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GASTKOMMENTAR

Unerschöpfliche Ressource Mensch – die


russische Kriegsführung ist von zynischer
Brutalität und hat sich noch nie gross um die
Opfer in den fremden und den eigenen Reihen
gekümmert

Die russische Offensive in der Ostukraine hat begonnen. Bis zum 9. Mai soll der
ganze Donbass erobert sein. Es steht zu befürchten, dass Moskau zur Erreichung
seiner Ziele ein Unmass an Gewalt anwenden wird. Die Geschichte russischer
Kriege zeigt, was das bedeutet.

Christian Osthold
117 Kommentare
25.04.2022, 05.30 Uhr

Photo12 / Imago
Anstehen zum Verheiztwerden: Parade der Roten Armee, 1936.
Ohne Zweifel hat das Massaker von Butscha Moskaus Invasion in der Ukraine in
ein diabolisches Licht getaucht. Der Vorort von Kiew ist zum Sinnbild einer
Militärdoktrin geworden, die sich keiner Konvention unterwirft und von einem
Generalstab getragen wird, der zur systematischen Planung und rücksichtslosen
Durchführung schwerster Kriegsverbrechen bereit ist. Darin materialisiert sich
eine zutiefst inhumane Philosophie, die bis heute millionenfache Opfer gefordert
hat.

Jeder Krieg, den Russland im 20. Jahrhundert geführt hat, folgte demselben Axiom:
Menschliches Leben stellt eine unerschöpfliche Ressource dar, die inflationär
einsetzbar ist. Die präzedenzlosen Verluste der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg
legen Zeugnis davon ab. Sie vermitteln ein verstörendes Bild von der
zerstörerischen Kraft, die das russische Oberkommando bis heute immer wieder
entfaltet hat. Selbst der Kampf gegen unterlegene Gegner ist davon nicht
ausgenommen.

Das zeigt auch der finnische Winterkrieg, den der Kreml am 30. November 1939 mit
einem Grossangriff begann. Fünf sowjetische Armeen sollten die Mannerheim-
Linie durchbrechen und auf Helsinki vorstossen. Insgesamt wurden 1,2 Millionen
Soldaten, 1500 Panzer und 3000 Flugzeuge gegen 300 000 Finnen aufgeboten.
Trotz dieser Überlegenheit kam es zu einem Fiasko. Der von General K. A.
Merezkow und seiner 7. Armee vorgetragene Hauptstoss scheiterte, und dies bei
unerhörten Verlusten. Allein im Dezember 1939 fielen 69 986 Soldaten und
Kommandeure. Das entspricht einer Tagesquote von 2187.

Deckung hinter dickem Lob

An der sowjetischen Grundtaktik änderte dies freilich nichts. Auf das Versagen
seines Vorgängers kannte der im Januar 1940 eingesetzte Oberbefehlshaber T. S.
Timoschenko nur eine Antwort: den Frontalangriff. Mit verheerenden Folgen: In
105 Tagen verlor die Rote Armee 333 084 Mann und hatte mindestens 222 912 Tote
zu beklagen. Damit waren seit Kriegsbeginn 3054 Kämpfer pro Tag gefallen.

Gemessen daran waren die finnischen Verluste geradezu marginal. Sie betrugen
26 000 Tote und 43 000 Verwundete. Entsprechend klar war das Verlustverhältnis,
es betrug 7 zu 1 zuungunsten der Sowjets. Die triumphale Bemäntelung des
Feldzugs durch die staatliche Propaganda sollte diese Bilanz verwischen. In einer
flammenden Rede vor dem Obersten Sowjet vom 29. März 1940 lobte Molotow die
herausragenden Leistungen der Roten Armee.

Die russischen Truppen seien die


barbarischste und unmenschlichste Armee
der Welt, sagt Wolodimir Selenski – eine
Quelle des Bösen.
Von dieser Illusion ist heute nichts mehr übrig. Dazu hat auch der russische
Historiker Boris Sokolow beigetragen. Er hat das Desaster des sowjetischen
Winterkriegs schonungslos aufgearbeitet. Für Sokolow ist der Feldzug nicht bloss
ein Fehlschlag, sondern «ein Verbrechen, das Hunderttausende Rotarmisten das
Leben gekostet hat». Dass sich die kriminelle Energie des Kremls schon damals
auch gegen die Besiegten richtete, hatte sich indes einen Monat zuvor erwiesen.
Anfang März 1940 hatte das sowjetische Volkskommissariat für innere
Angelegenheiten (NKWD) auf Stalins Befehl hin 25 000 polnische Armeeangehörige
und Intellektuelle ermordet. Das Massaker von Katyn ist zum Symbol dieses
Verbrechens geworden.

Das verheerende Ausmass der Doktrin, die eigenen Soldaten als Kanonenfutter zu
verheizen, trat am deutlichsten im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht zutage.
Sokolow hat ermittelt, dass dieser zwischen 1941 und 1945 insgesamt 22 Millionen
Rotarmisten das Leben kostete. Die Deutschen hingegen verloren nur 2,9
Millionen Mann. Das daraus resultierende Verlustverhältnis 7,6 zu 1 ist ohne
Zweifel beispiellos. Bedeutsamer jedoch ist, dass die Sowjets mit dieser Strategie
letztlich Erfolg hatten.

Dass Moskau seine Streitkräfte auch heute nicht schont, hat der bisherige
Kriegsverlauf in der Ukraine offengelegt. Seit dem 24. Februar dürften bereits weit
mehr als 10 000 Soldaten gefallen sein. Jüngste Schätzungen halten sogar bis zu
17 000 Tote für möglich, die ukrainische Seite spricht von 21 000. Täglich werden in
den sozialen Netzwerken neue Todesmeldungen veröffentlicht. Die hier
dokumentierten Verluste mögen zwar nicht an das Ausmass des Zweiten
Weltkrieges heranreichen. Andererseits steht das russische Militär aber auch nicht
der geballten Kraft der Wehrmacht gegenüber. Stattdessen bekämpft es einen
punkto Rüstung und Truppenstärke weit unterlegenen Gegner. Dieser zwingt ihm
erfolgreich einen Guerillakampf auf.

Das Debakel am Hindukusch

Die russische Armee hat Probleme, sich darauf einzustellen. Das ist kein Novum.
Schon in Afghanistan hatte sich Moskaus Übermacht als verwundbar erwiesen.
Zwischen dem 25. Dezember 1979 und dem 15. Februar 1989 waren 120 000
sowjetische Soldaten am Hindukusch stationiert. Bei Kriegsende hatten sie
Verluste in Höhe von 50 000 Mann erlitten. Das entsprach 41,6 Prozent ihres
Personalbestands. Für eine Supermacht, die überwiegend Patrouillen fuhr, war das
eine verheerende Bilanz. Auch sie basierte auf der Gleichgültigkeit des russischen
Generalstabs. Und auf seiner Unfähigkeit, sich der taktischen Disposition eines
leichtfüssigen Gegners anzupassen.

Noch bedeutsamer war das Folgende: Angesichts der 13 000 Gefallenen geriet der
Kreml zunehmend unter Druck. So erstaunt es nicht, dass die Akzeptanz des
Feldzugs schliesslich einen Tiefpunkt erreichte. Als die Sowjetarmee im Februar
1989 gedemütigt das Land verliess, existierte die UdSSR keine drei Jahre mehr. Aus
der Sicht Moskaus lässt sich daraus eine alarmierende Erkenntnis ableiten: Ein
Krieg, der nicht die Unterstützung der Massen geniesst, sondern kontinuierlich
Tote produziert, kann selbst autoritäre Systeme kollabieren lassen. Eine Umfrage
von 1991 ergab, dass 88 Prozent der Teilnehmer die Invasion ablehnten. 69 Prozent
hielten sie sogar für ein Verbrechen.

Insofern ist nicht nachvollziehbar, warum der Kreml seine Truppen bereits fünf
Jahre später in das nächste Abenteuer führte. Der am 31. Dezember 1994
begonnene erste Tschetschenienkrieg erschien als skurrile Neuauflage früherer
Debakel. Wie unter einem Brennglas kam das Unvermögen des Generalstabs
abermals zum Vorschein. Obwohl ihm am Terek nur ein mangelhaft gerüsteter
Gegner gegenüberstand, versagte er auf ganzer Linie. Unzureichend ausgebildete
Wehrpflichtige wurden in Ruinen und enge Schluchten geschickt und sinnlos
geopfert.

Als die Tschetschenen Grosny im Sommer 1996 handstreichartig zurückeroberten,


war Jelzins «Operation zur Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung»
gescheitert. Die Generalität hatte keine Antwort auf die geschickt agierende
tschetschenische Guerilla gefunden und musste Frieden schliessen. Zuvor war sie
lediglich dazu fähig gewesen, alle grösseren Orte der Republik dem Erdboden
gleichzumachen. Die 100 000 Opfer waren nicht nur eigene Bürger, sondern auch
zu 97 Prozent Zivilisten.

Terror als Waffe

Im zweiten Tschetschenienkrieg wurde das Land zum Schauplatz grausamer


Kriegsverbrechen. Systematisch wurde die Bevölkerung ab Oktober 1999 von
Geheimdienst und Sonderpolizei terrorisiert. Menschenrechtsverletzungen waren
an der Tagesordnung, die darin aufscheinende Tyrannei wurzellos. All das erfolgte
auf Geheiss des Kremls, in dem Putin die Strippen zog. Schliesslich wurden alle
Tschetschenen als Partisanen betrachtet. Konzentrationslager dienten dazu,
aufkeimenden Widerstand zu ersticken. Der als Reaktion darauf entflammte
Guerillakrieg kostete wiederum Tausende Menschenleben. Militärisch war er
sinnlos. Der Generalstab ignorierte das und beschränkte sich abermals auf die
Rolle des willfährigen Erfüllungsgehilfen einer gewissenlosen politischen Führung.

In der Ukraine scheint Moskau nach demselben Drehbuch zu agieren. Es basiert


darauf, die aggressiv-frustrierten eigenen Truppen zu schwersten
Kriegsverbrechen zu bewegen. Das Ziel besteht darin, Terror als Waffe gegen die
Bevölkerung einzusetzen. Wie zu erwarten steht, ist die Weltöffentlichkeit darüber
entsetzt. Die russischen Soldaten ihrerseits spüren, dass eine Intensivierung des
Kampfes einen hohen Blutzoll bedeutet. Entsprechend niedrig ist die Moral.

Der akute Mangel an Verpflegung verstärkt den Missmut. Die für die Truppen
bereitgestellten Essensrationen waren vielfach bereits vor Jahren abgelaufen. Das
entspricht einem Kalkül, das in einem geradezu perversen Sinne logisch ist. So
führt eine von Bitterkeit genährte Wut zur Gärung und zur Explosion eines
hochexplosiven Gemischs. Butscha trägt alle Kennzeichen einer Hölle, die dadurch
zustande kam. Und könnte doch nur der Auftakt zu einem noch grösseren Inferno
sein. Präsident Selenski ist sich dessen bewusst. In krassen Begriffen hat er den
Feind beschrieben: Die russischen Truppen seien die barbarischste und
unmenschlichste Armee der Welt – eine Quelle des Bösen.

Trotz seiner Polemik darf dieser Befund nicht einfach als propagandistische
Begleitmusik des Krieges abgetan werden. Er ist auch Widerhall jener
exterminatorischen Erfahrungen, welche die fremden Untertanen russischer
Herrschaft jahrzehntelang erleben mussten. Gerade die Ukraine war regelmässig
einer vom Kreml organisierten Unmenschlichkeit ausgesetzt, die alle Grundsätze
humanen und zivilisierten Verhaltens in den Wind schlägt. Das setzt sich heute
fort.

Kaum jemand dürfte das Grauen von Butscha tiefer ermessen können als die
Ukrainer. Mit Ausnahme der russischen Soldaten, wenn sie denn ein historisches
Bewusstsein ihrer selbst und ein moralisches Sensorium für ihre Untaten hätten.

Christian Osthold ist Historiker und auf die Geschichte Russlands mit Schwerpunkt auf dem
Nordkaukasus spezialisiert.

117 Kommentare

Mirco Schmid vor einem Tag 59 Empfehlungen

Es gibt nur eine Möglichkeit, wie die ukrainische Zivilbevölkerung geschützt werden kann: Russland muss von
ukrainischem Boden vertrieben werden. Dafür muss braucht die Ukraine Waffenlieferungen und taktische
Unterstützung. Kein westliches Land - die Schweiz eingeschlossen - sollte diese der Ukraine verwehren.
Leider ist
bei weiteren Rückschlägen der russischen Armee mit weiteren Gräueltaten zu rechnen, aber der Krieg lässt sich nur
beenden, wenn die russische Armee besiegt wird. Das muss getan werden, was Gräueltaten befeuern wird, aber die
gibt es auch nach einer Besetzung von Gebieten.
Genauso wichtig ist, Russland wegen den Verbrechen anzuklagen.
Das in den Medien und moralisch und beweise zu finden, um möglichst viele der Verantwortlichen vor Gericht zu
bringen. Putin und andere Despoten sollen sehen, dass man hinsieht, dass man sie verurteilt und das man nicht
einfach zum alltäglichen Geschäft zurückkehrt. Wofür es sehr wichtig ist, dass die Sanktionen gegen Russland
aufrechterhalten werde uns Russland diplomatisch ausgeschlossen wird.

Jürg Simeon vor einem Tag 45 Empfehlungen

Ja, einem Diktator sind das fremde Leid und die Toten egal, aber auch das Leid und die Toten der eigenen Leute.
Schlussendlich geht es skrupellos um die eigene Macht, um den eigenen Grössenwahnsinn. ¨

Die Gefahr, dass noch
viel mehr Zivilisten in der Ukraine umgebracht werden, ist real. Darum umso mehr, die schweren Waffen müssen
schnell und im grossen Umfang den Ukrainern geliefert werden, nur das verstehen Diktatoren.

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