absoluten (mit Bezug auf die Gesamtanzahl der Personen
auch die relativen) Hufigkeiten eines jedes erreichten Testwertes bestimmen. Trgt
man nun diese Hufigkeiten auf der Ordinate (senkrecht) gegen alle mçglichen Aus-
prgungen der Testwerte auf der Abszisse (waagrecht) ab, so erhlt man eine Veran-
schaulichung der Hufigkeitsverteilung als Sulendiagramm. Abbildung 7.9 zeigt
ein Beispiel fr eine solche Hufigkeitsverteilung anhand der Normierungsdaten fr
den Deutschen Mathematiktest fr vierte Klassen (Gçlitz, Roick & Hasselhorn,
2006).

180 ...................................................................................

160 ...................................................................................

140 ...................................................................................
120 ...................................................................................
Häufigkeit

100 ...................................................................................

80 ...................................................................................

60 ...................................................................................

40 ...................................................................................

20 ...................................................................................

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40
Rohwert

Abb. 7.9: Normalverteilung und Hufigkeitsverteilung (am Beispiel des Deutschen


Mathematiktests fr vierte Klassen, DEMAT 4; Gçlitz, Roick & Hasselhorn, 2006)

Die Hufigkeitsverteilung ist zum Verstndnis der Bedeutung von Prozentrngen


hilfreich. Zustzlich muss man allerdings zwischen der relativen Hufigkeit und der
kumulativen Hufigkeit unterscheiden. Die relative Hufigkeit bezieht sich auf die
jeweilige Anzahl der Testteilnehmer, die einen bestimmten Testwert erreicht haben.
Die kumulative Hufigkeit dagegen bezieht sich auf die bis zu einem bestimmten
Testwert aufsummierten Hufigkeiten.
Maße der zentralen Tendenz. Um den individuell erreichten Testwert einer Person zu
bewerten, gengt die Kenntnis der Hufigkeitsverteilung nicht – zustzlich muss
man wissen, was der »typische«, also der blicherweise zu erwartende Wert ist. Ma-
ße der zentralen Tendenz zeigen den typischen oder charakteristischen Wert einer
Verteilung an und damit den allgemeinen Trend hinsichtlich der Ausprgung eines
Merkmals in der Population, fr die der Test normiert wurde. Die drei bekanntesten
Maße der zentralen Tendenz sind der Mittelwert, der Median und der Modalwert. In
einer Schulklasse entspricht der Mittelwert dem so genannten Klassendurchschnitt,

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Teil II Lehren

z. B. bei einem Leistungstest. Es handelt sich dabei um das arithmetische Mittel – die
Einzelwerte werden aufaddiert und durch die Anzahl der Einzelwerte dividiert. Der
Mittelwert ist eine hervorragende Schtzung fr den zu erwartenden Wert, solange
die Hufigkeitsverteilung der Werte in etwa einer Normalverteilung entspricht. Der
Median ist der Messwert, der genau in der Mitte einer Verteilung von Messwerten
steht, wenn man die Messwerte zuvor der Grçße nach ansteigend geordnet hat. Zur
Ermittlung des Medians bringt man die verfgbaren Einzelwerte deshalb zunchst
in eine aufsteigende Rangreihe. Bei einer ungeraden Anzahl von Meßwerten ent-
spricht dann der Median der Merkmalsausprgung des Rangplatzes, der die Werte-
verteilung in zwei Hlften teilt. Der Median entspricht zugleich einem Prozentrang
von 50 (PR = 50). Beim Modalwert handelt sich um den am hufigsten vorkommen-
den Einzelwert einer Messwertverteilung. Sind die Meßwerte exakt normalverteilt,
so sind die Ausprgungen von Mittelwert, Median und Modalwert identisch.

Maße der Variabilitt. Wir haben bereits erlutert, was unter einer Verteilung von
Werten zu verstehen ist. Beispielsweise kçnnen die individuellen Testwerte weit
streuen oder auch sehr eng beieinander liegen. Liegen die Werte weit auseinander,
so fllt es im Allgemeinen sehr viel leichter, Unterschiede zwischen Einzelwerten zu
interpretieren. Zwei hufig verwendete Maße zur Beschreibung der Variabilitt oder
Streuung einer Verteilung sind die Bandbreite und die Standardabweichung. Unter
Bandbreite (Variationsbreite) versteht man den Abstand zwischen dem niedrigsten
und dem hçchsten Wert in einer Verteilung. Dieses Maß der Variation ist hinsicht-
lich seiner Aussagekraft relativ anfllig fr so genannte »Ausreißer« in einer Hu-
figkeitsverteilung. Informativer ist hier die Standardabweichung, als Maß fr die
durchschnittliche Abweichung der Einzelwerte vom Mittelwert einer Verteilung. Sie
wird berechnet als Quadratwurzel aus der Varianz – der Summe der mittleren qua-
drierten Abweichungen aller Einzelwerte vom Gesamtmittelwert. Haben alle Test-
teilnehmer den gleichen Wert erzielt, so gibt es keine Variabilitt und auch die Stan-
dardabweichung ist null (SD = 0).

lich bewerten. Hierfr bedarf es eines Ver- ten. Der beobachtete Wert ist offenkun-
gleichsmaßstabes, der bei standardisier- dig: Eine Person hat beispielsweise 60
ten Tests durch die Normierung bzw. Ei- von 100 Testaufgaben richtig beantwortet
chung zur Verfgung steht. Aufgrund der (Rohwert) und aufgrund der Normie-
mittleren Leistung und der Verteilung in rungsdaten kann dieser Leistung ein
einer Eichstichprobe lsst sich jedem Normwert (z. B. Z = 105) zugeordnet
Rohwert ein entsprechender Normwert werden. Nun ist allerdings kein noch so
zuordnen, um die Position einer geteste- gut konstruierter Test vçllig messfehler-
ten Person im Hinblick auf diesen Maß- frei. Daraus folgt, dass man bei einem be-
stab zu bestimmen. Zu den gngigsten obachteten Testwert nicht genau wissen
Normwerten gehçren Z-Werte, IQ-Werte kann, inwieweit er punktgenau das tat-
und T-Werte (Abb. 7.10). schliche Leistungsvermçgen der Person
(den »wahren« Wert) abbildet. Der be-
Der wahre Wert. Eine weitere wichtige obachtete Wert ist deshalb nur eine Scht-
Unterscheidung der Testdiagnostik ist die zung des »wahren« Wertes einer Person.
zwischen beobachteten und wahren Wer- Zur Beurteilung der Gte dieser Scht-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Fokus: Testnormen
Es gibt lineartransformierte und flchentransformierte Testnormwerte. Die gngigs-
ten lineartransformierten Normwerte sind Standardwerte (Z-Werte), IQ-Werte und
T-Werte. Den Z-, IQ und T-Werten liegt die Annahme der Normalverteilung zugrun-
de. Sie sind als Vielfache der Standardabweichung definiert und durch Lineartrans-
formation ineinander berfhrbar und unterscheiden sich nur hinsichtlich der Me-
trik von Mittelwert und Streuung voneinander. Z-Werte weisen einen Mittelwert
von 100 und eine Standardabweichung von 10 auf; IQ-Werte haben ebenfalls den
Mittelwert von 100, jedoch eine Standardabweichung von 15, und T-Werte haben
einen Mittelwert von 50 und eine Standardabweichung von 10.
Die Prozentrnge (PR) sind dagegen aus der Dichtefunktion der Normalverteilung
abgeleitet und als kumulative relative Hufigkeit aus der Verteilung aller Testwerte
der Eichstichprobe definiert.

...................................................................................
Häufigkeit

......................

....................

Intelligenzquotient 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 120 125 130 135 140 145
(MW=100 s=15)
T-Wert 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80
(MW=50 s=10)
Prozentrang 0 0 1 2 5 9 16 25 37 50 63 75 84 91 95 98 99 99 100
Schulnote
(MW=3 s=1) 5 4 3 2 1

Abb. 7.10: Verhltnis gngiger Normwerte zueinander und zu (idealisierten) Schul-


noten

zung kann man Vertrauens- bzw. Kon- Wozu werden standardisierte


fidenzintervalle festlegen, die den Bereich Tests bençtigt?
angeben, innerhalb dessen mit einer ge-
wissen Irrtumswahrscheinlichkeit das Es wurde bereits erwhnt, dass standardi-
wahre Leistungsvermçgen der Person sierte Tests vor allem dann bençtigt wer-
liegt. Dieses Vertrauensintervall wird um- den, wenn die Bewertung einer Leistung
so kleiner sein, je weniger messfehler- mçglichst objektiv und zuverlssig erfol-
behaftet der Test ist bzw. je geringer die gen soll. Das ist bei vielen Selektions-
Irrtumswahrscheinlichkeit festgelegt wird oder Fçrderentscheidungen im pdagogi-
(vgl. Abb. 7.11). schen Bereich sicherlich der Fall.
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Teil II Lehren

Beobachtbare Testleistung

....................................

.........................................

.......................
.........................

Testscore

68 %
95 %
Vertrauensintervalle für wahre Testleistung
Abb. 7.11: Vertrauensintervalle fr unterschiedliche Konfidenzwahrscheinlichkeiten

Wichtige Entscheidungen, bei denen der neben mssen sie weitere Gtemerkmale
Einsatz standardisierter Tests zumindest aufweisen.
empfehlenswert ist, stehen zu ganz unter-
schiedlichen Anlssen im Bildungslebens-
lauf an. Hufig sind diese Anlsse mit Gtekriterien fr
weit reichenden Weichenstellungen ver- diagnostisches Urteilen
bunden. Manchmal wird es sich um Se-
lektionsentscheidungen handeln. So et- Nicht jedes diagnostische Urteil ber
wa, wenn es um die Frage geht, wer aus schulische Leistungen muss zwangslufig
einer Gruppe von Bewerbern um ein Sti- auf der Basis standardisierter Tests erfol-
pendium vermutlich die leistungsfhigste gen. Dennoch sollte die Qualitt jedes Ur-
Person sein wird. Manchmal wird es teils mçglichst hoch sein. Um dies zu ge-
auch um die Frage gehen, ob ein Schler whrleisten, wird fr pdagogische und
tatschlich eine Rechenschwche oder ei- psychologische Testverfahren das Einhal-
ne besondere Aufmerksamkeitsstçrung ten bestimmter Gtekriterien gefordert
aufweist. Dann geht es nicht um Selekti- (Hcker, Leutner & Amelang, 1998). Ob
on, sondern um die Zuweisung zu einer ein Gtekriterium erfllt ist, ist in der Re-
spezifischen Fçrdermaßnahme oder The- gel keine einfache Ja-Nein-Entscheidung.
rapie. Aber das Streben nach einer mçglichst
Gerade bei Entscheidungen, welche be- hohen Ausprgung hinsichtlich der zent-
sonderen Fçrdermaßnahmen bei spezi- ralen Gtemerkmale eines Tests ist zum
fischen Lernschwierigkeiten angezeigt Kriterium der Qualittssicherung diag-
sind (Fçrderentscheidungen), hat sich die nostischer Urteile im Allgemeinen gewor-
Verwendung standardisierter Tests sehr den. Als wichtigste Gtekriterien gelten
bewhrt. Dass sie eigens normiert sein die Objektivitt, die Zuverlssigkeit (Re-
mssen, wurde bereits beschrieben. Da- liabilitt) und die Gltigkeit (Validitt) ei-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

nes Tests. Hinzu kommt eine Reihe von ob nur bei einer vollstndig richtigen Lç-
Nebengtekriterien. sung einer Aufgabe oder auch schon bei
richtigen Teilschritten Bewertungspunkte
Objektivitt. Ein Test oder eine Beurtei- vergeben werden.
lung ist objektiv, wenn das diagnostische Schließlich muss auch die Interpretations-
Urteil ber die zu beurteilende Person eindeutigkeit eines Ergebnisses gewhr-
von der Person/Persçnlichkeit des Beur- leistet sein (Interpretationsobjektivitt).
teilers nicht beeinflusst ist. Vollkommen Bei standardisierten Tests ist dies unpro-
objektiv sind demnach Urteile, wenn alle blematisch, da der erzielte Rohwert nach
in Frage kommenden und befragten Beur- Vorschrift in einen Normwert umgewan-
teiler genau zum gleichen Ergebnis ge- delt wird. Ist allerdings ein solche Nor-
kommen sind. Seit langem gelten die Be- mierung nicht mçglich – wie z. B. bei der
urteilungen von Schleraufstzen durch Bildung einer Zeugnisnote aus verschie-
Fachlehrer als wenig objektiv. Dies hat in denen schriftlich und mndlich erbrach-
der Ausbildung von Lehramtsstudieren- ten Einzelleistungen – kann es leicht zu
den zu erhçhten Anstrengungen hinsicht- Einschrnkungen der Objektivitt kom-
lich der Sensibilisierung fr Probleme der men.
Leistungsbeurteilung gefhrt, um die Ob-
jektivitt der Notengebung zu steigern. Reliabilitt. Das Gtemerkmal der Relia-
Dennoch lsst sich leicht zeigen, dass un- bilitt bezieht sich auf die Zuverlssigkeit
terschiedliche Lehrpersonen sehr unter- bzw. Genauigkeit des diagnostischen Ur-
schiedliche Noten fr ein und dieselbe teils. Von einem reliablen diagnostischen
Klassenarbeit vergeben (z. B. Birkel & Werkzeug erwartet man, dass es przise
Birkel, 2002). und exakt misst. Wie wir beim Thema
Objektivittseinbußen kçnnen an unter- »wahrer Wert« bereits erlutert haben, ist
schiedlichen Stellen des diagnostischen die messfehlerfreie Erfassung von indivi-
Urteilsprozesses auftreten: schon bei der duellen Lern- und Leistungspotenzialen
Durchfhrung einer Leistungsprobe oder kaum mçglich. Im Rahmen der klassi-
eines Tests, dann bei der Auswertung und schen Testtheorie (vgl. Moosbrugger &
schließlich bei der Interpretation. Die Hartig, 2003) hat man sich mit der Frage
Durchfhrungsobjektivitt wird meist beschftigt, inwieweit man von den ge-
ber die Standardisierung der Durchfh- messenen (beobachteten) Werten auf die
rungsbedingungen zu sichern versucht. situationsunabhngigen »wahren« Merk-
Bei der Auswertungsobjektivitt geht es malsausprgungen schließen kann. Die
um die Fehleranflligkeit bei der Auszh- Axiome der klassischen Testtheorie erçff-
lung oder Verrechnung des von der Test- nen verschiedene Mçglichkeiten zur em-
person gezeigten diagnostisch relevanten pirischen Abschtzung der Reliabilitt ei-
Verhaltens. Handelt es sich bei dem nes Testverfahrens.
Antwortverhalten um Richtig-Falsch-An- Bei der empirischen Bestimmung der Re-
gaben etwa auf der Basis von Multiple- liabilitt (Messgenauigkeit) eines Tests
Choice-Aufgaben, so wird die Auswer- wird der Anteil der Varianz der »wahren
tungsobjektivitt vergleichsweise hoch Werte« an der Varianz der beobachteten
sein. Je komplexer die Testanforderung Werte geschtzt. Hierfr gibt es drei
jedoch ist, desto eher werden sich Proble- Mçglichkeiten: die Berechnung der Re-
me einer objektiven Testauswertung erge- test-Reliabilitt und der Paralleltest-Relia-
ben. So muss beispielsweise bei einem bilitt sowie die Bestimmung der internen
Mathematiktest genau festgelegt werden, Konsistenz. Bei all diesen Anstzen wer-
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Teil II Lehren

Definitionen: Axiome der klassischen Testtheorie


Existenzaxiom: Zu jedem beobachteten Testwert existiert ein ber alle Situationen
hinweg konstanter »wahrer Wert«.
Verknpfungsaxiom: Der beobachtete Wert X setzt sich additiv aus dem »wahren
Wert« W und einem Fehlerwert F zusammen (X = W + F).
Fehleraxiom: Messfehler treten zufllig auf und sind unabhngig vom wahren Wert.
Wahrer Wert und Fehlerwert sind nicht miteinander korreliert (rWF = 0).
Zusatzaxiome: Messfehler zweier beliebiger Items fr dieselbe Person oder zweier
Beobachtungen an beliebigen Personen mit demselben Item sind nicht korreliert.

den Reliabilittskoeffizienten ermittelt, besagt, dass das das Verfahren messfehler-


die Werte zwischen 0 und 1 annehmen frei misst. Je hçher die Reliabilitt eines
kçnnen. Ein Wert von 0 bedeutet, dass Testverfahrens ausfllt, desto sicherer ge-
die Varianz der beobachteten Werte nur lingt der Schluss vom beobachteten auf
aus Fehlervarianz besteht, ein Wert von 1 den »wahren« Wert.

Fokus: Methoden zur Reliabilittsbestimmung


Retest-Reliabilitt. Die einfachste Methode, um den Grad der Messgenauigkeit ei-
nes diagnostischen Verfahrens zu berprfen, besteht darin, das Verfahren im Ab-
stand von wenigen Tagen oder Wochen in der gleichen Gruppe von Personen zu
wiederholen. Das Ausmaß, in dem die Rangreihen der Personen auf der Basis der
beobachteten Werte bei der ersten und zweiten Testdurchfhrung bereinstimmen,
lsst sich ber eine Korrelation ermitteln. Diese Test-Retest-Korrelation wird als Re-
liabilittskoeffizient interpretiert.
Paralleltest-Reliabilitt. Eine alternative Vorgehensweise ist mçglich, wenn wenigs-
tens zwei gleichwertige (parallele) Testvarianten eines Verfahrens vorliegen. Gibt
man einer Gruppe von Personen beide parallelen Testvarianten zur Bearbeitung vor,
so lsst sich ber die Korrelation der parallelen Testvarianten das Ausmaß ihrer
bereinstimmung (quivalenz) bestimmen. Der erhaltene Korrelationskoeffizient
gilt wiederum als Schtzwert fr die Reliabilitt.
Interne Konsistenz. Bei manchen diagnostischen Verfahren lsst sich die Reliabilitt
noch çkonomischer bestimmen, indem der Test nur ein einziges Mal durchgefhrt
und dann geprft wird, ob die Bearbeitung der unterschiedlichen Teile eines Tests zu
hnlichen Rangreihen der untersuchten Personen hinsichtlich der Testleistungen fh-
ren. Besteht das Testverfahren aus zwei etwa gleichlangen Teilen, die beide schon fr
sich das zu beurteilende Merkmal zu messen beanspruchen, so bietet sich hierfr die
Reliabilittsbestimmung ber die Testhalbierungsmethode (»Split-half-Reliabilitt«)
an. hnlich wie bei der Bestimmung der Paralleltest-Reliabilitt wird dabei die Kor-
relation zwischen beiden Testteilen ermittelt. Diese stellt allerdings im Falle der Test-
halbierungsmethode noch eine Unterschtzung der tatschlichen Reliabilitt dar.
Die Verlngerung eines Tests durch die Hinzunahme weiterer paralleler Testteile
fhrt auch zu einer Erhçhung der Reliabilitt. Bei der Verdoppelung eines Tests

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

durch die Verwendung zweier paralleler Testteile gleicher Lnge kommt es z. B. zu


einer Verdoppelung der Fehlervarianz, aber zu einer Vervierfachung der »wahren«
Varianz (vgl. Moosbrugger & Hartig, 2003, S. 411).
Der Zusammenhang zwischen Testlnge und Reliabilitt wird bei der Testhalbie-
rungsmethode bercksichtigt: Die Korrelation r1,2 zwischen den beiden Testhlften
wird in der folgenden Weise auf die doppelte Lnge des Tests aufgewertet:
2  r1;2
Reliabilit ät ¼
1 þ r1;2
Handelt es sich um ein Testverfahren, bei dem jedes Item beansprucht, das zu beur-
teilende Merkmal einer Person zu messen, bietet sich eine Reliabilittsbestimmung
ber so genannte Homogenittskoeffizienten an. Das am meisten verbreitete Maß
zur Bestimmung der inneren Konsistenz im Sinne der Homogenitt der Testitems ist
Cronbachs Alpha-Koeffizient. Der Koeffizient basiert auf der Korrelation aller Test-
teile untereinander. Er gilt als besonders strenge Reliabilittsprfung, weil er die un-
tere Grenze der Messgenauigkeit abschtzt.

Validitt. Das Gtemerkmal der Validitt mal, das nur graduell zu bestimmen ist.
bezieht sich auf die Gltigkeit des diag- Stets geht es um den Grad der Genau-
nostischen Verfahrens, auf die Frage also, igkeit, mit dem ein Verfahren tatschlich
wie gut das Verfahren genau jenes jenes Merkmal misst, das es zu messen
Merkmal erfasst, das es zu messen bean- vorgibt. Bezogen auf die Beurteilung und
sprucht. Die Validitt eines diagnosti- Bewertung schulischer Leistungen sind
schen Testverfahrens ist auch dann noch vor allem zwei Spielarten der Validitt
nicht automatisch gegeben, wenn Objek- von Bedeutung: die Inhaltsvaliditt und
tivitt und Reliabilitt in hohem Maße er- die Kriteriumsvaliditt.
fllt sind. Von Inhaltsvaliditt spricht man, wenn
hnlich wie bei der Reliabilitt handelt die Testanforderungen den zu beurteilen-
es sich bei der Validitt um ein Gtemerk- den Bereich in optimaler Weise reprsen-

Beispiel: Disparate Gtekriterien


Nehmen wir an, ein Instrumentallehrer mçchte die Musikalitt seiner Schler diag-
nostizieren. Da er sich mit dem Thema »standardisierte Tests« bereits beschftigt
hat, entschließt er sich, zu diesem Zwecke ein Testverfahren zu konstruieren. Um
die Objektivitt zu maximieren, entscheidet er sich fr ein Verfahren auf Multiple-
Choice-Basis. Dazu sammelt er Bilder von Musikinstrumenten und von Musikern
und erfragt von den Testteilnehmern, um welches Instrument bzw. um welchen Mu-
siker es sich jeweils handelt. Durch genaue Instruktions-, Auswertungs- und Inter-
pretationsvorgaben wird ein hohes Niveau an Objektivitt erreicht. Konsistenzana-
lysen zeigen, dass auch die Reliabilitt, d. h. die Zuverlssigkeit der Messung, gut
ist. Aber ist das Verfahren valide? Sind die Schler(innen), die mehr Musikinstru-
mente und mehr Musiker erkennen, auch musikalischer als andere? Oder haben sie
nur ein differenzierteres Wissen ber zwei musikbezogene Themenbereiche?

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Teil II Lehren

tieren. Bei der Testkonstruktion greift scher Sicht heute nicht mehr akzeptierbar.
man gerne auf so genannte Experten zu- Nach Kubinger (1996) gilt das Gtekrite-
rck, um die Inhaltsvaliditt zu bestim- rium der Normierung als erfllt, wenn
men. Kommen die Experten bereinstim- zur Relativierung individueller Testergeb-
mend zu dem Ergebnis, dass ein Test gut nisse Normen einer definierten Populati-
geeignet ist, um den interessierenden Be- on anhand der Daten einer reprsentati-
reich zu messen, gilt das Verfahren als in- ven Eichstichprobe vorliegen.
haltsvalide.
Wenn es empirische Untersuchungen gibt, Nebengtekriterien. Neben den Haupt-
die belegen, dass die Testergebnisse mit gtemerkmalen (Objektivitt, Reliabili-
einem (zuvor) festgelegten Außenkriteri- tt, Validitt, Normierung) gibt es eine
um gut bereinstimmen (Kriteriums- Reihe so genannter Nebengtekriterien
validitt), hat dies oft eine grçßere ber- von Tests. Zu den hufig aufgezhlten
zeugungskraft als die Inhaltsvaliditt. Nebengtekriterien zhlen die kono-
Cronbach (1970) hat diese Art der empi- mie, die Ntzlichkeit, die Zumutbarkeit,
rischen Validitt danach unterteilt, ob die die Unverflschbarkeit und die Fairness.
empirische bereinstimmung mit einem Stehen zwei oder mehrere diagnostische
zeitgleich erfassten Kriterium (konkur- Verfahren zur Verfgung, um die gleiche
rente Validitt) oder mit einem zeitlich schulische Leistung zu beurteilen und un-
spter beobachtbaren Kriterium nach- terscheiden sich diese nicht wesentlich
gewiesen wird (prognostische Validitt). hinsichtlich der Hauptgtemerkmale,
Die empirische Validittsbestimmung dann ist jenes Verfahren vorzuziehen, das
wird von vielen Autoren als die grçßte am wirtschaftlichsten von allen ist (ko-
Herausforderung bei der Konstruktion nomie). Die Wirtschaftlichkeit wird meist
und Entwicklung von Verfahren zur Un- ber den finanziellen Aufwand und die
tersttzung des diagnostischen Urteils- zeitliche Belastung fr den Urteilenden
prozesses angesehen. Es ist daher wenig und den zu Beurteilenden eingeschtzt.
verwunderlich, dass sich mittlerweile eine Auch die Ntzlichkeit ist ein sinnvolles
Vielzahl unterschiedlicher Methoden zur Nebengtekriterium. Sie bezieht sich auf
Bestimmung der empirischen Validitt den praktischen Bedarf fr das Verfahren.
etabliert hat (vgl. zum berblick Lu- Gibt es kein alternatives Verfahren, um
kesch, 1998, S. 58 ff). die relevante Leistung zu messen, dann
ist die Ntzlichkeit hoch zu veranschla-
Normierung. Bei der Konstruktion und gen.
Interpretation standardisierter Tests ha- Bezieht sich die Ntzlichkeit vor allem
ben wir bereits ber Normwerte gespro- auf den Beurteiler im diagnostischen Pro-
chen. Normwerte dienen der Bewertung zess, so fokussiert das Kriterium der Zu-
individueller Testergebnisse auf der Basis mutbarkeit die Belastung der zu beurtei-
der in einer geeigneten Referenzpopulati- lenden Person. Diesem Kriterium gemß
on erbrachten Leistungen. Insbesondere sollte jeweils jenes Verfahren bevorzugt
im Zusammenhang mit der Beurteilung werden, bei welchem die physische und
von Leistungen wird die Normierung ei- psychische Belastung der getesteten Per-
nes Tests vielfach als viertes Hauptgte- son mçglichst gering gehalten wird.
kriterium eines diagnostischen Verfahrens Bisweilen ist darber diskutiert worden,
aufgefasst. Nicht-normierte Tests sind fr inwieweit die Durchschaubarkeit von
die Praxis der Beurteilung schulischer Testanforderungen die Validitt beein-
Leistungen aus pdagogisch-psychologi- trchtigt. Da Validittsbeeintrchtigun-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

gen dieser Art nicht unbedingt zu einer Leistungsunterschiede zwischen Lernen-


Minderung empirisch ermittelter Validi- den identifizieren lassen, die als Hinweise
ttskoeffizienten fhren mssen, wird die auf berdauernde Kompetenzunterschie-
Unverflschbarkeit mitunter auch als ei- de gelten. Die Orientierung an sozialen
genstndiges Nebengtekriterium auf- Bezugsnormen ist sinnvoll, wenn es gilt,
gefhrt. die dauerhaft (relativ) Besten oder – etwa
Benachteiligt schließlich ein Testverfahren zu Fçrderzwecken – die dauerhaft beson-
bestimmte Gruppen aufgrund ihres sozio- ders Schwachen herauszufinden.
kulturellen Hintergrundes, so erscheint Diesem Vorteil stehen nach Rheinberg
das Kriterium der Testfairness verletzt zu (2001) wenigstens drei Nachteile gegen-
sein. ber. Zum einen fhrt die Orientierung
an sozialen Bezugsnormen zu einem aus-
Leistungsbeurteilungen schnitthaften bzw. sehr eng gefassten Be-
zugssystem, das sich hufig nur auf die
und Bezugsnormen
Kinder einer Klasse bezieht. Das aber
Standardisierte Tests orientieren sich hin- kann zur Folge haben, dass Kinder mit
sichtlich der Bewertung einer Testleistung der »objektiv gleichen« Leistung je nach
zumeist an einer Bezugsgruppe Gleichalt- der Leistungsstrke ihrer Bezugsgruppe
riger (Altersnormen). Insbesondere dann, ein Mal als gut und ein anderes Mal als
wenn fr die Beurteilung und Bewertung schwach eingestuft werden.
schulischer Leistungen aber keine stan- Eine zweite Gefahr besteht darin, dass
dardisierten Tests zur Verfgung stehen, die Lehrkraft den allgemeinen Lern-
stellt sich die Frage nach den Vergleichs- zuwachs der Klasse aus dem Blick ver-
standards oder Bezugsnormen, die die liert. Die Konzentration auf die jeweiligen
Grundlage fr die Bewertung einer Unterschiede zwischen den Lernenden
gezeigten Leistung bilden. Rheinberg kann dazu fhren, dass Stagnationen
(2001) hat drei verschiedene Bezugsnor- oder gar Rckentwicklungen der ganzen
men benannt, die als Vergleichsmaßstab Klasse hinsichtlich einer objektiven Ziel-
bei der Beurteilung der Gte einer indivi- vorgabe bersehen werden.
duell erbrachten Leistung Verwendung Schließlich verdeckt die Orientierung an
finden: die soziale Bezugsnorm, die indi- sozialen Bezugsnormen die interindividu-
viduelle Bezugsnorm und die sachliche ellen Unterschiede zwischen Lernenden in
Bezugsnorm. Alle drei Bezugsnormen ha- Bezug auf ihren Lernfortschritt. Hat z. B.
ben spezifische Vorteile, aber auch Nach- ein sehr schwacher Schler durch sehr
teile. große Anstrengungen in seinen Leistun-
gen wieder den Anschluss an den Leis-
Soziale Bezugsnorm. Wird eine individu- tungsstand der Klasse hergestellt, so bleibt
elle Leistung im Vergleich zu den Leistun- dies solange unbemerkt, solange er nicht
gen der anderen Kinder einer Lerngruppe andere (weiter zurckfallende) Mitschler
(z. B. einer Klasse) bewertet, spricht man in ihren Leistungswerten berholt.
von einer sozialen Bezugsnorm. Entschei-
dend fr die Bewertung der Individual- Individuelle Bezugsnorm. Gerade der
leistung sind dabei der Mittelwert und letztgenannte Nachteil der sozialen Be-
die Variabilitt der Leistungen in der zugsnorm wird bei Verwendung einer in-
Lerngruppe. Der Vorteil der sozialen Be- dividuellen Bezugsnorm vermieden. Bei
zugsnorm besteht darin, dass sich mit diesem Vergleichsmaßstab basiert die
ihrer Hilfe recht gut zeitlich stabile Leistungsbewertung nicht auf dem Ver-
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Teil II Lehren

Fokus: Positive Effekte individueller Bezugsnormorientierung


Wenn Lehrkrfte bei der Leistungsbewertung individuelle Bezugsnormen anlegen,
profitieren die Schler(innen) in der folgenden Weise:
. geringere Furcht vor Misserfolg und mehr Hoffnung auf Erfolg,
. weniger Prfungsangst und weniger Schulunlust,
. selbst gesetzte Ziele sind realistischer,
. Attributionen und Selbstbewertungen nach Erfolg und nach Misserfolg
sind gnstiger,
. positive Meinung ber ihre eigenen Fhigkeiten,
. mehr Spaß und mehr Beteiligung am Unterricht und bessere Leistungen.
(nach Rheinberg, 1980)

gleich mit den Mitschlern, sondern auf orientierung. Sachliche Bezugsnormen


den bisher gezeigten Leistungen des werden berall dort angelegt, wo be-
einzelnen Lernenden. In die Leistungs- stimmte Mindestkompetenzen erforder-
beurteilung geht also der individuelle lich sind oder eingefordert werden. Im
Lernzuwachs (das kann auch ein Rck- schulischen Bereich waren lange Zeit die
schritt sein) ein. Dies ist in der Regel ein so genannten Lehrplne der Ankerpunkt
Vorteil fr die leistungsschwcheren fr die Festlegung solcher Mindestkom-
Schler(innen), ohne dass es den anderen petenzen. Mittlerweile sind die Lehrplne
zum Nachteil gereicht. durch Bildungsstandards abgelçst wor-
Eine durchgngige Orientierung an indi- den, die noch unmittelbarer als die Lehr-
viduellen Bezugsnormen ist im schu- plne die Kompetenzen beschreiben, die
lischen Alltag weder mçglich noch in einer bestimmten Klassenstufe und in
notwendig. Die positiven Effekte der indi- einem bestimmten Unterrichtsfach er-
viduellen Bezugsnormorientierung wer- reicht werden sollten.
den aber schon dann berichtet, wenn die
individuelle Bezugsnorm als zustzliche Liest man amtliche Zensurendefinitionen, so
(nicht ausschließliche) Beurteilungsper- erkennt man hufig den allerdings etwas halb-
herzigen Versuch, Zensuren ber solche sachli-
spektive eingebracht wird. Das ist wohl
chen Bezugsnormen zu bestimmen. Halbherzig
auch gut so, denn bei allen Vorzgen birgt ist der Versuch insofern, als meist die »durch-
die Orientierung an individuellen Bezugs- schnittlichen Anforderungen« als inhaltlicher
normen die Gefahr, dass stabile Leis- Anker genannt werden, ohne diese genauer zu
tungsunterschiede zwischen den Sch- bestimmen. Wollte man die Zensurengebung
ler(inne)n ausgeblendet werden. tatschlich an sachliche Bezugsnormen knp-
fen, so msste man dem beurteilenden Lehrer
Sachliche Bezugsnorm. Bezieht man sich pro Fach, Jahrgangsstufe und Schulform sehr
bei der Bewertung von Leistungen weder genau sagen, was jemand kçnnen muß, um ein
»ausreichend« oder ein »gut« zu bekommen.
auf die Leistungen der brigen Personen
Dabei wrde es sicher nicht nur theoretisch,
einer Lerngruppe (soziale Bezugsnorm)
sondern auch tatschlich geschehen kçnnen,
noch auf die bisher von der Person er- dass ganze Schulklassen ein »gut« oder »sehr
brachten Leistungen (individuelle Bezugs- gut«, aber auch ganze Schulklassen (vielleicht
norm), sondern auf einen inhaltlich ver- sogar ganze Schulen) nur »mangelhaft« oder
ankerten Leistungsstandard, so spricht »ungengend« erhielten. (Rheinberg, 2001,
man von einer sachlichen Bezugsnorm- S. 66f)

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Die standardisierten Tests zeigen einen fehlerfrei erfolgt, kçnnen weitere Fehler
Weg auf, die Anwendung sachlicher Be- auftreten. Besonders typisch sind dabei
zugsnormen weiter zu befçrdern – im Zu- die folgenden Beurteilungsfehler:
ge der Normierung von Testverfahren
fließt allerdings auch die soziale Bezugs- . Mildeeffekt: Eine einzelne zu beurtei-
norm wieder mit ein. lende Person wird zu positiv beurteilt.
Die Ursache sind Voreingenommenhei-
Typische Fehler bei ten gegenber einzelnen Personen.
. Großzgigkeitsfehler: Alle Personen
der Urteilsbildung
werden gnstiger beurteilt, als es der
Vor allem dann, wenn Leistungsbeurtei- Sache nach angemessen wre. Zu die-
lungen nicht auf der Grundlage standar- sem Fehler kann es kommen, wenn der
disierter Tests erfolgen, sondern aufgrund Bezug zur sachlichen Norm verloren
alltglicher Beobachtungen, ist die Ob- gegangen ist.
jektivitt des Urteils gefhrdet. Hier . Halo- oder Hofeffekt: Das Urteil wird
lassen sich Beobachtungsfehler von Beur- von einer markanten Eigenschaft der
teilungsfehlern abgrenzen. Von Beobach- zu beurteilenden Person (z. B. das Aus-
tungsfehlern spricht man, wenn Fehler sehen oder die Mundart) beeinflusst.
auftreten, die mit dem begrenzten Ver- Die daraus resultierende Verzerrung
mçgen bzw. dem fehlenden Willen des des Urteils kann sich sowohl zu Guns-
Beobachters zu tun haben. Geringe Sorg- ten als auch zu Ungunsten der zu beur-
falt, Langeweile, Mdigkeit oder auch teilenden Person auswirken.
Unvertrautheit mit der Situation der Leis- . Logischer Fehler: Eine subtile Variante
tungsbeurteilung kçnnen dazu fhren, des Hofeffekts ist der logische Fehler.
dass nicht alle fr das Urteil relevanten Er tritt auf, wenn eine flschliche An-
Verhaltensweisen und Phnomene von nahme ber den Zusammenhang zwei-
der urteilenden Person wahrgenommen er Merkmale das Urteil beeinflusst.
werden. Die Folge ist, dass die Objektivi- Glaubt beispielsweise ein Lehrer, dass
tt des Urteils leidet. viele Rechtschreibfehler die Folge einer
Aber auch, wenn die Beobachtung der geringen Intelligenz seien, kommt er
leistungsrelevanten Verhaltensmerkmale gar nicht erst auf den Gedanken, es

Fokus: Komponenten der Urteilsgenauigkeit


Schrader und Helmke (1987) haben drei voneinander unabhngige Komponenten
der Urteilsgenauigkeit beschrieben: Die Niveaukomponente charakterisiert die Ten-
denz, das Leistungsniveau der eigenen Klasse im Vergleich zu den tatschlichen Er-
gebnissen insgesamt eher zu ber- oder eher zu unterschtzen. Die Differenzierungs-
komponente kennzeichnet die Tendenz, die Streuung der Schlerleistungen in der
Klasse zu ber- oder zu unterschtzen. Die Vergleichskomponente schließlich be-
zieht sich auf die (un-)zutreffende Einschtzung der relativen Leistungsposition der
einzelnen Schler innerhalb der Klasse.
Spinath (2005) kommt in einer empirischen Untersuchung ebenfalls zu dem
Schluss, dass sich das allgemeine Konstrukt einer »diagnostischen Kompetenz«
nicht halten lsst. Vergleichsweise akkurat fallen lediglich die Beurteilungen hin-
sichtlich der Differenzierungskomponente aus.

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Teil II Lehren

kçnne eine spezifische Lese-Recht- gut belegt, dass Lehrerurteile einen direk-
schreib-Stçrung vorliegen (vgl. Kap. ten Einfluss darauf haben, wie und was
4.2). Schler lernen (Crooks, 1988).
. Tendenz zur Mitte: Manche Urteiler Insbesondere die Lernmotivation wird
meiden extreme Urteile. Die Folge da- durch Leistungsurteile beeinflusst. Dieser
von ist die Tendenz, nur mittlere Be- Einfluss kann in seiner Auswirkung posi-
wertungen (z. B. nur Zensuren zwi- tiv (Ermutigung) oder negativ (Entmuti-
schen 2 und 4) abzugeben. gung) fr das weitere Lernverhalten aus-
. Tendenz zu extremen Urteilen: Andere fallen. Die nahe liegende Annahme, gute
Personen hingegen berhçhen gerne in Beurteilungen wirkten generell ermuti-
ihrer Bewertung Unterschiede zwischen gend und schlechte Beurteilungen ent-
Personen. Sie sind von einer Leistung mutigend, erweist sich bei genauerer Be-
entweder begeistert oder enttuscht. trachtung allerdings als zu grobe
Die Folge ist eine Tendenz, mittlere Be- Vereinfachung. Erst wenn eine Leistungs-
wertungen zu vermeiden und bevor- bewertung auch vom Lernenden selbst
zugt die Extrempunkte der Bewer- subjektiv als »gut« wahrgenommen wird,
tungsskala zu verwenden. stellt sich auch ein subjektives Erfolgser-
lebnis ein, welches die Bereitschaft er-
Welche Wirkungen haben hçht, sich auch zuknftig zu engagieren.
Unter dem Stichwort »paradoxe Effekte
Lehrerurteile?
von Lob und Tadel« wird in der Motiva-
In den bisherigen Ausfhrungen haben tionsforschung seit lngerem diskutiert,
wir viel ber die Mçglichkeiten und Ge- wann ein lobendes Urteil subjektiv als po-
fahren auf dem Weg zu einer angemesse- sitive Rckmeldung wahrgenommen
nen Leistungsbeurteilung berichtet. Dies wird und wann nicht.
zu wissen ist wichtig, um Bewertungen Positive motivationale Effekte lassen sich
mçglichst objektiv, reliabel, valide und durch Leistungsbeurteilungen insbeson-
fair zu gestalten. Das Thema Leistungs- dere dann erzielen, wenn sie – zumindest
beurteilung ist aber noch nicht hinrei- zustzlich – eine individuelle Bezugs-
chend behandelt. Zumindest liegt es na- normorientierung mit enthalten (s.o.) und
he, sich auch der Frage zu widmen, was wenn die darauf basierende Bewertung
Leistungsurteile – seien sie angemessen zeitnah zur erbrachten Leistung rck-
oder nicht – bei den Beurteilten auslçsen. gemeldet wird. Dies gilt zumindest fr
Auf einer rein rationalen Ebene ist diese den Fall, dass die Leistung zumindest in
Frage schnell beantwortet, haben Leis- Teilen positiv bewertet werden kann.
tungsbeurteilungen doch zunchst die Aus diesen kurzen Ausfhrungen zu ei-
Funktion, dem Lernenden eine wertende nem von der Forschung noch eher ver-
Rckmeldung zu geben. Man darf dabei nachlssigten Bereich der Leistungs-
jedoch nicht bersehen, dass es sich um beurteilung kçnnte man den Schluss
die wertende Rckmeldung zu einer per- ziehen, dass Leistungsurteile mçglichst so
sçnlichen Leistung handelt. Rckmeldun- gestaltet sein sollten, dass sie vom Ler-
gen dieser Art sind in hohem Grade nenden als subjektiv positiv aufgefasst
selbstwertrelevant. Obwohl die Erfor- werden kçnnen. Dieser Schluss ist jedoch
schung der Auswirkungen von Leistungs- voreilig. Auch der Umgang mit Misserfol-
urteilen auf die beurteilte Person zu den gen will gelernt sein. Langfristig erfolgrei-
eher vernachlssigten Forschungsgebieten ches Lernen setzt voraus, dass subjektive
der Pdagogischen Psychologie gehçrt, ist Misserfolge nicht zur Entmutigung fh-
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

ren, sondern als Ansporn fr vermehrte (Textbasis) bildet. Die hierarchiehçheren
Lernaktivitten genommen werden kçn- Prozesse der Verknpfung, Reduktion
nen. Wie dies am besten im Rahmen und Verdichtung von propositionalen Se-
realer Leistungsbeurteilungen vermittelt quenzen dieser Textbasis dienen im Zuge
werden kann, gehçrt zu den spannenden einer globalen Kohrenzbildung der Her-
Fragen fr die zuknftige pdagogisch- stellung bergeordneter semantischer
psychologische Forschung. und syntaktischer Relationen zwischen
Stzen und Textabschnitten. Das Resultat
dieser Prozesse nennt man die Makro-
7.4 Instruktionsmedien struktur (die Hauptideen) eines Textes.
Integriert in die beim Leser bereits vor
Texte sind Lernmedien. Die Theorie des dem Lesen vorhandenen Vorwissens-
Textverstehens von Walter Kintsch (1996; strukturen und losgelçst von der Wort-
Kintsch & van Dijk, 1978) geht davon ebene der Textvorgabe entsteht so ein
aus, dass beim Lesen eines Textes multi- mentales Modell der Textbedeutung.
ple mentale Reprsentationen gebildet Kintsch (1993) bezeichnet dies als Situa-
werden. Durch hierarchieniedrige Pro- tionsmodell.
zesse der Buchstaben-, Wort- und Satz- Das Verstehen und Behalten von Texten
identifikation wird zunchst eine text- geht also weit ber die Textoberflche hi-
immanente (mikro-)propositionale Text- naus. Versuchen Sie einmal, den Text im
reprsentation aufgebaut. Prozesse der nachfolgenden Beispielkstchen zu ver-
lokalen Kohrenzbildung sorgen dafr, stehen. Er enthlt als Originalzitat Aus-
dass einzelne Propositionen miteinander zge aus der deutschen Zusammenfas-
verbunden werden und sich so eine sung einer Studie von Beck, McKeown,
zusammenhngende Textreprsentation Sinatra und Loxterman (1991).

Fokus: bersetzung einer Zusammenfassung


Zusammenfasssung. Zweck dieser Studie war es, Forschungsergebnisse im Bereich
der kognitiven Verarbeitung anzuwenden, um landeskundliche Texte des fnften
Schuljahres zu revidieren, diese Bearbeitungen zu beschreiben und deren Wirkun-
gen empirisch nachzuweisen. Aus einem amerikanischen Lehrbuch wurden dazu
vier Textabschnitte, die die Zeit vor der Amerikanischen Revolution behandelten,
revidiert. Die Originalabschnitte und die revidierten Fassungen wurden 85 Schlern
des vierten und fnften Schuljahres vorgelegt … Die Schler, die den revidierten
Text gelesen hatten, konnten mehr Informationen nacherzhlen und mehr Fragen
richtig beantworten, als die Schler, die den Originaltext gelesen hatten … Im Gan-
zen zeigen die Auswirkungen der Revisionen, dass ein textverarbeitendes Verfahren
beim Aufstellen von Verstndnistexten sinnvoll ist.

Man htte auch die spanische oder die selten vor!). Trotz der sprachoberflchli-
franzçsische Zusammenfassung der Stu- chen Holprigkeiten: Aufgrund Ihres Vor-
die abdrucken kçnnen. Sie sind offenbar wissens haben Sie einen Eindruck davon
allesamt lieblos mit einem Sprachcompu- gewinnen kçnnen, worum es in der Stu-
ter erstellt worden (Achten Sie knftig die geht. Verstndlicher wre vermutlich
einmal darauf; das kommt gar nicht so die Originalzusammenfassung in eng-
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Teil II Lehren

Fokus: Zusammenfassung (Original)


Abstract. The purpose of the present study was to use a cognitive processing per-
spective to revise fifth-grade social studies texts, to describe those revisions, and to
demonstrate their effects empirically. Four segments of texts from a U.S. textbook
about the period leading to the American Revolution and their revised counterparts
were presented to 85 fourth- and fifth-grade students […] Students who read the re-
vised text recalled more material and answered more questions correctly than stu-
dents who read the original text […] Overall, the effects of the revisions demonstra-
te that a text-processing approach to creating comprehensible text is a viable one.

lischer Sprache gewesen. Sie beschreibt Mayer & Moreno, 2003). Schnotz (2002;
die Studie als einen beraus gelungenen Schnotz & Bannert, 1999) hat hierzu eine
Versuch, Lehrbuchtexte in verstehensfçr- alternative Sichtweise entwickelt. Fr
derlicher Weise zu optimieren. Modelle multimedialen Lernens ist Swel-
Das Textbeispiel illustriert, dass Lernme- lers Theorie der kapazitren Begrenztheit
dien (hier Texte) in zweierlei Hinsicht Ge- und mentalen Belastung des Arbeits-
genstand einer instruktionspsychologi- gedchtnisses – die so genannte Cognitive
schen Betrachtung sein kçnnen: in der Art Load Theory, kurz CLT – von Bedeutung
(und Optimierung) ihrer medialen und in- (Sweller, 1988; Sweller, van Merrienboer
struktionalen Gestaltung und in der Ana- & Paas, 1998). In einer zunehmend ein-
lyse der (kognitiven) Verarbeitungsprozes- fluss- und ertragreichen Forschungstradi-
se, die sie beim Lernenden auslçsen oder tion wird auf der Basis der CLT der Ver-
auslçsen sollen. Die instruktionale Ge- such unternommen, durch eine geeignete
staltung von Lehrmaterialien, wie Texte, Gestaltung multimedialer Lernsituatio-
Texte mit Bildern, Filme oder computer- nen deren Vorteile zu nutzen und zugleich
gesttzte Lern- oder Simulationsprogram- der mentalen berlastung der Lernenden
me, zielt mit Blick auf den Lernenden auf entgegenzuwirken (Kirschner, 2002;
die Erleichterung des Verstehens und Be- Mayer & Moreno, 2003; Van Merrienbo-
haltens neuer Informationen. Diese Blick- er, Kirschner & Kester, 2003). Aus Mo-
richtung ist fr mediendidaktische Fra- dellen multimedialen Lernens lassen sich
gestellungen typisch. Die Analyse der didaktische Schlussfolgerungen ber lern-
Wirkungen und Wirksamkeit von Gestal- fçrderliche Gestaltungsmerkmale von
tungsmerkmalen von Medien sowie der Lernmedien ziehen. Es werden einige Un-
dabei zu bercksichtigenden Begrenzthei- tersuchungen zur Wirksamkeit solcher In-
ten der individuellen Lernmçglichkeiten terventionen und zum Umgang mit der
ist fr psychologische Arbeiten zum Ver- mentalen Belastung exemplarisch dar-
stndnis (multi-)medialer Informations- gestellt. Sie zeigen einmal mehr die ent-
verarbeitung charakteristisch. scheidende Rolle des Lernenden beim
Im Folgenden wird der Medienbegriff in (medialen) Lernen.
seiner instruktionspsychologischen Aus-
formung nher beschrieben und es wird
Lernen mit Medien
nach dem »Neuen« bei den »Neuen Me-
dien« gefragt. Danach wird ein theoreti- In Aeblis (1983) psychologischer Didak-
sches Modell multimedialen Lernens vor- tik ist von fnf Medien der (inneren) Er-
gestellt, das Modell von Mayer (2003b; fahrungsbildung die Rede, bei dreien
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

davon betreibt der Lehrende diese Erfah- unterschiedliche Sinnesmodalitten (Sin-


rungsbildung ber das Symbolsystem neskanle) an (hier: die Augen und/oder
Sprache (Erzhlen, Lesen Schreiben), bei die Ohren) und lçsen damit modalitts-
den beiden anderen (Vorzeigen, Anschau- spezifische und -unspezifische Formen
en) bildhaft. Und auch beim situierten der Informationsverarbeitung aus.
Lernen, insbesondere bei der Gestaltung Wenn man Medien in visuelle, auditive
von Lernumgebungen nach der Methode oder audiovisuelle klassifiziert, nimmt
der Verstehensanker (vgl. Kapitel 6.4), man eine Einteilung nach der Sinnes-
spielen Lehrmedien eine besondere Rolle. rezeption (Modalitt) vor: Der still gelese-
Dort wurde argumentiert, dass neue ne Text »spricht« monomodal nur das
Technologien die Umsetzung situierter Auge an (visuell), ebenso wie eine be-
Lernprinzipien entscheidend erleichtern, trachtete Fotographie. Eine Musikkasset-
indem sie das Modellieren »authenti- te mit Orchestermusik »spricht« mono-
scher« Problemsituationen ermçglichten. modal nur das Ohr an (auditiv), ebenso
Aber auch in allen anderen Formen und wie eine Rede im Rundfunk. Ein Musik-
Methoden der Instruktion und des video oder ein Film auf DVD sprechen
Lernens sind Medien, d. h. Mittler zwi- multimodal Augen und Ohren zugleich
schen Lerninhalt und Lernendem, stets an (audiovisuell), gelegentlich auch den
prsent – durch die Person des Lehren- Magen.
den, ber das Lehrmaterial und durch die Wenn man Medien nach den Symbolsys-
Gestaltung der gesamten Lehr-Lern-Si- temen klassifiziert, derer sie sich bedie-
tuation. nen, nimmt man eine Einteilung nach der
In der Instruktionspsychologie interessiert Kodierungsform (Kodalitt) vor. Ein
man sich weniger fr die technologische Buchtext ohne Bilder und Graphiken ist
Seite von Medien als vielmehr fr die und bleibt monokodal rein sprachlich ko-
Prozesse des Lernenden bei der (mul- diert, ganz gleich, ob er auf dem Compu-
ti-)medialen Informationsverarbeitung. terbildschirm erscheint, auf einem Blatt
Das heißt: Nicht die Medien selbst stehen Papier oder Pappe oder ob er von einem
im Vordergrund des Interesses, sondern Sprecher vorgelesen wird. Ein Bild ohne
die durch sie initiierten Prozesse des Ver- Worte ist monokodal rein bildhaft ko-
stehens und Behaltens, die ihrerseits diert. Wenn der Text zustzlich Abbildun-
durch die instruktionalen Gestaltungs- gen enthlt, ist er multikodal gestaltet
merkmale von Medien befçrdert werden (verbal und piktorial). Computerspiele
kçnnen. und -lernprogramme sowie elektronische
McLuhans griffige Formel »The medium Lexika mit Texten, eingebundenen Vi-
is the message« (1965) zielt vornehmlich deos, Dialogen und Geruschen sind
auf Phnomene der Medienrezeption, multikodal und multimodal konzipiert
nicht vordringlich auf den pdagogischen (Weidenmann, 2001, 2002). Die Kodali-
Einsatz von Instruktionsmedien im Lern- tt des Mediums determiniert allerdings
prozess. Hier ist vielmehr der Grund- nicht zwangslufig die Modalitt der In-
gedanke, dass sich Botschaften medial in formationsverarbeitung beim Lernenden.
ganz unterschiedlicher Weise kodieren Wenn man Medien nach ihrer Stofflich-
und darbieten lassen. Vor allem das keit (Materialitt) einteilt, kann man per-
sprachliche (verbale) und das bildhafte sonale (z. B. den unterrichtenden Profes-
(piktoriale) Symbolsystem sind geeignet, sor) und nicht personale sowie, bei den
die zu vermittelnde Botschaft zum Ler- nicht personalen, mono- von multimedia-
nenden »zu tragen«. Sie sprechen dabei len unterscheiden. Multimedial sind alle
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Teil II Lehren

Arten von Kombinationen von Kodierun- (1946), wonach wir 90 Prozent dessen
gen und Modalitten, aber auch alle behalten, was wir tun, aber nur 30 Pro-
Kombinationen von Gerten und Tech- zent dessen, was wir sehen, und nur 20
nologien. Monomedial ist z. B. dieses Prozent dessen, was wir hçren (wenn man
Lehrbuch (solange es keine begleitenden Hçren und Sehen multimodal kombiniert,
Folienvorlagen, Powerpoint-Prsentatio- resultieren immerhin 50 Prozent). Ganz
nen oder Animationen gibt). schlecht ist es brigens mit dem Behalten
Weidenmann (2001) fasst die wesentli- durch Lesen bestellt (nur 10 Prozent), aber
chen Aspekte des Lernens mit Medien so das wissen Sie vermutlich schon aus eige-
zusammen: ner Erfahrung! Dales »Realittskontinu-
um« (die ominçsen Prozentangaben sucht
. Informationen werden immer in einem
man in seinem Buch brigens vergebens)
Symbolsystem kodiert.
deckt sich mit lteren und neueren (re-
. Die bermittlungsmedien strukturie-
form-)pdagogischen Konzepten, wonach
ren dieses Symbolsystem entsprechend
umso leichter gelernt werde, je unmittel-
ihren Eigenschaften.
barer und konkreter die Erfahrung sei.
. Die so kodierte und medienspezifisch
Die These lsst sich in ihrer Allgemeinheit
strukturierte Information stellt an die
so nicht belegen – auch nicht, wenn man
Lernenden bestimmte psychologische
die Theorie der Doppelkodierung (Paivio,
Anforderungen, die die Informations-
1986) oder das multimediale Lernmodell
verarbeitung und damit das Lernen be-
von Mayer (2003b) heranzieht. Und was
einflussen.
den unterstellten Multimediavorteil der
Es sind weniger die Modalitten der Sin- Additivitt von Sinnesmodalitten angeht,
nesrezeption als vielmehr die Kodalitten so sind vor dem Hintergrund der menta-
der Informationsprsentation und die len Belastungstheorie (CLT) wesentlich
Formen ihrer internen Reprsentation differenziertere Betrachtungsweisen zu
und Verarbeitung, die instruktionspsy- Kontiguitt und Kohrenz multimodaler
chologisch entscheidend sind. So wie die Prsentationen mçglich (Mayer & More-
Kodalitt letztlich ber die Modalitt do- no, 2003). Wenig hilfreich ist in diesem
miniert, so dominiert am Ende aber auch Zusammenhang der regelmßige Verweis
die Instruktionsmethode, die sich der auf die zustzliche Erklrungskraft hirn-
Medien bedient, ber die Prsentations- physiologischer und -anatomischer Pro-
weise der Lerninhalte (Weidenmann, zesse und Spezialisierungen im Sinne einer
2002) und von der notwendigen Eigen- Lateralitt der kognitiven Verarbeitung. In
aktivitt des Lernenden wird letztendlich den Bereich der naiven (wenn nicht ge-
wiederum die Wirksamkeit einer Metho- fhrlichen) Annahmen fllt auch die Sinn-
de abhngen. haftigkeit der populrwissenschaftlich
weit verbreiteten Typisierung von Lernen-
Alte Medien, Neue Medien, den (vgl. dazu den berblick bei Hassel-
horn, 1995) nach bevorzugten Moda-
Multimedia
litten der Informationsaufnahme (vgl.
ber die Lernwirksamkeit von Medien Kapitel 2.3).
kursieren bisweilen sehr »naive Annah- Der Vorteil unmittelbarer Erfahrung und
men« (Weidenmann, 2002). Viele Darstel- die Additivitt von Sinneskanlen lsst
lungen zur mehrkanaligen Informations- sich auch nicht durch die originelle Studie
verarbeitung berufen sich etwa auf den von Dker und Tausch (1957) und ihre
berchtigten »Erfahrungskegel« von Dale Replikation durch Heller (1981) belegen.
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Analyse: Die Kchenschabe und das Meerschweinchen


Untersucht wird die Wirkung der Veranschaulichung auf das Verstehen und Behal-
ten von Unterrichtsstoff. ber Tonband wird eine Lehreinheit aus der Biologie dar-
geboten (Beschaffenheit, Lebensweise und Verhaltensgewohnheiten zweier Insek-
ten). In der Experimentalgruppe haben die Kinder whrend des Vortrags ein
prpariertes Insekt vor Augen (Anschauung). In einem Behaltenstest erwies sich die
Experimentalbedingung als berlegen. (Dker & Tausch, 1957)

Im Folgeexperiment (Thema: das Meerschweinchen) werden zustzlich verschiede-


ne Grundformen der Veranschaulichung variiert. Eine Experimentalgruppe hat
whrend des Vortrags ein Bild eines Meerschweinchens vor Augen, eine zweite
Gruppe ein prpariertes Modell, eine dritte Gruppe ein lebendiges Tier in einem K-
fig. Durch die Modellveranschaulichung wird eine bessere Behaltensleistung erzielt
als durch das Bild, die Anschauungsgruppe »realer Gegenstand« erzielt die beste
Behaltensleistung. Die Autoren schlussfolgern, dass durch die Veranschaulichung
das Interesse am Unterrichtsstoff gnstig beeinflusst wird. (Heller, 1981)

Die beiden Untersuchungen – klassische ihre didaktischen Prinzipien sind deshalb


Beispiele der herkçmmlichen Medienwir- nicht etwa veraltet, nur bietet ein inter-
kungsforschung – zeigen nur, dass unter- aktives computerbasiertes Lernprogramm
schiedliche Veranschaulichungsmedien ganz andere Mçglichkeiten und Anima-
unterschiedlich gut in eine Instruktions- tionen als ein Textbuch des Programmier-
methode (hier: Vortragsmethode als Fron- ten Unterrichts sensu Skinner (vgl. Kapi-
talunterricht) integriert werden kçnnen. tel 6.2). Grundstzliche Fragen der Koda-
Wenn aber die gleiche, von einer Tonkas- litt und Modalitt stellen sich bei alten
sette verlesene Botschaft (die Informatio- wie bei neuen Medien.
nen ber das Meerschweinchen enthlt)
einmal von der Prsentation eines Bildes Neue Medien. Neu an den »neuen Me-
(eines prparierten oder eines lebendigen dien« ist, dass die computerbasierten
Meerschweinchens) begleitet wird, dann Medien eine leichtere Realisierung und
werden weder die Kodalitt noch die Mo- Integration einer multikodalen und multi-
dalitt von Prsentation und Verarbei- modalen Prsentation zulassen (Gold-
tung angemessen variiert. Vielmehr wird man-Segall & Maxwell, 2003). Wie bei
in allen Fllen das Medium der sprach- anderen Medien auch, setzt der unter-
lichen Erzhlung durch die Verwendung richtliche Einsatz neuer Medien voraus,
der Tonkassette weit unter Wert genutzt. dass spezifische Kompetenzen der Me-
diennutzung (bereits) vorhanden sind.
Alte Medien. Neue technologische Rah- Viele der neuen multimedialen Lehrsyste-
menbedingungen, insbesondere der Sie- me stellen hohe Anforderungen an die
geszug der elektronischen Datenverarbei- selbstregulativen Lernkompetenzen. Zu
tung, haben dazu gefhrt, dass herkçmm- den (neuen) Lernvoraussetzungen gehçren
liche Ausgestaltungen der medialen und auch ein gutes rumliches Vorstellungs-
multimedialen Prsentation von Lern- vermçgen und eine positive Einstellung
inhalten auf »neuen Plattformen« reali- gegenber den neuen Technologien (Blç-
siert werden kçnnen. Alte Medien und meke, 2003; Brnken & Leutner, 2000).
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Teil II Lehren

Multimedia. Als »Breitbandbegriff« (Wei- Informationen und ihrer internen Re-


denmann, 2002) ist er fr eine instrukti- prsentationen entsprechend abzubilden
onspsychologische Verwendung eigent- (Abbildung 7.12).
lich wenig geeignet, zumal Multimedia in
der çffentlichen Wahrnehmung eher mit Das Modell von Mayer. Wie schon aus
einem integrativen medialen Hard- und dem SOI-Modell bekannt, sind die (suk-
Software-Angebot der Unterhaltungsin- zessiven) kognitiven Prozesse der Selekti-
dustrie in Verbindung gebracht wird. Aus on (S), Organisation (O) und Integration
instruktionspsychologischer Sicht kann er (I) von Informationen die entscheidenden
dann beibehalten werden, wenn man Determinanten des Wissenserwerbs. Ihre
(medienintern) der Differenzierung in ei- Beherrschung durch den Lernenden erfor-
ne kodale, das Symbolsystem betreffende dert ein hohes Maß an konstruktiver Ei-
und eine modale, die Sinnesrezeption be- genaktivitt. Die hierarchieniedrigen Pro-
treffende Dimension folgt. Multimedial zesse fr bildhaft und verbal kodiertes
sind dann jene integrierten Informations- Material laufen zunchst (in zwei separa-
angebote zu nennen, die auf unterschied- ten) Selektionsprozessen »nebeneinander
liche Prsentationsformate und -tech- her« und resultieren in zwei separaten
nologien verteilt sind. Aber eigentlich, so Oberflchenreprsentationen, nach zwei
Weidenmann, sollte man aus Grnden (wiederum separaten) Ordnungsprozes-
der Przision besser ganz auf den Begriff sen schließlich in separaten kodalittsspe-
verzichten. Denn die »Bedeutung von zifischen mentalen Modellen. Fr Infor-
Codierung und Modalitt, die ein media- mation, die sowohl verbal als auch
les Lernangebot beim Lernenden an- piktorial reprsentiert ist, kommt es in
spricht, [wird] durch die Kategorie ›Mul- der Integrationsphase zu referenziellen
timedia‹ nicht erfasst, sondern eher Verknpfungen zwischen diesen Model-
verdeckt« (Weidenmann, 2002, S. 61). len. Paivio (1986) nannte dies den
Bildvorteil der »dualen Kodierung«; bei
Mayer (2003b) begrndet es den »Multi-
Modelle multimedialen Lernens mediaeffekt« des multimedialen Lernens.
In der englischsprachigen Literatur gibt Weil auch einfache Redundanzen zur
es weniger Probleme mit dem Begriff des Konsolidierung des Verstandenen beitra-
»multimedia learning«. Mayer (2003b) gen, diese Modellbeschreibung nochmals
hat sein SOI-Modell (vgl. Abb. 5.3) ge- in Mayers eigenen Worten:
ringfgig erweitert, um die Kodierungs- Die Pfeile reprsentieren kognitive Prozesse.
form und die Modalitt der prsentierten Der Pfeil von den Worten zu den Augen steht

Multimediale Sensorisches Arbeits- Langzeit -


Präsentation Register gedächtnis gedächtnis

Worte Worte
Worte Ohren Klänge
ordnen Verbale Kodierung inte-
aus-
wählen grieren
Vorwissen
Bilder Abbilder
Bilder Augen Abbilder Bildhafte Kodierung
ordnen
aus-
wählen

Abb. 7.12: Multimediales Lernen (nach Mayer & Moreno, 2003, S. 44)

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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

fr geschriebene Worte, die auf die Augen tref- eine kombinierte audio-visuelle Infor-
fen; der Pfeil von den Worten zu den Ohren mationsdarbietung unter bestimmten
steht fr gesprochene Worte, die auf die Ohren Bedingungen vorteilhaft sein.
treffen; und der Pfeil von den Bildern zu den . Nur das aktive, generative, strategische
Augen steht fr Bilder, die auf die Augen tref-
Lernen kann zum verstehenden Wis-
fen. Der Pfeil mit der Aufschrift Worte Aus-
whlen zeigt an, dass der Lernende seine Auf-
sensaufbau fhren. Formen »passiver«
merksamkeit auf einige der auditorischen Informationsaufnahme kçnnen intelli-
Reize lenkt, die durch die Ohren hereinkom- gentes und anwendungsfhiges Wissen
men; der Pfeil mit der Aufschrift Abbilder Aus- nicht hervorbringen.
whlen dagegen zeigt an, dass der Lernende
seine Aufmerksamkeit auf einige der visuellen Mayer und Mitarbeiter haben in einer
Reize lenkt, die durch die Augen hereinkom- Reihe von experimentellen Studien zum
men. Der Pfeil mit der Aufschrift Worte Ord- multimedialen Lernen die Lernwirksam-
nen zeigt an, dass der Lernende eine kohrente
keit multikodaler und multimodaler Pr-
verbale Reprsentation aus den hereinkom-
menden Wçrtern bildet; der Pfeil mit der Auf- sentations- und Verarbeitungsprinzipien
schrift Abbilder Ordnen dagegen zeigt an, dass untersucht (zusammenfassend: Mayer &
der Lernende eine kohrente bildhafte Repr- Moreno, 2003). Zunchst zur Multi-
sentation aus den hereinkommenden Bildern kodalitt: Wenn Informationen in Text
konstruiert. Der Pfeil mit der Aufschrift Inte- und Bild prsentiert werden, wird besser
grieren schließlich steht fr die Verschmelzung gelernt (Multimediaeffekt). Dieser Vorteil
des verbalen Modells, des bildhaften Modells der Doppelkodierung resultiert aber nur
und des Vorwissens. Zustzlich gehen wir da- dann, wenn durch die Art der Prsentati-
von aus, dass die Selektions- und Organisati-
on die zeitliche und rumliche Integration
onsprozesse durch das Vorwissen gesteuert
von Text- und Bildinformationen gewhr-
werden, welches der Lernende aktiviert. Beim
multimedialen Lernen erfordert die aktive In- leistet ist, wenn also Bilder und Texte
formationsverarbeitung fnf unterschiedliche gleichzeitig und nicht nacheinander dar-
kognitive Prozesse: die Auswahl bzw. Selektion geboten werden (Kontiguittseffekt). Be-
von Wçrtern, die Selektion von Abbildern, die sonders fr Lernende mit ungnstigen
Organisation von Wçrtern, die Organisation Lernvoraussetzungen ist die instruktiona-
von Abbildern und die Integration. Die Prozes- le Beachtung des Kontiguittsprinzips
se beanspruchen die kognitive Kapazitt des von großer Bedeutung. Wichtig ist auch,
Informationsverarbeitungssystems. (Mayer & dass Text- und Bildinformation aufeinan-
Moreno, 2003, S. 44)
der bezogen sind bzw. referenziell aufei-
Mayer bezieht sich bei seinen berlegun- nander bezogen werden kçnnen und
gen auf Paivios Theorie der dualen Kodie- nicht unverbunden – unnçtige Zusatz-
rung (Paivio, 1986) und auf Baddeleys belastung verursachend – nebeneinander
Theorie des Arbeitsgedchtnisses (Badde- stehen (Kohrenzeffekt).
ley, 1986); es sind aber auch Bezge zu der Vorteile der Multimodalititt der Infor-
Theorie des Textverstehens von Kintsch mationsprsentation und -verarbeitung
(1996) zu erkennen. Die zwei operativen sind ebenfalls belegt (z. B. Brnken, Seu-
Gedchtnissubsysteme bei Paivio und bei fert & Zander, 2005). Wenn verbal ko-
Baddeley bilden nur die Basis fr zwei dierte Informationen zugleich visuell
weitere Grundannahmen Mayers: (z. B. auf dem Bildschirm) und akustisch
(z. B. als Tonkassette) prsentiert werden,
. Weil die Verarbeitungskapazitt im au- wird besser gelernt (Modalittseffekt).
ditiv-verbalen und im bildhaft-pikto- Auch das gilt aber nur dann, wenn die zu-
rialen Teilsystem begrenzt ist, kann stzliche Stimulierung keine dysfunktio-
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Teil II Lehren

nale Zusatzbelastung verursacht (Koh- dung der ausschließlich visuellen Prsen-


renzeffekt). tation von Text und Bild berlegen ist.
Whrend Sie diesen (visuell prsentierten)
Textabschnitt lesen, erstellen Sie auf der Das Modell von Schnotz. Auch Wolfgang
internen Reprsentationsebene ein verbal Schnotz (2002; Schnotz & Bannert,
basiertes mentales Modell seines Inhalts. 1999) geht in seinem mehrstufigen
Enthlt der Text zustzlich eine Graphik Modell multimedialen Lernens fr die
oder Abbildung (wie z. B. Abb. 7.12), Anfangsphasen des Informationsverarbei-
werden Sie dazu ein piktoriales mentales tungsprozesses von separaten Verarbei-
Modell konstruieren. In beiden Fllen tungsprozessen in Abhngigkeit von der
werden ber referenzielle Prozesse wech- Informationskodalitt aus. In vielen
selseitige Reprsentationen auf der jeweils Aspekten hnelt das Schnotzsche Modell
anderen Ebene erzeugt – so wie es Paivio insoweit dem von Mayer. Allerdings ver-
(1986) in seinem Doppelkodierungs- wirft Schnotz fr die nachfolgenden
modell beschreibt. Aber: Alles, was wh- Phasen der Informationsverarbeitung die
rend der Informationsaufnahme und -ver- Annahme einer kodalittsspezifischen
arbeitung des visuell prsentierten Inhalts mentalen Modellierung. Neben den spe-
geschieht, belastet – kapazitr gesehen – zifischen mentalen Reprsentationsfor-
zunchst nur das visuelle System. Die men fr Texte und Bilder – wie bei Mayer
zweite Sinnesmodalitt – das Gehçr – liegt – unterstellt Schnotz nmlich eine sym-
whrenddessen brach. Moreno und May- bolische, modalittsunspezifische Form
er (1999) haben gezeigt, dass eine beide der propositionalen Reprsentation. Das
Sinnesmodalitten zugleich ansprechende heißt, dargebotene Texte wie Bilder fh-
Kombination von akustisch und visuell ren letztlich zu einer propositionalen
prsentierter Information lernfçrderlich Form der internen Reprsentation, wie
sein kann. Mit anderen Worten: dass eine auch in Kintschs Modell des Textverste-
gesprochene Erklrung bei gleichzeitiger hens (Brnken, Steinbacher, Schnotz &
Betrachtung der dazu passenden Abbil- Leutner, 2001).

Analyse: Multimodales Lernen und Overload


Um die Wirkung von instrumentaler Hintergrundmusik und von illustrierenden
Hintergrundgeruschen auf den Lernprozess zu untersuchen, wurden zwei compu-
terisierte Lerneinheiten (zum Thema »Wetter« bzw. zur »Funktionsweise von Brem-
sen«) entsprechend akustisch animiert (Moreno & Mayer, 2000). In beiden Lern-
einheiten wurden die inhaltlichen Informationen zugleich durch einen Sprecher
(auditiv) und durch eine Illustration (visuell) dargeboten. In den Experimentalgrup-
pen wurden darber hinaus (akustische) Hintergrundreize (Musik oder Gerusche)
hinzugefgt.

Ergebnisse:
Zustzliche Gerusche und Hintergrundmusik fhren zu schlechteren Verstehens-
und Behaltensleistungen. Offensichtlich wird der auditive Teil des Arbeitsgedcht-
nisses zustzlich durch irrelevante (extraneous) Informationen belastet (overload).
Die Ergebnisse werden als Kohrenzeffekt des multimodalen Lernens in berein-
stimmung mit der Overloadtheorie interpretiert.

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Das Modell von Sweller. In einer anderen Konventionelle Instruktion neigt dazu, das Ar-
Forschungstradition sind John Swellers beitsgedchtnis durch ineffektive mentale Be-
Arbeiten zur modalittsspezifischen men- lastung (extraneous load) zu beanspruchen,
wohingegen das erfolgreiche Lernen den ber-
talen Belastung des Arbeitsgedchtnisses
gang von ineffektiver zu effektiver Belastung
entstanden (Sweller, 1988; Sweller et al.,
(germane load) verlangt. Die CLT geht davon
1998). Swellers »Cognitive Load Theo- aus, dass instruktionale Interventionen die in-
ry« (CLT) geht davon aus, dass eine mul- trinsische CL nicht verndern kçnnen, weil sie
timodale Informationsdarbietung zu ei- in dem zu behandelnden Material begrndet
ner besseren Ressourcenausschçpfung liegt. Das Ausmaß der ineffektiven (extraneous
fhren (allerdings auch gegenteilige Ef- load) und der effektiven (germane load) Belas-
fekte haben) kann. Sweller zu Folge hngt tung werden dagegen durch die Art der Lern-
die mentale Belastung des Arbeits- umgebung bestimmt. (Kirschner, 2002, S. 4)
gedchtnisses von der begrenzten Ver-
arbeitungskapazitt der auditiven und
der visuellen Subsysteme ab – in Relation Instruktionale Lern-
Darbietungs-/
Gestaltung aktivität
zu den Anforderungen des Lernmaterials. verarbeitungs-
abhängige
Vorstrukturierte, textlich-bildhaft und/ Belastung

oder akustisch-visuell integrierte, kon- Lern-


ergebnis
tingent und kohrent prsentierte Infor- Vorwissen Material-
mationen seien mental weniger be- abhängige
Belastung
anspruchend. Eine hohe Beanspruchung Aufgaben-
komplexität
resultiere aber, wenn disparate Informa-
tionen simultan zu verarbeiten sind (feh-
lende Kohrenz) oder wenn Teilinforma- Abb. 7.13: Aufbau neuen Wissens
(nach Gerjets & Scheiter, 2003, S. 35)
tionen ber einen lngeren Zeitraum
prsent zu halten sind (fehlende Kontin-
genz). Aus der theoretisch plausiblen Verknp-
Sweller unterscheidet unterschiedliche fung von kognitiver Architektur und In-
Anteile der mentalen Belastung (CL): ei- struktionsdesign lsst sich eine Reihe von
nen notwendigen »intrinsischen« Anteil Schlussfolgerungen zur Optimierung der
(intrinsic load), der durch die inhaltliche instruktionalen Gestaltung von Lehr-
Komplexitt der Lernaufgabe vorgegeben Lern-Situationen ziehen. Van Merrienbo-
ist, einen unproduktiven Anteil (extrane- er, Kirschner und Kester (2003) sowie
ous load), der auf die suboptimale Renkl und Atkinson (2003) geben dazu
instruktionale Gestaltung einer Lernsi- bersichtliche Darstellungen. Kirschner
tuation zurckgeht, und einen fr den (2002) erinnert nochmals an die Aus-
Lernprozess effektiven, aus dem Verarbei- gangsfrage:
tungsprozess notwendigerweise erwach-
senden Anteil (germane load), der aus Die CLT beschftigt sich also mit den Kapazi-
dem Aufbau neuer Wissensstrukturen re- ttsgrenzen des Arbeitsgedchtnisses und mit
sultiert (Abbildung 7–13). Die Kunst der den Maßnahmen, die ergriffen werden kçnnen,
um das Lernen zu fçrdern [...]. In anderen Wor-
Instruktion besteht nun darin, mehr Ka-
ten: Wie kann man beim Planen und Gestalten
pazitt fr das »effektive« Aufbauen der einer Lernumgebung sicherstellen, dass die
Wissensstrukturen bereitzustellen, als fr Grenzen der Belastbarkeit des Arbeitsgedcht-
das Verstehen der instruktionalen Anfor- nisses nicht berschritten werden, whrend die
derungen »ineffektiv verbraucht« wird Lernerin oder der Lerner der Instruktion folgt?
(Gerjets, Scheiter & Schuh, 2005). (Kirschner, 2002, S. 3)

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Teil II Lehren

Zu den im CL-Paradigma durchgefhrten essentielle Verarbeiten umfasst die sinn-


Studien zhlen brigens nicht nur die be- stiftenden Prozesse des Auswhlens, Or-
reits erwhnten zum multimedialen Ler- ganisierens und Integrierens verbalen und
nen (zusammenfassend: Sweller et al., bildhaften Materials – also die Kernpro-
1998), sondern auch Studien zur ber- zesse des SOI-Modells. Das inzidentelle
legenheit des Lernens aus Lçsungsbei- Verarbeiten bezieht sich dagegen auf die
spielen (z. B. Mwangi & Sweller, 1998) fr das Verstehen und Behalten irrelevan-
und zur Wirksamkeit vorbereitender Tex- ten, unnçtig belastenden Materialaspekte
te (z. B. Pollock, Chandler & Sweller, der Instruktion. Die Empfehlungen beru-
2002). Vor allem die Studien zu den Lç- hen auf Ergebnissen aus inzwischen 30 ex-
sungsbeispielen zeigen, dass dem entlaste- perimentellen Studien zum multimedialen
ten Arbeitsspeicher – bei sinnvoller Nut- Lernen. Sie werden nach fnf so genann-
zung der gewonnenen Ressourcen – neue ten »Overloadszenarien« gruppiert:
Mçglichkeiten, z. B. im Sinne des Selbst-
erklrungsansatzes, offen stehen (Renkl 1. Bei berlastung des visuellen Kanals
& Atkinson, 2003; Renkl, Gruber, We- durch essentielle Verarbeitungspro-
ber, Lerche & Schweizer, 2003). zesse:
In den empirischen Studien noch nicht be- . Partielle Verlagerung der Informa-
friedigend gelçst ist das methodische Pro- tionsaufnahme in den auditiven
blem der separaten Erfassung der unter- Kanal (off-loading);
schiedenen Belastungsanteile. In der Regel 2. Bei berlastung beider Kanle durch
wird im Rckschlussverfahren argumen- essentielle Verarbeitungsprozesse:
tiert, d. h., wenn sich die Verstehens- und . Zeitliche Streckung der dargebote-
Behaltensleistung im Anschluss an eine nen Informationseinheiten (seg-
CL-Optimierung verbessert hat, schließt menting),
man auf eine vorangegangene Reduktion . Vorangezogene, vorbereitende In-
der »extraneous« Belastung zu Gunsten formationseinheiten (pretraining);
zustzlicher, fr den Wissensaufbau frei 3. Bei berlastung eines Kanals oder
gewordener Kapazitt. Das aber birgt die beider Kanle durch essentielle und
Gefahr der Zirkularitt (vgl. Brnken, inzidentelle Verarbeitungsprozesse:
Plass & Leutner, 2003; Paas, Tuovinen, . Entfernung irrelevanter Informa-
Tabbers & van Gerven, 2003). tionen (weeding),
. Hinweisreize zur lernerleichtern-

Zurck zu den Medien den Vereinfachung (signaling);


4. Bei berlastung eines Kanals oder
Mayer und Moreno (2003) haben neun beider Kanle durch essentielle und
instruktionale Strategien zum Umgang inzidentelle Verarbeitungsprozesse,
mit der mentalen Belastung vorgestellt. verursacht durch Prsentationsfehler:
Die »intrinsischen« Belastungen werden . Bessere Harmonisierung von Text
dabei als anfallende Kosten einer notwen- und Bild oder Verbesserung der
digen Informationsreprsentation be- syntaktischen und semantischen
zeichnet, die »effektiven« Belastungen Klarheit (aligning),
als Aufwendungen einer notwendigen, es- . Verzicht auf monokodal doppelt
sentiellen Informationsverarbeitung und dargebotene Information (elimina-
die »ineffektive« (extrinsische) Belastung ting redundancy);
als Ausdruck so genannter beilufiger, 5. Bei berlastung von Kanlen durch
inzidenteller Verarbeitungsprozesse. Das essentielle Verarbeitungsprozesse und
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

durch intrinsische Belastungen:


Spanien Tiefe
. Verbesserung der zeitlichen Kon- (m)
tiguitt (synchronizing), 0
. berprfung und Adaptation an Atlantikwasser
200
notwendige medien- und vor-
Mittelmeer-
kenntnisbezogene Lernvorausset- wasser 400
zungen (individualizing). Marokko
600
Die vorgeschlagenen berlastreduzieren-
den Maßnahmen, wie das Umkanalisieren Abb. 7.14: Der Wasseraustausch
zwischen Mittelmeer und Atlantik
(off-loading), das Ausblenden irrelevanter (vgl. Kse & Zenk, 1993)
Informationen (weeding), das Geben von
Hinweisen (signaling), das Zusammen-
fhren von Text und Bild (aligning) oder
das Synchronisieren beruhen auf den be- wahrt bleibt. So gesehen htte Abbildung
reits angefhrten Modalitts-, Kohrenz- 7.14 nicht hier, sondern in Kapitel 5.2 ih-
und Kontiguittseffekten. re maximale Wirksamkeit entfaltet.
Zusammengefasst lsst sich festhalten: Wie sind Illustrationen zu gestalten, damit
Die mediale Aufbereitung des Lernmate- sie den Aufbau eines mentalen Modells
rials soll mçglichst einfach, klar und spar- untersttzen? Ein wichtiger Grundsatz ist,
sam sein – berflssiges und Irrelevantes dass (neue) Wahrnehmung und konzeptu-
ist nicht lernfçrderlich, sondern belastet elles (Vor-)Wissen optimal zusammenwir-
die Informationsverarbeitung. Die multi- ken. Bei Lernenden mit geringem Vorwis-
modale Prsentation verbaler und bild- sen werden weniger detaillierte, schema-
hafter Inhalte hat Vorteile, weil dadurch tische Bilder gnstiger sein als detaillierte.
das visuelle Teilsystem entlastet wird. Es Semantische und syntaktische Klarheit
ist aber auf rumliche und zeitliche Kon- gibt es nicht nur bei Texten, sondern auch
tiguitt der Darbietung zu achten. Dies bei Bildern. Damit ist die Empfehlung ei-
gilt auch fr die multikodale Prsentati- ner mçglichst sparsamen Gestaltung und
on. Lernen mit Multimedia kann auch einer eindeutigen perzeptuellen Anord-
den Vorteil einer Selbststeuerung der Pr- nung verbunden, um Ambiguitten zu ver-
sentationsgeschwindigkeit nutzen. Denn: meiden (Schnotz, 2001, 2002).
Eine kontinuierlich-lineare (vom Lernen-
Grundstzlich ist ein Diagramm so zu gestal-
den unabhngige) Darbietung ist dann ten, dass es zur Wahrnehmung einer grafischen
nicht mehr lernfçrderlich, wenn Ver- Struktur fhrt, die mit der Struktur des dar-
stndnisprobleme auftreten. Beim selbst- zustellenden Sachverhalts mçglichst gut ber-
gesteuerten computeruntersttzten Ler- einstimmt. (Schnotz, 2002, S. 76)
nen kann der Lernende (z. B. durch Um Lerntexte zu optimieren, sollte man
CONTINUE-Drcken) ber Reihenfolge folgende Prinzipien bercksichtigen (vgl.
und Geschwindigkeit der Prsentation Ballstaedt, 1997, Schnotz, 1994):
selbst entscheiden.
'. Verstndlichkeit oder Lesbarkeit (z. B.
einfacher Satzbau, Gliederung, Prg-
Gestaltung von Lehrmaterialien
nanz, Anregungsgehalt),
Am besten belegt ist die positive Wirkung . Kohrenz oder Sinnhaftigkeit (z. B.
von Illustrationen in Texten – wenn die sprachliche Verknpfungen, Ankndi-
rumliche und zeitliche Kontiguitt ge- gungen oder Signale),
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Teil II Lehren

. Organisationshilfen (z. B. im Sinne von Medium als »zu schwierig«, kçnnen aus-
Ausubels »advance organizer«, vgl. weichende Vermeidungshaltungen die
Kap. 1.3), Folge sein.
. Sequenzierung (im Sinne einer lern-
erleichternden Reihung von Informa- Bereichsspezifisches Vorwissen. Seine he-
tionen). rausragende Bedeutung fr das Lernen gilt
auch fr das Lernen mit Medien. Beim
Wir haben uns – wie andere Lehrbuch- Lernen mit so genannten Hypertexten
autoren auch – bemht, diesen Kriterien profitieren z. B. Schlerinnen und Schler
zu entsprechen. Es ist in der Lesefor- mit bereichsspezifischen Vorkenntnissen
schung allerdings umstritten, wie weitge- von der Mediennutzung vergleichsweise
hend eine Verstndlichkeitsoptimierung mehr (Mçller & Mller-Kalthoff, 2000).
und die Bereitstellung von Lesehilfen Dies gilt insbesondere dann, wenn beglei-
sinnvoll sind (Christmann & Groeben, tende Lenkungs- und Strukturierungshil-
2002; McNamara et al., 1996; vgl. hierzu fen nicht gegeben werden und die Lern-
auch der Abschnitt: »Wie man mit die- schwcheren sich selbst berlassen blei-
sem Buch arbeiten kann«, Seite 1). ber- ben. Denn bekanntlich kommt jede Form
triebene Maßnahmen der Didaktisierung der zustzlichen Strukturierungshilfe,
und Vereinfachung kçnnten nmlich sei sie auf die Anordnung von Texten und Bil-
auch einer passiven Textverarbeitung Vor- dern, auf das Vermeiden von kognitiver ber-
schub leisten (was allerdings nicht als Pl- lastung oder auf die Steuerung des Lernprozes-
doyer fr unverstndliche Texte verstan- ses bezogen, in erster Linie Schlerinnen und
den werden soll!). Ohnehin gilt: Nicht Schlern mit geringen Lernvoraussetzungen
nur die prsentierten Texte, auch das stra- zugute (Blçmeke, 2003, S. 69).
tegische Leseverhalten, d. h. die Metho- Auf der anderen Seite ist verschiedentlich
den der Textverarbeitung, lassen sich op- darauf hingewiesen worden, dass die aus
timieren. CLT resultierenden instruktionalen Emp-
fehlungen (s.o.) vornehmlich »inhaltliche
Novizen« oder Lernende mit ungnstigen
Die Rolle der Lernenden
Lernvoraussetzungen adressierten (z. B.
Die lernende Person spielt die Hauptrolle. Kalyuga, Ayres, Chandler & Sweller,
Sie muss Kontrolle ber die essentiellen 2003). Die angezielten Wirkungen der in-
kognitiven Prozesse der Selektion, Orga- struktionalen Optimierung trfen dem-
nisation und Integration von Informatio- nach bei voranschreitender Expertise gar
nen gewinnen. Das multimediale Lernen nicht mehr ein – mithin ein Umkehreffekt
stellt hohe Anforderungen an die Selbst- der Expertise oder ein so genanntes Ex-
steuerungskompetenz des Lernens. Dar- pertenparadoxon. Das spricht aber nicht
ber hinaus gibt es weitere Merkmale der gegen die Ntzlichkeit solcher Empfeh-
Lernenden, die auf die Lernwirksamkeit lungen. Vielmehr spiegelt dieses Phno-
von Instruktionsmedien Einfluss haben: men ein bereits in Abschnitt 2.2 beschrie-
vor allem das bereichsspezifische Vorwis- benes Dilemma der Notwendigkeit
sen und die medienspezifischen Kom- instruktionaler Differenzierung: Werden
petenzen. Auch die Einstellung zum Me- Lernerleichterungen nicht bençtigt, dann
dium kann eine Rolle spielen. Wird ein werden sie auch nicht genutzt und blei-
Medium als »zu leicht« eingestuft, fehlt ben unwirksam. Kalyuga et al. (2003) be-
es mçglicherweise an der konstruktiven schreiben in diesem Zusammenhang so-
Eigenttigkeit der Lernenden. Gilt ein gar negative Effekte.
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7 Rahmenbedingungen des Lehrens

Medienspezifische Kompetenzen. Lernen- der Lernwirksamkeit bildlicher Informa-


de mssen in der Lage sein, die Kodalitt tionsprsentation kovariiert. Lernende
der Symbolsysteme zu entschlsseln. Das mit schwach ausgeprgten rumlichen
heißt, sie mssen Texte verarbeiten und Fhigkeiten haben demnach grçßere
Bilder (auch bewegte Bilder), Graphiken Schwierigkeiten bei piktorial prsentier-
und Tabellen »lesen« kçnnen. Wenn ten Informationen (vgl. Kapitel 4.2).
Computer als Medien eingesetzt werden, Brnken, Steinbacher und Leutner (2000)
muss man sie auch bedienen kçnnen. zeigten in zwei Experimenten mit Sch-
Plass, Chun, Mayer und Leutner (1998) lern und Studierenden, dass hohes rum-
haben gezeigt, dass der Lernzuwachs da- liches Vorstellungsvermçgen den Wis-
von abhngt, ob den individuellen Prfe- senserwerb begnstigt. Dies gilt vor allem
renzen der Lernenden fr bildliches oder dann, wenn Informationsdarbietung und
verbales Informationsmaterial im Sinne Lernerfolgskontrolle ausschließlich in ei-
einer personmaterialadaptiven Passung nem graphischen Prsentationsmodus er-
entsprochen wird oder nicht. Allerdings folgt. Ermutigend ist jedenfalls, dass es ei-
drngt sich bei dem von Plass et al. (1998) ne Reihe von Trainingsprogrammen zur
vorgenommenen Vergleich der so genann- Fçrderung rumlicher Fhigkeiten gibt –
ten »Visualisierer« mit den so genannten auch der Einsatz von Computerspielen
»Verbalisierern« die Frage nach der çko- hat sich dabei bewhrt (Souvignier, 2000,
logischen Validitt solcher Experimente 2001; vgl. Kapitel 8.1).
auf: Zu prfen, was geschieht, wenn man Werden die notwendigen medienspezi-
den Visualisierern das von ihnen eigent- fischen Kompetenzen – wie am Beispiel
lich prferierte Lernmaterial vorenthlt, des rumlichen Vorstellungsvermçgens
hnelt einem Weitsprungwettbewerb, bei beschrieben – adaptiv trainiert, lassen
welchem einigen Springern zuvor die Bei- sich die ungnstigeren Lernvoraussetzun-
ne mit einem Tau verknpft werden. gen ausgleichen. Erst dann kann eine spe-
Mayer und Sim (1994) berichten, dass zifische mediale Gestaltung ihre Lern-
das rumliche Vorstellungsvermçgen mit wirksamkeit entfalten.

Literaturhinweise
Good, T. L. & Brophy, J. E. (1997). Looking in classrooms (7th ed.). New York:
Harper.
Weinert, F. E. (Hrsg.) (2001a). Leistungsmessung in Schulen. Weinheim: Beltz.
Helmke, A. & Weinert, F. E. (1997a). Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen.
In F. E. Weinert (Hrsg.), Psychologie des Unterrichts und der Schule, D/I/3, Enzyklo-
pdie der Psychologie (S. 71–176). Gçttingen: Hogrefe.

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Teil II Lehren

Zusammenfassung
Ob schulisches Lernen gelingt, hngt nicht nur vom Einsatz geeigneter Lehrmetho-
den ab. Neben der Qualitt und Quantitt des unterrichtlichen Angebots sind es die
lernrelevanten Personmerkmale der Schlerinnen und Schler, die die schulischen
Leistungen beeinflussen. Hinzu kommt der Einfluss von Kontextbedingungen au-
ßer- und innerschulischer Art.
Die Quantitt des unterrichtlichen Angebots – die bereitgestellte bzw. tatschlich ge-
nutzte Lernzeit – spielt in den klassischen Lehr-Lernzeit-Modellen eine große Rolle.
Merkmale der Unterrichtsqualitt sind eine effiziente Klassenfhrung, eine hohe
Strukturiertheit des Lehrervortrags und ein hohes Maß an individueller fachlicher
Untersttzung. »Meisterlehrer« verstehen es, in diesem Sinne auf durchaus individu-
elle und variable Weise erfolgreich zu unterrichten.
Eine effiziente Klassenfhrung schafft stçrungsarme Lernumgebungen und gewhr-
leistet einen reibungslosen Unterrichtsablauf – beides begnstigt erfolgreiches Ler-
nen. Effiziente Klassenfhrung basiert ganz wesentlich auf dem Prinzip der Prventi-
on. Besonders wichtig ist dabei die frhzeitige Einfhrung und Einforderung von
Regeln und Routinen fr das Verhalten im Unterricht. Es muss aber auch klar sein,
was geschieht, wenn Regeln nicht eingehalten werden.
Schulische Leistungen mssen zutreffend, zuverlssig und fair gemessen und bewer-
tet werden. Dies erfordert besondere diagnostische Kompetenzen der Lehrerinnen
und Lehrer. Durch den Einsatz standardisierter Testverfahren wird versucht, die Ge-
nauigkeit und Objektivitt von Leistungsbeurteilungen zu erhçhen. Bei der Interpre-
tation individueller Testwerte wird in der Regel eine soziale Bezugsnorm zugrunde
gelegt – der Vergleich mit Gleichaltrigen. Andere mçgliche Bezugsnormen sind die
individuelle – der ipsative Vergleich mit den bisher gezeigten eigenen Leistungen –
oder die sachliche Bezugsnorm – die Orientierung an einem inhaltlich verankerten
Leistungsstandard.
Instruktionsmedien sind bei allen Spielarten des Lehrens prsent. Sie lassen sich
nach den Symbolsystemen klassifizieren, derer sie sich bedienen. Die Kodierungs-
form einer Information stellt Anforderungen an die Lernenden, die den Lernerfolg
beeinflussen. Modelle multimedialen Lernens thematisieren dies und beschreiben
die Lernwirksamkeit und die Lernhindernisse in Abhngigkeit von Medienattribu-
ten, Lernzielen und individuellen Lernvoraussetzungen.

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8 Besonderheiten des Lehrens

Die Frage, welche Lehrmethoden fr die ningsgestaltung und Bedingungen der
Erreichung bestimmter Lernziele ange- Wirksamkeit kognitiver Trainings dar-
messen und wirksam sind, ist von vielen gestellt. Dabei wird deutlich, dass kogniti-
Aspekten der Lehr-Lern-Situationen ab- ve Fhigkeiten durch Anleitung und
hngig. Zentrale Aspekte sind die Unter- bung vor allem dann nachhaltig gefçr-
schiedlichkeiten der Lernenden und die dert werden, wenn ein Trainingspro-
daraus folgenden Konsequenzen fr die gramm selbstregulative und motivationale
Planung und Gestaltung von Unterricht. Komponenten mit einschließt.
Das achte Kapitel behandelt solche diffe- Gute Informationsverarbeitung beruht
renziellen Aspekte. Dabei werden zu- auf dem Zusammenspiel kognitiver,
nchst Methoden und Maßnahmen zur selbstregulativer, motivationaler und voli-
Fçrderung kognitiver und motivationaler tionaler Prozesse – wie es in Kapitel 2 be-
Lernvoraussetzungen vorgestellt, bevor schrieben wurde. Dem Abschnitt ber
auf die Themenbereiche der Koedukation Kognitives Training ist deshalb ein wei-
sowie der Instruktion bei besonderen terer ber die Fçrderung von Motivation
Lernvoraussetzungen eingegangen wird. und Interesse zur Seite gestellt (Kap. 8.2).
Wenn besonderer Fçrderbedarf besteht, Denn: Schulleistungsprobleme gehen hu-
wird hufig eine individuelle, unterrichts- fig mit selbst abwertenden Attributionen,
additive Fçrderung die Methode der Wahl misserfolgsorientierten Ergebniserwartun-
sein. Es gibt eine Reihe von Trainingspro- gen und dysfunktionalen Selbstwirksam-
grammen, die einen wichtigen Beitrag zur keitsberzeugungen einher. Die Lern- und
Verbesserung und Optimierung der kogni- Anstrengungsbereitschaft lernschwieriger
tiven Lernvoraussetzungen fr Lernende Kinder ist durch die beim bisherigen Ler-
unterschiedlichen Lebensalters und Leis- nen erfahrenen Entmutigungen reduziert.
tungsniveaus leisten kçnnen (vgl. Hager, Damit kognitive Trainings ihre Wirksam-
1995; Klauer, 2001b). So werden in den keit entfalten kçnnen, sind sie deshalb um
Denktrainingsprogrammen von Klauer selbstwertfçrderliche Maßnahmen zur
(2001a) Operationen des induktiven Den- Steigerung von Motivation und Lerninte-
kens, die bei vielen schulischen und außer- resse zu ergnzen. Ausgehend von
schulischen Lernanforderungen eine Rolle (fremd-)motivierenden Maßnahmen der
spielen, systematisch eingebt. Andere Verhaltenssteuerung durch Feedback und
Trainingsprogramme zielen auf die Ver- Belohnung wird in den Motivationstrai-
mittlung kognitiver und metakognitiver nings die Aufgabe der motivationalen
Strategien der Informationsverarbeitung, Selbstregulation schrittweise an die Ler-
auf die Verbesserung der Planungsfhig- nenden selbst bertragen. Neben Techni-
keit, der Konzentration, des rumlichen ken der Selbstverstrkung werden dabei
Denkens oder des Gedchtnisses. In Ab- vor allem ein realistisches Zielsetzungsver-
schnitt 8.1 werden Prinzipien der Trai- halten und eine lernfçrderliche Form der
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Teil II Lehren

Selbstbewertung von Lernergebnissen ein- Schlerinnen und Schler sind auch in


gebt. Wichtig ist, dass dies an konkreten unterschiedlichem Maße von Lernschw-
Lerninhalten geschieht. Erfolgreiche Trai- chen und Teilleistungsstçrungen betrof-
ningsprogramme – z. B. zur Fçrderung fen. Zwei- bis dreimal hufiger sind Jun-
der Lesekompetenz – verbinden Formen gen unter den lerngestçrten Kindern und
der motivationalen und kognitiven Selbst- Jugendlichen vertreten. Fast 10 Prozent
regulation (Mokhlesgerami, 2004; Schre- eines Jahrgangs verlassen das deutsche
blowski, 2004). Schulsystem ohne einen anerkannten
Dass sich Mnner und Frauen, Mdchen Schulabschluss. Besonders schwer wie-
und Jungen in vielfltiger Weise voneinan- gen berdauernde Beeintrchtigungen im
der unterscheiden ist genauso richtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen (vgl. Kap.
die Feststellung, dass es einen großen 4.2). Adams (1990) zu Folge liegt der
berlappungsbereich hinsichtlich der Anteil funktionaler Analphabeten unter
Leistungsvariabilitt der beiden Ge- den erwachsenen Amerikanern bei 20
schlechter in den kognitiven, konativen Prozent – unter den Arbeitslosen sogar
und motivationalen Funktionen gibt. bei 75 Prozent und bei den wegen Straf-
ber die Funktion, Genese oder Modifi- taten Inhaftierten bei 60 Prozent. Auch
zierbarkeit von Geschlechterunterschie- daraus folgt: Lernschwache bedrfen in
den soll hier nicht berichtet werden (vgl. der Schule einer besonderen Form der
dazu Giesen, 2000; Maccoby & Jacklin, Unterrichtung und Fçrderung. Und wie
1974). Es wird aber die Frage gestellt, in sieht es am anderen Ende des Bega-
welcher Weise der schulische Unterricht bungskontinuums, also bei den Hoch-
zur Ausbildung oder Verringerung von begabten aus? Bedrfen nicht auch sie ei-
Geschlechterunterschieden einen Beitrag ner besonderen Form der Unterrichtung
leistet. Die Geschlechterfrage wird vor al- und Fçrderung? In Abschnitt 8.4 wird
lem im Hinblick auf die unterrichtliche die Thematik der Instruktion bei beson-
(Gleich-)Behandlung von Jungen und deren Lernvoraussetzungen vertieft. Dies
Mdchen in gemischten Klassen diskutiert schließt die Frage nach der integrierten
(Kapitel 8.3). Geht es »gerecht« zu, wenn oder segregierten Beschulung der fçrder-
Jungen und Mdchen gemeinsam (koedu- bedrftigen Schlerinnen und Schler
kativ) unterrichtet werden? Oder werden und die der praktischen Realisierbarkeit
Mdchen im mathematisch-naturwissen- individueller Fçrdermaßnahmen in den
schaftlichen, Jungen im sprachlichen Un- allgemein bildenden Schulen mit ein (u-
terricht in je subtiler Weise benachteiligt? ßere und innere Differenzierung).

Orientierungsfragen
. Wie muss ein erfolgreiches kognitives Training aufgebaut sein?
. Wie lsst sich die Lernmotivation fçrdern?
. Warum sollten Mdchen und Jungen gemeinsam unterrichtet werden?
. Trgt der koedukative Unterricht dazu bei, dass sich Leistungs- und Interessens-
unterschiede zwischen Jungen und Mdchen verstrken?
. Ist es besser, Lern- und Leistungsschwache integrativ, d. h. in Regelschulen,
zu unterrichten? Und wenn ja, fr wen?
. Welche Instruktionsmethoden oder -prinzipien sind fr Lernschwache besonders
geeignet? Welche nicht?

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8 Besonderheiten des Lehrens

8.1 Kognitives Training oder Funktionen (also Leistungspotenzia-


le), die durch ein Training verbessert wer-
Es wrde den Rahmen des vorliegenden den sollen. Gegen diese Feststellung mag
Kapitels bei weitem sprengen, wollten man einwenden, dass auch kognitive
wir alle Anstze vorstellen und diskutie- Kompetenzen in der Regel erst ber ent-
ren, die in der einschlgigen Literatur zur sprechende Testleistungen sichtbar ge-
Fçrderung der kognitiven Voraussetzun- macht werden. Dennoch gibt es einen
gen erfolgreichen Lernens vorgeschlagen Unterschied zwischen Leistungen und
werden. Stattdessen beschrnken wir uns Kompetenzen. Bond (1989) hat das in
auf die Darstellung und Bewertung eini- Anlehnung an Pike (1978) folgenderma-
ger zumindest ansatzweise empirisch eva- ßen umschrieben: Lsst man einmal die
luierter Trainingsprogramme, deren Ziel bei psychologischen Testverfahren nie
es ist, kognitive Fertigkeiten und Funktio- ganz auszuschließende Fehlerkomponen-
nen bzw. die Lernfhigkeiten nachhaltig te außer Acht, so setzt sich die tatschlich
zu verbessern. Trainingsprogramme die- erzielte Testleistung (die Performanz) aus
ser Art werden verkrzt auch als kogniti- drei Komponenten zusammen: einer Al-
ve Trainings bezeichnet. Sie stellen eine pha-, einer Beta- und einer testspezi-
besondere Form der individualisierten In- fischen Komponente. Die Alpha-Kom-
tervention dar, die sich von der psycho- ponente reprsentiert die der Leistung
logischen Therapie wie auch vom pda- zugrunde liegenden spezifischen individu-
gogischen Drill bzw. Coaching abgrenzen ellen kognitiven Fertigkeiten und Funk-
lsst (vgl. Hasselhorn, 1995; Hasselhorn tionen, die durch ein Training verbessert
& Hager, 2001). werden sollen und die das Testverfahren
Die Unterscheidung zwischen einem kog- zu erfassen beabsichtigt. Die Beta-Kom-
nitiven Training und einer psychologi- ponente bezieht sich auf allgemeine Kom-
schen Therapie ist bis zu einem gewissen petenzen im Umgang mit Leistungstests,
Grade willkrlich. Wir halten sie den- die in der einschlgigen Literatur unter
noch fr sinnvoll, weil sie vor allem Begriffen wie Testweisheit oder Testver-
bedeutsam ist im Hinblick auf den trautheit diskutiert werden. Sie manifes-
Personenkreis, der fr die Durchfhrung tiert sich etwa ber Strategien der Zeit-
der Interventionsmaßnahmen in Frage aufteilung bei der Testbearbeitung oder
kommt. Die Anwendung einer zumeist auch ber den Einsatz von Ratestrate-
mit vergleichsweise grçßerem Aufwand gien, wenn Testaufgaben nicht gelçst wer-
verbundenen Therapie setzt nmlich eine den kçnnen. Die testspezifische Kompo-
spezielle therapeutische Fachausbildung nente schließlich umfasst die situativen
voraus, whrend Maßnahmen eines Verhaltensaspekte whrend der Testbear-
kognitiven Trainings nach einer grndli- beitung, wie etwa den Grad der Zuver-
chen Vorbereitungs- und Einarbeitungs- sicht, bei diesem Test gut abzuschneiden.
zeit auch von Personen ohne spezifische Coachingmaßnahmen zielen auf reine
Therapieausbildung durchgefhrt werden Performanzsteigerungen. Dies erreichen
kçnnen. sie vor allem durch Optimierung der Be-
Der Unterschied zwischen Training und ta-Komponente und/oder der testspezi-
Coaching lsst sich an den Interventions- fischen Komponente. Ein kognitives Trai-
zielen festmachen. Whrend Coaching- ning ist dagegen stets mit dem Anspruch
programme auf die Optimierung einer verbunden, die Alpha-Komponente zu er-
eng umschriebenen Leistung abzielen, reichen, d. h. die einer manifesten Leis-
sind es »breitere« kognitive Fertigkeiten tung zugrunde liegenden Kompetenzen
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Teil II Lehren

(nachhaltig) zu verbessern. Im Gegensatz Kognitive Trainings zur Verbes-


zum Coaching sollte man daher von serung von Aufmerksamkeits-
einem kognitiven Training auch Transfer- und Wahrnehmungsfunktionen
wirkungen erwarten, also Generalisierun-
gen der erzielten Leistungsverbesserungen Lehrerinnen und Lehrer klagen in zuneh-
ber die Zeit und auf andere, nicht direkt mendem Maße ber Aufmerksamkeits-
trainierte Aufgabenbereiche (zum Trans- probleme und Konzentrationsschwchen
ferbegriff vgl. Kap. 3.3). ihrer Schler(innen). Die Hoffnung, durch
Die meisten Trainingsprogramme haben intensive Konzentrationsbungen unter-
die Fçrderung spezifischer kognitiver schiedlichster Art die Konzentrations-
Funktionen, wie z. B. der Konzentration fhigkeit nachhaltig zu verbessern, konn-
oder des rumlichen Vorstellungsver- te jedoch nicht erfllt werden. Solche
mçgens, zum Ziel. Sie bercksichtigen bungen fhren weder zu zeitlich stabi-
dabei in aller Regel die allgemeinen Ent- len Leistungssteigerungen noch zeigt sich
wicklungsvoraussetzungen und die be- eine Generalisierung auf andere als die in
sonderen Lernvoraussetzungen der Adres- den bungen verwendeten Konzentrati-
saten (vgl. Kap. 4). Angesichts der großen onsleistungstests (vgl. Westhoff & Hag-
und stndig wachsenden Zahl (erfolgrei- meister, 2001). Die Wirksamkeit von
cher) kognitiver Trainings kann es im Fol- Konzentrationsbungen gengt somit al-
genden keinen systematischen berblick lenfalls den Anforderungen an ein Coa-
ber die vorhandenen Trainingsprogram- chingprogramm, nicht aber jenen, die an
me geben. Vielmehr wird anhand typi- ein kognitives Training zu stellen sind.
scher Beispiele aufgezeigt, inwiefern die Wirksame Trainings zur Verbesserung der
in Kapitel 2 dieses Buches aufgelisteten Aufmerksamkeit vermitteln gezielt (hçhe-
kognitiven Voraussetzungen erfolgreichen re) Strategien der Aufmerksamkeits-
Lernens durch ein Training gesteigert zuwendung und -fokussierung und deren
werden kçnnen. Dabei bleibt der Bereich metakognitive Regulation (s. u.). Sie
des Vorwissens ausgespart. Der Aufbau zielen weniger auf die Optimierung wahr-
von Vorwissen ist nicht eigentlich Gegen- nehmungsnaher (basaler) Aufmerksam-
stand eines kognitiven Trainings zur Ver- keitsprozesse. Aber gerade die Funktions-
besserung des individuellen Lernpotenzi- tchtigkeit der Wahrnehmungsprozesse
als. Der Erwerb bereichsspezifischen ist eine notwendige Grundvoraussetzung
Wissens ist vielmehr ein Hauptziel von des Lernens. Aus dieser berzeugung he-
Lehren und Lernen im Allgemeinen. Als raus wird immer wieder der Hoffnung
Inhaltsbereiche kognitiver Trainings ver- Ausdruck gegeben, dass mit einem gut
bleiben somit die folgenden Bereiche in- und effizient funktionierenden perzepti-
dividueller Lernvoraussetzungen: Auf- ven System die notwendigen (basalen)
merksamkeit, Arbeitsgedchtnis sowie Voraussetzungen fr die Wirksamkeit ge-
Lernstrategien und deren metakognitive eigneter Instruktionsmethoden gegeben
Regulation. Spezifische Fçrderanstze fr seien. Ließe sich bei Kindern die Funk-
den motivationalen und den volitionalen tionstchtigkeit des Wahrnehmungssys-
Bereich werden in Kapitel 8.2 darge- tems durch ein Training nachhaltig ver-
stellt. bessern, dann sollte sich dies gnstig auf
die Effizienz der Verstehens- und Behal-
tensprozesse auswirken.
Eines der bekanntesten kognitiven Trai-
nings in der vorschulischen und schu-
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8 Besonderheiten des Lehrens

lischen Praxis wurde in den 1960er-Jah- hat an Kavales Metaanalyse kritisiert,


ren von Marianne Frostig entwickelt dass viele der dort bercksichtigten Studi-
(dtsch.: Reinartz & Reinartz, 1979). Aus- en aus methodischer Sicht von eher zwei-
gehend von der These, dass eine gut funk- felhaftem Wert seien. Die relativ wenigen
tionierende visuelle Wahrnehmung die deutschsprachigen Untersuchungen zur
entscheidende Voraussetzung aller kog- Wirksamkeit des Frostig-Trainings bezie-
nitiven Leistungen sowie des Erwerbs hen sich auf verschiedene seiner Kurzfor-
schriftsprachlicher Fertigkeiten und men. Die dabei erzielten Befunde zeigen,
Kenntnisse sei (zur Fragwrdigkeit dieser dass das Frostig-Training – auch wenn
Annahme vgl. Kap. 4.2), wurden vielflti- nur Teile daraus eingesetzt werden – tat-
ge bungen zum Erkennen, Unterschei- schlich eine Verbesserung der visuellen
den und Interpretieren von visuellen Rei- Wahrnehmung ermçglicht (Elsner & Ha-
zen zusammengestellt. Dabei hat Frostig ger, 1995). Allerdings kann aufgrund der
fnf Teilbereiche der visuellen Wahrneh- vorliegenden Evaluationen nicht geklrt
mung bercksichtigt: die visuomotorische werden, ob die spezifische Wirksamkeit
Koordination, die Figur-Grund-Wahrneh- des Wahrnehmungstrainings tatschlich
mung, die Wahrnehmungskonstanz, die auf die bungen mit dem Frostig-Materi-
Wahrnehmung der Stellung im Raum al zurckzufhren ist oder aber als Folge
und die Wahrnehmung von rumlichen der intensiveren Beschftigung mit den
Beziehungen. Zustzlich sieht das Fros- Kindern whrend des Trainings resultierte
tig-Training spezifische bungen zur sub- (mit trainingsunspezifischen Wirkungen
jektiven Erfahrung (z. B. Fhlen des Kçr- dieser Art muss im brigen bei kogniti-
pers), zur Augenbewegung und zur ven Trainings stets gerechnet werden; vgl.
Grobmotorik vor. Das Training ist fr dazu Hager & Hasselhorn, 1995). Im
Kinder im Alter zwischen drei und acht Falle des Frostig-Trainings ginge ein sol-
Jahren konzipiert und kann sowohl als cher Vorwurf allerdings ins Leere: Der
Einzeltraining als auch im Rahmen grç- ganzheitliche Ansatz bezieht die Zuwen-
ßerer Gruppen eingesetzt werden. Fr die dungskomponente als Teil des Wirk-
Durchfhrung des vollstndigen Trai- mechanismus ein (Lockowandt, 1996;
ningsprogramms werden ein bis einein- Reinartz & Reinartz, 1979). Solcherart
halb Jahre veranschlagt. immunisiert entzieht es sich letztlich einer
Obgleich immer wieder Zweifel an seiner Wirkanalyse. Immerhin scheint das Trai-
Wirksamkeit laut wurden, erfreut sich ning im großflchigen Einsatz keinen
das Frostig-Training seit Jahrzehnten er- Schaden anzurichten.
staunlicher Beliebtheit – speziell im vor- Lopez-Justicia und Martos (1999) fhr-
schulischen Bereich. Im amerikanischen ten eine Wirksamkeitsevaluation des
Sprachraum wird allerdings die Wirk- Frostig-Trainings mit vier- bis sechsjh-
samkeit des Frostig-Programms sptes- rigen Kindern durch, bei denen zuvor vi-
tens seit der Metaanalyse von Kavale suelle Wahrnehmungsstçrungen diagnos-
(1984) in Frage gestellt. Dabei muss be- tiziert worden waren. Im Vergleich mit ei-
rcksichtigt werden, dass sich die von Ka- ner anderen Gruppe, die ein Kontrolltrai-
vale analysierten Wirksamkeitsevaluatio- ning erhielt, ließ sich eine Wirksamkeit
nen am weit reichenden Anspruch des des Frostig-Trainings nicht nachweisen.
Trainings orientierten, eine wirksame Auch von langfristigen Trainingswirkun-
Prvention im Hinblick auf kommende gen auf die allgemeine Entwicklung schu-
schulische Lern- und Leistungsprobleme lischen Lernens ist brigens nichts be-
zu gewhrleisten. Lockowandt (1996) kannt.
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Teil II Lehren

Definition: Verbale Selbstinstruktion


Bei der Technik der verbalen Selbstinstruktion handelt es sich in der ursprnglichen
Version um einen fnfstufigen Prozess (vgl. Meichenbaum, 1977): Zunchst model-
liert ein Trainer in Worten den Verlauf eines komplexen Problemlçse- bzw. Lernpro-
zesses, indem er laut ber das Lernziel, ber die Ausrichtung der eigenen Aufmerk-
samkeit, ber mçgliche Lçsungsschritte, die berprfung der Richtigkeit einer
Lçsung und ber Maßnahmen der Selbstverstrkung nachdenkt (1. Schritt). An-
schließend soll die zu trainierende Person die gleiche Aufgabe selbst lçsen und dabei
die vom Trainer zuvor demonstrierte Vorgehensweise bernehmen. Anfnglich wird
ihr Verhalten durch begleitende Kommentare des Trainers extern gesteuert (2.
Schritt), spter steuert der Lernende den Lernprozess selbst durch eigenes lautes
Denken (3. Schritt), dann durch leises Mitsprechen des Handlungsablaufes (4.
Schritt) und schließlich durch verdecktes inneres Sprechen (5. Schritt). Das Verfah-
ren soll dazu beitragen, dass die strategischen Verhaltensweisen leichter ins eigene
Verhaltensrepertoire bernommen werden. Durch die induzierte Selbstreflexion
wird zugleich die metakognitive berwachung gestrkt. Es sind vor allem sehr glo-
bale metakognitive Strategien, wie z. B. »Halt! Erst zuhçren! Nachdenken! Dann
handeln! Ergebnis berprfen!«, deren Anwendung durch verbale Selbstinstruktion
gefçrdert werden kann.

Wenn auch das wiederholte ben von ne fundierte Bewertung der Programme
Konzentrationstestaufgaben kaum zu derzeit nicht mçglich ist.
nachweisbaren Kompetenzsteigerungen
fhrt, so finden sich in der einschlgigen Kognitive Trainings
Literatur durchaus Konzentrationstrai- zur Funktionssteigerung
nings fr jngere Grundschulkinder (Hip-
des Arbeitsgedchtnisses
penstiel & Krautz, 1992) und fr Kinder
bis zur achten Klasse (Krowatschek, Auf der Basis des in Kapitel 2.1 dar-
1995). Sie setzen auf Techniken der so gestellten Mehrkomponentenmodells
genannten Selbstinstruktion (Wagner, lassen sich sprachlich-phonologische und
1976), um die Selbststeuerung von Auf- visuell-rumliche Grundfunktionen des
merksamkeitsprozessen und damit die Arbeitsgedchtnisses unterscheiden. Hin-
Konzentrationsleistung insgesamt zu ver- zu kommen die zentral-exekutiven Funk-
bessern. tionen, die allerdings analytisch kaum
Techniken der verbalen Selbstinstruktion mehr von den metakognitiven Funktio-
sind auch in das von Schçll (1997) vor- nen der Strategieregulation zu trennen
gelegte Gruppentraining fr Drittklssler sind. Letztere werden deshalb nicht hier,
einbezogen. In diesem, wie in einigen an- sondern unter dem Stichwort der meta-
deren Aufmerksamkeits- und Konzentra- kognitiven Regulation weiter unten be-
tionstrainings, wird vor allem die Fçr- handelt.
derung eines reflexiven Arbeitsstils
angestrebt, was die Anstze durchaus in Sprachlich-phonologische Funktionen.
die Nhe metakognitiver Trainings rckt Die strukturelle Komponente des phono-
(s. u.). Umfangreichere Wirksamkeitsana- logischen Arbeitsgedchtnisses – der so
lysen sind noch nicht bekannt, so dass ei- genannte phonetische Speicher – gilt ab
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8 Besonderheiten des Lehrens

Analyse: Lsst sich das »innere Nachsprechen« durch bung verbessern?


Kurland (1981) unternahm den Versuch, die Geschwindigkeit des »inneren Nach-
sprechens« im phonologischen Speicher durch intensives ben zu erhçhen. ber ei-
nen Zeitraum von drei Monaten ließ sie Erstklssler tglich 15 bis 25 Minuten das
Benennen von Ziffern, Farben, Buchstaben und Bildern mit Hilfe vorbereiteter Ma-
terialien ben. In diesem Zeitraum wurden etwa 5000 bungsbçgen bearbeitet.
Die Rehearsalgeschwindigkeit wurde vor und nach dem Training erfasst. Bei den
trainierten Kindern stieg sie um etwa 18 Prozent. Allerdings fand sich in einer Kon-
trollgruppe nicht Trainierter eine vergleichbare Steigerungsrate von etwa 15 Prozent.

dem dritten Lebensjahr als relativ alters- keiten gibt Souvignier (2001). Danach
invariant (vgl. Kap. 4.1). Er scheint auch scheint ein besonders aussichtsreicher
durch Trainingsmaßnahmen nicht we- Fçrderansatz in der Beschftigung mit
sentlich beeinflussbar (Barclay, 1981; entsprechenden Computerspielen zu be-
Mhler & Hasselhorn, 2001). Versuche, stehen. Solche Spiele besitzen mehrere
die Funktionstchtigkeit des phonologi- Eigenschaften, die sich als wirksam zur
schen Arbeitsgedchtnisses durch Trai- Verbesserung rumlicher Fhigkeiten er-
ningsmaßnahmen zu steigern, mssen wiesen haben: a) es werden zentrale visu-
sich mithin auf die prozessualen Kom- ell-rumliche Anforderungen gestellt, wie
ponenten richten. Sie haben sich vor al- das schnelle berblicken und Absuchen
lem darauf konzentriert, durch geeignete einer komplexen Szenerie, wie das menta-
bungen die Geschwindigkeit des »inne- le Transformieren abgebildeter Objekte
ren Nachsprechens« (subvocal rehearsal) und wie das rasche Vergleichen von For-
zu erhçhen. Aber auch diesen Bemhun- men und Mustern; b) den Spielen wohnt
gen war nur wenig Erfolg beschieden ein hoher Aufforderungscharakter inne,
(vgl. Hulme & Muir, 1985; Kurland, sich aktiv mit den visuell-rumlichen An-
1981, zit. nach Case, 1999). forderungen auseinander zu setzen; c) es
werden systematisch unmittelbare Rck-
Visuell-rumliche Funktionen. Auch der meldungen zur Leistung gegeben; d)
Verbesserung rumlicher Fhigkeiten durch die variable Gestaltung des
wird bisweilen eine große Bedeutung zu- Schwierigkeitsniveaus ist ein hohes Maß
geschrieben. Rumliche Fhigkeiten neh- an Adaptivitt gewhrleistet.
men nmlich in vielen theoretischen In aller Regel zeigten sich im Vergleich mit einer
Modellen der Intelligenz eine zentrale Kontrollgruppe signifikante Verbesserungen
Stellung ein. Intelligenzforscher subsu- rumlicher Fhigkeiten in der Folge einer Fçr-
mieren sie unter die fluide Intelligenz- derung mit Computerspielen … Die fçrderliche
komponente (z. B. Carroll, 1993). Aus Wirkung konnte sowohl fr unterschiedliche
der Perspektive des INVO-Modells er- Computerspiele als auch in bezug auf unter-
folgreichen Lernens charakterisieren die schiedliche Testverfahren – mit Schwerpunkten
bei Leistungen der Visualisierung und der men-
rumlichen Funktionen einen wichtigen
talen Rotation – nachgewiesen werden. Die
Bereich, der insbesondere bei der Verar- Trainingsdauer umfasste bei den meisten Unter-
beitung bildhaften Lernmaterials (Kirby, suchungen vier bis sechs Stunden. Auch im
1993) eine große Rolle spielt. Hinblick auf das Alter und die allgemeine intel-
Einen guten berblick ber Trainings- lektuelle Leistungsfhigkeit der Probanden
anstze zur Fçrderung rumlicher Fhig- zeigten sich keine differenziellen Effekte. So-

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Teil II Lehren

wohl Kinder und Jugendliche – Regelschler merksamkeitskontrolle zu verbessern, er-


wie Lernbeeintrchtigte – als auch Erwachsene fllt beispielsweise das von Lauth und
profitierten von der Beschftigung mit den Schlottke (2002) vorgelegte »Training
Computerspielen. (Souvignier, 2001, S. 307f)
mit aufmerksamkeitsgestçrten Kindern«
In einer Untersuchungsreihe, in der das (vgl. Hager, Hasselhorn & Elsner, 1995).
bekannte Computerspiel Tetris Verwen- Das Trainingsprogramm vermittelt, wie
dung fand, konnte Souvignier (2000) zei- Lernhandlungen eigenstndig und pro-
gen, dass insbesondere die Kombination blemangemessen zu steuern sind, wie an
eines Computerspieltrainings mit einem Aufgaben und Probleme bedacht und
zustzlichen Strategietraining (ber Tech- planvoll heranzugehen ist, wie Hand-
niken der verbalen Selbstinstruktion) zu lungsvollzge mçglichst selbststndig zu
großen Effekten fhrte. Das Computer- organisieren sind und wie man einen
medium erlaubt es im brigen auch, defi- Lernprozess selbstreflexiv begleitet. Zu
zitre rumliche Orientierungsleistungen den Trainingsbausteinen gehçren ein so
in virtuellen Realitten erfolgreich zu trai- genanntes Basistraining, ein Strategietrai-
nieren (Lehnung & Leplow, 2001). ning im eigentlichen Sinne sowie zustzli-
che Einheiten zur Wissensvermittlung
Kognitive Trainings zur Verbes- und zur Vermittlung sozialer Kompeten-
serung von Lernstrategien und zen. Im Basistraining steht die Vermitt-
lung von Grundfertigkeiten im Vorder-
ihrer metakognitiven Regulation
grund, wie z. B. genau hinzusehen, genau
Strategietrainings gelten als die effektivs- zuzuhçren, Dinge genau zu beschreiben
ten kognitiven Trainings. Insbesondere und Wahrgenommenes genau wieder-
dann, wenn die selbststndige Strategie- zugeben. Weitere Schwerpunkte des
anwendung modellhaft und unter Variati- Basistrainings liegen in der Einbung ei-
on des Aufgabenkontextes und der Auf- ner selbststndigen Reaktionsverzçge-
gabenstellung eingebt wird, wenn die rung und Handlungsregulation sowie in
Lernenden explizit ber die Grenzen und der Einbung eines angemessenen Um-
Mçglichkeiten einer Strategie informiert gangs mit Ablenkungen. Im eigentlichen
werden, wenn allgemeine Techniken der Strategietraining sollen die Kinder lernen,
Selbstkontrolle und Lernregulation direkt wie sie mit Hilfe einer situationsbergrei-
mit eingebt werden und wenn es zustz- fenden allgemeinen Handlungsstrategie
lich gelingt, eine inhaltliche Nhe zum Probleme und Aufgaben przise erkennen
schulischen Lernen herzustellen und die und definieren kçnnen – bevor sie sich
trainierten Strategien mit Aspekten der mçgliche Lçsungswege berlegen und ihr
persçnlichen Zielmotivation der Lernen- Lçsungsverhalten berprfen.
den zu verknpfen (vgl. Mhler & Has- Es lsst sich trefflich streiten, ob es sich
selhorn, 2001). Diese Prinzipien sind in bei der verhaltenstherapeutisch orientier-
vielen Strategietrainings (z. B. zur Auf- ten Intervention von Lauth und Schlottke
merksamkeitskontrolle, zur Denkfçr- um ein Training im oben definierten Sin-
derung, zur Gedchtnisfçrderung, zum ne oder um einen Therapiebaukasten
verstehenden Lesen) umgesetzt worden. handelt (vgl. Beck, 1998): Die Interventi-
Auf einige dieser Trainingsanstze gehen on ist fr spezielle Adressat(inn)en ge-
wir im Folgenden exemplarisch ein. dacht, der Einarbeitungs- und Durchfh-
rungsaufwand ist vergleichsweise hoch
Aufmerksamkeitskontrollstrategien. Den und es ist eine Phase der differenzierten
Anspruch, die Kompetenzen zur Auf- psychologischen Diagnostik notwendig
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8 Besonderheiten des Lehrens

und auch vorgesehen, die von entspre- Denkens und damit die Fhigkeit zur
chend ausgebildeten Fachkrften durch- intelligenten Informationsverarbeitung
gefhrt werden sollte. Dennoch scheint nachhaltig zu verbessern. Als »induktiv«
das Programm – nach einer entsprechen- bezeichnet Klauer jenes Denken, das sich
den Einarbeitungszeit – auch von pda- auf die Feststellung der Gleichheit und/
gogischen Fachkrften ohne Therapie- oder Verschiedenheit von Merkmalen
ausbildung durchfhrbar (vgl. Lauth & oder Relationen bei beliebigen Materia-
Linderkamp, 1998). lien bezieht. Mit anderen Worten: Es geht
um den Kernbereich des logischen Den-
Denkstrategien. Im Zuge der Weiterent- kens. Alle Anforderungen des induktiven
wicklung kognitiver Theorien und einer Denkens, denen ein zentraler Stellenwert
immer strker werdenden Prozessorien- fr das erfolgreiche Bewltigen von intel-
tierung in der Intelligenzforschung kam lektuellen Anforderungen berhaupt zu-
es in den 1980er-Jahren zu einer Intensi- kommt, lassen sich Klauer zu Folge
vierung der Bemhungen, kognitive Trai- (1989) unter diese Definition des indukti-
nings zur direkten Fçrderung von Denk- ven Denkens subsumieren. »Zu Ende ge-
kompetenzen zu entwickeln. Solche dacht« resultieren aus Klauers Theorie
Denktrainings erheben den weit reichen- des induktiven Denkens sechs paradig-
den Anspruch, durch die Einbung matische Aufgabentypen: Generalisie-
kognitiver Strategien eine nachhaltige rung, Diskrimination, Kreuzklassifika-
Verbesserung der intellektuellen Leis- tion, Beziehungserfassung, Beziehungs-
tungsfhigkeit zu erreichen. unterscheidung und Systembildung. Die
Zu Recht gilt im deutschen Sprachraum anspruchsvollsten Aufgaben sind solche
das von Klauer (1989, 1991, 1993a, der Kreuzklassifikation (d. h. das Feststel-
2002) entwickelte Programm »Denktrai- len von Gleichheit und Verschiedenheit
ning«, in seinen unterschiedlichen Versio- von Merkmalen) und der Systembildung
nen fr Kinder, Jugendliche und Senioren, (d. h. das Feststellen von Gleichheit und
als besonders einschlgig. An der poten- Verschiedenheit von Relationen).
ziellen Wirksamkeit der verschiedenen Die Grundidee des Klauer-Trainings be-
Varianten des Klauer-Trainings kann es steht nun darin, durch das Bearbeiten ei-
keinen Zweifel geben – kein anderes ner reichhaltigen Aufgabenauswahl aus
Denktraining ist auch nur annhernd oft den sechs Aufgabentypen (in der Regel
und umfassend evaluiert worden. werden 20 Aufgaben pro Aufgabentyp
Der Anspruch des Klauer-Trainings be- zur Verfgung gestellt) Strategien des Ver-
steht darin, die Strategien des induktiven gleichens von Merkmalen und Relationen

Beispiel: Kreuzklassifikationen
Hunde unterscheiden sich u. a. in der Grçße und hinsichtlich der Art ihrer Behaa-
rung. So lassen sich z. B. große, mittelgroße und kleine Hunde voneinander unter-
scheiden, die entweder welliges oder glattes Haar haben. In welche der daraus resul-
tierenden Kategorien kann man die folgenden Hunderassen einordnen?

. Rehpinscher, . Langhaardackel,
. Cockerspaniel, . Dogge,
. Bernhardiner, . Boxer.

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Teil II Lehren

bend zu vermitteln. Als instruktionale im Hinblick auf den engeren Trai-


Methoden werden das »gelenkte Ent- ningsanspruch, also die intellektuelle
deckenlassen«, die Methode der »Verbali- Leistungsfçrderung. Es zeigen sich
sierung und Selbstreflexion« sowie die jedoch beachtliche Transfereffekte
»verbale Selbstinstruktion« (s.o.) empfoh- auf schulisches Lernen (z. B. Klauer,
len. Das Vorgehen ist auf das Fhigkeits- 1993b, 1993c). Dies legt die Vermu-
niveau der zu trainierenden Personen ab- tung nahe, dass mit dem Denktrai-
zustimmen und wird sicherlich von ning vor allem eine Steigerung be-
Trainer zu Trainer unterschiedlich gut reichsbergreifender metakognitiver
umgesetzt werden (ohnehin fllt auf, dass Fertigkeiten erreicht wird.
in Klauers Darstellungen die Trainings- 4. Die Programmversionen fr ltere
inhalte und -ziele vorrangig behandelt Kinder und fr Jugendliche sind be-
werden – Angaben zur Trainingsdurch- sonders wirksam bei Jugendlichen
fhrung bleiben eher vage). Fr die mit gravierenden Lernschwierigkei-
Durchfhrung der Klauer-Trainings sind ten (Klauer, 2001c) und bei Erwach-
zehn oder mehr Sitzungen von 20 bis 40 senen mit Minderleistungen in Intel-
Minuten Dauer vorgesehen. ligenztests (Hasselhorn, Hager &
Aus den zahlreichen Evaluationsstudien Boeley-Braun, 1995).
zu den Klauerschen Denktrainings ergibt
sich ein relativ differenziertes Bild nicht Gedchtnisstrategien. Gedchtnistrai-
nur der Wirksamkeit des Trainingsansat- nings scheint es »wie Sand am Meer« zu
zes, sondern auch der spezifischen Wir- geben. Allerdings sind die wenigsten die-
kungen, die der Wirksamkeit zugrunde ser Programme wissenschaftlich begrn-
liegen. So lassen sich aus der Metaevalua- det und evaluiert worden. Im Vorder-
tion von Hager und Hasselhorn (1998) grund stehen in der Regel bungen von
und aus der Metaanalyse von Klauer Grundfunktionen des Gedchtnisses, wie
(2001c) die folgenden vier Schlussfolge- z. B. der Geschwindigkeit der Informa-
rungen ziehen: tionsverarbeitung oder des Aktivierens
mehrerer Sinneskanle zur gleichen Zeit.
1. Die verschiedenen Varianten des Dazu werden spezifische verbale und vi-
Denktrainings sind effektiver, wenn suelle Gedchtnisstrategien vermittelt,
sie als Individualtraining durch- wie z. B. Techniken des Kategorisierens
gefhrt werden. oder die Loci-Technik. Bei neueren Trai-
2. Die nachweisliche Wirksamkeit des ningsprogrammen kommen Informatio-
Denktrainings I fr fnf- bis achtjh- nen ber die Funktionsweise des Ge-
rige Kinder scheint weniger auf einer dchtnisses (metakognitives Wissen) als
Verbesserung des induktiven Den- dritte Komponente hinzu. Obwohl die
kens im Sinne des Entdeckens von meisten Gedchtnistrainings eine Mi-
Regelhaftigkeiten zu basieren als schung aus diesen drei Komponenten ent-
vielmehr auf einer Verbesserung halten, unterscheiden sie sich darin, ob
im Bereich der visuellen Wahrneh- sie eher bereichsspezifisch oder eher be-
mungsgeschwindigkeit (vgl. Hager reichsbergreifend konzipiert sind.
& Hasselhorn, 1993; Hasselhorn & Bereichsspezifische Gedchtnistrainings
Hager, 1995). zielen auf die Verbesserung einer spezi-
3. Das Denktraining II fr neun- bis fischen Gedchtnisfunktion bzw. eines
zwçlfjhrige Kinder ist im Vergleich eingegrenzten Anforderungsbereichs. Das
zum Denktraining I weniger effektiv Einben der Schlsselwortmethode zum
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8 Besonderheiten des Lehrens

Erlernen fremdsprachlicher Vokabeln ist der metakognitiv-strategischen Anteile


hierfr ein gutes Beispiel (vgl. Kap. 2.3). scheint dies nicht unwahrscheinlich.
Bereichsspezifische Trainings dieser Art
erzielen recht große Effekte (vgl. Schnei- Metakognitive Regulation. Die geringen
der & Pressley, 1997). Ihr Nachteil liegt Transfereffekte traditioneller Gedchtnis-
allerdings wie bei allen spezifischen Fçr- strategietrainings fhren Brown, Brans-
dermaßnahmen darin, dass sie nur in Be- ford, Ferrara und Campione (1983) auf
zug auf einen bestimmten Anforderungs- die mangelnde Informiertheit der trainier-
bereich (hier das Vokabellernen) einen ten Personen hinsichtlich des Nutzens
Nutzen haben – ihre allgemeine Wirkung und ber die Anwendungsmçglichkeiten
ist gering. der vermittelten Strategien zurck (»unin-
Bereichsbergreifende Gedchtnistrai- formed training«). Sie vertreten die The-
nings sind bisher kaum einer wissen- se, dass eine nachhaltige Wirksamkeit ko-
schaftlichen Evaluation unterzogen wor- gnitiver Trainings nur dann zu erreichen
den. Zu dem von Lepach, Heubrock, sei, wenn zugleich Wissen ber das eigene
Muth und Petermann (2003) herausgege- kognitive System, ber Lernanforderun-
benen »Training fr Kinder mit Gedcht- gen und ber Strategien sowie Proze-
nisstçrungen (REMINDER)« haben die duren der Planung, berwachung und
Autoren erste Evaluationsbefunde vor- Steuerung eigener Lernprozesse (kurz:
gelegt. Das Einzeltraining ist neuropsy- metakognitives Wissen) vermittelt wrde.
chologisch begrndet und fr Kinder zwi- Metakognitive Komponenten gelten da-
schen sieben und 14 Jahren konzipiert. Es her als ein ideales Transfervehikel fr die
besteht aus zehn 60-mintigen Einheiten Inhalte kognitiver Trainings (vgl. Kap.
(Grundprogramm) und einem begleiten- 3.3). Dementsprechend sind metakogni-
den bungsprogramm fr zuhause. Hin- tive Anteile hufig Bestandteile eines ko-
zu kommen fnf Aufbaueinheiten, die gnitiven Trainings und nicht unbedingt
der vertiefenden Anwendung der Elemen- einer eigenstndigen Kategorie zuzuord-
te des Grundprogramms dienen sollen. In nen. Es gab zwar Versuche, Metakogni-
den zehn Grundeinheiten stehen bun- tion isoliert zu vermitteln (z. B. ber-
gen zur Vermittlung von Gedchtnis- wachungs- und Supervisionstechniken
strategien (Mnemotechniken) im Vorder- des eigenen Lernens), bewhrt hat sich
grund. In durchaus kreativer und das allerdings nicht.
kindgerechter Verpackung werden dabei Der kognitiv-metakognitive Ansatz wur-
Fokussierung, multimodales Erfassen, de z. B. in verschiedenen Lesetrainings
symbolisches Kodieren, Visualisierung, umgesetzt, die das bessere Verstehen und
Kettenbildung, Verbalisierung, symboli- Behalten von Textinformationen zum
sches Kodieren und Wiederholen, eine Ziel haben. Ein im deutschen Sprach-
Lesemethode sowie das Kategorisieren raum gut bewhrtes Konzept hierzu
eingebt. Eine erste Evaluationsstudie, in stammt von Hasselhorn und Kçrkel
die 21 Kinder mit Gedchtnisstçrungen (1986). Es wurde von Schreblowski und
einbezogen waren, weist auf die Effekti- Hasselhorn (2001; Schreblowski, 2004)
vitt des Trainingsprogramms hin – im um motivationale Trainingskomponenten
Vergleich mit einer unbehandelten Kon- erweitert und konnte mittlerweile erfolg-
trollgruppe. Es bleibt abzuwarten, ob die reich im regulren Deutschunterricht im-
Effekte auch im Vergleich mit Alternativ- plementiert werden (Gold et al., 2004).
trainings bestehen bleiben und ob sie Ein sehr erfolgreiches Training ist das be-
lngerfristig Bestand haben. Aufgrund reits in Kapitel 6 erwhnte »Reciprocal
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Teil II Lehren

Teaching« von Palincsar und Brown Lehrperson demonstriert selbst die jewei-
(1984), das ursprnglich ebenfalls fr ligen kognitiven Aktivitten (also z. B.
den Aufbau des Textverstehens entwi- das Zusammenfassen von Textinhalten).
ckelt wurde, mittlerweile aber auch zur Die Lernenden werden in ausfhrlicher
Fçrderung des mathematischen Denkens Weise ber die Notwendigkeit, die Mçg-
im Grundschulalter und fr die bessere lichkeiten und die Grenzen sowie ber
Verarbeitung akustischer Informationen den zu erwartenden persçnlichen Nutzen
bei Schulanfnger(inne)n genutzt wird. des Strategieeinsatzes informiert. Und es
Das »Reciprocal Teaching« basiert auf wird Schritt fr Schritt die Eigenverant-
wechselseitigen Lehr-Lern-Schritten, in wortlichkeit der Strategienutzung gestei-
deren Verlauf Lehrende und Lernende gert.
ihre Rollen tauschen. In der ursprng- Der Einbezug metakognitiver Elemente
lichen Variante ist die Fçrderung des hat sich auch bei anderen kognitiven
Leseverstndnisses und der selbststndi- Trainings bewhrt. So zielen Lauth und
gen Verstehenskontrolle die eigentliche Schlottke (2002) in ihrem Training fr
Zielvariable (vgl. Kap. 6.4). Vier konkrete aufmerksamkeitsgestçrte Kinder aus-
strategische Aktivitten werden fr das drcklich auf die (metakognitiven) Berei-
Training ausgewhlt: Zusammenfassen che der Planungsfhigkeit und Selbst-
wesentlicher Inhalte, Generieren verste- reflexivitt. Auch Souvignier (2001)
hensbezogener Fragen, Vorhersage des resmiert, dass die Verbesserung rumli-
weiteren Textgeschehens und Klren von cher Fhigkeiten auf dem Erwerb einer
mehrdeutigen Textpassagen. Diese Strate- hçheren strategischen Flexibilitt beruhe
gien werden in einer Art des »sokrati- und dass sich dementsprechend auch kei-
schen Dialogs« vermittelt, dem das Prin- ne verbindlichen Vorgaben fr ein »rum-
zip des entdeckenden Lernens zugrunde liches Strategietraining« formulieren lie-
liegt. Das Programm umfasst etwa 20 ßen. Folgerichtig pldiert er dafr, bei
Trainingssitzungen von jeweils 25 Minu- den Adressaten von Trainingsmaßnah-
ten Dauer und kann sowohl als Indivi- men ein mçglichst hohes Maß an Reflexi-
dualtraining als auch in Gruppen von bis on ber die eigenen Vorgehensweisen an-
zu 20 Kindern durchgefhrt werden. zustreben. Auch das Klauer-Training (s.o.)
Whrend des Trainings werden verschie- zielt auf die Entwicklung der Selbstrefle-
dene Instruktionselemente realisiert: Die xion.

Analyse: Wirksamkeit des Reciprocal Teaching


Das »Reciprocal Teaching« ist hufig evaluiert worden. Eine Zusammenfassung
der frhen Arbeiten haben Rosenshine und Meister (1994) vorgenommen. Dabei
zeigten sich beeindruckende lngerfristige Effekte in der Grçßenordnung von etwa
0.8 Standardabweichungen gegenber traditionell trainierten Kontrollgruppen. Die
großen Effekte resultierten jedoch lediglich bei trainingsnahen Anforderungen; bei
standardisierten Lesetests fielen die Effektgrçßen wesentlich geringer aus. Das Be-
fundmuster erinnert daran, dass bei der Bewertung der Wirksamkeit kognitiver
Trainings nicht nur die Effektgrçßen, sondern auch die Transferdistanzen zu beach-
ten sind.

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8 Besonderheiten des Lehrens

Was kann ein Kognitives pdagogische »Stein der Weisen«, der es


Training bewirken? mçglich machen wrde, das allgemeine
kognitive Entwicklungstempo sowie das
In seinem einflussreichen Buch »Intelli- erreichbare kognitive Lern- und Leis-
gence and Experience« vertrat Hunt tungsniveau bereichsbergreifend zu fçr-
(1961) die These, dass die Qualitt der in- dern, hat sich bis heute nicht finden las-
dividuellen kognitiven Lernvoraussetzun- sen. Dennoch ist die Euphorie der
gen im Wesentlichen eine Funktion des 1960er-Jahre nicht in fatalistische Resig-
Anregungsgehalts der Lernumwelt sei. nation umgeschlagen (vgl. Schmidt-Den-
Man kann sich vorstellen, welch außerge- ter, 2002). Die durch sie angestoßene
wçhnlich große Wirkungen eine solche Interventionsforschung hat einige Ergeb-
These im Hinblick auf die Diskussion um nisse hervorgebracht, die einen gedmpf-
die vorschulische Fçrderung entfalten ten Optimismus gerechtfertigt erscheinen
sollte. Der nahe liegende Schluss, mçg- lassen. Zwar hat auch die endogenisti-
lichst viele Kinder mçglichst frh mit sche Kernannahme, wonach die individu-
reichhaltigen Angeboten und Anregungen elle kognitive Leistungsfhigkeit in ho-
zu fçrdern, erhielt durch eine weitere Mo- hem Maße genetisch determiniert sei,
nographie von Bloom (1964) neue Nah- durch die neueren Befunde der differen-
rung. In seinen Studien ber die »Stabili- ziellen Verhaltensgenetik wieder stark an
tt und Vernderungen intellektueller Reputation gewonnen (vgl. Rowe, 1997).
Lernvoraussetzungen« kam Bloom nm- Doch belegen die Befunde der kognitiven
lich zu der berzeugung, dass das Lern- Trainingsforschung eindrcklich, dass die
potenzial eines 17-Jhrigen etwa zur individuellen kognitiven Leistungspoten-
Hlfte bereits im Alter von vier Jahren de- ziale durchaus vernderbar sind (vgl.
terminiert sei und dass sich weitere 30 Asendorpf & Hasselhorn, 2004; Hassel-
Prozent bis zum achten Lebensjahren he- horn & Hager, 2001; Klauer, 2001c).
rausbilden wrden. Kritische Anmerkun-
gen, dass die empirische Basis fr eine sol- Wirksamkeit und Wirkungen. Wirksame
che Auffassung keineswegs gut begrndet Trainingsmaßnahmen sollten nicht nur zu
war (Blooms Daten zeigten nmlich ledig- einer Leistungssteigerung im Bereich der
lich an, dass die mit vier Jahren gemesse- trainierten kognitiven Funktionen fhren,
ne Intelligenztestleistung etwa 50 Prozent sondern darber hinaus einen Transfer auf
der Leistungsvariabilitt 17-Jhriger vor- neue Anwendungsbereiche untersttzen.
hersagen konnte), wurden geflissentlich Es stellt sich daher die Frage, wie spezi-
berhçrt. Die willkommene berzeu- fisch oder wie allgemein ein Trainingskon-
gung, dass es durch gezielte Maßnahmen zept beschaffen sein muss, um beiden An-
in den frhen Lebensjahren gelingen kçn- forderungen gerecht zu werden. Bei den
ne, die grçßtmçglichen Wirkungen bei kognitiven Trainings scheint es ein Gesetz
der Fçrderung der allgemeinen kognitiven des reziproken Zusammenhangs zwischen
Leistungsfhigkeit zu erzielen, war zum dem Allgemeinheitsgrad des Trainings
Credo einer ganzen Generation engagier- und der Grçße der erzielten Trainings-
ter Pdagog(inn)en geworden. effekte zu geben: Je bereichsspezifischer
Zwar ist die Euphorie der 60er-Jahre des das Training ist, desto grçßer (Effektgrç-
20. Jahrhundert lngst verflogen. Denn ße), aber auch desto schmaler (Transfer)
die Effekte der damals mit großem Auf- fallen die Effekte aus. Ein sehr spezifisches
wand eingeleiteten Vorschulprogramme Training lçst damit die erstgenannte For-
fielen hufig enttuschend aus. Und der derung ein, indem große Trainingseffekte
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Teil II Lehren

Analyse: Wirksamkeit und Wirkungen kognitiver Trainings


Eine Fehlberzeugung ganz anderer – jedoch ebenso subtiler – Art haben Hager
und Hasselhorn (2000) aufgezeigt. Diese Fehlberzeugung besteht darin, dass man
die empirisch nachgewiesene Wirksamkeit einer Trainingsmaßnahme hufig gleich-
setzt mit dem Nachweis spezieller kognitiver Wirkungen des Trainings. Auch wenn
ein theoretisches Wirkmodell explizit angibt, auf welche kognitiven Funktionen ein
Training zielt, kann doch die Wirksamkeit eines Trainings auf ganz anderen als den
postulierten Wirkungen beruhen.
So mag ein Training, welches die Kapazitt des Arbeitsgedchtnisses erhçhen soll,
dann als wirksam eingestuft werden, wenn sich im Anschluss bessere Leistungen in
einem Arbeitsgedchtnistest nachweisen lassen. Welche Wirkungen dieses Training
jedoch bei den trainierten Personen tatschlich ausgelçst hat, ist mit dem Nachweis
der Leistungssteigerungen noch nicht beantwortet: Sind die Trainierten planvoller
und strategischer geworden oder haben sie mehr Zuversicht in die eigenen Gedcht-
nisfhigkeiten gewonnen, was sie dazu gefhrt haben mag, dass sie sich bei den
Prfaufgaben mehr angestrengt haben? Ist tatschlich die Kapazitt des Arbeits-
gedchtnisses grçßer geworden oder haben die Trainierten gelernt, mit den Be-
grenztheiten besser umzugehen und die vorhandene Kapazitt gezielter und selekti-
ver im Hinblick auf die Anforderungen zu nutzen?
Fragen dieser Art verdeutlichen, dass Wirksamkeit und Wirkung einer Trainings-
maßnahme durchaus nicht bereinstimmen mssen. Ein Training, das eine spezi-
fische kognitive Funktion verbessern soll, kann seine Wirksamkeit auch durch eine
eher allgemeine kognitive Anregung oder Anreicherung erzielen. Ebenso ist es denk-
bar, dass ein Training mit einem allgemeinen bereichsbergreifenden Wirksamkeits-
anspruch nur sehr spezifische kognitive und/oder motivationale Merkmalsnderun-
gen auslçsen wird.

erzielt werden – diese bleiben jedoch hu- neuen Kompetenzen auswirken. In die-
fig eng auf den trainierten Aufgaben- oder sem Zusammenhang haben sich insbe-
Inhaltskontext beschrnkt, innerhalb des- sondere gezielte Informationen ber die
sen trainiert wurde. Ntzlichkeit der vermittelten Strategien
Daraus sollte man nicht voreilig den und das direkte Einben von Techniken
Schluss ziehen, dass die breiter angeleg- der Selbstkontrolle und Lernregulation
ten, nicht auf spezifische kognitive Funk- als wirksam erwiesen (vgl. Hasselhorn,
tionen ausgerichteten Trainingskonzepte 1987; Mhler & Hasselhorn, 2001). Die-
als Mittel der Wahl gelten mssen, um se Komponenten gehçren zu den zentra-
mçglichst breite Transferwirkungen zu len Bausteinen metakognitiv orientierter
erzielen. Ein gnzlich unspezifisches Trainings. Wichtiger als die Frage nach
Denktraining garantiert nmlich keines- dem Allgemeinheitsgrad oder der Spezifi-
wegs den erwnschten Transfer. tt eines Trainingsprogramms scheint da-
Seit den 1980er-Jahren hat man daher her die metakognitive Einbindung der
immer wieder gefordert, kognitive Trai- neu vermittelten kognitiven Kompeten-
nings stets mit Komponenten anzurei- zen. Die grçßte Wirksamkeit versprechen
chern, die sich gnstig auf die sptere Ge- deshalb kognitive Trainings, die eine sol-
neralisierung der im Training vermittelten che Einbindung gewhrleisten.
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8 Besonderheiten des Lehrens

8.2 Fçrderung von Motiva- len Probleme verschwinden, wenn es ge-


tion und Interesse lingt, das Interesse der Lernenden fr das
jeweilige Lerngebiet zu wecken.
Fragt man Lehrerinnen und Lehrer nach Die ersten beiden Gruppen von Empfeh-
den gravierenden Problemen im Unter- lungen lassen sich gut der in Kapitel 2.4
richt, dann gehçren Hinweise auf die eingefhrten Unterscheidung zwischen
Lustlosigkeit der Schler(innen) und den Motivation (als situativem Zustand) und
damit einhergehenden Mangel an Lern- Motiv (als relativ situationsunabhngi-
motivation zu den hufigsten Nennun- gem dispositionalen Merkmal eines Ler-
gen. Was aber verbirgt sich hinter dem nenden) zuordnen. Im ersten Fall wird die
Begriff der Lernmotivation? Mit Brophy Situation fokussiert, im zweiten Fall die
(1988) lsst sich Lernmotivation um- Person des Lernenden. Der dritte Ansatz-
schreiben als die Tendenz oder Bereit- punkt schließlich hat die Beziehung des
schaft von Lernenden, akademische bzw. Lernenden zum Gegenstand im Blick.
schulische Aktivitten fr sinnvoll und Auch wenn der Fokus der Betrachtung
wertvoll zu halten und sie auszufhren, bei diesen drei Perspektiven wechselt,
weil man sich von ihnen persçnlich ntz- gibt es insbesondere hinsichtlich der theo-
lichen Lernzuwachs verspricht. Doch wie retischen Grundlagen viele Gemeinsam-
bringt man Lernende dazu, Lernaktivit- keiten. Im folgenden Abschnitt wird ver-
ten fr so sinnvoll und wertvoll zu halten, sucht, die wichtigsten Antworten auf die
dass sie versuchen, den intendierten Nut- Frage »Wie lsst sich Lernmotivation fçr-
zen daraus zu ziehen? dern?« aus allen drei Perspektiven heraus
Diese Frage ist so alt wie die Erfahrungen zu skizzieren. Dazu werden zunchst zen-
von Lehrenden und Unterrichtenden, die trale Prinzipien eines motivierenden Un-
die Lustlosigkeit und das Desinteresse terrichts, anschließend geeignete Anstze
von Lernenden erlebt haben. Es verwun- zur Fçrderung individueller motivationa-
dert daher nicht, dass in der einschlgigen ler Dispositionen und schließlich ber-
Literatur eine kaum mehr berschaubare legungen zur Frage, wie sich das Interesse
Vielfalt von Antworten auf diese Frage fr einen Lerngegenstand wecken lsst,
gegeben wurde. Je nach theoretischer prsentiert.
Grundorientierung fielen die Antworten
recht unterschiedlich aus. Viele der unter- Prinzipien zur motivationalen
schiedlichen Antworten ergnzen sich in
Optimierung von Unterricht
sinnvoller Weise. Vergleicht man die Ka-
taloge von Empfehlungen zur Fçrderung Moderne Theorien der Lern- und Leis-
der Lernmotivation (z. B. Rheinberg & tungsmotivation gehen davon aus, dass
Krug, 2005; Woolfolk, 2004), so wird die Bereitschaft, eine Ttigkeit auszufh-
rasch deutlich, dass der Begriff der Moti- ren, dann besonders hoch ist, wenn der
vationsfçrderung sehr unterschiedliche Lernende mit dieser Ttigkeit positive Er-
Facetten umfasst. Whrend einige Emp- wartungen und subjektiv als wertvoll
fehlungen den Unterricht fokussieren und erlebte Folgen verknpft (so genannte
damit die Frage, wie dieser besser gestal- Erwartungs-mal-Wert-Theorien). Dement-
tet werden kann, stellen andere Empfeh- sprechend finden sich in der einschlgi-
lungen die individuellen motivationalen gen Literatur viele Prinzipien zur motiva-
Dispositionen von Lernenden in den Vor- tionalen Optimierung von Unterricht, die
dergrund. Wieder andere Autoren sind sich auf die Gestaltung der Erwartungs-
davon berzeugt, dass alle motivationa- und Wertseite der Lernttigkeiten bezie-
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Teil II Lehren

hen. Hinzu kommen weitere Empfehlun- den. Stipek (2002) weist darauf hin, dass
gen, die zum Ziel haben, Grundvoraus- insbesondere authentische Lernanforde-
setzungen fr ein erfolgreiches Lernen zu rungen geeignet sind, diese vierte Voraus-
schaffen. setzung zu erfllen.

Basale Voraussetzungen. Woolfolk (2004) Aufbau positiver Erwartungen. Hat der


hat darauf hingewiesen, dass die eigentli- Lernende den Eindruck, die vorgege-
chen Motivierungsstrategien erst greifen benen Lernanforderungen erfolgreich be-
kçnnen, wenn vier Grundvoraussetzungen wltigen zu kçnnen, wird er mehr An-
des Unterrichts erfllt sind. Die erste strengung investieren, um ein Lernziel zu
Grundvoraussetzung besteht darin, dass erreichen. Eine Reihe bewhrter Motivie-
ein geordneter und angemessener Lern- rungsstrategien zielt daher auf diese Er-
kontext geschaffen wird. Wenn im Klas- wartungsseite, indem sie dem Aufbau
senraum Unordnung und Unruhe herr- von (Selbst-)Vertrauen und der Vermitt-
schen, ist diese basale Voraussetzung nicht lung einer positiven Erwartungshaltung
erfllt. Hufige Unterbrechungen und Stç- dient. Dazu gehçren Maßnahmen, die
rungen verhindern, dass ein Lernkontext die berzeugung strken, durch eigenes
hinreichend geordnet und angemessen ist. Handeln auch schwierige Aufgaben er-
Eine zweite Grundvoraussetzung ist das folgreich bewltigen zu kçnnen. Nach
Ausmaß an untersttzendem Verhalten Woolfolk (2004) beginnt dies bereits da-
durch den Lehrenden – und zwar so, wie mit, dass Lernende an ihrem individuel-
es die Lernenden wahrnehmen. Wird die len Leistungsniveau »abgeholt« werden
lehrende Person als geduldig und unter- und dass ein angepasstes kleinschrittiges
sttzend erlebt, dann kann ein Klassenkli- Vorgehen gewhlt wird, bei dem erst
ma entstehen, in dem Fehler nicht als dann zum jeweils nchsten Schritt ber-
Misserfolge, sondern als gute Gelegenhei- gegangen wird, wenn der vorherige
ten zum Lernen aufgefasst werden (Clif- Schritt verstanden worden ist.
ford, 1991). Die Vorgabe klarer, spezifischer und mit
Die dritte Voraussetzung hat etwas mit Anstrengung erreichbarer Lernziele hat
dem Schwierigkeitsniveau von Lernanfor- sich ebenfalls als geeignete Motivierungs-
derungen zu tun. Die geforderten Lern- strategie im Sinne des Aufbaus positiver
ttigkeiten mssen einerseits herausfor- Erwartungen erwiesen. Schlag (1995)
dernd, andererseits aber auch von den spricht in diesem Zusammenhang von
Lernenden zu bewltigen sein. Sind die Zieltransparenz und Zielaktivierung:
Anforderungen zu leicht oder zu schwer, Die Forderung nach Zieltransparenz gilt fr al-
kçnnen motivierende Mechanismen le Aspekte der Lehrer-Schler-Interaktion: Sie
kaum wirksam werden. Bei zu leichten gilt in bezug auf lngerfristige, beispielsweise
Aufgaben ist der mit der Aufgabenlçsung die Schullaufbahn oder das Schuljahr umfas-
verbundene subjektive Wert zu gering, sende Leistungsziele; sie gilt jedoch genauso
bei zu schweren Aufgaben ist die Lç- fr die einzelne Unterrichtsstunde und in bezug
sungswahrscheinlichkeit zu gering, um auf Aspekte des Sozialverhaltens. Da die Ziele
des Lehrers nicht immer die Ziele seiner Sch-
eine positive Erwartung zu erzeugen.
ler sind, muß auf die Vermittlung wichtiger
Schließlich gehçrt es zu den basalen Vo-
Ziele viel gemeinsame Zeit verwendet werden.
raussetzungen fr die potenzielle Wirk- (Schlag, 1995, S. 129)
samkeit von Motivierungsstrategien, dass
die Lernanforderungen selbst als sinnvoll Auch die Art und Form der Rckmeldun-
und lohnenswert wahrgenommen wer- gen kann entscheidend fr den Aufbau
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8 Besonderheiten des Lehrens

motivational gnstiger Erwartungen sein. genen Mçglichkeiten erfolgreichen Ler-


Hilft man den Lernenden dabei, den eige- nens kann gestrkt werden. Es gibt weitere
nen Lernfortschritt auf die Anwendung motivationsfçrdernde Strategien, die da-
geeigneter Selbstmanagementstrategien rauf ausgerichtet sind, den persçnlichen
zurckzufhren, wird der Selbstvergleich Wert und den Nutzen von Lernaktivitten
bei der Bewertung eigenen Lernerfolgs zu verdeutlichen. Gelingt dies, dann steigt
gestrkt und weniger der soziale Ver- die Tendenz, sich mit den Lernanforderun-
gleich mit anderen. Durch geeignete gen auseinander setzen zu wollen.
Rckmeldungen kçnnen Lernende den Eine typische Strategie, um dieses Ziel zu
Fortschritt in den eigenen Lernbemhun- erreichen, besteht in der Verknpfung der
gen wahrnehmen. Das strkt ihr Selbst- Lernaktivitten mit den (ohnehin vorhan-
vertrauen in die eigenen Lernkompeten- denen) Interessen der Lernenden (Schiefe-
zen und damit die Erwartung, auch bei le, 1991). Als besonders geeignete Berei-
zuknftigen Lernaufgaben erfolgreich che gelten hier Sport, Musik, Politik und
abschneiden zu kçnnen. Gesellschaft, Mode oder Film und Fernse-
Eine weitere motivationsfçrderliche Re- hen. Wichtig dabei ist, dass der Lehrende
gel, die die Erwartungsseite des motiva- ber den jeweiligen Interessenbereich,
tionalen Geschehens positiv beeinflussen den er als »Vehikel« benutzen will, hinrei-
kann, hat mit der Einstellung zu tun, dass chend gut Bescheid weiß. Anderenfalls ist
individuelle Leistungspotenziale ver- die Gefahr groß, dass er als inkompetent
nderbar sind. Durch die Befunde der dif- wahrgenommen wird, was sich besonders
ferenziellen Verhaltensgenetik hat die ungnstig auswirken kann, weil diese In-
Auffassung von der genetischen Determi- kompetenz demotivierend wirken muss.
niertheit der kognitiven Leistungsfhig- Fehlt die individuelle Einsicht in die
keit des Menschen in den letzten Jahren Ntzlichkeit des gegenwrtigen Lernens
wieder stark an Reputation gewonnen. fr das sptere Leben, empfiehlt Woolfolk
Leider hat sich diese berzeugung in den (2004), die Lernaktivitten in solche T-
Kçpfen vieler flschlicherweise mit der tigkeiten und Kontexte einzubetten, die
Zusatzannahme gekoppelt, dass aufgrund den Lernenden Spaß machen. Spaß an
der genetischen Determiniertheit kaum einer Sache zu haben, gehçrt zu den in-
mehr Mçglichkeiten bestnden, die indi- trinsisch motivierenden Zustnden, Zu-
viduellen Leistungsmçglichkeiten durch stnden also, die die Investition von An-
gezielte Fçrderung zu verndern. Dem ist strengung nicht als belastend, sondern sie
aber keineswegs so (vgl. Kap. 8.1). Die als beglckend empfinden lassen (zum so
berzeugung, durch eigene Lernanstren- genannten Flow-Erleben vgl. Csikszent-
gungen das individuelle Leistungsver- mihalyi, 1985).
mçgen verbessern zu kçnnen, entspricht Eine weitere Strategie kann man als We-
nicht nur den Befunden der kognitiven cken von Neugier bezeichnen. Neugierig
Trainingsforschung – sie hat auch positive werden Kinder dann, wenn es ber-
Wirkungen auf die motivational gns- raschende oder kontraintuitive Diskre-
tigen Erwartungen in Lehr-Lern-Situatio- panzen zwischen bereits vorhandenen
nen: nmlich dass durch intensive Lern- berzeugungen der Lernenden und den
anstrengungen das eigene Leistungs- neuen Informationen gibt.
potenzial gesteigert werden kann. Sind die bislang beschriebenen Bemhun-
gen, die intrinsische Motivation zu erhç-
Den Wert des Lernens verdeutlichen. Nicht hen, nicht erfolgreich, bleibt immer noch
nur das Vertrauen der Lernenden in die ei- die Mçglichkeit, die Ntzlichkeit oder
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Teil II Lehren

Beispiel: Motivieren durch Neugier


Wie durch offenkundige Diskrepanzen zwischen (vorhandenen) berzeugungen
und (neuen) Fakten motiviert werden kann, zeigt ein von Stipek (1993) beschriebe-
nes Beispiel: Eine Lehrerin stellt ihren Schlern (fnfte Klassenstufe) die Frage, ob
wohl auf den anderen Planeten unseres Sonnensystems »Leute« wohnten. Auf die
prompte Antwort »ja« fragt sie als Nchstes, ob Leute Sauerstoff zum Atmen
bruchten. Da die Klasse im Biologieunterricht gerade die Atmung als notwendiges
Merkmal von Leben kennen gelernt hat, wird auch diese Frage bejaht. Daraufhin
berichtet die Lehrerin, dass es in der Atmosphre der anderen Planeten Sauerstoff
nicht gbe.
Einige Schler bemerken sofort die Diskrepanz. Es entsteht eine lebhafte Diskussion
ber die Atmosphre anderer Planeten, aber auch ber die Arten von Lebewesen,
die vielleicht ohne Sauerstoff leben kçnnten, und ber hnliche Fragen.

den subjektiven Wert einer Lernttigkeit Um zu verhindern, dass Lernende von der
durch das Inaussichtstellen einer Beloh- eigentlichen Lernanforderung abschwei-
nung zu erhçhen. Dabei sollte allerdings fen, gibt es eine Reihe von Maßnahmen
bedacht werden, dass die extrinsische Be- (vgl. Woolfolk, 2004). So lsst sich die
lohnung fr eine schon intrinsisch moti- aktive Beteiligung dadurch steigern, dass
vierte Handlung das Ausmaß an intrinsi- man den Lernenden durch Fragen und
scher Motivation untergraben kann (vgl. Antworten, durch kleine Auftrge oder
Kap. 2.4). durch das Demonstrieren von Fertigkei-
ten Gelegenheit gibt, Erfolge zu erleben.
Hilfestellungen fr ausdauernde Auf- Wichtig auch, dass man Sorge dafr
gabenbezogenheit. Sind die Lernanforde- trgt, dass »fertige Produkte« erzeugt
rungen anspruchsvoll, dann bleibt es werden und dass vollstndige Handlun-
nicht aus, dass Lerner(innen) bisweilen gen erbracht werden kçnnen; dass man
auf Schwierigkeiten stoßen. Beispielswei- das Risikopotenzial einer Aufgabe (also
se werden Sachverhalte nicht auf Anhieb die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns) re-
klar, oder man bekommt das Gefhl, dass duziert, ohne die Aufgabe zu sehr zu ver-
noch irgendwelche Informationen fehlen, einfachen; dass man eine berbetonung
um ein Problem lçsen zu kçnnen. In sol- der Benotung vermeidet und dass die
chen Situationen ist es besonders wichtig, Lehrenden ihre eigene Motivation und
der Aufgabe die volle Aufmerksamkeit zu ihr eigenes Interesse am Lernstoff deut-
widmen. Oftmals aber schweifen die Ge- lich werden lassen.
danken des Lernenden ab, wie man es
z. B. bei Leistungsngstlichen beobachten Anstze zur Fçrderung individu-
kann, die – anstatt sich auf die Aufgabe eller motivationaler Dispositionen
zu konzentrieren – damit anfangen, sich
Sorgen um ihre eigene Leistung zu ma- Die skizzierten Prinzipien der motivatio-
chen oder darber, welchen Eindruck sie nalen Optimierung von Unterricht lassen
bei den anderen hinterlassen. Dies redu- erkennen, dass eine Erhçhung des Unter-
ziert die Aufgabenbezogenheit, die nçtig haltungswertes von Unterricht nicht aus-
ist, um die Lernanforderung in hinrei- reichen wird, um die Lernmotivation wir-
chendem Maße zu fokussieren. kungsvoll zu steigern. Allzu hufig fhrt
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8 Besonderheiten des Lehrens

die Verwendung neuartiger Materialien vierungsstrategien des Unterrichts wenig.


und/oder der Einbezug beliebter Ttigkei- Vielmehr muss versucht werden, die moti-
ten in den Unterricht lediglich zu einer vationalen Dispositionen zu verndern.
Art Anfangsmotivierung, die schnell Dies ist nicht ganz einfach, da es sich bei
wieder verblassen kann und bei vielen motivationalen Dispositionen (zumindest
Lernenden nicht bis in die eigentliche im Sekundarstufenalter) bereits um relativ
Lernphase erhalten bleibt (Brophy, Rohr- zeitstabile und nderungsresistente Merk-
kemper, Rashid & Goldberger, 1983). male handelt. Dennoch haben sich einige
Offensichtlich erzielen die skizzierten Anstze als wirksam zur positiven Beein-
Motivierungsmaßnahmen nur bei einigen flussung motivationaler Dispositionen er-
Lernenden die gewnschten Wirkungen wiesen (vgl. Rheinberg & Krug, 2005).
auf das Lernverhalten. Verfgt eine Per- Dazu gehçren insbesondere Maßnahmen
son bereits ber ein ausgeprgtes Lern- zur Steigerung des Selbstverursachungs-
und Leistungsmotiv mit erfolgsorientier- erlebens, Trainings zur nderung von
ter Ausprgung (vgl. Kap. 2.4), dann fh- ungnstigen Attributionsmustern (Reat-
ren die Motivierungstechniken in der Re- tribuierung) und kognitive Motivnde-
gel zur erwnschten Steigerung der rungsprogramme auf der Basis individuel-
Lernmotivation. Entscheidend dafr ist, ler Bezugsnormen.
dass man in den Lernanforderungen und
in den damit einhergehenden Aktivitten Selbstverursachungserleben. Viele der ak-
eine realistische Mçglichkeit zum Errei- tuellen motivationspsychologischen An-
chen eines erwnschten Kompetenz- stze sehen im Erleben eigener Kompetenz
zuwachses sieht. Lernende mit einer eher bzw. in der subjektiven berzeugung der
misserfolgsngstlichen Ausprgung des persçnlichen Verantwortlichkeit fr Hand-
Leistungsmotivs sehen dagegen in an- lungsergebnisse (z. B. im Konzept der
spruchsvolleren Lernanforderungen eher Selbstwirksamkeitserwartungen von Ban-
die Gefahr, ihre mangelnde Kompetenz dura, 1977a) den zentralen Schlssel zum
besttigt zu bekommen. Die damit ein- Motiviertsein. Richard DeCharms (1979)
hergehenden Gedanken lhmen und hat als einer der Ersten versucht, die lern-
fhren dazu, dass keine zustzlichen An- relevanten motivationalen Dispositionen
strengungen in die Lernaktivitten inves- von Schlern durch eine systematische Be-
tiert werden. einflussung des Selbstverursachungserle-
Sind die motivationalen Dispositionen un- bens (»Origin-Feeling«) zu steigern. Das
gnstig, helfen auch die bewhrten Moti- Selbstverursachungserleben motiviert den

Fokus: Facetten des Selbstverursachungserlebens


1. sich selbst erreichbare, aber anspruchsvolle Ziele setzen,
2. um die eigenen Strken und Schwchen wissen,
3. Vertrauen in die Wirksamkeit des eigenen Handelns haben,
4. selbst die Wege und Schritte bestimmen, mit denen man die eigenen Ziele errei-
chen will,
5. Rckmeldungen einholen und bewerten, ob man sein Ziel bereits erreicht hat,
6. sich selbst fr die eigenen Handlungen und deren Folgen verantwortlich fh-
len.
(nach DeCharms, 1979)

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Teil II Lehren

Lernenden: Er oder sie hat dann nmlich und Leistungsverhalten zu ermçglichen:


das Gefhl, selbst das eigene Verhalten zu in Richtung auf die internal-variable Di-
bestimmen und mit Aussicht auf Erfolg mension »Anstrengung«. Gelang dies,
die eigenen Ziele anzugehen. dann fhlten sich die Schler(innen) eher
In einem einwçchigen Workshop fhrte verantwortlich fr das Bewltigen ihrer
DeCharms (1979) Sekundarstufenlehrer Lernaufgaben und sie zeigten mehr An-
in sein Konzept des Selbstverursachungs- strengung, um die Lçsung zu finden.
erlebens ein. Die Lehrer(innen) entwickel- Der Reattribuierungsansatz lsst sich gut
ten dann selbst konkrete Unterrichtsideen auf den herkçmmlichen Klassenunter-
und Lernmaterialien, die das Selbstver- richt bertragen, wo man sich ent-
ursachungserleben ihrer Schler(innen) sprechender Modellierungs- und/oder
strken sollten. Dabei wurde großer Wert Kommentierungstechniken bedient (vgl.
darauf gelegt, dass sich die Schler(innen) Ziegler & Schober, 1997). Bei den Mo-
verbindliche Lernziele setzen, sich selbst dellierungstechniken verbalisiert die Lehr-
beobachteten und sich als Urheber erfolg- person stellvertretend die erwnschten
reichen eigenen Handelns erleben kçn- Ursachenzuschreibungen (in der Regel die
nen. Unterrichtsbeobachtungen zeigten, eigene Anstrengung, sowohl nach einem
dass die Lehrer(innen) nach und nach ih- Erfolgs- als auch nach einem Misserfolgs-
ren Unterricht immer besser an die Leit- erleben). Anschließend wird ber die Ge-
ideen des Origin-Ansatzes anpassten. Be- fahren unerwnschter/ungnstiger Attri-
reits nach einem Schuljahr zeigten sich butionsstile aufgeklrt. Indirekter sind die
Verbesserungen in den motivationalen Kommentierungstechniken. Dabei greift
Dispositionen der Schler(innen). Die aus die Lehrperson sichtbare Handlungs-
niedrigen sozialen Schichten kommenden ergebnisse von Lernenden auf und kom-
blieben nun auch seltener dem Unterricht mentiert diese im Sinne der erwnschten
fern und sie verspteten sich weniger oft. internal-variablen Attributionen.
Nach zwei Schuljahren konnten bedeut-
same schulische Leistungssteigerungen Individuelle Bezugsnorm. Auf der Basis
im sprachlichen und im mathematischen der von Heckhausen (1975) entwickelten
Bereich nachgewiesen werden. Theorie leistungsmotivierten Verhaltens
haben Krug und Hanel (1976) im Rah-
Reattribuierung. Einen etwas anderen men des Fçrderunterrichts in der vierten
Ausgangspunkt whlte Carol Dweck Klassenstufe ein noch komplexeres Mo-
(1975), indem sie auf die in Kapitel 2.4 tivnderungsprogramm konzipiert und
beschriebenen Attributionsvoreingenom- erprobt. In der Theorie von Heckhausen
menheiten von misserfolgsngstlich Ler- ist das Leistungsmotiv als Selbstbekrfti-
nenden zurckgriff. Sie stellte fest, dass gungssystem modelliert, das sich aus
Schler(innen), die nach dem erfolglosen drei Bestimmungsstcken zusammen-
Bearbeiten von Mathematikaufgaben den setzt: dem Gtemaßstab bzw. der Zielset-
Misserfolg auf die mangelnde eigene Be- zung, der Attributionsvoreingenommen-
gabung zurckfhrten, knftig weniger heit und der Selbstbekrftigungsstrategie.
Initiative entwickelten, sich weiterhin mit ber diese drei Bestimmungsstcke las-
Mathematikaufgaben auseinander zu set- sen sich die Unterschiede im Leistungs-
zen. Dweck entwickelte ein Interventi- verhalten zwischen Erfolgsmotivierten
onsprogramm, um den betroffenen Sch- und Misserfolgsngstlichen gut erklren:
ler(innen) Stck fr Stck gnstigere Mißerfolgsmotivierte setzen sich im Vergleich
Ursachenzuschreibungen fr ihr Lern- zu Erfolgsmotivierten Ziele, die gemessen an

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8 Besonderheiten des Lehrens

ihren tatschlichen Fhigkeiten entweder zu nel (1976) drei Ziele: 1. Die unrealisti-
hoch oder zu niedrig sind … Die Handlungs- schen Ziele sollen den eigenen realisti-
ergebnisse, die aus diesem unrealistischen Ziel- schen Leistungsmçglichkeiten angepasst
setzungsverhalten (Normwerte) resultieren, er-
werden; 2. das Begabungsselbstkonzept
klren sie in der Weise, daß sie Erfolge ... auf
soll durch die Vermittlung gnstiger At-
Glck und auf Aufgabenleichtigkeit zurck-
fhren, whrend sie fr Mißerfolge eher ihre tributionsmuster verndert werden und
schlechten Fhigkeiten ... verantwortlich ma- 3. der Anreizwert leistungsorientierten
chen ... Diese negative Selbstbewertung der ei- Verhaltens soll durch den Aufbau positi-
genen Tchtigkeit (Attribuierungsvoreinge- ver Selbstbekrftigungen gesteigert wer-
nommenheit) ruft nicht nur eine entsprechende den.
negative Selbstbekrftigung hervor ..., sondern Der Ansatz von Krug und Hanel (1976)
bedingt auch die Stabilitt des mißerfolgsorien- ist mittlerweile in vielfltiger Weise in
tierten Leistungsverhaltens. Um die erwarteten schulischen Kontexten und fr Lernende
negativen Selbstbewertungen und Selbstbekrf-
unterschiedlichen Alters erfolgreich um-
tigungen zu vermeiden, gehen Mißerfolgs-
motivierte leistungsorientierten Ttigkeiten
gesetzt worden (vgl. Rheinberg & Krug,
zumeist aus dem Weg (Krug & Hanel, 1976, 2005, Schreblowski, 2004). Dabei hat
S. 275). sich die Verknpfung von Motivnde-
rungsstrategien mit bereichsspezifischen
Um die Negativspirale einer ungns- Lernstrategietrainings als besonders ef-
tigen Konstellation des Selbstbekrfti- fektiv herausgestellt. Allerdings scheint
gungssystems aufzubrechen, verfolgt das der Aufbau eines positiven Selbstbekrfti-
Trainingsprogramm von Krug und Ha- gungssystems sehr viel Zeit zu erfordern.

Analyse: Motivnderung im Unterricht


In einer Studie von Krug und Hanel (1976) wurde ber einen Zeitraum von vierein-
halb Monaten das Selbstbekrftigungssystem von misserfolgsngstlichen Viertklss-
lern angegangen. Als wirksam erwiesen sich wiederholtes ben der erwnschten
Verhaltensweisen, gezieltes Lob, Lernen am Vorbild des Trainingsleiters sowie
Selbstbeobachtung, Protokollierung und inneres Sprechen aller motivrelevanten
berlegungen. Das Programm begann mit attraktiven schulfernen Aufgaben (z. B.
Ringwurfspiel) und ging mehr und mehr zu unterrichtsnahen Rechen- und Recht-
schreibbungen ber.
Die Zusammenhnge zwischen Anspruchsniveausetzung, Ursachenzuschreibung
und Selbstbewertung wurden anhand konkreter Aufgaben erçrtert und vom Trai-
ningsleiter vorbildhaft bei der Bearbeitung von Aufgaben demonstriert, indem er
laut ber die Anspruchsniveausetzung, die Ursachenzuschreibung und die Selbst-
bewertung nachdachte. Anschließend kamen die Schler(innen) an die Reihe und
sollten es dem Trainer nachtun. Zwischendurch fanden immer wieder individuelle
Beratungen statt.
Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, bei der herkçmmlicher Fçrderunterricht reali-
siert wurde, zeigten die Trainingsteilnehmer realistischere Zielsetzungen, gnstigere
Kausalattribuierungen nach Misserfolg und eine intensivere positive Selbstbewer-
tung nach Erfolg. Hinzu kam eine verbesserte Testintelligenz. Hinsichtlich der
Schulnoten bzw. der Leistungen bei Schultests zeigten sich allerdings keine Unter-
schiede.

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Teil II Lehren

Wie lsst sich Interesse fr ein sonen, die vom Lerner zur Gruppe der Exper-
ten oder Fachkollegen im weitesten Sinne
neues Lerngebiet wecken?
gerechnet werden (z. B. Lehrer oder fachlich
kompetente Peers). (Krapp, 1998a, S. 198)
Ausgeprgtes bereichsspezifisches Interes-
se fhrt zu einer persçnlichen Identifikati-
on mit dem Interessengegenstand und
kann Lernende in einen Zustand intrinsi- 8.3 Koedukation
scher Lernmotivation versetzen, der zu
intensiveren Lernaktivitten fhrt (vgl. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist immer
Krapp, 1998a). Gelingt es, echtes Interes- wieder die Frage diskutiert worden, ob
se fr ein Lerngebiet zu wecken, dann Mdchen und Jungen gemeinsam (Ko-
braucht der Lehrende sich kaum mehr edukation bzw. Koinstruktion) oder bes-
um das Problem der Lernmotivation zu ser getrennt (Monoedukation) unterrich-
kmmern. Die Bereitschaft, anstrengende tet werden sollten (vgl. Kraul, 1994). Von
Lernaktivitten zu unternehmen, entsteht Anfang an stand dabei die Frage der
bei vorhandenem Interesse gewisserma- Gleichstellung im Vordergrund: Die hç-
ßen von selbst. So verwundert es nicht, here schulische Bildung war lange Zeit
dass der Genese und Fçrderung von Sach- ausschließlich den Jungen vorbehalten.
interessen in der Pdagogik und Psycho- Gegner der Koedukation argumentierten
logie unterrichtlichen Geschehens große Ende des 19. Jahrhunderts, dass die Jun-
Aufmerksamkeit gewidmet wird. gen vor den Mdchen geschtzt werden
Doch eine befriedigende Antwort auf die mssten. Ende des 20. Jahrhundert finden
Frage, wie sich Interesse fr ein Sachge- sich hnliche Argumente – allerdings mit
biet wecken lsst, zeichnet sich bisher vernderten Vorzeichen. Wird doch nun-
bestenfalls schemenhaft ab. Sicherlich fin- mehr angefhrt, dass die Mdchen vom
det man eine Reihe von Empfehlungen, gemeinsamen Unterricht Nachteile haben
wie man den Einstieg in ein Themen- und – zumindest im mathematisch-natur-
gebiet »interessant machen« kann (s.o.). wissenschaftlichen Bereich – vor den Jun-
Ob aus dem dabei bisweilen entstehen- gen geschtzt werden mssten.
den situationalen Interesse allerdings ein Aber warum sollten Mdchen einen
berdauerndes Interesse wird, hngt von Nachteil vom gemeinsamen Unterricht
einer Reihe hçchst individueller Voraus- mit Jungen haben? Um diese Frage empi-
setzungen ab. Krapp (1998a) weist da- risch fundiert zu beantworten, sind sehr
rauf hin, dass hier den mehr oder weniger unterschiedliche potenzielle Wirkungen
bewusst wahrgenommenen Erlebensqua- monoedukativen vs. koedukativen Unter-
litten eine entscheidende Rolle zu- richts untersucht worden: schulische Leis-
kommt. tungen, Karriereaspirationen, Wahl von
Schul- und Studienfchern, akademische
Dabei geht es keineswegs um die Optimierung Selbstkonzepte, schulische Integration,
eines ganzheitlichen Gefhls des subjektiven soziales Engagement, Einstellungen vor
Wohlbefindens, sondern um die positive Bilan-
allem zum mathematisch-naturwissen-
zierung der Erfahrungen im Hinblick auf die
grundlegenden psychologischen Bedrfnisse
schaftlichen Unterricht sowie Denkver-
nach Kompetenzerfahrung (z. B. bei selbstn- mçgen und Problemlçseverhalten (vgl.
dig gelçsten Aufgaben), nach autonomer Herwartz-Emden, Schurt & Waburg,
Handlungssteuerung (z. B. bei der Planung und 2005). Aus der in diesem Lehrbuch ein-
Realisierung der Lernttigkeit) und nach sozia- genommenen Perspektive einer Pdagogi-
ler Eingebundenheit in Bezug auf jene Per- schen Psychologie des erfolgreichen Ler-
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8 Besonderheiten des Lehrens

nens und Lehrens sind dabei vor allem die Dies wirft die Frage auf, ob sich solche
Befunde zu den Fachinteressen und den ungnstigen Selbstkonzept- und Interes-
akademischen Selbstkonzepten relevant, senentwicklungen von Mdchen nicht
da diese wesentliche Bestandteile der mo- verhindern ließen. Im Zusammenhang
tivationalen Lernvoraussetzungen sind. mit dieser Frage wird hufig auf Studien
Insbesondere im Bereich naturwissen- verwiesen, denen zu Folge Mdchen, die
schaftlicher Fcher scheint sich koeduka- in getrenntgeschlechtlichen Schulen un-
tiver Unterricht ungnstig auf die Interes- terrichtet werden, ein vergleichsweise po-
senlage von Mdchen auszuwirken (vgl. sitives Selbstkonzept der eigenen mathe-
Giesen, Gold, Hummer & Weck, 1992). matisch-naturwissenschaftlichen Fhig-
Bei einem Vergleich koedukativer und keiten entwickelt haben, mehr Interesse
monoedukativer Gymnasien in den F- an diesen Unterrichtsfchern bekunden,
chern Deutsch, Englisch und Mathematik hufiger naturwissenschaftliche Kurse
beobachtete Baumert (1992) eine Verstr- whlen und dort auch besser abschneiden
kung geschlechtsspezifischer Interessen- (z. B. Cipriani-Sklar, 1997; Giesen et al.,
polarisierungen durch Koedukation. 1992). Aus diesen Befunden ableiten zu
Neuere internationale Schulleistungsver- wollen, dass der naturwissenschaftliche
gleiche zu mathematischen und naturwis- Unterricht in geschlechtsgetrennten
senschaftlichen Fachleistungen von Sch- Gruppen durchgefhrt werden muss,
lerinnen und Schlern der Sekundarstufen scheint jedoch voreilig. Denn bei genaue-
I und II dokumentieren bereinstimmend rer Betrachtung des Forschungsstands zu
und ber alle untersuchten Lnder hinweg den Auswirkungen monoedukativen Un-
substanzielle Geschlechterunterschiede terrichts finden sich durchaus auch Studi-
nicht nur im Interesse, sondern auch im en, die keine Unterschiede in Abhngig-
fachspezifischen Selbstvertrauen und in keit von der Geschlechterkonstellation
den Leistungen zu Ungunsten der Md- der Lerngruppe nachweisen konnten
chen. Bei der dritten internationalen (z. B. Harvey, 1985; Hughes, Lauder &
Vergleichsstudie fr Mathematik und Na- Strathdee, 1996; Marsh, 1989; Rohr &
turwissenschaften (TIMSS) lagen die Leis- Rollett, 1992). Darber hinaus sind viele
tungen der Schlerinnen in der gymnasia- der Befunde, die fr eine positive Wir-
len Oberstufe etwa eine drittel (in der kung der Monoedukation zu sprechen
mathematisch-naturwissenschaftlichen scheinen, streng genommen nicht eindeu-
Grundbildung und in Mathematik) bis ei- tig in diesem Sinne zu interpretieren (vgl.
ne halbe Standardabweichung (in Physik) Mael, 1998; Rost & Pruisken, 2000).
unter denen ihrer mnnlichen Klassenka- Das hat damit zu tun, dass sich die mo-
meraden (Baumert, Bos & Watermann, noedukativen und die koedukativen
1998; Baumert et al., 2000). Verschiedene Schulen hufig auch noch in weiteren
Studien mit jngeren Lernenden deuten Merkmalen (z. B. Trgerschaft, konfes-
darauf hin, dass die geringeren Leistun- sionelle Gebundenheit) voneinander un-
gen der Mdchen im Jugendalter durch terscheiden, so dass unklar bleibt, ob
ein negativeres Selbstkonzept mathema- wirklich die Koedukation fr die berich-
tisch-naturwissenschaftlicher Fhigkeiten teten Effekte verantwortlich ist.
und ein schwcheres Interesse an diesen Monoedukative Schulen sind – zumin-
fachlichen Domnen bereits im Primar- dest in Deutschland – meist private
schulalter angekndigt werden (z. B. Schulen und damit hufig zugleich kon-
Eccles, Barber, Updegraff & O’Brien, fessionell gebunden und/oder durch
1998; Rustemeyer, 1998). Schulgebhren finanziert. Bei einer ver-
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Teil II Lehren

gleichenden Untersuchung çffentlicher Unterricht ist in den Jahren 1991 bis


und privater Schulen sind deshalb Effekte 1994 in Kiel von Hoffmann, Hußler
der schulischen Sozialisation stets ver- und Peters-Haft (1997) durchgefhrt
mischt mit vorangegangenen Selektions- worden. Hier wurde in sechs Gymnasien
effekten, nmlich mit unterschiedlichen der Anfangsunterricht in Physik in der
Eingangsmerkmalen, die die Schlerin- siebten Klasse jeweils in derselben Schule
nen und Schler mitbringen (z. B. hin- entweder a) wçchentlich wechselnd in
sichtlich der religiçsen Bindung oder in monoedukativen Halbklassen (d. h. jede
Bezug auf den sozioçkonomischen Status Klasse wurde halbiert in eine Mdchen-
der Eltern). Die unterschiedlichen Rah- und eine Jungengruppe) oder im gesam-
menbedingungen monoedukativer und ten Klassenverband (d. h. koedukativ) un-
koedukativer Schulen in Deutschland terrichtet, b) wçchentlich wechselnd in
fhren also dazu, dass sie nicht nur im koedukativen Halbklassen (d. h. jede
Hinblick auf die Geschlechterzusammen- Klasse wurde in zwei Gruppen von je-
setzung der Lerngruppen unterschiedliche weils der Hlfte aller Mdchen und der
Sozialisationsbedingungen bieten. Zudem Hlfte aller Jungen geteilt) oder im ge-
arbeiten viele private Schulen unter samten Klassenverband unterrichtet oder
gnstigeren Bedingungen (ausgewhlte c) durchgngig im gesamten Klassenver-
Schlerschaft, engagierte Eltern, bessere band unterrichtet. Die beteiligten Lehr-
materielle Ausstattung) als çffentliche krfte unterrichteten jeweils unter zwei
Schulen, was mit zu den besseren Leis- der drei mçglichen Bedingungen.
tungen ihrer Schlerinnen und Schler Gemeinsam mit den am Modellversuch
beitragen mag (z. B. Signorella, Frieze & beteiligten Lehrkrften wurden aus dem
Hershey, 1996). Lehrplan des Landes Schleswig-Holstein
Einige Autoren haben Schulen vor und fnf Themen ausgewhlt und gemß ei-
nach der Einfhrung von Koedukation nes didaktischen Konzepts fr eine Er-
untersucht (z. B. Canada & Pringle, neuerung des Physikunterrichts im Sinne
1995; Marsh, Owens, Myers & Smith, von Chancengleichheit fr Mdchen und
1989; Signorella et al., 1996). Auch hier Jungen umgestaltet. Bei der didaktischen
kommt es aber zu Konfundierungen der Gestaltung der Unterrichtseinheiten wur-
Koedukation mit anderen Faktoren, z. B. den Kontexte gewhlt, die das Interesse
mit Effekten der gesellschafts- und bil- der Mdchen finden und auch fr Jungen
dungspolitischen Entwicklung, die zur interessant sind. So wurde das im Lehr-
berfhrung der monoedukativen Schu- plan vorgesehene Thema »Schallerzeu-
len in koedukative gefhrt haben. gung und Schallausbreitung« umbenannt
Zusammenfassend lsst sich daher fest- in »Wir bauen Musikinstrumente und
halten, dass eindeutig interpretierbare Er- messen Lrm«; das Thema »Geschwin-
gebnisse nur solche Studien liefern kçn- digkeit und Kraft« in »Wir untersuchen
nen, in denen innerhalb einer Schule den Fahrradhelm und messen Geschwin-
Lerngruppen miteinander verglichen wer- digkeiten und Krfte«; das Thema »Wr-
den, die entweder monoedukativ oder meausbreitung, Ausdehnung bei Erwr-
koedukativ unterrichtet wurden. mung und Temperaturmessung« in
»Wrme und Wrmequellen beim Zube-
reiten von Speisen«; das Thema »Elektri-
Der Kieler Modellversuch
scher Strom und Magnetismus« in »Von
Ein Schulversuch zum Einfluss der Mo- einfachen Schaltungen und raffinierten
noedukation im naturwissenschaftlichen Schaltern« und das Thema »Die gerad-
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8 Besonderheiten des Lehrens

linige Ausbreitung des Lichts« in »Wir Die Jugendlichen der Modellversuchs-


machen Bilder«. Diese fnf Unterrichts- klassen schtzten am Ende des Schuljah-
einheiten wurden in smtlichen Expe- res ihre Begabung fr Physik genauso
rimentalklassen (Bedingung a und b) hoch ein wie zu Beginn des Schuljahres,
realisiert, wohingegen der Unterricht in whrend das Selbstkonzept der Jugend-
den Kontrollklassen (Bedingung c) auf lichen in den Kontrollklassen schlechter
Grundlage des in Schleswig-Holstein b- wurde. Insbesondere zeigte sich, dass das
licherweise geltenden Lehrplans kon- in den Modellversuchsklassen durch-
zipiert wurde. gefhrte Maßnahmenpaket in seiner Ge-
Um Effekte der Monoedukation abzu- samtheit zu einem positiveren fachspezi-
schtzen, wurden vor und nach der fischen Selbstkonzept bei den Mdchen
Intervention der Wissensstand, das Inte- fhrte. Dabei bewirkte die zeitweilige
resse und das Selbstkonzept eigener Aufhebung der Koedukation zwar keine
Fhigkeiten erfasst. Die zeitweise ge- Steigerung des physikbezogenen Selbst-
trenntgeschlechtlich unterrichteten Sch- vertrauens – wohl aber, dass die Md-
lerinnen erwarben ein umfangreicheres chen den eigenen Kompetenzgewinn
Physikwissen als alle anderen Mdchen- durch den Physikunterricht hçher ein-
und Jungengruppen. Weder die Unter- schtzten.
richtung in koedukativen Halbklassen Zusammengenommen zeigen die Befun-
noch die Einfhrung des neuartigen di- de der Kieler Studie, dass sich das zeit-
daktischen Konzepts hatten jedoch einen weilige Lernen in monoedukativen Grup-
Effekt auf den Erwerb physikbezogenen pen positiv auf die Wissensentwicklung,
Wissens. das Interesse und das fachbezogene
Die Auswertung zum Sachinteresse an Selbstkonzept in Physik – insbesondere
Physik ergab, dass das bliche Nachlas- bei Schlerinnen – auswirkt. Offensicht-
sen des Interesses im Verlauf des Schul- lich kann die zeitweilige Aufhebung der
jahres in den Modellversuchsklassen, ins- Koedukation zur Reduktion von Ge-
besondere bei den Jungen, aber auch bei schlechterunterschieden in naturwissen-
den Mdchen, geringer ausfiel. Offenbar schaftlichen Leistungen und Interessen
war wiederum die zeitweise Aufhebung beitragen.
der Koedukation fr diesen Effekt verant- Die Ergebnisse der Kieler Studie sind vor
wortlich. Whrend in allen anderen Be- dem Hintergrund der insgesamt wider-
dingungen ein Interesseverlust bis zum sprchlichen Befundlage zu den Auswir-
Ende des Schuljahres festzustellen war, kungen der Monoedukation besonders
blieb das Interesse bei den zeitweilig mo- ernst zu nehmen: Weil aufgrund der
noedukativ unterrichteten Schlerinnen Untersuchungsanlage die Konfundie-
und Schlern stabil. rungsprobleme frherer Studien ausge-

Analyse: Getrenntgeschlechtliches Unterrichten


Hoffmann et al. (1997) beschftigten sich auch mit dem Unterrichtsverhalten der
im Kieler Modellversuch beteiligten Jugendlichen. Die befragten Schlerinnen ga-
ben dabei an, dass im monoedukativen Unterricht mehr kooperatives Verhalten
praktiziert worden sei als in den koedukativ unterrichteten Gruppen. Fr die Jun-
gen zeigte sich der entgegengesetzte Effekt. Sie berichteten von mehr Kooperation
in den koedukativen Unterrichtsgruppen.

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Teil II Lehren

schlossen wurden, sind die berichteten noedukation aufgrund des wçchentlichen


positiven Effekte eindeutig auf die Vari- Wechsels im Kieler Modellversuch unter-
ation der Geschlechtskonstellation der schtzt worden sind.
Lerngruppen zurckzufhren. Allerdings
sind die Kieler Ergebnisse nicht ohne wei-
Der Berliner Schulversuch
teres verallgemeinerbar, da sie sich allein
auf den Unterricht an Gymnasien bezie- Hannover und Kessels (2002, Kessels,
hen. Eine zustzliche Einschrnkung der Hannover & Janetzke, 2002) haben einen
Studie besteht darin, dass aus unter- Schulversuch wissenschaftlich begleitet,
suchungspraktischen Grnden der mo- in dem der Physikunterricht in der achten
noedukative Unterricht stets im wçchent- Klasse an Berliner Gesamtschulen entwe-
lichen Wechsel mit koedukativem der in koedukativen oder monoedukati-
Unterricht durchgefhrt wurde. Die Er- ven Gruppen durchgefhrt wurde. An je-
gebnisse kçnnen somit nicht unbedingt der der beteiligten Schulen wurden
auf eine durchgngig monoedukative Un- sowohl koedukative als auch monoeduka-
terrichtssituation bertragen werden. tive Gruppen eingerichtet. Weiter wurden
So ist es beispielsweise denkbar, dass ein die Schlerinnen und Schler aus jeweils
permanentes Angleichen der Leistungs- zwei Klassen (»Kerngruppen«) per Zufall
niveaus in den beiden Lerngruppen, wie in drei etwa gleich große Lerngruppen ein-
er durch den wçchentlichen Wechsel im geteilt: eine Jungengruppe, eine Mdchen-
Kieler Modellversuch unabdingbar war, gruppe und eine koedukative Gruppe.
Voraussetzung fr den Erfolg der Maß- Von diesen Gruppen wurden weiter ge-
nahmen war: Mçglicherweise werden im hend nur solche in die Auswertung ein-
anderen Fall Mdchenlerngruppen von bezogen, deren Lehrkrfte mindestens ei-
den Betroffenen als »Fçrdergruppen« mit ne koedukative und eine monoedukative
geringerem Anspruchsniveau wahr- Gruppe unterrichtet hatten. Die Eintei-
genommen, wodurch positive Effekte der lung in mono- und koedukative Gruppen
Geschlechtertrennung unterdrckt wer- wurde whrend des achten Schuljahres
den kçnnen (vgl. Kessels, Hannover & durchgngig beibehalten. In der neunten
Janetzke, 2002). Weiter lassen die Kieler Klasse fand wieder koedukativer Unter-
Befunde die alternative Interpretation zu, richt im blichen Klassenverband statt.
dass sich monoedukative Unterrichtung Um die Effekte der Geschlechtskonstella-
nur dann motivierend und leistungsfçr- tion in den Lerngruppen abschtzen zu
derlich auswirkt, wenn den Schlerinnen kçnnen, wurden zum Halbjahr und zum
und Schlern durch den wçchentlichen Ende der achten Klasse Befragungen zu
Wechsel die Unterschiede zwischen bei- den allgemeinen motivationalen Merk-
den Lernsituationen unmittelbar vor Au- malen und zum Physikbezogenen Selbst-
gen gefhrt werden. Darber hinaus konzept durchgefhrt. Um den Einfluss
kann nicht ausgeschlossen werden, dass von Drittvariablen zu kontrollieren, wur-
die starke Aufmerksamkeit, die die Ge- den die Vornote in Mathematik und Vor-
schlechtertrennung durch den wçchentli- erfahrungen mit der Lçsung alltglicher
chen Wechsel erfahren hat, bei den be- Technikaufgaben (z. B. »Hast du schon
troffenen Schlerinnen ein Gefhl der einmal ein Fahrradlicht repariert?«) er-
Besonderheit ausgelçst hat, was auch fr fasst, die sich in einer Studie von Hanno-
die positiven Effekte verantwortlich ge- ver und Bettge (1993) fr die Vorhersage
wesen sein kçnnte. Denkbar ist allerdings von Physikinteressen und Physikleistun-
auch, dass die positiven Effekte der Mo- gen als bedeutsam erwiesen hatten. Das
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8 Besonderheiten des Lehrens

Leistungsniveau der Jugendlichen wurde Das Ergebnis ist bemerkenswert: Bereits


anhand der Physikzensuren zum Ende nach einem halben Jahr monoedukativer
der achten Klasse erfasst. Wesentlicher Unterweisung zeigten sich fr die Md-
fr die Beurteilung des Leistungsniveaus chen positive motivationale Effekte, die
an einer Gesamtschule ist jedoch, ob ber den Verlauf des achten Schuljahres
ein(e) Schler(in) einen Grundkurs oder hinweg stabil blieben. Nicht so eindeutig
einen Fortgeschrittenenkurs besucht: sind die leistungsbezogenen Effekte.
Schler(innen) mit einem als gering einge- Zwar waren zu Beginn und zum Ende
schtzten Leistungspotenzial werden der neunten Klasse die monoedukativ un-
nach Abschluss des ersten Unterrichtsjah- terrichteten Mdchen erwartungsgemß
res einem Grundkurs zugewiesen, Sch- hufiger in einem Fortgeschrittenenkurs
ler(innen) mit hohem Leistungspotenzial zu finden. Aber auf das im Abschluss-
einem Fortgeschrittenenkurs. Entspre- zeugnis dokumentierte Leistungsniveau
chend wurde als zweiter Indikator des hatte die monoedukative Unterweisung
Leistungsniveaus die Kurszugehçrigkeit keinen Einfluss.
im neunten Schuljahr erfasst. Erwartungswidrig wechselten allerdings
Zum Schulhalbjahr und zum Schuljahres- die Jungen nach einer monoedukativen
ende der achten Klasse zeigten sich Vor- Unterrichtung seltener in einen Fort-
teile der monoedukativ unterrichteten geschrittenenkurs als nach einer koedu-
Schlerinnen: Sie waren motivierter und kativen. Dieser Befund stimmt berein
hatten ein positiveres physikbezogenes mit den Befunden von Holz-Ebeling,
Selbstkonzept als die Mdchen, die ko- Grtz-Tmmers und Schwarz (2000).
edukativ unterrichtet worden waren. Weil Dort hatte sich fr Oberstufenschler aus
die Schlerinnen den beiden Bedingungen katholischen Privatgymnasien gezeigt,
per Zufall zugewiesen worden waren, dass die Jungen aus koedukativen Schu-
kçnnen diese Unterschiede als Ergebnis len ber die besseren Physikkenntnisse
der Erfahrungen interpretiert werden, die verfgten, tendenziell hufiger Physik als
sie whrend des Physikanfangsunterrich- Leistungskurs whlten und eher ein Fach
tes gemacht haben. aus dem mathematisch-naturwissen-
Die koedukativ unterrichteten Mdchen schaftlichen Bereich studieren wollten als
zeigten im Vergleich mit Jungen koeduka- Schler aus Jungenschulen.
tiver wie monoedukativer Gruppen das Das spiegelbildliche Ergebnismuster in
aus der Literatur bekannte Muster: Sie den Kurswahlen der am Berliner Schul-
fhlten sich weniger durch den Unterricht versuch beteiligten Mdchen und Jungen
angesprochen, sie berichteten weniger ei- hat mçglicherweise damit zu tun, dass
gene Aktivitt, sie hatten weniger Lust, die monoedukativen Lerngruppen fr die
die vorgegebenen Physikaufgaben zu lç- Schlerinnen eine gnstige, fr die
sen, sie glaubten, den Anforderungen des Schler dagegen eine ungnstige soziale
Physikunterrichts weniger entsprechen zu Vergleichssituation darstellen: In den
kçnnen, und sie schtzten ihre Physik- Mdchengruppen mssen sich die Sch-
begabung schlechter ein als die Jungen. lerinnen nicht mit den Jungen verglei-
Diese Stereotypien waren bei den monoe- chen, die bereits vor Beginn des Physik-
dukativ unterrichteten Mdchen so nicht unterrichts auf viel umfangreichere
festzustellen. Auf Motivation und Selbst- einschlgige Erfahrungen zurckblicken
konzept der Jungen hatte die Geschlech- kçnnen (z. B. Hannover & Kessels, 2000;
terkonstellation im Physikunterricht hin- Hoffmann et al., 1997; Ziegler, Broome,
gegen keine Auswirkungen. Dresel & Heller, 1996).
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Teil II Lehren

Unabhngig davon, aus welchem genauen Fach Physik kann aber offenbar dazu bei-
Grunde Mdchen sich in den monoedukativen tragen, diese Entwicklung zu verhindern.
Gruppen fr kompetenter gehalten haben, hat
sich diese subjektive Einschtzung in ihrem
Kurswahlverhalten fortgesetzt. Interessanter- Geschlechterspezifischer
weise wurden die zu Beginn der neunten Klasse oder geschlechtergetrennter
erfolgten Kurswahlen der Jugendlichen durch Unterricht?
die Kurseinteilung vonseiten der Lehrkrfte ein
halbes Jahr spter besttigt. Die Einteilung zu Die berichteten Schulversuche weisen fr
Beginn der neunten Klasse beruht auf einer die Leistungsentwicklung der Mdchen
Empfehlung der Lehrkraft, allerdings kçnnen langfristig auf gnstigere Wirkungen
hier die Jugendlichen sowie deren Eltern selbst monoedukativen Unterrichts hin – ver-
die endgltige Entscheidung treffen. Am Schul- mutlich sind sie ber motivationale Me-
halbjahresende der neunten Klasse wird die chanismen (Interessen, Selbstkonzepte)
Gruppenzuordnung neu festgelegt. Diesmal
vermittelt. Dieser Befund scheint nicht
wird die Entscheidung jedoch allein durch die
Lehrkraft getroffen. Es scheint, als Ergebnis
nur fr das deutsche Schulsystem zuzu-
der monoedukativen Unterrichtung trauten treffen. hnliche Vorteile monoedukati-
sich die Mdchen eher zu, den hçheren Anfor- ver Schulen werden auch fr die USA,
derungen des Fortgeschrittenenkurses gerecht Australien, Neuseeland, Großbritannien,
zu werden. Entsprechend entschieden sie sich Hongkong und Belgien berichtet (vgl.
hufiger fr einen solchen Kurs. Aufgrund der Herwartz-Emden et al., 2005). Damit
hçheren Anforderungen erreichten sie dann stellt sich die folgende Frage: Findet in
aber offenbar auch ein hçheres Leistungsni- den Mdchenklassen eine andere Art von
veau als ihre Mitschler und Mitschlerinnen
naturwissenschaftlichem Unterricht statt
in den Grundkursen – anderenfalls wre ihre
oder ist es allein die Andersartigkeit der
Kurswahlentscheidung nicht zum Ende des
Schuljahres durch die Lehrkraft besttigt wor- sozialen Vergleichsprozesse, die den Ef-
den. (Hannover & Kessels, 2002, S. 213) fekt bedingt?
Sollte die erste Annahme zutreffen, so lie-
Die Ergebnisse des Berliner Schulversuchs ßen sich daraus Hinweise auf eine ge-
besttigen die Ausfhrungen zu Motivati- schlechterspezifische Optimierung und
on und Selbstkonzept aus Kapitel 2.4 Adaptivitt von Unterricht ableiten. Die
(vgl. auch Kap. 4.1 zum frhkindlichen vorliegenden Forschungsbefunde sind
beroptimismus). Eine ungnstige Mo- diesbezglich jedoch nicht informativ. Sie
tivationslage und ein negatives physik- erlauben derzeit keine befriedigende Ant-
bezogenes Selbstkonzept sind die Risiko- wort auf die Frage, ob es fr Jungen und
faktoren einer fachbezogenen Leistungs- Mdchen unterschiedlich geeignete Arten
entwicklung – die Leistungsdefizite der des Unterrichtens gibt. Plausibler scheint
Mdchen sind ja hinreichend dokumen- die Annahme, dass eine zeitweise unter-
tiert (Baumert et al., 1998, 2000). Weil richtsorganisatorische Trennung von Jun-
die Schlerinnen in den koedukativen gen und Mdchen (vor allem zu Beginn
Lerngruppen offenbar weniger gut moti- des naturwissenschaftlichen Unterrichts)
viert werden und weil sie sich in der Folge fr die Mdchen die bereits beschriebe-
weniger zutrauen, vermeiden sie die an- nen Vorteile mit sich bringt: gnstigere
spruchsvolleren Kurswahlen – in der soziale Vergleichsprozesse, die mit einer
Konsequenz fallen sie in ihrem Leistungs- positiveren Selbstkonzept- und Interes-
niveau hinter ihre mnnlichen Klassenka- senentwicklung einhergehen.
meraden zurck (Eccles et al., 1998).
Monoedukativer Anfangsunterricht im
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8 Besonderheiten des Lehrens

8.4 Instruktion bei besonde- tem-)organisatorischen Maßnahmen der


ren Lernvoraussetzungen ußeren und (pdagogisch-)didaktischen
Maßnahmen der inneren Differenzierung
Schulische Leistungen, »als Leistungen der unterschieden. Innerhalb der pdago-
Schule und der Schler« (Weinert, 2001b), gisch-didaktischen Maßnahmen werden
sind ein sichtbares Resultat von Lehr-Lern- allgemeine Unterrichtsformen und In-
Prozessen. Sind die Lernleistungen in ei- struktionsmethoden – wo mçglich –
nem oder mehreren Bereichen ber einen getrennt von den spezifischen unterrichts-
lngeren Zeitraum hinweg beeintrchtigt, ergnzenden Fçrdermaßnahmen behan-
unbefriedigend oder erwartungswidrig, so delt. Erst aus der Kenntnis der in Kapitel
spricht man von Lernschwchen, Lern- 4.2 skizzierten individuellen Vorausset-
schwierigkeiten oder Lernstçrungen bzw. zungen von Personen mit Lernstçrungen
von Leistungs- oder Teilleistungsschwie- lassen sich – mit Aussicht auf Erfolg – re-
rigkeiten oder -stçrungen (vgl. Kap. 4.2). mediale Maßnahmen der Instruktion und
Schlerinnen und Schlern mit einer all- Fçrderung konzipieren. Am Ende des Ab-
gemeinen Lernschwche oder mit speziel- schnitts wird auf die wichtigsten Inhalts-
len Teilleistungsstçrungen gilt seit jeher ein bereiche von Teilleistungsstçrungen sepa-
besonderes Interesse. Wir greifen die Lern- rat eingegangen: Lesen, Schreiben und
schwchen hier noch einmal auf, um der Rechnen. In diesen Bereichen »berdau-
Frage nachzugehen, ob und unter welchen ern« die Lernprobleme hufig bis ins
Bedingungen instruktionale Maßnahmen Erwachsenenalter. Vornehmlich geht es
geeignet sind, den Lernschwachen eine allerdings um den remedialen, unterricht-
mçglichst optimale Ausnutzung ihrer lichen Aspekt bei Schlerinnen und Sch-
Lernpotenziale zu ermçglichen. Zwar gilt lern mit defizitren Lernvoraussetzungen.
die Notwendigkeit der Adaptation fr je- Was kann Unterricht dazu beitragen, um
den Lernenden und fr jeden Unterricht, (bereits vorhandene) Lern- und Leistungs-
aber: probleme zu verringern oder zu beheben?
Es spricht allerdings alles dafr, dass die Aus- Genauer: Wie muss die Instruktion be-
nutzung von Lernpotentialen bei der schw- schaffen sein, damit Schlerinnen und
cheren Schlergruppe wesentlich geringer ist Schler mit allgemeinen oder speziellen
und sich ihre Lernrckstnde und Chancen- Lernstçrungen mçglichst optimal gefçr-
ungleichheit in einem nicht differenzierten dert werden?
Unterricht vergrçßern, weil organische Dispo-
sitionen, soziokulturelle Randstndigkeit und
verminderte kognitive Aneignungsttigkeit Fçrderung der individuellen
die Kompensationsmçglichkeiten erschweren. Lernvoraussetzungen
(Ahrbeck, Bleidick & Schuck, 1997, S. 746)
Es gibt mittlerweile eine Vielzahl kogniti-
Whrend die meisten Schlerinnen und ver Fçrdermaßnahmen fr Lernende mit
Schler von nahezu jeder Unterrichtsform spezifischen Defiziten (vgl. Gersten et al.,
profitieren, bençtigen also diejenigen mit 2001; Wong, 1998; Swanson, Harris &
Lernrckstnden und Leistungsstçrungen Graham, 2003). Lauth, Grnke und
besonders fçrderliche Bedingungen. Wel- Brunstein (2004) haben das fr die prak-
che sind das? tische Anwendung hierzu Wichtigste in
Im Folgenden werden Maßnahmen der einem Band zusammengestellt; dort fin-
Lernfçrderung und Prinzipien der Unter- den sich auch hilfreiche Kurzbeschrei-
richtsgestaltung bei Lernschwchen dar- bungen bewhrter kognitiver Trainings
gestellt. Dabei wird zwischen (schulsys- (vgl. auch Langfeldt, 2003).
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Teil II Lehren

Fokus: Stimulation durch Zusatzreize


In einer originellen Versuchsanordnung hat Margarete Imhof (1995; Imhof &
Scherr, 2000) gezeigt, dass Kinder mit hyperaktiven Aufmerksamkeitsstçrungen
durch eine einfache aufgabenneutrale Zusatzstimulation (Verwendung bunten
Schreibpapiers) zu besseren Lernleistungen fhig sind (weniger Rechtschreibfehler,
bessere Schrift). Der Befund steht im Einklang mit der so genannten Stimulations-
hypothese, wonach die optischen Zusatzreize die notorische Unterstimulation der
hyperaktiven Kinder zumindest zum Teil (und wohl nur vorbergehend) auszuglei-
chen in der Lage sind. Gewçhnungsprozesse heben jedoch in kurzer Zeit den Erfolg
dieser »bunten Intervention« wieder auf.

Aufmerksamkeit. Stçrungen der Auf- und Hyperaktivitt, hçhere Aufmerksam-


merksamkeit und Konzentration stellen keit.
eine funktionelle Beeintrchtigung des
Lernens dar. Sie gehen nicht notwendiger- Gedchtnis. Strukturelle und prozessuale
weise mit Impulsivitt bzw. Hyperaktivi- Besonderheiten des Gedchtnisses Lern-
tt einher (Cutting & Denckla, 2003; schwacher kçnnen das Aufnehmen und
Dçpfner, 2000; Lauth, 2004b). In aller Behalten neuer Informationen entschei-
Regel gefhrden Aufmerksamkeitsdefizite dend erschweren (vgl. hierzu die Metaa-
den schulischen Lernerfolg, wenngleich nalyse von Swanson & S ez, 2003).
es keine Belege fr eine urschliche Bezie- Wirksame Maßnahmen setzen vor allem
hung gibt (Conte, 1998; Swanson, Mink bei den Komponenten des Arbeits-
& Bocian, 1999). Neben (bzw. begleitend gedchtnisses und bei den deklarativen
zu) den medikamentçsen Therapien sind und exekutiven Kompetenzen des Meta-
im deutschsprachigen Raum zwei erfolg- gedchtnisses an (Bttner & Mhler,
reich erprobte kognitiv-behaviorale Trai- 2004; Mhler & Hasselhorn, 2001). Es
ningsprogramme verfgbar (Lauth & ist hinreichend belegt, dass auch Lern-
Schlottke, 2002; Dçpfner, Schrmann & schwache von der Anwendung so ge-
Frçlich, 2002). In diesen Programmen nannter Mnemotechniken profitieren
wird ein planvolles und selbstreflexives kçnnen (z. B. Wong, Harris, Graham &
Herangehen an Aufgaben und Probleme Butler, 2003). Swanson et al. (1998) wei-
eingebt. Beide Programme setzen die sen aber einschrnkend darauf hin, dass
untersttzende Mitarbeit der Eltern vo- gute Gedchtnisstrategien fr »normal
raus. Purdie, Hattie und Carroll (2002) Lernende« nicht unbedingt auch gute
haben eine umfassende Metaanalyse Strategien fr Lernschwache sein mssen
zur Wirksamkeit pdagogisch-psycho- und dass die Lernschwachen die neu ver-
logischer und medizinischer Interventio- mittelten Strategien nicht ohne weiteres
nen bei ADHS vorgelegt. Auch hierbei auch lngerfristig in ihr strategisches Re-
zeigt sich, dass ein Elterntraining und der pertoire bernehmen. Außerdem sei fr
kombinierte Einsatz schulischer Interven- ein wirksames Strategietraining mit Lern-
tionsprogramme die grçßten Effekte hin- schwachen das Prinzip der Sparsamkeit
sichtlich der kognitiven Zielkriterien aus- (»law of parsimony«) besonders zu be-
lçsen. Die medikamentçse Behandlung achten, um berforderungen zu vermei-
wirkt sich positiv vor allem auf der Ver- den. »Less is more« nennen das Ellis und
haltensebene aus: geringere Impulsivitt Larkin (1998). Zusammenfassend gilt:
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8 Besonderheiten des Lehrens

Die besten dieser Programme beinhalteten (a) verbinden in der Regel ein strategisches
das ausfhrliche Vermitteln von wenigen Stra- mit einem metastrategischen Training
tegien, (b) das Anleiten zur berwachung des (Hasselhorn, 1992; Weinert, 1994).
eigenen Lernens, (c) das Unterweisen, wann
und wo eine Strategie anzuwenden ist, um die Motivation. Leistungen und Leistungs-
Generalisierung zu fçrdern, (d) das Unterrich- versagen sind nicht ausschließlich durch
ten von Strategien als integrierter Bestandteil kognitive Fhigkeiten determiniert. Eine
eines laufenden Curriculums und (e) ein hohes erfolgszuversichtliche motivationale Ori-
Ausmaß an berwachten bungsphasen und entierung bedingt und untersttzt das
Feedback. (Swanson et al., 1998, S. 150)
strategische Lernverhalten. Lernende mit
Diese Grundstze entsprechen auch den Schulleistungsproblemen haben in der
wesentlichen Empfehlungen zur Gestal- Regel eine Kette von Misserfolgssituatio-
tung wirksamer kognitiver Trainings nen durchlebt, die sich in nachteiliger
(Hasselhorn & Hager, 2001; Mhler & Weise auf das leistungsbezogene Selbst-
Hasselhorn, 2001; vgl. Kap. 8.1). konzept und auf die motivationale Orien-
Lernstrategien. Erfolgreich Lernende ver- tierung ausgewirkt haben. In Koppelung
fgen ber bereichsspezifische und be- mit den strategischen und metastrategi-
reichsbergreifende Strategien des Lernens schen Fçrdermaßnahmen ist daher stets
und Problemlçsens, die sie flexibel und ge- der Aufbau einer erfolgszuversichtlichen
zielt einsetzen. Unstrittig ist, dass sich De- Orientierung anzustreben (Schober &
fizite im strategischen Bereich ungnstig Ziegler, 2001; vgl. Kap. 8.2).
auf den Erwerb von Kenntnissen und Fer-
tigkeiten auswirken. Die Vermittlung stra- Unterrichtliche Maßnahmen
tegischer und metastrategischer Fertigkei-
Obwohl zu Recht immer wieder gefor-
ten ist deshalb eine nahe liegende Maß-
dert wird, eine theoriebasierte und an-
nahme. Erfolgreiche Strategietrainings be-
wendungsorientierte Interventionsfor-
drfen allerdings bei Lernschwcheren
schung weiter auszubauen (z. B. Levin et
einer besonderen Anleitungskomponente.
al., 2003; Scruggs & Mastropieri, 1994),
Im brigen gelten die von Swanson et al.
gibt es nur wenige erfahrungswissen-
(1998; s.o.) beschriebenen Prinzipien. Stra-
schaftlich begrndbare Empfehlungen
tegietrainings zielen auf die Kompensation
zum unterrichtlichen Umgang mit Lern-
defizitrer Lernvoraussetzungen im Sinne
besonderheiten. Bevor darauf eingegan-
Nebers (1996). Hufig wird jedoch zu-
gen wird, scheint eine Klrung zur »inne-
gleich und zustzlich das Aufholen inhalt-
ren und ußeren Differenzierung« von
licher Lernrckstnde notwendig sein
Unterricht hilfreich und notwendig.
(vgl. Machowiak, 2004).
Innere und ußere Differenzierung. Eine
Metakognition. Metakognitives Wissen mçgliche (und nahe liegende) schul-
ber die Strken und Schwchen des ei- organisatorische Reaktion auf die Un-
genen Lernens und ber die Funktions- gleichheit der Lernenden bzw. deren Lern-
weise des kognitiven Systems sowie meta- voraussetzungen ist die leistungshomoge-
kognitive prozedurale Fertigkeiten zur nisierende Separierung in besondere Leis-
Planung, Steuerung und Kontrolle des ei- tungsgruppen, die getrennt unterrichtet
genen Denkens und Lernens sind not- und beschult werden (ußere Differenzie-
wendige Voraussetzungen fr die Selbst- rung). Bezogen auf die Leistungsschw-
steuerung von Lernen (vgl. Kap. 2.3). cheren fhrt dies am einen Ende des Kon-
Fçrdermaßnahmen, die hier ansetzen, tinuums zur Einweisung in Schulen be-
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Teil II Lehren

Fokus: Hochbegabung
Separieren oder Integrieren? Dass auch Hochbegabte einer besonderen Fçrderung
bedrfen, ist unstrittig. Wie bei den Lernschwachen ist aber unklar, ob dies durch
Maßnahmen innerer oder ußerer Differenzierung geschehen soll (Heller & Hany,
1996; Heller et al., 2001). Die innere, unterrichtliche Differenzierung, kann mit ver-
schiedenen Arten der Ergnzung, Erweiterung und Vertiefung des Stoffangebots ein-
hergehen (Enrichment). Die ußere Differenzierung, z. B. durch Klassenbersprin-
gen oder Spezialschulen (oder auch: »Turboklassen«), entspricht im Ergebnis einer
Beschleunigung der Schullaufbahn (Akzeleration). Beide Vorgehensweisen haben
Vor- und Nachteile.

sonderen Typs mit anderen Abschluss- vornehmlich organisatorische Differen-


zielen, anderen Unterrichtsformen und zierung. Bei der inneren Differenzierung
-inhalten und gegebenenfalls auch lnge- wird die Leistungsheterogenitt billigend
ren Lernzeiten (Ahrbeck et al., 1997). in Kauf genommen, ja, produktiv ge-
Klassenwiederholung und Nachhilfe sind nutzt: Die Schler lernen »im sozialen
dem vorgeordnete (vorbeugende) Maß- Beieinander Verschiedenes« (Ahrbeck et
nahmen, die schulform- bzw. klassen- al., 1997). Mit der ußeren Differenzie-
immanent ein Aufarbeiten kumulierter rung geht in der Regel eine vollstndige
Defizite anstreben, ohne bereits die schul- (meist auch rumliche) Trennung inner-
organisatorische Separierung zu betrei- halb einer Altersstufe einher.
ben. Fr die Leistungshomogenisierung Unstrittig ist, dass Schlerinnen und
spricht, dass im herkçmmlichen Unter- Schler mit Lernschwchen und Teilleis-
richt ein unbegrenzt individualisierbares tungsstçrungen einer besonderen Fçr-
Zeit- und Zuwendungsbudget in der Re- derung bedrfen, die ihren individuellen
gel nicht zur Verfgung steht, um Blooms Lernvoraussetzungen Rechnung trgt.
(1976) anspruchsvolle Zielsetzung »Alle Strittig ist dagegen, ob es gnstiger ist,
Schler schaffen es« zu erreichen. Dage- wenn sich die besondere Fçrderung im
gen spricht, dass mit der Aussonderung Jahrgangsklassensystem oder im Fçrder-
Lernschwacher soziale Benachteiligungen schulsystem vollzieht. Am wenigsten
verbunden sind. Bei der Aussonderung hilfreich ist jedenfalls der Verzicht auf
Hochbegabter im Sinne einer akzele- jegliche Differenzierung: Er benachteiligt
rierten Schullaufbahn (»berspringen«) Lernschwchere in besonderer Weise.
kann es brigens zu hnlichen Problemen Die Auswirkungen von Maßnahmen der
kommen (Heller & Hany, 1996; Heller, inneren und ußeren Differenzierung auf
Mçnks, Sternberg & Subotnik, 2001; die sozial-emotionale und kognitive Ent-
Keogh & MacMillan, 1996). wicklung lernschwacher Kinder sind ver-
Es hat immer wieder Bestrebungen gege- schiedentlich untersucht worden (Bless,
ben, die Leistungsschwcheren zu inte- 1995; Haeberlin, 1991; Witt-Brummer-
grieren, indem man sie im allgemein mann, 1996). Fr die Fçrderung der kog-
bildenden Schulwesen belsst und unter- nitiven Entwicklung scheint eher die in-
richtlich hochadaptiv vorangeht (innere nere Differenzierung geeignet zu sein.
Differenzierung). Innere Differenzierung Hinsichtlich der sozial-emotionalen und
ist demzufolge vornehmlich didaktische motivationalen Zielkriterien ist hingegen
Differenzierung, ußere Differenzierung in den leistungshomogenen Gruppen u-
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8 Besonderheiten des Lehrens

ßerer Differenzierung (d. h. im Sonder- zung erhalten. Denn die Lehrpersonen sind
schulwesen) zumindest zeitweise eine hç- hufig mehr daran interessiert, Schler an den
here »emotionale Entlastung und [eine regulren Klassenunterricht anzupassen, als da-
ran, den Klassenunterricht an die einzelnen
bessere] soziale Integration« (Ahrbeck et
Schler anzupassen. (Crockett & Kauffman,
al., 1997, S. 759) der Lernschwachen zu
1998, S. 500)
beobachten.
In den USA gibt es seit vielen Jahren eine hnliche Vorbehalte formulieren auch
gesetzliche Regelung zur adaptiven und Gersten, Baker, Pugach, Scanlon und
integrativen Unterrichtung Lernschwa- Chard (2001), ziehen daraus aber den
cher (Individuals with Disabilities Educa- konstruktiven Schluss:
tion Act; IDEA), die Maßnahmen uße- Unser Hauptanliegen betrifft die Qualitt des
rer Differenzierung weit gehend untersagt Unterrichts und nicht die Frage, wo der
(Herr & Bateman, 2003). Die Gesetzes- Unterricht stattfindet. (Gersten et al., 2001,
vorschrift durchzieht in durchaus norma- S. 699)
tiver Weise auch die wissenschaftliche
Debatte und bestimmt damit die Grund-
Besondere Lehrmethoden?
lagen des »wie und wo« der Beschulung
von exzeptionell Lernenden. Alle in Kapitel 6 beschriebenen Metho-
den erfolgreichen Lehrens sind geeignet,
… und die Frage, was denn speziell sei an der
speziellen Beschulung, ist nicht einfach zu be-
den Aufbau von Wissen und Kçnnen bei
antworten. Die besonderen Maßnahmen, die lernschwachen Schlerinnen und Sch-
Lernschwache und Hochbegabte bençtigen, lern zu befçrdern. Gleichwohl durchzieht
kçnnen in administrative Maßnahmen (wo sol- eine bestimmte Empfehlung die einschl-
len sie unterrichtet werden?), curriculare Maß- gigen Arbeiten zur Instruktion bei Lern-
nahmen (was soll gelehrt werden?) und in- schwierigkeiten (z. B. Adams & Carnine,
struktionale Maßnahmen (wie sollen sie 2003; Gersten et al., 2001; Souvignier,
unterrichtet werden?) unterschieden werden. 2003): nmlich die Empfehlung einer
(Keogh & MacMillan, 1996, S. 320)
eher anleitungsorientierten, expositori-
schen, strukturierten und kleinschrittigen
Dabei scheint die Antwort auf die Wo-
Form des Unterrichtens mit vielen
Frage bildungspolitisch bereits vorgege-
bungsphasen, unmittelbaren Rckmel-
ben zu sein: eine mçglichst vollstndige
dungen und einer mçglichst vollstndi-
Integration (Inklusion) anstelle einer leis-
gen Zielerreichung bei jedem Lernschritt.
tungshomogenisierenden Segregation.
Summa summarum sind das die Prinzi-
bereinstimmend kritisch fallen daher
pien der Direkten Instruktion (vgl. Kap.
die Kommentare zu der so verordneten
6.1).
Integrationspraxis aus:
Metaanalysen sttzen diese Empfehlung.
Die Begrndung der vollstndigen Integration So berichtet z. B. White (1988) bei 25 ein-
war primr eher ideologisch als empirisch mo- bezogenen Studien eine mittlere Effekt-
tiviert […], und der Nachweis der Vorteile, die strke von d = 0.82 fr das direkt-in-
fr Schler mit schweren Behinderungen und struktive Vorgehen im Vergleich mit
fr ihre nicht-behinderten Mitschler daraus
(unterschiedlich) anders unterrichteten
erwachsen sind, steht noch aus. (Keogh &
MacMillan, 1996, S. 321)
Kontrollgruppen. Forness, Kavale, Blum
Es gibt durchaus Hinweise, dass die lernschwa- und Lloyd (1997) ermitteln aus einer
chen Schlerinnen und Schler durch die nicht »Mega-Analyse« ber 18 Metaanalysen
sonderpdagogisch ausgebildeten Lehrkrfte einen hnlich hohen Wert (d = 0.84). Fr
blicherweise nicht die notwendige Unterstt- die 180 Studien von Swanson und Hos-
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Teil II Lehren

kyn (1998) liegt die Effektstrke zu pldieren daher fr eine pragmatische
Gunsten der Direkten Instruktion bei d = Synthese der folgenden instruktionalen
0.68. Das aufgrund dieser Metaanalysen Prinzipien:
nahe liegende Pldoyer fr die Prinzipien . kleinschrittiges Vorgehen,
der Direkten Instruktion findet jedoch
. Untergliedern des Lernstoffes in kleine
nicht berall Anklang:
Einheiten,
Stellt solch eine Konzeption nicht das Gegenteil . hufige Wiederholungen, regelmßiges
all dessen dar, was in der zeitgençssischen berprfen des Lernfortschritts, syste-
Fachliteratur unter Stichworten wie ffnung matisches ben,
des Unterrichts, Schlerorientierung, Freiarbeit . Aktivieren der Lernenden durch geziel-
und Handlungsorientierung gefordert wird? tes Fragen,
(Wember, 2000, S. 349) . Variation der Aufgabenschwierigkeiten
und Bereitstellen notwendiger Hilfen,
Zweifellos stellt die Selbststeuerung und . kognitives Modellieren,
Selbstverantwortung von Lernprozessen . strategische Hinweise: zum Strategie-
eine wichtige und notwendige Vorausset-
einsatz auffordern, lautes Denken ein-
zung der unmittelbaren Erfahrungsbil-
fordern, den Nutzen von Strategien de-
dung und des nachhaltigen Lernens dar.
monstrieren.
Jedoch ist zu bedenken, dass das hier ein-
geforderte selbstgesteuerte – wie auch das Zu einem ganz hnlichen Fazit kommt
entdeckende – Lernen das Vorhandensein Swanson (1999) auch nach einer fast 700
jener Fertigkeiten und Kompetenzen vo- Seiten umfassenden »ultimativen« Meta-
raussetzt, deren Fehlen oder deren defizi- analyse, die 265 Studien einschließt und
tre Ausprgung zum Entstehen der damit die Analyse von Swanson und
Lernschwchen mit beigetragen haben Hoskyn (1998) um zustzliche 85 base-
(vgl. dazu Kap. 4.2 und 6.6; Hartke, linekontrollierte Einzelfallstudien mit in-
1999; Weinert, 1996a, c). Mit anderen dividueller Fçrderung ergnzt.
Worten: Die Anwendung von Lernstrate- Zu Recht weisen Gersten et al. (2001) da-
gien, die Selbststeuerung von Lernprozes- rauf hin, dass mit dem Wirksamkeits-
sen, die Planung, berwachung und Kor- nachweis der Direkten Instruktion nicht
rektur des eigenen Lernverhaltens muss automatisch die mangelnde Wirksamkeit
den Lernschwcheren erst beigebracht konstruktivistischer und situierter Anst-
werden. ze fr Lernende mit kognitiven Defiziten
Es ist aufschlussreich, dass die Ergebnisse belegt sei. Auch Hallahan, Kauffman und
der erwhnten Metaanalysen durchaus Lloyd (1999) warnen vor einer solchen
Differenzierungen zulassen, die eine Ver- bergeneralisierung und weisen darauf
knpfung der direkt-instruktionalen mit hin, dass konstruktivistische Interventi-
der Selbststeuerungskomponente nahe le- onsanstze oft zu unspezifisch seien, um
gen. Viel versprechend sind dabei vor al- ihre Wirksamkeit stringent empirisch eva-
lem jene Anstze, die ein Strategietraining luieren zu kçnnen.
ber die Methoden der expliziten In- Souvignier (1999) und Probst (1998) ha-
struktion und des angeleiteten bens im ben gezeigt, dass das kooperative und das
Sinne des »kognitiven Modellierens« rea- entdeckende Lernen auch mit Gruppen
lisieren. Eine so verstandene Strategiever- von Lernbehinderten mçglich ist, ohne
mittlung erzielt nmlich hnlich hohe die Lernschwachen zu berfordern (zu-
Effekte wie die herkçmmliche Direkte In- sammenfassend: Jenkins & O’Connor,
struktion. Swanson und Hoskyn (1998) 2003). Bei Souvignier (1999) wird die
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8 Besonderheiten des Lehrens

Analyse: Intervention bei Lernschwierigkeiten


Aus 2900 zwischen 1963 und 1997 verçffentlichten Interventionsstudien whlte
Swanson (1999) in mehreren Selektionsschritten 180 methodisch »saubere« Studien
mit Kontrollgruppendesign und Effektstrkenangabe sowie 85 baselinekontrollierte
Einzelfallstudien aus. Als Interventionen waren sowohl unterrichtliche als auch un-
terrichtsergnzende Maßnahmen zuglassen, sofern sie eine Mindestdauer von drei
Trainingssitzungen aufwiesen. Die Interventionsmaßnahmen wurden nach Inhalts-
domnen (z. B. Lesen, Rechnen, Lernstrategien) und nach bergeordneten instruk-
tionalen Prinzipien (Direkte Instruktion [DI] vs. Strategieinstruktion [SI]) klassifi-
ziert. Innerhalb der bergeordneten instruktionalen Prinzipien wurden insgesamt
45 Einzelkomponenten kodiert (z. B. kleinschrittiges Vorgehen, Anleitung zum Ela-
borieren); sie berschneiden sich allerdings hinsichtlich ihrer Zugehçrigkeit zu DI
oder SI.

Die Effektstrken variieren in Abhngigkeit von der Inhaltsdomne der Interven-


tion sowie der Grçße und Art der Zusammensetzung der Trainingsgruppen.
. Maßnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz sind besonders erfolgreich.
Zur Fçrderung des Leseverstndnisses ist eine Kombination aus DI- und SI-Kom-
ponenten optimal; das Worterkennen wird aber bereits durch DI-Komponenten
verbessert.
. In den Individualtrainings werden grçßere Fortschritte erreicht.
. In intakten (nicht per Zufall zusammengestellten) Trainingsgruppen werden hç-
here Effekte erzielt.
. Nur wenn SI-Komponenten einbezogen sind, verringert sich der relative Abstand
zu Lernenden ohne Lernschwierigkeiten (Kompensationsmodell).

Methode des Gruppenpuzzles (vgl. Kap. Lesen, Schreiben, Rechnen


6.5) mit der Unterrichtsmethode der Di- Fr eine umfassende Darstellung unter-
rekten Instruktion verglichen. In beiden richtlicher Methoden und unterrichts-
Lerngruppen werden vergleichbar gute ergnzender Fçrderprogramme zum Le-
(kognitive) Lernleistungen erzielt, in der sen, Schreiben und Rechnen sei auf Wong
kooperativen Gruppe wurden jedoch zu- (1998), Swanson, Harris und Graham
stzlich das Lernklima und die Qualitt (2003) sowie auf Lauth et al. (2004) ver-
der sozialen Interaktionen positiver einge- wiesen; bei Souvignier (2003) finden sich
schtzt. darber hinaus exemplarische Darstel-
Verlagert man den Fokus von den Lehr- lungen erfolgreicher Programme.
methoden und Instruktionsmodellen des
Unterrichts zu den Lehrinhalten und den Lesen als Textverstehen. Gute Leserinnen
Prozessen der Informationsverarbeitung, und Leser verfgen ber linguistisches
so lassen sich konkretere, prozessnhere und metalinguistisches Wissen, um Wort-
Empfehlungen der Fçrderung geben, die bedeutungen schnell zu erfassen, ber
wir im Folgenden am Beispiel von Lesen, konzeptuelle, textinhaltsbezogene Vor-
Schreiben und Rechnen skizzieren. kenntnisse, um neue Informationen leich-
ter zu verstehen und zu behalten, ber
besondere Lesestrategien der Textverar-
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Teil II Lehren

beitung und sie sind motiviert, sich mit ei- Schreiben« oder »gut Schreiben«. Im Stç-
nem Text auseinander zu setzen (Alexan- rungsbild der Lese-Rechtschreib-Schw-
der, Garner, Sperl & Hare, 1998). Die che (LRS; Kap. 4.2) geht es vor allem um
Fçrderung linguistischer und metalinguis- das Richtigschreiben. Dabei werden die
tischer Kompetenzen erfolgt besonders Stçrungen der schriftsprachlichen Lese-
wirksam bereits im Vorschulalter oder im und Rechtschreibfertigkeiten gemeinsam
Anfangsunterricht (Bus & van Ijzen- betrachtet. In der letzten Dekade sind
doorn, 1999; Roth & Schneider, 2002; neue Verfahren zur erfolgreichen Frh-
Weber, Marx & Schneider, 2002). Die Be- erkennung, Prvention und Behandlung
funde der Trainingsstudien zur phonolo- von LRS entwickelt worden (Klicpera &
gischen Bewusstheit von Einsiedler et al. Gasteiger-Klicpera, 1998; Kspert &
(2002) bei Erstklsslern und von Weber Schneider, 1999; Marx, Jansen, &
et al. (2002) bei Drittklsslern sind fr Skowronek, 2000).
leistungsschwache Kinder ermutigend. Um die produktive Fertigkeit, Texte fls-
Zur Fçrderung von Lesestrategien Lern- sig zu formulieren, geht es dagegen beim
schwacher gibt es viele erfolgreiche An- »guten Schreiben«, der Kompetenz zum
stze – die meisten kombinieren strategi- Verfassen von Texten. Dass Lernschwa-
sche, metastrategische und motivationale che hier von einschlgigen Fçrderpro-
Komponenten (Englert & Mariage, 1991; grammen profitieren kçnnen, zeigten
Pressley et al., 1995; Williams, 2003). z. B. Englert, Raphael, Anderson, Antho-
Fr Leseschwache ist es besonders wich- ny, Steven und Fear (1991) mit dem Pro-
tig, dass neben den »untergeordneten« gramm CSIW (Cognitive Strategies In-
Lesestrategien (wie z. B. »wichtiges Un- struction in Writing). CSIW arbeitet mit
terstreichen«) eine handlungsleitende so genannten »think sheets« (Merkzet-
Routine eingebt wird, die ein systemati- teln), die in standardisierter Form konkre-
sches Herangehen an Texte erlaubt. te Arbeitshilfen zum Planen des Schrei-
Dass die textinhaltsbezogenen Vorkennt- bens, zum Ordnen von Informationen,
nisse Leseschwacher defizitr sind, ist oft zum eigentlichen Schreibprozess sowie
ein Folgeproblem unzureichender Lese- zum berarbeiten und Korrigieren des
strategien. Allzu oft »vergessen« die Geschriebenen geben.
schwachen Leser, bei der Aufnahme neuer In Grahams SRSD-Programm (Self-Regu-
Informationen ihr Vorwissen zu aktivie- lated Strategy Development) zur Fçr-
ren. Deshalb sind Maßnahmen mçglich derung des Aufsatzschreibens wird dem
und hilfreich, die durch gezielte Hinweise Schreibenden ein dreistufiges Metaskript
eine leichtere Aktivierung des textinhalts- der Selbstregulation im Sinne einer Routi-
bezogenen Vorwissens bewirken (Carr & ne an die Hand gegeben: Halt (»Stop«),
Thompson, 1996). Wilder und Williams erst Denken (»Think«), dann erst Schrei-
(2001) konnten fr einen erzhlenden ben. Davon wrde auch manche wissen-
Text zeigen, dass die Vermittlung einer schaftliche Arbeit profitieren!
einfachen Frageroutine (»Welches ist die
Hauptperson? Was hat sie getan? Wie Rechnen. »Alle erfolgreich Lernenden h-
geht die Geschichte aus? Findest du das neln einander; jeder mit Lernschwierig-
gut oder schlecht?«) ein leichteres Erfas- keiten hat aber auf seine eigene Art
sen des Textinhalts ermçglicht. Schwierigkeiten.« So kçnnte man in An-
lehnung an Tolstois ersten Satz der »Anna
Schreiben. Schreiben kann vielerlei be- Karenina« die Verschiedenartigkeit von
deuten: »richtig Schreiben«, »schçn Rechenschwierigkeiten umschreiben (vgl.
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8 Besonderheiten des Lehrens

Kap. 4.2). Deshalb kann es auch kein Wenn du merkst, dass dir die Trnen kommen
bergreifendes Fçrderprogramm geben. … hol tief Luft und sage dir: »Ich mache es
Es gibt basale Rechenschwchen im Zah- gut. Alles wird gut«. (Mastropieri et al., 1998,
S. 433)
lenraum bis 20, es gibt strategische Defi-
zite bei den Grundrechnungsarten im
Zahlenraum bis 100, es gibt Schwierig- Und die Erwachsenen?
keiten beim Verstehen von Textaufgaben Nicht selten werden aus lernschwachen
und bei geometrischen Aufgaben oder bei Kindern lernschwache Erwachsene. Auch
der Automatisierung des kleinen Einmal- sie kçnnen von den beschriebenen Fçr-
eins (Geary, 2003; Lorenz, 2004). Inter- dermaßnahmen profitieren, voraus-
ventionsmaßnahmen bei Rechenschwie- gesetzt, sie sind lernmotiviert. Denn das
rigkeiten mssen sich nach der Art der Lernen Erwachsener ist in hohem Maße
Stçrung richten (Fuchs & Fuchs, 2003; selbstgesteuertes Lernen.
Lorenz & Radatz, 1993; Stern, Hase- Das Lernen Erwachsener spielt sich unter
mann & Grnke, 2004). anderen Bedingungen ab als das schu-
Montague (1997) gibt den Lernschwa- lische Lernen – in Hochschulen, am Ar-
chen eine siebenschrittige Arbeitsroutine beitsplatz, in Veranstaltungen der Fort-
an die Hand, um Textaufgaben zu bear- und Weiterbildung. Larkin und Ellis
beiten: (1998) weisen darauf hin, dass dies bei
1. Lies die Aufgabe! der Planung von Interventionsmaßnah-
2. Wiederhole sie in eigenen Worten! men zu bedenken ist. Lernschwache Er-
3. Mach dir ein Bild davon! wachsene werden neben strategischen,
4. Plane die Lçsungsschritte! metastrategischen und motivationalen
5. Schtze das Ergebnis! Defiziten sowie einer unzureichenden in-
6. Rechne! haltlichen Wissensbasis vor allem ein Pro-
7. berprfe das Ergebnis! blem haben: eine lange und unerfreuliche
Lerngeschichte, die ihr leistungsbezoge-
Jeder der sieben Schritte beinhaltet ein nes Selbstkonzept negativ geprgt hat.
automatisiertes selbstinstruktives »Sagen- Ellis und Larkin (1998) haben Grundst-
Fragen-Prfen«-Schema, um die notwen- ze strategischer Instruktionshilfen fr Er-
digen metakognitiven Aktivitten sicher- wachsene mit Lernschwierigkeiten zu-
zustellen (also z. B.: Sage dir: »Lies die sammengestellt, mit Hinweis auf die
Aufgabe«, Frage dich: »Habe ich die Auf- empirischen Arbeiten, die ihre Wirksam-
gabe gelesen und verstanden?«, Prfe keit belegen. Naturgemß funktionieren
nach: »Welche Aufgabe soll ich lçsen?«). die meisten nach dem Prinzip der Selbst-
In der zusammenfassenden bersicht von instruktion. Und fast alle behelfen sich
Mastropieri, Scruggs und Chung (1998) mit Akronymen, um eine strategische
wird auch auf selbstinstruktive Coping- Routine zu automatisieren. Die einfache
strategien hingewiesen, um der weit ver- Routine FLASH (Ellis, 1993) aktiviert die
breiteten Mathematikngstlichkeit zu be- bekannten Lernfunktionen guter Infor-
gegnen. Ein Beispiel: mationsverarbeitung (vgl. Kap. 5.2):
Nicht nervçs werden. Denk daran, deinen
. Focus on a topic,
Plan zu benutzen. Mach es Schritt fr Schritt
– immer nur eine Frage auf einmal. Lass deine . Look for familiar information,
Augen nicht zu den anderen Aufgaben wan- . Activate knowledge and ask questions,
dern. Denke nicht darber nach, was die an- . See what’s connected,
deren machen. Gehe Schritt fr Schritt vor. . Hypothesize.
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Teil II Lehren

Routiniert eingesetzt untersttzt FLASH und generativer Lernstrategien und die


die notwendigen Prozesse der Aufmerk- Integration der neuen Informationen in
samkeit, den Einsatz strukturierender das bereits vorhandene Vorwissen.

Literaturhinweise
Klauer, K. J. (2001b). Handbuch Kognitives Training. Gçttingen: Hogrefe.
Lauth, G. W., Grnke, M. & Brunstein, J. C. (2004). Interventionen bei Lernstç-
rungen. Gçttingen: Hogrefe.

Zusammenfassung
Besonderheiten des Lehrens ergeben sich aus der Unterschiedlichkeit der Lernenden.
Es gibt eine ganze Reihe unterrichtlicher und unterrichtsergnzender Maßnahmen,
die dies bercksichtigen. Kognitive Trainings sind eine besondere Form der indivi-
dualisierten Intervention. Sie zielen auf eine nachhaltige Verbesserung grundlegender
kognitiver Fertigkeiten und Funktionen. Die individuellen Voraussetzungen erfolg-
reichen Lernens (Aufmerksamkeit, Gedchtnis, Lernstrategien) sind die wesentlichen
Inhaltsbereiche kognitiver Trainings. Besonders erfolgreich sind sie dann, wenn eine
Einbindung metakognitiver Komponenten der Selbstkontrolle und Lernregulation
gewhrleistet ist.
Maßnahmen zur Fçrderung von Lernmotivation und Interesse zielen entweder auf
die motivationsfçrderliche Gestaltung von Unterricht oder auf die Vernderung in-
dividueller motivationaler Dispositionen. Sind die motivationalen Dispositionen un-
gnstig (Misserfolgsngstlichkeit), kçnnen Programme zur Steigerung des Selbstver-
ursachungserlebens, zur nderung dysfunktionaler Attributionsmuster und zur
Vernderung von Gtemaßstben durchgefhrt werden.
Ob Mdchen und Jungen von einer gemeinsamen Unterrichtung (Koedukation)
mehr oder weniger profitieren, wird schon seit langem diskutiert – unter sich n-
dernden Vorzeichen. Empirische Studien zum naturwissenschaftlichen Unterricht in
der Mittelstufe deuten darauf hin, dass monoedukativ unterrichtete Mdchen eine
weniger geschlechtsstereotype Interessen- und Selbstkonzeptentwicklung durchlau-
fen als koedukativ unterrichtete. Dafr werden Mechanismen der unterschiedlich
verlaufenden sozialen Vergleichsprozesse verantwortlich gemacht.
Bei Lernschwchen und Leistungsstçrungen steht fr den Unterricht die gesamte Pa-
lette instruktionaler Methoden zur Verfgung. Darber hinaus kommen unterrichts-
ergnzende, individualisierte Fçrdermaßnahmen zur Verbesserung der Lernvoraus-
setzungen in Frage. Es gibt Hinweise darauf, dass die Lernschwcheren einer
anleitungsorientierten, expositorischen, strukturierten und kleinschrittigen Form
des Unterrichtens bedrfen – mit vielen bungsphasen und unmittelbaren Rckmel-
dungen.

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