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Hilfreiche Blutsauger in der Medizin und ihre Systematik

Article  in  Biologie in unserer Zeit · December 2012


DOI: 10.1002/biuz.201290093

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Ulrich Kutschera
Carnegie Institution for Science
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T R E F F P U N K T FO R SC H U N G | Biologie in unserer Zeit 42 (6), 352-353, 2012

E VO LU T I O N nahezu alle in Europa verwendeten


medizinischen Blutegel nicht der
nördlichen Typus-Art H. medicina-
Hilfreiche Blutsauger in der Medizin lis angehören, sondern dem süd-
und ihre Systematik lich verbreiteten Taxon H. verbana
zugeordnet werden müssen [1, 3,
Noch vor wenigen Jahren wurden alle in Europa vorkommenden, 8]. Als dritte Blutegel-Art wurde die
blutsaugenden Kieferegel der Gattung Hirudo der ehemals häufigen Spezies H. orientalis beschrieben,
Typus-Art H. medicinalis zugeordnet. Heute wissen wir, dass drei geo- die in Bergregionen des Kaukasus,
grafisch getrennte Arten, der Europäische Medizinische Blutegel in Zentralasien und dem Iran vor-
(H. medicinalis), der Mediterrane Bl. (H. verbana) und der Kaukasische kommt [8].
Bl. (H. orientalis) unterschieden werden müssen. Im Blutegel-Handel
wird nicht H. medicinalis, sondern H. verbana vertrieben. Die Egel Der Blutegel-Artenkomplex
werden in der Türkei und Russland gesammelt, und unter anderem Die drei wichtigsten in der Praxis
in der plastischen Chirurgie eingesetzt. eingesetzten Blutegel (Abbildung 2)
bilden einen Artenkomplex. Die
Obwohl es Hinweise gibt, dass sodass diese sogar die Frauenmode Ringelwürmer unterscheiden sich
bereits die Babylonier etwa 1.800 beeinflusste. Die schönen, imitier- nicht nur in ihrer Färbung und
v. Chr. kranke Menschen mit blut- ten Farbmuster der Rückenseite Musterung, sondern auch bezüg-
saugenden Ringelwürmern (Anne- der Typus-Art der Gattung Hirudo, lich ihrer Chromosomenzahlen
liden), vermutlich Egel, behandelt H. medicinalis (Abbildung 1), und der biochemischen Zusam-
haben, markiert erst die „Aderlass- wurde auf den Kleidern der Da- mensetzung der Speicheldrüsen-
Therapie“ des 18. Jahrhunderts men der Gesellschaft als „robes à Sekrete voneinander [4]. Werden
den Beginn einer blutrünstigen Ära la Broussais“ getragen. Der Egelver- die Schwester-Arten H. medicina-
in der Medizingeschichte. So hat brauch stieg in Deutschland derart lis und H. verbana gemeinsam in
beispielsweise der napoleonische an, dass zum Beispiel im Jahr 1860 Aqua-Terrarien gehalten (je vier bis
Armeechirurg François J. V. Brous- etwa 25 Millionen Hirudo-Exem- sechs adulte Tiere pro Spezies), so
sais (1772−1830) nahezu alle plare verbraucht wurden, mit der tauschen geschlechtsreife Zwitter
Krankheiten als Folge übermäßiger Folge, dass man dieser früher ein- (Hermaphroditen), die mit Hoden-
Reizungen des Körpers angesehen mal häufigen Ringelwurmart in paaren (Testes) und Eierstöcken
A B B . 1 Der [1, 2]. Diese Reizeinwirkungen Mitteleuropa den Status einer vom (Ovarien) ausgestattet sind, über
Europäische sollten sich in Blutanhäufungen Aussterben bedrohten Spezies ein- ein männliches Kopulationsorgan
Medizinische
und Entzündungen äußern und räumen musste [1, 5, 6]. Seit eini- Spermien aus. Bei dieser Paarung
Blutegel, Hirudo
medicinalis: durch das Ansetzen von Blutegeln, gen Jahrzehnten haben sich die Be- und inneren Befruchtung fungie-
Erwachsenes oft in großen Zahlen, bekämpft stände wieder geringfügig erholt, ren die Partner-Egel zunächst als
Tier in Seitenan- werden. Broussais war der An- und die naturwissenschaftlich be- Männchen (Spermien-Freisetzung),
sicht. Der große sicht, dass man zum Beispiel Infek- gründete „Hirudotherapie“, oft und dann als Weibchen (Eizellen-
runde Hinter-
tionskrankheiten wie Scharlach, verbunden mit einer begleitenden Produktion). Diese sich erst männ-
saugnapf dieser
von England bis Masern und Pocken, aber auch Antibiotika-Prophylaxe, wurde in- lich und dann weiblich verhalten-
zum Süd-Ural Geisteskrankheiten durch Blut- zwischen zum festen Bestandteil den Zwitter werden daher als
verbreiteten entzug durch Egel-Ansatz heilen der modernen plastischen Chirur- „protandrische Hermaphroditen“
nördlichen Art könne. Diese pseudowissenschaft- gie [2, 5, 6]. bezeichnet [1]. Sind gleichartige
wird zur Fortbe-
liche Irrlehre, früher auch als Partner vorhanden, so paaren sich
wegung be-
nutzt. Der Ekto- „Vampyrismus“ bezeichnet, hat da- Arten-Konfusion H. medicinalis-Individuen mit
parasit heftet mals viele gutgläubige Menschen Der Egelforscher K. Herter [2] ver- H. med., und H. verbana-Adulttiere
sich mit dem das Leben gekostet. Die Blutegel- trat die Ansicht, H. medicinalis sei mit H. ver., d. h. Arten-Kreuzungen
Vordersaugnapf Therapie wurde gegen Ende des eine variable Art, und unterschied können nicht beobachtet werden.
an Wirtsorga-
18. Jahrhunderts bei Ärzten und daher zwischen verschiedenen Einige Wochen nach der Kopula-
nismen wie Fi-
sche, Amphibien Wunderheilern immer beliebter, Farb-Varianten. Dieser Interpreta- tion legen die trächtigen Zwitter
und Säugetiere, tion schloss sich 1986 auch R. T. dann ihre Kokons ab, wobei sie an
um nach Ansä- Sawyer an [6]. Erst kürzlich wurde Land kriechen und die Eikapseln
gen der Haut auf Grundlage systematischer Ver- in feuchter Erde deponieren [1, 5].
mittels drei
gleiche der Pigmentierungsmuster Kann man im Labor Kreuzun-
scharfer Kiefer
Blut zu saugen verschiedener Blutegel-Populatio- gen zwischen Arten erzwingen?
(Originalauf- nen, Kreuzungsversuche und DNA- Wie aktuelle Studien ergaben, kön-
nahme). Sequenzanalysen erkannt, dass nen geschlechtsreife erwachsene

352 Biol. Unserer Zeit 6/2012 (42) www.biuz.de © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
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Tiere aller drei Blutegel-Arten und in Usbekistan vorkommt. Die A B B . 2 Die drei
(Abbildung 2) nach vierwöchiger polymorphe Art H. verbana wird a) b) c) wichtigsten
Einzelhaltung in Gefangenschaft von Firmen, wie zum Beispiel Bio- Blutegel-Arten
der westlichen
kopulieren und Bastarde hervor- pharm-Leeches, United Kingdom, Paläarktis in
bringen. Allerdings sterben diese oder der Bibertaler Blutegelzucht Dorsalsicht:
erzwungenen Kreuzungsprodukte (bbez, Bibertal, Deutschland) ver- a) Der Europäi-
bald ab: Nach acht Monaten waren trieben, wobei der zuerst genannte sche Medizini-
zum Beispiel 100 % aller geschlüpf- Händler seine Ringelwürmer noch sche Blutegel
H. medicinalis,
ten H. med. x H. verb.-Hybride tot, immer als „H. medicinalis“ anbie- b) der Mediter-
während sich Kontroll-Jungtiere tet. Mit dem Zusatz „med.“ lassen rane Blutegel
(Kreuzungen von H. med. x sich die Blutsauger offensichtlich H. verbana und
H. med. beziehungsweise H. verb. besser an Ärzte und Heilpraktiker c) der Kaukasus-
x H. verb.) zu vitalen Blutsaugern verkaufen [5]. Blutegel, H. ori-
wird, hängt von der Durchsetzung
entalis. Obwohl
entwickelt hatten [4]. Aus diesen entsprechender Naturschutzmaß- sich diese geo-
Experimenten folgt, dass die geo- Blutegel-Schwund im Freiland nahmen ab [1]. grafisch weitge-
grafisch weitgehend getrennt le- Die oben genannten Blutegel- hend getrennt
[1] J. M. Elliott, U. Kutschera, Freshwater vorkommenden
benden Arten keine (oder nur sehr Händler beziehen ihre Wildfänge
Reviews 2011, 4, 21−41. Arten vor Jahr-
wenige) überlebensfähige Bastarde aus der Türkei und Russland; es [2] K. Herter, Der medizinische Blutegel und millionen aus-
hervorbringen können, d. h. die werden somit von den einheimi- seine Verwandten, A. Ziemsen Verlag, einander ent-
Populationen repräsentieren repro- schen Egel-Fängern östliche Wild- Wittenberg Lutherstadt 1968. wickelt haben,
duktiv isolierte Biospezies (in der Populationen „abgefischt“. Dass [3] U. Kutschera, Nature 2007, 447, 775. wurden sie
[4] U. Kutschera, Naturwissenschaften 2012, dennoch bis vor
Natur konnten bisher keine Bas- dieses systematische „Abernten“
99, 433−434. kurzem als eine
tarde gefunden werden) [4, 9]. der Mediterranen Blutegel zur Ge- [5] A. Michalsen, M. Roth (Hrsg.) Blutegelthe- variable Art,
Molekularphylogenetische Stu- fährdung der Art H. verbana füh- rapie, Karl F. Haug Verlag, Stuttgart, 2006. H. medicinalis,
dien haben gezeigt, dass die „Mit- ren wird, ist wahrscheinlich, aber [6] R. T. Sawyer, Leech Biology and Behaviour. angesehen
telmeer-Blutegel“ (H. verbana) – noch immer Gegenstand der For- Vols I – III. Oxford University Press, (links zwei Ori-
Oxford, 1986. ginalaufnah-
im Gegensatz zur Typus-Art H. me- schung [1, 7, 9]. In Deutschland [7] P. Trontelj, S. Y. Utevsky, Mol. Phylogenet.
kennen wir nur noch wenige, ge- men; der rechte
dicinalis (Abbildung 1) – in zwei Evol. 2012, 63, 475−485.
Egel nach Ref.
genetische separierbare Gruppen fährdete Reliktpopulationen der [8] S. Y. Utevsky, P. Trontelj, Parasitol. Res.
[7]).
untergliedert sind: eine westliche Typus-Art H. medicinalis, was un- 2005, 98, 61−66.
[9] S. Y. Utevsky et al., Aquat. Conserv. 2010,
Sub-Population, die auf Italien und ter anderem auf die Vernichtung
20, 198−210.
die Balkan-Länder verteilt ist, und natürlicher Tümpel mit warmen
eine östliche Fortpflanzungsge- Flachwasser-Zonen zurückzufüh- Ulrich Kutschera, Universität
meinschaft, die von der Ukraine ren ist. Ob der medizinische Blut- Kassel/Stanford (USA)
bis zum Nord-Kaukasus, der Türkei egel in Deutschland überdauern www.evolutionsbiologen.de

© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.biuz.de 6/2012 (42) Biol. Unserer Zeit 353
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